Der Schuß von der Kanzel

By Conrad Ferdinand Meyer

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Conrad Ferdinand Meyer

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Title: Title: Der Schuss von der Kanzel

Author: Conrad Ferdinand Meyer

Posting Date: October 3, 2014 [EBook #9494]
Release Date: December, 2005
First Posted: October 5, 2003

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK TITLE: DER SCHUSS VON DER KANZEL ***




Produced by Delphine Lettau, Mike Pullen and Gutenberg Projekt-DE










Der Schuß von der Kanzel

Novelle

Conrad Ferdinand Meyer






Erstes Kapitel


Zween geistliche Männer stiegen in der zweiten Abendstunde eines
Oktobertages von dem hochgelegenen Ütikon nach dem Landungsplatze
Obermeilen hinunter.  Der kürzeste Weg vom Pfarrhause, das bequem
neben der Kirche auf der ersten mit Wiesen und Fruchtbäumen bedeckten
Stufe des Höhenzuges lag, nach der durch ein langes Gemäuer, einen
sogenannten Hacken, geschützten Seebucht, führte sie durch leere
Weinberge.  Die Lese war beendigt.  Zur Rechten und Linken zeigte der
Weinstock nur gelbe oder zerrissene Blätter, und auf den das
Rebgelände durchziehenden dunkelgrünen Rasenstreifen blühte die
Zeitlose.  Nur aus der Ferne, wo vielleicht ein erfahrener Mann seinen
Wein außergewöhnlich lange hatte ausreifen lassen, damit der Tropfen
um so kräftiger werde, scholl zuweilen ein vereinzeltes Winzerjauchzen
herüber.

Die beiden schritten, wie von einem Herbstgefühle gedrückt, ohne Worte
einer hinter dem andern.  Auch bot ihnen der mit ungleichen
Steinplatten und Blöcken belegte steile Absteig eine unbequeme Treppe
und wurden sie vom Winde, der aus Westen her in rauhen Stößen über den
See fuhr, zuweilen hart gezaust.

Die ersten Tage der Lese waren die schönsten des Jahres gewesen.  Eine
warme Föhnluft hatte die Schneeberge und den Schweizersee auf ihre
Weise idealisiert, die Reihe der einen zu einem einzigen stillen,
großen Leuchten verbunden, den andern mit dem tiefen und kräftigen
Farbenglanze einer südlichen Meerbucht übergossen, als gelüste sie
eine bacchische Landschaft, ein Stück Italien, über die Alpen zu
versetzen.

Heute aber blies ein heftiger Querwind, und die durch grelle Lichter
und harte Schatten entstellten Hochgebirge traten in schroffer, fast
barocker Erscheinung dem Auge viel zu nahe.

"Pfannenstiel, dein Vorhaben entbehrt der Vernunft!" sagte nun
plötzlich der Vorangehende, ein kurzer, stämmiger, trotz seiner Jugend
fast etwas beleibter Mann, stand still und kehrte sein blühendes
Gesicht rasch nach dem schmalen und hagern Gefährten um.

Dieser stolperte zur Antwort über einen Stein; denn er hatte den Blick
bis jetzt unverwandt auf die Turmspitze von Mythikon geheftet, die am
jenseitigen Ufer über einer dunkelbewaldeten Halbinsel als schlanke
Nadel in den Himmel aufstach.  Nachdem er seine langen Beine wieder in
richtigen Gang gebracht hatte, erwiderte er in angenehmem Brusttone:

"Ich bilde mir ein, Rosenstock, der General werde mich nicht wie ein
Lästrygone empfangen.  Er ist mein Verwandter, wenn auch in entferntem
Grade, und gestern noch habe ich ihm meine Dissertation über die
Symbolik der Odyssee mit einer artigen Widmung zugesendet."

"Heilige Einfalt!" brummte Rosenstock, der sein kräftiges Kolorit dem
Gewerbe seiner Väter verdankte, die seit Menschengedenken eine in
Zürich namhafte Fleischer- und Wursterfamilie gewesen, "du kennst ihn
schlecht, den da drüben!", und er deutete mit einer kurzen Bewegung
seines runden Kinns über den See nach einem Landhause von
italienischer Bauart, das an der nördlichen Einbuchtung der
eichenbestandenen Halbinsel lag.  "Er ist für seine Verwandten nicht
zärtlich, und deine schwärmerische Dissertation, die übrigens alle
Verständigen befremdet hat, spottet er dir zuschanden." Der Pfarrer
von Ütikon blies in die Luft, als formte er eine schillernde
Seifenblase, dann fuhr er nach einer Weile fort:

"Glaube mir, Pfannenstielchen, du hast besser mit den beiden Narren
dort drüben, den Wertmüllern, nichts zu schaffen.  Der General ist
eine Brennessel, die keiner ungestochen berührt, und sein Vetter, der
Pfarrer von Mythikon, das alte Kind, bringt unsern Stand in Verruf mit
seiner Meute, seinem Gewehrkasten und seinem unaufhörlichen Puffen und
Knallen.  Du hast ja selbst im Frühjahre als Vikar genug darunter zu
leiden gehabt.  Freilich die Rahel mit ihrem feingebogenen Näschen und
ihrem roten Kirschmunde!  Aber sie liebt dich nicht!  Die Junkerin
wird schließlich bei einem Junker anlangen.  Es heißt, sie sei mit dem
Leo Kilchsperger verlobt.  Doch laß dich's, hörst du, nicht anfechten.
Ein Korb ist noch lange kein consilium abeundi.  Um dich zu trösten:
Auch ich habe deren einige erhalten, und, siehe, ich lebe und gedeihe,
bin auch vor kurzem in den Stand der Ehe getreten."

Der lange Kandidat warf unter seinen blonden, vom Winde verwehten
Haaren hervor einen Blick der Verzweiflung auf den Kollegen und
seufzte erbärmlich.  Ihm mangelte die dessen Herzmuskel bekleidende
Fettschicht.

"Weg! fort von hier!" rief er dann schmerzvoll aufgeregt.  "Ich gehe
hier zugrunde!  Der General wird mir die erledigte Feldkaplanei seiner
venezianischen Kompanie nicht verweigern."

"Pfannenstiel, ich wiederhole dir, dein Vorhaben entbehrt der Vernunft!
Bleibe im Lande und nähre dich redlich."

"Du nimmst mir allen Lebensatem", klagte der Blonde.  "Ich soll nicht
fort und kann nicht bleiben.  Wohin soll ich denn?  Ins Grab?"

"Schäme dich!  Deine Knabenschuhe vertreten sollst du!  Der Gedanke
mit der venezianischen Feldkaplanei wäre an sich so übel nicht.  Das
heißt, wenn du ein resoluter Mensch wärest und nicht so blaue
unschuldige Kinderaugen hättest.  Der General hat sie neulich mir
angetragen.  Ein so geräumig entwickelter Brustkasten würde seinen
Leuten imponieren, meinte er.  Natürlich Affenpossen!  Denn er weiß,
daß ich ein befestigter Mensch bin und meinen Weinberg nicht verlasse."

"Warst du drüben?"

"Vorgestern."--Dem Ütikoner stieg ein Zorn in den Kopf.  "Seit er
wieder hier ist--nicht länger als eine Woche--, hat der alte
Störefried richtig Stadt und See in Aufruhr gebracht.  Er komme, vor
dem nächsten Feldzuge sein Haus zu bestellen, schrieb er von Wien.
Nun er kam, und es begann ein Rollen von Karossen am linken Seeufer
nach der Au zu.  Die Landenberge, die Schmidte, die Reinharte, alle
seine Verwandten, die den ergrauten Freigeist und Spötter sonst mieden
wie einen Verpesteten, alle kamen und wollten ihn beerben.  Er aber
ist nie zu Hause, sondern fährt wie ein Satan auf dem See herum,
blitzschnell in einer zwölfrudrigen Galeere, die er mit seinen Leuten
bemannt.  Meine Pfarrkinder reißen die Augen auf, werden unruhig und
munkeln von Hexerei.  Nicht genug!  Vom Eindunkeln an bis gegen Morgen
steigen feurige Drachen und Scheine aus den Schlöten des Auhauses auf.
Der General, statt wie ein Christenmensch zu schlafen, schmiedet und
schlossert zuweilen die ganze Nacht hindurch.  Kunstreiche Schlösser,
wahre Prachtstücke, hab ich von seiner Arbeit gesehn, die kein
Dietrich öffnet, für Leute, sagte er mit einem boshaften Seitenblicke
auf meine apostolische Armut, die Schätze sammeln, welche von Dieben
gestohlen und von Motten gefressen werden.  Nun du begreifst, die
Funkengarbe spielt ihre Rolle und wird als Straße des Höllenfürsten
durch den Schornstein viel betrachtet und reichlich besprochen.  So
wuchs die Gärung.  Die Leute aufklären ist von eitel bösen Folgen.
Ich wählte den kürzeren Weg und ging hinüber, den General als Freund
zu warnen.  Kreuzsapperlot, an den Abend werd ich mein Lebtag denken.
Meine Warnung beseitigte er mit einem Hohnlächeln, dann faßte er mich
am Rockknopfe, und ein Diskurs bricht los, wie Sturm und Wirbelwind,
sag ich dir, Pfannenstiel., Mit abgerissenen Knöpfen und gerädert kam
ich nach Hause.  Mosler hat er mir vorgesetzt, aber mit den größten
Bosheiten vergällt.  Natürlich sprach er von seinem Testamente, denn
das ist jetzt sein Steckenpferd.  'Ihr steht auch darin, Ehrwürden!'
Ich erschrecke.  'Nun, ich will Euch den Paragraphen weisen.' Er
öffnet das Konvolut.  'Leset.' Ich lese, und was lese ich,
Pfannenstiel?

"...  'Item, meinem schätzbaren Freunde, dem Pfarrer Rosenstock, zwei
hohle Hemdknöpfe von Messing mit einer Glasscheibe versehen, worunter
auf grünem Grunde je drei winzige Würfelchen liegen.  Gestikuliert der
Herr auf der Kanzel nun mit der Rechten, nun mit der Linken, und
schüttelt besagte Würfelchen auf eine ungezwungene Weise, so kann er
vermittelst wiederholter schräger Blicke bei währendem Sermone mit
sich selbst ein kurzweiliges Spielchen machen.  Vorgenannte Knöpfe
sind in Algier, Tunis und Tripolis bei den Andächtigen beliebt und
finden ihre Anwendung in den Moscheen während der Vorlesung des
Korans'...

"Nun denke dir, Pfannenstiel, das Ärgernis bei Eröffnung des
Testamentes!--Der Bösewicht ließ sich dann erbitten, mir die Gabe
gleich einzuhändigen und den Paragraphen zu streichen.  Hier!" Und
Rosenstock hob das niedliche Spielzeug aus seiner Brusttasche.

"Das ist ja eine ganz ruchlose Erfindung", sagte Pfannenstiel mit
einem Anfluge von Lächeln, denn er kannte die Neigung des Ütikoners
zum Würfelspiele, "und du meinst, der General ist allen geistlichen
Leuten aufsässig?"

"Allen ohne Ausnahme, seit er puncto gottloser Reden prozessiert und
um eine schwere Summe gebüßt wurde!"

"Ist ihm nicht zu viel geschehen?" fragte Pfannenstiel, der sich den
helvetisch reformierten Glaubensbegriff mit etwas bescheidener Mystik
versüßte und in dem keine Ader eines kirchlichen Verfolgers war.

"Durchaus nicht.  Nur mußte er die ganze große Rechnung auf einmal
bezahlen.  Auf seinem ganzen Lebenswege, von Jugend an hat er
blasphemiert, und das wurde dann so gesammelt, das summierte sich dann
so.  Als er endlich in unserm letzten Bürgerkriege Rapperswyl
vergeblich belagerte, ohne Menschenleben zu schonen, was die erste
Pflicht eines republikanischen Heerführers ist, erbitterte er die
öffentliche Meinung gegen sich, und wir durften ihm an den Kragen.  Da
wurde ihm eingetränkt, was er alles an unserer Landeskirche gefrevelt
hatte.  Jetzt freilich dürfen wir dem Feldherrn der Apostolischen
Majestät weiter nichts anhaben, sonst wird er uns zum Possen noch
katholisch und das zweite Ärgernis schlimmer als das erste.  Man
erzählt sich, er tafle in Wien mit Jesuiten und Kapuzinern.--Wir
geistlichen Leute sind eben, so oder so betitelt und verkleidet, in
der Welt nicht zu entbehren!"

Der Ütikoner belachte seinen Scherz und blieb stehen.  "Hier ist die
Grenze meines Weinbergs", sagte er.  Mit diesem Ausdrucke bezeichnete
er seine Gemeinde.  "Willst du nach dem Erzählten noch hinüber zum
Generale?  Pfannenstiel, begehst du die Torheit?"

"Ich will es ein bißchen mit der Torheit versuchen, die Weisheit hat
mir bis jetzt nur herbe Früchte gezeitigt", erwiderte Pfannenstiel
sanftmütig und schied von seinem gestrengen Kollegen.




Zweites Kapitel


Wenig später saß der verliebte und verzweifelnde Kandidat auf dem
Querbrette eines langen und schmalen Nachens, den der junge Schiffmann
Bläuling mitten über die Seebreite mit kaum aus dem Wasser gehobenem
Ruder der Au zulenkte.

Schon warf das schweigsame Eichendunkel seine schwarzen Abendschatten
weit auf die schauernden Gewässer hinaus.  Bläuling, ein ernsthafter,
verschlossener Mensch mit regelmäßigen Gesichtszügen, tat den Mund
nicht auf.  Sein Nachen schoß gleichmäßig und kräftig, wie ein
selbständiges Wesen durch die unruhige Flut.  Auf und nieder war der
ganze See mit gewölbten Segeln bevölkert; denn es war Sonnabend und
die Schiffe kehrten von dem gestrigen städtischen Wochenmarkte heim.
Drei Segel flogen heran, die eine Figur mit sich verschiebenden
Endpunkten bildeten, und schlossen das Schifflein des Kandidaten in
ihre Linien ein.  "Nehmt mich mit in die weite Freiheit!" flehte er
sie unbewußt an, aber sie entließen ihn wieder aus ihrem wandernden
Netze.

Unterdessen näherte sich zusehends das Landhaus des Generals und
entwickelte seine Fassade.  Der fest, aber leicht aufstrebende Bau
hatte nichts zu tun mit den landesüblichen Hochgiebeln, und es war,
als hätte er bei seiner Eigenart die Einsamkeit absichtlich aufgesucht.

"Dort ist das Kämmerlein der Türkin", ließ sich jetzt der schweigsame
Bläuling vernehmen, indem seine Rechte das Ruder fahren ließ und nach
der Südecke des Hauses zeigte.  "Der Türkin?" Der ganze Kandidat wurde
zu einem bedenklichen Fragezeichen.

"Nun ja, der Türkin des Wertmüllers; er hat sie aus dem Morgenlande
heimgebracht, wo er für den Venezianer Krieg führte.  Ich habe sie
schon oft gesehen, ein hübsches Weibsbild mit goldenem Kopfputze und
langen, offenen Haaren; gewöhnlich wenn ich vorüberfahre, legt sie die
Finger an den Mund, als pfiffe sie einem Mannsvolk; aber gegenwärtig
liegt sie nicht im Fenster."

Ein langgezogener Ruf schnitt durch die Lüfte, gerade über die Barke
hin: "Sweine-und!" scholl es vernehmlich vom Ufer her.

Der aufgebrachte Bläuling schlug sein Ruder ins Wasser, daß zischend
und spritzend ein breiter Strahl an der Seite des Fahrzeuges
emporschoß.

"So wird man", zürnte er, "seit den paar Tagen, daß der Wertmüller
wieder hier ist, überall auf dem See mit Namen gerufen.  Es ist der
verreckte Schwarze, der mit dem Sprachrohre des Generals rumort und
spektakelt.  Vergangenen Sonntag im Löwen zu Meilen schenkten sie ihm
ein und soffen ihn unter den Tisch.  Dann brachten sie ihn nachts in
meinem Schiffe dem Wertmüller zurück.  Nun schimpft der Kaminfeger
durch das Rohr nach Meilen hinüber, aber morgen, beim Eid, sitzt er
wieder unter uns im Löwen.--Nun frage ich: woher hat der Mohr das
fremde Wort?  Hier sagt man sich auch wüst, aber nicht so."

"Der General wird ihn so schelten", bemerkte Pfannenstiel kleinlaut.

"So ist es, Herr", stimmte der Bursche ein.  "Der Wertmüller bringt
die hochdeutschen, fremdländischen Wörter ins Land, der Staatsverräter!
Aber ich lasse mir auf dem See nicht so sagen, beim Eid nicht."

Bläuling wandte ohne weiteres seine Barke und gewann mit eiligen,
kräftigen Ruderzügen wieder die Seemitte.

"Was ficht Euch an, guter Freund?  Ich beschwöre Euch", eiferte
Pfannenstiel.  "Hinüber muß ich!  Nehmt doppelte Löhnung!"

Doch das Silber verlor seine Kraft gegen die patriotische Entrüstung,
und der Kandidat mußte sich auf das Bitten und Flehen legen.  Mit Mühe
erlangte er von dem beleidigten Bläuling, daß ihn dieser, "weil Ihr es
seid", sagte der Bursche, außerhalb der Tragweite des Sprachrohres um
die ganze Halbinsel herum in ihre südliche Bucht beförderte.  Dort
ließ er den Kandidaten ans Ufer steigen und ruderte nach wenigen
Minuten den sich rasch verkleinernden Nachen wieder mitten in der
Bläue.




Drittes Kapitel


So wurde Pfannenstiel wie ein Geächteter unter den Eichen der
Halbinsel ausgesetzt.  Ein enger Pfad vertiefte sich in das Halbdunkel,
und er zögerte nicht, ihn zu betreten.  Mit Diebesschritten eilte er
durch das unter seinen Sohlen raschelnde Laub einer nahen Lichtung zu.
Das einem bösen Traume verwandte Gefühl, den fremden Besitz auf so
ungewöhnlichem Wege zu betreten, gab ihm Flügel, doch begann auch das
Element des Abenteuerlichen, das in jedem Menschenherzen schlummert,
seinen geheimen Reiz auf ihn auszuüben.  So wirft sich ein Badender in
die Flut, die er zuerst leise schauernd mit der Zehe geprüft hat.

Die bald erreichte Lichtung war nur eine beschränkte, von oben wie
durch eine Kuppelöffnung erhellte Moosstelle.  Ein darauf spielendes
Eichhorn setzte über den Kopf des Kandidaten weg auf einen
niederhangenden Zweig, der erst ins Schwanken geriet, als das schnelle
Tierchen schon einen zweiten erreicht hatte.

Wieder führte der Pfad eine Weile durch das grüne Dunkel, bis er sich
plötzlich wandte und der Kandidat das Landhaus in der Entfernung von
wenigen Schritten vor sich erblickte.

Diese Schritte aber tat er sehr langsam.  Er gehörte zu jenen
schüchternen Leuten, für welche das Auftreten und das Abgehen mit
Schwierigkeiten verbunden ist, und der General stand im Rufe, seinen
Gästen nur dieses, nicht aber jenes zu erleichtern.  So kam es, daß er
hinter der äußersten Eiche, einem gewaltigen Stamme, unschlüssig
stehenblieb.  Was er indessen aus seinem Verstecke hervor erlauschte,
war ein idyllisches Bild, das ihn in keiner Weise hätte einschüchtern
können.

Der General plauderte in der hallenartig gebauten und zur jetzigen
Herbstzeit nur allzu luftigen Veranda, deren sechs hohe Säulen ein
prächtiges ausländisches Weinlaub umwand, gemütlich mit seinem Nachbar,
dem Krachhalder, einem der Kirchenältesten von Mythikon, die der
Kandidat während seines Vikariats allsonntäglich im Chore hatte sitzen
sehen und die ihm bekannt waren wie die zwölf Apostel.  Mit
aufgestützten Ellenbogen ritt Wertmüller auf einem leichten Sessel und
zeigte seine scharfe Habichtsnase und das stechende Kinn im Profil,
während der schöne, alte, schlaue Kopf des Krachhalders einen ungemein
milden Ausdruck hatte.

"Wir sind wie die Blume des Feldes", führte der Alte in erbaulicher
Weise das Gespräch, "und es trifft sich, Herr Wertmüller, daß wir
beide in diesen Tagen unser Haus bestellen.  Ich mache Euch kein
Geheimnis daraus: Drei Pfund vergabe ich zur neuen Beschindelung
unserer Kirchturmspitze."

"Ich will mich auch nicht als Lump erweisen", versetzte der General,
"und werfe testamentarisch ebensoviel aus zur Vergoldung unsers
Gockels, daß sich das Tier nicht schämen muß, auf der neubeschindelten
Spitze zu sitzen."

Der Krachhalder schlurfte bedächtig aus dem vor ihm stehenden Glase,
dann sprach er: "Ihr seid kein kirchlicher Mann, aber Ihr seid ein
gemeinnütziger Mann.  Erfahret: Die Gemeinde erwartet etwas von Euch."

"Und was erwartet die Gemeinde von mir?" fragte der General neugierig.

"Wollt Ihr es wissen?  Und werdet Ihr es nicht zürnen?"

"Durchaus nicht."

Der Krachhalder machte eine zweite Pause.  "Vielleicht ist Euch eine
andere Stunde gelegener", sagte er.

"Es gibt keine andere Stunde als die gegenwärtige.  Benützt sie!"

"Ihr würdet Euch ein schönes Andenken stiften, Herr General, bei Kind
und Kindeskind..."

"Ich unterschätze den Nachruhm nicht", sagte der General.

Dem Krachhalder, der den wunderlichen Herrn so aufgeräumt sah, schien
der günstige Augenblick gekommen, dem lange genährten Wunsche der
Mythikoner in vorsichtigen Worten Gestalt zu geben.

"Euer Forst im Wolfgang, Herr Wertmüller", begann er zögernd.  Der
General verfinsterte sich plötzlich, und der alte Bauer sah es wie
eine Donnerwolke aufsteigen, "stößt seine Spitze..."

"Wohin stößt er seine Spitze?" fragte Wertmüller grimmig.

Der Krachhalder überlegte, ob er vor- oder rückwärts wolle, ungefähr
wie ein mitten auf dem See vom Sturm Überraschter.  Er entschied sich
für das Vorrücken. "... mitten durch unsere Gemeindewaldung..."

Jetzt sprang der General mit einem Satze von seinem Sessel auf, faßte
ihn an einem Bein, schwang ihn durch die Lüfte und setzte sich in
Fechtpositur.

"Wollen mich die Mythikoner plündern?" schrie er wütend, "bin ich
unter die Räuber gefallen?" Dann fuhr er, seine hölzerne Waffe senkend,
gelassener fort: "Daraus wird nichts, Krachhalder.  Redet das den
Leuten aus.  Ich will Euch nicht noch von jenseits des Grabes eine
Nase drehen!"

"Nichts für ungut", versetzte der Alte mit Ruhe, "Ihr werdet es
bedenken, Herr Wertmüller."

Auch er hatte sich erhoben und nahm von dem Generale mit einem
treuherzigen Händedruck den landesüblichen Abschied.

Wertmüller geleitete ihn ein paar Schritte, dann wandte er sich, und
vor ihm stand sein Leibmohr Hassan.  Der Schwarze machte eine
flehentliche Gebärde und bat, das Deutsche wunderlich radbrechend, um
einen Urlaub für morgen nachmittag; denn seine Seele zog ihn zu seinen
neuen Freunden in Meilen.

"Bist du ganz des Teufels, Hassan!" schalt ihn der General.  "Sie
haben dir letzten Sonntag drüben arg genug mitgespielt."

"Mitgespielt!" wiederholte der Mohr, der das Wort mißverstand.  "Schön,
wundervoll Spiel!"

"Hast du denn gar kein Ehrgefühl?  Die Berührung mit der Zivilisation
richtet dich zugrunde--du säufst wie ein Christ!"

"Nicht saufen, Gnaden!  Schön Spiel, einzig Spiel!  J-aß!" Er riß eine
solche Grimasse und verdrehte die Augen mit so leidenschaftlicher
Inbrunst, daß Pfannenstiel, der, wie oft die unschuldigen Menschen,
viel Sinn für das Komische und überdies jetzt etwas gespannte Nerven
hatte, in ein vernehmliches Gekicher ausbrach, welches er mit aller
Gewalt nicht unterdrücken konnte.

Seine Gegenwart verraten sehend, trat der Kandidat, da er nicht wie
eine überraschte Dryade in die Eiche hineinschlüpfen konnte, verschämt
hinter derselben hervor und näherte sich dem General mit wiederholten
verlegenen Bücklingen.

"Was will denn Er hier?" fragte dieser gedehnt und maß ihn vom Wirbel
bis zur Zehe: "Wer ist Er?"

"Ich bin der Vetter... des Vetters... vom Vetter..." stotterte der
Angeredete.

Der General runzelte die Stirne.

"Mein Vater war ein Pfannenstiel und meine Mutter ist eine selige
Kollenbutz..."

"Will Er mir seinen ganzen verfluchten Stammbaum explizieren?  Was
Vetter?  Mein Bruder ist Er--alle Menschen sind Brüder!  Scher Er sich
zum Teufel!" und Wertmüller wandte ihm den Rücken.

Pfannenstiel regte sich nicht.  Der Empfang des Generals hatte ihn
versteinert.

"Fannen-stiel--", buchstabierte der Schwarze das ihm noch unbekannte
Wort, als wolle er seinen deutschen Sprachschatz bereichern.

"Pfannenstiel?" wiederholte auch der aufmerksam werdende General, "der
Name ist mir bekannt--halt, Er ist doch nicht der Autor", und er
kehrte sich dem Jüngling wieder zu, "der mir gestern seine
Dissertation über die Symbolik der Odyssee zugesendet hat?"

Pfannenstiel neigte bejahend das Haupt.

"Dann ist Er ja ein ganz liebenswürdiger Mensch!" sagte Wertmüller und
ergriff ihn freundlich bei der Hand.  "Wir müssen uns kennenlernen."




Viertes Kapitel


Er trat mit dem Gaste in die Veranda, drückte ihn auf einen Sitz
nieder, goß ihm eines der auf dem Schenktische stehenden Gläser voll
und ließ ihn sich erholen und erquicken.

"Der Empfang war militärisch", tröstete er ihn dann, "aber Ihr werdet
im Soldaten keinen unebenen Hauswirt finden.  Ihr nächtigt heute auf
der Au--ohne Widerrede!--Wir haben manches zu verhandeln.--Seht,
Lieber, Eure Abhandlung hat mich ganz angenehm unterhalten", und
Wertmüller langte nach dem Buche, welches in einer Fensternische des
die Rückwand der Veranda bildenden Erdgeschosses lag und zwischen
dessen Blätter er die zerlesene Dissertation des Kandidaten eingelegt
hatte.

"Zuerst eine Vorfrage.  Warum habt Ihr mir Euer Werk nur mit einer
Zeile zugeschrieben, statt mir es coram populo auf dem ersten weißen
Blatte mit aufrichtigen, großen Druckbuchstaben zu dedizieren?  Weil
ich mit den Faffen, Euern Kollegen, gespannt bin, he?  Ihr habt keinen
Charakter, Pfannenstiel; ihr seid ein schwacher Mensch."

Der Kandidat entschuldigte sich, seine unbedeutende Arbeit habe den
Namen des berühmten Feldherrn und Literaturkenners nicht vor sich her
tragen dürfen.

"Durchaus nicht unbedeutend", lobte Wertmüller.  "Ihr habt Phantasie
und seid in die purpurnen Tiefen meines Lieblingsgedichtes
untergetaucht, wie nicht leicht ein anderer.  Freilich um etwas
Absurdes zu beweisen.  Aber es ist einmal nicht anders: wir Menschen
verwenden unsere höchsten Kräfte zu albernen Resultaten.  Dachtet Ihr
daran, mich rechtzeitig zu Rate zu ziehen, ich gab Eurer Dissertation
eine Wendung, die Euch selber, Eure fäffischen Examinatoren, das ganze
Publikum in Erstaunen gesetzt hätte.  Ihr habt es gefühlt,
Pfannenstiel, daß die zweite Hälfte der Odyssee von besonderer
Schönheit und Größe ist.  Wie?  Der Heimgekehrte wird als ein
fahrender Bettler an seinem eigenen Herde mißhandelt.  Wie?  Die
Freier reden sich ein, er kehre niemals wieder, und ahnen doch seine
Gegenwart.  Sie lachen und ihre Gesichter verzerrt schon der
Todeskampf--das ist Poesie.--Aber Ihr habt recht, Pfannenstiel, was
nützt mir die Poesie, wenn nicht eine Moral dahintersteckt?  Es ist
eine Devise in das Zuckerwerk hineingebacken--zerbrechen wir es!  Da
der Odysseus nicht bloß den Odysseus bedeuten darf, wen oder was
bedeutet er denn?  Unsern Herrn und Heiland--so beweist Ihr und habt
Ihr es drucken lassen--, wenn er kommt zu richten Lebendige und Tote.
Nein, Kandidat, Odysseus bedeutet jede in Knechtesgestalt mißhandelte
Wahrheit mitten unter den übermütigen Freiern, will sagen, Faffen,
denen sie einst in sieghafter Gestalt das Herz durchbohren wird.

"He, Kandidat, wie gefällt Euch das?--So hättet Ihr es wenden sollen,
und seid gewiß, Eure Dissertation hätte gerechtes Aufsehen erregt!"

Pfannenstiel erbebte bei dem Gedanken, daß sich seiner Symbolik diese
gotteslästerliche und verwegene Wendung hätte geben lassen.  Sein
einfaches Wesen ließ ihn den Pferdefuß des alten Spötters nicht oder
doch nur in unbestimmten Umrissen erkennen.

Um sich der Verlegenheit zu entziehen, dem alten Freigeiste eine
Antwort geben zu müssen, nahm der Kandidat den Pergamentband in die
Hände, mit welchem Wertmüller während seiner Rede gestikuliert hatte.
Es war die aldinische Ausgabe der Odyssee.  Pfannenstiel betrachtete
andächtig das Titelblatt des seltenen Buches.  Plötzlich fuhr er
zurück wie vor einer züngelnden Natter.  Er hatte auf dem freien Raume
links neben dem Wappen des venezianischen Buchhändlers etwas
verblichene, kühnfließende Federzüge entdeckt, die folgende Zeilen
bildeten:

Georgius Jenatius me jure possidet
Constat R. 4. Kz. 12.

Er warf das Buch weg, als atme es einen Blutgeruch aus.

Damals moderte der fragwürdige Bündner schon seit Dezennien in der
Domkirche von Chur, während sein Bild in zahmen und unpatriotischen
Zeiten sich zu einem widerwärtigen verzerrt hatte, so daß nur der
Apostat und der Blutmensch übrigblieb.  Pfannenstiel betrachtete ihn
einfach als ein Ungeheuer, an dessen Dagewesensein er kaum glauben,
das er sich nicht realisieren konnte.

Der General weidete sich an seinem Schrecken, dann sagte er leichthin:
"Der liebe Mann, Euer gewesener Kollege, hat mich damit beschenkt, wie
wir noch auf gutem Fuße standen und ich ihn auf seinem Malepartus in
Davos besuchte."

"Also hat er doch gelebt!" sprach der Kandidat halblaut vor sich hin,
"er hat Bücher besessen, wie unsereiner, und ihren kostenden Preis auf
das Titelblatt geschrieben."

"Ja wohl hat er gelebt, und recht persönlich und zähe", sagte der
General mit kurzem Lachen.  "Noch heute nacht träumte mir von dem
Bündner...  Das kam daher, daß ich mich den ganzen gestrigen Tag mit
einem häßlichen Geschäfte abgegeben hatte.  Ich schrieb mein Testament
nieder, und was ist kläglicher, als bei atmendem Leibe über seinen
Besitz zu verfügen, der ja auch ein Teil von uns selber ist!"

Die Neugierde des jungen Geistlichen wurde rege.  Vielleicht war es
ein warnendes Traumgesicht gewesen, das, fein und erbaulich ausgelegt,
in dem ihm gegenüber Sitzenden einen guten und frommen Gedanken konnte
entstehen lassen.  "Wollt Ihr mir Euern Traum nicht mitteilen?" fragte
er mit einem gefühlvollen Blicke.

"Er steht zu Diensten.  Es war in Chur.  Menschengedränge,
Staatsperücken, Militärpersonen--von der Hofkirche her Geläute und
Salutschüsse.  Wir treten unter dem Torbogen hervor in den
bischöflichen Hof.  Jetzt gehen wir zu zweien, neben mir ein Koloß.
Ich sehe nur einen Federhut, darunter eine Gewaltsnase und den in den
Kragen gesenkten pechschwarzen Spitzbart: 'Wertmüller', fragte der
Große, 'wen bestatten wir?'--'Ich weiß nicht' sage ich.  Wir treten in
die Kathedrale zwischen das Gestühl des Schiffes.  'Wertmüller', fragt
der andere, 'wem singen sie ein Requiem?'--'Ich weiß nicht' sag ich
ungeduldig.  'Kleiner Wertmüller', sagt er, 'stell dich einmal auf die
Zehen und sieh, wer da vorn aufgebahrt liegt.'--Jetzt unterscheide ich
deutlich in den Ecken des Bahrtuches den Namenszug und das Wappen des
Jenatschen, und im gleichen Augenblicke wendet er, neben mir stehend,
mir das Gesicht zu--fahl mit verglühten Augen.  'Donnerwetter, Oberst',
sag ich, 'Ihr liegt dort vorn unter dem Tuche mit Euern sieben
Todeswunden und führt hier einen Diskurs mit mir!  Seid Ihr doppelt?
Ist das vernünftig?  Ist das logisch?  Schert Euch in die Hölle,
Schäker!' Da antwortete er niedergeschlagen: 'Du hast mir nichts
vorzurücken--mach dich nicht mausig.  Auch du, Wertmüller, bist tot.'"

Pfannenstiel überlief es kalt.  Dieser Traum am Vorabende des ohne
Zweifel blutigen Feldzuges, welcher dem General draußen im Reiche
bevorstand, schien ihm von ernster Vorbedeutung, und er sann auf ein
Wort geistlicher Zusprache.

Auch Wertmüller konnte seinen Traum, nachdem er ihn einmal mitgeteilt,
nicht sogleich wieder loswerden.  "Der Oberst wurde von seinem
Liebchen mit der Axt wie ein Stier niedergeschlagen", erging er sich
in lauten Gedanken, "mir wird es so gut nicht werden.  Fallen--wohlan!
Aber nicht in einem Bettwinkel krepieren!"

Vielleicht dachte er an Gift, denn er war am Hofe zu Wien in ein
hartnäckiges Intrigenspiel verwickelt und hatte sich dort durch seinen
Ehrgeiz Todfeinde gemacht.

"Ehe ich meinen Koffer packe", fuhr er nach einer Pause fort, "möchte
ich wohl noch einen Menschen glücklich machen--"

Dem Kandidaten schoß das Wasser in die Augen, nicht in selbstsüchtigen
Gedanken, sondern in uneigennütziger Freude über diese schöne Regung;
doch es trocknete schnell, als der General seinen Satz abschloß:
"--besonders wenn sich ein kräftiger Schabernack damit verbinden ließe."

Das abergläubische Gefühl, das den General angewandelt hatte, war
rasch vorübergegangen.  "Was ist Euer Anliegen?" fragte er seinen Gast
mit einer jener brüsken Wendungen, die ihm geläufig waren.  "Ihr seid
nicht hierhergekommen, um Euch meine Träume erzählen zu lassen."

Nun berichtete Pfannenstiel dem Generale mit einer unschuldigen List,
denn er wollte ihm seine Liebesverzweiflung, für die er ihm kein Organ
zutraute, nicht verraten, wie ihn über dem Studium der Odyssee ein
unwiderstehliches Verlangen ergriffen, die Heimat Homers, die goldene
Hellas kennenzulernen.  Da er keinen andern Weg wisse, seine
Wanderlust zu befriedigen, sei ihm der Gedanke gekommen, sich bei dem
Herrn für die Feldkaplanei seiner venezianischen Kompanie zu melden,
die ja in den griechischen Besitzungen der Republik stationiere.  "Sie
ist erledigt", schloß er, "und wenn Ihr mir ein weniges gewogen seid,
weiset Ihr mir die Stelle zu."

Wertmüller blickte ihn scharf an.  "Ich bin der letzte", sagte er,
"der einem jungen Menschen eine gefährliche Karriere widerriete!  Aber
er muß dazu qualifiziert sein.  Euer Knochengerüste, Freund, ist nicht
fest genug gezimmert.  Der erste beste relegierte Raufbold von Leipzig
oder Jena wird meinen Kerlen mehr imponieren als Euer Johannesgesicht.
Schlagt Euch das aus dem Kopfe.  Wollt Ihr den Süden sehen, so sucht
als Hofmeister Dienste bei einem jungen Kavalier und klopft ihm die
Kleider!  Doch auch das kann Euch nicht taugen.  Das beste ist, Ihr
bleibt zu Hause.  Blickt aus!  Zählt alle die Turmspitzen am See--das
Kanaan der Pfarrer.  Hier ist Euer Rhodus, hier tanzt--will sagen
predigt!--Wozu sind die Geleise bürgerlicher Berufsarten da, als daß
Euresgleichen sie befahre?  Ihr wißt nicht, welcher Schenkelschluß
dazu gehört, um das Leben souverän zu traktieren.  Steht ab von Eurer
Laune!", und er machte die Gebärde, als griffe er einem Rosse in die
Zügel, das mit einem unvorsichtigen Knaben durchgegangen ist.

Es entstand eine Pause.  Wieder warf der General dem Kandidaten einen
beobachtenden Blick zu.

"Ihr seid ein lauterer Mensch", sagte er dann, "und es war Euer Ernst,
Ihr würdet das griechische Abenteuer bestanden haben.  Wie reimt sich
das mit dem Pfannenstiel, den ich hier vor mir sehe?  Da liegt ein Aal
unter dem Steine.  Ein verrückter Antiquar, wie sie zwischen den
Ruinen herumkriechen, seid Ihr nicht.  Also seid Ihr desperat.  Aber
warum seid Ihr desperat?  Was treibt Euch weg?  Heraus damit!  Eine
Figur?  He?  Ihr errötet!"

Der sechzigjährige Wertmüller behandelte die weiblichen Wesen als
Staffage und pflegte sie schlechtweg mit dem Malerausdrucke "Figuren"
zu benennen.

"Wo habt Ihr zuletzt konditioniert?"

"In Mythikon bei Euerm Herrn Vetter während seiner Gichtanfälle."

"Bei meinem Vetter?  Will sagen bei der Rahel.  Nun ist alles klar und
deutlich wie mein neuverfaßtes Exerzierreglement.  Das Mädchen hat
Euch den Kopf verrückt und dann, wie recht und billig, einen Korb
gegeben?"

Der zartfühlende Kandidat hätte sich eher das Herz aus dem Leibe
reißen lassen, als eingestanden, daß die Rahel--wie er daran nicht
zweifeln konnte--ihm herzlich wohlwolle.  Er antwortete bescheiden:

"Der Herr Wertmüller, sonst mein Gönner, hat mich verabschiedet, weil
ich mit Schießgewehr nicht umzugehen verstehe und mich auch davor
scheue.  Vor zwanzig Jahren ist damit in meiner Familie ein Unglück
begegnet.  Er nötigte mich, mit ihm in die Scheibe zu schießen, und
ich habe keinen Schuß hineingebracht."

"Ihr hättet Euch weigern sollen.  Das hat Euch in Rahels Augen
heruntergesetzt.  Sie trifft immer ins Schwarze.  Donnerwetter, da
fällt mir ein, daß ich dem Alten noch etwas schuldig bin.  Der
geistliche Herr hat mir, während ich am Rheine bataillierte, meine
Meute hier ganz meisterhaft beaufsichtigt.  Er ist ein Kenner.  Hassan,
hol mir gleich das violette Saffianfutteral her, links zuunterst im
Glasschranke der Waffenkammer.--Laßt Euch nicht stören, Kandidat." Der
Mohr beeilte sich, und nach wenigen Augenblicken hielt Wertmüller zwei
kleine Pistolen von zierlicher Arbeit in der Hand.  Er reinigte mit
einem Lederlappen die damaszierten Läufe und den Silberbeschlag der
Kolben, in welchen hübsche seltsame Arabesken eingegraben waren.

"Fortgefahren, Freund, in Eurer Elegie!" sagte er.  "Das Mädchen also
gab Euch einen Korb--oder ist es möglich, liebt sie Euch?  Es gibt
wunderliche Naturspiele!--und nur der Alte hätte Euch abblitzen lassen,
he?  Was gab er Euch für Gründe?"

Pfannenstiel blieb erst die Antwort schuldig.  Ihm war ängstlich
zumute geworden, denn der General hatte, während er sprach, den Hahn
der einen Pistole gespannt.  Jetzt berührte Wertmüller den Drücker mit
ganz leisem Finger, und der Hahn schlug nieder.  Er spannte die zweite,
streckte den Arm aus, schnitt eine Grimasse; nur nach harter
Anstrengung gelang es ihm loszudrücken.  Das Spiel der Feder mußte
sich aus irgendeinem Grunde verhärtet haben, und er schüttelte
unzufrieden den Kopf.

Der Kandidat, der stark mit den Augen gezwinkert hatte, nahm jetzt den
Faden des Gesprächs wieder auf, um den wahren Grund seiner
Hoffnungslosigkeit anzudeuten.  "Eine Wertmüllerin und ein
Pfannenstiel!" sagte er in einem resignierten Tone, als nenne er Sonne
und Mond und finde es ganz natürlich, daß dieselben nicht
zusammenkommen.

"Laß Er mich mit diesen Narreteien zufrieden!" fuhr ihn der General
hart an.  "Sind wir noch nicht über die Kreuzzüge hinaus, in welcher
geistreichen Epoche die Wappen erfunden wurden?  Aber auch damals, wie
überhaupt jederzeit, galt der Mann mehr als der Name, sonst wäre die
Welt längst vermodert wie ein wurmstichiger Apfel.  Seh Er,
Pfannenstiel, ich gelte hier für einen Patricius; als ich aber in
kaiserliche Dienste trat, wie blickten die Herren Kollegen von soundso
viel Quartieren hochnasig auf das plebejische Mühlrad in meinem Wappen
herunter.  Dennoch mußten sie es eben leiden, daß der Müller die von
ihnen mehr als zur Hälfte ruinierte Kampagne wiederherstellte und
gewann!  Hör Er, Pfannenstiel, es fehlt Ihm an Selbstgefühl, und das
schadet Ihm bei der Rahel."

Der Kandidat befand sich in einem seltsamen Falle.  Er konnte den
Standpunkt Wertmüllers nicht teilen, denn er fühlte dunkel, daß eine
so vollständige Vorurteilslosigkeit die ganze alte Ordnung der Dinge
durchstieß, und diese war ihm ehrwürdig, auch da, wo sie zu seinen
Ungunsten wirkte.

Aber Wertmüller verlangte keine Antwort.  Er hatte sich erhoben und
trat, in jeder Hand eine Pistole, einem hochgewachsenen Mädchen
entgegen, das auf dem vom festen Lande her ausmündenden Wege einherkam.
Der General hatte den Kies unter ihren leichten, raschen Schritten
knirschen hören.

"Guten Abend, Patchen", begrüßte er sie, und seine grauen Augen
leuchteten.

Das schöne Fräulein aber zog die Brauen zusammen, bis der Alte die
beiden Pistolen, die ihr offenbar ein Ärgernis waren, die eine in die
rechte, die andere in die linke seiner geräumigen Rocktaschen steckte.
"Ich habe Besuch, Rahel", sagte er.  "Erlaube mir, meinen jungen
Freund dir vorzustellen, den Herrn Kandidaten Pfannenstiel."

Die Wertmüllerin war näher getreten, während sich Pfannenstiel
linkisch von seinem Stuhle erhob.  Sie bekämpfte ein Erröten, das aber
sieghaft bis in die feine Stirn und bis unter die Wurzeln ihres vollen
braunen Haares aufflammte.  Der Kandidat schlug erst die Augen nieder,
als hätte er mit ihnen ein Bündnis geschlossen, keine Jungfrau
anzuschauen, erhob sie dann aber mit einem so innigen und strahlenden
Ausdrucke des Glückes und der Liebe, und seine guten Blicke fanden in
zwei braunen Augen einen so warmen Empfang, daß selbst der alte
Spötter seine Freude hatte an der ungeschminkten Neigung zweier
unschuldiger Menschenkinder.

Er vermehrte seltsamerweise die erste süße Verwirrung der beiden mit
keinem Scherzworte.  Ist es nicht, als ob ein tiefes und wahres Gefühl
in seinem natürlichen und bescheidenen Ausdrucke aus dieser Welt des
Zwanges und der Maske uns in eine zugleich größere und einfachere
versetze, wo der Spott keine Stelle findet?

Lange freilich hätte er sie nicht ungeneckt gelassen, aber das
gescheite und tapfere Mädchen enthob ihn der Versuchung.  "Ich habe
mit Euch zu reden, Pate", sagte sie, "und gehe voran nach der zweiten
Bank am See.  Laßt mich nicht zu lange warten!"

Sie verbeugte sich leicht gegen den Kandidaten und war verschwunden.

Der General nahm diesen bei der Hand und führte ihn eine Treppe hinauf
in sein Bibliothekzimmer, in das die Seebreite durch drei hohe
Bogenfenster hereinleuchtete.

"Seid getrost", sagte er, "ich werde bei der Rahel für Euch Partei
nehmen.  Unterdessen wird es Euch hier an Unterhaltung nicht mangeln.
Ihr liebt Bücher!  Hier findet Ihr die Poeten des Jahrhunderts tutti
quanti." Er zeigte auf einen Glasschrank und verließ den Saal.  Da
standen sie in glänzenden Reihen, die Franzosen, die Italiener, die
Spanier, selbst einige Engländer, ein gehäufter Schatz von Geist,
Phantasie und Wohllaut, und Wertmüller, der ohne Frage auf der Höhe
der Zeitbildung stand, würde ungläubig den Kopf geschüttelt haben,
wenn ihm zugeflüstert worden wäre, einer fehle hier, der sie alle
insgesamt voll aufwiege.

Der überall Belesene hatte William Shakespeare nicht einmal nennen
hören.

Der Kandidat ließ die Poeten unberührt, denn für ein junges Blut ist
die Nähe der Geliebten mehr als alle neun Musen.




Fünftes Kapitel


Der General hatte einen Pfad eingeschlagen, der sich dicht am Ufer um
die Krümmungen der Halbinsel schlängelte, und hier erblickte er bald
Rahel Wertmüller, die, auf einer verwitterten Steinbank sitzend, das
feine Profil nach der jetzt abendlich dämmernden Flut hinwendete.  Ein
aufrichtiger Ausdruck tiefer Betrübnis lag auf dem hübschen und
entschlossenen Gesichtchen.

"Was dichtest und trachtest du?" redete er sie an.

Sie antwortete, ohne sich zu erheben: "Ich bin nicht mit Euch
zufrieden, Pate."

Der General lehnte sich an den Stamm einer Eiche und kreuzte die Arme.
"Womit habe ich es bei Euer Wohlgeboren verscherzt?" sagte er.

Das Fräulein warf ihm einen Blick des Vorwurfs zu.  "Ihr fragt noch,
Pate?  Wahrlich, Ihr handelt an Papa nicht gut, der Euch doch nur
Liebes und nichts zuleide getan hat.--Was war das wieder für ein
Spektakel vergangenen Sonntag!  Durch Eure Verleitung hat er den
ganzen Nachmittag mit Euch auf Euerm Au-Teiche herumgeknallt.  Welch
ein Schauspiel!  Aufflatternde verwundete Enten, im Moor nach der
Beute watende Jungen, der Vater in großen Stiefeln und das ganze Dorf
als Zuschauer!..."

"Es beurteilte die Schüsse", warf Wertmüller ein.

"Pate"--das Mädchen war von seinem Sitze aufgesprungen, und seine
schlanke Gestalt bebte vor Unwillen--"ich meinte bisher, Ihr
hättet--trotz mancher Wunderlichkeit--das Herz am rechten Flecke.
Aber ich habe mich geirrt und fange an zu glauben, hier sei bei Euch
etwas nicht in Ordnung!", und sie wies mit einer kleinen Gebärde des
Zeigefingers nach der linken Brustseite des Generals.  "Ich hielt
Euch", fügte sie freundlicher hinzu, "für eine Art Rübezahl... so
heißt doch der Geist des Riesengebirges, von dessen Koboldstreichen
Ihr so lustig zu erzählen wißt?..."

"Dem es zuweilen Spaß macht, Gutes zu tun, und der, wenn er Gutes tut,
dabei sich einen Spaß macht."

"So ungefähr.  Doch, wie gesagt, wenn Ihr ebenso boshaft seid wie der
Berggeist--von Wohltat ist dabei nichts sichtbar.  Ihr werdet den
Vater noch ins Verderben stoßen.  Wären unsere Mythikoner im Grund
nicht so gute Leute, die ihren Pfarrer decken, wo sie können, längst
wäre in Zürich gegen ihn Klage erhoben worden.  Und mit Recht; denn
ein Geistlicher, der wachend und träumend keinen andern Gedanken mehr
hat als Halali und Halalo, muß jeder christlichen Seele ein tägliches
Ärgernis sein.  Das wächst mit den Jahren.  Neulich da der Herr Dekan
seinen Besuch meldete und zur selben Zeit der Bote eine in der Stadt
angekaufte Jagdflinte dem Vater zutrug, mußte ich ihm dieselbe
unkindlich entwinden und in meinen Kleiderschrank verschließen, sonst
hätte er noch--ein schrecklicher Gedanke--den ehrwürdigen Herrn
Steinfels aufs Korn genommen.  Ihr lacht, Pate?--Ihr seid abscheulich!
--Ich könnte Euch darum hassen, daß Ihr, der seine Schwäche kennt, ihn
noch stachelt und aufreizt, als wäret Ihr sein böser Engel.--Nächstens
wird er noch einmal mit geladenem Gewehr die Kanzel besteigen!...  Ich
freute mich, da Ihr kamet, und nun frage ich: Reist Ihr bald, Pate?"

"Mit geladenem Gewehr die Kanzel besteigen?" wiederholte Wertmüller,
den dieser Gedanke zu frappieren schien.  "La, la, Patchen!  Der Vater
ist mir der erträglichste aller Schwarzröcke und du bist mir die
liebste aller Figuren.  Ich will dem Alten eine Genugtuung geben.
Weißt du was?  Ich gehe morgen bei Euch zur Kirche--das rehabilitiert
den Vater zu Stadt und Lande."

Rahel schien von dieser Aussicht wenig erbaut.  "Pate", sagte sie,
"Ihr habt mich aus der Taufe gehoben und das Gelübde getan, auf mein
zeitliches und ewiges Heil bedacht zu sein.  Für das letztere könnet
Ihr nichts tun, denn es steht in diesem Punkte bei Euch selbst sehr
windig.  Aber ist das ein Grund, auch mein zeitliches zu ruinieren?
Ihr solltet, scheint mir, im Gegenteil darauf denken, mich wenigstens
auf dieser Erde glücklich zu machen--und Ihr macht mich unglücklich!"
Sie zerdrückte eine Träne.

- "Vortrefflich räsoniert", sagte der General.  "Patchen, ich bin der
Berggeist und du hast drei Wünsche bei mir zu gut."

"Nun", versetzte das Fräulein, auf den Scherz eingehend.  "Erstens:
Heilt den Vater von seiner ungeistlichen Jagdlust!"

- "Unmöglich.  Sie steckt im Blute.  Er ist ein Wertmüller.  Aber ich
kann seiner Leidenschaft eine unschädliche Bahn geben.  Zweitens?"

"Zweitens..." Rahel zögerte.

"Laß mich an deiner Stelle reden, Mädchen.  Zweitens: Gebt dem
Hauptmann Leo Kilchsperger Urlaub zu Werbung, Verlöbnis und Heirat."

- "Nein!" versetzte Rahel lebhaft.

- "Er ist ein perfekter Kavalier."

- "Einem perfekten Kavalier hängt manches um und an, worauf ich
Verzicht leiste, Pate."

- "Ein beschränkter Standpunkt."

- "Ich halte ihn fest, Pate."

- "Meinetwegen.--Also ein anderes Zweites.  Zweitens: Berggeist,
verschaffe dem Kandidaten Pfannenstiel die von ihm begehrte
Feldkaplanei in venezianischen Diensten."

- "Nimmermehr!" rief die Wertmüllerin.  "Was? der Unglückliche begehrt
die Feldkaplanei unter Euerm venezianischen Gesindel?  Der zarte und
gute Mensch?  Darum ist er zu Euch gekommen?"

Der General bejahte.  "Ich rede es ihm nicht aus."

- "Redet es ihm aus, Pate.  Grassiert nicht Pest und Fieber in Morea?"

- "Zuweilen."

- "Liest man nicht von häufigen Schiffbrüchen im Adriatischen Meere?"

- "Hin und wieder."

- "Ist die Gesellschaft in Venedig nicht ganz entsetzlich schlecht?"

- "Die gute ist dort wie allenthalben und die schlechte ganz
vortrefflich."

- "Pate, er darf nicht hin, um keinen Preis!"

- "Gut.  Also ein anderes Zweites verbunden mit dem Dritten: Berggeist,
mache den Kandidaten Pfannenstiel zum wohlbestellten Pfarrer von
Mythikon und gib mich ihm zur Frau!"

Rahel wurde feuerrot.  "Ja, Berggeist", sagte sie tapfer.

Diese resolute Antwort gefiel dem General aus der Maßen.

"Er ist eine reinliche Natur", lobte er, "aber ihm fehlt die
Männlichkeit, welche die Figuren unwiderstehlich hinreißt--"

- "Bah", machte sie leichthin und fuhr entschlossen fort: "Pate, Ihr
habt ein Dutzend Feldschlachten gewonnen, Ihr verderbt Euern
listigsten Feinden in der Hofburg das Spiel, Ihr seid ein berühmter
und welterfahrner Mann--wendet ein Hundertteilchen Eures Geistes daran,
mich--was sage ich--uns glücklich zu machen, und wir werden es Euch
zeitlebens Dank wissen."

Der General ließ sich auf die leere Steinbank nieder und legte in
tiefem Nachdenken die Hände auf die Knie, wie eine ägyptische Gottheit.
So berührte er die beiden Pistolen in seinen Taschen; es blitzte in
seinen scharfen grauen Augen plötzlich auf, und er brach in ein
unbändiges Gelächter aus, wie er seit Dezennien nicht mehr gelacht
hatte, in ein wahres Schulbubengelächter.  Da er zugleich
aufgesprungen war, rasch dem Innern der Halbinsel sich zukehrend,
wiederholte ein Echo diesen Ausbruch ausgelassener Lustigkeit in so
geisterhafter und grotesker Weise, daß es war, als hielten sich alle
Faune und Panisken der Au die Bäuchlein über einen tollen und
gottvergessenen Einfall.

Der General beruhigte sich.  Er schien seinen Anschlag und die
Möglichkeit des Gelingens mit scharfem Verstande zu prüfen.  Das
Wagnis gefiel ihm.  "Zähle auf mich, mein Kind", sagte er väterlich.

- "Hört, Pate, dem Papa darf kein Leides geschehen!"

- "Lauter Gutes."

- "Pfannenstiel darf nicht gezaust werden!"

Wertmüller zuckte die Achseln.  "Der spielt eine ganz untergeordnete
Rolle."

- "Und Ihr werdet Euern Spaß dabei haben?" fragte das Mädchen gespannt,
denn das Gelächter hatte sie doch etwas bedenklich gemacht.

- "Ich werde meinen Spaß dabei haben."

- "Kann es nicht mißlingen?"

- "Der Plan ist auf die menschliche Unvernunft gegründet und somit
tadellos.  Aber etwas Chance gehört zu jedem Erfolg."

- "Und mißlingt es?"

- "So bezahlt Rudolf Wertmüller die Zeche."

Noch einmal besann sich das Mädchen recht ernstlich; aber ihre
resolute Natur trug den Sieg davon.  Sie hatte überdies ein
unbedingtes Vertrauen zu der verwegenen Kombinationsgabe und selbst in
gewissen Grenzen zu der Loyalität ihres Verwandten.  Daß ein
schadenfroher Streich mitlaufen werde, wußte sie--es war das eben der
Kaufpreis ihres Glückes--, aber sie wußte auch, daß Wertmüller sie
liebhabe und seinen Spuk darum nicht allzu weit treiben würde.  Zudem
lag etwas in ihrem Blute, das eine rasche, wenn auch gewagte Lösung
einer nagenden Ungewißheit vorzog.

"Ans Werk, Rübezahl!" sagte sie.  "Wann beginnst du dein Treiben,
Berggeist?"

- "Morgen mittag bist du Braut, Kindchen.  Ich verreise Montag in der
Frühe."

- "Adieu, Berggeist!" grüßte sie enteilend und warf ihm eine Kußhand
zu, während er ihr nachsah und seine Freude hatte an ihrem schlanken
und sichern Gange.




Sechstes Kapitel


Zu später Abendstunde saßen der General und der Kandidat an einer
reichbesetzten und glänzend erleuchteten runden Tafel sich gegenüber
in einem geräumigen Saale, dessen helle Stuckwände mit guten, in Öl
gemalten Schlachtenbildern bedeckt waren.

Wertmüller wußte, welche Poesie das "Tischlein, deck dich!" für einen
in dürftigen Verhältnissen aufgewachsenen Jüngling hat; aber auch an
geistiger Bewirtung ließ er es nicht fehlen.  Er erzählte von seinen
Fahrten in Griechenland, er rühmte die Naturwahrheit der Landschaften
und der Meerfarben in der Odyssee, er ließ die edeln und maßvollen
Formen eines hellenischen Tempels vor den Augen des entzückten
Kandidaten aufsteigen--kurz, er machte ihn glücklich.

Seiner davon unzertrennlichen militärischen Abenteuer gedachte er nur
im Vorbeigehen, aber so drastisch, daß Pfannenstiel in der Nähe des
alten Landsknechtes sich als einen herzhaften und verwegenen Mann
fühlte, während Wertmüller in der naiven Bewunderung seines Zuhörers
um einige Dezennien sich verjüngte und erleichterte.

So achtete es Pfannenstiel nicht groß, als der General in der Hitze
des Gespräches ihm auf den Leib rückte, von den vier breiten flachen
Knöpfen, die sein Gewand zwischen den schmächtigen Schultern vorn
zusammenhielten, den obersten abriß und denselben, nachdem er ihn
einer kurzen Betrachtung unterworfen, in einen dunkeln Zimmerwinkel
warf, dann an einem der mittlern drehte, bis dieser nur noch an einem
Faden hing.

Zwischen den Birnen und dem Käse aber änderte sich die Szene.  Der
General hatte gegen seine Gewohnheit--er war längst ein mäßiger Mann
geworden--einige Gläser feurigen Burgunders geleert, und da er, wie
man zu sagen pflegt, einen grimmigen Wein trank, begann es ihn denn
doch ein bißchen zu wurmen, daß die schöne und tapfere Rahel ihr Herz
an einen sanftmütigen, unkriegerischen Menschen, noch dazu an einen
"Faffen" verschenkt hatte, und sein Dämon nötigte ihn, den Kandidaten,
den er doch leiden mochte, zu gutem Ende noch einmal unbarmherzig zu
foppen.

Er befahl dem aufwartenden Hassan, Pulverhorn und Kugelbeutel zu
bringen, zog die beiden Terzerole aus seinen Rocktaschen und legte sie
vor sich auf die Tafel.

"Die Rahel mag Euch", wendete er sich jetzt an den Kandidaten, "aber
wollt Ihr sie zum Weibe gewinnen, müßt Ihr dem schönen Kinde einmal
als ein ganzer Mann entgegentreten.  Das wird ihr einen bleibenden
Eindruck machen, und Ihr dürft Euch dann ruhig die eheliche
Schlafmütze über die Ohren ziehen.--Mein Plan ist ganz einfach: Ich
gehe morgen in Mythikon zur Kirche--erstaunt nicht, Pfannenstiel, ich
bin kein Heide--und lade mich bei dem Vetter Pfarrer zu Mittag.
Natürlich bleibt Rahel zu Hause und besorgt den Tisch, Ihr aber
gewinnt bei währendem Gottesdienste auf Schleichwegen die Pfarre,
entführt das Mädchen, bringt es hieher und, während Ihr sie küßt,
armiere ich die zwei eisernen Kanonen, die Ihr auf dem Hausflur
gesehen habt, und verteidige den schmalen Damm, der meine Insel mit
dem Festlande verbindet.  Treffen!  Unterhandlung!  Friedensschluß!"

Wäre der Kandidat in seiner natürlichen Verfassung gewesen, er hätte
diese Soldatenschnurre belächelt, aber der starke Wein war ihm in den
Kopf gestiegen.

"Entsetzlich!" rief er aus, fügte dann aber nach einer Pause und
erleichtert hinzu: "und unmöglich!  Die Rahel würde niemals
einwilligen."

- "Sie wird!  Ihr erscheint, werft Euch zu ihren Füßen: Entflieh mit
mir! oder..." Er ergriff ein Pistol und setzte es sich an die rechte
Schläfe.

- "Sie ist eine Christin!" rief der erhitzte Kandidat.

- "Sie wird und muß wollen!  Jede Figur wird von der männlichen
Elementarkraft bezwungen.  Kennt Ihr die neueste deutsche Literatur
nicht?... den Lohenstein, den Hofmannswaldau?"

- "Sie wird nicht wollen--nimmermehr!" wiederholte Pfannenstiel
mechanisch.

- "Dann fahrt Ihr ab--glorios mit Donner und Blitz!" und Wertmüller
drückte los.  Der Hahn schlug nieder, daß es Funken stob.

Jetzt ermannte sich Pfannenstiel.  Die ihm so nahegelegte ungeheure
Freveltat und sein Schauder davor gaben ihm die Besinnung wieder und
ernüchterten sein Gehirn.  Auch fiel ihm die Warnung Rosenstocks ein.
Er narrt und quält dich boshaft, sagte er sich, du bist ja ein
geistlicher Mann und hast es mit einem schlimmen Feinde der Kirche zu
tun.

Ein Hohnlächeln zuckte in den Mundwinkeln des ihn beobachtenden,
scharf beleuchteten Gesichtes, das in diesem Augenblicke einer
grotesken Maske glich.  Der Kandidat erhob sich von seinem Sitze und
sprach nicht ohne Würde: "Wenn das Euer Ernst ist, so verweile ich
keine Minute länger unter einem Dache, wo eine mehr als heidnische
Verruchtheit gelehrt wird; ist es aber Euer Scherz, Herr Wertmüller,
wie ich es glaube, so verlasse ich Euch ebenfalls, denn einen
einfachen Menschen, der Euch nichts zuleide getan hat, zu hänseln und
zu verhöhnen, das ist nicht christlich, nicht einmal menschlich--das
ist teuflisch."

Ein schöner, ehrlicher Zorn flammte in seinen blauen Augen, und er
schritt der Türe zu.

"La, la", sagte der General.  "Was frühstückt Ihr morgen?  Eier,
Rebhuhn, Forelle?"

Pfannenstiel öffnete und enteilte.

"Der Mohr wird Euch aufs Zimmer leuchten!  Auf Wiedersehen morgen beim
Frühstück!" rief ihm Wertmüller nach.

Der Alleingebliebene lud sorgfältig das leichtspielende Pistol mit
Pulver und stieß einen derben Pfropfen nach.  Das schwerspielende ließ
er ungeladen.  Beide übergab er dem Mohren mit dem Befehle, dieselben
in seinen schwarzen Sammetrock zu stecken.  Dann ergriff der General
einen Leuchter und suchte sein Lager auf.




Siebentes Kapitel


Der Kandidat eilte in raschem Laufe dem Damme zu, durch welchen die
Südseite der Insel mit dem festen Lande zusammenhing.  Oft hatte er,
da er sich im verflossenen Frühjahre in Mythikon aufhielt, den Sitz
des damals in Deutschland bataillierenden Generals mit neugierigen
Augen gemustert, ohne ihn je zu betreten.  Er wußte, daß der Damm
gegen seine Mitte hin durch ein altertümliches kleines Tor und eine
Brücke unterbrochen war, aber er war gewiß, kein Hindernis zu finden,
da dieses Tor, wie er sich erinnerte, niemals geschlossen wurde, sich
auch nicht schließen ließ, da es keine Torflügel hatte.

Jetzt erreichte er das Ufer und erblickte zu seiner Linken die Linie
des Dammes.  Aber, o Mißgeschick! der von dem dämmernden Hintergrunde
scharf abgehobene Balken der Brücke schwebte in der Luft und bildete
statt eines rechten einen spitzen Winkel mit dem Profil der Pforte, an
deren Steinbogen er durch zwei Ketten befestigt war.  Das Tor, die
aufgezogene Brücke, die kleine Verbindungslinie der Ketten--alles ließ
sich mit überzeugender Deutlichkeit unterscheiden; denn der Mond gab
genügendes Licht, und in dem leeren, nicht zu überspringenden
Zwischenraume flimmerte sein Widerschein in dem silbernen Gewässer.
Pfannenstiel war ein Gefangener.  Unmöglichkeit, durch das Moor zu
waten!  Er wäre, da er die Furten des tückischen Röhrichts nicht
kannte, bei den ersten Schritten versunken und hätte ein klägliches
Ende genommen.  Ratlos stand er am Inselgestade, während aus dem
Sumpfe dicht vor seinen Füßen ein volltöniges Brekekex Koax Koax
erscholl.

Gerade an jenem Abende war unter den Fröschen der Au ein junger
Lyriker von bedeutender Begabung aufgetaucht, der das feste und
gegebene Motiv der Froschlyrik so keck in Angriff nahm und so
gefühlvoll behandelte, daß der begeisterte Chor nicht müde wurde, die
vorgesungene Strophe mit unersättlichem Enthusiasmus zu wiederholen.
Auf den Kandidaten freilich machte das leidenschaftliche Gequäke einen
tief melancholischen Eindruck, als steige es aus den Sümpfen des
Acheron empor.

In halber Verzweiflung wollte er nun über den Damm nach der Pforte
eilen, ob sich die Zugbrücke mit Anstrengung aller Kräfte nicht senken
ließe.  Da gewahrte er, noch einmal vorwurfsvoll nach dem unheimlichen
Landhause sich umwendend, eine ihm entgegenwandernde Helle, und nach
wenigen Augenblicken stand Hassan mit einem Windlicht in der Faust an
seiner Seite.  Mit untertäniger Zutunlichkeit redete ihm der gutmütige
Mohr zu, in die von ihm geflohene Wohnung zurückzukehren.

"Langweilig Frosch, geistlicher Herr!" radbrechte Hassan, "Schloß an
Zugbrücke--Zimmer bereit!"

Was war zu tun?  Nichts anderes, als Hassan zu folgen.  In der großen,
auf den gepflasterten Hausflur mündenden Küche entzündete der Mohr
zwei Kerzen und leuchtete dem Kandidaten die Treppe hinauf.  Auf der
zweitobersten Stufe ergriff er ihn rasch am Arme: "Nicht erschrecken,
geistlicher Herr!" flüsterte er.  "Schildwache vor Zimmer von General."
Und in der Tat, da stand eine Schildwache.  Hassan beleuchtete sie
mit der Kerze, und Pfannenstiel erblickte ein Skelett, das die
Knochenhände auf eine Muskete gestützt hielt und an dem über die
Rippen gekreuzten und blank gehaltenen Lederzeuge Patronentasche und
Seitengewehr der zürcherischen Landmiliz trug.  Ein kleines
dreieckiges Hütchen war auf den hohlen Schädel gestülpt.

Der Kandidat fürchtete das Bild des Todes nicht, er war mit demselben
von Amts wegen vertraut, ja er hatte eine gewisse Vorliebe für die
warnende und erbauliche Erscheinung des Knochenmannes.  Aber wer war
der Mensch, der da drinnen unter der Hut dieser gespenstischen Wache
schlief?  Und welche seltsame Lust fand er daran, mit den ernstesten
Dingen sein frevles Gespötte zu treiben?

Jetzt öffnete der Mohr das zweitäußerste Zimmer der Seeseite und
stellte die beiden Leuchter auf den Kamin.  Pfannenstiel, dessen
Wangen glühten und fieberten, trat ans Fenster, um es aufzureißen;
Hassan aber hielt ihn zurück.

"Seeluft ungesund", warnte er und machte die Flügeltüre eines
Nebenzimmers auf, um dem Erhitzten in unschädlicher Art mehr Luft zu
verschaffen.  Dann entfernte er sich mit einem demütigen Gruße.

Der Kandidat schritt eine gute Weile in der Kammer auf und nieder, um
seine erregte Phantasie zur Ruhe zu bringen und den wunderlichsten Tag
seines Lebens einzuschläfern.  Aber das gefährlichste Abenteuer
desselben war noch unbestanden.

Aus dem von Hassan geöffneten Nebenzimmer klang ein leiser Ton, wie
ein tiefer Atemzug.  Hatte die streichende Nachtluft die Falten eines
Vorhanges bewegt oder war ein Käuzlein an den nur halb geschlossenen
Jalousien vorbeigeflattert?

Der Kandidat hemmte seinen Schritt und horchte.  Plötzlich fiel ihm
ein, daß dieses nächste Zimmer, das letzte der Fassade, kein anderes
sein könne als die Räumlichkeit, welche der Schiffer Bläuling der
Türkin des Generals angewiesen hatte.

Die Möglichkeit einer solchen Nähe brachte den unbescholtenen jungen
Geistlichen begreiflicherweise in die größte Angst und Unruhe, doch
nach kurzer Überlegung beschloß er, in die berüchtigte Kammer mutig
hineinzuleuchten.

Er betrat einen reichen türkischen Teppich und stand, sich zur Rechten
wendend, vor einem lebensgroßen Bilde, welches von vergoldetem,
üppigem Blätterwerk eingerahmt war und die ganze, dem Fenster
gegenüberstehende Wand des kleinen Kabinettes füllte.  Das Bild war
von einem Niederländer oder Spanier der damals kaum geschlossenen
glänzenden Epoche in jener naturwarmen, bestrickenden Weise gemalt,
die den Neuern verlorengegangen ist.  Über eine Balustrade von
maurischer Arbeit lehnte eine junge Orientalin mit den berauschenden
dunkeln Augen und glühenden Lippen, bei deren Anblicke die Prinzen in
Tausendundeiner Nacht unfehlbar in Ohnmacht fallen.

Sie legte den Finger an den Mund, als bedeute sie den vor ihr
Stehenden: Komm, aber schweige!

Pfannenstiel, der nie etwas auch nur annähernd Ähnliches erblickt
hatte, wurde tief und unheimlich erschüttert von der Verlockung dieser
Gebärde, der Sprache dieser Augen.  Es tauchte etwas ihm bis heute
völlig unbekannt Gebliebenes in seiner Seele auf, etwas, dem er keinen
Namen geben durfte--eine brennende Sehnsucht, die glückselige
Möglichkeit ihrer Erfüllung!  Vor diesem Bilde begann er an so
übergewaltige Empfindungen zu glauben und vor ihrer Macht zu erbeben...

Plötzlich wandte sich der Kandidat, lief in sein Schlafgemach zurück
und begnügte sich nicht, die Türe zu verschließen, er schob noch den
Riegel und drehte zuletzt den Schlüssel um.  Nun glaubte er sein Lager
gesichert und begrub sich in die Kissen desselben.

Doch kaum war er entschlummert, so trat das schöne Schemen durch die
Türe, ohne sie zu öffnen, und nahm tückisch Gestalt und Antlitz der
Rahel Wertmüller an, ihren maidlichen Wuchs, ihre feinen geistigen
Züge.  Aber ihre Augen schmachteten wie die der Orientalin, und sie
legte den Finger an den Mund.

Nun kam eine böse, schlimme Stunde für den armen Kandidaten.  Er
wollte fliehen und wurde von einer dämonischen Gewalt zu den Füßen des
Mädchens hingeworfen.  Er stammelte unsinnige Bitten und machte sich
verzweifelte Vorwürfe.  Er umfaßte ihre Knie und verurteilte sich
selbst als den ruchlosesten aller Sünder.  Rahel, erst erstaunt, dann
strengblickend und unwillig, stieß ihn zuletzt empört von sich weg.
Jetzt stand der General neben ihm und reichte ihm das Pistol.  "Die
Figur", dozierte er, "wird bezwungen von der männlichen Elementarkraft."
Dem Kandidaten wurde wie von eisernen, teuflischen Krallen der Arm
gebogen, und er setzte sich die tödliche Waffe an die rechte Schläfe.
"Fliehe mit mir!" stöhnte er.  Sie wandte sich ab.  Er drückte los,
und erwachte, nicht in seinem Blute, aber in kaltem Schweiße gebadet.
Dreimal trieb ihn der quälende Halbtraum in diesem Kreislaufe von
Begierde, Frevel und Reue herum, bis er endlich das Fenster aufschloß
und im reinen Hauche der heiligen Frühe in einen tiefen beruhigenden
Schlaf versank.

Er erwachte nicht, bis Hassan mit warmem Wasser ins Zimmer trat und
auf seinen Befehl die Jalousien öffnete.  Ein himmlischer, innig
blauer Tag und das nun halb verwehte, nun vollhallende Geläute aller
Seeglocken drang in die Traumkammer.

"General Kirche gegangen", sagte der Mohr.  "Geistlicher Herr
frühstücken?"--




Achtes Kapitel


Und der Mohr log nicht.

Rudolf Wertmüller wandelte in dem Augenblicke, da sich sein Gast dem
Schlummer entriß, schon unweit der Kirche von Mythikon unter den
sonntäglichen Scharen, welche alle dahinführenden Wege und Fußsteige
bevölkerten.

Der sonst so rasche Schritt des Generals war heute ein gemessener und
seine Haltung durchaus würdig und untadelig.  Er war in schwarzen
Sammet gekleidet und trug in der behandschuhten Rechten ein mit
schweren vergoldeten Spangen geschlossenes Gesangbuch.

Seltsam!  Wertmüller, der seit langem jede Kirche gemieden hatte,
stand bei den Mythikonern in dem schlimmen Rufe und der schwefelgelben
Beleuchtung eines verhärteten Freigeistes, es war ihnen eine
ausgemachte, nicht anzufechtende Tatsache, daß ihn über kurz oder lang
der Teufel holen werde--und dennoch waren sie herzlich erfreut, ja
gerührt, ihn auf ihrem Kirchwege einherschreiten zu sehen.  Sie
erblickten in seinem Erscheinen durchaus nicht einen Akt der Buße,
denn sie liebten es nicht und hielten es für schmählich--hierin den
griechischen Dramatikern ähnlich--, wenn eine erwachsene Person ihren
Charakter wechselte; sie trauten es dem Generale zu, daß er konsequent
bleibe und resolut ins Verderben fahre.  Die Mythikoner faßten
vielmehr den Kirchgang des alten Kriegsmannes als eine Höflichkeit auf,
als eine Ehre, die er der Gemeinde erweise, als einen öffentlichen
Abschiedsbesuch vor seinem Abgange ins Feldlager.

Das Grüßen nahm kein Ende, und jeder Gruß ward von dem heute
ausnahmsweise Leutseligen mit einem Nicken oder einem kurzen
freundlichen Worte erwidert.  Nur ein altes Weib, das böseste in der
Gemeinde, stieß ihre blödsinnige Tochter zurück, die den General
angaffte, und raunte ihr vernehmlich zu: "Verbirg dich hinter mir,
sonst nimmt er dich und macht dich zur Türkin!"

Weniger erfreut über den Anblick des ungewohnten Kirchgängers war der
Pfarrer Wilpert Wertmüller, als er, mit Mantel und Kragen angetan, aus
dem Tore seines Hofraums trat, in dessen Mitte hinter einem
altergrauen Brunnen zwei mächtige Pappeln sich leis im Winde wiegten.
Seine Überraschung war eine vollständige; denn Rahel hatte geschwiegen.

Der Pfarrer, ein Sechziger von noch rüstigem Aussehen und nicht gerade
geistreichen, aber männlichen Gesichtszügen, mochte den General als
einen versuchten Weidmann in Wald und Feld wohl leiden; daß er aber
seine Erbauung gerade in der Kirche von Mythikon suchte--das hätte er
ihm gerne erlassen.

Je unwillkommener, desto höflicher war der General.  Er zog den Hut,
dann nahm er den Pfarrer an der Hand und führte ihn in den Flur seines
Hauses zurück.  Gerade in diesem Augenblicke setzte die schöne,
morgenfrische Rahel ihren Fuß auf die unterste Stufe der Treppe,
sonntäglich angetan und ebenfalls ein kleines, in schwarzen Sammet
gebundenes Gesangbuch in der Hand.

"Kind, du bist reizend! eine Nymphe!" begrüßte sie Wertmüller.  "Lasse
dich väterlich auf die Stirn küssen!"

Sie weigerte sich nicht, und der kleine, aber fest und wohlgebaute
General richtete sich auf den Fußspitzen empor, um die feine weiße
Stirn des hochgewachsenen Mädchens zu erreichen, eine eher komische
als zärtliche Gruppe.

"Bittest du mich nach der Predigt zu Tische, Alter?" fragte Wertmüller.

"Selbstverständlich!" versetzte der gastfreundliche Pfarrer.  "Rahel
bleibt zu Hause und besorgt die Küche."

Das willige Mädchen fügte mit einem leichten Knickse hinzu: "Wir
bedanken uns, Pate!" und eilte in das obere Stockwerk zurück.

"Ich bringe dir etwas mit, Alter", lächelte der General.

"Gewehr?" fuhr der Pfarrer heraus, und seine Augen leuchteten.

Wertmüller nickte bejahend und zog unter dem breiten Schoße seines
Sammetrockes ein Pistol hervor.  Die vornehme Fasson und der
damaszierte Lauf des kleinen Meisterstückes der damaligen
Büchsenschmiedekunst stachen dem Pfarrer gewaltig in die Augen.  Seine
ganze Leidenschaft erwachte.  Wertmüller trat mit ihm aus dem
dämmerigen Flur durch die Hintertüre der Pfarre in den Garten, um ihn
die kostbare kleine Waffe im vollen Tageslichte bewundern zu lassen.

Die ganze Langseite des Hauses war mit einer ziemlich niedrigen
Weinlaube bekleidet; an dem einen Ende dieses grünen Bogenganges hatte
der Pfarrer vor Jahren eine steinerne Mauer mit einer kleinen Scheibe
aufführen lassen, um sich, an dem entgegengesetzten Eingange Posto
fassend, während seiner freien Stunden im Schießen zu üben.

"Aus der Levante?" fragte er, sich des Pistols bemächtigend.

"Venezianische Nachahmung.  Sieh hier die verschlungene Chiffre
GG--bedeutet Gregorio Gozzoli", rühmte Wertmüller.

"Ich erinnere mich, diesen Schatz von Pistölchen in deiner
Waffenkammer auf der Au gesehen zu haben,--aber war es nicht ein
Pärchen?"

"Du träumst..."

"Ich kann mich geirrt haben.  Spielt das kleine Ding leicht?"

"Leider ist der Drücker etwas verhärtet, aber du darfst das fremde
Meisterstücklein keinem hiesigen Büchsenmacher anvertrauen, er würde
dir es verderben."

"Etwas hart? tut nichts!" sagte der Pfarrer.  Er nahm trotz Mantel und
Kragen am einen Ende der Laube Stellung.  Auf dem linken Fuße ruhend,
den rechten vorgesetzt, zog er den Hahn und krümmte den Arm.

Eben verstummten die Glocken auf dem nahen Kirchturme, und das
Auszittern ihrer letzten Schläge verklang in dem Gesumme der Wespen,
die sich geräuschvoll um die noch nicht geschnittenen Goldtrauben der
Laube tummelten.

Der Pfarrer hörte nichts--er drückte und drückte mit dem Aufgebot
aller Kraft.

"Pfui, Alter, was schneidest du für Grimassen?" spottete Wertmüller.
"Gib her!" Er entriß ihm die Waffe und legte seinen eisernen Finger an
den Drücker.  Der Hahn schlug schmetternd nieder.  "Du verlierst deine
Muskelkraft, Vetter!  Dich entnervt die gliederlösende Senectus!  Ich
will dir selbst den Mechanismus etwas geschmeidiger machen--du weißt,
daß ich ein ruhmreicher Schlosser und ganz leidlicher Büchsenschmied
bin!" Der General ließ die schmucke kleine Waffe in die Tiefe seiner
Tasche zurückgleiten.

"Nein, nein, nein!" rief der Pfarrer leidenschaftlich.  "Du hast es
mir einmal geschenkt!  Ich lasse es nicht mehr aus den Händen!..."

Zögernd hob der General das Pistol wieder hervor--nicht mehr dasselbe.
Er hatte es, der alte Taschenspieler, mit dem auch für ein schärferes
und ruhiges Auge nicht leicht davon zu unterscheidenden Zwillinge
gewechselt.

Der Pfarrer hielt die Waffe kaum wieder in der Hand, als er sich von
neuem in Positur stellte, denn er war ganz Feuer und Flamme geworden,
und Miene machte, den Hahn noch einmal zu spannen.

Der General aber fiel ihm in den Arm.  "Hernach!" redete er ihm zu.
"Donnerwetter!  Es hat längst ausgeläutet."

Herr Wilpert Wertmüller erwachte wie aus einem Traume, besann sich,
lauschte.  Es herrschte eine tiefe Stille, nur die Wespen summten.

Er steckte das Pistol eilig in die geräumige Rocktasche, und die
Vettern beschritten den kurzen, jetzt völlig menschenleeren Weg nach
der nahen Kirche.




Neuntes Kapitel


Als die zwei Wertmüller den heiligen Raum betraten, war er schon bis
auf den letzten Platz gefüllt.  Im Schiffe saßen rechts die Männer,
links die Weiber, im Chore, das Antlitz der Gemeinde zugewendet, die
Kirchenältesten, unter ihnen der Krachhalder.

Zwei breite, oben durch ein großes Halbrund verbundene Mauerpfeiler
schieden Chor und Kirche.  An dem rechts gelegenen schwebte die Kanzel
und am Fuße der steilen Kanzeltreppe befand sich der einzig leer
gebliebene Sitz, der mit Schnitzwerk verzierte Stuhl von Eichenholz,
welchen der Pfarrer während des Gesanges einzunehmen pflegte.  Diesen
wies er jetzt dem General an und bestieg ohne Verzug die Kanzel.  Der
Verspätete hatte Eile, der Gemeinde die Nummer des heutigen
Kirchenliedes zu bezeichnen.

Es war das beliebteste des neuen Gesangbuchs, ein Danklied für die
gelungene Lese, erst in neuerer Zeit verfaßt und aus Deutschland
gekommen, mit dreisten und geschmacklosen Schnörkeln im damaligen
Rokokostile, aber nicht ohne Klang und Farbe.

Jede Strophe begann mit der Aufforderung, den Geber alles Guten
vermittelst eines immer wieder andern Instrumentes zu loben.  Dem
Autor mochte ein Kirchenbild vorgeschwebt haben.  Aber nicht jene
zarten musizierenden Engel Giambellinis, welche an das Dichterwort
erinnern:

Da geigen die Geiger so himmlisch klar,
Da blasen die Bläser so wunderbar...


Nein! sondern die auf einer robusten Wolke lagernde und mit allen
möglichen Instrumenten ausgerüstete pausbäckige himmlische Hofkapelle
irgendeines Bravourbildes aus der Rubensschen Schule.

"Frohlocket, frohlocket!..." erscholl es heiter und volltönig in dem
schönen, reinlichen Raume, durch dessen acht Spitzbogenfenster das
leuchtende Blau des himmlischen Tages hereinquoll.

Der General, dessen Eintritt ein wohlgefälliges Gemurmel erregt hatte,
wendete sein gesammeltes Antlitz der Gemeinde zu, konnte aber mit
einer ungezwungenen Wendung des Kopfes leicht den hohen Sitz
beobachten, wo sein Vetter horstete.  Eben jetzt warf er einen Blick
hinauf.  Der Seelsorger von Mythikon, der das Jubellied schon oft
gehört hatte und seiner ebenfalls schon oft gehaltenen Predigt sicher
war, betastete leise seine Tasche.

"Posaunet, posaunet!..." dröhnte es durch das Schiff.  Wertmüller
schielte die Kanzeltreppe hinauf.  Der Vetter hatte das kleine
Terzerol aus der Tasche gezogen und betrachtete es hinter der hohen
Kanzelbrüstung mit Augen der Liebe.

"Drommetet, drommetet!..." sangen die Mythikoner.  Mitten durch den
Trompetenlärm hörte der General deutlich ein scharfes Knacken, als
würde droben ein Hahn gezogen.  Er lächelte.

Jetzt kam die letzte, die Lieblingsstrophe der Mythikonerinnen.  "Und
flötet, o flötet!..." sangen sie, so schön sie konnten.  Der General
warf wieder einen verstohlenen Blick nach der Kanzel hinauf.  Spielend
legte der Pfarrer eben seinen dicken Finger an den Drücker; wußte er
doch, daß er die Feder mit aller Gewalt nicht bewegen konnte.  Aber er
zog ihn gleich wieder zurück, und die sanften Flöten verklangen.

Der General unten an der Kanzel legte in gedrückter Stimmung sein
Gesicht in Falten.

Jetzt betete der geistliche Herr, der das kleine Gewehr in seine
geräumige Tasche zurückgleiten ließ, in aller Andacht die Liturgie und
las dann den Text aus der großen, ständig auf dem Kanzelbrette
lagernden Bibel.  Es war der herrliche siebenundvierzigste Psalm, der
da beginnt: Frohlocket mit Händen, alle Völker, lobet Gott mit großem
Schalle!

Frisch und flott ging es in die Predigt hinein und schon war sie über
ihr erstes Drittel gediehen.  Noch einmal lauerte der General empor,
sichtlich enttäuscht, mit einem fast vorwurfsvollen Blicke, der sich
aber plötzlich erheiterte.  Der Pfarrer hatte im Feuer der Aktion,
während seine Linke vor allem Volke gestikulierte, mit der durch die
Kanzel gedeckten Rechten instinktiv das geliebte Terzerol wieder
hervorgezogen.  "Lobet Gott mit großem Schalle!" rief er aus, und,
paff! knallte ein kräftiger Schuß.  Er stand im Rauch.  Als er wieder
sichtbar wurde, quoll die blaue Pulverwolke langsam um ihn empor und
schwebte wie ein Weihrauch über der Gemeinde.

Entsetzen, Schreck, Erstaunen, Ärger, Zorn, ersticktes Gelächter,
diese ganze Tonleiter von Gefühlen fand ihren Ausdruck auf den
Gesichtern der versammelten Zuhörer.  Die Kirchenältesten im Chor aber
zeigten entrüstete und strafende Mienen.  Die Lage wurde bedenklich.

Jetzt wendete sich der General mit einer zugleich leutseligen und
imponierenden Gebärde an die aufgeregten Mythikoner:

"Lieben Brüder, laßt euch den Schuß nicht anfechten.  Bedenket: es ist
nach menschlicher Voraussicht das letztemal, daß ich mich in eurer
Mitte erbaue, ehe ich diesen meinen sterblichen Leib den Kugeln
preisgebe.--Und Ihr, Herr Pfarrer, zeigt Euch als einen entschlossenen
Mann und führt Euern Sermon zu Ende."

Und wirklich, der Pfarrer setzte unerschrocken wieder ein und fuhr in
seiner Predigt fort, unbeirrt, ohne den Faden zu verlieren, ohne sich
um ein Wort zu vergreifen, zu stottern oder sich zu versprechen.

Alles kehrte wieder in die Ordnung zurück.  Nur das blaue
Pulverwölkchen wollte sich in dem geschlossenen Raume gar nicht
verlieren und schwebte hartnäckig über der Gemeinde, bald im Schatten,
bald von einem Sonnenstrahl beleuchtet, bis seine Umrisse immer
ungewisser wurden und sich endlich auflösten.




Zehntes Kapitel


Während der Pfarrer seine Predigt tapfer zu Ende führte, hatte die
daheimgebliebene Rahel der alten Babeli und dem zur Aushilfe von
dieser herbeigeholten Nachbarskinde ihre Befehle gegeben und trat
jetzt, ein Körbchen und ein kleines Winzermesser in der Hand, vor die
hintere Haustüre, um einige ihrer reifen sonnegebräunten Goldtrauben
von der Laube zu schneiden.

Da sah sie, sich gerade gegenüber, wo der Fußsteig um die von der
Landstraße abliegende Seite des Gartens lief, ein seltsames Schauspiel.

Ein unheimlicher Mensch stützte die Hände auf den Zaun, schwang sich
mit fliegenden Rockschößen in einem wilden Satze über die Hecke und
kam ihr stracks entgegen.  Kaum traute sie ihren Augen.  Konnte er es
sein?  Unmöglich!  Und doch, er war es.

Pfannenstiel hatte das Frühstück, welches ihm der dienstbeflissene
Mohr im Speisesaale auf der Au versetzte, kaum berührt.  Es trieb ihn
fort über die jetzt gesenkte Zugbrücke, bergan, der Pfarre von
Mythikon zu.  Er wußte, daß er die Straßen und Steige, wenn auch nur
für kurze Zeit, noch leer fand.  Das orientalische Schemen war im
Morgenwinde verflattert; aber, wie himmlisch leuchtend und frisch der
Herbsttag aus seinen Nebelhüllen hervortrat, einer der gestern
empfangenen Eindrücke war wie ein Stachel in der aufgeregten Seele des
Kandidaten haften geblieben.

Ihm fehle die Männlichkeit, hatte der General ihm vorgehalten, die
einen unfehlbaren Sieg über das Weibliche davontrage.  Das gab dem
Kandidaten zu schaffen, und da sich ihm eine nächste Gelegenheit bot,
etwas nach seiner Ansicht Kühnes zu unternehmen, und gerade das, wozu
der General ihn aufgefordert hatte, so entschloß sich der Verwilderte,
Rahel, wenn auch ohne Feuerwaffe, mit einem Morgenbesuche zu
überraschen.

Der Sprung über die Hecke war dann freilich keine Heldentat gewesen,
sondern eine Flucht vor den ersten heimkehrenden Kirchgängern, die er
zwischen den Bäumen der Landstraße zu sehen glaubte.

Wie er sich mit unternehmender Miene und in entschiedener Haltung der
Wertmüllerin näherte, erschrak diese ernstlich über sein Aussehen,
seine fiebernden Augen, die Blässe und Abspannung, wie sie eine
schlaflose Nacht auf dem Antlitze zurückläßt.  Auch der herabhängende,
halb abgedrehte Knopf und die Leere, die der andere weggerissene
gelassen, entgingen ihr natürlich keinen Augenblick und vollendeten
den beängstigenden Eindruck.

"Um Himmels willen, was ist Euch, Herr Vikar?" sagte das Mädchen.
"Seid Ihr krank?  Ihr habt etwas Verstörtes, Fremdes an Euch, das mich
erschreckt.  O der heillose Pate--was hat er mit Euch vorgenommen?  Er
gelobte mir doch, Euch nichts anzutun, und nun hat er Euch gänzlich
zerrüttet!  Erzählt mir haarklein, was Euch auf der Au zugestoßen--
vielleicht weiß ich Rat."

Als ihr der Kandidat in die verständigen und doch so warmen Augen
blickte, ward er sich urplötzlich dessen bewußt, was ihn eigentlich
hergetrieben.  Der Kobold des Abenteuers, der sich beim ersten
Schritte, den er auf der Au getan, ihm auf den Nacken gesetzt hatte,
sprang von seinem Rücken und ließ ihn fahren.

Bis ins kleinste beichtete er den klaren braunen Augen seine
Erlebnisse auf der Insel, nur die Vision der Türkin weglassend, die ja
eine Ausgeburt seines erhitzten Gehirns gewesen war.  Er gestand ihr,
ihn habe der Vorwurf des Generals, ihm fehle das Männliche, verblüfft
und beunruhigt, auch jetzt könne er noch nicht darüber hinwegkommen.
Und er bat sie, ihm aufrichtig zu sagen, ob hier ein Mangel sei und
wie dem abzuhelfen wäre.

Rahel betrachtete ihn ein Weilchen fast gerührt, dann brach sie in ein
helles Gelächter aus.

"Der Pate trieb mit Euch sein Spiel", sagte sie, "aber daß er Euch das
griechische Abenteuer widerriet, war recht.  Ihr wolltet aus Eurer
eigenen Natur heraus, und er hat Euch heimgespottet...  Warum auch?
Wie Ihr seid, und gerade wie Ihr seid, gefallt Ihr mir am besten.
Papas ungeistliche Waidlust hat mir genug schwere Stunden gemacht!
Für mich lob ich mir den Mann, der unsern Dorfleuten mit einem
erbaulichen, durchsichtigen Wandel vorleuchtet, unsern Zehntwein
schluckweise trinkt, seine Frau liebhat und zuweilen von einem
bescheidenen und gelehrten Freunde besucht wird!...  Diese Kavaliere!
Ich habe übergenug von ihren Tafeldiskursen, wenn sie den Vater mit
Roß und Wagen überfallen!--Der Pate hat Euch gestern in so manches
eingeweiht, hat er Euch nicht auch den Streich erzählt, den er mit
achtzehn Jahren seinem jungen Weibe spielte?  Sie gelüstete nach
Spanischbrötchen, wie man solche in Baden bäckt.  'Ich hole sie dir
warm!' sagte er galant, sattelte und verritt.  In Baden legte er die
Brötchen in eine Schachtel und eine Zeile dazu, er verreise ins
schwedische Lager.  Diesen Abschied sandte er durch einen Boten, ihn
selbst aber sah sie viele Jahre nicht wieder.  Das hättet Ihr nicht
getan!" Und sie reichte dem stillen Vikar die Hand.

"Aber jetzt muß ich Euch sogleich die Knöpfe befestigen", setzte sie
rasch hinzu, "es tut mir in den Augen und in der Seele weh, Euch in
diesem Zustande zu sehen!  Setzt Euch!"--dabei zeigte sie auf ein
Bänklein unter der Laube--"ich hole Zwirn und Nadel."

Pfannenstiel gehorchte, und sie entsprang mit dem traubengefüllten
Körbchen.

Nun kam es über ihn wie Paradiesesglück.  Licht und Grün, die niedrige
Laube, das bescheidene Pfarrhaus, die Erlösung von den Dämonen des
Zweifels und der Unruhe!

Sie freilich, die ihn davon befreit hatte, war selbst von Unruhe
ergriffen.  Welchen Streich hatte der General geplant oder schon
ausgeführt?  Sie machte sich Vorwürfe, ihm freie Hand dazu gegeben zu
haben.

In der Küche erfuhr sie, der Herr Pfarrer habe sich mit dem General
eingeschlossen und bald darauf seien die Kirchenältesten langsam und
feierlich die Treppe hinaufgeschritten.  Etwas Unerhörtes müsse in der
Kirche vorgefallen sein.

Der Fischkuri, der ihr aus seinem Troge Forellen brachte, wurde von
ihr befragt; aber er war nicht zum Reden zu bringen und schnitt ein
dummes Gesicht.

Bestürzt eilte das Mädchen in ihre Kammer und mußte lange suchen, ehe
sie Nadel und Zwirn fand.




Elftes Kapitel


Nachdem der Gottesdienst zu Mythikon ohne weitere Störung sein Ende
genommen hatte, waren die Vettern nebeneinander in die nahe Pfarre
zurückgeschritten, der Seelsorger zur Rechten des Generals, ohne sich
um den Ausdruck der öffentlichen Meinung zu kümmern, welcher in den
Mienen der ihnen Begegnenden unverkennbar zu lesen war.

Dort öffnete der geistliche Wertmüller sein Studierzimmer, ließ den
weltlichen wie einen straffälligen armen Sünder nachkommen und
verschloß sorgfältig die Türe.  Dann trat er dicht an den Freveltäter
heran.  "Vetter General", sagte er, "du hast an mir gehandelt als ein
Schelm und ein Bube!", und er machte Miene, ihn am Kragen zu packen.

"Hand weg!" entgegnete dieser.  "Soll ich mich mit dir raufen, wie
weiland mit dem Vetter Zeugherr von Stadelhofen in der Ratslaube zu
Zürich, als wir uns die Perücken zausten, daß es nur so stob!  Bedenke
dein Amt, deine Würde!"

"Mein Amt, meine Würde!" wiederholte der Pfarrer langsam und
schmerzlich.  Eine Träne netzte seine graue Wimper.  Mit diesen vier
schlichten Worten war dasselbe ausgedrückt, was uns in jener
großartigen Tirade erschüttert, mit welcher Othello von seiner
Vergangenheit und seinem Amte Abschied nimmt.

Der General schluckte.  Die Träne des alten Mannes war ihm entschieden
zuviel.

"La, la", tröstete er, "du hast eine prächtige Kaltblütigkeit gezeigt.
Auf meine Ehre, ein echter Wertmüller!  Es ist ein Feldherr an dir
verlorengegangen."

Aber die Schmeichelei verfing nicht.  Auch der Moment der Wehmut war
vorübergegangen.

"Womit habe ich dich beleidigt?" zürnte der Entrüstete.  "Habe ich je
in meiner Kirche auf dich gestichelt oder angespielt?  Habe ich dich
nicht in deinem Heidentume völlig werden lassen und dich gedeckt, wie
ich konnte?--Und zum Danke dafür hast du mir hinterlistig das Pistol
vertauscht, du Gaukler und Taschenspieler!--Warum beschimpfst du meine
grauen Haare, Kind der Bosheit?  Weil es dir in deiner eigenen Haut
nicht wohl ist!..."

"La, la", sagte der General.

Es pochte.  Die Kirchenältesten von Mythikon traten in die Stube, dem
Krachhalder den Vortritt lassend, und stellten sich in einem
Halbkreise den Wertmüllern feierlich fast feindselig gegenüber.  Der
General las in den langen gefurchten Gesichtern, daß er mit seinem
lästerlichen Scherze das dörfliche Gefühl schwer beleidigt hatte.

In der Tat, der Krachhalder, auf den sie alle hinhörten, war in den
Tiefen seiner Seele empört.  Wenn er sich auch den abenteuerlichen
Vorfall nicht ganz erklären konnte, setzte er ihn doch unbedenklich
auf die Rechnung des Generals, welcher, die Schwäche seines
geistlichen Vetters sich zunutze machend, ein landkundiges Ärgernis
habe anstiften wollen.  Dem Krachhalder lag die Ehre seiner Gemeinde
am Herzen, und er hatte das Mythikonerkirchlein mit seinem schlanken
Helme und seinen hellen acht Fenstern aufrichtig lieb.--Süß war ihm
nach dem Schweiße der Woche der Kirchgang im reinlichen Sonntagsrocke
und den Schnallenschuhen, süß und nachdenklich Taufe und Bestattung,
die den Gottesdienst und das menschliche Leben begrenzen und einrahmen,
süß das Angeredetwerden als sterblicher Adam und unsterbliche Seele,
süß das Kämpfen mit dem Schlummer, das Übermanntwerden, das
Wiedererwachen; süß das kräftige Amen, süß das Zusammenstehen mit den
Ältesten auf dem Kirchhofe und die Begrüßung des Pfarrers, süß das
gemütliche Heimwandeln.

Man mußte ihn sehen, den ehrbaren Greis mit dem scharfgezeichneten
Kopfe, wenn er bei einer Armensteuer, nach der Aufforderung des Herrn
Pfarrers zu schöner brüderlicher Wohltat, das Wasser in den Augen, aus
seinem Geldbeutel ein rotes Hellerchen hervorgrub!--

Kurz, der Krachhalder war ein kirchlicher Mann, und das Herz blutete,
oder richtiger gesagt, die Galle kochte ihm, die Stätte seiner
sonntäglichen Gefühle verunglimpft und lächerlich gemacht zu sehen.

"Was führt Euch hieher?" redete der General ihn an und fixierte ihn
mit blitzenden Augen so scharf, daß der Krachhalder, der trotz seines
guten Gewissens das nicht wohl ertragen konnte, mit seinen
Augensternen nach rechts und links auswich, bis es ihm endlich gelang
standzuhalten.

"Macht aus einer Mücke keinen Elefanten!" fuhr Wertmüller, ohne die
Antwort zu erwarten, fort.  "Nehmt den Schuß als einen verspäteten aus
der Lese, oder, in Teufels Namen, für was Ihr wollt!"

"Die Lese war mittelmäßig", erwiderte der Kirchenälteste mit
verhaltenem Grimme, "und der Schuß ist ein recht böser Handel, Ihr
Herren Wertmüller!  Ich besitze eine Chronik von Stadt und Land;
darinnen steht verzeichnet, daß vor Jahren einem jungen geistlichen
Herrn, der seiner Braut über den heiligen Kelch hin mit verliebten
Augen zuwinkte...", der Krachhalder machte an seinem Halse das Zeichen
eines Schnittes.

"Blödsinn!. fuhr der General ungeduldig dazwischen.

"Ich habe zu Hause auch eine Ketzergeschichte", sprach der Krachhalder
hartnäckig fort, "darinnen alle Trennungen und Sekten von Anfang der
Welt an beschrieben und abgebildet sind.  Aber kein Adamit oder
Wiedertäufer hat es je unternommen, bei währender Predigt einen Schuß
abzugeben.  Das, Herr Pfarrer, ist eine neue Religion."

Dieser seufzte.  Das Beispiellose seiner Tat stand ihm deutlich genug
vor Augen.

"Man wird den Schuß in Zürich untersuchen", drohte jetzt der
unbarmherzige Bauer, "die Synagoge", er wollte sagen Synode, "wird
darüber sitzen.  Es tut mir leid für Euch, Herr Pfarrer; aber ich
hoffe, sie fällt einen scharfen Spruch.  Auch so wird uns der Spott
nicht erspart werden, und das ist das Schlimmste, denn der Spott hat
ein zähes Leben an unserm See.  Wenn ich nur dran denke, wird es mir,
beim Eid, schwarz vor den Augen.  Das ganze rechte Ufer da drüben
lacht uns aus.  Keinen Schoppen können wir mehr trinken in Meilen oder
Küßnach, ohne daß sie uns verhöhnen in allen Tonarten und Liederweisen.
Der Schuß von Mythikon stirbt nicht am See, so wenig als in Altorf
der Tellenschuß.  Er haftet und lebt bei Kind und Kindeskind.  Ich
berufe mich auf Euch, Herr General", fuhr er fort, und die alten Augen
leuchteten boshaft, "Ihr wißt, was das heißen will!  Wie lange ist es
her, daß Ihr von Rapperswyl abzogt?  Damals wurdet Ihr von den
Katholischen besungen, und, glaubt Ihr's? das lebt noch.  Ihr seid ein
verrühmter, abfigürter Mann, aber was hilft das?  Erst vorgestern noch
fuhr ein volles Pilgerschiff von Richterswyl her um die Au mit großem
Lärm und Gesang.  Ich stand in meinem Weinberge und denke: die Narren!
--Gegen Euer Haus hin werden sie still.  'Das macht der Respekt', sag
ich zu mir selbst.  Ja, da hatt' ich es getroffen.  Kaum sind sie
recht unter Euern Fenstern, so bricht das Spottliedlein los.  Ihr wißt
das, wo sie den Wertmüller heimschicken zur Müllerin!  Gut, daß Ihr
verritten wart!  Meineidig geärgert hab ich mich in meinen Reben..."

"Schweigt!" fuhr ihn der General zornig an; denn der alte Schimpf
jener aufgehobenen Belagerung brannte jetzt noch auf seiner Seele, ja
schärfer als früher, als wäre er mit jener Tinte verzeichnet, die erst
nach Jahren schwarz und unvertilglich hervortritt.

Doch er beherrschte sich und wechselte den Ton.  "Etwas Konfusion
gehört zu jeder Komödie", sagte er, "aber wenn sie ihren Höhepunkt
erreicht hat, muß ihr eine rasche Wendung zu gutem Schlusse helfen,
sonst wird sogar die Verrücktheit langweilig.

"Herr Pfarrer und liebe Nachbarn!

"Gestern bis tief in die Nacht habe ich an meinem Testamente
geschrieben und es Schlag zwölf Uhr unterzeichnet.  Ich kenne Euer
warmes Interesse an allem, was ich tue, lasse und nachlasse; erlaubt
denn, daß ich Euch einiges daraus vorlese."

Er zog eine Handschrift aus der Tasche und entfaltete sie.  "Den
Eingang, wo ich ein bißchen über den Wert der Dinge philosophiere,
übergeh ich...  'Wenn ich, Rudolf Wertmüller, jemals sterbe...', doch
das gehört auch nicht hieher...", er blätterte weiter.  "Hier!
'Schloß und Herrschaft Elgg, die ich aus den redlichen Ersparnissen
meines letzten Feldzuges erworben, bleibt als Fideikommiß in meiner
Familie', usw.  'Item--sintemal diese Herrschaft eine treffliche, aber
vernachlässigte Jagd besitzt und eine mit den Beutestücken eben jener
Kampagne versehene, aber noch unvollständige Waffenkammer, so verfüge
ich, daß nach meinem Ableben mein Vetter, der Herr Pfarrer Wilpert
Wertmüller, benanntes Schloß und Herrschaft bewohne und bewerbe, die
Jagd herstelle, die Waffenkammer vervollkommne und überhaupt und in
jeder Weise bis an sein Ende frei darüber schalte und walte, wenn
anders dieser geistliche Herr sich wird entschließen können, sein in
Mythikon habendes Amt niederzulegen und antistite probante an den
Kandidaten Pfannenstiel zu transferieren, welchem Kandidaten ich mein
Patenkind, die Rahel Wertmüllerin, zur Frau gebe, nicht ohne die
väterliche Einwilligung jedoch, und mit Hinzufügung von dreitausend
Zürchergulden, die ich dem Fräulein, in meinen Segen eingewickelt,
hinterlasse.'

"Uff", schöpfte der General Atem, "diese Sätze!  Eine verteufelte
Sprache, das Deutsche!"--

Der Pfarrer kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger, den dieselbe Welle
begräbt und ans Land trägt.  Seine verhängnisvolle Leidenschaft
abgerechnet, ein verständiger Mann, erkannte er sofort, daß ihm der
General den einzigen und dazu einen höchst angenehmen Weg öffne, der
ihn aus Schimpf und Schande führen konnte.

Er drückte seinem Übel- und Wohltäter mit einer Art von Rührung die
Hand, und dieser schüttelte sie ihm mit den Worten: "Komme ich durch,
so soll es dein Schade nicht sein, Vetter!  Ich tue dann, als wär' ich
tot, und installiere dich als mein eigener Testamentsvollstrecker in
Elgg!"

Die Mythikoner aber lauschten gleichsam mit allen Gliedmaßen, denn es
schwante ihnen, daß jetzt sie an die Reihe kämen, beschenkt zu werden.

"Ich vermache denen Mythikern", fuhr der General fort und sein
Bleistift flog über das Papier in seiner Linken, denn er skizzierte
den durch die Eingebung des Augenblickes entstandenen Paragraphen,
"denen Mythikern vermache ich jene in ihre Gemeindewaldung am Wolfgang
eingekeilte, zu zwei Dritteln mit Nadelholz, zu einem Drittel mit
Buchen bestandene Spitze meines Besitztums, in der Weise, daß die
beiden Marksteine des Gemeindegutes zu meinen Ungunsten durch eine
gerade Linie verbunden werden.--

"Heute noch--auf Ehrenwort und vor Zeugen--erhält dieser Zusatz mit
meiner Unterschrift seine Endgültigkeit," erklärte der General, "in
der Meinung jedoch und unter der Bedingung, daß der heute, wie eine
unverbürgte Sage geht, in der Kirche von Mythikon abgefeuerte Schuß zu
den ungeschehenen Dingen verstoßen und, soweit er Realität hätte, mit
einem ewigen Schweigen bedeckt werde, welches sich die Mythiker
eidlich verpflichten, weder in diesem Leben zu brechen noch jenseits
des Grabes am jüngsten Tage und letzten Gerichte."

Der Krachhalder war während dieser Mitteilung äußerlich ruhig
geblieben, nur die Nasenflügel in dem übrigens gelassenen Gesicht
zitterten ein wenig, und seine Fingerspitzen hatten sich um ein
kleines einwärts gebogen, als wolle er das Geschenk festhalten.  "Herr
General, so wahr mir Gott helfe!" rief er jetzt und hob die Hand zum
Schwure; Wertmüller aber schloß:

"Widrigenfalls und bei gebrochenem Schweigen ich dies Vermächtnis bei
meiner Rückkehr aus dem bevorstehenden Feldzuge umstoßen und vertilgen
werde.  Wäre mir dies nicht möglich wegen eingetretenen Sterbefalles,
so schwöre ich, mich den Mythikern als Geist zu zeigen und zur Strafe
ihres Eidbruches zwischen zwölf und eins ihre Dorfgasse
abzupatrouillieren.--Werdet Ihr die Bedingung erfüllen können,
Krachhalder?"

"Unwitzig müßten wir sein", beteuerte dieser, "wenn wir nicht das Maul
hielten!"

"Und Eure Weiber?"

"Dafür laßt uns Mythikoner sorgen", sagte der alte Bauer ruhig und
machte eine bedeutungsvolle Handbewegung.

"Aber, Krachhalder, stellt Euch vor, ich sei aus dem Reiche zurück",
sagte der General freundlich, "Wir sitzen unter meiner Veranda, ich
lege Euch so wie jetzt die Hand auf die Schulter, stoße mit Euch an
und wir plaudern allerlei.  Dann sag ich so im Vorbeigehen: Jener
Schuß hat gut gekracht!..."

"Welcher Schuß?--Das lügt Ihr, Herr General!" rief der Kirchenälteste
mit einer sittlichen Entrüstung, die komischerweise durchaus nicht
gespielt war, sondern das Gepräge vollkommener Aufrichtigkeit trug.

Wertmüller lächelte zufrieden.

"Jetzt heim, Ihr Männer!" mahnte der Alte.  "Damit kein Unglück
geschehe, muß in einer Viertelstunde das ganze Dorf wissen, daß der
Schuß... will sagen, daß wir heute eine gute Predigt gehört haben."

Er drückte dem Pfarrer die Hand.  "Und Euch, Herr General", sagte er,
"reiche ich sie als Eidgenosse."

"Verzicht einen Augenblick", befahl Wertmüller, "und seid Zeugen, wie
ein glücklicher Vater zwei Hände zusammenlegt.  Der Vikar kann nicht
ferne sein.  Trogen mich nicht die Augen, so sah ich ihn von weitem
über eine Hecke voltigieren mit einem Salto, den ich ihm nie zugetraut
hätte."

"Rahel, mein Kind, schnell!" rief der Pfarrer durch die geöffnete Türe
ins Haus hinein.

"Gleich, Vater!" scholl es zurück; aber nicht aus dem Innern der
Wohnung, sondern von außen durch das Weinlaub des Bogenganges herauf.

Rasch blickte der General aus dem Fenster und gewahrte durch das
Blattgitter seine Schützlinge in einer Gruppe, die er sich durchaus
nicht erklären konnte.

"Hervor, Hirt und Hirtin, aus Arkadiens Lauben!" rief der alte Soldat.

Da schritt Rahel unmutig errötend unter dem schützenden Blätterdache
hervor und betrat mit Pfannenstiel, den sie mitzog, ein kleines von
Edelobstbäumen umzogenes Rondell, das hart vor den Fenstern der
Studierstube lag, aus denen der General mit den neugierigen
Kirchenvorstehern herunterschaute.

Das Fräulein hielt eine Nadel in der gelenken Hand und befestigte vor
aller Augen einen herabhängenden Knopf am Rocke des Kandidaten.  Sie
ließ sich in der Arbeit nicht stören.  Erst nachdem sie den Faden
gekappt hatte, heftete sie die braunen Augen, in denen Ernst und
Übermut kämpften, fest auf ihren wunderlichen Schutzgeist und rief ihm
zu:

"Pate, Ihr habt mir in kurzer Zeit den Herrn Vikar fast zerstört und
zugrunde gerichtet.  Wohl mußt' ich ihn wieder in Ordnung bringen,
damit er vor Gott und Menschen erscheinen könne!  Was aber habt Ihr
mit dem obersten Knopfe angefangen, der hier mangelte und den ich
durch einen des Vaters ersetzen mußte?--Schafft ihn zur Stelle, oder..."
Sie erhob die Nadel mit einer so trotzigen und blutdürstigen Gebärde
gegen den General, daß die Männer alle in schallendes Gelächter
ausbrachen.

Nach wenigen Augenblicken traten Pfannenstiel und Rahel vor den
Pfarrer, der sie verlobte und segnete.

Als aber die vergnügten Kirchenältesten sich entfernt hatten, gab der
würdige Herr seinem künftigen Schwiegersohne noch eine kurze Ermahnung:

"Was war das, Herr Vikar?  An der Kirche vorüberschlüpfen, abgerissene
Knöpfe!...  Wo bleibt da die Würde, das Amt?"

Dann wandte er sich gegen den General: "Ein Pärchen!" sagte er, "nun
das andere!  Gebt her, Vetter!"

Und er langte ihm ohne Umstände in die Rocktasche, hob daraus das
hartspielende Pistol, zog dann das in der Kirche entladene
leichtspielende aus der seinigen und hielt sie vergleichend zusammen.



So begab es sich, daß der Schuß von Mythikon totgeschwiegen und, im
Widerspiel mit dem Tellenschusse, aus einer Realität zu einer blassen
wesenlosen Sage verflüchtigt wurde, die noch heute als ein heimatloses
Gespenst an den schönen Ufern unsres Sees herumschwebt.

Aber auch wenn die Mythikoner geplaudert hätten, der General konnte
sein Testament nicht mehr entkräften, denn er hatte die Eichen der Au
zum letzten Male gesehen.

Sein Ende war rasch, dunkel, unheimlich.  Eines Abends beim
Lichteranzünden ritt er mit seinem Gefolge in ein deutsches Städtchen
ein, stieg im einzigen schlechten Wirtshause ab, berief den Schöffen
zu sich und ordnete Requisitionen an.  Ein paar Stunden später wurde
er plötzlich von einem Krankheitsanfalle niedergeworfen und Schlag
Mitternacht hauchte er seine seltsame Seele aus.


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Der Schuß von der Kanzel, von
Conrad Ferdinand Meyer.










End of the Project Gutenberg EBook of Title: Der Schuss von der Kanzel, by 
Conrad Ferdinand Meyer

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