Der Sozialismus einst und jetzt

By Eduard Bernstein

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Bernstein


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Title: Der Sozialismus einst und jetzt
       Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart


Author: Eduard Bernstein



Release Date: February 5, 2008  [eBook #24523]

Language: German


***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SOZIALISMUS EINST UND JETZT***


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Der Sozialismus einst und jetzt

Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart

Von

Eduard Bernstein


  »Es hat nichts auf sich, wenn die Erinnerung, die mit Vorliebe das
  festhält, was erfreute, uns die Vergangenheit schöner erscheinen läßt,
  als sie war, und es ist nur berechtigt, wenn unser Wollen und Wünschen
  uns durch den Ausblick auf eine Zukunft, wie sie sein kann, zum Kampf
  für sie begeistert. Die Gegenwart aber will erkannt sein, wie sie
  ist.«







1922
J. H. W. Dietz Nachfolger Stuttgart / Buchhandlung Vorwärts Berlin




Inhalt.


  Vorwort                                                              3


  _Erstes Kapitel._
  +Der Sozialismus als sozialwissenschaftliche Entwicklungslehre+      5

  Begriffsbestimmung. -- Das Alter des spekulativen Sozialismus. -- Der
  Widerstreit zwischen Radikalismus und Rationalismus in der
  Spekulation. -- Der theoretisierende Utopismus. -- Vom Utopismus des
  Ziels zum Utopismus der Mittel. -- Die Grundgedanken des marxistischen
  wissenschaftlichen Sozialismus. -- Sozialismus und Klassenkampf.


  _Zweites Kapitel._
  +Die naturrechtliche Begründung des Sozialismus+                    11

  Naiver Begriff und wissenschaftliche Theorie des Naturrechts. --
  Naturrecht. -- Vernunftrecht. -- Rechtsphilosophie. --
  Naturrechtsspekulation in der Geschichte. -- Das Naturrecht in den
  großen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts. -- Das Naturrecht und
  die kommunistische Lehre Babeufs. -- Das Naturrecht am Grunde aller
  Utopien. -- Die Unzulänglichkeiten und das Recht des Naturrechts.


  _Drittes Kapitel._
  +Die Bedeutung der Werttheorien für den wissenschaftlichen
  Sozialismus+                                                        24

  Die Werttheorie Ricardos. -- Die Marxsche Werttheorie und ihre Rolle in
  der Marxschen Gesellschaftslehre. -- Marx über die utopistische
  Auslegung von Ricardos Formel. -- Die utopistische Auslegung und das
  Naturrecht. -- Das sogenannte Recht auf den vollen Arbeitsertrag. --
  Marx und das Recht des Mehrwerts. -- Mehrwert und Ausbeutung. -- Der
  Mehrwert und der Klassenkampf.


  _Viertes Kapitel._
  +Das Wesen der Gesellschaft des vorgeschrittenen Kapitalismus+      38

  Der Sinn des Begriffs Kapitalismus. -- Sein vielfältiger Inhalt und
  seine einfältige Ausdeutung. -- Der Kapitalismus als Träger des
  Fortschritts in der Produktion. -- Die Konzentration der Unternehmungen
  und der Betriebe. -- Die Raumverteilung der Betriebsklassen. -- Die
  Konzentration verhindert nicht die Vielheit der Unternehmungen. -- Die
  Zähigkeit der bäuerlichen Unternehmung. -- Die Klassenbildung und
  Klassengliederung. -- Die rasche Zunahme der Abhängigen und die
  langsame Verminderung der Selbständigen. -- Die Verstadtlichung des
  sozialen Lebens. -- Die gelernten und die ungelernten Arbeiter. -- Die
  Einkommens- und Vermögensklassen. -- Der nichtverengerte
  Flaschenhals. -- Die Beweglichkeit des Kapitals als Konservierer der
  Mittelklassen. -- Die Theorie der Wirtschaftskrisen und die Umkehr der
  Spirale. -- Die Rückwirkungen des Krieges auf die
  Wirtschaftsentwicklung und ihre Probleme.


  _Fünftes Kapitel._
  +Der Sozialismus und die Lehre vom Klassenkampf+                    59

  Das Kommunistische Manifest als Kundgebung des Klassenkampfes. --
  Adolphe Blanqui und Karl Marx. -- Der Begriff der Klasse: Stand und
  Klasse. -- Marx über die Zersplitterung der Klassen. -- Der
  Klassenkampf der Nichtproletarier. -- Der Klassenkampf der Arbeiter und
  seine Formen. -- Der Klassenkampf und die materielle und geistige
  Hebung der Arbeiterklasse. -- Die Entwicklung der Gewerkschaften und
  die Ausbildung der Tarifverträge. -- Der Klassenkampf und die
  rechtliche Hebung der Arbeiter.


  _Sechstes Kapitel._
  +Die Staatstheorie und der Sozialismus+                             75

  Der Einfluß der Theorie auf die Praxis. -- Der Streit um den Begriff
  des Staates. -- Staatsfeindschaft und Staatskultus in der
  Geschichte. -- Der romantisch-reaktionäre und der demokratische
  Staatskultus. -- »Das Vestafeuer aller Zivilisation.« -- Die kritische
  Staatsidee bei Marx und Engels. -- Die Lehre vom Absterben des
  Staates. -- Der Staat als Auswuchs oder Schmarotzer am
  Gesellschaftskörper. -- Marx und Proudhon über die staatsfreie
  Gesellschaft. -- James Ramsay Macdonald und die Erhaltung des Staates.


  _Siebentes Kapitel._
  +Der Sozialismus als Demokratie und der Parlamentarismus+           91

  Die sozialistische Bewegung mit Notwendigkeit demokratische
  Bewegung. -- Begriff des Parlamentarismus. -- Der Parlamentarismus in
  der Geschichte. -- Das Budgetrecht, das Fundamentalrecht der
  Parlamente. -- Die Krone und das Parlament. -- Die Auswüchse des
  Parlamentarismus. -- Wilhelm Liebknechts Gegnerschaft gegen die
  Teilnahme am Parlament. -- Friedrich Engels' Würdigung der
  parlamentarischen Aktion. -- Die qualitative Steigerung der
  parlamentarischen Arbeit. -- Der Streit um die Budgetbewilligungen. --
  Der Streit um die Teilnahme an der Regierung: Jean Jaurès und August
  Bebel. -- Der Beschluß von Amsterdam. -- Der Streit um die Bewilligung
  der Kriegskredite. -- Die Selbstverwaltung als Korrektiv des
  Parlamentarismus.


  _Achtes Kapitel._
  +Die bolschewistische Abart des Sozialismus+                       113

  Das Kommunistische Manifest und die Formel von der Diktatur des
  Proletariats. -- Das Aufkommen des Bolschewismus. -- Seine Vorgänger,
  die Utopisten der sozialistischen Revolution. -- Das reformistische
  Element im Marxismus. -- Marx bindet den Sieg des Sozialismus an eine
  ökonomische Reife. -- Der Bolschewismus will die Reife mit der Gewalt
  erzwingen. -- Sein Aberglauben an die Schöpferkraft der Gewalt. --
  Trotzkis Reitenlernen auf dem Rücken der Nation. -- Der Marxismus zeigt
  die Grenzen des Willens auf, der Bolschewismus ignoriert sie. --
  Stümpernde Experimentiererei. -- Die Nachahmung des zarischen
  Despotismus. -- Die Blutschuld des Bolschewismus.


  _Neuntes Kapitel._
  +Die nächsten möglichen Verwirklichungen des Sozialismus+          126

  Die Welt, die Marx kannte, und die heutige Welt. -- Das Proletariat zur
  Zeit von Marx und die Arbeiterklasse am Vorabend des Weltkriegs. --
  Durch Gesetz und Organisation erlangte Verbesserungen. -- Die
  Organisationen der Unternehmer. -- Die Volkswirtschaft im Kriege. --
  Der sogenannte Kriegssozialismus. -- Die deutsche Revolution und die
  Zwangslage der deutschen Volkswirtschaft. -- Die neue Republik im
  Daseinskampf. -- Die Anstürme der Verführten des Bolschewismus lähmen
  die Schöpferkraft der Republik. -- Die Wahlergebnisse nötigen die
  Sozialisten zur Koalition mit bürgerlichen Parteien. -- Trotzdem sind
  sozialistische Verwirklichungen möglich. -- Die verschiedenen Wege der
  Sozialisierung durch die Finanznot erzwungen. -- Die Sozialisierung
  durch die Sozialpolitik. -- Kein großer Sprung, aber viele bedeutsame
  Übergänge. -- Ökonomie des Wollens verbürgt Erreichung des Gewollten.




Vorwort.


Die vorliegende Schrift gibt, von ihrem Schlußkapitel abgesehen, den
Inhalt von Vorlesungen wieder, die ich im Sommerhalbjahr 1921 in der
Universität Berlin gehalten habe. In Antwort auf ein ohne mein Wissen
aus akademischen Kreisen ergangenes Gesuch, mir das Vorlesen in der
Universität zu ermöglichen, hatte das Ministerium mir das Halten von
Gastvorlesungen freigestellt, und die Erlaubnis hieß für mich unter den
gegebenen Verhältnissen das Pflichtgebot, von der Möglichkeit, zu
Studierenden in den Räumen der =alma mater= zu sprechen, nun auch Gebrauch
zu machen. Und zwar erschien es mir angezeigt, in einem Zeitpunkt, wo
die große Partei des Sozialismus, der ich seit nun bald fünfzig Jahren
angehöre, zu maßgebendem Einfluß im Republik gewordenen Reich gelangt
ist, über die Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und
Gegenwart zu reden, das heißt die Meinungsverschiedenheiten zu
kennzeichnen, die unter den Vertretern des Sozialismus über dessen
Grundideen und deren Anwendung obwaltet haben und in einigen Fällen
obwalten.

Leider ist es mir jedoch nicht möglich gewesen, mehr als einen Teil der
einschlägigen Fragen abzuhandeln. Meine außerordentlich knapp bemessene
Zeit erlaubte mir nur eine Stunde in der Woche für diese Vorlesungen,
und noch weniger als die akademische Stunde sich mit der astronomischen
Stunde deckt, deckt sich das akademische Halbjahr mit dem
Kalenderhalbjahr. So war ich genötigt, eine Auswahl zu treffen und
manche Frage von Bedeutung, die mir am Herzen liegt, beiseite zu lassen.
Indes glaube ich trotzdem in den Vorträgen genug des Wissenswerten über
die Grundfragen des Sozialismus gesagt zu haben, um ihre Herausgabe als
Schrift zu rechtfertigen.

In bezug auf die Form der Vorlesungen ist zu bemerken, daß ich meine
Aufgabe nicht dahin aufgefaßt habe, Lehrvorträge im schulmäßigen Begriff
des Wortes zu halten, sondern je nach der Natur des Gegenstandes die
Behandlungsart gewechselt, den einen mehr deduktiv, andere mehr
induktiv-genetisch zur Anschauung zu bringen gesucht habe. Daher auch
die Ungleichheiten im Umfang der hier der Anredeform entkleideten und
als Kapitel vorgeführten Vorträge. Der Umstand, daß diese zum Teil
Fragen behandeln, mit denen ich mich in früher von mir veröffentlichten
Arbeiten schon beschäftigt habe, machte es ferner unvermeidlich, daß
hier und dort einzelnes von dem dort Gesagten nun wiederholt wird. Es
wegzulassen hätte mir unnötige, wenn nicht unzulässige Pedanterie
geschienen.

Das Schlußkapitel, das die nächsten möglichen Anwendungen des
Sozialismus behandelt, ist, wie oben angedeutet, in den Vorlesungen
nicht mehr zur Behandlung gekommen. Wenn ich es hier angefügt habe, so
geschah dies nicht nur in dem Wunsche, einer Schrift, die zu einem
großen Teil kritisch gehalten ist, einen möglichst positiven Abschluß zu
geben. Es lag und liegt mir auch daran, zu zeigen, daß die
Anschauungsweise, die ihr zugrunde liegt und die ich nun seit ziemlich
einem Vierteljahrhundert verfechte, durchaus nicht, wie manche
befürchtet haben, zu pessimistischer Betrachtung der Dinge und aus ihr
erwachsendem indifferenten Verhalten führt. Dem Pessimismus fällt nur
der anheim, der von den Menschen mehr erwartet, als sie leisten können,
und an die Dinge den Maßstab seiner Wünsche legt. Mit dieser Bemerkung
ist jedoch durchaus nicht gesagt, daß man sich nicht große Ziele setzen
soll -- was wäre die Sozialdemokratie ohne solche? -- Man wird aber
nichts Großes erreichen, wenn man die Dinge nicht so betrachtet, wie sie
sind, und, wo Millionen von Menschen in Betracht kommen, ihnen zumutet,
wozu außergewöhnliche Charaktere gehören.

    Ende November 1921.                      _Ed. Bernstein._




Erstes Kapitel.

Der Sozialismus als sozialwissenschaftliche Entwicklungslehre.


Bevor man an die Aufgabe herangeht, Streitfragen des Sozialismus zu
erörtern, wird man sich darüber zu äußern haben, was man überhaupt unter
Sozialismus versteht, wie weit man den Rahmen des Begriffs gezogen
wissen will. Das Wort Sozialismus ist sehr verschiedentlich gedeutet
worden. Vielfach wird es als der Ausdruck für einen vorgestellten
Zustand gebraucht, dem eine bestimmte Eigentums- und Wirtschaftsordnung
zugrunde liegt, und der sich in einem ganzen Idealstaat verkörpern soll.
Andere setzen es als gleichbedeutend mit einer Bewegung oder einem Kampf
von Gesellschaftsklassen zur Verwirklichung solcher Wirtschaftsordnung,
und wieder anderen ist es der Sammelbegriff für eine Summe von
Forderungen oder Einrichtungen, denen bestimmte Rechtsgedanken und
ethische Begriffe zugrunde liegen. Alle diese Deutungen haben insofern
ihre Berechtigung, als sie auf bestimmte Formen des Sozialismus sich
beziehen oder bestimmte Seiten der sozialistischen Bewegung
kennzeichnen. Aber keine davon erschöpft den Gegenstand.

Auch in den Lehrbüchern oder Kompendien der Sozialwissenschaftler stoßen
wir auf sehr unterschiedliche Definitionen des Begriffs. Um nicht weiter
in der Geschichte zurückzugehen und uns auf Deutsche zu beschränken, so
finden wir bei Schmoller eine andere Deutung als bei Roscher, bei
Sombart eine andere als bei Schmoller, bei Oppenheimer eine andere als
bei Sombart, und so noch weiter. Es wäre nicht uninteressant, sie
vergleichend gegeneinander zu halten und festzustellen, was ihnen
gemeinsam ist und zu sehen, ob sie sich nicht sozusagen auf einen
Generalnenner bringen lassen. Mir scheint jedoch ein anderer Weg
ratsamer, nämlich der Weg der Betrachtung der geschichtlichen
Erscheinungsformen. Vermöge ihrer werden wir uns, glaube ich, am besten
darüber unterrichten können, was wir heute unter Sozialismus zu
verstehen haben.

Der allgemeinste und darum allerdings auch der oberflächlichste Begriff
von Sozialismus ist die Vorstellung von einem Gesellschaftszustand, wo
es weder Reiche noch Arme gibt, wo vieles allen gemeinsam ist und eine
starke Brüderlichkeit herrscht. Wo diese Merkmale fehlen, wo weitgehende
sachliche Gemeinschaft, weitgehende ethische Gemeinschaftlichkeit und
Abwesenheit großer Vermögensunterschiede fehlen, fehlen die wesentlichen
Attribute des Sozialismus. So begriffen nun ist er sehr viel älter als
sein Name. Während dieser erst im 19. Jahrhundert aufkommt, findet man
die Sache als Idee oder Bewegung schon in dem Zeitalter, das wir
Altertum nennen. Überall dort, wo die Menschen nicht mehr in einfachen,
ihren Wohnsitz wechselnden Stammesverbänden leben, sondern sich seßhaft
gemacht haben und staatliche, beziehungsweise territorial gegliederte
Gemeinwesen geschaffen haben, die der Bildung großer Vermögensunterschiede
und Rechtsungleichheiten Vorschub leisten, stellt sich früher oder
später bei Individuen oder Schichten der Wunsch nach Beseitigung dieser
Ungleichheiten ein und findet in der Ausmalung von besseren
Gesellschaftszuständen seinen ideologischen, in Kämpfen für solche
seinen politischen Niederschlag. Die Geschichte der asiatischen und
vorderasiatischen Kulturvölker, die Geschichte der Griechen und Römer
gibt uns zwar nur lückenhaft, aber doch unmißverständlich Kunde von
solchen Bewegungen. Als Quelle dafür sei auf Robert Pöhlmanns Geschichte
des antiken Kommunismus und Sozialismus verwiesen, ein Werk, gegen
dessen kritische Aufstellungen ich mancherlei starke Einwände zu erheben
habe, aus dem man aber ersehen kann, wie sehr nicht nur die sozialen
Kämpfe, von denen uns die Geschichte der Alten erzählt, sondern auch die
mehr oder weniger phantastischen Konstruktionen oder Ausmalungen von
Idealstaaten, die uns -- leider oft nur sehr skizzenhaft -- überliefert
sind, einer geschichtswissenschaftlichen Würdigung fähig sind und einer
solchen daher auch bedürfen. Ob man das Urchristentum, das in Rom seine
eigentliche Ausbildung erfahren hat, als eine sozialistische Bewegung
auffassen darf, mag dahingestellt bleiben. Bekannt ist, daß ihm diese
Eigenschaft vielfach bestritten wird und man es lediglich als eine
ethische Bewegung aufgefaßt wissen will. Aber wenn es als
Gesamterscheinung nicht auf die Bezeichnung sozialistisch Anspruch haben
soll, so ist es doch unbestreitbar die Nährquelle vieler sozialistischer
Theorien und Bewegungen gewesen. Zeugnis legen ab allerhand Kapitel aus
der großen Literatur der Kirchenväter und der Scholastik, und Beispiele
sind eine Reihe noch dem Altertum angehöriger kommunistischer und
halbkommunistischer christlicher Sekten, denen solche des Zeitalters der
Renaissance und der Reformation gefolgt sind.

Dem letzteren Zeitalter gehört auch die Entstehung des Buches an,
dessen Titel zum Sammelbegriff für die ganze Gruppe der Beschreibungen
spekulativ konstruierter Gemeinwesen oder Idealstaaten wird, nämlich die
Abhandlung _Utopia_ des Thomas More. Man kann von dieser Schrift des
charaktervollen Staatskanzlers Heinrichs VIII. von England sagen, daß
sie einer ganzen Literatur Leben gegeben hat. Denn sie machte für ihre
Zeit Sensation und wurde in die verschiedensten Sprachen übersetzt. Das
16., 17. und 18. Jahrhundert sind voll von Beschreibungen vorgestellter
Idealgemeinwesen, von Staatsromanen, wie man sie auch im Hinblick auf
die Form der Beschreibung nennt. Nicht alle davon haben auf die
Bezeichnung als sozialistisch Anspruch, es fehlt durchaus nicht an
Utopien, die nach unseren heutigen Begriffen bürgerlicher Natur sind.
Das gilt z. B. von der unvollendeten Utopie »Die neue Atlantis«, die
einen der Amtsnachfolger des Thomas More, den berühmten Philosophen der
empirischen Methode, Francis Bacon, zum Verfasser hat.

Nach zwei Seiten hin läßt sich in den sozialistischen Utopien des mit
der Reformation einsetzenden Zeitalters eine abgestufte Entwicklung
feststellen: erstens eine Tendenz der Überbietung in phantastischen
Ausmalereien, und zweitens eine Tendenz zum größtmöglichen Rationalismus
in der Spekulation. Diese letzte Tendenz ist für unsere Betrachtung die
wichtigere, denn sie war ein Hebel zur Förderung der sozialen Erkenntnis
und führte schrittweise zur wissenschaftlichen Behandlung der
sozialistischen Bestrebungen. Die Verfasser rationalistischer Utopien
des Sozialismus suchen ihre Vorgänger zu korrigieren, und wenn das lange
Zeit ohne die Form der Polemik vor sich geht, so läßt sich doch bei
verschiedenen Autoren eine unausgesprochene Bekämpfung von Ideen des
oder der Vorgänger feststellen.

Es handelt sich schon um ernst aufgefaßte Streitfragen, der Nachfolger
widerlegt den Vorgänger, ohne ihn zu nennen.

Was aber den Utopien gemeinsam war, was das eigentliche Merkmal der
Utopie ist, ist die entscheidende Rolle, die bei ihnen der _Zufall_ und
der noch _vom Zufall abhängige Wille_ spielen. Lange Zeit ist in diesen
Beschreibungen der geschilderte Idealzustand hergestellt worden durch
das Eingreifen einer ungewöhnlich weisen Persönlichkeit, eines
Gesetzgebers oder anordnenden Fürsten, so daß, wenn dieser Fürst oder
Gesetzgeber zufällig nicht geboren oder vor der Zeit gestorben wären,
das betreffende Volk oder Land den Idealzustand nicht zu kosten bekommen
hätten. Später, im Zeitalter der französischen Revolution, tritt an die
Stelle des individuellen Willens oder Schaffensdranges von Wohltätern in
der Konstruktion der Utopie als schöpferische Kraft der _Kollektivwille_
von Anhängern einer bestimmten Idee. Dieser Kollektivwille ist aber,
selbst wo er als der Wille eines ganzen Volkes gedacht wird, immer noch
Zufallssache. Ob die Gruppe oder die Volksmasse für die Idee kämpfen,
hängt lediglich davon ab, wie weit und wie stark sie von der
Propagierung dieser Idee erfaßt sind, das Aufkommen der Idee aber selbst
ist noch wesentlich vom Zufall abhängig.

An der Wende zum 19. Jahrhundert und in dessen erstem Drittel tritt
hier ein wesentlicher Fortschritt ein. Es ist in der Geschichte des
Sozialismus die Epoche der großen, kritisch gerichteten Utopisten, der
Robert Owen, Charles Fourier und Henri Saint-Simon und ihrer Schulen.
Das Merkmal dieser Sozialisten, das sie von den Utopisten des
18. Jahrhunderts unterscheidet, ist die Rolle, die bei ihnen der
Entwicklungsgedanke spielt, und das Bestreben, an das Gegebene
anzuknüpfen, die Welt, die sie vor sich haben, weiterzubilden. Robert
Owen verweist in seinen sozialistischen Abhandlungen auf die in England
aufgekommene kapitalistische Fabrik und die Zustände, die sie geschaffen
hat, und nimmt sie zum Ausgangspunkt sozialistischer Reformpolitik.
Charles Fourier im noch stark kleinbürgerlichen Frankreich sucht den
Sozialismus als Ideal psychologisch zu fundieren, in der Praxis auf dem
Wege der Genossenschaften zu verwirklichen, wobei sein Plan kommunaler
Genossenschaftspolitik auf besonderes Interesse Anspruch hat.
Saint-Simon ist so sehr Entwicklungstheoretiker, daß es fraglich wird,
ob man ihn überhaupt noch einen Utopisten nennen kann, wie er zugleich
so sehr Wirklichkeitsmensch ist, daß man befugt ist, seinen Anspruch auf
Einreihung in die Geschichte des Sozialismus zu bestreiten. Wenn Fourier
stark von Morelly, dem geistreichen Verfasser der Utopie »Die
Basiliade«, beeinflußt ist, so Saint-Simon von Condorcet, dem
Enzyklopädisten und Verfasser der wissenschaftlichen Abhandlung über den
Fortschritt des menschlichen Geistes und die Vervollkommnungsfähigkeit
der Menschheit. Bei den Saint-Simonisten finden wir unter anderem schon
die Einteilung der Geschichte der sich fortschrittlich entwickelnden
Nationen in organische und kritische Perioden, d. h. Perioden relativ
ruhiger Entwicklung und Perioden revolutionärer Umwälzungen.

Aber bei allen dreien, bei Owen, bei Fourier und bei Saint-Simon und
ihren Schülern spielt trotz ihres Strebens nach Wissenschaftlichkeit und
Anknüpfung an das Gegebene die _Erfindung_ der Mittel zur Verwirklichung
des Sozialismus die entscheidende Rolle; wo sie praktisch sein wollen,
arbeiten sie _Rezepte_ aus, und immer wieder sind sie in Gefahr, auf die
Utopie zurückzugreifen. An die Stelle des Utopismus des Ziels tritt ein
_Utopismus des Mittels_. Die Literatur des Sozialismus im zweiten Drittel
des 19. Jahrhunderts ist voller Schriften, die utopistisch im Mittel
sind, wobei man wieder einen utopistischen Reformismus und einen
utopistischen Revolutionarismus unterscheiden kann. Der eine versteift
sich auf ökonomische Experimente, die wegen ihrer unzulänglichen
Voraussetzungen notwendig fehlschlagen müssen, der andere huldigt einem
Wunderglauben an die schöpferische Allmacht der Revolutionsgewalt.

Hier nun bewirken einen grundlegenden Wandel in den Anschauungen die
beiden großen Männer, die heute als Begründer des wissenschaftlichen
Sozialismus weithin anerkannt sind: Karl Marx und Friedrich Engels.

Warum trägt ihre Lehre diesen Namen, hat sie den besonderen Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit? Weil sie tiefer und systematischer als alle vor
ihr aufgestellten sozialistischen Theorien eindringt in das Wesen der
Kräfte und Entwicklungsgesetze des gesellschaftlichen Fortschritts, den
Kampf für den Sozialismus auf eine durchgearbeitete Entwicklungstheorie
stützt, in der der Gedanke von der _organischen_ Natur der sozialen
Entwicklung zum Unterschied von der Auffassung dieser Entwicklung als
eines mehr mechanischen oder chemisch bestimmten Vorgangs zu seinem
Rechte kommt.

Wille und Idee, die von den Utopisten in der einen oder anderen Weise
überschätzt werden, werden in der Marx-Engelsschen Lehre zwar nicht, wie
vielfach angenommen worden ist, als Triebkräfte der sozialen Entwicklung
gering eingeschätzt oder gar ignoriert -- ohne Idee kein Wille und ohne
Wille keine Aktion --, aber sie werden in ihrer _sozialen Bedingtheit_
gekennzeichnet. Es wird gezeigt, wie sie abhängig sind von den
materiellen Bedingungen und Formen des gesellschaftlichen Daseins der
Menschen, für die der maßgebende Faktor ist die Art und Weise der
Produktion der Lebensgüter der Menschen.

Denn diese Produktion wird entscheidend bestimmt vom _Werkzeug_, über das
der Mensch verfügt; vom Werkzeug aber, das die Arbeitsweise vorschreibt,
hängt zugleich ab das Eindringen des Menschen in die Gesetze der Natur
und damit zuletzt auch der Höhegrad seiner Welterkenntnis.

Sozial betrachtet ist es das Werkzeug, das bestimmt, ob
individualistisch oder kollektivistisch produziert wird.

Im Altertum und auch noch bis zum Ausgang des Mittelalters ist die
Produktion überwiegend individualistisch; erst die Steigerung des
Weltverkehrs und Welthandels in der Periode der großen Entdeckungen
führt zu kollektivistischer Arbeit in der Produktion. Es breitet sich
die Wirtschaftsform aus, die den Namen Manufaktur erhält, Produktion
unter Leitung von Großkaufleuten, welche Arbeit an Handwerker ausgeben,
dann aber Arbeiter in großen Werkstätten, Fabriken genannt,
beschäftigen. Aus dem Kaufmann wird so ein Fabrikant, und in der Fabrik
werden vervollkommnete Werkzeuge verwendet, für die als technischer
Antrieb die Naturkraft verwendet wird. Das Werkzeug wird zur Maschine
und aus dem Handwerker ein Fabrikarbeiter. Die Produktion in der Fabrik
wird in steigendem Grade Kollektivarbeit, und da zur Einrichtung und zum
Unterhalt der Fabrik Kapital gehört, beherrscht zunehmend das Kapital
die Produktion.

Beim Aufkommen der kapitalistischen Produktion und im Wettbewerb der
Kapitalisten untereinander wirkt als _objektive_ Triebkraft der _Kampf um
die Mehrarbeit_, das heißt um den Teil des Bruttowerts der Produktion
über die Kosten von Anlage, Rohstoff, Hilfsstoffe und Werkzeuge, bzw.
Maschinen hinaus, der nicht den Arbeitern als Lohn gezahlt werden muß.
Dieser Kampf um den Mehrwert, wie Marx ihn nennt, hat im weiteren
Verlauf zur Folge eine steigende Vergrößerung der Fabriken, weil diese
eine größere Ökonomie der Kräfte erlaubt, damit die Unterbietung der
Konkurrenz ermöglicht und zur Steigerung des Absatzes führt. Die weitere
soziale Folge der Vergrößerung bzw. Konzentration der Unternehmungen ist
die Verdichtung der Bevölkerung in Städten und Ländern. Die
Industriezentren, die Städte wachsen; es tritt allmählich das ein, was
man die _Verstadtlichung_ des Landes nennen kann; mehr als in irgendeinem
früheren Zeitalter ergreift die städtische Kultur auch die Bevölkerung
des platten Landes und drückt der ganzen Gesellschaft ihren Stempel auf.

Alles das schafft die materiellen Vorbedingungen für eine neue
Gesellschaftsordnung; denn es ist verbunden mit einer neuen Gliederung
der Gesellschaftsklassen, als deren wichtigstes Moment zu nennen ist das
Aufkommen und Wachstum der Klasse ständiger Lohnarbeiter, des
industriellen Proletariats. Die ökonomische Umwälzung macht eine neue
_Rechtsordnung, neue soziale Einrichtungen_ und Gesetze notwendig. Es
handelt sich nun für den sozialen Reformer nicht mehr um die Erfindung
von Idealgesellschaften und die Ausklügelung von Rezepten, sondern um
die _Entdeckung_ von sozialen _Notwendigkeiten_. Die stärkste subjektive
Triebkraft bei der Verwirklichung dieser aber ist die Arbeiterklasse,
das Proletariat. Seine materiellen und geistigen Bedürfnisse treten
immer mehr in den Vordergrund, seine Rechtsauffassungen erobern die
öffentliche Meinung. _Und die Summe der Forderungen der Arbeiterklasse
unseres Zeitalters_ stellt sich der genaueren soziologischen Betrachtung
dar als die _Zusammenfassung des rationellen Inhalts der sozialistischen
Ideologie früherer Epochen_.

Und so gelangen wir an der Hand der Marx-Engelsschen Theorie zu einer
neuen Definition des Sozialismus, die etwa so formuliert werden kann:

Der moderne Sozialismus ist

  »die Zusammenfassung des geistigen Inhalts der politischen,
  wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Bestrebungen der zur
  Erkenntnis ihrer Klassenlage gelangten Arbeiter sowie der ihnen
  gleichgestellten Gesellschaftsschichten in den Ländern
  kapitalistischer Entwicklung, und der Kampf zur Verwirklichung dieser
  Bestrebungen.«

An die Herausarbeitung dieser Theorie in der sozialistischen Welt und
an ihre Ausdeutung und praktische Anwendung im einzelnen knüpfen sich an
die bemerkenswertesten Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und
Gegenwart.




Zweites Kapitel.

Die naturrechtliche Begründung des Sozialismus.


Es lag in der Natur der Dinge, daß der Sozialismus in den vergangenen
Jahrhunderten bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein fast
ausschließlich naturrechtlich begründet wurde. Die Tatsache des
Zusammenhanges der sozialistischen Theorien mit dem Naturrecht ist
außerordentlich interessant. Sie ist auch verschiedentlich von Gelehrten
oder Schriftstellern, die sich mit der Theorie des Sozialismus befaßt
haben, hervorgehoben worden; aber es fehlt meines Wissens doch noch an
einer systematischen, ihn geschichtlich wie begrifflich behandelnden
Darstellung dieses Zusammenhanges. Es würde das eine außerordentlich
fruchtbare Untersuchung sein, durchaus der Vornahme wert, und ich glaube
sogar auch ein gutes Thema etwa für eine Dissertation. Dieser
Zusammenhang nämlich zieht sich durch die ganze Geschichte des
Sozialismus, von den Zeiten an, wo es überhaupt etwas gab, was auf
diesen Namen Anspruch hat, bis in die neueste Zeit hinein. Noch im Jahre
1875 hat eine Kommission der damals sich vereinigenden sozialistischen
Parteien Deutschlands bei Ausarbeitung eines Entwurfs zum Parteiprogramm
dem Sozialismus eine vollkommen naturrechtliche Begründung gegeben und
sich dadurch eine außerordentlich scharfe Kritik von Karl Marx
zugezogen. Die Begründung lautete nämlich:

  »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da
  nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die
  Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt und
  nach gleichem Recht allen Gesellschaftsgliedern.«

Das ist, wie jeder leicht sehen kann, naturrechtlich und nicht
wissenschaftlich gesprochen.

Was versteht man unter Naturrecht? Nach meiner Ansicht werden da bei den
meisten Definitionen zwei ganz verschiedene Dinge durcheinandergeworfen.
Zwei Auffassungen streiten darüber in der Geschichte des Gedankens: eine
naive, urwüchsige Auffassung, die statt mit dem Wort »Naturrecht« besser
ausgedrückt würde mit »natürliches Recht«. Die Franzosen sagen auch
»=droit naturel=« und die Engländer »=natural law=«, also immer
natürliches Recht. Der Begriff ist da abgeleitet von einem
vermeintlichen Naturzustand oder wird auf die Natur des Menschen bezogen
und ist nur in diesem Sinne naturphilosophisch. Dann gibt es aber eine
wissenschaftlich rechtstheoretische Auffassung des Begriffs Naturrecht,
nach der es verstanden wird als die Zusammenfassung von allgemeinen
Rechtsgrundsätzen, die unabhängig von den Grundsätzen und Bestimmungen
der örtlich und zeitlich wechselnden positiven Gesetzgebung gewonnen
werden mittels der von äußeren Einwirkungen, von Machtverhältnissen und
Interessen unbeeinflußten Erforschung der Natur und Zwecke der
Gesetzgebung überhaupt sowie der Grundbedingungen der Entwicklung der
menschlichen Persönlichkeit und des möglichst harmonischen
Zusammenlebens der Menschen, -- Erkenntnisse, die Anspruch darauf
erheben, der positiven Gesetzgebung die Wege zu weisen, und die man
wissenschaftlich begründen kann. Das Naturrecht in diesem Sinne will
also über dem positiven Recht stehen. Die Forschung kann
selbstverständlich die Aufgabe nur lösen mittels der prüfenden Vernunft,
und zwar wenn sie ausschließlich und vorbehaltlos den Gesetzen der
Vernunft folgt. Daher hat man für das so wissenschaftlich aufgefaßte
Naturrecht in neuerer Zeit den Namen »Vernunftrecht« gewählt. Er zeigt
an, was aus den ursprünglichen Naturrechtsideen im Laufe der Entwicklung
geworden ist. Er läßt aber die Rolle nicht erkennen, die der Begriff des
Naturrechts in der Geschichte gespielt hat. Vernunftrecht kann etwas
ganz anderes sein als das, was die Menschen jahrhundertelang unter
Naturrecht verstanden haben. Einwandfrei ist dagegen der andere
umfassende Begriff »Rechtsphilosophie«, denn das Vernunftrecht will eben
das höchste Recht, das Wesen dessen feststellen, was Recht sein soll,
das Recht, das aus dem Begriff der Gerechtigkeit sich ergibt.

Die Frage nach einem solchen Recht taucht auf, wo das positive Recht als
ungerecht erkannt oder empfunden wird. Dort greifen alsdann die Menschen
naturgemäß auf andere Wegweiser zurück für das Recht, das sie haben
wollen. Es sind die verschiedensten Faktoren, auf die sie sich dabei
berufen, meist zunächst metaphysische, übersinnliche Mächte, die auch in
Naturbegriffen aufgefaßt werden; immer aber greifen sie zurück auf eine
jenseits der positiven Gesetzgebung stehende höhere Macht, sei es die
Vernunft überhaupt, die Gerechtigkeit, die Gottheit oder die Natur.
Infolgedessen hat das Naturrecht von jeher eine humanitäre Tendenz, ist
es Recht für die Sache der Unterdrückten oder jeweilig Enterbten. Im
weiteren Sinne ist es damit zugleich revolutionär und ist demgemäß
gewöhnlich offiziell verpönt worden. In der Geschichte ist es häufig von
Religionsstiftern verkündet worden.

Wenn wir die orientalischen Völker übergehen und nach dem Volke fragen,
das wohl in der alten Welt am meisten geleistet hat in Feststellung
natur- oder vernunftrechtlicher Grundsätze, so sind das unzweifelhaft
die Griechen gewesen. In der Philosophie der Griechen spielen
naturrechtliche Spekulationen eine sehr bedeutende Rolle. Sie sind die
Begleiterscheinung der politischen Kämpfe, die sich in den
vorgeschritteneren Stadtstaaten Griechenlands abspielen, vor allem in
Athen. Auch das ist bemerkenswert, daß, wenn eine bisher anerkannte
Philosophie erschüttert, übersehen oder vernachlässigt wird -- ein
Vorgang, der uns meist nur in lückenhaften Berichten überliefert wird
und daher abstrakt erscheint --, dies oft tatsächlich einen ganz realen
Hintergrund hat in politischen Kämpfen, die sich etwa gleichzeitig oder
kurz vorher abgespielt haben. Wie die religiösen Überlieferungen werden
die Staatseinrichtungen schon in der alten Welt vor den Richterstuhl der
Vernunft gezogen und darauf geprüft, wie sie den natürlichen
Bedürfnissen der Bürger eines vollkommenen Gemeinwesens entsprechen. Wir
finden das bei Plato und seinen Vorgängern, bei Aristoteles, vor allem
aber in der Geschichte der Stoa, bei Zeno und seinen Schülern. Die Stoa
hat darin am meisten geleistet, die naturrechtliche Seite der
Gesetzgebung zu betonen und das Ansehen des positiven Rechts zu
erschüttern. Das ist auch geschehen seitens der Schüler der Stoa im
späteren Rom. Hier brauche ich nur an Seneka zu erinnern. Bei den
christlichen Sekten ist es der Begriff der Gotteskindschaft
beziehungsweise der Gleichheit vor Gott, der zu naturrechtlichen
Folgerungen Anlaß gibt oder für sie ausgedeutet wird. Augustinus, wohl
der bedeutendste der Kirchenväter, ergeht sich in naturrechtlichen
Betrachtungen, und der große Scholastiker Thomas von Aquino hat ein
ganzes System eines Naturrechtes entworfen, das er in Einklang zu
bringen sucht mit den Grundsätzen des kanonischen Rechtes. Aber die zur
Zeit des Thomas auf der Höhe ihrer weltlichen Macht angelangte römische
Kirche witterte in diesen naturrechtlichen Theorien und Ausführungen die
umstürzlerische Tendenz und hat sie demgemäß verworfen. Um so stärkere
Pflege finden sie aber in der Geschichte bei den ketzerischen Sektierern
des Vorreformations- und Reformationszeitalters. Im Begriff des Wortes
»Ketzer«, das abgeleitet ist von Katharer, Reiniger, liegt schon die
naturrechtliche Tendenz angedeutet, das Zurückgreifen auf die
kritisierende Vernunft, allerdings beschränkt auf die Auslegung der
Bibel. Diese wichtige Epoche im einzelnen zu beleuchten, muß ich mir
versagen, so interessant es wäre, die ganze Entwicklung der christlichen
Sekten unter unserem Gesichtspunkt bis zur Reformation zu verfolgen.

Nachdem der Protestantismus in einer Reihe von Staaten gesiegt hatte,
ist es in Holland der berühmte Rechtslehrer und Staatsmann Hugo de
Groot, nach damaliger Sitte latinisiert in Grotius, der in seinem Werk
»=De jure belli ac pacis=« die erste erschöpfende systematische
Darstellung des Völkerrechts gibt und sie in der Einleitung stützt auf
eine naturrechtliche Begründung, die für die Wissenschaft des
Naturrechts grundlegende Bedeutung erhalten hat. Heute schätzt man
Grotius als den eigentlichen wissenschaftlichen Begründer des
Naturrechts. Noch eindringlicher aber berufen sich auf das Naturrecht --
und dieses eben als natürliches Recht aufgefaßt -- die kommunistischen
und halbkommunistischen Sektierer der späteren Reformationszeit und der
folgenden Jahrhunderte. Ich brauche nur allgemein auf diese großen
Kampfperioden zu verweisen, auf die Bauernkriege, die Kämpfe der
Wiedertäufer usw. Da findet man immer wieder die Berufung auf das
Naturrechtliche als Begründung von Forderungen.

Hier ist es am Ort, eine Bemerkung einzuflechten. Man kann die ganze
Bewegung des Sozialismus zurückführen auf zwei große Stämme oder
Wurzeln, aus denen sie ihre Kraft zieht. Die eine Wurzel und der sich
daraus entwickelnde Stamm sind die realen Kämpfe jeweilig unterdrückter,
zurückgesetzter Klassen oder Schichten der Gesellschaft. Der andere
Stamm aber ist die Ideologie, die vorwiegend von Gelehrten, Denkern,
Priestern usw. vertreten ist und anscheinend keinen direkten
Zusammenhang mit den Kämpfen hat. Es ist sogar Tatsache, daß vielfach
solche Ideologen, die weit umfassende kommunistische Theorien
ausgearbeitet haben, den praktischen Kämpfen kühl, gleichgültig, beinahe
ablehnend gegenüberstanden. Denn die Kämpfe werden meist nicht um große
weitumfassende Ziele, sondern um bestimmte begrenzte Forderungen
geführt, die nicht immer gut formuliert sind und einer größeren Sache
schädlich zu sein scheinen. So kommt es, daß, wenn auch die Ideologen
gar manchesmal beeinflußt sind von den Kämpfen, ohne es zu wissen, und
wenn umgekehrt die Kämpfer, ohne es zu wissen, von ihnen manches
empfangen haben, wenn also auch die Fäden hinüber und herüber laufen,
doch die beiden Stämme lange Zeit getrennt ihren Weg gehen. Erst in
neueren Jahrhunderten finden sie sich zusammen oder wachsen sie
zusammen. Karl Kautsky und meine Wenigkeit haben einmal einen solchen
Stammbaum des Sozialismus entworfen -- er ist auch reproduziert
worden --, wo wir zeigten, wie die beiden Stämme sich verzweigten und
schließlich im 19. Jahrhundert zusammenwuchsen und daß, wie wir glauben,
das Zusammenwachsen auf seine Höhe gebracht worden ist durch die
marxistische Begründung des Sozialismus.

Die Berufung auf das Naturrecht findet auf die verschiedenste Weise
statt. Kennzeichnend ist der Spruch, der, wenn nicht schon in den
deutschen Bauernkriegen, so jedenfalls in der Englischen Revolution
ausgespielt worden ist:

    Als Adam grub und Eva spann,
    Wer war denn da der Edelmann?

Das Volk suchte sein Naturrecht aus der Bibel zu beweisen, die ja
zuerst keine Klassenunterschiede kennt. Sie spielt eine große Rolle in
der Englischen Revolution des 17. Jahrhunderts. England war, nachdem es
die »Rosenkriege« überwunden hatte, als Inselland von den Kriegen
verschont, die den Kontinent verheerten. Die politische Entwicklung
konnte sich hier ungestörter vollziehen, und so hatte es schon Mitte des
17. Jahrhunderts seine große politische Revolution. Früher nannten die
Engländer diese große Revolution die »Rebellion«, und erst die Erhebung,
die ein Menschenalter später, 1688, stattfand und den Sturz der
Stuart-Dynastie besiegelte, die glorreiche »Revolution«. Heute ist
allgemein anerkannt, daß die erste Bewegung den Namen »Revolution«
verdient. Schon die großen Führer der bürgerlich-adligen Klasse nun, die
gegen die absolute Monarchie Karls I. kämpften, stützten sich in ihrer
Argumentation unter anderem auch auf das Naturrecht. Noch mehr aber
nahmen die hinter ihnen stehenden Klassen, die Independenten, es für
sich in Anspruch, und am stärksten kommt es zum Ausdruck in der Lehre
derjenigen Sekte, die sich die »wahren Leveller« nannte. Eine Sekte der
Independenten wurde von den Gegnern »die Gleichmacher« -- Leveller --
genannt und nahm alsdann diesen Namen an. Es waren im wesentlichen
politische Radikale. Dann aber kam eine Gruppe, die noch weiter ging,
kommunistische Ideen aufstellte und sich »die wahren Leveller« nannte.
Bei ihr findet man die naturrechtlichen Gedanken am klarsten
ausgedrückt. Ihr bedeutendster Verfechter war Gerard Winstanley, von dem
wir auch eine interessante Utopie, das Idealbild eines kommunistischen
Staates, haben, die lange unbeachtet geblieben war, bis sie mir bei
meinen Arbeiten in der Bibliothek des Britischen Museums auffiel. Von
diesem Winstanley existiert eine Schrift, die den Titel trägt: »Die
Erhebung der Fahne der wahren Leveller«. Sie erschien 1649 und beginnt
mit folgendem Satz, der sehr charakteristisch ist:

  »Im Anfang der Zeit erschuf der große Schöpfer Vernunft die Erde als
  Gemeingut aller.«

Man beachte, wie rationalistisch hier nicht »die Gottheit«, sondern »die
Vernunft« als Schöpfer hingestellt wird. Winstanley führt dann weiter
aus, erst durch die Gewalt sei die Knechtschaft in die Welt gelangt, und
_das_ sei der Adam, der Vater der Erbsünde. Er treibt politische
Etymologie und erklärt: »Adam, das ist also ein Damm -- =a dam= -- gegen
die Freiheit.« Die Vernunft aber rechtfertige die Forderungen der wahren
Leveller.

Überhaupt ist die Englische Revolution außerordentlich reich an
politischer Literatur. Man wird eigentümlich berührt durch eine darauf
bezügliche Bemerkung der berühmtesten der Flugschriften, die zur
Ermordung Cromwells aufforderten. Das fast ergreifend geschriebene
Pamphlet stammt von einem früheren Anhänger Cromwells und hat den Titel:
»Töten heißt nicht morden!« Es kam heraus im Jahre 1856, wo man nur erst
die kleinen Handpressen hatte, und beginnt mit den Worten:

  »Es ist nicht der Wunsch, mich gedruckt zu sehen in einer Zeit, wo so
  wenige die Presse verschonen.«

Unter den Broschüren der wahren Leveller, deren Kommunismus wesentlich
ein Bodenkommunismus war, findet sich auch eine Broschüre mit dem Titel:
»Das Licht, das in Buckinghamshire scheint«, in der sehr energisch jede
übersinnliche Religion verworfen wird. Das gleiche geschieht in der
Schrift Winstanleys, in der er seine Utopie entwickelt: »Die Freiheit
als ein Programm dargelegt«. Auch dort bekämpft er auf das
entschiedenste die übersinnliche Religion. Wie der größte Teil der
damaligen radikalen Literatur ist die ganze Schrift rationalistisch
gehalten, und der kommunistische Gedanke wird auf das Naturrecht als
Vernunftrecht begründet. Diese Bewegung der wahren Leveller ist der
Vorläufer der großen Bewegung der Quäker, die 1653 von George Fox
eingeleitet wird. Die Quäker sind Rationalisten, wenn auch mit einem
Stück Mystik. Das innere Licht, das die Vernunft ist, die aus dem
Menschen spricht, soll alles entscheiden.

Bürgerliche Schriftsteller von Bedeutung der damaligen Zeit, die
gleichfalls naturrechtlich argumentiert haben, sind vor allem der
Dichter Milton und der sehr interessante Staatsmann James Harrington,
der Verfasser der »Oceana«, und ebenso der Theoretiker des
Obrigkeitsstaates, Thomas Hobbes. Von England aus, das nun der Vorläufer
war für die Revolution auf dem Kontinent, geht diese Auffassung und
Denkweise nach Frankreich über. Frankreich hat schon im Anfang des
18. Jahrhunderts seinen radikalen Kommunisten in dem bekannten
atheistischen Pfarrer Jean Meslier, der zwar nicht als Pfarrer seine
Lehre verkündete, aber sie sehr scharf in der Schrift niederlegte, die
nach seinem Tode als sein Testament zuerst auszugsweise von Voltaire
veröffentlicht wurde. Die Schrift ist ganz und gar atheistisch und
begründet absolut naturrechtlich einen radikalen Kommunismus, das
»gleiche Recht aller auf die Benutzung der Erde«.

Als Gesellschaftslehre ist Mesliers Kommunismus noch ziemlich roh. Sehr
viel bedeutender ist als Kommunist der Abbé Nicola Morelly, von dem man
persönlich wenig weiß. Er hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein
Heldengedicht, die Basiliade, veröffentlicht und schrieb dann zur
Verteidigung der darin ausgesprochenen Gedanken die Schrift mit dem
bezeichnenden Titel »=Code de la nature=« -- Gesetzbuch der Natur. Sie
erschien 1750 und wurde lange Zeit dem großen Enzyklopädisten Diderot
zugeschrieben. Morelly entwickelt darin eine vollkommene
Naturphilosophie: Die Natur hat die Bedürfnisse des Menschen so
eingerichtet, daß sie die Grenzen seiner Kräfte immer um ein Geringes
übersteigen. Andernfalls würde der Mensch nicht geselliger sein als das
Tier. Bei den Menschen sollen, so will es die Natur, Wünsche und
Besorgnisse die moralische Anziehung zueinander steigern, und aus der
Spannung dieser Triebfedern soll eine wohlwollende Gesinnung für alle
hervorgehen. Es ist außerordentlich charakteristisch, wie da der Natur
Absichten, Zwecke und Ziele unterstellt werden. Dabei spielt die
Naturphilosophie allerdings in die spekulative Phantasie über. Aber
diese Art zu argumentieren beherrscht lange die allgemeine Sprach- und
Denkweise. Auf die Natur bezieht sich nun alles, alle möglichen Zwecke
werden der Natur als gewollt unterstellt. Die Natur hat dies und das so
eingerichtet, damit die Menschen jenes machen. Sie hat absichtlich
Bedürfnisse und Kräfte der Menschen in ein solches Verhältnis gesetzt,
daß der einzelne Mensch seine Bedürfnisse gar nicht erfüllen kann und
gezwungen ist, gesellig zu leben. Alles wird, wie bei Winstanley, auf
die Natur zurückgeführt. Morelly sagt weiter: »Deshalb hat die Natur
unter den Menschen die Kräfte so verteilt. Allen aber hat sie das
fruchtbringende Feld, den Boden also, in gleicher Weise als
unbestrittenes Eigentum zugeteilt. Die Welt ist ein Tisch für alle, der
für alle gedeckt ist«, und Morelly stellt das Problem, eine solche Lage,
eine solche Verfassung zu finden, in der der Mensch so glücklich und
wohltätig sein wird, wie es überhaupt nur möglich sei. Das ist der
leitende Gedanke für die Utopie, die er entwickelt. Nicht etwa nur, daß
für ihn das Maßgebende ist, den möglichst vollkommenen Staat zu bilden,
sondern vollkommen sei nur ein solcher Staat, wo die Menschen
naturgemäß, d. h. durch die Natur der Dinge so glücklich und wohlwollend
oder, wie man später sagte, brüderlich seien, wie überhaupt nur möglich.
Das ist die Grundlage seines Kommunismus, der lange Zeit einen großen
Eindruck machte und, wie gesagt, Diderot zugeschrieben wurde. Von
Morelly ist sicher der berühmte Abbé Gabriel de Mably beeinflußt worden,
dessen Schriften zum Teil gleichfalls kommunistisch sind, z. B. die
Schrift von den Rechten und Pflichten des Bürgers, und die Schrift:
Zweifel der Ökonomie gegenüber. In bezug auf die Kritik der Wirtschaft
ist Mably sogar viel radikaler noch als Morelly.

Aber auch die rein bürgerliche Schule der Physiokraten weist, wie schon
der Name anzeigt, auf die Natur als den berufenen Regulator der
menschlichen Gesellschaft hin. Es ist die Zeit, wo die Idee des
wirtschaftlichen Liberalismus aufkommt, die in England vertreten wird
durch Adam Smith und dessen Anhänger. Es galt der Grundsatz: =Laisser
faire, laisser passer!= Lasset gehen, lasset geschehen, die Welt regelt
sich von selber! Macht so wenig wie möglich Vorschriften! Das war die
Doktrin der physiokratischen Schule, und eine Mittelstellung zwischen
ihr und den Kommunisten nimmt Jean Jacques Rousseau ein, der Verfasser
des »=Contrat social=«, den als Volksvertrag, d. h. demokratisch
aufgefaßten Gesellschaftsvertrag, auch er naturrechtlich begründet.

Man weiß, welche ungeheure radikale Literatur in Frankreich der
Revolution vorausging, wie viele Schriftsteller vor ihr an allen
Überlieferungen rüttelten, die es gab, nicht nur Kommunisten und
Sozialisten, sondern auch Liberale wie Voltaire und die ganze Schule der
Enzyklopädisten usw. Dann tritt die Revolution ein, und eine ihrer
ersten gesetzgeberischen Handlungen ist die Verkündung der
Menschenrechte, eine durchaus naturrechtliche Aufstellung, die Geltung
haben soll über alle Gesetzgebung hinaus, das heißt, die der
Gesetzgebung, welche die Französische Revolution nun schaffen soll, die
Wege weist. Sie hatte ihre Vorgängerin 1774 in Amerika bei der Gründung
der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Kolonien, die damals sich gegen
die englische Herrschaft auflehnten, stellten eine Formulierung ihrer
Rechte auf, die als allgemeine Rechte des Menschen und Bürgers
beansprucht wurden. Auch als die Holländer sich von Spanien befreiten,
sprachen sie so. Und selbst die »=Bill of rights=«, die das englische
Parlament 1688 aufstellte, enthielt Elemente allgemeiner Rechtsgedanken.
Menschenrechte als Naturrechte finden aber den schärfsten Ausdruck in
der Verfassung von 1793, die der radikale französische Konvent nach dem
Sturz der Girondisten schuf, und der er die Erklärung der Menschenrechte
voranstellte. In der Einleitung dieser Erklärung liest man:

  »Das französische Volk, in der Überzeugung, daß das Unglück der Welt
  nur durch das Vergessen und Mißachten _der natürlichen Menschenrechte_
  verursacht wird, hat beschlossen, in einer feierlichen Erklärung seine
  heiligen und unveräußerlichen Rechte zu erläutern.«

Im dritten Artikel heißt es:

  »Alle Menschen sind _gleich durch die Natur_ und vor dem Gesetz«,

und im sechsten Artikel:

  »Das Recht hat als Grundsatz die _Natur_ und als Regel das Gesetz.«

Dies die beiden wichtigsten Artikel, die die naturrechtliche Auffassung
betonen. Daß sie als theoretische Begründung vor der Kritik nicht
standhält, braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden. Aber von dieser
Auffassung werden die demokratischen Rechte abgeleitet und empfängt drei
Jahre später, nachdem die Verfassung beschworen, die Verschwörung
Babeufs ihre geistige Anregung. Die Verschwörung Babeufs und der
Gleichen ist das klassische Beispiel der Ableitung des Sozialismus aus
dem Naturrecht.

François Noël Babeuf, der sich nach der damaligen Sitte den Vornamen
Gracchus beilegte und auch dem von ihm geschaffenen Organ den Namen »Der
Volkstribun« gab, kann als der konsequenteste Vertreter der Ableitung
des Kommunismus aus der Idee eines von der Natur bestimmten Rechts
betrachtet werden. Die Verschwörung der Gleichen genauer zu schildern,
gehört in eine Abhandlung, die sich mit der Geschichte des Sozialismus
im einzelnen befaßt, ist daher hier nicht am Platze. Die Gleichen waren
die äußersten Ausläufer der Revolution, und es ist bezeichnend, daß ihre
führenden Mitglieder sämtlich der Schicht der Intellektuellen
angehörten. Es ist vollkommen irrig, ihre Bewegung als eine
Klassenbewegung des Proletariats aufzufassen. Die Gleichen agitierten
zwar im Volke, sie schickten ihre Sendboten in die damals existierenden
Fabriken, die größeren Werkplätze und Werkstätten von Paris, suchten
dadurch auf die Arbeiter Einfluß zu gewinnen und fanden ihn auch
anscheinend. Es ward sogar erzählt, daß die Verschwörung der Gleichen,
die schließlich einige tausend Mitglieder angeworben hatte, alle
Aussichten des Erfolges für sich hatte. So hat sich der französische
radikale Schriftsteller Georges Avenel im Pariser »Siècle« ausgedrückt,
und von da ist dieser Satz durch eine ganze Reihe sozialistischer
Abhandlungen über sie übergegangen. Auch findet man eine solche Äußerung
schon bei Philipp Buonarotti, dem Mitglied und klassischen
Geschichtschreiber der Verschwörung. Es ist das aber der Ausfluß einer
ganz naiven Auffassung. Sie hatte gar keine Aussichten des Erfolges für
sich. Die Form der Organisation war eine solche, daß sie über die
Möglichkeiten täuschen konnte; aber beim ersten Versuch, den
ausgeklügelten Plan in die Praxis umzusetzen, schlug er ganz jämmerlich
fehl. Das hat indes natürlich noch nichts zu tun mit der Würdigung der
dem Kommunismus Babeufs zugrunde liegenden Idee. Babeuf hat sie in
verschiedenen Artikeln seiner Zeitschrift entwickelt, und in einem
seiner berühmten Artikel, der im »Volkstribun« vom 30. November 1795
erschien, wird die absolute Gleichheit kategorisch als Naturrecht
aufgestellt. Es heißt da:

  »Wir haben den Satz aufgestellt, daß _die volle Gleichheit_ ein
  _natürliches_ Recht ist, und daß der gesellschaftliche Vertrag (die Idee
  des »=Contrat social=«, die von Rousseau aufgestellt war und eine so
  große Rolle in der Französischen Revolution gespielt hat), weit
  entfernt, _dieses Naturrecht_ zu beeinträchtigen, lediglich jedem
  einzelnen die Garantie gewähren wird,« usw. usw.

Später finden wir im April 1796 im Manifest der Gleichen, das von
Sylvain Maréchal verfaßt war und den wunderlichen Satz enthält: »Möge
alle Kultur zugrunde gehen, wenn nur die Gleichheit hergestellt ist«,
als Einleitung den Satz:

  »_Die Gleichheit, der erste Wunsch der Natur ..._«

Die Natur hat also nicht nur einen Willen, sondern auch Wünsche. In
einem andern Manifest, das die Erklärung der Lehren Gracchus Babeufs
gibt, lautet der erste Satz:

  »Die _Natur_ hat allen Menschen ein gleiches Recht auf den Genuß aller
  Güter gegeben.«

Aber die Natur ist nicht imstande, dieses Recht selbst zu verwirklichen.
Daher lautet der zweite Satz:

  »Der Zweck der Gesellschaft ist es, diese Gleichheit, die im rohen
  Naturzustande oft durch die Starken und Schwachen gefährdet wird, zu
  verteidigen und durch tätige Mitwirkung aller die gemeinsamen
  Lebensgenüsse zu vermehren.«

Und der dritte Satz sagt:

  »Die Natur hat jedem die Pflicht zur Arbeit auferlegt. Keiner hat sich
  ohne Verbrechen je dieser Pflicht entziehen können.«

Von neuem wird die Natur angerufen, die Natur mit ihrem Willen. Zu
erwähnen ist noch der Satz Nr. 10:

  »Zweck der Revolution ist die Beseitigung der Ungleichheit und die
  Wiederherstellung des allgemeinen Wohlstandes.«

Alles wird zurückgeführt auf den Willen und die Absichten der Natur und
einen vorgestellten Naturzustand, auf dem allgemeiner Wohlstand
geherrscht habe. In bezug auf letzteren verrät aber Babeuf doch schon
Zweifel, wenn er sagt, im rohen Naturzustande haben Schwache und Starke
die natürliche Gleichheit gefährdet.

Die Verschwörung der Gleichen war die letzte große Regung in der
Französischen Revolution, die ausging vom Naturrecht. Es finden nach ihr
noch kleinere Aufstände und Attentate demokratisch gesinnter Elemente
statt, aber die Bewegung selbst geht rückläufig. Auf die Epoche des
Direktoriums folgt die des Konsulats, und dann führen die
imperialistischen Kriege Bonapartes -- die ersten Jakobinerkriege waren
ja Verteidigungskriege -- dazu, daß Verteidigungskrieg und
Eroberungskrieg sich vermischten, daß Kriege, die in der Vorstellung der
Nation der Befreiung galten, zu neuer Beherrschung führten. Erst gegen
Ende der Restauration, zwei Jahre bevor im Juli 1830 auch die
Legitimisten gestürzt waren, veröffentlichte Buonarotti in Brüssel die
Geschichte der Verschwörung der Gleichen, die einen sehr tiefen Eindruck
machte und bald neue Verschwörungen von Sozialisten zur Folge hatte.
Buonarotti war ohnehin Carbonari, und unter seinem Einfluß entstand eine
Verschwörersekte, die den Namen »die Babouvisten« bekam und deren
Anhänger sich später »Partei der Blanquisten« nannten, nach ihrem
hervorragenden Führer Auguste Blanqui. Neben dieser Bewegung zeitigte
der sozialistische Gedanke eine Reihe Abarten in Frankreich, und man
kann sagen, daß der ganze französische Sozialismus in der Mitte des
19. Jahrhunderts, wenn man ihn schärfer untersucht, zuletzt
naturrechtlich begründet ist. Das ist z. B. auch der Fall bei Charles
Fourier, dessen Lehre im Grundgedanken zurückgeht auf Morelly, der, wie
wir gesehen haben, Naturanlagen maßgebend sein läßt für die Struktur des
sozialistischen Systems. Bei Morelly schon findet man den Gedanken, daß
die natürlichen Anlagen und Neigungen die Möglichkeit geben, einen
Gesellschaftszustand zu errichten, der auf voller Freiheit und
Gleichheit beruht. Alle natürlichen Neigungen und Leidenschaften seien
von Hause aus berechtigt und keine Laster, sofern man ihnen nur die
Möglichkeit gebe, sich richtig zu betätigen. Fourier läßt auch Neigungen
als gleichberechtigt gelten, die gemeinhin für unschön erachtet werden,
so die Abwechslungssucht, den Ehrgeiz, die Streitsucht usw., und hat ein
ganzes System aufgestellt, wie diese Neigungen zum Besten der
Gesellschaft geleitet werden können. Er hat nach Newton ein zweites
Gesetz der Attraktion zu formulieren geglaubt.

Auch in anderen Ländern, auch in Deutschland, finden wir die
Gleichheitsidee in den verschiedensten Formen von Sozialisten verfochten
und naturrechtlich begründet, in England bei Robert Owen und seiner
Schule, in Deutschland beim »Bund der Gerechten« und dessen zeitweise
hauptsächlichsten Vertreter Wilhelm Weitling, dessen Buch »Garantien der
Harmonie und Freiheit« in hohem Grade beruht auf babouvistischen Ideen,
die er in Paris kennengelernt hatte. Dadurch aber, daß diese Systeme,
soviel richtige Gedanken sie sonst enthalten, sich bewußt oder unbewußt
auf die naturrechtliche Betrachtungsweise stützen, sind sie doch ihrem
Wesen nach utopistisch. Denn es wird bei ihnen vergessen, daß der Mensch
nicht nur ein Produkt der Natur, sondern im Laufe der Zeit auch ein
Produkt der Geschichte und der gesellschaftlichen Zustände geworden ist,
die in ihm vielfach erst Neigungen und Bedürfnisse entwickelt haben, die
er von Natur aus nicht hat. Als Produkte der Natur haben alle Menschen
allerdings gewisse gleiche Bedürfnisse mit auf den Weg bekommen. Alle
Menschen haben von Natur aus gleichermaßen, wenn auch nicht in gleicher
Beschaffenheit Nahrungsbedürfnisse, das Bedürfnis nach Obdach usw.; eine
Reihe grober Bedürfnisse sind allen gemeinsam. Aber wenn man eine
Gesellschaft konstruieren will von Menschen, die man vorfindet, dann muß
man auch prüfen: was sind ihre sozialen, ihre geschichtlich gewordenen
Bedürfnisse, welche Zustände hat die geschichtliche Entwicklung
geschaffen, und was ist unter diesen Verhältnissen zu ändern notwendig
und möglich?

Mit diesem Einwand soll nun durchaus nicht etwa die Bedeutung
naturrechtlicher oder vernunftrechtlicher Erwägungen irgendwie
unterschätzt und herabgesetzt werden. Wollte man das tun, so liefe es
darauf hinaus, das sogenannte positive Recht, die geschichtlichen
Zustände, die in einer Epoche eingetreten sind und sich fortgepflanzt
haben, schon bloß weil sie geschichtlich sind, für gut erklären und
ihnen eine Ewigkeitsdauer, eine Art Heiligkeit zusprechen. Das würde
natürlich vollständig falsch sein. Die Idee eines Naturrechts hat in der
Geschichte und Wissenschaft zu den verschiedenen Zeiten eine ungeheuer
große Bedeutung gehabt.

Die Idee eines Rechtes, das über dem geschriebenen Recht steht, das
unabhängig ist von gegebener geschichtlicher Entwicklung und positiven
Machtverhältnissen, war unter Umständen der Protest des
vorwärtsstrebenden Geistes gegen die Fortdauer überlebter, Unrecht
gewordener Einrichtungen, Zustände und Anschauungen, sie war die
Auflehnung sozusagen des jeweiligen Zeitgeistes gegen die Herrschaft der
Tradition, gegen die Herrschaft des Unrecht gewordenen Rechtes, der
Gedanke an sie die Zuflucht der jeweilig Unterdrückten und in der
Gesellschaft Zurückgesetzten. Es fällt mir also gar nicht ein, etwa zu
bestreiten, daß das Nachdenken über eine Rechtstheorie, die höher steht
als das geschichtlich gewordene positive Recht, seine Berechtigung habe.
Die rechtstheoretische Betrachtung, die Forschung nach einem richtigen
Recht, wie man es nun nennt, ist ein sehr bedeutsames Streben, das durch
die ganze Geschichte namentlich der liberalen Rechtsschule geht, wobei
ich das Wort »liberal« hier nicht im Parteisinne, sondern im weiten
geschichtlichen Sinne anwende, als den großen Freiheitsgedanken, der in
der Französischen Revolution seine rechtliche Formulierung gefunden hat
und in sich die Grundidee aller Fortschrittsbewegungen einschließt, die
sich weiterhin im Laufe der Geschichte vollziehen, nämlich das Recht des
werdenden Neuen gegen das überlebte Alte. Der Gedanke dieses Rechts ist
der liberale Rechtsgedanke -- nicht im Parteisinne, sondern im großen
geschichtlichen Sinne. Man kann ihn auch den revolutionären
Rechtsgedanken nennen.

Es gibt eine ganze Literatur des Vernunftrechts. Fast alle
Rechtstheoretiker haben sich mit ihm auseinanderzusetzen versucht, fast
alle Dichter und Denker sich mit ihm beschäftigt. Die Worte, die Goethe
im »Faust« in der Schülerszene dem Mephisto in den Mund legt, diese oft
zitierten Verse:

    »Es erben sich Gesetz und Rechte
    Wie eine ew'ge Krankheit fort;
    Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
    Und rücken sacht von Ort zu Ort.
    Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
    Weh' dir, daß du ein Enkel bist!
    Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
    Von dem ist -- leider! -- nie die Frage.«

sie sind der Aufschrei der naturrechtlichen Betrachtung, der Protest des
unter der Überlieferung Leidenden gegenüber dem positiven Recht, das
Zurückgreifen auf ein Recht, das höher steht als das jeweilig
anerkannte. Das hat ja auch Schiller im »Tell« in der berühmten, nach
meiner Ansicht schönsten Szene dieser Dichtung, der Verschwörungsszene
auf dem Rütli, dem Stauffacher in den Mund gelegt. Nachdem er alle die
Unbill aufgezählt hat, die die Schweizer erlitten haben, ruft
Stauffacher aus:

    »Ist keine Hilfe gegen solchen Drang?
    Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.
    Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
    Wenn unerträglich wird die Last, -- greift er
    Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
    Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
    Die droben hangen unveräußerlich
    Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst.«

Die unveräußerlichen Menschenrechte werden angerufen, und Stauffacher
sagt weiter: »_Der alte Urstand der Natur kehrt wieder._« Ebenfalls um die
Anrufung des Naturrechts gegenüber dem geschichtlichen oder dem alten
Unrecht. Indes handelt es sich, wie gesagt, wenn wir das Naturrecht
kritisieren, nicht darum, daß jedes Rückgreifen auf ein über dem
positiven Recht stehendes Recht verworfen werden soll, sondern nur
darum, daß man sich klar darüber werden soll, wo die Grenzen solchen
Rechts liegen. Was kann das Naturrecht schaffen, was kann es beweisen?
Beweisen kann es wohl die Richtigkeit bestimmter Rechtsbegriffe, je
nachdem diese zeitgemäß geworden sind, aber was das Naturrecht nicht
allein beweisen kann, ist, daß eine ganze Gesellschaftsorganisation
hinfällig geworden ist, reif geworden ist, durch eine andere ersetzt zu
werden, während den Sozialisten jener Epoche die Vorstellung
vorschwebte, sie könnten durch das Naturrecht allein die Notwendigkeit
der Beseitigung der gegebenen Gesellschaftsordnung nachweisen.

Die naturrechtliche Ableitung des Sozialismus wurde aber mit
Notwendigkeit Ursache von allerhand Streit unter Sozialisten und dann
selbst zu einer Streitfrage des Sozialismus. Polemik über ihre Anwendung
zieht sich in verschiedenen Formen durch die ganze sozialistische
Literatur. Die naturrechtliche Auffassung selbst aber ist mit der
größten Schärfe kritisiert worden von den beiden großen Denkern Marx und
Engels in ihrer Auseinandersetzung mit der nachhegelschen Philosophie
und den von ihr wie von den französischen Utopisten beeinflußten
deutschen Sozialisten. Ganz besonders gilt dies von einem Manuskript,
das leider nur erst zur Hälfte veröffentlicht ist, nämlich die Kritik
von Marx und Engels an der Schrift Max Stirners: »Der Einzige und sein
Eigentum.« Stirner galt als der radikalste Sozialphilosoph seiner Tage.
Die ersten Abschnitte der Auseinandersetzung von Marx und Engels mit ihm
sind in den »Dokumenten des Sozialismus« veröffentlicht worden, die von
mir herausgegeben wurden und 1905 ihr Erscheinen einstellten. Das
Manuskript mit dem unveröffentlichten Teil ist noch in meinen Händen.
Stirner nun, der alles Heilige geleugnet hatte, wird, weil er doch
wieder auf Naturrechtsideen in seinen Beweisführungen zurückgreift,
überführt, daß er mit seiner Übertreibung des Ich selbst Ideologe ist
und von Marx und Engels ironisch »der heilige Max« genannt, das
Schlimmste, was ihm passieren konnte.

Aber auch von den Sozialisten, die wissenschaftlich vorzugehen
glaubten, indem sie sich auf die Ökonomie beriefen, sind ein großer Teil
im naturrechtlichen Denken hängen geblieben.




Drittes Kapitel.

Die Bedeutung der Werttheorien für den wissenschaftlichen Sozialismus.


Die Ableitung des Sozialismus von naturrechtlichen Betrachtungen steht
in engem Zusammenhang mit der Ableitung des Sozialismus von der Lehre
vom Arbeitswert, das heißt von der Werttheorie, wie sie von Ricardo
aufgestellt und von Marx weiter entwickelt worden ist. David Ricardo
geht in seiner Werttheorie aus von dem Wert der Waren, die auf dem Markt
gehandelt werden und nicht ein Seltenheitsmonopol haben, sondern
verhältnismäßig -- auch da gibt es ja Grenzen -- beliebig vermehrt
werden können. Der Markt- oder Tauschwert dieser Waren, weist er nach,
besteht in der zu ihrer Herstellung erforderten menschlichen Arbeit,
gemessen nach der Zeit, die auf die Arbeit verwandt wird. Die
Feststellung ist das Bedeutende an der Werttheorie Ricardos. Auch sie
ist nicht völlig neu aus seinem Haupt entsprungen. Man kann Sätze, die
den Gedanken annähernd aussprechen, schon bei Vorgängern Ricardos im
17. Jahrhundert finden. Aber mit der wahrhaft klassischen Klarheit hat
erst Ricardo ihn formuliert. Es gibt zwei Arten Wert, stellt er fest:
Gebrauchswert oder Nützlichkeitswert und Tauschwert oder Marktwert der
Ware. Die Nützlichkeit ist die Voraussetzung des Tauschwertes, aber sie
bestimmt ihn nicht. Soweit Waren beliebig produziert werden können, ist
die Aufwendung von Arbeit das für ihren Tauschwert Maßgebende, wobei die
Konkurrenz auf dem Markt den Ausgleich bewirkt. Selbstverständlich ist
nicht alle Arbeit gleich. Qualifizierte Arbeit löst sich auf in
verschiedene Bestandteile einfacher Arbeit. Nicht jede Arbeit ist ferner
gleich wertbildend. Die Arbeit muß auf der Höhe der Technik der
allgemeinen Produktionsentwicklung stehen.

Bei Ricardo nun, dessen Grundsätze der Volkswirtschaftslehre 1817
erschienen, kehrt diese Werttheorie ihre Spitze gegen das _Grundeigentum_,
beziehungsweise gegen die Ansprüche der Grundeigentümer auf besondere
_Bodenrente_. Das Werk erschien zu einer Zeit, wo England sehr hohe
Kornzölle erhob, und wo der Kampf darum ging, ob sie fortdauern oder gar
erhöht werden sollten. An die vollständige Abschaffung des Kornzolles
wurde damals kaum gedacht. In diesem Kampfe bestritt Ricardo den
Anspruch auf Grundrente, indem er ausführte, daß diese kein
konstituierendes Element des Wertes sei, sondern ein Abzug vom Wert, der
dem Besitzer des Grundeigentums gegeben wird, während ein
naturrechtlicher Anspruch auf Grundrente überhaupt nicht bestehe. Der
Kampf zwischen Grundeigentümer und kapitalistischem Unternehmer, der im
ersten Teile des 19. Jahrhunderts eine große Bedeutung hatte, war bewußt
oder unbewußt das Motiv, das Ricardo veranlaßte, seine Theorie
aufzustellen.

Aber dabei blieb es nicht. Die Theorie Ricardos wurde bald gegen die
Unternehmer überhaupt, auch gegen die industriellen Kapitalisten
gekehrt. Es begann ein Streit um die Definition des Begriffs »Arbeit«.
Ricardo begreift in ihn ein die Tätigkeit des Unternehmers, der
Lohnarbeiter und der Angestellten, so daß der Wert bestimmt wird bei ihm
eigentlich nicht durch die Arbeit des Lohnarbeiters, des physischen und
geistigen Arbeiters, sondern das Produkt ist von dieser Arbeit und dem
Unternehmerprofit zusammen. Sehr bald kehrten aber Sozialisten die
Spitze gegen Ricardo als einen Verteidiger der Kapitalisten. Sie
erklärten: nein, für den Wert ist die Arbeit allein maßgebend, die
Arbeit der wirklich Arbeitenden, nicht der Anspruch des Kapitalisten.
Der Unternehmerprofit ist auch nur ein Abzug vom Arbeitswert.

In dieser Argumentierung -- und das ist sehr interessant -- erblicken
viele das große Werk von Karl Marx. Wenn man herumfragt, um welche
bedeutsame Erkenntnis Karl Marx die Wissenschaft der Ökonomie bereichert
habe, so wird man von den meisten hören, es sei das eben diese Theorie
des Wertes, daß die aufgewendete Arbeit allein den Wert der Waren
bestimme. Es geht Marx da so, wie fast jedem großen bahnbrechenden
Denker. Es wird etwas als sein Werk erklärt, was er schon fertig
vorfand, als er anfing zu arbeiten. Fragt man z. B. eine Anzahl Leute
nach dem Werke Kants, so werden neun von zehn antworten, er habe die
Theorie vom Ding an sich aufgestellt, das heißt eine Theorie, die
tatsächlich schon über 2000 Jahre vorher in der Philosophie lebte, ehe
Kant geboren war. Er hat vielmehr die Folgerungen, die man aus dem Ding
an sich gezogen hatte, _begrenzt_, das ist sein großes Werk; aber nicht,
daß er die Idee selbst zuerst aufgestellt habe. Und Marx' Werk besteht
darin, die Ableitungen aus der Idee vom Arbeitswert sehr vertieft, sie
zu weiteren Zwecken der Untersuchung fruchtbar verwendet zu haben. Was
Marx bei seinem großen Werk »Das Kapital« sich zur Aufgabe stellte, war
nicht der Nachweis, daß den Arbeitern das Produkt der Arbeit gehöre,
weil Arbeit den Wert der Ware bestimmt, sondern das Streben, die großen
Bewegungsgesetze der modernen kapitalistischen Wirtschaft zu erkennen,
zu formulieren und festzustellen. Dazu brauchte er allerdings die
Theorie vom Arbeitswert, weil sie ihm die Grundlage der Theorie vom
Mehrwert über den Preis hinaus ist, des Mehrwerts, um den in der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung sich der Kampf der Klassen
vollzieht. Der Kampf um den Mehrwert zwischen Unternehmer und
Grundbesitzer, der Kampf um den Mehrwert zwischen Arbeiter und
Unternehmer -- der Lohnkampf --, der Kampf um den Mehrwert der
Unternehmer untereinander in der freien Konkurrenz, das sind die großen
Triebkräfte, die auf die Entwicklung der Wirtschaften nach den
verschiedensten Seiten hin den allergrößten Einfluß haben.

Der Streit um den Mehrwert, der in der Grundrente steckt, ist nicht ein
rein theoretisches Spiel, sondern der Niederschlag des Kampfes um die
Bestimmung fast der ganzen Agrargesetzgebung einschließlich der
Zollgesetzgebung in bezug auf Agrarprodukte. Der Kampf in der freien
wirtschaftlichen Konkurrenz um den Mehrwert ist es wiederum, der dahin
führt, daß, wenn der Druck auf die Löhne nicht möglich ist, um die
Produktion zu verbilligen, die technische Herstellungsweise immer mehr
vervollkommnet wird. Er führt ferner dazu, daß der Unternehmer, um
andere Unternehmer aus dem Felde zu schlagen, sich genötigt sieht, die
Unternehmung immer mehr zu vergrößern, damit ein relativ kleinerer
Anteil an den Kosten auf den Lohn entfällt und ein relativ größerer
Mehrwert verbleibt. Hierum aber spielt auch der Kampf der Unternehmer
und Arbeiter selber, und als solcher spitzt er sich nach verschiedenen
Seiten hin zu. So ist der Kampf um den Mehrwert in der kapitalistischen
Gesellschaft gewissermaßen die zuletzt bestimmende Triebkraft aller
großen wirtschaftlichen Bewegungen, hinter denen, durch sie
hervorgerufen, die großen politischen Kämpfe, die Klassenkämpfe, stehen.

Die Umkehrung der Lehre vom Arbeitswert gegen Ricardo und die ganze
bürgerliche Ökonomie setzt in England schon um das Jahr 1821 ein. Marx
zitiert selbst eine in jenem Jahre erschienene kleine anonyme Schrift,
deren Titel, ins Deutsche übersetzt, ungefähr lautet: »Die Quelle und
das Abhilfsmittel unserer nationalen Schwierigkeit. Ein Brief an Lord
John Russell«. Sie ward also 26 Jahre früher verfaßt, bevor Marx seine
erste ökonomische Abhandlung schrieb, die gegen Proudhon gerichtete
Streitschrift »Das Elend der Philosophie«, und 45 Jahre vor seinem
»Kapital«. In dieser Schrift, was ganz interessant ist, heißt es:

  »Was auch dem Kapitalisten zukommen möge, er kann immer nur die
  Mehrarbeit (hier haben wir schon diesen Begriff) des Arbeiters sich
  aneignen, denn der Arbeiter muß leben. Wenn das Kapital nicht an Wert
  abnimmt im Verhältnis, wie es an Masse zunimmt, so wird der Kapitalist
  dem Arbeiter das Produkt jeder Arbeitsstunde abpressen über das
  Mindestmaß dessen, wovon der Arbeiter leben kann.«

Da haben wir auch den Gedanken der Theorie des ehernen Lohngesetzes,
wie Lassalle es seiner Agitation zugrunde legte, und wie es lange Jahre
von der deutschen Arbeiterbewegung gleich einem Heiligtum hochgehalten
wurde. Die zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts sind ja
die Blütezeit, auch die geistige Blütezeit des Sozialismus in England.
Sie zeitigte eine außerordentlich interessante sozialistische Literatur,
sozialistische Schriften Robert Owens selbst, der William Thompson, John
Gray, T. R. Edmonds, J. F. Bray und noch einer ganzen Reihe
Schriftsteller aus der Schule Robert Owens. Sie alle fußen darauf: Der
Arbeiter bekommt nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit, die Arbeit und
nicht der Arbeitslohn bestimmt den Wert der Ware, infolgedessen hat der
Arbeiter auf den vollen Wert des Produkts Anspruch.

Karl Marx hatte sein großes Werk über politische Ökonomie schon um 1849
in Angriff genommen, ging aber erst 1859 daran, es zu veröffentlichen.
Es sollte in Lieferungen bzw. Heften erscheinen. Aber nur das erste Heft
ist damals erschienen, nämlich die Schrift »Zur Kritik der politischen
Ökonomie«, und in ihr wird vom Verhältnis des Arbeitslohns zum
Arbeitswert noch gar nicht näher gehandelt.

Es ist beiläufig ein bemerkenswertes Zusammentreffen, daß dieses Buch
von Marx, in dessen Vorwort er die Grundgedanken seiner
Geschichtstheorie entwickelt, die wir als soziologische oder
sozialwissenschaftliche Entwicklungslehre kennen, in demselben Jahre
herauskam, wo das erste bahnbrechende Buch von Charles Darwin erschienen
ist: »Der Ursprung der Arten«, das grundlegend war für die biologische
Entwicklungslehre, die Wissenschaft von der Metamorphose der Lebewesen.
Wenn die Darwinschen Aufstellungen heute auch in vielen Punkten
umgeworfen sind, so ist der Grundgedanke seiner Theorie doch
beibehalten; er bleibt der Vater der biologischen Entwicklungslehre. Und
ebenso mit Marx. Was bei Darwin für die Entstehung und Entwicklung der
Arten der Kampf ums Dasein in der Natur ist, ist bei Marx für die
Entwicklung der menschlichen Gesellschaften der Kampf der Klassen in der
Gesellschaft. Beider Theorien sind grundsätzlich auf den Kampf gestützte
Entwicklungslehren.

In dem Buche »Zur Kritik der politischen Ökonomie« nun findet man von
Marx an einer Stelle, wo er die damaligen Angriffe auf die Ricardosche
Werttheorie auseinandersetzt und die aus ihr sich ergebenden Probleme
formuliert, folgenden Satz:

  »Wenn der Tauschwert eines Produktes gleich ist der in ihm enthaltenen
  Arbeitszeit, dann ist der Tauschwert eines Arbeitstages gleich seinem
  Produkt, oder der Arbeitslohn muß dem Produkt der Arbeit gleich sein.
  Nun ist das Gegenteil der Fall.«

Und dazu setzt Marx die Fußnote:

  »Dieser von ökonomischer Seite gegen Ricardo beigebrachte Einwand ward
  später von sozialistischer Seite aufgegriffen. Die theoretische
  Richtigkeit der Formel vorausgesetzt, wurde die Praxis des
  Widerspruches gegen die Theorie bezichtigt und die bürgerliche
  Gesellschaft angegangen, praktisch die vermißte Konsequenz ihres
  theoretischen Prinzips zu ziehen. In dieser Weise kehrten wenigstens
  englische Sozialisten die Ricardosche Formel des Tauschwertes gegen
  die politische [bürgerliche. Ed. B.] Ökonomie.«

Marx nennt dann weiterhin an dieser Stelle diese Ableitung des
Sozialismus von Ricardo _die utopistische Auslegung der Ricardoschen
Formel_, und man hat geglaubt, sie sei das große Werk von Marx! Eine
Auslegung, die er gerade als utopistisch bezeichnet hat! Sie aber zieht
sich durch die ganze sozialistische Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie
gipfelt, wie hier schon angedeutet wird, in der Forderung des Rechtes
auf den vollen Arbeitsertrag. Die Frage dieses Rechtes hat gleichfalls
eine ganze Literatur erzeugt. Unter anderem hat sie eingehend behandelt
Anton Menger, der verstorbene, sehr gelehrte österreichische Sozialist.
Aber noch ein anderer hat die Idee aufgegriffen, und das war Ferdinand
Lassalle, der sie anscheinend zum Angelpunkt seiner sozialistischen
Agitation machte. Auch bei Proudhon finden wir sie in seinen ersten
großen sozialistischen Schriften behandelt, die am meisten Sensation
erregten. Seine erste sozialistische Schrift hieß: »Was ist das
Eigentum?«, in ihr hat er das bekannte Paradoxon aufgestellt: »Das
Eigentum ist Diebstahl«. Und wie beweist er den Satz? Er stützt ihn
darauf, daß das Eigentum es ermöglicht, den Ertrag der Arbeit des
Arbeiters diesem zu verkürzen, ihm im Lohn einen großen Anteil
vorzuenthalten. Und so gründet er seine sozialistische Theorie auf das
Recht auf den vollen Arbeitsertrag, auf das Ricardosche Wertgesetz.
Dasselbe ist der Fall bei Karl Rodbertus, dem berühmten deutschen, mehr
konservativ gerichteten Nationalökonomen. Auch dieser beruft sich für
seine sozialistische Theorie auf das Wertgesetz Ricardos, und ebenso tut
es Ferdinand Lassalle in seinen Agitationsschriften. Ferdinand Lassalle
geht hierbei zuletzt zurück auf das Naturrecht, begründet den
Sozialismus naturrechtlich. Er befindet sich damit, ohne es zu wissen,
auf demselben Boden wie Proudhon. Ja, das bedeutende, hochinteressante
wissenschaftliche Hauptwerk Lassalles: »Das System der erworbenen
Rechte«, ist im letzten Grunde auch nur ein Eintreten für das Naturrecht
gegen das erworbene Recht, denn sein leitender Grundgedanke ist die
Anwendung eines aus dem Naturrecht abgeleiteten Satzes der Erklärung der
Menschenrechte der großen französischen Revolution, nämlich daß keine
Generation spätere Generationen an ihre Gesetze binden kann, auf das
öffentliche wie auf das Privatrecht.

Ganz anders Marx. Er hat die Werttheorie, die er bei Ricardo vorfand,
konsequent weitergebildet, aber nicht, um aus der Lehre vom Mehrwert
Rechtsansprüche herzuleiten, sondern um die Bewegungsgesetze der
kapitalistischen Wirtschaft schärfer zu erfassen und darzustellen. Das
unterscheidet ihn von fast allen anderen Sozialisten, die an Ricardo
angeknüpft haben, und nicht zum wenigsten von Rodbertus und Lassalle.

Rodbertus hat schon in seiner 1842 erschienenen Schrift »Zur Erkenntnis
unserer staatswirtschaftlichen Zustände« und später in seinen »Sozialen
Briefen« an die Werttheorie von Ricardo angeknüpft und sie ganz in der
naturrechtlichen Auffassung der französischen und englischen Sozialisten
so ausgelegt, daß dem Arbeiter schon dadurch, daß er Lohn statt den
vollen Ertrag erhält, etwas weggenommen wird, was ihm von Rechts wegen
zukommt. Lassalle legt die Idee seinem im Jahre 1863 erschienenen
»Offenen Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines
allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses« zugrunde und entwickelt sie
ein Jahr später sehr eingehend in seiner Streitschrift: »Herr
Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian«. Er steht da
vollständig auf den Schultern von Ricardo und vermeintlich auch auf den
Schultern von Marx. Schon im Briefe vom 12. Mai 1851 an Marx nennt er
diesen den »Sozialist gewordenen Ricardo«, und in demselben Briefe sagt
er: »Ricardo ist unser unmittelbarer Vater!« und rühmt die Definition
der Grundrente, die Ricardo gegeben hat, als die »gewaltigste
kommunistische Tat«. Ihm, der vor allem Rechtstheoretiker war, lag es
eben ganz besonders nahe, den Sozialismus aus der Mehrwertstheorie
juristisch abzuleiten. In der Agitation diente ihm diese Ableitung zur
Unterstützung des von ihm als ehern bezeichneten Lohngesetzes Ricardos,
wonach der Lohn des Arbeiters nie viel höher über dessen notwendige
Lebensbedürfnisse steige und nie lange Zeit wesentlich darunter bleiben
könne, beiläufig eine Deduktion, die mehr malthusianisch als ökonomisch
ist. Auf sie beriefen sich aber, ihm folgend, dann jahrzehntelang die
Agitatoren beider Richtungen der deutschen Sozialdemokratie, die
spezifischen Lassalleaner wie auch die Sozialisten der Eisenacher
Richtung von Bebel und Liebknecht, die im übrigen sich gegen Lassalles
Mittel wandten, das darauf hinauslief, die Mehrarbeit zu beseitigen
durch die Schaffung von Produktivgenossenschaften der Arbeiter mit
Staatskredit. Diese Idee der Produktivgenossenschaften stammte
gleichfalls von den englischen Sozialisten. In den fünfziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts sind in England große Versuche mit einem
verhältnismäßig ziemlich bedeutenden Aufwand von Kapital mit ihr gemacht
worden. Wohlmeinende christliche Sozialisten Englands haben über eine
Million Mark hergegeben für Produktivgenossenschaften. Aber diese
Schöpfungen sind entweder zugrunde gegangen oder sie haben ihren
Charakter geändert und sind kapitalistische Unternehmungen geworden. In
Deutschland war man darüber nicht genauer unterrichtet, und als 1875 die
beiden sozialistischen Parteien sich vereinigten, fand sich in dem
Entwurf des Programms für die neue Partei im Anschluß an die Forderung
der »Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes« der Satz:

  »Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zum
  Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der
  Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrages.«

Wie Marx den ganzen Entwurf in einem Briefe an August Bebel und Genossen
äußerst abfällig kritisierte, so auch speziell diesen Satz von der
gerechten Verteilung des Arbeitsertrages, der nach seiner Meinung gar
nichts besagte. Die Ableitung vom ehernen Lohngesetz bezeichnet er als
utopistisch. Über die Forderung der gerechten Verteilung sagt er:

  »Was ist »gerechte« Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, daß die
  heutige Verteilung »gerecht« ist? Und _ist sie in der Tat nicht die
  einzig »gerechte« Verteilung auf Grundlage der heutigen
  Produktionsweise_? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch
  Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die
  Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen?«

Über das letztere, den Grundgedanken der ökonomischen
Geschichtsauffassung, eingehender zu sprechen, ist hier nicht der Ort.
Aber es geschieht in ihrem Sinne, wenn Marx scharf gegen den Gedanken
polemisiert, agitatorisch in das Programm das Schlagwort gerechte
Verteilung des Arbeitsvertrages hineinzuwerfen. Er führt aus, die Form,
wie der Arbeitsertrag verteilt wird, werde bestimmt durch die jeweilige
Produktionsweise, und auf dem Boden der jeweiligen Produktionsweise sei
sie dann, ökonomisch betrachtet, gerecht. Ob auch die Lohn_höhe_ gerecht
ist, ist etwas anderes; aber daß der Arbeiter Lohn bekommt und nicht den
Ertrag der Arbeit, das entspreche der gegebenen Produktionsweise, und
auf dem Boden dieser Produktionsweise könne daran nichts Wesentliches
geändert werden. Des weiteren legt Marx dar, welche Widersprüche in der
Forderung des vollen Arbeitsertrages liegen. Er erklärt, daß das gleiche
Recht bei der Verteilung des Arbeitsertrags auf die Leistung bezogen
seinem Inhalte nach gleiches Unrecht sei, denn die Arbeitsleistungen
seien ja verschieden. Wenn der Arbeiter den vollen Ertrag seiner Arbeit
bekomme, so bekomme er gegenüber anderen Arbeitern Ungleiches, weil er
ungleich arbeitet, und so werde das gleiche Recht hier ein Recht der
Ungleichheit. Er sagt:

  »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und die
  dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft«,

und er tadelt es auf das schärfste, daß man im Programm Vorstellungen
Ausdruck gebe, die einmal obwaltet und deshalb einen gewissen Sinn
hatten, aber im Angesicht der neugewonnenen Erkenntnis zum veralteten
Phrasenkram gehören. Der Brief ist ungemein interessant, aber er ist zu
jener Zeit bei der endgültigen Fassung des sozialdemokratischen
Programms wenig berücksichtigt worden. Ohne den Namen zu nennen,
richtete er sich wesentlich gegen Wilhelm Liebknecht, den hochverdienten
Vorkämpfer der Sozialdemokratie, der lange Jahre hindurch in Deutschland
als der berufene Interpret von Karl Marx galt. Das war er aber auf
theoretischem Gebiet ganz und gar nicht. Er war vielmehr wesentlich
naturrechtlicher Sozialist im Geiste der Franzosen, und daher wenig in
den Sinn der Marxschen Lehre eingedrungen. Der Brief, der, wie gesagt,
nur wenig auf die Gestaltung des damals vereinbarten Programms der
Sozialdemokratie eingewirkt hat, geriet in Vergessenheit, bis im Jahre
1890, als die Sozialdemokratie von neuem vor der Aufgabe stand, ein
Programm zu schaffen, Friedrich Engels ihn mit allen seinen Schärfen in
der »Neuen Zeit« veröffentlichte.

Die Frage aber, um die es sich hier dreht, blieb eine Streitfrage des
Sozialismus. Und zwar nicht so sehr eine Streitfrage über den Mehrwert
und dergleichen, denn der war ja eine nachweisbare Tatsache. Daß der
Arbeiter im allgemeinen einen höheren Wert erarbeiten muß, als er im
Lohn bekommt, das ließ sich sehr leicht nachweisen. Will man es sich
heute greifbar veranschaulichen, so lese man die Statistik der Aktionäre.
Die Aktionäre sind eigentlich der herumwandelnde Mehrwert, ob sie nun
sozialrechtlich Anspruch auf ihn haben oder nicht. Wie man die
Aktionäre, d. h. die Leute, die ihr Geld in den Aktien von gewerblichen
Unternehmungen anlegen, sozialrechtlich beurteilt, ob man auf sie als
Schmarotzer verächtlich zu blicken hat, oder ob man sagen kann, sie sind
zeitweise eine große Notwendigkeit gewesen und auch heute noch nicht
entbehrlich, das ist eine Frage für sich. Zu ihrer Beleuchtung sei hier
eine kleine Episode erwähnt. Der deutsche Reichstag verhandelte im Jahre
1906 über die vom damaligen Reichsschatzsekretär ausgearbeitete
Finanzaufbesserung. Sie schlug zum ersten Male eine Reichserbschaftssteuer
vor, und die Sozialdemokratische Partei, deren Mitglied ich bin, hatte,
weil sie Gegnerin aller indirekten Steuern und Zölle war, höhere Sätze
als der Minister für die Erbschaftssteuer beantragt. Mir fiel die
Aufgabe zu, diese Forderung zu vertreten, und ich wies dabei darauf hin,
daß damals schon eine Verteilung des Eigentums eingetreten sei, welche
die Möglichkeit biete, die für die notwendige Entwicklung der
Großproduktion erforderten Betriebskapitale auf genossenschaftlichem
Wege aufzubringen, und verwies hierfür auf die starke Verbreitung des
Aktienwesens. Der große Kapitalist habe eine notwendige Funktion erfüllt
in der Beschaffung der Mittel für die Erweiterung der Produktion zu der
Zeit, wo eine andere Form der Kapitalbildung nicht da war. Das sei aber
zum Teil schon überwunden, und man könne infolgedessen schon dreister
zugreifen bei der Besteuerung der großen Vermögen und Erbschaften. Da
antwortete mir ein nationalliberaler westfälischer Abgeordneter, das
klinge sehr schön, aber es sei doch falsch, denn wenn kleine Leute die
Mittel zusammenschießen, würden sie nie den Unternehmergeist und den
Wagemut aufbringen, der erforderlich sei, sich auf so weitschichtige
Unternehmungen einzulassen, wie die Großkapitalisten es täten. Wer
bemüht ist, objektiv zu urteilen und sich nicht durch seine eigenen
Parteianschauungen den wissenschaftlichen Blick blenden läßt, der muß
zugeben, daß ein Stück an dieser Antwort richtig war. Namentlich wenn
man anerkennt, daß zur fortschreitenden Entwicklung der
Volkswirtschaft -- solange nicht der Staat und die Allgemeinheit dafür
sorgen, daß ihre Organe nicht im Bureaukratismus versumpfen --, daß zum
Fortschritt der Gesellschaft in entscheidender Linie die Fortentwicklung
der Produktion durch beständige Verbesserung der Maschinerie und
großzügige, weitblickende Versuche gehören, muß man sich sagen, daß ein
Stück von jener Antwort wahr ist, und der Streit könnte nur darum gehen:
Wieviel davon ist noch wahr, und wieviel überlebt?

Wir haben kürzlich einen Kongreß der deutschen Chemiker gehabt, auf dem
ein Vertreter lebhaft gegen die Sozialisierung der chemischen Industrie
polemisierte. Er wies hin auf die wichtigen, wertvollen Leistungen
dieser Industrie, von denen er fürchtete, daß sie nicht in gleicher
Weise gemacht würden bei der Sozialisierung. Ich halte das in dieser
Allgemeinheit für sehr übertrieben, aber gerade weil ich Sozialist bin
und der Erkenntnis der Wahrheit nachstrebe, verschließe ich nicht vor
Tatsachen die Augen, sondern suche zu prüfen, wieviel an solchen
Behauptungen wahr ist. Man kann nun nicht bestreiten, daß auch noch in
neuerer Zeit die kapitalistische Unternehmung auf verschiedenen Gebieten
in bezug auf wertvolle Neuerungen Bedeutendes geleistet hat. Gerade
Sozialisten dürfen sich nicht das verhehlen, weil sie der sozialisierten
Produktion zur Aufgabe stellen müssen, in der Produktion das zu leisten,
was der Kapitalismus geleistet hat. Ein Beispiel sind unter anderem die
großartigen Neuerungen auf dem wichtigen Gebiete nicht nur der
Gewinnung, sondern der Weiterverarbeitung der Kohle, der chemischen
Verarbeitung ihrer Nebenprodukte, der Extrahierung von Ölen aus der
Kohle, was für Deutschland, das seine Einfuhren einschränken muß, eine
sehr wesentliche wirtschaftliche Frage ist. Aus alledem geht hervor, wie
recht Marx hatte, wenn er es für irreführend erklärte, die Form der
Verteilung des Arbeitsertrages bei der Begründung des Sozialismus als
maßgebend hinzustellen. Der Sozialismus ist in erster Linie gebunden an
die Fortentwicklung der Produktion.

Marx, der dies bald erkannte, trat daher, so seltsam dies klingen mag,
dem Kapital viel objektiver gegenüber, ließ seiner geschichtlichen
Bedeutung viel mehr Gerechtigkeit angedeihen, als die meisten
Sozialisten vor ihm und viele, die gleichzeitig mit ihm schrieben.
Ähnlich Friedrich Engels in seiner Streitschrift wider den
Wirklichkeitsphilosophen Eugen Dühring, der seinerzeit an der Berliner
Universität gelesen hat und 1877 removiert wurde wegen Angriffen auf
Kollegen, die allerdings erheblich über das Zulässige hinausgingen, sich
aber dadurch erklären, daß der Mann erblindet war. Dühring war
gleichfalls naturrechtlicher Sozialist und im Grunde Nichtökonom. Die
Kritik, die Friedrich Engels in seiner Schrift »Herrn Eugen Dührings
Umwälzung der Wissenschaft« an ihm übt, tut ihm nun zwar hier und da
Unrecht -- Engels hieb stark zurück auf die ungerechten Ausfälle, die
Dühring gegen Marx und andere Sozialisten gerichtet hatte --, aber bei
alledem ist dieses Buch unbestritten das bedeutendste Werk des modernen
Sozialismus nach Marx' »Kapital«. In ihm nun finden wir eine Reihe von
Kapiteln, die auch für unseren Gegenstand wichtig sind, weil Engels da
gründlich mit der naturrechtlichen Lehre abrechnet. Ferner knüpfte sich
an es eine Polemik, die für die Bedeutung der Mehrwertslehre für den
Sozialismus Aufklärung gibt.

Engels bemerkt in der Schrift, daß erst durch Marx' Enthüllung des
Mehrwerts der Sozialismus eine Wissenschaft geworden sei. Das hat den
österreichischen Gelehrten Anton Menger, seinerzeit Professor an der
Wiener Universität, auf die Bühne gerufen. In seinem Buche: »Das Recht
auf den vollen Arbeitsertrag«, das 1886 erschienen ist, nimmt er gegen
Marx und Engels Stellung und sucht nachzuweisen, daß Engels für Marx und
andere für Rodbertus eine Entdeckung reklamierten, die schon lange vor
jenen von englischen und französischen Sozialisten gemacht war. Menger
gibt dafür die ganze Literatur an, und man findet bei ihm auch sehr
interessante Darlegungen über die naturrechtliche Auffassung des
Sozialismus. Aber, weil er selbst wesentlich juristischer Sozialist ist,
wie er in einer Polemik genannt wurde, hat Menger vollständig das
Problem verkannt, um das es sich bei der Mehrwertslehre handelt. Er
bezieht sie auf die Frage des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, eine
Sache, um die sich Marx im »Kapital« gar nicht gekümmert hat. Warum
nicht, entwickelt nun Engels im Vorwort zur deutschen Ausgabe von »Das
Elend der Philosophie«, eine Streitschrift von Karl Marx gegen Proudhon.
Er erwähnt dort den von Rodbertus gegen Marx erhobenen Vorwurf, daß er
den Nachweis des Mehrwerts erst nach ihm geliefert habe, zeigt, wie
schon in jener zuerst 1847 erschienenen Schrift gegen Proudhon Marx
diese Ableitung des Mehrwerts aus Ricardo behandelt und 1859 die
Nutzanwendung der englischen Sozialisten aus ihr, daß den Arbeitern als
den alleinigen Produzenten die ganze gesellschaftliche Produktion
gehöre, als falsch hingestellt habe, und sagt dann:

  »Die obige Nutzanwendung führt direkt in den Kommunismus. Sie ist
  aber, wie Marx an der obigen Stelle auch andeutet, ökonomisch formal
  falsch, denn sie ist einfach eine Anwendung der Moral auf die
  Ökonomie. Nach dem Gesetze der bürgerlichen Ökonomie gehört der größte
  Teil des Produktes nicht den Arbeitern, die es erzeugt haben. Sagen
  wir nun: das ist unrecht, das soll nicht sein, so geht das an sich die
  Ökonomie zunächst nichts an. Wir sagen nur, daß diese Tatsache unserem
  sittlichen Gefühl widerspricht. Marx hat daher nie seine
  kommunistischen Forderungen hierauf begründet, sondern auf den
  notwendig sich vor unseren Augen täglich mehr und mehr vollziehenden
  Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise. Er sagt nur, daß
  der Mehrwert aus unbezahlter Arbeit besteht, was eine einfache
  Tatsache ist.«

Dann fährt Engels fort:

  »Was aber ökonomisch formell falsch ist, kann darum doch
  weltgeschichtlich richtig sein. Erklärt das sittliche Bewußtsein der
  Masse eine ökonomische Tatsache, wie seinerzeit die Sklaverei oder
  Fronarbeit, für unsittlich, so ist das ein Beweis, daß die Tatsache
  selbst sich schon überlebt hat, daß andere ökonomische Tatsachen
  eingetreten sind, kraft deren jene unerträglich und unhaltbar geworden
  ist. Hinter der formellen ökonomischen Unrichtigkeit kann daher ein
  sehr wahrer ökonomischer Inhalt verborgen sein.«

Engels sagt also ausdrücklich, die Anwendung der Moral -- und das
Naturrecht ist Moral -- auf die Ökonomie in dieser Frage ist ökonomisch
falsch, die Ökonomie gehe das nichts an, was das sittliche Bewußtsein
sagt. Er erkennt nur an, daß, wenn das sittliche Bewußtsein der Massen
eine ökonomische Tatsache für unrecht erkläre, dies eine Anzeige sei,
daß inzwischen Verhältnisse eingetreten seien, wonach diese Tatsache
nicht mehr erträglich und haltbar sei. Das aber muß doch immer erst
ermittelt werden, und wie führt man den Beweis? Engels zeigt es an, wenn
er fortfährt:

  »Marx hat seine kommunistischen Forderungen nie darauf begründet,
  sondern auf den sich vor unseren Augen täglich mehr und mehr
  vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise.«

Das schrieb Engels 1877, und wenigstens bis zum Ausbruch des
Weltkrieges war die kapitalistische Produktionsweise nicht
zusammengebrochen, sondern hatte im Gegenteil einen gewaltigen weiteren
Aufschwung genommen. Es lassen sich verschiedene Tatsachen anführen, aus
denen hervorgeht, daß eine Reihe von Folgerungen, die man aus der alten
Theorie geschöpft hatte, sich nicht bewahrheitet haben. So z. B. der
Satz »Die Maschine schlägt den Arbeiter tot«. Der Ansicht, daß die
Maschine in größerem Maße Arbeiter überflüssig mache, als durch sie zur
Produktion herangezogen werden, steht die Tatsache entgegen, daß bis zum
Kriege die Zahl der industriellen Arbeiter, des industriellen
Proletariats, in allen Ländern moderner Entwicklung erheblich zugenommen
hat, nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten Ländern. Diese
Frage bedarf also gleichfalls einer Nachprüfung und genauen
Untersuchung. Ganz besonders aber nötigt der Satz von Engels, Marx habe
seine kommunistischen Forderungen auf dem mit Notwendigkeit sich
vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise
gegründet, genauer zu untersuchen, wie es sich mit diesem Zusammenbruch
verhält.

Inzwischen liegt die Frage der Verteilung des Arbeitsertrages auf einem
anderen Gebiete. Die Geschichte der Entlohnung der Arbeiter kennt ganz
verschiedene Lohnraten, nicht bloß der absoluten Höhe, sondern auch dem
Anteil am Produkt nach. Sie verzeichnete zu gewissen Zeiten bei einem
wesentlichen Tiefstand der Entwicklung eine furchtbare Ausbeutung von
Arbeitern. Wir wissen von dem Elend, das lange Zeit in England und
Deutschland existiert hat und vielfach noch und wieder existiert, daß
oft der Lohn ganz bedeutend zurückbleibt hinter dem Mehrwert. Es fehlt
aber auch nicht an Beispielen eines anderen Verhältnisses von Lohn und
Mehrwert. Im allgemeinen wird in der marxistischen Literatur die
Mehrwertrate auch Ausbeutungsrate genannt. Aber an einer bestimmten
Stelle polemisiert Engels dagegen, daß man den Begriff »Ausbeutung« in
diesem Zusammenhang moralisch auffaßt, er soll nur ökonomisch genommen
werden als eine reine Tatsache, wie man etwa von der Ausbeutung eines
Bergwerks oder eines Patents spricht. Ich muß indes sagen, daß dann doch
das Wort ein wenig zu Unrecht angewandt wird. Ausbeutung kann natürlich
eine rein ökonomische Tatsache sein ohne jeden Zusammenhang mit
moralischen Beziehungen. Aber wenn wir in bezug auf Menschen von
Ausbeutung sprechen, so können wir kaum jemals den moralischen Sinn des
Wortes davon trennen, und daß im Lohnverhältnis oft eine wirkliche
Ausbeutung im moralischen Sinne des Wortes stattfindet, läßt sich gar
nicht bestreiten. Die Anschauung, daß das ganze Lohnsystem ein
Ausbeutungssystem im moralischen Sinne des Wortes sei, hat unzweifelhaft
der Arbeiterschaft in ihrem Emanzipationskampf einen großen moralischen
und ethischen Antrieb gegeben. Bei den politischen Kämpfen der
Arbeiterbewegung hat überall die Forderung: Abschaffung des Lohnsystems,
und zwar von der Arbeiterseite aus gesehen: Abschaffung des Lohnsystems
zur Sicherung des vollen Arbeitsertrages eine große Rolle gespielt. Aber
freilich nur als Idee. Denn wie sollte es für die Gesamtheit der
Arbeiter verwirklicht werden? Es könnte nur dadurch geschehen, daß man
zum Kommunismus übergeht und gar keine Bezahlung der Arbeit, sondern
eine einfache Verteilung des Reichtums vornimmt oder, wie Krapotkin es
will, die Benutzung des ganzen gesellschaftlichen Reichtums allen zur
freien Verfügung stellt. Solange man noch mit Leistungswert der Arbeit
rechnet, und im Übergangsstadium wird man das sicher nicht umgehen
können, wird allerdings auch noch immer eine Art Lohnsystem
aufrechterhalten werden müssen, und die Forderung: Abschaffung des
Lohnsystems, hat denn auch in der Praxis eine ganz andere Anwendung
gefunden. Nicht die Form Arbeitslohn ist es, die in Wirklichkeit
bekämpft wird. Die Arbeiterklasse hat in der Praxis sich ganz anders zu
ihr gestellt. Gegen nichts haben sich die Arbeiter aus guten Gründen
schärfer gewandt als gegen eine andere Art Bezahlung als durch den Lohn,
gegen eine Ausgleichung der Arbeit, die etwa bestand in der Zuwendung
von Lebensmitteln, Wohnung usw. Sie betrachten ein auf ihr beruhendes
Verhältnis als eine Sklaverei oder Hörigkeit, den Lohn aber betrachten
sie dieser altmodischen patriarchalischen Arbeitsabgeltung gegenüber,
wie sie bei Fleischern, kleinen Kaufleuten und manchen anderen
Handwerkern noch bestand, als einen Fortschritt. Es handelte sich bei
ihren praktischen Kämpfen niemals darum, die Lohnform überhaupt
grundsätzlich abzuschaffen, sondern erstens jedesmal um die Lohnhöhe
überhaupt und zweitens um die Art, wie die Lohnhöhe bestimmt wird. Das
ist vorläufig der eigentliche Kampf der Arbeiterklasse in der modernen
Gesellschaft, auch dem Staate gegenüber, in Hinsicht auf den Entgelt der
Arbeit, daß der Lohn nicht bestimmt wird durch die freie Konkurrenz,
nicht willkürlich festgesetzt wird vom Unternehmer, sondern daß die
Arbeiterklasse selbst in ihren Organisationen einen gesetzlichen Status
erhält und mitwirkenden Einfluß ausübt auf die Lohnbestimmung. Dahin
geht zunächst die Entwicklung. Von einem Naturrecht auf den ganzen
Mehrwert ist da kaum noch die Rede.

Was aber die Deutung des Sinns der Marxschen Werttheorie selbst
anbetrifft, so hat der Umstand, daß man in Deutschland Wilhelm
Liebknecht, den sehr hervorragenden und verdienten Führer der
Sozialdemokratie, für den Schüler und Interpreten von Marx hielt,
während seine Auslegungen tatsächlich von Marx äußerst scharf kritisiert
wurden, sein Gegenstück in anderen Ländern. Hinsichtlich der
französischen Sozialisten wissen wir, daß Marx unter Bezugnahme auf
seinen eigenen Schwiegersohn, den übrigens sehr geistreichen Paul
Lafargue, der in Frankreich als der orthodoxeste Marxist angesehen
wurde, einmal sagte: »Was mich betrifft, so weiß ich nur das eine, daß
ich kein Marxist bin« -- will sagen, kein Marxist in solchem Sinne.
Dasselbe spielte sich in England ab, wo der geistige Führer des
marxistischen Flügels der dortigen Sozialisten, H. M. Hyndman, schon von
Marx ähnlich beurteilt wurde. Da Hyndman sehr doktrinär auftrat und, wie
Engels ihm vorwarf, aus dem Marxismus ein Sektendogma machte, so wurde
das zum Anlaß, daß andersdenkende Sozialisten, wie die Fabianer, durch
diese falsche Deutung der Marxschen Wertlehre veranlaßt, sich auf den
Boden einer anderen Werttheorie stellten, die Grenznutzentheorie, die
auf dem Kontinent hauptsächlich ausgearbeitet ist von hervorragenden
österreichischen Ökonomen wie Böhm-Bawerk, Wieser, Karl Menger, und auch
in Deutschland ihre Vertreter gefunden hat. In England hatte sie zum
wissenschaftlichen Ausarbeiter den als mathematischen Logiker berühmten
Henry Stanley Jevons. Die Fabianer nahmen diese Theorie auf unter
Verkennung oder nicht genügender Berücksichtigung der Tatsache, daß in
der Ökonomie der Begriff »Wert« gar nicht eine einfache Eigenschaft
ausdrückt, sondern verschiedene Elemente zusammenfaßt. Marx bezeichnete
seinerzeit Tauschwert und Gebrauchswert als die Grundelemente. Später
hat man allgemein Nutzwert für Gebrauchswert gesetzt. Im Begriff
Nutzwert liegen aber wieder zwei Elemente: der unmittelbar individuelle
Nutzwert und der soziale Nutzwert, der das Quantitätsverhältnis der
Kauflust für die Ware umfaßt. Diesen Nutzwert hat die Grenznutzentheorie
im Auge. Auf den Streit zwischen ihren sozialistischen Anhängern und den
Verfechtern der Marxschen Wertlehre will ich hier nicht näher eingehen,
ich will nur eins dabei erwähnen. Marx berücksichtigt zwar den Nutz-
oder Gebrauchswert, nennt ihn die Grundbedingung des Wertes, läßt ihn
aber bei seinen weiteren Untersuchungen über die Wertbestimmung zunächst
außer Betracht. Das führt ihn zu bemerkenswerten Schlüssen, die jedoch
einseitiger Natur sind. Seine Wertlehre wurde genauer so formuliert, daß
der Wert bestimmt sei durch die in der Ware steckende Arbeit, gemessen
an der zu ihrer Herstellung _gesellschaftlich notwendigen_ Arbeitszeit. In
dem Begriff gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit liegen wieder zwei
Elemente eingeschlossen: erstens die Arbeitszeit, die gesellschaftlich
notwendig ist, um jedes einzelne Exemplar der in Frage kommenden Ware
herzustellen, das heißt, gesellschaftlich notwendig nach der Höhe der
erreichten _Technik_. Aber es kommt auch darauf an, welche Arbeitszeit
gesellschaftlich notwendig ist, um die Ware in derjenigen Masse
herzustellen, die erfordert ist, um die für sie vorhandenen Käufer zu
befriedigen. Die Höhe des Verbrauches bestimmt sich in der modernen
Gesellschaft nicht danach, wie viele Menschen eine Ware brauchen,
sondern wie viele sie kaufen können und zu kaufen Lust haben. Wirft man
beide Momente durcheinander, so hebt eine Definition die andere auf, und
wir kommen dann doch zur Grenznutztheorie. Soviel hierüber.

Was in der Marxschen Theorie Ausbeutung genannt wird, ist der Mehrwert,
der von dem in den Preis umgesetzten Wert der Ware abzüglich der
Sachkosten der Produktion nicht dem Arbeiter zufließt. Ich kann nicht
sagen, dem Kapitalisten zufließt, denn er spaltet sich in Rente für den
Grundbesitzer, den Profit für den Unternehmer und den Zins für den
Geldkapitalisten. Liegt nun aber in der Tatsache, daß der Arbeiter nicht
den vollen Ertrag der Arbeit bekommt, ein Ausbeutungsverhältnis? Wir
haben gesehen, daß im objektiven Sinne man das Wort Ausbeutung anwenden
kann, daß aber, wenn man es moralisch deutet, wie das bei vielen
Sozialisten der Fall ist, man zu vollkommen falschen Schlüssen gelangt.
Es würde nämlich danach in hochentwickelten Industrien, wo die Arbeiter
am besten entlohnt werden und überhaupt sozial am höchsten stehen, die
Ausbeutung, weil da am meisten sogenanntes konstantes Kapital im
Unternehmen angelegt ist, als die höchste, und in solchen Industrien, wo
die Arbeiter sehr schlecht bezahlt werden, weil wenig Maschinen
angewandt werden, die Ausbeutung weniger hoch erscheinen. So erweckt die
Gleichsetzung der Begriffe Mehrwertsrate und Ausbeutungsrate einen
durchaus falschen Eindruck.

Wie wenig Marx den Sozialismus davon ableitet, daß der Arbeiter nicht
den vollen Ertrag seiner Arbeit bekommt, geht auch daraus hervor, daß er
gerade feststellt, es sei schon vor der kapitalistischen Periode so
gewesen. Im achten Kapitel des ersten Bandes »Kapital« schreibt er
ausdrücklich: »Das Kapital hat die Mehrarbeit nicht erfunden«. Und in
der Tat ist sie sogar unter dem Kapital vielfach geringer als in Zweigen
der vorkapitalistischen Wirtschaft. Marx leitet vielmehr die Forderung
des Sozialismus ab aus dem sich mit Notwendigkeit vollziehenden
Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise. Dieser
Zusammenbruch nun kann verschieden aufgefaßt werden. Er kann begriffen
werden als rein ökonomisches Phänomen dergestalt, daß die mit dieser
Produktionsweise untrennbar verbundenen Wirtschaftskrisen immer größer
werden, bis schließlich eine so große Krisis eintritt, daß in ihrer
Folge der völlige Zusammenbruch erfolgt. Ich bemerke ausdrücklich, es
handelt sich hierbei nicht um Krisen, die durch äußere Ereignisse,
Kriege usw. herbeigeführt werden -- denn das sind keine rein
ökonomischen Erscheinungen --, sondern um solche, die hervorgebracht
werden durch die Konkurrenzkämpfe der kapitalistischen Welt, die
immanent sind der Wirtschaftsweise der kapitalistischen Produktion. Aber
der Zusammenbruch kann auch aufgefaßt werden als Resultat der
Klassenkämpfe, die sich auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft
als unvermeidliche Rückwirkung der ihr innewohnenden und von ihr
zunehmend gesteigerten Klassengegensätze vollziehen. Nach der Theorie
von Marx treten diese Klassenkämpfe in immer stärkerem Maße auf, und das
nötigt uns dazu, nun einmal das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft
überhaupt zu betrachten und darüber hinaus das Wesen ihrer Klassenkämpfe
zu ermitteln.




Viertes Kapitel.

Das Wesen der Gesellschaft des vorgeschrittenen Kapitalismus.


Um ein Bild vom Wesen der Gesellschaft des vorgeschrittenen
Kapitalismus zu geben, was natürlich nur in großen Umrissen geschehen
kann, muß ich die Materialien unserer deutschen Statistik entnehmen. Ich
könnte sie freilich auch aus verschiedenen anderen Ländern haben, Marx
nahm sie aus England, das ja seinerzeit das vorgeschrittenste Land der
kapitalistischen Produktion und Wirtschaft war. Inzwischen ist aber
Deutschland England sehr nahegekommen und hat vor dem Kriege eine sehr
entwickelte Berufs- und Gewerbestatistik gehabt. Auch bietet es der
Untersuchung gewissermaßen ein reineres Bild dar, weil die englische
Volkswirtschaft durch das ungeheure Kolonialreich stark beeinflußt war,
während Deutschlands Kolonialbesitz in den Jahren, um die es sich hier
handelt, erst in seinen Anfängen war und auf die Gestaltung seiner
Volkswirtschaft einen sehr geringen Einfluß geübt hat. Aber wenn wir von
kapitalistischer Wirtschaft sprechen, dann müssen wir uns -- was leider
heute nicht so geschieht, wie es sein sollte -- darüber klar werden, daß
in dem Begriff »Kapitalismus«, sehr verschiedenartige Inhalte
eingeschlossen sind, daß das Wort »Kapitalismus«, das heute so leicht
hingeworfen wird, als ob es eine ganz einfache Sache ausdrücke, die
eines Tages beseitigt werden könne, sehr viele Dinge zusammenfaßt. Um
die Hauptsache zu erwähnen, so bezeichnet der Begriff kapitalistisch
zunächst die Tatsache einer bestimmten Höhe der Produktion, die
Zusammenfassung der Arbeit in großen Betrieben, die Anwendung von
Maschinerien usw., die nur durch große Kapitalaufwendung möglich ist. So
ist einmal der Begriff kapitalistisch Ausdruck für eine bestimmte
_Produktionsform_. Der Kapitalismus ist aber noch etwas anderes; er ist
auch ein _Verteilungssystem_, ein Verteilungssystem eben der Ergebnisse
der Produktion unter der Herrschaft des Kapitals, das ein ganz anderes
Verteilungssystem ist, als wir es auf früheren Stufen der Produktion, im
Feudalismus, im Handwerk usw. vorfinden. Der Begriff umfaßt aber nicht
nur ein Verteilungssystem und eine bestimmte Produktionsform, sondern
drittens auch ein bestimmtes Wirtschafts_recht_. Das Rechtsverhältnis von
Unternehmer und Arbeiter ist unter dem Kapital ein ganz anderes, als
früher im Feudalismus und im Handwerk.

Man vergißt selbst in sozialistischen Kreisen häufig diese
zusammengesetzte Natur des Kapitalismus. Wohin das führt, dafür möchte
ich aus neuester Zeit ein Beispiel anführen. In diesen Tagen hat
irgendwo in einem angesehenen Blatte ein Artikel gestanden, worin der
Verfasser sagte: »Es ist die Tragik der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, daß sie, die grundsätzlich den Kapitalismus bekämpft und
ihn beseitigen wollte, durch ihre Stellung in der Regierung genötigt
ist, die kapitalistische Produktion erst wieder herzustellen.« Ich bin
nun in einer großen Versammlung gefragt worden, was ich zu dieser Tragik
zu sagen habe. Ich bin nicht dazu gekommen, dort diese Frage zu
beantworten, weil die Versammlung infolge von lärmenden Störungen
abgebrochen werden mußte. Hätte ich die Zeit zur Antwort gehabt, so
hätte ich gesagt, und privatim habe ich das auch nachher dem
Fragesteller geantwortet: Ich sehe in der angegebenen Tatsache gar keine
Tragik, sondern höchstens in der geistigen Vorbildung des
Artikelschreibers. Gewiß ist es unleugbar die Aufgabe der Regierung,
welche es auch sei, in modernen Ländern, vor allem in Deutschland in
seiner eigenartigen Weltlage, wo es gezwungen ist zu bestimmten
gewaltigen Leistungen, sofern man nicht gleich mit einem Schlage, wie es
in Rußland versucht wurde, aber nicht geglückt ist, die Gesellschaft
vollständig zu ändern und alle Lasten abzuwerfen -- gewiß ist es Aufgabe
der jetzigen Regierung in Deutschland, ob sie konservativ, liberal,
demokratisch oder sozialdemokratisch sei, zunächst einmal die Wirtschaft
wieder in Gang und Ordnung zu bringen und dadurch allerdings auch die
kapitalistische Produktion zu erhalten oder ihre Lebensbedingungen und
Entwicklungsmöglichkeiten zu sichern. Aber damit ist nicht gesagt, daß
diese nun in allen Punkten bleiben muß, was sie vorher war. Man kann die
Form der Produktion erhalten, aber das Rechtsverhältnis ändern. Ebenso
kann man auch den Modus der Verteilung ändern. Zum Teil ist das erstere
in Deutschland auch geschehen. Eine große Änderung ist eingetreten durch
das Gesetz über die Betriebsräte, das zwar erst in seinen Anfängen
steht, aber außerordentlich bedeutungsvoll und von großer Tragweite ist
und mindestens grundsätzlich eine große Wandlung im Rechtsverhältnis von
Unternehmer und Arbeiter einleitet. Es kann also die Betriebs- oder
Wirtschaftsform erhalten bleiben und doch kann in ihrer Verfassung und
Leitung eine große, sogar eine revolutionäre Änderung vor sich gehen. Im
Kapitalismus haben wir aber als bleibende Tendenz die Vergrößerung der
Betriebe. Nach der Marxschen Theorie führt die Entwicklung mit
Notwendigkeit, unter dem Druck der freien Konkurrenz, zu immer größerer
Konzentration der Unternehmungen, zur Akkumulation der Vermögen in
Privathänden, bei Proletarisierung der großen Mehrheit der Bevölkerung,
und damit zu einer ganz anderen Klassenschichtung und Verschärfung der
Klassenkämpfe. Das haben wir zunächst zu betrachten.

Nach der Gründung des Deutschen Reiches, nachdem mit der Sonderhoheit
der Einzelstaaten alle Hemmnisse des inneren Marktes gefallen waren und
Deutschland zu einer Handelspolitik überging, die nach kurzer
Zwischenzeit das System der Meistbegünstigungsverträge festlegte, mit
Hilfe dessen Deutschlands äußerer Markt sich immer mehr erweiterte, hat
Deutschlands Industrie in verhältnismäßig kurzer Zeit einen ganz
gewaltigen Aufschwung genommen, so daß wir in einzelnen Teilen
Deutschlands Entwicklungen gehabt haben, die an amerikanische
Verhältnisse erinnern. Ich brauche nur das große rheinisch-westfälische
Industriegebiet zu nennen, das in der Tat einen Vergleich mit den großen
amerikanischen Industriezentren aufnehmen kann. Das Deutsche Reich hat
bis zum Kriege dreimal allgemeine Berufs- und Gewerbezählungen gehabt.
Zwischen der ersten und der letzten davon liegen 25 Jahre. Die erste
Zählung fand statt im Jahre 1882, die zweite 1895 und die dritte 1907.
Die Zählung von 1907 gibt uns also die letzten Vergleichszahlen. Was nun
die Entwicklung der Betriebe in Industrie und Bergbau anbetrifft, so hat
die deutsche Gewerbezählung die Betriebe eingeteilt in Klein-, Mittel-
und Großbetriebe. Bis kurz vor dem Kriege wurden als Kleinbetriebe
gerechnet solche von 1 bis 5 Personen, als Mittelbetriebe solche von 6
bis 50 Personen und alles darüber galt in der Statistik und Wissenschaft
als Großbetrieb. In der Arbeiterschaft herrschte allerdings eine ganz
andere Auffassung. Die Berliner Metallarbeiter haben im Jahre 1902 eine
Zählung ihrer Berufsangehörigen vorgenommen, und da rechneten sie zu den
Kleinbetrieben noch alles, was unter 500 Arbeiter hatte, zu den
Mittelbetrieben rechneten sie solche von 500 bis 2000 Arbeitern und erst
darüber hinaus fing nach ihrer Auffassung der Großbetrieb an. Das ist
für ihre soziale Einschätzungsweise überaus charakteristisch. Ich habe
einmal in einer Versammlung der Dreher, nachdem ich dort einen Vortrag
gehalten hatte, noch eine gute Weile zugehört, wie sie ihre eigenen
Angelegenheiten behandelten, was immer sehr lehrreich ist. Da gab der
Vorsitzende Bericht über die Untersuchung der Zustände in einem
Unternehmen und bemerkte dabei im Ton ziemlicher Geringschätzung: »Ihr
könnt Euch denken, was das für eine Krämerbude war, es waren da nur etwa
1000 Arbeiter beschäftigt!« Ein Unternehmer, der gegen tausend Arbeiter
beschäftigt, ist meist schon ein Millionär; aber in der Auffassung der
Metallarbeiter Berlins war sein Unternehmen im Grunde nur ein
Kleinbetrieb.

Halten wir uns indes hier an die Angaben der Reichsstatistik. Sie zeigt
in der ersten Periode von 1882 bis 1895, die 13 Jahre umfaßte, einen
geringeren Aufstieg als in der nur 12 Jahre umfassenden Periode von 1895
bis 1907. Das ist begreiflich und beleuchtet die ganze Tendenz der
Entwicklung. Um aber nicht durch zu viele Zahlen zu ermüden, lasse ich
hier nur die runden Anfangs- und Endzahlen der ganzen Periode folgen.
Danach entwickelten sich in diesen fünfundzwanzig Jahren in Industrie
und Bergbau die Kleinbetriebe (1-5 Personen) der Zahl nach von 2175000
im Jahre 1882 auf 1870000 im Jahre 1907, die Mittelbetriebe der Zahl
nach von 85000 im Jahre 1882 auf 157000 im Jahre 1907 und die
Großbetriebe von 9000 im Jahre 1882 auf 29000 im Jahre 1907. Nehmen wir
nicht die Zahlen der Betriebe, sondern die der in den Betrieben
beschäftigten Personen, dann waren in den Kleinbetrieben beschäftigt
1882 rund 3270000 und 1907 3202000, in den Mittelbetrieben 1882 1109000,
1907 2715000, in den Großbetrieben 1882 1554000 und 1907
4940000 Personen. Hier sieht man, wie der größere Betrieb in der
Industrie gegenüber den kleineren einen immer größeren Raum einnimmt.
Die Kleinbetriebe nehmen ab, aber verhältnismäßig wenig. Die
Mittelbetriebe nehmen aber noch ganz bedeutend zu. Sie sind gestiegen
von 85000 auf 187000 und nach der Zahl der beschäftigten Personen von
1109000 auf 2715000.

Wenn unzweifelhaft eine bedeutungsvolle Konzentration der Betriebe
stattgefunden hat, so ist das doch nicht in dem Maße geschehen, wie man
es annahm und wie es im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie
stand, daß nämlich die Mittelbetriebe verschwinden. Sie verschwinden
eben auch in der Industrie nicht. Allerdings darf man nicht vergessen,
daß Betrieb nicht dasselbe ist wie die Unternehmung. Eine Unternehmung
umfaßt oft verschiedene Betriebe, die großen Unternehmen ganze Reihen
von Betrieben, während die Statistik die Betriebe einzeln aufzählt.
Hätten wir eine Statistik der Unternehmungen, dann würden wir eine
wesentlich stärkere Konzentration festzustellen haben, als sie in den
obigen Zahlen erscheint. In bezug auf die Industrie war ganz unleugbar
die Theorie insofern richtig, daß eine zunehmende Konzentration der
Unternehmungen stattfindet. Aber sie fand nicht in der Weise statt, daß
die mittleren Betriebe und Unternehmungen verschwanden. Nur die ganz
kleinen, die Zwergbetriebe, haben etwas abgenommen, im übrigen aber hat
durchgängig ein Aufstieg stattgefunden von den kleineren in die
mittleren und von den mittleren in die größeren Betriebe. Wir würden das
noch deutlicher sehen, wenn wir die Unterabteilungen der drei hier
verglichenen großen Gruppen heranzögen. Keine einzige dieser Abteilungen
war aus der Reihe verschwunden. Es hatte lediglich eine Verschiebung
nach oben sich vollzogen. Bestimmte Neubildungen haben sich jedoch
gewissermaßen _neben_ der allgemeinen Entwicklung ausgestaltet, indem
nämlich ganz neue Industrien entstanden sind, die von vornherein als
Riesenunternehmungen ins Leben traten. Man denke da an die großen
modernen Lokomotivfabriken und Werften für Dampferbauten, an die
Entwicklung der großen Elektrizitätswerke usw., wo ganze Industriezweige
gleich als Riesenbetriebe ins Leben traten und nicht erst die
Entwicklung vom Kleinbetrieb über den Mittelbetrieb zum Großbetrieb
durchzumachen hatten.

Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Handel und Verkehr. Da haben wir
sogar eine noch stärkere Vermehrung. Die Kleinbetriebe nahmen im Handel
bedeutend zu. Der Handel ist ja oft die Zuflucht für viele aus der
Industrie Verdrängte, die Etablierung des Kleinkrämers ist viel leichter
als die des kleinen Fabrikanten. Im Handel und Verkehr war die
Entwicklung von 1882 bis 1907 eine solche, daß sich vermehrten: die
Kleinbetriebe von 676000 auf 1204000, die Mittelbetriebe von 26000 auf
76000, die Großbetriebe von 463 auf 2800. Im Handel waren die
Großbetriebe, d. h. die Betriebe mit über 50 Personen, nicht so
zahlreich wie in der Industrie. Wir haben zwar eine sehr bedeutende
Zunahme der modernen Kaufhäuser, doch ist deren Zahl im ganzen nicht so
übermäßig groß. Auch steckt im Handel hinter einer verhältnismäßig
geringen Zahl von Angestellten oft schon ein sehr erheblicher
Kapitalaufwand. Nach der Zahl der Beschäftigten berechnet, war hier die
Entwicklung von 1882 bis 1907 bei den Kleinbetrieben von rund einer
Million auf zwei Millionen, bei den Mittelbetrieben von 270000 auf
878000, bei den Großbetrieben von 54000 auf 395000. Hier tritt die
Bedeutung der Zunahme der Großbetriebe stärker hervor. Aber während in
Industrie und Bergbau die 5 Millionen Beschäftigten der großen Betriebe
ebensoviel ausmachen wie die Beschäftigten der Mittel- und Kleinbetriebe
zusammen genommen, ist das Verhältnis im Handel doch ein anderes, hier
bilden sie erst den sechsten Teil.

Eine Erklärung für die große Vermehrung der Betriebe darf man allerdings
nicht vergessen: das ist die ungeheure Steigerung der Produktion selber,
die gewaltige Zunahme der Masse der Produkte. Sie erklärt es auch, warum
sich neben den großen Unternehmungen im Handel so viele der kleinen
halten können. Die moderne kapitalistische Produktionsweise erhöht
ungemein die Produktivität der Arbeit. Der Warenmarkt wächst, und
deshalb finden die kleinen Unternehmungen neben den großen immer noch
einen Rahmen, dem sie sich anpassen können.

Ein ganz anderes Bild, als lange Zeit angenommen, zeigt die Entwicklung
der Betriebe in der Landwirtschaft. Sie hat der ursprünglichen
Auffassung eine große Enttäuschung bereitet, sie geradezu widerlegt.
Weil in England in der Landwirtschaft der Großbesitz überwog, hatte man
lange Zeit gefolgert, daß dies im Wesen der modernen Wirtschaft liege,
und daß, wie in der Industrie, so auch in der Landwirtschaft die kleinen
Unternehmungen immer mehr verdrängt würden von den Großunternehmungen.
Das ist aber nicht eingetreten, sondern das Gegenteil ist geschehen. In
der Landwirtschaft haben in den 25 Jahren die Großbetriebe an Zahl
abgenommen, vermehrt haben sich nur die eigentlich bäuerlichen Betriebe
und die ganz kleinen Zwergbetriebe. Die kleinen Landparzellen, die
wahrscheinlich mit den Laubengärten zusammengerechnet werden, sind von
2 Millionen auf über 3 Millionen gestiegen. Bei Betrieben von 2 bis
5 Hektar beläuft sich die Steigerung in runden Zahlen von 980000 auf
1006000. In diese Betriebe sind auch die Qualitätslandwirtschaftsbetriebe,
die mehr gartenmäßig bewirtschafteten Betriebe eingeschlossen. Die
mittleren Betriebe von 6 bis 20 Hektar sind gestiegen von 926000 auf
1065000, und dann beginnt gerade bei den Großbetrieben von 20 bis
100 Hektar ein Abstieg. Ihre Zahl fällt von 282000 auf 262000 und die
der Betriebe von über 100 Hektar von 25000 auf 23000. Hier zeigt sich
also ein ganz anderes Bild der Entwicklung als angenommen. Die
bäuerlichen Betriebe halten sich. Es ist das teilweise eine Folge von
Eingriffen der Gesetzgebung. Sie hat allerhand Gesetze geschaffen, die
dahin gewirkt haben, den bäuerlichen Betrieb konkurrenzfähig zu
erhalten. Eine weitere Erklärung liefert die starke Entwicklung des
Genossenschaftswesens in der Landwirtschaft sowie der Umstand, daß die
landwirtschaftliche Produktion zum Unterschied von der Industrieproduktion
wesentlich organische, von Naturvorgängen abhängige Produktion ist. Sie
ist daher für die Hebung der Produktivität nicht so auf die
Konzentration angewiesen wie die industrielle Produktion. Bemerkenswert
ist nun, daß bei alledem, bei dieser Zunahme der Betriebe in der
Landwirtschaft selber, die Zahl der in ihr Beschäftigten in den
25 Jahren erheblich zurückgegangen ist. In Deutschland hat die
Bevölkerung in dieser Zeit zugenommen um rund 36 Proz. Dagegen ist die
Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft samt Angehörigen
zurückgegangen von über 19 Millionen auf nicht ganz 17700000, so daß man
beinahe sagen könnte, der ganze Zuwachs der Bevölkerung in dieser Zeit,
der ungefähr 25 Millionen Menschen umfaßte, ist über die Landwirtschaft
hinweggerauscht zur Industrie und hat, statt der Landwirtschaft etwas
abzugeben, sogar noch 8 Proz. von ihr hinweggenommen. Statistisch
betrachtet gilt das. In einzelnen Fällen mag es natürlich anders gewesen
sein, im Gesamtbild hat aber die landwirtschaftliche Bevölkerung
abgenommen und trotzdem hat die landwirtschaftliche Produktion
zugenommen. Vor dem Krieg ging also Deutschlands Entwicklung immer
stärker zum Industriestaat.

Nicht weniger wichtig als die Betriebsentwicklung sind die
Veränderungen in der Stellung der Personen im Gewerbe. In der Industrie
sind die Selbständigen weniger geworden, dagegen hat sich die Zahl der
technischen und kaufmännischen Angestellten ganz bedeutend gehoben. Auch
die Zahl der Arbeiter ist gewaltig gestiegen; ihre Vermehrung läßt in
absoluter Zahl die aller anderen Berufsschichten hinter sich, im
Verhältnis aber war doch die Zunahme der kaufmännischen und technischen
Angestellten die größere. Ihre Zahl ist gestiegen in der Industrie von
99000 im Jahre 1882 auf 686000 im Jahre 1907, die Zahl der Arbeiter in
der gleichen Zeit von 4 Millionen auf 8600000, während die Zahl der
Selbständigen zurückgegangen ist von 1861000 auf 1729000. Die
Angestellten sind also um 592 Proz., die Arbeiter um 110 Proz. mehr
geworden. Im Handel und Gewerbe sehen wir ein ähnliches Bild. Dort haben
jedoch auch die Selbständigen zugenommen, weil es ja leichter ist, sich
im Kleinhandel zu etablieren als in der Industrie; ihre Zahl wuchs von
505000 auf 843000. Die im Handel Angestellten vermehrten sich aber von
141000 auf 505000 und die Arbeiter in Handel und Verkehr von 727000 auf
1959000. Die Selbständigen haben danach zugenommen um 60 Proz., die
Arbeiter um 169 Proz., die Angestellten aber um 257 Proz. In der
Landwirtschaft finden wir auch in dieser Hinsicht wieder ein
abweichendes Bild. Die Zahlen sind aber zum Vergleich weniger geeignet,
weil 1907 eine andere Zählungsart beobachtet wurde als bei den beiden
vorhergegangenen Zählungen. Es sind da nämlich die Personen, die dem
Haushalt angehören und mitarbeiten, während sie in der früheren
Statistik der Familie des Unternehmers, d. h. des Bauern, zugezählt
wurden, in der neueren Statistik als Arbeiter gezählt worden.

Die ungeheure Zunahme der technischen und kaufmännischen Angestellten in
Industrie und Handel ist die lebendige Illustration einer in der
Marxschen Theorie zuerst mit der größten Schärfe hervorgehobenen
Tatsache. Vor Marx unterschied die Nationalökonomie nur zwischen dem
fixen Kapital, wie man das in Gebäuden, Maschinen usw. angelegte Kapital
nannte, und dem beweglichen, dem zirkulierenden Kapital. Marx führte
eine andere Unterscheidung ein: er unterscheidet zwischen konstantem und
variablem Kapital. Konstant nennt er alles Kapital, das, wie der
Verschleiß von Anlagen und Maschinen, der Aufwand von Rohstoffen und
Hilfsstoffen usw., mit eingerechnet wird in die sachlichen Kosten der
Produktion und deshalb im Preise des Produkts unverändert wieder
erscheint, während die Ausgabe für die menschliche Arbeit -- von
Arbeitern und Angestellten -- in erhöhter Form in dem Wert der ganzen
Produktion zurückkommt. Sie nennt er variables Kapital. Der einzelne
kann durch falsche Spekulation verlieren; im allgemeinen aber gilt als
Grundsatz, daß der Unternehmer bei seiner Kalkulation zunächst das
wiederhaben will, was er ausgelegt hat an Maschinen, Miete, Rohstoffen
u. dgl. Daß dieses konstante Kapital in der Industrie im Verhältnis viel
stärker zugenommen hat als das variable (Lohn usw.) Kapital, wird nun
illustriert durch die im Verhältnis stärkere Zunahme des kaufmännischen
und technischen Personals.

Kommen wir zurück auf die Verschiebungen der Berufsgruppierung in der
kapitalistischen Gesellschaft. In der Land- und Forstwirtschaft haben
wir die Berufszugehörigen in den 25 Jahren von 19 auf 17 1/2 Millionen
zurückgehen sehen. In Industrie und Bergbau wuchs dagegen die Zahl der
Berufszugehörigen von 16 auf 26 Millionen, in Handel und Verkehr von 4
auf 8 Millionen. Dazu kommen aber hinzu die Angehörigen der freien und
öffentlichen Berufe, die auch eine gewaltige Zunahme erfahren haben,
nämlich von 1 1/2 auf 2,6 Millionen. Alles das zeigt eine sehr
bedeutsame Verschiebung an, eine ganze Veränderung des sozialen
Charakters der Bevölkerung. Als das Deutsche Reich gegründet wurde,
lebte noch weit über die Hälfte seiner Bevölkerung auf dem Lande und von
der Landwirtschaft als Erwerbsquelle. Jetzt aber ernährte die
Landwirtschaft als Berufszweig einen immer geringeren Teil der
Bevölkerung; die Masse lebte von Industrie, Handel und Verkehr, von
freien und öffentlichen Berufen. Im ganzen bedeutete das einen
gewaltigen Kulturfortschritt, der allerdings auch seine Kehrseite hat:
die Abkehr von der Natur und verschiedene andere Schäden. Unbestreitbar
ist nur, daß im ganzen die Industrie die höhere Wirtschaftsform
repräsentiert als die Landwirtschaft, trotz der Verbesserungen, die auch
in dieser stattgefunden haben.

Eine weitere bedeutungsvolle Tatsache ist, daß, wie die Stadt auf
Kosten des Landes wächst, das soziale Leben überhaupt sich immer mehr
sozusagen _verstadtlicht_. Es ist das eine der charakteristischsten
Erscheinungen der Epoche, die sich vor dem Kriege übrigens noch viel
mehr als in Deutschland in England vollzog. Die Stadt spielt eine immer
größere Rolle im ganzen sozialen Leben, und ein großer Teil dessen, was
man lange Zeit die Agrarfrage genannt hat, besteht darin, daß, während
in früheren Perioden der Bauer seine eigene Kultur hatte und auf sie
stolz war, geradezu auf den Städter herabsah, er jetzt sein Leben selbst
verstadtlicht, wie der Städter leben will, und wie er, so auch der
Landarbeiter. Darin liegt ein großer Teil der Unzufriedenheit auf dem
Lande; denn wenn der Bauer so leben wollte wie seine Väter, dann hätte
es keine Agrarfrage gegeben. Der Preis der Bodenprodukte war gestiegen,
das Geldeinkommen hatte in keiner Weise gelitten.

In der Arbeiterschaft der Industrie vollzieht sich gleichfalls eine
Entwicklung, die unser Interesse beansprucht. Die Klasse ist, wie wir
gesehen haben, gewaltig an Zahl gestiegen. Nun aber unterscheidet man in
der Industrie zwei Gattungen von Arbeitern, die gelernten, d. h. in
einer Lehrzeit ausgebildeten, und die sogenannten ungelernten Arbeiter.
Früher sagte man qualifizierte und unqualifizierte Arbeiter, d. h.
bezeichnete den gelernten Arbeiter als einen qualifizierten, den
ungelernten als unqualifizierten Arbeiter. Es gibt aber, wie ein
Unternehmer einmal sehr richtig gesagt hat, keine unqualifizierte
Arbeit. Auch die ungelernte Arbeit muß gehörig geübt werden und
erfordert oft in ihrer Weise erstens große Kraft und dann auch große
Geschicklichkeit. Ich möchte keinem es zumuten, einmal mit einem
Karrenschieber in dessen Arbeit es aufnehmen zu wollen. Wer das
versuchte, würde bald bemerken, daß auch zu dieser Arbeit eine bestimmte
Geschicklichkeit gehört und nicht nur Körperkraft. Immerhin steht der
ungelernte Arbeiter sozial und ökonomisch unter dem gelernten Arbeiter,
in Deutschland allerdings nicht ganz so stark wie in England. In England
war die Trennung zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern bis zum
Kriege viel stärker gewesen als in Deutschland. Daher die Erscheinung,
die vielen, die nach England kamen, aufgefallen ist, daß sie dort eine
ungeheure Zahl von tiefstehenden Arbeitern vorfanden, tiefstehend in der
Art ihrer Lebensweise, tiefstehend in ihrer Wohnweise und tiefstehend
auch in der Art der Kleidung. Sie schlossen daraus, daß überhaupt das
Elend in England viel größer sei als auf dem Festlande. Aber es handelt
sich da um eine Teilerscheinung, die sich erklärt aus der ganzen
Geschichte der englischen Arbeiterschaft. Infolge besonderer Umstände
bekam in England der Ungelernte, der Labourer, im Gegensatz zum
Gelernten, zum Worker, einen sehr viel geringeren Lohn, nur etwa 60 oder
gar bloß 50 Proz. vom Lohn des Gelernten, während in Deutschland der
ungelernte Arbeiter bis 70 und 80 Proz. vom Lohn des Gelernten bekommt.
Die Zahl der gelernten Arbeiter hat sich in Deutschland anders
entwickelt als die der ungelernten. Seit 1895 ward bei der Berufszählung
zwischen den beiden Kategorien unterschieden, so daß wir nun für die
12 Jahre von 1895 bis 1907 einen Vergleich der Entwicklung der beiden
haben. Danach ist die Zahl der gelernten Arbeiter in der Industrie
gestiegen von 4 auf 5,4 Millionen, aber die der ungelernten von 2,3 auf
3,9 Millionen, im Verhältnis also haben die letzteren eine sehr viel
stärkere Vermehrung erfahren. Auf 100 gelernte kamen 1895 55 ungelernte
Arbeiter, 1907 aber schon 73. Die vervollkommnete Maschine hat also hier
vielfach statt gelernter ungelernte Arbeiter gebraucht. Trotzdem hat
sich aber, und das ist das Wichtige, in dieser Periode, wo die Zahl der
ungelernten Arbeiter so stark wuchs, die Zahl der gelernten Arbeiter in
der Industrie immer noch stärker vermehrt als die Zahl der
Gesamtbevölkerung. Die Gesamtbevölkerung ist in den 12 Jahren um
19 Proz. gestiegen, dagegen die Zahl der gelernten Arbeiter um gegen
29 Proz. Auch das ist charakteristisch für die ungeheure Entwicklung zum
Industriestaat, die sich in Deutschland vollzogen hat.

Die Frage ist nun: Woher kam der Zuwachs der ungelernten Arbeiter? Sie
führt auf eine sehr charakteristische Erscheinung. Zum Teil zogen
deutsche Arbeiter vom Lande als Tagelöhner in die Stadt und wurden auf
dem Lande durch Ausländer ersetzt, d. h. die landwirtschaftlichen
deutschen Arbeiter gingen in die Industrie, und aus Polen und anderen
Ländern wurde ein großer Teil Arbeiter, teils als Saisonarbeiter, teils
aber auch als ständige Kräfte, für die deutsche Landwirtschaft gewonnen.
Die deutsche Arbeiterschaft konnte sich auf diese Weise über die
polnischen usw. Arbeiter hinweg auf eine höhere Stufe erheben. Indes war
es auch für die Polen ein Aufstieg im Verhältnis zum Lebenszuschnitt in
ihrer Heimat. Sie zogen nach Deutschland, weil sie da immerhin bessere
Löhne erhielten als zu Hause. Bei alledem bleibt es ein bemerkenswerter
Umstand, daß zum Teil nur auf dem Rücken jener ausländischen Arbeiter
sich die deutsche Industrie und Industriearbeiterschaft in der
geschilderten Zeit so entwickeln konnte. Ohne jene ausländischen
Tagelöhner wäre ein Teil des großen Aufschwungs unmöglich gewesen,
dessen Endresultat das war, daß jede Arbeiterschicht schließlich etwas
höher stand als vorher, die Schicht der Gelernten im Verhältnis stärker
zugenommen hatte als die Bevölkerung. In dieser Beziehung ist das Wort
von Marx, das im »Kapital« steht und von vielen buchstäblich genommen
wurde: »Die Maschine schlägt den Arbeiter tot«, nicht eingetroffen. Denn
diese ungeheure Vermehrung der Arbeiter in der Industrie finden wir
nicht nur in Deutschland, sondern gleichzeitig auch in England, in
Frankreich, wie in allen Ländern moderner Entwicklung, und am stärksten
davon in Amerika. Das erklärt sich aus einer Reihe von Gründen, die Marx
nicht genügend berücksichtigen konnte.

Marx hatte seine Beispiele aus der Textilindustrie genommen, die zu
seiner Zeit in England die maßgebende Industrie war. Aber die Faser
setzte der Behandlung durch die Maschine viel geringeren Widerstand
entgegen als Leder, Holz, Metalle usw. Während die Maschine in der
Textilindustrie allerdings Teile der Arbeiterschaft beiseite geschoben
hat, ist das in anderen Industrien nicht geschehen, sondern im
Gegenteil, da hat die Arbeiterschaft sich gewaltig vermehrt, namentlich
in den Industrien der Metalle, die ja allmählich in der Welt die Führung
erhalten haben. Diese gesteigerte Entwicklung ist dadurch möglich
geworden, daß es sich nicht nur handelte um Maschinen für die
Herstellung von Gegenständen des persönlichen Verbrauchs, sondern um die
große Erweiterung der Verkehrsmittel, der Eisenbahnen, Dampfschiffe usw.
Die ungeheure Verdichtung des Eisenbahnnetzes, die in den verschiedenen
Ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten, aber nicht zum wenigsten
auch in Deutschland vor sich gegangen ist, ist in der Hauptsache erst
eingetreten, nachdem Marx sein »Kapital« geschrieben hatte. Man braucht
nur eine Eisenbahnkarte aus den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts, den Jahren, wo Marx sein »Kapital« schrieb, mit einer
Karte von 1914 zu vergleichen, dann sieht man, welche kolossale
Entwicklung das Eisenbahnwesen genommen hat. Die Verkehrsmaschinen
selbst, die Lokomotiven, Dampfer usw., haben aber auch ihren Charakter
geändert, sie sind riesenhaft gewachsen, und ihr Wachstum wie ihre
Zunahme hat stark zurückgewirkt auf das Wachstum der Industrie und
wesentlich beigetragen zur gewaltigen Industrialisierung nicht nur
Deutschlands, sondern der ganzen Welt.

Dann haben wir aber auch ein weiteres zu verzeichnen. Die ungeheure
Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums, die eine Folge gewesen ist
der großen Vervollkommnung der Produktionsmittel, der ins Riesenhafte
gesteigerten Gewinnung und Verarbeitung der Erze und Erdschätze, und
fortgesetzten Steigerung der Produktivität der Menschen an den Maschinen
hat als Zweites zur Wirkung gehabt eine große Förderung der
Qualitätsarbeit in der Industrie. Die erste Wirkung der Maschinen war im
Gegenteil die Herabdrückung der Qualität des Fabrikats gewesen, wie das
Marx auch feststellt. Die billigen Fabrikate drängten die bessere,
solide Arbeit zurück. Aber im weiteren Verlauf der Entwicklung steigt
mit dem wachsenden Reichtum der Gesellschaft auch der Markt der
Qualitätsindustrien, die wiederum eine zunehmende Beschäftigung von
gelernten Qualitätsarbeitern herbeiführt. Diese Tatsachen, die große
Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums mit ihren technischen
Nachwirkungen, stellen uns nun vor die Frage: Wie wirkt das alles zurück
auf die Klassengliederung in der Gesellschaft?

Die erste soziale Einwirkung der Maschinenindustrie war, daß sie
mittlere Schichten der Bevölkerung zurückdrängte, das Proletariat
vermehrte, und daß die Schicht der Reichen und ihr Reichtum wuchsen. So
entstand in der sozialistischen Welt die Theorie, die lange Zeit
agitatorisch in Aufklärungsvorträgen propagiert wurde -- ich habe noch
stark daran teilgenommen --, daß im weiteren Verlauf der
kapitalistischen Entwicklung die Mittelschichten von der kleinen Schicht
der Reichen vollständig verdrängt werden, während daneben das
Proletariat und gleichzeitig auch seine Verblendung ungeheuer zunehmen.
Der in seiner Art sehr bedeutende, wenn auch mehr konservativ gerichtete
sozialistische Ökonom Karl Rodbertus stellte das im bildlichen Vergleich
einmal so dar, daß die soziale Pyramide sich in der Weise eines immer
mehr sich verengernden Flaschenhalses gestaltet. Ich habe das
gelegentlich zeichnerisch so zu veranschaulichen versucht:

[Illustration]

Figur I zeigt die gesellschaftliche Pyramide in ihrem vermuteten
Ursprung; unten die ärmeren Klassen, oben, in immer schmälerer
Zuspitzung, die besitzenden Klassen. Mit dem Aufkommen der
kapitalistischen Produktion bildet sich oben eine kleine Schicht von
ganz Reichen, die Mittelschichten nehmen ab, die unteren Schichten aber
zu. Die Pyramide gestaltet sich wie auf Figur II. Allmählich aber
gewinnt sie die Gestalt des Flaschenhalses wie auf Figur III. Es
schwillt an der Kopf der ganz Reichen, es verengert sich vollständig die
mittlere Schicht und immer größer wird unten die Schicht des
Proletariats. Es war Professor Julius Wolff, der die Theorie damit
ironisierte, daß er sagte, nach ihr müßte es dahin kommen, daß eines
Tages der Hals völlig verschwinde, nur noch ganz oben der Kopf sei und,
jeder stützenden Zwischenschicht bar, unten in den breiten Boden der
Flasche stürze. Die wirkliche Entwicklung hat aber diesen Weg nicht
genommen. Wenn wir die Einkommensgliederung in den verschiedenen Ländern
verfolgen, wie sie uns die Statistik zeigt, so erhalten wir ein ganz
anderes Bild. Da für Deutschland als ein Ganzes erst jetzt eine
Einkommensteuer eingeführt ist, müssen wir für Vergleichszahlen Preußen
nehmen, das fünf Achtel des Deutschen Reichs umfaßt. Preußen hat seine
Einkommensteuer im Jahre 1892 bei der bekannten Miquelschen Steuerreform
grundlegend reformiert. Nehmen wir an, daß vor dem Kriege alle Zensiten
mit unter 3000 Goldmark Einkommen zum Proletariat gehörten und mit
3000 Goldmark steuerdeklariertem Einkommen die Mittelschichten beginnen.
Dann kommen oben zunächst die Schichten von 3000-6000 Mk. Einkommen,
alsdann die mit 6000-10000 Mk. und hierauf die mit 10000-30500 Mk. Die
letzteren sind schon gut bürgerliche Existenzen. Die Zensiten mit 30500
bis 100000 Mk. deklariertem Einkommen können wir als teils wohlhabend,
teils reich rechnen und die mit über 100000 Mk. Einkommen als die
Schicht der ganz Reichen. Die letzten Zahlen über die Zensiten nach der
alten Miquelschen Einkommensteuer liegen mir für 1916 vor. Von 1892 bis
1916, also in der Epoche des großen Aufschwungs der kapitalistischen
Produktion, nun ist gestiegen die Schicht der ganz Reichen mit über
100000 Mk. Einkommen von 1780 auf 3561, hat sich also mehr als
verdoppelt; die Zahl der Wohlhabenden und Reichen ist in derselben Zeit
gestiegen von 6700 auf 22000, hat sich also mehr als verdreifacht. Die
Zahl der Wohlhabenden mit einem Einkommen von 6000-30500 Mark hat sich
vermehrt von 104000 auf 210000, also gleichfalls mehr als verdoppelt.
Auch diese Schicht hat weit über die Vermehrung der Bevölkerung hinaus
zugenommen. Und schließlich hat die untere Mittelschicht, die man ganz
ausgestochen wähnte, die Klasse der Zensiten mit Einkommen zwischen 3000
und 6000 Mk., sich gar vermehrt von 205000 auf 578000, also auf nahezu
das Dreifache. Keine Schicht aus diesen Einkommensgruppen verschwindet
also, im Gegenteil alle Zahlen nehmen zu. Wer sich die Entwicklung der
Städte in den letzten Jahrzehnten vergegenwärtigt, wie der Zug zur
Wohlhabenheit im Bau der Wohnungen und dergleichen sich immer stärker
bemerkbar machte, der wird auch begreifen, daß dies gar nicht möglich
gewesen wäre ohne die Zunahme der Mittelschichten im Einkommen.

Nicht ganz das gleiche Bild zeigt sich, wenn wir die Vermehrung der
Vermögen an sich beobachten. Die Vermögenssteuer wurde in Preußen _erst_
seit 1895 erhoben. Meine Zahlen reichen bis 1911. Sie umfassen also nur
eine Periode von 16 Jahren, eine Zeitspanne, in der die Bevölkerung
Preußens sich um etwa 25 Proz. vermehrte. Die Zahlen zeigen nur die
versteuerten Vermögen, nicht die wirklichen, die ja höher sind, weil bei
der Steuer alle möglichen Abzüge gemacht werden. Es haben sich nun in
dieser Periode vermehrt die versteuerten Vermögen der Gruppe von 6000
bis 32000 Mk. von 767000 auf rund 1200000, die Gruppe 32000 bis
100000 Mk. von 284000 auf 419000, die Gruppe 100000 bis 500000 Mk. von
87000 auf 136099 und die Gruppe über 500000 Mk. -- die Mark immer in
Goldwert -- von 15600 auf rund 23000. Überall findet man also eine
Vermehrung. Die Pyramide hat sich nicht in der Richtung des
Flaschenhalses entwickelt, sondern ziemlich gleichmäßig in allen
Schichten. Das Proletariat ist sehr stark gewachsen, die Mittelschichten
aber auch und ebenso die Oberschicht. Der Reichtum der Gesellschaft hat
gewaltig zugenommen, aber an ihm haben nicht nur die ganz Reichen,
sondern alle Schichten der Besitzenden teilgenommen.

Wenn die Entwicklung, wie man sie sich früher vorgestellt hatte, wie
sie nicht nur Marx und Rodbertus, sondern auch Lassalle und alle anderen
Sozialisten angenommen hatten, nicht eingetreten ist, so ist damit die
sozialistische Bewegung noch nicht als überflüssig nachgewiesen. Was
sich vollzogen hat, ist, daß die Spannung zwischen den großen Einkommen
und dem Einkommen der Volksmasse bedeutend zugenommen hat, und darauf
kommt es an. Die Pyramide der Einkommen und Vermögen entwickelt sich
nicht im Sinne des Flaschenhalses, sondern etwa im Sinne einer
umgekehrten Ziehharmonika. Man nehme an, eine Ziehharmonika werde auf
die Seite gestellt und so beschwert, daß sie sich unten nur langsam
heben kann, während eine andere Kraft sie nach oben zieht. Dann wird die
Spannung zwischen der beschwerten Masse unten und den oberen Teilen
immer größer werden, und das sehen wir tatsächlich in dem Verhältnis der
zunehmenden Zahl der Reichen und ihrem wachsenden Luxus zu dem, der
Masse nach am stärksten wachsenden Heer derjenigen, die sozial in ihren
Diensten stehen. Die Vermehrung der Arbeiter und unteren Angestellten
übertrifft der absoluten Zahl nach die aller anderen Klassen zusammen um
ein Vielfaches. Wir sehen daran, daß die Entwicklung keineswegs als eine
so gesunde bezeichnet werden kann, wie sie von Leuten hingestellt worden
ist, die aus der Zunahme aller Schichten der Besitzenden nun eine
vollständige Rechtfertigung der ganzen sozialen Entwicklung unter dem
Kapitalismus herleiten. Nur eins ist unbestreitbar: der Kapitalismus hat
den Reichtum der Gesellschaft ganz ungemein gesteigert; aber die
Verteilung des Reichtums hat nicht in jeder Hinsicht die Entwicklung
genommen, die die Sozialisten früher voraussetzten, sondern sie hat
teilweise andere Bahnen eingeschlagen. Damit haben sich die Probleme,
vor die der Sozialismus gestellt ist, allerdings verändert, und die
Feststellung und Erkennung dieser Tatsache sowie die Frage, welche
Folgerungen aus ihr zu ziehen waren, haben lange Zeit ein gewaltiges
Streitobjekt theoretischer und praktischer Art unter Sozialisten
gebildet.

Man könnte nun die Frage erheben: Wie läßt sich das Verbleiben der
Mittelschichten vereinbaren mit der Konzentration der Betriebe unter dem
Kapitalismus? Der Kapitalismus führt doch immer mehr zur Konzentrierung
der Betriebe, immer mehr zur Großproduktion und Maschinenproduktion in
der Gesellschaft. Wenn die kleinen und mittleren Betriebe zwar der Zahl
nach fast unbeschränkt geblieben sind, so haben doch die Großbetriebe
gewaltig zugenommen, nicht nur an Zahl, sondern namentlich auch in der
Masse der von ihnen beschäftigten Personen. Und wie läßt sich jene
Entwicklung der Reichtumsverteilung damit vereinbaren? Sie erhält zum
Teil ihre Erklärung durch die Beweglichkeit des modernen Kapitals, die
Beweglichkeit, die das Kapital erhalten hat vermittelst der großen
Ausbreitung der verschiedenartigen Formen von Genossenschaften, zu denen
ja grundsätzlich ebenfalls die Aktiengesellschaften gerechnet werden
müssen, wie sehr sie auch rechtlich und in ihrer Struktur von anderen
Genossenschaften abweichen. Die Form der Genossenschaft, des
Kollektivkapitals, ermöglicht es einer ganzen Reihe von Schichten der
Bevölkerung, sich am Bestand zu erhalten, die unrettbar hätten
verschwinden müssen, wenn bei jeder Unternehmung immer nur eine
Einzelperson oder eine ganz kleine Personengruppe Eigentümer hätte sein
können. In Deutschland gab es im Jahre 1909 -- das ist die letzte Zahl,
die das Reichsstatistische Jahrbuch hierüber angibt -- 5222
Aktiengesellschaften mit einem Aktienkapital von rund 14 Milliarden
Goldmark und 626 Millionen Mark Vorzugsaktien. Daneben gab es
Genossenschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung in einer
Zahl von 16500 mit 3 1/2 Milliarden Genossenschaftskapital. Des weiteren
eine große Zahl eingetragener Genossenschaften, wozu dann noch kommt ein
ganz gewaltiges Kapital von Obligationen der Aktiengesellschaften, das
auch viele Milliarden ausmacht, und das ganz gewaltig zugenommen hat,
nicht nur infolge der industriellen Entwicklung, sondern auch der
militärischen Entwicklung, der steigenden Rüstungen usw., und nicht
zuletzt die so stark angewachsenen Staatsanleihen. Durch alles das ist
die Zahl der Inhaber von Anteilen an den Erträgen der Volkswirtschaft
ungeheuer gestiegen. Wenn Lassalle von den Arbeiterbataillonen sprach,
so kann man heute kaum noch bloß von Aktionärbataillonen sprechen,
sondern muß schon von Armeekorps reden, unter die sich die Aktien der
Industrie verteilt haben. Die Unternehmung selbst ist örtlich gebunden,
aber die Aktie, das Kapital, wird immer beweglicher und kann von Hand zu
Hand oder auch von Land zu Land gehen. Das zeigt sich sogar beim Grund
und Boden, wo die Beweglichkeit des Eigentums ermöglicht wird in erster
Reihe durch die Hypotheken, die unschwer ihre Besitzer ändern und
geteilt werden können. Allein die Hypothek hat die volle Beweglichkeit
nicht, diese hat jedoch der Pfandbrief gebracht. Es entstanden die
Hypothekengesellschaften, die Hypotheken aufsammeln und für sie
Pfandbriefe ausgeben, die nun, wie das Anleihepapier, jeden Tag den
Inhaber wechseln können. Auf diese Weise konnte eine ungeheure
Verteilung des Vermögens stattfinden, das in Grund und Boden angelegt
war.

Die große Zunahme der Zahl der Aktionäre ist übrigens vom Standpunkte
des Sozialisten aus eine keineswegs erfreuliche Erscheinung. Als
erfreulich kann sie nur betrachtet werden von Anhängern des
Kapitalismus, weil damit eine viel größere Zahl von Menschen an dessen
Bestand interessiert werden, als es sonst der Fall wäre. Sie erklärt
eine ganze Reihe sozialer und politischer Erscheinungen. In England sind
die Brauereien außerordentlich konzentriert, aber das Brauereikapital
ist Aktienkapital, und die Zahl der beteiligten Aktionäre geht in sehr
viele Tausende. Das Braugewerbe ist nun in England in hohem Grade ein
politisches Gewerbe. Bis in die Mitte etwa der siebziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts waren die Brauer liberal, was in England auch
demokratisch bedeutete. Sie waren freihändlerisch, weil sie interessiert
waren an der freien Einfuhr der Gerste. Es gibt in England eine große
Tageszeitung, die auf den Straßen nicht verkauft wird, die aber doch
eine ansehnliche Verbreitung hat, den »Morning Advertiser«. Das ist das
Blatt des Braugewerbes, das in allen Schankstellen ausliegt. Am Bier
sind natürlich die Trinker auch interessiert. Die ganze politische
Stellung des Braugewerbes hat sich nun dadurch geändert, daß die
liberale Partei anfing, die Temperenz- und Mäßigkeitsbewegung nachhaltig
zu unterstützen. Das brachte die Brauereien in Gegensatz zur liberalen
Partei. Je mehr diese sich radikalisierte und für die Erleichterung von
Verboten und Einschränkungen der Schankstätten eintrat, um so mehr hat
sich der Gegensatz verschärft, und so ward in England das Braugewerbe
mit seinem ganzen Anhang nicht nur von Trinkern, sondern auch Aktionären
konservativ, und das erklärt wiederum die zeitweilig so bedeutende
Stärkung der konservativen Partei in England. Damit in Verbindung steht
das Interesse der Wettrennen, da die meisten Wetten in den Schankstätten
abgeschlossen werden. Auch das hat eine ganz erhebliche soziale und
politische Rückwirkung. Die ungeheure Verbreitung des Brauereikapitals
und die Beteiligung des großen Publikums an sonstigen Interessen der
Brauereien wirken hier politisch.

Die Beweglichkeit des modernen Kapitals ist also außerordentlich
gestiegen. Beweglicheres als den Pfandbrief kann man sich kaum
vorstellen. Man kann ihn um 1 Uhr an einer beliebigen Börse kaufen, und
um 1/2 2 Uhr kann er schon wieder verkauft sein. Ebenso jede Industrie-
usw. Aktie. Diese ungeheure Beweglichkeit des Kapitals hat wieder dazu
beigetragen, den Zug zur Stadt zu verstärken. Der nicht arbeitende
Kapitalist, ob er nun sein Einkommen von der Landwirtschaft, vom Handel
oder der Industrie zieht, kann jetzt in der Stadt wohnen. Wir haben das
vor dem Kriege beobachten können, z. B. an den Steuerquoten. In den
Orten der Berg- und Industriebezirke des Rheinlandes war der lokale
Einkommensteuerzuschlag auf die Staatseinkommensteuer 200 bis über
300 Proz., aber hier in Berlin, wo ein großer Teil der Leute lebt, die
ihr Einkommen aus jenen Produktionszweigen ziehen, ging man lange Zeit
nicht über einen Zuschlag von 100 Proz. Wir haben z. B. in meiner
Gemeinde Schöneberg lange darum kämpfen müssen, um endlich einmal die
Mehrheit der Gemeindevertretung zu einer Erhöhung des Zuschlages um
10 Proz. auf 110 Proz. zu bewegen. In den Industriebezirken aber
betrugen die Zuschläge 200 bis 300 Proz., weil die Aktionäre, an die der
Reinertrag der Produktion ging, eben dort nicht wohnten. Die
Industriebezirke hatten die Last für die große Arbeiterbevölkerung zu
tragen, während das Kapital sich aus ihnen entfernte. Ähnliches konnte
man übrigens auch in der sozialen Gliederung Groß-Berlins beobachten, wo
die Inhaber und Aktionäre großer Industrieunternehmungen in den
Villenvororten wohnten, während die Arbeiter dieser Unternehmungen in
den Industriequartieren und deren Umgebung hausten.

Auf die verschiedenste Weise wuchsen so die Städte in Deutschland. Im
Jahre 1867 wohnten in Deutschland noch 2/3 der Bevölkerung, 66,7 Proz.,
auf dem Lande, d. h. in den kleinen Gemeinden bis 2000 Einwohner. An der
Jahrhundertwende waren es nur noch 5/11, rund 45 Proz.; im Jahre 1910
war der Prozentsatz auf 40 gefallen, und es ist gar kein Zweifel, daß
wir bis zum Vorabend des Krieges noch weiter heruntergegangen waren. Das
Land entvölkerte sich immer mehr und die Städte wuchsen. Von
65 Millionen Einwohnern, die Deutschland 1910 hatte, wohnten nur noch
26 Millionen in den Gemeinden unter 2000 Einwohnern. Dadurch wurde jene
überwiegende Stadtkultur herbeigeführt, die, wie schon erwähnt, ein
wichtiges Moment mit zur Verschärfung der sogenannten Agrarfrage gewesen
ist. Mit dieser Entwicklung fast parallel ging die Steigerung des
deutschen Außenhandels. Deutschland war Industriestaat geworden, und das
Charakteristische des Industriestaates ist, daß er eine große Ausfuhr
von Fertigfabrikaten hat bei einer ziemlich großen Einfuhr von
Rohstoffen und Nahrungsmitteln. In Deutschland ist die Einfuhr von
Nahrungsmitteln nicht so groß gewesen wie in England, wo die Produktion
von Getreide im 19. Jahrhundert außerordentlich zurückgegangen ist, so
daß es kaum den sechsten Teil seines Brotbedarfs selbst herstellte. Dies
namentlich infolge seiner ungeheuren kolonialen Entwicklung, wobei man
zu den englischen Kolonien im wirtschaftlichen Sinne der
Bevölkerungsgliederung im Grunde auch die Vereinigten Staaten von
Amerika rechnen muß, wenngleich diese politisch völlig unabhängig sind.
Haben sie doch jahrzehntelang einen immer größeren Prozentsatz der
englischen Bevölkerung aufgenommen. Von 1848 bis Mitte 1885 sind aus
England über 6 Millionen Menschen ausgewandert, und der weitaus größere
Teil davon zog in die Vereinigten Staaten.

Diese Riesenauswanderung erklärt manche Erscheinungen, die vielen Leuten
lange Zeit unerklärlich dünkten. England hatte in der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts eine gewaltige Arbeiterbewegung, die
Chartistenbewegung, die einen geradezu revolutionären Charakter trug.
Allmählich aber nimmt das ab, und als in Deutschland die sozialistische
Bewegung schon ziemlich stark war, war in England von einer solchen fast
gar nichts mehr vorhanden. Man hat dafür eine ganze Reihe Erklärungen
angegeben. Ein Faktor liegt darin, daß die große Niederlage des
Chartismus entmutigend gewirkt hatte, und ferner dämpfte den
revolutionären Drang ein gewisses Entgegenkommen der bürgerlich-liberalen
Parteien. Aber auch die Gewerkschaftsbewegung der Arbeiter nahm einen
schläfrigen, fast völlig bureaukratischen Charakter an. Meines Erachtens
hat dazu auch jene große Auswanderung beigetragen. Im allgemeinen
wandern die geistig regsten Naturen aus, die darum noch nicht immer die
besten Menschen sind. Wenn nun ein Land einen so großen Prozentsatz
seiner regsten Elemente verliert, so kann das nur die Rückwirkung haben,
daß bei den Zurückbleibenden die schläfrigen, indifferenten oder
wenigstens nachgiebigen Elemente überwiegen, und so verursachte die
große Auswanderung Englands auch jene Änderung im Charakter seiner
Arbeiterbewegung.

Deutschland hatte bei einer viel zahlreicheren Bevölkerung eine
erheblich geringere Auswanderung als England. Um so mehr entwickelte
sich in den letzten Jahrzehnten sein Außenhandel. Es belief sich im
Jahre 1913, das letzte Jahr, für das wir eine vom Kriege unbeeinflußte
Statistik haben, der Wert seiner Einfuhr an Rohstoffen auf
3 1/2 Milliarden, seine Nettoeinfuhr an halbfertigen Fabrikaten auf
86 Millionen, an lebenden Tieren auf 280 Millionen, an Nahrungsmitteln
auf nahezu 1,8 Milliarden, zusammen 5,6 Milliarden Mark Goldwährung.
Dagegen betrug der Goldwert seiner Nettoausfuhr von fertigen Waren
4,8 Milliarden. Das ist das Bild des vorgeschrittenen Industriestaates,
der Fertigfabrikate ausführt, in denen am meisten höhere menschliche
Arbeit steckt, und dafür Rohstoffe, landwirtschaftliche Produkte und
Halbfabrikate einführt, bei denen die menschliche Arbeit eine
verhältnismäßig geringere Rolle spielt.

Was nun die auf dem Boden der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft
erwachsenden großen Geschäftskrisen anbetrifft, so zeigte sich die erste
davon in England, dem Heimatland der modernen Großindustrie, im Jahre
1825, zehn Jahre nach Abschluß der napoleonischen Kriege. Die
Wiederherstellung des allgemeinen Friedens in Europa hatte zunächst eine
ungeheure Steigerung der Produktion und damit verbundene Prosperität zur
Folge, die nahezu zehn Jahre anhielt, dann aber in eine große Krisis
auslief, während der das Geschäft fast vollständig stagnierte. Solche
allgemeinen Krisen wiederholten sich von da ab ziemlich alle zehn Jahre,
und es erstanden verschiedene Theorien über ihre Natur, ihre Ursachen
und ihre Zukunft, Theorien, die bald auch in der sozialistischen Welt zu
lebhaften Diskussionen führten.

Hinsichtlich der Erklärung der Krisen stritten lange Zeit zwei
Auffassungen: die eine leitete sie ab von der Überproduktion, die andere
von der Unterkonsumtion, was durchaus nicht das gleiche ist. Die
Unterkonsumtion wurde damit erklärt, daß man sagte, es ward viel mehr
produziert als die Bevölkerung gemäß ihrer Zusammensetzung in der Lage
war zu kaufen und daher auch nicht konsumierte. Man ging dabei von der
Idee aus, erstens, daß die sozialen Mittelschichten verschwinden -- die
berühmte Flaschenhalstheorie --, und zweitens, daß die Lage der
Unterschicht, der arbeitenden Klasse infolge ihrer wachsenden Zunahme
sich beständig verschlechtere, ihre Vermehrung also zur Verelendung
führe. So könne die Kaufkraft mit der Entwicklung der Produktion nicht
Schritt halten und stellten sich von Zeit zu Zeit Krisen ein, die sich
von Epoche zu Epoche immer mehr verstärkten. Die Theorie der
Überproduktion hat zum Teil dasselbe Bild des Kreislaufs des allgemeinen
Geschäftsganges zur Grundlage wie die Theorie der Unterkonsumtion,
nämlich eine Periode mit gutem Geschäftsgang, die in eine solche mit
fieberhaft erhöhter Produktion ausläuft, die Lager überfüllen sich,
Geldknappheit tritt ein, und Zwangsverkäufe führen zu einem
Geschäftskrach, an den eine Zeit der Stagnation, des allgemeinen
Stillstands sich anschließt. Dann erholt sich das Geschäft allmählich,
und der geschilderte Kreislauf wiederholt sich auf erweiterter
Grundlage. Sie sagt aber auch, daß infolge der Anarchie der freien
Konkurrenz auf dem Wirtschaftsmarkt tatsächlich überproduziert wird,
nicht etwa bloß im Verhältnis zur Kaufkraft, sondern auf den
verschiedensten Gebieten über den wirklichen Bedarf hinaus. Zum Beispiel
mehr Rohstoffe und Halbfabrikate, als die vorhandenen Fabriken
verarbeiten können. Solcher Anarchie gegenüber ist die Geschäftskrise
ein Mittel zeitweiliger Heilung.

Eine andere Krisentheorie ist die des englischen Philosophen und
Sozialökonomen Stanley Jevons. Sie bringt die Krisen in ursächlichen
Zusammenhang mit dem Auftreten der Sonnenflecken, das sich alle zehn bis
elf Jahre wiederholt und das auf die Gestaltung der Ernten ungünstig
einwirkt, was bei der großen Bedeutung der Erträge der Landwirtschaft,
d. h. der Preise ihrer Produkte für das Wirtschaftsleben, die Kaufkraft
für Industrieprodukte verringert. Die Theorie hat das sozialistische
Denken wenig beeinflußt, obwohl man zugeben muß, daß die Entwicklung der
Landwirtschaft bei den Krisen ein großes Wort mitzusprechen hat. Bleiben
wir daher bei den beiden vorerwähnten Theorien, von denen wir gesehen
haben, daß ihr Streit die Tatsache und ihren ursächlichen Zusammenhang
mit der kapitalistischen Produktions- und Wirtschaftsordnung
unbezweifelt läßt. Auf Grund von bestimmten Sätzen in Karl Marx' Kapital
befestigte sich in sozialistischen Kreisen die Anschauung, daß eine
gleichförmige Wiederholung der Krisen nach zehn Jahren der zunehmenden
Produktionshöhe und Wirtschaftsanarchie widerspreche, sondern daß
vielmehr der Zyklus allmählich immer kürzer werden würde. Dem Wesen der
kapitalistischen Jagd um den Markt bei steigender Produktivität
entspreche es, daß die Entwicklung sich vollziehe in Form einer Spirale,
die immer enger wird, daß also die Krisen sich zeitlich häufen und immer
größeren Umfang annehmen.

In der Zeit, wo die sozialistische Bewegung einen besonderen Aufschwung
in Deutschland nahm, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts,
schien diese Anschauung sich vollständig zu bestätigen. Nach dem
Deutsch-Französischen Kriege trat in Deutschland zunächst eine ungeheure
Prosperität ein, die aber ziemlich schnell ein jähes Ende nahm. Schon in
den Jahren 1873/74 stellte sich ein großer Börsenkrach ein, und ihm
folgte ein ungeheurer Stillstand der Geschäfte, der sich bis in die
achtziger Jahre hinzog. In der Arbeiterwelt sah man eine große
Verelendung vor sich und folgerte daraus auf den Bankrott der
kapitalistischen Wirtschaft. Die marxistische Auffassungsweise drängte
alle früheren sozialistischen Theorien zurück, und sehr stark wuchs die
Meinung, daß man vor einem völligen Zusammenbruch der bürgerlichen
Gesellschaft stehe. Dieser Zusammenbruch ist aber nicht eingetreten,
sondern es stellte sich etwas anderes ein. Von Beginn der neunziger
Jahre ab beginnt eine Prosperitätsperiode, die viel länger andauerte als
die früheren Prosperitätsperioden, und der lange Zeit keine größere
Stagnation folgte. Bürgerliche Ökonomen und auch Sozialisten sahen sich
zu der Frage veranlaßt, wie diese Erscheinung zu erklären und was aus
ihr zu folgern sei. Vielfach erkannte man, daß die Ursache in der
ungeahnten Entwicklung des Transportwesens und der Weltwirtschaft liege,
die eine gewaltige Erweiterung der Märkte bei großer Verbesserung des
Nachrichtenwesens und der Handelsstatistik herbeigeführt habe. Die
Geschäfte konnten besser übersehen werden. Ferner vollzog sich eine
starke Organisation des Kapitals bzw. der Unternehmer in Kartellen und
Syndikaten, die es ermöglichte, gewisse Wirkungen der Krisen abzuwehren,
indem man die Produktion selbst teilweise einschränkte, um so dem
ungeheuren Mißverhältnis zwischen Produktion und Absatz gewisse Grenzen
zu ziehen. Ich selbst folgerte damals aus diesen und noch einigen
anderen Erscheinungen, daß wir mit Krisen, wie sie sich vorher gezeigt
hatten, wohl kaum in absehbarer Zeit zu rechnen haben würden, und habe
das in einer Schrift, die ein gewisses Aufsehen machte, ausgesprochen.
Es hat mir allerhand Entgegnungen eingetragen, darunter ganz besonders
vom Ökonomieprofessor Ludwig Pohle. Meine Schrift war 1899 erschienen,
und schon 1900 stellte sich eine neue Geschäftskrisis ein. Das hielt mir
Pohle triumphierend entgegen. Aber Tatsache ist, daß jene Krise
überraschend schnell ein Ende nahm und schon 1902 sich eine Erholung
einstellte, die sehr lange andauerte, nämlich bis 1906/07, wo wieder ein
Geschäftsdruck eintrat, der aber gleichfalls nur kurz war, und dem dann
bis zum Weltkriege keine größere Depression gefolgt ist.

In der Tat ist also durch die Organisationen des Kapitals und eine ganze
Reihe verwandter Ursachen der Umstand eingetreten, daß die Krisen der
früheren Jahre sich nicht wiederholt haben. Krisenmomente und -faktoren
sind ja immer da, aber auch Gegenkräfte, die zur Zeit, als Karl Marx
schrieb, noch nicht zu übersehen waren. Übrigens hat bis zu einem
gewissen Grade zur Milderung der Krisen auch beigetragen die gewaltige
Steigerung der Rüstungen, die in steigendem Maße Arbeiter beschäftigten.

Der Hinweis auf die Tendenz der Abschwächung der Krisen ist aber
durchaus nicht als Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaft
aufzufassen. Daß die Organisation des Kapitals bedeutende Nachteile
hatte, habe ich wie andere nicht verfehlt hervorzuheben, und das muß
auch hier geschehen. Die Krisen, wie sie vordem waren, hatten die eine
gute Wirkung, daß das Bedürfnis der Entlastung des Marktes durch
Verbilligung der Güter nicht aufgehoben, sondern gesteigert wurde, und
damit auch die Rücksicht auf den Konsum der Massen zu ihrem Rechte kam.
Die Krisen konnten -- wie etwa das Fieber von den Ärzten -- betrachtet
werden als eine Art Reaktion des Wirtschaftskörpers zur Überwindung
schädlicher Faktoren. Das war übertrieben optimistisch, aber ein Stück
Wahrheit steckte doch darin. Wenn sich nun das Unternehmerkapital
organisiert und die Krisen mindert, geschieht es zu dem Zwecke, durch
Koalitionen die Preise hochzuhalten. Dadurch wird ein Hauptmoment der
Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaft, nämlich die ihr
nachgerühmte ständige Verbilligung der Produkte und dadurch die
Erweiterung des Konsums der großen Masse der Bevölkerung, beeinträchtigt
oder aufgehoben. Man kann daher dieses kapitalistische Gegenmittel doch
nur als von sehr bedingtem Nutzen betrachten und nicht als Mittel zu
völliger Heilung von den Schäden, die die kapitalistische Wirtschaft im
Gefolge hat. Es hebt die Steigerung des Wohlstandes der arbeitenden
Klassen in außerordentlichem Maße wieder auf.

Nun haben wir allerdings Gegenaktionen der Arbeiter selbst in den
Arbeiterorganisationen, Lohnkämpfen usw., die auch manches dazu
beigetragen haben, die Rückwirkung des Druckes des Kapitals auf die Lage
der Massen und die Herrschaft des Kapitals über die Produktion
aufzuhalten. Zu erwähnen ist hierbei das Wachstum der Ansprüche der
Arbeiter. Man kann es natürlich je nach den verschiedenen Standpunkten
sehr verschieden auffassen. Der Sozialist wird diese Steigerung der
Ansprüche für sehr wünschenswert halten. Er wird gegebenenfalls nur
daran Anstoß nehmen, daß die erhöhten Einnahmen der Arbeiter falsch
verwendet werden. Vergesse man aber folgendes nicht. Der Arbeiter, der
lange Arbeitszeit hat, kann, wenn die Löhne steigen, nicht so schnell
seine Lebensweise ändern, er wird daher den in guter Konjunktur
erlangten Mehrverdienst in der Tat zum Teil vergeuden. Dazu, daß er ihn
besser verwendet, gehört ein regelmäßiges Steigen, nicht ein Auf- und
Absteigen und Sinken nach der Konjunktur. Abgesehen von der Berechtigung
der Arbeiter, ihre Ansprüche zu erhöhen, darf auch ein Zweites nicht
vergessen werden, nämlich, daß mit dem Steigen des Reichtums der
bürgerlichen Gesellschaft allmählich auch dem Arbeiter die
Lebensansprüche von selbst sich erhöhen. Er lebt doch in der
Gesellschaft, sieht, was dort vorgeht, und muß sich der allgemeinen
Entwicklung der Lebensgewohnheiten anpassen. Gewisse Wohnungen, mit
denen er sich früher begnügte, werden nicht mehr hergestellt, weil die
hygienischen Ansprüche gesteigert sind, und auch die Wohnungspolizei
andere Grundsätze aufstellt. Die sozialen Ansprüche _an_ den Arbeiter
erhöhen sich, und er muß sie auch erhöhen. Das ist einer der Faktoren
des ständigen Kampfes um die Löhne, und das führt uns hinüber zum Thema
von den Klassenkämpfen in der modernen Gesellschaft.

Vorher möchte ich jedoch noch einiges sagen über die Rückwirkungen des
Krieges und der Revolution auf die Wirtschaftsentwicklung. Im ganzen
wäre es voreilig, hier prophezeien zu wollen, weil die Rückwirkung sich
im ganzen noch gar nicht übersehen läßt angesichts der vollständigen
Ungeordnetheit der Verhältnisse, die sich eingestellt haben. Wir
übersehen noch nicht vollständig die wirtschaftlichen Rückwirkungen der
großen Gegensätze zwischen den Nationen und die großen Verschiebungen
innerhalb der Klassen. Wir haben noch keine Statistik darüber, ob die
Entwicklung der Klassen, die oben vorgeführt wurde, in der Weise anhält,
wie wir das im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege gesehen haben. Wir
können noch nicht übersehen, ob wir noch weiterhin etwa jene Zunahme der
mittleren Einkommenschichten haben werden, die vor dem Kriege zu
verzeichnen war. Es fehlt uns eine Statistik über die gegenwärtige
Stärke der Klassen. Wie sie sich in Deutschland gestalten wird, ist ganz
besonders deshalb schwer zu sagen, weil seine Industrie mit
unberechenbaren Schwierigkeiten zu rechnen hat. Deutschlands
Absatzmöglichkeiten in der Welt haben sehr abgenommen, Deutschlands
sachliche Produktionskosten haben sich ungemein gesteigert. Es muß seine
Rohstoffe, Erze usw. jetzt zum großen Teile aus Ländern mit hoher Valuta
kaufen, und daher entsteht die große Frage, ob die Industrie noch weiter
die Stellung in der Weltwirtschaft einnehmen kann, die sie vor dem
Kriege eingenommen hat. Im allgemeinen wird wohl die Tendenz dahin
gehen, daß wir eine Zunahme der Beschäftigung in der Landwirtschaft
haben werden, das heißt eine relative Vermehrung der landwirtschaftlichen
Bevölkerung, weil Deutschland nicht die Mittel hat, die Nahrungs- und
Genußmittel in dem früheren großen Umfange aus dem Auslande zu kaufen.
Ein großer Teil der deutschen Sozialpolitik wird jetzt darauf gerichtet
sein, mehr Bevölkerung aufs Land zu bringen, als vom Lande in die
Industrie und die Städte abfließt, eine Frage, an die sich eine ganze
Reihe von Problemen des Sozialismus knüpfen. Das bloße Herausgehen der
Arbeiter auf das Land würde unter den bisherigen Verhältnissen
tatsächlich eine Herabsetzung ihres ökonomischen, sozialen und
kulturellen Höhenstandes bedeuten. Es müssen daher Maßnahmen getroffen
werden, diese Wirkung zu verhüten. Eine andere Erscheinung von Bedeutung
ist die ungeheure Expropriation von Angehörigen der Mittelklassen durch
den Sturz der Valuta. Hunderttausende von Kleinrentnern sind durch ihn
vollständig proletarisiert worden. In welchem Umfange nun andere Klassen
und Schichten durch ihn hochgekommen sind, das können wir gleichfalls
noch nicht übersehen. Diese Dinge sind aber bedeutungsvoll für die
Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in der Gesellschaft, und
auch das führt uns zurück auf die Frage der Klassenkämpfe in der
modernen Gesellschaft. Sie sind der Gegenstand des folgenden Kapitels
und leiten über zu der weiteren Frage der Theorien über den Staat in den
Reihen der Sozialisten.




Fünftes Kapitel.

Der Sozialismus und die Lehre vom Klassenkampf.


Die Frage des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft hat in der
Literatur des Sozialismus als Streitgegenstand Boden gefaßt auf Grund
der von Karl Marx und Friedrich Engels in dem Manifest der
Kommunistischen Partei niedergelegten Lehre. Dieses Schriftwerk, das
Marx und Engels Ende 1847 ausgearbeitet haben und das Anfang 1848
erschienen ist, hat in der Sozialdemokratie aller Länder eine große
Bedeutung erlangt. Es ist in unzählige Sprachen übersetzt worden und hat
das Ansehen einer Art von Katechismus für die sozialistische Bewegung,
ist auch jedenfalls außerordentlich lesenswert --, schon wegen seiner
wunderbar lapidaren Sprache, zugleich aber auch wegen des großen
Einflusses, den es auf das sozialistische Denken ausgeübt hat und noch
ausübt. Es sei nur daran erinnert, daß die Bolschewisten, die sich
überall Kommunisten nennen, vornehmlich auf diese Schrift sich berufen.

Im Kommunistischen Manifest nun liest man im ersten Absatz gleich nach
der Einleitung:

  »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von
  Klassenkämpfen.

  Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener,
  Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in
  stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald
  versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer
  revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit
  dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.«

Dieser Satz ist sehr stark angegriffen worden, was großenteils der
ziemlich roh simplizistischen Auslegung geschuldet ist, die er in
sozialistischen Reihen gefunden hatte. Viele faßten ihn so auf, daß die
ganze Geschichte aus einer Kette von erbitterten Klassenkämpfen bestehe.
Solches sagt der Satz aber nicht. Es ist Marx und Engels, diesen guten
Kennern der Geschichte, niemals eingefallen, eine so platte Behauptung
aufzustellen. Was sie tatsächlich wollten, war, die Tatsache zur
Anschauung zu bringen, daß durch die ganze Geschichte der Menschheit --
Engels hat das später eingeschränkt: mit Ausnahme der Urgeschichte --
sich Klassengegensätze ziehen, die sich stets früher oder später zu
heftigen Klassenkämpfen zuspitzen. Marx hat denn auch 1859 im Vorwort zu
seiner Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie« dem Gedanken eine
mehr wissenschaftliche Form gegeben. Er knüpft da an die Theorie
Saint-Simons an, daß die Geschichte der Menschheit sich vollzieht in
abwechselnden Perioden, eine sogenannte organische Periode, wo sich die
Gegensätze einrenken und die Entwicklung sich verhältnismäßig regelrecht
vollzieht ohne große Kämpfe, und dann eine eigentliche kritische
Periode, wo es zu Revolutionen kommt, und legt in knappen Sätzen das
Wesen dieser Periodizität dar. Solange Klassen in der Gesellschaft
bestehen, bestehen auch Klassengegensätze, die wirtschaftliche
Entwicklung erzeugt sie in immer neuen Formen und treibt sie auf die
Spitze. Eine jeweilige Unterschicht drängt nach oben, und ist sie stark
genug, um herrschende Klasse werden zu wollen und zu können, dann tritt
die Periode sozialer Revolution ein, die auch wiederum nicht plump
genommen werden darf als bloßer Straßenkampf. Der ganze
Gesellschaftszustand ist vielmehr erschüttert, die sozialen Kämpfe der
Klassen nehmen größere Intensität an, die herrschenden Schichten fühlen
sich nicht mehr sicher, und schließlich findet so oder so eine soziale
und politische Umwälzung statt. Die Tatsache läßt sich auch gar nicht
bestreiten, dagegen ist gegen den obigen Satz des Kommunistischen
Manifests der Vorwurf des Plagiats erhoben worden. Ein grusinischer
Sozialist W. Tscherkesow zitiert dafür einen Spruch des Ökonomen Adolphe
Blanqui, Bruder des Kommunisten und Revolutionärs Auguste Blanqui.
Dieser Adolphe Blanqui hatte nämlich im Jahre 1825 geschrieben:

  »Es hat immer nur zwei sich gegenüberstehende Parteien gegeben, die
  der Leute, die von ihrer Arbeit leben wollen und die der Leute, die
  von der Arbeit anderer leben wollen. Patrizier und Plebejer. Freie und
  Hörige, Sklaven und Freigelassene. Welf und Waibling, Rote und Weiße
  Rose. Kavaliere und Rundköpfe, alles sind nur veränderte Formen
  derselben Gattung.«

Dieser Satz sieht allerdings dem im Kommunistischen Manifest
niedergelegten ungemein ähnlich, und die Behauptung, daß Marx ein
Plagiat ausgeübt habe, konnte einen Schein von Berechtigung haben. Wenn
man aber die zwei Aussprüche näher betrachtet, wird man doch auf einen
gewaltigen Unterschied stoßen. Bei Blanqui werden ganz verschiedenartige
Gegensätze durcheinander geworfen. Welfen und Waiblinge stehen sich ganz
anders gegenüber als Proletarier und kapitalistische Unternehmer. Es
sind zwei gleichgeartete Parteien, die gegeneinander kämpfen, weil jede
Herrscherin sein will, die aber keinen sozialen Gegensatz vertreten.
Dann Freie und Hörige. Das ist ein Unterschied, aber kein
Klassengegensatz. Bei Marx heißt es: »Freie und Sklaven«. Die Hörigen
sind schon nicht mehr Sklaven. Marx schreibt denn auch: »Baron und
Leibeigener«, worin sich das feudale Verhältnis scharf ausprägt. Er und
Engels beschränken sich auf Anreihung wirklich wesensgleicher
Unterschiede. Im übrigen lagen solche Gegenüberstellungen so sehr im
Geist der damaligen Epoche, daß es nicht schwer halten würde, Vorgänger
auch von Blanqui zu finden. Marx hat niemals behauptet, seine Gedanken
seien nie vorher von anderen ausgesprochen worden. Aber jedenfalls
offenbart sich in der marxistischen Zusammenfassung gegenüber der
Blanquischen ein bedeutender Fortschritt: eine viel stärkere
Präzisierung des Wesens der wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze.

Dennoch ist auch bei Marx-Engels an manchem Kritik zu üben, auch ihre
Systematik ist nicht ganz fehlerfrei. Sie stellen schlechthin
Zunftbürger und Gesellen gegenüber. Aber zwischen Zunftbürger und
Gesellen findet tatsächlich jahrhundertelang kein Klassengegensatz
statt. Nichts von dem, was man über angebliche Klassenkämpfe zwischen
Zunftbürger und Gesellen im Mittelalter liest, hält näherer Prüfung
stand. Über die Gesellenbewegungen des Mittelalters hat ein sehr
wertvolles Buch Georg Schanz geschrieben: »Die Geschichte der deutschen
Gesellenverbände«. Er teilt da 53 Urkunden mit, aber wenn man sie genau
ansieht, so zeigt sich, daß nicht eine davon einen wirklichen
Klassenkampf zwischen Gesellen und Zunftmeistern behandelt. Bruno
Schönlank spricht in seinem Buche »Soziale Kämpfe vor drei
Jahrhunderten« beständig von Klassenkämpfen, aber er führt nicht einen
einzigen wirklichen Klassenkampf zwischen Gesellen und Zunftbürgern vor.
Einer der berühmteren Zunftkämpfe der Gesellen des Mittelalters war der
Kampf der Kolmarer Bäckergesellen, der zehn Jahre dauerte, von 1495 bis
1505. Worum drehte sich aber dieser Kampf? Um die Stellung der Bäcker in
der Kirchenprozession. Nun ist das damals keine so leicht zu nehmende
Sache gewesen wie es heute erscheint. Vor der Reformation, in einer
Zeit, wo die Kirche noch das ganze bürgerlich-soziale Leben erfüllte, wo
die Prozessionen eine gesellschaftliche Bedeutung hatten und die soziale
Rangstellung der einzelnen und Gruppen sich darin ausprägte, welche
Stelle sie in der Prozession einnahmen, in dieser Zeit hatte ein solcher
Streit eine ganz andere Bedeutung als heute. Aber ein Klassenkampf war
er nicht, er war mehr ein Kampf von Gewerbe gegen andere Gewerbe. Ich
habe ziemlich genau verfolgt, worum die Gesellen damals kämpften. Als
ich mich mit der Geschichte eines bestimmten Gewerbes beschäftigte, habe
ich eine ganze Reihe von Urkunden dieses und anderer Gewerbe
durchstudiert, und niemals bin ich einem Kampf begegnet, der ein
eigentlicher Klassenkampf war. Es hat sich oft um Streitigkeiten
zwischen Meistern und Gesellen gehandelt. Streitigkeiten sind aber noch
kein Klassenkampf. Oft waren die Streitigkeiten zwischen Gesellen und
Meistern ähnlich den Streitigkeiten, wie wir sie heute etwa zwischen
Studenten und Professoren haben. Die Studenten haben gegen die Senate
manchmal Beschwerden und bringen sie in den Ausschüssen zur Geltung;
aber man wird nicht behaupten wollen, daß solche Konflikte Klassenkämpfe
seien.

Das führt uns zu der Frage: Was bedeutet überhaupt eine Klasse? Eine
Klasse ist nicht zu verwechseln mit einem Stand. Lange hat solche
Verwechslung stattgefunden, hat man das eine Wort für das andere
gebraucht. Selbst ein so klarer Denker und in der Wahl seiner Ausdrücke
gewöhnlich außerordentlich sorgfältiger Schriftsteller wie Ferdinand
Lassalle gab seiner berühmten Schrift, die später den Namen »Das
Arbeiterprogramm« erhielt, den Titel: »Über den Zusammenhang der Idee
der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Bedeutung des
Arbeiterstandes«. Es ist eine wahrhaft klassische Schrift, die ich jedem
zu lesen empfehle, der sich mit der Gedankenwelt des Sozialismus
vertraut machen will, zumal Lassalle ein Meister des Stils war. Einige
seiner populären Schriften sind so vorzüglich geschrieben, daß meiner
Ansicht nach es ratsam sein würde, Stücke aus ihnen in die Schulbücher
als Lehrgegenstand einzuführen, als Muster guter, klarer Darstellung,
sowie auch als Gegenstücke gegen die schändliche Mißhandlung, die die
deutsche Sprache heute in der Tagesjournalistik erfährt. Lassalle
braucht also mit Bezug auf die Lohnarbeiter den Ausdruck Arbeiterstand.
Aber schon damals konnte man nicht mehr von einem solchen Stande
sprechen. Nach Ständen gruppiert war die Gesellschaft im Mittelalter und
Spätmittelalter. Der Stand ist eine abgegrenzte Schicht mit besonderen
Rechten, die gesetzlich geregelt sind. Die Aufnahme in den Stand ist
begrenzt, er hat seine eigenen Rechte und Gesetze. Im allgemeinen
herrscht im Stande lange eine starke Gleichheit der Lebenslage, erst
nach und nach bilden sich in einzelnen von ihnen größere ökonomische
Unterschiede, wie wir sie auch bei den Kasten in Indien finden, die ja
nur eine Verschärfung der Standeseinteilung sind, oder vielmehr eine
schärfere Vorstufe. In Indien kommt es vor, daß eine tieferstehende
Kaste oft sehr reiche Mitglieder hat und höherstehende Kasten ärmere
Mitglieder. Aber selbst die ärmsten Mitglieder der höheren Kaste fühlen
sich entehrt, wenn sie mit einem noch so reichen Mitgliede einer unter
ihnen stehenden Kaste an einem Tische speisen sollen. Das war natürlich
bei uns im Mittelalter nicht im gleichen Maße der Fall, aber die Stände
haben sich doch viel schärfer abgegrenzt als heute die Klassen, und
jeder einzelne Beruf, jede Zunft bildete einen Stand. Er grenzte sich
gegen andere ab und empfand keinerlei Solidarität mit anderen Ständen.
Dieser Zunftgeist hat sich bis in den Anfang des vorigen Jahrhunderts
fortgepflanzt. Selbst in meiner Jugendzeit noch war allgemein zwischen
Schuhmacher- und Schlossergeselle etwa oder Tischlergesellen wenig
Solidaritätsgefühl vorhanden. In der Hasenheide zu Berlin haben sie auf
den Tanzböden Kämpfe miteinander geführt, die Tatsache, daß sie
gemeinsam einer proletarischen Klasse angehörten, haben sie wenig
beachtet. Sie kannten wohl den Unterschied von arm und reich, von
Meister und Geselle, aber sie wären erstaunt gewesen, wenn man ihnen
gesagt hätte, daß der Schuhmachergeselle das gleiche sei wie ein
Schlossergeselle; sie empfanden oft eine stärkere Solidarität mit ihren
Meistern als mit den Gesellen eines anderen Gewerbes. Ja, als die
kapitalistische Produktion anfing sich durchsetzen, sind die Gesellen
oft ihr gegenüber viel konservativer als die Meister. Die Verfolgung der
nicht zünftigen Handwerker -- im Schneiderberufe nannte man sie
Bönhasen -- und die Kämpfe gegen die eindringende Maschine sind von
seiten der Gesellen zum großen Teile viel heftiger geführt worden als
von den Meistern. Die Klasse ist etwas ganz anderes als der Stand. Die
Klasse ist eine soziale Schicht, die allerdings auch gebildet wird durch
Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse, aber sie ist keine durch Gesetz
oder Satzung und Berufszugehörigkeit abgegrenzte Schicht, sondern sie
ist der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen. Die
Klassenbildung geht neben der Standesentwicklung und später auch
innerhalb des Standes selber vor sich. Die Klasse sprengt je nachdem den
Stand. Die Linien der Abgrenzung der Stände gehen vertikal, die der
Unterscheidung der Klassen horizontal, d. h. nach der Höhe von Besitz
und Einkommen. Es sei hierfür auf ein anderes Stück des Kommunistischen
Manifestes verwiesen. Auf Seite 24 der neuesten deutschen Ausgabe heißt
es dort:

  »Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene
  moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht
  aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der
  Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten
  gesetzt.«

Das ist natürlich richtig, das ist eingetreten. Die feudale Gesellschaft
ging an einer ganzen Reihe von Umständen zugrunde, die teils auf die
Entwicklung des Weltverkehrs, teils der inneren Wirtschaftsverhältnisse
zurückzuführen sind und die zur Folge hatten ein starkes Anwachsen der
Städte, deren größere Bedeutung und Macht und zugleich eine Steigerung
des zunächst gegen die Feudalherren gerichteten fürstlichen
Absolutismus. Es entsteht der absolute Staat, und die feudale
Gesellschaft wird gesprengt, zum Teil unter Mitwirkung der staatlichen
Gesetzgebung.

Das Kommunistische Manifest sagt in dem Absatz »Bourgeoisie und
Proletarier« weiterhin:

  »Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch
  dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze
  Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche
  Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen:
  Bourgeoisie und Proletariat.«

Das nahmen die Verfasser des Manifestes, das nahmen auch alle
Sozialisten, die Schüler von Marx und Engels waren, das nahm gleichfalls
Ferdinand Lassalle an. Sie alle folgerten, daß die Gesellschaft sich
vereinfache zu dem großen Gegensatz: Bourgeoisie und Proletariat,
während die in der Mitte stehenden sozialen Zwischenschichten
verschwinden. In dieser Annahme steckt auch etwas Richtiges, aber sie
erschöpft die Sache nicht. Es ist eben der große Fehler, den auch die
modernen Kommunisten begehen, daß sie das Kommunistische Manifest als
das höchste Produkt des Marxschen Geistes maßgebend sein lassen wollen.
Aber das Kommunistische Manifest ist ein Produkt der Frühentwicklung von
Marx und Engels, und so bedeutende Geister die beiden auch schon damals
waren, so muß man ihnen doch das Recht der Jugend zuerkennen, die einer
vorschnellen Verallgemeinerung zuneigt. Was sie in England vor sich
gesehen hatten, dem Musterland der kapitalistischen Wirtschaft, dem
sprachen sie eine Entwicklung in gerader Linie zu, verallgemeinerten und
bezogen es auf die ganze moderne Gesellschaft. Zum großen Teile ist ihre
damals gefolgerte Vorhersage aber nicht eingetroffen. Liest man die
Schriften, die Marx auf der Höhe seiner Entwicklung geschrieben hat, so
findet man eine ganz andere Sprache. Im dritten Bande seines Werkes »Das
Kapital«, das freilich die wenigsten gelesen haben -- von den Schülern
Marx' abgesehen werden es kaum etliche Hundert gelesen haben --,
unterscheidet Marx erstens noch einen anderen Faktor sehr streng, auf
den er in dem Kommunistischen Manifest noch gar keinen Bezug nimmt, er
unterscheidet nämlich Grundbesitz von Kapitalbesitz. Demgemäß teilt er
nun die Klassen anders ein. Er spricht von den drei _großen_ Klassen der
modernen Gesellschaft, die sich durch die Natur der Quelle ihres
Einkommens, nämlich Arbeitslohn, Profit und Grundrente, unterscheiden,
und dann von einer Vielheit der Schichten innerhalb dieser großen
Klassen. Er schreibt im letzten »Die Klassen« überschriebenen Kapitel:

  »Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital
  und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommensquellen
  Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter,
  Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen in
  der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden
  Gesellschaft.

  In England ist unstreitig die moderne Gesellschaft in ihrer
  ökonomischen Gliederung am weitesten, klassischsten entwickelt.
  Dennoch tritt diese Klassengliederung selbst hier nicht rein hervor.
  _Mittel- und Übergangsstufen vertuschen auch hier_ (obgleich auf dem
  Lande unvergleichlich weniger als in den Städten) _überall die
  Grenzbestimmungen._«

Man sieht schon hier, daß man nicht damit fertig wird, einfach zu
sprechen von den beiden großen Klassen »Bourgeoisie und Proletariat«.
Marx wirft alsdann die Frage auf: »Was bildet die Klassen?« und
schreibt, daß hiernach auf den ersten Blick die »Dieselbigkeit der
Revenuen und Revenuenquellen« sich als maßgebend zeige. Indes würden,
fährt er fort, »von diesem Standpunkte aus z. B. Ärzte und Beamte auch
zwei Klassen bilden«, und »dasselbe gälte für die _unendliche
Zersplitterung der Interessen und Stellungen_, worin _die Teilung der
gesellschaftlichen Arbeit_ die Arbeiter wie die Kapitalisten und
Grundeigentümer -- letztere z. B. in Weinbergbesitzer, Äckerbesitzer,
Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer -- spaltet!«

Hier bricht das Manuskript zum dritten Bande ab. Marx ist leider nicht
über die ersten Sätze des für seine Theorie so wichtigen Kapitels
hinausgekommen. Es mag dahingestellt bleiben, warum er gerade an ihm so
wenig gearbeitet hat. Wir können nur so viel sagen, daß selbst wenn er
dazu gekommen wäre, es zu vollenden, es für heute doch unzureichend sein
würde. Denn seit der Zeit, wo Marx das Zitierte geschrieben hat -- seine
letzten Arbeiten am dritten Bande datieren vom Anfang der siebziger
Jahre --, hat die Entwicklung so vieles an der sozialen Schichtung
geändert, so viele neue Erscheinungen gezeitigt, daß das Bild, das er zu
jener Zeit geben konnte, doch heute unvollständig und vielfach sogar
unrichtig sein würde. Was z. B. bei ihm in der Wertung noch vollständig
vernachlässigt wird, ist die Frage des technischen und kaufmännischen
Personals in der Volkswirtschaft. Wir wissen, welche bedeutende Zunahme
diese Klasse seit dem Tode von Marx erfahren hat.

Wenn heute ein großer Teil der Angestellten, und zwar nicht nur der
technischen Angestellten, eine starke Gemeinsamkeit der Interessen mit
den Arbeitern empfinden, sich ähnlich wie die Arbeiter organisieren und
viele sich ihnen ganz zurechnen, so hat man lange Zeit ganz anderes
beobachtet, und es bleibt auch heute noch ein ziemlich starker
Prozentsatz übrig von kaufmännischen und technischen Angestellten, die
auf Grund ihrer Klassenherkunft und Erziehung sich mehr den Unternehmern
nahefühlen, Elemente, die eine Zwischenstellung einnehmen und die die
bürgerlichen Volkswirtschaftler seinerzeit als den »neuen Mittelstand«
begrüßt haben, der an Stelle der teilweise verschwundenen
Mittelstandsunternehmer getreten sei. Jedenfalls bot die kapitalistische
Gesellschaft in der Tat am Vorabend des Weltkrieges ein anderes Bild
dar, als Marx es zu seiner Zeit vorzeichnen konnte.

Marx leitet die Klassenzugehörigkeit, wie wir gesehen haben, von der
Natur der Einkommensquellen ab und gruppiert diese in Grundrente,
Profit, Lohn. Er schweigt vom Gehalt und rechnet das Gehalt offenbar dem
Lohn zu. Aber das läßt die gewaltigen Unterschiede aus, die z. B. bei
den Beamten bestehen, die doch gleichfalls Gehalt beziehen. Auch die
Schicht der Beamten hat in der Neuzeit sehr zugenommen, sie ist durch
die ungeheure Ausdehnung der Verwaltung bedeutend vermehrt worden, und
wenn die Angestellten und Beamten zeitweise eine Gemeinsamkeit der
Interessen mit den Arbeitern empfinden, so kommt es doch auch zwischen
ihnen und jenen zu Gegensätzlichkeiten der Interessen. Welche
bedeutsamen Unterschiede zwischen den Grundbesitzern bestehen, je
nachdem es sich um rein landwirtschaftlichen Grundbesitz, um Waldbesitz,
Weinbergbesitz oder um Grundbesitz in Bergbau und Fischerei handelt,
läßt Marx selbst durchblicken, und so sehen wir schon, daß die moderne
Gesellschaft keineswegs das ganz einfache Bild darstellt, wie es sich
dem oberflächlichen Leser des Kommunistischen Manifestes zeigt: hier
Bourgeoisie, hier Proletariat, und die Mittelschichten verschwinden.

Nein, die Mittelschichten verschwinden nicht, aber sie ändern ihren
Charakter. Früher fühlte sich vielfach der Handwerksmeister den
Arbeitern viel näher als den Großunternehmern, in denen er geradezu
seine Feinde erblickte, die ihn durch kapitalistische Konkurrenz
unterdrückten. Wir haben dann noch, was Marx nicht erwähnt, die
Lebensfähigkeit des bäuerlichen Betriebes erkennen gelernt. Auf die
Gründe dieser Lebensfähigkeit kann hier nicht eingegangen werden, ihre
Tatsache wird überall durch die Statistik erwiesen. Im allgemeinen kann
man sagen, daß der kleinbäuerliche Betrieb beim Getreidebau dem
Großbesitz gegenüber nicht konkurrenzfähig ist, wo es sich um ebenen
Boden handelt, der leicht mit der Maschine bearbeitet werden kann; daß
dagegen das Verhältnis sich ändert bei hügeligem Boden, und ebenso ist
das Verhältnis ein anderes bei der Viehzucht. Entscheidend ist hierbei,
daß die Arbeit nicht ein rein physischer Prozeß ist, sondern daß sie
auch seelische Momente umschließt, so daß die Arbeit des Kleinbauern,
der sein eigenes Gut bewirtet, sein eigenes Vieh züchtet, einen anderen
Charakter hat als die des Knechtes auf dem Gute des Großbauern und
Großgrundbesitzers. Selbst in Industrie und Handel haben sich die
kleinen und Mittelbetriebe nicht nur gehalten, sondern ihre Zahl noch
vermehrt.

Zwischen allen diesen sozialen Schichten nun findet in der Tat ein mehr
oder minder intensiver Klassengegensatz, ein Gegensatz der Interessen
statt, und wo Gegensätze der Interessen sind, da gibt es auch jeweils
mehr oder weniger heftige Kämpfe. Wo der Großgrundbesitz, namentlich der
Latifundienbesitz, vorherrscht, gibt es Kämpfe der Bauern mit diesen
Großgrundbesitzern. Es bilden sich demokratische Bauernparteien, die
sich dadurch verkürzt fühlen, daß große Teile des Bodens in den Händen
der Großgrundbesitzer sind. In fast allen Ländern haben da zeitweilig
wirkliche Klassenkämpfe stattgefunden. In Deutschland liegen diese
Kämpfe längere Zeit zurück, nachdem sich durch die Bewegung für
Agrarzölle eine Interessensolidarität zwischen einem großen Teile der
Bauern und den Großgrundbesitzern eingestellt hatte. Große und kleine
Landwirte haben sich zusammen organisiert zum Kampf gegen die Händler
und darüber hinaus eigentlich auch gegen die Verbraucher. Sie forderten
hohe Zölle, um ihre Produkte nach ihrer Ansicht preiswert verkaufen zu
können, und standen damit im Gegensatz zu der großen Masse der
Verbraucher, die nicht selbst Produzenten sind. In Deutschland haben wir
ferner eine Verbindung gehabt zwischen Industriellen und Landwirten, die
große Koalition für einen beiden zugute kommenden Zolltarif.

Aber die Bevölkerung besteht in ihrer Mehrheit aus Verbrauchern, die
nicht Unternehmer in der Produktion sind -- Produzenten sind die
Arbeiter ja auch, aber nicht Unternehmer --, sondern Verbraucher, ebenso
sind Verbraucher die Lehrer, Beamten usw. Hier stellt sich ein
Klassenkampf ein, der sich zwar nicht auf der Straße abspielt, sondern
in den Parlamenten und in der Presse. Aber Kampf bleibt Kampf. Der Kampf
der Landwirte gegen die Verbraucher, der Verbraucher gegen die
Produzenten, der Handwerker gegen Handel und Großindustrie, alles das
sind Klassenkämpfe. Diejenigen Handwerksmeister, die ihre
Meisterherrlichkeit bewahren wollen durch das Mittel von Zwangsgesetzen,
Zünften, Zwangsinnungen usw., kämpfen je nachdem einerseits gegen die
Arbeiter, andererseits gegen den Handel. Sie suchen sich gegen diesen zu
schützen, weil er sie nach ihrer Ansicht dadurch bedrückt, daß er ihre
Produkte vermeintlich billiger auf den Markt bringt, als sie sie
produzieren können. Ein latenter, d. h. sich nicht in der üblichen Form
äußernder Klassenkampf liegt vor, wo die Großkapitalisten in der
Industrie sich verbunden haben in Kartellen, er richtet sich gegen die
Verbraucher, denn die Kartelle sind immer mit dem Zwecke verbunden, die
Preise hochzuhalten. Daneben gibt es den Kampf der Kartelle gegen
diejenigen Unternehmer ihres Industriezweiges, die ihnen nicht
angeschlossen sind, gegen die sogenannten Außenseiter. Man weiß, zu
welch scharfen Mitteln die Kartelle vielfach greifen, um die Außenseiter
entweder zum Eintritt zu zwingen oder ganz lahmzulegen. Man kennt die
Fälle, wo die Kartelle über die Außenseiter eine Art Boykott verhängt,
wo sie ihnen den Bezug von Rohstoffen und Hilfsmitteln völlig verlegt
haben, Mittel des Kampfes, die mindestens so scharf sind, wie sie die
Arbeiter ihrerseits im Gewerkschaftskampf anwenden. Das sind
Klassenkämpfe oder Teile von solchen in der modernen Gesellschaft, in
den Schichten der Unternehmer und relativ selbständiger
Bevölkerungsklassen selber. Es gibt dann noch Pseudoklassenkämpfe. Als
Beispiel könnte ich erwähnen, daß im Weltkrieg verschiedene Leute bei
uns, darunter ein bekannter -- ich möchte ihn nicht nennen --
Schriftsteller den Kampf Deutschlands gegen England als einen
Klassenkampf hinstellten, wobei Deutschland der arme Proletarier und
England der kapitalistische Ausbeuter sein sollte. Das war für die
Kriegsstimmung ein sehr bestechendes Bild, aber es traf nicht zu. Denn
soweit der Kampf Wirtschaftskampf war, war es nur ein Interessenkampf,
nicht aber ein Klassenkampf. Wenn andererseits heute der Führer der
polnischen Partei in Oberschlesien, Korfanty, in seiner Presse schreiben
läßt, was in vielen Ländern auch Eindruck macht, sein Kampf sei der
Kampf des polnischen Proletariats gegen das deutsche Kapital, so ist das
ebenfalls nicht richtig. Wenn z. B. die große Mehrheit der Bergarbeiter
in Oberschlesien Polen sind, so sind doch die meisten Metallarbeiter
Oberschlesiens Deutsche. Auch sind viel polnisch sprechende Arbeiter
Oberschlesiens für dessen Verbleiben bei Deutschland. Der dortige Kampf
ist, auch wenn er hier und dort Arbeitern als Klassenkampf erscheint, im
Wesen ein nationaler Kampf und nichts anderes.

Aber von allen diesen Klassenkämpfen, die sich heute in der
Gesellschaft unter den verschiedensten Formen abspielen, zeitweise sehr
heftige Gestalt annehmen und dann abflauen und zurückgedrängt werden von
anderen Kämpfen, bleibt doch der größte Klassenkampf immerhin der Kampf
zwischen der Klasse der Arbeiter, den Lohnempfängern, und der Klasse der
Unternehmer. Die große Ausdehnung dieses Kampfes ist die natürliche
Folge der großen Ausdehnung der modernen Industrie. Die Arbeiterklasse
nimmt in der heutigen Gesellschaft einen immer größeren Raum ein, einen
unendlich viel größeren als zu der Zeit, wo Lassalle schrieb. Im Jahre
1907 hatten wir in Industrie, Handel und Verkehr 17 Millionen
Lohnarbeiter. Wo lebten diese Arbeiter? In überwiegender Zahl in den
großen Städten und Industriezentren, dort gerade, wo das geistige und
politische Leben der Nation am intensivsten pulsiert, während die
Landwirtschaft meist von diesem Leben abgetrennt ist. In den Großstädten
und Industriezentren nun spielen die Arbeiter eine wachsend
einflußreiche Rolle; sie nehmen in der Bevölkerung einen immer größeren
Raum ein und wirken dadurch allein schon sehr stark zurück auf das
allgemeine Urteil und, je nachdem sie sich Rechte erkämpfen, später auch
auf die Politik. Der Kampf der Arbeiterklasse vollzieht sich in
verschiedenen Formen als Kampf um Einfluß und Macht in Staat und
Gemeinden, um Einfluß auf Gesetzgebung und Verwaltung. Solange die
Arbeiter eine kleine Schicht und noch nicht zu einem Klassenbewußtsein
gelangt sind, ist davon wenig zu merken. Auch heute noch sind an kleinen
Orten, wo die Zahl der Lohnarbeiter gering ist, oft die meisten davon
politisch indifferent. Aber je mehr die Zahl der Arbeiter in den Zentren
anwächst, um so mehr Anteil nehmen sie am öffentlichen Leben und fühlen
das Bedürfnis, in Staat und Gemeinden vertreten zu sein und Einfluß und
Macht zu gewinnen. Dieser Einfluß steigert sich mit der Zunahme
demokratischer Einrichtungen, mit der Erweiterung des Wahlrechtes, das
auf die Dauer den Arbeitern auch gar nicht vorenthalten werden kann.
Selbst vor der Revolution schon haben bei uns in Deutschland die
Arbeiter einen erheblichen politischen Einfluß ausgeübt. Abgesehen
davon, daß man ihnen 1866 bei Gründung des Norddeutschen Bundes das
allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht gab, mußte man ihnen auch den
Eintritt in die Gemeinden erleichtern. Schließlich ist auch die einst so
feste Mauer des preußischen Dreiklassenwahlrechts vor ihrem Ansturm
durchbrochen worden. Unter dem erweiterten Wahlrecht drangen sie in
wachsender Zahl in die öffentlichen Körperschaften ein und, was fast
noch wichtiger ist, durch ihre Stärke und Zahl und die Intensität ihres
Kampfes erlangten sie auch einen bedeutenden Einfluß auf die große
öffentliche Meinung. Man sprach in den Hörsälen, in den Parlamenten und
in der Regierung ganz anders von den Bedürfnissen und Forderungen der
Arbeiterklasse als vorher. Die Arbeiter setzten eine ganze Reihe wenn
auch nicht revolutionärer aber doch in bezug auf ihre soziale Tragweite
sehr bedeutungsvoller Reformen durch. Das ist die eine, die politische
Form des Arbeiterkampfes. Wie er seinerzeit Marx erschien, war er
wesentlich auf die Revolution gerichtet, worunter hier nicht eine
soziale Änderung zu verstehen ist, die sich in den Dingen vollzieht,
sondern daß eine Klasse durch Aufstand usw. sich an die Herrschaft setzt
und die an ihr befindlichen Klassen verdrängt. Darauf zielte noch die
Marxsche Bewegung ab, darauf mußte sie abzielen, denn als Marx schrieb,
hatten die Arbeiter noch in keinem Lande das Wahlrecht. Sie mußten es
erst erkämpfen, und nach Lage der Dinge schien es, als ob sie dieses
Recht nur auf dem Wege gewaltsamer Revolution erkämpfen könnten. Nachdem
es aber erkämpft war, was in den meisten Ländern auf andere Weise
geschah, mußte sich ein ganz anderer politischer Kampf der
Arbeiterklasse entwickeln. Zum Teil haben das Marx und Engels noch
erlebt und dafür auch wachsendes Verständnis und Interesse gezeigt. Sie
haben an den Wahlkämpfen der Arbeiterparteien geistig lebhaften Anteil
genommen. Nicht erlebt haben sie aber die unsere Epoche auszeichnende
stärkere Tätigkeit der Arbeiter in den öffentlichen Verwaltungskörpern,
den Zwangsgenossenschaften, Gemeinden, Land, Reich, und in ihren eigenen
freien Verwaltungskörpern. Es ist indes zweifellos, daß ohne die
Erziehung zur Verwaltung der Einfluß des Proletariats in der
Gesellschaft auf die Dauer nur begrenzt sein kann. Sie selbst aber
konnte erst verwirklicht werden und ein Resultat sein einer mehr oder
weniger demokratischen Entwicklung.

Die andere Form des Klassenkampfes der Arbeiter ist die des direkten
Kampfes auf wirtschaftlichem Gebiet, der im wesentlichen geführt wird
durch die Koalitionen der Arbeiter, die wir heute Gewerkschaften nennen,
sowie auch Arbeitergenossenschaften, aber solche anderer Art, als sie in
der Zeit bestanden, wo Marx schrieb. Der Koalitionskampf der Arbeiter
gegen die Unternehmer ist in der Mehrheit der Fälle ein Kampf um
Lohnhöhe und Lohnformen, er wird aber auch geführt um Länge und
Anordnung der Arbeitszeit sowie um ein Arbeiterrecht, nämlich das
Arbeiterrecht in den Betrieben usw. Diese Kämpfe spielen sich in der
Frühzeit des Kapitalismus als rebellische Kämpfe ab. So schildert sie
Marx noch in seiner Schrift »Das Elend der Philosophie«. Es tragen die
Gewerkschaften da einen fast unmittelbar revolutionären Charakter. Das
war in den vierziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts. Schon anders
urteilt Marx über die Gewerkschaften zwanzig Jahre später in einem
Briefe von 1868 an J. B. von Schweitzer, den damaligen Präsidenten des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, als dieser versuchte, in
Deutschland Gewerkschaften zu organisieren. Marx kritisierte in dem
Brief den Schweitzerschen Plan, der darauf hinauslief, die ganze
Bewegung nach einem bestimmten fertigen Schema in einen großen
Einheitskörper zusammenzufassen, und legt dar, das würde nicht angehen,
der Plan würde auf viele Widerstände stoßen. Er sieht eben schon eine
andere Gewerkschaftsbewegung mit regelrechten festen Berufsverbänden vor
sich, drückt sich aber über ihren Wert nicht näher aus. Den Ansatz zu
einer Theorie des Gewerkschaftskampfes finden wir überhaupt bei ihm noch
nicht, sondern nur erst eine Würdigung der Tatsache dieses Kampfes als
einer Regung des Proletariats für bestimmte Zwecke. In das eigentliche
Wesen und die innere Natur des Gewerkschaftskampfes tiefer einzudringen
war ihm versagt, weil zu seiner Zeit noch alles auf diesen Bezügliche im
Werden und unentwickelt war.

Um die Frage, ob Gewerkschaften zweckmäßig seien oder nicht, haben
damals und noch später große Kämpfe im sozialistischen Lager sich
abgespielt. Es gab unter den Sozialisten sehr ernsthafte Gegner der
Gewerkschaften überhaupt. In erster Reihe waren es die Utopisten, Leute,
die in der Phantasie oder Spekulation ganze Pläne einer neuen
Gesellschaft ausgearbeitet hatten und nur an deren Verwirklichung
dachten. Für sie war der Klassenkampf der Gewerkschaften ein störendes
Moment, außerdem waren die Objekte der Gewerkschaftskämpfe in ihren
Augen Kleinigkeiten, die gegenüber dem Streben für die Idealgesellschaft
nicht in Betracht kamen. So stellten sie sich den Gewerkschaften
ablehnend gegenüber. Gewerkschaftsgegner waren auch die radikalen
Sozialrevolutionäre, die man am besten als Blanquisten bezeichnet, und
deren Bewegung in Frankreich zu Hause war. Es gab ebenso in England bei
den Chartisten eine Richtung, welche auf den Umsturz durch die
Revolution abzielte und der daher die Bewegung der Gewerkschaften
gleichfalls störend war. Das heißt, Kämpfe der Arbeiter um
Lohnerhöhungen waren ihnen nicht unangenehm, die haben sie gelegentlich
selbst provoziert, um dadurch revolutionäre Erhebungen zu erzielen; um
so weniger wollten sie dagegen von der langsamen systematischen
Gewerkschaftsarbeit wissen und standen mit den fest konsolidierten
Gewerkschaften meist in heftiger Fehde. Noch manche andere Sozialisten
standen den Gewerkschaften fremd oder ablehnend gegenüber. So in
Frankreich P. J. Proudhon, der geistreiche Verfasser der Schrift: Was
ist das Eigentum? Er bekämpfte sie, weil er ein besseres Mittel zu haben
glaubte. Er wollte die Wirtschaft auf dem Wege der demokratischen
Organisation des Kredits und der Mutualität im Sinne des Sozialismus
umwandeln. In Deutschland war von Sozialisten ein Gegner der
Gewerkschaften Ferdinand Lassalle. Sein Vorschlag war, durch staatlich
finanzierte Produktivgenossenschaften die Arbeiter vom Druck des
Kapitals zu befreien. Er wollte, wie er sich ausdrückte, die deutschen
Arbeiter bewahren vor dem Elend der englischen Gewerkschaftsbewegung.
Ein anderes Wort von ihm lautet: »Der Gewerkschaftskampf der Arbeiter
ist der vergebliche Kampf der Ware Arbeit sich als Mensch zu gebärden.«
Daß Lassalle zu dieser Ansicht kam, erklärt sich daraus, daß die
englische Gewerkschaftsbewegung zu seiner Zeit -- in Deutschland gab es
bloß unbedeutende örtliche Versuche -- anscheinend fast nur Verluste zu
verzeichnen hatte. Im Jahre 1852 hatte sich in England ein großer Kampf
der Maschinenbauer abgespielt, der damals stärksten Gewerkschaft, und
viele Arbeiterfreunde hatten sich für ihn erwärmt, die christlichen
Sozialisten von der Richtung Maurice und Kingsley hatten ihm reiche
Geldmittel zugewandt. Trotzdem ging er nach mehrwöchentlicher Dauer
verloren. Lassalle hatte ihn, wie wir aus einem Brief von ihm an Marx
wissen, mit großem Interesse verfolgt, und sein Fehlschlag scheint
großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Er befestigte ihn in der
Auffassung vom wirtschaftlichen Naturgesetz des Arbeitslohnes, wonach
dieser auf die Dauer bestimmt wird durch die unbedingt notwendigen
Lebensbedürfnisse des Arbeiters, daß er nie lange über dieses notwendige
Maß sich erhebt, weil dann die Vermehrung der Arbeiter durch verstärkte
Zunahme der Geburten usw. ihn zurückwerfen würde, und andererseits auf
die Dauer nicht tief unter ihm bleiben kann, weil dann die Arbeiter
auswandern, aussterben usw. würden. So mußte ihm denn natürlich der
Gewerkschaftskampf als vergebliches Bemühen erscheinen, wenn er auch im
letzten Jahre seines Lebens sich noch sehr begeisterte für einen Kampf
von Arbeitern einer Hamburger Wagenbaufabrik. Er spricht davon in seiner
letzten, der sogenannten Ronsdorfer Rede und rühmt es als einen Beweis
für die Rührigkeit seiner Anhänger, daß es solche waren, die bei diesem
Kampf sich hervorragend betätigt hatten. Indes war das doch noch keine
Anerkennung der Gewerkschaften selbst, und wie die Schüler stets
orthodoxer sind als die Meister, so gab es bei den Lassalleanern lange
Zeit erregte Diskussionen darüber, ob Gewerkschaften überhaupt sein
sollen oder nicht. Im Jahre 1868 nahm Lassalles begabtester Nachfolger,
J. B. von Schweitzer, die Frage auf, nachdem vorher schon die
bürgerlich-demokratische Fortschrittspartei durch ihr Mitglied Dr. Max
Hirsch und ebenso die mit der Internationale in Verbindung stehenden
Sozialisten von der Richtung August Bebel und Wilhelm Liebknecht den
Gedanken propagiert hatten. Es ging damals durch Deutschland eine starke
Bewegung zur Gründung von Gewerkvereinen, doch gab es in den Reihen
ihrer Anwälte große Unterschiede hinsichtlich der Zwecke und der Formen.
Dr. Max Hirsch wollte die Gewerkvereine als Mittel zur Herstellung
dieser wahren Harmonie von Kapital und Arbeit, das heißt Milderung des
Klassenkampfes, Schweitzer und ebenso Bebel und Genossen wollten sie im
Gegenteil als Hilfstruppen zur Führung und womöglich Verschärfung des
Klassenkampfes, nur die orthodoxen Anhänger der Lehren Lassalles
stemmten sich gegen ihre Einführung. Die mit den Fortschritten der
industriellen Entwicklung Deutschlands verbundene Vermehrung und
Vergrößerung der Industriezentren sprachen das entscheidende Wort. Die
noch bestehenden Verbote der Koalitionen der Arbeiter mußten fallen, und
Gewerkvereine der verschiedenen Richtungen traten ins Leben.

Allerdings blieben sie längere Zeit auf mäßige Mitgliederzahlen
beschränkt und blieben daher in bezug auf die Erfolge ihrer Kämpfe noch
völlig abhängig von den Konjunkturen des Marktes. Bei steigender
Konjunktur erzielten sie Verbesserungen für die Arbeiter, die aber
sofort wieder verloren gingen, wenn eine Geschäftsstockung eintrat. Die
Lohnkurve bewegt sich einfach im Zickzack, ein Zustand, bei dem die
Arbeiterklasse sich weder materiell verbessert, noch ihren Anteil an der
Kultur hebt. Aber die Bewegung bleibt und sucht nun nach möglichst
zweckmäßigen Formen, wie das seinerzeit auch in England geschah. Es
spielen sich innere Kämpfe darüber ab, wie die Organisationen aufgebaut
werden sollen, ob mehr zentralisiert oder mehr föderalistisch,
beziehungsweise lokalistisch, ob die Gewerkschaft verknüpft werden soll
mit Unterstützungseinrichtungen, oder ob sie eine reine
Klassenkampforganisation sein soll. Der Streit darüber spielt lange Zeit
in der Arbeiterbewegung und löst zeitweilig starke Leidenschaften aus.
Es geht bei ihm manchmal nicht minder heftig zu als heute, und mitunter
fehlt auch nicht Gewalttätigkeit.

Nachdem die Kriegsära und die Jahre des Ausnahmegesetzes vorüber waren,
wurde in Deutschland der Streit, ob lokalisierte oder zentralisierte
Gewerkschaften, zum Austrag gebracht. Die lokalistischen Gewerkschaften
unterlagen. An einzelnen Orten behielten sie einen gewissen Anhang bei
den Arbeitern des Baugewerbes, im übrigen aber siegte bei den auf dem
Boden des Klassenkampfes stehenden Gewerkschaften das zentralistische
Prinzip. Die zentralistischen Gewerkschaften nun sind zumeist verbunden
mit Unterstützungseinrichtungen, die ihnen die organisatorische
Festigkeit geben. Wo sie diese Einrichtungen nicht haben, gewinnen
Gewerkschaften fast nur in Zeiten guten Geschäftsganges und
erfolgreicher Lohnkämpfe Anhänger, und strömt, nachdem diese vorüber,
ein großer Teil der gewonnenen Mitglieder wieder ab und verliert das
Interesse an ihnen. Je mehr Unterstützungseinrichtungen die Gewerkschaft
hat, um so fester ist der Zusammenhalt. Allerdings nimmt sie dadurch
einen etwas konservativen Charakter an, aber sie erzielt dafür größere
Wirkungen und kann durch ihre Festigkeit den Unternehmern Arbeitstarife
abnötigen, die eine mehr oder weniger lange Dauer haben. Die
Tarifbewegung hat denn auch in Deutschland einen sehr großen Aufschwung
genommen. In England längst bekannt, ist sie hier längere Zeit wenig
beachtet worden. Als aber bei uns im Jahre 1903 zum ersten Male eine
Erhebung der in Kraft befindlichen Tarife veranstaltet wurde, die von
1903 bis 1905 sich ausdehnte, stellte sich heraus, daß Deutschland schon
1577 solche Tarife hatte, auf Grund deren 477000 Arbeiter beschäftigt
wurden. Die Lohnkämpfe hatten also schon in weitem Umfange jene Gestalt
angenommen -- den Kampf um den Tarif --, die ihnen statt des mehr
anarchischen einen konsolidierten Charakter verlieh und allmählich auch
den Unternehmern zusagte. Hatten diese einmal einen Tarifvertrag
abgeschlossen, so konnten sie darauf rechnen, für die Zeit seiner Dauer
von jedem ernsteren Lohnkampf verschont zu bleiben und daher mit
größerer Sicherheit ihre geschäftlichen Kalkulationen machen.

Schrittweise haben sich dann die Tarife nicht nur der Zahl der von ihnen
betroffenen Unternehmen und Arbeiter, sondern ihrer ganzen Form nach
vervollkommnet. Sie erstreckten sich auf viel weitere Fragen als nur auf
die Lohnhöhe. Mindestens ebenso wichtig wie der Lohn ist für den
Arbeiter die Arbeitszeit, dann aber auch seine Rechtsstellung im
Unternehmen, die durch den Tarif verschiedentlich gleichfalls geregelt
ward. Der Arbeiter ist nicht nur abhängig vom Unternehmer, sondern auch
von dessen Beamten wie Werkführer, Aufseher usw. Vor Anfang der
kapitalistischen Produktion trat der Arbeiter bei der Arbeitssuche
schlechthin in die Werkstatt ein und fand einen Meister, der kaum einer
anderen Gesellschaftsklasse angehörte als er selbst. Er wurde begrüßt,
bekam sein sogenanntes Geschenk und ward nicht selten aufgefordert, an
der gerade bevorstehenden Mahlzeit teilzunehmen. Ohne sich irgendwie zu
degradieren, konnte er von Werkstatt zu Werkstatt nach Arbeit suchen.
Aber je größer die Produktionsstätten der Industrie wurden, um so
veränderter nahm sich die Arbeitssuche aus. Mit der Mütze in der Hand
stand der Arbeiter vor der Fabrik und wurde schon vom Türhüter schief
angesehen. Die Form der Arbeitssuche und Arbeitsvermittlung erhält durch
die moderne Industrie also eine große Bedeutung nicht nur unter
wirtschaftlichem, sondern auch unter dem sozialen Gesichtspunkt. Auch
Bestimmungen hierüber kamen allmählich in die Tarife hinein. Wenn man
heute sich einen Tarif zwischen Arbeitern und Unternehmern eines
bestimmten Gewerbes geben läßt, so wird man oft über seinen Umfang
erstaunt sein. Der erste größere deutsche Tarif, der Tarif der
Buchdrucker, war bald ein ganzes Gesetzbuch und ein ziemlich dickes
Gesetzbuch obendrein. Es werden darin alle Einzelheiten über Lohnhöhe,
Arbeitszeit, Kündigung, Schlichtung von Streitigkeiten usw. geregelt.
Die Zahl der Tarife der Gewerkschaften stieg bis 1913 auf 10885 für
zusammen über 143000 Betriebe mit rund 1400000 Arbeitern. Während des
Krieges nimmt sie etwas ab. Aber kaum ist dieser vorüber und die
Revolution da, so steigt sie nicht nur sofort wieder, es nimmt auch
unter dem Einfluß der Revolution ihr Geltungsgebiet bedeutend zu. Schon
im Jahre 1919 waren es 11000 Tarife für 272000 Betriebe mit rund
6 Millionen Arbeitern. Heute ist die Zahl noch größer, und größer auch
ihre Wirkungskraft. Zugleich erhoben sich freilich neue Probleme.

Im letzten Jahre des Krieges hatte man unter dem Einfluß der Regierung
Arbeitsgemeinschaften zwischen den Organisationen der Arbeitgeber und
der Arbeiter gebildet, die eine stärkere Form des Tarifvertrags waren
und eine Art Interessengemeinschaft zwischen den Organisationen der
Unternehmer und denen der Arbeiter schufen. Dadurch erhielten die
organisierten Arbeiter ein Interesse am Steigen der Preise, das nicht
ohne seine volkswirtschaftlichen Bedenken war. Zugleich schienen sie
eine Abschwächung des Klassenkampfes der Arbeiter anzuzeigen und wurden
deshalb von extrem gerichteten Sozialisten heftig bekämpft. Handelte es
sich um vereinzelte Organisationen besonders günstig gestellter
Arbeiter, so wäre die Gegnerschaft nicht unbegründet. Bei dem
umfassenden Charakter, den die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland
trägt und ihrer einheitlichen Zusammenfassung im Allgemeinen
Gewerkschaftsbund ist die ihr zugrunde liegende Furcht sehr übertrieben.
Die Abschwächung bezieht sich da nur auf die äußere Form des Kampfes. Im
Wesen der Sache bedeutet es einen nicht geringen Aufstieg der Arbeiter
in ihrem sozialen Recht, als organisierte Klasse von den Unternehmern
anerkannt zu werden, was selbst in den machtvollen Zweigen der großen
Industrien der Fall ist, in die die Gewerkschaft vor dem Kriege nicht
einzudringen vermochte.

Viel Streit ist auch darüber geführt worden, ob die Tarife kurz oder
langfristig sein sollen. Den radikalen Sozialisten waren die
langfristigen, über mehrere Jahre sich erstreckenden Tarife ein Greuel.
Der kurzfristige Tarif bot ja den Vorteil, daß der Arbeiter durch ihn
nicht gebunden ist, wenn eine gute Konjunktur eintritt, sondern daß er
dann höheren Lohn erkämpfen kann. Das ist soweit richtig, vergessen wird
nur, daß der Arbeiter dabei doch wiederum abhängig bleibt von der
Konjunktur. Denn läßt die Konjunktur nach, so verliert er eben das
Erlangte wieder. Er kann den höheren Lohn nur während der guten
Konjunktur aufrechterhalten, während mittels langfristiger Tarife die
Arbeiter sich über die schlechte Konjunktur hinweghelfen können. Das
aber muß gerade ihr Bestreben sein, sich freizumachen vom Druck der
Konjunktur und eine Stetigkeit der Lohnentwicklung zu erlangen, die
einen Aufstieg ihres ganzen kulturellen Daseins verbürgt. Zum Teil ist
das auch durch die Gewerkschaften schon erzielt worden. Sie umfassen in
Deutschland heute rund 9 Millionen Arbeiter, und durch ihre feste
Organisation bilden sie eine Mauer gegenüber der Rückwirkung der
Konjunkturschwankungen auf die Lohnhöhe. Sogar schon vor dem Krieg ist
es dem deutschen Bauarbeiterverband gelungen, mitten in einer Krisis
einen Vertrag mit den Unternehmern abzuschließen, worin festgelegt
wurde, daß in keinem Betriebe eine Herabsetzung der Löhne eintreten
soll. Das ist kaum in England jemals passiert und war ein ganz
bedeutendes Ereignis innerhalb der Arbeiterbewegung. Man kann einen
echten Tarif einer starken Gewerkschaft schon bezeichnen als ein
wirkliches Stück Teilhaberschaft an der Industrie, das viel
bedeutungsvoller ist als die sogenannte Gewinnbeteiligung am
Privatunternehmen, zumal wenn ihm zur Seite geht die Erkämpfung der
politischen Demokratie.

In Betracht kommen für den Klassenkampf auch die Konsumgenossenschaften
der Arbeiter, die als solche in Deutschland verhältnismäßig
jungen Datums sind, sich aber schnell zu großer Bedeutung entwickelt
haben. Schon vor dem Kriege haben sie hier angefangen, das zu werden,
was sie in England schon längere Zeit waren, ein Hilfsmittel der
Arbeiter im Gewerkschaftskampf gegen die Unternehmer. Wo die
Arbeiterkonsumgenossenschaften stark ausgebildet sind, was allerdings
nur dort geschehen kann, wo die Arbeiterklasse zu einer gewissen
zahlenmäßigen Stärke gediehen ist, sind sie der Arbeiterschaft eine
Stütze in ihren wirtschaftlichen Kämpfen und haben die Tendenz, zur
Eigenproduktion überzugehen. Es ersteht eine genossenschaftliche
Produktion, die nicht die Produktivgenossenschaft ist, wie Lassalle sie
geistig vor sich sah und die auf Profit abzielte, sondern von
Konsumgenossenschaften eingerichtete Betriebe, die von diesen als
Vertretern einer Gesamtheit im Interesse der Gesamtheit geleitet werden.

Alle diese Bewegungen sind Formen des Klassenkampfes der Arbeiter in
der kapitalistischen Gesellschaft. Zusammen bilden sie einen
organisierten Kampf, der jeweilig wenig revolutionär erscheint und in
seinen Äußerungen durchaus nicht immer die traditionellen Formen von
wirtschaftlichen oder politischen Kämpfen annimmt, der aber in sich die
Möglichkeit trägt einer wahrhaft sozialen Befreiung der Arbeiterklasse.




Sechstes Kapitel.

Die Staatstheorie und der Sozialismus.


Welches ist der Einfluß der Theorien auf das Handeln der Menschen?

Vielfach stößt man hinsichtlich der Frage der Beziehungen von Theorie
und Praxis aufeinander auf überaus pessimistische Ansichten. Man hört
oft, daß das praktische Verhalten bestimmt wird durch Interessen,
Leidenschaften und Umstände, und daß der Einfluß der Theorie auf die
Praxis in der Politik wie auch sonst im sozialen Leben verschwindend
gering sei. Ich halte diese Auffassung für irrig. Gewiß gibt es viele
Fälle, wo die Theorie das Handeln wenig oder gar nicht beeinflußt, wo in
der Tat Interesse, Vorurteil, Leidenschaft usw. das entscheidende Wort
sprechen, und sehr groß ist die Zahl der Menschen, die von Theorie
überhaupt keine Ahnung haben. Aber vollständig verneinen kann man ihren
Einfluß darum doch nicht. Er ist viel stärker, als die meisten annehmen,
und namentlich stark gerade in den aufstrebenden Klassen der
Gesellschaft. Welche theoretische Auffassung sie vor irgendeiner Frage
haben, wenn sie ihnen auch nicht immer als Theorie, sondern nur als
Doktrin, als Lehrsatz gepredigt worden ist, hat auf ihr Verhalten unter
Umständen einen sehr großen Einfluß. Es sei nur an folgendes erinnert:
Wenn ein Teil unserer Arbeiterjugend, wenn gerade jugendliche Arbeiter
in einem Alter, wo der Idealismus beim Menschen eine große Rolle spielt,
sich mit Leidenschaft zu Gewalttätigkeiten haben hinreißen lassen, von
denen eigentlich die vernünftige Überlegung ihnen hätte sagen müssen,
daß sie unmöglich zum Ziele führen können, und man anzunehmen berechtigt
ist, daß die Mehrheit von ihnen nicht aus reiner, blinder Zerstörungswut
oder Haß gehandelt haben, so wird nähere Prüfung zeigen, daß bis zum
Vorurteil gewordene theoretische Anschauungen ihr Handeln maßgebend
beeinflußt haben. Man denke nur an die Rückwirkungen des Begriffs der
Ausbeutung des Arbeiters durch den Unternehmer, an die aus ihm gezogene
weitere Ausdeutung, daß der Unternehmer nur ein Parasit,
volkswirtschaftlich ganz überflüssig sei und faktisch nur quasi vom
Diebstahl an den Arbeitern und ihrer Kraft lebe, auf das Verhalten
vieler Arbeiter. Diejenigen, bei denen diese Auffassung mit dogmatischer
Kraft verbreitet ist, die sie als Axiom in sich aufgenommen haben,
werden für viele Handlungen zu haben sein, die ihnen andernfalls als
unsinnig, wenn nicht unmoralisch erscheinen würden. Und ebenso hat die
theoretische Auffassung von der Bedeutung des Staates und der Stellung
der Arbeiterklasse im Staate auf das politische Verhalten großer Massen
einen sehr wesentlichen Einfluß ausgeübt.

Die politische Bedeutung der Auffassung, was der Staat sei, welche Rolle
er erfüllt, welche Bedeutung ihm innewohnt, die Bedeutung dieser
zuletzt, wenn auch nicht allen bewußt, in Theorien wurzelnden Auffassung
für das politische Leben ist durchaus nicht gering. Auf Grund einer
bestimmten Auffassung vom Staat wird eine feindselige Haltung zu ihm
eingenommen, die unter Umständen, da der Staat nicht so schnell
abzuschaffen ist, zu sehr verfehlten Maßnahmen oder zum Versäumen von
notwendigen Handlungen führt, wie andererseits eine gegenteilige
Auffassung, ein übermäßiger Kultus des Staates, wieder Leute dazu
verleiten kann, mit Parteien gemeinsame Sache zu machen, die tatsächlich
nicht nur ihren Bestrebungen grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen,
sondern ihnen, zur Macht gelangt, größere Hindernisse in den Weg legen
würden, als irgendwelche andere Partei. In der sozialistischen Bewegung
nun stoßen wir auf einander geradezu diametral entgegengesetzt
gegenüberstehende Auffassungen vom Staat: eine freundliche, die sich bis
zum Kultus des Staats steigert, und eine gegnerische, kritische, die bis
zur direkten Feindschaft zu ihm geht. In vielfachen Abtönungen sehen wir
diese entgegengesetzten Auffassungen sich durch die Ideengeschichte des
Sozialismus ziehen.

Was aber ist überhaupt der Staat? Soviel ist jedenfalls klar, wenn wir
vom Staat sprechen, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, was
wir unter ihm verstehen. Das ist nun auch keine ganz einfache Sache. Die
staatswissenschaftlichen Auffassungen vom Staat gehen, wie jeder finden
wird, der sich in der einschlägigen Literatur umsieht, sehr weit
auseinander. Ein mir befreundeter Staatswissenschafter sagte einmal: Ich
habe 18 verschiedene Bücher über Staatstheorie gelesen und in allen
verschiedene Definitionen vom Staate gefunden. Indes gibt es doch
grundsätzliche Merkmale des Staates. Maßgebend für ihn ist zunächst
einmal: er ist ein großes Gemeinwesen, das seine Herrschaft weit über
einen einzelnen Ort hinaus erstreckt. Denn wenn wir die griechischen
Stadtstaaten, wie schon dieser Name anzeigt, als Staaten gelten lassen,
so wissen wir alle, daß z. B. Athen die Landschaft Attika, Sparta
Lakedämon beherrschte. Der Staat ist ein Gemeinwesen auf einem
bestimmten, mehr oder weniger ausgedehnten Gebiet. Das Moment des
Gebietes ist für den Staat maßgebend. Wo kein Gebiet ist, da ist kein
Staat. Das Wort vom Staat im Staate ist daher nur figürlich zu
verstehen. Ein Gemeinwesen auf einem über einen Ort ausgedehnten
Gebiete, das gemeinsame Gesetze hat und durch bestimmte Organe eine
höchste Gewalt ausübt, das ist, darin stimmen alle Definitionen überein,
der Sache nach der Staat. Für höchste Gewalt wird vielfach der Ausdruck
»Souveränität« gebraucht; aber Souveränität als absolute Rechtshoheit
ist kein unbedingt notwendiges Attribut des Staates. Man erinnere sich:
wir hatten im Deutschen Reich vor der Revolution Einzelstaaten, denen
man die Eigenschaft von Staaten nicht streitig machte, und die doch
nicht in allen Dingen souverän waren. Über ihnen stand das Reich, das in
einer ganzen Reihe wichtiger Fragen die höchste Gewalt ausübte. Und das
war nicht in Deutschland allein so, wir können auch andere Länder
nennen, wo das gleiche Verhältnis bestand und noch besteht. Es ist das
Bestreben vorhanden -- und die ersten Schritte dazu sind schon da --,
eine Macht zu schaffen, die über allen heutigen Staaten stehen und ihre
Souveränität in bestimmten Punkten einschränken soll, die also einen
überstaatlichen Staat bilden würde. Was sie soll, ist bis zu einem
gewissen Grade in jenem internationalen Gesetz, das man in Deutschland
mit ganz falscher Begriffsanwendung Völkerrecht nennt, schon vor dem
Kriege vorhanden gewesen. Aber dieses internationale Gesetz war nicht
das Gesetz eines Staates, es war zustande gekommen auf Grund von
Vereinbarungen von Staaten, die sich in voller Freiheit auf seine
Einhaltung verpflichteten. Bei der Abstimmung über neue Satzungen konnte
ein einziger Staat durch sein Nein deren Erhebung zu internationalem
Recht verhindern. So war die Verbindung zu lose, als daß man auf sie die
Bezeichnung als Überstaat hätte anwenden können. Von Maßnahmen, zu einer
Macht zu gelangen, die sie rechtfertigten würde, ist vor allem die
Schaffung des Haager Schiedshofes zu nennen, und es war ja nahe daran,
daß bei einer dritten Zusammenkunft im Haag dieser Schiedshof eine
solche Natur erhielt, kraft deren er eine Macht über den Staaten
gebildet hätte. Der Krieg hat das verhindert, aber was er gebracht hat,
jene Verbindung von Nationen, die man in Deutschland merkwürdigerweise
»Völkerbund« nennt, während sie tatsächlich nur erst ein Bund von
Nationen ist, ein Bund der Regierungen, nicht schon ein Bund der Völker
selber -- =Société des Nations=, sagen daher die Franzosen, =Society of
Nations=, nennen es die Engländer, und in anderen Sprachen heißt es
ähnlich -- ist verschiedentlich geplant gewesen als ein Organismus, der
über den Staaten stehen und in bestimmten Fragen einfach ihre
Souveränität einschränken sollte, ohne daß sie darum aufgehört hätten,
Staaten zu sein. Darum sage ich: die absolute Souveränität ist kein
unbedingtes Merkmal des Staates; aber ein Merkmal des Staates ist es,
daß er über das Gebiet, das er umfaßt, die höchste Gewalt ausübt.

Kommen wir nach diesen Bemerkungen zu den widerstreitenden Theorien
oder Auffassungen bei den Sozialisten über ihre Stellung zum Staat. Um
mit der Gegnerschaft, der bis zur Feindschaft gehenden Gegnerschaft
gegen den Staat zu beginnen, so ist sie eine Folge, und zwar die extreme
Schlußfolgerung des Kampfes gegen den bevormundenden Staat, wie er aus
dem Mittelalter hervorgegangen war, den absoluten, fast überall
monarchistisch-polizistischen Staat. Diese Gegnerschaft gegen den Staat,
die im achtzehnten Jahrhundert -- eigentlich sogar schon früher --
stärkere Vertretung, stärkeren Anhang gewinnt, ist der theoretische
Niederschlag der großen liberalen Bewegung, die sich in England ganz
besonders stark auf wirtschaftlichem Gebiete, aber auch in der Politik
geltend machte, und deren namhafter Wortführer dort der schottische
Philosoph und Nationalökonom Adam Smith war. In Frankreich fand der
Liberalismus, der die staatlichen Funktionen einschränken wollte, in dem
Physiokraten Quesnay seinen Theoretiker und in dem Staatsmann
R. J. Turgot seinen bedeutendsten politischen Verfechter, und in
Deutschland wird er im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts durch Wilhelm
v. Humboldt vertreten. Von Sozialisten, die den Staat abschaffen
wollten, sind vor allem zu nennen die Franzosen Charles Fourier und
seine Schule und Pierre Josephe Proudhon, von dem es fraglich ist, ob
man ihn mit Recht Anarchist nennen kann, der aber jedenfalls theoretisch
Gegner des Staates war. In Deutschland war Gegner des Staates der
geistreiche Verfasser des Buches »Der Einzige und sein Eigentum«, Kaspar
Schmidt, der unter dem Decknamen Max Stirner geschrieben hat, in Rußland
waren es Michael Bakunin und später Peter Krapotkin. Von Engländern wäre
William Godwin, der Verfasser des Buches über politische Gerechtigkeit,
zu nennen. Das sind die bekanntesten sozialistischen Gegner des Staates.

Der Staatskultus seinerseits hat zwei Wurzeln; die erste ist die
Auflehnung gegen die Geldherrschaft, die Gegnerschaft gegen die
Herrschaft der Finanzbourgeoisie. Sie war stark namentlich im
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert und richtete sich tendenziös
gegen die Gesellschaftsklasse, die man bei uns auch »Großbourgeoisie«
nennt. Politisch fand sie ihre stärkste Vertretung in der jakobinischen
Bewegung der französischen Revolution. Die Jakobiner sind für die
Staatsomnipotenz, für die größte Macht des Staates eingetreten, die man
sich denken kann. Das Verlangen nach dem Schutz des Volkes durch einen
starken Staat hatte übrigens seinen Vorläufer im ausgehenden Mittelalter
beim Kampf des Bürgertums gegen die Feudalherren. Die damals aufkommende
Klasse, eben das Bürgertum, rief die Zentralgewalt gegen den Feudaladel
an, wie später das breite Bürgertum gegen den Finanzadel, die
Finanzaristokratie den Staat anrief. Ein anderer Kultus des Staates
entwickelt sich aus der Gegnerschaft gegen die Herrschaft der Masse. Ich
brauche absichtlich das Wort »Masse«, andere sprechen von
»Pöbelherrschaft«, Ochlokratie, wie der griechische Ausdruck lautet.
Dieser Kultus stellt sich ein namentlich im Anschluß an Revolutionen,
sobald die Masse zeitweilig tonangebend auf die Bühne tritt, eine Art
Herrschaft ausübt und zerstörerisch wirkt. Er ist eine geistige
Gegenbewegung gegen die Revolution, die den Staat gegen die Demokratie
stärken will. Eine Gegenströmung, die in Frankreich zunächst zum
Bonapartismus führte, der eine Mischung -- man kann auch sagen: ein
Bastard -- war von jakobinischen und autokratischen Strebungen;
weiterhin aber, da der Bonapartismus, um das Wort eines bekannten
preußischen Monarchen zu gebrauchen, »mit dem Ludergeruch der Revolution
behaftet war«, in die Wiederaufrichtung der Bourbonen-Monarchie
ausmündete. Von dieser Seite her ist der Staatskultus -- wie z. B. die
erste romantische Literatur zeigt -- ein Ausfluß reaktionären Geistes,
der allerdings nicht immer gerade politisch reaktionär auftritt, aber
den Schutz gegen anarchische Zustände nur in einem starken
monarchistischen Staate sieht. Diese Erscheinung hat man in England in
der Epoche der großen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts auch
gehabt. Da war der große Philosoph Thomas Hobbes, der Verfasser des
»Leviathan«, der Vertreter der Theorie von der absoluten Herrschaft des
Staates, bei ihm allerdings nicht im notwendig monarchistischen Sinne.
Er gab zu: die Souveränität des Staates kann auch ausgeübt werden von
einem Parlament oder von einer ähnlichen Instanz; aber diese muß die
absolute Macht haben, und am besten würde diese durch die Monarchie
vertreten. Auch in Italien hatte diese Idee ihre Vertreter.

Nun gibt es -- wenn wir von diesen konservativen, romantisch-rückläufig
gerichteten Theorien absehen wollen -- auch eine demokratische Theorie,
die dem Staate politische Allmacht zuerkennen will. In Frankreich hatte
sie ihren klassischen Philosophen in Jean Jacques Rousseau. Die
Demokratie ist nicht immer identisch mit dem Liberalismus. Lange Zeit
ist ihre dominierende Idee Unterdrückung, allerdings Unterdrückung der
Oberschichten, während der Liberalismus nur befreiend wirken will. Die
demokratische Staatstheorie, die in Rousseau ihren Theoretiker hatte,
fand in Robespierre ihren Praktiker -- Robespierre war ein großer
Verehrer Rousseaus und die Schreckensherrschaft ist beherrscht von
Gedankengängen aus den Schriften Rousseaus --, kommt zur Freiheit durch
terroristische Maßnahmen. Daß die Jakobiner Anhänger der
Staatsomnipotenz waren, ward schon oben gezeigt, und von den Jakobinern
führt eine direkte Linie zu Gracchus Babeuf, dem geistigen Urheber und
Leiter der Verschwörung der Gleichen, der ebenfalls Anhänger des
demokratischen Staates in seiner extremsten Auslegung war. In
Deutschland haben wir vor allen unseren großen Philosophen Fichte als
Prediger des starken Staates zu nennen, der überhaupt meines Erachtens
noch viel stärker von der französischen Revolution beeinflußt war, als
man gemeinhin annimmt. Aus vielen seiner Schriften geht das hervor. In
seiner 1800 erschienenen vielgenannten Schrift vom »Geschlossenen
Handelsstaat« findet man viele Berührungspunkte mit Babeuf. Ich weiß
nicht, ob Fichte näheres über diesen gelesen hatte oder sonst Sätze aus
ihm kannte; aber er hat sich jedenfalls eingehend mit der Literatur der
französischen Revolution beschäftigt. Dann haben wir die mehr
metaphysischen Theorien der deutschen Philosophen Hegel und Schelling
vom Staat, die ganz konservativ-romantischen Staatstheorien der Bonald,
Gentz usw.

Kommen wir nun zu den sozialistischen Verehrern des Staates, so ist ihr
klassischer Vertreter in Deutschland Ferdinand Lassalle. Er ist ein
unbedingter Anhänger des Staates, und zwar ist er es als Schüler von
Hegel und in diesem Punkte auch stark von Fichte beeinflußt, wie man ja
manchmal im Zweifel darüber ist, ob es mehr Hegel oder Fichte ist, der
aus Lassalle spricht. Man weiß ja, welche hohe Verehrung Lassalle für
Fichte empfand, und in vielen seiner Schriften hat er dessen Staatsidee
außerordentlich energisch verfochten. Sehr bedeutungsvoll schon im
»Arbeiterprogramm«, jenem Vortrage, den er im Jahre 1862 im Norden von
Berlin in einer Arbeiterversammlung gehalten hat über »den Zusammenhang
der Idee des Arbeiterstandes mit unserer gegenwärtigen Zeitperiode«. In
diesem, von mir schon zitierten Vortrag verherrlicht er in begeisterten
Worten eine Staatsauffassung, die er die »Staatsidee des vierten
Standes« nennt, beiläufig eine falsche Ausdrucksweise, denn er meint
tatsächlich die Staatsidee der modernen Arbeiterklasse. Trotz dieses und
einiger ähnlicher, in Lassalles juristischer Denkweise wurzelnder
Fehlgriffe ist die Schrift den klassischen Denkmälern der Literatur des
Sozialismus einzureihen, und zwar ist sie klassisch einmal wegen ihres
Gedankenreichtums und der außerordentlich klaren Durchführung dieser
Gedanken, klassisch aber auch wegen des großen Einflusses, den sie in
der Geschichte des Sozialismus gehabt hat. In dieser Schrift nun kommt
Lassalle, wo er vom Staat handelt, zunächst auf die Idee des Staates der
Bourgeoisie zu sprechen. Damals gab es in Deutschland einen sehr starken
Liberalismus, der ja überhaupt in den sechziger Jahren des neunzehnten
Jahrhunderts eine außerordentliche Neubelebung feierte, noch mit einer
gewissen naiven Frische behaftet war und auch von seinen damaligen
Wortführern ziemlich radikal geltend gemacht wurde. Ein Liberalismus,
der noch mit Resten des alten absolutistischen Polizeistaates zu kämpfen
hatte und -- wie es immer bei solchen Kämpfen geht -- dabei auch über
die Schnur hieb. Literarische Vertreter der liberalen Bourgeoisie
erklärten, daß der Staat wesentlich nur dazu da sei, Eigentum und Person
zu schützen, alles andere aber dem freien Spiel der wirtschaftlichen
Kräfte zu überlassen habe, was bei den damaligen sozialen
Machtverhältnissen und der Verteilung des Eigentums praktisch einfach
die Sanktionierung der Herrschaft der Bourgeoisie bedeutete. Diese Idee
nun, daß der Staat nur da sei, das Eigentum und die Person zu schützen,
wird von Lassalle als eine »Nachtwächteridee« verspottet, weil sie den
Staat auf die Funktion des Nachtwächters herabdrücke, statt ihm die
Funktionen zuzuerkennen, die ihm nach seiner Rolle in der Geschichte
zukommen. Ganz anders sei die Auffassung oder die Idee der
Arbeiterklasse vom Staate, das heißt, die Staatsidee, die nach Lassalle
die Arbeiterklasse infolge ihrer gesellschaftlichen Lage ausbilden
werde. Hören wir seine bemerkenswertesten Sätze hierüber. Zuerst heißt
es:

  »Ganz anders, meine Herren, faßt der vierte Stand den Staatszweck auf,
  und zwar faßt er ihn so auf, wie er in Wahrheit beschaffen ist.«

Was Lassalle hier vom »vierten Stand« sagt, werden wahrscheinlich nur
wenige von seinen Hörern aus der Arbeiterklasse schon wirklich empfunden
haben. Er unterstellt eben der Arbeiterklasse die Auffassung, die nach
seiner Ansicht die Idee der Arbeiterklasse werden mußte und es im weiten
Umfange auch wirklich geworden ist. Er fährt fort:

  »Die Geschichte, meine Herren, ist ein Kampf mit der Natur, mit dem
  Elende, der Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der
  Unfreiheit aller Art, in der wir uns befanden, als das
  Menschengeschlecht im Anfang der Geschichte auftrat. Die
  fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das ist die
  Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt.

  In diesem Kampfe würden wir niemals einen Schritt vorwärts gemacht
  haben, oder jemals weiter machen, wenn wir ihn als einzelne jeder für
  sich, jeder allein, geführt hätten oder führen wollten.

  Der Staat ist es, welcher die Funktion hat, diese Entwicklung der
  Freiheit, diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu
  vollbringen.

  Der Staat ist diese Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen,
  eine Einheit, welche die Kräfte aller einzelnen, welche in diese
  Vereinigung eingeschlossen sind, millionenfach vermehrt, die Kräfte,
  welche ihnen allen als einzelnen zu Gebote stehen würden,
  millionenfach vervielfältigt.

  Der Zweck des Staates ist also nicht der, dem einzelnen nur die
  persönliche Freiheit und das Eigentum zu schützen, mit welchen er nach
  der Idee der Bourgeoisie angeblich schon in den Staat eintritt; der
  Zweck des Staates ist gerade der, durch diese Vereinigung die
  einzelnen in den Stand zu setzen, solche Zwecke, eine solche Stufe des
  Daseins zu erreichen, die sie als einzelne nie erreichen könnten, sie
  zu befähigen, eine Summe von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen,
  die ihnen sämtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich wäre.

  Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur
  positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit
  anderen Worten, die menschliche Bestimmung, d. h. die Kultur, deren
  das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirklichen Dasein zu gestalten;
  er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur
  Freiheit.«

Das ist ganz im Sinne Fichtes gedacht, und ist in dieser sich so flüssig
lesenden Darstellung, dieser klassisch gedrungenen Anreihung der
Gedanken fast in der sozialistischen Literatur einzigartig. Lassalle
geht dann weiter und zeigt, was der Staat unter der Herrschaft, er sagt
nicht: des Arbeiterstandes, er sagt: unter der Herrschaft der _Idee_ des
Arbeiterstandes sein und tun würde:

  »Dies,« sagt er dann, »ist die eigentlich sittliche Natur des Staates,
  meine Herren, seine wahre und höhere Aufgabe. Sie ist es so sehr, daß
  sie deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem
  Staat, auch ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen
  seiner Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde.«

Und weiter heißt es:

  »Ein Staat also, welcher unter die Herrschaft der Idee des
  Arbeiterstandes gesetzt wird, würde nicht mehr, wie freilich auch alle
  Staaten bisher schon getan, durch die Natur der Dinge und den Zwang
  der Umstände unbewußt und oft sogar widerwillig getrieben, sondern er
  würde mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein diese sittliche
  Natur des Staates zu seiner Aufgabe machen. Er würde mit freier Lust
  und vollkommenster Konsequenz vollbringen, was bisher nur stückweise
  in den dürftigsten Umrissen dem widerstrebenden Willen abgerungen
  worden ist, und er würde somit eben hierdurch notwendig -- wenn mir
  die Zeit auch nicht mehr erlaubt, Ihnen die detaillierte Natur dieses
  notwendigen Zusammenhanges auseinanderzusetzen -- einen Aufschwung des
  Geistes, die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und
  Freiheit herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der
  Weltgeschichte und gegen welche selbst die gerühmtesten Zustände in
  früheren Zeiten in ein verblassendes Schattenbild zurücktreten.

  Das ist es, meine Herren, was die Staatsidee des Arbeiterstandes
  genannt werden muß, seine Auffassung des Staatszweckes, die, wie Sie
  sehen, ebensosehr und genau entsprechend von der Auffassung des
  Staatszweckes bei der Bourgeoisie verschieden ist, wie das Prinzip des
  Arbeiterstandes von dem Anteil aller an der Bestimmung des
  Staatswillens oder das allgemeine Wahlrecht, von dem betreffenden
  Prinzip der Bourgeoisie, dem Zensus.«

Der Staat als die Kraft, die, ob sie will oder nicht, dem Fortschritt
dient, das ist die sozialistische Staatstheorie Lassalles. Er trägt sie
den Arbeitern als die ihre vor, um sie für sie zu gewinnen. Und im
Angesicht der großen Klarheit seiner Sprache erübrigt es sich, den
Gedankengang hier erst noch zu kommentieren. In späteren Reden kommt
Lassalle wiederholt auf ihn zurück. So namentlich in den Prozessen, in
die er im Anschluß an diesen Vortrag verwickelt wurde, der doch so
außerordentlich gemäßigt gehalten war, in welchem er sich gehütet hatte,
mit irgendeinem Wort zur Gewalt aufzufordern. Aber als er ihn als
Schrift erscheinen ließ, ward diese auf Veranlassung des Staatsanwalts
Schelling, einem Sohne des Philosophen Schelling, konfisziert und
Lassalle vor Gericht gestellt, und zwar unter der Anklage, sich gegen
den § 100 des alten Preußischen Strafgesetzbuches, den sogenannten Haß-
und Verachtungsparagraphen, vergangen zu haben. Das war ein richtiger
Kautschukparagraph, unter den sich alles mögliche bringen ließ. Er
lautete:

  »Wer Bevölkerungsklassen durch irgendwelche Schriften oder Reden zum
  Haß und zur Verachtung gegeneinander aufreizt, wird bestraft.«

Die Verfolgung führte zu zwei sehr bedeutungsvollen Prozessen, in denen
Lassalle die berühmten Reden hielt: »Die Wissenschaft und die Arbeiter«
und »Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen«. In der
letztgenannten dieser Verteidigungsreden, die im Sommer 1862 gehalten
wurde, entwickelt Lassalle noch einmal seine Unterscheidung der
Staatsidee der Arbeiterklasse von der Staatsidee der Bourgeoisie. Er
nennt unter Hinweis auf einen Ausspruch des hochangesehenen Philosophen
und Philologen August Boeckh die letztere Staatsidee eine »moderne
Barbarei«, und sagt dann:

  »_Das uralte Vestafeuer aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich
  mit Ihnen_ (nämlich den Richtern) _zusammen gegen jene_ (die liberalen)
  _Barbaren._«

Das ist der Staat nach der Lehre Ferdinand Lassalles. Ganz anders nach
der sozialistischen Theorie, die begründet worden ist von Karl Marx und
Friedrich Engels. Dort spielt der Staat eine wesentlich verschiedene
Rolle. In den älteren Schriften und Aufsätzen von Marx, die zu Anfang
der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben wurden, zeigt
er sich meist noch als Anhänger des Staates, beeinflußt durch die Lehre
Hegels, wenn er auch schon sehr über Hegel hinausgeht. Aber nachdem er
sich der kommunistischen Bewegung zugewandt, sie in Frankreich studiert
und ebenso über die englischen Verhältnisse sich orientiert hatte, kommt
bei ihm und Engels, die wir immer zusammen nennen müssen, da sie von da
ab gemeinsam gearbeitet, gegenseitig sich ihre Arbeiten gezeigt haben,
so daß man bei vielen ihrer nun verfaßten Arbeiten nicht sagen kann, daß
der eine oder der andere von ihnen der Verfasser sei, kommt in der von
ihnen ausgearbeiteten sozialistischen Theorie eine durchaus andere
Auffassung vom Staate zum Ausdruck. Man kann sie eine _kritische_
Staatsidee nennen, die nichts mit der Verehrung Lassalles für den Staat
gemein hat. Schon in der Schrift, die Marx und Engels »Manifest der
kommunistischen Partei« nannten und die im Winter 1847 geschrieben
wurde, spielt der Staat eine Rolle. Am Schlusse heißt es dort:

  »Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der
  Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle
  Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als
  herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und
  die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.«

Im Anschluß daran werden die verschiedenen Maßnahmen kurz aufgeführt,
die zu diesem Zweck getroffen werden würden, und dann heißt es
abschließend:

  »Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden
  und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen
  konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen
  Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die
  organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Wenn
  das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur
  Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse
  macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten
  Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen
  Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des
  Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt und damit seine eigene
  Herrschaft als Klasse auf.

  An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen
  und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie
  Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller
  ist.«

Hier wird das Wort »Staat« vollständig, und man darf annehmen
absichtlich vermieden. Das Proletariat übernimmt die Staatsgewalt,
entreißt der Bourgeoisie alle wirtschaftlichen und politischen
Machtmittel, verwendet sie in seinem Sinne, und nachdem dies geschehen,
entsteht eine große allgemeine Assoziation. Vom Staat ist keine Rede
mehr.

In späteren Schriften von Marx und Engels kommt diese Haltung zum Staat
noch schärfer zum Ausdruck. Nach der Niederwerfung der achtundvierziger
Revolution lebten sie verbannt im Exil in London. Als in den sechziger
Jahren die Arbeiterbewegung sich von neuem bildete, nahmen sie direkten
Anteil an der deutschen Bewegung nicht. Sie hatten aber in dieser
politische Freunde, mit denen sie brieflichen Verkehr unterhielten, auch
suchten sie durch Aufsätze und Schriften erzieherisch auf die Bewegung
einzuwirken. Einer dieser Freunde war Wilhelm Liebknecht, und die
Fraktion, an deren Spitze er und August Bebel standen, galt lange Zeit
in Deutschland als die eigentliche Partei von Marx. In den Organen, die
Wilhelm Liebknecht damals redigierte, kamen aber naturgemäß vorwiegend
Ideen von Liebknecht zum Ausdruck, von denen schon erwähnt wurde, daß
sie stark vom französischen Sozialismus beeinflußt waren, daß Liebknecht
ganz irrigerweise für das theoretische Mundstück von Marx genommen ward.
Liebknecht gab dem 1869 von der damals unter seiner geistigen Führung
geschaffenen sozialdemokratischen Arbeiterpartei gegründeten und von ihm
redigierten Blatt den Titel »Der Volksstaat«, und er wie andere sprachen
darin auch immer wieder von einem solchen Staat. Das war aber ganz und
gar nicht nach dem Geschmack von Marx und Engels, und in der 1876/77 von
ihm unter teilweiser Mitwirkung von Marx verfaßten Schrift »Herrn Eugen
Dührings Umwälzung der Wissenschaft« nahm Engels Gelegenheit, gegen
diese Idee vom Volksstaat, wie Liebknecht sie vertrat, zu polemisieren,
ohne letzteren zu nennen. Er legt dar, daß nach der Revolution des
Proletariats die Entwicklung nicht zum Volksstaat, sondern zur
Auflösung, zum Absterben des Staates führe. Die Kapitel der Schrift, die
speziell den Sozialismus behandeln, sind von Engels später als Broschüre
unter dem Titel: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur
Wissenschaft« herausgegeben worden, und wer es nicht vorzieht, das ganze
Buch zu lesen, das überaus wertvolle Darlegungen über grundlegende
Fragen der Philosophie, Ethik, Geschichtswissenschaft, Nationalökonomie
und Sozialwissenschaft enthält, der sollte sich zum mindesten diese
Broschüre anschaffen. Man kann sich keine bessere Vorführung der
Grundgedanken der Marx-Engelsschen Soziallehre wünschen. In dieser
Schrift nun gibt Engels gegen den Schluß eine zusammengefaßte Darlegung
darüber, was nach der von Marx und ihm vertretenen Anschauung aus dem
Staat wird, nachdem die Arbeiterklasse auf der zu ihrem Höhepunkt
gelangten Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft die politische
Gewalt erlangt hat. Er schreibt dort:

  »Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die
  Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich
  selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und
  Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die
  bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den
  Staat nötig, d. h. eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden
  Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen,
  also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse
  in den durch die bestehende Produktionsweise gegebenen Bedingungen der
  Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit).
  Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft,
  ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft; aber er war
  dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst
  für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der
  sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudalismus, in
  unserer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich
  Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst
  überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der
  Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem
  in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums
  Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse
  beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondere
  Repressionsgewalt, einen Staat nötig machte. Der erste Akt, worin der
  Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt --
  die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft
  -- ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das
  Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird
  auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von
  selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die
  Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der
  Staat wird nicht »abgeschafft«, er _stirbt_ ab. Hieran ist die Phrase
  vom »freien Volksstaat« zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen
  agitatorischen Berechtigung, wie nach ihrer endgültigen
  wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung
  der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen
  abgeschafft werden.«

Man sieht, es wird dem Staat im Grunde eine nur transitorische,
zeitweilige Rolle zuerkannt, die wesentlich die einer unterdrückenden
oder niederhaltenden Gewalt ist -- also das, was Lassalle gerade die
Rolle eines Nachtwächters der jeweilig herrschenden Klasse nennt, und
wenn mit dem Bestehen verschiedener Gesellschaftsklassen die
Klassengegensätze und der Anlaß zur Niederhaltung von Klassen aufhören,
hört nach dieser Theorie auch der Staat auf. Sie zieht sich durch alle
Schriften von Marx und Engels und ist von letzterem später in der
Schrift: »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«
näher begründet worden. Gelegentlich spricht Engels wohl auch vom Staat
als Produkt der Arbeitsteilung in der Gesellschaft und leitendem Organ
der durch jene notwendig gewordenen Verwaltungsaufgaben, aber er geht
auf diese Funktionen und ihre Zukunft nicht näher ein, sondern läßt
hinterher immer nur den Staat als Organ der Niederhaltung
aufmarschieren. Inwieweit diese Auffassung aufrechterhalten werden kann,
oder welche von beiden Auffassungen die Marx-Engelssche und die
Lassallesche, die zeitweilig in den Diskussionen der Sozialisten eine
große Rolle gespielt haben, den Anspruch auf größere Richtigkeit hat,
wird sich vielleicht zeigen, wenn wir nun auch Marx selbst über den
Staat gehört haben.

Vierzehn Jahre bevor die Schrift von Engels über den Ursprung der
Familie, des Privateigentums und des Staates erschien, im Jahre 1871,
hat Karl Marx sich genauer über den Staat geäußert in jener für den
Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation verfaßten Denkschrift
oder Ansprache über die Pariser Kommune von 1871. Im dritten Abschnitt
dieser Schrift legt er dar, was eigentlich die Kommune von Paris
bedeutet habe, was ihr tieferer Sinn und ihre tieferen Absichten gewesen
seien. Er hat dabei, was ich nicht verheimlichen will, etwas sehr frei
gearbeitet. Er hat das, was den Leuten der Kommune unbestimmt
vorschwebte, in eine sehr klare und bestimmte Sprache, in die logische
Entwicklung eines leitenden Gedankens gekleidet. Nachdem er dargelegt
hat, daß die Pariser Kommune eine Regierung der Arbeiterklasse war und
mit den Einrichtungen der alten Klassenherrschaft, mit Militär, Polizei
usw. gebrochen hatte, fährt er fort:

  »Die Pariser Kommune sollte selbstverständlich allen großen
  gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die
  kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten
  zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung
  auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen
  müssen. In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die
  Kommune nicht die Zeit hatte weiter auszuarbeiten, heißt es
  ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten
  Dorfs sein, und daß das stehende Heer auf dem Lande durch eine
  Volksmiliz mit äußerst kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die
  Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen
  Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der
  Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann
  wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken; die
  Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten
  Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. Die wenigen, aber wichtigen
  Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrig blieben,
  sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft,
  sondern an kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte übertragen
  werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im
  Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte
  eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht,
  welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber
  unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren
  Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es galt, die
  bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden,
  sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der
  Gesellschaft zu stehen beanspruchte, entrissen und den
  verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden. Statt
  einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der
  herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll,
  sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk
  dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu
  dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft
  auszusuchen. Und es ist bekannt genug, daß Gesellschaften ebenso gut
  wie einzelne in wirklichen Geschäftssachen gewöhnlich den rechten Mann
  zu finden und, falls sie sich einmal täuschen, dies bald wieder gut zu
  machen wissen. Andererseits aber konnte nichts dem Geist der Kommune
  fremder sein, als das allgemeine Stimmrecht durch hierarchische
  Investitur zu ersetzen.«

Diese Ausführungen stehen gedanklich in merkwürdiger Übereinstimmung
mit dem Plane, den der von Marx so scharf kritisierte Proudhon in seiner
Abhandlung über den Föderalismus und seiner Schrift über die politische
Befähigung der arbeitenden Klassen entwickelt hat. Die letztgenannte
Schrift, die man Proudhons politisches Testament nennen kann, ist nie
ins Deutsche übersetzt worden. Sie ist gegen Ende 1864 geschrieben, als
die Internationale Arbeiterassoziation im Entstehen begriffen war und in
der Arbeiterschaft von Paris neues politisches Leben sich regte. Mit ihr
wollte Proudhon, an dem der Tod schon nagte, der Bewegung eine Art
politisches Geleitbuch geben. Er war, wie man weiß, Gegner des Staates,
wenn er auch nicht Anarchist in dem Sinne war, wie man das Wort heute
versteht, sondern dem Föderalismus und Kommunalismus huldigte. Der Staat
sollte dadurch abgeschafft werden, daß die Nation sich in freien
Kommunen und Verbänden von solchen von unten auf föderalistisch
organisierte. Der Staat wird da -- was unter dem kaiserlichen Regime
Frankreichs verständlich genug war -- nur als unterdrückende Macht
aufgefaßt. Ganz wie sieben Jahre später bei Marx, der ihn
Schmarotzergewächs, Auswuchs der Gesellschaft und unterdrückende Gewalt
nennt. Von einer höheren Aufgabe oder Funktion des Staates ist bei Marx
so wenig wie bei Proudhon die Rede, während nach Lassalle der Staat
sogar eine hohe kulturelle Aufgabe selbst dann noch erfüllte, wenn er es
gar nicht einmal wollte. Wo ist da die Wahrheit? Nach meiner Ansicht
verkennt der von Marx entwickelte Plan vollständig die Rückwirkung der
großen ökonomischen Zusammenhänge, was bei einem Manne wie Marx, der so
großen Sinn für das Wesen und die Bedeutung der großen Produktion hatte,
ganz besonders verwundern muß. Die hier entwickelte Auffassung ist
vollständig kleinbürgerlich. Ein Gemeinwesen mit kleinbürgerlicher
Wirtschaft und kleinbürgerlichem Verkehr läßt sich allenfalls nach Art
des Kommunalismus auffassen. Ein Land aber mit modernen
Industrieunternehmungen und den durch sie geschaffenen wirtschaftlich
sozialen Zusammenhängen, die weit über die Gemeinde hinausgreifen, ist
als bloßer Bund unabhängiger Kommunen undenkbar.

Man vergegenwärtige sich zum Beispiel nur das moderne vielverzweigte
Verkehrswesen und die vielen anderen Wirtschaftsorganismen, deren
Wirkungssphäre und Bedürfnisse eine Zwangsgesetzgebung notwendig machen,
die an der Selbstbestimmung der Gemeinden keinen Hemmschuh finden darf.
Der durch die große Industrie erzeugte Wirtschaftsverkehr stellt die
Gesetzgebung der Nation vor ganz andere Aufgaben, als sie in einer
kommunistischen Organisation ausreichend erfüllt werden könnten. Die
letztere würde schon einfach an den Erfordernissen rationeller
Flußwirtschaft versagen, bei der die örtlichen Interessen so verschieden
liegen. Die Bewohner im Tale und an der Mündung haben ganz andere
Interessen als die Bewohner der Berggegenden, von denen der Fluß
herkommt. Vielfach sind Flüsse versandet, weil die Bevölkerung in den
betreffenden Bergdistrikten die Wälder abgeholzt hatte. Die von den
Quellen an in ihrem Lauf ungehemmten Flüsse nahmen so viel Erdreich mit,
daß weiter unten Bett und Mündungen versandeten. Eine Flußwirtschaft,
die den Fluß schiffbar erhält, braucht Gesetze und eine Überwachung, die
vor keinen Sonderinteressen oder gar Launen der Gemeinden Halt machen.
Haben wir doch selbst internationale Überwachungskommissionen für die
Flußläufe von Donau, Rhein usw. Man verweist nun gern auf diese
letzteren als Beweise dafür, daß sich solche Dinge auch auf dem Wege der
freien Vereinbarung regeln lassen. Aber man vergißt dabei, daß diesen
Kommissionen Verträge von _Staaten_ zugrunde liegen, bei denen schon die
Sonderinteressen von Gemeinden und Bezirken einem großen
Allgemeininteresse weichen mußten. Wären nicht schon Staaten gewesen, so
wären jene Vereinbarungen nie zustande gekommen.

Der Plan des Kommunalismus ignoriert viele der bedeutenden
Gesetzgebungs- und Verwaltungsaufgaben des modernen Staates, übrigens
können auch die Gemeinden heute sich nicht mehr auf die
kleinbürgerlichen Aufgaben beschränken, die Proudhon im Auge hatte. Die
Bodenpolitik, Verkehrspolitik und Sozialpolitik sind bei vielen schon
über diesen Rahmen hinausgewachsen. Ich darf daran erinnern, was meine
Wenigkeit vor jetzt beinahe 25 Jahren geschrieben hatte in einem
Artikel, der betitelt ist: »Die sozialpolitische Bedeutung von Raum und
Zahl.«[1] Es wird dort aufgezeigt, wie sehr die räumliche Ausdehnung des
Gebiets und die Vermehrung der Bevölkerung allein schon ganz neue
Bedürfnisse schaffen und das Zustandekommen der Gesetzgebung wie ihre
Aufgaben komplizieren.

   [1] Wieder abgedruckt in Band II des Sammelwerks »Zur Theorie und
   Geschichte des Sozialismus«. Berlin 1904, 4. Auflage.

Man wird das in Deutschland praktisch erfahren, wenn hier Versuche
gemacht werden, die in die Reichsverfassung der Republik grundsätzlich
übernommene direkte Gesetzgebung in die Wirklichkeit umzusetzen. Das in
der Schweiz heimische Referendum hat auch dort seine Nücken. Aber es ist
ganz etwas anderes, wenn die Bürger der kleinen, von jeher
republikanischen Eidgenossenschaft über eine Frage ihres weltpolitisch
gesicherten Landes abstimmen, als wenn eine solche Volksabstimmung in
einem Lande mit über 60 Millionen Einwohnern und in so schwieriger Lage
wie Deutschland vorgenommen wird. Man kann mit der direkten Abstimmung
wohl ganz einfache Fragen regeln, aber unmöglich kann man alle
Angelegenheiten eines großen Landes durch solche Abstimmungen zur
Entscheidung bringen, es müßte sonst jeder Bürger ein Ausbund
enzyklopädischen Wissens sein.

Der Staat ist nicht nur Organ der Unterdrückung und Besorger der
Geschäfte der Besitzenden. Ihn nur als solches erscheinen zu lassen, ist
die Zuflucht aller anarchistischen Systemmacher. Proudhon, Bakunin,
Stirner, Krapotkin, sie alle haben den Staat immer nur als Organ der
Unterdrückung und Aussaugung hingestellt, das er freilich lange genug
gewesen ist, aber durchaus nicht notwendig sein muß. Er ist eine Form
des Zusammenlebens und ein Organ der Regierung, das seinen
sozialpolitischen Charakter mit seinem sozialen Inhalt ändert. Wer nach
der Art eines abstrahierenden Nominalismus seinen Begriff mit dem
Begriff der Herrschaftszustände, unter denen er einst entstanden ist,
unabänderlich verknüpft, ignoriert die Entwicklungsmöglichkeiten und
tatsächlichen Metamorphosen, wie sie sich in der Geschichte mit ihm
vollzogen haben.

In der Praxis hat sich unter dem Einfluß der Kämpfe der
Arbeiterbewegung in den sozialdemokratischen Parteien eine andere
Wertung des Staates eingestellt. Da hat in der Tat die Idee eines
Volksstaates Boden gewonnen, der nicht das Werkzeug der oberen Klassen
und Schichten ist, sondern seinen Charakter kraft des allgemeinen und
gleichen Wahlrechts von der großen Volksmehrheit erhält. Insofern hat
Lassalle trotz mancher Übertreibungen in seinen oben wiedergegebenen
Sätzen vor der Geschichte, soweit wir sie übersehen können, recht
behalten. Allerdings muß man auch ihn =cum grano salis= verstehen. In
seinem Offenen Antwortschreiben ruft er den Arbeitern zu: »Aber was ist
denn der Staat?« Und nach Vorführung von statistischen Zahlen über die
damalige Einkommensverteilung fährt er fort: »Ihnen also, den
_notleidenden Klassen_, nicht uns, den höheren Ständen, gehört der Staat,
denn _aus Ihnen besteht er_, Ihre, der _ärmeren Klassen große Assoziation,
das ist der Staat!_« Ein Ausspruch, der viel Ähnlichkeit hat mit dem Satz
eines französischen Sozialisten, von dem seinerzeit geschrieben wurde,
daß Lassalle ihn kopiert habe, was aber nicht richtig ist. Es ist dies
Louis Blanc, der Verfasser der Schrift über die Organisation der Arbeit.
In einer Abhandlung, die polemisch gegen Proudhon gerichtet war, schrieb
dieser:

  »In einem demokratischen Regierungssystem ist der Staat die Macht des
  ganzen, durch seine Abgeordneten vertretenen Volkes, er ist die
  Herrschaft der Freiheit. Der Staat ist nichts anderes als die
  Gesellschaft selbst, die als Gesellschaft handelt, um die
  Unterdrückung zu verhindern und die Freiheit aufrechtzuerhalten. »Mann
  aus dem Volke, der Staat bist du!« -- »=Homme du peuple, l'état c'est
  vous!=««

Der Aufruf am Schluß ist in der Tat beinahe derselbe, den Lassalle
ausstößt. Und ähnlich wird argumentiert: der Staat ist aus dem Volk
zusammengesetzt, folglich _ist_ das Volk der Staat. In dieser Hinsicht
kann man freilich etwas weniger simplizistisch argumentieren. Mit der
Feststellung, aus welchen Menschen die Bevölkerung des Staates besteht,
ist der Staat noch nicht erklärt. Nur unter bestimmten Umständen hat das
Wort einen wahren Inhalt. Hören wir darüber einen anderen Sozialisten.
Der englische Sozialist James Ramsey Macdonald hat im Jahre 1909 eine
sehr interessante Abhandlung veröffentlicht über Sozialismus und
Regierung. Darin führt er gegen Engels aus:

  »Der Staat ist nicht die Regierung und nicht die Gesellschaft, er ist
  die organisierte politische Persönlichkeit eines unabhängigen Volkes,
  die Organisation einer Gemeinschaft, um ihren gemeinsamen Willen
  geltend zu machen durch politische Mittel. Es ist ein Irrtum,
  anzunehmen, daß der Staat nur das ist, was die Individuen aus ihm
  gemacht haben. Auch die Vergangenheit hat ihn gemacht. ... Daher muß
  der Staat als ein Organisches betrachtet werden.«[2]

   [2] Im gleichen Sinne heißt es in dem obenerwähnten Aufsatz des
   Verfassers dieser Schrift:

   »Wie in der Tierwelt mit der Differenzierung der Funktionen die
   Ausbildung eines Knochengerüsts unvermeidlich wird, so im
   gesellschaftlichen Leben mit der Differenzierung der Wirtschaften die
   Heranbildung eines das Gesellschaftsinteresse als solches
   vertretenden _Verwaltungskörpers_. Ein solcher Körper war bisher und
   ist heute der _Staat_. Da nun die Weiterentwicklung der Produktion
   ganz ersichtlich _nicht in Aufhebung_ der differenzierten Produktion
   bestehen kann, sondern nur _in neuer Zusammenfassung_ auf Grundlage
   der ausgebildeten Differenzierung -- auf die Personen übertragen,
   nicht in Aufhebung, sondern in _Ergänzung_ der beruflichen
   Arbeitsteilung (bzw. der Arbeitsteilung im Beruf. Ed. B.), so kann
   der Verwaltungskörper der Gesellschaft der absehbaren Zukunft sich
   vom _gegenwärtigen_ Staat _nur dem Grade nach_ unterscheiden.« (Ed.
   Bernstein, Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus, Berlin 1904,
   Bd. II, S. 73.)

Das ist, glaube ich, die vor der unbefangenen geschichtlichen Prüfung
auch wohl dauernden Bestand behaltende Definition des Begriffes »Staat«.
Man kann Macdonald nicht vorwerfen, daß er irgendein wesentliches Moment
ausläßt, das beim Staat in Betracht kommt. Es hat nun eine ganze
Literatur über den Staat gegeben, ob der Staat auf einem Vertrag beruht,
sei es auf einem bewußten oder einem stillschweigenden Vertrag, den ein
Teil der Bevölkerung einfach durch Duldung eingeht, oder ob der Staat
nur von der Gewalt herkam. Und, hat man weiter gefragt, was ist der
Gemeinschaftswille? Ist es der Wille aller, die eine Gemeinschaft
bilden, addiert, oder ist eine stärkere Potenz bei seiner Bildung tätig?
Letzteres ist, soweit man überhaupt berechtigt ist, von einem
Gemeinschaftswillen zu sprechen, in der Tat der Fall. Und zwar ist es
keine mystische, übersinnliche Macht, sondern ganz einfach die
Geschichte, die Vergangenheit, die bei seiner Bildung mitwirkt, und
nicht bloß die jeweilige Abstimmung einer Anzahl Menschen. Der Staat ist
ein Produkt der Entwicklung, in dessen jeweilige Gestaltung die
Vergangenheit mit hineinspielt. Aus dem Staat herausspringen ist
Unmöglichkeit. Man kann ihn nur ändern. Und so führt die Frage nach dem
Staat den Sozialisten hinüber zur Frage der Demokratie und der Regierung
überhaupt.




Siebentes Kapitel.

Der Sozialismus als Demokratie und der Parlamentarismus.


Halten wir daran fest, daß der Sozialismus unserer Zeit als
Klassenbewegung Bewegung der Arbeiterklasse ist. Allerdings ist er nicht
nur Klassenbewegung, sondern auch Bewegung sozialistischer Ideologie.
Aber der Angehörige einer anderen Gesellschaftsklasse muß je nachdem
sein Klasseninteresse _vergessen_, oder sich über es _hinwegsetzen_, um
Sozialist zu werden. Der Arbeiter aber, das ist wenigstens die
Auffassung der Sozialisten, braucht nur sein Klasseninteresse zu
_erkennen_ -- nicht sein persönliches Interesse, das kann ein anderes
sein --, um Sozialist zu werden. Da somit die sozialistische Bewegung
die Bewegung der Arbeiterklasse ist, der breiten sozialen Unterschicht
der Gesellschaft, ist sie darum schon notwendigerweise eine
demokratische Bewegung. Darüber kann grundsätzlich gar keine
Meinungsverschiedenheit bestehen, sondern nur darüber, wie diese
Demokratie sich auswirkt, auf welchem Wege und zu welchem Ziele hin.
Streit herrscht zunächst über ihre Form, und da berührt die Frage der
Demokratie die Frage des Parlamentarismus. Wiederholt ist schon von
Sozialisten wie auch von radikalen bürgerlichen Demokraten ein
grundsätzlicher Gegensatz zwischen Demokratie und Parlamentarismus
behauptet worden. Und heute kann man in Organen derjenigen
sozialistischen Richtung, die sich kommunistisch nennt, den von der
bolschewistischen Regierung Sowjetrußlands als Axiom aufgestellten Satz
lesen: »Der Parlamentarismus ist die Regierungsform der Bourgeoisie.«
Dagegen wissen wir, daß sowohl Marx-Engels wie auch Lassalle für den
Parlamentarismus eingetreten sind, wenn es sich um den Kampf für das
Budgetrecht, das Geldbewilligungsrecht des Parlaments gegen
halbabsolutistische monarchistische Regierungen gehandelt hat. Und heute
tritt die große Mehrheit der Sozialisten, die nicht bolschewistische
Kommunisten sind, für die parlamentarische Regierung ein. Es ist daher
nötig, sich klar zu machen, was wir unter Parlamentarismus und
parlamentarischer Regierung zu verstehen haben.

Beginnen wir mit der Begriffsbestimmung. Was ist überhaupt ein
Parlament? Die Frage ist genau dahin zu beantworten: ein Parlament ist
ein beratender und jeweilig auch beschließender Vertretungskörper,
anders ausgedrückt, eine vertretende bzw. repräsentative Versammlung,
die berät und je nachdem auch beschließt. Vertretung und Beratung sind
vom Begriff des Parlamentarismus nicht zu trennen, das Beschließen eher.
Es hat Parlamente gegeben, die das Recht der Beschlußfassung nicht
hatten. In der Frühzeit der parlamentarischen Entwicklung Englands gab
es dort solche parlamentarische Körper. Die Konsulatsverfassung
Frankreichs, die von Sieyès ausgearbeitet war, und später die Verfassung
des Kaiserreichs wurde, sah verschiedene parlamentarische Körper vor:
Senat, Tribunal usw. Das Tribunal hatte dabei nur eine beratende
Funktion, nicht die Beschlußfähigkeit. Es hatte Gesetze zu beraten und
sie je nachdem dem gesetzgebenden Körper vorzulegen; aber beschließende
Kraft hatte es nicht. Diesen Gedanken hatte Sieyès entnommen der
oligarchischen venezianischen Republik, und ähnliches findet man in der
bürgerlichen Utopie Oceana des James Harrington niedergelegt, die in
mancher Hinsicht für die Ideengeschichte des Parlamentarismus
interessant ist. Harrington schlug zwei Körper vor, einen beratenden und
einen beschließenden. Da sollte aber der demokratisch gewählte Körper
der beschließende sein, und der nach beschränktem Wahlrecht gebildete
Körper nur beratende Funktion haben. Dieser wesentlich die besitzenden
Klassen vertretende Beratungskörper sollte die Gesetze vorberaten, und
dann sollte das Volk durch seine Vertreter über sie entscheiden. Man
kann sagen, das sei ein verfälschter Parlamentarismus. Aber darauf kommt
es hier nicht an. In der Geschichte des Parlamentarismus hat es viele
Halbheiten und Mischformen gegeben. Auch der englische Parlamentarismus
war zunächst eine Mischform, ist es in gewisser Hinsicht selbst heute
noch. Erstens ist er nicht die unbeschränkte Herrschaft des Parlaments.
Denn neben dem Parlament besteht in England noch die Krone, die nach dem
Buchstaben des Gesetzes noch sehr viele Rechte hat, wenn sie auch in der
Praxis von den meisten keinen Gebrauch macht. Immerhin hat sie mehr
Rechte, als man gemeinhin annimmt. Dann besteht das Parlament in England
noch immer aus zwei Häusern, dem überwiegend aus erblichen Mitgliedern
zusammengesetzten Haus der Lords und dem Haus der Gemeinen, englisch:
=House of Commons=, was man in Deutschland merkwürdigerweise noch immer
mit »Unterhaus« übersetzt, während in Wirklichkeit das »Haus der
Gemeinen« viel weitergehende Rechte hat als das Haus der Lords. Im
englischen Volke wird denn auch allgemein nur die gewählte Vertretung
als das Parlament betrachtet. Ebenso in Deutschland. Schon vor der
Revolution betrachtete das preußische Volk das Abgeordnetenhaus als das
eigentliche Parlament; das Herrenhaus galt ihm nur als eine Art
Hemmschuh der parlamentarischen Arbeit, und viel mehr war es ja auch
nicht. In England nennt man auch nicht das Haus der Lords die erste
Kammer, sondern bezeichnet es ganz logisch als die zweite Kammer.

Diese zweiten Kammern beruhen auch anderwärts vielfach auf dem
erblichen Recht oder sind zusammengesetzt aus ernannten Vertretern und
ständischen Vertretern. So war das preußische Herrenhaus zusammengesetzt
aus Vertretern des Adels, des Grundbesitzes, bestimmter erbberechtigter
Familien, der hohen Geistlichkeit, der Universitäten, der Städte; es war
also eine ständische Vertretung. In England sind, wie bemerkt,
Mitglieder des Hauses der Lords auch heute noch größtenteils Personen
aus ererbtem Recht, aber dieses erbliche Anrecht auf den Sitz im Hause
der Lords hat eine unangenehme Nebenwirkung. Ein Mann, der erblicher
Peer von England ist, darf nicht Abgeordneter im Haus der Gemeinen sein.
Der bekannte liberale Politiker Lord Rosebery war Mitglied des Hauses
der Gemeinen, solange sein Vater Mitglied des Hauses der Lords war. Aber
dieser Vater starb sehr früh, und da mußte der Sohn ins Haus der Lords,
ob er wollte oder nicht, so daß es mit seiner Abgeordnetenlaufbahn
vorbei war. Er hat das sehr übel empfunden und das Haus der Lords für
einen vergoldeten Käfig erklärt. Daß er nicht ins Haus der Gemeinen
durfte, hatte ihn als Führer der liberalen Partei unmöglich gemacht, so
sehr ist dieses im heutigen England die erste Kammer.[3]

   [3] Eine Reform des Hauses der Lords durch eine Verbreiterung seiner
   Basis erstreben in England die Konservativen. Dem setzen die
   Liberal-Radikalen hartnäckigen Widerstand entgegen, weil ein
   reformiertes Haus der Lords leichter ein der Demokratie gefährlicheres
   Haus werden könnte als das unveränderte, aus dem Adel zusammengesetzte
   Haus, das man durch immer neue Einschränkung seiner Rechte »reformiert«
   hat.

Geschichtlich waren die erblichen oder ständischen Kammern allerdings
zunächst die ersten. In England entsteht zunächst im Anfang des
dreizehnten Jahrhunderts das Haus der Lords. Aber sehr bald ziehen die
Lords Vertreter der Grafschaften und Städte hinzu, weil sie sie
brauchen, die dann aber als Haus der Gemeinen gesondert tagen, und
allmählich gewinnt dieses Haus der Gemeinen immer mehr Bedeutung
gegenüber dem Hause der Lords, bis das Schwergewicht völlig bei der
breiten, direkt gewählten Volksvertretung liegt. Das ist heute auch dort
der Fall, wo beide Kammern gewählt werden, wie jetzt in Frankreich. Dort
werden der Senat und die Deputiertenkammer gewählt, aber die
Deputiertenkammer wird gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen,
geheimen und direkten Wahlrechts, der Senat aber indirekt von Vertretern
der Gemeinden, der Generalräte und Arrondissementsräte. In der Schweiz
wiederum hat man den Nationalrat und den Ständerat. Der Nationalrat wird
in Wahlkreisen auf Grund des gleichen, direkten Wahlrechts gewählt; der
Ständerat wird zwar auch direkt gewählt, aber von den ganzen Kantonen.
Jeder Vollkanton entsendet zwei, jeder Halbkanton einen Vertreter,
während die Nationalratswahlkreise nach der Bevölkerung eingeteilt sind.
Infolgedessen ist der Nationalrat viel stärker an Mitgliedern als der
Ständerat und übt auch weitreichendere Funktionen aus. Ähnlich ist es in
den Vereinigten Staaten, wo Senat und Repräsentantenhaus die
Volksvertretung, hier »Kongreß« genannt, bilden. Der Senat wird direkt
oder indirekt von den Staaten gewählt, das Repräsentantenhaus von den
Wahlkreisen. Aber hier wie in allen übrigen modernen Ländern wird das
allgemeine und mehr direkt gewählte Haus als das eigentliche Parlament
betrachtet.

Was nun die Rechte und Aufgaben der Parlamente betrifft, so ist das
Fundamentalrecht des Parlaments das Budgetrecht, das Recht der Annahme
oder Verweigerung der Haushalte bzw. der Steuern. Ursprünglich wurde in
England das Parlament überhaupt vom König nur einberufen, wenn dieser
neue Steuern brauchte, und das Recht, diese Steuern zu verweigern, war
das Mittel, mit dem es sich alle übrigen Rechte erwirkt hat. Schon unter
Heinrich IV., 1407, erkämpft das Haus der Gemeinen das Recht, daß alle
Geldbewilligungsgesetze ihm vorgelegt werden müssen, und dann erobert es
sich das Recht der alleinigen Geldbewilligung. Bei wechselnden
Machtverhältnissen im Staate, in immer wieder aufgenommenen Kämpfen
gegen die Krone, macht es sich die Verlegenheiten dieser zunutze. Es
weiß zu gut, daß ohne Geld das Regieren nicht möglich ist. Hängt die
Geldbewilligung vom Parlament ab, so kann die Krone nichts ohne dieses
machen; sie kann ohne Geld keine Soldaten beschaffen und daher auch ohne
das Parlament keine Kriege führen. Darauf gestützt hat z. B., als 1628
ein Krieg zwischen Frankreich und England bevorstand, das Parlament sich
die Rechte der sogenannten =Petition of Right= (»Rechtsforderung«)
ausbedungen. Zwölf Jahre später, im Jahre 1640, als Karl I., der
gleichzeitig König von Schottland war, gegen seine aufständischen
Schotten kämpfen wollte, sagte das englische Parlament wiederum: »Ehe
wir Dir Geld dazu bewilligen, wollen wir erst einmal mit Dir abrechnen.«
Karl, der zehn Jahre lang ohne Zustimmung des Parlaments Steuern hatte
eintreiben lassen, mußte die Gesetzwidrigkeit dieses Vorgehens
anerkennen, eine ganze Reihe von Verfügungen zurücknehmen, neue Rechte
bewilligen und das Todesurteil gegen seinen Kanzler Strafford
unterschreiben, ehe er das Geld bewilligt erhielt. Dann kam die
Revolution, die ihm selbst den Kopf kostete, aber mit Wiederherstellung
des Königtums endete. Als aber 1688 die zweite Revolution ausbrach und
Wilhelm von Oranien ins Land gerufen wurde, mußte auch dieser erst dem
Parlament neue Rechte zuerkennen, bis er den Thron besteigen durfte.
1689 schuf das Parlament das Meutereigesetz, mit dem Vorbehalt, daß es
immer nur für ein Jahr gilt, so daß, wenn es einmal nicht erneuert wird,
in England die Soldaten beliebig meutern dürfen, ohne sich dadurch
strafbar zu machen. Dadurch war der Krone das Ausspielen des Heeres
gegen das Parlament unmöglich gemacht.

Man kann die Geschichte des englischen Parlaments, das ja das erste
große Landesparlament gewesen ist, in zwei große Phasen einteilen; die
eine Phase ist die Phase des Kampfes des Parlaments gegen das Königtum,
d. h. der Kampf um immer größere Macht des Parlaments dem Königtum
gegenüber. Die Thronfolge ist gebunden an eine protestantische Erbfolge.
Bei alledem behielt die Krone doch immer noch die Möglichkeit eines
großen Einflusses. 1714 kam das Welfenhaus auf den Thron. Der erste
Vertreter der hannoverschen Dynastie, Georg I., konnte nicht einmal
englisch und kümmerte sich wenig um die Regierung, sondern begnügte sich
damit, von Zeit zu Zeit nach England zu kommen und seine Einkünfte
einzustreichen. Georg II. bürgerte sich auch nur schwer in England ein.
Anders der dritte Georg. Der wollte sein eigener Staatskanzler sein und
hat es denn auch glücklich fertig gebracht, die Rebellion und den Abfall
der Vereinigten Staaten von Amerika zu erleben. Seine Versuche, den
Einfluß des Parlaments zurückzudrängen, haben aber nur kurze Zeit
gedauert. 1780 nahm das Haus der Gemeinen einen Antrag an, daß die Macht
der Krone im Wachsen sei und verkürzt werden müsse, und das ist auch
durch eine ganze Reihe von Bestimmungen erzielt worden.

Im Laufe der Zeit war aber das Haus der Gemeinen ebenso eine Kammer von
Privilegierten geworden, wie das Haus der Lords. Das Wahlrecht war
außerordentlich beschränkt, die Stimmabgabe öffentlich, und wenn sie
auch nicht durch ein Reaktionsgesetz eingeführt, sondern aus dem
Mittelalter her überkommen war, wo kein Mensch an geheime Stimmabgabe
dachte, so war sie doch das Mittel einer furchtbaren Wahlkorruption
geworden, hatte sie dazu geführt, daß der Stimmenkauf und das
Kommandieren von Wählern ganz ungescheut betrieben wurden[4]. Ebenso
wuchs die Korruption im Parlament, das, je mehr England Kolonialreich
wurde, immer mehr wohlbezahlte Posten zu vergeben hatte. Und nun beginnt
die _zweite Phase_ der Geschichte des englischen Parlamentarismus: der
Kampf um die _Demokratisierung der Volksvertretung_ und damit in
Verbindung der Kampf des Hauses der Gemeinen _gegen das Haus der Lords_.

   [4] Trotzdem haben die Engländer sich nur schwer von ihr getrennt.
   Als die geheime Stimmabgabe eingeführt werden sollte, haben nicht nur
   die Konservativen, sondern auch sehr liberale und sozialistisch
   gesinnte Männer sich entschieden dagegen erklärt, u. a. der ehrliche
   und bedeutende Reformsozialist John Stuart Mill. Er fand es eines
   freien Menschen unwürdig, seine Stimme nicht offen abzugeben. Erst im
   Jahre 1872 ist die geheime Stimmabgabe und auch nur _versuchsweise_
   eingeführt, aber nie wieder abgeschafft worden, weil man dahinter
   kam, welcher Vorzug ihr innewohnt.

Bis weit ins neunzehnte und sogar noch ins zwanzigste Jahrhundert
hinein ist das englische Wahlrecht im allgemeinen erst faktisch und dann
formal ein Privilegienwahlrecht des Grundbesitzes in Land und Stadt
gewesen. Abgesehen von den nach und nach sehr eingeschrumpften
Wahlberechtigungen städtischer Korporationen usw. ist es immer an eine
Verfügung über Grund und Boden gebunden gewesen, und alle Reformen an
ihm sind in der Weise vollzogen worden, daß der Begriff des
Grundbesitzers schrittweise erweitert wurde. Erst waren es nur die
Freisassen gewesen, die das Wahlrecht hatten, dann kamen die in Erbpacht
sitzenden Pächter hinzu, später die mittleren und kleinen Pächter im
allgemeinen und die Mieter von Wohnhäusern -- die Engländer haben ja
vorwiegend das Einfamilienhaus --, und schließlich wurde es auch den
Abmietern von Zimmern und von Teilen von solchen verliehen, so daß, wer
10 Mk. Miete wöchentlich zahlte, ein Wähler war, auch wenn er nur ein
halbes Zimmer hatte. Ein staatsbürgerliches Recht schlechthin ist das
englische Wahlrecht aber bis zum Weltkrieg nicht gewesen. Die
Entwicklung ist formal da umgekehrt vor sich gegangen, als bei uns und
anderwärts auf dem Festland. Hier wurde das Wahlrecht als ein
staatsbürgerliches Recht eingeführt, aber vielfach gebunden an
irgendwelche Steuerleistungen usw. In England dagegen war es ein Recht
des Grundbesitzers oder irgendeines Korporationsvertreters und gebunden
allerdings an die englische Staatsbürgerschaft[5].

   [5] Aber selbst das letztere nicht einmal unbedingt. Als ich in
   London lebte, kam eines Tages ein Agent der konservativen Partei zu
   mir und fragte, ob er mich auf seine Liste der konservativen Wähler
   setzen dürfe. Als ich ihm erklärte, ich sei Ausländer und daher nicht
   wahlberechtigt, erwiderte er, ich stehe aber in der Wählerliste, und
   da die Sache dadurch rechtlich erledigt sei, daß man meinen Namen
   nicht vor dem Wahlkommissar angefochten habe, sei ich nun von Rechts
   wegen Wähler und könne wählen, ich würde gar nichts dabei riskieren.
   Mein Einwand, daß ein Irrtum bei Feststellung der Liste mir kein
   Recht verleihen könne, das mir gesetzlich nicht zustehe, schien ihm
   nicht einzuleuchten, und erst, als ich ihm erklärte, daß ich ja auch
   nicht konservativ, sondern Sozialist sei, verabschiedete er sich.

Auf die überaus charakteristischen Kämpfe um die Wahlreform in England
kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Für den hier
behandelten Gegenstand ist es bemerkenswert, daß mit der ersten großen
Wahlreform im 19. Jahrhundert auch der Kampf gegen die parlamentarische
Machtstellung des Hauses der Lords erneut auf die Tagesordnung gesetzt
wird. Diese Wahlreform, die im Jahre 1832 dem lange Zeit sich ihr
widersetzenden Haus der Lords abgerungen wurde, brachte eine erdrückende
liberale Mehrheit (486 Liberale gegen 172 Konservative) in das Haus der
Gemeinen und bewirkte damit eine starke Veränderung in den Beziehungen
der beiden Häuser des Parlaments zu einander. Vom Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts ab war nach Festlegung der Parlamentsherrschaft die
politische Beherrschung Englands abwechselnd der Partei der Whigs und
der Partei der Torys zugefallen. Beides waren aristokratische Parteien,
Parteien der Besitzenden, im Grunde nur zwei große Bünde oder Koterien
von Adligen und Angehörigen der Großbourgeoisie. Der politische
Unterschied zwischen ihnen war nicht groß. Die Whigs waren traditionell
die Partei eines gewissen Fortschritts, sie wollten die Partei des
lebensfähigen Neuen sein und waren die besonderen Sachwalter der neu
emporkommenden Bourgeoisie. Die Torys, ursprünglich Anhänger der
Dynastie der Stuarts, bildeten sich aus zur sogenannten Partei der
Institutionen, des Königtums überhaupt, der erblichen Aristokratie, der
Staatskirche, des befestigten Grundbesitzes und so weiter. Das waren die
prinzipiellen Gegensätze. In der Praxis verwischten sie sich sehr, da
eben in beiden Parteien Angehörige der Oberschicht der Besitzenden das
entscheidende Wort sprachen, so daß eines Tages der Vers aufkam, der,
glaube ich, den Dichter Byron zum Verfasser hat:

    »=Strange that such difference should be
    Twixt Tweedledum and Tweedledee.=«

Was man auf deutsch etwa so ausdrücken kann:

    »Ein mächt'ger Unterschied, Potz Blitz!,
    Von Prudelwitz und Strudelwitz.«

In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und im ersten
Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hatten sich die beiden Parteien
sowohl im Haus der Lords wie im Haus der Gemeinen einigermaßen die Wage
gehalten, und wenn im Haus der Gemeinen die Whigs die große Mehrheit
hatten und im Hause der Lords die Torys nicht nachgeben wollten, so
wurde das Mißverhältnis durch einen sogenannten Pairsschub geändert.
Aber nach der großen Wahlreform hört das auf. Es findet im Haus der
Lords eine so starke Abwanderung von Whigs ins Lager der Torys statt,
daß diese schließlich dort eine Mehrheit erhalten, an der ein Pairsschub
nichts Wesentliches mehr ändern konnte, er hätte denn mehrere hundert
Personen umfassen müssen, was auf gesetzlichem Wege nicht durchzuführen
war. Gegen Ende des Jahrhunderts war es schon dahin gekommen, daß die
Torys -- jetzt Konservative genannt -- im Hause der Lords von
500 Mitgliedern ungefähr 400 zählten, die Liberalen nur gegen 100. Diese
Entwicklung vollzog sich, nachdem 1866 die zweite Wahlreform großen
Teilen der städtischen Arbeiter das Wahlrecht gebracht hatte und die
liberale Partei sich allmählich durch Koalition mit der Arbeiterschaft
radikalisiert hatte. Nun lag für die Liberalen und Radikalen noch viel
stärker das Bedürfnis vor, das Schwergewicht und die politische
Entscheidung in das Haus der Gemeinen zu konzentrieren. Ein großer
Schritt dazu war schon im Jahre 1861 gemacht worden, wo Gladstone den
Beschluß durchsetzte, daß das Haus der Lords nicht über Einzelheiten des
Staatshaushalts, sondern über diesen im ganzen abzustimmen habe, womit
praktisch jenem die Möglichkeit genommen war, überhaupt in das Budget
hineinzureden, da für eine Partei der Staatserhaltung, als die sich die
Konservativen betrachtet wissen wollen, das revolutionäre Mittel der
Verwerfung des Staatshaushalts um Einzelheiten willen geradezu
ausgeschlossen ist.

Nur einmal haben die Lords denn auch einen dahingehenden Versuch
gemacht, und er ist ihnen schlecht genug bekommen. Im Jahre 1908 lehnten
sie das Budget Lloyd George's, der damals Schatzkanzler war, mit der
Begründung ab, daß das in ihm eingeschlossene Steuergesetz keine
einfache Steuermaßnahme sei, sondern eine soziale Umwälzung, was auch
bis zu einem gewissen Grade zutraf. Das rief heftige politische Kämpfe
hervor und machte mehrmalige Neuwahlen notwendig, die für die Liberalen
infolge des gleichzeitig spielenden Kampfes um Home Rule für Irland
unter erschwerenden Umständen stattfanden, aber ihnen schließlich doch
eine, wenn auch nicht große, Mehrheit beließen. Im Jahre 1911 wurde ein
Kompromiß dahin geschlossen, daß, wenn ein Parlament in derselben
Gesetzgebungsperiode in Pausen von je einem Jahr dreimal dieselbe
Vorlage beschließt, sie dann auch gegen das Haus der Lords Gesetz ist.
Damit errang sich in England das Haus der Gemeinen endgültig die
Oberhoheit. Das Haus der Lords hat heute nur eine sehr beschränkte
Funktion als eine Art Revisionskammer und will auch kaum mehr sein. Es
beansprucht nur die Möglichkeit, je nachdem eine direkte Volksabstimmung
in der Form von Neuwahlen herbeiführen zu können, wenn es der Meinung
ist, das Haus der Gemeinen sei weit über das Mandat hinausgegangen, das
es bei den Wahlen bekommen habe. So ist das Haus der Gemeinen heute fast
souverän. Der Einfluß der Krone ist nur noch der eines vermittelnden
Ratgebers und kann selbst in der auswärtigen Politik nichts gegen einen
ausgesprochenen Willen des Hauses der Gemeinen ausrichten.

Aus folgenden Gründen halten die Engländer noch an der Monarchie fest:
Erstens hat seit Generationen kein Träger der Krone es auf einen
Konflikt mit dem Parlament ankommen lassen. Sie entstammten ja fremden
Fürstenhäusern und legten sich in diesem Bewußtsein um so größere
Zurückhaltung auf. Es ist ausgerechnet worden, daß Eduard VII. nur etwa
ein Siebentausendstel englischen Blutes in seinen Adern habe. Die
Dynastie stammt aus Deutschland, und ihre Prinzen heirateten fast immer
wieder Deutsche. Deutschland lieferte ja Prinzessinnen in beliebiger
Auswahl. Man lese die Namen der englischen Prinzen und ihre Titel, und
man wird finden, daß sie fast alle deutsch sind. Es sind Hannoveraner,
Braunschweiger, Schleswiger, Koburger usw. Das macht sie in der inneren
Politik ungefährlich. Dagegen bildet der Träger der Krone eine
Gegenkraft gegen die Gefahren von Auswüchsen der Parteiherrschaft. Er
vertritt ein Interesse, das über den Sonderinteressen der Parteien
steht. Parteien sind stets der Gefahr ausgesetzt, über dem natürlichen
Interesse der Selbsterhaltung Allgemeininteressen zu vergessen oder
geradezu zu verletzen. Ihnen gegenüber ist der Träger der Krone durch
die Kontinuität seines Amtes vor solchen Anwandlungen geschützt. Die
Kontinuität gibt ihm, sofern er mit Takt auftritt, ein großes
moralisches Übergewicht. Er steht im Mittelpunkt namentlich der
auswärtigen Politik. An ihn kommen die Berichte der Gesandten, und er
ist es, der die Gesandten ernennt. Allerdings auf den Vorschlag des
zuständigen Ministers, und gegen das Ministerium kann er nichts; er kann
die Minister nicht einmal sich auswählen. Als Gladstone im Jahre 1880
die konservative Partei besiegte und die Liberalen ans Ruder kamen,
wollte die Königin Viktoria ihn von allen Führern der Liberalen am
letzten zum Ministerpräsidenten, denn sie haßte in ihm den siegreichen
Rivalen des von ihr hochgeschätzten Disraeli-Beaconsfield. Sie bot daher
alles auf, einen anderen liberalen Ministerpräsidenten zu erhalten. Aber
das erwies sich als unmöglich. Alle in Betracht kommenden Liberalen, an
die sie sich wandte, erklärten ihr nach vorgenommener Umfrage, es sei
ihnen unmöglich, ein Ministerium zu bilden, sie müsse Gladstone nehmen,
denn ihn wolle die nunmehrige Mehrheit des Parlaments. Und Viktoria
unterwarf sich.

Im allgemeinen aber laufen die Ernennungen durch die Hände des
Monarchen, der dadurch eine außerordentliche Personenkenntnis erhält.
Und noch eines kam ihm bisher zugute. Solange die meisten Regierungen
auf dem Festlande noch Monarchien waren, hatte er die persönlichen
Verbindungen mit den betreffenden Monarchen und deren Umgebung und
dadurch besondere Möglichkeiten der Information. War er dann ein Mensch
von Verstand und Klugheit, wie z. B. Eduard VII., den man vor seiner
Thronbesteigung in Deutschland sehr unterschätzt hat, dann kann er
seinem Lande große Dienste leisten und den Ministern in der Tat ein
geschätzter Ratgeber sein. Ob Eduard VII. wirklich, wie man seinerzeit
hier gemeint hat, der Treiber war bei der Einkreisung Deutschlands vor
dem Kriege, will ich dahingestellt sein lassen, zumal ich der Ansicht
bin, daß eine Einkreisung in dem Sinne, wie sie hier angenommen ward,
überhaupt nicht stattgefunden hat. Es ist Deutschland in der Zeit dieser
sogenannten Einkreisung ganz gut gegangen, und man könnte eher sagen,
daß Deutschland, d. h. dessen damalige Regierung, eigentlich sich selbst
eingekreist hatte; aber das ist eine Nebenfrage. Vom englischen
Standpunkt aus gesehen war Eduard VII. ein sehr erfolgreicher Helfer in
der friedfertigen Beilegung auswärtiger Verwicklungen seines Landes, und
Verehrer haben ihm nach seinem Tode den Beinamen »der Friedensstifter«
zugesprochen.

Ein sicheres Gegenmittel gegen Auswüchse des Parlaments ist die Krone
aber nicht. Die Engländer halten an ihr fest, weil sie sich in ihrer
neueren Geschichte erprobt hat und die Kronenträger der letzten
Generationen klug genug waren, sich nicht vorzudrängen und nur in
solchen Fällen sich hören zu lassen, wo sie die Nation wirklich hinter
sich wußten.

Mit der Parlamentsherrschaft sind unzweifelhaft eine Reihe Gefahren
verbunden, wie sich das in England schon im achtzehnten Jahrhundert
gezeigt hat. Die sprichwörtlich gewordene Korruption der damaligen
Parlamente war eingeführt worden von dem Whig-Minister Robert Walpole
(1676-1745), der persönlich vollständig rein war, aber das Kaufen und
Bestechen aus politischen Gründen für notwendig hielt. Unter seinen
Nachfolgern fraß das Übel immer weiter um sich. Je mehr Stellen die
Regierung zu vergeben hatte -- und im Kolonialland England wurden es
deren immer mehr --, um so allgemeiner die Korruption. Eine einseitige
Parteiherrschaft bestand lange Zeit, die das Gemeininteresse
vernachlässigte; auch wurden viele schlecht beratene Gesetze gemacht.
Dabei soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß das persönliche
Regiment sich verschiedentlich um kein Haar besser bewährt hat. Auch bei
ihm und der mit ihm verbundenen Beamtenwirtschaft ist man allerlei
Zufällen ausgesetzt. Wie man auch grundsätzlich zum monarchistischen
Regierungssystem stehen mag, so wird doch niemand bestreiten, daß in
einem sehr wichtigen, für das deutsche Volk verhängnisvollen Augenblicke
-- aus welchen Beweggründen, darüber will ich hier nicht sprechen -- in
unserer Zeit der Kronenträger versagt hat. Und ebensowenig ist eine
erbliche oder ständige Kammer ein Gegenmittel.

Es ist nun jedoch Tatsache, daß die schlimmsten Auswüchse der
Parlamentsherrschaft einer Zeit angehören, wo das Parlament eine auf
Grund beschränkten Wahlrechts gewählte Kammer von Privilegierten war.
Das englische Parlament hat eigentlich erst im letzten Drittel des
neunzehnten Jahrhunderts aufgehört, ein Privilegienparlament zu sein.
Bis zum Jahre 1858 mußte noch der Abgeordnete in der Stadt oder auf dem
Lande Grundbesitzer sein, und zwar mußte er ein ganz gehöriges Einkommen
aus Grundbesitz haben. In Frankreich war es bis 1848 ähnlich. In der
großen Revolution wird nach dem Sturz Robespierres das Wahlrecht Schritt
für Schritt eingeengt, von Napoleon I. scheinbar wiederhergestellt,
tatsächlich aber gröblich verfälscht und die Kammer zum
Mameluckenparlament erniedrigt. Im restaurierten Frankreich der
Bourbonen haben nur 120000 Staatsbürger das Stimmrecht, und das 1830
durch die Julirevolution ans Ruder gelangte Bourgeoiskönigtum erhöht die
Zahl auf ganze 200000 bei einer Bevölkerung von über 30 Millionen. Es
war also immer nur das Parlament der herrschenden Klassen. Damit soll
nicht gesagt sein, daß in dem Augenblicke, wo das Parlament
demokratisiert ward, alle diese Schäden sofort beseitigt wurden. Nein,
auch das Parlament des allgemeinen Stimmrechts ist zunächst vielen
Mängeln unterworfen. In der Monarchie stehen der Regierung allerhand
Wege zur Verfügung, die Wahlen zu machen. Solange es in der Macht der
Regierung liegt, das Parlament aufzulösen, wenn es ihr passend
erscheint, also etwa an einem Zeitpunkt, wo die Volksstimmung über ein
bestimmtes Ereignis besonders erregt ist, solange kann sie auch bis zu
einem gewissen Grade künstliche Wahlergebnisse herbeiführen. In England
löste Minister Chamberlain während des Burenkrieges im Jahre 1900 das
Parlament auf und bekam eine glänzende Mehrheit. Es waren das die
sogenannten Khaki-Wahlen -- so genannt nach der Khakiuniform der
englischen Soldaten. In Deutschland haben wir verschiedene Male solche
Khaki-Wahlen gehabt. So die Wahlen von 1887, wo ein künstlich erzeugter
Franzosenschreck eine große Rolle spielte, und so die Wahlen von 1907,
bei denen der Herero-Aufstand ausgespielt wurde und die danach den Namen
»Hottentottenwahlen« erhielten. Auch die Wahlen von 1878, wo Bismarck
nach dem Attentat des Karl Nobiling auf Wilhelm I. den Reichstag
auflöste, um ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zu erzielen,
gehörten dazu. Da bildete der Sozialistenschreck das Mittel, das es der
Regierung ermöglichte, eine Mehrheit zu bekommen, wie sie sie brauchte.
Auch das allgemeine Wahlrecht ist also nicht schlechthin das Mittel, die
Unabhängigkeit des Parlaments sicherzustellen. Nun trifft aber die
Kritik, die man bisher am Parlamentarismus geübt hat, soweit Europa in
Betracht kommt, immer nur erst einen Parlamentarismus, der noch nicht
vollberechtigtes Organ eines zur demokratischen Selbstregierung
gelangten Landes war, sondern entweder bloß Scheinparlamentarismus oder
noch mit Resten eines solchen behaftet war. Den Scheinparlamentarismus
schildert ausgezeichnet Ferdinand Lassalle im zweiten Teil seiner in
einem früheren Kapitel von mir gewürdigten Abhandlung über
Verfassungswesen. Lassalle war durchaus kein Gegner des echten
Parlamentarismus. Er predigte im Gegenteil den Arbeitern die
Notwendigkeit, behufs seiner Herstellung das allgemeine Stimmrecht zu
erringen. In jener Abhandlung finden wir bei ihm u. a. den Satz: »Als ob
nicht in der Tat im parlamentarischen Regime und nur in ihm das Wesen
einer wahrhaft konstitutionellen Regierung bestände.« Er erklärt den
Kampf um das Parlament für außerordentlich wichtig und prägt den
Arbeitern die Notwendigkeit ein, das allgemeine Wahlrecht zu erlangen,
von dem er ihnen im »Offenen Antwortschreiben« zuruft, es sei nicht nur
ihr _politisches_, sondern auch ihr »_soziales Grundprinzip_«, die
»_Grundbedingung aller sozialen Hilfe_«. Und an einer anderen Stelle
erklärt er ihnen hinsichtlich des Wahlrechts: »Es wird ein paarmal
fehlschlagen -- es ist keine Wünschelrute, aber es ist die Lanze, die
die Wunde heilt, die sie geschlagen hat.«

Das war zur Zeit, als Lassalle auftrat, durchaus im Widerspruch mit der
Anschauung vieler Sozialisten. In radikal-revolutionär gesinnten
sozialistischen Kreisen war man Gegner des Parlamentarismus, weil das
Wahlrecht -- man führte das nicht schlüssige Beispiel Frankreichs an --
konservativ gewirkt habe und man den Gedanken hegte, durch die
Revolution auf der Straße die Macht zu erlangen, die man für nötig
hielt, um die Politik und die soziale Verfassung des Landes mit
diktatorischer Gewalt ändern zu können. Auffassungen dieser Art hegte
unter anderen Wilhelm Liebknecht, dessen Andenken von der deutschen
Sozialdemokratie nach meiner Ansicht mit Recht als das eines
hochverdienten Vorkämpfers in Ehren gehalten wird. Liebknecht hat am
31. Mai 1869 in Berlin einen Vortrag gehalten über die politische
Stellung der Sozialdemokratie, worin er nicht nur scharf gegen die von
Lassalle den Arbeitern eingeprägte Wertung des allgemeinen Wahlrechts
polemisierte, sondern auch die Teilnahme an den parlamentarischen
Verhandlungen bekämpfte. Der Parlamentarismus sei Spiegelfechterei. Der
Sozialismus, führte er aus, stehe in unversöhnlichem Gegensatz zum alten
Staat. Der alte Staat müsse erst gestürzt werden, dann erst könne mit
dem Bau der neuen sozialistischen Gesellschaft begonnen werden. Er
wollte, man solle zwar, da das Wahlrecht nun einmal da sei, aus
agitatorischen Gründen am Wahlkampf teilnehmen und ins Parlament
eintreten, aber nur um Protestreden zu halten und sich sonst nicht
weiter an den Debatten beteiligen. Für diese, einer Phase in der
Entwicklung der sozialistischen Bewegung entsprechende Auffassung, die
namentlich in Frankreich stark verbreitet war, ist folgende Stelle aus
Liebknechts Schrift recht bezeichnend:

  »Bei Beratung der Gewerbeordnung, welche den Hauptgegenstand der
  gegenwärtigen Session bildete, glaubten einige meiner Parteigenossen
  im Interesse der Arbeiter und zu propagandistischen Zwecken eine
  Ausnahme machen zu müssen. Ich war dagegen. Die Sozialdemokratie darf
  unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet mit den Gegnern
  verhandeln. _Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage
  besteht._ Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln heißt sein Prinzip
  opfern. Prinzipien sind unteilbar, sie werden entweder _ganz bewahrt_
  oder _ganz geopfert_. Die geringste prinzipielle Konzession ist die
  Aufgabe des Prinzips. Wer mit Feinden verhandelt, parlamentiert; wer
  parlamentiert, paktiert.«

Liebknecht, der, als er diesen Vortrag hielt, erst dreiundvierzig Jahre
alt war, hat sich später eines anderen belehrt und ist auch damals mit
dieser Argumentation, deren Trugschlüsse auf der Hand liegen, nicht
durchgedrungen. Es siegte die Auffassung derjenigen seiner
Parteigenossen, von denen er da spricht und deren bedeutendster August
Bebel war. Nun galt er zu jener Zeit in Deutschland als der berufene
Vertreter der Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels, mit denen er bis
dahin in England im Exil gelebt hatte. Aber weder Marx noch Engels waren
mit dieser Behandlung der Frage einverstanden. Marx schrieb, nachdem er
den Vortrag gelesen hatte, am 10. August 1869 an Engels:

  »Wilhelms in der Beilage abgedruckter Redeteil (in Berlin gehalten)
  [»Die politische Stellung der Sozialdemokratie«] zeugt innerhalb des
  Falschen von nicht zu leugnender Schlauheit, sich die Sache
  zurechtzumachen. Übrigens ist das sehr schön! _Weil_ man den Reichstag
  _nur_ als Agitationsmittel benutzen darf, darf man _niemals_ dort für
  etwas Vernünftiges und direkt die Arbeiterinteressen Betreffendes
  _agitieren_!«

Engels aber hatte schon am 9. Juli mit Bezug auf denselben Vortrag an
Marx geschrieben:

  »Auch ein Standpunkt von Wilhelm, daß man vom jetzigen Staat
  Konzessionen an die Arbeiter weder nehmen noch _erzwingen_ darf. Damit
  wird er verdammt viel bei den Arbeitern ausrichten.«

Die beiden Väter des wissenschaftlichen Sozialismus teilten also den
doktrinären Standpunkt Liebknechts nicht. Indes standen sie ihm doch in
vielen Punkten immer noch nahe. Auch sie dachten noch nicht an eine
wirkliche parlamentarische Betätigung der Sozialisten. Im Laufe der
Entwicklung haben sie jedoch ein wachsendes Interesse auch an den
parlamentarischen Kämpfen der deutschen Sozialdemokratie genommen. Es
ist interessant, zu verfolgen, wie diese großen Denker und geistigen
Führer sich schrittweise zu einer anderen Würdigung der Tätigkeit der
Arbeiterklasse im Parlament bekehrten, was später dann zum Teil unter
ihrem Einfluß auch im Lager der französischen Sozialisten geschehen ist,
bei denen die alte revolutionaristische Tradition noch sehr viel stärker
in den Köpfen sich erhalten hatte.

Wenn aber Friedrich Engels, der Karl Marx überlebte, im Jahre 1895, am
Abschluß seines Lebens, in einem Vorwort zu der Schrift von Marx »Die
Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« mit größerer Bestimmtheit als
zu irgendeiner früheren Zeit sich anerkennend darüber aussprach, daß die
Sozialdemokratie in Deutschland das allgemeine Wahlrecht nicht nur für
die Erwirkung sozialdemokratischer Wahlen, sondern auch zur Tätigkeit in
den Parlamenten, sowohl im Reichsparlament wie in den Landtagen und
Gemeindevertretungen ausnutzte, so muß doch dazu bemerkt werden, daß
diese rückhaltlose Zustimmung immerhin noch -- wenn ich mich so
ausdrücken darf -- beim Quantitativen stehen blieb. D. h. daß Engels
dabei die äußeren agitatorischen Erfolge, die Tatsache, im Auge hatte,
daß immer mehr Sozialdemokraten in jene Körper eindrangen und dort einen
immer stärkeren Druck auf die Regierungen und die bürgerlichen Parteien
ausüben konnten, daß er aber das Hegelsche Wort »Quantität wird
Qualität«, das heißt die Rückwirkung der größeren _Zahl_ der Vertreter auf
das _Wesen_ ihrer Betätigung unberücksichtigt läßt. Diese Seite zu
würdigen, war ja auch schwer für ihn, weil er vom Ausland her unmöglich
einen genauen Einblick in die Arbeit der sozialdemokratischen
Vertretungen erlangen konnte, die sich obendrein in den verschiedenen
Vertretungskörpern verschieden gestaltete. Allgemein aber lag die
Tatsache vor, daß, wo die parlamentarische Tätigkeit von einer stark
angewachsenen sozialistischen Fraktion ausgeübt wurde, sie damit auch
qualitativ, der Beschaffenheit nach, sich änderte. Bei zehn oder ein
paar mehr Abgeordneten legt man in einem Parlament wie der deutsche
Reichstag mit seinen 397 Mitgliedern nicht allzu viel Wert darauf, was
sie sagen. Man hört ihre Reden an, zollt ihnen je nachdem Achtung, aber
es liegt kein Zwang vor, ihren Anforderungen Rechnung zu tragen. Wenn
aber 100 Abgeordnete -- die letzte Zahl, die Engels erlebt hatte, war
noch nicht halb so groß -- oder 112 (die letzte Zahl vor dem Kriege),
wenn 112 Abgeordnete, also mehr als ein Viertel der Gesamtzahl, in einem
solchen Parlament die gleiche Partei vertreten, kommt unter Umständen
schon außerordentlich viel auf ihre Stimmen an; sie gewinnen einen
größeren materiellen und auch moralischen Einfluß. Damit erwächst aber
zugleich für sie durch _das reine Gewichtsverhältnis der Machtausübung_
die Notwendigkeit einer viel intensiveren Tätigkeit, einer mehr und mehr
_positiven Mitarbeit_ an der Gesetzgebung, und in den Gemeinden und
anderen Selbstverwaltungskörpern an der Verwaltung. Das war nicht nach
dem Geschmack aller Mitglieder der Sozialdemokratie. Viele der älteren
und nicht wenige gerade der jungen Generation glaubten an der alten
Taktik festhalten zu müssen, und so wurde die parlamentarische Tätigkeit
unter den Sozialdemokraten nun auch _nach der qualitativen Seite hin
Streitgegenstand_.

In Deutschland kam es darüber bei verschiedenen Gelegenheiten zu
heftigen Diskussionen in der Partei. Das erste Mal nach dem Fall des
Sozialistengesetzes als im bayerischen Landtag die Sozialdemokraten --
damals noch unter der Führung von Georg v. Vollmar -- eine Art Zünglein
an der Wage bildeten und, um ihre Macht zu vergrößern, bei den Wahlen
und auch sonst dazu übergingen, bestimmten nichtproletarischen sozialen
Gruppen größere Zugeständnisse zu machen, als es bisher nach der
sozialistischen Theorie, wie man sie gelernt hatte, gerechtfertigt
geschienen hatte. Dies namentlich den Bauern gegenüber, die in Bayern
eine besonders große Rolle spielen. Das gab zu großen Streitigkeiten in
der Sozialdemokratie Anlaß und wurde im Jahre 1894 auf dem Parteitag zu
Frankfurt a. M. zum Gegenstand sehr lebhafter Debatten, die sich ein
Jahr darauf, auf dem Parteitag zu Breslau, in gesteigerter Intensität
fortsetzten, dort mehrere Tage in Anspruch nahmen. Es handelt sich nun
um den ganzen Fragenkomplex der Agrarfrage, und in der praktischen
Zuspitzung, wie man sich insbesondere zu den Bauern zu stellen, ob man
ihnen überhaupt noch eine Zukunft in Aussicht zu stellen habe, und ob
man für besitzende Kleinbauern eintreten könne, ohne dadurch unter
Umständen die Landarbeiter zu benachteiligen. Es hatte sich gezeigt, daß
die Sozialdemokratie mit mehr oder weniger allgemeinen, beziehungsweise
ins allgemeine gehenden Schlagworten nicht mehr auskam, sondern
gezwungen war, tiefer in die Natur und Probleme der wirtschaftlichen
Entwicklung einzudringen.

Dazu lag um so mehr Veranlassung vor, als nunmehr in einem
Parlamentskörper nach dem anderen von ihren Stimmen soviel abhing, daß
unter Umständen sie dafür verantwortlich wurden, wenn eine
Gesetzesvorlage der Regierung, ein Entwurf oder Antrag irgendeiner
Partei nicht angenommen wurde. Lange Zeit hatten die Vertreter der
Sozialdemokratie, wenn ihnen irgend etwas in einer Vorlage oder einem
Antrag nicht genehm war, ruhig sie ablehnen können. Es hing nicht von
ihren Stimmen ab, ob die Vorlage oder der Antrag Gesetz wurden oder
nicht. Aber mit ihrer wachsenden Stärke hörte diese angenehme
Verantwortungslosigkeit auf. Jetzt hatte man sich zu überlegen, ob man
für ein etwaiges Scheitern solcher Gesetzesarbeit die Verantwortung auf
sich nehmen könne und dürfe.

Mehr noch: In einem Lande, das parlamentarische Republik war, geschah
es, daß in einer großen politischen Krisis ein Sozialist, der bis dahin
einer der Führer der sozialistischen Kammerfraktion war, eine Stelle als
Regierungsmitglied annahm, d. h. Minister wurde. Das Land war Frankreich
und die Persönlichkeit der Abgeordnete Alexandre Millerand; er ließ sich
im Jahre 1900, als der Kampf zwischen der Republik und den
antirepublikanischen Parteien zu einer starken Höhe gediehen war, dazu
bewegen, eine Stellung in dem Ministerium Combes anzunehmen. Das gab zu
einem außerordentlich heftigen Streit Anlaß, der in allen Ländern, wo es
sozialistische Parteien gab, ein Echo fand, und in Frankreich selber zu
einer Spaltung der Partei führte. Die Frage wurde dann auf dem Kongreß
der wiederbelebten sozialistischen Internationale, der in Paris zur Zeit
der Weltausstellung von 1900 stattfand, eingehend erörtert. Ein Flügel
der französischen Sozialisten, dessen Führer der große Jean Jaurès war,
war zwar mit der Art, wie der Eintritt Millerands ins Ministerium
zustande gekommen war -- er war nicht nach einem sorgfältig beratenen
Beschluß der Partei erfolgt, sondern der Partei geradezu aufoktroyiert
worden --, nicht einverstanden, hielt ihn aber unter den gegebenen
Umständen sachlich für gerechtfertigt, während ein anderer, Marxisten
oder, nach seinem Führer Jules Guesde, Guesdisten genannter Flügel, in
ihm eine Verletzung der Grundsätze des proletarischen Klassenkampfes
erblickte und bekämpfte. Eine leidenschaftliche, auch sehr interessante
Debatte fand statt, am Schluß aber ward mit 29 gegen 9 Stimmen (unter
letzteren die der Fraktion der Guesdisten) eine Kompromißresolution
angenommen, an deren Ausarbeitung der hervorragende Theoretiker Karl
Kautsky mitgewirkt hatte und der Berichterstatter der betreffenden
Kommission wurde, weshalb die Resolution dann auch den Namen Resolution
Kautsky erhielt. Sie ist bedeutungsvoll für die damalige Stellung der
Sozialisten nicht nur zum parlamentarischen Kampf, sondern auch zur
Regierungsbildung und hat daher auf wörtliche Wiedergabe Anspruch. Sie
lautet:

  »Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat kann in
  einem modernen demokratischen Staate nicht das Werk eines bloßen
  Handstreiches sein, sondern kann nur den Abschluß einer langen und
  mühevollen Arbeit der politischen und ökonomischen Organisation des
  Proletariats, seiner physischen und moralischen Regenerierung und der
  schrittweisen Eroberung von Wahlsitzen in Gemeindevertretungen und
  gesetzgebenden Körperschaften bilden.

  Aber die Eroberung der Regierungsgewalt kann dort, wo diese
  zentralisiert ist, nicht stückweise erfolgen. Der Eintritt eines
  einzelnen Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium ist nicht als
  der normale Beginn der Eroberung der politischen Macht zu betrachten,
  sondern kann stets nur ein vorübergehender und ausnahmsweiser
  Notbehelf in einer Zwangslage sein.

  Ob in einem gegebenen Falle eine solche Zwangslage vorhanden ist, das
  ist eine Frage der Taktik und nicht des Prinzips. Darüber hat der
  Kongreß nicht zu entscheiden. Aber auf jeden Fall kann dieses
  gefährliche Experiment nur dann von Vorteil sein, wenn es von einer
  geschlossenen Parteiorganisation gebilligt wird und der sozialistische
  Minister der Mandatar seiner Partei ist und bleibt.

  Wo der sozialistische Minister unabhängig von einer Partei wird, wo er
  aufhört, der Mandatar seiner Partei zu sein, da wird sein Eintritt in
  das Ministerium aus einem Mittel, das Proletariat zu stärken, ein
  Mittel, es zu schwächen, aus einem Mittel, die Eroberung der
  politischen Macht zu fördern, ein Mittel, sie zu verzögern.

  Der Kongreß erklärt, daß ein Sozialist ein bürgerliches Ministerium
  verlassen muß, wenn die organisierte Partei erklärt, daß es
  Parteilichkeit im ökonomischen Kampf zwischen Kapital und Arbeit
  bewiesen hat.«

Das war im Jahre 1900. In den Jahren 1902 und 1903 spielten lebhafte
Debatten über eine ähnliche Frage in Deutschland, von denen die des
letzteren Jahres wieder eine internationale Rückwirkung hatte.

Nach dem großen Wahlerfolg der deutschen Sozialdemokratie im Jahre
1903, der die Welt in Erstaunen setzte, weil die Stimmenzahl der Partei
mit einem Ruck von nicht ganz zwei auf drei Millionen gewachsen war (bei
einem damals noch etwas beschränkten Wahlrecht!) und 81
sozialdemokratische Abgeordnete in den Reichstag gekommen waren, war von
einer Seite -- ich kann es ruhig sagen: es war meine Persönlichkeit --
der Gedanke ausgesprochen worden, die Sozialdemokratie solle, da sie nun
das Recht habe, im Präsidium des Reichstags vertreten zu sein, die
Stelle eines Vizepräsidenten annehmen, auch auf die Gefahr hin, daß der
betreffende Vizepräsident gemäß dem damaligen Gebrauch des Reichstags
verpflichtet werden würde, an dem formalen Besuch, den das Präsidium des
Reichstags alle Jahre dem Monarchen machte, teilzunehmen. Das erregte
einen wahren Sturm in der Partei und hatte im Verein mit anderen, mehr
oder weniger verwandten Vorkommnissen zur Wirkung, daß im gleichen Jahre
1903 auf dem Parteitage der deutschen Sozialdemokratie in Dresden die
ganzen Streitfragen der Bewegung zur Verhandlung kamen, die eine -- ich
kann nicht sagen »Wandlung« in der Taktik der Partei anzeigten, denn die
Partei war tatsächlich schon auf dem Wege, sich immer mehr
parlamentarisch zu entwickeln --, deren Beantwortung im Sinne einer
reformistischen Politik aber dieser Entwicklung vielleicht etwas zu
vorzeitig den Stempel aufdrücken mußte. Die Auseinandersetzung mit
Vertretern dieser Richtung, die man damals _Revisionismus_ nannte,
beschäftigte den Parteitag in mehrtägiger Debatte, in deren Mittelpunkt
die Frage der parlamentarischen Politik stand. Am Schluß wurde eine
Resolution, die den Revisionismus verwarf, mit großer Mehrheit
angenommen -- nur wenige Personen stimmten dagegen, während die Mehrheit
der als Revisionisten geltenden Parteimitglieder es für gut fanden,
selbst für sie zu stimmen und dadurch zu zeigen, daß sie sich durch sie
nicht getroffen fühlten. Der Wortlaut der Resolution braucht an dieser
Stelle nicht wiedergegeben zu werden, da sie schon ein Jahr später -- im
Jahre 1904 -- auf dem Internationalen Sozialistenkongreß zur Sprache
kam, der in Amsterdam stattfand.

Auf diesem Internationalen Sozialistenkongreß wollte der Flügel, der
sich »Marxisten« nannte, die Dresdener Resolution für die ganze
Internationale verallgemeinern und stellte einen dementsprechenden
Antrag. Seine Gegner waren die jaurèsistische Fraktion der französischen
Sozialisten und verschiedene sozialistische Parteien und
Parteiminderheiten anderer Länder. Es gab über sie einen außerordentlich
intensiven und -- ich darf sagen -- fachlich bedeutsamen Streit,
dessen Krönung ein Rededuell im Plenum des Kongresses zwischen Jean
Jaurès und August Bebel über die Fragen der sozialistischen Politik war.
Jaurès sträubte sich mit allen Kräften dagegen, daß man eine Taktik, die
nach seiner Ansicht vielleicht für Deutschland paßte, nun
internationalisieren wollte. Er hielt den Deutschen vor: Ihr habt große
Erfolge erzielt durch eure Wahltätigkeit, habt einen gewaltigen
Parteiorganismus aufgebaut, aber ihr habt doch keine wirkliche Macht in
den großen Fragen eures Landes, weil ihr weder die eigentlich
revolutionäre, noch die parlamentarische Politik habt. Er stellte dem
entgegen, welchen bedeutsamen Einfluß in Frankreich die sozialistische
Partei durch ihre parlamentarische Tätigkeit ausgeübt habe, wie sehr sie
auf die Geschicke des Landes, auf die Regierungsbildung und auf die
Regierungspolitik eingewirkt habe. Mit Leidenschaft rief er aus, was
zwar nicht direkt zu der hier behandelten Frage gehört, aber seine
damalige Beurteilung der großen europäischen Fragen erkennen läßt und
daher in gedrängter Zusammenfassung hier wiedergegeben sei:

  »Woran die Welt leidet, was alle Völker Europas mit Besorgnis erfüllt,
  das ist die politische Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie. Ihr
  seid eine große, bewunderungswürdige Partei, aber ihr habt auf die
  Politik eures Landes keinen direkten Einfluß.«

Die Politik des kaiserlichen Deutschland wurde danach schon damals als
äußerst beunruhigend in Europa empfunden. In seiner rednerisch nicht
minder wirksamen Antwort ging Bebel auf diese Frage nicht ein, sondern
wies nur auf die Erfolge in der Reformgesetzgebung hin, welche die
Sozialdemokratie in Deutschland indirekt durch den Druck von unten
erzielt habe. Er trug den Sieg davon. Trotz Jaurès' Widerspruch wurde
mit 19 gegen 5 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen der Antrag angenommen,
der die Dresdener Resolution internationalisierte. Ihre grundlegenden
Sätze lauten:

  »Der Kongreß verurteilt aufs entschiedenste die revisionistischen
  Bestrebungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem
  Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle
  der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner
  eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge
  tritt. Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, daß
  aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der
  bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung
  hinarbeitet, also im besten Sinne des Wortes revolutionär ist, eine
  Partei wird, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen
  Gesellschaft begnügt. Daher ist der Kongreß im Gegensatz zu den
  vorhandenen revisionistischen Bestrebungen der Überzeugung, daß die
  Klassengegensätze sich nicht abschwächen, sondern stetig verschärfen.«

Das »daher« ist hier etwas seltsam, da eine Beweisführung für das
Behauptete gar nicht vorausgeschickt ist. Die Resolution fährt fort und
erklärt:

  1. »daß die Partei die Verantwortlichkeit ablehnt für die auf der
  kapitalistischen Produktionsweise beruhenden politischen und
  wirtschaftlichen Zustände, und daß sie deshalb jede Bewilligung von
  Mitteln verweigert, welche geeignet sind, die herrschende Klasse an
  der Regierung zu erhalten;

  2. daß die Sozialdemokratie gemäß der Resolution Kautsky des
  Internationalen Sozialistenkongresses zu Paris im Jahre 1900 einen
  Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft
  nicht _erstreben_ kann.«

Das wäre der Hauptteil dieser Resolution. Ich enthalte mich jeder
weiteren Kritik -- ein kritisches Wort habe ich bereits einflechtend
angedeutet. Auch hier kann man sich, wie immer man zu den behaupteten
Sätzen steht, der einen Bemerkung nicht verschließen: der logische
Zusammenhang zwischen Behauptung und Folgerung ist schwer zu finden. Die
Revisionisten, die für die Dresdener Resolution gestimmt hatten,
erklärten: Ihr unterstellt der revisionistischen Bewegung etwas, was gar
nicht in ihr liegt, ihr bekämpft etwas, was die Revisionisten gar nicht
wollen! Das traf für die zwei ersten Sätze der Resolution zu. Aber auf
der anderen Seite war doch behauptet worden, die Klassenkämpfe
verschärften sich, die Partei könne keinen Anteil an der Regierung
nehmen, ehe nicht die Sozialdemokratie die politische Macht erlangt
habe. Die Sozialdemokratie müsse also überall festhalten an der
intransigenten Haltung.

Jedoch die Geschichte ging weiter ihren Gang. Je mehr die
Sozialdemokratie anwuchs und in den verschiedenen Ländern sich die
politischen Einrichtungen demokratisierten, stellte sich die
Folgewirkung heraus -- sie war gar nicht zu umgehen --, daß die
Teilnahme der Sozialisten an der Arbeit der Parlamente eine zunehmend
positivere wurde. Ihr Einfluß wuchs, und es drängte sich die Frage, die
schon früher einmal aufgetaucht war, mit neuer Intensität auf: wie soll
sich die Sozialdemokratie in den Parlamenten verhalten, wenn die
_Landeshaushalte zur Abstimmung_ kommen? Wenn in der Tagung des Parlaments
unter Mitwirkung der Sozialisten eine Reihe von Reformen und
Verbesserungen durchgesetzt sind, soll dann die Sozialdemokratie den
Landeshaushalt ablehnen und damit unter Umständen bekunden, daß ihre
Stimmen im Grunde wertlos sind, daß sie nicht die Konsequenzen ihrer
Haltung zieht, und damit etwa den Parteien, die jene Fortschritte
bekämpft hatten, in die Hände spielen? So stellte sich verschiedentlich
in Süddeutschland die Frage. In einigen süddeutschen Staaten waren die
Sozialdemokraten zu ziemlichem Einfluß gelangt und beanspruchten nun für
sich das Recht, den Landeshaushalt zu bewilligen. In einem Staat --
Hessen -- lagen obendrein die Dinge so, daß, wenn das neue Budget nicht
bewilligt wurde, das alte Budget in Kraft blieb. In einem Jahr war mit
Hilfe der sozialdemokratischen Abgeordneten eine Steuerreform
beschlossen worden, und wenn nun die Sozialdemokraten das auf Grund
ihrer Stellungnahme aufgestellte Budget ablehnten, wäre die Folge
gewesen, daß mit ihren Stimmen und denen der Konservativen (die mit der
Steuerreform nicht einverstanden waren), da sie zusammen die Mehrheit
bildeten, das neue Budget verworfen wurde, die ganze Reformarbeit der
Session umsonst gemacht war und die alten Steuern bestehen blieben.
Unter diesen Umständen glaubte die sozialdemokratische Fraktion des
Landtages das Budget bewilligen zu müssen. Aber nicht überall lag die
Sache so klar, daß sich die Bewilligung jedem als eine von
grundsätzlichen Fragen der Politik unabhängige Notwendigkeit darstellte,
und so gab die Frage der Budgetbewilligungen zu lebhaften Kämpfen auf
verschiedenen Kongressen der deutschen Sozialdemokratie Anlaß. Da nun in
Deutschland Preußen allein über drei Fünftel der Bevölkerung umfaßt, in
Preußen aber die Sozialdemokratie durch das dortige Klassenwahlrecht
davon ausgeschlossen war, auf die Beschlüsse des Landtags einen
unmittelbaren Einfluß auszuüben, erhielt die dadurch sich den
Sozialdemokraten Preußens aufdrängende Stellung zur Budgetfrage auf den
Parteitagen ein so starkes Übergewicht, daß schließlich im Jahre 1910
auf dem Parteitag in Magdeburg eine Resolution angenommen wurde, die es
den Abgeordneten der Partei geradezu _verbot_, Budgets zu bewilligen, ein
Beschluß, dem sich nun verschiedene einzelstaatliche Organisationen der
Partei auch zu fügen versprachen.

Aber die Tätigkeit in den Parlamenten blieb, und es stellte sich doch
wiederum in der Praxis durch die Natur der Dinge heraus, daß die
Sozialdemokratie nicht bei ihm werde verharren können. Bei den
Reichstagswahlen des Jahres 1912 wuchs die Zahl ihrer Vertreter im
Reichstag auf 112 und gestaltete sich die Gruppierung der Parteien so,
daß bei Abstimmungen über wichtige Fragen es immer mehr auf die Stimmen
der Sozialdemokraten ankam und dadurch deren Verantwortung wuchs. Es kam
doch wiederholt vor, daß bei Abstimmungen über neue Gesetze oder
Novellen zu bestehenden Gesetzen, auch wenn sie nicht alles brachten,
was die Sozialdemokratie gefordert hatte, ja, wenn neben den
Verbesserungen einige von der Sozialdemokratie bekämpfte Bestimmungen
hineingebracht waren, die Verbesserungen aber wesentlich überwogen, die
Fraktion sich veranlaßt sah, ihnen doch zuzustimmen.[6]

   [6] Es sei mir gestattet, hier einer auf diese Veränderung
   bezüglichen Bemerkung zu gedenken, die August Bebel nur wenige Wochen
   vor seinem Tode mir gegenüber äußerte. Bei einem Krankenbesuch, den
   ich ihm machte, ehe er die ihm verhängnisvoll werden sollende Reise
   nach Passugg antrat, kamen wir in der Unterhaltung auf einen damals
   den Reichstag beschäftigenden Gesetzentwurf zu sprechen, der im
   ganzen eine Verbesserung der Arbeiterversicherung bedeutete, aber
   einige von der Partei bekämpfte Bestimmungen enthielt. Auf meine
   Frage, wie er sich unsere Schlußabstimmung denke, antwortete er sehr
   entschieden: »Annehmen! Die Zeiten sind vorbei, wo wir um solcher
   Mängel willen uns das Ablehnen gestatten durften«.

Dann brach Anfang August 1914 der Krieg aus, und die Entscheidung,
welche die Mehrheit der Fraktion in der Frage der _Bewilligung der
Kriegskredite_ traf, trug einen neuen Streitfall in die Sozialdemokratie
hinein, schlug aber zugleich auf ihre Stellung zum Parlament und zur
Regierung zurück. Die bewilligende Mehrheit der Partei kam damit eine
Zeitlang in eine Beziehung zur Regierung, die sich ganz wesentlich von
dem Verhältnis unterschied, das bis dahin in Deutschland zwischen
Regierung und Sozialdemokratie obwaltet hatte. Sie hielt indes nicht bis
zum Schluß vor. Die Unfähigkeit der kaiserlichen Regierung, der
erschöpften Nation den Frieden zu verschaffen, führte zur Revolution,
und die Sozialdemokratie wurde nun selbst Regierung, beziehungsweise im
eigentlichen Sinne des Wortes Regierungspartei. Dies führte eine neue
Streitfrage herbei: die Frage der Regierungskoalition.

Auf sie wird in anderem Zusammenhange einzugehen sein. Das hier
Vorgeführte, dem Gleichartiges aus anderen Ländern zur Seite gestellt
werden kann, veranschaulicht auf das deutlichste den Satz, daß das
stärkere Eindringen der Sozialdemokratie in die Parlamente unvermeidlich
ihre parlamentarische Tätigkeit auch qualitativ ändert. Es vollzieht
sich das nicht ohne innere Kämpfe, nicht ohne zeitweilige Rückschläge.
Aber die Dynamik der Dinge, so möchte ich es ausdrücken, treibt doch
immer wieder zu der notwendigen Konsequenz. Es geht hiermit, wie es ein
von mir auch sonst zitierter Spruch des berühmten Kirchenhistorikers
Karl Hase anzeigt: »Der Sieg einer Idee ist die Korruption der Idee«,
d. h. wenn eine Idee siegt (das bezieht sich bei Hase auf das
Christentum), dann paßt sie sich an die geschichtlich gegebenen
Verhältnisse an, das heißt, macht sie diesen Verhältnissen
Zugeständnisse -- und das ist in wissenschaftlichem Sinne Korruption. So
könnte man auch sagen, je nachdem man zu den Fragen Stellung nimmt, daß
in der Tat die parlamentarische Tätigkeit der Sozialdemokratie, die ja
eine auf Siegen gestützte Tätigkeit war, wenn sie ihr auch noch nicht
den vollen Sieg brachte, daß diese parlamentarische Tätigkeit zu
Anpassungen an die realen Verhältnisse führte, die eine sich der
parlamentarischen Tätigkeit enthaltende Bewegung nicht zu machen
braucht. Nur ist es mehr als fraglich, ob eine politische Bewegung, die
dem Parlamente fernbleibt, in einem parlamentarisch regierten Lande
jemals mehr als eine Sekte bilden wird, jemals die Bedeutung erlangen
wird, zu der die Sozialdemokratie es gebracht hat.

Bei alledem soll indes durchaus nicht verschwiegen werden, daß der
Parlamentarismus auch seine Kehrseiten hat! Mit der parlamentarischen
Betätigung ist nicht nur eine Korruption der Idee im vorentwickelten
Sinne verbunden -- eine solche Korruption kann für die Bewegung einen
Fortschritt gegenüber der abstrahierenden Theorie, einen Gewinn an
realistischer Erkenntnis bedeuten --, unter Umständen ist mit ihr auch
die Gefahr einer Korruption der politischen Moral verbunden. Je mehr
Parteien Macht erlangen, namentlich in parlamentarisch regierten
Ländern, desto mehr haben sie Einfluß auf die Vergebung von Stellungen.
Man erinnere sich, was darüber Eingangs mit Bezug auf England im
18. Jahrhundert ausgeführt wurde, man halte sich vor Augen, was in bezug
auf politische Korruption in den Vereinigten Staaten offenes Geheimnis
ist, und es wäre Verblendung, wollte man sich verhehlen, daß auch bei
uns mit dem parlamentarischen Regierungssystem Möglichkeiten der
Korruption gegeben sind. Man muß schon deshalb sich dies
vergegenwärtigen, um den Sinn für die Schaffung von Korrektiven gegen
die Gefahr nicht erschlaffen zu lassen. Denn die Sozialdemokratie kann
nicht um der mit ihr verbundenen Gefahr auf die Sache selbst verzichten.
Ist doch das Leben überhaupt ein großer Korruptor.

Welches sind aber die Korrektive gegen die Kehrseiten des
Parlamentarismus? Es gab eine Zeit, wo in der sozialistischen
Internationale die Ansicht verbreitet war, die sogenannte reine
Demokratie, wie sie in der Schweiz weite Verwirklichung gefunden hat,
nämlich die direkte Gesetzgebung durch das Volk, sei dieses Gegenmittel!
In Deutschland hatte schon früh der deutsche Sozialist Emil
Rittinghausen, der zeitweilig dem Reichstag als Abgeordneter der
Sozialdemokratie angehört hat, diese Idee in einer Reihe von Broschüren
verfochten, die auch in andere Sprachen übersetzt worden sind, und in
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat der französische
Sozialist Jean Allemane den Gedanken agitatorisch aufgegriffen und es
erzielt, daß sie dem Züricher Kongreß der sozialistischen Internationale
von 1893 in Gestalt eines Vorschlags vorgelegt wurde, der darauf
hinauslief, die Parlamente ganz abzuschaffen und durch die direkte
Gesetzgebung zu ersetzen. Er fand wenig Gegenliebe, denn was er wollte,
war eine einfache Unmöglichkeit! So etwas konnte in kleinen
schweizerischen Kantonen mit noch nicht hunderttausend Einwohnern, die
keine auswärtige Politik, keine großen Probleme zu lösen haben,
durchführbar sein. Aber in einem großen Staatswesen mit Millionen von
Einwohnern, mit einer Ausdehnung wie Frankreich oder Deutschland oder
Preußen, alle Aufgaben der Gesetzgebung und Staatsleitung durch direkte
Volksabstimmung regeln zu lassen, stößt sich schon an den Gesetzen --
wie ich es vorher ausgeführt habe -- von Raum und Zahl. Um die Menge der
damit verbundenen Arbeit zu bewältigen, würden die Staatsbürger eines
solchen Landes an jedem Abstimmungstag über ganze Bögen von Vorlagen
abzustimmen haben, von denen sie die meisten gar nicht überdenken
könnten, weil unmöglich jeder von ihnen das nötige Verständnis von der
Tragweite jeder einzelnen haben kann. Hier liegt schon deshalb nicht der
Ersatz für den Parlamentarismus, auch spricht gegen den direkten
Volksentscheid in großen Staatswesen die Erwägung, daß, wo Millionen
abstimmen, bei dem einzelnen der Abstimmenden das Gefühl für die
Verantwortung, die in der Abgabe der Stimme liegt, naturgemäß nur gering
sein kann. Über alle diese Fragen hat damals Karl Kautsky, ein nach
meiner Ansicht sehr lesenswertes Buch geschrieben, das den Titel trägt:
»Parlamentarismus, direkte Gesetzgebung und Sozialdemokratie«. Ferner
hat meine Wenigkeit außer in dem Aufsatz »Die sozialpolitische Bedeutung
von Raum und Zahl« die Fragen in der Broschüre »Parlamentarismus und
Sozialdemokratie« behandelt, wo ich ähnliche Gedanken entwickelt habe,
wie sie hier dargestellt wurden und einige Folgerungen hinsichtlich der
Zukunft des Parlamentarismus gezogen habe, der ja schwerlich das letzte
Wort der Entwicklung sein wird.

Von den vielen gegen seine Auswüchse vorgeschlagenen Korrektiven kommt
unzweifelhaft an hervorragender Stelle in Betracht das Mittel der
Beschränkung der Übergriffsmöglichkeiten der Zentralgewalt durch
Stärkung der örtlichen und bezirklichen Selbstverwaltung und
Demokratisierung dieser Verwaltungskörper. Ein Gedanke, dem, wie früher
bemerkt, mit starken Übertreibungen Proudhon in seiner Schrift über den
»Föderalismus« Form gegeben, aber auch Karl Marx in seiner Schrift »Der
Bürgerkrieg in Frankreich« weitgehend Rechnung getragen hat. Aus dieser
letzteren Schrift sei hier ein Satz noch einmal zitiert:

  »In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune
  nicht die Zeit hatte weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß
  die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein und
  daß das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äußerst
  kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die Landgemeinden eines jeden
  Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine
  Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und
  diese Abgeordneten dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation nach
  Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an
  die Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein.«

Und Marx selbst sagt dazu: »Die Kommunalverwaltung würde dem
gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die
bisher der Schmarotzerauswuchs »Staat« ... aufgezehrt hat.«

Also auch er will eine starke Entwicklung der örtlichen und der
bezirklichen Selbstverwaltung, die leichter zu übersehen sind, und dann
von unten auf einen föderativen Bau, dessen letzte Instanz -- der aber
dann die erstgenannten Instanzen die Aufgaben zuweisen und nicht etwa
dieser jenen -- die Zentralbehörde bilden sollte. Ob solcher nationale
Aufbau auf der gegenwärtigen Stufe der sozialen Entwicklung sich als
möglich erweisen und die erwarteten Ergebnisse haben würde, scheint mir
zweifelhaft, aber der Hinweis auf die Notwendigkeit einer weitgehenden
Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung ist sicher ein sehr
beachtenswerter Gedanke, der ja auch bis zu einem gewissen Grade bereits
Verwirklichung gefunden und manche guten Früchte gezeitigt hat. Diese
örtlichen Selbstverwaltungskörper sind Zwangsgenossenschaften genannt
worden, weil jeder Orts- bzw. Bezirksbewohner von Gesetzes wegen ihnen
angehört, ob er will oder nicht. Zu ihnen treten als Verwaltungsorgane
hinzu die freien Genossenschaften, die heute auf verschiedenen Gebieten
bedeutsame Funktionen erfüllen und Teile der öffentlichen Verwaltung
werden. Als solche haben sich Anerkennung erzwungen die Organisationen
der Arbeiter, so sehr sie im Anfang verhaßt waren, an erster Stelle die
Gewerkschaften der Arbeiter, dann aber auch die Konsumgenossenschaften
der Arbeiter und die freien Verbindungen für Zwecke der körperlichen und
kulturellen Entwicklung. Indes auch Genossenschaften anderer Klassen --
man denke an die ländlichen Genossenschaften -- erfüllen
gesellschaftliche Funktionen und sind damit ein Stück der großen
Selbstverwaltung der Gesellschaft. Das macht sich nicht nach einem
einzigen Schema, das gestaltet sich auf verschiedenen Wegen, aber die
administrative Selbständigkeit der Bevölkerung nimmt zu, die Regierung
von oben nimmt an Bedeutung ab, wenngleich -- das muß denen gesagt
werden, die glaubten, den Staat abschaffen zu können -- sie nicht
verschwindet. Zentrale Gesetzgebungs- und Verwaltungsfunktionen werden
noch auf ziemliche Zeit bestehen bleiben. Nur schrittweise übernimmt die
Selbstverwaltung von ihr Funktionen auf Grund der gemeinsam geschaffenen
Gesetze. Das Parlament wird nicht in Bausch und Bogen abgetan. Aber man
kommt zu einer Entwicklung, von der man hoffen darf, daß sie zu einem
großen Teil die Gefahren, die mit dem alten Parlamentarismus organisch
verbunden scheinen, immer mehr einengen und schließlich überwinden wird.
Man muß also verstehen, diese Fragen nicht dogmatisch, sondern als
Fragen der Entwicklung zu begreifen.

Will man erkennen, wie sich die Verwaltung mit dem Wachsen des Organismus
verändert, so kann man das beim Studium der Verfassungsgeschichte --
einfacher ausgedrückt der Geschichte der Statuten -- der
Arbeiterorganisationen verfolgen. Die Arbeiterorganisationen fangen
gewöhnlich an mit der extremsten Demokratie, meist mit der direkten
Gesetzgebung und Auswahl der Beamten durch die Mitgliederversammlung. Je
mehr sie aber wachsen, sind sie gezwungen, Vertretungskörper zu bilden
und den Vertretungen bestimmte Macht- und Leitungsbefugnisse zu
übertragen. Die Masse hat dann nur noch vermittelst ihrer
Vertrauensmänner eine Art ständiger Kontrolle auszuüben. Die
Organisation selbst aber gestaltet sich zu einem Organismus, der eine
Art demokratischen Staat darstellt. An der freien Arbeiterbewegung zeigt
sich, wie das ziffernmäßige Wachstum, die größere Quantität die
gleichberechtigten Genossen selbst zur qualitativen Änderung der
Verfassung ihrer Organisation zwingt. Wer das nicht begreift und nicht
die sich daraus ergebenden Folgerungen anerkennt, der wird auch nie
begreifen, was in dem Wort wissenschaftlicher Sozialismus liegt. Dieser
ist, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, soziologische
Entwicklungslehre, das heißt die Auffassung der sozialistischen Bewegung
als eine Bewegung, die in ihrem Fortgang sich selbst gestaltet und dabei
eng abhängt von den organischen Gesetzen sozialer Entwicklung. Eine
Erkenntnis, die heute wiederum Streitgegenstand geworden ist im
Sozialismus der Gegenwart, und zwar auf die Tagesordnung gesetzt durch
das Erscheinen des sogenannten Bolschewismus; und mit dieser Frage
wollen wir uns nunmehr befassen.




Achtes Kapitel.

Die bolschewistische Abart des Sozialismus.


Was sind die Grundgedanken der Doktrin, die wir als Bolschewismus kennen
gelernt haben? Worauf fußt sie?

Im ersten Band seines großen Werkes »Das Kapital« schildert Karl Marx im
25. Kapitel, sechster Abschnitt, der sich mit der Genesis der
industriellen Kapitalisten befaßt, die verschiedenen Methoden der
sogenannten »ursprünglichen Akkumulation« des Kapitals, d. h. der
ursprünglichen Bildung von Kapital. Gegenüber den Darstellungen der
bürgerlichen Ökonomen, welche die Bildung von Kapital auf »Ersparnis«,
beziehungsweise Sparen zurückführen, weist Marx nach, daß das Kapital
auf ganz andere Weise entstanden ist, und schreibt hinsichtlich der
Methoden dieser wirklichen ursprünglichen Akkumulation des Kapitals:

  »In England werden sie am Ende des 17. Jahrhunderts systematisch
  zusammengefaßt in Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernem
  Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhen zum Teil
  auf brutalster Gewalt, wie das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die
  Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der
  Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die
  kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die
  Übergänge abzukürzen. _Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten
  Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie ist selbst eine
  ökonomische Potenz._«

Der hier gesperrte Schluß dieses Satzstücks hat in der sozialistischen
Bewegung unserer Zeit bei Parteien, die ihre theoretische Erkenntnis
direkt von Marx ableiteten, eine eigenartige Rolle gespielt. Von
französischen Sozialisten, die sich Marxisten nannten, und deren einer
Führer Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, der andere, Jules
Guesde, mit Marx befreundet war, ward er in dogmatischer Auslegung als
Beweis dafür propagiert, daß alle sozialistische Tätigkeit auf die
Eroberung der politischen Macht durch Revolutionsgewalt abzielen müsse.
Es ist aber zu bemerken, daß Marx in dem Satz einfach eine
geschichtliche Tatsache konstatiert, aber keine Formel für die
unmittelbare Anwendung aufstellt.[7]

   [7] Wie wenig Marx mit der Auslegung einverstanden war, die Lafargue
   seinen Feststellungen gab, geht aus seinem Brief an Friedrich Engels
   vom 11. November 1882 hervor. Dort schreibt Marx dem Freunde, daß
   Lafargue in Wirklichkeit Schüler des Russen Bakunin sei, und ruft
   ärgerlich aus: »Longuet (der andere Schwiegersohn von Marx) als
   letzter Proudhonist und Lafargue als letzter Bakunist! =Que le diable
   les emporte!=«

Aus dieser Feststellung einer geschichtlichen Tatsache macht indes die
Fraktion der russischen Sozialisten, die sich Bolschewiki nennen, einen
Imperativ der ganzen sozialistischen Politik: Wir müssen die Gewalt
haben, um die neue Gesellschaft zu errichten, anders geht es nicht,
unser ganzes Sinnen und Trachten muß auf die Eroberung der politischen
Macht gerichtet sein. Eine Auffassung, die sich freilich auf bestimmte
Stellen im Kommunistischen Manifest stützen konnte. Dort heißt es z. B.
am Schluß, wo von der Erringung der politischen Macht durch das
Proletariat die Rede ist:

  »Wir sahen schon oben, daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution
  die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung
  der Demokratie ist.

  Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der
  Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle
  Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als
  herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und
  die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.

  Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittels despotischer
  Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen
  Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch
  unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Laufe der Bewegung
  über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen
  Produktionsweise unvermeidlich sind.«

Dann werden eine Reihe von Maßnahmen aufgezählt, die gewissen Maßnahmen
des Bürgertums in früheren Revolutionen entsprechen. Im weiteren berufen
die Verfechter der geschilderten Denkweise sich auf eine Stelle in dem
Brief von Karl Marx über den Entwurf zum Einigungsprogramm der deutschen
Sozialdemokratie von 1875, dem Entwurf des Gothaer Programms. Dort sagt
nämlich Marx:

  »Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft
  liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die
  andere. Ihr entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren
  Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des
  Proletariats.«

Auch dieser Satz wird von den Bolschewisten, wie man das Wort
Bolschewiki ins Deutsche übernommen hat, dogmatisch ausgelegt. Diese
Partei, die heute als Partei der russischen Kommunisten an der Spitze
der dritten oder kommunistischen Internationale steht, hat sich früher
auch Partei der Maximalisten genannt. Im Streit der russischen Marxisten
untereinander hatten sich zwei Richtungen ausgebildet: die eine wollte
den Kampf der Sozialdemokratie Rußlands mit einem Programm
sozialistischer Mindestforderungen (»Minimumprogramm«) führen, ähnlich
wie es seinerzeit die französischen Marxisten mit einer für sie von Marx
verfaßten Einleitung ausgearbeitet hatten, die anderen vertraten den
Standpunkt, man müsse ein Maximum von Forderungen aufstellen und es der
Bewegung als eine Art Fanal ständig vorhalten. Von diesen zwei
Richtungen ist die letztere eben die der Bolschewisten, während die
erstere Fraktion oder Partei der Menschewisten genannt wird --
Benennungen, die den Begriffen mehr und minder entsprechen, die man
teils auf die Höhe der Forderungen, teils auf das Zahlenverhältnis der
Anhänger bezieht. Der Streit lief zum großen Teil in ein scholastisches
Ausspielen von Aussprüchen von Marx aus, wobei die eine Seite die
Tatsache ignorierte, daß die ganze Marxsche Lehre vornehmlich
Entwicklungslehre ist und Marx selbst im Laufe der Jahre eine
Entwicklung durchgemacht hat. Engels hat wiederholt anerkannt, daß ihm
und Marx in der ersten Epoche ihres Schaffens bedeutungsvolle Irrtümer
über Schnelligkeit und den Gang der Entwicklung unterlaufen sind. Ist
dadurch aber die Marxsche Lehre selbst abgetan? Sicherlich nicht. Das
Große, Bleibende am Marxismus, was über allen Einzelanwendungen steht,
ist eben die Tatsache, daß der Marxismus der sozialen Entwicklungslehre
eine neue, in ihrem Hauptgedanken, der Theorie vom bestimmenden Einfluß
der Produktionsweise, unerschütterte Grundlage gegeben hat. Marx hat den
organischen Entwicklungsgedanken seiner Lehre wiederholt sehr bestimmt
zum Ausdruck gebracht. So im Vorwort zu seiner 1859 erschienenen Schrift
»Zur Kritik der politischen Ökonomie«, so aber auch 1866 im Vorwort zum
»Das Kapital«. Im letzteren sagt Marx, was sehr bemerkenswert für seine
Anschauungsweise ist, selbst den herrschenden Klassen der Gegenwart
dämmere die Erkenntnis auf, daß die jetzige Gesellschaft »kein fester
Kristall«, sondern »_ein umwandlungsfähiger und ständig in der Umwandlung
begriffener Organismus_« sei.

Hier ist der Gegensatz der Grundanschauungen angezeigt, der die große
Mehrzahl der sozialdemokratischen Parteien unserer Tage von der Partei
der Bolschewisten und ihren westeuropäischen Nacheiferern unterscheidet.

Die bolschewistische Partei ist hervorgegangen aus der marxistischen
Schule des russischen Sozialismus, wobei es bemerkenswert ist, daß
gerade die drei Persönlichkeiten, die man als die eigentlichen Stifter
dieser Schule bezeichnen kann, der verstorbene Georg Plechanow, die
soeben verstorbene Vera Sassulitsch und der noch lebende Paul Axelrod,
Gegner der Bolschewisten waren beziehungsweise Axelrod ein solcher ist.
Wenn ich oben bemerkte, daß die Bolschewisten bei ihrer Berufung auf
Marx vielfach scholastisch vorgehen, so will ich hinzufügen, daß ich als
Scholastik diejenige Geistesrichtung oder Geistestätigkeit betrachte,
die darauf gerichtet ist, für schon feststehende Lehrsätze oder Gedanken
die Beweise oft mit erzwungenen Deutungskünsten deduktiv zu erbringen,
wobei das induktive Moment, die Prüfung an den Tatsachen,
außerordentlich zu kurz kommt, wenn es nicht ganz unerörtert bleibt. Nun
ist gerade die wesentliche Eigenschaft der sozialen Entwicklungslehre
von Marx und Engels, daß sie den Ton legt auf den engen, man kann hier
mit größtem Recht sagen, auf den _organischen_ Zusammenhang des
Politisch-Sozialen mit den Tatsachen der _ökonomischen_ Entwicklung, das
heißt, der _Produktionsverhältnisse_. Von diesem Standpunkt aus haben die
Verfasser des Kommunistischen Manifests, so revolutionär sie für ihre
Zeit dachten und wie rückhaltlos sie für die kommunistischen Ideen des
vorgeschrittenen Flügels der Arbeiterbewegung ihrer Tage Partei
ergriffen hatten, doch schon, als sie ihre Theorie ausarbeiteten,
Stellung genommen gegen radikale Sozialisten ihrer Tage, die für
revolutionäre Kommunisten galten, tatsächlich aber nur Anspruch hatten
auf die Bezeichnung als Utopisten der sozialistischen Revolution. Zu
ihnen gehörte der unzweifelhaft begabte, aber wissenschaftlich
ungeschulte deutsche Kommunist Wilhelm Weitling, der Verfasser der
Schrift »Garantien der Harmonie und Freiheit«, die 1842 erschien und von
Marx als sehr beachtenswert begrüßt wurde, was aber nicht hinderte, daß
Marx später sich scharf gegen Weitling wandte, als dieser in seiner
Agitation den Arbeitern mit übertriebenem Radikalismus den Kopf
verdrehte. Es ist das deshalb von Interesse, weil Weitlings Ideen mit
vielen Schlagworten Ähnlichkeit haben, die heute von Anhängern des
Bolschewismus den Arbeitern gepredigt werden.

Im Winter 1846/47 kam Weitling nach Brüssel, wo Marx und Engels damals
lebten und ihre große Theorie ausarbeiteten und polemisch verfochten.
Bei einem Besuch, den Weitling Marx machte, war der russische
Schriftsteller Annienkoff zugegen, und er schildert in seinen
Erinnerungen einen heftigen Zusammenstoß zwischen Marx und Weitling.
Weitling, der aus der Arbeiterklasse hervorgegangen war, berief sich
Marx gegenüber wesentlich darauf, wie überhaupt auf die Gefühlsseite
seiner Theorie, und es ist bemerkenswert, wie energisch Marx nach
Annienkoff Weitling gegenüber die Unerläßlichkeit konkreten
wissenschaftlichen Denkens betonte und einmal mit der Faust auf den
Tisch schlagend wütend ausrief: »_Noch niemals hat Unwissenheit jemandem
genützt!_«

Vier Jahre darauf, nach der Revolution, kam Marx in Konflikt mit seinen
früheren Kampfgenossen, die in ähnlicher Weise wie Weitling sich auf das
Gefühl und den Willen beriefen. Es war das die von Karl Schapper und
A. Willich geführte Fraktion des Kommunistenbundes. Der Gegensatz
wiederholte sich in den Jahren 1870 bis 1872 in der Internationalen
Arbeiterassoziation in dem Kampf von Marx gegen den russischen
sozialistischen Revolutionär Michael Bakunin, den, und noch mehr dessen
-- ich kann nicht sagen »Schüler« und nicht einmal »Genossen«, obwohl er
auf Bakunin großen Einfluß ausübte, aber -- zeitweiligen Mitkämpfer
Bakunins, den Studenten Netschajeff, der als ein Vorläufer des
Bolschewismus bezeichnet werden muß. Seine Ideen sind dargelegt und
kritisiert in der wesentlich von Friedrich Engels in Übereinstimmung mit
Marx verfaßten Schrift: »Ein Komplott gegen die Internationale«. Mit
äußerster Schärfe wendet diese sich namentlich gegen den
Revolutionsromantismus von Bakunin, den Netschajeff noch ins Extrem
übertrieben hatte, so daß eine Art Sozialismus im Sinne von Rinaldo
Rinaldini herauskam. Bakunin hatte speziell die russischen Räuber
verherrlicht und war soweit gegangen, zu erklären, man müsse die
Zuchthäuser öffnen, wenn man Revolution mache. Eine Spekulation auf
Elemente, die ohne Rücksicht auf Theorie und Moral usw. schlechthin sich
in Gegensatz zur geordneten Gesellschaft stellten. Die Abweisung solcher
Phantasien und die Betonung des Zusammenhanges der Entwicklung zum
Sozialismus mit der Entwicklung der Wirtschaft im allgemeinen, das heißt
zuletzt der Produktionsweise, ist der maßgebende Gedanke der Marxschen
Lehre. Hierfür ist der schon zitierte Satz aus dem Vorwort zu »Das
Kapital«, daß die jetzige Gesellschaft -- die Gesellschaft der liberalen
Ökonomie, »kein festes Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und
einem ständigen Prozeß der Umwandlung unterworfener Organismus« ist,
viel wichtiger als mancher andere Satz, der oft zitiert wird. In »Das
Kapital« sagt Marx an einer anderen Stelle, wo er von der
Fabrikgesetzgebung spricht und die Wirkung des Zehnstundentages auf die
Baumwollarbeiter von Lancashire schildert:

  »Dennoch hatte das Prinzip[8] gesiegt mit seinem Sieg in den großen
  Industriezweigen, welche das eigenste Geschöpf der modernen
  Produktionsweise. Ihre wundervolle Entwicklung von 1853 bis 1860, Hand
  in Hand mit der physischen und moralischen Wiedergeburt der
  Fabrikarbeiter schlug das blödeste Auge.«

   [8] Der gesetzlichen Begrenzung der Arbeitszeit. Ed. B.

Und im Zusammenhang mit dem vorher zitierten Satz im Vorwort sagt Marx:

  »In England ist der Umwandlungsprozeß (der soziale Umwandlungsprozeß)
  mit Händen zu greifen. Auf einem gewissen Höhepunkt muß er auf den
  Kontinent rückschlagen. Dort wird er sich in brutaleren oder humaneren
  Formen bewegen, je nach dem Entwicklungsgrad der Arbeiterklasse
  selbst. Von höheren Motiven abgesehen, gebietet also den jetzt
  herrschenden Klassen ihr eigenstes Interesse die Wegräumung aller
  gesetzlich kontrollierbaren Hindernisse, welche die Entwicklung der
  Arbeiterklasse hemmen. Ich habe deswegen u. a. der Geschichte, dem
  Inhalt und den Resultaten der englischen Fabrikgesetzgebung einen so
  ausführlichen Platz in diesem Bande eingeräumt. Eine Nation soll und
  kann von der anderen lernen.«

Auch das zeigt, darf ich sagen, einen stark reformistischen Einschlag in
der dem Gedankengang nach revolutionären Lehre von Marx. Je weiter er in
der geistigen Entwicklung fortschreitet, um so mehr findet bei ihm der
Gedanke des Zusammenhanges zwischen der ökonomischen Entwicklungshöhe
und den Möglichkeiten der politischen und rechtlichen Eingriffe
genaueren Ausdruck. Im Jahre 1875 sagt er in seinem Brief über den
Entwurf des Gothaer Programms der damaligen geeinten Sozialdemokratie:

  »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und die
  dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.«

Beim Bolschewismus nun -- ich betone nochmals: in seiner Doktrin! --
wird alles das ignoriert oder umgangen. Der Bolschewismus stützt sich
entweder auf das Kommunistische Manifest mit seinen lapidar
zugespitzten, aber der Frühperiode von Marx und Engels angehörigen
Aussprüchen, wo diese sich darin gefielen »=à épater le bourgeois=« -- dem
Bürgersmann etwas Verblüffendes zu sagen. Oder er gibt späteren
Aussprüchen von Marx unter Herausreißung aus dem Zusammenhang die
ungeschlachteste und vergröberteste Auslegung. So sagt Marx im
vorletzten Kapitel des ersten Bandes von »Das Kapital«, der die
geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation kennzeichnet:

  »Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung
  der Arbeit erreichen einen Punkt [nämlich im Verlauf der
  kapitalistischen Entwicklung. Ed. B.], wo sie unerträglich werden mit
  ihrer kapitalistischen Hülle. Die Stunde des kapitalistischen
  Privateigentums schlägt. Die Expropiateurs werden expropriiert.«

Also wenn die Entwicklung selber unverträglich wird mit der
kapitalistischen Hülle, dann werden die Expropriateurs -- Marx nennt die
Kapitalisten »Enteigner«, weil in der Konkurrenz die großen Kapitalisten
die kleinen enteignen --, enteignet, expropriiert. Aus diesem, eine
geschichtliche Perspektive zeichnenden Satz haben Bolschewisten den
Spruch gemacht: »Beraubt die Räuber!« und Arbeiter haben das
buchstäblich genommen und vielfach in drastischer Anwendung befolgt. Die
Unternehmer werden schlechthin, statt als ökonomische Enteigner, als
moralische Stehler, als Diebe hingestellt. Dies in direktem Gegensatz zu
Marx, der im Vorwort zu »Das Kapital«, wo er ausführt, daß in dem Buch
Kapitalist und Grundeigentümer nicht sehr gut davonkommen, nicht im
rosigen Lichte erscheinen, ausdrücklich sagt:

  »Es handelt sich aber da um eine Personifikation ökonomischer
  Kategorien. Weniger als der jedes anderen kann mein Standpunkt, der
  die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen
  naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich
  machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er
  sich auch subjektiv über sie erheben mag.«

In jeder Hinsicht, sage ich, hat in diesen Punkten die bolschewistische
Doktrin die Marxsche Lehre vergröbert, man könnte sagen: barbarisiert.
Die geschichtliche, also bis zu einer bestimmten Höhe der
wirtschaftlichen Entwicklung notwendige Funktion des Unternehmers als
treibendes Agens der Produktion ist bei ihr ausgelöscht -- auch dies
wiederum im Widerspruch mit Marx, der im dritten Band seines Buches »Das
Kapital«, den allerdings die wenigsten gelesen haben, in einem der
letzten -- dem 24. -- Kapitel, das von den Einkommensquellen handelt,
auseinandersetzt, daß Mehrarbeit überhaupt als Arbeit des Arbeitenden
über das Maß der gegebenen Bedürfnisse hinaus _immer bleiben müsse_, und
daran den schon zitierten Satz fügt:

  »Es ist eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals, daß es diese
  Mehrarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der
  Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Verhältnisse
  und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Neubildung
  vorteilhafter sind als unter den früheren Formen der Sklaverei und der
  Leibeigenschaft.«

Marx zeigt also wiederum, daß das Kapital, so scharf er es sonst
angreift, wichtige, den Fortschritt fördernde, er sagt ausdrücklich
_zivilisatorische_ Funktionen erfüllt in der Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft.

Über all das und die sich daraus für die Wirtschaftspolitik ergebenden
Folgerungen hat sich der Bolschewismus kühl hinweggesetzt und die Gewalt
als Allschöpferin behandelt. Bei führenden Bolschewisten findet man in
einer gewissen Steigerung -- mehr noch als bei Lenin bei Bucharin,
Sinowieff und anderen -- Sätze, wo der Gewalt einfach die Zauberkräfte
von Allheilmitteln zugeschrieben werden. Man brauche nur die Gewalt zu
haben, dann könne man die Entwicklung nach seinem Willen lenken! Hier
einige Beweise dafür:

Marx sagt -- das ist auch wieder wichtig -- 1859 im Vorwort zu dem Buch
»Zur Kritik der politischen Ökonomie«:

  »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle
  Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue
  höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die
  materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten
  Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.«

Im Vorwort zum ersten Band »Das Kapital« liest man:

  »Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die
  Spur gekommen ist -- und es ist der letzte Endzweck dieses Werkes, das
  ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen --,
  kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen _weder überspringen noch
  wegdekreditieren_. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und
  mildern.«

So Marx. Nun nehme man die Schrift von N. Bucharin: »Das Programm der
Kommunisten« (Bolschewiki) zur Hand. Dort wird frischweg die
sozialistische Revolution durch Diktatur der Arbeiterklasse in Rußland,
diesem im ganzen noch wenig entwickelten Lande, als eine Sache der
unmittelbaren Gegenwart mit der Bemerkung verkündet: »Diktatur der
Arbeiterklasse bedeutet die Staatsmacht der Arbeiterklasse, die die
Bourgeoisie und die Gutsbesitzer _erwürgt_« und gleich darauf:

  »Diese Macht der Arbeiter kann nur aus der sozialistischen Revolution
  der Arbeiterklasse erwachsen, die den bürgerlichen Staat und die
  bürgerliche Macht zerstört.«

Und das ist geschrieben in einem Lande, das bekanntlich einen
bürgerlichen Staat überhaupt noch nicht gehabt hat! Des weiteren heißt
es, die Diktatur müsse »eisern« sein, ein Wort, das, wie in dieser
Schrift, überhaupt unzählige Male in der Literatur des Bolschewismus
wiederkehrt und in brutalstem Sinne gedeutet wird. Einige Seiten darauf
liest man:

  »Wir sehen nun, daß eine Verletzung jeglicher Freiheiten in Beziehung
  auf die Gegner der Revolution notwendig ist. Es kann in der Revolution
  keine Freiheiten für die Feinde des Volkes und der Revolution geben.«

Als Feinde der Revolution werden aber nicht nur alle bürgerlichen
Parteien unterschiedslos hingestellt, sondern auch diejenigen
Sozialisten (Menschewisten und Sozialrevolutionäre), die auf einem
anderen Standpunkt stehen als die Bolschewisten. Es ist der extremste
Terrorismus, den man sich denken kann. In der Schrift von Leo Trotzki
»Die Sowjetmacht und der Internationale Imperialismus« -- ein Vortrag,
den Trotzki vor ungeschulten russischen Arbeitern gehalten hat -- liest
man:

  »In der Mitte aber würden die Politiker stehen, die sich bald nach
  links, bald nach rechts drehen. Das sind die Vertreter der Menschewiki
  und der rechtsstehenden Sozialrevolutionäre; sie würden sagen: »Die
  Macht muß zur Hälfte geteilt werden.««

Das erzählt er Arbeitern! Und er fährt fort:

  »Aber, Genossen, die Macht ist doch kein Laib Brot, den man in zwei
  Hälften schneiden, in vier Teile neu zerteilen kann.«

Welcher Vergleich und welche Verleugnung der Geschichte! Den Zweck zeigt
der folgende Satz. Trotzki doziert:

  »Die Macht ist das Instrument, mit dessen Hilfe eine bestimmte Klasse
  ihre Herrschaft befestigt. Entweder dient dieses Instrument der
  Arbeiterklasse oder es dient gegen die Arbeiterklasse.«

Damit ist die Entwicklung im Leben der Völker ausgestrichen, von einem
Gesellschaftszustand zum entgegengesetzten gibt es keinen Übergang,
keine Entwicklung, sondern nur die Umstülpung durch die Macht. Es geht
so weiter:

  »Hier gibt es keine Wahl. Solange es zwei Feinde gibt -- die
  Bourgeoisie und das Proletariat und mit ihm das ärmste Bauerntum --,
  und solange diese zwei Feinde gegeneinander kämpfen, können sie
  selbstverständlich nicht eine gemeinsame Waffe haben. Es ist doch
  nicht denkbar, daß eine Kanone zugleich wie der einen Armee so auch
  der anderen dienen kann.«

Um die Natur dieser Argumentation richtig einzuschätzen, muß man dessen
eingedenk bleiben, unter welchen Umständen sie vorgetragen wurde und
welches die Entwicklungshöhe des Landes war, in dem sie Arbeitern
eingeprägt wurde. Niemals haben Marx und Engels Arbeitern die politische
Frage in so kindisch-einfältiger Gegenüberstellung dargestellt. Selbst
als Deutschland schon wirtschaftlich auf wesentlich höherer Stufe stand
als das Rußland von 1918 -- von der kulturellen Entwicklung ganz zu
schweigen --, haben sie immer noch eine zeitweilige Unterstützung des
vorgeschrittenen Bürgertums durch die sozialistische Arbeiterschaft für
angezeigt erklärt.

Nach dem Muster der vorstehenden, dem Begriffsvermögen sehr naiver und
unentwickelter Leute angepaßter Deduktionen, die sich durch den ganzen
als Propagandaschrift in alle Sprachen übersetzten Vortrag ziehen und
mit ähnlich merkwürdigen Behauptungen über die Ursachen und wirkenden
Kräfte des Weltkriegs abwechseln, kommt Trotzki auf die Ausübung der
politischen Macht durch die Bolschewisten zu sprechen und erhebt mit
folgenden Argumenten Anspruch auf Entschuldigung für deren Mißgriffe:

  »Einige sagen: wozu habt ihr denn die Macht genommen, wenn ihr vorher
  nicht gelernt habt, sie anzuwenden? Wir aber antworten darauf: wie
  konnten wir das Tischlerhandwerk erlernen, wenn wir kein
  Tischlerwerkzeug in den Händen hatten? Um zu lernen, ein Land zu
  verwalten, muß man das Richtscheit in die Hand nehmen, muß man die
  Staatsmacht in die Hände nehmen. Noch hat niemand im Zimmer sitzend
  das Reiten gelernt. Um es zu lernen, muß man ein Pferd satteln und
  sich aufs Pferd setzen. Möglicherweise wird das Pferd sich bäumen und
  mehr als einmal oder auch mehr als zweimal einen herunterfallen
  lassen. Wir werden aufstehen, es wieder satteln und wieder reiten, und
  so werden wir es lernen.«

Wenn solches Probieren nur die Persönlichkeiten beträfe, die das Reiten
-- sprich Regieren -- lernen wollen, so könnte man sagen: gut und schön.
Aber mit einem ganzen Staatswesen in das Unbestimmte hinein gewalttätig
tiefgreifende Wirtschaftsexperimente machen in dem Gedanken, es könne
zwar auch falsch gehen, aber dann macht man es eben noch einmal, in
solcher Weise mit einem großen Volke verfahren, wobei unter Umständen
viele Hunderttausende dem Hunger, der Not, der Vernichtung ausgeliefert
werden, ist ganz etwas anderes. Es gibt für den Sozialreformer, den
Revolutionär, auch einen kategorischen Imperativ! Sich darum nicht
gekümmert, die wissenschaftliche Lehre der großen Denker, auf die sie
sich beriefen, dort, wo sie ihnen nicht paßte, in den Wind geschlagen zu
haben, ist bezeichnend für das fehlende Element in den Gedankengängen
der Bolschewisten.

Es fällt mir, indem ich das feststelle, nicht ein, die Beweggründe
der Bolschewisten irgendwie zu verdächtigen. Wie in jeder
Revolutionsbewegung gibt es natürlich auch in dieser eine große Zahl
Idealisten. Es gibt in ihr aber sicher auch andere Naturen. Indes lasse
ich dies Moment dahingestellt. Es handelt sich hier um die Doktrin, um
die Auffassungsweise und wie sie auf das Handeln der Bolschewisten
zurückwirkt. Da aber gerade zeigt sich, wie sehr sie abweichen von der
Auffassung des großen Meisters und Denkers Karl Marx! Sie geben fast gar
keine soziale Bedingtheit für ihre Aktion zu. Ihnen genügt es, daß
überhaupt mit etlicher Großindustrie auch ein Proletariat in dem Staate
da ist, stark genug, um bei Ergreifung der Gewalt die aktive Rolle zu
spielen. Aber sonst werden in den verschiedensten ihrer Schriften
diejenigen Sozialisten, ob Marxisten oder nicht, die eine gewisse Reife
des Proletariats und einen Reifegrad der ökonomischen Entwicklung als
Bedingung der sozialistischen Umgestaltung betonen, verhöhnt,
verspottet, oder aber beschimpft. Wie das letztere z. B. einem so, man
darf sagen, echten Marxisten wie Karl Kautsky geschehen ist, den Lenin
und Genossen, weil er ihre Methoden kritisiert hat, frischweg als
Renegaten hinstellen -- von meiner Wenigkeit will ich da ganz schweigen.

Der Bolschewismus kennt nahezu keine Grenzen des Willens in der
Geschichte. Es ist das Verhängnisvollste in der Politik der
Bolschewisten, daß sie tun, als ob es nichts dergleichen für den Willen
des revolutionären Reformers gäbe. In den Maximen ihrer Maßnahmen sind
sie weit mehr das Ebenbild des ursprünglichen Zarismus als das Ebenbild
des Marxismus; vom letzteren sind sie nur ein Zerrbild. Denn das
Bedeutungsvolle bei Marx ist ja gerade, daß seine und Engels Lehre eine
wissenschaftlich begründete Lehre ist von den Grenzen des Willens in der
Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Man hat diese Lehre daraufhin
oft fatalistisch genannt, das ist aber vollständig irrig. Der Marxismus
ist weit entfernt, die Bedeutung des Willens in der Geschichte zu
leugnen oder seine Notwendigkeit zu verkennen. Es hat einen
demokratischen Dichter gegeben, der seit langem vergessen ist, aber
einst viel gelesen wurde und manchen begeistert hat, der frühverstorbene
Friedrich von Sallet, der Verfasser des »Laienevangeliums«. In einem
seiner Gedichte »Geschichtliche Entwicklung« sang er in der Zeit
politischen Stillstandes in Deutschland:

    Man sagt uns: Jugend mit zu heißem Blute
    Auf schwärmerischem Schöpfungsdrang verzichte,
    Geschichtlich nur entwickelt sich das Gute, --
    _Doch sprecht, wo nichts geschieht, ist das Geschichte?_

Diesen Standpunkt erkennt Marx vollständig an, er entspricht seiner
Theorie ganz und gar. Aber was man tut, kann man nur durchsetzen im
Verhältnis der gegebenen Kräfte und Entwicklungsbedingungen.

Diesem Gegenstand hat Friedrich Engels in der Streitschrift gegen
Dühring einige bemerkenswerte Kapitel gewidmet, die gerade heute wieder
sehr aktuell geworden sind. Eines davon trifft ganz besonders auch die
Methode der Bolschewisten, sehr verschiedene Dinge auf äußerliche
Merkmale hin gleichzusetzen und der geschichtlichen Bedingtheit sozialer
Institutionen die nötige Beachtung zu versagen. Dühring hatte von der
griechischen Sklaverei gesprochen, auf der die ganze griechische Kultur
beruhte, und sie mit der Lohnarbeit gleichgesetzt. Darauf antwortet
Engels:

  »Wenn man sagt, die Lohnknechtschaft sei nur dasselbe wie die
  Sklaverei, dann könnte man auch sagen, die Menschenfresserei sei
  dasselbe wie die Lohnknechtschaft, denn das Ursprüngliche war nicht
  die Sklaverei, sondern daß man die Unterworfenen auffraß. Wie oft auch
  in der Geschichte die bloße Gewalt gegen die ökonomische Entwicklung
  war, -- entweder geht sie mir der ökonomischen Entwicklung, dann
  erfüllt sie ihren Zweck, oder sie geht gegen die ökonomische
  Entwicklung, dann unter Umständen wird der Zwang (namentlich wenn rohe
  Völker über kultivierte Völker herfallen) zum Ruin der ganzen Kultur,
  oder aber dann setzt sich doch im Laufe der Zeit das ökonomische
  Moment durch gegen die Gewalt, _die Gewalt unterliegt_.«

Nun, diese Erfahrung haben die Bolschewisten, wie sie selbst nicht mehr
bestreiten können, machen müssen: wo ihre Gewaltmaßnahmen die
ökonomische Bedingtheit unberücksichtigt ließen, haben sie elend
Schiffbruch gelitten. Die Kosten dieser Erfahrung aber hat leider das
russische Volk mit unendlich vielen Opfern bezahlen müssen.

Gerade das Großartige bei Marx und Engels ist die Begrenzung, die der
Wille in der Geschichte bei ihnen erfährt -- er erfährt sie nämlich nach
zwei Seiten hin, unter bestimmten Umständen gegen die Revolution, dann
aber auch wieder für die Revolution. Auf einem Blatt, das mir Friedrich
Engels aus dem Marxschen Nachlaß geschenkt hat, ein Stück aus dem ersten
Marxschen Entwurf (der nie gedruckt worden ist) zum Kommunistischen
Manifest, steht unter anderem ein Wort, das Marx den Vertretern der
alten Gesellschaft, die diese Gesellschaft für in ihrem Fundament
unzerstörbar erklären, zuruft: »Ihr seid nach rückwärts gekehrte
Utopisten.« Das soll heißen: Ihr wollt die Entwicklung aufhalten,
leugnet, daß es eine andere Gesellschaftsform geben könne über eure
hinaus, wollt behaupten, eure sei die letzte; aber wenn ihr das erklärt,
seid ihr nach rückwärts gekehrte Utopisten! Mit aller Schärfe betont der
Marxismus die Kraft des Willens. Er hält zwar die Arbeiter von
Unternehmen ab, je nachdem die dafür erforderlichen sachlichen
Vorbedingungen noch fehlen. Aber er feuert sie auch an und schützt sie
vor Entmutigung. Davon zeugt deutlich die vom Geist des Marxismus
beeinflußte Arbeiterbewegung. »Mit uns der Sieg!« ist ihr Leitmotiv, ist
das Gefühl: »Wir werden doch siegen! Wir vertreten die Sache der
Zukunft!« Die Ignorierung der Grenzen für die Macht des Willens aber ist
der verhängnisvolle Rechenfehler in der Politik des Bolschewismus. Er
erklärt ihre vielen wirtschaftspolitischen Fehlgriffe, die sie ja einen
nach dem anderen genötigt worden sind einzugestehen. Die
bolschewistische Politik ist eine fortgesetzte stümpernde
Experimentiererei. Eine ganze Literatur hat dafür erdrückende Beweise
erbracht. Gewiß findet man in den Erlassen und Entwürfen der
Bolschewisten vielerlei Bestechendes: großartige Pläne in bezug auf das
Erziehungswesen und die soziale Fürsorge, in bezug auf die Organisierung
der Produktion und Zirkulation, in bezug auf die Hebung und Verwertung
der Erdschätze und ähnliches mehr. Aber dergleichen ist auch sonst in
der Literatur des Sozialismus zu finden. Die Literatur der
sozialistischen Utopisten aus dem 18. und dem Anfang des
19. Jahrhunderts ist voll von oft großartigen Gedanken und sinnreichen
Entwürfen. Außerordentlich viel Geist und Intelligenz ist da
verschleudert, vieles auf dem Papier ausgezeichnet ausgedacht! Manches
hat auch im Laufe der Zeit Verwirklichung gefunden, wenn auch nicht in
dem Umfange und in der Art und Weise, wie die spekulierenden Verfasser
es sich gedacht hatten.

Für die Pläne der Bolschewisten fehlen aber in Rußland heute so ziemlich
alle Vorbedingungen, und zwar haben sie sie infolge ihrer Ignorierung
der geistigen Notwendigkeiten zum Teil selbst zerstört. So haben sie,
als sie zur Herrschaft kamen, die Arbeiter ermuntert, sich praktisch zu
Herren der Fabriken aufzuwerfen, aber ohne daß diese die ökonomische
Verantwortung übernahmen. Und das Resultat? Die Fabrikanten hielten es
nicht aus und die Fabriken gingen zugrunde! Die Arbeiter waren einfach
nicht imstande, sie selbständig zu leiten, sie waren nicht Unternehmer
und wollten es auch nicht sein. Mehr noch. Ein Teil der Arbeiter -- und
merkwürdig: gerade ein großer Teil der gelernten Arbeiter -- gingen
gleichfalls davon. In den eigenen Veröffentlichungen der Bolschewisten
kann man es lesen, daß ein großer Prozentsatz der gelernten Arbeiter
geradezu aus den Fabriken geflohen sind und auf das Land sich begeben
haben, um als Kleinhandwerker ihr Leben zu fristen.

Im Laufe von vier Jahren bolschewistischer Herrschaft sind die Städte
Rußlands um über ein Viertel in der Bevölkerungszahl gesunken, und auf
dem Lande gehen die Erträge des Bodens immer mehr zurück. Von der
Diktatur des Proletariats, die kaum formal noch besteht, ist man
gekommen zur faktischen Knechtung des Proletariats, und von der
»Erwürgung«, um mit Bucharin zu reden, der kapitalistischen Unternehmer
zur Züchtung einer Bureaukratie, wie sie kaum ein zweites Land in
gleichem Verhältnis im Staat und in der Industrie aufzuweisen hat.

Ich will mich darüber nicht ins einzelne verlieren. Es ist nicht meine
Absicht, den Bolschewisten Übles nachzusagen, ich behandle nur die
Fehler des Bolschewismus, weil seine Doktrin und Methoden heute wichtige
Streitfragen des Sozialismus sind. Die Tatsachen aber, die ich
summarisch hervorhebe, findet man in der bolschewistischen Literatur
selbst hervorgehoben, sie bilden dort den Gegenstand lebhafter
Diskussionen, weil man die Konsequenzen fürchtet. Bekannt ist ferner,
daß die Bolschewisten neue Kapitalisten geschaffen haben und
fremdländische ins Land ziehen. Sie sind einfach mit all ihrer
politischen Macht nicht Herren der Dinge. Eines können sie freilich;
gestützt auf ihre Garden können sie unterdrücken und knebeln, wo es
ihnen gefällt. Der Terrorismus wird noch ungeschwächt geübt. Aber das
verstanden auch die asiatischen Despoten und die afrikanischen Sultane.
Das Elend in Rußland wächst beständig, die Unterdrückung aller
politischen Freiheit dauert fort. Es kann kein sozialistisches Blatt
anderer Richtung erscheinen, die bürgerlichen Blätter gar nicht, nur
bolschewistische Blätter werden geduldet. Es gibt auch für
Andersdenkende keine Versammlungsfreiheit. Ertötet ist die freie
wirtschaftliche Schaffenskraft, die für Rußland einfach eine
Notwendigkeit ist, wenn es sich einigermaßen erholen soll.

Ein merkwürdiges Stück Wiederholung der altzarischen Despotie. Von
Nikolaus I., der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte und der
Hort der europäischen Reaktion war, wird erzählt, daß er, als die
Eisenbahnen aufkamen und er nun auch eine solche von Moskau nach
Petersburg haben wollte, sich eine Karte kommen ließ und einen geraden
Strich zog: So wird die Eisenbahn gebaut! Sie heißt noch jetzt die
Nikolai-Eisenbahn. Natürlich hat sie furchtbar viel gekostet. Die
Bodenverhältnisse, Sümpfe usw. waren von ihm ignoriert worden, und wie
es der Zar gewollt hatte, so mußte es gemacht werden. -- Ein Stück von
diesem Geist steckt auch in N. Uljanow Lenin. Die Folge ist zunehmende
wirtschaftliche Zerrüttung.

Überall, wo kein geordnetes Rechtsverhältnis besteht, wo Unsicherheit
in bezug auf das Recht herrscht, wo man heute nicht weiß, welche Gesetze
morgen in Geltung sind, da findet eine Verwüstung statt. Und was wir
heute von Rußland hören, von jener entsetzlichen Hungersnot ganzer
Millionen, ist zum Teil gleichfalls eine Folge dieser Experimentiererei.
Allerdings unmittelbar verursacht durch ein Naturereignis, über das die
Menschheit bis jetzt noch keine Gewalt hat: die ungeheure Dürre. Aber
man darf nicht vergessen, daß selbst gegen die Dürre der Mensch trotzdem
nicht ganz wehrlos ist. Wo der Boden hinreichend gedüngt und intensiv
bearbeitet ist, da ist er gegen die Dürre widerstandsfähiger als dort,
wo es ihm an Dung fehlt und die Bearbeitung nur oberflächlich ist. Wo
aber ein Volk, und besonders ein landbauendes Volk (Rußland ist ja
überwiegend Bauernland), wo Bauern die Gewißheit nicht haben, daß sie
ihren Boden behalten, daß ihnen die Ernte verbleibt, bauen sie eben
oberflächlich, legen sie nichts hinein in den Boden. Infolge dieser
Tatsache ist z. B. Kleinasien, das früher einmal geradezu ein Paradies
an Fruchtbarkeit gewesen ist, gerade an der westlichen Seite, unter der
Willkürherrschaft der türkischen Paschas und unter dem willkürlichen
türkischen Steuersystem, der Naturalsteuer, zu großen Teilen versandet.
Und leider haben wir ein gleiches Bild in Rußland. In fürchterlicher
Weise offenbaren sich die Folgen der Verkennung wirtschaftlicher
Gesetze, der materiellen und geistigen, beziehungsweise seelischen
Bedingungen des Wirtschaftslebens und der Funktionen der
Wirtschaftsträger auf einem gewissen Stande der Entwicklung. Man hat es
geschehen lassen, daß die großen Güter, die zum Teil sehr rationell
bewirtschaftet wurden und große Überschüsse an Produkten lieferten,
unter die Bauern aufgeteilt wurden. Was war die Folge? Die Überschüsse
haben aufgehört. Nun kann man nicht für alles das System, die Partei
verantwortlich machen. In der Revolution geschehen auch viele Dinge
gegen den Willen der Revolutionäre selbst. Aber um die unvermeidlichen
Auswüchse auf das möglichst geringe Maß herabzusetzen und möglichst bald
zu Zuständen zu gelangen, die dem Bedürfnis der Wiederherstellung des
Wirtschaftslebens entsprachen, war das Zusammenwirken aller geboten, die
sich auf den Boden des Rechtszustandes stellten, den die Revolution des
Februar 1917 geschaffen hatte. Daß man das Gegenteil in dem Wahn
herbeiführte, es komme nur darauf an, die Gewalt zu haben, um dann --
wie Bucharin sagte --, wenn die ganze bürgerliche Volkswirtschaft
»erwürgt« war, von neuem anzufangen, das konnte nur solche Zerrüttungen
zur Folge haben. So darf es ein Kind machen, das mit seinem Baukasten
spielt. Aber die Idee, so mit den Daseinsbedingungen eines Volkes von
Millionen und Abermillionen umgehen zu können, ist Zäsarenwahnsinn,
gleichviel ob von einem gekrönten Machthaber oder von Revolutionären. Er
konnte bei den Bolschewisten nur Boden fassen, weil der Grundgedanke
ihrer Doktrin ein durchaus falsch ausgelegter, maßlos vergröberter
Marxismus ist.

Hierzu ist noch folgendes zu sagen:

Der Bolschewismus hat viele Kritiker gefunden, und es lag nahe, einige
davon zu zitieren. Um indes mir nicht den Vorwurf der Parteilichkeit
zuzuziehen, habe ich an dieser Stelle davon Abstand genommen. Nur einer
Arbeit glaube ich gedenken zu sollen. Es ist das Schriftchen von
N. Gefimoff »Zur Soziologie des Bolschewismus« (Berlin, Verlag
Freiheit). Der Verfasser, ein Russe, der die ersten Jahre der Herrschaft
der Bolschewisten im einstigen Zarenreich mit durchlebt hat, weist den
inneren Zusammenhang des Bolschewismus mit der Bewegung der
revolutionären Terroristen des zarischen Rußland nach, die eine Bewegung
nicht der Arbeiterklasse, sondern von klassenlosen Intellektuellen war
und deren Tendenz, einander im Radikalismus zu überbieten, sich aus den
politischen Zuständen Rußlands begreift. Auf diese Weise konnte es
geschehen, daß die nach Rußland gelangte Marxsche Lehre eine so -- man
muß sagen, _brutale_ Ausdeutung erfuhr.

In der Tat ist der Bolschewismus eine spezifisch russische Erscheinung,
zu verstehen aus den Verhältnissen, die in Rußland lange geherrscht
haben, wo unter einem absolutistischen Regime die größten Zwangsmittel
der Unterdrückung üblich gewesen sind. Zu verstehen ist sie, aber darum
noch durchaus nicht nachahmenswert. Sie ist das Beispiel der
verderblichen Wirkungen eines verhängnisvollen Fehlers im Denken, der
sich äußert im Glauben an die Allmacht der rohen Gewalt, in der
Verkennung der fundamentalen Gesetze des gesellschaftlichen Daseins und
in der Mißachtung des organischen Prinzips in der Entwicklung der aus
der Wildheit herausgetretenen menschlichen Gesellschaften.




Neuntes Kapitel.

Die nächsten möglichen Verwirklichungen des Sozialismus.


Dem Schreiber dieses wird der Ausspruch nachgesagt: »Das Endziel ist
nichts, die Bewegung alles!« Es ist mir jedoch nicht eingefallen, einen
so begriffslosen Satz aufzustellen. In Wirklichkeit habe ich seinerzeit
(im Frühjahr 1898) in einer Antwort auf den Vorwurf, daß in meinen
Aufsätzen fast nie vom Endziel des Sozialismus die Rede sei, erwidert,
ich habe für das, was man gemeinhin »Endziel des Sozialismus« nenne,
außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei,
sei mir nichts, die Bewegung alles. Ich bekannte ein persönliches
Uninteresse, war aber weit davon entfernt, einen Allgemeingültigkeit
beanspruchenden objektiven Leitsatz aufzustellen.

Der Ausspruch wurde aber so aufgefaßt und gab Anlaß zu einem gewissen
Lärm. Welche bestimmten Umstände dies bewirkt hatten, kann hier
unerörtert bleiben. Soviel aber sei bemerkt, daß unter anderen
Verhältnissen, als sie damals obwalteten, kaum jemand sich über ihn
aufgehalten hätte. Denn in der Sache sagte er nichts wesentlich anderes,
als was in den Sätzen ausgesprochen ist, die Marx im Jahre 1871 der von
ihm verfaßten Ansprache des Generalrats der Internationalen
Arbeiterassoziation über den Bürgerkrieg in Frankreich einverleibte:

  »Die Arbeiterklasse ... hat keine fix und fertigen Utopien durch
  Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, um ihre eigene Befreiung und
  mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige
  Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich
  entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze
  Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die
  Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden ... Sie hat nur
  die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich
  bereits im Schoße der zusammenbrechenden Bourgeoisiegesellschaft
  entwickelt haben.«

Bei mir folgte dem zitierten Ausspruch der Zusatz: »Und unter Bewegung
verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, das heißt
den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche
Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts.«

Es wäre nun abgeschmackt, den Eindruck erwecken zu wollen, daß zwischen
dem Sinn des Marxschen Ausspruchs und meiner Bemerkung überhaupt kein
Unterschied von Bedeutung sei. Ein solcher ist unbestreitbar vorhanden.
Er besteht darin, daß Marx die angezeigte neue Gesellschaft schneller
kommen, den Zusammenbruch der alten rascher sich vollziehen sah, als
ich, und in dieser Annahme eine andere Sprache führte. Aber der Gedanke,
daß die Bewegung und die sich aus ihr ergebenden Kämpfe das
entscheidende seien und auf sie alles ankomme, ist auch bei ihm das
Leitmotiv.

Seit Marx die vorgenannte Schrift verfaßt hat, ist ein gutes halbes
Jahrhundert verflossen, und es kann die Frage aufgeworfen werden, ob er
nicht doch geglaubt hat, daß es mit dem völligen Zusammenbruch der alten
Gesellschaft nicht so lange dauern werde. Manches spricht dafür, und
jedenfalls ist die Frage um der richtigen Beurteilung verschiedener
Marxscher Aussprüche willen, die jener Periode seines Lebens angehören,
der Untersuchung wert. Für unsere Betrachtung aber genügt die
Feststellung der Tatsache, daß der Begründer des wissenschaftlichen
Sozialismus hier unverblümt erklärt, die kommende neue Gesellschaft
werde nur das Ergebnis »einer _ganzen Reihe geschichtlicher Prozesse_
sein, durch welche die _Menschen_ +wie+ die _Umstände gänzlich umgewandelt_
werden«.

Als Marx sein Hauptwerk, das »Kapital«, schrieb, befand sich die
europäische Welt politisch wie wirtschaftlich im Fahrwasser des
demokratisch gerichteten Liberalismus. Die Verfassungen wurden in seinem
Sinne reformiert, die Einengungen der Presse und des Vereinsrechts
gemildert oder aufgehoben, die Wahlrechte zu den Parlamenten erweitert.
In England hatte der Freihandel gesiegt und schien von da aus seinen
Siegeslauf durch die ganze kapitalistische Welt antreten zu wollen.
Zollsätze wurden herabgesetzt und Handelsverträge mit der Klausel der
Meistbegünstigung geschlossen, die eine Vorstufe zum vollen Freihandel
darstellten. Die erwartete Ära des Weltfriedens wurde freilich durch die
drei deutschen Kriege arg beeinträchtigt, aber die von ihnen bewirkte
Schädigung des Wirtschaftslebens nicht allzu tief empfunden. Die
kapitalistische Produktion machte Zeiten der Krise durch, blieb aber in
aufsteigender Entwicklung; der Reichtum der kapitalistischen Länder
wuchs, der Weltverkehr in Gütern nahm steigend zu, die Städte und
Industriezentren dehnten sich aus, die Industrie- und Handelsunternehmungen
vergrößerten sich, und in Zusammenhang damit nahm auch die industrielle
Arbeiterschaft, das Proletariat, bedeutend an Zahl zu. Die liberale
Epoche kam aber mit Ende der siebziger Jahre, um die Zeit, da Marx durch
Krankheit gezwungen wurde, die Feder aus der Hand zu legen, zum Stocken.
Eine Welle schutzzöllnerischer Reaktion flutete über die Welt und zog
kolonialpolitische Strebungen imperialistischer Natur nach sich; die
Beziehungen zwischen den Großmächten erfuhren eine Wendung zum
schlechteren, die Bildung von Mächtekoalitionen begann und mit ihr eine
Ära des Wettrüstens zu Wasser und zu Lande. Zu gleicher Zeit aber nahm
die Arbeiterbewegung einen neuen Aufschwung, die sozialistische
Internationale ward wieder ins Leben gerufen und übertraf in
verhältnismäßig kurzer Zeit die alte Internationale in bezug auf Zahl
der angeschlossenen Länder und innere Stärke ihrer Landessektionen.

Unter dem Einfluß all dieser Vorgänge erhielt die Welt der Länder
moderner Entwicklung eine andere Physiognomie, als Marx sie gekannt
hatte und voraussehen konnte. Eine geistige Reaktion in bezug auf die
Beurteilung der Völkerbeziehungen und die Sicherheit im Innern
bemächtigte sich der bürgerlichen Klassen. Sie wagten nicht den Krieg zu
wollen und glaubten immer weniger an die dauernde Erhaltung des
Friedens. Sie hatten nach dem Mißerfolg des Bismarckschen
Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie den Glauben an die
Möglichkeit der Niederhaltung dieser durch Gewaltmittel eingebüßt und
sahen sich doch der wachsenden Arbeiterbewegung gegenüber in die
Verteidigungslinie gedrängt. In Deutschland war die Wirkung eine
zunehmend schwächere Haltung des Bürgertums der Regierung gegenüber, und
immer neue Versuche dieser, durch gesetzgeberische Zugeständnisse an die
Arbeiter diese der Sozialdemokratie abtrünnig zu machen, was aber nicht
gelang. Das Hauptstück der Zugeständnisse, die von Bismarck eingeleitete
Arbeiterversicherung, hatte vielmehr die entgegengesetzte Wirkung. Sie
gab den Arbeitern materiell zu wenig, um sie zu befriedigen, trieb aber
in ihren sozialen Konsequenzen weit über das von Bismarck Gewollte
hinaus. Sie schuf in den Organen der Versicherung (Krankenkassen,
Beiräte der Unfallversicherung und der Invalidenversicherung) eine
Beamtenschaft der Arbeiterklasse, die dieser im Laufe der Zeit für
Organisations- und Vertretungszwecke anderer Natur eine große Fülle
sachkundiger Persönlichkeiten zur Verfügung stellten. In der gleichen
Richtung wirkten die Gewerbegerichte durch das Institut der Beisitzer
aus der Arbeiterschaft. Unterstützt durch diese Einrichtungen breiteten
sich in Deutschland die Gewerkschaften der Arbeiter im letzten Jahrzehnt
des neunzehnten und weiter im zwanzigsten Jahrhundert in ungeahnter
Weise aus, so daß sie schließlich die englischen Gewerkschaften an Zahl
der Mitglieder nahezu erreichten, an innerer Durchbildung und
wirkungsvoller Zusammenfassung der Kräfte aber noch übertrafen.
Parallel damit wuchs die politische Organisation der Arbeiterklasse und
ihre Presse, und mehrte sich die Zahl ihrer Vertreter in den staatlichen
und örtlichen Parlamenten. Ein Netz von gesetzlichen und freien
Vertretungen der Arbeiter überzog das Land, jede Stadt von irgendwelcher
Bedeutung erhielt ein von der Arbeiterbewegung selbst geschaffenes und
unterhaltenes Volks- oder Gewerkschaftshaus als Sammelpunkt und ein
Arbeitersekretariat, wo der Arbeiter Auskunft über die ihn
betreffenden Sozialgesetze erhielt, zugleich aber auch durch die Natur
der Dinge auf die politischen und wirtschaftlichen Organisationen seiner
Klasse aufmerksam gemacht wurde. Das neue Jahrhundert sah
außerdem eine bedeutungsvolle Ausbreitung und Stärkung der
Arbeiterkonsumgenossenschaften, deren Leiter und Angestellte das Heer
der Beamten der Arbeiterschaft noch wesentlich vermehrten.

Auf der anderen Seite waren aber auch die Unternehmer nicht
unorganisiert geblieben. Auf rein wirtschaftlichem Gebiete waren in
allen Industrien Kartelle und Syndikate gegründet worden, um dem Druck
der Konkurrenz auf die Preise Grenzen zu setzen, und in vielen Fällen
auch dazu übergegangen, bei eingetretener oder drohender Überproduktion
produktionsregulierend zu wirken, d. h. zeitweilig die Produktion
systemgemäß einzuschränken. Ein noch engerer Zusammenschluß von
kapitalistischen Unternehmungen fand in Gestalt von trustartigen
Verbindungen und Fusionen oder Konzernen der großen Industrie statt. Zum
Widerstand gegen die Gewerkschaften und sonstigen Koalitionen der
Arbeiter wiederum waren Unternehmer- bzw. Arbeitgeberverbände geschaffen
worden, deren Zahl schließlich so groß war, daß die von ihnen
vertretenen Unternehmungen erheblich mehr Arbeiter beschäftigten, als
gewerkschaftlich organisiert waren. Trotz ihrer Zahl und finanziellen
Macht war ihre Widerstandskraft den Arbeitern gegenüber aber doch
begrenzt. Es wuchs die Zahl der Fälle, wo sie es für klüger hielten, mit
den organisierten Arbeitern Tarifverträge abzuschließen, statt ihnen
einseitig die Löhne diktieren zu wollen, und in der Statistik der
Gewerkschaften ist die Zahl der Fälle, wo Lohn- usw. Bewegungen ohne
Zuhilfenahme von Streiks oder Aussperrungen zu Tarifabmachungen führen,
erheblich größer als die Zahl der Fälle, wo es zum Messen der Kräfte im
gewerblichen Kampf kommt.

So stellte sich in Deutschland am Vorabend des Krieges das soziale Bild
der Industrie in verschiedenen Punkten wesentlich anders dar, als Marx
es in »Das Kapital« vorausgezeichnet hatte. In dessen Kapitel
»Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation« hatte es bei
ihm geheißen:

  »Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle
  Vorteile dieses Umwandlungsprozesses [die Konzentration der
  Unternehmungen. Ed. B.] usurpieren und monopolisieren, wächst die
  Masse des Elends, des Druckes, der Degradation, der Ausbeutung, aber
  auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus
  des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten
  und organisierten Arbeiterklasse.«

In Wirklichkeit war die Zahl der Kapitalmagnaten trotz der starken
Konzentrationsbewegung der Wirtschaftsunternehmungen noch beständig
gestiegen. So hatte in Preußen -- eine Reichsstatistik gibt es bis jetzt
darüber nicht -- die Zahl der Zensiten mit über einer halben Million
Vermögen in der Zeit von 1895, dem Jahr der ersten Aufstellung einer
Vermögensstatistik, bis 1914 um mehr als 50 Proz. _zugenommen_, und noch
stärker hatte sich die Schicht der obersten Einkommensklassen vermehrt.
Aber auch die Schicht der mittleren Einkommensklassen war stärker
angewachsen als die Gesamtbevölkerung, und wenn die erreichte Lage der
Arbeiterklasse auch noch viel zu wünschen übrig ließ, so war sie doch
wirtschaftlich und sozialrechtlich eine bessere, als etwa zur Zeit, wo
Marx jene Zeilen geschrieben hatte. Große Kategorien von Arbeitern
hatten den neunstündigen Arbeitstag errungen und wenige arbeiteten mehr
als zehn Stunden. Das Lohneinkommen war dem Nennwert nach erheblich, der
Kaufkraft nach weniger, aber immerhin nicht unwesentlich über die
vormalige Höhe gestiegen. Gewerbeordnung, Gewerbegerichte, Tarifverträge
bzw. Tarifämter, die Versicherungsgesetze, öffentliche und
freigewerkschaftliche Arbeitsvermittelung und verwandte Einrichtungen
hatten in Verbindung mit dem Koalitionsrecht dahin gewirkt, daß, statt
Degradation, eine Hebung der rechtlichen Stellung des Arbeiters dem
Unternehmer und dessen Beamten gegenüber eingetreten war. Elend war in
bestimmten Schichten der Arbeiterwelt noch da, aber es hatte nicht
zugenommen. Zeichen sind dafür unter anderem die Zunahme des Verbrauchs
an Brotfrüchten und verschiedenen Genußmitteln sowie Textilwaren auf den
Kopf der Bevölkerung; ferner der Rückgang der Sterbeziffern und die
erhebliche Zunahme der Eheschließungen. Mit dieser letzteren ging
freilich Hand in Hand eine kontinuierliche Abnahme der Geburten. Indes
auch sie ist, wie jedem Sachkundigen der Bevölkerungswissenschaft
bekannt, ein Zeichen abnehmender Massenarmut. Die Zunahme der
Eheschließungen in der Epoche des vorgeschrittenen Kapitalismus
widerlegte die gleichfalls von Sozialisten aus den Erscheinungen der
Epoche der aufkommenden kapitalistischen Produktion abgeleitete
Folgerung, daß der Kapitalismus zur völligen Auflösung der Familie im
Proletariat führe.

Allerdings hatte der Mechanismus des kapitalistischen
Produktionsprozesses diese Wirkungen nicht etwa selbsttätig
herbeigeführt. Wohl war auch er nicht ganz unbeteiligt daran, in
verschiedener Hinsicht hatte er ökonomische Vorbedingungen der sozialen
Verbesserung geschaffen. Wie aber schon aus der obigen Aufzählung
ersichtlich, war die Verbesserung selbst zum größten Teil Frucht
_sozialer_ Gegenaktion, einerseits der Gesetzgebung und Verwaltung, auf
welche die Arbeiter in immer stärkerem Maße mittels politischen Drucks
einwirkten, und andererseits der direkten Aktion der wirtschaftlichen
Organisationen der Arbeiter selbst. Welches immer aber auch die Kräfte
waren, die das Bild anders gestaltet hatten, es war in bezug auf
Klassengliederung und soziale Lage der Klassen nicht das, was Marx
vorgezeichnet hatte. Und wenn, um Marx in kein falsches Licht zu
stellen, bemerkt werden muß, daß dieser eben nur eine _Tendenz_
gekennzeichnet hatte, was schon einschloß, daß die Wirklichkeit eine
abweichende Entwicklung herbeiführen konnte, so war die Abweichung eben
Tatsache und damit schon angezeigt, daß auch die weitere Entwicklung
sich nicht nach jenem Schema gestalten werde.

Dazu kam noch, daß auf dem Lande die Entwicklung der Klassen sich
überhaupt in anderer Richtung vollzogen hatte, als in Industrie, Handel
und Verkehr. Hier war von einer Aufsaugung der mittleren und kleinen
Unternehmungen durch die großen ganz und gar nichts zu verspüren. Sie
legten im Gegenteil eine größere Zähigkeit als diese an den Tag. Auch
dies wieder in hohem Grade durch Nutzbarmachung sozialer Gegenmittel,
von denen in erster Reihe das sehr ausgebildete ländliche
Genossenschaftswesen zu nennen ist, dessen volle Ausnutzung dem
mittleren und kleinen Bauern fast alle technischen Vorteile zugängig
macht, die dem mit beträchtlichem Kapital ausgerüsteten
Großgrundbesitzer zur Verfügung stehen. Es sind aber noch andere, in der
Produktion selber liegende Momente, welche für die Landwirtschaft eine
andere Entwicklung der Betriebsgrößen zur Folge haben, als sie in der
Industrie vor sich geht. Es sei davon nur der bedeutungsvolle Umstand
erwähnt, daß die landwirtschaftliche Produktion wesentlich _organische_,
auf die Zucht von Tier und Pflanze gerichtete, und nicht _mechanische_,
totes Material bearbeitende Produktion ist.

Der Krieg hat an diesem sozialen Entwicklungsgang grundsätzlich nichts
geändert. Er brachte zeitweilig ungeheure Verschiebungen in den
Beschäftigungen der Klassen und Geschlechter mit sich. Für die Millionen
männlicher Personen, die im Feld, in der Etappe und als Garnison in
besetzten Gebieten gebraucht wurden, mußten weibliche Personen die in
Industrie, Handel und Verkehr eingetretenen Lücken ausfüllen; die
Berufstätigkeit der Frau erhielt eine bedeutende Erweiterung. Die
Industrie wurde veranlaßt, ihre Produktion dem Kriegsbedürfnis
anzupassen. Für die Fabrikation von Geschützen, Munition und
Sprengstoffen wurden die bestehenden Werke vergrößert, neue hinzugebaut
und viele Fabriken, die vordem Fabrikate ganz anderer Natur hergestellt
hatten, auf die Produktion von solchem Kriegsmaterial umgestellt. Ferner
wurde der Handel in Nahrungsmitteln und anderen wichtigen Bedarfsgütern
aus Gründen der durch die Abschneidung der Zufuhren notwendig gewordenen
Einschränkung des Verbrauchs unter öffentliche Kontrolle gestellt, zu
welchem Zweck Zentralstellen für die verschiedenen Bedarfsartikel
geschaffen wurden, die deren Abgabe an die Verbraucher regelten. Sie
ward je nachdem von einem Nachweis der Benötigung abhängig gemacht,
Artikel des täglichen Bedarfs (Brot, Fleisch, Milch usw.) wurden
rationiert und durften von den Händlern nur gegen Marken abgegeben
werden; auch wurden für sie Höchstpreise festgesetzt, über die hinaus
dem Käufer keine Bezahlung abverlangt werden sollte. Für die
Zentralisierung der Beschaffung bestimmter Fabrikate wurden unter
Förderung durch die Behörden Kriegsgesellschaften gegründet, die auf die
Produktion im Sinne der Ersparung falscher Kosten zurückwirken sollten.

Alles das zuletzt Geschilderte ist zu seiner Zeit von manchen als
sozialistisch oder Verwirklichung sozialistischer Gedanken gepriesen
worden und hat ja auch Berührungspunkte mit dem sozialistischen
Grundsatz der Regelung von Produktion und Vertrieb unter dem
Gesichtspunkt des Gemeinschaftsinteresses und der höchsten
Wirtschaftlichkeit. Aber solche Art Zusammenfassung der Mittel und
Unterordnung von Produktion und Handel unter das augenblickliche
Interesse des großen Ganzen hat es schon oft in Kriegszeiten gegeben,
und wenn man sie Sozialismus nennen will, dann wäre diese Art
Sozialismus ziemlich so alt wie überhaupt der Krieg. Man hat sie
Kriegssozialismus getauft, und in einer Hinsicht nicht ohne
Berechtigung, indem sie nämlich den Krieg nicht überdauert hat. Das hat
sie früher nicht getan, und ist in Deutschland auch diesmal nicht der
Fall gewesen. Und zwar ist hier gerade das am schnellsten in Wegfall
gekommen, was am meisten des Erhaltens wert war: der Schutz der
Verbraucher gegen Überwucherung. Allerdings hatte er schon in den
letzten Kriegsjahren an Wirksamkeit stark eingebüßt. Für viele Artikel
war die Festsetzung von Höchstpreisen jedesmal das Signal gewesen, daß
sie aus der öffentlichen Auslage der Händler verschwanden und nur noch
hinten herum -- im »Schleichhandel« -- zu Wucherpreisen zu
erhalten waren. In der ersten Zeit sorgte der über die Gemüter
gekommene patriotische Rausch dafür, daß die meisten sich den im
Allgemeininteresse notwendig gewordenen Bestimmungen willig fügten. Als
er aber nachließ, gewann Schritt für Schritt die Wucherei und ihre
Unterstützung durch die Gedankenlosigkeit der einen und die
Grundsatzlosigkeit der anderen so sehr die Oberhand, daß zuletzt es für
Narretei galt, nicht Preise zu fordern, wie die zahlungsfähigen Käufer
sie sich noch gefallen lassen würden, und nicht sich so zu ernähren, wie
es einem die Mittel erlaubten. Die soziale Moral war schon stark
erschüttert, als mit dem Zusammenbruch seiner Armee auch das Kaisertum
selbst zusammenbrach.

Die Revolution konnte das weitere Umsichgreifen des eingerissenen Übels
nur zeitweilig aufhalten. Noch hatten ihre natürlichen Widersacher, die
Reaktionäre der verschiedenen Grade, sich von dem sie lähmenden
Schrecken nicht erholt, da boten schon die von der bolschewistischen
Regierung Rußlands in größtem Umfange mit Geld und anderen
Propagandamitteln ausgestatteten Agitatoren für die Rätediktatur alle
Kräfte auf, das Ansehen der jungen Republik im Volk zu untergraben. Von
der großen Mehrheit derjenigen, welche die im Jahre 1919 an den
verschiedenen Orten Deutschlands in Szene gesetzten Aufstände als
Kämpfer mitmachten, darf man wohl sagen: sie wußten nicht, was sie
taten. Daß die Unterwerfung Deutschlands unter die Gebote einer
Rätediktatur eine platte Unmöglichkeit war, hätte sich jeder sagen
können, der dessen ökonomische Lage und soziale Gliederung nur
einigermaßen kannte. Woran das ganz überwiegend agrarische Rußland
zugrunde gerichtet wurde, das hätte das so hoch entwickelte industrielle
Deutschland noch weniger ausgehalten. Der höher ausgebildete Organismus
ist gegenüber Eingriffen der Gewalt in sein funktionelles Leben viel
empfindlicher als der tieferstehende. Immerhin wird man als Sozialist es
bedauern müssen, daß die Periode der Regierung durch den Rat der
Volksbeauftragten, die ja doch der Sache nach gleichfalls eine Regierung
der Diktatur war, wenn auch, zu ihrer Ehre sei es gesagt, einer
freiheitlichen, durchaus human und weitherzig gehandhabten Diktatur, in
wirtschaftspolitischer Hinsicht nicht wirksamer ausgenutzt worden ist.
Man hätte z. B. ohne nennenswerten Widerspruch aus den bürgerlichen
Klassen, die froh genug waren, daß es ihnen von seiten der zur
Herrschaft gelangten Arbeiterklasse nicht an den Kragen ging, und ohne
Schaden für die Volkswirtschaft ein viel weitergehendes Anrecht des
Staates am Boden und den Bodenschätzen durch Verfügung festlegen können,
als es tatsächlich geschehen ist. Aber in die Notwendigkeit gedrängt,
die Republik gegen die gewalttätigen Anstürme von links verteidigen zu
müssen, mit den vielen, keinen Aufschub duldenden Aufgaben belastet, die
ihr aus den Sorgen für die Unterbringung und Auflösung des
zurückflutenden Millionenheeres, den unsicheren Zuständen im Osten und
Nordosten, den Waffenstillstandsforderungen der Siegermächte und vielen
inneren Verwaltungsangelegenheiten erwuchsen, kam sie innerhalb jener
knapp drei Monate währenden Epoche um so weniger zur Beratung und
Ausarbeitung der für eine solche, in Rechte verschiedenster Art
eingreifenden Verordnung, als über die Abgrenzung der Rechte der
Gesamtrepublik und der Republiken gewordenen Einzelstaaten noch
weitgehende Meinungsverschiedenheiten herrschten und der Regelung durch
die verfassunggebende Nationalversammlung harrten.

Außerdem war sie gerade in bezug auf die Fragen der Umwandlung von
privatem in öffentliches Eigentum in ihren Entschlüssen nicht frei. Nach
dem ganzen Gebahren der Siegermächte dem besiegten Deutschland gegenüber
mußte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß diese sich im
Friedensvertrag für bestimmte Fälle ein Recht der Beschlagnahme
öffentlichen Eigentums vorbehalten würden, und in der Tat ist das im
Versailler Friedensdiktat geschehen. Gleich der erste Artikel des
Abschnitts, der die Finanzfragen behandelt -- Artikel 248 --, setzt
fest, daß die aus dem Diktat den Alliierten zugesprochenen Ansprüche an
Deutschland als »erste Last auf allen Vermögenswerten und
Einnahmequellen Deutschlands und der deutschen Bundesstaaten« haften.

Mit dem Zusammentritt der am 19. Januar 1919 gewählten
Nationalversammlung nahm die Regierung des ausschließlich aus
Sozialdemokraten bestehenden Rats der Volksbeauftragten ihr Ende. Nach
Annahme eines Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt wählte die
Nationalversammlung zwar am 10. Februar 1919 mit 277 von 379 Stimmen den
Sozialdemokraten Fritz Ebert zum Präsidenten der deutschen Republik, das
erste Kabinett aber war eine Koalitionsregierung aus 7 Sozialdemokraten,
3 Mitgliedern der Zentrumspartei, 3 Mitgliedern der Demokratischen
Partei und einem der Demokratischen Partei nahestehenden parteilosen
Minister. Von da ab hat Deutschland nur Koalitionsregierungen gehabt,
die mit Ausnahme der Periode vom Juni 1920 bis Juni 1921, wo die
Regierung ausschließlich aus Vertretern bürgerlicher Parteien bestand,
aus sozialdemokratischen und bürgerlichen Ministern zusammengesetzt
waren. Es ist nicht undenkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich, daß die
Wahlen der nächsten Jahre eine Mehrheit von Sozialdemokraten in den
Reichstag bringen werden. Die Wahlen vom Juni 1920 zum ersten Reichstag
der Deutschen Republik haben im Gegenteil eine relative Abnahme der
sozialistischen im Verhältnis zu den bürgerlichen Stimmen ergeben.
Während bei den Wahlen zur Nationalversammlung 13827000 sozialistische
gegen 16574000 bürgerliche Stimmen abgegeben worden waren, war nun das
Verhältnis 10952000 sozialistische gegen 15065000 bürgerliche Stimmen.
Von nahezu 45,50 vom Hundert war der Anteil der sozialistischen Stimmen
auf 42,1 vom Hundert zurückgegangen.

Da die stärkste der sozialistischen Parteien in Deutschland, die
Sozialdemokratische Partei Deutschlands, kürzer Partei der
Mehrheitssozialisten genannt, sich auf den Boden der Regierung durch die
auf Grund allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts der erwachsenen
Bevölkerung gewählte Volksvertretung gestellt hat, wird, solange jenes
Stimmenverhältnis obwaltet, auf dem Wege der Gesetzgebung nur soviel
Sozialismus zu verwirklichen sein, für wieviel es den Sozialisten
gelingt, auf dem Wege der Verständigung oder der Demonstration die
Zustimmung der vorgeschritteneren Elemente der bürgerlichen Parteien zu
erlangen.

Das braucht nicht notwendigerweise _wenig_ zu sein. Wie immer man sich den
vollendeten sozialistischen Zustand denkt, so kann doch niemand darüber
im Zweifel sein, daß er nicht mit einem großen Sprung erreicht werden,
sondern nur das Ergebnis einer ganzen Kette von Maßnahmen sein kann, die
in mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmenden Zwischenräumen zur
Durchführung gebracht werden. Das haben die großen Begründer des
wissenschaftlichen Sozialismus bei verschiedenen Gelegenheiten
anerkannt. Keine dieser Maßnahmen aber wird, keine _darf_ unverträglich
sein mit dem im betreffenden Zeitpunkt gegebenen Stand der
wirtschaftlich-sozialen Entwicklung. Ist sie es, dann wird sie eben
fehlschlagen und die Sozialisten, die sie forderten oder erzwangen, mehr
schädigen als die bürgerlichen Parteien. Für diejenigen Maßnahmen aber,
die mit dem erreichten Stand der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung
verträglich waren, haben sich, auch wenn sie noch so stark in die Rechte
und in die Machtsphäre des Besitzes eingriffen, fast immer noch
bestimmte Flügel der nichtsozialistischen Parteien gewinnen lassen.

Es ist also ein sehr genaues Eindringen in die voraussichtlichen
Wirkungen wirtschaftlicher und sozialpolitischer Maßnahmen notwendig.
Die Zusammenstellungen sozialistischer Maßnahmen, welche Marx und Engels
bei verschiedenen Gelegenheiten -- am Schluß des Kommunistischen
Manifests, sowie als Programm der Forderungen der Kommunistischen Partei
in Deutschland nach Ausbruch der Revolution von 1848 -- für den Fall der
Besitzergreifung der politischen Macht durch die Arbeiter ausgearbeitet
haben, können heute nur mit diesem Vorbehalt in Betracht gezogen werden.
Teile von diesen Forderungen sind durch bürgerliche Bewegungen und
Parlamente zur Verwirklichung gebracht worden; andere setzen den Zustand
einer auf die Spitze getriebenen politischen Revolution und eine längst
nicht mehr bestehende Einfachheit der Verhältnisse voraus und wieder
andere bergen Probleme, deren ihre Verfasser sich nicht bewußt waren und
bei jener Einfachheit der Verhältnisse auch nicht sein konnten. Dahin
gehört zum Beispiel die Forderung des Kommunistischen Manifests:
»Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine
Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.« Gegenüber
dem hochentwickelten und weitverzweigten Kreditsystem unserer Zeit ist
sie von einer geradezu kindlichen Simplizität. Ebenso die Forderung von
1848: »Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigentum
erklärt«, wo heute die Masse dieser Hypotheken in den Händen
öffentlicher und halböffentlicher Institute (Sparkassen,
Versicherungsgesellschaft usw.) sind. Die Forderung des Kommunistischen
Manifests »Abschaffung des Erbrechts« ist von dessen Verfassern im
Programm aus der 1848er Revolution in »Beschränkung des Erbrechts«
abgetönt, und später nennt Marx sie in der Polemik gegen die Bakunisten
eine Saint-Simonistische Marotte. Mit dem Fortschritt der Gesellschaft
erhalten bestimmte Forderungen ein anderes Gesicht, muß der ihnen
zugrunde liegende Gedanke in anderer Form praktische Anwendung finden.
Es wird in der Arbeit für sozialistische Verwirklichungen eine sehr viel
ausgearbeitetere Spezialisierung notwendig. Sie läßt die Fortschritte,
die jeweilig gemacht werden können, kleiner erscheinen, als manche
früher vollzogenen, sie werden aber dafür auf bedeutend größerem Umfange
gemacht, als jene.

Nachdem durch die politischen Umwälzungen, die der Krieg im Gefolge
gehabt hat, die staatspolitischen Rechtsforderungen der Sozialdemokratie
in Deutschland und in den meisten anderen Ländern im wesentlichen zur
Verwirklichung gelangt sind, handelt es sich darum, den sozialistischen
Gedanken im Wirtschaftsleben zu immer stärkerer praktischer Anwendung zu
bringen, Bestrebungen, für die heute der Sammelbegriff _Sozialisierung_
gebraucht wird. Es liegt nahe, für ihn das deutsche Wort
Vergesellschaftung zu setzen. Dieses sagt aber nicht ganz das Gleiche.
Bei ihm denkt man fast nur an die Umwandlung von privaten Unternehmungen
oder Gruppen von solchen in öffentliches und für die Allgemeinheit
bewirtschaftetes Eigentum. Der Begriff Sozialisierung hat aber einen
weiteren Rahmen. Er findet auch Anwendung auf die Umwandlung von Rechten
auf die Unternehmung und über ihren Betrieb. Und das ist für das
vorliegende Problem von nicht geringer Bedeutung.

Für die Umwandlung von Unternehmungen oder Industrien in
gesellschaftliches Eigentum war, von örtlichen Unternehmungszweigen
abgesehen, bisher die Verstaatlichung die gebräuchlichste Form, bei der
es gleichgültig ist, ob der Staat Staat heißt oder Reich. Welche
außerökonomischen Bedenken heute in Deutschland der Verstaatlichung
entgegenstehen, ward oben dargelegt; es nehmen aber auch aus anderen
Gründen nicht nur Bourgeoisökonomen, sondern auch Sozialisten Anstand,
der Verstaatlichung als allgemein anwendbar das Wort zu reden. Man trägt
Bedenken, die Industrie der Bureaukratisierung auszuliefern und möchte
auch nicht das Staatsbeamtentum ins Unbegrenzte vermehren.

Ganz unbegründet sind diese Bedenken nicht. Was immer man der
kapitalistischen Produktion vorwerfen kann, eines bleibt unbestreitbar
und ist auch von Marx rückhaltlos anerkannt worden: sie war ein
gewaltiger Faktor des technisch-ökonomischen Fortschritts, der
Ökonomisierung von Material und Arbeit. Es wird nun bezweifelt, daß die
bureaukratisierte Produktion das gleiche leisten würde -- nicht nur,
weil bei ihr der Antrieb zu durchgreifenden Verbesserungen der Technik
nicht der gleiche ist, sondern auch weil der Wagemut des Unternehmers in
Wegfall kommt. Es ist nicht, wie man in sozialistischen Kreisen
angenommen hat, die Größe der Unternehmung, bzw. des Betriebes, die über
deren Reife zur Sozialisierung entscheidet. Marx spricht im zitierten
Kapitel seines Hauptwerks von dem »Punkt, wo die Konzentration der
Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit unverträglich
werden mit ihrer kapitalistischen Hülle«. Aber dieser Punkt ist
keineswegs in allen Produktionszweigen der gleiche. Es kommt daher
heute, wo wir diesen Dingen näher stehen, durchaus darauf an, objektive
Merkmale für die Eignung von Wirtschaftsunternehmungen zur
Sozialisierung und für die besten Formen dieser zu suchen. Manches ist
in dieser Hinsicht schon geschehen. Der aus der Praxis gekommene
Stadtbaurat Alphons Horten, der sechs Jahre Direktor im Thyssen-Konzern
und dann Leiter der großen de-Wendel-Werke war, gibt in seiner sehr
lesenswerten Schrift »Sozialisierung und Wiederaufbau« an der Hand
praktischer Erfahrung eine Klassifizierung der Unternehmungen unter dem
Gesichtspunkt der Eignung zur Sozialisierung und zeigt auf, was
geschehen kann, bei dieser die Übel der Bureaukratisierung zu vermeiden.
Maßgebend ist nach ihm die Frage, ob der in Frage kommende
Produktionszweig schon in das Stadium angelangt ist, wo die Leitung im
wesentlichen nur noch Routinewerk ist und bahnbrechende Neuerungen
unwahrscheinlich geworden sind oder nicht. Ein anderes Merkmal ist nach
der Ansicht des Schreibers dieses in der Natur des Erzeugnisses gegeben,
ob es einem großen, in weiten Kreisen gleichmäßig vorhandenen Bedürfnis
dient bzw. einen von Geschmack und Mode unabhängigen Absatz hat oder
nicht. So daß also die Industrien der ersten Bearbeitung der Rohstoffe
und die der Halbfabrikate zur Sozialisierung geeigneter erscheinen
würden als die der Fertigfabrikate, wofür auch spricht, daß sie in viel
höherem Grade der Konzentration in Großunternehmungen verfallen sind als
die letzteren. Ein Beispiel dafür liefert die Textilindustrie, wo die
Spinnerei ungleich stärker zentralisiert ist als die Weberei und
Wirkerei.

Es ist also nicht unmöglich, die Vorbedingungen für eine
wissenschaftlich-systematische Stufenfolge der Sozialisierungen zu
ermitteln, die das Problem aus der Sphäre der kritiklosen
Experimentiererei herausheben und Fehlgriffen vorbeugen würde. Das
Gleiche gilt hinsichtlich der Stufen der Sozialisierung. Es kann auf
vielen Gebieten sich als notwendig erweisen und ist auch sehr wohl
möglich, diese letztere gradweise in die Wirklichkeit umzusetzen. Worum
handelt es sich überhaupt bei ihr? Ihr Zweck läßt sich zusammenfassend
kennzeichnen als die Erzielung spezifisch wirtschaftlicher und allgemein
sozialer Wirkungen sowie die Änderung des Rechtsverhältnisses der in der
Wirtschaft tätigen Menschen. In erster Hinsicht zielt sie ab auf die
größte Produktion von materiellen Gütern unter der größtmöglichen
Ökonomie an Sachwerten und menschlicher Arbeit; in zweiter auf
die möglichst umfassende Durchführung des Grundsatzes der
Genossenschaftlichkeit im Arbeitsprozeß und bei der Regelung des
Entgelts der Arbeit sowie um die Hebung der Rechtsstellung der als
Angestellte und Arbeiter in der Wirtschaft tätigen Personen. Alle
tiefgreifenden Maßnahmen der Gesetzgebung und Verwaltung, die auf die
Verwirklichung dieser Ziele gerichtet sind, gehören zum Bereich der
Sozialisierung. Die Sachkundigen stimmen nun darin überein, und die vom
sozialistischen Rat der Volksbeauftragten zusammengesetzte
Sozialisierungskommission erklärte in ihrem ersten Bericht ausdrücklich,
sie sei

  »... sich bewußt, daß die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nur
  in einem länger währenden organischen Aufbau erfolgen kann, ...«

und nachdem sie festgestellt hatte, daß die erste Voraussetzung aller
wirtschaftlichen Reorganisation die _Wiederbelebung der Produktion_ sei
und die wirtschaftliche Lage Deutschlands »gebieterisch die
Wiederaufnahme der Exportindustrie und des auswärtigen Handels«
erfordere, verkündete sie es des weiteren als ihre Ansicht,

  »... daß für diese Wirtschaftszweige die bisherige Organisation
  gegenwärtig noch beibehalten werden muß. Ebenso erfordert die
  Ingangsetzung der Industrie die Aufrechterhaltung und Erweiterung des
  Zirkulationskredits und damit die ungestörte Funktion der
  Kreditbanken ...«

Auch werde im Interesse der Lebensmittelversorgung »nicht vorgeschlagen
werden, in die bisherigen Besitz- und Betriebsverhältnisse der
bäuerlichen Verhältnisse einzugreifen«. Hier solle »durch der
Landwirtschaft angepaßte Maßnahmen und durch Unterstützung der
Genossenschaften die _Produktivität gehoben_ und die _Intensität
gesteigert_ werden«.

Die gesperrt gesetzten Worte weisen auf das oben als spezifisch
_wirtschaftlichen_ Zweck der Sozialisierung Gekennzeichnete hin.

Im gewöhnlichen Verlauf der Dinge wird in der kapitalistischen
Wirtschaft die Intensivierung und die höhere Produktivität der Arbeit
durch den Druck der Konkurrenz erwirkt, welche die Unternehmer einander
im Kampf um den Markt bzw. den Absatz machen. Die Methoden, mittelst
deren sie erzielt werden und die zuletzt nichts weiter sind als
Ersparung von menschlicher Arbeit, sind von Marx im Kapital in den
Kapiteln über den Kampf um den Mehrwert geschildert, denn der Kampf um
den Markt ist ein Stück des Kampfes um den Mehrwert. Nicht unter allen
Umständen aber tritt jenes Resultat ein. Wo sich Monopolverhältnisse
entwickeln, und die sind überall vorhanden, wo die Nachfrage nach Waren
das Angebot übersteigt, nimmt der Drang der Unternehmer nach
Intensivierung der Arbeit entsprechend ab und kann unter Umständen
einschlafen. Die Folgen sind Teuerung der Waren und Notstand in weiten
Kreisen der Bevölkerung, so daß die Fragen der Steigerung der
Produktivität beziehungsweise der Intensivierung der Produktion
Gegenstände eines hohen sozialen Interesses werden. Zeichen davon sind
in verschiedenen Gegenden als Nachwirkungen des Krieges zu verspüren.

In Deutschland haben die Pflichtleistungen an die Siegermächte
ebenfalls die Ersparung von Arbeit zu einem sozialen Interesse gemacht.
Nun sind jedoch hier infolge des Warenmangels Unternehmungen noch
rentabel, die tatsächlich in bezug auf Größe und Einrichtungen hinter
der Durchschnittshöhe der Produktionsentwicklung zurückgeblieben sind.
Ihr Fortbestand heißt also volkswirtschaftlich Vergeudung von Arbeit
durch Produktion unter rückständigen Arbeitsmethoden und Vergeudung von
Arbeit durch unnötige Zersplitterung der Produktionsstätten. Um ihr
entgegenzuwirken, sind Vorschläge zu einer Umorganisierung der
Volkswirtschaft ausgearbeitet worden, für die der Name _Planwirtschaft_
gewählt worden ist und die ins Gebiet der Sozialisierung gehören.

Der Gedanke der Planwirtschaft knüpft an Maßnahmen an, die in der
Kriegszeit im Angesicht der wirtschaftlichen Kriegsnotwendigkeit auf
Anregung und nach ausgearbeiteten Plänen des ideenreichen
Großindustriellen Walter Rathenau und des Sozialökonomen Wichard von
Möllendorf behördlich angeordnet wurden und in der großen Industrie von
kartellierten Produktionsgruppen unter Beibehaltung kapitalistischer
Überschußwirtschaft mit dem amerikanischen Trust als Vorbild
durchgeführt worden sind. Es sollen auf Grund reichsgesetzlicher
Vorschrift Verbände von Unternehmern ganzer Produktionszweige ins Leben
gerufen werden, die nach Orten und Bezirken organisch zu gliedern sind
und in deren Leitung die Allgemeinheit, die Unternehmer und die Arbeiter
und Angestellten durch ernannte oder gewählte Vertrauenspersonen
vertreten sind. Diese Leitungen sollen auf Organisation, Gliederung und
Gebahren der Industrie einen weitgehenden Einfluß im Sinne möglichster
sozialer Ökonomie ausüben, und ihre Zentralen sollen die Einfuhr und
Ausfuhr, unter dem Gesichtspunkt der Dringlichkeit des Bedarfs und der
allgemeinen Wirtschaftslage Deutschlands, regelnden Vorschriften
unterwerfen. Sie sollen das Recht haben, unnütze Zwischenglieder der
Wirtschaft auszuschalten und auf alle Verbesserungen in der Organisation
der Produktion und den Arbeitsmethoden hinzuwirken, die dem Zweck der
möglichsten Senkung der Preise dienen. Sie sollen durch Feststellung von
Tarifverträgen und ergänzende Verordnungen solche Arbeitsbedingungen
herbeiführen, die das Arbeitsverhältnis möglichst zufriedenstellend
gestalten.

Gegen diesen Plan, den Rudolf Wissell, der erste sozialdemokratische
Wirtschaftsminister der Deutschen Republik, zu einem umfassenden System
ausgearbeitet hat, sind außer von bürgerlichen Theoretikern und
Interessenten auch von sozialistischer Seite scharfe Einwände erhoben
worden. Vor allem wird ihm vorgeworfen, daß er den kapitalistischen
Unternehmer beibehalte und möglicherweise in der Praxis sogar dessen
Macht noch verstärken werde. Er stehe der so dringend notwendigen
Vollsozialisierung von Industrien allgemein gebrauchter Rohstoffe, wie
Kohle und Eisen, im Wege und könne sehr leicht das Wirtschaftsleben
schädigende bureaukratische Verfügungen und Eingriffe züchten.

Die Möglichkeit solcher Mißgriffe ist nicht ganz ausgeschlossen, aber
bei der vielseitigen Zusammensetzung der Leitungen sind sie nicht allzu
wahrscheinlich, auch würden Verfügungen, welche sich als nachteilig
erweisen, unschwer abzuändern sein. Ebenso ist nicht abzusehen, warum
und wie die Verbände bei demokratischer Zusammensetzung und der im Plane
liegenden beständigen öffentlichen Kontrolle die Macht der
kapitalistischen Unternehmer noch stärken sollen. Es kommt ganz auf ihre
Zusammensetzung an, ob der dies behauptende Einwand sich als
gerechtfertigt erweisen würde oder nicht, der dem Plan zugrunde liegende
Gedanke wird durch ihn nicht widerlegt. Das Gleiche gilt von dem
Einwand, daß die planwirtschaftliche Organisation und Regelung von
Produktion die Vollsozialisierung von Kohle, Eisen usw. aufhalten oder
gar verhindern würde. Die Widerstände, mit denen diese zu kämpfen hat,
erweisen sich als nicht geringer, wo wir die planwirtschaftlichen
Verbände oder etwas ihnen Nahekommendes nicht haben.

Und Deutschland wird etwas dieser Art haben müssen. Die
weltwirtschaftlichen Bedingungen seiner Volkswirtschaft und die auf ihm
lastenden finanziellen Verpflichtungen machen es ihm unmöglich, längere
Zeit bei dem Zustand der wilden Konkurrenzanarchie zu verharren, der der
Beseitigung der Zwangseinrichtungen der Kriegsjahre und der ersten Jahre
der Nachkriegszeit gefolgt ist. Zur Zeit, wo dieses geschrieben wird,
hält der niedrige Stand seiner Währung seine Ausfuhr und rückwirkend
seine Produktion auf solcher Höhe, daß es im Gegensatz zu den Ländern
mit hoher Valuta so gut wie keine Arbeitslosigkeit kennt. Jedoch geht
eines nach dem anderen jener Länder dazu über, Zuschlagszölle und andere
Schutzmaßnahmen gegen die Konkurrenz der Länder mit tiefer Valuta
einzuführen, und je mehr sich diese Maßnahmen verallgemeinern, wie das
zum Beispiel in den Vereinigten Staaten schon durch Gesetzgebungsakte
eingeleitet ist, um so mehr wird der aus der niedrigen Valuta
erwachsende Vorteil schwinden, während der Nachteil der erschwerten
Beschaffung von vollwertigen Zahlungsmitteln für den Ankauf von
Rohstoffen, die Deutschland nicht selbst erzeugt, und für die Zahlung
seiner Auslandsverpflichtungen bleibt. Der Übergang zu durchgreifenden
Maßnahmen für die stärkere Ökonomisierung seiner Volkswirtschaft wird
dann Gebot der Selbsterhaltung, und wenn man sie nicht den
Zufälligkeiten und Grausamkeiten des kapitalistischen Konkurrenzkriegs
überlassen will, wird man zu Maßnahmen schreiten müssen, wie sie in den
Entwürfen zur Planwirtschaft vorgezeichnet sind, wenn auch vielleicht
nicht ganz so schematisch. Diese Maßnahmen nun werden, wenn sie im
vorentwickelten Geist in die Hand genommen werden, zwar nicht _den_
Sozialismus, wohl aber ein bedeutsames Stück Sozialismus verwirklichen.
Denn sie bedeuten jedenfalls einen wichtigen Schritt vorwärts zur
gesellschaftlichen Regelung der Produktion und Erhebung der Arbeiter zur
Mitbestimmung im Wirtschaftsorganismus. Sie können so elastisch
gestaltet werden, daß sie der Initiative der Persönlichkeit in der
Wirtschaft dort, wo sie erhaltenswert ist, das heißt, wo sie
schöpferisch wirkt, einen weiten Spielraum lassen und die
Vollsozialisierung der zu dieser berufenen Produktionszweige nicht
hindern, sondern im Gegenteil erleichtern.

Zu Reformen in der Richtung der Gemeinwirtschaft zwingt ferner der so
gewaltig gestiegene und noch andauernd steigende Finanzbedarf von Reich,
Staaten und Gemeinden. Man hat sich in sozialistischen Kreisen oft darin
gefallen, die öffentliche Bewirtschaftung von Wirtschaftszweigen, sobald
sie mit Erzielung von Überschüssen verbunden war, kurzerhand Staats-
oder Gemeindekapitalismus zu nennen, und wo letztere der einzige oder
der alles beherrschende Zweck der Sache war, war der Name auch
gerechtfertigt. Aber er verliert diese Berechtigung in dem Maße, als bei
solchen Unternehmungen der öffentliche Nutzen leitendes Motiv ist und in
bezug auf die in ihnen Beschäftigten das soziale Moment in den
Vordergrund tritt, die Erzielung von Überschüssen dagegen nur noch durch
größere Ökonomie auf technischem Gebiet erstrebt wird, wie das heute
immer stärker der Fall ist. Dann ist die zunehmende Verwandlung von
Privatunternehmungen in öffentliche Betriebe zwar auch wiederum nicht
_der_ Sozialismus, wohl aber jedesmal ein Schritt auf seinem Wege. Und
diese müssen und werden sich mehren.

Der Finanzbedarf der Republik ist so groß geworden, daß er durch eine
Mischung von direkten Steuern der alten Gattung mit Verbrauchssteuern
und Verkehrsabgaben schwerlich noch länger wird gedeckt werden können.
Aus diesem Grunde und weil die Besitzer von Sachwerten -- von Grund und
Boden, Fabriken, Geschäftsanlagen usw. -- durch den Fall der Valuta
ungeheure Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit gemacht haben, ist der
Ruf nach direkter Erfassung der Sachwerte durch das Reich laut geworden
und wird ganz besonders von der Sozialdemokratie mit Energie vertreten.
Die Republik soll Miteigentümerin an den Sachwerten in der Weise werden,
daß ihr durch Verschreibungen ein bestimmter Anteil an deren
Jahreserträgen sichergestellt wird. Eine Maßnahme, die sie unter
gewissen Voraussetzungen in den Stand setzen würde, durch Hinterlegung
dieser Verschreibungen in der Reichsbank als Deckung für ihre schwebende
Schuld bzw. Notenausgabe eine bedeutende Hebung ihrer Valuta
herbeizuführen, die aber zugleich auch ihr einen genaueren Einblick in
die Finanzgebahrung der Unternehmungen verschaffen und auf diese Weise
ihre Kontrollmöglichkeiten steigern würde. Es sind das Gründe, welche
den großen, man könnte sagen, verzweifelten Widerstand erklärlich
machen, den Grundbesitzer und Kapitalisten aller Gattungen der Forderung
entgegensetzen, die aber ihre Verwirklichung den Sozialisten um so
erstrebenswerter erscheinen lassen. Denn man kann es, weil sie Gebot der
Notwendigkeit ist, offen sagen, auch sie birgt ein Stück Sozialismus,
und zwar ein um so bedeutungsvolleres, weil sie auf dem ganzen Gebiet
der Volkswirtschaft sich sozial vorteilhaft auswirken würde, ohne darum
das legitime Geschäft irgendwie zu beengen.

Der Umkreis der Anwendung des sozialistischen Gedankens beschränkt sich
selbstverständlich nicht auf die Wirtschaftsfragen im speziellen Begriff
des Wortes und die mit ihnen verbundenen Eigentumsfragen. Er umfaßt den
ganzen Fragenkomplex, der für die Hebung der materiellen Wohlfahrt, der
Erzielung der höchstmöglichen geistigen und sittlichen Kultur und der
dieser entsprechenden Rechtsgestaltung von Bedeutung ist. Auch hier
handelt es sich um Neuerungen, die, einzeln genommen, nicht schon
Sozialismus sind, sondern es durch den Geist, der sie erfüllt, und ihren
Zusammenhang mit vielen, vom gleichen Geist diktierten Reformen werden.
Vom Schulwesen in allen seinen Abstufungen angefangen bis zu den
weitverzweigten Gebieten der Sozialpolitik, der Rechtsgestaltung, der
sozialen Hygiene und der Kulturpolitik ist es dem Sozialismus
vorbehalten, Reformen zu verwirklichen, an welche die bürgerlichen
Regierungen und Klassen bisher gar nicht oder nur in Ausnahmefällen
herangetreten sind.

Um nur von der Sozialpolitik zu reden, so hat in Deutschland die
Revolution vom November 1918 in der Epoche der politischen Herrschaft
der Sozialdemokratie neben anderen bedeutsamen Erweiterungen des
Arbeiterschutzes die Verkündung des gewerblichen Höchstarbeitstages von
acht Stunden gebracht, und wieder können wir uns auf Karl Marx berufen,
wenn wir diese Reform einen Fortschritt zum Sozialismus nennen. Noch
höheren Anspruch hat auf diesen Namen das Betriebsrätegesetz vom
4. Februar 1920. Dieses von der gesetzgebenden Nationalversammlung, in
der noch der belebende Hauch der Novemberrevolution nachwirkte,
geschaffene Gesetz gibt den Arbeitern und Angestellten Rechte im
Betriebe, die man zur Zeit, wo Karl Marx schrieb, für unmöglich gehalten
hätte. Es ist allerdings nicht vollkommen, und seine Rückwirkungen auf
die Erträge der Volkswirtschaft lassen sich noch nicht völlig übersehen.
Aber eines ist sicher und wird in der Praxis auch von denjenigen
Arbeitern anerkannt, die es unter dem Einfluß einer bestimmten Agitation
bei seiner Schöpfung bitter bekämpft haben: es ist ein Stück
Sozialpolitik, das, wie kein zweites, den Arbeitern und Angestellten die
Möglichkeit eröffnet, aus Hörigen des Gewerbes zu Teilhabern oder
Genossen im sozialrechtlichen Begriff des Wortes zu werden.
Zustandekommen konnte es indes eben nur durch die Erkämpfung der
demokratischen Republik. Diese Republik ist gewiß nur erst der
juristische Hebel zu ökonomisch-sozialer Befreiung und noch nicht diese
selbst. Aber in einem industriell so vorgeschrittenen Lande wie
Deutschland, mit einer so entwickelten, politisch und wirtschaftlich so
stark organisierten Arbeiterschaft kann dieser Hebel nur in der Richtung
zum Sozialismus wirken. Daran ändert der Umstand nichts, daß es nicht
nach einer auf alles passenden Formel, daß es nicht auf dem ganzen
Gebiet des sozialen Lebens mit einem Male sich durchsetzt.

Vor jetzt 36 Jahren, im Jahre 1885, schrieb der Verfasser dieses im
Zusatzkapitel zu der von Jules Guesde und Paul Lafargue verfaßten
Erklärung der Marxschen Einleitungssätze des Mindestprogramms der im
Jahre 1880 gegründeten Arbeiterpartei Frankreichs:

  »Gewöhne man sich nur ab, von einem vollendeten Zukunftsstaat zu
  träumen, sondern halte man an der Erkenntnis fest, daß es einer
  geraumen Zeit der Entwicklung bedarf, bis das Prinzip des Sozialismus
  sich auf allen Gebieten des sozialen Lebens Bahn gebrochen haben wird.

  Spekulativ, in ihrem Kopf, haben zu allen Zeiten sich einzelne
  Menschen über gewisse Übergangsstadien hinweggesetzt. Aber noch stets
  hat die Praxis solchen Phantasten einen Strich durch die Rechnung
  gemacht.

  Vages Träumen ist der Todfeind alles konkreten Denkens. Letzteres aber
  ist es, was der Arbeiterklasse nottut. Ohne konkretes Denken keine
  Erkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse, und ohne diese kein
  planmäßiges Zielbewußtsein, zielbewußtes Handeln, das Haupterfordernis
  der Befreiung der Arbeiterklasse.«

In viel höherem Grade als ich es damals ahnte, haben diese Sätze sich
als berechtigte Mahnung erwiesen, und es wäre noch manches
hinzuzusetzen. Ließ doch meine sozialökonomische Erkenntnis noch viel zu
wünschen übrig. Auf Grund sehr überschätzter Erscheinungen im
Wirtschaftsleben hielt ich West- und Mitteleuropa für der Verwirklichung
des Sozialismus viel näher, als sie tatsächlich waren, und den Weg der
Verwirklichung für viel einfacher, als er tatsächlich ist. Die Erfahrung
hat uns belehrt, daß die Entfernung eine bedeutend größere war, der Weg
aber ganz und gar nicht einfach, überhaupt nicht schlechthin Ein Weg
ist.

Aber wir haben keinen Grund, darum etwa kleinmütig zu sein. Ich darf es
wohl sagen: wenn ich zurückblicke auf das, was damals war, und es mit
dem vergleiche, was heute ist, dann sehe ich erst, welch großer, welch
gewaltiger Fortschritt in der für das Leben von Völkern doch
verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit sich vollzogen hat. Der Weg ist nicht
so einfach, wie er damals erschien, aber der Kräfte, die an seiner
Überwindung arbeiten, sind in noch ganz anderem Grade mehr als damals.

Von den verschiedensten Seiten her, unter Anwendung sehr
verschiedenartiger Mittel und Methoden arbeitet ein mehr als zwanzigmal
größeres Heer von Arbeitern aller Art, als damals an der Verwirklichung
des Sozialismus. Das, was jeder einzelne zum Ganzen hinzufügt, erscheint
klein im Verhältnis zur Größe des zu verrichtenden Werkes, und der
Fortschritt des Tages geringfügig im Verhältnis zum Stand vom Tage
vorher. Nur erst, wenn wir von einem gewissen Abstand her ihn messen,
von dem aus wir das Ganze überschauen können, erkennen wir den
vollzogenen Fortschritt. Mit dem Traum von dem großen Sprung geht uns
aber nichts verloren, was des Bewahrens wert wäre. Junge, schwache
Bewegungen mögen seiner bedürfen, um auf dem weiten Weg, der noch keine
sozialen Erfolge verspüren läßt, den Mut nicht zu verlieren. Starke,
gereifte, zu schöpferischem Wirken gelangte Bewegungen haben seiner
nicht nötig. Er kann ihnen im Gegenteil nur schaden. Denn ihnen wird
falsches Messen um so verhängnisvoller. Für sie behält im hohen Grade
das oft mißbrauchte Wort des Dichters volle Berechtigung:

    Vergebens werden ungebund'ne Geister
    Nach der Vollendung reiner Höhe streben;
    Wer Großes will, muß sich zusammenraffen.

Erstarkte Bewegungen gewöhnen sich daran, von ihren Zielen jeweilig
nur das auf gegebener Stufe der Entwicklung Mögliche für den
unmittelbaren Kampf ins Auge zu fassen. In dieser Ökonomie des _Wollens_
aber liegt die sicherste Gewähr der _Erreichung des Gewollten_.



      *      *      *      *      *      *



Anmerkungen zur Transkription:

Im Original gesperrt gesetzter Text ist mit _ gekennzeichnet.
Im Original in Antiqua gesetzter Text ist mit = gekennzeichnet.
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Das im Original am Ende des Buches befindliche Inhaltsverzeichnis wurde
zur besseren Übersicht an den Buchanfang verschoben.

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work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at https://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at https://www.gutenberg.org/about/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit https://www.gutenberg.org/fundraising/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:
https://www.gutenberg.org/fundraising/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     https://www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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