Venusmärchen: Geschichten aus einer andern Welt

By Edna Fern

The Project Gutenberg eBook of Venusmärchen, by Edna Fern

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Title: Venusmärchen
       Geschichten aus einer andern Welt

Authors: Edna Fern
         Fernande Richter

Release Date: December 26, 2021 [eBook #67015]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMÄRCHEN ***





  Venusmärchen.

  Geschichten aus einer andern Welt.


  Von

  Edna Fern.


  [Illustration]


  Zürich 1899.

  Verlags-Magazin J. Schabelitz.


  Alle Rechte vorbehalten.

  Druck von J. Schabelitz in Zürich.




  Was ich als Kind einst von der alten Muhme
  In märchengrauer Dämmerstund' erlauscht,
  Was sonnenhell mir Wind und Wald gerauscht,
  Was mir geduftet hat die stille Blume,

  Das wuchs in mir zu einem Heiligtume. --
  Da kam das Leben, wichtig aufgebauscht,
  Und hätt' vernünftig thuend gern vertauscht
  Das Märchen mir -- zu ernstem Wissens-Ruhme.

  Doch lächelnd ging das Flüchtige vor mir her
  Und zeigte mir den Weg aus Tages Enge
  Und hob empor mich aus der Welt Gedränge --

  Der Märchen-Weisheit ewige Wiederkehr,
  Die lehrt' es mich. -- Nun nimmt es seinen Lauf
  Mild siegend weiter: Nehmt es bei euch auf! --




Inhalt.


                                                                   Seite

  Venus und Madonna                                                    1

  Der kleine Finger der Venus von Medici                               5

  Der gefesselte Cupido                                               18

  Psyche                                                              24

  Unser Frühling                                                      37

  Frostiger Frühling                                                  43

  Das Märchen, das gar nicht kommen wollte                            50

  Klein Hildegard                                                     58

  Das Märchen, das verloren gegangen war                              70

  In der Gosse                                                        81

  Sonniger Winter                                                     91

  Ein Weihnachtsmärchen                                               99

  Schneeflocken                                                      108

  Das Märchen von der weißen Stadt                                   120

  Weltausstellung im Walde                                           130

  Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden      141

  Rauch                                                              151




Venus und Madonna.


Dunkel wölbt sich der Himmel über der Erde, und die Sterne grüßen
einander und winken -- das ist das Flimmern -- fassen einander bei den
Händen und tanzen einen feierlichen Reigen über die unermeßlichen
Himmelsbahnen, und »Seht, wie klar die Milchstraße heute Abend ist!«
sagen sie auf der Erde. --

Da löst sich ein großer, glänzender Stern vom Firmament, der hat
funkelnd im kalten Norden gestanden, zieht seine leuchtende Bahn über den
dunkeln Nachthimmel hinweg und fällt zur Erde nieder. --

Da löst sich ein anderer, ein flimmernder, unruhiger Stern vom Firmament,
der hat blitzend im Süden gestanden, zieht seine schimmernde Bahn über
den dunkeln Nachthimmel und fällt zur Erde nieder. --

Und die beiden schönen Sterne fallen auf die große, weite Erde, in einen
Wald voll mächtiger Bäume, süß duftender Blumen, singender Vögelein,
spielender Tiere. -- Und siehe! da stehen die ersten Menschen, ein Mann
und ein Weib, sie blicken einander an, reichen sich die Hände und küssen
sich. Die beiden vom Himmel gefallenen, Mensch gewordenen Sterne -- sie
sind der Glaube, der Glaube an das Schöne, und die Sehnsucht. --

Und wieder und wieder flimmern, zittern, funkeln die Sterne am Himmel. Im
Walde der Ewigkeit ruht das Weib in den Armen des Mannes; und sie gebiert
ihm die Liebe -- das Kind der Sehnsucht und des Glaubens.

Da aber das schöne Menschenpaar ganz allein im großen, weiten Walde
wohnt, und nichts weiß von dem Gewimmel des Zwergengeschlechtes weit
draußen in der Welt, so wissen sie auch nicht, wen sie wohl zu Gevatter
bitten sollen, als sie ihr Kind, die holde Liebe, mit Himmelstau zu taufen
gedenken. Schon beginnen die Maiglöckchen ein wunderlieblich Geläut,
die Vöglein konzertieren und singen und flöten, und einherziehen
gravitätisch die Tiere des Waldes.

Das anmutige Reh äugt mit klugen Augen, das Häslein putzt sich, das
Eichhörnchen tanzt, der Dachs lugt hervor aus seinem Versteck, die
Eidechsen und Käfer huschen und jagen, die Schmetterlinge gaukeln um die
Blätterwiege, in der die Liebe ruht -- --, aber niemand ist da, der
das Kindlein tauft, und keine Gevatterin, die Liebe über die Taufe zu
halten. --

»Ich,« spricht der Fuchs und kommt geschlichen und streckt sein spitzes
Näschen zur Wiege des Kindes empor, »ich versteh's, das Taufen, bin bei
den Jesuiten in die Lehre gegangen, bin gut katholisch und sehr schlau.«

»Krah, krah!« krächzt ein großer, schwarzer Kolkrabe, »hier, nehmt
mich! Strengorthodox, schwarz, düster, wie meine Religion.«

»Vielleicht alttestamentarisch?« fragt höflich ein Eidechslein,
glitzernd von Gold, und dreht und windet sich immer wieder heran.

»Oder gar freisinnig?« klappert der Storch, spießt nach dem Eidechslein,
kröpft sich und schlägt sehr stolz und freisinnig mit den Flügeln.

Vater Glaube und Mutter Sehnsucht schütteln die schönen Häupter und
blicken ratlos um sich -- doch sieh! Licht, Sonnenschein überall um sie
her, flutet über Blumen und Vöglein und Tiere hin, und

»Ich,« spricht der Sonnenstrahl, »will die Liebe taufen. Ich dringe ihr
ins Herz hinein, ich wohne in ihren Augen. In jedem Lächeln ihres Mundes
zittere Sonnenschein, in jeder Bewegung ihrer Glieder herrsche Anmut,
Freude, Wärme.« Und

»Wir,« klingen sanfte und wunderbar eindringliche Stimmen, »wir wollen
Paten sein.« Zwei Frauengestalten neigen sich zu jeder Seite der Wiege,
in der die Liebe schlummert, so schön, so überirdisch schön, daß Glaube
und Sehnsucht demütig niederknieen. Die wissen nicht, ist es ein und
dieselbe, die zwei Gestalten angenommen hat, oder sind es zwei hehre
Frauen, die da niedergestiegen sind aus den Wolken, die Liebe zu
segnen. Wunderbar ähnlich sind sich die Schwestern, nur trägt die eine
langwallende Gewänder, und sie hält ein lieblich Kindlein fest an
ihr Herz gedrückt, und mild und rein ist das Lächeln ihres Mundes.
Unverhüllt glänzen der andern herrliche Glieder, süß berauschend wirkt
ihre Nähe, und heiße Glut entströmt den Augen.

Die beugt sich nieder zur Blätterwiege und küßt das schlummernd Kindlein
auf die unschuldigen Lippen, und spricht:

»Deinen Körper gib hin, o Liebe, und all deine Sinne und jede Fiber
deines Herzens!«

Da legt die Erste segnend die Hand auf des Kindes Haupt:

»Deine Seele gib,« hauchte sie, »und Mutterliebe sei dein Glück!« --

Und siehe! Aus dem Kinde ist plötzlich ein Weib geworden, himmlisch
schön, wie das Schwesterpaar -- es steht allein in all seiner Pracht auf
der weiten, sonnigen Erde. So zieht die Liebe in die Welt hinaus, das Kind
der Sehnsucht und des Glaubens, keusch wie Madonna, wonnig wie Venus -- und
das Zwergengeschlecht wendet sich ab von ihr, denn es kennt sie nicht. --
Weiche Lüfte aber wehen und tragen das Elternpaar, das der Welt die Liebe
geboren hat, hinan zum Himmel. Dort, zwischen den Sternen, wohnen nun
wieder die Sehnsucht nach dem Glück und der Glaube an das Schöne. --




Der kleine Finger der Venus von Medici.


Es war einmal ein Sonntagskind, das wanderte in der Welt umher und suchte
-- es wußte selber nicht was. Aber es blieb nicht auf dem schönen,
trockenen, breiten Wege, den schon so viele andere vor ihm gewandelt waren,
sondern mit der, den Kindern eigenen Passion für das Unbequeme, lief
es quer über die Straße, kletterte mühsam über einen großen Stein,
tappste in eine Pfütze, wie es ja deren so viele in der Welt gibt, und als
es erschrocken seine schönen, reinen Füßchen zurückzog, geriet es in
den Straßenkot; da eilte es entsetzt weiter, stolperte auf der anderen
Seite über einen noch größeren Stein und rannte mit dem Magen gegen
eines der eisernen Gitter, die überall in der Welt herumstehen. Nun
hatte vorläufig seine Reise ein Ende. Verdutzt sah es ein Weilchen das
häßliche Gitter an, dann um sich und nun über sich, und es erblickte
eine große, dunkle Wolke, die ballte sich zusammen aus all dem Dampf, der
aus den Häusern, den Fabrikschornsteinen, den Lokomotiven aufstieg,
und zog wie ein Heer Gespenster über den lieben Abendhimmel. Der schien
seltsam bunt drunter hervor -- glührot und rosenfarben und lichtgrau und
blau und zartes Grün -- wie als ob er dem schwarzen Gespensterheer mit
seinen Lichtelfen Trotz zu bieten gedächte. Aber die finstere Riesenwolke
ballt sich immer drohender und trotziger zusammen, und da wird es dem
Sonntagskinde ganz beklommen und bange ums Herz, und es stürzt davon,
durch die Straßen, so schnell es seine Füße tragen können, und über
ihm zieht die Wolke. Da aber verschwindet sie plötzlich, wie fortgeweht,
und das Kind hält inne in seinem tollen Lauf, denn es steht vor einem
goldenen Gitter, hinter dem hohe Bäume herüberwinken und ein süßer,
feiner Duft emporzieht.

»Ach,« denkt das Sonntagskind, »da drinnen muß es gut sein, ich möchte
ausruhen, denn ich bin sehr müde -- ob ich wohl hineinschlüpfen dürfte?
-- Ich will auch ganz leise sein.«

Kaum hat es das gedacht, so öffnet sich die goldene Thür, sanft, wie
von Feenhand, und das Sonntagskind schleicht vorsichtig hinein, sich noch
einmal bang nach der schwarzen Wolke umschauend. -- Richtig, ganz in weiter
Ferne hängt sie und blickt drohend herüber.

Nun ist das Sonntagskind drinnen in einem herrlichen Garten. Weg ist seine
Müdigkeit; mit weitgeöffneten, glänzenden Augen wandelt es auf weichen
Wegen unter hohen, ernsthaften Bäumen; mit zitternden Lippen saugt es
süße, berauschende Düfte ein, es lauscht mit Herzklopfen den wonnevollen
Tönen, von denen die Luft ringsum erfüllt ist. Wie tausend Nachtigallen
Gesang klingt es, aber es sind nicht allein die kleinen Vöglein in
den Zweigen, die so liebliche Melodieen erschallen lassen. Nein,
jedes Blättlein, jede Blüte ist wie ein Echo und trägt die weichen,
sehnsüchtigen Nachtigallentöne vieltausendfach weiter. Und all die Blumen
-- die Hyacinthen läuten mit ihren Glöckchen »Klingling! Ach, wie wonnig
ist's hier!« und »Dingdang, dingdang!« antwortet die blaue Glockenblume,
»ich läute zur Abendmette der Natur!« --

Die hohen, schneeigen Lilien senden ihre schweren, süßen Düfte nach
oben, der sentimentale Jasmin, die neckische Syringe; und die schwermütige
Narcisse wendet ihr weißes Blumengesicht sehnsüchtig dem Monde zu. Denn
Nacht ist's geworden: Millionen blitzender Sterne sehen mit funkelnden
Augen vom Himmel hernieder, und der Mond gleitet mit ruhigem Schein über
den Garten hinweg, so hell und klar, daß das Sonntagskind die vielen
zierlichen Gestalten sehen kann, kleine Elfen und Kobolde, die sich im
Gras zwischen den Blumen tummeln, und die Nixen und Wasserelfen -- auf den
großen, grünen Blättern der Wasserrosen im See kauern sie und lassen
sich schaukelnd hin und her treiben und greifen jauchzend nach dem
glitzernden Sprühregen, den Tritonen im mächtigen Strahl gen Himmel
senden und der, leuchtend wie Diamanten im Mondesglanz, zu ihnen
niederfällt.

In den lauschigen Ecken und Winkeln der Gebüsche stehen weiße Gestalten
-- sind's Menschen? Sie sind nackt, kaum mit einem leichten Flor bekleidet.
-- Sie sind schön, himmlisch schön, und das Sonntagskind tritt näher und
faßt Mut, weil sie so gar lieb und gut blicken, und es berührt sie ganz
vorsichtig und leise mit der Hand, streichelt die schönen, nackten Füße
und -- fährt erschrocken zurück, denn eiseskalt sind sie und tot.

Doch sieh -- bewegen sie sich nicht? Und horch -- hörst Du nicht leises
Kichern, Flüstern, neckisches Lachen -- ach, und klagendes Schluchzen? --
Die Hand des Sonntagskindes hat sie berührt -- sie leben, die schönen,
marmornen Menschenbilder, das rote, warme Blut rollt durch ihre Adern,
sie lächeln, es bebt ihr Fuß zum Weiterschreiten. Da neigen sie sich vor
ihrer Königin -- die steht in ihrer Mitte, ein wonnevoll Weib, zierlich
treten ihre schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den
Schoß, die rechte den schneeigen Busen, zur Seite geneigt hält sie das
liebliche Haupt, die holde Venus von Medici -- und nun fassen sie sich bei
den Händen, die herrlichen Göttergestalten und die Elfen und Nixen mit
ihrer weichen, eidechsenhaften Schmiegsamkeit und die komischen Kobolde mit
ihren langen Bärten und listigen Aeuglein und drolligen Bewegungen; sie
tanzen einen zierlichen, wunderlichen Reigen um das Sonntagskind im Kreise,
und sie singen:

»Bleib' bei uns -- o hier ist's gut sein! Hier ist Schönheit, hier ist
Liebe -- zu süßer Freude wandelt die Lust sich, zu mildem Frieden Angst
und Unruh' -- -- Ach, und der Schmerz, der wild durchtobt des Menschen
Herz -- er löst sich auf in sanftes Klagen, die Sorge wird hier zu Grab'
getragen, und aller Kummer lind gestillt. --

»Hörst Du der Nachtigall Gesang? -- So singt die Sehnsucht in Deinem
Herzen.

»Hörst Du der Blumen Geläut? -- So läuten sie Deine bange Seele zur
Ruh.«

Und horch! Welch wunderlieblich Geklinge und Gesinge, wie Glockentöne in
weiter Ferne! Näher kommt's -- immer näher -- husch! der lustige
Kreis stiebt auseinander, blitzschnell, wie er gekommen, und vor dem
Sonntagskinde steht eine hehre, schöne Frau, deren zarten Leib umgibt
ein Kleid von Rosenblättern, auf dem wonnesamen Haupt strahlt eine
Sternenkrone, die Flügel des Königsfalters trägt sie an den Schultern,
und ihre Füße wandeln auf Blumen.

Sie lächelt -- da zittert die Luft vor Freude -- Sie spricht -- da
lauschen Mond und Sterne. -- »Haben sie Dich erschreckt da draußen in der
Welt, Du Menschenkind?« sagt sie, »hat die große, schwere Wolke Dir das
Herz beklemmt und Dir den Atem genommen? Und bist Du zu mir geflüchtet, in
den Garten der Wonne, in mein Königreich, das Reich der Phantasie? -- Ich
wußte es wohl, Ihr Menschenkinder könnt ohne mich nicht bestehen. Da geht
ein lautes Gerede, ein wildes Geschrei durch die Welt: sie brauchen mich
nicht, _nur_ Natur wollen sie, und nur im groben Alltagskleid, nicht
im glänzenden Schmuck, im schimmernden Geschmeid, womit ich sie
überschütte. -- Aber siehst Du, Du Sonntagskind, kommst doch geflüchtet
zu Deiner Trösterin, ohne die Du die Natur nicht ertragen, ohne die Du
nicht leben kannst. -- Und wenn Du wieder hinausziehst, dann sag' es ihnen
draußen in der Welt, was Du geschaut in meinem Reich. -- Ach, gerade
jetzt sollten sie es wissen, wo die dunkle Wolke schwer über den Völkern
schwebt und sie darnieder drückt.

»_Weißt_ Du, warum gerade jetzt? _Willst_ Du es wissen?«

Sie blickt um sich und klatscht in die Hände. Und siehe -- ein
wunderlicher Geselle kommt gehüpft, getollt, gesprungen: nackt ist er und
zart von Gliedern, mit schelmischem Mund und ernsthaften Augen, einen Bogen
trägt er in der Hand und einen Köcher mit Pfeilen an der Hüfte. --
Sah ihn das Sonntagskind nicht dort im Syringengebüsch auf einer Säule
stehen?

Doch nun -- einen Purzelbaum schlägt er auf dem weichen Gras und ist zum
eisgrauen Männlein geworden, das lustig mit den Aeuglein zwinkert und
allerlei Kapriolen macht, und plötzlich schwebt er in der Luft, so
fein und zart, als sei er aus Mondenschein gewebt, als sei er auf Blumen
geboren, als sei er mit Tautropfen genährt. Und nun wieder trottelt er
daher wie ein kleiner Brummbär und schlägt mit einer Keule um sich, daß
die Nixchen und Elflein entsetzt zur Seite weichen.

»O, laß die Possen, Du närrischer Kauz,« lächelt Frau Phantasie,
»nimm Deine wahre Gestalt an, mein Gesell« -- da klingelt's wie von
silbernen Glöckchen, die trägt das wunderliche Kerlchen an seiner
Schellenkappe auf dem Haupte, und legt sein Gesicht in ernsthaft-drollige
Falten, hängt seinen Bogen über den Rücken, als gebrauche er ihn nicht
mehr, und schreitet umher mit gravitätischen Schritten.

»Ist das Deine wahre Gestalt?« Frau Phantasie schüttelt das schöne
Haupt ... »nun, sei es drum. Sieh',« sagt sie zum Sonntagskind gewandt,
»den Mittler zwischen mir und den Menschen. Nenne ihn Amor, Puck, Geist,
wie Du willst; kannst ihn auch Humor heißen, das hört er am liebsten.
Geh' mit ihm -- die Welt soll er Dir zeigen, wie sie uns Göttern
erscheint. An seiner Hand wird es Dich weniger schmerzen.«

Sie gleitet dahin wie der Mondesstrahl, die hehre Königin, und ihr
nach durch Busch und Zweig, über Blumen und Moos huscht das lose Volk,
Leuchtkäfern gleich, die in Abendluft baden, und in der Ferne tönt
neckisch Gelache. --

»Komm',« sagt der närrische Geselle, und schüttelt seine Kappe, daß
die Glöckchen klingen, »reich' mir Deine Hand, armes Sonntagskind. Hab
Dich schon gesehen draußen in der Welt, wie Du über Steine gestolpert
bist und in Pfützen getreten hast. Ja, es ist immer sicherer, auf den
hübsch ausgetretenen Pfaden der Alltäglichkeit zu wandeln, als seinen
eigenen Weg gehen zu wollen. Hast Dich zur rechten Zeit in meiner Mutter
Phantasie Garten gerettet, sonst hättest Du Dir sicher noch einmal an
irgend einem Weltgitter Kopf und Herz eingerannt, Du dummes Sonntagskind,
Du. -- Also ich soll Dir zeigen, wie es in der Welt eigentlich aussieht.
Wohl kann ich Dir's erklären, denn ich treibe mich viel draußen herum.
Einige in der Welt schwärmen für mich, andere sagen, ich sei ein wahrer
Teufel. Wenn ich mit der Schellenkappe klingele, verstehen mich die
Wenigsten; da muß ich oft schon mit der Plumpkeule dreinschlagen, und dann
schreien sie und sagen, ich hätte ihnen weh gethan. -- Komisches Volk,
diese Menschen!«

Jetzt sind sie am Ende des Gartens angelangt. Eine hohe Mauer scheidet ihn
von der Außenwelt; an der ranken sich wilder Wein und Epheu, und blaue
Clematis hängen hernieder und rote Trompetenblumen, so dicht, daß man von
den rauhen Steinen nichts gewahr wird, wie nur die runden Glasfensterchen,
die hie und da in die Quadern eingefügt sind.

»Sieh,« sagt der närrische Sohn der Phantasie und reicht dem
Sonntagskind eine große Trompetenblume als Fernrohr, »die ganze Welt
zieht wie die Bilder eines Guckkastens an unsern Fensterchen vorüber.
Mußt aber nicht durch dieses hier sehen, das ist die rosenfarbene Brille,
durch das schauen nur die Faulen, die ihre Gedanken nicht anstrengen mögen
-- ~nota bene~, wenn sie welche haben -- und jenes Fenster dort ist gelb
wie der Neid und dieses rot wie Blut, als ob die Welt in Feuer stünde.
Nein, schau hierher -- Clematis und Weinranken haben ein schönes, kleines
Guckloch gebildet, ein Vöglein, das früh morgens zur Sonne singt, hat
sich drüber ein Nestlein gebaut -- _das_ Glas ist klar und wahr wie meiner
Mutter Augen. Komm, Du Sonntagskind, laß mich über Deine Schulter lehnen
und Dir sehen helfen.«

»Nein, wie ist die Welt klein!« ruft das Sonntagskind verwundert.

»Nicht wahr?« antwortet der Geselle, »und Du hast sie immer für so
riesengroß und wichtig gehalten.«

»Und die Menschen -- wie Zwerge! Sieh' nur das Gewimmel!« lacht das
Sonntagskind.

»Ja, das macht Spaß, die Welt übersehen zu können,« nickt der Geselle
und die Glöckchen an seiner Schellenkappe klingeln dazu.

Da draußen in der Welt krabbelt's, prustet's, keucht's und läuft und
schiebt und stößt -- die Großen drängen die Kleinen zur Seite, die
Starken schlagen die Schwachen tot, und die Armen wehklagen gen Himmel. --

»Wie eilig sie es alle haben!« wundert sich das Sonntagskind.

»O sieh' nur, sieh' -- den alten Mann, einen Kahlkopf hat er und unterm
Kinn einen grauen Ziegenbart, und die Augenbrauen stehen wie Borsten in die
Höhe und die Augen glitzern gierig darunter hervor. -- Sieh', wie er an
dem Sack zerrt, wie Gold schimmert es durch die Löcher -- er kann ihn kaum
regieren und Angst und Zornesthränen rinnen aus seinen Augen.«

»Ja, und er trägt rot und weiß gestreifte Hosen und einen blauen Rock,«
sagt Puck, »und er kaut Tabak, und er flucht englisch, wenn die andern
seinem Geldsack zu nahe kommen.«

»Ach, und jener dort -- mit großen Sprüngen, mit ellenlangen Schritten
setzt er dem kleinen Irrlicht nach, das über Berg und Thal, durch Sumpf
und Morast vor ihm herhüpft, und sieh' nur, wie seine Frau sich anstrengt,
mitzukommen.«

»Sieh, sie hebt ihre schönen, seidenen Kleider auf, daß sie nicht
schmutzig werden, und patsch! springt sie mit beiden Füßen in die
Wasserlache -- nachher läßt sie die Kleider wieder drüber hängen --
dann sieht man ihre beschmutzten Füße nicht -- und guck! das Irrlicht
sieht aus wie ein Ordensbändchen.«

»O, aber hier, wie schrecklich -- sie bücken sich tief zur Erde, damit
andere auf ihre Rücken treten können und weiter schreiten dort hinauf, wo
es so glitzert und gleißt wie von Prunk und Geschmeide. -- Und dort läßt
sich einer schlagen -- ach, geduldig und wehrt sich nicht!«

»Liebes Kind,« sagt der Gesell, »die sind aus dem Land, wo die Bedienten
gut geraten.«

»Lieber Gesell -- o siehst Du den Mann dort in der Ferne -- mit bleichen
Lippen, mit rollenden Augen? Siehst Du, wie er mordet und zittert und
flucht und betet, wie er angstvoll sich windet --«

»Liebes Kind -- der sitzt auf einem Thron, der wackelt hin und her, und er
trägt den Wahnsinn als Krone und als Scepter eine blutrote Brandfackel --
wenn er die von sich schleudert, dann bebt die Erde von Kanonendonner
und Menschengestöhn -- und ›Väterchen‹ nennt sich der Mann, liebes
Sonntagskind.«

»Ach, mein Geselle, wo wollen die vielen Menschen hin, die dort mit den
feinen, kostbaren Kleidern angethan, die ein mit Silber beschlagenes Buch
und einen Geldbeutel in den Händen tragen, die, mit den frommen, ergebenen
Gesichtern --«

»In die Kirche, Du dummes Sonntagskind, auf daß der Prediger ihnen in
tönenden, salbungsvollen Worten die Angst vom Herzen rede. Dann thun sie,
als ob sie's glauben, was er sagt, und gehen neugestärkt nach Hause und --
leben weiter.«

»Und siehst Du jene Schar dort, mein Geselle, Ballettänzer scheinen sie
zu sein. Hei! was sie für Sprünge machen! -- Schau, die wunderlichen
Gesten, und wie elegant sie zu posieren verstehen -- dem Publikum eine
rechte Augenweide. Aber doch -- ich glaube sie thun nur so, es ist ihnen
nicht wohl ums Herz -- sie schauen bleich aus, trotz Schminke und Puder. --
Sag, mir, was sind's für Leute?«

»Liebes Kind -- Litteraten sind's, moderne aus dem neunzehnten
Jahrhundert, und die barocken Sprünge und eleganten Posen machen sie aus
Angst, um sich und das Publikum d'rüber hinwegzutäuschen.«

»Und, mein Geselle, sieh' den Mann dort hinter dem Ofen, in Schlafrock
und Pantoffeln, mit langer Pfeife und dem Bierseidel in der Hand. -- Recht
unzufrieden scheint er mir zu sein, er rückt unruhig hin und her -- horch!
er schilt und gebraucht böse Worte.«

»Ja, liebes Kind -- das Bier schmeckt nicht, und die Kartoffeln sind
mißraten, und die Pfeife qualmt und durch die Schlafrockärmel pfeift
der Wind, und die Pantoffeln sind unbequem. Da hadert er mit seinem
langmütigen Herrgott im Himmel droben, mit dem Brauersknecht, dem Nigger,
dem Schuster und am meisten mit seiner lieben Frau -- und es ist doch nur
die Angst, die ihn in seiner eigenen Haut sich nicht wohl fühlen läßt.
-- Ja, und ›Philister‹ nennt man den Mann, liebes Sonntagskind.«

»Ach, und, mein Geselle, dort jene Hungernden, Darbenden, Elenden, jene
Neidischen, Unzufriedenen, Hassenden, auf was warten sie finstern Auges,
trotziger Stirn, rachsüchtigen Herzens? Und dort jene Ballgeschmückten,
die im Reigen sich drehen! Was ziehen sie in ihren Masken und Flittern
einher, als wollten sie die Freude zu Grabe tragen?«

Da faßt der Geselle das Sonntagskind bei den Schultern und wendet es ein
wenig zur Seite:

»Schau dort hinüber, liebes Kind,« sagt er, »sieh' weithin über die
Welt!«

Da steht auf einem Berge, hoch über dem Gewirr, Gewimmel, Gehast, ein
großes, starkes Weib, das schwingt mit grimmigem Lächeln, mit finsterem
Angesicht eine Peitsche in ihren Händen, deren vielteilige, zackige
Enden zischend über die ganze Welt hinsausen -- und hohnlachend sieht das
Riesenweib, wie die Menschen angstvoll zusammenfahren und bei jedem Schlage
noch verwirrter durcheinander rennen.

»Die Wolke, die große Wolke!« ruft das Sonntagskind entsetzt, »siehst
Du, wie sie über die Welt hinfährt? Hörst Du sie zischen und brausen?
Das ist sie, die mich so erschreckt!«

»Ja,« antwortet der neben ihm und richtet sich auf zu voller Höhe und
seine Augen blitzen.

»Das ist die Wolke -- das ist die große Angst, die schwer auf der Welt
liegt, die Angst der Völker vor etwas Entsetzlichem, etwas Furchtbarem,
das über sie kommen wird, wie der Blitz durch die Wolken fährt. -- Wird
es sie vernichten? Wird es die Welt zerschmettern, zu nichts zertrümmern
-- oder wird aus dem Chaos ein Neues entstehen, ein Herrliches, wie der
Vogel Phönix aus der Asche! Sie wissen's nicht und beben vor Furcht und
wagen kaum, tief Atem zu holen.«

»Gibt es denn gar kein Mittel, um die Welt von dieser wahnsinnigen Angst
zu befreien, auf daß sie ihr kühn entgegenblicke und ihre ganzen Kräfte
anstrenge, dem Schrecklichen mit Vernunft entgegen zu arbeiten?« fragt das
Sonntagskind schüchtern.

»Ach, liebes Sonntagskind,« lächelt der Geselle und schüttelt seine
Glöckchen, »das Mittel ist schon da und die Menschen kennen's auch, nur
haben sie es vergessen. -- -- All die große, schwere Angst der Völker
würde sich in nichts verflüchtigen, wenn sie nur ein klein wenig mehr an
-- den kleinen Finger der Venus von Medici denken wollten.«

»An den kleinen Finger der Venus von Medici?« fragt das Sonntagskind mit
großen, verwunderten Augen.

»Komm,« sagt der närrische Geselle, und schweigend wandern sie durch die
Nacht tief in den Garten hinein. Da stehen sie vor einem dichten Gebüsch,
von lauter seltsamen Sträuchern gebildet; Pinien wiegen ihre schlanken
Wipfel und dunkler Lorbeer schmiegt seine Zweige ineinander. Aber des
Mondes Strahl dringt doch hindurch -- oder ist es das schöne Weib dort,
das den wundersamen Glanz ausstrahlt? Da steht sie in ihrer schimmernden,
weißen Nacktheit inmitten all dem Grünen -- zierlich treten ihre
schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den Schoß,
die rechte den schneeigen Busen, und der wunderbare kleine Finger dieser
rechten Hand spreizt sich ein wenig von den andern ab, zur Seite geneigt
hält sie das schöne Haupt -- lauscht sie? --

Betäubt von all ihrer Schönheit sinkt das Sonntagskind in die Knie. Der
Geselle aber tritt bescheiden hin vor das wonnevolle Weib, schleudert seine
Narrenkappe zur Seite und faltet bittend die Hände:

»Hehre Göttin, süße Königin, Dein Knecht, dem Du stets Dich huldvoll
geneigt hast, dem Du so manchesmal aus der Not geholfen, in die ihn sein
Uebermut gestürzt hat -- Dein dankbarer Liebling naht sich Dir mit einer
demütigen Bitte: Gib diesem Menschenkinde, das zu uns in seinem Kummer
geflüchtet ist, einen Trost auf seinen Weg, den es der Welt verkünden
kann. Laß es die Macht Deines vornehmen kleinen Fingers ahnen -- zeig'
ihm, warum Du ihn so entzückend neckisch gespreizt hältst.«

Da lächelt Venus: »Nun, wozu sollte er denn sonst wohl gut sein,«
sagt sie schelmisch, erhebt die rechte Hand, läßt sanft den kleinen
gespreizten Finger in die zierliche Ohrmuschel gleiten und schüttelt ihn
ein wenig -- dann lauscht sie lächelnd freudig in die Ferne.

»Ich höre wieder die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens --
himmlisch wohllautend dringen sie in mein Ohr!«

»Sieh', kleines Sonntagskind,« sagt der ernsthafte Geselle, »wie die
Venus mit ihrem kleinen Finger die Spinnenweben der Lüge und Heuchelei
und Hartherzigkeit aus ihrem Ohr hinaus schüttelt, so sollten es auch die
Völker thun, dann würde die große, schwere Angst von ihnen weichen und
die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens auch an ihr Ohr dringen.

»Pah,« lacht er dann, nimmt seine Schellenkappe auf und wirft sie in die
Luft, daß die silbernen Glöckchen klingeln, »armes Sonntagskind -- die
Welt wird Dich steinigen, wirst Du ihnen das verkünden. Lache über sie,
so wie ich, das ist das Einzige, was sie fürchtet.«

Und mit immer länger werdenden Schritten, riesengroß anwachsend, ist er
im Mondenlicht verschwunden.

Dem Sonntagskinde aber hat die Venus gelächelt -- tiefer Friede deckt
seine schweren Augenlider.

Hell scheint die Sonne ihm ins Angesicht, es steht auf, schaut verwundert
um sich -- dann erhebt es seine rechte Hand und schüttelt mit dem kleinen
Finger ein wenig im Ohr -- es lauscht -- eine Lerche steigt jubelnd gen
Himmel -- und in ganz weiter, weiter Ferne hängt ein dunkles Wölkchen am
Horizont.




Der gefesselte Cupido.


Eines Tages saß Cupido -- ich meine nicht den patentierten,
konzessionierten Heiratsvermittler und Rechenmeister des neunzehnten
Jahrhunderts, sondern das liebe, mutwillige Bübchen, von dem Anacreon
erzählt und Goethe in seiner »Brautnacht« --, der saß eines Tages im
Olymp und langweilte sich. Er hatte zwar eben erst allerlei Schabernack
verübt, hatte sogar dem Vater Zeus einen Brand-Pfeil ins Herz gesandt,
so daß er nicht wußte, nach welcher hübschen Erdentochter er zuerst
schmachten sollte, hatte versucht, die lange Artemis anzuschießen, aber
vergebens, ebenso die Athene; und aus Rache dafür, daß sie ihm ihren
kolossalen Minervaschild vorhielt, zupfte er ihre Eulen, die sie just
fütterte, am Schwanz, so daß sie entrüstet »Huhu« sagten. Tante
Juno hatte ihm sehr energisch auf die Finger geklopft, als er den Nymphen
allerlei süße Dummheiten ins Ohr flüsterte und schließlich sogar den
Dienerinnen der Vesta nachstellte; da war er zu seiner holdseligen Mutter
Aphrodite geflüchtet, und sie breitete ihm sehnsüchtig die Arme entgegen,
und schwirr, da flog der Pfeil und stak ihr im Herzen. Der böse, liebe
Junge -- aber Aphrodite lächelte -- sie war's ja gewohnt! -- Nun saß
Cupido auf einer Wolke und bammelte mit den Beinchen und guckte zur Erde
hinab und langweilte sich. Da kam Hermes daher geflogen, der hatte irgend
einer Schönen im Auftrage des Vaters Zeus eine Düte Ambrosia gebracht
und dafür ein Stelldichein verabredet. Er mochte den Cupido gut leiden und
hockte sich ein wenig zum Ausruhen neben ihn.

»Du -- weißt Du, was sie da unten mit Dir gemacht haben?« fragte er ihn.

»Nee -- was denn?«

»Erst 'mal haben sie Dich riesig elegant angezogen, im schwarzen Frack
und Cylinder, und sie sagen, Du hießest gar nicht Amor, sondern Puck; und
außerdem wäre es unanständig, wenn man nackt ginge. Und dann haben sie
Dir eine große Brille aufgesetzt, weil Du blind wärest, sagten sie und
haben Dir Deinen Köcher mit Goldstücken statt mit Pfeilen gefüllt, das
zöge besser, sagten sie, und haben Dir statt eines Bogens ein Tintenfaß
in die Hand gegeben und Dir eine Feder hinters Ohr gesteckt, damit Du
gleich die Ehekontrakte ausschreiben könntest, sagten sie, und wenn Du
doch 'mal ganz splitterfadennackt, ganz natürlich, ohne alle Zuthaten zu
ihnen kommen wolltest -- sie möchten Dich eigentlich ganz gern so, sagten
sie -- dann müßtest Du aber durchs Hinterthürchen schlüpfen, damit dich
ja auch keiner sähe, denn sonst genierten sie sich, sagten sie.«

»Beim heiligen Kriegsungewitter!« fluchte Cupido -- »das ist ja eine
ganz urweltliche Bande!«

»Hör' nur weiter -- es kommt noch besser. Da hat sich einer -- so'n ganz
vertrocknetes Kerlchen mit einer Brille auf der Nase, auf einen hohen
Stuhl gesetzt, und hat mit dem Finger -- weißt Du, mit so einem langen
knöcherigen -- auf den Tisch geklopft und hat gesagt: Es gäbe Dich
gar nicht, Du wärest eine Mythe, und die Liebe, das wäre eine
Nervenaufregung, die leicht in Irrsinn übergehen könnte, und deshalb
hätten die weisen Männer Gesetze gemacht, nach denen die Gefühle
geregelt würden.«

Da sprang aber Cupido in die Höhe:

»Heilige Mutter Aphrodite! Gesetze? Für mich? -- Na -- das möchte ich
mal sehen. -- Liebster, bester Hermes, geh' -- sattle mir schnell den
blanken Stern da, ich will hinunterreiten, das muß ich mir aus nächster
Nähe betrachten!«

Und da saß er schon auf seinem glänzenden Stern und fuhr hinab, und auf
der Erde sagten sie: Da fällt eine Sternschnuppe.

Es kam aber dem Cupido furchtbar kalt vor im neunzehnten Jahrhundert,
obwohl es im August war, wo die meisten Sternschnuppen fallen, und bei
Sonnenaufgang fror es ihn ganz erbärmlich, trotz des Umschlagetuches, das
ihm das alte Hökerweib geschenkt hatte. Die saß schon am ganz frühen
Morgen mit ihren Körben auf dem Markte, und wie sie den nackten, kleinen
Gesellen daherkommen sah, da wurde es ihr so weich und sehnsüchtig ums
Herz, sie meinte, es wäre Mitleid -- es war aber die Erinnerung: sie
sah sich wieder jung und hübsch, sie war beim Tanz unter der Linde, der
schönste Bursche schwang sie im Reigen -- heißa! -- hoch in die Luft,
daß die Röcke flogen, und dann küßte er sie. Und da machte sie die
Augen auf, und vor ihr stand wieder der drollige kleine Junge. Der nahm
das Höckerweib frischweg beim Kopf und gab ihr einen Kuß für das
Umschlagetüchelchen, das sie ihm gegen die Kälte geschenkt, und die Alte
faltete die Hände und träumte von ihrer Jugend. -- -- Den Cupido fror es
aber doch an den nackten Beinchen, und er dachte: »Ich will doch sehen, ob
ich nicht irgendwo hineinschlüpfen kann und mich wärmen.«

Doch da kam er schön an.

»Was willst Du hier?« fuhren sie ihn im ersten Hause an -- »Du bist so
unbequem -- mach', daß Du fortkommst!« Im zweiten öffneten ihm zwei alte
Jungfern die Thür, liefen kreischend davon und schrieen:

»Hülfe -- ein Sansculotte -- er hat nichts an!« Und der dicke Mops saß
auf dem Sofa und bellte ihm nach. Im dritten Hause fragten sie höflich
verwundert: »Was wollen Sie hier? Wir sind ja verheiratet.«

Im vierten hielten sie ihm einen Ehekontrakt unter die Nase, und im
fünften sprachen sie von Gesetzen und -- da wurde Cupido böse und sagte:

»Wartet, ich will Euch! Ihr wollt mich hier verleugnen? Bei unserer lieben
Frau von Milo -- Ihr sollt es büßen!« Er schwang sich in die Lüfte,
spannte den Bogen, und -- huidi! -- da schwirrten die Pfeile! Er schoß
blindlings drauf los, ganz einerlei, ob nach Grundsatz oder Gesetz -- aber
sie trafen. Und nun gab es eine heillose Verwirrung unter den Menschen; sie
hatten geglaubt, den Liebesgott hinwegspotten und -klügeln zu können,
und da war er plötzlich mitten unter ihnen und sie duckten sich, bange,
wehklagend und nach Hülfe wimmernd. -- Da ist ein Mägdlein gekommen. Wie
Cupido das erblickte, verschwand der Zorn aus seinem Angesicht, lächelnd
sah er es an -- und wählte seinen allerschönsten Pfeil, mit dem er
schon einmal seine holde Mutter geritzt hatte. -- Es war aber ein trotzig
Mägdelein. Keck schauten die Augen in die Welt hinein und sein roter Mund
sagte:

          »Was frag' ich nach Liebe?
          Mir liegt's nicht im Sinn!
          Wohl hab' ich ein Herzel --
          Doch pocht es nicht drinn!
  Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
  Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!

          Zwar hab' ich ein Mündlein
          Und seht nur -- wie rot!
          Und ach -- wie kann's lachen --
          Das macht Euch viel Not!
  Doch daß Ihr's nur wißt, doch daß Ihr's nur wißt:
  Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!«

Horch! -- da schwirrt es und singt und klingt! Und sieh' -- da steckt der
Pfeil in der schönen, weißen Mädchenbrust --

Das trotzige Mägdelein hat mit der Hand ans Herze gegriffen, ist glührot
geworden, ist scheu davon geschlichen. Aus der Ferne tönt es:

          »Nun frag' ich nach Liebe --
          Nun trag' ich's im Sinn!
          Nun fühl' ich mein Herze! --
          Es pocht so darin!«

Und Cupido lauscht, biegt sich vor und lächelt, blinkt mit den
Schelmenaugen, hebt deutend das weiße Fingerchen, und spitzbübisch singt
er ihr nach:

  »Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
  Just hat sie der Liebste, der Liebste geküßt!« --

       *       *       *       *       *

Gerade da kam ein Mann des Weges gegangen, der war ein Sonntagskind, der
konnte schauen, was andern verborgen war -- der hat den kleinen, herzigen
Schlingel stehen sehen, wie er dem trotzigen Mägdelein nachgehöhnt hat.
»So sollst du ewig sein!« sagte er.

Cupido aber ist ihm entgegengehüpft, denn der Mann war ein Künstler, und
die Künstler stehen auf gar vertrautem Fuße mit all dem lustigen,
alten Göttergesindel -- er ist geduldig mit ihm gegangen und hat sich in
marmorne Fesseln schlagen lassen. Und so steht er da in der ganzen Pracht
seiner Schönheit, ein wenig nach vorn geneigt, das süße Schelmengesicht
voll Sonnenschein, das Fingerchen erhoben und deutet auf euch, die er
euch eben mitten ins Herz getroffen hat -- und lachend klingt's von seinen
Schelmenlippen:

  »Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
  Nun wird die Liebste vom Liebsten geküßt!«




Psyche.


  »~Ich saz ûf eime steine,
  und dahte bein mit beine:
  dar ûf sazt ich den ellenbogen:
  ich hete in mîne hant gesmogen
  daz kinne und ein mîn wange~,«

sagt Walter von der Vogelweide. So sitze ich im Gips-Museum und träume vor
mich hin und lasse mir von Antinous verliebte Blicke zuwerfen.

O, Du Abbild erster, toller, süßer Liebe!

Erste Liebe -- wo man liebt, ich möchte sagen, um zu lieben, um sein eigen
Herz einmal pochen zu hören, um voll Seligkeit zu verzweifeln, und weinend
zu jubeln -- wo ein liebes Auge, eine schöne Gestalt, ein lustig-gutes
Lachen, einem vollauf Grund genug zum Lieben scheint.

Später freilich, dann, meine ich, wenn die wahre, einzige, ewige Liebe
über einen kommt, wenn man mit vollem Verstande, mit ganzer Ueberlegung,
mit festem Willen liebt, dann -- ja, dann verlangt man freilich mehr, wie
Du, schöner Antinous, bieten kannst.

Sieh', der letzte, warme Sonnenstrahl hängt aufleuchtend, zögernd an
seinem holden Antlitze.

Er lächelt. -- --

Der Faun da hinter ihm guckt schelmisch um die Ecke: »Reizender Bengel!
Nicht wahr?« grinst er vergnügt, und die zwölf Apostel am Sarge des
heiligen Sebald schüttelten vorwurfsvoll ihre bärtigen Häupter. Warum,
o meine hochverehrten Herren, begaben Sie sich auch in diese
heidnisch-vergnügte Gesellschaft? Wird es Ihnen nicht ganz sonderbar zu
Mute?

Es geht ein wunderlich Flüstern durch den Saal und ein Beben durch die
nackten, weißen Götter-Menschenleiber. Mir schwimmt es vor den Augen und
mein Herz klopft. Soll ich fliehen? Schnell zur Türe!

Ah, die ist geschlossen! Sie haben mich vergessen in meiner Ecke hinter den
zwölf Aposteln, und ich bin allein im ganzen Haus -- allein, und doch
in der allerbesten Gesellschaft. Mir ahnt, jetzt wird sich etwas begeben,
etwas wunderlich Liebliches, himmlisch Schönes. Ein seltsames Leben
und Weben zittert in der ganzen Luft, und ich verstecke mich still und
neugierig und warte -- worauf? Ich weiß es selber nicht.

Doch -- was ist das? Träume ich? Wache ich? Ein zitternder Laut, halb
Seufzer, halb Jubel. -- Woher kommt er? Aus den Herzen der toten Gestalten?
-- Sieh' -- sie leben! Sie heben die Arme, sie bewegen sich -- das Blut
rinnt durch die Adern, sie atmen, und doch sind's keine Menschen. Denn
durchsichtig werden die Glieder von Gips, sie schimmern und glänzen,
geisterhaft, geheimnisvoll -- das ist Ewigkeit, die von den weißen Stirnen
leuchtet, und sieghaft strahlen die klaren Augen. -- Ach, und demütig
beuge ich mein Knie.

Lautlose Stille. -- Da ertönt mächtig, wie Donnerrollen, gewaltig, wie
Schlachtenruf, eine Stimme, die schallt durch den ganzen Saal: »Ist es
fort, das elende Gesindel, das sich Menschen nennt, und sich so unendlich
viel dünkt, daß es sich herausnimmt, uns stundenlang anzustarren und
unsere Götterleiber zu kritisieren? -- Sind wir allein? -- Gebt Antwort!«

Apollo ist's, von Belvedere, er tritt hervor in Herrlichkeit und Majestät,
und zu ihm gesellt sich Mars, der da mit aller Arroganz auftritt, deren nur
ein Kürassier-Lieutenant fähig ist, sei es auch ein olympischer; und er
gähnt herzhaft und schüttelt die prächtigen Glieder, und die Venus von
Milo sieht ihn holdselig an. Er aber fährt sich mit der Hand durch die
krausen Locken, die Erinnerung an selige Stunden überkommt ihn, und
schmunzelnd nickt er ihr herablassend liebevoll zu:

»Venuschen, kleiner Schatz, bist Du immer noch in meiner Nähe? Geh',
frage doch einmal Deinen niedlichen Schlingel von Jungen, ob die Luft ganz
rein ist, ob wir uns endlich ein bischen gehen lassen können, nachdem wir
den ganzen Tag so ehrbar dagesessen haben! Der kleine neugierige Bengel
hockt natürlich da, wo es am meisten zu gucken gibt.«

Und wunderbar! Die hochmütige, vornehme Dame von Milo nimmt diese etwas
familiäre Anrede gar nicht übel, ja, ein Lächeln spielt sogar um
den stolzen Mund, der so oft verächtlich auf die Besucher des Museums
herunterblicken kann.

»Mamachen, Mamachen,« ruft eine piepsige Stimme, und der pauspackige,
kleine Gesell, das Kind Amor, springt von seiner Marmorsäule herunter,
stellt sich dicht vor mich hin und nickt mir zu.

»Mamachen, hier sitzt noch eine in der Ecke; aber sie sagt nichts. Ein
ganz kleines Mädchen ist es, und sie macht große, verwunderte Augen, und
ihre Stirn leuchtet eben so weiß, wie Deine!«

»Hinaus mit ihr! Hier werden keine Sterblichen geduldet! Wir wollen keine
Lauscher,« sagt die lange Diana von Versailles mit ihrer scharfen Stimme,
»hetzt die Hunde auf die Unberufene.«

»Willst Du hier das große Wort führen?« lächelt unsere liebe Frau von
Milo etwas höhnisch, »alte Jungfern sind freilich flink mit der Zunge,
aber ich denke, wir, die wir unsere Aufgabe im Leben -- Lieben und
Geliebtwerden -- erfüllt haben, wir gelten mehr hier im Reich der
Freude!«

Diana zuckt die schlanken Schultern und hüllt sich keusch in vornehmes
Schweigen.

»Geh', Amorchen,« schmeichelt die tanzende Bacchantin -- war sie nicht
eben noch kopflos? Jetzt trägt sie ein lieblich-übermütiges Haupt auf
dem zierlichen Hälschen. --

»Frag' sie einmal: Hast Du Jemanden lieb? Recht von Herzen, recht freudig?
Und wenn sie ›Ja‹ sagt, dann laßt sie nur immer hier. Denkt wohl, ich
sei ein dummes, kleines Ding, aber Amorchen, Du weißt, ich verstehe mich
auf solche Sachen!«

Und sie dreht sich im Tanz und schüttelt die anmutigen Glieder, daß der
musikalische Faun neben ihr schnell ein lustiges »Klingkling« hören
läßt. -- Da erhebt sich eine Stimme, sanft, wie Windessäuseln, stark,
wie Sturmeswehen und ernst, wie das Grab: Hermes spricht. Majestätisch
ragt sein wunderbares Haupt über die andern hinweg, und seine armen
zertrümmerten Glieder umgibt Würde und Hoheit.

Götterbote! Glück und Freude, Schmerz und Tod trugst Du hin über alle
Welt! Ich möchte niederknieen vor Dir und Deine ewige Schönheit anbeten
und über Deine verstümmelten Glieder meine armseligen Thränen weinen!

»Laßt sie gewähren, Ihr Götter,« sprichst Du, und Deine Augen sehen
mich an, milde, verheißend -- »denn ich kenne sie. An ihrer Wiege stand
ich und brachte ihr das Geschenk des himmlischen Vaters, beugte mich über
sie, hauchte es in ihre Stirn, legte die Hand ihr auf's Herz, und da zog es
ein -- und küßte ihren Mund, und da lernte sie lächeln und -- lieben.«
Leise nickt er, und ich möchte weinen. --

Horch! Das seltsame Geräusch! Rollend, rasselnd, im Takt sich wiederholend
-- dazwischen ein melodisches Pfeifen, ein kunstvoller Schnörkel am
Ausgang des tiefen, rollenden Tones, behaglich einschläfernd klingt's in
seinem rhythmischen Taktfall, seiner ruhigen Gleichmäßigkeit.

Alle stehen und lauschen -- --

Da balanciert der alte, bärtige Silen das Bacchuskindlein geschickt auf
dem einen Arm und deutet mit dem andern lächelnd über die Schulter auf
den Faun hinter ihm, welcher, trunken von Wein und Freude, seine kolossalen
Glieder im tiefen Schlafe dehnt. -- Die kleine Bacchantin bricht in ein
schallendes Gelächter aus: »Der Faun schnarcht! Denkt Euch, er schnarcht!
Zuviel des feurigen Griechenweines hast Du getrunken, Du liederlicher,
großer Gesell Du!« schilt sie und kitzelt ihm neckisch die Fußsohlen.
Der Faun murmelt unverständliche Worte und bewegt die mächtigen Glieder
und versucht den Arm zu erheben. Aber schwer sinkt die Hand auf den
Felsen zurück, auf dem er ruht, und bald tönt wieder sein musikalisches
Schnarchen mit dem lustigen Endschnörkel durch den Saal. --

»Heraus aus den Schluchten, aus Klüften und Thälern, kommt hervor
aus den Quellen, huscht flink aus den Bäumen, ihr Nymphen, Dryaden, ihr
schelmischen Mädchen, ihr lustiges Volk! Tanzt, lacht und singt, und
hüpfet und springt! Weckt den faulen Schläfer dort und bittet Bacchos,
den süßen Wein Euch zu reichen!«

Eine klangvolle, frische Stimme schallt von der Thür her. Diana ist es,
aber nicht die lange Versaillerin: eine liebliche, mädchenhafte Diana,
mit kurzem Röckchen, noch nicht ganz fertig mit der Toilette -- und sie
klatscht in die schlanken Hände, und unsere liebe Frau von Milo lächelt
ihr holdselig zu.

Nun wird es lebendig um mich her; allüberall aus den Winkeln und Ecken,
die Treppen hinauf, hinunter kommt's gehuscht, geflogen, gekichert. Nackte,
liebliche Mädchengestalten, üppige Weiber, bockshörnige Faune, tapfere
Krieger, die vor Troja gefochten, ernstblickende Römer -- alles wirbelt
lustig durcheinander und sie umtanzen den schlafenden Faun, sie kitzeln
ihm die Seiten und zausen ihm die Haare, sie halten ihm den würzigen
Griechenwein unter die Nase und lachen ihm ein lustig Lachen in die Ohren,
bis er die sehnigen Glieder reckt und streckt -- da steht er mitten unter
ihnen und dreht sich im wilden Reigen. Wie der Jubel sie alle begeistert,
wie die tolle Lust sie hinzieht in ihr Freudenreich! Sieh' den alten
Sokrates -- mühsam kriecht er aus der Verzierung des römischen Sarkophags
heraus, umgeben von den lieblichen Musen; Terpsichore tanzt Ballett, und
da stehen Seneca und Demosthenes und Pindar und Cäsar und viele alte
Kahlköpfe und sehen zu. Mit mächtigem Satz springt der borghesische
Fechter in die Tanzenden hinein, eine weichhäutige Nymphe hoch in die
Lüfte schwingend, die Ringkämpfer lassen ihren Zorn und stimmen in das
fröhliche Gelächter ein; die beiden schlanken Discus-Werfer schleudern
ihre Metallscheibe geschickt über die Köpfe der neun Musen hinweg,
daß die alten Herren entsetzt von ihnen zurückweichen, und mein
schwermütiger, holder Antinous küßt die schwellenden Lippen der
liebetrunkenen, kleinen Bacchantin.

Majestätisch ernst sehen die drei Parzen vom Parthenon in das Getümmel
und Helios lächelt siegreich von seinem Sonnenwagen hernieder. Frau Venus
steht als Sonnenkönigin mitten unter den Jubelnden in aller Pracht und
lächelt ihrem Volke voll Huld.

Und die Dichterin Sappho öffnet ihren liederreichen, holdseligen Mund und
flüstert schmachtend:

  »Die Du thronst auf Blumen, o Schaumgeborene,
  Tochter Zeus, listsinnende, höre mich rufen!«

Und da, ach, siehe da -- die kokett verhüllte Göttin der Schamhaftigkeit
sinkt sehnsuchtsvoll in die geöffneten Arme eines kräftigen,
schöngestalteten Fauns. -- Dacht' ich's doch! --

Ja, sogar die Tiere stimmen ein in die allgemeine Fröhlichkeit: die
Schlangen des Laokoon lassen ab von ihren Opfern -- des Vaters Stirn
blickt heiter nun, und die sanften Knaben fürchten sich nicht mehr --
und unterhalten sich mit der Eidechse des schönen Appollo, des
Eidechsentöters, dessen Körper etwas von der Geschmeidigkeit der Lacerte
an sich hat -- und der Panter des Bacchos (der Riesenkater) lauscht
grimmig-herablassend dem Gespräch.

Doch, was ist das? Fürwahr, eine seltsame Prozession: langsam ziehen sie
einher, im ehrbaren Reigen sich schwingend, gravitätisch-lüstern
die Blicke um sich werfend, und jeder am Arme ein sittsam Dämchen mit
unendlich vielen Kleidern -- zimperlich geschürzt mit geübter Rechten.

Wahrhaftig, die zwölf Apostel sind's an der St. Sebalds-Kirche und irgend
welche heilige Damen, die hoch oben im Christenhimmel thronen, haben sie
sich zum Heidentanz engagiert.

So ist's recht! Hebt die Füße, streckt die Arme, hierhin, dorthin, auf
und ab!

Tanzt lustig den Reigen und dreht Euch im Kreise. --

Mitten im zierlichen Tanz stehen die heiligen Weiblein bewundernd vor dem
schönen, nackten Leib des Antinous, dem offenbarenden Mund des
heiligen Johannes entströmen Worte der Begeisterung über die Wunder
der Weibesschönheit, der heilige Paulus seufzt: »Hieße ich
doch noch Saulus!«, und der heilige Petrus rasselt mit den
Himmelsschlüssel-Castagnetten dazu. Und sie schwingen sich im Kreise, daß
die heiligen Gewänder fliegen, die heiligen Bärte wehen und der heilige
Schweiß von den heiligen Stirnen rieselt. --

Bim, bim -- bim, bim! Horch! Ein Glöcklein! Das Vesperglöcklein der
St. Sebalds-Kirche.

Schlaff sinkt der heiligen Schar der Arm, es stockt der Fuß -- starren
Auges schauen sie zur Thür. Da steht eine hagere Mönchsgestalt in brauner
Kutte und winkt mit langem, dürrem Finger und bim, bim, -- bim, bim,
tönt's Glöcklein wieder. Stark wie Riesenarme ist die Macht der
Gewohnheit! Dahin stürzen sie, die lieben Heiligen alle, in atemloser Hast
sich überstürzend, überkugelnd. --

»Zur Vesper, zur Vesper!«

Und der heilige Paulus-Saulus wendet sein bärtig Antlitz:

»Ueber ein Weilchen werdet Ihr uns nicht mehr sehen, und über ein
Weilchen werdet Ihr uns wiedersehen, wenn -- wir die Vesper gesungen!«

Ein lustig schallendes »Evoe!« antwortet ihm und -- bim, bim -- bim, bim
tönt's Glöcklein von der St. Sebalds-Kirche. -- --

Banges Stöhnen, sanftes Klagen, todesmüde Laute dringen an mein Ohr:

»Tod, was eilest Du? Nimmer begehr' ich Dein!« dringt's über die
bleichen Lippen des sterbenden Sklaven Michel Angelos, und bang sinken
seine schönen Glieder ineinander.

»Wohl brannte die heiße Sonne Italiens erbarmungslos auf mich nieder,
wohl sengte sie mir mein Hirn, meine Seele; wohl fühlte ich die scharfe
Peitsche auf meinen nackten Schultern, wohl schnitten mir rauhe Flüche
ins Herz -- aber ich lebte doch, und mit mir die Hoffnung! Bei den
mitleidsvollen Strahlen der Sonne dachte ich an kühle Eichenhaine, beim
Brausen des Sirocco an das Rauschen meines Nordlandmeeres, unter Blüten
und Früchten und ewig blauem Himmel an Eis und Schnee, an Sturm und Regen.
Und wenn die Peitsche des Vogts klatschend auf mich fiel, da -- in meinen
Gedanken -- kühlte lieb Mütterleins Hand ihr Brennen und meines süßen
Liebs Mund küßte mein Herz gesund. --

»Tod, zögere noch! Laß mir die Hoffnung, laß mir das Leben! Tod, warum
kommst Du!« --

»Stirb doch! Dann bist Du frei!« antwortet ihm eine rauhe Stimme, und
es rasselt wie von Ketten, dumpfes Stöhnen entringt sich der Brust seines
gefesselten Kameraden neben ihm. --

»Freiheit, Freiheit! Gib mir Freiheit! Sie haben mich an diesen Felsen
geschmiedet, meine Hände, meine Füße, meinen Leib -- und ohnmächtig
schüttle ich meine Ketten. Und weißt Du, warum sie mich fesselten?
Warum sie mich des höchsten Gutes, der Freiheit, beraubten? Weil sie mich
fürchteten, weil die Angst, die wahnwitzige Todesangst sie dazu trieb.
Weil sie wußten, ich würde den Brand des Aufruhrs in die Welt hinaus
schleudern, würde nicht eher rasten und ruhen, bis ich die alte Erde
vernichtet, zertrümmert, daß eine neue aus ihr entsteht -- gut, rein,
stolz, wie _sie_ sie _nicht_ schaffen können. --

»Und darum nehmen sie mir meine Freiheit und werfen mich in Ketten,
schmieden mich an und hohnlachen in mein Gesicht. --

»Du allmächtiges Wesen, das Du da oben über den Wolken thronen sollst,
wenn Du mich verstehen kannst, so höre meinen Ruf:

»Gib mir Freiheit -- oder laß mich sterben! -- -- Keine Antwort --
ohnmächtig oder grausam bist Du -- denn sieh', stark bin ich noch, und
mein Herz schlägt, mein Kopf denkt noch, rastlos, unermüdlich, und --
hörst Du's? -- meine Ketten klirren höhnisch, immer weiter, immerzu! -- O
Tod, warum kommst Du nicht!«

-- -- -- -- Lustig Rufen übertönt seine grollende Stimme,
Beifallklatschen, Jauchzen, und dazwischen der Ruf: »Bacchos, Bacchos!«
Und hierher wälzt sich der fröhliche Strom jubelnder Götter und Menschen
und »Dich wollen wir, Bacchos, Gott der Freude, wo weilst Du so lange!«
Sie knieen vor der schönen Jünglingsgestalt mit der berauschend
lieblichen Traube neben ihm, und sie nehmen ihn in ihre starken Arme,
und Nymphen und Göttinnen umschmeicheln, umkosen ihn. Da lassen sie ihn
nieder, auf die Kniee des egyptischen Götzenbildes -- denn das ist leblos
und von Stein geblieben -- und neigen sich huldigend vor ihm. Doch er
erhebt den Arm und deutet mit der Götterhand auf die Marmorgebilde
neuester Zeit, in der Mitte des Saales:

»Was wollen die unter uns?« fragte er mit zorniger Stimme, »schafft
sie fort -- sie stören mich!« Athene steht neben ihm, die blauäugige,
siegende Göttin; sie hört ihn, sie winkt ihrem Liebling, dem starken,
schnellfüßigen Achill, und der --

»Naus da, 'naus da aus dem Haus da! Fort mit dir, Gesindel!«

Und jubelnd sehen alle, wie Zenobia in voller Kleiderpracht, eine falsche
Oenone, ein paar weichliche Marmorkinder, eine vollbusige, schamlose
Schönheit, zertrümmert die Steintreppe hinunterfliegen. -- Dann aber
neigt sich Achilles voll Anstand vor der Statue des Lincoln mit dem Sklaven
und spricht mit Höflichkeit:

»Mein Herr, gern mögen Sie unter Heroen weilen, aber Sie werden
begreifen, daß Sie dann auch in voller Heroen-Uniform zu erscheinen haben,
und die möchte Ihnen vielleicht nicht gut stehen. Entschieden aber können
wir in unserm Reich der Schönheit das Untier von Häßlichkeit da zu ihren
Füßen unmöglich dulden.« Und Lincoln verbeugt sich verständnisvoll und
verläßt den Saal.

Da wankt eine müde Gestalt die Treppe herauf -- einst der Stolz der
Götter, immer die Freude der Menschen -- und läßt sich schwer auf die
Stufen nieder; die starken Schultern beugen sich, der Leib zieht sich
schmerzlich zusammen, ein mächtiges Haupt sitzt plötzlich auf dem starren
Nacken des Herkules-Torso und senkt sich matt, todesmatt; und klagend,
grollend erfüllt eine Stimme den Saal: »Müde bin ich -- endlich! Müde,
der Welt zu dienen, müde, Undank zu ernten, müde, zu lieben, müde, zu
leben -- --

Einst lag die Welt schön und gut vor mir, einst hatte ich Lebensmut,
Lebenslust, einst habe ich gekämpft, gestritten, gerungen -- und nun? Nun
bin ich müde und möchte schlafen!« -- --

Die starken, trotzigen Glieder sinken zusammen, und das starke Haupt
stützt sich schwer auf den kraftvollen Arm.

Es nahen sich zwei schlanke, schöne Jünglingsgestalten, eng aneinander
geschmiegt, die Arme verschlungen, und ein mildes Licht strahlt von ihnen
aus. Da legt der eine ernst und leise die Hand auf die müde Stirn des
Herkules --

»Schlaf',« sagte er sanft.

Da senkt der andere still die brennende Fackel zur Erde, daß sie
erlischt --

»Ewig,« lächelt er.

Und voller Ehrfurcht beugt das lustige Göttervolk das Knie und huldigt dem
Toten. --

Liebliches Klingen, Singen, Getöne -- ein wunderbar Leuchten, hell, sanft
und mild --

Da schwebt etwas die Treppe hernieder, zartduftig, schimmernd in weißer
Pracht -- himmlisch lieblich, lebensvoll schön -- Ach, ich sinke in die
Kniee und blicke zagend zu der göttlichen Gestalt der Medicäerin empor,
denn _sie_ ist es -- Sie kommt zu mir, sie tritt vor mich hin, und ein
wundersames Schauern durchbebt mir Kopf und Herz. Sie neigt ihr holdseliges
Antlitz zu mir, und sie küßt mich auf den Mund, es rinnt wie Feuer durch
meine Glieder. Neben ihr steht ein schöner Jüngling, dem strahlen viele
kostbare Gedanken von der weißen Stirn. Er sieht mich an, ernst und voll
kindlicher Weisheit, und spannt seinen Bogen und zielt gut -- denn der
Pfeil dringt mir mitten ins Herz hinein. Und dann -- bin ich es noch? Lebe
ich? Mir ist's so groß ums Herz -- Sieh', meine Hände! Durchsichtig klar
sind sie, und mein Körper schimmert, wie die der Marmorgestalten -- Ach,
meine Glieder zittern -- --

Da faßt Aphrodite mich an der Hand und führt mich den Uebrigen entgegen
-- Und Hermes lächelt zu mir: »Psyche, bist Du erstanden?«

Jubelnd begrüßen mich alle, alle -- und sie heben mich empor zu Nike, der
Göttin des Sieges, und ich schmiege mich an ihren schönen Körper, der
kein Haupt mehr auf ihren Schultern trägt.

Du schwebst zwischen Himmel und Erde, o hehre Göttin! Thörichte Menschen
schlugen Dir Dein stolzes Haupt ab, engherzige, fromme, nicht denkende
Menschen. Sie sagten: Du dürftest Dein Haupt nicht erheben, mit Deiner
freudigen Stimme die Menschen nicht begeistern, auf daß sie stumpfsinnig
würden, wie jene selber. Ach, Du Göttin, Deine ganze Gestalt, Deine
verstümmelten Arme, Deine stolzen Füße, die leisesten Falten Deines
Gewandes -- Alles spricht Sieg! Sieg über die Finsternis, die Kleinheit,
über freche Gewalt, und fromme Erbärmlichkeit.

Und sieh', in Deinen Armen hältst Du Psyche, die Seele, die Ewigkeit
-- und weit hinaus ragt Ihr, über alles herrscht Ihr, über Götter und
Menschen!« -- --

Da, Licht! Es fällt durch die Fenster -- es wird Tag -- --

Tiefe Stille -- -- Und ich fahre mit eisiger Hand über meine heiße Stirn
-- -- und da stehe ich -- ein armes, sterbliches Kind des nüchternen,
kühlen, praktischen neunzehnten Jahrhunderts.




Unser Frühling.


»Ich bin da -- siehst Du mich?« sagte die Ranunkel zur Sonne, »sieh',
ich glänze -- bin ebenso golden wie Du!«

Und sie richtete sich in die Höhe, spreizte ihre eigelben
Blütenblättchen auseinander und sah unglaublich frech in die Welt hinein.

Der Sonnenstrahl aber glitt über sie hinweg, über die Anemonen hin.

»Ihr seid schöner als die gelbe Blume,« flüsterte er ihnen zu, und sie
erröteten wie junge, bleichsüchtige Mädchen und wurden sehr stolz.

»Was wollt Ihr hier?« riefen sie den Veilchen entgegen, die frisch und
munter im grünen Röckchen und blauer Blouse anmarschiert kamen.

»Ihr habt hier nichts zu suchen -- das ist unser Boden.« Aber das
kümmerte das Veilchen gar wenig. Ueberall, wo es Wurzeln fassen konnte,
zwischen Ranunkeln und Anemonen und Kuhblumen, zwischen Moos und Gras,
unter Blättern und Reisig, sogar zwischen den vornehmen, sonderbaren
Frühlingsblumen, die erst vorsichtig einen Blätterregenschirm aufspannen,
damit ihre kleinen weißen Blüten, die sie unten am Stengel tragen, nicht
naß werden -- überall öffnete das Veilchen seine Blauaugen und lächelte
sanft dem Frühling entgegen.

»Seid Ihr ein exklusives Volk,« sagte der. Er saß mit gekreuzten Beinen
auf einem allmächtig großen Schneckenhaus und hatte eine Blütenkrone auf
dem Haupt und eine Weidengerte mit lustigen Kätzchen daran in der Hand;
er spielte mit einem überjährigen Schneeballen, der irgendwo in einem
Waldwinkel, von der Sonne vergessen, liegen geblieben war, und der schmolz
jetzt und träufelte der Schnecke, die aus ihrem Fenster guckte und
schrecklich große Augen machte, gerade auf die Nase, daß sie entrüstet
ihre Fühlhörner einzog und das Fenster zumachte. Die Schmetterlinge, die
den Frühlingsknaben umgaukelten und wie Blumen aussahen, die von ihren
Stengeln geflogen und auf die Wanderschaft gegangen waren -- gerade wie
unsere sehnsüchtigen Gedanken mitunter -- machten vor Vergnügen die
lustigsten Capriolen in der Luft und schlugen übermütig-hastig mit den
kleinen, bunten Sammetflügeln. »Ihr seid ein exklusives Volk hier im
Walde,« sagte der Frühling, »jede Sippe hockt auf ihrem Fleckchen Erde
für sich und macht scheele Gesichter, kommt ihm ein anderes zu nahe. Und
erst die Bäume -- hier die Eichen, dort die Tannen, drüben die Birken
-- die Weiden sind in die Wiese geflüchtet, damit sie's Reich für sich
allein haben, und die Obstbäume wollen erst recht nichts von den andern
wissen. Freilich -- seid auch auf verschiedenem Erdreich groß geworden.
-- 'S wär' auch langweilig in der Welt, wär' alles über einen Kamm
geschoren! Und doch -- _Eine_ strahlende Sonne scheint über Euch alle, und
_ein_ gütiger Regen erquickt Euch!« -- Und der Frühling erhob sich
vom Schneckenhaus und schlenderte davon. Gern hätte er die Hände in die
Hosentaschen gesteckt, aber das ging nicht, denn -- er war ganz nackt und
bloß wie die Natur selber, und der Sonnenstrahl strich gleitend vor ihm
her und leuchtete ihm. Pfeifend und singend mit heller Stimme zog der
Frühling durch den Wald; unter seinen Tritten sprossen die Blumen und
sein Lachen -- das war der Frühlingswind, der warme Südwind, der belebend
über die Erde fuhr. Die Vöglein kamen und antworteten mit sehnsüchtigen
Lauten. -- Ueber den Wald hin schallt der starke Weckruf der Blauvögel.
Sieh' -- da blitzt es feuerrot auf -- das ist ein lieblicher Sänger! Und
horch! Hier die rostbraune Drossel -- Hörst Du, was sie sagt? »Tüterlü!
Der Frühling kommt! Siehst Du ihn -- Du, Du, Du, Du!« -- Und: »Komm' zu
mir, komm' zu mir! Zerr -- zeck, zeck, zeck, zeck!« bläst der Zaunkönig
sein Kehlchen auf -- wupp! schlüpft er durch die Hecke, und dahin geht's,
im Lauf, geschwind wie ein Mäuschen. -- Siehst Du den Specht? Weiße
Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf ein tiefrot Käpplein über dem
schlauen, spitzen Näschen -- ist doch gar ein putzig Weschen! Sieh',
wie klug die schwarzen Augen funkeln, sieh' -- wie er mit dem Frühling
Verstecken spielt! Bald an dieser, bald an jener Seite des Stammes
schimmert sein rotes Köpfchen und wirft ihm der Frühling eine Hand voll
Blätter ins Gesicht, die sich schnell an die Zweige anklammern -- hei! Da
sitzt er schon ganz hoch oben im Baum und lugt schelmisch um die Ecke:

  »Pick, -- pick, -- pick, -- pick -- hier find' ich mein Mücklein!
  Pick, -- pick, -- pick, -- pick -- hier schlag' ich mein Brücklein,
  Von Baum zu Baum über Busch und Strauch --
  Ei, Frühling -- geschwinde! Nun folge Du auch.«

»Hahaha,« lacht die Spottdrossel wie toll und gleich darauf klingen
langgezogene, friedliche Sehnsuchtslaute aus ihrer Nachtigallenkehle,
daß alle Vögel inne halten und dem Frühling die Thränen aus den Augen
rinnen.

Wo hört' ich jüngst solch ein Spottdrossellied? -- Weich und schwül
-- hohnlachend -- -- war's nicht in meinem Herzen? Ist's nicht das
Menschenherz selber -- in all seinem Leid, all seiner Sehnsucht, all seinem
Haß? --

»Sputet Euch,« sagt der Frühling zu den Eichen und schlägt sie
schmeichelnd mit seiner Weidengerte, »Ihr knorrigen Gesellen! Seid zwar
auch _so_ schön mit Euren kuriosen Knorpeln und verdrehten Aesten --
gerade so knorpelig und verzwickt, wie ein Menschenhirn -- aber wenn Ihr
die zackigen Blätter von Euch spreizt, habe ich Euch noch lieber!«

Und da sproßten die roten Keime und Blättchen, und nun hatten sie ein
noch wunderlicheres Ansehen, gerade wie ein Schalksnarr, dem die Liebe aus
den Augen guckt. --

»Ich,« sagt die Ulme, »ich bin vorgeschritten in der Kultur -- seht,
mein krauses, grünes Gewand ist schon fix und fertig.« --

Und der Frühling geht weiter:

»Sieh', sieh', wie schön steht das maigrüne Kleidchen zu Deiner weißen
Haut, kleine Birke, -- bist fast die Schönste von allen! Alte Tanne«
-- er streicht über der Tanne stattliche Haare -- »mußt immer dasselbe
dunkle Kleid tragen jahraus, jahrein -- bist wohl gar neidisch?«

Aber die Tanne ist unartig, sie streckt dem Frühling und seiner Birke eine
lange, hellgrüne Zunge aus den dunkeln Nadeln heraus und antwortet noch
nicht einmal vor Trotz.

»Böses, altes Ding Du,« schilt der Frühling, und um sie zu ärgern,
gibt er den Lärchen lauter kleine hellgrüne Federbüsche, kleinen Pinseln
gleich, die tragen sie stolz, wie ein angehender Maler seine Farbenpinsel
in der Brusttasche. -- Horch! Was regt sich hinter dem Tannendickicht? Ein
hübsches, verstecktes Plätzchen -- Taubengegirr, Vogelgesang -- ist's
Windessäuseln, rauschen die Zweige, geheimnis-ahnungsvoll! Leise schleicht
sich der Frühling heran, er verbirgt sich hinter einem Baumstamm -- er
lauscht -- er sieht -- --

Menschenkinder sind's, zwei junge, lachende, kosende Menschenkinder, den
ewigen Frühling, die Liebe, im Herzen, in den Augen. -- Sie ruht im
Gras, den Kopf gegen eine Tanne gelehnt, er zu ihren Füßen, den
braunen Lockenkopf in ihrem Schoß -- leises Lachen, halblautes Singen,
abgebrochene, unverständliche Laute -- halbgeflüsterte, halbgeküßte
Liebesworte. -- Glückliche, selige Menschenkinder -- was wißt Ihr
vom brennenden Sommer, vom welkenden Herbst, vom eisigen Winter? --
Der Frühling streichelt Euch Stirn und Wangen. -- Blondes Mädchen, Du
streichst Dir die Löckchen aus der Stirn und schiltst über den Wind --
oder den Geliebten, der Dir die Haare zerzaust hat -- und der Sonnenstrahl
küßt Euch und dringt Euch bis ins junge Herz hinein! --

Auf leisen, flüchtigen Sohlen eilt der Frühling von dannen:

»Jetzt muß ich aber auch die Obstbäume anlächeln,« sagt er im raschen
Lauf, »daß sie treiben und blühen und Früchte tragen.« Aber die
waren voreilig gewesen, wie gewöhnlich, hatten nicht auf das Lächeln
des Frühlings gewartet, hatten sogar vergessen, sich erst die Blätter
anzuziehen. -- Da stehen sie in ihren schlohweißen Hemdchen und lächeln
verschämt, ach, und Apfelbäume und Pfirsiche werden ganz rot, als sie den
Frühling kommen sehen, und nur die Birne ruft triumphierend: »Ein paar
grüne Blättchen habe ich schon -- aber Du, Frühling, bist ja ganz
nackt!« Hei, wie sie sich alle schütteln vor Lachen, daß ihr
weicher, duftender Blütenschnee über die grüne Erde hinweht. -- Ganz
überschüttet wird der Frühling; in seinen Locken hängt die duftige
Ueberfülle, um Stirn und Wangen schmeicheln die süßen Boten -- da wird
es ihm ganz weh ums Herz vor Wonne und Jubel, sehnsüchtig breitet er seine
Arme der Geliebten entgegen, der leuchtenden Sonne -- und da wird er zum
Manne -- er vermählt sich mit der Sonnenglut -- und siehe, es war Sommer!




Frostiger Frühling.


Um unsere Blüten sind wir betrogen! -- Im März, als der warme
Sonnenstrahl die erwachende Erde überglänzte, da lag ein rötender Hauch
über den Obstbäumen, licht wie ein rosenfarbenes Wölkchen am Frühhimmel
-- heute haben die Birnbäume und die knorrigen Apfelbäume ein festes
grünes Mieder angezogen, aus dem sie stramm und vernünftig herausschauen,
und das Mädchenerröten haben sie längst vergessen.

Um unsere Blüten sind wir betrogen! -- Hat der Frost sie getötet,
der lauernd über die Erde schlich? Hat unsere schönen Hoffnungen der
Sturmwind verweht? Ist der Regen gekommen auf seinen grauen Rossen, den
Wolken, und hat sie mit seinem gleichförmigen Gedrissel -- patsch!
patsch! Tropfen auf Tropfen, wie die tägliche Langeweile, -- verwaschen,
verknittert, zerblättert? --

Nackt stehen die Magnolienbäume im botanischen Garten. Sie, die sonst im
Mai zum Frühlingsreigen in prächtigen Balltoiletten der verwunschenen
Prinzen harrten; sie, die sonst von der Ueberfülle ihrer Schönheit den
neckischen Winden preisgaben, daß die Blütenblätter und ihr Duft die
Luft erfüllte. Heute stehen sie kahl und düster und traurig da, kein
lächelnder Prinz wird um die südliche Schöne werben und der Frühling
hat die Prächtige, Ueppige, Duftende vergessen. -- Da gleitet ein
Sonnenstrahl über die schwarzen, vom Frost geknickten Spitzen der
Magnolien. Es ist, als lächle er. In seinem Flimmer tanzt ein gelber
kleiner Schmetterling, er taucht sich in die vergessene weiße Blüte eines
jungen Birnbaums, der schon winzige Früchte am andern Zweige trägt. Und
da lispeln sie alle heimliche Worte -- horch!

  Zur Blüte sprach der Schmetterling: »Was nützt mir's, daß ich
          strahle?
  Wenn meinen Schmelz ein Fingerdruck wegwischt mit einemmale?«
      Da lachte der Sonnenschein.

  Es sprach die Blüte zum jungen Blatt: »Was nützt mir's, daß ich
          blühe?
  Wenn ich nach einer Regennacht verblätt're in der Frühe?«
      Da lachte der Sonnenschein.

  Es sprach die Frucht zum grünen Baum: »Was nützt mir all mein Süßen?
  In meinem Herzen nagt ein Wurm: tot fall' ich Dir zu Füßen.«
      Da lachte der Sonnenschein.

  Ich rief wohl in die weite Welt: »Was nützt mir all das Klingen?
  Die rauhe Hand, die Nacht, der Wurm -- Ein Sterbelied muß ich singen!«
      Da lachte der Sonnenschein.

Ich folge dem lachenden Sonnenstrahl. Er huscht über die Stiefmütterchen
am Wege, die ihm ihre großen bunten Augen zuwenden, über rote
dickköpfige Tulpen, die sich blähen vor lauter Vornehmheit; er klopft an
die Fenster des Treibhauses: ich bin da, ich bin da! -- Aber was kümmert
das nervöse Volk da drinnen in ihrem überheizten Haus der warme
Sonnenschein? -- Halt! du lockender Strahl! laß mich erst einmal
hineinschauen in die Blumen-Menagerie. Sehnsüchtig sehen die armen
Eingesperrten durch die Glasfenster, und schauern zusammen, wenn die kühle
Frühlingsluft durch die offene Thür sie trifft. Sie fühlen sich wohl in
der heißen, feuchten Luft künstlicher Bildung; einmal ihres heimatlichen
Bodens beraubt, gedeihen sie prächtig in der erstickenden Atmosphäre der
Ueberfeinerung -- oh, und diese höchste Kultur zeitigt bizarre Charaktere:
da die Kaktus mit ihren Stacheln über und über, an denen ein rauhes
Gewebe klebt wie graues Haar; dem bekannten Meergreis gleich, der »in
die Wüste ging und ein Wüstling ward«, frühzeitig gealtert wie unsere
nervös überfütterten Dandys ~fin de siècle~. Protzige Agaven mit
dicken, fleischigen, ausstreckenden Zeigefingern. Cochenille-Kaktus,
unansehnliche, häßliche Dinger, nur dazu gut, daß andere sich von ihnen
nähren -- die kleine, rote Blattlaus, die aus diesem Häßlichen das
Schöne bildet: das leuchtende Cochenille-Rot. Hier die Palmen, groß,
still, erhaben, die Löwen der Blumen-Menagerie. -- Die vielarmigen
Dracänen, die üppig wuchernden Schlinggewächse, die seltsamen stillen
Blumen mit Blättern und Blüten wie aus Wachs geformt, -- gleitet nicht
Scheherezade durch diese schwüle Luft und erzählt Märchen aus Tausend
und einer Nacht unter lispelnden Palmen und großen duftlosen Blumen? --
Aber dort unter dem First des Glasdaches, dem Licht zustrebend -- dort
liegt es wie glänzend weißer Schnee, besäet mit funkelndem roten
Blutstropfen. »Weiß wie Schnee, rot wie Blut!« Schneewittchen aus
unserem lieben deutschen Märchen nickt hervor aus diesem lieblichen
Blumenmeer und lächelt uns an. Eine Schlingpflanze ist es mit
schwarzgrünen Blättern; sie rankt sich hoch und immer höher dem Himmel
entgegen, der blau durch die Fenster ihres Gefängnisses schimmert und
tausend weiße, stille Blumenherzen wenden sich ihrem Gott, dem Lichte,
zu, und rot und glühend entströmt ihnen ihr Gebet. -- Da öffnet sich die
Thür, der Sonnenstrahl huscht hinein und küßt die roten Blumenlippen,
und winkt mir: Komm, komm! Ich zeig' Dir viel Schönes, wenn auch die
Blüten Dir genommen sind. --

Draußen im botanischen Garten glänzen die feingeharkten Kieswege.
Zwischen wohlgepflegten Blumenbeeten wandeln wohlgepflegte Städterinnen.
Die ordentlichen Blumen auf den ordentlichen Beeten blühen noch nicht; die
ordentlichen Städterinnen haben schon geblüht. Deshalb strömen sie einen
künstlichen, starken Parfüm aus, der schlecht harmoniert mit der süßen,
berauschenden Frühlingsluft.

»Vorüber, ihr Schafe, vorüber!« singt Goethes Schäfer, als ihm
»gar so weh« wird -- und wir huschen dem Sonnenstrahl nach, aus dem
ordentlichen Garten hinaus, hinter die hohe Mauer, wo die Wildnis anfängt.
Hier ist auch eine Menagerie, die der Bäume. Aber die Wildlinge aus Nord
und Süd haben in dem fremden Boden Wurzel gefaßt, ihn sich angeeignet,
und so gedeihen sie und wachsen und wachsen, als habe die neue Heimat ihnen
die alte ersetzt. -- Was es nicht alles zu sehen gibt unter den fremden
Bäumen: dort, wohin die Tannen nicht mehr gelangen können mit ihren
langen Armen, kriecht kleines, grünes Moos dicht an das Nadelbett heran,
das die Tanne, wie Frau Holle den Schnee, um sich ausgeschüttet; es
blüht, das Moos, mit lauter gelbgrünen Zäckchen, und zwischen den feinen
krausen Spitzen kriechen winzige Insekten, denen der Mooswald wohl so
gewaltig dünkt, wie uns jene blühende Kiefer. O wie blüht die Kiefer!
Ueberall, überall auf den starken Aesten, in den Stacheln verborgen, da
blüht es wie rotes Gold; sieben kleine Goldkätzchen in einem Nest -- und
rührst Du daran mit vorwitzigem Finger, dann rieselt ein feiner, gelber
Blütenstaub in Deine geöffnete Hand. Weich wie ein zartes Kinderbäckchen
berührt dich's, und ein würziger Duft erzählt dir von unendlichen
Kieferwäldern, in denen der Wind singt.

»Bilde Dir nur nichts ein,« sagt die Nachbarin der Kiefer, die deutsche
Edeltanne, und sie reckt sich kerzengrade, so daß sie noch einen Finger
breit über jene hinweg schaut -- »Du mit Deinem Blühen! Sieh' mich
an: meine Orden, huldvollst verliehen von Sr. rauschenden Majestät dem
Frühling.« -- Und sie klappt ihre Zweige zusammen, daß ein feines
Nadelgeriesel zur Erde fällt. Ueber und über ist sie besäet mit
hellgrünen Knöpfchen, frischen Nadelspitzen, die vergnügt aus dem Dunkel
ihrer Wintertracht hervorblitzen.

Zwischen den Bäumen, aus Gras und Moos erheben sich dunkle Blumenbeete.
Seltsame Blumen stehen darauf: aus dunklen Blättern hängt an
einem dünnen Stiel eine kleine, gelbe Tasche; -- ich bin immer die
vierundzwanzigste mit fünfundzwanzig Fehlern in der Botanik gewesen, und
nun möchte ich wissen, ob diese niedliche, kleine, gelbe Tasche nicht eine
Art von Venus-Fliegenfalle ist? Kriecht ein dummes Mückchen am Rand der
schönen Blüte hin und bleibt daran kleben: sacht schließt die schöne
Blüte ihre Tasche, und Mückchen ist gefangen und muß elend zu Grunde
gehen. Denn so eine Venus-Fliegenfalle gibt ihre Beute nicht wieder los;
ob's Mückchen auch zappelt -- es wird festgehalten bis an sein unseliges
Ende. --

Wenn nach einem deutschen Städtchen aus der nächsten Garnison die
Militärkapelle kommt und ein Biergartenkonzert abhält, dann sitzen die
unnützen Buben hinter der grünen Hecke des Gartens und gucken hindurch
und haben die prächtige Musik mit allem Tschingdara-Bumbum und die Herren-
und Damen-Honoratioren, die weißröckigen Mädchen, und all den Kaffee
und das Bier -- nämlich indem sie sehen, wie es getrunken wird -- ganz
umsonst. Sie nennen das: ein Heckenbillet nehmen. Ich habe auch ein
Heckenbillet genommen: ich sitze hinter der großen Mauer, an der sich
rotblühendes Gaisblatt rankt, und kein Mensch im gebildeten Garten weiß,
daß ich da bin, und ich höre das süße Vogelkonzert, ich sehe die
ernsthaften, andächtigen Bäume und das kindlich lustige Gras, in dem die
blauäugigen Veilchen grüßen, ich trinke die wonnige Frühlingsluft --
alles umsonst. --

Vor mir an der Mauer hinauf, einer Weinranke entlang, läuft ein winzig
klein Vögelein, geschwind wie ein Mäuschen. Pick -- pick! hier wetzt es
sein Schnäbelein; husch -- husch! dort jagt es dem Käferchen nach -- und
es sieht mich an mit den klugen Augen, als rief' es: Guck, mach' mir das
nach! Da ist es oben, reckt die kleinen Flügel und mit einem jubelnden
Gekicher ist es davon. -- Horch! über mir: da lacht und küßt und tollt
ein braunes Drosselpaar. Kokett wiegt sich das Weibchen auf dem schwanken
Ast; der Liebste lugt um den Stamm und zwitschert zärtlich: Kind, sühst
meck nich? -- sühst Du meck nich? -- Hier bün eck! hier bün eck! lacht
das Weibchen, und fort sind sie, in das Dickicht hinein.

Da kommt wieder mein Sonnenstrahl und lockt mich aus meiner Ruhe und
gleitet vor mir her -- und ist verschwunden. Wo bin ich? Was wölbt sich
über mir -- weit, groß, allmächtig. Ich schaue hinaus, und schaue: immer
höher, immer gewaltiger weitet sich der grüne Dom von Blättern. Die
Zweige der beiden norwegischen Baumriesen neigen sich gegen einander, sie
werden zu gothischen Spitzbögen, anstrebend in die Unendlichkeit.
Sanftes Dämmerlicht liegt in meiner Kirche. Durch das grüne, schimmernde
Blätterdach schaut der Himmel wie blaue, freundliche Sterne. Ein
lieblicher Weihrauch umweht mich. Es ist der Duft der kleinen weißen
Blüten des wilden Apfelbaumes, der meine Kirche mit wonniger Süße
erfüllt. Ich stehe und schaue. Ich breite die Arme aus nach der grünen
Unendlichkeit da droben, und es ist still, still, um mich, in mir. --

Als ich hinaustrete aus den dämmernden Bögen meines Domes, liegt die Welt
hell zu meinen Füßen. Ihr Duft umhüllt mich. Ihr Licht gleitet warm in
mein Herz. Es ist Frühling.

  In den Lüften singt es und klingt es -- und --

       *       *       *       *       *

  Ich flüstere in die weite Welt: »Wohl süß ist es zu singen,
  Wenn Vogelschlag und Frühlingsduft weich dir ins Herze klingen« --
      Da lachte der Sonnenschein.




Das Märchen, das gar nicht kommen wollte.


Es war einmal ein Märchen, das hatte sich eingepuppt wie eine
Schmetterlingsraupe und sich versteckt in dem Astloch einer alten Eiche im
Walde; nur zuweilen öffnete es die Augen ein wenig und blinzelte um sich,
und wenn es sah, daß die Welt immer noch grau und kahl und ungemütlich
war, dann machte es die Augen zu und schlief wieder ein. -- Während dessen
liefen die Menschen in dieser kalten Welt herum und jammerten nach dem
Märchen, das gar nicht kommen wollte. Das heißt, eigentlich waren es nur
ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, die überall nach dem Märchen
fragten. Sie hatten dicht bei einander auf dem Fußschemel gesessen und
zugehört, was die alte Märchenmuhme erzählte. Die großen Leute hatten
keine Zeit dazu, die hatten so viel zu sorgen und zu wirtschaften und zu
studieren, daß sie sich um ein Märchen nicht weiter bekümmern konnten;
außerdem sagten sie, so ein Märchen, das sei nur für Kinder und solche,
die es immer bleiben; dabei käme gar nichts heraus, und man sollte nur
einmal die gelehrten Leute fragen, die den täglichen Bildungsbedarf fürs
Volk liefern -- das viele Zeitungspapier -- die werden Euch schon sagen,
was man von dem Märchen zu halten hat.

Da sagte der kleine Junge zu dem kleinen Mädchen:

»Komm', wir wollen hingehen und sie fragen!«

Als sie bis an eine große düstere Thür gekommen waren, -- da wären sie
am liebsten wieder umgekehrt; aber der kleine Junge war sehr mutig, und so
gingen sie hinein. Da saß der Gelehrte und las aus einem gewaltig großen
Stück Papier. --

»Sieh' 'mal, der hat vier Augen,« sagte das kleine Mädchen -- und dann
guckte er mit ein paar allmächtigen schwarzen Augen über die gläsernen
hinweg, die ihm unten auf der großen Nase saßen, und das kleine Mädchen
steckte schnell den Finger in den Mund und der kleine Junge ballte die
Faust, während der Gelehrte brummte (Gelehrte brummen meistens):

»Sie haben zu viel Phantasie, meine Lieben, das hindert Sie durchaus
am logischen Denken und schwächt den Verstand. Doch, es wird sich schon
geben, darüber seien Sie nur unbesorgt.«

Da gingen die Kinder nach dem andern Gelehrten, der war sehr freundlich,
tätschelte ihre blonden Köpfe und sagte: sie sollten nur wieder hingehen
-- das sei Alles in schönster Ordnung. -- Dann nahm er des ersten Zeitung
und schnitt da ein Stück heraus, aber so, daß der Anfang fehlte und man
nicht wußte, um was es sich eigentlich handelte, und druckte es in seine
eigene Litteratursammlung hinein, und dann stand da zu lesen: Dieses
ist für die Kinder durchaus schädlich. Es verleitet sie zum Lügen
und könnte Veranlassung geben, daß sie sogar Phantasie bekämen. -- In
unserem heutigen realistischen Zeitalter ist es nicht angebracht, und
der Konflikt zwischen Konservativismus und Modernität wird immer wieder
aufgefrischt. --

Aber davon verstanden der kleine Junge und das kleine Mädchen gar nichts;
ganz traurig gingen sie wieder fort und suchten immer noch nach dem
Märchen, das gar nicht kommen wollte. Sie hauchten ein Guckloch in die
Eisblumen am Fenster, ob es vielleicht außen davor säße; wie der Schnee
mit geheimnisvollem Sausen vom Dache rutschte, öffneten sie das Fenster
und dachten, nun käme es ganz weiß hereingeflogen, und wie die Sonne
anfing zu scheinen, liefen sie hinter den Sonnenstrahlen her, um sie zu
haschen, denn sie meinten, das sei es nun; und dann schlichen sie auf den
Zehenspitzen ans Fenster, wo die großen, weißen Hyacinthen standen
und dufteten, und guckten zu, ob es vielleicht in einer der stillen
Blütenglocken zur Ruhe gegangen sei.

Aber das Märchen wollte und wollte nicht kommen. Und unterdessen war es in
der Welt immer noch kalt und grau und trostlos. Die Menschen hasteten und
jagten und trieben einander und machten lauter dummes Zeug. Es war eine
häßliche Welt und häßliche Menschen darin, die sich viel Leides thaten,
und die beiden Kinder dachten oft, ob denn das Märchen noch immer nicht
kommen wollte und Ordnung schaffen und die Welt wieder gut und schön
machen.

Da kam eines Tages der Südwind daher gefahren. Er stieg von den Bergen
hernieder, daß die Lawinen donnernd vor ihm niederkrachten; er jagte das
Eis auf den Flüssen vor sich her, daß es sich bog und knackte und schrie;
er pfiff durch die Tannenwälder, daß die Nadeln den alten Fichten um die
Ohren sausten, und knickte die dürren Aeste der Wälder, daß Platz wurde
für die jungen, neuen Triebe. Die Wolken trieb er vor sich her -- runde,
regenschwere Wolken, in wilder Jagd; sie drängten und schoben sich und
sprangen einander auf den Rücken, wie die Buben, wenn sie Haschen spielen.
Dann stob er in die Stadt mit wildem Jauchzen und Getöse; er blies in die
Kamine hinein, wie in ein Sprachrohr, und trieb Schabernack mit des Petrus
goldnem Hahn auf der Kirchturmspitze; er deckte die Dächer ab und guckte
den Leuten in die Häuser und blies sie an, daß es den dummen Menschen
angst und bange wurde. Ja, er fuhr sogar dem König um die Nase, als der
just vor seinem Königreiche stand und, die Hände in den Hosentaschen,
darüber nachdachte, wie sein Volk ihn wohl wieder einmal beglücken
könne; und er warf ihm sein Reichsaushängeschild gerade vor der Nase
herunter, so daß der König sich entrüstet umdrehte und in sein Reich
hineinging und die Thür zuwarf, daß es krachte.

Aber der Wind lachte nur: »Puh! wenn ich nur wollte, dann brauste ich Dich
mit samt Deinem Königreich von der Erde hinweg, wie einen Strohhalm --
aber ich will nicht! -- Bist mir viel zu klein, du Königlein!« --

Und dann warf er ein paar ehrsamen Bürgern, die des Weges kamen, die
blanken Cylinder von den gedankenschweren Häuptern, als wolle er sehen,
was in den Köpfen stecke; und wehte ein paar schlanken Jungfräulein die
langen Kleider eng um die schönen Glieder und freute sich darüber,
der wilde Geselle, wie die kleinen Frauenfüße so tapfer gegen ihn
ankämpften.

Mit lustigem Gekicher fuhr er zu den Wolken auf und spielte Fangball mit
ihnen; die Wolken fangen an zu weinen und dann fällt ein weicher, warmer,
feiner Frühlingsregen auf die Erde nieder, eine zarte, graue Nebeldecke
breitet sich über die Welt aus, und unter dieser dampfenden feuchtwarmen
Decke da geht der Sturmwind zur Ruhe.

Dort im Wald, in dem Astloch der großen Eiche regt sich etwas, das ist
das Märchen; das ist aufgewacht von des Südwinds wildem Gesang und merkt,
daß es nun Zeit ist, aufzustehen. Es gähnt noch einmal recht herzhaft und
reckt und plustert sich wie ein Vögelein im Nest; dann schiebt es erst
das eine rosige Füßchen heraus und dann das andere, dann gähnt es noch
einmal, und nun breitet es seine sammetenen Schmetterlingsflügel aus und
fliegt zur Erde nieder. Da leuchtet mit einemmal eine große, glänzende
Sonne durch den Nebel, und nun kann man erst sehen, was für ein
niedliches Märchen es ist. Es ist sehr klein und fein, hat schöne,
weiße Gliederchen und große, dunkelblaue Stiefmütterchenaugen und die
schönsten goldnen Haare von der Welt, die glänzen in der Sonne wie das
rote Gold, das die Schlangenkönigin bewacht; auf dem Köpfchen trägt es
eine blaue Glockenblume, die macht ein sanftes Geläute, wo das Märchen
geht und steht.

Es mußte wohl von dem Getön und Geklinge sein, daß plötzlich alles
lebendig wurde im Wald, daß die Vögelein ein artig Konzertieren begannen
und die Blumen -- die Krokus und Anemonen und Schneeglöckchen und wie sie
alle heißen -- aus der Erde sprangen, wie kleine, weißhäutige Kobolde,
und ein duftiger Reigen begann in Wald und Flur. Ei! wie es die Bäume da
eilig hatten, ihr neues grünes Kleid anzulegen, und wie die alten Tannen
die spitzen, gelbgrünen Finger ausstreckten, als wollten sie sich auch
so ein grasgrünes Flörchen erhaschen. Am Waldteich der alte Erlenstumpf
sagte zu seinen grünen Jungen, die ihn dicht umstanden:

»Reckt Euch in die Höhe, Jungens, damit das Märchen nicht sieht, wie alt
und vertrocknet ich bin.«

Aber im Teich erhob sich plötzlich ein lautes Gequake und Gejohle. Das
waren die Frösche, die hielten einen Froschvolks-Thing ab und wollten
sich eine neue Verfassung gründen; sie sprachen sehr ernsthaft über
Kaulquappenerziehung, Schulvorlagen und Militärbudgets, und daß der
Storch und der Reiher von jetzt an unter froschlicher Oberhoheit stehen
sollten; und ein noch ganz grünes Fröschlein aus dem vornehmen Geschlecht
derer von Ochsenfrosch wollte immer alles besser wissen und durchaus einen
ganz uralten Kurs als das Neueste einführen im Froschteich.

Es war wirklich sehr interessant, und es war gar nicht recht, daß der
Weidenbaum am Ufer plötzlich anfing zu jauchzen und zu lachen und zu
spotten, und sich geberdete, als hätte er zu viel Blütenwein getrunken.
Die gebildeten Frösche kamen ganz ärgerlich ans Ufer und glotzten ihn an,
und der tolle Geselle, dem die buschigen, hellgrünen Weidenkätzchen von
seiner Narrenkappe herunterbaumelten, schnitt höhnisch eine Fratze und
spreizte seine vielen grauen Finger von sich und hielt eine lange Rede, von
der die Frösche kein Wort verstanden; denn er sprach von Blütenwein und
Trunkenheit und Auferstehung und Frühlingsduft und Märchenaugen -- und
schloß mit:

»Kinder und Narren sprechen die Wahrheit, und wahrlich, ich sage Euch,
so Ihr nicht werdet wie sie, so könnet Ihr nimmer in den Frühling
eingehen!«

Hei! Da begann ein Geschelte und Gequake, ein Koaxkoax und Brekekekex,
daß die Vöglein in der Luft im Fliegen innehielten und verwundert zum
Waldteich herniederschauten. Und der Weidenbusch verbeugte sich lächelnd
nach allen Seiten und schüttelte seine Kätzchen lustig durcheinander und
sagte:

»Verehrte Anwesende, ich glaube verstanden zu haben, daß Sie
mir vollständig beistimmen; und da oben kommt Se. Excellenz, der
Generalfeldmarschall Graf Storch, angeflogen, der wird Ihnen --«

Quack! sagten die Frösche und tauchten unter, und lange herrschte
Totenstille im Teich, bis sie merkten, daß der tolle Weidenbusch sie
genasführt hatte; dann begann zögernd erst die eine Stimme und dann eine
zweite, und der grasgrüne Froschjüngling sagte: Kroax! und seine Base,
die gelehrte und tiefsinnige Schriftstellerin von Unke, antwortete:
P--unkt--um! -- und bald war der hochweise Disput mit These und Antithese
wieder im schönsten Gange.

Das Märchen aber nickte lächelnd zum Weidenbusch hinüber und warf
Kußhändchen nach allen Seiten, dann flog es schnurstracks durch den
grünenden, blühenden, duftenden Wald, über Felder und Gärten, in die
Stadt, in das Haus, in die Stube hinein, wo der kleine Junge und das kleine
Mädchen auf dem Fußschemel saßen und aufmerksam zuhörten, wie die
Märchenmuhme ihnen die Geschichte von den Löwen- und den Bärenkindern
erzählte, und als sie gerade sagte: »Die Bärenkinder aber waren so
schrecklich unartig« -- da rief der kleine Junge:

»Sieh', -- sieh' doch, da ist das Märchen!«

Und das kleine Mädchen klatschte in die Hände und jubelte: »Das
Märchen! das Märchen!«

Und wirklich, da stand das Märchen auf der Thürschwelle, seine Augen
leuchteten, seine Haare glänzten wie die Sonne, und dann nickte und winkte
es ihnen; die Kinder faßten sich bei den Händen, sprangen zur Thür
hinaus, hinter ihm her und riefen und sangen immerfort:

»Das Märchen! Da ist das Märchen, das gar nicht kommen wollte!«

Es waren aber viele Kinder auf der Straße, die sahen das Märchen zwar
nicht, aber sie riefen doch: Das Märchen, das Märchen! und tanzten hinter
dem kleinen Jungen und dem kleinen Mädchen her, und so ging der Zug durch
die Stadt zum Thore hinaus, als wenn der Rattenfänger von Hameln ihnen
aufspielte. Die großen Leute, denen sie begegneten, blieben stehen und
lachten und sagten:

»Ach, das ist ja ein Schmetterling, der heißt --« und dann nannten sie
einen langen, lateinischen Namen. Und andere sprachen:

»Das ist ja ein Sonnenstrahl, und nun ist es Frühling geworden.
Der Frühling ist eine natürliche, höchst angenehme, alljährlich
wiederkehrende Naturerscheinung. Es ist gar nichts Märchenhaftes daran.«

Aber nun waren es der kleine Junge und das kleine Mädchen, welche lachten
-- sie wußten es ja viel besser. Sie liefen in den Wald hinein -- da
tanzten die Blumen mit den Elfen und Kobolden, und die Kinder waren
mitten unter ihnen. Das Märchen schenkte ihnen den Frühlingswein aus
Blütenkelchen, und sie lagen auf weichem Moos und guckten in den blauen
Himmel hinein, von dem die weißen Wölkchen winkten und grüßten und
weiter segelten.

Das Märchen aber wuchs und wurde größer und wurde eine liebliche
Jungfrau und ein blühendes Weib; und dann wurde es ein liebes, eisgraues
Mütterlein, und dann -- ja, dann spann es sich wieder ein, wie eine
Schmetterlingsraupe und kam lange, lange nicht mehr; nur zur Zeit der
Wintersonnenwende, als die weißen Grüße vom Himmel an der alten Eiche im
Walde vorüberwehten, da öffnete es die blauen Märchenaugen ein wenig
und blinzelte um sich, und dann schlief es wieder ein und wartete auf den
singenden, sausenden, brausenden Frühlingswind.

Und der kleine Junge und das kleine Mädchen wuchsen auch und wurden
größer und schöner und wurden Mann und Weib; dann spannen sie sich
auch ein, in sich und ihre Welt; und dann erzählten sie ihren Kindern und
Kindeskindern das Märchen vom Märchen, das gar nicht kommen wollte, und
endlich, endlich doch gekommen war. -- --




Klein Hildegard.


  Klein Hildegard wollte zur Schule gehn,
  Da blieb am Walde sie sinnend stehn;
  Der sah sie mit winkenden Augen an,
  Die Vöglein lockten aus dem Tann:
  »Klein Hildegard, komm, so schön ist's hier,
  Wir rauschen Dir Märchen, wir singen Dir
  Von Elfenkönigs goldenem Thor
  Viel Süßes, Geheimnisvolles ins Ohr;
  Wir singen Dir von des Nixen Spiel --
  Tief unten im Wasser, da weint er so viel.
  Wir streuen Dir duftende Blumen umher,
  Der Wind regt die Zweige, brausend wie's Meer.«
  -- Doch Hildegard richtet sich ernsthaft auf
  Und schickt sich wieder an zum Lauf:
  »Zur Schule, zur Schule!« die Mutter spricht,
  »Im Walde spielen, das darfst Du nicht!«
  Da fällt, plumps! von dem Tannenast
  Ein Zapfen auf das Näschen fast:
  »Au! böse Tanne!« schilt das Kind,
  »Bist unartig, wie Kinder sind!
  Willst mir wohl gar was sagen, gelt? --
  Ei nun, so rede, wenn's gefällt!«
  Lieb schmiegt klein Hilde sich heran
  Zum rauhen Stamm der alten Tann.
  Vergessen ist Schule, der Mutter Gebot --
  Ja, Sonntagskinder machen viel Not. --
  Vom Tannenbaum fall'n -- tip, tip, tap,
  Die würz'gen Nadeln sacht herab.
  Und, wie sie rieseln, wie sie fallen,
  Hört Hilde Stimmchen draus erschallen,
  Die lullen's Kindchen kosend ein
  In seltsamliche Träumerein;
  »Zur Schule geh', mein liebes Kind,
  Doch da nicht, wo die andern sind.
  Geh' Du zur Schule in dem Wald;
  Was Du da lernst, vergißst Du nicht bald.
  Denn hier im Wald, da lernst Du verstehn,
  Was Bäume rauschen und Blüten verwehn;
  Warum am ewigen Himmelszelt
  Die Wolken ziehen über die Welt;
  Was Blumen duften, Vöglein singen,
  Was Bächlein murmeln, Stürme klingen -- --
  Was unsere ganze schöne Welt,
  Die kunterbunte, zusammenhält -- -- --
  Horch nur auf jedes Gezirpe fein,
  So wirst Du bald klug wie Waldvöglein sein.«
  So spricht im Walde die alte Tann',
  Und Hilde hält den Atem an,
  Daß ihr die Wörtlein nicht entrinnen.
  Dann wandert lustig sie von hinnen.

  Es grüßen Blumen von allen Seiten,
  Und Hilde nickt, als weitergleiten
  Im weichen, kühlen Gras und Moos
  Die kleinen Füße, nackt und bloß.
  »Pflück' mich,« spricht die Königskerze,
  »Sieh', wie ich gen Himmel schwanke,
  Schlanker Stab aus Sammetblättern,
  Bin ganz Sehnsucht, ganz Gedanke, --
  Vor Idealen, hoch und hehr,
  Seh' ich den eignen Stamm nicht mehr!«
  Da lacht das kecke Heidekraut:
  »Ich wurzle in der Erde traut;
  Und wie ich dufte, wie ich blühe,
  Und wie ich stark und kräftig bin,
  Und wie ich feurig rot erglühe --
  All das gab mir die Erde hin!« --
  Horch! Welch ein feines Stimmchen schallt
  Vom nahen Eichstamm durch den Wald?
  Die wilde Weinblüt' ist's, die spricht
  Ganz spöttisch: »O, Ihr dummen Wicht'!
  Vom Himmel träufelt uns der Regen,
  Vom Himmel wärmt die liebe Sonn',
  Und Mutter Erde will uns hegen,
  Wenn Frost und Eise starren schon.
  Ich lieb', was mir der Himmel gab,
  Die Erd', in der ich Wurzeln hab'.«
  So flüstert's, lacht es auf und an;
  Klein Hilde pflückt so viel sie kann.
  Schau! Dieses bunte Blumenmeer! --
  Fast wird's dem Aermchen gar zu schwer.
  Im schilfigen Gras glüht rot es auf.
  Pechnelken stehen da zu Hauf,
  Und schütteln ihre Federköpfe,
  Und spreizen sich, die eitlen Tröpfe.
  »Ei, liebes Kind, mußt mich ansehn,«
  Die Eine spricht, »bin wunderschön!
  Brichst mich in meinem Purpur-Prangen,
  So bleibst an meinem Stengel fein
  Unwiderstehlich daran hangen
  Mit Deinen Kinderhändchen rein;
  Wer mich nur einmal hat berührt,
  Stets neue Lust nach mir verspürt.«
  Doch -- »Bim -- bam!« klingelt da die Blaue,
  Die Glockenblum', »Nur der nicht traue!
  Denn Lüg' ist Alles, was sie spricht --
  Kennst Du das alte Sprüchwort nicht?
  Wer Pech anfaßt, besudelt sich!
  Und das ist richtig, sicherlich!
  Hör', rote Nelke, das ist schlimm!
  Das Glöcklein läutet stets: Bim -- bim!
  Und öffnest Du den Lügenmund,
  So klingelt es ganz kunterbunt:
  »Bimbam, bimbam, bimbam, bimbum!
  Du Federnelke, bist Du dumm!«
  Und lachend steht Klein Hildegard
  Und droht dem blauen Glöcklein: »Wart',
  Du lieber Schelm, jetzt pflück' ich Dich,
  Dann läutest Du »Bimbim!« für mich,
  Und läutest artig mich nach Haus;
  Doch jetzt ruh' ich mich erst 'mal aus.«
  Es winkt der gelbe Ginsterbusch,
  Und wie das graue Häslein -- husch! --
  Schlüpft unser Kind geschwind hinein
  Ins goldne Blütenbettelein,
  Und dehnet wohlig sich zur Ruh',
  Und schließt die müden Aeuglein zu.
  Die Blumen hält im Arm sie fest,
  Denn wenn man die gewähren läßt,
  So fangen sie zu leben an
  Und wandern fort durch Wald und Tann.
  Es ist just um die Mittagsstunde.
  Wo Waldesgeister ziehn die Runde.
  Kennst nicht das Waldesweben Du?
  Wenn rings im Wald ist tiefe Ruh',
  Und doch ein seltsamliches Weben
  Ein raunend, flüsternd Zauberleben?
  Die Bäume stehen still und stumm,
  Kein Blättlein reget sich ringsum.
  Im Schatten schläft das Vöglein lieb,
  Reckt sich einmal, sagt leise: »Piep!«
  Und plustert seine Federlein
  Und schläft dann sänftlich wieder ein.
  Doch die Frau Sonne, die ist wach
  Und luget durch das Blätterdach.
  Es tanzt auf ihrem Flimmerstrahl
  Der blanken Sonnengeister Zahl.
  Im hohen Grase zirpt die Grille --
  Nun zirpt es Antwort -- dann wird's stille.
  Der Falter taumelt über Blüten,
  Das sind die Schäflein, die muß er hüten;
  Doch in dem heißen Sonnenschein
  Da schläfert's ihn mitunter ein;
  Und ist er wieder aufgewacht,
  Dann hat sie sich davon gemacht,
  Die Blüten-Herde, und fliegt wie er,
  Im hellen Sonnenglanz umher.
  Dann hebet an ein Singen, Klingen,
  Von Märchen, wunderlichen Dingen;
  Das Bächlein gluckst sein schelmisch Lied,
  Und Moos und Steinchen singen mit.
  Vergißmeinnicht am Rande träumt:
  »Hat's Wiederkommen er versäumt?
  Ich rief so oft: Vergißmeinnicht!
  In weiter Ferne -- hört er's nicht?«
  Der Ginster winket zu ihr her:
  »Klein Blümchen, was verlangst Du mehr?
  Kannst, kleine Blaue, Du's verstehn?
  Die Lieb' soll nie von Liebe gehn --
  Sonst geht die Treue hinterdrein.
  Ich sing' ein Lied Dir -- lausche fein:

  Ueber die Heide weht der Wind,
  Da sitzt das blasse Königskind,
    Singt: Leide, leide, leide --

  Bei Sonnenlicht und Sternenschein
  Da suche ich den Buhlen mein --
    Wo weilt er auch am Wege?

  Ach, wollt', er wäre noch bei mir,
  Ich wollt' ihn küssen und herzen schier
    Auf stiller, stiller Heide.

  Ach, wollt', ich läg' in seinem Arm,
  Ich wollt' vergessen allen Harm,
    Wollt' lachen nur und kosen.

  Ueber die Heide weht der Wind,
  Da sitzt das blasse Königskind,
    Singt: Leide, leide, leide.

  Und wartet noch gar manches Jahr --
  Und kämmet ihr langes, goldnes Haar,
    Das wehet in dem Winde.

  Und als der Bub dann kommen ist,
  Der sie so oftmals hat geküßt,
    Da sucht er auf der Heide.

  War da ein feiner Ginsterstrauch,
  Des gelbe Blumen strahlten auch
    Wie lauter lichtes Golde.

  Da hat er so viel weinen 'müßt,
  Und hat die Ginsterblumen 'küßt -- --
    Dann ist er fortgezogen.«

  Und als verklungen ist die Weise,
  Da reget sich Klein Hilde leise:
  In ihrem Arm die Blümelein,
  Die fangen an zu reden fein.
  Das Löwenzähnchen schilt: »O Ginster,
  Wie sind doch Deine Träume finster!«
  »~Noblesse oblige!~« ruft Rittersporn,
  »Auch in der Lieb' -- bei meinem Zorn!«
  Und trotzig mit gar mut'gem Sinn
  Grüßt er zur Wickenblüte hin;
  Verschämt senkt die das Köpfchen tief,
  Ein lieblich Rot sie überlief. --
  Da lacht es plötzlich neben ihr:
  »Ich halt' die Liebe weg von mir!
  Ich wehre mich vor jedermann --
  Und fühlt, wie ich doch brennen kann!«
  Da jubeln alle auf und sagen:
  »Hört -- Brennessel will auch was wagen!
  Geh', Unkraut, pfeife uns ein Lied,
  Im Chorus singen wir dann mit.«
  Und neckisch stimmt die Grüne dann
  Das Nessellied, und hebet an:

  »Ich wollt' einmal spazieren gehn,
  Am Rain, wo bunte Blumen stehn.«

  Und jauchzend fällt der Chorus ein:
  »Nessel, Nesselbusch am Rain!«

  »Da schaut ein weißes Blümlein 'raus,
  Und ach -- so schämig sah es aus.«

  Und jauchzend fällt der Chorus ein:
  »Nessel sieht so schämig drein!«

  »Und als ich bückte mich danach, --
  Gar plötzlich mir's den Finger stach.«

  Und jauchzend fällt der Chorus ein:
  »Nessel, Nessel, wehr' Dich fein!«

  »Ei, böse Blume, halt' doch still
  Wie die andern, wenn ich Dich brechen will!«

  Und jauchzend fällt der Chorus ein:
  »Nessel, -- hörst -- sollst stille sein!«

  Da lacht die grüne Blum' und spricht:
  »Ja Brennesselblüten, die pflückt man nicht!«

  Und jauchzend fällt der Chorus ein:
  »Brennt die Nessel -- laß sie sein!«

  Nun reichen alle sich die Hände,
  Und singen's Tanzlied: »Wende, wende
  Dich her zu mir, und auf und ab.
  Zieh' die Kreise, zart und leise,
  Sing' die alte Wunderweise,
  Wie die Blumenfee sie gab.
  In den Blüten schläft das Kind --
  Küsse, küsse es geschwind,
  Daß es eins der unsern werde;
  Daß es blumenduftig schwebe,
  Daß es waldesselig lebe
  Auf der hellen, grünen Erde.«
  Da ist klein Hilde aufgewacht,
  Und hat die Aeuglein aufgemacht:
  Und all die Sonnenpracht umher!
  Und all das Duften, süß und schwer!
  Und sieh' -- die Blumen neigen sich,
  Umkreisen sie gar seltsamlich --
  Sie trägt ein rosenfarben Kleid,
  Das strahlet hell von Taugeschmeid'.
  Und Rosen trägt sie in dem Haar,
  Und Rosen in den Händen gar.
  Die Blumen knieen vor ihr hin:
  Heil unsrer Rosenkönigin!
  Und eh' sie weiß, wie ihr geschah,
  So ruhet sie auf Rosen da;
  Und allgewärtig ihren Winken
  Die Blumen stehn zur Rechten und Linken,
  Und Hilde grüßt nach allen Seiten
  Huldvoll, wie sie vorüberschreiten.
  Aus Blumen trinkt sie den Blütenwein
  Und nascht den goldnen Honigseim.
  Die Sonne wirkt ihr die goldne Kron'
  Und die glänzenden Flitter für den Königsthron.
  Die Schmetterlinge tanzen vor ihr,
  Die Grillen spielen auf dafür.
  So ruhet sie an Baches Rand
  Als Königin übers ganze Land.

  Da -- horch! was rauscht es ihr zu Füßen?
  Und welch ein Nicken, Winken, Grüßen
  Von Blum' und Moos am Ufer dort?
  Das Wasser schwillet fort und fort --
  Und aus den grauen Nebelwogen,
  Da kommt es zu ihr hergezogen
  So wunderselig. Aus dem Fluß
  Erhebet sich mit süßem Gruß
  Der Nix in silbernem Gewand
  Und hält die Harfe in der Hand
  Die gibt gar traurig hellen Ton --
  Ob's Glück mit Thränen gemischt sei schon.
  Er breitet die Arme aus nach ihr:
  »O Rosenkönigin, komm' zu mir!
  Ich will in meinem Arm Dich hegen,
  Ich will Dich schaukeln auf der Flut;
  Die zarten Glieder sollst Du legen
  Auf Wasserrosen, -- da ruht sich's gut.
  Mit meinen Fischlein sollst Du spielen,
  Ein neckisch Haschen, her und hin --
  Die kleinen, weißen Füßchen kühlen
  In klaren Silberwellen drin.
  Es ist so einsam in der Tiefe,
  Im Wasserhaus so kalt für mich --.
  Und kämst Du wohl, wenn ich Dich riefe?
  O Königin, ich hole Dich!«

  Da wird Klein Hilde das Herz so weh --
  Es ruft in ihr: O geh', o geh'!
  Wie wird es ihr so seltsam kalt?
  Was zieht es sie mit solcher Gewalt?
  Wie schwillt das Wasser immer mehr --
  Da kommt der Nix gar zu ihr her,
  Und faßt sie mit feuchten Armen an --
  Klein Hilde sich kaum noch regen kann.
  Vor Angst, vor Glück? -- Sie weiß es nicht,
  Es küßt der Nix ihr blasses Gesicht;
  Er wieget sie in seinem Arm,
  Es wird ihm -- ach -- so wohlig warm;
  Er will sich rauben das junge Blut
  In tiefe, rauschende Silberflut.
  Klein Hilde schaudert -- an seine Brust
  Zieht er sie eng mit sehnender Lust --
  Schon netzt das Wasser ihr Gewand,
  Er zieht sie hin mit zwingender Hand --
  Nun sinkt Klein Hilde sacht hinab
  In des Nixen stilles Wassergrab. --
  Und horch! wie's um sie rauscht und singt!
  Wie's brausend durch die Lüfte klingt!
  Klein Hilde, wache auf geschwind,
  Sonst weht der wilde Brausewind
  Dich wirklich in das Bächlein dort --
  Zum Schlafen einen bösen Ort
  Hast Du Dir eben ausersehn.
  Und dann mußt Du nach Hause gehn:
  Die Schule ist schon lange aus,
  Und alle Kinder schon zu Haus.
  Da hat Klein Hilde sich erhoben
  Und schaut verwundert hin nach oben,
  Wo Wolken ziehen kreuz und quer,
  Gar über die liebe Sonne her.
  Wie war doch alles das geschehn?
  Hat sie den Nixen nicht gesehn?
  Ist nicht am Saum ihr Röckchen naß?
  Das ist doch nicht vom feuchten Gras?
  Wo ist ihr Rosenkleidchen hin?
  War sie denn nicht die Königin?
  Die Bäume neigen sich um sie her,
  Das kommt vom Wind, der wehet sehr,
  Der pfeifet ängstlich durch den Tann;
  Klein Hilde hält den Atem an --
  Es wird ihr plötzlich so beklommen
  Da hat sie hurtig aufgenommen
  Die Blumen alle nebendran,
  Und springt davon so schnell sie kann.
  Jetzt ist sie auf der kleinen Brücke,
  Da rauscht es unter ihr voll Tücke:
  »Da, Wassermann,« ruft sie geschwind,
  »Da, nimm das bunte Blumenkind!«
  Und wirft ein schönes Blümelein
  In Wassermannes Haus hinein.
  Mit weißer Hand greift der es an,
  Und strudelnd sinkt's zur Tiefe dann.

  Und als Klein Hilde kam nach Haus
  Und hat gesagt, was sie gesehn,
  Und hat erzählt, was ihr geschehn --
  Da lachen sie Klein Hilde aus.
  Und scheltend streng die Mutter spricht:
  »Im Walde spielen sollst Du nicht!«
  Und Hilde setzt ins Eckchen sich
  Und weinet, weinet bitterlich.

  Klein Hilde, werde wieder froh;
  Uns Großen geht es ebenso:
  Wenn wir im Walde etwas sehen,
  Was all die andern nicht verstehen,
  So lachen sie uns auch nur aus
  In diesem weisen Weltenhaus.
  Und Mutter Ordnung ernsthaft spricht:
  »Der Phantasie bedarf man nicht!
  Die Poesie -- die braucht man nicht!
  Mehr sehn, wie andre, soll man nicht! --«




Das Märchen, das verloren gegangen war.


Das war, als ich einmal spazieren ging und tiefsinnige Gedanken hatte --
worüber? -- Sie waren zu tief, um das ergründen zu können. Vielleicht
war's, ob die Welt da um mich her mit ihren langen Straßen und engen
Häusern eine wirkliche Welt sei oder ob ich sie mir bloß einbilde, und
ob die Menschen, die mir begegnen, wirklich so blödgesichtig dreinschauen,
oder ob ich bloß Schwingungen in meinem Gehirn und Augen habe, die mir
das alles so erscheinen lassen -- ja, vielleicht war's das, worüber ich
nachdachte. Und neben mir her trippelte ein feines Etwas mit großen Augen,
und das kicherte und plapperte mit einem leisen murmelnden Stimmchen wie
ein kleiner Bach; und weil mich das in meinem tiefsinnigen Denken störte,
sagte ich:

»Ei, so sei doch ruhig und stör' mich nicht!«

Da schwieg das feine Etwas erschrocken still. Aber als das liebliche
Gemurmel nicht mehr neben mir einherging, konnte ich erst recht nicht
denken, und als ich mich ungeduldig umwandte, da hatte ich das Märchen
verloren. Nun war mir's ganz ungemütlich zu Mut. Ich ging gleich wieder
zurück, blickte rechts und links, hinter jeden Baum, und unter die
trockenen Blätter, die darunter lagen, aber nirgends leuchteten die
Zauberaugen meines Märchens.

Da fragte ich die Uhr, die vor mir hoch oben in einem langen, spitzen
Kirchturm saß:

»Du wohnst so hoch und hast einen weiten Ausblick -- hast du mein Märchen
nicht gesehen?«

Aber die Uhr sagte nur: Tick-tack-tick-tack! Und als sie schnarrend zu
einer Antwort einsetzte, da sagte sie mit rasselnder Stimme eine ganze
Menge Zahlen her -- als ob Zahlen etwas mit einem Märchen zu thun hätten!
Nun fragte ich die Leute auf der Straße:

»Ihr seid so klein, und guckt immer auf die Erde -- habt Ihr mein Märchen
nicht gesehen?«

Aber die antworteten: »Eine solche Person kennen wir nicht. Und wenn sie
Dir gehört und weggelaufen ist, so zeige es doch bei der Polizei an«
-- -- als ob eine blauröckige Polizei mit einem Knüppel ein Märchen
einfangen könnte!

Nun fragte ich die Bäume im Park, an dem ich vorüberging. Aber die
standen ganz still und regten sich nicht und ließen nur zwei, drei gelbe
Blätter vor mir niedersinken. Da merkte ich, daß es Stadtbäume waren und
zu gebildet zum Antworten auf eine Märchenfrage, und weil ich nun durchaus
mein Märchen, das ich so leichtsinnig verloren hatte, wieder haben mußte,
so ging ich auf Reisen, ihm nach.

Ich kam an ein großes Wasser, das lag friedlich da, wie eine
grünsammetene Wiese, auf der kleine Grabhügel sich wölben, über und
über bedeckt von weißen Maßliebchen. Mir war es, als ob mein Märchen
sein goldenes Haupt lächelnd aus diesen Grabhügeln strecke, und als ob
es kichere: »Nicht in Gräbern findest Du mich -- ich bin das Leben!« --
Aber da kam ein zarter, grauer Nebel und deckte die grüne Sammetwiese und
die Maßliebchenhügel zu, und nur ganz in der Ferne sah ich es aufblitzen
wie weiße Mövenflügel.

Ich kam an eine Insel, darüber flutete ein warmes Abendrot, und ein
Rauschen, ein bedeutsames Raunen zog durch die Wipfel der hohen, stillen
Bäume, als spräche mein Märchen zu mir aus tausend Zungen. Bunte Blumen
standen auf der Insel, die sie die »Schöne« nannten, und sahen mit
stillen Augen zu den Sternen auf, die ganz zart und licht am Abendhimmel
aufleuchteten, wie die ersten Liebesgedanken in einer weichen
Mädchenseele. Leise glucksten kleine lustige Wellchen gegen das Ufer, als
lachten sie über die Wassernixen, die mit ihren weißen Entenfüßchen das
Ufer heranklimmen wollten und immer wieder ins laue Wasser plumpsten. Wie
nah', wie nah' war mir mein Märchen! Ich fühlte es mich umwehn -- aber
als ich danach haschte, sah es mich mit tiefen Augen spottend an, und ich
griff in die Luft.

Danach sah ich mein Märchen wieder in einem Krankenzimmer; da saß es tief
verborgen in dem großen weißen Kelch einer Lilie. Aus deren sammetigen,
weißen Blütenblättern lagen rote Tropfen, als habe das Märchen blutige
Thränen geweint, und es sah mit himmlisch klaren Augen in die Weite. Wie
ein Hauch flog es durch das Gemach: »Hier kannst Du mich nicht halten,
da würde ich vergehen vor Traurigkeit« -- -- und husch! wie ein
Flügelschlag -- da war's aus dem Fenster, und die Menschen um mich sahen
sich fragend an: Was war das?

Eines Morgens, ganz, ganz früh, als die Nacht auf ihrem Lager flehend die
Arme hob, den leuchtenden, ihr entfliehenden Tag zu halten, da erwachte ich
und sah etwas Weißes, Flüchtiges von meiner Seite davonschweben. Und es
umgab mich ein leises Klingen, und Worte tönten -- war's in mir? war's um
mich? -- Horch:

  Die Nacht, als ich geschlafen hab',
  Da lag das Glück bei mir;
  Im Morgenschimmer sah ich nur
  Entfliehn die weiße Zier.

  Es lächelt, nickt und winkt mir zu:
  »Du hast es nicht gewußt,
  Daß schlummernd ich mein Köpfchen hab'
  Gelegt auf Deine Brust;

  Wärst Du erwacht, hätt'st mich gefaßt,
  So wär's um mich geschehn --
  Nur leis, nur heimlich darf das Glück
  An Deiner Seite gehn.«

Nun hatten es viele gute Menschen gehört, daß ich mein Märchen nicht
wieder finden könnte, und weil sie ein verloren gegangenes Märchen für
etwas sehr Trauriges hielten -- ganz anders als die in der Philisterstadt,
die gar nicht recht wußten, was ein Märchen war -- da wollten sie
mir alle suchen helfen. Aber sie thaten es mit so viel Bewußtsein und
Ueberlegung, daß das Märchen sich immer tiefer versteckte; und selbst
der rauschige Weinduft, der ausgesandt wurde, nach ihm zu forschen, kehrte
statt mit meinem lieblich plappernden Märchenkinde mit einem wolligen,
miauenden Kätzchen zurück, das gar scharfe Krallen zeigte.

Da ging ich in die Einsamkeit. Ich kam an wildes, weites Wasser, das
rauscht und brodelt und donnert, als wolle es eine Welt vernichten -- oder
emporheben. Und eine Brücke führt über die weiße Gischt, die ging ich
hinüber. Da war ich auf einer Insel mit hohen, wiegenden Bäumen;
die hielten Felsblöcke mit ihren Wurzeln umklammert wie mit riesigen
Greifenklauen. Und da war noch eine Insel, und noch eine, und noch eine.
Zwischen ihnen drängte sich überall das weiße Wasser hindurch; es war
so klar, daß man die kleinen Mooswälder auf dem Gestein unter ihm
sehen konnte, und die Höhlen, dunkelblau und tiefgolden, in denen die
Wasserkobolde wohnen. Wie ich nun an der äußersten Spitze der letzten
kleinen Insel angekommen bin und hinsehe über das weite, schäumende
Wasser, da sitzt dicht vor mir, nahe am brausenden Wasserabsturz,
mein Märchen auf einem Felsblock. Es hat seine nackten Beinchen hoch
heraufgezogen, damit sie nicht naß werden, und umschlingt die Kniee mit
den weißen Armen; das Haar rollt silberglänzend um die kleine Gestalt,
wie der sonnendurchleuchtete Kamm einer Woge, und die meergrünen
Zauberaugen sehen zwingend zu mir hinüber. So sitzen wir beide und
lächeln uns an, so froh, daß wir uns wieder haben, und dann erzählt das
Märchen:

Weit droben im großen See tief auf dem Grund, da steht das Schloß des
alten Wasserkönigs. Von grünem, strahlendem Krystall ist es erbaut, und
die Wände sind so klar, daß der Wasserkönig mit seinen seegrünen Augen
hindurchschauen kann und alles sieht, was in seinem Reiche vorgeht. Wenn
die Fische rebellieren wollen, dann weiß er es schon, noch ehe sie den
revolutionären Gedanken gefaßt haben, und der Kopf wird ihnen abgebissen,
ehe sie wissen, wo er ihnen eigentlich sitzt. Ja, der König führt ein
strenges Regiment, sogar unter den weiblichen Unterthanen, und manch
hübschem Nixlein bebt das goldschillernde Schwänzchen, wenn der König
musternd die Reihen durchschreitet; denn manch Nixlein hat ein böses
Gewissen, und -- ach, die königlichen Zwillingssöhne sind gar so
herzliebe Gesellen.

Da berief der König eines Tages seinen Hofstaat um sich. Er saß auf
einem Thron von goldglänzendem Kiesel, auf dem weißen Haupte trug er die
Seekrone von Smaragden, und in den langen silbernen Bartwellen funkelten
die Schaumperlen. Ringsum harrte das Gesinde in ehrfürchtigem Schweigen,
kaum, daß die beweglichen Schwänzchen hin und her zuckten. Vor ihm
aber standen die Zwillinge und warteten des königlichen Vaters Befehle.
Schöne, schlanke Burschen sind's, mit festen Gliedern und kühnen Augen.
Die des einen mit der gedankenvollen Stirn hingen an den Lippen des Vaters;
die des andern, Rastlosen, Trotzigen, flogen lächelnd und kosend über die
Schar der Nixlein, durch deren Reihen eine plötzliche schillernde Bewegung
ging. Der Wasserkönig aber sprach:

»Prinzen, Ihr habt gelernt, wie man im Wasser lebt, herrscht und richtet.
Es ist Zeit, daß Ihr Euch die Wasserfläche draußen anseht. Bahnt Euch
eine Straße, zerschmettert, was Euch im Wege ist, und erobert Euch Euer
Reich. Ziehet hin in Frieden und beherrschet künftig Eure Unterthanen mit
Zucht und Strenge.«

Unwillkürlich ruckten die Fische mit ihren Köpfen bei dieser Rede, ob sie
auch noch festsäßen, und die Nixen und Wassermänner zupften sich an den
Flossen, ob sie die auch noch hätten. -- Die schönen Zwillingsbrüder
aber schwammen Hand in Hand in die Welt hinaus. Zuerst waren sie
sehr übermütig, schlugen Purzelbäume, daß die Wellen in die
Höhe klatschten, und neckten die Fische, die pfeilschnell an ihnen
vorüberflohen. Dann wurden sie stiller und träumerisch, wiegten sich Hand
in Hand an der spiegelglatten Oberfläche des Wassers und sprachen von den
Heldenthaten, die sie verrichten wollten. Der mit der hohen Stirn und den
schwärmerischen Augen lispelte von der hohen, der herrlichen Welt, die
er sich erträume und die er besitzen müsse, koste es, was es wolle. Der
Trotzige aber lachte dazu: »Leben will ich -- und lieben und genießen!«
rief er und schüttelte übermütig eine ganze Welle voll Flußsand über
des Bruders schönem Haupte aus, daß der prustete und sich schüttelte wie
ein nasses Menschenkind. -- Nun kamen sie an einen hohen, grünen Wald, der
lag mitten in ihrem Weg und machte auch keine Miene, ihnen auszuweichen.

»Zerschmettert, was im Wege steht!« wiederholte der mit der hohen Stirn.
»Komm, laß uns die Bäume niederreißen, und die Felsen zerbröckeln.«

»Pah,« lachte der Wilde, »wozu die Arbeit, die eine Ewigkeit dauert? --
Weiter, weiter will ich, ins Leben hinein! -- Hör', laß uns den Bäumen
aus dem Wege gehen, Du dort herum, und ich hier, und dann wollen wir sehen,
wer zuerst ankommt, zuerst sein Ziel erreicht -- Du oder ich!«

Das reizte den Zwillingsbruder; wußte er doch, daß er natürlich der
Erste sein würde. Ein flüchtiges Lebewohl nur, und er brauste dahin,
ungestüm, hier ein Stück Fels wegreißend, dort einen Baumstamm mit sich
zerrend. Er sah nicht die Welt um ihn; er sah nur in die Ferne, wo seine
Welt liegen mußte, die er erträumt, die er besitzen, beherrschen wollte.
Nur immer weiter, weiter, dahin, wo der zarte Dunst aufsteigt, wo ein
erster Sonnenstrahl glitzert wie auf Türmen -- die seines neuen Reiches
-- und in wilden Sprüngen, brausend und jauchzend, setzt er der Traumwelt
nach, bis er schwankt und schwankt und ihm schwindelt, und er den Boden
unter den Füßen verliert, und er in den Abgrund stürzt, in den Abgrund
von erträumter Leidenschaft. Es war ein jäher Sturz. In ihm zerschellen
alle seine Träume, alle seine erhabenen Gedanken. Voll Grausen blickt er
hinauf zu der schwindelnden Höhe, auf der er einst geweilt hatte: so groß
und erhaben hatte er sich das Leben gedacht, nichts hatte er haben wollen,
keine Freude, keine Liebe, nur Größe und immer mehr Größe. Nun trieb
er dahin in einem breiten, gemächlichen Strombett, immer mehr wiegend,
erschlaffend, duselnd -- und nur wie weißer, kreisender Schaum trieb die
Erinnerung auf seinen langsam sich wälzenden Fluten. Einmal schaute er
sich um nach seinem Bruder: eine brausende, dampfende Gischt in der Ferne
verhüllte alles hinter ihm.

Der trotzige, lächelnde, genußsüchtige Zwillingsbruder aber war gar
gemütlich seines Weges gezogen, hatte die Bäume auf der schwimmenden
Insel neckisch an den Zweigen gezupft, wie die unnützen Buben die
schmollenden Schulmädchen an den Zöpfen, hatte seine neugierigen,
geschwätzigen Fluten durch jeden kleinen Felsengang geschickt, bis er
mitten durch die Insel hindurchlugen konnte, und da sah er etwas sehr
Liebliches. Nicht eine Insel war es nämlich, sondern neben der großen,
die das Königreich einer vornehmen alten Waldnymphe war, wie die
Wasserboten berichteten, lagen noch drei kleinere, und jede von ihnen hatte
ein Töchterlein der Waldkönigin zur Herrin, und sie lebten da in eitel
Freude und Lustbarkeit. Keinen Gebieter wollten sie über sich erkennen und
frei wie die Luft leben, so lange die Welt steht. Da kam jetzt der schöne
Flußheld geschwommen, ganz nahe an die Insel der ersten Schwester heran,
siehe, da steht ein wunderschön Jungfräulein, mit Guirlanden von Blumen
umwunden und ein fröhlich Liedchen summend. Und horch! wie die Antwort zu
ihr aufsteigt aus den weißen Wassern, die plötzlich aus dem Dunkel der
Felsen hervorbrechen und sie erschrecken, daß sie schreiend davonläuft.
Er aber schwimmt ihr nach, rund um die Insel, siehe -- da sitzt auf einem
Felsblock der zweiten kleinen Insel ein noch viel schöneres Jungfräulein,
die schüttelt ihr lockiges Haar, als sie die weißen, starken Arme des
Flußhelden sieht, die er nach ihr ausstreckt. Und sie lacht höhnisch und
nimmt spitzes Gestein und wirft es nach ihm, daß ihn die scharfen Kanten
ritzen. Da wird er zornig und will aufwallen -- doch ach, drüben auf
der letzten, kleinsten Insel, da sitzt am Ufer, mit den Füßen die neuen
Wellen patschend, das dritte Prinzeßchen; und sie hat langes, güldenes
Haar, und die meerblauen Augen sehen neugierig zu ihm hinüber, und die
schönen Glieder wiegen sich mit den Wellen. Da schwimmt er ganz nahe zu
ihr, legt seine große Männerhand um ihr weißes, weiches Füßchen,
und sie lächelt nur -- da zieht er sie hinab in seine schaukelnde, weite
Wasserwiege. Wie eine Wehklage braust es durch die Waldwipfel; aber sein
Jubelruf übertönt die Klage, und weit enteilt er, seine Beute bergend vor
Fels und Abgründen. Regungslos liegt die Schlanke, Weiße in seinen Armen.
Sie kann ja nicht sprechen im Wasser, nur die meerblauen Augen sehen
ihn an, und tief drin liegt eine stille Klage: Warum hast du mich in ein
fremdes Element gezogen? Warum dich zum Herrn gemacht über ein freies
Geschöpf?

Nun wußte er eine Grotte, darin sollte die stille, weiße Geliebte wohnen.
Tiefgrün war es darin von lauter Smaragden, und das Edelgestein leuchtete
und funkelte wie von tausend Lampen. Der trotzige Held aber webt und webt,
und webt mit seinen Wasserfäden den schönsten Brautschleier von kostbaren
Spitzen, und er hängt das duftige zarte Gewebe, so hoch, so fein, rund im
Halbkreis vor das smaragdene Wasserschloß, daß niemand seine Heimlichkeit
störe, keiner seine weiße Braut, zu deren Füßen er ruht, ihm rauben
könne. Sie aber spielt in seinen langen Haaren, küßt seinen roten Mund,
legt ihr Köpfchen an seine breite Brust -- aber immer wieder fragt sie: Wo
ist die Sonne? die goldene Sonne?

Und eines Tages, als er fern ist, da wird die Sehnsucht nach dem Licht so
mächtig in ihr, daß sie der Wasserkobolde und neckischen Nixen vergißt,
die draußen ihr Wesen treiben und die Spitzenschleier immer wieder
erneuern und verdichten. Ganz nahe tritt sie heran an die zauberischen
Vorhänge -- wie hell, wie licht es da ist; sie rückt ein wenig daran, sie
lüpft ein zartes Eckchen. -- Siehe, da über den wogenden Wasserdünsten
steht die Sonne, ihre Sonne in strahlender Pracht -- und die Arme
sehnsüchtig ihr entgegenbreitend, sinkt das Waldkind, eingehüllt in
die Brautschleier, zur tosenden, unbarmherzigen Tiefe nieder. Wie ein
leuchtender Strahl fliegt es an dem Trotzigen vorbei, der seine starken
Glieder im wildesten Flutengetos kühlt, und da vor ihm, da im Strudel
treibt der weiße, weiche Leib seiner stillen Waldlilie. -- Es überkommt
ihn ein großer Zorn. Brüllend vor Schmerz und Wut, daß es wie Donner
grollt, wirft er die Wasser gen Himmel, damit ihr Schaum, ihr wilder Gischt
die Sonne, die verhaßte, verdecke. So steht er im Strudel und rast und
trotzt gen Himmel. Er sendet seine Fluten auf zu der Insel, wo seine
Waldlilie wuchs; sie zerren und wühlen an dem Gestein, ein Stück nach
dem andern sinkt in die Tiefe und ein höhnender Schrei gellt von Welle
zu Welle, wenn ein Baum mit hinabgerissen wird und hülflos in den Fluten
treibt. Oben in den Wipfeln der Bäume aber rauscht eine wehmütige Klage
um die Waldlilie, die an der Sonnensehnsucht verging.

Doch die wundersamen Spitzenschleier, die das Brautgemach bargen, wallen
immer noch nieder vor dem smaragdenen Schloß und verhüllen in zarter
Weiße seine erbarmungslose Leere. Die goldene Sonne aber taucht ihre
Strahlen tief in das Wassergebrodel, läßt sie niedergleiten an den
Schleiern, als suche sie die, die aus Sehnsucht nach dem Lichte gestorben
ist; und die Strahlen bauen von Tag zu Tag eine wunderleuchtende Brücke
hinauf, hinauf zur Sonne.

Da endete das Märchen und es breitete seine Arme aus nach den fallenden
Wassern. Ein leises, wehmütiges Klingen zog herüber von den Inseln der
drei Schwestern.

Das Märchen erhob sich, flog mit breiten, weißen Mövenflügeln hin über
die Fluten, die wild aufschäumten und es haschen wollten. Aber sie netzten
nur seine Füße. Und mit leisem Gekicher kreiste es über meinem Haupte --
mein verlorenes und wiedergefundenes Märchen -- an den fallenden Wassern
des Niagara.




In der Gosse.


»Hei! Der hat's eilig!« sagten die trockenen Blätter, als der Wind
sie packte und die glatte Straße hinunterwirbelte, daß sie den Atem
anhielten.

»Nein, ich will nicht!« raschelte das eine ganz große Blatt, das, trotz
seiner verkrümpelten Gestalt, noch einen grünlichen Schimmer auf sich
hatte und sogar noch einen ordentlichen Stiel besaß. Und es hob sich
erst von der einen Seite, und dann von der andern -- wie ein ungeschickter
Bauernbursche, der zum Tanze antritt; aber es half ihm nichts: der Wind
blies die Backen auf, und heidi! da sauste es davon, so viel es auch
versuchte, an allen Steinchen und Schmutzhaufen hängen zu bleiben. Wütend
sprang es schließlich noch toller wie die andern und legte sich oben
auf die kleinen Blätter, um sie festzuhalten. -- Da plötzlich -- an
der Straßenecke stieß der Westwind laut jubelnd den Nordwind an -- so
spielten sie immer, die beiden wilden Gesellen, und wollten sich dann
schier totlachen, wenn sie alles Lebendige mit in ihren tollen Reigen
hineinzerrten. -- Und nun wirbelten sie zusammen die trockenen Blätter
in die Höhe, daß sie den Bäumen entgegenflogen, die sehnsüchtig die
leeren, nackten Arme nach ihnen ausstreckten. Aber da lagen sie schon
wieder auf der Erde, küselten verwirrt umeinander und schleiften,
schlürften, raschelten über die glatten Steine hinab in die Gosse.

Da lagen sie nun und dachten nach. Und dachten, wie sie -- es war schon
lange, lange her -- die braunen Köpfchen einst vorsichtig aus der
Baumrinde hervorgestreckt hatten, und in die Welt hinein geguckt, wie sie
dann groß und grün und schön geworden waren, wie die Spatzen in
ihnen gehuscht, wie der Mond zwischen ihnen hindurchgelugt, und wie
die Menschenkinder in ihrem Schatten sich geküßt hatten. Dann war der
Herbstwind gekommen und hatte sie selber geküßt, und sie waren gestorben
an seinen eisigen Küssen -- hatten sich erst so herrlich geschmückt für
ihn, die armen Dinger, rot und gelb und violett und braun, und dann fielen
sie ohnmächtig aus seiner wilden Umarmung zur Erde nieder, wurden hin und
her gejagt von den Winden, und nun? Nun liegen sie in der Gosse und denken
nach.

Hei! Wie der Wind bläst! Die Kleider der schönen Frauen, welche die
Straße entlang gehen, schlägt er zur Seite, daß die schlanken Füße
sichtbar werden. Und die Blätter in der Gosse flüstern einander zu:
»Jetzt werden sie auch anfangen zu tanzen und rascheln und schleifen die
glatte Straße hinab in die Gosse!«

Aber nein, die kleinen Füße schreiten fest und sicher weiter, der Wind
kann ihnen nichts anhaben -- aber der andere, der im Herzen weht, durch das
Leben stürmt, ob der die schlanken Frauenfüße wohl nicht vom glatten Weg
hinabwirbelt -- in die Gosse?

Davon freilich wußten die trockenen Blätter nichts: sie lagen in der
Gosse und dachten nach; und der Wind strich jauchzend über sie hin. Es
wäre ihm ein Leichtes gewesen, die ganze Gesellschaft aus dem Rinnstein
hinauszuwirbeln, über alle Welt zu jagen. Doch er that es nicht; lauernd
hing er über ihnen und sang sein Lied:

»Jetzt schirre ich meine Wolkenrosse und stürme dahin und brause
über die Stadt und über das Land in den Wald. Eure Schwestern will
ich besuchen, die glührot an den Bäumen hängen. Und ich hause in den
Zweigen, und ich brause über die Wipfel, und ich schüttle die bunte
Pracht. -- Seht Ihr den bunten Blätterregen?

Und seht Ihr die Trauerweiden, wie sie den Waldteich bewachen, düster,
schwermut-geheimnisvoll? Ich peitsche ihre niederhängenden Haare, daß sie
wie graue Schlangen zischeln und züngeln. Ich wühle die schwarzen Fluten
des Waldteichs auf, daß die Wellen schäumen und sich kräuseln und mit
nassen, starken Armen die Wasserrosen hinabziehen in das dunkle, dunkle
Grab. --

Nur die Königin -- sieh', da ruht sie auf schwarzgrünen Blättern, und
sehnsüchtig leuchtet ihr weißes Blumengesicht mir entgegen. Ich fliege zu
ihr, und ich reiße sie an mich in wilder Lust, kosend schaukle ich sie hin
und her, ich sauge wollüstig den Duft aus ihrem weißen Kelche, ich küsse
sie mit zärtlich stürmischen Küssen -- sie stirbt an diesen Küssen --
und ich trage ihre Blumenblätter hin über den schwarzen Waldesteich,
hin über die Welt -- -- Ist es süß, zu sterben an den Küssen des
Gewaltigen? -- --

Heiho! -- Ihr Wolkenrosse -- graue, schwarze! senkt Euch tiefer, daß
ich Euch besteige, daß ich Euch zügle hin über die Erde -- der ich
Vernichtung bringe -- --«

Raschelnd flogen die trockenen Blätter ihm nach, aber nur eine Spanne
hoch, dann fielen sie wieder herunter in den Rinnstein. Und da lagen sie
wieder mit ihren Gedanken.

Es hatte sich eine sehr gemischte Gesellschaft in der Gosse
zusammengefunden. Da waren Blätter von allen Größen und jedes sah ganz
anders aus. Sie gehörten zwar alle entweder zu der großen Familie »Derer
von Baum« oder zu der »Von dem Busche« -- aber eine rechte Einigkeit
konnte nicht erzielt werden, da sich die vom Baum viel vornehmer dünkten,
als die von dem Busche, und daher wurde so viel von Stammbäumen,
Wappenschildern und dem Gothaer geredet, den die Firma Frühling, Sommer
u. Co. herausgab, daß die übrige Gesellschaft im Rinnstein, die nicht
von so hoher Abkunft war, in tiefster Ergebenheit erstarb. Darin waren sie
sich jedoch alle einig, daß sie nur durch unverschuldetes Unglück, durch
widrige Winde und plötzliche Regengüsse so heruntergekommen waren, daß
sie sich nun in der Gosse befanden.

Da stak mitten unter dem Blätterhaufen ein langer, schlanker Strohhalm,
hineingeflogen wie ein Pfeil -- die Blätter hatten ihn immer für etwas
ganz Unbedeutendes gehalten -- der that jetzt den Mund auf und begann zu
erzählen: »Ich bin sehr vornehm,« sagte er, »ich bin ein Prinz. Ich
bin Oberst gewesen in Ihrer Majestät der Frau Königin Erde Weizenfeld,
Allerfeinste-Mehlsorte No. I. Ich trug eine gelbe Uniform und einen
prächtigen Raupenhelm auf dem Kopfe. -- Ihr hättet es sehen sollen, unser
Regiment! Wie wir in Reih' und Glied standen -- fest wie eine Mauer! Wie
wir exercierten -- hierhin, dorthin, auf und nieder, wenn unser Kommandant,
Generalissimus Wind, seine brausende Stimme erschallen ließ. Hei! das
war eine Freude, uns anzuschauen! -- Und dann kam der Krieg, das war ein
schneidiger Krieg! Erbarmungslos mähte der Feind, jenes uncivilisierte
raubgierige Gesindel, das sie Menschen nennen, uns nieder, und wir fielen
ebenso schön in Reih' und Glied, wie wir gestanden hatten. -- Aber tot
waren wir nicht -- bewahre! (denn sonst könnte ich es Euch ja
nicht erzählen). Wir gerieten nur in Gefangenschaft, und in bittere
Gefangenschaft. Sie banden uns zusammen, wie die Indianer, und schleppten
uns fort und steckten uns in die Folter, bis sie all den Reichtum, den wir
in unserm Raupenhelm trugen, herausgequetscht hatten, und dann, ja dann
sollten wir erniedrigt werden, den Pferden Dienste zu leisten, den Pferden
unserer Feinde. Die wollten auf uns herumtrampeln, die wollten uns als
Lager benutzen, die wollten -- mit einem Wort -- Mist sollten wir werden!
-- Ich, Prinz von Halm-Halm -- auf Aehre -- Oberst in Ihrer Majestät der
Königin Erde Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. I.

Da, als wir gefesselt, geknebelt, aufeinandergepackt, in dem
Transport-Wagen lagen -- da habe ich zum erstenmal in meinem Leben die
Subordination vergessen -- ich, dem die Subordination alles war, und bin
ausgerissen.

Und die Folge davon? -- Ich liege in der Gosse -- --

Ja, Subordination muß sein!« sagte der Strohhalm, grub sich mit seiner
leeren Kornähre, seiner Raupe, in den Gossenschlamm und philosophierte
über die Gefahren der Unbotmäßigkeit. -- »Siehst Du, Prinz Halm-Halm:
Schmieg' Dich dem Schicksal an, so kriegst Du einen warmen Pferdestall --
lehn' Dich dagegen auf und Du fällst in die Gosse -- auf Aehre! -- Burrrr
-- brumm!« schnarrte es neben ihm. Ein richtiger, bunter Brummkreisel war
es, der auf irgend eine Weise in die Gosse geraten, unter die Blätter, und
von den Kindern vergessen worden war.

»Subordination. -- Ich brumme was auf die Subordination! Wer wie ich
zeitlebens von allen unnützen Buben auf den Straßen herumgepeitscht
worden ist -- zuweilen waren ein halbes Dutzend hinter mir, und dann mußte
ich tanzen und brummen, bis mir der Atem ausging -- der ist froh, wenn er
auskratzen kann und sein Leben gemütlich in der Gosse beschließen darf.

Wie habe ich mich gesträubt und gewehrt, all' mein Leben lang! Ich habe
den Bindfaden, der an mir saß, so fest um mich herumgewickelt, daß er
beinahe mit keiner Macht der Erde wieder loszumachen war; ich habe mich mit
meinem einzigen spitzen Bein in die Ritzen der Steine geklemmt, daß sie
mich beinahe nicht wieder herauskriegen konnten; ich bin allen Jungen und
Mädchen zwischen die Füße gefahren, daß sie stolperten, und habe dabei
gebrummt, daß mir selber angst und bange wurde. Aber es half mir nichts.
Ich mußte tanzen und schnurren und Kapriolen machen mit der bittersten
Empörung in meinem Brummkreiselherzen. Sie hatten die Peitsche und
folglich auch die Macht und ich mußte tanzen, bis ich eines schönen Tages
in der Gosse lag -- -- -- Brrrrr -- brumm!« sagte der Kreisel, als der
Wind über ihn hinfuhr und ihn zwang, sich um sich selbst zu drehen.

»Ja, mein lieber Herr Kreisel,« sprach da salbungsvoll ein weißes,
bedrucktes Stück Papier, das die Schulkinder aus einem ihrer Bücher
verloren hatten. Die Blätter wollten es nicht für voll anerkennen -- es
war zwar auch ein Blatt und auch trocken, aber es gehörte zu einer ganz
andern Familie -- sie waren gar nicht verwandt. Es hielt sich deshalb ein
wenig abseits und sprach in gebildetem Tone:

»Sehen Sie, mein lieber Herr Kreisel,« sagte es, »das ist von alters her
so gewesen -- ich muß das wissen, denn ich bin aus einem Geschichtsbuche
-- die Starken hatten die Macht und, wie Sie so sehr richtig bemerkten,
folglich auch die Peitsche, mit der sie sehr energisch umzugehen wußten,
und die Schwachen -- nun, die wurden gepeitscht. Da hilft kein Auflehnen
gegen den Willen von oben und gegen die Peitsche der Straßenjungen; die
Kreisel wie alle Armen und Schwachen müssen tanzen -- so ist es immer
gewesen, so ist es heute noch, und so wird es bleiben. Wir haben uns einmal
daran gewöhnt, und wir Gebildeten sehen auch ein, daß es nicht anders
sein kann und daß es so am besten ist.«

Da fuhr aber der Kreisel auf:

»Daran gewöhnt? Fällt uns gar nicht ein! Denken gar nicht daran! Und
wenn wir uns einmal alle zusammenrotteten -- die Bäume und die Büsche und
die Strohhalme, und alles, was so herumliegt, und wir Kreisel und -- und so
weiter -- und wir machten 'mal so eine kleine, lustige Revolu-- --«

Hui! Da faßte ihn der Wind und schüttelte ihn, und da duckte er sich und
sagte: »Brumm!« --

»Ach,« jammerte da ein feines, zärtliches Stimmchen, »was ist das alles
gegen den Kummer, den ich erlebt habe?«

Das war ein Stückchen Papier, lachsfarben, gepreßt, mit Tinte beschrieben
-- man sah, es war etwas Feines. Der Wind hatte es eben erst in wilder Jagd
die Straße hinuntergepustet, und atemlos war es mit einem Purzelbaum in
der Gosse gelandet.

»Ich war rein und hellblank, und ich duftete stärker wie die Veilchen
in der Vase, die vor dem Fenster stand; und ich lag auf einem zierlichen
Schreibtisch und ein reizender, goldener Federhalter kritzelte über
mich hin. -- Ach, dieser Federhalter! Etwas Glänzenderes, Schlankeres,
Zierlicheres habe ich nie gesehen. Und alle die süßen, zärtlichen
Worte, die er mir ins Ohr flüsterte -- war es ein Wunder, daß ich
seinen Schwüren glaubte, daß ich ihn liebte mit all der Glut, deren mein
papierenes Herz fähig war? -- Ach, wie war das Leben schön!

Aber da kritzelte er mir eines Tages mit einem großen dicken Tintenstrich
etwas ganz Unheimliches, Unverständliches zu, so daß ich erschrak, und
dann ergriffen mich plötzlich kleine, weiße Fingerchen, und ich knickte
vor Angst in der Mitte durch, und sie sperrten mich in einen dunklen
Behälter, der wurde fest zugemacht, und eine glockenhelle Stimme trillerte
dazu:

  Such' ich mir 'nen andern Schatz --
        juhu -- andern Schatz --

und dann reiste ich fort, weit fort, und mein schlanker, goldener Geliebter
blieb zurück, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Ach, ich war wie in
einer Betäubung und kam erst wieder zur Besinnung, als mein Gefängnis
sich öffnete und ich herausgeholt wurde -- und da -- da geschah etwas
Schreckliches: ich hörte eine wuterstickte Stimme, die mich fürchterlich
ausschalt, und große, rauhe Finger nahmen mich und rissen mich mitten
durch, nicht nur einmal, nein, in lauter kleine Fetzen, und wir flatterten
zur Erde nieder und der Wind kam und nahm uns mit sich fort. -- Ach, und
wenn nun mein Federhalter mich sucht, dann erkennt er in diesem kleinen,
schmutzigen Flecken seine schöne lachsfarbene Geliebte nicht wieder.
-- -- -- Ach, was sind alle Leiden und Kümmernisse der Welt gegen die
Schmerzen unglücklicher Liebe!«

Als das traurige Papierchen geendet hatte, entstand eine tiefe Stille in
dem Rinnstein. Sie waren alle gerührt und kämpften mit den Thränen --

»Denn eigenes Unglück und eigener Kummer machen das Herz empfänglich
für die Leiden anderer!« sagte das Blatt aus dem Geschichtsbuche für die
Jugend gebildeter Stände. Nur das große Blatt mit dem Stiel, eines
der vornehmsten aus dem Hause derer vom Baume, murmelte etwas von
»plebejischer Gefühlsduselei!« und der Brummkreisel sagte: »Bitte,
meine Herrschaften, werden Sie nicht sentimental -- das ist veraltet --
und von Liebe halten wir heutzutage nicht viel, die Wissenschaft hat
diesen geheimnisvollen Vorgang in unserem Innern mit grausamer Deutlichkeit
aufgeklärt -- brrrr--brumm!« Da aber gab es einen großen Disput, wie
in einer politischen Sitzung, und wie sie noch im besten Zanken waren,
öffnete sich in dem nächsten Hause eine Thür und ein junges Mädchen
trat heraus mit einem Besen in der Hand, denn es war Sonnabend, und die
Straße sollte gekehrt werden. Mit kleinen lustigen Schritten trippelte sie
daher und die braunen Augen sahen zuversichtlich in die Welt hinein. Sie
begann mit kräftigen Bewegungen den Rinnstein auszukehren und summte
halblaut dazu:

  Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',
  Wo mein Schatzerl ist --
  Ist wohl in die weite Welt --
        juhu -- weite Welt --
  Ist wohl fortgezogen!

  Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',
  Wo mein Schatzerl ist --
  Wär' ich in die weite Welt --
        juhu -- weite Welt --
  Wär' ihm nachgezogen!

  Da er mir nun nichts gesagt,
  Warte ich wohl über Nacht --
  Such' mir dann ein andern Bub --
        juhu -- andern Bub' --
  Muß mich nit verlassen!« -- --

Und nun purzelte alles durcheinander: die Blätter und der Strohhalm und
das Papier und der Kreisel. Das Mädchen kehrte sie zusammen auf einen
großen Haufen, und jubelnd kamen die Kinder herbei und zündeten das
trockene Laub an -- --

»Burrr!« sagte der Kreisel, »mein revolutionäres Feuer schmilzt mich
auf!«

Und knisternd flog die lachsfarbene Schönheit in die Höhe; denn der Wind
blies in den Scheiterhaufen, daß die Funken stoben, er trug sie mit sich
fort, wie die weißen Blätter der Wasserrosenkönigin, und streute sie
aus auf seinem Wege, daß ein Feuerregen niederfiel. Die braunen Augen des
Mädchens sahen ihnen nach, und sie sang:

  »Ist wohl in die weite Welt -- juhu --
        juhu -- weite Welt --
  Ist wohl fortgezogen!«




Sonniger Winter.


Sie sagten, es sei Winter. Da ging ich hinaus, ihn zu begrüßen. Denn hier
drinnen in der engen Stadt hat er ein gar häßliches Aussehen, rauchig
und schmutzig, und er blickt dich an mit den Augen des Hungers. -- Draußen
aber lag der lachende Sonnenschein. War das der Winter? Er hat ja kein
weißes Kleid an. Die Bäume recken ihre nackten Zweige kraus und zackig
in den blauen Himmel hinein, und ihre Rinde schimmert rötlich, oder weiß,
oder stahlgrau in der schwimmenden, flockigen Luft. Ah, die Luft!
Das weitet die Brust -- wie du mit einem tiefen Atemzug alle den Wald
einhauchst, daß er die Stadt, die rauchige, schmutzige, in dir verzehrt!
-- Mein Fuß wühlt im langen, zottigen Gras. Wenn du nicht hinsiehst
im Park, wo die glatten Wege sind, wo die feinen Karossen fahren, wo die
Menschen auf ebenen Pfaden wandeln, dann meinst du im Wald zu sein -- still
ringsum, nur hohe Bäume, nur das Lispeln, das seltsame, traurige Lispeln
in den nackten Zweigen, die ohne Blätter nicht rauschen und raunen
können, wie sie im Sommer, im Herbst es thaten. Nur die Prärie vor dir,
durch die sich das geschäftige Bächlein im Sonnenschein dahinschlängelt.
Ein zaubrisch Bächlein -- wie es lockt und winkt, eilig über die blanken,
feuchten Steine kollert, und immer raunt und murmelt und erzählt -- was es
nur immer sagt? Ich klettere den Abhang hinunter, tiefgrün schimmert das
Wasser von den bemoosten Steinen herauf. Einzelne ragen draus hervor, sie
sehen mich lockend an -- soll ich hinüber klettern auf den Springsteinen,
zum andern Ufer des Bächleins, dorthin, wo stille, grüne Tannen stehen,
wo es ganz einsam ist? -- Da -- mitten drin -- du böser Nix, was hast du
an dem Stein zu rütteln? Das hält ja so ein tappig Menschenkind nicht
aus! Natürlich, da patsche ich mit den Füßen im Wasser -- und nun
schnell gesprungen, in den Sonnenschein, in das hohe Gras hinein, daß ich
wieder trocken werde. Böser Bach mit deinem Nixen. -- Aber was ist das?
War es Zauberwasser, das mich berührt hat? -- Der Wald ist lebendig
geworden, die Bäume fangen an zu reden, ich verstehe, was die Vöglein
zwitschern, die kleinen, grauen, die Waldvagabonden, die einzigen, die
geblieben sind. Piep! sagen sie, uns ist's einerlei, ob die Blumen blühen
und die Bäume Blätter haben. Dann bauen wir unser Nest in den kahlen
Zweigen, und zwitschern von den zukünftigen Blüten, und die Nahrung --
nun, die stehlen wir uns irgendwo -- nur Freiheit, Freiheit wollen wir
haben! -- Au! sagt das Gras unter meinen Füßen, warum trittst du mich?
-- Ich bin nicht tot. Da, sieh' einmal her -- Und wie ich dann die langen,
zerzausten Haare vorsichtig zur Seite schiebe, da lugt frischer, grüner
Klee schelmisch hervor. Der grüne, grüne Klee -- Weißt du noch, grüner
Klee, wie es war zur Sommerszeit?

  Es war zur goldnen Sommerszeit,
  Die Welt war groß und war so weit --
    Und grüner, grüner Klee.

  Der blühte still im Waldesthal
  Wie Tropfen Blutes allzumal
    Die Blüten stehn im Klee.

  Und Falter spielen drüber hin.
  Und wir? Wir lagern uns tiefdrin,
    Im grünen, grünen Klee.

  Dein Aug' ist wie der Falter blau,
  Dein Mund rot wie die Blüt' im Tau,
    Die Blüte rot im Klee.

  Dein Haar ist wie das Sonnenlicht,
  Das gleitet durch die Zweige dicht
    Wohl über grünen Klee.

  Dein lieber Hals, der luget leis,
  Wie die Maßlieben wunderweiß,
    Aus grünem, grünem Klee.

  Da hab' ich mich geneigt zur Stund'
  Und hab geküßt den roten Mund
    Im grünen, grünen Klee.

  Und nur ein Vöglein sah's mit an,
  Das lockte süß aus dunklem Tann
    Ganz nah beim grünen Klee.

  Da war es, wo im Waldesthal
  Ich fand zum allererstenmal
    Der Blätter vier am Klee.

  Merkt ihr, was das bedeuten soll?
  Mein Lieb und ich -- wir wissen's wohl --
    Ja -- und der grüne Klee. --

Hat mir das Bächlein das Lied gegluckst? Haben's die kleinen Waldtramps
gezwitschert? Hat es der Klee gelispelt -- oder hauchten es die
Sonnenstrahlen in die Welt hinein? Rings um mich singt es und klingt es.
Und plötzlich trottet eine kleine Schar neben mir, putzige Gesellen mit
feinen Gliederchen und lustigem Wesen. Sie laufen neben mir wie eine Schar
Hündchen, sie klettern die platten Baumstämme hinauf und wiegen sich
in dem weiten Geäst hurtig wie die Eichkätzchen, und sie tragen kleine
Narrenkappen auf den Krausköpfchen, damit klingeln sie: Gedanken!
Gedanken! Wir sind deine Gedanken. --

Aber, ihr flinken Gesellchen -- Gedanken? Ich meinte Gedanken, die hätten
schwere Köpfe, und Brillen auf der Nase, und gingen mit gewichtigen
Schritten in den Büchern auf und ab spazieren. Was wollt ihr im Wald mit
mir?

»Wir wollen hören, was er rauscht, was die Bäume sagen, und der Wind
weht. Wir wollen sehen, wo der Winter ist? -- Da, siehst du.« -- Mitten
auf der Wiese war das lange Gras fein säuberlich zur Seite gewachsen und
hatte einem grünen Moosteppich Platz gemacht, der sich glatt und fein
ausbreitete: »Sieh',« flüsterte mir ein Gedanke ins Ohr, »siehst du
die Elfen tanzen, und die Gnomen mit den weißen, zottigen Bärten und
den spitzen, haarigen Oehrlein? Wie die weißen Leiber der Winterelfen
schimmern, wie ihre flockigen Schleier wehen und wie die Lüfte aufspielen
zum Tanz. -- Horch! Wie Schneeknirschen klingt's, und wie die Eiszapfen,
wenn sie klirrend von den Bäumen brechen. Und siehst du, da mitten im
Gewirr den sonnigen Winter stehn? Seine Augen glänzen und er lacht, daß
die weißen Zähne aus dem feurigen Barte blitzen.« -- In den starken
Armen hält er die Winde; wie sie zappeln und die Backen aufblasen vor Wut,
daß sie nicht loskommen können -- da schlägt er den Nordwind und den
Westwind mit den Köpfen zusammen, die bösen Gesellen, und stößt sie
mitten unter das Elfengesindel, das sie jauchzend mit Tannenkränzen
umwindet und fesselt; oben auf des sonnigen Winters Schultern aber steht
der Südwind und stößt jubelnd ins Horn, daß es von den Bergen ringsum
widerklingt. Und jauchzend fallen die Gedanken um mich herum in das tolle
Treiben -- so daß ich mich ordentlich schäme für sie -- was sollen nur
die Menschen davon denken? »Ihr solltet auch nicht denken, ihr Menschen,«
lachten meine wilden Gesellchen -- »denn wenn ihr denkt, dann denkt ihr
immer was Dummes. Es wäre überhaupt viel besser, ihr dächtet gar nicht,
und überließet es uns, euch plötzlich mit etwas Gescheitem durch den
Kopf zu fahren -- wie ein Blitz.«

»Da sieh' hin, die zwei Bäumchen, die da angewackelt kommen,« sagte ein
spöttischer kleiner Gedanke und überschlug sich wie ein Kobold im Gras
vor Vergnügen. »Du denkst, es wären Fichten, aber schau sie einmal an:
sie kommen in kurzem Lauf, ein wenig vornüber, dahergetrottet, ihre Nadeln
stehen zierlich nach beiden Seiten, wie lauter gewichste Schnurrbärtchen,
die Kronen sind ihnen ins Gesicht gerutscht, so daß es aussieht, als wenn
sie die großen Hüte bis tief auf die Nase sitzen hätten, und da die
Zweige just ein bischen über dem Erdboden beginnen, scheint es, als
hätten sie sich die schloddrigen Hosen sorgfältig aufgekrempelt. --

»Ei! wie die Herrchen laufen,« höhnt der lustige Gedanke und zupfte an
ihren Nadeln, worauf sie sich wütend umdrehen und mit den jungen Birken,
die sie als Spazierstöcke mit sich schleppen, nach ihm schlagen -- »sie
thun, als wollten sie dem sonnigen Winter eine Referenz machen, und dabei
schielen sie doch nur nach den weißhäutigen Elfendirnen.«

Nun kommen sie von allen Seiten gewandert: die breitästigen Eichen, die
schlanken Birken im weißen Hemdchen, knorrige Burschen vom Geschlecht der
Baumriesen; und eine nackte Trauerweide tänzelt so lustig daher, daß die
langen, fast bis auf die Füße hängenden Haarsträhne im Winde flattern.
-- Ei, sieh', wen haben wir hier? -- Eine Prozession ehrbarer Herren in
dunkelgrünen Röcken, die bis zur Erde reichen; und aus den stachligen
Kapuzen schauen lustige Mönchsgesichter, und die Aeuglein blinzeln über
die feisten Wangen hinweg nach den schlanken, grünen Nönnchen, die ihre
Kiefernkleidchen gar züchtig geschürzt haben und sittsam kokett neben
der Tannenprozession einhertrippeln. Voran schreitet ein baumlanger
Tannenriese, stark wie Rabelais' Mönch Johann. »Halt da!« kommandiert
er, »hübsch paarweise antreten!« und er bombardiert die letzten in der
Reihe mit Tannenzapfen, damit sie ihn besser verständen -- »und wem's
nicht recht ist, hier im Wald, dem schlage ich die Knochen im Leibe
entzwei!«

Da faßt ein Mönch je ein Nönnchen bei der Hand, und, die grünen Röcke
ein wenig lüpfend, tänzeln sie im Menuettschritt über die Wiese hin zum
lachenden, sonnigen Winter und beginnen artig zu psalmodieren, daß es in
den Wald hineinschallt:

  »Brave Mönche sind wir Tannen,
  Brummeln unser Mönchsgebet --
  Und wenn es zum Schlucken geht,
  Laufen nimmer wir von dannen --
        Eia, Hallelujah!

  »Nönnchen sind wir, Nönnchen heiter,
  Leben gottgefällig weiter,
  Putzen unser grünes Kleid --
  's Himmelreich ist auch nicht weit --
        Eia, Hallelujah!

  »Und so leben wir gar traulich,
  Brüder, Schwestern, Hand in Hand --
  -- Unsre Kutten sind verwandt --
  Unser Trachten ist beschaulich --
        Eia, Halleluja!«

»Ei, so hört auf zu plärren,« dröhnt Bruder Johanns mächtige Stimme
dazwischen --

  »Kurze Worte dringen zum Himmel eh'r,
  Lange Züge machen die Kanne leer --
        Eia, Halleluja!«

Und mit tollem Jubel drehn sie sich mit im Elfenreigen, daß die grünen
Kutten im Winde wehn.

»Hast du nun den Winter gefunden?« flüstert mir ein Gedanke ins Ohr,
»sieh', wie die Sonne über ihm steht, lichtspendend, milde lächelnd,
als ob all das Weh in der Welt nur ein Wassertröpfchen wäre, das sie
lächelnd aufsaugt.«

»Sagtest du: Weh, kleiner Gedanke?« haucht es neben mir, »weißt du, was
das ist?«

Ich wandte mich; da steht unter den hohen Bäumen des sonnigen Winters der
allerhöchste und breitet seine mächtigen Zweige aus, als wolle er die
Welt an seine Brust ziehn. »Sieh',« sagt er und senkt das starke Haupt,
»meine Krone haben sie mir geraubt, der Sturm, als er hinzog mit seinen
weißen Jägern über mein Reich -- meine Aeste haben sie zerschlagen und
die Augen mir geblendet. Weißt du, was es heißt, leben, und die Sonne
nicht mehr sehn, nie mehr!«

Es geht ein Aechzen durch den zersplitterten Stamm, die Zweige bewegen sich
schwankend hin und her -- es ist, als wolle sich der Riese zur Erde neigen.
Aber noch ist er stark, noch steht er aufrecht, bis der Sturm wieder einmal
gegen ihn zu Felde zieht -- und nur wie ein »Weh -- das thut weh!« --
zittert es durch die Luft.

Mich fröstelte es, die Sonne sank tiefer, ich ging dem Heimweg zu.
Einzelne Gedanken blieben im Wald beim Tanz auf dem Elfenteppich, bei dem
sonnigen Winter, andere sprangen mir flüsternd, raunend, kichernd
zur Seite; bis zum Hügel hinauf, am Rand des Waldes, da waren sie
verschwunden. Einige waren den eleganten Karossen nachgelaufen und
guckten spöttisch grinsend in die Wagenfenster, andere hatten sich den
Heimatlosen, vagabondierenden Menschenkindern angeschlossen, die unter
den Büschen des sonnigen Winters ihr Nachtlager suchten. Nur Einer,
ein ernsthafter, blasser, kleiner Geselle stand neben mir, als ich mich
umwandte am Berg und mein Auge die Sonne suchte -- wie seltsam! Die Sonne,
die goldene, große, strahlende, hing herrlich am Himmel -- aber der Wald,
die Welt? Was eben noch leuchtete, schimmerte, in wunderbarsten Farben, das
lag tot und kalt und schwarz zu ihren Füßen.

»Siehst du,« sagte der ernsthafte Gedanke neben mir, »so wollt ihr die
Wahrheit suchen mit eurem Verstand und eurer Tüftelei, so seht ihr in die
Sonne mit der Brille der kalten Berechnung auf der Nase -- ja die Sonne
steht dort am Firmament, strahlend, so himmlisch leuchtend, daß euer
blödes Auge sie nicht ertragen kann, und die Welt, über die ihr die
Wahrheit ergründen wollt, liegt schwarz und tot da. Aber schau dich um,
schau mit der Sonne, schau dahin, wo nur die Strahlen der Sonne hindringen,
wohin die Wahrheit ihr goldenes Licht wirft -- siehst du nun, wie herrlich
die Welt daliegt, in Farbe, in Glut gehüllt, verklärt? Fühle nur die
weiche, flimmernde, golddurchglühte Luft, die dich mit linden Armen
umfängt -- schaue die jauchzende, die lebende, lichte Welt! --

Und weißt du nun, was Poesie ist?« flüsterte der ernsthafte, kleine
Gedanke mir ins Ohr.




Ein Weihnachtsmärchen.


Weit, weit hinter den Wolkenbergen, da, wo der Sonne Heimat ist, die zu
verlassen ihr so schwer fällt, daß sie Tauthränen weinen muß, da, wo
gut sein, fromm sein ist, und die Religion die Liebe, da, wo es keinen
Neid, keine Polizei und keine Geldnöten gibt, da ist das Reich der
Träume, das Wunderland, wo die schöne Frau Phantasie als Königin
herrscht. Da sitzt sie auf ihrem goldenen Sonnenthron, umgeben von all' dem
lustigen und luftigen Volk, den Elfen, Nixen und Kobolden, die durch das
Christentum und das Geld aus der Welt vertrieben wurden, und hält Hof, und
die Blümelein sind ihre Vasallen und die Bäume ihre Schildwachen, und
die Vögelein jubilieren und konzertieren, und die Mücken und Grillen und
Heimchen tanzen Ballett; und der Wind, der säuselnde, sanfte, der starke,
stürmische, immer gewaltige Sänger, ist zum Hofpoeten ernannt. Aber die
mitleidige Königin, so gut sie es auch in ihrem wonnigen Traumland hat --
sie ist nimmer zufrieden damit. --

Sie gedenkt ihres Sorgenkindes, der Welt, die ihr schon manch' bitteres Weh
bereitet hat, sie hüllt sich in ihren blauen Himmelsmantel, mit goldenen
Sternlein besäet, und fliegt mit geheimnisvoll leisem Flügelschlag
über die Erde, und wenn sie sieht, daß ihr Sorgenkind immer noch so
verdrießlich und wetterwendisch und eigensinnig-dumm und boshaft und
lieblos ist, dann fließen Thränen der Wehmut und des Zornes und des
Mitleids aus ihren schönen Augen, vermischt mit Hoffnungsbalsam und
Sehnsuchtslauten nach ihrem Traumland, und diese kostbaren Thränen fallen
zur Erde hinunter in die Herzen ahnungsvoller Menschen, die von Liebe
entbrennen zur herrlichen Göttin Phantasie; sie singen dann, was ihr Herz
bewegt, und die Welt nennt sie Dichter.

Aber Frau Phantasie verhüllt sich mit ihrem blauen Himmelsmantel, so
daß nur die kleinen nackten Füßchen wie zartrosa Wölkchen darunter
hervorgucken, der Wind nimmt sie auf seine Flügel und trägt sie in ihr
Königreich, und dann geht die Sonne auf.

Lange schon ist es her, daß die Königin ihre letzte Reise unternommen
hat; sie hat über den Wolken gethront im Traumland; aber Wehegeschrei und
Kanonendonner sind bis zu ihr hinaufgedrungen und Zornesrufe nach Freiheit
und Fluchworte gegen Lüge und Heuchelei, und dann wurde es ruhig, ganz
ruhig unter ihr -- da erhob sie sich von ihrem Thron, legte die weiße
Hand gegen das rosige Ohr, lauschte in die Ferne, und sie sprach zu ihrem
versammelten Volke:

»Horch, so friedlich ist's da drunten! Sollte wohl jetzt die Zeit gekommen
sein, wo ich meine Lieblinge hinaussenden kann, auf daß sie der Welt
Erlösung bringen? Meine Kinder, meine weißen, süßen, unschuldigen
Kinder: Wahrheit und Liebe, die ich mit dem Sonnengott, dem ewigen Licht,
gezeugt; sie schlummern unter Blumen nun seit vielen tausend Jahren und
immer wollte ich sie wecken und immer noch war es zu früh; immer begann es
wieder zu lärmen auf der Welt, wenn ich gerade mich niederbeugen wollte,
um sie wachzuküssen -- die beiden Zwillingsrosen. Nun aber ist's Zeit.

Geschwinde, Ihr lustiges Volk, geschwinde, Ihr meine Treuen -- kommt,
kommt, laßt sie uns wecken!«

Und da huscht es, und haucht es und weht und faucht es über sie hin, um
sie her, und da singt es und saust es und klingt es und braust es, und die
Blümlein duften süß und die Zweige neigen sich flüsternd und leise.
-- Da stehen zwei holde Kinder mitten unter ihnen, ein Knabe und ein
Mägdelein -- sein Antlitz ist ernst und klar und trotzig und sonnig, in
ihrem rosigen Gesichtchen lacht der Frühling, und doch thront auf der
Stirn eine leise Schwermut und in den Augen wohnt die Sehnsucht. Und die
Königin zieht ihre holden Lieblinge an ihr Herz und weint Glücksthränen
auf ihre jungen Häupter, und all ihr Volk steht erwartungsvoll schweigend
um sie her. Da spricht sie:

»Ihr meine jungen Helden, mein ernster Knabe, mein lachend Mägdelein --
steigt nieder zur Erde, zieht hin über die Welt und verkündet ihr das
neue Evangelium, bringt ihr die Liebe, lehrt sie die Wahrheit. Ach, sie
ist arm, arm an Glück und Liebe -- lehrt sie, daß nur durch Liebe die
Seligkeit zu erringen ist, von der sie so viel gehört und die sie nicht
verstanden hat.

Laßt Euch nicht abschrecken durch rauhe Worte, durch herzlose That --
predigt immer wieder, ruft in die Welt, in ihre Herzen hinein, jubelt ihr
entgegen das Evangelium von der Liebe, ohne die nichts ist, hier nicht, wie
auf Erden.

O meine Kinder, vor allem trennt Euch nicht, faltet Eure Händchen
zusammen, verlaßt Euch nicht, denn die Wahrheit ist nicht ohne die Liebe,
und die Liebe tot ohne die Wahrheit. --

Allein seid Ihr nichts, vereint alles!«

Da gab man ihnen Oelzweige in die Hände, Mutter Phantasie nahm die Kinder
in ihren Himmelsmantel und trug sie zur Erde nieder, und die Elfchen und
Nixchen und Kobolde huschten um sie her, die Vöglein zogen mit ihnen und
sangen und alles war voll Freude.

Aber der alte, weltweise, vernünftige Uhu saß in dem Eichbaum, unter
welchem Wahrheit und Liebe, von duftenden Blumen zugedeckt, viele tausend
Jahre geschlummert hatten, klappte seine großen Augen auf und zu und
seufzte, daß es in den Klüften und Schluchten wiederhallte:

»Zu früh, viel zu früh, ach, es ist zu früh!«

Hand in Hand irrte nun das Zwillingspaar durch die Lande, über Berg und
Thal, über Fluß und Steg, an all den vielen Städten und Burgen vorüber,
mit ihren vielen tausend Bewohnern, aber keiner wollte so recht etwas
von ihnen wissen. Da waren wohl viele, die sagten: »Ach, wie schön seid
Ihr!« Das waren lauter junge Leute, die Kopf und Herz noch voll herrlicher
Gedanken und beseligender Empfindungen trugen, aber sie hielten sich doch
in scheuer Entfernung, denn sie kannten die Kinder nicht. Da waren Andere,
die tätschelten sie gönnerhaft auf die lockigen Häupter und sagten:
»Ja, recht schön, aber unpraktisch!« Das waren alte, weißhaarige
Männer und Frauen. Da waren noch Andere, die wollten mit lustigen,
bunten, lügnerischen Lappen die schöne, reine Nacktheit der beiden Kinder
bedecken, aber da eilten diese angstvoll von dannen und hinter ihnen her
gellte höhnisches Gelächter.

So kamen sie eines Tages durch einen schönen großen Wald, darin
zwitscherte es gar lieblich von Vogelgesang und duftete es süß von
Blumenduft, die Bäume neigten ihre Zweige vor ihnen, und der Vater, der
Sonnengott, liebkoste sie mit seinen warmen Armen.

Die Tiere des Waldes kamen, die scheuen Rehe, die flinken Füchse, die
leichtfüßigen Eichhörnchen, sie sahen sie mit klugen Augen an, und
plötzlich klang's von fern und nah, in allen Zweigen, in allen Lüften:

»Bleibt hier, o bleibt hier! Bei uns ist's gut sein, aber draußen ist's
Winter; die kalte, böse Welt, sie thut Euch weh und treibt Euch fort, und
dann müßt Ihr leiden!«

Aber ein kleines, grünes Tannenbäumchen neigte sich zu ihnen hin und
sprach: »Jetzt bin ich allein; eine schöne Tanne stand bis gestern noch
neben mir; die haben die Menschen geholt, denn Weihnacht ist draußen,
sagen sie, das Fest der Liebe, und da ist die Tanne gern mit ihnen
gegangen, denn dann wird sie geschmückt, geputzt und geliebt. Nun stehe
ich allein und möchte wissen, wohin sie gegangen ist.«

Da blickten die Kinder zu ihrem Sonnenvater hinauf -- der nickte lächelnd,
und sie zogen weiter.

Draußen, jenseits des Waldes, war Schnee und Eis und die Bäume senkten
matt ihre dürren Aeste unter der Last, die ihnen aufgebürdet war; kein
grünes Hälmchen sah unter der Schneedecke hervor und die kleinen Spatzen
piepsten traurig auf der Hecke am Wege. Das liebe Zwillingspaar aber war
ganz warm und der Schnee that ihren nackten Füßchen nicht weh, denn
des Vaters Sonnenstrahlen hüpften um sie her und schützten sie vor der
Kälte.

Nun kamen sie an ein großes, hohes Schloß, das blitzte, funkelte
und strahlte von lauter Gold und von Edelgestein, und wie sie die hohe
Marmortreppe hinaufstiegen, da kamen sie in einen großen Saal, darin stand
ein wunderschöner Tannenbaum mit vielen, vielen Lichtern, und um ihn
her sprangen und lachten und scherzten fröhliche Kinder und freundliche
Menschen -- ach, da ging ihnen das Herz auf und sie traten dicht vor den
stattlichen Mann hin, der eine schöne Frau am Arme führte, und öffneten
ihre lieblichen Lippen:

»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue Evangelium
wollen wir verkündigen, daß es weit hinschalle über alle Welt!«

Da schüttelte der stattliche Mann den Kopf und die schöne Frau wich
ängstlich zurück und rief ihre Kinder zu sich, daß sie nicht den kleinen
Fremdlingen zu nahe kämen.

»Ein neues Evangelium! Damit seid Ihr nicht am rechten Platz. Nur keine
Neuerungen! Festhalten am Alten, Hergebrachten, das ist eines Edelmannes
würdig. Und Wahrheit und Liebe? Gewiß! aber streng nach den Regeln der
Etikette müssen sie sein.«

»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe Wahrheit zur Liebe, »hier ist
nicht gut sein.«

Und sie gingen weiter. -- Da kamen sie in eine große Stadt. Da waren so
viele Häuser und so viele Menschen, daß sie gar nicht wußten, wohin sie
gehen und an wen sie sich wenden sollten.

So schritten sie kühn in ein vornehmes Haus hinein, darin war es gar warm
und behaglich, und sie stiegen die teppichbedeckten Stufen hinan und kamen
in ein schönes Gemach, das war reich und bunt ausgestattet, und in der
Mitte auf einem Tisch stand ein großer Weihnachtsbaum, der leuchtete
von vielen, vielen Lichtern, lauter geputzte Leute standen um ihn und
bewunderten die kostbaren Sachen, die darunter lagen. Das Zwillingspaar
hielt sich fest an den Händen, und sie traten zu dem Herrn des Hauses,
der neben einer schönen Dame im Sofa saß, und öffneten ihre lieblichen
Lippen:

»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue Evangelium
wollen wir verkünden, auf daß es Lüge und Unglück aus der Welt von
hinnen treibe.«

Da wollte sich der Herr des reichen Hauses schier von Sinnen lachen:
»Wahrheit,« sagte er, »mein Junge, damit kann man nicht handeln« und
»Liebe,« lachte die schöne Dame neben ihm, »~quelle idée!~ Die ist gar
so unbequem und aufreibend --!«

»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe und sah trotzig um sich, »hier
ist nicht gut sein.«

Die Kleine schmiegte sich dicht an seine warme Seite und sie zogen weiter.

Nun kamen sie in ein ganz kleines, unscheinbares Häuschen, da brannte auch
ein Tannenbäumchen, aber nur ein ganz winziges, mit zwei kleinen Lichtchen
und ein paar Aepfeln und Nüssen daran.

Neben dem Baum saß eine junge blasse Frau mit zwei Kinderchen im Arm
und am Fenster ein finsterer Mann, der brütete vor sich hin und sah das
Weihnachtsbäumchen kaum.

Und das Zwillingspaar trat ein und lächelte dem anderen Pärchen zu:

»Weihnachten ist heute, das Fest der Liebe. Vom Traumhimmel sind wir
gesandt, die neue Religion zu verkündigen, das Evangelium der Liebe und
Wahrheit.«

Aber die angeredeten Kinderchen wandten sich verschüchtert zur Seite, und
der blassen Frau liefen die Thränen über die schmalen Wangen.

»Liebe,« schluchzte sie, »Liebe ist nur vom Uebel, denn sie hängt
schwer an Einem, und von Liebe kann man nicht leben.«

»Und Wahrheit?« fragte der Mann mit bitterem Lachen, »wenn man die
Wahrheit sagt, wird man mit Hunden gehetzt. Geht weiter, Euer Evangelium
ist nicht für Arme.«

Da zogen sie traurig von dannen und irrten in den Straßen umher und wagten
nicht mehr in die Häuser einzutreten. Sie kamen an ein großes, großes
Haus, das hatte einen Turm, der ragte bis in den Himmel hinein und aus den
geöffneten Fenstern drang freundlicher Lichtschein von vielen Lichtern,
Orgelklang und Gesang von vielen frommen Stimmen; sie schlüpften hinein
und standen in einer Kirche voll frommer Menschen und vor dem Altare stand
eine Krippe, darin lag ein kleines Kindlein, nackt, wie sie selber, mit
einem goldenen Krönchen auf dem Haupte.

Und sie liefen hin und freuten sich und wandten sich zum Volk und
verkündeten mit lauter Stimme das neue Evangelium; denn sie dachten, hier
wäre es gut und fromm und hier würden die Menschen auf sie hören.

Kaum aber hatten die von einer neuen Religion vernommen, da erhob sich ein
böses Geschrei und wütendes Toben, und an der Spitze der Mann, der an der
Krippe des Jesukindes schöne Worte gesprochen hatte, und:

»Neuerer, Ketzer! steinigt sie, treibt sie hinaus!« -- riefen sie.

Ach, die armen Sonnenkinder, sie wußten nicht, wie ihnen geschah, als sie
plötzlich draußen vor der Kirchenthür sich befanden, die krachend hinter
ihnen zufiel.

»Ach wären wir im Traumland,« seufzten sie, »unter Blumen und
Vögelein, unter der Königin blauem Sternenmantel -- uns friert, ach so
sehr.«

Da, fern von der Stadt, begegneten ihnen zwei hohe, schlanke Gestalten, ein
Mann und ein Weib -- die hielten sich eng umschlungen und von ihren Stirnen
ging ein Leuchten aus, daß es die Kinder wundersam durchschauerte. Sie
faßten Mut und gingen jenen entgegen und fragten:

»Was thut Ihr hier draußen?«

»Wir feiern Weihnachten,« sagten jene beiden lächelnd.

»Ohne Baum und Menschen?«

»Für uns allein; in unserem Herzen, denn die Menschen haben uns von sich
gestoßen!«

»Was thatet Ihr?«

»Wir sprachen die Wahrheit und in unserem Herzem thronte die Liebe,«
sagten jene beiden und ihre Augen leuchteten. »Das aber kann die Welt
nicht dulden, es ist gegen ihr Gesetz, und darum haben sie uns von sich
gestoßen.«

Da sangen und jubelten die Kinder ihr neues Evangelium in alle Winde hinaus
und der Mann zog sein Weib in seine Arme und sie lauschten der Lehre
von der Wahrheit und der Liebe, die die Kinder der ewigen Sonne und der
Phantasie ihnen predigten.

Da aber kam der Wind und trug die Sonnenkinder über die Wolken ins Land
der Träume.

Und wie sie der schönen Mutter ihre Leiden, ihren Kummer und ihre
Seligkeit vertrauten, da weinte sie goldene Thränen und sie fielen in die
Herzen jener seligen Menschenkinder, die die Welt von sich gestoßen hatte.

Die Elfen und Gnomen und die Vöglein alle, das lustige, leichtlebige Volk,
tanzten und jubilierten, und nur der große Uhu saß im Eichbaum, unter
dem die Sonnenkinder wieder schliefen, unter Blumen zugedeckt, und knurrte
prophetisch:

»Zu früh, viel zu früh, die Welt ist noch nicht reif für das Evangelium
der Liebe und Wahrheit!«




Schneeflocken.


Die Schneeflocken haben Ball heute Abend. Hei! Wie sie sich schwingen in
tollem Reigen da oben auf den Bergen, wie sie durcheinander wirbeln und auf
und niederspringen, daß einem ganz schwindelig wird beim Hereinschauen.
Und der Wind spielt ihnen auf dazu; er saust durch die Tannenwipfel und
schüttelt die Kronen der alten Waldriesen, daß sie die Zweige pfeifend
gegen einander schlagen; er braust durch die Schluchten und gellt durch die
Felsenklüfte, daß es fast wie Hohngelächter klingt, er singt ihnen ein
Nordlandslied, wild wie sein Brausen und Toben. Er singt ihnen von den
eisigen Gletschern da oben im Norden, und von der Eisjungfrau, die da haust
mit Augen, klar und doch unergründlich, wie der Bergsee; er singt, wie sie
mit schrillem Lachen die weißen Arme ausbreitet und an den Schneewänden
ihres Eispalastes rüttelt -- dann stürzen die Lawinen krachend zu Thal
und begraben das Menschenvolk da unten. Von den lustigen Gesellen, den
Eisbären, erzählt er, seinen Freunden, wie sie im täppischen Tanz
umeinander sich drehen, fast wie riesengroße, weiße Schneeflocken,
daß es gar komisch anzusehen ist; und von den Schiffen, die zwischen den
Eisblöcken stecken, und den Menschen darauf, deren heißes Menschenherz
langsam zu starrem Eise wird; von den flimmernden, glitzernden,
funkelnden, kalten Sternen da oben am Himmel, die todesruhig lächelnd
herniederschauen; von dem Nordlicht, das aufflammt mit trotziger Glut und
der Eisjungfrau auf ihrem Gletscher einen rosigen Schleier überwirft,
aus dem sie herauslächelt, fast wie ein Menschenbild -- so lockt sie
die Menschen an, die kühnen Jäger, und sie steigen hinauf zu ihr, immer
höher und höher, und sie winkt ihnen und lächelt süß, verheißend --
und dann stürzt sie die thörichten Gesellen hinab, in die eisige Tiefe.
-- Hoiho! jauchzt der Wind, wild ist mein Nordlandslied! Wild, wie der
Eiskönigin Lachen, wie der Lawinendonner! Und hoch empor wirbelt er die
armen Flöckchen, bis sie sich ermattet an den Tannenzweigen festklammern.

Da ist's gut ruhen; sie schmiegen sich eng an die Nadeln hin -- die
flüstern und kosen mit ihnen, die wiegen sie hin und her und erzählen
ihnen Waldmärlein: von dem naseweisen Tannenbäumchen, das gar nicht
zufrieden gewesen damit, daß es im schönen grünen Wald gewohnt und die
Füßlein im weichen Moos gebettet hat; gelangweilt hat es sich auf seinem
heimatlichen Stückchen Erde und hat hinausgewollt in die weite, weite Welt
und gejammert und geschluchzt: O Wind, nimm mich mit! O Quell, rausch' mich
zu Thal!

Da hat mit einemmal die Waldfee vor ihm gestanden im grünen Gewand und
lockigen Haar, hat es mit den Blumenaugen angeschaut, mit den zarten
Händen berührt und gesagt: »Geh', mein Bäumchen, reise zu Thal. --
Sie werden Dir weh tun, Dich von Ort zu Ort schleppen, und doch bringst Du
ihnen von den Bergen herunter die Sehnsucht mit -- den Tannenduft, damit
sollst Du ihnen die Seele erfüllen, daß sie gut werden und sich freuen
wie die Kinder.«

Dann hat sie das Bäumchen geküßt und ist im Wald verschwunden. --

Danach sind eines Tages zwei Männer gekommen und haben sich das
Tannenbäumchen von allen Seiten angeguckt und zufrieden mit den Köpfen
genickt. Dann haben sie ihre Pelzkappen zurückgeschoben und sich die
Hände gerieben und die blanken Aexte genommen und haben die Füßchen der
Tanne geschlagen, daß es durch den Wald gedröhnt hat, haben sie zur
Erde geworfen, ihr einen Strick um den Leib gebunden und sie hinter
sich hergeschleift über Stock und Stein, durch Schnee und Eis. Und das
Tannenbäumchen hat leise vor sich hingeweint, und die großen Bäume auch;
aber die Männer haben das nicht gehört, die meinten: Horch -- wie der
Wind pfeift!

So ist die kleine Tanne zum Weihnachtsbäumchen geworden, wie die Waldfee
sagt -- denn da unten im Thal feiern sie Weihnacht -- --

»Was ist das?« fragten zwei neugierige kleine Schneeflocken, die sich
angefaßt hatten und mit ihren zarten, weißen Gliederchen auf den Zweigen
der alten Tanne auf und nieder wippten.

»Ja, was ist das!« sagte die alte Tanne, »Wintersonnenwende nennen
wir's, und die Waldfee sagt: Jetzt wacht die Sonne auf und nun beginnt tief
unten in der Erde das Keimen und Wachsen, bis es schließlich herauf dringt
zu uns und die ganze Welt erfüllt. Aber da unten im Thal nennen sie's
Weihnacht und sagen, die Liebe wäre ihnen geboren -- und dann schmücken
sie das Tannenbäumchen mit vielen, vielen Lichtern und zünden sie an,
daß man meint, der ganze Baum stände in Flammen, und läuten mit ihren
Glocken dazu -- da -- hört Ihr's?«

»Bim bam bum!« singen die kleinen Schneeflocken, »da möchten wir hin!«
und sie bitten den Wind: »Wind, fahr' uns hinab!« -- Der breitet seine
großen, weißen Schwingen aus, die beiden Flöckchen klammern sich mit
ihren vielen Fingerchen daran fest und nesteln sich in ihren Zottelpelzen
tief in die Fittige ein, und heidi! da ging's zu Thale.

»Grüßt mir das Tannenbäumchen!« rief die alte Tanne ihnen nach -- und
sie brummte in den Schneemantel hinein, der sich allgemach um ihre starken
Glieder gelegt hatte: »Komisches Volk, diese Menschen! Mußte ihnen die
Liebe erst geboren werden? Ist sie denn nicht so alt, wie die Welt steht?«

Und dann schüttelte sie ihre Nadeln, daß die Schneeflocken, die schon
darauf eingeschlafen waren, erschrocken in die Höhe fuhren.

Die beiden neugierigen Schnee-Engelchen aber flogen zu Thal, und der Wind
war bös und pfiff ihnen in die kleinen Ohren, daß es gellte: Puh -- da
unten ist's schlecht. Was wollt Ihr bei den Menschen? Entweder sie ballen
Euch zusammen und werfen sich mit Euch gegenseitig an die Köpfe, oder sie
kehren Euch auf einen Haufen, daß ihr ganz schmutzig werdet und die Sonne
Euch aufschmilzt -- umkommen thut Ihr jedenfalls!

Doch da waren sie schon im Thal angelangt, vor einem großen, schönen
Hause; das lag still und dunkel und allein. Nur aus einem Fenster
schimmerte ein roter Schein, dahin flog der Wind, und sieh'! von dem
Fenster her grüßte und winkte es den Flöckchen entgegen -- das waren
ihre Basen, die Eisblumen, die an den Glasscheiben in die Höhe wuchsen
und allerlei wunderliche Gestalten angenommen hatten, und die Flöckchen
setzten sich zu ihnen und guckten in's Haus hinein. Da drinnen ist's
prächtig: ein hohes, weites Gemach, und aus einem großen, weißen
Marmorkamin flutet der rote Feuerschein drüber hin, über den Tannenbaum,
der schön geschmückt und glänzend dasteht, über die vielen bunten
Spielsachen und all die kleinen Figürchen, die da unter'm Tannenbaum ihr
Wesen treiben.

Die Eisblumen erzählten, wie schön es gewesen sei, als das
Tannenbäumchen ganz in Flammen gestanden und die Kinder um es
herumgesprungen wären und gelacht und getollt und gejubelt hätten. Dann
haben sie die Lichter gelöscht und ein Duft ist durch das Zimmer
gezogen, so würzig, so zart, so wunderstark, noch riecht's in allen Ecken
darnach --

Die Schneeflöckchen vergingen fast vor Sehnsucht nach all dem Schönen.
Mitleidig verrieten ihnen die Eisblumen, daß ganz, ganz unten am Fenster
eine schmale Ritze offen wäre, da könnten sie noch besser hineingucken,
und vorsichtig kletterten die Flöckchen an den glatten Scheiben hinunter
und nun stehen sie vor der Fensterritze -- -- --

»Also, so sieht Weihnacht aus!« flüstern sie einander zu, »komm', wir
wollen uns an die Händchen fassen und hineingehen und den Weihnachtsduft
einatmen.«

»Thut das nicht,« antworteten die Eisblumen, »Ihr seid Kinder der Luft,
Ihr gehört nicht zu denen dadrinnen -- Ihr werdet hinsterben vor Sehnsucht
zu ihnen.«

Aber die Flöckchen hörten nicht auf die Erfahrenen; sie zogen sich
ihre kleinen Schneemützchen über die Ohren, damit sie auch hübsch kalt
blieben und schlüpften durch die Fensterritze. -- Da schlug's Zwölf.
Das kleine Männchen in der bunten Uhr, die auf dem Kaminsims stand,
kam zwölfmal herausspaziert und beim letzten Mal nahm es seinen kleinen
Dreimaster ab und verbeugte sich und sagte: »Meine Herrschaften, die
Geisterstunde hat geschlagen!« --

Dann verschwand es wieder in seinem Glashäuschen, und klirrend schlug die
Thür hinter ihm zu.

Nun begann ein wunderliches Wispern und Tustern in allen Ecken und Winkeln
-- alles im Zimmer wurde lebendig und es war plötzlich ein Stimmengewirr
wie beim Turmbau zu Babel. Alle die vielen Deckchen und Schleifen, die an
den Stühlen und Lehnen herumhingen, fingen an, eine der andern Vorwürfe
zu machen, daß sie sich immer den Menschen auf den Rücken setzten oder
auf der Erde herumtrieben, und wurden so heftig dabei, daß sie sich
schließlich gegenseitig mit sich selber bombardierten. -- Das Sofakissen
wurde elegisch und machte der Schlummerrolle eine Liebeserklärung. --
»Sie haben eine so schöne Gestalt!« sagte es, -- »von oben bis unten
egal!« Und die Feuerzange beim Ofen wollte die Schaufel umarmen und kniff
ihr dabei derb in die Nase. Die kleinen Sèvres-Figürchen auf dem Kamin
schürzten ihre Rokokokleidchen zum Tanz und der Nußknacker, der in der
Uniform eines Gardelieutenants auf dem Weihnachtstische stand, klemmte sein
Monocle ins Auge, näselte: »Charmant, auf Taille!« und klappte seine
Kinnladen mit einem gefährlichen Ruck wieder zu. Dieser Nußknacker war
überhaupt ein Don Juan; just hatte er der niedlichen kleinen Puppendame,
die in Balltoilette auf einem rotsammetenen Lehnstuhl saß, versichert,
sie sei seine erste und einzige Liebe, und nun warf er der porzellanenen
Schäferin da oben Kußhände zu und entschuldigte sich damit, daß es ja
Weihnachten sei.

Da entdeckte er plötzlich die beiden kleinen Fremdlinge, die sich in ihren
weißen Schwanenpelzchen scheu in die Fensterbank gedrückt hielten.

»Das ist ja etwas sehr Niedliches!« Und der Lieutenant klemmte seine
Monocle ein und beeilte sich, mit allersteifsten Gardebeinen durch den Saal
zu marschieren.

»Premier-Lieutenant Knack von Mandelkern, I. Rrrment, Bleisoldaten
zu Fuß,« schnarrte er und schlug die Hacken aneinander, daß unsere
Schneeflöckchen erstaunt seine Füße anguckten. -- »Damen fremd hier? --
äh -- dürfte Ehre haben, Chaperoneur zu sein?«

»Ach,« sagten die Flöckchen schüchtern, »wir gehören hier eigentlich
gar nicht her -- wir sind nur hereingekommen -- wir wollten gern wissen --
können Sie uns vielleicht sagen, was Weihnacht ist?«

»Wa -- wa -- was -- Weihnachten?« Dem Herrn Gardelieutenant fiel vor
Erstaunen das Monocle weg, ohne daß er erst dazu eine Fratze zu schneiden
brauchte, und sein Nußknackermund blieb ihm offen stehen, worüber die
Flöckchen so erschraken, daß sie aufsprangen und von der Fensterbank auf
die Erde flogen.

»Weihnachten? -- Weihnachten ist Weihnachten,« brummte Lieutenant Knack
von Mandelkern entrüstet, nachdem er vorher seinen Mund wieder zugeklappt
hatte -- dann klemmte er das Glas wieder ein und sah den Flöckchen nach
-- »nette Pusselchen -- aber noch sehr jrün -- die reene Unschuld vom
Lande.« -- --

Die Schneeflöckchen aber waren geradewegs auf ein schönes Buch mit
Goldschnitt gesunken, das vom Tisch auf die Erde gefallen war -- auf dem
stand mit großen bunten Lettern als Titel gedruckt: Weihnacht und unsere
Vorfahren! Das sprach jetzt mit gewählten Worten: »Was Weihnachten ist,
wünschen Sie zu wissen, meine Lieben? -- Sehen Sie mich an.« Und dabei
schlug es sich auf und begann zu lesen: »Schon zur Zeit Winfrieds, des
hl. Bonifacius, des großen Heidenbekehrers, feierten unsere Altvordern,
beseelt von einem dunklen Drange, der sie zur Verehrung eines unbestimmten
Etwas antrieb, im Winter, unter Schnee und Eis, ein Fest.«

»Altes Buch, schweig' doch still! -- Hüh! Hoh! Wollt Ihr wohl laufen, Ihr
faulen Tierchen!« klang es da unter dem Tischdeckenzipfel hervor, und als
die Schneeflöckchen, die sich große Mühe gaben, die weisen Worte des
Buches zu verstehen, sich umschauten, kam pfeilgeschwind eine
drollige kleine Equipage herangesaust, schnurgerade über das gelehrte
Goldschnittbuch hinweg, das sich voller Entrüstung erhob und mit Würde
von dannen wandelte. -- In dem von sechs weißen Mäuschen gezogenen
Wägelchen stand ein kleiner nackter Junge, mit Flügeln an den Schultern
und einem Bogen in der Hand, und sang und jubelte in die Welt hinein. Der
hat auf einer schönen Dose gesessen, in der allerlei bunte, glänzende
Steine und Goldsachen blitzten, und als der alte Herr in der Uhr die
Geisterstunde verkündete, da ist er heruntergesprungen und hat sein
lustiges Wesen getrieben.

Ei, wie ihn die Rubinenaugen des Schlangenarmbandes anfunkelten, und so
viel die Schlange auch nach ihm mit dem Goldzünglein gezischelt, -- »ich
bin die Schlangenkönigin,« sagte sie, »ich ringele mich um weiße Arme,
weiße Nacken, ich ringele mich bis ins Herz hinein und bringe ihm den
Schlangenzauber, dem niemand wiedersteht,« -- es half ihr nichts: das
kecke Bürschchen schlang sie sich um die kleine weiße Brust, und die
Rubinenaugen funkelten ihm von der Schulter herunter.

»Pah!« lachte er, »mein Pfeilgift ist viel stärker als Deins, -- Du
kannst mir nichts anhaben.«

Nun setzte er sich in die große Walnußschale, die ihm der Nußknacker
geschenkt hatte dafür, daß er der niedlichen Rokokodame einen Pfeil ins
Sèvresherzchen geschossen.

Aber er hatte keine Pferde zum Vorspannen. Da war er auf den
Weihnachtstisch spaziert, wo die heilige Krippe aufgebaut war, und hatte
den hl. Joseph um das Oechslein und das Eselein gebeten, sein Wägelchen
zu ziehen; aber der hl. Joseph hatte die Hände über dem Kopf
zusammengeschlagen über solch ein Ansinnen, obgleich Mutter Maria mit dem
Kindlein auf dem Schoß ihre Freude an dem kecken Gesellen gehabt hatte.

Da war er den hl. Drei Königen aus dem Morgenlande entgegengegangen,
die gar bedächtig mit prächtigem Gefolge heranmarschiert kamen.
»Majestät,« sagte das Gesellchen höflich, »dürfte ich vielleicht
eines Ihrer Kamele für mein Wägelchen benutzen? -- Sie haben ja deren so
viele.«

Aber der schwarze Balthasar, der Mohrenkönig, fletschte ihm seine weißen
Zähne entgegen, und Kaspar und Melchior hielten ihm das Weihrauchfaß mit
Myrrhen unter die Nase, daß er niesen mußte -- da sprang er davon und bat
den Tannenbaum, und der schenkte ihm sechs kleine, weiße Zuckermäuse, die
an seinen Zweigen hingen.

Nun hielt er mit seinem flinken Gespann vor den Schneeflöckchen und
lachte: »Ach, was seid Ihr für herzige Dingerchen. -- Gleich möchte
ich mit meinem Goldpfeil durch Eure Schwanenpelzchen in die Herzchen
hineinschießen. Kommt, steigt ein -- wir fahren zum Weihnachtsball in
die Puppenstube; da tanzen Sie gravitätisch und mit Anstand ein würdiges
Menuett und sind brav und gesittet -- aber Ihr sollt 'mal sehen, was ich da
für einen Wirrwarr anrichte.«

Den Schnee-Engelchen gefiel zwar der kleine Bursche sehr gut, aber sie
schüttelten doch die Köpfe, daß die Pelzkapuzchen hin und her wackelten.

»Ach nein,« sagten sie, »hier können wir nicht tanzen -- hier ist es
uns viel zu warm. Wir sind auch nur hereingekommen, um zu lernen, was wohl
eigentlich Weihnacht ist.«

Da setzte sich das Gesellchen auf den Rand seiner Nußschale, schlug
ein Bein über das andere und legte simulierend den Finger an das kecke
Näschen:

»Ja, sehen Sie, meine kleinen Engelchen -- das ist eine kuriose
Geschichte. Da unter dem Weihnachtsbaum liegt ein kleines, nacktes Kindchen
in einer Krippe, dessen Geburtstag feiern sie, und sie sagen, er sei der
Gott der Liebe. -- Nun aber hat mir mein heidnischer Vater im Olymp -- ich
bin nämlich ein Heide, mein Name ist Amor -- immer gesagt, ich wäre der
Gott der Liebe, und ich wäre, trotz meiner Jugend, so alt wie der Olymp
und die Welt und das große, große Meer selber. -- Da muß also irgendwo
eine Verwechselung sein. -- Ich schlage vor, wir feiern das ganze Jahr
Weihnacht und halten mein Schwesterchen Freude, wenn sie davon fliegen
will, am Gewandzipfel fest. -- Ich kehre mich so wie so nicht viel an die
Jahreszeiten -- meine Pfeile fliegen das ganze Jahr durch, und die Küsse
sind immer am süßesten, wenn sie geküßt werden.« -- Und dabei breitete
der kleine Schlingel die Arme aus und wollte die hübschen Flöckchen
küssen; die aber faßten sich an die Hände und flogen ihm davon,
geradeswegs auf die Tanne zu und klammerten sich an ihre Zweige fest und
schaukelten sich und sangen:

  Von den Bergen, wo der Wind,
  Wo die Tannenschwestern sind,
  Sind wir hergeflogen,
  Sind wir hergezogen --

Sag' uns, was ist Weihnacht?

Da ging ein Leben durch die Zweige der Tanne, all' das Rauschegold, mit dem
sie geschmückt, knisterte und raschelte, die Krystallkugeln klirrten --
stärker denn je dufteten die Tannennadeln, und horch! mit dem Tannenduft
ziehen Sehnsuchtslaute durch den Saal:

»Ach, meine Flöckchen, wohl bin ich geschmückt, wohl trage ich
eine Krone, wohl habe ich geflammt in vieler Kerzen Schein -- für die
Weihnacht. -- Aber gebt mir die Wintersonnenwende wieder, laßt
mich umbrausen, umtosen vom Wind, laßt den ersten Sonnenstrahl mich
umschmeicheln und mir ins Herz hineinlachen. -- Nehmt mir Alles dafür hin!

Was die Weihnacht ist?

Kummer und Trübsal, und Haß und Neid und Mißgunst, und Heuchelei und
Geldstolz -- das ist Weihnacht unter den Menschen; und zum Hohn nennen
sie's das Fest der Liebe! Schneeflöckchen, wenn Ihr die Liebe sucht,
fliegt nimmer zu Thal. Und eines doch: Wenn das Kinderauge uns anlacht --
wenn wir in seinem reinen Glanz uns spiegeln, wenn die Kinderärmchen sich
nach uns ausstrecken, die Kinderstimme uns anjauchzt --«

Da öffnete sich leise, leise die Thür, und auf der Schwelle stand ein
Kindchen und blickte verschlafen um sich und strich sich die blonden
Härchen aus dem heißen Gesicht. -- Nicht schlafen konnte das Kind vor
Freude über Weihnacht, und es hatte ein Geraune und Geflüster gehört
neben dran und war aufgestanden, ganz leise, daß es die Eltern nicht
gestört, und schlich mit den bloßen Füßchen über den Teppich hin, und
stand mitten unter dem lustigen Volk. --

Aber da schnarrte die Uhr und das alte Männchen kam wieder herausspaziert
und sagte mit dumpfer Stimme: Eins! und nun war alles wieder still und
stumm und leblos, wie es vorher gewesen. Nur die Schnee-Engelchen konnten
nicht so schnell zum Fenster hinfliegen -- da erblickte sie das Kind:
»Das sind die Engelein vom Himmel,« jauchzte es, »Tanne, die hast du mir
mitgebracht!«

Und mit beiden Armen griff es nach den Flöckchen und preßte sie an sich
und drückte und herzte sie -- ach -- und da vergingen sie ihm unter den
Händen, und das Kind betrachtete verwundert seine leeren feuchten
Aermchen -- da schlich es betrübt in sein kleines Bett und weinte, weinte
bitterlich.

Aber die Tannennadeln, die sich in seinem Kraushaar gefangen hatten
beim Spielen, die neigten sich an des Kindes Ohr und erzählten ihm vom
Tannenwald und dem Wind und der Schneeflöckchen-Reise, das ganze Märlein,
da schliefs Kindchen ein.

Und wann es aufgewacht ist, und wieder und wieder aufgewacht, und größer
und älter geworden, wann die Wintersonnenwende ihm gekommen ist, da zieht
ihm, dem großen Kind, zu Weihnacht mit dem Tannenduft immer wieder
das Märchen durch die Seele -- das Märchen von den Schneeflocken, die
ausgezogen, die Liebe zu suchen, und an der Liebe gestorben sind.




Das Märchen von der weißen Stadt.


Es lag ein Mensch zu sterben. Der hatte all seine Gedanken, all seinen
Willen hergegeben, die eine große That seines Lebens zu vollenden. Aber
der Griffel entsank seiner Hand, und die Seele entfloh dem Leibe. Es hatte
dieser Mensch die Fluten sehr geliebt. Er konnte stundenlang am Ufer des
Sees sitzen und die blauen Wasser betrachten, wie sie kamen und gingen,
immerzu, immerzu; und aus den Wassern sahen ihn seine Gedanken an. Als
seine Seele nun ohne Körper umherirrte, da kamen die Luftgeister
und trugen die Menschenseele hin über den See. Aus ihren wehenden,
silbergrauen Gewändern troff es wie Nebel zum Wasser nieder, und ein
leiser Wind bewegte die Fluten, daß sie sich kräuselten. Oben auf
den Wogenkämmen schaukelten die weißen Leiber der Seejungfrauen; sie
streckten die Arme aus nach der Seele des Menschen und zogen sie hinab in
die weichen, wiegenden, schmeichelnden Gewässer. -- Drunten in der Tiefe
saß der Seekönig und hielt Hof. Er war ein kleiner Mann mit starken Armen
und langem, weißem Bart. Auf dem weißen Haupte trug er eine Krone von
hellroten Korallen; die hatte ihm sein Vetter, der Meerkaiser, geschickt,
aus Anerkennung, weil der kleine Seekönig manchmal seine Gewässer mit
den starken Armen so aufrührt, daß viele Schiffe und Menschen umkommen
müssen, gerade wie auf dem Meere. Denn die Meerleute mögen es gern, wenn
Menschenkinder zu ihnen hinuntersteigen müssen. Sie stellen die weißen
Körper in ihren wundersamen Meergärten auf, wie wir die Marmorstatuen.
Die Menschen können nicht leben bei ihnen; nur wenn einer die Fluten sehr
geliebt hat, dessen Seele gleitet des Nachts in den Wellen als weißer
Schaum. Kommt ihn aber die Sehnsucht an, den Tag zu sehen, und es berührt
ihn die Sonne, in deren Licht er geatmet, dann muß er für immer zur
Leiche werden. --

Der kleine Seekönig hielt also Hof. Sechs große Räte mit wunderlichen
Fischgesichtern saßen im Kreise um ein großes Blatt Papier, das ganz bunt
vor lauter Strichelchen und Pünktchen aussah; vier dicke Büffelfische
trugen es auf ihren Rücken, sie hielten es fischchenstill; nur zuweilen
zuckte einer mit dem beweglichen Schwanz oder pustete die Kiefern auf
und zu, als ob er Wasser rauche; und dann zupfte ihn der Herr Rat mit dem
Karauschengesicht mahnend an den Flossen, worauf er gehorsam still hielt.
Die Menschenseele, die als zarter, weißer Schaum auf der Schulter der
Seejungfrau lag, sah neugierig das weiße Papier an; es kam ihr so bekannt
vor. Das hatte sie schon gesehen, als sie noch Mensch war. Es war ihr,
als müsse sie eine Hand danach ausstrecken. -- »Still!« flüsterte die
Seejungfrau, »gleich wirst du hören.« -- Und dann sagte der Seekönig:

»Die Menschen da oben auf der Erde machen uns alles nach. Gerade wie wir
zuweilen Besuch bekommen von den Bewohnern anderer Seen und Meere, die dann
allerlei Kostbarkeiten mitbringen, um sie uns zu zeigen, so macht es das
Volk da oben auch. Nur sind sie sehr arm. Während wir alle die
fremden Seltenheiten und unsere eigenen dazu, einfach in unserem ewigen
Krystallpalast aufstellen, müssen die sich erst Häuser dazu bauen. Und
das Bauen -- welche Umständlichkeit! Erst kommt einer und denkt sichs aus
und zeichnet es auf, und dann geht es an viele Leute, die alle etwas zu
mäkeln und zu ändern haben. Schließlich soll es dann wirklich gebaut
werden, aber wie lange das alles dauert, dazu habe ich nicht Zeit genug,
das zu erzählen. Seht, da hat auch so ein armer Mensch mit kurzem
Gedächtnis seine Gedanken auf das Papier geschrieben; ein guter Mensch,
der uns sehr geliebt hat. Denn er hat gesagt: »Wenn ich meinen See nicht
hätte! Der muß das Beste thun.« Und dann hat er unsere Fluten überall
eindringen lassen in seine Pläne, damit wir seine Paläste wie mit
Silberarmen umschlingen und ihre Schönheit wiederspiegeln. -- Dann ist
er gestorben. -- Und jetzt werden andere kommen und seine Pläne zunichte
machen und uns vielleicht einengen und tyrannisieren. Wollen wir das
dulden? Nein!« rief der Seekönig und hob die starken Arme, daß oben
die Wellen klatschend gegen das Ufer schlugen. Und die Räte schüttelten
heftig ihre Fischköpfe. Die Seejungfrau lächelte der horchenden
Menschenseele zu. --

»Kommt herbei, ihr Seevolk, und hört, was ich euch sagen werde,« fuhr
der Seekönig fort: »Die Luftgeister, unsere Freunde, haben dieses Papier,
das der tote Mensch mit seinen Gedanken beschrieben und dem Großen Rat
da oben auf der Erde vorgelegt hat, aus seinen Händen weg und zu uns
herabgeweht. Schwimmt, ihr Fische, bis ans Meer, lasset die im Meere es
weitertragen zu den Geistern der Völker an der andern Seite des großen
Wassers, wie das Seevolk der Menschenseele Werk erfüllen will.« -- Da
schlugen die vier Büffelfische mit dem Schwanz unter das Papier, daß es
auf in die Wellen flog; die fischköpfigen Räte griffen entsetzt danach:
»Erst sehen, sehen!« Aber der kleine Seekönig lachte, daß es ein
Seebeben gab, und zerriß das Papier in tausend Fetzen: »Wir sehen nicht
-- wir bauen!« sagte er.

»Siehst du?« lächelte die Seejungfrau und neigte ihr Antlitz der
Menschenseele zu, »jetzt werden deine Gedanken, die du ins Wasser
hineingeträumt hast, doch wirklich. Ich habe dich oft gesehen, habe vor
dir geschaukelt, wenn du dachtest, es seien die weißen Wellenkämme. Ich
hätte dich mir geholt -- ach so gern! Jetzt bist du bei mir. Die Menschen
denken, sie haben dich begraben; aber ich halte dich in meinen Armen --
ewig. Du darfst nicht hinaufschwimmen und dein Werk beschauen, nicht so
lange die Sonne scheint. Dann würdest du zur Leiche. Ich will nicht, daß
dich die Schwestern in ihre Gärten stellen. Ich will dich behalten -- für
mich.« -- Dann glitt sie zum Seekönig hin und schmeichelte: »Väterchen,
mach' es recht schön!« -- Er aber streichelte ihr langes Haar, das
glänzte wie Sonnenstrahlen auf dem Wasser, und sagte ernsthaft: »Du
darfst die Menschenseele hüten, daß sie uns nicht entflieht; denn nur
durch sie können wir das Große vollenden.«

Nun beginnt die Arbeit. Ei, wie flink die Fischlein dabei sind, das blaue
Wasser zu kommandieren, daß es in langen, glänzenden Streifen zwischen
grünen Inseln sich durchzwängt, alles Land verschlingend, das ihm im
Wege ist, daß es unter wölbende Brücken sich duckt und schmeichelnd zu
Füßen schlanker Säulenhallen sich schmiegt. Und die Nixen kommen und
spielen mit den Fluten, daß sie in glitzernden, schillernden Farben zu den
Luftgeistern emporsprühen. Wie geschickt die Gnomen und Kobolde Stein auf
Stein, Bogen an Bogen zu fügen wissen, daß es sich erhebt aus der Tiefe
des Sees -- eine weiße, wundersame Wunschstadt. Da tauchen Türme auf mit
seltsam zackigen Verzierungen; ein kleiner Nix sitzt darauf und lehrt sie
allerlei alte Weisen mit seiner Glockenstimme, und nun singen die Türme
sie weiter. Hier schwimmt eine schneeweiße Rotunde mit lauter kleinen
Fensterchen rundum; und die Fische leiten das klare Wasser hinein und
tummeln sich darin. Und still und groß und schön wächst es und wächst
es, schier in die Ewigkeit hinein. -- In einer großen Muschel, davor
sechs buntscheckige Forellen geschirrt sind, durchzieht der Seekönig die
Wasserkanäle, mit scharfen Augen Umschau haltend. Hier zwickt er ein paar
faulen Weißfischen aufmunternd die platten Schwänzchen; dort schilt
er zwei streitlustige Hechte, die beide denselben Riesenpalast errichten
wollen und ihn dabei unsanft hinfallen lassen. Ein energisches Nixlein ruft
er herbei als Oberaufseher, und das lenkt mit seinen weißen Fäustchen die
störrischen Gesellen wie ein paar gutmütige Oechslein. -- -- Als
aber der Seekönig sieht, wie alles gut ist, taucht er unter in seine
Schatzkammer, füllt seine Muschel mit Gold, so viel sie tragen kann,
schüttet es am Ufer aus und befiehlt: »Da -- krönt das Ganze damit! daß
die Kuppel weithin leuchte wie eine Sonne!«

In der Tiefe des Sees ruht die Seejungfrau, regungslos, daß sie die zarten
Fäden nicht zerreiße, die von dem weißen Schaum an ihrer schönen
Brust aufsteigen zu dem Werk da oben. Und die Menschenseele harret der
Vollendung.

Da wallt ein Zug daher über das Wasser. Nebelschleier spinnen ihn ein,
daß er wie eine Wolke über dem See schwebt, und er zieht eine Bahn,
silbern wie der Mond auf dem Wasser liegt. Schweigend klimmt er das Ufer
hinan, wo droben der Seekönig seiner harrt, und über ihm schwebt
die goldene Kuppel wie eine große Krone. -- Nachts, wenn die Menschen
schlafen, ergeht sich das Wasservolk oftmals am Ufer und pflegt Zwiesprache
mit Mond und Sternen. -- Voran im Zuge schreiten Patres mit fahlen
Gesichtern in schwarzer, spanischer Mönchstracht. Sie tragen gewaltige
Lasten auf ihren Schultern: Türme und Türmchen, spitze und runde,
Mauern so dick wie Gefängnismauern mit tiefen Kreuzgängen und
schweren Wölbungen. Sie keuchen unter ihrer Last; ein lustiges, weißes
Elfengesindel kommt neckisch gesprungen und weist ihnen den Weg unter
hohen Bäumen, und hilft ihnen, das wunderliche Ding, das einem spanischen
Kloster ähnelt, von den gebeugten Rücken abzuladen. Da richten sich
die schwarzen Geister der Patres zufrieden auf, und sie bauen mit dem
geschmeidigen Nixenvolk, dessen Listen sie wohl gewachsen sind, vergnügt
weiter.

Eine mächtige Gestalt schreitet auf dem Wasser; ein Gewand von Gold
umstarrt sie; sie trägt einen goldenen Helm; golden leuchtet ihr strenges
Antlitz daraus hervor. Siegesgewiß, siegesbewußt geht sie mit großen
Schritten an dem Seekönig vorüber, ihm herablassend huldvoll zuwinkend.
Der lächelt fein ihr nach, wie sie sich gravitätisch aufpflanzt inmitten
all des Schönen -- ein wenig zimperlich, ein wenig ungelenk. »Laßt sie
nur dastehen,« nickt er, »man wird schon sehen, daß es nicht unsere
wirkliche Athene ist -- nur eine große, große, goldene, emancipierte
Alte-Kunst-Jungfer.« -- Und dann streckt er freudig seine Hände
den schlanken Gestalten entgegen, die aus dem Nebel sich loslösen,
einherwallen in faltigen Gewändern, die sich feucht um die herrlichen
Glieder schmiegen; und sie tragen auf den stolzen Häuptern die weißen,
strahlenden, wundervollen Trümmer der Heimat. »Du Land der Sehnsucht!«
flüstert der Seekönig. Sie lächeln ihm zu mit den schönen, traurigen
Gesichtern. Sie pflanzen Säulen in die Erde, rein und schön, wie sie
selber, sie breiten die Hände aus, und eine erhabene Harmonie lagert sich
über der Wunschstadt. Sie erheben die kraftvollen Arme und sprechen: »Du
lässest uns, o Vater Zeus, die Schönheit schauen, nicht zertrümmert,
nicht zerschlagen, nein, in ihrer ganzen siegenden Gewalt.« -- Und
demütig neigen die Karyatiden die stolzen Häupter unter der Last der
Schönheit, die sie tragen.

Wunderlich Volk zieht im Zuge einher, der übers Wasser wallt. Ein kleiner,
nackter Bub, der nur einen Frack und Cylinderhut trägt für seine
Blöße, bietet zierlich einer Rokokodame den Arm, die gar stattlich in
Hackenschuhen und Reifrock mit einer Trikolore auf dem hochfrisierten
Köpfchen einherstolziert: »Wir sind barock, nicht wahr?« nickte der
kleine Schelm dem alten Seekönig zu. -- »Wir, Puck Amor und Dame la
France!« -- In einem muschelförmigen Wagen, schimmernd von Gold und
Edelgestein, kommt ein ernsthafter Mann. Er hat ein braunes Gesicht, aus
dem seltsam überirdische Augen schauen, trägt nur einen schlichten,
weißen Kaftan um die Hüften gegürtet, und doch neigt Seekönig sich
tief vor ihm, und eine zarte, braune Elfe, schön wie des Gottes Bajadere,
geheimnisvoll wie die Wunder Indiens, gleitet vor ihm her, ihm seinen
Wohnort zeigend. --

Und so kommen sie alle, die Geister der Völker, die der Seekönig
entboten hat. Plumpe nordische Burschen tragen Paläste von plumper Pracht.
Ernsthafte, blondköpfige Gesellen bringen ein seltsam Häuschen mit
spitzragendem Turm, mit schönen Gewölben, durch deren bunte Glasfenster
es lieblich leuchtet, wie eine Geistessonne. Zierliche, dunkeläugige
Mädchen kommen im Tanz geflogen: ihre Gewänder flattern im Wind, sie
streuen Rosen aus, duftende Rosen der Anmut. -- Seltsame Fahrzeuge gleiten
im Nebel im Geisterzug. Unbeholfen, schwankend die einen. Schwarze,
düsterblickende Gesellen stehen darin und blicken drohend hinüber zu dem
schlanken Schiffchen, das, seinen Drachenkopf vorgestreckt, wie ein Renner
durch die Fluten schießt, pfeilgeschwind, die andern weit hinter sich
lassend. Wie nur das Schifflein die Hünengestalten seiner Mannschaft, die
mit sehnigen Armen die Ruder führen, birgt in dem schlanken Rumpf?! Hoch
richten sich die Gestalten auf, sie wachsen und wachsen, daß ihre Leiber
dunkle Schatten werfen weithin über den See. Und sieh' nur -- wie
die geisterhaften Schwarzen in den schweren Kreuzesschiffen zum Himmel
hinaufragen, fanatisch glühen ihre Augen durch den Nebel -- der beginnt
wunderlich zu leben, wogt und zerrt her und hin, bis er die Riesengestalten
verschlungen hat. Dann gleiten Karavelen und Vikinger in glatte Buchten,
gezogen von muntern Fischlein, gesteuert von weißarmigen Wassernixen.

Da bebt der See. Hoch sprühen die Wasser auf. In den schäumenden,
singenden Strudel steigt der Seekönig hinab in sein Reich, gefolgt von
seinem fleißigen Volke. Drunten in der Tiefe ruht die Menschenseele.
»Wann wird es vollendet sein?« fragt sie sehnsüchtig. »Es ist
vollendet,« sagt der Seekönig. »Sobald der erste Sonnenstrahl die
goldene Kuppel trifft, wird es den Augen der Menschen sichtbar sein.«
»Und sichtbar bleiben? Immer?« fragt die Menschenseele. »Nur eine kurze
Spanne Zeit hat das Wasservolk Macht über die Erde. Nur bis die Sonne
in die Fluten sinkt und die Zauberwelt, die wir gebaut haben, mit sich
hinabreißt. Aber wenn dein Seelenauge dein Werk erschaut, ehe die Sonne
die goldene Krone bestrahlt hat -- dann wird es ewig sein. Dann aber wirst
du sterben und dein Name wird vergessen werden unter den Menschen.« -- Die
Menschenseele lächelte. Eng schmiegte sie sich an die atmende Brust der
Seejungfrau.

Droben, von der verschlafenen Erde, erhob sich die Nacht und zog ihre
schwarzen Schleier schleppend hinter sich her, über den Himmel. Da ward
es Licht auf der Erde. -- Es war aber alles noch den Augen der Menschen
verborgen; denn die Menschen sind ein blödsichtig Geschlecht, und sie
sehen nur, was ihre Augen ihnen zeigen. Aber die Tiere öffneten
ihre klugen Augen. Die Vöglein in der Luft flatterten hin über
die Wunschstadt, setzten sich neugierig auf die zackigen Türme und
zwitscherten hernieder von den Stangen der bunten Fahnen. Die klugen
kleinen Enten schwammen in den Wasserkanälen und erzählten schnatternd
von dem Schloß der Wasserfrauen, das sich zur Nacht aus Busch und Schilf
erhoben hatte. -- Verwundert blickte der Ackersmann, der mit seinem Gaul
dahergeschritten kam, Furche auf Furche durch die wilde Erde zu ziehen,
zu den Vöglein auf: wie konnten sie nur mit geschlossenen Flügeln in der
Luft schweben, als ob sie auf Bäumen säßen? -- Und die zwei Reiter, die
dort hintereinander über die Prärie jagten, sahen die Entlein auf dem
hohen Präriegras schwimmen wie im Wasser. Aber sie haben nicht Zeit, sich
lange zu verwundern -- da -- der gelbe Rücken des Puma taucht auf, den
sie gejagt -- der Schuß kracht aus der Büchse des Trappers -- der Pfeil
schnellt von dem Bogen des roten Mannes: gilt er dem König seines eigenen
Landes? gilt er dem weißen Fremdling da vor ihm? -- Hoch richtet er sich
im Sattel auf, daß die Adlerfedern in seinem schwarzen Schopfe nicken.
Was ist das? -- da -- glitt nicht der Puma hinab in blaues, kräuselndes
Wasser? Was ringt sich los aus den Nebeln? Das Roß des Trappers bäumt
sich, geblendet schützt der Indianer die Augen mit der Hand, und späht
und späht. -- Still lehnt der Ackersmann an seinem Gaul, sein Blick
sucht die Erde, seine Erde, die er bebauen muß. Und sie schauen, wie es
herauswächst aus dem Morgengrauen, weiß und still; wie es emporstrebt zum
Himmel, eine wundersame, andere Welt, die sie mit erhabenen Augen anschaut,
sie mit weißen Armen umfängt, sich wie weiße, stille, reine Gedanken in
ihre Seele senkt. Wie sie stehen und schauen, umweht es sie lind und kühl
-- ein Hauch der Ewigkeit.

Ein klein lustig Elflein aber zerrt den Puma, der verdutzt da kauert in
der Wunderwelt, an den Ohren zu einem Marmorsockel hin. »Da lieg', du
Wilder!« lacht es, und der Tiere König läßt willig sich in die Fesseln
der Schönheit schlagen. --

Horch! Es geht ein Brausen durch die Lüfte, ein Singen, Klingen, lieblich
Geläute: aus dem Morgengrauen erhebt sich der junge Tag, und sein
leuchtendes Auge weilt liebend auf dem weißen Wunder.

Auf den blauen Fluten des Sees trieb ein zarter weißer Schaum. Ein
Sonnenstrahl irrte zu ihm hin und küßte ihn bebend. Da ward er zur
Leiche. Die Menschenseele war aufgestiegen aus den geliebten Wassern, um
zu sterben. Der See bebt, als sei er in seinen Tiefen erschüttert. In den
sprühenden Wogen aber taucht die Seejungfrau auf, an deren weißer Brust
des Toten Seele geruht hat. Ihr goldenes Haar glitzert auf den Fluten.
Klagend schlingt sie die weißen Arme um ihn, sein schönes, bleiches
Antlitz über Wasser haltend. So gleiten sie dahin über die murmelnde,
singende Fläche -- weit, weit hin, den weißen Tempeln zu. Und das Licht,
das die Seele getötet, liegt liebkosend auf der stolzen Stirn. -- -- --

Es kamen die Menschen und nahmen Besitz von der Wunschstadt in der neuen
Welt.




Welt-Ausstellung im Walde.


Draußen im Wald flüstern die bunten Bäume miteinander und streuen gelbe
und rote Blätter auf die braun sich färbende Erde, wie der Frühling
Rosen streut; der Herbstwind rauscht und raunt in den Zweigen, und eine
milde Herbstsonne glüht auf die Weinblätter am Eichenstamm, daß sie
tiefrot schimmern, wie lauter Blutstropfen.

Am träge über Kiesel und trockene Aeste dahin murmelnden Bächlein nickt
ein grüner Zweig -- da leuchtet etwas Blaues auf, dann tönt ein Lockruf,
sanft, zärtlich, dringend -- jetzt die Antwort -- noch etwas Blaues -- --
Zwei Vöglein sind's: blaue Flügel schwirren durch die Luft, und zartgrau
glänzt der Leib.

»Was nur heute los ist!« sagte der eine Blauvogel zum andern, »keine
Fliege, kein Käferchen läßt sich sehen, alle ziehen dort hinein in's
Tannendickicht, und selbst die Mücken machen ganz ernsthafte Gesichter!«

»Guten Abend, guten Abend, meine Herrschaften,« schnarrt es über ihnen.
Da hängt am Baumstamm ein goldgelbes Vögelchen. Zu welcher Klasse es
gehört, das weiß ich nicht (schlagt einmal in Nehrling's amerikanischem
Vogelbuch nach), aber es hämmert in die harte Baumrinde, daß es durch den
ganzen Wald schallt, und so wollen wir es kühn »Gelbspecht« titulieren.

»Ja, ja, Sie haben Recht, es muß etwas im Walde sein bei dem kleinen
Getier,« sagt der Specht, »ich habe schon dieselben Beobachtungen
gemacht. Aber sehen Sie einmal da -- die Spinne!« An einem trockenen
Zweiglein hängt eine große Spinne, eifrig beschäftigt, silberglänzende
Fäden zu einem kunstvollen Netz zu verweben.

»Was machen Sie denn da, Verehrteste?« fragt der Specht, als der
Zudringlichste; denn die Blauvögelein haben etwas Schüchternes, sie
mischen sich nicht gern in anderer Leute Angelegenheiten und sind nicht
weltgewandt wie der Herr Gelbspecht.

»Ich spinne,« sagt die Spinne ernsthaft.

»Ja, das sehen wir,« entgegnete der Specht, »aber, meine Gnädigste, was
spinnen Sie?«

»Ein Netz,« sagt die Spinne.

Die Blauvögel stoßen ein leises, glucksendes Lachen aus, und der Specht
hämmert entrüstet gegen den Baum.

Jetzt schlingt die Spinne einen letzten Knoten und krabbelt langbeinig
davon: »Es muß fertig werden zur Ausstellung, die wird heute Abend
eröffnet,« ruft sie zurück.

»Ausstellung?« fragen die poetisch-unwissenden Blauvögel und schlagen
verwundert mit den Flügeln. »Von was? Wozu? Davon haben wir noch nie
etwas gehört.«

»Ja, das glaube ich,« lächelt der Specht mitleidig, »Ihr schwebt
ja immer in den Lüften und schwärmt für Sonnenuntergänge, düstere
Waldpartien mit Lichteffekten und dergleichen Humbug. Ich weiß wohl, das
Getier da unten auf der Erde hält eine Weltausstellung --«

»O, da laßt uns hingehen,« jubeln die Blauvögel. »Aber wo ist sie
denn?«

In der Nähe erhebt sich plötzlich ein nimmer endenwollendes Geschrei,
Gekrächze, Gejohle --

Der Specht wiegt überlegend sein gelbes Köpfchen: »Wißt Ihr was? Wir
wollen die Schwarzvögel fragen -- die wissen alles! Hört, wie sie
reden und schnattern? Die haben wieder Kaffeegesellschaft oder Loge oder
Gesangverein -- die ganze Eiche dort ist ja schwarz von lauter Staarherren
und Damen, und wenn ihre Sitzungen vorüber sind, wissen sie alles, was im
ganzen Walde passiert ist: wie viele Kinder die Madame Maus das letzte Mal
zur Welt gebracht hat, und wie es auf dem Grashüpferball hergegangen ist,
daß sie im Eichhörnchenturnverein sich fast geprügelt haben bei der
Sprecherwahl und daß der Gesangverein der Locusts sich geeinigt -- --«

»Gibt's nicht, gibt's nicht! Nee, so blau,« piepst ein unverschämter
Spatz und fliegt dem Specht dicht vor dem Schnabel her in den nächsten
Baum.

Der aber beachtet den naseweisen Gesellen gar nicht und spricht ruhig
weiter.

»Ach, hören Sie auf, bitte, Herr Specht,« rufen die Blauvögel, »das
ist ja wie ein ›Eingesandt‹ in der Zeitung!«

»Aber Kaffernreligion,« lacht der Specht.

»Seht, da kommt Ihr Bruder -- »Ober-Edel-Erz« angeflogen! Halt, den
wollen wir uns kaufen!«

»Oh, Herr Staar, wollen Sie nicht die Güte haben, sich hier ein wenig auf
diesen bequemen Baum zu bemühen?«

»Man muß immer höflich sein mit den Leuten, wenn man etwas von ihnen
will,« flüstert der Schlaue den simplen Blauvögelchen zu, die vor
Erstaunen den Schnabel aufsperren.

Der Staar krächzt freundlich der Bitte Gewährung, läßt sich auf einem
Ast etwas erhöht über den andern Vögeln nieder, wirft den Kopf in
den Nacken und dreht und wendet sich, daß seine roten und gelben
Logenabzeichen auf den Schultern in der Sonne schillern. Nachdem die
Vorstellung glücklich vorübergegangen ist, bei der der Herr Staar
herablassend den spitzen Schnabel gesenkt und die Blauvögelchen verlegen
die niedlichen Köpfchen geduckt haben, erkundigt sich der Gelbspecht in
den gewähltesten Ausdrücken nach der internationalen Ausstellung.

»Jawohl, jawohl,« entgegnete Herr Staar würdevoll, »heute Abend ist
Eröffnung. Es soll ja etwas Großartiges werden.

Sehen Sie, meine verehrten Zuhörer, es geht ein neuer Zug durch den
ganzen, alten Schlendrian, namentlich was Kunst anbelangt. Ich bin
ein weitgereister Mann, ich höre und sehe mancherlei. Ein krankhaftes
Verlangen nach etwas Neuem, Sensationellem, ein Hunger nach Aufregung, nach
Vernichtung des Alten, Hergebrachten, zieht durch die ganze Welt. Und wenn
sie auch auf Abwege geraten, in Irrtümer verfallen, das Falsche dem
Wahren vorziehen -- es ist doch alles nur der durch Jahrtausende immer
wiederkehrende und immer bleibende, große, unersättliche Durst nach
-- Freiheit, der Angstschrei der Völker, der zum stillen, hohen Himmel
dringt. Und das macht sich auch in der Kunst bemerkbar -- -- ob zu ihrem
Nutzen und Frommen? Und in der Musik, ja, in der Musik --« hier räuspert
sich der Staar und blickt gen Himmel -- »ja, auch in der Musik gellt und
dröhnt und paukt und trompetet jener Freiheitsschrei in die Lüfte, die
Ohren der Zuhörer mächtig mit sich fortreißend. -- Nein, das geht
ja nicht. Ich -- ich -- ich lasse mich immer so von meinen Gefühlen
überwältigen, meine Lieben -- und« -- Ja, da bleibt der gebildete Staar
stecken. Mit Gesichtern voll Ehrfurcht und inniger Verständnislosigkeit
haben unsere Blauvögel die lange Rede angehört, während der Gelbspecht
mit philosophischer Gelassenheit äußert: »Das mag alles recht schön und
ersprießlich sein, verehrter Redner, aber so lange wie es genug Mücken
und Fliegen in der Luft gibt und wie ich nach Herzenslust an den Bäumen
herumhämmern kann, ist mir die ganze Wirtschaft furchtbar egal und um den
allgemeinen Freiheitsdrang kümmere sich der Kuckuck!

Vorläufig wollen wir aber einmal diese merkwürdige Ausstellung ansehen,
wenn Sie, verehrter Herr Staar, uns gütigst führen wollen.«

»Ja, ja,« rufen die Blauvögel und schlagen mit den Flügeln, und

»Hier hinein, ins Tannendickicht, liebe Leute,« belehrt sie der Staar.
Und dann fliegen alle vier davon. Der Zweig über'm Bächlein nickt
gedankenverloren auf und ab, und das Bächlein murmelt und kichert dazu.

Drinnen im Tannendickicht herrscht schon reges Leben, die Ausstellung
scheint im vollen Gange zu sein. Ein geschniegeltes Mäuseherrchen, den
Schnurrbart gewichst, die Oehrlein gespitzt, steht am Eingang als Portier.
Der Eintritt ist frei -- wie nach Bellamy im Jahre 2000 bei den Menschen,
gibt es im Tierstaate kein Geld -- und unsere vier Vögel flattern in das
Dickicht.

»Ah, guten Tag, Herr Mäuserich,« sagt der Staar, der alle Welt zu kennen
scheint, »was macht die Frau Gemahlin? Hat sie sich vom letzten Wochenbett
erholt?«

»Schönen Dank, bester Herr Staar,« entgegnete der glückliche
Mäusepapa, »alle zwölf wohlauf, aber es ist 'ne Last, die lieben
Kinderchen großzuziehen.«

»Können Sie denn das nicht per Elektricität besorgen lassen? Heutzutage
sollte doch alles möglich sein -- Eier ausbrüten -- Kleinigkeit!
Warum nicht auch Kinderfüttern, Kinderprügeln, Kinderkriegen etc.?«
Mittlerweile hüpften sie weiter durch die verschlungenen Wege des
Tannendickichts. Zwar sind die Plätze einiger Nachzügler noch unbesetzt,
Vieles ist nicht ganz vollendet, wie ein halbfertiger Maulwurfshaufen
z. B., ein Sprungbrett, eine angefangene Wendeltreppe für Eichhörnchen,
ein prachtvoller Bau mit geheimnisvollen, unterirdischen Gängen, in
welchen Kaninchen noch eifrig beschäftigt sind, zu graben, und dergl.
mehr, aber im Ganzen scheint die Sache recht gelungen zu sein.

Zwei wohlgenährte, etwas verschwiemelt aussehende Ratten, kleine Knüppel
in der Hand, Mützchen von im Wald gefundenem blauem Butterbrotspapier
über den dicken Nasen, eine weiße Sternblume auf der Brust befestigt,
marschieren würdevoll und bedächtig als heilige Wächter der Ordnung oder
Wächter der heiligen Ordnung umher. Und es ist auch nötig: das schwirrt
und summt und brummt durcheinander, und hüpft und tanzt und zirpt, daß
es wahrhaftig einer energischen Rattenpolizei bedarf, um das leichtfüßige
Gesindel in Ordnung zu halten. Doch vor unserer Vogelgesellschaft bezeigen
die Tierlein großen Respekt; sie halten sich in gewisser Entfernung
und verneigen sich achtungsvoll, sobald ein Blick aus Vogelaugen auf sie
fällt. Nur ein großer Hirschkäfer mit stattlichem Geweih nähert sich
mit höflich-gemessener Verbeugung und bietet sich den hohen Herrschaften
als Führer an, was mit Dank angenommen wird.

»Sehen Sie, meine Hochverehrten, hier unser Kunstdepartement. Alles neu,
noch nie dagewesen. Sehen Sie, dies Spinnengewebe« -- die langbeinige
Spinne, die es vorhin so eilig hatte, steht daneben und begrüßt sie
mit einem Auskratzen ihrer langen Spinnenbeine -- »wie fein, wie zart,
geschickt die Fäden verknüpft! Und die fette, zappelnde Fliege darin,
jeden Tag wird eine frische gefangen und hineingesetzt -- das nenne ich
Naturalismus.

»Schrecken der Hinterlist« ist es betitelt.

Hier die noch lebende, schwer am Licht verbrannte Motte -- »Schrecken der
Aufklärungssucht«.

Jener Schmetterling, dem eine rauhe Menschenhand den Duft von den zarten
Flügeln gewischt, nun kann er nicht mehr fliegen -- »Schrecken des
Freiheitsdranges«. Ach, und noch so vieles Traurig-Schauderhaft-Schöne!
Sehen Sie, die von Ameisen abgenagte Drosselleiche« -- die Vögel
schütteln sich und machen unangenehme Gesichter -- »und der glänzend
reine Katzenschädel« -- die Vögel nicken befriedigt mit den Köpfen, und
der Gelbspecht macht eine Bewegung, als wolle er die leeren Augenhöhlen
auspicken -- »wirklich eine recht sinnige Zusammenstellung.

Bitte, blicken Sie hierher -- lauter Raritäten -- da, das so natürliche
Loch in der Erde, hier eine kleine Blätterhütte, ein Einsiedler-Heimchen
wohnt darin und zirpt bescheiden für sich allein, dort jene sorgfältig
getrockneten Heuschreckenleichen, eine Reminiscenz aus dem großen
Heuschrecken-Grashüpferkrieg. -- Und hier, bitte, sehen Sie einmal durch
dies Loch im Tannendickicht -- nicht wahr, ein reizendes Panorama: im
Hintergrund die Wolken als Schneeberge, davor ein einsamer, schwebender
Rabe -- großartig, nicht wahr?«

»Aeußerst großartig,« meint der Specht, »aber was stellt es vor?«

»Es ist auch ein Kriegsbild: Eine vergessene Heuschreckenleiche!« (Frei
nach Wereschagin.)

Die Vögel sehen sich erstaunt unter einander an, suchen die Leiche und
erklären, nun einmal etwas Anderes sehen zu wollen. Das gibt es ja auch
in Hülle und Fülle für jede Geschmacksrichtung. Hier, ein Eiffelturm
aus Eicheln, ein Eichhörnchen sitzt oben drauf, zeigt auf Kommando sein
buschiges Schwänzchen und knackt Nüsse zur allgemeinen Belustigung,
dazu marschieren allerliebste kleine Nagetierchen kauend durch die
Zuschauermenge und bieten goldgelben Harz-Chewing-Gum als Erfrischung
an. Da ist eine Grotte aus kleinen Tropfsteinen und Tannenzapfen,
geheimnisvolles Dämmerlicht; einige Glühlichtwürmchen leuchten dazu,
auf grauen, trockenen Blättern und Gräsern sind vorgestrige
Regentropfen gesammelt, die schimmern wie Wasserfluten, und ein schlankes
Grillenfräulein, die Grillenbeine mit Schleiern aus glänzendem,
flatterndem Altweibersommer bewickelt, als Fischschwanz, bewegt sich
rhythmisch hin und her und fährt mit den langen Vorderbeinen sich graziös
über den Kopf, als kämme sie sich.

»Was macht die da drinnen?« fragt der eine Blauvogel neugierig, während
der andere starr vor Erstaunen dasteht.

»Ich bin unten Melusine und oben Loreley,« sagt das Grillenfräulein,
»denn ich habe einen Fischschwanz und kämme dazu mein goldenes Haar.«

»Ja so,« sagt der Specht.

Dicht daneben tanzen ein paar Grashüpferdamen Ballett auf einer Schaukel
von Grashalmen, und springen so hoch, daß man sie kaum noch sehen kann,
während auf der andern Seite ein paar Mäusejünglinge in grauen Tricots
mit aus Nußschalen gedrechselten Bällen auf kunstgerechte Weise Baseball
spielen.

Dieser ganze Wirrwarr, der Lärm und das Getöse, dies Hin und Her,
wirkt ungeheuer ermüdend auf die Nerven ungeübter Zuschauer, und unsere
Blauvögel piepsen und flüstern miteinander, und fühlen sich recht
ungemütlich.

»Musik, meine Herrschaften, hören Sie unsere allermodernsten Vorträge,«
ruft jetzt der Hirschkäfer. Alles stürzt nach einem hübsch mit
Tannennadeln bestreuten freien Platz. Auf einem Tannenzapfen steht
erhobenen Armes eine große Locuste, so eifrig gestikulierend, daß ihr die
Augen vor den Kopf treten; und um sie her scharen sich allerlei musikalisch
beanlagte Tiere. Nun gibt der Herr Kapellmeister das Zeichen, indem er
seine Fühlhörner weit ausstreckt, und das Konzert braust durch das
Tannendickicht. Sämtliche Grillen des Waldes zirpen so laut sie können,
dazu schnarren die Locusts, pfeifen die Mücken, brummen die Käfer
aller Art; die Kaninchen gebrauchen kräftig ihre Trommelstöcke -- ein
Höllenlärm!

»Ist das nicht herrlich?« fragt der Hirschkäfer unsere Vögel.

»Sehr schön,« entgegnete der Gelbspecht, »nur etwas unverständlich.«
Der Staar macht ein sehr gebildetes Gesicht, und die Blauvögel meinen
schüchtern:

»Es ist aber recht eintönig, und immer so dudelig.«

»Das ist ja gerade das Schöne,« sagt stolz Kapellmeister Locuste,
»sehen Sie, wie gut Sie es verstanden haben? Es war unsere Nationalhymne
-- der Moskito-Doodle!«

Den Blauvögeln kam die Sache immer problematischer vor, und als vollends
der Herr Mistkäfer mit der ganzen Familie auf sie zukommt und sie
freundlich auch mit dem Nützlichen der Ausstellung bekannt machen will
-- die verschiedenen Blätterpräparate, wie Regenmäntel, Schirme und
schützende Laubdächer und Haushaltungsgegenstände aller Art; ferner
Delikatessen: Tauwein über Grashalme abgezogen, dazu Konfekt mit dem
kuriosen Namen Fliegendreck, Misthäufchen, Schneckengelee etc. -- da
fliegen unsere Blauvögel entsetzt kerzengerade in die Höhe und davon, und
auch der Herr Staar, trotz seiner Gleichheitsideen, meint: »es wäre doch
recht gemischte Gesellschaft, und überhaupt vertrüge sich die Heiterkeit
dieser Ausstellung nicht mit seiner ernsten Geistesrichtung,« während
Herr Gelbspecht übermütig erklärt:

»Nein, mir gefällt es hier famos! Ich will erst den ganzen Schwindel
sehen, und wenn mir die dicke, fette Fliege da morgen im Sonnenschein
begegnet, so fresse ich sie auf vor lauter Liebe.«

Hoch oben auf einer Berghöhe, von wo man weit über Baum und Strauch
hinüberblickt -- dahin haben sich die Blauvögelein geflüchtet, und der
Staar gesellt sich zu ihnen, weil er just nichts Besseres zu thun hat.
Außerdem hält er die Blauvögel für recht belehrungsbedürftige Wesen,
denen eine kleine Pauke über »die langsam sich vollziehende Umwälzung
der Weltordnung« gar nichts schaden kann.

Aber unsere blauen Waldvögelein werden hier oben in der Einsamkeit
selber so beredt, daß dem wohlmeinenden Staar nichts übrig bleibt, als
zuzuhören.

»Blick' um Dich,« singen sie, »das ist unsere Ausstellung, das ist
unsere Freude und die Freude der ganzen Welt. Sieh', wie die bunten
Blätter die Bäume schmücken, wie die glührote Weinranke die dunkle
Tanne zärtlich umfängt. Horch! _Unser_ Konzert! Wie das rauscht und
flüstert in den Zweigen, wie der stürmische Herbstwind in den Blättern
tost, und sieh', wie der schönfarbige Schmetterling die geliebten
Herbstblumen umgaukelt! Und blick' um Dich: die Sonne geht zur Rüste, sie
glüht und leuchtet noch einmal und dann sinkt sie in ihr zartes, graues
Wolkenbett und vergoldet es mit ihrem Schein, und ein strahlender Rand
zieht sich um die seltsamen Wolkengebilde. Ist das nicht schön? Ist das
nicht herrlich!

Und horch! da unter uns am Fuß des Baumes -- das sind Menschen! Ein
seltsam Geschlecht -- kluge Gedanken und weiche Herzen -- Ich liebe sie,
wenn sie zu Zweien im Walde wandern, wie diese hier. Hör', was sagen
sie?« -- Ja, es sind Menschen -- ein Mann und ein Weib. Und durch des
Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden, und auf des Weibes glatter
Stirn hat das Leben zarte Furchen gezogen. --

»Sieh', liebes Weib,« sagte der Mann, »diese frühen Herbstblätter
in dem grünen Wald erinnern mich an meine weißen Haare, an Deine ersten
Falten auf der Stirn. Ach, Kind, spät ist's schon im Leben, und jetzt erst
lernen wir das Glück kennen!«

»Liebster,« entgegnet sie, »sieh', wie die Sonne strahlend und
liebkosend über die Baumstämme gleitet, wie alles noch einmal in voller
Pracht glänzt, glüht und leuchtet -- zum letztenmal, ehe es Winter wird.
So freuen wir uns jetzt noch einmal des Glückes und der Liebe, ehe _unser_
Winter kommt. Liebster, wie schön ist die Welt und das Leben!«

Da zieht der Mann das holde, ernste Weib an sein Herz und küßt die Falten
auf der blassen Stirn, und das Gesicht des Weibes glüht und blüht nun,
wie die Rose in ihrem Lebensfrühling.

Sie sehen hinüber, bis die Sonne verlischt. -- Und die Vöglein lauschen,
und der Staar meint:

»Die verlangt's auch nicht nach Veränderung, und die denken auch, gerade
wie ihr dummen, kleinen Dinger, das Leben sei doch schön. Merkwürdig! Und
die Welt soll doch so schlecht sein, sagen sie im Verein für Freiheit und
sittlichen Umsturz. Was ist nun wahr? Darüber muß ich auf einem einsamen
Eichenwipfel etwas näher nachdenken.«

Er spreizt seine dekorierten Flügel und fliegt von dannen. Blauvöglein
aber locken in den Abend hinein und setzen sich dicht nebeneinander auf
einen Zweig und plustern sich und träumen. Die sanfte Nacht kommt gezogen
und breitet ihre schwarzen Fittiche lind über die müde Erde -- -- über
selige, herbstliche Menschenkinder, über plusternde Blauvögelein und
melancholische Staare -- ja, und über all das kriechende, sich duckende,
hochmütige, aberwitzige Volk und den weltklugen Gelbspecht in der
Weltausstellung im Tannendickicht. --




Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden.


Die braune Drossel saß auf einem hohen Baume im Garten und zwitscherte:
»Es ist Sonntag heute. Der Sonntag sitzt mitten im Frühling und hat eine
Krone von Blüten auf dem Haupte, und --«

Weiter konnte man nichts hören, denn die Sperlinge, denen die Drossel das
erzählte, piepsten und schrieen und zankten so durcheinander, daß die
Drossel auf und davon flog. Was ging es auch die Stadtspatzen an, was die
Walddrossel zu erzählen hatte!

Die bleiche Frau Sehnsucht aber stand am geöffneten Fenster ihres Hauses
und sah der Drossel nach. »Ach,« seufzte sie, »wer doch ein Sonntagskind
wäre und verstehen könnte, was die Vögel singen! Ach, und wenn nur das
Kind, das ich gebären werde, ein Sonntagskind würde, dann wollte ich gern
glücklich und zufrieden sein.«

Als aber ihre schwere Stunde kam, da war der lachende Sonntag noch nicht
aufgestanden, und der stille Sonnabend lehnte noch an der kleinen Wiege mit
großen, müden Augen. Er legte eine kühle Hand auf die Stirn des kleinen,
roten, zappelnden Dinges, das mit geballten Fäustchen unter dem Deckchen
herumarbeitete und mit Zornesfalten im Gesicht in die Welt hinausschrie.

»Nur eine Viertelstunde zu früh,« seufzte die blasse Frau Sehnsucht, und
zwei heiße Thränen fielen auf die geschlossenen Augen des Bübchens in
ihrem Arm.

Der kleine Bursche aber wuchs kräftig heran und wurde so stark, daß die
ungezogenen Buben in der Nachbarschaft ihm gern aus dem Wege schlichen.
Er stand an seiner Mutter Knie gelehnt und lauschte mit leuchtenden,
wundersamen Augen, wenn sie von den Sonntagskindern erzählte, wie sie gar
so klug sind und wissen, wie die Welt geht, und verstehen, was die Tiere
sprechen, und wie sie den Wolkenflug deuten können. -- »Warum kann ich
nicht jetzt noch ein Sonntagskind werden?« rief er zornig. Dann sprang er
hinaus in den Garten und legte das Ohr auf die Erde, ob er nicht das Gras
wachsen höre, wie ein richtiges Sonntagskind. Er hörte wohl ein zartes,
leises Murmeln, aber ob es nicht die kleinen Käfer und Ameisen waren, die
da raschelten, das wußte er nicht zu sagen. Er stand unter den Bäumen und
hörte zu, was die Vögel sangen; es war ihm, als verstände er einzelne
Worte, wie Sonnenschein, Glück, Blütenduft; aber er war doch nicht
sicher, ob es ihm nicht sein eigenes Herz zugeflüstert hatte. Und weinend
lief er hin zu seiner Mutter und trotzte: »Ich will doch ein Sonntagskind
werden!«

»Der Sonnabend leidet's nicht,« sagte Frau Sehnsucht traurig. »Und es
war doch nur eine Viertelstunde!«

»Es muß in den Büchern stehen,« sagte der Knabe, als er in die
Schule ging. Und er lernte alles, was in den Büchern stand und wurde ein
berühmter Mann. Von weit, weit her kamen die Menschen nach dem kleinen
Häuschen der Frau Sehnsucht und wollten von dem jungen Gesellen Antwort
haben auf ihre neugierigen Fragen, und er sagte ihnen alles. Aber insgeheim
glaubte er selber nicht an das, was er ihnen so gelehrt auseinandersetzte;
hatte er doch in keinem Buche Bescheid auf seine einzige Frage erhalten:
Wie er es anfangen könne, ein Sonntagskind zu werden? -- Als nun eines
Tages wieder einmal ein paar kluge Professoren kamen, die aber doch nicht
so klug waren, wie er, und die spitzigen Zeigefinger an die spitzigen Nasen
legten, und ihm die wichtige Frage stellten: Wie kommt es, daß der
Mensch die Nase mitten im Gesicht hat? -- da fielen dem Gesellen seine
Riesenkräfte ein. Er warf die Professoren mitsamt der ganzen Universität
zur Thür hinaus, reckte und streckte sich einmal, that einen tüchtigen
Jauchzer und sagte zur Frau Sehnsucht:

»Mutter, jetzt ziehe ich in die Welt hinaus, dem Sonntag nach, und komme
nicht eher wieder, bis ich ihn eingeholt habe.«

Frau Sehnsucht legte ihre weißen Hände auf sein lockiges Haupt und
küßte ihn. Dann schloß sie die schönen, traurigen Augen für immer.

Der Geselle aber zog in die Welt hinaus. Er sah die goldene Sonne am Himmel
stehen und er sagte: »O Sonne, güldene Sonne du -- ich suche, suche immer
zu. Zeig mir den Weg, wohin ich geh', o Sonne, güldene Sonne du!« Aber
die Sonne lachte ihn aus und antwortete nicht und ging weiter, immer
weiter, bis er sie zuletzt gar nicht mehr sehen konnte. Da kam er in einen
großen Wald, darin reichten die Bäume bis in den Himmel, seltsam große
Blumen standen am Wege und sahen ihn an, und bunte Vögel flogen sprechend
von einem Ast zum andern.

»Sagt mir's, ihr Bäume, duftet, Blumen, rauscht mir's, ihr Winde,
murmelt, ihr Quellen -- wie fange ich es an, daß ich ein Sonntagskind
werde?« rief der Geselle.

Da kicherte und lachte es an allen Ecken und Enden. Schelmische
Mädchengesichter tauchten aus den Kelchen der seltsamen Blumen empor und
nickten ihm lächelnd zu. An den Schlinggewächsen turnten winzige nackte
Engelsbübchen, die warfen mit duftenden Blütenblättern nach ihm, und
ein Rauschen und Raunen zog durch den ganzen Wald, daß der Geselle gewiß
alles erfahren hätte, was er wissen wollte, wenn er nur eine Viertelstunde
später auf die Welt gekommen wäre. Zuweilen war es ihm wieder, als
verstände er ein paar Worte, und horch! klang's nicht im Windesrauschen,
wie: Bis an's Ende der Welt? Kopfschüttelnd ging der Geselle weiter.

Da wurde mit einemmal der Wald hell und licht; das kam von einem schönen
Stern, der fiel vom Himmel nieder, und sieh' -- der Stern nahm Gestalt
an, so schön und sanft wie die Mutter ausgesehen hatte, und seine Augen
strahlten still und traurig, wie die der Frau Sehnsucht. Die schöne
Sternenfrau aber sprach: »Ich will dir Antwort auf deine Frage geben. Gehe
weiter, immer weiter, bis du ans Ende der Welt kommst. Dort wirst du den
Baum der Erkenntnis finden. Wenn du von diesem ein Blatt brichst, dann
wirst du erfahren, was du wissen willst. Aber spute dich! der Weg ist
weit.«

Der Stern stieg langsam auf gen Himmel, es wurde immer lichter, der Wald
verschwand und der Geselle stand ganz allein auf einer großen Heide, über
die der Wind pfiff.

»Bis ans Ende der Welt? -- da kann ich meine Füße in die Hand nehmen,
wenn ich noch ankommen will,« sagte er und wanderte fürbaß. Weil's ihm
aber einsam am Wege war, sang er sich das Liedel von dem andern Gesellen:

  »Ein fahrender Geselle durchzog die weite Welt,
  Zu suchen nach der Stelle, wo's immer ihm gefällt.

  Doch nimmer mocht er rasten, und nirgend fand er Ruh,
  Ihn trieb's zum Weiterhasten, nur weiter! immer zu!

  Er hatte durchstudieret den ganzen Bücherwust,
  Mit Wissen ausstaffieret das Herz in seiner Brust --

  Da fluchte er dem Buche, sah an es nimmermehr:
  Das ist's nicht, was ich suche! Das Glück, das Glück gebt her!

  Und kommt er in das Städtchen und winkt ihm aus dem Thor
  Das liebe braune Mädchen mit Schelmenaug' hervor --

  Laß küssen dich, du Feine! -- Schaut ihr ins Angesicht;
  Du bist's nicht, die ich meine! -- er da voll Trauer spricht.

  Da ward aus dem Scholaren ein flotter Kriegersmann,
  Auch lernt er mit den Jahren, daß man sich bücken kann,

  Und fromme Verse schmieden von Freiheit und von Blut,
  Und vor dem Bürgerfrieden voll Ehrfurcht zieh'n den Hut.

  Doch alles wollt nicht frommen, was er sich auch erdacht.
  Das Glück wollt ihm nicht kommen -- hörst, wie's von Ferne lacht?

  Da ward aus ihm ein Zecher, der zecht' von früh bis spat,
  Bis ihm der leere Becher vom Munde sinken that.

  Lag denn das Glück im Weine? -- Der heilte allen Gram.
  Doch weh -- auch nur zum Scheine, nur bis der Morgen kam;

  In seinem grauen Schimmer, wie lag so leer die Welt! --
  Die Nacht verheißt uns immer, was nie der Morgen hält.«

Als der Geselle sein Liedlein ausgepfiffen hatte, da führte ihn der Weg an
einem Königreich vorbei, und weil die Thür bloß eingeklinkt war, ging er
hinein. Die alte Reichsmauer wackelte hin und her, als er eintrat, und das
Thürschloß behielt er gar in der Hand, so morsch war der Griff. In dem
Königreich saß der König auf einem Throne, der wackelte, und hatte eine
Krone auf dem alten, wackligen Haupt, die wackelte auch. Die Räte um ihn
her hatten kleine Zöpfchen im Nacken, die wackelten, und die Räte selber
wackelten, und das ganze Königreich wackelte. Und weil nun alles so
wacklig war, da nahm der Geselle sein Bein und gab der ganzen Wackelei
einen Tritt; da fiel alles um, und der Geselle sah lachend zu, wie der
König und die Krone und die Räte mit ihren Zöpfen und das ganze morsche
Königreich durcheinander purzelten. Des Königs schöne Tochter aber fing
er in seinen Armen auf; doch als er sie küssen wollte, da welkte sie hin
und lag tot an seiner Brust. Ihre Seele verwandelte sich in einen schönen
weißen Vogel, der kreiste über des Gesellen Haupt und sang ihm zu:

  »Weil' nicht am Wege,
  Er ist noch weit;
  Noch ist die neue, die selige Zeit,
  Noch ist sie nimmer geboren.«

Als der Geselle nun weiter ging, kam er an eine große, große Stadt,
darin war eitel Freude und Lustigkeit, das ganze Volk tanzte und sprang
und geberdete sich wie toll. In den Moscheen, Kirchen, Freiheitstempeln
läuteten die Glocken und große Götzen saßen darin, die machten mit
schrecklichen Grimassen die Mäuler auf, und dann warf das Volk alles
Schöne und Gute den Götzen in den Schlund, und das Häßliche und Gemeine
stand grinsend auf den Schultern der Götzen, und das Volk jubelte ihm zu.
-- Da faßte den Gesellen ein grimmer Zorn, er hob sein gutes Schwert und
schlug zu, und schlug den Götzen die Köpfe ab. Aus den Rümpfen stieg ein
starker, grauer Dunst auf, wie eine Weihrauchwolke, der lagerte sich hin
über die Stadt und erstickte all das lärmende Volk, daß es tot dalag.
Ueber der Nebelwolke aber schwebte ein neuer, schöner, weißer Vogel und
gesellte sich dem andern zu; sie umkreisten den Gesellen und sangen ihm zu:

  »Weil' nicht am Wege,
  Er ist noch weit;
  Noch ist die neue, die selige Zeit,
  Noch ist sie nimmer geboren.«

Als der Geselle nun weiter ging, kam er an einen hohen, hohen Berg, darauf
wimmelte es von Menschen. »Ist hier das Ende der Welt?« fragte er.
»Was?« riefen sie ihm von der Spitze des Berges zu, »das Ende der
Welt? Bewahre! Hier fängt die Welt erst an!« -- Als nun der Geselle oben
angekommen war, sah er, daß all' die Menschen ihr eigenes Ich genommen und
es vor sich hingestellt hatten; und nun drehten sich die Körper um das Ich
in der Runde und sangen feierliche Weisen und beteten es an. »Siehst du,«
riefen sie ihm zu, »das ist es, was du suchst. Wir sind die Welt, wir sind
das All, wir, unser eigenstes Ich. Wir wissen alles, wir können alles, wir
lieben uns, wir beten uns an.« -- Voll Verwunderung stand der Geselle und
sah dem seltsamen Treiben zu. »Aber wie könnt ihr denn leben, wenn ihr
euer eigenes Ich aus euch herausgenommen habt?« -- »Wir zehren von seinem
Anblick, er ist uns Nahrung, Luft und Licht. Wenn wir unser Ich ansehen,
werden wir so von seiner Größe und Erhabenheit durchdrungen, daß wir
unsere körperlichen Beine aufheben und tanzen müssen, und dann schreien
wir von diesem hohen Berge das Heil des Ichs in die Welt unter uns hinaus,
damit auch sie daran glaube und selig werde.«

Da faßte den Gesellen, als er ihre seelenlosen Köpfe und verdrehten
Glieder sah, ein ungeheurer Ekel. Er nahm seine starken Fäuste und
schleuderte einen der tanzenden Körper nach dem andern in die Tiefe, und
wenn sie gegen die Felsblöcke, die am Fuße des Berges lagen, anprallten,
dann platzten sie mit einem Knall, wie ein aufgeblasener Pilz im Walde, auf
den du unversehens trittst. »Jetzt spiele ich Kegel mit den Püstern!«
sagte der Geselle. -- Dann nahm er alle die angebeteten Ichs, die entseelt
zu Boden gesunken waren, schichtete sie aufeinander, wie einen Holzstoß,
und zündete sie an, daß die rote Lohe weithin in die Welt schien. Aus den
Flammen aber flog wieder ein schöner, weißer Vogel -- denn aus allem, was
zu Grunde geht, wächst doch noch ein Schönes -- und er gesellte sich
zu den andern, und sie umkreisten ihn. Aber sie sangen nicht mehr, ihr
Flügelschlag wurde immer lautloser. Und doch war es dem Gesellen, als
trieben diese weichen Flügel ihn weiter, hin über trotzige Felsblöcke,
an denen sich seine Füße blutig stießen, über weite gefrorene Seen,
über denen er hinglitt wie über einen Spiegel. Er wußte nicht mehr,
ob er schon lange gewandert sei oder eben erst die schlanke, kühle Hand
seiner Mutter, der Frau Sehnsucht, auf seiner Stirn gefühlt hatte. Er
wußte nur noch, daß er weiter, immer weiter getrieben wurde. Endlich sank
er erschöpft zu Boden. Als er die Augen öffnete, lag er auf einer weiten
Ebene. Schöne Tiere traten an ihn heran und betrachteten ihn mit stillen,
klaren Augen; aber sie waren stumm. Vögel schwebten über ihn hin; aber
sie sangen nicht. Blumen blühten an glänzenden Bächen, aber das Wasser
murmelte nicht; der Wind, der durch die Zweige strich, rauschte nicht --
es war tiefe, tiefe Stille. Lautlos flogen die drei weißen Vögel vor
dem Gesellen her. -- In der Ferne, am Ende der Ebene, schwebte eine weiße
Wolke. Als der Geselle näher kam, sah er, daß es tausend und aber tausend
von ebensolchen großen, weißen Vögeln waren, wie die, die ihn begleitet
hatten, und er dachte daran, wie viele Menschen wohl gleich ihm denselben
Weg gemacht hatten, wie viel erst zertrümmert werden mußte, damit diese
Wolke sich hatte bilden können. Die weißen Vögel umkreisten leise, leise
einen starken, grünen Baum, dessen viele Zweige gingen auf und nieder
zwischen Erd' und Himmel. Der Baum blühte nicht und trug keine Früchte,
er hatte nur unzählige grüne, kraftstrotzende Blätter. Die drei weißen
Vögel aber, die den Gesellen begleitet hatten, mischten sich unter die
andern, die in den Zweigen des Baumes nisteten, so daß er sie nicht mehr
unterscheiden konnte. Und wie er so in der weißen Wolke stand, und der
weiche Flügelschlag der schönen Vögel seine Stirn fächelte, da war es
ihm, als höre er die Worte:

    »Weil' nicht am Wege,
    Nicht ist er mehr weit.
  Wir kreisen und hüten die kommende Zeit,
  Wir weben ihr reines, ihr glänzendes Kleid --
  Im Baum schläft sie sicher geborgen.«

Da streckte der Geselle die Hand aus und brach eines der saftgrünen
Blätter. Es fiel ein Tropfen, rot wie Blut, in seine Hand. Da zog sein
ganzes Leben an ihm vorüber: er sah sich, wie er immer dem Sonntag
nachgejagt war, alles andere darüber vergessend; er sah, wie er nicht die
Welt und sie nicht ihn verstanden hatte, denn er war ja eine Viertelstunde
zu früh geboren. Wie er auf das Blatt in seiner Hand hinschaute, lange,
lange, da bleichte sein Haar, seine Stirn begann sich zu runzeln, sein
starker Körper bog sich zur Erde. Aus dem Manne ward ein Greis, und nun
wußte er, wann er den Sonntag einholen würde. -- Er sah auf und sah die
weißen Vögel, die mit ihren stillen, großen Flügeln einen starken Wind
erhoben; der wehte ihn fort, weit fort, den Weg zurück, den er gekommen
war. Auf dem Berge glühte noch das Feuer, über der Stadt lag der Dunst,
das zerfallene Königreich bröckelte am Wege -- er schaute nicht um
danach. Er ging durch den dunklen Wald, darin die Bäume regungslos
standen. Er ging und ging, bis er in das Stübchen kam, in dem Frau
Sehnsucht die schönen, traurigen Augen für immer geschlossen hatte.
Da setzte sich der greise Geselle ans Fenster und schaute in den Garten
hinein.

Auf dem Apfelbaum saß die braune Drossel und erzählte den Spatzen: »Es
ist Sonntag heute. Der Sonntag sitzt mitten im Frühling und hat eine
Blütenkrone auf dem lachenden Haupte, und die Blumen bringen ihm ihre
Düfte, und die Winde tragen den Duft hin über die Stirnen der Kinder, die
heute geboren werden.«

Da nickte der Greis am Fenster und lächelte. Er schloß die Augen, und
seine Seele zog vor des Sonntags Thron, damit sie als Duft auf die Stirn
eines neugeborenen Sonntagkindes gelegt werde. -- Im Tode war der Geselle
ein Sonntagskind geworden.

»Es ist Sonntag!« sang die Drossel. »Das ist etwas ganz Alltägliches,«
piepsten die Spatzen, »das passiert jede Woche einmal.«




Rauch.


Es war einmal ein kleiner Schmiedegeselle, der war es müde, immer am
Amboß zu stehen und Gedanken zu hämmern. Er hätte gar zu gern gesehen,
wie sich die Gedanken ausnahmen, noch ehe sie zum Schmiedematerial
zusammengegossen waren. Eines Tages hatte er mit heller Lust ein paar
kräftige Gedanken, die im Feuer glührot und geschmeidig geworden waren,
zu ein paar starken Hufeisen zusammengeschweißt; die Funken sprühten,
wenn man damit auf einen Stein schlug. Da klopfte ihm der große Meister
auf die Schulter und sagte:

»Geselle, geh' auf die Wanderschaft.«

Und da zog er aus. -- Als er wegging, schien die Sonne hell, obwohl es
mitten im Winter war; der Himmel hatte überall blaue Batzen auf die
Wolkenlöcher gesetzt, und der Wind hatte dazu gefiedelt:

  Die Erde hat sich schlafen gelegt,
  Mit weißem Lailach zugedeckt,
  Der rasche Wind den Himmel fegt,
  Bis er die Sonne hat erweckt.

  Nun scheint sie hinunter auf den Schnee
  Und lacht hinweg ihn nach und nach:
  Wenn auch die Welt sich duckt in Weh;
  Sie wird doch einmal wieder wach.

  Dann jauchzt sie auf in grüner Lust,
  Hüllt sich in lauter Liebe ein --
  Und ahnend klingt's in deiner Brust:
  Im Winter ist es auch gut sein! --

Als aber der kleine Schmiedegeselle ein Stücklein Wegs gegangen war, da
sah er eine schwere dunkle Wolke in der Ferne schweben, und je näher er
kam, desto trüber wurde es um ihn her, bis schließlich Himmel und
Erde und die ganze Welt schmutzig aussah; und er sah, daß es ein ganzes
Sammelsurium von Häusern war, das alles so finster machte. Die Häuser
waren so hoch, daß sie die Wolken an den Fußsohlen kitzeln konnten.

Der kleine Schmiedgeselle stand und guckte an so einem hohen Kasten in die
Höhe:

»Könnt ihr da oben durch die Wolken sehen?« fragte er, »und die Sonne
auf der andern Seite scheinen sehen? -- Eia, das muß schön sein!«

»Da, komm nur mit in das Loch hinein, kleiner Wurm,« sagte ein Mann neben
ihm, schob ihn vor sich her, und schwupp! flogen sie in einem viereckigen
kleinen Kasten so schnell himmelan, daß es dem Gesellen ganz übel wurde.

Der Mann lachte spöttisch aus ein paar klugen Augen.

»Ja früher,« sagte er, »wenn der Teufel einen armen Handwerksgesellen
holte, da flogen sie miteinander auf schwarzen Gespensterflügeln in die
Tiefe hinab. Wir machen das jetzt per Elektricität und fliegen himmelan.«

Erschrocken sah das Gesellchen zur Seite, erblickte aber nur einen ganz
einfachen Menschen, der ein ganz klein wenig hinkte. Nur seine Ohren waren
so sonderbar lang und schmal; wenn er lachte, schienen sie sich zu spitzen,
und er lachte so, daß der Schmiedegeselle mitlachen mußte, und das Ding,
in dem sie saßen, vor Vergnügen in die Höhe sprang.

Dann waren sie oben. Das war ein großes, flaches Dach mit Kieselsteinchen
bedeckt, als ob sie drauf geregnet wären. Allerlei Verzierungen sprangen
an den Ecken auf und auf zwei kleinen Säulchen saßen vergoldete Zierate,
die sahen aus wie Champagnerpfropfen.

»I, da schlag' doch der Teufel den Herrgott tot!« rief der Mann mit einem
vergnügten Grinsen, »da hab' ich doch gedacht, ich könnte dem kleinen
Wurm das ganze Riesentreibhaus auf einmal zeigen, und nebendran das
große Wasser, in dem man eigentlich die nichtsnutzige Brut gleich wieder
ersäufen sollte, nachdem man sie hervorgebracht hat -- und da -- nichts,
aber auch rein gar nichts, als das wüste Gebrodel, das mein Vetter, der
große Nebel, so erstaunlich schön herauszukriegen versteht. Er ist ein
ganz gelungener Kerl, sage ich dir, und dabei ein Phantast, trotz seiner
Schwere. Und unbeständig ist er, nirgends zu fassen. Der geht in einer
Minute alle Ideen der Welt durch, um schließlich mit seinem grauen
Einerlei platt über die ganze Erde hinzufallen, daß man drunter ersticken
sollte. Uff! wie schwer er schon wieder herunterhängt. -- Und siehst du,
mit einemmal reißt er sein langes Hemd in Fetzen entzwei und tanzt herum
wie ein toller Bacchant. Zum Verzweifeln für einen feierlichen Kerl!«

Dabei nahm er einen gespreizten Ton an, schob die linke Hand zwischen die
Brustknöpfe seines Rockes und hob das Haupt mit einem idealischen Schwung.
Als das Gesellchen ihn entsetzt ansah, schnitt er plötzlich allerlei
Grimassen, liebkoste ein paar kleine, niedliche Bockshörnchen, die
zwischen dem Kraushaar über der Stirn hervorwuchsen, und spitzte seine
Faunsohren nach dem Wind. Nachdem er den kleinen Schmiedegesellen genügend
verwirrt hatte, fing er an, ihm ernsthaft allerlei Erklärungen zu geben.

»Sieh',« sagte er, »das ist der große Hexenkessel, Höllengebrodel, da
werden alle die Gedanken ausgekocht von dem Menschenpack, das tief unten
mit Beinen, Händen, Köpfen oder Magen schuftet; und die nehmen dann
Gestalt an, und paß einmal auf, da aus den Tausenden von Schlöten fahren
sie hinaus in den Nebel, der verschlingt sie, wird groß und stark daran,
wächst und wächst bis einmal die Welt ein großer Gedanken-Nebel geworden
ist. Dann kommt die Zeit für uns Faune, uns Satanskerle, Teufelsstricke,
und wir ziehen gegen den Nebel zu Felde, gegen meinen großen Vetter --
da kämpfen wir, das ewige, blühende, lachende Leben gegen die blassen,
umnebelten und vernebelten Gedanken. -- Sieh', da fliegen sie --«

Der kleine Schmiedegeselle hatte derweilen stumm in das graue Meer
geschaut, drin es wogte und zerrte, drin die Schornsteine und Schlöte der
vielen, vielen Häuser hineinragten und schwere Dampfwolken entsendeten,
schwarze, dicke, schmierige, lichte, flinke, weiße oder rötlich
scheinende, von den Flammen tief drunten, die zuweilen bis zum Kamin
herausschlugen. Es sah aus, als ob die himmelhohen Häuser der Riesenstadt
eigentlich ganz klein hoch in der Luft ständen, nur mit den großen
Schlöten daran; als ob da unten auf der Straße eine ganz andere Welt sei,
und nur ganz fern, fern, wie das Bienengesummse an einem Sommermittag am
Kornfeld, drang das Getrappel, Gerolle, Getose herauf zu dem Dach, wo die
Wolken mit ihren schweren Fittichen des kleinen Gesellen Haupt streiften.
Der stand und schaute. Der wunderliche Mann saß neben ihm, deckte ein Bein
mit dem andern und deutete mit dem langen, ausgestreckten Zeigefinger bald
auf diesen, bald auf jenen Schornstein, und er grinste spöttisch dazu,
oder lachte ingrimmig, oder seine Augen leuchteten, wie in stiller Wonne.
So jetzt eben wieder.

Da stieg aus einem schlanken Rauchfang ein silberweißes Rauchsäulchen
auf, kräuselte sich lustig, ehe es im Nebel zerging, und auf dem
schaumigen Gezausel tanzten putzige kleine Kerle mit runden Bäuchlein
und weinroten Gesichtern, sie hatten Weinreben sich umwunden und lallten
allerlei tolles Zeug und schrieen dem lächelnden Manne, Faun, Mephisto,
was immer er sich nannte, ein jauchzendes ~Evoë Bacche!~

Und sobald die einen im Nebel vergangen waren, wurden neue aus den Ringeln
der Rauchsäule geboren, schöne und drollige, große und kleine, Männlein
und Fräulein, und ob auch aus den Augen eines Alten ein ernstes Denken
sprach, ob die weichen Glieder einer jungen Bacchantin im Wirbel sich
drehten -- gleichsam aus ihnen heraus über die ganze Erde hin leuchtete,
strahlte eine selige, mutige, weinduftende Begeisterung.

Jetzt lachte der Geselle laut auf. Da hatten ein paar trunkene kleine
Satyrn die Nebelfetzen zusammengeballt wie Schneebälle, schnitten wütende
Gesichter nach einem andern Schlot hin, streckten denen, die da oben
aufstiegen, die Zunge heraus, und begannen sie zu bombardieren. Es war
ein weiter Kamin, nicht sehr hoch, der Rauch, der da herauskam, hatte eine
eklige, semmelblonde Farbe, die Gedanken, die drauf ritten, auch, und
sie waren feist und schwammig. Sie versuchten, recht forsch und protzig
aufzutreten, aber sie krümmten sich dabei, als wenn sie Bauchgrimmen
hätten, und sie streckten flehentlich die Arme aus, so gut es eben ging,
nach einem andern Schornstein und stöhnten:

»Gebt uns was ab! Gebt uns was ab!«

Das war ein mächtiger, weiter Schlot, und der Rauch und Qualm, der ihm
entquoll, schwarz, finster, beklemmend. Bleiche Gestalten stiegen drauf
zur Höhe, hohlwangig wie eine durchwachte Nacht, finster wie eine
Gewitterwolke. Immer mehr, Millionen von ihnen tauchten auf aus dem
Dunkel, nicht aus einem, nein, aus hundert Schlöten, ganze Heere von
Elendsgestalten, ganze Heere von drohenden Fäusten, von rachedurstenden
Augen, von verzweifelten Gesichtern.

Und der kleine Geselle drückte sich scheu an den Mann, der ingrimmig
hohnlachte.

»Wo kommen die her, alle, alle, ohne Ende?« fragte der Geselle bebend.

»Aus den Fabriken, aus den Werkstätten, aus den Mietskasernen, aus den
Spelunken da unten,« knurrte der mit den Bockshörnchen. »Bande, elendes
Pack, warum drücken sie die andern nicht tot, schaffen sich Platz in der
Welt, so viele, wie sie sind! Aber sie haben Furcht, gerade so viel Furcht,
wie die da drüben -- sieh' -- da aus dem himmelhohen Rauchfang, der
so kerzengerade aufwächst -- Mitleid haben. Prrr -- Puah -- Mitleid,
Mitgefühl, Menschenliebe, Gleichheit, Brüderlichkeit -- sieh', wie sie da
alle schweben, die schönen Gedanken! Schau einmal genau hin! Glaubst du,
sie kämen alle aus demselben hohen, ragenden, lichten, freundlichen Kamin?
Ist schön gebaut, der Rauchfang! Aber schließ' dein Auge ab von all dem
andern, indem du die Hand krümmst wie ein Fernrohr davor -- das gibt mehr
Perspektive. Siehst du nun wohl, daß jeder der schönen Gedanken
seinen Privatschlot hat, der nur an den andern sich anlehnt? -- Und die
Rauchsäulchen, -- recht fein hell anzusehen -- dürfen sich mit keinen
von den andern vermischen, beileibe nicht, und der Kamin muß immer mit
demselben Heizmaterial gefüttert werden, und jedes Rauchwölkchen hat
seinen Parteinebel, in den es sich auflöst.«

Aber immer und immer wieder stieg das bleiche, finstere Heer auf, auf,
stetig, unverdrossen.

»Da, sieh' her, du kleiner Wurm, der du die Gedanken nackt und
unverarbeitet in der Welt herumlaufen sehen wolltest,« schrie der
Mann-Faun-Mephisto, »siehst du jene dort drüben aus dem Marmorkamin sich
entwirren? -- Wohlgenährte Gestalten sind drunter mit schwimmenden Augen,
magere Kerle mit Beil-Gesichtern, und alle mit so einem Air um sich herum,
als wollten sie auf alles andere spucken. Kapitalsbestien nennt man sie mit
dem Kunstausdruck, d. h. die Kapitäler sind ihnen jetzt da oben im Rauch
abhanden gekommen, und nur die Bestien sind übrig geblieben. Und nun
schau die guten, mitleidigen, allesliebenden, weltbeglückenden
Fanatikergedanken, die eigene kleine Weltbegriffe auf Silberrauchsäulchen
ausdünsten -- schau auch alle die winzigen Nebengedanken, die von der
Silbersäule abspringen, ihre Nachbarn zerren und stoßen, zu Boden
schlagen, ins Gesicht treten -- kommt es dir nicht schließlich vor, als
wäre der eine wie der andere: Fanatiker seines eigenen Ichs? Und sie
verteidigen dieses ihr Besitztum, die einen mit nackter Brutalität, die
andern mit alles überwältigendem Mitleid für die Menschheit. Ist recht,
ist ja recht so. Nur sollen sie nicht das Du-Geschrei erheben, wenn sie das
Ich meinen. Aber guck einmal da!« --

Aus dem lichten, ragenden Schornstein, dessen viele Teile das Gesellchen
jetzt deutlich erblickte, war eine Schar Gedanken-Geister aufgetaucht, die
sich mit Mäulern, Fäusten und Füßen ingrimmig bearbeiteten: die einen
suchten die nächsten unter sich zu ducken, zerrend, heulend, schimpfend;
die zarten Gestalten aus demselben Rauchfang, die über ihnen schwebten,
rangen traurig die Hände; die Bestien aus dem Marmorkamin sahen behaglich
zu, und die kleinen Weinkameraden ritten auf ihrem Rauchgekräusel herzu,
jauchzten und lachten, schütteten duftenden Rheinwein über sie aus,
wie man über die beißenden Hunde Wasser gießt, und trieben allerhand
Allotria.

Die hungrige, bleiche, verzweifelte Schreckensschar aber stieg immerfort,
stetig auf; auf aus den Tausenden von Schlöten und verzehrte sich im
Nebel, immerzu, regelmäßig, wie ein grauenhaftes Uhrwerk.

»Bande, Bande!« knurrte der neben dem Gesellchen. »Wann kommt's? -- Wann
kommt's und schlägt den Kram in Fetzen? -- Ist ein lustig Leben, kleines
Wurm, so hoch über ihnen, was? -- Und doch mitten drunter. Die da tief
drunten, alle, glauben, sie kennen, sie haben mich, und ahnen nicht,
daß ich es bin, der ihre Gedanken hier oben spuken läßt zur eigenen
Verlustierung, wie Nero einst Rom in Brand setzte! _Nicht_ sie mich --
_ich_ hab' _sie_! -- Hoho -- aber da -- da, meine Braven!«

Da schlug aus einem mächtigen Rauchfang eine hohe Feuersäule auf,
glührot, wie aus einer Schmiede-Esse, und darauf schwebte, nein, stampfte
eine gewichtige Schar, die zog den Ambos und dröhnte die Schmiedehämmer
nieder, daß es durch die Lüfte klang. Riesengestalten mit mächtigen
Köpfen und lustigen Augen. Bei jedem Hammerschlag von ihren Fäusten
stoben die Funken, und in jedem Funken sang es:

  »Mir sein die Hammerschmiedsgsölln, Hammerschmiedsgsölln,
  Mir könn' dableiben, mir könn' furtgeh'n,
  Mir könn' dhun, was mer wöll'n, dhun, was mer wöll'n!«

Schritt vor Schritt weitergreifend, die rußigen Gesichter umglüht
vom Flammenschein, stampften sie alles unter ihre Füße, Bestien und
Mitleidsgedanken und Elendsgestalten, was ihnen in den Weg kam, trieben
die Rauchwolken zur Seite und machten Bahn frei -- bis endlich, nach langem
Kampf, auch sie der große Nebel verschlang.

Aber dort, wo sie verschwunden waren, da lag in lichter Ferne -- das
Gesellchen sah es ganz deutlich, und der Mann breitete seine Arme aus --
der silberne See, der hob und senkte sich leise. -- Möven flogen
drüber hin, die tauchten mit der weißen Brust ein in die Silberflut und
schüttelten die leuchtenden Tropfen von den Flügeln.

Wo sie das Wasser berührten, tauchte ein Wunderwesen nach dem andern
auf; diese reihten sich aneinander, und bald wimmelte der See von zarten,
lieblichen, von starken, gewaltigen Wesen. Auf ihren ausgestreckten Armen
kamen zwei wunderselige Frauengestalten einhergeschwebt, ein leiser,
flüchtiger Gesang zog ihnen voran:

  »Wir geleiten hohe Frauen,
  Die den Wassern sind entstiegen,
  Die sich auf den Nebeln wiegen,
  Und die Wellen stets durchwallen,
  Unerkannt von allen, allen,
  Denn von zwei'n ist eine keine:
  Diese Hehre, Hohe, Reine,
  Jene, die da gleißt im Scheine --
  Nur zusammen kannst sie schauen.
  Wie die Sonne aus dem Meere
  Ihre Strahlen weiter sendet,
  So zieh'n im Gedankenheere
  Sie, bis ihre Bahn vollendet.
  Sinken in die Wasser nieder,
  Kommen mit der Sonne wieder.«

So schwebten sie hin über das Häusermeer der Riesenstadt. Die schönen
Frauen glichen sich eine der andern so, daß man sie nicht unterscheiden
konnte, und das Gesellchen hätte gar zu gern gewußt, wer sie seien.

Der Mann sah mit verschränkten Armen den Zug an sich vorüber wallen,
musterte mit kritischen Augen die weißen Nixenglieder, lächelte
vertraulich dem schönen Frauenpaar zu. -- Da war es dem Gesellen, als habe
die eine listig gewinkt, die andere nur milde gelächelt. Aus dem Nebel,
der sie umwogte, aber tönte das Lied der Hammerschmiedsgesellen:

  »Mir könn' dhun, mir könn' treiben, mir könn' loss'n, was mer
          wöll'n!«

»Ja, ja,« nickte der Mann, »wenn's alle Hammerschmiedsgesellen wären!
Aber doch, kleines Wurm, wissen auch sie nicht genau, gerade wie du
und alle die andern es gar nicht wissen, wer von den beiden lieben
Frauenzimmerchen da -- die Wahrheit und welches die Lüge ist.«

Als er das sagte und der kleine Schmiedsgeselle flehend die Arme hob, da
schauten die beiden herrlichen Frauen zurück -- die eine milde lächelnd:

»_Du_ bist die Wahrheit!« jauchzte der Geselle.

Da hob die andere sachte und ernst den Finger an den Mund. --

Und der Geselle barg das Gesicht in die Hände und weinte.

Als er wieder aufschaute, sah er den Mann vor dem Champagnerkorken stehen
und Zwiesprache halten mit einem nackten, kleinen Schlingel, der rittlings
auf dem einen goldenen Pfropfen saß, Bogen und Köcher umgehängt hatte
und blutrote Pfeile nach allen Richtungen verschoß; sein Krauskopf
glänzte voll goldener Locken und trotz der Lachgrübchen saßen ein paar
bitterernste Augen in dem jungen Gesicht.

»Ich bin echt!« sagte er und zielte auf den Gesellen, und dem wurde es
plötzlich ganz leicht um's Herz. Da lachte der kleine, nackte Bub ein
tolles, befreiendes Lachen, und der Mann fiel ein, und das Gesellchen
mußte mitlachen, bis ihm die Thränen aus den Augen liefen.

Dicht hing der Nebel herunter. Die Wolken rieben sich die Fußsohlen an den
Champagnerkorken. Rauch, schwerer, schwarzer, lichter, semmelblonder stieg
auf aus allen Schlöten. In der Ferne sah der Geselle einen silbernen
Streifen, auf dem ein Mövenflügel blitzte. Ein dumpfes Gegroll wogte zu
ihnen herüber. Ein Amboßschlag dröhnte.

Fest mit den Füßen aufstampfend, ging der wunderliche Mann mit dem
kleinen Schmiedegesellen viele Stufen hinab, und es klang, als ob jede
Stufe knurrte:

  »Hammerschmiedsg'söll'n -- dhun, was mer wöll'n!«

Unten angekommen, sah der Mann wieder aus wie ein gewöhnlicher
Europäer, und die Stube, in die sie eintraten, wie eine ganz gewöhnliche
Kaufmannsstube.

»Hör',« sagte der Mann zu einem andern, der da saß und schrieb, »wir
müssen die Champagnerpropfen da oben an dem Dach neu vergolden, die hat
der Nebel ganz blind gemacht.«

Der andere nickte und schrieb weiter.

Der Mann aber sah den kleinen Schmiedegesellen an und zupfte sich an den
spitzen Oehrchen. Und dann lachten sie.




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    "   68,   "   3  "    "    "  : Silberflut statt Silberglut.
    "   97,   "  15  "    "    "  : Weh _in der_ Welt.
    "  118,   "   8  "    "    "  : _ni_mmer statt immer.
    "  122,   "  26  "    "    "  : aus _seinen_ Händen.
    "  129,   "  10  "    "    "  : _sein_ leuchtendes Auge.
    "  155,   "  23  "    "    "  : _drauf_ ritten.




Im _Verlags-Magazin J. Schabelitz_ in _Zürich_ ist erschienen und durch
alle Buchhandlungen zu beziehen:


  #Amerikanische Lebensbilder.# Skizzen und Tagebuchblätter. Von _Karl
  Knortz_. -- 2 Mk. = 2 Fr. 50 Cts.

  #Eines deutschen Matrosen Nordpolfahrten.# Wilhelm Nindemann's
  Erinnerungen an die Nordpolexpedition der »Polaris« und »Jeanette«.
  Von _Karl Knortz_. -- 70 Pf. = 85 Cts.

  #Hamlet und Faust.# Von _Karl Knortz_. -- 1 Mk. = 1 Fr. 25 Cts.

  #Irländische Märchen.# Von _Karl Knortz_. -- Mk. 1.60. = 2 Fr.

  #Nokomis.# Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer. Von
  _Karl Knortz_. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.

  #Neue Epigramme.# Von _Karl Knortz_. -- 1 Mk. = 1 Fr. 25 Cts.

  #Goethe und die Wertherzeit.# Ein Vortrag. Von _Karl Knortz_. Mit dem
  Anhange: Goethe in Amerika. -- 80 Pf. = 1 Fr.

  #Grashalme.# Gedichte von _Walt Whitman_. In Auswahl übersetzt von
  _Karl Knortz_ und _T. W. Rolleston_. -- 2 Mk. 50 Pf. = 3 Fr.

  #Vom Hudson bis zum goldenen Thor.# Ernste und heitere Erzählungen aus
  dem amerikanischen Leben. Von _Joseph Treumann_. 2 Bände. -- 5 Mk.
  = 6 Fr. 25 Cts.

  #Ueberseeische Reisen.# Von _Amand Goegg_. -- 2 Mk. 40 Pf. = 3 Fr.

  #Bilder aus den Vereinigten Staaten.# Von ~Dr.~ _J. Richter_. --
  1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.

  #Aus dem Reiche des Tantalus.# Alfresco-Skizzen von _W. L. Rosenberg_.
  -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.

  #Zweierlei Hoheit.# Roman von _Juvenalis Minor_. -- 3 Mk. 60 Pf.
  = 4 Fr. 50 Cts.

  #Heißes Blut.# Roman aus der französischen Provinz. 2 Theile. Von
  _Hermann Gosseck_. -- 5 Mk. = 6 Fr. 25 Cts.

  #Scherben.# Gesammelt vom müden Manne (_Richard Voß_.) Zweite, stark
  vermehrte Auflage. -- 5 Mk. = 6 Fr. 25 Cts.

  #Schlimme Geschichten.# Drei Novellen. Von _Gustav Adolf_. --
  1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.

  #Ueber Graphologie# oder die Kunst, die Geistes- und
  Gemüthseigenschaften eines Menschen aus seiner Handschrift zu
  erkennen. Von _Fritz Machmer_. -- 2 Mk. = 2 Fr. 50 Cts.




[ Hinweise zur Transkription


Der Schmutztitel wurde entfernt.

Im Originalbuch tragen die Kapitel jeweils am Anfang ornamentalen und am
Ende floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.

Die im Buch enthaltene Verlagswerbung wurde von der Rückseite des vorderen
Einbanddeckels an das Buchende verschoben.

Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: _gesperrt_, ~Antiqua~, #fett#.

Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten,
einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "Apollo"
-- "Appollo", "Bacchus" -- "Bacchos", "Höckerweib" -- "Hökerweib",
"Schmiedegeselle" -- "Schmiedgeselle", "Sonntagkind" -- "Sonntagskind",

mit folgenden Ausnahmen,

entsprechend dem Korrekturverzeichnis des Originalbuchs

  Seite 24:
  im Original "ich hete in mîne hante gesmogen"
  geändert in "ich hete in mîne hant gesmogen"

  Seite 68:
  im Original "In tiefe, rauschende Silberglut"
  geändert in "In tiefe, rauschende Silberflut"

  Seite 97:
  im Original "als ob all das Weh in Welt"
  geändert in "als ob all das Weh in der Welt"

  Seite 118:
  im Original "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt immer zu Thal"
  geändert in "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt nimmer zu Thal"

  Seite 122:
  im Original "aus ihren Händen weg und zu uns"
  geändert in "aus seinen Händen weg und zu uns"

  Seite 129:
  im Original "und ein leuchtendes Auge weilt"
  geändert in "und sein leuchtendes Auge weilt"

  Seite 155:
  im Original "die Gedanken, die draus ritten"
  geändert in "die Gedanken, die drauf ritten"

und außerdem

  Seite 13:
  im Original "wo wollen die vielen Menschen hin die dort"
  geändert in "wo wollen die vielen Menschen hin, die dort"

  Seite 25:
  im Original "Flüstern durch den Saal und und ein Beben"
  geändert in "Flüstern durch den Saal und ein Beben"

  Seite 39:
  im Original "Weise Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"
  geändert in "Weiße Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"

  Seite 40:
  im Original "wenn ihr die zackigen Blätter"
  geändert in "wenn Ihr die zackigen Blätter"

  Seite 45:
  im Original "Cochenille -- Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"
  geändert in "Cochenille-Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"

  Seite 49:
  im Original "Wohl süß ist es zu singen"
  geändert in "»Wohl süß ist es zu singen"

  Seite 56:
  im Original "sieh', doch, da ist das Märchen!"
  geändert in "sieh' doch, da ist das Märchen!"

  Seite 56:
  im Original "die Kinder faßten sich bei deu Händen"
  geändert in "die Kinder faßten sich bei den Händen"

  Seite 76:
  im Original "den Bäuuen aus dem Wege gehen"
  geändert in "den Bäumen aus dem Wege gehen"

  Seite 85:
  im Original "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. 1"
  geändert in "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. I"

  Seite 108:
  im Original "deren heißes Menschenherz langsam, zu"
  geändert in "deren heißes Menschenherz langsam zu"

  Seite 135:
  im Original "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!«"
  geändert in "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!"

  Seite 139:
  im Original "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silderfäden"
  geändert in "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden"

  Seite 140:
  im Original "dekorierten Flügel und fliegt von dannen"
  geändert in "dekorierten Flügel und fliegt von dannen."

  Seite 146:
  im Original "Seele verwandelte sich einen"
  geändert in "Seele verwandelte sich in einen"

  Seite 155:
  im Original "finster, beklemmend, Bleiche Gestalten"
  geändert in "finster, beklemmend. Bleiche Gestalten"

  Seite 157:
  im Original "Aus dem lichten, ragenden, Schornstein"
  geändert in "Aus dem lichten, ragenden Schornstein"

  in der Verlagswerbung:
  im Original "Rosenberg. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr. = 1 Fr."
  geändert in "Rosenberg. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr." ]



*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMÄRCHEN ***

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

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