Geschwister Rosenbrock

By Diedrich Speckmann

The Project Gutenberg eBook of Geschwister Rosenbrock
    
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Title: Geschwister Rosenbrock

Author: Diedrich Speckmann

Release date: May 16, 2025 [eBook #76104]

Language: German

Original publication: Berlin: Verlag von Martin Warneck, 1921

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GESCHWISTER ROSENBROCK ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
sind stillschweigend korrigiert worden.

Um die Übersicht zu verbessern, sind vom Bearbeiter Kapitelzahlen
eingefügt worden.

Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~


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                              Geschwister
                              Rosenbrock


                                  Von


                          Diedrich Speckmann


                            [Illustration]




                              Berlin 1921
                       Verlag von Martin Warneck




                            Erschienen 1911

                   Der Gesamtauflage 62.-71. Tausend


                        Alle Rechte vorbehalten




               Gedruckt in Stuttgart bei J. F. Steinkopf




Die Schulkinder von Brunsode lagen, des Schönschreibens beflissen,
auf ihren Tischen. Oben knarrte die Feder über holziges Papier, unten
rieb der Griffel knirschend in Schiefer. Ein lustiges Torffeuer,
das im gußeisernen Kanonenofen bullerte, hatte die über Nacht
erblühte Eisblumenherrlichkeit der Fenster schon zerstört und auf
den in greller Januarsonne liegenden, von Eis- und Schneekristallen
blitzenden Schulhof den Blick frei gemacht.

Diesen begrenzten auf zwei Seiten Doppelreihen schlank aufgeschossener
Tannen. Auf der dritten dagegen, dem Schulhause gegenüber, lief ein
gut zwei Meter hoher Fahrdamm, der mit schimmernden Birken bestanden
und von einem dunklen Schiffgraben begleitet in einer Länge von fast
fünf Kilometern sich schnurgerade vor den vierzig »Stellen« der
Moorkolonie Brunsode hinzog. Die Schule lag genau in der Mitte des
Dorfes und war durch den Damm von der Reihe der Gehöfte getrennt.

Für Herrn Christian Lenz, der seit mehr als drei Jahrzehnten in
Brunsode die Kinder lehrte und durch seine Frau Engel, geborene
Schnakenberg, sowie durch seine Tochter Käthe, verheiratete Kück,
mit dem halben Dorf verschwägert und versippt war, bedeutete das
von den Tannenwänden abgeschnittene Stück Damm eine recht angenehme
Schaubühne, der er zuzeiten mehr Aufmerksamkeit schenkte, als für den
Unterricht gut war.

So saß er denn auch heute, während sein Völkchen schön schrieb,
mit übergeschlagenen Beinen auf dem Katheder in seinem bequemen
Binsenarmstuhl, spielte mit dem Lineal und ließ den etwas müden Blick
seiner umschleierten Augen nach rechts zum Fenster hinauswandern.

Eine winterlich verhüllte Frau ging vorüber, mit einem großen,
weidengeflochtenen Henkelkorb am Arm. Hm, Lachmunds Minna macht
Einkäufe für die große Gasterei, die sie und ihr Jan heut' abend geben
wollen. Christian und Engel Lenz werden dabei nicht fehlen.

Eine schwarzbunte Kuh, die über die Bühne getrieben wurde, streckte
den Kopf in die Luft und brüllte, daß die ihr vom Maule fliegende
weiße Atemwolke die in der Januarsonne blitzenden Birkenstämme
kreuzte. Und schon hatte Herr Lenz ausgerechnet, wann Schwager Augusts
beste Milchgeberin das Kalb haben würde, das er sich bereits zur
Aufzucht gesichert hatte. Wenn's nur kein Bullenkalb wurde!

In den gefrorenen Gleisen drüben jankte ein gelber zweiräderiger
Wagen. Der Doktor? Wo mag der so früh schon gewesen sein? ... Der alte
Jan Helmke, Nr. 23, ist auf Besserung ... Ach so, hm, Geschmargret
Rosenbrock, Nr. 40 ... ja, ja ...

Herrn Lenzens Blick kehrte in das Schulzimmer zurück und ruhte
teilnehmend auf einem kleinen Mädchen mit rosigzarten Bäckchen und
seidigem, von einem himmelblauen Band zusammengehaltenen Flachshaar,
das vornan auf der untersten Bank saß und, das reizende Köpfchen ein
wenig schief haltend, mit Hingebung seine Tafel bemalte. Darauf
wanderte sein Auge nach rechts hinüber, zu einem etwa zehnjährigen
Jungen, der eben eine Pause im Schreiben gemacht hatte und merkwürdig
ernst vor sich hinblickte.

Ein zu steil gehaltener Griffel kreischte ohrenzerreißend. Herr Lenz
schloß die Augen und machte ein Märtyrergesicht. Dann aber raffte er
sich auf, warf einen energischen Blick in die Klasse und rief: »Köpfe
hoch, Finger gerade! Wie oft soll ich das noch sagen! ... Ich muß wohl
mal kommen.«

Diese Drohung war jedoch leichter ausgesprochen als ausgeführt. Das
linke übergeschlagene Bein des guten Schulmannes hatte nämlich die
günstige Gelegenheit benutzt, schnell ein bißchen einzuschlafen, und
es dauerte eine Weile, bis es sich richtig wieder auf den Zweck seines
Daseins besann.

Als Herr Lenz endlich mit Vorsicht, da er jenem noch immer nicht recht
traute, von seinem Katheder heruntertrat, schwenkten die Kleinen, um
Beachtung ihres Geschreibsels bittend, ihm die Schiefertafeln entgegen.

Er nahm die jenes kleinen Mädchens, das er vorhin still beobachtet
hatte. Zwei große hellbraune Augen schauten aus einem zarten, feinen
Gesichtchen ehrfürchtig und erwartungsvoll zu ihm auf und erglänzten
freudig, als er wohlgefällig nickte und die Tafel mit den Worten
zurückreichte: »Leidchen, du machst das kleine r wirklich schon
recht nett.« Darauf legte er die Hand väterlich wohlwollend auf das
weiche Haar des Kindes, dessen Wangen unter so viel Anerkennung sanft
erröteten.

Nachdem er sodann den Mittelgang abgeschritten, einige Ausstellungen
gemacht, ein kleines r als Muster an die Wandtafel geschrieben
und drei Torfsoden in die mit dem Rockschlippen geöffnete Ofentür
geworfen hatte, stieg er wieder auf das Katheder, wo er sich mit dem
angenehmen Gefühl erfüllter Pflicht in seinen Armstuhl und die vorige
Beschaulichkeit zurücksinken ließ.

Aber diesmal war die Ruhe nicht von Dauer. Auf dem frostharten
Schulhof klirrten Holzschuhe, und Herr Lenz sah vom Damm her ein
Mädchen eilig auf das Haus zukommen, das er aber in der winterlichen
Vermummung nicht zu erkennen vermochte. Wahrscheinlich eine neue
Einladung. Das ganze Dorf wollte die üblichen Gastereien bei dem
harten Frost abmachen, und es ging jetzt fast Abend für Abend.

Er begab sich hinaus, um der Sache auf den Grund zu gehen. Hinter
ihm steckten die Deerns zu einem kleinen Schwatz die Köpfe zusammen,
während ein paar Jungens eine Prügelei vom Zaun brachen.

»Ruhe!« donnerte es plötzlich in den Lärm hinein, und in der Tür
stehend, rief Herr Lenz in die jäh wiedergekehrte Stille: »Gerd!
Leidchen! Ihr sollt nach Hause kommen. Schnell, schnell!«

Nach wenigen Sekunden stieg ein stillernst dreinblickender Junge von
etwa zehn Jahren aus seiner Bank und schob, den Tornister schief auf
dem Rücken, durch die Schulstube. Der Schwester, die noch unter dem
Tisch packte, gab er im Vorbeigehen einen Stoß mit dem Ellbogen, um
sie zu größerer Eile anzuspornen.

Draußen, auf dem Gang, half er ihr in die Winterjacke hinein. Dann
liefen die Kinder, so schnell ihre Füße sie trugen, über den Schulhof
und halblinks die Dammböschung hinauf, bis sie die Magd eingeholt
hatten.

»Was sollen wir?« fragte Gerd keuchend und seinen Lauf hemmend.

»Mutter verlangt nach euch,« sagte das Mädchen, »macht, daß ihr
heimkommt!«

»Ich nehm' die Schlittschuh,« rief der Junge.

Er hatte sie zu Weihnachten geschenkt bekommen und benutzte die
Schulwege, sich in ihrem Gebrauch zu üben.

Schon war er den Damm hinuntergesprungen und hockte auf dem zwischen
diesem und dem Schiffgraben laufenden Leinpfad.

Bald kratzte er, weitausgreifend und mit schlenkernden Armen, die
glatte, schwarze Eisbahn dahin, vorbei an den Mündungen der schmäleren
Gräben, die zwischen den einzelnen Kolonaten sich ins Hochmoor
hinaufzogen, unter den vom Damm zu den Gehöften führenden Holzbrücken
hindurch, im Sprung die trotz fortwährenden Wassergerinnsels fest
umfrorenen Klappstaue nehmend. Einmal fiel er dabei hin, aber noch im
Dahinrutschen kam er wieder auf die Beine. Nach kaum fünf Minuten lief
er, die klappernden Schlittschuhe am Arm, über eine Obstwiese auf das
hundert Schritt vom Damm zurückliegende lange, niedrige Strohdachhaus
mit blaugestrichenem Fachwerk zu.

Beta Rotermund von Nr. 39 leistete dem Nachbarhause in seiner
Not treulich Hilfe. Als sie den Jungen über die Diele nach der
Krankenstube stürzen sah, rief sie ihm zu, er möchte sich erst wärmen,
ehe er hineinginge.

Mit ausgebreiteten Armen über das offene Herdfeuer gebeugt, schüttelte
er seine Kleidung, um die darin gefangene Kälte gegen die von den
glühenden Torfbrocken aufsteigende Wärme auszutauschen. Dann streifte
er den Tornister ab und ging auf Zehen in die Stube zur Linken.

Als er vor der in die Wand gebauten Schlafbutze stand, deren Tür
zurückgeschoben war, rief er leise: »Mutter!«

Langsam öffneten sich die Augen in dem schmalen, spitzen Gesicht und
sahen ihn groß an. Aber dann irrte ihr Blick suchend an ihm vorbei,
und die fahlen Lippen fragten leise: »Wo ist Leidchen?«

Gerd sagte, sie würde gleich nachkommen, er wäre nur auf
Schlittschuhen vorangelaufen.

Die Kranke machte eine Bewegung. Gerd, ihren Wunsch erratend, nahm
ihre heiße, trockene Hand, jedoch ohne sie von der Bettdecke zu
erheben.

»Ich muß von euch ab, Kinder ... du hilfst dir wohl sacht, Gerd ...
aber Leidchen ... Ich glaub', du bist ein guter, zuverlässiger Junge
... verlaß deine Schwester nicht ... hab' ein Auge auf sie ... sie hat
anders keinen als dich ...«

Mühsam rangen sich ihr die Worte von den Lippen, und Gerd fühlte einen
leisen Druck der kraftlosen Hand. Diesen mit Schonung erwidernd, sagte
er, indem er einen Ausbruch seines Schmerzes gewaltsam zurückhielt:
»Mutter, darauf kannst du dich fest verlassen.«

Die Kranke bekam einen ihrer qualvollen Anfälle. Ihre Hand
zurückziehend, wimmerte sie: »Kind, bet' mal!«

Gerd schaute verlegen drein.

Sie wiederholte ihren Wunsch dringender.

Da faltete er die Hände, ließ den Kopf auf die Brust sinken und
begann das Gesangbuchslied, das sie in der Schule gerade lernten.
Dieselben Worte, die er heut' früh schrill dem Lehrer zugeschrien
hatte, sprach er jetzt, wo die Not des Lebens sie ihm abverlangte,
langsam, leise und andächtig: »Was Gott tut, das ist wohlgetan.« Mit
geschlossenen Augen, die Zähne aufeinander gebissen, wiederholte die
schwer Leidende: »... will ich ... ihm ... halten stille ... halten
... stille!«

Unterdessen trat das kleine Mädchen auf Socken in die Stube und
näherte sich zögernd der Bettstatt.

»Mein lüttjes süßes Leidchen,« rief die Kranke, den Blick erhebend,
mit aufwallender Zärtlichkeit, »was hast du für schöne rote Backen!«
und ihre weit offenen fieberdurstigen Augen schienen des Kindes
Frische und Lieblichkeit zu trinken.

Gerd nahm das frostrote Händchen der Schwester, rieb und drückte es
warm und legte es zugleich mit seiner Rechten in die welke Hand, die
auf der rotkarierten Decke lag. Krampfhaft umklammerte die fieberheiße
die von warmem jungen Leben durchpulsten Kinderhände, wie um sie
nimmer loszulassen. Doch bald erschlaffte sie unter Zuckungen. Die
Kinder sahen sich hilflos an und zogen langsam die Hände zurück.

Nach einer Weile trat Beta Rotermund in die Stube. Auf Wunsch der
Kranken, deren Schmerzen jetzt wieder erträglicher waren, setzte sie
sich dicht vor das Bett, indem die Kinder ihr Platz machten.

Und nun traf Geschmargret Rosenbrock an dem Ohr der zu ihr
herabgeneigten Nachbarin ihre letzten Anordnungen. Seit vorhin der
Arzt noch einmal bei ihr gewesen, wußte sie ja, wie es um sie stand.

Auf dem Leinenschrank läge ein geliehener Wollkratzer. Dieser müßte
der Eigentümerin, Meta Frerks, Nr. 37, noch heute zurückgebracht
werden.

Bei ihrem letzten Kirchgang wäre sie dem Kaufmann Nolte in Grünmoor
eine Mark und fünfundsechzig Pfennige schuldig geblieben. Frau
Rotermund mußte die Summe dem Geldtäschchen unter dem Kopfkissen
der Kranken entnehmen und sie bei nächster Gelegenheit zu bezahlen
versprechen.

Bis ihr Stiefsohn Jan, der Stellerbe, sich verheiratete, sollte die
kürzlich verwitwete Häuslingsfrau Marie Engelken ihm den Haushalt
führen. Sie hatte diese schon vor einigen Tagen an ihr Bett bitten
lassen und mit ihr darüber gesprochen. Die Nachbarin versprach, die
Augen offenzuhalten und vor allem achtzugeben, daß Gerd und Leidchen
ihr Recht bekämen.

Das Totenhemd läge in der Eichenlade auf dem Flett zu unterst ...
Das rechts vom Herd hängende Stück vorjährigen Rauchfleisches möchte
beim Dodenbeer zuerst mit aufgeschnitten werden ... In Leidchens
Sonntagskleid wäre eine Naht aufgegangen, die müßte vorher noch genäht
werden ...

Frau Rotermund nickte, sobald sie einen dieser Wünsche, welche die
Kranke nur mit großer Anstrengung verständlich machen konnte, halbwegs
erraten hatte, und versprach zu guter Letzt noch einmal, alles aufs
beste zu besorgen.

Als die Uhr in der anderen Stube zwölf schlug, bat die Kranke, die
Nachbarin möchte mit den Kindern zum Essen hinübergehen, die Magd
würde das Mittagbrot wohl auf dem Tische haben. Wie die Frau noch
einen Augenblick zögerte, wollte sie ungeduldig werden. Da gab Beta
Rotermund mit den Augen Gerd und Leidchen einen Wink und schob die
leise sich sträubenden Kinder vor sich her zur Tür hinaus.

                   *       *       *       *       *

Es war kurz nach Mitternacht, als Frau Rotermund sich in ihr wollenes
Umschlagetuch hüllte, die Schultern zusammenzog und, unter der
niedrigen Seitentür sich bückend, schuddernd in die sternklare,
schneidend kalte Winternacht hinaustrat.

Dem nachbarlichen Verkehr dient in Brunsode weniger der öffentliche,
von der Häuserreihe etwas entfernte Fahrdamm als ein Pfad, der durch
die Grenz- und Windschutzgehölze laufend und die trennenden Gräben auf
schmalen Eichenbohlen überschreitend eine kürzere Verbindung zwischen
den Gehöften herstellt.

Diesem folgte die Frau, aber nicht, um beim eigenen Hause abzubiegen,
sondern, nachdem sie ihr Gehöft überschritten hatte, machte sie erst
vor den Stubenfenstern von Nr. 38 halt. Hier trommelte sie mit dem
Knöchel des Mittelfingers gegen die Scheiben, daß es hart und hell
durch die nächtliche Stille klang. Es dauerte nicht lange, so wurde
von drinnen an den Eisblumen gekratzt. Da rief Beta durch die hohlen
Hände gegen das Fenster: »Geschmargret ist eben eingeschlafen. Kommt
und helft sie bekleiden!«

Die gleiche Ansage machte sie den beiden nächsten Häusern in der
Dorfreihe. Denn die vier »Nachbarn in Not und Tod« sind durch das
ungeschriebene Gesetz altererbter Sitte zu solchem Dienst jede Tag-
oder Nachtstunde verpflichtet, wenn jemand sich zum letzten Schlaf
gestreckt hat.

Als Beta Rotermund von ihrem Gange durch die frostklingende Nacht
zurückgekehrt war, nahm sie das Abendmahlskleid der Verblichenen
aus dem Schrank, holte ihr Totenhemd aus der Tiefe der Eichenlade
herauf und legte ein paar Torfbrocken unter den Wasserkessel, den die
Magd auf ihr Geheiß zu Feuer gebracht hatte. Darauf ging sie in die
Wohnstube, um sich zu wärmen und die Frauen zu erwarten.

In dem niedrigen, mit dicker warmer Luft angefüllten Raum, den eine
Hängelampe vom mittleren Deckbalken her nur schwach erleuchtete,
hockte die Familie beieinander. Jan, des verstorbenen Jan Rosenbrock
Sohn aus erster Ehe, hatte die Fäuste tief in den Hosentaschen
vergraben und machte, mit angezogenen Füßen auf einem gegen die Wand
gekippten Binsenstuhl mehr liegend als sitzend, ein etwas verlegenes
Gesicht, als ob er nicht recht wüßte, wie er sich in diesem Fall zu
benehmen hätte. Das kleine Mädchen lehnte schlafend in einer Ecke
der Ofenbank, Gerd saß steif und steil in der anderen, mit trockenen
rotgeweinten Augen auf einen Fleck starrend. Trina, die Magd, hatte
sich an den Tisch hingelehnt und kämpfte, häufig gähnend, mit der
Müdigkeit.

»Kinder, es wäre besser für euch, ihr ginget zu Bett,« mahnte Frau
Rotermund mütterlich, indem sie sich einen Stuhl an den Ofen zog und
die verklammten Hände an die warmen Gußplatten hielt. Aber niemand
machte Miene, dem Rat zu folgen.

Draußen wurden Schritte laut, und gleich darauf trat Meta Frerks
von Nr. 37 in die Stube. Die rundliche kleine Frau hatte von Natur
ein Paar graue, schalkhafte Augen, aber wenn Zeit und Gelegenheit
es verlangten, konnten diese auch leicht und ergiebig weinen. Die
blanken Tränen polterten ihr denn auch nur so über die kugeligen
roten Backen, wie sie die Hingeschiedene beklagte und rühmte und die
landläufigen Tröstungen spendete. Darauf pflanzte sie sich zwischen
die beiden Kinder in die reichlich enge Bank, tätschelte mit der
Linken dem Jungen die Knie und strich mit der Rechten dem erwachenden
Mädchen die Haare aus den Augen, um ihm dann liebkosend über die
rosig verschlafenen Bäckchen zu fahren. Das Kind hatte von solcher
handgreiflichen Zärtlichkeit schnell genug und hielt zum Schutz beide
Arme vor das Gesicht.

Die bald darauf eintretende, bis auf die Nasenspitze vermummte
Gestalt enthüllte sich als eine hagere Vierzigerin mit gelblichen,
lederartigen Gesichtszügen und kleinen, starren Augen. Anna Wöltjen
und ihr Klaus galten als die »dollsten Quäler« im ganzen Dorf, kamen
aber doch nicht recht vorwärts. Sie waren Sklaven der Torfkuhle
geworden; nicht einmal mehr des Sonntags kam der Torfstaub rein aus
den tiefen Furchen ihrer stumpfen, abgearbeiteten Gesichter. Da der
Torf all ihr Sinnen erfüllte, verpaßten sie in der Ackerwirtschaft
meist die rechte Zeit und das gute Wetter, und manches Stück Vieh
hatten sie in die Erde stecken müssen, weil sie es an sorgfältiger
Pflege, vor allem auch an der nötigen Sauberkeit fehlen ließen. Anna
Wöltjen murmelte ein paar Worte, die zu verstehen sich niemand Mühe
gab, und sackte auf dem nächsten Stuhl nieder.

»Daß Malwine Böschen noch gar nicht kommt!« sagte Beta Rotermund nach
einer Weile, etwas ungeduldig zur Wanduhr aufblickend, »sie hat doch
von uns allen noch die jüngsten Beine.«

»Wenn eine erst jung verheiratet ist ...« entschuldigte die gutmütige
Meta Frerks mit verstehendem Lächeln.

»Na, ich sollt' meinen, aus den Honigwochen wären sie heraus,« sagte
Anna Wöltjen mit ihrer blechernen Stimme.

Meta Frerks hob horchend den Kopf: »Ich hör ihre Hollschen all, sie
geht grad' über den Steg. Was das diese Nacht weit klingen tut!«

Die schmucke, blühende Frau, die bald darauf eintrat, sah trotz des
Ganges durch die schneidende Kälte ein wenig verschlafen aus und
machte einen etwas verlegenen Eindruck. Erst im letzten Herbst hatte
sie in das Dorf hineingeheiratet und sich noch nicht recht in der
Nachbarschaft eingelebt.

Nachdem Beta Rotermund das junge Volk noch einmal vermahnt hatte,
endlich das nutzlose Herumsitzen aufzugeben, führte sie die Frauen
dahin, wo die traurige Pflicht ihrer wartete.

Diese warfen einen halb scheuen, halb neugierigen Blick auf das
spitze, wächserne Gesicht im Bettschrank, hielten eine Vaterunserlänge
die Köpfe auf die Brust gesenkt und die Hände gefaltet, dann machten
sie sich schweigend an die Arbeit, indem sie durch Zeichen und
Flüstern sich leicht verständigten.

Als nach Brauch und Herkommen alles besorgt, auch das Zimmer gesäubert
und der Fußboden mit weißem Sand bestreut war, betrachteten sie ihr
Werk nicht ohne Befriedigung. Man fand, die gute Geschmargret sähe nun
aus wie eine sanft und friedlich Schlafende.

»Wenn einer erst so weit wäre ...« seufzte Meta Frerks, die
lebenslustigste von allen, und sie fühlte in diesem Augenblick
auch so, wie sie sprach. Als aber Beta Rotermund, die während der
Aufräumungsarbeiten sich draußen am Herde zu schaffen gemacht hatte,
fragte, ob sie jetzt in der andern Stube eine Tasse heißen Kaffee
trinken wollten, nickte sie sehr erfreut und war die erste, die
schnell und gern der Einladung folgte.

Die Jugend des Hauses hatte sich inzwischen in ihre Butzen und Kammern
zurückgezogen, und die Frauen waren froh, daß sie das Reich allein
hatten. Nachdem sie einige Torfbrocken im Ofen nachgelegt und den
Tisch dicht an diesen herangeschoben hatten, rückten sie so eng als
möglich um die dampfende Kaffeekanne zusammen, die ihren duftenden
braunen Labetrank in goldig umränderte Tassen ergoß. Es waren die
feinsten des Hauses, die Meta Frerks der besonderen Gelegenheit wegen
dem Glasschrank entnommen und schnell mit der Schürze ausgewischt
hatte. Geschmargret Rosenbrock hatte sie von ihr selbst einst zur
Hochzeit geschenkt bekommen. Mitten auf dem Tisch stand ein bunter
Teller mit Butterkuchen, den Vater Rotermund der kranken Nachbarin
gestern frisch von Worpswede mitgebracht hatte. Die hatte nicht mehr
von ihm gekostet, aber jetzt fand das lockere, zuckerbestreute Gebäck
seine Liebhaber, und die kundigen Zungen schmeckten schnell heraus,
daß es vom Bäcker Soltmann stammte, der am schmackhaftesten zu backen
pflegte. Der Kaffee wurde mit behaglichem Schlürfen getrunken. Nach
Erfüllung der traurigen Pflicht war ein Stündchen freundnachbarlicher
Geselligkeit gutes Recht und seelisches Bedürfnis. Man war ja Nachbar
nicht bloß für Not und Tod, sondern gottlob auch für die angenehmeren
Seiten des Daseins.

Ach ja, das menschliche Leben ... Wer hätte gedacht, daß die gute
Geschmargret so früh dahin mußte. Nach Ostern hatte sie noch im
Torf geholfen und bei der zweiten Heuernte noch mit abgeladen. Es
wurden mancherlei Erinnerungen wach: was sie bei dieser Gelegenheit
gesagt, bei jener getan, wie sie sich in ihre Stellung als zweite
Frau und Stiefmutter gefunden hatte, und dergleichen. Die einzelnen
Züge ergaben zusammen das Bild einer schlichten, fleißigen, stets
freundlich hilfsbereiten, von allen wohlgelittenen Frau.

Endlich sprang die Unterhaltung auf die Kinder des Hauses über.

Jan, der Erbe und jetzige Stellbesitzer ... Hmhm, Kopfschütteln,
bedenkliche Mienen. Man konnte sich nicht verhehlen, daß er in den
letzten Jahren, seit des Vaters Tode, ein rechter Schleef geworden
war. Die Stiefmutter war ihm gegenüber vielleicht doch zu gut und
weich gewesen. Hoffentlich bekam er einmal die richtige Frau, die
noch einen ordentlichen Menschen aus ihm machte. Ob er schon auf
Freiersfüßen ging? Ernstlich wohl noch nicht. Aber jetzt machte er
gewiß bald Anstalten. Das half ja auch nichts; eine Frau mußte wieder
ins Haus, die Haushälterin konnte nur für kurze Zeit ein Notbehelf
sein.

Gerd und Leidchen ... Ach ja, die armen kleinen Dinger ... Und
so fixe, brave Kinder ... Gerd, über seine Jahre verständig und
ernsthaft, und so ein feines kleines Mädchen wie Leidchen sollte
man weit umher suchen. Cord Rosenbrock, der Kinder Vatersbruder und
Vormund, wär' ein gar zu gleichgültiger Mensch, ein rechter Liekeväl,
und würde sich wohl nicht viel um sie kümmern. Da müßten die Nachbarn
fleißig zum Rechten sehen, das verlange die Christenpflicht, und man
wäre es der guten Seligen auch schuldig. Ach ja, ja, ja ...

Plötzlich horchten die Frauen erschrocken auf. In der Butze nebenan
regte sich etwas, und schon wurde die Tür zurückgeschoben, und das
kleine Mädchen kam herausgestiegen. Zitternd stand es da in seinem
kurzen Hemdchen, sah die gestörte Kaffeegesellschaft mit den großen
braunen Augen an und fragte: »Was macht ihr hier?«

»Wir haben deine Mutter fein angekleidet,« sagte Beta Rotermund, das
Kind an sich ziehend. »Nun trinken wir 'ne Tasse Kaffee.«

»Komm mal 'n bißchen auf meinen Schoß, lüttje Deern,« sagte Meta
Frerks und hob sie auf ihre Knie. Dann reichte sie ihr einen Streifen
Butterkuchen, und das Kind stopfte und kaute, denn Butterkuchen
gab's nicht jeden Tag. Darauf knabberten die kleinen Zähne ein Stück
Kandiszucker, das Malwine aus der Dose schenkte. »Sososiso,« sagte
Meta Frerks, »nun leg' ich unser Herzenskind wieder ins Bett, und es
schläft süß die ganze Nacht. Huh, draußen ist's so kalt, und all die
kleinen Piepvögel müssen so frieren. Soso, nun mach' ich die Tür zu,
du brauchst gar nicht bange zu sein, mein' Deern, die lieben Tanten
sollen alle hier bleiben.«

Ein Weilchen ruhte die Unterhaltung. Nur Seufzer und traurige Blicke,
von Kopfschütteln begleitet, gingen hin und her.

Als das Gespräch nach und nach wieder in Gang kam, begann es freiere
Bahnen zu wandeln. Der betrübende Fall war ja nun nach allen Seiten
hin erörtert und erschöpft, da drängte das eigene Leben, mit seinen
Sorgen und Leiden, Freuden und Hoffnungen, sich wieder vor. Auch des
lieben Nächsten gedachte die mitternächtliche Kaffeegesellschaft, im
Guten wie im Bösen. Meta Frerks, die am Tage vorher von einer Gasterei
im unteren Dorf einen ganzen Sack voll Neuigkeiten mitgebracht hatte,
fand für diese die aufmerksamsten Ohren; zumal, als sie von einer
Hochzeit berichtete, die etwas plötzlich in Sicht gekommen war.

So enteilten die Viertel-, halben und ganzen Stunden, bis die Wanduhr
auf einmal fünf kurze, klirrende Schläge tat.

»Kinners!« rief Beta Rotermund erschrocken, »wir müssen nun aber bald
Feierabend machen!«

Aber niemand traf Anstalten, sich zu erheben. Über den Schlaf war man
doch einmal hinweg, es verlohnte sich auch nicht mehr, noch wieder
ins Bett zu steigen. Draußen fror es Pickelsteine, um den warmen
Ofen dagegen hatte die Behaglichkeit stetig zugenommen. Die Nähe der
Toten störte diese durchaus nicht. Die gute Geschmargert war ja von
schwerem, unheilbarem Leiden erlöst, man hatte seine Pflicht an ihr
getan, und wenn die Gedanken noch einmal zu ihr hinübereilten, freute
man sich im stillen, daß einem selber das liebe Leben noch nicht
entwichen war. Sogar Anna Wöltjen war ganz menschlich geworden, und
die junge Malwine Böschen längst aufgetaut. Diese paar Stunden hatten
sie den Nachbarinnen näher gebracht, als die vier Monate, die sie
unter ihnen gelebt hatte, und sie verriet ihnen, daß sie sich guter
Hoffnung fühlte. Da sahen alle drei sie schwesterlich teilnehmend an,
und Beta Rotermund sagte, nachdenklich vor sich hin nickend: »Ja, ja,
so geht's zu in der Welt: der eine geht, der andere kommt.«

Als sie endlich daran erinnerte, daß es Zeit würde zum Melken,
erhoben sich alle aus dem warmen, gemütlichen Winkel. Man suchte die
Umschlagetücher, schnackte auf dem Flett ein Weilchen im Stehen,
stattete der still gewordenen Nachbarin noch einen stummen Besuch ab,
bei dem sich wieder einige Seufzer lösten, und machte sich endlich auf
den Heimweg. An den Leitstangen sich haltend, schurrten die Frauen
vorsichtig über die glattgefrorenen schmalen Eichenbohlen der Gräben,
und bei jedem Hause schwenkte eine mit kurzem Gutenachtgruß ab. Bei
jedem Abschied noch einmal wieder stehenzubleiben, verbot die gar zu
grimmige Kälte.

                   *       *       *       *       *

Langsam und feierlich, den hohen Hut auf dem ergrauenden Kopf und das
Gesangbuch mit goldenem Kreuz in der schwarzbeschuhten Rechten, kam
Herr Lenz von dem Fahrdamm auf das Trauerhaus zugeschritten.

Was Geschmargret Rosenbrock die letzte Ehre erweisen wollte, war schon
vollzählig versammelt. Das obere Dorf, bis zur Schule, war Haus für
Haus vertreten, aber auch das untere hatte eine stattliche Anzahl zum
Gefolge geschickt. Die Frauen saßen in den Stuben und tranken Kaffee.
Die Männer, die meist auf der Herddiele umherstanden, ließen ein paar
Flaschen kreisen. Diese mußten öfter als gewöhnlich aus dem irdenen
Kruge von neuem gefüllt werden; denn die Kälte hatte noch nicht im
geringsten nachgelassen und nur wenige waren im Besitz eines wärmenden
Überziehers.

Herr Lenz nahm in der Wohnstube ein Glas Grog an, »wegen der
schneidenden Luft,« wie er halb entschuldigend bemerkte. Als er es
geleert hatte, wechselte er einen Blick mit Beta Rotermund, die
heute im Haus das Sagen hatte, strich sich den Bart und trat voll
Würde auf die große Diele hinaus, wo er am Kopfende des über Stühlen
aufgestellten Sarges Aufstellung nahm. Die Singjungens sammelten
sich ihm zur Linken, den Platz an seiner Rechten wies er durch
eine Handbewegung den Hinterbliebenen an. Aber nur die beiden
Kinder kamen, Jan zog es vor, als weniger beteiligt, sich etwas im
Hintergrunde zu halten. Eine Kuh, die brüllend den Kopf vorstreckte,
bekam einen mißbilligenden Blick, woraufhin einer der umstehenden
Männer ihr einen Stoß gegen den Hals gab.

Und dann feierte Herr Lenz, nachdem er ein Sterbelied hatte
singen lassen, die stille Frau zwischen den mit Sago beklebten
schwarzlackierten Brettern als treue Gattin, liebevolle Mutter,
fleißige Arbeiterin und geduldige Kreuzträgerin. Darauf wandte er
sich halbrechts zu ihren Kindern, malte mit grellen Farben das Elend
verlassener Waisen und tröstete, die Hand wie segnend erhoben, Gott,
der Witwen und Waisen Vater, werde sie nicht verlassen noch versäumen.

Herr Lenz liebte das große Wort und die feierliche Gebärde, und die
Brunsoder waren stolz darauf, daß sie bei solchen Gelegenheiten keinem
der fünfzehn Lehrer des Kirchspiels so zu Gebote standen, wie ihrem
guten Lenz. Ja, nicht einmal der alte Pastor in Grünmoor konnte es so
rührend machen und die Tränen so locken wie er. Diese flossen denn
auch jetzt gar reichlich. In diesem Lande, wo das Wasser überall rinnt
und sickert, sitzt es auch über den Augen recht lose.

Gerd aber stand mit trockenen Augen, den Kopf auf die Brust gesenkt
und die Hände über der Mütze gefaltet. Er hatte sich in der Stille
der letzten Tage ausgeweint, und daß er vom Lehrer, den er im Grunde
nicht liebte, zum Gegenstand des allgemeinen Mitleids gemacht wurde,
berührte ihn peinlich.

Das kleine Mädchen verstand von all den schallenden Worten so gut wie
nichts. Das feierliche Gepränge an der Stätte, wo sie zu Füßen der
Mutter mit Polli, Musch und Poppedeidei gespielt hatte, bedrückte und
verwirrte ihren kindlichen Geist. Im roten Sonntagskleidchen stand
sie an des Bruders Seite und sah aus der dunkelblauen Wollkapuze,
die ihr feines Gesichtchen umrahmte, mit den großen, unschuldigen,
lichtbraunen Augen verwundert zu den schwarzen Menschen auf, die so
todernste Mienen zeigten oder sich im Gesicht herumwischten. Eine
Zeitlang lenkte ein schmaler Lichtstreif, der hell und warm auf dem
Kinde lag, manchen still verwunderten Blick nach ihm hin. Denn solche
Lieblichkeit und Frische erblüht nur selten unter dem hart arbeitenden
Geschlecht des schwarzbraunen Moorlandes.

Als der Wagen in den zerfahrenen und gefrorenen Gleisen des Dammes
knarrte, saß Leidchen eng und warm verpackt zwischen zwei Frauen,
und ihre Blicke wanderten über den Sarg vor ihren Knien in die Welt
hinaus, die mit Hochmooren, Ackerbreiten, Wiesen und Reihendörfern im
schönsten Wintersonnenglanze sich vor ihr dehnte. Es war ihre erste
Fahrt, von der allerersten im Steckkissen, zur Taufe, abgesehen. Gerd
schritt indessen, die frierenden Hände in den Jackentaschen vergraben,
als einziger unmittelbar hinter dem Wagen; denn das Gefolge hatte sich
schnell in Gruppen aufgelöst, die nach und nach zurückblieben und den
anderthalbstündigen Weg durch Unterhaltung zu kürzen suchten.

Das ausgedehnte Kirchspiel Grünmoor hatte nur eine einzige sandige
Bodenerhebung, die es gestattet, den Toten aus den achtzehn Kolonien
trockene Ruhestätten zu geben. Hier ist darum auch um das schlichte,
den ersten Ansiedlern vom Landesherrn geschenkte Gotteshaus der
geräumige Friedhof angelegt worden. In seiner Anlage und Aufteilung
zeigt er ein ziemlich getreues Bild der Gemeinde im kleinen. Den
langen Reihendörfern entsprechen hier die Reihen der Erbbegräbnisse.
Die im Leben Nachbarn waren, werden es im Tode wieder. Die
Rosenbrocks, Rotermunds, Frerks, Wöltjens und Böschens wohnen auch
hier freundnachbarlich beieinander.

Die zunehmende Wohlhabenheit einzelner Moordörfer zeigt sich hier und
da in unschönen protzigen Denkmälern aus Zementguß. Die Kolonisten
der ärmeren Dörfer, zu denen auch Brunsode gehört, setzen wohl
einmal ein Kreuz aus Tannenholz, das in wenig Jahren zerfällt; im
übrigen begnügen sie sich mit dem grünen Schmuck, den die Natur ihren
Ruhestätten verliehen hat.

Das Rosenbrocksche Erbbegräbnis bezeichnet ein hochragender
dunkelgrüner Wacholder. Der erste Brunsoder Rosenbrock hatte den Baum,
der heute als einer der stattlichsten des Friedhofs in winterlichem
Prachtgeschmeide funkelte, vor mehr als hundert Jahren von den
Heiden seiner Geestheimat ins Moor herabgeholt, um ihn seiner jung
verstorbenen Frau zum Gedächtnis zu pflanzen. Zu seinen Füßen hatte
des Totengräbers Hacke, Axt und Spaten in mehrstündiger Arbeit das
hart und tief gefrorene Erdreich geöffnet.

Nachbar Wöltjen, der tappige Mensch, stach beim Schließen des Grabes
nicht wie die andern nach dem losen Sande, sondern ließ die gefrorenen
Erdklumpen auf den Sargdeckel poltern. Da schmiegte sich die Schwester
unwillkürlich enger an den Bruder, und der legte wie schützend den Arm
um sie.

So fand Geschmargret Rosenbrock ihre Ruhe, im Schatten des ehrwürdigen
Wacholderbaumes, dem Staube der andern gesellt, die vor ihr in
Brunsode auf Stelle Nr. 40 sich müde gearbeitet und schlafen gelegt
hatten. Die Kinder aber, denen sie das Leben geschenkt, sollten sich
nun allein ihren Weg suchen. Den Weg durch das bunte und schöne, wilde
und wirre, ernste und große Leben.




                                  2.


Vor der Brunsoder Schuljugend stand ein neuer Mann. Er war an der
Weserkante zu Hause, kam frisch vom Seminar in Bederkesa, und die
Kinder mußten ihn Herr Timmermann nennen.

Der junge Schulmann, noch in der ersten Begeisterung für seinen
Beruf glühend, strengte die Stimme mehr als nötig an, war darauf
bedacht, seine lang aufgeschossene Gestalt straff zu halten und gab
sich redliche Mühe, aus den sanft blauen Augen energische Blicke
zu schießen. Der rote Binsenarmstuhl, den sein wegen Kränklichkeit
pensionierter Vorgänger schwarz und blank gesessen hatte, war für ihn
nicht vorhanden, und dessen Schaubühne auf dem Fahrdamm hatte er noch
nicht einmal entdeckt.

Aber heute ließ Herr Otto Timmermann doch des öfteren den Blick
halbrechts über die Kinderköpfe zum Fenster hinausschweifen, jedoch
weniger neugierig als träumerisch froh. Denn dort draußen war etwas
sehr Hübsches zu sehen. Wo tagelang ein ödes, schweres Nebelgrau
gedrückt hatte, da war heute auf einmal ein weißes, weiches, molliges
Schweben. Der erste Schnee kam sachte zur Erde nieder, in so großen
Flocken, wie der junge Mann sich nicht erinnerte, sie je gesehen zu
haben, und so wunderbar weiß, daß die schönen glatten Birkenstämme
drüben auf einmal schmutziggrau dagegen erschienen.

Herr Timmermann rieb sich voll Behagen die Hände. Nach den
Jahren des kasernenartigen Seminarlebens zum erstenmal im
eigenen Heim einzuschneien, so recht tief einzuschneien, mit dem
Lieblingsschwesterchen, das ihm Haus hielt, und mit seinen Kindern,
an denen er die mit redlichem Fleiß erworbenen pädagogischen Künste
erproben sollte -- er war der Mann danach, um so etwas zu schätzen.

Es traf sich gut, daß er sein Völkchen gerade nicht in allerhand
Fernen und Höhen zu entführen brauchte. Der Stundenplan, der,
säuberlich geschrieben, unter Glas und Rahmen an der Wand hing,
schrieb nämlich Heimatkunde vor, und der junge Lehrer hatte am Abend
vorher die Moorkolonie Brunsode, nachdem er ihre Belegenheit auf
nachmittäglichen Spaziergängen erkundet, mit ihren Gehöften, Dämmen
und Gräben fein rechtwinkelig und geradlinig, wie der Königliche
Moorkommissarius Jürgen Christian Findorf sie vor vier Menschenaltern
angelegt hatte, auf die Wandtafel gezeichnet. Dabei hatte er
eigentlich nur an die jüngeren Jahrgänge gedacht, aber auch die Großen
zeigten für das Kunstwerk seines Kreidestifts solches Interesse,
daß er sie gern teilnehmen ließ und die Gelegenheit benutzte,
ihnen den Unterschied zwischen den uralten, aus sagenhaftem Dunkel
herüberkommenden Siedelungen der Geest und den jungen, künstlich und
planmäßig angelegten Moorkolonien klarzumachen. Während der vier
Wochen, die Herr Timmermann seines Schulamts waltete, waren seine
Kinder noch niemals so Auge und Ohr gewesen, wie eben jetzt, und
noch nie hatte ihm das Unterrichten solche Freude gemacht. Zuletzt
stimmte er gar eine Art Hymnus auf das Moor an, das ihm nach den
Lern- und Wanderjahren, wie es schien, schnell zur zweiten Heimat
werden wollte. »Das Moor, liebe Kinder,« rief er begeistert aus, »hat
noch eine schöne Zukunft. Wenn eure Urgroßväter, die als jüngere
Bauernsöhne oder arme Häuslinge es wagten, in das wilde Sumpfland
hinabzusteigen, einmal ihre Ruhekammern auf dem Kirchhof in Grünmoor
verlassen könnten und die Dorfreihe mit den schmucken Häusern und den
grünen Feldern dahinter entlang wanderten, was würden sie für Augen
machen! Und wenn ihr Jungen die Hände nicht in den Schoß legt, sondern
tüchtig weiter arbeitet, wird die Zeit kommen, wo das ganze einst so
schaurige und verrufene Teufelsmoor in einen weiten, grünen, blühenden
Gottesgarten umgewandelt ist. Ihr, Knaben und Mädchen, habt die schöne
Lebensaufgabe, eure Heimat diesem Ziele näher zu bringen.«

»Das ist uns mal nett gelungen,« belobigte Herr Timmermann sich selbst
und blickte, sich eine Pause gönnend, träumerisch in das Geschwebe
der Schneeflocken, die sich weiß und weich auf das so zukunftsreiche,
hoffnungsvolle Land legten.

»Nun wollen wir mal sehen, was ihr behalten habt,« begann
Herr Timmermann, wieder zu den Kindern gewendet, und fing an,
Wiederholungsfragen zu stellen. Aber da kam in die bislang so glatt
und angenehm verlaufene Unterrichtsstunde plötzlich eine Störung.

»Adelheid, komm und zeig mir auf der Wandtafel mal unsere Schule!«
hatte Herr Timmermann, seiner Zeichnung zugekehrt, gutgelaunt gerufen.

Aber es erschien keine Adelheid.

Sich herumwerfend, schoß er den schärfsten Pädagogenblick, den seine
Augen zu versenden hatten, nach der dritten Mädchenbank hinüber:
»Adelheid Rosenbrock! Schläfst du?«

Jetzt erhob sich, offenbar widerwillig, ein elfjähriges Mädchen und
kam, das Mäulchen schief ziehend und die neuen Holzschuhe aus rotem
Ellernholz über den Boden schleifend, langsam den Mittelgang daher.

»Zurück, marsch marsch, an deinen Platz! Ich will dir Beine machen.«

Trapp trapp -- trapp trapp, machte das Ellernholz auf den Tannendielen.

»Wisch mir die ganze Schule nicht weg, du dumme Deern!« rief Herr
Timmermann ärgerlich und fuhr sogleich mit der Kreide hinterdrein, um
den Schaden, den die tappigen Finger angerichtet hatten, wieder gut
zu machen. Dann sah er mit gestrenger Miene auf das vor ihm stehende
Mädchen herab und sagte: »Was, Adelheid? Du willst dich hier auf den
kleinen Trotzkopf hinaus spielen? Damit kommst du bei mir aber an den
Verkehrten. Jetzt sagst du mir auf der Stelle, warum du nicht gleich
kamst, als ich dich rief!«

»Weil ich überhaupt nicht Adelheid heiße!« stieß das Mädchen heraus.

Herr Timmermann hob die Hand mit dem Kreidestück ein wenig, um sie
sogleich seufzend wieder sinken zu lassen.

»Ach, Mädchen, noch immer die alte Geschichte? Hast du denn ganz
vergessen, wie ich dir das schon vor drei Wochen ausführlich erklärt
habe? Leidchen ist überhaupt kein Name, sondern nichts als eine
sinnlose Verstümmelung von Adelheid. ›Leidchen, Leid--chen‹, hör' doch
nur, wie das klingt! Dagegen ›A--del--heid‹ ... was für ein Klang
und Tonfall sitzt in diesem Wort! Und ist ein edler, altdeutscher
Name, den schon die Gemahlin Kaiser Ottos des Großen führte, in der
Geschichte bekannt als ›die schöne Adelheid‹.«

»Ich will aber doch Leidchen heißen,« erklärte das Mädchen verstockt
und hartnäckig.

Der junge Schulmann zuckte ratlos die Achseln und wandte sich zu dem
zweitobersten Jungen, der schon während seiner schönen Belehrung
aufgezeigt hatte und auch jetzt noch mit ruhig aufgehobenem Finger
sich zum Wort meldete.

»Was willst denn ~du~, Gerd?«

»Als unsere Eltern noch lebten,« begann der Gefragte, der in Haltung
und Auftreten etwas auffallend Bestimmtes hatte, »haben sie meine
Schwester immer Leidchen gerufen. Auch der alte Lehrer hat sie nie
anders genannt. Und gestern nach der Konfirmandenstunde hab' ich den
Herrn Pastor gebeten, mal im Kirchenbuch nachzusehen, da steht's auch
so in.«

Er blieb, eine Gegenäußerung erwartend, aufgerichtet stehen.

Bruder und Schwester, mit der gleich zu Beginn des Winterhalbjahrs
vorgenommenen Namensveredelung durchaus nicht einverstanden, waren
eins geworden, heute die Sache zum Austrag zu bringen, und schienen,
nach dem Ausdruck ihrer Gesichter zu urteilen, zum äußersten
entschlossen. Die ganze Schuljugend befand sich in gespanntester
Erwartung, wie dies Ding ablaufen würde.

Herr Timmermann trat von einem Fuß auf den andern, drehte die Kreide
zwischen den Fingern, zupfte an seiner Oberlippe, sah wie hilfesuchend
hinaus in den Schneeflockentanz. Endlich machte er hmhm, errötete ein
wenig und sagte mit gezwungenem Lächeln: »Na, Leidchen, denn lauf' hin
und bleib' meinetwegen, was du bist!«

Triumphierend klappten die Ellernholzschuhe bankwärts. Der wackere
Bundesgenosse bekam einen froh dankbaren Blick. Die Nachbarinnen
machten der siegreich Zurückkehrenden achtungsvoll Platz, und eine
flüsterte ihr ins Ohr: »Leidchen, du bist 'n ganzen Lork.«

Von diesem Augenblick an waren die Geschwister wie ausgewechselt.
Sie meldeten sich zu den Antworten mit einem Eifer, daß der Lehrer
sich zusammennehmen mußte, um sie auf Kosten der anderen nicht gar
zu häufig zu fragen. Hei, wie konnten die braunen Augen der Deern
blitzen! Und wenn bei einer Frage, die tieferes Nachdenken erforderte,
die anderen Gesichter starr wurden, fing es in den ruhigen Zügen ihres
Bruders an zu arbeiten, und wenn er dann in seiner sicheren Weise
aufzeigte, traf er fast stets den Nagel auf den Kopf.

Neben Gerd Rosenbrock saß, als Erster der Schule, Hermann Vogt,
der einzige Sohn des Müllers auf Nr. 1 unten im Dorf. Es war ein
großer, wohlgenährter Junge mit breitem, frischem Gesicht, das zu
dem scharfgeschnittenen, schmalen und farblosen seines hageren
Banknachbarn einen starken Gegensatz bildete. Er trug eine graugrüne
Joppe mit Hornknöpfen, und statt der landesüblichen Holzschuhe
Lederstiefel. Auch besaß er schon eine Taschenuhr.

Als er heimlich nach dieser sah, fuhr der Lehrer auf ihn zu: »Ich hab
dich jetzt oft genug gewarnt, die Uhr ist mir für drei Tage verfallen,
her damit!«

Nach einigem Sträuben trennte der Junge sich von seinem Stundenglas,
und ein Blick auf dieses sagte dem Lehrer zu seinem Schrecken, daß er
wieder einmal eine Stunde um zehn Minuten zu lang ausgedehnt hatte.
Er stellte noch schnell ein paar Schlußfragen, um darauf die Kinder
schnell zur Frühstückspause zu entlassen.

Die schöne, weiche Schneedecke des Schulhofs wurde von hundert
Holzschuhen zerwühlt, indem die Kinder, in Gruppen umherstehend
und von einem Fuß auf den andern tretend, hastig die Butterbrote
hinunterstopften, um möglichst schnell die Hände für den ersten
Schneeballkampf des Winters frei zu bekommen.

Da näherte Leidchen Rosenbrock sich heimlich ihrem Bruder, einen
dicken rotbackigen Apfel in der Hand.

»Schenk ~mir~ den Apfel, schöne Adelheid!« rief Hermann Vogt
lachend, indem er ihr breitbeinig den Weg vertrat.

Die Umstehenden lachten. Das Mädchen stieß, halb ärgerlich, halb
belustigt, mit dem Ellbogen die ausgestreckte Hand zurück. Gerd
aber blickte grimmig von unten auf und knurrte im Kauen: »Paß auf,
Windmüller, gleich auf dem Damm will ich dir die ›schöne Adelheid‹
einreiben.«

Der also Bedrohte erhob ein Gelächter, während Gerd den letzten Bissen
wegdrückte, den ihm geschenkten Apfel in die Tasche steckte und sich
bückte, um zwischen den Knien den ersten Ball zu kneten.

Eine Minute später standen die Kämpfer der beiden Dorfhälften sich auf
dem Birkendamm gegenüber, und die Geschosse sausten scharf durch das
ruhige Flockengeschwebe, klatschten gegen die Birkenstämme, verfingen
sich im hängenden Gezweige, fehlten oder trafen ihr Ziel. Unten
kommandierte Hermann Vogt in seiner lauten prahlerischen Weise, die
vom oberen Dorf führte Gerd Rosenbrock, der mit jedem Wurf auf jenen
zielte. Der aber wußte geschickt auszuweichen und quittierte für jeden
an ihm vorbeisausenden Ball mit höhnendem Zuruf.

»Laßt uns den großschnauzigen Müller mal waschen,« raunte Gerd,
des ergebnisarmen Fernkampfes müde, seinen Getreuen zu, die dazu
sogleich bereit waren. Man sammelte in der Stille Munition, vorwärts
marsch! ertönte das Kommando, und im Sturmlauf ging's mit wildem
Kriegsgeschrei auf den Feind. Eine Salve aus nächster Nähe brachte
diesen zum Weichen, nur der Führer hielt stand. Aber schon hatten
feste Fäuste ihn gepackt, die verzweifeltste Gegenwehr half nichts,
er mußte längelangs an den Boden, reichlicher Schnee wurde ihm
unsanft in Mund, Nase und Ohren gerieben, in Nacken, Ärmellöcher und
Hosenbeine gestopft, und derbe Püffe gab's ungezählt überher. Es
war keiner im oberen Dorf, der den Müller leiden mochte. Den ganzen
Übermut der unteren wohlhabenderen Dorfhälfte, die im Bauernmal ihre
Väter oft genug überstimmte, sahen sie in ihm verkörpert, und mit
wahrer Wollust besorgten sie es ihm bei dieser Gelegenheit einmal
gründlich.

Als Herr Timmermann Freund und Feind wieder friedfertig durcheinander
vor sich auf den Bänken hatte, wandte er sich, nicht ohne ein wenig
boshaft zu lächeln, an seinen Schulobersten, der prustend und
triefend, mit krebsrotem Gesicht und zerzaustem Haar auf seinem Platz
saß:

»Na, Hermann, sie haben dich wohl ordentlich gehabt? Ich glaube aber,
es bekommt dir mal ganz gut.«

Gerd, der sich gerade unter dem Pult mit dem Hochgefühl des Siegers
die Hände an den Hosen trocken rieb, warf einen dankbaren Blick nach
dem Lehrer und einen triumphierenden auf seinen Widersacher, mit dem
er nicht erst seit heute auf gespanntem Fuße lebte. Dieser hatte
unter dem alten Lenz, der es mehr mit den Reichen hielt, gute Tage
gesehen, aber der Neue benutzte zu Gerds Freude jede Gelegenheit, den
übermütigen Bengel zu ducken, und hatte sogar schon einmal gesagt:
»Eigentlich müßtet ihr beiden die Plätze tauschen; aber wir wollen es
das letzte halbe Jahr lieber beim alten lassen.«

Es war Mittag. Die Kinder bummelten heim, ein schneedurchpflügendes
Holzschuhpaar nach dem anderen schwenkte nach rechts über die
Hofbrücken ab. Zuletzt befanden sich nur die Geschwister noch auf
dem Damm. Leidchen, die mit einer Freundin hinterher getrödelt war,
holte laufend den Bruder ein, hing sich zärtlich an seinen Arm, und
so stapften die beiden durch unbetretenen Schnee ihrem Hause zu, das
unter der tief herabgezogenen weißen Kappe weg heute besonders lustig
und freundlich aus den blanken Fensteraugen in die Welt guckte. --

Die Familie Rosenbrock hatte sich in den vier Jahren mehr als ergänzt,
indem Jan bald nach dem Tode der Stiefmutter Trina Grotheer aus
Meinsdorf als Frau ins Haus geholt und sich bereits zwei Kinder von
ihr hatte schenken lassen. So sammelten sich denn jetzt ihrer sechs um
den Mittagstisch. Jan, der Stammhalter, langte mit seinem Zinnlöffel
schon wacker in die steife Bohnensuppe, während sein Schwesterchen
Minna noch in der Wiege lag und an der Milchflasche sog.

Beta Rotermund war mit Jans Wahl zufrieden. Gerd und ihr Patenkind
Leidchen wurden zwar bei der Arbeit tüchtig mit herangenommen, aber
so war's im Moor überall, und das ging auch nicht anders. Wer im Torf
jung geworden ist, muß sich so ungefähr vom achten Jahre an des Lebens
Nahrung und Notdurft selber verdienen. Jedenfalls wurden die Kinder
nicht unfreundlich behandelt, bekamen satt zu essen und behielten Zeit
für die Schularbeiten. Mehr konnte man billigerweise nicht verlangen.

Es war schulfreier Mittwoch-Nachmittag, und nach dem Essen erhielten
die beiden den Auftrag, mit dem Schiff einen Haufen Heidestreu vom
Hochmoor ans Haus zu schaffen, ehe er gar zu tief einschneite.

Das flache, braungeteerte Fahrzeug, das hauptsächlich zur Verschiffung
des wichtigsten Landesproduktes, des Backtorfs, nach der Freien
Reichs- und Hansestadt Bremen diente, lag dreißig Schritt vom Hause
in einem kleinen Hafen, den ein auf Eichenpfählen ruhendes Strohdach,
das Schiffsschauer, gegen Regen und Sonnenbrand schützte. Es hatte
vorn eine Art Verdeck, Koje genannt, die dem Schiffer zum Übernachten
dienen kann, und weiterhin eine feste, zur Aufnahme des Segelbaums
durchbohrte Bank. Meist lag jener jedoch, mit dem torffarbigen
Segeltuch umwickelt, samt dem Steuer unten im Schiff, und dieses wurde
mit dem langen, schwertförmigen, eisenbewehrten Schieberuder gestakt
oder vom Leinpfad aus geschoben.

Gerd lud Segel und Steuer, die von Jans letzter Bremerfahrt her noch
im Schiff lagen, aus und stieg mit der Schwester hinein. Während sie
unter einem ausgedienten Regenschirm, dem der Griff fehlte und zwei
Rippen durch den altersgrünen Bezug starrten, auf der Segelbank Platz
nahm, handhabte er mit Kraft und Sicherheit das Schieberuder, und das
Schiff glitt mit ziemlicher Schnelligkeit im Graben hinauf, der die
Grenze zwischen den Stellen 40 und 39 bildete und sich schnurgerade
zum Hochmoor hinzog.

Den schwarzen Wasserlauf zwischen den weißen Ufern, der die jetzt vor
dem Winde lustig tanzenden Schneeflocken unbarmherzig verschluckte,
begleiteten anfangs die beschneiten Felder der benachbarten
Stellen, um nach einer Weile tiefer liegenden, von schmalen Gräben
durchschnittenen Wiesen Platz zu machen. Diesen folgten, wieder zu
beiden Seiten, wüste abgetorfte Flächen, aus denen schwarze Lachen
gähnten und regelrecht gesetzte Torfhaufen, an der Schlagseite mit
Strohschirmen geschützt, ebenfalls schwarz gegen die weiße Umgebung
sich erhoben. Dahinter stand in anderthalb Mannshöhe die senkrecht
abgestochene Wand des Hochmoors, auf dem der Schnee in niedrigem
Birkenanflug, üppigem Heidekraut und sperrigem Gagelgesträuch hing.
Eine Gruppe älterer Föhren schloß endlich die hintere Schmalseite
des Rechtecks, das Jan Rosenbrocks Stelle bildete, gegen die nächste
Kolonie hin ab. Sonst prangten sie in sattem Dunkelgrün, aber heut'
erschienen sie tiefschwarz, wie denn der Schnee alles, was er nicht
weiß machen konnte, schwarz gefärbt hatte. Die winterliche Öde war
wie ausgestorben. Nur eine Elster schunkelte, hungrig schackernd, von
einer Föhre zu einer Birke. Auch sie, wie alles, weiß und schwarz.

Die Streuheide, die Jan Rosenbrock im Spätsommer mit der Lee gehauen
hatte, lagerte am Saum des Föhrengehölzes. Auf Forken trugen die
Kinder sie, oftmals hin und her gehend, an den zwanzig Schritt
entfernten Graben, um ihre Last die steile Moorwand hinab ins Schiff
zu werfen.

Als dieses beladen war, kletterten sie hinunter und hockten zu kurzem
Ausruhen unter Leidchens Regenschirm aneinandergeschmiegt auf der
Segelbank.

Gerd war durstig geworden und nahm sich vom Bordrand eine Prise Schnee.

»Hast du den Apfel, den ich dir geschenkt habe, schon aufgegessen?«
fragte Leidchen, indem sie in seine Tasche langte. »Nein, hier ist er
noch!« rief sie erfreut und brachte ihn zum Vorschein.

Gerd holte sein Dreigroschenmesser aus der Hosentasche, teilte die
Frucht und reichte der Schwester die größere Hälfte. Sie aßen auch das
Kerngehäuse mit, denn Äpfel gab's in diesem Jahr nicht viele, und es
war der letzte Prinzenapfel.

Als er verschwunden war, griff Leidchen in ihre Rocktasche, machte ein
verheißungsvolles Gesicht und sagte: »Ich hab' auch noch was Feines.«

Ein Weilchen ließ sie seine Neugierde zappeln, dann zog sie eine Tafel
Schokolade heraus.

-- »Feine Gewürzschokolade, mit Zusatz von feinstem Weizenmehl,« las
sie lüstern, ihren Schatz sich unter das Näschen haltend. Dann durfte
auch der Bruder dran riechen.

»Wo hast du das her?« fragte dieser mit strenger Miene.

»Wird nicht verraten,« antwortete sie, geheimnisvoll lächelnd.

»Von Tante Beta?«

»Nicht so neugierig, mein Junge! Da, nimm!«

»Erst will ich wissen, wo das herkommt.«

»Denn nicht,« sagte sie und führte das Stück, das sie ihm angeboten
hatte, zum eigenen Munde. Aber er griff schnell zu und packte ihre
Hand.

»Laß mich los!« rief sie und suchte sich frei zu machen.

Aber seine Hand hielt die ihre wie ein Schraubstock umklammert.

»Wenn du nicht auf der Stelle losläßt, beiß' ich,« schrie sie und
zeigte ihre Zähne.

Er lachte kurz und spöttisch auf. Aber im nächsten Augenblick sprang
er mit einem Schrei in die Höhe, das Schirmdach mit sich emporreißend.
Sie hatte die kleinen Beißer recht herzhaft in seinen Daumenballen
geschlagen.

»Du bist ja 'n ganzer Satan!« knirschte er und hob die Hand zur
vergeltenden Backpfeife. Da sie sich aber schnell unter den Schirm
duckte, stapfte er mit großen Schritten über die Ladung weg auf
die andere Seite des Bootes und setzte es mit dem Schieberuder in
Bewegung. Er hatte sein bitterbösestes Gesicht aufgesteckt und sah mit
Ausdauer an der Schwester vorbei.

Diese saß schmausend auf der Segelbank, lugte unter ihrem graugrünen
Dach hervor und liebäugelte nach dem Bruder hinüber. Sie hätte jetzt
gern wieder Frieden gemacht.

Das Schiff glitt seine Bahn dahin. Das Planschen des Moorwassers gegen
den Bug und die engen Ufer war mit dem Reiben des Stangenruders an der
Bordwand das einzige Geräusch in der Stille der winterlichen Welt.

Als Leidchen einsah, daß sie mit Äugeln die Aufmerksamkeit seines
in die Schneelandschaft starrenden Leichenbittergesichts nicht auf
sich lenkte, kletterte sie ebenfalls über die Streuheide und suchte,
indem ihre Augen ein verführerisches Lächeln spielen ließen, ihm ein
Stück Schokolade zwischen die Lippen zu schieben. Aber er hielt diese
fest geschlossen. Da kitzelte sie ihm mit den Fingern der linken Hand
unter dem Kinn. Und plötzlich schnappte er zu. Doch sie hatte, dies
erwartend, die Hand blitzschnell zurückgezuckt und nur die Schokolade
blieb zwischen seinen Zähnen.

Lustig sprang sie über die Heide zu ihrer Bank zurück, streifte die
Schneeflocken aus dem Haar und lugte triumphierend unter dem wieder
aufgenommenen Schirm hervor.

»Na, wie schmeckt's?«

»Oh ... nicht schlecht ... Deern, du bist 'ne kleine Hexe!«

Dabei lächelte er und sah nicht mehr an ihren schalkhaften Augen
vorbei.

»Gut, daß du wieder artig bist. Nun sollst du auch wissen, wo die
Schokolade herkommt. Müllers Hermann hat mir die Tafel geschenkt.«

»Müllers Hermann?« wiederholte Gerd gedehnt.

»Ja, ja, dein Freund Hermann.«

»Mein ~Freund~?«

»Ja, meinetwegen auch dein Feind.«

»Leidchen, das wundert mich, daß der dir Schokolade schenkt. Und noch
mehr, daß du sie annimmst.«

»Hahaha, kneifst du die Hände zu, wenn dir einer was schenken will?«

»Ja, das wär' möglich. Von jedeinem ließ' ich mir nichts schenken ...
Aber sag', wie kommt der dazu?«

»Gestern abend mußte ich doch Sirup holen, weißt du, für unsern
Buchweizenpfannkuchen. In Bollmanns Laden traf ich Hermann, und er
hatte sich gerade drei Tafeln Schokolade gekauft. Draußen gab er mir
dann eine ab und sagte, ich sollte es nicht weiter sagen. Und ich
sag's sonst auch zu keinem.«

»Leidchen, ich wollte, du hättest das Geschenk nicht angenommen. Ich
hätte dir dafür gern zwei Tafeln gekauft.«

»Haha, das kannst du jetzt leicht sagen. Du hast mir überhaupt noch
keine Schokolade geschenkt.«

»Schokolade wohl noch nicht, aber hab' ich dir nicht neulich erst
von der Konfirmandenstunde 'ne dicke Apfelsine mitgebracht? ... Drei
Groschen auf einmal für solche Schnökerei ... Wo er das viele Geld
wohl her hat?«

»Der? Och Junge, das wissen doch alle Leute, daß seine Eltern gräsig
reich sind. Meta Kück hat mir erzählt, als sie Hochzeit gemacht
hätten, hätte der große Tewesbauer von Drömstedt ihnen die harten
Taler man so scheffelweise zugemessen. Und Anna Meyerdierks sagt, es
gäbe nicht viele im Dorf, die dem Müller kein Geld schuldig wären, und
wenn der Gerichtsvollzieher käme, hätte er ihn beinah immer kommen
lassen.«

»Die Leute schnacken allerhand dummes Zeug,« sagte Gerd trocken,
indem er mit der rechten Hand an den Fingern der linken zog und ein
bedenkliches Gesicht dazu machte.

Ihre braunen Augen blitzten.

»Willst du damit sagen, er hätte sich das Geld genommen?«

Als er die Achseln zuckte, rief sie empört: »Du, das finde ich gar
nicht schön von dir, daß du anderen Leuten so was Schlechtes zutraust!«

»Müllers Hermann traue ich nicht von da bis da,« sagte er, indem er
mit der Hand von einem Ufer des schmalen Grabens zum andern zeigte.

»Ich glaube, du bist bloß neidisch, weil er über dir sitzt,« meinte
sie lauernd.

Er schüttelte langsam den Kopf: »Das ist mir einerlei. Es ist ja auch
nur, weil er dem Müller sein Sohn ist. Was der alte Lenz für einer
war, das wissen wir doch wohl ... Leidchen, glaub' mir, ich habe
die ganzen Schuljahre bei ihm gesessen und kenn' ihn: der Junge ist
nicht echt. Ja, den Leuten die Augen zu verblenden, das versteht er.
In der Konfirmandenstunde sitzt er so andächtig da und macht so'n
scheinheiliges Gesicht, daß der Pastor ihn gewiß für den frömmsten von
uns allen hält. Na, der sollte bloß wissen, was er unterwegs manchmal
für Reden führt! ... Wir andern müssen alle tüchtig mit an die Arbeit.
Aber der? Die ganzen Nachmittage läuft er mit der Vogelflinte herum
und schießt nach den kleinen Lerchen, wenn sie zum Himmel aufsteigen
wollen, und auch sonst nach allem Lebendigen, was ihm in die Quere
kommt. Sein Vater kümmert sich um nichts, und die Mutter ist in ihr
einziges Kind rein vernarrt. Darum ist er auch so bodenlos frech ...
Ich freue mich, daß er's heut' morgen mal ordentlich gekriegt hat.«

»Ihr habt es reichlich schlimm gemacht. So viele auf einen, das ist
auch nicht gerade nett.«

»Warum haben die anderen ihm nicht geholfen! Er soll dich nur noch
einmal ›schöne Adelheid‹ schimpfen, dann lernt er mich erst kennen. So
was einem Mädchen anzuhängen! ...«

Sie lachte hell auf.

»Wenn einer mir nichts Schlimmeres anhängt, als das, bin ich zufrieden
... Kuck mal!«

Aus dem Stanniol der Schokolade hatte sie sich einen breiten
Fingerreif gefaltet und gebogen und hielt nun die Hand mit dem
silberglänzenden Schmuck in die Höhe.

»Was ist an solchem Narrenkram zu kucken ...« sagte er verdrossen,
den Gegenstand ihres Entzückens kaum eines halben Blickes würdigend,
während sie, das Köpfchen schief haltend, noch eine Weile mit ihm
liebäugelte.

Es wehte plötzlich ein kälterer Lufthauch über das Land, der die
spärlichen Schneeflocken, die noch fielen, vor sich hertrieb. Das
Mädchen schauerte leicht zusammen, stand entschlossen auf und sprang
von der Koje auf das Ufer hinüber. »Wo willst du hin?« fragte Gerd
verwundert. »Es wird kalt, ich lauf',« sagte sie kurz und lenkte durch
einen kleinen Obstkamp dem Hause zu.

Gerd sah mit nachdenklichen Augen hinter ihr her. Sie schritt wie
eine, die ihren eigenen Weg gehen will und nicht sonderlich geneigt
ist, sich gängeln und leiten zu lassen.




                                  3.


Zum viertenmal schickte Herr Timmermann einen Jahrgang Brunsoder
Jugend zur Einsegnung nach Grünmoor, und zwar einen guten, den er
ungern aus den Händen ließ. Freilich, mit dem starken Geschlecht
war kein Staat zu machen. Dessen einziger Vertreter, Jan Kassen
vom Achterdamm, hatte in seinem welken Gesicht ein Paar starre,
blöde Augen und war auch als Konfirmand nicht über die dritte Bank
hinausgeklettert. Aber die Mädchen! Glatt und schier waren sie alle
fünf, die am Gründonnerstagmorgen unbedeckten Hauptes, funkelneue
Gesangbücher und gefaltete weiße Taschentücher in den Händen, die
ungewohnten langen Festkleider hoch aufgerafft, an der schimmernden
Birkenreihe des Kirchdamms entlang auf Grünmoor zuschritten. Und eine
von ihnen war so rank und schlank gewachsen, schaute aus schmalem,
rosig durchscheinenden Gesichtchen so frank und frei, hell und warm
in die Welt, daß ein alter Heide- und Moorläufer mit jungen Augen und
Beinen, den der Tag zur ersten Vorfrühlingswanderung verlockt hatte,
abends in Bremen seiner Frau erzählte: »Du, heut' morgen bin ich unter
den Moorbirken dem leibhaftigen Frühling begegnet.«

Die Kinder hätten sich für ihre Einsegnung keinen schöneren Tag
aussuchen können. Ein herbfrischer Märzwind strich ihnen über die
jungen Gesichter, spielte mit den losen Härchen, die den ordnenden
Kämmen und Bändern entschlüpft waren, entführte die heut' nicht
gesparten Haaröldüfte und jagte grüne Wellen über die junge Saat der
Ackerbreiten. Die Luft war voll Sonnenglanz und von Lerchenjubel wie
gesättigt. Über dem Dunkellila des Birkengezweiges lagen schon die
zarten Schleier von grüner Seide, im ernsten Braun des Hochmoors
loderten lichtbraune Inseln blühenden Gagels, die bewaldeten
Höhenrücken der Geest standen in der Ferne tiefblau und scharfumrissen
gegen die sanfte Bläue des wolkenlosen Himmels. Die Welt schien so
groß und weit, und den Kindern war ein wenig eng und ängstlich ums
Herz, aber auch wieder feiertäglich ernst und freiheitsfroh, standen
sie nun doch vor der Tür, die sie aus der Schulstube in das Leben
hinausführen wollte. Mochte dieses auch keinem von ihnen Großes und
Außerordentliches zu versprechen haben, an solchem Tage macht es nun
einmal jedem ein verheißungs- und geheimnisvolles Gesicht.

Eine halbe Stunde, nachdem Leidchen Rosenbrock das Haus verlassen
hatte, machte sich auch ihr Bruder auf den Weg. Er trug die Weste
hoch am Halse geschlossen und auf dem Kopf eine Tuchmütze mit blankem
Schirm. Seine dunkelgrauen Augen blickten stetig und verweilend, harte
Arbeit hatte die Züge seines langen, schmalen Gesichts, zumal um den
strengen Mund herum, scharf herausgemeißelt. Mit weit ausgreifenden
wiegenden Schritten folgte er anfangs einem wenig begangenen federnden
Moorpfad. An Gesellschaft und Unterhaltung lag ihm heute nichts. Er
war keiner von denen, die der Einsamkeit aus dem Wege gehen, und
wollte die Schwester zum Abendmahlstisch geleiten.

Wer hätte das sonst tun sollen? Der Vormund wohnte in einem anderen
Dorfe und kümmerte sich um nichts. Bruder Jan ging nicht ohne seine
Frau, und die lag mit ihrem vierten Kinde im Bett. Beta Rotermund,
die gute Nachbarin und Leidchens Patentante, hatte mit ihrer
Frühjahrserkältung zu tun. »Sie hat keinen als dich,« hatte einst die
Mutter gesagt, als sie sterben wollte, und so war's wirklich gekommen.

Es machte sich ganz von selbst, daß er eine kleine Rechnung darüber
aufstellte, was er schon alles für seine Schwester getan hatte.

Einen angenehmeren und besser bezahlten Dienst, der ihm angeboten war,
hatte er ausgeschlagen, um als Knecht des Bruders ihr nahe zu bleiben,
ein Auge auf sie zu haben und sie anzuleiten. Wie manche Arbeit hatte
er ihr abgenommen, damit sie ungestört die Schularbeiten machen konnte!

Ob sie am Palmsonntag bei der Konfirmandenprüfung so gut bestanden
und besonders gelobt worden wäre, wenn er an den Abenden des letzten
Winters ihr nicht immer die Lektionen abgehört hätte?

Warum hatte er sich mehr und mehr von der Wildbahn zurückgezogen, so
daß er den Erwachsenen mit seinen achtzehn Jahren als der solideste
und vernünftigste Bursch des Dorfes, dem Jungvolk dagegen als
Duckmäuser und Drögepeter galt? Der Schwester wegen! Um sie, die
sehr lebenslustig war und mit ihrer Ausgelassenheit ihn manchmal
fast bange machte, vermahnen zu dürfen und in Schranken halten zu
können, hatte er sich selbst je länger desto mehr in acht genommen und
zurückgehalten.

Dafür hatte er nun aber auch so viel im Sparkassenbuch, wie wohl
keiner seiner Altersgenossen. Im Grunde war das Solide doch wohl das
Beste, wenn einer sich nur erst daran gewöhnt hatte.

Gerd nickte ein paarmal wohlgefällig, er war recht mit sich zufrieden.
Und der liebe Gott, bei dem er heute zu Gast gehen wollte, war es
gewiß auch.

Der einsame Moorpfad mündete endlich auf den belebteren Damm, der die
Kirchgänger der nördlichen Kolonien des Kirchspiels sammelte.

Eine Strecke war Gerd auf diesem dahingeschritten, als plötzlich eine
Klingel hinter ihm schrillte. Er trat in die Birkenreihe, um den
Radfahrer, der sich auf solche Weise bemerklich machte, vorbei zu
lassen. Aber dieser sprang neben ihm ab und sagte munter: »'n Morgen,
Gerd.«

»Ach so, du bist das, Hermann ...«

Gerd hatte den alten Schulkameraden, der seit Jahren auf einer
Windmühle vor den Toren Bremens arbeitete und selten nach Hause
kam, lange nicht mehr gesehen. Er wunderte sich, wie der Mensch
sich herausgemacht hatte. Ein Paar übermütige Augen lachten ihm aus
dem frischen, gebräunten Gesicht, das sogar schon der Anflug eines
Schnurrbärtchens schmückte, und dem der kecke grüne Hut mit dem Spiel
eines Birkhahns vortrefflich stand.

Der junge Müller schritt, das Rad schiebend, an Gerds Seite.

»Wie die Zeit hinläuft! Wir beiden sind nun schon vier Jahr aus
der Schule und müssen nächstens zur Musterung. Und euer lüttjes
Kinkindiewelt wird auch schon konfirmiert.«

»Ja,« sagte Gerd kurz und trocken.

»Die Leute sagen, sie wär' eine bannig schmucke Deern geworden. Kann's
mir wohl denken, daß aus dem gralläugigen Leidchen mit den Jahren 'ne
›schöne Adelheid‹ geworden ist. Weißt du noch?«

»Hast du dein leeges Maul noch immer nicht abgelegt?«

»Mensch, was machst du für ein Gesicht? ... Ach so, du willst heute
fromm sein. Na, denn will ich nicht länger stören. Grüß Leidchen von
mir, und ich gratulierte ihr vielmals. Adjüs.«

Er sprang lachend auf sein Rad, riß den Hut ein wenig in den Nacken
und fuhr in gemächlichem Bummeltempo, die linke Hand in die Seite
gestemmt, davon.

Über das winzige Kirchdörfchen -- nur aus Pfarre, Schule, einigen
Gastwirtschaften und Kaufläden, sowie einem knappen Dutzend
kleiner Anbauerstellen bestehend, ist es eins der kleinsten des
Landes, während das Kirchspiel eins der größten ist -- schaute die
frischvergoldete Turmuhr her und zeigte an, daß bis zum Beginn des
Gottesdienstes noch eine gute halbe Stunde blieb, weshalb Gerd seinen
Schritt verlangsamte. Aber plötzlich schlug er ein sehr schlankes
Tempo an, das ihn nach wenigen Minuten ins Dorf brachte.

An den Gruppen von Konfirmanden, die auf der Straße vorm Pfarrhause
sich bereits gesammelt hatten, hinschreitend, suchte er seine
Schwester heraus und winkte sie zu sich. Sie kam nur zögernd und, wie
es schien, widerwillig. Als er ihr aber einige Worte zuflüsterte,
nickte sie zustimmend, trat an seine Seite, und sie gingen schweigend
die Dorfstraße hinunter. Durch ein eisernes Tor bogen sie nach
rechts auf die Lindenallee des Friedhofs ab, umschritten die
Kirche und folgten einem Nebenweg, der sie zu einem hochragenden
Wacholder führte. Vor dem halb eingesunkenen, von dichter Grasnarbe
überzogenen Hügel zu seinen Füßen blieben sie stehen. Gerd zog
seine Schirmmütze und hielt sie vor die Brust. Leidchen hatte die
in schwarzen Wollhandschuhen steckenden Hände über dem Gesangbuch
gefaltet. So standen sie wohl eine Minute. Dann setzte er räuspernd
die Mütze wieder auf, sie fuhr sich mit einem Zipfel des weißen
Einsegnungstaschentuches über beide Augen, und schweigend gingen sie
den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Die Holzschuhe der Läuter polterten auf den Treppen des Turmes, und
kaum war der zehnte Schlag der Uhr verhallt, da setzte die kleine
Glocke, etwas vorlaut, auch schon ein, und bald ließ auch die große
ihre tiefen, vollen Klänge vernehmen.

Aber die Menge, die den breiten Lindenweg vom Friedhofstor bis zur
Kirche besetzt hielt, hörte weniger auf das Geläute, das aus der Höhe
kam, als auf das Singen, dessen Klang der Frühjahrswind vom Pfarrhause
herüberwehte, und das sich langsam näherte.

Nicht weit von Gerd Rosenbrock stand die eheverlassene Trina Kassen
vom Achterdamm, die mit Heidquesten durch die Dörfer ging. Als ihr Jan
mit dem unförmlichen Kopf und dem welken Gesicht, die Augen starr im
Gesangbuch, in der letzten Knabenreihe vorüberstolperte, schossen ihr
die Tränen in die Augen, die sie dann mit dem verrunzelten Handrücken
in ihren grüngrau verschossenen Rock wischte.

Gerd hatte die Frau stets ehrlich verachtet. Denn ihren kleinen
Hausierhandel benutzte sie als Deckmantel für eine recht unverschämte
Bettelei, durch die sie dem Dorf in der Umgegend Schande machte. Aber
wie er jetzt die Freudentränen aus ihren blöden Augen stürzen sah, da
wallte es warm in ihm auf. Und als er bald darauf seine Schwester so
ernst und lieblich in dem feierlichen Zuge vorüberwallen sah, als er
ihre klare, schöne Stimme aus dem Gesang heraushörte, da lief es ihm
schnell hintereinander kalt und heiß über den Rücken, und er mußte
ein paarmal mit den Augenlidern zwinkern, um etwas zwischen ihnen zu
verdrücken.

                   *       *       *       *       *

Wenn die Brunsoder zweimal den weiten Kirchweg gemacht haben, gehört
es für sie mit zur rechten Sonntagsruhe, daß sie sich nach dem
Mittagessen ein Stündchen lang legen.

»Du willst dich jetzt wohl ein bißchen ausruhen?« fragte Gerd seine
Schwester, als sie vom Tisch aufstanden.

Sie schüttelte den Kopf: »Ach was, ich bin nicht ein Spierchen müde.«

»Dann schlage ich vor, wir machen ein paar Schritte zusammen über
Feld. Wir beide haben heut' noch keine fünf Minuten miteinander
gesprochen.«

Leidchen war gern dazu bereit.

Festlich umstrahlte Gerd das saubere Weiß der Hemdsärmel, während
von unten das Rot funkelneuer Ellernholzschuhe heraufleuchtete. Die
zur Feier des Tages mit besserem Tabak gefüllte Sonntagspfeife, auf
deren Kopf eine lachende Sennerin himmelblaue Augen, kirschrote Wangen
und schneeweiße Zähne zeigte, ließ er nicht, wie sonst wohl, faul im
Munde hängen, sondern so oft er ein paar Züge getan hatte, nahm er sie
heraus, um sie am Daumen in das Armloch seiner Weste zu hängen.

Leidchen hatte sich im Sonnenwinkel hinter der Scheune ein
Veilchensträußchen gepflückt und erfreute sich bald an dem süßen Duft,
bald an der lieblichen Farbe. Das lange Einsegnungskleid, in dem das
Gehen ihr noch unbequem war, trug sie hoch aufgerafft, so daß die
blanken Schnürstiefelchen und ein gut Teil des rotgesäumten weißen
Flanellunterrocks frei wurden.

So schlenderten sie feiertäglich gemächlich den Weg dahin, der die
Rosenbrocksche Stelle der Länge nach durchschneidet.

»Die Saat steht über Jahr gut. Eine Krähe kann sich schon drin
verstecken,« sagte Gerd mit einem Kennerblick über die Roggenbreiten
und mit dem Behagen des Landmanns, der seiner Mühe schönen Lohn winken
sieht. Leidchen nickte und ließ den warmen Glanz ihrer braunen Augen
still und träumerisch auf dem leuchtenden jungen Grün ruhen. Viel
zu reden spürte sie keine Lust. Die Eindrücke des Vormittags wirkten
leise nach, und eine leichte Abspannung und Mittagsmüdigkeit machte
sich doch auch geltend.

Vom Ackerland senkte der Weg sich zu den abgetorften Gründen, die zu
einem Teile in Wiesen verwandelt waren, zum größeren aber schwarz und
öde in gelbem vorjährigem Riedgras und spärlichem Birkenanflug lagen.

Gerd war stehen geblieben, tat ein paar nachdenkliche Züge aus seiner
Pfeife, beschrieb mit ihr in der Luft ein Quadrat und sagte:

»Ein schönes Loch, was unsere Vorweser da schon ins Moor hineingewühlt
haben ... Als der erste Rosenbrock -- er hieß auch Gerd, hat
Großvater, den du nicht mehr gekannt hast, mir erzählt -- von der
Geest hierher kam und da, wo jetzt unser Haus steht, seine Erdhütte
hinsetzte, fing er mit einer Ziege und einem halben Dutzend Hühnern
an. Wir sind gut vorwärts gekommen. Manche hundert Taler haben wir
hier aus dem Moor herausgequält.«

»Wie manchen Tropfen Schweiß das wohl gekostet hat ...« sagte Leidchen
nachdenklich.

»Tropfen? Ich sage dir, Deern, viele hundert Eimer voll.«

»Na, na!«

»In hundertundzwanzig Jahren? Ganz gewiß!«

Schweigend standen sie und schauten auf die Arbeitsstätte ihres
Geschlechts.

»Weißt du noch,« fragte nach einer Weile das Mädchen leise, »wo Vater
und Mutter ihren Torf gemacht haben?«

Er maß die schwarze Fläche mit den Augen ab. Dann zeigte er mit dem
Mundstück seiner Pfeife schräglinks hinüber:

»Das muß daherum gewesen sein, wo der alte Kienstubben liegt. Ich
mußte bei dir bleiben und dir was vormachen. Du warst ein schrecklich
unruhiges Kröt. Einmal bist du mir direktemang in einen Graben
gelaufen, und ich hatte Not, daß ich dich wieder herausfischte. Puh,
wie du da aussahst! ... Wenn du dich gar nicht mehr zugeben wolltest,
kam Mutter, setzte sich auf die Schiebkarre oder auf einen Torfhaufen
und gab dir die Brust. Du nahmst sie noch, als du bald drei Jahr alt
warst. Deern, Deern, was konntest du lutschen! Man wurde beinah selbst
durstig vom Zusehen. Darum bist du auch so groß und stark geworden.
Ich muß mich ganz gerade machen, sonst kuckst du schon über mich weg.«

Er richtete seine Gestalt, die gewöhnlich ein klein wenig dem Torf zu
geneigt war, stramm auf und betrachtete die Schwester an seiner Seite
mit Wohlgefallen und nicht ohne Stolz. Indem es wie ein Schatten über
sein herausgearbeitetes Gesicht flog, fuhr er leise fort: »Wenn Mutter
diesen Tag noch mit erlebt hätte ... wenn sie uns hier so sehen könnte
...«

Leidchen schaute still und ernst in die sonnigen Weiten des
Frühlingsnachmittags.

»Wie hat Mutter eigentlich ausgesehen?« fragte sie nach einer Weile.
»Ich kann mich gar nicht recht mehr besinnen.«

»Das glaub' ich dir gern,« versetzte er. »Als sie von uns ging, warst
du noch zu klein und dumm ... Die braunen Augen hast du von ihr ...
die runden Kuhlen in den Backen auch ... Aber sie war besinnlicher als
du und nicht so flüchtig. So in der ganzen Natur hab' ich wohl mehr
von ihr abgekriegt ...«

Sie hatten den abgetorften Grund inzwischen durchschritten und kamen
an die senkrecht abgestochene, oben hellbraune und nach unten zu
allmählich in Schwarz übergehende Wand des Hochmoors. Ein aus dieser
vorspringendes Rechteck war bereits von der Heidedecke befreit und für
den Abbau vorbereitet.

»Hier wollen ~wir~ nach dem Fest wohl Torf machen?« fragte
Leidchen.

»Stimmt,« sagte Gerd, an seiner fast erloschenen Pfeife jetzt wieder
kräftig saugend, »und du mußt tüchtig mit 'ran. Trina hat sich das
mal wieder höllschen schlau eingerichtet, daß sie grad jetzt im Bett
sitzen geht, wo's an den Torf soll. Du sollst sehn, du mußt für zwei
pedden.«

Sie zertrat lächelnd einen im Wege liegenden aufgeweichten Torfsoden.

»Wenn das Torfpedden mit so lüttjen Füßen man ordentlich schafft ...«
meinte er bedenklich.

Sie streckte den linken Fuß vor, und indem sie ihn zierlich kokett um
den Enkel drehte, fragte sie: »Nicht wahr? Ich hab' niedliche Füße.«

»Wie 'n Kind von zehn Jahren,« meinte er trocken, ohne die geringste
Bewunderung.

»Kleine Füße sind aber was Feines.«

Er zuckte mit den Achseln: »In Bremen auf der Sögestraße wohl. Aber
hier ins Moor gehören feste, breite Hüften und ein Paar reelle Füße.
Diesen weichen Weg zum Hochmoor hinauf kannst du mit solchen Dingern,
die in solchen Stiefeln stecken, zum Beispiel überhaupt nicht gehn. Du
bleibst einfach im Matsch stecken.«

»Dann mußt du mich hinauftragen, in deinen breiten Hollschen. Nach
unseren Fuhren möcht' ich zu gern mal wieder. Ich bin den ganzen
Winter nicht hingekommen. Bitte, pack' zu!«

»Die Zeiten haben wir gehabt,« meinte er lächelnd.

Aber sie drängte sich ihm lachend in die Arme, und endlich tat er
ihr zögernd den Willen. Tief sanken die schönen roten Holzschuhe in
den braunen Brei des steil hinaufführenden Weges und rissen sich nur
schwer unter hohlem Glucksen wieder los.

Als er seine Last oben auf festen Grund stellte, atmete er tief auf:
»Deern, ich hätte nicht gedacht, daß du so klotzig schwer wärst.«

»Hundertundsieben Pfund Lebendgewicht,« lachte sie, wobei die Grübchen
ihrer Wangen sich vertieften und zwischen den frischroten Lippen die
weiße Perlreihe ihrer Zähne blitzte. »Du meintest wohl, ich wär' noch
immer ein Kind?«

»Aus Kindern werden Leute,« sagte er gelassen und sah sie an. Die
knospenden jungfräulichen Formen, die er gefühlt hatte, als sie eben
in seinen Armen lag, verrieten sich auch schon dem Auge.

Erfreut beugte Leidchen sich zur Erde und pflückte zu dem
Veilchenstrauß in ihrer Hand einige Stengel der eben aufblühenden
Rosmarienheide, deren zartes Rosa den Rand des Hochmoors schmückte.
Ihrem Bruder steckte sie ein Sträußchen in ein Knopfloch der Weste.

Der Weg führte jetzt durch wucherndes Heidekraut, blühenden Gagel,
mit silbernen Kätzchen übersäte Zwergweiden und grünumsponnenen
Birkenanflug auf eine waldartige Gruppe von Kiefern zu. Die Bäume
waren für ihre Art niedrig geblieben, weil der zähe Moostorf keine
Pfahlwurzeln aufnahm, hatten aber in langsamem Wachstum starke Stämme,
schön geformtes rotes Astwerk und breite, reichbenadelte, dunkelgrüne
Kronen gebildet. Ein erfrischender Harzduft erfüllte in ihrem Bereich
die warm durchsonnte Luft, in der schon allerhand kleines Getier fast
sommerlich durcheinander schwirrte.

Die Geschwister schlenderten, vom Wege abbiegend, in das Gehölz hinein
und kamen bald zu einem Baum, der vor Jahren vom Sturm geworfen war,
aber bei einem getreuen Nachbarn Halt und Stütze gefunden hatte.
Da der Moostorf ein gut Teil seiner Wurzeln festhielt, war er grün
geblieben, weshalb Axt und Säge ihn einstweilen verschont hatten.
Manches liebe Mal war Leidchen den breiten schrägen Stamm, die Zweige
als Leitstangen benutzend, hinangestiegen und hatte von einer Art
grüner Kanzel aus, die beide Bäume in einiger Höhe bildeten, in die
weite, offene Landschaft hinausgeschaut.

Sie setzte den Fuß auf den Stamm, wiegte den Oberkörper nach vorn und
sah den Bruder schelmisch an: »Soll ich?«

»Du bist kein Kind mehr,« sagte er trocken.

»Aber auch lange noch keine alte Großmutter,« lachte sie klingend.
»Es ist so klare Luft; ich glaube, heut' kann man oben die Türme von
Bremen sehen.«

Sie schwankte noch, ob sie hinaufsteigen sollte oder nicht, und hätte
sich wohl dagegen entschieden, wenn Gerd ihr nicht mit vernünftigen
Gründen, unter Erinnerung an den Ernst des Tages und ihr schönes
schwarzes Kleid, vom Aufstieg abgeraten hätte. Das aber gab der Sache
den Reiz des Verbotenen, und sie kletterte, mit der einen Hand sich an
den Zweigen haltend, mit der anderen ihr Kleid in acht nehmend, den
Stamm hinan.

Als sie glücklich auf ihrem Luginsland angekommen war, lachte sie mit
übermütigen Augen auf den unten Stehenden herab: »Steig mir doch nach,
Junge! Hier oben ist Platz für zwei.«

Er stieß verdrießlich mit der Spitze seines Holzschuhs gegen den Stamm
und brummte irgend etwas.

Leidchen richtete sich auf, um über einen Zweig, der sich in Augenhöhe
vorüberzog, hinweg den freien Ausblick zu gewinnen.

Plötzlich rief sie jauchzend: »Oh, oh! Die Türme von Bremen! So groß
und klar hab' ich sie von hier noch nie gesehen.«

Gerd schaute zu der schlanken, von grüngoldigem Licht umflossenen
Mädchengestalt auf, die sich schützend die Hand über die Augen hielt
und die Blicke wie sehnsüchtig in die Ferne sandte.

»Flieg mir bloß nicht weg, du da oben!«

»Oh, das möchte ich wohl!«

Sie hob die Arme, als ob es Flügel wären.

»Ein Glück, daß du keine richtigen Flünke hast,« spottete er.

»Schade, schade! Wenn ich ein Vöglein wär! ... Aber in die Welt
hinausfliegen kann einer auch ohne Flügel.«

»Nun schnack man bloß kein dummes Zeug und komm wieder 'runter!«

Noch einmal durchmaßen ihre Augen die lichte, lockende Ferne. Dann
begann sie mit großer Vorsicht den Abstieg.

Gerd freute sich ihrer Schwierigkeiten und priesterte, er hätte ja
gleich gesagt, sie sollte unten bleiben, aber sie hätte natürlich mal
wieder nicht hören wollen.

Bis über die Mitte des Stammes war die Sache gut gegangen. Aber da
glitt sie plötzlich aus und kam ins Fallen. Gerd, mit schneller
Geistesgegenwart hinzuspringend, fing sie in seinen Armen auf, wurde
aber von der Wucht des Falles mit zu Boden gerissen.

Keiner hatte sich Schaden getan, und als sie das festgestellt hatten,
lachte Leidchen auch schon wieder, bis Gerd mit strengem Gesicht auf
ihr Kleid hinzeigte: »Kuck mal da!«

Erschrocken hielt die die Ränder eines ansehnlichen rechteckigen
Risses gegeneinander.

»Ja, so hat's gesessen,« spottete er, »du großes Mädchen solltest dich
tüchtig was schämen.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während er noch eine Weile fort
moralisierte. Aber bald, als er sah, wie ihr das Unglück zu Herzen
ging, fing er an zu trösten. Sie hätte im Handarbeitsunterricht bei
Fräulein Timmermann das Flicken und Stopfen ja gründlich gelernt und
letzten Winter ihm den Riß in seiner Sonntagshose so fein zugemacht,
daß man ihn überhaupt nicht wiederfinden könnte.

Aber ihre gute Laune war dahin. Den Blumenstrauß, den sie vor der
verunglückten Kletterei zur Seite gelegt hatte, nahm sie nicht wieder
auf, obgleich Gerd sie daran erinnerte. Die Hand an dem Riß, trat sie
mit ärgerlichem Aufstampfen der kleinen Füße den Rückweg an.

Eine Strecke waren sie stumm nebeneinander geschritten, da sagte sie
verdrossen: »Das ist viel zu wenig, was ihr mir als Lohn geben wollt.«

Gerd fand fünfundzwanzig Taler für das erste Jahr ganz anständig.
Später müßte Jan natürlich auflegen und würde es gewiß auch tun.

»Später? Es soll nicht lange dauern, so geh' ich in die Stadt.«

»Wie kommst du mit einemmal auf solche Grappen?« fragte er verwundert.

»Von den Mädchen, die heute mit mir konfirmiert sind, gehen sechs
schon zum ersten Mai hin.«

»So--o?«

»Gerkens Minna aus Moorwede fängt mit vierzig Talern an und braucht
dafür bloß ein bißchen wischen und fegen. Und Meyerdierks Line aus
unserem Dorf hat im dritten Jahr schon fünfundsechzig.«

»Und 'n lüttjen Vogel dazu, sagen die Jungens.«

»Pah, was fragt die nach euch Jungens!«

»Na, ich denk', freien will sie am Ende doch auch mal.«

»Das kann sie in der Stadt grad so gut haben als hier. Ja, noch viel
besser! Rugens Beta hat 'n Schaffner an der Elektrischen gekriegt, und
Lachmunds Minna ihr Mann ist sogar Angestellter an der Eisenbahn.«

»Dann ist er auch recht was. Mir ist ein Stellbesitzer, der seine
sechzig Morgen eigenen Grund und Boden unter den Füßen hat, zehnmal
so lieb wie einer, der den ganzen Tag auf der Elektrischen mit den
Groschen klötern oder auf dem Bahnhof die Eisenbahnräder schmieren
muß. Überhaupt, Deern, du kannst von der Stadt noch gar nicht
mitschnacken, hast ja von ihr noch nichts gesehen als die Türme, von
dem alten schiefen Fuhrenbaum aus. Ich bin wohl hundertmal in Bremen
gewesen, und jedesmal, wenn ich meinen Torf verkauft habe und mein
Schiff wieder aus dem Torfhafen hinausstaken kann, bin ich von Herzen
froh. Das Stadtleben ist für unsereinen nichts.«

»Du könntest mich im Herbst wohl mal mitnehmen, zum Freimarkt.«

»Hm, das will ich mir überlegen ... Ja, wenn du schön artig und
folgsam bist, und den Sommer über ordentlich fleißig, darfst du
mal mit,« sagte er etwas gönnerhaft. »Du sollst sehen, wie schnell
unsereinem die engen Straßen und die vielen Menschen über werden.«

»Das wollen wir erst mal abwarten,« meinte sie.

Zu Hause angelangt, fanden die Geschwister die Stube voller
Nachbarsleute, die zum Gratulieren gekommen waren. Die Frauen
benutzten zugleich die Gelegenheit, der Wöchnerin ihren pflichtmäßigen
Besuch abzustatten. Die üblichen Wochengeschenke an Butter, Gebäck
und Zucker hatten sie mitgebracht.

Leidchen setzte sich still und sittsam, wie es einer neukonfirmierten
jungen Christin ziemt, auf einen Stuhl und gab sich Mühe, das Loch
in ihrem Ehrenkleide zu verbergen. Aber Meta Frerks hatte zu gralle
Augen, die entdeckten es bald, und es erhob sich ein großes Hallo.
Zuletzt sorgte Beta Rotermund für eine Ablenkung, indem sie ihres
Patenkindes Gedenkblatt herumreichte. Dieses zeigte in Schwarzdruck
das Bild des guten Hirten und in roten Buchstaben den Spruch Phil.
4, 8: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was
lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem
denket nach.

Die Frauen fanden Bild und Spruch sehr schön, meinten, Leidchen sollte
man recht danach tun, und Tischler Kortjohann in Worpswede würde das
Gedenkblatt gut und billig einrahmen.

Als die Nachbarn fort waren, kleideten Bruder und Schwester sich
schnell um, die Kühe zu melken. Ritterlich kroch Gerd unter die
schwierigsten Tiere, und in dem warmen, dämmerigen Dunst des Stalles
zischte die Milch unter gleichmäßigem Stripp-Strull in die Eimer.




                                  4.


Grau und bleich dämmert der Morgen auf Rosenbrocks Herddiele, wo die
junge Magd, verschlafen und herzhaft gähnend, im roten Schein des
flackernden Feuers steht und einen in mächtiger schmiedeiserner Pfanne
pretzelnden daumdicken Buchweizenpfannkuchen bewacht. Auf der fast
noch in nächtlichem Dunkel liegenden Viehdiele, von der Kettengeklirr
und der dumpfe Schall an die Stallbäume stoßender Hörner kommt,
wirft jemand, auf Holzschuhen hin und her gehend, den Kühen vor. Das
Hühnervolk ist auch schon wach. Zwei Hähne krähen in grobem Baß und
frechem Diskant gegeneinander an.

Den langen Winter über hat diese Frühstunde Haus und Dorf in tiefstem
Schlaf gefunden. Aber gestern war der zweite Ostertag, und heute soll
die Torfernte beginnen. Da hat Feiern und Ruhen und langes Schlafen
erst mal ein Ende.

Als die Sonne über die fernen Geesthöhen heraufkommt, sind Rosenbrocks
schon hinten im Moor.

Leidchen, vom weißen Schleierhut umweht, in kurzärmeliger roter
Flanelljacke und kurzem dunkelblauen Beiderwandrock, ist dabei, mit
der Forke, deren Zinken im jungen Licht blitzen, eine abgetorfte
Fläche nachzuebnen und als Platte für den schwarzbraunen Riesenkuchen,
der hier gebacken werden soll, vollends herzurichten. Und schon kommt
auf eisenbeschlagenen Holzschienen das erste Wägelchen, hoch bepackt
mit dem klumpigen zähen Teig, den Jan drüben an der Hochmoorwand
losgestochen hat, hurtig angerollt, Gerd hemdärmelig im Laufschritt
hinter ihm her.

So hat jeder seine Arbeit und wird sie auf Wochen hinaus behalten.
Jan, der Bauer, gräbt, Gerd, der Knecht, fährt und ladet die
Torfmasse auf und ab, Leidchen, die Magd, breitet sie, die Stücke
auseinanderschlagend, -zerrend, -tretend, in der Sonne aus.

Nach drei Stunden wird im Schutz der Hochmoorwand, über die der
frische Frühlingswind hinstreicht, gefrühstückt: Brot, Butter, Sülze
nebst Kaffee aus der umwickelten Blechflasche. Jans Zähne mahlen
langsam und gründlich, und als sie ihre Arbeit getan haben, starren
seine Augen ein paar Minuten regungslos ins Leere. Gerd und Leidchen
sind inzwischen den Rand des Hochmoors hinaufgeklettert und halten,
die Hände beschattend über der Stirn, Ausschau. Drüben, jenseits des
Grenzgrabens, sind Rotermunds an der Arbeit, alle Mann hoch; nur Frau
Beta hütet das Haus. Hinter ihnen Wöltjens, dann Frerks, weiterhin
Böschens, und so weiter, wie sie in der Dorfreihe hintereinander
wohnen. Den schwarzen Grund zwischen grünem Ackerland und braunem
Heidemoor füllt ein buntes Gewimmel fleißig sich regender Menschen.
Überall blinken Spaten in der Sonne, glänzen Hemdsärmel, schimmern
bloße Mädchenarme, flattern Schleierhüte. In einer jungen Birke sitzt
eine Krähe und krächzt: »Torf, Torf, Torf!« Die alte Gevatterin weiß
Bescheid. »Torf, Torf, Torf« ist für ganz Brunsode bis gegen Pfingsten
Losung und Feldgeschrei.

Schon wankt Jan wieder der Torfkuhle zu, und sein Jungvolk begibt sich
ebenfalls an seine Posten.

Die Sonne ist dran, ihre Mittagshöhe zu erklimmen. Da sendet Leidchen,
je länger desto häufiger, verstohlene Blicke über die grünen Saaten
heimwärts, und zwar nach einer Stange, die hoch und kahl zwischen
Scheune und Griesbirnenbaum aufragt. Wenn die aus einem abgängigen
Mannshemd geschnittene weiße Flagge an ihr hochgeht, hat Trina, die
gestern wieder aufgestanden ist, das Mittagbrot fertig.

Endlich erscheint das erwünschte Zeichen. »Mittag!« ruft Leidchen mit
heller, klingender Stimme den Brüdern zu.

Jan stößt den Spaten in die Torfkuhle, Gerd läßt den Wagen auf den
Gleisen stehen, beide ziehen die Jacken über. Mit munteren Schritten
eilt Leidchen vorauf. Aber die Männer haben einmal ihren festen Tritt,
aus dem so leicht nichts sie herausbringt.

Auch Knecht und Magd gebührt in der Zeit der Torfernte nach Mittag
eine Stunde Bettruhe. Kaum hat Leidchen den Kopf in ihr Kissen
gewuschelt, da ist sie auch schon weg; so hat die Frühjahrsluft die
jungen Glieder müde gemacht. Aber auf die Minute pünktlich packt Frau
Trina sie am Arm, schnell gibt's eine Tasse Kaffee, und wieder geht's
ins Moor hinaus. Und wieder gluckst und ächzt unter dem Spaten der
in tausendjähriger Ruhe gestörte feuchte Moosboden, wieder klappert
der Wagen über die Schienen, und weiter dehnt sich die an der Sonne
hingebreitete schwarzbraune Masse.

Nach dem Vesperbrot machen sechs breite Holzschuhe sich über sie her,
trampelnd und tretend, peddend und knetend, kreuz und quer, von rechts
nach links und von links nach rechts, bis endlich schmale Schabeisen
den gut durchgearbeiteten Teig vollends eben und glatt machen.

Und endlich, endlich -- das Abendrot ist stark am Verglühen,
Rotermunds haben schon vor einer Viertelstunde Feierabend gemacht --
schleppen drei zum Umfallen müde Menschen ihre bleischweren Glieder
heimwärts. Den Augen, die den Tag über nichts gesehen haben als den
triefenden braunen Brei, tut der grüne Glanz der Felder wohl, und die
jüngeren senden über ihn hinweg auch wohl einmal einen Blick in die
Ferne, in die letzten roten Gluten des Tages, der Abschied genommen
hat.

Gagel, Weide und Rosmarienheide blühen und verblühen. Die weißen
Schleier des Wollgrases wehen über den schwarzen Gründen und werden
von den Winden zerzaust. Das Birkengrün bricht mit Macht hervor,
leuchtet im schönsten Jugendschimmer über dem Braun des Hochmoors und
nimmt allmählich seinen matteren Sommerglanz an. Die Kiefern stecken
ihre Kerzen auf, und die Moorheide hängt die ersten Glöckchen aus.
Und noch immer sind die Menschen vom dämmernden Morgen bis in die
sinkende Nacht -- ach! und die Tage werden immer länger -- dabei,
den schwarzbraunen Kuchen auszudehnen, den halbgaren mit armlangen,
haarscharfen Messern zu zerschneiden, die Stücke auf- und umzusetzen,
damit die große Torfbäckerin, die Sonne, mit ihren Gesellen, den
Winden, von allen Seiten herankommen und sie durch und durch hart
und trocken backen kann. Regenschauer und Sonnenbrand, Stürme und
Gewitter lassen sie geduldig über sich ergehen, werden heiß und kalt,
naß und wieder trocken, nur auf das eine bedacht, den Schatz, den die
gütige Natur Jahrtausende hindurch in faulenden Sumpfmoosen angelegt
und aufgespeichert hat, zu heben und in das liebe tägliche Brot zu
verwandeln.

Wenn jemand zur Winterszeit hinter dem warmen Ofen vom
Frischgeschlachteten ein bescheidenes Fettschichtchen angesetzt hat
-- du liebe Güte! wo ist das geblieben? Die gebräunten Gesichter,
in deren Furchen sich der Torfstaub eingenistet hat, erscheinen
wie gemeißelt. Die Augen sind stumpfer und leerer geworden. Hier
und da fühlt einer, der schon etwas in die Jahre gekommen ist, ein
verdächtiges Reißen in den Gliedern und denkt mit heimlicher Furcht
daran, ob die Zukunft ihn nicht auch wie den kaum fünfzig Jahre alten
Jan Ebbers Nr. 14 gichtisch verkrümmt und arbeitsunfähig im Liegestuhl
finden wird. Das Moor ist nicht so freundlich entgegenkommend wie die
rindernährende Marsch oder auch nur wie die angrenzende Geest. Billig
gibt es seinen Kindern das tägliche Brot nicht her.

Es ist ein stiller, warmer Sommerabend Anfang Juni. Der Mond, der
voll und schön am wolkenlosen Himmel steht, läßt die Wiesennebel und,
von ihnen umhüllt, zwei schlanke, weiße Mädchenleiber blausilbern
aufleuchten, die in einem Graben spaddelnd und planschend, unter
Lachen und Scherzen, den Staub und Schweiß der Torfbackezeit gründlich
abspülen. Dem Wasser entstiegen, springen sie in der Wiese umher wie
ein paar junge Füllen. Wie vom Dorf her eine Handharmonika erklingt,
umfangen sich die beiden zu einem Tänzchen. Leicht und graziös
hüpfen die Füßchen, die so lange in den schweren Brettholzschuhen
gesteckt und Torf geknetet haben, über den glänzenden Plan. Von Kopf
bis zu Fuß frisch und sauber gekleidet, das gebündelte Arbeitszeug
in der Hand, schlendern die jungen Dinger dann endlich plaudernd,
Arm in Arm, der Dorfreihe zu. Auf der Eichenbohle über Rosenbrocks
und Rotermunds Grenzgraben bleiben sie, an die Leitstange gelehnt,
stehen, der benachbarten Gehöfte junge Mägde, schauen in den Glanz des
Nachtgestirnes und seines Spiegelbildes in dem ruhenden Gewässer und
lauschen der Nachtigall, die wie alljährlich um diese Zeit drüben im
Birkengebüsch um Wöltjens Backofen ihre süßen Lieder singt.

                   *       *       *       *       *

Es wird Zeit, das schwarze Erntefeld mit dem grünen zu vertauschen.
Denn die liebe Sonne backt nicht nur Torf; gleichzeitig hat sie auf
den Wiesen süße, saftige Gräser und Kräuter in reichlicher Fülle
hervorgelockt.

Was die Brunsoder an Grünland dem Moor abgewonnen haben, gibt
einstweilen nicht viel mehr her, als bei der sommerlichen
Grünfütterung draufgeht. Der Heuvorrat für den Winter muß an der
Hamme geerntet werden. Dieser westliche Grenzfluß des Moorgebiets,
der die Schiffgräben der Dörfer aufnimmt und, durch Kanäle mit Bremen
verbunden, die wichtigste Verkehrsader der Gegend darstellt, fließt
durch ein breites Wiesental, das den Winterbedarf der Moordörfer
weithin deckt. Jan Rosenbrock hat dort, drei Wegstunden von seinem
Gehöft entfernt, fünf Tagwerk Wiesen gepachtet.

Als nach einer Regen- und Gewitterwoche das Wetterglas endlich wieder
anfing zu steigen, machten Gerd und Leidchen sich eines Morgens vor
Tau und Tag auf den Weg, um mit der Heuernte zu beginnen. Jan wollte
am nächsten Tage nachkommen.

Auf dem schmalen Leinpfad gehend, schob Gerd hemdärmelig mit dem
eingestemmten Stangenruder sein Schiff den Graben hinab vor sich her.
Geräuschlos glitt es durch den Schatten der Hofbrücken, mit Gebrause
schoß es über die beweglichen Stauklappen, die man alle paar hundert
Meter angebracht hat, um den Graben schiffbar zu erhalten und das Land
nicht gar zu stark zu entwässern. Leidchen schritt in Schleierhut
und hellblauem langen Sommerkleid munter vor dem Bruder her und sah
nach links zu den Gehöften hinüber, die teils noch schliefen, teils
eben für den neuen Arbeitstag erwachten. Hier und da rüstete man
gleichfalls zur Fahrt ins Heu.

Das letzte Gehöft in der Reihe war das des Müllers. In einem leidlich
gepflegten Garten mit altem Baumbestand lag das stattliche, massive
Wohnhaus. Ein größeres Rosenbeet stand gerade in voller Blüte. Die
aufgehende Sonne, die eben ihre ersten Strahlen durch das sommerliche
Grünen und Blühen sandte, ließ eine große Glaskugel farbig aufleuchten.

»Ein feiner Platz,« sagte Leidchen bewundernd.

»Wenn einer sich 'ne reiche Bauerndeern von der Geest freit,« meinte
Gerd brummend, »ist es keine Kunst, seinen Kram in Schick zu haben.
Aber die Leute sagen, das Geld wär' bald wieder alle. Na, bis dahin
ist Hermann ja wohl so weit und kann wieder so 'ne fette Geestkuh
einschlachten, oder eine noch fettere Marschkuh.«

»Pst!« machte Leidchen.

Im Garten, der bis hart an den Schiffgraben reichte, war ein Räuspern,
Husten und Spucken laut geworden, und gleich darauf tauchte ein
untersetzter Mann aus dem Gebüsch, dessen rotes Gesicht mit einiger
Sicherheit auf eine Vorliebe für starke Getränke schließen ließ. Er
schlarrte in großblumigen Filzpantoffeln über die mit weißgestrichenem
Geländer versehene Hofbrücke der Mühle zu, die jenseits des Dammes
ihre mächtigen Flügel im Morgenwind drehte.

Der Müller bemerkte die beiden Heufahrer wohl, schenkte ihnen aber
so wenig Beachtung, daß diese es nicht für nötig hielten, ihm die
Tageszeit zu bieten.

»Das ist ja 'ne ganz schlimme Gegend,« sagte Leidchen beinah ängstlich.

Kaum war er in der Mühle verschwunden, so unterbrach die Morgenstille
ein polterndes Schelten. Was der Müllergesell zu seiner Verteidigung
vorbrachte, machte die Aufregung seines revidierenden Herrn nur noch
schlimmer. Indes Gerd und Leidchen nach dem Wortwechsel hinhorchten,
kam von der Gartenseite her eine starke Tigerdogge an den Graben
gesprungen, die heiser bellend und die Zähne fletschend das Schiff
eine Strecke begleitete.

Gerd lachte kurz und trocken auf: »Ja, der Müller und sein Packan, die
sind einer des andern wert.«

»Stolz, glaub' ich, ist der Mann auch. Er hat uns knapp angekuckt.«

Gerd machte ein Gesicht wie einer, der Welt und Menschen kennt, und
sagte: »Die Geldsäcke sind alle so.«

Eine gute Stunde später traten die Geschwister in das Schiff, das
jetzt aus dem schmalen Graben in den Hammefluß hinausglitt. Während
Leidchen sich vorn auf dem Verdeck der Koje niederließ, legte Gerd,
nachdem er den Mast gerichtet und das braune Segel freigemacht hatte,
sich hinten an das eingehängte Steuerruder, froh, daß der Wind ihm
verstattete, seine Kraft für die Arbeit des Tages zu sparen.

Leidchen hatte bislang während der Heuernte zu Hause Kinder
hüten müssen. Zum erstenmal sah sie den glitzernden, flimmernden
Wasserspiegel, das weite grüne Wiesental, die wogenden Schilfwälder
des Ufers, die Flug- und Kampfspiele des Sumpfgevögels und blickte
mit frohen, hellen Augen um sich. Die Fragen, deren sie eine über die
andere stellte, beantwortete der Bruder, sein Pfeifchen rauchend, mit
der gelassenen Ruhe des in der Welt sich auskennenden Mannes und mit
seinem Element vertrauten Schiffers. Das Gefühl der Überlegenheit,
das dem lebhaften und geistig regen Mädchen gegenüber zu behaupten
ihm nicht immer leicht wurde, konnte er hier einmal nach Herzenslust
auskosten, und das versetzte ihn in die allerbeste Laune, so daß er
die Rede auch auf die größere Fahrt brachte, die er ihr für den Herbst
versprochen hatte. Auf dem Bremer Freimarkt, ja, da würde sie erst
Augen machen! Und sie stützte die Arme auf die Knie und das Kinn in
die Hände und lauschte wie ein Kind, dem das schönste Märchen erzählt
wird, wie er von Puppenspielern, Zirkusreitern, Meerjungfrauen,
Riesenweibern, dressierten Flöhen und anderen Weltwundern berichtete,
die er ihr dort zeigen würde.

»Nun wollen wir erst mal frühstücken,« sagte er dann, indem er die
totgesogene Pfeife weglegte. Leidchen ließ sich neben ihm nieder,
hielt den straff gepackten Lederholster, den sie der Koje entnommen
hatte, auf dem Schoß und packte aus. Inzwischen hatte Gerd das
Steuerruder herumgerissen, und das Schiff lief, während sie wacker
schmausten, einen breiteren Wiesengraben aufwärts. Als sie wieder
einpackten, waren sie am Ziele.

Und nun machten sie sich hurtig und munter an ihr Tagewerk. Auch
Leidchen griff zur Sense, die sie, an das Kuhfuttermähen von früh
an gewöhnt, nicht übel handhabte. Jedoch in dem Bestreben, mit dem
Bruder Schritt zu halten, ermüdete sie schnell und nahm bald die
ihrem Geschlecht und Alter mehr angemessene Harke zur Hand, um aber
zwischendurch immer wieder ein paarmal auf und ab zu mähen. Nach dem
wochenlangen Wühlen in feuchten, schwarzen Torfgründen machte ihr die
Arbeit auf der sonnbeglänzten grünen Blumenwiese mit dem heute so
gutgelaunten Bruder und ohne den meist einsilbig mürrischen Halbbruder
und Dienstherrn Freude und Spaß.

Der Morgenwind ging bald zur Ruhe, und immer heißer brannte die
Sonne auf den grünen Plan. Mehr als einmal wurde die im Uferschilf
geborgene Blechkanne herausgezogen und der trockene Gaumen durch einen
Schluck kalten Kaffees angefeuchtet. Als die Sonne ihre Mittagshöhe
erreichte, stellten sie, da Bäume nicht in der Nähe waren, das braune
Segel schräg gegen ihre Glutstrahlen, um im Schatten ihr Mittagbrot
verzehren und eine Stunde ruhen zu können.

Am Abend, nachdem sie das welkende Gras in Haufen gemacht hatten,
schlenderten sie wohlig müde der sinkenden Sonne nach einem Gehöft
zu, das eine tüchtige Viertelstunde entfernt unter hohen Bäumen auf
einer Wurt lag. Es gehörte dem Grasbauern Harm Tietjen, von dem die
Rosenbrocks seit Jahrzehnten das Wiesenland in Pacht hatten, und bei
dem sie während der Heuzeit auf dem Boden oder in der Scheune zu
nächtigen pflegten.

Frau Tietjen, die noch auf den altmodischen und aussterbenden Namen
Tibcke hörte, empfing die Ankömmlinge freundlicher, als Gerd von ihr
gewohnt war. Von der vornehmen Zurückhaltung, die sie als reiche
Wiesenbäuerin so kleinen Leuten aus dem Moor gegenüber sonst sich
schuldig zu sein glaubte, war diesmal nicht viel zu bemerken. Man
wurde in die Wohnstube genötigt und bewirtet, und auf Frau Tibckes
breitem, glänzendem Gesicht malte sich immer mehr ein mütterliches
Wohlgefallen an dem schönen Kinde, das höflich bescheiden und
unbefangen frisch alle Fragen der großen Frau beantwortete. Als
Bettgehenszeit wurde, hatte Leidchen deren Herz bereits so umstrickt,
daß sie eingeladen wurde, für die Nacht im Anderthalbschläfer
ihrer Tochter mit unterzukriechen, wozu diese, nachdem sie die ihr
zudiktierte Bettgenossin von Kopf bis zu Fuß gemustert hatte, zögernd
und ein wenig säuerlich ihre Einwilligung gab.

Das Dutzend Jahre, das Fräulein Hermine Tietjen vor dem Kind des
Moores voraus hatte, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Einen
oberen Vorderzahn hatte es genommen, die ersten Krähenfüßchen um
die Augen ihr gebracht. Eine Schönheit war sie mit dem zu breiten
Mund, den zu kleinen Augen und den zahllosen Sommersprossen wohl nie
gewesen. Aber dem Spiegel an der Wand, wenn er einmal Anwandlungen
von Ehrlichkeit hatte, glaubte sie nicht, weil er ein Buckelchen und
ein Bläschen hatte. Um nun dem lebendigen Spiegel jungmädchenhafter
Lieblichkeit und Frische, den sie bei sich in der Kammer hatte,
nicht glauben zu müssen, suchte sie an ihm mit Luchsaugen nach einem
Buckelchen oder Bläschen. Aber die jugendlich schlanke Gestalt, die
sich vor ihr entkleidete, war leider von herrlichstem Ebenmaß; an
Reinheit und Zartheit der rosig durchschimmernden Haut ließ sich mit
dem besten Willen nichts tadeln; den Augen, Mund, Nase und Haar, den
Ohren, ja sogar den Füßen, mußte auch der Neid lassen, sie konnten gar
nicht wohlgebildeter sein, als sie waren. Und schon wollte sie das
vergebliche Suchen aufgeben, als plötzlich ihre kleinen grünlichen
Augen in der Freude des Findens schillerten.

»Ih! Was hast du denn da?« rief sie, mit spitzem Finger und ebenfalls
gespitzter Nase zufahrend.

Leidchen legte harmlos ein Muttermal über dem Ansatz ihrer linken
Brust frei, daß die andere es in Ruhe betrachten konnte. Die machte
ein Gesicht, als ob ihr eine Kröte in den Schuh gekrochen wäre.

»Igittegitt, wie sieht das aus?«

»Och, das kriegt ja kein Mensch zu sehen.«

»Willst du dir das nicht wegoperieren lassen?«

»Warum? Das hat Zeit genug, da zu sitzen.«

»Aber Deern, schämst du dich denn gar nicht?«

»Weshalb?«

»Daß du da so'n Ding hast!«

Jetzt wurde es Leidchen zu viel. Gutmütig spottend sagte sie: »Meinst
du, daß ich mit deinen Sommersprossen tausche?«

Hermine zuckte wie unter einem Nadelstich zusammen. Sie war schon
auf mehr als eine Anpreisung in der Zeitung, die sie von diesem
Schönheitsfehler zu befreien versprach, hineingefallen.

»Ach ja,« seufzte sie, »es ist ein Leiden, wenn man einen gar zu
feinen Teint hat.« Sie sprach das Wort, wie man's schreibt; denn sie
war ein Jahr in der Benehmigung gewesen und hielt es so für gebildeter.

Leidchen entgegnete darauf nichts, aber ihr harmloses Lachen klang
etwas ungläubig und verwundete die andere noch mehr.

Rachedürstend trat sie an ihre messingbeschlagene Eichenholzkommode
und zog die oberste Schublade auf, in der sie eine Anzahl Kästchen und
Schächtelchen öffnete.

»Darf ich mich hinlegen?« fragte Leidchen bescheiden, zum Einsteigen
bereit vor dem Bett stehend.

»Nein,« sagte Hermine, die gerade dabei war, ein Licht anzuzünden,
kurz und schroff, »ich will dir erst noch mal was zeigen. Komm
hierher!«

Ein bewunderndes Ah und Oh nach dem anderen sprang von den Lippen des
Moorkindes vor all den im Kerzenglanz funkelnden Broschen, Ringen,
Ketten und Armbändern.

Die große Bauerntochter nahm die einzelnen Stücke in die Hand, wandte
sie im Licht hin und her, daß sie blitzten, hielt sie dorthin, wo
sie ihren kargen Reizen zu Hilfe zu kommen pflegten, und nannte mit
boshaftem Behagen die stark nach oben abgerundeten Preise. Die kleine
Moordeern stand jetzt sprachlos mit gefalteten Händen neben ihr und
konnte sich nicht satt sehen. Noch nie waren ihr die Herrlichkeiten
der Welt so verlockend gezeigt worden.

Aber die andere war mit diesem Triumph noch nicht zufrieden. Sie
schloß einen zweitürigen Schrank in Nußbaumimitation und Muschelstil
auf und sagte: »Hier siehst du all meine Kleider. Dies weiße trag' ich
auf dem Ball, in diesem schwarzen geh' ich zum Abendmahl, die beiden
da sind für die gewöhnlichen Sonn- und Festtage. Und dies himmelblaue
hab' ich zur Hochzeit meiner Schwester gekriegt, es ist ganz von prima
Seide. Kuck doch bloß mal, wie's glänzt! Und wie es sich anfühlt! Du
darfst dreist mal anfassen.«

Leidchen machte von dieser gnädigen Erlaubnis Gebrauch. Scheu
liebkosend fuhr ihre Hand an dem schimmernden Stoff hinunter. »Ganz
von Seide ...« wiederholte sie, andächtig versunken.

»Ja, und kostet dreißig Taler.«

»Das ist nicht wahr!«

»So gewiß, als ich hier stehe! Soll ich dir die Quittung zeigen?«

»Dreis--sig Ta--ler ...«

»Wenn du dir so'n Kleid kaufen wolltest, müßtest du ein Jahr dafür
dienen, nicht wahr?«

»So eins möchte ich nicht geschenkt. So viel Geld für ein einziges
Kleid? Das ist, glaub' ich, Sünde.«

»Du liebe Unschuld du,« sagte Fräulein Hermine Tietjen mitleidig
lächelnd, indem sie ihren Kleiderschrank abschloß. »So, nun steig' man
hinein. Du kriegst den Platz an der Wand.«

»Was ist das?« fragte Leidchen ein wenig erschrocken, als es unter
ihrem Gewicht verdächtig krachte und knackte.

»Patentmatratze,« erklärte stolz die ihr nachsteigende
Betteigentümerin, »auf Stroh schlafen wir längst nicht mehr. Aber du
mußt dich nicht so breit machen, als ob du hier zu Hause wärest. Und
nun hör' zu, was ich sonst noch alles habe oder einmal kriege.«

Sie begann mit ihrem Schatz an Leinenzeug. Dann kam die Leibwäsche
an die Reihe. Zuletzt verriet sie, was sie an barem Gelde einmal
mitbekommen würde. Das war eine Summe, über deren Höhe ihrer gespannt
lauschenden Zuhörerin der Mund aufging und der Kopf schwindelte. Zwei
Brunsoder Moorstellen hätte man bequem dafür kaufen können.

»Willst du denn noch heiraten?« fragte Leidchen unschuldig.

»Noch? Noch? Was ist das für'n dummer Schnack! Als ob ich nicht schon
fünf Männer hätte haben können! Aber wir sind anders als ihr im Moor.
Ihr kommt zusammen und wißt manchmal selber nicht wie, und wiegt schon
Kinder, wenn ihr hinter den Ohren knapp trocken seid. Wir halten mehr
auf uns und sind nicht so'n Prachervolk wie -- na, ich hätte beinah'
was gesagt. Nun wollen wir schlafen. Gute Nacht, schlaf süß!«

Sie war schnell eingeschlafen, aber Leidchen, obgleich sie beim
Eintreten zum Umfallen müde gewesen war, lag, an ihre Wand gedrückt,
noch lange mit wachen Augen.

Zum erstenmal in ihrem jungen Leben war sie mit ihrem Lose unzufrieden.

In Schule und Konfirmandenunterricht, auf der Nachbarschaft und
im Dorfe hatte sie immer etwas gegolten, ja, man hatte sie sogar
etwas verwöhnt. Jetzt, wo sie zum erstenmal über die Grenzen ihres
Kirchspiels hinauskam, bemerkte sie mit Schmerzen, daß sie nichts war
als eine arme, kleine, dumme Deern aus dem Torf.

Sie dachte an den Inhalt ihrer Lade daheim. Das meiste davon stammte
aus mütterlichem Erbe, allerlei Kleinigkeiten hatten die Brüder,
Schwägerin und Patentante ihr im Lauf der Jahre geschenkt. Wie manches
liebe Mal hatte sie an diesen Habseligkeiten, die sie in peinlicher
Ordnung hielt, ihre Freude gehabt! Jetzt, nachdem sie einen Blick in
Hermine Tietjens Kommode und Kleiderschrank geworfen hatte, erschienen
sie ihr auf einmal so armselig und nichtig, daß sie überzeugt war,
sie würde sich niemals wieder an ihnen freuen können.

Es war in der Welt doch verkehrt eingerichtet. Die einen wühlten ihr
lebelang im Moor, die anderen in Gold und Seide, und kein Mensch
konnte sagen, womit sie diese Bevorzugung eigentlich verdient hatten.

Aber war denn gar keine Möglichkeit, daß auch sie einmal zu diesen
anderen gehörte? War nicht Nachbar Rotermunds jüngerer Bruder als
Junge mit nichts nach drüben gegangen, und als er vor Jahren seine
alte Heimat wieder besuchte, konnte er mit dem Geld nur so um sich
werfen, und gegen seine dicken Ketten und Ringe aus purem Gold war
Hermine Tietjens Goldgeschirr nichts als Klöterkram. Aber wenn ein
anschlägiger Junge es in Amerika auch zu was Rechtem bringen konnte,
was sollte ein armes Mädchen im Torf machen, mit einem Jahreslohn, der
für andere kaum zu einem einzigen Kleide reichte?

Das einzige wäre am Ende -- eine reiche Heirat.

Aber wenn nur die reichen Jungens nicht immer gerade die reichen
Deerns nähmen, nach dem Wort: Geld muß zu Geld kommen! Zum Beispiel,
solange die Mühle in Brunsode stand, war noch keine Tochter des Dorfs
als junge Frau auf ihr eingezogen. Hermann holte sich natürlich auch
wieder eine mit viel Geld von auswärts, und die armen Mädchen mußten
mit einem armen Knecht oder Häusling vorliebnehmen und quälten sich in
ein paar Jahren zuschanden.

Todmüde, wie sie war, und doch nicht imstande, einzuschlafen, fühlte
sie beinahe etwas wie Haß gegen die vom Glück so verzogene, sanft
schnarchende Bettgenossin, bis endlich der Schlaf sich ihrer erbarmte
und die junge Seele von allen bösen und bitteren Gedanken erlöste.

Als der Morgen graute, erwachte sie von einem leisen Klopfen gegen
die Fensterscheiben. Es war Gerd, der sie für den neuen Arbeitstag
weckte. Draußen riefen schon die Kiebitze, und die Hofenten machten
ein Heidengeschnatter. Indes sie vorsichtig über die reiche Erbin
hinwegstieg, riß sie auf einmal die Augen weit auf. Was? Saßen der
die Haare nicht fest am Kopf? Mit spitzen Fingern langte sie zu und
hielt den schönsten kastanienbraunen Zopf in der Hand. Sie war über
ihren Fund so glücklich, daß sie, ihn um sich schwingend, auf bloßen
Füßen und im Hemde ein Solotänzchen durch das dämmerige jungfräuliche
Schlafgemach ausführte. Endlich wollte sie das Ding vorsichtig wieder
an seinen Platz legen. Aber auf einmal sagte sie sich: Sie hat dich
so geärgert, ärgere sie mal ein bißchen wieder, und indem tausend
Teufelchen aus ihren Augen sprühten, brachte sie den Zopf hübsch
gefällig über dem Spiegel an. Dabei konnte sie es nicht vermeiden, in
diesen hineinzublicken, und ihr sagte er trotz Buckel und Bläschen
nichts Unangenehmes. Sie wandte sich nach der holden Schläferin um,
machte ihr eine allerliebste lange Nase zu und flüsterte: »Mit dir
tausch' ich nicht, und wenn du zehn Kommoden voll Gold und hundert
Schränke voll Seide hättest.« Dann flog sie hurtig in ihre Kleidung,
und nach wenigen Minuten schritt sie mit Gerd, der draußen auf sie
gewartet hatte, munter durch die tauglitzernden Wiesen der Sonne
entgegen, die auch heute wacker grünes Gras in duftendes Heu zu
verwandeln versprach.

Bald kam Jan auf seinem Rad angefahren. Auch Rotermunds begannen mit
der Heuernte, und Wellbrocks von Nr. 24. Alle krochen für die Nacht
bei Tietjens unter. Leidchen zog es vor, mit den Frauen und Mädchen
ihres Dorfes sich in einen Rest vorjährigen Heus zu packen. Die
Gastfreundschaft in Hermine Tietjens Anderthalbschläfer wurde ihr
übrigens auch nicht wieder angeboten.

Die sengende Gluthitze der nächsten Tage förderte die Arbeit im
Hammetal aufs beste, forderte aber auch ein Opfer. Nicht weit von
Rosenbrocks Wiesen brach Cord Mehrtens aus Hasenwede beim Mähen
lautlos zusammen. Man spannte das Torfsegel über ihn zum Schutz
gegen die Sonnenstrahlen. Nach drei Stunden kam endlich der Arzt,
der die Achseln zuckte und keine Hoffnung gab. Eine Stunde nach
Sonnenuntergang trugen die beiden Söhne den Entseelten in sein Schiff,
deckten ihn mit dem Segel zu und stakten durch die schöne warme
Sommernacht heim zu Muttern.

In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag arbeiteten die drei Rosenbrocks
sich mit der ersten Ladung Heu den Graben vor Brunsode aufwärts. Das
Schiff war so hoch bepackt, daß es, die Hofbrücken anstreifend, nur
mit knapper Not passieren konnte. Wenn es ein Klappstau hinaufging,
rief Jan, der mit dem Stangenruder schob, »Hei -- djup!« und Gerd und
Leidchen, die in quer über die Brust gehenden breiten Seilen liegend
das Schiff schleppten, legten sich mit doppelter Kraft ins Zeug,
um den Höhenunterschied und den Widerstand des entgegenströmenden
Stauwassers zu überwinden. Schwer fielen sie in die lang entbehrten
Betten und verschliefen die Nacht und, mit kurzen Unterbrechungen für
das Essen und die notwendigsten Arbeiten, den Sonntag und noch eine
Nacht. Die Frühsonne des Montags fand sie schon wieder auf dem Wege zu
den Hammewiesen.

Dem grünen Erntefeld drängte das goldig gelbe nach. Auf diesem zu
arbeiten war dann aber wirklich eine Lust. Es lag so bequem nahe
beim Hause, dehnte sich nicht gar zu weit aus, und die schlimmste
Hitze des Jahres war vorüber. Als Trina das erste Brot von jungem
Roggen herauszog, umstand die ganze Familie den Backofen. Man besah
und beroch's, probierte, bedächtig kauend, nickte befriedigt und war
fröhlich und guter Dinge.

Das Kartoffelauskriegen war auch mehr Spaß als Arbeit. Man half
einander nachbarlich, lag in langen Reihen auf den Feldern, und der
gemütliche Klöhnschnack riß den ganzen Tag kaum ab.

Zwischendurch mußten Gerd und Leidchen sich auch mal vor die Egge
spannen und sie über das weiche, gepflügte Moorland ziehen, das in der
herbstlichen Regenzeit für Pferde nicht recht gangbar war. Das war
wohl ein saurer Tag, aber der tiefe, gesunde Schlaf der Jugend machte
in einer Nacht alles wieder gut.

                   *       *       *       *       *

Ob irgendwo in deutschen Landen so schwer und anhaltend gearbeitet
wird wie in dem Lande, wo dem schwarzbraunen Moor die weiße Birke
entsteigt? In den Marschen und auf den Heiden der nordwestdeutschen
Tiefebene jedenfalls nicht. Dort haben sie zwischen den Zeiten, wo die
Arbeit auf den Nägeln brennt, Wochen oder wohl auch Monate, in denen
sie es sachter angehen lassen können. Im Moor werden diese Atempausen
durch Backen, Schneiden und Ringeln des Torfs ausgefüllt, und nicht
einmal Spätherbst und Winter bringen wirkliche Ruhe. Denn dann muß
das Landesprodukt in die Stadt geschafft und in Bargeld umgesetzt
werden. Da knarren durch Sturm- und Regennächte die schweren geeichten
Kumpwagen die Birkenchausseen entlang, und auf den Wasserwegen ziehen
die torfbepackten Schiffe. Das kostet wieder saure Arbeit und bringt
schlaflose Nächte ungezählt. Und wer kein Raubbauer auf Torf sein,
sondern durch Urbarmachen der abgetorften Flächen das Kulturland ins
Moor vorschieben will, muß sich auch in der stilleren Jahreszeit
dranhalten. Nur wenn der Frost das Land wie in eiserne Bande
geschlagen hat, hat's der Moorbauer kommodiger und kann die harten
Arbeitshände mal in den Schoß legen.

Kein Wunder, daß in diesem Lande die schönen Mädchen nicht auf den
Bäumen wachsen und jugendliche Frische früh verblüht. Kein Wunder,
daß die Königliche Aushebungskommission unter den Söhnen des Moores
nicht gar zu viele Rekruten für die Potsdamer Garde findet, ja, daß
sie manchen sonst ganz gesunden Jungburschen kaum dem obskursten
Regiment an der russischen Grenze zumuten mag. Laßt's nur gut sein!
Ihre Urgroßväter, die ersten Ansiedler, erhielten Befreiung vom
Militärdienst, um im Frieden, Spaten und Hacke in der Hand, für König
und Vaterland eine neue Provinz zu erobern. Dieses Werk setzen die
Enkel mit echt niederdeutscher Zähigkeit wacker und unverdrossen fort,
und sie und ihre Kinder werden nicht ruhen, bis es zu Ende geführt
ist. Der »Jan vom Moor«, den die von der Natur mehr gehätschelten
Nachbarn nicht recht für voll nehmen wollen, und über den die Bremer
dummen Jungs ihre Witze reißen, wird aussterben, und wo er einst mit
schweren Holzstiefeln in der glucksenden, triefenden Torfkuhle stand,
da werden seine Urenkel als niederdeutsche Kleinbauern auf freier,
grüner Scholle sich eines bescheidenen, aber sicheren Wohlstandes
erfreuen.




                                  5.


In den hinterzu gelegenen Moordörfern sitzt manch' brave Ehefrau und
Mutter, die das Jahr hindurch kaum je über die Grenzen des Kirchspiels
und den engen Kreis ihrer Pflichten hinauskommt. Sie trägt auch gar
kein Verlangen danach und überläßt die Strapazen des Reisens gern
ihrem Jan. Aber um die Zeit, wenn die Kartoffeln heraus sind, wenn die
Ratten das lustige Leben an den Grabenrändern aufgeben und sich auf
die Gehöfte zurückziehen, wenn die silbernen Birken ihr herbstliches
Gold streuen, packt auch die häuslichste aller Frauen eine merkwürdige
Unruhe. Es ist die Zaubermacht des Bremer Freimarkts, die auch die
seßhafteste und solideste einmal von Haus und Hof, Kindern und Vieh
hinwegzieht.

Wenn drüben in der alten Hansestadt um Sankt Petri ehrwürdigen Dom
über Nacht die leichte, luftige Zelt- und Budenstadt aus dem Pflaster
geschossen ist und zu Füßen des starr verwundert blickenden Riesen
Roland alle Spezialitäten, Raritäten, Abnormitäten des Kontinents
sich ein Stelldichein geben, dann sagt Gesche zu ihrem Klaus, und
Dele zu ihrem Peter, und Meta zu ihrem Jan: »Du, nach'm Freimarkt
möcht' ich auch mal mit.« Und Jan, Peter, Klaus, einerlei, ob er das
Recht des Holzpantoffels über sich anerkennt oder ob er die Hosen
anbehalten hat, macht keine Sperenzien, »tiert« mit seiner Gesche,
Dele, Meta zur Stadt, zeigt ihr die Herrlichkeiten und Wunder des
Freimarkts, högt sich, wenn sie Augen macht wie Wagenräder, kauft ihr
Honigkuchen, Spielsachen für die Kinder, Geschirr für den Haushalt und
wonach sonst ihr Sinn steht, in verschwenderischer Laune, und ist den
ganzen Tag der liebenswürdigste, zuvorkommendste Ehemann der Welt.
Wenn die beiden dann nach endloser Wasser- oder Wagenfahrt durch die
Annehmlichkeiten einer Herbstnacht endlich unter ihr Strohdach treten,
sinkt sie auf den ersten besten Stuhl zusammen, läßt die Hände schlaff
an den Seiten herunterhängen und verschwört sich stöhnend: »Ich hab'r
genug von für mein Leben.« Ist aber ein Jahr herum und das Birkenlaub
küselt aufs neue zur Erde, fängt sie doch wieder an: »Och, diesmal
möchte ich wohl noch mal mit. Wer weiß, ob ich's nächstes Jahr noch
erleb'.«

Wenn in hillster Zeit die Arbeit auf den Nägeln brennt und gar zu
viel Überstunden gemacht werden müssen, so daß die Augen verdrossen
blicken, und die Kräfte zu versagen drohen, bringt der kluge Bauer
die Rede wohl so beiwegelang auf den Freimarkt und läßt durchblicken,
daß es ihm auf ein anständiges Marktgeld für den fleißigen Knecht,
die unermüdliche Magd nicht ankommen soll, und es müßte schon gar zu
schlimm sein, wenn das nicht mehr verfinge.

Sechzig Drehorgeln dudelten und leierten wieder einmal auf den Straßen
und Plätzen Bremens den lieben langen Tag ihr Repertoire herunter,
von: »Ich bete an die Macht der Liebe« bis »Mutter, der Mann mit dem
Koks ist da,« das eben seinen Siegeslauf durch die Welt antrat.
Einige dreißig waren von der kunstverständigen Polizeikommission beim
Probespielen mit Rücksicht auf die durch höherwertige musikalische
Genüsse verwöhnten städtischen Ohren zurückgewiesen worden. Aber sie
gingen der guten Sache deshalb nicht verloren. Mit ihrer verstimmten
Töne Gewalt erfüllten sie die Umgebung der Stadt und trugen die
fröhliche Botschaft vom Freimarkt auf die Dörfer.

Es war der bösartigste aller Leierkasten, der Brunsode beglückte.
Als Herr Timmermann mitten in der Weltgeschichtsstunde seine Klänge
vernahm, legte er das Gesicht in Leidensfalten; die Kinder aber
reckten die Hälse, horchten mit leuchtenden Augen und hatten für die
unerhörtesten Weltbegebenheiten kein Ohr. Tönnjes Miesner, der älteste
Altenteiler des Dorfes, der vor seiner Haustür in der Herbstsonne
saß, winkte den Orgelmann heran, hielt sich die großen zitterigen
Hände als Schalltrichter vor die torfverstaubten Ohren und dachte voll
Wehmut daran, wie er einst mit den Genossen seiner Jugend, die jetzt
alle dahin waren, im Freimarktsübermut fünf solcher verwegenen Kerls
gemietet und hinter der tollen Musik her, mit ein paar hundert Kindern
im Gefolge, das Torfhafenviertel durchzogen hatte. Damals konnte
einer, der schlau und flink war und Glück hatte, noch mal schnell
mit Schmuggelei ein gutes Stück Geld verdienen und etwas draufgehen
lassen. Dem Alten fielen ein paar große blanke Tränen wehmütiger
Erinnerung aus den Augen, indem er in der Tiefe seiner Hosentasche
nach dem Groschen Spielmannslohn grub. -- Die Schmuggelzeit ist das
romantische Mittelalter in der Geschichte der Moorkolonien, und wenn
winterabends um den Herd oder in der Stube um den warmen Ofen das
Erzählen beginnt, fängt es bei den Alten gar oft an: »Damals, als die
Schmuggelei noch im Gang war ...«

Leidchen Rosenbrock saß gerade, den Melkeimer zwischen den Knien,
unter der Rotbunten, als es draußen auf dem Hof erklang: »Im
Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion.« Sie hielt, die weichen
Euterstriche zwischen den Fingern, im Melken inne, lauschte, trällerte
die Weise mit, rückte unruhig auf dem Schemel, und ließ dann hurtiger
und lustiger als zuvor die weißen Quellen in den Eimer strullen. Noch
drei Stunden, und es ging nach Bremen zum Freimarkt! Den ganzen Sommer
hatte sie sich darauf gefreut, seit Wochen zählte sie die Tage, und
seit gestern in jugendlicher Ungeduld sogar die Stunden.

Aber noch stand vor dem Vergnügen ein tüchtiges Stück Arbeit. Leidchen
mußte hinten im Moor auf der Karre einen Korb Backtorf nach dem
anderen an den Grabenrand schieben, und Gerd stand unten im Schiff,
ihn kunstgerecht zu verpacken, bis er die volle Ladung, einen halben
Hunt, d. i. sechs Kubikmeter, beieinander hatte. Ein Viertel des
Erlöses war ihnen von Jan als Marktgroschen zugestanden.

Nachdem sie sich gründlich von der staubigen Arbeit gewaschen und
die eingepackte Festkleidung verstaut hatten, brachen sie in später
Nachmittagsstunde auf.

Als sie die Hamme erreichten und das Schiff, das sie bis dahin vom
Leinpfad aus geschleppt und geschoben hatten, bestiegen, war die
Sonne bereits hinter eine breite Wolkenbank gesunken, deren Ränder
in allen Farbentönen, vom tiefsten Violett bis zum zartesten Rosa,
spielten. Der Duft und Glanz eines schönen Herbstabends füllte das
weite Wiesental. Der durch herbstlich raschelnde Schilfwälder sich
hinschlängelnde Fluß schimmerte weithin wie Perlmutter. Wo sein Lauf
sich dem Auge entzog, bezeichneten ihn bis zur Horizontlinie die
schwarz gegen den Himmel stehenden Rechtecke der heraufkommenden
Segel. Die ein gutes Dutzend Moorkolonien mit der Welt verbindende
Wasserstraße war zur Zeit des Torfverschiffens und des Freimarktes
sehr belebt. Die Schiffer kannten sich fast alle, wenn auch meist nur
nach Gesicht und Vornamen, und die üblichen Zurufe flogen zwischen den
einander Begegnenden hin und her: »Geht's 'nauf, Gerd?« »Ja, Jan.«
-- »Geht's 'nunter, August?« »Ja, Gerd.« -- »Na, wie war's auf'm
Freimarkt, Meta?« »Wunderschön, Gerd. Ist recht, daß du Leidchen auch
mal mitnimmst. Deern was wirst du für Augen machen!«

Als sie an einer Reihe von Schiffen vorüber waren und die glänzende
Bahn auf eine gute Strecke frei vor ihnen lag, hub Leidchen, die vorn
auf der mit braunem Laken bedeckten Ladung saß, an zu singen. Gerd,
der hinten im Schiff stand und die schwere eisenbewehrte Eichenstange
gleichmäßig einstemmte und nachzog, fiel sogleich mit der zweiten
Stimme ein, auf dem träge ziehenden Moorfluß deutsche Rheinromantik
aufleben zu lassen: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so
traurig bin,« klang es rein und getragen über die herbstabendstillen
Wasser.

Als ein kälterer Hauch durch das Tal wehte, vor dem Leidchen fröstelnd
die Schultern zusammenzog, stieg Gerd über die Torfladung nach vorn,
hob den Deckel der Koje und sagte mit einladender Handbewegung: »So,
lüttje Maus, nun wühl' dich hier warm ins frische Stroh und schlaf
süß, daß du mir morgen früh hübsch munter bist.« Sie hob das rechte
Füßchen, zog das linke nach, sank in die Knie und ließ sich in das
knisternde Stroh sinken. Noch einen lächelnden Blick tauschten
sie, dann schloß er behutsam über der Schwester das wellengewiegte
Schlafkämmerchen.

Auch der Wind legte sich allgemach schlafen. Nur leichte Wellen kamen
noch den Fluß herauf und schlugen leise an die Wände des kleinen
Schiffes, auf dessen mattglänzende Bahn sich leichte Nebelschleier
legten. Am Himmel zogen sterndurchfunkelte grauweiße Wolken.

Vom Ufer her warf ein ruhig brennendes Licht seinen zitternden
Widerschein über das Wasser. Es kam aus Cord Rugens Hammehütte, die
hart am Flusse auf einer Wurt lag, und in der während der Monate
regeren Wasserverkehrs eine Wirtschaft für Schiffer gehalten wurde.
Gerd, der eigentlich vorüberfahren wollte, entschloß sich im letzten
Augenblick doch zum Einkehren. Wenn er ein Stündchen schlief, war er
am nächsten Tage frischer.

Er legte sein Boot nicht in die Reihe der übrigen, da die vor ihm
aufbrechenden Schiffer seinen Fahrgast dann leicht hätten stören
und erschrecken können, sondern ließ es ein wenig flußabwärts sacht
ins Uferschilf gleiten. Nachdem er, über die Koje gebeugt, durch die
ruhigen und tiefen, aus dem Stroh heraufkommenden Atemzüge sich hatte
sagen lassen, daß seine Schwester fest schlief, stieg er ans Land.

Die kümmerlich erleuchtete, aber gut durchwärmte Hütte füllte ein
reichliches Dutzend Torfschiffer, die sich hier von den Anstrengungen
der nächtlichen Fahrt erholten, die einen schlafend und schnarchend,
die anderen trinkend und Solo spielend.

Gerd ließ sich einen Klaren geben, schob das Gläschen, nachdem er
es bis zur Hälfte geleert, zurück, legte die Arme auf dem Tisch
ineinander und barg den Kopf hinein. Eine halbe Minute lang hörte
er noch das Gesäge eines Nachbarn und die auftrumpfenden Fäuste der
Spieler, dann nichts mehr. Auf solche Weise sich ein wenig nächtlichen
Schlafes zu stehlen, war er seit Jahren gewöhnt.

Zweimal hatte der große Zeiger der Wanduhr die sein Zifferblatt
umrankenden grellbunten Blumen umwandelt, da hob der junge Schiffer
den Kopf, trank seinen Klaren vollends aus, legte die Zeche von einem
halben Groschen daneben und trat gähnend in die Nacht hinaus, die
Fahrt fortzusetzen. --

Die Wiesen des Blocklandes deckt das graue Meer der Oktobernebel, aus
dem hier und da der Kopf oder die Rückenlinie einer Kuh wunderlich
gespenstig hervorragt. Auf dem schnurgeraden Kanal gleitet ein
Torfschiff durch den feuchten Dunst, von dem auf den Leinpfad
vornübergebeugt nebenhergehenden Schiffer mit dem eingestemmten
Stangenruder geschoben. Plötzlich umfließt diesen silbernes Licht, er
richtet sich auf und erblickt über die Nebelmassen weg den im letzten
Herbst- und ersten Morgengold leuchtenden Bürgerpark, und dahinter die
Stadt mit ihren Türmen, im Glanz des schönsten Herbstmorgens.

Da hebt er die Stange und stößt mit ihrer eisenbeschlagenen Spitze
gegen die Koje vorn im Schiff.

Der Deckel hebt sich. Helles Haar schimmert im Silberlicht der Frühe,
zwei junge Augen zwinkern verschlafen, ein rosiger kleiner Mund gähnt
mit ansteckender Herzhaftigkeit, und aus dem engen dumpfen Kasten
steigt das schönste Kind des Moores, sich schüttelnd und Strohteilchen
mit der Hand von Haar und Kleidung streifend, schlägt den Deckel
krachend zu, springt leichtfüßig hinauf, reckt die schlanken Glieder
in der Sonne und schaut mit großen, glänzenden Augen verwundert und
inbrünstig in den strahlenden jungen Tag. Zugleich schüttelt auch
der junge Schiffersmann die letzte Dumpfheit der Nacht von sich und
schreitet wacker aus, das Ziel zu erreichen.

Als das Schiff im Torfhafen sich in die Reihe der anderen legte, die
in den Morgenstunden auf den verschiedenen Wasserwegen angelangt
waren, fand sich schnell ein Händler herzu, der Gerds Ware auf Schwere
und Trockenheit untersuchte und ein Gebot abgab. Gerd nannte gelassen,
beide Hände tief in die Hosentaschen vergraben, seinen Preis, der den
Mann veranlaßte, ein Schiff weiter zu gehen. Auch mit einem zweiten
und dritten wurde er nicht handelseins. Leidchen, die auf dem groben
Kaipflaster hin und her ging, wollte schon ungeduldig werden und
drängte ihn, die Ladung loszuschlagen. Aber ohne auf sie zu hören,
steckte er sich die Pfeife an und wartete ruhig, bis jemand ihm auf
eine halbe Mark entgegen kam. Dem verkaufte er seinen Torf. Während
dessen Kumpwagen vorfuhr und die herandrängenden Brockelweiber mit dem
Umladen begannen, zählte er mit großer Sorgfalt sein Geld, um dann
noch jedes einzelne Stück auf seine Echtheit zu prüfen. Dies hatte er
sich zur Gewohnheit gemacht, seit er einmal mit einem österreichischen
Gulden angeführt war.

Darauf rechnete er aus, was der Schwester und ihm als Marktgeld
gehörte. Es ergaben sich sechs Mark und vierzig Pfennig, die er in
die linke Hosentasche versenkte, während er die größere Summe in der
rechten verstaute.

»Ich will mein Geld selbst tragen,« erklärte Leidchen und streckte die
Hand aus.

»Bei mir ist es sicherer,« sagte er. »Auf dem Freimarkt gibt's viele
Taschendiebe.«

»Schadet nichts. Gib her, drei Mark und zwanzig Pfennig.« Sie stieß
mit dem Hacken des linken Fußes energisch auf das Straßenpflaster und
ließ ein billiges Portemonnaie hungrig auf und zu schnappen.

»Du bist wohl albern?« rief Gerd verwundert. »Das Marktgeld richtet
sich nach dem Lohn. Da! Hier hast du zwei Mark fufzig, damit kannst du
dicke zufrieden sein.«

Sie zog das Mäulchen erst ein wenig schief, wusselte dann aber das
geschwollene Geldtäschchen vergnügt in ihre Rocktasche.

Nachdem sie in einer nahen Gastwirtschaft ihren Morgenkaffee getrunken
und sich festtäglich gekleidet hatten, machten sie sich auf den Weg in
die Stadt.

An der nächsten Straßenecke begann gerade ein junger, tirolermäßig
aufgeputzter Orgeldreher sein Tagewerk mit: »Freut euch des Lebens,
weil noch das Lämpchen glüht.« Leidchen blieb stehen und hatte ihren
Spaß an der lustigen Weise, und an den lustigen Augen des flotten
Kerls auch wohl ein wenig. Als er seinen Hahnenfederhut hinhielt,
warf sie ihm einen ganzen Groschen hinein, worauf der Leiermann sich
ritterlich verbeugte und sagte: »Küss' die Hand, schönes Fräulein.«

Freudig errötend schielte Leidchen nach ihrem Bruder hinüber, um zu
sehen, welchen Eindruck diese Anrede auf ihn machte. Der aber lächelte
spöttisch und brummte: »Darauf brauchst du dir gar nichts einzubilden.
Das sagt so'n Lümmel zu jedem alten Schrubber ... Was ich aber noch
sagen wollte, wenn du jedem solchen Tagedieb einen Groschen gibst,
bist du blank, ehe wir zum Marktplatz kommen.«

Er begann jetzt, sie auf allerhand Dinge, die es in Brunsode nicht
gab, erklärend aufmerksam zu machen, und hatte seine Freude an ihren
verwunderten Augen und den Ausrufen des Staunens, die immer wieder
über ihre Lippen kamen.

So erreichten sie die Budenstadt, die Marktplatz und
Liebfrauenkirchhof, Domshof und Domshaide bedeckte, und durchstreiften
ihre Gassen in die Kreuz und Quer. Aber der Freimarkt schlief noch.
Die Kuchentanten gähnten und kramten hinter ihren Süßigkeiten, die
Schaubuden zeigten nur ihre grellbunten Lockbilder, die Karussellgäule
schienen wie im Trab oder Galopp erstarrt. Nur wenig Menschen,
meist vom Lande, bewegten sich, dem Anschein nach ohne sonderliches
Vergnügen, zwischen den Budenreihen.

Als sie sich die Beine müde gelaufen und die Augen satt gesehen,
auch Honigkuchen, warme Würstchen, gefüllte Schokolade, Schmuddaal
und andere gute Dinge genug gegessen hatten, stiegen sie, um endlich
einmal von den Füßen zu kommen, in einen Keller hinab, in dem es nach
Tabak, Bouillon und Harzkäse roch. Gerd bestellte für sich einen
Bittern, für die Schwester einen Süßen. Auf dem rissigen Wachstuchsofa
eines dämmerigen Winkels hockten sie vor ihren Gläsern, und Leidchen
meinte, sie hätte sich den Freimarkt doch etwas anders vorgestellt.
Aber Gerd vertröstete sie auf den Nachmittag, wo viel mehr los sein
würde. Einstweilen lehnten sie sich in ihre Sofaecken und drusselten
ein.

Nach anderthalb Stunden, die sie zwischen Wachen und Schlafen ziemlich
unbehaglich zugebracht hatten, erklärte der Wirt, mit der geringen
Zeche unzufrieden, sein Lokal wäre kein Asyl für Obdachlose, und sie
stiegen wieder zur Oberwelt empor.

Sie waren noch keine hundert Schritt gegangen, als ein quer gehaltener
Spazierstock ihnen den Weg versperrte und eine lustige Stimme rief:
»Kinder und Leute, nun kuck mal einer an!«

Es war Müllers Hermann, der mit lachenden Augen die Dorfgenossen
und Schulkameraden anhielt und begrüßte, und dann umdrehte und sich
zwischen sie schob.

»Na, Leidchen, hast du denn schon ordentlich was gesehen?« wandte
er sich an das Mädchen, ihr frisches, hübsches Gesicht verwundert
betrachtend.

»Och nee,« antwortete sie gelangweilt, »es ist hier nicht ganz viel
los. Oder Gerd weiß nicht recht Bescheid.«

»Na, denn muß ich wohl mal die Führung übernehmen,« sagte der Müller
großartig.

Sie kamen in eine belebtere Straße, in der nicht drei auf dem
Bürgersteig nebeneinander Platz fanden. Da weder Hermann noch Leidchen
Anstalt machten, aus der Reihe zu treten, mußte Gerd es tun, und über
die ungebetene Gesellschaft nichts weniger als erfreut, trottete er
hinter den beiden her.

Auf dem Liebfrauenkirchhof wollte ein prächtiges Riesenkarussell sich
soeben in Bewegung setzen. Der Motor arbeitete und das Läutewerk
mahnte zu schleunigem Platznehmen. »Schnell, schnell,« rief Hermann,
packte seine Begleiterin an der Hand und flog mit ihr die Rampe
hinauf. Gerd beschleunigte seinen Schritt zwar auch, erreichte
den Anschluß aber nicht mehr. Mit langem Gesicht sah er den unter
rauschender Musik ihm Davonfahrenden nach.

Als sie wieder erschienen, galoppierten sie auf zwei Schimmeln
nebeneinander vor ihm vorüber. Leidchen, die den Damensitz schnell
einem vor ihr dahersprengenden Ladenfräulein abgeguckt hatte, strahlte
über das ganze Gesicht und nickte dem Bruder freundlich zu, während
Hermann in lässig vornehmer Haltung mit der Hand leichthin und, wie es
Gerd wenigstens schien, ein wenig spöttisch grüßte.

Das nächste Mal waren die beiden Reiter so lebhaft miteinander im
Gespräch, daß sie für den unten Stehenden kein Auge hatten. Gerd
ärgerte sich wie ein Hund und trat einer Töchterschülerin auf die
Zehen, die ihn anfauchte wie eine Katze.

Als das Karussell hielt, wandte Leidchen sich glückstrahlend um und
rief: »Junge, Junge, das geht aber schön! Komm doch und reit auch'n
bißchen mit.«

Er kletterte etwas ungelenk auf den Rappen, der hinter dem Schimmel
seiner Schwester lief. Aber rechten Spaß machte ihm die Sache nicht.
Die beiden beachteten ihn kaum, nur Leidchen drehte sich einmal um und
lachte ihn an. Er kam sich als der Reitknecht des Pärchens vor, und
als das Karussell stillstand, trat er zwei Schritt vor und sagte: »So,
Leidchen, nun komm' man, jetzt ist's erst mal genug.«

»Genug?« fragte sie erstaunt. »Mensch, wir fangen ja erst an.«

»Du mußt dich noch ein bißchen gedulden,« erklärte ihr Ritter, »ich
habe gleich ein Dutzendbillet genommen, daß wir erst mal in Stimmung
kommen. Stimmung, weißt du, Gerd, ist auf dem Freimarkt alles. Steig
auch man wieder 'rauf!«

»Dafür ist mir mein Geld zu schade,« sagte er, verließ das Karussell
und stellte sich unter die Zuschauer an das Geländer der Rampe.

Als die beiden zum erstenmal wieder vorbeiritten, sahen sie ihm ins
Gesicht und lachten in einer Weise, die ihm den Verdacht erweckte, der
Müller hätte einen Witz über ihn gemacht. Da wandte er sich ab und
tauchte in dem Gewühl einer Budengasse unter.

Wie hatte er sich darauf gefreut, Leidchen die Wunder des Freimarktes
zu zeigen! Nun kam auf einmal dieser Windmüller und verdarb ihm den
ganzen Spaß, ja drängte ihn einfach beiseite.

Er hatte nicht übel Lust, für den Rest des Tages den Gekränkten zu
spielen, auf baldige Rückfahrt zu drängen und dem Freimarktsvergnügen
ein schnelles Ende zu bereiten.

Aber nein, das durfte er der Schwester doch nicht antun. Sie hatte
sich zu lange auf diesen Tag gefreut. Vielleicht war es ja auch
möglich, den Müller auf irgendeine Weise loszuwerden.

»Echte Similibrillantringe, von fünfzig Pfennig an,« rief ein
Budenfräulein, die Dinger glitzerten ihm in die Augen, und schnell
entschlossen trat er heran, der Schwester ein Ringlein zu kaufen. Dann
kehrte er langsam zum Karussell zurück.

Er entdeckte Leidchen auf der Rampe, wie sie mit ängstlichen Augen die
hin und her wogende Menge absuchte. Als sie seiner ansichtig wurde,
kam sie schnell und froh auf ihn zu und rief: »Oh, ich war schon
bange, wir hätten uns verloren. Ein Glück, daß du wieder da bist.«

»Ist Hermann weggegangen?« fragte Gerd schnell.

»Er ist hin und sucht dich. Ich sollte hier auf euch warten.«

»Ach so ... Leidchen, ich will dir mal was sagen. Was sollen wir den
ganzen Tag den fremden Menschen mit uns herumschleppen? Komm schnell,
ich zeige dir alles, was du sehen willst!«

»Och nee, zu dreien macht es mehr Spaß.«

»Deern, ich schenk dir auch was. Guck mal, dies hab' ich für dich
gekauft!«

Er ließ seinen Brillanten funkeln und schob ihr den Ring auf den
Finger.

»Ei, ei!« rief sie bewundernd.

»Nun komm aber auch!«

»Gerd, ich hab' versprochen ...«

»Ich geb' dir auch noch fünf Groschen von meinem Marktgeld ab. Dann
hast du beinah ebensoviel wie ich, und wenn du den Ring mitrechnest,
sogar mehr. Komm!«

»Endlich hab' ich euch wieder!« rief der Müller, sich durch das
Menschengewühl auf die Geschwister zuschiebend.

Gerd biß sich voll Grimm auf die Unterlippe. Leidchen hielt dem
Ankömmling ihre geschmückte Hand vor das Gesicht: »Guck mal, was Gerd
mir geschenkt hat!«

»Mädchen, hast du aber Glück!« sagte dieser lachend und wickelte aus
einem Stückchen rosa Seidenpapiers ebenfalls einen Ring, den er ihr an
den Ringfinger der anderen Hand steckte. Gerd sah zu seinem großen
Verdruß, daß er drei Brillanten trug und auch feiner gearbeitet war
als der seine.

Und dann wurde er von einer Schaubude zur anderen geschleppt.
Ein Jammer war's, wie das schöne Geld in der linken Hosentasche
zusammenschmolz. Bald mußte er schweren Herzens gar eine Anleihe in
der rechten machen.

Endlich erklärte er, nun wär's aber wirklich genug, und sie
müßten nach Hause. Doch die beiden nahmen ihn in die Mitte,
Leidchen schmeichelte und streichelte, der Müller bot seine ganze
Liebenswürdigkeit auf, und schließlich willigte er noch in einen
Besuch des Zirkus auf dem Grünen Kamp. Hermann bezahlte auch für ihn
die Eintrittskarte.

Als die Vorstellung aus war, sagte er: »Nun ist's aber allerhöchste
Zeit; marsch zum Torfhafen!« Aber Leidchen erklärte, sie wäre sehr
hungrig, und da Hermann zu einem Abendimbiß einlud, gab er wieder
nach. Vor der anstrengenden nächtlichen Fahrt etwas Solides zu essen,
konnte ja nicht schaden.

Sie kamen an mehreren Restaurationen vorüber, aber keine war dem
Müller gut genug. Endlich, als sie wieder auf dem Markt angelangt
waren, wies er auf eine nach unten führende Treppe, indem er sagte:
»Nun man hinein ins Vergnügen!«

»Mensch, das ist ja der Ratskeller!« rief Gerd erschrocken und blieb
stehen. »Das ist nichts für unserer Art Leute.«

Aber Leidchen sagte freudig erregt: »Vom Ratskeller hab' ich schon in
der Schule gehört,« und stieg munter die Stufen hinab. Ihrem Bruder
blieb wieder einmal nichts übrig, als hinterdrein zu trotten.

Sie schoben sich langsam durch das Menschengewühl der von Weindunst,
Zigarrenqualm, Stimmengewirr und Konzertmusik erfüllten Säle, Gänge
und Kellerräume und fanden endlich ein freies Tischchen, an dem sie
sich niederließen. Der Kellner mußte eine Flasche Rüdesheimer bringen.

Als Hermann eingeschenkt hatte, erhob er seinen Römer und sagte: »Auf
unsere alte Freundschaft!«

Leidchen ließ hell ihr Glas erklingen, Gerd dagegen kam mit seinem
schräg von unten herauf, daß es hart klappte, und brummte: »Die ist
nie dick gewesen.«

Hermann schob sein Glas vor und legte sich behaglich über den Tisch:
»Na ja, wir haben uns auch wohl mal in den Haaren gelegen, wie sich
das bei ein paar richtigen Jungens von selbst versteht, aber schön
war's doch, vor allem, als der alte Krischan Lenz noch in seinem
Armstuhl saß. Weißt du noch, unsere Schneeballschlachten? Und wenn
wir auf dem Schiffgraben Schlittschuh liefen und über die Klappstaue
sprangen ... oder durch die Hammewiesen und das St. Jürgensfeld
sausten und Schmuggler und Kontrolleur spielten? Aber trinkt auch mal,
der Tropfen ist nicht schlecht, prosit! ... Ach ja, die schöne Zeit
kommt nicht wieder. Ihr mögt mir's glauben oder nicht, manchmal habe
ich ordentlich Sehnsucht nach unserm Moor. Früher haben die Leute
es ja verachtet, aber jetzt wird's auf einmal hoch geehrt. Neulich
schrieben sie in den ›Nachrichten‹ viel von den Männekens, die seit
ein paar Jahren auf dem Weiher Berg sitzen und pinseln. Wir sehen
sie ja auch oft genug in unserm Dorf herumstehen und umschichtig
zwischen der Natur und ihrem Stück Leinwand hin und her glotzen. Ihre
Bilder waren hier in der Ausstellung zu sehen, und als ich zufällig
vorbeikam, ging ich eben mal hinein. Da hingen unsere Torfgräben und
Moorlöcher und Heuschiffe ganz natürlich abkonterfeit in goldenen
Rahmen an der Wand, und die Leute machten ein Leben davon, als ob sie
nicht recht klug wären. Auch Möschemeyers Anntrin ihre Erdhütte, die
neulich eingefallen ist, war da zu sehen, und das alte Bettelweib
guckte mit ihren roten Hexenaugen aus der Türluke, und 'ne feine
Dame, ganz in blauer Seide, stand davor, hielt sich 'ne Brille mit'm
Stiel über die Nase und schwögte in einem fort: ›Wie malerisch, wie
entzückend, wie reizend!‹ Prost, Kinder, unser Düwelsmoor soll leben!«

Sie stießen an, und diesmal gaben alle drei Gläser guten Klang.
Dann bestellte Hermann zu essen, und sie ließen es sich schmecken.
Leidchen, die mit Freuden bemerkte, daß die Laune ihres Bruders sich
verbesserte, erzählte lustige Geschichten aus den Kindertagen, in
denen er eine Rolle spielte, und tat alles, was sie konnte, um die
beiden alten Gegner voreinander in das beste Licht zu setzen, wobei
der Ratskellerwein ihr nicht wenig half.

Als sie gesättigt waren, traten sie einen Rundgang durch die
Kellerräume an. Dem Freimarkt zu Ehren waren sie alle geöffnet,
auch die, welche sonst der Kellner mit dem Schlüsselbund nur gegen
Entgelt zu zeigen pflegt. Leidchen in der Mitte, Arm in Arm, um in
dem ausgelassenen weinfröhlichen Treiben einander nicht zu verlieren,
schoben sie sich durch das Gedränge.

»Guck an, Jan vom Moor, da bist du ja auch!« rief ein junger Mensch
und klopfte Gerd vertraulich auf die Schulter.

»Ich kenn' dich nicht,« brummte er mit finsterm Gesicht.

»Was? Du kennst mich nicht? Ich bin doch der Hinnerk aus der
Lammer-Lammerstrat Nr. 13, drei Treppen hoch links um die Eck' herum,
grade aus, dritte Tür rechts. Junge, Jan, was hast du da für 'ne
hübsche Trina am Arm!«

Ehe Gerd dazu kam, etwas zu entgegnen, hatte das Gedränge ihn von dem
Bruder Lustig getrennt. »Wenn Freimarkt ist, sind sie alle verrückt,«
sagte Hermann lachend.

Nachdem die drei Bacchus, Frau Rose und den zwölf Aposteln, die auch
alle ein sehr vergnügtes Gesicht machten, ihren Besuch abgestattet
hatten, kehrten sie an ihren Tisch zurück und begannen mit der zweiten
Flasche. »Leidchen, Leidchen,« sagte Gerd mit bösem Gewissen, »wir
müssen nach Hause.«

»Wenn wir diesen Buddel leer haben,« antwortete der Müller, »könnt ihr
meinetwegen reisen ... Ich beneide euch um die schöne Fahrt.«

»Du kannst ja ein bißchen mitfahren,« rief Leidchen.

»Deern, das ist'n Gedanke ...«

»Unsinn!« knurrte Gerd, »du mußt morgen früh auf deiner Mühle sein.«

»Das ist nicht so ängstlich, zur Freimarktszeit lassen die Leute sich
was gefallen. Hab' meine Alten doch lange nicht gesehen. Zum Kuckuck,
ich fahr' mit euch!«

»Du weißt ja gar nicht, ob wir dich mitnehmen.«

»Oh, das tut ihr doch wohl sacht. Nicht wahr, Leidchen?«

»Ja, gern.«

»Ha, die Deern kann wohl ja sagen, ich hab' die Quälerei davon. Es
geht flußaufwärts.«

»Wenn anders nichts ist ... ich löse dich mal ab. Also abgemacht, ich
fahr' mit euch.«

Gerd brummte noch etwas, aber man konnte es schon als Zustimmung
nehmen.

»Das wird ein Spaß,« sagte Leidchen und trommelte mit den Fingern auf
den Tisch. -- --

Die Nacht war still, kühl und voll funkelnder Sterne. Das Schiff zog
unter leisem Wellengeplätscher seine nebelverschleierte, mattglänzende
Bahn, Gerd stand und handhabte das Stangenruder.

Seine Fahrgäste saßen vor ihm auf der Segelbank. Was hatten die beiden
in den drei Stunden, seit sie den Torfhafen verlassen, nicht alles
zusammengeschwatzt! Es war rein zum Verwundern, wo sie noch immer
wieder Stoff hernahmen, und was sie aus den nichtigsten Dingen zu
machen wußten. Es hörte sich ganz nett an, und die Stunden waren ihm
beim Zuhören kurzweilig hingestrichen. Endlich schien es aber doch,
als ob den Plappermühlen der Wind ausgehen wollte. Und seit einigen
Sekunden standen sie wirklich still.

Plötzlich richtete Gerd sich auf, um mit angehaltenem Ruder vor sich
durch das Dunkel zu horchen und zu spähen. War das da drüben nicht ein
Geflüster? Und wo war Hermanns Hand geblieben, die vor kurzem noch auf
seinem Knie lag?

»Hermann!«

»Was ist los?«

»Hier hast du das Ruder. Komm und löse mich mal ab.«

»Ach Gerd, ich habe im Staken keine rechte Übung.«

»Was hast du mir versprochen? Oder willst du lieber hier in den Wiesen
aussteigen?«

»Man nicht gleich so grob,« brummte der Müller, sich langsam und
widerwillig erhebend.

Kaum hatte er den Platz des Schiffers eingenommen, als das Boot
seine Richtung verlor, dem Ufer zuschoß und sich in den raschelnden
Schilfwald bohrte. Bei den ungeschickten Versuchen, es loszubringen,
verfuhr es sich nur noch mehr. Im Schlaf aufgeschrecktes Sumpfgevögel
erhob sich mit schrillem Gekreisch und Flügelgeklapper, um klatschend
irgendwo wieder einzufallen.

Gerd, der neben seiner Schwester saß, rieb sich voll ingrimmiger
Schadenfreude die Hände zwischen den Knien und spottete: »Mich soll
bloß wundern, wo dieser Windmüller mit uns hin will.«

Leidchen stieß ihn an und sagte: »Er sitzt fest, hilf ihm doch wieder
heraus.«

»So war er schon in der Schule,« fuhr Gerd fort zu höhnen, »immer ein
Wort wie'n Bein dick, aber wenn man genauer zusah, nichts als Wind vor
der Hoftür.«

Endlich warf Hermann, der vergeblichen Anstrengungen müde, die schwere
Eichenstange in das Schiff, daß es dumpf durch die Nacht klang, und
setzte sich abgerackert und pustend auf den Bordrand.

»Wie so'n Mutterjunge gleich zusammenklappt!« spottete Gerd.

Leidchen gab ihm einen kräftigeren Stoß mit dem Ellbogen: »Zu! Stak'
du doch wieder!«

Da er keine Anstalt machte, stand sie selbst auf, nahm ein kürzeres
Handruder und sagte: »Komm, Hermann, ich helf' dir. Ich glaub', wir
sitzen auf einem Pfahl. Stemm' die Stange tüchtig ein, so ist's recht.
Eins -- zwei -- drei! Es hat sich schon bewegt. Noch einmal, feste.
Eins -- zwei --«

Auf drei wurde das Schiff frei, fiel Leidchen auf ihren Bruder,
stürzte der Müller über Bord. Es gab einen großen Plumps.

Gerd lachte schallend, dröhnend. »So ist's recht,« rief er, »ein
bißchen Abkühlung tut dir gut nach dem Freimarktsdusel.«

Als er seinem prustenden, klatschnassen Fahrgast aus dem sumpfigen
Schilfwasser ins Schiff zurückgeholfen hatte, fischte er auch das
Stangenruder heraus und brachte das Fahrzeug mit ein paar Stößen
wieder auf die Mitte des Flusses.

Leidchen kam mit dem Torflaken, das zum Schutz gegen Regen über die
Ladung gebreitet wird, um den Durchnäßten abzutrocknen. Dieser ließ
sich solche Fürsorge gern gefallen, gewann seine gute Laune schnell
zurück, und bald saß er, von Kopf zu Fuß in das Laken gehüllt, wieder
auf der Segelbank neben ihr und machte einen Witz über den anderen.

»Es wird kälter,« sagte Gerd, »leg' dich in die Koje, Leidchen, und
schlaf!«

»Mich friert gar nicht.«

»Hast du mich verstanden?«

»Ich lege mir noch ein Tuch um.«

»Du sollst verschwinden, hast du mich verstanden?«

»Aber Gerd,« mischte sich der Dritte ein, »wenn sie lieber ...«

»Wer ist hier Herr im Schiff? Leidchen, wird's bald?«

Er hob drohend das Stangenruder.

Da stand sie auf und ging trotzig aufstampfend nach vorn. Hermann, der
sich gleichfalls erhoben hatte, hielt ihr den Kojendeckel, bis sie
sich im knisternden Stroh zurecht gelegt hatte, wünschte Gute Nacht
und schloß behutsam über ihr. Dann legte er sich, in das Torflaken
gehüllt, auf den Boden des Schiffes. Gerd riet ihm, das Segel ein
wenig zu lösen und sich hineinzudrehen, was er sich nicht zweimal
sagen ließ; denn die nassen Kleider und die Kühle der Herbstnacht
machten sich unangenehm genug bemerkbar.

»Endlich Ruhe im Schiff,« murmelte Gerd und gab sich seinerseits dem
gewohnten, halbschlafähnlichen Dösen hin, mit dem er die Nachtstunden
auf der Hamme zu kürzen pflegte. -- --

»Guten Morgen, Gerd!«

»Guten Morgen. Schön geschlafen?«

»Prrr! Eine schändliche Kälte!«

»Das hast du dafür. Warum bleibst du nicht, wo du hingehörst?«

Nach einer Weile richtete der Fahrgast sich etwas auf und begann,
gegen die Segelbank gelehnt, von neuem:

»Gerd, ich möchte wohl mal ein vernünftiges Wort mit dir reden.«

»Da bin ich begierig.«

»Ich kümmere mich nicht gern um anderer Leute Sachen.«

»Mag auch ebensogut sein. Jeder hat genug mit seinen eigenen zu tun.«

»Ja, aber wenn des Nachbars Haus brennt, kann einer das doch nicht
ruhig mit ansehen.«

»Aber Mensch, nun sag', was du zu sagen hast!«

»Wenn ich meine ehrliche Meinung sagen soll, du fängst das mit
Leidchen nicht richtig an.«

»Nun hör' mal einer an!«

»Wenn du mir nicht zuhören willst, kann ich ja auch den Mund halten.«

Nachdem Gerd eine Strecke schweigend sein Schiff gestakt hatte, sagte
er zögernd: »Hermann, meinetwegen sprich dich mal rein aus.«

»Gerd,« begann der Müller, »ich hab' dich gestern immer wieder
angucken müssen. Auf dem Freimarkt werden sonst alte Brummpeter sogar
wieder lustig, aber du hast den ganzen Tag ein Gesicht gemacht, wie
ein Pott Sauermilch ... als ob du Leidchen das bißchen Vergnügen nicht
gönntest ... als ob sie dich jedesmal um Erlaubnis fragen müßte, wenn
sie mal lachen will. Wenn sie mich nicht gehabt hätte, hätte sie
ebensogut zu Hause bleiben können. Und vorhin hast du sie in die Koje
geschickt, wie ich unsern Hund nicht in seine Hütte jage. So könnte
man's vielleicht mit einer Schlafmütze von Deern machen, die knapp
weiß, daß sie lebt. Aber, glaube mir, ein Mädchen wie deine Schwester
läßt sich solche Behandlung auf die Dauer nicht gefallen. Wenn der
Fuhrmann die Zügel gar zu scharf anzieht, schlägt ein edles Pferd, das
Blut und Feuer in sich hat, über die Stränge.«

Gerd schwieg eine Weile, etwas betroffen. Dann sagte er: »Leidchen
weiß ganz gut, wie ich's meine.«

»Gewiß meinst du es gut,« fuhr der andere fort, »aber es geht nirgends
bunter her, als in der Welt, und die gute Meinung allein tut's da
nicht. Sieh, Leidchen hat Temperament und Rasse, und du bist von Natur
ruhig und solide. Da kannst du doch unmöglich verlangen, daß sie
genau so sein soll wie du bist. Das ist nicht jedem gegeben, mir zum
Beispiel auch nicht, aber darum kann unsereins doch ein ordentlicher
und anständiger Mensch sein.«

»Wie kommst du dazu, dies alles herzukriegen?«

»Das will ich dir ganz genau sagen: Leidchen ist 'ne kleine nette
Deern, die feinste in unserm ganzen Dorf. Es hat mir Spaß gemacht, ihr
mal den Freimarkt zu zeigen. Da tut es mir nun weh, daß immer so'n
Buhmann und Landgendarm hinter ihr her sitzt.«

»Hoho! Wenn sonst keiner hinter ihr her sitzt, soll's schon gehen.«

»Nichts für ungut, Gerd. Du wolltest ja, ich sollte mich rein
aussprechen. Du kannst deshalb doch machen, was du willst. Aber ich
wollte dies doch gesagt haben, weil ich es gut mit euch beiden meine.«

»Wir müssen jetzt aussteigen,« sagte Gerd, der inzwischen das Schiff
in den Graben gelenkt hatte und vor dem ersten Klappstau anlegte, »du
kannst Leidchen auch wecken.«

Hermann öffnete die Koje und rief sie beim Namen. Als sie langsam
hochkam, sagte er: »Deern, Deern, du kannst dich freuen, daß du den
warmen Unterschlupf gehabt hast. Mich hat jämmerlich gefroren.«

Sie sandte durch das dämmernde Grau der Frühe dem Bruder einen bösen
Blick zu, aber der andere fuhr fort: »Ein Bruder, der so fürsorglich
ist und an alles denkt, wie Gerd, ist gar nicht mit Geld zu bezahlen.«
Dann legte er sich vorne ins Tau und half kräftig, das Schiff die
vielen Staue hinaufzubringen.

Als sie bei der Mühle ankamen, legte er Leidchen das Seil über
die Schultern, gab den Geschwistern die Hand, man bedankte sich
gegenseitig, und er schritt seinem stattlichen Elternhause zu, indes
die beiden ihre Fahrt fortsetzten, sie in der Leine und ziehend, er
mit dem Ruder das Schiff vom Ufer haltend und schiebend.

Als sie eine Stunde später das Fahrzeug im Schauer geborgen hatten und
dem Hause zu gingen, sagte Gerd, mit einiger Überwindung: »Ich glaube,
ich bin ein bißchen unfreundlich und verdrießlich gewesen.«

»So? Wenn du das nur einsiehst!«

»Es wär' besser gewesen, wir wären unter uns geblieben.«

»Nun soll natürlich Hermann die Schuld haben!«

»Aber Mädchen, ich hab' ja kein Wort gegen ihn gesagt. Ich glaube
jetzt sogar, daß er im Grunde besser ist, als ich früher meinte. Das
heißt, so ganz traue ich ihm immer noch nicht ...«

Polli, der gelbe Fixköter, kam aus dem Hühnerloch neben der großen Tür
gekrochen und begrüßte die heimkehrenden Freimarktsfahrer mit Gebell,
Schwanzwedeln und Anspringen.




                                  6.


An der Peperschen Stelle Nr. 18 haftete seit alten Zeiten die
Schankgerechtigkeit.

Klaus Hinrich Peper hatte sich aus dieser all seine Lebtage nicht viel
gemacht. Es war oft genug vorgekommen, daß er halbwüchsige Burschen
nach dem zweiten Glas heimschickte, weil sie nun genug hätten, und
daß die geistigen Getränke ihm gerade dann ausgingen, wenn die Gäste
anfingen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Die ungebührlich
vorgehende Wanduhr führte die Polizeistunde stets viel zu früh herauf,
und doch wurde sie aufs pünktlichste innegehalten.

Dieses Unikum von Wirt war vor zwei Jahren Todes verblichen, und
sein Sohn und Erbe Heini hatte mit einem derart rückständigen und
unzeitgemäßen Betriebe des Wirtsgewerbes sofort gründlich gebrochen.
Es dauerte kein halbes Jahr, so war die große Lehmdiele mit glattem
Holzfußboden versehen, und die Polizeibehörde wurde mit Gesuchen um
Erlaubnis von Tanzbelustigungen bestürmt.

Aber der Herr Landrat machte neuerdings Schwierigkeiten, nachdem auf
der letzten Synode nicht nur die Geistlichkeit über die zunehmende
Vergnügungssucht im Bezirk geklagt, sondern auch ein alter Bauer
mit mächtiger Hakennase seine derbe, plattdeutsche Rede in den Ruf
hatte ausklingen lassen: »Landrat, werde hart!« Um sich an der
Kirche zu rächen, beschloß Heini, nicht mehr zum Abendmahl zu gehen,
und den Staat, der mit jener unter einer Decke spielte, wollte
er sein Mißfallen durch einen roten Stimmzettel bei der nächsten
Reichstagswahl fühlen lassen.

Was blieb einem strebsamen Wirt unter diesen Umständen anders übrig,
als Vereine zu gründen?

Aber damit bewies Pepers Heini -- der Kindername war ihm bis in sein
Mannesalter treugeblieben -- anfangs keine glückliche Hand. Die
Mitglieder des Kegelklubs »Gut Holz« waren halbwüchsige Bengels,
die viel Radau machten, aber leider sehr wenig verzehrten. Der
Radfahrerverein »Pfeil« entführte seine Leute in die Umgegend zur
Konkurrenz. Der Patriotismus wollte sich nicht auf Heinis Mühle leiten
lassen, weil die Krieger von Brunsode und Umgegend um seiner schönen
Augen willen das Miteigentumsrecht an dem Vermögen des Kriegervereins
im Kirchdorf nicht aufgeben wollten.

So saß Heini denn eines Abends mit seiner Frau Adeline, die
ebensowenig Lust zur Arbeit hatte wie er, aber um so lieber sich
putzte und mit den Gästen schön tat, wieder mal beratschlagend in der
Gaststube, als er sich plötzlich aufs Knie schlug und rief: »Deern,
wir versuchen's mal mit einem Gesangverein!« Sie redeten darüber hin
und her, wurden gutes Muts dabei und tranken auf das Wohl des neuen
Vereins: Frau Adeline einen Pfeffermünz, Heini zwei Klare und einen
Magenbitter.

Zwei Tage später war das Bauernmal vom Gemeindevorsteher entboten,
den Damm im unteren Dorf frisch zu besanden, wie es von Zeit zu Zeit
nötig ist, wenn Pferdebeine und Wagenräder nicht in dem moorigen
Dammkern versinken sollen. Ein Teil der Mannschaften grub den Sand
oben auf Stelle Nr. 19, wo er ziemlich hoch unter der Moorschicht saß,
andere schafften ihn in Torfbooten an den Damm, woselbst die übrigen
ihn auf Karren auseinanderschoben und mit Schaufeln ausbreiteten.
Dabei wurde mancher Mundvoll geschnackt, wie es bei Arbeiten für
die Gemeinde üblich ist. Harm Mehrtens, der Vorsteher, saß auf dem
Geländer einer Hofbrücke, schmökte seine Pfeife und führte die
Aufsicht.

Gerd Rosenbrock hatte gerad' seine Karre wieder einmal umgekippt, als
August Stelljes, der junge Bauer von Nr. 16, ihn ansprach:

»Gerd, sag' mal: hast du Begabung zum Singen?«

Der Gefragte stellte seine Karre hin: »Oh ... in der Schule hab' ich
die zweite Stimme ganz gut halten können.«

»Was meinst du, wenn wir hier auch so 'nen Männergesangverein
gründeten, wie sie ihn in Hasenwede und Grünmoor und Meinsdorf schon
lange haben?«

»Das wär'!« rief Gerd überrascht und erfreut. »Ich tret' auf der
Stelle bei.«

»Die Sache wird sich wohl machen, Pepers Heini hat gestern schon mit
dem Schullehrer gesprochen, und der hat auch wohl Lust,« fuhr August
fort. »Wer von euch im oberen Dorf mag wohl noch mittun?«

Gerd dachte nach und nannte einige Namen, versprach auch, mit diesem
und jenem darüber zu reden. Dabei schnackten sie sich so fest, daß
der Gemeindevorsteher zuletzt mit dem Mundstück seiner Pfeife auf
ihre Karren deuten mußte, damit sie ihre Arbeitspflicht der Gemeinde
gegenüber nicht ganz und gar vergäßen.

Niemand war über Heinis neuesten Plan glücklicher als Gerd Rosenbrock,
und er beschloß, alles aufzubieten, daß aus der Sache etwas würde.
Es kamen ja nun wieder die langen Winterabende. Für einen, der keine
Lust hatte, sich herumzutreiben, waren sie über die Maßen langweilig.
Da hockten sie in der Stube beieinander: Jan lag mit dem Kopf auf dem
Tisch und schlief, Trina flickte Kinderzeug, Leidchen spann, und er
selbst, Gerd, strickte Strümpfe oder schnitzte Wurststicken. Gegähnt
wurde viel, gesagt wenig und meist nur solches, was ebensogut ungesagt
hätte bleiben können. Jeder freute sich, wenn die Uhr endlich so weit
war, daß man mit Anstand ins Bett steigen konnte. Wenn da nun jede
Woche mal so einen Singeabend brächte ... Junge, Junge, das wäre fein!
Und sofort begann er zu werben, und alle, die er haben wollte, gewann
er auch für die Sache. Denn was er einmal betrieb, das betrieb er mit
einem Nachdruck, dem der Erfolg nicht leicht fehlen konnte.

Drei Tage später wurden von Nr. 18 aus Laufzettel die Dorfreihe
hinauf- und hinabgeschickt, die zur Gründungsversammlung eines
Männergesangvereins einluden und unterzeichnet waren: »Der
Einberufer.« Solche meist in köstlicher Orthographie abgefaßte
Oktavblättchen, die der Nachbar zum Nachbarn weiterzubefördern
gehalten ist, sind in Brunsode die ortsübliche Bekanntmachung.

Zu der auf dem Laufzettel angegebenen Stunde füllten an die dreißig
Stellbesitzer, Haussöhne und Knechte -- trennende soziale Unterschiede
kennt das Kleinbauerntum des Moores kaum -- Heini Pepers Gaststube
bis auf den letzten Platz und qualmten, priemten, spuckten für
Gewalt. Frau Adeline, hochbusig, von einem ölig glänzenden Haartempel
überragt, ein kokettes Lächeln im Gesicht, bediente den kürzlich
angeschafften Kohlensäureapparat, während ihr Heini, der sich so recht
in seinem Elemente fühlte, mit den Biergläsern sprang.

Endlich erscheint auch Herr Timmermann, bei dessen Eintritt die
ohnehin nicht sehr lebhafte Unterhaltung plötzlich wie abgeschnitten
ist. Er hat nämlich mit den Brunsodern noch keinen Scheffel Salz
gegessen. Nachdem man sich daran gewöhnt hat, daß er Urlaub nur in
Notfällen gibt und auf ruhm- und trostreiche Leichenpredigten als
nicht zu seinem Amt gehörig sich überhaupt nicht einläßt, gilt er der
Mehrheit aber doch schon als ein »anständiger Junge«, und einige,
denen es lieb ist, daß er die Jugend »schärfer lernt« als der selige
Lenz, halten ihn bereits gar für einen »alten ehrlichen Burschen«. Und
mehr kann einer wirklich nicht verlangen, der erst vor vier Jahren von
der Wasserkante her als Fremdling ins Land kam.

Auf Heini Pepers Ersuchen nimmt Herr Timmermann bald das Wort. Indem
er mit der langen, schmalen Hand die auf ihn zuwogenden braungelben
Tabakswolken zur Seite lenkt, spricht er seine Freude darüber aus,
daß der edle deutsche Volksgesang, diese wunderbare Blüte, aus der
Tiefe der deutschen Volksseele emporgeblüht, nun auch in Brunsode
eine Pflegstätte finden soll. Als ganz junger Lehrer würde er das
noch viel schöner und poetischer gesagt haben; die vier Jahre unter
den Bauern hatten ihn doch schon ein gut Teil sachlich schlichter
gemacht und seine Ausdrucksweise dem höheren Aufsatzstil entfremdet.
Er schloß seine Ausführungen damit, daß er sich bereit erklärte,
die musikalische Leitung des zu gründenden Vereins zu übernehmen,
allerdings unter der Voraussetzung und Bedingung, daß die regelmäßigen
Übungen in der Schule stattfänden.

Heini, der vorhin mehrere Male Bravo gerufen hatte, machte ein
langes Gesicht und sah seine Frau an, die ein dummes zur Schau trug.
Dann zwinkerte er mit seinen Fuchsaugen Freund August Stelljes zu.
Aber der war kein Redner und getraute sich nicht. Es blieb ihm also
nichts übrig, als selbst das Wort zu ergreifen. Was so die echte,
rechte deutsche Gemütlichkeit wäre, begann er, die käme in so einem
Schulzimmer mit seinen peinlichen Erinnerungen nicht auf, womit er
natürlich nichts gegen die Schule an sich oder den Herrn Lehrer
gesagt haben wolle. Aber die alten Deutschen hätten immer noch eins
getrunken, und die jungen Deutschen liebten einen guten Tropfen frisch
vom Faß ebenfalls, und das brauche er wohl kaum zu erwähnen, wie
leicht gerade beim Singen die Leber trocken würde.

August Stelljes und noch einige lachten, nickten und riefen Bravo,
Herr Timmermann zuckte die Achseln.

Eine ganze Weile sagte niemand etwas, nur im Flüsterton wurde hier
und da an den Tischen beraten, bis endlich Wilhelm Behnken Nr. 22,
den das Vertrauen des Dorfes zum Schulvorsteher, Beigeordneten des
Gemeindevorstehers und Kanalgeschworenen gemacht hatte, sich räusperte
und trocken erklärte, er stimme auch für die Schulstube; denn in einem
Gesangverein wäre nach seiner Ansicht das Singen die Hauptsache.

Jetzt war die Zeit gekommen, das Eisen zu schmieden, fiel es wie
eine Erleuchtung über Herrn Timmermann, er schnellte in die Höhe
und fragte: »Ist jemand gegen den Antrag des Herrn Schulvorstehers
Behnken?« Es erhob sich wohl ein Brummen, aber kein Finger. »Also
einstimmig angenommen. Wie wollen wir uns nennen? Ich schlage vor:
Männergesangverein Feierabend. Das klingt bescheiden und traulich
zugleich. Ich sehe, daß alle einverstanden sind. Wir schreiten nunmehr
zur Vorstandswahl. Ich erlaube mir vorzuschlagen: Herrn Wilhelm
Behnken als Präsidenten, Herrn Heini, pardon, Heinrich Peper als
Vizepräsidenten, meine Wenigkeit zum Dirigenten und Schriftführer.
Ferner Herrn Johann Segelken als Kassenwart, und endlich, damit auch
die jüngere Generation vertreten ist, was ich für wünschenswert halte,
Herrn Gerd Rosenbrock als Beigeordneten. Ist jemand gegen diese
Liste? ... Ich stelle fest, daß dies nicht der Fall ist und frage die
genannten Herren, ob sie die Wahl annehmen.«

»Zur Geschäftsordnung!« rief Heini Peper, mit ausgestrecktem Finger
vorspringend.

»Bedaure sehr, Herr Peper, eine Geschäftsordnung besitzen wir
noch nicht, können aber im Vorstand mal eine machen. Ich darf
wohl die Erklärung abgeben, daß der gesamte Vorstand, für das ihm
bewiesene Vertrauen dankend, die Wahl annimmt, und lasse jetzt
die Mitgliederliste herumgehen, in die ich Namen und Hausnummer
einzutragen bitte.«

Neunzehn der Anwesenden zeichneten sich sofort ein. Einige, denen als
Leuten mit etwas langer Leitung die Sache gar zu fix gegangen war,
wollten sich noch besinnen, andere hielten es für besser, erst ihre
Frauen zu fragen.

Die Ansichten über Lehrer Timmermann gingen diesen Abend auseinander.
Heini Peper meinte, er hätte die Leute wie Schulkinder behandelt,
und man wäre dumm genug, daß man sich so was gefallen ließe. Karsten
Brammer, der Dorfpolitikus, kratzte sich hinterm Ohr und sagte:
»Donnerschlag! Wenn der Reichstag solchen Präsidenten hätte, könnte
er was beschicken.« Gerd Rosenbrock war dem Lehrer für die ihm so
unerwartet zugeschanzte Ehre dankbar und mußte sich die nächsten Tage
öfter selbst warnen, daß er den Kopf nicht zu hoch trug. -- --

Einmal hatte Herr Timmermann den Vorstand zu einer Sitzung eingeladen,
und während die übrigen auf sich warten ließen, war Gerd auf die
Minute pünktlich erschienen. Da kamen die beiden ins Gespräch, und
es machte sich so, daß der Lehrer seinen Gast fragte, wie er seine
Abende zubrächte. Darauf konnte dieser nichts Rechtes sagen. Ob er
nicht Lust hätte, mal ein gutes Buch zu lesen, fragte der andere
weiter. Och ja, meinte Gerd, wenn er eins für ihn wüßte. Herr
Timmermann langte nach seinem Bücherbord und nahm einen Band heraus,
den er in ein Zeitungsblatt wickelte und, um freundliche Schonung
bittend, für den jungen Sangesbruder bereit legte. Gerd wunderte
sich wieder einmal über das Interesse, das der Lehrer seiner Person
entgegenbrachte, zumal er sich nie um den Mann gekümmert hatte und ihm
seit der Schulzeit eigentlich ganz aus der Kunde gewachsen war.

Das Buch, das er mit nach Hause trug und gleich nach Feierabend des
nächsten Tages zu lesen begann, hieß »Uli der Knecht«. Es machte ihm
anfangs einige Schwierigkeit, hineinzukommen. Aber bald schlug die
Geschichte des jungen Bauernknechts, der aus dumpfem, liederlichem
Leben sich langsam heraufgearbeitet, ihn in Bann. Und es dauerte nicht
lange, so fing er von vorne an und las das Buch seiner Schwester
vor. Auch Jan und Trina fanden bald am Zuhören Freude. Man hörte
auf, nach dem Bett zu gähnen, und blieb manchmal bis gegen halb zehn
beisammen. Und es waren schöne Abendstunden, wenn der Bauernfamilie
des niederdeutschen Moores sich das Bild oberdeutschen Bauernlebens
entrollte, wie der Pfarrer von Lützelflüh es in seinem Buche so
wundervoll farbig und kraftvoll gemalt hat. Man las und hörte die
Geschichte nicht bloß, man lebte sie mit, und jeder wählte sich einen
Helden, für den er gegen die anderen Partei ergriff. Jan hielt es als
Stellbesitzer mit seinem Namensvetter, dem Meister Johannes, während
er über Joggeli, den Bauern der Glungge, oftmals den Kopf schüttelte.
Trina trat für die gute Meisterin ein. Gerd stand natürlich auf seiten
seines Mitknechts Uli, dessen Torheiten er schmerzlich empfand, indes
sein langsames Aufsteigen ihn mit frohester Teilnahme erfüllte.
Leidchen paßten alle die Trinis, Ürsis, Stinis, Käthis, Elisis gar
nicht. Als aber das liebe Vreneli auf der Bildfläche erschien, fühlte
sie sich mit ihrer Heldin der ganzen Tischrunde überlegen und lachte
ihren Bruder aus oder machte Ätsch, wenn es sich wieder einmal zeigte,
daß Vreneli seinem Uli über war.

Und als sie mit »Uli dem Knecht« fertig waren, lieh Herr Timmermann
auch »Uli den Pächter« her.

                   *       *       *       *       *

Als der Verein im nächsten Herbst nach einer langen Sommerpause die
Übungen wieder aufnahm, stellte Heini Peper den Dringlichkeitsantrag,
schleunigst das erste Stiftungsfest zu feiern und die benachbarten
Vereine dazu einzuladen. Aber Herr Timmermann sprach mit
Entschiedenheit dagegen. Die Sänger könnten sich vor Fremden noch
nicht hören lassen, und ehe er sich mit dem Verein blamiere, würde
er lieber austreten. Man solle sich für dieses Jahr lieber mit
einer bescheideneren Feier begnügen; eine Christfeier zum Beispiel
würde im Dorf gewiß rechten Anklang finden. Die Abstimmung ergab
Stimmengleichheit für beide Anträge, so daß satzungsgemäß das Votum
des Präsidenten entscheiden mußte, das zugunsten des Lehrers fiel.
Zugleich stellte jener seine Diele als die geräumigste am Ort zur
Verfügung.

Es wurde nun wacker geübt, und der Eifer und die Begeisterung des
Dirigenten riß auch die anfangs Widerwilligen mit fort. Da der Lehrer
auch den Schulchor heranziehen wollte, um den Abend reicher zu
gestalten, war kaum ein Haus im Dorf, das nicht den einen oder anderen
Mitwirkenden stellte, und überall sah man der Feier mit freudiger
Erwartung entgegen.

Am Nachmittag des zweiten Advent waren die Töchter und Schwestern der
Sangesbrüder ins Schulhaus geladen, um unter Mariechen Timmermanns
Leitung Rosen und Lilien für den Christbaum anzufertigen. Als Leidchen
am Abend nach Hause kam, glühte sie selbst wie eine dunkelrote
Christrose. »Gerd,« rief sie freudig erregt, »ich und der Lehrer
wollen Weihnachtsabend ganz allein ein Lied zusammen singen, immer
umschichtig, 'n Duett nennt er das,« und sie sang ihm den Anfang ihres
Parts vor. »Deern, Deern,« sagte er ängstlich und doch auch erfreut,
»das willst du auf dich nehmen?«

Gerd, der es übernommen hatte, den Christbaum zu besorgen, mußte
mehrere Stellen, auf denen Sangesbrüder hausten, absuchen, bis er bei
der Stütze des zweiten Basses einen fand, der ihm schön und schlank
genug war. Wie er ihn die Dorfreihe entlang zu Wilhelm Behnken trug,
hatte er bald zwei Dutzend Kinder hinter sich. Auf Bitten des Lehrers
halfen er und Leidchen auch beim Schmücken des Baumes, und die beiden
Geschwisterpaare waren sehr vergnügt dabei.

Endlich war der von alt und jung ersehnte 24. Dezember da, es
schien aber, als hätten die Moorgründe sich gegen das Vorhaben der
Brunsoder verschworen. Denn die graugelben Nebel, die sie den ganzen
Tag heraufsandten, waren dick und zähe, und legten sich schwer auf
das Land und die Lungen. Wer mit Husten zu tun hatte, tat heute ein
übriges. Wer nachmittags um drei auf dem Brunsoder Damm ging, sah von
der Dorfreihe nichts und entdeckte die ihn säumenden Birken erst, wenn
er fast mit der Nase draufstieß. Aber um die Leute im Hause und der
Feier fern zu halten, hätten die Moornebel noch dreimal so dick und
schwer sein müssen.

Gegen halb vier fingen allerhand wunderliche Gestalten an, sich durch
den feuchtkalten grauen Dunst zu arbeiten, mit viel Gestöhne und
Gehuste, das zuweilen von einer kurzen Unterhaltung aus zahnlosem
Munde unterbrochen wurde. Es waren die Ältesten des Dorfes, gebückte
und verkrümmte Männlein und Weiblein, die ihren Torf seit Jahrzehnten
heraus hatten und ihre Tage hinter dem Ofen verdämmerten. Viele von
ihnen hatten noch nie einen brennenden Christbaum gesehen; denn in
die Häuser fand er erst neuerdings Eingang, und eine kirchliche
Christvesper, wie sie in den Geestdörfern üblich war, wurde in der
über Quadratmeilen zerstreuten Moorgemeinde nicht abgehalten. Da
wollten sie nun heute die gute Gelegenheit wahrnehmen, und bereits
eine gute Stunde vor Beginn der Feier wankten sie an Stöcken und
Krücken, zum Teil auch mit glimmenden Feuerkieken zur Erwärmung der
Füße versehen, Behnkens Diele zu, um ihrer hart gewordenen Ohren und
schwachen Augen wegen die vordersten Bankreihen zu besetzen.

Bald darauf koppelte sich die Schuljugend auf dem Damm. Die Eltern
hatten das unruhige Völkchen gern vor der Zeit hinausgeschickt, um bei
dem letzten Rüsten auf die Festtage die Füße frei zu haben. Fröhlich
klangen die jungen Stimmen durch den Nebel. Ein paar übermütige
Jungens machten sich einen Spaß daraus, plötzlich aus der Dunsthülle
hervorzuspringen und die Mädchen zu erschrecken, die dann hell
aufkreischten, lachten oder schimpften, je nach Gemütsart.

Was in den rüstigen Arbeitsjahren zwischen goldener Kinderlust und
silbernem Greisenschmuck stand, stellte sich erst kurz vor fünf Uhr
ein, als schon der Abend die Nebelmassen dunkelte. Väter und Mütter
trugen ihre Jüngsten auf dem Arm oder ließen sie neben sich her
puddeln. Die Sangesbrüder waren als die Helden des Tages leicht an dem
festen, selbstbewußten Schritt zu erkennen.

Vor drei Jahren, als Behnkens Jan einheiratete und über hundert Haus
zur Hochzeit geladen waren, hat die große Diele viel Gäste gesehen,
aber heute sind's sicher noch weit mehr. Ein paar Bettlägerige und die
Allerkleinsten mit ihren Wärtern abgerechnet, ist das ganze Moordorf
beieinander und wartet der kommenden Dinge. Man sitzt auf Brettern,
die über hochgekippte Torfgleise gelegt sind. Für die Bejahrtesten
sind Stühle gestellt, damit sie die schwachen Rücken anlehnen können.
Die halbwüchsige männliche Jugend hat die Hillen über den Kuhställen
erstiegen und läßt zwischen den Hühnernestern die allzeit unruhigen
Beine herunterbaumeln. Die Sänger nehmen das Flett ein: rechts der
Verein »Feierabend«, links der Kinderchor. Zwischen ihnen, über der
ehemaligen Herdstelle -- vor der letzten Hochzeit ist eine Küche mit
Sparherd eingebaut worden -- ragt der Christbaum bis dicht unter die
rußgeschwärzte sodglänzende Decke, noch von Dämmerdunkel umwoben, aber
mit verheißungsvollem Funkeln im Gezweige. Die Nebelschwaden, die
mit den Menschen eindringen, irren umher, ballen sich zusammen und
umziehen drohend die paar Hängelampen, die hier und da kläglich durch
den Dunst glimmen.

Aber mögen die Moornebel heut' noch so mächtig sein, hier drinnen
sollen sie nicht zur Herrschaft gelangen. Ein Licht flammt auf, noch
eins, und viele, und mit ihnen erglühen Rosen und Lilien ohne Zahl in
den Zweigen des zu seiner vollen Pracht erblühenden Wunderbaumes. Da
werden Hunderte von Augen weit und groß, alte und junge, helle und
trübe, kalte und warme Augen; Augen, die von nichts wissen als von
stumpf machender Mühe und Sorge, und Augen, die einem verborgenen
Leben des inwendigen Menschen leise Zeugnis geben und heimlich in eine
andere Welt zu schauen gelernt haben. Ein Paar solcher Augen hat die
achtzigjährige Anntrin Gerken, vorn rechts im Lehnstuhl. Zum Sehen
sind sie nicht mehr viel wert, aber schauen -- das können sie besser
denn je, und wohl am besten von all den Augen, in denen sich heut'
abend der Lichterbaum spiegelt.

»Tack, tack, tack.« Herr Timmermann, in schwarzem Gehrock und weißer
Binde, schlägt mit seinem Stöckchen gegen eine Stuhllehne. Die Männer
erheben sich wie ein Mann, mit Räuspern die Liederkehlen nachputzend
und Atem auf Vorrat schöpfend. Das Stöckchen wippt, steigt, senkt
sich, da bricht es los mit Donnergewalt: »Es ist ein Ros entsprungen,
aus einer Wurzel zart.« Herr Timmermann hebt beschwörend die Hände,
sendet drohende und flehende Blicke, zischt: +piano!+ -- es
hilft alles nichts. Das Lampenfieber vor dem ersten öffentlichen
Auftreten weicht nur der Gewalt, und so braust das zarteste aller
Weihnachtslieder daher wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und
Wogenprall. -- Das Fortissimo hat aber auch sein Gutes. Selbst die
Taubsten in den vorderen Reihen, die ihre großen Handmuscheln als
Schalltrichter hinter die Ohren gesteckt haben, bekommen etwas zu
hören.

Herr Timmermann tritt vor dem Christbaum zu seiner jungen Schar
hinüber, die ihn mit hellen, frohen Augen ansieht, und rein und süß
erklingt es: »Ihr Kinderlein, kommet, o kommet doch all.« -- Der
Pastor in Grünmoor kann morgen noch so schön predigen, die Brunsoder
Frauen und Mütter wird er doch nicht so erbauen, wie's dieser Gesang
ihrer Kinder tut.

So wechselt Lied um Lied aus Männerkehlen und Kindermund, bis
Herr Timmermann mit dem Stöckchen klopft und verkündigt: »Keine
Weihnachtsfeier ohne die liebe, alte Weihnachtsgeschichte. Hannchen,
das jüngste Kind unseres Präsidenten und freundlichen Gastgebers, wird
sie uns erzählen.«

Ein Alter auf der ersten Bank faltet die zitterigen Hände und
erhebt sich, nach und nach folgt die ganze Versammlung seinem
Beispiel. Inzwischen ist Hannchen, eine dralle Dickersche, mit
kugelrunden braunroten Backen und geölt glänzendem Blondhaar, auf
einen Binsenstuhl geklettert, setzt dem Dorf ein artiges Knickschen
hin und beginnt, indes hinten in Vaters Stall eine Kuh brüllt, die
Geschichte vom Stall zu Bethlehem. Sie macht ihre Sache sehr brav,
und Mutter Behnken wischt sich Freudentränen aus den Augen. Vor zwölf
Jahren, als Hannchen so gar spät hinter den Geschwistern ankam,
und Jan, auf Weihnachtsurlaub zu Hause erscheinend, beim Anblick
dieser unerwarteten Christbescherung sein Gesicht lang zog, hat sie
sich ihrer ein wenig geschämt. Aber heute ist sie stolz auf ihr
Nesthäkchen, und ihrem Ältesten, der selbst schon ein Kindchen auf dem
Arm hat, sieht sie es an, daß er's auch ist.

Als Hannchen vom Stuhl zur Erde gesprungen ist, tritt Vater Behnken
vor, einen tuchbedeckten länglichen Gegenstand im Arm, dem sich alle
Hälse entgegenrecken. Die Hülle fällt, ein Regulator funkelt im
Weihnachtslicht und wird dem verwundert dreinblickenden Lehrer auf
die Arme gelegt. Der steht erst einen Augenblick starr, um dann seine
Stimme zu erheben: »Meine lieben Sangesbrüder! Ich weiß nicht, was
ich sagen soll. So haben Sie mich mit Ihrem prachtvollen Geschenk
überrascht und erfreut. Wie soll ich das nur wieder gutmachen? ...
Nun, ich verspreche Ihnen hier unter dem brennenden Christbaum, daß
ich mit erneuter Freudigkeit meines Amtes als Ihr Dirigent walten
werde, und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß unser Männergesangverein
›Feierabend‹ je mehr und mehr sich als eine wirkliche Bereicherung
unseres dörflichen Lebens erweisen wird und dem Dorf noch manche
schöne Stunden, wie die heutigen, schenken möge. In diesem Sinne nehme
ich die Gabe mit herzlichem Danke an. Aber nun fahren wir mit unserer
Feier fort. Bitte, der Männerchor!«

Endlich kommt auch die Reihe an Leidchen Rosenbrock. Sie sitzt
wohlgeborgen zwischen ihren Freundinnen, aber ums Herz herum ist
ihr bänglich und beberig wie nie zuvor, nicht einmal vor der
Konfirmandenprüfung vor bald zwei Jahren. Herr Timmermann gibt ihr ein
Zeichen mit den Augen, und wie das nicht hilft, mit der Hand. Da rafft
sie allen Mut zusammen und tritt vor, verwundert, daß die Beine, die
sich wie Stöcker fühlen, sie tragen.

Nun steht sie unter dem Tannenbaum, spürt die würzige Wärme auf ihren
glühenden Wangen, läßt ihre flimmernden Augen über das Köpfemeer vor
sich irren, fühlt das Herzchen bis in den Hals hinauf klopfen. Wird
sie überhaupt einen Ton über die Lippen bringen?

Ihr Partner blickt sie ermutigend an und singt ihr seine Frage zu. Und
sie bleibt ihm die Antwort nicht schuldig. Zwar kommt sie ein wenig
hastig und stoßweise, aber sie kommt. Das nächste Mal klingt's schon
freier. Und im Wechselgesang geht's zwischen den beiden hin und her,
immer froher, immer jubelnder, bis auf einmal Herr Timmermann sich
herumwirft, beide Hände hoch erhoben, und nun die beiden Chöre mit
einem »Ehre sei Gott in der Höhe« einfallen.

Leidchen hat ihren alten Platz wieder eingenommen. Die Nachbarin links
krault ihr das Knie, die zur Rechten streichelt ihren Arm, eine Frau
klopft ihr von hinten auf die Schulter. Wie sie aufblickt, sind die
Augen fast aller Sangesbrüder auf sie gerichtet. Mariechen Timmermann
nickt ihr zu. All diese Huldigung geht ihr ein wie feuriger, süßer
Wein. Es kommt wie ein Freudenrausch über sie ...

Die letzten Lieder verklingen, indes die Lichter sacht niederbrennen
und flackernd erlöschen, und die Türen öffnen sich in die stickdunkle
Nebelnacht hinaus.

Leidchen wollte eben das Haus verlassen, als jemand sie am Arm
festhielt. Es war Mariechen Timmermann, die ihr zuflüsterte, es wäre
mit Gerd abgemacht, daß sie beide noch für eine Viertelstunde mit
hinübergingen. Und schon hatte das zierliche Persönchen sich in ihren
Arm gehängt und zog sie mit sich fort.

Als Gerd und der Lehrer ihnen nach einer Weile ins Schulhaus folgten,
war der Tisch schon gedeckt, und bald saßen die vier beim Abendbrot,
das aus mancherlei Wurst vom selbstgemästeten Schwein bestand, wozu
eine Kaffeekanne süß duftende Schokolade spendete. Leidchens feine
Nasenflügel flogen; denn sie liebte Schokolade sehr, hatte aber noch
nie welche in flüssigem Zustande zu sich genommen.

»Genötigt wird bei uns nicht,« erklärte das Hausmütterchen
nachdrücklich, aber die Gastgeber mußten sich doch bald zu des Landes
Brauch bequemen. Denn wenn Leidchen auch ungebeten ganz wacker
zulangte, so machte Gerd um so größere Schwierigkeiten und gab der
Schwester mit den Augen heimlich Zeichen, daß sie nicht gar so frei
und frech sein sollte. Er schämte sich ihrer fast ein wenig.

Als sie ihre Tasse hinhielt, um sie zum drittenmal füllen zu lassen,
griff er kurz entschlossen über den Tisch, stülpte sie um und sagte:
»Besten Dank, sie hat nun wohl genug.«

Mariechen sah ihn groß an.

»Kälber und Kinder Maß müssen alte Leute wissen,« erklärte er trocken.

»Hören Sie mal, Rosenbrock,« rief Mariechen verwundert, »Sie treiben
Ihre Vormundschaft aber etwas weit.«

»Ja, ja,« stimmte Leidchen aus vollem Herzen zu, »ist gut, daß Sie ihm
das auch mal sagen. Mir glaubt er's ja doch nicht.«

»Zur Strafe trinken Sie auch noch eine Tasse,« verfügte Mariechen, und
es war schon zu spät, das Unglück noch zu wenden. Arg mußte er sich
mit dem für seinen Geschmack viel zu süßen Zeug quälen.

Als die Lehrersleute dann auf einmal verschwunden waren, meinte Gerd,
sie müßten nun wohl nach Hause gehen. Aber seine Schwester lachte ihn
aus und sagte: »Mensch, es fängt doch erst an! Hör', wie die beiden da
nebenan es wichtig haben!«

Er seufzte und wünschte sich lebhaft nach Hause. Das Ungewohnte
bedrückte ihn.

Plötzlich erklang im anderen Zimmer ein Klavier, die Tür öffnete sich,
und der Lichtglanz eines bunt geschmückten Christbaumes funkelte
ihnen entgegen. Und schon hatte Mariechen ihre Gäste am Arm genommen
und schob sie vor sich her in die Weihnachtsstube, wo man sich um
das Tafelförmige stellte und zu seinem etwas blechernen Klang »O du
fröhliche« anstimmte.

Nachdem der Lehrer und seine Schwester die gegenseitigen kleinen
Geschenke besehen und bewundert hatten, machten sie sich voll
freudiger Erwartung über das Paket aus dem Elternhause her. Da gab's
erst lauten Jubel, und dann saßen die beiden eng aneinandergeschmiegt
und lasen, sich umschlungen haltend, die Weihnachtsbriefe.

Gerd saß indessen stocksteif und regungslos vor dem Teller, den man
für ihn mit Äpfeln und Nüssen gefüllt hatte, und sah ernst vor sich
hin. Da nahm Leidchen auf einmal seine Hand, und als er aufblickte,
verriet ihm ein feuchtes Schimmern in ihren Augen, daß ihre Gedanken
denselben Weg genommen hatten wie die seinen. Darüber war er sehr
froh, und drückte mit Wärme ihre Hand, ließ sie dann aber schnell los,
um den anderen seine Gefühle nicht zu verraten.

Als diese mit dem Auspacken und Brieflesen fertig waren, wandten
sie sich wieder an ihre Gäste, wobei sie eine Liebenswürdigkeit
entwickelten, bei der dem jungen Moorbauernknecht schwül und bange
wurde. Er wußte nicht, was er sagen und wohin er sehen sollte, während
seine Schwester sich schnell in die Situation fand, ihr Silberlachen
klingen ließ und durch ihre freudeverklärte, jugendfrische
Lieblichkeit immer wieder die Augen auf sich zog. Die echte
Herzlichkeit, die man ihnen entgegenbrachte, bewirkte jedoch, daß
endlich auch Gerd anfing sich freier zu fühlen, und zuletzt lächelte
er gar leise vor sich hin, wie er nur tat, wenn ihm so recht von innen
her wohl war.

Mariechen Timmermann war groß in hübschen Einfällen, die ihr plötzlich
zu kommen pflegten und dann sofort ausgeführt werden mußten. »Wollen
mal einen Weihnachtsreigen machen,« rief sie auf einmal, gab Gerd und
Leidchen die Hände, ihr Bruder schloß den Ring, und so umschritten die
vier den Tannenbaum, indem sie dazu sangen: »O Tannebaum, o Tannebaum,
wie grün sind deine Blätter!« Als das Lied aus war und der Reigen sich
auflöste, nahm der Hausherr sein Schwesterchen in den Arm und gab ihm
einen schallenden Kuß. Gerd erschrak und sah diskret zur Seite; denn
solche Zärtlichkeit berührte sein Empfinden fremd und peinlich. Aber
auf einmal drängte ein junges, warmes Ding sich an ihn, und ehe er
etwas dagegen tun konnte, hatten ein paar frische rote Lippen sich
auch auf seinen Mund gedrückt. »Aber Leidchen!« murmelte er entsetzt
und suchte sie beiseite zu schieben, es half ihm alles nichts, sie
schmiegte sich um so fester in seine Arme und lächelte übermütig das
andere Pärchen an, und Mariechen rief: »Rosenbrock, Sie alter Bär,
machen Sie doch nicht ein Gesicht, als ob der Ziegenbock Sie gestoßen
hätte, seien Sie mal'n bißchen nett mit Ihrer kleinen Schwester!« Da
überwand er sich, zu lächeln.

»Was meinen Sie, Gerd,« fragte Timmermann, »ob wir unsere süßen Deerns
noch lange behalten? Oder ob schon bald so'n Schlingel kommt und sie
uns aus den Armen wegholt?«

»Das hat wohl noch gute Weile,« meinte er.

»Nee, nee,« rief Mariechen, »er soll bald kommen, ich bin schon
vierundzwanzig.«

»Hm, hm. Dann wird's freilich bei kleinem Zeit, ich hab' auch bloß an
Leidchen gedacht; denn im Durchschnitt wird hier im Moor viel zu früh
geheiratet.«

»Ach was, jung gefreit, hat noch niemand gereut.«

»Das hat schon manchen gereut,« versetzte Gerd ernsthaft und schickte
sich an, Beispiele zu bringen.

Aber seine gralläugige Widersacherin lachte ihm ins Gesicht:
»Rosenbrock, Sie reden ja genau wie'n Pastor,« und Leidchen klatschte
in die Hände und jubelte: »Das ist recht, daß Sie's ihm heut' abend
mal ordentlich sagen. Mir glaubt er ja doch nicht.«

»Na, Otto,« rief Mariechen, die sich nicht gern zu lange bei einer
Sache aufhielt, »nun spiel' uns mal einen Walzer, ich will mal eben
mit Leidchen herumtanzen.« Er setzte sich vor das Klavier und begann
zu hämmern, und die beiden Mädchen schwebten zärtlich verschlungen
mit lachenden Augen durch den etwas engen Raum, indes die Brüder mit
freudigem Stolz ihren Bewegungen folgten und frohe Blicke wechselten.
Dann trat Mariechen mit zierlicher Verbeugung vor Gerd hin, ihn
zu einem Tänzchen auffordernd. Er schüttelte den Kopf, wurde rot,
wollte böse werden, aber sie ließ nicht locker, und so mußte er
schließlich mit, und sogar als Dame, wobei er einen Stuhl umriß,
während Leidchen, die Hände in den Seiten, über den hölzernen Tänzer,
der so verzweifelte Gesichter schnitt, sich totlachen wollte. Darauf
drängelte Mariechen ihren Bruder vom Klavierbock, begann selbst auf
die Tasten zu trommeln, und er mußte mit Leidchen antreten. Das gab
ein schmuckeres Paar, und sie tanzten auch ein Weilchen länger als die
vorigen.

Und dann saßen die beiden Geschwisterpaare wieder um den Tisch,
knackten Nüsse, aßen Vielliebchen, rieten Scherzrätsel, spielten
Dichterquartett, der Hausherr las ein hübsches Weihnachtsgeschichtchen
vor, das er irgendwo gefunden hatte, und so enteilten die Stunden aufs
angenehmste. Gerd, der nachgerade völlig aufgetaut war, wußte dem
kleinen Racker, der es nicht lassen konnte, ihn aufzuziehen, jetzt
ganz gut zu dienen und hatte öfters die Lacher auf seiner Seite.

Mitternacht war längst vorüber, als die beiden Gäste endlich
losgelassen wurden und den Heimweg antraten. Leidchen hing sich in den
Arm des Bruders und sagte, indem sie den Damm dahinschritten: »Junge,
Junge, heut' haben wir mal Weihnachten gefeiert! So vergnügt hab' ich
dich noch nie gesehen. Von den beiden kannst du lernen, wie Bruder und
Schwester miteinander umgehen sollen.«

Gerd antwortete nichts darauf.

Nach einer Weile legte er den Arm fest um sie und sagte: »Leidchen,
mit Worten und Zärtlichkeiten kann unsereins nicht so kramen wie
solche Leute. Aber nicht wahr? Wir wissen auch so, was wir aneinander
haben. Meinst du nicht auch?«

»Ach ja, das wohl ...«

»Und das ist die Hauptsache, Kind. Aber ich will dir gern zugeben, von
den beiden kann einer auch in solchen Dingen allerlei lernen. Bloß
nachmachen darf unsereins ihre Art nicht. Der Bauer muß Bauer bleiben,
sonst ist er überhaupt nichts.«

»Fängst du schon wieder an zu predigen?« rief sie und kniff ihn leicht
in den Arm.

Sie schwiegen jetzt beide und schritten, still gewordener Freude voll,
Arm in Arm und einer der Nähe des andern in tiefster Seele froh,
langsam durch die Stille, in die nur zuweilen das Rieseln des nimmer
ruhenden Wassers um ein Klappstau leise hineingluckerte, durch die
heilige Weihnacht, die den Atem anzuhalten schien, wie um aus seligen
Fernen raunender Botschaft zu lauschen.




                                  7.


Nachdem die Brunsoder wieder einmal Torf, Heu, Roggen und Kartoffeln
geerntet, sieben Dorfgenossen zu Grabe und neun zur Taufe geleitet,
vier grüne Hochzeiten nebst zwei silbernen und einer goldenen gefeiert
hatten, war wieder ein Jahr herum.

Es war ein Abend zwischen Weihnachten und Neujahr, Rosenbrocks
saßen in der Stube beieinander, Jan las die neueste Nummer der
Hamme-Zeitung, die er soeben dem Kästchen an der Hofbrücke entnommen
hatte, in die der Austräger sie zu stecken pflegte. Er begann
regelmäßig mit den Ferkeln, Faselschweinen, Quenen, Starken und
anderem Hausgetier, das auf den letzten Seiten sein Wesen trieb;
auch ins Lokale warf er wohl mal einen Blick, zum Politischen und
Allgemeinen drang er selten vor.

Plötzlich fing er an zu knurren und brummte vor sich hin: »Die
vermuckten Jungens!«

Die anderen blickten neugierig auf, er aber schob die Zeitung zu
Leidchen hinüber, indem er mit dem Finger in die untere Ecke der
dritten Seite deutete.

Sie beugte sich hastig über das Blatt, und indem sie las, färbte eine
lebhafte Röte ihr die Wangen, und der Atem ging schneller. Gerd, der
auf der anderen Seite des Tisches saß und aus Zigarrenholz einen
Kammkasten schnitzte, beobachtete sie verwundert, fragte aber in
gleichgültigstem Tone: »Was hast du da?« »Rat' mal!«

»Da geb' ich meinen Kopf nicht zu her.«

»Ich steh' hier gedruckt!« rief sie mit glänzenden Augen.

»So? Lies mal vor!«

Sie schob die Ellbogen auf den Tisch, hielt das Blatt unter die
Hängelampe und las, langsam, in geziertem, feierlichem Ton:


  »Fräulein Leidchen Rosenbrock, der feinsten Deern im Dorf, zu
  ihrem am 29. Dezember stattfindenden siebzehnjährigen Wiegenfeste
  ein donnerndes Lebehoch, daß die Birken sich biegen und die ganze
  Dorfreihe wackelt. Wir stellen uns alle ein. Ob sie sich wohl was
  merken läßt?
                                   Die böbersten Brunsoder Jungs.«


»Die könnten ihr Geld auch besser anwenden als zu solchem Narrenkram!«
brummte Gerd, und der Bauer und die Frau nickten zustimmend. Aber das
durch das Inserat geehrte Geburtstagskind zog die schwellenden roten
Lippen kraus und sagte schnippisch: »Für'n guten Spaß muß auch mal'n
Groschen übrig sein. Morgen geh' ich hin und lad' mir die Spinners
ein, bin ja doch an der Reihe. Und was ich für die Jungs brauche,
bring' ich gleich mit. Jan, gib mir fünf Mark von meinem Lohn!«

»Aber Deern!« rief Gerd erschrocken.

Sie blickte ihn fest und entschlossen an. »Was sein muß, das muß sein.
Die Jungs sollen bei mir ebensogut ihr Recht haben wie anderswo. Ich
komm' übermorgen schon in mein achtzehntes und bin kein Kind mehr.
Jan, her mit dem Geld!«

Jan zögerte noch.

»Wem gehört das Geld, das ich mir verdient habe?« fragte sie spitz,
»mir oder dir?«

Endlich rückte er mit einem Taler heraus, und da auch die anderen
erklärten, das wäre überleidig genug, gab sie sich zufrieden.

Das Glückwunschinserat schnitt sie aus und klebte es mit Mehlkleister
fein säuberlich in ihr Poesiealbum.

                   *       *       *       *       *

Leidchen, die seit kurzem mit zum Spinnen ging und heute, an ihrem
Geburtstag, das Koppel zum erstenmal bei sich haben sollte, hatte die
Stube geschrubbt, zurecht gekramt und mit feinem weißen Sand gestreut.
Nun saß sie am Fenster und erwartete die Mädchen. Vor ihr stand das
Spinnrad, auf dem schon ihre Mutter als junges Mädchen gesponnen
hatte. Es war kürzlich für sie aufrepariert und in frischem Rot
gestrichen; das grüne Wockenblatt trug die Inschrift: »Schönes Mädchen
mit dem Rädchen, spinn um mich das Liebesfädchen.«

Sie hatte das Reich heute allein. Jan und Trina waren nach Mittag, um
dem jungen Volk aus dem Wege zu gehen, zum Besuch der Freundschaft
nach Meinsdorf aufgebrochen, Gerd machte eine Schlittschuhfahrt über
Land, und die Kinder spielten auf der Nachbarschaft.

Die Spinnerinnen ließen auf sich warten, und voll Ungeduld trat sie
auf den Hof hinaus, um den Fußpfad, der sie herführen sollte, entlang
zu spähen. Da hörte sie Stimmen, sah die hoch in den Armen getragenen
Spinnräder über dem Buschwerk schwanken, und huschte wie ein Wiesel
ins Haus zurück.

Die Mädchen reinigten ihre Füße auf dem ausgedienten Handmühlstein,
der als Tritt vor der Seitentür lag, und traten dann auf das Flett, wo
das Geburtstagskind sie empfing und ihre Gratulationen entgegennahm.
Und bald saßen die Spinnerinnen, ihrer acht, im Halbkreis vor den
roten, bunt gekrönten Rädern, die sofort ein lustiges Schnarren
begannen, mit dem die Mundwerke, als sie erst einmal im Gang waren,
erfolgreich wetteiferten.

Die meisten hatten am zweiten Weihnachtstag bei Heini Peper getanzt,
und da war nicht viel los gewesen. Aber um so mehr wußten Anna
Schnackenberg und Minna Siedenburg zu erzählen, die den Weihnachtsball
im Kirchdorf mitgemacht hatten, wo's mal wieder hoch hergegangen war.
Ein Besendorfer hatte einem Hasenweder auf den Fuß getreten, und
da hatte es sofort eine tolle Schlägerei zwischen den Jungens der
seit alters verfeindeten Dörfer gegeben, wobei die aus den anderen
Ortschaften teils diesen, teils jenen beigesprungen waren. Die
Mädchen hatten sich kreischend auf Tische und Stühle geflüchtet, dem
Gendarm, der Frieden stiften wollte, war ein Bierseidel hart am Kopf
vorbeigeflogen, er hatte aber eine ganze Menge aufgeschrieben, die
nun gewiß nach Verden mußten, und der Doktor hatte in der Nacht drei
flicken müssen.

Es war Minna Siedenburg, die als Augenzeugin hiervon berichtete und
mit dem Seufzer schloß: »Die Jungens sind auch gar zu wild und hitzig.«

»Und dein Jakob ist der allerschlimmste,« sagte Anna Schnackenberg.
Minna lächelte stolz verschämt und duldete es gern, daß Anna ihres
Jakob Heldentaten ins helle Licht stellte, was selbst zu tun ihr die
Bescheidenheit nicht erlaubt hatte.

Von diesem Weihnachtsvergnügen kam das Gespräch auf die Söhne des
Dorfes, die zurzeit den bunten Rock trugen. Zwei standen bei den
Fünfundsiebzigern in Bremen. Der eine, Jan Monsees, gehörte mit
zum Koppel, und man erwartete ihn diesen Abend mit den anderen
Jungens. Der andere, Müllers Hermann, war erst im Herbst eingetreten
und jetzt zum erstenmal auf Urlaub. Er wäre der hübscheste und
strammste Jungkerl im Dorf, wollte jemand behaupten, aber es wurde
auch lebhafter Widerspruch dagegen laut, und man sprach von ihm als
von einem, der eigentlich zum Jungvolk des Dorfes nicht recht mit
dazu gehörte, da er eben der Sohn des reichen Müllers war und die
Jahre seit der Schulentlassung in der Fremde zugebracht hatte. --
Drei Brunsoder verteidigten fern im Osten die Reichsgrenze gegen
die Russen, die Ärmsten hatten diesmal keinen Urlaub bekommen. Man
bedauerte sie und schalt auf die Heeresverwaltung. Thyra Kück, die
Tochter des Schriftführers im Verein »Junghannover«, meinte, zu
hannoverschen Zeiten hätten die Soldaten die Heimat näher gehabt,
Deutschland wäre jetzt viel zu groß, woraufhin Dele Meyerdierks,
deren Vater zum Kriegerverein gehörte und nationalliberal wählte,
es für ihre Pflicht hielt, für des Vaterlandes Größe eine Lanze zu
brechen. Als die Festung Thorn genannt wurde, kam Leben in Beta
Mohlbrock, die sonst nicht viel sagte. Sie hatte dort einen Cousin,
einen Luftikus und Aufschneider, dessen Windbeuteleien außer ihr
kein Mensch ernst nahm. »In Thorn«, begann sie, sich wie vor Frost
schüttelnd, »ist es beinah so kalt wie am Nordpol. Auf Wache ziehen
sie immer drei Mäntel übereinander an, und doch finden sie am anderen
Morgen oft genug welche totgefroren auf ihrem Posten. Zuweilen brechen
auch Rudel ausgehungerter Wölfe über die russische Grenze, oder ein
Bär kommt leise auf den einsamen Wachtposten zugeschlichen, und wehe
dem Mann, der da nicht ruhig Blut behält und schlecht schießt. Aber
Georg hat die Schützenschnur, und an seiner Uhrkette trägt er den
blankpolierten Backenzahn von einer alten Bärenmutter, die er mitten
in der Nacht, als sie ihn gerade in die Arme nehmen wollte, mitten
durchs Herz getroffen hat« -- Minna Siedenburg machte huh -- »Es ist
aber ganz gewiß wahr, Minna, Georg hat's mir selbst erzählt, und ich
hab' den Zahn in der Hand gehabt. Ist man gut, daß seine Zeit bald
herum ist. Das Essen ist auch man zeitlich in Thorn. Georg sagt,
die Bauern in der Umgegend, wo auch viel Moorland ist, wie bei uns,
nähren sich von Buttermilch, Torf und Talglichtern. Aber das kann
ich mir nicht recht denken, das hat er sich wohl bloß vorschnacken
lassen. Alles darf man auch nicht glauben.« Die andern sahen sich
lachend an, und eine mitleidige Seele sagte: »Na, Beta, wenn Georg
nächsten Herbst reinkommt, kannst du den armen Kerl man ordentlich
herausfüttern und ihn recht fest in den Arm nehmen, daß er warm wird.«
Beta steckte sich rot an und lächelte beglückt und hoffnungsselig vor
sich hin.

Wie um diesem Thema einen würdigen Schluß zu geben, stimmte Meta
Windeler, die eine scharfe, schneidende Stimme hatte, das Lied vom
Soldatenabschied an: »Schatz, mein Schatz, reise nicht so weit von
hier.« Der fernen Jungens gedachte man besonders noch mal bei dem
Verse:


      »Soldatenleben, das heißt nicht lustig sein.
      Wenn andere Leute schlafen, da muß man wachen,
      Muß Schildwach' stehn, Patrouille gehn.«


Und nun folgte Lied auf Lied: Ist alles dunkel, ist alles trübe -- Es
wollt' ein Mädchen früh aufstehn, dreiviertel Stund vor Tag -- Leise
tönt die Abendglocke -- In des Gartens dunkler Laube -- Es welken alle
Blätter und fallen alle ab. Einmal schlug Leidchen vor: Am Brunnen
vor dem Tore, aber da wurde sie ausgelacht: »Deern, das ist doch ein
Schullied!« Und sie errötete, weil sie etwas sehr Dummes gesagt hatte.

Ob der Inhalt der Lieder derb, neckisch oder wehmütig, die Weise
munter oder sentimental war, das machte für den Vortrag weiter keinen
Unterschied: der behielt seine epische Ruhe und seinen Leierton gerade
so, wie die Augen gleich ernst auf dem durch die Finger gleitenden
Faden ruhten und die Räder gleichmäßig schnurrten.

Da machte es sich nun recht unliebsam bemerkbar, daß in dem Gesang
der jüngsten Spinnerin sich hier und da etwas Lyrisches, der Ausdruck
eigenen Empfindens, hervorwagen wollte. Nachdem Leidchen deswegen
schon einige verwarnende Blicke bekommen hatte, sagte Meta Windeler,
die wegen ihrer schrillen Stimme als Gesangsmeisterin anerkannt wurde,
unwirsch und verweisend: »Leidchen, was hast du da für 'ne wunderliche
Singerei vor?«

Die etwas boshafte Anna Schnackenberg nahm ihr die Antwort ab: »Du
mußt wissen, Meta, das soll was extra Feines sein. Sie singt ja immer
mit dem Schullehrer.«

Leidchen blitzte die Spötterin zornig an: »Du lügst, Anna. Du weißt
ganz gut, ich hab' nur das eine Mal, voriges Jahr zu Weihnachten, mit
ihm gesungen.«

»So--o? Aber neulich war er doch erst wieder bei euch.«

»Ja, um Gerd zu besuchen.«

»Haha, das kennt man ... Warum besucht er denn die andern Jungens
nicht?«

»Bei denen wird er wohl nichts zu suchen haben.«

»Nun hör' mal einer die Deern an! Sie trägt den Kopf bald ebenso hoch
wie ihr Bruder, der unsereins überhaupt nicht mehr ankuckt!«

Leidchen stoppte ihr Rad, stieß es mit dem Fuß ein wenig von sich und
sagte: »Anna, wenn du noch länger so'n dummes Zeug schnackst, werd'
ich dir ganz böse.«

»Aber Deern,« lenkte diese ein, »du gehst ja nun in dein achtzehntes
und mußt es bald lernen, daß du Spaß vertragen kannst.«

»Ich will erst den Kaffee aufgießen,« sagte Leidchen und ging
ärgerlich hinaus. Minna Siedenburg, als die älteste des Koppels teilte
einen Verweis aus: »Anna, du mußt ein bißchen mehr zu deinen Worten
sehen. Das von Gerd und dem Schullehrer gehörte hier gar nicht her.«

Bald sammelte die Geburtstagsgesellschaft sich friedlich um ein
braunes Wachstuch, das mit der Schlacht bei Gravelotte bedruckt war,
um sich den Kaffeefreuden hinzugeben. Leidchen schenkte ein, und Anna
Schnackenberg bekam zur Strafe die letzte Tasse. In der Mitte des
Tisches stand ein Teller, der hoch mit weihnachtlichem Butterkuchen
bepackt war.

Als dann die Räder wieder liefen, wollte die Unterhaltung nicht recht
wieder in Gang kommen. Es lag wie erwartungsvolle Spannung auf dem
Kreise, alle Augenblick wandte sich ein Kopf herum und dem Fenster
zu. Aber draußen war einstweilen nichts zu sehen, als die schmale
silberne Mondsichel, die ein schwaches Licht auf kahle Baumgerippe und
lückenhaften Altschnee warf.

»Da kommen schon welche!« rief Beta Wöltjen, und alle Köpfe wandten
sich wie am Faden gezogen dem Fenster zu. Richtig, da kamen zwei
angeschlendert, die Hände fast bis an die Ellbogen in den Hosentaschen
vergraben. Sie lehnten sich faul gegen die Brunnenumfassung, man sah
den Tabak, wenn sie ansogen, in ihren Pfeifenköpfen glühen und die
Rauchwolken im Mondlicht schimmern.

»Soll ich sie hereinholen?« fragte Leidchen aufgeregt.

»Immer sinnig, das hat noch Zeit,« sagte Minna, die als älteste die
Verpflichtung fühlte, über dem guten Ton zu wachen, und auch ihren
Jakob noch vermißte.

Die Spinnräder machten jetzt beträchtlich weniger Umdrehungen in der
Minute, immer häufiger spazierten die Augen zum Fenster hinaus.

Endlich wurden draußen drei weitere Gestalten sichtbar, die langsam
dem Brunnen zu bummelten und sich zu den anderen stellten. Hin und
wieder flog von dorten auch ein Blick zum Hause hinüber.

In der Stube fand es im stillen jede an der Zeit, die Jungens nicht
länger am Brunnen frieren zu lassen, sondern in die Wärme zu holen.
Aber keine wollte das als die erste vom Munde geben, und so währte
es noch eine geraume Weile, bis Minna Siedenburg aufstand, Leidchen
am Arm nahm und sagte: »Komm Deern, wir beide wollen sie holen. Von
alleine kommen sie doch nicht.«

Die sechs im Gang bleibenden Räder spannen jetzt wie wild.

Nach kaum zwei Minuten erschien Minna wieder in der Tür, ihren im
Bewußtsein seines Heldentums stolz lächelnden Jakob am Jackenknopf
hinter sich herziehend. Leidchen hatte Klaus Rietbrock am Knopfloch,
der, wie sie selbst, erst seit kurzem zum Koppel gehörte und seine
Verlegenheit dadurch zu verbergen suchte, daß er die Beine trotzig
verquer stellte und ein Gesicht machte, als ob er ein ganz schlimmer
wäre. Die anderen drei folgten von selbst.

»Daß ihr erst mal warm werdet,« sagte Leidchen und kam mit einer
Flasche, aus der sie jedem der Burschen das dicke Gläschen einmal
füllte, die »Prost, Leidchen!« riefen und es auf einen Zug leerten.
Dann setzten sie sich auf die Wandbänke, hinter die ein wenig mehr
unter der Hängelampe zusammenrückenden Mädchen. Die Räder schnurrten
und die Pfeifen qualmten.

»Au, er ist mir doch noch bannig steif,« stöhnte Jakob Kück, seinen
Arm, wie es schien, mit Mühe ausstreckend.

»Wovon?« fragte Minna, die vor ihm saß und die Gelegenheit, sich
schnell mal nach ihrem Liebsten umzusehen, wahrnahm.

Nun konnte Jakob erzählen. Seine Tat erschien nach seiner eigenen
Darstellung noch erheblich heldenhafter und bewundernswürdiger, als
nach dem Bericht der Augenzeuginnen, die doch auch kein Interesse
daran gehabt hatten, sie zu verkleinern. Der Hauptspaß wäre, daß der
Gendarm ihn nicht gefaßt hätte. Denn wenn einer nachher für solchen
Spaß einige Monate Häcksel fressen müßte, das wäre nichts Genaues.

Jakob war noch im besten Gange, als auf dem Flett Schritte laut
wurden, die offenbar nicht von Holzschuhen, sondern von Kommißstiefeln
stammten, und Jan Monsees, der Weihnachtsurlauber, trat in die Stube.
Aber nicht allein. Dem untersetzten, in schlotteriger Kommißkleidung
steckenden Kriegsmann folgte auf dem Fuße ein Kamerad, dessen
schlanke, ebenmäßige Gestalt eine gut sitzende funkelneue Extrauniform
umgab.

Die Burschen, allen voran der in seinem Bericht unterbrochene
Weihnachtsballheld, empfingen den zweiten der Ankömmlinge mit
verwunderten und befremdeten Blicken. Aber Jan Monsees sagte: »Müllers
Hermann, mein Kompagniekamerad, war gerade bei mir zum Besuch, da
hab' ich ihn ein bißchen mitgebracht. Es wird wohl keiner was dagegen
haben.« Inzwischen war dieser mit den knarrenden Extrastiefeln auf
Leidchen zugeschritten, gab ihr, die Hacken zusammenschlagend, die
Hand und sagte: »Ich hab' in der Zeitung gelesen, daß du heute
Geburtstag hast, und wollte dir auch eben gern gratulieren. Darf ich
'ne halbe Stunde mit schnacken?«

»Von Herzen gern,« sagte Leidchen, durch den unerwarteten Besuch nicht
wenig geschmeichelt, und sah sich nach einem Platz für ihn um. Da die
Bänke ziemlich besetzt waren und die anderen keine Anstalt machten,
zusammenzurücken, holte sie schnell einen Stuhl und bat, ihn halblinks
hinter sich stellend, Hermann, damit vorlieb zu nehmen. Dann kredenzte
sie ihm und seinem Kameraden den Bewillkommnungsschluck. Auch die
übrigen bekamen der Reihe nach wieder ein Gläschen.

Jakob Kück fing noch einmal von seinem Weihnachtsball an, fand aber
keine rechte Aufmerksamkeit mehr. Er ärgerte sich nicht wenig, daß
er sein Pulver zu früh verschossen hatte. Um so leichter wurde es
dem Eindringling, sich im Handumdrehen zum Helden der Situation zu
machen. Er steckte von oben bis unten voll von Unteroffiziersanekdoten
und Kasernenhofblüten, die er natürlich alle selbst erlebt haben
wollte und geschickt vorzubringen wußte. Je lebhafter seine
Zuhörerinnen Beifall spendeten, desto launiger und witziger wurde
sein Erzählen. Den Stuhl noch ein wenig vorziehend, saß er bald an
Leidchens Seite und im Kreise der Mädchen, die immer wieder von ihren
Fädchen aufblickten und in das frische, lachende Gesicht des jungen
Kriegers sahen, der nach jedem Geschichtchen selbstgefällig seinen
unwiderstehlichen Schnurrbart drehte. Die Jungens auf den Bänken
im Hintergrund fühlten sich sehr an die Wand gedrückt. Jakob Kück,
der beim ersten Garderegiment gedient hatte und den Rekruten der
Fünfundsiebziger von Grund seiner Seele verachtete, versuchte einige
Male, ihm einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Aber der wußte
ihn jedesmal so geschickt zu parieren und zurückzugeben, daß er selbst
darüber stolperte und von den Mädchen ausgelacht wurde. Und sogar
Minna Siedenburg lachte mit. Müllers Hermann war und blieb erster und
einziger Hahn im Korbe. Krischan Wedderkopp ging bald heimlich hin und
stibitzte die nach dem letzten Umtrunk wieder gefüllte Flasche, an der
man sich schadlos hielt.

Endlich schien Hermanns Anekdotenschatz erschöpft zu sein, und Meta
Windeler schlug vor, mal eins zu singen. Das geschah denn auch, und
dabei konnten auch die an der Wand sich mal wieder hören lassen. Die
meisten sangen »groff«, das heißt, eine Oktave tiefer als die Mädchen,
einige versuchten aber auch etwas wie die zweite Stimme. Krischan
Wedderkopp befand sich schon in dem Stadium, wo das Singen zum Gröhlen
wird. --

Gerd, den die unsicheren Eisverhältnisse der Hamme zu Umwegen
gezwungen hatten, kehrte später zurück, als in seiner Absicht lag.
Er fand eine ziemlich fortgeschrittene Stimmung vor. Er nickte den
gerade wieder Singenden grüßend zu und schritt durch die Stube, um das
einzige Fenster, das zum Öffnen eingerichtet war, aufzumachen. Denn
die Luft war in dem niedrigen tabaksqualmerfüllten Raum so heiß und
dick, daß es einem, der von draußen kam, schier den Atem versetzen
wollte. Dann begab er sich in die Ecke hinter den Ofen.

Als das Lied aus war, kam Müllers Hermann zu ihm, begrüßte ihn durch
Handschlag und erzählte, auf welche Weise er hier unter das Koppel
verschlagen wäre. Nachdem er noch einige Worte mit ihm gewechselt
hatte, begab er sich an seinen Platz zurück. Die andern nahmen
weiter keine Notiz von dem Ankömmling. Er galt ihnen nun einmal als
Sonderling und Drögepeter, den man am besten sich selbst überließ.
Doch schien es, als ob seine Anwesenheit auf die ausgelassene
Lustigkeit lähmend wirkte.

Aber Krischan Wedderkopp ließ sich das weiter nicht anfechten, er
hatte mehr getrunken als die anderen und war nun einmal in der Fahrt.
Nachdem er schon allerhand Unfug gemacht hatte, brach er durch die
Reihe der Spinnerinnen und näherte ein angebranntes Streichholz der
Hängelampe, wie um es über ihr neu zu entzünden. Doch plötzlich
knipste er es fort, hielt die flache Hand schräg hinter das Glas und
blies scharf dagegen. Die Lampe erlosch, die Gesellschaft befand
sich im Dunkeln, und das Kreischen der Mädchen verriet, daß einige
Burschen sich sofort kleine Freiheiten erlaubten. Es drohte ein tolles
Durcheinander zu werden.

Da donnerte es aus der Ofenecke: »Steckt das Licht wieder an!« Aber
niemand gehorchte.

Gerd fand Schwefelhölzer in seiner Westentasche und riß eins an der
warmen Ofenplatte in Brand. Aber ehe die bläulich schwelende Flamme
das Holz recht ergriff, wurde es ihm in der Hand ausgeblasen.

Ein zweites hatte das gleiche Schicksal.

»Nehmt euch in acht!« rief Gerd, ein drittes in den hohlen Händen
schützend. Eben wollte er es zur Lampe emporheben, als es wieder
erlosch.

Es fing an, in ihm zu kochen, und als auch das vierte Zündholz,
das er, unter der Lampe stehend, am Hosenboden angerissen hatte,
ausgeblasen wurde, schnellte er die rechte Hand scharf zur Seite und
traf jemanden nicht eben sanft auf den Mund und Backe. Es gab einen
dumpfen Klapp und gleich darauf ein wildes Gejohle.

Mit dem fünften Streichholz brachte er unter dem Schutz seiner
geballten Faust die Lampe glücklich in Brand.

Die Mädchen strichen sich die verwirrten Haare glatt, banden die
aufgelösten Schürzenbänder zu und setzten sich ehrbar wieder an ihre
Spinnräder.

»Muß mir doch mal die Schnuten ankucken, wen's getroffen hat,« sagte
Krischan Wedderkopp und sah mit seinem Faungesicht den einzelnen
scharf auf den Mund, bis er vor dem Müller stehen blieb und mit
schadenfrohem Lachen rief: »Hier hat's eingeschlagen!«

Hermann leugnete und stellte eine unbefangene Miene zur Schau. Aber
die gerötete Backe verriet ihn.

Es erhob sich ein helles Gelächter, in das auch die Mädchen mit
einstimmten. Hermann fühlte, daß er etwas tun mußte, um seine schwer
gefährdete Soldaten- und Burschenehre zu retten.

Er trat vor Gerd hin, der sich in seinen Winkel zurückgezogen hatte
und lässig gegen den Ofen lehnte.

»Gerd, du hast mich geschlagen!«

»Warum hältst du deinen Schnabel hin?« fragte der gelassen.

Die Burschen zogen eine Mauer um die beiden. Die Mädchen, sich im
Hintergrund haltend, sahen ängstlich und neugierig zwischen ihnen
durch; die kleineren waren auf Stühle gestiegen. Jan Monsees suchte
den Kameraden mit gütlicher Zusprache zu beruhigen, während Krischan
Wedderkopp hetzte: »Hiß, hiß! Wer sich aufs Maul schlagen läßt, ist
kein Kerl.«

»Ich verlange, daß du auf der Stelle Abbitte tust,« stieß der Müller
in heiserer Stimme heraus.

Gerd schwieg und verharrte in seiner lässigen Haltung.

Da langte der Kriegsmann, sich hoch aufrichtend, mit großer Gebärde
nach dem Seitengewehr. Jedoch bevor er es ziehen konnte, war Gerd
zugesprungen, hatte ihn mit Untergriff gepackt und streckte den langen
Menschen der Länge nach in den Streusand des Fußbodens. Dann ließ
er ihn aber sofort los, steckte beide Hände in die Hosentaschen und
lehnte sich wieder gegen den Ofen.

Die helle Wut im Gesicht, sprang der andere auf die Füße, zog
blitzschnell seine Waffe und wollte auf den Gegner eindringen.
Aber Leidchen, die Kette der Burschen durchbrechend, warf sich ihm
mit einem gellenden Schrei entgegen, und zugleich packten ein paar
kräftige Arme den Rasenden. »Was? Der will uns mit seinem Käsemesser
zu Fell?« »Was hat der großschnauzige Kerl überhaupt in unserem Koppel
zu suchen?« »Raus mit ihm!« schrie es durcheinander, und obgleich Jan
Monsees kameradschaftlich Einspruch erhob und Leidchen bat und flehte,
beförderten die erhitzten, eifersüchtigen Burschen den ungebetenen
Gast, so sehr er sich mit Händen und Füßen wehrte, erbarmungslos zur
Stube und zum Hause hinaus.

Mit dem Spinnen war es jetzt natürlich vorbei, obgleich Leidchen
dringend bat, wieder Platz zu nehmen. Eine Weile stand ihre
Geburtstagsgesellschaft noch in der Stube durcheinander, das
Vorgefallene leidenschaftlich besprechend, dann nahmen die Mädchen
ihre Spinnräder in den Arm, und das Koppel zog aufgeregt zum Hause
hinaus.

Gerd hatte schon vor den anderen die Stube verlassen und sich hinten
auf der Diele bei dem Vieh zu schaffen gemacht.

Als er auf das Flett zurückkam, begegnete ihm Leidchen, die soeben
ihre Gäste zur Seitentür hinausgeleitet hatte.

»Na, sind wir das rüde Volk endlich aus dem Hause los?« fragte er
arglos.

Wie eine fauchende Katze, als ob sie ihm an den Kopf wollte, kam sie
auf ihn zugefahren, ihre Augen schossen Blitze, der ganze Körper
zitterte vor Erregung, und mit zornerstickter Stimme rief sie:

»Das vergess' ich dir mein Lebtag nicht, was du mir heut' abend
angetan hast!«

»Ich? Dir?« fragte er verwundert.

»Nun stell' dich auch noch dumm! Du hast mir meinen ganzen Geburtstag
ausgeschändet. Wir waren alle so vergnügt und lustig ... bis du kamst.
Da war's mit einemmal vorbei. Du gönnst mir ja keinen Spaß, das weiß
ich schon lange.«

»Leidchen!«

»Ich hatte mich so gefreut, daß Müllers Hermann sich auch mal bei uns
sehen ließ. Denn das war eine große Ehre für mich; und er hat uns so
spaßige Geschichten erzählt. Und nun muß er so aus dem Hause kommen!
Schämen muß'n sich vor den Leuten wegen so 'nem Bruder!«

»Wenn du dich wegen sonst nichts zu schämen brauchst, dann sei froh.
Ja, schämen solltet ihr euch wirklich, ihr großen Mädchen, so im
Dunkeln mit den Jungens herumzutoben! Daß eine, wie Anna Rickers,
dazu Lust hat, nimmt mich nicht wunder. Aber daß dir das Spaß macht,
Leidchen, das tut mir in der Seele weh ... Pfui, sich von einem Kerl,
wie Krischan Wedderkopp, anfassen zu lassen!«

»Mich hat kein Krischan angefaßt! Nur die Schleife vom Schürzenband
hat mir einer aufgezogen, und was ist da groß bei? Aber so bist du
schon immer gewesen: aus der Mücke machst du einen Elefanten und aus
einem kleinen Spaß gleich 'ne große Sünde. Mit jedem Tag wirst du
ducknackiger, das sagen die anderen auch. Ich glaube, das kommt davon,
daß du so viel mit dem Schulmeister läufst, worüber alle Leute sich
wundern. Von dem lernst du wohl das Schulmeistern und Aufpassen. Aber
ich lasse mir das nicht länger gefallen, ich hab's jetzt gründlich
satt ... Was du mir heut' abend angetan hast, das vergess' ich dir so
leicht nicht. Warte, ich spiel' dir noch mal einen Streich, daß du
auch dran denken sollst!«

Sie hatte die Hand zur Faust geballt und sie drohend gegen ihn erhoben.

»Man sachte, man sachte!« klang es begütigend von der Seitentür her,
durch die Jan und Trina soeben eingetreten waren. »Deern, was hast du
denn bloß?« fragte die letztere, »du bist ja wohl nicht recht klug.«

Leidchen war jäh verstummt und mit einem feindseligen Blick auf den
Bruder ging sie in ihre Kammer.

»Was hat sie denn?« fragte Trina, ihr Kopftuch lösend und von dem
langen Weg ermüdet auf einen Stuhl sinkend.

»Nichts Besonderes,« sagte Gerd, »die Deerns kriegen manchmal so ihren
Rappel.«

Damit wandte er sich und suchte seine Schlafkammer auf, die an der
Großen Diele lag.




                                  8.


Als Gerd am nächsten Morgen erwachte, hoffte er, Leidchen würde ihn
wegen ihrer häßlichen Ausfälle vom gestrigen Abend um Verzeihung
bitten, oder doch auf irgendeine Weise merken lassen, daß sie ihr leid
täten. Aber in dieser Erwartung täuschte er sich. Sie tat den ganzen
Tag, als ob er nicht vorhanden wäre, und sah auch bei Tisch, wo sie
sich gegenüber saßen, geflissentlich an ihm vorbei.

Beim Mittagessen machte die Schwägerin den Versuch, die Geschwister zu
versöhnen, wurde aber von Leidchen schroff zurückgewiesen. Jan, der
abends vorm Kuhstall dasselbe versuchte, erging es nicht besser.

Wenn sie ohne ihn fertig werden könnte, sagte sich Gerd, so könnte
er es ohne sie erst recht. Allerlei Magdarbeiten, die er ihr bislang
abgenommen hatte, weil sie größere Körperkraft verlangten, ließ er
fortan sie selbst verrichten, und sie kam ihnen mit einer Art Trotz
nach, aber doch so, daß die Ausführung zu Tadel keinen Anlaß bot.
Überhaupt schien sie ihre Ehre darein zu setzen, ihm zu zeigen, daß
sie auf eigenen Füßen stehen konnte und seiner Hilfe und Aufsicht
nicht mehr bedurfte.

Gerd empfand diesen Zustand aber doch bald als drückend und fing an zu
erwägen, ob er nicht seinerseits Schritte zum Frieden tun sollte. Aber
er schob das immer wieder hinaus, in der Hoffnung, daß sie eines Tages
ihr Unrecht einsehen und ihm wenigstens einen kleinen Schritt entgegen
tun würde.

So liefen einige Wochen ins Land.

Die Gräben, die eine längere Frostzeit von Mitte Dezember an
verschlossen gehalten hatte, wurden Ende Januar von Tauwind und
Landregen schnellstens aufgeschlossen, und man rüstete eiligst die
Schiffe, um nicht das in dem kalten Winter flott gehende Torfgeschäft
ganz den Pferdebauern zu überlassen, die mit den braunen Kumpwagen bei
jeder Witterung zur Stadt fahren konnten.

Als Gerd an einem Spätnachmittag von der ersten Bremerfahrt des neuen
Jahres nach Hause kam, bemerkte er sofort, daß Leidchens böse Laune
umgeschlagen war. Sie bot ihm die Tageszeit, trug ein reichliches
und gutes Vesperbrot auf und setzte sich mit an den Tisch, um ihm
Gesellschaft zu leisten. Er hatte aber das Gefühl, daß hinter dieser
Freundlichkeit etwas weniger Erfreuliches lauerte und nahm sich vor,
möglichst einsilbig zu sein, in der Erwartung, daß es dann am ehesten
ans Licht kommen würde. So aß er denn und schwieg.

Nach einer Weile sagte sie: »Du bist ja so still heute, Gerd.«

Er zuckte die Achseln.

»Weißt du das Neueste?«

Er verriet nicht das geringste Interesse, es zu erfahren.

»Georg Marwede, der in der Bremer Neustadt das große Milchgeschäft
hat, ist heute hier gewesen und hat auf unsere Rotbunte gehandelt.«

»Hm.«

»Aber Jan ist nicht eins mit ihm geworden.«

»Hm.«

»Aber ich bin mit ihm eins geworden.«

»Diese Sülze schmeckt gut.«

Sie sah verwundert zu ihm hinüber, der mit vollen Backen kaute.

»Du sollst dich wundern! ... Ich hab' mich ihm nämlich auf den Herbst
als Fräulein für die Küche und die Kinder vermietet.«

»So ...«

»Nicht wahr, darüber freust du dich doch auch?«

»Mir ist das alles eins. Meinetwegen hättest du dich auch nach Hamburg
oder Berlin vermieten können.«

Leidchen hatte das Gefühl einer großen Enttäuschung. Als am Vormittag
der Bremer Milchmann, zuerst im Scherz, ihr die Stelle in seinem
Hause angeboten hatte, war ihr erster Gedanke gewesen, das wäre eine
gute Gelegenheit, Gerd einmal recht tüchtig zu ärgern. Den ganzen Tag
hatte sie sich dann auf den Augenblick gefreut, wo sie ihn mit der
unangenehmen Neuigkeit überraschen könnte. Und nun nahm der Mensch das
so auf!

Sie glaubte noch immer, er heuchle nur Gleichgültigkeit und müsse
gleich auf die Angelegenheit zurückkommen. Aber er nahm sich noch ein
Stück Sülze, aß und schwieg.

Da erschrak sie vor der plötzlichen Erkenntnis, wie weit sie und ihr
Bruder auseinander gekommen waren. Das hatte sie ja gar nicht gewollt.
Sie hatte ihn für die Störung ihrer Geburtstagsfeier bestrafen und
sich bei dieser Gelegenheit größere Freiheit erringen wollen, aber
nie daran gedacht, ihn ernstlich von sich zu stoßen. Denn wenn er ihr
auch manchmal unbequem war, eigentlich war sie dem so treu um sie
besorgten Bruder doch stets in schwesterlicher Liebe zugetan gewesen.
Im Grunde war es ihr auch recht, daß er anders war als die übrigen,
daß er anderen Umgang und andere Erholung suchte als Jakob Kück und
Krischan Wedderkopp.

Gerd war mit seinem Vesperbrot fertig und stemmte die Hände auf den
Tisch, um sich zu erheben, als Leidchen auf einmal fragte: »Bist du
noch immer böse auf mich?«

»Du gehst deinen Weg, ich geh' meinen,« sagte er trocken. »Schiedlich,
friedlich, dabei stehen wir uns beide am besten.«

»Nein, Gerd, nein! Das halt' ich nicht länger aus. Bitte, sei wieder
gut mit mir!«

Sie streckte ihm bittend die Hand über den Tisch entgegen. Einen
Augenblick zögerte er, dann nahm er sie, indem er befreit aufatmete,
sie mit frohen Augen ansah und freudig bewegt rief: »Leidchen, glaub'
mir, mir ist es auch lieber so.«

»Was meinst du zu der Stelle, die ich angenommen habe?« fragte sie,
vor Ungeduld brennend, die Rede auf das zu bringen, was sie den Tag
über beschäftigt hatte.

»Hm. Wieviel Lohn gibt's?«

»Lohn nicht, aber etwas Gehalt.«

»Der Name tut nichts zur Sache. Wieviel?«

»Für den Anfang fünfundzwanzig Taler.«

»Deern, du bist wohl nicht recht bei Trost! Hier bist du bald nach
fünfzig hin, und gehst in die Stadt für fünfundzwanzig?«

»Dafür bin ich aber auch Fräulein.«

Er zuckte verächtlich mit den Achseln.

»Ich esse mit der Herrschaft am Tisch ...«

»Das heißt, du kannst ihre Krabben füttern und ihnen die Schnäbel
abwischen.«

»Und für die groben Arbeiten wird ein Dienstmädchen gehalten.«

»Ach so, du bist auf einmal zu fein, den Besen in die Hand zu nehmen.«

»Kuck', nun fängst du schon wieder an!«

»Was sagen denn Jan und Trina dazu?«

»Die wollen mich zum Herbst ganz gern ziehen lassen. Sie können es ja
genug mit einem kleinen Mädchen für weniger Lohn tun.«

»Ach, Leidchen, hättest du mich doch vorher gefragt! Wir kennen die
Leute ja gar nicht. Ich hätte mich mal in der Stadt nach ihnen umhören
können ... Läßt sich die Sache nicht noch rückgängig machen?«

»Nein, ich habe den Mietstaler schon angenommen.«

Gerd sah bekümmert und ratlos vor sich hin. Aber plötzlich schlug er
mit der Faust auf den Tisch und rief erfreut: »Daß ich daran nicht
gleich gedacht habe! Deern, du bist noch nicht volljährig. Wenn dein
Vormund nein sagt, gilt der Taler nicht. Sonntag nachmittag geh' ich
hin und bringe die Sache in Ordnung.«

»Du kannst mich mitnehmen,« sagte Leidchen, »und dann überlegen wir
drei uns das mal ganz vernünftig. Du magst recht haben, ich hab'
die Sache etwas übers Knie gebrochen ... Ich will mich auch noch mal
besinnen ...«

                   *       *       *       *       *

Kord Rosenbrock war der älteste Sohn des Rosenbrockschen Hauses
gewesen, hatte aber das väterliche Erbe seinem Bruder Jan
überlassen und mit einer kinderlosen Witwe eine achtzig Morgen
große hypothekenfreie Stelle in Tunkendorf auf der Südseite des
Kirchspiels erheiratet. Da die Ehe kinderlos geblieben war, hatte
er sich bald gesagt, es würde eine Dummheit sein, sich für seiner
Frau Schwesterkinder abzurackern. So schonte er denn das Torfmoor
für kommende Geschlechter und ließ das Schiff im Graben verfaulen.
Ein Paar glatter Dänen nebst Kutschwagen, sowie die Pachtung der
Dorfjagd kostete allerhand Geld, aber das von seinen Vorwesern tüchtig
heraufgearbeitete Besitztum konnte schon einige Hypotheken tragen. Ein
stattlicher Vollbart und ein rundliches Bäuchlein unterschieden den
Mann außerdem noch von den meist glatt rasierten und hager sehnigen
Männern des Landes. Sein Stolz aber war die ausgedehnte Rechtskunde,
die er sich aus Gesetzsammlungen und volkstümlichen Kommentaren
zusammengelesen hatte. Um sie auch praktisch zu verwerten, hatte er
meistens ein Prozeßchen in Gang, wozu die etwas verwickelten Stau- und
Rieselrechtsverhältnisse von Tunkendorf bequeme Gelegenheit boten.

Gerd und Leidchen, die am Sonntag vormittag in Grünmoor die Kirche
besucht hatten, kamen gerade zur rechten Zeit an. Sie fanden Onkel
und Tante bei der angenehmen Beschäftigung, einen sauber gespickten
und hübsch braun gebratenen Moorhasen zu verzehren, und wurden
eingeladen, mitzuhalten.

Nach der Mahlzeit, während Tante Beta den Tisch abräumte, lehnte Onkel
Cord sich im Sofa zurück, faltete die Hände über dem Magen und fragte:
»Na, Kinder, was führt euch denn her?«

»Wir kommen in Vormundschaftssachen,« sagte Gerd. »Es handelt sich um
Leidchen.«

Der Vormund betrachtete sein schmuckes Mündel mit Wohlgefallen: »Was
ist denn mit dir, Kind? Du willst doch nicht schon heiraten? Ich
könnte mir denken, daß sich bald einer fände, der dazu Lust hätte.«

Leidchen schüttelte lächelnd den Kopf. Gerd aber runzelte die Stirn
und sagte: »Es handelt sich um eine ernste Sache. Das Mädchen hat
sich leichtsinnig nach Bremen vermietet und mich vorher nicht einmal
gefragt.«

»Dazu ist sie nach den Gesetzen auch nicht verpflichtet,« erklärte der
Onkel.

»Aber Euch als Vormund hat sie auch nicht gefragt,« rief Gerd,
ärgerlich über dessen Weise, die Angelegenheit zu behandeln.

»Ich denke, dazu ist sie jetzt eben gekommen,« versetzte Cord
Rosenbrock, dem hitzige Menschen unangenehm waren, die Daumen
umeinander drehend. »Na, Deern, warum möchtest du denn gern nach der
Stadt?«

Leidchen war um Gründe nicht verlegen. Sie wollte sich gern mal
verändern, bei der Schwägerin könne sie doch nichts mehr lernen. Sie
möchte auch versuchen, wie ihr die feine Arbeit gefiele. Denn ob sie
Lust hätte, das ganze Leben Torf zu backen, das stünde noch dahin.

Der Vormund nickte und meinte, das ließe sich hören. Die Rosenbrocks,
die von dem großen Geesthof Trommsloh stammten, hätten von jeher in
die Höhe gestrebt, weshalb er selbst zum Beispiel es auch zu einem
Hof gebracht habe, der doppelt so viel wert sei, als seine väterliche
Stelle in Brunsode. »Es freut mich,« schloß er, »daß dieser Trieb auch
in dir ist. Und was hast du dagegen, Gerd?«

»Erstens mal,« begann dieser mit verhaltenem Zorn, »ist es eine
Schande, wenn ein so großes, starkes Mädchen nicht mehr verdient als
fünfundzwanzig Taler. Fürs Vorwärtskommen bin ich ganz gewiß auch.
Aber dazu gehört nicht, daß unsereins den feinen Herrn spielt und so'
ne dumme Deern sich Fräulein nennt. Was die richtigen Fräuleins sind,
die machen sich ja doch bloß über so eine lustig. Was Leidchen fürs
Leben braucht, das kann sie hier auf dem Lande genug lernen, wenn sie
nur die Augen aufmacht. Wenn sie nach Bremen ginge, könnte ich keine
ruhige Stunde mehr haben. Denn sie ist wohl von Herzen gut, aber ein
bißchen leicht. Ihr lacht, Onkel? Da ist wirklich nichts zu lachen!
Ihr habt Euch die Vormundschaft ziemlich leicht gemacht, und wir beide
haben uns selbst geholfen. Aber in dieser Sache müßt Ihr mal zum
Rechten sehen, und ich bitte Euch, sprecht ein strammes Nein!«

Cord Rosenbrock hatte sich aus der behaglichen Lässigkeit eines
Mannes, dem es gut geschmeckt hat, aufgerafft und sah den mit großem
Ernst und Nachdruck sprechenden Brudersohn aus weiten, runden Augen
an. Als der fertig war, holte er Atem, um ihm geziemend zu antworten.
Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er gleich sein Mittagsschläfchen
halten wollte, und daß Erregung des Gemüts diesem nicht zuträglich
zu sein pflegte. So wandte er sich lieber an Leidchen und sagte: »Du
arme Deern, was hast du wohl unter solch einem Obervormund zu leiden
gehabt! Ich verlange jetzt, daß du die Stelle in Bremen annimmst, und
spreche dich ein für allemal von Gerds angemaßter Vormundschaft frei.«

Gerd saß starr und steif und blickte unter gesträubten Augenbrauen
weg den Onkel feindselig an. »Angemaßt,« sagte er mit dumpfer Stimme,
»habe ich mir gar nichts. Was ich für Leidchen getan habe, das hab'
ich ihrer Mutter auf dem Sterbebett geloben müssen.«

Onkel Cord hob die Beine auf das Sofa und sagte, er müßte nun
schlafen. Wenn sie wollten, könnten sie sich noch etwas in Haus und
Hof umsehen. Gerd aber drängte zum Aufbruch, und Leidchen erhob keinen
Widerspruch.

Sie gingen auf dem Rückweg stumm nebeneinander her, indem er an seinem
Ärger würgte und sie im stillen ihren Triumph auskostete.

Am nächsten Tag traf Gerd zufällig Herrn Timmermann, der nach der
Schule mit seinem Hündchen auf dem Damm spazierte, um die Abendröte zu
genießen, und sie gingen eine Strecke miteinander.

Nachdem sie eine Weile über dies und das gesprochen hatten, faßte er
sich Mut und schüttete sein Herz aus.

Er hoffte natürlich, der Lehrer würde seine Partei ergreifen. Aber
darin irrte er sich sehr. Der Mann schalt ihn einen Schwarzseher,
sprach seine Freude über Leidchens Entschluß aus und meinte, ein
bißchen Umlernen würde ihr sehr gut tun. Er hätte eigentlich schon
immer dazu raten wollen.

»Aber sie hätte mich doch wenigstens fragen können,« versetzte Gerd
enttäuscht.

»Vielleicht wäre dann nichts daraus geworden,« sagte der andere
lächelnd.

»Ich finde das undankbar von ihr, eine so wichtige Sache hinter meinem
Rücken abzumachen.«

»So recht dankbar,« meinte der Lehrer nachdenklich, »möcht' ich
beinah' glauben, ist die liebe Jugend nie. Wenn ich meinen früheren
Schülern, an denen ich jahrelang mein Bestes getan habe, mal wieder
begegne, sehen sie mich meist fremd und mißtrauisch, ja nicht selten
feindselig an. Soll ich deshalb mein Angesicht verhüllen und über die
Undankbarkeit der Welt jammern? Ich meine, ein anständiger Mensch soll
überhaupt nicht nach Lohn und Dank schielen, sondern seine Pflicht tun
... Aufrichtig gesagt, Gerd, im Grunde freue ich mich, daß Leidchen
Ihnen aus der Schule laufen will. Denn -- nehmen Sie mir das nicht
übel -- Sie haben reichlich viel vom Schulmeister Ihrer Schwester
gegenüber.«

»Was?«

»Wenn ein Schulmeister Ihnen das sogar sagt, können Sie's ruhig
glauben. Und gerade für Leidchen, glaub' ich, ist das nicht gut. Es
gibt Kinder, die dumme Streiche nicht aus Schlechtigkeit machen,
sondern um ihren Lehrer mal tüchtig zu ärgern. Und das sind meist
nicht die schlechtesten!«

»Also Sie meinen, ich soll sie ruhig ziehen lassen?«

»Ja, was denn sonst?«

»Aber es hat doch gar keinen Zweck für eine, die ihr Leben durch Torf
backen soll.«

»Können Sie wissen, wie das Leben Ihrer Schwester sich einmal
gestalten wird?«

Als die beiden sich getrennt hatten und Gerd eine Strecke in Gedanken
dahingeschritten war, blieb er auf einmal stehen und legte den
Zeigefinger lang an die Nase.

Hm hm. Der Mann hatte ihn vorhin so wunderlich angesehen, und hatte
schon länger raten wollen, Leidchen mal in die Stadt zu geben? Sollte
er vielleicht seine Gründe dazu haben?

Zum Kuckuck! Das wäre eine feine Sache, wenn Leidchen mal im
Schulhause unterkommen könnte, bei einem Mann, wie er ihn sich besser
ja gar nicht zum Schwager wünschen konnte. Und warum sollte das nicht
möglich sein? Eine Deern, wie Leidchen? Da hatten doch schon ganz
andere ihr Glück mit einem Lehrer gemacht ...

Ja! Dann lag die Sache freilich anders! Dann war's ja ein Glück, daß
Leidchen im Herbst erst mal nach Bremen ging. Denn direkt aus der
Torfkuhle holte so'n Lehrer sich die Frau am Ende doch nicht gern ...

Als Gerd nach Hause kam, zeigte er seiner Schwester ein sehr
vergnügtes Gesicht. Bei nächster Gelegenheit kaufte er ihr von einem
Hausierer ein hübsches Schultertuch, und ohne sich aufzudrängen,
pflegte er doch die Freundschaft mit dem Schulhause nach Möglichkeit.

                   *       *       *       *       *

Da Gerd seine Erzieherneigungen fortan möglichst im Zaum hielt und
Leidchen ihm auch wenig Anlaß gab, sie zu betätigen, lebten und
arbeiteten die Geschwister den Frühling und Sommer über in hübscher
Eintracht.

Als der September ins Land kam, meinte sie einmal, es wäre schade,
daß er nicht immer so nett mit ihr gewesen wie die letzte Zeit; sie
hätte sonst ebensogut in Brunsode bleiben können. Aber er schüttelte
bedeutungsvoll den Kopf und sagte: »Leidchen, ich glaube doch, es ist
besser, daß du dich erst mal in anderen Verhältnissen umkuckst. Man
kann ja auch gar nicht wissen, was der liebe Gott noch alles mit dir
im Sinn hat.« Sie sah ihn fragend an. Aber er zuckte die Achseln und
sagte noch einmal: »Man kann nie wissen.«

Anfangs Oktober traf er den kürzlich zur Reserve entlassenen Jan
Monsees, der allerlei zu erzählen wußte, unter anderm auch, Müllers
Hermann wäre Bursche bei einem nach Spandau kommandierten Hauptmann
geworden. Da er gerade eine Zigarre in der Tasche hatte, schenkte er
sie dem Überbringer dieser ihm sehr angenehmen Nachricht.

                   *       *       *       *       *

Es war eine windstille Herbstnacht, als Gerd wieder einmal die
Hamme hinunterfuhr. Sein Schiff war diesmal aber nicht mit Torf
beladen, sondern trug zwanzig Viertel Kartoffeln, einige Weidenkörbe
mit Winteräpfeln und in einer Kommode aus Tannenholz die Habe der
Schwester, die vor kurzem vorn in der Koje sich schlafen gelegt hatte.

Gerd dämmerte in solchen Nächten meist gedankenlos zwischen Schlafen
und Wachen vor sich hin. Es konnte aber auch geschehen, daß er auf
einmal wunderlich wach wurde, wacher, als je am hellichten Tage.
Meist war es irgendeine Geringfügigkeit, die ihn plötzlich in diesen
merkwürdigen Zustand versetzte, eine Sternschnuppe, das Tinkeln
eines Sterns, der Schrei eines Vogels oder dergleichen. Eine solche
Stunde erlebte er auch in dieser Nacht. Er sah den Blechbeschlag von
Leidchens Kommode und den Porzellangriff ihres an dieselbe gelehnten
Regenschirms durch die Dunkelheit schimmern -- und auf einmal begann
sein Geist Pfade der Erinnerung zu wandeln, und die Vergangenheit, um
die er sonst, vom Tag und der Stunde genügend in Atem gehalten, sich
nicht eben viel kümmerte, wurde ihm plötzlich wunderlich lebendig und
gegenwärtig.

Tief aus einem rosafarbenen Steckkissen blinzelt ein rotes
Gesichtchen. Das kleine Ding ist eben auf die Welt gekommen und hat
dem Bruder eine große Tute voll Süßigkeiten mitgebracht.

Er trägt die Zweijährige auf dem Arm, gleitet über einer
Kartoffelschale aus, schützt im Fall seine Pflegebefohlene, daß ihr
nichts geschieht, und schlägt sich selbst an dem scharfen Rand des
Blecheimers eine klaffende Wunde in den Kopf. Er fühlt mit der Hand
nach der linken Schläfe, wo die Narbe heute noch sitzt, und freut sich
ihrer.

Sie stehen beide vor dem Bett der todkranken Mutter, die Hände in
ihrer abgezehrten, fieberheißen ... »Gerd, sie hat sonst keinen als
dich.«

Sie kniet als Konfirmandin vor dem Altar der heimatlichen Kirche,
und er schaut von der Empore in tiefer Bewegung auf sie herab.
Frühlingsglanz flutet durch die Chorfenster herein und liegt warm auf
dem lieben, feinen Gesichte.

Die Tage gemeinsamer Arbeit im Moor und auf den Wiesen werden
lebendig, und die traulichen Winterabende, wo sie wegen fremder
Schicksale, die ihnen aus Büchern auf einmal so nah und gegenwärtig
wurden, miteinander bangten und hofften, sich betrübten und freuten.

Sie steht auf Behnkens Diele unter dem Christbaum und singt, daß die
Menschen mit verwunderten Gesichtern atemlos lauschen. Und der Tanz um
den Christbaum im Schulhause, der Kuß von ihren roten Lippen -- er ist
der einzige geblieben in all den Jahren seit der frühesten Kinderzeit
-- und der stillfrohe Heimweg Arm in Arm durch die Weihnachtsnacht. --
-- --

Merkwürdig, all diese Stunden, in denen ihr Bild mit schimmerte,
waren für ihn zugleich Stunden des Aufatmens vom Druck des Werktags
gewesen; Stunden, wo er das Leben als etwas Großes, Geheimnisvolles,
Heiliges empfunden hatte. Er versuchte, die Schwester aus seinem Leben
wegzudenken. Was da übrigblieb, das wollte ihm kaum wert erscheinen,
gelebt zu werden. Sie hatte ihn durch ihr Wesen, das so ganz anders
war als das seine, ja oft genug geärgert. Aber gerade dies ihr
Wesen, ihre Ursprünglichkeit, ihre unmittelbare Lebendigkeit und
Lebensglut, hatte ihn doch auch immer wieder geweckt und befeuert.
Wenn er sich sagen durfte, daß sein Leben im ganzen doch wohl in
aufsteigender Linie sich bewegte, daß es je länger desto mehr sich
innerlich bereichert hatte, so hatte er das doch wohl in erster Linie
der Schwester zu verdanken ... oder -- ein Stern funkelte über den
Flußlauf und zog seine Gedanken aufwärts -- vielmehr dem, der Mensch
zum Menschen gesellt und mit unsichtbaren Händen die zarten Fäden
zwischen ihnen knüpft ...

So zog es leise, nicht in klarer Gedankenfolge, aber als lebendiges
Gefühl durch seine zu nachtschlafender Zeit seltsam wache und sich auf
ihre Tiefen besinnende Seele. Und daß alles dies, was bislang seines
Lebens wertvollsten Inhalt ausgemacht hatte, nun ein Ende finden
sollte, erfüllte ihn mit schmerzlicher Wehmut, indes das Schiff leise
plätschernd durch die dunkle Nacht seine mattglänzende Bahn zog.

Im Torfhafen angelangt, gab er einem Gelegenheitsarbeiter den Auftrag,
sich einen Handwagen zu leihen und die Kommode in die Stadt zu fahren.
Er selbst ging mit seiner Schwester auf dem Bürgersteig nebenher. Es
war gegen halb neun, als sie ihr Ziel erreichten.

Das Haus des Milchhändlers Marwede befand sich in einer
Geschäftsstraße der »Neustadt«, wie der am linken Weserufer gelegene
Stadtteil heißt, und machte schon von außen einen sauberen Eindruck.
Drinnen aber blitzte alles von Sauberkeit, und die Frau mittleren
Alters, die in dem Laden gleich links vom Eingang hantierte, war
in dem frischgewaschenen rosafarbenen Hauskleid, der blütenweißen
Schürze, und vor allem mit ihrer abgerundeten, strahlenden
Körperlichkeit eine lebendige Reklame für fette Vollmilch und prima
Molkereibutter, wie ein Milchgeschäft in der saubersten aller
deutschen Städte sie sich nicht besser wünschen kann. Sie gab den
Ankömmlingen ihre Hand, eine dicke, weiche, warme Patschhand, sah
Leidchen prüfend ins Gesicht, nickte befriedigt und bat, näher zu
treten.

Als sie die beiden im Zimmer allein ließ, um einen Imbiß zu besorgen,
blickte Leidchen ihren Bruder froh an und sagte: »Die mag ich leiden;
mit der will ich wohl fertig werden.« »Ja,« sagte Gerd, »sie hat ein
gutes Gesicht. Wenn sie bloß nicht zu grausam auf die Reinlichkeit ist
...« »Das schadet nicht,« meinte Leidchen, »Trina ihre Schlurigkeit
habe ich gründlich satt. Ich fühl' mich hier schon bannig wohl.«

Frau Marwede deckte den Tisch, und sie mußten die Butter dick
streichen und den Flottkäse noch dicker drauflegen. »Wir haben das ja
alles im Hause,« sagte die wohlwollend lächelnde Wirtin, die, beide
Hände in die Seiten gestemmt, vor ihnen stand. Nach dem Frühstück
besahen sie Leidchens Kammer und darauf den Kuhstall, den Stolz des
Hauses. »Er entspricht allen Anforderungen der neuzeitlichen Hygiene,«
erklärte die Frau mit Stolz, und Gerd freute sich der fünfzehn sauber
aufgestallten glatten Tiere. »So viel so schöne Beester hab' ich
noch nicht in einem Stall zusammen gesehen,« sagte er in ehrlicher
Bewunderung. Den Hausherrn fand er nicht vor. Er war noch mit dem
Wagen unterwegs, die Stadtkundschaft zu bedienen.

»Na, Frau Marwede,« sagte Gerd plötzlich und unvermittelt, »denn
lernen Sie meine Schwester man gut an, und du, Leidchen, sei folgsam
und ordentlich,« gab beiden die Hand und schritt zum Hause hinaus. Bis
zur nächsten Straßenecke ging er mit einer gewissen Hast, dann setzte
er in seinem gewöhnlichen, vom federnden Moorboden her etwas wiegenden
Schritt seinen Weg fort.

Auf der großen Weserbrücke blieb er eine halbe Minute stehen, sah auf
den breiten, glänzenden Strom hinab und dachte an das Dahinfließen des
menschlichen Lebens.

Als er durch die innere Stadt ging, zog ein Bild im Schaufenster eines
Buchladens seine Aufmerksamkeit an sich. Wogende Kornfelder prangten
im Goldgelb der Reife, und er freute sich des vertrauten Anblicks im
Gewühl der engen Straße.

Nach dem Bilde faßte er auch die Titel der Bücherauslagen ins Auge,
und bald haftete sein Blick auf einem broschierten Bande, der den
Aufdruck trug: »Lehrbuch der Moorkultur.«

Es lagen gerade allerhand Verbesserungen der Moorbewirtschaftung in
der Luft, wenn der Knecht eines am alten Schlendrian festhaltenden
Torfbauern, wie Jan Rosenbrock einer war, auch noch nicht viel davon
merkte. Aber er hatte doch schon von moderner Hochmoorkultur und von
dem Wert der künstlichen Dungmittel gerade für das Moor munkeln hören.
Und plötzlich wandelte ihn die Lust an, sich aus dem Buche über alle
diese Dinge zu unterrichten. Aber das war gewiß sehr teuer, kostete
am Ende gar zwei Mark. Nein, das konnte er nicht anwenden. Schweren
Herzens riß er sich von dem Schaufenster los.

Aber er war noch keine zwanzig Schritt gegangen, da kehrte er um, trat
entschlossen in den Laden und fragte nach dem Preise des Buches, das
es ihm angetan hatte.

»Broschiert vier, gebunden fünf Mark,« gab der Buchhändler zur Antwort.

Gerd wäre beinah vor Schreck erstarrt, blätterte aber doch in dem ihm
vorgelegten broschierten Exemplar, dessen Kapitelüberschriften ihm das
Buch nur noch begehrenswerter machten.

»Drei Mark will ich anwenden,« sagte er endlich mit starker
Selbstüberwindung und zog seinen Geldbeutel.

Der Ladeninhaber lächelte: »Sie meinen wohl, das geht hier zu wie bei
Ihrem Torf- und Schweinehandel? Ich verkaufe nur zu festen Preisen.«

Gerd steckte den Geldbeutel wieder ein und griff nach seiner Mütze, um
zu gehen. Aber plötzlich fuhr er noch einmal in die Tasche, ließ einen
Taler hart auf den Tisch klappen, legte zögernd eine Mark daneben,
klemmte das Buch unter den linken Arm und schob eiligst ab.

Als sein Schiff vor günstigem Winde die Hamme hinauf segelte, lag
er, die Pfeife im Mund, am Steuer, hatte seinen so teuer erworbenen
Schatz auf den Knien und las und las. Er bereute seinen Kauf nicht.
Was in dem Buch alles drinstand: von der Entstehung der Moore, von
Geschichte, gegenwärtigem Stand und Zukunft der Moorkultur und so
weiter, das war am Ende doch seine vier Mark wert.

Wenn er nur etwas Eigenes hätte, um die Lehren des Buches praktisch
zu erproben! Noch niemals war die Sehnsucht nach eigenem Besitz so
lebendig in ihm gewesen. Jetzt, wo Leidchen fort war, noch lange dem
Halbbruder als Knecht zu dienen, spürte er wenig Lust.

Er fing an zu rechnen. Von der Mutter her besaß er einige hundert
Taler, und mit seinem Lohn war er stets sparsam umgegangen. Aber es
langte doch nicht, eine wenn auch bescheidene Anbauerstelle zu kaufen.
Und nach einer Braut hatte er sich ja auch noch nicht umgesehen. Ja,
vielleicht mußte er sogar noch Soldat spielen. Im nächsten Sommer
hatte er sich zum letztenmal zu stellen.

Aber das nahm er sich fest vor: eine eigene Stelle wollte er
einmal haben, und deshalb fortan noch sparsamer sein als bisher.
Die ausgegebenen vier Mark taten ihm jetzt wieder weh, er tröstete
sich aber mit der Hoffnung, sie später nach Anleitung seines Buches
hundertfältig herauszuwirtschaften.




                                  9.


Leidchen stand in ihrer Dachkammer und sah sich zwischen ihren vier
Wänden um. Diese waren freundlich gestrichen und von der Vorgängerin
mit bunten Bildchen geschmückt, aber eins fehlte ihnen. Sie hatten
nämlich kein Fenster. Ein solches saß vielmehr einen Arm hoch über
ihrem Kopf schräg in dem verschalten Dach, wo ein Eisenkreuz ein
viereckiges Stück grauen Novemberhimmels vierteilte. Als sie auf ihren
Stuhl stieg, den einzigen des Kämmerchens, erblickte sie die kahle
Spitze eines Baumes, und indem sie sich auf den Zehen emporreckte,
noch dazu eine Flucht von Dachfirsten und Schornsteinen. Die Aussicht
wäre auf dem Lande eigentlich ebensogut, dachte sie.

Wo sie wohl das Myrtenbäumchen hinstellte, das ihre Patentante Beta
Rotermund ihr vor Jahren geschenkt hatte? Auf der Kommode war es zu
dunkel, auf dem Waschtisch auch. Es erschien ihr am besten, durch eine
künstliche Hängevorrichtung es dicht unter dem Fenster anzubringen,
wo es Licht und Sonnenwärme genug haben würde. Der in der Wand
hochgehende Schornstein schützte es im Winter wohl vorm Erfrieren.
Einstweilen aber machte sie sich ans Auspacken ihrer Kommode.

Während sie dabei war, kam Frau Marwede die knarrende Treppe herauf
und brachte ihr ein Kind von zwei bis drei Jahren. »Dies ist unsere
Olga,« sagte sie, »die kann dir ein bißchen zukucken.«

Das kleine Mädchen sah der neuen Hausgenossin mit Interesse zu, und
als diese sich einmal auf den Stuhl setzte, kletterte es ihr auf den
Schoß und küßte sie auf Mund und Wangen, unter der Versicherung: »Ogga
mag Tante leiden.« Die Kinder in der Stadt, dachte Leidchen, sind
nicht so blöde und fremd wie unsere zu Hause, und erwiderte die ihr
dargebrachten Zärtlichkeiten.

Am Mittagstisch sah Leidchen zuerst die Familie Marwede vollzählig
beieinander. Es waren noch drei Kinder da, Jungens im Alter von sieben
bis vierzehn Jahren, alle wohlgenährt und mit einem gesunden Appetit
begabt. Die Stimmung des Hausherrn schien anfangs nicht die beste,
da eine vor zwei Tagen eingestellte Milchkuh nicht ganz das hergab,
was man von ihr erwartete, und für zwei Stadtkunden, die zum heutigen
Ersten des Monats gekündigt hatten, nur ein neuer eingetreten war.
Doch heiterte die Feststellung, daß das Ladengeschäft des Vormittags
nichts zu wünschen übriggelassen habe, ihn zusehends auf, und er
erkundigte sich bei der neuen Hausgenossin teilnehmend, wie viel
milchende Kühe ihr Bruder Jan augenblicklich im Stall hätte und ob das
Kälbermästen gut ginge. Über die Sphäre von Milch, Butter und Käse
verirrte das Tischgespräch sich keine Minute lang hinaus. Leidchen
dachte, etwas gebildeter hätte sie sich Stadtleute doch vorgestellt.

Nach dem Mittagessen weihte Frau Rosalie Marwede ihr Fräulein
in die Grundsätze des Hauses ein. Deren erster und alle anderen
beherrschender lautete: »Reinlichkeit ist die Seele vons
Milchgeschäft,« und er galt nicht nur in Stall, Keller und Laden,
sondern ebensosehr in Küche und Kinderstube und den übrigen
Wohnräumen, wo Leidchen ihr Reich hatte. Wenn Trinas Unordentlichkeit
ihr öfters leise Seufzer abgelockt hatte, so wurden ihr solche
in der Folgezeit nicht selten von Frau Marwedes Ordnungs- und
Sauberkeitsfanatismus abgepreßt. Aber im ganzen fand sie sich ganz gut
in diesen hinein, da ihr Wesen im Grunde doch auch auf die von ihrer
Herrin übertriebenen häuslichen Tugenden gestellt war.

Den ersten freien Sonntagnachmittag benutzte sie, um Meta Stelljes,
eine Cousine ihrer Schwägerin Trina, zu besuchen, die ein Jahr
vor ihr konfirmiert war und am Osterdeich bei einem Großkaufmann
in Zigarren diente. Sie mußte allen Mut zusammennehmen, indem
sie durch einen peinlich gepflegten Garten mit Teppichbeeten und
fremdartigem Buschwerk auf die schloßartige, mit unzähligen Erkern
und Türmchen verzierte Villa zuschritt, und als sie die breite Treppe
hinanstieg, klopfte ihr das Herz nicht schlecht. Als aber ein feiner,
glattrasierter Herr in langem blauen Rock mit silbernen Knöpfen auf
ihre bescheidene Frage nach Meta Stelljes sie strafend ansah und
stirnrunzelnd ihr bedeutete, die Freitreppe wäre nur für Herrschaften,
da wäre sie am liebsten in den Boden gesunken. Aber der feine Herr
war dann doch ganz nett und brachte sie zu Meta Stelljes. Es traf
sich gut, daß diese auch gerade Ausgehsonntag hatte und ihr fertig
angezogen entgegentrat.

So spazierten die beiden Kinder des Moors denn bald auf dem
Osterdeich dahin, plauderten von daheim, und kamen dann auch auf
ihre gegenwärtigen Dienstverhältnisse. Meta fühlte eigentlich das
Bedürfnis, mal ordentlich zu klagen und zu stöhnen. Als sie aber
hörte, daß Leidchen eine Stellung als Stütze und Fräulein hatte, lobte
sie den Reichtum ihrer Herrschaft, die Eleganz der Wohnung, die Güte
des Essens bis ins Aschgraue und erhöhte ihren Lohn eigenmächtig um
zwanzig, den Jahresdurchschnitt der Trinkgelder um hundert Prozent.

»Mit so was kann ich nicht prahlen,« sagte Leidchen kleinlaut, als
Meta mit ihrer Aufschneiderei fertig war, »aber Marwedes sind sehr
ordentliche, saubere Leute, und denn ist da auch 'ne kleine Deern, die
heißt Olga ...«

»Was? Auch noch Kinder?«

»Warum denn nicht?«

»In ein Haus, wo kleine Kinder sind, würde ich überhaupt nicht gehn.«

»Warum nicht, Mädchen?«

»Da sieht man, wie grün du noch bist,« sagte Meta mitleidig lächelnd.
»In ein Haus mit Kindern geht heutzutage nur Personal zweiter Klasse.
Übrigens Leidchen, kuck mal her, du mußt dein Kleid ein bißchen
aufraffen, so wie ich.«

»Warum?«

»Immer mit deinem Warum, du dumme Deern! Soll uns denn jeder anmerken,
daß wir aus dem Torf sind?«

»Ach so,« sagte Leidchen und beeilte sich, ihrer Begleiterin den
rechten Kleiderraffgriff abzusehen.

Als sie an einigen Soldaten vorüber waren, begann sie: »Aus unserm
Dorf hat das letzte Jahr auch einer hier gedient, aber Anfang Oktober
haben seine Obersten ihn nach Spandau geschickt.«

»Weiß schon Bescheid,« unterbrach Meta, »eurem Müller sein Jung, hab'
mal mit ihm getanzt. Ein schneidiger Kerl! Und hat auch wohl Geld?«

»Geld? Wie Heu! Als seine Mutter Hochzeit machte, haben sie ihr
die blanken Taler scheffelweise zugemessen. Sein Vater muß beinahe
ebensoviel Steuern bezahlen, wie das ganze obere Dorf zusammen.«

So unterhielten sich die Mädchen, musterten die Toiletten ihrer
Geschlechtsgenossinnen, schielten hin und wieder verstohlen nach
einem schmucken Mannsbild und waren lustig und guter Dinge. Leidchen,
die nun schon fünf Tage in der Häuserenge der Neustadt und auf ihrem
Kämmerchen mit Oberlicht gesessen hatte, ließ froh den Blick über den
blau glitzernden Strom und die grünen Weiden in die Ferne wandern und
war glücklich, daß sie einmal von Milch, Butter und Käse nichts zu
sehen, zu riechen und zu hören brauchte.

Als sie Abschied voneinander nahmen, sagte Meta: »Was meine beste
Freundin war, die hat sich letzte Woche verlobt. Wenn du Lust hast,
kannst du in ihren Platz eintreten.«

»O ja!« rief Leidchen hocherfreut, ergriff ihre Hand, und die
Freundschaft war geschlossen.

Leidchen war überglücklich. Indem sie durch die von Menschen
wimmelnden, hell erleuchteten Straßen ging, dachte sie an die
einsamen, dunklen Moordämme daheim. Was war das dagegen hier für
ein Glanz und Leben! Auf der Großen Weserbrücke, als sie auf den
blinkenden, lichterspiegelnden, von hohen Lagerhäusern begleiteten
Strom hinabblickte, kam ihr auf einmal ein Gefühl für die Größe der
alten Hansestadt, sie fühlte sich mit Stolz als ein kleines Rädchen in
dem großen, bunten Getriebe, und war von Herzen froh, der Stille und
Enge ihres Dorfes entflohen zu sein.

Bald aber traten Milch, Butter und Käse wieder in ihre Rechte, und
das Leben ging mit Kochen, Wischen, Fegen, Waschen und Plätten seinen
alltäglichen Gang. Da kam ihr wohl abends in der Schummerzeit mal
der Wunsch: wenn du jetzt dein Spinnrad in den Arm nehmen und ein
bißchen auf die Nachbarschaft gehen könntest! Dann wollte es ihr fast
scheinen, als lebe man in der großen Stadt mit den vielen tausend
Menschen im Grund viel einsamer als zu Hause mit den paar hundert.

Als Anfang September ihr Bruder sie zum erstenmal besuchte, konnte sie
sich nicht genug tun mit Versicherungen, wie gut es ihr in der Stadt
gefiele. Die kleine Olga mußte er auf den Schoß nehmen und sich von
ihr eien lassen. Meta Stelljes wurde ihm angepriesen als aller Mädchen
Krone und für einen glücklichen Ehestand angelegentlichst empfohlen.
Aber er sagte, er brauche noch lange keine Frau.

Am Sonntag darauf stäubte sie morgens Frau Marwedes Salonmöbeln ab,
als auf einmal durch die geöffneten Fenster feierlicher Glockenklang
an ihr Ohr schlug. Da fiel ihr ein, daß heute schon der erste
Advent war, und sie sah im Geist, wie daheim an der schimmernden
Birkenreihe des Kirchdammes entlang die schwarzgekleideten Menschen
in Trupps auf Grünmoor zupilgerten. Sie blickte auf die Straße, sie
bot das gewohnte alltägliche Bild. Ob denn hier niemand an die Kirche
dachte? Halt, da kam ein altes Mütterchen angewankt, Gesangbuch und
Taschentuch in der Hand. Leidchen bog sich zwischen den Blumenstöcken
aus dem Salonfenster hinaus, um einen Blick in das verrunzelte
Gesicht zu gewinnen, und da huschte es ganz leise sonntäglich und
vorweihnachtlich durch ihr Gemüt.

Am nächsten Sonnabend fragte sie Frau Marwede, ob sie mal in die
Kirche gehen dürfte. Die stemmte die Hände in die Seiten, machte
ein maßlos erstauntes Gesicht und sagte: »Aber Kind, hast du denn
soviel Sünden getan?« Da wurde sie rot und sagte nichts weiter. Am
Sonntagnachmittag aber, als sie ohne Meta Stelljes, die nicht abkommen
konnte, einen Gang durch die innere Stadt machte, hörte sie auf einmal
die mächtigen Domglocken, und die hohen bunten Fenster schimmerten in
die hereinbrechende Dämmerung. Da sie sich so nicht getraute, fragte
sie einen vertrauenerweckenden älteren Herrn, ob sie da hinein gehen
dürfte. Dem zuckte es schalkhaft um die Mundwinkel, indem er sagte:
»Gern, wenn Fräuleinchen ein Billett hat.« Da ging sie betrübt ihrer
Wege und dachte, auf dem Lande wär' das doch besser eingerichtet, wo
man mit einem Pfennig für den Klingelbeutel frei käme und auch noch
nicken könnte.

Bei nächster Gelegenheit sprach sie mit ihrer Freundin über das
Kirchengehen. »Ja, Leidchen,« sagte Meta Stelljes, »anfangs paßt
einem das nicht, aber man gewöhnt sich schneller daran, als man
denkt, wo's hier einmal keine Mode mehr ist. Aber du hast recht, der
Mensch will mal was anderes als das Alltägliche. Deshalb haben wir
Hausangestellten in unserer Villa einen Leseklub gegründet, und wenn
du jede Woche einen Groschen ausgibst, kannst du dir so viel schöne
Geschichten von uns leihen, als du Lust hast zu lesen.«

»Och ja,« meinte Leidchen, »zu Hause haben wir uns auch immer
vorgelesen. Gerd holte die Bücher immer vom Lehrer.«

»Ha,« rief Meta verächtlich, »du wirst sehen, unsere Geschichten
sind viel interessanter. Wer damit erst einmal angefangen hat, kommt
überhaupt nicht wieder davon los.«

Leidchen hinterlegte bei dem Mann im blauen Rock mit silbernen Knöpfen
statutengemäß eine Sicherheit von fünfzig Pfennig, zahlte einen
Groschen als Wochenbeitrag und trug einen Packen arg zerlesener bunter
Hefte mit heim. Abends im Bett las sie darin, bis nach zwölf, und ein
Schauer nach dem anderen lief ihr über den Leib.

So kam Weihnachten heran, aber recht weihnachtlich wollte es dem
Landkind nicht werden. Am Christabend brannte in Frau Marwedes Salon
ein prächtiger Tannenbaum, über und über mit dicken Glaskugeln
behängt, eine Spieluhr spielte abwechselnd »O du fröhliche« und
»Stille Nacht«, und Leidchen war reicher beschenkt worden als sie
erwartet hatte. Aber ein rechter Weihnachtsabend war es doch nicht.
Die Menschen kamen einander um keine Handbreit näher, Milch, Butter
und Käse spukten auch um den Lichterbaum, eine kranke Kuh im Stall
machte Sorge. Nachher im Bett las Leidchen noch lange mit glühenden
Wangen in den bunten Heften, von denen sie sich längst eine zweite
Serie geholt hatte. Sie tischten gerade mal wieder eine grausliche
Mordgeschichte auf.

Am Abend des ersten Festtages hatte sie allein mit der kleinen Olga
das Haus zu hüten. Das Kind auf dem Schoß, saß sie in der dunklen
Bescherungsstube unter dem Baum, an dem einige Glaskugeln in dem Licht
glänzten, das von der Straßenlaterne gegenüber in das Fenster fiel.
Da bat die Kleine auf einmal um eine Geschichte. Leidchen dachte
an das, was sie in der letzten Zeit gelesen hatte, aber davon war
nichts zu gebrauchen. Sie mußte also in ihren Erinnerungen weiter
zurückgreifen. Und bald fing sie an: »Es war einmal ein großer,
großer Kaiser, der hieß Augustus,« und erzählte von einem Stall, in
dem nicht fünfzehn Milchkühe gestanden hätten wie in Papa seinem,
sondern nur ein Ochs und ein Esel, und in diesem kleinen Stall wäre
ein kleines, ganz kleines Kindlein geboren, an dem hätten seine
Eltern, und die beiden Tiere, und die frommen Hirten, und die heiligen
Engel, und der liebe Gott und alle guten Menschen ihre Freude gehabt.
Dann sang sie dem Kinde, das sich warm an ihren Busen schmiegte,
auch einige Weihnachtslieder, und als sie aufstand, um es zu Bett zu
bringen, sagte sie: »So, Olga, nun haben wir erst richtig Weihnachten
gefeiert.« --

Mitte Februar konnte Meta Stelljes keine bunten Hefte mehr liefern,
Leidchen hatte die Bibliothek des erst seit einem Jahre bestehenden
Klubs durchgelesen. Das plötzliche Aufhören des gewohnten Reizes der
Spannung empfand sie mit peinlichem Unbehagen, und sie war in dieser
Zeit öfters mit sich selbst und der Welt höchst unzufrieden. Warum
konnten andere Mädchen, die Heldinnen jener Geschichten, so große
unerhörte Dinge erleben, mit Revolvern sich durch allerhand Abenteuer
kämpfen, reiche Grafen mit marmornen Schlössern heiraten, indes
ihr bei solchem Milchmann mit Fegen, Wischen und Kochen ein Tag so
eintönig und zum Sterben langweilig wie der andere dahinkroch!

Eines Spätnachmittags, als sie ihr Kämmerchen betrat, hörte sie
einen Vogel singen. Zu Hause, wo's die vielen Vögel gab, würde ihr
das nicht weiter aufgefallen sein, aber hier in der Stadt war's
was Besonderes. Sie stieg auf ihren Stuhl und sah zum Dachfenster
hinaus. Da wurde der kahle Baumwipfel sichtbar, und in ihm saß ein
Amselmännchen, den gelben Schnabel schräg aufwärts gerichtet, die
Flügel gesenkt, unbeweglich, und sang und sang. Du liebe Zeit, wie
konnte der kleine Kerl singen! Lust, Wehmut, Sehnsucht erfüllten
die Brust der Lauscherin. Sie hob sich auf die Zehen. Da erschienen
Giebel und Schornsteine, aber über sie hinweg zogen die Wolken der
verheißungsvoll lockenden, dämmernden Ferne zu. Ach wer da mit könnte!
Wie war doch die Welt so weit und die Dachkammer so eng!

                   *       *       *       *       *

Der Frühling, der seinen kleinen schwarzen Herold vorausgesandt hatte,
brachte in Leidchens Leben ein paar große Veränderungen.

Meta Stelljes zeigte eines Nachmittags, als ihre Freundin sie abholte,
ein merkwürdig aufgeregtes Wesen, und schon nach zwei Minuten hatte
sie ihr gestanden, sie hätte seit zwei Tagen einen Bräutigam. Zwar
einstweilen wär' es nur so'n lüttjer Handbräutigam, aber es würde wohl
Ernst draus werden, denn ihr Stanislaus Kaminski wäre ein ordentlicher
Mensch und Beamter, nämlich Hilfsbremser an der Königlichen Eisenbahn,
und katholisch, und die Katholiken wären, wie bekannt, ja alle sehr
fromm.

Als sie einige hundert Schritt miteinander gegangen waren, blieb
Meta stehen, zeigte auf eine nach links abzweigende Straße und sagte
hastig: »Ich muß hier abbiegen, mein Bräutigam wartet auf mich. Adjüs.«

»Wann sehen wir uns wieder?« fragte Leidchen, die Hand der Freundin
festhaltend.

»Weiß ich noch nicht, wird wohl nicht oft mehr sein. Sieh auch man zu,
daß du bald so was findest, das ist in diesem armen Leben immer noch
das Beste. Adjüs, lebe wohl!«

Und hin ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Verlassene
blickte ihr traurig nach. --

Als Leidchen nach Hause kam, bat Frau Marwede sie, gleich mal zu der
kleinen Olga zu gehen, die nicht recht wohl wäre. Sie fand das Kind
mit Fieber im Bett.

Marwedes hatten einen starken Glauben an die Heilkraft gesunder
Vollmilch, und man holte solche bei jedem Melken warm von der besten
Kuh im Stall. Aber die Patientin weigerte sich, diese Medizin zu
nehmen.

Am nächsten Tage rief man den Arzt, der ein bedenkliches Gesicht
machte.

Als er das Krankenzimmer verlassen hatte, sagte die Mutter, an ihrer
Unterlippe nagend: »Und dabei ist das Kind noch nicht mal getauft.«

Leidchen starrte sie entsetzt an, indes der Milchmann geringschätzig
die Achseln zuckte.

Dieser ging bald zu seinen Kühen. Da sagte die Frau: »Was meinst du,
Mädchen? Ob's nicht am Ende doch besser wäre ...?«

»O ja,« rief Leidchen, die helle Angst im Gesicht, »bitte, bitte!
Denken Sie sich, sie stürbe uns weg, drei Jahre alt und ungetauft! Wir
könnten ja keine ruhige Stunde wieder haben.«

»Na na, Marwede und ich sind ziemlich aufgeklärte Leute ... Aber wenn
du hinlaufen und den Pastor holen willst, soll's mir recht sein. Er
wohnt dicht bei der Kirche, sag' ihm aber, er möchte sich ein bißchen
beeilen.«

Leidchen traf den Pastor nicht zu Hause, seine Frau sagte aber, sie
würde ihn schicken, sobald er zurückgekehrt wäre.

Er kam eher, als man hiernach ihn glaubte erwarten zu können. Da
Frau Marwede noch in ihrem Schlafzimmer beim Umkleiden war, traf er
nur Leidchen bei dem Täufling, und als er ihr die Herzensangst und
Traurigkeit aus dem Gesicht las, sagte er teilnehmend: »Es ist wohl
Ihr erstes und einziges, liebe junge Frau?« Leidchen wurde purpurrot
und stamerte, sie wäre hier nur das Fräulein. Während jener seinen
Irrtum mit großer Kurzsichtigkeit entschuldigte und die Brille putzte,
kam die wirkliche Mutter in ihrem Schwarzseidenen hereingerauscht und
begrüßte den Geistlichen mit achtungsvoller Verbeugung. Leidchen wurde
als Patin angeschrieben, und als das Köpfchen des Kindes mit Wasser
besprengt wurde, hob sie es in den Kissen an.

»Was hat der Onkel eben gemacht?« fragte die kleine Olga, während ihre
Mutter den Pastor hinausgeleitete.

»Oh,« sagte Leidchen, sich über sie neigend, »das war ein ganz lieber
Onkel. Du bist nun dem lieben Gott sein Kind geworden, und er hat dich
ganz furchtbar lieb, noch lieber als Tante Leidchen.«

Von Stund' an fühlte sie sich dem Kinde noch enger verbunden als
bisher. Die alte Anschauung, daß Patenschaft eine Art Verwandtschaft
begründet, wirkte dabei mit, noch mehr aber wohl die Erinnerung an
das viele Gute, das sie selbst von ihrer Patentante Beta Rotermund
empfangen hatte und nun weiterzugeben Gelegenheit fand. Sie wurde
erfinderisch, ihrem Patenkinde Liebes zu erweisen, und dieses hatte
sie lieber um sich als seine Mutter, die, was sie in Jahren als stark
in Anspruch genommene Geschäftsfrau an Zärtlichkeit versäumt haben
mochte, jetzt in wenigen Tagen nachholen wollte, wobei sie dann des
Guten leicht etwas zu viel tat.

Einmal sollte Leidchen auch wieder erzählen. Als sie nachsann, fiel
ihr Doktor Luthers Brief an seinen Sohn Hänsichen ein, den sie aus
dem Schullesebuch kannte, und zugleich dachte sie an daheim, wie dort
nun bald wieder Frühling und Sommer Einzug hielten. Und sie erzählte
von einem wunderschönen Garten, da blühten die Äpfel- und Birnbäume
über und über weiß wie Schnee, und die Früchte wurden dick und
kriegten rote Backen, und bunte Vögel sangen süß in den Zweigen, und
die herrlichsten Schmetterlinge gaukelten durch die blaue Luft, und
silberweiße Birken ließen ihre lichtgrünen Schleier wehen, und unter
ihnen auf grünem Rasen spielte das Christkind mit all den artigen und
frommen Kindlein, die hier aus der ganzen Welt zusammen kamen.

So malte sie der Kranken ein leuchtendes Bild mit den Farben ihres
Kinderparadieses, und das kleine Stadtkind, das solche holden Wunder
nie mit eigenen Augen geschaut hatte, hörte mit offenem Munde und mit
sehnsuchtsvollen Blicken an ihren Lippen hängend zu.

In der Nacht darauf übernahm sie gegen ein Uhr die Krankenwache. Sie
mochte etwa eine Stunde am Bett gesessen haben, als das Kind anfing,
sich in den Kissen zu werfen. Mit leisen, begütigenden Worten redete
sie ihm zu und wischte die Schweißtropfen, die ihm auf die Stirn
traten, sanft hinweg. Auf einmal streckte sich der kleine Leib lang,
ganz lang. Da packte tödliche Angst die Wärterin, sie riß ihn an ihren
jungen lebenswarmen Busen, sie hauchte ihren Odem auf den schon still
stehenden Mund. Als sie aber die blicklos starren Augen sah, ließ sie
den Körper in das Bett zurücksinken und preßte sich beide Hände auf
das Herz; denn sie fühlte ein Schwert durch ihre Seele schneiden, zum
erstenmal in ihrem jungen Leben.

Sie weckte die nebenan schlafenden Eltern. Die Mutter kam im
Nachtgewand angestürzt und warf sich schreiend über die kleine Leiche.
Der Vater folgte notdürftig bekleidet und stand stumm daneben. Nach
einer Weile sagte er: »Aber Rosalie, nun faß dich. Wir haben unsere
Pflicht getan. Denk' doch bloß an all die schöne Milch, die das Kind
die Jahre getrunken hat ...«

Der kahle Baumgipfel unter Leidchens Dachfenster begrünte sich nach
und nach, und spät nachmittags und abends saß die Amsel darin und
sang und sang. Und die Gedanken der Einsamen eilten immer und immer
wieder in das Land des schwarzen Moors und der weißen Birken, wo sie
jetzt vom dämmernden Morgen bis in die sinkende Nacht im Torf standen
und sich tüchtig ausarbeiteten. Wenn doch einmal in der Frühe jemand
an ihr Bett getreten wäre und sie geweckt hätte zum Torfbacken im
herbstfrischen Frühlingswind! Aber sie mußte Tag für Tag kochen,
aufwaschen und fegen, im Dunstkreis von Milch, Butter und Käse, und
obgleich die Arbeit nichts weniger als schwer war, fühlte sie sich oft
todmüde und war manchmal des Lebens fast überdrüssig.




                                  10.


Eines Nachmittags, als nach einer regenreichen, dunklen Aprilwoche die
Sonne wieder schien, stand Leidchen auf, machte eine Bewegung, als ob
sie etwas abschüttelte, und ließ sich ein neues Sommerkleid anmessen.
»Für ein Fräulein von so schlankem, ebenmäßigen Wuchs zu arbeiten, ist
mir ein Vergnügen,« sagte die Schneiderin.

Erst das letzte Drittel des Wonnemonds brachte einen lachenden,
leuchtenden Sonntag, an dem das nach Urteil der Nadelkünstlerin
»äußerst schick und tadellos« sitzende Himmelblaue den Menschen
gezeigt werden konnte. Leidchen trug es natürlich in den Bürgerpark,
in dem die Menschheit heute ein Stelldichein verabredet zu haben
schien, und der auch selbst sein allerschönstes Kleid angezogen hatte,
nämlich das aus lichtem, blütendurchwirktem Grün.

Das schmucke Kind freute sich des warmen Sonnenscheins und der jungen
Frühlingspracht, sah nach den fröhlichen geputzten Menschen und dachte
so in ihrem Sinn, ganz zu verachten wäre das Leben eigentlich doch
nicht.

Als sie über eine der Brücken kam, die das ausgedehnte Grabennetz
der Anlagen überspannen, blieb sie stehen und sah belustigt einem
ungeschickten Ruderer zu, der sein Boot nicht in der Gewalt
hatte, indes das hinten sitzende Mädchen durch gute Ratschläge,
überflüssiges Gekreisch und verkehrtes Steuern die Sache noch
schlimmer machte.

Da hörte sie nahe Schritte und wandte sich um.

»Guten Tag, Leidchen Rosenbrock,« rief eine froh verwunderte Stimme.

»Hermann!?«

»Ja, mein Deern, ich bin's selbst. Aber nun gib mir erst mal die Hand.«

Er nahm sie sich und drückte sie tüchtig, über das ganze Gesicht
lachend.

»Mensch, wo kommst du denn bloß auf einmal her? Ich meinte, du wärst
in Spandau.«

»Spandau ist abgemacht. Wir sind vorige Woche zum Regiment
zurückkommandiert. Schön, daß ich dich treffe. Wollen wir uns mal die
Affen bei der Meierei ansehen, und die Känguruhs? Oder soll ich dich
lieber ein bißchen rudern?«

Leidchen hatte sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt und
fragte schelmisch, indem sie auf den hemdärmelig sich abrackernden
Jüngling zeigte, dessen Boot noch immer von einem Ufer zum anderen
schoß: »Kannst du's ebensogut, wie der da?«

Er warf sich in die Brust. »Ich? Wie der erste Sportsmann meistere ich
mein Boot.«

»Na, na? Wenn ich an die Nacht auf der Hamme denk' ...«

»Ach so ... na ja, bei der Torfschipperei bin ich nicht groß geworden.
Aber daß ich rudern kann, will ich dir bald zeigen, komm!«

Sie machte ein paar Schritte, blieb dann aber wieder stehen: »Ich
weiß nicht recht ... Wenn uns einer sähe ...«

»Wir beide können uns überall sehen lassen,« rief er lachend. »Komm!«

»Aber ...«

»Ach was. Wir sind hier nicht in unserem Dorf, wo die alten Weiber
gleich die Köpfe zusammenstecken, wenn zwei junge Leute mal auf dem
Damm miteinander gehen. Hier kann jeder nach seiner Fasson selig
werden, das ist ja gerade das Schöne an so 'ner Stadt. Komm!«

Er wollte ihren Arm nehmen, doch sie litt es nicht. Als er
aber entschlossen die Richtung nach der nicht weit entfernten
Bootvermietungsstelle einschlug, folgte sie langsam.

Der Hafen war bei dem herrlichen Wetter bereits ausvermietet. Hermann
machte ein langes Gesicht, Leidchen sagte: »Es ist so ebensogut, ich
muß doch bald nach Hause.«

Aber schon kam ein frischgestrichenes, schlankes Ruderboot um die
Ecke, an dessen Bordwand der Name »Adelheid« zu lesen war. »Das
schickt sich ja prächtig,« rief Hermann, und kaum waren die beiden
Gymnasiasten, die ihre Fahrt beendet hatten, ausgestiegen, so war
er auch schon hineingesprungen und reichte ihr zum Einsteigen die
Hand. Dann legte er schnell Koppel nebst Seitengewehr ab, streifte
die Handschuhe von den Händen, ergriff die Riemen, und das Boot glitt
leicht und sicher zum Hafen hinaus.

»Nun erzähl' mal, wie es dir all die Zeit gegangen ist,« sagte
Hermann, indem er quer über einen kleinen See auf einen von lichtem
Buchengrün überwölbten Wasserlauf zuhielt.

Leidchen war froh, daß sie sich endlich einmal vor einem Bekannten
über die Erlebnisse der letzten Zeit aussprechen konnte.

Sie begann mit der Geschichte ihrer Freundschaft und bedauerte, daß
diese nun ein Ende gefunden hätte. Als er wissen wollte, wodurch sie
auseinander gekommen wären, und sie, etwas verlegen, ihm den Grund
angab, zwinkerte er verständnisvoll mit den Augen und sagte: »Ja so
geht's in der Welt.«

Leidchen errötete flüchtig und fing schnell an, von der kleinen Olga
zu erzählen, wie artig, klug und anhänglich sie gewesen wäre. Als
sie von Krankheit und Hingang des Kindes berichtete, war ein Zittern
in ihrer Stimme, und zuletzt liefen ihr die blanken Tränen über die
Backen.

»Na nu!« sagte er verwundert, »so tief darfst du das bei einem fremden
Kind nicht nehmen.«

Mit großen Augen, fast ein wenig empört, sah sie ihn an: »Aber wenn
ich sie doch so lieb gehabt habe ...«

»Na ja, aber es ist Gottes Wille einmal so gewesen, was willst du
dagegen machen? Den Weg müssen wir alle, der eine früh, der andere
spät ... Aber nun laß uns lieber von was anderem sprechen. Wie geht's
deinem Bruder?«

»Als ich nicht anders weiß, gut ... Du bist ihm doch nicht mehr böse?«

»Warum sollt' ich ihm böse sein?«

»Och, damals, als mein Geburtstag war ...«

»Du liebe Zeit, das hab' ich längst vergessen. Es war gut, daß die
Jungens mir damals in den Arm fielen. Wegen solcher Kleinigkeiten
dürfen wir Soldaten nämlich unsere Waffe nicht ziehen, das wird
streng bestraft. Wenn damals was passiert wäre, wär' ich heut' nicht
Gefreiter und hätte nicht die blanken Adlerknöpfe hier an meinem
Kragen.«

»Gefreiter ... ist das mehr als Leutnant?«

»Mehr wohl gerade nicht, aber durchaus nicht zu verachten! Soweit ich
denken kann, hat's aus unserem Dorf noch keiner so weit gebracht.
Nur die strammsten und zuverlässigsten Leute werden zu Gefreiten
befördert.«

»Ach so ...«

»Gerd muß diesen Sommer schon zur Generalmusterung. Schade, daß er nun
wohl ganz ums Soldatspielen herumkommt.«

»Warum ist das schade?«

»Gerade ihm hätte ich's von Herzen gegönnt, daß der preußische
Unteroffizier ihn mal zwischen die Finger gekriegt hätte.«

»Warum?«

»Weißt du, Leidchen, Gerd ist ein herzensguter Mensch, ich will gewiß
nichts Böses über ihn sagen. Aber er hat etwas dickes Blut. Und er
denkt zu viel.«

»Pah, das wird nichts schaden, wenn einer sich seine Gedanken macht.«

»Aber es kann zu viel des Guten werden. Zum Unglück ist er auch noch
diesem langbeinigen Schulmeister in die Hände gefallen und liest seine
ganzen Bücher durch, wie sie mir Weihnachten zu Hause erzählt haben.«

»Wenn's ihm Spaß macht, laß ihn doch! Er kommt euch allen weit vorbei.«

»Aber Leidchen, verstell dich doch nicht so. Ich weiß ja ganz gut, du
hast unter seiner Wunderlichkeit am meisten leiden müssen.«

»Ich? Wer sagt das? Das war gar nicht schlimm, er hat es immer gut
gemeint. Überhaupt ist er einer von denen, auf deren Wort man Häuser
bauen kann. So sind lange nicht alle, die ein glattes Gesicht haben
und glatt schnacken können.«

»Deern! ... Wenn du dich ein bißchen aufregst, bist du gleich noch mal
so hübsch.«

»Och Hermann ...«

»Nun bist du rot angelaufen und noch viel hübscher geworden.«

»Hermann!«

»Ich hab' mich früher schon immer gewundert, wie es möglich war, daß
bei uns im Moor eine so feine kleine Deern herumlief. Die Backen
hat unser gnädiges Fräulein nicht zarter und rosiger. Was würde die
gnädigste Frau ausgeben, wenn sie dein Seidenhaar hätte! Und die
Augen, Kind, deine Augen ...«

»Wenn du nicht gleich aufhörst, steig' ich aus.«

»Das wär' schade, dann machst du dir die Strümpfe naß, und dein
schönes blaues Kleid dazu. Hat Wippelmanns Lena das gemacht?«

»Och, Junge, das kannst du doch wohl sehen!«

»Ja, es sitzt gut.«

»Und kostet sechs Taler, und 'ne feine Stadtschneiderin hat's gemacht,
nach der neuesten Mode.«

Sie schob die Füße ein wenig nach vorn, um dem Rock einen glatteren
Fall zu geben.

»Die Hauptsache ist,« meinte er, sie ziemlich dreist musternd, »daß
eine in so'n Kleid ordentlich was hineinzustecken hat. Du bist ganz
gut durch den Winter gekommen.«

»Rat' mal, wieviel Pfund ich jetzt wiege!«

»Hundertundzwanzig?«

»Mußt noch'n Zehnpfundstück auf die Wage tun.«

»Ach ja, wenn eine bei so 'nem Milchmann mit süßer Vollmilch gebörnt
wird.«

Das Boot, das eine Strecke lang prangende Parkwiesen zur Seite gehabt
hatte, glitt in diesem Augenblick unter das herabhängende Gezweige
einer Linde. Hier kam es zur Ruhe, indem Hermann die Riemen einzog
und sich an einem Zweig festhielt. Unter dem Blätterdach, das von der
Sonne durchleuchtet und vom stillen Wasser gespiegelt wurde, umfloß
die beiden ein gedämpftes grünes Licht und angenehm schattige Kühle.
»Hier ist's wunderschön,« sagte Leidchen und blickte mit frohen Augen
um sich und zu dem hohen Gewölbe empor.

Plötzlich fing eine Nachtigall an zu singen. Das junge Mädchen reckte
suchend den Kopf, und bald hatte sie das Vögelchen entdeckt. Es saß
ganz nahe, sie konnte die gesträubten Federchen der liedgeschwellten
Kehle unterscheiden. Andächtig lauschte sie dem süßen Sang, der
in der grünen Halle, vom Wasser zurückgeworfen, seltsam voll und
eindringlich klang.

Als die Sängerin nach einer Weile davonflog, sagte sie aufatmend:
»Die kann's noch besser als unsere zu Hause, die immer bei Wöltjens
Backofen nistet.«

»Das macht, die Konkurrenz ist hier größer,« erklärte Hermann. »Das
kleine Ding muß bis über beide Ohren verliebt sein.«

»Och ...«

»Ja, die Liebe macht glücklich, macht selig.«

»Och du ...«

»Wart' man, du erfährst das auch noch mal.«

Sie zog kräftig an einem Lindenzweig, und das Boot glitt unter dem
Baumschatten hinweg und ins Freie.

Hermann warf sich jetzt wieder mit aller Gewalt in die Riemen, daß sie
knarrten und jankten. Rauschend flog das Boot dahin, durch Sonnenglanz
und Baumschatten, vorbei an duftenden Blütensträuchern und hübschen
Parkhäuschen, belebte Promenadenwege entlang und wieder durch grüne
Einsamkeiten.

Leidchen nahm all die freundlichen, bunten Bilder in sich auf, und
wenn der sich kraftvoll vor- und zurückschnellende schmucke junge Mann
nicht gerade her sah, mußte sie öfters heimlich zu ihm hinüberblicken.
Diese Fahrt war ein schöneres Vergnügen, als mit Meta Stelljes
durch die Straßen zu bummeln, Schaufenster zu besehen und über die
Herrschaften zu klatschen. Viel zu schnell erreichte das Boot seinen
Hafen, am liebsten hätte sie die Rundfahrt noch einmal gemacht.

»So,« sagte Hermann, als sie an Land gestiegen waren, »nun setzen wir
uns hier in den Kaffeegarten und essen gemütlich zu Abend.«

Ihre schwachen Einwendungen, daß es schon spät wäre und sie nach Hause
müßte, fanden keine Beachtung, und bald saßen sie unter einer Rotbuche
hart am Ufer des kleinen Sees, von dem das Kaffeehaus den Namen
führte. Der Kellner brachte Butterbrote und zwei Glas Bier.

Sie plauderten über dies und das, und zuletzt kam Hermann auch auf
seine Stellung im Hause seines Hauptmanns zu sprechen. Sein Herr
hielte große Stücke auf ihn, die gnädige Frau nicht minder, und die
Gören wären rein in ihn vernarrt. Aber den meisten Anfall hätte er von
der Köchin, die ihn partout heiraten wollte. Und sie wär' ja auch eine
blitzsaubere Person, das müsse ihr selbst der Neid lassen.

Leidchen spähte bestürzt durch die vorgeschrittene Dämmerung nach
seinem Gesicht.

Merkwürdig wär's, fuhr er nach einer Weile fort, wie schlecht Mädchen,
die anderswo geboren wären, sich als Frauen im Moor gewöhnten. Das
könnte man zum Beispiel auch an seiner Mutter sehen. Die hätte bis auf
den heutigen Tag nicht vergessen, daß sie von der Geest stammte, und
schimpfte noch immer über das braune Moorwasser.

Drüben vor den Buchengruppen, denen der Abend ihr lichtes Grün
gegen ein mattes Grau umgetauscht hatte, flammten Laternen auf
und warfen lange, ruhige Lichtstreifen über den See, die nur im
Wellenschlag eines heimkehrenden Bootes zuweilen eine Zeitlang
tanzten und zitterten. Fledermäuse huschten jagend hin und her. Die
reiche Vogelwelt des Parks war verstummt, bis auf die zahlreichen
Nachtigallen, die um so lauter schlugen. Ein einzelner Schwan zog
langsam und träumerisch seine Bahn. Die meisten Tische waren leer, nur
selten klang ein Ton gedämpfter Unterhaltung herüber. Irgendwo in der
Ferne spielte eine Militärkapelle.

Hermann nahm Leidchens Hand. Aber nach einigen Sekunden zog sie diese
zurück und rückte mit dem Stuhl ein wenig zur Seite. »Ich muß nun aber
wirklich bald nach Hause,« sagte sie.

»Ich auch,« sagte er, die Uhr ziehend, »ich habe nämlich keinen
Urlaub. Aber hinbringen kann ich dich noch.«

Als sie aufgestanden waren, bot er ihr seinen Arm. Sie zögerte, den
ihren hineinzulegen.

»Deern, du bist aber auch noch gar zu albern,« rief er etwas
ärgerlich. »Wie sieht das aus, wenn wir so wie'n Paar Bauern
nebeneinander her toffeln! Unsere Köchin brauchte ich gar nicht erst
zu bitten.«

Da hakte sie scheu und zaghaft ein.

Sie schritten auf einem breiten, von Bäumen überdunkelten und von
Laternen erhellten Parkweg.

Auf einer Bank, die etwas zurück in schattigem Dunkel stand,
saß ein Soldat, der sein Mädchen im Arm hielt. Gerade als die
beiden vorübergingen, unterbrach ein Ton die Stille, über dessen
Entstehungsursache kein Zweifel bestehen konnte.

»Die verstehn's,« raunte Hermann seiner Begleiterin zu.

Sie erbebte leise. Wenn er nur sich so was nicht auch beikommen ließe!

Endlich langten sie vor ihrem Hause an. Hermann ergriff schnell ihre
Hand, drückte sie, daß sie hätte aufkreischen mögen, und ging mit
strammen Schritten davon.

Ein wenig enttäuscht blickte sie ihm nach. Ganz im stillen hatte sie
sich den Abschied doch etwas anders gedacht.

Langsam stieg sie die Treppe hinauf.

Nein, es war doch besser, daß er sie zum Abschied nicht geküßt hatte.
Daran konnte man sehen, daß er keiner von den Frechen war, gegen deren
Zudringlichkeit ein anständiges Mädchen sich wehren muß. Mit einem so
ruhigen, ordentlichen Menschen durfte sie getrost ausgehen. Dagegen
würde selbst Gerd nichts haben. Und wenn er sie dann auch eines Tages
mal küßte ... nun ja, ein Küßchen in Ehren soll niemand verwehren.

Unter solchen Gedanken hatte sie sich entkleidet und dabei öfters zu
dem Stück Nachthimmel über ihrem Dachfenster aufgeblickt. Das war von
tiefem Schwarzblau, und die Krone des hängenden Myrtenbäumchens, das
in diesen Wochen auch frisch getrieben hatte, hob sich scharf dagegen
ab.

Als sie sich hingelegt hatte, kam ihr des Hauptmanns Köchin in den
Sinn. Ob er die nicht doch ganz gern hatte? Ach was! Die Köchinnen,
die sie auf dem Wochenmarkt gesehen hatte, waren beinah alle alt,
dick und häßlich ...

Mit diesem Trost schlief sie ein.

                   *       *       *       *       *

Am andern Morgen kam ganz unerwartet Gerd, der auf dem Schlachthof ein
fettes Kalb abgeliefert hatte.

»Deern,« sagte er verwundert, »du siehst famos aus.«

»Es geht mir auch gar nicht schlecht,« gab sie mit lachenden Augen zur
Antwort.

Sie bewirtete den Bruder in der Küche mit einem Frühstück und saß ihm,
Kartoffeln schälend, gegenüber. Die Geschwister hatten sich längere
Zeit nicht gesehen, und sie berichtete, was inzwischen geschehen.

Fast mit den gleichen Worten wie gestern nachmittag im Ruderboot
erzählte sie von Krankheit und Tod des Kindes und schloß mit den
Worten: »Wie schrecklich nahe mir das gegangen ist, kannst du dir gar
nicht denken.«

Er blickte sie verwundert an, und als sie fertig war, sagte er
trocken: »Das wird wohl nicht so schlimm gewesen sein, du siehst mir
viel zu lustig dabei aus. Das Wischen an den Augen laß auch man sein,
Tränen bringst du doch nicht heraus.«

Leidchen erschrak.

Ja, sie hatte das alles nur so mit dem Munde hingeschwatzt, ohne das
geringste dabei zu fühlen. Sonst hatte sie jeden Morgen die kleine
Olga neu vermißt, aber heute bis eben, wo sie Gerd von ihr erzählte,
noch mit keinem Gedanken ihrer gedacht. Es war ihr auf einmal, als
hätte sie die traurige Geschichte vor zehn Jahren erlebt, oder als
wäre sie ihr nur als Kunde aus fremdem Mund zugekommen. So fern, so
gleichgültig war ihr über Nacht geworden, was gestern nachmittag noch
ihr Herz mit tiefem Schmerz und ihre Augen mit echten Tränen gefüllt
hatte. Sie schämte sich ein wenig vor sich selbst.

Als sie ihm dann vom Ende ihrer Freundschaft mit Meta Stelljes
erzählte, sprach er die Hoffnung aus, daß diese es mit einem
ordentlichen, ernsthaften Menschen zu tun haben möchte, und nicht mit
einem von den vielen, die so ein Mädchen nur zum besten hätten.

Leidchen stieß mit der Spitze ihres Pantoffels ärgerlich gegen seine
Transtiefel und sagte: »Du bist gar nicht zu bessern. Immer mußt du
von allen Menschen das Schlechteste denken.«

Er zuckte die Achseln: »Ich kenne die Welt.«

Nach einer Weile sah sie ihm neugierig und schalkhaft in die Augen.
»Du! Sag' mal, denkst du denn eigentlich noch gar nicht ans Heiraten?«

Er machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung: »Erst will
ich ordentlich was hinter mich bringen ... Bei uns im Moor wird
durchschnittlich viel zu früh geheiratet.«

»Mensch, schnack doch nicht so gräßlich weise!« rief sie lachend.

»Neulich,« fuhr er fort, »wurde wieder mal so'n Paar aufgeboten.
Er achtzehn Jahr, muß nächstes Jahr zum erstenmal zur Musterung.
Der Vorsteher hat's erst nach dem Minister wegschreiben müssen. Sie
fünfundzwanzig. Und was hatte er? Ein Rad. Und sie? Auch ein Rad.
Und sie fuhren hin und verkloppten die Dinger. Da langte es eben, daß
sie sich ein Bett kaufen konnten, alles andere mußten sie auf Borg
nehmen. Wenn er dann später beim Kommiß schwitzen muß, sitzt sie da
mit zwei oder drei Kindern, und zu etwas bringen kann's es niemals,
so'n Prachervolk!«

»Ach Gerd, du darfst in solchen Dingen nicht so hart sein. Wenn die
beiden sich wirklich liebhaben ...«

»Ich danke für solche Liebe. Nach der Tanzmusik, als er halb dun war,
hat sie ihn mitgeschleppt. Bezahlen kann er nicht, so mußte er das
Mensch heiraten.«

Eine Zeitlang schwiegen sie. Dann sagte Gerd, geheimnisvoll lächelnd:
»Ich hab' auch noch einen Gruß für dich. Rat' mal, von wem?«

Nachdem sie einige Male vergeblich hin und her geraten hatte, kam er
selbst damit heraus: »Von Lehrer Timmermann.«

»Ach so ... Danke.«

»Denkst du dir gar nichts dabei?« fragte er lächelnd.

»Was soll ich mir groß dabei denken?« fragte sie gleichgültig zurück.

»Och, ich meinte man ... Soll ich ihn wieder grüßen?«

»Das kann ich dir nicht verbieten.«

»So'n bißchen von Herzen? ...«

Sie hielt plötzlich im Kartoffelschälen inne, sah ihn groß an und rief
lachend: »Junge, hat er dich wohl als Freiwerber geschickt?«

Gerd schlug sich die Mütze, die er bislang zwischen den Händen gedreht
hatte, über das rechte Knie und sagte ärgerlich: »Deern, du bist wohl
nicht recht klug.«

Sie weidete sich an seiner Verlegenheit und lachte ihm lustig ins
Gesicht.

Auf einmal richtete er sich auf und sagte, sie voll ansehend, mit
ernsthaftem Gesicht: »Leidchen ... laß uns da vernünftig über
sprechen. Wenn Timmermann dich nähme ...«

»Pah! Fragt sich, ob ich ihn will.«

»Aber Leidchen!«

»Aber Gerd, du hast ja eben noch gesagt, wir sollten nicht so früh ans
Heiraten denken.«

»Oh ...« sagte er gedehnt, »mit euch Mädchen ist das was anderes. Ihr
seid leicht alt genug, und es ist gut, wenn ihr einem erst anständig
unter den Füßen weg seid.«

»Kuck' einer an! So'n alter Pharisäer!«

»Nein, Leidchen, wir wollen ernst bleiben. Was so'n Lehrer ist, der
hat sein Festes. Ich glaub', unserer kriegt jetzt beinah' schon
tausend Mark, und kommt wohl bis aufs doppelte. Bedenk' doch bloß,
Leidchen: Was für'n Haufen Geld! Und das schöne neue Haus mit Garten,
und fünfzehn Morgen Land, und ein Tagwerk Grünland. Da könnt ihr euch
ordentlich ausarbeiten, und zwei Kühe halten, und ein halb Dutzend
Schweine zum Verkauf fett machen.«

»Und wenn ich die Kühe gemolken und die Schweine gefüttert habe, kann
ich in seinen dicken Büchern lesen ...«

»Ja ... das auch ...«

»Ujeh«

»Wa--as?«

»Gerd, ich will dir mal was sagen, zu solch einem Leben bin ich nicht
gemacht. Von dem vielen Lesen und Studieren wird einer ganz dwatsch im
Kopf.«

»Wer hat dir denn das vorgeschnackt?«

Über ihre Wangen flog eine leichte Röte: »Das hab' ich an mir selbst
ausprobiert. Ich habe nämlich diesen Winter auch viel zu viel gelesen.
Es waren ja alles ganz schöne Geschichten, aber auf die Dauer bekommt
es doch nicht gut. Ich glaube, was die Bücherschreiber sind, die lügen
alle zusammen.«

»Leidchen, Leidchen, wie schnackst du da nun wieder hin!« sagte
er kopfschüttelnd. »Was ist bloß mit dir los? Du bist heute so
wunderlich, so aufgeregt und übermütig ... Sag' mal, du hast in der
Schule doch auch Schillers Glocke gelernt.«

Mit dem Pantoffel taktierend begann sie:


      »Festgemauert in der Erden
      Steht die Form, aus Lehm gebrannt.«


»Halt!« rief er, »du sollst mir das ganze Ding nicht herunterbeten.
Ich mein' die Worte: ›Das ist's ja, was den Menschen zieret‹.«

Sie fiel ein:


      »Und dazu ward ihm der Verstand,
      Daß er im innern Herzen spüret,
      Was er erschafft mit seiner Hand.«


»Siehst du, Leidchen, das ist's. Es ist 'ne traurige Sache, wenn einer
durch das Leben bloß so hindusselt und hindöst, wie bei uns auf dem
Lande die meisten noch tun. Das Leben wird viel schöner, wenn einer
anfängt, so'n bißchen nachzudenken, und wenn er dann seine Arbeit
nicht einfach so tut, wie er's anderen Leuten abgekuckt hat, sondern
mit eigenen Gedanken, und nicht bloß mit der Hand, sondern auch mit
dem Kopf und dem Herzen. Soweit bin ich jetzt, und Timmermann hat mir
ein bißchen mit dazu geholfen ... Also ich soll ihn herzlich von dir
wieder grüßen. Und wenn er eines Tages kommt und bei dir anfragt --
ich weiß ja noch gar nichts Bestimmtes, hab' nur so meine Ahnung --
dann sagst du in Gottes Namen fröhlich ja. Nicht wahr?«

»Ich kann mir den Fall ja überlegen. ›Drum prüfe, wer sich ewig
bindet,‹ sagt Schiller ja auch wohl, ›ob sich nicht noch was Bess'res
findet.‹«

»Leidchen, Leidchen, du bist jetzt achtzehn Jahr und mußt bald
wirklich ein bißchen ernster werden. Es heißt doch, ›ob sich das Herz
zum Herzen findet‹. Und ich bin fest überzeugt, es gibt keine zwei
Herzen, die so gut zueinander passen.«

»So--o? Na ja, die Hauptsache ist ja auch, daß du das erst mal weißt
...«

»Was ich noch fragen wollte: hast du schon eine Freundin wieder für
Meta Stelljes?«

»Was brauch' ich 'ne Freundin, wenn ich auch ~so~ vergnügt bin?«

»Nein, Leidchen, es ist besser.«

»Na, denn sei man ruhig, hier auf der Nachbarschaft ist ein Fräulein
von meinem Alter, ich kann ja mal sehen, ob ich mit der etwas in Gang
komme.«

»Das tu bitte, das heißt natürlich, wenn es ein ordentliches Mädchen
ist. Ich bin dann ruhiger.«

»Willst du nicht lieber selbst hier bleiben und aufpassen?«

»Dumme Deern, heut' ist überhaupt nicht vernünftig mit dir zu
sprechen.«

Er war aufgestanden. Sie warf die letzte Kartoffel in den Wassereimer,
daß die Tropfen hoch aufspritzten, und erhob sich ebenfalls. In voller
Jugendblüte prangend, stand sie vor ihm, er mußte sie still verwundert
ansehen.

»Was kuckst du, Junge?«

»Darf ich dich nicht ankucken?«

Ihre braunen Augen blitzten vor Übermut. »Weißt du, was ich möchte?«

»Na?«

»Dir mal'n Kuß geben.«

»Aber Deern!«

»Magst du keinen?« Sie spitzte das Mündchen ganz allerliebst.

»Oh ...«

Dreimal drückten sich ihre warmen roten Lippen auf die seinen.

»Deern, Deern, was kannst du küssen!« rief er lachend, indem er sich
ihrer Umarmung entwand und mit dem Handrücken über den Mund wischte.
»Schade, daß ich Timmermann keine Probe davon mitnehmen kann. Ich
glaube, der käm' gleich morgen angereist und holte sich mehr von der
Sorte.«

»Hohoho, der kann sich auf den Kopf stellen, er kriegt doch keinen.«

»Das wollen wir ruhig abwarten ... Na, Leidchen, ich freu' mich, daß
du so fein auf dem Damm bist. Denn bleib' schön munter, adjüs!«

»Wart', ich geh ein paar Schritt mit dir.« Und schon hatte sie die
Küchenschürze abgeworfen.

Als sie auf der Straße waren, fragte Leidchen: »Weißt du keinen guten
Platz für mich zum Herbst? In unserm Dorf oder auf der Nachbarschaft,
das ist einerlei.«

Er blieb stehen und fragte verwundert: »Was? Du willst hier wieder
weg?«

»Ja,« sagte sie, »es gefällt mir auf dem Lande doch ebensogut.«

»Siehst du? Hab' ich dir das nicht gleich gesagt?« triumphierte er.
»Aber zum Winter? ... Das wird schwer halten, hm. Halt, auf der Mühle
suchen sie ein Mädchen in der Zeitung. Willst du da hin?«

Sie machte ein bestürztes Gesicht. »Nee,« sagte sie kurz.

»Das wollt' ich dir auch nicht raten. Kein Mädchen hält es da lange
aus.«

»Ist die Frau wirklich so schlimm?«

»Allzusammen sind sie dem Teufel aus der Kiepe gesprungen. Im Herbst
kommt auch Hermann wieder nach Haus, der jetzt Hauptmannsbursche ist,
in Spandau.«

»Wir sind hier an der Ecke,« sagte Leidchen hastig, »ich muß machen,
daß ich wieder in die Küche komme.«

Sie gab ihm eilig die Hand und wandte sich zum Gehen. Indem sie
langsam dem Hause zuschritt, suchte sie eines unangenehmen Gefühles
Herr zu werden. Als sie wieder in der Küche anlangte, war ihr das
auch schon gelungen. Sie hielt die beiden Arme gestreckt vor sich,
und in ihr jubelte es: An jeder Hand einen Freiersmann! Und was für
welche! Den gebildetsten jungen Mann im Dorf, und den schmucksten und
reichsten dazu. Wenn Meta Stelljes davon eine Ahnung hätte! Die mit
ihrem Hilfsbremser! Und die Freundinnen zu Hause!

Den ganzen Tag war sie vor Freude rein närrisch. Erst gegen Abend kam
eine ruhigere, besinnlichere Stimmung über sie. »Wer die Wahl hat,«
dachte sie, »hat die Qual.«

Von jeher waren die Rosenbrocks gute Rechner gewesen, und auch
Leidchen hatte davon ihr Teil bekommen, wenn auch nicht ein so großes,
wie ihr Bruder. So fing sie denn, als die Tagesarbeit getan und es
stiller in ihr geworden war, an zu rechnen.

Lehrerfrau zu werden ... der Gedanke hatte viel Verlockendes. Daheim
in ihrem Dorf war sicher kein Mädchen, das da nicht mit beiden Händen
zugegriffen hätte. Das Haus war neu und groß. Noch heute schalten die
Bauern, so teuer zu bauen wär' gar nicht nötig gewesen, und stöhnten
über die Höhe der Schulsteuer, die infolge des Neubaues auf 250
Prozent der Staatssteuern, einschließlich der fingierten, gestiegen
war. In solchem Hause zu wohnen und als Frau zu schalten, das war
gewiß nichts Geringes.

Aber die Mühle war auch nicht zu verachten. Sie hatte drei
Mahlgänge und galt als eine der stärksten im ganzen Moor. Leidchen
erinnerte sich, wenn sie als Kind mit der Karre einen Sack Mehl oder
Gerstenschrot holen mußte, wie sie da verwundert und ein bißchen
ängstlich zu den fauchend herumsausenden Flügeln aufgeschaut und
drinnen sich die Ohren zugehalten hatte vor dem tollen Geklapper, das
der weißbepuderte Mann gelassen regierte wie ein Kinderspielzeug. Und
das Wohnhaus war wohl altmodisch, noch mit Strohdach, aber doch das
stattlichste Gebäude im ganzen Dorf, und hatte gewiß wunderschöne,
große Zimmer ...

Bei Gastereien wurde die Lehrersfrau stets ins Sofa genötigt. Und die
Müllersfrau? Nun, die jetzige ließ sich selten sehen, weil sie den
Geestbauernstolz gegenüber den Moorleuten nicht überwinden konnte.
Wenn eine aber war, wie sich's gehörte, ehrte man sie gewiß nicht
weniger als die Schulmeisterin ... Was würden die Leute für Augen
machen, wenn eine aus ihrem Dorf als junge Frau auf der Mühle Einzug
hielte! Das war nicht geschehen, solange Mühle und Dorf standen.
Die Müller wollten immer mehr sein als andere Leute und holten
sich die Frauen von anderen Mühlen oder aus den reichen Geest- und
Wiesendörfern ...

Lehrer Timmermann war ein guter Mensch; schon seine sanften blauen
Augen sagten, daß nichts Arges in ihm wohnte. Sie erinnerte sich jenes
Weihnachtsabends im Schulhause, wo sie alle vier so kindlich vergnügt
gewesen waren. Aber es fiel ihr auch von der Schulzeit her ein, daß er
alles sehr genau nahm. Vielleicht entlief sie, wenn sie ihn nahm, nur
dem einen Schulmeister, um dem anderen in die Hände zu fallen, oder
mußte sich gar, da die beiden fest zusammenhielten, unter zwei ducken
... Wenn sie sich einen Kuß von ihm vorstellte ... da konnte sie
ebensogut ihren Bruder küssen, das kam so ungefähr auf dasselbe heraus.

Dagegen Hermann? ... Das Herz klopfte ihr und das Blut schoß ihr in
die Wangen, wenn sie nur daran dachte, daß er sie einmal in den Arm
nehmen und küssen konnte ...

Plötzlich erschrak sie. Sie hatte eben so fest mit den beiden
gerechnet, aber wollten die sie denn überhaupt?

Nach kurzem Nachdenken glaubte sie des Lehrers sicher zu sein. Wenn
Gerd von der Sache angefangen hatte, so war anzunehmen, daß er sich
irgend etwas hatte merken lassen. Und wenn er auch nur die geringste
Andeutung gemacht hatte, dann war kein Zweifel, daß er sich mit
ernsten Absichten trug.

Dagegen Hermann? ... Der war ein Luftikus und Windbeutel. Was er ihr
gestern Schmeichelhaftes gesagt hatte, das hatten am Ende auch schon
andere von ihm zu hören bekommen. Häuser durfte man auf dessen Wort
nicht bauen. Überhaupt mußte man sich mit einem seiner Art in acht
nehmen ... Aber es hatte doch wieder einen besonderen Reiz, gerade so
einen sich zu gewinnen ...

Einen großen Vorzug hatte das Schulhaus. Dort hatte die junge Frau von
vornherein freie Hand. In der Mühle dagegen bekam sie für die ersten
Jahre gewiß ein böses Tun mit den beiden Alten. Aber was wollten die
schließlich machen, wenn die jungen Leute treu zusammenhielten? Und
war sie denn nicht noch immer mit allen Menschen gut fertig geworden?
Das müßte doch wunderlich zugehen, wenn sie die alten Brummbären nicht
schließlich zahm kriegte. Und ewig lebten die am Ende ja auch nicht ...

Leidchen war entschlossen, einen von den beiden auf jeden Fall sich zu
erobern. Wen? das mußte die Zeit ausweisen.

Frau Marwede war ausgegangen. Sie schlich sich leise in ihren Salon
und stellte sich vor den großen geschliffenen Spiegel. Ja, ihre Augen
hatten einen schönen Glanz, und die Haare einen seidigen Schimmer. Die
Grübchen saßen niedlich in den rosigen Backen, und mit dem kleinen
Finger versuchte sie sie noch zu vertiefen. Sie dachte ihre schlanke
Gestalt in das Himmelblaue hinein und beschloß, Frau Marwede um einen
kleinen Vorschuß auf ihr Gehalt zu bitten, damit sie sich auch noch
einen passenden neuen Hut dazu kaufen könnte.

Als sie sich vom Spiegel abwandte, sah sie auf dem Eckbort, wo die
Nippsachen standen, ein Püppchen lehnen, mit dem die kleine Olga so
oft gespielt hatte. Sie nahm das Ding in den Arm, ließ sich in einen
roten Plüschsessel fallen und weinte blanke Tränen in ihren Schoß. Das
war ihr in dem so plötzlich über sie gekommenen Glück auf einmal ein
seelisches Bedürfnis.




                                  11.


Auf dem Neustadtsbahnhof hielt ein Zug der Großherzoglich
Oldenburgischen Eisenbahn. Alles, was den schönen Sonntagnachmittag im
Wald- und Heidegebiet des Nachbarländchens verleben wollte, strömte
herzu, vereins-, familien- oder paarweise, je nach Lebensumständen
oder Neigungen.

Schon hatte der Mann mit der roten Tasche die Flöte am Munde, da kam
noch ein Pärchen in langen Sätzen über den Bahnsteig dahergesprungen.

»Dritter?«

»Jawohl.«

»Alles besetzt, hier einsteigen!«

Sie warfen sich, einander gegenüber, in die grauen Polster eines
unbesetzten Abteils zweiter Klasse und rangen mit allen Kräften ihrer
Lungen nach Luft, die ihnen beim Dauerlauf knapp geworden war.

Bald war Leidchen so weit, daß sie ihr Spiegelbild im Fenster suchen
und vor ihm ihren neuen Hut -- weißes Stroh mit Klatschmohn --
zurechtrücken konnte.

Dann wandte sie das glühende Gesicht ihrem Gegenüber zu und sagte:
»Mal'n bißchen in der Eisenbahn zu fahren, macht doch wirklich Spaß.«

»Du hast wohl noch nicht ganz oft drin gesessen?« fragte Hermann.

»Es ist heute das erstemal in meinem Leben.«

»Ist ja wohl nicht möglich, Deern!«

»Ganz gewiß. Meta Stelljes wollte immer mal mit mir nach Vegesack,
aber dann ist ihre Verlobung dazwischen gekommen. Oh, kuck mal, wie
die Telegraphendrähte immer auf und ab wogen! Und wie 'r das durch
geht! Wir fahren schneller, als die Krähe da fliegen kann.«

Hermann lächelte über ihre naive Freude und sah ihr verwundert in die
großen braunen Kinderaugen. »Und dabei ist dies noch der gemütlichste
Zug in ganz Deutschland,« sagte er, »er darf nicht schneller, sonst
fährt er die Oldenburger Ochsen und Kühe tot. Weißt du, was die
Buchstaben hier auf der Fensterstrippe zu bedeuten haben?«

»G. O. E.? Nee.«

»Gänzlich ohne Eile.«

»Ach so, dies ist also nur erst ein Bummelzug.«

Die Zielstation, der ein nahes Forsthaus den Namen gegeben hatte, war
unter solcherlei Gesprächen bald erreicht. Zuletzt hatten sie sich
über die Klassenunterschiede auf der Eisenbahn unterhalten, und als
sie ausstiegen, sahen sie nach den Fahrgästen, die aus der dritten
geklettert kamen, mit einiger Geringschätzung, und für die Reisenden
vierter Güte hatten sie überhaupt kein Auge.

Um nicht in die Vereine und Familien hineinzugeraten, schlugen sie
ein schlankes Tempo an. Arm in Arm und im Geschwindschritt ging's die
sonnige Landstraße entlang, Hermann pfiff eine muntere Marschweise.
Erst als ein Fußweg sie nach rechts in einen Buchenforst führte,
wurden sie langsamer.

Das Kind aus dem Lande der Birken legte das Köpfchen in den Nacken und
staunte zu den lichten grünen Hallen des Hochwaldes empor: »Junge,
Junge, hier ist's so schön wie in der Kirche!« »Viel schöner, Deern,
als in der Kirche!« rief er lachend. Als sie von ungefähr einmal zu
Boden blickte, schlug das bewundernde Staunen plötzlich in helles
Entzücken um. Sie bückte sich zu einer Kolonie lieblicher Maiglöckchen
und pflückte ein Sträußchen, das sie dann in zwei Hälften teilte, um
die eine ihrem Begleiter zu überreichen, der die schenkende Hand ein
paar Sekunden mit zärtlichem Druck festhielt.

Der Wald wurde lichter, und an seinem Saum lud eine ländliche
Wirtschaft zum Rasten ein. Das Pärchen setzte sich in eine
Kletterrosenlaube, die über und über mit schwellenden und schon
rot durchschimmernden Knospen bedeckt war, und bald stand eine
Portionskanne Kaffee nebst einem Teller mit dreierlei Kuchen vor ihnen
auf dem Tisch. Leidchen hatte zu Mittag vor freudiger Erwartung nicht
viel essen können, aber jetzt langte sie wacker zu. Ihr Begleiter, der
ihr die besten und zuckerigsten Stücke überließ, erzählte dazu eine
lustige Geschichte nach der anderen, daß sie immer wieder mit Essen
innehalten und sich erst mal auslachen mußte.

Bald wurde es in dem nahen Walde lebendig, und der Garten füllte sich
schnell mit Ausflüglern, die großen Kaffeedurst und viel Spektakel
mitbrachten. Die Rosenlaube erschien einer kinderreichen Familie
begehrenswert, deren stattlich dicke Mutter den im Wege sitzenden
jungen Leuten aus puterrot erhitztem Gesicht einen feindseligen Blick
zuwarf, wie die Gluckhenne den jungen Hähnen und Hühnern, wenn sie für
ihre Brut Platz schaffen will. Bald waren die beiden fest eingekeilt,
und verschiedene Backfische und Bengels machten ein Gesicht, als ob
sie sagen wollten: »Habt ihr unsere Mama nicht verstanden?«

»Ich glaube, die Herrschaften sind lieber unter sich,« sagte Hermann
denn auch bald, zahlte und bot Leidchen den Arm.

Sie folgten einer Landstraße, die durch Korn- und Kartoffelfelder in
der Richtung auf eine mit jungen forstlichen Anlagen bedeckte Höhe
führte. Diese stiegen sie auf einem Fußpfad hinan, bis eine mächtige
vorgeschichtliche Steinsetzung, von einer sturmzerzausten Eiche
überragt, vor ihnen lag.

Mit gewandtem Sprung hob Hermann sich auf die riesige Deckplatte, um
dann auch seiner Begleiterin hinauf zu helfen.

Vom Rand des Steines bot sich ein freier Blick weit ins Land hinaus.
Im Vordergrunde leuchtete die Junipracht üppiger Felder, über denen
die Lerchen sangen. Um sie legte sich ein Kranz heller Buchen- und
dunkler Nadelwälder, hinter diesen verdämmerte die unbestimmte Ferne.
Es war angenehm sommerlich warm.

»Oh,« rief Leidchen, der die Augen weit wurden, »wie lange hab' ich
so was nicht mehr gesehen! Wir hatten zu Hause auf unserm Moor eine
Föhre, von der konnte man auch so weit ins Land kucken.«

Eine Weile standen sie schweigend und freuten sich der schönen
Aussicht. Dann legte er leise die Hand um ihre Hüfte. Bald zog er sie
fester an sich und küßte sie.

Mit geschlossenen Augen lag sie ein Weilchen still an seiner Brust.
Als ein leises Erbeben über ihren Körper lief, wurde er stürmischer,
und sie schlug die Arme um ihn und erwiderte seine Küsse mit
Leidenschaft.

Aber plötzlich riß sie sich gewaltsam los, wich zurück und sah ihn mit
großen, starren Augen an.

Er wollte sie aufs neue umarmen. Da sprang sie von der Steinplatte zur
Erde.

Er ihr nach. Aber sie hob abwehrend die Hände: »Bitte, nicht mehr!«

Da ließ er die Arme sinken.

Unten in den Anlagen wurden Stimmen laut, und sie schritten
hintereinander die Anhöhe hinab.

Als sie wieder auf der Straße waren, bot er ihr seinen Arm, aber
sie wollte ihn nicht nehmen. Es lag ihr noch immer lähmend in allen
Gliedern. So war sie vorhin erschrocken, vor ihm und vor sich selbst.

Er erzählte von Spandau und Berlin. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin.

Er pfiff: »Auf in den Kampf, Torero.« Sie ärgerte sich über die kecke
Weise und faßte ihren Sonnenschirm fester.

Als der Fußweg in den Buchenwald abbog, sagte sie kurz und
entschieden: »Ich bleibe auf der Chaussee.«

Auf dem Bahnhof standen schon viele Menschen mit abgerissenen
Blätter- und Blütenzweigen, und die beiden schoben sich in die den
Zug erwartende Menge hinein. Als sie ein paarmal auf und ab gegangen
waren, nahm Leidchen auf einmal Hermanns Hand und sagte: »Ich danke
dir auch schön, daß du mich mal mitgenommen hast.« »Das kannst du noch
öfter haben, mein' Deern,« antwortete er, indem er ihre Hand festhielt
und mit zärtlichem Blick ihr tief in die Augen sah. »Wenn's dir recht
ist, bringen wir alle unsere freien Sonntage miteinander zu. Dann
kriegst du wenigstens etwas von der Welt zu sehen. Wollen wir das
nächste Mal mit dem Dampfschiff nach Fegebeutel?« »Bitte ja,« rief
sie mit frohen Augen, sich an seine Schulter schmiegend und zu ihm
aufblickend.

Als der Zug einlief, schielten sie nach den Abteilen zweiter Klasse,
in deren Polster es ihnen ganz gut gefallen hatte, inzwischen wurde
die dritte besetzt, und zuletzt, unmittelbar vorm Abfahren, schob ein
bärbeißiger Schaffner sie in einen Wagen vierter Klasse, mitten in
einen schwitzenden, schmökenden, schwadronierenden Vorstadtskegelklub
hinein. Der halb ausrangierte und nur sommersonntags noch laufende
Wagen schwankte und stieß wie eine alte Postkutsche und warf die
auf engste Stehplätze Angewiesenen bald aneinander, bald gegen
wohlbeleibte Kegelbrüder. --

Am Abend des folgenden Tages erhielt Leidchen eine Ansichtskarte mit
dem Poststempel Worpswede. Weißstämmige Birken mit herbstlich gelbem
Laub spiegelten sich in einem dunklen Moorgraben, und darunter stand,
wie gestochen:


  »Von einem von schönstem Wetter begünstigten Ausflug auf den Weiher
  Berg sendet beste Grüße

                                         Otto Timmermann, Lehrer.«


Eine weniger federgeübte Hand hatte mit steilen und steifen
Schriftzügen hinzugefügt:


  »Schade, daß Du nicht auch hier bist.

                                                Dein Bruder Gerd.«


Die Empfängerin dieses Kartengrußes fing wieder an zu wägen und zu
rechnen. Aber das wollte nicht mehr recht gehen. Das Blut sprach jetzt
mit. --

                   *       *       *       *       *

Es kam die Zeit der Roggenernte. Hermann hatte diese als Vorwand
genommen, um vor dem Manöver noch schnell ein paar Tage Urlaub
herauszuschlagen, der nachts um zwölf von Sonntag auf Montag ablief.
Aber schon gegen acht war er zurückgekehrt und schritt dem Bürgerpark
zu, wo er mit Leidchen ein Stelldichein verabredet hatte.

Sie trat ihm hastig mit der Frage entgegen: »Was haben deine Eltern
gesagt?«

»Aber Kind,« rief er, »was ist denn das für ein Empfang? Erst gibst du
mir mal die Hand, und dann einen Kuß ... So, und nun setzen wir uns
hier auf die Bank und bereden ruhig das Weitere.«

»Was sagen deine Eltern?« wiederholte sie, als sie sich niedergelassen
hatten.

Er räusperte verlegen und legte den Arm um sie: »Hm, Leidchen, ich
hab's ihnen diesmal doch noch nicht sagen können.«

»Warum nicht?« rief sie im Tone bitterer Enttäuschung.

»Och ... mein Vater hatte gerade mal wieder seine schlimmen Tage, du
weißt ja Bescheid. Dann darf man ihm mit so wichtigen Sachen nicht
kommen.«

»Aber deine Mutter ...«

»Wenn der Vater das so kriegt, muß man sie auch schonen. Dann ist sie
viel zu nervös und aufgeregt.«

»Was soll denn aber nun werden?«

»Ob sie's acht Tage früher oder später erfahren, das kommt doch wohl
auf eins hinaus ... Ist Gerd bei dir gewesen?«

»Ja.«

»Und was sagt der?«

»Ich ... ich hab's ihm auch noch nicht sagen können.«

»Warum nicht?«

»Ach, er hatte keine rechte Zeit ... Und er ist auch ein so eigener
Mensch, man weiß nie, wie man mit ihm dran ist ... Und er hat mir ja
auch gar nichts zu sagen! Aber mit deinen Eltern ist das was anderes.
Oh, wenn du doch bloß mit ihnen gesprochen hättest! Ich hatte mich so
fest darauf verlassen.«

»Wirklich, bestes Kind, es ging nicht.«

»Mir ist manchmal so bange. Ich bin ja so über alle Maßen glücklich,
daß ich dich habe, aber dann packt mich auf einmal wieder die Angst.«

»Ach Deern, das sind bloß so Stimmungen!«

»Diese Nacht habe ich auch erst wieder geträumt. Ich hatte mich
verirrt, mitten im großen Tennstedter Moor, wo nichts zu sehen war
als Porst und Heide und schwarze Wasserlöcher, und stickdüster war's
auch noch. Da rief ich nach dir, laut und immer lauter, aber es kam
keine Antwort. Nur ein Heister flog über mir weg, und es klang gerade
so, als ob er mich auslachte. Davon wachte ich auf.«

»Uh, Deern, du könntest einen ja beinahe gruseln machen.«

»Wenn du doch bloß mit deinen Eltern gesprochen hättest! ... Hermann,
sag mir mal ehrlich und aufrichtig: glaubst du wirklich, daß sie mich
wollen, daß sie uns nichts in den Weg legen?«

»Leidchen, ich will ganz offen mit dir darüber sprechen. Ich hab'
mich diese letzten Jahre mit Vater nicht gut gestanden. Wenn Mutter
mir nicht immer was von ihrem Zugebrachten, wovon sie einen Teil für
sich behalten hat, zugesteckt hätte, wär's mir böse gegangen. Vor
einem Vierteljahr wußte ich noch nicht, ob ich diesen Herbst nach
Hause wollte oder mir lieber in der Fremde mein eigen Brot verdienen
sollte. Aber ich habe nun zu Hause noch wieder gesehen: es geht nicht
so weiter, sie werden ohne mich nicht länger fertig. Vater paßt nicht
ordentlich mehr auf, und auf den Gesellen ist auch kein rechter
Verlaß. Es sind wieder mehrere alte Kunden abgesprungen. Da hilft
alles nichts, ich muß hin und tüchtig zupacken, daß ich den Karren
wieder aus dem Dreck herauskriege. Und ich habe jetzt auch guten Mut
dazu. Und weißt du warum? -- Weil du mir helfen willst, Leidchen.
Sieh, damals, als wir uns hier im Bürgerpark trafen, dachte ich: das
ist 'ne lüttje nette Deern, mit der kannst du mal'n bißchen vergnügt
sein. Und heute weiß ich, daß du vielmehr als das, daß du mein guter
Engel bist, und wenn es überhaupt eine gibt, die mit meinen beiden
Alten auskommt, dann bist du das. Du hast so was Liebes und Fröhliches
in deinem Wesen, ich glaube, der böseste Mensch kann dir auf die
Dauer nicht böse sein ... Meine Mutter hat ihre hohe Herkunft nicht
vergessen können und Vater nicht immer richtig behandelt. Aber ich
glaube, wenn eine so fein sanft und still um ihn herum wäre, müßte
ganz gut mit ihm zu leben sein. Denn das mit dem Trinken kriegt er
nur zeitweise, und fast immer, wenn er mit Mutter etwas gehabt hat.
Leidchen, ich möchte glauben, es dauert nicht lange, so wickelst du
ihn um den Finger und hast meine Mutter unter dem Pantoffel ... Wenn
wir dich da nur erst hineinhaben! ...«

»Ja, das ist es ja man gerade! ...«

»Ja, das wird noch einen harten Kampf kosten ... Und wir müssen es
am Ende machen wie so viele, und sie zwingen. Du brauchst davor gar
nicht so zu erschrecken. Wenn zu jeder Heirat erst Väter, Mütter,
Brüder und Gevattern ihren Segen geben müßten, kämen wohl nicht ganz
viele zustande. Nein, da steh ich auf einem anderen Standpunkt. Wenn
zwei Menschen sich so lieb haben, wie wir beide uns haben, ist es eine
Sünde, wenn einer sich zwischen sie stellt, und wenn die Menschen
ihnen das nicht geben wollen, was ihnen nach dem Recht der Natur
gehört, dürfen sie sich's auch so nehmen.«

»Aber ... du hast ja noch gar nicht ... mit deinen Eltern gesprochen.«

»Das weiß ich schon so, freiwillig lassen sie sich doch auf nichts
ein.«

»Hermann, wenn du mir das doch gleich im Anfang gesagt hättest, daß
dein Vater und Mutter so sind! ... Oh, hätte ich doch wenigstens mit
meinem Bruder gesprochen!«

»Den alten Drögepeter laß man lieber aus dem Spiel. Wenn's auf den
ankäme, müßtest du barmherzige Schwester werden.«

»Das ist nicht wahr! Er hat sogar schon einen Freiersmann für mich.«

»So--o? Wohl seinen Schulmeister? ... Hahaha, das sieht ihm ähnlich.«

»Dabei ist ganz und gar nichts zu lachen.«

»Nee, gewiß nicht. Die Herren Lehrer sind heutzutage obenauf. Wo
in einem Dorf 'ne feine Deern ist, da kommt sicher einer von der
Zunft und schnappt sie weg, und wir dummen Bauernjungens haben das
Nachsehen. Leidchen, ich gratulier' dir von Herzen. Einmal eins ist
eins, zweimal zwei ist vier.«

»Hermann ...«

»Ich bin deinem Herrn Lehrer heute morgen noch begegnet. Er hatte sein
Gesangbuch unterm Arm und pilgerte zur Kirche. Ein bißchen käsig ist
er ja, aber sonst ganz schmuck.«

»Hör' auf, Mensch! Oder ich steh sofort auf und gehe nach Hause.«

»Aber, Kind, so geh doch! Wer hält dich denn? Kuck, ich hab' dich
schon losgelassen. Bist du noch nicht weg?«

»Hermann ... Du bist ein schrecklicher Mensch ... Ich weiß wirklich
nicht mehr, was ich von dir denken soll.«

»Denn will ich es dir sagen, mein' Deern. Ich bin rasend eifersüchtig,
ich könnte diesen Timmermann durchprügeln, bloß weil Gerd dich ihm
zugedacht hat, ich möchte ...«

In diesem Augenblick gingen zwei Unteroffiziere vorüber, von denen der
jüngere den Gefreiten scharf ansah. Dieser erhob sich und nahm die
vorgeschriebene Haltung ein.

Kaum hatte er sich wieder hingesetzt, als schon wieder Uniformknöpfe
die Allee daher schimmerten.

»Die Kerls haben hier herum wohl einen Kommers oder was Ähnliches,«
sagte er ärgerlich, »komm, Leidchen, wir müssen uns einen stilleren
Platz aussuchen.«

Er war schon aufgestanden, sie erhob sich jetzt auch und sagte hastig:
»Wir haben morgen große Wäsche, ich möchte gern früher nach Hause.«

Mit dem Fuß auf den Kies stampfend, flüsterte er leidenschaftlich,
indem die Worte sich jagten und überstürzten: »Da kann man sehn, wie
lieb du einen hast. Deinetwegen komme ich so früh zurück, und nun läßt
du mich hier mit meinem Urlaub sitzen! Gut! Komm, ich bring' dich nach
Hause, aber den Hauptweg da geh' ich nicht, ich will nicht all den
Leuteschindern in den Hals laufen, komm schnell, sonst muß ich erst
wieder stramm stehen.«

Er legte den Arm um sie und zog die widerstrebende mit sich auf einen
Seitenweg, der von der erleuchteten Allee in das nächtliche Parkdunkel
führte. --

Es war den ganzen Tag schwül und drückend gewesen, und eine Stunde
vor Mitternacht brach das Gewitter, das so lange in der Luft gelegen
hatte, mit großer Gewalt los. Schnell hatte der Bürgerpark bei den
ernster werdenden Anzeichen sich seiner Besucher entleert. Als der
Regen schon in dicken Strähnen zur Erde prasselte, eilten noch zwei
Menschen mit fliegender Hast der Stadt zu. Das Mädchen hielt mit ihrem
Begleiter nur mühsam Schritt, und jedesmal, wenn die feurige Lohe vom
Himmel fuhr und die Donner krachten, zuckte sie zusammen.




                                  12.


Zum letzten Male präsentierte Gerd Rosenbrock so, wie der Herrgott ihn
geschaffen hatte, sich den Augen einer Königlichen Kommission, der ein
alter weißbärtiger General vorstand, und die Entscheidung lautete:
Ersatzreserve.

Er war sehr froh darüber. Hätten sie ihn im ersten oder zweiten Jahre
genommen, wär's ihm recht gewesen. Aber es würde ihm hart angekommen
sein, jetzt noch den bunten Rock anzuziehen, wo manche seiner
Altersgenossen ihn schon wieder ausgezogen hatten, und andere nahe
daran waren, es zu tun.

Die Zukunft lag nun also frei vor ihm, und er konnte Pläne machen.
Daß er bei seinem Halbbruder Jan auf keinen Fall länger als bis
nächste Ostern bleiben wollte, stand ihm seit Monaten fest. Den
alten Schlendrian, in dem hier die Wirtschaft auf der ganzen Linie
verharrte, hatte er gründlich satt.

Bei dem Mangel an ländlichen Arbeitskräften sprach es sich bald
herum, daß Gerd sich seinem Bruder nicht wieder vermietet hatte,
und es waren Stellbesitzer genug, die ihn gern genommen hätten. Man
bot ihm einen Lohn, wie er in Brunsode noch nicht bezahlt war. Aber
er wollte sich nicht vorschnell binden. Als jedoch eines Tages ein
Mann von der anderen Seite des Kirchspiels, der als tüchtiger und
vorwärts strebender Landwirt sich weithin eines guten Rufes erfreute,
angeradelt kam und hundert Taler Lohn bot, hätte er den Mietstaler
beinahe genommen. Erst im letzten Augenblick zuckte er die schon
ausgestreckte Hand zurück und bat sich vierzehn Tage Bedenkzeit aus.

Am Sonntag darauf fiel er zwei älteren Schulkameraden in die Hände,
die vor Jahren nach Bremen gezogen und dort Industriearbeiter geworden
waren. Sie setzten ihm hart zu, es wie sie zu machen und auch
landflüchtig zu werden. Mit großer Genauigkeit rechneten sie ihm vor,
was er bei seinem Knechtslohn und bei der Länge der Arbeitstage im
Moor für die Stunde bekäme, und stellten ihren Stundenlohn, der mehr
als das Doppelte betrug, dagegen. Das blieb nicht ohne Eindruck auf
Gerd; einen tieferen machte es aber noch, als sie ihm schilderten,
was alles in den Vereinen und Gewerkschaften für die Fortbildung
des Arbeiterstandes geschähe, durch reichhaltige Bibliotheken,
Vorträge, Diskussionsabende und dergleichen. Daß sie sich unumwunden
zur Sozialdemokratie bekannten, wunderte Gerd nicht wenig. Er hatte
bislang geglaubt, wenn einer zu dieser Partei gehöre, hielte er das
sorgfältig verborgen wie eine Sache, deren er sich im Grunde schämte.
Diese aber waren stolz auf ihre Zugehörigkeit zur »Umsturzpartei«
und sprachen hoffnungsvoll und begeistert von einer neuen herrlichen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die an Stelle der alten
verrotteten und überlebten treten und so etwas wie den Himmel auf die
Erde bringen würde. Gerd versuchte natürlich, ihnen Opposition zu
machen und sie eines besseren zu belehren. Aber da kam er schön an.
Die beiden waren ihm an Mundfertigkeit sowohl wie an Sachkunde weit
überlegen und drängten ihn Schritt um Schritt zurück, so daß er ihnen
zuletzt unter anderem halbwegs zugeben mußte, es ginge am Ende auch
ohne einen Kaiser und König. Gerd erinnerte sich nicht, daß jene in
der Schule, die sie vier oder fünf Jahre vor ihm verlassen hatten,
sich irgendwie hervorgetan hätten. Die ihm so peinlich fühlbare
Überlegenheit mußte also die Stadt ihnen gegeben haben.

Ja, wie wär's denn, wenn auch er dem Moor den Rücken kehrte und in die
Stadt ginge, wie jene und wie so viele aus den Moordörfern?

Was bot ihm denn sein Dorf?

Mit dem Jungvolk hatte er nur noch wenig Verbindung. Dessen Art und
Interessen paßten ihm ebensowenig wie jenem die seinen.

Die Männer quälten sich nach alter Weise so durch und waren froh,
wenn sie ihre Zinsen bezahlen konnten. Einige riefen im Kriegerverein
hurra, andere redeten im Klub »Junghannover« vom Recht, die meisten
kümmerten sich um nichts, was nicht unmittelbar mit Moor und Torf,
Kälbern und Schweinen zusammenhing. Einige Alte waren auch noch da,
die in jungen Jahren von Ludwig Harms einen Stoß bekommen hatten. Das
waren ganze Männer, vor denen man Respekt haben mußte, aber die Art
war im Aussterben. Das sah man an ihren Söhnen, die meist schon wieder
ganz anders waren, mochten sie äußerlich die Sitten ihrer Väter auch
noch aufrecht halten.

Blieb also eigentlich niemand als der Lehrer. Aber wie leicht konnte
der sich versetzen lassen! Er hatte schon öfter davon gesprochen. Und
wenn man sich auch ganz nett mit ihm verstand, eine Kluft zwischen
Schulmann und Bauernknecht blieb natürlich doch bestehen. Und gerade
der Verkehr mit jenem brachte ihm oft unangenehm zum Bewußtsein, wie
sehr er bereits dem Durchschnitt seiner Dorfgenossen entfremdet war.

So überlegte er in bitterer Stimmung, die leicht ungerecht macht, hin
und her, und mehrmals faßte er den Entschluß, in Bremen Arbeit und
Anschluß an strebsame Menschen zu suchen und zu sehen, was noch aus
ihm werden könnte. Aber dann wurde er doch immer wieder wankelmütig
und wußte nirgends recht mit sich hin.

So wurde es wieder Sonntag, und am Abend stakte er sein Schiff mit
Erstlingstorf die Hamme hinunter. Den Tag über war es sehr schwül
gewesen, und der Abend hatte die ersehnte Abkühlung nicht gebracht.

Gegen elf wurde drüben die Stadt von grellem, schwefelgelbem Feuer
sekundenlang überlichtet. Der einsame Schiffer sah sämtliche Blitze
zur Erde fahren und die Türme umzucken, und dachte mit Schrecken an
den Schaden, den sie etwa anrichten mochten.

Das Gewitter kam schnell herüber. Bald rollten die Donner über dem
Hammetal, und immer hastiger folgte das Krachen dem Leuchten.

Als Gerd zwischen beiden nicht mehr bis sechs zählen konnte, machte er
das Schiff am Ufer fest und legte sich vorn in die Koje. So ließ er
das Unwetter über sich hinwegrasen. Im Schilf heulte und pfiff der
Sturm, der Regen prasselte auf das Verdeck, die Vorderkette ächzte und
jankte, wild bewegte Wellen warfen das Schiff hin und her, durch eine
Ritze am Deckel lohte grelles Licht in den engen Kasten, dessen Wände
unter der Gewalt des Donners erbebten.

Als er endlich seinen Zufluchtsort verlassen konnte, war die Luft
wunderbar erfrischt. Am Himmel tinkelten die Sterne, der wieder
beruhigte Fluß zog seine schimmernde Bahn durch das weite Wiesental.

Da dachte er von ungefähr an das, was ihn die ganze Woche beschäftigt
hatte. Und plötzlich, wie vom hellsten aller Blitze erleuchtet, lag
sein Weg klar vor ihm. Er hatte auf einmal ein unmittelbares Gefühl
für die in seinem innersten Wesen begründete Richtung seines Lebens,
und dies Gefühl sagte ihm, daß er nirgends anders hingehörte als aufs
Land und in das Moor seiner Väter.

In der Stadt sich recht einzuleben, das hatte er plötzlich mit größter
Deutlichkeit erkannt, war er zu schwerfällig und auch wohl schon zu
alt. Als ungelernter Arbeiter würde er es dort nie zu etwas Rechtem
bringen und wohl zeitlebens ein Mitläufer bleiben. Auf dem Lande
dagegen konnte er ein Eigener werden, und war vielleicht schon auf dem
Wege dazu.

Aber freilich, dann mußte er es bald zu etwas Eigenem bringen. Die
eigene Scholle macht erst den Mann.

Ob er versuchen sollte, irgendwo auf einer Moorstelle einzuheiraten?
Er kam ja nicht mit leeren Händen. Die 700 Taler, die er teils von der
Mutter geerbt, teils mit seinen Händen verdient und durch Sparsamkeit
zusammengehalten hatte, waren auf den hypothekarisch stark belasteten
Kolonaten -- und das waren die meisten -- gute Freiwerber.

Aber die in Frage kommenden Erbtöchter von Brunsode und Umgegend
paßten ihm die eine so wenig wie die andere. Eine entstammte einer
schwindsüchtigen Familie, die zweite war ihm zu wild, eine dritte, zu
der er sich am Ende wohl hätte entschließen können, stand gerade im
Begriff, sich anderweitig zu verloben.

Also damit war es nichts. Es blieb nichts übrig, als eine zum Verkauf
stehende Stelle zu suchen. Und dann eine passende Frau dazu. Oder erst
die Frau, und dann, je nach dem was sie mitbrachte, die Stelle? ...
Nein, lieber erst die Stelle. Das war solider. Es gab mehr Mädchen,
die Lust zum Heiraten hatten, als Stellen, die zu kaufen waren.

In der Brunsoder Hauptreihe war nichts zu machen. Hier befand sich
aller Besitz in festen Händen, und Stelle Nr. 7, die wahrscheinlich im
Spätherbst unter den Hammer kam, wurde sicher zu hoch hinaufgetrieben.

Aber am Achterdamm, hm ...

Im Abstand von einem guten Kilometer lief mit der Brunsoder Hauptreihe
der sogenannte Achterdamm parallel, an dem eine kleine Siedlung von
acht Feuerstellen unter dem Namen Neu-Brunsode entstanden war. Die
einzelnen Anwesen, die je fünfzehn bis zwanzig Morgen umfaßten, waren
früher einmal von den Brunsoder Hauptstellen abgetrennt und an jüngere
Söhne vergeben, oder auch, wenn das Geld gerade knapp war, verkauft
worden. Hier war etwas zu haben, nämlich Nr. 1 +a+, einst von
Nr. 1, der Mühlenstelle, genommen. Das kleine Besitztum hatte vor
einigen Monaten der Kaufmann Nolte in Grünmoor, um seine Hypothek zu
retten, im Zwangsverkauf erwerben müssen, und der war es gewiß gern
bald wieder los. Übermäßig teuer konnte der Besitz nicht werden, da
der Vorbesitzer, ein fauler Strick und Trunkenbold, ihn arg hatte
verlottern lassen. Mit Fleiß und Tüchtigkeit war aus der achtzehn
Morgen großen Stelle aber wohl etwas zu machen.

Als Haussohn der Hauptreihe hatte Gerd bislang für den Achterdamm eine
gewisse Geringschätzung gehabt. Denn die Achterdammschen, wie sie im
alten Dorf hießen, oder Neu-Brunsoder, wie sie sich selbst nannten,
galten den Alteingesessenen als kleine Leute, die man zum Unterschied
von den Stellbesitzern nur als Anbauer bezeichnete. Aber ihm schien es
jetzt: lieber Anbauer und eigener Herr am Achterdamm, als Knecht oder
Häusling in der Hauptreihe, und so beschloß er denn, sich nach dem
Preise des kleinen Anwesens zu erkundigen.

Ja, aber dann die Frau ... Er war jetzt dreiundzwanzig. Hm, ja, wohl
noch ein bißchen jung. Aber du liebe Zeit, wenn andere schon mit
achtzehn heirateten! ...

Er machte sich also in Gedanken auf die Freite, gleich im ersten
Nachbarhause beginnend. Bei Rotermunds diente nämlich eine Anna Siems,
die er jeden Tag haben konnte. Sie hatte ihm schon manchen verliebten
Blick zugeworfen und war ja auch so weit ganz glatt. Aber sie besaß
wohl nicht mehr, als was sie auf dem Leibe trug. Das war also nichts.

So setzte er seine Suche die Dorfreihe hinunter fort. Mädchen saßen
da mehr als genug, die nach einem Mann ausschauten, Haustöchter wie
Dienstmägde. Aber bei der einen fehlte dies, bei der andern das. Die
einen paßten ihm nicht, und bei den anderen durfte er mit Sicherheit
auf einen Korb rechnen.

So war er fast bis ans Ende des Dorfes gekommen, als er in Nr. 4 den
ersten ernstlichen Aufenthalt nahm. Bei Jan Wiechels diente seit
Ostern vorm Jahr eine Becka Wischhusen aus Webersdorf von der Südseite
des Kirchspiels. Man hörte nicht viel von ihr und sah sie nicht oft.
Aber das war am Ende gerade gut. Im Juni hatte sie auf den Hammewiesen
nicht weit von ihm geheut, und da war ihm aufgefallen, daß sie die
Arbeit ordentlich anzupacken verstand. Ihr Lachen hatte zuweilen
frisch und hell zu ihm herübergeklungen und ihn an die lustigsten
Arbeitstage mit Leidchen erinnert. Es fiel ihm jetzt auch wieder ein,
daß ihm damals für einen flüchtigen Augenblick der Gedanke gekommen
war, ungefähr von solcher Art müßte die sein, die er einmal zur Frau
nehmen möchte. Wenn er sie ab und an auf dem Wege zur Kirche gesehen
hatte, war sie ihm stets als ein stilles, sinniges Mädchen erschienen.

Unter all diesen Erwägungen, die bei seiner bedächtig langsamen und
gründlichen Art eine gute Zeit in Anspruch nahmen, war das Schiff vor
seinem Schieberuder her ruhig und gleichmäßig vorangeglitten, und
er wunderte sich beinahe, als es auf einmal in den Bremer Torfhafen
einlief.

Vorerst galt es, an die Abwicklung des Geschäfts zu denken. Aber er
war dabei, noch immer mit seinen eigenen Angelegenheiten innerlich
beschäftigt, so zerstreut, daß die Ladung um eine Mark zu billig
wegging, was ihn diesmal aber nicht sonderlich betrübte.

Er hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, seine Schwester heute zu
besuchen. Aber jetzt empfand er auf einmal das Verlangen, ein halbes
Stündchen mit ihr zu plaudern, und machte sich auf den Weg.

Seine Gedanken kehrten zu Becka Wischhusen zurück.

Ob sie auch wohl schon etwas hinter sich gebracht hatte? Wenn sie
zur rechten Zeit angefangen hatte zu sparen, konnte sie jetzt an
die hundertundfünfzig Taler haben, und allerhand Leinenzeug dazu.
Das machte mit seinem Sparkassenguthaben etwa achthundertundfünfzig
Taler. Rechnete man davon gut dreihundert auf die Aussteuer und die
ersten Anschaffungen an landwirtschaftlichem Gerät und Vieh, so
blieben fünfhundert als Anzahlung an den Kaufmann Nolte. Damit war
dessen Hypothekenforderung mehr als gedeckt, und das übrige ließ die
Sparkasse gewiß gern stehen, zumal einem so sicheren Käufer, der sich
ihr schon in jungen Jahren als eifriger Sparer ausgewiesen hatte.

Ja, die Rechnung klappte und alles war gut -- wenn sie nur wollte.

Aber warum sollte sie nicht wollen? Siebenhundert Taler und ...

»Dreimal täglich frische Milch« lasen seine Augen über Marwedes
Milchgeschäft, und eine Kundin, die aus dem Hause kam, ließ ihm die
Tür gleich offen.

Frau Marwede sah ihn hinter ihrem Ladentisch weg etwas verwundert
an und sagte, nicht eben unfreundlich, aber doch mit einem leisen
Vorwurf: »Lassen Sie sich auch schon mal wieder sehen?«

»Ich ... ich habe was Wichtiges mit Leidchen zu besprechen,«
antwortete er mit einiger Verlegenheit. »Wenn es paßt ... sonst ...«

»Gehen Sie da nur in die Stube hinein. Ich schicke Ihnen Ihre
Schwester, sie hilft mit bei der großen Wäsche. Allzulange dauert es
ja wohl nicht?«

»Nein, Frau Marwede, in zehn Minuten kann ich fertig sein, oder auch
schon in fünf, wenn's sein muß.«

Gerd trat in die ihm angewiesene Stube und setzte sich wartend auf
einen Stuhl unweit der Tür. Sollte er sie ins Vertrauen ziehen? Dafür
war die Sache eigentlich noch kaum weit genug gediehen. Aber so leise
Andeutungen konnten am Ende doch nichts schaden. Sie war ja seine
Schwester, mit der er noch immer alles geteilt hatte. Was sie wohl für
Augen machte ...

Leidchen erschien in der Tür.

»Deern,« rief er verwundert, »du hast ja'n Kopf, als ob du eben aus
dem Backofen gezogen wärest.«

Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht: »In der Waschküche ist's
so schrecklich heiß, und dann der Qualm ...«

»Ja,« sagte er, »bei uns zu Hause waschen sie im Sommer draußen, das
ist viel gesunder. Wie geht's dir denn sonst noch?«

»Gut. Mir fehlt nichts.«

»Diese Nacht war ein schreckliches Gewitter. Aber da lagst du wohl
schon im Bett. Weißt du, ob's in der Stadt Schaden getan hat?«

»Ich habe nichts davon gehört.«

Er saß ein wenig vornübergebeugt, den Blick schräg auf den bunten
Linoleumteppich gerichtet. Um seine Züge schien ein leises Lächeln zu
spielen.

Sie atmete heimlich auf und sagte: »Frau Marwede hat mich gerufen, du
hättest was mit mir zu besprechen. Zu doch! Ich hab' nicht lange Zeit.«

»Na na, für so'n Fräulein, das beinahe schlicht um schlicht dient,
wird wohl mal 'ne Viertelstunde übrig sein ... Leidchen, ich wollte
dir erzählen, daß ich mir wahrscheinlich was kaufen will ... eine
Anbauerstelle ... Nr. 1 +a+ am Achterdamm ... Das Land ist früher
mal von der Mühlstelle genommen ... weißt du, das kleine nette Haus,
das erste vom Kirchdamm aus, das Jan Tunkenburg gehabt und versoffen
hat.«

»Mensch, wie kommst du auf einmal auf so was?«

»Oh ... Soldat brauch' ich nicht zu werden, und das Knechtspielen hab'
ich satt. Ich bin alt genug und will die Füße unter meinen eigenen
Tisch stecken.«

»Aber Junge, hast du denn schon eine Braut?«

»Das ist man eben der Haken dabei. Die muß ich mir denn wohl bei
kleinem anschaffen ... Leidchen, du kennst die Deerns ja besser als
ich. Weißt du keine, die für mich paßt?«

»Hm, Junge, du bist ein apartiger Mensch ... Das ist nicht so leicht.«

»Na, man pflegt wohl zu sagen: ›Es ist kein Pott so schief, daß nicht
ein Deckel drauf paßt.‹«

»Hm, muß mal überlegen ... In unserm Spinnkoppel? ... Nee, da ist
keine zwischen ... Minna Entelmann? ... Ach nee, das ist auch nicht
die rechte ... Aber Beta Kahrs? Ja, Junge, die hol' dir! Da tust du
einen guten Griff.«

Er blickte sie lächelnd und kopfschüttelnd an: »Deern, Deern, du bist
doch noch immer die alte. Die kriegt ja über tausend Taler.«

»Ist das so'n großer Fehler?«

»Närrische Deern du!«

»Gerd, ich will dir mal was sagen. Du bist ein guter Junge, und auch
ein fixer, tüchtiger Kerl. Aber einen großen Fehler hast du. Du bist
viel zu bescheiden, du hast kein rechtes Zutrauen zu dir. Ich sollte
an deiner Stelle sein! Das feinste und reichste Mädchen der ganzen
Gemeinde suchte ich mir aus, das heißt, wenn ich sie wirklich gern
leiden möchte, und es müßte wunderlich zugehen, wenn ich sie nicht
herumkriegte. Und wenn ihre Eltern und ihre ganze Freundschaft sich
auf den Kopf stellten! In einer Kate am Achterdamm wollt' ich mich
gewiß auch nicht verkriechen ...«

»Deern, was red'st du da nun wieder für dummes Zeug!«

»Junge, man muß mal was riskieren im Leben! Wer nichts wagt, nichts
gewinnt. Meta Stelljes, die früher meine Freundin war, hat mal in
der Lotterie gespielt. Eine Mark hat sie bloß eingesetzt und zwanzig
gewonnen.«

»Da hat sie Schlump gehabt. Mehrstenteils geht der Einsatz flöten, und
über den Gewinn lachen sich andere Leute ins Fäustchen. Nee Leidchen,
in diesem Stück bin ich anders als du. Nicht so fürs Weitläufige
und Flutterige, das wunder nach was aussieht, und nachher steckt
nichts dahinter. Ich bin fürs Sichere und Solide, fürs Reelle und
Ordentliche. Das gibt denn keine großen Überraschungen, aber der
Mensch führt sich dabei auch nicht selber an. Sieh, Leidchen, das sind
so meine Grundsätze, und mit ihnen bin ich so weit gekommen, daß ich
mir schon bald was Eigenes kaufen kann. Das soll mir erst mal einer
nachmachen, so jung wie ich noch bin. Nr. 1 +a+ ist mein, wenn
die Braut auch nur anderthalbhundert Taler zubringt ... Und die wird
sie ja wohl haben.«

»Wer? Hast du schon eine auf dem Kieker?«

Er lächelte geheimnisvoll und nickte.

»Welche soll's denn sein?« forschte sie.

»Hm, ich kann dir das eigentlich noch nicht verraten. Die Sache ist
noch nicht ganz so weit.«

»Ach was, ich bin doch deine Schwester. Zu! Ganz leise, ins Ohr, ich
sag's gewiß keinem wieder.«

Sie näherte ihr Ohr seinem Munde, er schob sie aber sanft zurück und
fragte: »Kennst du Becka Wischhusen?«

»Die bei Jan Wiechels dient?«

»Ja, kennst du die?«

»Och ja. Sie ist zwei Jahr vor mir aus der Schule gekommen und
aus Webersdorf gebürtig. Sie hat eine Zwillingsschwester, Sine;
wer die beiden nicht ganz genau kennt, kann sie überhaupt nicht
unterscheiden.«

»So? Das wußte ich noch gar nicht mal. Na, was meinst du zu der Deern?«

»Och ... ich weiß nicht recht.«

»Ist sie kein nettes Mädchen? Weißt du was Schlechtes über sie?«

»Das nicht ... Ihr Vater macht Holzschuhe ...«

»Das will nichts schaden ... Deern, Deern, was hast du für Grappen!
Wird höchste Zeit, daß du wieder aufs Land kommst, ehe sie dir hier in
der Stadt den Kopf ganz verdrehen. Ich muß mich wirklich wundern.«

»... Gerd, hast du Becka schon was gesagt?«

»Nee. Es ist mir diese Nacht erst eingefallen, daß sie wohl die
richtige sein könnte.«

»Denn will ich dir einen guten Rat geben, Gerd. Überleg' dir die Sache
erst noch mal ganz gründlich! Manchmal meint man, man mag einen, und
nachher mag man ihn doch nicht. Freierei ist kein Pferdehandel.«

»Das weiß ich selbst.«

»So was darf nicht übers Knie gebrochen werden.«

»Daran denk ich auch nicht. Wir brauchen ja nicht morgen Hochzeit zu
halten.«

»Und dann vergiß nicht, daß unser Vater 'ne ganze Stelle gehabt hat,
und daß wir von einem großen Geesthof stammen. Der Mensch ist seiner
Familie auch was schuldig ... Gerd, wenn du dir bloß Zeit nehmen
wolltest, ich glaube, du findest wohl noch was Besseres.«

»Du dumme Deern! Nun hör' aber auf mit deinem unklugen Schnack! In
solche Sache laß ich mir von keinem hineinreden, und von dir am
allerwenigsten. Ich dachte, du solltest dich mit mir freuen, und
deshalb bin ich bloß gekommen. Und nun kommst du mir so und willst
mich zweifelmütig machen. Aber warum halt' ich Schafskopf auch nicht
meinen Mund? So was muß einer ganz mit sich allein abmachen.«

»Ganz meine Meinung!« rief Leidchen, in die Hände klatschend und
lebhaft zustimmend. »Nimm, wen du willst; ich sag' keinen Ton mehr
dagegen. Aber wenn ich mir nun mal einen aussuch', wie er mir nach der
Mütze ist, dann sollst du mir auch nicht dazwischen kommen. Willst du
mir das versprechen?«

»Hm ... der Fall liegt ein bißchen anders ...«

»Ganz und gar nicht! Was dem einen recht ist, das ist dem anderen
billig.«

»Nee, Mannsleute und Frauensleute, das ist nicht ganz dasselbe ...
Aber, na ja, du wirst ja wohl vernünftig und vorsichtig sein.«

Sie klopfte ihm die Schulter, streichelte seine Backen und sagte:
»Kuck mal an! Endlich bist du zu der Einsicht gekommen, daß ich keinen
Vormund mehr brauche. Es wurde aber auch höchste Zeit.«

»Na na, nun man sinnig,« brummte er, ihre Zärtlichkeiten, die ihn
nicht gerade angenehm berührten, abwehrend.

»Wenn du erst am Achterdamm wohnst,« nahm sie wieder das Wort, »bist
du ja auch Nachbar der Mühle ...«

»Das ist's, was mir am wenigsten bei der Sache gefällt,« entgegnete er
stirnrunzelnd.

»Oh, ich denk', ihr werdet noch mal gute Nachbarn ..«

»Darauf leg' ich ganz und gar keinen Wert. Wir sind ja auch nur
Landnachbarn, die Häuser liegen eine Viertelstunde auseinander, und
ein gut Stück Hochmoor ist zwischen uns. Da kann man sich leicht aus
dem Wege gehen ... Aber ich hör' draußen die Marwedesche, wie sie
aufstampft. Das gilt mir. Adjüs, Leidchen, und halt' dich munter!«

Er gab ihr schnell die Hand und ging. »Nichts für ungut, wenn's
ein paar Minuten länger gedauert hat,« rief er, am Laden
vorüberschreitend, Frau Marwede zu, die gerade ein Pfund Käse abwog
und an ihrem Kunden vorbei ihm einen strafenden Blick nachsandte.

Als er draußen war, biß er sich auf die Unterlippe. Es ärgerte ihn,
daß er die Schwester ins Vertrauen gezogen hatte. Ihre Bedenken und
Einwürfe hatten doch tieferen Eindruck auf ihn gemacht, als er vor
sich selber wahr haben wollte, und es währte eine ganze Weile, bis
er sie überwunden hatte. Erst auf dem Leinpfad neben dem Bürgerpark
schreitend und das auf dem Torfkanal laufende Schiff vor sich her
schiebend, war er endlich so weit, daß er die Zähne aufeinander beißen
und zwischen ihnen hindurch murmeln konnte: »Es bleibt dabei!«

Als er mit seiner Sache im reinen war, fiel ihm auf einmal
nachträglich auf, daß Leidchen doch heute ein ganz wunderlich Wesen an
den Tag gelegt hatte. Sie hatte so keck und dreist hingeredet, wie es
sonst eigentlich ihre Art nicht war. Aber wenn Mädchen vom Heiraten
hören, dachte er, werden sie alle zappelig. Er machte sich Vorwürfe,
daß er mit keinem Wort die Rede auf seine Gedanken und Hoffnungen für
ihre Zukunft gebracht hatte. Heut' hatte er eben nur an sich selbst
gedacht.




                                  13.


Gerd schlief wie ein Bär, und als er am anderen Morgen im Bett,
nachdem er ins Frührot geblinzelt, in sich selbst hineinsah, hatte die
Sache ihr Gesicht ganz und gar nicht verändert.

Der Tag wurde ihm sehr lang. In Gedanken arbeitete er schon immer auf
eigenem Grund und Boden und setzte sich mit Becka zu Tisch in Haus 1
+a+ am Achterdamm.

Endlich war Feierabend, und er machte sich auf den schicksalsschweren
Weg, Holzschuhe an den Füßen, Pfeife im Munde, Hände in den
Hosentaschen, mit schläfrigen, wiegenden Schritten -- alles, um keinen
Verdacht zu erwecken. Die Tage wurden bereits merklich kürzer. Gegen
acht war es auf dem an den Häusern hinlaufenden umwachsenen Fußpfad
schon recht dämmerig, wo Tannen ihn säumten, fast dunkel. Zuweilen
fragte ihn jemand: »Wo willst du hin?« oder: »Wo soll's denn so
spät noch auf zu gehen?« Dann antwortete er leichthin: »Oh ... mal
eben unten ins Dorf.« Auf Klöhnschnack, wie er sich nach Feierabend
gern anspinnen will, ließ er sich nicht ein. Denn es war keine
Viertelstunde zu verlieren, da um diese Jahreszeit auf Feierabend
Bettgehen gar bald zu folgen pflegt.

Als er, auf schmaler Eichenbohle den Grenzgraben überschreitend,
die Gerechtsame von Jan Wiechels betrat, klopfte ihm das Herz, er
warf aber, obgleich der Pfad dicht unter den Fenstern des Hauses hin
führte, keinen Blick zur Seite. Erst als er die hundert Meter der
Gehöftsbreite fast abgeschritten hatte, wandte er sich langsam und
wie zufällig herum, und als ein schneller Blick ihn überzeugt, daß
kein Auge auf ihn gerichtet war, trat er hastig einige Schritte vom
Fußpfad abseits in die Lücke eines geschorenen Tannendickichts, das
quadratisch um den Komposthaufen angepflanzt war. Von hier aus, wo er
sich vor unerwünschter Entdeckung sicher fühlte, faßte er die Ausgänge
des Hauses ins Auge wie der Kater ein paar benachbarte Mauselöcher.

Wenn doch ein freundliches Geschick es fügen wollte, daß sie noch
einige Küchenabfälle zum Komposthaufen tragen müßte! Er spähte durch
die Dämmerung, als ob er sie hergucken könnte. Er sog an seiner
Pfeife, wie wenn er Hoffnung haben dürfte, sie herzusaugen. Er gab
einer Fledermaus, die zwischen Tannengebüsch und Dielentor immer hin
und her flog, Botschaft mit, aber das graue Tierchen wollte nicht
sein Liebesbote sein. Es half ihm alles nichts, er bekam diesen Abend
niemand anders zu sehen als Wiechels Opa, der vorm Zubettgehen nach
seiner Gewohnheit noch eben mal vor die Türe trat. Nach einer halben
Stunde gab er das Warten als für heute zwecklos auf und trat ein wenig
enttäuscht den Rückweg an. Er tröstete sich aber mit dem Gedanken, man
könne unmöglich verlangen, daß eine so große Sache gleich auf Anhieb
gelänge.

Am nächsten Abend machte er sicherheitshalber den Umweg über den
Fahrdamm und gewann seinen Beobachtungsposten von Stelle Nr. 3 aus.
Er hatte noch keine Viertelstunde gestanden, als die Erwartete vom
Hause über den Hof in die Scheune huschte. Aber ehe er sich das
Herz faßte, vorzutreten, um sie abzufangen, war sie schon wieder im
Wohnhause verschwunden. »Eine vermuckt gralle Deern, mächtig flink
auf den Patten,« stellte er bei sich fest, halb ärgerlich, aber
auch nicht ohne Wohlgefallen. Gleich darauf wurde ein Kammerfenster
zugezogen, und dabei ließ sich für zwei Sekunden ein kurzer runder Arm
sehen. Sollte er hingehen und anklopfen? ... Nein, lieber nicht. Das
konnte sie vor den Kopf stoßen und seine Absichten in ein falsches
Licht rücken. Mit dem Ergebnis dieses zweiten Abends im Grunde nicht
unzufrieden, schlenderte er mit frisch angesteckter Pfeife heimwärts.

Am dritten Abend fand seine Beharrlichkeit ihren Lohn. Er hatte noch
keine fünf Minuten gestanden, da kam sie mit einem Korb am Arm aus dem
Hause und schritt feierabendgemächlich dem Damm zu.

Schnell eilte er auf Stelle Nr. 5 hinüber, folgte dem Fußweg, der von
hier zum Damm führte, und wußte sich so einzurichten, daß er gerade an
der Hofbrücke mit ihr zusammentraf.

»Na, Becka, noch'n bißchen einkaufen?«

»Muß wohl ... Ach sieh, das bist du ja, Gerd.«

»Ich hab' zufällig denselben Weg wie du.«

»Das paßt schön. Denn komm man her.«

Er ging schweigend neben ihr und kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife.

»Wo willst du denn heut' abend noch auf zu?« fragte sie nach einer
Weile.

»Oh,« sagte er gedehnt, »mir geht diese Tage allerhand im Kopf rundum.
Ich hab' so halberlei vor, mir eine Stelle zu kaufen ... Nr. 1
+a+, am Achterdamm.«

»Du kannst wohl lachen, wenn du das schon machen kannst.«

»Hm ... So ungefähr zweihundert Taler fehlen mir noch ...«

»Na, die wird die Sparkasse sacht hergeben.«

»Das wohl. Aber gleich mit zu schweren Lasten anzufangen, ist nicht
recht nach meinem Sinn.«

»Dann mußt du am Ende noch ein paar Jahr warten.«

»Ja, das sagst du wohl. Aber dann ist die Stelle sicher weg; Nolte
will schnell verkaufen, hab' ich gehört. Und wer weiß, ob sich so
leicht was Passendes wieder findet ... Becka, du hast gewiß auch schon
allerlei auf der hohen Kante?«

»Hm ja ...«

»So'n hundert Taler? ...«

»Ha, das wär schlimm! Ich krieg nächstes Jahr die zweihundert voll.«

»Mensch! Deern! Das ist ja wohl nicht möglich!«

»Warum nicht? Heutzutage bei den hohen Löhnen und wenn einer zur
rechten Zeit mit Sparen anfängt?«

»Das hätt' ich nicht gedacht, daß es noch solche Mädchen gäbe ... Hm,
Becka, was meinst du ... wenn wir unsere Groschens zusammenschmissen?
...«

»Hihi, dann hätten wir'n schönes Bißchen auf dem Klump.«

»Deern, woll'n wir? Hast du Lust?«

Er war stehengeblieben und griff nach ihrer Hand. Aber sie entzog ihm
diese und sah ihn erschrocken an: »Ach so--o ... so meinst du's ...«

»Ja, schon drei Abende hab' ich bei den Tannen auf dich gelauert ...«

»Mensch ... ich kann nicht begreifen ... ich weiß nicht ... Wenn ich
nun aber so halberlei schon einen hätte?«

»Was? 'n Bräutigam?«

»Ja.«

»Davon hat man doch nichts gehört!«

»Alles braucht man den Leuten auch nicht auf die Zähne zu hängen.«

»Becka, ich weiß nicht ... Du machst doch wohl nur Spaß ... Ist das
wirklich wahr? Du nickst ... Das wär' doch rein zu doll ... Ist da
denn gar nichts mehr an zu machen ... ich meine, kannst du dir das
nicht noch anders überlegen?«

»Abers Menschenkind! Wir sind doch richtig versprochen und wollen nur
mit der Hochzeit noch ein paar Jahr warten, bis wir mal was pachten
oder kaufen können.«

»Wenn ich davon doch bloß eine Ahnung gehabt hätte! Adjüs, Becka, und
nichts für ungut.«

Er wandte sich hastig zum Gehen. Aber noch keine zwanzig Schritt hatte
er gemacht, als er seinen Namen rufen hörte.

»Was soll ich?« fragte er tonlos, sich halb herumwendend.

»Komm noch eben mal her.«

»Hat ja keinen Zweck.«

»Doch, doch, komm! Ich hab' mir was anderes überlegt.«

Langsam begab er sich wieder zu ihr. Sie empfing ihn mit lachenden
Augen: »Gerd, daß mir das auch nicht gleich eingefallen ist! Du kannst
ja meine Schwester Sine nehmen.«

»Deern, bist du nicht recht klug? Die kenn' ich ja gar nicht.«

Sie machte ein ernsthaftes Gesicht: »Wenn du mich leiden magst,
gefällt Sine dir ganz gewiß auch. Wir sind nämlich Zwillingsschwestern
und einander so ähnlich, daß unsere eigene Mutter Last hat, uns zu
unterscheiden. Als wir zur Konfirmandenstunde gingen, hat der Pastor
uns den ganzen Winter durcheinandergeschmissen und zuletzt noch mich
als Sine und Sine als Becka eingesegnet, und nicht mal unser Vater hat
das gemerkt. Was jetzt mein Bräutigam ist, der hat erst lange nicht
gewußt, wen von uns beiden er nehmen sollte. Zuletzt bin ich's ja denn
geworden, ich glaube mehr zufällig, und das tut mir wegen Sine leid.
Und sie ist seit der Zeit noch immer ein bißchen böse auf mich, weil
sie doch die älteste ist, weißt du, und sich immer was darauf zugute
getan hat. Aber was kann ich armes Ding dafür? In solchen Dingen ist
doch jeder sich selbst der Nächste. Wenn ich ihr nun einen guten
Bräutigam anstellen könnte, wie zum Beispiel dich, dann wäre alles
wieder gut. Junge, Gerd, das wär' fein! Was meinst du?«

Gerd, der wieder neben ihr ging, blieb stehen. »Becka,« sagte er, »die
Sache kommt mir ganz putzwunderlich vor.«

»Das ist sie auch,« versetzte das Mädchen mit Eifer. »Unser
Schullehrer hat mal gesagt, wir beiden könnten uns auf dem Freimarkt
als Weltwunder sehen lassen.«

»...Sag' mal, bist du Sonntag vor acht Tagen zur Kirche gewesen?«

»Nee, das muß Sine gewesen sein.«

»Kuck an, dann hab' ich sie ja schon mal gesehen.«

»Nicht wahr? Auch 'ne lüttje glatte Deern.«

»Och ja ...«

»Gerd, für allzu starkes Zureden in solchen Dingen bin ich gar nicht
... der Mensch muß selber wissen, was er will. Aber du solltest Sine
man nehmen.«

»Och, Menschenskind ... das kommt mir so unverhofft...«

»Aber du wolltest ~mich~ doch. Ob du mich kriegst oder Sine, das
ist ja alles ein Pott und ein Löffel.«

»Das sagst du wohl ...«

»Mit der einen bist du so wenig angeführt als mit der anderen, hahaha.«

»... Sag' mal, ist Sine eben so 'ne lüttje vergnügte Deern wie du?«

»~Die?~ Ha, die steckt mich noch in den Sack, wenn's drauf
ankommt!«

»Und auch nicht fürs Wilde und Weitläufige?«

»Hee wat! Immer vergnügt, und dabei doch sinnig und ernsthaft für sich
weg.«

»Hm ... Die Sorte hab' ich eigentlich am liebsten.«

»'s ist auch die beste, Gerd.«

»Sie hat doch auch wohl etwas auf der Sparkasse?«

»Das wollt ich meinen.«

»Wieviel wohl ungefähr? ...«

»Pfui, danach gleich zu fragen! Willst du sie von wegen dem Geld
heiraten?«

»Das nicht; aber es ist gut, wenn man auch in diesem Stück gleich klar
sieht.«

»Wart ein bißchen, ich muß hier eben in den Laden und grüne Seife
holen, wir wollen morgen waschen. Bin gleich wieder bei dir.«

Und schon war sie in dem Hause des Hökers, das unmittelbar am Damm
lag, verschwunden.

Im Laden wurde eine Hängelampe angezündet, und Gerd spähte zwischen
Stärkeschachteln, Seifenpyramiden und anderen Schaufensterauslagen
hinein. Schönere rote Backen, als wie der Lampenschein sie dort
beleuchtete, konnte es auf der Welt nicht geben, und lustigere Augen
erst recht nicht. Als sie, mit der Hökerfrau scherzend, lachte, lachte
ihm das Herz im Leibe mit.

Schade, daß er da zu spät gekommen war.

Aber wenn es noch eine genau so eine gab? Dann war die Sache am Ende
doch nicht so schlimm. Und warum sollte das nicht möglich sein? Man
hatte ja sogar von Zwillingen gehört, die zusammengewachsen waren.
Dann konnte es auch wohl welche geben, die sich so gleich waren, daß
man getrost die eine für die andere heiraten konnte.

»Na Junge, hast du dir's überlegt?« fragte Becka munter, als sie
wieder draußen war.

»Hm, ankucken möchte ich mir Sine wohl mal.«

»Ist recht. Dann will ich sie einladen. Paßt es dir Sonntag über acht
Tage?«

»Geht's nicht schon diesen Sonntag?«

Becka schüttelte den Kopf: »Diesen Sonntag muß ich erst hin und ihr
Bescheid sagen.«

»Das kannst du doch schriftlich abmachen.«

»Nee, mit der Feder kann ich nicht recht mehr umgehen. Also anderen
Sonntag, nachmittags drei Uhr, treffen wir uns auf Rodenburgs Damm.
Dort im Großen Moor stört uns keiner, und ihr könnt euch in Tennstedt
bei Uhrmacher Sauerhering gleich die Ringe kaufen.«

»Stopp, mein' Deern, so weit sind wir noch nicht ... Weißt du gewiß,
daß es mir bei Sine nicht grad so geht als bei dir ... ich meine, daß
sie nicht auch schon vergeben ist?«

»Vor drei Wochen hatte sie noch keinen Bräutigam. Aber so was kommt
manchmal schnell.«

»Ja, das ist wahr. Vor einer Woche dachte ich auch noch nicht an
solche Geschichten ... Wann kommst du Sonntagabend wieder?«

»So zwischen neun und zehn Uhr. Warum?«

»Oh ... ich werd' dir auf dem Kirchdamm aufpassen, damit ich bald zu
wissen krieg', woran ich bin. Willst du mir nicht doch sagen, wieviel
Sine auf der Sparkasse hat?«

»Nee, du Neugier! Das kann sie dir selbst sagen.«

Sie waren bei Wiechels' Hofbrücke angelangt. Becka gab ihm die Hand
und sagte lustig: »Gute Nacht, Schwager.« Er griff schnell zu und
kniff sie in die runde, pralle Backe: »Schade, daß ~du~ nicht
mehr zu haben bist. Dann wär' die Sache viel einfacher ... Becka,
könnt ihr beiden nicht tauschen?«

»Nicht um tausend Taler! Und wenn du mir'n großen Geesthof
zubrächtest!«

»Aber Deern, wo ihr beide so ganz und gar auf denselben Leisten
gearbeitet seid, ist das doch ganz egal.«

»Wenn du noch einmal so dumm hinschnackst, sag' ich zu Sine, daß du'n
schlimmer Kerl bist. Dann nimmt sie dich auch nicht, ätsch! und du
stehst da mit'm dicken Kopf. Nun mach, daß du nach Hause kommst, und
träum von Sine!«

Mit munteren Schritten eilte sie dem Gehöft zu. Gerd, der ihr, an das
Brückengeländer gelehnt, nachsah, schüttelte langsam den Kopf: »'ne
schnaksche Sache ... ne wunderliche Geschichte ...« Dann aber nickte
er eifrig, schlug mit der flachen Hand schallend auf seinen linken
Schenkel und murmelte vor sich hin: »Die rechte Sorte ist's ... kernig
und gesund wie das blühende Leben ... fleißig und sparsam ... vergnügt
wie ein Katheker, und doch nicht weitläufig und wild, mehr so in sich
selbst vergnügt ... justemente die richtige Sorte ...Schade, daß sie
schon versagt ist, jammerschade ... Aber ein Glück, daß es zwei von
dem Schlag gibt ... Wenn die ältere nur nicht gar zu sehr gegen die
jüngere abfällt ... wie Lea gegen Rahel! ... Na, das muß mit Ruhe und
Vertrauen abgewartet werden.«

Er hatte sich das Geländer hinaufgeschoben, umschlang mit dem linken
Bein den Pfosten und ließ das rechte vergnüglich baumeln.

Es war ein warmer, stiller Sommerabend, so recht moje und alle Sinne
umschmeichelnd. Die Birkenstämme blinkten im Vollmondglanz und
spiegelten sich klar und schön in der dunklen Tiefe des Grabens.
Zur Linken auf den lichtüberfluteten Wiesen mit dem schimmernden
Wassergeäder lagen aus feinstem Nebel gewobene Silberschleier. Rechts
barg sich in mondbeglänztem Busch- und Baumwerk die Dorfreihe,
verraten nur durch die Reihe der Brücken, die vom Damm hinüberführten,
und durch ein einziges Licht, dessen freundlicher Schein sich durch
das Laub hindurchstahl. Am nahen Klappstau rieselte ein Wässerchen,
funkelte wie flüssiges Gold und schwätzte lustig, weil es seinen Weg
gefunden.

Der junge Freiersmann sah mit großen Träumeraugen um sich. Es wurde
ihm so wohl, daß er bald beide Beine baumeln ließ, in tiefem,
ruhevollem Behagen. --

Plötzlich hob er sich und sprang auf die Füße. Er war mit seinen
schweifenden Gedanken am Achterdamm angekommen und hatte sich schnell
entschlossen, sein künftiges Heim und Nest noch eben mal zu besuchen.

Weit ausgreifend schritt er den Damm hinunter, um hinter der Mühle im
rechten Winkel nach links auf den Kirchdamm abzubiegen. Bald ragten
die beiden hohen Tannen, das Wahrzeichen der Stelle 1 +a+, über
den Birkenanflug des Hochmoors. Und es dauerte nicht lange, so stand
er vor dem Häuschen. Aber da kam das Gefühl einer großen Enttäuschung
über ihn. Das moosige Strohdach war von Ratten zerfressen, der Kitt
in den Fensterfüllungen abgebröckelt, eine zerbrochene Scheibe durch
eine Nummer der Hammezeitung ersetzt. Und, was ihm das unangenehmste
war, die Legen, auf denen die Fachwerkmauern ruhten, erwiesen sich
als stark angemorscht. Aber bald tröstete er sich mit dem Gedanken,
er würde das Haus um so billiger erstehen, und einige hundert Mark
könnten da gründlich Wandel schaffen.

Drinnen, in der ausgeräumten und leidlich besenrein verlassenen, von
weichem Mondlicht angefüllten Stube gefiel es ihm gar nicht übel.
Und als er, in Ermangelung sonstiger Sitzgelegenheit, sich in die
Öffnung der künftigen Ehebutze setzte und den Raum mit Beckas, nein
Sines Aussteuer ausmöblierte, wurde es sogar ganz gemütlich. Um das
häusliche Behagen noch zu erhöhen, stopfte er sich eine frische Pfeife
und blies große, graue Wolken vor sich hin, die im Strahl des Mondes
einen silbernen Schimmer annahmen.

So saß er eine gute Weile und vergnügte sich damit, Zukunftsbilder
zu malen, als er plötzlich aus dieser angenehmen Beschäftigung
aufschreckte und etwas wie Gespenstergrauen über seinen Rücken
kriechen fühlte, indem etwas Weiches vor seinen Schienbeinen
hinstrich. Es war aber nur ein weißes Kätzchen, das sich auf
Sammetpfötchen lautlos und unbemerkt in die Stube geschlichen hatte.

Gerd streichelte den gekrümmten Rücken des Tieres und sagte zärtlich:
»Ist nett von dir, Musch, daß du hier einhütest. Halt das Unzeug man
ordentlich kurz, Sine soll dich später dafür tüchtig herausfüttern.«

Musch machte kläglich Miau, als ob sie sagen wollte, das wär' noch
lange hin.

Gerd suchte in seinen Taschen und war so glücklich, ein
Rotwurstzipfelchen vom letzten Frühstück auf dem Felde zu finden, das
er für den Hund beigesteckt hatte.

Die Verlassene machte sich gierig darüber her, und als sie den
Leckerbissen weggeputzt hatte, fing sie behaglich an zu schnurren.
Dann ging sie der Tür zu, sich öfters umsehend, als ob sie ihn
einladen wollte, ihr zu folgen.

»Ach so, Musch, du willst mich führen,« sagte Gerd, indem er
sich erhob. Und sie durchwanderten alle Räume des Hauses, in die
Mondeshelle und Schatten der Nacht sich geteilt hatten, wobei die
wackere Einhüterin sich treu zu ihrem künftigen Herrn hielt.

Auf der offenen Feuerstelle lag noch die Asche vom letzten
Kaffeekochen des Vorbesitzers. Die ersten Jahre mußte Sine sich mit
ihr behelfen, später sollte sie einen Sparherd haben, der in Bremen
gewiß mal billig für alt zu kaufen war.

Die Stallungen fanden Gerds Beifall. Es war Platz für drei Kühe, zwei
Kälber und ein halbes Dutzend Schweine. Für den Anfang genügte das,
nach einigen Jahren mußte natürlich angebaut werden.

Er stieg die Bodenleiter hinauf. Das blausilberne Mondlicht, das durch
die Eulenlöcher der beiden Giebel einfiel, zeigte ihm einen Raum,
der einstweilen Vorrat an Heu und Stroh zur Genüge fassen konnte. Die
morschen, unsicheren Dielen bedurften freilich dringend der Erneuerung.

Nachdem er sich alles gründlich angesehen hatte, verließ er das Haus
auf demselben Wege, auf dem er es betreten hatte. Musch sprang hinter
ihm drein.

Nun besichtigten sie miteinander den Grundbesitz der Stelle, mit dem
Garten beginnend. Die Obstbäume erwiesen sich als alt und abgängig.
Es mußten sofort neue gepflanzt werden, und zwar Sorten, die in
der Stadt einen guten Marktwert hatten, wie Prinzenäpfel, Berliner
Reinetten und dergleichen. Das Gemüseland war zwar bestellt, aber hier
wie auch auf dem Felde zeigten sich überall die deutlichen Spuren
der Lotterwirtschaft des früheren Besitzers: die Stücke schlecht in
Düngung, Kartoffeln und Steckrüben nicht angehäufelt, das Unkraut
überall in üppigster Blüte. Gerd erboste sich über den Menschen,
der um des verfluchten Branntweins willen seiner Väter Erbe hatte
verludern lassen, und konnte es sich nicht versagen, einige gar
zu protzige Saudisteln und Nachtschatten auszureißen. Drei Jahre
angestrengter Arbeit rechnete er wenigstens, bis er die Ländereien
so in Schick haben würde, daß ein anständiger Mensch halbwegs seine
Freude daran haben könnte.

Als er an das zur Stelle gehörige Moor- und Heideland kam, ballte
seine Hand sich zur Faust. Wüst und planlos war hier nach Torf
gestochen, so daß es aussah, als ob wilde Schweine den kostbaren
Boden umgewühlt hätten. Nichts war eingeebnet, vom Urbarmachen
der abgetorften Fläche gar nicht zu reden. Der gewissenlose Kerl,
dachte Gerd, müßte über einen Torfkarren gelegt werden und mit jungen
Birkenreisern fünfundzwanzig oder mehr hinten aufgezählt kriegen.
Übrigens waren die Torfverhältnisse sonst nicht schlecht. Der »weiße«
Torf, die lose, lockere Oberschicht unverwester Moose, war nur gering,
dagegen der »schwarze«, die dunklere, feuchte, speckige Backtorfmasse,
gut einen Meter stark und versprach ein Produkt erster Güte.

Das Endergebnis der gesamten Besichtigung war, daß Gerd sich sagte,
er dürfte auf keinen Fall mehr als neunhundert Taler für den ganzen
Besitz zahlen. Hundert müßten sogleich aufgewendet werden, um das
Haus bewohnbar zu machen, zweihundert rechnete er für die erste
Anschaffung an lebendem und leblosem Inventar -- kurz und gut, mit
einer jungen Frau, die gesund, arbeitsfroh und sparsam war, konnte
er die Sache wagen. Er blickte von der Höhe einer Hochmoorbank über
das mondlichtüberglänzte Rechteck hin; es erschien ihm, mit Sine
Wischhusen, als aller Wünsche Ziel, und zugleich in ihrem Namen
ergriff er mit der Seele endgültig von ihm Besitz. Drüben, wo die zwei
in den Silberglanz der Mondnacht ragenden Tannen das moosige Strohdach
beschirmten, wollte er Beckas Zwillingsschwester und Ebenbild als
junges Weib umarmen, dort auf dem Felde und hier im Moorgrunde
wollten sie arbeiten im Schweiß ihres Angesichtes, und dieses Stück
Heimaterde, achtzehn Morgen groß, wollte er einst seinem ältesten
Jungen als freies Erbe hinterlassen. »Und dann,« so murmelte er, die
Zähne aufeinander beißend, mit Entschlossenheit vor sich hin, »soll es
hier anders aussehen als heute -- so wahr mir Gott helfe!«

Musch war noch immer bei ihm, er hatte sie aber länger nicht mehr
beachtet. Jetzt brachte sie sich durch Miauen wieder in Erinnerung.
Da sah er, wie dem schnöde zurückgelassenen Tier die Rippen durch das
Fell standen, und das arme Ding tat ihm leid. »Musch,« sagte er, sie
an sich lockend und ihr den Rücken streichelnd, »hör' mal, ich nehm'
dich als Pfand mit. Sonst verhungerst du mir oder kommst auf schlechte
Wege. Nächstes Frühjahr halten wir hier zusammen unseren Einzug, mit
Sine.«

Musch rieb sich zärtlich und vertrauensvoll an seinem Bein, und ihr
Miau klang wie Zustimmung. Da hob er sie auf und richtete ihr ein Asyl
unter seiner Jacke ein.

Dann trat er den Rückweg an.

Als er bald das Mühlgehöft behäbig und stattlich vor sich liegen sah,
fing er an zu vergleichen. Hermanns Erbe war mehr als dreimal so groß
wie das seine und hatte mit den großen, gut im Stande gehaltenen
Gebäuden und der Mühle mindestens den zwölffachen Wert. Da wollte
etwas wie Unzufriedenheit in ihm aufsteigen, aber schnell hatte er
sie unterdrückt. Mehr als leben konnte einer ja auch von reichstem
Gut nicht, und war es denkbar, daß jemand an einem Erbe, in das
er ohne sein Verdienst hineingeboren ward, je solche Freude hatte
wie ein anderer an dem auch noch so kleinen Besitz, den er seiner
eigenen Hände Arbeit verdankte? Nein, nein, er wollte gewiß nicht
mit Hermann tauschen. Ihm wurde so vergnügt zu Sinne, daß er anfing,
laut zu pfeifen. Als er, dem Fußpfad folgend, über Stelle Nr. 4 kam,
verlangsamte er seinen Schritt und pfiff mit Kraft und Inbrunst: Die
Liebe macht glücklich, macht selig. Er bemühte sich, dabei an Sine
zu denken. Aber die war ihm noch nicht recht gegenständlich und ja
auch ein bißchen weit weg. So hielten seine zärtlichen Gedanken sich
einstweilen mehr an die nahe, deren herzfrohes Lachen ihm noch im Ohre
klang. Es war das ja aber auch einerlei bei Zwillingsschwestern, die
zur Unterscheidung kaum etwas hatten als die verschiedenen Namen. Das
weiße Kätzchen drückte er dabei ein wenig fester an sich.




                                  14.


Gerd lag in der blühenden Heide, die den Rodenburger Damm säumte,
unter einer Birke und hinter einem Weidenbusch. Die Birke hatte
Saftfluß, und prächtige Trauermäntel waren bei ihr zu Gaste.

Um den Hals herum war's ihm etwas eng und unbequem. Er trug nämlich
zum erstenmal in seinem Leben einen Kragen. Kaufmann Nolte hatte
gesagt, das Ding wär' von Gummi, und er könnte es beliebig oft
abwaschen und unter Umständen bis an seinen Tod damit langen. Das
Vorhemdchen hatte Leidchen ihm mal aus der goldgestickten Strickmütze
seiner Großmutter gemacht, und er hatte es heute ebenfalls zum
erstenmal vorgebunden. Es war bunt genug, weshalb er keinen Schlips
brauchte.

Von der Beengtheit des Halses abgesehen, war ihm aber sehr wohl
zumute. Sine hatte eingewilligt, mit ihm und Becka heut einen
Spaziergang durch das Große Moor nach Tennstedt zu machen, und er sah
diesem Unternehmen mit frohen Hoffnungen und angenehmen Erwartungen
entgegen. Geld hatte er beigesteckt, um, wenn alles gut ginge, gleich
die Ringe kaufen zu können.

Er spähte wieder einmal um den Weidenbusch den Damm hinunter und
entdeckte in der Ferne, etwa dort, wo die Schule liegen mußte, zwei
schwarze Punkte von gleicher Größe. Das konnten sie sein.

Eine Weile sah er dem feierlichen Schweben der bunten Buttervögel zu,
und ihrem gierigen Trinken am Birkensaftquell.

Die beiden Punkte hatten sich inzwischen vergrößert und waren bei
keiner der zahlreichen Hofbrücken abgeschwenkt. Es wurde immer
wahrscheinlicher, daß es die Erwarteten waren.

Die Punkte schienen unten breiter als oben, es waren also Frauensleute.

Nun hatten die beiden Frauensleute das Dorf hinter sich, und ein
Zweifel war nicht mehr möglich.

Sie machten beide dieselben kurzen, munteren Schritte und wandten
sich alle Augenblicke nach dem Dorf um, was den Beobachter hinter dem
Weidenbusch jedesmal bannig högte und zum Schmunzeln brachte.

Nee, aber so was! So 'ne Ähnlichkeit! Er wollte sich die Augen aus dem
Kopf gucken und konnte doch nicht erkennen, wer Becka und wer Sine
wäre.

Als die beiden auf zwanzig Schritt herangekommen waren, sah er, daß
die eine so recht behaglich vor sich hinlachte, während die andere
etwas Unruhiges, Unsicheres in Gesicht und Auftreten hatte. Da wußte
er Bescheid.

»Becka, wenn er nun mal nicht käme ...«

»Ach was, Deern, den hab' ich viel zu fest in der Schlinge. Er ist
auch einer von den Ehrenfesten und Zuverlässigen.«

»Ich glaub', bei diesem Weidenbusch warten wir man ... Uch!«

»Den Deuker, da ist er ja!«

»Guten Tag, Deerns. Na, habt ihr euch eingestellt? Das ist man gut.«

Gerd, der sich langsam erhoben hatte, gab erst Becka die Hand,
dann Sine, der er dabei schnell in das von einer Blutwelle purpurn
übergossene Gesicht sah.

»Hm.«

»Na? Was nun?«

»Ich denk', wir gehn weiter.«

»Dann komm, wir nehmen dich in die Mitte. Zwischen zwei Schwestern,
das soll Glück bringen.«

Sie setzten zu dritt die Wanderung fort. Indem einer auf den anderen
wartete, sagte keiner etwas.

Aber lange hielt Becka dieses Schweigen nicht aus. Sie gab Gerd einen
Rippenstoß: »Zu, sag' mal was, Junge!«

Nachdem er leise aufgeseufzt hatte, begann er: »Schön Wetter heut'.
Pepers Heini wird bei seinem Ernteball den Saal wohl tüchtig voll
haben.«

»Was geht uns Pepers Heini sein Ernteball an?« fragte Becka kichernd.

Gerd griff nach seinem Gummikragen und bereute, daß er ihn nicht eine
Nummer weiter genommen hatte.

»Wir müssen zur rechten Zeit wieder zu Hause sein,« setzte er von
neuem an. »Ich muß diese Nacht noch mit dem Schiff nach der Stadt ...
der Torf ist gerade gut im Preise. Für den besten bezahlen sie ...«

Becka warf schnell den Kopf herum und unterbrach ihn: »Wir sind nicht
gekommen, um mit dir über deinen Backtorf zu schnacken. Sag', was du
vorhast! Raus damit!«

»Man nicht so glupsch, Deern,« stamerte er verlegen und ärgerlich.
»Immer langsam und mit Sinnen.« Dann, nach der anderen Seite gewendet:
»Sine, ich hab' so halb und halb vor, mir was zu kaufen.«

»Das hat Becka mir schon gesagt,« versetzte sie leise.

»Wie weit bist du mit dem Kauf?« fiel die Schwester ein.

»Hab' die Stelle an der Hand.«

»Nicht zu teuer?«

»Nee, hab' heruntergehandelt bis auf den Preis, den ich mir gesetzt
hatte.«

»Na, Kinder, dann seht bloß zu, daß ihr miteinander klar werdet.«

»Becka,« sagte Gerd in vorwurfsvollem Tone, »ich mag dich heute gar
nicht leiden, so naseweis wie du bist.« Darauf wandte er sich nach
rechts, blieb stehen und sagte: »... Sine, was meinst du?«

Sie stand in der Dammrichtung, die Augen züchtig gesenkt, und sagte:
»Gerd, ich kenne dich ja noch nicht ganz lange. Aber meine Schwester
hat mir soviel Gutes von dir erzählt ... ich glaub', ich kann's wohl
riskieren ...«

»Vater und Mutter,« krähte Becka dazwischen, »sind auch einverstanden,
ich hab' sie letzten Sonntag gleich gefragt. Aber Kinder, wollt ihr
euch denn nicht die Hand geben?«

Aus vier Augen wurden ihr böse Blicke zum Lohn, aber man tat doch nach
ihrem Rat.

»Und ein lüttjer Kuß gehört auch dazu!« verfügte sie weiter.

Nun wurde es Sine denn doch zuviel. Sie trat mit empörten Augen vor
die Schwester hin: »Becka! Ich will dir mal was sagen, und merk dir's:
Du hast uns beiden ganz und gar nichts zu kommandieren. Wir sind
mündig und wissen selbst, was wir zu tun und zu lassen haben. Du mußt
dir bloß nicht einbilden, daß du hier heute die Hauptperson bist.«

Die Strafrede hätte wohl noch länger gedauert, aber Gerd fiel
sanftmütig ein: »Sine, reg' dich man nicht auf; Becka hat's ja ganz
gut gemeint ... Wir können uns auch dreist mal küssen.«

»Nein, nun grade nicht! Was zuviel ist, das ist zuviel. Ich bin die
Älteste von uns beiden, und Becka hat das auch immer anerkannt. Bloß
von dem Augenblick an, wo sie sich verlobt hatte, bildete sie sich auf
einmal ein, sie wär' mehr als ich, und wurde frech. Aber jetzt laß ich
mir das nicht mehr gefallen. Denn was du bist, das bin ich all lange,
du!«

»Uijeh!« rief Becka in geheucheltem Entsetzen, »da hab' ich mir schön
was eingebrockt, daß ich dir'n Bräutigam verschafft habe. Nun kann ich
mich wieder unter dich ducken. Na, lüttje Schwester, sei man still,
ich tu's ganz gern. Soll ich 'n bißchen zurückbleiben, damit ihr euch
ungestört besprechen könnt?«

»Nee, geh' lieber hundert Schritt vorauf!«

»Auch gut,« sagte Becka, und schritt wacker fürbaß.

»Nun ist's Zeit,« flüsterte Sine, und hielt ihren roten Mund hin. Und
Gerd drückte einen kernigen Kuß darauf. Dann nahm er sie so fest in
die Arme, daß ein zartes, zimperliches Ding laut aufgekreischt haben
würde. Aber von der Sorte war Sine Wischhusen nicht.

Becka war so diskret, sich nur einmal umzusehen. Sie paßte aber just
den richtigen Augenblick ab und bedauerte, daß sie ihren Jan nicht da
hatte, ihr ein Gleiches zu tun.

Als Gerd seine Braut freigelassen hatte, sagte er fröhlich: »So, nun
gehen wir nach Tennstedt und kaufen uns die Ringe ... Aber Deern, wir
kriegen am Ende heut gar keine!«

»Warum nicht?«

»Von wegen der Sonntagsruhe.«

»Ach was, das sind Liebeswerke, und die sind auch am Sonntag erlaubt.«

Gerd lachte und legte den Arm um sie. So schritten sie glückselig
durch den leuchtenden Sommertag, eine gute Weile schweigend. Es war
jetzt die Einsamkeit des wilden Heidemoores um sie. Kein Mensch
oder menschliche Wohnung weit und breit zu sehen, nur hier und da
eine verlorene Plaggenhütte, als Unterschlupf für Heidhauer und
Torfgräber in die Einöde gesetzt. Die herrliche Bläue des Himmels,
an dem weiße Schäfchenwolken ihr Wesen trieben, hob sich wundervoll
ab gegen das von weißen Birkenstämmchen durchblitzte Blütenrot der
üppig wuchernden Moorlandsheide. Die Luft war voll Honigduft und
Bienengesumm. Schnurgerade zog sich der Damm durch das blühende Land,
ihm treu zur Seite der blinkende Wasserlauf. Es hatte lange nicht mehr
geregnet, und der Sand mahlte stark. Aber davon merkten die beiden
rüstigen jungen Menschenkinder nichts. Auch der Gummikragen bedrückte
Gerd jetzt nicht mehr, wie er so hochaufgerichtet und frei atmend
dahinschritt.

»Wollen wir jetzt Becka nicht rufen, daß sie wieder mit uns geht?«
fragte er endlich.

»Och ja,« sagte Sine schnell, »allein wird es ihr leicht zu
langweilig. Sie ist im Grunde gar keine schlechte Deern.«

»Nee, gewiß nicht,« stimmte Gerd bei. »Eigentlich wollte ich sie ja
auch heiraten.«

»Ich weiß ...«

»Wir beide, Sine, passen aber doch noch besser zusammen, glaub' ich.«

»Das wollen wir hoffen ... Becka!«

Becka wandte sich sofort herum und erwartete die beiden.

»Na, alles klipp und klar?«

»Ja, du kannst jetzt wieder mit uns gehen.«

»Ist dankenswert,« sagte Becka, und nahm ihren alten Platz an Gerds
grüner Seite wieder ein.

»Ich freu' mich bannig, Gerd,« begann Sine nach einem Weilchen, »daß
wir beide gleich ein eigenes Dach über den Kopf kriegen. Jan und Becka
wollen sich die ersten Jahre was pachten.«

»So--o?« fragte die Schwester spitz, »weißt du das so gewiß? Kann
sein, daß wir noch eher zum Kauf kommen als ihr.«

»Aber Kinder, so vertragt euch doch,« legte Gerd sich lächelnd ins
Mittel. »Sine, wir könnten nun wohl mal zusammenrechnen, was wir
beide parat haben. Ich fang' an.«

Und er begann aufzuzählen: was er von der Mutter geerbt, was er in
den einzelnen Jahren verdient, wie wenig er verbraucht und wieviel
auf die Sparkasse getragen, und was es dort an Zinsen gebracht
hatte. Zur Stunde beliefe sich sein Vermögen, ohne die Zinsen des
laufenden Vierteljahres, auf sechshundertsiebenundachtzig Taler und
dreiundzwanzig Groschen, das Geld im Portemonnaie noch nicht mal
mitgerechnet.

»Junge, Junge!« rief Sine, von der Höhe der Summe freudig überrascht,
und warf an ihm vorbei einen triumphierenden Blick nach ihrer
Schwester hinüber. Die machte ein etwas verdutztes Gesicht; denn da
kam ihr Jan doch nicht ganz mit.

»Na, Sine, denn red' du mal!« sagte Gerd gespannt.

Sie fing an aufzuzählen: ein Dutzend Hemden, die Hälfte noch gar
nicht gebraucht, zwei bessere Kleider und drei für die Arbeit, drei
Unterröcke, ein zweischläfernes Bett, und zweimal es zu überziehen,
fünf Stück Leinen, eine Kommode, ein Spinnrad, sieben Schürzen ...

Sie verlor sich zuletzt so in Kleinigkeiten, daß er ungeduldig wurde
und sie unterbrach: »Und Bargeld?«

»Ungefähr hundertundsechzig Taler.«

»Hm.«

»Ist dir das nicht genug?«

»Hm ... denn hat Becka ja doch 'n bißchen mehr.«

»Ja, die hat auch immer viel Geschenke von ihrer Dienstherrschaft
gekriegt. Aber mit Zeug ist sie lange nicht so gut ausstaffiert
als ich. Die ersten Jahre brauch' ich überhaupt kein neues Kleid,
ausgenommen natürlich das zur Hochzeit.«

»Hast du noch was von deinen Eltern zu erwarten?«

»Das wohl nicht. Wir sind unser zu viele.«

»Na, Sine, das soll alles nichts schaden ... dann lassen wir die erste
Hypothek von dreihundertundfünfzig Talern auf der Stelle stehen. Was
meinst du, bis wann können wir die wohl heruntergearbeitet haben?«

»Oh ... wenn der liebe Gott Leben und Gesundheit schenkt, in 'n Jahrer
sechs ... oder sieben ...«

»Sine, du bist 'ne lüttje famose Deern! Ich hatte an neun bis
zehn Jahre gedacht; denn wir müssen ans Haus allerhand anwenden,
und auch tüchtig was in den Boden hineinstecken. Der Kram ist bös
heruntergekommen.«

»Schadet nichts. Das wollen wir beiden wohl kriegen. Wir sind ja
keine, die vor der Arbeit weglaufen.«

»Deern, Deern, was bin ich froh!« rief er. »Ich glaube, der liebe Gott
hat dich extra für mich gemacht.«

»Ist möglich, so soll das in 'm richtigen Ehestand ja auch wohl sein.«

Der schnurgerade Damm wurde am Rande der Geest zu einem gewöhnlichen
Sandwege, der mit einer kleinen Biegung in das wohlhabend behäbige
Bauerndorf Tennstedt einmündete.

»Feine Höfe,« sagte Gerd, auf ein stattliches Bauerngut mit altem
Eichenbestand hinweisend.

»Ich möcht' auf der Geest nicht sein,« versetzte Sine. »Wir können auf
unserer Anbauerstelle am Achterdamm ebenso gemütlich leben.«

»Das ist gewiß!« sagte Gerd und legte mal schnell wieder den Arm um
sie.

Herr Sauerhering, der Uhren flickte und zugleich mit Gold- und
Silbergeschirr handelte, wurde glücklich zu Hause getroffen, und es
bedurfte nicht langer Bitten, ihn zu dem gewünschten Liebesdienst
willig zu machen. Nachdem er dem Pärchen artig zu seinem Vorhaben
gratuliert hatte, breitete er einen großen, flachen Kasten voll der
ewig bindenden Dinger vor ihm aus. Sine hielt ihre Hand hin, und Gerd
verpaßte ihrem kurzen, dicken Ringfinger einen Goldreif. Darauf suchte
Sine auch einen für ihn aus, wobei Becka ihr half. Das Anstecken
besorgte sie aber allein.

»Was kostet das?« fragte Gerd und griff in die Tasche.

»Fünfzehn Mark,« sagte der Mann.

Gerd erschrak. »Gibt's keine billigere Sorte?« fragte er kleinlaut.
»Solche Ringe müssen echt sein,« erklärte Herr Sauerhering ernst.
»Sonst ist das eheliche Glück nachher auch nicht echt und von Bestand.
Es ist ja auch nur eine einmalige Ausgabe.«

»Wir nehmen aber doch gleich zwei auf einmal. Da können Sie's wohl für
zwölf Mark tun.«

»Diese Art verkaufe ich überhaupt nur paarweise,« erklärte Herr
Sauerhering, und die Mädchen lachten. »Überhaupt ist das Handeln bei
solchem Kauf keine Mode.«

Gerd legte mit schwerem Herzen ein Zwanzigmarkstück auf den Tisch. Als
er die fünf Mark, die ihm zurückgegeben wurden, einstecken wollte,
fragte Becka keck: »Was krieg' ich denn als Freiwerberlohn?«

»Vielleicht eine hübsche Brosche?« fragte Herr Sauerhering süß
lächelnd, indem er eine andere Schublade herauszog und auf den Tisch
stellte.

Becka musterte die glitzernden Schmuckstücke und hob eins heraus.

»Glaube, Liebe, Hoffnung,« sagte sie, »diese möcht' ich wohl leiden.
Kostet?«

»Zwei Mark fufzig.«

Die beiden Mädchen sahen Gerd erwartungsvoll an.

»Na, denn man zu!« sagte er mit tapferer Selbstüberwindung und warf
das Geld auf den Tisch. Becka steckte sich Kreuz, Herz und Anker
sogleich vor.

Die drei Goldgeschmückten gingen darauf schräg über die Straße in eine
Gastwirtschaft, die mit Bäckerei verbunden war. Hier bestellten sie
sich zwei Portionen Kaffee nebst einem Teller Butterkuchen, und aßen
und tranken nach Herzenslust. »Und wenn die zwanzig Mark heut' ganz
draufgehen!« dachte Gerd, und ließ den schnell geleerten Teller noch
einmal füllen.

»Schade, daß ich meinen Jan nicht herbestellt habe ...,« seufzte
Becka. »Wir wollen ihm mal eine bunte Karte schicken,« sagte Gerd und
ging hin, sich eine zu holen. Er wählte die mit dem Gasthaus, in dem
sie ihre Verlobung feierten.

Während er saß und schrieb, fragte Becka: »Wann wollt ihr denn
eigentlich Hochzeit machen, Sine?«

Sine gab die Frage weiter: »Was meinst du, Gerd?«

»Nächstes Frühjahr natürlich, gleich nach Ostern,« erklärte er.

»So früh schon?« rief Becka erschrocken. »Wir wollten eigentlich noch
ein Jahr warten.«

»Ja, Kinder, das könnt ihr ja auch ruhig tun,« meinte die ältere
Schwester.

»Nein, Sine, nein, das geht nicht,« rief Becka mit Nachdruck.
»Voranlassen dürfen wir euch auf keinen Fall. Wir beide sind an
demselben Tag geboren, aus einem Wasser getauft und Seite an Seite
konfirmiert. Da hilft alles nichts, wir müssen auch miteinander
Hochzeit halten. Ob Jan will oder nicht, er muß. Gerd, schreib' man
gleich mit an meinen Jan, nächstes Frühjahr gäb's eine vergnügte
Doppelhochzeit.«

Er nickte. »Gut,« sagte er, »ich will das bemerken.«

»Halt!« rief Sine, »dabei hab' ich doch auch wohl noch ein Wort
mitzureden. Ich bin gegen die Doppelhochzeit.«

»Warum?« fragte Gerd, von seinem Schreibwerk aufblickend.

»Oh ... bei 'ner Doppelhochzeit lohnt es nicht so mit den Gaben. Für
zwei auf einmal ordentlich was zu schenken, das wird den Leuten leicht
zu viel.«

»Sine, du bist 'ne lüttje famose Deern. Daran habe ich noch gar nicht
einmal gedacht. Du magst wohl recht haben ...«

»Da hört sich doch alles auf!« rief Becka empört, machte ihre
grallsten Augen und legte die Arme vor sich auf den Tisch, »nun
spielt ihr mir schon unter einer Decke. Aber das will ich euch man
sagen, wenn ihr nicht für die Doppelhochzeit stimmt, ist unsere
Freundschaft aus, ich stehe nicht bei euch Gevatter und besuche
euch auch nicht. Das waren Meta und Metta Rodenburg in unserm Dorf,
die auf einen Tag Hochzeit machten und nicht viel kriegten. Aber
warum? Die Leute mochten sie und die ganze Familie nicht leiden, und
schickten gar keinen, oder Knecht und Magd und Kinder, und da schaffte
es natürlich nicht mit den Gaben. Aber das hat bei uns nichts zu
bedeuten. Ich glaub', Sine, ich kann ruhig sagen, wir beide sind ganz
beliebt, und auch unsern Vater haben sie gern in allen Häusern, wo er
Hollschen macht. Denk' dir doch, Deern, wie schön das wird, wenn wir
beide so im Myrtenkranz und Schleier da auf unserer Diele beieinander
stehen, ich mit meinem Jan, du mit deinem Gerd; und unser guter alter
Pastor gibt uns alle vier zusammen in den heiligen Ehestand, aber
diesmal soll er's richtig machen, und nicht so Kuddelmuddel wie bei
der Konfirmation. Ich glaube, dann kann ich vor Weinen knapp ja sagen.
Denn du mußt wissen, Gerd, ich bin ein bißchen weich und hab' mich
nicht so in der Gewalt wie Sine.«

»Was meinst du, Gerd, wollen wir ihr den Gefallen tun?« fragte Sine.

»Ja, man zu,« antwortete er lächelnd, »wir sind ihr ja auch etwas Dank
schuldig, ohne sie hätten wir uns ja nie gekriegt.«

»Na gut,« wandte die ältere sich an die eine halbe Stunde jüngere,
»denn kannst du mit uns Hochzeit halten. Das heißt, wenn Jan
einverstanden ist.«

»Der?« rief Becka. »Der ist jetzt überstimmt: Drei gegen einen. Ob er
will oder nicht, er muß!« -- --

Als die drei den Heimweg angetreten hatten und aus dem Eichenschatten
des Dorfes ins Freie kamen, mußten sie auf der Höhe der Geestdüne
stehenbleiben. Denn der Himmel stand über ihrer Moorheimat in
flammenden Gluten, so stark und tief in den Farben, daß selbst der
Blick dieser Leutchen, die an die prächtigen Sonnenuntergänge über
ihrem wasserdunstgeschwängerten Lande von Kind an gewöhnt waren,
gebannt wurde. Ein leuchtendes Rot von Heideblüten und Abendglanz lag
über dem weiten wilden Moor, der Wasserzug neben dem Rodenburger Damm
lief wie eine Straße von funkelndem Gold zu den fernen Dörfern, deren
baumumhegte Reihen klar und scharf gegen den purpurnen Himmelsgrund
standen.

»Könnt ihr singen?« fragte Gerd, als sie eine Weile schweigend
hingeschaut hatten.

»Oh, ein bißchen wohl,« sagte Sine.

Er schob die Hände unter die Arme seiner beiden Begleiterinnen und
stimmte an: »Goldne Abendsonne, wie bist du schön.« Als die Mädchen
einfielen, ging er schnell in die zweite Stimme über. Sie konnten
nicht bloß den ersten Vers, sondern die anderen auch.

Als das Lied verklungen war, drückte er die beiden runden Mädchenarme
an sich und rief hocherfreut: »Deerns, das geht ja fein. Ihr könnt's
beinahe so schön, wie meine Schwester Leidchen. Schade, daß die heute
nicht hier ist.«

»Und mein Jan,« fügte Becka hinzu.

Sie setzten ihren Weg fort und schritten in das Moor hinunter, über
dem die Farbenpracht inzwischen stark verglüht war. Es währte nicht
lange, so begann er: »Die Liebe macht glücklich, macht selig,« und die
Mädchen jubelten mit: »Die Liebe macht arm und reich, die Liebe macht
Bettler zum König, die Liebe macht alles gleich.« »Juhuhuh!« juchzte
er, als das Liedchen aus war, packte zu und schwenkte sein zappelndes,
kreischendes Sinchen mit starken Armen hoch in die Luft.

»Becka meinte, du wärst einer von den Sinnigen,« sagte sie, sich die
Kleidung zurecht zupfend, »du bist ja ein ganz Wilder.«

»Du kannst alle Jungens in Brunsode fragen,« rief er lachend, »die
werden dir sagen, daß ich ein ducknackiger Drögepeter bin.«

»Na, die kennen dich aber schlecht.«

»Ist möglich.«

Und wieder klang ein Lied:


  »Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten,
  Schön ist die Jugend, ja, sie kommt nicht mehr.
  Sie kommt nicht mehr, nicht mehr,
  Kehrt niemals wieder her,
  Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.

  Ich hatt' einen Weinstock, und der trug Reben,
  Und aus den Reben floß süßer Wein.
  Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja,
  Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.

  Ich hatt' einen Rosenstock, und der trug Rosen,
  Und aus den Rosen floß süßer Duft.
  Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja,
  Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.

  Man liebt die Mädchen bei frohen Zeiten,
  Man liebt sie nur zum Zeitvertreib.
  Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja,
  Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.«


»Man liebt euch Mädchen bei frohen Zeiten, man liebt euch nur zum
Zeitvertreib!« rief Gerd. »Wißt ihr was, Deerns? Am liebsten heiratete
ich euch alle beide!«

»Pfui, so'n Türke!« sagte Becka und gab ihm einen Stoß in die Rippen.

Er aber hob die Arme, schlug den linken um Beckas, den rechten um
Sines Nacken, riß ihre Köpfe zusammen und küßte beide wahllos ab.
Kreischend und lachend suchten sie sich ihm zu entwinden, aber seine
stählernen Arme ließen nicht locker.

Als er sie endlich freiließ, sagte Becka, sich die zerzausten Haare
ordnend: »Du bist ja 'n ganz Schlimmer. Sine, so einen nähm' ich
nicht, um kein Geld!«

»Hast du noch nicht genug, lüttjer Satan?« rief er, auf sie
zuspringend.

»Ja, Ja!« schrie sie, ihm entschlüpfend.

»Du kriegst'n paar überher,« sagte er, Sine in die Arme schließend.
Es wurde aber noch ein halbes Dutzend draus.

»Wart' man,« drohte Becka mit der zur Faust geballten kleinen Hand,
»wenn ich das meinem Jan sage, kommt der dir aufs Fell.«

»Haha,« lachte Gerd, »in der Familie darf man das so genau nicht
nehmen. Er kann mein Sinchen dafür mal wieder küssen.«

»Ich wollt' ihm!« rief Becka. »Das hätt' ich bloß ahnen sollen, daß
du so'n böser Bruder bist! Sine, willst du ihm seinen Ring nicht
wiedergeben?«

»Werd' mich hüten!« kicherte sie und schmiegte sich zärtlich an ihn.
»Es ist mir so lieber, als wenn er ein alter Drögbäcker wär'.« --

Sine wollte für die Nacht bei der Schwester mit unterkriechen und
Gerd begleitete die beiden bis vor Beckas Haustür. Nach einer letzten
Umarmung, bei der Becka jetzt aber leer ausging, schritt er eilig
auf dem Fußpfad über die Gehöfte heimwärts, um zur Bremerfahrt zu
rüsten. Nur vor dem weitgeöffneten Tor von Heini Pepers Tanzdiele
blieb er einen Augenblick unter den halbwüchsigen Gaffern, die noch
nicht hinein durften, stehen. Der Ernteball war in vollem Gange, die
Musikanten strichen und bliesen für Gewalt, und die Mädchen des Dorfes
und der Nachbarkolonien flogen schön geputzt und mit glühenden Wangen
in den Armen ihrer Tänzer an ihm vorüber. Alles, was Lust zum Freien
hat, dachte Gerd bei sich, ist hier versammelt. Ob nicht vielleicht
eine drunter ist, die du am Ende doch lieber genommen hättest? Die
Hände in den Hosentaschen vergraben, fragte er sich bei jeder, die
vorüberwalzte, ob er sie gemocht hätte. Aber jedesmal hieß es in ihm
Nee, das eine Mal leiser, das andere Mal lauter, und ein paarmal
hätte er beinahe ausgespuckt. Seine Wahl bestand diese Probe auf
das glänzendste, und sehr befriedigt wandte er Heinis Ernteball den
Rücken. --

Drei Stunden später befand er sich auf der Hamme, die sich unter
bewölktem Himmel mattgrau durch die Nacht wand. Wenn man aber genauer
hinsah, zogen leichte Wellen über ihren Spiegel. So war es auch in der
Seele des jungen Schiffers wie ein leises Wellenatmen, aber zuweilen
gingen auch hohe Wogen, und dann faßte er die schwere Eichenstange
fester, und stieß und schob, daß sein Schiff rauschend dahinflog. Und
als endlich das schlafähnliche Dösen über ihn kam, blieb ganz in der
Tiefe etwas wach. Das war die Freude. Sie war jetzt still geworden,
ganz still, aber ganz einschlafen konnte sie nicht. --

                   *       *       *       *       *

Wie hätte Gerd es an diesem Montag aushalten können, der Schwester
so nahe zu sein und sie nicht zu besuchen! Wenn Mutter Marwede auch
brummte, da machte man eben ein dickes Fell.

Er hatte sich das so schön vorgestellt, Leidchen den gestrigen
Nachmittag zu schildern und dabei alles noch einmal wieder zu
durchleben. Als er aber in der Küche vor ihr saß, wollten ihm die
rechten Worte nicht auf die Lippen, und mit Stocken und Drucksen kam
nur ein ziemlich farbloser Bericht zustande.

Aber die Schwester kannte den Bruder.

»Lieber Junge, du bist wohl sehr glücklich ...« sagte sie bewegt.

Da blickte er auf, und all das, was in die Worte nicht hatte hinein
wollen, strahlte und jubelte ihm aus den grauen Augen. Und er sprang
auf die Füße, schloß sie in seine Arme und küßte sie.

»Nicht wahr, Leidchen, du freust dich mit mir?« rief er, indem er sie
losließ. »Aber Deern, was ist das? Du weinst? Was ist dabei denn zu
weinen? ... Gönnst du mir das nicht?«

»Oh, von Herzen,« schluchzte sie, das Gesicht in der Schürze bergend.

»Aber was heulst du denn? Aha, du denkst: wenn ich man auch erst so
weit wär'! Aber Deern, du bist ja noch so jung ... Nun laß das Weinen
aber und spar deine Tränen, bis du sie nötiger brauchst ... Ich denk',
lang' wird er dich auch nicht mehr zappeln lassen. Bei Gelegenheit
will ich ihm mal 'n kleinen Wink geben.«

Leidchen stampfte mit dem Fuße auf und rief leidenschaftlich: »Um
Gottes Willen, Gerd, komm mir nicht immer mit der alten Geschichte!
Ich werd' dir sonst wirklich böse.«

Er lachte über das ganze Gesicht.

»Ihr Frauensleute seid ein wunderlich Volk. Ihr stellt euch immer, als
ob ihr uns Mannskerls nicht ausstehen könntet. Und doch tut ihr nichts
als auskucken, ob wir noch nicht kommen. Laß ihn nur erst ernsthaft
kommen! Ich seh' schon, wie meine lüttje widerhaarige Schwester sich
ihm an den Hals wirft und ruft: ›O wie gern! O wie gern!‹«

»Gerd!« stieß sie gequält heraus.

»Du weißt, Leidchen,« fuhr er fort, »ich bin ein ruhiger Mensch, ein
Drögepeter, wie du früher manchmal sagtest. Ich hätte niemals gedacht,
daß es mich so packen und unterkriegen könnte. Ich weiß wirklich
nicht: ist die Welt auf den Kopf gestellt, oder bin ich's, oder sind
wir beide umgekrempelt? Wie es eigentlich ist, kann ich dir überhaupt
nicht beschreiben. Na, du lernst das ja auch wohl noch mal kennen.
Wenn's erst über dich kommt, Leidchen -- da mag ich überhaupt nicht an
denken. Du hast viel mehr Lebenslust als ich und viel hitzigeres Blut.
Wie es dir gleich in die Backen schießt! Aber wir wollen den Teufel
lieber nicht an die Wand malen.«

Er hatte sich wieder gesetzt und erzählte, vor sich hinsehend,
wie er sein künftiges Heim gefunden, was es kosten sollte, welche
Aufwendungen er machen müßte, um es leidlich instand zu setzen, und
was für Arbeiten die dringendsten wären. Nach Ostern sollte es dann
eine Doppelhochzeit geben, nicht allzu groß, aber sehr gemütlich.
Ein gewisser Jemand, der flott tanzen könne, würde natürlich auch
eingeladen, fügte er, mit den Augen plinkernd, noch hinzu.

Als er sich darauf erhoben hatte, um zu gehen, hielt Leidchen ihn an
der Jacke fest und bat, er möchte noch einen Augenblick bleiben.

»Wozu?« fragte er, sie verwundert ansehend.

Sie wich seinem Blick aus.

»Deern, du machst ein Gesicht, als ob du mir noch was sagen wolltest.
Denn man heraus damit! Ich komm fürs erste doch wohl nicht wieder.«

»Och geh man. Es ist nichts Besonderes.«

»Na denn adjüs, Leidchen!« Er hatte ihre Hand genommen, die er kräftig
drückte, und sagte, unter behaglich breitem, herzfrohem Lachen:
»Leidchen, sonst warst du von uns beiden immer die vergnügteste. Es
scheint, nun bin ich erst mal an der Reihe, und das ist ja auch nicht
mehr als recht und billig. Aber darüber brauchst du dir keine graue
Haare wachsen lassen. Das kommt auch noch mal wieder herum. Bleib
hübsch munter.«

Als er, nach einem langen zärtlichen Blick, zur Tür hinaus war, lief
ein Zittern über ihre Gestalt. Sie sank auf einen Stuhl und starrte
ein paar Sekunden vor sich hin. Dann raffte sie sich auf, fuhr mit der
Hand über das Gesicht und ging an ihre Arbeit.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Tage nach Feierabend ging Gerd in das Schulhaus, wo er
die Geschwister in der Wohnstube fand und sich zu ihnen an den Tisch
setzte.

Er begann mit dem Wetter, sprach dann vom Wasserstand der Hamme und
von dem Unglück in einem Nachbardorf, wo ein Knecht die Hand in die
Häckselmaschine gekriegt hatte, und sagte endlich auch so beiwegelang,
er hätte sich vor zwei Tagen verlobt. Da wurden von beiden seine Hände
gepackt und tüchtig gedrückt, und als er Sine Wischhusen nannte,
ging's noch mal wieder los; denn Mariechen Timmermann kannte ihre
Schwester Becka und schätzte sie sehr.

Als er endlich sein Teil empfangen hatte, sagte Herr Timmermann
lächelnd: »Du kannst uns auch gratulieren.«

Gerd machte ein erschrockenes Gesicht und fragte: »Auch zur Verlobung?«

Der Lehrer nickte: »Ja, meine Schwester hat sich Sonntag mit dem
Kollegen Brinkmeyer in Asendorf verlobt.«

»Ach so ... denn gratulier' ich auch viel-, vielmals,« sagte Gerd, die
kleine Hand der glücklichen Braut zwischen beide Pranken nehmend.

Der andere hatte sich erhoben. »Solche Doppelverlobung muß würdig
gefeiert werden,« rief er, »wir wollen unseren Weinkeller austrinken.«

»Weinkeller ... wie das großartig klingt!« lachte hinter dem
Hinausgehenden die Schwester. »Der gute Junge hat mal als Seminarist
in Bederkesa dem unbegabten Sohn eines Kaufmanns Rechenstunden
gegeben, fünf Groschen die Stunde, und zum Abschied hat der dankbare
Vater ihm drei Flaschen Mosel geschenkt. Davon ist noch eine übrig
geblieben.«

Sie stand auf und holte drei dicke Wassergläser, die sie mit den
Worten auf den Tisch stellte: »Richtige Weingläser muß die Aussteuer
erst bringen.«

Bald klappten dieselben auf das Wohl der beiden Brautpaare hart
und klanglos gegeneinander. Und alle drei schmeckten andächtig zu,
machten Gesichter, als ob sie alte Weinkenner wären und nickten sich
wohlgefällig an. »Ein guter Tropfen,« lobte der Spender.

Der Wein war stark sprithaltig, und es dauerte nicht lange, so hatten
sie alle drei rote Köpfe.

Da bekam Gerd auf einmal Courage und fragte, zu Fräulein Mariechen
gewandt: »Will Ihr Bruder denn nicht auch bald Anstalt machen?«

Sie lachte: »Nun, wo ich mich verlobt habe, soll er wohl müssen.
Wissen Sie keine für ihn?«

Er wurde noch roter und stamerte: »Das ist nicht so leicht. Für 'ne
Lehrerfrau paßt sich längst nicht jedes Mädchen.«

»Ich wüßte wohl eine,« sagte sie, und der Schelm lachte ihr aus den
Augen.

»Daß du mir reinen Mund hältst!« rief ihr Bruder, mit aufgehobenem
Finger drohend.

»Ach Otto, warum sollen wir Gerd nicht ins Vertrauen ziehen? Die Sache
muß ja doch endlich mal in Fluß kommen.«

Da er sich drein zu ergeben schien, wandte sie sich wieder zu Gerd und
sagte flüsternd, die Hand schräg gegen den Mund haltend: »Mein Bruder
hat Ihre kleine Schwester gern, und ich kann mir auch keine nettere
Frau für ihn denken. Was meinen Sie, könnte daraus wohl etwas werden?«

Gerd strahlte über das ganze Gesicht.

»Von Herzen gern.«

»Und Leidchen?«

»Oh, so ganz von gestern bin ich auch nicht. Ich hab' schon länger
Mäuse gemerkt und sie sogar mit ihm aufgezogen.«

»Und sie?«

»Och, sie ist noch'n bißchen jung und hat für die Liebe noch keinen
rechten Sinn. Aber wenn er Ernst macht, sagt sie gewiß nicht nein.
Dazu ist sie viel zu vernünftig ... Soll ich sie mal 'n bißchen
vorbereiten?«

»Um alles nicht!« rief Herr Timmermann entsetzt.

»Na ja, es ist am Ende auch am besten, ihr macht die Sache unter euch
ab. Leidchen ist 'ne ganz komische Deern, wie ich noch keine getroffen
habe. Wenn ich etwas von ihr will, tut sie meist just das Gegenteil.
Sie wär' imstande und sagte nein, bloß um mir'n Tort anzutun.«

»Ja, ja, das kommt davon. Du hast sie zu lange unter der Fuchtel
gehalten ... Kommt sie wohl bald mal nach Hause?«

»Was ich weiß, nein.«

»Nun, dann reise ich im Lauf der nächsten Wochen vielleicht mal hin.«

Gerd rieb sich vor Freude die Hände. »Wenn's kommt, kommt's auf den
Haufen, und diesmal ist's das Glück. Ich glaube, jetzt stoßen wir auch
noch auf das dritte Brautpaar an.«

»Halt, so weit sind wir noch nicht.«

»Vivat hoch!« rief Gerd, und die Gläser klappten zusammen. »Daß die
Sache wird,« meinte er großartig, »dafür kann ich garantieren.« »...
Glaub' ich wenigstens,« fügte er dann etwas bescheidener doch hinzu.
»Die Deern müßte ja doll und dumm sein, wenn sie nicht mit beiden
Händen zugriffe.«




                                  15.


Die Fünfundsiebziger waren ins Holsteinische gefahren, zu den großen
Herbstübungen.

Leidchen entführte abends die Zeitungen auf ihre Dachkammer und las
die spaltenlangen Manöverberichte nebst strategischen Betrachtungen
mit Sorgfalt und Gründlichkeit. Dann nahm sie auch wohl eine
Photographie aus der Kommode, auf der ein schmuckes Pärchen zu sehen
war. Sie hatten das Bild einmal von einem ländlichen Schützenfest
mitgebracht. Auch zwei Postkarten betrachtete und las sie oft genug;
denn sie sandten ihr »1000 Gr. u. K.« Die eine zeigte eine hübsche
ostholsteinische See- und Waldlandschaft. Die andere gefiel ihr
weniger gut. Da drückte ein Mädchen mit der linken Hand die Schürze
vor die weinenden Augen, während sie mit der rechten einen Soldaten
zu halten suchte, der sich mit lachenden Augen und, wie es schien,
leichten Herzens losmachte, um den Kameraden nachzueilen, die schon
die Straßen hinabzogen. Bei diesem Bilde fühlte sie bald etwas
wie Eifersucht, bald auch wunderliches Mißbehagen, über das sich
Rechenschaft zu geben sie vermied.

Hermann hatte ihr vor dem Ausrücken ins Manöver versprochen,
wenigstens jeden zweiten Tag zu schreiben, so daß sie eigentlich vom
Morgen bis zum Abend in Erwartung des Briefboten lebte, der dreimal
des Tags die Runde machte. Aber nur zwei Karten waren in vierzehn
Tagen eingetroffen. Wenn die Hoffnung auf ein Lebenszeichen sie wieder
einmal getäuscht hatte, war sie auf den Wortbrüchigen beinah etwas
böse. Aber sie entschuldigte ihn jedesmal schnell. Er hatte ihr ja
erzählt, wie's in so einem Manöver herging, und die Zeitung berichtete
von langen Märschen bei Tag und bei Nacht und von großer Ermüdung der
Truppen.

Eines Abends nahm sie ihr Myrtenbäumchen vom Fenster und stellte es
vor sich auf die Kommode. Als sie die Blätter genauer betrachtete,
machte sie auf einmal große erschrockene Augen. Die glänzend grünen
Blättchen waren zusammengeschrumpft und gekräuselt, das Bäumchen
schien dem Tode verfallen. Mit schmerzlichem Gesicht begoß sie es
reichlich, um es dann schnell wieder an seinen Platz zu stellen und
sich von dem vorwurfsvollen Anblick ihres vernachlässigten Pfleglings
zu befreien.

Dann setzte sie sich auf den Bettrand und blickte starr vor sich hin.

Auf einmal kam eine angstvolle Unruhe über sie. Sie faltete und rang
die Hände, streckte sie von sich und preßte sie gegen die Brust, fuhr
steil in die Höhe und wanderte das Zimmer auf und ab, öffnete das
Dachfenster und stieg auf ihren Stuhl, um die hereindringende frische
Herbstluft an der Quelle zu schöpfen.

Wenn sie doch nur seine Adresse wüßte! Dann hätte sie sich hinsetzen
und in einem Brief ihm ihr Herz ausschütten können ...

Plötzlich trat ein Ausdruck von Entschlossenheit in ihre Züge, sie
wollte an seine Eltern schreiben, und in blitzschneller Folge drängten
sich ihr die Gedanken und Sätze auf. Sie nahm einen Briefbogen,
den sie sorgfältig mit Ort, Straße, Hausnummer und Datum versah.
Aber schon die Anrede ließ sie scheitern. Wie sollte sie schreiben?
»Geehrter Herr Vogt und Frau«? Das klang so kalt. »Liebe Eltern«? das
ging doch auch nicht gut, solange Hermann nicht mit ihnen gesprochen
hatte. Nächsten Montag wurde er ja zur Reserve entlassen, und dann
mußte er das sofort tun.

Sie stützte den Kopf in die Hände, Sorgen und quälende Gedanken
umdüsterten ihre weiße Stirn. Auf einmal heiterte ihr Gesicht sich
auf, sie griff schnell zur Feder und schrieb:


                            »Lieber Bruder!

  Als Du das letztemal hier warst, habe ich mich sehr gewundert. Du
  warst knapp wiederzuerkennen, so hattest Du Dich verändert. Ja, mit
  der Liebe ist das ein wunderlich Ding.

  Du denkst nun natürlich: Was weiß die dumme Deern davon? Lieber
  Bruder, ich weiß mehr davon als Du denkst. Denn auch meine Stunde
  hat geschlagen.

  Du wirst dich sehr wundern, aber ich bitte Dich, behalte ruhig Blut
  und sei mir nicht böse. Vergiß nicht, was Du mir versprochen hast:
  in diesem Stück wollten wir uns beide ganz und gar zufrieden lassen.
  Ich freue mich mit Dir, freu Du Dich mit mir!

  Du wirst nun gerne wissen wollen, wer es ist. Als ich im Sommer mal
  im Bürgerpark spazieren ging, traf ich unseren alten Schulkameraden
  Hermann wieder, und wir beide sind eins geworden, daß wir ein Paar
  werden wollen. Die Hochzeit soll noch vor Weihnachten sein, denn
  wir sind ja beide alt genug, er über dreiundzwanzig und ich bald
  neunzehn, und jung gefreit hat noch niemand gereut.

  Du hast von Kindesbeinen an einen Pik auf Hermann gehabt, und das
  ist beinah das einzige, was ich nie an Dir leiden mochte. Du kannst
  doch nicht verlangen, daß alle Menschen genau so sind wie Du. Glaub
  mir, Gerd, ich kenne ihn besser als Du und weiß auch, daß er seine
  Fehler hat, gerade so wie ich und Du und alle Menschen. Aber im
  Grunde ist er nicht unrecht, und die Hauptsache ist, er hat mich
  schrecklich lieb, und ich ihn desgleichen. Wir beide haben uns
  gerade so lieb, wie Du und Sine euch habt, und darum darfst Du nun
  auch keine Widerworte machen. Lieber Bruder, Du hast mir viel Gutes
  getan und sozusagen Vater- und Mutterstelle an mir vertreten. Nun
  tu mir auch die Liebe an, daß Du mir hierzu Deinen Segen gibst. Ich
  kann nicht eher wieder ruhig werden, als bis Du mir geschrieben hast.

  Ich freue mich so, daß Du Dir die Stelle am Achterdamm gekauft hast.
  Sie ist ja von unserer abgeteilt und hat vor vierzig Jahren noch
  dazu gehört, wie Hermann mir erzählt hat. Wie schön ist das, daß wir
  beide, die wir immer so treu zusammengehalten haben, wie man es bei
  Geschwistern nicht häufig findet, nun  für das ganze Leben Nachbarn
  werden sollen! Und ich denke, wir wollen die beste Nachbarschaft
  halten. Dein Sinchen will ich tüchtig lieb haben, und wenn die beiden
  Alten mich mal ärgern, wutsche ich schnell zu Euch hinüber, und Ihr
  tröstet mich. Aber das wird wohl gar nicht nötig sein, ich gehöre
  nicht zu denen, die immer gleich den Kopf hängen lassen, ich will die
  alten Brummbären wohl zahm kriegen.

  Hermann spricht immer sehr nett und lieb von Dir und trägt Dir gar
  nichts nach. Ihr müßt noch die besten Freunde werden, eher laß ich
  Euch keine Ruhe. Jetzt ist er im Manöver und hat mir schon zweimal
  geschrieben.

  Schreibe bald wieder, oder noch besser ist's, Du kuckst mal vor,
  wo Du jetzt gewiß doch oft mit Torf in die Stadt kommst. Vor Frau
  Marwede brauchst Du keine Bange zu haben, die hat mich die längste
  Zeit geärgert. Die wird schöne Augen machen, wenn sie erst Bescheid
  weiß!

  Es grüßt Dich in Liebe

                                        Deine Schwester Leidchen.«


Beim Schreiben wurde ihr leicht und froh ums Herz, und als sie den
Brief noch einmal durchflog, gefiel er ihr sehr gut. Wehmütig lächelnd
dachte sie daran, wie einst in der Schule Lehrer Timmermann, wenn er
allerlei erdachte Fälle in Briefen behandeln ließ, unter die ihren
fast immer eine schöne rote 1 setzen mußte.

Sie beschloß, den Brief, nachdem sie ihn mit Umschlag und Adresse
versehen hatte, noch in den nächsten Postkasten zu stecken, und machte
sich auf den Weg.

Aber auf der Straße kamen ihr Bedenken. Gerd hatte ja seine
besonderen Pläne mit ihr, und sein Widerwille gegen Hermann war tief
eingewurzelt. Wenn er sich zwischen sie und ihn steckte, konnte er das
größte Unheil anrichten.

Ach was, sagte sie sich dann wieder, er weiß jetzt ja selbst, wie's
verliebten Leuten ums Herz ist, und muß endlich wissen, wie die Dinge
liegen, und schob den Brief in den Schlitz des blauen Kastens.

Aber auf einmal zog sie ihn wieder heraus. Es war am Ende doch besser,
mit dem Absenden bis morgen zu warten.

Der Brief wurde aber am nächsten Tage nicht abgeschickt und auch die
folgenden nicht. Es erschien ihr nun auf einmal wieder leichter und
vorteilhafter, die Angelegenheit mündlich mit dem Bruder abzumachen.
Er konnte ja jeden Tag mal wieder bei ihr vorsprechen, und so wartete
sie fortan auch auf ihn.

                   *       *       *       *       *

Der schöne, warme Herbstsonntag hatte Scharen von Menschen ins Freie
gelockt. Wie eine Völkerwanderung wogte es die breite Allee dahin,
Schüler, Liebespärchen, junge Eheleute, ihren Erstling zwischen sich
oder im Wägelchen schiebend, behäbige Bürgerfamilien mit allerlei
Anhang, alles in behaglichster Sonntagnachmittagstimmung.

Da, wo die Allee den Bürgerpark erreicht, stand ein junges Mädchen
mit suchenden Augen und ließ den Strom an sich vorüberziehen.

Hinter einer breit watschelnden Madam blitzten Uniformknöpfe auf.
Die Wartende trat hastig ein paar Schritte vor, blieb dann aber
enttäuscht stehen. Es war ein Fremder, der mit seinem glücklich zu ihm
aufschauenden Mädchen daherkam.

Die Uhren in der Stadt schlugen halb. Es war töricht, jetzt schon so
angestrengt zu warten. Sie hatten vor dem Manöver ja verabredet, sich
um vier am Holler See zu treffen. Vor der ausgemachten Zeit war er nie
gekommen, aber stets militärisch pünktlich auf die Minute.

Leidchen setzte sich auf eine Bank, die eben frei wurde, von der aus
sie den Menschenstrom im Auge behielt. So oft eine Uniform auftauchte,
klopfte ihr das Herz.

Ein bejahrtes Ehepaar kam angewandelt und ließ sich freundlich nickend
zu ihr auf der Bank nieder.

»Sie warten wohl auf jemand, liebes Fräulein?« fragte der alte Herr
nach einer Weile.

Leidchen sah in ein vertrauenerweckendes, gütiges Großvatergesicht,
das ein kurzgeschnittener silberner Backenbart umrahmte. »Ja,« sagte
sie erleichtert aufatmend, »mein Bräutigam muß jeden Augenblick
kommen.«

Der alte Mann lächelte fein, wie aus glücklicher Erinnerung heraus,
legte seiner greisen Lebensgefährtin die Hand aufs Knie und trällerte
leise: »Im Rosengarten will ich deiner warten, im grünen Klee, im
weißen Schnee.« Und in den umschleierten, tief in Falten eingebetteten
Augen der würdigen Matrone erschien das gleiche erinnerungsselige,
stille Lächeln. Es war Leidchen, als müßte sie die beiden Leutchen
sehr lieb haben.

Vier Uhr schlug's von den Türmen, und sie sandte einen langen Blick
die Allee hinunter.

»Ihr Schatz scheint nicht recht pünktlich zu sein,« sagte der alte
Herr, seine Uhr ziehend. »Als ich noch jung und schön war, hab' ich
mein Lieb nicht so lange warten lassen. Nicht wahr, Oma?«

»Er ist Bursche bei einem Hauptmann,« sagte Leidchen, den Säumigen
entschuldigend, »der hat ihn wohl nicht früh genug laufen lassen.«

»Ach so ... ja, ja ... und überhaupt die Herren Soldaten ...«

Sie unterbrach ihn schnell: »Wir beide sind aus einem Dorf und haben
uns schon von der Schulbank her gern. Mein Bräutigam ist der Sohn von
unserm Müller und erbt mal die Mühle, eine große, starke Windmühle,
und eine Stelle von sechzig Morgen dazu.«

»Das ist was anderes,« sagte der Alte achtungsvoll.

»Und die Hochzeit,« fuhr Leidchen fort, »soll noch vor Weihnachten
sein. Ich freu' mich mächtig, daß ich wieder in unser Moor komme, hier
in der Stadt mag ich gar nicht sein.«

»Aber ich bitt' Sie, liebes Kind, unser Bremen! ...«

»Nee, nee, bei uns im Moor ist's viel schöner, zehnmal so schön!« Und
sie berichtete vom Torfbacken daheim und vom Heuen an der Hamme und
von der Spinnstube winternachmittags. Als sie mit klagender Stimme
erzählte, daß beide Eltern ihr früh gestorben wären, sah die alte Dame
sie mitleidig an, und da begann sie, ihrem Bruder Gerd ein Loblied zu
singen. Er wäre so ganz anders als die anderen jungen Leute im Dorf,
läse viel in Büchern, auch in sehr schweren; was er an ihr getan
hätte, in kindlichen Jahren und auch später, das könnte sie niemals
wieder gut machen. Jetzt wäre er auch verlobt und hätte sich vom
Ersparten eine kleine Stelle von achtzehn Morgen gekauft. So plauderte
sie drauflos, wie das Rieselwasser am Klappstau; denn wenn sie
aufhörte, fürchtete sie, würden die beiden aufstehen und weitergehen,
und ihr war doch lange nicht so wohl gewesen wie unter dem stillen
Blick der gütigen alten Augen, und sie empfand es überaus wohltuend,
daß sie sich nach den einsamen drei Wochen endlich einmal aussprechen
konnte. Und die lieben alten Menschen lächelten, nickten, stellten
Fragen, machten kleine Scherze und hatten viel Geduld, ihr zuzuhören.

Zuletzt war diese aber doch wohl zu Ende, sie erhoben sich, drückten
ihr herzlich die Hand, wünschten vergnügte Hochzeit und glücklichen
Ehestand und gingen. Leidchen sandte ihnen warme Blicke nach, bis sie
um eine Rhododendrongruppe verschwanden, und dachte: wenn sie statt zu
Marwedes zu solchen Leuten ins Haus gekommen wäre!

Da schlug's schon halb fünf! Warum in aller Welt mochte Hermann so
lange auf sich warten lassen?

Sollte sie sich in Ort und Zeit geirrt haben? Unmöglich! Sie hatte
sich beide ja fast stündlich wiederholt.

Und er konnte die Verabredung doch auch nicht falsch verstanden oder
vergessen haben. Dann verdiente er ja ...

Vielleicht konnte er nicht abkommen, weil sein Hauptmann wieder
mal Gesellschaft gab, wodurch früher einmal eine Verabredung
hinfällig geworden war. Aber am Tag nach dem Manöver? Das war sehr
unwahrscheinlich.

Oder? ...

Sie erschrak vor diesem Oder und taumelte davor zurück wie vor einem
Abgrund.

Nein, und abermals nein, und tausendmal nein!

Lieber glauben, daß in einer Viertelstunde die Welt untergeht, als
dies!

Warum hatte er aber sein Versprechen, jeden zweiten Tag einen Gruß zu
schicken, so schlecht gehalten?

Und war er die letzten Wochen vorm Manöver nicht manchmal so ganz
anders gegen sie gewesen wie im Anfang, gleichgültiger, kälter?

Ach nein, das schien ihr jetzt gewiß nur so, und er hatte ja damals
auch alle Hände voll zu tun gehabt. Beim Abschied, wie hatte er sie da
wieder geküßt und an sich gedrückt ...

Aber warum ließ er sie denn jetzt so warten, warum kam er nicht?

Die Turmuhren verkündeten eine Viertelstunde nach der anderen. Die
wilden Tauben flogen zu ihren Schlafplätzen, auf dem Teich, der im
Widerschein rosiger Abendwolken glänzte, zogen Schwäne ruhevoll ihre
schimmernde Bahn. Die Mehrzahl der Spaziergänger war jetzt stadtwärts
gewendet.

Ein junger Mann blieb fade lächelnd vor ihr stehen, drehte seinen
Schnurrbart, lobte das hübsche Wetter und die weißen Schwäne und
wollte sich vertraulich zu ihr setzen.

Da stand sie auf und befand sich bald in dem bunten Strom, der sich
der Stadt zu bewegte.

Vor ihr pilgerten zwei tagenbarne Bürgerfamilien, die sich eben erst
getroffen haben mochten und ihre Unterhaltung recht laut führten, wie
Leute, die ihrer Gesinnungstüchtigkeit, Steuerkraft und sonstigen
Bedeutung für das Gemeinwesen sich voll bewußt sind. Leidchen hörte
zuerst nicht hin, bis der dickere der Väter, ein Mann mit rotem
Gesicht und gutmütigen Kulpsaugen, bedauernd sagte: »Das arme Ding, es
kann einem herzlich leid tun,« und eine blecherne Stimme, die unter
einer spitzen weiblichen Nase hervorkreischte, entgegnete: »Sie ist
selber schuld daran, sie hat's nicht besser haben wollen.«

Diese Worte brannten sich ihr wie glühendes Eisen in die Seele, es
war, als wollten die Füße ihren Dienst versagen.

Hinter der Bahnunterführung teilte sich die Menge hierhin und dorthin.

Jetzt nach Hause? Mit der qualvollen Ungewißheit auf die enge
Dachkammer, der langen Nacht entgegen?

Um alles nicht! Sich zusammenraffend schlug sie mit entschlossenen
Schritten die Richtung nach dem südöstlichen Stadtviertel ein, wo
in einer der Straßen, die rechtwinklig auf den Weserdeich stoßen,
Hermanns Hauptmann seine Wohnung hatte. Er selbst hatte sie ihr einmal
gezeigt.

Als sie nach längerem Suchen das Haus gefunden hatte, flog ihr Blick
zu dem Fenster seines Mansardenstübchens hinauf, das geöffnet war.
Dort oben war er heute nachmittag sicher nicht.

Im Kellergeschoß lag die schon erleuchtete Küche, durch einen
dünnen Gazevorhang konnte man hineinsehen. Die Köchin stand am Herd
und summte eine fremde Weise. Der Späherin schaffte es eine leise
Genugtuung, daß die Person dick und häßlich war. Von dieser Seite
drohte gewiß keine Gefahr.

Leidchen zweifelte nicht daran, daß Hermann in die Stadt gegangen
war, und beschloß zu warten, bis er nach Hause käme. Morgen wurden
die alten Mannschaften entlassen, und vorher wollte und mußte sie ihn
sprechen, wenn sie auch die ganze Nacht hier warten sollte.

Sie schritt die vornehm ruhige Straße auf und ab, Bedacht nehmend,
daß sie sich nicht weiter als drei oder vier Häuser von dem, dessen
Tür sie bewachte, entfernte. Wenn einmal ein Schritt durch die Stille
klang, blieb sie stehen und spähte in die Richtung, woher er kam. Eine
Weile horchte sie, an ein Eisengitter gelehnt, auf das Klavier, das in
einem der Nachbarhäuser mit großer Fertigkeit gespielt wurde und ihr
leichter über eine halbe Stunde Wartens hinweghalf. Einmal stieg sie
den nahen Osterdeich hinan, und der kühle Hauch, der von drüben wehte,
der Blick auf den in der Tiefe ziehenden Strom und zum jenseitigen
Ufer hinüber, wo auf den Weiden Kühe im Nebel ruhten, taten wohl und
belebten ein wenig ihr Hoffen.

Die Uhr der nicht weit entfernten Friedenskirche rief die Stunden aus.
Eine Haustür nach der anderen wurde abgeschlossen. Fenster um Fenster
verdunkelte sich. Ein Schutzmann ging vorüber und sah der Wartenden
prüfend scharf ins Gesicht. Die Straße wurde immer einsamer und
stiller.

Vom Stehen und Gehen, von Hunger und Durst, von der stets neu
aufflackernden Hoffnung, wenn ein Schritt erschallte, und den darauf
folgenden Enttäuschungen wurde sie zuletzt so müde, daß sie sich kaum
noch auf den Füßen halten konnte. Durch das fiebernde Hirn jagten sich
Erinnerungen und Bilder: Die Bootfahrt durch die lichtgrünen Hallen
... das Hünengrab ... die schwüle Gewitternacht im Bürgerpark ...
die gütigen alten Augen vom Holler See ... die blecherne Stimme: sie
hat's nicht anders gewollt ... bis endlich eine große Öde und bleierne
Müdigkeit über sie kam und sie nach nichts mehr verlangte als nach
körperlicher Ruhe. Langsam, auf wehen, schwankenden Füßen, verließ sie
ihren Posten.

Aber die nächste Straßenecke hatte sie noch nicht erreicht, als
sie zusammenzuckte, stehenblieb und vornübergeneigt horchte.
Schwere Schritte klangen laut durch die mitternächtliche Stille. Im
Schein einer Laterne blitzen Uniformknöpfe und der Beschlag eines
Seitengewehrs.

Sie vertrat dem Ankommenden den Weg.

»Hermann!«

»L..l... leidchen, du hier?«

»Darüber wunderst du dich? Von halb vier an hab' ich auf dich
gewartet.«

»Pst, schrei doch nicht so, hier wohnen überall L... leute.«

»Gleich sagst du mir, wo du gewesen bist!«

»Pst, Deern, man sinnig, immer ruhig Blut. Du weißt doch, es ist heut'
der letzte Tag, daß ich Soldat bin. Morgen reisen meine Kameraden
in alle Welt auseinander. Da haben wir natürlich ein bißchen A...
abschied gefeiert.«

»Und du hast so viel getrunken, daß du kaum sprechen kannst.«

»Was? So'n kleines Vergnügen gönnst du einem nicht mal und lauerst mir
hier die halbe Nacht auf, um mich auszuschimpfen?«

»Oh, Hermann, wenn du wüßtest, wie ich mich nach dir gesehnt habe!«

»Das ist alles ganz gut und schön, aber jetzt mußt du mich
vorbeilassen. Es ist schon über die Zeit, ich fliege sonst zu guter
Letzt noch drei Tage in den Kasten.«

Sie gab ihm aber den Weg nicht frei. »Hermann ... ich muß dir ... noch
was sagen,« kam es abgerissen und stoßweise über ihre bebenden Lippen.

»Denn raus damit, aber fix!«

Sie näherte ihren Mund seinem Ohr und flüsterte hastig ein paar Worte.

Er lachte heiser auf: »Deern, du glaubst wohl, daß altes Militär sich
noch ins Bockshorn jagen läßt?«

Ihre Augen wurden groß und starr: »Es ist so gewiß wahr, als ich hier
vor dir stehe.«

Sein nägelbeschlagener Stiefelabsatz schlug auf die Steinfliesen, daß
der Schall die Straße hinabsprang und von einer Ecke zurückgeworfen
den gleichen Weg noch einmal machte. »Verdammte Bescherung!« knirschte
er zwischen den Zähnen und stieß sie unsanft von sich. Sie taumelte,
tastete nach dem Eisengitter und brach vor seinen Füßen zusammen.

Entsetzt und plötzlich ernüchtert beugte er sich zu der am Boden
Liegenden: »Aber Leidchen ... was machst du für Geschichten ... steh'
doch auf ... wenn jemand käme!«

Da sie kein Lebenszeichen von sich gab, ließ er sich zu ihr auf die
Steine nieder, hob ihren Kopf auf sein Knie, streichelte ihr Stirn und
Schläfen und rief sie beim Namen.

Nach einer Minute erwachte sie aus der Ohnmacht und schlug die Augen
auf.

»Aber Leidchen, mein liebes, süßes Leidchen, was hast du mich verjagt!
Vergib mir tausendmal, du mußt bedenken, das viele Bier ... die
Verführung ist zu groß in der Welt. Aber nun steh' auf ... wenn uns
einer hier sähe ... ich helf' dir. So--o ... siehste, es geht schon
wieder, stütz dich man fest auf mich, ich steh' jetzt schon wieder
ganz fest auf den Füßen und bringe dich nach Hause. Wir gehen über den
Osterdeich, da weht immer ein frischer Wind, der wird dir gut tun ...
Und was du mir da erst gesagt hast, bleib' ruhig, Kind, das ist ja
gar nichts Schlimmes, und ich bin darüber nur so erschrocken, weil es
so unverhofft kam, und weil ich ein bißchen zuviel getrunken habe.
Dann weiß der Mensch nicht, was er sagt und tut ... Ah! die frische
Luft von der Weser her ... nicht wahr, Kind, die tut dir wohl? ... Mir
auch, woll'n mal den Brustkasten ordentlich voll nehmen ... Kuck mal,
da fährt noch ein kleiner Dampfer, hat zwei Schleppkähne hinter sich,
kommen wohl von Minden, oder auch schon von Hameln ... Morgen früh
geht's ja nach Hause, das heißt, wenn ich nicht erst noch drei Tage zu
Vater Philipp muß, aber werd' man nicht bange, es hat ja noch immer,
immer gut gegangen. Was blinkt so freundlich in der Ferne? Es ist
das liebe Elternhaus. Sie werden sich erst wohl ein bißchen sperren,
aber das kann ihnen nun alles nichts mehr helfen. Weißt du, was so 'n
richtiger alter preußischer Militärsoldat ist, der steht auf seinem
Stück: Vorwärts mit Gott für König und Vaterland! Anders gibt's da
nichts, und wird nicht mit der Wimper gezuckt.«

»Hermann, Hermann, du machst so schrecklich viele Worte.«

»So? Ja, aber du hast mich auch zu schlimm verjagt. Ich hatte dich
doch man eben angetippt und pardauz lagst du da. Wenn das einer
gesehen hätte!«

»Und wann willst du mit deinen Eltern sprechen?«

»Natürlich gleich morgen abend.«

»Dann mußt du mir aber gleich schreiben.«

»Versteht sich. Oder ich komm' per Rad. Wie's gerade paßt.«

»Oder soll ich lieber übermorgen nachgereist kommen?«

»Nee, Leidchen, lieber nicht, mach' bloß keine Geschichten! Du bist
viel zu hitzig, und die Sache mit meinen Alten, weißte, die muß fein
eingefädelt werden, das muß einer kennen.«

»Und dann könntest du auch wohl gleich zu meinem Bruder gehen.«

»Ja, ja, wird gemacht.«

»Aber du sagst ihm bloß, daß wir uns verlobt haben und bald Hochzeit
halten wollen ... Alles braucht er nicht zu wissen.«

»Das mein' ich auch. Was er nicht weiß, das macht ihn nicht heiß.«

»Und wann soll die Hochzeit sein?«

»Wenn Vater und Mutter nur erst ja gesagt haben, kann die Sache gleich
vorwärts gehen. Ich denk', im November, oder sonst im Dezember. Das
ist ja wohl noch früh genug. Dann kannst du bei der Trauung auch noch
dreist 'n Kranz aufsetzen ...«

»... Was meinst du zu der Aussteuer? Bei uns im Moor sind in diesen
Monaten so viel Hochzeiten, und die Handwerksleute kommen nicht
dagegen an. Ich glaube, wir kaufen sie am besten fertig, im Kloster
oder auf dem Weiher Berg.«

»Wie du schon an alles gedacht hast!«

»Woran hat unsereins denn sonst zu denken? ... Beinahe dreihundert
Taler hab' ich von Mutter selig geerbt. Dafür ist schon allerhand zu
haben. Und einen Schrank voll Leinen hab' ich auch, von Mutterseite
her, und was ich mir selbst dazu gewebt habe.«

»Ja, das ist 'ne ganze Masse.«

»Viel ist's ja nicht für Leute, wie ihr seid, aber du hast ja immer
gesagt, ich brächte sonst allerlei mit, was für kein Geld zu kaufen
wäre. Sag' deinen Eltern, ich würde ihnen jeden Wunsch an den Augen
ablesen. Und du mußt auch immer nett gegen sie sein, Hermann, mußt
auch mal nachgeben und nicht immer mit dem Kopf durch die Wand wollen.
Es gibt nichts Schrecklicheres, als wenn in einem Hause die Alten
und Jungen nicht miteinander auskommen können, und dies Trauerspiel
wollen wir nicht aufführen ... Wenn du heut' nachmittag gekommen
wärst, hätten wir das alles viel ruhiger und gründlicher durchsprechen
können. Jetzt sind wir beide zu aufgeregt, ich von dem schrecklichen
Warten, und du? ... ach, es ist ja einerlei ...«

Sie war stehengeblieben und fuhr fort: »So, nun kann ich allein nach
Hause gehen.«

»Soll ich dich doch nicht lieber ganz hinbringen?« fragte er unsicher.

»Nein, du kannst gleich umkehren, meinetwegen sollst du nicht in
Arrest. Aber komm hier noch eben mit unter diese Laterne ... ich
möchte dir gern mal in die Augen sehen ... So ... Ach wenn ich dir
doch bloß ins Herz kucken könnte! ... Hermann, wenn du in deinem
Herzen beschlossen hast, mich in meiner Not zu verlassen, dann bitt
ich dich nur um eins: mach' gleich ganze Arbeit. Hier bei der Großen
Weserbrücke haben sie vorige Woche ein armes Mädchen aus dem Wasser
gezogen, das hatte auch ein schlechter treuloser Mensch in den Tod
getrieben. Hermann, wenn du deine Eidschwüre nicht halten willst ...
hier steh' ich und wehr' mich nicht, nimm das Messer, das du da an der
Seite hängen hast, und stich mich durchs Herz und wirf mich da hinein!«

»Leidchen, Leidchen,« rief er in fast weinerlichem Tone, »was
schnackst du da von Totstechen! Wie kannst du bloß so was von mir
denken? So bist du doch sonst nicht gewesen.«

»Nein, ~du~ bist sonst nicht so gewesen ...« sagte sie traurig.
»Wir haben uns drei Wochen nicht gesehen, und du hast mich noch nicht
mal geküßt.«

»Och Leidchen, das hab' ich ganz vergessen.«

»Ja, das hast du ganz vergessen ...«

»Aber wir können das ja nun zum Abschied nachholen.«

Sie schüttelte den Kopf: »Ach, laß man.«

»Leidchen, kannst du nicht vergeben? Hast du mich gar nicht mehr lieb?«

Da warf sie sich ihm stürmisch an die Brust und küßte ihn
leidenschaftlich. Dann sahen sie sich noch einmal mit langem Blick in
die Augen, ihre ineinander verschlungenen Hände lösten sich, und jeder
ging seinen Weg. Er in der Richtung, aus der sie gekommen waren, sie
über die Große Weserbrücke und den glitzernden Strom der Neustadt zu.




                                  16.


Frau Marwede vermied bei ihrem respektabeln Doppelzentnergewicht das
Treppensteigen nach Möglichkeit. Als das Fräulein aber gar nicht
erscheinen wollte und das Dienstmädchen auf ihr Rufen nicht kam,
arbeitete sie sich doch einmal, mit der rechten Hand am Geländer sich
emporziehend und mit der linken abwechselnd die Knie verstärkend,
in das Dachgeschoß hinauf. Sie wäre wohl mit lautem Morgensegen und
großem Hallo in Leidchens Kammer gebrochen, wenn der Atemmangel sie
nicht gezwungen hätte, erst mal erschöpft und hachpachend auf den
Stuhl vor ihrem Bett zu sacken. Inzwischen verrauchte ihr Zorn, nicht
ohne Wohlgefallen betrachtete sie das schöne Kind und besorgte das
Wecken durch zärtliches Kneifen in den auf der Decke liegenden Arm.

Leidchen fuhr in die Höhe und fragte erschrocken: »Wieviel ist die
Uhr?«

»Gleich acht, du Langschläferin,« gab Frau Marwede zur Antwort. Dann
hob sie warnend die dicke Hand mit dem kurzen Zeigefinger: »Mädchen,
Mädchen, du bist diese Nacht wieder so spät nach Hause gekommen.
Ich hab nach der Uhr gesehen, es war bald eins. Ich gönne dir dein
Vergnügen ja von Herzen, aber nimm dich in acht. Du bist jung und
unerfahren, und wenn eine denn auch noch so hübsch ist ...«

Leidchen war rot geworden. »Frau Marwede, Sie brauchen nichts
Schlechtes von mir zu denken. Ich war mit einem aus meinem Dorf
zusammen, wir beiden haben uns schon lange gern.«

»Und wollt euch heiraten?«

»Versteht sich.«

»Mädchen, du hättest man noch warten sollen. Eine wie du hätte mit der
Zeit auch wohl einen in der Stadt gefunden.«

Leidchen versetzte eifrig: »Oh, Sie müssen nicht denken, daß mein
Bräutigam ein gewöhnlicher ›Jan vom Moor‹ ist, wie man hier in Bremen
sagt. Er bekommt mal die große Windmühle in unserm Dorf, er ist dem
Müller sein einziger Sohn, und seine Mutter hat viel Geld gehabt.«

Frau Marwede zog die Augenbrauen hoch: »Ach so, das ist was anderes.
Dann kannst du wohl lachen, und ich gratuliere dir vielmals. Aber nun
rappel dich auf und mach', daß du an deine Arbeit kommst.«

Als die Frau gegangen war, blieb Leidchen noch einige Minuten, die
Hände unter dem Kopf, liegen.

Da trafen Pfeifen- und Trommelklänge ihr Ohr. »Muß i denn, muß i denn
zum Städtele hinaus,« kam es von den nicht weit entfernten Kasernen
herüber. Also jetzt wurden die Reservisten zum Bahnhof geführt. Und
Hermann stieg wohl bald auf sein Rad. In zwei bis drei Stunden konnte
er zu Hause sein. Und heut' abend wollte er mit seinen Eltern sprechen
... In bangem Atmen hob und senkte sich ihre Brust über dem klopfenden
Herzen.

Den Tag über wollten öfters bittere Gedanken gegen Hermann in ihr
aufsteigen, die sie jedoch mit Gewalt niederzuhalten suchte. Die
Hauptschuld hatten gewiß seine Kameraden. Ein bißchen leichtsinnig
mochte freilich er auch wohl sein, das lag am Ende schon vom Vater her
in ihm. Um so mehr brauchte er eine Frau, die ihn zu nehmen wußte.

Frau Marwede begegnete heute ihrem Fräulein, als künftiger
Mühlenbesitzersfrau, mit einer gewissen Achtung. Auch
gab sie Ratschläge für einen jungen Hausstand und nannte
Ausstattungsgeschäfte, in denen man nicht nur billig, sondern auch gut
kaufe.

Als Leidchen am Nachmittag in der Stadt einiges zu besorgen hatte,
beeilte sie sich möglichst, um eine Viertelstunde zu erübrigen, und
trat in eins der ihr empfohlenen Geschäfte, wo das Ladenfräulein ihr
vieles zeigen mußte. Den Stein ihres Ringes verbarg sie so in der
Hand, daß man ihn für einen Verlobungsreif halten konnte, und beim
Fortgehen versprach sie, nächstens mit ihrem Verlobten wiederzukommen.

Nach dem Abendbrot lud Frau Marwede sie ein, sich mit ihrer Handarbeit
zu ihr zu setzen. Aber sie schützte Kopfweh vor und suchte ihre Kammer
auf.

Jetzt eben sprach gewiß Hermann mit seinen Eltern. Der Gedanke
verursachte ihr starkes Herzklopfen, und Angstwellen liefen ihr
durch den ganzen Körper. Als die Unruhe immer größer wurde, dachte
sie auf einmal an den lieben Gott. Sie war ihm bislang mit ihren
Liebesangelegenheiten noch nicht gekommen. Zum letztenmal hatte sie
am Bett der kleinen Olga ernsthaft seiner gedacht. Aber jetzt bat sie
ihn mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen, er möchte ihr doch
nicht böse sein und alles zum Besten wenden. Da sie merkte, daß sie
dabei ruhiger wurde, nahm sie nach einer Weile ihr Gesangbuch aus der
Kommode. Das in Leder gebundene und mit Goldschnitt versehene Buch
war ein Geschenk ihres Bruders zur Konfirmation, und vorn hatte er
hineingeschrieben: Dein Lebelang habe Gott vor Augen und im Herzen,
und hüte dich, daß du in keine Sünde willigest, noch tust wider Gottes
Gebot. Wie jetzt ihr Blick auf diese Worte fiel, warf sie das Buch
ärgerlich hin und schalt den Bruder einen alten Schulmeister.

Aber die innere Unruhe schwoll aufs neue an, und sie nahm es wieder
zur Hand, um die »Kreuz- und Trostlieder« aufzuschlagen. Sie las deren
einige, die sich ihr durch die Anfangsworte empfahlen: Sei stille,
müd' gequältes Herz ... Gib dich zufrieden und sei stille ... Wer nur
den lieben Gott läßt walten ... Hei, diesen Gesang spielten daheim die
Musikanten immer, wenn im Dämmer der Großen Diele die Brautleute vor
dem blumengeschmückten, lichterbeglänzten Trautisch standen! ...

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen fing sie an, auf den Briefträger zu warten,
obgleich sie sich sagte, daß unmöglich schon Nachricht kommen
konnte. Und sie wartete den ganzen Tag. Und so den Mittwoch, und den
Donnerstag, mit wachsender Ungeduld und Spannung.

Ob er wegen des Zuspätkommens am Sonntag doch vielleicht noch drei
Tage eingesperrt war?

Oder hatte der Höker, der zu Hause die Posthilfsstelle verwaltete, den
Brief liegen lassen? Rechter Verlaß war auf den Mann nicht.

Oder sollten die Müllersleute wirklich noch Schwierigkeiten machen?

Wenn die Briefbestellungszeit vorüber war, horchte sie, so oft die
Ladentür klingelte, ob unten nicht jemand nach ihr fragte. Er hatte ja
gesagt, vielleicht käme er auch selbst herüber.

Am Freitag, als sie gerade vor der Haustür fegte, ging der Postbote
nicht wie gewöhnlich vorüber, sondern rief verheißungsvoll: »Fräulein
Leidchen Rosenbrock.« Sie riß ihm den Brief aus der Hand und flog
klopfenden Herzens damit die Treppe hinauf.

Auf ihrer Dachkammer angekommen, zerriß sie mit zitternden Fingern den
Umschlag und las:


                           Liebe Schwester!

Sie stutzte und sah nach der Unterschrift. Ach so--o, der Brief war
nur von ihrem Bruder. Bitter enttäuscht ließ sie sich auf den Stuhl
sinken.

Was mochte der ihr denn zu schreiben haben ...

  »Eigentlich wollte ich heute nach Bremen und Dich auch besuchen, aber
  es ist was dazwischen gekommen. Nun muß ich Dir schreiben, was ich
  Dir bestellen soll. Sei nächsten Sonntag um vier Uhr am Holler See,
  vornan im Bürgerpark, die Stelle wirst Du wohl wissen, aber pünktlich!
  Hoffentlich geht alles gut.

  Mit Gruß in Eile

                                                Dein Bruder Gerd.«


Ein froher Glanz überstrahlte ihr Gesicht, tief aufatmend ließ sie die
Hand mit dem Papier in ihren Schoß fallen.

Also mit Gerd hatte Hermann sogar auch schon gesprochen! Das war
sicher ein gutes Zeichen. Und wie ruhig der die Sache nahm!

Warum er wohl nicht selbst geschrieben hatte? Nun, Gerd hatte ihm
gewiß gesagt, daß er zur Stadt müßte und die Bestellung mitnehmen
könnte.

Den Platz am Holler See hatte er natürlich gewählt, um es wieder gut
zu machen, daß er sie am letzten Sonntag dort vergeblich hatte warten
lassen.

Sie war überglücklich, schob den Brief in ihren Busen und las die
kurzen Zeilen den Tag über wohl zehnmal. --

Der Sonntag kam und mit ihm ein anhaltender Landregen. Wie mit Mollen
goß es vom Himmel, und es war ein Wetter, daß man keinen Hund zum
Hause hinaus jagen mochte.

Als Leidchen am Nachmittag Frau Marwede fragte, ob sie ein bißchen
ausgehen dürfte, sah diese sie mit maßlos erstaunten Augen an.

»Mädchen, bist du nicht recht klug? Bei ~dem~ Wetter?«

»Gerd hat mir geschrieben, ich muß ... Mein Bräutigam ist da.«

»Ach so, das ist was anderes. Aber sag' ihm, daß er ein andermal
hierherkommt. Dieses dumme Versteckspielen hat jetzt doch keinen Zweck
mehr. Nimm meinem Mann seinen alten Regenschirm mit, er ist größer als
deiner und hält eher etwas aus.«

Es traf sich gut, daß sie an der nächsten Straßenecke auf die
Elektrische stieß, die sie quer durch die Stadt an ihr Ziel brachte.

Und da stand er auch schon, unter einem Regenschirm, an dem das
Wasser in blanken Bächen herunterlief. Sie sprang mit bebenden Füßen
von dem noch nicht ganz haltenden Wagen und eilte, unter Marwedes
Familienschirm geduckt, auf ihn zu.

Der andere Schirm hob sich. Sie prallte zurück.

»Guten Tag, Fräulein Rosenbrock ...«

»Guten Tag ...«

»Wie geht's Ihnen?«

»Oh ... gut ... Wie kommen Sie bei solchem Regen hierher?«

»Was einer sich vorgenommen hat, muß er auch ausführen ... Ich soll
Sie auch vielmals grüßen.«

»Von wem?«

»Von Ihrem Bruder Gerd.«

»Ach so ... Danke.«

»Gehen wir vielleicht ein bißchen im Bürgerpark spazieren?«

»Bei solchem Wetter?«

»Hm, es gibt ja Schutzhütten, und wir könnten auch am Emmasee eine
Tasse Kaffee trinken, oder auf der Meierei, wo Sie am liebsten wollen.«

»Herr Timmermann, mir ist ganz wirr im Kopf ... ich begreif' nicht ...
Ich muß hierbleiben ... ich warte hier auf jemand.«

»Nicht auf mich?«

»Auf Sie?«

»Ja, hat Gerd Ihnen denn nichts davon geschrieben?«

»Daß Sie hierher kommen wollten? Nein ... Ach, nun geht mir ein Licht
auf ... Nichts für ungut, hier liegt ein Mißverständnis vor ... Gerd
ist an allem schuld, da hält gerade die Elektrische, ich will lieber
gleich mit in die Stadt fahren, es tut mir leid, aber es regnet
wirklich schlimm. Adieu!«

Sie hatte den Wagen für sich allein und lief zweimal von einem Ende
bis zum anderen, ehe sie sich niederließ.

Sie ballte die Hand zur Faust. Wenn sie den Bruder hier hätte! Was
hatte der nun wieder für Unfug angerichtet, mit seiner unglücklichen
Sucht, ihr Leben zu bestimmen. Mit den schönen Hoffnungen der letzten
beiden Tage war's also mal wieder nichts gewesen. Morgen wurde es eine
Woche, daß Hermann zu Hause war, und noch hatte er nicht das geringste
Lebenszeichen gegeben. Es mußten sich da doch wohl Schwierigkeiten
erhoben haben.

Die Frage des Schaffners: »Umsteigen?« stellte sie vor die
Entscheidung, wie sie den Nachmittag zubringen sollte. Da die
Elektrische gerade an einem Café vorüberfuhr, das sie früher einige
Male mit Meta Stelljes besucht hatte, stieg sie an der nächsten
Haltestelle aus, ging die kurze Strecke zurück und trat in das noch
ziemlich leere Lokal, wo sie sich in ein Ecksofa warf. Der Kellner,
bei dem sie eine Tasse Kaffee bestellt hatte, stellte auch den Aufsatz
mit allerlei Gebäck vor sie auf das Marmortischchen.

Die Hände im Schoß, grübelte sie dumpf vor sich hin. Nach einer Weile
fing sie auch an zu essen, fast ohne sich dessen bewußt zu werden. Der
Magen, der am Mittag nicht zu seinem Recht gekommen war, ließ sich
jetzt einfach durch die Hände zuführen, was er bedurfte.

Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, das Café füllte sich schnell
mit lustigen Leuten, Männlein und Weiblein, die sich die gute Laune
nicht hatten verregnen lassen. Auf dem Podium in der Mitte fand sich
eine Kapelle zusammen, der sehr jugendliche Direktor trug lange
schwarze Künstlerlocken und nahm sich ungeheuer wichtig.

Als die Musikanten ein ausgelassenes Operettenpotpourri spielten, kam
auf einmal das Gefühl grenzenloser Verlassenheit und Einsamkeit über
sie. Sie hielt es in diesem Getriebe nicht länger aus, klingelte mit
dem Löffelchen den Kellner herbei, zahlte und ging.

Es hatte aufgehört zu regnen. Die Laternen brannten schon, ihr Licht
spiegelte sich in dem feuchten Glanz der Straßen. Die Luft war voll
Regendunst, die tief ziehenden Wolken schienen sich wie unförmige
Säcke dicht über den Häusern hinzuwälzen.

Als sie eine Strecke gegangen war, trafen Glockenklänge ihr Ohr. Sie
ging dem Schall nach und stand bald vor einer hohen alten Kirche mit
bunten erleuchteten Fenstern. Nach kurzem Schwanken trat sie ein.

Vom Widerhall der eigenen Schritte erschreckt, drückte sie sich
schnell in eine der ersten Bänke und hielt Umschau. Die Kronleuchter
strahlten helles Licht aus, in den Wölbungen und Winkeln und auf dem
Altarchor herrschte trotzdem Dämmerung.

Die Orgel setzte voll ein, und sie warf ihre ermattete Seele in das
brausende Meer der Töne. Dann sang sie wacker mit, aus dem Gesangbuch,
das der Kirchendiener ihr überreicht hatte.

Als der Pastor auf der schön geschnitzten Kanzel erschien, wartete
sie, wie sie es von den gottesdienstlichen Feiern in Grünmoor her
gewöhnt war, auf den Bibeltext. Es wurde jedoch keiner verlesen,
was sie nicht wenig befremdete. Dann wartete sie, daß der Herrgott
oder der Herr Christus einmal mit Namen erwähnt werden möchte, aber
vergeblich. Von dem, was der Prediger, unter reichlicher Anwendung
von Goethesprüchen, über Persönlichkeit und Persönlichkeitsbildung
vortrug, verstand sie nicht das mindeste, sodaß sie das Hinhören bald
aufgab und die quälenden Gedanken in ihr wieder die Oberhand gewannen.
Als sie aber die Kirche verließ, grüßte aus einem dämmerigen Winkel
eine vertraute Gestalt, in Stein gebildet, herüber, und das Wort:
»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid« huschte
wie ein erquickender Lichtstrahl durch ihre im Dunkeln zagende Seele.

Des Abends auf ihrer einsamen Dachkammer fühlte sie plötzlich den
Zwang in sich, in ihrer Sache irgend etwas zu tun. Nach einigem
Hinundherüberlegen erbrach sie den Brief, den sie vor anderthalb
Wochen an ihren Bruder geschrieben hatte, und nachdem sie ihn
gelesen, beschloß sie, einen neuen zu schreiben. Sie schob das
Zierdeckchen auf ihrer Kommode zurück und begann:


  Lieber Bruder!

  Du hast mir mal wieder einen schönen Streich gespielt. Schreibst mir
  da einen Brief, aus dem kein Mensch klug werden kann, ich bin so dumm
  und geh hin, und Du schickst mir so mir nichts dir nichts den Lehrer
  über den Hals. Er ist dadurch in große Ungelegenheit gekommen, wofür
  er sich bei Dir bedanken kann. Hab' ich Dir nicht hundertmal gesagt,
  daß ich nichts von ihm wissen will? Warum glaubst Du mir denn nicht?
  Kannst Du Dich denn gar nicht daran gewöhnen, daß ich keinen Vormund
  mehr brauche?

  Ich habe immer gedacht, Du kucktest mal bei mir vor; denn Du kommst in
  dieser Zeit doch gewiß oft mit Torf in die Stadt. Aber jetzt, wo Du
  'ne Braut hast, bin ich natürlich Nebensache.

  Als Du vor fünf Wochen hier warst, wollte ich Dir etwas sagen. Aber
  Du hattest keine Zeit und gingst zu früh weg. Weil Du nun gar nicht
  kommst, kann ich es Dir meinetwegen ja auch schreiben. Du mußt nämlich
  wissen, daß ich auch verlobt bin, und zwar mit Müllers Hermann. Weißt
  Du noch, auf dem Freimarkt? Damals habe ich ihn schon gern gehabt; ja,
  ich glaub' beinahe, sogar schon in der Schule. Diesen Sommer haben
  wir uns zufällig wieder getroffen und verlobt. Die Hochzeit soll noch
  vor Weihnachten sein, und ich will Dir auch ehrlich gestehen, daß wir
  nicht länger warten dürfen. Nun wirst Du natürlich wieder böse und
  fängst an zu schimpfen, und hast ja auch wohl ein bißchen Grund dazu,
  und mir ist es selbst nicht ganz recht, wie das alles gekommen ist.
  Aber die Liebe ist stark und das Fleisch schwach, und was geschehen
  ist, ist nun mal geschehen. Wir sind alle Menschen und fehlen
  mannigfaltig. Darum behalt Deine Strafrede man für Dich und sieh
  lieber zu, wie Du mir helfen kannst. Du mußt nämlich wissen, daß ich
  augenblicklich in ziemlicher Angst und Sorge bin. Hermann ist letzten
  Montag nach Hause gereist und wollte gleich am selbigen Abend mit
  seinen Eltern sprechen und mir dann sofort schreiben. Aber bis jetzt
  ist sein Brief nicht gekommen. Es kann ja sein, daß er irgendwo liegen
  geblieben ist, was ich beinah glaube; dann kommt er am Ende morgen
  früh, denn heute war nur einmal Bestellung, wegen der Sonntagsruhe.
  Es kann aber auch einen anderen Grund haben, nämlich den, daß die
  alten Müllers erst noch Sperenzien machen. Hermann sagt freilich,
  es hülfe ihnen alles nichts, sie müßten einfach. Aber er nimmt den
  Mund manchmal etwas voll. Er ist ein grundguter, treuherziger Mensch,
  aber wohl ein bißchen leicht, und nicht ganz so ehrenfest wie Du --
  das darf ich ja ruhig schreiben, so lieb ich ihn auch habe. Heute
  nachmittag kam mir sogar mal der Gedanke, es wäre nicht unmöglich,
  daß nicht er die Eltern, sondern die Eltern ihn herumkriegten. Auf so
  dumme Ideen kann der Mensch kommen, wenn er sich allein überlassen
  ist, jetzt lache ich natürlich schon wieder darüber. Weißt Du, was ich
  mir da nun gedacht habe? Wenn Du mal hingingst und mit ihm sprächest
  und ihm den Rücken ein bißchen steif machtest -- ich glaube, das
  könnte er brauchen. Du darfst ihn aber ja und ja nicht merken lassen,
  daß ich Dich hierum gebeten habe. Daß ich überhaupt schon einmal daran
  gedacht habe, er könnte mich sitzen lassen, das darf er um Gottes
  willen nicht wissen. Lieber Gerd, nimm's mir nicht übel, daß ich dies
  alles ...

Der Bogen war voll, sie las ihn durch, nickte befriedigt, korrigierte
einige Schreibfehler und nahm einen zweiten, auf dem sie fortfuhr:


  Dir so schreibe. Aber ich hab' ja sonst keinen als Dich, und wenn
  der Mensch in guten Tagen seine besten Freunde auch manchmal gering
  achtet, in den bösen erkennt er, was er an ihnen hat. Du brauchst vor
  Hermann gar nicht bange zu sein, er trägt Dir nichts nach, er hat
  immer anständig von Dir gesprochen und hält große Stücke auf Deinen
  Charakter. Überhaupt ist er ein lieber Mensch, und ihr müßt noch mal
  dicke Freunde werden, eher laß ich Euch beiden keine Ruhe. Wenn Du
  mir den Gefallen tust, werd ich Dir in alle Ewigkeit dankbar sein.
  Wir sind hoffentlich bald Nachbarn, und dann wird sich wohl eine
  Gelegenheit finden, das wieder gut zu machen. Ich habe neulich schon
  einen Brief geschrieben, hab' ihn aber nicht abgeschickt. Denk' Dir,
  ich hatte auf einmal Angst vor Dir. Ist das nicht komisch, Angst zu
  haben vor einem so lieben Bruder, wie Du bist? Aber in der Einsamkeit
  kommt der Mensch leicht auf allerhand dumme Grappen. Du sollst den
  ersten Brief auch haben, ich lege ihn bei, wenn ich dann auch zwanzig
  Pfennig aufbacken muß. Heute nachmittag bin ich auch mal in der
  Kirche gewesen, es war da sonst sehr schön, aber sie predigen hier zu
  hochstudiert, und unsereins hat nicht ganz viel davon. Ich freue mich,
  wenn ich erst in Grünmoor wieder hin kann, denn es gehört doch so 'n
  bißchen mit dazu, wir werden wohl meistens fahren, und Du und Sine
  könnt dann mit aufsteigen. Grüße Hermann herzlich von mir und schilt
  ihn aus, daß er mir noch nicht geschrieben hat, aber mach's auch nicht
  zu schlimm. Und dann komm bald mal vor, daß wir mal vernünftig über
  alles sprechen können. Mit Dir kann man doch immer noch am meisten
  anfangen.


     Es grüßt Dich

                                         Deine Schwester Leidchen.


Als sie den Doppelbrief in den Postkasten fallen hörte, atmete sie
erleichtert auf und sagte sich, nun wäre ihre Sache in den besten
Händen.




                                  17.


Am Dienstagvormittag stand Leidchen auf der Plättkammer, die neben
ihrem Stübchen im Dachgeschoß des Hauses lag und ließ das heiße Eisen
über die Leibwäsche der Marwedeschen Kinder gleiten. Sie hatte Tür und
Fenster geöffnet, denn die giftigen Kohlengase verursachten ihr leicht
Kopfweh.

Eben dachte sie daran, daß um diese Stunde der Postbote in Brunsode
die Briefe bestellt, als unten auf der Treppe ein Männerschritt laut
wurde. Sie mußte das schwere Plätteisen schnell auf den Untersatz
stellen und beide Hände auf den Tisch stemmen, um nicht in die Knie zu
sinken. Als aber die Schritte näher kamen, fuhr sie sich mit der Hand
über das Gesicht, ergriff das Eisen wieder und stieß es hastig über
das Hemd, das sie gerade in Arbeit hatte.

Gerds schmales Gesicht tauchte aus dem Treppenhause auf, seine
stahlblauen Augen blickten hart und streng, die Lippen hatte er fest
aufeinander gepreßt. Er trat ohne Gruß ein.

»Leidchen, was hast du vorgestern mit Timmermann gehabt?«

Obgleich der Schreck ihr in allen Gliedern saß, machte sie ein
schnippisches Gesicht: »Was soll ich mit dem gehabt haben?«

»Gestern mittag war ich bei ihm, um mich zu erkundigen. Aus dem Zeug,
was er redete, konnte ich nicht klug werden. Aber soviel hab' ich
verstanden: Du hast ihn stehen lassen wie einen dummen Jungen und
bist mit der Elektrischen weggefahren.«

»Ich möchte wissen, wer mir das verbieten will.«

»Men--schens--kind! Wie kommst du dazu?«

»Wie kommst ~du~ dazu, mir den Menschen auf den Hals zu hetzen?«

»Leidchen!«

»Hab' ich dir nicht oft und deutlich genug gesagt, daß ich nichts mit
ihm zu tun haben will?«

»Aber du bist auf meinen Brief doch hingegangen.«

»Das war ein Mißverständnis.«

»Leidchen ... ich weiß nun bald wirklich nicht mehr, was ich von dir
denken soll. Der beste und treuherzigste Mensch, der ganz andere
Mädchen kriegen kann als dich, macht sich bei dem fürchterlichen
Wetter auf die Beine und bietet dir seine Hand; ich sitze zu Hause
und kann mir vor Freude nicht helfen, kucke nach der Uhr: jetzt ist's
vier, jetzt haben sie sich, jetzt hat auch Leidchen ihr Glück, und
ein so großes, wie wir's uns früher nicht haben träumen lassen, und
derweilen machst du's so, stößt eine solche Hand zurück wie ein Stück
Holz.«

Sie stand indessen über den Tisch gebeugt und plättete mit heftigen,
klirrenden Stößen.

Als er schwieg, sagte sie stoßweise: »Ich hab' dir einen langen Brief
geschrieben. Jetzt wirst du ihn wohl haben ... Da steht alles drin.«

»So? Ich denke doch, jetzt wo ich einmal hier bin, machen wir die
Sache mündlich ab.« Er zog einen Stuhl heran und ließ sich nieder.

»Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen.«

»Dann nimm hundert, ich habe Zeit genug.«

Sie hatte die Lippen trotzig geschürzt und schwieg.

»Mit so einer fang' einer was an,« seufzte er und sah sie befremdet
und ratlos an. »Leidchen, hast du denn alles Vertrauen zu mir
verloren? Was hab' ich dir bloß getan? Du schüttelst den Kopf. Also
nichts. Dann sei aber auch nicht so albern und komm heraus damit ...
Du machst ja beinah ein Gesicht, als ob du ein böses Gewissen hättest.«

»Das Eisen ist kalt geworden,« sagte sie hastig, nachdem sie es mit
angefeuchteten Fingerspitzen geprüft hatte. »Wart' einen Augenblick,
ich bin gleich wieder da.«

Seinen Blick meidend, stolperte sie an ihm vorüber. Er sah ihr
kopfschüttelnd nach und murmelte vor sich hin: »Das ist doch rein zu
doll mit solchen Frauensleuten. Ob Sine auch so sein kann? Nee, ganz
gewiß nicht. Sonst müßt' einer sich die Sache wahrhaftig noch mal
überlegen.«

Leidchen erschien wieder, und nachdem sie die Tür hinter sich
zugemacht und das Eisen auf den Untersatz gestellt hatte, nahm sie die
Hand ihres Bruders. »Gerd,« sagte sie mit weicher, einschmeichelnder
Stimme, »wir haben uns noch gar nicht mal guten Tag gesagt.«

»Süh, das ist auch wahr. Guten Tag, Leidchen.«

Er hielt ihre Hand mit der Rechten und streichelte sie mit der Linken.
»Wie das kleine Pfötchen zittert und bebt!« sagte er zärtlich. »Was
hast du denn bloß, lüttje Deern?«

»Bleib ruhig, ich will dir alles erzählen, du sollst alles wissen.«

Sie trat hinter den Tisch, prüfte das Eisen, das jetzt zischte, und
begann wieder zu plätten.

»Weißt du noch, letztes Frühjahr, wie Meta Stelljes sich verlobte und
die kleine Olga starb?«

»Ja, daran erinner' ich mich ganz gut.«

»Ein paar Wochen später war mal ein schöner Sonntag, und ich ging ein
bißchen im Bürgerpark spazieren. Denn für unsereine, die tagelang
nicht aus dem Hause kommt, ist so 'n bißchen frische Luft sehr gesund.
Du kannst dir das gar nicht so denken, weil ihr auf dem Lande immer
die gute Luft habt.«

»Aber Deern, nun werd' bloß nicht weitläufig.«

»Nun rat' mal, wen ich da im Bürgerpark traf.«

»Nach Rätselraten ist mir heute wirklich nicht zu Sinn.«

»Denk dir: Müllers Hermann!«

»Mül--lers Her--mann?« wiederholte er langsam und gedehnt.

»Du mußt's mir versprechen, daß du ganz ruhig bleiben willst,« bat sie
mit einem schnellen, flimmernden Blick in seine Augen, »sonst kann ich
dir nichts erzählen.«

»Aber Mädchen, ich höre dir ja ganz ruhig zu.«

»Hermann war gerade eben aus Spandau wiedergekommen. Er freute sich
nicht wenig, als er mich zu sehen kriegte, und ich freute mich
natürlich auch. Denn meine Freundschaft mit Meta Stelljes war aus und
die kleine Olga tot, so hatte ich damals keinen Menschen.«

»Weiß ich, nun man weiter.«

»Und so ganz allein in der Welt, das hält nicht jeder aus, und auch
meine Natur ist nicht danach ...«

»Aber nun vorwärts, Deern, du vertüterst dich ja ganz.«

»Also wir fuhren zusammen im Kahn spazieren und haben uns dann öfters
getroffen und hatten uns bald so lieb, daß wir nicht mehr voneinander
lassen konnten. Und zuletzt haben wir uns richtig verlobt.«

»Hmhm ... Und was soll nun werden?«

»Das ist mal 'ne dumme Frage. Wir halten nächstens Hochzeit. Hermann
ist jetzt eben hin und spricht mit seinen Eltern.«

»Deern, kuck mich mal an! ... Nee, nicht so halb an mir vorbei,
ordentlich frei ins Gesicht! Sag' mal, bist du wirklich so von allen
guten Geistern verlassen, daß du dir einbilden kannst, die nehmen eine
wie dich als Tochter ins Haus?«

»Warum nicht?«

»Dumme Deern, darum verlier' ich überhaupt keine Worte.«

»Hermann sagt ...«

»Ach was: Hermann sagt! Was Hermann sagt, ist für die Katz.«

»Gerd, überleg dir, was du sagst und von wem du sprichst!«

»Gut, Leidchen, wir wollen uns in der Sache gar nicht weiter aufregen.
Wenn die alten Müllers dir ihren Segen geben, hast du meinen auch. Wir
feiern dann eine große vergnügte Hochzeit, und du siehst zu, wie du
mit den Leuten auskommst. Es mag ja sein, daß Hermann im Grunde gar
nicht so übel ist, wie ich früher dachte. So ganz schlimm muß er ja
wohl nicht sein, sonst hättest du ihn gewiß bald laufen lassen ...
Bist du nun zufrieden?«

Sie kam um den Tisch herumgefahren, schlug die Arme stürmisch um
seinen Hals und rief: »Lieber, bester Bruder, was bist du gut!«

Er wehrte sie etwas unsanft ab und fuhr fort: »Wir sind noch nicht
ganz fertig, mein' Deern. Wenn die Müllersleute nun mal nicht wollen
... was dann?«

Leidchen, die an ihren Platz zurückgetreten war, sah ihn mit
erschrockenen Augen an.

»Sie müssen!« sagte sie, die Zähne zusammenbeißend.

»Ha, als ob du sie zwingen könntest!«

»Hermann ...«

»Kann sie auch nicht zwingen ... Was dann?«

Sie sah ihn ratlos an.

»Ich will's dir sagen, Leidchen, dann ist noch gar nichts verloren, im
Gegenteil! Dann nimmst du einfach den anderen.«

»Aber Gerd ...«

»Was machst du für'n Gesicht? Das passiert öfters, daß der Mensch
mit seiner Liebe erst mal an den Verkehrten kommt, aber der wird
vergessen, sobald der Richtige sich sehen läßt.«

»Gerd!«

»Sieh, er weiß von der Geschichte nichts und braucht auch nichts davon
zu wissen. Du hast ihm vorgestern nichts gesagt, ich bin stumm wie
das Grab, und Müllers werden auch wohl dicht halten, ich will Hermann
noch eigens darum bitten. Wahrscheinlich hat er seinen Eltern auch gar
nichts davon gesagt und läßt die kleine Soldatenliebschaft von selbst
einschlafen, wie's die meisten tun, nach der Melodie: Aus den Augen,
aus dem Sinn.«

»Gerd! Gerd!«

»Ja, ja, Leidchen, verliebte Leute machen sich gern selbst was vor.
Da ist es gut für sie, daß andere klaren Kopf behalten und die Dinge
sehen, wie sie in Wirklichkeit sind. Ich möchte diesen Timmermann ja
gern zum Schwager haben, denn er ist ein prächtiger Mensch, und wir
sind gute Freunde. Aber zwingen will ich dich nicht. Kannst du auf die
Mühle kommen, in Gottes Namen man zu! Du bist eine, die am Ende auch
da fertig wird. Wenn aber nicht, auch gut. Dann gehst du einfach ein
paar Häuser weiter.«

Sie hatte sich auf einen hoch angefüllten Wäschekorb sinken lassen,
barg das Gesicht in den Händen und stieß unter wildem Schluchzen
heraus: »Es geht ... nicht mehr ... es ist ... zu spät ...«

»Was?« rief er zusammenzuckend.

»Was!?« schrie er und sprang in die Höhe.

Mit geballter Faust schritt er auf sie zu. Sie hob die Arme zur Abwehr.

Er ließ die Faust sinken und spreizte die fünf Finger von sich: »Dich
prügeln? Fällt mir nicht im Traum ein. Das bist du mir gar nicht mehr
wert, dafür bist du mir viel zu schlecht. Pfui!« Er spie vor ihr aus
und rief noch einmal »Pfui!« Dann drehte er sich um, riß die Tür auf
und stieg mit harten, polternden Schritten die Treppe hinunter. Es
dröhnte durchs ganze Haus, wie er unten die Haustür ins Schloß warf.

Eine Weile saß Leidchen in sich zusammengesunken und schluchzte, daß
es ihren ganzen Körper schüttelte.

Dann hob sie den Kopf und starrte eine Zeitlang mit den verweinten,
entgeisteten Augen in die rote Kohlenglut des Plätteisens.

Auf einmal schoß sie steil in die Höhe, lief in ihre Kammer hinüber,
zog das Jackett an, setzte den Hut auf, nahm den Schirm zur Hand und
schlich leise die Treppe hinunter. An Frau Marwede, die gerade eine
Kundin bediente, stürzte sie vorbei, ohne zur Seite zu sehen. Auf der
Straße setzte sie sich in Laufschritt, und als sie ihre Herrin hinter
sich rufen hörte, stürmte sie noch schneller voran. An der Ecke sprang
sie auf einen Wagen der Elektrischen, der dort gerade hielt. Da sie
in der Eile kein Geld beigesteckt hatte, mußte der Schaffner ihr den
Groschen für die Fahrt leihen.

Als sie am Torfhafen ankam, fand sie Gerd in seinem Schiff, zur
Abfahrt rüstend.

Sie trat an die Uferböschung und rief seinen Namen. Er sah und hörte
nicht.

Er hob das Schieberuder, und das Boot glitt zum Hafen hinaus in den
Kanal. Sie ging auf dem Leinpfad nebenher und bat einmal über das
andere, er möchte sie doch nur einmal noch anhören.

Er lenkte das Schiff auf die andere Seite und fuhr hart am
jenseitigen Ufer dahin. Sie sah sich um, und als sie sich überzeugt
hatte, daß niemand in der Nähe war, rief sie ihm durch die hohlen
Hände zu: »Gerd, wenn du so von mir weggehst, spring' ich in die
Weser.«

Er stieß das Fahrzeug mit der ganzen Kraft seiner Arme vorwärts, so
daß sie not hatte, mit ihm Schritt zu halten.

Verweiflungsvoll schrie sie hinüber: »Gerd, hast du ganz vergessen,
was du unserer Mutter selig auf ihrem letzten Lager versprochen hast?«

Zum ersten Male warf er einen schnellen Blick zur Seite.

Nach einer Weile verlangsamte das Schiff seine Fahrt, und dann kam es
schräg über den Kanal und legte sich ans Ufer. Nachdem er ausgestiegen
war und es an der Vorderkette festgemacht hatte, trat er vor die
Schwester hin. Die Hände nach unten gestreckt, sagte er, sie mit
todtraurigen Augen ansehend: »Oh, Leidchen ... Leidchen!« Sie stand
da, glutübergossen, den Blick auf den Boden geheftet, und stach mit
der Spitze ihres Schirmes ein spätes Blümchen in den Grund.

»Denn komm,« sagte er tonlos und schritt an ihr vorüber auf einen
Promenadenweg zu, der in den am Torfkanal sich entlang ziehenden
Bürgerpark führte. Sie folgte ihm in einer Entfernung von zwei bis
drei Schritten. Vor einer einsamen Bank machte er halt, ließ sich
seufzend niederfallen und gab der Schwester stumm ein Zeichen, sich
neben ihn zu setzen.

Lange verharrten sie in Schweigen. Er hatte die Arme auf die
Knie gestemmt, den Kopf in die Hände gestützt, die Finger in die
Augen gedrückt. Sie blickte von Zeit zu Zeit scheu zur Seite und
wagte nicht, ihn anzureden. Denn auf seiner Schläfe war eine
dickgeschwollene, wie ein Blitz gezackte Ader, durch die das Blut
stoßweise dahinschoß.

Plötzlich verdeckte er die Augen mit ganzen Händen und fing bitterlich
an zu weinen. Er wollte das Schluchzen gewaltsam unterdrücken, um so
mehr erschütterte es seinen Körper. Endlich begann er mit gebrochener
Stimme zu reden.

»Leidchen, Leidchen, wie gut hättest du es haben können ... so gut
wie keine in unserm Dorf und im ganzen Moor ... Und nun machst du
selbst dir alles durch deinen Leichtsinn zuschanden ... Hab' ich dich
so angelernt und aufgezogen? ... Hab' ich dich nicht immer vermahnt
und zum Rechten angehalten? Hab' ich nicht gesagt, du solltest bei
uns auf dem Lande bleiben? Aber du mußtest natürlich mit aller Gewalt
in die Stadt, bloß um dem, der's immer so gut mit dir gemeint hat,
unter den Augen wegzukommen und in dein Unglück zu rennen ... Wie bin
ich immer stolz auf dich gewesen ... du warst das feinste Mädchen im
Dorf. Wenn du einen so fröhlich ankucktest, war's, als wenn einem die
liebe Sonne so recht hell und warm ins Herz lachte ... Wenn du im
Moor oder auf den Wiesen dich so munter regtest, wurde die schwerste
Arbeit einem zur Lust ... Und nun machst du's so, nun mußt du dasitzen
mit niedergeschlagenen Augen, wie ein Klumpen Unglück ... Es ist ein
Jammer sondergleichen ...«

Sie saß auf ihren Schirm gestützt, starrte zur Erde und ließ alles
ruhig über sich ergehen.

Sein Gesicht nahm auf einmal den Ausdruck großer Bitterkeit an: »Sieh
bloß zu, daß du's gut bezahlt kriegst!«

Wie von einer Natter gestochen fuhr sie in die Höhe und sah ihn mit
blitzenden Augen an: »Gerd, ich rat' dir, geh nicht zu weit! Alles laß
ich mir auch von dir nicht gefallen.«

»Ja, nun bist du auf einmal stolz, nun, wo's zu spät ist ...«

Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Dann fragte sie leise und
zaghaft: »Gerd, darf ich nun auch mal ein Wort sagen?«

Er sagte nicht ja und nicht nein.

»Bitte, lieber Bruder, laß uns nicht immer über das reden, was nun
einmal nicht mehr zu ändern ist ... Ich hab' dir einen langen Brief
geschrieben, da steht alles in ... Ich hab' dir vorhin schon gesagt:
Hermann ist ein grundguter Mensch, bloß ein bißchen leicht, nicht ganz
so ehrenfest wie du; jeder hat ja seine Fehler, du auch. Daß er mich
von Herzen lieb hat, das weiß ich ebenso gewiß wie das andere, daß
du es gut mit mir meinst. Sein Vater und Mutter mögen erst ja wohl
gegen mich sein, aber er hält fest und treu zu mir. Wenn ich das nicht
ganz gewiß wüßte, was bliebe mir denn noch übrig! Aber, wie ich schon
gesagt habe, er ist ein bißchen leicht ... Deshalb braucht er einen,
der ihn mal an seine Pflicht erinnert und ihm den Rücken steif macht,
damit er fest seinen Mann stehen kann. Und da möchte ich dich nun
bitten, lieber Bruder, geh' doch mal hin und sprich mit ihm!«

»So, dafür bin ich gut genug ... Als ihr miteinander anfingt, du wurde
ich nicht um Rat gefragt.«

»Ach, ich wollte es dir jedesmal sagen, wenn du hier warst, aber ...«

»Du hieltest deinen Mund, weil du von Anfang an kein gutes Gewissen
bei der Sache hattest.«

»Bitte, Gerd, laß uns davon doch nicht immer wieder anfangen ... Nicht
wahr? du tust deiner kleinen Schwester die Liebe an, daß du bald mal
hingehst. Bitte, bitte.«

Sie berührte mit der Hand leise streichelnd seinen Arm und sah ihn
flehend an.

Er saß lange Zeit vornübergebeugt, mit dem linken Hacken ein Loch in
den Kies bohrend, schweigend und manchmal seufzend.

Endlich richtete er sich auf und sagte entschlossen: »Ja, ich will's
tun. Und er soll was von mir zu hören kriegen, das wird er sich nicht
hinter den Spiegel stecken!«

Sie hob erschreckt und wie beschwörend die Hand: »Um Gottes willen,
Gerd, bloß das nicht! Damit machst du die Sache nur schlimmer. Die
Schuld will ich gern auf mich nehmen. Nein, du mußt freundlich, ruhig
und ernsthaft mit ihm sprechen, wie du das so schön kannst. Du mußt
ihn daran erinnern, was er mir schuldig ist, und auch seiner eigenen
Ehre.«

»Ha! Ein schöner Bräutigam, den ein anderer daran erst erinnern muß.«

»Ach Gerd ... Du mußt mich auch ein bißchen anpreisen und ihm sagen,
daß er mit mir nicht betrogen wird. Das weiß er ja auch schon so, aber
es kann doch nicht schaden, wenn's ihm auch ein anderer noch mal sagt,
und auf deinen Charakter hält er große Stücke, das hat er mir öfters
gesagt.«

»Wirklich? Das ist ja nett, und dankenswert, hahaha ... Aber gut,
morgen abend, nach Feierabend, geh' ich hin. Wenn Wind ist, werd' ich
ihn wohl allein auf der Mühle treffen, den Gesellen haben sie neulich
laufen lassen.«

»Oh Gerd,« rief sie, erleichtert aufatmend, »wie soll ich das bloß
wieder gut machen?«

Sie ergriff seine Hand, die sie drückte und liebkosend gegen ihre
Wangen preßte.

Er zog dieselbe bald zurück und sagte: »Ob's was helfen wird? Ich
verspreche mir soviel wie nichts davon. Die Alten, die Alten ...«

»Oh Gerd, wenn wir drei Jungen fest zusammenhalten ...«

»Deern, du bist jung und unerfahren, du kennst das Leben und die
Menschen nicht. ~Die~ Sorte hat noch keinem etwas zuliebe getan.«

»Könntest du mit ihnen nicht auch mal sprechen, wenn's nötig ist? Oder
graust du dich davor?«

»Gut, ich werde auch ihnen ins Gewissen reden, wenn's nötig ist.«

»Bitte, Gerd, tu' das. Du kannst das ja so schön. Aber mach's bitte
recht vorsichtig und gelinde, daß du sie nicht gegen mich erzürnst. Du
mußt immer bedenken, ich soll mit ihnen leben.«

»Und wenn sie sich auf nichts einlassen wollen, was dann?«

»Darüber wollen wir noch nicht sprechen.«

»Das wollen wir doch, und erst recht! Dann werd' ich Hermann die
Pistole auf die Brust setzen, daß er's macht wie vor zwei Jahren
Joostens Jan, als seine Eltern seine Braut nicht aufnehmen wollten.
Dann muß er hier in Bremen mit dir einen Hausstand gründen. Arbeit
findet er überall, und wenn du später etwa mit zuverdienst, als
Aufwartefrau oder so, könnt ihr ganz gut leben.«

»Ob er das wohl täte?«

»Wenn er dich wirklich lieb hat und ein ehrlicher Kerl ist, kann er
gar nicht anders.«

»Wie du gleich an alles denkst, Gerd! Ja, das wäre immer noch ein
Ausweg. Später müßten wir die Mühle ja doch kriegen, nicht wahr? Denn
da möcht' ich doch lieber wohnen.«

»Das glaub' ich dir.«

Sie erhoben sich von der Bank und schritten langsam den Parkweg
zurück, dem Torfkanal zu.

»Ach Leidchen,« begann er noch einmal, »hätt' ich von dem allen
nur eine Ahnung gehabt! Ich hätte dich mit Gewalt von dem Menschen
losgerissen, ehe es zu spät war.«

»Das hättest du nicht fertig gebracht,« rief sie leidenschaftlich.
»Wenn die Liebe einen mal gepackt hat, dann kommt nichts in der Welt
dagegen auf.«

»Ich kenne die Liebe auch,« sagte er leise, und seine traurig ernsten
Augen leuchteten auf.

»Du bist in allen Dingen anders als ich ... Oh, Gerd, wie freu' ich
mich, daß du gekommen bist und ich das alles vom Herzen los bin! Ich
kann dir gar nicht sagen, wie leicht mir jetzt ist. Nun ist meine
Sache in den besten Händen. Heute seh' ich erst ein, was ich an dir
habe. Nicht wahr, du glaubst doch auch, daß noch alles gut wird?« Sie
hatte seine Hand ergriffen und sah ihm in die Augen.

Er blickte sie an, nicht sonderlich hoffnungsfreudig, und sagte: »Wir
wollen unser Möglichstes versuchen.«

Er hatte die Vorderkette seines Schiffes gelöst, warf sie auf die
Koje, daß es einen scharfen, dumpf nachhallenden Eisenklang gab, und
stemmte das Ruder ein.

»Wann krieg' ich Nachricht?« fragte sie.

»Sobald es angeht,« sagte er gelassen, legte sich gegen die Stange und
brachte das Schiff in Gang. Sie sah ihm lange nach und wartete, er
sollte sich noch einmal umwenden. Aber das tat er nicht, sondern mit
seinen lang ausgreifenden, etwas wiegenden Schritten ging er neben dem
auf dem schnurgeraden Wasserlauf gleitenden Schiff den schmalen Pfad
dahin.

Endlich wandte auch sie sich und ging langsam nach der Stadt zurück.




                                  18.


Brunsode hatte Feierabend gemacht, auf allen Gehöften ziemlich
gleichzeitig. Nur die Windmühle, deren Arbeits- und Ruhestunden
zuzeiten nicht durch Tag und Nacht, sondern von Wind und Wetter
bestimmt werden, drehte sich langsam vor einem schwachen West, und die
kleinen Fenster waren erleuchtet.

Das bemerkte Gerd mit Genugtuung, als er mit festen Schritten den
Birkendamm daherkam. Er trug Sonntagskleidung und Lederstiefeln. Im
Munde hing ihm die Pfeife, die er jedoch nicht in Brand gesetzt hatte.
Als er vom Damm abbog, schob er sie in die innere Rocktasche.

Er warf einen Blick in die offen stehende Tür der Mühle und sah in
dem schwachen Licht einer Petroleumlampe den Gesuchten beschäftigt,
einen Kornsack in den Mahltrichter zu entleeren. Eintretend rief er
ihm durch das betäubende Geklapper die Tageszeit zu. »Wart' einen
Augenblick, ich komme gleich,« wurde ihm hastig geantwortet.

Er setzte sich auf einen prallen Kornsack und sah auf einen Fleck. Als
er nach einer Weile aufblickte, ob der Erwartete noch nicht käme, sah
er ihn, die mehlbepuderte Mütze im Nacken, eine Treppe hinaufsteigen
und in dem Kopf der Mühle verschwinden. »Das macht das böse Gewissen,«
murmelte er bitter lächelnd vor sich hin.

Nachdem er eine gute Weile geduldig gewartet hatte, erhob er sich und
stieg eine kurze Treppe von zehn Stufen hinauf. Gerade wollte er auf
der höher führenden Leiter dem Verschwundenen nachsteigen, als dieser
oben sichtbar wurde und langsam herunterkam.

»Wo können wir ein ruhiges Wort miteinander sprechen?« rief er ihm
entgegen.

Der Müller öffnete eine Tür und ließ ihn auf den Umgang hinaustreten.
Als er hinter sich zugemacht hatte, klang der Lärm des Mahlwerks
gedämpft, und man hörte die gespenstisch durch das Dunkel fahrenden
Flügel wie Riesenschwerter fauchen.

»Du kommst wegen Leidchen,« begann der Müller.

»Allerdings,« sagte Gerd, ein wenig überrascht.

»Hast du sie besucht? Wie geht es ihr?«

»Wie soll es ihr gehen ...«

»Sie hat wohl stark nach einem Brief von mir ausgesehen?«

»Das soll wohl sein.«

»Aber ich konnte ihr wirklich noch nichts schreiben.«

»Hermann, ich bin nicht gekommen, um ein bißchen mit dir zu schnacken.
Erst mal eine Frage! Sag mal, hast du Leidchen bloß zum besten gehabt,
ich meine, hast du bloß so deinen Spaß mit ihr haben wollen?«

»Gerd, das traust du mir doch wohl nicht zu.«

»Ich weiß nicht ... So genau kenne ich dich nicht. Also du hast ihr
wirklich die Ehe versprochen?«

»Ja.«

»Gut, daß ich das nun erst mal weiß. Sonst, beim wahrhaftigen Gott,
könnte ich dich packen und da in die sausenden Flügel hineinstoßen.«

»Hoho, man nicht so hitzig! Dabei hätt' ich auch noch ein Wort
mitzureden.«

»Und wann soll die Hochzeit sein?«

»Wir hatten an November oder Dezember gedacht ... aber ...«

»Was aber?«

»Die beiden Alten haben dabei auch ein Wort mitzureden.«

»Ach nee! Und was sagen die?«

»Gerd, wenn man in der Fremde ist und vergnügt in den Tag hineinlebt,
denkt man wohl: mit den Alten wirst du leicht fertig, die müssen, wie
du willst, die werden einfach nicht gefragt. Bist du dann aber wieder
zu Hause und streckst die Füße jeden Tag mit ihnen unter denselben
Tisch, dann macht sich die Sache doch etwas anders.«

»Ach nee! ... Hast du schon ernsthaft mit ihnen wegen Leidchen
gesprochen?«

»Versteht sich. Den ersten Abend ging's nicht gut, Vater war, ich
denk', aus Freude, daß er mich wieder hat, so 'n bißchen aufgeheitert
... Aber Dienstag, so in der Schummerzeit, geh' ich hin und fädele die
Sache nach meiner Meinung sehr fein ein. Aber Vater erklärt rundweg,
von den kleinen Kötterdeerns wär' noch nie eine als junge Frau auf die
Mühle gezogen, und solange er die Augen offen habe, bliebe das auch
so, daß der Mühlerbe sich von anderswoher seinesgleichen hole.«

»Hast du ihm gesagt, was du meiner Schwester schuldig bist?«

»Ja. Da zuckte er aber nur die Achseln.«

»Und was soll nun werden?«

»Wenn ich das nur erst wüßte ... Die ganzen Tage zergrübele ich mir
darüber den Kopf. Leidchen tut mir in der Seele weh, sie nimmt die
Sache so schrecklich ernst.«

»Den Deubel auch! Darüber wunderst du dich?«

»Nein, nein, Gerd, ich wollte nur sagen, sie ist so furchtbar hitzig
... Sag' mal, kennst du Harm Tietjen, den Grasbauern an der Hamme?«

»Ja, wir haben Grünland von ihm in Pacht.«

»Kennst du auch seine Tochter Hermine?«

»O ja, sie muß so an die Dreißig sein, hat mehr Sommersprossen
im Gesicht als Haare auf dem Kopf, und ist schon stark in Saat
geschossen.«

»Denk' dir, Gerd, die soll ich mit Gewalt heiraten!«

»Junge! Seid ihr denn ganz des ...? Kennst du das Mensch?«

»Nein. Ist sie wirklich so schlimm?«

»Ich würde lieber die Wackelstine aus dem Armenhaus nehmen als die.
Drei Jahre ist sie mit einem Postschreiber aus Bremen herumgezockelt,
dann hat der sie laufen lassen. Da, wo sie zu Hause ist, nimmt jetzt
der ärmste Knecht sie nicht mehr geschenkt. Wie können deine Eltern
bloß so blind und so grausam sein!«

Hermann seufzte. »Vater hat die letzten Jahre schlecht aufgepaßt,
und der Gesell, den wir nun weggejagt haben, hat sich das zunutze
gemacht. Prozesse haben allerhand gekostet, die Mühle in Blankenmoor
macht uns scharf Konkurrenz, und ich habe als Soldat auch ziemlich
viel gebraucht; denn ich dachte, das Geld, das Mutter zugebracht hat,
könnte gar nicht alle werden ... Wir brauchen notwendig Geld.«

»Und du willst dich verkaufen lassen?«

»Gerd, wie kannst du so was denken ... Ich sträube mich ja mit Händen
und Füßen. Wenn mir nur einer da heraushülfe!«

»Selbst ist der Mann! Tritt doch vor die alten Seelenverkäufer
hin, schlag mit der geballten Faust auf den Tisch, daß die Platte
auseinanderspringt, und sag': Entweder ihr gebt mir Leidchen zur Frau
oder ich nehm meinen Stock und geh meiner Wege!«

»So wird's auch wohl noch kommen, ich hab' mir das auch schon gedacht.«

»Hermann, wir beiden sind niemals gut Freund miteinander gewesen.
Du warst mir immer zu leicht und zu großspurig. Aber für einen
anständigen Kerl hab' ich dich im Grunde doch immer gehalten. Nun
beweise, daß ich mich in dir nicht getäuscht habe. Komm, wir gehen
zu deinen Eltern und sprechen mal ein ernstes Wort mit ihnen. Zeig
ihnen die Zähne und laß sehen, ob du ein Kerl bist, der Ehre im Leibe
und Muck in den Knochen hat und mehr kann, als unerfahrene Mädchen
übertölpeln. Komm!«

»Gerd, ich kann die Mühle nicht allein lassen.«

»Stell sie ab, es schafft doch nicht mehr bei der Mütze voll Wind.«

Hermann sah prüfend nach den Flügeln, deren Umdrehungen sich noch
mehr verlangsamt hatten. Er trat von einem Fuß auf den anderen, riß
die Mütze vom Kopf, wühlte mit der Hand in seinen Haaren und sagte
endlich: »Geh vorauf, ich komme gleich nach.«

Gerd schritt auf dem Fahrdamm, der Mühle und Wohnhaus trennte, unruhig
hin und her. Nach einer Weile kamen die Flügel unter Knarren zum
Stehen, und bald war Hermann an seiner Seite.

»Sag' aber um Gottes willen nichts von Hermine Tietjen,« bat er, indem
sie dem Hause zuschritten, »davon weiß sonst noch kein Mensch, und das
würde den Alten fuchsteufelswild machen.«

»Laß mich man gewähren und steh du deinen Mann,« sagte Gerd.

Sie gingen über eine geräumige, gegen das Viehhaus abgeschorene
Diele, die von einer roten Ampel beleuchtet wurde, und traten in die
Wohnstube, wo die Müllersleute um eine grünbeschirmte Lampe saßen,
die Frau mit einem Strickstrumpf, der Mann über seinen Zeitungen, ein
dampfendes Glas Grog neben sich.

»Warum bist du nicht in der Mühle?« herrschte der Vater den Sohn an.

»Der Wind ist alle geworden, ich hab' Feierabend gemacht,« sagte
Hermann und ließ sich auf einen Stuhl unweit der Tür nieder.

»Was willst ~du~ denn?« wandte der Müller sich darauf an den
Besucher.

»Mit Verlaub,« sagte dieser gelassen, »ich darf mich wohl erst mal
setzen.« Er zog einen Stuhl heran und pflanzte sich recht mitten in
die Stube, den beiden am Tisch gegenüber, den Sohn halbrechts hinter
sich. Die ein wenig in den Nacken geschobene Mütze behielt er nach
Landessitte auf dem Kopf. Auch spuckte er, wie es so Brauch war,
einmal zwischen seinen Knien hindurch auf den Fußboden. Das war sonst
gerade nicht mehr seine Art, seit Freund Timmermann es sich einmal
verbeten hatte, aber heute kam es ihm darauf an, dem stiernackigen
Mann mit dem roten, höhnischen Gesicht zu zeigen, daß er dessen
Anspruch, eine höhere Art Mensch zu sein als die anderen Moorbauern,
nicht anerkannte.

Der Müller riß die Augen weit auf und wollte etwas sagen.

Aber Gerd kam ihm zuvor. »Ich bin gekommen,« begann er, den Blick
seinem Gegenüber voll zuwendend, »um mit Euch wegen meiner Schwester
Leidchen zu sprechen.«

»Was scheren mich deine Familienangelegenheiten!« polterte der andere.

»Es sind ebensosehr die Euren. Hermann hat meiner Schwester in Bremen
die Ehe versprochen. Nicht wahr, Hermann, so ist es doch?« wandte er
sich nach diesem um.

Der nickte.

»Und nun wollte ich anfragen, wann die Hochzeit sein soll. Ihr wißt,
die Sache hat Eile.«

»Hohoho,« lachte der Müller, indem er mit der einen Hand die Zeitungen
zurückschob und sich mit der anderen auf das Knie schlug, »du bist ein
famoser Kerl, der gleich auf das Ganze geht.«

In Gerds Gesicht zuckte es. »Zum Lachen ist bei so ernsten Dingen
ganz und gar keine Ursache,« sagte er, finster blickend, mit mühsam
gebändigter, bebender Stimme. »Es handelt sich nicht bloß um uns. Es
handelt sich ebensoviel und beinah noch mehr darum, daß Euer Hermann
nicht als meineidiger Schuft Schande über Eure Familie bringt.«

»Für die Ehre unserer Familie zu sorgen, kannst du getrost uns
überlassen, dazu brauchen wir dich nicht,« gab der Müller mit
spöttischem Lächeln zur Antwort. »Was Hermann in Bremen für dumme
Streiche gemacht hat, weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen.
Was so 'n Mädchen in ihrem Leichtsinn sich einbrockt, muß sie auch
ausessen.«

»Müllers Vater, Ihr sprecht von Leichtsinn und Dummheiten, und ich
will die beiden gewiß nicht in Schutz nehmen. Ein Sohn, der seinen
Eltern eine Tochter ins Haus bringen will, soll sie früh genug fragen,
ob die, auf die er sein Auge geworfen hat, ihnen paßt, und überhaupt
soll alles ordentlich und ehrlich zugehen. Ich kann das begreifen, daß
Ihr böse seid, und habe selbst gestern meiner Schwester gehörig den
Text gelesen. Aber nun wollen wir uns doch auch sagen: Was geschehen
ist, das ist geschehen, auch der beste Mensch kann von einem Fehl
übereilet werden; denn wir sind allzumal Sünder. Die Hauptsache ist,
daß die beiden sich wirklich von Herzen lieb haben. Für Leidchen kann
ich garantieren, und Hermann hat es mir eben erst draußen versichert.
Wenn Ihr sie jetzt noch auseinanderreißen wolltet, tätet Ihr eine
viel größere Sünde als die ist, die sie begangen haben. Bitte, seid so
gut und laßt mich ausreden! Wenn Ihr meine Schwester kenntet, würdet
Ihr keine andere als Schwiegertochter haben wollen. Laßt sie erst acht
Tage in Eurem Hause sein, Ihr sollt sehen, dann mögt Ihr sie um kein
Geld mehr missen. Sie ist eins von den Menschenkindern, denen alle
Herzen zufliegen. Fragt auf unserer Nachbarschaft, bei Rotermunds, bei
Frerks, bei Böschens und bei allen, und Ihr werdet euch wundern, wie
alle sie lieb haben. Geld bringt sie ja leider nur an die dreihundert
Taler mit, aber einen fröhlichen Sinn und Gesundheit und Lust zur
Arbeit, und ich meine, das sind alles Dinge, die auch etwas wert sind.
Die Leute sagen, Ihr hättet jetzt schwere Zeiten mit Eurer Mühle, aber
die gehen vorüber, wo der Gesell, der Euch viel Schaden getan hat, weg
ist und Hermann sich der Sache annimmt, der ja lange genug gelernt
hat und seinen Kram gewiß gut versteht. Manche Kunden, die jetzt in
Blankenmoor mahlen lassen, werden Euch wiederkommen; mit einigen, die
ich besser kenne, will ich selbst sprechen, und die anderen folgen
dann wohl nach, denn wenn sie selbst keinen Schaden dabei haben, sind
die Leute dafür, daß das Geld im Dorfe bleibt. Und Leidchen ist für
das Sparen und Zusammenhalten, dazu hab' ich selbst sie von klein auf
angelernt. Für jüngere Kinder habt Ihr nicht zu sorgen, deshalb könnt
Ihr Eurem einzigen Sohn gut zu Willen sein. Eine so große und starke
Mühle mit drei Mahlgängen, die wenig Reparaturen kostet, nährt leicht
mit Euch Alten die Jungen, und auch noch einen guten Trupp Kinder.
Wir sind ja gegen Euch wohl kleine Leute, aber eine Hergelaufene ist
Leidchen doch auch nicht. Wir Rosenbrocks stammen von einem großen
Geesthof und haben uns unter den ersten hier angesiedelt. Und was
unserem Großvater sein Bruder war, der hat als Knecht in Hangstedt
einen Bauernhof von vierhundert Morgen befreit ... Müllers Vater und
Ihr, Müllers Mutter -- ich weiß, Ihr habt Euren Hermann lieb, und
Ihr seid doch auch mal 'ne junge Deern gewesen -- Ihr solltet man
ein Einsehen haben und den beiden helfen, daß sie bald im heiligen
Ehestand zusammenkommen.«

Der Müller hatte aufmerksam zugehört und einige Male sogar genickt.
Daraus hatte Gerd Hoffnung geschöpft und sich deshalb in einen immer
wärmeren Ton hineingeredet. Jetzt wagte er es sogar, ihm seine Hand
entgegenzustrecken.

»Bist du nun fertig?« fragte der Mann.

»Ja. Ich wüßte nicht, was sonst noch zu sagen wäre.«

Der andere sah ihm mit einer gewissen Achtung und nicht ohne
Wohlgefallen in das schmale, scharfgeschnittene Gesicht. »Gerd,«
begann er, »du bist soweit ein ganz fixer Mensch. Schade, daß du nicht
als Advokat studiert hast, aus dir hätte was werden können. Aber,
weißt du, hierzu langt deine Kunst noch lange nicht.« Und wieder
spielte ihm das böse Lächeln um den sinnlichen Mund.

Gerd sah ein, daß hier jedes weitere Wort verschwendet war. Er setzte
die Mütze, die er vor einer Weile abgenommen und über das linke Knie
gezogen hatte, wieder auf den Kopf, fuhr steil in die Höhe und sagte:
»Gut, denn verkauft Euren einzigen Sohn an die alte gelbsüchtige
Trudje, die da, wo sie bekannt ist, der kümmerlichste Knecht nicht
geschenkt nimmt.«

Der Müller sah dem kühnen jungen Menschen bestürzt ins Gesicht.

»Die Leute,« fuhr dieser fort, »reden viel Böses über Euch. Aber was
für einer Ihr in Wirklichkeit seid, davon haben sie noch gar keine
Ahnung. Wo andere das Herz haben, da habt Ihr einen Mühlstein.«

»Packan!« kreischte der Müller, heiser vor Wut.

Eine mächtige Dogge kam verschlafen unter dem Tisch hervor und reckte
laut gähnend die ungeschlachten Glieder.

»Soll der hier dich auf den Weg bringen, du unverschämter Lümmel?«

»Ich gehe schon von selbst,« sagte Gerd, mit einem etwas unsicheren
Blick nach dem Hund, unter dessen blutunterlaufenen Augen sein Rückzug
nicht eben heldenhaft ausfiel. Sobald er aber zur Stube hinaus war,
riß er die Tür mit donnerndem Krach hinter sich ins Schloß.

Als er draußen war, sagte er sich, es würde gut sein, wenn er Hermann
noch spräche. Vielleicht kam dieser ihm bald nach, oder er ging
noch einmal zur Mühle hinüber. Er lehnte sich an das Geländer der
Hofbrücke, um ihn zu erwarten.

Es währte auch nicht lange, bis sein weißes Müllerkleid durch das
Dunkel schimmerte. Gerd trat ihm einige Schritt entgegen.

»Du hast ja doch was von der anderen gesagt,« warf Hermann ihm mit
kläglicher Stimme vor.

»Das ist mir in der Wut so herausgefahren,« versetzte Gerd ärgerlich.
»Es ist ja auch einerlei.«

»Es ist längst nicht einerlei. Ich hätte deswegen beinah noch Prügel
gekriegt.«

»Hermann! Du willst ein Mann sein und läßt dir solche Behandlung
gefallen? Hast du denn gar keine Ehre mehr im Leibe?«

»Was soll ich machen?«

»Es gibt nur eine Rettung. Du mußt bei Nacht und Nebel ausrücken.
Je eher, desto besser, am besten gleich diese Nacht! Wenn du hier
bleibst, bist du verloren. Gegen den anzukommen, dazu gehört ein ganz
anderer Kerl, als du bist. Hermann, entschließ dich!«

»Ich habe diese Tage auch schon öfters daran gedacht ... Aber leicht
ist es nicht, ein so schönes Vatererbe zu verlaufen, es hängt einem
doch mächtig an ... Wenn ich ihm zu Willen bin, zieht er aufs
Altenteil, und ich bin hier Herr.«

»Mensch, laß dich nicht auslachen! Du Herr, solange der noch einen
kleinen Finger rühren kann? Du Herr, wenn Hermine Tietjen hier ihren
Einzug hält? Die zieht sich sofort die Hosen an, und du kriegst die
Nachtmütze auf .. Wenn du jetzt auch gehst, dein Erbe bleibt dir ja.«

»Oder auch nur das Pflichtteil.«

»Ach was. Du hast ja keine Geschwister. Wer weiß, wie bald sie Euch
wieder holen!«

»Aber wenn Hof und Mühle unter den Hammer kämen?«

»Ach was, solch ein Besitztum hält erst was aus. Weg mit so kleinen
Bedenklichkeiten!«

»Das sagst du wohl ... Heute wurde in unserer Fachzeitung für die
Mühle in Langwedel bei Verden ein Gesell gesucht.«

»Mensch, greif zu! Schreib noch heute abend, telegraphiere gleich
morgen früh!«

»Hat wohl keinen Zweck. Es melden sich gewiß Unverheiratete genug, und
die haben den Vorzug.«

»Aber du kannst's doch versuchen.«

»Will mal sehen ... Vielleicht findet sich auch noch was Besseres, in
jeder Nummer stehen Annoncen, kann ja um mehrere Stellen schreiben ...
Leicht wird's einem ja nicht, noch wieder als Gesell anzufangen.«

»Aber wenn's nicht anders ist? Hermann, um eine Frau wie Leidchen kann
ein rechter Kerl wohl etwas tun und auch ein kleines Opfer bringen.«

»Hm, ja ... Das wohl.«

»Junge, das Herz im Leibe muß dir hüpfen und springen, wenn du bloß an
sie denkst. Wenn es nicht so gekommen wäre, glaub ja nicht, daß du sie
gekriegt hättest!«

»Hm, bin ich dir nicht gut genug für sie?«

»Wo du so direkt danach fragst ... nein, eigentlich nicht. Aber ich
bin ja nun einmal übertölpelt und jetzt mit allem zufrieden. Hermann,
ich hab' mich diese Tage öfters gefragt, sollt' ich dich hassen oder
von Grund aus verachten. Jetzt, wo ich mit dir gesprochen und deinem
Alten mal den Puls gefühlt habe, tust du mir von Herzen leid. Aber
an dem Tage, wo du dich hier losreißest, da will ich Respekt vor
dir haben. Grad weil ich nun weiß, wie fest sie dich knebeln ... Ich
schreibe heut' abend noch an Leidchen. Was soll ich ihr bestellen?«

»Grüß sie vielmals und schreib ihr, sie möchte vor allem den Kopf
hochhalten, es würde noch alles gut. Und sie sollte nicht erschrecken,
wenn ich eines guten Tages auf einmal vor ihr stände.«

»Bravo, Hermann! Nun bloß nicht aufschieben, das macht nur schwächer.
Jetzt kannst du dich mit einem starken Ruck noch losreißen. Legst du
dich aufs Warten, geht's dir wie der Fliege im Spinngewebe. Du wirst
so eingewickelt, daß du dich nicht rütteln und rühren kannst. Gut'
Nacht!«

Nachdem er die weiche, mehlstaubtrockene Hand des Müllers kräftig
gedrückt und geschüttelt hatte, ging er. Die in ihm wogende Erregung
zu meistern, steckte er jetzt das gestopfte Pfeifchen an, und als er
ein Dutzend Züge getan hatte, waren die anfangs so kurzen, stoßartigen
Schritte fast wieder so lang und wiegend wie gewöhnlich.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Abend erhielt Leidchen mit der letzten Bestellung
folgenden Brief:


      Liebe Schwester!


  Es wird mir beinahe schwer, Dich noch so anzureden, denn lieb und
  gut bist Du durchaus nicht gewesen; aber ich will darauf heute abend
  nicht weiter eingehen, denn es ist schon nach zehn Uhr.

  Der Müller hat mir mit seinem Packan gedroht und hätte ihn sicher
  auf mich gehetzt, wenn ich nicht von selbst gegangen wäre.

  Hermann hat Dich doch wohl ein bißchen lieb, und er gefällt mir
  jetzt besser als früher. Er scheint mir nicht mehr so großspurig zu
  sein, was ich immer am wenigsten bei ihm leiden konnte.

  Wir haben abgemacht, daß er sich aus seinem Müllerblatt einen Platz
  als Gesell sucht, und daß Ihr darauf dann heiratet. Ob er den guten
  Worten und Vorsätzen die Tat folgen läßt, muß die Zeit ausweisen. Du
  schreibst, er wäre ein bißchen leicht und wankelmütig. Das stimmt
  ganz genau.

  Was er mir für Dich gesagt hat, schreibe ich wörtlich hierher: Grüße
  Leidchen vielmals und schreib ihr, sie sollte den Kopf hochhalten,
  es würde noch alles gut. Und Du solltest Dich nicht verjagen, wenn
  er eines Tages auf einmal vor Dir stände.

  Du kannst also vorderhand nichts tun, als Dich gedulden, und ich
  kann auch nicht mehr tun. Es kann aber sein, daß ich nach ein paar
  Tagen mal wieder hingehe und so 'n bißchen nachstökere. Das kann
  jedenfalls nicht schaden.

                               Mit Gruß

                                                  Gerd Rosenbrock.




                                  19.


Es war wieder die Hauptzeit des Torfverschiffens. Auf der Hamme,
ihren Lauf durch das breite Tal meilenweit bezeichnend, zogen die
braunen Segel. Die heimkehrenden Dorfgenossen taten sich zusammen und
koppelten ihre Schiffe in Reihen hintereinander, um sie, vornüber
gebeugt an langem Tau gehend, mit vereinten Kräften die Klappstaue
der Gräben hinaufzuschleppen. Aus den Kolonien, die gepflasterte
Straßen in der Nähe hatten und in denen die mühsame Schiffahrt der
bequemeren Fuhrwerkerei zu weichen begann, rumpelten um Mitternacht
die schweren, auf sechs Kubikmeter geeichten Kumpwagen, indem die
gespenstigen Schattenbilder der Vorderräder, zwischen denen die
Windlaterne schaukelte, sich an den Birkenreihen entlang drehten. Auf
der Lilienthaler Chaussee und dem Breiten Weg bildeten sich, zumal in
den Nächten vor Montag und Donnerstag, den Haupttagen des Torfhandels,
oft Wagenreihen von mehreren hundert Metern Länge. Die Gäule trotteten
ihren ebenen Tritt, und von ihren Lenkern gab sich manch einer,
vornüber gesunken, dem Schlaf hin, der aber hier und da einem teuer
zu stehen kam. Denn weder auf der preußischen noch auf der bremischen
Seite war die Polizei einer derartigen Nachtruhe hold.

Auch Gerd kam um diese Zeit zwei- oder dreimal die Woche mit seinem
Schiff in die Stadt. Die Schwester zu besuchen, konnte er sich aber
längere Zeit nicht entschließen. Neues in ihrer Sache gab es nicht zu
berichten. Hermann hatte zwar einige Male um eine Stelle geschrieben,
bislang aber nichts Passendes gefunden.

Endlich, im letzten Drittel des Oktober, machte er sich einmal wieder
auf den Weg, sie zu besuchen, veranlaßt durch einen Brief, in dem sie
gar herzlich und dringend darum bat.

Als er das Haus betrat, winkte Frau Marwede, die im Laden beschäftigt
war, ihn in eine anstoßende kleine Stube, eine Art Kontor. Er mußte
Platz nehmen, und sie stellte sich, die Hände in die Seiten gestemmt,
breit vor ihn hin.

»Rosenbrock,« begann sie, »ich weiß nicht, was das in der letzten Zeit
mit Ihrer Schwester ist. Sie ist so vergeßlich und träge und zu nichts
recht zu gebrauchen. Ich habe da nun leider eine schlimme Vermutung.
Als ich neulich aber mal so was andeutete, tat sie sehr empört und
beleidigt. Deshalb wollte ich einmal mit Ihnen darüber sprechen.«

Gerd seufzte. »Sie werden wohl recht haben, Frau Marwede.«

Die Frau schlug die Hände zusammen. »Wirklich? Oh, wie mir das leid
tut! Wir haben das Mädchen so gern gehabt. Wie lieb sie mit unserer
seligen kleinen Olga war, das werden wir ihr nie vergessen. Da haben
wir sie erst recht kennen gelernt und ins Herz geschlossen. Oh, der
Leichtsinn bei der Jugend von heutzutage, und die Verführung! Ich hab'
sie doch neulich noch so ernstlich gewarnt ... Es tut mir furchtbar
leid, Rosenbrock; aber unter diesen Umständen nehmen Sie sie zum
ersten November doch wohl lieber wieder mit.«

»Frau Marwede, wollen Sie nicht so gut sein und sie noch ein paar
Wochen behalten? Wir hoffen, daß es noch vor Weihnachten zur Hochzeit
kommt.«

»So gern ich es täte, es geht nicht, schon wegen der Kinder. Unsere
beiden Ältesten sind schon höllischen aufgeklärt. Und bei ihrer
jetzigen Gemütsverfassung haben wir ja auch so gut wie nichts mehr von
ihr.«

»Wie Sie meinen ...«

»Gehen Sie nur auf ihre Kammer, ich schicke sie Ihnen gleich, sie ist
augenblicklich im Keller.«

Gerd stieg langsam die Treppe zum Bodengeschoß hinauf und setzte sich
in ihrem Stübchen auf den einzigen Stuhl.

Bald hörte er ihren eilenden Tritt. Sie erschien in der Tür und sah
ihn mit großen fragenden Augen an.

»Bringst du was Neues?« fragte sie atemlos.

Er schüttelte langsam den Kopf.

Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Wenn Hermann ernstlich will, sollte man
denken, müßte er doch was finden können.«

Er zuckte die Achseln: »Ja, die Sache zieht sich gar zu sehr in die
Länge ... Vielleicht nimmt er zuletzt doch die andere.«

»Welche andere?«

»Hab' ich dir das nicht geschrieben?«

»Nein. Mensch, welche andere?«

»Sein Vater hat ihm die Tochter von unserm Grasbauern zugedacht.«

»Hermine?«

Gerd nickte.

»Aber die hatte ja schon damals, als ich eben erst konfirmiert war,
vor fünf Jahren, keine eigenen Haare mehr!«

»So eine nimmt man ja auch nicht ihrer Haare, sondern ihres Geldes
wegen.«

»Gerd! ...«

»Leidchen ...«

»Ich weiß gewiß, wenn er die bloß sieht, nimmt er Reißaus. Dazu kenn'
ich meinen Hermann zu genau. Nein, wegen der kann ich ganz ruhig sein.«

Er zuckte die Achseln ...

»Was soll nun werden?« fragte er nach einer Weile.

Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt und sah ihn an wie ein
hilfloses Kind.

»Du mußt nämlich wissen, Frau Marwede hat eben zum ersten November
gekündigt,« fuhr er fort.

Sie erschrak. »Hast du ihr was gesagt?«

»Sie redete mich darauf an, und lügen wollte ich deswegen nicht.«

»Wo soll ich denn aber so lange hin?«

»Ja, das möchte ich auch wissen ... Bei uns ist jetzt, wo die Kinder
größer werden, nicht recht Platz ... Und überhaupt ...«

»Zu Trina möcht' ich auch nicht, die ist so schrecklich selbstgerecht
... und dann die ganze Nachbarschaft ...«

»Geh doch zu deinem Vormund. Er hat dich gegen meinen Willen hier
hergeschickt und kann dir nun auch helfen, die Suppe auszuessen.«

»Ach Gerd, die Leute haben nie Kinder gehabt und denken bloß an sich
... Weißt du keinen besseren Rat?«

»Ja, nun heißt's: Gerd, du mußt Rat schaffen. Früher, als es noch Zeit
war, wurde mein Wort für nichts geachtet.«

»Aber ich muß doch irgendwo bleiben!«

»Ja, ja. Da ist guter Rat teuer.«

Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und sah lange nachdenklich
zu Boden. Endlich richtete er sich auf, sein Gesicht hatte einen
lebhafteren Ausdruck angenommen: »Hm. Das wäre vielleicht was ...«

Sie sah gespannt und erwartungsvoll zu ihm hinüber.

»Hm, wenn wir den Torf erst zur Stadt haben, könnte Jan mich für den
Winter wohl entbehren. Dann wär' es am Ende möglich, daß ich schon
bald in mein Haus zöge und anfinge, die Stelle tüchtig zu bearbeiten.
Sie hat es ja bitter nötig ... Dann käm' ich nächstes Frühjahr
mit Sine gleich besser in Gang ... Und wenn du mitgingest und mir
haushieltest ...«

Sie sprang vom Bettrand auf, ergriff seine Hand und rief mit
glänzenden Augen: »Oh, wie gern tu' ich das! Ja, Gerd, so geht es
fein. Man zu, bitte, bitte!«

Er schüttelte den Kopf: »Eigentlich ist es ja Unsinn. Und ob Jan seine
Zustimmung gibt? Und ob's Sine recht ist?«

»Oh, Gerd,« rief Leidchen, »die kriegst du leicht herum. Bedenk doch,
dann bin ich auch näher bei Hermann. Wenn ich so weit von ihm weg
bin, ist es mir manchmal, als ob ich die Gewalt über ihn verlöre. Er
ist einer von denen, die man immer im Auge behalten muß.«

Gerd zuckte mit der Schulter. »Wie machen wir's nur mit dem Hausrat?
Das ist noch das Schlimmste.«

»Oh, wenn's anders nichts ist! Ich hab' ja mein eigenes Bett, und du
kannst das, worin du jetzt schläfst, bis Ostern wohl von Trina leihen,
eher nehmen sie ja doch keinen Knecht wieder. Bettstellen brauchen
wir nicht, denn da ist gewiß an jeder Stube eine Butze. Den Tisch und
ein paar Stühle gibt Trina auch wohl her, oder sonst Tante Rotermund.
Die Küchengerätschaften, Messer und Gabeln, Teller und Tassen will
ich gern kaufen. Ich muß ja doch welche haben, für meine Aussteuer.
Du mußt aber mit Jan abmachen, daß er dich wieder nimmt, wenn ich
Hochzeit mache.«

Sie sprachen noch eine Weile über den Plan hin und her, und Leidchen,
die auf einmal wie neu belebt war, hatte dabei die besten und
praktischsten Gedanken. Zuletzt wurde abgemacht, wenn Gerd keine
andere Nachricht gäbe, sollte er am ersten November kommen und die
Schwester holen, die dann alles zur Abreise fertig haben wollte.

Als Gerd nach Hause kam, trug er Jan und Trina seinen Plan, und was
diesen veranlaßte, vor. Sie waren über Leidchen weidlich entrüstet
und gaben schließlich ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß Gerd
seinen Torf noch in die Stadt zu schaffen habe, je nach der Zeit, wann
die Kunden ihn verlangten.

Sine weinte blanke Tränen, als Gerd ihr von Leidchen erzählte, und war
sogleich bereit, einige Stücke ihrer Aussteuer schon jetzt herzugeben.
Er freute sich ihres guten Herzens, und sie dachte, ein so treuer
Bruder würde auch einen trefflichen Ehemann abgeben.

Um den Weg von Nr. 40 nach Nr. 1 +a+, für den ein Fußgänger fast
dreiviertel Stunden gebrauchte, schneller zurücklegen zu können,
kaufte Gerd sich ein Fahrrad für alt und machte sich mit Eifer
daran, die Wohnung instand zu setzen. Er versuchte sich mit einem
Geschick, über das er sich selbst wunderte, als Maurer, Zimmermann
und Dachdecker, und brauchte Handwerker nur für wenige Tage zu Hilfe
zu nehmen. Ende Oktober war das Haus soweit hergerichtet und mit
Gerät, Feuerung und Lebensmitteln versehen, daß zwei Menschen zur Not
in ihm ein paar Wintermonate überstehen konnten. Am Vormittag des
Einunddreißigsten tat er das Kätzchen, das sich in seinem Asyl hübsch
herausgemacht hatte, in ein Beutelchen, das er an die Lenkstange
seines Rades hängte, und fuhr es in die alte Heimat zurück, wo es
sofort auf die Herdstelle sprang und behaglich zu schnurren begann.

Am Nachmittag fuhr er nach Bremen, um die Schwester zu holen.

Nach schnellem, ungerührtem Abschied von den Milchhändlersleuten
folgten die Geschwister einem Torfwagen, der zufällig des Weges kam
und Leidchens Siebensachen zum Torfhafen mitnahm. Als sie aber die
Große Weserbrücke überschritten hatten, trennten sie sich von ihm,
um den Weg durch die innere Stadt zu nehmen und auf dem Freimarkt,
der eben wieder im Gange war, noch einige Einkäufe für ihren jungen
Hausstand zu machen. Zu Füßen des Riesen Roland erstanden sie ein paar
Blechsachen, auf der Domsheide etwas irdenes Geschirr.

Als sie durch eine der Zeltreihen des Domhofes gingen, blieb Leidchen
vor einer Kuchenbude stehen. »So was gibt's heute nicht,« sagte Gerd
mit strengem Gesicht und ging weiter, aber sie hörte nicht darauf, und
als sie bald nachkam, überreichte sie ihm ein großes rotes Kuchenherz.
Er wollte schelten, als er aber das aufgeklebte Verschen las, schwieg
er und sagte kurz: »Danke.« Die Inschrift des schmalen weißen
Zettelchens lautete: »Ein getreues Herze wissen, ist des höchsten
Glückes Preis.«

Langsam schlenderten sie die Budengasse hinunter.

Vor einem Karussell, auf dem allerlei Jungvolk vom Lande sich
belustigte, blieb Leidchen wieder stehen. Als Gerd von der Seite ihr
Gesicht beobachtete, sah er in ihren Augen ein feuchtes Schimmern. Da
fiel ihm ein: hier war's gewesen, wo sie vor Jahren mit dem, der nun
ihr Verhängnis geworden war, fröhlich lachend ihm davonfuhr und er ihr
verdutzt und ärgerlich nachblickte.

Da Leidchen noch immer stand und alles um sich her vergessen zu haben
schien, zupfte er sie leise am Ärmel. Sie fuhr wie aus einem Traum
empor und folgte ihm langsam. Als sie aus dem Marktgedränge heraus
waren, schlugen sie einen schnelleren Schritt an, der sie in kurzem
zum Torfhafen brachte.

Sie trugen die Kommode und die anderen Sachen, die der Fuhrmann auf
das Kaipflaster gestellt hatte, ins Schiff und machten alles zur
Abfahrt fertig.

Als Gerd das Schieberuder nahm, fragte sie: »Soll ich an der Leine
gehen und ziehen?« »Danke,« gab er zur Antwort, »hier auf dem Kanal
kann ich's gut allein.«

Er schob an, und das Schiff setzte sich in Bewegung. Sie ging auf dem
Leinpfad hinter ihm her. Eine Drehorgel spielte ihnen zum Abschied:
Freut euch des Lebens. Die Klänge wurden schwächer und schwächer und
gingen zuletzt in dem Brausen des Herbstwindes unter, der die Bäume
des Bürgerparks schüttelte und entblätterte.

Der Wasserlauf machte eine Biegung nach links und zog sich in das
freie, unter Wasser stehende Blocklander Feld hinauf, über das der
Wind in langen Stößen hinfegte. Einmal wandte Leidchen sich um. Die
Stadt, unter grauem Wolkenhimmel mit Regenstreifen, lag schon ein
gutes Stück zurück. Sie zerdrückte eine Träne in den Augen. Von hier
aus hatte sie das Ziel ihrer jugendlichen Wünsche und Träume vor vier
Jahren im Goldglanz der Herbstmorgenfrühe geschaut.

Als sie die Hamme erreichten, brach der Abend herein. Der Himmel hing
voll grauer, tiefziehender Wolken, die ein böiger Wind trieb, der
zuweilen fast zum Sturm wurde. Leidchen zog sich bald in die Koje
zurück. Gerd hatte mit seinem Stangenruder angestrengt zu arbeiten,
denn der Wind kam scharf von der Seite und trieb das Schiff zum
anderen Ufer hinüber.

Endlich machte der Fluß eine Biegung, und er konnte den Mast
aufrichten und das Segel entfalten.

Da infolge der Regengüsse der letzten Woche die Hamme aus den Ufern
getreten war und ihr Tal einen weiten See bildete, durfte er es wagen,
quer durch die überschwemmten Wiesen segelnd einige Krümmungen des
Flußlaufs abzuschneiden. Er lag am Steuerruder und hatte das Segeltau
nicht wie gewöhnlich am Tauhaken festgemacht, sondern mehrmals um
seinen Arm gewunden, mit dessen sehniger Kraft Sturm und Wellen zu
meistern ihm Freude machte. In solchen Nächten bekam die eintönige,
mühselige Moorflußschiffahrt, zum Kampf mit den entfesselten Elementen
werdend, eine gewisse Größe und brachte eine Aufrüttlung des inneren
Menschen, die der junge Schiffer wohltuend empfand.

Für Augenblicke verbreitete der volle Mond, freiwerdend, Tageshelle
und warf sein glitzerndes Licht über das Wellengewoge, um dann wieder
von dunklen Wolkenungeheuern verschlungen zu werden, deren Schatten
wie riesige Gespenster über die aufgeregten Wasser tanzten. In den
pfeifenden, sausenden Schilfwäldern schnarrten die Enten, aus der Höhe
kamen die Schreie der Wildgänse und schrille Wandervogelrufe.

Die Wogen planschten so stark gegen die dünnen Schiffsplanken, daß
man jeden Schlag durch sie hin fühlte. Wenn der Sturm sich mit
erneuter Kraft in das schwarze Segel warf, ächzte der Mastbaum in
der Segelbank, und Gerd, der scharf und hell in das wilde Wesen
hineinpfiff, fürchtete einige Male fast, er würde umknicken.

Plötzlich gab es einen Stoß und Krach, als ob das kleine Fahrzeug
mitten entzwei bräche. Es saß fest, neigte zur Seite, eine Welle
spritzte über Bord. Mit einem gellenden Schrei kam Leidchen aus der
Koje gefahren; das Segel, das Gerd, um nicht zu kentern, schnell hatte
flattern lassen, schlug ihr klatschend um das Gesicht. Unter ihm sich
duckend, ging sie auf den Knien in die Mitte des Schiffs und sah den
Bruder mit entsetzten Augen an.

»Keine Bange, mein Deern,« sagte er gelassen, indem er bereits mit dem
Schieberuder arbeitete, »ich krieg' uns schon los.«

Nach einer Minute war das Schiff denn auch wieder frei. »Das Segel
will ich doch lieber einholen,« fuhr er fort, »der Wind bringt uns zu
weit aus der Kehr.«

Als er das wild sich gebärdende Tuch geborgen hatte, begann er mit dem
Stangenruder zu arbeiten. Leidchen kauerte vor ihrer Kommode nieder
und sagte schuddernd: »Eine schreckliche Fahrt!«

»Eine herrliche Fahrt!« gab er zurück, und es war ein den Sturm
übertönendes Jauchzen in seiner Stimme. »Es wär' ein Jammer, wenn's
nicht auch so was gäbe, zumal in so bedrückten Zeiten!«

Nach einer Weile hob sie sich ein wenig; der Mond, eben wieder aus
dem Gewölk tretend, beleuchtete scharf ihr von einem schwarzen
Umschlagetuch teilweise verhülltes Gesicht und verlieh den großen,
tief in ihren Höhlen liegenden Augen einen fremdartigen Glanz: »Gerd,
ich will dich mal was fragen.«

»Was denn, Kind?«

»Du darfst mir aber nichts vorschnacken, du sollst reden, wie es deine
Überzeugung ist ... Glaubst du wirklich noch, daß Hermann sein Wort
hält?«

Er schwieg.

»Gerd, gib mir Antwort!«

»... Ich habe keine Hoffnung mehr.«

Da schlug sie die Hände vor das Gesicht, sank in sich zusammen und
wimmerte: »Dann wollt' ich, ich läge unten auf dem Grund der Hamme und
wäre tot.«

Es dauerte nicht lange, so beugte er sich zu ihr nieder und rief leise
ihren Namen.

»Leidchen,« rief er etwas lauter.

»Was soll ich?«

»Ein getreues Herze wissen ...«

Sie kam auf dem Boden des Schiffes herangekrochen und umschlang
schluchzend seine Knie. Und er bückte sich, ihr wie einem kranken
Kinde mit der harten Arbeitshand die weichen Wangen zu streicheln:
»Liebes Leidchen, nun sei man still. Wir beide halten treu zusammen
... Es kommt auch wohl noch mal die Zeit, wo du wieder durchgrünst ...
unser Herrgott wird dich ganz gewiß nicht verlassen ...«

Das Licht einer Hammehütte, das ihm als Richtepunkt diente, wollte
und wollte nicht näher kommen, es gab ein schweres Arbeiten. Als er
endlich vor der kleinen Herberge anlangte, war er wie in Schweiß
gebadet und erklärte, er müsse sich ausruhen. »Willst du dich so
lange in die Koje legen?« fragte er die Schwester. Sie schüttelte sich
und sah ihn erschrocken an: »Allein graut mir.« Da legte er brüderlich
den Arm um sie und schritt mit ihr der Hütte zu.

Eine gute Stunde saßen sie in der heißen, tabaksqualmerfüllten
Schifferherberge. Gerd hatte nach seiner Gewohnheit den Kopf in die
auf dem Tisch verschränkten Arme gelegt und war schnell eingeschlafen.
Leidchen saß steif auf ihrem Schemel und blickte in das fremdartige
Treiben. Die ankommenden Schiffer machten ihre Bemerkungen über
Wind und Wasser, und ließen sich von dem Wirt, der ein mürrisch
verschlafenes Gesicht zeigte, bedienen. An einem Tisch, wo junge
Burschen Karten spielten, wurde gotteslästerlich geflucht, und einer
von ihnen sah öfters zu Leidchen hinüber, mit frech vertraulichen
Blicken. Sie war nur froh, daß sie keinen aus ihrem Dorf entdeckte.
Bald schloß auch sie die Augen, aber ohne Schlaf und Vergessen zu
finden.

Das erste Grau stand im Osten, als sie in den Brunsoder Schiffgraben
einliefen und ausstiegen.

»Soll ich mich in die Leine legen?« fragte Leidchen.

»Nein,« sagte Gerd, »ich will das Schiff wohl ziehen, du kannst es mit
der Stange vom Ufer halten.«

So arbeiteten sie sich langsam durch die Morgendämmerung die Reihe der
Klappstaue hinauf.

Dicht vor der Mühle zweigte der Achterdammsgraben ab, in den Gerd sein
Schiff hineinlenkte.

Klopfenden Herzens suchte Leidchen mit den Augen das stattliche
Mühlgehöft ab, entdeckte aber nichts Lebendes außer dem großen Hund,
der vor seiner Hütte lag und sich kratzte. Er schien noch nicht in der
Stimmung zu sein, Schiffer anzubellen.

Die Wolken des östlichen Himmels zeigten jetzt goldige Säume.

»Da kuckt mein Busch über das Moor,« sagte Gerd, mit der Hand nach
vorn weisend. »Wenn du scharf zusiehst, kannst du auch schon das
Hausdach erkennen. Siehst du's?«

Leidchen nickte.

Nach einer Weile zeigte er auf einen durch üppig wucherndes Heidekraut
blinkenden, tiefen und schmalen Graben und sagte mit frohem Stolz:
»Dies ist die Grenze, hier fängt meine Gerechtsame an.«

Nach hundert weiteren Schritten hielt er den Kopf ein wenig schief und
sagte: »Nicht wahr, ein feines Besitztum? Wie schön machen sich die
beiden hohen Tannen rechts und links vom Hause, beinah wie ein Paar
Schildwachen! Du kannst jetzt auch schon die gelben Flicken im Dach
sehen, die ich selbst eingesetzt habe.«

Er blickte sich fragend um. Sie nickte mit erzwungenem Lächeln und
sagte: »Ja, Junge, du kannst wohl lachen, wenn andere Leute weinen.«

Einige Minuten später führte Gerd von dem halb eingesunkenen
Schiffschauer, wo sie angelegt hatten, seine Schwester an der Hand dem
Hause zu.

Ehe sie durch die Große Tür eintraten, blieb er stehen und sagte,
zur Oberschwelle aufblickend, indem er den Arm um ihre Hüfte legte:
»Unsern Eingang segne Gott.«

»Unsern Ausgang gleichermaßen,« ergänzte sie leise mit zager Stimme.

So hatte der Erbauer des Hauses es in den Eichenbalken graben lassen.

Auf dem Flett kam ihnen das Kätzchen entgegengesprungen, rieb sich an
Gerds Schienbeinen und wuschelte sich in Leidchens Rock.

»Kuck an,« rief er munter, »etwas Lebiges ist auch schon da,« und sie
bückte sich froh überrascht und streichelte dem Tierchen das seidige
Fell.

Als sie alle Räume besehen und darauf die Kommode und übrigen Sachen
hereingeholt hatten, rieb der Hausherr sich behaglich die Hände und
sagte: »So mein' Deern, nun koch' uns mal 'n schönen Kaffee. Da in dem
Kasten findest du Kaffee und Zichorien. Einen Gasherd hab' ich hier
nicht, mußt sehn, wie du mit so 'ner altmodischen Feuerstelle fertig
wirst.«

Das unter dem berußten Kessel bereitliegende Sprickerholz knisterte
und rauchte, flammte auf, die Funken sprangen, das Wasser begann zu
singen, dampfte, brodelte, und es dauerte nicht lange, so saßen die
Geschwister und schlürften mit spitzem, vorsichtigem Munde den heißen
Trank, der ihnen nach der rauhen Sturmnacht wohltat. »Wir müssen
ihn diesmal noch schwarz trinken,« sagte Gerd, »die Ziege hol' ich
heute nachmittag.« Dazu aßen sie Schwarzbrot mit Butter und Schinken,
die Gerd einem unbehobelten Kasten entnahm, der einstweilen den
Vorratsschrank ersetzte. Er schlug eine wackere Klinge und nötigte,
mit vollem Munde kauend, immer wieder: »Zu, Leidchen! Lang' dreist
zu! Du kannst so viel essen wie du magst ... Hier auf dem Lande muß
der Mensch ordentlich essen ... So kommodig wie in der Stadt mit dem
bißchen Fegen und Wischen kriegst du's bei mir nicht, das mußt du
dir ja nicht einbilden. Hier wird gearbeitet! ... Nimm dir man noch
'n ordentliches Stück Schinken, den Speck kannst du mir geben, wenn
er dir zu fettig ist ... Ach, im eigenen Hause schmeckt's einem doch
zehnmal so schön, als an anderer Leute Tisch ... Kuck mal, da kommt
auch schon Besuch!«

»Wer?« fragte Leidchen erschrocken, indem sie mit hastigen Blicken das
Gesichtsfeld vor dem Fenster absuchte.

»Die liebe Sonne,« sagte er lächelnd, und fügte mit Paul Gerhardt
hinzu: »Voll Freud' und Wonne.«

Das freundliche Himmelslicht hatte sich siegreich durch die Wolken
gekämpft und strahlte hell durch die bleigefaßten grünlichen Scheiben
auf den rotgestrichenen Tisch.

»Nun geht sie schon wieder weg,« sagte Leidchen, als eine Wolke das
Sonnenlächeln schnell auslöschte.

»Sie kommt bald wieder,« tröstete Gerd.

Dann reichte er der Schwester über den Tisch die Hand und sagte: »So
Leidchen, wenn du satt bist, gehst du erst in die andere Stube und
kriechst in deine Butze. Bis Mittag kannst du ordentlich ausschlafen,
dann weck' ich dich, und du machst uns eine Pfanne Eierbutter.«

Sie nickte, stand auf und ging.

Auch er gedachte ein wenig zu ruhen. Aber vorerst steckte er sich
ein Pfeifchen an, um ein paar Züge zu tun, und ging, mit Genuß die
graubraunen Wolken vor sich her blasend, noch einmal durch alle
Räume seines Hauses. Dann trat er auf den Hof hinaus und ließ die
stillfrohen Augen über sein kleines Königreich wandern. Die Sonne
brach gerade einmal wieder durch. Da lehnte er sich an den Türpfosten,
schlug das eine Bein über das andere und blinzelte und paffte, seiner
Sine gedenkend, in das gelbe Licht des Herbstmorgens.




                                  20.


»Hier bring' ich dir unsere Zickmarie,« rief Gerd am Nachmittag
frohgelaunt, als er der Schwester eine pfeffer- und salzfarbene,
hörnerlose, langbärtige Ziege vorführte. »Was meinst du, ist sie sechs
Taler wert?«

Leidchen sah dem Tiere nach dem Euter und sagte: »Och ja, das will ich
nicht sagen ...«

»Du könntest sie wohl gleich mal melken, Deern.«

Während sie ein Gefäß holen ging, führte er die neue Hausgenossin mit
freundlichen Willkommsworten in den Stall.

Bald strullte die Milch in die irdene Schale. »Wie schön weiß sie
ist!« rief Gerd in der Freude an dem ersten eigenen Stück Vieh
bewundernd, und Leidchen lächelte zu ihm hinauf: »Wie soll Milch denn
anders aussehen?«

»Daß ich es nicht vergesse,« sagte Gerd nach einer Weile. »Ich soll
dich auch grüßen.«

»Von wem?«

»Von Hermann.«

Sie sah erschrocken zu ihm auf und hielt, das Melken unterbrechend,
den Euterstrich zwischen den zitternden Fingern.

»Hast du ihn gesprochen?«

»Ja.«

»Ich soll dich grüßen.«

»Sonst nichts?«

»Er würde dir bald mal guten Tag sagen, aber heut' hätte er noch keine
Zeit, der Wind wär' zu günstig. Wind geht solchem Windmüller ja über
alles ... Aber nun vergiß das Melken nicht ganz, das Tier wird schon
ungeduldig.«

Die Milch zischte zweimal an der Schale vorbei und fand dann erst
wieder den richtigen Weg.

                   *       *       *       *       *

Als Gerd am nächsten Mittag von der Arbeit im Freien zu Tisch kam,
machte er große Augen. Leidchen hatte in Bremen einige Holzschnitte
und bunte Bilder aus einer abgängigen Zeitschrift gerettet und nun
die kahlen, getünchten Wände der Wohnstube damit geschmückt. »Wie
ihr Racker von Frauensleuten einem das Haus gleich wohnlich und
gemütlich machen könnt!« rief er froh verwundert, und sie führte ihn
mit glücklichem Lächeln durch ihre kleine Galerie: »Das ist Barry,
der berühmte Bernhardinerhund, wie er einen Verunglückten im Schnee
findet ... hier schießen sie den treuen Andreas Hofer tot ... und
hier spielen feine Damen Schäferin ... und dies ist die Schlacht bei
Gravelotte ... und hier feiert Luther mit seiner Familie Weihnachten,
dies ist seine Frau Käthe, das da wird wohl Magdalenchen sein, und der
Mann mit dem Bart ist, glaub' ich, Philipp Melanchthon.« »Kuck bloß
mal einer an, was bei uns nun alles zu sehen ist!« rief Gerd, über
ihre Freude an den Bildern noch mehr erfreut als über diese selbst.
»Sollst mal sehen, es wird ein gemütlicher Winter,« fügte er hinzu.
Aber da trübte sich ihr Blick auf einmal, und sie schlug die Augen zu
Boden.

Am Tage darauf sollte Gerd wieder für Jan eine Ladung Torf nach
Bremen schaffen. Nachdem er die Schwester ermahnt hatte, auf alles
gut zu passen und der reisenden Handwerksburschen wegen die Türen
verschlossen zu halten, fuhr er auf seinem Rade davon.

Leidchen setzte sich in die Wohnstube vor das Fenster und nahm
des Bruders blaue Arbeitshose vor, um vor dem rechten Knie einen
Flicken einzusetzen. Die Flügel der Mühle, die von hier aus über dem
Birkenanflug des Hochmoores sichtbar waren, drehten sich noch immer,
aber, wie es ihr wenigstens scheinen wollte, langsamer als die beiden
letzten Tage, wo sie so oft nach ihnen ausgeschaut hatte. Richtig, der
Wind hatte nachgelassen. Und sie wurden noch langsamer, und zuletzt
standen sie still.

Da legte sie die Arbeit zur Seite, machte sich das Haar, zog ein
besseres Kleid an und nahm voller Erwartung ihren Platz am Fenster
wieder ein. Zum Flicken hatte sie keine Ruhe mehr, sie nahm einen
angefangenen Strumpf und ließ die Stahlsticken mechanisch klirren.

Als die Dämmerung hereinbrach, stellte sie die Küchenlampe auf den
Tisch, so, daß ihr lockender Schein zum Fenster hinausfiel.

Es wurde schnell dunkel, bald war draußen nichts mehr zu erkennen. Da
ließ sie das Strickzeug in den Schoß sinken und begann zu horchen und
zu lauschen.

Und sie hörte die Stille, die tiefe, lautlose Stille nächtlicher
Mooreinsamkeit. Und sie erschrak vor ihr, wurde von ihr wie gebannt
und gelähmt. Als endlich eine Fliege um die Lampe summte, empfand sie
den Ton wie eine Erlösung und atmete befreit auf.

Plötzlich stand sie auf, hüllte sich in ihr Umschlagetuch, trat
ins Freie und folgte dem Pfad, der durch Gerds Äcker zu seiner
Hochmoorbank hinauflief. Bald stand sie vor dem schmalen Grenzgraben,
der seinen Besitz von der Mühlstelle trennte. Mit Herzklopfen trat sie
hinüber. Der Pfad führte hier durch junge Kiefern und Birkenanflug
weiter. Scharf spähte sie ihn entlang und behielt auch den parallel
laufenden Damm zur Linken im Auge, den der Erwartete ja ebensogut
wählen konnte. Am Rande des Hochmoors blieb sie stehen. Jenseits der
schwarzen Torfgründe schimmerte die junge Wintersaat durch das Dunkel,
weiterhin waren die Umrisse des Mühlgehöftes zu erkennen, mit den
erleuchteten Fenstern des Wohnhauses.

Drüben auf dem Damm ging jemand. Mit klopfendem Herzen eilte sie den
Weg zurück, den sie gekommen war. Das Licht im Fenster blinkte ihr
hell entgegen.

Sie stellte sich hinter das Schiffschauer und spähte zu dem nahe
vorüberführenden Kirchdamm hinüber. Wenn die Gestalt, die langsam auf
ihm dahergeschritten kam, doch zum Achterdamm abbiegen wollte! ...

Aber sie ging vorüber.

Die bitter Enttäuschte kehrte ins Haus zurück und nahm ihren Platz am
Fenster wieder ein. Und wieder war die fürchterliche Stille um sie. Da
rief sie das Kätzchen in die Stube, um etwas Lebendiges bei sich zu
haben, und war dankbar, wenn es einmal schnurrte oder miaute.

Endlich ging sie in die andere Stube hinüber, um sich zur Ruhe zu
begeben. Sie zog sich aber nicht aus, sondern stieg angekleidet in
ihre Butze.

Sie hatte lange Zeit gelegen, erst horchend, dann grübelnd, zuletzt
in einer Art Halbschlaf, als sie plötzlich in die Höhe fuhr und rief:
»Ich komme!«

Auf den rechten Arm gestützt, horchte sie, mit angehaltenem Atem.

Sie hörte das wilde Klopfen des eigenen Herzens. Sonst war nichts um
sie als tiefste Stille.

»Es hat doch geklopft,« murmelte sie, »ich hab's ja ganz deutlich
gehört.« Und sie stand auf, öffnete das Fenster und lehnte sich
spähend hinaus.

Der eben aufgehende Mond hing wie eine brandrote Scheibe in den
Moorbirken. Mitternacht mußte längst vorüber sein.

Sie schloß das Fenster, warf schnell ihre Kleider ab und legte sich
wieder in die Butze, deren Schiebetür sie jetzt fest hinter sich zuzog.

                   *       *       *       *       *

Gerd brachte von der Stadt einen kurzbeinigen, langschwänzigen,
braungelben kleinen Köter mit, der auf den Namen »Lustig« hörte. Er
hatte ihn von einem Torfkunden geschenkt bekommen, der wegen des
Tierchens mit seinem Hauswirt Ungelegenheiten gehabt hatte. »Ich
dachte,« sagte er, als er ihn Leidchen vorstellte, »ich wollte ihn man
nehmen, wo wir so einsam wohnen und ich dich oft allein lassen muß.
Er frißt sich wohl sacht mit durch. Mit 'm Hund, das ist doch immer
geselliger als mit 'ner Katze.«

»Junge, wie du doch an alles denkst!« sagte Leidchen verwundert und
bewillkommnete den neuen Hausgenossen mit einem Teller verdünnter
Ziegenmilch.

Musch und Lustig konnten sich anfangs nicht gut riechen. Als aber
beide ihre Tracht Prügel weg hatten, kam schnell eine Art Einvernehmen
zustande, korrekt, wenn auch ohne Herzlichkeit.

                   *       *       *       *       *

Am Sonntagnachmittag war Gerd eben mal ins Dorf gegangen, während
Leidchen nach dem Aufwaschen des Geschirrs auf dem Flett saß und die
bei Tisch gebrauchten Messer und Gabeln putzte, wie sie es bei Frau
Marwede gelernt hatte.

Da ging die Große Tür auf, ein Mädchen kam über die Diele und
mit kurzen munteren Schritten gerade auf Leidchen zu. Ihre Hand
nehmend, sagte sie, indem die kleinen runden Augen etwas verlegen
dreinschauten: »Guten Tag, Leidchen, ich bin Sine. Ist Gerd zu Hause?«

Leidchen warf schnell einen prüfenden Blick auf die Schwägerin und
sagte, ihr Bruder wäre eben ins Dorf gegangen, würde aber in einer
Viertelstunde wohl wieder da sein. Sine möchte nur ablegen und näher
treten.

Mit einer kurzen, lebhaften Bewegung nahm Sine die dunkelrote
Wollkappe vom Kopf, strich sich mit den Händen glättend über das Haar
und trat vor Leidchen in die Stube.

Hier nahmen die beiden Mädchen sich gegenüber Platz und musterten
einander abwechselnd. Wenn die eine hinsah, blickte die andere weg.

Leidchen wunderte sich im stillen, daß so eine das Herz ihres Bruders
hatte erobern können. Nach seinen Schilderungen und dem Maß seiner
Verliebtheit hatte sie sich die Braut viel stattlicher und hübscher
vorgestellt. Die war ja einen guten Kopf kleiner als sie selbst; ein
»Buttaars«, wie die Leute zu sagen pflegten. Ihr Gesicht strotzte
wohl von Gesundheit, aber für ihren Geschmack war es etwas zu rot und
viel zu rund. Die Augen guckten ja wohl ganz grall, waren aber weder
schwarz noch braun, sondern graublau, wie die meisten Augen. Daß die
Deern niemals aus dem Moor herausgekommen war, verriet schon der
Schnitt ihrer Kleidung.

Als Leidchen dies alles, nicht ohne eine gewisse Genugtuung darüber
zu empfinden, festgestellt hatte, nahm sie der künftigen Schwägerin
gegenüber etwas damenhaft Geziertes an, wie sie es einst ihrer
Freundin Meta Stelljes abgeguckt hatte. Zur zweiten Natur, wie dieser,
hatte es ihr aber in dem einen Jahre noch nicht werden können, sie
mußte es von Fall zu Fall, wenn sie es nötig zu haben glaubte,
annehmen.

»Bist du zu Fuß gekommen?« brach sie das allmählich drückend werdende
Schweigen.

Sine zog ihr rundes Gesicht in die Breite und lachte: »Jaha, meinst
du, es wär' ein Kutschwagen vorgefahren und hätte mich abgeholt?«

»Du könntest ja auch per Rad gekommen sein. Viele Fräuleins haben
heutzutage ein Damenrad.«

»Ha, für so'n neumodischen Spielkram hab' ich kein Geld übrig. Wo ich
was zu suchen hab', kann ich genug zu Fuß hinkommen.«

»Bist du mal in der Stadt in Stellung gewesen?«

»Nee. Ich bin mein Lebtag nicht aus dem Kuhstall herausgekommen.«

»Hm, das ist eigentlich schade.«

»Warum?«

»Es ist für unsereins ganz gut, wenn er mal ein bißchen umlernt.«

»Warum? So wie ich's hier gelernt hab', soll ich's ja doch mein
Lebenlang gebrauchen.«

»Na ja, aber es schadet doch nichts ...«

»Ha, das ist nun zu spät. Die Hauptsache ist, daß ich 'n ordentlichen
Bräutigam gekriegt hab'.«

Leidchen blickte peinlich berührt zur Seite.

Nach einer Weile begann sie wieder: »Ich hatte dich mir eigentlich
größer vorgestellt.«

Sine lachte lustig auf: »Das kommt wohl davon, weil ich und Becka
Zwillinge sind. Da mußten wir beide uns in die richtige Länge teilen,
und dabei ist für jede nicht so viel geblieben. Aber ich bin groß
genug, die meiste Arbeit ist für unsereins ja doch an der Erde.«

Auf der Diele wurden Schritte laut.

»Verrat mich nicht!« rief Sine und huschte hurtig wie ein Kathekerchen
hinter den Ofen.

Gerd trat ein, die Sonntagspfeife im Munde, und setzte sich an den
Tisch, um eine Zeitung zu lesen, die er sich aus dem Dorf mitgebracht
hatte. Er interessierte sich für das, was in der Welt vorging, an
müßigen Winterabenden sogar für die Reden, die zum Fenster des
Reichstags hinaus gehalten wurden, hatte sich selbst aber noch kein
Blatt bestellt, weil das Vierteljahr schon zu weit vorgeschritten war.

Plötzlich wurden ihm beide Augen von hinten zugehalten.

»Laß den Unsinn, Leidchen!« rief er unwillig, und packte die Hände. Da
merkte er, daß sie für die Schwester zu kurz und dick waren, sprang
auf und drückte seine Sine so fest an sich, daß sie kreischte. Er
hatte sich nämlich im stillen den ganzen Tag nach ihr gesehnt und sich
vorgenommen, wenn er sich in den Weltbegebenheiten umgesehen hätte,
schnell auf das Rad zu steigen und sie noch zu besuchen.

Als er sie losgelassen hatte, sahen die Brautleute einander
glückstrahlend in die Augen. »Sie ist doch gar nicht häßlich,« mußte
Leidchen sich jetzt gestehen.

Diese fühlte bald, daß sie hier überflüssig war. Denn die beiden
fingen an, von der Zukunft zu plaudern, und es schien ihr, als ob sie
sich ihretwegen dabei einen gewissen Zwang auferlegten.

Sie stand auf und ging in die ungeheizte andere Stube, wo sie sich auf
den Stuhl, der außer ihrer Kommode hier die ganze Ausstattung bildete
und nachts ihre Kleider trug, an das Fenster setzte.

Was die beiden da drüben für ein Leben machten! Man sollte nicht
glauben, daß Gerd, der auf einmal so lachen konnte, derselbe Gerd war,
den sie von kindauf kannte.

Nach einer Weile ließ Sines muntere Stimme sich auf dem Flett hören.
Leidchen hob horchend den Kopf.

»Da kocht sie sogar schon Kaffee!« brummte sie ärgerlich vor sich hin.
»Na, meinetwegen gern. Ich bin hier ja doch bloß geduldet. Ich wollt',
ich wär' überhaupt nicht erst hergekommen.«

Bald rief's hell von draußen: »Leidchen! Kaffee trinken!«

Leidchen rührte sich nicht vom Fleck und sah finster nach der Tür.

Da wurde diese aufgerissen, und Sine steckte ihr lachendes Gesicht
herein. »Huh, was für 'ne leere Stube! Und wie kalt! Hast du nicht
gehört? Ich hab' dich zum Kaffee gerufen.«

»Och, trinkt man immerzu ... Ihr seid doch wohl lieber allein.«

»Was schnackst du da für dummes Zeug?« rief die andere verwundert,
kam hereingesprungen, legte den Arm schwesterlich um die Schwägerin
und ließ ihr mit Bitten und Drängen keine Ruhe, bis sie aufstand und
sich in die Wohnstube an den gedeckten Kaffeetisch führen ließ. Sine
spielte die Wirtin und schenkte ein. Etwas Butterkuchen hatte sie
auch mitgebracht, für jeden zwei Streifen. Sie war in der frohesten
Laune und erzählte ein lustiges Stückchen nach dem andern. Gerd
lächelte glücklich vor sich hin und sah immer wieder seine Schwester
an, als wollte er sagen: »Nicht wahr? Das ist eine!« Und diese war
liebenswürdig genug, sich zusammenzunehmen und zuweilen gequält
mitzulächeln.

Nach solchem Plauderstündchen um die Kaffeekanne gingen die beiden
Liebesleute ins Freie, wo Gerd der Braut seinen Bepflanzungsplan für
das kommende Frühjahr darlegen wollte. Leidchen hielt sich zurück und
wurde auch nicht zum Mitgehen aufgefordert.

Als sie die Kaffeetassen aufgewaschen und sich in der Wohnstube ans
Fenster gesetzt hatte, sah sie die beiden jenseits der Felder zum
Hochmoor hinansteigen. Die Gestalten hoben sich scharf gegen den
grauen Novemberhimmel ab, Gerd nach seiner Art ein wenig vornüber
gebeugt, und an seiner Seite das kurze, dicke End, das ihm kaum an die
Schultern reichte. Sie trieben keine Zärtlichkeiten, gaben sich weder
den Arm noch die Hand, aber die Einsame am Fenster empfand: das war
ein Paar, das in herzlicher Zuneigung für gute und böse Tage sich treu
und unzertrennlich verbunden fühlte.

Und gerade hinter den beiden drehten sich die Flügel der Mühle.

Ein bitteres Gefühl des Neides stieg in ihr auf, und sie empfand die
eigene Lage schmerzlich weher denn je. Verzweifelt rang sie die Hände
im Schoß.

Aber auf einmal biß sie die Zähne aufeinander, und ihre Züge nahmen
den Ausdruck fast wilder Entschlossenheit an. Und ihr Gesicht hielt
diesen noch fest, als sie bald darauf sich erhob, die Ziege besorgte
und das Abendbrot richtete.

Als die beiden wiederkamen, streckte Sine Leidchen die Hand hin,
um Abschied zu nehmen. Aber diese lud bestimmt und freundlich zum
Abendbrot ein, und auch Gerd bestand darauf, daß sie nicht ungegessen
fortginge.

»Graut dir nicht manchmal?« begann Sine, als sie um den Tisch saßen,
zu Leidchen gewendet.

»Warum?« fragte diese leichthin.

»Oh, ich meine, wenn Gerd tagelang weg ist ... Bis zum nächsten
Nachbarn sind's doch beinahe zehn Minuten.«

Leidchen hob die Schultern ein wenig.

»Du dumme Deern,« fiel Gerd ein, »das fehlt grad' noch, daß du mir das
Kind bange machst. Du mußt's später auch allein hier aushalten, wenn
ich über Land bin.«

»Oh,« sagte Sine, »wenn man verheiratet ist, ist das was anderes.«

Leidchen nagte an ihrer Unterlippe. Gerd warf seiner Braut einen
strafenden Blick zu, den sie auch verstand, worauf sie mit den Augen
um Verzeihung bat.

Als es anfing zu dämmern, machte Sine sich auf den Weg. Gerd
wollte sie ein Stück begleiten und dann, ohne zu Hause noch wieder
anzukehren, nach Nr. 40 fahren, um in der Nacht ein Schiff Torf zur
Stadt zu bringen. Er hatte sich zu dem Zweck schon in sein Arbeitszeug
gesteckt und schob das Rad neben sich her.

Eine Stunde, nachdem die beiden das Haus verlassen hatten, hüllte
Leidchen sich in ihr Umschlagetuch und schlug mit festen Schritten den
Fußpfad nach dem Dorfe ein. Ohne sich zu besinnen, trat sie über den
Grenzgraben, und ohne Schwanken stieg sie vom Hochmoor in das bebaute
Land hinab. Die Mühle wuchs immer größer vor ihr auf. Bald hörte sie
auch das Sausen und Knarren der Flügel. Da blieb sie stehen und preßte
die Hand auf das ungestüm pochende Herz.

Auf einmal sprang etwas an ihr auf, sie erschrak und stieß einen
leisen Schrei aus. Es war Lustig, der den Ziegelstein, den sie vor
das Hühnerloch gelegt hatte, wohl mit den Pfoten zur Seite gearbeitet
hatte und ihr nachgelaufen kam.

Sie versuchte mehrmals, das Hündchen zurückzuscheuchen, aber wenn sie
sich eben gewandt hatte, war es immer wieder bei ihr. Sie überlegte,
ob sie es nach Hause bringen sollte. Aber schließlich sagte sie:
»Meinetwegen komm mit,« und setzte ihren Weg fort.

Sie schlich jetzt auf den Zehen und näherte sich, das Wohnhaus im
Bogen umgehend und links liegen lassend, der Mühle.

Plötzlich schrie Lustig gellend auf, ein großes dunkles Etwas hatte
sich auf ihn gestürzt. Es gelang dem Kleinen aber, sich frei zu machen
und unter einen Haufen Gerümpel zu flüchten.

»Wer da?« klang es soldatisch kurz von der Tür der Mühle her.

Da trat Leidchen schnell vor und in den Lichtschein, der von dort in
das Dunkel fiel.

»Du hier, Leidchen?«

»Ja, ~du~ kommst ja nicht, ich hab' lange genug gewartet.«

»Ich habe wirklich noch keine Zeit gehabt. Aber wart', ich will erst
die Bestie zur Ruhe bringen.«

Er packte die Dogge am Halsband und zerrte sie, mit Fußtritten
nachhelfend, in die Mühle, deren Tür er hinter ihr schloß.

»Wo können wir ein ruhiges Wort miteinander sprechen?« fragte
Leidchen, als er wieder zu ihr trat.

»Wir machen wohl am besten ein paar Schritte durch das Feld,« gab er
zur Antwort. »Da sind wir am sichersten.«

Er schlug die Richtung ein, aus der Leidchen gekommen war. Vorsichtig
schlichen sie am Hause vorüber.

Als sie dieses an die hundert Meter hinter sich hatten, blieb Leidchen
stehen und tat einen tiefen Seufzer.

»Hermann ... Hermann ...«

»Ach ja, Leidchen ...« sagte er kleinlaut.

»Warum hast du mir nicht geschrieben? ...«

»Was sollte ich schreiben?«

»Und warum bist du nicht gekommen? Du hast es Gerd doch versprochen.«

»Es hat sich immer noch nicht recht gepaßt.«

»Tag und Nacht hab' ich auf dich gewartet.«

»Das tut mir wirklich leid. Wenn du wüßtest, was ich diese Zeit
durchgemacht habe ...«

»~Du?~ Wenn ~ich~ das sagte! ...«

»... Es tut mir alles so furchtbar leid.«

»Was?«

»Daß wir so leichtsinnig gewesen sind.«

»So redest du nun? Weißt du nicht mehr, was du mir früher gesagt hast?«

»Ach ja. Das war eben mein Leichtsinn. Ich hab' die Verhältnisse nicht
bedacht.«

»Hermann ...«

»Ja, du hast allen Grund, böse auf mich zu sein.«

»Ich böse? ... Ich hab' dich noch immer lieb.«

Sie griff mit beiden Händen leidenschaftlich nach seiner Rechten, die
er ihr nur widerstrebend überließ.

»Ich habe mehr als einmal um eine Stelle geschrieben,« begann er,
»aber es ist nicht geglückt ... Und nun weiß ich, ich kann hier
überhaupt nicht weg. Laß mich ausreden! Vater hat mir alles schwarz
auf weiß gezeigt: Wenn ich fortmache, kommt die Mühle unter den Hammer
... und wenn ich dich nehme, ist's dasselbe.«

»Aber eure Mühle ist doch bloß ein totes Ding, da hängt das Glück und
die Seligkeit nicht von ab.«

»Sie ist altes Familienerbe.«

»Wie oft kommt das vor, daß Menschen das aufgeben müssen und werden
doch wieder glücklich und zufrieden! Dorten steht der Lichterschein
von Bremen am Himmel. Da finden viele Tausende ihr ehrliches Brot,
die nicht halb so gesund und stark sind als wir beiden. Hier bist du
noch lange ein Knecht, dort vom ersten Tage an ein freier Mann. Reiß
dich los, mach dich frei! Du sollst es nicht bereuen. Weißt du nicht
mehr, wie wir letzten Sommer so glücklich waren ... als wir uns trafen
im Bürgerpark und in dem Kahn saßen ... und in dem schönen Buchenwald
... und ... und ... Das kommt dann alles, alles wieder und wird noch
viel, viel schöner ... Was hattest du damals für ein frohes, lachendes
Gesicht! Es ist zu dunkel jetzt, ich kann dein Gesicht nicht sehen,
aber das weiß ich so: jetzt sieht es aus wie das böse Gewissen. Komm,
du sollst dein gutes Gewissen und deine lachenden Augen wieder haben.
Komm, wir wandern die Nacht durch. Aber so komm doch!«

Sie hatte aufs neue seine Hand ergriffen und zog mit Gewalt an ihr,
aber sie brachte ihn keinen Schritt vorwärts.

»Leidchen,« sagte er, »nicht so furchtbar hitzig! Laß doch los, du
reißt mir ja den Arm aus. Was du da eben gesagt hast, das hab' ich
selbst mir alles ja schon hundertmal überlegt ... Aber es geht nicht.«

»Du brauchst bloß zu wollen, dann geht es auch.«

»Es ist unmöglich ... Ich kann nicht ... Und ich will auch nicht ...«

»Sooo ... Du willst nicht ... Das ist was anderes ... So so so ... Du
willst Tietjens Hermine nehmen.«

»Die Verhältnisse sind manchmal stärker als wir Menschen.«

»Die keine Haare mehr auf dem Kopf hat.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab' mal in der Heuzeit mit in ihrem Bett geschlafen. Aber sie
hat die ganze Kommode voll Gold- und Silbergeschirr, und den Schrank
voll seidener Kleider und viel, viel Geld. Ha, du kannst wohl lachen.«

»Leidchen, du glaubst doch wohl selbst nicht, daß ich es gern tue! Muß
ist eine bittere Nuß.«

»Ja, ja, es ist 'ne wunderliche Welt. Ich kenn mich bald nicht mehr in
ihr aus ... Was soll denn nun aus mir werden?«

»Du kannst mir glauben, es tut mir in der Seele weh ... Aber,
Leidchen, du bist jung und von leichtem, frohem Gemüt. Du kommst da
wohl über hinweg.«

»Ja, ich komm' ... da wohl ... über hinweg ...«

»Und ich will tun, was ich kann, und mehr, als die Gesetze verlangen,
und alles freiwillig ...«

»Ach, kuck mal einer an! Das ist ja nett, daß wir uns nicht erst vor
dem Amt gegenüberzustehen brauchen. Wieviel denkt ihr denn ungefähr,
daß ihr anlegen wollt?«

»Das können wir später sehen, die Sache soll jedenfalls auf das
nobelste geregelt werden. Es freut mich, Leidchen, daß du so
vernünftig bist und so ruhig über den Fall denkst. Das ist ja auch das
beste. So'n kleines Malheur hat manche, und wer jung und hübsch ist,
findet immer noch eine anständige Unterkunft, vor allem, wenn auch
etwas Geld da ist. Und hier bei uns im Moor wird so was ja auch nicht
so genau genommen.«

»So! Nun endlich kenn' ich dich! Und da spuck' ich hin! Pfui, was du
für ein schlechter, niederträchtiger Kerl bist! Pfui, pfui!«

Sie wandte sich, schlug ihr Tuch um den Kopf und rannte den Pfad dahin
wie ein gehetztes Wild. Lustig humpelte auf drei Beinen hinterher.

Nach einer Weile drehte sie sich um, und noch einmal gellte es durch
die Nacht: »Pfui, pfui, pfui!«




                                  21.


Gerd war in der Nacht auf Dienstag zurückgekehrt.

Als Leidchen die Frühkost in die Wohnstube trug, war er noch dabei,
sich anzukleiden. Sie nickte ihm stumm zu, und er wunderte sich, daß
sie keine Frage stellte wie: »Na, bist du wieder da?« oder so ähnlich,
wie ein Bremenfahrer das eigentlich doch verlangen kann.

Als sie am Tisch saßen, sah er ihr schärfer ins Gesicht. »Bist du
krank?« fragte er nach einer Weile.

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Ist jemand hier gewesen?«

Sie schüttelte wieder den Kopf.

Er wunderte sich über ihr sonderbares Benehmen, drang aber nicht
weiter in sie ein und ging bald an seine Arbeit, die verschlammten
Berieselungsgräben der Wiesen, Grüppen genannt, mit dem Spaten zu
öffnen.

Beim zweiten Frühstück fiel es ihm auf, daß ihre Augen etwas Starres,
an den Dingen vorbei Sehendes hatten. Da sie mit der Hausarbeit
fertig war, nahm er sie mit auf die Wiese; denn es war milde, von
leichtem Frost geklärte Luft. Sie tat die Arbeit, die er ihr anwies,
wie eine Maschine, ohne die geringste Teilnahme. Wenn er sie einmal
ansprach, hörte sie entweder gar nicht, oder er mußte seine Worte
lauter wiederholen, und es wollte ihm scheinen, als müßte sie ihre
Gedanken jedesmal erst aus der Ferne herbeirufen. Einmal, als er sie
von der Seite heimlich beobachtete, erschrak er über den ins Ziellose
irrenden Blick ihrer Augen. Doch er tröstete sich, das wären so
Stimmungen, die bei den Frauensleuten kämen und gingen.

Aber dieser merkwürdige Zustand hielt die nächsten Tage an. Sie
wandelte wie im Traum und erfüllte ihre Obliegenheiten fast wie ein
Automat.

Gerd versuchte alles mögliche, sie aus diesem wunderlichen Zustand zu
erwecken.

So brachte er eines Abends das Gespräch auf gemeinsame
Jugenderlebnisse heiterer Art und lachte dabei mehr als sonst seine
Weise war. Aber es gelang ihm nicht, ihr auch nur das leiseste Lächeln
abzugewinnen. Wenn er, um sie zur Teilnahme zu zwingen, zwischendurch
fragte: »Wie war dies, wie war das noch?« antwortete sie jedesmal in
dem gleichen müden Tone: »Das weiß ich nicht mehr.«

Er kam auf allerlei Menschen ihres Bekanntenkreises zu sprechen
und stellte über diesen und jenen Behauptungen auf, die zum
Widerspruch reizen mußten. Aber sie, die ihm all ihre Lebtage so gern
widersprochen hatte, ließ ihm jetzt auch das Törichtste hingehen.

Endlich fuhr er sein schwerstes Geschütz auf und fing von der Mühle
und von Hermann an, ihr Gesicht heimlich dabei beobachtend. Aber in
diesem veränderte sich keine Miene. Nicht einmal, als er erzählte,
Tietjens wären Ende letzter Woche dort zu Besuch gewesen.

Da war er mit seinem Latein zu Ende, und es wurde ihm angst und bange.

In seiner Ratlosigkeit ging er zu Beta Rotermund, der treuen Nachbarin
seines Elternhauses, und klagte ihr, wie er mit der Schwester zu
Schick käme. Die gute Frau, die ihr Patenkind gleich in den ersten
Tagen schon besucht hatte, versprach gern, noch einmal zu ihr zu gehen.

Als Gerd sich bei ihr erkundigte, was sie ausgerichtet hätte, sagte
sie unter vielem Seufzen: »Leidchen war sehr verschlossen, ich konnte
nicht viel aus ihr herausbringen. Aber ich glaube, sie hat kürzlich
eine Aussprache mit Müllers Hermann gehabt und weiß nun, daß von ihm
nichts mehr zu hoffen ist. Da muß sie sich erst hineinfinden, und
das wird ihr nicht leicht werden, wo sie letzte Woche noch so voller
Hoffnung war. Wir können ihr dabei nicht helfen, so was muß der Mensch
allein mit sich und seinem Gott abmachen ... Ich hab' sie eingeladen,
sie sollte mich mal besuchen und überhaupt mehr unter Menschen gehen.
Aber da schüttelte sie nur den Kopf. Sie macht ganz den Eindruck, als
ob in ihr etwas gestorben wäre.«

»Und was soll ich nun dabei tun, Rotermunds Mutter?« fragte Gerd.

»Hab' immer ein Auge auf sie, und sieh zu, daß sie genug zu tun hat
und nicht zu viel grübelt. Vor allem aber mach' ihr keine Vorwürfe.
Die macht sie sich selbst genug, und mehr als gut ist. Und sei immer
freundlich und lieb mit ihr, das ist die Hauptsache.«

Gerd nickte und sagte: »Es paßt sich gut, daß wir den Torf so ziemlich
los sind. Ich kann diese Zeit mehr bei Hause bleiben und brauche sie
nicht so lange allein zu lassen.«

»Ja, das ist gut,« sagte Frau Rotermund.

Gerd widmete sich in den nächsten Wochen mit Eifer der Verbesserung
seines arg verwahrlosten Besitzes, indem er die Entwässerungsgräben
der Äcker reinigte und das Land mit der Hacke umriß, um es zu
entquecken. Er nutzte die immer kürzer werdenden Tage nach Kräften
aus, indem er, wenn es kaum tagte, mit der Arbeit anfing und sich erst
Feierabend gönnte, wenn er nichts mehr sehen konnte.

Die Versuche, Leidchen umzustimmen und aufzuheitern, gab er, da einer
nach dem anderen ergebnislos verlief, bald auf, indem er sich sagte:
»Schließlich muß jeder seine Last selbst tragen.«

Einige Abende ließ er sich von ihr aus seinem Landwirtschaftsbuche
vorlesen, dessen Lehren er ja nun auf eigenem Grund in die Praxis
umsetzen wollte. Aber sie ging über Punkte und Kommas glatt hinweg,
hielt mitten in den Sätzen inne, daß er den Sinn nicht fassen konnte,
und las außerdem so eintönig, daß er, von der Arbeit im Freien
ermüdet, meist nach zehn Minuten eingeschlafen war. Als sie eines
Abends das Buch mechanisch wieder zur Hand nahm, sagte er: »Leg's man
weg, wir wollen das lieber aufgeben. Ich merke ja, es macht dir doch
keine Freude.«

So lebten sie einige Wochen nebeneinander hin. Zuletzt sahen sie sich
fast nur noch bei den Mahlzeiten, die mit den abnehmenden Tagen immer
kürzer wurden, und bei denen manchmal keine drei Worte gewechselt
wurden. Gerd war, was das Schicksal der Schwester betraf, immer
mehr in einen Zustand der Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit
hineingeraten und sehnte die Zeit herbei, wo seine Hochzeit ihn von
einer so unfreundlichen und undankbaren Hausgenossin befreien würde.

                   *       *       *       *       *

Zwischen Freimarkt und Weihnachten drängt sich die Gemeinde Grünmoor
um den Abendmahlstisch. Das Brunsoder Jungvolk pflegt sich am zweiten
Advent einzufinden.

Einige Abende vorher erinnerte Gerd seine Schwester daran und fragte,
ihr ernst in die Augen sehend: »Nicht wahr, du gehst doch auch mit?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Es ist schon so lange her,« gab er zu bedenken, »daß du nicht mehr
hingewesen bist.«

Leidchen schwieg.

»Ich glaube,« begann er noch einmal, mit einem werbenden Blick in ihre
toten Augen, »es würde dir gut tun ... Und ich würde mich so freuen.«

»Bitte, Gerd, laß mich in Frieden,« sagte sie erregt, indem sie sich
abwandte.

Da ließ er sie seufzend gewähren.

Am Sonntagmorgen trat er in seinem Abendmahlsrock vor sie hin und
fragte: »Bin ich so ordentlich?«

Sie nahm mechanisch die Bürste vom Wandbrett und fuhr ihm damit einige
Male über die Kleidung.

»Leidchen, noch wäre es Zeit ...«

Sie erwiderte nichts.

»Und wenn ich mal nicht lieb mit dir gewesen bin ...«

»Du hast dir nichts vorzuwerfen,« unterbrach sie ihn kurz.

Er ging. Sie setzte sich an das Fenster und blickte hinaus.

Auf dem Kirchdamm, der Gerds Stelle im Westen begrenzte, und von dem
der Achterdamm und Hauptdamm rechtwinklig abzweigen, pilgerte die
Brunsoder Jugend dem Kirchdorf zu, bald ein Trupp Burschen, bald ein
Koppel Mädchen. Leidchen suchte ihre Schulkameradinnen, mit denen sie
eingesegnet war, heraus. Es fehlte auch nicht eine. Ein Brautpaar
hielt sich von den anderen gesondert. Als endlich noch jemand zu
Rad angefahren kam, wandte sie sich jäh vom Fenster ab und ging mit
erstarrtem Gesicht an häusliche Arbeiten.

Nach einer halben Stunde setzte sie sich wieder in die Stube, legte
die Hände schlaff in den Schoß und sah wie abwesend vor sich hin.

Als sie so wohl eine Viertelstunde gesessen hatte, stand sie auf und
holte sich aus der Kommode in der anderen Stube ihr Gesangbuch.

Sie legte es vor sich auf den Tisch und schlug es, den Kopf in die
Hand gestützt, vorne auf.

Dem Titel gegenüber befand sich ein Bildchen. Der Herr saß mit den
Elfen um den Tisch beim ersten Abendmahl. Judas ging eben zur Tür
hinaus.

Sie hatte das Bild bisher kaum beachtet. Jetzt starrte sie es lange
mit großen Augen an.

Dann schlug sie die Buß- und Beichtlieder auf und las ihrer eine ganze
Reihe.

Alles, was in ihnen geklagt wurde von Sünde, Schuld und Strafe, wandte
sie mit grausamer Wollust auf sich an. Über alles, was zum Preise der
stärker sich erweisenden göttlichen Gnade und Vergebung gesagt und
gesungen wurde, las sie mit dumpfen Sinnen hinweg.

Hin und wieder traf sie auf Verse, in denen eine aus dem Kerker
befreite, von schwerem Druck erlöste Seele gar zu hell und freudig
aufjubelte. Da war es ihr für Augenblicke, als wollte der Klang ein
leises Echo in ihrer Seele wecken, als sähe sie in der Ferne eine Tür
und schwaches Licht durch die Finsternis schimmern. Aber gewaltsam
verschloß sie ihre Augen dagegen. Sie wollte in der dumpfen Starre,
die seit Wochen, seit jener fürchterlichen Nacht, in der ihre letzte
Hoffnung zusammenbrach, auf ihr lag und ihre Seele lähmte, verharren.
Denn so war es am besten zu ertragen.

Gerd kam erst gegen drei Uhr, zurück. Sie waren ihrer an die
fünfhundert Gäste um den Altar gewesen, und der bejahrte Pastor hatte
im Austeilen von Brot und Wein eine Pause machen müssen, weil seine
Kraft versagen wollte.

Er befand sich in befreiter, gehobener Stimmung und trat der Schwester
mit warmer Herzlichkeit entgegen. Als er ihr aber in die kalten, toten
Augen sah, erschrak er.

»Liebes Leidchen, so sag' mir doch endlich mal, was mit dir ist, ob
ich dir nicht helfen kann.«

»Du kannst mir nicht helfen,« gab sie dumpf zur Antwort.

»Ach wärst du doch heute morgen mit mir gegangen!«

»Judas ging hinaus.«

Er sah sie entsetzt an: »Aber Kind, du bist doch kein Judas.«

»Kannst ~du~ das wissen?«

»Hast du denn ganz vergessen, was du gelernt hast? Barmherzig und
gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte und Treue.«

»Es gibt eine Sünde, die kann nicht vergeben werden, weder in dieser
noch in der zukünftigen Welt.«

»Aber Leidchen, Leidchen, was schnackst du da für schreckliches Zeug!
Das ist doch bloß die Sünde wider den heiligen Geist.«

»Kannst du in mich hineinkucken? Kannst ~du~ wissen, ob ich die
begangen habe oder nicht?«

»Oh, Leidchen, ich bitte dich, laß dir bloß nichts vorlügen vom bösen
Feind. Wühl' dich nicht in einen solch schaurigen Wahn hinein!«

Er sah sie in heller Verzweiflung an.

»Komm, Junge, das Essen wird kalt,« sagte sie kurz.

Sie setzten sich an den Tisch. Gerd hatte einen tüchtigen Hunger
mitgebracht. Aber jetzt war er ihm zum guten Teil wieder vergangen.
Leidchen dagegen aß viel, und wie ihrem Bruder scheinen wollte, mit
einer Hast und Gier, die ihr früher fremd gewesen waren.

Am Abend ging sie zeitig zu Bett. Gerd saß allein in der Stube, und
auf einmal gewannen bittere Gefühle über ihn die Herrschaft. Er fragte
sich, was er all die Jahre eigentlich von seiner Schwester gehabt
hätte, und gab sich die Antwort: nichts als Arbeit, Sorge, Angst,
Verdruß und Ärger. Als er sich dies mit Einzelheiten bewiesen hatte,
fiel ihm plötzlich ein Wort ein, das der Pastor am Vormittag in
seiner Beichtrede angeführt hatte: »Einer trage des anderen Last, so
werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen,« und er erneuerte die vor dem
Altar gefaßten Vorsätze, der Schwester fortan wieder freundlicher und
herzlicher zu begegnen, als in den letzten Wochen.

Zwei Tage später fand im oberen Dorf, auf Stelle Nr. 11, eine
Zwangsversteigerung statt. Jan Brassen, ein Luftikus und Obenhinaus,
einer von Heini Pepers besten Kunden, hatte sich in einem plötzlichen
Anfall von Größenwahn ein Paar feuriger Rappen zugelegt und diese
dann in einem halben Jahr zuschanden gejagt. Inzwischen war auch der
Wechsel verfallen, und sein Hausrat sollte jetzt in die vier Winde
gehen.

Gerd ging auch hin, in der Hoffnung, ein paar Stücke, deren Fehlen
sich im Haushalt unangenehm fühlbar machte, billig kaufen zu können.
An die hundert Menschen umstanden den Tisch des Auktionators, und da
es halbjährigen Kredit gab und Schnaps soviel jeder trinken wollte,
wurden wahnsinnige Summen geboten, für die man die meisten Sachen viel
besser neu hätte kaufen können. Gerd ärgerte sich über den Leichtsinn
der Leute und mußte im stillen dem Lehrer recht geben, der unter
seinem lebhaften Widerspruch einmal behauptet hatte, in manchen Dingen
wären die Moorleute noch die reinen Kinder, und die Unfertigkeit der
Verhältnisse in den Kolonien im Gegensatz zu der Solidität der alten
Geestdörfer träte oft erschreckend zutage. Er beteiligte sich deshalb
überhaupt nicht am Bieten.

Ganz zuletzt hob der Ausrufer eine Handharmonika in die Höhe, und
um etwaige Kaufliebhaber zu überzeugen, daß noch Töne drin saßen,
spielte er schnell: »Ach du lieber Augustin, alles ist hin.« Die Leute
lachten, Gerd aber, der ein solches Instrument längst gern besessen
hätte, fing mit einem Taler an zu bieten, und bei fünf Mark wurde ihm
der Zuschlag erteilt. Er bezahlte sofort und zog sehr erfreut mit
seinem Schatz ab.

Unterwegs fiel ihm aus der biblischen Geschichte der junge David ein,
wie der mit seinem Harfenspiel den bösen Geist von König Saul gejagt
hatte. So ein böser Geist hatte ja auch seine Schwester besessen. Ob
der am Ende vor dem Harmonikaspiel weichen würde? ... Das konnte ganz
gut sein und wäre ja herrlich. Er zog schnell ein paar Akkorde und
hatte mit solcher Hoffnung im Herzen an seinem Instrument noch einmal
soviel Freude wie vorher.

Als er die Dorfreihe hinter sich hatte, fing er im Gehen an zu üben
und wunderte sich, wie schnell die Töne sich unter seinen Händen zu
Melodien formten. Zu Hause angelangt, brachte er das Weihnachtslied »O
du fröhliche« schon fehlerfrei zustande und gab es seiner Schwester
zum besten, sie dabei still beobachtend, und als er fertig war,
fragte er: »Nicht wahr, es klingt doch schön?« Sie nickte, und dann
spielte und übte er den ganzen Abend. Als sie eine Stunde nach dem
Abendbrot aufstand, um zu Bett zu gehen, ärgerte er sich, daß sie
ihm nicht länger zuhören wollte. Aber er suchte Trost in der Musik,
indem er eine Elegie phantasierte und all seine Kümmernisse in den
Harmonikaakkorden ausströmen ließ.

In der Nacht fiel Schnee und gleich so reichlich, daß er der Arbeit im
Freien ein Ende machte. Gerd war sehr verdrießlich, denn nun konnte er
bis Weihnachten nicht so weit kommen, wie er sich vorgenommen hatte.
Er mußte jetzt die Tage untätig im Hause sitzen, worunter seine Laune
sehr litt.

Eines Abends ärgerte er sich über das wunderliche Wesen der Schwester
dermaßen, daß die Galle ihm überlief. Ich will doch mal sehen, ob es
nicht möglich ist, den einen Teufel durch den anderen auszutreiben,
sagte er zu sich, trat dicht vor sie hin, schlug mit der Faust
dröhnend auf den Tisch und schrie ihr zu: »Ich lasse mir dies nicht
länger so gefallen! Du häßliche, undankbare Deern, alles tue ich um
deinetwillen, und du machst den ganzen Tag ein Gesicht, daß es nicht
mehr anzusehen ist. Du hast es zehnmal besser, als du's verdienst.
Wenn dir das hier bei mir nicht paßt, kannst du meinetwegen hingehen,
wo du hergekommen bist, ich halte dich gewiß nicht. Was zu viel ist,
das ist zu viel!«

Sie war zusammengezuckt, sah ihn mit großen entgeisteten Augen an und
ging zur Tür hinaus.

Sein Zorn verrauchte so schnell, als er gekommen war, und die harten
Worte taten ihm bald leid. Er schlug sich mit der Hand vor den Kopf
und grübelte, auf einem Stuhl an den Tisch hingesunken, dumpf vor sich
hin.

Nach einer Weile fuhr er plötzlich in die Höhe. War da nicht eben die
Seitentür gegangen?

Er lief über die Diele und riß sie auf.

Wahrhaftig, da hob eine vermummte Gestalt sich gegen den Schnee ab.

Er rief: »Leidchen! Leidchen!«

Sie wandte sich nicht um.

Er hinter ihr drein. Sie am Arm fassend, rief er: »Aber Kind, wo
willst du denn hin?«

»Ich soll ja gehen, hast du gesagt,« klang es tonlos aus dem
Umschlagetuch, das ihr Gesicht verhüllte. »Ich will Tante Beta fragen,
ob sie mich haben will.«

»Aber so hab' ich das ja gar nicht gemeint, es ist mir nur der Kopf
mal verglippt, vergib mir die bösen Worte, du weißt doch, wie gut ich
es mit dir meine. Nun komm doch.«

Er legte den Arm um sie und führte sie mit sanfter Gewalt in das Haus
zurück.

Als sie in der Wohnstube anlangten, wo Leidchen sich auf einen Stuhl
fallen ließ, stellte er sich vor sie hin und bat: »Bitte, liebe
Schwester, kuck mir mal in die Augen!«

Sie hielt den Blick gesenkt.

»Sag' mal, kannst du denn gar nicht ein bißchen wieder vergnügt sein?«

»Ich kann mich nicht anders machen als ich bin. Du solltest mich man
gehen lassen. Dann brauchst du dich nicht mehr über mich zu ärgern.«

»Davon ist keine Rede, wir beiden halten treu zusammen. Wenn es gar
nicht anders geht, muß ich schließlich auch so zufrieden sein,« sagte
er seufzend. »Vergiß das von vorhin. Du sollst kein böses Wort wieder
von mir zu hören kriegen.«

So kam Weihnachten heran. Gerd hatte nicht daran gedacht, das Fest,
dem die Stimmung in seinem Hause so gar nicht entgegenkam, besonders
zu feiern. Aber in einer stillen, weichen Stunde beschloß er doch, der
Schwester eine Ueberraschung zu bereiten, und kaufte kleine Geschenke.
Und als er auf seinem Hochmoor zufällig ein schneebelastetes Tännchen
entdeckte, hieß er es mitgehen. Am Spätnachmittag vor dem Heiligen
Abend ging er ins Dorf, um vom Höker die nötigen Lichte zu holen.

Als er, seiner Heimlichkeit froh, nach Hause kam, suchte er die
Schwester überall und fand sie endlich in ihrer Butze.

»Was, Deern? Du bist schon ins Bett gekrochen?«

»Ja.«

»Aber es ist doch Christabend. Da hilft dir alles nichts, du mußt
wieder heraus.«

»Ach, Gerd, laß mich.«

»Zehn Minuten geb' ich dir noch, aber dann mußt du hoch sein.«

Und schon war er hinaus.

Er holte das Bäumchen, das er hinter dem Hause im Buschwerk verborgen
hatte, steckte den Fuß in einen quadratisch ausgestochenen Soden
Moostorf und stellte es in der Wohnstube auf den Tisch. Ein paar Äpfel
und Kringel hatte er schnell in die Zweige gehängt und das Dutzend
roter, grüner und weißer Lichte hineingesteckt. Seine Geschenke
breitete er unter der Tanne aus: eine Brosche von derselben Art,
wie er seiner Schwägerin Becka am Verlobungstag eine hatte schenken
müssen, eine schwarze Schürze, einen Kamm, in die Haare zu stecken,
und einen Teller mit Äpfeln und Nüssen. Von Herzen froh überblickte er
seine Gaben und rieb sich die Hände.

Dann nahm er ein Licht, das er zurückbehalten hatte, und zündete die
anderen damit an. Öfters trat er einen Schritt zurück, um sich an dem
immer heller werdenden Glanz, der sein bescheidenes Stübchen erfüllte,
zu erfreuen.

Als das volle Dutzend brannte, bog er ein Zweiglein mit der Spitze zu
einer der Flammen, daß es knisternd und zischend den niedrigen Raum
mit süßem Weihnachtsdunst durchräucherte, den er voll tiefen Behagens
einsog.

Darauf nahm er die Harmonika von der Wand und schritt spielend über
das Flett. In der anderen Stube war es noch dunkel. »Was?« rief er
enttäuscht, »du liegst noch immer im Bett? Nun aber 'raus! Christkind
ist da!«

»Ach Gerd, nicht für mich,« kam es müde aus der Butze.

»Für wen denn sonst? Grade für dich. Grade du hast es so nötig. Hu,
hier ist's so düster und kalt, und drüben so warm und hell. Deern, was
wirst du für Augen machen!«

»Gerd, bitte ... laß mich liegen.«

»Das wär' noch schöner!« rief er. Er holte ihre Hand unter der Decke
hervor. »Wenn du nicht willig kommst, zieh' ich dich mit Gewalt
heraus, und du mußt, wie du da liegst, im Hemde, mit. Leidchen, ich
hab' mich so lange auf diesen Abend gefreut, du willst mir doch nicht
die ganze Freude verderben? Nun komm aber schnell, die Lichter brennen
sonst herunter.«

»Was für Lichter?«

»Die an unserem Christbaum natürlich.«

»Was? Du hast einen Baum?«

»Ja, für dich.«

»So--o? ... hm ... dann muß ich wohl kommen ...«

Er ging auf das Flett hinaus, setzte sich an den Herd und spielte
Weihnachtslieder, den Blick träumerisch der geöffneten Wohnstube
zugekehrt, aus der es weihnachtlich herüberglänzte.

Es dauerte nicht lange, so erschien die Schwester. Er legte den Arm
leicht um sie und führte sie dem Lichterglanz entgegen. In der Tür
blieben sie eine Weile schweigend stehen. Dann geleitete er sie an den
Gabentisch.

»Hier hab' ich auch schöne Geschenke für dich,« sagte er froh. »Erst
mal hier eine Brosche. Das Kreuz, weißt du, was das zu bedeuten hat?«

»Ja.«

»Und das Herz?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Und der Anker?«

»Och, Gerd, wie sollte ich das nicht wissen?«

»Dann vergiß es auch nicht und denke immer daran: Ohne Glauben, Liebe,
Hoffnung, kann kein Mensch das Leben zwingen. Halt her, ich stecke
sie dir an ... Macht sich sehr fein, kuck mal in den Spiegel ... Oder
magst du sie nicht leiden?«

Sie nickte traurig: »Doch, sie ist wunderhübsch.«

»Und dann ist hier eine Schürze. Kaufmann Nolte sagt, es wär' was
extra Feines. Soll ich sie dir vorbinden?«

»Nein, danke, das kann ich selbst.«

»Und dann ist hier noch ein Kamm. Komm, ich steck' ihn dir selbst
ins Haar ... Er sitzt wie angegossen. Und wie deine Haare auf einmal
wieder glänzen ... wie gelbe Seide ... Und auch deine Augen haben
wieder ihren alten Glanz ...«

»Das kommt wohl bloß von den Lichtern,« sagte Leidchen und wischte mit
der Hand über ihre Augen.

»Laß es ruhig davon kommen, Deern, das schadet ja nichts ...«

»... Du hast mir so viel geschenkt, und ich habe für dich gar nichts.
Ein Paar Strümpfe hatte ich angefangen, aber die letzten Wochen hab'
ich sie liegen lassen.«

»Macht nichts. Wenn du dich bloß ein bißchen freuen willst, bin ich
zufrieden.«

»Ja, das tu' ich ja auch ...«

»Mußt's aber auch wirklich und ordentlich tun.«

»Ach, Gerd, so mit Gewalt kann man das nicht. Das muß über einen
kommen.«

»Ja, aber an diesem Abend, sollt' ich meinen, kommt es auch über jeden
ordentlichen Christenmenschen. Und du bist doch kein Heidenkind ...
Lang' mir erst mal unserer seligen Mutter ihre Bibel vom Wandbrett.«

Sie reichte ihm das ehrwürdige Buch, und er las das
Weihnachtsevangelium, langsam und andächtig. Bei der Engelsbotschaft
von der Freude, die allem Volk widerfahren soll, hob er die Stimme.

Eine Zeitlang schauten sie wieder still in das Lichtgeflimmer.

Dann griff er zu seiner Harmonika und sagte: »Nun wollen wir auch mal
ein Lied singen. Welches möchtest du am liebsten?«

»Es ist mir einerlei.«

»Na, denn mal los: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende
Weihnachtszeit.«

Er zog ein paar Akkorde und setzte dann kräftig mit der zweiten Stimme
ein. Aber die erste blieb aus.

»Du sollst mitsingen,« sagte er ärgerlich, Gesang und Spiel
unterbrechend, »wir haben doch immer so schön zweistimmig gekonnt.«

»Fang' bitte noch einmal an ...«

Und nun stimmte sie mit ein, erst zag und leise, allmählich kräftiger
werdend, und sie sangen alle drei Verse.

Wieder schauten sie schweigend in den Glanz der Kerzen, eine lange
Zeit ...

Endlich fragte sie leise, den Blick zu Boden gesenkt: »Weißt du noch?
... heute vor drei Jahren? ...«

Er sandte einen schnellen Blick zu ihr hinüber und sagte ebenso leise:
»Ja ... daran habe ich auch schon gedacht ...«

Plötzlich barg sie ihr Gesicht in die Schürze und fing an zu weinen.
Bald warf ein wildes Schluchzen ihren Körper hin und her, das zuletzt
wieder in ein leises Weinen überging.

In Gerds feucht schimmernden Augen war der Widerglanz einer großen,
stillen, tiefen Freude.

Als sie endlich ihre Augen getrocknet hatte, begann er:

»Liebe Schwester, ich habe mich oft gefreut, wenn du fröhlich
lachtest. Aber über dein Lachen habe ich mich niemals so gefreut,
wie eben über die Tränen, die du da geweint hast ... Ich hab' mal in
einem Buch gelesen, in der heiligen Weihnacht fingen Glocken, die mit
versunkenen Städten tief unten im Meer liegen, leise an zu klingen.
Das mag wohl sein ... Du sprachst vorhin von heute vor drei Jahren ...
Da wollen wir wieder anknüpfen, und was dazwischen liegt, als einen
bösen, häßlichen Traum ansehen ...«

»Wenn das nur so ginge ...«

»Es geht, Leidchen. Ganz gewiß, es geht! Ich meine doch, dazu ist
der Heiland ein Kind geworden, daß wir auch wieder Kinder werden
können. Nein, laß mich ruhig ausreden. ›Christ ist erschienen, uns
zu versühnen‹, haben wir vorhin gesungen. Und ich meine, das sollen
wir einfach glauben ... Du hast's diese Zeit mit Grübeln, Sorgen und
Grämen versucht. Und was ist dabei herausgekommen? Du hast dich damit
nur immer tiefer in dein Elend hineingearbeitet, und mir ist manchmal
angst und bange um dich gewesen. Nun versuch's doch mal auf die andere
Art. Glaub' ganz einfach dem Heiland, der zu einer, die es viel
schlimmer getrieben hatte, gesagt hat: ›Sei getrost, meine Tochter,
deine Sünden sind dir vergeben.‹ Das fasse tief in dein Herz, und dann
quäl' dich nicht länger, sondern fang' frisch von neuem an.«

Sie wandte den Kopf nach dem Fenster, ihre Augen suchten das Dunkel.
Aber in den unverhangenen Glasscheiben spiegelte sich derselbe
Lichterbaum, den sie in Gerds Augen hatte glänzen sehen, und die
ganze Stube füllte er mit seinem wunderbaren Licht. Es war gar nicht
möglich, seinem Glanze auszuweichen.

Nach einiger Zeit nahm sie des Bruders Hand und sagte: »Weißt du was,
Gerd? Ich glaube, es war gut, daß ich mal tüchtig geweint habe.«

Er nickte: »Hab' ich's nicht gesagt?«

»Das hab' ich nämlich lange nicht gekonnt. Es lag mir hier über dem
Herzen immer wie ein Mühlstein. Ich fühl' wohl noch, wo er so lange
gedrückt hat, aber ich glaube beinahe, jetzt ist er da nicht mehr. Es
ist mir auf einmal so leicht ...«

»Gott sei Dank!« sagte er mit leuchtenden Augen, indem er selbst wie
von zentnerschwerem Druck befreit aufatmete.

Nach einer Weile sprang er auf seine Füße, sah sie überglücklich an
und rief:

»Weißt du, Leidchen, wozu ich beinah Lust hätte?«

»Na?«

»Noch einmal mit dir rund um den Baum zu tanzen, wie vor Jahren!«

Sie lächelte trübe. »Das wollen wir doch lieber lassen.«

»Na ja, man kann ja auch so vergnügt sein. Deern, ich bin jetzt beinah
fröhlicher als vor drei Jahren. Ich glaube, der Mensch muß erst mal
tief in die Hölle hinab, um zu wissen, was rechte Freude ist.«

Er reckte und streckte die Arme von sich, und seine Augen glänzten,
nicht bloß vom Christbaum, so recht von innen her.

»Aber Deern,« sagte er dann, »~einen~ Gefallen mußt du mir tun:
mir mal meine Pfeife stopfen!«

Sie sprang auf und ging mit leichtem, schwebendem Schritt in die
Stubenecke, wo Pfeife und Tabaksbeutel hingen. Mit frohen, lächelnden
Augen sah er ihr zu, wie sie den Pfeifenkopf reinigte und füllte.

Als sie ihm den fertigen Brösel brachte und ein schwelendes
Zündholz dazu, sagte er: »Das pust' man wieder aus. Dies ist 'ne
Friedenspfeife, 'ne Freudenpfeife, die steck' ich mir an unserem
Weihnachtsbaum an.«

Bald mischte sich mit dem Tannen- und Kerzenduft der seines Knasters,
das Pfund zu fünf Groschen. Der Torf im Ofen glühte, die Lichter
strahlten Wärme, dem Munde des Schmökers entquollen braungelbe Wolken.
Das alles ergab eine Temperatur und Atmosphäre in dem niedrigen Raum,
die nicht ganz einwandfrei waren. Aber niemand dachte daran, Tür oder
Fenster zu öffnen. Grad' so war es sehr weihnachtlich und über die
Maßen gemütlich.

Sie hatten längere Zeit geschwiegen, als Leidchen mit schmerzlicher
Wehmut sagte: »Gerd, wieviel hast du doch mein ganzes Leben durch an
mir getan ... Und von mir hast du nichts gehabt als Sorge und Mühe und
Verdruß ...«

Er sog nachdenklich an seiner Pfeife. Seine Augen schauten zwar in den
Lichterglanz, schienen aber noch mehr nach innen geöffnet zu sein.

»Das kannst du doch wohl nicht sagen,« begann er nach einer Weile.
»Was Menschen einander geben und voneinander nehmen, das kann man doch
wohl nicht so glatt ausrechnen wie ein Rechenexempel ... Das Beste,
was einer von dem anderen hat, glaub' ich, kennt er am Ende selbst am
wenigsten ...«

Er stützte den Kopf über dem Tisch in die Hand und fuhr aus tiefem
Sinnen heraus fort: »Wenn ich so über mein Leben nachdenke ... es war
doch nicht bloß Torfbacken und Solospielen ... es war ein Zug in die
Höhe darin, glaub' ich ... Und ich möchte sagen: der Faden, der mich
führte und zog, der ging durch deine Hand ...«

Sie sah ihn verwundert und ungläubig an. Er nahm ihre Hand und zog sie
sanft auf seine Knie herüber.

Nach längerem Schweigen fuhr er mit seinem Lächeln fort: »Ja ja, ihr
Frauensleute! Was meine Sine ist, die hat mich sozusagen erst richtig
zu einem Menschen gemacht ... Aber als ich sie noch nicht kannte, da
hatte ich dich ... Wenn ich dich nicht gehabt hätte, ich glaube, dann
wäre nichts Rechtes aus mir geworden ... Für mich mußtest du wohl auch
gerade so sein, wie du warst und bist, und nicht anders ... Ich glaube
wirklich, ich habe viel mehr von dir gehabt als du von mir ...«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf und wollte etwas erwidern. Aber er
sagte, ihr tief in die Augen sehend: »Leidchen, darüber wollen wir uns
nicht weiter streiten. So was läßt sich wirklich nicht auf der Wage
abwiegen. Und es bleibt ja auch in der Familie.«

Die Lichter brannten allmählich nieder, die größere Hälfte war schon
erloschen.

Als wieder einmal eins sterben wollte, sagte Leidchen wie im Traum:
»Übers Jahr ... wie es dann hier wohl aussieht?«

Gerd malte sich das Bild mit frohen, bunten Farben aus. Dann saß Sine
hier mit ihm unter dem Christbaum. Wenn die Lichter sich in ihren
grallen Augen spiegelten, das mußte eine Lust sein. Was er ihr wohl
schenken würde? Und sie ihm? ... Vielleicht um Weihnachten herum schon
so was ganz Liebes, das ein Jahr später dann mit süßen Äugelein in den
Lichterglanz blinzelte und mit runden Patschhändchen nach den Kringeln
langte, die Sine ihm in die Zweige gehängt hatte ...

Plötzlich dachte er an seine Schwester und erschrak.

Er sah zu ihr hinüber.

Sie saß, die Hände im Schoß gefaltet, und ihre großen braunen Augen
schauten in das zuckende Licht. Aber sie schienen weit, weit darüber
hinaus zu irren.

Er legte seine Hand zart und leicht auf die ihren. Sie schien es nicht
zu merken.

Da zog er ihre Linke auf sein Knie und drückte sie, erst sanft, dann
etwas stärker.

»Leidchen ...« sagte er mit großer Wärme und Innigkeit.

Da wandte sie sich ihm zu und sah ihn groß an.

»Lieber Bruder,« kam es wie ein Hauch von fernher über ihre Lippen.

»Wo warst du eben?«

»Ich? ... Ich weiß nicht ... Ich glaube, weit, weit weg ...«




                                  22.


Die Wintermonate gingen ihren stillen Gang.

Das Wetter war, kürzere Frostperioden abgerechnet, Gerds Arbeiten
günstig, und er nützte die Zeit denn auch nach Kräften aus. Mit
leichtem, frohem Herzen stand er jetzt meistens bei seinem Tagewerk.
Denn wenn ihn auch manchmal eine tiefe, schmerzliche Trauer aus
Leidchens Augen anblickte, die dumpfe Starrheit war von ihrer Seele
gewichen, und Ausbrüche wilder Verzweiflung kehrten nicht wieder. Nie
kam ein Wort der Klage oder Bitterkeit über ihre Lippen. Still und
unverdrossen tat sie ihre Arbeit und wurde geradezu erfinderisch,
ihn durch kleine Überraschungen zu erfreuen. Seine Lieblingsgerichte
erschienen so oft auf dem Tisch, daß er, um nicht mit ihnen
überfüttert zu werden, bald andere Speisen dazu erklären mußte. Er
hatte es jetzt gänzlich aufgegeben, sie zu schulmeistern und zu
bevormunden. Die Art, wie sie ihr Schicksal trug, machte sie ihm
fast verehrungswürdig, und vor ihrer Mutterschaft empfand er etwas
wie heilige Scheu. Mit keinem Wort, ja kaum mit Gedanken, wagte er
daran zu rühren. Die Verantwortung, die er für die Schwester fühlte,
erstreckte sich auch schon auf das kleine Menschenwesen, das unter
ihrem Herzen wurde.

Des Abends lasen sie sich meist abwechselnd vor.

Auch das dicke Buch in gepreßtem Schweinsleder mit Messingbeschlag,
das die ersten Ansiedler von der Geest in die neue Heimat begleitet
hatte, nahmen sie nicht selten vom Wandbrett. »Erst wenn man etwas
durchgemacht hat,« sagte Gerd eines Abends, als er es schloß, »fängt
man an, dieses Buch zu verstehen und lieb zu haben.« Und Leidchen
nickte zustimmend.

       *       *       *       *       *

Gerd brannte darauf, was er von der Wirkung künstlicher Düngemittel
in seinem Lehrbuch gelesen hatte, gleich im ersten Jahre als
selbständiger Landwirt zu erproben. So fuhr er denn Mitte Februar,
als die Wasserläufe eben wieder frei geworden waren, zur Stadt, um
sich eine Ladung zu holen, wie es für Moorland empfohlen wurde. Er
war stolz darauf, daß er, der jüngste Besitzer des Dorfs, hiermit
den Anfang machte. Im ganzen Kirchspiel war er der zweite; ein
vorwärtsstrebender Landwirt auf der Südseite hatte schon im letzten
Jahre mit Versuchen begonnen. Es hieß, daß die Moorversuchsstation in
Bremen demnächst in der Sache vorgehen und die Königliche Regierung
Beihilfen geben würde, um den vorsichtigen und mißtrauischen Bauern
Mut zu machen. Jenen zuvorzukommen, freute ihn noch ganz besonders.

Als er seine Last den Schiffgraben hinaufschob, gesellte sich ein
alter Torfbauer zu ihm, Jan Barrenbrock mit Namen, den Gerd aber nur
als Barrenbrocks Opa kannte. Dieser pflegte sich zu rühmen, in seinem
Leben mehr Torf gemacht zu haben, als die Brunsoder alle. Wenn man ihn
ansah, konnte man das auch wohl glauben. Seine mittelgroße Gestalt
schien stark der Torfkuhle zugekrümmt, und an der linken Hand saßen
ihm taubeneigroße Gichtknoten. Daß er der weißen Rasse angehörte,
konnte fast zweifelhaft erscheinen, da die Farbe seines Gesichts
stark in die des wichtigsten Landesprodukts hinüberspielte. Spötter
meinten, der Torfstaub säße ihm in der Haut wie dem Neger die schwarze
Farbe; andere wollten wissen, der alte Wühler wüsche sich nur an den
großen Festtagen, und auch dann mit viel Schonung, weil er dafür
halte, die Schicht Torf um das Fell herum erspare ihn im Ofen. Ein
Worpsweder Maler, der einmal einen rechten, echten Jan vom Moor aus
der guten alten Zeit malen wollte, war glücklich, als er Barrenbrocks
Opa entdeckte, und der Alte pflegte mit seinem pfiffigsten Lächeln zu
erzählen, so leicht wie bei dem dummen Kerl hätte er in seinem Leben
kein Geld verdient: drei Groschen die Stunde, und Tabak, soviel als er
nur hatte schmöken können.

Da Torfstaub die Menge, Wasser aber wohl nie den Weg in seine Ohren
gefunden hatte, war er recht schwerhörig und brüllte Gerd an, als ob
er einen Stocktauben vor sich hätte:

»Was hast du da im Schiff?«

»Künstlichen Dünger!« brüllte Gerd zurück. »Kainit und Thomasschlacke!«

»Kainit? Kenn' ich nicht. Was noch?«

»Thomasschlacke!«

»Und damit willst du düngen?«

»Ja, Opa!«

»Ha! Da bin ich aber ein ungläubiger Thomas.«

»Kann sein, daß Ihr noch mal ein gläubiger werdet!«

»Ich? Na, da lauer' auf, mein Junge! Als du die ersten Windeln naß
machtest, hatt' ich bald meine tausend Hunt Torf herausgemacht.«

»Das kann stimmen!«

»Als ich so'n Bursch war, wie du nun bist, mußten wir ihn noch mit
bloßen Füßen pedden. Euch jungen Gästen heutzutage wird's schon in den
warmen Hollschen zu viel.«

»Ja, Opa, die Welt ändert sich. Und hier bei uns im Moor wird sich
noch vieles ändern. Wir wollen nicht ewig Torfbauern bleiben, können's
auch gar nicht, denn der Torf wird bei kleinem alle. Wir wollen
rejalige Landwirte werden und das Hochmoor kultivieren und zusehen,
daß wir genug Grünland bei Hause kriegen und nicht die Tage und Nächte
auf der Hamme zu liegen brauchen. Das läßt sich jetzt alles machen,
denn mit dem künstlichen Dünger können wir größere Flächen in Kultur
nehmen als mit dem bißchen Kuh- und Schweinemist. Ihr sollt sehen,
Opa, wenn Ihr noch ein halb Stieg' Jahre kregel bleibt, es bricht eine
ganz neue Zeit für unsere Gegend an!«

»Wo hast du die Weisheit her?«

»Aus Büchern.«

»Aus Büchern!« wiederholte der Alte in ehrlichster Verachtung und
spuckte in schönstem Bogen, wie ihn nur die ältere Generation noch
fertig bringt, in den Schiffgraben.

»Besucht mich mal im Julimond, dann sollt Ihr was zu sehen kriegen!«

»Hä, dazu tu' ich keinen Schritt aus dem Hause. Mit so 'nem
neumodischen Kram will ich nix nich zu tun haben, hähä.«

Der Torfbauer alten Schlages ging höhnisch lachend und überlegen
kopfschüttelnd seiner Wege, indes der junge Moorbauer arbeits- und
hoffnungsfroh seinen Schatz, von dem er sich so große Dinge versprach,
seinem Besitztum zuschob.

Die nächsten Tage fiel bei der Windstille ein weicher, warmer Regen.
Da schritt er, einen Sack vor sich, die zubereitete Hochmoorfläche auf
und ab, säte aus einem alten Fausthandschuh Kainit und Thomasschlacke
gemischt und sah im Geist die Zeit kommen, wo seine achtzehn Morgen,
von denen jetzt kaum der dritte Teil kultiviert war, in frischem Grün
prangten und reichen Ertrag brachten. Er selbst würde diesen Tag wohl
nicht mehr erleben, aber ihm für Kinder und Kindeskinder ein gut Stück
entgegenzuarbeiten, dafür wollte er alle Kraft einsetzen.

                   *       *       *       *       *

So rückte die Osterzeit heran.

Am Sonnabend vor der stillen Woche trafen Gerd und Sine sich mit Becka
und ihrem Bräutigam in Grünmoor, um zusammen in das Pfarrhaus zu gehen
und das Aufgebot zu bestellen. Am Freitag der vollen Woche nach dem
Fest sollte die Doppelhochzeit gefeiert werden.

Als der Pastor sich die nötigen Aufzeichnungen gemacht hatte, sagte er
lächelnd: »Hoffentlich mache ich bei der Trauung nicht wieder solchen
Kohl wie bei eurer Konfirmation.«

»Das Unglück wäre so groß nicht,« meinte Gerd. »Wo die eine mit
gewaschen ist, da ist die andere mit abgetrocknet.«

Sine gab ihm einen Stoß in die Rippen, weil er so was in der
Studierstube vom Herrn Pastor zu sagen wagte. Denn ihr hatte beim
Eintreten das Herz stark gepuckert.

Der würdige Herr meinte gutgelaunt: »Na, wir wollen sehen, daß jeder
zu dem Seinen kommt. Es ist am Ende doch besser.«

Als die vier gehen wollten, bat er Gerd, noch einen Augenblick zu
bleiben.

»Wie geht es Ihrer Schwester?« fragte er, als sie allein waren.

»Danke, Herr Pastor ... jetzt geht es ... Ich habe allerhand mit ihr
durchgemacht, aber jetzt hat sie mit Gottes Hilfe wohl das Schwerste
überstanden.«

Der alte Mann sah ihm aufmerksam in die Augen. Er schien sich über den
jungen Menschen, den er lange nicht mehr aus der Nähe gesehen hatte,
zu wundern.

Mit leisem Aufseufzen fuhr er fort: »In einer so großen Gemeinde von
fast fünftausend Seelen erlebt man ja allerlei. Aber selten ist mir
etwas so nahegegangen ... Das liebe, schöne, hochbegabte Mädchen ...«

Gerd blickte stumm zu Boden.

»Was meinen Sie, wenn ich mal bei Ihnen vorspräche ...«

»Nichts für ungut, Herr Pastor, aber wenn's Ihnen einerlei ist,
möcht' ich lieber, Sie besuchten mich mal, wenn ich erst verheiratet
bin.«

»Hm ... ich meinte nur wegen Leidchen ...«

»Ich glaube, die hat ein anderer in Pflege genommen, und wir tun am
besten, wenn wir den still gewähren lassen.«

Der alte Herr sah den jungen Bauern mit seinen großen dunklen Augen
aufs höchste verwundert an. Und seine weißen, weichen Hände hielten
die braune harte Arbeitshand ein Weilchen mit warmem Druck fest, indem
er sagte: »Grüßen Sie Ihre Schwester herzlich von mir.«

»Danke, Herr Pastor,« antwortete Gerd froh überrascht, »das will ich
gern tun, und Leidchen wird sich sehr darüber freuen.«

                   *       *       *       *       *

Am Nachmittag des zweiten Ostertages sprach Bruder Jan am Achterdamm
vor.

»Gerd,« sagte er, »Bäcker Michaelis, unser bester Kunde, schreibt mir
eine Karte, daß er morgen notwendig einen halben Hunt Torf haben muß.
Ich hab' nicht mehr ganz so viel, aber Nachbar Rotermund will mir
zuleihen. Du bringst das Schiff diese Nacht wohl eben hin ...«

Gerd brummte: »Mensch, heute ist doch noch Ostern.«

Jan zuckte die Achseln: »Deine Dienstzeit bei mir geht erst Donnerstag
zu Ende. Ich bin dir doch auch oft zu Willen gewesen.«

Der andere sagte zögernd: »Eigentlich geh' ich heute überhaupt nicht
gern aus dem Hause. Leidchen fühlt sich nicht ganz wohl.«

»Meinetwegen kannst du gern fahren,« mischte sich die Schwester ein.
»Es ist bloß ein bißchen Kopfweh. Das hab' ich schon öfters gehabt.«

»Du hast auch einen heißen Kopf.«

Sie griff sich an die Backe: »Das kommt wohl davon, weil ich ein
bißchen stark eingeheizt habe.«

»Deern,« sagte Jan, »Du kriegst doch nicht die Infallenzia? Die spukt
jetzt wieder im Dorf herum.«

»Das wollen wir nicht hoffen,« rief Gerd erschrocken, die Schwester
besorgt ansehend.

»Ach was,« sagte sie leichthin, den Kopf schüttelnd. »Heut abend vorm
Zubettgehen koch' ich mir eine Tasse Fliedertee, und morgen bin ich
fein wieder auf dem Damm.«

»Na,« meinte Jan, »wir wollen das Schiff wohl laden; denn kommst du
also nachher.«

Sie aßen noch zusammen Abendbrot. Gerd mußte die Schwester immer
wieder ansehen. Ihre zarten Wangen waren ein wenig gerötet, die großen
braunen Augen glänzten, und er dachte: Was hat sie doch einmal für ein
liebliches Gesicht!

Sie stand vom Tisch auf und holte zwei dicke Äpfel. »Es sind die
letzten,« sagte sie, »ich habe sie für dich gespart, du kannst sie
unterwegs aufessen.«

Er steckte den einen in die Tasche und nahm ihre Hand. Es war ihm auf
einmal so weich ums Herz, und er sagte zärtlich, sie warm anblickend:
»Leidchen ... es war eigentlich doch eine schöne Zeit, die wir beiden
hier allein miteinander gewirtschaftet haben. Es tut mir beinahe leid,
daß sie zu Ende geht.«

»Na, na?« sagte sie lächelnd. »Wenn das man wahr ist ...«

»Aber du sollst sehen, zu dreien wird es auch ganz gemütlich ... Weißt
du noch? Früher war das zwischen uns beiden immer wie zwischen Hund
und Katze.«

»Ach ja.«

»Das ist nun ganz anders ...«

»Ja, wenn die Katze so zahm gemacht wird ...«

»Ach nein, Leidchen, davon kommt das nicht allein. Wir haben beide
etwas zugelernt. Wir haben uns jetzt erst recht miteinander eingelebt
und verstehen einer den andern nun besser. Lieb gehabt haben wir uns
im Grunde ja immer, auch früher, als es manchmal nicht so wollte.
Nicht wahr?«

»Ja natürlich.«

»So können wir sagen: das Böse hat doch auch ein klein bißchen Gutes
im Gefolge gehabt ... Und das ist wohl meist so ... Diesen anderen
Apfel mußt du essen. Ich hab' an dem einen genug.«

Als er aufbrechen wollte, sagte er: »Soll ich nicht lieber Trina
bitten, daß sie morgen früh mal nach dir sieht?«

Sie schüttelte lebhaft den Kopf: »Ach nein, die möchte ich hier nicht
gern haben.«

»Oder Tante Rotermund?«

»Nein, nein, Gerd. Die ist so nicht die stärkste, und sie soll für
nichts und wieder nichts zweimal den weiten Weg laufen? Sei nicht
so albern, mir fehlt ja gar nichts. Mein Kopfweh ist schon weg, ich
brauch' mir gar keinen Fliedertee mehr zu kochen.«

»Kind, noch immer der alte Leichtsinn? Das mußt du mir wenigstens
versprechen, daß du dir tüchtig Fliedertee machen willst. Mutter selig
half sich auch immer damit.«

»Na denn man zu, ich koch' mir einen großen Topf voll, bloß dir zu
Gefallen.«

Er hatte die Türklinke schon in der Hand. Aber noch einmal begann er:
»Nun geh auch gleich zu Bett und decke dich ordentlich zu. Du kannst
morgen alles liegen lassen und tüchtig ausschlafen. Ja, meinetwegen
kannst du den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn du nur zwischendurch
eben die Tiere versorgen willst. Schlaf schön, und gute Besserung! Auf
fröhliches Wiedersehen übermorgen früh. Ein bißchen zu essen kannst du
mir hinstellen, es wird wohl Mitternacht werden, bis ich heimkomme.«

Er nahm ihre Hand.

»Du, deine Hand ist ja ganz heiß.«

»Aber Gerd, du machst es ja genau so wie die alten Weiber, die auch
immer und immer noch wieder stehenbleiben.«

»Na, denn gute Nacht! Aber vergiß mir den Fliedertee nicht! Du mußt
ihn so heiß trinken, wie du ihn nur eben herunter bringen kannst.«

»Kuck an! Du bist doch noch immer der gute alte Schulmeister und
strenge Vormund. Was einmal im Menschen drin steckt, das kommt auch
nicht heraus.«

Er drohte ihr lächelnd mit dem Finger und ging nun wirklich.

                   *       *       *       *       *

Um sich die langen Stunden der nächtlichen Fahrt zu kürzen, stellte
Gerd allerhand Betrachtungen an. Er rechnete aus, daß er in seinen
Dienstjahren an die dreihundert Bremerfahrten für Jan gemacht hatte.
Die zurückgelegten Strecken reichten aneinandergefügt gewiß bis nach
Amerika.

Wenn er nun wieder die Hamme hinabfuhr, ging es auf eigene Rechnung,
mit dem Torf, den er und Sine in den Honigwochen herausgemacht hatten
... Alle Wetter, das sollte ein lustiges Torfbacken werden!

Leidchen paßte auf das Haus und bestellte das Gemüseland. Dann konnten
sie beide die Tage ordentlich ausnützen und es wohl auf fünfzehn bis
zwanzig Hunt bringen. Das brachte ein schönes Stück Geld, das dann
wieder in die Verbesserung der Ländereien hineingesteckt werden konnte.

Später mußte die Huntzahl natürlich kleiner werden. Nur sich nicht von
dem alten Schlendrian des Raubbaus auf Torf unterkriegen lassen! Nur
ja keinen Betrieb wie der, auf den Barrenbrocks Opa stolz war! Aber
erst galt es einmal, in Gang zu kommen. Aller Anfang ist schwer.

Im Bremer Torfhafen angelangt, wickelte er sein Geschäft so schnell
ab, als es möglich war. Nachdem er sich darauf eine Stunde Ruhe beim
Kaffee gegönnt hatte, trat er die Rückfahrt an.

Sie war recht mühsam, denn Wind und Strom arbeiteten entgegen. Als
er den Giebel seines Häuschens gegen den blauen Himmel ragen sah, war
Mitternacht längst vorüber.

Mit frohem Aufatmen trat er über die Schwelle.

Da kam Lustig angelaufen und sprang winselnd an ihm empor. Und alsbald
meckerte die Ziege im Stall, und die Ferkel, die er vor kurzem gekauft
hatte, stießen grunzend und quieksend gegen ihre Tröge.

Herr du mein Gott, die Tiere haben Hunger!

Mit zitternden Knien wankt er über die Diele und öffnet die Tür zu
Leidchens Stube. Stehenbleibend horcht er mit angehaltenem Atem in die
Finsternis hinein.

Von der Schlafbutze her kommt Stöhnen und wirres Reden.

Er greift sich an die Taschen und sucht Schwefelhölzer, findet aber
keine.

Er greift sich an den Kopf, um sich zu besinnen, wo er welche finden
kann. Mit bebenden Händen tastet er die Herdwand ab.

Endlich kann er eine Lampe anzünden.

Wie er sich der Butze nähert, gellt es ihm entgegen: »Weg, weg mit
dir, du schlechter Mensch!«

Von Grausen gepackt, tritt er noch zwei Schritte vor.

Ein Anblick bietet sich ihm, der ihn zurückprallen und das Blut in
seinen Adern erstarren läßt. Er muß mit beiden Händen zugreifen, um
die Lampe nicht fallen zu lassen. Zwei Sekunden steht er regungslos
starr.

Dann wendet er sich, läuft über die Diele, reißt das Rad aus dem
Kuhstall, zündet die Laterne an.

Eine halbe Minute später saust er schon den Kirchdamm entlang durch
die Nacht.

Vor der Häuslingskate von Nr. 10 springt er ab und pocht stürmisch
an das Fenster. Gleich darauf wird dieses von einer jungen Frau in
Nachtkleidung geöffnet.

»Ich bin ... nach der Stadt gewesen ... Leidchen hat ... ihre schwere
Stunde gehabt ... Komm so schnell ... du kannst.«

»Ich komme auf der Stelle,« sagt die Frau und verschwindet.

Zehn Minuten später hämmert er gegen Beta Rotermunds Kammerfenster.

Die Frau kreischt hell durch die Nacht. Auch sie will sich sofort auf
den Weg machen.

»Soll ich den Doktor holen?«

»Wart' damit noch. Wir wollen erst sehen, ob es nötig ist.«

»Aber Leidchen redet irre. Ich glaube, sie ist schwer krank.«

»Dann ist es doch wohl besser ...«

Die Birkenstämme des Dammes blitzen im Lichtschein der Laterne, die an
ihnen entlang rast. Der Fahrer liegt keuchend auf der Lenkstange.

Der Arzt ist über Land geholt.

Eine ganze Stunde muß Gerd warten. Erst sitzt er in dem Vorzimmer,
in das ein Dienstmädchen ihn gewiesen. Dann geht er hinaus und
schreitet die Straße vor dem Hause auf und ab. Im kühlen Hauch der
Vorfrühlingsnacht ist es erträglicher.

Endlich Wagengerassel in der nächtlichen Stille.

Das Gefährt hält. Gerd tritt an den Schlag und spricht mit dem Arzt.
Der murmelt einen Fluch und befiehlt dem Kutscher, die Pferde zu
wechseln.

Gerd schwang sich wieder auf sein Rad. Er war jetzt ruhiger geworden
und fuhr ein mäßigeres Tempo.

Als er zu Hause ankam, graute der Morgen.

Auf dem Flett traf er Beta Rotermund.

»Wie steht's?« fragte er mit Herzklopfen.

»Oh ... ziemlich gut. Leidchen ist aber sehr schwach. Geh nur hinein
und sag' ihr Guten Morgen. Aber viel sprechen darfst du nicht.«

»Redet sie auch nicht mehr irre?«

»Nein, sie ist jetzt ganz vernünftig.«

Er trat auf Zehenspitzen in die Stube. In einem Steckkissen zwischen
zwei Stühlen lag das Kind, das er mit einem schnellen Blick streifte.

Sie lag mit geschlossenen Augen, das schmale, bleiche, schöne Gesicht
tief in den Kissen.

»Liebe, liebe Schwester ...«

Sie öffnete die Augen, sah zu ihm auf und hauchte: »Gerd ... Bruder
...«

Wie er ihr die Hand reichte, hielt sie diese einige Augenblicke mit
leisem, warmem Druck fest.

Dann trat er von ihrem Lager zurück und verließ die Stube, um das Vieh
zu versorgen. Den ersten Heißhunger der Tiere hatte Beta Rotermund
schon gestillt.

Bald erschien auch der Arzt. Als er aus dem Zimmer der Kranken kam,
fing Gerd ihn auf der Diele ab. Er war ein Mann von wenig Worten
und murmelte, wie für sich, etwas von hochgradiger Herzschwäche,
Influenza, wobei er die Schultern anzog und fallen ließ. Das Kind
wäre gut einen Monat zu früh geboren, würde bei sorgfältiger Pflege
aber wohl durchkommen.

Gerd wunderte sich über sich selbst, wie ruhig er die schlimme
Nachricht aufnahm. Nach der furchtbaren Erschütterung der letzten
Nacht konnte er einiges vertragen.

Er stieg noch einmal auf sein Rad, um die Arznei von der Apotheke zu
holen.

                   *       *       *       *       *

Gegen Mittag war ganz Brunsode und Umgegend auf den Beinen. Eine
solche Riesenhochzeit, wie Müllers Hermann sie heute mit der reichen
Bauerntochter aus dem Hammetal feiern wollte, hatte Brunsode noch
nicht gesehen. Ein brautväterlicher Ochse und drei fette Schweine
bester Mühlenmast hatten ihr Leben lassen müssen. An die fünfzig
Butterkuchen waren gebacken, sechs Hektoliter Bier angefahren. Drei
Hochzeitsbitter hatten zu Rad die Gegend abgestreift und das ganze
Dorf und in den benachbarten Kolonien alles, was zur Kundschaft der
Mühle gehörte, zum Feste gebeten. Die beiderseitige Verwandtschaft
bis ins dritte und vierte Glied, die Müller des Moores, die Kaufleute
und Lieferanten, der Getreidehändler in Bremen, Pastor und Küster
waren durch gedruckte Karten mit Goldrand geladen. Man erwartete an
vierhundert Gäste. Über die Hofbrücke spannte sich eine Tannengirlande
mit einer Papptafel, die mit weißen Buchstaben auf rotem Grunde
»Willkommen zum frohen Feste« bot. Tür und Fenster der Mühle waren
frisch und hell gestrichen, die würdige Matrone sah munter drein, als
wollte sie den Festgästen zurufen: »Nun halte ich's erst mal wieder
eine gute Weile aus.«

Um zwei Uhr fand auf der Großen Diele die Trauung statt. Die Leute,
die dicht gedrängt bis über das Einfahrtstor hinaus standen, sangen
tapfer zu den schmetternden Klängen einer zwölfköpfigen Musikkapelle:
»Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Der alte Pastor machte seine
Sache ziemlich kurz und so wenig rührend, daß die etwas angejahrten
Brautjungfern nicht einmal mit Schick die bereitgehaltenen Tränen los
wurden. Der beleibte Brautvater meinte nachher, etwas mehr könnte man
von einem studierten Mann für sein gutes Geld wohl verlangen.

»Sing, bet und geh auf Gottes Wegen« sang die Hochzeitsgesellschaft,
und die Feier war beendet. Während das junge Paar die Glückwünsche
entgegennahm, trat der alte Müller mit unterwürfiger Miene auf den
Pastor zu und sagte: »Nicht wahr, Herr Pastor, Sie tun uns doch die
Ehre an und essen einen Teller Suppe mit uns?«

»Ich danke,« sagte der Geistliche kurz, »es paßt mir heute nicht.«

»Aber Sie können uns doch nicht die Unehre antun, daß Sie gleich
wieder wegfahren!«

»Ehre und Schande, Herr Vogt, tut ein jeder sich selbst an, mein'
ich,« sagte der alte Mann ernst.

Damit packte er seinen Chorrock in die Tasche und schritt durch die
sich bildende Gasse auf die Große Tür zu, vor der sein Wagen wartete.

Als er am Achterdamm vorüberfuhr, stand Gerd Rosenbrock in schwarzer
Kleidung und mit traurig-ernstem Gesicht am Wege und bat ihn, in sein
Haus zu kommen und der Schwester Kind zu taufen.

Während sie dem Hause zuschritten, fragte er: »Herr Pastor, Sie haben
wohl nicht zufällig Ihre Abendmahlssachen bei sich?«

Der alte Herr nickte: »Die führe ich auf solchen Fahrten immer mit
mir, für alle Fälle.«

»Das ist gut,« sagte Gerd erfreut, »meine Schwester wollte nämlich
auch gern das Heilige Abendmahl feiern. Aber sie ist sehr schwach ...«

»Dann werden wir es ganz kurz machen,« versetzte der Pastor.

»Darum wollte ich eben gebeten haben,« sagte Gerd.

In dem sauber gekehrten und mit weißem Sand gestreuten Krankenzimmer
hielt Gerd das Kindchen über das weiße Schälchen mit braunem
Moorwasser. Außer ihm walteten als Paten Beta Rotermund und die junge
Hebamme. Der Täufling erhielt den Namen »Gerd«.

Darauf wandte der Pastor sich der Mutter des Kindes zu. Mit leiser
Stimme richtete er an sie ein paar herzliche Worte, stellte eine
Frage, auf die sie ein Ja hauchte, sprach ein Vaterunser und die
Einsetzungsworte, reichte ihr Brot und Wein und hob die Hände über sie
zum Segen.

Bald nachdem er das Zimmer verlassen hatte, fiel die Kranke in einen
Schlaf, der bis gegen Abend anhielt.

Als sie erwachte, verlangte sie nach dem Kinde.

»Wir dürfen es dir nicht geben, der Arzt hat es verboten.«

»Aber sehen darf ich es doch ...«

Da holten sie es aus der andern Stube, zeigten es ihr, und die Hebamme
erklärte mit Kennermiene, es wäre ein fixer und kerngesunder Junge.

Als die Frauen ihn wieder wegbrachten, sagte die Kranke: »Bitte,
lieber Bruder, laßt das arme Kind nicht für seine Mutter büßen.«

»Aber Leidchen, wie kannst du so was bloß denken ... Dein Kind ist
mein Kind ...«

»O Gerd, was bist du gut, was bist du gut ... Ich habe aber noch etwas
auf dem Herzen.«

»Was denn, Kind?«

»Daß du kein Geld nimmst ...«

»Och Leidchen ... ich weiß nicht recht ...«

»Wenn du ~einen~ Groschen nimmst, muß ich mich im Grabe umdrehen.«

»Aber Kind, doch nicht so hitzig!«

»Sein Geld ist verflucht! Ich hab' ja noch dreihundert Taler, dafür
kriegst du das Kind wohl beinahe schon groß ... Gerd, du hast so viel
Gutes an mir getan. Nun erweise mir noch die eine große Liebe: gib mir
die Hand darauf, daß du keinen Pfennig annimmst.«

Ein paar Sekunden zögerte er noch und sah ihr in die brennenden Augen.
Endlich reichte er ihr stumm die Hand.

Die junge Frau ging nach Hause, Beta Rotermund wollte die Nacht über
wachen helfen.

In den späten Abendstunden stellte sich Fieber ein.

»Es ist hier so heiß wie in der Hölle,« stöhnte die Kranke. »Macht
doch mal ein Fenster auf.«

»Es wird wohl nicht ziehen,« sagte Beta Rotermund. Da stand Gerd auf,
ihren Wunsch zu erfüllen.

»Mir ist immer, ich höre Musik,« sagte Leidchen nach einer Weile,
»Gerd, spielst du da auf deiner Harmonika?«

»Ach, Leidchen, wie kannst du so was denken ...«

»Aber es ist ganz gewiß wahr, ich höre Musik.«

»Deern, Deern, das bildest du dir wohl bloß ein,« sagte Beta Rotermund
beschwichtigend. »Das kommt einem manchmal so vor, und ist bloß ein
Sausen in den Ohren.«

»Wenn ich es nicht ganz deutlich hörte! Seid ihr denn alle beide taub?
Da ist irgendwo Musik, ganz lustige Musik ... tralala hopsasa ... Man
könnte fein danach tanzen ... Gerd, tanz' doch mal ein bißchen, mit
Sine. Ich hab' heut' keine Lust. Und mit mir will auch keiner tanzen
... kein einziger ...«

Die Kranke streckte die nackten Arme in die Höhe und warf sich dann
zur Wand herum.

      »'s ist alles dunkel, ist alles trübe,
      Dieweil mein Schatz eine andre liebt.
      Ich hab' gedacht, er liebet mich.
      Aber nein, aber nein,
      Aber nein, aber nein,
      Er liebt mich nicht ...«

»Das machen die Fieber,« flüsterte Beta Rotermund, Gerd starrte
entsetzt ins Leere.

Die Kranke wälzte sich auf die andere Seite und ihre Augen suchten den
Bruder: »Ach, da bist du ja, Gerd. Das ist man gut ... Ich weiß jetzt
wohl, was das für Musik ist ... schweigt man stille ... jaja, ja, ja
... 's ist 'ne wunderliche Welt.«

Nach einiger Zeit begann sie wieder: »Gerd, du hast mir immer so schön
was vorgespielt. Bitte, nimm deine Harmonika und spiel mir noch ein
einziges Mal ein bißchen vor, so schön wie du kannst ...«

»Ach Leidchen ...«

»Ich bitt' dich darum, den kleinen Gefallen kannst du mir wohl tun.
Setz' dich man draußen an den Herd, dann klingt es nicht so laut ...
Wie Christabend, als du mich zum Weihnachtsbaum holtest ...«

»Ach Leidchen ...«

»Ich möcht' gern ein bißchen Ruhe haben, und ich glaub', dabei kann
ich schön einschlafen.«

Beta Rotermund bedeutete ihm mit den Augen, ihr zu Willen zu sein. Da
stand er auf und ging.

Das Flett lag im Dunkel, und er zündete auch kein Licht an. Auf dem
Herd glühten noch ein paar Kohlen, in deren Schein die Metallteile
seines Instruments schimmerten.

Und er spielte mit langgezogenen, weichen Akkorden: Stille Nacht,
heilige Nacht ... Nun sich der Tag geendet ... Wenn ich einmal soll
scheiden ... Und legte, wie nie zuvor, seine ganze Seele in das
einfache Spiel.

                   *       *       *       *       *

Die Stubentür ging auf, Beta Rotermund trat, mit der Lampe in der
Hand, auf die Diele. Sie sah so tiefernst aus, daß er jäh im Spielen
innehielt. Die Frage, die er über die Lippen zu bringen sich scheute,
legte er in seine Augen. Und sie nickte stumm.

Er sprang in die Höhe. Aber sie sagte leise: »Laß uns lieber noch
etwas warten und ihr die Ruhe gönnen.«

Da setzte er sich wieder hin, und die Frau zog sich einen Stuhl an den
Herd. So saßen sie und schauten regungslos in die verglühenden Kohlen,
wohl eine Viertelstunde lang.

Endlich rührte sich Beta Rotermund, und Gerd fragte: »Was meint Ihr,
Mutter, soll ich hin und Euch jemand zur Hilfe holen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Laß nur, Gerd. Wen wolltest du holen? Sie
sind alle auf der Hochzeit. Und dann gibt es hier so'n Gekakel und
Geschnacke, das kann ich diese Nacht nicht gut haben. Ich bin allein
wohl Manns genug, mein Patenkind anzukleiden.«

Die gute Frau machte sich an die Vorbereitungen, Gerd ging, nach einem
kurzen Besuch im Sterbezimmer, in die Wohnstube.

Eine Weile starrte er mit den trockenen, rotumränderten Augen, die
tief in ihren Höhlen lagen, vor sich hin ... bis es sich in ihnen
löste und ein heißer Strom von Tränen sich über seine Wangen ergoß.

Aus der Ferne klang das Gejohle und Gekreische angezechter
Hochzeitsgäste.

Als der kleine Gerd in seinem Steckkissen anfing zu wimmern, stand der
große Gerd auf, machte ihm die Milchflasche zurecht, probierte und
steckte sie ihm ins Mündchen. --

Lehrer Timmermann, der gleich bei seinem Amtsantritt mit der
Gepflogenheit seines Vorgängers, bei den Begräbnisfeierlichkeiten
rührselige Reden zu halten, gebrochen hatte, ließ einen Choral singen
und las den neunzigsten Psalm. Warum seine Stimme heute so bedeckt und
rauh klang, das wußte in der großen Trauergemeinde nur ein einziger.

Ein guter Teil von denen, die vor vier Tagen auf der Nachbarschaft die
seit Menschengedenken großartigste und lustigste Hochzeit gefeiert
hatten, weinten jetzt reichliche Tränen in die Sacktücher hinein.

Unter dem herrlichsten Frühjahrshimmel wurde Leidchen Rosenbrock
zu Füßen des dunkelgrünen Wacholders, an der Seite des schon
eingesunkenen Grabhügels ihrer Mutter, zur Ruhe gebettet. Den
Gesang der Kinder und die Worte des Geistlichen übertönten fast die
Jubellieder der Lerchen hoch oben in der lichten Bläue.

Gerd, Sine, Becka und ihr Bräutigam verließen zusammen den Friedhof.
Vor dem Tore blieben sie stehen, und Gerd sagte: »Wollen wir die
Hochzeit nicht lieber um ein paar Wochen hinausschieben?«

»Das wird wohl nicht gehen, es ist schon zu viel vorgerichtet,« sagte
Becka.

Und ihr Ebenbild, zu Gerd gewendet: »Wir beide können ja gleich nach
der Mahlzeit aufbrechen.«

Da nickte er langsam und sagte nichts weiter dagegen.

Es war nur eine Kaffeehochzeit mit knapp sechzig Gästen. Vor die
lange, aus Wagenbrettern gebildete, mit Hausmacherlinnen gedeckte
Festtafel hatte man quer einen Tisch gestellt, an dem die beiden
jungen Ehepaare nebeneinander saßen. Vor jedem brannte ein Paar
Lichter und stand ein Teller mit einem Zweipfundstück Butter, die aber
nicht angeschnitten wurde; denn es gab ja kein Butterbrot, sondern
Butterkuchen, ganze Berge.

Sine hatte den würdigen Pfarrherrn zum Tischnachbarn. Der war heute
sehr aufgeräumt, trank erst drei Tassen Kaffee, dann ein Glas St.
Julien Fasson und brachte mit diesem sogar ein Hoch aus. Auch seine
Traurede hatte allgemein befriedigt. Es waren Tränen mehr als genug
vergossen, und die glücklichen Bräute hatten tüchtig geholfen. Alle
Frauen von Herz und Gemüt fanden es auch gar zu rührend, daß die guten
Kinder, die jedermann gern hatte, an einem Tag die Myrtenkrone trugen.

Als die Tafel aufgehoben wurde, rüstete das eine Paar zum Aufbruch.

»Bleibt noch eine Stunde,« bat der Brautvater.

Aber Sine, mit einem Blick nach den Augen ihres Eheherrn, sagte: »Laßt
uns man reisen. Es ist meinem Mann so lieber.«

Von der ganzen Hochzeitsgesellschaft begleitet, gingen sie zum
Nachbarhof hinüber, wo ein Einspännerwägelchen bereit stand. Als sie
aufgestiegen waren, drängte sich alles heran, ihnen noch die Hände
zu drücken. Indem das Jungvolk ein halbgedämpftes Juhuhu hören ließ,
ermunterte der Fuhrmann seinen Gaul zu einem Zuckeltrab, der sich
jedoch schnell zu einem sehr gemächlichen Schlenderschritt beruhigte.

Als der Wagen nach zweistündiger Fahrt hielt, saß hoch oben in der
höchsten der beiden das Haus schirmenden Tannen eine Amsel und
begrüßte das Einzug haltende Pärchen mit dem süßesten Willkommenssang.
Ihr Besitztum, das sie sich durch Fleiß und Sparsamkeit erworben
hatten, lag im Glanz des schönsten Frühlingsabends vor ihnen. Ehe
sie durch die Große Tür eintraten, legte Gerd den Arm um sein Weib
und las, wie bei dem ersten Einzug, aber mit einem anderen Klang der
Stimme: »Unsern Eingang segne Gott.«

                   *       *       *       *       *

Damit die jungen Eheleute mit der Arbeit erst mal tüchtig in Gang
kämen, hatte Beta Rotermund den kleinen Gerd für den Sommer zu sich
genommen. Sie sagte, es machte ihr Freude, nach so langer Pause sich
mal wieder mit solch lüttjem Wurm abzuplagen. So 'ne alte Frau würde
dabei wieder ein bißchen jung mit.

Auf keiner Stelle in Brunsode wurde diesen Frühling und Sommer
über so tüchtig, ernst und froh gearbeitet, wie auf der kleinen am
Achterdamm. Als die Jahreszeit fortschritt, erschienen viele Leute,
um Gerds Kulturerfolge zu bewundern. Auch Barrenbrocks Opa kam eines
Tages angetöffelt. Wie Gerd ihm das üppige, blaugrüne Kleefeld auf
seinem Hochmoor zeigte, brüllte er: »Du willst mir vorschnacken, der
Klewer kommt von dem Dreckzeug, das du um Lichtmessen in deinem Schiff
hattest? Dazu mußt du dir 'n Dümmeren suchen, hä hä.« Gerd lachte und
gab sich weiter keine Mühe, den alten Bock herumzukriegen.

Nach der ersten Heuernte kamen zwei wackere Kühe in den Stall. Im
Laufe der Jahre ist der Viehbestand stetig gewachsen, zurzeit bis auf
sechs Kopf.

Eine große Freude bereitete es Gerd, als er, kaum siebenundzwanzig
Jahre alt, zum Gemeindevorsteher von Brunsode gewählt wurde. Heini
Peper hatte stark gegen ihn agitiert, der junge Müller aber, worüber
viele sich wunderten, für ihn gestimmt. Seine Wahl war um so
bemerkenswerter, als er nicht in der Hauptreihe saß.

Er hat es in seiner neuen Würde nicht nötig, sich wie sein Vorgänger
die Schriftstücke und Steuerberechnungen im Schulhause anfertigen
zu lassen. Aber mit dem Lehrer Timmermann, der eine Küstertochter
aus einem benachbarten Kirchspiel geheiratet hat und nicht daran
denkt, sich versetzen zu lassen, verbindet ihn nach wie vor treue
Freundschaft. Die Leute sagen: »Der Schulmeister und Vorsteher
regieren zusammen das Dorf.« Aber sie wissen auch, daß sie sich
dabei nicht schlecht stehen. Es wird auf Zucht und Ordnung gehalten,
Dämme und Wasserstraßen sind in bestem Stand, und wenn eine hohe
Staatsregierung mal etwas für die armen Moorgemeinden tun will und
Gelder flüssig macht, wissen die beiden so darum zu schreiben, daß für
Brunsode jedesmal ein erklecklicher »Bischuß« zu den Lasten abfällt.

Vor dem Hause am Achterdamm, das längst durch Anbau vergrößert ist und
ein neues Strohdach, statt des von Ratten zernagten und geflickten,
bekommen hat, und hellblauen Fachwerkanstrich dazu, spielen sorglos
heiter ein stämmiger kleiner Gerd, ein süßes braunäugiges Leidchen,
ein dicker pummeliger Jan, ohne den eine Moorfamilie ja nicht
vollständig wäre, und noch ein paar blau- und braunäugige Flachsköpfe
... Bis das Leben auch sie an die Arbeit ruft und in den Kampf reißt.
Möchten sie dann sich wacker tummeln und glücklich zurechtkommen!





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GESCHWISTER ROSENBROCK ***


    

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