Das goldene Tor

By Diedrich Speckmann

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Title: Das goldene Tor

Author: Diedrich Speckmann

Release date: April 26, 2024 [eBook #73467]

Language: German

Original publication: Berlin: Verlag von Martin Warneck, 1923

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GOLDENE TOR ***



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                            Das goldene Tor




                               Erzählung

                                  von

                          Diedrich Speckmann

                            [Illustration]

                              Berlin 1923
                       Verlag von Martin Warneck




                            Erschienen 1907
                           98.-110. Tausend

                        Alle Rechte vorbehalten


               Gedruckt in Stuttgart bei J. F. Steinkopf




Obgleich die Sonne noch hoch am Himmel stand, lag Familie Eggers in den
Betten. Nicht Krankheit hatte sie hineingetrieben, auch Faulheit nicht,
sondern die grimmige Kälte. Auf neun Grad unter Null acht Tage nach
Lichtmeß waren so kleine Leute wie der Häusling Harm Eggers mit ihrem
Feuerungsvorrat nicht eingerichtet. Der winzige Haufe Sprickerholz und
Torf, der noch auf der Diele am Ziegenstall lag, mußte fürs Kaffee- und
Kartoffelkochen, also für die innere Erwärmung, gespart werden. Die
äußere war nirgends billiger und gründlicher zu haben als im Bett.

In die Lehmwände der engen, unsauberen Stube, die mit ihrem
gänzlichen Mangel an Schmuck und der zerbrochenen, notdürftig mit
Lumpen verstopften Fensterscheibe nicht nur bei neun Grad Kälte
und ungeheiztem Ofen einen frostigen Eindruck machte, waren zwei
Schlafschränke, sogenannte Butzen, eingebaut. In der einen lagen
Harm Eggers und seine Frau Trina. Sie strickten emsig Strümpfe
aus Heidschnuckenwolle. Was fertig war, flog durch die Stube in
die Fensterecke, um beim nächsten Kirchgang zusammengerafft und
in Steinbeck beim Kaufmann Böcking gegen Kaffee, Zucker und Salz
umgetauscht zu werden. In der Wiege vor dem Ehebett schlief ein
Säugling, mit einem Bart von Milch und Schmutz um das breite Mäulchen.
Der übrige Kindersegen füllte die zweite Butze. Ein zehnjähriger
Junge war dabei, sich das Einmaleins in den Schädel zu rammen. Ein
siebenjähriger und ein Mädchen von sechs Jahren lasen Bohnen aus. Dabei
spielten sie einander allerhand Schabernack, heimlich, um sich den
Eltern nicht zu verraten.

So verliefen die Winternachmittagsstunden trotz des ungeheizten Ofens
behaglich, friedlich und nutzbringend. Bis es dem Siebenjährigen
einfiel, dem Bruder, der eben mit geschlossenen Augen sich das
schwierige Neunmalneun überhörte, eine dicke Bohne in das Gesicht zu
knipsen. Dieser griff sich mit einem »Au!« an die hart getroffene
Nasenspitze, dann schlug er mit seinem Buch und stieß mit seinen Füßen
um sich. Darob stimmten Bruder und Schwester, wahllos getroffen, ein
Geheul an, und der jäh erwachende Säugling mischte sein Schreistimmchen
auch in das geschwisterliche Konzert. Da war’s um die Ruhe der Mutter
beim Strickstrumpf geschehen. Sie kam aus dem Bette gefahren, schlug
und stieß, ohne den Fall zu untersuchen, in die Kinderbutze hinein, bis
die Ruhe wiederhergestellt war. Dann beugte sie sich über den jüngsten
Schreihals und summte, sich mit der Wiege hin und her schaukelnd: Hu,
huhuhu, hu. Aber der kleine Kerl schrie weiter. Da legte sie sich ins
Bett, nahm den Jungen an sich, hüllte ihn warm ein und reichte ihm
die Brust. Wie sie so auf das begierig trinkende Kind niederblickte,
verlieh die Mutterliebe selbst diesem stumpfen, harten Gesicht für
Augenblicke etwas wie einen heimlichen Adel.

Als Trina ihr Kind gestillt hatte und es eben wieder in die Wiege
legte, ging die Stubentür auf, und ein etwa vierzehnjähriger Junge
trat ein. Die Bücher, die er unter dem Arm trug, legte er auf den
Tisch und seine Mütze auf den kalten Ofen. Also gehörte auch er hier
ins Haus. Aber er war von ganz anderer Art als die andern Kinder. In
deren Gesichtern bestimmten die hervortretenden Backenknochen und der
breite Mund den Ausdruck. Die Stirn wich bescheiden zurück, und bei
den Augen fiel nichts weiter auf, als daß sie sehr rund waren. In des
Ankömmlings Gesicht dagegen hatte die Stirn die Vorherrschaft, und die
Augen sahen nicht wie die der andern nach dem, was der benachbarte Mund
verschlingen könnte, sondern es war, als ob sie über dieses Nächste
hinwegschauten und nach etwas Fernem suchten. Es war Peter, Harms
Sohn aus erster Ehe, den Trina als ziemlich hoffnungsloses älteres
Mädchen bei ihrer Verheiratung mit in den Kauf hatte nehmen müssen. Er
stand vor der Einsegnung und kam eben von der Konfirmandenstunde aus
Steinbeck, dem anderthalb Stunden entfernten Kirchdorf, zurück.

»Süh,« sagte Trina, »dat paßt. Weeg mi dat Kind, ick will melken.«
Peter stellte sich gehorsam an die Wiege, die Stiefmutter fuhr in die
Holzschuhe, band sich ein Tuch um den Kopf und ging hinaus.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da trat Peter dicht an
die elterliche Butze, steckte den Kopf hinein und sagte zögernd und
leise: »... Vader! ...«

Harm Eggers blickte von seinem Strumpf auf und sah dem Jungen
verwundert in das Gesicht. »Wat hest du? Wat makst du för Ogen!«

»Ick ... ick schall Scholmester weern.«

»Wat? Du?«

»Ja, ick.«

»Wer seggt dat?«

»De Herr Pestohr.«

»Soo? Hett de uns wat to seggen?«

»He well darför sorgen, dat de Sak di keenen Gröschen kosten deit.«

»Hoho, dormit is dat nich afmakt. Du hest uns mannig Stück Brod und
Speck upäten. Nu mußt du mi helpen, dat ick din Bröders und Süsters ok
grot krieg'.«

»O Vader, wenn ick minen Lohn as Scholmester krieg', will ick jümmer an
di denken.«

»Hä, de paar Daler! De wullt du woll sülwst bruken können.«

»Och Vader, lat mi!«

»Hm ... Wenn ick ok woll, du schast man sehn, Mudder giwt't nich to ...«

»Jea, Mudder ... De gönnt mi öwerall nix ... Wenn min sel' Mudder
noch an't Lewen wör, denn so ...«

Peter vollendete den Satz nicht. Er sah trüben Blickes durch die
blinden Fensterscheiben in den dämmernden Abend hinaus.

Der Vater fuhr sich mit den Stricksticken hinter die Ohren und machte
ein verlegenes Gesicht. In seinen besten Stunden fühlte er, was er
selbst und der Junge mit seiner ersten Frau verloren hatten. Und
dann hatte er Peter gegenüber etwas wie ein böses Gewissen, weil er
ihn nicht besser gegen die Ausnutzung und Drangsalierung durch die
Stiefmutter in Schutz nahm, und schämte sich seiner Schwäche und
Bequemlichkeit. Nach einer Weile fragte er: »Nix kösten schall't mi?«

»Nee, keenen roden Pennig,« versicherte Peter eifrig, »und de Herr
Pestohr seggt, du schöllst em mal besöken. O, Vader, ick bidd' di, gah
hen!«

Harm Eggers räusperte sich. »Hmhm, ick will mal hören, wat Mudder darto
seggt.«

»Vader ...« sagte Peter leise und zögernd, »... frag aber ok ... min
rechte Mudder ...«

»Och Jung, wat snackst du mannigmal för narr'sch Tüg! De is ja dod ...«

Peter schwieg. Er ließ den Blick wieder durch das Fenster in die
dämmernde Ferne irren.

»Jung, wenn du so steihst und kiekst, denn sühst du just so ut as din
Mudder selig.«

Langsam wandte Peter sich dem Vater zu. »Is ~dat~ wahr?« fragte er.

Der Vater nickte stumm, seufzte leise und ließ die Stricksticken wieder
klirren, wie um sich auf andere Gedanken zu bringen. Die stille,
heimliche Freude, die auf Peters Gesicht lag, sah er nicht.

Bald darauf kam Trina Eggers vom Melken zurück. In der Tür wischte
sie sich mit dem Jackenärmel über den Mund. Denn sie hatte eben einen
tüchtigen Trunk warmer Ziegenmilch getan. Nach einem Blick in die Wiege
sagte sie: »Clas slöppt. Mak Füer an und sett Water up!«

Peter ging hinaus. Nachdem er den berußten Kessel mit Wasser gefüllt
und an den Haken über der offenen Feuerstelle gehängt hatte, kniete
er nieder, rakte die Asche von den fast erloschenen Kohlen, blies
mit vollen Backen hinein und legte trockenes Reisig auf. Knisternd
umsprangen ihn die Funken, und eine weißliche Rauchwolke kletterte
an den Zacken des schwarzglänzenden Kesselhakens in die Höhe. Peter
ließ sich von der hellen Lohe Gesicht und Hände wärmen und schaute
nachdenklich in die prasselnden, in buntem Farbenspiel durcheinander
schießenden Gluten des von zusammengesuchtem Holzwerk genährten
Herdfeuers. Die letzten Worte des Vaters gingen ihm im Kopf rundum.
Also er hatte Ähnlichkeit mit seiner seligen Mutter? Sie war gestorben,
als er kaum drei Jahre alt war, und ihr Bild war seiner Vorstellung
entschwunden. Nun versuchte er, seine Züge ins Weibliche und ins
Mütterliche zu übersetzen. Ein deutliches Bild gewann er damit ja
nicht. Aber er freute sich, daß er ihr Gesicht haben sollte. Denn er
hatte sie noch immer lieb und dachte oft an sie.

Der Kessel fing an zu singen. Das hörte Peter gern. Dabei ließ sich so
schön sinnen und träumen. Aber plötzlich fuhr er auf. Aus der Stube
klang ein Wortwechsel in das Kesselsingen und das Funkenknistern
hinein. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, aber er wußte
sofort, daß es sich um ihn und seine Zukunft handelte. Es ging sehr
lebhaft dabei zu ... Nun hat die Stiefmutter das Wort ... Noch immer
... Ob sie gar nicht wieder aufhören will? Endlich! ... Aber, Gott
sei Dank, der Vater ist noch nicht zum Schweigen gebracht. Ruhig und
bestimmt scheint er seine Meinung zu sagen ... Nun sie wieder. Was
für eine schrille Stimme sie hat! ... Jetzt beide durcheinander, in
höchster Erregung ... Peter sitzt mit stürmisch klopfendem Herzen am
Feuer, zwischen Furcht und Hoffnung hin und her geworfen.

Da fliegt die Stubentür auf, und der Vater kommt herausgeschritten, mit
einer Entschlossenheit in Haltung und Miene, die ihm sonst fremd ist.
»Peter!« ruft er laut über die Diele.

Peter springt wie eine Feder vom Herde in die Höhe. »Hier bin ick.«

»Peter, ick heww din Mudder selig up ehren Dodenbedd in de Hand
toseggt, dat ick jümmer god för di sorgen wull. Morrn gah ick to'n
Pestohr.«

»Und ick segg ...,« kreischt Trina, die ihrem Mann auf dem Fuße gefolgt
ist, aber er unterbricht sie hart: »Trina, ick segg di't in Goden, hol
nu din Mul!« Und wirklich, sie schwieg. Der Ton, mit dem er dies sagte,
und der Ausdruck seiner Augen, in denen ein flackernder Widerschein
des Herdfeuers war, verrieten ihr, daß sein Inneres nahe am Siedepunkt
war. Wenn man ihn dann noch weiter reizte, fing er an zu rasen. Das
hatte sie einmal erlebt, und seitdem ließ sie es so weit nicht mehr
kommen. Lieber nahm sie eine kleine Niederlage hin und wartete auf eine
Gelegenheit, sie auszuwetzen.

Harm Eggers machte sich hinten auf der Diele zu schaffen und pfiff
munter vor sich hin. Die häusliche Szene hatte nach der langen Bettruhe
sein Blut angenehm in Wallung gebracht. Dazu kam das Hochgefühl des
Siegers, und vor allem das Bewußtsein der erfüllten Vaterpflicht. Trina
dagegen war in ihrer schlimmsten Laune. Sie schlug die Türen, stieß mit
dem Geschirr und hetzte den Stiefsohn von einer Arbeit zur andern.

Nach dem Abendbrot ging die Familie bald zur Ruhe. Peter aber mußte
vorher das Jüngste in Schlaf wiegen.

Der Trankrüsel wurde gelöscht -- Öllampen waren auf dem Lande
noch nicht in Gebrauch --, aus den Butzen kamen bald die ruhigen
Atemzüge der Schlafenden, leise knirschte die Wiege auf dem Sande des
Lehmbodens. Da gehörte Peter sich selbst und seinen Gedanken.

Er saß nicht weit vom Fenster und blickte hinaus. Das war so seine
Art. Er sah mehr aus dem Fenster, als seine vier Geschwister zusammen.
Denn unbewußt suchten seine Augen und seine Seele in der Ferne etwas,
was die Nähe und Enge nicht gab. Wie er jetzt so in Gedanken versunken
hinausschaute, sah er die klare Winternacht mit unzähligen Sternen
geschmückt. Da dachte er an seine Mutter, wie er öfters tat, wenn er zu
den Sternen aufschaute. Das hing mit einer frühen Kindheitserinnerung
zusammen. Die Mutter hatte so viel gehustet und gestöhnt und gar nicht
schlafen können. Nun lag sie auf einmal still mit weißem, feierlichem
Gesicht und schlief so friedlich. Da freute sich der kleine Peter
und ging auf den Zehen und spielte ganz leise, um die Mutter nicht
zu wecken. Am Morgen des dritten Tages aber holte die Großmutter des
Bauernhauses, zu dem des Vaters Kate gehörte, ihn ab, schenkte ihm drei
Stück Zucker und einen dicken Apfel, und den ganzen Nachmittag spielte
er sehr vergnügt mit den Kindern des Bauern. Am Abend brachte die
freundliche alte Frau ihn wieder nach Hause. Da suchte er die Mutter,
fand sie aber nicht, in ihrem Bette und im ganzen Hause nicht. Und er
fragte die alte Frau, wo sie geblieben wäre. Da nahm die ihn auf den
Arm und zeigte ihm durch das Fenster -- es war dasselbe, an dem er
jetzt eben saß -- den dunklen Himmel mit all den hellen Sternen. Dort
oben wohne die Mutter nun. Und aus einem der vielen Kucklöcher kucke
sie herab, ob ihr Peter auch artig und lieb sei. Da hatte er die Augen
angestrengt, ob er sie nicht sehen könnte. Und als er ihr liebes,
weißes Gesicht nicht fand, da hatte er geweint. Aber bald hatte er sich
getröstet und sich vorgenommen, immer artig und lieb zu sein, damit die
Mutter droben an ihrem goldenen Himmelsfenster eine Freude hätte. Als
kleiner Junge hatte er dann noch oft ihr Gesicht dort oben gesucht.
Als großer Junge und Konfirmand tat er das nicht mehr. Aber wenn er
die Himmelsfenster seines ersten Kinderglaubens sah, dachte er an sie.
Und wie sollte er diesen Abend ihrer nicht gedenken? Heute hatte sie
in sein Leben eingegriffen, hatte ihrem Kinde den Weg frei gemacht. --
Nun lag eine Zukunft vor ihm. Eine Zukunft, wie der arme Häuslingsjunge
sie sich nie hatte träumen lassen. Dicke Bücher, merkwürdiger,
wunderbarer Dinge voll; ein sauberes Häuschen im Garten mit Blumen vor
den Fenstern; Kinderscharen, deren Augen an seinem Munde hingen. Ja,
zuletzt sah er sich in einer hohen, alten Kirche auf der Orgelbank
sitzen, und all die Pfeifen und Flöten gehorchten ihm. Er ließ sie
brausen wie Sturmesbrausen, und dann wieder ganz lieblich singen, wie
das Rotkehlchen singt im Busch ...

Diese schönen Zukunftsträume wurden durch einen Kälteschauder gestört,
der ihm plötzlich über den Rücken lief, und zugleich flogen seine Zähne
klappernd aufeinander. Da stand er auf, entkleidete sich schnell,
packte den siebenjährigen Bruder, der sich in der Kinderbutze quer
gelegt hatte, in die richtige Lage, kroch hinein, wurde in dem gut
vorgewärmten Nest schnell warm und war ebenso schnell eingeschlafen.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen zog Harm Eggers seinen Sonntagsrock an, umwand Kopf
und Hals mit einem roten Schaltuch, so, daß die etwas kopfscheuen Ohren
an den Kopf gedrückt und vorm Erfrieren geschützt waren und nur Augen
und Nase in die kalte Welt hinauslugten, nahm seinen Eichheister in die
Faust und machte sich auf den Weg, seine Vaterpflicht zu erfüllen und
seines Erstgeborenen Zukunft mit dem Steinbecker Pfarrherrn zu beraten.
»Middag bin ick wedder 'rin,« war sein letztes Wort, als er schon die
Türklinke in der Hand hatte.

Als Peter am Mittag aus der Schule kam, war der Vater noch nicht zu
Hause. Eine Stunde wartete man auf ihn, und Peter lief immer wieder
vor die Tür und sah den Weg entlang nach ihm aus. Endlich setzten sie
sich an den Tisch. »Wo Vader woll so lange bliwt?« fragte das kleine
Mädchen. »Bi'n Branntwien!« antwortete Trina rauh. Dann sah sie Peter
von der Seite an und sagte: »Und wovon kummt dat? Von dine verdammten
Scholmestergrappen! He ward sick wedder schön enen ansupen, de ole
Swinegel de!« Peter zuckte zusammen und schwieg. Was seine Stiefmutter
so brutal aussprach, das hatte er im stillen auch schon gefürchtet.

Harm Eggers war ein Gelegenheitstrinker. Da die Leute ihn für einen
guten, anständigen Kerl hielten, seine Trina aber und ihre Sippe
nicht leiden konnten, so schrieben sie diesen »lütten Fehler« auf die
Rechnung des bösen Weibes. Damit trafen sie auch wohl ziemlich das
Richtige. Aber heute betrank Harm Eggers, der wirklich, während man zu
Hause auf ihn wartete, in einer behaglich durchwärmten Schenkstube des
Kirchdorfs saß, sich nicht aus ehelichem Kummer, sondern aus Freude
und Vaterstolz. Er hatte ja vom Pastor so viel Gutes über seinen Peter
gehört, daß sein Vaterherz der Freude und des Stolzes voll war. Und all
das Schmeichelhafte konnte er unmöglich für sich behalten. Und seine
Frau daheim konnte er doch nicht damit erfreuen. So mußten es denn die
in der Gaststube einkehrenden Bauern, Viehtreiber und Fuhrleute hören,
was Peter Eggers, Harm Eggers' Sohn aus erster Ehe, für ein begabter
Junge war, und daß der Pastor ihn durchaus zum Schulmeister und Küster
machen wollte, und dem Vater fiele es zwar schwer, bei den vielen
kleinen Kindern, aber er wollte dem Jungen doch nicht im Wege sein, und
wenn er selbst trocken Brot essen sollte. Zwischendurch kam dann wohl
der Seufzer: »Wenn dat min sel' Fru noch belewt harr!« Dann trat ihm
das Nasse in die Augen, und er suchte es durch das Nasse in dem Glase,
das nimmer leer blieb, zu vertreiben.

Peter sah indessen immer wieder nach dem Vater aus. Je weiter die
Stunden vorrückten, um so mehr graute ihm vor der Rückkehr. Er merkte
deutlich, welch eine Wut sich den Nachmittag über in seiner Stiefmutter
ansammelte. Gegen ihn war sie fast freundlich, aber er wußte wohl,
diese Freundlichkeit war der falsche, stechende Sonnenschein vor dem
Losbruch eines schrecklichen Gewitters.

Es wurde dunkel, es wurde Abendbrotzeit. Harm Eggers war immer noch
nicht zurückgekehrt. Um acht Uhr schickte die Mutter die Kinder ins
Bett, verriegelte die Türen und löschte das Licht. Sie selbst legte
sich angekleidet in ihre Butze.

Lange Zeit lag Peter mit wachen Augen und horchte. An sich und seine
Zukunft dachte er nicht. Mit Angst dachte er nur an das, was die
nächsten Stunden bringen würden. Zuletzt fiel er doch in leichten
Schlaf. Ein Geräusch weckte ihn. An der Haustür wurde gerüttelt. Leise
erhob er sich und wollte durch die Stube schleichen, um zu öffnen. Da
befahl die Mutter: »Gah in din Bedd!« Einen Augenblick schwankte er,
ob er nicht ihrem Befehl trotzen sollte. Einen Augenblick drängte es
ihn, an ihr Bett zu gehen und Vergebung für den Vater zu erbitten. Aber
er tat nichts von beidem und legte sich wieder. Schritte kamen um das
Haus herum. Es klopfte an die Fensterscheiben. »Trina, mak up!« Keine
Antwort. Es pocht stärker. Die Fensterscheiben sind in Gefahr. »He
sleit de Finster twei! Mak em up!« schreit die Stiefmutter mit heiserer
Stimme. Peter springt auf, läuft barfüßig und im Hemde durch die
Stube, über die Diele, und schiebt den Riegel zurück. Die Tür fliegt
auf, ein eisiger Lufthauch, mit widerwärtigem Fuselgeruch gemischt,
weht ihm entgegen, er fühlt sich von zwei Armen umschlungen, feuchte
Lippen küssen seinen Mund und lallen: »Jaja, min Hartensjung, freu
di, Scholmester wardst du.« Entsetzt und angeekelt entwindet Peter
sich der Umklammerung und läuft in die Stube. Der Vater taumelt ihm
nach. In der Tür stellt er sich steif hin, stößt mit dem Eichheister
auf die Schwelle und lallt: »Ick bin de Herr, und ick bin de Vader,
und Scholmester ward de ...« Weiter kommt er nicht. Die Frau ist wie
eine Furie auf ihn los gefahren, Peter springt wie von Sinnen in seine
Butze; indem er die Tür hinter sich zustößt, sieht er noch, wie sie dem
Trunkenen den Stock aus den Händen reißt, er vergräbt sich tief in das
Bett, kauert sich zusammen und preßt die Fäuste vor die Ohren.

So lag er lange, lange, und fühlte wie noch nie den ganzen Jammer
seiner freudlosen, gedrückten Kinderzeit, das ganze Elend seines
Elternhauses, das durch Trunk und Brutalität zu einer Hölle geworden
war. Wenn doch die Eltern mit dem Eichenknüppel kämen und ihn
totschlügen! Er wollte sich ganz gewiß nicht wehren.

Endlich, -- nach seinem Empfinden mußte wenigstens eine Stunde
vergangen sein, und die Luft in dem Bett war so verbraucht, daß ihm der
Atem still stehen wollte -- hob er ein klein wenig die Decke, atmete
tief auf und horchte.

Das Entsetzliche war vorüber. Nur ein leises Stöhnen kam von drüben.
Dazu weinte der Säugling. Da sich niemand um ihn kümmerte, ging das
Weinen allmählich in ein Wimmern über, das nach und nach auch erstarb
...

Vorsichtig schob er die Tür seiner Butze zurück und sah in die Stube.
Da lag ein umgestürzter Stuhl. Die Scherben eines zerbrochenen Tellers
bedeckten den Fußboden. Durch das Fenster leuchteten die Sterne, ruhig,
klar und schön. Aber heute kamen ihm bei ihrem Anblick keine lichten,
warmen Gedanken.

Er ließ sich in die Kissen zurückfallen und verfiel aufs neue ins
Grübeln. Mit grausamer Wollust wühlte er in der Erinnerung an häßliche
Szenen, die er hier in seinem Elternhause erlebt hatte. Je länger er
lag, desto mehr füllte seine Seele sich mit Bitterkeit. An den Vater
dachte er mit Verachtung, und beim Gedanken an die Stiefmutter ballte
er die Fäuste und knirschte mit den Zähnen und fühlte einen heißen Haß
in sich aufsteigen. Aber, Gott sei Dank, der Tag war ja nicht mehr
fern, an dem er den beiden aus den Händen laufen konnte. Der Pastor
hatte ihm gesagt, wenn er Schulmeister werden sollte, würde er gleich
nach den Osterferien bei einem alten Schulmeister in die Lehre treten.
Er rechnete aus, wie lange es bis dahin noch wäre. Ostern fiel früh:
sieben Wochen und fünf Tage! Dann schlägt die Stunde der Erlösung. Dann
ade, du enges, schmutziges, dumpfes, zank- und haßerfülltes Elternhaus!

Es war Gründonnerstag. In der Steinbecker Kirche wurden die Kinder
konfirmiert.

Der Pastor war heute nicht die steile Kanzeltreppe hinaufgeklettert,
sondern stand vor dem Altar, inmitten der jungen, festlich geschmückten
Schar. Die Mädchen trugen schwarze Kappen, die vorn mit einem
weißen, fein gefältelten Strich versehen waren, und hielten über den
funkelnagelneuen Gesangbüchern zusammengefaltete weiße Tücher. Die
ärmeren Jungens steckten zum Teil in Abendmahlsröcken, die ihnen
offenbar nicht persönlich auf den Leib geschneidert waren. Denn
kleine Leute, die den Pfennig umdrehen mußten, hielten einen Rock von
mittleren Maßen für ihre ganze Jungensschar auf Lager. Peter aber,
der ärmste von allen, trug seinen eigenen Anzug. Dafür hatte seine
Mutter kurz vor ihrem Tode einer zuverlässigen Frau eine kleine, sauer
ersparte Summe übergeben. Als Peter an diesem Morgen den Rock angezogen
hatte, war ihm eine große, blanke Träne daran hinuntergelaufen.

Der Pastor war einer jener gutmütigen Menschen, die des Lebens harte
und häßliche Wirklichkeit nicht sehen und allen ihren Mitmenschen
das Beste zutrauen. Herzbeweglich schilderte er die ungezählten und
unverdienten Wohltaten, die jene Eltern dort im Schiff der Kirche an
diesen ihren Kindern um den Altar im Leiblichen und im Geistlichen
getan hätten. Sie hätten für sie gearbeitet, gewacht, gesorgt,
gehungert, gebetet, hätten den Trieb zur Tugend in die jungen Seelen
gepflanzt, wären mit gutem Beispiel vorangegangen usw. Da weinten
die Mütter reichliche Tränen der Rührung über ihre so lebhaft und
öffentlich anerkannte Gutheit, und ihre Tränentüchlein gingen eifrig
zwischen Schoß und Augen hin und her. Zur Ehre von Trina Eggers muß
aber gesagt werden, daß ihr Tuch auf dem Gesangbuch liegenblieb, und
daß sie bei dieser Schilderung sich aufopfernder Mutterliebe ein leises
Unbehagen empfand.

Peter dachte währenddessen nur an seine rechte Mutter. Er hatte ja
seinen Konfirmandenanzug als einen Beweis ihrer treuen Fürsorge vor
Augen, und zweifelte nicht daran, sie würde, wenn sie bei ihm geblieben
wäre, alles das an ihm getan haben, was der Pastor, mit seinem starken
Glauben an die Menschen, den Vätern und Müttern seiner Gemeinde
insgesamt zutraute.

Als der Gottesdienst beendigt war, ging Trina Eggers in einen
Bäckerladen und kaufte für fünf Silbergroschen Butterkuchen. Bei den
letzten Häusern des Dorfes langte sie in die Tüte, sagte: »Da!« und
reichte Peter ein tüchtiges Stück. Und zu Hause, als sie den Kuchen
unter ihre Kinder verteilte, bekam er noch einmal eins, und zwar das
größte, auf dem noch dazu der Zuckerguß sich am besten gehalten hatte.
Die Stiefgeschwister machten neidische Gesichter, und der Siebenjährige
heulte über die mütterliche Ungerechtigkeit. Aber von Peter bekam Trina
einen dankbaren Blick, und den kleinen unbequemen Stachel, den die
Konfirmationsrede doch in ihr zurückgelassen hatte, war sie glücklich
wieder los.

Daß Peter Schulmeister werden sollte, dabei war es geblieben, obgleich
Trina seit jener Nacht wieder die Oberhand hatte. Der Pastor
hatte, nachdem Harm Eggers seine väterliche Zustimmung gegeben,
gleich das Nötige in die Wege geleitet. Ein älterer Schulmeister
der Nachbargemeinde Olendorf, Wencke in Wehlingen, der etwas
schwächlich war und eine große Schule hatte, war bereit, Peter nach
den Osterferien in sein Haus aufzunehmen und ihn die Schulmeisterei
zu lehren. Präparandenanstalten gab's noch nicht, für die große Masse
der Landlehrer beschränkte sich der Seminarbesuch auf ein halbes Jahr
und fand erst statt, nachdem die jungen Leute einige Jahre praktisch
mit ihren Konfirmandenkenntnissen in der Schule gearbeitet hatten.
Die Schul- und Lehrerverhältnisse waren also von den heutigen, sehr
fortgeschrittenen, himmelweit verschieden. Deshalb wollen wir in dieser
Geschichte unserm guten Peter, seinem Lehrmeister und seinen Kollegen
auch getrost den heute außer Gebrauch gekommenen und verpönten Titel
»Schulmeister« geben. So nannten sie sich selbst, so nannten die Leute
sie, und so schrieb der Pastor ins Kirchenbuch. Der Titel »Lehrer«
klingt für diese Leutchen, bei denen die Großeltern des heutigen
Geschlechts den Landeskatechismus, das Einmaleins und ein wenig Lesen
und Schreiben lernten, zu feierlich und anspruchsvoll.

Am Tage nach Ostern ging Peter nach Steinbeck, um seinem Pastor einen
Abschiedsbesuch zu machen. Stolz schritt er in seinem Konfirmandenrock
durch die Straßen des Kirchdorfs. Wenn ihm Leute begegneten, suchte er
auf ihren Gesichtern zu lesen, ob sie ihn, der vor zwei Wochen in der
Konfirmandenprüfung vor der ganzen Gemeinde mit den besten Antworten
geglänzt und ein besonderes Lob erhalten hatte, wiedererkannten.

Nun stand er vor der großen, grünen Tür des Pfarrhauses, das er von
vorne noch nie betreten hatte. Ob er anklopfen mußte? Darüber war
er nicht belehrt worden, aber er hatte einen Spruch gelernt: Wer
anklopfet, dem wird aufgetan. Er klopfte also an, aber ihm wurde nicht
aufgetan. Da schielte er verstohlen durch das Fenster neben der Haustür
auf den Vorplatz, und da er niemanden sah, wagte er es, die Tür selbst
vorsichtig zu öffnen. »Klinglinglingling« lärmte die Hausglocke. Peter
erschrak, als ob er auf einer bösen Tat ertappt wäre. Das Dienstmädchen
kam und sah ihn fragend an. »Is He inne?« fragte Peter. »Jawohl, der
Herr Pastor ist in seiner Stube,« sagte in belehrendem und verweisendem
Tone das Mädchen. »Aber, Junge, nimm wenigstens deine Mütze vom Kopfe,
wenn du zu uns kommst!« fügte sie hinzu. Blitzartig riß Peter die
Kopfbedeckung herunter und stand rotübergossen da. Das Mädchen lächelte
im Hochgefühl ihrer überlegenen Bildung und wies ihn gnädig die Treppe
hinauf.

Indem Peter die Stufen hinanstieg, biß er sich auf die Lippen und
ärgerte sich über sich selbst. Daß man in fremden Häusern die Mütze
abnahm, hatte er doch in der Schule gelernt. Und nun hatte er's doch
vergessen!

Nun stand er vor der Tür mit dem Namensschild des Pastors. Nachdem
er sich die Füße auf der Strohmatte gereinigt hatte, klopfte er an.
Ganz bescheiden, mit den Fingerspitzen. ~Wie~ man anklopfte,
darüber hatte er keinen Spruch gelernt. Als keine Antwort kam, faßte
er sich ein Herz und ging ungerufen hinein. Der Geistliche saß an
seinem Schreibtisch vorm Fenster und blickte verwundert auf. »Mein
Sohn,« sagte er, »wenn man zu einem Menschen in die Stube will, dann
klopft man gefälligst an.« »Herr Ppestohr,« stamerte Peter, »ich ...
ich ~habe~ angeklopft.« »Ach so, ja, da kratzte was; ich meinte,
das wäre mein kleiner Polli. Na, setz dich!« Peter setzte sich tief
errötend auf einen Stuhl. Die Mütze hielt er mit beiden Händen gegen
die Brust gepreßt.

»Freust du dich, Schulmeister zu werden?« fragte der Pastor.

»Ja.«

»Ist deine Aussteuer schon fertig?«

Peter machte ein verwundertes Gesicht. Aussteuer kriegten doch nur die
Mädchen mit, wenn sie freiten.

»Ich meinte, ob du gehörig mit Zeug und Wäsche ausgerüstet bist.«

»Jaa.«

»Wenn du man bloß nicht Heimweh nach Muttern kriegst!«

»Nee!«

»Nanu! Nicht so kühn, mein Jüngchen! Aber du kennst ja das schöne Lied:
›Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß
scheiden.‹ Und: ›Wenn Menschen auseinandergehn, dann sagen sie: Auf
Wiedersehn.‹«

»Ich ... ich habe bloß noch eine Stiefmutter ...«

»Ach so, daran hatte ich nicht gedacht ... Aber hmhm, ich habe
Stiefmütter gekannt, die hatten die angenommenen Kinder ebenso lieb,
wie ihre eigenen ... Hm, ich wollte nur sagen, in sechs Wochen ist
schon Pfingsten. Dann kannst du schon mal nach Hause hinüberspringen.
Und dann kommen ja auch bald die großen Ferien ...«

Die Pastorin steckte den Kopf in die Tür und rief ihren Mann heraus.

Peter, der bislang steif auf dem Stuhl gesessen und dem alten Herrn
unverwandt auf den Mund gesehen hatte, wie in der Kinderlehre, atmete
freier auf und sah sich in der Studierstube um. Da bekam er einen
großen Schreck. Was für eine Menge Bücher! Und wie dicke dabei! Am
längsten und mit der größten Verwunderung haftete sein Blick an der
Reihe der mächtigen Kirchenbücher. Was mußte so ein geistlicher Herr
für ein gelehrter Mann sein! Natürlich nahm er an, daß dieser in seiner
großen Bibliothek ebensogut Bescheid wußte, wie er in seiner kleinen,
die aus vier schmalleibigen Schulbüchern bestand. Er war manchmal
stolz gewesen, daß er mehr wußte als die andern in der Schule und
Kinderlehre. Die letzten Wochen, seit er am Palmsonntag vor der ganzen
Gemeinde mit seinem Wissen geglänzt hatte, war ihm dieses Hochgefühl
fast immer gegenwärtig geblieben. Aber diese in Schweinsleder und Pappe
gebändigte Gelehrsamkeit, die ihn hier zugleich mit einem Duft feinen
Tabaks umgab, verwirrte ihn und machte ihn ganz klein.

Als der Pastor wieder in die Stube trat, flog Peter in die Höhe, wie
er's von der Konfirmandenstunde her gewöhnt war, nur mit noch größerem
Respekt, wegen der neu entdeckten Gelehrsamkeit des stattlichen Herrn.
Er wurde nicht wieder zum Sitzen genötigt, bekam einige gute Lehren
und Wünsche mit auf den Weg und konnte gehen. Leise schlich er die
Treppe hinab und war froh, als er unbemerkt die Haustür erreicht hatte,
ohne noch einmal von dem Mädchen, vor dem er sich vorhin so blamiert
hatte, gesehen zu sein.

Den Kopf trug er jetzt nicht so hoch als vorhin. Bescheiden und demütig
ging er seines Weges.

                   *       *       *       *       *

Am Abend des Sonntags nach Ostern sollte Peter in Wehlingen antreten.
Das Dorf war drei Stunden von seiner Heimat entfernt.

Sein Vater begleitete ihn und trug auch die in einen buntgewürfelten
Kissenüberzug gestopfte »Aussteuer«. Das geistige Rüstzeug, seine
Bibliothek, hatte Peter selbst unter dem Arm.

Vater und Sohn sprachen kaum miteinander. Von Haus aus waren sie
beide schweigsam, und heute, angesichts der Abschiedsstunde, schloß
ihnen auch eine gewisse Verlegenheit den Mund. Der Weg führte durch
Steinbeck, und an Harm Eggers' liebstem Wirtshaus vorbei. Hier bog er
zur Seite, und als Peter zögerte, ihm zu folgen, sagte er freundlich
und ein wenig verlegen: »Kumm, Jung', wöt uns erst 'n bäten verhalen.«
Da ging Peter mit ihm hinein.

Harm bestellte zwei »lüttje Klare«. Als der Wirt das Gläschen vor
Peter hinstellte, sagte der Vater: »He is ja nu ok 'n mündigen
Christenminschen,« worauf jener nickte und lachte. Peter hob das Glas
vorsichtig, nippte daran, schüttelte sich und setzte es wieder hin.
»Smeckt he nich?« fragte der Vater leise. Peter zog ein krauses
Gesicht und schüttelte den Kopf. »Töw' man,«[1] flüsterte Harm, mit den
Augen zwinkernd. Als der Wirt den Rücken gewandt hatte und sich an dem
Schenktisch zu schaffen machte, nahm er schnell das Glas, trank es aus
und stellte es leer wieder vor Peter hin, froh darüber, daß er seinem
Fleisch und Blut eine schwere Blamage erspart hatte. Darauf kaufte er
ihm eine dick mit Zucker bestreute Maulschelle. Als Peter anfing, die
eine Hälfte des trocknen, noch von Ostern übriggebliebenen Gebäcks
hinunterzuwürgen, sagte der Vater: »Christoffer, up een Been kann'n
nich stahn« und ließ sich das Glas aufs neue füllen. Da aber stand
der Junge entschlossen auf, packte die andere Hälfte der Maulschelle
in die Tasche und drängte den Vater, schnell auszutrinken und mit ihm
aufzubrechen.

Unter der Wirkung des Alkohols wurde Harm gesprächiger. Und der nahe
Abschied von seinem Jungen trug dazu bei, daß er sentimental wurde,
während sonst diese Stimmung erst etwa nach dem siebenten Glas sich
einzustellen pflegte.

Er schluckte einige Male trocken nieder, seufzte, und sagte endlich:

»Ach ja, Peter ... din' Mudder ...«

Peter sah den Vater erwartungsvoll an.

»... 't sünd nu all meist twolf Jahr, dat se in de Eer[2] liggt. Ach
ja, wenn ick an de Tied torüg denk ...«

»Vader,« fragte Peter leise, »wat hett Muddern egentlich fehlt?«

»Hoßen[3], Kind, slimmen Hoßen ... Wör hier in de Bost[4] nich echt ...
Lungensük ... ehr Mudder is dar ok an storwen ... ehr Süster ok ...
Min Familje is so karnig und gesund ... Grotvader is achunachzig Jahr
old worrn und hett all sin Tähnen mit in't Sarg krägen ... Aber ehre
Familje ... keen goden Karn is da nich in ... sünd in de Bost nich echt
... Ach ja, wenn dat dar eenmal so instickt ... Junge, wenn du man echt
bist!«

Er sah Peter prüfend und besorgt von der Seite an.

»Aber Vader,« sagte der Junge überrascht, »ick bin doch ganz gesund.«

»Ach ja, dat ~wör~ din Mudder ok ... Aber de Karn wör nich god,
dat wör hier in de Bost keen echten Kram ... Wat mi bange makt, du
sühst ehr gar to ähnlich, du hest gar to väl van ehr afkrägen. Wenn
du mehr van mi harrst, dat wör bäter för di. Wi Eggers sünd alle so
gesund.«

Peter betrachtete heimlich das Gesicht des Vaters. Im stillen war er
doch froh, daß er mehr von der Mutter hatte.

»Dat Starwen is dine Mudder bannig swar worrn,« begann der Vater wieder.

»Harr se väle Kälen[5]?« fragte Peter.

»Och nee, de könn se god drägen. Se harr di so öwer alle Maten lew ...«

Dem Jungen lief es heiß über den Rücken.

»›Dat Kind, dat arme Kind! ... Wat schall ut Peter weern?‹ So güng dat
jümmer wedder ... Ick möß ehr verspräken, ... dat ick jümmer god för
di sorgen woll. De Hand heww ick ehr darup geben möst ... Da könn se
starwen ... Ach Gott ja, twolf Jahr is dat nu all her ... Wenn'n so
trügdenkt ... mannigmal ... ick woll man seggen ... ick harr mannigmal
woll bäter för di sorgen könnt ... Ja, dat harr ick ... jawoll, jawoll
... aber glöw mi, ick harr't sülwst nich licht ... Trina is so ganz
anners as din' sel' Mudder ... Wenn ick ~de~ beholen harr ...
Djunge, Djunge! ... Du kennst de Welt noch nich, du weeßt nich, wat so
'n Frugensminsch 'n Keerl ruptrecken kann, wenn se darnah is, und wat
se em rünnerrieten kann in'n Dreck ...«

Er blieb plötzlich stehen. Sie hatten eine Höhe erreicht. Vor ihnen
im Tale lag ein Dorf. »Dat is Wehlen, nu finnst du woll hen, ick will
ümkehren, adjes,« sagte der Vater hastig, gab dem Jungen unbeholfen die
Hand, ohne ihn anzusehen, setzte das Bündel nieder, wandte sich um und
ging mit langen, steifen Schritten den Hügel hinab.

Peter stand verwundert und sah ihm nach. Unter den Worten des Vaters
hatte er mit Liebe seiner Mutter gedacht. Nun fühlte er auf einmal ein
warmes Gefühl auch gegen den Vater in sich aufsteigen. Ja, der Mann,
der dort hinabschritt, und er, der ihm nachblickte, sie gehörten doch
zusammen, trotz allem. Der hatte seine Mutter auch liebgehabt. Und wenn
sie bei ihm geblieben wäre ...? Im stillen bat Peter dem Vater ab, wenn
er einmal Gedanken der Verachtung und Auflehnung gegen ihn gehabt hatte.

Der Vater war unten im Tale stehengeblieben und hatte sich umgewandt.
Mit der Hand die Augen schirmend, schaute er zurück. Und Peter
stand noch immer auf der Höhe und sah ihm nach. Sie winkten einander
nicht zu, aber doch flog zwischen Vater und Kind ein leises, wehes
Abschiedsgrüßen hinüber und herüber ...

Nun verschwand des Vaters Gestalt in einem Fuhrengehölz. Peter wischte
sich schnell über die Augen und wandte sich entschlossen herum. Da lag
es vor ihm, das Tal, in dessen Schoß ein Stück seiner Zukunft ruhte.
Was er dort sah, gefiel ihm wohl. Das Dorf lag an einem Flüßchen, in
Wiesen eingebettet. Rechts zogen sich ansehnliche Wälder hin, Tannen
und auch etwas Laubwald. Peter, dessen Geburtsort auf einer trockenen,
kargen Wasserscheide lag, war von der lieblichen Anmut der Gegend
überrascht. Wenn die Menschen nur danach waren, sollte es ihm dort
unten schon gefallen. So nahm er denn seine Siebensachen und machte
sich munter auf den Weg. Die grünen Spitzen der Gräser wagten sich
eben hervor, die Weidenkätzchen steckten vorsichtig die Sammetpfötchen
heraus, Krähenscharen lärmten in der Luft, eine Amsel flötete von der
Spitze einer Tanne ihr sehnsüchtiges Vorfrühlingslied. Alles ahnte an
diesem kühlen, lichten Sonntagabend, daß ein Neues, Herrliches werden
wollte, und nicht zum mindesten der junge Schulmeister, der mit langen,
frohen Schritten in das Tal hinabstieg.

Nicht weit vom Dorfe begegnete ihm ein kleines Mädchen, dessen Alter
er auf sieben Jahre schätzte. Da gab Peter sich einen Ruck und fühlte
sich zum erstenmal als Schulmeister. Er machte sich recht gerade,
um möglichst groß zu erscheinen, zupfte noch schnell sein Röckchen
zurecht, hielt sein Bündel mehr hinter sich und redete das Kind an,
freundlich und ein ganz klein wenig väterlich, erst hochdeutsch, dann
platt. Aber er bekam aus dem kleinen Ding nichts heraus, weder dessen
Namen noch Auskunft über die Lage des Schulhauses. Nach wiederholten
Versuchen ging er kopfschüttelnd weiter. Wenn die Kinder hier alle so
schwer von Begriff waren, würde er noch seine Last haben.

Bei den ersten Häusern sagte ihm eine Frau, zur Schule müßte er durch
den ganzen Ort gehen.

Aufrecht und fest schritt er die Dorfstraße dahin, gehoben von dem
Gefühl, in diesen Minuten für ein ganzes Dorf der Gegenstand der
Aufmerksamkeit zu sein. Die Kinder, die auf den Höfen spielten, hielten
inne, und er grüßte sie wohlwollend. Die Erwachsenen vor den Haustüren
nickten ihm zu, und er grüßte sie freundlich und höflich. Als ihm ein
Koppel halbwüchsiger Burschen begegnete, versuchte er, seinem Gruß
einen kameradschaftlichen Ton zu geben. Aber die dummen Bengel, mit der
diesem Alter eigenen Verachtung alles dessen, was irgend mit der Schule
zusammenhängt, musterten ihn von oben herab und lachten ihm dreist
ins Gesicht. Doch er hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern. Denn
schon grüßte ihn über einem Hause die Inschrift: »Hier lehret man die
Jugend, zu Gottesfurcht und Tugend«, und mit Herzklopfen faßte er den
Türdrücker des Hauses, unter dessen Dach er fortan lernen, lehren und
leben sollte.




Als Peter die Tür des Schulhauses hinter sich schloß, öffnete sich
gegenüber eine Stubentür, und es erschien ein alter Frauenkopf,
der sich aber, kaum seiner ansichtig geworden, wieder zurückzog.
Peter hörte, daß er gemeldet wurde: »Vader, he is'r.« Darauf kam
ein hageres, grauhaariges, bartloses Männchen angetrippelt, das den
Ankömmling an der Hand nahm und in die Stube zog, mit den Worten:
»Szüh, ßüh, da bist du ja. Is man gut. Wir haben schon auf dich
gewartet. Na, setz dich ... Da hast du deine Sachen woll in? Die leg'
da an die Erde. So, so. Bist wohl recht müde von dem langen Weg?«

»O nein,« sagte Peter, »Vater ist mitgegangen und hat meine Aussteuer
getragen.«

»Aussteuer? Wo hast du die denn?« fragte der Schulmeister verwundert.

Peter wies etwas unsicher auf sein Bündel.

»Aussteuer im Kissenüberzug? Hihihi, das ist gut. Mudder, hest du't
hört? Dor hett he sin' Utstüer in.«

Die Schulmeisterin, die in einem Rohrlehnstuhl saß, verzog ihr
faltenreiches, teilnahmloses Gesicht zu einem schwachen Lächeln. Peter
war rot geworden.

»Na ja ...« begann der Schulmeister wieder, »du hast doch wohl schon
gegessen? Wir sind schon eine halbe Stunde damit fertig. Wegen meinem
Magen essen wir immer früh.«

Peter sagte bescheiden, er hätte erst vor zwei Stunden eine Maulschelle
gegessen.

»Das ist ja man gut. Sonst, wenn du noch Hunger hättest ... Denn wollen
wir gleich den Abendsegen lesen und zu Bett gehen. Denn morgen Punkt
sieben Uhr geht's an die Arbeit. Langschläferei und Unpünktlichkeit
dulde ich nicht. Das mußt du dir gleich heute merken.«

Mutter Wencke war aufgestanden, nahm ein Buch vom Wandbrett und legte
es, bei dem Lesezeichen aufgeschlagen, vor ihren Gebieter hin. Dann
holte sie das Brillenfutteral von der Fensterbank, zog die Brille mit
ihren zitterigen Fingern heraus, putzte sie an der Schürze und reichte
sie handgerecht dem Alten. Hier geht's anders zu zwischen Mann und
Frau, als zu Hause, dachte Peter.

Nachdem der Schulmeister mit etwas tremulierender Stimme eine kurze
Abendbetrachtung vorgelesen hatte, hieß er Peter sein Bündel aufnehmen
und stieg mit ihm eine knarrende Holztreppe hinan. Oben angekommen,
führte er ihn in eine kleine Dachkammer. »So, mein Sohn,« sagte er,
»hier hast du alles. Hier steht dein Bett, und da kannst du dich
waschen, und da ist auch 'n Leuchter und Reißsticken, wenn du dir mal
'n Licht anstecken willst. Aber damit sei vorsichtig! Du wohnst hier
unterm Strohdach. So, nun mach's dir in deinem Heim recht gemütlich und
schlaf' wohl!« Damit ging er und knarrte mit seinen Filzpantoffeln die
Treppe hinab.

Peter sah sich in dem Stübchen um. Es war in Wirklichkeit nur ein
Bretterverschlag unter dem unverkleideten Strohdach. Bett, Tisch,
Stuhl, Schemel mit Waschbecken nahmen drei Viertel des Raumes ein. Wer
diese Stube ein elendes Loch nannte, brauchte noch nicht anspruchsvoll
zu sein. Aber dem guten Peter lagen solche Gedanken himmelfern. In
ihm fand des Schulmeisters Wort ein jubelndes Echo: Dein ~Heim~,
~dein~ Heim! Die Gefühle, die beim Klang dieses lieben Wortes
in allen heimseligen deutschen Menschenkindern wach werden, waren
Peter bis auf diese Stunde fremd geblieben. Die väterliche Kate, in
der er die schmutzige Stube mit sechs und die dumpfe Butze mit drei
Menschen hatte teilen müssen, die ihm alle innerlich fremd und zum Teil
feindlich waren, war ihm niemals ein Heim gewesen. Nun hatte er auf
einmal eins, und es war ihm, als hätte er damit etwas gefunden, wonach
er sich lange im stillen gesehnt hatte.

Gemütlich sollte er sich's in seinem Heim machen, hatte der Alte
gesagt. Gemütlich? Das Wort hatte er noch nie gehört. Aber seinem
Klange lauschte er ab, was es sagen wollte. Er zog das schwarze
Röckchen aus und hing es an die Wand, vertauschte die engen, staubigen
Stiefel mit bequemen Holzpantoffeln, baute die Bücher auf dem Tisch
auf und wusch sich die Hände. Ei, wie wurde es da gemütlich! Zuletzt
zündete er das Licht an. Wie freundlich sah jetzt erst das saubere
Zimmerchen aus, mit den beiden Bildern an den Wänden und dem weißen
Gardinchen über dem zweischeibigen Fensterfach! Peter rieb sich
die Hände, zog den Kopf zwischen die Schultern und fand sein Heim
urgemütlich.

Als er eine Weile die Freude über sein gemütliches Heim ausgekostet
hatte, öffnete er das Fenster und sah hinaus. Von dem Garten
drunten konnte er nichts deutlich erkennen. Die Nacht war völlig
hereingebrochen. Dennoch blieb er, in den engen Rahmen gezwängt, lange
im Fenster liegen. In der Stille, die um ihn war, in dem Dunkel, das
nach all den Eindrücken dieses Tages keine neuen mehr zu ihm ließ,
mußte er über die Veränderung nachdenken, die der heutige Tag in sein
Leben gebracht hatte. Das alte Leben lag hinter ihm wie ein böser
Traum, und vor ihm ein neues, unbekannt, aber so verheißungsvoll, daß
ihm das Herz klopfte, wenn er nur daran dachte ... Er sah über sich zum
Nachthimmel empor und schärfte seine Augen. Zuletzt fingen hoch droben,
in unendlicher Ferne, einige Sterne an, durch die blaue Nacht zu
glimmen. Und es wurde ihm, als käme aus seligen Fernen durch die weiten
Räume ein stilles Grüßen gezogen. In tiefem Erschauern empfand seine
Seele dieses wunderbare Grüßen und wurde darüber so weit und froh,
daß er es in dem engen Fensterrahmen nicht mehr aushalten konnte. Er
zog sich in sein Heim zurück, hob die Hände, dehnte die Brust, atmete
selig bang, und plötzlich warf er sich auf die Knie, und ein wortloses,
heißes Dankgebet entquoll seinem übervollen Herzen.

Als seine Seele sich auf diese Weise von dem Überschwang ihrer
Glücksgefühle befreit hatte, fing plötzlich in ihm etwas an zu
knurren. Es war der Magen. Dieser war nicht von einer so rührenden
Bescheidenheit wie sein Besitzer, und mit einer halben Maulschelle
für einen halben Tag und eine ganze Nacht nicht zufrieden. Zum Glück
erinnerte Peter sich, daß die zweite halbe Maulschelle noch in der
Tasche seines Konfirmationsrockes steckte. Er zog sie heraus, und
ganz langsam aß er sie, um dem unzufriedenen Gast, der von der Freude
allein nicht satt werden wollte, eine wirkliche Mahlzeit vorzutäuschen.
Zwischendurch trank er einen Schluck Wasser aus dem Kruge. Ein Glas
hatte er nicht.

Darauf ging er zur Ruhe. Als er sich niederlegte, warf er sich
stürmisch in dem Bettkasten hin und her. Die Freiheit und Wonne, dieses
tun zu können, ohne wie zu Hause sofort mit geschwisterlichen Beinen
zusammen zu geraten, mußte er doch erst einmal auskosten. Dann machte
er's sich auf der rechten Seite gemütlich, zog die Beine an, blinzelte
behaglich mit den Augen, ehe er sie schloß, und fühlte sich so recht
von Herzen heimselig.

Schlaf wohl, du junges, armes, hungriges, glückliches Schulmeisterlein!
Alle Stunden, die dir unter diesem Dache kommen, werden wohl nicht so
reich, nicht so glücklich sein, wie diese ersten.

                   *       *       *       *       *

Als Peter am andern Morgen erwachte, dachte er mit Schrecken daran, daß
Schulmeister Wencke Langschläferei und Unpünktlichkeit nicht duldete.
Ob er die Zeit nicht schon verschlafen hatte? Darüber beruhigte er sich
zwar bald; denn es war noch nicht völlig hell. Da er aber eine Uhr
nicht fragen konnte, weil er keine hatte, und die Sonne nicht, weil
sein Fenster nach Westen lag, so hielt er es für das sicherste, sofort
aufzustehen.

Beim Ankleiden betrachtete er die beiden Bilder, die durch ihr
Dasein gestern abend die Gemütlichkeit seines Heims gehoben hatten,
die er aber in dem schwachen Licht der Talgkerze sich noch nicht
genauer angesehen hatte. Zu Häupten des Bettes hing ein rahmenloser
Holzschnitt. Er mochte aus einer alten Bilderbibel stammen und
war mit Schusternägeln an der Wand befestigt. Abraham, der Vater
der Gläubigen, schickte sich mit bekümmertem Gesichte an, seinen
Sohn Isaak zu schlachten, der ganz geduldig seinen Hals hinhielt,
während im Hintergrunde der Engel des Herrn die Einhalt gebietende
Rechte hochhielt und mit der Linken einen sich gewaltig sträubenden
Bock heranzerrte. Das Bild an der senkrechten Längswand war viel
freundlicher. Es war dazu bunt, und hatte einen mit Fliegendenkmälern
punktierten Goldrand. Eine hehre Frauengestalt, in rotem Ober- und
blauem Untergewande, schwebte in rosigen Wolken, rings von reizenden
Engelköpfchen umgeben. Darunter stand: »Maria, die Himmelskönigin.«
Dieses Bild sah Peter sich viel länger an als das andere.

Als er mit dem Ankleiden fertig war, wollte er hinuntergehen. Oben an
der Treppe blieb er aber stehen und horchte in das Haus hinab. Dort war
noch alles still. Da schlich er mit größter Vorsicht die Stufen hinab.
Trotzdem war die altersschwache Treppe so indiskret, jeden seiner
leisen Tritte durch das hallende, morgenstille Haus zu melden. Unten
angekommen, schob er den Riegel zurück und trat in den frischen Morgen
hinaus.

Die Sonne ging eben auf und übergoß den Himmel mit flammendem Rot. Aber
darauf achtete Peter nicht weiter. Das hatte er hundertmal gesehen,
wenn die Stiefmutter ihn vor Tau und Tag aus dem Bett herausjagte.
Es kam ihm heute darauf an, das Neue kennen zu lernen, das ihn hier
erwartete. So ging er denn zuerst durch den Garten. Der war noch kahl
und wartete auf Sonnenschein und warme Tage. Trotzdem ließ Peter sich
von Bäumen und Büschen die herrlichsten Versprechungen machen. Der
dicke Apfelbaum, der dem Hause zustrebte und einen Zweig bis dicht
vor sein Kammerfenster sandte, der in schöner Gabelung stolz aufwärts
strebende Birnbaum, die Johannis- und Stachelbeersträucher, die schon
zu grünen und zu blühen angefangen hatten, was verhießen sie nicht
alles dem Gaumen des noch nicht Fünfzehnjährigen, der solche Genüsse
bislang fast nur vom Hörensagen kannte!

Als er den Garten kennengelernt hatte, schlenderte er ins Dorf hinaus.
Da freute er sich über die breiten, behäbigen Bauernhöfe, die hinter
bemoosten Knüppelzäunen unter dicken Eichen lagen. Wo er zu Hause
war, auf der hohen Heide, war das alles viel ärmlicher als in diesem
bachdurchrieselten Tale, dessen Anmut ihn gestern schon erfreut hatte.

Aus einem der Häuser kam ein Junge mit einem Schulbuch in der Hand. Da
drehte Peter um und ging eiligst nach Hause zurück.

Die Schulmeistersleute saßen beim Kaffee. »Wo bleibst du denn?« fragte
der Schulmeister, indem seine Stirnhaut sich in Falten legte. »Ich
habe bloß eben einen kleinen Spaziergang gemacht,« entschuldigte sich
Peter. »Na, hör' mal, diese Morgenspaziergänge laß man unterwegs. Es
ist nicht nötig, daß du uns beiden alten Leute morgens um fünf Uhr aus
dem Schlaf trampelst. Ich bin zufrieden, wenn du so früh aufstehst, daß
du uns vor dem Kaffee die Stiefel putzen kannst. Ich bin nämlich nicht
dafür, wie es viele Schulmeister tun, in Holzschuhen zu unterrichten.
Wir dürfen uns nicht so gehen lassen. Auch meine Pfeife mußt du mir
immer stopfen. Die pflege ich in der Schreibstunde zu rauchen.«

Während dieser Dienstanweisung hatte die Schulmeisterin Peter eine
dicke Scheibe Brot dünn mit Seimhonig bestrichen. Und jetzt machte
er sich darüber her, als ob er von zwei Uhr nachts an mit nüchternem
Magen in der Scheune gedroschen hätte. Gegen seine Gewohnheit faßte er
das Brot wie seine Stiefbrüder zu Hause, nämlich mit beiden Händen, um
tüchtig nachschieben zu können. Bis der Schulmeister sagte: »Anständige
Leute essen mit einer Hand.« Da wurde er rot und legte seinem
Eßungestüm Zügel an.

Draußen auf dem Hof sammelten sich die Kinder. Einige klapperten
schon mit ihren Holzschuhen in die nahe Schulstube. Die Zeiger der
blumenbemalten Wanduhr zeigten fünf Minuten vor sieben. Da sagte
Schulmeister Wencke: »Heute brauchst du noch nicht zu unterrichten.
Du wirst vielmehr meinem Unterrichte beiwohnen. Wir wollen in den
einzelnen Fächern Wiederholungen anstellen. Du wirst da sehen, was
geleistet ist, und was in einer ordentlichen Schule geleistet werden
muß. Die Kinder werden ja immerhin in den Osterferien mancherlei
vergessen haben, und meine besten Schüler sind jetzt gerade
konfirmiert. Das mußt du bedenken, wo mal etwas nicht klappt. Für zehn
Uhr habe ich mir dann die Abc-Schützen bestellt. Komm! Bring' dir einen
Stuhl mit!«

Hinter dem alten Schulmeister trat der junge in die Schulstube, wobei
er in dem Bewußtsein, daß aller Augen auf ihm ruhten, seinem weichen
Jungensgesicht einen ernsten und strengen Ausdruck zu geben suchte. Mit
Würde ließ er sich angesichts der Klasse auf seinem Stuhl nieder und
legte die Beine lässig übereinander.

Nach einem Gesangvers und Gebet führte Wencke dem jungen Schüler und
Kollegen seine Schule vor. Der Tausend! Wie das klappte! Biblische
Geschichten, Katechismusstücke, Sprüche kamen nur so angeflogen,
beim Lesen wurden die Sätze förmlich verschlungen, die Lösungen der
Rechenexempel folgten reflexartig. Peter sah verdutzt bald die Schule,
bald den Lehrer an, und kam aus dem Verwundern gar nicht heraus.

Hinter das Geheimnis dieser großartigen Unterrichtserfolge ist
der gute, ehrliche Peter nie recht gekommen. Sein Vorgänger aber,
der gerissener war als er, hatte es schon mit einem halben Jahre
herausgehabt. Schulmeister Wencke hielt für seinen Vorgesetzten, den
Pastor von Olendorf, der bei Schulprüfungen die ihm sehr sympathische
Gewohnheit hatte, niemals selbst die Kinder zu fragen und die Wahl
der zu behandelnden Gegenstände dem Lehrer zu überlassen, in allen
Unterrichtsfächern einige Paradestücke auf Lager, die im Sommer und
Winter, vor und nach den Ferien, gleich gut gingen. So war er in
den Ruf eines tüchtigen Pädagogen gekommen und erhielt deshalb auch
Präparanden zur Ausbildung zugewiesen. Diese Paradestücke hatte er eben
Peter vorgeführt und in diesem wieder einmal das Gefühl des eigenen
Nichts wachgerufen, zugleich aber auch den heiligen Entschluß, daß
er unermüdlich arbeiten wollte, bis er würdig wäre, seinem Meister
wenigstens die Schuhriemen aufzulösen.

Um zehn Uhr kamen dann die Kleinen, von den Müttern an der Hand
geführt. Sie kamen mit bangen Gesichtern, und ein kleiner Bengel
schrie so mörderlich und sperrte sich so sehr, daß er auf dem Arm
hergetragen werden mußte. Die erzieherische Weisheit der Eltern hatte
nämlich für gut befunden, von frühester Jugend an den Kindern mit dem
Schulmeister als dem leibhaftigen Buhmann zu drohen, um sie dadurch
zur Tugendhaftigkeit zu schrecken. Diese seine kleine hagere Person
umschwebenden Schrecken mußte Herr Wencke also zuerst zerstreuen.
Sein süßestes Gesicht, das er aufsteckte, genügte dazu nicht, und
freundliche Worte mit Backenstreicheln und Kitzeln unter dem Kinn taten
es auch nicht. Das wußten die Eltern und brachten im Handkorb Tüten
voll süßer Anlockungsmittel herbei, die sie dem Schulmeister im Hause
heimlich vor den draußen ängstlich umherstehenden Kindern überreichten.
Die Körbe enthielten aber auch noch andere Schätze: Präsente für den
Mann, dem die teuersten Schätze nun auf Jahre zur Vorbereitung für
dieses und jenes Leben anvertraut werden sollten, und der bei seinem
kargen Gehalt einige Schinken und Würste gut gebrauchen konnte. Solche
schöne Sitte half diesem zugleich, die Rangordnung der Kleinen richtig
zu bestimmen. Wenn er sie nach der Güte der elterlichen Gaben setzte,
war er sicher, daß seine kleine Schulgemeinde ein getreues Abbild der
großen Schulgemeinde wurde, die in Bauern, Anbauern und Häuslinge
sozial scharf gegliedert war. So wurde denn Heini Renken, dessen Mutter
einen mittleren Schinken und eine armlange Mettwurst mitbrachte und
zugleich andeutete, sie würden nächstens ein fettes Kalb schlachten,
Erster, und Jürgen Brammer mit seiner verschimmelten Leberwurst
gebührte der letzte Platz.

Nachdem Schulmeister Wencke angesichts der offenen Körbe über die
Rangordnung sich schlüssig geworden war, überließ er die Mütter seiner
Frau zur Bewirtung mit einer Tasse Kaffee und machte sich mit seinem
Gehilfen daran, die auf dem Hof herumstehenden Kinder für die geordnete
menschliche Gesellschaft einzufangen. Mit Hilfe der vorgehaltenen
Köder ging das ziemlich leicht. Nur Jürgen Brammer, der vorhin so
geheult hatte, traute der Sache noch immer nicht, und Peter mußte
ihn auf dem Arm in die Schulstube tragen und sich auf einen Wink des
Schulmeisters auch weiter diesem offenbar schwierigsten Charakter des
Jahrgangs widmen. Er hatte mit seinen ersten Erziehungsversuchen den
schönsten Erfolg. Als der kleine Kerl merkte, daß er es nicht mit dem
leibhaftigen Buhmann zu tun hatte, sondern mit einem Jungen, der so gar
nichts Menschenfresserisches an sich hatte, hörte er auf zu weinen,
wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und nahm einen roten Bonbon
aus der ihm hingehaltenen Tüte. Als er eine Weile daran gelutscht
hatte, nahm er das klebrige Ding aus dem Munde und bot es Peter an.
Fast hätte der zugegriffen, denn Süßigkeiten aß er gern. Er besann sich
aber zur rechten Zeit, daß sich dies mit seiner Würde als Schulmeister
nicht vertrug, und sagte: »Nee, nee, behol' man!« Da Jürn auf diese
Weise den roten Bonbon nicht los werden konnte, steckte er ihn in die
Tüte, um einen grünen zu probieren.

Mit der Nahrung des Geistes verschonte Wencke heute die Kleinen noch.
Er ließ sie schmausen, holte aus jedem mit viel pädagogischem Geschick
den Namen heraus, scherzte plattdeutsch mit ihnen, ermahnte sie, immer
fleißig zur Schule zu kommen, zeigte eine Papptafel, auf der ein
braunes Hottehüh dahertrabte, und ließ sie laufen.

So verlief der erste Schultag für alle Beteiligten sehr erfreulich.
Die Kinder konnten den ganzen Tag in Süßigkeiten schwelgen, sofern
nicht die Eltern grausamer waren als der liebe Schulmeister und dessen
großmütige Geschenke an sich nahmen. Unter des letzteren Wiemen sah es
aus, als ob ein Schweinchen hätte dran glauben müssen. Und Peter war
froh, die erste Aufgabe, die ihm in seinem Lebensberuf gestellt war,
glatt gelöst zu haben.

Beim Mittagessen ließ der Schulmeister sich über die Familien aus, die
heute ihre Kinder ihm anvertraut hatten. Peter lernte auf diese Weise
einen Teil der Schulgemeinde kennen. Freilich nur in der Hinsicht, ob
einer viel oder wenig hatte, filzig war oder gern herausrückte.

Außerdem lernte Peter beim Mittagessen den Luxus des Lebens kennen.
Der Tisch war mit einem weißen Leintuch gedeckt, und jeder Esser
hatte seinen eigenen Teller. Über letzteren freute Peter sich aus
demselben Grunde, wie er sich über das eigene Bett freute. War er
zu Hause im Bett mit den geschwisterlichen Beinen in Kampf geraten,
so am gemeinsamen Eßnapf mit ihren Holzlöffeln. Und nirgends waren
Trinas Sprößlinge selbstsüchtiger und unangenehmer als am Eßtröglein.
Schnell sah der Junge, der bislang nur Holzschleef und Naturgabel
gebraucht hatte, seinen Lehrmeistern ab, wie man die Eßgerätschaften
einer höheren Kultur handhabte, und schlug eine wackere Klinge. Das
Honigbrot vom Morgenkaffee hatte seinen Magen noch immer nicht wegen
des ausgefallenen Abendbrotes beruhigt, und Frühstück gab's nicht. »Von
wegen meinem Magen,« hatte der Schulmeister erklärt.

Als die Messer und Gabeln ruhten, nahm der Schulmeister wieder das
Wort. »Ein lateinischer Schriftsteller,« begann er, »hat einmal ein
Wort gesprochen, das die Gelehrten so übersetzen: Eine gesunde Seele in
einem gesunden Körper. Wir Schulmeister, das ist klar, haben für unsern
schweren Beruf eine gesunde Seele nötig. Die können wir aber nur haben,
wenn unser Leib gesund bleibt. Um ihn gesund zu erhalten, müssen wir
neben der Arbeit des Geistes, die wir an der lieben Jugend betreiben,
auch unsern Körper arbeiten lassen. So habe ich's immer gehalten.
Es waren meine besten Tage, wenn ich im Schweiß meines Angesichts
mein Brot aß, wie es uns ja auch schon in der Bibel verheißen ist.
Abgesehen davon, daß die Schulmeisterei einen mit der Familie allein
nicht ernährt. Und da habe ich immer gefunden, die gesündeste Arbeit
ist das Graben. Ich wäre nicht so alt geworden, wenn ich nicht viel
gegraben hätte. Für dich wird das auch gut sein. Komm, ich will dich
anweisen.«

Er führte Peter in den Garten und zeigte ihm ein Stück Land. »Kannst du
dieses wohl bis zum Kaffee umgegraben haben? Wir wollten gern Erbsen
legen.«

Peter versprach, sein Bestes zu tun.

»Dein Vorgänger,« sagte der Schulmeister wieder, »warf so ein Stück
Land im Handumdrehen herum. Na, er war aber auch einen guten Kopf
größer als du. Sieh zu, wie weit du kommst, grabe nicht zu flach, und
verteile den Dünger gut!« Damit ging er, um seinerseits des Leibes
Gesundheit durch ein Mittagsschläfchen zu pflegen.

Peter machte sich munter ans Werk. Er war froh, daß ihm eine Arbeit
gegeben war, die er beherrschte, bei der er nicht ängstlich zu tasten
brauchte. An so etwas hatte die Stiefmutter ihn tüchtig herangekriegt.
Er tummelte sich, um hinter seinem großen Vorgänger nicht allzuweit
zurückzubleiben. Und wirklich, er warf das Stück herum, ehe er zum
Kaffeetrinken gerufen wurde. Ja, vom nächsten auch noch zwei Reihen!
Als der Schulmeister nach seinem Mittagsschläfchen die Arbeit prüfte,
zollte er ihr vollen Beifall, und am Kaffeetisch warf er in Peters
Tasse ein Stück Zucker mit den Worten: »Ein Arbeiter ist seines Lohnes
wert.« Peter war sehr froh. Er hatte einmal das angenehme Gefühl, ein
nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein. Dazu hatte
die Stiefmutter es trotz all seiner sauren Arbeit im Hause und auf
dem Felde nie kommen lassen. Nach dem Kaffeetrinken half er seinem
Lehrherrn Erbsen legen. Und bald legte er sie allein. Denn als der
Schulmeister seinen Diensteifer bemerkte, schmunzelte er stillvergnügt
und beschränkte die eigene Arbeit darauf, mit der Pfeife im Munde
Anweisungen zu geben.

Als sie mit dem Abendessen fertig waren und noch am Tisch saßen, konnte
Peter seine Wißbegier nicht mehr bezwingen. An der Wand hing ein
länglicher Kasten mit einem Stiel, an dem einige Bindfäden her liefen.
Das Ding hatte ihn schon bei allen Mahlzeiten des Tages so merkwürdig
angesehen, als ob es mehr wäre als ein Kasten zur Aufbewahrung von
Garnknäueln oder Rauchtabak oder dergleichen. Er fragte also den
Schulmeister, was es mit dem zweifelhaften Kasten auf sich hätte. Der
lächelte weise und gab dann ernsthaft die Erklärung: »Was du da siehst
mein Sohn, ist nicht ein Kasten, sondern eine Geige. Gewöhnliche Leute
nennen sie auch Vigeline. Dieselbige ist ein musikalisches Instrument.
Sie besteht aus einem dünnen Holzkasten, der als Resonnanzboden dient.
Derselbe ist nicht mit Bindfäden bespannt, sondern mit Saiten, die aus
Tierdärmen gewonnen werden. Mit jenem Bogen, der jenseits des Ofens
hängt, wird der Ton erzeugt. Wart', ich will dir mal ein Stückchen
spielen.«

Mit großen Augen sah Peter den Vorbereitungen zu, dem Spannen und
Stimmen der Saiten, dem Ansetzen des Bogens, der Bewegung der Finger.
Als der Schulmeister dann eine schlichte Volksweise zu spielen begann,
legte er die Arme ineinander und schloß die Augen.

Vater Wencke war ein herzlich schlechter Musikante. Er hatte einen
harten, kratzenden Strich, und auch mit dem Abstimmen der Saiten nahm
er es nicht eben genau. Dennoch, kaum hatte er angefangen, so war
sein Zuhörer in einer andern Welt. Denn der gehörte von Haus aus zu
den Menschen, welche die Seele voll heimlicher innerer Musik haben,
und diese zum Singen und Klingen zu bringen, dazu bedurfte es keines
künstlerisch vorgetragenen Meisterwerkes. Dazu hatte sonst das mäßige
Orgelspiel auf der mangelhaften Kirchenorgel in Steinbeck genügt. Dazu
genügte jetzt auch die einfache, wehmütige Volksweise, von Schulmeister
Wencke auf schlecht gestimmter Geige gekratzt.

Dieser bemerkte die tiefe Bewegung, die seinen Zuhörer ergriffen hatte,
und spielte die Melodie dreimal hintereinander. Beim dritten Male gab
er sich wirklich Mühe, seiner Geige lange, süße Töne zu entlocken. Als
er sie dann absetzte und Peter tief aufatmend die Augen öffnete, sagte
er freundlich: »Wenn wir erst etwas weiter sind, und du bleibst so
folgsam und fleißig, wie du heute warst, werden wir sehen, ob du auch
genügend musikalische Begabung hast, um das Geigenspiel zu lernen.« Für
diese Worte bekam er einen Blick, wie er ihn dankbarer in seiner ganzen
Schulmeisterpraxis wohl nicht geerntet hat. Peter sah den ganzen Abend
den Himmel voller Geigen hängen.

Bald darauf stieg er in sein stilles Reich hinauf. Auch diesen Abend
war er der glücklichste Mensch im ganzen Dorf. Nicht so stürmisch kam
das Gefühl seines Glücks über ihn, als gestern abend, da er in seinem
Fenster lag. Aber er freute sich desselben als eines stillen, ruhigen
Besitzes, in dem er, der arme Stiefsohn Trinas, sich unendlich reich
fühlte. Daß es nicht leicht war, als Schulmeister das zu leisten, was
nach dem ihm heute gezeigten Vorbild geleistet werden mußte, fühlte er
auch wohl. Aber er spürte die Freudigkeit in sich, seine ganze Kraft
einzusetzen. Und dann mußte es ja gehen.

                   *       *       *       *       *

Das war Peters erster Tag im Schulhause zu Wehlingen. Wie er, ins
Wasser hineingeworfen, zwar nicht regelrecht schwimmen, aber doch durch
Paddeln sich leidlich oben zu halten lernte, was für Dummheiten er
machte und wie er die allergröbsten allmählich zu meiden begann, wie er
Kinderherzen gewann und Kinderhöschen stramm zog, das alles wollen wir
hier nun nicht weitläufig erzählen. Denn uns interessiert weniger Peter
der Schulmeister, als Peter der Mensch. Nicht das wollen wir vor allem
wissen, wie Peter mit den kleinen Wehlinger Bauernjungens und -deerns
fertig wurde, sondern, wie er mit sich selbst, mit der Welt, mit dem
Leben fertig wurde. Und darüber ist aus den nächsten beiden Jahren nur
weniges summarisch zu berichten.

So glückliche Abende wie die beiden ersten hat Peter während dieses
Zeitraumes in seiner Dachkammer nicht wieder erlebt. Wie der Mensch
sich an alles gewöhnt, so gewöhnte er sich auch daran, daß er eine
eigene Stube und ein eigenes Bett hatte. Nur wenn er aus den Ferien,
aus den elenden Verhältnissen seines Vaterhauses, zurückkam, fühlte er
anfangs annähernd wieder das Glück jener ersten Abende.

In jenen glücklichen Stunden hatte die junge Seele, die einem engen,
dumpfen Käfig entronnen war, sich frei gewähnt und jubelnd ihre Flügel
geregt, um aufzufliegen. Aber bald genug mußte sie merken, daß sie nur
den Käfig getauscht hatte. Mochte der neue Käfig auch nicht ganz so
eng und drückend sein wie der alte, das freie Flügelregen und Fliegen
verbot er doch auch.

Schulmeister Wencke war ein kleinlicher Mensch, der seine Präparanden
im Schul- und Wirtschaftsbetrieb ausnutzte, aber unfähig war, ihnen
für ihren Beruf wirklich etwas zu geben. Als Peter ihm eines Tages
ehrlich klagte, er könne mit den Kindern das nicht erreichen, was ihm
am ersten Tage als erreichbar gezeigt wäre, da sah der Schulmeister ihn
groß an und sagte: »Du dummer Junge, du willst in ein paar Wochen das
können, wozu ich mein ganzes langes Leben gebraucht habe?« Wenn Peter
sich einmal in irgend einer Schwierigkeit Rat holen wollte, hieß es
meist nur: »Junge, das weißt du nicht? Denk doch man bloß ordentlich
nach! Ist ja ganz leicht. Schlau genug bist du dazu.« Die früheren
Präparanden hatten ausnahmslos mit der Zeit einen förmlichen Haß gegen
den Mann gefaßt. Dazu kam es bei Peter nicht. Wenn er einmal böse auf
ihn werden wollte, verglich er ihn schnell mit seiner Stiefmutter, und
dann fand er den selbstsüchtigen Mann ganz erträglich. Er hatte eben in
harter Schule gelernt, gar keine Ansprüche an die Menschen zu stellen
und schon zufrieden zu sein, wenn sie ihn nur leben ließen. -- Einige
Wochen lang hatte er den Schulmeister beinahe lieb. Das war während
der Zeit, als dieser ihm Geigenstunden gab. Aber bald sagte eine Saite
knax, und nach ein paar Tagen eine zweite. Da hängte der Alte die Geige
an die Wand und meinte, nun müßten sie's erst mal aufstecken. Wenn er
mal in den Flecken käme, wollte er sich frische Saiten mitbringen.
Er kam zwar öfters in den Flecken und brachte sich Tabak mit, aber
Saiten nicht. Es schnitt Peter manchmal ins Herz, wenn die Verstummte
mit ihren schrägliegenden Augen ihn von ihrem alten Ruheplatz so
traurig anschaute. Wenn er zufällig allein in der Stube war, trat er
wohl einmal an sie heran und zupfte an der gebliebenen Baßsaite. Dann
brummte die alte Freundin, zornig und wehmütig zugleich.

Es wäre dem armen Jungen zu wünschen gewesen, daß er nach seiner
elenden Jugendzeit in mütterliche Hände gekommen wäre. Wo diese
sehnsüchtige Kinderseele nur ein wenig Verständnis, ein ganz klein
wenig Liebe gefunden hätte, da hätte sie sich dankbar aufgeschlossen,
wie das Marienblümchen in der ersten spärlichen Märzsonne. In
den rechten Händen wäre Peter weich wie Wachs gewesen. Aber von
mütterlicher Art, die dem armen Jungen das zuerst mit so inbrünstiger
Liebe als Heim umfaßte Schulhaus zu einer wirklichen Heimat hätte
machen können, hatte die Schulmeisterin auch gar nichts. Seit ihre
erwachsenen Kinder das Haus verlassen hatten, lebte sie nur noch für
ihren Mann. An dem sah sie wie an einem Halbgott hinauf und diente ihm
wie eine treue Magd. Zu Peter hatte sie kein anderes Verhältnis, als
daß sie für seines Leibes Nahrung und Notdurft leidlich sorgte.

Peter las viel. Als Wenckes Bücher ihm nichts mehr zu sagen hatten,
wußte er sich solche hier und da bei den Lehrern der Nachbarschaft zu
leihen. Er las, was ihm gerade unter die Finger kam, und bei seinem
guten Gedächtnis behielt er auch manches von dem Gelesenen. Aber, da
er zu unreif war, um eine Auswahl zu treffen und die Einzelheiten
einzuordnen und geistig zu verbinden, so hatte er selbst keine rechte,
tiefe Freude daran. Deshalb suchte er andern Freude damit zu machen.
Aber damit hatte er auch kein rechtes Glück. Die Leute schätzten seine
Belehrungen nicht, zumal er von Schulmeister Wencke die Kunst gelernt
hatte, die einfachsten Dinge mit vielen Worten breitzutreten. Als er
merkte, daß die Menschen seine Weisheit verachteten, bedauerte er
sie aufrichtig und fing an, sich als einen jener »Unverstandenen« zu
fühlen, die mitleidig auf das Leben und die Menschen herabblicken und
wunder meinen, was die Welt in ihnen verkennt.

Es war schlimm, daß es ihm an Menschen fehlte, an denen er hinaufsehen
mußte, von denen er sich Maßstäbe zu richtiger Selbsteinschätzung hätte
holen können. Für die wirkliche Lebenstüchtigkeit mancher Bauersleute
seines Dorfes hatte der kleine Büchermensch natürlich kein Auge. So
kam der grüne Junge nach und nach in einen Hochmut hinein, der ihn um
so unangenehmer machte, als er zu seinem eigentlichen Wesen gar nicht
paßte.

Wenn kein Mensch Peter in diesen Jahren recht leiden konnte, so
hatte er dennoch ~einen~ wahren und treuen Freund. Das war des
Schulmeisters Phylax, der aus einer angesehenen Schäferhundefamilie
stammte. Wenn er mit diesem an den Sonntagnachmittagen in der Heide,
fernab von den Blicken der Menschen, herumtollte, hatte er den
Gelehrten und Schulmeister ganz ausgezogen und war nichts als der gute,
große Junge, der mit lachenden Augen über die Heide sprang. Aber wenn
er mit ihm durch das Dorf nach dem Schulhause zurückkehrte, war er
wieder der Herr Schulmeister, und auch Phylax mußte dieser Würde seines
Freundes durch gesittetes Benehmen Rechnung tragen.

Vielleicht war dieser zweite Käfig, das Schulmeisterhaus in Wehlingen,
noch gefährlicher für Peter als der erste, die stiefmütterliche Kate.
Denn jetzt stand er in den Jahren, wo es sich entscheiden mußte, ob
er ein aufrechter, tüchtiger Mensch werden oder als eine aus Mangel
an Wärme, Licht und Luft verkrüppelte und verkümmerte Existenz am
Boden dahinvegetieren sollte. Das letztere erschien nachgerade als das
Wahrscheinlichere.

Da, am Anfang des dritten Jahres bei Schulmeister Wencke, trat ein
Neues in sein Leben hinein.




Als Peter am Sonnabend nach Ostern, einen Tag früher, als er erwartet
wurde, abends nach Wehlingen zurückkehrte, fand er das Schulhaus
bereits verschlossen. Er machte sich bescheiden durch leises Bewegen
des Drückers und durch Hüsteln bemerkbar, und wartete geduldig, bis
der Alte heranschlarren und, über Störung der Nachtruhe brummend,
öffnen würde. Der wohlbekannte Schlarrschritt ließ sich aber nicht
hören, sondern der Riegel wurde plötzlich schnell zurückgeschoben, und
es kam Peter vor, als ob drinnen schnelle Füße husch husch husch über
die Diele davoneilten. Darüber wunderte er sich, und als er ins Haus
trat, sah er sich auf dem Vorplatz nach allen Seiten um, entdeckte aber
nichts Besonderes. So stieg er leise seine knarrende Treppe hinauf,
legte sich schlafen, und schlief, von der langen Wanderung und der
Frühjahrsluft ermüdet, tief in den Sonntag hinein.

Endlich erwachte er mit einem starken Hungergefühl. Denn er war ja
wieder einmal ohne ordentliches Abendbrot zu Bett gegangen. Er kleidete
sich schnell an und ging hinunter, um zu sehen, ob die Schulmeisterin
trotz des verschlafenen Morgenkaffees noch etwas für ihn hätte. Noch
auf der Treppe, sah er durch die halboffene Küchentür mit Verwunderung,
daß drinnen etwas Buntes, Schnelles hantierte. Ehe ihm klar wurde, was
das war, ging die Tür ganz auf, und vor ihm stand ein -- Mädchen.
»Guten Morgen,« sagte sie munter, »den Kaffee habe ich dir warm
gestellt und bringe ihn gleich, geh man in die Stube!«

Peter tat, wie ihm geheißen. Das erste in der Wohnstube, worauf sein
Blick fiel, war ein Glas gelber Osterblumen, das auf dem Tisch stand.
Und auf dem Nähtischchen neben einer Handarbeit entdeckte er eins mit
Weidenkätzchen. Der Frühling, an dessen ersten zarten Kindern er sich
gestern auf der Wanderung erfreut hatte, war auf einmal, ganz gegen
seine Gewohnheit, auch ins Schulmeisterhaus gekommen und sogar in die
dunkle Nordstube.

Die Tür ging auf. Da kam ein heller Sonnenstrahl hereingehuscht, dann
erschien eine blanke Zinnkanne, in deren geputztem Metall sich auch
ein wenig Frühlingssonne gefangen hatte, und die bewegte sich gerade
auf Peter zu. Er rückte scheu mit dem Stuhle und sah von der Seite in
ein Paar nahe Augen, die waren ganz voll Frühling und Sonne. »Bist
du bange vor mir?« fragten ein Paar lachende Lippen, die zu diesen
Augen gehörten. »Nehee,« sagte Peter errötend und rückte mutig wieder
auf seinen Platz. Das Mädchen stand jetzt ihm gegenüber, die Hand auf
der Kaffeekanne, aus der sie ihm eben eingeschenkt hatte, und sah ihm
unbefangen und ruhig beobachtend ins Gesicht. Peter beugte sich vor
Verlegenheit zu seiner Tasse und tat schlürfend einen tiefen Zug.

»Du wunderst dich wohl, daß ich auf einmal hier bin?« fragte das
Mädchen.

Peter wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, wagte es, sie
anzublicken und sagte: »Ja, das ist mir sehr auffällig. Was willst du
denn hier?«

»Mein Großvater schrieb mir, ich sollte kommen und Großmutter helfen;
es würde ihr mit der Arbeit zu viel.«

»Ach soo. Denn bist du dem Schulmeister Albers in Audorf seine Tochter
...,« sagte Peter. Er hatte sich jetzt von seinem Staunen erholt und
fühlte sich der Situation gewachsen. »Wie heißt du denn?«

»Marie. Ich bin die älteste.«

»Wie alt bist du denn?«

»Siebzehn.«

»So alt schon? Du siehst viel jünger aus. Ich bin auch siebzehn.«

»Mehr noch nicht? Du siehst viel älter aus.«

»Soo? Meinst du? Das freut mich.«

Sie lachte plötzlich laut auf.

»Was lachst du?« fragte Peter errötend.

»Och Mensch, du bist so furchtbar komisch.«

»Was? Ich?«

»Ja, wenn du einen um was fragst, machst du gerade so'n Gesicht wie
mein Großvater.«

»Soo?«

»Ja, so'n rechtes Schulmeistergesicht. Aber nun laß den Kaffee nicht
ganz kalt werden, und vergiß das Essen nicht.«

Peter gehorchte. Er trank ein paar Schluck und aß einige Mundvoll dazu.

»Meine Großeltern sind zur Kirche. Großvater war böse, daß ich dich
dazu nicht früh genug geweckt hatte,« sagte sie, indem sie sich an den
Osterblumen zu schaffen machte.

»Och, das schadet nicht viel,« sagte Peter, »ich bin die Festtage über
oft genug hingewesen. Sag' mal, bleibst du lange hier?«

»Dieses Jahr gewiß. Zu Hause bin ich über.«

»Wie viel seid ihr denn bei euch?«

»Sieben. Fünf Mädchen und zwei Jungens.«

»Sieben? Ja, das ist zu viel.«

»Zu ~viel~?«

»Ja, zu viel. Als ich noch zu Hause war, waren wir fünf. Das war schon
reichlich. Nun sind da auch schon wieder zwei zugekommen, und wir sind
auch sieben. Das ist zu viel.«

»Bei uns war's nicht zu viel. Wie wir immer vergnügt gewesen sind,
das kannst du dir gar nicht denken. Hier hatte ich die ersten Tage
ordentlich Heimweh. Ist man gut, daß du gekommen bist. So ist's doch
wenigstens noch einer mehr.«

Peter wurde ein wenig rot und sah zum Fenster hinaus. Dann trank er
seine Tasse aus und stand auf, um nach oben zu gehen. Aber sie sagte:
»Bleib' noch'n Augenblick sitzen. Ich will schnell hinauf und deine
Stube zurechtmachen.« Und schon war sie hinaus.

Er hörte das schnelle Knarr-knarr-knarr der Treppe, dann, wie sie oben
das Fenster aufstieß und eilig hin und her ging, wie sie sein Bett
klopfte. Dazu sang sie trällernd eine muntere Weise.

Was sollte bloß hieraus werden? Das ganze Haus war ja wie verwandelt.
Als ob alles auf den Kopf gestellt wäre!

Bald war sie wieder unten. »So!« sagte sie lustig, »nun mach' daß du
'rauf kommst! Ich will jetzt hier zu Mittag decken, daß alles fertig
ist, wenn die Großeltern aus der Kirche kommen.«

Peter stieg hinauf. Als er in seine Dachstube kam, sah er sich
unwillkürlich nach den Spuren ihrer Tätigkeit um. Es kam ihm vor,
als ob sein Bett weicher aufgelockert wäre als sonst. Ein Buch, das
aufgeschlagen auf dem Tisch gelegen hatte -- er hatte gestern abend
noch eben die Nase hineingesteckt -- war, schwapp, zugeklappt und
in die Reihe der andern gestellt. Der Anzug, den er gestern beim
Zubettgehen über den Stuhl geworfen hatte, hing fein säuberlich an
seinem Haken. Was sollte das geben, was sollte das geben? --

Es wurde ihm auf seiner Dachstube bald langweilig. Ein Buch vor die
Augen zu nehmen, fühlte er keine Lust. Draußen lachte die Aprilsonne.
Da beschloß er, einmal durch den Garten zu spazieren.

Kaum war er bei dem dicken Apfelbaum, da hörte er schnelle Tritte
hinter sich. Und richtig, da war sie, an die er gerad' eben dachte.
»Halt!« rief sie lustig, »bin mit allem fertig, die Kartoffeln stehen
auf dem Feuer, darf ich ein büschen mit?«

»Och jaa,« sagte Peter, »wenn du Zeit hast ...«

»Sag' mal,« fragte sie, indem sie nebeneinander den Steig
hinuntergingen, »kommt dir das hier in Wehlingen nicht manchmal sehr
langweilig vor?«

»Langweilig? Och nee.«

»Hast du denn Freunde?«

»Freunde? Weißt du, Marie, unter den Menschen sind wenige, die einen
verstehn. Meine Freunde sind die Bücher.«

Sie lachte hell auf. »Was? Die alten toten Dinger sind deine Freunde?
Hast du denn Lust, zu lesen?«

»Wer etwas werden will, der muß viel lesen und lernen,« sagte er
ernsthaft.

»Was liest du denn?«

»Och, alles Mögliche. Geistliches und Weltliches, Poesie und ... das
andere, was so gewöhnlich geschrieben ist und sich nicht reimt ...,
Naturgeschichte und Weltgeschichte und ...«

»Mensch, verstehst du das denn alles?«

»Och ja, das geht. Man muß eben seinen Verstand gebrauchen und scharf
denken.«

»Junge, Junge, denn mußt du ja schrecklich klug werden.«

Peter lächelte überlegen und machte dann ein Gesicht, als ob er eben
daran wäre, die letzten Fragen alles Seins denkend zu bewältigen.

»Mensch, du siehst schon ordentlich gelehrt aus, mit deinen Falten vorm
Kopf.«

Er sah zur Seite und blickte in ihr lachendes Gesicht. Die grauen
Augen, die Grübchen in den Wangen, der rote Mund, die weißen Zähne,
alles lachte. Da mußte er auch lachen.

»Eigentlich müßtest du erst'n Bart kriegen, und dann die Falten,«
meinte sie.

»Etwas kommt hier auch schon,« sagte Peter stolz und zupfte an seiner
Oberlippe.

»Wirklich?« fragte sie lachend und kam ganz nahe, um sich von dem
Vorhandensein der paar winzigen blonden Härchen zu überzeugen. Er
fühlte ihren Hauch auf seinem Gesicht, es wurde ihm ganz wunderlich
zumute.

»Wirklich, 'ne Idee is da schon, muß aber noch tüchtig wachsen.«

Sie waren an ein Stückchen frisch gegrabenen Landes gekommen. »Das habe
ich gestern gemacht,« sagte sie, mit dem Fuß eine auf den Weg gefallene
Erdscholle zertretend, »ach ja, is noch 'n schöne Arbeit, den ganzen
Garten umzugraben ... Ob mir wohl einer dabei hilft?«

Sie sah Peter schelmisch an.

»Meinst du mich?« fragte er.

»Wen denn sonst?«

»Ich habe diese Jahre viel hier im Garten gearbeitet,« erklärte Peter,
»aber ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich diesen Frühling und
Sommer ganz den Büchern zu widmen. Weil ich doch im Herbst aufs Seminar
komme, weißt du.«

»Ach du, mit deinen alten Büchern immer! Du tust grad' so, als ob das
ganze Leben so zwischen den Pappdeckeln säße.«

»Marie, darüber mußt du nicht reden. Das verstehst du nicht,« verwies
er ernstlich. Ȇbrigens das mit dem Graben ... ich will nicht sagen
... so 'ne Viertelstunde nach dem Mittagessen mal ... oder auch mal
'ne halbe ... das ginge am Ende doch ... Die alten Lateiner hatten ein
Wort, das die Gelehrten folgendermaßen übersetzen: eine gesunde Seele
in einem gesunden Körper. Für die Seele sind die Bücher, und für den
Körper, ja, da ist so ein Stündchen Arbeit mal ganz gut ... Ja, ich
will dir wohl mit helfen ...«

»Peter, du sollst mal sehen, das wird aber gemütlich. Zu zweien
arbeitet sich's viel besser als allein. Großvater und Großmutter
schlafen dann; da können wir uns immer schön was erzählen. Ich muß dir
so viel erzählen, von meinen kleinen Brüdern zu Hause, und von meinen
Schwestern, und was wir da abends immer spielen. Und du, na du kannst
mir mal was aus deinen Büchern erzählen. Aber nicht so'n langweiligen
Kram, wo'n bei gähnen muß. Daß ich doch etwas von deiner Gelehrsamkeit
abkriege und nicht so dumm bleibe ... Hör'! Was ist das?«

Aus dem Dorf tönte plötzlich etwas herüber, wovon man zunächst nicht
wissen konnte, ob es ein Schmerzensgebrüll oder eine Art von Gesang
sein sollte. Wenn man genauer hinhörte, war die Melodie des Chorals:
»Wie schön leucht' uns der Morgenstern« herauszuhören. Es klang trotz
der Entfernung grauenerregend. Und das Mädchen starrte ihren Begleiter
entsetzt an, als sie fragte: »Was ist das?«

Peter sagte gleichmütig: »Och, da wohnt so'n alter Kerl, der vor'n
Stücker zwanzig Jahren verrückt geworden ist. So grölt er jeden
Sonntagvormittag.«

»Ist das nicht der Gesang: ›Wie schön leucht' uns der Morgenstern,
voll Gnad' und Wahrheit von dem Herrn?‹«

»Ja, der soll's ja wohl sein. Mit dem, was daran fehlt.«

»Woher weiß denn der arme Mensch, daß Sonntag ist?«

»Och, das mag er wohl daran sehen, daß die andern Leute ihr gutes Zeug
anziehen und nach der Kirche gehen.«

»... Wie schön, daß der arme Mensch doch auch seinen Sonntag hat! ...
Hör', jetzt kann man's auch verstehen. Er hat nach dem ersten Vers
gleich den letzten angefangen. Hör': Amen -- Amen -- komm du schöne --
Freudenkrone -- bleib nicht lange, -- deiner wart' ich mit Verlangen
... Nun ist er still ... Wenn sie ihm doch bald geschenkt würde!«

Peter warf schnell einen erstaunten Blick auf das Mädchen, das still
nach der Richtung schaute, wo eben der Gesang verstummte. Dann senkte
er ein wenig den Kopf und errötete. Er schämte sich.

Auf der Höhe, über die der Kirchweg führte, wurden die ersten
zurückkehrenden Kirchbesucher sichtbar. Da gingen die beiden langsam
und schweigend durch den Garten zum Hause zurück.

Vor der Haustür wurde Peter stürmisch von seinem alten Freunde Phylax
begrüßt, der eben von einem Frühjahrsbummel durch das Dorf zurückkam.
Er tätschelte ihm zweimal mit der Hand über den Kopf und kümmerte sich
dann nicht weiter um ihn. Da leckte Phylax sich verlegen ums Maul,
und in seinem ehrlichen Hundegesicht war ein ähnlicher Ausdruck,
wie etwa in dem eines Menschen, der sich nach langer Trennung einem
alten Freunde an die Brust geworfen hat und nun plötzlich merkt, daß
bei jenem die Freundschaft merklich abgekühlt ist, vielleicht weil
sich inzwischen für ihn etwas Besseres gefunden hat. Phylax sah das
Mädchen mit einem Blick an, als ob er sie in Verdacht hätte, ihm die
Freundschaft Peters gestohlen zu haben.

Als die Schulmeistersleute zurückkamen, setzte die jetzt vierköpfige
Familie sich sofort an den Mittagstisch.

»Peter,« begann der Schulmeister, »durch deine Langschläferei hast
du dich um eine ganz wunderschöne Predigt gebracht. Der Pastor hat
anerkennenswert gut über das heutige Evangelium gepredigt: Wie der
Herr unter die Jünger tritt bei verschlossenen Türen und sagt: Friede
sei mit euch. Dieser schöne Gruß klang da immer wieder durch, und ging
einem recht zu Herzen. Ich habe mich sehr erbaut ... Aber Marie, was
hast du bloß mit dem Essen angefangen? Der Suppe fehlt das Salz, und
das Fleisch hast du nicht mürbe gekriegt. Hast du denn gar nicht an
meine Zähne und meinen schwachen Magen gedacht?«

Die Getadelte wollte die Zähigkeit des Fleisches mit dem Alter der
Kuh entschuldigen, wurde aber zur Ruhe verwiesen. Da konnte Peter
sich nicht mehr halten. Ihm hatte es die beiden Jahre noch nie so gut
geschmeckt wie eben jetzt, und er sagte, ohne aufzublicken: »Ich finde
im Gegenteil, es schmeckt alles ~sehr~ gut,« und hieb tapfer mit
den Zähnen auf eine Sehne ein. Die Schulmeisterin hatte ihre Gabel
hingelegt und sah Peter starr von der Seite an. Der Schulmeister aber
sagte, hämisch lächelnd: »Soo? Du hast wohl mal wieder gehörig hungern
müssen, bei deinem nassen Vater und der zärtlichen Stiefmutter?« Peter
wurde glutrot und beugte sich tief über den Tisch. Er schämte sich
vor der neuen Hausgenossin. Als man aufstand, ging er schnell aus der
Stube, ohne jemand anzusehen.

Auf seiner Dachkammer angelangt, schlug er mit der Faust dröhnend auf
den altersschwachen Tisch. Seine Scham war dem Zorne gewichen. Zum
ersten Male, solange er in Wehlingen war, war er auf den Schulmeister
wirklich zornig. Da läuft der Kerl, dachte er, in die Kirche und erbaut
sich an dem Friedensgruß des Auferstandenen, und dann kommt er wieder
und verdirbt seinen Mitmenschen den schönen Sonntag; dem armen Ding
da unten durch ungerechtes Mäkeln am Essen und ihm, Peter, durch den
hämischen Spott über seine häuslichen Verhältnisse, an denen er doch
unschuldig war und unter denen er ohnehin genug litt. Aber so war der
Mann eigentlich ja schon immer gewesen. Peter wunderte sich, daß er
jetzt erst anfing, ihn zu durchschauen.

An diesem Vormittag war's ihm gewesen, als sei ein neuer Geist in
das Schulhaus eingezogen. Er mußte bitter lachen, wie er jetzt daran
dachte. Nein, der alte mürrische, unzufriedene, kleinliche Geist hatte
nach wie vor die Herrschaft. Aber etwas anders war's doch geworden ...

Wart', morgen mittag, wenn die beiden alten Ekel auf dem Ohr
liegen, dann grabe ich im Garten ... Nicht allein, wie diese beiden
langweiligen Jahre, sondern in Gesellschaft. Sie freut sich mächtig
darauf. Wie lachten ihre Augen, als ich ihr versprach, daß ich ihr
helfen wollte! Och ja, es kann ganz interessant werden. Solche Mädchen
haben was Komisches an sich ... Ich soll ihr aus den Büchern erzählen
... Was nehme ich da wohl? Ich muß etwas Leichtes aussuchen. Das
Schwere versteht so'n Mädchen ja doch nicht ... Daß ein Gelehrter
gesagt hat, die Menschen stammten von den Affen ab, und es auch
Menschen gibt, von denen man das beinahe glauben könnte ... Daß der
alte Kaiser Barbarossa unten im Kyffhäuser sitzt, und der lange weiße
Bart ist ihm durch den steinernen Tisch gewachsen, und daß Deutschland
vielleicht noch mal einen Kaiser wieder kriegte; einige meinten, der
König von Preußen müßte es werden, aber er, Peter, hätte mal gelesen,
die Preußen wären gar keine echten Deutschen, sondern halbe Russen,
und er hätte mal einen Preußen gesehen und von diesem einen sehr
schlechten Eindruck gewonnen ... Daß die Franzosen einmal eine große
Revolution gemacht und dabei ihren König geköpft und den lieben Gott
abgesetzt hätten. So wäre es aber doch nicht gegangen, und da hätten
sie ihn wieder eingesetzt, das heißt nicht den richtigen, sondern nur
ein »höchstes Wesen« ... Daß die Menschen einen Stoff entdeckt hätten,
den sie Elektrizität nennten, und manche meinten, damit würde man noch
mal Wagen ziehen können. Aber das glaube er nicht, denn es sei schon
wunderbar genug, daß der Dampf das könne ... Daß Schiller und Goethe
die größten deutschen Dichter wären, aber sie wären beide tot, und nun
gäbe es gar keine Dichter mehr, die ordentlich reimen könnten ... und
so noch vieles mehr. Aber dies war für morgen wohl erst einmal genug.

Peter war seines geistigen Besitzes noch niemals so von Herzen froh
gewesen als diesen Sonntagnachmittag, da er die Aussicht hatte, ihn am
nächsten Tage auf so angenehme Weise zu verwerten.

Und dann wollte sie ihm ja auch erzählen. Ach ja, von ihren Brüdern und
Schwestern! Davon versprach er sich nicht viel. Aber was sollte man
sonst groß von ihr verlangen? Sie war ja nur ein Mädchen. Die lasen und
lernten ja gar nichts mehr, wenn sie aus der Schule waren. Aber sie
war doch wohl etwas anderes als die meisten ... Sie hatte ja selbst
gesagt, daß sie nicht so dumm bleiben wollte. Na, was er, Peter, dazu
tun konnte, das wollte er gewiß tun.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen trug Peter einige der für den Nachmittag
vorgesehenen Unterrichtsgegenstände in der Schule vor. Er hatte sich
zwar die Form, in der er's ihr bringen wollte, gestern nachmittag schon
einigermaßen überlegt. Aber es konnte nicht schaden, wenn er auch den
Vortrag einmal praktisch durchübte.

Beim Mittagessen sagte der Schulmeister: »Kinder, es hilft nun nichts,
ihr müßt gleich beide tüchtig ans Graben. Daß wir die Frühjahrssaat in
die Erde kriegen!«

Peter verbarg die Freude seines Herzens unter einer gleichgültigen
Maske. Aber eine Sekunde lang zuckte es doch über sein Gesicht. Marie
hatte ihn heimlich auf den Fuß getreten.

»Denn kommt,« sagte der Schulmeister, »daß ich euch anweise.«

Sie holten schnell ihre Spaten aus der Scheune und folgten dem Alten.
Der führte sie an die Ostgrenze des Gartens und sagte: »So, Peter, hier
gräbst ~du~. Und ~du~, Marie, fährst dort im Westen fort, wo
du angefangen hast. Jeder für sich! Daß ihr mir nicht die kostbare Zeit
mit Schnacken vertrödelt!«

»Och Großvater, dürfen wir nicht zusammen arbeiten? Wir wollen auch
tüchtig fleißig sein,« sagte Marie.

»Nein, Kind,« sagte der Alte bestimmt, »das hält euch nur auf. Und das
schickt sich auch nicht für so'n großen Jungen und so'n großes Mädchen.«

»Das schickt sich nicht?« fragte Peter und sah den Schulmeister fast
herausfordernd an.

»Nein. Ihr seid beide keine Kinder mehr. Steh nicht, Marie, und gaff'!
Mach, daß du an deine Arbeit kommst!«

Sie nahm ihre Schaufel und entfernte sich, zögernd und widerwillig. Der
Schulmeister ging langsam durch den Garten ins Haus zurück.

Peter hatte die Zähne aufeinandergebissen und sah ihm voll Wut nach.
Nicht mal eine kleine Unterhaltung gönnte ihm der bei der Arbeit? War
er, Peter, denn sein Sklave? Man sollte dem ekligen Kerl die Schaufel
vor die Füße werfen und keinen Stich mehr für ihn tun.

Er sah nach dem entgegengesetzten Ende des Gartens hinüber. Marie
hatte auch noch nicht angefangen zu graben. Sie blickte zu ihm herüber.
Den Ausdruck ihres Gesichts konnte er bei der Entfernung nicht
erkennen. Aber er sah, daß sie ärgerlich mit dem Fuße aufstampfte.

Ach was! dachte Peter, der Alte schläft. Geh einfach hin und grabe mit
ihr! Aber ... »das schickt sich nicht.«

Was schickt sich nicht?

Daß er sie, die Belehrung verlangte, belehrte? Daß er ihren engen
Gesichtskreis erweiterte? Warum sollte sich das nicht schicken?

Er nahm seine Schaufel und tat ein paar Schritte. Aber es stand wie
eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und ihr: »Es schickt sich nicht.«

Dem Befehl des Schulmeisters hätte er heute mit gutem Gewissen
getrotzt. Aber über dieses dumme Wort kam er nicht hinweg.

Und dem Mädchen drüben ging es ebenso. Auch sie dachte daran, dem
Großvater zu trotzen und zu Peter hinüber zu gehen. Aber ... »es
schickt sich nicht.« Warum nicht? »Ihr seid keine Kinder mehr.«
Nachdenklich sah sie vor sich hin, eine feine Röte legte sich auf ihr
Gesicht; dann nahm sie die Schaufel und fing langsam an, das Erdreich
herumzuwerfen.

Peter stieß plötzlich seinen Spaten in die Erde und ging mit kurzen,
trotzigen Schritten ins Haus. Als er die knarrende Treppe hinanstieg,
gab er sich keine Mühe, leise zu gehen. Der Alte sollte es hören und
sich darüber ärgern, daß er nicht für ihn graben wollte.

Voll Grimm riß er ein Buch aus der Reihe und fing an zu lesen. Aber
bald irrten seine Blicke über die Zeilen hinweg. Er war mit seinen
Gedanken im Garten. Da fiel ihm plötzlich ein, wenn er sich tüchtig ans
Graben machte, müßten sie ja doch bald zusammentreffen. Und nach einer
Weile stieg er trotzig die Treppe wieder hinab und kehrte in den Garten
zurück. Und fing an zu graben, wobei er sich immer wieder beteuerte,
der alte Schulmeister wäre es nicht wert, daß man den kleinen Finger
für ihn rührte.

Als er sich endlich zwang, nicht mehr an ihn zu denken, fingen all
die schönen Sachen, die er bei ihr hatte anbringen wollen, an, ihn
sehr zu drücken. Aber je mehr er in Schweiß geriet, desto leichter und
klarer wurde ihm der Kopf. Er grub nicht nur das halbe Stündchen, das
er gestern allenfalls den Büchern entziehen zu dürfen gemeint hatte,
sondern den ganzen Nachmittag. Wenn er einmal innehielt, schielte
er unter dem Baumgezweige und über dem Beerengesträuch weg nach
der Westseite des Gartens. Und es traf sich fast immer, daß Maries
Arbeitspausen mit den seinigen zusammenfielen. Dann schaute sie zu ihm
herüber. So waren sie, obgleich der ganze Garten und das »Es schickt
sich nicht« des Schulmeisters zwischen ihnen lag, doch Arbeitsgenossen,
wenn sie sich auch nichts aus den Büchern und aus dem Leben erzählen
konnten. Dem brummigen Alter gegenüber, das im Hause bei geschlossenen
Fensterläden durch ein Mittagsschläfchen im Bett verbunden war, fühlte
die Jugend im Garten, über dem der wunderliche April bald lachte, bald
weinte, sich durch die gleiche Arbeit verbunden.

So wiederholte es sich in den nächsten Tagen. Peter wurde seinen
Büchern fast untreu. Auch wenn er auf seiner Stube saß, widmete er sich
ihnen nicht mit dem gleichen Eifer wie sonst. Sie schienen ihm so viele
völlig gleichgültige Dinge zu enthalten. Er nahm sich aber fest vor,
nach der Frühjahrsbestellung wollte er alles, was er jetzt versäumte,
nachholen.

Der April vergaß in diesem Jahre früher als gewöhnlich seine
wunderlichen Launen und brachte die schönsten Sonnentage. Die
kleinen Vögel kamen zurück, jagten sich durch Busch und Baum in
frohem Liebesspiel, suchten Halme und Federn zum Nestbau und sangen
den beiden fleißigen jungen Menschenkindern zu ihrer Arbeit. Wenn
die herzfrohe Grasmücke im Fliederbusch es so recht jubelnd machte,
standen diese, von der Arbeit ausruhend, sahen nach dem Vöglein und
sahen dann einander froh an. Denn so nahe hatten sie sich schon
zusammengearbeitet, daß sie das konnten.

Zuweilen, auf dem Wege von und zu der Arbeit, und auch wohl einmal
zwischendurch, sprachen sie auch miteinander. Aber die Harmlosigkeit
jenes ersten Sonntagmorgens war nicht mehr. Das Gespräch wollte gar
nicht so recht in Gang kommen. Peter, der sonst immer so weise und
weitläufig hatte reden können und vorher immer ganz genau wußte, was er
sagen wollte, war in den paar kurzen günstigen Augenblicken jedesmal
wie auf den Mund geschlagen. Aber er tröstete sich. Er meinte, das
würde sich schon wieder machen, wenn sie nur erst zusammen auf einem
Stück arbeiteten. Die Stunde kam ja mit jedem Spatenstich näher.

Am Abend vor diesem langersehnten Tage saß Peter auf seiner Dachstube
und überlegte sich noch einmal, was er ihr denn morgen eigentlich
erzählen wollte. Da hielt er es für gut, zwischen den Dingen, die er
vor zehn Tagen sich vorgenommen hatte, zu sichten. Die Affengeschichte
und die Politik schied er aus. Dafür schob er ein Gedicht von Schiller
ein, das er auswendig gelernt hatte, weil es ihm so sehr gefiel:

          In einem Tal bei armen Hirten
          Erschien mit jedem jungen Jahr,
          Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
          Ein Mädchen schön und wunderbar.

Die ersehnte, mit vielen tausend Spatenstichen und manchem
Schweißtropfen verdiente Stunde war gekommen! Aber o weh! Die Aermsten!
Schulmeister Wencke fühlte sich diesen Tag so frisch und fand die
Frühlingsluft so köstlich, daß er auf das gewohnte Mittagsschläfchen
verzichtete und nahe der Arbeitsstätte von Peter und Marie Bohnen
legte. So gruben denn die beiden ihre letzten Reihen stumm und
verdrossen und waren so ärgerlich, daß sie auch einander nicht einmal
einen freundlichen Blick gönnten.

Was hatte Peter sich nicht alles von dieser gemeinsamen Arbeit
versprochen! Und wie war das alles zu Wasser geworden! Aber schön war's
doch gewesen. Jetzt, wo die Arbeit vollendet war, fehlte ihm etwas. Er
suchte Ersatz in seinen Büchern. Aber die wollten ihn gar nicht recht
fesseln. Immer wieder irrte sein Blick durch das kleine Fenster der
Dachkammer in das Grün des Apfelbaumzweiges und darüber hinaus ins
Blaue.

                   *       *       *       *       *

Die Bohnen, die Schulmeister Wencks zitterige Hand unter Peters stillen
Verwünschungen in die Erde gesteckt hatte, hielten es dort unten im
Dunkeln nicht lange aus. Es dauerte nur wenige Tage, so schickten sie
grüne Blättchen ans Licht empor. Und bald angelten grüne Ränkchen nach
einem Halt, um noch höher aufzusteigen ins goldene Licht.

»Marie,« sagte da eines Mittags der Schulmeister, »die Bohnenstangen
müssen eingesteckt werden. Peter kann dir dabei helfen. Ich will mich
lieber hinlegen, habe so Rheumatismus in der rechten Schulter. Wißt
ihr, wie das gemacht wird?«

»Ja,« sagten Peter und Marie wie aus einem Munde.

Peter wollte just vor Freude Marie auf den Fuß treten. Da fiel's ihm
plötzlich ein: »Das schickt sich nicht für so'n großen Jungen, und ihr
seid keine Kinder mehr.« Und er zog den schon ausgestreckten Fuß zurück.

Marie mußte nach dem Essen zunächst das Geschirr aufwaschen. Denn
auch Mutter Wencke fühlte sich nicht ganz wohl. Peter aber sprang auf
den Hausboden, wo nicht weit von seiner Dachkammer die Bohnenstangen
überwintert hatten, stieß die von staubigem Spinnegewebe umsponnene
Luke auf und warf die Schächte hinaus. Dann sprang er, immer zwei
Absätze überschlagend, die Treppe hinunter und schleppte sie, jedesmal
ein gutes halbes Dutzend auf die Schulter legend, zum Bohnenfelde. Als
er sie alle an Ort und Stelle hatte, setzte er sich erhitzt auf den
Stangenhaufen, trocknete den Schweiß und sah erwartungsvoll nach dem
Hause ...

Horch, da quiekt die alte Gartentür. Und da leuchtet ihr Schleierhut
zwischen dem lichten Maiengrün. Aber! Was ist das? Da soll doch der
...! Zehn Schritte hinter ihr der alte Kerl. Ist der mit seinem
Rheumatismus nicht längst im Bette?! Peter biß ingrimmig die Zähne
aufeinander und wünschte dem Schulmeister den Rheumatismus in beide
Beine.

»Ich bin doch bange, daß ihr mir die Sache nicht recht macht,«
quäkte der Schulmeister, als er bei den Bohnen angekommen war. »Die
Wurzeln müssen geschont werden, und die Stangen müssen fest in die
Erde, daß der Wind mir nachher den ganzen Kram nicht umreißt, und
auskommen müssen wir auch mit dem Haufen auf beiden Feldern; denn
neue sind so schnell nicht zu kriegen.« Dann nahm er eine Stange, um
sie in die Erde zu stoßen. »Au!« schrie er plötzlich mit schmerzlich
verzogenem Gesicht, ließ die Stange los und griff sich nach der rechten
Schulter. »Nein, Kinder, es ist doch zu toll. Ihr müßt's allein tun.
Macht's so, wie ich gesagt habe, schont mir die Wurzeln, nicht zu
dicht an die Pflanzen mit den Stangen, aber tief in die Erde und
gut durch Querstangen verbunden, und seht, daß ihr auskommt!« Damit
ging er, die wehe Schulter schmerzlich haltend. Peter sah ihm nicht
ohne Schadenfreude nach, und als er in Mariens Schleierhut blickte,
entdeckte er da auch nicht gerade Mitgefühl. »Wollen hoffen, daß er
sehr schön schläft,« sagte er lachend, »das ist für so alte Leute das
beste.« Da nickte sie und lachte auch.

Und nun machten sie sich an die Arbeit. Peter riß den Haufen der
Stangen auseinander, und mit Sorgfalt suchten sie jedesmal zwei Stangen
aus, die nach Länge und Stärke zueinander paßten. Dann nahm er die eine
und sie die andere, und sie stellten sich, das Bohnenbeet zwischen
sich, einander gegenüber, und jedes stieß seine Stange mit der jungen
Kraft seiner siebzehn Jahre in den lockeren Erdboden, erst mit der
Muskelkraft der Arme, dann das ganze Körpergewicht einen Augenblick
mit einem Ruck daran hängend. Bald fanden sie heraus, daß sich auf
Kommando besser arbeiten ließ, und sie kamen überein, bei jeder Stange
abwechselnd das Rucken und Nachstoßen zu kommandieren. »Eins, zwei,
drei, ~Ruck~, eins, zwei, drei, ~Ruck~!« kommandierte Peter
mit seiner rauhen, unreinen Stimme, die im Wechseln begriffen war.
»Eins, zwei, ~drei~, eins, zwei, ~drei~!« kommandierte mit
heller, reiner Stimme Marie. Zwischendurch rüttelte Peter einmal
prüfend an seiner Stange und an Marie ihrer: sie saßen beide gleich
fest in der Erde.

An seine Wissenschaft, die er so lange für Marie mit sich herumgetragen
hatte, dachte Peter mit keinem Gedanken. Er hatte völlig genug an
den Bohnenstangen, an dem Schleierhut mit dem rosig überschatteten,
lieblichen Gesicht darin, an der jungen Gestalt, die sich kraftvoll
und zierlich zugleich vor seinen verwunderten Augen bewegte. Wenn er
in dieser Stunde einen Wunsch hätte äußern dürfen, wie der Mann im
Märchen, so wäre es sicher der gewesen, bis an sein Ende bei der
warmen Maiensonne im grünen Garten unter Grasmückengesang mit Marie
Bohnenstangen einstecken zu dürfen.

Aber solcher Wunsch wurde ihm von keiner gütigen Fee gewährt, und bald
staken die Schächte alle in der Erde. Es blieb nur noch übrig, die
Verbindungsstangen über die Kreuzungsstellen zu legen und festzubinden.
In stillschweigender Uebereinkunft machten sie das so, daß jeder
eine um die andere Kreuzungsstelle verband, so daß sie, immer wieder
voreinander vorübergehend, die ganze Stangenreihe entlang beieinander
blieben. Peter band richtige Knoten, Marie Schleifen, aber fest saßen
die Schleifen wie die Knoten.

Nun stand das Stangengerüst, aufrecht, gleichmäßig und fest. Noch
einmal prüften sie das Ganze mit derbem Ruck. Das Gebäude gab nicht
nach. »Das haben wir gut gemacht,« sagte er stolz und froh, »ja, ja,
wir beide zusammen, das gibt was.«

Ein Fink kam angeflogen, setzte sich auf die höchste der Stangen und
schmetterte seinen Vers herunter.

»Kuck da, Marie,« rief Peter, »der freut sich auch über unser Werk.«

Marie sagte verwundert: »Mensch, heute sollte man gar nicht denken, daß
du ein Schulmeister bist.«

»Ein Schulmeister?« fragte Peter lustig, »das bin ich heute auch nicht.
Heute nachmittag bin ich mal ein Mensch. Meinst du denn, daß unsereiner
immer ein weises, feierliches Gesicht machen muß?«

»Och nee,« lachte sie, »das habe ~ich~ noch niemals gemeint. Aber
nun sind wir fertig. Nun kannst du wieder an deine Bücher gehen.«

»An meine Bücher? Och Menschenkind, schnack' doch nicht so'n dummes
Zeug! Die Bücher? Die sind ganz gut für den Winter. Aber an solchem
Maitag wie heute? Am liebsten möchte ich in einem fort jubeln und
singen.«

»Denn sing doch!« sagte sie. »Ich hab' dich noch niemals singen hören.«

»Och nein, zum Singen ist's doch viel zu schön ... Fliegen möchte ich,
so hoch wie die Schwalben, und noch viel höher; so hoch wie die Sonne
da steht, und noch tausendmal so hoch.«

»Menschenkind! Was hast du bloß? Du bist ja ganz aus dem Häuschen.«

»Oh, Marie ... es ist heute so wunderschönes Wetter. Das dringt einem
ins Herz und ins Geblüt. Wer heute nicht anders ist als sonst, weißt
du, was der verdient?«

»Na?«

»Ordentlich welche hinten vor!« sagte Peter übermütig, hielt die rechte
Hand schlagbereit und sah sich um, als ob er jemand suchte, an dem er
diese Strafe vollziehen könnte.

Marie lachte hell auf. »Nun bist du ja auf einmal doch wieder
Schulmeister,« sagte sie und sah ihm lustig in die Augen.

»Kuck mal den kleinen Vogel da zwischen den Kartoffeln,« flüsterte
Peter eifrig, indem er mit dem Finger hinzeigte.

»Das ist ja ein Wippsteert,« sagte sie froh. »Ei kuck doch mal, wie
zierlich er da hüpft und wippt ... Die kleinen Vögel kommen mir immer
vor wie lebendige Blumen ...«

»Ei ja,« sagte Peter verwundert, »das hast du dir fein ausgedacht ...«

»Wie hat der liebe Gott das doch alles so schön gemacht in der Welt!«

»Ja,« sagte Peter nachdenklich und froh.

Das Vöglein erhob sich plötzlich und flog mit lautem Angstgeschrei
dem Hause zu. Die beiden sahen ihm nach. Da kam von dort eine Krähe
geflogen, die lautlos über die Baumkronen dahinstrich und von zwei
kleinen Vögeln unter schrillen Klagetönen verfolgt wurde.

»Die armen Wippsteerte!« sagte Marie traurig, »da hat ihnen die
scheußliche Krähe ein Kind geraubt.«

»Und eben saß das kleine Tier hier so seelenvergnügt vor uns und wippte
mit dem Schwanz,« sagte Peter ernst. »Ja, so geht es oft ... auch im
Menschenleben ...«

Sie schwiegen beide. Marie bückte sich und legte eine in der Luft
schwankende Bohnenranke an die nächste Stange. Peter folgte ihrem
Beispiel, und so boten sie allen Pflanzen, die sich schon nach einem
Halt sehnten, hilfreiche Hand. Zu einem zarten Ränkchen, das sich
widerspenstig zeigte, sagte Peter, und die alte Fröhlichkeit war wieder
in seiner Stimme: »So halte dich doch, du eigensinniges Ding! Und
wachse tüchtig drauflos! Im August wollen wir Bohnen essen. Magst du
gern Bohnen, Marie?«

»Und wie! Und wenn wir sie vor uns auf dem Tische haben, dann denken
wir immer an diesen schönen Nachmittag. Nicht?«

»Ja, das ist gewiß,« sagte Peter mit frohen Augen.

Wieder ertönte das Jammergeschrei des Bachstelzenpärchens. Die Krähe
holte sich eben das zweite Junge für ihre Brut.

Peter hatte einen Stein aufgegriffen und warf grimmig hinter dem Räuber
her.

»Dabei kann man ja gar nicht wieder fröhlich werden, wenn man das immer
sehen und hören muß,« sagte Marie, noch trauriger als vorhin.

»Ach, Tiere trösten sich bald,« sagte Peter.

»Da hast du wohl recht ... aber wenn ich daran denke, wie damals mein
kleiner Bruder starb ...«

»Und wie damals meine Mutter starb ...« fügte Peter noch leiser hinzu.
Nach einer Weile sagte er: »Du, das Sterben müßte überhaupt nicht sein.
Oder die Menschen müßten doch erst sterben, wenn sie alt und lebenssatt
sind. Meinst du nicht auch?«

»... Ich weiß nicht ... Als mein kleiner Bruder starb, da fingen wir
andern Geschwister an, uns viel mehr lieb zu haben als früher. Und ich
glaube beinahe, unsere Eltern hatten uns von da an auch viel lieber.
Und ob das gerade immer das beste ist, wenn man so sehr alt wird, weiß
ich auch nicht.«

Sie bückten sich schweigend zu den Bohnenranken. Nach einer Weile
fragte Marie: »Du, sag' mal, magst du eigentlich meine Großeltern gern
leiden?«

»Gern leiden?« wiederholte Peter. »Weißt du, Marie, die sind beide alt,
und ich bin jung. Und du bist auch jung.«

»Jaa ... davon mag das wohl kommen.«

»Was?«

»Och ... ich meinte man ...«

»Ja, Marie, davon kommt das. Wenn wir alt sind, sind wir auch anders.
Aber jetzt sind wir jung. O Marie, was ist das schön, daß wir jung
sind! Zwei Alte und ein Junger im Hause, das war manchmal nicht schön.
Aber nun, zwei Alte und zwei Junge, das geht wunderschön. Meinst du
nicht auch, Marie?«

»Och ja, Peter ... ich war das ja auch von Hause so gewohnt, wo wir die
vielen Geschwister waren.«

Die Gartentür ging. »Großvater,« sagte Marie erschrocken. »Sei man
nicht bange,« sagte Peter zuversichtlich, »du kannst sicher sein, daß
er diesmal zufrieden ist. Was mit soviel Lust und Liebe gemacht ist ...«

Der Schulmeister kam, prüfte das Werk der beiden, erst mit den Augen
auf das Aussehen, dann mit der Hand auf seine Festigkeit, und sagte
dann: »Das habt ihr sehr gut gemacht, Kinder. Ich muß euch loben.
Kommt, nun sollt ihr auch Kaffee haben!«

Er wandte sich, die beiden warfen sich einen frohen Blick zu und gingen
als gute Gesellen nebeneinander hinter dem Alten her.

Zum dritten Male erklang das Wehgeschrei der Vogeleltern, und Peter und
Marie sahen sich erschrocken an. Der Schulmeister aber hob den Kopf und
fragte: »Was sind das for welche?«

»Wippsteerte,« sagte Peter hinter ihm.

»Schade,« sagte der Schulmeister, »der Wippsteert gehört auch zu den
nützlichen Vogelarten.« --

»Was ist das für ein herrlicher Tag heute!« sagte sich reckend
Schulmeister Wencke, als sie am Kaffeetisch saßen, auf den die Sonne
bunte Kringel malte. »Man sieht's euch ordentlich an, Kinder, wie die
Arbeit euch gut getan hat. Jaja, die Arbeit. Und wenn man jung ist.
Wenn unsereiner nur nicht das vermuckte Reißen in den Knochen hätte!
Aber etwas besser ist's auch schon als heute mittag.«

»Drinkt man düchtig Kaffee,« mahnte Mutter Wencke, die das
Mittagsschläfchen gestärkt und der sonnige Maientag und die gute Laune
ihres Gebieters aufgeheitert hatten. »Wenn de Putt leddig[6] is,
geet[7] ick frischen up.« Sie sprach immer plattdeutsch.

Peter dachte, solch ein Maientag könnte doch beinahe alte, grämliche
Schulmeistersleute wieder jung und lustig machen. Heute ging im
Schulhause wirklich ein anderer Geist um.

Als sie vom Tisch aufstanden, taumelte er glücklich seine knarrende
Bodentreppe hinan. Was sollte er nun bloß diesen Nachmittag anfangen?

Da standen seine Bücher und sagten: »Wir sind auch noch da.«

Er stellte sich ans Fenster -- zum Sitzen hatte er keine Ruhe -- und
nahm ein Buch vor die Augen. Aber die Sonne lachte auf die Blätter,
und die Buchstaben tanzten. Sie wollten sich nicht zu Wörtern
zusammenfinden, und zu vernünftigen Sätzen erst recht nicht.

Er legte das Buch hinter sich und nahm ein anderes. Es war dieselbe
Geschichte. Der Geist, der in diesen beiden Büchern wohnte, war nicht
stark genug, seinen vor Freude außer Rand und Band geratenen Geist zu
fesseln.

Da nahm er ein drittes Buch. Es war eigentlich nur ein schmales
Heftchen, das er sich von einem Kollegen im Kirchdorf geliehen hatte.
Darauf war zu lesen: Goethe, Ausgewählte Gedichte.

Peter hatte mehrfach darin geblättert. Er schätzte Goethe im
allgemeinen nicht. In dem Heft standen manche Dinger, die Gedichte
sein sollten, aber sich durchaus nicht reimten. Ja, in einigen waren
nicht einmal die Verse gleich lang. Um so ungereimtes, unegales Zeug
zu schreiben, dachte Peter, brauchte einer doch kein großer Dichter zu
sein. Aber anderes reimte sich gut, und er fand es auch sonst ganz nett.

Als er das Büchlein durchblätterte, fiel ihm ein Gedicht in die Augen,
das war überschrieben: Mailied. Die Maisonne lag auf dem Garten und
blinkte in den Blättern des Apfelbaumes vor seinem Fenster. Das kann
passen, dachte Peter, das Lied wollte er lesen. Und die Buchstaben
hörten auf zu tanzen und standen ganz klar vor ihm.

          Wie herrlich leuchtet
          Mir die Natur!
          Wie glänzt die Sonne!
          Wie lacht die Flur!

          Es dringen Blüten
          Aus jedem Zweig
          Und tausend Stimmen
          Aus dem Gesträuch.

Der Kuckuck! dachte Peter. Das ist ja gar nicht zusammengedichtet, das
ist ja wirklich so! Er überzeugte sich noch einmal davon, indem er in
den blühenden Garten hinabblickte und den Vogelstimmen lauschte, die so
süß herauftönten.

           Und Freud' und Wonne
           Aus jeder Brust,
           O Erd', o Sonne!
           O Glück, o Lust!

Er griff sich an seine glückdurchbebte Brust und las die herrlichen
Worte noch einmal, sie leise vor sich hinsprechend und jedes einzeln
durchkostend.

            O Lieb', o Liebe!
            So golden schön,
            Wie Morgenwolken
            Auf jenen Höh'n!

            Du segnest herrlich
            Das frische Feld
            Im Blütendampfe
            Die volle Welt.

Er atmete tief auf und schlug das Blatt um:

             O Mädchen, Mädchen ...

Er erschrak und las hastig weiter, mit angehaltenem Atem:

             Wie lieb' ich dich!
             Wie blinkt dein Auge!
             Wie liebst du mich!

             So liebt die Lerche
             Gesang und Luft,
             Und Morgenblumen
             Den Himmelsduft,

             Wie ich dich liebe
             Mit warmem Blut,
             Die du mir Jugend
             Und Freud und Mut

             Zu neuen Liedern
             Und Tänzen gibst,
             Sei ewig glücklich,
             Wie du mich liebst!

Er warf das Buch hin, streckte die Arme von sich, sah mit weitoffenen
Augen in die Sonne und fühlte das warme Blut und neue Jugend und
Kraft und Mut durch seine Adern rinnen. Ja, ja, das war's: O Mädchen,
Mädchen, wie lieb' ich dich! ...

Der gute Peter! Seine jungen siebzehn Jahre hat er unter dem Druck und
in der Kälte gestanden. Elternliebe, Geschwisterliebe, Freundschaft
-- bis auf die mit dem Hund -- sind ihm fremd geblieben. Einsam und
verprügelt daheim, einsam und gedrückt hier im Schulhause. Nun ist's
auf einmal über ihn gekommen. Nun ist seine junge Seele plötzlich
erglüht und weiß sich nicht zu helfen und zu fassen vor übergroßem
Glück.

Plötzlich, mitten in seiner jubelnden Freude, mußte er an die armen
Wippsteerte denken. Da kam eine tiefe Traurigkeit über ihn. Er redete
sich ein, Wippsteerte gäbe es ja so viele, und auf ein Nest voll käme
es nicht an. Aber die Traurigkeit wollte nicht weichen. Und er merkte,
daß er gar nicht über die Wippsteerte traurig war. Aber worüber denn?
Das wußte er selbst nicht. Er blätterte gedankenlos in seinem Goethe.
Da fiel sein Blick auf die Verse:

          Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
          Wer nie die kummervollen Nächte
          Auf seinem Bette weinend saß,
          Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!

Bis hierher war er gekommen, da rief's unter dem Fenster: »Peter!« Da
ist alle Traurigkeit mit einem Schlage verschwunden. Es ist ihre liebe,
helle Stimme. O Mädchen, Mädchen, wie lieb' ich dich! --

Mit zitternden Knien stieg Peter seine Treppe hinunter. Als er in die
Wohnstube trat, wehte es ihm wie Eisesluft entgegen. Bei den Alten war
der Maientag schon wieder dahin. Grämlich hockten sie auf ihren Stühlen
...

Aber da kommt ja der Frühling. Wie ihre Augen leuchten! Wie sie das
viele Geschirr sicher und zierlich zu tragen weiß! Aber da! Eine
Untertasse fängt an zu wackeln, bekommt das Übergewicht, Peter springt
hinzu, zu spät! Mit lautem Krach fliegen die Scherben auseinander.
Die Alte bekommt vor Schreck einen nervösen Zufall, dem Schulmeister
fährt's in die kranke Schulter, beide schimpfen, Marie weint, und Peter
sitzt da voll Wut, Liebe und Mitleid und denkt unwillkürlich an die
Worte, die er eben gelesen: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß ...« Nur
diese waren ihm im Gedächtnis geblieben.

                   *       *       *       *       *

Schulmeister Wenckes rheumatische Schulter behielt, wie immer, recht.
Es wurde ander Wetter. Die schönen Sonnentage waren dahin, und graue
Regenwolken ließen alle die Herrlichkeit, die jene hervorgezaubert
hatten, in einem viel nüchternerem Licht erscheinen.

Und mit Peters Maienglück ging's ähnlich. Die abendliche Szene, die ihn
aus seinen Himmeln in die rauhe Wirklichkeit des Wehlinger Schulhauses
herabriß, machte den Anfang, und die folgenden Tage mit Schulplackerei
und unwirscher Stimmung im Hause und Regen draußen arbeiteten weiter,
ihn einigermaßen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und das war auch
gut. Wie hätte ein Junge, dem die Buchstaben vor den Augen tanzten,
die Wehlinger Schuljugend das Lesen lehren können? Deshalb war es gut,
daß sie bald wieder leidlich vernünftig und ehrbar vor seinen Augen
einhermarschierten.

Mit dem Einstecken der Bohnenstangen hatte die Gartenarbeit einstweilen
ihren Abschluß gefunden. Das war Peter freilich nicht angenehm. Aber
vielleicht war auch das ganz gut.

Aber, obgleich Wolken und Regen die Maienherrlichkeit verhüllten
und die Menschen ihre Arbeit einstellten, es war im Garten doch
alles lebendig und wuchs und kam vorwärts. Und obgleich Peter wieder
mehr Schulmeister und Büchermensch war und keine Bohnenstangen mehr
einsteckte, den Frühling hatte er doch in sich, und der wirkte und
schaffte in ihm an allen Enden. Er wuchs und kam vorwärts.

Unter den großen Schulkindern, denen er auch in einigen Fächern
Unterricht gab, hatte er einen langen Jungen, der ebenso begabt
wie frech war. Es war Peter immer schwer geworden, ihm gegenüber
sein Ansehen als Lehrer zu wahren. Im Wissen konnte jener es mit
ihm ja nicht aufnehmen, aber im übrigen fühlte der von Kindheit an
gedrückte, arme Häuslingsjunge nicht selten die Überlegenheit des
körperlich und geistig gesunden Sprößlings bester Bauernrasse. Als
der Schlingel sich nun wieder einmal eine Ungezogenheit erlaubte
und den aufmerksam gewordenen jungen Schulmeister kameradschaftlich
herausfordernd ansah, fühlte dieser sich plötzlich überlegen. Er ging
mit festem, dröhnendem Schritt auf seinen Gegner los und sagte ihm
mit jetzt völlig gewechselter Stimme, er möchte die Ungezogenheit
nur noch einmal wiederholen, dann sollte er mal was erleben. Der
Junge sah Peter verdutzt in die Augen, merkte, daß aus ihnen eine
Kraft und Entschlossenheit sprach, mit der nicht zu spaßen war, und
ärgerte ihn fortan wie ein Schüler seinen Lehrer, aber nicht mehr auf
kameradschaftlichem Fuße. Zu seiner großen Genugtuung hörte Peter am
Schluß der Stunde, wie die großen Mädchen sich zuflüsterten: »Kinners,
Kinners, de lüttje Scholmester is nu abers 'n Keerl worrn!«

Peter machte sich jetzt, nachdem die Gartenarbeit zur Ruhe gekommen
war, auch wieder mit Eifer an seine Bücher. Damit erging's ihm auch
merkwürdig. Früher meinte er, ein Buch wäre ein Buch und hätte
als solches Anspruch darauf, von der ersten bis zur letzten Seite
durchgelesen zu werden. Jetzt klappte er manche Bücher nach ein paar
Seiten zu, und in andern las er nur einzelne Abschnitte, die er sich
selbst auswählte. Früher hatte er wahllos alles zu behalten gesucht,
was ihm unter die Augen kam. Jetzt verbot er seinem Gedächtnis oft
geradezu, sich mit irgend welchen gleichgültigen Dingen zu belasten.
Manchmal machte er sich im stillen Fragezeichen, obgleich die Sache da
schwarz auf weiß vor ihm stand. Der Glaube an die Unfehlbarkeit der
Druckerschwärze wurde ihm wankend.

Einmal bekam er zwei Bücher geliehen, von denen das eine eine »wahre
Geschichte«, das andere ein »Roman« sein wollte. Er nahm die »wahre
Geschichte« mit gutem Vertrauen zur Hand, aber bald legte er sie mit
dem Gefühl zur Seite, daß in dem Buche alles unwahr und verlogen
wäre. Dann machte er sich mit großem Mißtrauen an den »Roman«. Dieses
Fremdwort übersetzte er sich nämlich mit »Lügengeschichte«. Aber
schon auf der zweiten Seite wurde ihm, als ob aus den Zeilen ein
stilles, ernstes Menschenauge ihn anschaute, und bald klopfte ihm
ein Menschenherz entgegen, und sein Herz klopfte mit. Bald mußte er
vor Behagen lächeln, dann wieder mußte er sich die Tränen trocknen.
Als er das Buch zu Ende gelesen hatte, fing er gleich wieder von
vorne an. Und nach vier Wochen las er es zum dritten Male. Dann
konnte er das Buch ruhig wieder zurückgeben. Denn die Menschen, von
denen es erzählte, lebten jetzt mit ihm und waren ihm gute Freunde
geworden. Von da an suchte er nach solchen Büchern, fand ihrer aber
nur wenige. In den meisten, die sich auch Romane nannten, waren die
Menschen ebensolche mit allerlei zweifelhafter Weisheit ausgestopfte
und mit fadenscheinigem Tand behängte tote Puppen wie in der »wahren
Geschichte«.

Als Peter so angefangen hatte, beim Lesen auszuwählen, abzulehnen,
Fragezeichen zu machen, zu vergleichen, Verbindungslinien zu ziehen,
das Lebendige zu suchen, kurz, als er angefangen hatte, nicht mehr als
Schulmeister, sondern als Mensch zu lesen, hatte er an seinen Büchern
eigene tiefe Freude und brauchte nicht mehr nach Abnehmern für seine
jeweilig neueste Weisheit zu suchen. Er wußte auch gar nicht mehr so
viel, was er andern hätte erzählen können, und wenn der frühere Eifer,
zu belehren, ihn noch einmal packte, sagte er sich: Vielleicht wissen
sie's auch ohne dich, und wenn sie's nicht wissen, dann schadet's auch
nicht viel.

Wenn er einmal darüber nachdachte, wann und wie die große Wandlung über
ihn gekommen wäre, mußte er immer wieder an das Bohnenstangenstecken
und an Marie denken. Und wenn er so recht von Herzen an sie dachte,
tanzten die Buchstaben wieder, und die lebendigsten Bücher waren
tot. Aber das schadete nichts. Nachher waren sie dann wieder um so
lebendiger, und aus den Buchstaben schaute mit helleren Augen eine
Welt, in die einzudringen ihm von Tag zu Tag mehr Freude machte.

Ja, ja, der Frühling schaffte an allen Enden. Unten in des
Schulmeisters Obst- und Gemüsegarten, und oben in der engen Dachstube,
wo ein junges Menschenherz ihn erlebt hatte, endlich, nachdem es lange
unter der Eisdecke des Winters in Erstarrung gelegen hatte.

Und auch in einem andern jungen Herzen schaffte er wohl, trotz der
Nähe der beiden alten Eisklumpen, die er nicht mehr schmelzen konnte.
Wo etwas werden und wachsen will, dahin hat er ja noch immer den Weg
gefunden.




Die Sommerferien nahten. Peter hatte sich die ganzen Jahre noch nicht
auf Ferien gefreut. Aber dieses Mal fürchtete er sich vor der langen,
langen Zeit, die er fern von Wehlingen zubringen sollte. Er hätte etwas
darum gegeben, wenn er die vier Wochen hätte ausstreichen können.

Am letzten Sonntag vor Schulschluß hatte er in Olendorf den
Gottesdienst besucht und blieb den Nachmittag über bei einem Kollegen
und Altersgenossen, mit dem er oberflächlich ein wenig verkehrte.
Marie war seit einigen Tagen verreist, um zu Hause die Kindtaufe von
Nummer acht mitzufeiern. Und den Sonntagnachmittag allein bei den
sauertöpfischen Alten zu verleben, hatte er keine Lust. Ohne sie konnte
er sich das Schulhaus gar nicht mehr denken.

Gegen Abend trat er den Rückweg an. Der Kollege begleitete ihn eine
Strecke.

Im Kirchdorf war heute Tanzmusik, und die Straße auf und ab
schlenderten Scharen geputzter junger Leute. Die Musikanten kamen eben
mit ihren Instrumenten, und die Wirtshausdiele hatte ihre bekränzten
Tore weit und einladend geöffnet. »Möchte auch wohl mitmachen,«
sagte der andere, lüstern hineinblickend, »aber mein Küster gönnt's
mir nicht. Er ist noch einer von den Altmodischen und meint, wir
Schulmeister gehörten so halb und halb mit zur Geistlichkeit.«

»Die jungen Kerls,« sagte Peter, »nehmen uns Schulmeister doch nicht
für voll.«

»Aber die Deerns,« sagte der andere, »wenn einer man'n rechter Kerl
ist.« Er hielt sich ohne Zweifel für einen solchen und zupfte an den
Härchen, die ihm auf der Oberlippe sproßten. Die waren etwas länger als
Peter seine und konnten übers Jahr vielleicht schon Bekanntschaft mit
dem Rasiermesser machen.

Um Peter zu beweisen, daß er kein Dummer mehr war, erzählte er dann
allerhand Geschichten vom Olendorfer Jungvolk. Geschichten, wie der
weltfremde Peter sie von der Wehlinger Jugend nie gehört hatte. Nachdem
dieser eine Zeitlang schweigend zugehört hatte, sagte er zuletzt: »Na,
Mensch, nun hör' man endlich auf mit deinen dummen Geschichten!«

Als der Begleiter umgekehrt war, ging Peter langsam durch die Heide. Es
war sehr warm, und Eile hatte er ja nicht.

Nach einer Viertelstunde führte der Weg in eine Senkung, das
Wendenloch, hinab. Dort sollte es nicht ganz geheuer sein, wie Peter
aus einer alten Chronik wußte. Und eine alte Frau hatte ihm erzählt,
hier wäre ihr einmal der Heideteller begegnet, der zur Strafe für seine
Sünden bis an den jüngsten Tag die Heidekräuter zählen müßte. Und was
ihre Mutter gewesen wäre, die hätte zweimal den Ohnekopf gesehen.
Einmal hätte er seinen Kopf unter dem Arm getragen, das andere Mal
mit ihm den Hügel hinab Kegel geschoben, und aus dem Tale habe einer,
wahrscheinlich der Teufel selbst, unheimlich gerufen: Alle Neune! An
diese Geschichten dachte Peter, der Volksaberglaube hatte auch über
ihn einige Gewalt, und so zögerte er ein wenig, ehe er in das von
dunklen Wacholdern und weißen Sandblößen durchzogene Tal hinabstieg.

Plötzlich rief es munter hinter ihm: »'n Abend, Peter!« Er flog jäh
herum. Marie! --

»Wo kommst denn du auf einmal her?«

»Ich bin eben mit der Post in Olendorf angekommen. Und du? Was stehst
du hier herum?«

»Och, ich habe mal den jungen Schulmeister in Olendorf besucht.«

»Den alten ekligen Flapps, der neulich bei uns war?«

»Ja. Was sollte ich mich allein zu Hause herumlangweilen?«

»Und nun gehst du auch nach Hause?«

»Ja, natürlich doch!«

»Ob wir zusammen gehen ...?«

»Och ja, das meine ich doch. Zu zweien geht's sich besser, besonders
abends. Und auf diesem Wege!«

Sie wandten sich zum Gehen.

»Warum ist's denn gerade hier gut, zu zweien zu gehen?« fragte sie.

»Weil's da unten nicht sauber ist.«

»Nicht sauber?« lachte sie auf. »Du kluger Mensch glaubst noch an
Spuken?«

»Das nicht gerade. Aber etwas anderes ist's einem doch, wenn man abends
allein in solche Gegend kommt. Soll ich dir erzählen, was Wohlers
Mudder mir von dem Wendenloch verraten hat?«

»Ach, laß man! Glauben tu ich's doch nicht. Und was sollen wir uns mit
solchen dummen Geschichten gruseln machen?« --

»Na, wie war's denn zu Hause?« fragte Peter nach einer Weile.

»Och, ganz nett ...«

»Jetzt seid ihr schon acht.«

»Ach ja ...«

»Was seufzest du? Du meintest doch Ostern, sieben, das wäre gar nicht
zu viel. Acht ist doch bloß einer mehr.«

»Ach Peter, wenn man älter wird, denkt man über manche Dinge mehr nach.
Acht Geschwister, das sind nicht bloß acht lustige Spielkameraden, das
sind auch acht hungrige Münder, die jeden Tag satt werden wollen.«

»Das habe ich schon lange gewußt.«

»Ja, du kluger Peter du! Und denn in so 'n armen Schulmeisterhause ...
bei hundertundzwanzig Taler ... das hat seine liebe Not.«

»Aber du bist da nun ja heraus und hast bei uns genug zu essen.«

»Ja, aber meinst du denn, daß ich bloß an mich denke?« --

Sie gingen jetzt eine Weile schweigend.

Je tiefer sie in das enge Heidetal hinabkamen, desto heißer und dumpfer
wurde die Luft.

Peter sah sich um. Sie waren zwischen den Wacholdern und Sandmulden
ganz allein ...

Plötzlich fielen ihm die Geschichten ein, die ihm vorhin der Kollege
erzählt hatte.

Da mußte er zur Seite blicken und sie ansehen. Aber schnell wandte er
wieder den Kopf.

Nach einer halben Minute sah er wieder zur Seite und ließ die Augen
langsam an ihrer Gestalt entlang gleiten.

»Was kuckst du?« fragte sie.

»Darf ich dich nicht ankucken?« Er versuchte zu lachen.

»Nein, so nicht ...«

»So nicht?« lachte Peter verlegen und heiser. Aber er zwang sich, nicht
wieder hinzusehen. Nur einmal sandte er einen schnellen Blick nach
ihrem Gesicht. Er wollte sehen, ob sie auch nicht böse wäre. Nein, das
war sie nicht.

Der Weg führte jetzt wieder aufwärts. In dem staubfeinen Mahlsand war
das Gehen schwer.

»Was für eine Hitze!« stöhnte Peter und riß sich die Mütze vom Kopf.

»Wenn wir nur erst oben wären!« sagte sie, »es ist so schrecklich
schwül hier.«

»Wollen wir uns nicht einen Augenblick ausruhen?« fragte Peter.

Sie blieb stehen und sah ihn an. Dann sagte sie hastig: »Nein!« und
schlug einen noch schnelleren Schritt an.

Endlich hatten sie die Höhe erreicht. Ein frischer Lufthauch wehte
ihnen ins Gesicht. Sie blieben stehen und atmeten tief auf. »Ach, wie
tut das wohl!« sagte das Mädchen.

»Sieh mal da,« sagte Peter lebhaft und zeigte mit dem Finger nach dem
Horizont.

Sie hob die Augen und sagte: »Ja, das ist wunderschön ...«

Ein schönes, farbenkräftiges Abendrot mit tiefem Goldton war durch
Höhenzüge, Wälder und Wolken so abgegrenzt, daß nur ein schmales
Stück davon sichtbar war, welches in der dunklen Umrahmung aber um so
wunderbarer leuchtete.

»Sieht das nicht gerade so aus wie ein Tor?« fragte Peter andächtig,
als sie eine Weile schweigend hingeschaut hatten.

»Ja,« stimmte sie nachdenklich zu, »wie ein Tor von lauter Gold. Und
unser Weg führt ganz gerade hinein.«

»Weißt du, woran ich da denken muß?«

»Ach Peter, wie kann ich das wissen?«

»Da ist mir auf einmal eine Geschichte eingefallen.«

»Was für eine?«

»Och ... ich habe sie noch keinem Menschen erzählt.«

»Ist's denn keine gute Geschichte ...?«

»O doch. Wunderschön ist sie, oder nein, eigentlich auch sehr traurig
... Weißt du was, Marie? Ich hätte beinahe Lust, sie dir zu erzählen
...«

»Ja, Peter, ganz wie du meinst. Ich habe immer gern schöne Geschichten
gehört. Wenn sie auch 'n bißchen traurig sind, das schadet gar nichts.«

»Du weißt doch, daß meine rechte Mutter ganz früh gestorben ist, als
ich erst drei Jahre alt war?«

Er sah sie an. Sie nickte still.

»Als sie meine Mutter nach dem Kirchhof getragen hatten, und ich das
nicht wußte und die Leute fragte, wo sie geblieben wäre, zeigte mir
eine ganz alte, weiße Frau den dunklen Himmel mit seinen Sternen
und sagte, da oben im Himmel wäre meine Mutter nun, und die Sterne
wären lauter Fenster, da könnte sie herauskucken. Ich glaubte das
natürlich, denn ich war damals noch ein Kind. Als ich nun wohl so fünf
Jahre alt war, spielte ich eines Abends nicht weit von unserem Hause
am Waldrande. Es war ziemlich dunkel, die Fledermäuse flogen schon.
Wie ich so zufällig den Weg entlang durch den Wald sehe, ist's da auf
einmal ganz hell, und über dem Hellen steht ein großer goldener Stern,
gar nicht hoch über der Erde. Da denke ich, heute abend ist die goldene
Himmelstür offen, und wenn du schnell läufst, kannst du hinkommen, ehe
sie wieder zugemacht wird. Und dann findest du da wohl eine Treppe, die
zu dem hellen Fenster hinaufführt, und findest da wohl deine Mutter.
Ich lief also in den Wald hinein. Da war's so still, daß ich mich fast
fürchtete, und ich dachte: Wenn du bloß einen hättest, der mitginge!
Aber ich lief doch weiter. Da plötzlich rauschte etwas Schreckliches
dicht über mir und rief: Uhuh, Uhuh -- ich glaube jetzt wohl, es ist
ein Uhu gewesen. Da duckte ich mich schnell in den Graben am Wege
und weinte laut und war schrecklich bange, weil ich ganz allein war.
Zuletzt kam ein Mann auf dem Wege daher, hob mich auf und fragte, wie
ich so spät noch in den Wald käme. Ich wollte in den Himmel, sagte ich,
und zeigte ihm das goldene Tor. Da schüttelte er den Kopf und sagte,
der Weg wäre viel zu weit, dahin könnte ich allein nicht gehen. Und
nahm mich auf den Arm und trug mich nach Hause, und da erzählte er,
wie er mich gefunden hätte. Und meinem Vater seine neue Frau gab mir
eine tüchtige Tracht Schläge und sagte, sie wäre nun meine Mutter, und
ich müßte sie liebhaben. Aber wenn ich auch die Schläge gekriegt habe,
an die goldene Himmelstür habe ich doch noch oft denken müssen ...
Und habe sie auch noch oft gesehen ... Und habe immer gedacht, wenn
du doch bloß einen hättest, der mit dir gehen könnte. Aber ich konnte
keinen finden, den ich darum bitten mochte. Sie sahen alle aus, als ob
sie dazu keine Lust hätten ... Ich bin beinahe immer allein gewesen
als kleiner Junge ... Und bin immer allein geblieben ... das ganze
Leben durch ... Erst zu Hause ... und dann bei deinen Großeltern auch
... Aber, o Marie, seit Ostern ist mir's, als ob ich zum ersten Male
in meinem Leben nicht allein wäre ... Wir beide haben ja zusammen im
Garten gegraben. Wir haben zusammen die Bohnenstangen eingesteckt. O
wie war das schön! Und nun gehen wir hier miteinander. Hier ist der
Weg. Und da ist das goldene Tor wieder. Sieh, wie es leuchtet und
lockt! Ich glaube ... wenn wir beide zusammenblieben, dann kämen wir
hin ...«

»Och Peter ...« sagte sie und sah ihn mit großen, weitoffenen Augen an,
»... wenn wir dahin wollen, wo deine Mutter ist, dann müssen wir doch
vorher erst -- sterben.«

»Och Marie,« sagte Peter erschrocken, »sprich nicht solch ein Wort und
mache nicht solche Augen! Hör' zu, ich will dir sagen, wie ich jetzt,
wo ich groß bin, das mit dem goldenen Tor verstehe. Sieh, ich bin ja
jetzt noch ein armer, dummer Junge. Aber das möchte ich nicht bleiben.
Und ich möchte auch nicht so'n Schulmeister werden, der in einem halben
Jahr auf dem Seminar so das Allernotdürftigste gelernt hat und selbst
nicht mehr weiß, als was er die Kinder lehren muß. Nein, ich möchte
nachher auf das Hauptseminar und da noch ein paar Jahre tüchtig lernen
und studieren, damit ich von den Dingen den Grund zu wissen kriege.
Und das Orgelspiel möchte ich gründlich lernen. Ich mag furchtbar gern
Musik hören und habe noch mehr Lust, selbst welche zu machen. Dein
Großvater hat mir schon einmal etwas Geigenstunden gegeben, und ich
konnte das auch ziemlich gut begreifen. Aber bald hatte er keine Lust
mehr und hat's wieder aufgegeben. Und dann möchte ich Küster werden,
irgendwo, wo eine große, schöne Orgel ist. Und dann möchte ich lange
Jahre gesund wirken und schaffen. Und auch tüchtig Geld verdienen.
Denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert. Daß ich gemütlich leben kann
in einem freundlichen Heim. Und mir auch mal was Schönes kaufen kann
... eine schöne alte Geige; denn die alten sind die besten, hat dein
Großvater mir mal gesagt ... und gute Bücher auch. Daß ich lesen kann,
was die größten und besten Menschen gedichtet und gedacht haben. Denn,
Marie, es gibt nicht bloß diese Welt, die wir mit unsern Augen vor uns
sehen. Es gibt auch eine Welt, die wir nicht sehen können. Die Musik
ist eine Pforte dazu, und gute Bücher führen uns auch hinein. In diese
wunderbare Welt habe ich bis jetzt nur ein paarmal einen schnellen
Blick getan, aber ich möchte so recht darin zu Hause werden ... Und
dann, ganz zuletzt ... ja, dann möchte ich auch dahin, wohin ich als
Kind schon laufen wollte, durch das goldene Tor dahin, wo meine Mutter
nun schon so lange ist ...«

»Peter, das ist aber nicht wenig, was du dir da alles vorgenommen hast.
Und du meinst, daß du dieses alles erreichen wirst?«

»Ja, Marie; denn es ist so viel Sehnsucht in mir. Ich habe sie schon
immer gehabt, aber nun hast du sie erst recht geweckt.«

»Ich!?«

»Ja, du. Und ich werde alles erreichen ... wenn du mit mir gehst.«

»Aber Peter, ich kann doch nicht mit dir auf das Seminar und
Hauptseminar gehen ...«

»Brauchst du auch nicht. Ich muß bloß wissen, daß wir beide, die wir
hier jetzt auf diesem Wege zusammen gehen, für unser ganzes Leben
zusammengehören. Sagst du ja, gut, dann erreiche ich auch, was ich
will und wonach ich mich sehne. Seit dem Nachmittag, wo wir zusammen
die Bohnenstangen eingesteckt haben, bin ich ein ganz anderer Mensch
geworden. Ich kann viel besser unterrichten jetzt und verstehe auch
viel mehr von dem, was in den Büchern steht. Wenn du ja sagst, dann
erreiche ich, was ich will, das fühle ich ganz deutlich in mir. Und
dann wirst du einmal Küsterfrau, und wenn deine Eltern für die vielen
Kinder nicht genug zu essen haben, können wir gern eins oder zwei
zu uns nehmen. Aber, Marie, daran mußt du jetzt nicht denken. Auch
daran nicht, daß ich gern möchte, daß du ja sagst. Du mußt ganz tief
hinabsteigen, bis in dein innerstes Herz, und das mußt du fragen. Denn
nur ein Ja, das da herauskommt, kann mir was helfen ... Du brauchst
dich gar nicht zu übereilen. Wir haben noch beinahe eine Viertelstunde
bis nach Hause ...«

»O Peter ...« begann sie, brach aber schnell ab.

Schweigend stiegen sie in das Tal hinab. Nur einmal sagte Peter: »Sieh
dir das goldene Tor noch einmal an, ehe die große Wolke es zuschließt!«
Da blieben sie eine Weile stehen, sahen schweigend zu, wie die
Nachtwolken das letzte Abendglühen verhüllten, und gingen dann langsam
weiter.

Als sie am Schulgarten ankamen, -- das Haus war von dieser Seite das
erste im Dorf -- fühlte Peter, daß ihre leichte Hand sich unter seinen
Arm schob, sein Herz fing an stürmisch zu klopfen, und er hörte, wie
sie leise sagte: »Mein lieber Peter, ja, ich gehe mit dir.«

Da blieb er stehen, faßte ihre beiden Hände und fragte: »Marie, ist das
ganz gewiß? So furchtbar gewiß, als du hier vor mir stehst? Kann ich
mich darauf verlassen, heute und alle Tage, im Leben und im Sterben?«

»Peter, warum fragst du das so furchtbar ernst?« fragte sie erschrocken.

»Weil bis jetzt in meinem Leben das Glück und das Gute immer nur ein
paar Stunden gedauert hat. Wenn ich eben anfangen wollte, mich darüber
zu freuen, war's wieder weg ...«

»Du armer Junge du!«

»Kann ich mich darauf verlassen?« fragte Peter noch einmal.

Sie machte leise ihre Hände los, und plötzlich umschlang sie ihn und
drückte ihm einen Kuß auf den Mund.

Ehe Peter, der, von dem Gefühl des Ernstes dieser Stunde völlig
durchdrungen, auf so etwas nicht im mindesten gefaßt war, zu sich kam,
war sie ihm entschlüpft. Jetzt wollte er hinter ihr drein. Aber sie
gebot ihm mit aufgehobenem Finger Halt und flüsterte, er möchte draußen
noch etwas warten und dann erst auf sein Zimmer hinaufgehen. Die
Großeltern hätten einen so leisen Schlaf. Dann verschwand sie in der
Haustür.

Peter schlich durch eine Zaunlücke in den Garten und setzte sich in die
Jelängerjelieberlaube. Vor ihm lag die dunkle Masse des Hauses. Nun
blinkte dort ein Lichtschein auf, und eine schlanke Gestalt trat vor
das Fenster, sich gegen das in der Tiefe des Zimmers brennende Licht
abhebend. Peter legte die Hand auf sein klopfendes Herz und sagte zu
sich: Die gehört nun mir, durch Wort und Kuß mir verbunden. Da habe ich
nun endlich gefunden, was ich so lange gesucht habe, ein Menschenkind,
das mich liebhat, das mit mir gehen will, all den Zielen entgegen,
von denen ich so lange geträumt habe. Und wie an jenem ersten Abend
in Wehlingen, als er von seiner Dachstube Besitz ergriff, so kam auch
jetzt wieder, wo er ein viel größeres Gut errungen hatte, ein heißes,
tiefes Dankgefühl über ihn. Die Blüten der Laube dufteten stark und
süß, Nachtschmetterlinge flatterten und surrten zwischen den Blättern,
und drinnen saß ein junges Menschenkind mit gefaltet um die Knie
geschlungenen Händen vor dem Schöpfer seines Lebens, wortlosen Dankes
und tiefen Glückes voll. --

Hinter dem zugezogenen Fenster und niedergelassenen Vorhang war der
Lichtschein längst erloschen, als Peter endlich aufstand und dem Hause
zuschritt. Nachdem er leise den Schlüssel hinter sich umgedreht hatte,
zog er die Stiefel aus und schlich auf Socken die Treppe zu seiner
Dachkammer hinauf.

Am andern Morgen in der ersten Unterrichtsstunde wiederholte er mit den
Kindern biblische Geschichten. Ein Junge erzählte, wie Jakob des Nachts
von der Himmelsleiter träumte. Wie träumend schaute Peter zum Fenster
hinaus. »Setz dich,« sagte er dann mechanisch, »Stina Blom, fahre
fort!« Stina Blom war das feinste, zarteste Kind der Schule, und die
erzählte nun in ihrer stillen, feinen Art: »Als er noch mit den Hirten
redete, kam Rahel mit den Schafen ihres Vaters. Und er wälzte den Stein
von dem Loch des Brunnens und tränkte ihre Schafe; und küssete Rahel
und weinte laut. Und Jakob blieb bei Laban und dienete ihm. Und nach
einem Mond sagte Laban: Du sollst mir nicht umsonst dienen. Sage an,
was soll dein Lohn sein. Laban aber hatte zwo Töchter: die älteste hieß
Lea, und die jüngste Rahel. Aber Lea hatte ein blödes Gesicht, Rahel
war hübsch und schön. Und Jakob gewann die Rahel lieb, und sprach: Ich
will dir sieben Jahr um Rahel, deine jüngste Tochter dienen. Laban
antwortete: Es ist besser, ich gebe sie dir, denn einem andern; bleibe
bei mir. Also dienete Jakob um Rahel sieben Jahre, und deuchten ihn,
als wären's einzelne Tage, so lieb hatte er sie.«

»Halt!« rief Peter, »bis dahin. Das hast du wunderschön erzählt, Stina,
setz dich!« »Also dienete,« wiederholte er langsam, »Jakob um Rahel ...
sieben Jahre, und deuchten ihn, als wären's einzelne Tage, ... so lieb
hatte er sie ... Ja ja, das war gut, Stina. Also warum kamen die sieben
Jahre Jakob so kurz vor, Stina?«

Stina stand wieder auf und sagte: »Weil er Rahel so schrecklich
liebhatte.«

                   *       *       *       *       *

Zwei Tage später zog Peter in die Sommerferien. Als er in die Küche
kam, um seiner Marie für vier lange Wochen Lebewohl zu sagen, griff
sie hinter sich in den Schrank und brachte ein sauber eingewickeltes
Butterbrot zum Vorschein. »Steck's weg! Zum Andenken,« sagte sie, und
Peter ließ es in seiner Tasche verschwinden. Tief gerührt von solcher
zarten Aufmerksamkeit -- bisher hatte noch niemand daran gedacht, ihm
für die dreistündige Wanderung einen Imbiß mitzugeben -- suchte er nach
Worten des Dankes. Aber da kam Mutter Wencke in die Küche und machte
diese unmöglich, und überhaupt der Abschiedsszene ein Ende.

Peter nahm seinen Stock und ging. An der Straßenbiegung, wo das
Schulhaus seinen Blicken entschwinden mußte, sah er sich um. Ob sie
ihm nachblickte? Er suchte mit den Augen Haus und Garten ab, fand ihr
Köpfchen aber nirgends. Aber er tröstete sich schnell. Sie hatte ihm ja
das Butterbrot gegeben ... und Sonntagabend noch viel was Schöneres.
Und froh wanderte er seines Weges, in den goldigen Sommertag hinein,
durch reifende Kornfelder im Tale und dann durch die weite, braune
Heide. Bald singend, dann summend, dann pfeifend, und endlich wieder
schweigend, zog er seine Straße.

Als er anderthalb Stunden gewandert war, lockte ein gluckerndes
Bächlein ihn vom Wege. Er legte sich in die Blumen, die es umsäumten,
und zog sein Brot aus der Tasche. Andächtig faltete er das Papier auf
seinen Knien auseinander. Da lagen zwei belegte Butterbrote vor ihm.
Dünn das Brot, dick die Butter, und noch dicker die Mettwurst. Marie,
Marie, was bist du gut! Lange erfreute er sich an dem Anblick. »Zum
Andenken,« hatte sie gesagt. Aber schließlich sagte er sich doch,
dies würde die vernünftigste Verwendung sein, auch ganz im Sinne der
Spenderin, wenn er dabei nur mit Liebe an sie dachte. So begann er
denn, in warmen Gedanken an sie, die Butterbrote zu verzehren. Solche
hatte er alle seine Lebtage noch nicht gegessen; Stiefmutter und Mutter
Wencke hatte beim Butterbrotmachen einen anderen Schnitt und Strich.
Von Zeit zu Zeit führte er die hohle Hand zum Bach hinab und schöpfte
sich einen kühlen Trunk. So hielt er sein Wanderfrühstück, umsummt
von Hummeln und Bienen, die in den Blumen am Wasser und in der schon
erblühten Moorheide Honig suchten. Als er die Andenken sich einverleibt
hatte, nahm er das Einwickelpapier von der Erde auf. Das wollte er als
wirkliches Andenken an diese schönste Wanderung seines Lebens und die
besten Butterbrote, die er je gegessen, mit sich nehmen. Es waren zwei
aus einem gefüllten Schreibheft gerissene Blätter. Das eine war von
oben bis unten sorgfältig mit der Wahrheit bemalt: »Köln ist eine Stadt
am Rhein,« das andere mit der ebenso zweifellosen Tatsache: »Der Löwe
frißt gern Fleisch.« Dazu zeigten beide schöne, runde Butterflecken.
Peter betrachtete die Blätter genau und andächtig, dann faltete er sie
zusammen und schob sie in seine Rocktasche.

Als er weiterging, überlegte er sich, wie er diese Wohltat wieder
gutmachen sollte. Er beschloß, demnächst den Markt in Steinbeck zu
besuchen und Mutter Bollermann aus Lüneburg das größte Kuchenherz
abzukaufen, das sie hatte, und seiner Marie dieses nach den Ferien
mitzubringen.

                   *       *       *       *       *

Peter hatte sich vor den langen Sommerferien im Vaterhause gefürchtet.
Jetzt fand er sie viel weniger schlimm, als sie ihm vorgeschwebt
hatten. Die Lebensfreudigkeit, zu der sein gedrücktes Wesen in dieser
glücklichen Zeit aufgeblüht war, war durch die elenden häuslichen
Verhältnisse nicht tot zu kriegen. Und sein Humor auch nicht. Was?
Peter Eggers und Humor? Wer hätte je gedacht, daß diese beiden sich
finden würden? Der junge Schulmeister, der alle Dinge gleich ernsthaft
nahm und von jeder Widerwärtigkeit tief verstimmt wurde, und der leise
und heimlich lächelnde Lebensvergolder und Lebensüberwinder Humor? Aber
es war so, Peter hatte auf einmal Humor. Wenn die Stiefgeschwister
sich wie eine kleine Ferkelschar um das Eßtröglein drängten und eine
Viertelstunde nichts waren als kauendes und schmatzendes Behagen,
konnte Peter lächeln. Nicht so erhaben, wie früher, daß die Stiefmutter
erbost auf ihn losfuhr und rief: »Du ole uppgepuste Scholmester du!«
sondern so ganz fein, so ganz von innen heraus, daß ein anderer es nur
eben sehen und Trina ihn freundlich ansah und sagte: »Ja, Peter, 't
is'ne gesunde Art, freten könnt se as de lütten Swin'.«

Peter merkte bald, daß man, wie in der Schule, so auch hier im Hause
ihm anders begegnete, wie früher. Die Stiefgeschwister zeigten
einigen Respekt, auch Trina behandelte ihn nicht mehr einfach als
dummen Jungen. Er merkte auch hier, daß die Schulmädchen recht hatten
mit ihrem Flüstern: »He is'n Keerl worrn.« Da er sich in einem
Holzverschlag am Ziegenstall eine eigene Schlafgelegenheit einrichten
durfte, hatte der durch die Dachstube im Schulhause Verwöhnte auch in
seinen äußern Lebensverhältnissen einigermaßen seine Gemütlichkeit.

Eines Sonntagnachmittags nahm Vater Eggers seinen Erstgeborenen
heimlich beiseite und sagte vertraulich: »Kumm, Jung, wöt mal'n bäten
utgahn.« Peter wußte gleich, wohin die Reise gehen sollte, und machte
Schwierigkeiten. Aber diese neue Anerkennung seiner Männlichkeit
schmeichelte ihm, und er ließ sich bereden. Und in der Kneipe
angekommen, trank er tapfer aus, was der Vater im einschenken ließ. Am
andern Morgen erwachte er mit greulichem Kopfweh, und Trina fragte ihn
freundlich: »Wullt du ok so'n Süpern weern as din Vader?« Da gelobte
er sich, auf solche Proben seiner Männlichkeit ein für allemal zu
verzichten.

Einmal besuchte Peter auch seinen Pastor, gegen den er ein Gefühl der
Dankbarkeit behalten hatte, weil dieser ihm die Wege zu seinem Beruf
geebnet hatte. Der alte Herr machte große Augen und sagte verwundert:
»Sieh mal an, Peter, wie du dich herausgemacht hast. Es gefällt dir
wohl gut in Wehlingen?« »Jawohl, Herr Pastor, es könnte mir in der
ganzen Welt nirgends besser gefallen,« sagte Peter mit leuchtenden
Augen. »Ja, ja,« meinte der Pastor, »der alte Wencke hat als Schulmann
einen sehr guten Ruf,« worauf Peter nichts sagte. Der Pastor fragte
ihn dann noch dies und das, und hatte an seinem ungezwungenen Wesen
und seinen frischen Antworten eine solche Freude, daß er ihn zum
Kaffeetrinken einlud. Die Pastorin machte zwar erst ein etwas krauses
Gesicht. Aber nachher meinte sie, und ihre sehr kritisch veranlagten
ältlichen Töchter stimmten zu, man sollte gar nicht glauben, daß der
alte Saufaus Eggers einen so manierlichen und netten Sohn haben könnte.

Er arbeitete viel in diesen Wochen; denn Michaelis sollte er ja nun
auf das Seminar. Als die Ferien halb herum waren, wollte er die
Weltgeschichte vornehmen. Da merkte er zu seinem Schrecken, daß er den
Leitfaden in Wehlingen vergessen hatte. Aber der Schreck verwandelte
sich schnell in Freude. Er mußte nun ja hin und das Buch holen. Die
nächste Nacht schlief er unruhig, und in aller Herrgottsfrühe machte er
sich auf den Weg.

Bislang hatte er für die Wanderung nach Wehlingen immer drei Stunden
und länger gebraucht. Heute legte er den Weg in kaum zwei und einer
halben zurück. Als er jene Höhe erreichte, von der das Dorf im Grunde
sichtbar wird, wirbelte er den Stock um den Kopf und sprang in langen
Sätzen ins Tal hinab.

Nun stand er mit klopfendem Herzen vor dem Schulhause und streckte
die zitternde Hand aus, die Tür zu öffnen ... Was ist das? Sie
ist verschlossen. Wie er ratlos steht und umhersieht, kommt eine
Nachbarsfrau mit dem Schlüssel und erzählt ihm, die Schulmeistersleute
wären heute morgen alle drei verreist, zum Besuch bei dem verheirateten
Sohne. Da wäre was Lüttjes angekommen. Sie müßte das Haus bewachen und
das Vieh versorgen. Peter machte ein sehr langes Gesicht, und als die
Frau ihm aufgeschlossen hatte, stieg er sehr langsam die knarrende
Treppe hinauf. Lange saß er an seinem Tisch und ärgerte sich, daß er
nicht einen Tag früher auf den Gedanken gekommen wäre, Weltgeschichte
zu arbeiten. Beinahe hätte er aber den Leitfaden, um dessentwillen er
die weite Reise gemacht hatte, noch einmal vergessen, als er seine
Dachstube verließ.

Von der schnellen Wanderung erhitzt und durstig geworden, ging er in
die Küche, um sich ein Gefäß zum Wasserschöpfen zu holen. Da sah er
eine Schürze an der Wand hängen, blau mit weißen Tupfen. Er erkannte
sie sofort wieder. Die hatte sie getragen, als sie ihm die Butterbrote
gab. Mit Rührung und Dankbarkeit betrachtete er das unschuldige Stück
Zeug. Dann nahm er die Schöpfkelle, hob sich auf dem Hof einen
Eimer voll Wasser aus dem Brunnen, und tat einen hastigen und langen
Zug. Beim Trinken hatte er das Gefühl, als sei das Wasser für seinen
erhitzten Zustand eigentlich zu kalt, aber er achtete nicht weiter
darauf. Danach ging er in den Garten, geraden Weges zum Bohnenfelde.
Hier dachte er mit stiller Freude des sonnigen Maientages, da sie
zusammen die Stangen eingesteckt hatten. Jetzt waren sie von den Bohnen
grün umwunden und mit tausend roten Blüten bedeckt. Ach, was hatte seit
jenen Stunden auch in ihm alles zu grünen und zu blühen angefangen!
-- Einige Saudisteln, die sich unpassender Weise auf diesem für ihn
geheiligten Boden angesiedelt hatten, riß er aus und warf sie über den
Zaun.

Endlich trat er den Rückweg an. Er ging sehr langsam. Jetzt wirkte ja
keine heimliche Kraft mehr, die ihn zog. Bald fühlte er sich ermüdet,
und der Weg wurde ihm sauer. Ein Schmerzgefühl stellte sich ein, und
er kam auf den Gedanken, dieses möchte von dem hastigen kalten Trunk
kommen. Aber er tröstete sich, es würde schon wieder vorübergehen.

Die nächsten Tage fühlte er sich nicht recht wohl. Er lag nicht zu Bett
und war nicht eigentlich krank, aber es war doch nicht mit ihm, wie
es sein sollte. Da kamen ihm allerhand trübe Gedanken. Ob sein Glück
Bestand haben würde? Konnte nicht irgend etwas Ungeahntes kommen und
es grausam zerstören? Sein Lebensglaube, der eben angefangen hatte,
sich von dem jahrelangen Druck zu erholen, wollte in diesen Tagen
körperlichen Übelbefindens wieder wankend werden.

Einmal wachte er in der Nacht plötzlich auf, stieß einen
Schmerzensschrei aus, sah starr um sich, fühlte sein Herz bis in die
Halsschlagader hinauf klopfen und hatte das deutliche Gefühl, daß etwas
Schreckliches geschehen sein mußte. Es dauerte lange, bis er ganz zu
sich kam und sich mit dem Gedanken trösten konnte, daß er in sechs
Tagen wieder zu ihr kommen sollte, die ihm Wort und Kuß darauf gegeben
hatte, daß sie immer und ewig treu zu ihm halten wollte. Trotzdem
dauerte es lange, bis er wieder einschlief.

Die letzten Ferientage ging es ihm wieder besser, und er konnte den
Steinbecker Sommermarkt besuchen. Er paßte einen Augenblick ab,
wo nur Kinder den Stand der Lüneburger Kuchentante umringten, und
brachte bescheiden sein Anliegen vor. Mutter Bollermann lächelte
verständnisinnig, und brachte aus einer besonderen Kiste ein rot
bemaltes, mit weißem Guß verziertes Riesen-Kuchenherz zum Vorschein.
»So eins hat dem Redbauern sein Willem seiner Braut auch geschenkt,«
sagte sie, »ist's Ihnen so recht, junger Herr?« Peter errötete tief und
fragte leise nach dem Preise. Die sechs Silbergroschen, die verlangt
wurden, konnte er gerade aufwenden. Denn er hatte einige Tage für den
erkrankten Schäfer des Bauern, dem die väterliche Kate gehörte, die
Schafe gehütet.

So nahten die Ferienwochen ihrem Ende. Es war doch nicht ganz so, daß
die Jahre ihn gedeucht hätten, als wären es Tage. Nicht einmal von den
Wochen konnte er das sagen. Ja, sogar die Tage und Stunden konnten ihm
lang genug werden, so lieb er seine Rahel hatte.




Endlich!

Endlich war der Tag gekommen, da er sein Bündel schnüren und wieder
dahin fliegen konnte, wo's ihm lieb und heimisch war.

Nur mit Mühe bezwang er sich, bis nach Mittag zu warten. Aber der
Schulmeister hatte ihm einmal erklärt, es sei nicht nötig, daß er
früher als am letzten Nachmittag vor dem Beginn der Schule aus den
Ferien zurückkehre.

Gegen ein Uhr, in der tollsten Mittagsglut des heißen Augusttages,
brach Peter auf. Den Rock über der Schulter, den Lederholster mit
Wäsche und einigen Büchern auf dem Rücken, das rote Herz, dreifach
eingepackt, unter dem linken Arm und den Wanderstab in der rechten
Hand, so zog er stillfroh seine Straße. Eine laute Fröhlichkeit ließ
die glühende Hitze, wie in der ganzen Natur, so auch in ihm nicht
aufkommen.

Im Süden braute sich etwas zusammen, und unheimlich schnell zog ein
Gewitter herauf. Peter wollte sich anfangs nicht in seinem Marsch
aufhalten lassen. Als aber die Donner härter rollten und in der Ferne
die grauen Schrägstreifen niedergehender Regenmassen den Himmel
verfinsterten, flüchtete er doch in einen leeren Schafstall, der nicht
weit vom Wege in einem kleinen Fuhrengehölz stand.

Es war gut, daß Peter Zuflucht gesucht hatte. Denn das Unwetter brach
gleich darauf mit unheimlicher Gewalt los. Die Fuhren ringsum bogen
sich ächzend, um dem über die Heide daherbrausenden Sturm auszuweichen.
Durch das blaugraue Dunkel, das sich über das Land gelegt hatte,
zuckten unaufhörlich die grellen Blitze und erleuchteten den Stall
bis in die verstaubten Spinnegewebe unter dem Dach, und die rollenden
Donner ließen den aus Eichenholz gefügten Bau in seinen Grundfesten
erbeben.

Das Unwetter ging so schnell vorüber, als es gekommen war, und bald
verließ Peter seine Zufluchtsstätte, obgleich es noch nicht aufgehört
hatte, zu regnen.

Da sah er, daß das Gewitter auf seinem Wege vor ihm herzog. Schneller
als er, mußte es jetzt schon Wehlingen erreicht haben. Da kam eine
Angst über ihn. Eben vorher, als das Gewitter über seinem eigenen Kopf
stand, hatte er davon nichts gewußt, sich vielmehr des grausig-schönen
Naturschauspiels gefreut. Nun kam's auf einmal über ihn. Konnte nicht
jeder Blitzschlag, der drüben niederging, das ihm so teure Leben
vernichten? -- Er dachte plötzlich an das schreckhafte Erwachen vor
einigen Nächten, wie er da das ganz deutliche Gefühl gehabt hatte, daß
etwas Schreckliches geschehen sei. Da wurde seine Angst noch größer.
Und nun tauchte auf einmal eine Erinnerung auf, die sie noch steigerte.
Es hatte ihm vor Jahren einmal jemand gesagt, in der Familie seiner
Mutter wäre das »Vörkieken,« das Ahnen künftigen Unheils, erblich. Wenn
auch er diese Gabe hatte ...?

Mit wachsender Angst eilte er dahin, so schnell seine Füße ihn tragen
wollten. Wenn ein Blitz von Wolke zu Wolke fuhr, atmete er erleichtert
auf. Wenn der nächste dann wieder zur Erde zuckte, zitterten ihm die
Knie vor Angst.

Nun liegt die letzte Höhe vor ihm. Er läuft, stürmt sie hinan. Wird die
Rauchwolke, die Feuergarbe noch nicht sichtbar? ... Noch nicht? ... Nun
hat er die Höhe gewonnen. Unversehrt und friedlich liegt das Dorf in
seinem grünen Tale vor ihm. Das Gewitter ist nahe daran, am Horizont
mit leisem Grollen zu verschwinden.

Ein Gott sei Dank entrang sich Peters Lippen. Er versuchte, über seine
törichte Furcht zu lachen. Aber so recht frei wurde ihm dabei nicht.

Er kam ins Dorf. Einige Leute begegneten ihm auf der Straße, und er
sah ihnen scharf ins Gesicht. Es wollte ihm scheinen, als ob sie ihn
traurig und fragend anblickten, so ganz anders als sonst. Da wurde die
Angst vor drohendem Unheil wieder wach. Ein Kind dämmte und leitete,
am Wege hockend, die Bäche, die nach dem Gewitterregen die Straße
hinabliefen. An dessen harmlos heiterem Wesen und Gesicht richtete
Peter sich auf und suchte wieder über seine dumme Angst zu lachen.

Nun stand er vor dem Schulhause. Sein Herz klopfte in freudiger
Erwartung. Und doch fürchtete er sich, die Tür zu öffnen. Er ließ die
Augen an dem Hause entlangschweifen. Und es kam ihm vor, als ob dieses
etwas Fremdes hätte. Was es war, wußte er nicht, aber es war irgend
etwas anders als sonst.

Endlich faßte er sich ein Herz und öffnete die Haustür ...

Warum schweigt die Glocke? ...

Wie angebannt blieb er stehen und wagte nicht, einen Schritt nach
vorwärts zu tun.

Da öffnete sich die Stubentür, und ein fremder Mann kam heraus. Er ging
leise, auf den Fußspitzen. Peter starrte den Unbekannten an. Ein Zug in
seinem Gesicht schien ihm bekannt.

»Was willst du?« fragte der Mann flüsternd.

»Ich will Schule halten,« sagte Peter ebenso leise.

»So, denn bist du wohl Peter Eggers?«

»Jaa.«

»Hast du unsere Nachricht nicht bekommen, daß du vorläufig noch zu
Hause bleiben solltest?«

»Nein, aber warum denn?«

»Meine Tochter ist schwer krank.«

»Wer!? Marie? ...«

Der andere nickte: »Doppelseitige Lungenentzündung ... Bitte, gehe
leise die Treppe hinauf, und verhalte dich oben ganz still. Sie liegt
gerade unter dir. Wir haben ihr Bett in die Wohnstube gebracht.«

»Sie wird doch wieder gesund?« fragte Peter, und die helle Angst stand
in seinem Gesicht.

»Wir hoffen es zu Gott,« sagte der Mann. »Heute abend ist die Krisis.
Dann muß es besser werden ... oder ...« Er wandte sich und barg das
Gesicht in der Hand.

Peter setzte den Fuß so leicht wie möglich auf die dritte Treppenstufe.
Trotzdem knarrte das alte Holzwerk. Da zog er die Stiefel aus und
schlich auf den Socken nach oben. In seiner Kammer angekommen, ließ er
sich auf seinen Stuhl fallen, legte die schlaffen Arme lang auf den
Tisch und starrte vor sich hin. Er wiederholte sich die eben gehörten
Worte, und immer wieder aufs neue ... aber nur bis zu dem Oder. Davor
prallte seine Seele wie vor einem schauerlichen Abgrund zurück.

Irgendein Geräusch traf sein Ohr. Da lauschte er gespannt, hörte nun
aber nichts. Nur vor dem Fenster war ein Fliegengesumm. Er merkte, daß
in seinem Zimmer noch die schwüle Gewitterluft der Mittagsstunden war,
und öffnete das Fenster. Die Fliegen stürmten hinaus, und ein frischer,
würziger Luftzug strömte herein. Da atmete Peter einige Male tief auf.

Dann setzte er sich wieder hin und wagte nicht, sich zu rühren in der
furchtbaren Stille, die um ihn war. Das Haus war wie ausgestorben.

So saß er lange, lange, und dachte an die vergangenen glücklichen
Tage, vom Spaziergang am ersten Sonntag unter der Kirchzeit, über die
gemeinsame Arbeit im Garten, bis zu der abendlichen Wanderung, dem
goldenen Tore entgegen, und bis zum Abschied in der Küche. In diesem
Kreise suchte er seine Gedanken festzuhalten, aber zuweilen gingen sie
doch über die Bannlinie hinaus und kamen bis an das entsetzliche Oder,
und flüchteten sich, von Grausen gepackt, wieder in die vergangenen
Tage.

Ein Geräusch traf sein Ohr. Es kam jemand die Treppe herauf ...
Was mochte er bringen ...? Die Hand gegen das stürmisch klopfende
Herz gepreßt, ging Peter an die Tür und öffnete. Da stand der alte
Schulmeister vor ihm und sagte, hastiger, als sonst seine Art war:
»Peter, es muß einer zum Arzt, daß er sofort noch einmal kommt. Willst
du?« »Ja,« hauchte Peter. »Dann aber schnell!« Und Peter ergriff Mütze
und Stock, nahm die Stiefel in die Hand und sprang die Treppe hinunter,
zog sie draußen an, drückte die Daumen in die Hände, das Seitenstechen
zu hindern, und lief im Laufschritt dahin. Wenn er, um Luft zu
schöpfen, im Lauf innehalten mußte, ging er in lang ausgreifenden
Schritten, den Stock kräftig einsetzend. Als er das Wendenloch
hinunterlief, stürzte er in dem losen Sande, aber ebenso schnell war
er wieder auf den Füßen. Es war nur ein Gedanke, ein Wille in ihm:
Vorwärts, vorwärts! An jeder Minute konnte das teure Leben hängen.
Eine Viertelstunde vor Olendorf mußte er langsamer werden, da er einen
stechenden Schmerz in der Brust fühlte. Dieser wurde zuletzt so heftig,
daß er bei den ersten Häusern des Dorfes eine halbe Minute sich an
einen Baum lehnen und innehalten mußte. Dann aber quälte er sich weiter
und erreichte das Haus des Arztes.

»Nachtglocke!« stand über der Tür. Ohne sich zu besinnen, riß er
stürmisch an dem Handgriff und hörte, wie es gellend durchs Haus
klang. Da kam des Doktors Kutscher und fragte, was für ein Ochse da so
unvernünftig bei offener Tür an der Nachtglocke risse. »Ich muß zum
Doktor,« stieß Peter atemlos heraus. »Der Herr Doktor sitzt drüben beim
Bier.«

Auf den Gedanken, den Arzt herausrufen zu lassen, kam er nicht. So
platzte er denn mitten in den Kreis der Honoratioren hinein, die in
bester Laune um den Stammtisch saßen. Sie hatten eben ein lautes
Gelächter über eine Anekdote angestimmt, die ihr Witzbold, der
Apotheker, zum besten gegeben hatte. Wie dieser sich triumphierend
im Kreise umsah, begegneten seine Augen über den Tisch denen Peters.
»Baah, du Mondkalb, kommst wohl direktemang vom Monde 'runtergefallen?«
sagte der Apotheker und machte seine beliebte Blödsinnsgrimasse.
Schallendes Gelächter, alle Augen wandten sich dem Jungen zu. Wie aber
dessen flackernde Augen von einem zum andern irrten, wie er dann an den
Arzt herantrat und mit heiserer Stimme sagte: »Herr Doktor, kommen Sie
schnell zu des Schulmeisters Marie nach Wehlingen!« da verstummte das
Lachen, und der Witzbold war über diesen Witz nicht froh. Der Doktor
aber sagte freundlich: »Geh nur mein Sohn. Ich komme gleich, will nur
eben mein Bier austrinken.«

Peter wandte sich und ging taumelnd durch die Stube. An der Tür hörte
er aus dem Gemurmel, das sich am Tisch erhoben hatte, zwei Worte
deutlich heraus. Die Worte des Arztes: »Wenig Hoffnung.«

Nun war er draußen und schwankte, die Hand auf die noch immer
schmerzende Brust gepreßt, die Dorfstraße entlang. Bei jedem Schritt
klang es in ihm: Wenig Hoffnung, wenig Hoffnung. Oder hatte der Arzt
gesagt: Keine Hoffnung? Nein. Oder doch? Nein, nein, er hatte den Klang
noch im Ohr: wenig Hoffnung ... Er kam ins Freie, der kühle Abendwind
umfächelte seine heiße Stirn. Da konnte er sich an das zweite Wort
anklammern: Hoffnung. Wenig Hoffnung, aber Hoffnung.

Dann wollte er auch hoffen. Aber nicht wenig Hoffnung, nicht eine
kleine Hoffnung wollte er haben, sondern eine große, feste, starke.

Aber wo diese Hoffnung verankern? In der Kunst des Arztes? Unmöglich.
Der wollte erst sein Bier austrinken. Und hatte selbst nur wenig
Hoffnung.

Da, als er bei dem Menschen, an den in solchen Nöten die letzte
Hoffnung sich anklammert, keinen Ankergrund für seine Hoffnung fand,
dachte er plötzlich an Gott. Er hatte viel über ihn gelernt, viel über
ihn gelehrt, auch wohl in Stunden übergroßen Glücks seiner dankbar
gedacht. Jetzt kam er zum erstenmal zu ihm, von des Lebens Jammer
und Not gepeitscht. Über ihm wölbte sich in hehrer Schönheit der
Sternenhimmel. Sollte der, der diese wunderbaren Welten geschaffen hat,
nicht dem jungen Menschenkinde, das auch sein Geschöpf ist, das Leben
lassen und die Gesundheit wiedergeben können, auch wenn die armseligen
Menschen nur wenig Hoffnung haben? Ja, er ~kann~ es gewiß. Aber
~will~ er es? Er hat gesagt: Rufe mich an in der Not, so will ich
dich erretten. Und er begann zu rufen und zu beten und zu flehen. Aber
seine Hoffnung fand keinen Ankergrund. Da fiel ihm das Wort Jesu ein:
Ich sage euch: Wahrlich, so ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget
ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin, so wird er
sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein. Also auf den Glauben
kam's an. Und er zwang sich zum Glauben. Er biß die Zähne aufeinander
und sagte: Ich ~will~ glauben. Und hoffen. Ja, ich behalte sie.
Aber dann kam plötzlich wieder das: Oder? und: Wenig Hoffnung, und der
Glaube brach zusammen, und der Hoffnungsanker riß aus. Immer neuen
Anlauf nahm er, aber immer wieder stürzte er ab. Zuletzt erhob er sein
Haupt und schaute fest zu einem großen, leuchtenden Stern auf, der
in unausdenkbaren Fernen über seinem Wege stand, und es wollte ihm
scheinen, jetzt wollte es gehen mit dem Glauben, Auge in Auge mit dem
aller Erdennot Entrückten. Aber plötzlich traf ein blendender Schein
seine Augen. Ein Meteor schoß in weitem Bogen durch die Himmelsräume,
um dann plötzlich zu erlöschen ... Nein, wenn selbst die Sterne vom
Himmel fallen! ... Bald sah er wohl, daß sein Stern noch in der alten
Ruhe und Klarheit am Himmel stand. Aber seine Seele war so müde, daß er
nicht noch einmal versuchte, sie zu dem bergeversetzenden Glauben zu
zwingen.

Was er heute innerlich erlebt und körperlich geleistet hatte, das
ging über seine Kraft, und jetzt taumelte er wie träumend, die Augen
manchmal schließend. Das Wendenloch hatte er schon hinter sich und
stieg zu jener Höhe empor, von der sie damals in das goldene Wolkentor
geschaut hatten. Da machte er die Augen weit offen und sah zur Rechten
... Da sah er sie an seiner Seite gehen ... Er wunderte sich gar
nicht darüber ... Nur darüber wunderte er sich, daß sie ein langes,
weißes Kleid trug, und daß er ihren Schritt nicht hörte ... Und als
er auf ihre Füße sah, ging sie nicht, sondern schwebte ... Und als er
nach vorne sah, sah er auch wieder das goldene Himmelstor geöffnet.
Da kam eine tiefe, stille Seligkeit über ihn ... Aber plötzlich fing
sie an, schneller zu schweben. Er wollte sie halten. Aber ihr weißes
Gewand glitt ihm aus den Händen. Er wollte ihr sagen, sie hätte ihm
versprochen, daß sie mit ihm zusammen zum goldenen Tor gehen wollte.
Aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er strengte sich an, sie
einzuholen. Aber der Abstand wurde immer größer. Nun war sie in dem
leuchtenden Tore angelangt, wandte sich um, ihr Gesicht glänzte, sie
winkte ihm mit der Hand, deutete auf den Weg, das Tor schloß sich, er
fühlte den stechenden Schmerz in der Brust, kam zu sich -- und stand
unmittelbar vor dem Schulhause.

Er wußte jetzt, daß sie gestorben war, ohne daß es ihm jemand zu sagen
brauchte. Beim Hinaufsteigen auf seine Kammer gab er sich jetzt auch
keine besondere Mühe, das Knarren der Stufen zu vermeiden. Körperlich
und seelisch erschöpft sank er angekleidet auf sein Lager und lag
wach mit geschlossenen Augen. Unten fuhr ein Wagen vor. Brr! sagte
der Kutscher. Der Doktor, dachte Peter, der hat hier nichts mehr zu
suchen. Die Haustür wurde geöffnet, kurzer gedämpfter Wortwechsel,
Gute Nacht, Üh! der Wagen rollte wieder davon. In der Wohnstube unten
wurde es lebendig. Hin und her gehen, leise Stimmen, Geräusche wie von
Waschgeschirren ... jetzt waschen sie die Tote ... jetzt legen sie ihr
das Totenhemd an ... Wieder gehen Türen, und Pantoffeln schurren über
den Fußboden ... sie tragen sie aus der Stube hinaus. Wohin? ... Schräg
über die Diele, in ihre Kammer. Dort also wird sie aufgebahrt ... Nun
ist die Familie wieder unter der Dachkammer in der Wohnstube versammelt
.. Gedämpfte Unterhaltung ... Der alte Schulmeister liest den
Abendsegen, wie immer. In seinem eigentümlich singenden Tonfall. Jetzt
betet er das Vaterunser ... Amen ... Sie gehen auseinander ... Jemand
verläßt das Haus ... Noch hin und wieder ein leises, unbestimmtes
Geräusch ... Dann ist's still ...

Peter hörte dies alles mit scharfem Ohr und verfolgte es mit wachem
Bewußtsein. Aber ohne allen Schmerz, wie etwas, was ihn gar nichts
anging, was sich von selbst verstand und nicht anders sein konnte.
Sein Geist registrierte einfach mit größter Schärfe, was geschah, ohne
daß irgend ein Gefühl die Vorgänge begleitete. Sein Empfindungsleben
war lahm gelegt, ausgeschaltet. Dieser Zustand hatte durchaus nichts
Unangenehmes. Es war vielmehr eine Art wohliger Schwäche, die ihn
umfangen hielt.

Zuletzt fiel er in eine Art Schlaf, ohne jedoch das Bewußtsein ganz zu
verlieren. Auch blieb ihm dumpf gegenwärtig, daß er in der Brust einen
Schmerz fühlte.

Der Tag war schon weit vorgeschritten, als er endlich die Augen
aufschlug.

Das erste war, daß er sich fragte, ob er einen schweren, schrecklichen
Traum geträumt hätte. So ähnlich, wie vor einigen Nächten, als er in
großer Angst aufwachte. Aber ein Blick auf die beschmutzten Stiefel,
die er noch an den Füßen trug, brachte ihm die Erinnerung wieder.
Und mit der Erinnerung kam seinem ein wenig ausgeruhten Nervensystem
nun auch die Empfindung zurück. Wie eine ungeheure Last warf der
entsetzliche Verlust sich mit seiner ganzen Schwere ihm auf die Seele.
Er warf sich herum, bohrte die Fäuste in die Augenhöhlen und wühlte
sich tief in die Kissen. Das Licht, das nach solcher Nacht wie an jedem
Morgen die Kammer füllte, konnte er nicht ertragen.

So lag er lange, lange. Zuletzt fühlte er einen brennenden Schmerz in
den Augen. Da wunderte er sich, daß er nicht weinte. Sonst war der
Tränenquell ja so leicht geflossen. Schon, wenn er etwas Trauriges oder
Rührendes las. Heute war er wie ausgetrocknet. Er versuchte zu weinen
und bewegte die entzündeten Lider über den trockenen Augäpfeln auf und
nieder. Aber Tränen kamen nicht. Ist auch gut, tröstete er sich, bitter
lachend, so kannst du besser den gleichgültigen Menschen unten im Hause
was vormachen, die nicht wissen, wie es in dir aussieht, und es auch
nicht wissen dürfen.

Er stand auf und fing an, sich umzukleiden. Da fiel sein Blick auf das
Bild über seinem Bett, das die Opferung Isaaks darstellte. Er hielt
inne, sein Gesicht verzerrte sich, und Verzweiflungsgedanken gingen
durch seine Seele. Da sagen sie nun, du wärest die Liebe; du wärest
barmherzig und gnädig und von großer Güte und Treue. Und doch quälst
du uns arme Menschenkinder bis aufs Blut. Ja, früher, in der Zeit der
Wunder, ging dann zuletzt doch noch alles gut ... wie bei dem alten
Mann da ... Aber der war ja auch der Vater der Gläubigen ... Aber bei
uns andern, die wir uns zu solchem übermenschlichen Glauben nicht
zwingen können ... Ha! ... Uns, die wir aus der Tiefe heraus möchten
... ja, eine Zeitlang ist's uns wohl, als ob du uns die Hand reichtest,
aber dann plötzlich lässest du uns fallen und stürzen, in den Abgrund,
in die Verzweiflung.

Er lachte heiser und wandte sich dem anderen Bilde zu. Manchmal hatte
es ihm wohlgetan, das verklärte Antlitz in den Wolken. Aber jetzt
lachte er es spöttisch an. Ja, Himmelskönigin, du hast es leicht, ein
hoheitsvolles, erhabenes Gesicht zu machen. Schwebst ja in den Wolken,
fern von Erdenjammer und Erdennot ... Aber einst ... ja, als du auf
Erden gingst, ja, da hast du diese auch kennengelernt ... damals, als
du, das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen aufblicktest zu deines
Sohnes Tod ... Bei diesem Gedanken löste sich ein klein wenig der
spöttische, höhnische Zug um den Mund des Verzweifelnden.

Sein Blick fiel auf das gut verpackte Kuchenherz, das auf dem Tische
lag. Er nahm es und warf es unter die Bettstelle. Die ganze Geschichte
kam ihm plötzlich wie eine kindische Albernheit vor.

Als er sich fertig angekleidet hatte, ging er hinunter. Die Familie war
im Wohnzimmer versammelt. Es wurde gerade das Mittagessen aufgetragen.
Peter lachte bitter in sich hinein. Vor zwölf Stunden wuschen sie hier
die Tote. Nun setzen sie sich hin zu schmausen ...

Er überlegte sich, ob er nicht den Eltern und Großeltern teilnehmend
die Hand geben sollte. Aber warum? Was hatten die denn verloren? Die
Großeltern eins von zwanzig Enkelkindern, und die Eltern von den acht
Kindern, die sie nur mit Mühe sättigen konnten, ein einziges. Die
blieben reich und behielten genug übrig, womit sie sich trösten konnten
... Aber er? ...

Er sagte tonlos »Guten Tag«, und wie das Wort sein Ohr traf, lachte er
innerlich darüber, daß die Menschen auch an einem solchen Tage eine
solche Redensart über die Lippen bringen konnten.

Als er sich an seinen Platz gesetzt hatte, sagte der alte Schulmeister:
»Peter, der Doktor ist gestern abend doch nicht mehr früh genug
gekommen.«

»Nein,« sagte Peter gleichgültig, »er wollte erst sein Bier austrinken.«

Die vier Menschen sahen ihn verwundert an.

»Es hätte doch vielleicht nicht mehr geholfen,« sagte Mariens Vater
sanft.

»Nein, es war keine Hoffnung mehr,« sagte Peter.

»Wir müssen uns unter Gottes Willen beugen,« sagte der Schulmeister.

»Sein Wille ist ja stets der beste,« sagte Peter.

»Aber Peter, wie sagst du das merkwürdig?« fragte der Alte.

»Wieso?« fragte Peter dagegen. »Es ist doch so; das bringen wir ja
schon den kleinen Kindern bei.«

Er beugte sich über seinen Teller und aß, gierig und hastig, fast
wie ein ausgehungertes Tier. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er ja
gefastet.

Da sagte Mariens Mutter: »Es ist schade, daß du diese Nacht nicht etwas
eher wiedergekommen bist. Unsere Selige fragte nach dir.«

Peter sah die Frau an. Es war das erstemal, daß er einen der
Tischgenossen ansah. »Nach mir?« fragte er. In seiner Stimme war ein
leises Zittern.

»Ja, zweimal. Sie wollte dir auch Adieu sagen.«

Peter fühlte, daß sich in ihm etwas lösen wollte. Er konnte nicht
weiteressen. Aber mit großer Selbstbeherrschung drängte er die
Bewegung, die ihn übermannen wollte, zurück.

Als sie vom Tisch aufstanden, fragte die alte Schulmeisterin, ob er die
Tote sehen wollte. Sie sähe so schön und friedlich aus, als wenn sie
schliefe und jeden Augenblick aufwachen könnte. Peter fühlte ein Würgen
im Halse und stieß ein rauhes »Nein!« heraus. Dann ging er schnell
hinaus.

Mariens Vater sah ihm kopfschüttelnd nach und sagte: »Ein merkwürdiger
Mensch. Scheint sehr wenig Gemüt zu haben.«

»Och ja,« sagte der Schulmeister, »was soll man von so einem verlangen?
Der Vater ist ein Säufer.«

Peter war inzwischen auf seine Dachstube gegangen. Er fühlte, daß er
nicht nachdenken und zu sich kommen ~durfte~. So nahm er ein
Rechenbuch und zwang sich, Rechenaufgaben zu lösen. Er wählte die
schwierigsten, die er finden konnte. Wo er die richtige Lösung nicht
gleich fand, rechnete er die Aufgabe ein zweites und ein drittes Mal.
Als sein Geist dieser Arbeit müde war, nahm er das Lesebuch und begann
zu lesen. Den Sinn der Sätze faßte er nicht, und wollte es auch nicht.
Es kam ihm nur darauf an, durch das mechanische Wiedererkennen der
Buchstaben eine Stunde zu überwinden. Zuletzt schlug er ein Schreibheft
auf und malte einmal über das andere die Worte: »Aller Anfang ist
schwer.« Sorgfältig zog er Haarstrich um Grundstrich, Haarstrich
um Grundstrich. So gelang es ihm, sein Empfindungsleben fast ganz
auszuschalten und den Tag hinzubringen. Er bedurfte dazu seiner ganzen
Willenskraft. Aber er fühlte deutlich, wenn er seinen Empfindungen
nachgäbe, so würde er zusammenbrechen, so wäre sein Verstand in Gefahr.

Gleich nach dem Abendessen, bei dem die Familie ihn nicht wieder ins
Gespräch zog, ging er zu Bett und zwang sich von tausend an abwärts zu
zählen. Es gelang ihm wirklich, einzuschlafen.

Als er aufwachte, war es dunkle Nacht, und die Uhr in der Wohnstube
unter ihm schlug zwölf. Der Schlaf hatte ihn gestärkt. Seine Nerven
hatten einige Widerstandskraft wiedererlangt, er durfte es wagen, an
sie zu denken. Da faßte ihn auf einmal eine unendliche Sehnsucht, sie
zu sehen. Er vertröstete sich auf den kommenden Tag, aber das heiße
Verlangen seines Herzens ließ sich nicht abweisen. Zweimal hatte er
ihm Schweigen geboten. Als es aber den dritten Angriff auf seine
Willenskraft machte, da gab er nach. Er stand auf, kleidete sich leicht
an, nahm das brennende Licht in die Hand und trat mit bloßen Füßen
aus seiner Kammer. Oben an der Treppe blieb er stehen und horchte
angespannt ins Haus hinab. Er hörte nichts als das Klopfen seines
Herzens. Da stieg er vorsichtig hinab, die unsicheren Stufen, die am
lautesten zu knarren pflegten, meidend. Unten an der Treppe lauschte er
noch einmal. Kein Ton als das Ticken der Uhr in der Wohnstube. Da ging
er weiter, das Licht mit der Linken schirmend. Nun stand er vor ihrer
Kammertür. Er stellte das Licht auf die Erde und faßte den Drücker mit
beiden Händen, um jedes Geräusch zu dämpfen. Die Tür wich lautlos, er
trat ein, zog das Licht nach sich und schloß die Tür so leise, wie er
sie geöffnet hatte. Dann erst wandte er sich um. Da stand das Bett,
von einem weißen Leintuch überspannt. Mit leise zitternder Hand hob er
die Hülle, die sein Liebstes barg. Und nun lag die Geliebte vor ihm,
das Haupt leicht zur Seite geneigt, im Haar eine welkende Rosenknospe,
die Hände über einem Kreuz auf dem weißen Totenhemd gefaltet. Da
löste sich die Erstarrung, die seit vierundzwanzig Stunden auf seiner
Seele gelegen hatte, in heißen Tränen, und er mußte sich mit Gewalt
bezwingen, daß er nicht laut schluchzte. Aber dem Lauf der Tränen
wehrte er nicht.

Plötzlich fuhr er auf und horchte. In der benachbarten Kammer hatte
sich etwas geregt. Der Schein des Lichtes konnte ihn verraten, und
schnell drückte er es aus. Und nun war er in der dunklen Kammer mit
seinem toten Lieb allein. Er umklammerte mit seinen fiebernden Händen
über ihren kalten Händen das Kreuz, er beugte sich nieder und küßte
sie, auf die Stirn, die Augen und den Mund. Er fühlte die Kälte des
Todes nicht. Er fühlte nichts als die heiße, heiße Liebe, die sein
ganzes Wesen mit der Geliebten verband. Dann deckte er sie sorgfältig
wieder zu, nahm die Kerze und schlich im Dunkeln in sein Dachstübchen
hinauf.

Als er wieder in seinem Bette lag, faltete er die Hände über der Brust.
Nicht um zu beten. An Gott dachte er mit keinem leisen Gedanken. Aber
er hatte ein so dankbares Gefühl in seinem Herzen, daß die Todesstarre,
die so lange seine Seele zusammengepreßt hatte, von ihm genommen war,
daß er wieder weinen, fühlen und lieben konnte. Wenn aber ein Gefühl
froher Dankbarkeit sein Herz durchwärmte, dann mußte er die Hände
falten, der gute Peter. -- --

                   *       *       *       *       *

Auf der Diele des Schulhauses war über drei Stühlen der Sarg
aufgebahrt. Zu Häupten und zu Füßen brannten Lichter, die in einem
leisen Zugwind flackerten. Einige Tannenkränze lehnten umher.

Nach und nach fand sich das Trauergefolge ein. Die Lehrer der
Nachbarschaft und die großen Bauern wurden in die Stube genötigt,
tranken Kaffee oder Grog, nach eigener Wahl, aßen Kuchen. Die kleinen
Leute standen auf dem Vorplatz und der Diele umher und ließen die
Flasche kreisen. In einer Ecke der Diele hockten die Singjungens um
eine Truhe und aßen schwatzend die ihnen als Sangeslohn zukommenden
Stuten. Zwei Ziegen streckten die langen Bärte aus ihrem Stall
heraus und sahen neugierig zu. Die Hühner, die man nicht vom Wiemen
heruntergelassen hatte, gaben ihren Unwillen durch Scharren kund. Eine
Henne verkündete gackernd, daß sie ein Ei gelegt hatte.

Peter kam erst von seiner Dachstube herab, als sie angefangen
hatten zu singen. Die Jungens sangen mit schrillen Stimmen: Alle
Menschen müssen sterben, alles Fleisch vergeht wie Heu, und musterten
inzwischen, da sie die Verse auswendig konnten, die fremden
Schulmeister. Dann las Schulmeister Wenckes nächster Nachbar mit halb
singender, halb weinerlicher Stimme den neunzigsten Psalm und sprach
ein Vaterunser. Nachdem dann die Kinder noch einmal gesungen hatten,
traten die Träger herzu, entfernten die Lichter vom Sarge, trugen ihn
hinaus und hoben ihn auf den vor dem Tor wartenden, im Grunde mit Stroh
bedeckten Leiterwagen. Dann stiegen an einer Leiter die Frauen der
nächsten Verwandtschaft hinauf und nahmen tief verhüllt vor und hinter
dem Sarge Platz. Der Fuhrmann ergriff das Handpferd am Zügel und ließ
anziehen. Da lüfteten die Männer ihre Mützen, und hinter dem Wagen
ordnete sich das Gefolge; die Familie voran, die befreundeten Lehrer,
die Dorfleute.

Der Leichenzug folgte nicht dem nächsten und gebräuchlichsten Wege nach
dem Kirchdorfe; denn alter Volksglaube ließ nicht zu, daß die Toten
denselben Weg nähmen mit den Lebendigen. Er zog durch eine Talsenkung,
die von dem Zug der Toten seit alters den Namen »Totengrund« führte.
Die Wagengeleise waren von blühender Heide überwuchert; denn es war
diesen Sommer nur ein Toter dieses Weges gefahren.

An der Grenze der Wehlinger Gemarkung wurde ein Strohbündel unter dem
Sarge hervorgezogen und hinter dem Wagen quer über die Spur geworfen.
Das sollte den Geist der Toten hindern, in die alte Behausung
zurückzukehren und die Lebenden zu schrecken. Das Gefolge wich vor dem
Bündel behutsam rechts und links aus.

Peter ging zuerst bei den Lehrern. Da begann ein alter Schulmeister
Fragen an ihn zu stellen: Wann er aufs Seminar wollte? Wie alt er wäre?
Für welche Fächer er sich besonders interessierte? Nach welchen Büchern
er arbeitete? Peter gab kurz Antwort, benutzte aber einen Augenblick,
als der Ausfrager mit seinem Nachbarn auf der andern Seite sprach, ein
wenig zurückzubleiben.

Nun war er unter den Bauern. Diese hatten ihre kurzen Pfeifen in
Brand gesteckt und sprachen über den vor wenigen Tagen im Flecken
abgehaltenen Viehmarkt.

Peter blieb noch weiter zurück und folgte bald dem Zuge als letzter.
Aber mit seinen Gedanken und Gefühlen war er ihr, die jetzt ihre letzte
Straße zog, von allen wohl am nächsten.

Vor ihm wand sich der lange schwarze Zug durch die vollerblühte Heide.
So weit der Blick reichte, ein Meer roter Blüten. Und darin das Gesumm
und Geschwirr der Immen, die überall, im Totengrund wie auf den
luftigen Höhen, ihre süße Weide fanden.

Als die Spitze des Zuges das Kirchdorf erreichte, läuteten die Glocken.
Die große tief und regelmäßig, die kleine, von einem Kinde schlecht
geläutet, unruhig und aufgeregt dazwischen. Vor dem Kirchhofstor
stockte der Zug. Nach einer Minute setzte er sich unter Kindergesang
wieder in Bewegung. Nachdem er sich nach alter Sitte um die Kirche
bewegt hatte, hielt er aufs neue, der Gesang verstummte mit einer
langgezogenen Schlußnote des Küsters, das Geläut mit einem letzten
Nachklang der kleinen Glocke. Peter hielt sich im Hintergrunde, hatte
die Augen geschlossen und hörte nur wie aus weiter Ferne, was da vorne
vor sich ging: das Schurren der Taue, die liturgischen Formeln, das
hohle Aufschlagen der Schollen, das wieder einsetzende Singen und
Glockengeläut ... Als er aufblickte, sah er die Augen des Totengräbers
fragend auf sich gerichtet. Da wurde er mit Schrecken gewahr, daß die
andern sich bereits alle vom Grabe abgewandt hatten. Hastig drehte er
sich um und folgte ihnen in die nahe Kirche. Hier setzte er sich im
Rücken der Gemeinde hinter einen Pfeiler. Er war froh, einen Platz
gefunden zu haben, wo ihn niemand sehen konnte, und er selbst auch
keinen Menschen sah.

Peter war nicht gekommen, um sich trösten zu lassen. Er hatte ja in
den vergangenen glücklichen Zeiten sein Glück allein, heimlich vor
allen Menschen, getragen, und wußte, sein Leid würde er erst recht ganz
allein und einsam tragen müssen. Und das wollte er auch. Kein Mensch
konnte und sollte ihm davon das Geringste abnehmen.

So hörte er denn auch kaum hin, wie der Pastor die Eltern und
Großeltern tröstete, wie er ein blaß gehaltenes Bild der in der Blüte
geknickten lieblichen Jungfrau entwarf. Was ging ihn das alles an? Was
konnte der Pastor von der Toten wissen, die nur ein Vierteljahr seiner
großen und zerstreuten Gemeinde angehört hatte, mit der er wohl nie
ein Wort gewechselt hatte? --

Aber plötzlich traf ein Wort von der Kanzel sein Ohr, das ihn aufmerken
ließ. Der Pastor hatte von einem goldenen Tor geredet. Wie kam der
Mann dazu, von etwas zu reden, was zwischen ihr, deren Mund nun
geschlossen war, und ihm heiligstes Geheimnis war? Und nun horchte er
mit angehaltenem Atem. »Die Entschlafene,« so führte der Geistliche
aus, »hat sich in ihren Fieberträumen immer wieder mit einem goldenen
Tore beschäftigt, so ist mir gesagt worden. Und dann hat sie mit einem
Begleiter gesprochen, der an ihrer Seite dem goldenen Tore zugewandert
ist. Was, meint ihr, liebe Christen, ist das für ein Wandergenosse
gewesen? Ich zweifle nicht daran, es war ein heiliger Engel, den Gott
der Herr ihr zum Geleite gegeben, um sie aus dem dunklen Tal der
Todesschatten durch das goldene Tor hinaufzuführen in das Land des
ewigen Lichts.«

Durch die Gemeinde ging ein lautes Schluchzen.

Wenn einer hinter den Pfeiler geblickt hätte, und er hätte die rechten
Augen gehabt, so würde er da ein Menschenantlitz gesehen haben, das
für einen Augenblick von tiefinnerer Seligkeit durchleuchtet war. Und
vielleicht hätte er da an ein Engelsantlitz denken müssen. --

Die Trauerfeier war beendet. Die Verwandten traten noch einmal an das
Grab, die andern kehrten nach der Sitte zu kurzer Rast in dem nahen
Wirtshause ein. Peter aber machte sich sofort auf den Heimweg. Er mußte
allein sein.

Langsam ging er über die weite, stille, blühende Heide, und dachte mit
stiller, tiefer Wehmut der glücklichen Zeiten. Er hatte das Gefühl,
als ob sie weit, weit hinter ihm lägen. Und doch lagen nur drei Tage
dazwischen. Aber was für Tage! ... Und wie lange war es her, daß er an
ihrer Seite den Weg gegangen war? Es waren fünf Wochen. Da wurde er auf
einmal zweifelhaft. War er nicht zweimal mit ihr diesen Weg gewandert?
Einmal am letzten Sonntagabend vor den Ferien. Dessen erinnerte er sich
ganz deutlich. Da hatte er ihr ja die Geschichte vom goldenen Tore
erzählt, und sie hatten sich versprochen, von nun an Wandergenossen zu
bleiben. Aber es war ihm, als müßte er noch ein zweites Mal mit ihr
dieses Weges gegangen sein ... Allmählich dämmerte ihm herauf, was er
vor drei Tagen, in jenem merkwürdigen Zustande jenseits der Schwelle
des wachen Bewußtseins, auf diesem Wege erlebt hatte. Er hatte sich
dieses Erlebnisses seither nicht erinnert, wohl deshalb, weil es in
Regionen des Unterbewußtseins vor sich gegangen war, die dem vom Willen
abhängigen Sicherinnern nicht zugänglich sind. Jetzt, an dem Orte, wo
es ihm begegnet war, bei dem lebhaften und innigen Denken an jene erste
Wanderung, kam es herauf, traumhaft verschleiert ... Hatte er sie da
nicht an seiner Seite schweben sehen? ... In langem, weißem Kleide? ...
schnell und immer schneller dem goldenen Tore zu? ... Das mußte um die
Stunde ihres letzten Kampfes gewesen sein ... Also um dieselbe Stunde,
da sie, wie die Verwandten dem Pastor berichtet hatten, das goldene
Tor offen und den Wandergefährten an ihrer Seite gesehen hatte ...
Wunderbar ... Während sie mit dem Tode ringend auf ihrem Bette lag,
und während er zerschlagen und seiner selbst nicht mächtig über die
Heide ging, hatte da zwischen ihren Seelen ein geheimnisvoller Verkehr
stattgefunden? ... Hatten die einander geschaut, gegrüßt, aneinander
Geleit und Halt und Freude gefunden? ... War das denkbar? ... Denkbar
wohl nicht ... aber vielleicht trotzdem Wahrheit ... Je länger er
darüber nachsann oder vielmehr -fühlte, um so gewisser wurde es ihm.
Dann aber war es ja sicher, daß ihre Liebe nicht an das leibliche
Beieinander gebunden war ... daß sie Weggenossen bleiben konnten, auch
wenn sie ihm vorausgeeilt war ... Und hatte sie nicht auch, ehe sie in
dem goldenen Tore verschwand, auf den Weg, der deutlich vor ihm lag,
gewiesen und ihm gewinkt? ... um ihm zu zeigen, daß sie denselben Weg
hatten und zusammengehörten? ...

Er dachte an seine Mutter. Die hatte ihm, obgleich sie so früh
hinweggerissen war, durch die ganze Kindheit das Geleit gegeben. Ganz
gewiß, dann konnte auch die jetzt ihm entrissene, aber durch die
engsten Seelenbande ihm verbundene Weggefährtin seine Weggefährtin
bleiben, das Stück Weges, das er noch vor sich hatte. Vielleicht war
dieses ja auch gar nicht so lang, wie er ihr das vor fünf Wochen in
seinem jungen, frohen Lebensmut ausgemalt hatte. Vielleicht mußte er in
Beziehung auf das goldene Tor noch einmal umlernen. Am Ende hatte sie
doch recht gehabt, als sie damals, wohl vorahnend, sagte: »Aber Peter,
wenn wir in das goldene Tor hineinwollen, dann müssen wir ja vorher
-- sterben.« Damals war er darüber erschrocken und hatte das Sterben
ganz ans Ende gesetzt, nach all dem Großen und Schönen, das er vorher
erreichen wollte. Aber wenn es früher käme, wäre denn das so schlimm?
... Und vielleicht kam's ja auch so. Er dachte an die Besorgnis seines
Vaters, daß er, Peter, zu viel von der Mutter geerbt haben möchte und
in keiner guten Haut steckte. Und der dumpfe Schmerz in seiner Brust
war ja seit jenem rasenden Laufen nach dem Arzt immer noch nicht ganz
gewichen ...

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er dachte wieder an die
Begräbnispredigt. Was? Er, der Schulmeister Peter Eggers, ein Engel?
Das war wirklich zum Lachen. Aber plötzlich wurde sein Gesicht wieder
ernst. Ja, ~sie~, wie sie da in weißem, wallendem Kleide neben ihm
schwebte, wie sie am Ziel das von innen durchleuchtete Antlitz nach ihm
zurückwandte, ~sie~ hatte wie ein Engel ausgesehen. Und war sie
überhaupt nicht in sein armes, einsames, dumpfes Leben wie ein Engel
aus einer andern Welt hineingetreten? Hatte er nicht eines Abends in
duftender Jelängerjelieberlaube gesessen und Gott gedankt, daß er sie
ihm gegeben? ...

Gefaßt und getröstet langte Peter am Schulhause an. Als er aber
eintrat und auf der Diele die drei Stühle sah, die den Sarg getragen
hatten, und als sein Blick in ihre offene Kammer fiel, in der eben die
einhütende Nachbarsfrau Ordnung schaffte, da übermannte ihn der Schmerz
aufs neue. Er hielt die Hand vors Gesicht, eilte die Treppe hinauf und
warf sich auf sein Bett.

Die Nachbarsfrau hatte es auch übernommen, für die von der Beerdigung
Zurückkehrenden den Kaffee zu kochen. Als sie sah, daß Peter zurück
war, goß die gute Seele ihm vorab eine Tasse auf, legte ein Stück
Butterkuchen auf den Rand und trug's ihm hinauf. Sie fand den jungen
Schulmeister auf dem Bette liegend, den Kopf in die Kissen vergraben.

Da faßte sie ihn mütterlich am Arm, schüttelte ihn und sagte: »He! Wat
fehlt em? Is he krank?«

Peter flog erschrocken in die Höhe und sah die Frau hohläugig und
verstört an.

»Hier hett he'n Tass' Kaffee ... Wat? He hett weent? Achjajija, dat
junge söte Lewen« -- die Frau führte mit der freien Hand die Schürze an
die Augen -- »in düsse Johren, wenn eene so väl köst[8] hett und just
to bruken is, huhuhu. Aber se is ja den besten Weg, huhu. Nu drink he
man. So'n Tass' Kaffee helpt den Menschen wedder up.«

Peter nahm die Tasse und setzte sich auf seinen Stuhl. Die Frau stand
neben ihm, hatte die Schürze wieder fallen lassen und die Hände in die
Seiten gestemmt.

»Hett se 'ne schöne Liekenred' krägen?« fragte sie.

»Och ja,« sagte Peter.

»Wat for'n Text?«

»Text? ... de Text? ... Mewsmudder, dat weet ich würklich nicht.«

»Wat? 'n Scholmester, und denn so vergätern?« sagte Mewsmutter
verwundert. »Ick hew noch alle Liekentexte von mine Fründschap in'n
Kopp.« Und nun zählte sie ihm die der letzten zwanzig Jahre auf, gab
auch bei mehreren einige Gedanken aus der über sie gehaltenen Rede
wieder. Dabei weinte sie noch einmal über die Verluste und ließ sich
noch einmal von all den schönen Texten trösten. Zuletzt wischte sie
sich mit der Schürze die Augen, schnaubte sich in derselben gründlich
aus, nahm die leere Tasse und ging wieder an ihre Arbeit.

Peter sah ihr kopfschüttelnd nach. Wie waren solche Leute zu beneiden!
Die weinten ihre Tränen, backten Butterkuchen, hörten eine schöne
Leichenpredigt, kochten Kaffee und gingen wieder an ihre Arbeit.

Und gingen wieder an ihre Arbeit. Ja, und das tat Peter am andern
Morgen auch. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Denn die kleinen
Wehlinger Jungens und Deerns wollten darum doch lesen und schreiben
und rechnen lernen, wenn Peter auch ein wehes, zerrissenes Herz hatte.
Sie stellten sich am nächsten Morgen wieder vollzählig ein. Auf dem
Schulhofe waren sie wohl etwas stiller als sonst. Aber ihr Morgenlied
sangen sie mit kräftigen Stimmen, und die beiden Lehrer hatten alle
Hände voll zu tun. Denn die Jugend hatte beim Heu viel verschwitzt
und war durch die lange Freiheit des Stillsitzens auf den Schulbänken
entwöhnt.

Am Mittagstisch sagte der Schulmeister, indem er sich ein wenig reckte:
»Wie ist das gut, daß wir endlich so weit sind! So etwas bringt immer
viel Aufregung mit sich, und die ist nichts für alte Leute. Gott sei
Dank, daß nun alles wieder im alten Geleise ist.«

Ja, alles wieder im alten Geleise. Auch den leergewordenen
Platz am Tische fand Peter nach drei Tagen wieder besetzt. Beim
Familienkaffee nach der Beerdigung war die Verabredung getroffen,
daß der Schulmeistersleute ältester Sohn seine älteste Tochter der
schwächlichen Mutter zur Hilfe im Haushalt schicken sollte. Diese
hieß auch Marie, und war ein munteres, quickes, junges Ding mit
lebenshungrigen Augen und runden Gliedern.

Die neue Marie langweilte sich bald bei den grämlichen Alten und suchte
Zeitvertreib bei Peter. Wenn die beiden, durch eine Wiederholung der
Rede des Schulmeisters vom Zeitvertrödeln und von der Unschicklichkeit
getrennt, im Garten Sommerarbeit taten, war sie alle Viertelstunden bei
ihm und hatte bald dies zu fragen und bald das zu schwatzen. Das »Es
schickt sich nicht für so'n großes Mädchen« des Schulmeisters war für
sie nicht da. Peter hörte ihrem munteren Geplauder ganz gern zu, und da
ihre in das dumpfe Schulhaus eingezwängte Lebenslust ihn dauerte, so
war er immer freundlich gegen sie und zwang sich, auf ihre Interessen
einzugehen, auch wenn ihm danach nicht gerade zumute war. Aber das
genügte ihr nicht. Und als sie merkte, daß sie ihm durch Äugeln und
andere Kunststückchen nicht mehr abgewinnen konnte, versuchte sie's
mit einem Bauernsohn auf der Nachbarschaft, wo sie mehr Glück hatte.
Sie ist dann nach einem guten Jahre aus dem grämlichen Schulhause als
Herrin auf den schönen Bauernhof übergesiedelt und eine kleine dicke,
fröhliche, tüchtige Bauerfrau geworden.

Eines Nachmittags gegen Ende September, als Peter Birnen pflückte, kam
sie angetänzelt und bat ihn, ihr bei dem Ausziehen der Bohnenstangen
zu helfen. Das trockene Kraut hätte sie schon zum größten Teil
heruntergerissen. Aber die Querstangen lägen ihr zu hoch. Da könnte ein
so kurzes End wie sie nicht heranreichen. Peter verbarg sein Gesicht
hinter einem Birnenast und sagte: »Marie, das laß nur. Das will ich
wohl gegen Abend allein besorgen.« »Du bist zu nett, Peter,« sagte sie
erfreut, »dann kann ich ja gleich hingehen und mich hübsch machen. Aber
vorher schmeiß mir eine süße, gelbe Birne herunter!« Peter erfüllte
ihren Wunsch, und sie ging, herzhaft die Zähne in die Frucht schlagend,
davon.

Am Abend, als der müde Herbstsonnenschein auf dem Garten lag,
machte Peter sich daran, das Werk des leuchtenden Mainachmittags
niederzulegen. Er zog Mariens Schleifen auf und löste seine Knoten.
Dann zog er die fest in der Erde steckenden Stangen heraus, erst seine
Reihe, dann ihre. Als sie alle auf dem Haufen lagen, setzte er sich
darauf und hielt den Kopf in die Hände gestützt. So saß er eine ganze
Weile. Dann stand er auf und begann, die Stangen ins Haus, zu tragen.
Einst hatte er je acht mit spielender Leichtigkeit auf die Schultern
genommen. Jetzt ging er schon unter der Last von sechsen gebückt und
mühsam.

Als er zum letztenmal zum Felde gehen wollte, um die letzte Tracht zu
holen, begegnete ihm Marie auf dem Gartenwege. Sie sah ihn groß an und
rief: »Mensch, wie siehst du aus! Fehlt dir was?«

»Ich bin müde,« sagte Peter tonlos.

»Die Stangen sind wohl schwer?«

»Ja ...«

Diese Arbeit war die letzte, die Peter für die Wehlinger
Schulmeistersleute tat. Am Tage darauf zog er in die Herbstferien. Den
Winter sollte er auf dem Seminar zubringen.

Auf jener Höhe, von der er an jenem Vorfrühlingsabend zuerst das Tal
und das Dorf erblickt hatte, blieb er stehen und schaute lange zurück.
Er lehnte sich an eine junge Birke, und diese ließ einige vor der Zeit
gestorbene gelbe Blätter an ihm hinab zur Erde wirbeln. Auf der Heide
ringsum lag das braune Blühen des Herbstes. Keine Imme summte mehr
nach Honig; kein blauer Schmetterling gaukelte über den toten Blüten.
Nur eine Grille zirpte müde und leise, und in der Ferne rief der
Regenpfeifer sein langgezogenes Tühttüht.

Dem Einsamen auf der Höhe lief ein Frieren über den Rücken. Noch einen
Blick tat er in das verlassene Tal, dann fuhr er sich mit der Hand über
die Augen und wandte sich langsam zum Gehen.




Ein halbes Jahr nur nahm die Ausbildung der jungen Schulmeister
auf dem Seminar in Anspruch. Selbstverständlich genügte diese Zeit
nicht, um das Wissen wesentlich zu erweitern oder gar die Bildung zu
vertiefen. Sie diente vielmehr in der Hauptsache dazu, dem Schulwesen
des Landes eine gewisse Einheitlichkeit zu geben. Manche der alten
Schulmeister, die der Anzucht des Nachwuchses oblagen, gaben ihren
Zöglingen allerhand persönliche Liebhabereien und Wunderlichkeiten
mit, selbsterfundene Schnörkel an den Buchstaben, Rechenmethoden
eigenen Gewächses, theologisierende Privatmeinungen in der Religion und
ähnliches. Das alles wurde in dem halben Seminarjahre heruntergehobelt,
und dann wurden die jungen Leute als fertige und selbständige
Schulmeister wieder auf die Dörfer geschickt. Da mochten sie sich denn
entwickeln, wie ihre Anlagen und die Verhältnisse es mit sich brachten.
Die einen wurden richtige Bauern, denen die Landwirtschaft obenan stand
und die Arbeit in der Schule Nebensache war. Andere wuchsen sich zu
wunderlichen Pedanten oder Originalen aus, wie sie in den Witzblättern
noch heutigen Tages herumspuken. Aber viele wurden auch tüchtige
Menschen, die in der Schule wie in der Dorfgemeinde, wie in der eigenen
Haus- und Ackerwirtschaft voll ihren Mann standen, das Nötigste die
Jugend lehrten und im übrigen durch Gottesfurcht, Fleiß und Sparsamkeit
Jungen wie Alten ein Vorbild waren. Manches Dorf in stiller Heide
hat wohl noch heute viel von dem Besten seiner Eigenart der Saat zu
verdanken, die vor fünfzig oder mehr Jahren so ein schlichter, frommer,
tüchtiger Mensch mit wenig Kunst und treuem Herzen ausgesät hat.

Peters Lebensschiff begehrte ja damals, als der volle Wind in seinen
Segeln stand, nach ferneren Zielen als nach der nächsten besten
weltverlorenen Nebenschulmeisterei. Seit es aber im Sturm Mast und
Segel verloren hatte, war es mit dem nächsten kleinen Hafen zufrieden.

Für die Aufnahme in das Seminar sollte Peter ein von einem beamteten
Arzt ausgestelltes Gesundheitszeugnis beibringen. Als der Amtsphysikus
des nächsten Fleckens ihn untersucht hatte, fragte er, ob seine Eltern
noch lebten. Peter sagte, seine Mutter wäre seit vierzehn Jahren tot,
und auf die weitere Frage des Arztes, woran sie gestorben wäre, sie
hätte viel husten müssen. »Haben Sie niemals einen Schmerz in der
linken Brustseite gefühlt?« fragte der Arzt weiter. »Ja,« sagte Peter,
»vor ein paar Monaten hab' ich einmal schrecklich laufen müssen, und
da hat es hier in der Brust mir zuletzt sehr weh getan. Zuweilen fühle
ich das noch an derselben Stelle.« Der Arzt überlegte einen Augenblick,
mit den Fingern auf den Tisch trommelnd, dann setzte er sich hin, zu
schreiben. »Sie haben,« sagte er dabei, »einen kleinen Knacks in der
Lunge weg. Sie müssen sich gut ernähren und viel in die frische Luft
gehen. Dann heilt das wohl wieder aus und vernarbt. Das hat man oft.«

Um dieselbe Zeit sprach der Pastor von Olendorf gelegentlich einer
Amtshandlung in Wehlingen bei Schulmeister Wencke vor, der seinen
Vorgesetzten mit ebenso tiefen wie steifen Bücklingen empfing. »Ich
muß,« sagte dieser, »ein eingehendes Zeugnis für Peter Eggers an das
Seminar schicken, kenne ihn aber zu wenig und möchte mich deswegen mit
Ihnen beraten. Ich mache mir gleich Notizen. Fleiß?«

»War sehr gut,« sagte Schulmeister Wencke mit Nachdruck, »er hat viele
dicke Bücher durchgelesen. Meine Bücher alle zusammen, und hat sich
noch welche zugeliehen.«

»Betragen?«

»Hat sich immer sehr gut betragen. Fürs Weltliche, was den jungen
Leuten heutzutage mächtig im Kopfe sitzt, hatte er gar keinen Sinn.«

»Fähigkeiten und Leistungen?«

»Das ging auch an. Ich denke, dieser Zögling soll mir noch Ehre machen.«

»Wollen Sie noch ein allgemeines Urteil über seinen Charakter abgeben?«

»Jaa, das ist nun so' ne eigene Sache. Wenn ich ehrlich sein soll, es
fehlt ihm wohl an Gemüt.«

»So? Ob Sie sich da nicht täuschen? Wenn ich so an die Augen des jungen
Menschen denke ...«

»Och, Herr Pastor, ich habe ihn zweiundeinhalb Jahr in meinem Hause
gehabt. Wenn man einen da nicht kennen lernt! Und denn so'n alter
Schulmeister, der bald fünfzig Jahre Schule gehalten hat -- wenn
~der~ den Menschen nicht bis auf den Grund sieht? Uebrigens, bei
Peter Eggers war das nicht schwer. Als wir neulich hier im Hause den
traurigen Todesfall hatten, sagte mein Schwiegersohn, gleich nachdem
er nur ein einziges Mal mit ihm am Tisch gesessen hatte: »Vater,« sagte
er zu mir, »dieser junge Mensch scheint sehr wenig Gemüt zu haben.«
Naja, woher sollte er's auch haben, der arme Junge? Sein Vater ist ja
leider Gottes dem Trunk ergeben, und der Apfel fällt nicht weit vom
Stamm.«

»Also auch schon Neigung zur Trunkfälligkeit haben Sie bei ihm
entdeckt?«

»O bewahre, Herr Pastor, sehr solide, Herr Pastor. Na, ich wollte so
einem denn auch, hier bei mir im Hause! Wir haben gar keine Spirituosen
im Hause, und ins Wirtshaus komme ich manchmal ein ganzes Jahr lang
nicht hinein. Nur daß man sich mal ein Pfeifchen gönnt.«

»Das Rauchen ist für einen so jungen Menschen eigentlich auch noch
nicht gut.«

»O bewahre, Herr Pastor, der hat noch keine Pfeife Tabak in den Mund
genommen. Ich wollte ihm auch! Nee, ich wollte man sagen, daß ich alter
Mann mir ab und an mal ein Pfeifchen gönne. Denn ich halte das für
keine Sünde ...«

»Das Zeugnis über die einzelnen Unterrichtsfächer schicken Sie mir in
den nächsten Tagen wohl zu, damit ich es beilegen kann.«

»Jawohl, Herr Pastor, gleich morgen früh sollen Sie es haben.«

                   *       *       *       *       *

Nach den Herbstferien zog Peter also in die Seminarstadt. Durch einen
Marsch von einigen Stunden erreichte er die nächste Bahnstation und
benutzte von hier ab die vor einigen Jahren dem Verkehr übergebene
Eisenbahn. Mit einer Geschwindigkeit, die den unerfahrenen Heidjer
zuerst in Angst versetzte, trug sie ihn seinem Ziel entgegen.

Die Stadt mit der Fülle ihrer für Peter neuen Eindrücke, der
Seminarbetrieb, das Zusammenleben mit den Altersgenossen, alles dies
wirkte zunächst erfrischend und belebend auf seinen müden Geist.

Der Direktor des Seminars war ein jüngerer Geistlicher, der die Leitung
der Anstalt erst kürzlich übernommen hatte. Er stammte aus den Kreisen
der kirchlichen Erweckungsbewegung und war bemüht, seine Zöglinge
von der rationalistischen Betrachtungsweise der Religion, die sie
meistens mitbrachten, abzuleiten. Dabei fiel über die Vernünftigkeit
und Plattheit des geltenden Katechismus manches harte Wort, und
Peter stimmte der Kritik innerlich meist zu. Aber was sein Lehrer an
die Stelle setzen wollte, das leuchtete ihm deshalb noch nicht ein.
Und selbst wenn nicht so viele harte Nüsse darin zu knacken gewesen
wären, würde Peter das Gelehrte sich kaum innerlich angeeignet haben.
Denn jenes zarte Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler,
das gerade für diesen Unterricht unbedingt nötig ist, soll er nicht
das gerade Gegenteil von dem wirken, was mit ihm beabsichtigt wird,
kam zwischen Peter und seinem Direktor nicht zustande. Dieser, der
in dem Pastoralzeugnis gelesen hatte, daß Peter wenig Gemüt zu haben
scheine, mochte von vornherein ihm nicht ohne Mißtrauen begegnet sein,
und Peter war so geartet, daß er einem Menschen, der ihm nicht mit
vollem Vertrauen entgegenkam, einfach sein Herz verschloß. Er hatte das
Gefühl, daß sowohl der alte Katechismus wie auch der junge Direktor
sehr viel von Gott und göttlichen Dingen wußten, aber wer von beiden
recht hatte, und ob überhaupt einer von ihnen recht hatte, blieb ihm
ungewiß, und er fühlte auch keinen Zwang in sich, sich darüber zu
entscheiden. Wenn die studierten Herren sich nicht einmal darüber
klar und einig werden konnten, wenn, wie der Direktor sagte, auf den
Universitäten auch der Kampf zwischen den Professoren über diese Fragen
hin und her wogte, was sollte denn so ein armer Schulmeister machen?

Das Seminar war Internat, und Peter mußte sein Zimmer mit zwei
Seminargenossen teilen. Und während des Unterrichts, in den Pausen,
beim Essen, war er mit der ganzen Schar zusammen. Dies war ihm
anfangs nicht unangenehm. Es riß ihn ja auch von dem Grübeln über
das Vergangene und Verlorene hinweg. Dieser Verkehr verschaffte ihm
auch manchen Einblick in andere Art und fremdes Leben, der ihm, dem
Lebensunkundigen, wertvoll sein mußte. Aber er fühlte immer wieder,
daß er ein langweiliger Geselle war, der sich selbst nicht geben
konnte. Was war denn in seinem Leben, das sich andern mitteilen ließ?
Die andern erzählten von zu Hause. Daran dachte er am liebsten nicht
einmal. Die andern machten sich über die alten Schulmeister lustig,
bei denen sie in die Lehre gegangen waren. Ueber des alten Wencke
Wunderlichkeiten Witze zu reißen, fehlte es Peter sowohl an Begabung
wie an Lust. Die andern zogen hin und wieder einander mit zarten
Verhältnissen auf, und es waren auch mehrere unter ihnen, von denen
die Rede ging, sie wüßten genau, wen sie im nächsten Frühjahr zur Frau
Schulmeisterin machen wollten. Wenn auf derartiges die Rede kam, fühlte
Peter einen heißen Schmerz und stürzte am liebsten davon.

Manchmal mußte er sich wundern, wie viel andere erlebt hatten, und kam
sich ihnen gegenüber vor wie ein unerfahrenes, unbeholfenes Kind. Aber
dann kam's ihm plötzlich wieder zum Bewußtsein, daß er viel, viel mehr
durchgemacht hatte als die andern. Nur war es nicht derart, daß man
davon erzählen, damit sich aufspielen, darüber Scherze machen konnte.

Einige Kameraden begegneten ihm, denen gegenüber er das Gefühl hatte,
als ob aus ihnen etwas Verwandtes ihm entgegenkäme, und er versuchte,
sich ihnen zu nähern. Aber zu einer wirklichen Freundschaft kam es
nicht. Der Boden, auf dem eine rechte Jugendfreundschaft gedeihen
kann, war in ihm, der der Liebe Lust und Leid so früh und so tief
erfahren, wohl schon zerstört. Und das geräuschvolle, genau geregelte
Anstaltsleben war dem Werden einer solchen in einem Menschen von der
Veranlagung Peters ohnehin nicht günstig.

So vereinsamte er mehr und mehr unter seinen Kameraden. Die einen
hielten ihn für stolz und unkameradschaftlich, andere sahen in ihm
einen Kopfhänger, noch andere meinten einfach, es wäre aus ihm nicht
klug zu werden. Und alle ließen ihn seiner Wege gehen und kümmerten
sich nicht um ihn.

Dieses Verhältnis zwischen Peter und seinen Mitseminaristen entging
auch den Lehrern nicht, welche dadurch das Urteil des mitgebrachten
Zeugnisses und die eigenen Eindrücke bestätigt sahen. Als sie einmal
in der Konferenz ihre Ansichten darüber austauschten, erhob sich aber
doch eine Stimme des Widerspruchs. Der Jüngste des Kollegiums, der
erst kürzlich von seiner Dorforgel an das Seminar versetzt war, sagte:
»Ich glaube, in diesem Peter steckt mehr, als es zunächst scheint. Es
fiel mir in der Gesangstunde auf, daß er musikalisch sehr begabt ist.
Und da habe ich nun aus Liebhaberei angefangen, ihn im Geigenspiel
privatim etwas vorzunehmen. In der Art, wie er die Geige anlegt, in dem
Ausdruck seiner Augen beim Spielen liegt etwas, was mich zweifelhaft
macht, ob der junge Mensch in unserm Kollegium ganz richtig beurteilt
wird.« Die älteren Herren lächelten mild im Bewußtsein ihrer teils
durch Universitätsstudium, teils doch durch höheres Lebensalter
erworbenen überlegenen Menschenkenntnis, und der Direktor sagte, leicht
verweisend: »Mein lieber junger Freund, Sie sind geneigt, die Menschen
allzusehr nach dem Verhältnis zu Ihrer geliebten Musik zu beurteilen.
Peter Eggers stammt aus den gedrücktesten und unglücklichsten
Familienverhältnissen, und in solchen Menschen kommt das Beste, das
Herz, das Gemüt, nicht zur Entwicklung. Ich merke das besonders in der
Religionsstunde. Aber den andern Herren wird das auch nicht entgangen
sein.« Diese nickten, und der Jüngste schwieg. Aber er hörte, nicht
auf, den Vereinsamten auf sein Zimmer zu rufen -- er selbst wohnte
auch im Seminargebäude -- und den Unterricht, den einst Schulmeister
Wencke so schnell abgebrochen hatte, fortzusetzen. Er hatte an den
Fortschritten seines Schülers viel Freude. Aber der Mensch blieb ihm
nach wie vor rätselhaft.

Eines Abends, als über dem Geigenunterricht die Dämmerung
hereingebrochen war, schloß der Lehrer das Notenheft, nahm selbst
die Geige zur Hand und spielte Händels Largo. Als er den letzten Ton
verklingen ließ, hörte er Peter leise schluchzen. Er legte ihm sanft
den Bogen auf die Schulter und fragte teilnehmen: »Was ist dir?«

Peter schwieg.

»Willst du's mir nicht sagen?« fragte der Lehrer, indem er den Bogen
auf den Tisch legte und nach Peters Hand griff.

»Ach, solche Musik wühlt alles wieder in einem auf ...«

»Was denn ...?«

Peter schwieg.

»Du hast es wohl zu Hause nicht leicht gehabt?« fragte der Lehrer
mitleidig.

»Och, das ist es nicht ...« sagte Peter und schüttelte den Kopf.

»Kannst du's mir denn nicht sagen? Ich frage dich nicht als dein
Lehrer, sondern als dein Freund. Einem Freunde einmal sein Herz
ausschütten, das tut wohl ...«

»... Als ich bei Schulmeister Wencke in Wehlingen war, ... als ich
da zwei Jahre gewesen war, ... als ich letzte Ostern nach den Ferien
wieder hinkam ... ich ... ich kann's Ihnen doch nicht sagen ...«

»Denn quäle dich nur nicht ... Du sagtest erst, die Musik wühle das
alles wieder auf. Ja, das tut sie wohl. Aber sie bringt es auch fein
sanft wieder zur Ruhe. Sie ist eine holde, freundliche Trösterin ...«

»Ja, das fühle ich wohl ...«

»Komme nicht erst in vier Tagen wieder, sondern schon morgen
nachmittag. Wir wollen diese letzten Wochen bis Ostern jeden Tag ein
halbes Stündchen geigen, damit du dir nachher selbst weiterhelfen
kannst. Willst du?«

»O Herr Seminarlehrer!« --

Peter hatte also einmal einen Menschen gefunden, der ihm mit warmem
Herzen entgegenkam. Es fiel wieder einmal ein Sonnenstrahl in sein
armes Leben hinein, und sogleich war's, als ob es unter dem warmen
Anhauch neu aufblühen wollte. Die Kameraden wunderten sich nicht wenig,
daß Peter plötzlich viel kameradschaftlicher und munterer erschien,
und gingen dem Verkehr mit ihm nicht mehr so ängstlich aus dem Wege.
Der Herr Direktor war erstaunt, daß Peter anfing, Antworten zu geben,
die eine innere Anteilnahme verrieten. Ja, dachte er, wenn man's
nur versteht, den jungen Leuten ans Herz zu kommen! In der letzten
Konferenz vor der Schlußprüfung sagte er: »Über Peter Eggers habe
ich mich die letzten Wochen recht gefreut. Er hat sich bei uns gut
herausgemacht. Die Herren werden das auch gemerkt haben.« Die Herren
nickten zustimmend, nur der Jüngste unten am Tisch nicht. Der lächelte
ganz fein vor sich hin.

Peter bestand die Abgangsprüfung gut. Die halben Stunden bei dem
freundlichen Manne und bei seiner Musik hatten ihm ein so frohes
Lebensgefühl gegeben, daß er frisch und munter antworten konnte und
in dem rechten Augenblick sich an manches erinnerte, was er einst in
Wehlingen gelesen oder gelernt, aber längst vergessen geglaubt hatte.
Bei der Bekanntmachung des Ergebnisses schüttelte der Direktor ihm
besonders herzlich die Hand und sprach die Hoffnung aus, ihn nach
einigen Jahren als Hauptseminaristen wiederzusehen.

Am Abend des Prüfungstages ging Peter zu seinem Musiklehrer, um sich
von ihm zu verabschieden. Als er bei ihm eintrat, sagte dieser: »Ich
habe mir gedacht, du kämst doch wohl nicht fürs erst dazu, dir eine
Geige anzuschaffen. Und es wäre doch schade, wenn du das Spielen
unterbrechen müßtest. Ich habe nun zufällig für einen Spottpreis ein
ganz gutes Instrument kaufen können und möchte dich bitten, es von mir
zum Andenken und aus Liebe zu unserer gemeinsamen Freundin, der Musik,
anzunehmen. Hier ist's.« Peter starrte abwechselnd seinen Lehrer und
die ihm in die Hand gedrückte Geige an, und suchte nach Worten. Aber
der feinfühlende Mann half ihm darüber hinweg. »Probier' man gleich
mal,« sagte er munter, »oder laß uns mal zweistimmig etwas spielen.
Vielleicht einen Choral? Schlag' mal einen vor! Gestimmt habe ich die
Geige schon.« Peter schwieg noch immer.

»Na, was soll's sein?« fragte der andere und setzte seine eigene Geige
an. Da sagte Peter hastig: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der
Ehren,« faßte die Geige und ließ dreimal nacheinander die Saiten die
jubelnde Weise jauchzen. Und der Seminarlehrer spielte ebenso freudig
bewegt die zweite Stimme dazu, und dachte im stillen, indem er in
Peters glückverklärte Augen sah: Das ist nun einer ohne Herz und Gemüt.
O ihr klugen Menschenkenner!

Als Peter die Geige absetzte, fing er an zu stammeln: »O Herr
Seminarlehrer, w ... was soll ich ... bloß ...« »Du sollst bloß den
Mund halten,« sagte der lächelnd und hielt ihm den Rücken seiner Geige
vor den Mund. »Was du meinst und fühlst, das hast du ja eben schon mit
deiner Geige gesagt. Möge sie dir eine gute Freundin werden, die in
der Freude mit dir jubelt und im Leid mit dir weint und dich durch ihr
mitfühlendes Herz tröstet.«

»O Herr Seminarlehrer!« --

                   *       *       *       *       *

Am Tage darauf -- es war am Sonnabend vor Palmsonntag -- setzte Peter
sich auf die Eisenbahn, um nach Hause zu fahren. Das gute Examen, die
ihm vom Direktor gemachte Aussicht auf das Hauptseminar, die Erinnerung
an den freundlichen Musiklehrer, die Geige, die in ihrem schwarzen
Kasten nahe bei ihm stand, die frische Märzluft, der Sonnenschein, der
in die Fenster des Wagenabteils fiel, alles wirkte zusammen, Peter in
eine frohe und mutige Stimmung zu versetzen.

Auf einer größeren Station, wo die Lokomotive Wasser einnehmen mußte,
stieg ein alter Bauer ein, musterte die drei Insassen des Wagenabteils,
unsern Peter, einen Handlungsreisenden und eine Bauerfrau, und machte
sich's bequem.

»Wat hollt he hier so lang?« fragte die Frau den Bauern.

»O,« sagte dieser trocken, »dat Peerd is noch jung; dat möß eben mal
an'n Titt.«

Die drei Fahrgäste lachten, jeder auf seine Art: Peter still, die Frau
hehehe, der Handlungsjüngling hihihi.

Der Bauer klopfte mit dem Knöchel seines Mittelfingers auf Peters
Geigenkasten und fragte: »Wat hett he dar in?«

»'n Vigelin'.«

»Kann he spälen?«

»'n bäten.«

»Denn späl he mal eenen up!«

»Och ...« sagte Peter zögernd.

»Man to; dor geiht de Tied bi hen,« fiel die Frau ein.

»Sain Se doch kain Frosch und tun Se's. Ain luschtiges Schtickche
verkürzt die Fahrt durch de langwailige Lineburger Haide,« ermunterte
der Handlungsreisende.

Peter, in der frohen Laune nach wohl bestandenem Examen, ließ sich
erbitten, nahm seine Geige und fidelte munter darauf los: Muß i denn,
muß i denn zum Städtele naus, den Dessauer Marsch, und was ihm sonst in
die Finger kam.

Als er aufhörte, weil seine Station nahe war, fragte der alte Bauer:

»Is he Spälmann?«

»Nee.«

»Wat denn?«

»Scholmester.«

»Wonem hollt de Schol?«

»Heww noch keen Schol. Kam hüt eben von't Seminar.«

»Deuker! Dat könn passen. Ick bin ut Solten. Dat liggt'n halbe Stund'
van Brundörp. Wi bruckt just'n Scholmester.«

»So--o?«

»Weet he wat? Ick kann god mit unsen Herrn Zupperndenten. Dar gah ick
morrn vor de Karktied hen. Denn, schall he man sehn, kriggt he den
Deenst.«

»Scholstellen sünd upstunns genog to hewn,« sagte Peter. »Wenn ener'n
god Tügnis hett, kann he sick'n Platz utsöken. Makt jo keen' Umstänn'
von min'thalwen, Vader.«

»Wenn ich m'r darf erlauben ain gut gemainte Rat,« mischte sich der
Handlungsreisende ein, »ich wird' gehen nit zu de Bauern, ich wird'
gehen in de Schtadt zu de jebildete Lait'.«

»Di hollt keener fast,« sagte der Bauer trocken. »Dine Ort[9] könnt
wi up'n Lanne nich bruken. Aber, wat ick man seggen woll,« wandte er
sich wieder zu Peter, »god schall he't bi uns in Solten hewn. Wi sünd
alltohopen gode Lüe.«

Der Zug pfiff, Peter mußte aussteigen.

»De Zupperndent well em woll schriewen. Und wenn he nah Solten kummt,
denn frag' he man glieks nah Clas Mattens ...« rief der Alte ihm nach.
»Aber deukerweg, ick weet ja noch gar nich, wat sin Nam' is, und wo he
to Hus is?«

Er lehnte sich aus dem Wagenfenster und Peter rief dem Zuge, der sich
schon wieder in Bewegung gesetzt hatte, seinen Namen und Wohnort nach.
Dann machte er sich rüstig auf den Marsch nach Hause, wo er spät am
Abend ankam. An die Begegnung in der Eisenbahn dachte er kaum wieder
zurück.

Fünf Tage später bekam er ein Schreiben folgenden Wortlauts:


  »Es gereicht mir zur Freude, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Bewerbung um
  den Schuldienst zu Solten, die durch den Bauern Claus Mattens an mich
  gelangt ist, von mir als dem Patron der genannten Stelle
  berücksichtigt worden ist. Ich habe Sie bereits gestern Hohem
  Königlichen Konsistorio präsentiert, und wird Ihre Anstellung
  zweifellos unverzüglich erfolgen. Es wird gut sein, wenn Sie gleich
  nach dem Feste sich mir vorstellen und mit den Schulverhältnissen
  bekannt machen wollen. Der Weg von Ihrer Heimat nach hier beträgt
  gute vier Stunden, was ja für einen gesunden jungen Mann eine
  Kleinigkeit ist. Sie müssen über Wiechel gehen.

                                       Beerbohm, Superintendent.«


Peter machte große Augen, als er diesen Brief las. Er ärgerte sich
zunächst, daß der zufällige Reisegenosse auf solche Weise in sein
Schicksal und Leben eingegriffen hatte. Dazu kam, daß sein Vater und er
sich folgenden Tages das Schulhaus eines näher gelegenen Dorfes ansehen
wollten, von dem viel Rühmens gemacht wurde. Aber bald gab Peter sich
zufrieden. Aus dem Briefe des Superintendenten schien ihm Wohlwollen
zu sprechen. Der alte Bauer in der Eisenbahn hatte ihm auch nicht übel
gefallen, und allzu nahe bei Muttern zu bleiben, darauf kam es ihm ja
nicht gerade an.

Am Dienstag nach Ostern machte Peter sich auf, um seinen Vorgesetzten
und seine künftige Wirkungsstätte kennenzulernen. Der Vater bestand
darauf, ihn zu begleiten.

Anfangs gingen sie schweigend nebeneinander. Aber bald kam es Peter
vor, als ob der Vater etwas Besonderes auf dem Herzen hätte. Er
räusperte viel und spuckte übermäßig oft aus. Endlich machte er
Anstalt, damit herauszukommen.

»Peter, ick mutt di mal wat seggen.«

»Man to, Vader.«

»Weeßt du, wat Mudder und ick uns dacht hewwt?«

»Nee.«

»Wi wollen woll mit di trecken[10].«

»Mit mi? Nah Solten?«

»Ja, min Jung. Süh, dat is bäter för di. Denn mak ick di fein dat Land
to Schick[11]. Du kriegst da doch nix van torecht. Bist ja de starkste
nich, din sel' Mudder wör't ok nich. Und Trina, de kakt[12] di denn wat
... Dat du dine Uppassung[13] hest ... Süh, 'n Fro kannst du di noch
nich nehmen. Da bist du to jung to ... Wat makst du för'n Gesicht? ...
Is Trina de lesten Johren nich jümmer ganz god mit di wän?«

»Och ja, dat güng woll ...«

»Süh, uns well dat in dat ole Hüsselhus gar nicht mehr recht gefallen.
De Bur lett us dat Dak so rein öwer'n Kopp tohopen fallen. Und Land
hewwt wi ok nich genog to Katuffeln for de välen Kinner.«

»Und det schöt denn ok alle mit nah Solten?«

»Alle nich. De beiden öllsten könnt wi all verme'en[14].«

»Denn sünd dat noch veer ...«

»Nee, fief.«

»Is dat nich'n bäten väl för so'n Scholhus?«

»Och nee. Wenn de in so'n Hüsselhus ünnerkreepen[15] könnt, hewwt se in
so'n grot Scholhus Platz mehr als to väl.«

»Meenst du ...?«

»Hm, süh, dat wär doch schön, wenn du dine lütten Bröers und
Süsters[16] sülwst als Scholmester lehren künnst.«

»Och ... dat will ick just nich seggen. Und wenn se mal wecke verdeent
hewwt und ick hau' jüm, wat seggt ehre Mudder denn?«

»Dar is se god van stellt.[17] Up't Hauen hollt Trina grote Stücke.«

»Dar hest du recht. Aber wenn ~ick ehr~ Fleesch und Blod hauen do,
dat well ehr doch woll nich passen.«

»Och, Peter, dat well so slimm woll nich wän. Und dat si di sleit, da
brukst du nich bange vör to wän. Se fat't di nich mehr an.«

»Is dankenswert. Dar harr ick ok keene rechte Lust mehr to.«

»Du bist also davon tofreden, dat wi mit di treckt ...?«

»Och Vader, da mutt ick mi erst up besinnen. Wi möt ok erst tosehn,
wenn dat in Solten mit dat Hus und dat Annere passen deit.«

»Da hest du recht; deshalw bin ick ok hüt mit di gahn.«

Als sie in Brundorf bei der Kirche anlangten, trennten sich ihre Wege.
Der Sohn ging nach rechts zur Superintendentur, der Vater nach links in
ein Wirtshaus, um seine Rückkehr zu erwarten.

Peter wurde von einem älteren, sehr behäbigen Herrn freundlich
aufgenommen, wegen des guten Zeugnisses, das eben angekommen war,
beglückwünscht und in das Sofa genötigt.

Darauf belehrte der Superintendent ihn über die Schulverhältnisse, die
er in Solten vorfinden würde. Die Schule wäre ein Jahr lang bei dem
großen Lehrermangel unbesetzt geblieben. Da würde viel nachzuholen
sein. Und eine frische, junge Kraft sei da gerade am Platze.

Peter versprach, er werde sein Bestes tun.

»Welches ist Ihre religiöse Stellung?« fragte der geistliche Herr
plötzlich und unvermittelt, und sein joviales Gesicht nahm einen
ernsten Ausdruck an.

Peter sah ihn verdutzt an. Danach hatte ihn in seinem ganzen Leben
noch kein Mensch gefragt. »Meine religiöse Stellung?« wiederholte er
langsam, um Zeit zu gewinnen, sich die Antwort zu überlegen.

»Ich wollte wissen, ob Sie ein Pietist sind,« erklärte der
Superintendent seine Frage näher.

»Pietist?« fragte Peter zögernd. Die Spitznamen, mit denen die
verschiedenen kirchlichen Richtungen einander belegten, waren ihm nicht
geläufig.

Der Geistliche machte eine ungeduldige Handbewegung. »Dann muß ich
mich deutlicher aussprechen. Der neue Seminardirektor ist so einer
von den neumodischen Pietisten, die die Welt um zweihundert Jahre
zurückschrauben und den Leuten die Köpfe verdrehen möchten. Ich wollte
gern wissen, ob er das bei Ihnen auch fertiggebracht hat.«

»Der Herr Seminardirektor,« sagte Peter, »lehrte in vielen Stücken
anders als unser Landeskatechismus, den wir in der Schule gelernt
haben. Ob aber seine Lehre so viel besser war, wie er immer behauptete,
das kann ich nicht entscheiden.«

»Es freut mich sehr, mein lieber junger Freund,« sagte der alte Herr
sichtlich erleichtert und klopfte dem jungen Schulmeister auf die Knie,
»daß Sie sich haben nicht einfangen lassen, daß Sie sich Ihre geistige
Freiheit und Selbständigkeit bewahrt haben. Ich begreife gar nicht, was
diese Menschen darin finden, uns immer wieder mit ihren alten unklaren,
mystischen Geschichten zu kommen. Gott, Tugend, Unsterblichkeit, diese
drei Größen stehen fest. Der Philosoph Kant hat sie ein für allemal als
Postulate der praktischen Vernunft nachgewiesen. Was darüber ist, das
ist vom Übel.«

»Ja,« sagte Peter nachdenklich, »diese Dinge sind sehr schwer.«

»Was? Schwer?« fragte der andere verwundert. »Absolut nicht schwer. Man
muß nur seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen. Dann ist alles
ganz klar. Daß ein höheres Wesen diese wunderschöne Welt geschaffen
haben muß, daß wir Menschen ohne Tugend nicht menschenwürdig leben
können, und daß für die vielen Ungerechtigkeiten dieses Lebens einmal
eine ausgleichende Gerechtigkeit eintreten muß, das werden Sie doch
nicht leugnen wollen?«

»Gewiß nicht, Herr Superintendent, ich will gar nichts leugnen,« sagte
Peter.

»Es freut mich wirklich,« nahm der andere wieder das Wort, »erst
einmal die Gewißheit zu haben, daß Sie kein Pietist sind. Einen
solchen könnte ich in Solten auch nicht gebrauchen. Die Verhältnisse
sind nämlich in dieser Beziehung dort etwas verwickelt. Freilich, der
Kern der Bevölkerung besteht aus vernünftigen Leuten. Die Tätigkeit
meines Amtsvorgängers, und meine eigene -- das darf ich in aller
Bescheidenheit sagen -- haben in der Gemeinde sehr aufklärend gewirkt
und die alten verstaubten Spinngewebe zum größten Teil aus den Köpfen
herausgebracht. Nun ist aber gerade in Solten mir vor einer Reihe von
Jahren der Wolf in die Herde gebrochen. Ein fremder Schuster, aus der
Rheingegend zugewandert, ist dort hängengeblieben und hat sich eine
Anbauerstelle erheiratet. Der hält wenig auf die Kirche, ist ein echter
Pietist und Okkultist, und sucht in Solten Anhang zu gewinnen. Und,
wie ich leider sagen muß, nicht ganz ohne Erfolg. Es gibt ja immer
urteilslose Menschen, die so einem nachlaufen. Ich hoffe nun, daß
Sie dort dem verderblichen Treiben dieses Mannes entgegenarbeiten und
nicht nur in der Schule, sondern auch außerhalb derselben aufklärend
wirken werden ... Übrigens, ich habe gleich von vornherein die besten
Hoffnungen auf Sie gesetzt. Unser alter prächtiger Claus Mattens,
der Sie neulich in der Eisenbahn für uns eingefangen hat, hat mir
erzählt, wie Sie da im Zuge frank und frei Ihre Geige aus dem Kasten
genommen und eins nach dem anderen gefiedelt haben. Solche frischen,
lustigen jungen Leute, die das Leben genießen, natürlich in Züchten
und Ehren, die habe ich für mein Leben gern. Denn ich bin auch einmal
jung gewesen. Da dachte ich gleich: Der ist kein Kopfhänger, und heute
habe ich ja darüber Gewißheit bekommen. Na, wie denken Sie sich denn
einzurichten?«

»Das weiß ich noch nicht genau,« sagte Peter. »Meine Eltern denken halb
und halb daran, mit mir zu ziehen.«

»Ach du meine Güte! Aber das Schulhaus hat ja nur eine einzige Stube
außer dem Schulzimmer, und Sie haben Reihetisch bei den Bauern.«

»Soo?«

»Ja, hat Ihnen das denn der alte Claus Mattens nicht gesagt?«

»Nein.«

»Und Sie haben sich danach nicht erkundigt?«

»Nein, dazu war keine Zeit; ich mußte aussteigen.«

»Und dann bewerben Sie sich um die Stelle?«

»Herr Superintendent, ich habe mich nicht beworben. Der Mann sagte,
ich müßte in Solten Schulmeister werden. Ich hielt das für Spaß, und
habe gar nicht wieder daran gedacht, bis ich dann auf einmal Ihren
Brief kriegte.«

Der alte Herr schlug die Hände zusammen und schüttelte sich vor Lachen.
»Dieser alte Schlauberger! Darum kam er so pfiffig an und sagte: ›Herr
Zupperndent, ick heww uns'n Scholmester infungen, 'n ganzen nüdlichen
frischen Jungkeerl‹. Schön war das nicht gerade von dem Alten, Sie
so hinters Licht zu führen. Aber schließlich, was soll man dazu
sagen? Jeder ist sich selbst der Nächste. Für sein Dorf hat der Alte
gut gesorgt. Ich fürchtete schon, die Stelle müßte wieder unbesetzt
bleiben. Und ein paar Jährchen werden Sie es da schon aushalten. Nur,
daß Sie Ihre lieben Eltern mitbringen, das ist unmöglich, so leid es
mir tut.«

»Och,« sagte Peter, »das schadet am Ende nicht ganz viel.«

»Es sollte mich freuen,« versetzte der andere, »wenn diese Enttäuschung
nicht gar zu groß für Sie wäre ... Um aber noch einmal auf die
eigentümlichen Verhältnisse in Solten zurückzukommen, ich möchte
Sie bitten, sich den Pietistenschuster vom Leibe zu halten und ihn
überhaupt nicht zu besuchen. Er wird's natürlich probieren, Sie für
seine überspannten Gedanken zu kapern und durch Sie Einfluß auf
die Jugend zu gewinnen. Denn wer die hat, hat ja die Zukunft. Also
hüten Sie sich vor ihm, gehen Sie ihm aus dem Wege! Junge Leute von
Ihrem Alter sind noch nicht innerlich gefestigt genug, um solchen
Einflüssen, wenn sie ihnen Zutritt zu sich gestatten, den nötigen
inneren Widerstand entgegenzusetzen. Und dann noch eins, aber im
Vertrauen. Wir haben einen sehr vernünftigen Amtshauptmann, der
durchaus nicht gewillt ist, solches Konventikelwesen der Dunkelmänner
in seinem Bezirk umsichgreifen zu lassen. Der würde uns ganz gern
einmal seinen Landjäger zur Verfügung stellen. Also, wenn Sie etwas
merken von polizeiwidrigen Abendversammlungen und Zusammenrottungen
in den Häusern, so machen Sie mir gefälligst Meldung. Ich habe auch
schon einigen zuverlässigen Bauern einen leisen Wink in dieser Richtung
gegeben. Aber es ist nun einmal so, gegen die Geistlichkeit hält diese
Gesellschaft immer zusammen, und den Landjäger sehen sie nicht gern
in ihrem Dorf. Also ich verlasse mich auf ~Sie~. Ich würde Ihnen
nun raten, sich heute gleich Ihren künftigen Wirkungskreis und Ihr
Häuschen anzusehen. Und dann treten Sie Anfang nächster Woche frisch
und fröhlich Ihren Dienst an.«

Peter war aufgestanden, machte den tiefen und steifen Bückling, den er
Schulmeister Wencke abgesehen hatte, und bekam von seinem freundlichen
Vorgesetzten einen warmen Händedruck zum Abschied.

Als er in die Gaststube des benachbarten Wirtshauses trat, um seinen
Vater abzuholen, blickte dieser, hinter einem Schnapsglas sitzend,
mit gerötetem Gesicht ihn höhnisch an und sagte, unbekümmert um die
Anwesenheit einiger Gäste: »Du bist doch'n Döskopp und bliwst'n
Döskopp.«

Peter war starr mitten im Zimmer stehengeblieben und fragte aufs
höchste erstaunt: »Wat is denn?«

»Läßt di dor de slechste Scholstelle in't ganze Land uphangen, läßt di
von so'n olen Glattsnacker in de Iserbahn so anfleiten, dat de nu in
alle Wirtschaften vertellen kann, wat ick for'n Dämelklas van Jungen
heww. Hähähähä.«

»Aber Vader, besinn' di doch!«

»Ick? Ne besinn' du di! Wer hett domols, as em dat verlöwt würd,
Scholmester to weern, sinen Vader verspraken, dat he em helpen wull, de
lütten Kinder grot to kriegen?«

»Vader!«

»Wer harr dat grote Wort, dat he sin' olen Öllern, de so väl Godes an
em dan hewwt, to sick nehmen woll?«

»Vader,« sagte Peter, sich mühsam beherrschend, »ick gah nu nah Solten,
wullt du mit?«

»Ick? Hähähä. Ick? Wat heww ick da to söken? In dat ole Muslock, wo
nich mal een Morgen Land to hört, hä! Gah man alleen und kiek di
dine Dummheit an! Hüt abend kummst du hier wedder för und halst mi
aff. Weertsmann, schenk mi noch'n Lütten in! Wenn ener as Vader so'n
Dämelklas van Jungen hett ...«

»Affhalen do ick di nich,« sagte Peter hart und bestimmt, »ick kann god
ahn' di henfinnen, wo ick hen will.«

Der Vater stürzte eben hastig sein Glas hinunter.

»So is't recht,« fuhr Peter voll Bitterkeit fort, »sup di man düchdig
enen an, daß de Lüe glieks Bescheed weten, wat de nee Scholmester för'n
Vader hett. Adjüs.«

»Du verdammte Jung,« keuchte Harm Eggers und sprang in voller Wut
auf. Aber er wurde von zwei Männer, die mit ihm am Tische saßen,
festgehalten. Und Peter ging aufrecht und die Füße hart aufsetzend
hinaus. Draußen hörte er noch, wie der Vater drinnen lärmte und
fluchte, und mit schnellen Schritten eilte er davon.

Es kam ihm zwar für einen Augenblick ein leises Gefühl der Reue, daß er
mit solchem pietätlosen Wort von seinem Vater geschieden war. Aber ein
inneres Kindesverhältnis zu dem Manne, der in den letzten Jahren durch
den Trunk immer mehr heruntergekommen war, hatte er eigentlich doch
nicht mehr gehabt. Dann war es ja schließlich zu ertragen, wenn das
äußerliche lose Band nun auch durchgerissen war. Und das Neue, dem er
entgegenging, brachte ihn schnell über solche Gedanken hinweg.




Als Peter das Kirchdorf hinter sich hatte, lag Solten in der Ferne
auf einer mäßigen Anhöhe vor ihm. Er mußte das Dorf mit Wehlingen
vergleichen. Das behäbige Bauerndorf in dem wiesen- und waldreichen
Bachtale war ohne Frage viel reizvoller als diese neue Heimat auf der
hohen Geest. Heide sah man von dieser Seite nur wenig. An der Straße
zwischen dem Kirchdorf und Solten war alles Ackerland, das aber mit
seiner losen, sandigen Ackerkrume wie mit dem hungrigen Winterkorn den
Eindruck großer Magerkeit und Kargheit machte.

Bei den ersten Häusern des Dorfes griff Peter sich einen Jungen auf, um
sich zum Schulhause führen zu lassen. Der Junge ging mit ihm eine Weile
die ungepflasterte Dorfstraße entlang, bog dann auf ein Gehöft ab und
auf ein Gebäude zu, das man zunächst für eine Scheune halten mußte. Als
sie aber um dasselbe herumgingen, zeigten sich einige Fenster und eine
Tür. Peter stand vor seinem neuen Heim.

Er rüttelte an der Tür, die jedoch verschlossen war. Als er sich umsah,
kam aus dem Bauernhause, auf dessen Hofe das Schulhaus lag, ein Mann in
Hemdsmauen mit einem Schlüssel in der Hand. Der sagte trocken »Dag« und
schloß dem jungen Schulmeister sein Haus auf. Während sie miteinander
die Schulstube und einen zweiten weißgetünchten Raum mit einem Fenster,
in dem eine Scheibe zerbrochen war, besahen, erzählte er, bis vor
wenigen Jahren hätte die Schule und Schulmeisterwohnung von Hof zu Hof
gewechselt. Aber das wäre der Gemeinde schließlich lästig geworden,
und so hätte sie ihm diese Scheune abgekauft und zu einer schönen
Schule umgebaut. Die Fensterscheibe hätten im Winter die Jungens beim
Schneeballen eingeworfen, aber er glaube sicher, daß die Gemeinde eine
neue würde einsetzen lassen. Beim nächsten Bauernmal wollte er das
vorbringen, und Eile hätte die Sache ja wohl nicht; denn es ginge ja
auf den Sommer.

Als die beiden mit ihrer Besichtigung fertig waren und wieder ins
Freie traten, sah Peter, daß sein alter Freund aus der Eisenbahn auf
die Schule zugeschritten kam, den Brösel im Munde und sein pfiffigstes
Lächeln im Gesicht. Peter fühlte einen Grimm gegen den Mann und
überlegte sich, wie er dem Ausdruck geben sollte. Der Alte kam ihm aber
zuvor: »Kiek mal an, da is he ja all, unse lütte Scholmester van de
Iserbahn.« »Jawoll,« unterbrach ihn Peter, »den ji so bannig anföhrt
hewwt. Dat harr ick van jo nich dacht.«

»Anföhrt?« fragte der Alte mit der unschuldigsten Miene von der Welt,
indem er die Pfeife aus dem Munde nahm und behaglich ausspuckte.

»Jawoll, anföhrt! Wat is denn dat för'n Scholhus?«

»Och, so'n jungen Bengel, de keen Fro und Kinder hett, kann't genog
dormit don.«

»Und de por elenden Daler, för de ener sick hier schinnen mutt.«

»Oh, he kriegt ja Äten und Drinken to. Wo woll he denn mit väl Geld
hen? Dat hett all mannigenen up slechte Weg' brocht. Abers nu kam he
man, min lüttje lewe Scholmester. Min Olsch' is bi und kakt'n Tass'
Kaffee. Dorbi wöt wi uns wedder verdrägen.«

Peter wollte noch Schwierigkeiten machen, aber der Alte streckte den
Arm mit der Pfeife aus und schob ihn lachend vor sich her. Da ergab er
sich und ging mit.

»Spaß mutt makt weern,« begann der Bauer wieder, »aber nu lat uns dar
mal vernünftig öwer snacken. Süh, wi hewwt all'n ganz Johr keenen
Scholmester hatt, und de, den wi harrn, wör'n ganzen Natten. Aber unse
Kinner könnt doch nicht upwassen as de armen Heiden, as dat lewe Veih.
Nich wohr, dat geiht doch nich?«

»Nee, dat geiht nich,« sagte Peter. »Aber möß ick denn jüst her?«

»Och nee, min beste Minsch, harr ick'n annern in de Iserbahn
drapen[18], de mi ebenso god gefallen harr as he, denn harr ick den
nahmen.«

»Dat glöw ick,« sagte Peter lachend.

»So, nun sünd wi to Hus,« sagte der Bauer und trat mit Peter in die
große Missentür seines stattlichen Hauses.

Während sie über die lange Diele gingen, beobachtete er Peters Gesicht
von der Seite, blieb dann plötzlich stehen und sagte: »Scholmester,
hett he denn keene Ogen in sinen Kopp?«

»Wat is denn?« fragte Peter erschrocken und sah sich vor die Füße, ob
er etwa dem umherlaufenden Federvieh zu nahe getreten wäre.

»Dor rechts und dor links steiht dat beste Veih in't ganze Dorp und he
sleit[19] dor keen Og' nah hen?«

»Och ja, dat is ok wahr ...« sagte Peter und holte das Versäumte nach.
»De Koh dor mit den Blessen vor den Kopp, dat is gewiß de beste.«

»Nee, lütt' Scholmester, dat is just de ordenärste in'n ganzen Stall.«

»Ach soo ... ick verstah van so wat nich ganz väl.«

»Gor nix versteiht he; dat seh ick,« sagte Clas Mattens.

Am Herde angekommen rief er: »Hier, Mudder, is he, unse Scholmester. Nu
bring dinen Kaffee man rin.«

Sie gingen in die Stube und nahmen auf der Bank am gedeckten Tische
Platz.

»Na Scholmester, nu segg he mal,« begann Mattens wieder, »geiht he noch
wedder nah Hus oder bliewt he forns[20] hier?«

»Forns hier bliewen? Güng dat woll?« fragte Peter lebhaft.

»'t geiht allens,« antwortete der Bauer. »Min' Peer hewwt woll mal'n
Dag Tied. Denn spannt wi morrn an und halt sin Saken, Bedd, Disch und
wat he süssen[21] noch hett, und denn is't ferdig. 't schall em ok nich
väl kösten.«

»Hmhm.«

»Schall ick morrn anspannen?«

»... Da is man'n Haken bi ...«

»Wat denn?«

»Ick heww keen Bedd und Disch und Stohl und wat dor süssen noch tohört
...«

»Denn mutt he sick dat köpen. Is keen annern Rat.«

»Dor is ok man wedder 'n Haken bi.«

»Wat denn?«

»To'n Köpen hört Geld.«

»Dat stimmt.«

»Und dat heww ick nich.«

»Hett denn sin Vader nix?«

»Wat de hett, dat brukt he sülwst.«

»Dat is'n verdullten Kram,« sagte Clas Mattens und kratzte sich hinter
den Ohren. »Nee, dat gelt nich, erst Bodder un denn dick Honnig up. Dat
smeckt bäter.« Er schob Butter und Honigteller nahe an Peter heran, und
dieser war auch nicht blöde. Da er den Honig schon aufgestrichen hatte,
schmierte er die Butter dazwischen.

»Dat is'n verdullten Kram ...« wiederholte der Bauer nachdenklich.
»Ohn' Bedd geih't nicht, und'n Disch und Stohl is ok nödig.«

Nach einer Weile sagte er entschlossen: »Scholmester, he hett seggt,
ick harr em anföhrt. Dat mag wän, he harr süssen woll'n bätern Platz
kriegen könnt. Aber nu hör he to: ick will dat wedder god maken. Ick
will em dat Geld, wat he nödig hett, lehnen[22], dat he sick inrichten
kann. Aber denn mutt he mi dat'n bäten upschriewen, dat dat Bedd und
de annern Saken mi tohört, bet he se ganz betalt hett. 't is man wegen
Lewen und Starwen ... Is em dat so recht?«

»O beste Vader Mattens, daför schall he väl dusendmal bedankt wän! Up
wecke Ort schall ick dat noch wedder ...«

»Nu mak he keenen langen Dröhnsnack. Dat wör afmakt. Hören deit em also
nix as wat he up'n Liew hett? Wo hett he denn sin Vigelin'?«

»De is noch tu Hus. Und ok süssen heww ick dar noch allerhand, wat hier
her mutt, Strümp und Hemden und'n bäten Tüg und min Böker ...«

»God, denn spann ick morrn an, und wi beiden föhrt hen und halt den
ganzen Kram her. Und wat wi süssen brukt, dat köpt wi uns unnerwegs.«

»Dat geiht ja schön. Aber, wat ick noch seggen woll, in min Stuw' is'n
Fenster twei.«

»Dat schall Discher Buck insetten. Dat well ick woll vör de Gemeen' up
mi nehmen.«

»Och Vader Mattens, wat freu ick mi, dat ick jo in de Iserbahn drapen
heww, und dat ick nah Solten kämen bin!« sagte Peter mit ehrlicher
Freude.

Clas Mattens, der nach beendigtem Kaffeetrinken eben seine Pfeife
wieder angesteckt hatte, schmunzelte und blies ein paar mächtige Wolken
von sich.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen spannte Mattens mit dem Frühesten an, und neben
dem breitschulterigen, behäbigen Bauersmann nahm der schmale, lang
aufgeschossene Schulmeister Platz. So fuhren sie langsam in den
frischen Aprilmorgen hinaus.

Das Gespräch zwischen ihnen riß nicht ab. Die Führung lag in den
Händen des Bauern. Er sprach von den Feldern, Heiden, Wäldern, Wiesen,
Dörfern, Gehöften, Menschen und Tieren und allem andern, was in seinen
Gesichtskreis gehörte, mit jener Treffsicherheit und Sachlichkeit
und jenem trockenen Humor, die nur aus dem intimen Umgang mit den
Dingen und der behaglichen Freude an ihnen sich ergeben. Er sprach in
jener urgesunden echten Bauernart, die den nicht gar zu blasierten
Kulturmenschen immer wieder überrascht, und ihn erquickt wie der
frische Duft der Scholle, die nachdenkliche Menschen immer wieder
zweifelhaft macht, ob unsere ganze Kultur und »Bildung« wirklich so
viel wert ist, wie es uns von allen Dächern gepredigt wird, ob wir
für sie nicht einen zu hohen Preis gezahlt haben; in jener Art, von
der ein Bücherschreiber, der nicht raffiniert für ein raffiniertes
Publikum, sondern deutsch für das deutsche Volk schreiben möchte, immer
wieder lernen muß, und um die er manchmal so einen schlichten Heide-
und Moorbauer aufrichtig beneidet. Denn ganz lernt's einer doch nicht
wieder so, der leider »schrecklich viel gelesen.«

Hätte Peter vor einem Jahre mit einem Mann wie Clas Mattens eine Fahrt
über die Heide gemacht, so würde er mit Kunst und Tücke das Wort an
sich gerissen und belehrende Vorträge über wer weiß was für abliegende
Dinge gehalten haben. Denn damals hielt er sich wegen seines bißchens
Bücherweisheit für »gebildet« und verpflichtet, andere zu bilden und
zu belehren. Heute aber hielt er den Mund, hörte zu und fragte. Denn
er war jetzt gebildet genug, um einzusehen, daß auch ein Schulmeister,
der ein gutes Abgangszeugnis vom Seminar in der Tasche hat, noch nicht
alle Weisheit mit Löffeln gefressen hat, daß er noch tüchtig lernen
mußte und sich auch nichts vergab, wenn er von einem Bauern lernte. Er
war gebildet genug, um die Welt des gefestigten, auf seine Scholle und
Arbeit stolzen Bauerntums als eine ganze und reiche Welt zu empfinden,
die es durchaus nicht nötig hatte, sich vor der Welt der Bildung und
Bücher, in die er selbst ein wenig hineingerochen hatte, schamhaft zu
verkriechen. Und er war gebildet genug, um einzusehen, daß er an diese
Welt, in der er ja auch leben sollte, wieder mehr Anschluß suchen
mußte, daß neben dem, was in den Büchern stand, auch das ihn umgebende
Leben Beachtung verdiente. So machte er denn während dieser Fahrt Ohren
und Augen weit auf und war des Bauern lernbegieriger Schüler.

Es kam bei diesen Gesprächen zwischen Bauer und Schulmeister zufällig
heraus, daß Clas Mattens nicht schreiben und nur mangelhaft lesen
konnte. Peter kannte ja viele, die statt ihres Namens drei Kreuze
machten. Aber bei Mattens wunderte ihn das doch, und er sagte: »Dat
harr ick nich dacht.« »Jawoll,« lachte der Alte, »ji Scholmester bild't
jo jümmer in, wenn da'n düchdigen Keerl is, de in de Welt paßt und
sinen Kram versteiht, denn harrt ji dat Meiste darto dan. Kinners,
Kinners, 't hett all Keerls in de Welt geben, as noch keen Scholmester
de Jungs de Böxen stramm tög.«

Nach einer Fahrt von vier Stunden langte das Gefährt vor Harm Eggers'
Häuslingskate an. Als Peter innerlich auf alles gefaßt und gegen alles
gewappnet, in die Tür trat, hörte er den Vater in der Stube laut
schnarchen. Seine jüngste Schwester erzählte ihm eifrig, er wäre
dun[23] nach Hause gekommen und hätte von Muttern schreckliche Prügel
gekriegt. Sie zeigte ihm auch lachend den Stock, der in der Ecke stand.
Die Mutter wäre auf der Nachbarschaft zum Waschen. Peter raffte in
größter Eile seine Sachen zusammen, trug sie auf den Wagen, sprang
selbst hinauf und bat Mattens, davonzufahren.

»Wat? Nich mal'n Tass' Kaffee kakt uns din' Mudder? Dar harr ick mi
bannig up spitzt.«

»Se is nich to Hus,« sagte Peter kurz.

Auf der Rückfahrt kauften sie in einem Flecken, was sie für die erste
Einrichtung für nötig hielten. In ihren Ansichten darüber stimmten
sie bis auf einen Punkt überein. Der Bauer meinte, Peter könne sich
wenigstens den Sommer über ganz gut draußen am Hofbrunnen waschen
und brauchte kein Waschgeschirr. Aber Peter, der an diesen Luxus von
Wehlingen und vom Seminar her gewöhnt war, wollte nicht gern auf ihn
verzichten. Mattens meinte, die Schulmeister würden immer großartiger,
und man wüßte nicht, wo das schließlich noch hinaus sollte, gab aber
endlich doch nach.

Es ging bereits gegen Abend, als sie wieder zu Hause anlangten. Der
Bauer half dem jungen Schulmeister, die Siebensachen abzuladen und ins
Haus zu schaffen. »So,« sagte er, als sie damit fertig waren, »nu mak
he sick man allens fein to Schick, und adjüs ok.« Dann hängte er in die
Stränge ein und zog mit seinem Gespann ab.

Peter stand in seiner Stube zwischen seinem Hausrat. Jetzt war's
wirklich eine kleine Aussteuer. Da kam ihm plötzlich die Erinnerung,
wie Schulmeister Wencke in Wehlingen ihn vor drei Jahren auf seine
Kammer geführt und gesagt hatte: »So, nun mach's dir nur gemütlich
in deinem Heim.« Wehmütig dachte er daran, mit was für einem jäh
erwachenden Heimgefühl er damals von dem Dachstübchen Besitz ergriffen
hatte. Von dem Glück und Jubel jener Stunden war er heute weit
entfernt. So konnte er sich überhaupt nicht mehr freuen. Aber froh
war er doch, daß er nun wieder ein eigenes Heim hatte. Das enge
Zusammenleben mit innerlich ihm fremden Altersgenossen, wie das Seminar
es mit sich gebracht hatte, war ihm zuletzt fast unerträglich geworden.
Es mochte ja zuerst ganz heilsam für ihn gewesen sein. Aber im Grunde
war er doch einer der Menschen, deren Bestes nur in der Stille und
Einsamkeit reift, und denen es darum einfach Lebensbedürfnis ist, oft
und viel allein zu sein. Das war ja nun im Soltener Schulhause wieder
möglich. Und darüber freute er sich.

Er machte sich an die Einrichtung seines Zimmers. Denn gemütlich sollte
es hier auch werden.

Die schwierigste Arbeit nahm er zuerst in Angriff: das Bettmachen. Da
sie hierfür nur Oberbett und Kissen gekauft hatten -- ein Laken hatte
Frau Mattens aus ihrem Leinenschatz hergegeben und mäßig verrechnet --
so brauchte Peter Stroh, um die Butze aufzufüllen und sich eine weiche
Unterlage zu bereiten. Er ging in das Bauernhaus, auf dessen Hof die
Schule lag, und bat darum. Swiebertsbauer war glücklicherweise nicht
zu Hause. Wahrscheinlich hätte er Peter auf das nächste Bauernmal
vertröstet, wo beschlossen werden könnte, welche Höfe je ein Bund Stroh
für das Bett des Schulmeisters zu liefern hätten. Die Bäuerin aber war
menschenfreundlicher. Sie kommandierte ihre Magd, das nötige Stroh nach
dem Schulhause hinüberzutragen und dem Schulmeister auch gleich das
Bett fertigzumachen. »So'n Mannsminsch kennt dar doch nix von,« sagte
sie.

Als die Magd nach Ausführung ihres Auftrages gegangen war, fuhr Peter
mit dem Einrichten fort. Die Geige, sein wertvollstes Besitztum,
stellte er auf den niedrigen Beilegerofen, dessen Eisenplatten
zweimal mit dem »Fräuwlein von Samaria« und einmal mit Christi Taufe
geschmückt waren. Den gekauften Tisch stellte er an die Längswand und
baute seine Bücher an dieser auf. Die Wände waren gänzlich kahl, und
gerade über dem Tische war ein Stück Bewurf abgefallen. Aber Peter
besaß ein Mittel, diesen Schönheitsfehler zu verdecken und der kahlen
Fläche einigen Schmuck zu verleihen. In der Seminarstadt hatte er sich
einmal bei einem Althändler für wenige Groschen ein paar ungerahmte
Bilderblätter gekauft. Die brachte er mit kleinen Nägeln über seinem
Tische an. Das eine Blatt zeigte das Bild eines alten Mannes mit
tiefgefurchten Zügen und wallendem Barte, der einsam auf seinem Lager
saß und das Haupt auf eine vor ihm stehende Harfe gestützt hielt,
auf deren Saiten seine welken Finger leise Töne zu greifen schienen.
Darunter standen die Worte:

         Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
         Wer nie die kummervollen Nächte
         Auf seinem Bette weinend saß,
         Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Wegen dieser Worte vor allem, die er zum erstenmal an jenem
glücklichsten Tage seines Lebens gelesen hatte, als seine Seele eben
mit Goethes Mailied gejubelt hatte, war ihm dieses Bild in dem Fenster
des Antiquars so lieb geworden, daß er es sich endlich kaufen mußte.
Und da hatte der Mann ihm gleich ein anderes Bild gezeigt, das dazu
gehöre, und er hatte sich dieses auch gekauft. Da stand ein Mädchen in
langem, weißem Kleide, halb Kind, halb Jungfrau, an eine Säule gelehnt
und schaute mit schmerzlich sehnsüchtigem Blicke in die Weite. Darunter
stand:

          So laßt mich scheinen, bis ich werde;
          Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
          Ich eile von der schönen Erde
          Hinab in jenes feste Haus.

Als Peter mit dem Einräumen seines Zimmers fertig war, setzte er sich
an seinen Tisch, stützte den Kopf in die Hände, sah gerade vor sich auf
seine Bilder und ihre Verse, und verfiel in tiefes Sinnen.

Tränenbrot und durchweinte, kummervolle Nächte ... ja, er selbst kannte
sie auch, so jung er war gegen den Alten auf dem Bilde ...

Der alte Harfenspieler hatte durch sie die himmlischen Mächte kennen
gelernt. Konnte er das auch von sich sagen? ... Nein. Im Gegenteil.
Vorher hatte er von Gott -- so setzte er stillschweigend für die
himmlischen Mächte ein -- gewußt und ohne Bedenken und Zweifel, aber
freilich, auch ohne sich viele Gedanken zu machen, über ihn gelehrt.
Das war so leicht gewesen. Es stand ja alles fertig im Katechismus
und in der Bibel. Dann hatte er in jener Verzweiflungsnacht zu Gott
geschrien und keine Antwort bekommen, keine Erhörung gefunden. Seitdem
fühlte er im Unterricht manchmal etwas wie ein böses Gewissen, wenn er
von ihm lehrte. Aber er beruhigte sich: Wir Schulmeister müssen's alle,
es steht einmal in den alten Büchern so drin, und Religion ist immer
gewesen und muß auch sein.

Und doch waren auch wieder Stunden in seinem Leben, in denen er das
Gefühl gehabt hatte, als ob er jetzt, nachdem er den Gott seiner
kindlichen Vorstellungen verloren, erst auf dem Wege wäre, Gott von
ferne zu ahnen, ihn vielleicht einmal zu kennen; als ob er sein
Liebesglück und Liebesleid, seine Jubelstunden und seine durchweinten
Nächte einbeziehen könnte, ja müßte, in einen verborgenen Liebeswillen,
der geheimnisvoll über seinem Leben waltete. Selten waren solche
Stunden, und es waren auch dann nur Ahnungen, die ganz leise und
heimlich durch seine Seele zogen. Die entgegengesetzte Stimmung, daß
er mit einem blinden, grausamen Geschick haderte, daß er sich dumpf
und stumpf unter etwas Unabänderliches zu beugen suchte, hatte die
Vorherrschaft ... Der Harfenspieler war ein alter Mann. Vielleicht
hatte der auch nicht immer so an seine Leiden und Schmerzensnächte
gedacht, so voll stiller Ergebung, ja voll Dankbarkeit für das, was
solche Zeiten ihm gegeben. Das kam vielleicht erst mit den Jahren ...

Peter ließ seine Augen auf dem zweiten Bilde ruhen. Von dessen Versen
hatte er bislang überhaupt nichts verstanden. Es war ihm lieb geworden,
weil das weiße Kleid des Kindes und ein leiser Zug in ihrem Gesicht
ihn an seine Tote erinnerte. Und bei dem festen Hause hatte er ganz
unbestimmt an das goldene Tor gedacht. Wie er nun so in stillem
Sinnen hinschaute, haftete sein Auge an einem kleinen Wörtlein: So
laßt mich scheinen, bis ich ~werde~ ... Werden ... Werden ...
~Was~ werden? Das stand da nicht ... Nur: werden ... Wie er
darüber nachdachte, wollte es ihm plötzlich scheinen, als sei in
diesem schlichten Wörtlein sein ganzes Jugendsehnen auf das kürzeste
und treffendste ausgedrückt. Nicht, was so an der Oberfläche getrieben
hatte: Hauptseminar und Küsterstelle usw., sondern das, was in der
Tiefe geströmt und jene Wünsche getragen hatte. Und es kam ihm die
Erinnerung an eine Frühlingszeit seines Lebens, da er dieses Werdens
mit seligen Schauern selber inne geworden war. Aber dann waren ja
wieder Zeiten gekommen, in denen er die Empfindung hatte, als ob alles
in ihm tot und still läge. Nun stand dieses Wort vom Werden über seinem
Schreibtisch, und er wollte es als eine freundliche Verheißung nehmen,
daß das Werden doch noch nicht aufgehört habe, daß die alte Sehnsucht
noch Erfüllung finden könnte.

Die beiden Bilder hingen nebeneinander. Und der Antiquar hatte ihm
beim Kauf gesagt, daß sie eng zusammengehörten. Er hatte auch irgend
eine Geschichte erzählt, die das beweisen sollte. Die war ihm aber
entfallen, wenn er sie überhaupt recht aufgefaßt hatte.

Ja, vielleicht gehörte, auch ohne diese besondere Geschichte, überhaupt
im Leben, alles dieses zusammen: Die kummervollen Nächte und das
Tränenbrot und das Werden, die schöne Erde und das feste Haus und das
goldene Tor; das Suchen und Sehnen, das Weinen und Verzweifeln, das
Wachsen und Werden, und ... Gott ...

Es war etwas in ihm, was sich nach Aussprache sehnte. Da nahm er
seine Geige. Den Blick auf den Harfenspieler gerichtet, begann er zu
spielen, schmerzvoll klagende Weisen mit einem leisen Unterton der
Ergebung, wie sie der Alte einst seiner Harfe entlockt haben mochte.
Dann wandte er sich dem andern Bilde zu und zog lange, süße, innige
Töne. Tränen füllten seine Augen, und mit den umflorten Blicken sah er
in Mignons Bild das Bild seiner teuren Toten. Da packte ihn ein wilder
Schmerz, und schrill und scharf zog er mit dem Bogen über die Saiten.
Dann schaute er wieder auf den zum Frieden gekommenen Alten, strich
allmählich ruhiger, und ging zuletzt in Händels Largo über, das ihm
von allen Tonstücken, die er kannte, das liebste war. Er stand jetzt
vor dem Fenster, und sein Blick flog zu dem Stückchen Himmel auf, das
zwischen der Schule und dem nahen Bauernhause sichtbar war.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Tage fing Peter an, sich in Solten herumzuessen. Das Dorf
zählte sieben Halbhöfe, und jeder hatte die Verpflichtung, einen Tag
der Woche den Schulmeister zu Mittag und Abend zu beköstigen. Den
Morgenimbiß nahm er zu Hause ein, und traf mit einer benachbarten
Häuslingsfrau, der er auch die Wartung seines Zimmers übergab, das
Abkommen, daß sie ihm durch eins ihrer Kinder dazu einen Becher
frischgemolkener Ziegenmilch herüberschickte.

Da Peter jetzt des Willens war, die Welt, in der er lebte, und das
ihn umgebende Leben kennenzulernen, so war ihm der Reihetisch ganz
lieb. Denn dazu bot er ja die beste Gelegenheit, die sich nur denken
ließ. Wenn er des Mittags mit hungrigem Magen auszog, kam er sich fast
wie ein Entdeckungsreisender vor und hielt Augen und Ohren offen. Er
versuchte von dem Aussehen der Häuser auf ihre Bewohner, von dem Vieh
auf die Menschen, von den Menschen auf das Vieh, von den Eltern auf
die Kinder, von den Kindern auf die Eltern zu schließen, er verglich,
stellte Betrachtungen an, kurz, er studierte das Leben und die
Menschen. Was die Hofbesitzer betraf, so fand er bald heraus, daß er
gleich am ersten Tage die größten Gegensätze kennengelernt hatte: den
wortkargen, stumpfen, geizigen Swiebertsbauern, und den humoristischen,
klugen, noblen Mattensbauern. Frauen gab's, wie überall, ordentliche
und schlampige, heitere und mürrische, gut aussehende und häßliche,
mütterliche und stiefmütterliche. Von den Altenteilern hatten die
einen etwas Patriarchalisches in ihrem Wesen, die andern hatte das
Leben, Arbeit und Sorge müde und stumpf gemacht. Peter packte das Leben
mit wachen Sinnen, und wo er's packte, da wurde es ihm interessant.
Während er die Menschen beobachtete, beobachteten die Menschen ihn, und
schon am Ende der Woche stand das Urteil über ihn ziemlich fest: »Wi
hewwt'n lütten schönen Scholmester krägen. He is gar nich stolz, itt
wat up'n Disch kummt und hett Ogen in'n Kopp.« Nur die Schulkinder,
die ja demnächst am meisten mit ihm zu tun haben sollten, hielten ihr
Urteil in der Schwebe. Die wollten doch lieber erst sehen, wie er sich
in der Schule machen würde.

Am Sonntag ging Peter nach Brundorf zur Kirche. Er setzte sich auf
den Orgelchor, woselbst der Organist ihm schlimmes Herzeleid antat.
Er hatte seine Orgel schlecht in Stimmung und griff und trat mehr als
einmal böse daneben. Denn er dachte: Was verstehen die dummen Bauern
von Musik? Wenn's ihnen man tüchtig in die Ohren braust! Peter drehte
sich einige Male herum und bearbeitete den breiten Rücken des Kollegen
mit empörten Blicken. Aus dem Stadium, in dem ein Tongeräusch wie
Schulmeister Wenckes Geigenkratzen Musik für ihn gewesen war, war er
jetzt heraus, und die gute und gutgespielte Orgel der Hauptkirche der
Seminarstadt hatte ihn verwöhnt.

Als der Superintendent auf der Kanzel erschien und seine Predigt
begann, hörte Peter aufmerksam zu. Viel aufmerksamer und angestrengter,
als je früher in Steinbeck und Olendorf. Denn es war nun einmal der
Trieb in ihm erwacht, das Leben und die Menschen, wo und wie sie sich
ihm boten, kennenzulernen. Da hatte er nun bald das Gefühl, solche
Predigt könnte nur ein Mann halten, der mit Gott und der Welt, vor
allem aber mit sich selbst auf das schönste zufrieden ist. Er beneidete
den geistlichen Herrn und alle, die wie er das Leben im hellsten
Sonnenschein liegen sahen, verklärt von der Güte eines alliebenden
Vaters und von einer allgemeinen, die Welt -- wenigstens mit Worten
-- umspannenden Menschenliebe. Indem er dann aber tiefer darüber
nachdachte, fand er doch, die wirkliche Welt und das wirkliche Leben
zu erkennen und zu verstehen, das hatte doch auch seine Vorzüge, wenn
dabei auch mancher schöne Traum zerrann, und so schöne Phrasen, wie
sie von der Kanzel herunterpurzelten, unmöglich wurden. Die Erkenntnis
des Wirklichen empfand der junge Schulmeister, wenn er auch erst eben
angefangen hatte, die Augen und Ohren aufzumachen, doch schon als eine
Bereicherung des eigenen Lebens.

Wie seine Augen so auf dem glattrasierten, runden, strahlenden Gesicht
des Geistlichen ruhten, sah er plötzlich neben diesem den abgehärmten,
von langem weißen Bart umwallten Kopf seines alten Harfenspielers.
Da mußte er die beiden nach ihrem Aussehen und nach ihren Worten
vergleichen und von diesen Aeußerungen aus auf das dahinterliegende
Wesen schließen. Der eine redete des langen und breiten von der Güte
und Liebe eines großen Vaters über dem Sternenzelt. Der andere sprach
bescheiden, fast scheu, von himmlischen Mächten. Der Mann auf der
Kanzel redete von sich und seinem fröhlichen Glauben und legte dabei
beteuernd vor der ganzen Gemeinde die Hand auf die breite Brust. Der
alte Harfner saß allein in einer engen Zelle, auf die Harfe gestützt,
und sprach, ganz für sich, wie von einem Dritten, aber in Worten, in
denen des eigenen schwergeprüften Herzens Schlag zitterte ... Da fühlte
der junge Schulmeister sich dem Manne auf der Kanzel fremd und fremder,
und dem alten Harfenspieler immer verwandter.

Als von der Kanzel ein Ausfall gegen die Feinde des Lichts und der
Aufklärung kam, mußte er an den Schuster denken, vor dem er so
eindringlich gewarnt war. In Solten hatte er sonst noch nichts über
den Mann gehört, als daß er gute und billige Ware liefere. Jetzt, wo
der Superintendent gegen Leute seiner Art zu Felde zog, fühlte Peter
beinahe etwas wie Sympathie für ihn und beschloß, trotz aller Warnung
vor der damit verbundenen Gefahr, seine Bekanntschaft zu machen.

Als Peter nach beendigtem Gottesdienst sich auf den Heimweg machte,
beschäftigten ihn die Gedanken, die ihm während der Predigt gekommen
waren, noch immer. Dieser Superintendent gehörte ohne Zweifel zu
den Menschen, die der Seminardirektor als »öde, platte, geistlose
Rationalisten und Totengräber der Kirche« bezeichnet hatte. Und der
letztere war ja von ersterem als »Pietist und Dunkelmann« gebrandmarkt
worden. »Und welches ist ~Ihre~ religiöse Stellung?« hatte der
Superintendent ihn gefragt. Peter lachte, als ihm die wunderliche
Frage einfiel. Aber sofort wurde er wieder ernst. Er gestand sich,
daß er jetzt, nachdem der Trieb, das Wirkliche zu erkennen, in
ihm erwacht war, den Wunsch verspürte, auch über diese schweren,
schwersten Fragen, die in der Schule täglich vorkamen, Klarheit zu
gewinnen. Aber wie? Aus Büchern? Zu ihnen hatte er in dieser Sache
wenig Vertrauen, seitdem er wußte, wie die hochstudierten Herren, die
sie schrieben, einander widersprachen. Da dachte er wieder an seinen
alten Harfenspieler. Der wußte von den tiefen verborgenen Kräften,
die der Menschen Leben gestalten, tragen und segnen, wohl mehr als
jene hochgelehrten Herren. Wo hatte er das gelernt? In der Schule des
Lebens ... In der Schule der Leiden ... Ja, in der Schule der Leiden,
vielleicht war da das Letzte und Tiefste und Größte zu lernen ...

»Na, lütte Scholmester,« rief hinter ihm Clas Mattens' muntere Stimme,
»he hollt den Kopp ja so dal, he is woll ganz deepdenksch[24] vandag?«

Peter blieb stehen und erwartete den herankommenden Bauern.

»Hewwt wi nich'n schönen Zupperndenten?« fragte dieser, nachdem er
Peter eingeholt hatte.

»Och ja,« meinte der Schulmeister, »he kann bannige Wöer[25] maken.«

»Blot eenen Fehler hett he,« sagte Mattens, »he makt ~to väl~
Wöer. He künn datsülwige in de halwe Tied seggen. Aber dat hört woll
to de Gelehrsamkeit van de groten Herrns, dat se sick nich so kort
befaten könnt as'n dummen Buersmann. Ick hol't mit den Spruch: 'n lange
Wost[26] und'n korte Predigt, dorbi kann'n dat Winderdag und Sommerdag
utholen.«




Am nächsten Morgen wurde Peter durch die Stimmen der Kinder, die sich
frühzeitig vor der Schule versammelten, aus dem Schlaf geweckt. Er
stand schnell auf, schloß die Schultür auf, trank seine Ziegenmilch und
trat zum erstenmal vor die ihm anbefohlene Kinderschar.

Das Gesicht der Schule war das ihm von Wehlingen her vertraute: Blaue
und graue Augen, hellblonde Haare, die Langköpfe weit zahlreicher als
die Kurzköpfe. Der Kinder, die irgendwie von dem allgemeinen Typus
abwichen, waren nur wenige. Aber ein Kind -- das sah Peter auf den
ersten Blick -- machte in dieser Umgebung einen fremdartigen Eindruck.
Es war ein Mädchen von etwa zwölf Jahren. Das schmale Gesichtchen war
feiner geschnitten und weißer in der Farbe als die der Kameradinnen,
und die dunklen Augen hatten ganz ihren eigenen Ausdruck. Peter
glaubte die Gesamtheit der übrigen Kinder auf den ersten Blick
ihrem Grundcharakter nach zu kennen. Es war dieselbe Art, mit der
er herangewachsen war, und die er in Wehlingen zweiundeinhalb Jahre
unterrichtet hatte, die ungemischte niedersächsische Rasse. Aber dieses
eine Gesicht gab ihm Rätsel auf.

Peter eröffnete seine Tätigkeit als selbständiger Lehrer nach einigen
Gesangversen mit einer kleinen Ansprache, in der er die Kinder zu
Fleiß, Aufmerksamkeit, gesittetem Betragen und anderen Schülertugenden
ermahnte und die Hoffnung aussprach, daß sie selbst es ihm möglich
machen würden, den Stock nicht zu gebrauchen. Denn er schlüge
höchst ungern und wäre in seiner ersten Schule beinahe ganz ohne
Schläge ausgekommen. Dieser Teil seiner schönen Rede fand die größte
Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Ein großer Bengel wechselte mit seinem
Banknachbarn einen vielsagenden Blick.

Darauf begann Peter nach dem Stundenplan mit der Religionsstunde.
Er wollte zunächst feststellen, was die Kinder an Memorierstoff
beherrschten, und stellte Fragen aus dem Landeskatechismus. Die Kinder
hatten den Text leidlich binnen, trotz des lehrerlosen Jahres, während
dessen nur selten ein Schulmeister aus der Nachbarschaft zur Vertretung
herübergekommen war. Aber, so oft Peter fragte, fiel es ihm auf, daß
das fremdartige Mädchen nicht aufzeigte, ja, nicht einmal aufblickte.
Wie verlegen saß sie da und sah vor sich nieder. Zuletzt stellte er
eine ausgesucht leichte Frage und rief sie auf, obgleich sie sich
wieder nicht meldete. In die Schule kam eine Bewegung, die Kinder
stießen sich an, lachten, legten sich auf die Tische und wandten die
Köpfe, um die Gefragte zu beobachten. Peter brachte durch ein paar
energische Worte die Gesellschaft zur Ordnung und Ruhe und wandte
sich dann wieder an die aufgerufene Schülerin, die mit gesenktem Kopf
schweigend in der Bank stand. Er versuchte ihr zu helfen, indem er die
Antwort anfing. Vergeblich. Ratlos sah er sich in der Klasse um. Da
meldete sich ein anderes Mädchen, und als Peter ihr zunickte, sagte:
»Lina ihr Vater will das nicht haben, daß sie den Katechismus lernt.«

»Sooo?« fragte er verwundert.

Da flog die kleine Plappertasche wieder in die Höhe und fuhr fort:
»Lina ihr Vater sagt, im Katechismus steht der rechte Glaube nicht in.«

»Setz dich und halt deinen Mund!« sagte Peter ärgerlich.

»Was ist dein Vater?« fragte er freundlich das Kind, das noch immer
stand und jetzt rot übergossen war.

»Schuhmacher,« war die schüchtern gegebene Antwort.

Die Plappertasche zeigte wieder eifrig den Finger, wobei sie dem
Schulmeister den Arm entgegenzuckte und sich über die Bank warf.

»Was willst du denn nur?« fragte Peter ärgerlich.

»Lina ihr Vater ist ein Fremder, er ist ...«

»Wenn du dich noch einmal um Sachen kümmerst, die dich nichts angehen,
stelle ich dich dort in die Ecke,« sagte Peter, scharf verweisend. Das
Mädchen nahm die Schürze und maulte.

»Na, Lina, setz dich,« wandte er sich wieder an die andere, »ich
denke, fortan müssen wir hier in der Schule lernen, was der Lehrer
will. Das geht wohl nicht anders.« Er sagte das ganz freundlich. Das
Kind in seiner Verlegenheit tat ihm leid. Und über die andern, die mit
Interesse und Schadenfreude die Szene zwischen dem neuen Lehrer und
dem Kinde des fremden Schusters verfolgten, ärgerte er sich. Er hatte
gleich die Empfindung, daß diese Fremdartige keinen leichten Stand
unter ihren Mitschülern hätte, und nahm sich vor, auf sie besonders zu
achten und sie zu schützen, wenn es nötig sein sollte. Denn er kannte
die Herzlosigkeit und Grausamkeit der Jugend gegen alles, was anders
ist und sich nicht glatt dem Hergebrachten fügt. Hatte er doch selbst
in seiner Jugend sie öfter erfahren.

Nach einer Weile ging er zu der biblischen Geschichte über. »Wer kann
mir die Geschichte von Maria und Martha erzählen?« fragte er.

Einige Finger wurden zaghaft gehoben und wieder zurückgezogen. Nur
Schusters Lina zeigte ruhig und sicher auf, und ihre dunklen Augen
sahen den Lehrer voll an.

Peter war froh, daß er ihr vor der Klasse eine Genugtuung geben konnte,
und rief sie freundlich auf.

Und nun erzählte sie. Und erzählte so, daß Peter sie verwundert ansehen
mußte. Es kam ihm vor, als hörte er eine ganz neue Geschichte, ja, als
sähe er sie vor sich, die geschäftige Martha und die stille, innige
Maria, und den Herrn, der von der Wanderung in dem Heim der Schwestern
eingekehrt ist. Als sie fertig war, sagte Peter: »Das hast du gut
erzählt, Lina. Darüber habe ich mich gefreut.«

Er ließ sich dann noch einige Geschichten von anderen Kindern
erzählen. Die beherrschten den Text ja auch wohl. Aber wie hölzern und
plump kamen sie damit über, wie ging dabei das Zarte, Schöne, Tiefe
verloren! Er konnte sich nicht versagen, Linas Erzählen den anderen als
vorbildlich hinzustellen. Als er es getan hatte, bereute er es aber
auch schon. Die Kinder, die ihre Geschichten ebenso fließend aufgesagt
hatten, machten verwunderte Gesichter und sandten einen nicht gerade
freundlichen Blick nach der durch das erste Lob des neuen Schulmeisters
ausgezeichneten Mitschülerin hinüber.

Um zehn Uhr entließ er die Kinder. Er hatte, dem Beispiel seines alten
Lehrmeisters folgend, für diese Stunde die Schulneulinge bestellt.

Auch hier in Solten kamen die Eltern der Kleinen zum Lehrer und
überreichten ihm süße Anlockungsmittel. Die nahrhafteren Beigaben für
den Schulmeister selbst fehlten hier natürlich, wegen des Reihetisches.
Peter schrieb auf jede Tüte den Namen des Kindes, das er mit ihr an
sich fesseln sollte. Als er fünf Tüten vor sich hingelegt hatte, trat
ein Vater mit leeren Händen vor ihn hin und redete ihn hochdeutsch an:
»Herr Lehrer, mein Paulchen kommt auch ohne Zuckertüte gern zu Ihnen.
Wir haben ihm erzählt, daß Sie ein lieber, freundlicher Herr sind.«
Peter sah sofort an den Augen des Mannes, die Ähnlichkeit mit denen der
kleinen Lina hatten, daß er den Schuster vor sich hatte.

Vor den versammelten Eltern erklärte der junge Schulmeister, er werde
die Kinder einstweilen nach dem Abc setzen, und später nach Betragen,
Fleiß und Tüchtigkeit. Die Eltern räusperten sich, einige sahen sich
an, und ein Bauer, den Peter von den Hofbesitzern, die er bislang
kennen gelernt hatte, am wenigsten leiden konnte, weil er in seinem
Wesen etwas Dummprotziges hatte, sagte: »Jea, dat is man so'ne Sak';
min Kinner hewwt bi den olen Scholmester jümmer baben an säten. Und
ick bin ok de böberste wän. Min sel. Vader harr den grötsten Hoff.«
»Denn will ick wünschen, Westermann,« sagte Peter, »dat jon Willem 'n
düchdigen Jungen is und ok wedder den böbersten Platz innenehmen kann.«

Er entließ die Eltern und rief seine Kleinen in die Schulstube. Sie
kamen ängstlich und zaghaft. Denn auch in Solten hatten die lieben
Mütter aus erzieherischen Gründen die Person des Schulmeisters mit
allen erdenklichen Schrecken umkleidet. Auch die Zuckertüten konnten
nicht alle Angst aus den Gesichtern verscheuchen. Nur ein kleines,
eckiges Bürschchen kam munter angestapft, sah sich mit den schwarzen
Äuglein interessiert um und ließ sie dann voll Vertrauen in denen
des Lehrers ruhen. Als aber die anderen ihre Zuckertüten bekamen,
verdunkelte sich das fröhliche Gesichtchen, und in den schwarzen Augen
wurde Regenwetter. Peter fragte Westermanns Willem, der, weil sein
Vater den größten Hof besaß, die größte Tüte hatte, ob er Paul etwas
abgeben wollte. Willem sagte stramm: »Nee.« Er wandte sich an die
anderen. Die wollten sich, Willems Beispiel folgend, ebenfalls auf
nichts einlassen. Peter hielt eine kleine plattdeutsche Rede über das
Wohltun und Mitteilen und bat dann die Kinder, sie möchten je zwei
Boltjen aus der Tüte nehmen, und ihm, dem Schulmeister, schenken. Alle
taten es, bis auf Willem. Peter ärgerte sich über den dickköpfigen
Bengel und nahm sich von ihm, was die andern freiwillig gegeben hatten.
Da stellte sich der kleine Kerl steil hin und sagte: »Dat segg ick to
minen Vader, dat du mi de Boltjen stahlen hest. De hett he för mi
kofft, und nich vör den Schoster sinen.« Peter überreichte die auf
diese Weise verfügbar gemachten Süßigkeiten dem kleinen Paul, bei dem
nach dem Regen denn auch sofort wieder Sonnenschein eintrat.

Darauf wies er den Kleinen ihre Plätze an. Paul Döhler wurde nach dem
Alphabet der erste, Willem Westermann mußte den letzten Platz erhalten.
Dieser machte ein Gesicht, als ob er protestieren wollte, sagte aber
doch nichts.

Peter beschäftigte die Kinder ein Stündchen mit einem Bilde, auf dem
Haustiere fraßen, brüllten, krähten, schliefen und sonst sich ihres
Lebens freuten. Viel brachte er aus ihnen noch nicht heraus. Aber es
schien ihm, als würde sowohl Paul Döhler seinen ersten wie Willem
Westermann seinen letzten Platz während der Schuljahre behaupten.

Als er die Kinder entlassen hatte und in seine Stube gegangen war,
hörte er plötzlich draußen ein lautes Geschrei. Er lief hinaus und
sah, daß der große, starke Willem den zarten Schusterpaul zu Boden
geworfen hatte und auf ihn losschlug. Als er hinzugeeilt war, erhob er
sich soeben, die dem Schwächeren geraubten klebrigen Bonbons in der
Hand. Peter nahm den Jungen beim Kragen, schnitt sich von einem nahen
Birkengebüsch eine Rute und erteilte ihm eine tüchtige Tracht Schläge.
Die Süßigkeiten warf der Junge dabei in den Sand.

Als Peter den kleinen Bösewicht losließ, entfernte dieser sich um
einige zwanzig Schritt, und aus dieser sicheren Entfernung streckte er
die Hand drohend nach dem Schulmeister aus und sagte: »Töw[27] man, dat
segg ick minen Vader, dat du mi slan hest.«

Peter mußte über den erbosten kleinen Kerl laut lachen, aber ganz wohl
war ihm doch nicht. Die ersten Schultage nach Ostern in Wehlingen
beim Schulmeister Wencke waren harmonischer, zu größerer allseitiger
Zufriedenheit, verlaufen. Und er selbst hatte das Gefühl, nicht in
allem ganz richtig gehandelt zu haben.

Wenn er in Solten Schwierigkeiten haben würde, das fühlte er, so
würden sie irgendwie mit den Schustersleuten zusammenhängen. Dem
Superintendenten blühte von dieser Seite her viel Verdruß, und der
junge Schulmeister machte sich darauf gefaßt, daß es ihm ebenso
gehen würde. Er stellte sich aber die Frage, ob er darum die beiden
schwarzäugigen Kinder missen möchte, und beantwortete sie sich mit
einem entschiedenen Nein. Die beiden würden seine Tätigkeit als Lehrer
und seine Stellung im Dorfe erschweren, aber die beiden würden ihm auch
Freude machen. Um der beiden willen erschien ihm gleich heute seine
Schule so interessant, wie ihm die in Wehlingen mit ihrer ungemischten
Niedersachsenrasse niemals erschienen war.

An diesem Tage war der Reihetisch bei Clas Mattens. Beim Mittagbrot
war der Bauer sehr aufgeräumt, und über seinen originellen Schnäcken
überwand Peter die etwas unbehagliche Stimmung, die sich seiner
bemächtigt hatte. Als er aber am Abend wieder zu ihm kam, war ander
Wetter eingetreten. Der Bauer fuhr seine Frau an, und dann den Knecht,
und war über Tisch sehr einsilbig. Als die Familienangehörigen nach
dem Abendbrot das Zimmer verlassen hatten, räusperte er sich einige
Male und sagte dann endlich: »Scholmester, dat helpt nich. Ick mutt em
mal'n bäten vörnehmen. In't Dörp is düssen Nahmiddag väl öwer em snackt
worrn.«

»Soo?« fragte Peter. »Wat harrn de Lüe denn to snacken? Wat Godes?«

»Nee,« sagte Mattens kurz, »hüt' wör't nix Godes!«

»Wat denn?«

»De Lüe hett dat verdraten[28], dat he glieks den ersten Dag enen van
de Lütten dörtagelt[29] hett.«

Peter erzählte, wie ehrlich Willem seine Schläge verdient hatte, und
sprach seine Überzeugung aus, daß sie ihm sehr heilsam sein würden.

Der Bauer zuckte die Achseln. »Wenn ick min' Meenung seggen schall,«
sagte er, »de Scholmester is Meister van de Schol. Wat buten[30]
passeert, dat geiht em nix an. Daför sünd de Öllern.«

»Nee, Mattens-Vader, dar stah ick up'n ganz anner Stück,« rief Peter
lebhaft, »ick bin Scholmester in de Schol, up de Straten und in de
Hüser, Alldag und Sünndag. Ick will de Öllern düchdig helpen, de Kinner
god uptotrecken.«

»Scholmester, Scholmester, ick ra'e[31] em god. Lat he sine Näs' davon!
Dormit makt he blot böse Lüe und't helpt nix. Unse Lüe sind god, wenn
ener jüm gewähren lett. Abers wenn ener jüm an den Wagen föhrt ...
Scholmester, he is noch jung, he kennt de Buern noch nich.«

»Bangemaken gelt[32] nich,« sagte Peter zuversichtlich. »De Lüe willt
dat woll marken, dat ick dat god mit jüm und ehre Kinner meen.«

»Und denn is da noch väl hen und her snackt. Dat den frömden Schoster
sin Jung as de böberste[33] sitt, und Krischan Westermann sin, den
grötsten Buern in't Dörp sin, as ünnerste ...«

»Kann ick wat darto, dat de Schoster 'n D und de grötste Buer 'n W in
sinen Namen hett?« fragte Peter.

»So is dat niemals Mode wän,« sagte Clas Mattens ernst. »Süh,
Scholmester, unse Herrgott hett dat so inricht, dat't Kaiser und
Könige und Edellüe und Börger und Buerslüe in de Welt giwt. Und unse
Herrgott hett dat ok inricht', dat't in de Dörper Buern und Anboer und
Hüsselüe[34] giwt. Dor kann he nix an ännern.«

»Will ick ok nich. Aber deshalw kann den Schoster sin doch baben sitten
in de Schol.«

»Dat is Revolutschon.«

»Revolutschon!?«

»Jawoll. Wat is Revolutschon denn anners as wenn dat, wat nah ünnen
hört, nah baben kummt, und wat nah baben hört, nah ünnen. So 'ne
Grappen as de, dat he nu up'n Mal de Kinner anners setten well, as dat
van Adam sine Tieden her begäng[35] wän is, de stammt ok van dat dulle
Jahr achtunveertig.«

»Dor mögt ji woll recht hewn, Mattens Vader. Van dat Johr stammt
öwerall väl Godes.«

»Godes?« Der Bauer machte ein bedenkliches Gesicht. »Scholmester, ick
ra'e em god, spräk he sökke Ansichten nich vör de Lüe ut! So wat mögt
wi Buern up'n Lanne nich hören.«

»Na, de Revolutschonstied hett doch för den dütschen Buernstand ok väl
brocht. Dar hett de Erbuntertänigkeit uphört und ...«

»Erbuntertänigkeit? So lange as de Heide bläuht und de Wind weiht und
de Hahn kreiht, sünd wi Lüneborger Buern kenen unnerdan wän as den
Herrgott in sinen hogen Hewen[36]. Nee, lütte Scholmester, mit sökke
Geschichten mutt he uns nich kamen! Daför sünd wi to klok, und mit den
olen Demokratenkram wöt wi nix to don hewn. Ick ra'e em god, richt' he
sick nah't Dörp und föhr he keene neen Moden in! Dormit schad't he sick
man sülwst. Und mi ok. Ick heww em ja 'ranhalt, und wenn dat mal mit
em nich so inslan schöll, as ick dat höpen[37] do, denn krieg' ick de
Nackensläg.«

Claus Mattens griff nach seinem Nacken, als ob er die Schläge schon
fühlte.

Peter ging von dieser Unterredung nachdenklich nach Hause. Die ersten
Tage in Solten hatte er das Gefühl gehabt, daß es ihm leicht werden
würde, sich in diese Welt der Bauern, die ihm plötzlich interessant
geworden war, einzuleben. Heute war es ihm deutlich geworden, wie
tief doch die Kluft war, die ihn von dem Empfinden dieser Leute
trennte. Ganz konnte einer, der einmal etwas durch die Bücher in einer
weiteren Welt zu Hause geworden war, doch in dieser engen Welt eines
Bauerndorfes nicht wieder heimisch werden. Da er aber gelernt hatte,
von sich und seinem Berufe etwas kleiner und von dem ihn umgebenden
Leben größer zu denken, so nahm er sich vor, so weit es ihm möglich
wäre, dem Hergebrachten und den Wünschen der Gemeinde Rechnung zu
tragen. Und als er sich ins Bett legte, war er bereits entschlossen --
am nächsten Tage die Kleinen nach der Ordnung: Bauern-, Anbauer- und
Häuslingskinder umzusetzen.

Dem gegenüber, was ein ganzes Dorf als das Selbstverständliche,
Natürliche, weil Althergebrachte, ansah, seine eigene Ansicht
durchzudrücken, war Trinas Stiefsohn und Schulmeister Wenckes Zögling
denn doch nicht Charakter genug. Und andererseits war er zu klug und
kannte die Bauern zu gut, um nicht zu wissen, daß er mit Hartnäckigkeit
in dieser Lappalie den Erfolg seiner Berufstätigkeit in Solten gleich
am ersten Tage aufs Spiel setzte.

Außerdem war die Beweisführung des alten Bauern nicht ohne Eindruck auf
ihn geblieben. Er war ja auch selbst der Sohn eines der konservativsten
deutschen Stämme. Und wenn er auch ein Wörtlein für achtundvierzig
geredet hatte, so hatte er einfach nachgeschwatzt, was er irgendwo
einmal gelesen hatte. Er wußte weder, um was es sich damals gehandelt
hatte, noch, was dabei herausgekommen war. Von Politik hatte er
überhaupt nicht die geringste Ahnung. Ihre bewegenden Fragen wirklich
kennenzulernen, dazu fehlte es ihm an Anleitung und Gelegenheit. Und
auf ein paar leicht aufgeschnappte Schlagworte zu leben und zu sterben,
dafür war er schon zu reif.

Kurz und gut, am nächsten Morgen nahm er die Umordnung vor. Die Kinder
waren damit einverstanden, und das Dorf sehr befriedigt. »'n düchdigen
Scholmester,« hieß es, »he is nich so'n Hornoss', de mit den Kopp dör
de Wand well. He well noch wat toleern[38].«

Als Claus Mattens den jungen Schulmeister zuerst wiedersah, klopfte er
ihm freundlich auf die Schulter und sagte: »Ick heww mi doch nich in em
irrt. He hett Charakter.«

Peter sah ihn verwundert an. Daß er in dieser Sache nun gerade viel
Charakter gezeigt haben sollte, war ihm neu.

Die ganze körperliche Kraft der Jugend, den vollen Schwung eines
jugendlichen Idealismus hatte der junge Lehrer nach Solten nicht mehr
mitgebracht. Eine gewisse körperliche und seelische Müdigkeit lag
vielmehr auf ihm. Er vergaß sie, wo seinem suchenden Geist sich etwas
Neues zum Erkennen bot. Aber in dem täglich wiederkehrenden Einerlei
des Schulbetriebes fühlte er sie, da drückte sie auf ihn. Unter diesem
Druck war die Gefahr groß, daß er mit der Zeit in den alten Schlendrian
des Unterrichtens zurückfiel, in den er bei Schulmeister Wencke im
zweiten Jahre, nachdem der Reiz des Neuen verflogen, schon ziemlich
tief hineingeraten war: daß er sich nämlich begnügte, den Text der
biblischen Geschichten stumpfsinnig einzuprägen und abzufragen, mit dem
Landeskatechismus das gedruckte Frage- und Antwortspiel zu treiben,
das Lesen nach der Seite der rein mechanischen Fertigkeit zu betreiben
usw. Der eingesessenen Soltener Schuljugend gegenüber hätte er dabei
sein Gewissen mit der Zeit beruhigt. Die säßen ihre Stunden und Jahre
ab, um konfirmiert zu werden und dann möglichst schnell alles zu
vergessen, so hätte er sich wohl vorgeredet. Nun war da aber in der
Schule ein Augenpaar, das gehörte nicht einem Leib, der seine Stunden
absaß, sondern einer Seele, die hungrig war, die etwas verlangte. Den
Eindruck hatte Peter am ersten Tage gewonnen, und er wurde ihn nicht
wieder los. Es war, als ob diese Augen ihm zuriefen: Schulmeister, laß
dich nicht gehen. Hüte dich vor dem Schlendrian. Bereite dich ernsthaft
vor. Komm nicht mit dem alten abgeleierten Formelkram ... Schulmeister,
das war heute mal schwach. Das hast du nur so dahingeschwatzt, um die
Stunde auszufüllen ... Schulmeister, in dieser biblischen Geschichte
liegt viel mehr drin, als du herausgeholt hast. Dieses und Ähnliches
las Peters Gewissen in den dunklen Augen des Kindes und konnte darüber
nicht einschlafen.

Indem aber Peter sich zusammenraffte, um dem einen Kinde etwas zu
geben, gab er auch den andern mehr. Er merkte bald selbst, daß sein
Unterricht Interesse weckte. Hier und da bekam ein Augenpaar einen
lebhafteren Ausdruck. Hin und wieder erhielt er gute Antworten von
Kindern, von denen er sie nicht erwartet hatte. Es war doch ein anderes
Unterrichten, als früher in Schulmeister Wenckes Manier.

Und vor allem auch für sich selbst gewann Peter etwas, indem er sich
zwang, es mit der Vorbereitung ernst zu nehmen und in der Stunde seine
Kraft einzusetzen. Er bemerkte mit Verwunderung, wie ihm an den alten
Unterrichtsstoffen, die er längst an den Schuhen abgelaufen zu haben
glaubte, ganz neue Seiten aufgingen, wie ihm dabei Gedanken kamen,
die ihn selbst überraschten und die ihm persönlich wertvoll wurden.
Vor allem erging's ihm so mit den biblischen Geschichten. Als Jungen,
und auch noch als jungen Schulmeister in Wehlingen, hatte ihn bei
diesen besonders das Fremdartige, Wunderbare, das von seiner Umgebung
und von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge Abweichende interessiert. Das
trat jetzt zurück. Er sah hier jetzt Menschen vor seinen Augen irren
und zurechtkommen, leiden und jubeln, wachsen und werden, kämpfen
und siegen. Immer wieder mußte er sich über den Lebensreichtum der
evangelischen Erzählungen und Gleichnisse wundern. Das war nicht das
Leben seiner Bauern und auch nicht das Leben seiner Bücher. Aber Leben
war's, echtes, rechtes Leben, das fühlte er immer wieder. Und all dies
Leben, das wurde ihm immer deutlicher, ging von ~einer~ Quelle
aus, von Jesus Christus. Der hatte es so reich und stark in sich und
nahm es immer wieder aus verborgenen Tiefen. Und seine Freunde konnten
nicht von ihm loskommen. »Herr, wohin sollten wir gehen?« fragten sie,
»du hast Worte des ewigen Lebens.« Und was wurden sie in dem Verkehr
mit ihm, diese galiläischen Fischer und Bauern!

Es war durchaus kein theologisches Interesse, was den jungen
Schulmeister bei diesen Entdeckungen leitete. Es war vielmehr das
Interesse des innerlich werdenden Menschen, der sich nach vollem,
ganzem, tiefem Leben sehnt und sich dahin wendet, wo etwas diesem
Lebenshunger Sättigung zu versprechen scheint. Es war das Wachsen einer
Seele, die sich wie die junge Pflanze unwillkürlich dahin streckt, wo
die Bedingungen des Wachstums, Licht und Luft und Wärme, vorhanden sind.

                   *       *       *       *       *

Als Peter etwa drei Wochen in Solten war, verspürte er eines Abends
Lust, den Schuster einmal zu besuchen. Durch die Kinder hatte er auch
an ihrem Vater Interesse bekommen. Und auch die Angst des hochwürdigen
Herrn in Brundorf vor diesem Verführer machte den Wunsch in ihm rege,
den gefährlichen Menschen kennenzulernen. So wollte er sich denn doch
nicht von dem Herrn Vorgesetzten bevormunden lassen, daß er sich von
ihm in seiner eigenen Schulgemeinde seinen Verkehr vorschreiben ließ.

Er wartete die völlige Dunkelheit ab und machte sich dann auf den Weg.
Das Haus lag etwas außerhalb des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe.

Als er sich diesem näherte, tönte ihm Gesang entgegen. Schon wollte er
umkehren, da verstummte der Choral, und er setzte seinen Weg fort. Als
er vor der Tür ankam, hörte er drinnen einen Mann reden, im Gebetston.
Neben dem nicht ganz schließenden Vorhang her sah er, daß eine größere
Anzahl von Menschen in dem Zimmer auf den Knien lag. Da wandte er sich
zum Gehen. Aber in eben diesem Augenblick schlug ein Satz des Gebets
ganz deutlich an sein Ohr: »Bringe unsern jungen Schulmeister aus der
Finsternis zu deinem wunderbaren Licht.«

Peter lachte kurz auf, wandte sich schnell auf dem Hacken herum und
machte, daß er von dem Hause fortkam.

Dieser unverschämte Pechhengst! Diese unausstehlichen Pharisäer! Da
lagen sie auf den Knien und beteten, wie weiland ihr Vorbild im Tempel:
»Herr, wir danken dir, daß wir nicht sind wie die anderen Leute,
Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Schulmeister.«

Ha, diese Dunkelmänner wollten einen klug machen, der auf dem Seminar
die Abgangsprüfung als Zweitbester bestanden hatte?

Wie die Menschen doch bemüht waren, ihn zum Licht zu führen! Der
Seminardirektor auf seine Weise, der Superintendent auf seine, und nun
auch noch dieser Schuster! Wenn nur nicht das, was der eine für Licht
hält, in den Augen des anderen gerade die allerdickste Finsternis wäre!
Eine verrückte Welt! Da hält jedermann die armselige Tranfunzel, bei
der er sich selbst vielleicht leidlich zurechtfindet, für das große
Licht, das aller Welt leuchten soll, und hält alle die für Lichtfeinde
und Dunkelmänner, die lieber ihrer eigenen Tranfunzel folgen wollen.

Von dem Wunsch, den Schuster kennenzulernen, war Peter geheilt.

Am nächsten Morgen, als die beiden Kinder des Mannes vor ihm in ihren
Bänken saßen, mußte er sie nachdenklich betrachten. Die hatten beide
etwas Sonniges in ihrem Wesen. Auch der kleine Paul. Es war eine Lust
zuzusehen, wie er mit muntern Äuglein und spitzen Fingern den Feinden,
Buchstaben genannt, keck zu Leibe ging. Wie traurig, daß solche Kinder
in dem Hause des Dunkelmannes dahindämmern mußten! Nicht einmal eine
Zuckertüte am ersten Schultage hatte der harte Mann dem kleinen Kerl
gegönnt, und die hatte doch sogar er, Peter, seinerzeit bekommen. Er
nahm sich aufs neue vor, ihnen wenigstens in der Schule zu geben, was
irgend in seinen Kräften stände. Was denn? fragte er sich. Auch wieder
-- Licht. Da mußte er lachen. Das steckte in den Menschen doch einmal
unausrottbar drin, daß sie einander Licht bringen wollten. Und es war
vielleicht auch gut, wenn auch die Unvollkommenheit der menschlichen
Natur es mit sich brachte, daß die Menschen so verschieden darüber
dachten, was nun eigentlich das Licht sei. Aber es war doch wohl gut,
daß die Menschen das, was sie für das Beste hielten, einander gönnten.
Wie er sich die Sache so überlegte, konnte er auch über den Schuster
nicht mehr ganz so hart urteilen, als er es gestern abend getan hatte.

                   *       *       *       *       *

Eines Tages im Herbst, als Peter eben den Unterricht begonnen hatte,
klopfte es an die Tür, und ehe er Herein rufen konnte, trat der
Superintendent in die Schulstube. »Guten Morgen, lieber Eggers,« sagte
dieser, indem er sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der
Stirn wischte. »Sie sind nun schon fast ein halbes Jahr hier. Da möchte
ich doch mal sehen, wie's eigentlich bei Ihnen aussieht. Lassen Sie
mich mal!«

Peter trat bescheiden zwei Schritt hinter den Vorgesetzten zurück.

»Na, Kinder, wollen mal biblische Geschichte nehmen. Wer erzählt mir
vom Jüngling zu Nain?«

Einige Finger hoben sich. Auch Schusters Lina zeigte auf, in ihrer
stillen, sicheren Weise. Wenn er sie doch nur aufriefe! dachte Peter.
Aber der alte Herr griff sich einen vierschrötigen Jungen, der die
Geschichte denn auch auf seine Art ordentlich erzählte.

Darauf sprach der Superintendent mit den Kindern von dem Jüngling,
den sie so früh von der schönen Erde weg in das dunkle, schauerliche
Grab tragen wollten, von der Mutter, die nur den einen Sohn hatte und
eine arme Witwe war, von dem teilnehmenden Gefolge und von den anderen
Einzelzügen, die dabei aus der schlichten Einfalt der evangelischen
Erzählung in rührselige Breite gezerrt wurden. Zuletzt fragte er: »Nun
sagt mir noch mal, Kinder, wie war also der Jüngling, als der Heiland
ihn traf?«

»Tot,« lautete die Antwort.

»Gut, aber was für ein Tod ist das wohl gewesen?«

Kein Finger rührte sich. Die Kinder machten dumme Gesichter und sahen
bald den Fragenden, bald den im Hintergrunde stehenden Schulmeister an.

»Dann will ich deutlicher fragen: ~Wie~ tot ist der Jüngling wohl
gewesen?«

Ein kleines Mädchen meldete sich lebhaft.

»Nun, mein Kind«

»~Ganz~ tot.«

»So, glaubst du das wirklich?« fragte der alte Herr lächelnd. »Hast du
schon jemals gesehen, daß ein Toter wieder aufgestanden ist?«

Die kleine Unschuld schwieg. Sie hatte überhaupt noch keinen Toten
gesehen.

»Habt ~ihr~ das schon gesehen?« wandte der Superintendent sich an
die ganze Schule.

Keine Hand hob sich.

»Na, also!«

»Haben Sie das den Kindern nicht erklärt?« wandte der geistliche Herr
sich an den jungen Lehrer.

»Nein, Herr Superintendent ...«

»Dann will ich's euch sagen. Paßt nur hübsch auf! Der Jüngling war
schwer krank gewesen und zuletzt vor allzu großer Schwäche in einen
Zustand tiefer Bewußtlosigkeit, in einen ganz festen Schlaf gefallen.
Da meinte seine Mutter, er wäre tot, und bestellte die Beerdigung. Weil
es bei solchen Leuten scheint, als ob sie tot wären, nennt man sie
~schein~tot. Als nun die Träger unterwegs den Sarg hinstellten,
gab das schon einen Ruck, und als nun der Meister den Jüngling an
der Hand zog und ihn laut anrief, erwachte er aus seinem Scheintode.
Dergleichen hat man öfter gehabt.«

Die Kinder waren ganz Ohr. Peter sah auf seine linke Stiefelspitze.

»Nun wollen wir Katechismus nehmen,« sagte der Superintendent. »Frage
165: Wie hat man für seine Gesundheit zu sorgen?«

Alle Kinder der ersten beiden Bänke zeigten auf, bis auf Schusters
Lina. Wenn er nur das Unglückskind nicht faßte! Denn Peter hatte dem
Mädchen das Nichtlernen des Katechismus stillschweigend so hingehen
lassen.

Richtig, da hat er sie schon. »Du, da, die zweite auf der zweiten Bank!«

Lina stand auf, sah vor sich nieder und schwieg.

»Das weißt du nicht? Und alle auf deiner Bank zeigen die Finger. Schäme
dich, du großes Mädchen, setz dich!«

Ihre Nachbarin gab die Antwort.

»Durch gesunde Speise und Trank, durch Mäßigkeit in Essen, Trinken
und Schlafen; durch Mäßigung aufwallender heftiger Gemütsbewegungen,
durch Arbeitsamkeit, Vorsichtigkeit, und durch die, auch zu unserer
Empfehlung bei anderen Menschen unentbehrliche Reinlichkeit.«

»Gut. Wie sagt der weise Sirach darüber?«

Ein Junge schrie die Antwort:

»Mein Kind, prüfe, was deinem Leibe gesund ist, und was ihm ungesund
ist, das gib ihm nicht.«

»Gut. Nun aber du noch mal, du Faule da, so billig können wir dich
nicht laufen lassen. Warum haben wir unseren Gliedmaßen eine gewisse
Leichtigkeit und Gewandtheit zu nützlichen Arbeiten zu verschaffen?«

Lina stand wieder auf und sah verlegen vor sich nieder.

Peter wagte die bescheidene Bemerkung, den kleinen Katechismus Luthers
könnte das Mädchen sicher und gut.

»Das genügt mir nicht,« sagte der Superintendent kopfschüttelnd.
»Gerade auf den Abschnitt unseres Landeskatechismus, der von dem
pflichtmäßigen Verhalten gegen uns selbst handelt, lege ich besonderen
Wert. Lassen Sie das Kind nachher zurückbleiben und das lernen, was es
nicht gewußt hat.«

Ein anderes Mädchen mußte die ausstehende Antwort geben: »Wir
erleichtern uns dadurch unsere Berufsgeschäfte, daß sie uns schneller
und besser vonstatten gehen, und machen uns bei anderen angenehm.«

»Gut, mein Kind. Einen schönen Vers dazu. Finger weg! Im Chor!«

Die Kinder standen auf und schrien:

                          Gesunde Glieder, muntre Kräfte,
                          Wieviel sind die, o Gott, nicht wert!
                          Wer taugt zu des Berufs Geschäfte,
                          Wenn Krankheit seinen Leib beschwert?
                          Ist nicht der Erde größtes Gut
                          Gesundheit und ein froher Mut?

                          So laß mich denn mit Sorgfalt meiden
                          Was meines Körpers Wohlsein stört,
                          Daß nicht, wenn meine Kräfte leiden,
                          Mein Geist den innern Vorwurf hört:
                          Du selbst bist Störer deiner Ruh,
                          Du zogst dir selbst dein Leiden zu!

Darauf prüfte der Superintendent noch kurz im Lesen, Schreiben und
Rechnen. Die »Realien« standen noch nicht auf dem Stundenplan einer
Dorfschule.

Nachdem er sich zum Schluß einen Choral hatte singen lassen, sagte er
freundlich:

»Nun sollt ihr für heute frei haben. Macht, daß ihr nach Hause kommt!«
Lina sah fragend ihren Lehrer an, der aber gerade in anderer Richtung
blickte. Einen Augenblick zögerte sie, dann ging sie mit den anderen
hinaus.

Als das Geklapper der Holzschuhe verhallt war, klopfte der
Superintendent dem jungen Schulmeister auf die Schulter und sagte: »Ich
bin im ganzen mit Ihren Leistungen zufrieden. Das wird schon werden.
Sie müssen nur in der biblischen Geschichte nicht vergessen, den
Kindern die Sachen vernünftig zu erklären. Sonst verdunkeln wir damit
wieder, was wir in anderen Stunden aufklären. Und im Katechismus müssen
Sie alle Kinder gleichmäßig im Auge haben. Das darf nicht vorkommen,
daß ein so großes Mädchen gänzlich versagt. Sie nannten vorhin Luthers
Katechismus. Nun, ich verkenne natürlich nicht, daß Luther für seine
Zeit ein ganz tüchtiger Mann gewesen ist. Aber sein Katechismus ist
im Grunde heute doch veraltet. Es ist auch bezeichnend, daß unsere
neuesten Pietisten sich gerade auf ihn berufen, um uns in das von ihm
nicht überwundene finstere Mittelalter zurückzustoßen. Sehen Sie, wir
haben Männer wie Röhr und Wegscheider, und Teller und Gabler, und auch
der Verfasser unseres Landeskatechismus gehört zu ihnen, die sein Werk
für unsere Zeit fortgesetzt und vollendet haben. Um noch einmal auf
Luthers Katechismus zurückzukommen, wo finden Sie da etwas, was dem
Abschnitt unseres Landeskatechismus ›Vom pflichtmäßigen Verhalten gegen
uns selbst‹ an die Seite zu stellen wäre?«

»Herr Superintendent, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf,
es will mir scheinen, als ob die Dinge, die in diesem Abschnitt
abgehandelt werden, zum Teil eigentlich mit der christlichen Religion
so ganz viel nicht zu tun hätten.«

»Das verstehen Sie nicht, mein lieber Eggers, weil Sie nicht studiert
haben ... Sehen Sie, in der alten Religion grübelte man stets über
Dinge nach, die wir nicht wissen und nicht wissen können. Da ist es
nun gerade der Vorzug der Religion der Aufklärung, daß sie durchaus
praktisch gerichtet ist, daß sie sich um das wirkliche Leben kümmert
und dafür allerhand nützliche Lehren gibt. Sie werden bemerkt haben,
wie ich mich Sonntag für Sonntag bemühe, den biblischen Texten
praktische Seiten abzugewinnen, was wirklich zuweilen gar nicht leicht
ist. Wenn Sie sich daran ein Beispiel nehmen wollen, werden Sie Ihren
Religionsunterricht immer praktischer und fruchtbringender zu gestalten
lernen. Nun aber, wie gesagt, im allgemeinen bin ich wirklich sehr mit
Ihren Leistungen zufrieden. Und was nicht ist, das wird schon noch
werden ...

Apropos, was machen denn unsere hiesigen Dunkelmänner?«

Peter sagte, er hätte den Schuster erst einmal gesprochen, am ersten
Schultage, als er seinen Sohn gebracht habe.

»Hat er auch schon ältere Kinder in der Schule?« fragte der alte Herr
interessiert.

»Eins,« sagte Peter kurz.

»Wie machen seine Sprößlinge sich denn?«

»Gut. Es sind tüchtige und fleißige Kinder.«

»Naja, wir wollen hoffen, daß die Schule ihnen die Rückständigkeiten
aus dem Kopfe herausbringt, die ihnen zu Hause hineingesetzt werden.
Haben Sie auf die Kinder besonders acht! Na, nachher kriege ich sie ja
auch noch, im Konfirmandenunterricht ... Haben Sie etwas gemerkt von
heimlichen Wühlereien und Winkelversammlungen?«

»Och, Herr Superintendent, es widerstrebt mir, dahinter her zu
spionieren. Ich denke immer: Was die Menschen so in ihren Häusern
treiben, das geht dich nichts an. Ich möchte auch nicht, wenn einer
sich darum kümmerte, was ich zwischen meinen vier Wänden treibe.«

»Es handelt sich aber hier um unerlaubte, heimliche Zusammenrottungen,«
sagte der Superintendent mit einem verwunderten Blick auf den jungen
Schulmeister.

»Wenn der Schuster sich einige gute Freunde einladen will, um mit ihnen
zu singen und zu beten, was ist dagegen zu sagen?«

»Dagegen ist zu sagen, daß zum Singen und Beten die öffentlichen
Gottesdienste in der Kirche eingerichtet sind. Ich muß jetzt gehen,
damit meine Frau nicht mit dem Essen auf mich zu warten braucht.
Vergessen Sie aber nicht, mein Freund, daß Kirche und Schule gemeinsam
berufen sind, über dem Wohl und der Gesundheit des Volkslebens zu
wachen. Und lassen Sie sich nicht verführen! Bleiben Sie ein geistig
freier und aufrechter Mensch!«

Der alte Herr hatte Hut und spanisches Rohr genommen und ging. Peter
gab ihm über den Hof bis an die Straße das Geleit. Nachdenklich ging er
dann nach seinem Hause zurück. Alle diese Menschen, der Superintendent,
der Schuster, Claus Mattens, lebten zusammen in einer kleinen
Heidegemeinde, fernab von der großen Welt, aßen dasselbe Brot, tranken
dasselbe Wasser, und doch lebte jeder von ihnen in seiner eigenen Welt,
ohne den anderen und seine Welt zu kennen. Und alle waren sie bemüht,
ihn, den Unfertigen, der sich noch nicht irgendwo festgesetzt hatte, zu
sich herüberzuziehen, der eine durch sein Gewicht als Vorgesetzter, der
andere durch seine Bauernklugheit, der dritte durch sein Gebet. Eine
wunderliche Welt!

Peter schüttelte den Kopf. Wie leicht wurde der alte Herr mit den
Dingen fertig, die er selbst für die schwersten hielt! Der sagte
einfach: »Ich habe das studiert; ich muß das wissen. Und Sie haben
nicht studiert; folglich verstehen Sie nichts davon.« Wenn es mit
der Religion nicht mehr auf sich hat, als dieser studierte Herr sich
darüber zusammenstudiert hat, dann weg damit, lieber heute als morgen,
aus der Schule, und aus dem Leben auch. Aber etwas mehr sitzt doch
wohl dahinter ... Oder wenigstens ursprünglich ist's mehr gewesen ...
Darüber würde wohl die Bibel am besten Auskunft geben können, die ja
damals geschrieben ist. Will mich doch einmal danach umtun, unbekümmert
darum, was Kirchenleute und Schuster nachher aus dem Ursprünglichen
gemacht haben. Interessant ist und bleibt die Sache nun doch einmal.
Wenn unsereiner nur Lesen, Schreiben und Rechnen pauken sollte, es
wäre ja, um aus der Haut zu fahren. Hierbei kann man doch einmal warm
werden, kann seinen Kindern mal ans Herz kommen ...




Wenn unter eine Spatzenschar ein Spatz kommt, der etwas anders aussieht
als die anderen Spatzen, dann hacken diese so lange auf ihm herum, bis
er tot ist. Ein Spatz soll eben ein Spatz sein, von der alten guten
Spatzenart. Jede Abweichung davon ist ein todwürdiges Verbrechen.

Die Rolle eines solchen unglücklichen Vogels spielten unter der
Soltener Schuljugend die Schusterskinder. Warum hatten die dunkle
Augen? Warum kamen sie nicht mit Holz- sondern mit Lederschuhen zur
Schule? Warum balgten sie sich nicht wie die anderen? Warum kamen sie
abends nicht zum Spiel? Warum machten sie sich durch ihre Streberei
bei dem Schulmeister so beliebt? Kurz, warum waren sie anders als die
anderen? Das konnte die Schuljugend nicht hingehen lassen, und wo sie
konnte, wischte sie den Fremden eins aus. Und sie hatte dabei das
allerbeste Gewissen von der Welt. Sie war überzeugt, damit die Sache
der Heimat gegen das Fremde, ja die der Kirche gegen die Abtrünnigen zu
vertreten. Ja, sie war eben auch ein getreues Abbild der großen Welt,
die Schule in Solten.

Peter hatte einige Male den Stock gebraucht, als er von diesen
Hänseleien und Quälereien etwas gemerkt hatte, aber damit die Sache
nur schlimmer gemacht. Nur daß die Bösewichter jetzt vor den Augen des
unbegreiflich parteiischen Lehrers sich hüteten, wenn sie ihrer guten
und gerechten Sache weiter dienten.

Peter war jetzt fünfviertel Jahr in Solten. Er hatte sich gut
eingelebt, und die Leute hatten ihn gern. Er fühlte sich wohl im Dorfe
und brachte auch die Ferien dort zu. Nach Hause zu gehen, konnte er
nicht mehr über sich gewinnen, seitdem der Vater ihm öffentlich im
Wirtshause von Brunsdorf Undankbarkeit für die empfangene Wohltaten
vorgeworfen hatte. Von der bei Clas Mattens geliehenen Summe hatte er
bereits einen Teil zurückgezahlt.

Am Abend vor dem Wiederbeginn der Schule nach den Sommerferien sah
Peter zu seiner Verwunderung den Schuster auf sein Haus zukommen. Er
hatte sonst keine Beziehung zu ihm, als daß er sich von ihm seine
Schuhe flicken und besohlen ließ. Was mochte der Mann wollen? Wollte er
einen Bekehrungsversuch machen? Peter nahm sich die größte Kühle und
Zurückhaltung vor.

Er schlug sein dickstes Buch auf und begann irgendwo zu lesen.

Es klopfte. Peter schwieg.

Es klopfte noch einmal. »Herein,« sagte Peter wie aus dem tiefsten
Nachdenken heraus.

»Guten Tag, Herr Lehrer.«

»Guten Tag,« sagte Peter tonlos und las seinen Satz zu Ende. Dann
wandte er sich langsam herum und fragte kühl: »Was wünschen Sie?«

»Herr Lehrer,« sagte der Schuster, wobei er in großer innerer Erregung
die Mütze zwischen den Händen drehte, »meine Kinder müssen von den
anderen Kindern im Dorfe viel leiden. Aber ich habe bis jetzt immer
dazu still geschwiegen. Denn es steht geschrieben: Selig sind, die um
Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr.
Aber, Herr Lehrer, heute darf ich nicht schweigen. Denn wenn Menschen
schweigen wollten, müßten die Steine schreien.«

»Was ist denn passiert?« fragte Peter. »Machen Sie doch nicht so viele
Worte!«

Der Schuster erzählte nun kurz und sachlich, seine Tochter Lina hätte
mit dem kleinen Paul diesen heißen Nachmittag unten in den Wiesen das
letzte Heu trocken gemacht, das wegen der Regenzeit nicht eher hätte
eingebracht werden können. Und da hätten die beiden wegen der großen
Hitze sich in der Aue gebadet. Während sie im Wasser waren, wären ein
paar Jungens gekommen, die von ihnen unbemerkt im Gebüsch geangelt
hätten, und hätten Linas Kleider versteckt und sich dann von ihrem
Gebüsch aus an der Verlegenheit des Mädchens geweidet und ihr häßliche
Worte zugerufen. Paul hätte lange suchen müssen, bis er die Kleider
wiedergefunden hätte. Und seine Tochter läge nun im Bette, müsse in
einem fort krampfartig weinen und wolle sich gar nicht beruhigen lassen.

Peter war aufgefahren und fragte zornblitzenden Auges: »Wer hat das
getan?«

»Erkannt haben meine Kinder,« sagte der Schuster, »nur Westermanns
Johann. Aber es ist noch ein anderer dabeigewesen.«

»Gut,« sagte Peter, »ich werde die Buben schon herauskriegen und sie
dann in einer Weise bestrafen, daß Sie zufrieden sein sollen.«

Der Schuster sagte sanft: »Ach, Herr Lehrer, es ist ja nicht um
meinetwillen. Es ist doch nur der armen Jungen wegen, daß die nicht so
auf dem Weg des Verderbens weitertaumeln.«

»Meinetwegen können Sie's auch so ansehen,« sagte Peter, unangenehm
berührt. »Übrigens, ... es tut mir sehr leid, daß gerade Ihre Lina
von einer solchen Bosheit und Schändlichkeit betroffen ist. Ich kann
mir denken, wie sie das mitgenommen hat. Sie ist so ein feines,
zartfühlendes Kind. Überhaupt eigentlich meine liebste Schülerin.«

»Das freut mich, Herr Lehrer,« sagte der andere, »Lina erzählt
uns auch immer viel Schönes vom Herrn Lehrer, aus der biblischen
Geschichtsstunde.«

»So? Das freut mich! In diesen Stunden habe ich auch am meisten Freude
an ihr. Sie hat so eine feine Art, die biblischen Geschichten zu
erzählen, die einem wohltut.«

»Ach ja,« sagte der Schuster und hielt den Kopf ein wenig schief, »sie
hat den Herrn Jesum recht lieb, und es freut mich, daß wir einen Lehrer
haben, der auch auf das eine, was not ist, hinarbeitet. Die Geschichte,
wo der Herr dies zu der Maria und Martha sagt, ist ja die erste
gewesen, die der Herr Lehrer sich hier in Solten haben erzählen lassen.«

»Ach ja,« sagte Peter, »das machte sich so zufällig.«

»Ich dachte,« fuhr der andere fort, »der Herr Lehrer hätten uns wohl
schon einmal besucht.«

»Ich war auch schon einmal auf dem Wege,« sagte Peter, »aber ich
glaubte zu stören.«

»Warum?«

»Sie hatten die ganze Stube voll Menschen und sangen und ...«

»Ach so, dann war das an einem Mittwochabend. Ja, da sind immer einige
Brüder und Schwestern bei uns, und wir betrachten Gottes Wort ... Aber
wenn der Herr Lehrer uns sonst mal besuchen will, dann stört er nie ...
Oder wenn er auch mal an unseren Versammlungen teilnehmen will? ...«

»Ich danke,« sagte Peter kurz und schroff, »ich fürchte, zu Ihren
Freunden passe ich nicht.«

»Nichts für ungut, Herr Lehrer! Es war nicht böse gemeint ...«

»Weiß ich, weiß ich. Wir Menschen sind eben verschieden ...«

Der Schuster ging. Peter blieb nachdenklich zurück.

War ihm der Mann sympathisch oder unsympathisch? Seine höfliche
Art, das ewige »Herr Lehrer« berührte den an die einfache Anrede
»Scholmester« Gewöhnten fremdartig. Mit den vielen biblischen
Redewendungen in seiner Sprechweise machte er ihm den Eindruck eines
Menschen, der auf Stelzen geht, statt auf den eigenen gesunden Füßen.
Aber trotzdem war in seiner Art und auch in seinem Gesicht etwas, was
Peter zweifelhaft machte, ob er ihn kurzerhand als einen Frömmling
und Pharisäer abtun dürfte. Er fühlte, daß dieser Mann gegen den
Strom schwamm, daß er anders war, als die anderen. Solche nannten die
Menschen dann gleich Pharisäer, was ja -- so hatte er auf dem Seminar
gelernt -- »Abgesonderte« hieß. Auch er selbst hatte diesen Titel auf
dem Seminar einmal bekommen, weil er ja auch mehr seine eigenen Wege
ging.

Der Schuster hatte die feine, stille Art seines Kindes damit erklärt,
daß sie den »Herrn Jesum recht lieb« habe. Das klang ja nun recht
pietistisch und hatte Peter sehr fremdartig berührt, und die schiefe
Kopfhaltung des Mannes bei diesen Worten erst recht. Aber, indem er
jetzt darüber nachdachte, erschien die Sache selbst ihm doch gar
nicht mehr so unwahrscheinlich. Warum sollte nicht ein Kindesherz
dem Menschensohn, wie sie ihn das letzte Jahr aus seinen Worten und
Gleichnissen kennengelernt hatten, etwas wie Liebe entgegenbringen?
Und warum sollte dieses freundliche, holde Bild nicht auf eine
Kindesseele schließlich einwirken? -- Auch er, der Lehrer selbst,
hatte ja gegenüber dieser Gestalt, die in solchen Stunden vor ihnen
stand, etwas empfunden. Liebe würde er es gerade nicht nennen. Eher
Bewunderung, Ehrfurcht oder so ähnlich ... Aber vielleicht konnte man
es auch Liebe nennen. Man mußte dieses Wort dann nur anders verstehen,
als es gewöhnlich im Leben gebraucht wurde. Wenn der Schuster davon
sprach, klang das etwas süßlich und weichlich. Das mußte heraus. Dann
war eigentlich nicht so viel dagegen zu sagen.

Peter dachte plötzlich wieder daran, wie schändlich man diesem Kinde
mitgespielt hatte. Da packte ihn ein großer Zorn, und er ging auf den
Hof und schnitt sich ein paar tüchtige Eichenstöcke. Swiebertsbauer kam
zufällig darauf zu und fragte: »Na, Scholmester, wat will he denn mit
de Eken?«

»Tweislan[39] up den Puckel[40] van böse Buben,« sagte Peter grimmig.

»Scholmester, nehm he lewer Barken, de sünd daför wussen.«

»Barken, de dot't düttmal nicht. Dor möt de Eken ran.«

»Wer schall de Släg denn hewn?«

»Wer se verdeent hett.«

»De armen Jungs ...«

                   *       *       *       *       *

Als Peter am nächsten Morgen in die Schulstube trat, suchte sein erster
Blick Schusters Lina. Sie fehlte.

»Wo ist deine Schwester?« fragte er den kleinen Paul.

»Im Bett,« sagte der, »is krank.«

Über die Gesichter einiger großer Jungens ging ein verstohlenes Grinsen.

»Johann Westermann, komm eben mal mit in meine Stube!« sagte Peter.

Der Junge kam frech mit seinen Holzschuhen angeklappt.

Als Peter ihn in seinem Zimmer allein hatte, trat er dicht vor ihn hin:
»Hast du gestern nachmittag Linas Kleider versteckt?«

Der Junge sah ihn dreist an und sagte stramm: »Nein.«

Peter öffnete die Tür zum Schulzimmer und rief Paul heraus.

Er stellte dem großen Jungen den kleinen gegenüber und fragte diesen:
»Ist der hier gestern bei euch in den Wiesen gewesen?«

»Ja,« sagte Paul.

»Weißt du's ganz gewiß? Hast du ihn selbst gesehen?«

»Ja.«

»Dann gehe wieder in die Schulstube.«

Als Paul die Tür hinter sich geschlossen hatte, packte der Lehrer den
großen Jungen im Kragen, warf ihn über den Stuhl und schlug ihn, so
fest er konnte und solange seine Kraft vorhielt.

Dann riß er ihn wieder in die Höhe und fragte mit heiserer Stimme und
außer Atem: »Wer war der andere?«

Der Junge biß sich auf die Lippen und schwieg.

»Was, du willst auch noch trotzen?« schrie Peter in Wut. »Willst du's
mir sagen oder nicht?«

»Nee,« sagte der Junge.

Da packte Peter eine namenlose Wut. Er griff dem Jungen an die Kehle,
warf ihn auf den Boden und schlug mit dem Eichenstock auf ihn los,
gleichgültig, wohin er traf. Dabei kreischte er: »Du sagst es mir, und
wenn ich dich totschlagen soll.« Der Junge stieß und schlug und biß um
sich, aber gegenüber dem immer rasender werdenden Zorn des Erwachsenen
war er machtlos. Endlich gab er den Namen seines Kameraden preis.

Da ließ Peter von ihm ab, stürzte in die Schule, riß Swieberts Georg
aus der Bank. Wie der sich sträubte, packte er ihn ins lange Haar, und
als er ihn endlich vor den Bänken hatte, schlug er blindlings auf ihn
ein.

Endlich mußte er erschöpft innehalten. Da sah er, daß eben die letzten
Kinder sich entsetzt zur Tür hinausdrängten. Einige Knaben waren durch
das Fenster gegangen und hatten dabei eine Scheibe zertrümmert. Peter
ließ sein Opfer los und wankte keuchend an die Tür. »Hierbleiben!«
schrie er mit heiserer Stimme, aber kein Kind wandte sich um. Von einer
wilden Panik erfaßt, flüchtete die ganze Schar davon.

Peter ging in die Schulstube zurück. Er war allein. Swieberts Georg
hatte sich durch das Fenster davongemacht.

Er sank auf einer Schulbank zusammen und preßte die Hände gegen die
Schläfen, in denen das Blut hämmerte. So saß er und stierte eine Weile
gedankenlos vor sich hin. Dann fühlte er plötzlich ein Würgen in der
Brust und im Halse und wurde von einem schrecklichen Hustenanfall
gepackt. Es schüttelte ihn, daß ihm das heiße Blut im Gesicht glühte
und die Augen aus ihren Höhlen traten.

Als der furchtbare Anfall ein wenig nachließ, wankte er in seine Stube
und warf sich auf sein Bett.

Allmählich kehrte ihm die Besinnung wieder. Da griff er sich in die
Haare, und in ihm rief es: Was hast du gemacht? Was hast du gemacht? Er
fühlte eine tiefe Scham und wühlte den Kopf in die Kissen. So lag er
lange.

Ein neuer Hustenanfall riß ihn in die Höhe, noch schrecklicher als
vorhin. Er hatte das Gefühl, als könnte jeden Augenblick in seiner
Brust etwas zerreißen.

Als er sich endlich ermattet in das Bett zurückfallen ließ, kam es
ihm zum Bewußtsein, daß er schwer krank war. Seit jenem kalten Trunk
und seit jenem nächtlichen Rennen zum Arzt hatte er sich ganz gesund
nicht mehr gefühlt. Seit längerer Zeit hatte er einen quälenden Husten,
dessen Anfälle ihn sehr ermatteten. Er dachte an das bedenkliche
Gesicht des Amtsphysikus nach der Untersuchung seiner Lungen. Kein
Zweifel, es war dieselbe Krankheit, an der seine Mutter so jung
gestorben war, die nun auch in ihm ihr langsames Zerstörungswerk
verrichtete. Dieser Gedanke war ihm in dem letzten Jahre hier und da
wohl schon gekommen, aber er hatte ihn, ausgenommen die Stunden, in
denen er besonders innig an seine Tote dachte, immer wieder schnell
davongescheucht. Das tat er heute nicht, sondern mit einer Art
grausamer Wollust ging er ihm nach. Wenn der Husten ihn packte und
schüttelte, wartete er auf einen Blutsturz und war beinahe enttäuscht,
daß er ausblieb.

Es wurde Mittag. Er spürte keinen Hunger und hatte schon beschlossen,
auf die Mahlzeit zu verzichten. Aber da erwachte sein Trotz.
Das konnten sie ihm im Dorf als Schwäche, als Bekenntnis eines
Schuldgefühls auslegen. Er biß die Zähne aufeinander, das wollte er
nicht. So raffte er sich auf, wusch sich, brachte das Haar in Ordnung,
nahm seinen Stock zur Hand und ging erhobenen Hauptes, aufrecht, durch
das Dorf nach dem Hofe, der ihn heute zu speisen hatte.

Als er in das Haus trat, kam ein Dienstmädchen und wies ihn in eine
kleine Altenteilerstube, die er sonst noch nicht betreten hatte. Hier
trug sie ihm schnell und scheu das Essen auf. Sonst hatte er hier, wie
in allen Häusern, mit der Familie am Tisch die Mahlzeit eingenommen.
Er begann zu essen. Aber er brachte nur mit äußerster Anstrengung ein
wenig hinunter. Als er sich eine Zeitlang gequält hatte, nahm er ein
Stück Fleisch und einige Kartoffeln, wickelte sie in Papier und steckte
sie in die Tasche. Er wollte den Leuten nicht verraten, wie dieser
Morgen ihn mitgenommen hatte. Aus demselben Grunde setzte er die Füße
hart auf und schlug die Türen kräftig zu, als er das Haus verließ.
Auf dem Hofe sah er sich einmal um. Aus den Fenstern blickten ihm
feindselige Gesichter nach.

Auf der Dorfstraße sah er in der Ferne Clas Mattens daher kommen.
Er freute sich, diesen zu treffen und ihm gegenüber sein Verhalten
rechtfertigen zu können. Dieser konnte vielleicht dann auch die anderen
wieder zur Vernunft bringen. Aber kurz bevor sie einander begegnen
mußten, bog der Bauer auf ein Gehöft ab. Und als Peter vorbei war
und sich umblickte, sah er, daß jener das nur getan hatte, um eine
Begegnung zu vermeiden. Jetzt ging er schon seines Weges auf der
Dorfstraße weiter.

Den ganzen Nachmittag wurde er von widerstreitenden Gedanken hin- und
hergeworfen. Bald lobte er sich, daß er den Bubenstreich so gründlich
geahndet hatte. Bald wieder machte er sich schreckliche Vorwürfe,
weil er sich so vergessen hatte. Bald glaubte er, in einem heiligen,
gerechten Mannesstolz aufgelodert zu sein. Und dann wieder schämte er
sich tief vor sich selbst. Bald hob er den Kopf, als ob er Kraft in
sich fühlte, der ganzen Welt zu trotzen, um darauf wieder den Tod
herbeizuwünschen, der ihn aus dem Kampf entrücken sollte. Ein wie
trotziges, und denn doch wieder bis zum Äußersten verzagtes Ding das
Menschenherz ist, das erfuhr er in diesen Stunden gründlich.

Am Abend kam der Knecht des Gemeindevorstehers und brachte ihm einen
Brief. Dieser enthielt die kurze Aufforderung des Superintendenten, am
nächsten Morgen um acht Uhr vor ihm zu erscheinen.

Peter schlief die Nacht über leidlich, fühlte sich am andern Morgen
erquickt und war geneigt, seine Sache als eine Kleinigkeit anzusehen.
Auch die Wanderung durch die frische Morgenluft tat ihm wohl, und als
er bei der Wohnung seines Vorgesetzten anlangte, fand er beinahe Freude
daran, sich vor diesem zu verantworten.

Als er in seine Studierstube trat und ihm wie gewöhnlich die Hand zur
Begrüßung reichen wollte, wurde er durch eine Handbewegung und durch
ein kurzes »Setzen Sie sich« auf einen Stuhl verwiesen.

»Ich habe Sie in einer sehr unangenehmen Sache herzitieren müssen,«
begann der Superintendent, nachdem er seine Pfeife in die Ecke gestellt
hatte. »Es waren einige Hausväter Ihres Dorfes bei mir, um im Namen der
ganzen Schulgemeinde Beschwerde über Sie zu führen. Sie wissen wohl
warum.«

»Jawohl,« sagte Peter klar und bestimmt, »weil ich ihren sauberen
Jungens die Prügel gegeben habe, die sie doppelt und dreifach verdient
hatten. Haben meine Verkläger das auch gesagt?«

»Ich habe natürlich den Ursachen der Züchtigung nachgeforscht, und da
sind sie damit herausgekommen. Die Männer geben selbst zu, daß es eine
Dummheit von den Kindern war.«

»Eine Dummheit? ~Ich~ meine, eine Bosheit.«

»Nun ja, ich gebe Ihnen gerne zu, es war kein schönes Stück, und eine
mäßige Züchtigung war da wohl am Platze. Immerhin muß man bedenken, es
handelt sich um Kinder. Bei ruhigem Blute besehen, war's schließlich
doch wohl nur ein unschuldiger Kinderstreich.«

»Herr Superintendent, ich muß Ihnen in aller Ehrerbietung
widersprechen. Ich kenne meine Missetäter ganz genau. Von ›kindlicher
Unschuld‹ kann bei denen wohl nicht gut die Rede sein. Ich bin auf
dem Lande, nur vier Stunden von hier, groß geworden. Und wenn ich
auch von jeher meine eigenen Wege gegangen bin, so weiß ich doch
sehr gut, was bei unseren vierzehnjährigen Jungens von dem, was Sie
›kindliche Unschuld‹ nennen, zu halten ist. Aber ich würde nicht viel
daraus gemacht haben, wenn nicht durch diesen Streich gerade ein Kind
betroffen wäre, das in meiner Schule und im Dorfe schon seit langem
einen schweren Stand hat, weil es begabter, zarter, empfindlicher ist,
als die ganze andere Gesellschaft. Andere Mädchen meiner Schule hätten
in solchem Falle vielleicht halbverschämt gekichert. Aber Lina Döhler
ist darüber krank geworden. Darum, was anderen gegenüber vielleicht
nur ein dummer Jungensstreich gewesen wäre, das war bei diesem Kinde
einfach eine Gemeinheit.«

»Es will mir scheinen, mein Lieber, daß die Bauern auch in dem anderen
Beschwerdepunkt nicht ganz unrecht haben, daß Sie parteiisch wären
und nicht alle Kinder mit dem gleichen Maß mäßen. Was bewegt Sie, die
Tochter des Schusters vorzuziehen?«

»Vorziehen? Ich bin mir nicht bewußt, sie vorgezogen zu haben. Ich
versuche nur, jedes Kind nach seiner Eigenart zu behandeln. Das muß
ich freilich sagen, ich bin froh und dankbar, daß ich diese Schülerin
in meiner Schule habe. Ein solches Kind ist für den Lehrer nicht
nur eine Freude, sondern geradezu ein Segen. Es zwingt ihn, sich
zusammenzureißen und sein Bestes zu geben. Es bewahrt ihn davor, ein
seichter Schwätzer zu werden ...«

»Also Ihr Pflichtgefühl ist nicht stark genug, um Sie davor zu
bewahren? Dazu brauchen Sie eine kleine niedliche Larve mit
dunkelbraunen Augen?«

»... Herr Superintendent!«

»Wir schweifen zu weit ab. Ich habe Ihnen einige Fragen vorzulegen, die
Sie mir kurz beantworten wollen. Warum schenken Sie diesem Kinde das
Lernen des Katechismus?«

Peter sah seinen Vorgesetzten betroffen an und schwieg.

»Als ich im letzten Herbst Ihre Schule revidierte, ertappte ich dieses
Mädchen darauf, daß sie zwei wichtige Fragen des Katechismus nicht
konnte. Ich gab Ihnen auf, das Kind nachsitzen zu lassen. Man sagt mir,
Sie wären dieser dienstlichen Weisung nicht nachgekommen. Wie steht's
damit?«

»Die Leute haben Ihnen recht berichtet.«

»Haben Sie denn im Hause das Kind das Versäumte nachholen lassen?«

»Nein,« sagte Peter kurz.

»Warum nicht?« fragte der Superintendent scharf.

Peter schwieg.

»Na, dann will ich's Ihnen sagen. Außer einem anderen Grunde, der
heimlich mitgespielt haben mag: weil Sie den Schuster mehr fürchten als
mich, Ihren Vorgesetzten.«

»Nein, Herr Superintendent,« sagte Peter, indem er sich aufrichtete,
»sondern, weil ein Mädchen wie Lina Döhler es nicht nötig hat, die
Pflichten gegen sich selbst aus dem Katechismusgeschwätz auswendig zu
lernen.«

Der Superintendent schlug mit der Hand auf den Tisch und rief:
»Unerhört! Sie aufgeblasener Schulmeister Sie, der seine ganze Weisheit
in einem Winter auf dem Seminar aufgesammelt hat, Sie wagen, unseren
altehrwürdigen, bewährten Katechismus zu beschimpfen? Unerhört! Ja,
wenn Sie ihn selbst nur besser kennten und beherzigten! Gerade in den
Sätzen, um die es sich bei Ihrer geliebten Schülerin damals handelte,
war, soweit ich mich erinnere, die Rede von ›Mäßigung aufwallender,
heftiger Gemütsbewegungen‹. Hätten Sie sich diese Worte hinter die
Ohren geschrieben, statt in ihrem schulmeisterlichen Dünkel darüber zu
Gericht zu sitzen, dann hätten Sie sich nicht soweit vergessen können,
in blinder Wut mit einem Eichenknüppel um sich zu schlagen und zu
schreien: Ich schlage dich tot. Sie können Gott danken, daß es nicht
wirklich zu einem Totschlag gekommen ist. ~Ihr~ Verdienst war das
jedenfalls nicht! Schämen Sie sich! Sie haben alle Ursache, die großen
Worte, die Sie hier geführt haben, zu lassen und sich einmal gründlich
zu demütigen. Na, nun husten Sie man nicht auf einmal so!«

Peter hatte während der letzten Sätze seines Vorgesetzten einen
Hustenanfall bekommen, der fast eine halbe Minute anhielt. Als er
wieder Ruhe hatte, sagte er gequält: »Herr Superintendent, verzeihen
Sie, ich bin schwer krank. Ich glaube, meine Krankheit ist auch mit
schuld daran, daß ich mich so vergessen habe.«

»Ach was! ~Sie~ krank? Sie haben sich in Solten tüchtig
herausgemacht und sehen geradezu blühend aus. Solche faulen
Entschuldigungen kann ich nicht gelten lassen. Wegen Ihrer Jugend und
Unerfahrenheit will ich jedoch von weiteren Schritten absehen, erteile
Ihnen aber wegen gröblicher Ueberschreitung des Züchtigungsrechtes
und wegen Ungehorsams gegen einen Befehl Ihres Vorgesetzten hiermit
eine scharfe Rüge. Außerdem lege ich Ihnen auf, mir binnen drei Tagen
zu berichten: erstens, daß Sie die Väter der von Ihnen mißhandelten
Kinder um Verzeihung gebeten haben, und zweitens, daß die Tochter
des Schusters die Katechismusstücke, um die es sich bei der Revision
handelte, inzwischen gelernt hat. Innerhalb sechs Wochen haben Sie
weiter zu berichten, daß sie alles nachgeholt hat, was sie dank Ihrem
freundlichen Entgegenkommen bisher hat versäumen dürfen. Endlich möchte
ich Sie noch ersuchen, im dienstlichen Verkehr mit mir sich eines
angemesseneren Tones zu befleißigen. Sie hätten heute öfter als einmal
verdient, an die Luft gesetzt zu werden. Sie können jetzt gehen.«

Der Rückweg nach Solten wurde Peter sauer. Er mußte sich mehrere Male
an einen Baum lehnen.

Zum Mittagessen ging er nicht in das Dorf. Der Reihetisch hätte ihn
heute zu Westermann geführt, und dem wollte er lieber doch nicht unter
die Augen treten. Er blieb auf seinem Zimmer und aß ein wenig von dem
Brot, das die Häuslingsfrau, die ihm die Morgenmilch besorgte und sein
Zimmer aufräumte, für ihn mitzubacken pflegte.

Und dann kamen wieder die unendlich langen Nachmittagsstunden. Eine
Arbeit, die ihm über sie hinweggeholfen hätte, vorzunehmen, war er
nicht imstande. Er lag auf seinem Bett und mußte grübeln und grübeln.
Grübeln über das Geschehene, wie gestern. Und grübeln, was nun werden
sollte. Und dabei wurde er auch von den widerstreitendsten Gedanken
hin und her geworfen. Bald war er entschlossen, dem Vorgesetzten zu
trotzen, was auch daraus werden mochte. Dann wieder erwog er dessen
Forderungen, und überlegte, wie er sie erfüllen könnte. Zu einem festen
und dauernden Entschluß kam er nicht.

Als er lange so einsam sich gequält hatte, kam ihm der Gedanke: Wenn
du doch nur ~einen~ Menschen hättest, mit dem du dich beraten
könntest. Aber mit wem?

Mit Clas Mattens? Ja, es war gut mit ihm zu reden und zu beraten,
solange man im Dorfe lieb' Kind war. Es war interessant und lehrreich,
ihm zuzuhören, wenn er in seiner sachlichen und humorvollen Weise
von den Dingen des bäuerlichen Lebens sprach. Aber für das, worum es
sich jetzt handelte, fehlte ihm jedes Verständnis. Da war er einfach
der Bauer, der mit den Bauern durch dick und dünn ging. Und diese
alle hielten fest zusammen. Peter fühlte, daß er die Dorfgemeinde
geschlossen gegen sich hatte. Und er empfand auch, dieser Gemeingeist
war so stark, daß er selbst von den wohlwollendsten Männern unter
diesen Umständen keine gerecht abwägende Beurteilung seiner Sache
erwarten dürfte.

Da dachte er an den Schuster. Wie seine Kinder in der Schule, so
nahm er selbst in der Dorfgemeinde eine Ausnahmestellung ein. Ob
er sich einmal mit ihm beraten sollte? Der Mann hatte ja auch die
Menschen gegen sich gehabt und Kämpfe durchgemacht. Und um seinet-
und seiner Familie willen war er, Peter, ja auch in diese böse Lage
hineingekommen. Ohne Lina und Paul hätte er alle seine Lebtage in
Solten so friedlich Schule halten können, wie der alte Wencke in
Wehlingen. Sollte er versuchen, sich bei ihm Rat zu suchen? Nein, der
Mann war doch zu wunderlich. Der redete dann wieder seine Sprache
Kanaans und wollte alle Schwierigkeiten mit schönen Bibelsprüchen lösen.

Aber je länger Peter grübelte und sich quälte, desto größer wurde
sein Verlangen, einen Menschen, ein Menschenantlitz zu sehen und ein
Menschenwort zu hören. Und endlich schrieb er ein paar Zeilen an
den Schuster, in denen er ihn dringend bat, ihn noch heute abend zu
besuchen. Diese übergab er dem Kinde seiner Aufwärterin, nebst einem
Paar Stiefel, die besohlt werden mußten.

Der Weg bis zur Wohnung des Mannes nahm zehn Minuten in Anspruch. So
glaubte er, ihn in einer halben Stunde erwarten zu können ...

Eine ganze Stunde war schon vergangen, und noch immer wartete er
vergebens. Da nahm er, um die Zeit hinzubringen, seine Geige, stimmte
sie sehr sorgfältig und begann zu spielen. Aber die gute Freundin war
diesen Abend kalt und teilnahmlos. Sie machte wohl ihre Töne, aber es
war keine Seele darin.

Fast hart warf er das Instrument auf den Tisch. Nach einem Menschen
sehnte er sich, nach einem Menschenauge und Menschenwort.

Endlich -- es war inzwischen völlig dunkel geworden -- wurden draußen
Fußtritte laut, und nach umständlichem Fußreinigen vor der Haustür trat
der Erwartete ein. »'Abend, Herr Lehrer haben mich herbestellt,« sagte
er förmlich und steif. »Was wünschen der Herr Lehrer von mir?«

»Ach bitte, nehmen Sie doch Platz,« sagte Peter, »und lassen Sie mich
erst Licht anzünden.«

Als die Lampe brannte, fing er an, unruhig und gesenkten Hauptes in der
Stube hin und her zu gehen.

»Der Herr Lehrer sieht sehr angegriffen aus,« sagte der Besucher.

»Kein Wunder, ich habe auch schreckliche Stunden hinter mir, die ich
meinem schlimmsten Feinde nicht gönnen möchte,« sagte Peter, vor dem
Manne stehenbleibend.

»Ja,« sagte der Schuster und nickte still vor sich hin, »des Menschen
Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist.«

Der erste Bibelspruch! dachte Peter.

Er fuhr fort, die Stube zu durchmessen. Plötzlich blieb er wieder vor
seinem Gaste stehen: »Was soll ich machen? Raten Sie mir!«

»Sie müssen sich demütigen,« sagte der andere einfach.

»Ach, gedemütigt bin ich heute genug. Ich war beim Superintendenten.«

»Das nützt nichts. Sie müssen sich selbst demütigen ... vor Gott und
Menschen ...«

»Vor Gott?«

»Ja, das ist die Hauptsache.«

»Ja, mein Lieber, Sie reden immer so viel und schön von Gott, als ob
Sie mit in seinem Rate säßen. Nun hören Sie mal zu, aber erschrecken
Sie nicht zu sehr. Wir wollen mal ganz ehrlich sein. Was hilft es, sich
und anderen Menschen was vorzumachen? An Ihren ›lieben Gott‹ glaube
ich gar nicht. Ich habe auch wohl mal geglaubt, aber eine schreckliche
Nacht meines Lebens hat mir meinen Glauben hingemordet.«

»Soo? ... Das ist vielleicht gut.«

»Das ist gut?«

»Ja.«

»Warum?«

»Was Sie da verloren haben, war der wirkliche Gott gar nicht. Das war
nur ein Götze, den Sie sich selbst in ihrem kindlichen Unverstand
zurechtgemacht hatten, und meinten dann, dieser arme Götze könnte und
müßte Ihnen nun alle irdischen und sündlichen Wünsche erfüllen. Und
als er das nicht tat, warfen Sie ihn über Bord ... Wer den lebendigen
Gott einmal gefunden hat, der kann ihn nicht wieder verlieren.«

»Wer ist denn dieser lebendige Gott?«

»Der Vater unseres Herrn Jesu Christi.«

»Das habe ich tausendmal gehört, und bin damit nichts klüger als
vorher.«

»Lieber Herr Lehrer, ich weiß von meiner Lina, daß Sie unseren Herrn
nicht verachten, daß Sie ihn auch liebhaben. Nun, der hat gesagt:
Philippe, wer mich siehet, der siehet den Vater.«

»Aber wie macht man's denn, daß man in ihm den Vater sieht?«

»Das muß Gott uns blinden Menschen offenbaren. Niemand kennet den
Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren. Und
niemand kennet den Sohn denn nur der Vater, und wem es der Vater will
offenbaren.«

»Ja, so jagt ihr uns ewig im Kreise herum, ihr klugen Schriftgelehrten
...«

»Wissen Sie was, Herr Lehrer? Ich freue mich herzlich, daß Sie in diese
Not hineingekommen sind.«

»Darüber freuen Sie sich?«

»Sie sagten vorhin, Sie hätten in einer schrecklichen Nacht Gott
verloren. Und ich sage Ihnen, in einer noch schrecklicheren Nacht der
Seele werden Sie den lebendigen Gott wiederfinden. Wenn der Wellen
Macht in der trüben Nacht will des Herzens Schifflein decken, da wird
er seine Hand nach Ihnen ausstrecken.«

»Verstehen Sie sich auch aufs Prophezeien?«

»Nein, aber ich weiß, Sie werden die Last, die Sie sich selbst
aufgeladen haben, nicht eher los werden, als bis Sie sie auf Gott
geworfen haben.«

»Soo? Das meinen Sie ...«

»Sie gehören überhaupt zu den Menschen, die nicht ohne Gott sein
können. Sie haben auch schon in Ihren Kinderjahren Stunden gehabt, wo
Sie ihm nicht ferne waren.«

»Woher wissen Sie das?«

»Das weiß ich nicht. Das fühle ich. Was ich aber wirklich fühle, das
ist mir viel gewisser, als was ich mit dem Kopfe weiß. Sehen Sie, Herr
Lehrer, bei welchen Menschen muß ich an das Wort des Apostels Paulus
denken: Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Und bei welchen an das
Wort des Kirchenvaters Augustin: Du hast uns zu dir geschaffen, und
unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir. Das unruhige Herz haben
Sie schon. Schon lange haben Sie das Herz, das da dürstet nach dem
lebendigen Gott wie ein dürres Land. Und seine Ruhe wird es noch finden
...«

»Ja, wenn sie's mit Erde zudecken ...«

»Nein ... schon früher ... vielleicht schon gar bald ...«

»... Na ja ... aber ich habe Sie nicht hergebeten, um mit ihnen über
theologische Spitzfindigkeiten zu streiten und mir Ihre Ahnungen
erzählen zu lassen. Ich wollte Sie in meiner schwierigen Lage um Rat
fragen.«

»Darüber sprechen wir ja auch nur.«

»Na ja, aber nun etwas anderes! Ich war heute vor den Superintendenten
geladen. Dieser, Ihr besonderer Freund, verlangt von mir, daß ich
hingehen und die Eltern der bösen Buben um Verzeihung bitten soll.«

»Da hat der Herr recht. Ich sagte ja auch vorhin schon, Sie müßten sich
demütigen, auch vor den Menschen.«

»Aber wo bleibt da meine Achtung im Dorf? Wie kann ich mich dann noch
als Schulmeister sehen lassen?«

»Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden.«

»Ach ja, Ihre Bibelsprüche kenne ich auch.«

»Aber Sie verstehen Sie noch nicht recht ... Ihre Stellung als Lehrer
haben Sie durch Ihre Raserei selbst zunichte gemacht. Die können Sie
nur wieder gewinnen, wenn Sie es ehrlich aussprechen, daß Ihnen das,
was geschehen ist, ehrlich leid tut.«

»Das ist aber nicht so leicht ...«

»Nein, für den alten Adam nicht.«

»... Und was der Superintendent dann noch verlangt, geht Sie besonders
an. Ich soll Ihre Lina zwingen, den Katechismus zu lernen.«

»Das dulde ich nicht, daß dieses Buch in mein Haus kommt.«

»Wenn ich nun aber Ihre Tochter tagtäglich nachsitzen lasse und auf
diese Weise zwinge?«

»Das ist Ihre Sache, die Sie mit Ihrem Gewissen abmachen müssen. Ich
könnte es ja nicht hindern. Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn
dienen. Aber ich sage meinen Kindern auch immer, daß sie in der Welt
vieles sehen, hören und lernen müssen, was dem Herrn nicht zur Ehre
ist. Das müßten Sie sehen, als sähen sie es nicht, hören, als hörten
sie es nicht. Was in den Kopf hineingeht, das verunreinigt den Menschen
nicht. Wenn's nur nicht ins Herz eingeht! Und davor bin ich bei meiner
Lina nicht bange.«

»Warum sprechen Sie eigentlich immer in biblischen Ausdrücken?«

»Soo? Tue ich das? Dann muß das wohl davon kommen, daß ich viel in der
Bibel lese.«

»Deshalb halten viele Menschen Sie für einen Heuchler.«

»Das mögen Sie tun. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott
siehet das Herz an ...«

»Ach, was sitzt so ein armer Schulmeister dazwischen ...!«

»Nicht bloß die Schulmeister, wir alle sitzen arg dazwischen in dieser
bösen Welt ...«

Sie schwiegen. Draußen schlug der Hofhund an und riß wütend an der
Kette.

Der Schuster horchte auf. »Ist da jemand vor dem Fenster?« fragte er
leise.

»Och, wer sollte da sein ...« sagte Peter gleichgültig. Aber in
demselben Augenblick zuckten sie beide zusammen. Mit scharfem Geklirr
und Gekrach war ein faustdicker Stein durch das Fenster dicht an Peters
Kopf vorbeigeflogen, und an der Wand, ein Stück Kalkbewurf mit sich
reißend, zur Erde gefallen. Draußen entfernten sich eilige Schritte.

Peter ging hin, nahm den Stein auf und sagte bitter, ihn in der Hand
wägend: »Wenn dieser eine halbe Elle mehr nach rechts geflogen wäre,
dann wäre alle Not auf einmal zu Ende.«

»Herr Lehrer!« rief der Schuster erschrocken, »so dürfen Sie nicht
reden.«

»So hassen sie mich,« sagte Peter und drückte den Stein verzweifelnd
vor die Stirn.

»Das hat ein böser Bube getan,« sagte der andere, »deshalb dürfen Sie
nicht an den Menschen verzweifeln!«

»So und so ähnlich habe ich die Menschen immer gekannt ...«

»Herr Lehrer, ich weiß wohl, wie tief das sündliche Verderben ist, das
seit Adams Fall in der menschlichen Natur steckt. Aber wirklich, so
schlecht sind die Menschen nicht.«

»Die gegen mich anders waren, kann ich an den Fingern abzählen, und
behalte noch einige Finger übrig ...«

»Herr Lehrer, Sie lästern Gott, wenn Sie so sprechen.«

»Kann ich dafür, wenn er die Menschen nicht besser geschaffen hat? Wenn
er seiner Schöpfung keine bessere Krone hat aufsetzen können?«

»Herr Lehrer, Sie wissen nicht, was Sie reden.«

»Bitte, gehen Sie!«

»Es wird mir schwer, Sie in diesem Zustande allein zu lassen ...«

»Aber ich will und kann von der ganzen Bande, die sich Krone
der Schöpfung nennt, keinen mehr vor Augen sehen. Hören Sie,
~keinen~!«

»... Dann muß ich ja gehen ... Aber ich werde diese Nacht daheim für
Sie beten.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Was Sie in Ihrem Hause machen,
geht mich nichts an.«

»Gott ... befohlen,« sagte der Schuster bewegt und streckte Peter die
Hand hin. Dieser zögerte erst, dann berührte er sie flüchtig mit seiner
Linken.

Der Mann sah ihm in die irren, glühenden Augen und bat sanft: »Lieber
Herr Lehrer, bitte, gehen Sie gleich ins Bett. Nicht wahr, das
versprechen Sie mir?«

»Wenn Sie nur erst hinaus sind!« sagte Peter, erregt mit dem Fuße
aufstampfend.

Da ging der Mann. Draußen hallten seine Schritte, und der Hund schlug
an. Dann verhallten die Schritte und der Hund kroch wieder in seine
Hütte, die hohl schnurrende Kette nachschleifend.

Nun atmete Peter auf und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. Da
horchte er auf. Was war das wieder für ein Geräusch? ... Jetzt war's
still. Plötzlich fiel ihm ein, das ganze Dorf ringsum steckte voll von
Menschen, Menschen. Hinweg! Da draußen, in der Heide, da sind keine
Menschen. Er nahm hastig Mütze und Stock und taumelte hinaus.

Aah, wie das wohltut, so ein kühler Nachtwind, nach der dumpfen
Stubenluft ... Wenn mir nur keiner begegnet. Ach nein, die schlafen
alle. Die Art hat es gut. Des Tags über arbeiten sie sich müde, und des
Abends kriechen sie in ihre Butzen, zu zweien oder zu mehreren. Jeder
hat welche, die zu ihm gehören. Und das ganze Dorf gehört zusammen.
Da versteht einer den anderen, und jeder findet am anderen Rückhalt.
»Wi sünd alltohopen gode Lüe,« sagt Clas Mattens. Ha! ... Da brennt
ein Licht! ... Ach ja, da wohnt der Schuster. Der gute Narr ... er
will diese Nacht für mich beten. Wie damals: Herr, bringe auch unseren
lieben Schulmeister aus der Finsternis zum Licht, ha! ... Wie das
gleich anstrengt, wenn der Weg ein wenig bergan steigt. Das Herz rast,
wohl hundertzwanzig Schläge in der Minute ... Ach, der schreckliche
Husten ... So, nun geht es wieder ... Hier hören die Äcker auf, die
Heide fängt an. Wie das duftet ... Ach ja, es ist August, die Heide
blüht ... Und da oben glühen die Sterne ... Mutter, was waren das für
glückliche Zeiten, als du da oben noch an den goldenen Himmelsfenstern
saßest! Mutter, wo bist du? Kannst du deinem verlorenen Kinde nicht
nahe sein in diesen schrecklichen Stunden? Hier geht es, in dunkler
Nacht, durch die öde Heide, den Tod in der Brust, von den Menschen
gehaßt, und muß sich selbst verachten. Und du hast so kalte, tote Augen
... Zum goldenen Tore? ... Ha! ... Einst leuchtete es vor uns, und das
Herz war all seines Suchens und Sehnens so froh, nun ist's verschlungen
in Nacht und Grauen ... Das war alles, alles Lüge ... Das Grab ist tief
und stille, und schauerlich sein Rand, es deckt mit dunkler Hülle ein
unbekanntes Land ... Vielleicht auch einen Ort der Qual, voll Heulen
und Zähneklappen ...? Ach einen Ort mit mehr Qual als diese »schöne
Erde« kann's ja gar nicht geben. Hier stoßen sie einen mit Füßen,
werfen einen mit Steinen ... machen fromme Redensarten, und es steckt
nichts dahinter ... Aber nein, mach' dir selbst nichts vor! Du selbst
bist Störer deiner Ruh, du zogst dir selbst dein Leiden zu ... Ja, so
ist's ... Und das ist das Schlimmste ... Das Allerschlimmste ... Das
bringt einen so herunter ... Das jagt einen in die Nacht hinaus ...

So weit schon? Da ist ja die Mergelgrube ... Wie die Füße schwer sind
... ein wenig liegen und ruhen. Ah, wie das wohltut ... Da unten,
zwischen den hohen, steilen Wänden, blinkt das tiefe Wasser ... War es
nicht hier? ... Ja, hier haben sie vor Jahren ein armes Menschenkind
herausgezogen, dem des Lebens Bürde zu schwer geworden ... hinterm
Zaun liegt's begraben in Brundorf ... Wenn sie morgen wieder einen
herausziehen ... niemand würde eine Träne weinen ... niemand ...
»Der elende Selbstmörder« würden sie sagen und ein Grab hinterm Zaun
graben, wo der Weg drüber hingeht ... Aber was schadet das ... es sind
ja Menschen ... wen sie im Leben von sich gestoßen haben, der braucht
ja auch nicht im Tode bei ihnen zu liegen. Warum langsam und qualvoll
hinsiechen ... wem geschieht damit ein Gefallen ... Vier Schritte
weiter gekrochen, ein Sturz, ein kurzer Kampf, und alles ist vorbei
............. Ja es ist das Beste ... »Ich eile von der schönen Erde
hinab in dieses dunkle Haus.« Noch einen Blick zurück ... Was ist das
für ein heller Stern dort über der Höhe? Ach so, es ist das Licht im
Hause des Frommen ... »Ich werde diese Nacht für Sie beten ...« Da
unten ist Ruhe ... So, jetzt nur noch ein wenig Übergewicht und ... Was
hat der Mann für einen anderen zu beten ... Zu wem betet er denn? ...
Gott! ... bist du? So gib mir Antwort! ... Der Nachtvogel schreit --
denn er ist. Das Gras säuselt -- denn es ist, Aber du? -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Wie kommt
es denn aber, daß, solange Menschen atmen, Menschen an ihn glauben?
Wie kommt es, daß der da auf dem Berge an ihn glaubt? ... Er sagt,
Jesus Christus ist der Weg zu Gott. Aber da sind wir gleich wieder
mitten in der Ungewißheit. Die einen sagen, der ist ein irrender,
schwacher Mensch gewesen und am Kreuze an seinem Gott verzweifelt.
Und die anderen sagen, er ist der Sohn Gottes, lebet und regieret in
Ewigkeit ... Ja, als wir in den Büchern deiner Jünger von dir lasen,
da hob deine Gestalt sich groß und herrlich vor uns. Da wurde uns, als
könntest du uns das wahre Leben schenken, wonach wir uns sehnten, und
uns helfen, die Welt zu überwinden, mit ihrer Lust und ihrem Leid ...
Und Karfreitags haben wir unter deinem Kreuze gestanden ... und haben
gesungen: All Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen, erbarm
dich unser, o Jesu. Ja, das war einmal -- -- -- -- Das war einmal -- --
-- -- -- -- -- -- -- Oder? -- -- -- -- -- Oder? -- -- -- -- -- -- -- --

                   *       *       *       *       *
                   *       *       *       *       *
                   *       *       *       *       *

Es wurde ihm, als ob die tiefsten Tiefen seines Wesens, Seelentiefen,
die er bis auf diese Stunde in sich nicht einmal geahnt hatte,
wunderbar durchwärmt würden. Und diese Wärme entband Kräfte,
ungekannte, ungeahnte Seelenkräfte des Lebens ... eines Lebens, das
fühlte er bei seinen ersten heimlichen Regungen, nach dem er sich lange
gesehnt hatte.

Er sprang plötzlich auf seine Füße. Nein, nein, nein, nein! Da unten in
dem dunklen Wasser war sein Ziel nicht. Er mußte weiter wandern. Dem
goldenen Tore zu ... Durch die grauenvolle Nacht fing es nun wieder an
vor seiner Seele zu schimmern.

Und die schon am Ziel waren, seine Toten, die ihm Wegweiser und
Wandergenossen geworden, jetzt sahen sie ihn wieder mit lebenden,
liebenden Augen an. Es war, als hätten auch sie aus einer
geheimnisvollen Quelle des Lebens und der Liebe Leben und Liebe
getrunken ...

Und die Menschen ... Er konnte jetzt nicht an die denken, die ihm Böses
getan auf seinem Wege. Er mußte derer gedenken, die ihm Liebe erwiesen,
und fand ihrer eine ganze Reihe, mehr als er früher je gedacht hätte,
von seinen Kindestagen an bis auf die letzten Stunden ... Er war am
Hause des Schusters angelangt, in dem das Licht jetzt auch gelöscht
war. Da blieb er einen Augenblick nachdenklich stehen, und als er
seinen Weg fortsetzte, nickte er still vor sich hin.

Er ging jetzt die Dorfstraße entlang und dachte an die Schwierigkeiten
und Wirrnisse, in die er hineingeraten war. Wo waren sie geblieben?
Was war einfacher, als morgen in dieses und in jenes Haus zu gehen
und zu sagen, daß das Geschehene ihm herzlich leid täte? Und was das
andere betraf? Was war leichter, als dem Superintendenten kurz und klar
hinzuschreiben, für die Behandlung seiner Schülerin in Sachen des
Katechismus nehme er, der Lehrer, die volle Verantwortung auf sich, und
er halte es für eine Ungerechtigkeit, jene für etwas büßen zu lassen,
was er selbst gefehlt habe, wenn es eine Verfehlung sei.

Zu Hause angekommen, zündete er ein Licht an. In der schwachen
Helligkeit, die dieses um sich verbreitete, sah er die Bilder des
Harfenspielers und Mignons. Da nahm er das Licht und hielt es nahe
heran und las die Verse und nickte dazu, langsam und nachdenklich und
froh. Wie einer, der über einem Rätsel, das ihn nicht losließ, lange
gesonnen hat und nun sich endlich auf dem Wege sieht, es zu lösen ...

Dann ging er zu Bett. Was er in den letzten Stunden Schreckliches
erlebt hatte, lag wie ein halbvergessener grausiger Traum hinter ihm.
Und vor ihm leuchtete, lockender und heller und näher denn je: das
goldene Tor ...

                   *       *       *       *       *

Von einem Geräusch an der Haustür erwachte er. Einige Kinder standen
vor der Schule und begehrten Einlaß. Mit Schrecken sah Peter, daß es
gleich sieben Uhr war, und kleidete sich eiligst an.

Als er vor die Tür trat, sah er, daß kaum die Hälfte der Schulkinder
versammelt war. Da sagte er ihnen, sie möchten vorläufig nach Hause
gehen, um neun Uhr wiederkommen und die noch fehlenden Kinder auch
mitbringen. Als die Schulkinder sich zerstreut hatten, ging Peter ins
Dorf und geradeswegs nach Westermanns Hofe. Er traf den Bauern auf der
Diele vor den Kühen. Dieser starrte ihn verwundert an. Aber Peter ging
schnell auf ihn zu und sagte, es täte ihm aufrichtig leid, daß er sich
so vergessen hätte, und er bäte ihn um Verzeihung.

Wenn ein Bauersmann etwas Unangenehmes auf dem Herzen hat, was
herunter soll, macht er meist erst viele allgemeine Redensarten und
kommt dann ganz zuletzt und wie beiläufig mit der Hauptsache heraus.
Ähnliches mochte Westermann auch vom Schulmeister erwartet haben, und
inzwischen hätte er sich wohl eine Antwort überlegt, die dem Groll,
den er gegen den Schulmeister hegte, entsprochen hätte. Aber diese
Art Peters, so mit der Tür ins Haus zu fallen, verwirrte ihn und er
brachte stockend etwas heraus wie: Das wäre schon gut, und er selbst
hätte mit dem großen Jungen ja auch oft seine Not, und Prügel müßten
sein; nur zuschanden dürfe man so'n Kind doch nicht schlagen. Na,
der Schulmeister wäre noch jung und hitzig, und hätte nun ja wohl
eingesehen, wie weit er gehen dürfe, und mit den Jahren kühlte das Blut
sich auch mehr ab, und der Mensch würde besinnlicher. Zuletzt fragte er
Peter, ob er mit ihm frühstücken wollte. Der nahm das Anerbieten an,
und die beiden setzten sich zusammen in die Dönze und aßen Brot und
Sülze und tranken einen kleinen Köm dazu. »Dat wi nu jümmer gode Lüe
bliewt,« sagte der Bauer, indem sie anstießen.

Auch bei Swiebertsbauer ging's Peter ganz gut. »Ick heww't ja glieks
seggt,« meinte dieser trocken, »he schöll Barken nehmen und kene Eken.
Eken sünd för so wat nich wussen.«

Peter ging auch zu seinem alten Freunde Mattens und erzählte ihm mit
Freuden, nun wäre alles wieder gut. »Würklich?« fragte dieser und
kratzte sich im Nacken, »Scholmester, Scholmester, wat heww ick van
sin'twegen för Nackensläg krägen düsse Dag'! Oh, wo mi dat freut! Kumm
rin, darup möt wi'n lütten Köm nehmen.«

Peter dankte. Er hätte schon bei Westermann einen getrunken.

»Bi Westermann?« fragte Mattens erstaunt. »Deuker ja, wenn ~de~
Mann enen utgiwwt, denn is't würklich alles wedder god. Scholmester,
ick freu mi nu doch wedder, dat ick em in de Iserbahn ankaschiert heww.«

Um neun Uhr hatte Peter seine Schule vollzählig beisammen. Die Kinder
hatten die Einladung bestellt, er selbst hatte unterwegs eingeladen,
was er getroffen hatte, und wie ein Lauffeuer war die Kunde durchs Dorf
gesprungen, der Schulmeister wäre wieder vernünftig geworden und hätte
mit seinem ergrimmtesten Feinde gefrühstückt.

Als Peter in die Schulstube trat und alle Blicke halb neugierig,
halb ängstlich auf sich gerichtet sah, war es ihm nicht möglich, den
Unterricht in der üblichen Weise zu beginnen und zu tun, als ob nichts
geschehen wäre.

»Meine lieben Kinder,« begann er bewegt.

Die Kinder machten verwunderte Gesichter. Diese Anrede war ihnen fremd,
und noch mehr ihr Ton.

»Ihr seid mir vorgestern alle davongelaufen. Aber ich mache euch keinen
Vorwurf daraus. Es war meine Schuld ... Des Menschen Zorn tut nicht,
was vor Gott recht ist. Aber ihr werdet mich, will's Gott, nie wieder
so sehen, wie ihr mich gesehen habt ... Wie sagt doch Gott zu dem
Brudermörder Kain? ›Die Sünde ruhet vor der Tür. Aber laß du ihr nicht
ihren Willen, sondern herrsche über sie.‹ So ist's bei mir, und bei
euch, bei uns allen. Gott helfe uns, daß wir über sie herrschen können.
Und wenn sie uns einmal überrumpelt, daß wir wieder aufstehen. Und nun
laßt uns unseren Morgengesang singen: Aus meines Herzens Grunde, die
ersten beiden Verse.«

Die Kinder setzten voll und kräftig ein, und Peter sang das Lied mit
einem freudig bewegten Herzen, wie in seinem ganzen Leben nicht.
Nur bei den ersten Strophen des zweiten Verses mußte er vor innerer
Bewegung schweigen: »Daß du mich hast aus Gnaden in der vergang'nen
Nacht vor Gefahr und allem Schaden behütet und bewacht.«

Und dann fing er an, zu unterrichten. Er hatte eigentlich gefürchtet,
er würde nach solcher Nacht dafür zu müde sein. Jetzt wunderte er sich,
wie ihm die Gedanken zu und die Worte von den Lippen strömten. So hatte
er in seinem ganzen Leben noch nicht unterrichtet, so hatten die Kinder
noch nie an seinem Munde gehangen. Was er ihnen heute gab, das stand
nicht in den Büchern, die er vor der Schule zur Vorbereitung schnell
eingesehen hatte, das nahm er aus seinem Eigensten und Tiefsten. Zwar
störten ihn einige Hustenanfälle. Aber wenn er sie überwunden hatte,
war er gleich wieder voll Freudigkeit und Kraft, fortzufahren.

Als es Mittag war, entließ er die Kinder. Wie er den sich zur Tür
Hinausdrängenden nachsah, fiel ihm plötzlich der Vers von Mignons Bilde
ein: »So laßt mich scheinen, bis ich werde.«

Da jauchzte sein Inneres auf. Was er so lange geschienen, das war
er heute geworden: ein Schulmeister, ein wirklicher Meister der
Schule. All seine bisherige Schulmeisterei erschien ihm plötzlich als
Scheinkram, Wortgeplärr, Karrendienst. In diesen drei Stunden erst war
er der Herrlichkeit seines Berufes ganz inne geworden. Er hatte nicht
nur kleine Finger gesehen, die Buchstaben schreiben lernen wollten,
blaue Äuglein, die sie wiederzuerkennen sich mühten. Er, der Gewordene,
hatte die Nähe junger Seelen gefühlt, die wachsen und werden wollten ...

Als er vom Mittagessen aus dem Dorf zurückkam, setzte er sich sofort
hin, um dem Superintendenten zu schreiben. Er zeigte ihm an, daß er
mit den betreffenden Hausvätern Rücksprache genommen habe und die
Sache erledigt sei. Was die die Tochter des Schusters betreffende
Forderung seines Vorgesetzten anbeträfe, schrieb er diesem ehrerbietig
und bestimmt in dem Sinne, wie er sich schon in der Nacht darüber klar
geworden war, daß er ihr nicht nachgekommen sei und nicht nachkommen
werde. Den Brief schickte er gleich durch einen Jungen an seine Adresse.

Der Superintendent machte beim Lesen dieses Briefes seines jüngsten
Schulmeisters verwunderte Augen. Aber seinem Lebensgrundsatz, sich vor
aufwallenden, heftigen Gemütsbewegungen aus Pflichtgefühl gegen sich
selbst zu hüten, blieb er auch in dieser Sache treu. Er verfolgte
sie auch nicht weiter. Beim hohen Konsistorium war für den alten
Landeskatechismus nicht mehr viel zu machen. Da hatte der Wind sich
in den letzten Jahren auch gedreht. Außerdem verriet ihm der Ton des
Briefes, daß er hier nicht einen servilen Kriecher und Jajabruder vor
sich hatte, sondern einen aufrechten Menschen, einen, der über Nacht
etwas wie ein Charakter geworden war. Dieses war sein erster Eindruck
beim Lesen des Briefes. Bald ging ihm freilich ein besseres Licht auf.
Der junge, ungefestigte Schulmeister war natürlich auch ein Opfer der
Verführungskünste des pietistischen Schusters geworden.

Am Abend dieses Tages, um die Stunde, da gestern der Schuster bei ihm
gewesen war, kam Peter auf den Gedanken, den Mann, gegen den er jetzt
eine tiefe Dankbarkeit empfand, zu besuchen. Aber als er länger darüber
nachdachte, unterließ er es doch. Was sollte er ihm sagen? Ihm saß das
Herz nicht so auf der Zunge wie jenem. Er konnte über das, was er in
tiefster Seele erlebte, nicht zu anderen Menschen sprechen.

                   *       *       *       *       *

In der nächsten Zeit fühlte Peter, wie seine Kräfte allmählich
nachließen. Aber der befreite, von einer neuen Kraft getragene Geist,
belebt durch die neugewonnene Freude am Beruf, hielt den hinsiechenden
Leib noch längere Zeit aufrecht und gewann ihm, nach Zeiten allzu
großer Schwäche, noch manche Stunde freudigen und kraftvollen Wirkens
ab. Ein Wort Jesu wurde ihm in dieser Zeit vor anderen lieb und
wertvoll: Ich muß wirken, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da
niemand wirken kann. Peter war froh und dankbar für jeden Tag seines
dem Ende zueilenden Lebens, den er durch Willenskraft noch für den so
spät in seiner Herrlichkeit erkannten Beruf gewinnen konnte.

Bis Mitte November gab er den Unterricht noch einigermaßen vollständig,
wenn er auch häufig gezwungen war, die Stunden umzulegen und die
Kinder verhältnismäßig viel mit Schreiben und Rechnen zu beschäftigen.
Von da an mußte er die Kinder nach zweistündigem Unterricht, den er
zuletzt nur noch sitzend erteilte, heimschicken. Seine Kraft war dann
völlig erschöpft, und er brachte die übrigen Stunden des Tages, meist
fiebernd, im Bett zu.

Die Dorfleute taten, was sie konnten. Jetzt, nachdem sie ihren
Schulmeister erzogen und zur Vernunft gebracht hatten, mochten sie
ihn recht gern. Da er nicht mehr zu den Mahlzeiten in die Häuser
gehen konnte, schickten die Bauernfrauen ihm das Essen ins Haus, und
die guten legten nach dem Schlachtfest eine frische Wurst bei, oder
schlugen trotz der Eierknappheit ihm eins extra in die Suppe, um ihren
guten Schulmeister, wenn's möglich wäre, recht bald wieder auf die
Beine zu bringen, oder ihm doch eine Freude zu machen. Die Kinder
der Häuslingsfrau, die bei Peter aufwartete, lebten in diesen Wochen
herrlich und in Freuden.

Peter hoffte noch immer, bis Weihnachten den zweistündigen Unterricht
aushalten zu können. Aber am Montag der Weihnachtswoche mußte er
liegenbleiben und den Kindern zurufen, daß sie nach Hause gingen. Er
hörte, wie sie sich langsam und still entfernten, wie die Schritte der
letzten Nachzügler auf dem Hofe verhallten. Sein Tagewerk war getan.

Der Kranke, der von der Häuslingsfrau nur mangelhaft verpflegt und
bedient wurde, hatte auf seinem einsamen Krankenlager manche schwere
und trübe Stunde durchzumachen.

Hin und wieder kam einer von den Dorfleuten zu Besuch. Claus Mattens
stellte sich gleich am ersten Tage ein. Er erzählte dies und das, aber
Peter merkte bald, daß der Mann etwas Besonderes auf seinem Herzen
hatte. Das kam denn zuletzt auch herunter. Peter könnte, so meinte
der Bauer, ja nicht selbst hingehen und sein fälliges Gehalt holen.
Ob er ihm den Weg abnehmen sollte? Und ob er nicht von dem Gelde so
viel behalten könnte, daß Peters Sachen, bis auf den Tisch etwa,
bezahlt wären? Peter gab seine Zustimmung. Da war der Freund sichtlich
erleichtert, machte noch einige nette Scherze und wünschte beim
Weggehen gute Besserung.

So kam der Tag vor dem Fest heran. Es war dicke Schneeluft, und der
Kranke hatte viel unter Atemnot zu leiden, bis nach Mittag die Luft
klarer wurde.

Gegen Abend kam der Schuster. Er entschuldigte sich, daß er nicht
schon eher einmal vorgesprochen hätte. Aber zu Weihnachten wollte alle
Welt in neuen Stiefeln gehen, und grad' eben hätte er das letzte Paar
abgeliefert.

Der Besucher blickte in den Ofen, und fand das Feuer erloschen. Er sah
sich im Zimmer um. Es war seit mehreren Tagen nicht gekehrt. »Herr
Lehrer,« sagte er, »es wäre besser, wenn Sie nach Hause reisten. Hier
kriegen Sie ihr Recht nicht.«

»Nach Hause?« fragte Peter schmerzlich. »Ich kann nicht nach Hause.
Meine Mutter ist tot, und die enge Kate ist voll kleiner Kinder. In all
der Unruhe halte ich's nicht aus.«

»Aber Sie können hier doch nicht allein liegenbleiben.«

»Ach, es wird wohl nicht lange mehr dauern.«

»Das steht in Gottes Hand ... Herr Lehrer, darf ich mir eine Bitte
erlauben?«

»Und?«

»Kommen Sie zu uns!«

»Zu Ihnen?« fragte Peter verwundert.

»Ja, sehen Sie, wir haben selbst viel Schweres durchgemacht und
verstehen uns wohl ein wenig auf das Krankenpflegen. Und es ist auch
besser für Sie. Da kommen manchmal Stunden, wo einer sich nach dem
Wort und Gesicht eines anderen Menschen sehnt. Unser Heiland ist
in Gethsemane auch immer wieder aufgestanden und zu seinen Jüngern
gegangen.«

Peter sah den Mann einen Augenblick an. Dann streckte er die weiße,
abgezehrte Hand aus und ergriff die harte, braune Pechhand des
Schusters, die er stumm mit warmem Druck festhielt.

»Dürfen wir Sie holen?« fragte der andere wieder.

Peter nickte. »Gott vergelt's Ihnen, was Sie an mir tun, und ... schon
getan haben ...«

Der Mann sah dem Kranken ein paar Sekunden tief in die Augen, als ob er
in seiner Seele lesen wollte. Dann ging er.

Nach einer guten Stunde kam er zurück, begleitet von ein paar Männern,
in denen Peter Häuslinge des Dorfes erkannte. An der Art, wie der
Schuster mit ihnen verkehrte, merkte er, daß sie zu denen gehörten, die
jener »Brüder« zu nennen pflegte. Das wunderte Peter; denn sie waren
von ganz anderer Art als der Schuster und lebten still für sich hin,
ohne irgendwie hervorzutreten.

Die Männer legten ihn mit dem Bett auf eine mitgebrachte Tragbahre,
verhüllten ihn sorgfältig gegen die Winterkälte und trugen ihn sorgsam
durch das Dorf.

Als endlich die Bahre hingestellt und von den Decken befreit wurde,
riß Peter die Augen weit auf. Vor ihm stand ein Christbaum, im Schmuck
seiner brennenden Lichter. Und um ihn her standen Lina und der kleine
Paul, und noch ein kleines Mädchen, und ein Jüngstes hockte auf dem Arm
der Mutter, und die Kinder sahen bald in den hellen Lichterbaum, und
bald auf den kranken Gast. »Singt mal, Kinder,« sagte der Vater, und
Lina schlug den Arm um Paulbruder, und sie sangen zusammen zweistimmig
das Weihnachtslied, das Peter in den letzten Wochen sie gelehrt:
»Stille Nacht, heilige Nacht.« Dann setzte der Schuster sich die dicke
Hornbrille auf und las das Evangelium von der Geburt des Heilands,
und die Kinder, in deren dunklen Augen die Lichter des Tannenbaumes
glänzten, hörten andächtig zu, und die Männer standen mit den Mützen in
den Händen und schauten ernst und still drein.

Als der Hausvater das Buch geschlossen hatte, sagte er: »So, Kinder,
nun drückt die Lichter vorsichtig aus und geht in die andere Stube,
daß der Herr Lehrer Ruhe hat. Und du, Mutter, sorgst wohl, daß er
noch etwas Warmes zu essen kriegt. Und ji beiden gaht noch mal in dat
Scholhus und bringt den Scholmeister sin Kram her, dat wi em dat recht
gemütlich maken könnt.«

»Ok de beiden Biller an de Wand,« sagte Peter leise, »und min Vigelin'.
Dat dor man nix an passiert!«

»Herr Lehrer, Sie können sich auf meine Freunde verlassen,« beruhigte
der Schuster den Kranken.

Als Peter ein wenig genossen hatte, kamen die Männer schon zurück. Der
Schuster mußte die Bilder über seinem Bett befestigen, Mignon links,
den Harfenspieler rechts. Dazwischen fand die Geige ihren Platz, so,
daß der Kranke sie ohne große Anstrengung erreichen konnte. Dies waren
ihm die liebsten Besitztümer. Die Anordnung des übrigen überließ er den
anderen.

Bald hatten sie ihn verlassen, und im Hause wurde es still. Aber Peter
konnte noch lange nicht einschlafen.

Es war ja der erste Weihnachtsabend, den er im Leben gefeiert; in
der Stube war noch der Harzduft des ersten Christbaums, in dessen
Lichterglanz er geschaut hatte. Wie schade, daß das alles so schnell
vorübergegangen war, fast ehe er sich recht hatte besinnen können!
Nein, noch nicht einschlafen, noch eine Weile liegen und sich still
weiter freuen ...

Bald holte er sich die Genossin seiner Leiden und Freuden heran, seine
Geige. Stillfroh spielte er mit den Fingern auf dem einsamen, dunklen
Krankenlager die lieben, alten Weihnachtsweisen, die um dieselbe
Stunde wohl durch Hunderttausende froher, heller Christenhäuser
schallten. So schlummerte er zuletzt ein, die treue Freundin im Arm und
stille Weihnachtsfreude im Herzen.

Es folgten schwere Tage und Wochen für den Kranken. Manche Stunde blieb
ihm nichts als stillhalten und leiden. Aber im tiefsten Grunde blieb er
immer froh und dankbar. Denn er konnte leiden unter treuer Liebe Hut
und Pflege.

Was hatte der arme Junge in einem kurzen Leben von Liebe erfahren!
Eine dunkle Erinnerung aus den ersten Lebensjahren sagte ihm, daß er
einmal warm in Mutterarmen geruht hatte. Dann der kurze Maimond seines
Lebens, da sein ganzes Wesen in Liebe aufgeblüht war. Dann noch die
Freundlichkeit des Musiklehrers auf dem Seminar. Sonst war er ohne
Liebe und einsam seine Straße gezogen. Nun hatte der dunkle, stürmische
Tag doch noch seinen stillen, lichten Abend. Über den letzten Wochen
seines zur Neige gehenden Lebens lag der warme Glanz treusorgender
Liebe.

Wie gut sie alle im Hause sich auf die Behandlung des Kranken
verstanden! Wenn es dem Leidenden lästig wurde, Menschen um sich zu
haben, brauchte er es gar nicht zu sagen. An irgendwelchen Anzeichen
merkten sie das und verließen leise das Zimmer. Und wenn er sich nach
Gesellschaft sehnte, so dauerte es auch meist nicht lange, bis jemand
kam.

Der Schuster sprach am liebsten über geistliche Dinge, und seine
Gesellschaft konnte dem Kranken am ehesten drückend werden. Es blieb
eben zwischen den beiden der Gegensatz zwischen rheinischer und
niedersächsischer Art. Bei dem lebhaften Rheinländer ging es ganz
nach dem Wort: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Der
schwerfällige Niedersachse dagegen mußte sein Bestes und Tiefstes
keusch im Busen verschließen. Er mochte und konnte nicht darüber reden.
Diese Schweigsamkeit und das Fehlen eines Echos machte den Schuster
manchmal bedenklich, ob es mit dem Seelenheil seines Pfleglings schon
recht bestellt sei, und er sprach immer wieder über alles, was ihm dazu
nötig schien. Peter lag dann meist mit geschlossenen Augen und nickte
von Zeit zu Zeit, wenn ein Gedanke darunter war, den er als Baustein
seines inneren Werdens, das in diesen Leidenszeiten nicht ruhte,
gebrauchen konnte, oder ein Wort, das ihm für die dunklen Nachtstunden
Trost versprach. Der gute Schuster brachte aber auch manches zutage,
was Peter höchst wunderlich vorkam, ja was ihn wohl geradezu abstieß.
Denn ganz konnte der Schriftgelehrte hinter der Schusterkugel die
Finger von dem heiklen Gebiet der Theologasterei nicht lassen.

Am liebsten war ihm Linas Gesellschaft. Wenn das Mädchen an seinem
Bett saß, das feine Gesichtchen über die Handarbeit gebeugt, wenn
sie ihn fragend anblickte, ob er einen Wunsch hätte, wenn sie seinen
fiebernden Lippen zu trinken reichte, dann konnte er sein Leiden fast
vergessen. Hatte sie ihn so eine Zeitlang durch ihre stille Gegenwart
erfreut, fühlte er meistens den Wunsch, ihre liebe Stimme zu hören.
Dann bat er sie, ihm etwas vorzulesen, bald ein Stück aus der Heiligen
Schrift, bald ein Gedicht, das ihm lieb geworden war, oder wonach er
sonst gerade Verlangen trug. Dann lag er meist mit geschlossenen Augen;
und wenn er auch oft zu schwach war, um den Inhalt des Gelesenen in
sich aufzunehmen, so tat ihm doch der Klang ihrer Stimme schon wohl.
Am Abend seines kurzen Tagewerks war es ihm eine stille Freude, daß
er fast zwei Jahre an dieser lieblichen Menschenknospe Gärtnerdienste
hatte tun dürfen.

Eines Nachmittags in der Dämmerung, als sie an seinem Bett saß und ihm
lange vorgelesen hatte, ergriff er ihre Hand und hielt sie lange fest.
»Die dritte,« kam es zuletzt leise über seine Lippen.

»Wie, Herr Lehrer?« fragte das Kind.

»Ach, Lina, ich dachte an etwas. Habe ich etwas gesagt?«

»Ja, Sie sagten: Die Dritte.«

»Ach so, ja; ja, ich dachte an etwas ...«

Er hatte daran gedacht, daß das Kind, dessen Hand er in der seinen
fühlte, die dritte gewesen war in der Reihe der Frauengestalten, die
ihm den Weg gezeigt hatten. Das letzte und, wie er empfand, tiefste und
innerste Werden, das er erlebt hatte, konnte er sich ohne die Arbeit
und Vertiefung, wozu ihn dieses Kindes Wesen gezwungen, gar nicht
denken.

Die Frau des Schusters hielt es nicht, wie ihr Mann, mit vielen Worten.
Dafür aber war sie die verständnis- und liebevollste Pflegerin. Wenn
sie ihm das Bett machte, wenn sie ihm das Essen brachte und dem
Appetitlosen freundlich zusprach, oder wenn sie ihn bei zu großer
Schwachheit fütterte wie ein kleines Kind, immer hatte der Kranke das
Gefühl, von Mutterhänden gepflegt zu sein. Ganz so, dachte er, würde
seine eigene Mutter es auch machen, wenn sie noch lebte.

Peter sann in einsamen Stunden viel über sein Leben nach. Und da
fiel es ihm auf das Gewissen, daß er einst mit einem so pietätlosen
Wort von seinem Vater gegangen war. Er bat den Schuster, diesem von
seiner Krankheit zu schreiben und ihn zu bitten, daß er seinen kranken
Sohn einmal besuchte. Nach drei Tagen kam Harm Eggers an. Peter
hatte sich vorgenommen, wegen jener häßlichen Abschiedsszene ihn um
Verzeihung zu bitten. Aber er kam nicht dazu. Denn kaum hatte der Vater
das abgezehrte Gesicht des Sohnes gesehen, so brach er in wildes,
krampfartiges Schluchzen aus. Peter war tief ergriffen, daß dem Vater
sein Leiden so zu Herzen ging, und fühlte auch, daß die kindliche Liebe
trotz allem in seinem Herzen noch nicht erstorben war. Als aber der
Vater sich gar nicht fassen konnte, sah er ihm scharf in die Augen und
merkte, daß der Alkohol an diesem Gefühlsausbruch nicht unschuldig war.
»Vader!« sagte er tieftraurig. Da fing dieser an, ihm zu versichern,
daß er an seiner Krankheit keine Schuld habe. Die hätte er ganz allein
von seiner Mutter geerbt. Aber er würde wohl bald wieder besser werden,
denn er, der Vater, wäre so gesund, und die ganze Familie, und Trina,
und die Geschwister wären alle so gesund, und Peters Urgroßvater wäre
beinahe neunzig Jahre alt geworden und hätte alle Zähne mit in den Sarg
gekriegt. Peter hatte sich gequält zur Wand umgedreht, und als der
Vater im Weggehen ihn einlud, die Osterferien zu Hause zu verleben,
antwortete er nicht. Die nächsten Stunden waren sehr schwer für den
Kranken. Er mußte noch einmal seine verlorene, elende Jugendzeit in der
Erinnerung durchleben und konnte den ganzen Tag keine Menschen um sich
haben. Und auch in den nächsten Tagen kam immer wieder ein bitteres
Gefühl über ihn, daß er so von dem Menschen, der ihm das Leben gegeben,
hatte Abschied nehmen müssen.

Und dann, Anfang März, kam der Tag der letzten Kämpfe.

Als der Schuster an diesem Morgen an sein Bett trat, sagte der Kranke,
matt zu Mignons Bilde deutend:

»Ich eile von der schönen Erde hinab in jenes feste Haus.«

»Herr Lehrer, diese Erde schön?« fragte der andere erschreckt. »Ein
rechtes Jammertal ist sie.«

»Ja ... ja ... ein Jammertal ... und doch wunderschön ...«

Über die bleichen Zügen ging wie ein stilles Leuchten die Erinnerung
glücklicher Tage.

»Und doch ... schön,« sagte er noch einmal.

»Herr Lehrer,« sagte der Schuster dringlich und voll Angst, »Sie stehen
vor den Toren der Ewigkeit. Ich bitte Sie um Ihrer Seelen Seligkeit
willen, denken Sie an das eine, was not tut, denken Sie an Gott und
unsern Heiland!«

»Ich danke ihm ... daß die Erde ... so schön war ...«

»Nein, nein, nicht rückwärts schauen, sondern vorwärts. ... Der Apostel
Paulus schreibt ...«

Der Kranke schüttelte abwehrend den Kopf und sagte leise: »Ich weiß, an
wen ich glaube ...«

Da ließ der Mann von ihm ab und beschränkte sich darauf, für seine
Seele still zu beten.

Als die Sonne untergehen wollte, warf sie einen letzten Schein auf die
Fenster der stillen Krankenstube, daß sie tief goldig erglänzten.

Da öffnete der Sterbende, der schon lange bewußtlos gelegen hatte, die
Augen und flüsterte leise: »Marie!«

Der Schuster erschrak und wandte sich zu seiner Frau: »Immer noch diese
weltlichen Gedanken! Daß so ein junges Blut gar nicht von der Welt
loskommen kann ... Herr, zeige ihm dein Heil!«

Wieder machte der Sterbende langsam und weit die Augen auf und wandte
sie dem Lichte zu. Sie schienen in unendliche Fernen zu schauen. Und
diese blassen Lippen öffneten sich und hauchten: »Das ... goldene ...
Tor ...«

»Er ist doch auf dem rechten Wege,« flüsterte der Schuster, und über
sein Gesicht ging eine stille Freude, »... er sieht schon die Tore
Jerusalems, der hochgebauten Stadt, von ferne leuchten ...«

»Und nun ist er angekommen,« sagte er nach einer Weile.

                   *       *       *       *       *

Zu der Beerdigung kamen der Vater, die Stiefmutter und die ältesten
Geschwister auf einem geliehenen Wagen angefahren. Aus Solten sandte
jedes Haus zwei zum Trauergefolge. Auch die ganze Schuljugend folgte;
jedes Kind trug einen Tannenkranz.

Der alte Superintendent hatte seit Weihnachten einen Adjunkten und war
froh, diesem das Begräbnis übertragen zu können. Als die Gemeinde vom
Grabe sich in die Kirche begeben hatte, verlas der junge Pastor nach
der Sitte zunächst den von einem Lehrer der Nachbarschaft verfaßten
Lebenslauf, der die äußeren Lebensdaten des Verstorbenen in stereotyper
Form aufzählte. Dann legte er das Blatt zur Seite und fuhr fort: »Was
wir eben gehört haben, andächtige Trauerversammlung, ist von dem Leben
unseres Entschlafenen das, was vor aller Augen liegt. Sein wirkliches
Leben, das Leben, das sich in dem Tiefsten und Eigensten abspielt, das
kennt wohl kein Mensch, die nächsten Angehörigen nicht ausgenommen. Ich
habe den Entschlafenen auf seinem letzten Lager einige Male besucht
und hätte gern einen Blick in sein inneres Leben, seine Entwicklung,
sein Werden und Wachsen getan. Aber er hat mir diesen Blick nicht
verstattet. Er durfte es wohl nicht, weil die Zartheit und Keuschheit
seiner Seele es ihm verbot. Ich habe aber den Eindruck gewonnen, daß
er in der Stille viel Leid erfahren und schwere Kämpfe hat durchmachen
müssen, und daß er gesiegt hat in der Kraft dessen, durch den wir
Christen die Welt überwinden wollen. In dem Lebensalter, in dem er von
uns gegangen ist, sind die meisten von uns noch gar nichts. Aber ich
glaube, er ist hingegangen nicht als ein Unreifer, sondern als ein
Reifer, der ganz in der Stille durch beides, Liebes und Leides, was der
Lenker seines Lebens ihm geschickt, etwas geworden ist zu seines Gottes
Ehre. Vielleicht sind solche Menschen, die nichts aus sich machen,
unerkannt und manchmal auch wohl verkannt ihren Weg gehen, still suchen
und sich sehnen, still lieben und leiden, still glauben und hoffen,
wachsen und werden, kämpfen und siegen, gerade die besten unseres
Geschlechts und Gottes liebste Kinder ...«

                   *       *       *       *       *

Nach Beendigung der Feier kehrten die Verwandten in das Sterbehaus
zurück. Sie wollten der Einfachheit halber Peters Hinterlassenschaft
gleich auf dem Wagen mitnehmen. Als sie diese zusammensuchten,
verteilte die Stiefmutter gleich die einzelnen Kleidungs- und
Wäschestücke an ihre anwesenden größeren Kinder. »Düsse Mütz,« sagte
sie, »kannst du man updrägen, Vader.« Und Harm Eggers paßte sie
gehorsam auf. Die Schulbücher sollten die Jüngsten in der Schule
verreißen; wo man mit den gelehrteren bleiben wollte, mußte sich später
finden. »Wat fangt wi mit de Vigelin' an?« fragte Trina. Der Schuster
bat, sie zum Andenken an den Toten behalten zu dürfen. »Wat will he
utgewen?« Zwanzig Silbergroschen bot der Mann. »Nee, ünner'n Daler
geiht dat Ding nich weg,« erklärte Trina bestimmt. Der Schuster legte
schweigend den Taler auf den Tisch. Die Bilder an der Wand blieben ihm
ohne Entgelt, da sie nicht als zur Erbmasse gehörig erkannt wurden.
Reich mit Beute beladen fuhr die trauernde Familie davon. Trina
berechnete gerade den Gesamtwert des Erbes, da hielt der Wagen an.
Clas Mattens war ihm mit seinem Schein in den Weg getreten und erhob
Anspruch auf den Tisch. Es gab eine häßliche Szene, aber der Schein
und des Bauern Hartnäckigkeit behielten den Sieg. Mit geschmälertem
Erbe zog die Familie trauernd weiter.

Die Schustersleute ließen die Zimmerwand, an der Peter seinen letzten
Kampf gekämpft, wie sie war. In der Mitte hing seine treue, nun auch
verstummte Geige. Links schaute Mignon sehnsuchtsvoll träumerisch in
die Ferne:

                 So laßt mich scheinen, bis ich werde,
                 Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
                 Ich eile von der schönen Erde
                 Hinab in jenes feste Haus.

Rechts saß der Alte über der Harfe gebückt und raunte zu ihren müden
Klängen:

                  Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
                  Wer nie die kummervollen Nächte
                  Auf seinem Bette weinend saß,
                  Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!

Über den dreien aber hing ein Stück gelblichen, starken Papiers, das
mit schlichten schwarzen Buchstaben bedruckt war. Diese schlichten
schwarzen Buchstaben waren der Jubelruf und Triumphgesang eines Mannes,
der auch ein Lebensbezwinger und Weltüberwinder war:

Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesum
Christum!




Fußnoten:

[1] Warte nur.

[2] Erde.

[3] Husten.

[4] Brust.

[5] Qualen.

[6] leer.

[7] gieße.

[8] gekostet.

[9] Art.

[10] ziehen

[11] in Ordnung

[12] kocht

[13] Aufwartung

[14] vermieten

[15] unterkriechen

[16] Brüder und Schwestern

[17] damit ist sie sehr zufrieden

[18] getroffen.

[19] schlägt.

[20] sofort.

[21] sonst.

[22] leihen

[23] betrunken

[24] schwermütig

[25] Worte

[26] Wurst

[27] warte nur

[28] verdrossen

[29] durchgehauen

[30] draußen

[31] rate

[32] gilt

[33] oberste

[34] Häuslinge

[35] gebräuchlich

[36] Himmel

[37] hoffen

[38] dazu lernen

[39] Entzweischlagen

[40] Rücken








*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GOLDENE TOR ***


    

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