Die Wacht am Rhein

By Clara Viebig

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Title: Die Wacht am Rhein

Author: Clara Viebig

Release date: December 14, 2024 [eBook #74895]

Language: German

Original publication: Berlin: Egon Fleischel & Co

Credits: Peter Becker, Martin Oswald and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE WACHT AM RHEIN ***





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Die Wacht am Rhein




  ~Verlag von Egon Fleischel & Co., Berlin W~


                Es erschien von

                   C. Viebig

                    ~Romane~

              #Rheinlandstöchter#
            #Dilettanten des Lebens#
              #Es lebe die Kunst#
              #Das tägliche Brot#
                #Das Weiberdorf#
              #Die Wacht am Rhein#
              #Vom Müller-Hannes#

                   ~Novellen~

               #Kinder der Eifel#
               #Vor Tau und Tag#
            #Die Rosenkranzjungfer#

                   ~Theater~

          #Barbara Holzer.# Schauspiel
              #Pharisäer.# Komödie

                 [Illustration]




               Die Wacht am Rhein

                     Roman

                      von

                   C. Viebig

               Vierzehnte Auflage

         [Illustration: Verlagssignet]

              Egon Fleischel & Co.
                     Berlin
                      1904




                  Alle Rechte
         besonders das der Übersetzung
                  vorbehalten




             Meiner Mutter

                          zu eigen




Erstes Buch




I


»Kiekt ens an!« rief die Weise-Frau.

Sie trat, das in ein buntes Stechkissen eingebündelte Neugeborene auf
beiden flachen Händen hinhaltend, es so gleichsam präsentierend, an das
Bett, in dem die Mutter auf rot gewürfeltem Kissen lag. Unter einer
einfachen, grobhaarigen Decke, über welche ein weißes Laken geschlagen
war, ruhte die Wöchnerin.

»Kiekt ens an, Madam Rinke, es dat nit en staats Weit[1]?!«

[1] Mädchen.

Die junge Frau, die bis dahin mit geschlossenen Augen gelegen hatte,
rührte sich. Ihr rundes, vollwangiges Gesicht, dem nur die Angst der
letzten Stunden ein wenig die Farbe genommen, lächelte.

»Och e ja,« sagte sie erfreut und rückte sich, um ihr Kind besser
besehen zu können. Es war ihr erstes Kind. »Wat et für schrumplige
Händches hat! Un alles e so rot!«

»Rot?« wiederholte die Weise-Frau, förmlich beleidigt. »Rot?! Kömmert
Euch da nit dröm! Weiß es et, weiß wie Allebaster un Liljen. En Haut
hat et wie Sammet,« – stolz warf sie sich in die Brust – »Ehr könnt
mech dat jlöwe, Madam Rinke, ech han noch nie e so en schön Kink
jeholt. Paßt ens op, dat jeht als Engelche mit bei de Prozession!«

Über das lächelnde Gesicht der jungen Mutter flog plötzlich ein
Schatten, und sie stieß einen Seufzer aus.

»Jott stonn mech bei, wat es dann noch zu seufzen?!« eiferte Frau
Dauwenspeck. »Ehr hat et ja nu hinger Euch, Feldwebelin – un so en
staats Weit! Da könnt Ehr wohl in der Lamberteskirch en Kerz für
opstecken!«

Die Frau Feldwebel sagte nichts dazu. Sie hatte wieder die Augen
geschlossen, aber nicht um zu schlummern, unruhig warf sie den blonden,
zerzausten Kopf hin und her.

Kopfschüttelnd trat die Dauwenspeck vom Bett weg an’s Fenster: so eine
echte Freude hatte die Feldwebelin doch eigentlich gar nicht! Am Ende
weil es kein Junge, bloß ein Mädchen war?! Der Preuße würde sich’s
schon in den Kopf gesetzt haben: ›’ne Jung’‹ – no, natürlich!

»De Leut sin jeck,« brummte sie und sah dabei nachdenklich auf das
runde Köpfchen, das schwer und warm in ihrem Arm lag. Mit der freien
Linken schob sie die Gardinchen von der schmalen Fensterscheibe zurück.
Jetzt, im hellen Licht des Sommertages, sah man erst recht, wie kräftig
das Kind war – hochgewölbt die Brust, der Schädel prächtig entwickelt.
Entzückt schmunzelnd, prüfte die Weise-Frau das Gewicht: allen Respekt,
elf Pfund waren das sicher und gewiß!

»Als ob et immer Junges sein mößten,« brummte sie weiter, »Mädches sin
auch wat notz. Wat hätt’ de Adam dann allein op der Welt jemacht?! Pß –
sß – bis still, dau lecker Dierke!«

Sie wiegte das kleine Mädchen, das, vom Sonnenlicht getroffen, zu
niesen anfing, sanft schaukelnd hin und her, ihren rauhen Baß dabei zum
summen dämpfend:

      »Heia Popinke,
    Din Motter heißt Kathrinke,
    Din Vatter es ene Kappesbuhr
    Kömmt de hem, da kiekt de suhr.«

Im Bett rührte sich die Frau nicht mehr, sie war nun doch wohl
eingeschlafen. An der niederen Balkendecke des weißgetünchten Zimmers
summten die Fliegen; unruhig wirbelten sie um den Stock, der, mit Syrup
beschmiert, vom Mittelbalken herabhing.

Es war heiß, Hochsommer. Jenseits des Exerzierplatzes, drüben über’m
Kanal, ballte sich eine dicke, dunkle Wolke mitten im lichten Blau. Die
vereinzelten Bäume dort rührten sich nicht; wie aus steifem, grünem
Papier geschnitten, standen sie starr. Auf dem noch unbebauten Plan
jagten sich ein paar große Hunde, scharrten in den Gruben und stürzten
dann durstig die Böschung hinunter zum Wasser.

Auf den weiten, staubigen Platz prallte die Sonne; er lag ganz leer,
kein Offizier übte mit seinem Pferde dort spanischen Tritt, kein
Bursche ließ den Gaul seines Herrn an der Longe laufen, auch keine
Mannschaft exerzierte. Alles ausgestorben. Doch horch, jetzt eine
Stimme:

»Achtung! Präsentiert das – Gewehrrr!«

No, der war ja wieder gut am Schimpfen, und hier oben war ihm doch
ein Kind geboren! Eilig steckte Frau Dauwenspeck ihren Kopf mit der
bebänderten Haube zum Fensterchen heraus – richtig, da stand gerade
unter’m Fenster eine kleine Anzahl Rekruten, so ein paar Sündenböcke,
dicht an der Mauer, um ein wenig Schatten zu haben, und der Feldwebel
lief vor ihnen auf und ab in der prallen Sonne und übte selber mit
ihnen nach.

»Himmelkreuzsakrament, ihr rheinischen Dickköppe, wozu sind euch denn
die Tatzen an den Leib gewachsen? Immer man feste!«

»Achtung! Gewehr auf – Schulter!«

»Das Gewehrr – über!«

»Pst!« Frau Dauwenspeck neigte sich weiter hinaus, »Feldwebel, he,
pst!« Mit beiden Armen streckte sie das Kind von sich und hob es
zugleich ein wenig in die Höhe – so mußte er’s sehen!

Er sah es auch. Einen flüchtigen Augenblick schaute er zum Fester
seiner Wohnung hinauf; über sein strenges, braunes Gesicht zuckte
etwas wie ein Freudenstrahl, aber gleich darauf fuhr sein Blick wieder
rollend über die Soldaten hin.

»Schlaft ihr? Ich wer’ euch lehren, die Kompagnie verschimpfieren, ihr
Rasselbande! Kopf hoch! Brust ’rraus! Bauch ’rrein!«

»Faßt das Gewehrr – an!«

»Gewehrr – ab!«

Die strenge Stimme tönte über den ganzen Platz und weckte ein hallendes
Echo drüben in der stillen Leere jenseits des Kanals.

Indigniert zog sich die Dauwenspeck vom Fenster zurück und ließ sich
pustend auf den nächsten Schemel fallen. Das war einer, nicht mal einen
Moment kam er heraufgelaufen, sich sein Erstgeborenes anzusehen! Am
frühen Morgen schon war er weggerannt, hatte sie mit dem armen Weib in
aller Not allein gelassen, und man hätte ihn doch zu einer Handreichung
nötig gehabt! ›Käthe‹, hatte er gesagt, und seiner angstvoll blickenden
Frau auf die Wange geklopft, ›Courage! Du bist jetzt wie der Soldat vor
der Schlacht – man los, man tapfer!‹ Und damit war er gegangen. Ja, die
Preußen! Die hatten kein Herz im Leib, die dachten nur an hauen und
stechen und schießen!

Die Alte war sehr unzufrieden.

Da waren doch die Pfälzer und Österreicher, die in ihrer Jugendzeit,
als Düsseldorf noch Festung gewesen, hier gelegen, ganz andre Leute!
Bei der Dame eines Pfälzer Offiziers hatte sie ihre allererste
Entbindung gemacht; ausgelernt hatte sie noch gar nicht gehabt, sie
verstand’s nur, weil ihre Mutter und Großmutter dasselbe Gewerbe
betrieben hatten und ihr Vater ein Barbier- und Ruchwarenlädchen besaß,
schröpfte und Zähne zog und mehr Zuspruch hatte wie ein Doktor. Die
Dame damals war gar nicht so wohl gewesen wie jetzt die Feldwebelin,
aber doch hatte der Pfälzer gesprungen und gepfiffen und einen Zettel
an seinen Obersten geschickt: der möchte ihn exküsieren, er könnte
heut nicht zum Dienst kommen, seine Frau hätte ein Kind gekriegt. Und
Wein hatte er bringen lassen und ein paar Kameraden geladen, da hatten
sie auf das Wohl des kleinen Fräuleins getrunken. Und ihr hatte der
lustige Herr einen baren harten Thaler in die Hand gedrückt, und Geld
war doch rar in der Stadt um 1795.

›Käthe‹ – schon allein, daß der Feldwebel ›Käthe‹ zu seiner Frau sagte,
war zum ärgern. Mochten sie in Preußen immerhin ›Käthe‹ sagen, hier am
Rhein sagte jedermann ›Kathrina‹ oder ›Trina‹ oder ›Tring‹. Der armen,
jungen Frau so den christlichen Taufnamen zu verschimpfieren. Aber was
konnte man von dem denn andres erwarten, der war ja ein ›Lutherscher‹!
Der Bürger Zillges hätte auch besser gethan, seine Tochter einem von
hierzulande zur Frau zu geben, als dem, der dahergeschneit kam von
Gott weiß wo, aus der Sandwüste Berlin. So einem Soldatenjungen, der
wohl gar im Marketenderkarren geboren war, beim Troß oder in irgend
einem Festungsgraben. Aber dat Tring war ja wie toll gewesen. Keiner
hatte ihr bisher gut genug gedünkt, vierundzwanzig war sie schon
geworden, aber sie verließ sich auf ihr rundes Gesicht und des Vaters
Geldbeutel. Die Wirtschaft ging flott, und Bürger Zillges konnte wohl
was überlegen für sein einziges Kind. Da trat eines Tages der Preuße in
die Wirtsstube ›Zum bunten Vogel‹, keck verlangte er ein Kännchen Bier,
seine Knöpfe blinkerten, die hohe Binde schnürte ihm fast den Hals zu,
er hielt sich so gerade, als hätte er einen Zaunstecken verschluckt und
– weg war die Trina, ganz verschossen.

Ne, das hatte keine Art: ein Preuß’, ein Soldat, ein Ketzer! Wenn
Düsseldorf nun auch schon leider Gottes seit über ein Dutzend Jahr’
zum Preußenstaat gerechnet wurde, man würde sich selber nie daran
gewöhnen. Und so ein Preuße, so ein unverfälschter Berliner, der
eben erst vor vier Wochen hier hereingerochen hatte, der sollte die
Tochter aus dem ›Bunten Vogel‹ freien?! Die ganze Ratingerstraße geriet
darüber in Aufregung. Und konnte man es dem Zillges verdenken, daß er
herumging wie ein Ungewitter, und daß Mutter Zillges den teilnehmenden
Nachbarinnen ihr bekümmertes Herz ausschüttete? Wer hätte gedacht,
daß die Trina so eine halsstarrige Frauensperson wäre?! Sie war doch
immer so mollig, so schnuckelig, so ein bißchen bequem gewesen, und nun
wollte sie auf einmal in den Rhein springen, wenn die Eltern ihr nicht
den Feldwebel gäben. Sie weinte sich die Augen rot, sie verlor förmlich
von ihrer Völligkeit, nie mehr vertieften sich die Grübchen in ihren
Backen; sie ließ sich gar nicht mehr unten in der Wirtsstube sehen, saß
immer oben am Kammerfenster hinter ihren vertrockneten Blumenstöcken
und reckte nur den Hals, wenn ein soldatischer Tritt auf dem Pflaster
dröhnte, und groß und stramm der Feldwebel vorbeimarschierte, allein
oder mit der Wache, die zum Burgplatz zog. Stolz ging er, den
Schnauzbart gewichst – ein stattlicher Kerl, das mußte ihm der Neid
lassen! Mußte auch sein Handwerk verstehen, denn ›Feldwebel‹, das war
doch mehr als ein gewöhnlicher Soldat; und alt war er auch noch lange
nicht, vielleicht an die dreißig!

Die Dauwenspeck wußte jetzt nicht mehr, wie es gekommen, daß ihr
Herz sich nach und nach für den Preußen erweicht hatte; denn daß er
ihr eines Abends, als sie ratlos vor dem, die Ratingerstraße halb
überschwemmenden Rinnstein stand und sehnsüchtig nach ihrer Hausthür
hinstarrte, über’s Wasser half, das war doch nur selbstverständlich!
Ach, hätte sie lieber nicht bei Mutter Zillges ein gutes Wort für den
Preußen geredet, denn – die Alte starrte nachdenklich auf das in ihrem
Schoß jetzt sanft schlummernde Kind – war die Trina glücklich geworden?!

Erst schien sie es freilich. Das war eine Glückseligkeit, als der
Zillges den Preußen aufgefordert, näher zu treten. Trina hatte kein
Wort dazu gesagt, aber den schönen Soldaten immer angesehen mit
verschämtem Erröten, die blinkernden Knöpfe hielten sie gebannt; und
als er sich verabschiedet, hatte sie ihm das Geleit gegeben auf den
Hausflur, bis an die Hausthür, und als er dort eben mal den Arm um ihre
Taille legte, hatte sie den Kopf an seine Brust fallen lassen und war
so eine ganze Weile verblieben.

Oha, die Dauwenspeck wußte das alles ganz genau, nicht umsonst wohnte
sie dem ›bunten Vogel‹ gerade gegenüber. Sie hatte fleißig beobachtet,
deutlich gesehen, wenn’s auch schon dämmerte, und was da etwa fehlte,
konnte sie sich leicht hinzudenken; man war doch nicht unerfahren.
Tagtäglich war er gekommen. Kein Wunder, so ein povrer Preuße, der
nichts hatte, als seine paar Pfennig Löhnung – die Infanteristen
waren doch die allererbärmlichsten, die Husaren in der Neustadt
hatten wenigstens ein Pferd – der ließ sich’s wohl sein im fetten
Bürgerhaus! Die Frau Zillges kochte vorzüglich, war sie doch guter
Leute Kind, eine Tochter aus der ›Stadt Venlo‹ in der Ritterstraße, wo
der berühmte Mostrich herkam. Eine Mostertsauce zum fetten Rindfleisch
verstand sie zu rühren, so lecker, daß auch ein andrer, als der
hungerleiderige Preuße wohl schlecken mochte! Und ›Stühl und Bänk‹[2]
kochte ihr keiner nach. Es dauerte nicht lange, und der Brautschleier
wurde in Auswahl genommen, und die goldenen Ringe wurden bestellt bei
Schmitz im ›Blumenkörbchen‹. Bald danach trug Zuckerbäcker Troost
aus dem ›heiligen Apollinarius‹ in der Altestadt den Hochzeitskuchen
in den ›bunten Vogel‹, und ein Rudel Kinder lief hinterdrein, um den
Krokantaufsatz mit dem Amörchen im Taubenwägelchen auf der Torte
anzustaunen.

[2] Alt-Düsseldorfer Gericht, bestehend aus weißen Bohnen, Mohrrüben
und Kartoffeln.

Die Trina war eine strahlende Braut gewesen. Ihr Gesicht glühte, als
sie neben ihrem Feldwebel in die Kirche trat. Der stand stramm in der
Paradeuniform. Aber Peter Zillges schien grauer geworden, und Frau
Josefine Cordula duckte den Kopf; wie die armen Sünder schlichen die
beiden Eltern hinterdrein. Ja, das war nicht so leicht, das einzige
Kind, auf das sie elf lange Ehejahre geharrt hatten, zur Trauung gehen
zu sehen, denn weder die Glocken von Lambertus läuteten, noch von
St. Andreas, noch von der Jesuiterkirche, noch von der Maxpfarre –
Trina hatte eingewilligt, ihre Kinder ›lutherisch‹ werden zu lassen!
›Denn‹, hatte der Preuße gesagt und dabei die Faust fest auf den Tisch
gestemmt, ›Soldatenkinder müssen beten, wie ihr König betet.‹ Darauf
bestand er, da halfen keine Vorstellungen. Herr jemine, hatte der
Zillges geschimpft – die Kinder Ketzer – nie! Aber ›na, denn nich,‹
hatte der Preuße gesagt, ›denn wird aber auch nicht geheiratet.‹ Was
sollte der Zillges machen? Die Trina schrie und fing wieder an, mit
dem Rhein zu drohen, sie wollte schon aus der Thür laufen, der Vater
kriegte sie noch gerade beim Arm zu fassen; und die Mutter weinte mit
ihr. Das war eine Thränenflut zum versaufen.

Ein kleiner Trost war’s, daß die Garnisonkirche, in der die Trauung
stattfand, ›Sankt Anna‹ hieß; da wurde auch gut katholisch drin
gebetet, sie diente beiden Konfessionen. Und das mit den Kindern – ei,
kommt Zeit, kommt Rat, vorderhand wollte man sich nun darüber nicht
mehr grämen.

So waren Feldwebel Friedrich Rinke und Jungfer Kathrina Zillges
zusammengesprochen worden ohne Weihrauch, ohne Gesang – gar keine
richtige Trauung, und doch war heute prompt, wie es sich gehörte, das
erste Kind einpassiert.

»Du arm Ditzke!« Mitleidig schlug Frau Dauwenspeck ein Kreuz über Stirn
und Brust des Neugeborenen. Das schöne Kind, Sünde und Schande, wenn
seine Seele dereinst nicht selig werden sollte!

Ein schwerer Tritt drückte die Holzstiege nieder, die zur
Feldwebelwohnung emporführte, man hörte das Knarren – aha, nun kam er!
Die Dauwenspeck setzte sich in Positur. ›No‹, wollte sie zu ihm sagen,
›endlich!‹ Bah, vor dem hatte sie noch lang keine Angst! Mutter Zillges
hatte immer eine dumme Scheu vor dem Schwiegersohn. I, warum nicht gar?
Ein richtiges rheinisches Mundwerk ist so einer Berliner Schnauze noch
lange gewachsen. Der sollte sich nur mal trauen, sie schief anzugucken!
›Seid Ehr jeck?‹ würde sie dann sofort sagen, ja, das würde sie – ›Ehr
seid ja je–‹

Sie fuhr zusammen; schon war er eingetreten. Mit einem großen Schritt
stand er neben ihr. Ohne weiteres nahm er ihr das Kind aus dem Arm,
hielt es vor sich und betrachtete es lange, ohne Wort. Ein Freudenglanz
breitete sich über sein Gesicht, weich wurden seine strengen Züge.

Die Dauwenspeck sah ganz verdutzt drein, sie hätte es nicht für möglich
gehalten: war das ein verliebter Vater!

»Ein Prachtbengel,« sagte er endlich, und in stolzem Glück leuchteten
seine Augen, »ein Prachtbengel!«

»En Prachtmädche, met Verlöw,« sagte die Dauwenspeck. Aber sie sagte es
nicht ohne Besorgnis – der würde ihr wohl bald den Kopf abreißen!

Sie hatte sich geirrt. Wohl flog’s erst wie Enttäuschung über sein
Gesicht, aber er faßte sich rasch: »Na, wenn schon! Denn also: ein
Prachtmädel! Sie wird Preußen wackre Soldaten schenken.«

Und er bückte sich und küßte sein kleines Mädchen.

Draußen fingen die Glocken an zu läuten, von St. Lambertus, von St.
Andreas und wie die Kirchen alle heißen.

»Wat läuten se denn eso?« fragte die junge Frau, jäh aus dem Schlummer
auffahrend.

Ihr Mann trat an’s Bett; sich über sie beugend, nahm er ihre Hand in
die seine. »Na, Käthe,« sagte er gut gelaunt und klopfte ihre bleiche
Wange – »na, Mutterchen?!«

»Wat – läuten – se – so?« wiederholte sie wie im Fieber.

»Na, Mittag!«

Mit einem Seufzer schloß die Müde wieder die Augen.

       *       *       *       *       *

Und die Glocken der Stadt läuteten weiter. Zur Hochzeit des Feldwebels
hatte keine einzige geläutet; jetzt riefen sie alle mit schallender
Stimme, von all den vielen Kirchen und Kapellen, hoch und hell, voll
und tief, über Straßen und Dächer, über Höfe und Gärten, in lautem,
vielstimmigem Chor.

Sie begrüßten mit Freuden des Feldwebels Tochter: ein rheinisches Kind.




II


Vierzehn Tage später, an einem August-Sonntag 1830, wurde Josefine
Rinke getauft.

Der Feldwebel hätte seine Erstgeborene gern Luise genannt,
nach Preußens geliebtester Königin, aber es wurde als ganz
selbstverständlich angenommen, das Kind mußte einen Namen von
Großmutter Zillges führen; und so wollte er seinem erst eben genesenen
Weib, das ohnehin leicht flennte, diesen Kummer nicht auch noch anthun.
War es Trina doch Kummer genug, daß sie die Taufe nicht mit einem Fest
feiern sollte, wie sie es gewohnt war bei weit geringeren Anlässen. Im
›bunten Vogel‹ hatte man gern gefeiert; es gab so viel Heiligentage,
so viel fröhliche Gelegenheiten. Und wenn man sich nur einen ›Spaß‹
machte, Bratäpfel und Kastanien schmauste, sobald der erste Schnee
fiel, oder singend über flackernde Lichtstümpfchen hüpfte.

Nun sollte nicht einmal die Taufe der kleinen Josefine mit einem Essen
begangen werden, zu dem man Gevattern und Freunde einlud! Ein größerer
Gefangenentransport war nach der Festung Wesel zu eskortieren; statt
des plötzlich erkrankten Offiziers hatte man Rinke das Kommando
angeboten, und er hatte es angenommen. Hätte er’s nicht ebenso gut
ablehnen können, die Taufe seines Kindes war doch Grund genug?! Aber
nein – Frau Trina war außer sich – annehmen mußte er’s, aus purer
Eitelkeit! Und wenn’s denn schon sein mußte, so hätte man ja doch die
Taufe verschieben können, um ein, zwei Tage bloß; aber nein, auch das
nicht, der einmal festgesetzte Termin mußte innegehalten werden. Weil
der Garnisonspfarrer am Sonntag nach der evangelischen Kirche ein halb
Dutzend Soldatenkinder zusammen taufte, mußte das Finchen auch ’ran.
Das arme Finchen, das kriegte ja gar keine richtige Tauf’!

›Wenigstens en Tass’ Kaffee mit Bollebäuskes und Rodon,‹ hatte sie
schluchzend ihren Mann gebeten, ›un nachher e Jläsche Wein! Un nur
en paar jute Bekannte derzu! Dat können mer doch auch ohne dich, da
brauchst du ja jar nit bei zu sein!‹

›Ob ich ›bei‹ bin oder nicht,‹ hatte er gesagt, ärgerlich ihre
Sprechweise nachahmend, ›ich will den Sums nicht! Schlicht getauft,
weiter was ist nich nötig!‹ Die Feldwebelin hatte sich bitter bei ihrer
Mutter beklagt.

Schmerzlich bewegt schritt Frau Zillges heute mit der Tochter und der
getreuen Dauwenspeck, die den Täufling trug, zur Kirche. Sie kamen
ein wenig zu früh, aber sie standen lieber draußen vor der Thür und
warteten, als daß sie eingetreten wären, wozu der Küster sie leise
aufforderte.

Es fing an zu regnen, ein kühler Gewitternachregen war’s; das Pflaster
der Kasernenstraße trat sich unangenehm schlüpfrig. Die junge Frau
trippelte blaß und fröstelnd hin und her, ihre blauen Augen irrten
verdrossen die Straße auf und ab: ach, gar nichts zu sehen! Nur ein
paar Soldaten in Drillichjacken guckten gelangweilt aus den Fenstern
rechts und links von Sankt Anna.

Die Dauwenspeck schlug einen Zipfel ihrer Mantille über den Täufling
und drückte sich, so sehr sie konnte, auf der Schwelle der Kirche unter
die etwas vorspringende Eingangsbedachung.

Mutter Zillges stand unbeweglich und schien des Regens nicht zu achten,
der ihre Haube näßte; sie war in Gedanken versunken. Für eine, die
schon einige Jahre die Fünfzig hinter sich hatte, war ihr Gesicht
merkwürdig glatt geblieben, dies freundliche, behagliche, zufriedene
Gesicht. Heut sah man doch, daß es auch schon Runzeln hatte. War’s denn
nicht auch zu traurig? Solch eine Taufe! Der Vater nicht zugegen, der
Großvater nicht zugegen – was sollten die Leute wohl denken, daß der
Zillges nicht mitgekommen war? Jemand Fremdes zu Gevatter zu bitten,
hatte man ja ohnehin bei so einer Taufe gar nicht gewagt. Frau Josefine
Cordula fühlte sich heut wirklich unglücklich, sie konnte sich nicht
erinnern, je in ihrem Leben unglücklicher gewesen zu sein, nicht
einmal, als ihre Eltern starben. Da hatte der Weihrauch die ›Stadt
Venlo‹ durchweht, wie ein sanft tröstender Hauch des Himmels. Heut
aber, hier auf der regenfeuchten Straße, angesichts einer Taufe, die
eigentlich gar keine war, versagte ihre Fassung. Hatte ihr zu alledem
doch noch Zillges heute morgen erklärt, als er das bedrohliche Wetter
sah, sie solle nur allein zu der ›Ketzerei‹ laufen, er ginge nicht
mit. Sie hatte ihn ›bequem‹ gescholten, sogar mit ihm gebrummt, was
selten vorkam, aber der sonst so gemütliche Peter blieb dickköpfig.
Nein, wenn der nicht wollte, dann wollte er nun mal nicht. Überdies
hätte er Leibschmerzen, sagte er.

Wenn Frau Zillges es recht bedachte, verdenken konnte sie ihrem Peter
sein Fernbleiben eigentlich nicht, der Rinke hatte ihn doch zu sehr
geärgert. Freilich hatte die dumme Trina in der ersten Verliebtheit
jedes Zugeständnis gemacht, aber nun hätte Rinke doch auch ein bißchen
mit sich reden lassen können: wenigstens halb und halb – die Mädchens
nach der Mutter, die Jungens nach dem Vater! Mutter Zillges hatte die
ganzen vierzehn Tage seit der Geburt der Kleinen gehofft, der Feldwebel
werde sich besinnen und das Kind durch eine heilige Taufe den wahren
Gläubigen zugesellen.

Sie hatte ihre Tochter, die ja immer ein bißchen lässig war und gern
Unangenehmem aus dem Weg ging, beschworen, ihrem Mann ernstliche
Vorstellungen zu machen.

Trina behauptete auch, das gethan zu haben: aber ›er is doch nu ens
so,‹ hatte sie gejammert, ›ich krieg ihn nit derzu. Wat soll ich dabei
machen? Laßt mich zufrieden!‹

Ach, ach, es war aber auch alles zu ärgerlich! Frau Zillges biß sich
auf die Lippen; sie wurde nicht gleich so grob wie ihr Mann, aber wenn
sie den Rinke jetzt hier gehabt hätte, glaubte sie sich imstande, ihm
ordentlich den Text zu lesen. Jedes harmlose Pläsier verdarb einem der
Preuße!

Während der ganzen ersten Hälfte der Ansprache, die der Pastor hielt,
dachte sie darüber nach, warum sie eigentlich für einen so betrüblichen
Tag einen so großen Zwetschgenkuchen gebacken hatte und einen so
leckeren Blatz mit Korinthen. Wie konnte man denn essen, wenn man so
traurig war?! Aber sie wußte selbst nicht, wie ihr geschah, war es der
Anblick des Kindchens, das, ganz so rund und blond wie die Mutter,
brav schlummerte, die kleinen Hände zu Fäustchen geballt? Das nicht
einmal aufzuckte, als die kalten Wassertropfen den zarten Flaum seines
Köpfchens besprengten? Sie bekam freundlichere Gedanken.

Und hier der Hochaltar von Marmorstein, den man von den frommen
Cölestinerinnen hergebracht – und da der heilige Johannes Nepomuk
und dort in der Nische die heilige Anna! Nein, noch war nicht alles
verloren! Ihre Stirn glättete sich; sie sah nieder: ei, so ein klein
lecker Stümpken! Akkurat so hatte ihr einst das eigne Kind, die kleine
Trina, im Arm gelegen, wie hatte da ihr Herz vor Freuden geklopft!
Und nun war sie Großmutter! Ihr Herz klopfte wieder, gerade so innig,
nein, fast noch mehr! Warm fühlte sie’s in sich aufwallen. Ja, sie
wollte es lieb haben, und was an ihr lag, das wollte sie wohl thun, der
Preuße sollte nicht die Oberhand kriegen; am Rhein war es geboren, ein
rheinisch Kind sollte das Finchen bleiben!

Sie mußte an sich halten, um dem Enkelkind nicht einen schallenden Kuß
aufzudrücken.

Der Geistliche sprach den Segen über die Täuflinge; es beruhigte die
Großmutter, daß er dabei wenigstens ein Kreuz machte. Durch das Glas
der Kirchenfenster fielen bunte Strahlen. Draußen schien wieder die
Sonne – ei, das war gut, da sah sich alles noch einmal so freundlich an!

Als sie dem Ausgang der Kirche zuschritten, hatte Frau Zillges wieder
ihr gewohntes behagliches Gesicht.

»Et hat noch jut jejangen,« flüsterte sie und nickte der Tochter zu.
Diese gähnte, war abgespannt und hatte Lust auf ein Gläschen Wein; aber
sie hatte keinen Viertelschoppen zu Hause, das fiel ihr ein, und darum
seufzte sie. Plötzlich fuhr sie zusammen, als die Mutter einen Laut der
Überraschung ausstieß.

Hinter dem letzten Pfeiler trat Vater Zillges auf sie zu. Er
schmunzelte über’s ganze Gesicht, zugleich ein bißchen pfiffig und ein
bißchen verlegen; da hatte er die ganze Zeit über versteckt gestanden
und zugesehen.

»No, Zillges,« flüsterte Frau Josefine Cordula und gab ihrem Mann
einen kleinen Puff in die Seite, »du bis aber einen!« Sie wollte
ärgerlich thun, aber sie brachte es nicht fertig. »Warum biste dann nit
wenigstens vornehin jekommen?!«

Er faßte sie unter den Arm und flüsterte zurück unter noch stärkerem
Schmunzeln: »Dat war mich nit möjelich, wahrhaftijens Jott nit – du
weißt doch – dat Bukping!« Und dabei knibbelte er mit dem Auge.

In guter Laune traten sie aus dem Portal. Es war wunderschönes Wetter
geworden; Damen mit Parasols und blumengeschmückten Kiepenhüten
bauschten ihre sommerlich hellen Gewänder.

»Wohin dann?« fragte Zillges, als sich Trina jetzt nach links wendete.
Die Infanteriekaserne dehnte sich lang, nahm die ganze eine Seite der
Straße ein, und die Feldwebelwohnung lag in Hof I, im äußersten linken
Flügel. »No, wat dann, wohin jehste?«

»Nach Haus,« murmelte Frau Trina mit zuckenden Lippen; es wurde ihr
doch gar schwer, wenn sie daran dachte, daß sie an dem schönen Sonntag,
der noch dazu der Tauftag ihres Kindes war, so mutterseelenallein in
der öden Kaserne sitzen sollte. Die Eltern würden ja nicht zu ihr
kommen, die hatten in dem ganzen Jahr kaum einmal die Feldwebelwohnung
betreten; und wenn auch der Rinke nicht da war, das thaten sie doch
nicht. Überdies war am Sonntag nachmittag immer viel Zuspruch im
›Bunten Vogel‹. »Och Jott, och Jott!« seufzte sie; sie fühlte sich doch
noch recht schwach.

Als hätte der Vater ihre Gedanken erraten, so sagte er jetzt: »No
Huus?! Biste jeck? Du wirst doch net e so trübselig allein sitzen?!
Komm du nur bei uns, Tring!«

»Un dat Finken kömmt auch mit bei sein Jroßmamma,« rief Mutter Zillges
und lächelte zärtlich ihr Enkelkind an.

Die junge Frau war zögernd stehen geblieben und wurde abwechselnd rot
und blaß. Ach ja, sie wollte sehr gern mitgehen, aber hatte ihr Mann
ihr nicht befohlen, sich ruhig zu Haus zu halten? Unschlüssig sah sie
vom Vater zur Mutter und auch zur kleinen Josefine hin, sie wußte
sich keinen Rat; ihr grauste vor den getünchten Kasernenwänden und
der Einsamkeit. Wie viel besser war’s in der getäfelten Wirtsstube
des ›Bunten Vogel‹, und nebenan im kleinen Comptörchen, wo der
große Lederstuhl am Fenster zum Ruhen einlud, und das erst kürzlich
angebrachte Spiönchen die Straße aufwärts und abwärts in seinem Glas
spiegelte. O, da war’s gut sein! Aber hatte Rinke nicht gesagt: ›Du
bist noch schwach, leg dich lieber ein paar Stunden hin, schon wegen
der Josefine!‹ Schwach, schwach?! Ne, sie war ganz kräftig!

Die Dauwenspeck gab den Ausschlag. »No, Madam’ Rinke,« mahnte sie,
»steht hie nit e so lang erum, dat es Euch nit jut. Zeit for ’t
Mittagessen es et auch als. Un et Finken hat auch als Appetitt. Madam
Zillges, seid e so freundlich, dragt dat Finken e Stücksken, et es mech
als janz schwer.«

Und nun schwenkte die kleine Karawane, als sei es so ganz
selbstverständlich, statt nach links, nach rechts ab, in der der
Feldwebelwohnung entgegengesetzten Richtung. –

Wer hätte gedacht, daß das heute noch so ein vergnügter Tag werden
würde! Mutter Zillges hatte ein gutes Mittagsessen vorbereitet gehabt,
und alle thaten ihrer Kochkunst Ehre an. Die Dauwenspeck versicherte,
sie könne sich tot essen an den gestovten Saubohnen und dem
frischgekochten durchwachsenen Speck; einen leckreren Zwetschgenkuchen
verstand überhaupt keiner zu backen, er schmeckte so ›herzlich‹. Auch
dem Düsseldorfer Obergärigen wurde wacker zugesprochen, und zuletzt
stieß man mit einem Gläschen Rheinwein auf das Wohl des Täuflings an.

Es herrschte ein ungemeines Behagen in der um diese Zeit noch leeren
Wirtsstube, an deren altertümlichen Wänden, zwischen ausgestopften
Vögeln und Schmetterlingskästen, verschiedene Lithographien des Kaisers
Napoleon hingen. Auf der einen stand er einsam, im kleinen Hütchen, die
Hand im Busen; auf der andern lag er zu St. Helena auf dem Sterbebett.

Peter Zillges bildete sich etwas darauf ein, daß er den Napoleon
gut gekannt. Hatte er dem Kaiser doch dazumal, anno elf, bei seinem
Einzug in Düsseldorf, so nahe gestanden, daß er ihn hätte am Rockschoß
greifen können. Auf dem Hügel am neuen Hafen war’s gewesen, da hatte
Napoleon einen Augenblick verweilt. Die Bürgergarde bildete Spalier,
Tücher wurden geschwenkt, Kinder und Jungfrauen streuten Blumen,
Musik spielte, Trommeln wirbelten, vom Boulevard Napoleon und der Rue
l’Empereur her wehten Fahnen, eine Ehrenpforte war gebaut am Ratinger
Thor, eine schaulustige Menge drängte sich, es gab ihrer genug, die
da schrieen: »_Vive l’empereur!_« Aber finster hatte jener gestanden,
die Arme über der Brust gekreuzt, und hinausgestarrt auf den Rhein,
der unruhig seine schweren, herbstgrauen Wogen vorbei rollte. Der arme
Kaiser, dem ahnte wohl schon Unheil!

Zillges erzählte das gern und anschaulich; er konnte sich nie eines
gewissen Bedauerns dabei erwehren. Man kannte den Napoleon doch von
Angesicht zu Angesicht, man war lange genug französisch gewesen, und
die Kurpfälzer und Österreicher, die vordem in der Stadt gelegen,
hatten übermütiger gehaust, wie die Truppen der Division Lefebvre. Und
wem hatte die Stadt denn den neuen Hafen und die schönen Anlagen des
Hofgartens, in denen der Bürger sich mit Weib und Kind ergehen konnte,
und den Ananasberg und den Napoleonsberg und die breite Alleestraße
zu verdanken? Nur dem Napoleon! Ohne den säße man noch in der engen
Festung und hätte Gott weiß was für Einquartierung auf dem Hals.

Ja, der Napoleon, das war einer gewesen – Gott hab’ ihn selig!

Ganz bescheiden nahm sich der Preußenkönig, Friedrich Wilhelm III.,
zwischen den beiden großen Lithographien aus.

Man saß noch hinter’m Tisch, als ein paar Gäste im ›Bunten Vogel‹
erschienen, gute Bekannte, die Mutter Zillges gleich zum Kaffee einlud.
Nun fuhr sie ihren Korinthenblatz auf.

Trina saß da mit hochgeröteten Wangen; sie hatte ihr Kind an der
Brust und ließ sich’s selber auch wohl sein. Ihre Augen glänzten; die
Freunde bewunderten das ›staatse‹ Kind – und dann war so viel zu hören
und zu erzählen! Sie hatte sich lange nicht so recht ausgesprochen.
Gedankenlos aß und trank sie in sich hinein; der Nachmittag verflog im
Umsehen.

Es kamen der Gäste noch mehr, heut schenkte Peter Zillges gratis ein
– das erste Enkelkind, da wollte er sich doch nicht lumpen lassen.
Die Fröhlichkeit wurde laut, durch die offenen Fenster schallten die
Stimmen weit hinab die Ratingerstraße. Mancher Bürger, der vorüberging,
trat, angelockt durch das lustige Getön, in den ›Bunten Vogel‹ ein und
blieb drinnen. Der Kreis vergrößerte sich bedeutend; auch junge Leute
waren da, die mit der Trina einst ›Dopp‹ auf der Straße geschlagen und
um den alten Jan Willem auf dem Markt ›Nachläufches‹ gespielt. Sie
neckten sie alle mit ihrem Preuß’; aber die Neckerei war gutmütig, und
so lachte sie mit, daß sie sich schüttelte.

Nun fing man an zu singen. Die jungen Männer gehörten zum
Gesellenverein und hielten ihre Übungen zu allen kirchlichen Feiern;
mit einem langgezogenen, choralartigen Lied begannen sie denn auch
erst, aber bald folgten leichtere Weisen. Der Tenor legte sich
ordentlich in’s Zeug, donnernd fiel der Baß ein; zuletzt freilich ging
der Gesang etwas auseinander.

Es war heiß geworden, die Luft in der Wirtsstube stickig, von
Pfeifenqualm erfüllt. Die kleine Josefine quäkte unruhig. Frau
Dauwenspeck hatte sie der jungen Mutter abgenommen, schaukelte sie hin
und her und gab ab und zu ein beruhigendes Kläpschen auf die Rückseite
des fest zugebündelten Stechkissens.

Einer der jungen Männer, der Schnakenbergs Hendrich aus der ›Windmühl‹,
pfiff der Kleinen freundlich etwas vor, ein Rheinländer war’s – hei,
fuhr der allen in die Beine! Man stand auf und fing an zu schleifen.
Der Zillges war ein rechter Schalk, ehe seine Josefine Cordula sich
dessen versah, hatte er sie um die Taille gefaßt: vier Schritt nach
links, vier nach rechts, schwenkt euch rund, immer rund! Weiß Gott, der
tanzte seine rheinische Polka noch wie ein Junger.

Trina war auch von der Bank aufgesprungen, sie stellte sich auf die
Zehen und reckte sich hinter’m Tisch, um Großvater und Großmutter
tanzen zu sehen, und lachte unbändig. Rosig und hübsch sah sie aus. Wie
lange nicht, vertieften sich die Lachgrübchen in ihren runden Wangen,
ihre Augen glitzerten vor Vergnügen; nun streckte sie den Finger aus
und kreischte laut auf. Sie hatte einen ganz kleinen Schwips.

Der schwarze Hendrich, der früher schon immer ein Auge auf sie gehabt,
voltigierte hinter den Tisch und zog sie vor. Ob sie sich auch kichernd
sträubte, er drehte sie ein paarmal herum, nur ein paarmal; sie waren
noch kaum vom Tisch weggekommen, da stockte ihr der Atem – jemand war
eingetreten, ein strammer Langer, in Uniform – da – da – der Feldwebel!

Mitten in der Stube stand er und sah sie an mit einem bösen Gesicht.

Es war eine unangenehme Überraschung für beide Teile. Frau Trina wurde
noch glühender rot, des Feldwebels gebräuntes Gesicht wurde fahl.

Aha, da war er ja gerade zur rechten Zeit gekommen! Also darum hatte es
ihn innerlich so getrieben, daß er sich in Wesel, nachdem er in später
Nacht seine Gefangenen eingebracht und den Ablieferungsschein erhalten,
nur wenige Stunden Rast gegönnt und im Morgengrauen bereits wieder die
Rückfahrt angetreten?! In Kaiserswerth hatte er seine Mannschaft hinter
sich gelassen und war auf einem ausgespannten Gaul heimgeritten, so
rasch der müde Klepper laufen konnte.

Nur nach Haus! Eine Sehnsucht hatte ihn plötzlich ergriffen, noch
heimzukommen am Tauftag seines Kindes. Ganz wollte er doch nicht
fehlen; auch die Käthe würde sich freuen, wenn er noch kam.

Er hatte von seinem Vater einen Siegesthaler von anno 13 ererbt –
eine Öse war schon daran – da sollte die Käthe gleich ein Schnürchen
durchziehen, und er wollte ihn seiner Tochter heute um den Hals hängen
als einen Talisman. Er war ganz glücklich in dieser Idee.

Was der Wachtmeister Rinke wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß sich
sein Enkelkind an seinem Siegesthaler einmal die Zähnchen durchbeißen
könnte?! Freuen thäte der sich.

Lebhaft gedachte der Feldwebel in dieser Stunde seiner Eltern. Nun er
selber Vater war, fühlte er sich ihnen näher, obgleich er die Stelle,
wo sein Vater in der Erde ruhte, nicht kannte. Der Alte lag wohl in
irgend einem Massengrab bei Waterloo. Und die Mutter? Die war schon
begraben worden anno 13, als der Vater noch unter’m alten Blücher im
Kriege focht.

Die Mutter! Ach ja, die hatte bitter Not gelitten in ihrer
Todkrankheit; die Nachbarn im armen märkischen Nest hatten auch nichts,
er, der Zwölfjährige, war ihre einzige Stütze. Rinke erinnerte sich
deutlich der kalten Winternacht, in der er, ohne Strümpfe, die nackten,
mit Lappen umwickelten Beine in die zerrissenen Schuhe gesteckt,
zum Flüßchen hinabgelaufen war, um Eis zu hacken, damit sie ihren
Durst löschen sollte. Die Axt war ihm abgeglitten und hatte seinen
Fuß getroffen, er hatte dessen nicht geachtet und war in fliegendem
Lauf zu der Fiebernden zurückgeeilt. Da hatte er gelernt, die Zähne
zusammenzubeißen. Es gehörte Mut dazu, die einsame, lange Winternacht
hinzubringen in der kalten Kammer, an deren klapperndem Fenster der
Wind rüttelte. Die Sterbende suchte bei ihm Wärme in ihrer Todeskälte;
selbst frierend, preßte er sie in seine Kinderarme. So hatten sie
einander umklammert, der Sohn der Mutter Schutz gebend und doch
zugleich noch Schutz bei ihr suchend.

Friedrich Rinke hatte kein Glück, wenn er seiner Frau von der
Vergangenheit erzählen wollte. Das erste Mal, als sie eben verheiratet
gewesen, hatte sie zwar mitleidig geweint, aber als er noch einmal
darauf zu sprechen kam, sagte sie: ›Och, laß dat!‹ Es machte sie
graulen und verdarb ihr die gute Laune. Aber seiner Tochter wollte er
früh davon erzählen, das nahm er sich vor. –

Immer rascher trieb er sein Pferd an. Schaum stand dem Tier auf den
Flanken, als er in den Kasernenhof sprengte. Mit steifen Beinen
stolperte er die Holzstiege zu seiner Wohnung hinan; er lachte in sich
hinein – ob die kleine Josefine wohl schlief? Es war drinnen ganz
still. Die Hand auf die Klinke legend, drückte er sie behutsam nieder –
was, verschlossen?! Donnerwetter, hatte die Käthe sich eingesperrt?!

Er klopfte, erst mit dem Finger, dann mit der Faust; er rief: »Käthe,
Käthe!« Und immer grollender: »Frau!« Keine Antwort. Sie war nicht da.
Aber das Kind mußte doch drinnen sein?! Er horchte: auch von dem kein
Tönchen!

Was war denn das für eine Zucht?! Einen Fluch ausstoßend, polterte er
die Stiege wieder hinunter. Wo steckten sie?

Ein paar Soldaten, die auf der Bank vor der Thür ihres Blocks rauchend
den Sonntag verdruselten, standen stramm: Die Frau Feldwebel war gegen
mittag mit dem Kind und dem alten Weibsbild fortgegangen; bis jetzt
hatten sie sie nicht wiederkommen sehen.

»Blinde Hessen!«

Fort stürzte der Feldwebel. – – –

Also hier fand er sein Weib?! Auf Rinkes Stirn schwoll die Zornesader;
mit einem Blick, der alles durchbohren zu wollen schien, maß er die
lustige Gesellschaft.

Eine augenblickliche Verlegenheit entstand. Der schwarze Hendrich
machte einen Kratzfuß und ließ die Frau Feldwebelin schleunigst auf die
Bank niedersitzen. Trina wurde so blaß, wie sie vorher rot gewesen; der
fröhliche Rausch verflog, sie war plötzlich ernüchtert, ihr Herzschlag
stockte.

Nur Peter Zillges, in seiner glücklichen Harmlosigkeit, nahm des
Feldwebels seltsame Miene nicht krumm. Am frohen Fest allen Groll
vergessend, schlug er ihn freundschaftlich auf die Schulter: »No, Herr
Schwiejersohn, wat es jefällig? Bier oder e Jläsche Wein? Ja, heut hat
de Pitter Zillges de Spendierbuxen an. Dat Finchen soll leben, un sein
Eltern derneben! Hoch, hoch, hoch!«

Sie riefen alle: »Hoch, hoch, hoch!« Aber der Preuße verzog keine Miene
und blieb frostig. ›Steif wie ein Zaunstecken,‹ mäkelten die Gäste
hernach.

Auch als die Schwiegermutter, die einem etwaigen Ungewitter vorbeugen
wollte, sich bethulich um Rinke mühte, hatte sie kein Glück. Was sie
auch anbot an Speise und Trank, schlug er aus; sie hatte Mühe genug,
daß sie ihn zum sitzen bekam. Ihre Erklärungen: die Trina habe sich
ohne ihn so einsam gefühlt, darum hätten sie sie mitgenommen in den
›Bunten Vogel‹ – die Gäste seien nur ein paar Nachbarn, die sich
zufällig eingefunden – bei der Taufe sei das Finchen sehr brav gewesen,
es sei ein gar zu lecker Tierchen und seinem Vater schon ähnlich – all
das beantwortete er mit keiner Silbe. Nach wenigen Minuten erhob er
sich wieder:

»Komm, Käthe!«

Auf solchen Ton gab’s kein Widerstreben; Frau Trina stand sofort auf.
Hastig band sie sich den Hut zu und warf die weite Mantille mit der
Seidenfladrusche um; es fröstelte sie plötzlich. So sehr drängte er zum
Aufbruch, daß sie kaum ein Nicken für die Freunde fand und ein kurzes:
»Adjüs zusammen!«

Die Mutter war mit herausgelaufen; nun stand sie in der Hausthür und
schaute dem Paar nach. Trina hatte das Kind tragen wollen, er es ihr
aber fortgenommen. Jetzt machte er so große Schritte, daß die Frau
kaum nach konnte; ein paar Ellen war er immer voraus. Seufzend und mit
bekümmertem Gesicht sah Mutter Zillges hinter den beiden drein – ach
Gott, ach Gott, das gab ein böses Donnerwetter!

Nie war Trina der Weg von der Ratinger- bis zur Kasernenstraße so lang
geworden trotz des schnellen Rennens; sonst ging sie ihn in einer guten
Viertelstunde, heut dauerte er ewig. Die Kniee zitterten, die Füße
versagten, ihr war schwindlig und schlecht zu Mut; aber sowie sie einen
Augenblick stehen blieb, um nach Luft zu ringen, rief ihr Mann: »Komm!«
Sie wagte nicht, zurückzubleiben, sondern hastete sich ab, daß ihr
der Schweiß auf der Stirn perlte. Es war ihr nie geheuer, wenn er sie
so stumm ansah, nur knapp ein Wort sagte; war er erst am Schimpfen,
dann war’s nicht mehr so schlimm, da kam sie ganz gut gegen an, ihr
Züngelchen konnte sich flink rühren. Aber heut hätte sie sich kein Wort
getraut.

Atemlos tappte sie die Stiege hinauf; er wartete längst oben und sah
sie an mit einem Blick, als ob er sie durchbohren wollte. Als sie
den Schlüssel mit zitternder Hand aus ihrer Tasche vorholte, entfiel
er ihr; sie bückten sich beide zugleich danach und pufften die Köpfe
gegeneinander. Da wagte sie, obgleich ihr der Schädel brummte, ein
kleines Lachen; aber ihr Mann ging nicht darauf ein, sah sie gar nicht
an, entriß ihr den Schlüssel und stieß ihn heftig in’s Schloß.

Sie traten ein, und plötzlich, wie mit einer Riesenlast, fiel es
der jungen Frau auf die Seele: wie dürftig, wie häßlich war’s
hier! Getünchte Wände ohne Schmuck, keine Bilder, nackte Dielen,
unbequeme Holzschemel, nebenan in der Kammer die schmalen, eisernen
Bettstellen mit den groben, härenen Decken und des Feldwebels tannener
Kleiderkasten. Ach, und zu Haus alles so hübsch, so behaglich! O, daß
sie auch nicht dagegen protestiert, als der Bräutigam alles überflüssig
fand! So ein Soldat, was weiß der von Behagen! Jetzt hätte sie sich
prügeln mögen. Wenigstens ein Bett mit einem Himmel hätten sie doch
haben müssen, ein Muttergötteschen und eine traulich glimmende ewige
Lampe! Ganz verzweifelt fuhren ihre Blicke umher; noch nie hatte
sie so den Unterschied zwischen dem ›Bunten Vogel‹ und der povren
Soldatenstube gesehen wie heut. Das Herz sank ihr, sie fing an zu
weinen und setzte sich in einen Winkel.

Der Feldwebel brachte selber sein Kind zur Ruhe; kaum daß Trina sich
traute, als er draußen in der Küche nach einem Stück Brot suchte, das
Kleine aus der Wiege zu nehmen und an die Brust zu legen. Der Kopf war
ihr schwer, der Magen that ihr weh, sie weinte in einem fort. Weinend
kroch sie in’s Bett, noch weinend schlief sie ein.

In der Nacht erwachte sie jäh – das Kind schrie durchdringend. Ganz
entsetzt sprang sie auf. Ihr Mann stand schon bei der Wiege; er hatte
das Öllämpchen angezündet und leuchtete damit in’s Bettchen nieder, in
dem er das Kind aufgebündelt. Die kleine Josefine zog krampfhaft die
Beinchen hoch an den Leib, jämmerliche Schmerzensschreie ausstoßend.

»Jesus, wat hat et nur, warum weint et dann?« fragte Trina erschrocken.

Er gab ihr keine Antwort; finster blickend raffte er die Decke von
seinem Bett und wickelte das Kind hinein. So trug er’s im Zimmer auf
und ab, immer auf und ab, rastlos hin und wieder.

Sie wollte es ihm abnehmen.

»Zu Bett!« herrschte er sie an.

Ängstlich verkroch sie sich wieder unter ihre Decke und blinzelte nur
verstohlen zu ihm hin.

Mitternacht war längst vorüber, schon dämmerte ein bleicher Schein
über’m Exerzierplatz. Noch immer wanderte Rinke auf und ab, hin und
wieder, und noch immer wimmerte das Kind. Sie konnte es nicht länger
mehr aushalten, an schlafen war doch nicht zu denken; die Decke
abwerfend, lief sie zu ihm hin.

»Is et krank? Och Jott, och Jott!« rief sie angstvoll und rannte neben
ihrem Mann her, bleich und fröstelnd. Sie klammerte sich an seinen Arm.
»Och, Jesus Maria, Rinke, sag ens, wat hat et dann?«

»Bauchweh!« stieß er kurz heraus. »Und du bist schuld dran!« Und als
sie ihn betroffen, ganz verdutzt ansah mit ihren müden, verschwiemelten
Augen, hob er zornig die Hand und gab ihr einen Backenstreich.




III


Der erste Weg, den Josefine lernte allein zurückzulegen, war der zu den
Großeltern. Munter und großäugig blickend, trippelte die Kleine über
Hof I der Kaserne. Ein mit einem Lämmchen besticktes Perlentäschchen
trug sie umgehängt, da hinein steckte ihr die Großmutter immer etwas
Leckeres.

Feldwebel Rinke war nicht für die Verwöhnung; ob es regnete oder
windete oder fror, Josefine mußte heraus, nur daß sie dann statt des
runden Hutes mit Bändern, der ihr ewig im Nacken hing, ein Kapüzchen
trug und um den bloßen Speckhals ein Radmäntelchen. Frau Trina war
weniger für die Abhärtung, die Fina war ja noch so jung: sie wird den
Husten kriegen, sie kommt noch zu Unglück! Aber im Grunde war sie doch
ganz froh, einmal für eine Weile ein Kind los zu sein, sie hatte ja
noch den knapp um ein Jahr jüngeren Wilhelm und ein ganz Kleines in
der Wiege. Zwischen Wilhelm und dem Kleinsten war eins gestorben, ein
Mariechen. No, das war ja nur drei Wochen alt geworden, und zu warten
hatte sie auch so noch genug! Die Eltern hielten ihr zwar jetzt ein
Mädchen für die Tagesstunden, aber das war fast selber noch ein Kind,
eben erst zur heiligen Kommunion gegangen.

Das Kasernenthor war die einzige ernste Schwierigkeit auf Josefines Weg
zur Ratingerstraße, den schweren Thorflügel konnte sie nicht heben; und
stand keine Spalte offen, um durchzuschlüpfen, mußte sie Hilfe rufen.
Hell schallte die Kinderstimme über den Hof, die Soldaten spitzten die
Ohren, wie bei einem Trompetenstoß. Nur rasch, sonst schrie die kleine
Blage[3] sämtliche Spottnamen der Kompagnie! Die wußte sie ja alle; und
die Soldaten wollten sich darüber totlachen. Jeder von ihnen kannte die
Feldwebelstochter.

[3] Ungezogenes Mädchen.

Wurde auf dem großen Platz exerziert, stand die Kleine gewiß oben in
der Wohnung auf dem Fensterbrett, den einen Arm um’s Fensterkreuz
geschlungen, den andern zum Schutz vor die geblendeten Augen gelegt.
Wurde in Hof I gedrillt, hockte sie sicher in der Nähe, auf dem
Pumpentrog, auf irgend einer Treppenstufe und folgte mit aufmerksamem
Blick jedem Griff, jeder Wendung.

Feldwebel Rinke freute sich seiner Tochter; er war nicht wenig stolz
auf sie. Abends, wenn er sich die Pfeife anzündete – die einzige, die
er sich überhaupt gönnte – rief er: »Antreten!« Und Josefine, die schon
lange auf diesen Ruf gelauert, war mit einem Sprung zur Stelle. Einen
zugestutzten Haselstock trug sie im Arm.

»Achtung!« Der Vater kommandierte. Hei, da wurden Griffe geübt,
geschmeidig klammerten sich die kleinen Finger um das Stockgewehr.

»Faßt das Gewehrr – an! Gewehrr – ab! Faßt das Gewehrr – an! Ladestock
im Lauf! Gewehrr – hoch! Spannt den Hahn!«

Der Feldwebel schmunzelte: ja, die beschämte manchen Rekruten! Und
die wichtige Miene dabei, das Gesicht ganz erfüllt vom Ernst des
Augenblicks!

Nun wurde Stellung geübt, und Wendungen auf der Stelle, und Marsch.

»Bataillon – Marsch! Kurz getreten! Frei – weg! Halt!«

Kein Großer konnte exakter den Kommandos folgen, schneller die Beine
werfen.

Dann folgte theoretischer Unterricht. Sie mußte lernen: Meldungen
machen, – ›richtig und kurz‹, das war die Hauptsache – die
verschiedenen militärischen Grade aufsagen vom Feldmarschall an bis
herab zum Gefreiten, die verschiedenen Truppen unterscheiden nach den
Waffen. Und wurde ihr das alles auch noch schwer, so schwer, daß sich
ihre Augen oft mit Thränen füllten, ihre Instruktionsstunde hätte sie
nicht hergegeben, selbst für eine ganze Düte voll ›Klümpches‹ nicht.

Und fragte der Vater ernst und gemessen: »Wie viel Elemente haben wir?«

»Fünf!«

»Wie heißen sie?«

So antwortete sie mit leuchtenden Augen: »Treue, Tapferkeit, Gehorsam,
Pflichtgefühl und Ehre!«

Frau Trina schüttelte wohl den Kopf über diese ›Dummheiten‹, aber sie
sagte nichts – wenn es ihnen nu Spaß machte! ›Jedet Dierken hat sein
Pläsierken,‹ dachte sie.

Die blonde Feldwebelin war in den sieben Jahren ihrer Ehe recht
auseinandergegangen; ihr blühendes Fleisch war Fett geworden, sie
machte sich nicht viel Bewegung. Die Wochentage brachte sie meist in
Unterrock und loser Jacke oben in ihren paar Stuben zu, schluffte vom
Herd zur Wiege und wohl auch von der Wiege zum Fenster. Da sah sie
auf dem, im Sommer staubigen, im Winter grundlosen Platz das tägliche
Schauspiel des Exerzierens, und, wenn’s hoch kam, jenseits des Kanals
Arbeiter Erde und Steine karren. Dort wurde eine Promenade angelegt
über’m Graben, und schöne Kastanien wurden gepflanzt; Bauplätze waren
auch schon feil. Da würde es einmal angenehm zu spazieren sein!

»Och Jesus!« seufzte sie dann wohl, schlich wiederum zur Wiege zurück
und schaukelte das greinende Kind. Ein alter Reim fiel ihr ein:

    ›Wenn andre Leut’ spazieren gehn,
    Muß ich an der Wiege stehn,
    Muß da machen: knick, knick, knack,
    Schlaf, du kleiner Habersack!‹

Und dann trübten sich ihre blauen Augen.

Der Wilhelm machte ihr viel zu schaffen, mehr als das Kleinste; er war
ein kränkliches Kind und für seine fünf Jahre schwach auf den Beinen.
Bald hatte er einen Husten, bald einen Ausschlag, der Vater wurde schon
ganz ungeduldig – das sollte ein Soldatenjunge sein?! Hing ewig an der
Mutter Rock und flennte wie ein altes Weib, wenn die Josefine mit ihm
exerzieren wollte! Wenn die Schwester ihn prügelte, prügelte er nicht
wieder – das Hasenherz!

Bei jeder solchen Gelegenheit äußerte sich des Feldwebels Unwillen –
der Junge würde nun und nimmer ein Soldat! Und Rinke nahm das als eine
persönliche Beleidigung; ohne daß er es wußte, wurde sein Ton barscher,
wenn er mit dem Knaben sprach. War es da nicht natürlich, daß die
Mutter sich gerade dieses Kindes besonders annahm?

Auch Josefine liebte den Bruder; sie schlug ihn nur, wenn er beim
Exerzieren den Stock verkehrt hielt und die Beine nicht stramm
stellte. –

Heute führte sie ihn, sorglich wie eine kleine Mutter, an der Hand. Es
war Sonntag, und die Geschwister trippelten vor den Eltern her über die
Kasernenstraße, während Stina, das noch kindliche Stundenmädchen, den
Kleinsten im blaugestrichenen Holzwägelchen hintennachzog.

Die Familie rückte zum Sonntagnachmittagsspaziergang aus; es war das
einzige Vergnügen, das Frau Trina hatte, und dies ließ sie sich auch so
leicht nicht nehmen.

Dann holte sie einmal ihren Putz hervor und zeigte sich, am Arm ihres
Feldwebels, als gute Bürgerstochter, die mehr Geschmack hat, als eine
gewöhnliche Soldatenfrau. Die Schnürbrust ließ sich freilich so eng
nicht mehr zusammenziehen, aber der Rock setzte sich modisch mit vielen
Falten unter dem runden Leibchen an, die Ärmel bauschten mächtig bis
zum Ellenbogen, und reichlich gesteifte und wattierte Unterröcke gaben
dem Rock einen schönen Fall.

Frau Trina war heut nicht ganz zufrieden mit dem Ziel des Ausflugs,
sie hätte ihren Staat lieber mehr sehen lassen und selber gern welchen
gesehen im Kaffeegarten ›Zum Stockkämpchen‹ oder in der ›Petersburg‹
auf dem Flingersteinweg, wo man beim Gläschen Wein und Bier Musik
von der Estrade des großen Saals zu hören bekam und nachher auch ein
Tänzchen machen konnte. Aber ihr Mann, der war ja zu geizig für so
etwas, der ging am liebsten nur, jenseits der Schiffbrücke, nach der
›andern Seite‹, wo man im Grasgarten des Bauernwirtshauses Bauernbrot
und dicke Milch aß.

Schon hatte man den alten Jan Willem am Marktplatz erreicht und
spazierte, das eherne Reiterbild, auf dessen mächtigem Haupt Scharen
unverschämter, schirpender Spatzen saßen, zur Rechten lassend, herunter
zum Zollthor. Und sieh da – der Rhein, der Rhein!

Josefine stieß einen hellen Jubelschrei aus. Ja, da war er! Ein
heiteres Sonnenlicht küßte seine breite, schleppende, lichtgrüne Flut.
Langsam ziehend und lautlos glitt Welle auf Welle am Brückenkopf vorbei.

Mit lautem Jauchzen stürmte Josefine voran; es machte ihr ein
unsägliches Vergnügen, die Planken der langen Schiffbrücke unter ihren
Füßen leis schwanken zu fühlen und durch die Ritzen das Wasser unter
sich strömen zu sehen. Sie rannte dahin, als hätte der Rheinduft
sie berauscht, dieser köstliche Geruch nach Tang und Teer und
durchfeuchtetem Holz. Den Kopf zurückgeworfen, die Flügel der kleinen
Stumpfnase gebläht, die Arme ausgebreitet, lief sie dem Rheinwind
entgegen, helle Glücksschreie ausstoßend. Und der Wind pustete sie an,
daß ihre Bäckchen leuchtender strahlten in einem warmen, weichen Rot.

Auch Frau Trinas Gesicht war heiter geworden; jetzt war man drüben,
und der Blick zurück auf die Stadtseite war gar zu schön. Weiß zeigten
sich die Häuser an der Werft, in ihren Fenstern blitzte der Sonnenglanz
und machte sie zu blendenden Spiegeln; stolz ragten dahinter die Türme
der Kirchen, und mächtig und klotzig erhob sich das alte Schloß.
Seine rötlichen Mauern standen hart am lichtgrünen Strom, mit vielen
Fensteraugen blickte es rheinauf und rheinab.

Stolz wies die Düsseldorferin hinüber. »Kuck ens, Rinke!« Er meinte
zwar, die Spree gäbe dem Rhein an Breite nicht viel nach, auch könne
sich der alte Rumpelkasten da mit dem Königsschloß zu Berlin nicht
messen; aber er betonte heut doch nicht mit gleicher Schärfe, wie sonst
bei jeder Gelegenheit, sein Preußentum. Sein Hauptinteresse war bei
Josefine.

Gleich einem Vogel auf eiligem Flug durchflatterte sie das satte
Grün der Wiesen. »Krieg’ mich, krieg’ mich!« Oft verschwand sie ganz
im fetten Gras, um dann plötzlich aufzutauchen mit dem schrillen,
zwitschernden Schrei der Schwalbe, die den Äther durchschießt.
Langgestielter, blauer Salbei, goldäugige, weiße Sternblumen, brennend
roter Mohn nickten um sie. Mit beiden Händen griff sie hinein in
die Blütenpracht, in ausgelassener Lust raufte sie aus, und, sich
hintenüber in’s Gras werfend, goß sie all ihre Blumen wie einen
Sommerregen über sich.

Der kleine Wilhelm hatte sich längst zu dem Rock der Mutter geflüchtet,
er hing sich an und zockelte so nach. Vergebens ermunterte ihn der
Vater, der Schwester zu folgen, nur fester klammerte er sich an
die Falte; als der Vater ihm die Finger lösen wollte, erhub er ein
jämmerlich Geschrei.

Da begann die Mutter, den Arm ihres Mannes fahren lassend, auf die
wilde Josefine zu schelten. »Kömmste hiehin! Wie siehste nu als wieder
aus? Du Blage! Lauter Jraßflecken!« Sie hob die Hand zum Schlag. »Wat
machste dann?«

Glühend vom Tollen, bebend vor Atemlosigkeit, sah Josefine der Mutter
in’s Gesicht. »Ich freu’ mich,« sagte sie und nahm den Schlag hin,
ohne mit der Wimper zu zucken; doch dann senkte sie tief den Kopf, weh
gethan hatte ihr die Ohrfeige nicht, aber sie schämte sich.

Der Feldwebel biß sich auf die Lippen; er ärgerte sich über seine Frau.
Aber: famoses Mädel, die Josefine, wie sie dastand und sich das Weinen
verkniff und den Kopf hängen ließ, daß man ihr nicht in’s Gesicht sehen
sollte! Die hatte Ehrgefühl, Gott sei Dank! Die Ehre, die Ehre, nicht
früh genug hält man die hoch. Ja, seine Tochter – die war Blut von
seinem Blut! Ein mißbilligender Blick traf den noch immer heulenden
Wilhelm.

Als Rinke über ein Weilchen nach Josefine umschaute – er mußte doch
sehen, ob sie noch immer trauerte – da sah er hinter einem Busch
zwei langbehoste, kleine Beine in der Luft zappeln. Josefine schlug
Purzelbäume.

Der Spaziergang auf die ›andre Seite‹ war für den Feldwebel immer
der Anlaß zu allerhand militärischen Betrachtungen: hier hatten
einst die Soldaten des General Bernadotte den Freiheitsbaum mit der
Jakobinermütze aufgepflanzt und von dem Rasenwall aus die Stadt
Düsseldorf beschossen. Jetzt standen freilich harmlose Brettertische
und Bänke an gleicher Stelle, und zwischen zwei starken Weidenbäumen
quietschte eine Schaukel.

Es war Friede, stiller, eintöniger, schläfriger Friede. Der Feldwebel
sagte sich nicht ohne Bitterkeit: er war ein Jahrzehnt zu spät auf die
Welt gekommen; die großen Befreiungskämpfe waren ohne ihn ausgefochten,
ihm war es wohl nur beschieden, in der Kaserne zu hocken und statt des
Pulverdampfes den Staub des Exerzierplatzes zu schlucken.

Heut waren alle Tische und Bänke vor dem bäuerlichen Wirtshaus besetzt,
selbst die im verstecktesten Eckchen; nur ein schöner Tisch, so recht
am besten Platz, war merkwürdigerweise noch frei.

Mit schwenkendem Rock und frohem Lachen stapelte Frau Trina darauf los,
die Ihren durch lauten Zuruf ermunternd, doch ja recht rasch Besitz
zu ergreifen. Die Kinder erkletterten denn auch schon die Bank, als
der Feldwebel in peinlicher Überraschung stutzte. Donnerwetter, da am
Nebentisch, ganz dicht, saß ja sein Hauptmann, der Herr von Clermont,
den erkannte er schon vom Rücken! Rinke hielt seine Frau zurück und
winkte den Kindern, aber Trina sagte ziemlich laut: »No, wat dann?!
Dadrum sollen wir uns nit dahin setzen?!« Sie ärgerte sich über die
Devotion ihres Mannes. »Wenn de zu vornehm is, da braucht de ja nit
derhinzujehn, wo die Bürjer jehn. Ich setz’ mich!«

In diesem Augenblick wendete sich der Hauptmann herum, und der
Feldwebel stand stramm. Herr von Clermont winkte ab und machte dann
seine Frau lächelnd auf die kleine Josefine aufmerksam, die auf den
Wink ihres Vaters von der Bank herabgeglitten war und nun, den Finger
an den Lippen, halb scheu, halb dreist den ihr bekannten Vorgesetzten
anstarrte.

Inzwischen hatte Frau Trina Platz genommen; nicht ohne Absicht sprach
sie recht hörbar und lachte ungeniert, keiner der Umsitzenden sollte
denken, daß sie sich wegen des Vorgesetzten ihres Mannes auch nur die
geringste Gêne anthat. Das Kindermädchen mußte ihr sogar den Kleinsten
reichen, und sie legte ihm eine frische Windel unter.

Rinke war wütend auf seine Frau; aber sie schien seine stumm-beredten
Blicke nicht zu bemerken, fröhlich nickte sie ein paar Bekannten zu:
»Tag zusammen!« und schöpfte mit Geklapper und Ausrufen des Entzückens
die dicke Milch aus der irdenen Schüssel.

»Schrei nich so!« flüsterte er. Sie hörte nicht, und deutlicher wagte
er nicht zu werden, am Nebentisch konnte man ja jedes Wort verstehen.
Er saß wie auf Nadeln.

Josefine starrte noch immer mit großen Augen, sie hielt ordentlich den
Atem an – da saß neben der Dame des Herrn Hauptmann ein Mädchen, das
war so klein wie sie, aber lange, dunkle, gedrehte Locken fielen auf
dessen Schultern, und neben dem Mädchen saß einer, ein – ja, nur ein
Junge war’s, aber er hatte schon Uniform an! Eine ganze, richtige,
wirkliche Uniform! Ihre Blicke waren gebannt.

Hauptmann von Clermont wurde aufmerksam: »He, du Kleine, was giebt’s
denn hier zu sehen?«

Sie wurde rot wie eine Rose; krampfhaft das Fingerchen streckend, ganz
aufgeregt, ganz glückselig bewundernd, stammelte sie: »Der – och, der
da – der kleine Soldat!«

Alles lachte. Herr von Clermont winkte sie zu sich heran; dreist kam
sie bis an sein Knie, aber ihre Augen verließen den Jungen nicht.

»Der kleine Soldat da,« sagte der Hauptmann amüsiert, »das ist ein
Kadett, verstehst du? Ein Kadett!«

Sie nickte stumm-strahlend.

Der Kadett war auch ganz rot geworden, die großen Blicke des kleinen
Mädchens genierten ihn sehr. Er drehte den Kopf weg.

»Feldwebel, hat Er schon gesehn? Mein Sohn!« Der Hauptmann wendete
sich zu Rinke. Dieser stand wie vorhin stramm, aber leutselig winkte
der Vorgesetzte wieder ab: »Bitte bequem.« Und fuhr dann fort: »Großer
Junge, was? Erst elf. Habe ihn schon drei Jahre im Korps in Bensberg,
ist in den Ferien hier. Kommt bald nach Potsdam. Ich denke, wird mal
einen ganz netten Leutnant Seiner Majestät abgeben; hoffe, wenn’s Glück
gut ist, bei Seiner Majestät Garde. Viktor, sitz gerade! Kopf hoch, daß
du wächst!«

Der Junge reckte sich. Auch Josefine reckte sich unwillkürlich. Die
Blicke beider Kinder begegneten sich. Der Kadett lächelte ein wenig
spöttisch, ein wenig von oben herab und zugleich doch geschmeichelt.

»Möchtest du vielleicht mit dem kleinen Mädchen spielen, Cäcilie?«
sagte jetzt die Frau Hauptmann zu ihrem Töchterchen, und das blasse,
vornehme Gesicht dem blonden Kind zuwendend, fragte sie gütig: »Wie
heißt du?«

»Zu Befehl: Josefine!«

Wieder lächelte der Hauptmann, der Kadett aber prustete laut heraus. Da
wurde Josefines freier Blick unsicher, es zuckte um ihren Mund; hastig
nach der Hand der kleinen Schwarzhaarigen, die sich ihr schüchtern
genähert hatte, greifend, riß sie die mit sich fort, weg von den
Tischen, hinein in die Wiese.

Die beiden Mädchen, sich an der Hand haltend, liefen rasch immer weiter
hinein in das hohe, blumige Gras.

Da stand der Kadett auf, drehte sich erst noch ein wenig in der Nähe
der Tische herum, pfiff, schleuderte ein Steinchen, schüttelte an
einem Baum, besah seine Stiefel und ging dann langsam, mit gemessenem
Schritt, den beiden Kindern nach in die Wiese. –

Von diesem Sonntag an war Josefine zur Gespielin des kleinen Fräulein
von Clermont erkoren; der Hauptmann hatte seinem Feldwebel allerhand
Freundliches über das frische, blonde Kind gesagt.

Rinke bemühte sich, seiner Frau nicht zu zeigen, wie stolz er auf die
Ehre war, die seiner Tochter widerfuhr; die Käthe hatte ja doch gar
kein richtiges Verständnis dafür. »Du lieber Jott, wat is dat dann?!«
sagte sie. Der Großvater brummte auch. »Wat soll dat Kind da? Mir
sin Düsseldorfer Börjer, mir scheren ons en Dreck om de ›Vons‹!« Die
Großmutter war ebenfalls wenig erbaut: die Clermonts waren evangelisch,
aus Thüringen sollten sie sein, daher, wo man den Luther auf der Burg
versteckt gehalten. Die alte Frau war sich über ihre Gefühle nicht
ganz klar, aber ihr bangte für ihr Finchen; allerlei Reden führte sie
vor dem Kind, die es nicht verstehen konnte, jedoch es fühlte heraus,
Großeltern und Mutter freuten sich nicht über die Einladung. Aber der
Vater!

Es war ein großer Moment für beide, als Josefine an des Feldwebels Hand
nach der Bilkerstraße hüpfte. Dort wohnten die Clermonts. Sie war in
ihrem besten Kleid, weiß hingen ihr die Höschen unter dem Röckchen vor
bis an die Knöchel. Ihr Herz klopfte vor Erwartung: hatte der kleine
Soldat nicht gesagt, er würde vielleicht auch einmal mit ihr spielen?
Exerzieren – ach ja, das wollten sie!

Ehe der Vater an der Klingel zog, ermahnte er noch: »Mach mir Ehre,
Josefine, und wenn dir auch was gegen den Strich geht, nich gemuckt,
hörste?«

»Aber – wenn se mich hauen?« fragte sie und warf trotzig den Kopf
zurück.

»Dann hauste nich wieder – untersteh dich!«

Das Kind machte große Augen – heute verstand es seinen Vater nicht.

       *       *       *       *       *

Die Clermonts waren nicht reich, der Hauptmann hatte nicht mehr als
seine Gage und jährlich ein paar hundert Thaler Zuschuß aus dem Erbe
seiner Frau. Sie mußten sich sehr einschränken, aber die Welt merkte
nichts davon. Die Frau Hauptmann trug, wenn sie ausging, ein seidenes
Kleid und Armbänder, aus den Haaren ihrer Eltern und Kinder geflochten,
mit goldenen Schlößchen daran; und die hübsche Cäcilie sah aus wie ein
englischer Kupfer, mit ihren langen, gedrehten Locken, in den zarten,
bandgegürteten Kleidchen.

Für Viktor hatte der Hauptmann eine Freistelle im Kadettenkorps, und
wenn der Leutnant in spe zweimal im Jahr von Bensberg nach Hause kam,
so saß er als blinder Passagier neben dem Kutscher des Stellwagens oder
wurde wohl auch noch innen zwischengeklemmt.

Viktor war sehr stolz auf sein ›von‹. Im Korps waren sie alle adelig,
sogar zwei Grafen waren da. »Ich bin zwar nur Freiherr,« sagte er zur
kleinen Josefine, »aber unsre Familie ist viel älter, wie denen ihre.
Papa hat mir erzählt, daß schon Clermonts in den Kreuzzügen mitgewesen
sind unter Gottfried von Bouillon. Meine Mama ist auch von ganz altem
Adel, ihre Familie hat in der Reformationszeit sich hervorgethan. Aber
das verstehst du ja nicht, dazu bist du noch zu dumm!«

Nein, sie verstand ihn auch nicht; sie fühlte nur eine ganz instinktive
Bewunderung für ihn, wenn er die Uniform trug. Sprang er dagegen im
Garten hinter dem Hause herum und trug dabei ein paar verschabte
Hosen, aus des Vaters abgelegten Beinkleidern geschneidert, und ein
verwaschenes Drillichjäckchen, dann fühlte sie sich mit ihm ganz auf
gleich und gleich. Er spielte noch sehr gern. Freilich, vom Exerzieren
wollte er nicht viel wissen, das mußten sie im Korps so viel, selbst in
den Freistunden, thun; er mochte lieber mit ihr über die Gartenmauer
klettern, hinunter zum Speeschen Graben, und da mit einem Stock
fischen und Frösche fangen und Regenwürmer suchen und Papierschiffchen
schwimmen lassen. Sie machten sich naß und schmutzig dabei und waren
sehr glücklich.

Sie rissen auch wohl aus nach dem Kacheloch, einem noch wüsten Plan am
Ausgang der Bilkerstraße, wo stark duftender Hollunder wuchs und im
Schutt Stechapfel und Nachtschatten, und wo das Bauen der ersten Häuser
der schönen Freiheit noch keinen Abbruch that.

Blau wölbte sich der Sommerhimmel, und die goldne Sonne strahlte. Große
Schmetterlinge gaukelten, blaue Brummen surrten, lärmend spielte eine
ganze Kinderschar. Ein frecher, dicker Bürgersjunge von der Hohestraße
war der Schinderhannes, Josefine die geraubte Prinzessin, Viktor der
Offizier des Königs, der ritterlich den Räuber verfolgte. Was noch
an übrigen Kindern da war, mußte die Meute sein. Da wurde gehetzt
und gekläfft und geschrieen bis hin in die wogenden Kornfelder der
Bilkerallee; da wurde geknufft und geprügelt, in zitternder Angst sich
verkrochen und mit lautem Hallo losgestürmt. Viktor war tapfer, aber
der Schinderhannes auch nicht feige, sie schlugen sich manche Beule.

Die Großeltern klagten, sahen sie doch so gut wie gar nichts von der
Enkelin mehr; auch zu Hause war Josefine nicht viel. »Mutter, is et nu
Zeit? Laß mich doch als jehen! Och, laß mich doch!«

Frau Trina schalt: sonst hatte ihr die Fina schon oft die kleineren
Geschwister ›verwahrt‹. Aber der Feldwebel leistete seiner Tochter
Vorschub: »Na, lauf man!«

Und sie lief davon, so rasch sie konnte, immer nach der Bilkerstraße,
und blieb vom Morgen früh bis zum Mittag, und vom Nachmittag früh
bis zum Abend. Sie teilte die mager gestrichenen Brote von Clermonts
Kindern; kein fettes Schmierchen, kein Stück Blatz mit Korinthen bei
der Großmutter hatte ihr je so gut geschmeckt.

Viktor verschmähte es durchaus nicht, kleine Streifzüge über die
Gartenmauern anzutreten und des Nachbars Speckbirnenspalier einer
eingreifenden Besichtigung zu unterziehen. Wehe, wenn der Vater
ihn betroffen hätte! Mit wildklopfendem Herzen stand Josefine auf
Vorposten; selbst Cäcilie wurde es vergönnt, aufzupassen.

O, diese noch harten, grünen Birnen! In der versteckten Laube wurden
sie verteilt, am Steintisch mürbe geklopft und mit Entzücken verspeist.
Durch das dichte Pfeifenkraut drang kaum die neugierige Sonne. Dämmerig
war’s in der versteckten, engen Laube, unendlich die heimliche
Seligkeit.

Doch es kam ein Morgen, an dem Josefine, viel früher als sonst, weinend
wieder zu Hause erschien. Sie wollte nicht essen und nicht spielen,
trübselig kauerte sie in einem Winkel und schüttelte auf alles Befragen
der Mutter nur stumm den Kopf. Sie mußte etwas angestellt haben! Der
Feldwebel, der zu Mittag heraufkam, war ganz besorgt: »Nanu, Josefine,
was ’s denn los?«

Da warf sie sich laut schluchzend an des Vaters Hals – der kleine
Soldat war abgereist.




IV


Zum fünften und sechsten Mal war der Storch über den Exerzierplatz
geflogen und hatte vor des Feldwebels Fenstern geklappert.

Nun ließen fünf lebendige Kinder ihre Stimmen in der engen
Feldwebelwohnung erschallen; diese war zwar um eine Kammer vergrößert,
aber immerhin noch bedrängt genug. Die Großeltern Zillges hatten
deshalb der Tochter den Vorschlag gemacht, ihnen ein Kind zu
überlassen, es ihnen ›zum verwahren‹ zu übergeben. Die Wahl war
auf Wilhelm gefallen. Die Kleinsten konnten die Mutter noch nicht
entbehren. Josefine war schon als Hilfe zu gebrauchen, auch hätte der
Vater die nicht hergegeben; bei Wilhelm hatte er weniger dawider, dem
würden die guten Brühen der Großmutter zu statten kommen.

So hatten die alten Zillges auf einmal wieder ein Kind. Sein Bettchen
stand neben dem Ehebett mit dem Kattunhimmel, und oft in der Nacht,
wenn Frau Josefine Cordula den ruhigen Kinderatem hörte, glaubte sie,
wieder ein junges Weib zu sein. All die Zärtlichkeit, die in dem alten
Herzen nie erstorben war, die sich nur, fast verschämt, versteckt
gehalten, brach wieder vor und strömte wie eine quellende Flut über das
Haupt dieses Kindes. –

Nun ging der Bube schon in’s achte Jahr, aber er besuchte noch immer
keine öffentliche Schule. Für die Freischule war er doch wahrhaftig
zu schade, die rohen Jungen wurden ihn verprügeln; so ließ ihn der
Großvater privatim unterrichten, wie er selbst auch in seiner Jugend
privatim, beim Schreibmeister Müller in der ›Luft‹, gelernt hatte:
lesen, schreiben und rechnen für fünfzehn Stüber monatlich. Der Lehrer,
der nicht gern die gute Bürgerkundschaft verlieren wollte, lobte den
Wilhelm, wenn der auch nicht immer zu loben war.

Sonst hatte sich der Wilhelm gut herausgemacht; freilich, zart war
er geblieben, aber er sah nicht kränklich aus. Der Maler Deger, ein
ganz berühmter, malte ihn als kleinen St. Johannes mit Kreuzchen und
Lämmchen auf ein Altarbild, und auch andre Maler sprachen im ›Bunten
Vogel‹ vor und baten um das hübsche Modell. Großmutter Zillges weinte
verstohlene Thränen gerührter Freude. Sie hätte nicht mehr das Herz
gehabt, ihrem kleinen St. Johannes etwas zu versagen; von nun an ließ
sie ihm auch das schöne Haar lang wachsen und wickelte ihm abends die
Locken ein.

Josefine war schon das vierte Jahr bei den Ursulinerinnen; die
Großmutter hatte es durchgesetzt, daß sie dahin in die Schule gekommen.
Das Geld war knapp im Feldwebelhaushalt, denn Rinke machte sich
keinerlei Nebenverdienst von den Herren Freiwilligen oder bei der
Kammer und der Menage, und so kam es, daß er in einer bedrängten
Stunde seiner Frau, vielmehr deren Eltern, die Sorge für Josefines
Schulgeld, zugleich hiermit aber auch die Wahl der Schule überlassen
hatte. Und die Wahl war nicht groß für Mutter Zillges und Frau Trina,
hatten sie beide doch auch bei den Ursulinerinnen die ersten schönen
Gebetchen gelernt. Solange sie denken konnten, wurden da die Töchter
guter Bürgersleute erzogen. Der fromme Gesang der Kinder schallte
weit über die Ritterstraße und erbaute das Ohr der Anwohnenden. Auch
stricken und nähen wurde dort gelehrt und französisch parlieren und
späterhin feine Paramentenstickerei.

Rinke war sich über ›Schule‹ nicht ganz klar; in nebelhaften Umrissen
erhob sich ihm ein Bild von stillesitzen, von pünktlichem Gehorsam
und besonderer Reinlichkeit. So war’s wenigstens im Militärwaisenhaus
gewesen: kam einer da nicht blitzblank zum Unterricht, gleich hieß es:
Hemd ’runter! Unter der Pumpe wurden ihm die Ohren mit einem Strohwisch
gescheuert, und wären’s zwanzig Grad Kälte gewesen. Er machte ein
erfreutes Gesicht, als ihm Josefine den ersten Zeugniszettel nach Hause
brachte:

Fleiß und Aufmerksamkeit: sehr lobenswert.

Betragen: sehr gut.

Flüchtig klopfte er seinem Kind die Backe: »Hm, gut abgeschnitten, mach
mir weiter Ehre!«

Josefine ging gern zu den Ursulinerinnen; still saß sie da, ihre
munteren, großen Augen hingen andächtig an den sanften Nonnenlippen.
Das war etwas andres als die rauhen Töne, die über den Kasernenhof
schallten! Auch geprügelt wurde hier nicht; die größte Strafe war,
wenn eins der Kinder nicht mit in der langen Reihe der Schülerinnen zur
Kapelle ziehen durfte, das Kindchen Jesu auf dem Schoß seiner Mutter zu
schauen.

Sie hörte die Legenden der lieben Heiligen, die waren schöner als alle
Märchen; sie lernte die Lieder zum Preis der holdseligen Jungfrau
Maria. Die Augen strahlend erhoben, die Hände fromm gefaltet, sang sie
mit heller Stimme die Hymnen; ihre Seele war ganz dabei.

Freilich, war die Schule aus, und kam sie von den Nönnchen heim in
die Kaserne, atmete den eigentümlichen Schimmel- und Knasterduft,
der diesen Wänden untilgbar anhaftete, sah die Bajonette auf dem
Exerzierplatz blitzen und hörte den Gesang der Mannschaft beim
Stiefelwichsen und Knöpfeputzen, dann brach etwas in ihr los, was bei
den Ursulinerinnen geschlafen.

Frau Trina schalt viel über Finas tolle Ausgelassenheit; in ihrer
hartumdrängten Mutterschaft vergaß sie jetzt manchmal, daß auch sie
einst vor lauter Lust am Leben gar nicht gewußt wohin. Hier eine
kleine Hand, dort eine kleine Hand! Hier ein jämmerliches Klagen,
dort ein begehrliches Kreischen! Da konnte einem wahrhaftig mal die
›pläsierliche‹ Laune abhanden kommen.

»Nich tot zu kriegen,« sagte der Vater, wenn er seine Josefine ansah,
und ein Freudenschein flog über sein hartes Gesicht.

Rinke hatte gealtert; trotz seiner Vierzig mischten sich ihm schon
graue Fäden in’s dunkle Kopfhaar und den rötlichen Schnauzbart. Von den
Augenwinkeln nach den Schläfen zogen sich viele feine Fältchen, und
um die Mundecken hatte sich ein verbissener Zug festgesetzt. Jahraus
jahrein Kommiß macht müde; und das Sitzen im Bureau vor’m Nationale und
dem Löhnungsbuch, auch; die Parole den Herren Offizieren zustellen,
den Kompagnierapport anfertigen, genau Erkrankungen und Beurlaubungen
berichten, das Strafverzeichnis, das Schießbuch, die Rangierrolle, die
Abrechnungen führen und Gott weiß was sonst noch, auch; und täglich
drei Stunden neben dem Herrn Hauptmann über den Kasernenhof pendeln,
immer hin-her, her-hin, mit geschlossenen Augen wissen, wo der rechtsum
wendet, wo linksum, auch.

Heraus aus dem einförmigen Trott!

Ach, in den Zeitungen stand wohl zu lesen: Der gallische Hahn krähe
wieder frech, anno dreizehn sei ihm nicht genug geschehen, es sei an
der Zeit, ihm vollends den Garaus zu machen – zu den Waffen!

Krieg, Krieg, wann kam der?!

Der Feldwebel wartete schon lange.

Heute hatte ihm seine Josefine ein Gedicht vorgelesen, auf einem
Zeitungsausschnitt stand es, der schon die Runde durch viele Hände
gemacht:

    ›Sie sollen ihn nicht haben,
    Den freien deutschen Rhein,
    Ob sie wie gier’ge Raben
    Sich heiser danach schrein.‹

Das Kind las laut und langsam, jede Silbe deutlich artikulierend;
erwartungsvoll sah es beim Schluß zum Vater hin. Der saß am Fenster,
den Kopf in die Hand gestützt und schaute unter zusammengezogenen
Brauen in das Abendrot, das über’m Exerzierplatz verglomm.

»Nochmal, Josefine, lies noch mal,« sagte er jetzt seltsam gepreßt.

Und sie las noch einmal:

    »Sie sol-len ihn nicht ha-ben
    Den frei-en deut-schen Rhein.«

Auch Frau Trina war näher gekommen und spitzte die Ohren: was lasen sie
da vom Rhein?

    »Bis sei-ne Flut begra-ben,
    Des letz-ten Manns Ge-bein!«

»Nein, das sollen sie auch nicht!« So heftig stieß der Feldwebel
seine Pfeife auf’s Fenster, daß sie zerbrach. »Heiliges Kanonenrohr!
Haben sie am Ende doch recht, die da sagen: man rüstet in Preußen?!
I, das wäre! Na, gebt den Rothosen man eins drauf, daß sie alle
werden für jetzt und ewige Zeiten! Haha« – er lachte vor innerem
Entzücken – »Preußen immer vorneweg! Nu geht’s los!« Aber gleich
darauf verfinsterte sich sein Gesicht wieder. »Ich glaub’s nich, wir
haben noch keine Ordre. Zeit wär’s, Kerle werden täglich fauler. ’ne
Affenschande, muß ich hier sitzen auf dem verlorenen Posten, statt da
mittenmank!« Unwirsch fuhr er sich durch die kurzgeschnittenen Haare.
»Verfluchtes Lausenest!«

»Düsseldorf is en prachtvoll schöne Stadt,« sagte Frau Trina beleidigt.

Er hörte sie gar nicht. Den Blick starr auf den öden Exerzierplatz
gerichtet, murmelte er: »Wenn’s man losginge, wenn’s man losginge!«
Eine starke Röte war ihm in’s Gesicht gestiegen; er schüttelte sich wie
in einem Schauer und preßte die Zähne aufeinander: »Wenn’s man!«

»Jehste jetzt im Krieg, Vater?« fragte das Kind.

Er kaute am Schnauzbart. »Vielleicht,« sagte er, sich beherrschend;
aber man hörte doch die Freude heraus.

Josefine rief denn auch sofort: »Da haste aber en Freud’, jelt, Vater?«

»Ja,« sprach er, alles vergessend. Und in einer tiefinneren Erregung
sich aufrichtend, reckte er sich zu seiner ganzen Länge; die Arme
streckte er über den Kopf, daß sie gegen die niedere Decke stießen.
»Man ist ganz steif geworden – hah!« Wie ein Erlösungsseufzer klang
sein tiefes Atemholen.

Frau Trina hatte die Augen weit aufgerissen, nun fing sie plötzlich
an, bitterlich zu weinen. »Och, nu – nu jeht er wahrhaftig im Krieg!
Och, Jesusmarijosef, ne, hätt’ ich dat jewußt!« Sie sah sich suchend
nach ihren drei Jüngsten um, die beim Weinen der Mutter erschrocken zu
brüllen anfingen. »Kinder, der Vater, er jeht im Krieg! Och, hätt’ ich
dat jewußt!« Fassungslos sank sie auf den nächsten Schemel, das Gesicht
mit der Schürze bedeckend.

Fassungslos sah auch der Feldwebel drein – hätt’ ich das gewußt! Ja,
dann hätte sie ihn wohl nicht geheiratet. Und er?! – Es zuckte für
einen Augenblick um seinen Mund – nun, und er vielleicht auch nicht.

Finster, die Stirn zusammengezogen, betrachtete er die Weinende. Da saß
sie nun und heulte, daß ihr ganzer übervoller Busen schütterte. War das
noch dieselbe, die ihm einst im ›Bunten Vogel‹ entgegengeschwänzelt
war, so frisch und frank und frei, die Augen blank, der Mund lachend,
so ein echtes, rheinisches Mädel? Ein rasches Wohlgefallen hatte ihn
damals erfaßt, wie lauter Lust hatte es ihn angeblasen – hei, die würde
immer fröhlich sein, würde eine kernige Mutter werden für stramme
Soldatenkinder! Ihr Geld hatte ihn nicht gereizt, was sollte er damit?
Aber es lohnte sich wohl, um sie einen Strauß auszufechten mit den
protzigen Alten. Die Hindernisse reizten erst recht. Zur Attacke!
Vorwärts, marsch, im Sturmschritt! Diese rheinischen Dickköpfe sollten
doch sehen, mit dem Verachten des Preußen war’s Essig, der war ihnen
noch lange über, der wurde doch ihr Schwiegersohn – nun gerade! Und ’s
Mädel war verliebt bis über die Ohren, zeigte es ihm in jedem Blick –
also warum denn nicht?! Wenn einer nicht Vater, nicht Mutter mehr hat,
nichts Zärtliches auf der Welt, da thut eine weiche Patsche ganz gut,
die streichelt. Also: Los auf die Festung, sie ergiebt sich! –

Und jetzt?!

Schwer ruhte des Feldwebels Blick auf seiner Frau. Er seufzte. Arme
Käthe, die hatte sich auch betrogen! Der Soldat muß allein sein, oder
er muß ein Weib haben, das da spricht: Mit Gott für König und Vaterland!

»Josefine!« Unwillkürlich suchte sein Blick die Tochter. Sie sah ihn
aufmerksam an. »Josefine, was thut der Soldat, wenn sein König ruft?«

»Jehorcht.«

»Ja, du kennst den Rummel,« sagte er weich.

Frau Trina war mit den heulenden Kleinen nach der Küche gegangen, die
Abendsuppe zu bereiten; Vater und Tochter saßen in der Stube allein.
Josefine hockte auf einem Fußschemel und stemmte beide nackte Ellbogen
auf des Vaters Kniee. Das schöne Abendrot über’m Exerzierplatz warf
einen warmen Schimmer auf die Geranienstöcke im Fenster und von da
einen noch durchglühteren auf das blonde Haar des Kindes.

Der Feldwebel hatte sich auf der Brust, da wo sonst immer das lederne
Dienstbuch mit den Notizen zu stecken pflegte, die Knöpfe aufgerissen;
der Rock war ihm auf einmal so eng. Krieg, Krieg!!

Er rieb sich die Hände; ein Frohlocken war in seinem Ton:

»Nanu, die Franzosen wollen wieder krächzen?! Ich sage dir, das läßt
sich unser neuer Herr und König nicht gefallen. Der hat was los. Sagt’
er nicht letzthin zu Berlin: ›Gott erhalte unser preußisches Vaterland,
sich selbst, Deutschland und der Welt zur Ehre!‹ Unser Preußen – ihm
zur Ehre, ja! Dresche müssen kriegen, die ihm zuwider sind – alle
Hallunken! Aber warte man, warte!«

In freudiger Aufwallung legte er seine Hand auf Josefines Kopf: »Du
sollst mal sehen, du wirst’s erleben, wie ich’s erlebt habe, anno 13.
Da war ich nur wenige Jahre älter wie du jetzt. Da liefen sie alle
hin unter die Fahnen; die Männer wurden wieder zu Jünglingen und die
Jünglinge zu Männern. Und die Weiber haben ihren Männern nicht das
Herz schwer gemacht« – unwillkürlich suchte sein Blick die Thür, hinter
der Frau Trina verschwunden war – »und die Bräute haben sich ihren
Liebsten nicht an den Rockzipfel gehängt. Ich weiß es noch wie heute,
als Vater ausrückte. Wir standen vor der Thür, Mutter und ich, er saß
schon auf dem Gaule.

»›Adjö, Karline, auf’s Wiedersehen,‹ sagte er. Sie sagte nur: ›Mit
Gott.‹ Und dann gaben sie sich die Hände. Keine Thräne hat Mutter
geweint. Aber ihm kullerten ein paar dicke Tropfen über die Backen; ’s
war ihm wohl bange um sie, sie war verdammt schmächtig.

»Als ich bei meinem Alten die Thränen sah, fing ich an loszuheulen,
aber es war mehr darum, daß ich noch ein Knirps war, daß ich noch nicht
mitkonnte in den großen Krieg. Vater bückte sich vom Gaul, lupfte
mich ein wenig hoch und gab mir ’nen freundschaftlichen Klaps auf den
Hintern: ›Hier wird nich geflennt! Sei Muttern ’ne Stütze – mach mir
Ehre!‹

»Da verbiß ich mir das Heulen, und als der Gaul davongaloppierte,
galoppierte ich hintennach bis auf den Marktplatz, wo sie sich
sammelten, und schrie, bis mir der Atem ausging: ›Hurra, hurra, hurra!‹
Und das schrei’ ich noch heut!«

Der Feldwebel war aufgesprungen und breitete die Arme weit: »Hurra,
hurra, hurra!«

Josefine hatte ihm ohne Laut zugehört, die Augen fest auf ihn
gerichtet; jetzt umklammerte sie seinen Arm: »Vater, weiter, erzähl’
weiter!« Und als er nicht gleich fortfuhr, stampfte sie ungeduldig mit
dem Fuß: »Weiter, erzähl’ doch!«

»Ja, das ist was für dich,« schmunzelte er, »das glaub’ ich! – Und die
Frauenzimmer brachten ihre goldenen Nadeln und Kämme und Ohrgehänge,
was sie an Goldkram hatten, und das wurde eingeschmolzen und gab Geld
für’s Vaterland. Sie trugen nun anstatt ihres Schmucks eiserne Anhänger
und waren stolz drauf. Da waren Weiber, die gaben ihre Eheringe her,
und welche, die gar nichts hatten, ließen ihr schönes Haar abschneiden
und verkaufen das, und –«

»Ich will auch mein Haar abschneiden lassen!« Josefine schrie plötzlich
auf und faßte mit beiden Händen nach ihrem kurzen Schopf. Eine heiße
Röte lag auf ihrem Gesicht, ihr Atem ging rasch, die Kinderbrust flog
unter dem Schürzchen. »Schneid’ mir mein Haar ab, lieber Vater – da
haste’t – schneid’ et doch ab!«

Er lachte. »Das ist ja viel zu kurz. Na, na, laß man,« und er strich
ihr liebkosend über die blonde Mähne.

Da ließ sie die Arme herunterhängen und den Kopf auch und kauerte sich
ganz auf ihrem Schemel zusammen. Unter Schluchzen stieß sie heraus:
»Ich will aber – wat soll ich dann jeben? Ich – ich hab’ ja nix – jar
nix!«

»Warte man,« tröstete der Feldwebel und legte ihr seine Hand auf die
heiße Stirn. Aber er lachte nicht mehr, seine Stimme klang ernst:
»Warte man, Josefine, warte, deine Zeit, die kommt auch noch!« –

Das verklärende Abendrot über’m Exerzierplatz war erloschen,
plötzlich aller Glanz hin. Ein nüchterner, bleichherbstlicher
Nachthimmel spannte seinen Bogen, und ein Windstoß fegte abständige
Kastanienblätter der Königsallee wirbelnd in den Kanal. Matte Sterne
zogen auf und standen, ohne zu leuchten, über der Kaserne.




V


Der alte Peter Zillges konnte sich nicht in die jetzige Welt finden.

»Et es nu als bald Zeit for mich, Mutter,« sagte er zu seiner Frau.
»Wat haben se dann aus Düsseldorf jemacht?! Dat es doch uns jut alt
Düsseldorf nit meh! Dat se aus ’m Kapellchen unnen in der Straß’ en
Tabaksmajazin jemacht han un nachher ene Peerdsstall, dat es schon
schreckelich, aber dat mer nu for de neue Promenad’ langs der Kanal
›Königsallee‹ sage soll, nach dem neuen König, dem Friedrich Wilhelm
dem Vierten, dat will mich nu janz un jar nit im Kopp. Wat jeht
uns de Mann an?! De es in Berlin, mir sin hie am Rhein. Ich sag’
›Kastanienallee‹. – Un dann de neumodsche Eisebahn! Die es dem Deiwel
sein Kutsch’. Kann mer nit laufen bis im Jesteins? We dat nit meh kann,
de soll zu Huus bleiwen. Wat soll dat noch all werden? Bis Elberfeld
fahren jetzt als de Leut’!«

Bürger Zillges war grämlich geworden. Ein paarmal schon hatte er sich
in den neuangelegten Straßen verlaufen, und auch der Hofgarten, in
dem er so gern spazierte mit seinem kaffeebraunen Leibrock angethan
und den Kniehosen, mit der gefälteten Hemdenkrause und dem mehrfach
verschlungenen Tuch unter den Vatermördern, war ihm verleidet. Hatten
doch freche Kinder, die seiner Tracht nicht mehr gewohnt, hinter ihm
drein gespottet und seinen Hut, den hohen mit der breiten Krempe, durch
den Wurf mit einem Erdkloß beschmutzt.

Die Wirtschaft ging auch längst nicht mehr so flott. Das junge Volk
suchte andre Lokale auf von modischerem Geschmack, in denen die
Fensterscheiben höher, die Wände tapeziert und die Stubendecken nicht
durch Balken verunziert waren. Einsamer wurde es im ›Bunten Vogel‹,
ganz einsam.

Nur die Enkelkinder brachten Leben; Frau Josefine Cordula dankte
allabendlich ihrem Schutzpatron dafür. Da standen sie jeden Sonntag, in
aller Frühe schon, in der Wirtsstube aufgepflanzt in stattlicher Reihe
und streckten die Hände verlangend aus nach dem Korinthenblatz, den die
Großmutter verteilte.

Obenan die Josefine, hochgeschossen für ihre elf Jahre und doch breit
in den Schultern und gewölbt in der Brust. Viel schmächtiger nahm
sich der Wilhelm aus, aber wie hübsch! Backen wie Milch und Blut,
von schönen Locken umringelt, und Augen so blau, daß die Großmutter,
schaute sie hinein, wähnte, in den Himmel zu blicken.

Der Friedrich und der Ferdinand und der jüngste, das Karlchen, hatten
nichts Besondres an sich, die waren Jungen, wie andre auch: dick,
laut und gefräßig. Den ganzen Tag trieben sie sich auf der Straße
herum, machten ›Schellemännkes‹ an allen Thüren, uzten die beiden
Stadtoriginale, den scheelen Ludwig und das Rosinchen, und patschten
durch jede Pfütze. Die Mutter verwies ihnen nichts, war doch der Vater
streng genug.

Der Feldwebel wurde immer strenger. War er zu Haus, wagten die Knaben
keinen Muck. Das Mittagessen verlief stets wenig erfreulich. Die Mutter
schöpfte den Jungen auf, so viel sie wollten: »Laß die Kinder doch satt
kriejen.« Aber der Feldwebel schrie: »Satt, ja, aber nicht den Wanst
vollstopfen zum platzen! Das giebt faules Fleisch. Ruhe – giebt nichts
mehr!«

Die drei Jüngsten scheuten den Vater; aber Wilhelm fürchtete ihn.

Wilhelm war ganz seiner Großeltern Kind, kam kaum noch in die Kaserne,
und auch dann nur, wenn der Vater nicht zu Hause war; lieber lauerte
er stundenlang in einem Versteck, bis er den fortgehen sah. Der hatte
so eine Art, ihn durchbohrend anzustarren, daß er den Blick nicht
aushalten konnte und verwirrt die Augen niederschlagen mußte.

Rinke machte sich Gedanken über den Jungen – warum sah ihm der nicht
gerade in’s Gesicht? Hatte er was auf dem Gewissen? Es war Zeit, daß er
unter strenge Zucht kam: ordentlich hoch nehmen, stramm ’ran!

Der Feldwebel machte sich eines Tages auf nach dem ›Bunten Vogel‹.
Wilhelm, der vor der Thür spielte, sah den Vater kommen, lief, nichts
Gutes erwartend, rasch in’s Haus, die Treppe hinauf, bis auf den Söller
und versteckte sich im Taubenschlag.

Die Großeltern Zillges waren durch den seltenen Besuch des
Schwiegersohns nicht angenehm überrascht.

»Wat – de Willem wollen Se uns wegholen?« grämelte der Alte, »so mir
nix, dir nix? Den kriejen Se nit!« Und dabei schlug er, heftig werdend,
auf den Tisch. »Oho, de Peter Zillges läßt sich so ’schwind nit auf
Seit däuen.[4] Sie sind wohl auch neumodsch? Wenn et heißt, einen
aus’m Dreck trecken,[5] dann es mer jut – wat war de Jung’ for ene
erbärmliche Krott! – äwer dann hat mer nix meh bei zu duhn, dann heißt
et: mach dich ab! Eja, de Neumodschen, dat sin de Richtigen, die haben
kein Tippelchen Pietät!«

[4] däuen: schieben.

[5] trecken: ziehen.

Rinke wollte aufbrausen, aber dann besann er sich – hatte der Alte
nicht recht? Die Großeltern hatten das Kind, das immer gekränkelt, zu
einem gesunden Jungen herausgepflegt, und nun, da sie Freude an ihm
hatten, wollte er ihn ihnen wegnehmen?! Unschlüssig drehte er an seinem
Schnauzbart.

Frau Josefine Cordula ersah ihren Vorteil; sie legte sich auf’s Bitten.
»Ne, dat werden Se uns doch nit anduhn, Rinke, dat Se uns jetzt de
Jung’ wegnehmen? Wir sind alt un einsam, de Willem es unser Freud’
– ne, wenn ich denk’, de Willem sollt’ nit meh bei uns sein –!« Die
Tropfen fingen an, ihr aus den Augen zu rinnen, und auch Zillges
schneuzte sich heftig.

Es ging dem Feldwebel gegen den Strich, jetzt auf sein Vaterrecht zu
pochen – was hatten die alten Leute doch alles an dem Jungen gethan!
Es wollte freilich in seinem Herzen kein rechter Dank aufkommen, doch
überwand er sich und reichte seiner Schwiegermutter die Hand.

»Na, dann behalten Sie ihn, bis« – sein Gesicht verfinsterte sich
wieder, mit dem Soldatwerden war’s doch bei dem Jungen Essig – »bis er
in die Lehre kommt. Aber ich bitt mir’s aus: seien Sie strenger, viel
strenger; der Bengel pexiert was, nich gerade ansehen kann er einen ja.«

»Pexieren – dat Jüngesken?! Och du lieber Jott! Angst hat de,« platzte
die Großmutter heraus, »Angst vor Ihnen!«

»Angst – vor mir?!«

Der Feldwebel war betroffen. Angst sollte sein Sohn vor ihm haben?
Angst – warum denn? Seine Kinder hatten Angst vor =ihm=? Angst vor
ihrem Vater?! Das wollte ihm nicht aus dem Sinn. In brütenden Gedanken
ging er heimwärts.

Auf dem Kasernenhof begegnete ihm Josefine, Karlchen an der Hand. Er
hielt sie an. »Josefine,« sagte er und sah ihr forschend in das offene
Gesicht, »sag mal, hm« – die Worte wollten nicht leicht heraus, es
würgte ihn etwas in der Kehle – »hm, sag ehrlich, hast du – hm – hast
du Angst vor mir?«

»Wat jefällig?« Sie verstand ihn gar nicht.

»Ob du – Angst vor mir hast?«

Nun lachte sie hell auf: »Ne!«

»Na, siehste!« Sein Gesicht erheiterte sich; aber nicht für lange.
Es trug wieder den finsteren Ausdruck, als er allein auf seinem
Lieblingsplatz am Fenster saß. Niemand war oben, alle fort, auch Frau
Trina; der offengebliebene Kleiderschrank zeigte da, wo sonst ihre
Mantille und ihr Hut hingen, eine leere Stelle.

Über den Exerzierplatz kam Glockenschall, von all den vielen Kirchen
der Stadt läutete es; das war ein mächtiges Hallen und Widerhallen,
stärker denn sonst, ein Dröhnen und festliches Rufen. Aha, morgen war
wohl katholischer Feiertag?

Durch das halb geöffnete Fenster stahlen sich linde Frühsommerlüftchen
und strichen dem Feldwebel mit schmeichelnden Händen das heiße Gesicht.
Er schloß die Augen. Wie im Traum hörte er wohlbekanntes Klappen sich
in den Glockenchor mischen, die Kerle klopften ihre Montur aus. Und nun
sang einer, ein hoher Tenor:

    »Köln am Rhein, du schönes Städtchen,
    Köln am Rhein, du schöne Stadt,
    Und darinnen muß ich verlassen,
    Mein’ herzallerliebsten Schatz!«

Ein zweiter pfiff eine andre Melodie; Rinke kannte sie wohl: das war
das alte Lied von der Katzbach! Unwillkürlich spitzte er die Lippen und
pfiff mit:

    »Hei, das war eine Lust, hei, das war eine Hatz,
    Wie wir packten die französische Katz’
    An der Katz, an der Katz, an der Katzbach.«

Und ein dritter hub dröhnend an, mit kräftigem Baß:

    »Patriot, schlag ihn tot,
    Bonapart’, den Erzkujon« –

Zwei, drei Stimmen fielen lustig mit ein:

    »Mit der Picke, in’s Genicke,
    Daß er kriegt die Schwerenot!«

Hastig schlug der Feldwebel das Fenster zu, er mochte nichts mehr
hören. Ihm war schwer zu Mut. Also, der Wilhelm sollte ihn fürchten
– sein Kind sich vor ihm fürchten?! Und Krieg gab’s auch nicht! Nun
schrieb man das Jahr 41, und fast ein Jahr war’s her, daß er mit der
Josefine hier gesessen und sie ihm das Rheinlied vorgelesen. ›Sie
sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein‹ – da hatte er
gemeint, nun ginge es gleich los.

Was hatten die Leute doch alles gefaselt von der ›Erhebung des
Vaterlands‹?! Keine Waffe hatte im Ernst geklirrt: man exerzierte und
manövrierte nur zum Spiel. Und von der ›Erhebung‹ hörte man kein Wort
mehr. Alles still, alles ruhig, wie versunken in bleiernen Schlaf.

Der alte Soldat lächelte bitter – und er hatte gehofft! Warum nur? Wenn
sie ihn nun totgeschossen hätten?! Dank für die Ehre! Tapfer gekämpft
und tapfer gestorben für König und Vaterland – giebt’s einen besseren
Schluß?!

Er räusperte sich und fuhr sich durch die Haare – viel graue Fäden
drin! Ja, wenn die Vierzig erst überschritten sind, geht’s schnell
abwärts. Was hatte der Garnisonprediger am Sonntag gesagt?

›Des Menschen Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es köstlich
gewesen ist‹ – – –

Würde sein Leben auch einstmals köstlich gewesen sein?! Mit einem
unruhigen Blick sah er umher. Der lange Tag hatte sich noch nicht
geneigt, goldne Sonne beschien die Wände – noch war es Zeit, noch
konnte das Köstliche kommen! Aber hoffentlich bald, bald!

Da ging die Thür. Frau Trina kam zurück mit Gesangbuch und Rosenkranz.
Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.

Ihr bekümmertes Gesicht fiel ihm auf. »Käthe,« rief er.

»Wat dann? Willste jett?« Mit einem unsicheren Blick sah sie an ihm
vorbei.

»Komm mal her!«

»Ich hab’ jetzt kein Zeit!« Sie stülpte den Hut ab und wischte sich
verstohlen über die Augen.

Argwöhnisch betrachtete er sie: kam wohl wieder aus der Beichte? »Was
’s denn los? Hast ja geflennt?«

»Ich –? Och ene!« Sie lachte gezwungen und wollte in die Schlafkammer.

Aber schon war er bei ihr und faßte ihr Handgelenk.

Glühend rot werdend, schüttelte sie ihre Hand. »Laß mich doch! Autsch!«

Hatte er sie denn so fest gedrückt? Unwirsch ließ er sie los.

Gebetbuch und Rosenkranz rasch auf den Tisch legend, schlug sie beide
Hände vor’s Gesicht. »Wat hab’ ich en Leid, wat hab’ ich en Leid!«
schluchzte sie.

»Na, na – Käthe!« Er war wirklich erschrocken und bemühte sich, ihr die
Hände vom Gesicht zu ziehen. »Na, was ’s denn los? Nu red’ schon ’nen
Ton!«

»Och – och,« wimmerte sie und weinte immer heftiger, »och Jesus! Dat
Leid! Wat hab’ ich dann auf dieser Welt? Jar nix, ich muß mich plagen
alle Tag. Un wenn mer denkt, dat mer nachher nit emal in de ewige
Seligkeit kömmt! Un uns’ arm’ Kinder, wat können die dafor?! Och, och,
die müssen auch brennen im Fegfeuer!« Jammernd rang sie die Hände.
»Jesus Maria, un ich bin schuld dran!«

Fast war’s ihm lächerlich, ihr Gebaren war so komisch, aber er brachte
doch kein Lachen heraus. Er ärgerte sich: kam sie ihm schon wieder
mit ihren überspannten Mucken?! Sich bezwingend, versuchte er, sie
zu beruhigen: »Na, na, Käthe, wird so schlimm nich sein, gieb dich
zufrieden!« Er wollte seinen Arm um ihre Schultern legen, sie riß sich
los.

»Bleib mer vom Leib! Du bis an allem Verdruß schuld!« Ihre
thränenüberströmten Wangen glühten, in ihren sonst so gutmütigen Augen
flammte ein Strahl auf, der fast dem Haß glich. »Hab’ ich dich nit
e so vielmals jebeten, du sollst de Kinder wenigstens richtig taufe
lassen, so wie et sich jehört?! Ne, kein’ Ohren haste jehabt, du bis en
Preuß’, du has kein’ Jlauben, kein’ Relijon – nu hammer et Unjlück!«
Mit erneuter Stärke erhob sich ihr Gejammer: »Un ich bin schuld, un ich
bin schuld dran!«

Das Blut war ihm zu Kopf gestiegen, unwillkürlich zuckte seine Hand –
verrücktes Weibsbild! Da fiel sein rollender Blick auf den Rosenkranz,
auf das Buch. Wie Weihrauchduft stieg’s auf aus dessen Blättern. »Wo
kommste her?« fragte er rauh.

»Aus der – der Kirch’ – aus der Beicht!«

»Aha! Daher bläst der Wind? Haben sie dir wieder ’nen Floh in’s Ohr
gesetzt – na, natürlich! Und ich sage dir, die Kinder werden schon in
die Seligkeit kommen, wenn’s unser Herrgott für sie an der Zeit hält.
Da haste dich jetzt nich drum zu scheren!« Er stampfte mit dem Fuß auf
und setzte dann bitter hinzu: »Und was uns beide anbelangt, na, wo wir
mal nach’m Tode hinkommen, wird wohl ziemlich wurscht sein.«

Mit einem ungeduldigen Seufzer, der einem Stöhnen glich, kehrte er sich
von ihr ab; sie benutzte die Gelegenheit, um in die Schlafkammer zu
schlüpfen.

Schweren Tritts ging er zu seinem Platz am Fenster zurück. Jetzt war
er wieder allein und doch nicht allein, ihm war, als hätten die Wände
das Schluchzen des Weibes eingeschluckt und gäben es nun wider in einem
langgezogenen, spottenden Echo. Jedes Wort: ›Du bist an allem Verdruß
schuld – du Preuß’ ohne Glauben – du – du‹ – warum sagte sie es nicht
gleich gerade heraus: ›Du hast mich unglücklich gemacht!‹ Unglücklich?!
Ach was, der ging’s ja gar nicht so tief – heut unglücklich, morgen
kreuzfidel! Wer doch auch so sein könnte! Auf – nieder, wie ein
Stehaufmännchen, das die Buben aus Hollundermark schneiden. Aber dazu
mußte man hier zu Lande geboren sein, mit der Muttermilch ihn in den
Leib gekriegt haben, den bequemen Leichtsinn!

       *       *       *       *       *

Der Feldwebel saß schon eine Viertelstunde, ohne sich zu rühren, ohne
den starren Blick des Auges, der immer auf einem Punkt der Diele
haftete, zu mildern.

Ein Trappeln auf dem Flur wurde laut.

Josefine kam heim mit den Geschwistern; mit Hallo jagten sie sich
draußen und stürmten nun in die Stube. Erschrocken fuhren die Knaben
zusammen und duckten sich – da saß ja der Vater! Nur Josefine lief auf
ihn zu.

Bemerkte er sie denn nicht? Fast beleidigt zupfte sie ihn: »Vater!«

»Ich wollte, es gäbe Krieg,« murmelte er. Und dann fuhr er auf: »Wer da
– ah du! Na, Josefine?«

Sie lachte ihn an.

Da fiel’s ihm auf, wie sah sie denn aus? Das ganze Haar in Papilloten
gedreht, ein Wickel neben dem andern.

»Nanu, was hast du denn angestellt?« Verwundert tippte er sie auf den
Kopf.

»Jarstig, jelt, Vater? Aber morjen, da sollste ens kucken, da werd’ ich
aber auch dafor fein jemacht!« Jubelnd schlug sie die Hände zusammen.
»Lauter Löckskes, de Jroßmutter hat se mer eben einjedreht! Un en weiß’
Kleid mit lauter Säumcher! Un ene blaue Kranz krieg’ ich auf de Locken!
Ich trag’ dat Herz Jesu auf’m Kissen!«

»Was – was trägst du?« Plötzlich aufmerkend sah er sie an. »Was redste
für Unsinn? Herz Jesu – weiß Kleid – blauen Kranz – wozu – weswegen?«

»No, morjen is doch Fronleichnam! Prozession nach’m Calvarienberg an
der jroße Kirch’.« Ganz bestürzt sah sie ihn an. »Dat weißte nit? Wer
am besten in jeder Klass’ is, darf wat tragen. Eine aus der untersten
Klass’ trägt et Lämmchen, en janz Jroße trägt en Fahn’, un ich« – mit
stolz leuchtendem Gesicht reckte sie sich vor ihrem Vater – »ich krieg’
et Kissen!«

Er hatte sie ausreden lassen, jetzt fuhr er auf mit einem Fluch;
erschrocken prallte sie zurück, er rannte sie fast über den Haufen.

»Frau!« Da stand er, die Fäuste geballt, das Gesicht fahl. Und als
Trina nicht gleich hörte noch einmal: »Frau!«

Jetzt kam sie.

Er schrie sie an: »Weibsbild, verdammtes, denkste, du kannst
Schindluder mit mir spielen? Oho, untersteh dich!« Mit wilden Augen sah
er sie an.

»No, wat is dann als schon wieder?« rief sie halb trotzig, halb
kleinlaut.

»Ich sag’ dir, ich bin kein Esel, du machst mir kein X für ein U. Was
treibst du hinter meinem Rücken für Allotria – he?« Er packte in seiner
Wut das erste beste, was ihm unter die Hände kam – das Gebetbuch war’s
– riß es vom Tisch und warf es ihr vor die Füße. Die Blätter flogen.

Zitternd bückte sie sich und las ihre geweihten Palmzweiglein, ihre
bunten Heiligenbildchen zusammen. Sie wußte selbst nicht, woher ihr der
Mut kam, sie war empört: »Au, meine Bildches, wat fällt dich ein?«

Er riß ihr die Bildchen aus der Hand und zerfetzte sie. »Da – da! Und
ich sag’ dir, jetzt hat’s en Ende, das alle Morgen in die Messe-rennen
und das im Beichtstuhl-hocken! Jetzt weiß ich, warum du heulst! In den
Ohren liegen sie dir: katholisch sollen die Kinder werden! Katholisch
wollt ihr die Josefine machen! Keinen Schritt geht sie mit zur
Prozession! Mir allein hast du zu parieren – verstanden? Nich gemuckt.
Und nu: in die Küche! Geh an deinen Herd, koch, die Kinder wollen
essen.«

Sonst drückte Trina sich gern, wenn Rinke schalt, heute blieb sie wie
angewurzelt stehen.

Er drehte ihr den Rücken. Die Knaben, die scheu an der Thür gehorcht,
hatten sich verkrochen; nur Josefine stand da, unbeweglich, und sah den
Vater starr an. Sie war ganz blaß geworden.

Er rief sie zu sich, langsam kam sie. »Josefine,« sagte er in etwas
gemäßigterem Ton, »geh, wickel dir das Haar aus, komm mir so nich mehr
unter die Augen!« Und als sie gehen wollte: »Halt! Heut war’s das
letzte Mal, daß du zu den Ursulinerinnen gegangen bist, verstanden? Ich
wer’ denen das Handwerk wohl legen!« Die Wut flammte wieder in ihm auf:
»Weg mit dem Firlefanz!«

Er selber griff ihr in die Haare und zerrte ihr einen Papierwickel
heraus; es mußte weh thun, aber sie rührte sich nicht.

»Ich verbiete dir auch, nach der Ratingerstraße zu gehen – hörst du,
von heut ab! Keinen Schritt dahin – hörst du? Antwort!«

»Ja.«

»Und mir allein hast du zu gehorchen – mir allein, hörst du?« Eisern
klang jedes Wort. »Niemand anderm, auch nicht – auch nicht deiner
Mutter – denn –«

Jetzt zuckte das Kind zusammen, Frau Trina hatte ein wimmerndes
Schluchzen hören lassen.

Mit einem Ruck riß sich Josefine vom Vater los und warf sich mit einem
lauten Aufschrei der Mutter an den Hals: »Mutter, wein’ nit! Wein’ doch
nit, ich hab’ dich auch lieb! Och ’n doch, Mutter, ich hab’ dich lieb –
Mutter, Mutter!«

»Josefine!« Der Feldwebel rief, aber vergebens. Zum erstenmal in ihrem
Leben gehorchte ihm die Tochter nicht.

»Josefine!«

Sie schüttelte nur verneinend in leidenschaftlichem Weinen den Kopf
an der Brust der Mutter, um die sie, wie zum Schutz, ihre beiden Arme
schlang.

»Josefine!« Es klang fast bittend.

Sie rührte sich nicht.

Da rief der Feldwebel nicht mehr. Ein paar Augenblicke stand er, wie
vor den Kopf geschlagen, dann stolperte er zur Thür. Im Finstern tappte
er die Holzstiege hinunter, und in’s Finstere lief er hinaus. – – –




VI


Eigentlich war es schon Winter. Die Düsseldorfer Hausfrauen hatten
längst ihren Herbsthausputz vollendet, jedes Sommerstäubchen war
ausgefegt, blitzblank schauten die Fenster auf das saubere Trottoir.
Und doch war es noch nicht Winter, denn der November ließ sich an wie
ein Oktober. Die Kastanien in der Königsallee waren noch nicht gänzlich
entlaubt, im Hofgarten blühten noch Dalien und Georginen; Allerheiligen
war lange vorbei, und doch dufteten noch bleiche Rosen auf den Gräbern.
Vom Rhein kam ein lindfeuchtes Wehen, kein Wind. Die niederen Wiesen
jenseits des Flusses schimmerten noch frischgrün, die Weidenbüsche
standen wie im Saft.

Gut Wetter zum Martinsabend.

Josefine Rinke freute sich: heut abend würden sie alle mit dem
Laternchen gehen; nur die arme Mutter durfte nicht mit, der Vater fand
das zu lächerlich.

Zint Mäten, Zint Mäten![6]

[6] Sankt Martin.

Sie machte einen kleinen Hops, aber dann besann sie sich und steckte
die Nase wieder in’s Buch, das sie, aufgeschlagen, vor sich her trug.
Sie lernte noch auf dem Schulweg.

Jetzt war sie keine so gute Schülerin mehr, wie damals bei den
Ursulinerinnen. Seit anderthalb Jahren ging sie in die evangelische
höhere Töchterschule in der Kanalstraße, die unter dem Protektorat der
Prinzessin Luise, der erlauchten Gemahlin Seiner Königlichen Hoheit
des Prinzen Friedrich von Preußen stand, der im Jägerhofschlößchen am
Hofgarten residierte.

Der Feldwebel war nicht wenig stolz darauf und auch seinem Hauptmann
nicht wenig dankbar, der ihn, als er sich damals, da der Schulbesuch
Josefines bei den Ursulinerinnen jäh abbrach, ratsuchend an ihn
gewandt, dem früheren Garnisonprediger und jetzigen Regierungsschulrat
empfohlen. Der leutselige Beamte hatte ein Einsehen gehabt, durch
eine Ermäßigung des Schulgeldes wurde es dem bewährten, langgedienten
Soldaten ermöglicht, seine Tochter einer höheren Bildung teilhaftig
werden zu lassen. Von der Zeit an hatte sich der Feldwebel die einzige
abendliche Pfeife abgewöhnt – das Schulgeld war für seine Verhältnisse
noch immer hoch genug. –

Josefine schlenderte langsam, ihre Schulsachen in einem Lederriemen
unter den Arm gepreßt. Gut, daß die Straße noch still war, um halb
acht in der Frühe! Nur ein Hammer Gemüsekarren rumpelte, und eine
Milchfrau trug ihren Rahm aus. Josefine mußte nachholen, was sie
gestern versäumt; das große Bataillonsexerzieren hatte all ihre Zeit in
Anspruch genommen, und die deutsche Orthographie wollte ihr so wie so
schwer in den Kopf.

Ein schwarzlockiges Mädchen kam hinter ihr drein gerannt: »Fina!
Finchen!«

Sie hörte nicht.

Nun zupfte sie die Schwarzlockige leicht am Jackenschoß. »Hörst du denn
gar nicht?«

»Och, Cilli, du! Ich lern’ noch, ich kann noch nix!«

Schon wieder vertiefte sich Josefine in ihr Buch, aber Cäcilie von
Clermont zog es ihr weg.

»Ach, laß doch jetzt! Ich sag’ dir vor, wenn du dran kommst,
wahrhaftig!« Und dann wendete sie sich zu dem Burschen um, der, in eine
Livree gesteckt, ihr den Bücherpacken nachtrug: »Buschmann, Sie können
jetzt nach Haus gehen – so – ich trag’s mir schon allein. Aber nicht
dem Herrn Major sagen, Buschmann, auch nicht der Frau Major!«

Der Bursche grinste und machte Kehrt.

»So, Fina, nu faß mich unter,« sagte Cäcilie. »Erzähl mir was. War
gestern das Bataillonsexerzieren schön? Ich wär’ schrecklich gern
zu euch in die Kaserne gekommen zum zugucken, aber Mama sagte, das
schickte sich nicht mehr für mich. Auch mit der Laterne soll ich heut
nicht gehen. Scheußlich! Und es ist doch Martinsabend!« Sie schmollte.
»Ich wünschte, der Viktor wär’ nicht gerad’ jetzt auf Urlaub gekommen,
der ist so – so – weißte, der bestärkt Mama noch in so was. Der wird nu
bald Fähnrich, aber er thut mindestens schon so, als ob er Major wäre
wie Papa. Du mußt ihn bloß mal sehen – schneidig, sag’ ich dir!«

»Ich will ihn jar nit sehen!« Josefine warf den Kopf zurück. »Wann du
nit mehr bei uns kommen darfst, komm’ ich auch nit mehr bei euch. Un
den Viktor, bäh« – sie schnitt eine Grimasse – »de kenn’ ich jar nit
mehr, dazumal war ich ja noch janz klein!«

Seit Josefine in die Töchterschule ging, war sie wieder mit Cäcilie
von Clermont befreundet, besser sogar, wie sie es als Kinder gewesen.
Da war nur der kleine Soldat das Bindeglied gewesen, und als der fort,
zeigte Josefine keine Neigung mehr für das Clermontsche Haus; sie
sträubte sich sogar, wenn sie ab und zu noch hin gebeten wurde. So war
der Verkehr bald ganz eingeschlafen. Der Zufall hatte nun die beiden
Gleichaltrigen nicht nur in derselben Klasse, nein, auf derselben Bank
zusammengeführt.

Es war ein großes Ereignis für den Feldwebel, wenn die Tochter seines
alten Hauptmanns, jetzt des Majors, seine Josefine besuchte. War
Josefine auch keine besonders gute Schülerin – alles was sie bei den
Ursulinerinnen gelernt, konnte sie in der neuen Schule nicht verwerten
– so umschwebte sie doch ein eigner Nimbus. Sie kam ja aus der Kaserne!
Endlos zog sich der einstöckige Bau längs der Straße, hinter seinen mit
Blechkästen versperrten Luken schmachteten Soldaten im Arrest, schöne
Offiziere klirrten über die Höfe, auf dem Exerzierplatz spielte die
Regimentsmusik, – und auf den vielen Treppen, den zahllosen Gängen, all
den Stuben und Kammern, was mochte da nicht vor sich gehen?! Die andern
Mädchen beneideten Cäcilie von Clermont um ihre Freundschaft mit der
Feldwebeltochter. –

Als heute die Nachmittagsschule aus war, schlenderten die beiden
wieder Arm in Arm, aber sie trennten sich nicht an der Ecke, wo sie
sich sonst Adieu zu sagen pflegten, die eine begleitete die andre immer
noch ein Stück Wegs; sie kamen gar nicht von einander los.

»Du,« sagte Cäcilie und schlug die langbewimperten Augen entzückt gen
Himmel, »herrlich, daß ich nun doch mit der Laterne gehen darf! Ich
hab’ aber über mittag auch gequält! Am Jan Willem auf dem Markt treffen
wir uns also. Du – ha, findst du nicht, es riecht schon aus jedem Haus
so lecker nach Puffert? Ach, wenn wir doch auch welche backten!«

»Bis still,« tröstete Josefine, »ich bring’ dir morjen welche mit nach
der Schul’. Meine Jroßmutter backt se aber lecker! Aus Buchweizenmehl
mit Korinthen, in Leinöl. Un dann in Syrup gestippt – ha!« Sie klopfte
sich mit einem strahlenden Gesicht auf den Magen. »Ich kann ’r en
Dutzend essen. Wenn ’t nur schon Abend wär!« Trällernd machte sie einen
Freudensprung: »Zintmäten, Zintmäten, de Kälber –«

»Gott, Fina!« Erschrocken hielt ihr Cäcilie den Mund zu. »Was sollen
die Leute von uns denken?«

Ein paar Jünglinge drehten sich eben nach den beiden Mädchen um.
Cäcilie wurde rot und schlug verschämt die Augen nieder, Josefine aber
schnitt eine Fratze: »Dumme Junges! Zintmäten, Zintmäten! Adjüs, Cilli,
letzt!« Kräftig schlug sie die Freundin auf den Rücken.

»Vergiß nicht – um sieben Uhr – am Jan Willem,« rief ihr Cäcilie nach.

Fina hörte schon nicht mehr. Da rannte sie hin, daß ihr halblanger
Rock flatterte, und man ihre weißbestrumpften Beine bis zum Knie sah. –

Peter Zillges war nicht für die neumodischen Papierlaternen; er hatte
seinen Enkeln Kürbisse ausgehöhlt, ihre Namen und allerlei andres
hineingeritzt: Gesichter, und Sonne, Mond und Sterne. Die Zeichnungen
waren unvollkommen – Großvaters Hand hatte schon sehr gezittert – aber
schimmerte ein Lichtchen von innen durch, machte sich solch ein Kürbis
doch wunderbar schön.

Vom ›Bunten Vogel‹ zogen die Geschwister am Abend aus. Josefine trug
ihren Kürbis, der groß und gelb wie ein Holländer Käse war, auf einem
Stock; die Brüder schwenkten ihre kleineren an Bindfadenschnüren. Die
Kinder sangen; hell klangen ihre Stimmen in den lauen Abend hinaus.

Und von nah und fern, vom andern Ende der Ratinger-, von der Ritter-
und der Mühlenstraße, vom Hunsrück und der Mertensgasse, von allen
Seiten fielen Kinderstimmen ein, hoch und tief, rein und falsch,
durchdringend wie Pfeifenton, jubelnd wie Trompetenfanfaren:
»Zintmäten, Zintmäten!«

Wie Glühwürmchen funkelt es auf in den dunkeln Straßen, an den Häusern
zieht es vorbei in bunten Reihen, über den Köpfen wogen und wirren
schwanke Lichter in Weiß und Gelb, in Rot und Grün. Licht, Licht –
ein Meer von schwankenden Lichtern! Ganze Kinderscharen haben sich
zusammengefunden beim Klang einer Schelle; und wo sich Knaben und
Mädchen begegnen, pusten sie sich in die Laternen, und die Buben singen
grob:

    »Zintmäte, Zintmäte.
    De Kälver hant lang Stäte,
    De Jonges sin Rabaue,
    De Weiter wolle mer haue.«

Und die Mädchen zirpen dagegen:

    »De Weiter sin Rabaue,
    Die Jonges wolle mer haue,
    De Weiter trinke rode Wing,
    De Jonges schmeiße mer in der Rhing!«

»Zintmäte, Zintmäte!«

Josefine hielt ihren Kürbis krampfhaft hoch, ein paar große Jungen
hatten es durchaus darauf abgesehen, ihr das Lichtchen zu löschen;
sorgsam trug sie es vor sich her, wie etwas Heiliges bei der
Prozession, schier andächtig die Blicke darauf geheftet.

Je näher dem Rhein, desto größer das Getriebe, desto lauter das
›Zintmäten‹.

An den Bürgerhäusern klingelt es, helle Kinderstimmen erheben den
Bittgesang:

    »Hier wohnt en reicher Mann,
    De ons wohl jett jäwe kann.
    Selig soll hä läwe,
    Selig soll hä stärwe,
    Dat Himmelreich erärwe!«

Bei dem ›Himmelreich‹ steigt die Melodie auf einen hohen Ton, freudig
gejauchzt klingt es weit in den Abend. Und die Thüren thun sich auf,
und Äpfel, Nüsse, Kastanien, Korinthenstuten und Puffertkuchen fallen
in die aufgehaltenen Kittel und Schürzchen.

Um den alten Jan Willem am Markt dreht sich ein wirbelnder
Gnomenreigen. Auf den Treppen des Rathauses und des Theaters halten
Eltern ihre Kleinsten in die Höhe, und wo die winzige Kinderhand das
Laternchen nicht schwenken kann, thut es die kräftige Faust des Vaters.

Zintmäten, Zintmäten! – Da ist keiner zu alt.

Josefine hatte viel Anfechtung, die großen Jungen von der
Ratingerstraße waren ihr bis hierher gefolgt. Hilfesuchend sah sie sich
um, aber die Brüder waren im Gedränge abhanden gekommen; nun setzte sie
sich allein zur Wehr. Mit dem Rücken an das Gitter, das den Jan Willem
vor’m Marktgetriebe schützt, gelehnt, reckte sie ihren Stock so hoch
sie konnte.

Gleich neckenden Teufeln hüpften die Buben vor ihr herum:

    »Zintmäte, Zintmäte!
    De Weiter lecke de Plate,
    De Jonges esse de Tate,
    De Jonges esse jebackene Fisch.
    De Weiter schmeiße mer unger der Disch –«

Der Allerdreisteste hüpfte in die Höhe und haschte nach dem Kürbis.
Er pustete hinein – da – Josefine kreischte auf, ehe er das Lichtchen
löschen konnte, fiel ihre Hand derb auf seine Backe: »Eklige Jung!«

»Frech Weit!«

»Freche Rabau!«

Josefines Augen funkelten, das Mützchen war ihr längst in den Nacken
geglitten, die blonden Haare ringelten sich halbgelöst – jetzt stieß
sie einen hellen Hilferuf aus, und ein andrer Ruf antwortete: »Fina!«

Hurra, das war Cäcilie! Sieben Uhr schlug’s dumpf vom Rathaus. Mit
einem heftigen Anlauf ihre Bedränger zur Seite stoßend, stürmte
Josefine durch, im Schwung warf sie sich der Freundin an den Hals.

»Mein Stern, mein Stern!« Ängstlich hielt Cäcilie ihren roten
Papierstern in die Höhe, der einen rosigen Schimmer auf ihr zartes
Gesichtchen unter der weißen Schwanenkapuze warf. »Viktor, o die
frechen Jungens!«

»Unverschämte Bande,« sagte das junge Herrchen an ihrer Seite und
zuckte die Achseln. Die Jungen ohne Hut, in Kittel und Holzklumpen,
wagten keinen neuen Angriff, sondern zogen nur noch ein Weilchen
johlend hinterdrein.

Also das war der Viktor, wirklich der Viktor?! Der kleine Soldat?!
Josefine war enttäuscht: heut trug er keine Uniform. Aber groß war er
geworden, und wie stramm er sich hielt! Fähnrich wurde er, hatte die
Cilli gesagt; dann war er auch bald Offizier – o! Es war doch wieder
etwas von der alten Bewunderung in dem Blick, mit dem sie ihn neugierig
von der Seite betrachtete.

Er fühlte das und begann an der Oberlippe zu zupfen. Noch war da erst
ein kaum sichtbarer Flaum, wie bei einem jungen Vogel, aber er zupfte
doch. Komisch, daß es ihm eigentlich Spaß machte, mit den kleinen
Mädchen zu gehen; was würden wohl die Kameraden dazu sagen? Na,
natürlich: ›Viktor der Sieger‹ – so nannten sie ihn ja in seiner ganzen
Kompagnie.

»O wie gut, daß du mitgegangen bist, daß wir nicht allein sind,«
seufzte Cäcilie in einem wonnigen Grausen nach überstandener Gefahr.

»Sie sollen sich nur unterstehen,« sagte er und warf einen stolzen
Blick zurück.

Josefine wunderte sich im stillen, daß der Viktor gar nichts von früher
zu ihr sagte. Ob er nicht mehr wußte, daß sie vor Jahren so schön
miteinander gespielt? Hatte er denn alles vergessen? Sie wußte es doch
noch. Auch daß er sie ›Sie‹ nannte! Das war ja so fremd. Ein Fräulein
war sie doch noch nicht – Gott sei Dank! Mit einem strahlenden Blick
sah sie auf ihre freien Füße herunter. Die Cäcilie konnte den Rock
immer nicht lang genug kriegen – no, so geck!

»Zintmäten, Zintmäten!« Sie machte einen kecken Hopser über den breiten
Rinnstein, und dann fing sie an, mit ihrer lustigen Stimme zu singen:

    »Zintmäte sein Vöjelche
    Met dat rote Köjelche –«

Viktor, der angehende Fähnrich, betrachtete sie sehr wohlgefällig
von der Seite. Nett war die geworden – ganz famos! Soviel er sich
erinnerte, war sie immer niedlich gewesen – aber so niedlich? Er fing
an, Josefine zu necken: mit ihrem Düsseldorfisch, mit ihrem Kürbis.
Frischweg ging sie darauf ein, nur als er ihr das Lichtchen ausblasen
wollte, sagte sie drohend: »Mach!« und hob die Hand.

Er machte es nicht im geringsten besser, wie die Rabauen in den
Holzklumpen; wie vorhin die, so umhuschte er sie jetzt, bald von
rechts, bald von links. Das war ein Jagen über’s Trottoir, ein
Schäkern und Lachen, ein ausgelassener Kampf um das Lichtchen.
Zintmäten, Zintmäten – sie vergaßen ganz das ›Sie‹.

So schön war’s heut. Der Mond am Himmel schämte sich und versteckte
sich vor all dem Glanz. Vom Rhein grüßte ein lindes Wehen und strich
sanft kühlend über die glühenden Wangen, die erhitzten Stirnen.

»Zintmäten, Zintmäten!« Jauchzend sprang Josefine dahin, wie getragen
von Windesflügeln, die roten Lippen zu schallendem Gesang geöffnet.

Und der Abend flog auch dahin – zu rasch.

»Nach Hause,« sagte Viktor plötzlich und faßte die Hände seiner
Schutzbefohlenen. Es behagte ihm auf einmal nicht mehr, allerhand
Pöbel füllte die Straßen, Rheinkadetten, Burschen und Mädchen aus den
Fabriken; in langer Reihe, Arm in Arm, sperrten sie den Weg. Schon
mischten sich andre Lieder in’s Martinsliedchen der Kinder. Hier und
dort wurde recht wüst gegröhlt:

    »Küt de Lehrer in de Scholl’,
    Setzt hä sich ob singe Stoll’ –«

und wo die Bürgerhäuser ihre Thüren nicht mehr öffneten bei’m
ungeduldigen Pochen der Fäuste:

    »Dat Huus, dat steht up eene Penn,
    De Jietzhalz, de wohnt metten drenn –
    Jietzhals, brich der Hals,
    Dat de morje stärwe kanns!« – – –

       *       *       *       *       *

»Och, wie schad’,« seufzte Josefine, als ihr letztes niedergebranntes
Lichtchen vor der Thür des ›Bunten Vogels‹ verlöschte. Drinnen roch es
nach den leckeren Puffertkuchen der Großmutter, und doch zögerte sie
noch: »Wie schad’!«

Viktor schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich abschiednehmend;
aber dann nahm er die kleine, warme Hand, die sich ihm entgegenstreckte
und sagte: »Ich bleib’ ja noch vier Wochen hier!« Und dann mit einem
bedeutsam festen Druck: »Bis morgen!«

       *       *       *       *       *

Vier Wochen, lange vier Wochen, – waren sie wirklich schon vorbei?!

Viktor von Clermonts Urlaub neigte sich seinem Ende zu; das
Weihnachtsfest würde er nicht mehr zu Hause verleben, nur noch den
Nikolaustag. Der war heute.

Betrübt schlenderte er über die Kasernenstraße und zerbrach sich den
Kopf: wie sollte er’s ermöglichen, =ihr= einen Weckmann zu schenken? Da
war wohl keiner in ganz Düsseldorf, der heut, an Sankt Nikola, seiner
Angebeteten nicht einen Weckmann verehrte.

In allen Konditor- und Bäckerläden prangten Weckmänner: große und
kleine, von Kuchenteig und Weckteig, einfachere und leckerere; solche
mit Schokoladenknöpfen und ohne Knöpfe, solche mit Mandeln und Zitronat
gespickt, und Ungespickte. Aber alle mit Korinthenaugen und der Pfeife
im Maul.

Sinnend blieb Viktor an einem Bäckerfenster stehen. Zweimal hatte
er ihr was spendiert: das erste Mal eine Crêmeschnitte bei Konditor
Geisler, das andre Mal freilich nur eine Düte gerösteter Kastanien
bei’m ›Appel-Len‹. Zu einer ›Blase Leckers‹ hatte es nie gelangt, –
ach, wenn das Taschengeld doch nicht so knapp wäre! Es reichte nicht
immer zu den notwendigsten standesgemäßen Ausgaben. Und der Vater
konnte beim besten Willen nicht mehr geben; wenn der jetzt auch Major
war, er war doch auch immer knapp. Na, hoffentlich würde es anders
werden, wenn man erst Seiner Majestät Leutnant war bei der Garde! Bald
würde es wohl Krieg geben – Viktor hoffte stark – da wollte er sich
nebst den Epauletten auch noch das eiserne Kreuz verdienen, auf der
linken Brust zu tragen.

Zögernd klimperte er mit seinen letzten paar Groschen in der
Hosentasche. Da im Fenster lag so ein ganz kleiner Weckmann, der würde
gewiß nicht mehr kosten wie ein Kastemännchen![7] Wie würde sie sich
darüber freuen! Morgen mußte er ja ohnehin fort, und dem Mädel blieb
nichts wie diese Erinnerung.

[7] 2½ Silbergroschen.

›Ha, wie lecker,‹ würde sie sagen und lachend in den braunen Weckmann
ihre weißen Zähne vergraben.

Und seine Hand würde sie fassen wie letzthin, als er mit ihr im
Hofgarten promenierte und es anfing, schaurig dunkel zu werden unter
den hohen Bäumen der Seufzerallee. Na, da mußte er sich eben das
Taschenbürstchen oder den Nägelpolierer verkneifen!

Entschlossen betrat er den Laden. Nach wenigen Augenblicken kam
er wieder heraus, den kleinen Weckmann, in ein gelbes Papier
eingeschlagen, sorgfältig in der Hand. Und nun ging er die Straße, auf
der der Kaserne gegenüberliegenden Seite, immer auf und ab.

Ob sie noch nicht kam? Sie hatte heute doch schulfreien Nachmittag.
Ein Glück, daß Cäcilie verschnupft war und sich nicht hatte
anschlängeln können! Er wollte mit Josefine an den Rhein gehen, da
gab’s was zu sehen: Hochwasser. Die Brücke war heute nacht abgefahren
worden, man hatte die Kanonenschüsse gehört, und am Morgen ging die
Schreckenskunde: ein Joch sei abgetrieben und ein Brückenwärter darauf.

Wenn sie doch käme! Es war frostig heute; wenn’s auch nicht goß, wie
seit ein paar Wochen ohne Unterlaß, es war doch feuchtkalt und die
ganze Luft von Wasserdunst erfüllt.

Halt, knarrte jetzt nicht das Kasernenthor? So öffnete =sie’s= immer,
ein wenig mühsam, sich stemmend gegen die schwere Wucht des Thürfügels.

Sie war’s! Schon lief sie über die Straße auf ihn zu; aber sie war
nicht allein, ihr jüngstes Brüderchen führte sie an der Hand. »Tag,
Viktor! Dat Karlchen will auch der Rhein kucken jehen. Und dann muß ich
nach der Ratingerstraß’. Hau, der janze Keller is da voll Wasser!«

Wie lästig, daß sie das kleine Kind mitbrachte! Viktor fühlte sich
gekränkt. Und dann wollte sie gleich nach der Ratingerstraße laufen, um
das Wasser im Keller zu sehen – also =das= war ihr die Hauptsache am
letzten Tag?! Beleidigt steckte er den Weckmann in seine Rocktasche –
wenn sie so war, nun dann kriegte sie den auch nicht!

Sie merkte nichts von seiner Verstimmung, lustig schwatzte sie. Nun
hatte sie schon alle Frühjahr, wenn das Eis trieb und der Schnee
schmolz, das Grundwasser in die Keller steigen, sämtliche Gossen und
Kanäle der Stadt übertreten und auf den Wiesen der andern Seite die
Weidenbüsche wie vereinzelte Haarschöpfe herausstehen sehen; aber so
früh im Winter war noch nie Hochwasser gewesen. Jetzt waren Straßen
überschwemmt, und – jubelnd klatschte sie in die Hände – am Zollthor
und in der Rheinstraße sollten sie mit Kähnen fahren.

»Lassen wer kucken jehn, lassen wer kucken jehn!« Rasch riß sie ihn mit
fort.

Und Menschen, Menschen hasteten dem Rhein zu. Alles lief. Immer
schlüpfriger wurde das Pflaster, beschmutzt von unzähligen, nassen
Tappen. Selbst aus den Steinen schien schlammige Feuchtigkeit zu
quellen; es roch nach Moder. An der Ecke der Marktstraße, wo sonst
die Obstfrau sitzt, war die Gosse ein See; Krämer standen auf ihren
niedrigen Ladenschwellen, filzbeschuht, mit blauer Schürze, und
schauten, ihr Pfeifchen paffend, nach dem Wasser aus.

Und halt, nun – die Menge staute sich, Josefine stieß einen hellen
Schrei aus –, nun geht’s nicht weiter, das Wasser, das Wasser! Es
plätschert dem alten Jan Willem um die Füße.

Noch sind Bretter über Blöcke gelegt, schwankende Stege, die nur mit
kühnem Balancieren zu überschreiten sind; aber dann breitet sich die
Flut, die tiefe, stille, lautlose, dunkle Flut, die nichts mit dem
schönen Grün des Rheins gemein hat. Die Rathaustreppen sind überspült,
die Säulen des Theaters ragen wie Stümpfe aus dem Wasser; hinunter
nach dem Zollthor fahren Kähne. Aus den Häusern der Zollstraße
schauen vom Oberstock Weiber mit blassen Gesichtern; sie haben in
der Nacht wenig Schlaf bekommen, da sie flüchten mußten, von unten
nach oben, mit Kind und Wiege und Mann und Maus. Aber sie lachen. Und
die Männer, denen aus den Kähnen Feuerung und Wasser und Brot und
Kartoffeln an Stangen in Eimern zugereicht werden, lachen auch. Und die
Rheinschürgen, die in ihren hohen Stiefeln und den geteerten Jacken
geschäftig sind, lachen auch. Und die vorwitzigen Jungen, die, die
Hosen aufgekrempelt, barfuß in’s Nasse plantschen, bis ihnen das Wasser
plötzlich bis unter die Achseln steigt, lachen auch. Es klatscht und
spritzt, es plätschert und sprüht – Neugierige werden bis auf’s Hemd
naß, kein Mensch hat einen trocknen Fuß, aber alles lacht, lacht, lacht.

Josefine war außer sich vor Entzücken; auch Viktor vergaß seinen Mißmut
und fühlte sich ganz als Beschützer. Hier zwei Hilflose, und er der
Ritter und Retter. Sorgsam bot er dem Mädchen die Hand, an schwierigen
Stellen nahm er Karlchen Huckeback.

Vom Rhein wehte es stark – ach, wer den jetzt nur ganz übersehen
könnte! Vom Kohlenthor erhaschten sie endlich den Blick.

O, wie das floß und floß und sich dehnte, grau, grau, bis in’s
Unendliche, ein weites, unabsehbares, ein in alle Ewigkeit flutendes
Meer! Drüben die grünen Wiesen von Niederkassel bis gen Heerdt
verschwunden, nur Pappelkronen ragen noch auf und die Dächer der
Bauernhöfe. Kein Gras mehr, keine Büsche, kein weidendes Vieh; der
Rhein hat sich breit gemacht und alles verschluckt. Hinauf nach Köln
und hinunter nach Holland ist alles sein. Selbst der Himmel ist sein;
er hält den umarmt im grauen Dunst. Wo sind Wolken, wo Wasser? Man
weiß es nicht – alles eins im Duft, im schwimmenden Nebel. Grauend
und brauend wogt es und wallt es, zieht und flieht, naht und drängt,
weht und winkt – Schleier und Netze wirft der Rhein aus, die alles
umstricken. –

Es war den beiden heiß, glühend heiß, als sie am ›Bunten Vogel‹
anlangten. An jedem Haar hing ihnen ein Tröpfchen; das waren Perlen vom
Rhein, der hatte sie in den Armen gehalten und auf die Stirnen geküßt.
Sie hatten angekämpft gegen den sausenden Wind, der ihre Kleider
gelüftet und ihnen Lust in die Herzen geblasen. Ihre Augen strahlten.
Im Hausflur holte Viktor rasch seinen Weckmann hervor und drückte ihn
Josefine in die Hand.

Wie selbstverständlich trat er mit ihr in die Stube.

Draußen spülte das Wasser schon bis an die Schwelle des ›Bunten
Vogels‹, aber innen saß sich’s gemütlich, doppelt warm. Die Großmutter
holte in gastlicher Freude Kaffee und Blatz. Der Großvater grämelte:
das sei ja gar kein richtiges Hochwasser. »Kein Wunder, auch de Rhein
kömmt aus der Reih’. De find’t sich auch nit meh zurecht in Düsseldorf
– all de neuen Straßen un de Plätz, de Eisenbahn, de Fabriken –
Teufelswerk! Un wat se nit alles noch am planen sind! Ich les’ et als
in der Zeitung: en einig Deutschland! Dumm’ Zeug! Wat jeht uns dat an?
Dat de Börjer zufrieden es, dat es de Hauptsach –«

»Peter,« unterbrach ihn die alte Frau, »weißte noch dazumal, da lief et
Wasser langs de janze Bolkerstraß’?«

Da vergaß der Alte sein Grämeln. »Eja, dat war noch Hochwasser, um
vierundachtzig, als ich noch ene junge Kerl war! Da lief de Rhein über
im Hornung, wie en Pott voll gärig Bier!«

»Un weißte noch,« fiel sie wieder ein, »wie de Rhein beim von Cornelius
im ›Feigenbaum‹ de Trepp’ erauf stieg? Ich war noch e jung Weit,
aber ich weiß et wie heut. Da mußt’ de sein klein Peterken durch’t
Fenster im Nachen tragen, mitten in der Nacht. Ja, eja« – sie stieß
einen behaglichen Seufzer aus – »de es nu auch als ene alte Mann, de
Cornelius Pitter! Wat de Zeit verjeht!«

»Komm,« flüsterte Josefine und stieß unter dem Tisch an Viktors Knie,
»lassen wir ens im Keller jehn! Da is en Bütt’, da können wir uns in
fahren!«

Die beiden Alten, in ihre Vergangenheit vertieft, merkten es nicht, daß
die beiden Jungen zur Stube hinausschlüpften.

Im Keller des ›Bunten Vogel‹ war alles auf Stellagen gerettet: die
Flaschen und Krüge, die Fässer und die Kappestonne. Eine weiße Katze
lauerte oben an der Treppe auf die Mäuse, die sich etwa in’s Trockene
flüchten mochten.

Sorgsam zog Josefine die Kellerthür hinter sich zu. Nun waren sie ganz
im Dunkeln. Eine feuchtwarme, schwere, moderdurchschwängerte Luft
hüllte sie ein. Viktor verging der Atem, tastend griff er um sich.

»Bis still,« flüsterte Josefine. Und nun flammte es auf, sie hatte ein
Streichhölzchen angerieben; ein Kerzenstümpfchen holte sie aus der
Tasche und steckte es an.

Jetzt sahen sie: wenige glitschige Stufen hinunter, und da war
schon das Wasser. Schwarz wie Tinte, regungslos stand’s unter dem
Gewölbe. Eine große, ovale Waschbütte schaukelte wie ein Nachen am
Treppenpfosten.

Hand in Hand blieben sie auf der untersten, schon bespülten Stufe
stehen; Josefine hatte das Lichtstümpfchen niedergestellt, nun warf es
flackernden Schein auf die fahle Kellerwand gegenüber und zeigte ihnen
ihre Schatten wunderlich groß. Sonst schien alles versunken in der
dunkel gähnenden, geheimnisvollen Höhle.

»Fahr’ mich,« hauchte sie bittend.

Und so fuhren sie in der Bütte; sie mit den Händen im schwarzen Wasser
plätschernd, er ein paar aufgefischte Holzscheite als Ruder benutzend.
Langsam paddelten sie umher. Sie sprachen kein Wort – alles still –
auch von außen kein Laut. Da war eine versunkene Stadt, und sie beide
schwammen allein miteinander, mutterseelenallein, auf einem weiten,
weiten Meer.

Ein immerwährendes, glückliches Lächeln lag auf Josefines Gesicht.

»Fahr’ mich noch mehr, fahr’, fahr’!« Mit auf die Seite geneigtem Kopf
sah sie den Jüngling selig an.

Viktor machte eine ungeschickte Bewegung – da – die Bütte drehte sich,
schwankte, heftig puffte sie gegen die unterste Treppenstufe; das
Lichtstümpfchen erlosch.

Josefine stieß einen leisen Schrei aus, der Nachen legte sich auf die
Seite; aber schon hatte Viktor sie umfaßt. Mit kräftigem Arm hob er sie
auf die Stufe.

»Fina,« flüsterte er, sie noch umschlungen haltend, »Finchen, morgen
muß ich ja fort!«

»Och, wie schad’!«

»Wirst du mich auch nicht vergessen?«

»Ne, och ne!«

Da küßte er sie, und sie küßte ihn wieder. Ganz im Dunkeln. Er fühlte
nicht, daß seine Füße im Wasser standen. Sie fühlte nicht, daß ihr
halblanger Rock durchnäßt war; sie fühlte nur den heimlichen Schauer,
der ihr leise, in mädchenhafter Scham, über den jungen Körper rann.




Zweites Buch




VII


Es rührte sich allerorten, als wollte es lenzen. Ein Gären steckte tief
innen im Schoß aller Dinge, ein geheimnisvolles Sichregen, ein Pochen
und Drängen. Was will das werden?!

Ein Wehen geht durch die Lande, leis noch, kaum fühlbar, aber ein Wehen
so eigner Art, daß die einen begeistert rufen: »Frühling, Frühling!«
und die andern erschreckt: »Sturm, Sturm!«

Frühling –?! Noch war es nicht an der Zeit. Schnee flockte noch vom
Himmel und begrub die grünen Hoffnungen.

Es war das Jahr 1847.

Der weite Düsseldorfer Exerzierplatz lag noch einmal, nachdem die
Februarsonne schon schmelzend geschienen, in tiefem Winter; am
Kanalrand waren die vorwitzig knospenden Veilchen erfroren.

An dem Fensterchen der Feldwebelwohnung stand Josefine Rinke am Sonntag
nachmittag und hauchte ihren warmen Atem gegen die bereifte Scheibe.
Ihre Wangen waren heiß, ihre volle Brust hob und senkte sich rasch.
Nun zeigte ein verstohlenes Lächeln ihre gesundweißen Zähne; ihr Blick
wurde glänzend – was hatten die Offiziere auf dem Kasernenhof heut doch
hinter ihr drein geflüstert? ›Schönes Mädchen‹ – ah, schönes Mädchen!
War sie denn schön?! Sie schloß halb die Augen und legte den Kopf in
den Nacken; mit einer unwillkürlichen Bewegung hob sie beide Arme und
drückte sie an ihre Brust. Da innen klopfte es so stark, so voll. Das
war ihr Herz. Poch, poch, wie ein Hammer. Und jeder Hammerschlag trieb
ihr das Blut rascher durch die Adern.

»Nanu,« sagte der Vater vom Tisch her und schlug so kräftig auf seine
Zeitung, daß die Tochter sich nach ihm umwendete. »Was wollen sie nu
schon wieder? Immerzu stänkern!«

Der Feldwebel ärgerte sich stets, wenn er die Zeitung las. Mit ein
paar Kameraden zusammen hielt er sich das Düsseldorfer Kreisblatt.
Man erfuhr ja sonst gar nichts von der Welt, und das that doch jetzt
not; es verlangte einen zu wissen, wo’s zuerst losgehen würde, ob
in Frankreich oder Spanien, ob in Bayern oder Baden, in Nassau,
Württemberg oder Hessen, ob in Portugal oder Dänemark und wie die
Länder alle heißen. Überall war’s nicht recht geheuer.

»Was« – er regte sich ordentlich auf – »Verfassungsreform?! Was
wollen die Schreier denn? Unser Herr und König regiert, wie seine
Vorfahren regiert haben, und die haben Preußen groß gemacht. Bande!
Verfassungsreform – was heißt das?!«

»Vater,« sagte Josefine, trat an den Tisch und guckte ihm über die
Schulter in’s Zeitungsblatt, »kuckste, da steht et ja: ›Ausgleichung,
Versöhnung zwischen Thron und Volk! Die Krone muß freiwillig eine
wirkliche, den Zeitforderungen entsprechende Verfassung verleihen.‹ Die
Krone, damit is der König jemeint, jelt, Vater! Aber dat andre versteh’
ich nit!«

»Na, das ist so, wenn – hm – als ob« – der Feldwebel kratzte sich
hinter dem Ohr – »ä, hol’ sie alle der Teufel! ’reinquatschen wollen
sie eben, wenn unser König was befiehlt. Er ist unser Herr, er allein
hat zu kommandieren, und wir zu gehorchen – was, was sagst du?«

Josefine hatte etwas in sich hinein gemurmelt; nun kreuzte sie die
Arme über der Brust und warf den Kopf in den Nacken. »Beim Metzger in
der Bastionsstraß’ haben sie heut jesagt: dat Volk hätt’ auch sein’
Forderungen. Da haben se doch janz recht in, Vater, man will doch auch
en Wort sagen dürfen.«

»Dumme Gans!« So heftig hatte sie der Vater fast noch nie angeschrieen.
»Was verstehst du davon? Von morgen ab holst du’s Fleisch wo anders –
nicht bei dem Kerl, verstanden?!« Mit gerunzelter Stirn vertiefte er
sich wieder in die Zeitung.

Stumm war Josefine an’s Fenster zurückgetreten, aber sie konnte es
nicht unterlassen, die Achseln zu zucken: Der Vater hörte eben nicht
alles, was die Leute sagten – was die schimpften! – beim Bäcker, beim
Metzger, auf dem Gemüsemarkt. Es müsse anders werden! Was anders werden
müsse, sagten sie freilich nicht.

Auch der Großvater schimpfte. Der mochte gar nicht mehr ausgehen, saß
immer auf der Ofenbank oder in seinem Lehnstuhl im Comptörchen und
drehte die Daumen umeinander. Auch durch’s Fenster guckte er nicht,
denn die Leute, mit denen er alt geworden, gingen nicht mehr vorüber,
und die jungen interessierten ihn nicht.

Der arme Großvater! Tief atmend drückte Josefine die Hand auf’s Herz
– nur nicht alt sein! Immer jung, immer frisch, sich freuen! Die
Welt war ja so schön, und brachte mal ein Tag Verdruß, gleich machte
es der andre doppelt gut. Wie die Offiziere sie angelächelt hatten!
Sie war das gewohnt, aber es machte ihr doch jedesmal wieder Spaß.
Und die Sergeanten, die Unteroffiziere und Gefreiten waren doch auch
nette Leute! Manch einer unter ihnen fast ebenso schneidig, mit ebenso
schlanker Taille, wie ein Herr Leutnant. Alle Soldaten waren nett.
Nur keinen Bürger heiraten! Einer müßte es sein, mit roten Streifen
längs der Hosennaht, mit blanken Knöpfen am Rock, mit einem gebräunten
Soldatengesicht, dessen Stirn einzig da, wo der Helm geschützt, einen
Streifen helleres Weiß zeigte.

Der Feldwebel wußte gar nicht, warum seine Tochter plötzlich zu ihm an
den Tisch gesprungen kam, den Arm um seinen Hals schlang und die weiche
Wange auf seinen Scheitel drückte.

»Na, na,« machte er unwirsch und rührte sich doch nicht; die weiche
Wange that ihm wohl, wie ein warmer Strom floß es von ihr durch seinen
Körper. Und in der Stube war’s kalt, man konnte im Februar nicht mehr
stark heizen, so reichlich waren die drei Klafter geliefertes Holz
nicht.

»Na,« sagte er noch einmal und lächelte, »was ’s denn los?«

Aber sie antwortete nur mit einem festeren Druck und einem leichten
Lachen und hüpfte dann auf ihren früheren Platz zurück. Die Stirn
gegen die Scheibe gelehnt, starrte sie hinaus auf den weißen Schnee
des Exerzierplatzes. Es wollte schon dämmern, jenseits über’m Kanal
versanken die schönen neuen Häuser der Königsallee allmählich hinter
einem feinen Schleier.

So wie heute hatte Josefine, während die Mutter noch in der Kammer
ihr Mittagsschläfchen hielt, in mancher Sonntagsdämmerstunde hier
gestanden; wochentags hatte sie keine Zeit zum Träumen, da gab’s zu
waschen und zu kochen, zu kehren und zu scheuern, den Brüdern die
Kittel und Strümpfe zu flicken. Die Mutter schonte sich jetzt, da sie
eine erwachsene Tochter hatte; es that ihr auch not, nach den vielen
Wochenbetten. Und eine Kleinigkeit war’s auch gerade nicht, mit zwölf
Thalern siebzehn Silbergroschen sechs Pfennigen monatlicher Löhnung,
alle Zulagen eingerechnet, auszukommen; wenn auch die Großeltern
heimlich wacker zusteckten und, war der Feldwebel nicht zu Hause,
Mettwurst, Schinken, Blatz, Schmierchen, Kappes, Bier, alles mögliche
Eß- und Trinkbare vom ›Bunten Vogel‹ her in die Küche wanderte, es
blieb eine Kunst, so viele Mäuler zu stopfen.

Seit Fina mit vierzehn Jahren aus der Schule gekommen war, besuchte
Frau Trina ihre alten Eltern tagtäglich. Der Feldwebel hatte nichts
dagegen; wenn er auch selber nicht in den ›Bunten Vogel‹ ging, seine
Frau hatte die Verpflichtung – ›ehre Vater und Mutter!‹ Freilich, daß
sie stets den Umweg über die Maxpfarre oder die Lambertuskirche machte,
auch bei so und so viel Bekannten in der Altestadt vorsprach, das wußte
er nicht.

Auch die Kinder besuchten die Großeltern. Seitdem Josefine von den
Ursulinerinnen fort, und seitdem gar der Wilhelm in der Lehre war, sah
Rinke keinen Grund mehr, den Alten die Enkelkinder zu entziehen. Er war
der Stärkere – was sollte er den schwachen Greisen zuwider sein? Hoffte
er, sich doch auch dermaleinst an Josefines Kindern zu erlaben.

Der Feldwebel betrachtete seine Tochter oft mit demselben Blick, mit
dem er die Neueingezogenen musterte. Er hatte ja auch über =sie=
Bericht zu erstatten; wenn auch nicht bei dem Herrn Hauptmann, so doch
bei dem Herrgott da oben. Gesund, wohlgemut und ehrlich, so stand die
Siebzehnjährige vor des Vaters Augen. Das Herz pochte ihm vor Freuden,
wenn er sie schaffen sah mit starken Armen. Oft schlich er heimlich
hinter die Küchenthür und belauschte sie am Waschfaß. Hochgeschürzt
stand sie, ihre Kleidertaille hatte sie ausgezogen und wusch in
Hemdärmeln. Unermüdlich tauchten ihre runden Arme in die Lauge, die
Seifenflocken spritzten ihr bis auf’s blonde Haar; und immer sang sie
mit schallender Stimme, so voll, so lustig – kein Wunder, daß die ganze
Kompagnie in sie verschossen war.

Wenn er nur erst den rechten Mann für sie wüßte! Mit scharfem Blick
ließ der Feldwebel alle Revue passieren; da war nur einer, der ihm gut
genug dünkte, der Conradi. Der stammte auch aus Preußen, wenn auch
nicht aus der Mark; bei Königsberg war er zu Hause, ein Bauernsohn,
dessen älterer Bruder den Hof geerbt, ihm aber ein hübsches Sümmchen
ausgezahlt hatte. Und sparsam war der und nüchtern. Für sich selbst
hatte der Feldwebel nie des Geldes geachtet, aber nun er an der
Zukunft seiner Tochter baute, war ihm das doch ein angenehmer Gedanke.
Zwölf Jahre diente der Conradi nun schon als Unteroffizier, ein
wackerer Kerl, der sich nie etwas hatte zu schulden kommen lassen. Und
groß war er, noch einen starken Kopf größer, wie die Josefine, und
breit in den Hüften – das gab was für’s erste Garderegiment zu Fuß!
Freilich, abgehen wollte jetzt der Conradi, schon bereitete er sich
zum Gendarmerie-Examen vor; sechs Monate Urlaub wurden ihm demnächst
bewilligt zur Probedienstleistung. Aber war die Gendarmerie denn nicht
dem Militär nahe verwandt? So wollte sich Rinke nicht daran stoßen.

Daß er selber einmal abgehen könne, war ihm bisher nie in den Sinn
gekommen; vor kurzem hatte ihn erst sein Hauptmann darauf gebracht.

»Ich begreife nicht, Rinke,« hatte der vertraulich gesagt, als sie
zusammen auf dem Kasernenhof hin und her pendelten, »warum Sie sich
noch im Kommiß schinden? Sie dienen doch wohl schon an die zwanzig
Jahr’?«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann, fast vierundzwanzig!«

»Um Gottes willen!«

Der Feldwebel hatte sich bei diesem Ausruf seines Hauptmanns auf die
Lippen gebissen – warum echauffierte sich der Hauptmann denn so?
Vierundzwanzig – war das etwa zu lang? War er nun schon abständig,
knackschälig, konnte er seiner Pflicht nicht mehr genügen?! Mit
unsicherem Blick hatte er nach der vergoldeten, mit dem Namenszug des
Königs verzierten Schnalle auf seiner Brust gesehn, die hatte er doch
bekommen als Dienstauszeichnung.

Als erriete der Hauptmann seine Gedanken, sagte er: »Es sei ferne
von mir, Ihre Dienste unterschätzen zu wollen, Rinke! Mir persönlich
würde es höchst fatal sein, mich an einen andern Feldwebel gewöhnen zu
müssen; aber ich meine, wenn man so lange im gleichen Trott gestrampelt
hat wie Sie, möchte man auch einmal seinen eignen Gang gehen. Eine gute
Civilversorgung ist Ihnen doch sicher: ein Plätzchen bei der Steuer,
ein Zollaufseherposten oder dergleichen!«

Dem Feldwebel war’s trocken im Munde geworden, stumm hatte er den Kopf
gesenkt.

»Also nicht Ihr Fall? Na, dann melden Sie sich doch mal bei der
Lazarettverwaltung – Lazarettinspektor, gar nicht übel!«

Ja, das wäre schon eher etwas, da hörte man doch noch den rauhen Fall
der Kommandos heraufschallen, das Klirren der Waffen, das Stampfen
der Mannschaft – altgewohnte Klänge, einem in Fleisch und Blut
übergegangen. Eine begehrte Versorgung und doch –! Der Feldwebel
verstand sich selber nicht: da hatte er sich oft herausgesehnt aus
dem täglichen Einerlei des Dienstes, er hatte gelechzt nach einem
Sturmwind, der alle Riegel aufstößt, und jetzt, wo sich ihm vielleicht
eine Thür aufthun wollte, konnte er nicht herausfinden. So nicht, so
nicht! Wenn er heraustrat aus den Mauern der Kaserne, aus des Dienstes
ewigem Einerlei, so mußte es zu einem andern Dienst sein, einem noch
höheren, heiligeren: dem auf dem Feld der Ehre. Mochte ihm seine Frau
nun auch in den Ohren liegen: ›dank doch ab, mach, dat du ’rauskömmst,
meine Eltern sind alt, wir könnten dat Jeschäft übernehmen‹ – er hörte
gar nicht, was sie schwatzte. Er wollte Soldat bleiben.

Und trotz dieses Entschlusses lag er oft Nächte lang und zergrübelte
sich; einen Argwohn hatte die Frage des Hauptmanns in ihm erweckt,
den Argwohn, nicht mehr zu genügen. Wenn er einmal mit seinem alten
Hauptmann, dem Herrn Major von Clermont, darüber spräche?! Der war kein
so Neugebackener, hatte, gleich ihm, lange gedient, der würde wissen,
wie man’s halten soll: ob gehen, ob bleiben.

Rinke zog sich die zweite Garnitur an, zwängte die frischgewaschenen
Wildlederhandschuhe über die Finger, stülpte den Helm erster Garnitur
auf und wanderte nach der Bilkerstraße; der Major wohnte noch im selben
Haus. Schon unten sagte der Bursche, der Herr Major seien unpäßlich. Er
wurde aber doch vorgelassen.

Herr von Clermont saß in einem Lehnstuhl beim Ofen; das verfluchte
Reißen hatte er sich, wie er stöhnend sagte, vom letzten Manöver aus
den nassen Wiesen an der holländischen Grenze mitgebracht. Uff, er
konnte auf kein Pferd! Das hatte man nun davon! Er war überhaupt auf
den ganzen Krempel nicht gut zu sprechen. Als ihm der Feldwebel seine
Zweifel wegen Abschiednehmens vortrug, nickte er zustimmend: »Ja,
man avanciert nicht, es ist zum Rabiatwerden! Man ist eingerostet.
Schlechte Zeiten für uns, schlechte Zeiten für alle!«

Rinke sah den Vorgesetzten mit großen Augen an: ein preußischer Major
und unzufrieden?! Ganz verdutzt stand er. Ein neuer Geist, ein Geist,
den er nicht verstand, wehte durch die Stube des Herrn Major.

Da öffnete sich die Thür, eine junge Dame in weißem Kleid, mit einem
rosenfarbenen Band um die langen, dunklen Locken kam herein. »Papa,«
sagte sie, nahm seine Hand und küßte sie, »wie geht es dir heut?«

Er strich ihr über die Locken: »Gleich, Cäcilie, gleich! Habe nur mit
dem Rinke noch ein paar Worte zu reden.«

Die junge Dame sah flüchtig nach Rinke hin. »Rinke?« fragte sie
lächelnd. »Feldwebel Rinke?«

»Zu Befehl, gnädiges Fräulein.«

»Was macht denn Ihre Tochter, die Josefine? Geht’s ihr gut?«

»Zu Befehl, gnädiges Fräulein, sehr gut!«

»So, das freut mich!«

Das war wahrhaftig nett von dem ›Fräulein Major‹, daß sie sich der
Schulgefährtin noch erinnerte! Der Feldwebel fand es ganz begreiflich,
daß man das Fräulein von Clermont die erste Schönheit der Stadt nannte
– so was Vornehmes und doch so was Freundliches!

»Grüßen Sie Ihre Tochter von mir!« Sie neigte leicht den Kopf mit einer
großen Anmut und schwebte wieder zur Thür.

Donnerwetter war die hübsch geworden! Aber seine Josefine war auch
nicht zu verachten! Im Geist hielt der Feldwebel deren blonde Flechten
neben jene dunklen Locken, die frischroten Backen neben das zartweiße
Gesicht.

Der Major sprach in seine Betrachtungen hinein – das Herz mußte ihm
übervoll sein, er vergaß ganz den Untergebenen –: »Ja, wenn ich die
Tochter nicht hätte, keine Stunde bliebe ich mehr! Nichts los, gar
nichts mehr los! Aber so viel weiß ich, sowie meine Tochter ’ne Partie
gemacht hat, nehme ich den Abschied; so lange muß ich schon noch
aushalten.« Er seufzte. »Na, und dann ziehen meine Frau und ich uns in
irgend einen netten Winkel zurück, ich halte mir Hühner und okuliere
Rosen. Mein Sohn muß schon alleine sehen, wie er fertig wird. Ich
bin’s müde. Aber daß Sie, Rinke, nicht längst um eine Civilversorgung
eingekommen sind, begreife ich nicht. Meiner besonderen Fürsprache sind
Sie sicher!«

Also auch der redete ihm zu, zu gehen?! Nein, nein! Rinke konnte sich
doch nicht entschließen, wie mit Klammern hielt es ihn am Dienst fest.
Wenn’s nun Krieg wurde und er kam nicht mit?! So lange er aktiv war,
konnten sie ihn nicht daheim lassen. Und er mußte mit, er mußte mit,
solange er noch einen Fuß rühren konnte! – –

Frau Trina hatte kein Glück mit ihren Anbohrungen, fest wie Eisen blieb
ihr Mann. Da gab sie die fruchtlosen Bemühungen auf; was sollte sie
auch ihren Rinke und sich selber ärgern?! Vielleicht, daß der Wilhelm
mal den ›Bunten Vogel‹ übernehmen konnte! Der Großvater war schon sehr
alt, und allein würde die Großmutter nie und nimmer fertig werden. Das
war doch etwas andres für den Wilhelm, als das ›Schneider lernen‹!

Gegen das Handwerk an sich hatte Frau Trina nichts einzuwenden,
wohl aber, daß es gerade ein Militärschneider war, zu dem Rinke den
Jungen in die Lehre gebracht. Wenn’s noch ein richtiger däftiger
Bürgersleutschneider wäre!

Sonst ließ sich der Wilhelm ganz gut in der Lehre an; besonders hatte
er es verstanden, sich der Meisterin angenehm zu machen. Er war eben
kein solches Rauhbein, wie die meisten Düsseldorfer Rabauen; die sanfte
Hand der Großmutter merkte man ihm noch immer an. Und daß er ein wenig
versteckt war – versteckt konnte man eigentlich nicht sagen, ein
bißchen ›für sich‹ – dafür machte Frau Trina ihren Mann verantwortlich,
der hatte den Jungen eingeschüchtert.

Der junge Mensch zeigte nach wie vor eine große Abneigung gegen
die Kaserne, darum ging die Feldwebelin öfters zu ihm hin – eine
gesprächige Freundschaft verband sie mit seiner Meisterin – oder sie
führte ihn auch Feierabends spazieren und kehrte mit ihm im ›Bunten
Vogel‹ ein.

Aber alle Sonntag nachmittag mußte der Sohn in der Kaserne antreten –
unwiderruflich – der Vater verlangte es.

Auch heute erwarteten sie ihn. Der Feldwebel hatte schon zum zweitenmal
seine Zeitung von A bis Z durchstudiert, nun horchte er auf das
Schlagen der Uhr. Konnte der Bursche denn nie pünktlich sein? Auf
seiner Stirn zog sich die Falte zusammen.

Josefine schlüpfte aus dem Zimmer in die Küche, um von dort auf den Hof
zu spähen. Sie kannte dies Gesicht des Vaters. Wo blieb der Wilhelm
denn nur? Statt pünktlich zu kommen, war er eine Stunde später noch
nicht da! Wie dumm! Nun war der Vater gleich von vornherein schlechter
Stimmung.

Die Mutter lag noch in der Schlafkammer auf dem Bett mit gelöstem
Mieder und aufgeknüpften Rockbändern in friedlichem, lang andauerndem
Mittagsschlaf, ohne Ahnung, daß sich ein Ungewitter zusammenzog.

Endlich knarrte die Stiege. Gott sei Dank! Wie der Wind flog Josefine
an die Treppe und zog den Bruder erst noch einen Augenblick in die
Küche. Hier sah sie ihm besorgt in das blasse Gesicht: »Is dich jett?«

Ihre Nasenflügel hoben sich, sie beschnupperte seinen Rock: »Willem,
wie riechste dann? Du has ja jeraucht!«

Rasch zog sie ihm den Rock herunter und schlenkerte ihn vom
Küchenfenster aus in die scharfkalte Luft. »Dat der Vater et nur nit zu
riechen kriegt, du – Jeses – Willem, wat siehste schlecht aus?!«

Der blasse, junge Mensch vermied ihren Blick; mit gesenkten Lidern
stand er und nestelte an seinen Hemdärmeln, schaudernd in der frisch
hereinwehenden Kühle. »Bis still,« sagte er dann, »schrei doch nit eso!
Ich hab’ jeraucht – wat is da weiter bei?!«

»Aber du sollst doch nit!«

Er zuckte die Achseln. »Ich kann nix dafor, se lachen einem ja aus,
wenn mer nit raucht. Der Jesell hat mich en Piep Toback jejeben, ein
einzije, wahrhaftijens Jott! Aber da is et mich e so kotzjämmerlich
nach jeworden – ba!« Er schüttelte sich noch in der Erinnerung und
spuckte aus.

»Un jetrunken haste auch,« sagte Josefine vorwurfsvoll.

»Et war mich zu schlecht, da hat mich de Jroßmutter ’ne Bittre jejeben
un de Jroßvater auch eine. Un in der Wirtsstub’ saß de Schnakenbergs
Hendrich, un dem seine Schwiejervatter, un ich mußt’ mich bei se
setzen, un se traktierten mich mit Bier – da würd’ et mich jleich
wieder jut – och Jott, och Jott, Finken!« Er hielt sich den Leib.

»Josefine!« rief von drinnen des Vaters Stimme.

Wilhelm schreckte zusammen.

»Josefine! Ist der Bengel noch nicht da? Josefine!«

Man hörte im Zimmer das Rücken eines Stuhls und einen schweren Tritt.

»’schwind!« Josefine half dem Bruder in den Rock und drängte:
»’schwind, mach dat de erein kömmst! Halt dich jerad’, Willem!
’schwind, ’schwind!«

»Na,« sagte der Vater, als sie in die Stube traten, und richtete seinen
scharfen Blick auf sie. Einen bösen Blick, so erschien es wenigstens
Wilhelm; er suchte sich hinter der Schwester zu verbergen.

»Du kommst spät! Warum?« Es klang wie ein Verhör.

»Er war erst noch in der Ratingerstraß’,« beeilte sich Josefine zu
sagen. »Bei den Jroßeltern kömmt mer immer eso rasch nit fort!«

»So – hm!« brummte der Feldwebel. »Na,« – er streckte Wilhelm die Hand
hin – »na, dann setz dich, Junge!«

Scheu ergriff der Sohn die Hand des Vaters; seine schlanken Finger
verschwanden ganz in der sehnigen Faust. Das war ein eiserner Griff!
Wilhelm unterdrückte ein Zusammenzucken.

»Pimpliger, pampliger Schlingel!« Mit einem halb gutmütigen, halb
ärgerlichen Lachen gab der Feldwebel die schmächtige Hand frei. Würde
der Junge denn nie Mark kriegen? Den nähmen sie nicht beim Militär! Es
gab ihm einen Stich: ein Sohn von ihm nicht wenigstens seine paar Jahre
dienen?! Verstimmt setzte er sich nieder, nahm wieder die Zeitung vor
und sagte kein Wort mehr.

Auch Wilhelm wagte nicht zu sprechen; schlapp vornüber gebeugt, hing er
auf einer Ecke seines Stuhls, mit trüben Augen in’s Licht blinzelnd.
Josefine hatte die Talgkerze auf dem Messingleuchter angezündet; in
dem fahlen Flackerlicht sah das Knabengesicht noch fahler aus, die
Schatten unter den Augen erschienen noch tiefer. Wilhelm kämpfte mit
dem Übelsein; aber als ihm die Schwester jetzt einen Kaffee und eine
Kommißbrotschnitte, zur Feier des Sonntags mit Apfelkraut bestrichen,
vorsetzte, wagte er nicht, dies auszuschlagen. Zögernd nahm er Schluck
für Schluck. Der Kaffee würgte ihn förmlich im Halse, Verzweifelt
stierte er auf das Brot – wie sollte er das herunterkriegen? Schon der
Gedanke an essen trieb ihm den Schweiß auf die Stirn; schwindlig wurde
ihm auch, und gähnen mußte er, gähnen, als wäre er drei Nächte in kein
Bett gekommen. Josefine blinkerte ihm warnend zu – ja, er wußte es
auch, der Vater konnte das Gähnen für den Tod nicht ausstehen, aber was
sollte er machen?! So sehr er auch die Lippen aufeinanderpreßte und die
Luft durch die Nase zog, es zwang ihm gewaltsam den Mund auf, er mußte
gähnen, gähnen aus den Tiefen seiner Seele.

Ein verwunderter Blick des Vaters traf ihn. »Hast wohl die ganze Nacht
gewacht? Gearbeitet, he?«

Etwas undeutlich Gestottertes war die Antwort; eine glühende Röte stieg
dem Jungen dabei in die bleichen Wangen.

Argwöhnisch betrachtete der Feldwebel ihn – was, trieb sich der
Bengel etwa gar herum?! Haltung und Gesichtsfarbe gefielen ihm gar
nicht. Immer finsterer wurde die Falte auf des Vaters Stirn. Er
that, als ob er lese, stützte den Kopf in die Hand, aber von unten
herauf betrachtete er unausgesetzt den Sohn. Dieser merkte das, und,
unter’m Tisch die Hände zusammenpressend, mühte er sich gewaltsam, das
krampfhafte Gähnen zu unterdrücken und sich ein möglichst harmloses
Aussehen zu geben. Er versuchte sogar ein leises Pfeifen; der Vater
untersagte ihm das sofort.

Wenn doch Josefine wenigstens drin geblieben wäre! Aber die war
gegangen, die Mutter zu wecken, der Mond schien ja schon bleich. Und
der Schnee leuchtete in gespenstischer Helle. Ein Schweigen lastete
draußen auf dem Platz, ein Schweigen auch in der Stube, so drückend,
daß des Jungen Herz pochte.

Gott sei Dank, endlich kam die Mutter! Mit Herzlichkeit begrüßte sie
den Sohn. Josefine mußte ihr von Wilhelms Übelbefinden berichtet haben,
denn sie fragte mehrmals in einem Atem: »Wie jeht et dich, wie is dich
jetzt, is et dich jett besser?«

»Wickel ihn doch lieber in Watte,« sagte der Feldwebel plötzlich und
stieß ein kurzes Lachen aus.

Aber Frau Trina ließ sich jetzt so leicht nicht mehr einschüchtern,
war sie doch die Besitzende in der Ehe, guter Bürgersleute Kind. »Laß
doch,« sagte sie. »Meine arme Jung’! De hat et auch schwer jenug.
Morjens als eso früh eraus, de Baas,[8] de läßt sich de Stieweln von
ihm wichsen, un sie, de Meisterin, all dat Wasser un Holz schleppen! Un
dat Rennen der janze Tag – de Preußen machen ja en Wirtschaft um eine
armselige Knopp! Un dann nit emal sechs Penning Trinkjeld!«

[8] Meister.

»Ist auch kein Unglück,« brummte der Feldwebel. »Geld – wozu braucht
der Bengel Geld? Daß er’s verraucht –« er hob rasch den Kopf, ein
voller Blick traf den Sohn, der unter diesem Blick zusammenknickte –
»oder mit Frauenzimmern verposamentiert!«

»Rinke!« Frau Trina sprach es vorwurfsvoll und legte den Arm um die
Schultern ihres Sohnes. »Ne, de thut doch so jett nit! Dat Jüngesken!«

»Na,« – eine unheilverkündende Röte stieg langsam dem Feldwebel in die
Stirn – »der Jüngste, der Beste! Da sollte man doch hierzulande die
Frauenzimmer nicht kennen! Machen sich hier immer so groß mit ihren
rheinischen Mädels – haha! Die Weibsbilder, die halbnackt den Malern
Modell stehn, die sind auch rheinische Mädels – nette Sorte – na, ich
danke!«

»Et Fina is doch auch en rheinisch Mädchen,« platzte Frau Trina heraus;
sie ärgerte sich mächtig über den geringschätzigen Ton ihres Mannes.

»Die Josefine – meine Tochter?! Du bist ja verrückt!«

»No, wat dann?« Jetzt fing Frau Trina an, hell zu lachen. »Et Fina is
doch in Düsseldorf jeboren, un hie is doch de Rhein! Un et is so, wie
die Mädches hie all sind, akkurat so, un nun soll et auf einmal kein
rheinisch Mädche sein?!«

»Halts Maul!« Der Feldwebel schrie sie grob an, und dann faßte er den
Jungen vorn an den Rockklappen, beroch ihn, schüttelte ihn hin und her
und schob ihn mit einem unsanften Stoß der Mutter zu. »Da – wie stinkt
der Bengel?! Nach Knaster und Kneipe! Ich will dich lehren, wo hast du
dich ’rumgetrieben, he?«

Keine Antwort. Schreckensbleich starrte Wilhelm drein; in einem
nervösen Zucken bewegten sich seine Lippen, aber keinen Laut brachte er
heraus.

»Wo hast du dich ’rumgedreht, wie siehst du aus? Antwort! Wird’s bald?«

Josefine mengte sich ein. »Vater, wat is dann, sei doch nit bös!«

Er stieß sie von sich. »Kümmer dich um deine Sachen! – Wo hast du
dich ’rumgetrieben, Bengel?!« Er stampfte auf. »Lüge nicht! Du weißt,
vormachen lass’ ich mir nichts – na?!«

Der Knabe erstarrte förmlich unter des Vaters Blick.

»Vater,« rief Josefine, »er hat sich nit erumjetrieben! Willem, nu sag
et doch, sei doch kein Bangbüx! Der Jesell hat ihm en –«

»Er hat ja jar nix jethan,« schrie die Mutter dazwischen, »de arme
Jung’! Rinke, wat fällt dich ein?!«

»’raus! Frauenzimmer ’raus!« Mit unwiderstehlicher Gewalt schob Rinke
die beiden Frauen in’s Nebenzimmer. Nun verriegelte er die Thür. Mit
starken Schritten kam er dann zurück, direkt auf Wilhelm zu. Der war
ganz in eine Ecke gewichen.

»So,« – unheimlich ruhig klang’s – »so, mein Sohn, nu sage mir mal,
wo du dich ’rumgetrieben hast, ich möcht’ das gerne wissen.« Und dann
aufbrausend: »Ich muß es wissen!«

»Ich hab’ – mich nit – erum–je–trieben!«

Ein Schlucken stieß den Knaben.

»Lüge nicht!«

»Ich lü–lüg’ – ja – nit!«

»Jawohl, du lügst!« Immer drohender wurde das Auge des Vaters, es
blitzte unter den düsteren Brauen.

»Wahrhaftijens Jott –«

»Junge!« – Des Feldwebels Stimme verlor plötzlich an Rauheit, sie wurde
fast bittend – »Junge, sag mir die Wahrheit, thu’s mir nicht an, daß du
lügst!«

»Ich – hab’ mich nit – erumjetrieben! De Jesell jab mich ene Pfeif’
– et wurd’ mich so schlecht – de Jroßmutter jab mich ene Bittre, de
Jroßvater auch – se jaben mich Bier – ich kann nix dafor – Vater,
Vater!« Aufschreiend hielt er sich schützend beide Arme über den Kopf;
der Feldwebel hatte die Hand gehoben.

Feig?! Ein verächtliches Zucken ging über des Feldwebels Gesicht, und
dann kam ein Ausdruck von Scham. Feig – sein Sohn war feig! Wer feig
ist, lügt auch.

»Ich glaube dir nicht,« sagte er hart. »Sieh mich an!« Und als Wilhelm
den Blick nicht hob, noch einmal: »Ansehen!«

Die gesenkten Lider öffneten sich zwinkernd, das matte Auge des Sohnes
versuchte, dem Blick des Vaters standzuhalten, aber es füllte sich jäh
mit Thränen. Geblendet, verwirrt senkte es sich wieder zu Boden.

»Laß mich eraus,« stöhnte Wilhelm. Alles drehte sich mit ihm, eine
peinvolle Übelkeit kam ihn an.

»Gleich kannst du gehen – aber vorerst – vorerst wer’ ich dich lehren –
du Bengel – wie man’s Lügen austreibt!« In Schmerz und Empörung sah der
Feldwebel um sich: da lag hinter’m Ofen der Stecken zum ausklopfen der
Montur.

»Vater, Vater!«

»Schockschwerenot – willst du die Wahrheit sagen?!«

»Ich sag’ se ja – ich sag’ se ja!«

Draußen raschelte es vor der Thür, Mutter und Schwester horchten am
Schlüsselloch.

»Jesses, Rinke!« Das war Frau Trinas Stimme. »Mach ens auf, Rinke!«

»Wirst du’s jetzt sagen?« Rinke streckte den Arm nach dem immer mehr
und mehr Zurückweichenden aus. »Wo warst du?«

Wilhelm wimmerte: »Vater, Vater!«

»Vater, thu ihm doch nix! Vater, hör doch!« Josefine warf sich mit der
ganzen Wucht ihrer jungen Kraft gegen die Thür und rüttelte am Schloß.
»Mach ens auf, Vater!«

Er ließ sie rufen und klopfen. »Rumtreiber, Lügner!« stöhnte er
zwischen den zusammengebissenen Zähnen. Und dann machte er einen großen
Schritt und langte den Stecken hinter dem Ofen vor und stand wieder vor
dem ganz in eine Ecke Gedrückten.

»Komm ’raus!« Eine unbarmherzige Strenge lag um des Feldwebels Mund,
nichts regte sich in seinem Gesicht. »Hose ’runter! Eins, zwei –«

Der junge Bursche starrte ihn an, als verstände er nicht. Seine Augen
waren schreckhaft weit geöffnet, er wurde totenblaß, und dann schoß ihm
auf einmal eine glühende Röte bis unter die Haarwurzeln.

»Hörst du nicht? Hose ’runter – eins – zwei – drei!«

»Laß mich!« Das war ein Schrei der Empörung. Beide Hände vorgestreckt,
stierte der junge Mensch den Vater an. »Ich laß mich nit hauen – ich
laß mich nit mehr hauen! Ich will mich nit mehr –«

»Du – du läßt dich nicht mehr hauen? Du willst nicht mehr?! Was?!«
Schon hatte der starke Arm des Feldwebels den sich verzweifelt
Sträubenden aus der Ecke gezerrt. Kein Widerstand half. Wie ein
unmündiges Kind wurde der Sohn über’s Knie gezogen – Hose herunter
– eins, zwei, drei – sausend fiel die Gerte nieder. Und wieder und
wieder.

Weiter kein Laut hörbar. Auch die draußen Lauschenden waren verstummt.

»So,« sagte jetzt der Vater kurz und schleuderte die Gerte weg. »So. Nu
kannst du gehen!«

Der Sohn richtete sich auf. Mit zitternden Händen seinen Anzug ordnend,
stand er einen Augenblick, dann wankte er zur Thür. Als er den Riegel
fortschob, warf er einen Blick in die Stube zurück, einen einzigen
kurzen Blick, scheu und von unten herauf; aber neben der Furcht, und
stärker als diese, glimmte noch etwas andres in seinen Augen.

»Adjüs!« sagte er heiser. Dann riß er die Thür auf.

An Mutter und Schwester vorbei stürzend, flüchtete er die Treppe
hinunter. Vergebens riefen sie ihm nach.

Als die Frauen bestürzt in die Stube traten, saß der Feldwebel wieder
vor seiner Zeitung, anscheinend ganz vertieft. Aber Josefine fand, der
Vater hatte eine seltsam gramvolle Miene.




VIII


Schnee, Schnee, überall Schnee. An die Mauern war er angeweht worden
und klebte in allen Ritzen; in den Fensterecken hatte er Polster
aufgeschichtet, vor die Hausthüren hatte er sich gelagert, über die
abschüssigen Dächer war er heruntergerutscht und hing nun drohend in
den Rinnen.

Die Bäume der Königsallee, die schon dicke, zum aufplatzen geschwellte
Knospen gezeigt, hatten alle Frühlingsträume vergessen; sie standen
in Sterbehemden. Der weite Exerzierplatz war von einem Leichentuch
überdeckt, kein Tritt schallte, kein Kommando ertönte.

Frau Trina seufzte fröstelnd, als sie am sonnenlosen Spätnachmittag
beim Fenster saß. Auf ihrem Schoß lag eine alte Hose ihres Mannes – wie
mit Pechdraht genäht! Das war eine mühselige Arbeit, den roten Vorstoß
herauszutrennen; aber man konnte doch die Jungen nicht herumlaufen
lassen wie gezeichnet. Immer wieder ließ sie die Hände sinken, zuletzt
lehnte sie den Rücken an und schloß die Augen.

Aber sie nickte nicht ein, wie sonst wohl gern, eine bange Unruhe
hatte sie heut zu keinem Schläfchen kommen lassen. Den ganzen Tag
schon lag es ihr in den Gliedern, ein garstiger Rabe hatte heut morgen
unter dem Fenster gekrächzt – was wohl der Wilhelm machen mochte? Der
arme Junge, hatte der gestern einen Sonntag gehabt! Es würde wohl kein
Unglück sein, wenn der sich mal ein kleines Pläsier gemacht hatte,
statt den ganzen Sonntagnachmittag in der muffigen Kaserne zu sitzen!
Prügel hatte er dafür bekommen – Prügel!

Ein wahrer Zorn erhob sich in Frau Trinas Seele: mußte denn gleich
zugehauen werden? Und immer geschnauzt?! Ach, was war sie doch so
dumm gewesen! Hätte sie lieber dazumal den Schnakenbergs Hendrich aus
der Windmühl’ geheiratet, wie gut hätte sie’s jetzt! Ein Kanapee, und
Hörtchens vor’m Fenster und keine Sorgen. Dem seine Frau ließ es sich
wohl sein. Ach, und es war doch auch etwas ganz andres, in einer Straße
zu wohnen – sie warf einen mißbilligenden Blick hinaus auf den Platz –
mal Menschen zu sehen, nicht bloß Soldaten!

Seufzend stand sie auf und ging nebenan in die Schlafkammer. Da holte
sie aus der Lade ihr Gebetbuch vor; wahrhaftig, ein Trost that ihr not!

Sie schlug es auf. Wie das paßte:

›Ich muß leiden und durch geduldige Ertragung der Leiden mich für den
Himmel befähigen.‹

»Ach ja!« Sie sank in die Kniee vor der alten tannenen Lade und las,
die Hände gefaltet, das Gebet an Maria um Geduld.

›Ich bedarf in meinen Leiden des Trostes zur Erleichterung, der
Stärke zur geduldigen Ertragung derselben – beide suche ich bei dir, o
schmerzvolle Mutter!‹

Schmerzvolle Mutter! Die Thränen, die schon lange lose gesessen, fingen
Frau Trina an zu rinnen, sie dachte an ihren Wilhelm.

Aber sie las weiter:

›Du tröstest mich in den Bedrängnissen mit der lebendigen Hoffnung auf
den herrlichen Lohn, der auf die Leiden dieser Zeit folgt.‹

Und eine große Erleichterung kam über sie. Sie las noch viele Gebete,
auch solche, die nicht auf ihre jetzige Kümmernis paßten; aber alle
verschafften ihr Ruhe. –

Draußen, jenseits des Flurs, trällerte Josefine in der Küche. Sie
schrubbte die Dielen, daß Holzsplitterchen und schmutziges Wasser
spritzten.

    »Als de Jroßvatter die Jroßmutter nahm,
    Da war de Jroßvatter ’ne Bräutijam –«

sang sie mit schallender Stimme, gerade als die Mutter ihr Büchlein
wieder in der Lade verschloß.

Frau Trina horchte auf – die war ja so lustig?! Nun ging sie auch nach
der Küche.

    »Mit dir, mit dir in’t Federbett,
    Mit dir, mit dir in’t Stroh –«

klang es übermütig weiter. Den Schrubber wie einen Tänzer vor sich
haltend, drehte sich Josefine in der Küche; ihre Holzklumpen klappten,
aber geschickt galoppierte sie auf dem feuchtglitschigen Boden.

    »Dann sticht mich auch kein Federchen,
    Dann beißt mich auch kein Floh!
    Mit dir, mit dir –«

Schon fing sie wieder von vorne an, aber der ungeschlachte Tänzer kam
ihr zwischen die Füße – er polterte hin – lachend flog das Mädchen auf
die Mutter zu und faßte die um die Taille.

Und dann sangen Mutter und Tochter, beide sich umeinander wirbelnd, das
alte Tanzlied und lachten dabei, daß sie weinten.

    »Mit dir, mit dir in’t –«

»Pst!« Josefine legte plötzlich den Finger an die Lippen – der Vater
kam die Treppe herauf!

Frau Trina errötete. Wenn ihr Mann sie jetzt gesehen hätte! Der würde
schön schimpfen! Der Thür abgewandt, machte sie sich am Herd zu
schaffen, um ihr erhitztes Gesicht zu verbergen.

Aber der Feldwebel schaute heute nicht wie sonst zuerst zur Tochter
herein, er ging gleich in die Stube. Krachend flog die Thür hinter ihm
zu.

»Och Jott, och Jott,« seufzte Frau Trina. All ihre Kümmernisse fielen
ihr auf einmal wieder ein. –

Rinke hatte die vergangene Nacht schlecht zugebracht; seine Frau atmete
schon seit Stunden tief und gleichmäßig, da saß er noch wach im Bett.
Die Nacht war finster, schweres Gewölk hielt den Mond verdeckt, nur
als ein, um weniges hellerer, Fleck hob sich das Kammerfenster aus der
Schwärze. Graute der Morgen denn noch nicht?!

Es war ihm eine Erlösung gewesen, als der erste Frühschein über’m Platz
dämmerte. Längst ehe die Reveille ertönte, stand er auf, schlich aus
der Kammer und wanderte mit großen Schritten rastlos in der eiskalten
Stube auf und ab, bis Josefine erschien und noch ganz verschlafen
fragte, ob es denn schon so spät sei? Der Hornist lockte gerade.

Die Mehlsuppe schmeckte nicht, mit einem förmlichen Widerwillen hatte
der Feldwebel den Napf von sich geschoben – der Junge, der Junge, der
lag ihm auf dem Magen! War er nicht doch zu streng gegen den gewesen?
Ah was, Strenge muß sein! Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es.

Feldwebel Rinke war heut unwirsch im Dienst gewesen, die Kerle
wurden angeschnauzt; als er die zehntägige Löhnungsberechnung in’s
Löhnungsbuch eintrug, verschrieb er sich. Beim Mittagessen wußte er
nicht, was er aß; gleich danach ging er wieder fort, es litt ihn nicht
in der Stube.

Als er mit dem Hauptmann auf dem Kasernenhof hin und her pendelte
und den täglichen Rapport abstattete, hatte er sich auf sonderbaren
Zerstreutheiten ertappt; seine Gedanken waren immer abgeschweift,
hin zu dem schweren Thor, das auf die Straße führte, hin zur
Kapuzinergasse, hin zum Haus, wo Wilhelms Meister wohnte. Er hatte sich
geärgert, daß er das Denken an den Jungen nicht lassen konnte. –

Nun war der Dienst soweit zu Ende, nur das Rapportbuch brauchte er am
Abend noch dem Bataillonsadjutanten zu überbringen. Er hätte sich ruhig
hinsetzen können zu seiner Zeitung, aber sie hatte heut kein Interesse
für ihn. Aus der Küche hörte er das unterdrückte Kichern Josefines und
seiner Frau – warum lachten die nicht laut heraus? Warum war plötzlich
das Singen verstummt, als er die Treppe heraufgekommen? War er denn so
fürchterlich, daß alle ihn scheuten?!

Verdrießlich lief er auf und ab wie am Morgen, unruhig, mit knarrenden
Stiefeln.

»Au weh,« sagte Frau Trina draußen, »er is noch schlechter Laun’!«
Die Knaben, die lärmend nach Hause kamen, wurden rasch beschwichtigt;
keiner traute sich in die Stube.

Der Feldwebel blieb allein. Und wie das Licht des Tages immer mehr
und mehr erlosch, fing er an, sich einsam zu fühlen. Gähnend stand
er am Fenster und trommelte einen Marsch auf die Scheibe. Vom
Bataillonsadjutanten, der unten in der Kasernenstraße wohnte, war’s
nicht weit zur Kapuzinergasse – ob er mal hinging und nach dem Jungen
fragte? Er nahm seine Mütze vom Nagel und gürtete das Seitengewehr um.

Josefine, die den Vater fortgehen hörte, wollte ihm nacheilen, aber die
Mutter hielt sie zurück: »Fina, bleib, du kriegst nur Brummes!«

Der Mond stand über’m Hof, ein rundes, bleiches Riesengesicht, als
der Feldwebel aus der Thür trat. Die Straße war von Mondschein
überzittert, die Lämpchen der Laternen glimmten dunkelrötlich gegen
dies blauweiße Licht. Die Luft so klar; der über Tag geschmolzene
Schnee glitzerte wie ein eisiger Spiegel. Wenig Menschen unterwegs,
nur ein paar Dienstmädchen trippelten vorsichtig vor den Hausthüren
und streuten Sand und Asche. Bei Kühling im ersten Stock, wo der Herr
Bataillonsadjutant wohnte, waren die Fenster dunkel; Rinke guckte
hinauf: der war noch nicht zu Hause – desto besser, so ging er auf dem
Rückweg vor. Erst zur Kapuzinergasse!

Bei Meister Pickardt hatten die Gesellen bereits Feierabend gemacht,
nur er selber saß noch auf dem Tisch unter der qualmenden Öllampe und
stülpte einen Waffenrockkragen. »Eja, dat is en Leid mit de Jesellen,«
klagte er, »heutzutag’ will keiner meh en Stund überarbeiten. Dat
lernen se von Pariß, dat kömmt mit der neuen Mod’! Eja, en schlimme
Zeit!«

»Thu dich nit so,« rief die Meisterin aus der offenen Küchenthür,
»als ob du selber nit jenug schimpfen thätst, wenn de Offiziers e so
pressieren: die verdammte Kuranzerei! Die Junges haben wohl recht: wenn
mer sei janz Leben arbeit’, muß mer auch uf de Minut Feierabend machen.
Hör uf, mach dich ens parat, wir wollen auch noch e bißche erausjehen!«

»Meister,« sagte der Feldwebel, »ist mein Junge da?«

»Ene.« Der Schneider packte schon die Arbeit zusammen.

»Wo ist er denn? Können Sie mir’s sagen?«

»Wer – de Willem? No, de is ja bei Ihnen!«

»Bei – mir?!«

Meister Pickardt hatte fertig zusammengepackt, nun hob er den Kopf: der
Feldwebel hatte so etwas Eignes im Ton, etwas Ängstliches. Über die
Brille weg sah er den an: »No, wat is dann?! Diese Morje früh kam de
Jung mit sei’m Bündel un sagt, er thät’ sich krank fühlen, er wollt’ en
paar Tag no Huus jehn.«

»Krank – nach Haus?! – Warum in drei Teufels Namen hat Er den Bengel
laufen lassen?« Wütend brüllte der Feldwebel. »Hab’ ich Ihm nicht den
Bengel in die Lehre gegeben?! Wie kommt Er dazu, ihn wegzulassen?«

»No, no!« Der Meister fing an, sich zu ärgern; seine Soldatenzeit lag
längst hinter ihm, er brauchte sich doch nicht mehr von dem Preußen
anschnauzen zu lassen.

»Warum hat Er mir nicht sofort Meldung gemacht?«

»Wat jeht mich dat an?! Wenn de Jung’ nit in der Lehr’ bleiben will,
laß hän laufen. Heutzutag’ hält mer keinen meh.« Der Meister pfiff
durch die Zähne. »Krank« – er kratzte sich – »freilich, dat sagen se
immer, dat is so en Stücksken, eja! ›Adjüs,‹ sagt hä for mich un jab
mich de Hand, ›adjüs so lang!‹«

Adjüs –! In des Vaters Ohren begann es zu sausen, und dazwischen hörte
er eine heisere Stimme. An der Thür – auf der Schwelle hatte der Bengel
gestanden: ›Adjüs!‹ – Durchgebrannt war der!

»Marijosef!« rief die Meisterin, die aus der Küche nähergekommen war,
und bekreuzte sich, »wat schimpft Ihr! De arme junge Mensch, wat sah de
schlecht aus! Wie en Leich’! ›Willem, wat is Ihnen?‹ sagt’ ich jestern
abend. ›Nix,‹ sät hä, aber ich hört ein schlucksen, als hän de Trepp’
eruf jing nach Bett.«

»Er ist nicht nach Hause gekommen,« murmelte der Feldwebel und starrte
vor sich hin. Das kam ihm alles so rasch, das stürzte über ihn her –
der Junge fort! – Und die da, der Meister und seine Frau, die schienen
noch seine Partei zu nehmen, heimlich Front zu machen gegen ihn, den
Vater!

»Also de es nit no Huus jekommen?« sagte die Meisterin wieder. »O
Jemmich! Wundern thut mich dat weiter nit. Dat war immer ’ne Anjang
für em, nach der Kasern’ zu jehn. Wat hat Ihr dann mit em vorjehatt?
Weiß Jott, wo de jetzt erumläuft, de arme Jung’! Un die Kält’ noch bei
der Nacht!« Mit großem Behagen malte sie ein Umherirren bei Nacht und
Schnee aus. »Letzte Winter haben se auch ’ne junge Mensch jefunden, de
auf en Bank in der Hofjarten einjeschlafen war – erfroren!« Sie schlug
die Hände über’m Kopf zusammen: »Wat wird Euer Frau sagen?! Lauft
’schwind nach der Polizei, dat se’m suchen!«

»Unsinn!« Der Feldwebel nahm sich zusammen, das geschwätzige Weib
sollte ihm nicht seine Unruhe anmerken. »Wird sich schon wieder
anfinden. Wird bei seiner Großmutter hocken!« Und wie sich selbst
beruhigend, wiederholte er noch einmal: »Bei seiner Großmutter – ich
wer’ ihn lehren! Morgen tritt er hier wieder an. ’n Abend!« Damit ging
er.

Die Meisterin schimpfte hinter ihm drein: »De Preuß’! De hochmütige
Kerl! Wat de wohl de arme Jung’ kuranzt hat! De Eisenfresser, de –«

»Bis still,« flüsterte ihr Mann und legte ihr rasch die Hand auf den
Mund, »mach nit, dat ich Verdruß drum krieg’!«

»Ä wat, Verdruß oder nit, ich werd’ mich doch wejen dem Preuß nit
scheniere! Wann et ihnen nit jefällt, laß se machen, dat se aus
Düsseldorf erauskommen, wir sind se als lang leid!« –

Rinke eilte durch die Gassen. Gleich neckenden Fingern streckte der
Mond seine Strahlen nach ihm aus; als langer, fliehender Schatten
zeichnete sich seine dunkle Gestalt von den weißen Hauswänden ab.
Er lief, daß ihm der Atem ausging und die zum Wirtshaus wandelnden
friedlichen Bürger verwundert mit ihren langen Pfeifen nach ihm
zeigten: »Wat hätt’ de?!« Warum lief der Preuße so? Sie brachten eine
aufregende Frage mit an ihren Stammtisch.

Im ›Bunten Vogel‹ saßen die beiden Alten still beim Ofen, als der
Feldwebel hereinstürmte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie seine
hastigen Fragen begriffen – das Erstaunen, den Schwiegersohn bei sich
zu sehen, hatte sie ganz übermannt – aber dann brachen der Großmutter
fast die Kniee vor Schrecken: der Wilhelm vom Meister fort, nicht in
der Kaserne, davongelaufen?! Nein, hier war er nicht! Mit zitternden
Händen hakte sie ihren altmodischen Spenzer zu und knüpfte die
Haubenbänder fester, sie wollte durchaus hinaus auf die Straße, den
Wilhelm suchen. Wo war er hin? Ein angstvolles Zittern überlief sie,
wenn sie an ihren armen Jungen dachte.

»Jesus Maria, dat Jüngesken!« Bitterlich weinend umschlang sie ihren
Alten und barg das Gesicht an seiner Schulter.

Unwirsch, verstört enteilte der Feldwebel, diese Thränen jagten ihn
fort, sie waren lauter Anklagen, brennende Anklagen – war er nicht doch
zu streng gegen den Wilhelm gewesen?!

Die hochgegiebelten Häuser der Ratingerstraße reckten sich wie drohend
vor seinen Blicken, von ihren Dächern flutete das Mondlicht und schoß
blinkende Pfeile nach ihm. Er war wie in’s Herz getroffen. Stöhnend
faßte er sich nach der Brust – ha, das Rapportbuch, gerade hatte er’s
gefaßt! Und horch, acht schlug’s von der Rathausuhr, höchste Zeit, es
abzuliefern! Der Herr Adjutant wartete wohl schon!

Er biß sich auf die Lippen – war’s so weit mit ihm gekommen, daß er der
Pflicht vergaß?! Seine Gestalt richtete sich energisch, seine erregten
Züge glätteten sich. Rasch, aber doch mit gemessen soldatischem
Schritt, marschierte er zu Kühling zurück.

Der Bataillonsadjutant war, wie immer, angenehm berührt von der famosen
Haltung des Mannes und verwickelte ihn in ein längeres Verhör über
Gesundheitszustand und Urlaubsbewilligungen der Mannschaft.

Von der nahen Kaserne tutete der Zapfenstreich, als Rinke wieder auf
der Straße stand. Es gellte ihm durchdringend in die Ohren:

    ›Zu Bett, zu Bett, ihr Lumpenhund’,
    Es schlägt die letzte Viertelstund’ –
    Zu Bett – zu Bett – zu Bett!‹

Der Hornist schloß mit einem verunglückten Trötrö. Der Feldwebel war an
diesen Mißton gewöhnt, aber heut zuckte er zusammen. Sonst pflegte er
um diese Zeit auch stets in der Kaserne zu sein, aber heut, was sollte
er im Bett?! Er konnte ja doch nicht schlafen. Der Junge, der Junge!
Suchend, mit Unruhe glitt sein Blick umher. Und dann – was sollte er
der Mutter sagen?!

Ein paar verfrühte Fastnachtsgecken, die in spitzen Papiermützen zu
einer Vor-Karnevalssitzung eilten, streiften an ihm vorbei. »Wat sühste
schläch uhs!« gröhlte der eine und streckte ihm seine lange Nase von
Papiermaché in’s Gesicht.

Erschrocken fuhr der Versunkene zusammen, unwillkürlich legte er die
Hand an’s Seitengewehr. Mit lautem »Helau!« entsprangen die fröhlichen
Gesellen. Er fluchte hinter ihnen drein – verdammte Zucht!

Jetzt war die Straße nächtlich still. Wie ausgeschnittene Silhouetten,
scharf umrissen, hoben sich die Häuser in langer Reihe vom mondhellen
Himmel. Und Sterne glitzerten und flimmerten, wie in einer bitter
kalten Winternacht, und auf dem Pflaster blinkte es von lauter
Diamanten.

Donnerwetter, wie kalt! Der Einsame rüttelte sich in einem
Frostschauer; und dann machte er plötzlich Kehrt, war mit wenigen
Sätzen um die Kasernenstraßenecke und eilte weit ausholenden Schrittes
die Mittelallee zum Hofgarten hinauf. Zum Hofgarten!

Wie hatte doch das geschwätzige Weib gesagt? – ›Da haben sie ’nen
jungen Menschen gefunden, auf ’ner Bank eingeschlafen – erfroren!‹
Unsinn! Der Junge saß irgendwo warm; der wußte ja Bescheid, der war
kein fremd zugewanderter Handwerksbursche! Und doch mußte der Vater
immerfort an diese Worte denken; sie peinigten ihn.

Der Atem ging ihm wie Rauch aus dem Mund; es war kalt, und doch stand
ihm der Schweiß auf der Stirn, als er den Hofgarten erreichte. An
dessen Rand, in der Nähe des Eiskellerberges, stöberte er noch ein paar
Rheinkadetten mit ihren Frauenzimmern auf; am Napoleonsberg traf er
schon keinen Menschen mehr.

Ganz allein stand er auf dem Hügel und starrte hinunter zum Rhein; ein
eisiger Hauch stieg von dort empor. Die Wellen im Sicherheitshafen
rührten sich nicht, sie glänzten wie starres Metall. Doch jetzt, ein
Knirschen, ein Plätschern, ein Glucksen – horch, klang da nicht ein
dumpfer Ruf?!

»Wilhelm! Wilhelm!«

Es preßte dem Vater einen Schrei aus; laut hallte der Angstruf weit
über den Rhein.

Noch einmal: »Wilhelm, Wilhelm!«

Und dann lief er hinein, quer über die verlassenen Schießstände weg,
hinein in den großen Park, der stumm und geheimnisvoll seine Waldbäume
in’s kalte Mondlicht reckte.

Hier knackte noch der Schnee. Es war nicht geschüppt; der Suchende
irrte bald vom Pfad, auf’s Geratewohl tappte er zwischen Stämmen und
Gebüsch. Endlich erreichte er die einsamen, durch keinen Lampenschein
mehr erhellten Häuser der Kaiserstraße. Im Nonnenklösterchen wimmerte
ein Glöckchen, feindselig richtete sich sein Blick dorthin. Was,
steckten da noch immer welche drin, waren die noch nicht ausgestorben?
Er ballte die Faust – all das Leid kam von denen, von den Nonnen,
von den Pfaffen, von den Römischen! Die hatten einen Graben gezogen
zwischen ihm und seinem Weib, über den sich keine Brücke schlagen
ließ. Die hatten ihm seine Kinder abwendig machen wollen. Viktoria! Bei
der Josefine war’s ihnen nicht gelungen, die hatte er ihnen abgejagt
– aber beim Wilhelm, beim Wilhelm! Der hatte immer bei den Großeltern
gehockt, heimlich katholisch mochte der wohl sein. Mochten sie nun auch
die Verantwortung für ihn tragen! Was ging ihn der Bengel noch an?!

Und doch rannte er weiter; er schrie nicht mehr, aber seine Augen
suchten und suchten.

Hinter jeden Busch spähte er. Am Hofgartenhaus, um die Landskrone, in
den Anlagen längs der Jägerhofstraße standen viele Bänke, er suchte sie
alle ab – auf keiner einzigen Bank saß der Ausreißer!

Immer weiter suchte Rinke in steigender Hast; es trieb, es jagte ihn
etwas, sein Herz schlug gegen die Rippen, so hart, daß er das Pochen
durch die Stille zu hören vermeinte. Einzelne Statuen tauchten auf
zwischen bereiften Büschen, er entsetzte sich jedesmal bei’m Anblick
der bleichen Gestalten. Eine Maus schlüpfte durch’s dürre Laub, ein
Nachtvogel schlug die Flügel; kaum Geräusche, und doch fing sein
geschärftes Ohr sie auf – wo irrte sein Sohn?!

Der Mond ging allmählich nieder auf seiner Bahn; längst war es nicht
mehr recht hell gewesen, nun wurde es dunkel. Der Vater machte sich
nicht die Unmöglichkeit klar, jetzt, in der Nacht, in dem weiten
Hofgarten den Knaben zu finden; der Gedanke, wie unwahrscheinlich es
sei, daß dieser sich gerade hierher geflüchtet, kam ihm gar nicht –
er suchte, suchte. Suchte mit angstbeflügelten Schritten, alle Sinne
fieberhaft erregt.

»Halt, wer da?!«

Ein militärischer Ruf belebte plötzlich die einsame Finsternis,
Gewehrläufe blinkten auf, harte Tritte hallten auf gefrorenem Boden. –
»Wer da?!«

Ah –! Der Doppelposten vor dem Jägerhof!

Rinke stand, die Hand am leis klirrenden Seitengewehr: »Feldwebel
Rinke, sechzehntes Infanterieregiment, neunte Kompagnie!«

Die Wachen sahen ihn; jetzt machten sie Kehrt und nahmen, Gewehr über,
ihr unterbrochenes Hin- und Herwandeln wieder auf.

Ah, sehr gut, Kerle hatten nicht geschlafen!

Rinke war wieder ganz bei sich. Blödsinn, hier herumzulaufen bei
nacht! Da war ja das Schloß; dunkel lag es auch schon, nur oben im
breiten Mittelfenster des ersten Stockwerks war noch Licht. Man sah den
Kristalllüster blitzen. Ihre Königlichen Hoheiten, der Prinz Friedrich
und seine erlauchte Gemahlin, waren noch auf!

Unwillkürlich stand der Feldwebel stramm; wie ein großes, strahlendes
Auge grüßte ihn das hell erleuchtete Fenster, wie Sterne funkelten die
Kerzen des Schlosses durch die Nacht.

Ruhiger ging er fort. Gleich einer sanften Tröstung nahm er noch einen
Lichtschimmer von da oben mit auf den Weg.

Treue, Tapferkeit und Gehorsam – diese drei – Pflichtgefühl und Ehre –
aber die Ehre ist die größte unter ihnen!

Und war sein Wilhelm auch kein Soldat, als Soldatensohn mußte er
wissen, was ›Ehre haben‹ heißt; er mußte es lernen. Nein – der
Feldwebel schüttelte den Kopf – zu streng war er nicht gewesen!

Er hatte nur seine Pflicht erfüllt gegen sein Kind.

Nun hatte er Frieden mit sich selber gemacht, wie er wähnte. Er ging
heim, sehr müde; ruhig zu schlafen gedachte er, aber jäh fuhr er
auf nach kurzem, wildem Träumen, mit dem Schlafen war’s nichts. Er
beneidete seiner Frau den friedlichen Schlummer. Die lag mit gefalteten
Händen, ein behagliches Lächeln um den Mund.

Noch vor dem Reveilleblasen weckte er sie. Länger konnte er’s nicht
mehr verschweigen, er mußte ihr Mitteilung machen von Wilhelms
Verschwinden. Seine Stimme klang gepreßt, von neuem fühlte er sein Herz
pochen in peinvoller Unruhe. Und sie, was würde sie erst sagen?!

Aber gelassener, als er gedacht, nahm sie es auf; nur daß sie aufstand
und sich zum ausgehen anschickte. In den ›Bunten Vogel‹ wollte sie, da
würde der Wilhelm schon sein.

Nein, nein, da war er ja nicht!

Aber sie blieb dabei: jetzt würde er schon da sein.

Frau Trina war ihrer Sache sicher; hatte sie nicht am gestrigen
Nachmittag all ihre Sorgen und Kümmernisse im Gebet an die schmerzvolle
Mutter niedergelegt und dann noch am Abend vor’m Einschlafen ihren Sohn
den Schutzengeln empfohlen? Auch jetzt nahm sie sich noch die Zeit,
bei der zur Frühmesse geöffneten Lambertuskirche vorzugehen und vor’m
uralten Gnadenbild auf dem Pfarraltar den englischen Gruß zu flüstern.

Den Feldwebel litt es nicht zu Hause. Die qualvolle Ungewißheit ertrug
er kaum mehr. Hatte die Käthe recht, war der Junge inzwischen bei den
Großeltern angekommen? Und wenn er nun nicht da war, was dann?! Er
fühlte, wie ihm das Blut vom Herzen wich.

Noch war kaum eine Stunde seit dem Fortgehen Frau Trinas verstrichen,
so machte er sich auch auf. Über die morgendlich stillen Gassen eilte
er, wie gestern durch die abendlich stillen. Hin zum ›Bunten Vogel‹,
rasch, rasch! Und wenn der Junge nun nicht da war?! Verdammt, wie weit
der Weg war!

Endlich klingelte er an, leise, fast zaghaft. Die Großmutter öffnete
ihm. Ihre Haube war zerdrückt, ihr weißes Haar, noch nicht sauber
geglättet, erschien weißer im Morgengrau. Ihr Gesicht so runzelig, so
überwacht – und doch sah er auf den ersten Blick: der Junge war da!
Gott sei Dank! Mit einem tiefen Aufatmen trat er ein.

Als wäre die alte Frau dem Schwiegersohn nie böse gewesen, so faßte
sie jetzt seine Hand und leitete ihn zur Treppe, die dunkel und
steil in’s Obergeschoß führte. Flüsternd berichtete sie: Mitternacht
war’s gewesen, sie und ihr Peter hatten in aller Angst noch wach in
der Wirtsstube gesessen, da hatte es leise an’s Fenster gepocht. Da
hatte er draußen gestanden, furchtsam, totenblaß und ganz verfroren.
Die Zähne hatten ihm geklappert; und verhungert war er gewesen, halb
ohnmächtig vor Leere im Magen. Er hatte ja keinen Pfennig Geld gehabt,
und zu jemand Bekanntem hatte er sich nicht hingetraut. Umhergeirrt war
er, wie ein gescheuchtes Tier.

»De arme Jung’!« sagte die Großmutter mit einem gerührten Lächeln und
wischte sich die Thränen aus den Augen. »Un dann hab’ ich hän in unser
Bett jelegt, in sei’m kleine Kinderbettche kann de lange Mensch doch
nit meh schlafen, un da« – ganz behutsam öffnete sie die Kammerthür –
»da schläft hä noch!«

Den Atem anhaltend, trat der Feldwebel ein. Da war das alte Ehebett mit
dem Kattunhimmel und der Muttergottes darüber; durch das ausgebaute
Fensterchen schaute das fahle Morgenlicht und fiel gerade auf den
Schläfer. Dieser hatte eine hohe Röte auf den Wangen und einen
unruhigen, pfeifenden Atem. Seine eine Hand lag geballt an der Wange,
die andre wurde von der Mutter gehalten.

Frau Trina saß am Bett mit glücklichem Gesicht; jetzt winkte sie
lächelnd ihrem Mann zu – hatte sie nicht recht gehabt, hier war der
Ausreißer?!

Hinter dem Kopfende döste der Großvater; er sah ganz verwittert aus,
zum verlöschen müde, er und Frau Cordula hatten ja kein Bett gehabt.
Hier hatten sie gesessen die ganze Nacht und den Schlaf des Enkels
bewacht.

Auf den Zehen, sein Seitengewehr behutsam an sich drückend, schlich der
Feldwebel näher. Hatte er doch Lärm gemacht?!

Der Schläfer rührte sich, seine Lippen murmelten Unverständliches; wie
Angst huschte es über das hübsche Gesicht, die Brauen schoben sich
zusammen, eine tiefe Falte bildete sich an der Nasenwurzel. Er riß
seine Hand aus der der Mutter und tastete voller Unrast auf der Decke
umher.

»Er is am träumen,« flüsterte die Großmutter.

»Bis still, mein Jüngesken,« liebkoste die Mutter und strich dem
Unruhigen ein Locke aus der Stirn.

Der Junge schlug die Augen auf.

»Er is wach!« rief die Großmutter erfreut.

»Er is wach!« wiederholte die Mutter.

Auch der Großvater rappelte sich auf.

Aber keinen von diesen sah der Erwachende. Da, wo der Vater stand,
dahin richtete sich stier sein Blick. Seine Augen wurden überweit
– nur einen Moment, dann preßte er sie schaudernd zu. Mit einem
unartikulierten Laut, die Decke ganz über den Kopf ziehend, kehrte er
sich stracks ab gegen die Wand.




IX


Frühling war’s geworden, junger, schöner Frühling.

Singend that Josefine ihre Arbeit. Gestern hatten die beiden Jüngsten
drüben am Kanalrand Veilchen gesammelt, ein volles Sträußchen davon
trug sie an der Brust. Sie wünschte sich tausend Nasen, sie konnte gar
nicht genug von dem Duft bekommen. Und Glocken läuteten den weißen
Sonntag ein: morgen würden die Kommunion-Kinder in ihren schlohweißen
Kleidern und Schleiern, weiße Kränze auf den Locken, weiße Sträußchen
auf den in’s Taschentuch geschlagenen Gebetbüchern, wie weiße
Blütenwolken über die Straßen ziehen.

Durch die geöffneten Fenster wehte eine linde Luft, wahrhaft
verführerisch gaukelte sie vom Exerzierplatz herauf. Die Kastanien der
Königsallee hatten lappige Blättchen aus den braunen Knospen gesteckt,
bis hierherauf sah man den grünen Schimmer. Es roch nach Erde, nach
Saft, nach verborgen treibendem Leben, nach Lenz, Lenz!

Josefine schaffte mit hochgeröteten Wangen – die Mutter war in der
Beichte – sie war allein, ohne Hilfe, und noch waren die Fenster zu
putzen; auch die frischgewaschenen Gardinchen sollten sich morgen
im Sonntagswind blähen. Wie ein Junge schwang sie sich in’s Fenster
und rieb mit nicht erlahmender Kraft die blasigen Scheiben blank. Das
morsche Fensterbrett ächzte unter ihrem Gewicht. Wer von Soldaten unten
über den Platz ging, guckte hinauf und bewunderte die drallen Waden und
den blonden Zopf, der sich aus dem Nest gestohlen und der Emsigen lang
über den Rücken hing.

Ein schönes Mädel!

Sergeant Conradi wußte das auch, er brauchte gar nicht erst durch die
verstohlenen Blicke seiner Leute aufmerksam gemacht zu werden. Er ließ
Wendungen üben.

»Rechts – um!«

Wenn sie doch nur heute im Schummern ein wenig herunter käme!

»Links – um!«

Dann wollte er ihr über den Hof nachsteigen und draußen auf der Straße
eine Anrede riskieren!

»Ganzes Bataillon – Kehrt!«

Vielleicht spazierte sie ein bißchen mit ihm auf der Königsallee!

»Ganzes Bataillon – Front!«

Der Karlsplatz war auch nicht zu verachten, da schlugen sie die Buden
auf für den Jahrmarkt, vielleicht, daß das Kölner Hänneschen schon
spielte!

»Bataillon – Marsch!«

Er war ja ein Mann, der an’s heiraten dachte, sie konnte ruhig mit ihm
in die dunkle Bude gehen!

»Links schließt – euch!«

Und einen Nähkasten wollte er ihr auf dem Jahrmarkt kaufen mit Nadeln
und Zwirn, und ein Zuckerei, darauf mit bunten Farben geschrieben
stand: ›Dein ist mein Herz!‹

»Bataillon – halt!«

So gut war er noch nie bei Stimme gewesen, das fühlte Conradi; weit
hallte sein Ruf über den Platz, die Leute drehten sich wie die Puppen.
Wenn =sie= doch nur auch Augen für ihn gehabt hätte! Aber nein – mit
Betrübnis war er es schon oft inne geworden – einen jeden sah sie
an, nur ihn nicht. Wenn sie über den Kasernenhof schwänzelte, ihr
Körbchen am Arm, und die Leutnants das Augenglas einklemmten, lachte
sie über das ganze Gesicht; er hätte vor Eifersucht platzen mögen. Und
doch konnte man ihr nicht das geringste nachsagen. Mit einer gewissen
Rührung dachte Conradi daran, wie fleißig sie arbeitete, morgens,
mittags, abends, immer. Aus der Mannschaftsstube im Seitenflügel konnte
er ihr Küchenfenster beobachten: sie wusch und kehrte und scheuerte und
schälte Kartoffeln und rührte in den Töpfen. Und immer sang sie. Was
sie für weiße, runde Arme hatte!

Er blinzelte hinauf und gab das Kommando mit schmetternder Stimme.

Aber Josefine beachtete ihn gar nicht, sie war ganz bei der Arbeit,
und was ihr von Gedanken übrig blieb, war auf etwas andres gerichtet:
heute feierte Cäcilie von Clermont ihre Hochzeit. Um sechs Uhr war
die Trauung in der Kirche auf der Bolkerstraße. Wenn die Mutter bald
nach Hause kam, konnte es noch geraten, daß sie hinlief und guckte –
rasch, rasch, daß sie fertig wurde! Im ›Breidenbacher Hof‹ sollte das
Hochzeitsmahl sein, im Blättchen hatte alles gestanden, haarklein. Man
nannte das Fräulein von Clermont nicht umsonst die größte Schönheit der
Stadt; nicht umsonst hatten die Maler sie auf so und so viel Bildern
verewigt, nicht umsonst war die Frau Majorin mit der Tochter in der
Mittagstunde die Alleestraße und am Nachmittag die Königsallee auf und
ab promeniert – das allgemeine Interesse war rege.

Auf einem Bazar ›zum Besten der Notleidenden in Irland‹ hatte Fräulein
von Clermont den reichen Freier kennen gelernt, den Sohn des großen
Fabrikanten aus dem Wupperthal, den Herrn vom Werth, der von seinen
Renten lebte, Weinberge an der Mosel und ein Schloß am Rhein besaß. Der
junge Herr vom Werth war nach Düsseldorf gekommen, um die Bälle der
Gesellschaft mitzumachen; er kutschierte selbst ein feines Gespann –
Groom hintenauf – und gab kleine, feine Herrendiners. Er baute sich ein
schönes Haus am Hofgarten.

Auf dem Bazar hatte er der reizenden Cilli alle Sträußchen, die sie
feilbot, abgekauft; sie hatte die größte Einnahme des Tages erzielt.
Und auf dem Wohlthätigkeitsfest, daß die Künstler gegeben, hatte er
sich ihr erklärt. Kein Wunder! War doch die Tochter des Majors in
dem lebenden Bild, das ›Die beiden Leonoren‹ des berühmten Karl Sohn
verkörperte, die schönste Prinzessin von Este gewesen, die je eine
Künstlerphantasie in verzückten Träumen geschaut.

Ach ja, diese Malerfeste! Josefine dachte mit einem leisen Seufzer
daran. Sie hatte auch diesmal die spalten- und spaltenlangen Berichte
über die lebenden Bilder im Täglichen Anzeiger gelesen – aber beinahe
wäre sie diesmal selber einmal dazu gekommen! Als sie eines Tages auf
dem Weg zu den Großeltern die kleine Schleife über den Burgplatz nicht
scheute, um ein Blickchen auf die Hauptwache zu werfen, waren ihr von
der Akademie her drei entgegengeschlendert, lustig, laut, Arm in Arm,
Maler natürlich. Zwei blutjung; aber forsch alle drei. Sie hatten sie
scharf angesehen, dann angelacht und dann angeredet. Ob sie Lust hätte,
›mitzuthun‹?

»Wat meinste, Andreas, wär’ dat nit jett für den Jordan? So en
Heljoländer Fischerweib,« rief der eine von den jungen.

»Ne, Oswald,« – der ältere schüttelte den Kopf – »wat denkste! Dat hat
ja jar nit dat Salzige für die Nordsee – viel zu lecker!« Und damit
hatte er ihr die Wangen gestrichen. »Aber vielleicht en jut Seitenstück
für dat schöne Cillchen. Wat meinst du dazu, Ludwig?«

»Um Gotteswillen,« hatte da der allerjüngste gerufen, »bleibt mir mit
den großen Posen vom Leib – brrr – Genre, Genre!«

Sie hatten ihr noch viel Komplimente gemacht, und dann waren sie
lachend davongestürmt: »_Addio bellissima!_« Eine Kußhand hatte
der eine zurückgeworfen. Aber sie hatte sich doch geärgert, denn
untergefaßt hatten sie sich alle drei und zu singen angefangen:

    »Wie mich das Ding verdrießt,
    Daß ’s Mädel bucklig ist!«

Die ekligen Jungen, nur zum besten hatten die sie gehabt! Andre
Bürgermädchen waren doch dabei gewesen; bei so was wurde kein
Unterschied gemacht, wer hübsch, wurde eben begehrt, und wer garstig,
konnte zu Haus bleiben!

Ob die Cäcilie von Clermont sie wiedererkannt hätte? Oder ob die
stolz geworden war? Nein, nein, die hatte ihr ja auf der Schulbank
Freundschaft geschworen; und daß die Freundschaft nicht stand gehalten,
daran war niemand schuld – nein, auch nicht die eingebildete ›Vons‹,
die ›Madam Habenix‹, wie die Mutter immer sagte. Es paßte nun einmal
nicht mehr zusammen, eine Majors- und eine Feldwebelstochter. Ein
Unterschied muß sein, hatte sie der Vater belehrt. Und so war sie immer
ausgewichen, wenn es der Zufall wollte, daß die schlanke Gestalt der
ehemaligen Freundin vor ihr auftauchte; nur mit einem stummen Nicken,
wie eine Fremde, an der vorübergehen zu müssen, das wäre ihr doch zu
schwer gefallen.

Aber heute wollte sie die Cilli gucken gehen, mußte sie die gucken
gehen, die glückliche Braut! So bald Frau!

Schon heiraten – ach!

Josefine schoß das Blut zu Kopf, sie dachte daran, daß das ganz schön
sein müßte, wenn man einen recht lieb hätte. Den Conradi?! Ach ne, den
nicht! Daß der’s auf sie abgesehen hatte, merkte sie ganz genau, und
ebenso, daß der Vater es begünstigte. Am Ostersonntag hatte dieser sie
und die Mutter zum Konzert in Geislers Garten geführt – das spendierte
er sonst nicht –, und mit Kaffee und Törtchen hatte er sie traktiert.
Und als sie im besten Schmausen waren, fand sich der Conradi ein, mit
frischgewaschenen Handschuhen, die Koppel eng gezogen; und der Vater
hatte ihn aufgefordert, am Tisch Platz zu nehmen.

Es war noch etwas frostig gewesen, ein rechter Frühlingstag war’s noch
nicht.

Ein ganz hübscher Mensch, ein bescheidener Mensch und gewiß auch ein
guter Mensch! Er machte so treuherzige Augen, wenn er sie ansah. Aber
es mußte einem doch wohl mehr pressieren, mit einem zusammen zu kommen.
Sie war ja auch noch so jung. Jung? Die Cilla war nicht älter wie sie!

Wie der wohl heute zu Mut sein mochte?

Ach so – so –, daß man die Zähne zusammenbeißen muß, um nicht laut zu
schreien vor Wonne, an sich halten muß, um den Liebsten nicht in den
Arm zu nehmen – Kuß links, Kuß rechts, und dann einen mitten auf den
Mund, fest, fest, heiß, aus aller Kraft, daß es fast schmerzt. Ach,
solch einen Kuß hatte sie noch nie empfangen!

       *       *       *       *       *

Als Frau Trina um halb sechs aus der Beichte kam, fand sie die Wohnung
sonntäglich sauber und die Tochter ungeduldig ihrer wartend.

»Och, wat hetzt de dich dann wejen der Hochzeit so ab,« sagte sie, »dat
Cilla hat sich ja auch nit meh um dich jekümmert!« Aber im Grunde wäre
die Feldwebelin auch ganz gern noch einmal mitgegangen. –

Die Bolkerkirche war dicht umdrängt; auch wo die Leute nichts sehen
konnten, standen sie. Allzuviele fanden ohnehin in dem engen Hofraum,
in dem, versteckt, die Kirche zurücklag, nicht Platz. Die meisten
hatten sich draußen vor dem Thor postiert – hier mußten die Kutschen
halten. Ein langer Teppich war von da über die Steinfliesen des
Durchgangs bis zur Kirchthür gelegt.

Es war Josefine geglückt, die Zuschauermauer zu durchbrechen, bis an
die Kirchstufen hatte sie sich gedrängt; nun stand sie und harrte.

Eine gewisse Unruhe überkam sie, die Glocke schlug so unaufhörlich an.
Sie hob die Augen – wie blau war der Himmel über dem alten Kirchdach!
Und jetzt flirrte ein Schwarm Tauben auf mit sonnbeglänzten Flügeln;
nur zwei blieben sitzen auf dem First der Küsterwohnung und gurrten und
schnäbelten sich.

Der Küster stand im schwarzen Leibrock am Eingang.

Wie lang das dauerte! Ah, jetzt, draußen ein Rollen! Und jetzt kam
das erste Paar vom Straßenthor her über den Läufer. Ein Herr im hohen
Cylinder, mit Orden auf dem Frack; und die Dame, mit langgedrehten
Schmachtlocken an den Schläfen, im ausgeschnittenen Seidenkleid, über
die Spitzenberte einen pfirsichblütfarbenen Umhang mit Schwanen gelegt.

Und ähnliche Paare folgten, nur daß bei den Herren das Bunt der
Uniformen mit dem Schwarz der Fräcke wechselte. Die sämtlichen Herren
des Regiments waren eingeladen und der ganze niederrheinische Adel, der
den Winter in Düsseldorf mitgemacht.

Das war ein Rauschen von starrer Seide, ein Blitzen von
Familiendiamanten, eine lange Reihe von stattlichen Männern und
blonden, blühenden Frauen.

Der alte Herr vom Werth, vornehm wie ein Fürst, dem man’s nicht ansah,
daß er in seinen jungen Jahren selber das Weberschiffchen geworfen,
führte die Frau des Kommandierenden. Hinter ihnen kam, als erster
Brautführer, ein junger, schlanker Leutnant, der eine der Brautjungfern
am Arm hatte. Sechs andre Fräulein mit ihren Kavalieren folgten,
aber keiner der Herren, fand Josefine, war nur halb so nett wie der
vorderste. O, der schöne, schlanke Offizier! Der gefiel ihr.

Die Glocken hallten und hallten. Und nun flog ein Raunen durch die
zuschauende Menge, man reckte den Hals, man stellte sich auf die Zehen
– da war die Braut! Josefine hätte beinahe laut aufgeschrieen: wie
schön!

Am Arm ihres Vaters kam sie langsam geschritten; weißgekleidete, kleine
Mädchen streuten Blumen vor ihr her, Knaben in Sammetkitteln trugen ihr
die Schleppe. Spitzenschleier fielen vom Kranz herunter, eine lange
Perlenschnur hing ihr um den Hals. Gerade, wie eine schlanke Tanne,
hielt sich die stolze Gestalt, von ihrer wolkenlosen Stirn leuchtete
das Glück; es ging ein Strahlen von ihr aus. Und hinter ihr kam der
Bräutigam, am Arm die Schwiegermutter – auch ein schöner, heiterer Mann!

Das Düsseldorfer Volk, das sich drängte, hätte am liebsten laut
zugejubelt: das waren einmal Kinder des Glücks!

Die Kirchthür schloß sich, die Glocken schwiegen. –

Josefine kam in großer Aufregung nach Hause, nicht genug konnte sie
der Mutter erzählen; sie hatte auch noch die Braut wieder aus der
Kirche kommen sehen, aber diesmal hatten sich die Zuschauer nicht
zurückgehalten, Rufe der Bewunderung waren hörbar geworden, ein
laut begrüßendes: »Ah!« Mädchen hatten sich herzugedrängt, von den
Myrtenzweiglein aufzulesen, die sich von der Schleppe der Braut gelöst.
Auf allen Gesichtern Freude an der Schönheit, Befriedigung über den
Glanz.

Frau Trina beschloß, wenigstens am Abend noch mit der Tochter vor den
›Breidenbacher Hof‹ gucken zu gehen.

Der Feldwebel schüttelte zwar den Kopf über die Neugier seiner
Weibsbilder, aber in diesem Falle hielt er sie nicht zurück. Er selber
legte sich zeitig zu Bett – morgen gab’s noch viel zu thun für die
Besichtigung. Das würde dem Major auch sauer ankommen, Montag in aller
Frühe auf den Gaul! Na, bald hatte es ja für den ein Ende, der hatte
seinen Abschied eingereicht. Nach Godesberg oder Mehlem oder Honnef
wollte er ziehen, in eines dieser kleinen Nester am Rhein, und von da
das Schloß des Herrn Schwiegersohn beaufsichtigen.

»Verdammt!« Der Feldwebel spuckte aus – nur nicht so einen Posten, so
ein Schlenderleben! Ein Grausen kam ihn plötzlich an. Er stemmte die
Beine unten gegen das Fußende des Bettes und reckte sich so in seiner
ganzen sehnigen Länge. Er hatte noch Kräfte, noch Zeit, konnte noch
lange im Dienst bleiben! Konnte noch lange des Königs Rock tragen –
nein, niemand sollte ihm den herunterziehen! Hinter seinem Sarg sollte
dermaleinst der Leutnant mit den dreißig Mann marschieren – vor’m
Wagen her ein Kamerad seine Ehrenzeichen auf dem Kissen tragen – die
Hoboisten sollten den Totenmarsch blasen, die Tambours gedämpft die
Trommel schlagen, drei Salven über’s Grab dröhnen – – – Jesus, meine
Zuversicht – – bis an’s Ende in des Königs Rock, in Ehren!

Glücklich lächelte er, der Gedanke war so schön. So wohl hatte er sich
lange nicht gefühlt, sanft schlief er ein.

Währenddessen lauerten Mutter und Tochter vor’m ›Breidenbacher Hof‹
auf die Braut; sie hatten’s gehört, heut abend würde die noch abfahren
auf die Hochzeitsreise. Sie hatten sich untergefaßt und trippelten
ungeduldig hin und her. Verleugnen konnten sie einander nicht: das war
derselbe weiche Gesichtsschnitt, dieselbe weißmollige Haut, dasselbe
blondwellige Haar; nur daß die Mutter etwas aus der Façon geraten war.

Auch andre Neugierige hatten sich eingefunden: alte Weiber, junge
Mädchen. Vor’m Hotelportal stand schon die Equipage, die das
Hochzeitspaar zum Bahnhof bringen sollte. Es war ein dunkler, linder
Abend, die Luft wie Sammet. Aus den Lindenbäumen der Alleestraße quoll
ein zarter Duft auf nach jungem, sprossendem Grün; ab und zu sank
leise ein Tropfen vom weichgrauen, von Sternen matt durchflinzelten
Wolkenhimmel. Ein süßer Geruch verbreitete sich nach Primeln und
Hyazinthen; eins der Mädchen hatte wohl ein Sträußchen vom Schatz
bekommen und trug es an der Brust.

Das war so recht ein Abend zum flüstern, zum Wang’-an-Wange-lehnen, zum
zärtlichen Ausschau-halten da droben nach dem blauen Stern der Liebe.
Josefine war ganz still, aber ihr Herz pochte; sie lockerte sich das
Tuch, das sie um die Brust geschlungen hatte, ihr war so voll, so heiß.

Oben im großen Saal hatte man die Fenster geöffnet, Gläserklirren und
heitere Stimmen schallten heraus – jetzt wieder Musik – und jetzt kamen
ein paar Gestalten die teppichbelegte Treppe herunter. Das waren sie!

Alles reckte die Hälse; aber dunkle Reisemäntel verhüllten den
Staat, der Wagenschlag flog zu, die Pferde zogen an, fort waren die
Neuvermählten. Nur ein Herr in Uniform, der das Paar geleitet, blieb
noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Hinter ihm strahlte die
Ampel des Vestibüls und warf einen hellen Flimmer um seinen Kopf.

»Dat is de Bruder von der Braut,« sagte jemand hinter Josefine.

Was?! Der schöne, schlanke Offizier: Viktor?! Josefine lachte in sich
hinein – wahrhaftig, das war der Viktor! Daß sie den nicht gleich
erkannt hatte in dem ersten Brautführer heute vor der Kirche! Das war
er ja, das war er ja! Wo hatte sie denn nur ihre Augen gehabt? Da stand
er leibhaftig!

Erhitzt war er und vergnügt – jetzt trällerte er und drehte sich am
Bärtchen – lieb sah er aus – auch ein bißchen hochmütig – riesig
forsch! Ne, der Viktor!

Sie hätte in die Hände klatschen mögen vor Vergnügen, stellte sich auf
die Zehen und reckte sich; es war ihr, als müßte sie ihn anrufen: Du,
pst, Viktor! Ich bin hier!




X


Sergeant Conradi machte in diesem Frühjahr entschieden Fortschritte
in Josefines Gunst. Er hatte sie auf den Karlstädter Markt
führen und ihr etwas kaufen dürfen. Für einen Nähkasten und zwei
Siamosenküchenschürzen hatte sie sich sehr erfreut bedankt, auch
lachend in ein Zuckerei gebissen, aber ein vergoldetes Ringelchen mit
einem blauen Stein wollte sie durchaus nicht annehmen. Er mußte es,
etwas betreten, in der Brusttasche seiner Uniform bergen.

In’s Kölner Hänneschen hatte er sie auch geführt und sich schmählich
dabei gelangweilt, denn er verstand das Hänneschen mit seiner Pritsche
und Fistelstimme nicht; den Witz ebensowenig wie den Dialekt. Das
einzige Vergnügen war für ihn, Josefine zu beobachten; sie lachte, daß
ihr die dicken Thränen über die Backen kollerten. Karussell war er auch
mit ihr gefahren, und immer hatte er noch die zwei jüngsten Brüder
mitgeschleppt, die sich an die Schwester hingen wie Kletten.

Von dem Mann mit der ›Morithat‹ hatte er die Jungen gar nicht
fortbringen können, obgleich er sich selbst nicht behaglich fühlte,
zwischen der Menge eingekeilt. Allerlei Burschen – rechte Lotterbuben –
mit roten Halstuchzipfeln, die Mützen schief auf dem Ohr, die Ellbogen
herausgestreckt, standen breitbeinig umher.

»Lustige Rabauen,« sagte Josefine.

Conradi wußte es besser, sein militärisch geschultes Ohr hatte allerlei
Bemerkungen aufgefangen:

»Wat will de Preuß hie?«

»Haal dei Muhl, de Kähl hat en Zäbel.«

»En Zäbel? Ene, en Kiesmetz!«[9]

[9] Käsemesser.

»Helau, en Kiesmetz!« Ein unterdrücktes Gelächter flog durch die Menge.
Conradi fühlte es, diese staute sich gegen ihn, öffnete nur widerwillig
eine Gasse, um ihn herauszulassen. –

Es war gegen Pfingsten, als der Sergeant Befehl erhielt, in Elberfeld
zur Probedienstleistung bei der Gendarmerie anzutreten. Der Abschied
wurde ihm sauer. War auch Elberseld nicht aus der Welt, so würde es
doch schwierig werden, des Sonntags nach Düsseldorf herüberzufahren: es
rauchen viel Fabrikschornsteine im bergischen Land, und der Sonnabend,
der Auszahlungstag, und der folgende Sonntag noch, erforderten strammen
Dienst.

So schlich der Schüchterne denn umher und suchte die Nähe des Mädchens,
das er liebte. Mit dem Feldwebel hatte er gesprochen, der hatte nichts
dawider; aber wenn =sie= ihm nur treu blieb! Da hatte er Bedenken.
Wenigstens wollte er bestimmt wissen, woran er war. Das Ringelchen,
das sie damals, neckisch lachend, verschmäht, trug er noch immer bei
sich und paßte auf die Gelegenheit. In seinen Mußestunden hatte er
schön kalligraphisch auf ein goldgerändertes Blättchen Papier hingemalt:

    ›Mädchen, wenn ich einmal sterbe
    Und der Tod mein Auge bricht,
    So pflanz’ du auf meinem Grabe
    Eine Blum’: =Vergißmeinnicht=!‹

Viele Male hatte er das abgeschrieben; immer waren ihm die Buchstaben
nicht zierlich genug, die Schnörkel nicht mächtig genug erschienen.
Dies Gedicht wollte er ihr mit dem Ringelchen geben.

Am letzten Abend erwischte er sie. Unten auf dem Hof war’s, im
Dunkeln. Sie stand am Brunnen und ließ Wasser in einen Krug laufen.
Der Zapfenstreich hatte eben ausgetutet, einzelne Kerle wutschten noch
geschwind hinein in ihre Blocks, letzter müder Lichtschein glomm in den
Mannschaftsstuben. Die Ahornbäume auf dem Hof rauschten sacht, und der
Pumpenschwengel quietschte leis. Am Himmel blinzelten die Sterne.

Da schob er sich zu ihr heran. »Finchen – liebes Finchen – morgen muß
ich weg!« Seine Stimme klang betrübt.

»Dat ’s schad’ – ja, dat weiß ich!«

»Es fällt mir sehr schwer!«

»Och eja, dat jlaub’ ich wohl!«

»Sehr schwer, von – Ihnen zu scheiden!«

»Was jefällig?« Sie hatte nicht recht verstanden, was er sagte, er
flüsterte immer leiser.

Nun tuschelte er es ihr in’s Ohr: »Von Ihnen zu scheiden!«

»Och, wat Sie nit sagen! Hihihi!« Sie kicherte gedämpft.

»St–, Finchen, st–!« Zärtlich faßte er ihre Hand; das Ringelchen hatte
er schon in der seinen verborgen gehalten, nun versuchte er, ihr es an
den Finger zu schieben. »Und da möcht’ ich – ich bitte Sie – wenn ich
so weit weg bin« – nun hatte er den Reif glücklich auf ihrem Finger –
»damals wollten Sie nich, dann tragen Sie’s jetzt, zur Erinnerung –
teures Finchen – zum Gedenken an mich! Und sowie ich ’ne gute Stellung
kriege, dann –«

Jetzt lachte sie verlegen auf und machte sich von seiner Hand frei.

Das Herz schlug ihm – wenn sie davon lief? Er fürchtete es schon, aber
sie blieb stehen. Gerade über dem Baum, der den Brunnen beschattete,
blinkte ein Stern, durch’s Gezweig warf er schimmerndes Licht auf das
liebe Gesicht. Der Verliebte konnte das jetzt deutlich sehen, und ein
eifersüchtiger Schmerz durchfuhr ihn – wenn das andren lächelte?!

»Darf ich Sie als meine Braut betrachten?« sagte er hastig und griff
wieder nach ihrer Hand.

Sie ließ die ihm wohl, auch daß er einen Kuß auf ihre Wange drückte,
litt sie, aber sie küßte nicht wieder. Er hätte sie gern umhalst, aber
da war kein Ankommen.

»Oho, noch lang nit,« neckte sie und wich geschickt seinen Armen aus.

»Finchen, ’nen Kuß! Einen einzigen Kuß,« bettelte er.

»Ich mag Sie wohl jern leiden, Herr Sergeant,« sagte sie plötzlich
ganz ernsthaft, »aber – aber –!« Und nun reichte sie ihm ihre Hand und
schüttelte die seine herzhaft: »Adjüs! Lassen Se sich ’t immer jut
jehen! Ich – ich will an Sie denken – oft denken – ich –« mehr sagte
sie nicht, aber sie sah ihn treuherzig an. Und dann drehte sie sich um
– gerade noch, daß er ihr sein goldgerändertes Papierchen zustecken
konnte – und flüchtete, ihren Krug im Stich lassend, dem Hause zu.

Etwas verdutzt stand er – war sie nun seine Braut?! Aber dann faßte er
sich: sie hatte ja seinen Ring und sein Gedicht. Und leise pfeifend
schritt er von dannen, zärtliche Hoffnungen im Herzen. –

Sergeant Conradi war abgereist; Josefine hatte ihrer Mutter das Gedicht
gezeigt, ehe sie es in den neuen Nähkasten verschloß. ›Mädchen, wenn
ich einmal sterbe‹ – ach, das war doch sehr zum lachen! Auch das
Ringelchen legte sie dazu, in Seidenpapier gewickelt, und vergaß dann
bald, wo sie es hingethan.

Sie war sehr vergnügt; die Tage gingen hin, einer wie der andre, aber
gerade darum schnell wie ein Traum. Der Vater war jetzt meist guter
Laune, er war verjüngt, als sei ihm eine Hoffnung aufgeblüht: es sah
kriegerisch aus. In Frankreich ging es toll her. Diesmal war es keine
Täuschung, nein, diesmal gab es Krieg! Und mit den Franzosen ging es
zuerst los.

Der Feldwebel saß, was er sonst höchst selten gethan, jetzt öfter
mit den Kameraden zusammen. Der Kaserne gegenüber, an der Ecke der
Bastionstraße, hielt ein Invalide eine Kneipe; da hatten sie ihr
Standquartier aufgeschlagen, saßen in der gänzlich verräucherten Stube
um den runden Tisch, tranken ihr dünnes Bier, disputierten gleich
heftig wie die zankenden, französischen Parteien und amüsierten sich
höhnend über den König, den Louis Philipp, der in dem allgemeinen
Wirrwarr in Frankreich herumtrieb, wie ein Schiff ohne Steuer.

Krieg, Krieg war die allgemeine Losung.

Frau Trina glaubte nicht daran, sie ließ sich jetzt nicht mehr bange
machen. Ihr Interesse gehörte dem ›Bunten Vogel‹, da schaffte der
Wilhelm jetzt wirklich Wunder. Merkwürdig, was der Junge ein Geschick
für die Wirtschaft zeigte! Die blühte ordentlich auf; in die verödete
Wirtsstube war Leben gekommen.

»Kuckste, Rinke,« sagte Frau Trina oft triumphierend, »kuckste, wie jut
et is, dat wir de Jung nit wieder beim Pickardt jethan haben! Für ene
Schneider is de ja auch viel zu schad’!«

Rinke hatte anfangs nichts vom wirtschaften im ›Bunten Vogel‹ wissen
wollen, der Junge sollte durchaus wieder in die Lehre. Die Großeltern
hatten sich hinter den Doktor stecken müssen, und dieser konstatierte
denn, daß dem jungen Menschen von der schweren Erkältung, die er sich
beim umherirren in der Schneenacht geholt, eine Schwäche auf der Brust
zurückgeblieben sei, und verordnete: keine sitzende Lebensweise, keine
allzu anstrengende Arbeit!

Der Wilhelm schwach auf der Brust! Wie einen Vorwurf hatte es der Vater
empfunden. Er hatte nicht mehr das Herz, drein zu reden – ja, ja, der
Junge sollte den Großeltern in der Wirtschaft helfen! Wenn er sich
wenigstens da bewährte!

Frau Trina fand sich oft im ›Bunten Vogel‹ ein, um den Sohn zu sehen;
der kam Sonntags nicht mehr in die Kaserne, der Feldwebel hatte es
nicht verlangt. Die Mutter hatte ihre Freude daran, wie geschäftig
ihr Wilhelm umherlief, die große Küferschürze stand ihm gut; die
Bürgersleute riefen ihn an ihren Tisch, auch die Rheinschiffer, die
Hafenarbeiter und Verlader vom Kohlenthor tranken ihm zu.

Nach und nach zogen sich auch junge Maler von der nahen Akademie nach
dem ›Bunten Vogel‹. Tische und Wände und Thüren waren bald mit ihren
Studien bedeckt; da prangten erstaunliche Malereien und Zeichnungen mit
Kohle. Gut, daß die gemütliche Polizei ein Auge zudrückte!

Über ihrem Bett und im Komptörchen hatten die Großeltern schon ein
paar schöne Porträts von ihrem Wilhelm hängen: das eine Mal war er als
Ganymed gemalt, das andere Mal in der Lederschürze mit dem Küferhammer.
Zwei junge Maler hatten so die rückständige Zeche gezahlt und noch für
eine Weile das Recht auf Freibier erworben.

Das war oft ein Gelächter, ein Spaßmachen im ›Bunten Vogel‹, den
biederen Bürgern wackelte der Bauch. Die Jungen hielten Reden, und
die Alten horchten darauf. Oft sprang einer auf den Tisch, die
Wangen gerötet, die Augen blitzend, wild schüttelte er die Mähne,
in freiem Schwung floß ihm die Rede. »Allotria,« sagten die Bürger
kopfschüttelnd, aber sie freuten sich doch darüber. Ja, anders mußte es
werden, das fanden sie auch!

Es wurde viel geredet, viel gesungen, viel geschrieen – Einheit!
Freiheit! – und: »Gleichheit!« brüllten die Rheinkadetten und knallten
die schwieligen Fäuste auf den Tisch. – – –

Der Sommer war da mit seinem heißen Sonnenbrand und den schwülen
Nächten.

Die Ernte war gut, aber doch saßen die Bauern verdrossen auf dem
Gemüsemarkt. Die von Stoffeln und Flehe, von Bilk und Derendorf,
von Himmelgeist und Flingern, von Niederkassel und Heerdt, selbst
die fetten Hammer klagten: es würde doch alles teuer sein, die
kleinen Leute und der Bauersmann würden nichts von den Segnungen
des Zollvereins spüren, die genoß nur der Reiche. Und wenn man in
der Zeitung las, dann war’s wo anders noch viel schlimmer, als am
gesegneten Rhein. Wie bewucherte man zum Beispiel die schlesischen
Weber! Und in Frankreich machten die Arbeiter Aufstände. Über die
holländische Grenze kamen die Brotlosen aus Flandern und klopften an
die Fabriken im bergischen Land; aber die hatten selber kaum regen
Betrieb genug, Arbeiter wurden entlassen. Wie sollte das erst im Winter
werden?!

Die Düsseldorfer Bürger, die so behäbig in ihren sauberen Häusern
wohnten, fragten sich das auch wohl einmal; aber Sorgen machten sie
sich nicht weiter darum, es war ja so pläsierlich im schönen Sommer
am schönen Rhein. Landpartien wurden arrangiert, man benutzte die
Eisenbahn zu Vergnügungsfahrten; der St. Sebastianschützenverein
veranstaltete sonntägliche Preisschießen mit Tanz, Gesangvereine zogen
nach dem Grafenberg, lagerten sich dort im Wald und stimmten an aus
voller Kehle:

    ›Lebe, liebe, trinke, schwärme
    Und bekränze dich mit mir.‹

Rege Geister unter der Künstlerschaft planten die Gründung des
›Malkasten‹, eines Sammelpunktes für jene, die, müde des alten Zopfs,
einer jungen, freieren Kunst stürmisch entgegenjauchzten. –

Schon mischten sich unter das tiefgrüne Laub der Hofgartenbäume gelbe
Blätter, die Morgen waren bereits duftig, die Abende verklärt von
träumerisch verhüllten Sonnenuntergängen, aber die Mittage waren noch
strahlend, vollerglüht, brennender denn je. »Dat jiebt ene jute Wein
oben am Rhein,« sagten die Kenner und schnalzten mit der Zunge, »de
kocht!«

Auch die Nächte waren schwül voll verhangener Glut; die Milchstraße
schlängelte sich wie ein helles Band, Sternschnuppen fielen.

›Was soll ich mir wünschen?‹ dachte Josefine, wenn sie an dem
Fensterchen ihrer Kammer neben der Küche lehnte. Sie konnte jetzt
oft nicht schlafen, in der beklommenen Nacht wallte ihr das Blut.
Tiefatmend beugte sie sich hinaus und sah über den Hof; der lag so
still, ganz im Schlaf. Kein Fußtritt, kein wandelnder Schatten. Aber
in den Ahornbäumen rührte es sich und wisperte und zitterte mit den
Blättern in heimlicher, beständiger Unruhe. Auch ihr Herz klopfte.
Sollte sie wünschen, daß der Conradi mal von Elberfeld zu Besuch käme?

»Och ene!« Sie sagte es ganz laut, und dann erschrak sie über den
eignen Ton. Den Kopf in den Nacken legend, sah sie starr hinauf
zum nächtlichen Himmel – was wünschen, was doch?! Ihre Nasenflügel
zitterten, ein feuchter Glanz stieg in ihr Auge, wie eine heiße Welle
übergoß sie’s.

Ha – da fiel eine Sternschnuppe! Blitzschnell schoß ihr blinkender
Schweif durch die Nacht – nun lag sie unten im dunklen Ahorn. Wieder
nichts gewünscht! Josefine hätte weinen mögen.

    ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
    Daß ich so traurig bin –‹

Ach ja, das schöne Lied! Das hatte sie neulich gehört, als sie, vom
baden kommend, am Rhein entlang gegangen war. Ein neues Lied! Sie
hatte es noch nicht gekannt, aber ihr Ohr hatte es gleich aufgefangen,
aufgenommen, wie einen lieben, längst vertrauten Ton. Es sang sich von
selber.

    ›Ein Märchen aus alten Zeiten,
    Das kommt mir nicht aus dem Sinn.‹

Der Sänger war ein Schiffer gewesen, ›Sankt Goar‹ stand am Stern seines
Schleppkahns. Schwarz war der Bursche wie ein Teufel – er hatte Kohlen
geladen – aber seine Zähne blitzten desto weißer, und seine Augen
blitzten auch. Am Bugspriet saß er, ließ die Beine über Bord hängen
und sang sein Lied, unbekümmert, mit schmetternder Kraft, als wäre er
allein auf der Welt.

Weit, weit über die spiegelnden Wasser war es hingeflogen, auf glatter
Bahn. An der Brücke mußte man es hören können, am alten Schloß, in den
Giebelhäusern bis hinauf unter die roten Dächer, jenseits zwischen den
Weiden, auf den grünen Wiesen, und weit, weit bis dahinten am Horizont,
wo die Sonne, rotgolden, umhängt von Duftschleiern, in Rhein und Himmel
versank.

Lange hatte Josefine gelauscht, der Sänger schien nimmer zu ermüden.

    ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
    Daß ich so traurig bin;
    Ein Märchen aus alten Zeiten,
    Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

    Die Luft ist kühl und es dunkelt,
    Und ruhig fließt der Rhein –‹

Das hatte sie mit nach Haus gebracht. Ach, wenn sie’s doch nur noch
weiter könnte! Der Mutter hatte sie es vorgesungen, und die lernte es
auch rasch, eben weil’s ihr gefiel; und die Brüder lernten es auch,
sie sangen es um die Wette. Und die Soldaten unten auf dem Hof summten
nach, was die Feldwebelstochter oben schmetterte.

Josefine seufzte und lehnte den Kopf an’s Fensterkreuz – ach ja,
drei Wochen stand der Leutnant von Clermont nun schon bei des Vaters
Kompagnie! Mitte August war er hergekommen. Der Vater hatte eine rechte
Freude darüber gehabt und war beflissen gewesen, dem Sohn seines alten
Hauptmanns zur Hand zu gehen. Bald im Anfang war’s, da hatte er in die
Küche gerufen: »Josefine, koch’ Kaffee, ’nen guten, der Leutnant is
ganz alle von der Felddienstübung!«

Der Bursche, der den Kaffee für seinen Herrn hatte holen sollen, kam
und kam nicht, so war sie rasch selber gegangen und hatte die Tasse
gebracht – nur das Endchen dunklen Gang, vorbei an den Kleiderkammern,
ein paar verstaubte Stufen hinunter, ein paar hinauf, wieder ein Gang,
und dann gleich die erste Thür war die der Offiziersstube!

Genäht hatte sie ihm auch schon was. Er trug unter seiner Uniform
schöne, feinleinene, gesteifte Wäsche, da bügelte ihm die Wäscherin
immer die Knöpfchen ab oder zerriß die Bändel. Er hatte ja niemand, der
für ihn sorgte, seine Eltern wohnten nicht mehr in der Stadt, und auch
die vom Werths waren auf ihrem Schloß am Siebengebirge, und – du lieber
Gott, da war ja auch weiter gar nix bei, sie hatten doch schon als
Kinder miteinander gespielt!

Das war aber doch merkwürdig, daß er sie sogleich wiedererkannt hatte!
Auf dem Kasernenhof hatte er sie nicht angesprochen, nur gegrüßt,
aber gleich den ersten Tag, oben auf dem Gang, hatte er ihr die Hand
geschüttelt und eine ganze Weile bei ihr gestanden.

Sie hatte gewagt, ihm zu sagen, daß sie ihn im Frühjahr bei der
Hochzeit seiner Schwester gesehen, vor der Kirche, und abends am
›Breidenbacher Hof‹.

Warum sie denn nicht ›Pst‹ gemacht hätte?

»Ich hab’ ja – ne, ich wollt’ ja,« verbesserte sie sich, rot werdend.

Da hatte er sie so strahlend angelacht, daß sie die Augen
niederschlagen mußte.

Ein schöner Mensch – der Vater sagte es auch – kein andrer kam dem
gleich! Und ein lieber Mensch! – – –

Das Mädchen am Fenster schauerte in der einsamen Nacht. Ach, daß sie
doch schlafen könnte, wie die andern alle!

Ah, da fiel wieder eine Sternschnuppe! Mitten in den Hof sank sie.

Josefine beugte sich spähend hinaus, als wolle sie ihr Glück suchen.
Drüben im linken Seitenflügel, gar nicht fern – da – da – da flinzelte
noch ein Licht in der Offiziersstube! Auch ein Stern.

Der Atem der Nacht strich ihr über das heiße Gesicht – wachte der
Leutnant auch noch?

Der Ahorn unter dem Fenster rührte beständig die Blätter, wisperte und
raunte und zitterte, unausgesetzt, voll heimlicher Unruhe. Als ob er
auf etwas wartete – auf was denn?!




XI


Viktor von Clermont war gar nicht entzückt über sein Kommando nach
Düsseldorf, obgleich der Major es als eine besondere Artigkeit
vermerkte, daß man den Sohn zum alten Regiment des Vaters versetzt, und
so wieder in seine Nähe.

Traurig genug, daß es mit der Garde nichts geworden war – dazu fehlten
die Gelder –, aber beim Regiment in Neu-Ruppin war’s doch auch ganz
nett gewesen: Berlin so nah, man konnte des Sonntags immer und in der
Woche abends öfter hinüberflitzen, unter den Linden flanieren und, als
seiner Majestät Leutnant, gegen bedeutende Ermäßigung die Balletts im
Königlichen Opernhaus genießen.

Jedoch hier, in dem kleinen Provinznest, was sollte man hier anfangen?!
Das Theater am Markt war die reine Bude, man sah es ihm schon von
außen an, daß innen nichts los war. Ein ruppiger Schusterjunge
in Berlin hatte mehr Witz, als die ganzen Düsseldorfer zusammen
aufbringen konnten. Es war nirgends etwas los, der Hofgarten zum
sterben langweilig, die ziemlich breiten Straßen und Alleen förmlich
ausgestorben.

Ach, so ein Abend unter den Linden und auf der Friedrichstraße! Nur das
war Leben! Da brannten die Laternen hell, man schwamm mit in der Menge,
die auf und nieder wogte, man betrachtete die Schaufenster, man ging zu
Kranzler hinein, um ein Schälchen Eis oder eine Limonade zu schlürfen
und die Hofequipagen vorübersausen zu sehen.

Und wie estimiert der Berliner seinen ersten Stand! Kam man zu Josty
oder zum ›schweren Wagner‹, gleich stürzte der Kellner herbei, nahm den
Mantel ab und fragte nach den Befehlen; er bediente so geschmeidig, als
hätte man mindestens Sekt und Austern beordert. Hier zu Lande mußte man
erst dreimal rufen, hier galt nur der Protz!

Viktor begriff nicht, wie sein Vater es so lange hier hatte aushalten
können. Freilich, der mußte eben, der Knüppel lag beim Hund. Um Gottes
willen, nur nicht hier sitzen bleiben! Man versumpfte ja ganz!

Der junge Offizier beschloß, sich fleißig vorzubereiten, und sich
dann schleunigst zur wissenschaftlichen Prüfung auf Kriegsakademie zu
melden. Dann mußte man doch hier wegkommen.

Mißmutig lag der Leutnant auf dem eingesessenen, zu kurzen Sofa der
Offiziersstube. Alle Tage das Trampeln der Mannschaft, das stereotype
Pfeifen, und wenn alles schwieg, das Wispern der Ahornbäume. Ein
Tag wie der andre. Er gähnte und reckte die Arme über den Kopf. O,
die Langeweile! Wenn jetzt nicht bald ein Krieg kam, dann war’s zum
totschießen!

Er richtete sich halb auf und sah verzweifelt um sich. Den Fettfleck
hier über dem Sofa an der Wand hatte wohl sein unglücklicher Vorgänger
zurückgelassen; gleich ihm mochte der oft dagesessen haben, das Haupt
angelehnt, in’s öde Nichts stierend. Und hier die Kopflehne wies auch
solchen Fleck auf, und dort, wo die Füße ruhten, war der Überzug
zerscheuert und das Heu der sogenannten Polsterung schimmerte durch.
Elendes Dasein!

    ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
    Daß ich so traurig bin –‹

Horch, da sang wieder die Josefine! Die hübsche Josefine!

Viktor lächelte und schloß lauschend die Augen halb. Die war wahrhaftig
der einzige Lichtpunkt hier! Wie sie sang! Hell wie ’ne Lerche, und
doch hatte sie auch Töne, tief und warm.

Von der reinen Herbstluft getragen, veredelt, geklärt, schwebten die
Klänge des Liedes zu ihm herein.

Nettes Mädel, liebes Mädel! Wahrhaftig, er mußte ihr doch mal eine
Freude machen, sie erwies ihm so oft allerlei Gefälligkeiten. Der
Alte war ein Rauhbein, die Mutter eine Null, aber die Tochter – alle
Achtung! Was sollte er ihr wohl schenken: ein Band, einen Kamm, eine
Brosche, Konfekt, Blumen, einen Almanach?!

Den seidengehäkelten Geldbeutel mit Stahlperlen, ein Geschenk seiner
Schwester Cäcilie, herausziehend, zählte er nach. O weh, zwar
erst gestern Gage bekommen, aber da waren die fünf Thaler für die
Kleiderkasse, die Tischgelder, die andern Abzüge – was blieb noch
übrig?! Wahrhaftig, er mußte sich beizeiten nach einer reichen Frau
umsehen – was soll ein armer Leutnant in Friedenszeiten sonst wohl
machen?!

Sein lächelndes Gesicht trübte sich – dem Mädel eine kleine Freude zu
machen, selbst dazu fehlte es ihm! Plötzlich mußte er daran denken,
wie er einst auf der Kasernenstraße gestanden und sehnsüchtig nach den
Weckmännern im Bäckerladen geschaut. Jahre her, aus dem Kadetten ein
Leutnant geworden, aber damals schon wie heute, immer dieselbe Misère!
Und doch – er mußte wieder lächeln – ob er ihr damals eigentlich den
Weckmann gekauft hatte? Er wußte sich nicht recht zu erinnern. Aber das
wußte er noch genau, ihre Arme hatte sie um seinen Hals geschlungen im
dunklen Keller, und ihre warmen Lippen hatten ihn geküßt.

Er strich sich den Schnurrbart. Horch, sie sang noch immer! Die
hatte eine gute Lunge. Und nun sah er ihre schöne Gestalt vor sich,
die kräftige Brust, die runden Arme, den federnden Gang. Was hatte
sie eigentlich für Augen? ›Blaue Augen schön, aber sehr gemön‹ –
nein, die ihren waren nicht gewöhnlich! Er mußte doch einmal tiefer
hineinschauen. Sapperlot, unter welchem Vorwand ging er denn gleich
hinüber in die Feldwebelwohnung?!

Plötzlich aus seiner Langenweile aufgerüttelt, sprang er auf und fing
an, Toilette zu machen; er konnte ja dann gleich auf die Königsallee
gehen, nachmittags pflegten sich die Schönen Düsseldorfs zu zeigen, und
Kameraden waren immer dort.

Umständlich begann er sich zu pomadisieren und zu frisieren: Scheitel
über den Hinterkopf gezogen, Haare rechts und links über den Ohren
aufgebürstet. Den Schnurrbart gewichst, Mütze eine Ahnung schief
gerückt, Taille eng gezogen, daß die wattierte Brust heraustrat. Nun
noch die Nägel poliert, diese schönen, rosigen Nägel, mit den weißen
Halbmonden und den langen, spitz zugeschnittenen Schuppen.

Als er den Gang zur Feldwebelwohnung entlang schritt – was brauchte er
erst offiziell über den Hof zu gehn, hier war’s viel bequemer –, hatte
er noch immer keinen Vorwand. Na, der Alte würde ja nicht gerade da
sein! Vorsichtig schob er die nur angelehnte Küchenthür auf, enttäuscht
wollte er den Kopf zurückziehen – niemand drin! – da trat Josefine aus
ihrer niedrigen Kammerthür.

»Wer da?«

Sie hatte sich eben das Haar frisch aufstecken wollen, noch hing es ihr
in schweren Zöpfen in den Nacken. Rot wurde sie bis unter das weiße
Busentuch und dann blaß; sie war erschrocken, eben hatte sie an =ihn=
gedacht.

Das Kommen und Gehen des Blutes unter der weißen Haut entzückte ihn.
Und wie frisch ihre Lippen waren! Nun fiel ihm plötzlich etwas ein:
er mußte sich bedanken für die gestopften Socken, die sie ihm gestern
durch Bruder Karlchen geschickt.

»Sie haben so viel Freundlichkeiten für mich,« sagte er gedämpft und
drückte ihre verarbeiteten Finger.

»Ich –? Och ene!« Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, aber er hielt sie
fest.

»Diese fleißigen Finger« – zart streichelte er darüber hin – »haben
sich so für mich gequält!«

»Jequält!?« Sie hob auf einmal die gesenkten Lider und sah ihn so groß
und voll an, daß er erschrak; dann drehte sie sich hastig um und lief
an’s Fenster.

»Wat Sie für dumm’ Zeug reden, Herr Leutnant – jequält, haha, da war
doch jar nit viel an zu machen! Un dat hab’ ich ja so jern jethan! So
jern – ach, ich jlaub’, da kommt der Vater!«

Das war ihr offenbar eine Erleichterung, oder schien sie ihm nur so
verlegen?

Jetzt winkte sie: »Vater, Vater!«

»Nanu? Ich komme noch nicht,« tönte des Feldwebels Stimme herauf.

Das war ja recht angenehm, daß der Alte noch nicht erschien! Als sich
Josefine vom Fenster zurückwandte, begegnete sie dem feurigen Blick des
jungen Mannes.

»Wollen Sie nit in’t Zimmer eintreten?« fragte sie beklommen, »die
Mutter is drin!«

»Nein, ich danke!« Er lachte.

Da mußte sie auch lachen. Ein Bann war gebrochen, unbefangen schwatzte
sie wieder, und dazwischen rief sie: »Jemmich, mein Haar!« und lief
in die Kammer. Aber sie ließ die Thür offen, und er sah, wie sie die
runden Arme hob und die schweren Zöpfe zur Krone aufsteckte.

Er wendete den Blick nicht. In Berlin gab’s auch hübsche Mädchen,
aber schnippische, blaßwangige, hier von dieser ging ein Strom von
Gesundheit aus, eine Fülle von Jugend. Eine Sehnsucht stieg in ihm
auf, sie zu küssen, ein Verlangen, das seinen Blick starr machte. Er
fühlte, es war besser, daß er ging, ehe er Dummheiten machte.

»Adieu, Josefine,« sagte er gepreßt.

»O, jehn Sie schon?« Sie kam auf ihn zugelaufen, Bedauern lag in ihrem
Ton. »Adieu, Herr Leutnant!«

»Herr Leutnant –?!« Er konnte nicht dafür, ganz wie von selbst hob
seine Hand ihr gesenktes Kinn in die Höhe; fragend sah er ihr in das
offene Gesicht. »Herr Leutnant?! Warum nicht ›Viktor‹? – Nein, Sie
wollen nicht?« Sie hatte heftig verneinend den Kopf geschüttelt. »Warum
denn nicht, Sie haben’s doch früher gesagt, sind wir nicht dieselben
geblieben?!«

Nun lachte sie hell auf, wie belustigt von einer Erinnerung. »Och ene!
Dat sollt’ Ihnen jetzt wohl schlecht passen, am Speeschen Jraben im
Dreck zu krosen und Rejenwürm’ zu suchen! Wissen Sie noch, wie wir als
jewettet haben, wer ne Rejenwurm auf die Zung’ lejen kann? Ne, Herr
Leutnant,« – ihr Blick streifte ihn von oben bis unten, wie es ihm
schien mit einer leisen Bewunderung – »Sie sind nit derselbe mehr!«

»O doch! Freilich, die Regenwürmer« – er schüttelte sich – »die wären
nicht mehr mein Fall. Aber wissen Sie noch, Josefine, wie wir im Keller
fuhren, in der Bütte?«

»Och, auf Sankt Nikola – ja, ja!« Sie klatschte in die Hände.

»Und wie ich Ihnen ’nen Kuß gab und Sie mir, auf Sankt Nikola, im
dunklen Keller?« Er hatte sie um die Taille gefaßt und sich nahe zu ihr
gebeugt.

»Dat weiß ich nit mehr,« flüsterte sie; aber er sah es ihr an, daß sie
log. Sie stand wie gelähmt, willenlos in einem süßen Schreck.

»Und ich bin doch noch derselbe!« triumphierte er. Lachend, ehe sie
sich wehrte, gab er ihr einen Kuß.

Da raffte sie sich auf und stürzte zur Küche hinaus. Er hörte die
Stubenthür klappen.

Sehr guter Laune trat Viktor von Clermont auf den Kasernenhof – dumm,
daß ihm gerade der Feldwebel begegnen mußte! Der Alte hatte so ein
verdammt ehrliches Gesicht. Aber was war denn Unrechtes dabei? Er hatte
eine hübsche Kindheitsgespielin geküßt, weiter nichts! Und wohlgemut
schlenderte der junge Offizier zum Thor hinaus.

War eigentlich gar nicht so übel, das alte Nest, nun die Sonne
so freundlich alles vergoldete. Als Knabe waren die Ferien, hier
zugebracht, doch immer eine Wonnezeit für ihn gewesen. Unwillkürlich
schwenkte Viktor in die Bastionstraße ein – zur Königsallee kam er noch
immer zeitig genug. Er ging zum Speeschen Graben, da war er undenklich
lange nicht gewesen.

Über die Mauer des früheren elterlichen Gartens, an dessen Rückseite
er nun entlang schlenderte, nickten die Bäume. Das Birnenspalier beim
Nachbar war mächtig in die Höhe geschossen. Wie würde Josefine lachen,
wenn er sie daran erinnerte, mit welchem Genuß sie die harten Birnen
am Steintisch in der Laube mürbe geklopft hatten! Auch er lachte so
laut auf, daß ein ehrsamer Rentner, aus der Vesper von der Maxpfarre
hier entlang wandelnd ganz erschrocken nach dem Offizier hinstarrte,
der einsam unten am Grabenrand stand und sich die Stiefel schmutzig
machte. Was wollte der hier in dieser entlegenen Gegend?!

Ein seltsamer Duft stieg von dem dunklen, stillen Wasser auf, und die
Frösche quakten. So hatten sie auch damals gequakt und – platsch –
Viktor trat derb zu, daß der Schlamm spritzte – so hatten sie sich
auch damals eilig in die Tiefe gerettet. Es wurde ihm ordentlich
schwer, sich loszureißen von dem stillen Graben mit den großen
Teichrosenblättern und dem grünen Entengries.

Die Herbstsonne fing an, sich zu neigen, ein schönes, warmes Rot hing
wie ein Purpurmantel den Pappeln der Bergerallee im Rücken; vom Rhein
her kündete ein feuchtes Wehen den nicht mehr allzufernen Abend.
Beschaulich-friedvolle Ruhe lag über den weißen Häusern und den blauen
Schieferdächern. Ein paar Knaben schlugen Dopp mitten auf der Straße;
hier fuhr kaum je ein Wagen.

Nun war Viktor am Schwanenmarkt. Das war freilich das alte Kacheloch
nicht mehr. Rund um das Viereck des Platzes standen Häuserreihen, die
kaum eine Lücke mehr wiesen; Rasenflächen und wohlgepflegte Lindenbäume
erinnerten nicht mehr an die stachligen Hecken und mannshohen
Hollunderbüsche von ehemals. Und doch – lag’s an der Luft, die ihn
frei umwehte, an den Schwalben, die zwitschernd über ihn hinstrichen
zum nahen Lopohl? – er hörte wieder Kinderjubel. – – ›Eins, zwei,
drei, mein Herz ist frei!‹ – so schrie Josefine, sich freischlagend,
atemlos vom raschen Nachlaufenspiel. – – Und an jener Ecke stand der
Schinderhannes, der dicke, freche Bürgersjung’, die Hände in den
Hosentaschen, die Beine gespreizt, und spuckte. – – Und hier an der
Ecke der Löwenapotheke hatten Taubnesseln geblüht, wilder Thymian und
gelbe Kettenblumen, Josefine hatte sie zum Strauß gepflückt.

Überall Josefine und überall.

Und sich selber sah er springen im verwaschenen Kittel, in
ausgewachsenen Hosen.

Und eine gewisse Rührung überkam ihn.

Er dachte nicht mehr daran, auf der Königsallee zu promenieren;
nachdenklich ging er die Bilkerstraße hinunter, am Elternhaus vorbei,
über den Karlsplatz, immer weiter hinein in die alte Stadt. Von den
Kirchen läutete es, aus den Bürgerhäusern roch es appetitlich; Kinder
mit großen Blatzschnitten standen in den offenen Thüren, hinter ihnen
im Dunkel des Flurs glimmte das ewige Lämpchen vor’m Muttergottesbild.
Am Markt, beim alten Jan Willem, saß noch wie früher die Obstfrau
unter’m Regenschirm; aber es war nicht mehr ›das Appel-Len’‹, bei der
er einst geröstete Kastanien für Josefine gekauft.

Noch lag oben auf den Firsten Abendglanz, unten in der engen Zollstraße
war es schon dämmerig. Er schritt durch’s Thor. Der Strom in seiner
ganzen Breite grüßte ihn. Die Wellen kräuselten sich im Abendwind,
milchiger Schaum schwuppte an der Ummauerung hinauf, – und nun hallte
ein Böllerschuß, dumpfdröhnend, die ›Rotterdam‹, das große Schiff der
Kölner Dampfschleppschifffahrtgesellschaft, heischte Durchlaß.

Schrill gellt die Signalpfeife des Brückenwärters, rasselnd fällt die
Kette, alle Mann an die Winde – das Joch ist ausgefahren, stolz rauscht
die Rotterdam gen Holland hinunter, als lange Schleppe Fruchtkahn
auf Fruchtkahn nach sich ziehend. Ein lautes ›Hoihoh‹ hallt über den
Rhein, die Schiffer rufen sich zu, und ›Hoihoh‹ klingt’s wie ein Echo,
langgezogen aus nebliger Ferne.

Der feuchte Rheinwind legte kühle Finger an des jungen Mannes Wange.
Hier hatte er einst mit Josefine gestanden und das Hochwasser
angestaunt, und dann waren sie auf Umwegen zur Ratingerstraße
geschlichen. Heute ging er auf dem nächsten Weg dorthin.

Aus den uralten Häusern, unter deren Ziegeldächern einst die
Rittergeschlechter gehaust, guckten Krämer und Kleinbürgersleute dem
Offizier verwundert nach. Fast mißtrauisch. Was hatte der hier zu
suchen?! Der Leutnant bemerkte nicht die unfreundlichen Gesichter. Er
freute sich über die roten Dächer, die noch schimmerten, obgleich der
Abend längst dunkelte, freute sich über den Stern, der heimatlich traut
über dem ›Bunten Vogel‹ aufzog.

Die Laternen wurden angesteckt. Da glaubte er plötzlich Josefine vor
sich her schreiten zu sehen – das war ihr Gang, ihr Wuchs, ihr blondes
Haar! Rasch hinterdrein! Der schwankende Schein der nächsten Laterne
war hell genug, ihm zu zeigen, daß er sich getäuscht. Aber auch ein
schönes Kind, dieses andre rheinische Mädel!

Ihm war so wohl, so wohl zu Mut, so glückselig jung. Vom Rhein traf ihn
ein voller Hauch; die Brust weitete sich und dehnte sich tiefatmend,
belebt lief das Blut durch die Adern.

Am Himmel tanzten die Sterne. Er ging wie im Traum. Liebespärchen
wandelten an ihm vorüber unter den Bäumen der Alleestraße, Arm in Arm,
dicht aneinander geschmiegt; er hörte ihr gedämpftes Lachen.

Wie fing doch das Lied an, das die Josefine immer sang? Er summte
es vor sich hin, und dann lächelte er – ob sie wohl daheim nach ihm
ausschaute? Natürlich! Sie stand am Fenster ihrer Küche – der simple
Kattunrock kleidete sie gut –, die Arme auf die Fensterbrüstung
gestemmt, beugte sie sich hinaus und sah ihn an, voll und warm.

Er summte wieder:

    »Ein Märchen aus alten Zeiten,
    Das kommt mir nicht aus dem Sinn –«

Ganz nettes Liedchen! Weiter wußte er’s leider nicht, aber es lag ihm
im Ohr, förmlich auf der Zunge.

Am Alleeplätzchen in der Schaubschen Buchhandlung waren die
Ladenfenster noch nicht geschlossen. Viktor hielt inne auf seinem
Schlendergang. Er hatte doch Josefine etwas schenken wollen – ja, ja,
er wollte ihr heute etwas mitbringen! Dumm, nun waren alle Läden schon
zu! Nur dieser nicht! Er betrachtete die Auslage.

Schulbücher: ›Daniels Leitfaden der Geographie‹ – ›Zahns biblische
Geschichte‹ – ›Rechenfibeln und Lexika‹ – Gott sei Dank, daß man so was
nicht mehr brauchte!

Ferner: ›Briefsteller für Liebende‹ – ›Der Struwelpeter‹ – ›Franz
Hoffmanns Erzählungen für die Jugend‹ – ›Campes Robinson‹ – ›Coopers
Lederstrumpf‹ – und so weiter.

Und im andern Fenster allerlei Broschüren: ›Der Kassettendiebstahl‹ –
›Ehegeheimnisse des gräflichen Hauses H.‹ – ›König und Tänzerin‹ –
niederträchtig, solche Intima dem Pöbel preiszugeben! Das konnte auch
nur am sogenannten ›freien‹ Rhein passieren!

›Vier Fragen eines Ostpreußen‹ – ›Pfizer: Gedanken über Recht, Staat
und Kirche‹ – ›Steinacker: Über das Verhältnis Preußens zu Deutschland‹
– ah was, Politisches, das hatte ja gar kein Interesse!

Viktor wollte sich schon zum gehen wenden – da gab’s ja doch nichts
für ein junges Mädchen –, als ihm noch ein paar Bücher in die Augen
fielen, hübsch gebunden, mit Goldschnitt. Aha, Gedichte! Das wäre am
Ende was! Junge Mädchen schwärmen für Gedichte, er wußte das von seiner
Schwester; sie schreiben sich die schönsten Stellen aus, lesen abends
heimlich im Bett und legen sich das Buch unter’s Kopfkissen.

›Herwegh: Gedichte eines Lebendigen‹ – ›Freiligrath:
Glaubensbekenntnis‹ – ›Hoffmann von Fallersleben: Unpolitische Lieder‹
– und da, an der Seite, ein Bändchen, klein wie ein Gebetbuch,
aber weit leuchtend, auffallend durch sein brennendes Rot. Goldene
Passionsblumen rankten sich darüber, ein gelbseidenes Bändchen lag als
Lesezeichen darin – riesig geschmackvoll! Es war weitaus das schönste
der ausgestellten Bücher. O, sie würde sich gewiß darüber freuen!

Der blasse Ladenjüngling sah verwundert aus – was, ein Leutnant in der
Buchhandlung?! Er riß die Augen weit auf.

»Ich möchte ein Gedichtbuch haben!«

»Ein Ge–dichtbuch?!« Maßloses Erstaunen lag nun auch im Ton.

Der Leutnant wurde ganz verlegen: »E – hm – ja, jawohl, ein
Gedichtbuch!«

»Mit was dürfte ich dienen?«

Der Kauf kam nicht so leicht zu stande; der blasse Jüngling war bemüht,
sich über den Geschmack des Käufers zu orientieren, und diesem wiederum
waren die Namen, die der Verkäufer geläufig herzählte, Rauch und Schall.

Es war für beide eine Erlösung, als der Leutnant auf das kleine rote
Buch wies: »Ganz scharmant!«

Im Nu war es vorgeholt. »Kann ich Ihnen sehr empfehlen, wunderbar
schön,« rief enthusiastisch der Jüngling und schlug schwärmerischen
Blicks die erste Seite auf: »Sehen Sie, schon sechste Auflage!
Hochpoetisch! Sehr gefühlvoll!«

Gefühlvoll, ja, das war gerade das Richtige!

»Übrigens von einem geborenen Düsseldorfer!«

›Na, dann wird’s was Rechtes sein‹, wollte Viktor eigentlich sagen,
aber er besann sich – das Buch sah doch wirklich sehr scharmant aus.
Er bezahlte einen baren Thaler und fünfzehn Silbergroschen, obgleich
er das im stillen für so ein kleines Ding ganz unerhört teuer fand. Da
würde er eine Weile gehörig krumm liegen müssen, aber – na, wenn sie
sich nur freute!

Diesen Abend brannte die Kerze in der Offiziersstube tief herunter, der
Docht kohlte schon zolllang, niemand schnuppte ihn; eine wahre Traufe
von Talgthränen floß auf den Tisch. Viktor lag auf dem Sofa, hatte die
Beine über die Seitenlehne gehängt, den Rock auf der Brust offen, und
las in dem Buch, das er morgen der blonden Josefine verehren wollte.
Er las und las. Sein Gesicht glühte – Donnerwetter, der Kerl hatte das
Dichten weg! Die Josefine würde sich nicht schlecht freuen, stand doch
auch ihr Lied darin. Das war mal gut getroffen! Nun konnte sie es zu
Ende singen.

»Hurra!« Ganz toll vor Vergnügen sprang er auf und rannte mit seinem
Buche in der Stube umher.

Bis die Kerze erlosch, las der Leutnant in Heines ›Buch der Lieder‹.
Nur das eine ärgerte ihn:

    ›Die Lieutnants und die Fähnerichs,
    Die lecken ab die Straße.‹

Das war unverschämt!




XII


Herbststürme zausten die Blätter von den Bäumen, der Westwind stieß
gegen das Zollthor, der Rhein brandete ungestüm an die Werft,
die Kähne, die die Schiffbrücke trugen, ächzten und rieben sich.
Regentriefend, mit von der Nässe gedunkelten Mauern, schaute das alte
Schloß finster in den Strom.

Die anwohnenden Bürger beklagten sich bitter, daß der alte Rumpelkasten
ihnen Luft und Licht nähme und die freie Aussicht versperrte. Wozu
stand der noch da?! Seine Zeit war vorbei. Die schöne Jakobe von Baden,
die nächtens da oben spuken sollte, war weiter nichts wie ein Windzug,
der durch die zerbrochenen Scheiben pfiff, und ihr Hilfeschrei, der
über den Rhein gellte, war Eulenruf und Dohlengekrächz. Traditionen,
Ammenmärchen, weg mit ihnen!

Ein häßliches, naßkaltes, wehmütiges Wetter! Josefine schauderte. Sie
stand in einem engen Hof der Bolkerstraße und blickte an dem mit Kalk
beworfenen kahlen Hinterhaus in die Höhe. Also da oben, hinter jenen
Fenstern war er geboren, er, der die schönen Lieder gemacht?! Der für
all das Worte gefunden, was hier im Wind über die Dächer flog und
draußen vor’m Thor im Rhein rauschte!

Sie war wie verhext. Es hatte sie hergetrieben, sie wußte selber nicht
warum.

Die Großmutter konnte sich seiner noch erinnern, die hatte den kleinen,
blassen Jungen oft gesehen, wenn er in die Franziskanerklosterschule
ging. Bei seinem Vater, dem ›Jud’ Heene‹, hatte sie in der Butike, die
der auf dem Markt hielt, oft gekauft. Und die Madam Heene sollte eine
zierliche, kluge Frau gewesen sein, eine Schwester von dem van Geldern
aus der ›Arche Noae‹ in der Kützgesgass’. Aber daß der Heinrich Heine
Gedichte gemacht, wollte Mutter Zillges durchaus nicht glauben.

»Du bis ja jeck,« hatte sie zur Enkelin gesagt »dat kleine
Judenjüngesken, hie aus Düsseldorf?! De kann dat nit. Oder de hat se
irjenswo anders jelesen un abjeschrieben, Papier is jeduldig. Ne, ne,
de macht mich noch lang nix vor! ’ne freche Jung’ is de jewesen!«

Auch die Dauwenspeck, die, trotz ihres hohen Alters und obgleich sie,
ein wenig kindisch geworden, tagaus tagein in ihrem Lehnstuhl hockte,
für ihre Kunden ein treues Gedächtnis behalten hatte, wußte nicht viel.
Zur Madam Heine war sie freilich auch geholt worden, in’s Haus auf der
Bolkerstraße neben dem ›Roten Kreuz‹. Der Bäckermeister Cremer hatte
gerade in der Thür gestanden und gerufen: »Et brennt, et brennt,« als
sie mit Strohtasche und Spritze in’s Hinterhaus geeilt war. –

Heimlich war Josefine hergekommen – keiner durfte es wissen, alle
hätten sie ja ausgelacht. Was sie eigentlich hier erwartet, war ihr
nicht klar; aber sie war enttäuscht. Keine Rosen an den Mauern, keine
Sonne in den Fenstern! Hinter dem hölzernen Gatter des engen Höfchens
nur ein schwächlicher Akazienbaum, der seine letzten verkrumpelten
Blättchen den Winden preisgab.

Sie fröstelte und seufzte – wie traurig, wie verlassen! Machte es
die graue, kalte Nebelluft, die sich beklemmend auf die Brust legte,
oder der scharfe Wind, der wie ein böses Tier gegen die Mauer des
Hinterhauses fauchte und den Atem nahm? Es schnürte ihr etwas das Herz
zusammen.

Ein altes Weib guckte aus dem Fenster und rief sie an: was sie denn
hier wolle?

Zusammenschreckend stotterte das Mädchen etwas zur Entschuldigung.

»Kucken, wat? Hie is nix zu kucken! Heine – Heine?! De wohnt hie nit.
Se meinen wohl Heimann, de mit wollene Strümp’ handelt? Jejenüber!«
Krachend schlug die Alte das Fenster zu.

Traurig ging Josefine fort; aber sie wurde froh, als die Kaserne in
Sicht kam. Wie ein warmes Wehen kam es von dort her durch die naßkalte
Dämmerung und umschmeichelte sie. – –

Ob sie ihn heute noch sprechen würde?

Gestern hatte sie ihn nicht gesprochen, den ganzen Tag nicht!
Eingeladen war er den Sonntag gewesen bei seiner Schwester; die vom
Werths waren jetzt wieder in der Stadt.

Ach, da würde er nun oft seine freie Zeit zubringen! Das war natürlich,
aber sie empfand einen Schmerz dabei.

Und Gesellschaften würde er mitmachen, viele Bälle! Sie würde abends
nicht mehr das Flinzeln der Kerze in der Offiziersstube beobachten
können.

Und ob er noch Zeit fand zu einem Flüstern im dunklen Gang?! Lieber
Gott, weiter verlangte sie ja gar nichts, nur ab und zu ein Wort in
abgestohlenen Minuten, ein rasches Sehen, ein heimliches Grüßen. Es war
so schön gewesen.

Ein plötzlicher Schreck überfiel sie – wenn das nun alles ein Ende
hätte?! Ach nein, kein Ende, es mußte ja immer schöner werden, immer
schöner! Hatte er sie denn nicht lieb?

Sicherlich!

Sie dachte an das kleine rote Buch, das er ihr geschenkt! Da stand so
viel von Liebe darin.

Könnte sie ihm nur einmal um den Hals fallen! Nur einmal ihm einen
herzhaften Kuß geben!

Als Josefine an der Front der Kaserne vorbei ging, strich ihre Hand
liebevoll längs der grauen Mauer hin. Die umschloß ja ein großes
Glück. Eine heiße Zärtlichkeit wallte in ihr auf – wo gab es bessere,
festere, schönere Mauern?! Sie liebte jeden Stein. Hier hatte sie einst
mit Rötel einen mächtigen Strich gezogen – noch glaubte sie den Kratz
zu sehen – und hier auf’s große Thor hatten die Jungens mit Kreide
gekritzelt:

    ›Fina Rinke heiß’ ich,
    Schön bin ich, dat weiß ich‹

und eine furchtbare Fratze dazu gemalt.

Die liebe alte Kaserne! Mochten andre die Nase rümpfen über Mäuse und
Ratten und Wanzen – pure Verleumdung! In der Kaserne war’s gut sein.

O Gott, wenn sie einmal wo anders wohnen müßte! Die Thränen schossen
ihr plötzlich in die Augen, ein seltsames Angstgefühl erfaßte sie.

Als sie die knarrende Stiege hinaufkletterte, öffnete die Mutter oben
die Stubenthür.

»No, Fina, endlich! Wo bleibste dann heut’ so lang?« Und leiser raunte
sie: »Et is Besuch drin, de Conradi! De hat Urlaub bis morjen früh!«

»Jesus!« Mehr sagte Josefine nicht; sie war zu Tode erschrocken.

»Du brauchst ihn ja nit zu nehmen, wannste nit willst,« flüsterte die
Mutter noch rasch. »De is ja reformiert, nit viel besser wie ene Jud’.
Du kriegst noch lang ’ne andre!«

»Ich will jar keinen,« stieß Josefine heraus, und dann trat sie in die
Stube.

Conradi saß beim Vater am Tisch, das flackernde Kerzenlicht fiel auf
seine Gendarmerieuniform. Bei der Begrüßung lag Josefines Hand ohne
Druck in der seinen, aber er merkte es nicht. Er war zu froh, denn
gestern abend hatte er die Nachricht bekommen: eine feste Anstellung in
Vohwinkel! Eigentlich sollte er gleich heute antreten, aber er hatte
sich noch den einen Tag frei gemacht und war hierher geeilt.

»So pressiert es?« sagte der Feldwebel. »Na, Kamerad, ohne Ihn können
die Vohwinkler wohl keine Nacht mehr ruhig schlafen? Ja, so’n strammer
preußischer Sergeant – was?« Er lachte in sich hinein und hob sein
Glas: »Na, Kamerad, zum Wohl!«

Josefine war erstaunt: der Vater machte Scherz, der Vater hatte Bier
holen lassen, heute am hellen Werktag?! So vergnügt hatte sie ihn kaum
je gesehen. Was er nur an dem Conradi fand?!

Sie selbst saß stumm und steif und zog ihre Hand, nach der der Sergeant
immer wieder unter’m Tisch verstohlen faßte, ebenso oft wieder zurück.
Als der Vater einmal an’s Fenster trat, nach den Wetteraussichten
für die morgende Felddienstübung zu spähen, und Conradi ihr in’s Ohr
flüsterte, ob sie seinen Ring und sein Gedicht noch hätte, da machte
sie nur: »Hm!« Und stand auf, um nach der Thür zu gehen.

»Halt,« rief der Vater, »wohin?«

Da mußte sie bleiben und sich wieder niedersetzen. Es half ihr nichts,
sie mußte sich von Conradi angaffen lassen, als hätte er was bei ihr
verloren. Wie sehr sie auch den Kopf wegwendete und seinen Blick
vermied, und wenn er auch mit dem Vater sprach, immer doch hingen seine
Augen an ihr.

Als er mit strahlender Miene von Vohwinkel sprach, dem sauberen
Örtchen, hoch oben auf den Hügeln gelegen, mit dem weiten Blick in’s
bergische Land und auf all die Fabrikschornsteine, die Eisengießereien
und Schleifereien, that er ihr jedoch fast leid. Selbst die Luft dort
lobte er, die sei so stark, ganz anders, wie hier in der Stadt und
in der Kaserne. Wenn dort auch wohl Fabrikruß flog, es gab doch noch
viele Ackerfelder, und man konnte gegen billige Miete ein Häuschen für
sich allein haben und ein Stück Garten, wo man Kartoffeln pflanzte und
Gemüse zog. Er erzählte mit Behagen; solch eine Stelle hatte er sich
immer gewünscht. Nun hatte er keinen Grund mehr, den ältesten Bruder,
der in der fernen Heimat auf der ostpreußischen Hufe saß, zu beneiden;
er hatte jetzt auch sein Glück gefunden. Mit aufglänzenden Augen
strahlte er das Mädchen an.

Josefine hätte am liebsten geweint, sie wußte nicht aus noch ein. Blaß
und verwirrt saß sie da.

Sehr interessiert ließ sich der Feldwebel von dem jüngeren Kameraden
dessen Wirkungskreis und seine Pflichten beschreiben: Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ruhe, Kontrolle von Versammlungen, Schließung der
Wirtshäuser, Aufschreiben der das Polizeiverbot Übertretenden,
Arretierung von Landstreichern und Bettlern, Prüfung von Maß und
Gewicht und so weiter.

Conradi berichtete mit Eifer. In Vohwinkel hatte er keinen über sich –
der Vorgesetzte war in Mettmann – er mußte allein aufkommen für Ruhe
und Ordnung; und das würde nicht immer leicht sein. Wenn es ihm nicht
widerstrebt hätte, sich selber zu loben, so hätte er wohl gern erzählt,
wie es ihm gelungen war, einem größeren Krawall, vielleicht sogar einem
Blutvergießen vorzubeugen, als letzten Samstag die entlassenen Arbeiter
der Färberei zu Sonnenberg bei Elberfeld dem Fabrikanten Thür und
Fenster einwarfen.

»Na, Heldenthaten habt ihr ja wohl nicht auszufressen,« lachte der
Feldwebel.

»Nein, das nicht,« sagte Conradi bescheiden und merkte gar nicht den
leisen Ton gutmütigen Spottes im Lachen des andern.

Er hatte sich ein wenig zurückgerückt und den Arm auf Josefines
Stuhllehne gelegt; so saß er und sah unverwandt auf das weiche, blonde
Gekräusel, das sich da hinten in dem molligen Genick aus dem straff
aufgekämmten, glatten Haar herausgestohlen hatte. Er konnte nicht
widerstehen, spitzte die Lippen und pustete zart auf die Härchen.

»Au,« sie zuckte unwillig zusammen.

Es war gut, daß Frau Trina jetzt mit einer Bewirtung kam: geschabtes
rohes Fleisch mit Zwiebel, Leberwurst und frischer Holländer Käse.
Sie hatte sich ordentlich abrennen müssen, das Traktament, das ihr
Mann angeordnet, so allein zu besorgen. Auch noch ein Krug Bier wurde
aufgesetzt.

Die Männer stießen fleißig an. Josefine aber mundete nichts – wenn
der Conradi doch nur erst wieder fort wäre! Ihr Kopf glühte. Dieses
Suchen nach ihrem Blick, dieses Tasten nach ihrer Hand machte sie so
ungeduldig, so unglücklich, ganz böse. Sie wollte nicht – nein, nein,
– und doch saß sie wie gelähmt unter dem Griff dieser festen, warmen
Männerhand und hatte nicht mehr die Kraft, ihre Hand fortzuziehen. Der
Verliebte streichelte sacht darüber hin und spielte mit ihren Fingern.

Ob wohl das Licht drüben in der Offizierstube brannte?! O, könnte sie
es doch aufglimmen sehen!

Ob sie ihn wohl noch sprechen würde heute abend?! Ach, heute den
ganzen langen Tag und gestern den ganzen langen Tag kein Wort mit ihm
gewechselt!

Wo war er, was that er, was dachte er?! Wo blieb er, kam er, war er
schon da?!

Eine ungestüme Sehnsucht packte sie – sie hielt’s nicht mehr aus, nein,
nein!

»Jeses, Fina,« sagte die Mutter plötzlich, »wat siehste schlecht aus!
Is dich wat?«

»Ich – ich hab’ – schrecklich Kopfweh,« stammelte Josefine.

»Nanu?« Der Feldwebel zog die Brauen in die Höhe, es war ihm
augenscheinlich fatal, daß die Tochter heute abend ausspannte. »Nimm
dich zusammen! So’n bißchen Kopfweh! Macht nichts!«

»O doch!« Mit einem Aufseufzen stützte Josefine den Kopf in die Hand.
Sie wurde ganz blaß.

»O!« Der Sergeant erhob sich. »Dann werd’ ich lieber gehen,« sagte er
kleinlaut.

Frau Trina erhob nur schwache Einsprache, Josefine gar keine.

Bloß der Feldwebel nötigte zum bleiben:

»Ä was, das Kopfweh geht schon vorbei. Man nich so ängstlich! Man reist
doch nicht her bloß für die halbe Stunde! Das nenne ich Zeit und Geld
verplempern. Geh, gieß dir Wasser auf den Kopf, mach ’nen Umschlag, leg
dich ’nen Augenblick nieder, und dann kommste wieder ’rein – frisch,
Mädel, hörste?!«

Die Tochter stand stumm auf; es zuckte um ihren Mund, als ob sie weinen
wollte.

»Aber nein – es ist doch besser – ich werd’ jetzt doch –« Der
Sergeant zögerte, das Wort ›gehen‹ kam ihm so schwer über die
Lippen. Erwartungsvoll sah er zu Josefine hin – würde sie ihn denn
nicht zurückhalten?! Aber sie sagte kein Wort; so mußte er sich schon
entschließen, sich zu verabschieden. Lange hielt er beim Adieu ihre
Hand in der seinen. Nun würde es vielleicht Wochen und Wochen dauern,
bis er wieder herkommen konnte; es wurde ihm sehr sauer, =so= von ihr
zu gehen.

Der Feldwebel begleitete Conradi hinüber in’s Stammlokal, da trafen
sie viele Kameraden. Josefine atmete auf, als die Männer die Stube
verlassen hatten. Auch Frau Trina rüstete zum ausgehen, sie wußte, nun
kam Rinke vor Zapfenstreich nicht wieder, da konnte sie gut währenddes
ihren Wilhelm besuchen.

»Leg dich im Bett,« sagte sie zur Tochter, und dann lachte sie hell
auf: »O du schlau Dingen! Dem haste’t jut zu verstehn jejeben: ›Mach
dich ab!‹ Hahahaha! ’nacht, Fina!« Damit ging sie.

Allein –! Mit einem zitternden Seufzer sah sich Josefine um, und dann
stürzte sie hinaus an’s Küchenfenster. Alles dunkel. O –! Sie stand und
starrte und starrte. Hinten in der Kammer rauften noch die Brüder beim
zubettegehen, dann wurde es auch dort still.

Auf dem Hof kein Tritt. Keiner der Soldaten pfiff vor der Thür bei dem
häßlichen Wetter. Der Himmel so dunkel, kein Stern, doch jetzt, jetzt
– sie unterdrückte einen Freudenschrei – jetzt schimmerte einer da
drüben: sein Licht!

Er war zu Hause! Wie mit Gewalt zog sie’s hinüber. Sie mußte ihn
sprechen, heute noch sprechen! Wenn er doch käme, wie damals, zu ihr
in die Küche träte! Ach, er wußte ja nicht, daß sie hier stand, ganz
allein, und sich nach ihm sehnte!

Sie öffnete das Fenster, daß die feuchte Nachtluft sie durchschauerte,
und fing an zu singen; der Wind nahm ihr den Ton vom Munde, aber sie
strengte sich an, stark kämpfte ihre Stimme gegen das Sausen und Heulen:

    »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten –«

Sie sang das ganze Lied, siegreich drang es durch den Sturm der
Herbstnacht, aber kein Fenster drüben klirrte – hörte er sie denn
nicht?!

Wenn sie nun rasch hinliefe und an seine Thür pochte? Was war denn
dabei? Gewiß nichts Unrechtes – sie hatte ihn ja so lieb!

Sie überlegte nicht mehr, schon war sie draußen und huschte den dunklen
Gang entlang. Rasch, rasch! Ihre Sehnsucht trieb sie schneller, als
ihre Füße laufen konnten; sie strauchelte, sie stolperte – da – ein
rascher, elastischer Tritt kam auf sie zu.

»Viktor!« Mit einem jauchzenden Ruf streckte sie die Hände aus.

Da faßte er sie um den Leib, wie damals im Keller in der schwankenden
Bütte, und zog sie hinein in sein warmes, erleuchtetes Zimmer.

Und wie damals küßten sie sich. Sie war ihm um den Hals gefallen,
ohne daß sie wußte, wie das gekommen; sie folgte einem tiefinneren,
stürmischen Drang.

Er preßte sie an sich, in fast knabenhafter, durch die Heimlichkeit
noch gesteigerter Verliebtheit. Auch er glühte.

Wie sie ihn liebte!

Aber – – _noblesse oblige_! Eine gute und ehrliche Regung ließ sein
hübsches, junges Gesicht männlicher erscheinen: Sie war seines
Feldwebels Tochter, und er war ein Edelmann und trug des Königs Rock!




XIII


Die Leiendecker in Düsseldorf hatten heuer mehr zu thun als sonst –
der Februar achtundvierzig ging stürmisch zu Ende. Die Wetterfahnen
quietschten, die Dachrinnen spuckten, jede Nacht klapperten die
losen Ziegel und Schieferplatten, und der wilde Wind packte sie und
schleuderte sie krachend hinunter auf die Gasse. Kopfschüttelnd stand
der Hauswirt am nächsten Morgen vor seiner Thür: o weh, eine Reparatur
dringend nötig! Alle paar Schritt baumelte das Seilchen mit dem
Schieferstückchen unten daran vom Dachfirst nieder: Bürger, hüte dich,
daß du nichts auf den Kopf kriegst!

Am Stammtisch wurde geklagt: was man doch nicht immer alles für
Unkosten hatte! Überall krachte es. Auch im Hofgarten; und das
entrüstete die Bürger am meisten. War es nicht ein Skandal, die schönen
alten Bäume so massenhaft zu fällen? Den Hofgarten, die Hauptzierde
der Gartenstadt, ratzekahl zu scheren?! Man wollte im Sommer doch mit
Weib und Kind im Schatten spazieren gehen! Dem Friedlichsten lief die
Galle über. Fulminante Artikel füllten die Spalten der Düsseldorfer
Zeitung und des Kreisblattes und drückten durch ihre Länge und Breite
das Politische ganz in ein Eckchen; was ging es einen am Ende auch an,
ob sie sich mal wieder in Paris massakrierten?! Man bekreuzigte sich
und dankte Gott, daß man im soliden Düsseldorf wohnte. Man druselte
noch halb im Winterschlaf, und wären die fliegenden Dachziegel nicht
gewesen, man hätte noch gar nicht an den Frühling gedacht.

Und doch zog er schon durch die Welt und stieß in sein Horn.

Auch über die Kaserne wehten Frühlingsstürme und tosten aufrührerisch
um Dach und Wand. Aber die dicken Mauern dämpften den Schall, und kein
lauschendes Ohr war drinnen, das ihn aufgefangen hätte. Drill Tag für
Tag, von Reveilleblasen bis Zapfenstreich. Die Offiziere langweilten
sich, die Unteroffiziere schimpften, die Gemeinen dachten sehnsüchtig
an die Fleischtöpfe der Mutter und an die Küsse des Schatzes.

Josefine lebte den schönsten Traum. Alle Tage den Liebsten sehen, alle
Tage ihn sprechen. Rasche Küsse auf dem dunklen Flur, innige Umarmungen
in der stillen Offiziersstube.

Sie lebte ein Doppelleben. In dem einen flickte und strickte sie,
kochte und scheuerte, und hastete sich ab, um im andern desto länger
bei ihm sein zu können, mit seinem Kuß ein gesteigertes Gefühl zu
empfangen, ein Gefühl, das sie so überglücklich machte, wie den Vogel,
der mit jauchzendem Ruf in die Lüfte steigt, hoch, hoch, hinein in den
sonnigen, blauen Himmel.

Enger als je hielt die Kaserne sie umschlossen: ihre Welt die kleine
Feldwebelwohnung, die Küche, der Gang, die Offiziersstube, der
Exerzierplatz, über den die Stimme des Geliebten schmetterte, der Hof,
auf dem seine Tritte hallten.

Auch Viktor war benommen. Die jungen Damen der Bälle und Gesellschaften
langweilten ihn sterblich. So viel er konnte, zog er sich von der
Geselligkeit zurück, oder wenn ein Vorgesetzter eben ›befahl‹, stöhnte
er den ganzen Tag und verwünschte Fest und Festgeber. Das einzig Gute
war, daß Josefine ihn dann wenigstens hinbegleitete. Heimlich erwartete
sie ihn unten auf der Straße, in einem nahen Thorweg versteckt; ein
Tüchelchen, tief in die Stirn gezogen, dünkte ihr hinreichend als
Vermummung. Sie fürchteten keine Entdeckung, sie dachten gar nicht
an eine solche. Arm in Arm, dicht aneinander geschmiegt, machten sie
Umweg auf Umweg. Herren, den Mantelkragen hoch geschlagen, und Damen
in Schleiern und Galoschen, zu Gesellschaften trippelnd, Bürger, zur
Karnevalssitzung eilend, kreuzten ihren Weg. Aber niemand achtete ihrer
im Dunkel.

Und sie führten sich oft an der Hand und plauderten und lachten, und
ehe er endlich hinaufstieg in den kerzenhellen Saal, drückte er sie
noch einmal an sich, zärtlich süßschmerzlich, wie zu ewigem Lebewohl.
Und während er im Tanz die feinen Taillen junger Damen umschlang,
fühlte er im Geist die kräftigeren Formen Josefines – sie lag in seinem
Arm, sie wiegte sich lustig auf den Klängen der Musik. Die jungen Damen
tuschelten untereinander darüber, daß der Leutnant von Clermont beim
tanzen so fest halte, die ganzen Blumen am Ausschnitt hatte er ihnen
zerdrückt; sie beklagten sich darüber, aber sie hatten es doch gern.

Zu seiner Schwester, in deren elegantes neues Haus am Hofgarten, kam
Viktor selten. Wenn sie sich darüber beklagte, konnte er mit Recht
sagen: ich habe keine Zeit. Er hatte wirklich keine, sie ging hin mit
auflauern, beobachten, verstohlenen Begegnungen, verliebten Träumen und
Wünschen. Der Schwester hatte er nie von Josefine gesprochen, dazu war
er längst nicht mehr unbefangen genug. Cäcilie fragte auch nicht, sie
gab es nach und nach auf, dem Bruder über sein Seltenkommen Vorwürfe
zu machen; ihr Leben war ganz ausgefüllt, es gehörte ihrem Mann, der
sie auf Händen trug, es gehörte ihrem Glück, es gehörte vor allem dem
Kind, das sie erwartete. Der zukünftige Vater strahlte schon: ein
Sohn, ein Stammhalter! Der zukünftige Großpapa hatte den kostbaren
Schmuck, den er seiner verstorbenen Frau einst aus einer besonders
reichen Jahreseinnahme gekauft, dem berühmtesten Juwelier von Paris
zu noch kostbarerer Neufassung geschickt; die Schwiegertochter sollte
ihn am Tauftag, als einen von Generation auf Generation zu vererbenden
Familienschmuck, tragen. Der alte Herr hatte jetzt nur die eine Sorge,
daß bei den fortdauernden Krawallen in Paris seinem neukreierten
Familienschmuck ein Ungemach passieren könne.

Josefine war seltsam bewegt, als Viktor ihr von Cäcilies Hoffnung
erzählte. Sie sagte kein Wort, aber sie wurde glühend rot, und in ihre
Augen kam ein Leuchten, ein feuchtes Flimmern. Still blieb sie den
ganzen Tag, wie sonst nie.

Hätte der Feldwebel nicht so viel zu thun gehabt, ihm wäre wohl manches
an seiner Tochter aufgefallen. Aber plötzlich waren von Berlin Befehle
gekommen, die Reservisten einzuziehen, die Kompagnien zu verstärken,
Proviantamt und Montierungsdepot neu zu versehen – was, sollte mobil
gemacht werden?! Krieg gegen Frankreich?!

Mit Windeseile verbreitete sich das Gerücht. Jetzt sprach auch die
Bürgerschaft nicht allein mehr vom Hofgarten, sondern von der drohenden
französischen Kriegsgefahr; hatte doch jeder einen Sohn, einen Bruder,
einen Verwandten, einen Freund, der im Kriegsfalle mit mußte.

Einige Überkluge in der Düsseldorfer Zeitung suchten freilich den Krieg
ganz wo anders: sie redeten von einer ›Gärung im deutschen Volk,‹
von seinem ›Schrei nach Einheit und Freiheit,‹ sie wiesen auf Baden,
Württemberg, Nassau, Bayern und Hessen hin, wo die Fürsten dem Volk
stürmisch geforderte Freiheiten bereits bewilligten.

Ach was, in Düsseldorf wurde nicht gegärt! Und was sollte man denn
fordern? Hatte nicht jeder sein behagliches Haus, sein gut Essen und
Trinken, abends seine Pfeife beim Glase Bier? Schwarzkieker die!
Erst wollte man einmal ordentlich Fastnacht feiern. Schon hielt der
Präsident von der ›Dotzmühl‹ alle Abend Sitzung ab, die Gecken planten
einen großartigen Umzug.

Daß die Fabrikarbeiter im Bergischen Skandal machten und Lohnerhöhung
forderten, war weiter nichts Beunruhigendes. Da gab’s noch andrer
Orten viel notleidendere Bevölkerung, die armen schlesischen Weber
zum Beispiel, auf die das ergreifende Gemälde von Karl Hübner die
allgemeine Aufmerksamkeit gelenkt. Als nun der junge Verein ›Malkasten‹
die hungernden Gestalten im lebenden Bilde, gegen einen Reichsthaler
Entree, vorführte, öffneten sich alle Herzen und alle Geldbeutel.

Auch die kleineren Bürgersleute machten sich über die Unruhen in der
Nachbarschaft keine Sorgen. Sie hatten ihre Bälle im ›Breidenbacher
Hof,‹ bei ›Geisler,‹ bei ›Cürten‹, im ›Luftballon‹, in sämtlichen
größeren Sälen der Stadt; überall Karnevalssitzung mit Tanzvergnügen.

Die Mädchen kürzten ihre bunten Röcke, die Burschen suchten sich die
greulichste Larve aus, manch ›komplette‹ Bürgersfrau zwängte sich
in ein Schäferinnengewand oder setzte sich Kranz und Schleier der
Düsselnixe auf’s Haupt. Bis tief in die Nacht brannten jetzt die
Lämpchen der Näherinnen, Goldband und Flitter wurden rar, alle Läden
waren übervoll von Larven und Pritschen und Brillen und Perrücken,
Dreispitzen und Dormeusen. Selbst die Kinder verlangten ihre Mäskchen.
Die Stadt war im Rausch, ein Duft von Naunzen und von Muzenmändelchen
zog mit dem Wind.

Das Gerücht, in Elberfeld hätte sich eine Bürgerwehr gebildet, die mit
weißen Binden um den Arm herumlaufe, war ein Hauptspaß. Helau, die
Wupperthaler waren Fastnachtsgecken geworden! Am Rosenmontag trugen die
Düsseldorfer ein großes Papierschild durch die Straßen: ›Wupperthaler
Bürgerwehr‹; Lahme, Krüppel und Uralte folgten wankend, die weiße Binde
mit: ›Schutz der Bürger‹ um den Arm.

Helau, helau!

Die Jungen schlagen Rad, die Mädchen kreischen, Hoppeditz packt die
Maritzebill und rast mit ihr zwischen die Zuschauer; alles lacht,
jauchzt, jubelt, schreit, selbst die gesetztesten Leute werden vom
Torkel erfaßt.

»Helau, helau,« heult es die Straßen entlang. Pritschenschläge knallen,
Männer stolpern in Frauenkleidern, Kinder führen Haube und Brille
der Großmutter aus; die ›Ferken‹ in den Sackleinenanzügen, mit der
Dummejungensfrisur und der bammelnden Schiefertafel um den Hals, tanzen
einen Ringelreihen um den alten Jan Willem – weh dem Mädchen, das sie
greifen! Abgeküßt wird es, da hilft kein Sträuben.

Nicht Stand noch Obrigkeit wird respektiert, jeder Rücken muß Pritsche
kosten, jeder Cylinder wird eingetrieben.

»Verrücktes Volk,« schimpfte der Feldwebel.

Sonst hatte er sich an Karnevalstagen so viel als möglich in der
Kaserne gehalten, auch seinen Weibsleuten verboten, die Wohnung zu
verlassen, dort hörte man wenigstens nicht das verdammte ›Helau‹,
das Rasseln der Knarren, das Schrillen der Pfeifen, das Knallen der
Pritschen, das Tuten, das Parpen, das Trommeln, das Quietschen; von
weitem nur sah man, jenseits des breiten Exerzierplatzes, das bunte
Gewimmel in der Königsallee.

Heute mußte Rinke einen Zug Reservisten von der Köln-Mindener Bahn
abholen. Und auch Frau Trina war, kaum daß er die Kaserne verlassen,
entschlüpft, um spornstreichs auf die Straße zu eilen; galt es doch,
ihren schönen Wilhelm zu bewundern, der zur Ehre auserwählt war in
der Mitte des Fastnachtzuges als Prinz Karneval auf rosenbekränztem,
goldenem Thron, im vierspännigen Schimmelwagen zu fahren.

Als Rinke an der Spitze seiner Reservisten vom Bahnhof zurückkehrte,
stieß er, unweit des Lattenthores auf den Karnevalszug. Schon war
er verdrießlich: Kerle hatten ja gar keine Haltung mehr, trotteten,
ihre Bündel am Stecken, der eine so, der andre so, nicht mal Schritt
am Leibe! Und nun kamen noch die Gecken! Nahmen die ganze Breite der
Straße ein – Donnerwetter, die würden doch passieren lassen?! I wo,
Bande! Mit Musik und Gejohle zogen sie ungeniert ihres Wegs.

Der Feldwebel mußte seinen Zug halten lassen. Er wendete seine Augen
ab – wer mochte wohl solchen Unsinn ansehen? Aber die Reservisten
grinsten; jetzt brachen sie in ein wieherndes Gelächter aus.

»Helau, die Dotzmühl! Vivat die Dotzmühl! Helau, helau!« rief das Volk.

Der Wagen des Karnevalvereins ›Dotzmühl‹ passierte. Er stellte eine
ungeheure Kaffeemühle vor: oben wurden die Weiber hineingestopft,
weißhaarig und bucklig, unten kamen sie wieder heraus, blondhaarig und
schlank, schlugen Purzelbäume und warfen Kußhände in’s Publikum.

Aber nun – ein grelles Aufjohlen, ein furchtbarer Knall – Hanswurst
hatte eine Riesenbombe oben in die Mühle geworfen, unten flatterte ein
ellenlanger Zettel heraus und blähte sich im Winde:

›=Zwischen Mir und Mein Volk soll sich kein Blatt Papier drängen!=‹

»Helau, helau!«

Das war ein ohrenbetäubendes Freudengeschrei, ein unaufhörliches
Gelächter; es pflanzte sich fort von vorn nach hinten, von links nach
rechts, von groß zu klein.

Der Feldwebel rollte die Augen, der Atem verging ihm fast – ha, die
Proklamation Seiner Majestät!! Die Proklamation, die Proklamation –!

Verfluchte Rasselbande! Mit Mühe hielt er an sich, blaß bis in die
Lippen. Er kommandierte:

»Ohne Tritt – marrrsch!«

Auf was warteten die Kerle denn noch?! Er wollte sie lehren, zu
grinsen! Noch einmal: »Marrrsch!«

Langsam setzte sich der Reservistenzug in Bewegung, aber er traf auf
Widerstand. Die Gecken machten nicht willig Platz. Was wollte der
Preuß’, der Störenfried?! Konnte der nicht warten, bis Seine Hoheit,
Prinz Karneval passiert war?!

»Helau, helau!«

Es klang drohend; scheußliche Fratzen fletschten den Feldwebel an.

»De Preuß’, de Preuß’!«

Ein Geraune war’s nur, aber es wurde zum Murren, Vergebens zeterte
Hanswurst, knallten neue Bomben, aller Aufmerksamkeit war auf den
Preußen gerichtet, aller Blicke bohrten sich in die Uniform. Freche
Bengels legten zwei Hände an die Nase: »Helau!«

Des Feldwebels Hand fuhr an’s Seitengewehr. Eine dunkle Blutwelle schoß
ihm zu Kopf, die Stirnader schwoll ihm, rot tanzte es ihm vor den
Augen, mit einem gewaltsamen Griff packte er den nächsten: »Platz!«
Wütend drehte der sich um; doch Hanswurst legte die Hand auf’s Herz,
wie ein Verliebter, warf dem Preußen eine schmatzende Kußhand zu, und
dann sich abkehrend, schüttelte er sich mit einer Gebärde des Abscheus:
»Brrr!« – Da löste sich der Zorn der Menge in schallendes Gelächter.

»Helau, helau, hahahaha!«

Die Lacher bildeten willig eine Gasse. Bebend vor verhaltener Wut,
knirschend vor Empörung, führte der Feldwebel seinen Zug durch. Man
ließ ihm freie Bahn, aber hinter ihm gellte das Gelächter.

Jauchzen und Vivatruf begrüßten jubelnd Prinz Karneval. –

Das war ein schlimmer Tag für Rinke. Als er, im Innersten empört, kaum
die äußerliche dienstliche Haltung bewahrend, dem Hauptmann Meldung von
dem Vorgefallenen machte, zuckte dieser nur die Achseln:

»Ja, in solchen Tagen! Überhaupt hier am Rhein! Wir sind auf
exponiertem Posten. Ruhe, Vorsicht, Mäßigung! Ich werde aber mit dem
Herrn Major sprechen.«

Der Feldwebel war zum erstenmal mit seinem Vorgesetzten nicht
einverstanden – was, diese Frechheit gegen des Königs Rock sollte
vielleicht gar ungeahndet bleiben?! Kam das nicht fast einem Treubruch
gegen den König gleich?! Und sich selber fühlte er ungeheuer blamiert.
Das Knallen, Schreien, Kreischen, Juchzen, Lachen – das unverschämte
Lachen – lag ihm unausgesetzt noch in den Ohren. Die Pflastersteine
der Kasernenstraße, über die er marschiert, waren spitz wie Nadeln
gewesen, sie stachen ihn noch jetzt; auch der Boden des Kasernenhofs
prickelte ihm unter den Füßen. ›Ruhe, Vorsicht, Mäßigung‹ – ah, nun
würde der Herr Hauptmann dem Herrn Major Meldung machen, der Herr Major
dem Herrn Obersten, der Herr Oberst dem Herrn General. Und dieser
würde die Herren zu einer vertraulichen Besprechung in die Mitte des
Exerzierplatzes bitten, wo er, die Hände auf dem Rücken, reden, und die
Herren Offiziere, im Halbkreis ihn umgebend, zuhören würden: »Ruhe,
Vorsicht, Mäßigung!«

Am folgenden Mittag beim Appell sprach der Hauptmann zur Kompagnie,
ganz besonders wendete er sich dabei an die neu Eingezogenen,
die stramm, die Hände an der Hosennaht, die Augen starr auf den
Vorgesetzten gerichtet, standen.

»Wir leben in einer ernsten Zeit,« sagte er, »ihr werdet es wohl auch
schon bemerkt haben. Ihr seid wieder einberufen und habt auf’s neue die
Ehre, Seiner Majestät, eurem König, zu dienen. Zeigt euch dieser Ehre
würdig. Betrachtet euch nicht als solidarisch mit der Bürgerschaft, ihr
seid jetzt nur Soldaten. Aber euer König wünscht ein gutes Verhältnis
zwischen euch und der Bürgerschaft. Geht also Rempeleien aus dem
Wege, mischt euch nicht unter das Volk. Seid immer eingedenk, daß ihr
die Ehre habt, des Königs Rock zu tragen! – Ich mache also hiermit
bekannt, daß von heute ab, gegen Androhung von drei Tagen Mittelarrest,
jedem Mann hiesiger Garnison verboten ist, öffentliche Wirtshäuser
zu besuchen, in denen Bürger verkehren; auch der eventuelle Besuch
in Bürgerhäusern ist einzustellen. Es bleibe jeder Stand für sich.
Wir leben in einer ernsten Zeit. Ruhe, Vorsicht, Mäßigung! – Und nun
laßt uns nach guter alter Soldatensitte rufen: Seine Majestät, unser
allergnädigster Herr und König, Friedrich Wilhelm IV. – hurra!«

Die Kerle rissen das Maul auf, dreimal schallte es über den
Kasernenhof, kurz und scharf, wie aus der Pistole geschossen:

»Hurra! Hurra! Hurra!«

Der Hauptmann legte die Hand an die Mütze und ging.

»Weggetreten,« kommandierte der Feldwebel; auseinander stoben die
Kerle. Lässig, mit müden Beinen stolperten sie dann zur Reissuppe mit
Kohl. –

In der Feldwebelwohnung war schlecht Wetter, echte
Aschermittwochstimmung.

Frau Trina trug ein, noch immer nicht ganz verwischtes, Aschenkreuz
auf der Stirn, das sie sich heute morgen, nüchternen Magens, noch vor
der Frühsuppe, in Lambertus geholt, gerade als die letzten Gecken am
Calvarienberg hinter der Kirche vorbei durch’s Morgengrau nach Haus
taumelten. Der Feldwebel sah’s mit Zorn.

»Kannste dich nich waschen?! Muß der Dreck den ganzen Tag kleben?!«
fuhr er sie an.

Sie wischte zum Schein. »Et jeht nit ab!«

Da nahm er sein Sacktuch, spuckte drauf und rieb ihr damit unsanft über
die Stirn. »So.«

Das Essen schmeckte ihm nicht – warum gab’s denn heute überhaupt so
ein labbriges Fastengericht, nach dem einem der Magen schon um zwei
Uhr wieder lang hing?! Was ging ihn der Aschermittwoch an?! Und noch
dazu waren die Nudeln nicht einmal gar! Als er um zwölf Uhr hungrig
heraufgekommen war und nach alter Gewohnheit zuerst in die Küche
geguckt, hatte er Josefine nicht darin gefunden; das Wasser strudelte
zwar aus dem Herd und floß zischend über, aber die Nudeln lagen noch
trocken auf dem Tisch. Und als er nach ihr gerufen, war sie hastig den
Gang heruntergekommen, hochrot, mit verwirrtem Haar. Sie entschuldigte
sich: der Leutnant sei erkältet und habe um einen Thee bitten lassen,
den habe sie ihm eben rasch selber hingebracht.

Warum war sie so verlegen gewesen, hatte so unnütz viel Worte gemacht,
hatte ihm nicht in die Augen gesehen, wie sich’s gehörte, sondern scheu
zur Seite geblickt?! Donnerwetter, was hatte sie bei dem Leutnant zu
suchen?!

Jetzt beim Mittagessen nahm der Vater die Tochter scharf auf’s Korn.
Sie aß nicht; er sah es wohl, wie sie heimlich dem jüngsten Bruder
noch ihr Teil zuschob. Ganz benommen guckte sie vor sich hin mit
einem verträumten Lächeln. An was, an wen dachte sie?! Rinke empfand
es plötzlich wie einen Schmerz – da war was zwischen ihm und seiner
Josefine.

»Na!« Früher hatte sie immer gleich seinen Blick bemerkt, jetzt mußte
er erst die Faust vor sie hinlegen. »He, Josefine!«

Erschrocken zuckte sie zusammen.

»Nanu?!«

Die Brüder fingen an, verstohlen zu kichern.

»Nanu, an wen denkst du denn?« Es sollte vielleicht neckend klingen,
aber er verstand nicht zu scherzen, seine Stimme war scharf. »Wohl an
Conradi’n?!«

Sie gab keine Antwort, schüttelte nur, energisch verneinend, den Kopf.

»Na, na, das wäre doch nich unmöglich! Der wird nu wohl bald mal wieder
einpassieren. Soll ich ihm schreiben?«

»Nein!« Kurz klang das ›Nein‹, wie angstvoll herausgestoßen.

»Warum denn nich, wenn ich fragen darf? Na?!« Argwöhnisch sah er sie
an: das war nicht bloß mädchenhafte Thuerei! Blaß war sie geworden und
preßte die Lippen aufeinander und senkte den Kopf.

Die Jungen fingen wieder an zu kichern.

»’raus,« schrie der Vater und zeigte auf die Thür, und sie flohen in
die Küche. Dort stopften sie die Fäuste in den Mund und tanzten einen
Indianertanz. Hau, nun kriegte die Fina es! Daß die Fina den Sergeanten
nicht mochte, das wußten sie ja alle längst, nur der Vater nicht. Das
war dem recht, warum war der immer so streng?!

Drinnen in der Stube fing die Mutter an, das Geschirr abzuräumen;
sie that sehr geschäftig und wollte es nach der Küche tragen, aber:
»Bleib!« rief ihr Mann.

»Was ist los mit dir?« sagte der Feldwebel zur Tochter. Seine Stimme
war ruhig, scheinbar gemütlich, aber doch vibrierte etwas in ihr. Sie
kannten den Ton, der verhieß Sturm. »Was hast du gegen Conradi’n?«

»Nix!«

»Er ist dir sehr gut!«

»Och –?!«

»Thu nicht so, als ob du das nicht wüßtest! Und en braver Kerl ist er
– wenn auch en bißchen mau, – anständig ist er durch und durch! Warum
bist du so obstinat? ’nen besseren Mann kriegst du nicht!«

»Ich will jar keinen!«

»Sie hat ja noch Zeit,« wagte Frau Trina einzulenken. Die Tochter that
ihr leid; die saß da, wie verdonnert, hielt die Hände im Schoß und rang
die Finger ineinander. »Un ich mein’, Rinke, du könnst et als auch noch
abwarten, bis de dat Fina los wirst!«

Er brauste nicht auf, wie sonst wohl; ruhig klang es, fast müde: »Zeit
– abwarten?! Zeit – jawohl, das ist jetzt ’ne tolle, kein Respekt mehr,
kein Parieren! Man paßt nich mehr in den Kram.« Schwermütig stützte er
den Kopf in die Hand und sah vor sich hin, versunken in seine Gedanken.
»Zeit –?! Wer weiß, wieviel man noch hat!« Die Lippen spitzend, fing
er leise an zu pfeifen. Es war das alte Soldatenlied: ›Morgenrot,
Morgenrot.‹

Plötzlich fuhr er nervös aus: »Ich hab’ ’ne Unruhe! Ich hab’ sie nu
mal! Eh’s los geht, möcht’ ich die Josefine versorgt sehen!«

»Jesus, Rinke, wat haste for Ideen,« sagte Frau Trina, »mer könnt ja
wirklich meinen, et jäb Krieg, un du –«

Ein jäher Laut unterbrach sie. Mit weit aufgerissenen Augen hatte
Josefine den Vater angesehen, nun sprang sie auf, nun hing sie ihm am
Halse. Sie legte das Gesicht auf seine Schulter und schluchzte so in
ihn hinein:

»Bis still, Vater, still! Du sollst so wat nit sagen, du darfst so wat
nit sagen! Och, Vater, du mußt ewig bei mir bleiben! Vater, jelt, du
läßt mich noch hier, ich brauch’ noch nit weg? Och, jelt ja, Vater?!
Mein lieber Vater!«

Das war doch noch sein altes Mädel, seine Tochter, die kindlich an ihm
hing! Ach, das that wohl! Ein Glücksstrahl flog über sein Gesicht. Er
hob ihren Kopf von seiner Schulter und strich ihr die wirren Haare
zurück, seine Hand ruhte für Augenblicke schwer und kühl auf ihrer
glühenden Stirn.

»Treue, Tapferkeit und Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre!« – Warum er
das jetzt sagte? Er wußte es selber nicht, die Worte drängten sich ihm
gewaltsam auf die Lippen. »Aber die Ehre ist die größte unter ihnen.
Mein Kind, über alles die Ehre!«




XIV


Feldwebel Rinke war erstaunt, daß er auf seinen Brief an Conradi, der
eine sehr freundliche Aufforderung zu recht baldigem Besuch enthielt,
heute aus Vohwinkel die Antwort bekam: ›Leider jetzt unabkömmlich.‹

Was sollte das heißen? Sollte der die Josefine schon vergessen haben?
Denn daß der Conradi nicht mal einen Tag Urlaub bekommen könnte,
wie er schrieb, war doch kaum anzunehmen. So schlimm würden die
Arbeiterkrawalle dort wohl nicht sein!

Mit einem etwas geringschätzigen Lächeln las Rinke den Brief noch
einmal durch. Conradi sprach von einem Arbeiteraufstand in und um
Solingen, von Bedrohung benachbarter Eisengießereien, von einem
Aufgebot der ganzen Gendarmerie im Bezirk. Dienst Tag und Nacht – gar
nicht aus den Kleidern kommen – Fabrikgebäude bewachen – Chausseen
abpatroullieren und so weiter. Hastig war’s hingekritzelt, als wäre es
im stehen geschrieben. Kaum ein Gruß darunter.

Ausreden! Als ob nicht der Anblick allein eines preußisch gedrillten
Gendarmen mit blanker Waffe schon genügt haben würde, einen ganzen
Haufen solchen Gesindels in die Flucht zu jagen! Der Conradi hatte nur
keine Lust zu kommen.

Verärgert ging der Feldwebel heute seinen Pflichten nach. Er erboste
sich in Gedanken gegen sich selber – wer hatte ihn geheißen, dem
jüngeren Kameraden so die Avancen zu machen? Und böse war er auch auf
Josefine – das kam von ihrem bockigen Wesen, nun schnappte der ab.

In einer nervösen Unruhe lief Rinke hin und her. Seit ein paar Tagen
verließ ihn die Angst nicht mehr – in einer schlaflosen Nacht hatte
sich’s in ihn eingebohrt wie eine fixe Idee –: hatte der Leutnant von
Clermont mit der Josefine etwas vor?

Ein Wunder wäre das nicht, er war jung, sie war jung, sie war hübsch
und er wahrhaftig ein glänzender Herr, in den sich ein Mädel wohl
verschießen konnte. Und die Josefine war jetzt in den Jahren.

»Himmelkreuzsakrament!« fluchte der Feldwebel in sich hinein, und dann
rannte er plötzlich, von einer heftigen Unruhe erfaßt, an die Stiege,
die zu seiner Wohnung hinaufführte, und lauschte. Ob der Leutnant schon
wieder nach der Küche kam und um heißes Wasser bat? Über den Gang waren
es ja nur ein paar Schritt – und der Gang war einsam und dunkel!

Das Blut stieg dem Vater zu Kopf, er kletterte eilends hinauf.
Vorsichtig lugte er durch die Thürspalte. Josefine war in der Küche –
allein!

Sie saß auf dem Schemel am Fenster, das Messer, mit dem sie Kartoffeln
schälen sollte, war ihrer Hand entfallen, die Kartoffeln waren
aus ihrer Schürze bis mitten in die Küche gekollert, sie merkte es
nicht. Sie merkte nicht einmal, daß der Zipfel ihres Rockes in die
Wasserschüssel am Boden stippte. Mit einem glücklichen Gesicht träumte
sie in den blauen Himmel hinein – oder starrte sie nach dem Fenster der
Offiziersstube drüben?!

Behutsam schlich Rinke wieder hinunter, er schämte sich, den Spion
gespielt zu haben; und doch war er erst beruhigt, als er den Leutnant
von Clermont zum Thor schreiten sah.

Der ging nun aus. Schlank und elastisch schritt er über das holprige
Pflaster längs der Blocks; geschickt balancierte sein Fuß im
blitzblanken, schmalen Stiefel über schmutzige Stellen. Ein Stäubchen
lag ihm wohl auf dem Waffenrockärmel, er schnippte es weg, und dann
pfiff er in die laue Luft und machte mit einem: ›ksch, ksch – puff!‹
die hungrigen Spatzen bange, die unter den knospenden Ahornbäumen
schirpend des Frühlings warteten. In einem Schwurr flogen sie auf;
über’s ganze Gesicht lachend, sah er ihnen nach.

So heiter, so wohlgemut, was kostet die Welt?!

Der Feldwebel sah dem schlanken Offizier nach, bis das schwere Thor
hinter ihm in’s Schloß gefallen war. Nein, da war kein Zweifel, den
mußte ja ein Mädel lieben! Und konnte man ihr darum böse sein? Nein,
nicht einmal! Lachte einem doch selber das Herz im Leib, wenn man dem
nachsah. Der Junge hatte doch noch mehr los, wie sein Vater! Man merkte
es, daß der im Korps erzogen war, von Grund auf militärisch. Forsch
war er, ein Sappermenter. Vor der Front stand er wie ’ne Tanne, seine
helle Stimme schmetterte über den Platz. Die Kerle hatten Dampf vor
ihm; er sah jeden Mann, sein Auge, das sonst so lustig herumfackelte,
bekam dann einen ganz niederträchtig scharfen Blick. Sein Kinn straffte
sich, und wenn er zwischen den zusammengebissenen Zähnen herausstieß:
›Krummer Hund!‹ dann zitterten sie alle! Der Feldwebel schmunzelte.
Und bei den Vorgesetzten war der Leutnant auch gut angeschrieben – ja,
der kriegte noch mal die Generalsepauletten! Ach, wie stolz konnte der
Major auf seinen Sohn sein!

Das Schmunzeln verschwand jäh, ein Zug von Gram vertiefte die Furchen,
die Rinke von der Nase herab nach den Mundwinkeln liefen. Ach ja, =der=
Junge konnte ’nem Vater schon Freude machen!

Er stand noch lange und starrte auf einen der schmalen Abdrücke, die
der leichte Tritt des Leutnants, kaum sichtbar, im weichen Grund
hinterlassen.

Wenn er nur die Josefine in Sicherheit wüßte! Ihm wurde heiß und kalt.
Aber vielleicht täuschte er sich? Nun, desto besser. Doch gefährlich
war die Nähe jedenfalls. Zu fatal, daß der Conradi dienstliche
Abhaltung vorschützte! Der Esel! War es denn die Josefine nicht wert,
daß man sich ein bißchen um sie mühte? Solch ein Mädel zu gewinnen, ist
ebenso schwer, wie Major werden.

Der Feldwebel grollte dem Kameraden. Arbeiterunruhen – Unsinn! Grollend
ging er zum Mittagessen.

Droben fand er große Aufregung. Die Knaben waren soeben aus der Schule
gekommen, vor Eifer schrieen sie durcheinander: daß der Wehrwolf
bei Hammersphar brennen sollte; daß die Gießereien zu Rinkenberg und
Höchscheid und Burgthal demoliert würden; daß die Aufständischen auf
Solingen selber los marschierten.

»Alle Maschinen, sagen se, sind ausenanderjerissen – hau – un auf de
Eisenstangen han se de Fabricksherren aufjespießt!«

Frau Trina schrie laut auf: »Materdeies, wann die hiehin kommen!«
Sie war gar nicht zu halten, wollte durchaus auf die Straße und
Erkundigungen einziehen.

Der Vater wetterte noch über den Unsinn – die Jungen schwiegen, aber in
ihren herausgedrückten Augen las man weitere Schreckensnachrichten – da
wurde auch schon Alarm geblasen.

Grell tutete es von den Höfen herauf, die Trommel wirbelte.
Aufgescheucht aus ihrer kurzen Mittagsrast, rannte die Mannschaft
umher. Stiegen knarrten, Thüren klappten, Kommandos erschallten. In
einer halben Stunde schon rückten zwei Kompagnien Sechzehner aus, sie
waren für Solingen designiert.

Also Conradi hatte doch keine Ausflüchte gemacht?! Mit einer gewissen
Befriedigung stand der Feldwebel im Kasernenthor und sah den
Abmarschierenden nach, sah den letzten Tornister, das letzte Paar der
nägelbeschlagenen Kommißstiefel um die Ecke verschwinden. Ihm war’s
lieb, daß seine Kompagnie nicht Befehl zum ausrücken erhalten hatte
– die Waffen gegen solches Pack zu gebrauchen, war keine Ehre. Das
war keinen Schuß Pulver wert wie ein ehrlicher Feind. Stockprügel,
Stockprügel! Gewehr umgedreht und mit dem Kolben ihnen den Hintern
versohlt! Er spuckte aus:

»Bande!«

Die Aufregung seiner Frau war ihm lächerlich. Was, Angst?! Nur die
Bajonettspitzen brauchte der Pöbel von weitem blitzen zu sehen und den
gleichmäßigen Tritt der Kolonne zu hören, da gab er schon Fersengeld.
Es giebt nichts auf der Welt, was so einschüchternd wirkt, wie die
Geschlossenheit der Truppe und das militärische Kommando.

Frau Trina aber gab sich nicht zufrieden. Sie war im ›Bunten Vogel‹
gewesen; da hatte die Wirtsstube gestopft voll gesessen. Die Leute
erzählten von einer Deputation, die von Köln nach Berlin gereist war.
Alle waren sich darüber einig, daß der König mehr Freiheiten geben
mußte. Etliche hatten gar gewußt, daß in Berlin selber auch Unruhen
ausgebrochen seien – mit Pflastersteinen war nach den Soldaten vor’m
Schloß geworfen worden!

Der Feldwebel höhnte: »I wohl, Soldaten mit Pflastersteinen schmeißen!
Hat sich was! Daß du dir solchen Blödsinn vorreden läßt!«

Rinke glaubte an diese Gerüchte nicht. Ja, hier am Rhein, da mochte es
wohl schon eher möglich sein, daß es einmal rebellisch spukte – Volk
ohne Haltung, ohne Disziplin! – aber in Preußen, in der Hauptstadt,
gleichsam unter den Fenstern Seiner Majestät?! Unmöglich!

Der Feldwebel hielt sich heute noch strammer als gewöhnlich. Als er
auf die Straße trat, um hinüber in’s Stammlokal zu gehen, reckte er
sich kerzengerade; wie Falken, zum niederstoßen bereit, lauerten seine
Blicke. Die Mütze hatte er etwas schief auf das, an den Schläfen schon
stark ergraute Haar gerückt und den Schnauzbart aufgestrichen; er sah
unternehmend aus.

Die Kameraden am runden Tisch fanden, daß heute nicht gut mit
Rinke auskommen war. In der That, die ewigen Erzählungen von den
Pöbelrevolten reizten ihn – war es der Rede wert, nur ein Wort über
so etwas zu verlieren?! Als gar einer im Flüsterton, mit bedenklicher
Miene, die Geschichte zum besten zu geben wagte, die auch Frau Trina
heute berichtet, riß ihm die Geduld. Was, der Pöbel sollte die
Schloßwachen insultiert haben –?! Ein solcher Gedanke schon war eine
Beleidigung des ganzen preußischen Militärs!

Mit Mühe nur ließ der Feldwebel sich beruhigen. Mißmutig, früher als
sonst, ging er heim.

Auf der Straße war noch reges Leben. Vor den Hausthüren standen
Gruppen, Menschenmassen wogten hin und her. Neugierige liefen hinter
schreienden Knaben drein, die ausposaunten, daß man hinter Bilk und vom
Hammer Damm aus die ganze Stadt Neuß brennen sehen könne.

Viele rannten hinaus auf die Felder. Jenseits Dorf Hamm, über’m Rhein,
mußte ein mächtiger Brand wüten. Rauchmassen wälzten sich dem Strom zu,
und Feuersäulen lohten auf; Funkenregen, ganze Funkengarben schossen
durch’s nächtliche Dunkel.

Bleiche Gesichter sahen sich an. Bis auf die Kasernenstraße glaubten
ängstliche Gemüter den Brandgeruch zu spüren. Viele Bürger stiegen zur
Bodenluke heraus auf’s Dach und observierten den Himmel.

Am Morgen wurde es bekannt: eine große Fabrik zu Neuß war
niedergebrannt, von ruchlosen Händen angesteckt. Und aus Mülheim an der
Ruhr, aus Lübbecke, aus Gütersloh, aus Elberfeld, aus vielen andern
Orten in geringerer und weiterer Entfernung liefen beunruhigende
Gerüchte ein. Die Wirtshäuser der Stadt waren heute überfüllt, dicht
gedrängt saßen die Bürger auf der Bierbank; so viel hatten sie lange
nicht am Stammtisch zu bereden gehabt. Es war ein Sonntag, aber auch
wenn es Wochentag gewesen, wäre keiner seinen Geschäften nachgegangen,
denn der St. Sebastian-Schützenverein hielt heute Generalversammlung
auf dem Hunsrück. Da strömte alles hin. –

In der Kaserne war es still, totenstill. Im Morgengrauen war noch
Militär nach Lennep ausgerückt, dabei hatte es für kurze Zeit Leben
gegeben. Jetzt lag der weite Platz leer, in den Pfützen spiegelte sich
eine bleiche Sonne, und der scharfe Märzwind schnaufte darüber hin.

Die Sonntage waren immer langweilig, der heutige kam Rinke endlos
vor. Zeitung mochte er nicht lesen, wozu sollte er sich ärgern? Mit
großen Schritten lief er in der Stube auf und ab, und dann stand er
wieder am Fenster und trommelte unruhig auf die Scheiben. Stirnrunzelnd
betrachtete er den Himmel – so zerrissen war der, bedeckt von gejagten
Wolken, die in fratzenhaften Umrissen Gestalt von Ungeheuern gewannen.
Jetzt trieb ein Untier von der Allee heran, mit ausgebreiteten
Schwingen segelte es über den Kanal, über den Exerzierplatz, gerade
auf’s Fenster zu. Unwillkürlich trat der Feldwebel zurück, ihm war,
als senke sich das schwarze Wolkengebild schwer herab.

»Josefine!«

Keine Antwort. Noch einmal:

»Josefine!«

Wo steckte sie nun wieder?! Er ging in die Küche, in die Schlafkammer,
durch die ganze Wohnung. Er rief auch auf dem Gang. In der Leere hallte
seine Stimme. Fröstelnd rieb er sich die Hände. Ganz allein! Die Käthe
war mit den Jungen zu den Großeltern gegangen; vielleicht die Josefine
auch? Sie hatte ihm aber nicht Adieu gesagt.

Er entschloß sich, auch auszugehen. Das Seitengewehr umschnallend,
verließ er die Wohnung; auf einmal hatte er’s eilig.

War sie mit der Mutter gegangen – oder wo war sie? Einen scheuen Blick
warf er hinauf zur Offiziersstube; der Leutnant schien nicht da zu
sein, denn der Bursche fläzte sich am Fenster.

Seine Unruhe trieb ihn nach dem ›Bunten Vogel‹.

Als er so, weit ausholenden Trittes, durch die Straßen schritt, fiel
ihm plötzlich ein, wie er schon mehr als einmal dorthin geeilt in Hast
und Unruhe, einen Flüchtling zu suchen. Das erste Mal: die junge Mutter
und das junge Kind – ach, was war die Josefine für ein süßes Kindchen
gewesen!

Mit Blitzesschnelle entrollten sich ihm siebzehn Jahre. Immer
Josefine! In der Wiege – in den ersten Schuhchen – pfeilschnell
dahinschießend im wilden Lauf – beim exerzieren – mit dem Schulranzen
– am Einsegnungstag im ersten langen Kleid – eine Mutter unter den
Geschwistern – fleißig am Waschzuber – trillernd wie eine Lerche –
immer und immer Josefine! Allezeit war sie seines Herzens Freude und
Wonne gewesen.

Ihn dünkte heute die unbestimmte Angst um sie fast größer, als jene,
die er empfunden in schneeiger Winternacht, da er hier entlang
gestürzt, den verlorenen Sohn zu suchen.

Immer und immer der gleiche Weg, das Pochen an die gleiche Thür! Mußten
sie denn alle dahin laufen, immer nach dem ›Bunten Vogel.‹ Weib, Sohn,
Tochter?! Und er wie ein Narr hinterdrein?!

Ein jähes Gefühl stieg in ihm auf, das sein Blut wallen machte und sein
Auge verdunkelte. O, dieses behäbige Bürgerhaus mit seiner allezeit
offenen Thür, mit seiner ewigen Lampe unterem Marienbild, mit seinem
Duft nach Rheinland und Rheinwasser! Es stahl ihm das, was sein war.

Des Feldwebels Gesicht wurde sehr finster, mit einem bösen Blick sah er
umher – o, diese Stadt! Nein, er hatte sie nie lieben gelernt, verhaßt
war ihm ihr Pflaster! Nie würde er hier eine Heimat finden, fremd blieb
ihm ewig dieser Boden!

Diese nie versagende Fröhlichkeit widerte ihn an – horch, wahrhaftig,
da gröhlten sie schon wieder!

Er war auf dem Hunsrück angelangt. In der Wirtschaft bei Prehl standen
Fenster und Thüren offen, die Räume schienen zu eng, um die noch immer
zuströmenden Männer und Burschen zu fassen. Drinnen redete einer mit
mächtiger Stimme. Aha, jetzt erschallten brausende Hochrufe! Was war
denn los?

Eine schwarz-rot-goldene Fahne entfaltete sich plötzlich aus einem
Fenster des Obergeschosses, flatterte im Winde und blähte sich. Und
innen im Lokal und außen auf der Gasse huben plötzlich hunderte wie aus
einer Kehle an:

    »Freiheit, die ich meine,
    Die mein Herz erfüllt!«

Weithin dröhnten die kräftigen Stimmen der St. Sebastian-Schützenbrüder.

Der Feldwebel blieb an der jenseitigen Häuserreihe stehen – was, waren
sie jetzt schon alle betrunken?! Es schien so. Sie jubelten laut, sie
schlugen sich auf die Schultern, sie schüttelten sich die Hände, sie
sanken sich in die Arme, sie küßten sich – Männer küßten sich! Buben,
kaum drei Käse hoch, wurden in die Höhe gehoben, jubelnd haschten sie
nach dem schwarz-rot-goldenen Zipfel. Klatschend trieb der Wind die
Fahne gegen Mauer und Fenster; jetzt breitete sie sich aus und spannte
sich über die Gasse wie ein straffes Tuch in leuchtenden Farben.

Schwarz-rot-gold – hm! Kopfschüttelnd ging Rinke weiter; aber erneuter
Gesang schallte hinter ihm drein und verfolgte ihn bis zum Ende der
Gasse, noch weiter:

    »Deutschland, Deutschland über alles!«

Trotzig stieg es in ihm auf – schwarz-rot-gold, was sollte das?! Es gab
nur eine Fahne:

    ›Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?
    Die Fahne weht mir schwarz und weiß voran!‹

Schwarz-weiß! Ein ungeheurer Stolz schwoll in ihm. Aufgereckt,
kerzengerade stieg der Preuße über die Straße; ein paar Knaben lachten
hinter ihm her. So kam er im ›Bunten Vogel‹ an.

Seine Frau und seine Söhne fand er dort. Josefine nicht.

»Och Jott, Rinke, du has auch immer jett,« sagte Frau Trina auf sein
hastiges Fragen nach der Tochter. Ordentlich mitleidig sah sie ihren
Mann an. »Wat du der immer für Sorg’ machst, rein um jar nix! Wenn mer
so is, kann mer ja sein Leben nit froh werden. Wo soll dat Fina dann
hin sein? Et is doch kein klein Stümpken meh, dat verloren jeht!«

Rinkes erstes Gefühl war gewesen, wieder nach Hause zu eilen und dort
auf die Tochter zu warten; nun blieb er doch hier. Wenn er nun allein
zu Hause blieb mit seinen Gedanken?! Ihm grauste davor. Mechanisch
streifte er die Handschuhe herunter und schnallte das Seitengewehr ab.

Frau Trina hatte ihn neben sich auf die Bank gezogen, sie freute sich,
daß er endlich wieder einmal mit ihr hier saß. Nun zwinkerte sie
vergnügt ihrem Ältesten zu:

»Du, Willem, bring dem Pappa jett zu drinken!« Der Sohn that’s, aber
dann drückte er sich zur Thür hinaus, die Großmutter mußte selber
aufstehen und dem Schwiegersohn das Bierglas neu füllen.

Heute waren keine Gäste im ›Bunten Vogel‹, alles hockte beim Prehl
auf dem Hunsrück. Eine große Behaglichkeit lag über der halbdunklen,
altmodischen Wirtsstube. Das ewige Lämpchen unter’m Marienbild glimmte
mild mit rötlichem Schein; friedlich still war’s draußen auf der
Straße, kein Hund bellte, kein Fußtritt hallte.

Stiller wurde es auch in des Feldwebels Seele.

Frau Trina hatte ihre Hand in die seine geschoben; das war lange nicht
geschehen. Auch das freundliche Gesicht der alten Frau, gegenüber am
Tisch, that ihm wohl. Nachtragend war die nicht, das mußte man ihr
lassen, und der alte Peter Zillges auch nicht, der lächelte in einem
fort, kindisch zufrieden.

Ein Gespräch wollte aber trotzdem nicht in Fluß kommen; man begnügte
sich, nur einander freundlich anzusehen. Langsam sank die Dunkelheit.

Da krachte auf einmal ein Schuß auf der Straße, die Frauen stießen ein
erschrockenes: ›Jesus Maria!‹ aus. Die Knaben wollten neugierig zur
Thür stürzen, ein barsches: ›Halt!‹ des Vaters rief sie zurück. Der
Feldwebel war auch aufgesprungen und horchte, den Kopf vorgeneigt.

Noch mehr Schüsse.

Und nun plötzlich Fackelglanz draußen im Dunklen: ein ganzer Trupp
Menschen zog vorüber, Männer, Jünglinge, Knaben.

Und nun Freudengeschrei: »Illuminieren! Bürjer, Lichtches eraus! Hoch
de König! Vivat, de soll leben! Lichtches eraus, Bürjer, illuminieren!«
Die Stimmen gellten durcheinander.

Das war ein Trappeln und Rennen, ein Pflasterdröhnen; die stille
Ratingerstraße belebte sich wie durch Zauberschlag.

Hunderte von Menschen. Nun trabte ein Rudel Jungen heran:

»Hä küt, hä küt! Hoch de San Sebastian-Schützeverein! Hoch de König!
Hoch, hoch, hoch!«

Ein paar Stadtmusikanten fiedelten und bliesen aus vollen Backen. Jetzt
brausende Jubelrufe – der Chef von St. Sebastian erschien, fast wankend
unter der Wucht der schwarz-rot-goldnen Fahne. Jubelnd, jauchzend,
singend umringten ihn die Schützen. Heute marschierten sie nicht
in Reih’ und Glied, heute lief jeder wie er wollte und schwamm auf
Freudenwogen.

»Düsseldorfer Bürger, Stadt illuminieren!« Von allen Seiten tönte das
Verlangen, der Rheinwind trug den Ruf weiter.

Und Menschen, Menschen, froh erregte Menschenscharen.

Und Freudenschüsse vom Mühlenplätzchen, vom Burgplatz, vom Markt her;
nach dem Rathaus drängte die Menge.

Das knatterte und knallte und blies und fiedelte und juchzte und
frohlockte. Die Träger schwangen ausgelassen ihre Fackeln, greller
Schein überglänzte alles, flüssiges Feuer tropfte auf’s Pflaster; wie
bespritzt mit Blut standen die weißen Mauern der Häuser.

Frau Trina war mit der Mutter und den Kindern an die Hausthür gelaufen,
in größter Neugier faßte sie einen der Vorüberstürzenden am Ärmel: »Wat
es dann passiert? Sagt doch!«

»Ich weiß et nit – Vivat hoch, hoch, hoch!«

Sie mußte sich an einen andern wenden: »He, wo lauft ihr dann hin?«

»Nao’m Rathuus! Mir bringen de Fahn’ derhin!«

»Warum dann? Warum schreit ihr dann eso?!«

»Ich weiß et nit!«

»Wat? Och, sagt doch!«

»Ich weiß et nit! Ho–ch!«

Keiner hielt ihr stand. Eine genügende Antwort bekam sie nicht. »Mir
feiern,« das brachte sie endlich heraus.

Schnakenbergs Hendrich kam jetzt die Straße entlang. Der war auch bei
den Schützen, eine Preismedaille trug er auf der Brust. Es gab Frau
Trina einen leichten Stich durch’s Herz – ach, wie schön müßte es sein,
am Arm eines solchen Preisschützen alles gucken zu gehen!

»Pst – Sie – ’n Abend, Herr Schnakenberg!«

Der Hendrich war doch immer noch galant; trotzdem alles vorwärts
drängte, blieb er einen Augenblick bei ihr stehen. »Kuck ens an, dat
Tring!«

»Och, sagen Se doch, wat wird dann jefeiert?«

»Och, de König in Berlin – no, wissen Se – de König, de hat en
Amnestie erlassen. Freiheiten soll de jejeben haben. Vor en Stund’ is
de Nachricht jekommen. ’schwind, Madam Rinke, ’schwind, nu jiebt et
wat zu kucken! Mir bringen ene Fackelzug nao’m ›Jägerhof‹ – adjüs! De
Prinz Friedrich, de Protektor vom Verein, de soll leben! Hoch de Prinz
Friedrich! Hoch de San Sebastian-Schützenverein! Hoch de König! Hoch
die Freiheit! Hoch dat janze königliche Haus – hoch!«

Und ›hoch‹ schrie’s nach, hundertfach. ›Nao’m Jägerhof, nao’m Jägerhof!‹

Das Durcheinander entwirrte sich schnell; zu zweien und dreien
reihten sich die Schützen – Fackelträger rechts und links – voran die
schwarz-rot-goldne Fahne. Wohlgeordnet, mit Musik und Gesang, setzte
sich ein Zug in Bewegung. Und immer noch schlossen sich Bürger an, auch
Frauen und Mädchen und Kinder liefen nebenher, immer mit im Schritt,
und mischten ihre hellen Stimmen in den Chor der Männer:

    ›Was ist des Deutschen Vaterland?!‹ –

Mächtig dröhnte es durch die Nacht.

Nun hielt es Frau Trina nicht mehr aus – ihre Söhne waren schon längst
auf und davon – sie stürzte in die Stube zurück: »Rinke, ich jeh’ ens
kucken!«

Der Feldwebel stand am Fenster, beide Hände auf’s Fensterbrett
gestützt, und starrte hinaus. Als seine Frau rief, sah er sich nicht
um. Das mächtige ›O nein, o nein, o nein, o nein – sein Vaterland muß
größer sein,‹ das draußen noch immer anschwoll, verschlang jeden andern
Laut.

»Rinke, Rinke!« Trina stieß ihn an.

Da fuhr er herum. »Was willste?«

»Kucken jehn! Komm doch auch mit! ’schwind, lassen mir jehn!«

»Ja,« sagte er hart, nahm sein Seitengewehr vom Haken an der Wand und
zog den Gurt mit einem Ruck straff zu.

»Mutter,« rief der alte Zillges von der Ofenbank her. Der Fackelschein,
das Knallen, das Laufen draußen hatte ihn anscheinend gar nicht
berührt, still hatte er dagesessen und die Daumen umeinander gedreht;
nun hörte er den brausenden Chor. Aushorchend legte er die Hand
hinter’s Ohr: »Mutter, wat singen se da?«

Seine Alte trat zu ihm; den Arm um seine Schultern legend, schrie sie
ihm in’s Ohr: »Dat Lied von Deutschland!«

»Von Deutschland – Deutschland –?!«

»Eja. Wat es des Deutschen Vaterland?! Dat neue Lied!«

»Deutschland – Vaterland?!« grämelte der Greis. »Mir sin Düsseldorf
Börjer!«

Der Feldwebel hatte es gehört; kurz sah er nach Bürger Zillges hin,
seine Mundwinkel zogen sich dabei in einem verächtlichen Lächeln herab:
der alte, eingefleischte, rheinische Dickkopf!

Dann folgte er seiner Frau zur Thür, strammen Schrittes. Seine Stiefel
knarrten, sein Rock warf keine Falte – Brust heraus, jeder Zoll ein
Preuße.

Die Straßen waren hell, in allen Fenstern brannten Lichter; wer
nicht genug Leuchter hatte, stellte seine Kerzchen in ausgehöhlte
Kartoffeln. Auch Öllampen halfen aus. Alle Hausthüren waren geöffnet,
alle Gesichter glänzten froh. Der scharfe Märzwind hatte sich mit dem
Abend gelegt, leichte Lüfte nur wehten vom Rhein und spielten um die
schwarz-rot-goldene Fahne.

Im Hofgarten reckten die Bäume ihre Knospen in’s Fackellicht, und
der stille Weiher spiegelte den Glanz wider. Feuchtwarmer Hauch
strich säuselnd um erstes junges Gras. Der Winter war vorbei, Träume
wachten auf, die noch geschlafen; hoch in den Wipfeln rauschte es von:
Frühling, Frühling!




XV


Wie ein wüster Traum erschien dem Feldwebel die vergangene Nacht.
War’s denn Wahrheit, die schwarz-rot-goldene Fahne wehte wirklich vom
Rathaus, auch im hellen Licht des neuen Tages?! Die Verrückten!

Aber einen stillen Triumph hatte er: Der königliche Prinz im Jägerhof
hatte ihren Fackelzug abgelehnt. Er war nicht auf dem Balkon erschienen
trotz all der Rufe: ›Es lebe Prinz Friedrich.‹ ›Es lebe der König!‹
Trotz aller Gesänge waren die Fenster dunkel geblieben, das Schloß
schien ausgestorben, einzig ein paar Lakaiengesichter hatten sich scheu
hinter den Scheiben des Parterregeschosses gezeigt. Das enttäuschte
Volk hatte lange geharrt, zuerst geduldig; aber dann, frech wie sie
waren, hatten einige geknurrt, andere sogar gepfiffen. Das Blut war
Rinke heiß zu Kopf gestiegen.

Da war ihm eiskalt geworden.

Ein Mädchen war vorübergegangen, ein blondes Mädchen, am Arm eines
schlanken Herrn. War das nicht Josefine –?! Ja, und das war der
Leutnant, trotz des Civils! Ja, sie waren es, und wenn sie sich auch
noch so vorsichtig im Schatten hielten! Auf den Prellstein an der
Jägerhofstraßenecke war Josefine neugierig geklettert, lachend hatte
sie sich auf ihres Begleiters Schulter gestützt; dann hatte der sie
herabgehoben, und in zärtlichem Aneinanderschmiegen waren sie wieder
untergetaucht zwischen einsamen Büschen des Hofgartens. – – –

Nun sollte sie ihm aber her heute morgen!

Mit einem Fluch fuhr der Feldwebel aus dem zerwühlten Bett, aber der
Fluch wurde zum Stöhnen. Sein Mädel, seine Josefine! Sie liebte den
Leutnant, – wie unglücklich würde sie sein! Aber – laß sie weinen! –
jetzt fest sein wie Eisen, kalt Blut! Er setzte die strengste Miene auf.

Als er nach ihr rief, kam sie ahnungslos gelaufen rosig angehaucht vom
Morgentraum und einem inneren Glück.

»Willste wat, Vater?«

Er sah sie nicht an, machte sich mit seinem Anzug zu schaffen. Es klang
nur so nebenbei: »Wo warst du gestern?«

»Jestern? – Och – de Illumination kucken!«

»So, hm« – er machte eine Pause und sah sie scharf an, sie war
plötzlich dunkelrot geworden – »allein?! – Allein, he?!«

»Ich – och – Vater, wat biste so komisch! Ich – wat is dann, wat haste
dann?«

Wie verlegen sie war! Gott sei Dank, das Lügen und Verstellen hatte sie
doch noch nicht ganz gelernt! Sie war sehr ängstlich.

»Ob du allein gegangen bist, frag’ ich dich! Antwort!«

»Ich – ja – ne –« sie zögerte, sie wand sich, und dann sagte sie
hastig: »Ja, ja, allein!«

»Du lügst!«

Zwei Worte nur waren es, aber sie fielen wie zwei Hammerschläge.
Josefine knickte förmlich zusammen, ihre Röte verwandelte sich in
Blässe, ihre Lippen zitterten. Nun war sie wie damals der Wilhelm –
keine Silbe, kein Laut – sie wich nur zurück, langsam, Schritt für
Schritt.

Der Vater folgte ihr. Jetzt faßte er ihren Arm und zog sie zu sich
heran. Dicht waren seine Augen den ihren; ob sie die Lider auch
niederschlug, sie fühlte doch seinen scharfen Blick. Der wühlte sich
förmlich in sie hinein, der durchfuhr ihr Herz – so viel Strenge, so
viel Zorn in diesem Blick, ach, und so viel Gram!

»Du lügst?!« wiederholte er. Es klang wie ein Schmerzensruf, wie eine
bange Frage. »Hab’ ich dich lügen gelehrt? Sag, hab’ ich?« Er preßte
ihren Arm mit eisernem Griff. »Hab’ ich dich nicht Ehre gelehrt?!«

Sie gab keine Antwort.

Da übermannte ihn der Zorn, er rüttelte sie, daß ihr die Haarnadeln
herausflogen und die lose aufgedeckten Zöpfe herunterfielen. »Ich habe
dich gestern gesehen!«

Die Tritte der Mutter näherten sich außen der Thür.

»Bleib draußen,« brüllte der Feldwebel und drehte den Schlüssel um; und
dann packte er wieder den Arm der Tochter und flüsterte heiser: »Du
lügst ja – pfui Teufel!« Mit einer Gebärde der Verachtung stieß er sie
von sich.

Da raffte sie sich auf. Trotzig den Kopf aufreckend, trat sie vor ihn;
entschlossene Energie ließ ihre weichen Züge fester erscheinen, den
seinen ähnlich. Die Thränen herunterschluckend, sah sie ihm gerade in’s
Gesicht.

Sein Ton wurde unbewußt milder, wie der einer Klage: »Du – du – warum
belügst du mich?!«

Es kämpfte in ihrem Gesicht, und dann kamen die Thränen, schluchzend
stieß sie heraus: »Wir – fürchten – dich – alle –! Weil wir dich
fürchten!«

Er starrte sie entsetzt an: »Du – auch?!«

Sie gab keine Antwort.

Er stand gegen den Tisch gelehnt, als müsse er sich stützen. Jetzt fuhr
er sich langsam mit der Hand über die Stirn, über das ganze erblaßte
Gesicht.

»Also du – fürchtest mich auch,« sagte er tonlos. »Mein Gott, mein
Gott!« – Dieses flüsterte er nur noch in sich hinein, wie ein
heimliches Stoßgebet. – »Sie fürchten mich alle. Alle. Herrgott, nur
diese eine hier laß mir – die Josefine! Sie soll mich nicht fürchten!«

Sein Blick verdunkelte sich, brennend schoß ihm etwas Heißes in’s Auge.

Josefine sah es.

»Vater!« schrie sie, lief auf ihn zu und zog ihm die Hand herunter.
»Ich sag’ et ja, ich sag’ et! Nein, ich fürcht’ dich nit! Vater, mach
kein so traurig Jesicht! Ja, ich bin mit dem Viktor jejangen – wir
haben uns lieb« – ein Ausdruck des Entzückens verklärte ihr Gesicht
– »ach, janz schrecklich lieb! – Ne, lügen will ich nit mehr, dadrum
sollste dich nit jrämen! Meinswejen schlag mich – ich kann nix dafor,
ich hab’ ihn so lieb!«

»Hm, ja – so sehr lieb?«

»Och ja, och ja!«

»Er dich auch?«

»Ja, och ja!«

Rinke holte tief Atem, es lag ihm allerlei auf der Seele – eine große
Angst – aber er fragte nur noch: »Hat er dich oft bestellt?«

Sie nickte. Einen Augenblick zögerte sie, aber dann setzte sie ganz von
selbst hinzu: »Spazieren jejangen sind wir abends, und dann –« hier
wurde ihre Stimme leiser, sie flüsterte, alle Furcht vergessend, in
einer glückseligen Erinnerung – »ich bin auch als mal auf seiner Stub’
jewesen.« Sie seufzte tief auf und strich sich mit beiden Händen das
Haar aus dem Gesicht. »Nu weißte alles!«

Alles? – War das auch wirklich alles – alles?! Des Feldwebels Blick
blieb auf der Tochter haften, als wolle er in ihrer Seele lesen. Sie
hielt den Blick aus.

Halb kühn, halb bang, wartete sie, – was würde er sagen, was thun?!
Jetzt hob er die Hand – unwillkürlich kniff sie die Augen zu – jetzt –
jetzt würde der Schlag fallen –

»Setz dich,« sagte der Vater.

Erstaunt öffnete sie die Augen weit, seine Stimme klang ja weich.

Ein flüchtiger Sonnenschein war über Rinkes Gesicht geglitten, ruhiger
nahm er am Tisch Platz. Gottlob, noch war nichts verloren, es konnte
noch alles gut werden! Und rasch flogen seine Gedanken zu Conradi hin.
Er atmete tief auf, wie von einer Last befreit, aber dann trommelte er
energisch auf die Tischplatte.

»Nu machste aber ’n Ende! So weit, aber nich weiter, hörst du?! Ich
mache dir keinen Vorwurf, wirst dir das Nötige wohl alleine sagen
können, alt genug biste dazu. Jetzt heißt es: ›Ganzes Bataillon –
kehrt!‹«

Sie ließ den Kopf hängen.

Er sprach weiter, scheinbar ohne die Thränen zu bemerken, die über ihre
Wangen strömten. Lange redete er auf sie ein, ohne Zorn, ohne Härte
– Donnerwetter, konnte er es dem Mädel denn verdenken, daß es in den
Clermont verschossen war?! Schneidiger Junge! Und ein Mann von Ehre
war’s nebenbei auch noch. Ja, ein echter Offizier, nicht nur adlig von
Geburt! Rinke fühlte sich ganz beruhigt – nein, da war nichts passiert!

»Heule man nich, Josefine,« sagte er zuletzt und strich der Tochter
leicht über das Haar. »Danke Gott, bei ’nem andern hättste böse
ankommen können. Und nu, Kopf oben! So was vergißt sich, wenn man Mumm
hat, und den haste ja. Heirate ’nen braven Mann. Der Conradi wird dich
schon glücklich machen!«

Sie zuckte zusammen. Immer tiefer hatte sie den Kopf gesenkt, nun warf
sie sich vornüber auf den Tisch und brach in fassungsloses Schluchzen
aus.

»Na, na!« Rinke stand auf und sah ziemlich bestürzt auf sie nieder;
dann aber lief er mit kurzen Schritten vor ihr auf und ab, diese
ungebärdige Heulerei fing an ihn zu ärgern. Was hatte sie sich denn
eigentlich eingebildet, sollte diese Liebelei immer los so weiter
gehen?!

»Hör auf,« sagte er streng und zwang ihr den Kopf in die Höhe. »Nimm
dich zusammen! Was fällt dir denn ein, du bist ’ne Feldwebelstochter,
er ein Offizier. Was soll noch die Flennerei?! – Hör auf!« schrie er
und stampfte mit dem Fuß, als ihr Weinen von neuem losbrach. »Wenn der
Conradi will, könnt ihr bald Hochzeit machen – nur keine lange Zerrerei
– dann hat die liebe Seele Ruh’. Na, dem Conradi wird’s schon recht
sein!«

Ein verwirrter, banger Ausdruck kam in Josefines Gesicht, sie öffnete
den Mund, aber ehe sie noch irgend etwas gesagt, schnitt ihr der Vater
schon das Wort ab. Sie brachte es nur zu einem einzigen angstvollen
Laut.

»Maul halten,« sagte er hart, und seine Züge wurden eisern.
»Geantwortet wird nicht, aber pariert. Und daß du mit dem Leutnant
nicht mehr weiter scharmutzierst, darauf giebst du mir dein Wort – dein
Ehrenwort.« Er hielt ihr die Hand hin: »So!«

»Vater, ich kann nit – wat soll der Viktor wohl sagen – och, Vater!«
Sie wand sich und schluchzte.

»Was der sagen soll?! Na, – sprich noch mal mit ihm, besser noch,
schreib ihm – schreib ihm, was dir dein Vater gesagt hat. Und: ›Adieu,‹
wird er sagen, ›Adieu, Josefine!‹ Der hat Ehre.«

»Vater, ich kann et nit, wahrhaftijens Jott, ich kann’t nit – sag du et
ihm! Ich sterb’!«

Nun that sie ihm doch wieder bitter leid, ihre Augen waren rot vom
weinen, ihre Lippen schmerzlich verzogen; sie faßte ihn bittend am
Rock: »Sag du et ihm!«

»Mädel, red’ keinen Unsinn, überleg’ dir’s doch, wie kann ich wohl
mit dem Leutnant von so was reden – ich, als Feldwebel?! Du mußt
dich alleine ’rausfinden. Zeig mal, daß du bist, für was ich dich
immer estimiert habe, und daß du –« Es kam ihm etwas in die Kehle,
er räusperte sich stark, und dann fiel er in seinen gewohnten Ton:
»Donnerwetter, da schlägt’s ja schon sechse! Die Suppe, die Suppe, ich
muß ’runter! Die Kerle werden täglich schlapper!«

Sie sprang auf, ihre Kniee zitterten, – die Suppe, die Suppe, es war
höchste Zeit! Ob auch blind vor Thränen, tappte sie doch rasch zur Thür.

Die Morgensuppe schmeckte heute dem Feldwebel nicht. »Na, hast ihr wohl
mit Thränen gesalzen,« sagte er mit einem Versuch zum scherzen, als er,
an der Küche vorbei, zur Treppe ging.

Sonst hätte die Tochter gelacht, heute hörte sie nicht. Sie stand am
Herd und starrte in die verlodernden Flammen. – –

Als Rinke im Bureau sich den Gänsekiel zurecht schnitt, beschloß er,
nachher, in der ersten freien Minute, gleich dem Conradi zu schreiben –
jetzt nur nicht lange gefackelt!

Er dachte gar nicht daran, wie schwer es ihm sein würde, die Tochter zu
missen – nur fort mußte sie, bald Hochzeit machen! Und er wußte, sie
würde nicht mehr widerstreben; jetzt ging sie lieber fort, als daß sie
dem Leutnant täglich begegnete.

Eben legte er sich einen Briefbogen zurecht, als der Hauptmann ihn
rufen ließ, der in großer Erregung draußen auf und ab ging.

Heute war alles in der Kaserne, überall sah man Offiziere. Auf dem
Exerzierplatz stand der General von der Gröben inmitten der höchsten
Chargen. Aber die Mannschaft hielt man auf den Stuben. Es wurden
Gewehre geputzt, Munition verteilt – zwanzig Patronen pro Mann – der
Pioniersektion das große Schanzzeug beordert, auch Brotbeutel gefüllt.

Ging’s wieder zu einem Tumult? Eine gewisse Neugier: wohin diesmal?
bewegte die stumpfen Gemüter der Mannschaft.

Mit beunruhigten, gereizten Blicken sahen sich die Vorgesetzten an.
Wer aus der Stadt kam, wußte von sich zusammenfindenden Volksmassen zu
berichten. Eine aufgeregte Menge wogte durch die Straßen.

Was gestern einige nur besonders Eingeweihte gewußt, was als
grauenvoll-geheime Kunde spät abends von Berlin eingetroffen war und
den königlichen Prinzen im Jägerhof sein Ohr verschließen ließ vor
den Hochrufen des fackeltragenden, fröhlichen Volkes, das war jetzt
stadtbekannt – die Kämpfe des 18. März.

In der Hauptstadt Revolution!

Glocken heulten dort Aufruhr. Barrikaden auf den Straßen, Tote auf
dem Pflaster, Blut und Hirn verspritzt. Vierzehntausend Mann Soldaten
hatten von zwei Uhr nachmittags bis in die fünfte Morgenstunde des 19.
März mit dem Volk gekämpft!

Was würde nun werden?! Würde es jetzt auch hier am Rhein losgehen?!
Eine bange Schwüle lag in der Luft, eine erregende Spannung auf den
Gemütern.

Die abgelöste Wache, die gegen mittag vom Burgplatz her ein gutes
Stück durch die Stadt zu marschieren hatte, berichtete, in der Kaserne
angekommen, von beleidigenden Zurufen, von pfeifen, johlen und
Schimpfworten. Ein paar Mädchen in einem Fenster hatten sogar die Zunge
herausgestreckt.

Die Sechzehner waren empört. Die Gereiztheit der Offiziere teilte sich
nun auch der Mannschaft mit, man wäre am liebsten ausgerückt.

Der Feldwebel rannte umher wie ein Tier im Käfig. Niemand durfte die
Kaserne verlassen. Hei, wenn er nur hervorspringen dürfte hinter dem
schweren Thor, hinaus auf die Straße und den Pöbel, der schon seit
Stunden Plätze und Gassen füllte, Achtung lehren! Die wollten sich wohl
auch zusammenrotten, wie die Horden in Berlin, die erst die einzelnen
Posten vor der Bank niedergeknallt und dann, berauscht von vergossenem
Blut, es gewagt hatten, die Truppen vor dem Schloß anzugreifen,
sozusagen dem König in’s Gesicht zu schlagen?!

Rinke hätte seine Frau prügeln können, die die armen Berliner Bürger
bejammerte. Heftig gebot er ihr Schweigen. Die Frauenzimmer verleideten
ihm die Wohnung; auch. Josefine hatte verheulte Augen, – war es denn
jetzt an der Zeit, unnützen Liebesgedanken nachzuhängen?! Er hielt sich
kaum oben auf, stieg wieder eilends hinab auf den Hof, machte die Runde
und strich umher wie ein ruheloser Geist.

Mit Kartätschen und Bomben müßte Seine Majestät dreinfeuern lassen,
dann würde es schon Respekt kriegen, das übermütige Bürgerpack, dem
der Buckel juckte vor lauter Wohlleben! Gut, daß der Prinz Wilhelm dem
König zur Seite stand und General von Prittwitz die Truppen befehligte;
das waren zwei Schneidige! Wenn nur erst der Prinz Wilhelm seinen
Posten als Gouverneuer der Rheinlande anträte, dann sollten sie hier
schon Augen machen: strammes Regiment, altpreußischer Geist, ein echter
Soldatenprinz! –

Der Feldwebel zitterte darauf, etwas Genaueres über die Ereignisse in
Berlin zu erfahren, waren es doch nur Bruchstücke, die in die Kaserne
drangen. Die verzehrende Ungeduld zu stillen, schickte er einen seiner
Jungen nach der Expedition der Düsseldorfer Zeitung. Unendlich lange
blieb der aus und kam zuletzt wieder, ohne Zeitung. Kein einziges Blatt
war zu haben gewesen, die Leute hatten sich darum geschlagen.

In Scharen standen die Düsseldorfer vor den Zeitungsausgaben und
begehrten stürmisch zu erfahren, ob das teure Bürgerblut umsonst
vergossen sei, ob der König in Berlin nun nicht schleunigst gut machen
werde, was ›der heillose Kartätschenprinz‹ mit seinen ›Bluthunden‹, den
Soldaten, am Volk verbrochen.

Auf einmal waren die Berliner Bürger den Düsseldorfer Bürgern wie
Brüder. Man trug Leid um jeden der Helden, der auf den Barrikaden
gefallen im Kampf um bürgerliches Recht. In jedem Wirtshaus wurde für
die Hinterbliebenen der toten Brüder gesammelt, manch einer gab in der
ersten Aufwallung weit mehr, als er vermochte. Viele schwarze Kleider
zeigten sich, verweinte Gesichter und zornige Mienen. Hunderte waren ja
hingemordet, von Bomben zerrissen, auf Bajonette gespießt, mit Kolben
zerschmettert!

Wie ein Schneeball, der in’s rollen geraten, zur Lawine wird, so
vergrößerte sich die Zahl der Opfer im Volksmund von Stunde zu Stunde.
Die Straßen der Hauptstadt trieften von Blut, nicht Greise hatte man
geschont noch Knaben, wehrlose Frauen hatte man gemißhandelt, wie die
Bestien hatten die Soldaten gehaust!

Weg mit dem Militär! Wozu diese Tagediebe, diese unnützen Brotfresser?!
Das Volk war Mannes genug, sich selber zu schützen, wenn Gefahr drohte
– gebt ihm nur Waffen!

Ein Murren grollte durch die Stadt. – – – –

       *       *       *       *       *

Es war abend, als Rinke den außergewöhnlichen Befehl erhielt, als
Wachhabender die Hauptwache am Burgplatz zu beziehen. Das war
sonst nicht seines Amtes, er fühlte es wohl, es war eine besondere
Auszeichnung. Nicht umsonst hatte der Hauptmann heute ein Lied zum
Preis der altgedienten Unteroffiziere angestimmt: ›Sie sind der Mörtel,
der die Mauern des preußischen Heeres zusammenhält, sie sind gleich
jonischen Säulen‹ – ja, so hatte er gesagt: jonische Säulen – ›die das
ganze Gebäude tragen.‹

Ein hoher Stolz schwellte die Brust des Feldwebels, als er mit seinen
Leuten im Dunkeln auszog.

Trüb’ nur flackerten die Laternen, der Märzwind wollte sie löschen. In
den Häusern rechts und links brannte nur wenig Licht, früh waren auch
die Läden geschlossen; kaum jemand schien daheim, alles auf der Gasse.
Aber still waren trotzdem die Straßen; stumm gingen die Bürger hin und
her, und wo ihrer mehrerer zusammen standen, flüsterten sie. Es war wie
in einem Trauerhaus. Selten nur, daß das Lied: ›Was ist des Deutschen
Vaterland‹, von einem Rudel halbwüchsiger Jungen gesungen, die heilige
Stille unterbrach.

Rinke ließ seine Augen scharf umgehen: nichts Verdächtiges! Die
Mannschaft war scharf bewaffnet. Der Erlaß dazu war heute nachmittag
gekommen. General von der Gröben hatte auch das Militär, das drüben
über’m Rhein lag, sämtlich in die Stadt zurückgezogen.

Wie immer marschierte die Wache ihres Weges, doppelt laut trappten die
schweren Kommißstiefel durch die Stille. Von den Insulten des Mittags
keine Spur. Um den alten Jan Willem und auf den Treppen des Rathauses
standen zwar viele Menschen, aber sie verhielten sich schweigend.

Einen bösen Blick sandte Rinke zum Rathausgiebel hinauf – da flatterte
die schwarz-rot-goldene Fahne; doch kein Pfiff ertönte. Mit einem
Gefühl der Befriedigung reckte der Feldwebel seine lange Gestalt noch
gerader – Bande! Angst hatten sie.

Finster lag das alte Schloß, und auch in dem Flügel, der der Akademie
diente, flimmerte kein Lichtchen. Auch kein Licht vom Himmel. Vom
Rhein her wehte es scharf. Das Knarren der Wetterfahnen auf den alten
Häusern am Burgplatz und das Sausen des Windes waren die einzigen
Geräusche, die die Mannschaft vernahm, als sie im Gewehr stand.

Da plötzlich ein schriller Pfiff! Dann alles wieder still.

Aus der Ratingerstraße schiebt sich stumm ein schwarzer Menschenknäuel
gegen den Burgplatz; vom Markt her ein zweiter, und von ›Hinter der
Akademie‹ noch ein dritter. Von allen Seiten drängt es zu. Im Moment
ist der Platz von Menschen besetzt. In langen Reihen nehmen sie
Aufstellung, der Hauptwache in geringer Entfernung gegenüber. Noch
verhalten sie sich still, aber schon ruft eine spottende Knabenstimme:

»Helau, Preuß’! Preuß’!«

Meist sind es junge Bursche, kaum dem Knabenalter Entwachsene, die sich
zusammengefunden haben; Lungerer sind auch dazwischen, Eckensteher und
Betrunkene, die sich taumelnd kaum aufrecht halten.

Mit spöttischem Zucken des Mundes musterte Rinke die Gegner – das waren
Helden!

Unbeweglich stand seine Mannschaft, Gewehr bei Fuß.

»Stillgestanden – das Gewehrr – üb’r!«

Die Läufe blitzen.

Da – wieder der gellende Knabenruf: »Se han jeladen!«

Hohngelächter. Und nun nachäffendes Geschrei:

»Stillgestanden – das Gewehrr über!«

Wiederum wieherndes Lachen aus hundert Kehlen. Aber auch andre Rufe
mischen sich ein; ein Trunkener flucht, ein Aufgeregter heult: »Se
schießen auf et Volk!«

»Wie in Berlin,« schreit ein andrer. Und: »Preußen weg, Platz for den
Bürjer!« tönt es vielstimmig.

Des Feldwebels Augen funkelten. Er hatte blank gezogen; eine grimmige
Lust kam ihn an, dem vordersten Schreier die flache Klinge auf dem
Buckel tanzen zu lassen. Sein braunes Gesicht war fahl geworden, die
Ader auf seiner Stirn dick geschwollen; er biß die Zähne zusammen,
krampfhaft umklammerte seine Rechte die Waffe.

Das dauerte so eine Ewigkeit.

»Preuß’, Preuß’, kß, kß, kß! Ach–tung! Präsentiert das – Gewährrr!
Bataillon marrrsch!«

Sie machten die Kommandos ganz gut nach, sie hatten sie oft genug vom
Exerzierplatz schallen gehört.

Rinke fühlte die Blicke seiner Mannschaft; die brannten vor gereizter
Ungeduld. Ein Wort, ein Kommando – es wäre eine Erlösung gewesen! Aber
fest preßte er die Lippen zusammen – Ruhe, Vorsicht, Mäßigung! Er hatte
keinen andern Befehl.

Regungslos stand er, wie aus Erz, keine Muskel zuckte, und doch lag
Verachtung in seiner Haltung; sie reizte.

Ein paar Fackeln waren aufgetaucht, nun zeigte sich der Platz in hin
und wieder huschendem Schein.

»Preußenkerl! Bluthund!«

Aus der hintersten Ecke kommt ein Stein geflogen, aus derselben
Richtung schwirrt drohendes Gemurr. Immer drohender wird es. Die
hintersten drängen die vordersten – immer näher rückt der Haufen, immer
näher.

Jetzt stehen sich die Parteien dicht gegenüber, Auge in Auge.

Schon wieder fliegt ein Stein – gut gezielt – polternd fällt er
zwischen die Gewehrstände.

Unwillkürlich packen die Soldaten ihre Waffe fester; des Feldwebels
Hand, die die blanke Klinge hält, zuckt.

Wütende Augenpaare glitzern sich an.

»Nicht mit Steinen schmeißen! Um Jottes willen, nicht schmeißen!«

Vom Rathaus her kommen ein paar Männer angestürzt, barhaupt, mit
flatternden Rockschößen. Angesehene Bürger sind es, ältere Leute. Sie
verteilen sich unter der Menge, und man hört ihre beschwichtigenden
Stimmen; sie ermahnen, sie bitten:

»Ruhe, um Jottes willen Ruhe!«

»De Preußen sollen sich scheren! Preußen, Schweinhunde, macht euch ab!«

Steine prasseln. Grell johlt der Pöbel auf.

Die Ruhestifter drängen sich durch; mit erhobenen Armen, wie zum
Schutz, schieben sie sich zwischen die Parteien: »Ruhe, Ruhe, sie jehn
ja schon! Der Befehl ist unterwegs – sie sollen abziehn – wartet nur!
Wartet!«

Langsam weicht die Menge zurück; aber sie bleibt noch, auf der andern
Seite des Platzes faßt sie Posto und wartet.

Wenig später erhält die Wache den Befehl: ›Abziehen! Zurück in die
Kaserne!‹ –

Das war ein schmachvoller Rückzug! Feldwebel Rinke glaubte nie eine
gleiche Demütigung erfahren zu haben; er wagte nicht aufzusehen,
finster bohrte sich sein Blick in’s Straßenpflaster. Wenn auch der
Pöbel, plötzlich vollständig zufriedengestellt durch den Abzug der
Soldaten, lautlos, ohne höhnenden Zuruf, die Truppe passieren ließ,
er glaubte doch den Spott zu fühlen. Aller Augen wähnte er auf sich
gerichtet. Er hatte es nicht Acht, daß die Ruhestörer andre Wege
einschlugen; die drängten in die Wirtshäuser, durchzogen Arm in Arm
die Gassen, ›des Deutschen Vaterland‹ singend. Viele Häuser zeigten
schwarz-rot-goldene Fähnchen, Bürger eilten nach dem Rathaus, um ihre
nur durch das Nachtessen unterbrochene Beratung über die dringend
notwendige Gründung einer Bürgerwehr fortzusetzen.

Als der Feldwebel die Mannschaft hatte abtreten lassen, torkelte er
einsam über den nächtlichen Kasernenhof. Alles drehte sich mit ihm,
er fühlte sich wie betrunken und hatte doch keinen Tropfen über die
Lippen gebracht. Gleich einem Fieberkranken flog ihm der Atem. Nur
einen Augenblick Rast – seine Füße wollten ihn nicht mehr tragen – und
dann noch einmal fort, zum Hauptmann! Er mußte den sprechen, und würde
es Mitternacht. Warum eigentlich? Das wußte er selber nicht, aber so
hielt er’s nicht aus; er mußte jemand ausschütten, was ihm das Herz
abdrückte, was ihn erfüllte ganz und gar mit Schmerz, Zorn, Empörung.
Ach, wäre nur erst der Prinz Wilhelm im Rheinland!

Einen sehnsüchtigen Seufzer stieß er aus. Sein Auge irrte zum Himmel
empor und suchte verlangend einen hellen Stern – er fand keinen.

Jetzt stürmte jemand durch die Finsternis an ihm vorbei, er kannte den
raschen, elastischen Tritt – der Leutnant!

»Feldwebel, sind Sie’s?« klang’s ihm durch die Nacht entgegen.

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

Viktor von Clermont blieb stehen. »Ist es wahr, die Wache ist
zurückgezogen worden?« stieß er heraus.

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

»Donner und Doria!« Weiter sagte der junge Offizier nichts, aber Rinke,
der in der Dunkelheit sein Gesicht nicht erkennen konnte, glaubte durch
den Ton zu sehen – dem da schlug auch die Röte der Scham, des Unwillens
in’s Gesicht!

»Haben Sie schon die neueste Post gehört?« fragte der Leutnant hastig.
Man merkte es ihm an, er konnte es nicht mehr bei sich behalten.
»Majestät hat die Truppen zurückziehen lassen – alle Truppen – da!« Er
riß ein Zeitungsblatt aus der Tasche. »Das Allerneueste aus Berlin! Und
die Proklamation Seiner Majestät! Hier, lesen Sie!«

Gierig griff Rinke nach der Zeitung; ehe er danken konnte, war Clermont
fort, hineingeschossen in’s Dunkel, wie eine Rakete. Der Feldwebel nahm
sich nicht erst Zeit, in seine Wohnung hinaufzuklettern; unten, vor’m
Treppenaufstieg, schwankte eine Laterne und gab ein spärliches Licht,
hier blieb er stehen.

Hastig entfaltete er das Blatt, – es war zerknittert und eingerissen,
als hätte einer mit der Faust dreingeschlagen und es dann wütend
zerknüllt – kaum konnte er es noch lesen.

Da stand’s! Die Hundsfötter hatten den König herausgeschrieen, auf
den Balkon des Schlosses war er getreten, sie hatten ihm Leichen
entgegengehalten – Rebellenleichen! Gebrüllt: ›Hut ab!‹ Und er – der
König – er hatte sich verneigt!

Vor des Feldwebels Augen flimmerte es, die Buchstaben tanzten. Mit
einem Fluch suchte er weiter.

Hier die Proklamation!

›=An meine lieben Berliner!=‹

Lieben Berliner! »Haha!« Rinke wußte nicht, daß er mißtönend auflachte.
Ganz betäubt, ganz entsetzt, mit Blicken, vor denen alles verschwamm
und die doch grausam deutlich sahen, verschlang er das folgende. Jetzt
buchstabierte er wie ein Kind:

›=Ich gebe euch Mein königliches Wort, daß alle Straßen und Plätze
sogleich von den Truppen geräumt werden sollen= –‹

Er konnte, er wollte nicht weiter lesen, nein, nein! Und doch noch
dies, hier noch dies:

›=Vergesset das Geschehene, wie Ich es vergessen will= –‹

War es möglich?! Das Zeitungsblatt in seiner Hand zitterte. Ungestraft
sollten die frechen Empörer ausgehen, ungeahndet Soldatenblut
vergossen, mit Mörderhänden an Preußens Thron gerüttelt haben?! Wo
blieb die Tapferkeit, wo blieb die Ehre – wo der Prinz Wilhelm?! Was
sagte der?!

Brennend überflog sein Auge die Zeilen, suchte und suchte – Prinz
Wilhelm, Prinz Wilhelm – da stand nichts von ihm!

Ein Windstoß löschte die schwankende Laterne, schwarz war der Hof,
schwarz der Flur.

Der Feldwebel hatte sich schwer gegen die Wand gelehnt. Das in
zwei Stücke zerfetzte Zeitungsblatt hielt er in beiden Fäusten und
schluchzte in Zorn und Schmerz.




XVI


Im Düsseldorfer Kreisblatt spukte die Freiheit:

    ›Sie sind längst dahingegangen, die vom deutschen Frühling sangen,
    Und der Lenz der deutschen Freiheit, =endlich= hat er angefangen!
    Seht, es knospet eine Rose aus der blutgetränkten Erde!
    Eine Rose, nicht ein Veilchen, zeiget, daß es Frühling werde.‹

In schwarzer Umrahmung stand fettgedruckt:

    #Berlins großen Toten!#

    ›Selig, die in Gott sterben! –
    Opfernd euer =rotes= Blut, gingt ihr in den =schwarzen=
        Tod für die =goldene= Freiheit!‹

Dem Theaterdirektor am Markt wurde öffentlich von vielen deutschen
Brüdern gedankt, daß er Schillers Wilhelm Tell zur Aufführung gebracht.

Die Bürgerwehr bezog fleißig ihre Standquartiere in den besten
Wirtschaften der Stadt.

Auch der ›Bunte Vogel‹ war von einer Kompagnie zum Sammelplatz
ausersehen; ihr Hauptmann war ein Maler.

Die Bürgerwehr hielt sich tüchtig dran, das mußte man ihr nachrühmen.
Der Chef des St. Sebastian-Schützenvereins war zum obersten
Befehlshaber gewählt, und der ließ marschieren und exerzieren, drüben
auf der andern Rheinseite in der Scheibenbahn schießen, hielt Paraden
ab und veranstaltete Sammlungen, um ärmere Mitglieder ordentlich
auszurüsten. Der Hofkappenmacher auf dem Stadtbrückchen lieferte die
Kappen, die Offiziere stolzierten mit Säbel und Schärpe. Die Stadt war
in guter Hut.

Daß die Bürgergarde nicht anwesend war, als eine Rotte Pöbel vor’m
Hotel zum ›Prinz von Preußen‹ schimpfte und johlte und die Fenster
einwarf, war eben nur ein unglücklicher Zufall.

Die resolute Hotelbesitzerin hatte sich aber auch ohne Bürgerwehr
zu helfen gewußt: sie hieß den Hausknecht eine Leiter anlegen, und
unter Beifallsjubel wurde das Schild, das den Namen des verhaßten
›Kartätschenprinzen‹ zeigte, heruntergeholt.

Alles trug die schwarz-rot-goldene Kokarde. Schwarz-rot-goldenes Band
war rar geworden; die Damen trugen es auf den Hüten, als Schleifen am
Busen, und die jungen Mädchen knüpften es um die Taille und ließen die
Enden flattern. Selbst die Kinder trugen etwas Schwarz-rot-goldenes.

Der Feldwebel fühlte jedesmal ein Jucken in der Hand, wenn er solchen
Rangen auf dem Schulweg begegnete. Seine eignen Buben hatten sich auch
Kokarden gekleistert aus buntem Glanzpapier, aber als er die an ihren
Mützen entdeckte, hatte er die Bengels verwichst, daß sie drei Tage
nicht sitzen konnten. – –

Der Frühling war mit Macht gekommen, schöner denn je blühten die
Kastanien drüben in der Allee. Sonst hatte sich Rinke gefreut, wenn die
erste Lerche am grünen Kanalrand aufstieg und hoch über’m Exerzierplatz
schmetterte – heuer nicht. Und er hätte doch froh sein können, seine
Josefine war ja Conradis verlobte Braut; im Sommer sollte die Hochzeit
sein. Seiner Tochter glanzlose Augen kümmerten ihn wenig. Ach was!
Die würde sich schon schicken; das machte ihm keine Sorge. Aber etwas
andres lastete auf ihm, quälte ihn: es war der stete Ärger über das,
was er in den Zeitungen las. Und doch konnte er es nicht lassen, sie
durchzustöbern. Ja, er hielt sich sogar, was er sonst als unerhörteste
Verschwendung weit von sich gewiesen, auch noch das Düsseldorfer
Kreisblatt, obgleich ihm die Gedichte, die ein gewisser Ferdinand
Freiligrath, der am Windschlag wohnte, darin veröffentlichte, zu
anstößig waren. Außerdem bat er, beim Leutnant von Clermont ab und zu
einen Blick in die Kreuzzeitung werfen zu dürfen.

Viktor von Clermont hatte jetzt keine Langweile mehr. Er lag nicht mehr
auf dem Sofa und ließ die Beine über die Lehne hängen, er lauerte auch
nicht mehr im Gang auf die Schritte Josefines, beobachtete nicht mehr
ihr Fenster – weit, weit, wie ein Frühlingstraum in rauhen Tagen, lag
jene goldene Zeit. All sein Denken gehörte der Politik.

Mit seinem Schwager hatte er ein paarmal schon heftige
Auseinandersetzungen gehabt; Herr vom Werth war ein blinder Bewunderer
des Königs. Er nannte dessen Nachgiebigkeit Seelengröße, die der
nicht nur erst jetzt, sondern auch früher schon gegen Andersgläubige
bewiesen habe. Viktor ärgerte sich – aha, da merkte man den
Rheinländer! Und ein Rheinländer – immer ein verkappter Katholik!

Viktor betrat kaum mehr das Haus seiner Schwester; wenn Cäcilie ihn
sehen wollte, mußte sie sich schon mit ihm im Hofgarten treffen, oder
einen Spaziergang auf der Allee verabreden. Dann machte es ihm wohl
Spaß, neben der eleganten Frau, die nach der Geburt eines prächtigen
Sohnes sich erst zu vollster Schönheit entfaltet hatte, herzugehen und
die bewundernden Blicke aufzufangen, die ihr galten. Aber eigentlich
langweilte er sich mit ihr; Weiber haben eben absolut kein Verständnis
für Politik. Selbst Josefine hatte keine Ahnung gehabt. Und doch, wenn
er in freien Momenten an die dachte, verlangte ihn nach ihr.

Das arme Ding! Wie mochte sie geweint haben, als sie ihm auf Befehl
des Vaters geschrieben: ›Aus muß es sein!‹ Sie hatte so unbeholfen
geschrieben und doch so rührend; Thränen waren auf’s Papier
geflossen, man sah die Spuren. Auch seine wenigen Geschenke hatte sie
zurückgeschickt: ein Armband von Rosenholzperlen, ein Muschelkästchen,
ein kleines Bild von ›Paul et Virginie‹. Nur das rote Büchelchen mit
den goldenen Passionsblumen bat sie, behalten zu dürfen: ›sie würde
darin lesen und seiner gedenken.‹

Fatal, daß der Alte dahinter gekommen war, höchst fatal!
Selbstverständlich mußte nun alles aus sein! Aber daß er, als Vater,
sich nicht persönlich in die Sache gemischt hatte, war einfach riesig
schneidig; der Kerl, der Feldwebel, hatte wahrhaftig Takt, wußte, was
ihm, einem Vorgesetzten gegenüber, zukam. Mit keinem Blick ließ er
ahnen, daß er um die Sache wußte, in respektvollster Haltung wie immer
stand er da.

Viktor begann eine Art dankbarer Zuneigung für den Untergebenen zu
empfinden, der ihm eine Beschämung erspart. Früher, mit dem Vater
der Geliebten, hatte er sich nie in eine Unterhaltung eingelassen,
jetzt sah man ihn öfter, nach dem Vorbild des Herrn Hauptmanns, mit
dem Feldwebel über den Kasernenhof pendeln. Da war so vieles, was sie
ähnlich empfanden; wenn sie auch nicht darüber sprachen, sie fühlten es
sich an. ›Noch einer vom alten Schrot und Korn,‹ dachte der Leutnant,
und in des Feldwebels trübes Auge kam ein Hoffnungsstrahl: In =dem=
würde Preußen auferstehn! –

Keine Melodie mehr wehte aus dem offenen Küchenfenster in die neu
grünenden Ahornbäume.

Der Frühling war geboren, aber das Lied war tot.

Jetzt klapperte Frau Trina in der Küche mit den Töpfen, nun, da die
Tochter sich die Aussteuer nähte.

Drinnen in der Stube saß Josefine auf dem Fenstertritt hinter den
Geraniumstöcken, tief über die Arbeit gebückt. Selten, daß sie den
Blick erhob und die Augen hinausschweifen ließ über den Platz, auf
dem die Mannschaften für die Frühjahrsbesichtigung übten. Wohl hatte
das Exerzieren seinen Reiz für sie noch nicht ganz verloren, aber
sie fürchtete, =ihn= vor der Front stehen zu sehen in seiner ganzen
Schlankheit; mit Scheu wendete sie rasch den Blick ab. Blaß wurde sie,
denn ihr Fleiß bannte sie immer in die Stube; die Mutter hatte ihr
gern eine Hilfe nehmen wollen – das bucklige Stinchen, die Näherin,
die so schöne Hemdenfältchen kratzte und die Priesen auf den Faden
aufsteppte, half allen Bürgerbräuten – aber Josefine wollte keine
Hilfe. Alles allein sticheln, das bringt Glück.

Ach, Glück –?! Sie hoffte doch darauf. Der Conradi war ja so gut, das
sagte sie sich alle Tage vor. Wenn sie nur erst fort wäre, weit weg!

Und sie, die nie für einen ganzen Tag die Kaserne verlassen, die noch
nie ihr Haupt wo anders zur Ruhe gelegt, als im Schutz dieser Mauern,
begann zu träumen von einer neuen Heimat, unbestimmte Träume, von denen
sie nicht wußte, ob sie angenehm waren oder traurig.

Fernab vom Leben des Tages lebte sie so in ihren Träumen; sie hörte
nicht die Glocken hallen, die die Totenfeier für die letzt im März zu
Berlin Gefallenen einläuteten.

In der Maxpfarre war ein Katafalk errichtet mit schwarzem Flor und
Lorbeeren. Frau Trina lief auch hin, und sie kam wieder mit geröteten
Augen – alle Welt hatte geschluchzt – und sie erzählte von Trauerfahnen
und Immortellenkränzen, vom Requiem, das der Hiller, der Musikdirektor,
aufgeführt, und von der ergreifenden Rede des Herren Pfarrer Schmitz.

Bis in die Kaserne hatten sich die Klänge des Trauermarsches verirrt,
den die Musik dem Bürgerzug aufspielte, der nach der Kirche wallte, die
für die Freiheit gefallenen Helden nachträglich noch einmal zu ehren.
Josefine hatte keinen Ton vernommen – was ging sie das alles an?! Sie
kümmerte nur das eigne Geschick.

Alle paar Wochen kam jetzt Conradi zu Besuch, oft einen ganzen Sonntag;
er hatte nun wieder freie Zeit. Aber er war kein lästiger Bräutigam;
ein Mensch von vielen Worten war er so wie so nicht. In seiner
Heimat, dem fernen Ostpreußen, waren ja die Leute an Kargheit gewöhnt
– kümmerliche Frühjahre, wie er sagte, und lange, schneevergrabene
Winter. Er war zufrieden, wenn Josefine ihn freundlich ansah und ihm
beim jedesmaligen Abschied einen Kuß schenkte; und das konnte sie doch
nicht anders, er hatte ihr ja nichts Böses gethan.

Selbst Frau Trina, die anfangs viel Lust bezeigt hatte, gegen den
Schwiegersohn zu rebellieren, – war er doch ein Reformierter, und die
sind noch ärgere Ketzer wie die Lutherschen, – wurde durch seine ruhige
Treuherzigkeit entwaffnet. Keine Uzerei verfing. Darin war er ganz
anders wie Rinke, er brauste nie auf.

»Dumm is de,« behauptete die Mutter, aber die Tochter schüttelte
den Kopf: nein, dumm war der nicht, hatte einen ganz nüchternen,
praktischen Verstand; freilich, so wie der Viktor – ach, wie der
Viktor! – so war er nicht!

Der Sommer war gekommen. Die Hochzeit rückte immer näher. Am letzten
heißen Julisonntag hielt der Garnisonprediger das erste Aufgebot.

Der Leutnant von Clermont hörte es, er war gerade zur Kirche
kommandiert. Von der Predigt hatte er nicht viel vernommen, seine
Gedanken waren abgeschweift; nun aber, da der bekannte, oft genannte
Name fiel – Josefine! – zuckte er zusammen. So bald schon heiratete
sie?!

Und sie stieg vor ihm auf in ihrer ganzen blonden Frische. Er hörte
wieder ihre volle Stimme, ihr heiteres Lachen. Am Fenster stand sie
und sang und schaute nach ihm aus, Liebe im Blick. Ja, =sie= hatte ihm
den Rhein lieb gemacht, vertraut die rheinische Stadt, – warm quoll
es wieder in ihm auf – er würde sie doch nie vergessen! Unlöslich
verknüpft blieb sie ihm mit Kindheitsfreuden, mit Jugendlust, sie war
eins mit dem Rhein, mit dem Rhein! –

       *       *       *       *       *

Großmutter Zillges hatte es sich ausgebeten, im ›Bunten Vogel‹ sollte
die Hochzeit sein anstatt in der engen Kaserne. Der Feldwebel hatte
zwar erst heftig dagegen protestiert, aber es half ihm nichts, die
Weiber waren ihm über. Er ließ ihnen jetzt viel freie Hand, denn, war
es nicht kleinlich, daheim zu zanken, während außen so viel auf dem
Spiele stand?!

In Schleswig-Holstein wurden die Dänen besiegt; mit Neid und
Hohn zugleich waren Rinkes Blicke zur Zeit der kleinen Freischar
Düsseldorfer gefolgt, die, ihren Karnevalspräsidenten an der Spitze,
mit glühendem Enthusiasmus den ›Deutschen Brüdern‹ zu Hilfe geeilt war.
Haha, viel schlimmer als die Dänen waren andre Feinde, aber gegen die
zog niemand aus!

Wo war der Prinz von Preußen?! Weit in England – ›geflohen‹ sagten
welche. Verleumdung, elende! Nein, der wartete nur, bis seine Zeit kam.
Aber wann kam die, wann?!

Eine fieberhafte Sehnsucht glühte dem Soldaten im Blut; noch war er
nicht alt, und doch fühlte er sich schon so: müde und alt. Sollte er
denn in’s Grab steigen, ohne jemals gekämpft zu haben?! Liegen und
verwesen, ohne einmal gesiegt zu haben?! Wenn’s dem König, der jetzt
in Düsseldorf erwartet wurde auf seiner Reise zum Kölner Dombaufest,
doch nur einer sagen wollte, daß mit der Langmut nichts ausgerichtet
ist!

Die Stadt rüstete zum Empfang des königlichen Besuches. Aber längst
nicht alle Bürgergardisten wollten sich einreihen lassen in das
Spalier, das sich vom Köln-Mindner Bahnhof die Königsallee hinauf und
noch weiter ziehen sollte. Mochten sich da servile Fürstenknechte
drängen, =sie= waren freie Bürger! Und doch war die Neugier groß.

Aus den Dörfern und Fabrikorten der Umgegend, von diesseits und
jenseits des Rheins zogen Scharen schon am frühen Morgen des 14.
August in die Stadt. Die Schulen waren geschlossen, die Comptoire und
Kanzleien auch. Alles feierte. Der Männergesangverein allein plagte
sich noch mit üben; er sollte, während der König beim Prinzen im
Jägerhof das Diner einnahm, im Vorgemach singen.

Auch Frau Cordula im ›Bunten Vogel‹ stellte heute für ein paar Stunden
die Arbeit ein; sie war tüchtig am schaffen für die morgende Hochzeit
der Enkelin. Der Feldwebel hatte kurzerhand den 15. August dafür
festgesetzt, da der Bräutigam die Wohnung längst hergerichtet; viel
Wahl war für den Zeitpunkt auch weiter nicht, Conradi hatte wieder
strammen Dienst und konnte knapp für diesen einen Tag abkommen.
Josefine hatte keine Einwendungen gegen die Bestimmung des Vaters
gemacht, auch sie dachte: ›Wozu noch zaudern? Ob heute, ob morgen, nur
bald!‹

Es war der Großmutter gar nicht recht, daß die Hochzeitsfeier nur so
kurz sein würde – am selben Abend noch sollte das junge Paar nach
Vohwinkel fahren –, daran war niemand wie der Rinke, der knappe Preuße
schuld! Eine richtige rheinische Hochzeit dauerte doch mindestens ein
paar Tage: Wer sollte denn all das Leckers aufessen?! Unermüdlich war
die alte Frau hin und her getrippelt. Die Kuchen für die Nachbarn
standen schon parat; Wilhelm hatte bereits den lieben Nönnchen, für
ihre Kranken in der Gemeinde, ein paar extra gute Flaschen Wein
hingetragen. Die Kochfrau hatte schon die Braten gespickt, in dem
Keller schwamm im Zuber pläsierlich ein großer Fisch.

Wenn nur der Großvater frischer gewesen wäre! Der hatte eigentlich
für nichts mehr auf der Welt Sinn. Stunden und Stunden verschlief er.
Ungern ließ ihn sonst Frau Cordula selbst für ein Stündchen allein.
Aber heute, wo alles schon seit dem frühen Vormittag nach dem Bahnhof
und der Königsallee rannte, mußte sie doch auch gucken gehen. Nur ein
paar Augenblicke. Sie hatte noch nie einen leibhaftigen preußischen
König gesehen.

»Mutter, wohin jehste?« fragte Peter Zillges, der im Lehnstuhl im
Comptörchen döste und die Daumen umeinander drehte.

Als sie es ihm sagte, rief er ärgerlich, so laut er nur noch konnte:
»Wat will de Mann hie?! Mir sin Düsseldorfer Börjer!« Aber dann
vermischte sich in seinen Gedanken plötzlich dieser königliche Besuch
mit dem des großen Napoleon, und er fragte interessierter: »Dazumal
bauten se Ehrepooze, han se jetzt auch en Pooz jebaut?«

»Ich jonn ens kucke,« sagte Frau Josefine Cordula und lief eilig fort.

Sie sah nicht mehr, wie ihr alter Mann mit ungeahnter Kraft im
Lehnstuhl auffuhr und zornig die zitternde Faust ballte: »De soll uns
jewährde lasse!« Unruhig rollte Peter Zillges seine Augen umher, als
suche er wo einen Schlupfwinkel: »Ich – ich jonn em ja auch aus der
Weg!«

       *       *       *       *       *

Am festlich geschmückten Bahnhof standen die Deputationen des
Gemeinderates, der Militär- und Civilbehörden. Soldaten waren
aufgepflanzt; auch Feldwebel Rinke stand dort in Paradeuniform. Ehern
erschien sein Gesicht wie immer, aber in dem etwas vorgestreckten Hals,
in dem krampfhaften Spiel der Finger an der Degenkoppel zeigte sich
seine große Erregung.

Mit glühendem Blick suchte er seinen König.

Als die Equipage des Prinzen Friedrich vorüberfuhr, zuckte er zusammen,
stier wurde sein Blick – =das, das= war der König?! In seinen Mantel
gehüllt, lehnte der hohe Gast in einer Ecke des Wagens.

Dem Feldwebel wollte das Herz brechen. Wo war der Glanz des jugendlich
schlanken Kronprinzen, dessen Augen von Geist und Leben gestrahlt
hatten?! Er konnte die Züge, denen er einst in der eignen Jugendzeit
zugejubelt, nicht wiederfinden; er wollte ›Hurra‹ schreien und brachte
es nicht heraus.

Das Hurra um ihn her war auch matt – oder deuchte es ihn nur so? Viel
Volks schwieg. Und die Sonne trübte ihren Schein, ein Wind machte sich
auf und jagte den Staub in die Augen.

Als Rinke die Lider wieder frei öffnen konnte, waren die schnellen
Räder längst verrollt. Aber eine unruhige Bewegung unter der Menge
erschreckte ihn. Das war ein scheues Raunen, ein Flüstern – hier –
dort – überall! Man wollte pfeifen gehört haben, man wollte wissen,
daß plötzlich, von ruchloser Hand geschleudert, Pferdekot in den Wagen
geflogen war und den Mantel des Königs gestreift hatte.

Verblüffte, betroffene Gesichter sahen sich an. –

Als Frau Josefine Cordula nach fünf Uhr durch die Ratingerstraße wieder
zurückkam, war sie ganz außer Atem; sie hatte sich sehr geeilt und war
doch fast an zwei Stunden fortgeblieben. Nun fiel es ihr plötzlich
ein, daß der Peter ja ganz allein zu Haus war. Denn die Kochfrau hatte
ihre Vorbereitungen unterbrochen und war mit ihr zugleich gegangen,
und der Wilhelm war schon am Vormittag fortgelaufen. No, sie gönnte
es dem Jungen ja! Der hatte jetzt so viele Freunde; und waren auch
mal ein paar Rauhbeine darunter, zu streng durfte man nicht urteilen,
Jugend ist noch kein Alter, und jung Bier muß ausgären. Bei ein paar
Rempeleien war der Wilhelm wohl dabei gewesen, aber er hatte sich
nicht selber an der Hauerei beteiligt – bewahre! Nur zugeguckt; die
Polizei hatte denn auch ein Einsehen gehabt und ihn nicht mit in’s
Speckkämmerchen gesperrt, als er sagte, er wäre der Enkel vom Bürger
Zillges in der Ratingerstraße.

Ja, ihr Peter, der war wohl angesehen! Noch so ein echter Düsseldorfer
Bürger aus der alten guten Zeit!

Ob er schon ungeduldig auf sie wartete? Ach, der schlief ja –
hoffentlich! Verlohnt hatte sich’s nicht einmal, daß sie gucken
gelaufen war – =so= sah ein König aus?! No ja, die Preußen – kein
bißchen vergnügt!

Je näher sie ihrem Hause kam, desto eiliger trippelte sie; nun hörte
sie einen Salutschuß, der galt dem Preußenkönig. Ob der Zillges den
auch hörte?! Dann würde er sich ärgern.

Sieh mal, da saß er noch immer im Lehnstuhl hinter’m Spiönchen! Sie
winkte und nickte. Er sah sie nicht.

»Zillges,« rief sie, als sie in den Flur trat, und: »Peter, Peterken,
ich bin als widder hie,« als sie in die große Wirtsstube kam.

»Zillges!«

Keine Antwort.

Plötzlich von einem Gefühl der Beklemmung befallen, sah sich die alte
Frau um: war jemand hier gewesen – ein Gast? – – Nein, kein Mensch!

Es war sehr still.

Die Eichenblätter und Dalien, die sie in einem Korb in die Ecke
gestellt, um nachher eine Guirlande für das morgende Fest zu winden,
dufteten stark und herb, wie fallendes Laub im Herbst.

Ein Frösteln lief der alten Frau über den Rücken, in der Kühle des
leeren Zimmers.

Schlief er so fest?! Den Atem anhaltend, drückte sie leise auf die
Thürklinke zum kleinen Comptörchen; die Thür knarrte und sang in den
Angeln. »Zillges! Peter –!«

Er hörte nichts.

Der alte Mann saß in seinem Lehnstuhl am Fenster, den Kopf auf die
Brust gesenkt, die Hände gefaltet.

       *       *       *       *       *

Während der Königliche Gast in die Stadt eingezogen, war ein anderer
Gast in den ›Bunten Vogel‹ getreten. Auch ein König – der Tod. Peter
Zillges hatte ihn empfangen, als Freund.

Es gab kein lautes Wehklagen. Als Josefine, atemlos, als erste, in den
›Bunten Vogel‹ gerannt kam – Wilhelm hatte weinend die Trauerkunde in
die Kaserne getragen – fand sie die Großmutter oben in der Schlafkammer
neben dem Ehebett sitzen, darauf der tote Großvater lag. Ganz friedlich
ruhte dessen Gesicht im Flackerschein geweihter Kerzen; die sauberen
weißen Haare umgaben in einem noch vollen Kranz die Stirn, die ganz
glatt war, alle Falten und Schrumpeln wie weggewischt. Die Großmutter
hatte ihm ein Kruzifix auf die Brust gelegt und um die gefalteten
starren Hände den Rosenkranz geschlungen. Wie eine Wolke schwebte
Weihrauchduft im engen Stübchen.

Die alte Frau wand aus den Eichenblättern und Dalien eine Guirlande,
ihre Lippen murmelten Gebete. Als die Enkelin eintrat, sah sie auf und
nickte wehmütig:

»Die sollt’ für dich sein, Finken! Nu muß Zillges die kriegen!«

Und sie flocht emsig weiter.

Josefine kauerte sich ihr zu Füßen nieder; ein Schauer nach dem andern
überlief sie, sie hatte noch nie einen Toten gesehen. Eine Scheu packte
sie vor dem stillen, kalten Großvater, und ihr Herz klopfte heftig. Sie
begriff nicht, daß die Großmutter so gelassen war.

»Nu kann er nit mehr bei deiner Hochzeit sein,« flüsterte Frau Josefine
Cordula, »oh, un was hätt’ er sich doch jefreut! Jelt, Zillges?!«

Sie wandte sich ganz ihrem Toten zu, sanft faßte sie dessen Hand.
»Weißte noch, wie mir Hochzeit machten? Da flocht ich der Abend vorher
auch en Jirland, aber nur eine aus Palm, die Blümkes un de Myrtestock
hatt’ die fremde Einquartierung all ausjeruppt. Un de Hochzeitsabend
fingen de Franzosen an, auf de Stadt zu schießen, von de Kirchen wurd’
Sturm jeläut’, dat Kloster brannt’ un de Türm’ vom Schloß auch. Mit
Kanonen schossen se von der anner Seit’, aber mir krochen im Keller un
du hielt’st mer de Ohren zu. Un wir sind doch eso jlücklich jeworden,
jelt, Peter? Peterken!«

Josefines Herz krampfte sich zusammen – ach, die Großmutter, ja, die
Großmutter, die hatte ihren Hochzeiter geliebt! Brennende, unendliche
Thränen stürzten ihr aus den Augen; beide Hände vor’s Gesicht
schlagend, schluchzte sie krampfhaft.

»Wein’ nit eso, Kind,« flüsterte die Großmutter. »Finken, mußt nit e so
weinen – er schläft ja nur!« Und sich über den Gatten beugend, strich
sie ihm zärtlich links über die Wange und rechts über die Wange.

Und dann machte sie das Zeichen des Kreuzes über ihn und sich: »Jesus!
Maria! Josef! Euch schenk’ ich seine Seele! – Bis wir uns wiedersehn
in der ewigen Jlorie, Peterken, schlaf’ jut!«

       *       *       *       *       *

Josefines Hochzeit fand statt am festgesetzten Termin, trotz des
Großvaters Tod. »Es ist jetzt ohnehin nicht an der Zeit, Freudenfeste
zu feiern,« hatte der Feldwebel finster gesagt.

Auch die Großmutter wollte keinen Aufschub, sie schickte die
Hochzeitskuchen in die Kaserne.

Nur eine stille Trauung fand statt, dann blieb die engste Familie noch
unter sich ein paar Stunden zusammen. Gegen abend aber kam doch noch
die Großmutter; seit langer, langer Zeit betrat sie zum erstenmal
wieder die Feldwebelwohnung, sehen wollte sie die Enkelin wenigstens an
ihrem Ehrentag.

Josefine hatte sich den Abschied leichter gedacht; nun konnte sie sich
auf einmal nicht trennen. Laut weinend küßte sie die Geschwister, die
Mutter, die Großmutter; am längsten hielt sie den Vater umklammert.

»Na, na,« tröstete der Feldwebel und klopfte ihr den blonden, zuckenden
Kopf, »gehst ja nu in dein Glück – Mädel, Kopf hoch!« Er bezwang den
eignen Trennungsschmerz – war seinem Kinde so das Loos nicht auf’s
lieblichste gefallen? »Na, na, wir sehen uns ja bald wieder!« Aber
als sie ihn nicht losließ, machte er sich frei; jetzt klang etwas wie
Strenge durch: »Mach nu ’n Ende! Wisch’ die Thränen ab – ’s ist an der
Zeit! Man los – voran, marsch!«

»Ja, komm, Finchen, komm,« drängte der junge Ehemann, »wir kriegen
sonst den Zug nicht mehr!« Und als sie noch immer ihr Gesicht weinend
verhüllte, nahm er ihre Hand in die seine und drückte die fest. »Du
sollst es auch in Vohwinkel gut haben, verlaß dich drauf! Komm,
Finchen, komm!«

Noch einen letzten schweren Blick ließ sie langsam über alles gleiten;
ihre Nasenflügel hoben sich zitternd, als müsse sie noch einmal voll
den Duft einziehn, den scharfen, eigentümlichen Kasernenduft. –

Die Sonne ging zur Rüste, als Conradi seine junge Frau über den Hof
führte. Die Wipfel der Ahornbäume rührten sich im Abendwind, um die
Stämme wob sich bereits leichter Dämmer. Rotgolden allein strahlte noch
drüben das Fenster der Offiziersstube; da weilte die Sonne am längsten.

Ganz langsam ging Josefine, Schritt für Schritt. Aber so sehr sie auch
zögerte, das Thor kam doch. Es that sich auf – sie schritt hindurch –
schwer fiel es wieder in’s Schloß.

Sie hatte die Kaserne verlassen.




XVII


Rinke hätte nie geglaubt, daß er über die Trennung von der Tochter so
verhältnismäßig leicht fortkommen würde. Die Not der Zeit half ihm über
eignes hinweg.

Er glühte vor Unwillen. Täglich mehrten sich die Klagen über Rempeleien
zwischen Civil und Militär. Nicht genug, daß ein Infanterist durch
einen Schuß, der eines Abends an der Markt-Ecke fiel, meuchlings
getötet worden, auch noch einen von den Jägern hatten die ›verfluchten
Halunken‹ verwundet. Was half’s, daß der neue Kommandeur, General von
Drygalski, dem Militär im Besuch der Wirtshäuser strengste Beschränkung
auferlegte, ganz einsperren konnte man die Mannschaft doch nicht; und
wo sich ein Soldat sehen ließ, überall wurde er molestiert. Schüsse,
von unbekannter Hand abgefeuert, fielen zur Nachtzeit auf den Straßen,
und, richteten sie auch kein sofortiges Unheil an, sie alarmierten doch
und narrten Polizei und Militär.

Der Feldwebel machte es sich zur Aufgabe, in freien Stunden die
Stadt abzupatrouillieren. Im Abenddunkel suchte er die berüchtigten
Wirtschaften auf, um vor ihren Thüren beobachtend Posto zu fassen.

Leider gehörte der ›Bunte Vogel‹ auch zu den nicht gut angeschriebenen.
Die alte Frau hauste jetzt dort allein mit dem Wilhelm: wie sollte
das schwache Weib und der dumme Junge es am Ende hindern, daß sich
da ebenfalls allerhand Gesindel zusammenfand?! Rinke hatte sich den
Sohn schon gelangt und ihn wie einen Verbrecher in’s Verhör genommen,
aber weiter nichts herausgebracht, als daß der Freiligrath zuweilen
dort ein Maß trinke. Na, der Kerl, der rote Republikaner, war ja nun
unschädlich gemacht, wegen eines ganz unverschämten, aufhetzenden,
königsverräterischen Gedichtes hinter Schloß und Riegel gesperrt! Aber
andre liefen noch frei herum. Ja, man hatte schon seinen Ärger!

Ingrimmig, mit geheimem Knurren, wie ein Hund, der Haus und Hof
bewacht, schlich der Feldwebel durch die Straßen.

Aber auch die Bürgerwehr hatte ihren Verdruß. Wenn man sich auch nicht
einig war, ob man =für= oder =wider= die Opposition stimmen sollte,
jedenfalls war es allen höchst unangenehm, daß der König auf seiner
Rückreise vom Dombaufest schlankweg an Düsseldorf vorbei gefahren. Die
freundliche Gartenstadt schien in Berlin als gefährliches Rebellennest
verzeichnet – daran war niemand schuld, als die verdammten Preußen
selber, die verwünschten Militärs! Mußten die nicht durch ihre
prahlerische Haltung, durch ihr herausforderndes Umherrennen mit
blanker Waffe am Ende auch die gutmütigste Bevölkerung reizen?! Es
half nichts, daß der Chef der Bürgerwehr eine Verordnung erließ, nach
der ein Zusammenstehen von mehr als fünf Personen, das Umherziehen
mit Fahnen, das Schießen in den Straßen verboten, Eltern und Meister
gehalten waren, Kindern und Lehrlingen mit Eintritt der Dunkelheit das
Ausgehen zu untersagen. Alle Maßregeln konnten nichts nützen, wenn
die Soldatenkohorte sich abends auf dem Markt sammelte, aus voller
Kehle das: ›Ich bin ein Preuße‹ schrie und dazu die Säbel am Pflaster
schliff. – –

Der Sommer war zu Ende gegangen, der Spätherbst machte seine Rechte
geltend. Im Hofgarten lagen die falben Blätter fußhoch, die Tage wurden
kurz, die Reifnächte lang. Es wurde über allgemeine Arbeitslosigkeit
geklagt; Bettler durchzogen die Stadt und forderten so ungestüm, daß
Frauen und Kinder, waren sie allein, ängstlich die Thüren verschlossen.
Im Hofgarten war’s nicht geheuer, selbst die verliebtesten Paare
getrauten sich nicht mehr in seine Einsamkeit.

Der Magistrat hatte, um Bedürftigen Arbeit zu verschaffen, rheinabwärts
an der Goltzheimer Insel Ausbesserungen vornehmen, auch den großen
Teich im Hofgarten und die Kanäle ausmutten lassen, aber der erste
frühe Frost setzte diesen Arbeiten ein Ende. So zogen ein paar hundert
entlassene Arbeiter mit einer roten Fahne vor’s Rathaus: »Brot! Brot!
Geld! Geld!« Und die herbeieilende Polizei wurde mit Steinwürfen
empfangen: »Buh, macht euch ab, no Huus, buh!«

Es gab blutige Köpfe, die Brotlosen kannten keine Scheu, zumal alles
Volk ihre Partei nahm; die hartbedrängte Polizei mußte retirieren.

Von jetzt ab machte sich der ›Volksklub‹ breit, ungeniert beraumte er
Versammlung über Versammlung an; am helllichten Mittag setzten sich
Arbeiterzüge in Bewegung und zogen unter dem Schwenken roter Fahnen,
unter dem Singen demokratischer Lieder auf die Nachbardörfer. Der
›Barrikadenverein‹ feierte den inzwischen freigesprochenen Dichter
Freiligrath mit schallendem Jubel und Illumination.

Das Schwarz-rot-gold war verdrängt – alles rot, rot, rot. Rot flammte
die winterliche Sonne über’m Rhein, rot stieg sie auf im Osten, rot
sank sie im Abend – blutig-rot. Und ein schneidend scharfer Wind
fauchte durch die Straßen und fegte auf, was nicht ganz niet- und
nagelfest war.

Die Düsseldorfer fingen an stolz zu werden auf ihren thatkräftigen
Mut. Der Nationalversammlung zu Berlin, die trotz verschiedentlicher
Auflösung sich immer wieder sammelte und Steuerverweigerung votierte,
ließ man eine beistimmende Adresse zugehen. Steuerverweigerung,
ja, das war das richtige! Riesenversammlungen fanden statt; mit
unverhohlener Geringschätzung sah Düsseldorf auf seine Nachbarin Köln,
die langjährige Nebenbuhlerin. Ei, hatten sich die Kölner mit ihrem
Revolutiönchen blamiert! Die ganzen Rheinlande, nein, die ganze Welt
lachte die ja aus! Unendliche Karikaturen auf die ›Preußenfresser in
Köln‹ wurden in Düsseldorf gezeichnet.

Aber es kam ein Tag, an dem die beiden Nebenbuhlerinnen die Köpfe
zusammensteckten und einig waren in Schreck und Empörung: Robert Blum
zu Wien erschossen! Die Stadt Köln erinnerte sich plötzlich ihres
›Köllsche Jong‹, und die Nachbarin Düsseldorf fühlte sich mit in die
Seele getroffen. Ein rheinischer Landsmann ruchlos ermordet!

Von Hand zu Hand wanderte das Zeitungsblatt mit Blums letzten Worten:

    ›Ich sterbe für die Freiheit, möge das Vaterland meiner eingedenk
    sein.‹

Heiße Thränen flossen, als der Abschiedsbrief an seine Gattin bekannt
gemacht wurde:

    ›Mein teures, gutes, liebes Weib, leb wohl!‹

Tausend Fäuste ballten sich im Grimm.

Eine Riesenparade der ganzen Bürgerwehrlegion fand statt, vom Balkon
des Rathauses herab sprach der Chef begeisterte und begeisternde Worte.
Mit erhobenem Schwurfinger und mit Waffengeklirr gelobte man heilig:

›Gut und Blut für die Freiheit!‹

Wie ein Fieber ergriff es die Bürgerschaft. ›Genug des Druckes! Weg mit
den Steuern!‹ gellte es in Fanfaren durch die Stadt.

Scheelen Auges sah man Scharen eingezogener Rekruten in die Kaserne
marschieren – noch mehr unnütze Brotfresser! Es verbesserte die
Gereiztheit nicht, daß die neuen Soldaten großspurig lärmten und sangen.

Das wurde eine wilde Nacht. Katzenmusiken wurden gebracht, höhnende
Ständchen vor den Fenstern verhaßter Persönlichkeiten, Scheiben
eingeworfen, Hausthüren besudelt, greuliche Schreie ausgestoßen,
Schüsse abgegeben, Polizisten geprügelt.

Am Morgen des 22. November erklärte der Divisionskommandeur den
Belagerungszustand.

Lange hatte Feldwebel Rinke sich nicht so gefreut, als da die
Infanterie ausrückte, die öffentlichen Plätze zu besetzen. Artillerie
bepflanzte den Hofgarten mit Piketts und Geschützen, Kavallerie
schwenkte auf den Straßen hin und her und spornte die Pferde in die
aufkreischende Menge.

Das Herz wurde Rinke ordentlich leicht, als er den Leutnant von
Clermont einer Rotte Ruhe gebieten sah, die durch ungebürliches
Betragen die Verlesung der ›Proklamation über eingetretenen
Belagerungszustand‹ störte. Wie dem jungen Offizier die Augen blitzten!
Den Degen hatte er blank gezogen, der Zorn grub eine Falte in seine
weiße Stirn. Ha, wenn so einer Preußen schützte, dann konnte das nicht
verloren gehen! –

Seit Josefine fort und in Sicherheit war, fühlte sich Rinke mehr denn
je zum Sohn seines alten Hauptmanns hingezogen. Ihn deuchte, sie waren
die beiden einzigen in der Kaserne, die die Schmach der Zeit so ganz
empfanden; wenn die andern auch schimpften – grob am runden Stammtisch,
formvoller im Offizierskasino – wurmte die’s denn so tief innen?! Ach,
nur ihnen beiden zehrte es am Mark! Der Feldwebel fand die Sehnsucht
seines Lebens wieder in dem jungen Offizier.

Auch Viktor von Clermont sehnte sich nach Bethätigung. Er meldete
sich freiwillig zur öfteren Anführung der Patrouillen, die Tag und
Nacht die Stadt durchstreiften. Seine Jugend entbehrte jetzt gern des
Schlafs. Es machte ihm einen Hauptspaß, mit seinen scharfbewaffneten
Leuten nächtlicherweile durch die dunklen Straßen zu tappen und nach
Verbotenem zu spüren. War’s denn erlaubt, nach zehn Uhr noch das
Wirtshaus offen zu halten?! Die Thür war zwar verschlossen, aber daß
innen noch Gäste saßen, merkte man an dem Lichtschein, der durch die
Spalten der Läden fiel, und an dem dumpfen Stimmengemurmel, das zu
erlauschen war.

Hei, dann mit dem Gewehrkolben gegen die Thür gerannt und gegen die
Läden gedonnert, daß sie sich aus den Angeln lösten! Eine grimme
Lust überkam den Leutnant beim aufstöbern der Rebellen; konnte er es
seinen Soldaten verdenken, die jetzt für so viele erlittene Verhöhnung
Revanche nahmen?! Mancher Bürger, der bei der herrschenden Unsicherheit
nur wagte über die Straße zu gehen mit einer Pistole in der
Brusttasche, wurde aufgegriffen und, trotz Ausweis und Beglaubigung,
auf die Wache verschleppt; mochte er die Nacht auf der Pritsche sitzen!

Die Bürgerwehr wurde aufgelöst.

In eiserner Strenge neigte sich das Jahr 1848 seinem Ende. Selbst der
alte St. Nikola-Markt, der Naschmarkt für die Kinder, war verboten; nur
vor dem Polizeigebäude durften ein paar Lebkuchenbuden stehen.

Aber Düsseldorf revoltierte nicht mehr. Es war ruhig geworden.

       *       *       *       *       *

Feldwebel Rinke war wenigstens befriedigt, wenn er seiner Tochter
gedachte. Er hatte letzthin von ihr einen Neujahrswunsch bekommen und
die erfreuliche Nachricht, daß sie ein gutes Weihnachtsfest verlebt.
Auch Conradi hatte geschrieben; ob der sehr vergnügt war, konnte man
freilich nicht wissen, er ließ sich nie so recht aus, aber fast in
jeder Zeile kam ›meine Frau‹ vor.

›Meine Frau hat mir drei bunte Taschentücher gesäumt. Meine Frau hat
mir zu Christabend ein Hemd selbst genäht. Meine Frau hat mir einen
Korb Äpfel geschenkt von dem jungen Baum in unserm Gärtchen, sie
hat sie sich heimlich am Mund abgespart. Meine Frau hat auch Blatz
gebacken.‹

Rinke stieß einen erleichterten Seufzer aus – ja, die waren glücklich!
Aber daß sie einmal über Sonntag kommen wollten, sich den Eltern in
ihrem Glück zu präsentieren, davon schrieben sie noch immer nichts. Na,
man durfte nicht egoistisch sein, die waren sich eben vor der Hand noch
genug!

Frau Trina konnte freilich ihre Neugier kaum bezähmen. »Wenn’t mer nit
eso ekelig wär’, mit der Eisenbahn zu fahren, dann thät ich als janz
jern emal hinreisen,« sagte sie zu ihrem Mann. »Et Fina kann am End’
jetzt nit jut kommen, denn« – sie zwinkerte ihm zu.

Er verstand sie nicht. »Wieso denn?« fragte er.

»No, Rinke!« Jetzt stieß sie ihn ordentlich vorwurfsvoll an. »Haste
dann alles verjessen? Wie war et dann bei uns? Keine zwei Monat waren
mir verheirat’!«

»So, so,« sagte er, und es flog wie eine Ahnung seltener Freude über
sein Gesicht. »Meinste wirklich?«

»Mer denkt doch,« sagte sie. Er nickte dazu: ja, das hatte er immer
gedacht, die Josefine würde Preußen wackere Soldaten schenken!
Tüchtiges Mädel!

Seine eignen beiden Jüngsten sollten nun auch bald zum Militär, waren
ja derbe, rotbackige Bengels. Er hatte schon eine Eingabe gemacht für
ihre Aufnahme zum 1. April in die Militärerziehungsanstalt zu Annaburg.

»So weit weg,« klagte die Mutter, »och Jott, och Jott, die armen
Jüngeskes!« Aber sie sah es doch ein, die Jungens waren zu wild zu
Haus, tanzten ihr, war der Vater nicht in Sicht, auf der Nase herum,
und sie hatte eigentlich, seit Josefine fort war, keine ruhige Stunde
mehr. Nun würde das besser werden. Der Friedrich, der krumme Beine
hatte und somit nicht zum Militär taugte, war seit Michaeli bei einem
Schlosser in der Lehre, das dauerte noch lange, bis der auf die
Wanderschaft ging; und dann blieb ihr ja doch immer der Wilhelm!

Der Mutter Gesicht verklärte sich, wenn sie an den dachte.

Wie flott war er geworden! Rotseidene Tuchzipfel ließ er unter’m
umgeschlagenen Hemdkragen flattern, sobald er sich staats machte. Und
schlau war er! Frau Trina lachte von Herzen darüber, wie er dem Verbot
ein Schnippchen zu schlagen wußte: bis weit über die Polizeistunde
hinaus saßen die Gäste im ›Bunten Vogel‹ zusammen. Hinter die
geschlossenen Läden hatte der Pfiffikus dicke Matten gestopft, kein
Lichtstrahl kam so durch, kein Stimmenlaut drang so hinaus auf die
Gasse; dunkel und still lag der ›Bunte Vogel‹, wie in harmlos ruhigem
Schlaf.

Ende Januar war zwar der Belagerungszustand der Stadt aufgehoben
worden, gewisse Beschränkungen existierten aber immer noch, und die
würden auch nicht aufhören, solange der Polizei-Inspektor von Faldern
seine Spürnase überall hinstecken durfte. Der war tüchtig verhaßt;
nicht allein, daß er Verhaftungen vornehmen ließ und die Ausweisung von
mancherlei Personen veranlaßte, er hielt es auch für nötig, alle paar
Tage Militär zu requirieren. Jeder Bürger war empört darüber.

Kein Wunder, daß so, als der von Freund und Feind geachtete General
von Drygalski – ›Bürger‹ von Drygalski, wie er sich selbst genannt –
abberufen wurde und schon wieder ein neuer Divisionär aufzog, auch
wieder neue Unruhen anhuben. –

Der Frühling kam, es dehnte sich, was im Winterschlaf gelegen; es
reckte sich und streckte sich, und wo es an hemmende Schranken stieß,
klopfte es an mit Macht. Erste Knospen sprengten ihre Hüllen über nacht.

Regenschauer des April wechselten mit warmem Sonnenschein, auf und
nieder auch schwankten Gerüchte.

Im Bergischen Land stöberte der Frühlingswind ganz besonders stark.
Fabrikschornsteine hörten auf zu rauchen, Arbeiter revoltierten und
drohten die neuen Maschinen zu zerstören, die ihnen, ihrer Meinung
nach, das Brot verkürzten. Die Fabrikanten brachten ihre Familien in
Sicherheit in die großen Städte.

Die erste Nachtigall schluchzte im feuchtwarmen Hofgarten, als auch
Conradi seine junge Frau nach der Stadt schickte; in der Kaserne, bei
den Eltern, war sie sicher. Seine Pflichten als Gendarm hielten ihn
jetzt oft Tage und Nächte von Hause fern. Sein Häuschen lag außerhalb
des Ortes an der freien Landstraße; mehr als einmal schon hatten
Strolche der einsamen Frau einen Schreck eingejagt; und das mußte jetzt
vermieden werden.

Josefine hatte anfangs nichts von der Reise wissen wollen, mit
angstvoller Heftigkeit sich dagegen gesträubt – nein, nein, sie konnte
jetzt nicht fort, jetzt, wo die Hühner so brav Eier legten, wer sollte
die denn füttern? Wer sollte das schöne Ferkel versorgen, das er ihr
Weihnachten zum fettmachen geschenkt? Und wer sollte denn für ihn
selber kochen?!

Aber dann ergriff sie doch plötzlich eine Sehnsucht. Wenn sie die Augen
schloß, hörte sie die Ahornbäume rauschen, sah die Sonne rotgolden auf
den blinkenden Scheiben im Hof verglühen. Heim, heim!

Sie reiste. Sie konnte nicht still sitzen während der Stunde der
Eisenbahnfahrt; immer stand sie am Fenster. Ihr Herz klopfte
erwartungsvoll. Und wild schlug es, in einer unbezwinglichen Erregung,
als sie das schwere Kasernenthor öffnete, das sich ihr förmlich
entgegenstemmte. Sollte sie denn nicht hinein?! Sie stieß mit dem Fuß
gegen und half so der bebenden Hand.

Nun trat sie das spitze Pflaster des Steiges. Ah, hinter den kleinen
Fenstern der Blocks neugierige Gesichter! Sie kannte noch viele von
ihnen. Und Kartoffelsuppe mit Zwiebel hatte es heute mittag gegeben!
Sie atmete tief und zog den wohlbekannten Geruch ein. Ach, und das war
der Kasernenduft, der eigentümliche Duft nach Schimmel und Knaster,
der diesen Wänden so untilgbar anhaftete und den sie so lange, so ewig
lange entbehrt!

Die Spatzen schirpten, die Ahornbäume zeigten zarte Blätter, das
Küchenfenster der elterlichen Wohnung stand offen, wie eine Melodie
schwebte es von dort herunter zu ihr: ›Ich weiß nicht, was soll es
bedeuten, daß ich so traurig bin‹ – sie war wie berauscht vor Glück.
Nein, nicht Monate waren vergangen, nicht einmal Tage, sie war da, sie
war nie fortgewesen! Josefine – horch, rief da nicht jemand?! Mit einem
Zittern scheuer Wonne stürmte sie die Stiege hinan.

Sie hatte sich bei den Ihren nicht angemeldet; nun trat sie ein. Die
Eltern saßen beim Essen, ganz allein. Mit einem: »Nanu?« sprang der
Vater auf und schloß sie in die Arme.

Aber er freute sich doch nicht so, wie sie wohl erwartet hatte, er
schien sich gar nicht mehr so recht freuen zu können. Als sie sagte,
daß ihr Mann, für ihre Sicherheit besorgt, sie hierher geschickt,
preßte er ihr die Hand mit einem seltsam krampfhaften Druck. »Recht,
daß er dich geschickt hat. Nu kann’s losgehen!«

Frau Trina lachte: »Natürlich, der Rinke red’t von nix, als von
losjehen!« Aber dann seufzte sie: »Och Jott, och Jott, dat is als janz
schreckelich!«

Sie umhalste die Tochter mit großer Freude, es war ihr doch ein wenig
bang gewesen so allein; die beiden Jüngsten waren vor vier Wochen nach
Annaburg abgedampft. »Nu hab’ ich Ruh’,« klagte sie, »aber et is mich
doch eso unjewohnt, et is mich als janz einsam! Un der Rinke is immer
so verdrießlich!«

Josefine blickte den Vater an – ja, der sah grimmig aus, so recht
in sich verbissen. Mager war er geworden, hager sprang die Nase vor
zwischen den unruhig spähenden Augen.

»Jeht et dir nit jut, Vater?« fragte sie und legte die Hand auf seinen
Ärmel.

Er schüttelte sie unwirsch ab. »Dumme Fragerei! Wie soll’s einem gut
gehen, wenn die Kanaille frecher wird mit jedem Tag und man ihr keinen
Tritt geben darf! – Siehst auch nicht zum besten aus,« setzte er nach
einem prüfenden Blick hinzu.

»Mir jeht et sehr jut,« sagte die junge Frau leise und wurde brennend
rot dabei.

Die Mutter deutete sich das Erröten auf ihre Weise – no, die Tochter
würde sich ihr ja schon anvertrauen!– –

Wieder lag Josefine in ihrer Kammer, in ihrem schmalen Mädchenbett.
Fast zärtlich glätteten ihre Hände das Kissen – ach, das war heut so
verwühlt, sie konnte gar nicht schlafen.

Der Mond schien silberhell. Das Thürchen nach der Küche hatte sie
aufgelassen, der ganze Boden drinnen war wie beschüttet mit Glanz.
Sie konnte nicht widerstehen; rasch einen Rock überwerfend, schlüpfte
sie aus der dumpfen Kammer an’s offene Küchenfenster. Wie still lag
der Hof! Die Ahornbäume rührten sich nicht, jedes Ästchen stand
silberumwebt. In den Blocks waren alle Lämpchen erloschen, nur drüben
in der Offiziersstube brannte noch Licht.

Ob =er= noch da wohnte?!

Sie spähte lange hinüber – da – endlich – jetzt bewegte sich ein
Schatten hinter’m Fenster! Sie glaubte seine schlanke Gestalt zu
erkennen, und ein Schreck durchfuhr sie und zugleich eine Sehnsucht. Er
wohnte noch da! Ach, wenn sie ihn nur einmal noch sehen könnte! Ihre
Hände krampften sich ineinander – bloß einmal sehen!

Drüben erlosch das Licht.

Ihr wurde so heiß, so heiß, die schweren Zöpfe brannten sie im Nacken,
sie schüttelte sie lang herunter; weit beugte sie sich zum Fenster
heraus – ach, nur einmal sehen! Erinnerungen stürzten über sie her in
der schmeichelnden Frühlingsluft, Träume –

Es tappte unten; eine Patrouille schritt über den Hof, hinterher ein
schlanker Offizier. Das war =er=!

Zurückfahrend stieß sie an den Fensterriegel, daß es laut klirrte. Nun
hatte er sie doch gesehen!

Sie konnte sich nicht rühren, starr stand sie mit weitgeöffneten Augen.
Taghell war die Mondnacht.

Hatte er sie erkannt –?! Ja, ja!

Verstohlen sah er einmal zu ihr hinauf – und nun noch einmal! Und eh’
er das schwere Thor schloß, wandte er nicht noch einmal den Kopf?!

Viktor! Sie hatte es nicht gerufen, aber verlangend, bittend,
beschwörend streckte sie die Hände aus. Den da hatte sie ja so lieb
gehabt, den da liebte sie noch – jetzt wußte sie’s.

In leidenschaftlicher Wallung stürzten ihr Tränen aus den Augen.

Um ihr glühendes Gesicht strich der Nachtwind wie mit abkühlender
Mahnung; er raunte etwas, sie verstand es nicht. Sie wollte es nicht
verstehen.

Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre – nein, an gar
nichts mehr denken!

In einer heißen Freude glühte sie und schauerte doch – sie würde ihn
wiedersehen!

Und dann –?!

Mit einem Seufzer warf sie den Kopf in den Nacken und schloß
schwindelnd die Augen.




XVIII


Sie hatten sich bis jetzt nur flüchtig gesehen; sie waren sich begegnet
im Hof, vor der Thür, auf der Straße, so oft, wie früher nie. Josefine
war diesen Begegnungen nicht ausgewichen, nein, sie suchte sie sogar.

Wie war er schön, wie war er ritterlich! Er verblendete sie ganz. O
Gott, ihn nur einmal noch sprechen, seine Stimme hören, diese Stimme,
die so lustig necken konnte: ›Fina, blonde Fina, meine Fina!‹

Kein Gedanke ging zu ihrem Mann. Ihr war zu Mut, als wäre sie wieder
die Josefine von einst – nein, doch nicht ganz dieselbe! Früher war
sie schon beglückt gewesen, wenn sie Viktor nur von weitem gesehen –
ein verstohlenes Grüßen von Fenster zu Fenster, ein flüchtiges Wort,
ein heimlicher Händedruck – das war schön, das war schön gewesen, doch
jetzt –?!

Ihre Augen begegneten den seinen mit stumm leidenschaftlicher Frage.
In einer gesteigerten, rauschähnlichen, erwartungsvollen Spannung
verbrachte sie friedlose Tage und schlaflose Nächte. –

Leutnant von Clermont hatte auch schon seit Nächten nicht viel
geschlafen, eigentlich gar nicht, sein Blut war erregt. Wochen hatte er
verbracht in stumpfem Groll – alle Tage Drill, für was denn? Immer von
der Ehre, von der Offiziersehre hören und sich doch auf der Nase tanzen
lassen müssen – äh was, Ehre, pfeif’ auf den ganzen Rummel! Er war
wütend. Ein paarmal hatte er sich schon betrunken. Das war ihm sonst
nie passiert; aber jetzt konnte er eben gar nichts vertragen, ein paar
Gläser schon stießen ihn um. Gleich prickelndem Champagner stieg ihm
der Säuerling, den sie im Kasino verzapften, zu Kopf.

Seine Nerven waren angespannt, all seine Sinne erregt. O, dieses
müßige Warten, dieses ungeduldige Lauern in der muffigen Kaserne! Zum
umkommen! Nur nach etwas greifen, sich zu zerstreuen, zu vergessen, den
Lauf der Tage zu beschleunigen – ha, und nun kam diese blonde Frau! Er
erwiderte ihre großen, stummen und doch so beredten Blicke.

Heut abend sprachen sie sich zum ersten Mal. Auf dem dunklen Gang
trafen sie einander wie einst. Warum sollten sie sich länger meiden?!
Auf halbem Weg waren sie sich entgegengekommen. Er unter dem Vorwand,
den Feldwebel sprechen zu müssen; sie ganz ohne Vorwand, einfach
gezwungen, schier ohne eigenes Wollen, wie eine Traumwandelnde, Schritt
für Schritt gelassen auf den schwindelndsten Pfad setzend.

Sie hatten nicht Zeit zu vielem Reden. Jeden Augenblick konnte sie
jemand überraschen, rumorte es doch heute überall in der Kaserne.
Der dunkelste Gang war nicht sicher. Gerüchte gingen um, unheimlich
schwirrend wie Fledermäuse in nächtlichem Dunkel; man hört nicht ihren
lautlosen Flatterflug und spürt ihn doch am kalten, unheimlichen Wehen.

»Josefine,« flüsterte Viktor und faßte sie an beiden Händen, »Fina!«

Sie sagte kein Wort, aber sie neigte sich gegen ihn.

Ehe sie bedachten, was sie thaten, küßten sie sich heiß.

»St – still, kommt da jemand?« Er raunte es, erschrocken und unwillig
zugleich.

»Nein – ja, ja!« Und doch huschte sie nicht fort.

Sie umschlangen sich; hastig küßten sie sich wieder, heiß und heißer.

Fatal, wieder Tritte!

»Komm zu mir,« flüsterte er im Kuß.

»Ja, ja, ich ko–«

Sie sprach das Wort nicht aus. Ein schriller Mißton gellte durch die
Kaserne.

Horch, ein Trompetenstoß!

Und nun Trommelwirbel vom Platz, Trommelwirbel vom Hof herauf.

»He–rrraus!« Ein einziger, langgezogener Ruf in der Mainacht.

»Donnerwetter, Alarm!« Viktor riß sich los, fort stürzte er; Josefine
stand wie betäubt.

Alarm, Alarm! Alle Mann heraus!

Und nun fingen die Glocken der Stadt an zu rufen, von allen Türmen
bimmelte es. Ängstlich hilfesuchend wimmerte es: ›Feuer!‹ Mächtig
dröhnte es: ›Sturm!‹ Und jetzt – huh – mit beiden Händen fuhr
Josefine an die Ohren: das Lärmhorn der Bürger! Schrecklich tutete es;
dazwischen das Blasen der Trompete, das Wirbeln der Trommel.

Generalmarsch wird geschlagen – die Infanterie rückt aus.

Feuer, Sturm, Aufstand, offene Rebellion! Grollend dröhnt ein
Kanonenschuß. –

Es war wenig Militär in der Stadt, gestern erst eine große Zahl Truppen
nach Elberfeld abgegangen, wo die Landwehrmänner sich ihrer Einberufung
widersetzten; und heute in der Frühe war ein Nachschub gefolgt. Das
ganze Bergische Land schien in Aufruhr.

Die Nacht war lebendig geworden. In den Lüften schien es zu klagen.
Über den Exerzierplatz weg fuhr ein Geschrei – dann wurde alles still.

Oben in der Feldwebelwohnung hielt Frau Trina jammernd die Tochter
umklammert: »Och Jott, och Jott, de Willem! So mitten in der Stadt,
allein mit der alten Frau! Wenn de nur kein Dummheiten macht! Och Jott,
och Jott, de Willem!«

»Ich will hinjehn,« sagte Josefine rasch. »Ich hol’ se her! Laß mich
doch! Da is ja nix bei, ich hab’ kein Angst. Laß mich,« wehrte sie die
Mutter ungeduldig von sich, die sie zurückhalten wollte.

Nach kurzem Kampf ließ Frau Trina ab. Am Ende war es ihr doch eine
Beruhigung, wenn die Josefine nach dem Wilhelm sah. Das Gesicht
verhüllend, sank sie auf den Stuhl im Winkel.

Ohne Besinnen lief Josefine die Stiege hinunter. Noch konnte sie zum
Thor hinaus, es stand offen, ab und zu eilten Soldaten; in der Ferne
verklang der Trommelwirbel einer ausrückenden Kompagnie.

Da zog =er= hin! Mit raschem Schritt lief sie hinterdrein.

Flüchtig berührte ihr Fuß kaum das Pflaster, eine Todesangst riß
sie fort – wenn ihm ein Leid geschah! Wenn sie ihn in die Kaserne
zurückbrachten, das Haupt vom Beilhieb zerschlagen, aus Stichen
blutend, die ihm ein Strolch versetzt!

Eine heftige Wut ergriff Josefine gegen das Volk, das sich so vergaß.
Sie ballte die Fäuste in ohnmächtigem Zorn: Drauf, wackere Soldaten,
drauf!

Mehrere Bürger stürzten an ihr vorüber, die zu flüchten schienen. Aha,
jetzt rannte schon das feige Gesindel!

Einer schrie: »Barrikaden, se bauen Barrikaden, se reißen dat Pflaster
auf!«

»Wo, wo?«

»Da – da!« Er hob den Arm und zeigte im laufen zurück, von wo er
gekommen. »Am Stadtbrückchen – an der Allee – ich weiß nit – da – da!
Jesus Maria, se schießen, se schießen!«

Grell pfeift ein Signal – eine Gewehrsalve knattert – wo schießt es,
wer schießt?!

Hurra, die Soldaten! Josefine glühte, ihre Blicke flammten begeistert
auf. Die Soldatentochter war jäh in ihr erwacht.

Horch, Pelotonfeuer! Von weitem antwortet Kanonendonner. Und jetzt
Pferdegetrappel – hei, die Ulanen rücken auch schon zur Stelle! Hurra,
die Soldaten, die tapferen Soldaten, die schaffen Ruh’!

Links ab schwenkte Josefine; über die Allee, beim Stadtbrückchen
konnte sie nicht durch, das sah sie wohl ein. Rasch hier hinein! Durch
die kleinen, engen Gäßchen der Altestadt kam man noch leicht zur
Ratingerstraße. Immer rascher lief sie.

Nun war sie am Hunsrück. Ach, wo mochte Viktor jetzt sein?! Viktor,
Viktor –?! Verwirrt glitt ihr Blick umher – hier war es ja so dunkel,
die Laternen sämtlich erloschen, die Häuser schwarz! Sie tappte, sie
stolperte, unwillkürlich stieß sie einen leisen Schrei aus.

»Zurück!« Es klirrte im Dunkeln. Und nun noch einmal der Ruf: »Zurück!«
Und jetzt ein laut hallendes Kommando: »Lichter heraus!«

Rechts, links, wie mit Zauberschlag erhellen sich die Fenster, sie
sieht entsetzte, neugierige Gesichter hinter den Scheiben auftauchen,
nur für einen Moment, dann ducken sie unter, denn: »Zurück!« brüllt es
wieder. Blinkende Uniformen, drohende Flintenläufe. Sie will rufen,
aber schon geht voreilig ein Schuß los. Dicht pfeift ihr die Kugel über
den Kopf.

Taumelnd fällt sie gegen eine Hausthür; diese giebt nach, ein Arm
streckt sich heraus und zieht die Wankende herein.

»Jesus Maria, is Euch wat passiert?!« Weinend leuchtete ihr eine
Bürgerfrau in’s Gesicht. »Ne, Jott sei Dank, et hat noch jut jejangen!
Och, meine Mann, meine Mann, wo is de?! Se werden ein wat duhn, se
werden em dotschießen! Se hören ja jar nit, wat mer ihnen sagt.
Vorhin jing einen hie langs, ich kenn’ em jut, auch so ene ruhije
Börjer, wollt no Huus jonn – knall, schießen se ein kapores. O Maria,
Materdeies, wat is dat for en Nacht!«

Josefine zitterte vor Aufregung. »Machen Sie die Thür auf, ich muß
wieder eraus!«

»Ne, ne, Ihr könnt jetzt nit eraus – seid Ihr jeck? Se schießen Euch
dot!« Die Frau umklammerte sie mit beiden Armen.

»Ich muß!« Josefine riß sich los. Das Weib war wohl toll vor Angst,
Soldaten sollten auf ruhige Bürger schießen?! Unsinn! Schon hatte sie
die Hausthür aufgezerrt, schon stand sie wieder draußen auf der Gasse.

Jetzt war alles still. Unsicher huschenden Schein warfen die Lichter
aus den Fenstern, von den Soldaten war nichts mehr zu sehen. Doch dort
– dort in jener Thürnische kauert einer, das Gewehr im Anschlag, und
da, hinter den Fässern, die mitten auf’s Pflaster gekollert sind, reckt
eben einer spähend den Kopf empor. Ein Flintenlauf hebt sich vorsichtig.

Josefines Augen werden schreckhaft starr – hat die Frau recht: wie ein
Wild, wie ein Tier dem Jäger vor’m Schuß?! Sie macht einen Satz gleich
dem scheuenden Reh; sich wendend, stürzt sie blindlings zurück.

Herr im Himmel, auch kein Zurück mehr! Lautes Gebrüll schlägt ihr
entgegen.

»Zaruck-Buh! Zaruck-Buh!« Das ist der Hohnruf der Aufrührer!

An der nächsten Ecke hat sich ein Haufe postiert. Umgestürzte Karren,
Bretter, Säcke, Stühle, Tische, alles was man in der Eile ergriffen,
ist aufgestapelt.

»Zaruck-Buh! Preußen! Schweinhunde! Menschenschinder! Zaruck-Buh!«
Steine fliegen, Ziegelsteine, Pflastersteine, Sand, Kot, Pferdemist.

Aber jetzt Trommelschlag und jetzt ein Kommando:

»Zur Attacke! Das Gewehr – rechts! Fällt das Gewehr! – Marsch, Marsch!«

»Hurra!« Mit vorgehaltenem Bajonett stürmt das Militär. Eine Bresche
entsteht, ein höllisches Geheul, eine wilde Flucht.

»Feuer!«

»De Preußen, de Preußen, se schießen auf uns!«

Auf der rasch genommenen Barrikade stehen die Soldaten und feuern in
die enge Gasse.

»Hochhalten!« tönt ein vereinzeltes Kommando, aber niemand hört es. Die
Kugeln pfeffern in den Hunsrück – klatsch, in’s Pflaster – klatsch,
gegen Thüren und Läden – zeigt jemand sich am Fenster, wird auch dahin
geschossen.

Rette sich, wer kann! Josefine wird mit fortgerissen; in die
Bolkerstraße hinein geht die Flucht, rechts und links durch eins der
Seitengäßchen kann man vielleicht entschlüpfen. Aber dort aus der
Kapuzinergasse tönt es: »Zurück!«

Huh, die ›Zaruck-Buh!‹ Die Mündung der Kapuzinergasse ist verstopft
von Uniformen, das Eckhaus zur Bolkerstraße von Soldaten besetzt. Auch
da kein Ausweg!

Auch da, gegenüber aus der Mertensgasse, gellt ein Hilferuf – das ist
ein Verwundeter! Wie ein Tier kriecht er auf allen Vieren die Häuser
entlang.

»Hilf’, Maria Josef, zu Hilf’!« Schwach wimmert der Unglückliche nur
noch. Eine Thür öffnet sich, ein Mann stürzt heraus, schon hat er den
Verwundeten unter die Schultern gefaßt, um ihn in’s Haus zu ziehn –
ächzend drückt der die Hand auf die Leibseite – da, wieder der Ruf:
»Zurück!«

»Gut Freund!«

Was nutzt’s? »Zurück!« Hähne knacken. Erschrocken läßt der Mann den
Verwundeten fallen und springt, sich rettend, in’s Haus zurück;
knatternd fährt der Schuß über die Stelle, wo er noch eben gestanden.

Weiter, weiter! Die Bolkerstraße weiter hinunter! Das Kleid ist
Josefine abgetreten, zerfetzt hängt es ihr von den Hüften; die Haare,
gelöst vom rasenden Lauf, züngeln ihr gleich Schlangen um den Kopf.

Weiter, immer weiter!

Hier unten, dem Markt zu, ist die Straße still, die Fenster sind nicht
erleuchtet. Man tappt im Dunkeln, man gleitet, man strauchelt. Nun
kommt aufgerissenes Pflaster, Josefine fällt.

Wie lange sie gelegen, weiß sie nicht; endlich rafft sie sich auf mit
zerschundenen Händen, mit betäubtem Kopf. Nun ist sie ganz allein. Die
Flüchtigen sind sämtlich verschwunden, wohin –?! Sie weiß es nicht.
Sie sucht die nächste Thür, sie pocht, pocht wieder, niemand giebt
Antwort, niemand öffnet; laut um Einlaß zu rufen, traut sie sich nicht.

Zitternd kauert sie sich auf eine Treppenstufe. Kein Kampf tobt mehr
hier, kein Mensch geht, und doch dröhnt es ihr in den Ohren: die
Glocken schlagen ununterbrochen an. Dumpfes Hallen von der Rathausuhr;
mechanisch zählt sie – Gott im Himmel, schon elf!

Über die Dächer kommt’s wie ein Geheul. Aus der Richtung der Allee
Kartätschenfeuer – nein, nicht allein daher, von allen Seiten Geknatter.

Es ist nicht mehr zu ertragen, sie kann es nicht mehr anhören,
schaudernd hält sie sich die Ohren zu. Aber sie hört doch den
Trommelschlag – ›Fällt das Gewehr!‹ – Die Bajonette blitzen, hinein
geht’s in die flüchtende Menge – ›Feuer!‹ – Ein Verwundeter kriecht am
Boden, niemand hilft ihm, verschmachten muß er, zertreten wird er –
horch, das Pferdegetrappel! Entsetzt fährt Josefine auf.

Täuschung! Nur der Tritt einer nägelbeschlagenen Sohle klappt auf
dem Pflaster. Vom Markt her nähert sich ein einzelner Mann. Er kommt
auf sie zu, an dem großen Bollerwagen vorbei, der, umgestürzt, die
Straßenmündung nach dem Markt sperrt.

Gott sei Dank, da ist jemand! Der wird ihr sagen, wo sie gehen soll. Er
scheint sich nicht zu fürchten. So ruhig kommt er daher.

Sie springt auf ihn zu. Nun sieht sie’s im matten Sternenlicht, er ist
schon alt, hat weiße Haare, trägt eine Kriegsdenkmünze auf der Brust
und unter jedem Arm ein großes Brot.

»Is et sicher langs dem Markt? Kann mer da jehn?!«

»Ja, eja, jeht nur als janz ruhig da langs!« Und als er ihr angstvolles
Gesicht sieht, schüttelt er, beruhigend lächelnd den Kopf: »Och ene,
so leicht lasse mir uns nit bang mache! Ich komm’ von der Rhing, von
mingem Kahn, ich muß noch nach der Pfannschoppenstraß’, mein’ Frau und
mein’ Enkel lauern als auf dat Brot. Ich han kein’ Angst. Ne, ene, wenn
mer ihne nix duht, duhn ei’m de Preußen auch nix; ich bin ene alte
Soldat, ich –«

Ein leichter Knall, ein leichter Pulvergeruch – kurz springt der alte
Mann in die Höhe. Zu Boden stürzt er, mit dem Kopf zuvorderst. Er fällt
auf’s Gesicht; links fliegt ein Brot, rechts eins.

Jesus Maria, sie schießen aus dem Rathaus! Da, über dem dunklen Markt,
– da, – hinter den dunklen Fenstern, da sind sie drin! Josefines Blut
erstarrt: Die Preußen, die Preußen, die schießen auf wehrlose Bürger
–?! Pfui!

Wie in’s Herz getroffen, sinkt sie bei dem alten Mann nieder. Ihre
Hände tasten über sein weißes Haar, über seinen altersgekrümmten
Rücken. Klebrig rinnt es ihr da über die Finger – Blut! Er ist tot!

Der Atem stockt ihr, sie will schreien und kann nicht; mit beiden
Händen nach dem sich krampfenden Herzen fahrend, stürzt sie auf und
fort.

Die Glocken wimmern und wimmern. Aus den Rathausfenstern fallen noch
mehr Schüsse. Mit wehenden Haaren und flatternden Fetzen, wie ein
Schatten, fliegt sie dort vorbei. –

       *       *       *       *       *

Die Glocken hatten zu läuten aufgehört beim grauen des kommenden
Morgens. Das Pelotonfeuer war verstummt, die Barrikaden in der
Kommunikation und Flingerstraße waren genommen, Kanonen aus der Allee
angefahren, am Stadtbrückchen hielt ein Pikett Ulanen die Wacht; auch
über den Friedrichsplatz schwenkten Berittene. Auf die Gartenmauer des
Präsidialgebäudes waren Schützen postiert, Rathaus, Theater und manch
andre Gebäude vom Militär besetzt. Und doch fielen noch Schüsse in der
Altestadt.

Sie fielen vereinzelt; aber schauerlicher tönten sie, wie eine ganze
wildknatternde Salve, Ohren und Herzen der Bürger mit Grausen füllend:
das waren bedächtige, wohlgezielte Schüsse!

Die Ein- und Ausmündungen der Gäßchen waren besetzt; an den Ecken
lauerten die Soldaten, hinter irgend einer Deckung auf den Knieen
liegend, Gesicht und Hände von Pulver geschwärzt. Jetzt gab’s kein
Pardon. Lange genug hatte man Beleidigungen einstecken müssen, doch
waren sie unvergessen; lange genug hatte zurückgedrängter Groll
geschwelt, wie eine glimmende Kohle unter der Asche – jetzt war sie
aufgeloht, vom Sturmwind der Nacht entfacht. Jetzt gab’s kein Löschen
mehr.

Flammendes Blut war den Soldaten zu Kopf gestiegen und hatte ihre
Herzen kalt zurückgelassen, kalt wie Eis.

›Zurück – halt, wer da?!‹ Die Hand war rascher als die Antwort, los
ging schon der Schuß.

Die Rheinnebel wälzten sich über die Ratingerstraße und brauten um
die Barrikade, drauf hoch eine rote Fahne wehte; noch war die nicht
gestürzt, noch flaggte sie im Frühwind.

Still war’s in der alten Straße; die ziegelgedeckten Giebelhäuser
hielten ihre Läden geschlossen, nur hier und dort öffnete sich behutsam
ein Ritzchen, kaum groß genug, um einen angstvollen Blick hinaus spähen
zu lassen.

Langsam kam jetzt eine Patrouille vom Ratinger Thor her, die Straße
herunter. Vorsichtig gingen die Soldaten; sie schlichen. Auf der
benachbarten Ritterstraße hallten Schüsse, aus dem Mühlengäßchen gellte
plötzlich ein Schrei. Die Soldaten packten ihre Gewehre fester, rechts,
links flogen spähend die Augen des vordersten; Feldwebel Rinke war’s,
er führte die Patrouille an.

Eben hatte er sich von Leutnant von Clermont getrennt, dem die Meldung
geworden, daß, nachdem man kaum die Barrikade aus der Mühlenstraße
zerstört, in der benachbarten Ratingerstraße mit Zauberschnelle eine
neue entstanden sei. Dahin, dahin! Nicht umsonst hatten sie beide zur
Zeit die Stadt abpatroulliert, sie kannten das Gewirr der Gassen und
Gäßchen.

»Führen Sie Ihre Leute von oben heran, Feldwebel,« hatte hastig der
Offizier geraunt, »ich packe die Bande vom Montierungsdepot her im
Rücken! Keiner entwischt uns!«

Mit Augen, die fast aus den Höhlen dringen, späht der Feldwebel jetzt
in die Dämmrung. Verdammt, daß man nicht besser sehen kann! Wo, wo
stecken die Schufte?! Sein Herz schlägt hart; seine lange Gestalt
duckend wie zum Sprung, tappt er voran.

Dunkel ragt etwas vor ihm auf, ist’s ein Bollwerk, eine Verschanzung?!
Hei, der Feind dahinter! Ein gellendes Pfeifen empfängt die Soldaten.

Hurra, da ist die Festung! Auf zum Sturm! Ein lautes Kommando schreit
er heraus und dann ein jauchzendes Hurra; mit gewaltigem Anlauf stürmt
er.

Fässer sind aufgetürmt, Bierfässer, Weinfässer, Bretter darüber gelegt
und umgestürzte Karren; Stroh, Sand, Steine zwischengestopft.

Keuchend schafft sich Rinke Bahn. Die Pistole hat er in den Gurt
gesteckt, mit mächtigen Griffen reißt er das Bollwerk auseinander. Wie
ein Wütender, achtlos des Hagels von Steinen und Glasscherben, der auf
ihn nieder saust, tollkühn, dringt er vorwärts. Wie in der Schlacht,
hei, wie in der Schlacht!

Hier ein Stoß, da ein Tritt – er strebt nach der Fahne, die frech dort
oben flattert.

Schwarze Gestalten – es sind ihrer nicht viele – geben Fersengeld.

»Hurra!« Jetzt stehen schon einige Soldaten oben, sie feuern hinter
den Fliehenden drein. Und »Hurra!« tönt es von hinten, vom Depot her.
Gleich angstvollen Bestien rennen die Umstellten hin und her.

Mit einem wilden Lachen langt Rinke nach der Fahne – halt, wer duckt
sich da?! Er schwingt sich vollends hinauf; einer will entwischen.
»Steh! Halunke, steh!«

Pardon wird nicht gegeben. Mit eiserner Faust packt der Feldwebel zu.
Blitzschnell entwindet sich ihm eine schlanke Gestalt, will fliehen,
sieht keinen Ausweg, rafft einen Stein auf und setzt sich verzweifelt
zur Wehr.

Ohne Besinnen reißt der Soldat die Pistole heraus und schlägt an –
Mann gegen Mann – da zeigt ihm ein Feuerstrom, der vorüberfährt, ein
pulvergeschwärztes, angstverzerrtes Jungengesicht – Wilhelm!

»Verfluchter Bengel!« knirscht er zwischen den Zähnen; er hat ihn
gesehen, er hat ihn erkannt. Und der Sohn hebt mit beiden Händen, zum
niederschmettern bereit, den Pflasterstein.

Knall, wieder ein Feuerstrom. Der Feldwebel zuckt zusammen – können die
Kerls denn nicht das Kommando zum schießen abwarten?! Dicht nebenan
stürzt ein Aufrührer, fällt hintenüber, reckt im jähen Tod die Fäuste
empor. Grausenvoll stiert sein Auge. Und er ist auch noch so jung!

In Rinkes Hand beginnt die Pistole zu schwanken; jetzt hat er keine
Festigkeit zum zielen mehr, er läßt die Waffe sinken. Vater und Sohn
starren sich an; nur Sekunden und doch Ewigkeiten.

»Halunke,« zischelt der Vater endlich und hebt wieder langsam, zögernd
die Pistole.

»Vater!« schreit entsetzt der Sohn auf, läßt den Stein fallen und
verbirgt das Gesicht.

»Halunke!« Die bebende Hand will nicht gehorchen.

Da – ein Stein kommt angeschwirrt, von unsichtbarer Hand geschleudert –
gut gezielt. Der Feldwebel taumelt; vor die Stirn getroffen kollert er
hinterrücks von der Barrikade.

Und der Sohn steht mit stierem Blick. Hat er geworfen, den Vater
getroffen –?! Nein – ja – nein! Er weiß es selber nicht, er ist ganz
betäubt.

»Halt, der da, der hat geschossen! Packt die Kanaille!«

Ein Offizier mit blankem Degen springt auf Wilhelm zu. Da rafft der
Junge sich auf, die Betäubung weicht – rette sich, wer kann – in
Lebensgier, in Freiheitsgier setzt er herab auf’s Pflaster. Dort, dort
ist der ›Bunte Vogel‹ und Hilfe, Rettung!

Die Thür giebt nach – er hinein – Riegel zu – Treppe hinauf, in den
Taubenschlag, auf’s Dach. –

Gewehrkolben donnern gegen die Thür des ›Bunten Vogel‹. Leutnant von
Clermont verschafft sich mit Gewalt Einlaß; halb eingerannt, halb
zerschossen, hängt die Thür nur noch lose in den Angeln. Die Soldaten
stürmen in den dunklen Flur.

Wo ist der Kerl, der geschossen hat? Hier drin muß er sein! Man schickt
sich zum suchen an. Ihrer zwei, drei stolpern in den Keller, ein paar
andre die Stiege hinauf. Der Leutnant fährt das alte Weib an, das ihm
aus der Wirtsstube entgegentritt:

»Wo ist der Kerl? Wir haben ihn hier herein fliehen sehen. Ihr habt ihn
versteckt?!«

»Ne, och ene, ich weiß von nix, och Jott, och Jott!«

»Doch, er muß hier sein – keine Ausflüchte!«

»Och Jott, och Jott! Jesus Maria Josef!«

»Sucht, sucht!« Der Leutnant feuert die Soldaten an, und dann stößt er
in ausbrechender Wut die jammernde Alte beiseite: »Gesindel, steckt
alles unter einer Decke! Gebt ihn heraus!«

»Jetzt werd’t Ihr füsiliert,« sagt ein Soldat mit breitem Grinsen
und schlägt das Gewehr auf die Alte an. Halbtot vor Angst sinkt das
Mütterchen in die Kniee, sein schwacher Aufschrei zetert durch’s Haus.

Ein andrer Schrei folgt: »Viktor!«

Aus dem dunkelsten Winkel der Wirtsstube ist eine Gestalt
hervorgestürzt, eine junge Frauensperson mit flatternden Haaren und
zerfetztem Rock; ihre Augen sind überweit aufgerissen, wie irr stieren
sie aus dem todblassen Gesicht. Die Arme abwehrend vorgestreckt, wirft
sie sich zum Schutz vor die Alte.

Und wieder gellt ihr Schrei, halb wahnsinnig vor Zorn, Empörung und
zitterndem Schmerz: »Viktor!«

       *       *       *       *       *

Bis zum lichten Morgen hielten Soldaten die verlassene Barrikade
in der Ratingerstraße besetzt, mit ihren Schüssen die Bewohner der
verräterischen Straße in Schrecken erhaltend. Haus bei Haus war
durchsucht, der Flüchtling nicht gefunden worden. –

Die warme Frühsonne des 10. Mai schien auf das Düsseldorfer Rathaus;
übernächtig, fröstelnd, niederschlagen und ratlos, saß drinnen der
Gemeinderat: zwanzig Bürger waren tot, viele sistiert, unter den Toten
auch ein Mädchen! Man hatte die Leiche der unglücklichen Dienstmagd
samt den Scherben des Topfes, darinnen sie Milch geholt, den Herren
vor’s Rathaus gebracht. Viele weinten in nervösem Schreck. Auch
Soldaten sollten gefallen fein.

Überall traurige Spuren des Kampfes; zerstampfte Erde, aufgewühltes
Pflaster, Reste von Barrikaden. In der Kommunikation ein von
Kartätschenkugeln demoliertes Haus, auf dem Friedrichsplatz ein
Pferdekadaver. Überall bleiche Gesichter, verstörte Blicke. Auch die
hell aufgegangene Sonne hatte sich bald verfinstert, wie eine Wolke von
Unglück hing’s über der Stadt.

Gegen zehn Uhr vormittags war es, als Rinke in die Kaserne
zurückkehrte, die Uniform zerrissen und besudelt, den Kopf mit einem
blutgetränkten Sacktuch umwunden. Er taumelte und hielt sich kaum auf
den Füßen; aber er war so lange bei den Kameraden geblieben trotz des
starken Blutverlustes und der tiefen, stundenlangen Ohnmacht, die ihn
nach dem Sturz von der Barrikade überkommen. Nur nicht nach Hause, nur
nicht allein sein! Er klammerte sich förmlich an die Kameraden an. Er
hatte treu bei seiner Kompagnie ausgehalten bis an’s Ende.

Ja, bis an’s Ende! Finster vor sich hinnickend, saß er jetzt auf
seinem Platz am Fenster. Der Exerzierplatz war leer, die Wohnung auch
– natürlich, die Käthe und die Josefine waren gleich am Morgen in den
›Bunten Vogel‹ gelaufen.

Da kamen sie noch lange nicht zurück!

Er zürnte heute nicht mehr darüber, wie früher wohl; ein wehmütig
resignierter Zug glitt über sein Gesicht. Dann stand er auf und ging
schwankend, sich längs der Wand weitertastend, zum Tisch.

Alles weg – was sollte er noch hier?! Das Höchste weg – er hatte es
verloren. Verloren! Stöhnend lehnte er sich gegen den Tisch. Wie hatte
er einst geschworen zu Gott dem Allwissenden und Allmächtigen?! – – – –
›Daß ich Seiner Majestät dem König von Preußen, meinem allergnädigsten
Landesherrn, zu Land und zu Wasser, in Kriegs- und Friedenszeiten, an
welchen Orten es immer sei, getreu und redlich dienen, Allerhöchstdero
Nutzen und Bestes befördern, Schaden und Nachteil aber abwenden,
die mir erteilten Vorschriften und Befehle genau befolgen, mich so
verhalten will, wie es einem rechtschaffnen, unverzagten, pflicht- und
ehrliebenden Soldaten eignet und gebührt – – –‹

Die Lippen zitternd bewegend, hatte er’s gemurmelt. Bei dem Wort
›ehrliebend‹ zuckte er, ein Ausdruck tiefsten Schmerzes krampfte sein
Gesicht zusammen. Mit einem unartikulierten Laut die Hand zum Kopf
hebend, riß er die Binde ab – mochte sein Blut hinfließen, was lag
daran?! Er hatte die Ehre verloren, seine Ehre! Wo war sie? Ganz am
Boden, unter der Barrikade, da lag sie, zertreten.

Was hatte er gethan?!

Er war ausgezogen gegen die verfluchten Rebellen – hatte er nicht
geschworen, die zu vernichten, die seinem König Schaden und Nachteil
brachten? Erbarmen war ihm dabei nicht aufgedämmert, für keiner Mutter
Sohn, und nun, da der Bengel vor seiner Pistole stand, der Halunke,
das räudige Schaf, war ihm eine Angst angekommen um dessen elendes
Leben. Wie der Schuß knallte, der den andern Rebellen, jenen jungen
Burschen nebenan traf! Dieser mörderische Schuß hätte auch seinen Sohn
treffen können! ›Vater‹ –! hatte der gerufen. Da hatte seine Hand die
Pistole sinken lassen.

Und nachher, war ihm nicht eine tödliche Furcht durch die Seele
geschlichen, als die Kameraden die Ratingerstraße absuchten, Haus für
Haus? Gott sei Dank, sie hatten ihn nicht gefunden! Er war entflohen.

Aber wenn der Sohn auch geflohen war, wurde der Vater das Bild darum
los? Der Sohn auf den Barrikaden, unter der blutroten Fahne, die Hand
frech erhoben gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit! Und wenn es auch
niemand wüßte – mit einem dumpfen Stöhnen griff der Feldwebel an die
Stirn, über die schwer ein Blutstropfen nach dem andern aus der noch
frischen Wunde sickerte – du selbst weißt es doch! Du wirst es sehen
bis an’s Ende deiner Tage! Du bist der Vater eines Rebellen, eines
Königsverräters! Du hast nicht Ehre mehr, des Königs Rock zu tragen –
leg ihn ab, leg ihn ab! Geh’ und schäm’ dich bis an das Ende deiner
Tage!

Das war ein Kampf, der in ihm wühlte, hart und schwer. Sein Sohn auf
den Barrikaden, der Sohn eines altgedienten preußischen Soldaten – war
das nicht eine Schande für’s ganze Heer, eine Schande für Preußen?!
Er stöhnte auf: »Preußen, mein Preußen!« Der Junge ein Verbrecher,
gemeiner als ein Dieb, und er, er selber, der Mitschuldige! Mit
Fingern würden sie auf ihn weisen: ›Seht, da schleicht der Vater von
dem Schuft, von dem Halunken, muß seinen Sohn gut erzogen haben, daß
der so feine Wege geht! Wird am Alten selber auch nichts sein! Reißt
ihm das Ehrenzeichen ab – was hat das auf seiner Brust zu suchen? Zieht
ihm den Rock herunter, er ist des nicht wert – schnell, schnell, was
zögert ihr noch?!‹

»Nein!« Er schrie es laut heraus und packte mit beiden Händen den Rock
über der Brust, eine flammende Röte schlug ihm in’s Gesicht. »Meinen
Rock, den trag’ ich – bis an’s Ende! So wahr mir Gott helfe durch Jesum
Christum zur Seligkeit!«

Tief neigte er den Kopf. Schweiß trat ihm auf die Stirn und rann ihm
reichlich an den mageren Wangen herunter. So stand er lange, wie
zusammengeknickt, die Hände in den Rock gekrampft, und rührte sich
nicht. Still war’s um ihn, kein Mäuschen knusperte, kein Holzwurm
schrabte, kein Vogel schirpte vor dem Fenster, keine Stimme des Lebens
rief.

Da – horch! Jetzt ein Signal! Hell lockte es durch die Stille. Das rief
zum Appell!

Da richtete er sich auf. Er stand kerzengerade, stramm: das hörte er
nun zum letzten Mal und in Ehren! – –

Er war ruhig geworden. Gelassen zog er die Schublade des Tisches auf
und suchte darin. Allerlei Kram war da zu finden: Lichtstümpfchen und
Brotkrumen, Zeitungsblätter und Frau Trinas Strickzeug, Flicken und
Wollreste, eine Griffelbüchse, eine zerbrochene Schiefertafel und ein
Schulheft der Kinder. Ein altes Schönschreibeheft. Der Lehrer hatte
vorgeschrieben: ›Was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten‹ –
›Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es‹ – ›Ehrlich währt am längsten‹
und dergleichen Weisheit mehr. Und die ungeübte Kinderhand hatte sich
gemüht, die schön geschwungenen Buchstaben nachzumalen.

Ehrlich – ehrlich! Der Feldwebel blätterte langsam das ganze Heft
durch. Da war noch eine leere Seite. Sorgfältig löste er sie heraus,
und dann suchte er nach einem Bleistift. Alles übrige wieder ordentlich
zurechtlegend, schob er die Schublade zu.

Mit fester Hand, gleichsam die Kalligraphie des Lehrers nachahmend,
schrieb er etwas auf das weiße Blatt. Nur wenige Worte, einen einzigen
kurzen Satz; aber klar und deutlich stand da, schön wie eine Vorschrift:

    =Über alles die Ehre!=

So. Das konnten sie gut lesen!

Mitten auf den Tisch legte er den Zettel und den Bleistift zum
beschweren quer darüber.

Keine Muskel zuckte in seinem Gesicht, ehern war’s wie vor der Front,
als er seine Pistole aus dem Lederfutteral nahm. Die Pistole war
beschmutzt. Er ging und wusch sie und rieb sie mit dem Putzlappen
glänzend; blank sollte sie sein. Sorgfältig prüfte er sie – seine Hand
zitterte nicht – und dann lud er.

Noch einen Blick warf er hinaus auf den weiten Exerzierplatz, den keine
Sonne erhellte. Einen Blick auch nach dem Sitz am Fenster, wo er die
kleine Josefine die ersten Kommandos gelehrt, dann ging er ruhigen
Schrittes nebenan in die Schlafkammer. Die Thür klinkte er hinter sich
zu.

       *       *       *       *       *

Ein scheues Flüstern ging durch die Kaserne, ein zittrig-banges Atmen:
Feldwebel Rinke war tot! Er hatte sich erschossen – mit seiner Pistole
in die Schläfe. Wenn auch der Hauptmann zu entschuldigen versuchte:
die unglückselige That sei wohl infolge der Kopfwunde, in einem
Fieberanfall, in einer Anwandlung von Geistesumnachtung geschehen –
das glaubte doch keiner. Ein Gerücht ging von Mund zu Mund: Auf den
Barrikaden hatte der Feldwebel den eignen Sohn getroffen unter der
roten Fahne, und der hatte die Hand erhoben wider den Vater, ihn
niedergeschmettert mit einem Stein. Ja, ja, der Rinke war immer zu
streng gegen seinen Jungen gewesen! Er war überhaupt zu streng gewesen,
aber – Friede seiner Asche – ein armer Kerl war er doch, der Feldwebel!

Das volle Mitleid gehörte den Weibern, der Frau und der schönen Fina.
Bis weit auf den Platz hinaus hatte man den Schrei gehört, den die
beiden ausgestoßen, als sie, um Mittag nach Haus kommend, den Toten
fanden. Auf dem Bett hatte er gelegen, als ob er schliefe, noch in der
Uniform.

Da lag er auch jetzt noch. Frau Trina durfte ihn nicht rühren, so hatte
sie ihm nur ein Taschentuch über den Kopf gedeckt; und die Großmutter,
die vom ›Bunten Vogel‹ herbeigewankt war, hatte drei Lichter
angesteckt, die flackerten zu Häupten des Bettes: – ›Jesus, Maria,
Josef, euch schenk ich seine Seele!‹

Es ging auf den Abend. Bald würde Conradi hier sein. Ach, wenn nur auch
der Wilhelm käme! Wo war der?!

Das Herz der Mutter klopfte ängstlich. Ach, ihr hatte ja Unheil
geschwant, gestern abend schon und die ganze letzte Nacht, die sie
allein unter Seufzen und Thränen verbracht, während die Stadt in
Aufruhr. Was war nur mit dem Wilhelm passiert?! Niemand gab ihr
Bescheid; man zuckte verlegen die Achseln, man sah sie so scheu an,
man flüsterte verlegen hinter ihrem Rücken. Was war geschehen?! War’s
nicht genug, daß der Rinke ihr das angethan?! Sollte noch mehr Unglück
kommen?!

Weinend warf sich Frau Trina vor ihrem Weihwasserkesselchen nieder,
hinter dem noch geweihter Palm steckte vom letzten Osterfest her. Sie
betete für die in Sünden abgefahrene Seele des Gatten, und sie betete
in ungewisser Angst für den Sohn. Die Großmutter kniete neben ihr; so
beteten sie miteinander, Stunde um Stunde:

    ›Herr, erbarme dich seiner!
    Christus, erbarme dich seiner!
    Heilige Maria, bitte für uns!‹

Im Nebenzimmer, allein, war Josefine. Sie kauerte auf dem Schemel in
der Fensternische, die Arme um die hochgezogenen Kniee geschlungen, den
Kopf tief gebeugt.

Sie mochte nicht hineingehen dort in die Kammer – da lag er, tot, tot!
Ihr grauste vor dem Vater. Sie konnte ihn nicht ansehen in seiner
Uniform, die von Blut befleckt war – war es sein eignes Blut, war es
das Blut wehrloser Bürger?!

Schaudernd schüttelte sie sich in einem Entsetzen, das sie nicht mehr
verließ seit der vergangenen Nacht. Ach, das war ja nicht ihr lieber
Vater, der da drinnen lag; das war ein fremder Soldat! Der hatte
gewütet wie die andern – ein Preuße, ein Preuße!

Mit einem Angstschrei sprang sie auf und streckte abwehrend die Hände
von sich in einem wilden Grauen: der alte Mann mit den Broten – zu
schrecklich, zu schrecklich – nein, den vergaß sie nie!

Die Großmutter öffnete spaltbreit die Kammerthür und streckte den Kopf
in die Stube. »Komm, Finchen,« flüsterte sie fast vorwurfsvoll, »komm
doch ens bei dein Vater!«

»Ich kann nit!« Wimmernd sank Josefine auf ihren Sitz zurück und
verbarg das Gesicht in den Händen. Nein, sie wollte ihn nicht sehen!
Und doch stieß es sie vorwärts – es war ja doch ihr Vater, der sie
geliebt ihr ganzes Leben! »Vater, Vater, verzeih mir, ich kann nit, ich
kann nit!«

Ein beständiges Zittern befiel sie. Heiß brannte es in ihrer Brust
– ungeweinte Thränen – wo war Trost?! Wie sie die beiden da innen
beneidete, denn die konnten beten und weinen! Kein Tropfen löste sich
aus ihren Augen, trocken glühten sie in den Höhlen und schmerzten, und
das Herz lag in der Brust wie ein Stein.

Wenn nur erst Conradi da wäre! Eine leise Sehnsucht begann sich in ihr
zu regen. Der war so ruhig; der würde ihr die Hände streicheln und
über’s Haar: ›Armes Finchen!‹ Ach ja, der war gut! Nur weinen! Wenn sie
nur wenigstens weinen könnte!

Sie schreckte zusammen – hatte es nicht leise geklopft?! Behutsam wurde
jetzt die Thür geöffnet. Scheu duckte sie sich in ihrer Ecke zusammen,
ohne Laut, ganz entsetzt – da kam =der= – =der= –!

Leutnant von Clermont war eingetreten. Er bemerkte Josefine nicht.
Blaß, die Augen auf den Boden geheftet, schritt er durch die Stube zur
Kammerthür. Er trug einen kleinen Kranz.

Mit weiten Augen starrte sie ihm nach – nun war er hineingegangen!

Endlose Minuten verstrichen. Sie hörte die Mutter sprechen und dann
schluchzen, und dann ward alles still. Seine Stimme hörte sie nicht.
Warum blieb er so lang, was hatte er da drinnen zu suchen?!

Wider Willen stand sie auf und näherte sich der nur angelehnten Thür.
Sie drückte sich durch den Spalt. Niemand gewahrte sie, Mutter und
Großmutter beteten still. Am Bett stand =er=. Seinen Kranz – waren’s
Lorbeern? – hatte er über den Pfosten gehängt; ohne sich zu rühren
verharrte er und blickte starr auf den Toten.

Ob er ihr Auge fühlte? Jetzt schaute er verstört auf. Noch einen
stummen Gruß dem Kameraden, dann wendete er sich zur Thür. Im
Vorüberschreiten hielt er ihr wortlos die Hand hin, aber heftig stieß
sie die von sich. Mit einer wilden Gebärde des Abscheus drehte sie ihm
den Rücken. Da ging er.

In einer wahnsinnigen Verzweiflung rang sie die Hände. Nur beten!
Wenn sie jetzt nur beten könnte! Ihr wirrer Blick fiel auf Mutter und
Großmutter – o, die fanden Trost! Trost – Trost – Trost!

Und Josefine stürzte auf die Kniee und bekreuzte sich wie jene und hob
die Hände und stammelte nach in inbrünstigem Flehen:

    »Herr, erbarme dich unser!
    Christus erbarme dich unser!
    Heilige Maria, bitte für uns!
    Du Trost der Elenden,
    Du Stärke der Schwachen
    In unsern Trübsalen,
    In unsern Anfechtungen,
    In unsern Kämpfen, – bitte für mich!«

       *       *       *       *       *

Die Trauerparade marschierte nicht vor dem Leichenwagen, die Hoboisten
bliesen nicht den Totenmarsch, die Tambours schlugen nicht gedämpfte
Trommel, keiner trug’s Ehrenzeichen auf dem Kissen voran – Feldwebel
Rinke wurde in aller Stille zur letzten Stätte geführt, im frühesten
Morgengrauen, eh’ noch die Stadt erwachte.

Düsseldorf lag wie in Grabesruh’; alle Fensteraugen fest geschlossen,
alle Hausthüren verriegelt, niemand zeigte sich neugierig beim Rumpeln
des Karrens. Ein trauriges, trübes Licht glomm über den Dächern.

Lang hing das schwarze Bahrtuch und versteckte ganz den schlichten,
tannenen Sarg und die paar schüchternen Kränze.

Conradi hatte sich neben den Kutscher gesetzt; am Hofgarten schwangen
sich noch ein paar, von der Kompagnie zum Begräbnis Kommandierte hinten
auf. In rascher Fahrt erreichte man den Kirchhof, weit draußen am Rhein.

Es ging alles rasch, mit militärischer Schnelle. Die Soldaten halfen
dem Totengräber zuschaufeln. Nebel brauten noch dick über’m Rhein, Tau
fiel noch reichlich, im Rosengebüsch piepten noch verschlafene Vögel im
ersten Erwachen, da war schon alles vorüber. Fröstelnd verließen die
Soldaten den Kirchhof.

Nur Conradi stand noch allein am Grab. Das lag an einsamer Stelle, weit
rechts ab von dem großen Mittelkreuz und allen reichen Monumenten des
Friedhofs – nur wenige ungepflegte Hügel in der Nähe.

Der Sergeant war in bester Montur, das konnte ihm niemand wehren; sehr
blaß leuchtete sein betrübtes Gesicht über dem Uniformkragen. Seine
Lider waren schwer vom entbehrten Schlaf; hatte er es sich doch nicht
nehmen lassen, dem toten Kameraden die Wacht zu halten die ganze letzte
Nacht.

Traurig sah er sich um – niemand da zur letzten Ehre!

›Helm ab zum Gebet!‹ – niemand kommandiert es, und doch ruft es laut
durch die große Stille, vom sich rötenden Himmel herab auf die graue
Erde. Vom breitflutenden Rhein kommt’s wie Posaunenstoß, majestätisch
befehlend: ›Helm ab zum Gebet!‹ Mit Orgelton braust der Morgenwind den
Choral in den Wipfeln der Bäume.

Conradi nahm den Helm ab, seine weißbehandschuhten Hände falteten
sich über der blanken Spitze. Langsam und feierlich, den Blick
geradeaus gerichtet, daß die Thränen nicht rollten, sprach er laut gen
Sonnenaufgang:

    »Jesus meine Zuversicht
    Und mein Heiland ist im Leben;
    Dieses weiß ich, sollt’ ich nicht
    Darum mich zufrieden geben?
    Was die lange Todesnacht
    Mir auch für Gedanken macht!«




Drittes Buch




XIX


Auf den Düsseldorfer Gemüsemarkt schien prall und stechend die
Herbstsonne. Wenn auch die Bauern über Mangel an Arbeitskräften
beim Gemüsebau schwer gestöhnt hatten, diese letzten feuchten,
treibhauswarmen Septemberwochen hatten dem Kappes noch gut gethan,
ganze Karren voll herrlicher Kohlköpfe waren heute von Dorf Hamm her
in die Stadt gerumpelt; schon am frühen Morgen weckte das unablässige
Rollen der Räder die Bürger aus dem Schlaf: aha, Markttag!

Um den alten Jan Willem drängten sich die Marktleute; in der Mitte,
am Standbild, waren die begehrtesten Plätze, da hatten die reichsten
Bauern eine Leinenbedachung über ihre Körbe aufgeschlagen, oder
unter großen, von Wind und Wetter mißfarben gewordenen Schirmen
leuchteten die hellen Kopftücher der Weiber. Ein ganzes, fast
unübersehbares Feldlager von Körben und Kiepen; einzelne Vorposten
weit hinausgeschoben bis in die auf den Markt einmündenden Straßen. Am
Burgplatz eine mehrreihige Auffahrt von Wagen und Karren.

Zwischen Körben und Kiepen durch schlängeln sich die Käufer:
einfachere Bürgersfrauen, Kinder an Hand und Rock, Dienstmädchen in
Gedruckskleidern und Siamosenschürzen, feine Damen, die sich von der
Magd den Korb tragen lassen, behagliche Rentner, die gern das neueste
vom Jahr essen und sich über die Preise orientieren, Handwerker,
die ihre heute zu Hause in Anspruch genommene Ehehälfte vertreten,
junge Leute, Maler augenscheinlich, die das Marktbild studieren, und
Offiziersburschen in blau-weiß gestreiftem Drillich. Ein lebhaftes
Gewimmel, ein anpreisendes Rufen und stetes Gesumm. Viele Farben:
frisches Grün der Gemüse, leuchtendes Weiß der Eier und der sauberen
Buttertücher, köstliche Reife herbstlicher Früchte, rot, gelb und blau;
ein tiefgefärbter Himmel und goldener Sonnenglanz. Aber auch viel
Schwarz – Trauerkleider – ein düsterer Unterton in der reichen Skala
der Farben.

Die ersten Hasen waren heut zu Markt gebracht worden, und in den
Körben lagen hochaufgeschüttet mit zart-duftigem Anhauch die ersten
Zwetschgen. »Wie pure Honig,« versicherten die Marktweiber, »probiert
ens, Madam, dat es jett Leckers!«

Aber doch lockten sie wenig Käufer. Manches Auge blickte zwar
begehrlich, manche Kinderhand zupfte an der Mutter Rock, aber nur die
Rheinkadetten, die vom Strom herangebummelt kamen, ließen sich von
den Pflaumen in die Mütze messen. So billig wie dies Jahr, kamen sie
sonst nicht zu Obst, es galt heuer rein gar nichts, denn niemand wollte
es kaufen. Aber sie aßen mit Behagen: nur nicht bang, eine ›Bangbüx‹
kriegt sie am allerersten! Nur dreist sie auf’s Korn genommen, – piff,
paff, trara – da hat sie keine Courage, einen anzupacken!

Arm in Arm dahinstapfend, sangen die kräftigen Kerle:

    »Eins, zwei, drei
    Wir sechsundsechziger Musketiere
    Schießen mit Blei!«

Sie waren fast alle diesen Sommer mit im Krieg gewesen. Da am Rathaus
baumelten noch die Guirlanden: ›Den Siegern von 66!‹ Noch prangten
unter welken Kränzen die Tafeln mit den Schlachtennamen: Langensalza,
Kissingen, Hammelburg, Gitschin, Nachod, Königgrätz. Und Sieger über
hunderttausend Österreicher sollten sich vor ein bißchen Cholera
fürchten?!

Die Zwetschgenkerne im Bogen auf’s Pflaster spuckend, nahmen die
Rheinarbeiter ihren Weg zu irgend einer Schifferkneipe, um, nebst
einem Cholerabittern, noch eine neue Gurke oder einen grünen Hering zu
verzehren.

Fast ängstlich schauten die Bürger ihnen nach: O je! Morgen früh
würde man im Blättchen wieder von neuen Erkrankungen lesen; in der
Ritterstraße, in der Liefergasse und auch hinter der Ratinger Mauer,
da hatte die Cholera so recht ihr Nest. Daß das Volk auch nicht
klug wurde, sich Choleraleibbinden anschaffte und mit Suppen und
ordentlicher Fleischkost nährte! Freilich, das Fleisch war jetzt
unverschämt teuer, für Arme schier unerschwinglich. Nette Zustände das!
Nicht allein, daß die Cholera einem das Behagen störte, nun munkelte
man auch noch von Rinderpest; allenthalben hatte die Polizei die
Viehställe geschlossen.

Ach ja – mancher Bürger schüttelte ärgerlich den Kopf, – all das
Malheur kam von dem Krieg, dem unseligen Bruderkrieg! Wie konnte der
König Wilhelm auch dem Premierminister, dem von Bismarck, so ganz und
gar sein Ohr schenken?! Waren die Österreicher denn nicht deutsche
Brüder, und die Hannoveraner, die Hessen, die Nassauer, die Sachsen,
die Bayern erst recht? Aber dem von Bismarck war eben alles egal; ›Blut
und Eisen!‹ hieß dessen ganze Politik – wär’ der nur, wo der Pfeffer
wächst!

Ach, keine Hoffnung, der von Bismarck stand fest, den traf selbst eine
Kugel nicht; der war gepanzert.

Und was hatte es genutzt, daß die Bürgerschaft von Köln und Düsseldorf
und Krefeld, Dortmund, Duisburg, Iserlohn, Elberfeld-Barmen und noch
vieler andrer Städte seinerzeit dem König Adresse auf Adresse geschickt:

    ›Wir fühlen uns gedrungen, als unabhängige Männer, es offen
    auszusprechen, daß bei aller Opferwilligkeit des Volkes, für die
    höchsten Güter des Vaterlandes einzustehen, ihm die Begeisterung
    fehlt, deren ein Kampf für die wahren deutschen Interessen
    schwerlich entbehren kann.‹

All diese Rufe, die Bitten und Klagen waren ungehört verhallt. Die
widerwillige Haltung der einberufenen Landwehrmänner und der, schon
wieder aus ihrer Familie und ihrem Erwerb herausgerissenen Reservisten
wurde nicht beachtet. Der von Bismarck hatte gesprochen, und seine
mächtige Stimme übertönte alles: =ein preußisches Deutschland=! Jawohl,
so war’s, so stand’s im Blättchen: Deutschland sollte mittels des
Zündnadelgewehrs zu Großpreußen gemacht werden! So, dafür also hatte
man seine Söhne in den Kampf schicken müssen? War’s nicht genug, daß
jetzt jährlich weit über sechzigtausend Rekruten ausgehoben wurden?
Daß man die Reservedienstpflicht von fünf auf sieben Jahre erhöht, die
Stärke der Regimenter verdoppelt und sogar noch zehn neue kostspielige
Kavallerieregimenter eingestellt hatte? Mußte denn auch gleich die neue
Heeresmacht ausgenutzt werden? Blut und Eisen, jawohl, aber Handel und
Wandel mußten darunter leiden. Was verschlang solch ein Heer, solch ein
Krieg für schönes Geld! Dafür hatte man wahrhaftig nicht seine paar
Sparpfennige auf die hohe Kante gelegt. Aber der von Bismarck sagte,
wenn man ihm kein Geld gäbe, würde er schon sehen, wo er sich’s nähme.

Was hatten denn nun die kolossalen Ausdehnungen der Eisenbahnlinien,
die man zu Beginn des Jahres so freudig begrüßt, die direkte Verbindung
von Rheinland und Westfalen mit Berlin, Holland, Belgien, Frankreich,
der Anschluß der rheinischen Industrie an den Welthandel, für Wert? Der
von Bismarck machte Krieg, und aller Verkehr stockte; die Ausfuhr von
Produkten, im Wert vielleicht von Millionen, war wie abgeschnitten. Die
Rheinschifffahrt, die gerade so herrlich florierte, wurde lahm gelegt
mit einem einzigen Federstrich; nur bis Koblenz durften die Schiffe
aufwärts fahren, Bingen schon war Feindesland.

Und wenn es nun auch noch einmal ›jut jejangen hatte,‹ was die
Düsseldorfer als einen schwachen Trost empfanden, Preußen gesiegt und
seine Grenzen erweitert hatte, was lag an solch ein paar Schnippelchen
Land?! Wenn die Zeitungen auch posaunten vom Jubel beim Einzug der
rückkehrenden Truppen, – wo jubelte man? In Berlin vielleicht – hier
nicht. Und was auch geschrieben wurde von der großen Armee, ›furchtbar
im Krieg, edel nach dem Sieg,‹ von der =Volksarmee= – das Volk hatte
gar nichts damit zu thun! –

Mancher Bürger blieb in solche Gedanken versunken stehen, mitten im
lebhaften Marktgetriebe, und schaute mürrisch zu den dürren, rasselnden
Kränzen am Rathaus hinauf. Wär’ auch Zeit, daß die heruntergenommen
würden, verschimpfierten ja die ganze Fassade!

Die Marktpolizei schritt durch die Reihen und schnüffelte in die
Körbe; einer zeternden Bauernfrau wurde ein Korb konfisciert –
hier noch einer, dort noch einer – fort mit dem unreifen Zeug, den
Cholerapflaumen! Gleich fünf, sechs Körbe auf einmal wurden hinunter
zum Rhein geschleppt und in die Flut geschüttet.

Das Publikum blickte unwillig: die armen Weiber! Cholerapflaumen?!
Ach was, die Cholera kam von was ganz anderm, die paar Pflaumen
verschlimmerten nicht mehr viel daran. Eingeschleppt war die aus dem
schlechtbeköstigten Heerlager, aus den schmutzigen böhmischen Dörfern,
vom wüsten Schlachtplan, dem von Gewittergüssen durchweichten Acker und
aus den überfüllten Lazaretten. Die Cholera schlich dem Krieg nach als
sein Schatten.

Das Wegschütten des Obstes hatte alle Gemüter erregt. Das unheimliche
Gespenst der Seuche machte sich plötzlich auf dem Markt breit, mitten
im hellsten Sonnenschein, und ließ sein düsteres Gewand zwischen den
Körben und Kiepen schleppen.

Überall fanden sich Bekannte zusammen, die einen neuen schrecklichen
Fall besprachen: in der Liefergasse, in einem der alten Häuser mit den
engen Höfchen, hatte die Cholera sämtliche Bewohner ergriffen.

Eine dicke Dame, die den Longshawl nachschleppte, schlug die Hände
zusammen:

»Och Jott, och Jott, ne, et is heutzutag ja jar kein Pläsier mehr zu
leben!«

Das Dienstmädchen, das mit dem Korb hinter ihr ging, zupfte sie.

»Frau Schnakenberg, Se schleppen Ihr Duch!«

»Och Jott, och Jott!«

Die dicke Dame arrangierte sich und zog umständlich ihr kostbares Tuch
herauf, das Mädchen mußte ihr dabei behilflich sein.

Viele Bürger sahen ihr nach. Da war manch einer unter ihnen, der
die behäbige Dame schon gekannt, als sie noch, jung und ledig, bei
den Eltern im ›Bunten Vogel‹ war und noch nicht den Feldwebel Rinke
geheiratet und sich in der Kaserne hatte plagen müssen. Das sah
man der wahrhaftig nicht an, daß die so viel durchgemacht: Damals,
neunundvierzig, der Mann sich erschossen, und der Sohn, der Wilhelm,
ausgewiesen und verschollen! Ja, ja, Zillges’ Trina hatte einen guten
Docht, aber freilich, – wenn man schon an die sechzehn Jahre Madam
Schnakenberg heißt, das konserviert – keine Sorgen und ein neues Haus
in der Königsallee!

Wen Frau Trina traf, pflegte sie einzuladen:

›Besuchen Se uns doch ens auf en Tass’ Kaffee. Da besehen Se sich mal
unser neu’ Haus, jradüber vom Exerzierplatz. Jott sei Dank, mer sieht
de nit vor lauter Bäum’. Wer haben in der Küch’ en Wasserleitung, et
Mädchen braucht jar nit nach der Pump’ zu laufen. Wer haben auch nur
eine Stock aufjesetzt, da braucht mer nit so viel Treppen zu rennen.
Sieben Zimmeren, dat is ja lang Platz jenug für mich un den Hendrich!‹

Ja, die hatte ihr Glück gemacht! Der Schnakenbergs Hendrich war ein
guter Mann; schon als sie noch Mädchen war, hatte der sie poussiert,
und als er nun bald nach des Feldwebels Tod Witwer wurde, da paßten
der Witwer und die Witwe ganz schön zusammen. Und was der Schnakenberg
immer noch für Geld verdiente! Das Geschäft hatte er freilich längst
nicht mehr, aber rheinische Industriepapiere, Bergwerksaktien und
Köln-Mindener Eisenbahnprioritäten, die warfen von Jahr zu Jahr mehr
ab. –

Frau Trina war mit ihrem Los zufrieden. Wenn nur der ›Verdruß‹ mit den
Kindern nicht gewesen wäre! Auf die Wiederkehr ihres Wilhelm hoffte
sie immer noch vergebens. Und mit der Josefine, das war doch auch ein
›Angang‹, daß die nun schon Witwe war und mit den Kindern dasaß! Und
nun gar der Ferdinand, dem sie im Krieg das eine Bein abgeschossen!

»Och Jott, och Jott!«

Ein Schatten flog über Frau Schnakenbergs rundes Gesicht, und ihr
freundlicher Blick trübte sich. Da zupfte das Mädchen sie wieder von
hinten:

»Madam, se verkaufen als bald de letzte Has – wer haben kein Aussuche
meh.«

»O jemmich! ’schwind, Drückche, ’schwind!«

Ganz entsetzt fuhr Frau Schnakenberg auf, alles andre vergessend.
Wenn sie nun keinen leckeren Hasen mehr bekam?! Der Ferdinand, der
morgen aus dem Mainzer Lazarett wiederkommen sollte, würde freilich
nicht bei ihr wohnen, sondern bei der Josefine, aber zu einem guten
Mittagessen wollte sie ihn doch gleich einladen. Und was Extras sollte
er kriegen, hatte er doch lange Jahre nur ›Kasernenfraß‹ gehabt! Die
Mehlsuppen auf der Militärschule zu Annaburg, der ewige Reis in der
Unteroffiziersmesse zu Mainz, und nun erst gar das verschimmelte Brot
im Krieg und zuletzt die magere Lazarettkost! Dem sollte es jetzt bei
der Mutter gut schmecken!

Und mit Schaudern dachte sie plötzlich an die knappen Mahlzeiten in
der Feldwebelwohnung zurück, und wie sie sich nur im ›Bunten Vogel‹
dann und wann regaliert. Ein Jammer, daß der ›Bunte Vogel‹ nicht in
der Familie geblieben, daß die alte Frau ihn gleich damals, in dem
Unglücksjahr, verkauft hatte! Mit Verlust natürlich, gerad’ daß die
Enkel eine Kleinigkeit gekriegt; die Hauptsumme war dem Klösterchen
zugefallen, wo sich Mutter Zillges hatte verpflegen lassen bis an ihr
seliges Ende.

Du liebe Zeit, was war das alles schon lange her! –

Und doch war es eigentlich, als sei alles erst gestern gewesen. Die
Jahre waren einförmig über Düsseldorf hingerollt. Siebzehn lange Jahre
– man schrieb heut achtzehnhundertsechsundsechzig – aber das Bild der
Stadt war dasselbe geblieben. Ein paar neue Straßen vielleicht waren
dazugekommen, aber auch sie harrten noch, ungepflastert, der letzten
vollendenden Hand. Große Pläne ruhten zwar im Rathaus: der Stadtrat
überlegte den Bau einer festen Rheinbrücke, auch von einem neuen
Theater war schon einmal die Rede gewesen. Doch vor der Hand schob man
solche Projekte noch hinaus, erst mußte man den Krieg verdauen, der
einem so über den Kopf gekommen war, unerwünscht wie ein Schneesturm im
Mai.

Noch guckte der alte Jan Willem am Markt auf das alte Theater, das
selbst die eingefleischtesten Düsseldorfer eine Rumpelbude nannten.
Noch hatten die Maler ihre Akademie im linken Flügel des alten
Schlosses. Noch behalf sich die evangelische Gemeinde mit den zwei in
engen Höfen versteckten Gotteshäusern, und längs der Kasernenstraße
dehnte sich noch immer der schmucklose, einförmige Bau der Kaserne, von
deren Mauern schon Putz abfiel.

In denselben sauberen, behäbigen Häusern saß noch dieselbe saubere,
behäbige Bürgerschaft wie damals; über den Klingeln standen noch
dieselben Namen wie früher. Mit geschlossenen Augen hätte sich einer
zurechtfinden können, und wäre er auch noch so lange nicht durch die
Stadt gewandert. Dieselben Hörtchen innen an den Fenstern, dieselben
Spiönchen außen an den Fenstern, dieselben Kaufläden, dieselben
Wirtschaften in Gassen und Gäßchen, fast dieselben Menschen auf dem
Bürgersteig.

Dieselben mächtigen Glocken riefen von St. Lambertus, St. Andreas,
von der Jesuiterkirche und der Maxpfarre; aber da mengten sich jetzt
noch neue, dünnere Stimmchen ein: die Schwestern vom armen Kinde, die
Kreuzschwestern in Christi Hilf, die Clarissen, die Franziskanessen,
die Franziskaner und Dominikaner, die Mägde Christi und andre mehr
verstärkten den Chor. Es bimmelte von Klöstern und Klösterchen. Deren
Zahl war gewachsen.

Auch die Bäume waren gewachsen; die Kastanien der Königs-Allee
breiteten gewaltige, schattende Kronen, die Linden am Schwanenmarkt
sandten ihren süßen Duft weit über die stillen Wasser des Lopohl und
des Schwanenspiegels und mischten ihr sommerliches Rauschen mit den
Klängen des Waldhorns, das ein Künstler der Militärkapelle drüben in
dem kleinen Konzertgarten blies. Wanderte man über die Alleestraße zum
Hofgarten, so blieb man unausgesetzt unter einem grünen Dach; und der
Hofgarten selber war ein dichter, dunkler, heimlicher Wald, dem kein
Bäumewegschlagen mehr anzumerken war. – –

›Ach, was die Bäume gewachsen sind!‹ Das war Josefines einziger Gedanke
gewesen, als sie nach Jahren zum ersten Male wieder altbekannte Wege
wandelte. Sie war wie betäubt; sie hatte gar nichts andres denken
können, als immer nur: ›Ach, die Bäume, die Bäume!‹ Die waren wie die
Menschen. Die sie jung gekannt hatte, standen nun in der Vollkraft des
Lebens, Bäumchen waren emporgeschossen zu Bäumen, und wiederum schlanke
Bäume hatten sich in knorrige Stämme gewandelt. Nicht jeder Baum war
mehr da, sie vermißte hier einen und dort einen; sie hatte gar nicht
gewußt, daß ihr eines jeden Standort so eingeprägt war.

Josefine war als Witwe zurückgekehrt. Im März des vergangenen Jahres
hatte sie ihren Mann verloren. Bei stürmischem Wetter hatte Conradi
sich im Dienst erkältet; abgemattet, fiebernd schon, kam er nach
Hause, ein Stechen in der Brust plagte ihn. An einer Lungenentzündung
war er gestorben. Nun hatte Josefine neben den Kindergräbern ihrer
beiden kleinen Mädchen, die ihr die Diphtheritis genommen, draußen auf
dem Vohwinkler Kirchhof noch ein drittes, ein großes Grab.

Es war ein trauriges Jahr, das die Witwe noch in dem Vohwinkler
Häuschen verbrachte. Sie wußte nicht, sollte sie fortgehen, sollte sie
hier bleiben. Die Mutter schrieb freundlich: ›Komm doch hiehin!‹ Bruder
Friedrich, der in Essen bei Krupp angestellt war, meinte auch gleich:
›Du wirst doch nach Düsseldorf ziehn?‹

Gewiß, das wäre natürlich gewesen! Auch regte sich eine leise Sehnsucht
in ihr; aber sie konnte sich doch nicht dazu entschließen. Der Vater
tot, die Mutter an einen andern Mann verheiratet und ihr dadurch
fremd geworden, – auch dort nichts wie Erinnerungen! War es nicht
besser, hierzubleiben, wo alles sie an siebzehn friedliche, ruhige
Jahre gemahnte? Wo der Apfelbaum im Gärtchen, in dessen Schatten sie
all ihre Kinder gewiegt, reiche Blütenknospen zeigte und so viele der
rotbackigen Früchte verhieß, an denen Conradi sich immer von Herzen
delektiert?!

Und sie blickte zurück in ihre Ehe.

Anfangs hatte sie oft und viel Heimweh gehabt, manchen Abend vor der
Thür gestanden und sehnsüchtig weggeschaut über die Felder. Dort,
zwischen den ragenden Fabrikschornsteinen, die sich wie hohe Maste
in’s Himmelsmeer reckten, dort, in abendsonnenverklärter Ferne, lag
Düsseldorf. Und sie hatte geseufzt.

Aber dann wurden die Kinder geboren, – erst der Peter, dann das
Gretchen, dann das Mariechen und zuletzt, als die beiden blonden
Mädchen schon wieder Engel geworden, noch der Fritz, des Onkel
Friedrich Patenkind. Ihre Tage waren ausgefüllt gewesen.

Doch nun, da sie einsam im Ehebett lag, da der Frühlingssturm mit
Sausen durch die Nacht fuhr und schaurig gegen die Fenster der
Schlafkammer heulte, mußte sie so sehr an die Vaterstadt denken. Wenn
sie wieder altbekannte Straßen gehen, die Kaserne wiedersehen, mit
der Hand an diesen Mauern entlang streichen könnte, die ihr einst
ein großes Glück umschlossen! Ja, heim, heim – der Rhein rauschte,
Glockenstimmen riefen. Nun wußte sie’s, hier im Bergischen Land
hatten ihr immer die großen Glocken gefehlt; es war doch etwas Eignes
um deren Klang, um die weihrauchduftenden, dämmrigen Kirchen mit
den farbenglühenden, legendenbedeckten Fenstern, mit den segnenden
Heiligen, mit den rosenumkränzten Märtyrern, mit dem lächelnden
Jesuskind und mit Maria, der Gottesmutter, die so jung und schön!

Eine wahre Begier überkam Josefine, ihre Fingerspitzen in das
Weihwasserbecken an der Thür von St. Lambertus zu tauchen, wie sie’s
als Kind oft gethan. Ob endlose Prozessionen noch ebenso wie früher
durch die Straßen wallten und um den Kalvarienberg bei der großen
Kirche zogen?! Berückende Musikklänge – betäubende Weihrauchnebel –
betendes Murmeln, sich fortpflanzend von Mund zu Mund – alt-köstliche
Kirchengewänder – feuriges Rot der Chorknaben, unschuldvolles Weiß der
Mädchenengel, strahlendes Gold der Stolas – wie würden der Peter und
der Fritz da gucken! Besonders der Peter, der sah so gern was Schönes.
Die armen Jungen, die kannten ja nur die nüchterne Sonntagspredigt in
der kahlen, getünchten Vohwinkler Kirche, zu der sie regelmäßig mit dem
Vater gegangen waren.

So reifte allmählich der Entschluß zur Übersiedlung in ihr. Mit fast
freudiger Unruhe betrieb sie dann die Vorbereitungen. Bruder Friedrich
stand ihr bei, er kam die letzten Tage sogar ganz herüber, und was sie
nicht mitnehmen konnte oder wollte, verkaufte er ihr.

Er war ein rechter Praktikus. Das hatte wohl keiner gedacht, wie er
damals als Junge zum Schlosser in die Lehre kam, daß der’s mit seinen
krummen Beinen noch einmal so weit bringen würde. Nun war er schon
mehr, als ein gewöhnlicher Arbeiter, und der Krupp bezahlte ihm guten
Lohn. Sogar gespart hatte er sich schon etwas, und er wollte es gern
der Schwester vorstrecken, wenn sie, auf seinen Rat, einen Laden in
Düsseldorf aufmachte. Josefine fiel bei diesem Anerbieten eine Last
vom Herzen: Gott sei Dank, dann brauchte sie von der reichen Madam
Schnakenberg nichts anzunehmen! Nicht, daß die Kinder der Mutter böse
waren, aber etwas Fremdes war da.

Im Mai bezog Josefine das Lädchen an der Bastionstraßenecke, gerade
der Kaserne gegenüber – wo konnte es denn auch anders sein? –
und der Friedrich half es ihr einrichten mit allerlei Utensilien
zum Soldatengebrauch: mit Pfeifen und Tabak, mit Cigarren und
Streichhölzern, mit Taschentüchern und Reservistenstöcken, mit Seife
und Wichse und jeglichem Putzzeug, auch mit Knopfgabeln und mit Tinte
und Briefpapier. Und er machte ihr auch Mut.

»Wer heutzutag auf’ dem Posten is früh un spät, de kömmt auch voran,«
sagte der Bruder.

Auf dem Posten sein, ja das wollte sie; hatte sie sich doch schon
Gedanken gemacht, ob sie mit der geringen Pension und den bescheidenen
Zinsen, die das kleine Vermögen ihres Mannes und ihre eignen paar
hundert Thaler großmütterliches Erbteil abwarfen, in der teuren Stadt
bestehen könne.

Von Dank für alle seine Mühe und Arbeit wollte der Friedrich nichts
wissen, auch nicht einmal für das der Schwester vorgestreckte Kapital.

»Du jiebst et mir ja wieder, Fina, paß ens auf, eine paar Jahr! Zinsen
kannste mir ja zahlen, Jeschäft is Jeschäft! Ich rechen’ so: Krieg
kriejen wir diesen Sommer sicher un jewiß, dann sollste ens sehn, dann
jeht et dir im Kleinen, wie dem Krupp im Jroßen. Rückt die Armee in’t
Feld, braucht se auch Ausrüstung, un ob et nu Stiefelschmier’ is oder
en Kanon, dat bleibt sich janz jleich.« –

Friedrich hatte recht gehabt. Als Josefine heut am dunklen Herbstabend
ihr kleines Lädchen schloß und die Kasse nachzählte, konnte sie
zufrieden sein. Man hatte ihr fast den Laden gestürmt. Die letzten
Reserven waren entlassen worden, keiner unter ihnen hielt den Ausmarsch
aus der Garnison und den Einmarsch in die Heimat für möglich, ohne
Stock in der Hand. Und bunte Sacktücher – gelb mit roten Rändern, die
Schlacht von Königgrätz schwarz draufgedruckt, – war sie eine Menge
losgeworden; denn das waren schöne Andenken für die Mitdabeigewesenen
und interessante Anblicke für die Zuhausgebliebenen.

Die müde Frau gähnte und pustete dann die Lampe aus, die über der
kleinen Theke von der Decke herabhing. Es war schon so spät, aber
noch bis vor kurzem hatte die Thürglocke gebimmelt; jetzt endlich war
Zapfenstreich geblasen und alles still geworden. Die Kaserne drüben
streckte sich dunkel, nur in der Wachtstube flinzelte noch Lichtschein.

Es war Josefine eine Freude, daß die Hauptwache nicht mehr wie früher
am Burgplatz, sondern hier gerade gegenüber war. So genoß sie täglich
das militärische Schauspiel, und nachts auch weckte sie das ›Heraus‹
beim Nahen der Ronde. Dann lag sie lauschend mit gefalteten Händen,
hörte, wie die Wache in’s Gewehr trat, und fühlte sich nicht mehr
verlassen.

Mit heißen Wangen stieg Josefine die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung.
Im ganzen Haus war’s schon dunkel, nur in der Kammer, die ihre Knaben
innehatten, brannte noch Licht.

Sie guckte hinein. Der Kleine schlief, aber Peter saß noch über den
Tisch gebeugt und hörte die Mutter gar nicht. Ärgerlich trat sie näher.

Gewiß pinselte der wieder! Ob er denn seine Schulaufgaben auch
fertig hatte? Dafür ließ sie ihn wahrhaftig nicht noch auf die teure
Realschule gehen, daß er jedes freie Blättchen in seinen Heften
verschmierte!

Sie sah ihm über die Schulter.

Herrjeh, das war ja der Kalvarienberg an der Lambertuskirch’! Genau
so guckte der Gekreuzigte, wie hier auf dem Blatt! Nun konnte sie doch
nicht mehr böse sein, er hatte das zu schön gemacht.

Leise legte sie ihm die Hand auf. Da schrak er zusammen und ließ den
Tuschpinsel fallen. Rotwerdend, streckte er beide Hände über seine
Malerei.

»Jleich, jleich, Mutter, jleich mach’ ich ja schon meine Aufjab’,
schimpf nit!«

Was? Noch nicht die Schularbeiten gemacht?! Das war ihr doch außer’m
Spaß. Zornig hob sie die Hand zum Schlag, aber Peter fing die auf und
hielt sie fest.

Bittend sah er ihr in’s Gesicht.

»Ärjer dich nit,« schmeichelte er, »dann siehste jarstig aus. Ich kann
doch nix dafor! In Vohwinkel war nit viel zu besehen, aber hier so
viel, och, schrecklich viel! Bilder in allen Schaufensteren!« Seine
Augen leuchteten auf. »Kuck emal, is dat nit fein?« Er hielt ihr
vergnügt lachend sein Blatt hin. »Un nu mal’ ich noch dat alte Schloß,
un den Rhein – dicke schwarze Wolken drüber un en Stücksken Blitzblau
derzwischen – ich hab’ et so jesehen! Hau, dat war schön! Kauf mir doch
noch ene Tuschkasten, aber ’ne bessere, Mutter, bitte, so ’ne richtige
Farbkasten von Schönfeld! Bitte, Mutter, bitte!«

»Ne,« sagte sie, »da denk’ ich ja jar nit an, dann thuste für die
Schul’ rein nix mehr.«

»Och, die Schul’,« stieß er heraus und hob mit einem Ruck den Kopf.
»Wat soll ich dann noch da? Nimm mich doch eraus, Mutter, da lern’ ich
ja doch nix. Kauf mir lieber ene Farbkasten, ich will Maler werden!«

»Unsinn,« sagte sie. »Leg’ dich hin un schlaf’! Morjen weck’ ich dich
janz früh, dann lernste noch.«

»Aber ene Farbkasten schenkste mir,« bettelte er, »’ne Farbkasten,
Mutter, thu et doch! Bitte, bitte!«

»Ne,« sagte sie wieder und ging aus der Thür. Aber ihr Herz klopfte.

Woher der Peter nur die Lust am malen hatte? Von Conradi nicht; von
ihrem Vater sicher auch nicht. Von ihr selber auch nicht, sie konnte ja
keinen geraden Strich machen. Aber verstehen konnte sie ihn. Und doch
würde sie ihm keinen Farbkasten schenken. ›Erzieh’ die Kinder zu was
Ordentlichem‹, hatte Conradi noch in letzter Stunde mit verlöschender
Stimme gesagt, – – ach Gott, der Junge hatte zu früh seinen Vater
verloren!

Heute schlief Josefine lange nicht ein, trotz aller Müdigkeit. Sie
wußte, nebenan in der Kammer lag ihr großer Junge im Bett und weinte
wie ein kleines Kind. Er fühlte so lebhaft, den Schmerz ebenso wie die
Freude. Er war ja ganz ihr Sohn.




XX


Herr und Frau Schnakenberg wanderten am Vormittag über die
Kasernenstraße. Die Hitze der letzten Septemberwochen war vorüber,
die matte Oktobersonne spielte auf dem Pflaster und färbte die grauen
Kasernenwände bleich.

Das Ehepaar wurde viel gegrüßt. Frau Trina war im schönsten Staat; sie
trug ein Seidenkleid von einer ganz infam-gelbbraunen Farbe, doch war
es das modernste vom Jahr, Sternefeld vom Alleeplätzchen hatte diese
elegante Couleur als Herbstnouveauté eben mit aus Paris gebracht. Auch
die Beduine von feinem Kaschmir mit Fransenabschluß war aus Paris, der
Hut auch; das beste kam doch eben nur daher! Das Ehepaar Schnakenberg
plante auch zum nächsten Jahr einen Besuch der Pariser Weltausstellung.

Jetzt gingen sie, um den aus dem Mainzer Lazarett endlich entlassenen
Sohn, den sie im September schon zweimal vergeblich mit einem
festlichen Mahl erwartet, zu begrüßen. Zu heut mittag hatten sie ihn
auch gleich wieder eingeladen, aber er hatte sagen lassen: den ersten
Tag wolle er bei der Fina bleiben, und der Weg nach der Königsallee
wär’ ihm auch zu weit.

Ob er den wirklich nicht gehen konnte – dann hätte man ja einen Wagen
schicken können – oder ob er bloß nicht wollte?! Diese Ungewißheit
regte Frau Trina etwas auf; wahrhaftig, das war doch häßlich von den
Kindern, daß sie ihr immer noch ihre Heirat mit dem Schnakenberg
nachtrugen! Und der war doch so ein guter Stiefvater!

Den Ferdinand und ihren Jüngsten – das Karlchen – der bei der Marine
kapituliert hatte und von dem man eigentlich nie wußte, wo er mit
seinem Schiff war, hatte sie beide gleich lange nicht gesehen; an die
sechs oder sieben Jahre mochte es her sein, daß die mal einen Tag in
Düsseldorf gewesen.

Nun kam der Ferdinand wenigstens für dauernd her und würde bei der
Josefine bleiben – wo sollte er denn als Junggeselle auch sonst hin?
Ein Gedanke peinigte Frau Trina unablässig, als sie jetzt an der
Kaserne entlang schritt: ›Ach, wenn der Rinke das erlebt hätte!‹ Der
hätte sich am Ende noch darüber gefreut, daß seinem Sohn im Krieg ein
Bein abgeschossen worden. So lebhaft hatte sie noch nie ihres ersten
Mannes gedacht, wie heute auf dem Weg zum invaliden Sohn. Sie erregte
sich mehr und mehr. Diese ganze Soldatenwirtschaft, dieses Knallen mit
Pulver und Blei, was hatte ihr das alles schon für Leid gebracht!

Sie rief Schnakenberg, der ihr ein paar Schritt voraus war, und hing
sich an seinen Arm. –

Vor der Thür, unter dem Schild:

    _#Josefine Conradi geb. Rinke#_,

    _Stöcke, Pfeifen, Putzzeug, alle Arten
    Militär-Bedarfsartikel_

stand der kleine Fritz. Sein rotbackiges Kindergesicht sah heute ganz
betroffen drein.

»De Onkel is da,« sagte er ernsthaft, »aber de Mutter is traurig.«

Sie traten aus der Mittagshelle in’s Lädchen ein, es war etwas dunkel
darin, das Auge mußte sich erst gewöhnen. Josefine stand hinter der
Theke und ordnete einen Kasten, aus dem sie eben verkauft; beim
Anschlagen der Ladenschelle hob sie die Augen.

»Wo is de Ferdnand?« fragte Frau Trina hastig.

Die Tochter wies mit einem stummen Blick nach der Ecke. Dort erhob sich
jetzt schwerfällig eine Gestalt aus dem Sessel und humpelte an zwei
Krücken den Eintretenden entgegen. Leer hing das eine Hosenbein, und –

»Jesus Maria, meine arme Jung’!« schrie die Mutter auf und fiel dem
Sohn um den Hals. Der konnte sie nicht umarmen, er mußte sich auf seine
Krücken stützen.

Josefine liefen die Thränen über’s Gesicht; auch Schnakenberg schneuzte
sich mehrmals, dabei drehte er sich ein bißchen weg, das leere
Hosenbein war ihm gar zu jämmerlich.

Frau Trina schluchzte noch immer:

»Meine Jung’, meine arme Jung’!« Und küßte ihn und tätschelte ihm die
Backen, wie sie es vielleicht einst dem kleinen Knaben gethan.

Der Sohn war nicht sehr zärtlich, er nahm’s nur gnädig hin.

»Jammert doch nich,« sagte er fast ungeduldig. Und dann richtete
er sich so stramm auf, als er nur irgend konnte, und wies auf das
Militärehrenzeichen, das die Brust seines verschabten Uniformrocks
zierte: »Das kriegt man nich umsonst! Im Lazarett machten se ’ne
richtige Feier, als se mir’s überreichten. Ja, was denkt ihr wohl, das
is en besondere Ehr’! Die meisten kriegen nur das Erinnerungskreuz von
Bronze – ihr könnt mir gratulieren!«

Aber Mutter und Schwester gratulierten ihm nicht. Frau Trina war, ihr
Taschentuch vor’s Gesicht haltend, auf einen Stuhl gesunken, Josefine
sah den Bruder mit zuckenden Lippen an. Nur Schnakenberg schüttelte ihm
die Hand und schlug ihm dann auf die Schulter:

»Jratuliere! No, ich sag’ et ja, da wolle mer mal tüchtig eins auf
trinken – hoch de tapfre Vaterlandsverteidiger, hoch, hoch!«

Ferdinands Augen glänzten auf, und er schmunzelte. Heute morgen schon
waren Nachbarn gekommen, um ihn zu sehen; die ganze Kasernenstraße
erinnerte sich ja noch an den ›Rinkes Jung’‹, und jetzt natürlich
war er erst recht der Mann des Tages. Ein paar Knaben hatten ihn
flehentlich um ein Andenken vom Schlachtfeld gebeten. Ja, wenn nur
erst seine Kiste nachkam, dann wollte er ihnen schon blutgefärbte
Uniformläppchen und ein paar Granatsplitter austeilen. Er versprach dem
Stiefvater, heute abend mit in dessen Stammkneipe zu kommen; da wollte
ihn dieser den Herren vorstellen, und er sollte von seinen Erlebnissen
zum besten geben.

»Wird der dat nit zuviel sein, Ferdnand?« fragte Josefine besorgt. »Du
sagst doch, dat Jehen macht dich e so müd.«

Das wollte er jetzt nicht mehr Wort haben.

»Wer können ja auch ene Wage nehmen,« sagte Schnakenberg. »Och,
wat dann, Fina,« – er kniff die Stieftochter in die Wange – »nur
kein ängstlich Jesicht! So ne Krieger is nit von Zucker. Jelt, Herr
Sergeant? Heut jehn wer nach Ahmer und morjen nach Löhmer un übermorjen
nach Hintze, un im Römischen Kaiser un im Verein. Wer machen de Rund’,
bis dat wer durch sind. De Jung’ soll nit sagen, dat wer em nit
ordentlich befeiert haben!«

Als der Stiefvater mit der Mutter gegangen war, äußerte Ferdinand sein
Wohlgefallen: Der Schnakenberg war doch ein sehr netter Kerl, ein sehr
anständiger Mann!

Josefine wollte nicht widersprechen. Gewiß, der Schnakenberg war ein
guter Mensch – sie war ihm dankbar für manche Freundlichkeit – aber
seit sie in Düsseldorf war, mußte sie wieder so viel an ihren Vater
denken. Es drängte sie plötzlich, von ihm zu sprechen.

»Ferdnand, wat würd’ der Vater sagen,« flüsterte sie in einem weichen
Ton und blickte hinüber zur Kaserne.

»Ja, so was hätt’ der auch wohl haben mögen,« sagte Ferdinand und
schielte nach der Auszeichnung auf seiner Brust. »Hab’ ich der denn
schon erzählt, warum ich das gekriegt hab’?«

Und nun begann er in einer Weise zu erzählen, daß sie merkte, er hatte
das schon so und so oft gethan. Es klang wie auswendig gelernt:

»Wir hatten die fränkische Saale überschritten, am 10. Juli war’s,
wir machten den Übergang auf einem Balken, die Brücke hatten die
Hundsfötter, die Bayern, gesprengt; in Kissingen steckten sie drin, die
verfluchten Kerle, und die Höhen hielten sie besetzt. Aber wir – hurra!
– steil ging’s den Berg herauf, und –«

Er wurde unterbrochen. Die Ladenschelle klingelte, zwei bärtige Männer
in Civil traten ein; man sah ihnen den ›entlassenen Landwehrmann‹ an.
Sofort trafen sich ihre Blicke mit denen des Invaliden.

»Was jefällig?« fragte Josefine.

Aber sie wurde gar nicht gehört, die beiden hatten sich gleich mit
Ferdinand in ein Gespräch vertieft.

»Division Göben, 53. westfälisches Infanterie-Regiment, 10. Juli bei
Kissingen,« sagte der Invalide und wies auf seinen Beinstumpf.

»Niederrheinisches Füsilierregiment, Ersatzbataillon, 10. Juli bei
Hammelburg!«

Das war ein Händeschütteln, waren sie doch am selben Tag, nicht weit
von einander, im Feuer gewesen! Mit Bewunderung sahen die beiden
Landwehrmänner das Ehrenzeichen auf der Brust des Kriegskameraden.

Der Invalide strahlte.

»Ja,« sagte er, »wir hatten die fränkische Saale überschritten, am
10. Juli war’s, wir machten den Übergang auf einem Balken, die Brücke
hatten die Hundsfötter gesprengt, in Kissingen steckten sie drin, die
verfluchten Bayern –«

Josefine mochte die Erzählung nicht mehr mit anhören, sie ging hastig
hinaus. Der Vater hatte ihr einstmals auch vom Krieg erzählt – aber wie
anders! Und doch mußte sie froh sein, daß der Stolz dem Bruder über den
Verlust seines Beines weghalf.

Als sie wieder hineinkam, hatte er eben geendet, mit hochrotem Kopf saß
er in seinem Stuhl. Die Landwehrleute machten ein großes Hallo; sie
ließen nicht nach, er mußte mit ihnen nebenan in die Wirtschaft gehen
und ein kameradschaftliches Glas mit ihnen leeren.

Als sie Stöcke gekauft, schleppten sie ihn ab, und er ließ sich nur
zu gern schleppen. Josefine sah ihnen nach: die zwei von der Landwehr
mußten heute schon ordentlich was getrunken haben, sie wirbelten ihre
Stöcke; jetzt huben alle drei ein lautes Singen an.

Lange nach mittag kam Ferdinand erst zurück, er war glückselig. So
viele Freunde hatte er gefunden, und sie hatten ihn hoch geehrt,
wie einen Helden gefeiert und ihn zuletzt im Triumph durch’s Lokal
getragen. Wenn die neunundreißiger Füsiliere, die anfangs Winter als
ständige Garnison in Düsseldorf einrücken sollten, ebenso nette Kerle
waren, wie die vom Ersatzbataillon, ließ es sich hier schon leben.
Er war freudig erregt, neckte sich mit den Neffen und schwatzte in
einem fort. Mit Mühe überzeugte Josefine ihn, daß es dringend nötig
für ihn sei, sich zu ruhen. Es kostete sie unsägliche Anstrengung,
ihn die Stiege hinaufzubringen, denn die war eng und die Stufen
hoch. Er stöhnte und fluchte, stützte sich mit der einen Hand auf’s
Treppengeländer und legte den andern Arm so fest um ihren Nacken, daß
er sie fast niederdrückte. Der kleine Fritz schleppte die Krücken nach.
Sie dankte Gott, als sie dem Bruder oben auf’s Bett geholfen; noch
sprach sie zu ihm, da schlief er auch schon.

Es dunkelte längst, als Josefine erst wieder etwas von ihm merkte.
Fritz kam gelaufen und holte sie: der Onkel wolle sich nun fein machen
und könne nicht allein damit zu stande kommen.

Der Invalide nahm es als ganz selbstverständlich an, daß ihm geholfen
wurde; die Schwester that es ja auch gern, war sie doch froh, daß
er sie aus heiteren Augen anlachte. Aber ein eigentümliches Grausen
überlief sie, als er nur einen Fuß hinstreckte, um sich den Stiefel
anziehen zu lassen. Ihre Hände zitterten und hatten keine Kraft, aber
er merkte es nicht; lustig pfiff er den Königgrätzer Siegesmarsch und
beorderte Fritz, ihm die beste Montur herauszusuchen. Er mußte doch
eine Figur abgeben, wenn der Stiefvater ihn präsentierte.

Josefine war es weh um’s Herz, als der Bruder nun soweit fertig war, –
im besten Rock mit dem Ehrenzeichen, die Haare pomadisiert, – und sich
zuletzt noch sorgfältig den krausen Backenbart kämmte, nachdem er sich
vorher das Kinn sauber ausrasiert. Sie betrachtete ihn: wahrhaftig, ein
schöner Mann, fast dem Kronprinzen ähnlich – aber ach, nur ein Bein!
Das andre war hoch am Oberschenkel amputiert.

»Ferdnand,« sagte sie aus einem Herzensdrang heraus, »wie fühlste dich
dann?«

»Gut, sehr gut, ganz famos! Kuck doch mal nach,« schrie er dem Kleinen
zu, »ob der Schnakenberg bald antritt!« Er schien es gar nicht abwarten
zu können. Als eine Kutsche vorrasselte und der Stiefvater unten im
Flur rief, humpelte er so eilig die Treppe hinunter, daß er fast
gestürzt wäre und Josefine mit sich gerissen hätte.

    »Immer langsam voran, immer langsam voran,
    Daß die österreich’sche Landwehr nachkommen kann,«

begann er da zu singen. Das ganze Haus schien von seiner lauten Stimme
angefüllt.

Josefine wurde diesen Klang nicht los, auch als die Räder des Wagens
längst verrollt waren. Zwischenhinein bimmelte die Ladenschelle; es
kamen eine Menge alter Bekannter, die den Heimgekehrten besuchen
wollten. Ein paar kleine Mädchen aus der Nachbarschaft erschienen,
hübsch angeputzt, mit einem Kranz und wollten ihm ein Gedicht aufsagen.

Josefine war’s zufrieden, daß das Gelaufe ein Ende nahm, als der
Zapfenstreich ertönte.

    ›Zu Bett, zu Bett,
    Wer en Liebsten hätt’,
    Wer keinen hätt’,
    Muß auch zu Bett.
    Zu Bett, zu Bett, zu Bett.‹

Wie oft hatte sie das als Kind ahnungslos der Trompete
nachgeschmettert!

    ›Wer keinen hätt’,
    Muß auch zu Bett –‹

Von einer schwermütigen Regung befallen, sah sie sich jetzt um. Da
stand ihr einsames Bett. Und sechsunddreißig Jahre – nein, das war
noch nicht alt! Unwillkürlich breitete sie ihre Arme, in denen das
warme Blut voll an die Pulse klopfte, und dann streifte ihr Blick den
Spiegel. Sie trat davor und hielt das Lämpchen hoch. Hellbeleuchtet
schaute ihr Bild sie an: blank die Augen, frisch das Gesicht und das
Haar blond, nicht mehr so licht wie in der Mädchenzeit, ein wenig
nachgedunkelt, aber blond doch, ganz blond, kein einziges, graues
Fädchen an den Schläfen.

Seltsam genug stand das schwarze Kleid gegen das helle Gesicht. Sie
hatte sich noch immer nicht entschließen können, die Trauer abzulegen,
nur ein schmales, weißes Krägelchen gönnte sie sich am Halse. Aber
nun sie sich selbst so sah, dünkte sie es auf einmal an der Zeit, ein
andres Gewand hervorzusuchen.

Er würde es ihr nicht verdenken!

Nachdenklich ging sie zu der Truhe, dahinein sie all ihre bunten
Kleider verschlossen. Hier das kornblumenblaue, das hatte er ihr den
letzten Weihnachten geschenkt und sie so gern darin gesehen – ob’s ihr
noch paßte? Sie hatte ein wenig an Fülle verloren seitdem – ob sie’s
einmal anprobierte?

Es war etwas wie Scham in dem Gefühl, mit dem sie das blaue Kleid
hin und her wendete, und zugleich war doch ein ganz eigentümliches,
hastiges Zucken in den Fingern, mit denen sie ihr schwarzes Gewand
herunterstreifte. Da lag es am Boden, wie eine tote Hülle, und sie
warf das leuchtende Blau über und konnte sich wieder daran freuen. Was
würden die Jungen dazu sagen?! Die würden sich auch freuen. Der Peter
hatte schon oft gequält:

›Mutter, thu doch jetzt dat Schwarz aus, et steht dir nit.‹

Gedankenvoll nickte sie vor sich hin: ja, der Peter hatte recht, und
vergessen würde sie =ihn= darum doch nicht!

Langsam kniete sie vor der Lade nieder und kramte darin weiter. Auch
allerhand Kleidungsstücke von ihm kamen noch zum Vorschein; die würde
sie für die Jungen zurechtmachen lassen. Wenn die nur auch so brav
wurden, wie ihr Vater gewesen!

Ein hölzernes Kästchen mit eingelegtem Deckel fiel ihr in die Hände.
Ach, das alte Ding! Das war in der Mädchenzeit ihr Staatsnähkasten
gewesen, den sie nie für gewöhnlich gebraucht, in dem sie nur all
ihre kleinen Heiligtümer verwahrt: Bandrestchen, Seidenfleckchen,
Heiligenbildchen, ein Nadelbüchschen – und nun kam auch noch anderes
daraus zum Vorschein. Ein kleines Buch mit zierlich gerankten goldenen
Passionsblumen auf dem Einband. Es durchzuckte sie, als sie es ergriff:
das hatte ihr einmal einer geschenkt, der sie geliebt hatte – und sie
ihn! Rot, wie frisches Blut, glänzte noch das kleine Buch, es hatte
nichts von seiner warmen Farbe eingebüßt, – so leuchtend wie am Tage,
da der’s ihr gegeben.

Sie schlug es auf; ein gelbseidenes Bändchen lag als Zeichen,
und runde, vergilbte Tropfen markierten sich auf dem Blatt –
Thränentropfen. Sie mußte wohl einstmals darüber geweint haben.

    ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
    Daß ich so traurig bin,
    Ein Märchen aus alten Zeiten –‹

Leise begann sie zu summen. Das schöne Lied! Nun sangen es auch längst
ihre Kinder. Es war unvergessen und würde unvergessen bleiben.

Lächelnd schlug sie das Büchlein zu. – – – ›Viktor – –!‹

Wie ein Gruß stieg es von dem roten Buch zu ihr auf; sie hielt das im
Schoß und fühlte sich auf einmal wieder ganz jung.

Und zwei Papiere ruhten im Kästchen, neugierig griff sie auch nach
diesen. Erst hier dies zusammengekniffte, goldgeränderte Kärtchen!

    ›Mädchen, wenn ich einmal sterbe
    Und der Tod mein Auge bricht,
    So pflanz’ du auf meinem Grabe
    Eine Blum’: =Vergißmeinnicht=!‹

las sie.

Ach Gott, das hatte ja Conradi geschrieben, damals, als er um sie
freite! Und sie hatte darüber gelacht. Jetzt schossen ihr Thränen
in den Blick, so ungeahnt rasch und heftig, daß sie kaum die
schöngeschnörkelte Schrift mehr entziffern konnte.

›So pflanz du auf meinem Grabe eine Blum’: Vergißmeinnicht!‹ – Die
erhobene Hand sank ihr nieder – nein, er brauchte keine Angst zu haben,
sie pflanzte auf seinem Grabe mehr als eine Blume!

Ihr Blick irrte flüchtig zu dem roten Büchlein, aber nur einen Moment,
um dann fest und lange auf dem goldgeränderten Papier zu ruhn. Ihre
Thränen flossen; so hatte sie noch nie um ihren Mann geweint. Heiß
fielen die Tropfen auf seine Schrift und auf die beiden Eheringe an
ihrer Hand.

Ihre Gedanken flogen zurück Jahr um Jahr. – – Ihr guter Mann! Was wäre
aus ihr geworden ohne ihn?! Er hatte sie an die Hand genommen und
sie fortgeführt in das stille Häuschen nach Vohwinkel; er hatte für
sie gesorgt und ihr nie ein böses Wort gesagt. Und wenn es sie auch
manchmal gedeucht hatte, als könne man jauchzender glücklich sein – er
war nüchternen Sinnes, und das Blut sprang ihm nicht so lebendig durch
die Adern wie ihr – er hatte sie doch immer verstanden. Hundert Dinge,
die ihr jetzt plötzlich einfielen, bewiesen ihr das. So verschieden sie
auch waren, er hatte sie verstanden, weil er sie innig lieb gehabt.

Lange blieb Josefine vor der Truhe knieen. Die Kinder nebenan schliefen
sanft, man hörte nicht einmal ihre Atemzüge. Auch die Stadt war still.
Auf der Straße kein Tritt, in der Kaserne kein Ruf. Kein militärisches
Signal mehr gellte weit hinaus und stöberte die schlummernden Gassen
auf.

Die Witwe träumte. –

Plötzlich schreckte sie auf.

»Herrraus!« Rauh tönte es durch die Stille. Was, schon die Ronde? So
spät war es schon? Und der Ferdinand noch immer nicht da? Es würde ihm
doch nichts passiert sein?!

Sie öffnete das Fenster und spähte hinaus – kein Wagen, auch keine
Gestalten! Nirgendwo mehr Licht, nur der Herbsthimmel, klar gestirnt,
voll unzähliger, funkelnder Kerzen. Massig streckte sich der Bau der
Kaserne, mit seinen endlosen Mauern die Straße begrenzend, in einer
festen, einförmigen Linie. Jetzt fiel’s ihr auf, vielleicht zum
erstenmal, wie häßlich eigentlich der Bau war. Aber sie wehrte sich
gegen den Gedanken; denn den hatte ihr ja nur der Peter eingeblasen,
der schimpfte immer über die langweilige Kaserne und fand sie so
garstig, wie gar nichts anderes auf der Welt. Nun, mochte er – sie
nickte vertraulich hinüber – ihr war sie trotzdem lieb. Eine plötzliche
Sehnsucht überkam sie, einmal hinein zu dürfen, einmal sich wieder
gegen das schwere Thor zu stemmen, das den Hof – ihren Hof – verschloß.
Ob jemand oben in der Feldwebelwohnung wohnte?! Sie hatte schon einmal
die Mutter danach gefragt, aber ein Schatten war über deren Gesicht
geflogen: ›Ich weiß et nit.‹

Die Mutter hatte eine gewisse Scheu vor den Erinnerungen an jene Zeit.
Und die Tochter begriff das wohl. –

Jesus, der Ferdinand kam doch gar nicht wieder, der schien sich zu gut
am Stammtisch zu behagen! Noch einmal spähte sie die Straße hinauf und
hinab, und dann zog sie sich mit einem Seufzer vom Fenster zurück.
Es würde ihr wohl nichts helfen, sie mußte schon die ganze Nacht
aufsitzen, denn wie sollte der Einbeinige sonst in’s Bett kommen? Ach
Gott, das war doch zu traurig mit dem armen Kerl! Hätten die Preußen
doch keinen Krieg angefangen!

Da fiel ihr Blick auf den andern Zettel, der ihr vorhin aus dem
Kästchen entfallen war. Sie hob ihn auf. Wie eine Vorschrift, groß und
fest und deutlich, stand auf dem liniierten Schulheftblatt:

    ›Über alles die Ehre!‹

Das hatte ihr Vater geschrieben in letzter Stunde! Sie setzte sich
nieder und dachte und starrte und starrte und dachte, bis ihr die Augen
zufielen.

Ein Wagengerassel erweckte sie, ein recht langsames, müdes
Räderrattern. Ah, da kamen sie endlich!

Verschlafen taumelte sie die Treppe hinunter. Von St. Anna schlug’s
drei.

»Och Jott, och Jott, bis du’t, Ferdnand?«

Noch ganz verwirrt schaute sie in den Wagen, aber sie wurde gleich
hell wach: da lehnten der Ferdinand und der Schnakenberg im Fond,
nebeneinander, Arm in Arm, und schnarchten.

»He, Sie, Schnakenberg! Ferdnand!« Jetzt die wach kriegen!

Schmunzelnd stieg der Kutscher vom Bock. »Wollen Se nit jefälligst
aussteijen, Herr Schnakenberg?« sagte er.

Mit vereinter Mühe weckten sie Herrn Schnakenberg. Verdutzt kroch der
aus dem Wagen und wackelte hin und her auf seinen einknickenden Beinen,
aber er lachte vergnügt und kniff die ärgerliche Josefine in die Backe.

»Finken, mei lieb Dier, sei ens nit unjemütlich! De Jung’ kriegt auch
en Bein, beim Brandt in Oberbilk, kost’ et wat et kost’! Et war des
Juten en bißken viel, aber dat thut ja nix. Faß ens an, Kink, wer
wollen dat Jüngesken ’erauftragen!«

Es war wiederum eine schwierige Sache, den Invaliden die Treppe
heraufzubringen. Er war schwer wie ein Klotz. Als er auf dem Bett lag,
schlug er für einen Moment die Augen auf und stierte verwundert der
Schwester blaues Kleid an.

»Siehste, wie de biste,« lallte er, »auch blau – blau – blau – blau –
der Schnakenberg is mein Freund – Bruderherz – ich krieg en Bein – dat
andre is futsch – blau – blau – blau – Fina – ich geh’ noch tanzen mit
dir – hurra!«




XXI


Ein glücklicher Stern schien über dem kleinen Laden aufgezogen zu sein
und freundlich das schwarze Schild mit den weißen Ölfarbenbuchstaben
zu beglänzen. Josefine konnte nicht in das allgemeine Lamento über
schlechte Geschäfte einstimmen, obgleich auch sie die Teuerung der
Lebensmittel, besonders den unerhörten Preis des Fleisches, empfand.

Der November hatte Düsseldorf eine neue Besatzung gebracht: das 39.
Regiment, statt der alten Sechzehner, war vollzählig eingerückt. Die
lustigen Füsiliere füllten die Höfe und Blocks der Kaserne wie summende
Bienen und schwärmten aus, um sich in der neuen Garnison heimisch zu
machen. Und: Rinke – Rinke – das war ein Name, der den Sechzehnern
sehr geläufig gewesen, nun ging der wie ein Vermächtnis auf die
Neununddreißiger über. Rinke, einstmaliger Feldwebel, – Josefine Rinke,
Feldwebelstochter, hübsche Frau, bei der mußte man kaufen!

Und Josefine lächelte hinter ihrem Ladentisch und wußte ganz genau, was
dem Soldaten not that. Der kleine Fritz half ihr schon getreulich, der
Peter hatte desto weniger Sinn für’s Geschäft; und der Ferdinand, ach,
du lieber Gott! Dem wurde gleich alles leid. War es Faulheit, oder that
ihm sein weggeschossenes Bein wirklich noch weh? Er jammerte immer:
›Autsch, mein großer Zeh’!‹ Seine Stimmung war erbärmlich, und als die
grauen Wintertage kamen, wurde sie noch grauer.

Der Jammer um’s verlorene Bein war nun doch nachgekommen und zwar
gründlich. So ein Krüppel zu sein, so ein hilfloser Schächer in den
besten Mannesjahren! Er verwünschte Gott und die Welt.

Solange der Herbst noch Sonne gegeben, hatte er vor der Thür gesessen
und sich den Rücken bescheinen lassen; da hatten die Kinder sich um
ihn gesammelt, und die Frauen der Nachbarschaft hatten ihn förmlich
poussiert. Jetzt fehlte ihm jede Zerstreuung; das Interesse der Leute
an ihm hatte nachgelassen.

»Natürlich,« sagte er bitter, »jetzt vergessen sie, daß man seine Haut
zu Markt getragen hat! Un dreizehn Thaler Invalidenpension, was is denn
das? Gar nix. So viel wie mein Bein gewogen hat, müßten se mir in Gold
geben, un dann wär’ es auch noch nich genug. Mein Bein, ach, mein Bein!«

In solcher Stimmung schmiß er mit seinem einzigen Stiefel.

Josefine hoffte auf das künstliche Bein, das der Mechaniker Brandt in
Oberbilk für Ferdinand in Arbeit hatte. Der war ein geschickter Mann;
sie setzten nun alle ihre Zuversicht auf ihn. Schnakenberg machte
sich ein Gewerbe daraus, fast alle Nachmittag nach dem Schläfchen
hinauszuspazieren nach Oberbilk, um zu sehen, was ›sein‹ Bein machte.

Endlich kam es. Sie waren alle versammelt; Herr und Frau Schnakenberg
waren extra dazu erschienen. Sie glaubten, der Ferdinand würde nun
stracks laufen können, aber hilflos wie ein Kind stand er da und
klammerte sich an den Tischrand.

»Jesus, is das schwer! Schwer wie Blei,« stöhnte er, und der
Angstschweiß brach ihm aus. Er vergaß ganz, sich beim Stiefvater zu
bedanken; er war wie geschlagen.

»Nu jeh doch, probier’ doch ens, mein Jüngesken,« redete ihm die Mutter
zu.

»Ich kann nich!«

»De Brandt hat dat schlecht jemacht,« eiferte der Stiefvater.
»Wahrhaftijens Jott, de Kerl verklag’ ich!«

Josefine bot dem Bruder ihren Arm zur Stütze, aber er stieß sie mit
einem Fluch zurück und schloß die Augen. »Ach, wär’ ich lieber tot!« Er
konnte ja doch nicht gehen.

Erschrocken schmiegte sich Fritz an die Mutter und lispelte ihr etwas
in’s Ohr; aber man verstand es doch in der betroffenen Stille:

»Mer kann doch jehn, mer muß et nur erst lernen!«

Freilich, freilich, das hatte der Brandt auch gesagt! Nun fiel es ihnen
ein. Schnakenberg tätschelte den Kleinen:

»Wat de Jung’ schlau is! Wart ens, klein Männeken, wann de zur
Kommuni–, wollt’ sagen: zur Konfirmation jehst, dann kriegste auch en
jolden Uhr von mir!«

Der Invalide rief den Knaben heran und küßte ihn in aufwallender
Hoffnung. Ja, lernen! Dann ließ er sich helfen, das Bein abschnallen;
für heute hatte er erst mal genug davon.

Josefine sah gerührt auf ihren Jüngsten; der hatte so viel von seinem
Vater: die Ruhe, die Bedächtigkeit. Und auch von seinem Patenonkel was:
den praktischen Blick. Dann schaute sie auf ihren Großen, es deuchte
sie, der war totenblaß geworden; nun verließ Peter plötzlich die Stube.
Ein komischer Jung’, der konnte gar nicht so etwas mit ansehen. Dem war
sicher wieder schlecht!

Sie ging ihm nach und suchte ihn. Oben in seiner Kammer fand sie ihn,
da hatte er sich über’s Bett geworfen und das Gesicht in’s Kissen
gedrückt. Als sie ihn rief, richtete er sich auf und sah sie verstört
an.

»Aber, Jung’,« sagte sie, »wat haste nu als wieder?«

»Huh, so häßlich! Ba, dat Bein, so eklig!« Er schüttelte sich.

»Wat is dann da eklig an? Et is doch en Jlück, dat der Onkel dat Bein
kriegt.«

»Ja, ja, – aber red’ nur nit mehr dervon, et wird mir sonst übel. Huh,
wie scheußlich, wie jreulich!«

Er kam gar nicht mehr davon los; seine Augen hatten sich schreckhaft
erweitert und starrten geradeaus, als ob sie das Grausen vor sich sähen.

»Du bis ja en Bangbüx, schäm’ dich,« sagte die Mutter.

Er hörte sie gar nicht, immer mit demselben starren Blick murmelte er:
»So schießen se sich auch de Arm’ ab, die Augen aus, in den Bauch, in
de Brust, in den Kopf, wo’t trifft – Mutter,« sagte er dann plötzlich,
wie sich besinnend, »komm du her, jieb mir en Bützken! Dat is ja all
dumm Zeug, lassen wer nit mehr dran denken!«

Er lachte, und sie küßte ihn und strich ihm die Haare aus der Stirn,
die ihm immer wieder in einer vollen weichen Locke hineinfielen. Die
Thränen traten ihm in die Augen, als er jetzt sagte: »Der arme Onkel!«

Der gute Junge! Wie hübsch er war und wie weichherzig! Was nur aus ihm
werden sollte? Sie beschloß, bei nächster Gelegenheit mit ihrem Bruder
Friedrich Rücksprache zu nehmen, der würde ihr schon raten; denn daß
der Peter zum Januar von der Schule mußte, stand bei ihr fest. Er kam
da doch nicht weiter, hatte nur Lust am zeichnen und malen. – ›Maler,
Mutter, Maler!‹

Ach, nun hatte sie’s so klug zu machen gedacht, als sie nach Düsseldorf
gezogen. Wäre es ihrem Peter nicht besser, sie säßen noch in Vohwinkel?
Oder hätte er dort auch am Ende denselben Wunsch gehabt: Maler, nur
Maler! Jetzt entsann sie sich, schon als kleiner Junge hatte er
Männchen und Häuschen auf die Tafel gekritzelt, so kraklig wie andere
Kinder auch und doch wieder ganz anders. Und wie konnte er sich freuen
über eine schöne Blume, ein grünes Feld, über den Mond am Himmel und
die roten Abendwolken!

Und ihr eignes Kinderentzücken fiel ihr ein über die blühenden Wiesen
am Rhein, über die grünen Wellen, die vorbeizogen am alten Schloß, über
die roten Dächer der Ratingerstraße, über den dunklen Kalvarienberg, an
dem bunte Prozessionen vorbeiwallten – ja, der Junge hatte so unrecht
nicht, hier konnte einer wohl Bilder malen! Man hörte ja auch so viel
davon reden – Bilder, Bilder – der Bendemann und der Keller, der Deger
und der Müller, die Achenbachs, und wie sie alle hießen, waren in aller
Leute Mund. Man konnte sogar im Blättchen von ihnen lesen. Und die
Grablegung Christi von dem Roeting war sie selber gucken gegangen mit
ihren beiden Jungen. Das war mal ein großes Bild, zwölf Fuß hoch und
elf Fuß breit! In der Akademie war’s ausgestellt gewesen zum Besten der
im Krieg Verwundeten; aber man hatte immer nur von dem Bild geredet,
gar nicht von den Verwundeten. Das mit dem ›malen‹, das lag hier in der
Luft. Der arme Jung’, wie sollte das noch werden?!

Ihr Herz bangte um ihn. – – –

Es war zu Beginn des neuen Jahres, als Onkel Friedrich aus Essen
herüberkam. Josefine hatte ihn schon eher erwartet, aber er hatte
nicht gut abkommen können; bei Krupp arbeitete man eifrig an einer
Riesen-Gußstahlkanone für die Ausstellung in Paris. Alle großen
Etablissements und Fabriken rüsteten jetzt Ausstellungsobjekte. Die
Weltausstellung in Paris war ein Gedanke, der alle geschäftlichen
Unternehmungen beseelte.

Auch Friedrich Rinke trug große Pläne. Er hoffte darauf, sich
selbständig zu machen; freilich nicht heute und morgen, aber in Jahr
und Tag vielleicht. Wenn ihm nur einer Kapital vorschießen wollte!
Dann wollte er wohl zeigen, was man heutzutage in der Industrie vor
sich bringen kann. Seine Zeit hatte er gut genutzt, und von allerlei
Erfindungen, die er gemacht, war ihm schon eine patentiert worden. Er
dachte ja auch nicht gleich an eine Maschinenfabrik, an ein Walzwerk
oder einen Eisenhammer; mit einer bescheidenen Schmiede anzufangen,
wäre auch keine Schande.

»De Krupp hat et auch nit anders jemacht,« sagte er und betrachtete
seine verarbeiteten Hände. »Werkführer bin ich ja schon, Jott sei Dank!
Un ich bin ja auch noch nit e so alt; ich fühl’ mich jung jenug, in
zwanzig Jahren mit dem Krupp zu konkurrieren. Wenn nit mit Kanonen,
dann mit Eisenbahnschienen. Eisenbahnschienen, Eisenbahnschienen,
die jehen noch emal um die janze Welt. Die tragen noch weiter wie
Kanonen. Un, paßt auf, sollten wer noch ne Krieg kriegen, dann aber!
Wann wer dann wieder siegen, dann rauchen unsre Fabricken aus sechs
Schornsteinen anstatt jetzt aus einem, un unsre Hochöfen sind noch
sechsmal so heiß wie jetzt. Paris, Paris – wat brauchen wer dann noch
französ’sche War’? Un englische auch nit. Wat denkt ihr wohl, 66,
auf dat mer e so schimpft, hat dem Krupp mehr einjebracht als drei
Friedensjahr’. De schickt jetzt auf die Weltausstellung, janz frech,
und de kriegt auch der erste Preis, die jroße joldene Medaill’ –
wetten?!«

Es fiel ihnen gar nicht ein, dagegen zu wetten; sowohl der Invalide als
Josefine, die mit dem Bruder im Familienrat saßen, glaubten ihm.

»Och ja, der Friederich,« sagte Ferdinand mit einem Seufzer. »Krumme
Bein’ sind immer noch besser wie ein Bein.«

»Lassen wer doch jetzt mal de Peter ’ereinrufen,« bat Josefine. Es
wäre ihr lieb gewesen, der hätte den Onkel so sprechen gehört, dann
würde er vielleicht nicht mehr so viel Anstoß an dessen Beinen nehmen.
Sie rief, aber nur der kleine Fritz, der unten auf den Laden paßte,
antwortete. Peter war nicht da; weggelaufen, obgleich er wußte, um was
es sich heute handelte! Oder vielleicht gerade darum?!

»Er is nit da,« sagte Josefine kleinlaut, als sie in die Stube
zurückkam, und stützte den Kopf in die Hand.

»No, also Fahnenflucht!« schrie der Invalide und paukte auf den Tisch.
»Der feige Lümmel! Der muß jung bei ’s Militär! Fina, ich sag’ dir,
der soll mal in die Schlacht – Kugel rechts, Kugel links – die pfeifen
nur so um die Ohren. Aber da giebt es kein Auskneifen – Courage muß
der Mensch haben! Immer drauf los, marsch, marsch – man patscht im
Blut, macht nix, immer voran! Ich sag’ euch, als wir die fränkische
Saale überschritten, am 10. Juli war’s, wir machten den Ubergang auf
einem Balken – autsch, Donnerwetter!« Er unterbrach sich und faßte
nach seinem Beinstumpf. Ein plötzlicher Schmerz, wie er ihn so oft
durchfuhr, riß ihn an der großen Zeh’. »Ach, ich sage euch,« wimmerte
er in einem jetzt gänzlich veränderten Ton, »verfluchte Zucht!«

Friedrich lachte laut auf über des Bruders Gebahren; er machte sich
immer einen Spaß daraus, wenn der andre mit seinen Kriegsgeschichten
zu renommieren anfing. Aber Josefine lachte nicht mit; sie dachte an
ihren Peter. Warum war er fortgerannt? Diesen Morgen noch, als sie ihm
sagte, der Onkel würde heute kommen, um mit ihr über seine Zukunft zu
reden, hatte er ihr versprochen, frei und offen mit seinen Wünschen und
Plänen hervor zu treten. Und nun war er doch fortgerannt! Wo mochte er
sein, gewiß wieder vor einem Bilderladen stehen?! Sie ärgerte sich über
den Sohn, aber da er nun einmal nicht hier war, mußte sie wohl für ihn
reden. Und sie legte fest die Hand auf den Tisch und sagte schnell:

»De Peter will Maler werden.«

Friedrich lachte sein kräftiges Lachen:

»Hoho, no ja, dat is so en Dummejungesidee!«

»Ne, ne,« ereiferte sie sich, »wahrhaftijens Jott! Er hat et sich in
der Kopf jesetzt.«

Der Schlosser sah sie mit seinen klugen Augen an:

»Un du bis auch schon halb dafor, ich seh’ et dir ja an. Fina, biste
dann jeck?«

Sie wurde rot und wußte nichts darauf zu entgegnen, denn jetzt, wo der
Bruder ein Gesicht machte, wie: ›Maler, puh, Verrücktheit‹, fühlte sie,
wie sehr sie dem Jungen die Erfüllung seines Wunsches gegönnt hätte.

»So en Tollheit ist dat doch nit,« sagte sie endlich, ein wenig
gereizt. »Er hat Talent.«

»Talent« – Friedrich ereiferte sich gar nicht – »ich will dir wat
sagen, Fina, wenn de mich frägst, dann sag’ ich der, laß de Jung’ en
Handwerk lernen. Handwerk hat ene joldene Bodem. Un im Handwerk liegt
unsre Zukunft. Nit, daß de denkst, er müßt’ nu immer mit de Fingeren
knüddelen, wie sie’t früher jemacht haben; von früh bis spät, bei en
Talgkerz oder en Öllamp’ – ne, Jott bewahr’! Handwerk, damit mein’ ich
jetzt: Industrie! Wer haben jetzt Maschinen, Jott sei Dank! Wenn de
Jung’ Talent hat, wie de sagst, dann laß ’n doch Mechaniker werden,
Techniker meinswejen, dat klingt nobler, da kann er auch bei zeichnen.«

»Aber dat is doch nit Kunst,« sagte sie betroffen. »Er möcht’ doch
Künstler werden.«

»Künstler, so!« Nun stieg Friedrich doch eine Röte in das, von der
ewigen Fabrikluft ein wenig bleiche Gesicht. »Ich sag’ dir, et is
ebenso en jroße Kunst, en Maschin’ richtig im Jang zu bringen, en
Jeschütz zu montieren, ne Schienenstrang zu legen, ne Stollen zu
bauen, als so Bildches zusammenzuklecksen. Un wat fingen dann die
Maler mit ihre Bilder an, den Ofen könnten se dermit heizen, wann de
Industriellen nit wären, die sie ihnen abkauften?! Un sag ens an,
weißte dann, ob de Jung’ wirklich en jroß’ Talent hat, en Talent, wo
mer auch wat mit verdient, oder ob er so ene kleine Schmierer bleibt,
de hungren muß, so lang er lebt?«

Josefine schwieg – ja, ja, wer konnte das wissen?!

Nun mischte sich Ferdinand ein. Talent hätte der Junge keins, nicht die
Bohne! Und damit zog er aus der Tasche seines alten Militärrockes ein
Papier, faltete es auseinander und legte es vor die andern hin. »Hab’
ich gefunden – verflixter Rabau!«

Und nun raisonnierte er: War das eine Art, daß der Bube ihm gleich
auflauerte, wenn er einmal nebenan in die Wirtschaft ging, mit ein
paar Kameraden ein harmloses Spielchen zu machen? War ihm die kleine
Abwechslung nicht zu gönnen in seinem Jammerdasein? Nur Fratzen konnte
der Bengel kritzeln! Keine Spur von Talent!

Auf dem Blatt, mit ein paar Pinselstrichen hingeschmiert, aber
doch deutlich erkennbar, saß der Invalide bei Kartenspiel und
Schnapsflasche. Rechts und links ein Kumpan. Die Nase, die dem
Ferdinand in Wirklichkeit leicht rosig schimmerte, war hier zu
einer Riesengurke angeschwollen und mit einem feuerroten Farbklecks
verunziert. Ein übergroßes Maul hatte er aufgerissen, er erzählte wohl
eben eine Heldenthat. Darunter stand:

    ›Laß ab vom Kartenspiel, mein Sohn,
    Denn wisse, jede Sünde rächt sich,
    Verlor sogar ja Kron’ und Thron
    So mancher Fürst in – Sechsundsechzig!‹

Der Invalide schäumte vor Wut: woher wußte der respektlose Bengel, daß
sie ihm kürzlich die ganze Barschaft abgenommen hatten?!

Eine unbezwingliche Lachlust kam über Josefine. Wahrhaftig, der
Ferdinand war nicht gut weggekommen – der Peter, der freche Jung! –
aber das Bild war zu komisch. Sie hielt sich beide Hände vor’s Gesicht
und platzte laut heraus. Da humpelte der Invalide beleidigt aus dem
Zimmer.

Auch Friedrich schmunzelte, aber er wurde gleich wieder ernsthaft.
»Säuft de Ferdnand?« forschte er. »Spielt er Karten?«

Sie mußte es bejahen. Die Fröhlichkeit verging ihr. Noch Lachthränen
in den Augen, sah sie den Bruder angstvoll an, und dann, von einem
plötzlichen Impuls getrieben, ergriff sie seine Hand:

»Och, du, Friedrich, sei so jut, dat de Peter wat Ordentlichet lernt!«

Er zog sie zu sich – von Zärtlichkeiten war sonst zwischen ihnen
nicht die Rede – aber nun gab er ihr einen Kuß. Es durchschauerte sie
seltsam, als wieder einmal bärtige Männerlippen ihre Wange berührten.

Sie blieben eine Weile ganz still, ohne ein Wort zu sprechen. Die
frühe Winterdämmerung war schon da und hüllte das Stübchen ein; im
Grau verschwammen Kanapee und Tisch, Schrank und Stuhl, Fenster und
Spiegelglas. Einzig die beiden kräftigen Gestalten waren noch scharf
umrissen.

Jetzt klappte unten eine Thür, ein vorsichtiger Tritt kam die Treppe
heraufgeschlichen; sich aufraffend stürzt Josefine hinaus – das war
der Peter! Sie kam noch gerade zurecht, um ihn abzufangen, da er leise
wieder hinabschleichen wollte.

»Du kömmst jetz ’erein,« sagte sie ungewöhnlich streng und zog ihn
hinter sich her in die Stube. Hier zündete sie die Lampe an, und nun
sah sie, wie rasch er die Farbe wechselte; bald rot, bald blaß wurde
er, je nach dem, was der Onkel sagte.

Wenn der Junge doch nur was darauf erwidern wollte! Sie nickte ihm
ermutigend zu, ging sogar zu ihm hin und gab ihm einen kleinen Schubs:
»So sag’ doch ens wat!«

Aber er sagte kein Wort; den Kopf hielt er gesenkt, daß ihm die
lockigen Haare in die Stirn fielen, und hörte alles still an.

Der Schlosser war ganz zufrieden: man merkte es ja, der Junge sah
bereits ein, daß es mit dem Malerwerden Dummheit war, daß er etwas
ergreifen mußte, was seinen Mann nährt! Er blinzelte der Schwester
zu und drückte ihr, als er nach dem Abendessen Abschied nahm,
bedeutungsvoll die Hand. »Pst, nu nit mehr viel drüber jered’t, laß ihm
jetzt jewährden! De kriegt Hammer und Feil’ noch ebenso lieb wie Farb’
und Pinsel. Ich schreib’ der, sowie ich wat in Aussicht für ihn hab’!«
Und als er ihr bekümmertes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Vielleicht
find’t sich auch hier wat in der Stadt! Bis ruhig, laß mich nur machen!«

Josefine seufzte. Der gute Friedrich, wie ein Vater sorgte er – aber
ach, sie kannte ihren Jungen doch besser! Der sah es noch lange nicht
ein, der würde es vielleicht nie einsehen, daß es mit dem Malerwerden
Thorheit war. Immer wieder hatte sie ihren Peter ansehen müssen
beim Nachtessen; es schmeckte ihm gar nicht recht, obgleich sie dem
Gast zu Ehren ›Schnüßkes und Oehrkes‹ gekocht hatte und von ihrem
selbsteingelegten Kappes dazu aufgetragen. Immer hatte der Junge auf
seinen Teller gestiert, und das schöne Rot auf seinen Backen war ganz
weg. Der arme Jung’!

Als sie jetzt, spät am Abend, im Begriff, sich zur Ruhe zu legen,
ein Knacken der Bettstatt und ein Rascheln des Strohsacks in der
Nebenkammer hörte, schlich sie auf Strümpfen hinüber. Vielleicht, daß
er sich zu fest zugedeckt hatte und sich nun in einem bösen Traum warf!
Den Atem anhaltend, stand sie lauschend vor seinem Bett – schlief er?
Licht anzuzünden wagte sie nicht; durch den Ladenspalt fiel nur ein
spärlicher Mondschimmer, vergebens suchte ihr Blick sein Gesicht.

Horch, jetzt murmelte er!

»Die Fabrick, die eklige Fabrick!« Er stieß mit den Füßen. »Nit in die
Fabrick!« Und jetzt stöhnte er laut auf, und es klang wie ein Schrei:
»Mutter!«

Da hielt sie’s nicht länger aus, sie tastete mit der Hand, bis sie sein
Gesicht fand, und strich über seine Wange. Und er war gleich wach.

»Mutter, bist du ’t?«

»Hm!«

»Mutter, mach doch Licht an, et is ja stichdunkel hier! Och, ich
hab’ jeträumt, so eklig, so jräßlich« – er seufzte schwer – »Mutter,
Mutter!« In einer großen Aufregung warf er sich hin und her, seine
Stirn und seine Hände glühten. »Mutter,« sagte er plötzlich und packte
sie fest an, »soll ich dann wirklich nit Maler werden?«

Sein Ton schnürte ihr das Herz zusammen. Seine unruhigen Hände in die
ihren fassend, setzte sie sich zu ihm auf den Bettrand. Durch die
Dunkelheit glitt ihre Stimme, weich wie Sammet. Sie wiederholte ihm,
was der Onkel gesagt, sie setzte ihm alles auseinander, sie redete
ihm zu – es half nichts, er blieb dabei: ›Maler!‹ Ja, jetzt konnte er
reden. Warum hatte er denn all das dem Onkel nicht gesagt?!

»Du dumme Jung’, hättste doch wat riskiert!« Sie hatte eigentlich über
sein Fortlaufen tüchtig mit ihm schelten wollen, aber jetzt wurde nur
ein liebevoller Vorwurf daraus. »Warum haste dann nix jesagt?«

»Ne!« Er zog sich ordentlich in sich zusammen. »Och, de! De versteht da
ja doch nix von. De denkt nur an Jeldverdienen. Mutter, Mutter, un ich
möcht’ dich doch malen in deinem blauen Kleid, mit deinem blonden Haar,
auf en Altarbild, so wie du bist, un wie du mich anlachst! Verhungeren
werd’ ich schon nit, wenn ich Maler werd’, davor bist du ja da, jelt,
Mutter, jelt?« Er warf sich in ihre Arme und küßte sie stürmisch.

Josefine fühlte ihr Herz aufwallen. Ihr lieber Junge! Unwillkürlich
schloß sie die Arme fester um ihn. Worte der Zärtlichkeit drängten
sich ihr auf die Lippen – aber da, halt, ein rauher Ton unterbrach das
Geflüster.

›Herrraus!‹ schallte es von der Wache herüber. Wer auch im weichsten
Bett lag, mußte es hören; knapp und klar, scharf und energisch drang
das militärische Kommando durch die Nacht.

›Herrraus –‹ wie aus einem Traum erwachend, aufgeschreckt, mit
starren Augen sah Josefine in’s Dunkel. Das war ihr durch Mark und
Bein gegangen. Auf einmal sah sie das Kasernenthor und den Hof und
die Feldwebelwohnung und den Vater und die Mutter. Lang und stramm
der Vater, fest eingeknöpft in seine preußische Montur: ›Maulhalten,
parieren, wird nicht gemuckt!‹ Aber die Mutter legte sich auf’s
parlamentieren, auf’s bitten und betteln: ›Die armen Jüngeskes, die
wollten doch auch ihr Pläsier haben!‹

Unwillkürlich lockerten sich Josefines Arme, mit denen sie ihren Sohn
so zärtlich an’s Herz gedrückt. Ach, wer das doch könnte, nicht zu
streng und nicht zu schwach sein! Sie stand vom Bettrand auf und reckte
sich gerade.

»Peterken,« sagte sie – ihre Stimme wankte noch, aber sie wurde nach
und nach fest – »ich kann dir nit helfen, du mußt jehorchen. Hör’ auf
den Onkel Friederich! Siehste, de kömmt voran. Werd’ kein Maler! Et is
ja schön, aber« – sie zögerte und seufzte – »aber ich bin doch e so
bang, da wirste bummelig. Un wenn du nit so ’n jroß Talent hast, wie de
Achenbachs oder wie de Knaus, dann sitzte da. Un du sollst doch deinem
Bruder bald en Stütz’ sein, un wenn ich alt bin –«

»Och, Mutter,« nun lachte der Peter hell heraus, »sag doch jleich:
›Wenn ich mit’m Kopp wackel‹!« Er hatte schnell seinen Kummer vergessen
und war jetzt wie außer Rand und Band. Sich in die Höhe schnellend,
faßte er ihr heißes Gesicht zwischen seine Hände und lachte: »Mutter,
du un alt?! Och, Mutter, ne, wenn mer sich dat vorstellt – zum
Kobolzschießen! Ha, ha, du wirst nie alt, du bleibst immer jung!«

»Och Jott,« seufzte sie, seltsam durchschauert, und reckte die vollen
Arme empor. »Früher, da hat et mich immer jejruselt vor’m altwerden,
jetz nit mehr e so arg. Aber Freud’ möcht’ ich vorher noch haben, so
lang’ ich se recht jenießen kann, viel Freud’ – an dir, mein Jung’!«
Sie lächelte. »Peter, thu et mir doch zulieb, hör’ auf den Onkel
Friederich un –«

»Hör’ auf, Mutter,« sagte er, plötzlich zusammenzuckend, unangenehm
berührt, und vergrub den Kopf in sein Kissen. »So – so hör’ ich
nix, ich hör’ jar nix mehr. Aber dat sag’ ich dir, wann ich dann
durchaus nit Maler werden soll, in de Fabrick jeh’ ich nit. Denkt euch
meinswejen wat anderes aus. Ich jeh’ nit in de Fabrick – ich kann
nit!« Die letzten Worte kamen nur noch stoßweise heraus. Er weinte.

Tief betrübt schlich Josefine fort. Da fühlte sie sich am Rock gezupft.
Am Bett ihres Jüngsten war sie vorübergestreift. Nun hielten die
kräftigen Kinderarme sie fest.

»Ich schlaf’ nit,« flüsterte die noch zarte Knabenstimme. »Mutter, thu
ens deinen Kopf ’erunter, dat ich dir wat im Öhrken sagen kann. So –
du wirst doch alt, wenn de Peter auch sagt, du bleibst immer jung; dat
denkt de sich nur all so aus. Alle Leut’ werden alt.« Er stand im Bett
auf, steckte den Kopf unter ihrer Achsel durch und zog sich ihren Arm
über die Schultern. So ruhte sie auf ihm mit ihrer ganzen Schwere.
»Fühlst de’t nu, ich bin stark,« sagte er. »Un wann de mit dem Kopf
wackelst, un en janz alt Mütterken bist, dann führ’ ich dich immer so –
jelt?«

Sie nickte stumm, und dann strich sie dem Kind über den Kopf.

»Ja, du, du klein Stümpken! Nu leg’ dich!«

Er duckte sofort nieder. »Jut’ Nacht, Mutter!«

Und als sie noch einen Augenblick stand, hörte sie schon seine ruhigen,
gleichmäßigen Atemzüge.

Ihr Großer weinte noch immer dumpf in sein Kissen, aber sie ging nicht
mehr hin zu ihm.

Das ›Herrraus!‹ der Wache dröhnte ihr noch immer in den Ohren.




XXII


Der Halbfastenmarkt auf dem Karlsplatz war im Gang. Eigentlich hätte
es schon Frühling werden müssen, aber die Zelttücher der Buden wehten
noch wild im Sturm. Der Madame Lefèbre, die wie alljährlich ihren Stand
aufgeschlagen, war die Bedachung über’m Kopf weggeflogen, und der kalte
Regen goß auf ihre berühmten Lebkuchen. Am Hammerdeich, auf dessen
Rasenhang sich sonst längst die ersten Veilchen sonnten, stand das
Rheinwasser hoch, und im Hofgarten duckten sich Bäume und Büsche noch
scheu vor’m rasenden Märzwind.

In der Kaserne feierten die neununddreißiger Füsiliere mit Kling und
Klang den siebzigsten Geburtstag König Wilhelms. Rinkes Fina, wie die
Bewohner der Kasernenstraße die Witwe Conradi noch immer nannten, hatte
unzählige weiße Wildlederhandschuhe dafür zu waschen gehabt. Bruder
Friedrich hatte sie auf diesen Nebenerwerb gebracht. Jede Parade, jede
Besichtigung gaben ihr nun zu thun; selbst die Herren Offiziere wandten
ihr ihre Kundschaft zu.

Der Zahlmeister, eine wichtige, stattliche Persönlichkeit und Witwer,
hatte die hübsche Frau unter seine ganz besondere Protektion genommen.
Er brachte seine Handschuhe immer selber, und dann zögerte er länger im
Lädchen, als nötig gewesen wäre. Er war sehr entgegenkommend. Josefine
ging schon mit dem Gedanken um, ob sie ihn einmal bitten sollte, ihr
den Eintritt in die Kaserne zu ermöglichen. Bis jetzt hatte sie nur
immer durch’s Thor einen Blick erhascht auf die Ahornbäume. Die waren
noch da, nur größer geworden. Aber daß die Feldwebelwohnung in Hof I
nicht mehr als solche diente, das hatten ihr der Gefreite Hucklenbruch
von der vierten Kompagnie und der Unteroffizier Schmidt erzählt.

Sie begriff gar nicht, was die immer über die alte Kaserne zu
schimpfen hatten! Die Stuben wären zu klein und zu niedrig, die Thüren
Nasenquetschen, in den Blocks seien keine Gänge, die Räume zu ebener
Erde feucht! Ach, und ihr war doch alles so groß und weit und schön in
der Erinnerung! Daß Düsseldorf freilich eine ganz nette Garnison wäre,
das mußten Schmidt und Hucklenbruch zugeben.

Ja, es war besser geworden zwischen Militär und Bürgerschaft.
Königs Geburtstag feierte die Stadt freundschaftlichst mit. Der
Kartätschenprinz war ja nun König, ein alter schon und ein siegreicher
dazu! Alle Ohren hatten sich gespitzt beim Klang der großen Reveille,
der Paradeplatz war von Tausenden umdrängt, die Schulen hatten frei;
man sah Offiziere in höchster Gala mit Helmbüschen und befrackte Herren
in Cylinder und weißer Binde zum gemeinschaftlichen Festessen in der
Tonhalle gehen.

Aus den Mannschaftsküchen wehten Schweinsbratendüfte Josefine in die
Nase, als sie aus ihrem Fenster zur Kaserne hinüberblinzelte. Ach, sie
erinnerte sich solcher Festtagsgerüche gar wohl!

Als gestern abend der große Zapfenstreich durch die Straßen
quinkelierte und Bürger in Scharen gefolgt waren, da hatte auch sie
ihre Jungen untergefaßt, und war mitgezogen im gleichen Schritt und
Tritt.

»Mutter, kannst du aber marschieren!« sagten die Kinder und lachten.
Ja, das konnte sie auch noch – eins, zwei – eins, zwei – hatte sie es
denn nicht gelernt?

»Mutter, du hälst ja Tritt wie einer – äh, – bei Seiner Majestät Jarde
– äh!« neckte der Peter und äffte den Berliner Gardeton nach.

Es verdroß sie fast ein wenig, daß der Junge so spottete. Vertraulich
nickte sie zur alten Kaserne hinüber, deren Umrisse eben wieder im
ungewissen Schein der im Wind flackernden Laternen auftauchten.

Zu Hause beim Ferdinand, der unterdes das Lädchen bewacht – dazu ließ
er sich wenigstens herbei – hatte sie dann den Gefreiten Hucklenbruch
gefunden.

»Och, Herr Hucklenbruch, wat sind Sie verdrießlich!«

Sie that verwundert darüber, aber eine Röte stieg ihr verräterisch
in’s Gesicht. Wußte sie doch ganz genau, der junge Mensch kränkte
sich, daß sie ihm schon neulich rundweg abgeschlagen, morgen mit bei
dem Königs-Geburtstagsball zu sein. Nicht, daß sie nicht noch einmal
in ihrem Leben gern getanzt hätte – o, sie wollte den Walzer wohl
schleifen und den Rheinländer schon wiegen! Als er ihr die Einladung
so dringend gemacht, da war ihr wohl für ein paar Augenblicke die
Lust angekommen, aber nein, der junge Mensch, was würde sich der dann
einbilden?!

Er sah sie so wie so immer so glühend wie möglich an mit seinen
wasserhellen Augen und drehte dabei verlegen an seinem schüchternen,
flachsblonden Schnurrbärtchen.

Nun wollte er noch einmal sein Heil versuchen. Nicht umsonst war er an
der Porta Westfalica zu Hause – die von der roten Erde haben alle eine
gewisse stille Zähigkeit.

»Sie wollen also sicher und chewiß nich, Madam Conradi, und es wird
so schön.« Er sah sie an, als hinge seine ganze Seligkeit von ihrer
Antwort ab.

»No, so geh doch als, Finken,« sagte der Invalide; der junge Westfale
mußte ihn wohl gespickt haben, denn er redete sehr eifrig zu. »Wenn mer
so lang Trübsal geblasen hat, wie du, kann mer sich wahrhaftig emal en
klein Pläsier gönnen.«

»Ich hab’ nit Trübsal jeblasen,« entgegnete sie rasch und zeigte mit
einem vollen Lachen ihre weißen Zähne.

»No, ich mein’ – no, du bis ja doch nu als zwei Jahr Witwe!«

»Och so, du meinst wejen dem Conradi?! Ne!« Sie schüttelte den Kopf,
ihr Lachen wurde zu einem wehmütigen Lächeln. »Ne, wejen dem könnt’ ich
ruhig auf der Ball jehn, de würd’ sich nur drüber freuen.«

»Och, dann kommen Sie doch hin,« bat der junge Westfale, und sein
helles Gesicht, mit dem Sattel von Sommersprossen über der Nase,
strahlte. »Chewiß und wahrhaftig, Sie riskieren nix!« Er hob ernsthaft
die Hände. »Bei mir sind Sie wie in Abrahams S-chößchen. Chehn Sie doch
mit, chehn Sie doch mit! Es wird chanz wunderschön!« Im Eifer that er,
was er sich noch nie getraut hatte, und legte kühn den Arm um ihre
Taille.

Da machte sie sich lachend frei; dem nahm sie das nicht übel, der war
ja noch so jung und – er hatte ihr oft von Haus erzählt – guter Leute
Kind. Der war nicht frech. So lächelte sie ihn freundlich an, aber sie
blieb bei ihrer Absage.

»Danke sehr, Hucklenbruch, aber ne, dat wär’ ja wohl lächerlich, wann
ich mit Ihnen wollt’ auf der Ball jehn. Ich hab’ ja so ene jroße Jung’!«

Der junge Mensch wurde dunkelrot: das verletzte ihn doch gar zu sehr.
Nicht zum erstenmal ließ sie es ihn fühlen, daß sie ihn nicht recht für
voll erachtete, daß er ihr zu jung war. Nein, er wollte auch gar nicht
mehr an sie denken, es gab hübsche Mädchen genug, die gern mit ihm auf
den Ball gingen. Er pfiff auf ihre Freundlichkeit! Sie brauchte ihn
auch gar nicht mehr zu fragen, was denn seine Mutter geschrieben, und
ob es beim Exerzieren ›gut gegangen hatte.‹ Und doch fuhr es ihm wie
ein Stich durch die Seele, als jetzt die Ladenschelle bimmelte und der
Unteroffizier Schmidt schnellen Schrittes über die Schwelle trat.

»’n Abend,« sagte Schmidt recht forsch und legte, die Hacken
zusammenklappend, den Finger an die Mütze. »Wie steht das Befinden?
Alles wohl? Freut mir unjemein!«

Wie der den militärischen Gruß und das Schwadronieren weg hatte, der
Kerl! Natürlich, ein Berliner! Die lagen ja schon neunmal klug in den
Windeln! Der kleine Hucklenbruch warf einen bitterbösen Blick nach dem,
für einen neununddreißiger Füsilier auffallend großen Menschen.

Schmidt lehnte jetzt über den Ladentisch, den rechten Ellbogen
aufgestützt, und redete auf Frau Fina ein. Was er sagte, konnte der
Eifersüchtige nicht verstehen, wie sehr er auch die Ohren spitzte.
Aber er sah, wie die blonde Frau mit gesenktem Blick zuhörte. Das
Blut sauste ihm in den Ohren: ob sie am Ende mit dem hinging? Der sah
natürlich älter aus, hatte dunkles Haar und ein entschlossenes Gesicht
– ein freches Gesicht! Der war ihr nicht zu jung.

Aber nun durchrieselte ihn ein freudiger Schreck, denn sie sagte:

»Ne, danke, Herr Unteroffizier, wat Sie da auch all’ sagen, ich jeh’
nit mit.«

»Nanu, da brat’ mir doch eener ’n Storch!«

Der Westfale triumphierte. Das war recht, das war recht, daß der
Berliner einen Korb kriegte!

»Un dann,« sagte Josefine und sah sich lächelnd nach Hucklenbruch um,
»un dann hab’ ich et ja auch als dem da abjeschlagen!«

»So, – na denn!« Ein rascher Blick des Unteroffiziers streifte den
flachsblonden Gefreiten. Dieser empfand es deutlich: das war lauter
Geringschätzung, mit der der unverschämte Berliner ihn maß. Er hätte
sich auf ihn stürzen mögen, ihn mit den Bauernfäusten zerbläuen.

Aber Schmidt drehte schon seine schlanke Figur mit einer gewandten
Schwenkung zur Thür. »Na, denn nich schöne Frau! Adjö Sie!«

Noch einen schnellen Blick tauschten die beiden Rivalen, dann klappte
die Thür; man hörte Schmidts Pfeifen draußen auf dem Trottoir.

Der freche Kerl! Was sollte das heißen, dieses verächtliche: ›Na, denn
nich!‹?! Hucklenbruch grübelte; eigentlich hätte er dem Verhaßten
nachgehen müssen, und ihn zur Rede stellen – ›na, denn nich! na, denn
nich!‹ – aber es hielt ihn hier im Lädchen wie mit Banden. Er war sehr
glücklich darüber, daß sie den Schmidt hatte ablaufen lassen; sein Herz
puckerte, nun war er auf einmal gar nicht mehr so unglücklich, daß
sie morgen nicht mitkam. Sie ging eben überhaupt nicht zu dem Ball;
und wär’ sie gegangen, wäre er, er der Bevorzugte gewesen! Das machte
ihn stolz. Er konnte die Thür nicht finden und merkte nicht Josefines
verstohlenes Gähnen; er saß und saß.

Es war ein seliger Abend. Wäre nur nicht noch kurz vor Zapfenstreich
der Herr Zahlmeister erschienen. Der brachte ein Paar Handschuhe, die
er schnellstens gewaschen wünschte.

Achtung, der kam doch nicht bloß wegen der Handschuhe! Der Dicke mußte
deftig viel getrunken haben; denn er kollerte wie ein Truthahn vor der
Henne.

Auch er fragte, ob Frau Conradi nicht dem Fest morgen in der Kaserne
beiwohnen wolle, ›unter seiner speziellen Führung,‹ wie er galant
versicherte.

»In unsern Jahren liebt man zwar das Tanzen nicht mehr,« meinte er und
beugte sich über den Ladentisch, »desto mehr aber die Gemütlichkeit.
Leider Gottes hat man die ja im verwitweten Stande nicht immer –« er
seufzte – »aber man sucht sie doch!«

Hucklenbruch wurde es bang. Die Witwe hörte das alles so still an
und sah nachdenklich drein. Sie würde doch am Ende nicht mit dem
Zahlmeister auf den Ball gehen?! Ungestüm fuhr er von seinem Sitz auf,
da sah ihn des Zahlmeisters rotes Gesicht von oben herab an. »Was
machen Sie denn noch hier, Gefreiter? Es wird gleich blasen!«

Hucklenbruch stand stramm und sagte: »Jawohl, Herr Zahlmeister!« Aber
Wut kochte in ihm.

Draußen erklang das verwünschte: ›Zu Bett, zu Bett!‹ Da schlich er
zur Thür und schluckte an den Thränen, die ihm brennend in der Kehle
quollen.

       *       *       *       *       *

Wenn die Witwe Conradi gewollt hätte, den Zahlmeister hätte sie kriegen
können; nur einmal hätte sie die fleischige Hand mit dem breiten
Daumen fester zu drücken brauchen. Aber sie drückte nicht. Die Spatzen
pfiffen’s von den Dächern der Kasernenstraße, in den Blocks wurde es
bespöttelt: der dicke Zahlmeister stieg Rinkes Fina nach. Nicht bloß
Hucklenbruch und Schmidt, nein, manch andrer noch, der in’s Lädchen
kam, schnüffelte neugierig, wie weit wohl die Sache gediehen sei.

Der kleine Hucklenbruch, der wacker von Hause geschickt bekam – sein
Vater hatte einen schönen Hof unweit Bielefeld – machte sich an den
Invaliden. Dieser war nie abgeneigt, sich nebenan in der Wirtschaft
traktieren zu lassen; wenn er erst zwei, drei Gläser getrunken hatte,
wurde er sehr gesprächig. Einige Schwierigkeiten machte es freilich
immer, ihn von der Erzählung seiner Kriegsgeschichten abzubringen, aber
Hucklenbruch hatte nun schon einige Geschicklichkeit, beim vierten Glas
die Unterhaltung auf die Witwe hinüberzuspielen. Dann schimpfte der
Invalide: ›Die Fina passe ihm gar zu sehr auf! Den Schlüssel kriege er
nie; nie, daß er mal abends heimlich in’s Haus konnte! Auch daß sie den
Zahlmeister nicht nehmen wolle – dummes Weibsbild! Was war über den
zu lachen? Geld hatte der Mann – und dann die Stellung! Zahlmeister –
Offiziersrang! Vielleicht ging’s einem auf die alten Tage dann noch
mal ebenso gut, wie der Mutter, der reichen Frau Schnakenberg von der
Königsallee!‹

Seit Ferdinand gelernt hatte, mit dem Bein des Stiefvaters zu gehen,
sang er dessen Lob. Ein spendabler Mann! Ein- für allemal, Sonn- und
Feiertags, konnte er sich da mit zu Tisch setzen und lecker essen. Und
nach dem Essen verteilten sie drei sich auf drei bequeme Kanapees, und
abends steckte ihm der Schnakenberg alle Taschen voll Cigarren.

Jedoch beim fünften Glase wurde der Invalide weich; dann beklagte er
seine Schwester: ›So ein hübsches, kreuzbraves Weib! War’s nicht ein
Jammer, daß die schon Witwe war und sich so plagen mußte?! Abends als
letzte zu Bett, morgens als erste auf.‹

»Bekucken Se sich mal dem Fina seine Fingeren, junger Mann, wie die
verarbeit’t sind,« sagte er dann wohl und sah so gerührt aus, daß auch
der blonde Westfale weichmütig wurde. »Un alles für den Jung’, den
Faulenzer, den Peter, der nix thun möcht’, als dem lieben Gott den Tag
abstehlen un der Mutter auf der Tasch’ liegen!«

Insofern hatte das Humpelbein nicht ganz unrecht: Josefine hatte Sorgen
um ihren Peter gehabt. Mit Händen und Füßen hatte der sich gesträubt,
den Platz als Lehrling einzunehmen, den ihm Onkel Friedrich mit vieler
Mühe in der Fabrik auf der Grafenberger Chaussee, wo man die schönen
schmiedeeisernen Gitter machte, besorgt hatte. Der Junge war krank
geworden. O, die Fabrik, die Fabrik! Er schlich umher und war blaß wie
Wachs, richtig wie ein bleichsüchtiges Mädchen, sagte der Doktor, den
die besorgte Mutter rief.

So waren sie nun übereingekommen – ganz den Willen konnten und wollten
sie dem Jungen nicht thun – ihn zu einem Anstreicher in die Lehre
zu geben. Die Werkstatt des Malermeisters Cremer war einem Atelier
doch zum Verwechseln ähnlich. Das Anstreichen war der Peter denn auch
leidlich zufrieden. Vorderhand durfte er freilich nur erst ›Pliesterer‹
sein und Hauswände und Hofmauern weißen, aber bald sollte er zur
Ölfarbe avancieren.–

Der Sommer stand auf der Höhe, die riesige Fronleichnamsprozession war
längst vorbei, auch die Jubelfeier des Martyriums der Apostelfürsten
Petrus und Paulus; die Neununddreißiger hatten ihr Erinnerungsfest
an die Schlacht bei Hammelburg begangen – da drückte sich schon der
junge Peter einen Kalabreser auf den Lockenkopf, wie ein echter
Kunstbeflissener.

Von dem Thaler, den ihm Onkel Friedrich einst gutgelaunt in die Hand
gesteckt, hatte er sich sofort in der permanenten Ausstellung bei
Schulte abonniert; sehen wenigstens wollte er Bilder. Aber er malte
auch endlich selber eins – seine Mutter.

Mit einer seltsamen Bewegung saß Josefine dem Sohn an den
Sonntagsstunden, an denen das Lädchen geschlossen war. Heimlich that
sie’s, wie eine Sünde; sie schämte sich vor den Nachbarn, vor den
Brüdern, vor der Mutter. Die würden sagen, sie sei närrisch mit dem
Jungen.

Draußen brütete die Hochsommersonne auf dem Pflaster, oben in der
versteckten Bodenkammer war der Nachmittag auch nicht kühl. Eine hohe
Röte lag auf Josefines Wangen und verlieh ihren Augen gesteigerten
Glanz. Sie saß auf einer alten Kiste und lächelte voll geheimen
Entzückens den Sohn an, der ernsthaft und eifrig den Pinsel über die
Leinwand führte. Eine stolze Freude überkam sie: das sollte sie sein,
sie? Wahrhaftigens Gott, der Jung’ konnte malen!

Aber ein geheimes Grauen überlief sie, und sie wollte es ihm ausreden,
daß dies ein Muttergottesbild werden sollte. Wie konnte das =ihre=
Züge tragen?! Sie hatte ja nicht Krone, noch Mantel, noch ein
sternbesticktes Gewand; auch Lilien ließ er nicht neben ihr sprießen.

»Dat thut auch nit nötig,« sagte er. »Ich denk’ mir dich hier als die
Maria, wie sie noch jlücklich war. Aber kuck ens – hier dat Fältchen
zwischen den Augenbrauen – siehste, dat deut’t schon drauf hin, dat se
Leid kriegt. – Mutter, du brauchst doch nit als jetzt bang zu werden!«

Unwillkürlich hatte sich ihr Gesicht verfinstert; sie sah ihn an mit
einem unruhigen Blick. Er lachte hell auf, und da lachte auch sie
wieder.

Sie malten weiter. Ferdinand war mit dem Jüngsten nach Stockkämpchen
marschiert – mit dem Fritz konnte man den Invaliden ruhig ziehen
lassen, der paßte schon auf, daß der Onkel nicht des Guten zuviel that
– niemand störte die Sitzung. Stunden vergingen, sie merkten es nicht;
er nicht in seinem Eifer, sie nicht in ihrem Glück.

Sie sprachen nicht. Josefine hielt den Atem an und wagte nicht, sich zu
rühren. Unverwandt hing ihr Blick an Peter: wie seine Augen leuchteten!
Und auf der hellen Stirn, unter den dichten Haarringeln, perlte
ihm der Schweiß vor. Und wenn er dann und wann zurücktrat, um mit
prüfendem Blick sein Werk zu betrachten, strahlte sein ganzes Gesicht.
Tausend Sonnenfünkchen spielten auf seinem weißen Malerkittel; über
die verstaubten Dachsparren tanzten goldene Lichter. Auf den grauen
Wänden, auf all dem alten Gerümpel eine Flut von warmem, lebensvollem
Sommerglanz.

Als endlich die Dämmerung kam, schlichen sie leise herab von ihrer
Bodenkammer. Noch waren sie allein. Sie gingen über das enge Höfchen
in das kleine Gärtchen. Beide atmeten tief. Und sie schritten um die
kleine Bleiche in der Mitte des Gärtchens, auf die schon der Tau
fiel, immer rund herum und Hand in Hand, bis daß es ganz dunkel war
und nur am verwitterten Plankenzaun der alte Rosenstrauch mit seinen
mattduftenden, hängenden Blüten noch gespenstisch schimmerte.




XXIII


Herr und Frau Schnakenberg waren in Paris gewesen. Sie hatten sich
alles mögliche von dort mitgebracht; es war eine förmliche Ausstellung
in ihrem Haus auf der Königsallee.

Gleich der Läufer im Flur kam von der Weltausstellung. »Persianisch,«
sagte Herr Schnakenberg. Und der Teppich im Salon war aus ›Ka–iro‹. Und
in jeder Ecke stand ein Spucknapf, der war aus Kokusnußschalen von der
Südsee; das war doch was andres, als die gewöhnlichen ›Quispeldörchen‹!

Den Garten zierten allerlei Gnömchen und Hasen und Rehe aus Porzellan.
Der Transport hatte freilich mächtig gekostet, Herr Schnakenberg
verriet nicht wieviel.

Frau Trina hatte mehrere seidene Kleider eingekauft: schwarze Seide aus
Lyon, rohe Seide aus China, von leibhaftigen Würmern gesponnen. Auch
Stickereien aus der Schweiz und Valencienner Spitzen, schöne Sofakissen
und eingelegte Perlmuttertischchen und Vasen mit unverwelklichen
Blumen. Ihr Hendrich hatte ihr zum Andenken an die Reise ein Armband
aus Marokko um’s Handgelenk gelegt und eine Brosche mit römischer Kamee
an den Busen gesteckt.

Das Reizendste aber war die Nuß mit einem winzigen Schachspiel darin,
die sie dem Ferdinand mitgebracht hatten, und der kleine Regenschirm
aus Elfenbein für Josefine. Wenn man durch ein Löchelchen oben an
dessen Griff guckte, sah man die ganze Pariser Weltausstellung und die
Porträts von Napoleon und Eugenie und Lulu. Jeder der Angehörigen, auch
Peter und der Kleine, bekamen ein Stück Veilchenseife aus Parma und ein
Flacon Rosenöl aus den Gärten von Schiras.

Ja, in Paris konnte man noch kaufen, da gab es was andres, als hier in
den lumpigen Läden! Herr Schnakenberg bedauerte nur, daß er nicht auch
von den Früchten aus der Bourgogne und dem prachtvoll schönen Gemüse
aus Algier hatte mitschleppen können; das ging doch noch über den
Hammer Kappes.

Man mußte gestehen, der Napoleon war ein kluger Kopf. Hatte er sich
nicht durch seine prächtige Weltausstellung sämtliche Potentaten in’s
Land gelockt, daß sie ihm sozusagen den Hof machten? Herr Schnakenberg
hatte sich nicht entschließen können, zu Hause zu bleiben, wenn
der Zar von Rußland, der König von Preußen, der Kronprinz und die
Kronprinzessin nach Paris reisten. Besonders von der französischen
Kaiserin war er sehr hingerissen. Die Königin Augusta sollte ja auch
mal eine recht ansehnliche Dame gewesen sein, aber so schön wie
die Eugenie war sie gewiß nie! Die trug eine Krinoline und einen
Chignon. Herr Schnakenberg geriet noch in Ekstase, wenn er schilderte,
wie er sie in der Avenue des Champs Elysées hatte fahren sehen, in
malvenfarbener Seidenrobe, den Sonnenschein auf ihren rotgoldenen
Haaren, und den Prinzen Lulu an ihrer Seite, in kurzen Hosen, roten
Strümpfen, mit dem Kreuz der Ehrenlegion auf der Sammetjacke.

Paris, Paris – das war die Hauptstadt der Welt!

Viele Düsseldorfer Bürger hatten es wie Schnakenberg gemacht; es
gehörte eigentlich zum guten Ton, diesen Sommer in Paris gewesen
zu sein. S. Sternefeld & Co. konnten nun sehen, wo sie ihre Waren
losschlugen, man hatte sich die Novitäten selber von Paris mitgebracht.
Und nur was von dort kam, hatte jetzt Wert.

»Kümmel,« sagte zwar Peter und rümpfte die Nase, als er die Schätze der
Großmutter besehen. Aber die hatte nur keinen Geschmack. Die Pariser
waren schon voran, besonders in der Kunst! Waren nicht schon viele
junge Künstler dorthin gewallfahrtet und als große Meister heimgekehrt?
Warum fiel’s denn keinem Menschen ein, nach der preußischen Hauptstadt
zu gehen, da gab’s doch auch eine Akademie? Bah, die Berliner hatten ja
gar keine Kunst!

Er fabelte immer von Paris. Wenn seine Lehre bei Meister Cremer um
war, wollte er auch nach Paris wandern, in die Stadt der Freude, der
Schönheit, der Kunst. Wenn man dort nur auf’s Pflaster trat, flog es
einem schon an. Da wurde auch noch ein Maler aus ihm, so ein richtiger,
kein lumpiger Anstreicher!

Und doch fühlte er sich jetzt leidlich zufrieden; Farben, Farben – er
roch sie wenigstens. Der Meister war erstaunt über die Fortschritte des
Lehrlings; dem konnte man schon getrost ein Stück Arbeit überlassen,
wie einem Gesellen. Freilich mit der Schablone klexte er noch oft über,
aber so was aus freier Hand, so eine Verzierung: ›da hat er Idee von,‹
sagte Meister Cremer, ›un auch Talent for!‹

Josefine pries sich jetzt glücklich, wenn sie von der abscheulichen
Roheit und den Messerstechereien hörte, die in erschreckender Weise in
den Industriedistrikten zunahmen, daß ihr Peter nicht in einer Fabrik
steckte. Denn von immer neuen Greuelthaten las man im Blättchen und
sonst nur Klagen über die Bedrängnis des Heiligen Vaters und Adressen
der katholischen Bürgerschaft mit der dringenden Bitte an den König,
den Heiligen Vater zu schützen. Josefine zerbrach sich den Kopf:
warum bedrängten sie denn den armen Papst, der that doch keinem was
zuleide?! Nun, bald kam ja der König in’s Rheinland, und da würden
die Rheinländer schon den Weg zu seinem Ohre finden! Recht leutselig
sollte der ja sein und anders wie sein Bruder, Friedrich Wilhelm IV.!
Es gab noch viele Bürger, die sich an dessen Besuch in der tollen Zeit
erinnerten. – –

Am 20. August wurde König Wilhelm, auf der Reise zum Kölner Florafest,
in Düsseldorf erwartet.

Ein patriotischer Lokalpoet begrüßte ihn:

    ›O König, Führer du der Künste und Gewalten,
    Mag Gott in Frieden dich noch lange uns erhalten!‹

Die gesamte Bürgerschaft jubelte Willkommen.

Als der Zug mit dem königlichen Gast in den Bahnhof einlief, flammte
vom Turm der evangelischen Kirche ein riesiges, feuriges W; die
Kaserne, das Präsidialgebäude, der Jägerhof, das Rathaus strahlten.
Überall Illumination. Besonders das Hotel ›Zum Prinzen von Preußen‹
that sich hervor; das einst verbannte Schild thronte zwar längst wieder
oben, heut aber war es wie ein Transparent durchglüht und zeigte in
stolzem Freudenschein den prinzlichen Namen. Pechpfannen loderten, ein
mächtiger Feueradler reckte seine Krallen.

Ein endloser Fackelzug – vierhundert Sebastian-Schützen voran – bildete
Spalier. In der Königsallee quetschte sich die Volksmenge, einen Blick
auf den Gefeierten zu erhaschen; die Hand mußte ihm ganz lahm werden
vom vielen Grüßen. Kinder hingen auf Bäumen und Laternenpfählen; und
auch Josefine stand auf einem Prellstein an der Benrather Brücke.

Eigentlich war es gar nicht ihre Absicht gewesen, gucken zu gehen. Nur
auf dem Weg zu ihrer Mutter war sie in den Trubel geraten. Sie wunderte
sich, daß die Bürger so laut jubelten, – hatten sie, vor nicht zu
langer Zeit, nicht noch ebenso laut geschimpft?! Ganz verdutzt stand
sie auf ihrem Prellstein; auch wenn sie gewollt, sie hätte nicht wieder
herunter und weiter gekonnt, um sie breitete sich ein Meer von Köpfen,
von winkenden Armen, von wehenden Taschentüchern.

Ein aufgeregtes Flüstern, ein Raunen und Tuscheln ging durch die Menge:

»Kömmt he?«

»Wo, wo, wo?«

»He küt, he küt!«

»Hurrah!«

»Hoch, hoch, hoch!«

Immer mehr schwoll der Ruf an:

»Es lebe König Wilhelm! König Wilhelm! König Wilhelm!«

Und nun klang majestätisch:

    ›Heil dir im Siegerkranz!‹

Die Musik spielte es, brausend fiel die Menge ein, das Volk warf sich
fast vor die Räder.

    ›Herrscher des Vaterlands –
    Heil König dir!‹

Der Wagen mußte halten.

Schlicht, im dunklen Soldatenmantel, blitzend nur die Helmspitze – der
Jäger auf dem Bock war feiner wie er – saß der König da.

Also das war er?!

In erwachter Neugier reckte sich Josefine. Der hübsche, alte Herr
mit den weißen Bartkoteletten – hm – also das war der Herrscher des
Vaterlands?!

Er lächelte über’s ganze Gesicht, er grüßte unablässig.

    ›Fühl in des Thrones Glanz
    Die hohe Wonne ganz –‹

O, wie er lächelte! So gut, so von Herzen! Josefine wurde es warm. Das
war kein Herrscher, das war der Mann, auf den ihr Vater gehofft! Es gab
ihr inwendig einen starken Ruck.

    ›Liebling des Volks zu sein!‹

brauste der Chor.

»Heil König dir!« Sie hatte ihre Stimme mit erhoben, ohne es zu wissen.
Hell übertönte ihr starker Ruf den Gesang umher. Hoch hatte sie sich
auf dem Prellstein aufgerichtet in ihrer ganzen Stattlichkeit, ihr Tuch
sich vom Hals gerissen und schwenkte es nun heftig:

»Heil König dir!«

Nun sah er sie – sie ganz besonders! Ja, sie fühlte seinen Blick. Und
dann lächelte er gütig und nickte. Ach, er nickte, er winkte! Ihr,
hatte er ihr nicht ganz besonders zugenickt?!

Ihre Arme streckten sich aus, ihr Herz schlug ihm entgegen, hingerissen
von so viel Freundlichkeit.

Sie stand noch verträumt, mit heißgeröteten Wangen, als eine bekannte
Stimme sie aufschreckte.

»No, Finken, als auch kucken jejangen?«

Es war Schnakenberg. Er trug seinen feinsten Rock und den Stock – die
Weinrebe mit dem goldenen Knopf –, den er sich aus Paris mitgebracht
hatte.

»Haben Se ihn auch jesehn?« fragte Josefine noch zitternd vor Erregung,
»den König, den König?!«

»Och, eja, en janz nette Mann,« sagte Schnakenberg. »Ene janz artige
Mann. Et is ens jut, dat de von Bismarck nit mit derbei war, da wär’ et
unjemütlich jeworden, denn de –«

Er unterbrach sich. »Lauf’ ens bei de Mutter, Fina, du weißt doch, heut
is dem selige Willem sein Jeburtstag, da is se janz aus ’m Häuschen.
Och, jemmich! Ich sag’ et ja immer, laß en Mess’ für ihn lesen oder
auch zwei, de is längst tot un bejraben. Aber dat darf mer beileib nit
sagen, dann wird se falsch. Se weint der janze Tag; et is wahrhaftijens
Jott unjemütlich! Ich jeh’ nach der Uehl, da wolle mer ens de König
lebe lassen. Aber dat muß mer sagen, alles wat wahr is, de Napoleon
hat en noblere Kutsch’. De hat mehr _savoir-vivre_ – aber kann ei’m
dat wunderen von so ene Preuß’?! Na, adjüs, Fina, viel Pläsier!« Er
blinzelte ihr zu und schlug dann den Weg ein, der zum Wirtshaus, die
Uehl, in der Ratingerstraße führte.

Die Volksmenge war dem königlichen Wagen, der zum Präsidialgebäude
fuhr, nachgeströmt; einsam lag die Königsallee, stiller noch wie sonst
am Abend, wenn unzählige Liebespärchen leise im Dunkel der schattenden
Kastanien wandelten.

Da war schon Schnakenbergs Haus. Josefine war erstaunt: von den
Mansarden bis herab zum Parterre prangte es in einer glänzenden
Illumination. Der Stiefvater war doch ein besserer Patriot, als er zu
sein schien!

Die Magd öffnete ihr, auf Strümpfen gehend.

»St,« flüsterte Drückchen, »jeht e bißke leis, Frau Conradi, de Frau
Schnakenberg is im Hinterzimmerken.« Damit deutete das brave Drückchen
alles an, was diesen Tag bewegte.

Frau Trina hatte überall neue Möbel: Kirschbaum im Salon, Eiche im
Eß-, und Nußbaum im Schlafzimmer; nur ein ganz kleines Hinterstübchen
war noch da, in das sie alle Möbel ihres einstigen Haushaltes
zusammengepfercht hatte. Da standen sie in ihrer tannenen
Armseligkeit, als ob sie sich genierten; keine Sonne beschien sie, fast
nie wurden die geschlossenen Läden des Fensters geöffnet, das auf die
dunkelste Ecke des Hofes hinaussah. In dieses Hinterzimmerchen zog sich
Frau Trina zurück am Geburtstag ihres Wilhelm.

Josefine trat leise ein. Die Kattungardinen waren dicht vorgezogen, die
Luft war dumpf-kühl und eingeschlossen, wie in einem Mausoleum. Keine
Lampe brannte; auf dem Tisch vor Frau Schnakenberg flackerte einzig
eine dicke Kerze, in einen Behälter mit Sand gestellt: das war das
Lebenslicht, geweihtes Wachs, aber es brannte trüb.

Frau Trina trug ein schwarzwollenes Kleid; das marokkanische Armband,
die römische Kamee und jede goldene Kette fehlte. Sie konnte den Sohn
ja nicht feiern an Allerseelen, wie ihre andern Geschiedenen, nicht an
sein Grab wallen und es schmücken mit Kränzen – er war ja nicht tot.
›Er kömmt wieder, er kömmt sicher und jewiß wieder –‹ sie sagte das
nicht oft, aber sie dachte es immer. Und manchmal ging sie heimlich
hinauf in das Gastzimmerchen, legte die Betten in der Sonne aus und
klopfte den Staub aus dem Sofa. Und heut an dem einzigen Tag, der ›dem
armen Jüngesken‹ ganz gehörte, ließ sie ihre Thränen fließen, als hätte
sie die das ganze Jahr aufgespeichert.

»Mutter, hör doch auf mit weinen,« bat Josefine und setzte sich neben
Frau Schnakenberg. Sie rückte ihren Stuhl ganz dicht heran und legte
den Arm um die Schultern der alten Frau. Heute fühlte sie sich der
Mutter so um vieles näher als sonst im ganzen Jahr – sie wußte ja, wie
man einen Sohn lieben kann.

So saßen sie ganz still nebeneinander in dem engen, vollgepfropften
Stübchen, an demselben tannenen Tisch mit den, von unruhigen
Kinderfüßen abgeschabten Beinen, um den sich einst die ganze Schar in
der Feldwebelwohnung gereiht.

Ach, wo waren sie alle hin?! Josefine stützte den Kopf in die Hand.
Der Wilhelm war verschollen. Der Friedrich, ja der Friedrich – ein
froher Schein glitt über ihr Gesicht – der würde jetzt des Vaters
Stolz sein, wenn er auch kein Soldat war. Dann der Ferdinand – ach du
lieber Gott! Den ganzen Winter hatte der verschlafen in der Ecke beim
Ofen; nur vormittags zum Frühschoppen und abends wieder hatte er sein
Bein angeschnallt, um in’s Wirtshaus zu gehen. Sonst war ihm selbst
das anzuthun lästig; einen ganz gemeinen Stelzfuß hatte er sich machen
lassen, der wär ihm bequemer. Nicht einmal, daß er den Laden versah;
wie angeleimt blieb er in dem alten Ohrenlehnstuhl sitzen, den ihm der
Stiefvater neu mit Wachstuch hatte beziehen lassen, und räsonnierte auf
sein miserables Schicksal.

Und dann der Jüngste, das Karlchen! Vor Jahr und Tag hatte er einmal
geschrieben, er sei jetzt Oberbootsmannsmaat auf S. M. Aviso ›Grille‹.
Im Seegefecht bei Rügen unter Kapitän Jachmann hatte er auch schon
mitgethan. Sie hatten damals gar nichts davon gewußt, ganz zufällig
erfuhren sie’s und hatten sich wohl gefreut, daß er heil aus dem Kampf
mit der dänischen Flotte davongekommen; aber so einen rechten Begriff
konnten sie sich von ihm und seinem Leben nicht mehr machen. Wie um
Jesuswillen war das Karlchen nur dazu gekommen, zur See zu gehen? ›Die
Flotte, die Flotte,‹ das mußte man ja wohl den Jungen zur Zeit in den
Kopf gesetzt haben. Von der Militärerziehungsanstalt zu Annaburg war er
auf die Matrosenschule gegangen.

Josefine seufzte. Daß man bei der Marine, wie es hieß, zehnmal
schneller voran käme wie beim Landheer, das wollte sie ja gern glauben,
aber es war doch traurig, daß man auch von dem Karlchen so gut wie gar
nichts mehr zu sehen und zu hören kriegte!

Unwillkürlich sagte sie laut: »Ob de wohl ens wiederkömmt?«

»De kömmt wieder, de kömmt sicher und jewiß wieder,« murmelte die alte
Frau, nickte eifrig und starrte schwimmenden Auges, mit gefalteten
Händen, in das trüb brennende Lebenslicht.

Josefine wußte es wohl, die Rückkehr ihres Jüngsten kümmerte die Mutter
wenig, die dachte nur an ihren Wilhelm. Da wurde es ihr eng; sie stand
auf, es litt sie nicht mehr in der dumpfen Stube, deren verschlossenes
Fenster keinen Luftzug einließ, deren Winkel alle vollgestopft waren
mit Erinnerungen, die nur =heute= Erinnerungen waren, sonst vergessen
standen und verstaubten. –

Aufatmend trat Josefine unter den freien, reichgestirnten
Augustnachthimmel; wunderbar schön strahlten die Sterne über dem
Exerzierplatz und warfen ihr leuchtendes Bild in den dunklen
Spiegel des Stadtgrabens. Fernab, vom Friedrichsplatz her, rollte
noch das Branden einer aufgeregten Volksmenge; es klang wie
Brausen der Empörung, und doch war’s lauter Freude. Dort, beim
Regierungspräsidenten, war der König abgestiegen, dort stand er nun
gewiß am Fenster, und sie jubelten ihm zu. –

In dieser Nacht schlief Josefine unruhig. Sie träumte: Bald stand sie
auf dem Prellstein und schrie Hurra, bald saß sie in der dunklen Stube
bei der Mutter – ›Er kömmt wieder, sicher un jewiß, er kömmt wieder!‹
Aber eine andre Stimme sprach hart: ›Er kommt nie wieder!‹ – Und dann
nickte ihr der freundliche König zu, und sie nickte wieder. Da streckte
der König die Hand aus und sprach: ›Was giebst du mir?!‹ – Er griff
nach ihrem Herzen – sie schrie laut auf – und wie sie schrie, erwachte
sie, ganz in Angstschweiß gebadet.

Es war sonniger Frühmorgen, Musikfanfaren schmetterten den Tag wach,
drüben rückten die Neununddreißiger aus zur Truppenbesichtigung auf der
Golzheimer Heide. Da sollten sie vor’m König paradieren.

Die Trommeln wirbelten, die Piccoloflöten schrillten:

    ›Freut euch des Lebens,
    Solang das Lämpchen glüht.‹

Hastig eilte Josefine an’s Fenster; hinter dem Gardinchen spähte sie
den Truppen nach – Soldaten, Soldaten, all die blauen Röcke und all
die roten Kragen und die frischen, gebräunten Gesichter drüber. Und
alles blank geputzt; auf tausend Helmspitzen schien sich die Sonne zu
entzünden, es war ein Blitzen und Blinkern. Ei, war das lustig!

»Freut euch des Lebens,« summte sie mit und sah ihnen nach, ganz
vergessend, daß sie sich in der Nachtjacke zum Fenster hinauslegte.

Heute war ein stiller Tag für das Lädchen, die Kaserne wie ausgekratzt,
auch die halbe Stadt auf den Beinen nach der Golzheimer Heide. Den
König sehn, den König! Heute gegen abend reiste er ja schon wieder ab.

Spät mittags war die Parade aus; totmüde, bis zur Unkenntlichkeit von
Staub bedeckt, marschierten die Soldaten wieder ein.

Der König aber besah sich noch rasch die Kunstausstellung bei Schulte
und das Atelier des Schlachtenmalers Camphausen. Er hatte bei Schulte
sogar einen Ankauf befohlen – das Bildchen hieß:

›Die Rekruten.‹




XXIV


Es war für Düsseldorf jetzt an der Zeit, seiner großen Männer zu
gedenken. Die Stadt hatte es ja dazu, sie stand auf blühender Höhe
und war, wenn auch noch nicht in Handel und Gewerbe, so doch in Kunst
und Gartenanlagen der Rivalin Köln weit überlegen. Die Väter des Rats
brauchten sich der Gelder wegen keine Sorgen zu machen; man saß im
Wohlstand. Es war nicht mehr wie billig, jetzt auch äußerlich die
dankbar zu ehren, deren Namen der Düsselstadt ewigen Glanz verliehen.

Ganz einig war man sich freilich nicht, wer diese eigentlich waren.

War es zum Beispiel nötig, an Immermanns Sterbehaus eine Gedenktafel
anzubringen? Der war doch nur Theaterdirektor gewesen und hatte
genug Ärgernis erregt mit seiner Ahlefeld in Jacobis Garten hinter’m
Malkasten!

Ohne Widerspruch dagegen wurde die Errichtung eines Denkmals
beschlossen für Peter Cornelius, ›den größten Sohn der Stadt, den Heros
der deutschen Kunst, den Goethe unter den Malern, der die Kunst aus
der Abhängigkeit undeutschen Wesens befreit.‹

Doch als einige wenige, etwas schüchtern freilich, vorzubringen wagten,
da sei auch noch der Heinrich Heine, der sei doch auch ein Sohn der
Stadt und eigentlich auch ein Genie und auch tot, da ging man einfach
zur Tagesordnung über.

Aber in dem Beschluß, die neue Eisenbahnbrücke bei Neuß ›König
Wilhelms-Brücke‹ zu taufen, ferner zur Jubelfeier der Kunstakademie und
zur Liebesgabe anläßlich des Priesterjubiläums Pius IX. sich mit einer
würdigen Summe zu beteiligen, war man einig.

Professor Caspar Scheuren hatte eben jetzt mit seiner frommen
Aquarellkunst ein Gedenkblatt dieses fünfzigjährigen Priesterjubiläums
entworfen, es hing in jedem besseren Bürgerhaus unter Glas und Rahmen.
Der Dezember 1869 brachte, als passendstes Weihnachtsgeschenk, ein
Pendant dazu: das Gedenkblatt zum ökumenischen Konzil.

Das neue Jahr war in Sicht. So freundlich ging 1869 zu Ende, wie 1870
begann. –

Wie ein Stein in einen stillen Weiher fiel plötzlich in den ruhigen
Jahresbeginn die Kunde, das Konzil habe die Unfehlbarkeit des Papstes
beschlossen. Immer größere und größere Kreise, glucksende Blasen und
unruhige Wellchen bildeten sich auf der eben noch so glatten Fläche.
Etwas war hineingeschleudert, was nicht still zum Grund sank, sondern
wühlte und wühlte. Würde das Dogma von der Unfehlbarkeit durchgehen
oder nicht? Mochte der Jesuitensuperior Rivé zu Köln auch predigen:
›das Dogma von der Unfehlbarkeit sei ein Glaubenssatz, einfach
hinzunehmen,‹ mochte der Pater Roh seine ganze Beredsamkeit entfalten,
– zweihundert Bischöfe stritten dagegen. Das war ein Hin und Her, ein
Für und Wider. Die besten Freunde zankten sich, zwischen Vater und
Sohn klaffte jäh ein Riß; Mägde, die belauscht, worüber die Herrschaft
drinnen im Zimmer disputierte, kündigten. Manche Seele, die gern
glauben wollte, was sie glauben sollte und doch nicht glauben konnte,
ängstigte sich. Und die Andersgläubigen machten ihre Glossen.

Selbst in die Kaserne, in der sonst der Kommiß des Tages einförmigen
Inhalt bildete, war ein Tropfen Ärgernis gefallen. Die Bauernsöhne
erhielten Briefe von Haus, darin die Väter sie ermahnten, und die
Mütter ein Gedenkblättchen vom Heiligen Vater mitschickten.

Auch in der Witwe Conradi Lädchen wurde viel über dies weltbewegende
Ereignis verhandelt. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen
hörte Josefine zu – war’s möglich: der Papst unfehlbar, ein Mensch
unfehlbar?! Als zur Vesper die Glocken von der Jesuiterkirche, von
Lambertus und St. Andreas so schön und sonor läuteten, fühlte sie
sich nicht, wie sonst, bewegt von den frommen Klängen. ›Unfehlbar,
unfehlbar,‹ summte es ihr immer in den Ohren. Im ersten, hastigen
Impuls nahm sie die Heiligenbildchen, die über ihres Kleinen Bett
hingen, herunter und schloß sie in eine Schublade. Jetzt fühlte sie’s:
sie war doch nicht katholisch getauft. Wenn ihre Wiege auch geschaukelt
hatte beim Klang dieser Glocken, einen guten Schuß Blut hatte sie auch
von Vaters Seite her in den Adern; und der war ein Ketzer gewesen.
Der arme Vater! Ihr Blick umflorte sich. Ach, der hatte hier nicht
glücklich sein und auch nicht glücklich machen können! Der hatte die
hier nicht verstanden, und sie hatten ihn nicht verstanden! Ihr war’s,
als würde =sie= ihn jetzt verstehen. Daß sie doch so viel an ihn denken
mußte!

Starren Auges blickte sie hinüber zur Kaserne – da ging sein Geist noch
um. – – – –

Seit Oktober steckte der Peter auch drüben in der Kaserne. Seine
Lehrzeit war um gewesen, der Meister Cremer hatte ihm ein halbes Jahr
geschenkt. Was hätte er denn Klügeres machen können, als gleich seine
Zeit abdienen? Dann war er’s los, und dann würde er die Mutter schon
herumkriegen, ihn nach Paris zu lassen – und da würde er ein Künstler
werden! Ja, das wußte er jetzt. Denn wenn sie ihm auch sagten: ›Hier
streich’ diese Wände an,‹ es würden doch Bilder unter seinem Pinsel
entstehen, Bilder, wie er sie in seiner Seele trug, wie er sie mit
geschlossenen Augen sah, wie er sie nachts träumte. Er glaubte an seine
Zukunft. Und in diesem Glauben erschien ihm das Leben so wunderschön,
so strahlend hell, so voll von Farbe.

Der Kommißdienst machte ihm allerdings wenig Spaß, und die Drillerei
fand er höchst überflüssig; aber da er einen schlanken Rücken und
gerade Beine hatte und keinen so dicken Kopf, wie die westfälischen
Jungen, kam er gut durch. Er war wohl anschrieben. Darüber lachte er
sich freilich eins; er wußte ganz genau Bescheid über die Verehrer
seiner Mutter.

»En janz schneidiger!« sagte Unteroffizier Schmidt oft und klopfte ihm
freundschaftlich auf die Schulter.

Der Berliner erschien dem Peter als ein ganz umgänglicher Mensch.
Mochte der Hucklenbruch auch auf ihn schimpfen, na, der war eben
eifersüchtig! Peter war stolz auf die Triumphe seiner Mutter. Ja, so
frisch wie die, war auch keine! All ihre weißen Zähne hatte sie noch,
kein graues Fädchen im blonden Haar! Und freuen konnte sie sich, ja,
freuen! Als er zum erstenmal in Uniform vor ihr gestanden, da hatte sie
mit einem Jubelruf die Hände zusammengeschlagen, und dann war sie ihm
um den Hals gefallen und hatte ihn geherzt und geküßt wie einen Schatz.

Josefine empfand eine Freude in ihrem Herzen, wie solche das kaum je
bewegt – ihr Junge drüben in der alten Kaserne! Und so beliebt! Sogar
der Hauptmann hatte ihn belobt, als er für die Weihnachtsfeier der
Mannschaft ein Transparent gemalt, einen nackten Engel mit blauem
Lendentüchlein und fliegendem Spruchband:

    _Gloria in excelsis Deo!_

Gab es eine glücklichere Mutter? Morgens belauschte sie das Ausrücken
ihres Sohnes, mittags seine Heimkehr von der Heide oder von den
Schießständen im Bilker Busch.

       *       *       *       *       *

Der Winter war nun vorbei, heller Frühlingssonnenschein beglänzte die
schon gebräunten Gesichter der Füsiliere, der erste grüne Zweig steckte
dem Peter am Helm. Hell trällerte Josefines Stimme der Marschmusik
nach – Frühling, Frühling! Auch für sie war’s noch einmal Frühling mit
ihrem, durch ihren jungen Sohn.

Ganz Düsseldorf feierte Frühling. Alltäglich wallfahrteten jetzt
Scharen von Bürgern durch die schön bestellten Felder, über die
frischer Dung durchdringenden Lenzduft breitete, nach Dorf Hamm
zu Heckers Wirtschaft, wo der fortscheitende Bau der neuen festen
Rheinbrücke die Augen, und der berühmte Spargel nebst Maiwein die
Gaumen angenehm beschäftigte. Auch im Malkasten rührte sich’s;
aufgeweckt durch das maigrüne Rauschen der Bäume im alten Jacobischen
Garten, quakten die Frösche im Venusteich, und lustige Malerkehlen
machten ihnen Konkurrenz.

Der Rhein rollte seine frühlingsgeschwellten Wogen wieder einmal
am alten Schloß vorbei und begrüßte in übermütigem Umfangen die
kleine Düssel, die ihm unter der verwitterten Schloßmauer her im
jungen Liebesrausch in die Arme sprang. Im Hofgarten sangen sich die
Nachtigallen müde; am Kanal, am Schwanenspiegel, in den vielen, vielen
Gärten der Stadt klang ihr schmelzendes Locken.

Auch in Josefines Gärtchen schluchzte eine im hängenden Rosenstrauch
am Plankenzaun. Josefine hörte ihr oft zu – was klagte die?! Lind und
sanft und dunkel lag doch die stille Frühlingsnacht über den Dächern,
jedes Windchen ruhte, ein großer Friede träumte am Himmel und sank
nieder in den Schoß der empfangenden Erde.

       *       *       *       *       *

Was wollte der Mann, der in allen Zeitungen unermüdlich annoncierte
unter dem geheimnisvollen Namen: ›_Maran atha_‹ und seine Mitchristen
zu einem Vortrag in der Bockhalle einlud?! Er kündigte an:

›Die baldige persönliche Wiederkunft unsers HERRN in Herrlichkeit.‹

Das war doch sicher ein Verrückter! Aber da der Eintritt unentgeltlich,
und man sich gern einen Spaß machte, gingen viele hin. Es war ja sonst
nichts los in der Stadt, aber auch rein gar nichts. Nur ein Bild machte
noch von sich reden, das ein junger Kunstschüler, Michael Munkacsy,
dessen Namen man bisher nicht gekannt, ausgestellt hatte: ›Letzter Tag
eines Verurteilten.‹ Das Publikum stand davor, halb ergriffen, halb
erstaunt; und die Maler gingen hin in hellen Haufen und besahen sich,
die Augenbrauen hochgezogen, manche mit leisem Kopfschütteln, dieses
ganz Neue.

Auch Peter sah das Bild. Brennende Thränen traten ihm in die Augen –
der, der das geschaffen, war kaum älter als er! Aufgeregt kam er zu
seiner Mutter. Mit fliegendem Atem sprach er:

»Mutter, dat is en Bild, ich sag’ dir, en Bild! Du sollst nur sehen,
wie de Mann da sitzt, de Verbrecher, die Fäust’ im Jesicht – dat
Jebetbuch liegt auf’m Boden, un se stieren ihn all an, de Leut’, die
ihn kucken jekommen sind – un dat junge Weib weint an der Mauer – un
dat Kind läuft zwischen Vater un Mutter un weiß von nix. Mutter, dat
is en Bild, so eins hat noch keiner hier jemalt! Mutter, de kann wat!
Mutter, nu weiß ich wat Kunst is! Mutter, un siehste, Mutter, so will
ich auch malen!«

Er raffte die Mütze vom Tisch und rannte stürmisch davon. – – –

       *       *       *       *       *

Die Julitage kamen mit drückender Glut, schwere Gewitter zogen schon
am Morgen auf und gingen gegen mittag nieder, aber sie brachten keine
Kühlung. Ebenso glühend kam der Abend wie der Morgen, die Nacht wie der
Tag. Allerorten gab’s Gewitterschaden. Besorgt schauten die Landleute
von ihren Feldern zum funkensprühenden Himmel. Eine eherne Hitze
brütete in den Straßen der Stadt.

›_Maran atha_ – prüfet die Zeichen der Zeit!‹ predigte der seltsame
Mann in der Bockhalle. Er hatte jetzt viel Zuspruch – es kamen nicht
bloß solche, die ihn auslachten – nervösen Seelen wurde so merkwürdig
angst bei der Gewitterschwüle; sie drückte alle Gemüter. Und plötzlich
fingen an, undefinierbare Gerüchte umzugehen. Man hörte es und glaubte
es nicht, aber erzählte es doch weiter: Frankreich suche mit Preußen
Händel. Kühle Köpfe freilich beruhigten: man sah’s ja, in der Kaserne
rührte sich noch keine Hand, und dort mußte man doch zuerst etwas
merken. Es war ja auch absolut kein Grund zum Krieg vorhanden; die
Erregung der Franzosen über die Kandidatur des hohenzollernschen
Prinzen für den spanischen Thron war wirklich nicht so tragisch zu
nehmen. Man konnte sich getrost anschicken, alle Vorbereitungen zum
Düsseldorfer Schützenfest zu treffen; und das sollte in diesem Jahr
ganz besonders glänzend werden.

Aber – merkwürdig – es ereignete sich wieder etwas, was die Bürger
stutzig machte. Abend für Abend ließ sich eine junge, schöne Stimme
im Hofgarten vernehmen, die, schmetternd und langgezogen, bis in
die fernsten Büsche drang: ›Sie sollen ihn nicht haben, den freien,
deutschen Rhein!‹

Alle Spaziergänger blieben stehen und lauschten, es sammelte sich rasch
viel Publikum; aber so sehr auch die Zuhörer Beifall klatschten, der
Sänger ließ sich nicht sehen, er blieb verborgen. Was war das – von wo
kam das – was sollte das bedeuten?!

›Prüfet die Zeichen der Zeit‹ – eine Ahnung beschlich die Seelen, man
hielt den Atem an.

Da – hui, ein Blitz am schweren, wolkenverhangenen Himmel: der
französische Gesandte Benedetti hatte den greisen König, der in Ems zur
Kur weilte, mit den frechen Forderungen Napoleons brüskiert!

Und nun ein krachender Donner, der den Himmel mit Getöse erfüllte und
die Erde erbeben machte: die Kriegserklärung!

Am 15. Juli nachmittags stand die Depesche an allen Ecken Düsseldorfs
angeschlagen.

Krieg, Krieg!

»Nu wird mobil jemacht, aber ’n bißchen plötzlich,« schrie
Unteroffizier Schmidt, in Josefines Laden stürmend. Sie stand hinter
der Theke und griff sich mit beiden Händen an den Kopf – Krieg, Krieg?!
Sie hatte es schon gehört und konnte es doch nicht fassen. Krieg,
Krieg! – Das kam zu rasch.

»Das is en schöne Bescherung,« rief Hucklenbruch, der auch gerannt kam,
»oha, nu chiebt’s Krieg, Madam, un Ihr Peter –«

Das Wort erstarb ihm im Munde, er sah den Rivalen am Ladentisch stehen
und machte sofort Kehrt. Er hatte der Mutter sagen wollen: ›Nur keine
Angst, ich paß auf ihn auf, wie auf meinen Augapfel,‹ aber nun schnürte
ihm der Grimm, daß der Berliner ihm schon wieder zuvorgekommen, die
Kehle zu.

Und andre kamen, Soldaten, Nachbarsleute. Die Bürger glaubten, von
den Füsilieren etwas Näheres erfahren zu können; aber die aus der
Kaserne standen ebenso verdutzt vor dieser Kriegserklärung, wie vor
einem großen, gewaltigen, erschütternden Naturereignis. Man war erst
still, aber dann brach sich die Erregung Bahn; man schimpfte und
lamentierte, man zog bedenklich die Augenbrauen und sprach auch wieder
recht hochtrabend, man ballte zornig die Fäuste und faltete die Hände
angstvoll zum Gebet, man lachte und weinte, man schrie ›Hurra‹ und
flüsterte ›Gott erbarm dich‹ – dieser so, jener so. Aber des einen
waren sich alle klar bewußt: das ließ man sich nicht gefallen! Zu frech
war dem greisen König begegnet worden, zu frech hatte der Franzose den
Fehdehandschuh hingeworfen! Neidisch war der, den Rhein wollte der
haben! ›Unsern Rhein – kriegt er nicht! Hurra, mit Gott für König und
Vaterland!‹

Eine jähe Begeisterung hatte sich plötzlich aller bemächtigt; Soldat
oder Bürger, da war jetzt kein Unterschied, jeder fühlte sich
gekränkt, angegriffen in dem, was ihm teuer war: König, Vaterland,
Rhein.

Alle Arbeit wurde im Stich gelassen; die Handwerker liefen auf die
Straßen, Meister und Gesellen. Die Wirtschaften waren gestopft voll, es
wurde gelärmt und getrunken und auf den Tisch geschlagen: laß sie nur
kommen, die Halunken, die Franzosen!

Aber auch ernste Gesichter sahen sich an – mit Frankreich wurde es
heiß, das war kein Kinderspiel! Manch einem zitterte das Herz im Leib,
wenn er draußen seinen Unmündigen, Stock auf der Schulter, im hellen
Haufen der Knaben, trommelnd und pfeifend vorbeimarschieren sah. Die
Jugend, die war schon mit ihrer Mobilmachung fertig, derentwegen konnte
es gleich losgehen.

Bis in die Nacht hinein wogte es in der Kasernenstraße unruhig auf
und ab, Bürgertracht und Uniform einträchtig bei einander. Wer zuerst
angestimmt, wußte man nicht, helle Knabenstimmen mochten es wohl
gewesen sein, aber kräftige Männerbässe fielen unverweilt ein – durch
die dunkelschwüle, gewitterbange Julinacht zog laut und klangvoll das
Lied von der ›Wacht am Rhein‹.

Josefine stand unter ihrer Thür und lauschte den Tönen, die stark zum
Himmel stiegen. Ihre Mutter war am Nachmittag dagewesen in ratloser
Verwirrung – das Kriegsgerücht hatte sie aus dem Mittagsschläfchen
geschreckt – Herr Schnakenberg war in Karlsbad zur Kur! Josefine hatte
ihr geraten, an ihn zu depeschieren. Frau Trina war außer sich, hatte
sie ihm doch schon geschrieben: es sei nicht sicher, er solle nach
Haus kommen. Aber er hatte es nicht geglaubt. ›Die Franzosen seien viel
zu höflich, es gäbe keinen Krieg, Unsinn!‹ Was sollte sie nun machen,
so allein, wenn die Franzosen nach Düsseldorf kamen? Die Tochter hatte
sie beruhigt, und der Invalide war mit der Mutter zum Telegraphenbureau
gehumpelt. Natürlich kam Ferdinand jetzt nicht wieder, sondern saß in
irgend einem Wirtshaus fest.

Josefine war allein, ihren Kleinen hatte sie zu Bett geschickt; der
hatte sich an ihre Seite geschmiegt, bis ihm die Augen zufielen. Nun
wartete sie auf ihren Peter. Warum kam er nicht, wie sonst alle Abend,
zu ihr herüber? Drängte es ihn denn nicht zu ihr? Sie fühlte ihr Herz
heftig pochen ohne Unterlaß.

Drüben lag die Kaserne, mehr erhellt wie sonst je am Abend; in den
Bureaux wurde noch gearbeitet, in fieberhafter Thätigkeit rührte es
sich da. Krieg, Krieg mit Frankreich – o, wenn der Vater das erlebt
hätte! Wie oft hatte er ihr erzählt von den Freiheitskriegen, in denen
sich Preußen freigemacht von seiner Schmach. Es war das Märchen ihrer
Kindertage gewesen. Und jetzt? Ihr war, als sei sie wieder ein Kind,
als müsse sie dem lauschen, begierig lauschen, was wie ein Schwur zum
finsteren Nachthimmel aufstieg:

    ›Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
    Fest steht und treu die Wacht am Rhein!‹

Warum der Peter noch immer nicht kam?! Zum erstenmal hatte es schon
Zapfenstreich geblasen. Sie strengte umsonst die Augen an. Endlich
hörte sie seinen Schritt.

»Mutter.« sprach er durch das Dunkel, und seine Stimme klang matt, »’n
Abend.«

Sie fuhr auf ihn zu, sie hatte ja so nach ihm verlangt. »Krieg – wat
sagste derzu? Krieg!«

»Un ich muß mit,« sagte er dumpf.

»Och Jott, ja!«

Das hatte sie ja noch gar nicht recht bedacht. Ein plötzlicher Schreck
durchfuhr ihr die Glieder, die Kniee wollten ihr brechen, taumelnd
lehnte sie sich gegen die Hauswand.

Er sagte kein Wort, er stand nur immer da im trüben Laternenschein und
starrte vor sich hin.

»Jesus, ja, och mein Jung’!«

Mit einem unterdrückten Schrei warf sie sich ihm plötzlich an
die Brust, ihre Arme umwanden seinen Hals – da – ›trötrö‹ – der
Zapfenstreich!

Er riß sich los ohne weiteres Wort, er mußte ja fort; wie ein Schatten
verschwand er jenseits im Kasernenthor.

Heute nacht schloß Josefine kein Auge; nicht das Lärmen der spät aus
den Wirtshäusern Heimkehrenden, nicht das Rumoren des Invaliden, der
lange nach Mitternacht stürmisch Einlaß begehrte, raubten ihr die Ruhe.
Etwas andres vertrieb ihr den Schlaf und ließ ihre Thränen auf’s Kissen
fließen: der Peter mußte mit! Endlich, spät gegen morgen, als die Sonne
das Dach der Kaserne längst mit Gold überschüttete, schlummerte sie ein.

Ein kurzes Stündchen Schlaf war ihr nur vergönnt, aber sie erwachte
wunderbar gestärkt – ihr Vater hatte an ihrem Bett gesessen. –

Der Lärm des ersten Rausches hatte sich gelegt, stiller war’s geworden
in den Bürgerhäusern, in den Wirtschaften, auf den Straßen. Aber emsig
schaffte es in der Stille, denn heute war mobil gemacht. Scharen junger
Leute strömten in die Kaserne, die sonst nichts drin zu suchen gehabt
hätten: Knaben fast noch, blutjunge Abiturienten und Jünglinge, deren
Fähigkeit, die Waffe zu tragen, mindestens sehr zweifelhaft. Aber alle,
sie alle stellten sich als Freiwillige.

Eine ungeheure Rührung bemächtigte sich Josefines, als sie die Burschen
vorüberziehen sah. Wie sie eilten, wie sie eilten! Wie überschlank, wie
engbrüstig waren viele, und manche noch viel jünger als ihr Sohn. Etwas
kam über sie – ähnliches hatte sie noch nicht empfunden, nein, nie! –
es war wie ein Glück, und doch ein Schmerz zugleich. Sie schämte sich
der Thränen, die sie geweint.

Die ganze Stadt war in Thätigkeit. Hier kündigten Schuhmacher
›schnellste Anfertigung von zweckentsprechenden Feldstiefeln‹ an,
dort die Militärschneider ›Uniformen aller Waffengattungen binnen
vierundzwanzig Stunden‹. Hunderte von Händen rührten sich Tag und
Nacht. Fässer und Kisten kollerten am Proviantamt, Komitees gründeten
sich in aller Eile, zu Liebesgaben wurde aufgerufen; wollene
Unterkleider wurden trotz der Hitze in Masse gekauft, wollte doch ein
jeder seine Liebsten ausrüsten und schützen so gut es ging.

Die Kreuzschwestern, allen voran, stellten hundert Betten für
verwundete Krieger zur Verfügung und sechs Krankenpflegerinnen für’s
Feld. In der Kaserne wurde nicht viel Unterschied mehr gemacht zwischen
Tag und Nacht, die Vorgesetzten hatten keine Mußestunden mehr, jetzt
hatten sie strammeren Dienst als je die Mannschaft. Und überall, im
ersten Haus und im letzten, vom größten Schulmädchen bis herab zum
kleinsten, fingen gewaschene und ungewaschene Finger an, Charpie zu
zupfen.

›Gebt, gebt! Gebt für die ausrückenden Krieger, gebt für die
zurückbleibenden Hilfsbedürftigen! Gebt ohne Rücksicht auf Religion!
Alle geben für alle!‹

Josefine kam nicht zur Besinnung. Sie hatte ja nicht bloß ihren eignen
Sohn auszurüsten, da waren noch so viele gute Jungen, die ihr Lädchen
stürmten: Putzkreide! Wichse! Schreibpapier! Notizbuch! Bleistift!
Portemonnaie! Schnupftabak! Mancher forderte eine kleine Bibel.

Bruder Friedrich konnte nicht herüberkommen, um ihr beizustehen. Krupp
arbeitete auch Tag und Nacht – Aufträge aus Nord und Ost, Süd und West
– Kanonen, Kanonen und wieder Kanonen, Geschütze schweren Kalibers.
Nicht nur Frankreich und Deutschland, die ganze Welt schien sich rüsten
zu wollen.

Und Gewitter brauten und brauten und zogen von Sonnenaufgang bis
Niedergang, standen und dräuten und konnten sich nicht entladen in
erlösenden Fluten.

›Betet, betet!‹

Ein allgemeiner Bettag war angeordnet. Die protestantischen Kirchen
ließen ihre Glocken rufen, und in allen katholischen war Hochamt und
nachmittags Betstunde vor dem ausgesetzten hochwürdigsten Gut.

»Mit Gott für König und Vaterland!« rief der Geistliche im schlichten
Talar von der schmucklosen Kanzel herab und machte das Zeichen des
Kreuzes über seine Gemeinde. »Der Herr segne euch und behüte euch, der
Herr erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden, Amen!«

Und auch der Priester in der weihrauchduftenden, bildergeschmückten
Kirche rief: »Mit Gott für König und Vaterland!« Und schlug das Kreuz:
»Die Gnade Gottes und die Fürbitte aller lieben Heiligen sei mit euch,
Amen!« –

Es hatte Josefine immer leid gethan, daß Hucklenbruch und Schmidt
so spinnefeind waren; jetzt that es ihr doppelt leid, nun war es
doch wahrhaftig an der Zeit, solche Dummheiten zu lassen. Sie redete
Hucklenbruch, als dem jüngsten, energisch in’s Gewissen; er hörte sie
auch ruhig an, und als sie zu Ende war, reichte er ihr treuherzig die
Hand: »Chute Madam, Sie sind sehr chut!« Aber es blieb doch beim alten;
kam der eine in’s Lädchen, ging der andre schleunigst hinaus, und sie
sahen sich an, als ob sie sich vergiften wollten.

Josefine hatte sich noch alles mögliche eingethan zur Feldausrüstung,
was sie sonst nicht geführt. Sie begriff selbst nicht, daß sie noch
an’s Geschäft denken konnte; sie besorgte es auch eigentlich nur ganz
mechanisch, alle ihre Gedanken waren bei Peter. Der war so stumm, so
blaß! Sie sah ihn wenig; drüben in der Kaserne hielten sie ihn fest,
da er eine schöne Handschrift hatte, mußte er beim Feldwebel schreiben
die halbe Nacht. Ein eigentliches Bangen um den Sohn stieg nicht mehr
in Josefines Seele auf, da waren ja so viele, so viele, die in’s Feld
zogen. Das Gemeinsame gab Kraft, und das Singen auf den Straßen, und
die erhöhte Arbeitsleistung, diese erregte Thätigkeit, die nie erlahmen
zu können schien; und der Drang nach Freiheit, der allerorten, in
allen Herzen verborgen ruht, und der hier neu wieder emporloderte, in
Flammen, die niemand künstlich geschürt.

›Frei werden, frei werden,‹ das war wieder einmal die Losung. Von wem
denn – von was denn?! Ei, vom Napoleon, dem Erbfeind, und von – von –
recht klar hätte keiner darauf antworten können. Aber die Studenten
sangen es zu Bonn vom alten Zoll hinüber zu den sieben Bergen – grüßend
blitzten ihre erhobenen Schläger – und das ganze Volk sang es nach, das
ganze Vaterland, das ganze Deutschland:

    ›O Rhein! O Rhein! Nicht Deutschlands Grenze,
    Du bist und bleibst ein deutscher Strom!
    Ich schaue dich im Freiheitslenze,
    Nicht Frankreich unterthan, nicht Rom!‹




XXV


Es war ein Sonntagmorgen, so schön, wie noch keiner in diesem Sommer
gewesen. Noch war es nicht heiß, das Windchen, das den Aufgang der
Sonne umschauert, kühlte noch sanft die Straßen. Verschlafen zirpten
noch die Vögel in den Gärten, alles Grün war noch taubedeckt, aber die
Stadt schlief nicht mehr; sie war hell wach im ersten Frühlicht – ihre
Söhne zogen heut in’s Feld.

Im Gärtchen der Witwe Conradi hing der weiße Rosenstrauch am
Plankenzaun wie von tausend Thränen beschwert. Josefine hatte die
Nacht nicht geschlafen, sie war gar nicht zu Bett gegangen. Als
besondere Vergünstigung hatte der Feldwebel erlaubt, daß der Peter
die letzte Nacht unter’m Dach seiner Mutter schlafen durfte; und er
hatte geschlafen, totmüde, erschöpft, und sie hatte an seinem Bett
gesessen, die Stunden von Mitternacht bis zum Morgengrauen, und seine
Hand gehalten, wie sie es dem Knaben gethan in Krankheitszeiten oder
wenn böse Träume ihn gequält. Sie hatte kein Auge von ihm gewandt, und
Thränen, von denen sie nichts wußte, waren über ihre Wangen geflossen.

Jetzt stand sie im Gärtchen, blaß und durchschauert, und wartete auf
ihren Sohn. Drinnen mühten sich der Onkel und der kleine Bruder noch
geschäftig um den Ausrückenden – hier draußen, hier ganz allein, wollte
sie Abschied von ihm nehmen.

Jetzt kam er, schon fix und fertig, den Helm hatte er auf, nur den
Tornister noch nicht auf dem Rücken. Sie hing sich an seinen Arm.

»Wie is dich?« fragte sie zärtlich.

Er gab keine Antwort. Sein Auge vermied das ihre und blieb zu Boden
gesenkt.

Wie blaß er war, blaß bis in die Lippen! Und an ihrem Arm fühlte sie
jetzt das Zittern des seinen. Da durchfuhr sie’s plötzlich wie eine
Erkenntnis, wie ein Schrecken – daß sie das nicht längst gesehen, nicht
längst gemerkt!

»Bis du bang, Peter?« stieß sie heraus, ließ seinen Arm fahren und hob
ihm mit bebender Hand das Kinn in die Höhe. »Du bis ja bang!«

»Ja, ja!« Er schrie es jäh heraus mit erstickter Stimme, und, an ihr
niedergleitend, warf er sich auf die Kniee, schlang beide Arme um ihren
Leib und drückte den behelmten Kopf an ihre Brust.

Sie stand ganz still, wie gelähmt, und auch er blieb still.

Ein Vogel tirilierte im Rosenbusch; über’s Hausdach herüber, jenseits
von der Kaserne, kam jetzt ein Ton, ein Trompetenstoß. Da murmelte er
und drückte seinen Kopf fester an:

»O wie jräßlich, wie jräßlich! Ich seh’ immer den Onkel vor mir mit
seinem einen Bein – huh!« Ein Grausen rüttelte ihn. »Oder sterben
müssen, so jung – einundzwanzig Jahr! Och, und ich hab’ mich doch e
so jefreut – all meine Plän’ – all, wat ich jewollt hab’ – nix wird
nu draus!« Er hob den Kopf und sah sich mit einem verzweifelten Blick
um. »Wie blau is der Himmel – wie lacht die Sonn’! Hörst du den Vogel,
Mutter? De is verjnügt! Un ich – warum muß ich in den Krieg? Wat hab’
ich dann verbrochen?«

»Verbrochen? Du? Nix,« sagte sie laut. »Et is ja auch kein Straf’, in
den Krieg zu ziehn, ne, en Ehr’, en Ehr’!« Eine brennende Röte stieg
ihr in das blasse Gesicht. »Steh auf,« sagte sie fast heftig und zerrte
ihn empor. »Schäm dich! Wat fällt dich ein? Wo tausend junge Leut’ sich
auf freuen, da willst du dich vor fürchten?!«

»Sie freuen sich ja jar nit,« murmelte er, »sie schreien ja nur hurra!«

»O doch! Diesmal doch! Diesmal freuen sie sich. Sie sind stolz drauf.
Jung« – sie faßte ihn bei beiden Schultern und rüttelte ihn – »wat is
dich? Besinn dich doch! Och, wenn dein Jroßvater noch am Leben wär’, de
würd’ dir wohl sagen, wat Ehr’ is! Un diesmal kämpft ihr ja nit bloß
allein für den König, ne, für jeden Bürjersmann, für jede Bürjersfrau
– wir wollen nit französisch werden! Ich müßt’ dich ja verachten, wenn
de dich fürchten thätst. Ich sag’ dir, kriechste im Jraben, wenn die
Kugeln pfeifen, dann« – sie reckte sich hoch auf, ihre Stimme wurde
hart – »dann kannste ruhig en Haus weiter jehn!«

Er sah sie starr an, seine Augen füllten sich mit Thränen.

»Du bis hart, Mutter,« sagte er. Und dann weinte er laut heraus: »Un
wenn se mich totschießen, wat dann? Aber du has mich ja nit lieb – laß
se mich nur totschießen« – in Trotz und Angst brach seine Stimme –
»totschießen, mir is’t ejal!«

»Dummer Jung’!« Ihr Ton war nicht mehr hart; so hatte sie oft zu ihm
gesprochen in besseren Stunden: »Dummer Jung’!«

Er hörte es und faßte krampfhaft nach ihren beiden Händen – sie hatte
ihn ja doch lieb!

»Mutter, Mutter!«

»Bis still, Peterken, bis still! Die Angst jeht vorbei, dat is nur
heut morjen so, du has zu wenig Schlaf jekriegt, und du bis noch nit
dran jewohnt. Lieber Sohn,« – sie faltete ihre Hände um die seinen und
drückte sie so an ihr Herz – »sie schießen dich ja nit tot, jlaub’ mir,
sie schießen dich nit tot. Ich bin en Witfrau, un du bis mein Ältester,
mein« – es kam ihr etwas in die Kehle, aber sie schluckte es herunter –
»sie schießen dich nit tot! Du kömmst wieder!«

War sie des so sicher oder that sie nur so? Er sah sie an und wurde aus
ihrem Gesicht nicht klug, es trug einen Ausdruck, den er bisher nicht
an ihr gekannt. In ihren Augen standen Thränen, aber sie lächelte,
wirklich, sie konnte lächeln! Und sie fand Worte, wie sie bisher nie
gefunden. Wenn er sein ganzes Leben zurückdachte, so hatte sie noch nie
zu ihm gesprochen. Das war ein Beschwören und ein Bitten zugleich.

Ihre Augen leuchteten tief in die seinen, als wollten sie ihm bis in’s
Herz dringen. Was der Vater sie einst gelehrt, das gab sie jetzt dem
Sohn mit auf den Weg:

›Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre!‹

Sie gingen um die kleine Bleiche herum, immer rund herum und Hand
in Hand, und er klagte ihr ohne Rückhalt, ja, er schämte sich jetzt
selber, daß er sich fürchtete; aber wenn er’s bedachte, er fürchtete
sich ja nicht seiner selbst wegen.

»Mutter, Mutter, all mein’ Hoffnungen!«

Sie wunderte sich, daß er nicht zärtlicher war.

»Ich kann nit,« seufzte er, »wahrhaftijens Jott, ich kann nit.
Weißte, dat Bild, von dem ich dir erzählt hab’, ›Der letzte Tag eines
Verurteilten‹? De kümmert sich auch nit mehr um Weib und Kind. So is et
mir. Ich muß sterben, ich komm’ nie wieder!«

Sie sagte jetzt nicht mehr: ›du kömmst wieder‹, aber sie reckte sich
noch straffer auf in ihrer ganzen stattlichen Größe, und ihr Blick
richtete sich zum strahlenden Morgenhimmel.

Es war wie ein stummes Beten.

»Un nu jeh,« sagte sie.

Von der Straße her tönte Lärm in den stillen Garten und erschreckte
den tirilierenden Vogel; die ganze Kaserne schien in Alarm geraten, es
trommelte und pfiff und blies. Der Hornist lockte zum Sammeln.

»Jeh, jeh,« drängte sie, »’t is Zeit, jeh, jeh!«

Der betaute Rosenbusch streifte schwer und kühl ihren Ärmel, da riß sie
hastig die schönste Rose ab.

»Komm her, Peterken! Mein Jung’, laß dich noch ens schmücken!«

Und er beugte das Knie und ließ sich die Rose an den Helm stecken. – – –

Drüben auf der andern Seite, auf Bahnhof Oberkassel, sollten die
ausrückenden Truppen in Extrazüge verladen werden; ganz Düsseldorf gab
ihnen das Geleit.

Peter marschierte am Haus der Mutter vorbei, den gerollten Mantel über
der Brust, den Tornister hinten auf, mit Stiefeln und Kochgeschirr;
Gewehr über, Brotbeutel und Feldflasche und Faschinenmesser an der
Seite. Da stand sie unter der Thür. Und ehe er sich’s versah war sie
auf ihn zugesprungen und hatte ihm einen Zettel in die Hand gedrückt:
»Nimm dat! Adjüs, Peter, adjüs!«

Und alle Nachbarn winkten:

»Adjüs, Peter, adjüs!« –

An der festlich beflaggten Rheinbrücke hatten sich der Ferdinand und
der Fritz aufgestellt. Das Stelzbein des Invaliden verschaffte ihnen
überall einen Platz ganz vorne an. So konnten sie nachher der Mutter
genau berichten. Alle Behörden waren zugegen, der Oberbürgermeister
an der Spitze; jenseits der Brücke hielt der Divisionskommandeur,
Generalleutnant von Kameke; Böller knallten zu beiden Ufern des Rheins,
und brausendes Hurrageschrei übertönte jeden klagenden Abschiedsruf.
Die Regimentsmusik spielte, und tausende von wehenden Taschentüchern
winkten den scheidenden Helden Lebewohl.

Der Invalide war ganz außer sich vor Aufregung: ja die, die wurden
gefeiert, als hätten sie schon hundert Siege erfochten! Wer dachte
noch derer von Sechsundsechzig?! Und wenn die hier wiederkamen,
blessiert aus der Schlacht, dann brauchten sie sich nicht zu grämen,
für sie würde der Staat Geld genug haben und die Bürgerschaft auch.
Die brauchten sich nicht in den Ecken herumzudrücken und zu Tisch
zu sitzen um Gottes willen. Der Neid fraß ihm am Herzen. Ä, dies
lumpige Sechsundsechzig! Kein Hahn krähte mehr danach, und wenn man
dran dachte, geschah’s fast wie mit Beschämung; Bayern und Hessen und
Hannoveraner, die waren jetzt gute Freunde. Ach, daß er seine gesunden
Glieder noch hätte, ach, daß er jetzt mitziehen könnte in diesen Kampf,
den Deutschland ausfocht, ja, das ganze Deutschland! Er hätte weinen
mögen.

Unweit des Bahnhofs, im nächsten Wirtshaus, setzte er sich fest und
betäubte seinen Schmerz und Groll. Den Kleinen ließ er allein nach
Hause laufen.

Josefine wußte nicht, wie ihr der Vormittag hingegangen, auch nicht,
wie der Nachmittag; alle Vorräte im Lädchen waren durcheinandergewühlt,
sie mußte nachsehen und aufräumen.

Aber am Abend, am Abend da kam ihr das Leid. Weinend warf sie sich
vor ihres Peter Bett auf die Kniee und küßte das Kissen, darauf sein
Kopf geruht. So lag sie lange, und dann stand sie am Fenster und
starrte hinüber zur Kaserne. Wie verödet die war! Kein Licht hinter
den Fenstern, nur die Sterne standen über’m Dach und funkelten darauf
nieder mit grausamer Klarheit. Leer, leer – all die guten Jungen fort!
Ob sie je wiederkamen?! ›Se schießen dich nit tot,‹ hatte sie dem
zagenden Sohn gesagt, ›du kömmst wieder!‹ O, mein Gott! Jetzt rang sie
die Hände empor zum nächtlichen Himmel in tödlicher Ungewißheit.

       *       *       *       *       *

War die Garnison auch ausgerückt, die Stadt kam darum doch nicht zur
Ruhe, und das war auch gut. Noch strömte es immer mit frischen Kräften
zur Grenze; es schien, als zöge Deutschlands ganze Waffenmacht an
Düsseldorf vorbei. Draußen auf der Wasserstation, weit vor der Stadt,
passierten Truppenzüge Tag und Nacht. Patriotische Lieder aus vollem
Halse singend, hingen die jungen Burschen mit halbem Leib zu den
Waggonfenstern heraus; sie schmetterten mit allem Jugendeifer: Hurra,
Hurra! Wie lange noch, und statt des munteren Singens würde man Stöhnen
hören, und statt der lachenden Gesichter, der winkenden Arme, die nach
Biergläsern und Butterbroten zappelten, Wunden sehen, bleiche Gestalten
auf Bahren heben, die nichts mehr verlangten, als einen stillen
Unterschlupf, ein Bett zum Ruhen, vielleicht auch zum Sterben.

Jetzt galt es, Lazarette zu rüsten.

Herr Schnakenberg war ungemein thätig. Er war zwar erst in der
letzten Nacht vor’m Ausrücken der Garnison, in einen Militärtransport
eingepfercht, verschmutzt und verschmachtet, von Karlsbad angekommen
– zwei Tage und zwei Nächte hatte die Reise gedauert –, jetzt aber
holte er nach, was er bislang versäumt. Diese strapaziöseste Tour
seines Lebens kam auch noch auf Conto der Franzosen, die wollte er
ihnen eingedenk bleiben. Er that alles, um sich an ihnen zu rächen.
Tagelang konnte man ihn auf der Wasserstation geschäftig hin und her
rennen und den durchpassierenden Vaterlandsverteidigern Cigarren in die
ausgestreckten Hände stecken sehen – feine Marke, keine Liebescigarren!
– und kleine Heftchen: ›Vorwärts! Auf nach Paris! Drei Krieglieder für
deutsche Soldaten von Emil Rittershaus,‹ und Flaschen mit Cognac und
Magenbitter und wollene Leibbinden gegen die Diarrhöe. Nichts war ihm
zu teuer. Auch bei so und so viel Komitees war er im Vorstand, unter
keinem Aufruf fehlte sein Name. Er hatte ja keine Kinder, wozu sollte
er sparen? Die da auszogen für’s Vaterland waren alle, alle seine
lieben Söhne.

So wie Herr Schnakenberg thaten viele in Düsseldorf; man war dort nie
knauserig gewesen, jetzt wurde man fast verschwenderisch. War es doch
auch, als ob alles Geld sich verdoppele, zwei Thaler hatten sonst nicht
weiter gelangt, als jetzt einer; es ruhte ein Segen darauf.

Und es war auch, als ob die Häuser weiter würden, die Räume größer. Wie
hätte man sonst so viel Betten aufschlagen können?

Die Nönnchen krochen in die engsten Winkel zusammen und überließen ihr
Refektorium und ihren Betsaal. Die Schwestern vom heiligen Franziskus,
die von Mariahilf, die Kreuzschwestern, die Karmeliterinnen, selbst
die armen Dienstmägde Christi im Klösterchen zu Bilk stellten ihre
Kräfte und alles, was sie sonst noch besaßen, zur Verfügung. Das neue
Marienhospital wurde rasch eingeweiht. Im evangelischen Krankenhaus
wußten die Diakonissen nicht, wo ihnen der Kopf stand, so viel hatten
sie herzurichten; aber zwei Hände wurden zu zwanzig.

Und die Kaserne, die alte Kaserne mit ihren engen Blocks, dem
niedrigen Offizierskasino und den verräucherten Kantinen wurde zum
größten Lazarett. Da wurde gekehrt und gescheuert, frisch gekalkt und
gestrichen, geräuchert und mit Karbol gespritzt. Auf dem Exerzierplatz
wurden Baracken gebaut.

Josefine sah stündlich hinüber: wie sie sich da beeilten und schafften!
Bald würden die ersten Verwundeten kommen. Das Herz krampfte sich ihr
jetzt oft zusammen in einem jähen Schmerz, und doch hatte sie gute
Nachricht von ihrem Peter. Dreimal hatte er ihr schon geschrieben,
freilich nur Feldpostkarten mit Bleistift, aber sie sah doch seine
schöne, deutliche Handschrift, und sie fühlte es aus jeder Zeile
heraus, aus jedem Wort: er war ruhig. Sein Bataillon marschierte
jetzt durch die Eifel auf Trier; er schrieb kaum was vom Krieg, die
blühende Heide oben auf dem hohen Venn, die wunderbaren Sonnen-Auf- und
Niedergänge entzückten ihn. Auch daß er nicht marode geworden sei beim
glühenden Brand des Tages, wie so manch andrer, schrieb er, und daß er
sich nicht die Füße durchgelaufen habe, sondern daß er gut marschiere
in den wollenen Strümpfen, die sie ihm gestrickt, und in den neuen
Stiefeln, die sie ihm beim Schuster Einbrodt hatte machen lassen. Ja,
er war ganz ruhig – Gott sei Dank! Aber sie, sie war es nicht mehr.

Im Lädchen war kaum etwas zu thun; ruhelos irrte sie umher, hierhin,
dorthin, vom Gärtchen bis zum Speicher – da oben stand noch ihr Bild,
versteckt in der Bodenkammer. Sie zog es aus der Kiste und kauerte
sich davor nieder. Es lachte sie an – aber da, da der Zug zwischen
den Augenbrauen – ›der deut’t an, dat se mal Leid kriegt‹ –, nein,
sie konnte es nicht mehr ansehen! Mit bebenden Händen, zitternd warf
sie das Bild in die Kiste zurück. Nein, so konnte sie’s nicht mehr
aushalten! Sie schrieb Briefe auf Briefe an ihr Kind – wann und wo
würden die ihn erreichen?! Es genügte ihr nicht; wie nur konnte er
fühlen, daß sie ihn umgab mit ihrer Liebe, mit ihren Wünschen, mit
ihren Gebeten zu jeder Stunde, zu jeder Minute?

Nur was thun, was thun!

Wie eine Erlösung kam ihr der Gedanke, daß sie sich anbieten könne, wie
so viele Frauen und Mädchen thaten, Kranke und Verwundete zu pflegen.
Der Ferdinand hatte ihr ja gesagt, um’s Geschäft brauche sie sich keine
Sorge zu machen, er wolle schon für den Rummel einstehen; und dann war
doch auch noch der Fritz da und der sagte: »Mutter, du kannst ruhig
jehn, ich pass’ schon auf!«

So lief sie hinüber in die Kaserne. Der alte Oberstleutnant, der,
längst zur Disposition gestellt, nun noch einmal in Aktion getreten
war, freudig die Lazarettverwaltung übernommen und schneidig, wie
ein Junger, kommandierte, sah sie unter seinen weißen Brauen hervor
freundlich an. Ja, die hier taugte ihm, die war besser, als die
enthusiasmierten Damen, die ihm beinahe das Bureau einliefen!

Josefine nannte ihm ihren Mädchennamen. Rinke – Rinke – ja, ja, da
entsann er sich. Soldatenblut, das war hier am Platz! Und er teilte
ihr das größte Revier zu: Hof I mit all seinen Blocks und der früheren
Feldwebelwohnung, und das Offizierskasino noch dazu.

Als er ihr dann die Hand gab, sah er ihr forschend in’s Gesicht:

»Sie haben einen Sohn dabei, Frau Conradi?«

»Jawohl, Herr Oberstleutnant.«

»Und ich ihrer drei,« sagte er, und es zuckte um seinen buschigen
Schnurrbart. –

Kranke waren schon eingetroffen, Schwache, die auf den Eilmärschen
zusammengebrochen; Mariahilf hatte sie aufgenommen. Aber noch harrte
man der Verwundeten.

Wie ein dunkler Vorhang hing’s der Stadt vor den Augen – wer lüftete
ihn?! Man hörte nichts von denen da draußen. Von einem Geplänkel an der
Grenze, von einem Treffen bei Saarbrücken wurde gemunkelt. Aber wer
war dabei gewesen, und war’s glücklich oder unglücklich ausgefallen?!
Vermutungen sprachen sich von Mund zu Mund; kein Gerücht schien so
unmöglich, daß es nicht kolportiert worden wäre. In einer qualvollen
Ungewißheit verstrichen so die ersten Augusttage.

Da plötzlich ein Extrablatt, in Riesenlettern war’s angeschlagen – daß
die Mauern nicht einfielen, die Bäume nicht umstürzten, die es trugen,
dies:

›=Glänzender aber blutiger Sieg der kronprinzlichen Armee bei
Weißenburg.=‹

Und kaum hatte man sich von dem Donnerschlag, der herrlich und
furchtbar zugleich die Spannung löste, in etwas erholt, ein zweiter
Donner:

›=Siegreiche Schlacht bei Wörth.=‹

Ein gellender Schrei stieg gen Himmel: Sieg, Sieg! Wer fragte vorerst
nach Verlusten? Man las nichts von ›blutig‹, nur Sieg, Sieg! In hellem
Jubel stürmte das Volk durch die Straßen; stolze Freudenfeuer, in jedem
Herzen, in jedem Auge entzündet, lohten empor: Sieg, Sieg!

Die Zeitungsexpeditionen wurden gestürmt; sie mußten ihre Thüren und
Fenster verrammeln. Man wollte mehr wissen, man forderte gierig sein
Teil am Geschehenen: Wieviel Franzosen tot? Wieviel gefangen? Wieviel
Kanonen erbeutet? Hat der Feind nun genug gekriegt?!

Die Nacht vom sechsten auf den siebenten August wurde ein vielstündiges
Freudenfest; wer hätte an schlafen gedacht? Sieg, Sieg – das prickelte
wie Champagner. Wer konnte noch bange sein, wenn Freudenschüsse es
dröhnten, wenn alle Glocken es sangen: Sieg, Sieg!

›Deutschland, dein Sonnentag erscheint!‹ rief der begeisterte Dichter
Rittershaus. Fürwahr, ein Sonnentag schien angebrochen, schon
schimmerte der Rhein golden, die Krone, die versunkene, hob sich von
seinem Grund strahlend zum Tageslicht.

Zwei große Schlachten gewonnen! Wahrhaftig, der seltsame Mann, der noch
immer predigte: ›_Maran atha_ – kommt, der Herr ist nahe! Hört ihr den
Donner, er kündet die nahe Wiederkunft des Herrn Herrn!‹ hatte recht –
das jüngste Gericht brach an über die Franzosen.

Sieg, Sieg! Josefine wurde mit fortgerissen vom allgemeinen Jubel;
auch sie war im Rausch. Ein unbeschreiblicher Enthusiasmus hatte auch
sie ergriffen. Mit flatternden Röcken lief sie über die Straße, mit
hochgeröteten Wangen und blitzenden Augen; sie konnte es nicht genug
hören, es nicht genug selber künden:

»Sieg!«

Sie konnte nicht stillsitzen, wie ein flüssiges Feuer lief es ihr durch
die Adern – Sieg! Wie würde der alte König sich freuen! Der würde
jetzt noch mehr von Herzen lächeln wie damals! Er grüßte das Vaterland
mit segnender Hand, und das Vaterland grüßte ihn wieder mit erhobenem
Schwert: Sieg, Sieg!

Josefine war stolz, auch ihr Sohn trug ein Schwert. Nur nachts in
stiller Stunde wollte ihr Herz bangen: wo war er? Zuletzt hatte sie aus
dem Biwak an der Saar einen Brief bekommen – sie trug ihn stets mit
sich herum – so einen lieben, verständigen, zärtlichen Brief:

    ›Es geht mir sehr gut. Viele Küsse an Dich und meinen Bruder, auch
    an Onkel Friedrich und Onkel Ferdinand‹

›aber wohin wir marschieren wissen wir nicht,‹ das stand auch darin.
Wenn =er’s= nicht wußte, wie sollte sie’s dann wissen?! Wo war er, wo
war er?! Eine unbezwingliche Angst ergriff sie plötzlich, eine Pein,
keiner gleich, die sie je empfunden. Mitten in den Freudentaumel
hinein, der gar nicht enden zu wollen schien, hätte sie schreien mögen:
›Peter, wo bist du, Peter, Peter?!‹

War er am Ende bei dem Gefecht gewesen, das in diesen Tagen bei
Spicheren stattgefunden? Es war eine Depesche gekommen, nach der am
sechsten August dort ein Treffen gewesen sein sollte, aber näheres
war noch nicht bekannt; die siegreiche Schlacht am selben Tage bei
Wörth verschlang vorderhand alles andre. Spicheren – Spicheren –
ein komischer Name, ein häßlicher Name! Wo lag Spicheren? Josefine
fragte ihren Jüngsten, der wußte es auch nicht, aber er brachte seinen
Schulatlas, und da saßen sie, Wange an Wange gedrückt, die Köpfe
gebeugt, und suchten Spicheren und fanden es nicht.

»Weißte,« sagte Fritz zuletzt ganz enttäuscht, – er hatte gehofft,
der Mutter mit seiner Weisheit dienen zu können, – »ich jeh’
nach de Expedition vom Blättchen, da hängt en Spezialkart’ vom
Kriegsschauplatz, da will ich ens kucken!« Und er lief eilfertig.

Als er wiederkam, wartete die Mutter schon vor der Hausthür. Aber als
er außer Atem schrie: »Spicheren, dat is nur en Dorf, – Spicherer
Berg steht auf der Kart’ mit enem Sternchen derbei, – nit weit von
Saarbrücken,« wankten ihr die Kniee. Von der Saar, von der Saar hatte
der Peter ja zuletzt geschrieben, und nahe bei Saarbrücken war nun die
Schlacht gewesen! Lieber Gott, nur eine Nachricht von ihm, einen Satz,
eine Zeile, ein einziges Wort!

Es war ein Glück, daß jetzt die ersten Verwundeten kamen. Die
Eisenbahn hatte welche gebracht, und auch auf dem Rhein waren vier
Schiffe angekommen, vollgepfropft, Mann bei Mann; die ersten Franzosen,
Offiziere, Zuaven, Turkos darunter. Halb Düsseldorf drängte sich an der
Landungsbrücke und am Zollthor.

Ha, da waren sie ja, die Franzosen, die Spitzbuben, die Erzkujone!

Ein erregtes Gemurr summte, ein unterdrücktes Räsonnieren und
Schimpfen. Knaben, die auf die Laternenpfähle geklettert waren und
an den Simsen der Häuser hingen, streckten lang die Zunge heraus:
›Franzos’, Franzos’, rote Hos’!‹ Aber als nun die Schwarzen passierten,
Kerle, wie mit Stiefelwichse beschmiert, die langen Leiber in
schmutzig-weiße Burnusse gewickelt, mit den Zähnen klappernd unter dem
heute trübverhangenen Himmel, da wurde die Empörung ganz laut.

»Wie se de Zähn’ fletschen! Un so en Biester hat de Napoleon auf unsre
Junges jehetzt?!«

Ja, nun glaubte man’s, was man wie ein Märchen angehört: daß diese
braunen Teufel schreckliche Schandthaten an Verwundeten und Toten
verübt, ihnen die Augen ausgestochen, die Finger abgehackt hatten,
um so manchem treuen Landwehrmann den Ehering von der im Todeskampf
zusammengekrallten Hand zu ziehen.

»Schlagt se tot, die Schweinhund’!«

Es war gut, daß Polizei aufgeboten war, und daß die den Transport
geleitenden Unteroffiziere die Waffe blank trugen.

Und gar per Droschke wurden noch die meisten transportiert, konnten
die Kerle nicht bis zur Kaserne laufen?! Die Erbitterung wuchs und
wuchs, um plötzlich einem langgezogenen, zitternden ›Ah –!‹ Platz zu
machen. Man wich zurück und stellte sich doch auf die Zehen: »St, st!
Ein Toter!«

Von vier Männern getragen, schwankte die Bahre, von einer Pferdedecke
überspreitet.

O, der Arme war auf dem Transport, eben vor der Ankunft, gestorben!
War’s ein Deutscher, ein Franzose?! Man wußte es nicht. Man sah nichts
von ihm, nur eine kräftige junge Hand hing schlapp an der Seite unter
der Decke vor. Der jähe Tod hatte dieser jungen, kräftigen Hand nichts
anhaben können, sie war noch mannhaft und muskulös; nur gebleicht war
sie, wie weißes Wachs.

Eine plötzliche Beklemmung war über die Zuschauer gekommen, und als
ein Gassenjunge noch kreischte: ›Franzos’, Franzos’,‹ da zog ihn ein
ehrsamer Bürger am Schlaffitchen vom Laternenfahl herunter und gab ihm
einen tüchtigen hinten vor.

Im tiefsten Schweigen setzte der Zug seinen Weg fort. Still,
still! Immer neue kamen vom Rhein herauf, Wagen, Bahren und mühsam
Daherschreitende. Der, mit dem umwickelten Kopf, sich taumelnd auf
den stützend, der den Arm in der Binde trägt. Alles durcheinander,
preußische, bayrische und französische Uniformen – Arme, Elende,
Beladene. Leichtverwundete, Schwerverwundete, aber alle todesmatt,
seufzend, in Schmerzen ächzend. –

Die Kasernenbetten waren rasch belegt, die pflegenden Nonnen huschten
auf leisen Sohlen hin und her, die gehetzten Ärzte reinigten ihre
Sonden und griffen nach neuem Verbandzeug. Und auch Josefine lief der
Schweiß vom Gesicht. Mit ihren starken Armen hatte sie manchen helfen
in’s Bett heben, manch bleicher Kopf hatte an ihrer Brust geruht,
während Arzt und Nonne den wunden Leib verbanden.

Helfen, helfen – an etwas andres hatte sie gar nicht denken können
den ganzen Tag. Und die Nacht schlief sie zum erstenmal, seitdem der
Peter ausgerückt, wieder ganz ruhig, so recht sanft, wie ein müder, von
seinem Tagewerk befriedigter Mensch. Keiner jener wirren Träume, die
sie so oft gequält, kam ihr; ihr Jüngster mußte sie am Morgen rütteln,
sonst wäre sie gar nicht aufgewacht.

Das pausbäckige Knabengesicht war heute etwas blaß, es sah ängstlich
und neugierig zugleich aus; auch der Invalide ging um die Schwester
herum mit einem merkwürdig betroffenen Gesicht und einem etwas
verlegenen Lächeln, er bemühte sich, besonders forsch zu sein, aber es
mißlang. Doch Josefine merkte von alledem nichts, sie eilte nur, daß
sie hinüberkam in ihre Kaserne. Dort fand sie gleich alle Hände voll zu
thun; so hörte sie nichts von dem, was beängstigend durch alle Straßen
lief, was bald wie ein hellloderndes Schadenfeuer den Leuten über den
Köpfen zusammenschlug.

Endlich nähere Nachricht über Spicheren!

›=Furchtbarer Kampf, von größeren Dimensionen als nur geahnt. Starke
Verluste, neununddreißiger Füsiliere im Feuer.=‹

»Unsre Neununddreißiger, unsre braven Füsiliere!« Ein plötzlicher
Schreck lähmte die Herzen, die noch eben in Siegesfreude hoch
geschlagen. Das bei Spicheren war auch ein Sieg gewesen, aber niemand
jubelte darüber. Wie eine Ahnung schweren Leides zog es durch die
Stadt. Ach, wer hatte nicht einen Vater, einen Sohn, einen Bruder,
einen Freund, einen Liebsten dabei?! Spicheren, Spicheren, – dies Wort
bohrte sich ein, mitten in’s Herz, spitz wie eine Nadel.

Wer war verwundet?

Viele.

Wer war tot?

Viele.

Blasse Gesichter sahen sich an. Auf den Straßen, an allen Ecken standen
Leute in Trüppchen bei einander und flüsterten bang:

»Haben Sie ene Sohn derbei?«

»Och Jeses, ja!«

»Un Sie?«

»Ich auch!«

»Un Sie?«

»Meine Bruder steht bei de Neununddreißiger!«

»Och Jott, och Jott, meine Mann, meine Mann!« Eine weinende junge Frau
kam herzugestürzt, ihr Kindchen auf dem Arm. »Is et wahr? Is et dann
wirklich wahr, sind se all’ tot? O, meine Mann, meine Mann!«

Überall Angst, tödliche Bangigkeit, herzklopfende Erwartung. Was würde
die nächste Stunde bringen?!

Noch waren keine Verlustlisten veröffentlicht, man erfuhr ja auch das
Schlimme noch früh genug – hoffe noch, wer hoffen kann! Scheu sah
einer den andern an: wer würde zuerst in Schwarz gehen?

Das angstvolle Geraune der Stadt war endlich auch bis in die Kaserne
gedrungen. ›Spicheren, mörderische Schlacht, Neununddreißiger fast
aufgerieben!‹ Die Verwundeten rührten sich ächzend und spitzten die
Ohren. Spicheren – da gab’s wieder neue Leidensgefährten.

Spicheren – die Wärter flüsterten es auf den Korridoren, die Nonnen
bewegten betend die Lippen, die Ärzte zogen die Brauen erwartungsvoll
hoch und sahen nach ihren Instrumenten.

Achtzehn Schiffe mit Verwundeten waren signalisiert, heut abend noch
sollten sie eintreffen.

Josefine hatte noch nichts von den Gerüchten gehört. Sie saß am Bett
eines Schwerkranken. Das war ein junger, französischer Fahnenträger;
vielleicht daß er gerade die Fahne geschwenkt und schreien wollte:
›_vive la France!_‹ als die Granate krepierte, die ihm beide Arme
zerschmetterte, und die Kugel geflogen kam, die ihm zur rechten Wange
hineinfuhr und zur linken wieder hinaus. Vor wenig Tagen erst war er
angekommen, und es hatte Josefine gegraust, als sie zum erstenmal
sein nur notdürftig verbundenes, von Blut und Eiter bedecktes Gesicht
gesehen. Und ganz seltsam war es ihr geworden, als sie ihn in ihres
Vaters Stube fand, fast an derselben Stelle, wo einst dessen Bett
gestanden. Auch der hatte hier gelitten.

Sie hatte die Zähne zusammengebissen und war dem Arzt zur Hand
gegangen, so flink und so geschickt, daß Schwester Daria, die am
Nebenbett Beschäftigte, ihr unter dem schwarzen Nonnenkopftuch hervor,
zu dem die roten jungen Wangen und die blanken Augen seltsam standen,
zugelächelt.

Auch jetzt lächelte Schwester Daria, als sie zum Bett des Fahnenträgers
trat und Josefine die Tasse mit Milch, aus dem diese dem Dürstenden mit
Mühe einige Löffelchen einflößte, aus der Hand nahm.

»Gehen Sie nach Haus,« sagte sie sanft. »Sie müssen Mittag essen und
auch ein bißchen ruhen.«

»Und Sie, Schwester?«

Die Nonne sah heiter drein:

»O, ich! Ich bin das ja gewöhnt. Und da ist auch ein Jung’ draußen, der
fragt nach Ihnen. Ich glaub’, es ist Ihr Sohn.«

»De Fritz? Wat will de?!« Josefine fuhr so hastig empor, daß der
Fahnenträger die Augen nach ihr rollte.

»St!« Die Nonne legte ihr die Hand auf die Schulter. »St! Haben Sie
schon von Spicheren gehört?«

»Spicheren?« Josefine blickte sie erschreckt an.

»Bei Spicheren ist eine mörderische Schlacht gewesen,« sagte die junge
Nonne so sanft, daß ihre Stimme wie ein Hauch das Ohr umschmeichelte.
»Aber so einer fällt im Krieg, wird sein Tod ein christlicher Tod sein
und die Thür zum ewigen Leben.«




XXVI


Wenn nur die Ungewißheit nicht gewesen wäre! Aber nein, keine
Ungewißheit mehr, es war schreckliche Gewißheit. Josefine fühlte es an
dem stummen Händedruck, mit dem der Oberstleutnant sie begrüßte, als er
ihr auf dem Hof begegnete: er hatte Mitleid mit ihr.

Da waren einige Glückliche, die Nachricht von den Ihren bekommen hatten
– sie hatte keine Nachricht von ihrem Sohn.

Nun war der zwölfte August schon herangekommen; wenn Peter noch lebte,
hätte er ihr Kunde gethan, das wußte sie ganz genau. So suchte sie ein
schwarzes Kleid hervor, sie mochte kein andres tragen. Stumm und starr
that sie ihre Pflicht; die Verwundeten folgten ihr mitleidig mit den
Blicken, aber wagten nicht, sie zu fragen.

So rastlos war Josefine noch nie umhergegangen, von Block zu Block,
treppauf treppab, von Bett zu Bett; ihre Füße waren dick geschwollen
durch die Anstrengung, sie merkte es nicht. Die Nonnen baten: »Ruhen
Sie doch!« Aber sie schüttelte stumm verneinend den Kopf. Wie konnte
sie ruhen?! Wieder von Block zu Block, treppauf treppab, von Bett zu
Bett.

Es ging auf den Abend des dreizehnten August, die warme Dämmerung
senkte sich bereits auf die Ahornbäume im Kasernenhof; der lag ganz
still, nur ein paar Wärter huschten in die Küchen.

Doch jetzt eine laute, klagende Frauenstimme, die bis hinauf zu
Josefine drang. Und dann des Oberstleutnants dringendes Zureden:

»Gnädige Frau, hier ist er nicht, ich versichere Sie! Gnädige Frau,
beruhigen Sie sich doch! Sie regen sich unnütz auf, er ist nicht hier!«

Zwei ängstliche Mädchenstimmen baten:

»Liebe Mama, hier ist er nicht, du hörst es ja! Mama, komm doch nach
Haus, bitte, bitte! Papa wird ja Nachricht schicken! Komm doch, Mama,
bitte!«

»Gnädige Frau, wie können Sie nur zweifeln? Wäre er hier, ich müßte es
doch wissen!«

»Aber Leute sind doch hier, die mit ihm in der Schlacht waren,
Verwundete! Die haben ihn gekannt. Ach, sie müssen ihn ja kennen!« Der
laute Klageton wurde noch lauter: »Die will ich fragen!«

»Gnädige Frau, so sehr ich bedaure, der Eintritt ist nicht gestattet –
besonders so spät – ich – gnädige Frau bemühen sich vielleicht morgen
früh noch einmal –«

»Ich =muß= sie fragen! Gleich, jetzt!«

Josefine zuckte zusammen – das war Verzweiflung! Jetzt hörte sie auch
schon eilende Schritte auf der Treppe – da gab’s kein Zurückhalten
– die Thür zum ersten Zimmer wurde aufgerissen, fast stürmte eine
schlanke Dame herein. Sie schlug den Schleier zurück, und ihre großen,
dunklen, wie Irrlichter flackernden Augen fuhren über die Betten hin.
Sie sah Josefine.

»Ist hier mein Sohn, mein Eugen?«

»Die gnädige Frau sucht ihren Sohn. Der Leutnant vom Werth war mit
bei Spicheren,« sagte der Oberstleutnant erklärend und blinzelte der
Pflegerin zu. »Er ist nicht hier, gnädige Frau – darf ich bitten?« Er
bot der Dame den Arm, um sie wegzuführen.

Aber sie beachtete es nicht. Wie auf Flügeln eilte sie immer weiter,
die Betten entlang, über jedes Lager beugte sie sich; mit einem
Laut jammernder Enttäuschung fuhr sie jedesmal zurück, aber sie
eilte weiter, weiter, durch alle Stuben, durch den Krankensaal im
Offizierskasino, von Block zu Block, treppauf treppab, von Bett zu Bett.

Den weinenden Töchtern und dem zugleich verwirrt und ärgerlich
dreinblickenden Oberstleutnant blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

Auch Josefine folgte, mechanisch, wie hingezogen – die Frau suchte ja
ihren Sohn!

Am letzten Bett drehte sich Frau vom Werth um.

»Er ist nicht hier!« schrie sie in einem herzzerreißenden Ton, und dann
fiel ihr flackernder Blick auf Josefines schwarzes Kleid.

Auge in Auge sahen sich die beiden Mütter.

»Sie sind in – Trauer?« sagte Frau vom Werth stockend, und im Ausdruck
des Entsetzens krampften sich ihre Züge zusammen. »Um – wen?«

»Um meinen Sohn!«

»Um Ihren Sohn?!«

Mit einem Wehlaut fiel die elegante Dame Josefine in die Arme; sie
schluchzte herzbrechend:

»Mein Eugen war mit bei Spicheren, wir haben keine Nachricht, mein Mann
ist hingereist, er sucht ihn – o, mein Gott, mein Sohn!«

Josefine blieb stumm, aber sie zitterte am ganzen Leib – das war die
schöne Frau vom Werth, die reiche Frau vom Werth? Jetzt so arm wie sie!
Das war die Cäcilie von Clermont, die einst mit ihr auf der Schulbank
gesessen?! Sie suchte und fand keine Ähnlichkeit mehr, alle Schönheit
war weggeweint.

»Kennen Sie mich noch?« flüsterte sie traurig. »Ich bin die Josefine
Rinke.«

»Rinke – Josefine – Rinke – ah, Fina, Finchen!« Die unglückliche Frau
rang die Hände. »Ach Fina, was ist uns geschehen!«

Sie löste sich auf in Thränen. Aber Josefine konnte nicht weinen.

Vergebens hingen sich die Töchter – schöne, schlanke Mädchen – an ihre
Mutter. Sie stieß sie von sich: »Mein Eugen, mein Sohn!«

Endlich ließ sich Frau vom Werth von Josefine fortführen; diese
leitete sie die Treppe hinunter. Unten im Hof, unter den wispernden
Ahornbäumen, unter den Sternen, die blaß heraufzogen, standen sie
kummervoll noch wenige Augenblicke zusammen.

»Mein Sohn, mein Eugen!« ächzte Frau vom Werth, als sie, halb
ohnmächtig, von ihren Töchtern gestützt, an die wartende Equipage
wankte.

Der Oberstleutnant schlug den Schlag zu und wischte sich den Schweiß
ab: Gott sei Dank, daß das vorüber! –

Am nächsten Morgen veröffentlichte die Zeitung die, freilich noch
längst nicht abgeschlossene, erste offizielle Verlustliste des
neununddreißigsten Regiments:

›Tot .... Verwundet .... Vermißt .... Summa ....‹

Die Summa war groß.

Unter den Toten war Füsilier Peter Conradi verzeichnet; unter den
Vermißten Sekondeleutnant Eugen vom Werth.

Aber auch der war tot; kurze Zeit darauf stand folgende Anzeige in
allen Blättern:

    ›Den Heldentod für’s Vaterland starb, infolge einer am 6. August
    im Gefecht bei Spicheren erhaltenen schweren Verwundung, unser
    einziger, inniggeliebter Sohn =Eugen Ernst August vom Werth=,
    Sekondeleutnant im Niederrheinischen Füsilierregiment Nr. 39.

        Die tieftrauernden Hinterbliebenen.‹

Herr vom Werth hatte den Sohn gefunden. In einem Lazarett war
der gestorben. Der gebeugte Vater hatte seinen Stammhalter unter
unsäglichen Mühen mit in die Heimat geschleppt. Ob es wirklich Eugen
war? Man hatte den Sarg nicht mehr öffnen dürfen. Aber so hatte die
unglückliche Mutter wenigstens nun den schwachen Trost, auf dem Grabe
Blumen pflegen und sie mit ihren Thränen begießen zu können.

Wo der Peter begraben lag, das konnte der Mutter niemand sagen. Und
wenn sie hingeeilt wäre und hätte mit ihren Nägeln die blutgedüngte
Scholle des großen Totenackers aufgerissen – sie hätte ihn nicht
gefunden.

»Er ist im ewigen Leben,« sprachen Schwester Eustachia und Schwester
Daria, die Mägde Christi, und ihre Oberin, Mutter Clara, die mit
Josefine zusammen pflegten.

»Wär’ et dir so lieber, Fina?« tröstete der Invalide und wies auf sein
fehlendes Bein.

»Finken, ich reis’ hin,« versicherte Schnakenberg, »so wie et irjend
anjeht. Wat de vom Werth kann, kann ich auch. Un wenn ich ihm auch nit
mitschlepp’, de Peter, ene schöne Stein laß ich ihm da setzen.«

»Du has noch einen Sohn,« sagte Bruder Friedrich, »verjiß dat nit! Un
de wird jroß wachsen in der neuen Zeit – wer mit Thränen sät, wird mit
Freud’ ernten!«

Und der Kleine schmiegte sich an sie:

»Mutter, ich bleib’ bei dir!«

Trost, so viel Trost! So viel mitleidsvolle Blicke, so viel
teilnehmende Händedrücke – so viel schwarze Kleider, wie sie selbst
eins trug, rings umher! Und doch kam in ihr Herz kein Friede. Ihr Sohn
tot, von den Franzosen erschossen – gemordet! Ihr schöner, blonder
Junge von diesen Bestien! Eine Wut überkam sie gegen die rotbehosten
Horden, gegen den Napoleon, der all dies Unglück verschuldet. Auf der
Straße sangen die Knaben Spottlieder:

    ›Was kraucht denn da im Busch herum?
    Das ist der Herr Napolium –‹

Das that ihr wohl. Und als ein paar französische Offiziere, die, den
Arm in der Binde, spazierten, von der Straßenjugend belästigt und
beschimpft wurden, hätte sie sich auch bücken und einen Stein aufraffen
mögen. ›Was wollt ihr hier, ihr Räuber, ihr Mörder – Brot, Obdach,
Pflege?! Krepiert! Gebt mir meinen Sohn wieder, meinen Peter!‹ Sie
fühlte einen wilden Haß in sich, eine brennende Wut. Alles in ihr
empörte sich, wenn sie sah, daß es Leute gab, die verwundete Franzosen,
besonders Offiziere, in ihre spezielle Obhut und Privatpflege nahmen.
Sie stimmte lebhaft denen bei, die darüber murrten; mußten nicht die
Franzosen warten, zurückstehen, bis erst alle, alle Deutsche versorgt
waren?!

Und es kamen deren so viele: Preußen, Bayern, Sachsen, Hessen,
Württemberger, Hannoveraner, und so manch’ rheinischer Jung’! Man hatte
geglaubt, unendlich viele Betten zur Verfügung zu haben, aber immer
waren es deren noch nicht genug; aus dem Arresthaus wurden Arrestanten
zum Exerzierplatz geführt, um dort schnell Matratzen fertigen zu
helfen. Allerorten sammelte man Geld, Kleidungsstücke, Lebensmittel.
Die reichen Hammer Bauern fuhren ganze Wagen voll Gemüse und Kartoffeln
bei der Kaserne vor, und auch vom Wochenmarkt kam ein hochbepackter
Karren an, zu dem selbst das ärmste Bäuerchen von den Eiern seiner
wenigen Hühner, von der Butter seiner einzigen Kuh beigesteuert. Es
galt alle die langsam der Genesung Entgegengehenden zu kräftigen, und
alle die rasch dem Tod Verfallenden noch zu erquicken.

Täglich ging Josefine zur Mutter Brenzen, der Apfelkönigin, die das
schönste Obst der Stadt vor Konditor Geislers Thür feil bot. Da thronte
die Alte, die Füße auf dem Stovechen, Winter und Sommer in’s gleiche
graue Umschlagetuch gehüllt, den mit schwarzen Bartstoppeln reichlich
umsetzten Mund brummig geschlossen. Sie war berüchtigt grob. Aber
jetzt lächelte sie und zeigte ihren einzigen Stockzahn: »Für Euer’
Kranken? Da!« Und sie legte noch drei extragroße, herrliche Trauben
auf das Pfund obenauf und steckte ein paar Handvoll der erlesensten
Spalierbirnen in Josefines Ledertasche. »Nehmt et nur, freut mich, wann
’t de Junges schmeckt – bis morjen!«

Manchem im Wundfieber Durstenden that so die alte Brenzen wohl. Die
Augen der Kranken leuchteten auf, wenn Josefine mit den Früchten kam;
besonders die Augen der Franzosen glänzten: Ah, Früchte, Früchte! Fast
so schön wie zu Hause in Frankreich! Aber Josefine ging an den Feinden
vorbei; für alle hatte sie nicht genug.

Mit dem französischen Fahnenträger in der Feldwebelstube ging es
schlecht; beide zerschmetterten Arme hatte man ihm amputiert, und seine
Schußwunde durch die Backe drohte brandig zu werden. Grausam entstellt,
lag er regungslos; er klagte nicht, er konnte ja nichts sagen, nur
seine Augen sprachen aus dem verschwollenen Gesicht und folgten
sehnsüchtig der Traube, die Josefine täglich seinem Nebenmann reichte.
Sie hatte sich wenig mehr um ihn gekümmert und seine Pflege fast
ganz den Nonnen überlassen – wozu sollte sie ihr längst vergessenes
Französisch wieder hervorholen?!

Heut kam die Nonne gelaufen: »Ach, Frau Conradi, haben Sie keine Traube
mehr? Ich glaube, der Franzos’ möchte gern eine; er sah Ihnen so nach,
die Thränen kamen ihm in die Augen.«

Josefine hatte nur noch eine Traube, und diese letzte war für einen
andern bestimmt.

»Er wird bald sterben,« setzte die Nonne hinzu.

Da ging Josefine und holte die Traube, zögernd, fast widerwillig. Mit
einem unbeschreiblichen Ausdruck von Gier sah ihr der Franzose entgegen
und bewegte die trockenen Lippen:

»_Des rai – des rai –!_«

Das war nur ein unartikuliertes Stammeln, mehr ein Wunsch als ein Wort.
Eine große, saftige Beere drückte Josefine ihm in den mühsam ein wenig
geöffneten Mund; und so fort, alle Beeren, bis die Traube nur noch ein
leeres Gerippe war. Mit einem Seufzer und einem gehauchten ›_merci!_‹
schloß er die Augen.

»Der arme Junge,« sagte Schwester Daria, »wer weiß, zu Haus hat er
vielleicht einen Weingarten gehabt!«

Arm, ja, aber es gab doch noch mehr arme Jungen! Josefine hätte ihm
am liebsten kein Mitleid gegönnt, und doch ging sie nun morgens und
abends zu ihm und erquickte ihn mit dem Saft einer Traube. Das war fast
das einzige, was er zu sich nahm. Er wartete schon immer, er lauerte
darauf, das merkte sie wohl. Aber sie sprach nie zu ihm, das konnte
sie nicht über sich gewinnen. Ihr Peter, ihr Peter! – Sein blutiger
Schatten reckte sich auf zwischen ihr und diesem da.

Am dritten Abend gab sie dem Fahnenträger wieder seine Traube, da sah
er sie an, so bittend, so herzbeweglich, so über alle Maßen traurig,
daß sie sich über ihn neigte. Zum ersten Male erwiderte sie seinen
Blick.

Und sein Auge schweifte von ihrem schmerzversteinerten Gesicht hinunter
über ihr schwarzes Trauerkleid; mit großer Willensanstrengung hob er
ein wenig den Kopf und nickte:

»_Pau–vre mère!_«

Was, was hatte er gesagt?! Sie saß wie erstarrt, ganz erschrocken.
Meinte er sie, oder dachte er an seine Mutter?! Sie wußte es nicht, es
war auch gleich. Arme Mutter – arme Mutter – da sprang ihr plötzlich
etwas wie ein Reifen vom Herzen, und lang entbehrte, heftige Thränen
stürzten ihr jäh aus den Augen und blendeten ihren Blick.

Das war nicht mehr der feindliche Fahnenträger, ein verhaßtes,
französisches Gesicht – das war nur ein Sohn, auch einer Mutter lieber
Sohn! _Pauvre mère_ – das hatte sie getroffen in innerster Seele.

Mühsam ihr Schluchzen bezwingend, blieb sie an seinem Bett sitzen noch
bis gegen Mitternacht. Sie sah, es ging zu Ende. Die Stunden schlichen,
das Lämpchen an der Wand brannte trübselig, als wollte es erlöschen,
matte Fliegen kreisten langsam oben an der getünchten Decke. Sie hatte
ihr Taschentuch gezogen und wischte ihm ab und zu den Schweiß von der
Stirn; dann öffnete er jedesmal die Augen und sah sie an.

»_Ma–man!_«

Es war nur ein Hauch. Sie fröstelte und zitterte und weinte.

Endlich mußte sie doch gehen, die Nonne, die die Nachtwache hatte, kam
und trieb sie fort. Langsam schritt sie über den Kasernenhof heim; kaum
konnte sie voran, so schwer trug sie – aller Mütter Leid lag ja auf ihr.

Die Ahornbäume rauschten einen Trauerchor. Als sie das schwere
Kasernenthor öffnete, gähnte die Straße dunkel wie ein Grab. Verstummt
die Vaterlands- und Siegeslieder, nur der Nachtwind wimmerte um die
Ecken eine klägliche Melodie. Es klang wie weinen.

Als sie am nächsten Morgen mit dem frühesten ihre Traube in die Kaserne
brachte, war der junge französische Fahnenträger tot. Er war einer der
ersten, der draußen an der Duisburger Chaussee auf dem erweiterten
Kirchhof begraben wurde.

Und andre folgten ihm nach.

       *       *       *       *       *

Der große Sieg bei Mars la Tour war errungen. Wieder hatten die Glocken
geläutet, Raketen geknattert, der Oberbürgermeister vom Balkon des
Rathauses herab ein dreimaliges Hurra auf König und Heer ausgebracht,
und wieder hatte Platz für Verwundete not gethan, und die Tonhalle mit
ihren Festsälen war zum neuen Lazarett eingerichtet worden, und auch
die Maler hatten ihren Malkasten geöffnet.

Und wiederum ein glänzender Sieg: bei Gravelotte! Jubelruf und
Klageschrei erklangen zugleich – die braven Neununddreißiger hatten bei
Gravelotte wieder heran gemußt, und wenn der Tod auch ihre Reihen nicht
niedergemäht wie bei Spicheren, manch einer hatte dran glauben müssen.
Der zweiundzwanzigste August brachte sieben Schiffe mit Verwundeten,
zwei darunter ganz voll Turkos und Zuaven. Aber die Bürger rannten
nicht mehr hin, die Schwarzen anzugaffen; nun hatte man deren genug
gesehen, arme Kreaturen, die dankbar waren für einen Trunk und einen
Bissen Brot.

In der Kaserne war schon manches Bett leer geworden; manch einer, der
darin gelegen, war wieder in’s Feld gerückt, manch andrer auch als
kriegsuntüchtig in die Heimat entlassen und mancher an einen ganz
stillen Ort verzogen. Nun waren die siebenhundert Betten wieder frisch
gefüllt, abgerechnet all die Passanten, die nur einen Tag ausruhten, um
dann, frisch verbunden und gelabt, weitergeschafft zu werden.

Wer hatte noch Kraft zum Pflegen?! Alle. Keiner war müde.

Auch Josefine nicht; noch war kein Tag, an dem ihre Füße sie nicht
getragen, ihre Arme versagt hätten. Ihr Saal im Kasino lag voll, ihre
Blocks auch; und unter allen hatte sie nun zwei alte gute Bekannte zu
pflegen: Unteroffizier Schmidt und den jungen Hucklenbruch, den bei
Gravelotte die Kugel in die Brust getroffen hatte.

Bett an Bett lagen jetzt die beiden Rivalen, die sich einst gemieden;
aber es war nicht der Zufall, der das so gefügt, Schmidt hatte
flehentlich darum gebeten. Waren sie doch beide am selben Tag
verwundet worden. Beide hatten sie unsäglich lange Stunden, unweit von
einander, auf dem Schlachtfeld geschmachtet, bis es Schmidt gelungen
war, auf allen Vieren zu dem schon bewußtlosen Kameraden hinzukriechen
und ihm aus der Feldflasche, die er einem toten Tambourmajor aus
der starren Hand gewunden, ein paar Tropfen einzuflößen. Dann hatte
auch ihn das Bewußtsein verlassen; Seite an Seite waren sie beide
hinübergeschlummert in die starre Unendlichkeit, bis sie, doch
wieder erwachend, sich im gleichen fliegenden Feldlazarett fanden.
Beide wurden sie mit dem gleichen Transport heimwärts geschafft. Und
die ganze furchtbare Reise hindurch hatte Schmidt, dem ein kleiner
Granatsplitter am Kopf noch lange nicht alle Schneid genommen, den nach
Luft ringenden Hucklenbruch, dem der Atem durch ’s Kugelloch in der
Lunge pfiff, in halbsitzender Stellung gehalten. Die wenigen Stunden
Schlaf hatte der arme Junge an seiner Brust gefunden.

»’ne faule Sache,« flüsterte Schmidt bekümmert Josefine zu, die in halb
schmerzlicher, halb freudiger Erregung des Wiedersehens an sein Bett
geeilt war, und wies mit dem Blick hinüber nach dem Nebenmann. Der lag,
wächsern und still, in seinen Kissen, bis auf’s letzte erschöpft vom
Transport, vom Betten, Untersuchen und Verbinden.

Das Herz im Leibe drehte sich Josefine um. Wie oft hatte der
Hucklenbruch seelenvergnügt in ihrem Lädchen gesessen, und nun mußte er
so daliegen!

»Ja, denn man lieber jleich weg,« flüsterte Schmidt. Und dann sah er
Josefine ganz seltsam an; seine sonst so kecken Augen wurden feucht und
nachdenklich.

»Ich hab’ Ihnen auch noch was zu bestellen, Frau Conradi, ’nen –« er
zögerte und strich sich verlegen den Schnurrbart – »’nen Jruß!«

»Von wem?« Warum fragte sie noch? Ach, sie wußte ja von wem! Es konnte
nicht anders sein, sie empfand es am wilden, rasenden Schlagen ihres
Herzens, jetzt kam etwas, ein Gruß, ein Gruß von – von –! Ihre Kniee
brachen, unwillkürlich sank sie am Bett nieder und faltete die Hände
krampfhaft: »Och Jott, vom Peter!«

Der Verwundete nickte. Die Botschaft wurde ihm nicht leicht, seine
Stimme klang aufgeregt:

»Da – aus meinem Rock, jeben Se mal her – aus der Brusttasche – so,
mein Notizbuch. Ich habe nämlich – was Jeschriebenes für Sie – ’nen
Zettel – ich habe immer höllisch drauf ufjepaßt.«

Sie konnte das Notizbuch nicht gleich finden, ihre Hände zitterten zu
sehr.

Nun kniete sie wieder am Bett, und Schmidt machte umständlich das
Büchelchen auf, suchte umständlich darin. Sie hielt den Atem an und riß
die Augen auf: was würde sie lesen?! Daß er tot war, daß wußte sie ja –
aber =wie= war er gestorben, wie?!

Dauerte das Suchen denn Stunden lang?! Eine Ohnmacht wollte sie
ankommen, ihre Lippen bebten, ihre ganze Gestalt; kein Wörtchen konnte
sie lallen. Aber jetzt – jetzt, gleichsam aus weiter Ferne schlug
Schmidts Stimme an ihr Ohr:

»Er starb wie ein Held!«

Da seufzte sie tief auf, als sollte der Atem ihre befreite Brust
sprengen, und riß gierig den Zettel an sich. Laut schrie sie auf: das
war ihr Zettel, ihres Vaters Zettel, den sie dem Sohn in letzter Stunde
zugesteckt beim Ausmarsch!

Und er hatte das Vermächtnis angetreten.

Da stand: ›Über alles die Ehre!‹ und darunter gekritzelt, mit Blut:

›Liebe Mutter, adjüs.‹ – – –

»Ehre, wem Ehre jebührt,« sagte Schmidt. »Der Junge war ’n janzer Kerl,
bis zum Tode!«

Josefine drückte dankbar die Hand, die ihr den Zettel überbracht, dies
Teuerste, was sie von nun an in ihrem Leben hatte.

Viele Tage trug sie das verknitterte, vergilbte, blutbefleckte Papier
auf ihrer Brust. Da lag es und gab ihr ungeahnte Kraft; aber dann
schloß sie es doch in die Truhe, in ihr Nähkästchen, zu den Andenken
ihrer Jugend und Ehe. Jetzt hatte sie den Talisman nicht mehr nötig,
sie war ruhig geworden in sich. Nicht mehr von der steinernen Ruhe
jener ersten Zeit, nein, Gott sei Dank, sie konnte weinen! Aber in ihre
Thränen mischte sich das Gefühl des Stolzes: mein braver Sohn! –

Von ihren Kranken empfing Josefine besondere Zeichen des Vertrauens.

»Schreiben Sie an meine Mutter,« bat mancher Soldat.

Und so saß sie denn an den Betten und ließ sich in die Feder diktieren
von schwachen Stimmen, aber von Herzen, die jetzt doppelt stark
empfanden für die Mutter daheim.

Und wunderliche Antworten liefen ein aus Nord und Ost und Süd und West
des weiten Deutschen Reiches. Aber immer, trotz der lächerlichsten
Orthographie, trotz aller Verquickung, las man’s heraus, das in Angst
und Liebe und Sehnsucht gestammelte: ›Mein lieber Sohn!‹

»Werte Frau,« sagte Unteroffizier Schmidt eines Tages – er war schon in
der Besserung und schluffte bereits in Filzpantoffeln bis zum Bett des
Westfalen –, »werte Frau Conradi, würden Sie für mir nich auch mal ’n
kleenes Briefchen schreiben?«

»Jern.«

»Na, nämlich« – er zupfte schon wieder an seinem Schnurrbart und
versuchte ihm den früheren kühnen Aufwärtsstrich zu geben – »na, da
ich nu doch mal kein Glück bei Sie habe« – er sah ihren ernsten Blick
und nickte – »nehm’ ich ja nich übel, is ja jetzt janz natürlich, und
denn auch schon von wejen Hucklenbruchen – wär’ mir wirklich penibel!
Na, nämlich, ich habe mir’s jeschworen, als mir die Kugeln man so um
die Ohren pfiffen, und die Kameraden um mich ’rum fielen, in Schwaden,
wie jemäht: ›Junge, Junge, wenn de ’rauskommst, wirste ’ne alte Schuld
wieder jutmachen!‹ Denn die Schramme da am Schädel rechnet nich, die
is balde heil, und ich mache noch mal los. Also: ich habe da nämlich
en Mächen zu sitzen, an de Panke wohnt se, jroßer Staat ist jerade
nich mit se zu machen, arm is se man, und auch lange nicht so hübsch
wie Sie, werte Frau! Na – aber se hat nu mal ’nen Jungen von mir! Also,
haben Se die Jüte, werte Frau, schreiben Se schon man los: ich wer’
ihr heiraten. Es drückt mir’s Herz ab, ich kann nich warten, bis ich
alleene schreiben darf. Die Aujuste wird jeheirat’t stantepe, sowie
der Krieg ’rum is. Denn, wissen Se, so in ’n Krieg wird einen janz
schnurrig zu Mute. ’s is lange nich so, als wie die Leute sich denken.
Un mit die Bejeisterung is det allens Mumpitz. Un mit den Haß auf den
Feind auch. Davon weiß man jarnischt in der Schlacht, man weiß von sich
selber so jut wie jarnischt; was befohlen wird, wird jemacht: einfach
rin! Muß ’t nu mal sind, denn man los! Das können Sie mir jlauben. Aber
an die Juste schreiben Se man, bitte!«

       *       *       *       *       *

Die Firma S. Sternefeld am Alleeplätzchen hatte annonciert,
fettgedruckt, die halbe letzte Seite im Blättchen allein für sich in
Anspruch nehmend:

›=Fahnen, Fahnen=!

Fahnen in allen Größen, Fahnennessel, Flaggentuch und so weiter.‹

Wer noch keine Fahne im Besitz hatte, rannte heute eilig hin und
kaufte; die große Eingangsthür klappte den ganzen Tag – ’raus – ’rein,
’rein – ’raus.

»Sie wünschen?«

»Fahnen, Fahnen!«

»Schwarz-weiß?«

»Nein, schwarz-weiß-rot!«

Ein Meer von Schwarz-weiß-rot hatte sich über die Stadt ergossen. Zu
jeder Bodenluke, zu jedem Mansardenfenster heraus steckte bald eine
lange Stange; und lustig flatternd und sich freudig blähend im frischen
Herbstlüftchen, klatschte das schwarz-weiß-rote Tuch gegen das untere
Stockwerk. Das klang wie Wellenrauschen, wie Musik einer stürmischen
Brandung: Sedan, Sedan!

Überall flaggte und wimpelte es. Der Jägerhof, das Rathaus, die
Kaserne, das Theater, die Kirchen, die Schulen, die Thore, die
Rheinbrücke, selbst der alte Jan Willem hatten geschmückt. Um alle
Dächer rauschte es, durch alle Lüfte sauste es: Sedan, Sedan!

Große Flaggen, kleine Flaggen, schmale Wimpel, breite Wimpel,
kostbares Tuch, dünner Nessel, verwaschener Kattun, Papierfähnchen
– aber strahlender Sonnenschein lachend über alle, und übermütig
dreinharfender Wind: Sedan, Sedan!

Wer freute sich nicht?! Die Verwundeten setzten sich auf in ihren
Betten und horchten mit gespanntem Ohr. Der Rhein brauste es, Kanonen
donnerten es – wer hätte gedacht, daß die je solchen Jubel künden
könnten –: Sedan, Sedan!

    ›=Gefangennahme des Kaisers Napoleon. Kapitulation der Armee Mac
    Mahons bei Sedan=!‹

Was wollten die Franzosen nun noch?! Ihr Kaiser gefangen, ihre größte
Armee gefangen! Nun mußte es Friede, Friede werden!

Gegen Mitternacht war die erste Kunde nach Düsseldorf gekommen, atemlos
hatte ein Depeschenbote sie in die schon schlummernde Stadt getragen.
Vorbei war der Schlaf, vorbei die Ermüdung; die Leute stürzten aus
ihren Häusern, auf den Straßen und Plätzen fanden sie sich zusammen,
sie schüttelten sich die Hände, sie küßten und umarmten sich, sie
lachten mit weinenden Augen: nun kam der Friede!

Leuchtend stand ein Stern am Himmel, und plötzlich fingen alle Glocken
der Stadt an zu läuten – fromme Stimmen in heiliger Nacht.

Am kommenden Morgen zogen unzählige Schulkinder durch die Straßen;
Maler Camphausen mit seinem weißen Bart hatte sich an die Spitze der
rosigen Jugend gestellt und marschierte voran mit dem Trommlerchor. Und
die bekränzten Knaben und Mädchen schmetterten aus hellen Kehlen:

›Es braust ein Ruf wie Donnerhall –‹

In allen Kirchen Gottesdienst, von allen Orgeln Dankeshymnen. In’s
Beten klang Jubel hinein: ›Der Kaiser, der Kaiser gefangen!‹

In der Kaserne war ein Faß Bier aufgelegt – die Liebesspende eines
begeisterten Bierbrauers – es trank davon, wer trinken durfte; und
andre stießen mit Wein an.

Herr Schnakenberg kam auch gerannt mit ein paar ganz besonderen
Bouteillen unter’m Arm: alter Rheinwein, firn und golden wie Harz.
»Wat Extras, Finken, für dein’ Kranken,« flüsterte er der Stieftochter
zu und steckte ihr die Flaschen unter die Schürze. »Hurra, wir haben
ihn, den Napolium!«

Sie freuten sich alle. Als Josefine zum Mittagessen nach Hause kam,
hatte der Invalide das ganze Schaufenster beflaggt und zugleich einen
merkwürdigen Geschäftssinn dabei entwickelt. Zu Fähnchen hatten die
bunten Kriegstaschentücher gedient: Weißenburg, Wörth, Spicheren, Mars
la Tour, Gravelotte – sogar König Wilhelm und der Kronprinz, Moltke und
Roon, selbst der von Bismarck hatte dran glauben müssen. Nicht allein
die Straßenjugend stand vor so viel Pracht, auch Leichtverwundete, die
draußen schon umherspazieren durften, kamen herein und kauften.

»No, wenn alle wat thun, können wir doch nit ganz müßig sitzen,«
brummte Ferdinand, als die Schwester ihn belobte. Und dann fing er
wieder an, auf sein Bein zu fluchen: wenn das nicht schon weggeschossen
wäre, wäre er ja überhaupt mit ausmarschiert. Aber er begann nicht mehr
seine alte Geschichte: ›Wir hatten die fränkische Saale überschritten
–‹, die bekam man seit einiger Zeit nicht mehr zu hören; er war klein
geworden im großen Krieg, und der Geruch des Lazaretts, der Hauch der
vielen Leiden, den die Schwester aus der Kaserne mit herüberbrachte,
ließen sein eignes, mißvergnügtes Gejammer ganz verstummen. Er war
begierig darauf, zuweilen mit ihr herüberzugehen und ihr bei kleinen
Diensten für die Kranken hilfreiche Hand zu leisten.

Auch der Junge durfte ab und zu mit der Mutter kommen. Er lernte jetzt
Französisch und war ein guter Schüler; so konnte er als Dolmetscher
dienen, wo ihre paar Brocken nicht ausreichten. Mancher Franzose
streichelte ihm über den Kopf: »_Ah, merci, mon petit, Dieu vous
bénisse!_« Fritz hatte viel Freunde unter den Feinden.

Aber waren denn diese armen Kranken wirklich Feinde? Was konnten sie
für den Krieg? Die – gar nichts! Waren sie nicht weggerissen aus ihrer
Familie, vom Pflug, vom Webstuhl, vom Maschinenrad, von all dem, was
sonst ihr Leben ausgemacht, nur gehorchend dem Befehl? Es wollte
Josefine nicht aus dem Sinn, was ihr der ›helle Berliner‹, wie die
andern den Schmidt neckend nannten, gesagt hatte: ›Mit der Begeisterung
ist das Mumpitz und mit dem Haß auf den Feind auch.‹ Und liebten die
Franzosen ihr Vaterland nicht auch? Es sollte sehr schön in Frankreich
sein. Mußte es ihnen nicht weh thun, wenn die Kanonen Sieg donnerten
und die Glocken Freude läuteten und alles Volk jubelte?!

Unten auf dem Kasernenhof, unter den Ahornbäumen spielte heut
nachmittag die Musik. Da stand, was Beine hatte, und schrie Hurra.
Selbst die Nonnen waren an die Fenster geeilt. Das erste Eiserne Kreuz
war nach Düsseldorf gekommen, hierher in die Kaserne!

Und der Glückliche, dem es verliehen wurde für besondere Bravour, war
Unteroffizier Schmidt. Ja, das war einer! Der hatte gesagt, als sie die
vom Feind besetzte Waldhöhe stürmten und der Zugführer zusammenbrach:
›Nu, Kinder, druf wie Blücher! Aber erst wer’ ik mir noch eene in’s
Jesicht pflanzen!‹ Und er hatte seine Stummelpfeife angesteckt, und
dann war’s losgegangen wie ein Donnerwetter, daß der Feind wich.

Der Oberstleutnant hatte es sich hübsch ausgedacht, diesen allgemeinen
Freudentag dem Tapferen zu einem besonders festlichen zu gestalten.

Im Kreise standen das Wachtkommando und die Blessierten – Franzosen
waren auch darunter – und in der Mitte stand Schmidt.

Josefine lugte hinunter – wie schneidig der Schmidt bereits wieder war,
trotz des verbundenen Kopfes in voller Uniform! Und der Oberstleutnant
umarmte ihn und heftete ihm selber das Eiserne Kreuz auf die Brust.
Eine Nonne trat in den Kreis und kredenzte dem Helden Wein. Der
Oberstleutnant stieß mit ihm an, hob dann sein Glas und hielt eine
Ansprache. Die Rede schloß:

»Ein Hoch dem Braven, der hier unter uns steht! Ein Hoch unsrer Armee,
die Frankreich in den Staub gezwungen! Ein Hoch Seiner Majestät, unserm
Heldenkönig!«

Man verstand jedes Wort oben in den Krankensälen, deren Fenster
geöffnet waren. Das war ein jubelndes Rufen und Schreien, ein Hoch und
Hurra, und die Musik stimmte an: ›Heil dir im Siegerkranz!‹

Josefine schloß das Fenster. Es lagen hier so viel Schwerkranke, fast
lauter Franzosen. Aber auch durch die geschlossenen Scheiben drang
deutlich die markige Musik. Dort im Bett, nahe dem Fenster, hatte
sich der junge Juwelier aus Paris ganz nach der Wand gekehrt und das
Kissen mit beiden Händen gegen die Ohren gedrückt. Was hatte er nur?
Erschrocken sah Josefine nach ihm hin, sein Körper zuckte unter der
Decke wie im Krampf. Jetzt schlug ein unterdrückter Laut an ihr Ohr –
er schluchzte: »_Oh ma patrie, ma pauvre patrie!_«

Da schlich sie hinaus, sie mochte ihn nicht ansprechen, sich gar nicht
bemerklich machen – _oh ma patrie!_ – nicht seine schmerzliche Scham
belauschen.

Draußen auf der Treppe begegnete ihr Schwester Daria, die atemlos vom
andern Block herüberkam:

»Frau Conradi, ach, da sind Sie ja! Mit dem Hucklenbruch geht es wieder
so schlimm.«

»Wieder ein Blutsturz?« fragte Josefine erschrocken.

Die Nonne nickte: »Es ist als nach Ihrem Herrn Pastor geschickt.
Derweilen betet unsre Mutter Clara mit ihm.«

Auf den Fußspitzen schlich Josefine zu Hucklenbruch herein. Man hatte
den Armen schon seit ein paar Tagen ganz allein gebettet, in dem Raum,
der einst der Feldwebelwohnung als Küche zugehört. Jedes Geräusch hatte
dem Leidenden Pein gemacht. Aber jetzt standen die Fenster nach dem Hof
weit offen, die schöne Nachmittagssonne flutete voll herein und die
Musik und das Singen – der Sterbende wurde all dessen nicht mehr gewahr.

»Höher – höher!« hauchte er nur noch mit verlöschender Kraft.

Kissen auf Kissen stopften sie ihm hinter den Rücken; noch immer nicht
hoch genug, noch immer keine Luft.

»Höher – höher!«

Da setzte sich Josefine auf den Bettrand und nahm den nach Atem
Ringenden stützend in ihren Arm.

Hucklenbruch war ein guter, evangelischer Christ. Ob er seine letzte
Stunde nahen fühlte, wer weiß? Aber er hatte plötzlich Verlangen
geäußert nach dem Abendmahl. Es waren ja noch nicht allzuviele Jahre,
seit er’s mit seinen Eltern zum erstenmal genommen, zu Bielefeld in der
Kirche, im langen Konfirmandenrock, das Myrtensträußchen im Knopfloch.

Nun kam der Geistliche.

»Nehmet hin und esset – das ist mein Leib – der für euch gegeben wird –«

Feierlich klangen die Einsetzungsworte, getragen von der
heraufschallenden, festlichen Musik. Aber der danach Begehrende konnte
den Leib des Herrn nicht mehr empfangen, das Schlucken versagte.

»Nehmet hin – und trinket alle daraus –«

Wohl neigte der Geistliche sich über das Bett und hielt dem Sterbenden
den Kelch an die Lippen, aber der Wein verschüttete; der bleiche Mund
streifte nur des Kelches Rand. Hucklenbruch merkte das nicht; ein
verklärter Ausdruck lag auf seinem blutleeren Gesicht, mit dem jetzt
verblaßten Sommersprossensattel über der scharf gewordenen Nase. Seine
Augen waren ganz nach oben gekehrt.

Vor seinen Ohren spielte leise die Orgel der Bielefelder Kirche:
›Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd’ der Welt.‹ Da war
eine große, andächtige Gemeinde – immer neue wallten zum Altar, immer
neue – aber er hatte schon genossen, er war nun wohl vorbereitet. Und
Vater und Mutter führten ihn fort – heim.

Unten auf dem Hof setzte die Musik einen Augenblick aus. Der Geistliche
breitete die Hände zum Segen und sprach das Amen. Neben der würdigen
Oberin lag die junge Daria auf den Knieen. Auch die Nonnenhände hoben
sich empor: »Amen, Amen!«

Strahlender und strahlender vergoldete der warme Sonnenschein Stube und
Bett und den Sterbenden.

Rauschend hub die Musik von neuem an, höchster Jubel stieg zu höchsten
Höhen:

    ›Heil dir im Siegerkranz,
    Heil König dir!‹

       *       *       *       *       *

Bis in die sinkende Nacht Jubel. Musik, Transparente, Illumination,
bengalische Flammen. An den Rheinufern loderten Feuertonnen, und
Menschen, Menschen, froh erregte Menschenscharen wallten. Das
knatterte und knallte, blies und fiedelte, jauchzte und frohlockte.
Fünfzehnhundert Träger schwangen ihre Fackeln; greller Schein
überglänzte alles, flüssiges Feuer tropfte auf’s Pflaster, wie
bespritzt mit Blut standen die weißen Mauern der Häuser. Hin zum
Jägerhof wallte der endlose Zug, und Fürst und Fürstin von Hohenzollern
traten auf den Balkon. Das Volk grüßte hinauf, und sie grüßten hinab.
Der Fürst brachte dem König und der Armee ein donnerndes Hoch, ein
dreifach donnerndes Hurra antwortete.

Im Hofgarten reckten die Bäume ihre schon herbstlichen Blätter in’s
Fackellicht, und der stille Weiher spiegelte den Glanz wider. Ein
letzter, sommerlicher Hauch strich säuselnd durch’s hohe Gras. Der
Herbst war vor der Thür, der Winter würde kommen, Schnee und Eis
bringen, aber was machte das?! Träume standen auf, frühlingsfrische,
hoffnungsgrüne Träume. In den Wipfeln rauschte es von: ›Friede,
Friede!‹




XXVII


Es waren rauhe Herbsttage, die nun folgten. Selten hatte der Wind so
geblasen und den schäumenden Gischt des Rheins so hoch an die Ufermauer
hinaufgespritzt. Selten hatte die große Prozession, die sich, wie
alljährlich um diese Zeit, auf die Wallfahrt zur Mutter Gottes nach
Kevelaar begab, so ungünstiges Wetter gehabt. Aber nicht Regen, nicht
Sturm hielt die frommen Pilger ab; nie war der endlose Zug endloser
gewesen, der Düsseldorf betend passierte und dem sich hier noch endlose
Beter anschlossen. Es waren der bekümmerten Seelen heuer mehr denn je,
die in der Kapelle, darin schon so viele geopferte Wachsgebilde an den
Wänden hängen, vor’m wunderwirkenden Gnadenbild neue wächserne Füße und
Hände niederlegten.

Schwarz hing das Kartoffelkraut auf dem Acker, modrig roch es auf
den Feldern, die Störche sammelten sich auf den Hammer Wiesen, die
Schwalben zogen fort, und frostig waren die Nächte.

Vorsichtige Leute bestellten Kohlen und suchten die warmen Sachen aus
der Mottenkiste, bald war der Winter da – aber, ob auch der Friede?

Es gab eine bittere Enttäuschung. Hatten doch selbst die Soldaten aus
dem Felde an die Ihren von baldiger Heimkehr geschrieben; aber Sedan
hatte den Frieden nicht gebracht. Wohl saß Napoleon auf Wilhelmshöhe,
wohl hatte Straßburg kapituliert und Orleans war erstürmt, doch noch
immer mußten die deutschen Jungen vor Metz im Morast liegen, frieren
und sich langweilen.

Ganze Waggons wollener Hemden, wollener Strümpfe, wollener Leibbinden
gingen von der Stadt dorthin ab. Besorgt sah man die Rheinnebel steigen
und sinken, schüttelte den Kopf über die unendlichen Regengüsse, lief
verdrießlich mit Schnupfen und roter Nase umher – wie sollte es jetzt
erst den Armen in den sumpfigen Metzer Gräben ergehen? Und wie vor
Paris?! Man war des langen Krieges recht herzlich müde. Täglich bohrten
sich tausende begieriger Augen in die Spalten der Zeitung: ›Kleine
Ausfälle bei Metz, nichts Neues vor Paris‹ – das war die stete Losung.
Wann denn, wann denn endlich?! Sollten die armen Jungen nicht einmal
Weihnachten zu Hause feiern?

Ängstliche Seelen nahmen’s als schlechtes Zeichen, daß im Nordwesten
der Stadt eines Abends ein Nordlicht auftauchte; man brauchte gar nicht
auf die Sternwarte zu rennen, ein jeder sah’s mit bloßem Auge. Voll
unheimlichen Scheines, groß und seltsam, mit rotem Kranz stand es über
dem Strom. Warum kam das hierher, wie hatte sich das vom Polar an den
Rhein verirrt? Das bedeutete Blut, noch viel Blut.

Es half nichts – Metz halsstarrig, vor Paris nichts Neues – man mußte
sich auf den Winter gefaßt machen. Der Pelzmarkt war im Gang, seufzend
kaufte manches Bäuerlein sich ein Paar Winterfäustlinge und dachte
dabei an seinen frierenden Sohn – da kam die Nachricht: ›Metz hat
kapituliert!‹

Wohl war die Freude groß, und die Stadt ließ sich nicht lumpen mit
Festesglanz, aber es war nichts gegen den Jubel von Sedan. Jetzt
verlangte das Herz zu sehr nach Frieden.

Der November brachte bitteren Frost, die Kartoffeln wurden teurer,
und die Kohlenpreise stiegen rapide. Kinder von ausgerückten
Landwehrmännern trippelten Mittags in die Häuser der Wohlhabenden und
ließen sich die Suppentöpfchen füllen für sich und ihre Mütter und
die hungernden Geschwister. Im Hofgarten lasen arme Buben Holz auf,
Wohlthätigkeitsvereine verteilten Feuerung. Nun galt es nicht allein,
Charpie zu zupfen, nun hieß es auch: Strümpfe stricken, Röcke nähen,
Hemdchen zuschneiden, Mäntel zurechtmachen für die Familien der fernen
Krieger. Und der Bedürftigen waren viele.

Auch Josefine gab – Gott sei Dank, sie konnte ja geben! – wenn auch
alle Geschäfte klagten, ihr Lädchen ging. Sie hatte ihren Halt an
der Kaserne, die gab ihr Kundschaft, die verließ sie nicht. Die alte
Kaserne! Sie fühlte sich wieder ganz darin zu Hause.

Treppauf treppab, von Block zu Block, von Bett zu Bett.

Nun hatte sie viele neue Gesichter unter ihren Kranken, kaum einige
der ersten Gäste waren noch da. Sechzig lagen draußen auf der
neuzugekauften Parzelle des Kirchhofs, und der Winterschnee deckte sie
zu.

Unteroffizier Schmidt mit seinem Eisernen Kreuz war längst wieder
seiner Kompagnie nachgerückt. »Der wird schon wieder Schwung in die
Gesellschaft bringen,« hatte der Oberstleutnant gesagt. »Ein Kerl wie
der ist unbezahlbar. Immer fidel. Und namentlich zum Requirieren wie
geschaffen. Treibt keiner ein Pfund Fleisch mehr auf, der kommt gewiß
noch mit ’ner fetten Gans unter’m Arm!«

Auch die in der Kaserne Zurückgebliebenen vermißten Schmidt; er hatte
sie alle aufgekratzt. Aber in Paris mußte er doch mit einziehen, das
war sein Traum. Und dann wurde die ›Juste‹ geheiratet, hatte sie ihm
doch eine selige Antwort gegeben und dem Bengel die Hand zum Gruß
geführt: ›Lieba Vata!‹ –

Der Rhein trieb mit Eis, es war so kalt, so grimmig kalt, wie sich’s
die ältesten Düsseldorfer nicht erinnern konnten, und doch kamen die
jämmerlichen Franzosen durch ohne Mäntel, ohne Schuhe, zerrissene
Lappen um die Füße gewickelt. Viele gar ohne Strümpfe, mit erfrorenen
Zehen. Wenn’s hoch kam, hatte einer noch die Lumpen einer Pferdedecke.
Das waren die Kriegsgefangenen, die Reste der großen Armee, die nach
der Festung Wesel eskortiert wurden, nach Minden, oder nach den
Baracken auf der Wahner Heide. Durch die Eifel waren sie marschiert,
über die öden, endlosen Hochlandsstrecken, auf die der Schnee fiel
wie ein Leichentuch. Sie hatten den Winterstürmen nichts mehr
entgegenzusetzen gehabt: keinen gesättigten Magen, keine warmumhüllten
Glieder, vor allem kein hoffendes Herz mehr – die _gloire_ verloren,
alles verloren! Verstohlen blieb manch einer zurück. Der Zug war
endlos – wer merkte das Fehlen eines einzelnen? Mutlos streckte er den
ausgemergelten Körper in den Schnee und starb.

Josefine war zugegen, als solch ein Zug in Düsseldorf ankam. Ein
eisiger Winterregen, der wie mit spitzigen Eisstückchen peitschte, ging
nieder. In den halbzerflossenen Schnee des Exerzierplatzes hatten sich
die Unglücklichen hingeworfen. Sie waren zu Tode erschöpft. Sterbenden
glichen sie alle, und Sterbende waren auch unter ihnen. Dort trug man
einen in’s Stroh des nächsten Stalles; bis auf den Platz war er noch
gewankt, nun hatte er geendet. Und hier schrie einer in höchsten Nöten:
»_Mon dieu, mon dieu! Ah, comme je suis malheureux!_«

Allen klapperten die Zähne, alle waren blau vor Frost, allen bluteten
die Füße. Halbnackt streckten sich ihre mageren Glieder aus den
abgerissenen Uniformen; alle ohne Haltung, alle ohne Disciplin. Sie
hörten auf kein Kommando mehr; den Nonnen rissen sie die Blechnäpfe mit
heißer Suppe aus den Händen, packten die Gefäße und stülpten sie sich
in der Gier des Trinkens fast über den Kopf.

Josefine konnte nicht mehr an sich halten; im ersten Impuls unendlichen
Mitgefühls kniete sie nieder und stützte die Elendesten. Blut, Wunden,
Kanonendonner, Todesröcheln – es war nichts gegen dies! Die Thränen
gossen ihr herab, sie hatte keine Hand frei, und so tropften sie in die
Suppe, die sie den Verschmachteten reichte.

Allen wurden die Füße verbunden – eine kurze Rast – und dann hieß es
weiter. Aber die Unglücklichen wollten nicht weiter, sie blieben im
Schnee liegen; hier wollten sie sterben.

Es hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden, nicht wenige unter
ihnen weinten. Ein armer Arbeiter zog plötzlich seine Stiefel aus und
reichte sie einem der Franzosen, der nur Lappen um die Füße gewickelt
hatte; dabei fluchte er. Und auch andre stießen Verwünschungen aus
– nicht die Besiegten, die hatten nicht einmal Kraft mehr zu einer
Verwünschung – sie, die Siegreichen, verwünschten den Krieg. Nur
Friede, Friede! Was man an Geld in der Tasche hatte, gab man her.

Josefine war nach Haus gestürzt; auch sie mußte geben, den Armen geben,
was sie besaß an Hemden, Strümpfen, Kleidern. Die Sachen ihres Peter
hatte sie nie, nie hergeben wollen – diese teuren Kleidungsstücke,
diese heiligen Andenken – nun gab sie sie doch. Ein häßlicher Schwarzer
warf seine zerlumpten Hosen weg und kroch mit Zähnefletschen in die
ihres Peter, und ein todblasser Tambourmajor hüllte sich in den großen
Mantel, den ihr Ältester noch von seinem Vater geerbt. Alles gab sie
hin. Nun hatte sie nichts mehr. Mit schmerzlichem Bedauern zeigte sie
ihre leeren Hände.

Heute fühlte sie sich zum erstenmal erschöpft, heute fühlte sie zum
erstenmal die Kälte des Winters und den schneidenden Wind, der ihr die
Haare um die Schläfen peitschte. Heute mußte sie zum erstenmal einen
Augenblick ruhn. Als sie heim kam, waren der Bruder und Fritz nicht da.
Thüren und Schränke und Kommoden hatten sie offen gelassen – wohin?
Aber schon kamen sie atemlos zurück; der Knabe führte den Invaliden,
der auf dem Glatteis höchst mühselig ging. Doch Ferdinand lamentierte
nicht.

»Finchen,« schrie er im Eintreten und wischte sich den Schweiß der
Anstrengung ab, »die armen Teufel! Heiliges Kanonenrohr, wie is da
unser einer gegen dran! Fina, schimpf’ nit, aber ich hab’ denen mein’
andre Bux’ un auch wat Unterzeug un ne Rock mitgegeben – ich hab’ ja so
viel!«

Da nickte sie ihm zu.

       *       *       *       *       *

In die ernsten Stunden trüber Wintertage brachte der Besuch von Bruder
Friedrich ein freundliches Licht. Ruhig, aber doch von einem gewissen
Selbstbewußtsein erfüllt, teilte der Schlosser der Familie mit, daß er
demnächst die Aussicht habe, selbständig zu werden, das heißt so gut
wie selbständig: ein Konsortium von Geldleuten hatte ihn, neben einem
kaufmännischen Direktor, zum technischen Leiter eines neu zu gründenden
großen Etablissements für Fabrikation von Eisenbahnschwellen und
Schienen ausersehen. Mit Beendigung des Krieges sollte das Unternehmen
in’s Leben treten, bedeutendes Kapital stand zur Verfügung; und sein
Kontrakt war unterzeichnet.

»Ja,« schloß er mit aufquellender Freude, »dat wär’ früher nit e so
leicht passiert, nur ene simple Schlosser, und so en Stell’! Aber
heutzutag’ jeht dat. In der Industrie wird nur jefragt: ›Wat leist’ de
Mann?‹ Hör’, du, meine Jung’« – er legte dem interessiert lauschenden
Fritz die Hand auf den Kopf –, »du sollst ordentlich in de Lehr’!
Direktor – dat is mir noch lang’ nit jenug für dich, selber dein ’hören
muß sie, die Fabrick!«

Herr Schnakenberg war Feuer und Flamme, als er von des Stiefsohnes
Aussichten hörte. Wenn der Junge Kaution stellen mußte, er kam dafür
auf!

»Ne, danke,« hatte der Schlosser mit Stolz gesagt, »Kaution brauch’ ich
nit. De Krupp sagt für mich jut, un dat is jenug!«

Krupp konnte schon gutsagen, dessen Kanonen spieen die französischen
Festungen an – Thionville, Montmédy und wie sie alle hießen –, daß
sie klein beigaben. Und gar das große Paris schien zu zittern vor dem
Gebrüll der Geschütze von Friedrich Krupp.

Mit Ungeduld wartete man auf die Kapitulation von Paris. Wenn Paris
fiel, das ›große Sündenbabel,‹ dann mußte es doch Friede werden!

Weihnachten war gekommen, jedoch Christkindleins sanfte Lieder wurden
noch immer übertönt von rauher Kriegsmusik. Aber die unschuldigen
Kinder sangen doch unverzagt:

    ›O du fröhliche, o du selige,
    gnadenbringende Weihnachtszeit!‹

Wer hätte sie schweigen heißen mögen?!

Und auch in der Kaserne erklangen Weihnachtslieder. Für mächtige
Tannenbäume war gesorgt. Viele Abende hatte Josefine mit den Nonnen an
dem Riesenbaum, der auf dem größten Krankensaal, dem Offizierskasino,
stehen sollte, geschmückt. Die junge Schwester Daria mit den roten
Wangen war unermüdlich im Schneiden bunter Papierketten und zierlicher
Körbchen. Und sie war so voller Lust dabei, in ihrer schwarzen Tracht
so heiter, als wäre sie eine glückliche Mutter, die ihren Kindern den
Christbaum putzt. Josefine mußte sie oft erstaunt, fast bewundernd
ansehen, diese still freundlichen Gestalten in den schwarzen Kutten;
sie fühlte die alte Neigung wieder erwachen, die sie einst als Kind zu
den lieben Nönnchen hingezogen – diese hier waren wahrhaft ehrwürdig!

›_Gloria in excelsis deo_‹ leuchtete in bunten Farben vom Spruchband
des Engels auf dem Transparent im Weihnachtssaal. Ein ganzes Jahr
hatte das Transparent versteckt gestanden in irgend einem verstaubten
Winkel. Nun hatten geschäftige Hände es hervorgeholt und unter’m
Tannenbaum aufgestellt. Josefine hatte nichts davon gewußt, nun sah
sie es plötzlich bei der Bescherung im vollen Lichterglanz, und das
Herz stand ihr still vor freudigem Schreck – das war ja das Werk ihres
Sohnes! Das war von ihm übrig geblieben hier in der Kaserne: _Gloria in
excelsis deo!_

Und in die Freude mischte sich der Schmerz. Aber der Schmerz übermannte
sie nicht, ein heiliges Entzücken trug ihr Empfinden höher. Sie schlang
die Finger ineinander und hörte still das uralte Weihnachtsevangelium
an, das der Geistliche verlas: ›Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede
auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen!‹

Ein Chor sang, Schwester Darias Sopran schwebte hoch und hell über den
rauhen Männerstimmen. Alte, vertraute Weihnachtslieder und ein Duft vom
Tannenbaum – da fiel auch Josefine ein mit voller, kräftiger Stimme.

Andächtig hörten die Franzosen zu, als die ›_prussiens_‹ sangen. Sie
kannten nicht die deutsche Weihnachtsfeier, aber sie gefiel ihnen. Wie
die Kinder streckten sie die Hände aus nach den Äpfeln und Nüssen und
nach dem Korinthenplatz: »Ah, weiße Brot, _oh, merci, merci_, weiße
Brot, _très-bon_!«

Dann baten sie, auch ihrerseits etwas vortragen zu dürfen. Zwei
rotbehoste Kerle traten an – der eine trug noch den Arm verbunden,
der andere den Kopf – und führten eine Scene auf mit Gesang und Tanz.
Hei, wie die Fußspitzen flogen! Immer dem andern bis an die Nase. Die
Verwundeten, die noch zu krank waren, ihre Betten längs der Saalwand zu
verlassen, ließen sich stützen, um mit gereckten Hälsen auch etwas von
der Aufführung zu ergattern. Urdrollige Kerls! Die Zuschauer verstanden
nichts, aber sie wanden sich vor Lachen.

Eine harmlose Fröhlichkeit wurde allgemein. Manch deutscher
Landwehrmann, der bangend gedacht, es an diesem Abend vor Heimweh nach
seinen Kindern nicht aushalten zu können, amüsierte sich königlich. Und
die Franzosen sprangen immer höher und tanzten immer feuriger; heute
war alles ›_malheur_‹ vergessen, sie wiegten sich auf dem Beifall, sie
genossen das bescheidene Glück, bewundert zu werden.

Leise stahl sich Josefine hinaus. Rauh war draußen die Winternacht,
durch die sie schritt, die Erde, auf die ihr Fuß trat, hart gefroren.
Kahl standen die Ahornbäume, erstarrt wie im Todesschlaf; aber ihr Herz
schlug warm und lebensvoll und doch voll Ruhe.

_Gloria in excelsis deo_ – in ihr war Friede.

       *       *       *       *       *

Am 18. Januar ließ sich der greise König Wilhelm im Hauptquartier zu
Versailles vom starken Bismarck die junge Krone des auferstandenen
Deutschland auf die Stirn drücken.

Das war eine Erfüllung.

Der Rhein rauschte mächtig, und in sein Rauschen mischte sich der
Jubelhall der Ufer. Nun waren Wünsche erfüllt, die man längst als
hoffnungslos begraben.

Warum hatte man denn einst laut gemurrt und die rote Fahne gehißt auf
den Barrikaden? Warum hatte man ein ununterdrückbares Sehnen getragen
all die Jahre? Warum hatte man des Volkes Jugend hingegeben auf
Schlachtfeldern? Alles nur darum.

Es war ja die alte Märchenkrone, die so lange im Rhein geruht, tief
unten. Nun sollte sie erstehen in neuem Glanz; sie blinkte golden wie
die Sonne.

Und wie die Sonne würde sie glänzen, mit gleicher Fülle über alle, über
ein einiges und über ein freies Volk.

Manch alter Achtundvierziger, manch roter Demokrat jubelte mit; alles
Volk freute sich.

Zwar kamen noch immer Verwundete, zwar rückte noch immer neuer
Landwehrersatz aus; aber man glaubte nicht mehr an Schlachten. Das
große Paris kapitulierte, das so hartnäckige Belfort folgte – nun war
das Eis gebrochen.

Und Tauwetter flutete über die so lange winterliche Natur. Das erste
Starenpaar war in Josefines Gärtchen erschienen und bezog häuslich den
Kasten im Birnbaum. Der Lenz brach also wirklich an.

Ach, nun war auch die weiße Taube des Friedens gewiß nicht mehr fern!

Bald kam sie geflogen und baute ihr Nest für ewige Zeiten unter’m
Giebel des Hauses.

Am 28. Februar meldete eine Depesche für ganz Deutschland:

    Friede!




XXVIII


Nicht so rasch als man gedacht, rückten die beliebten Neununddreißiger
wieder in ihre Garnison ein. Sie wurden noch immer erwartet, obgleich
der Frühling schon mit Macht über Deutschland gekommen und des Rheines
sonnenbeglänzte Wellen ruhig zwischen blühenden Ufern dahinflossen.

Im Düsseldorfer Hofgarten waren die Veilchen bereits verblüht, reichere
Blumen drängten zur Entfaltung. Schon ließen die Kastanien auf der
Königsallee die weißen Blättchen ihrer Blütenkerzen niederwehen und
zeigten die Ansätze erster Früchte, da hieß es erst: sie kommen, sie
kommen! Anfang Juni sollen sie hier sein, vielleicht auch ein paar Tage
später. Aber sie kommen doch endlich, sie kommen!

So war noch nie zu einem Empfang gerüstet worden: geliebte Kinder
kehrten ja heim, die Heldensöhne der Stadt. Wie sollte man sie
nur würdig genug begrüßen?! Kanonendonner und Glockengeläute
waren selbstverständlich. Und Flaggen sollten wehen von jedem
Haus und lustige Wimpel auf der Rheinbrücke winken, Ehrenpforten
sich wölben, das alte Zollthor selbst sollte sein düsteres Grau
unter grünen Gewinden verbergen. Sogar das Pflaster der Straßen
wurde jetzt schleunigst ausgebessert. Die Buchbinder kleisterten
Inschriftenschilder, die Maler pinselten darauf: ›Herzlich willkommen!‹
Die Wirte schafften Fässer in die Keller, die Hausbesitzer ließen ihre
Fassaden neu abputzen, die Hausfrauen scheuerten vom Speicher bis zum
Keller, die Schuster stellten gestickte Pantoffeln in die Fenster –
das Eiserne Kreuz darauf mit Eichenzweigen – die Gärtner düngten rasch
ihre Lorbeerbäume noch einmal – die konnten ja nicht üppiges Grün genug
haben – und auf dem Grafenberg wurden die Eichbäume ausgeräubert. Die
Schreiner hämmerten an den Ehrenpforten, die Schneiderinnen nähten die
Nächte durch an festlichem Weiß für die jungen Mädchen und Kinder,
die Violinisten spannten neue Saiten, die Posaunisten probierten den
Jubelchor, die Trommler übten die schönsten Wirbel, und die Dichter
dichteten. Alles in Emsigkeit, in rüstender Geschäftigkeit, in
festlicher Erwartung.

In der Kaserne hatte das Lazarett nun ein Ende. Wieder wurde dort
geweißt und getüncht, gekehrt und gescheuert. Bald haftete kein Hauch
der Wunden, des Leidens den Wänden mehr an; der frühere Knaster- und
Schimmelduft, der alte Kasernengeruch, würde wieder einziehen, zusammen
mit den wackeren Füsilieren.

Das Scheiden aus der Kaserne wurde Josefine schwer. Die letzten
Genesenen hatten ihr die Hand geschüttelt und waren in die Heimat
abgereist; da hatte sie noch lange einsam in der ehemaligen
Feldwebelwohnung gestanden und vom Platz am Fenster auf den sonnigen
Exerzierplatz hinausgestarrt. So viele Soldaten, so viele Soldaten
würden dort bald wieder exerzieren, aber von denen, die sie liebte, war
keiner mehr darunter!

Sie hielt sich mit der Hand am Fensterbrett, für einen Augenblick wurde
ihr schwach. Hier an dieser Stelle, hinter den roten Geranienstöcken,
die einstmals die Scheiben geziert, hier hatte sie oft als Kind und oft
als Mädchen Auslug gehalten, hier hatte ihr der Vater das Märchen von
Anno dreizehn erzählt – ei, wie hatte er doch gesagt?

›Und die keine goldenen Broschen und Armbänder hatten, ließen sich ihr
schönes Haar abschneiden und opferten das für’s Vaterland.‹

Das hatte so herrlich geklungen, und – sie erinnerte sich dessen wohl
– da hatte sie sich auch gern ihr Haar abschneiden lassen wollen für’s
Vaterland.

»Ach –!«

Es war ein zitternder Seufzer, der jetzt ihrer Brust entfloh, beide
Hände drückte sie gegen das hämmernde Herz – sie hatte mehr geopfert.

»Vater!« Sie wußte nicht, ob sie laut gerufen, sie wußte auch nicht, ob
ihr Antwort ward, aber es hallte etwas durch die leeren Räume – horch!
Ein Schauer überlief sie, kein Schauer der Furcht, ein Schauer heiliger
Scheu.

Leise, auf den Zehenspitzen war sie hinabgeschlichen.

Nun rüstete auch sie zum Empfang. Kamen die Neununddreißiger wirklich
jetzt bald, so sollten die guten Jungen auch alles finden, wie sie es
liebten. Und wie sie’s liebten, das wußte sie ganz genau: kurze Pfeifen
mit Porzellanköpfen und dem bunten Kaiser Wilhelm darauf; Knotenstöcke,
recht derb in der Faust, stark, um’s Bündel dranzuhängen beim Wandern
in die Heimat; und Taschentücher, Taschentücher, rot und gelb, groß
wie Windeln, mit Schlachtenbildern und Pulverdampf und Kanonen und
Franzosen und Preußen. Sie schaffte emsig in der Frühsommerwärme,
ihre Wangen glühten dabei; sie dekorierte ihr Fensterchen, kroch auf
einen Stuhl und ließ sich vom Bruder den Hammer reichen, um die Nägel
einzuschlagen, dran die Guirlande hängen sollte. Grün, Grün in Menge
wollte der Fritz aus dem Busch holen. Auch über die Thür sollte ein
Kranz kommen, darin die Inschrift: ›Herzlich willkommen!‹ – O Gott, wie
schön hätte der Peter das gemacht! Bitterliche Thränen schütteten ihr
plötzlich über die heißen Wangen – ihr Peter, der kam nicht mit zurück!

Am letzten Sonntag, bevor die Truppen eintrafen erschien auf einmal
Bruder Friedrich früh am Morgen. Mit Beginn des Friedens hatte er seine
neue Stellung angetreten; er hatte es der Schwester geschrieben, aber
Zeit zum Besuch hatte er bisher noch nicht gefunden. Nun kam er, in
feierliches Schwarz gekleidet, einen Cylinder hatte er auf und feine
Glacés an. Sie war erstaunt, wie stattlich er aussah; das war er nun
wohl seiner neuen Stellung schuldig? Er trug einen Kranz aus Lorbeer
gewunden, die ersten roten Rosen des Jahres darin.

»Finchen,« sagte er, zog den Handschuh ab und wischte sich mit der
schwieligen Rechten gleichsam verlegen über die ernste Stirn, »nu is’t
Friede, un ich hab’ en Stellung, wie ich se in meinem frechsten Traum
mir nie hätt’ träumen können! Was unser Vater wohl dazu jesagt hätt’?!
Heut’ is mein erster Feiertag. Komm, mach dich fertig, lassen wir all’
zusammen nach’m Kirchhof jehen!«

Sie machten sich auf den Weg. Schon war in vielen Straßen geflaggt. Die
Bürger konnten es nicht mehr erwarten – bald, bald kamen sie ja! Es
war heute milde, sanfte Luft, ein lichtgrau verhangener Himmel; noch
schien die Sonne nicht, aber sie würde scheinen, man merkte es an der
heller und heller sich färbenden Wolkenschicht. Grüner schimmerte das
Grün der Bäume, erfrischt von einem köstlichen Getröpfel in der Frühe;
die Kastanienbäume warfen schon breite Schatten, die Lindenbäume der
Alleestraße strömten leisen Duft aus, ihre goldigen Blüten fingen an,
sich zu öffnen.

In der Schaubschen Buchhandlung am Alleeplätzchen lauter Kriegsbilder
und -Bücher: ›Dreißig schöne alte Lieder wider den Franzman‹ – ›_Va
banque Louis Napoléon_‹ – ›Enthüllungen aus den Tuilerien‹ – ›Welche
sollen des Deutschen Reiches Farben sein?‹ – ›Alldeutschland in
Frankreich hinein! von Adolf Strodtmann‹ – ›Wachenhusens Tagebuch
vom Kriegsschauplatz‹. – Hier ein kleines, rotes Büchlein in
leuchtender Farbe mit dem Eisernen Kreuz: ›Kriegsdepeschen‹ – und dort:
›Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 von Th. Fontane‹.

Schmetterlinge, bis hierher verflogen, streiften mit ihren zarten
Flügeln das Schaufenster. Bienen summten, angelockt von den
Blumendüften der Häuser; alle Leute hatten ihre Gärten geplündert,
jetzt mußte man Sträuße im Fenster haben: Rotdorn und Goldregen, Iris
und Pfingstblumen, letzten Flieder und erste Rosen, schöner blühte es
doch nie mehr im Jahr. Heitere Mädchengesichter blickten darüber weg;
manch einer Jungen klopften die Pulse: er kam wieder, nun war er bald
da! Ob er sie noch kannte? Den Chignon hatte sie abgeschafft – wer
mochte den wohl noch tragen? Einen Strauß wollte sie dem Geliebten
werfen, einen Rosenstrauß, und einen Kranz, einen Kranz von lauter
Lorbeer. Sie konnte es nicht erwarten.

Und die Kinder spielten vor den Thüren: der Vater kommt. Je, wie die
Mutter vor Freuden aufschrie, wenn der Vater in die Thür trat! Und ob
er was mitbrachte? Eine Puppe im Tornister oder ein kleines Chassepot?
Sie konnten es nicht erwarten.

Und Eltern fragten sich: wie wird er aussehen, der Junge? Er hat gewiß
einen Bart! Sie konnten es nicht erwarten.

Die ganze Stadt konnte es nicht erwarten. Man fühlte es ihr an, es lag
in der Luft, es vibrierte im unruhigen Gebimmel der Sonntagsglocken,
die über dem Gewirr der alten Gassen von der Bolkerstraße und
Ratingerstraße her ertönten. Auch sie konnten es nicht erwarten, sich
auszuhallen im Freudengeläut. –

Die Geschwister gingen still, Josefine zwischen den Brüdern. Der
Invalide war in voller Uniform, und den Fritz hatte er neben sich, dann
brauchte er kaum seinen Stock.

Im Hofgarten tirilierten die Vögel, stark duftete der Jasmin und all
die andern blühenden Büsche; jedes Unkraut am Wegrand blühte, jedes
Ding, noch so bescheiden, trug heute sein bestes Kleid.

Der Rhein rauschte hinter’m Napoleonsberg, und das Rauschen der Wellen
mischte sich mit dem Wind, der die Wasser kräuselte, zur Melodie.

Selbst hier draußen am fernen Kirchhof merkte man die Erwartung der
Stadt. Die Wege waren geharkt, das Unkraut ausgejätet, die Gräber
geschmückt. Manch einer der Heimkehrenden würde doch herkommen, einen
guten Kameraden zu besuchen.

Die Geschwister wandelten erst den breiten Mittelweg bis zum
großen Kreuz. Das war eine Pracht von Rosen rechts und links, ein
berauschender Duft! Man ging wie zwischen lauter Gartenbeeten.

Josefine war lange nicht hier gewesen, nun blickte sie erstaunt – was
war das dort für ein herrliches Monument? Auf dunklem Sockel, ganz aus
weißem Marmor, leuchtete es hinter schmiedeeisernem Gitter und hob
sich blendend aus einem Flor von Blumen. Unwillkürlich hemmte sie den
Schritt – dort waren Leidtragende.

Vor dem weißen Monument kniete eine ganz mit langen Trauerschleiern
verhüllte Frauengestalt. Jetzt erhob sie sich; den Kopf tief gesenkt,
ganz gebrochen, kam sie langsam daher am Arm eines Offiziers.

Der Invalide machte Front; ernst aber freundlich dankte der Offizier.
Ei, das war mal ein jugendlicher Oberst! Noch ein schlanker, schöner
Mann mit blitzenden Augen!

»Habt ihr dat Kreuz auf seiner Brust jesehn? Dat war ’t Eiserne Kreuz
erster Klass’,« tuschelte ganz aufgeregt der Invalide.

Josefine hatte es nicht gesehen; auch nicht den eleganten Herrn in
Civil, der dem Paar folgte, zwei schwarzgekleidete junge Mädchen neben
sich. Sie hatte auch die Dame unter all den Schleiern nicht erkannt;
wohl aber hatte ihr Blick, seltsam angezogen, während der kurzen
Begegnung auf dem Gesicht des Obersten geruht.

Wer war das?! Den mußte sie doch kennen? Und da – plötzlich durchfuhr
es sie – die Erinnerung kam rasch wie ein Pfeil – jetzt wußte sie’s:
das war der Viktor gewesen!

Sie trat auf das Monument zu. Unter dem jungem sterbenden Helden, den
ein Engel zum Himmel weist, stand mit goldenen Buchstaben eingraviert:

    =Eugen Ernst August vom Werth=
    Sek.-Lt. im Niederrh. Füsilier-Regt. Nr. 39.

Ja, Viktor von Clermont hatte hier mit seiner Schwester das Grab des
gefallenen Neffen besucht.

Arme Cilly, hatte sie noch immer keinen Trost gefunden? Wie sie
dahinwankte!

Noch einmal sah sich Josefine um, aber von den Trauernden war nichts
mehr zu erblicken; es war ihr nur, als sähe sie noch ein letztes
Blinken der Epauletten zwischen den Büschen.

Der Viktor –! Ein zartes Lächeln spielte um ihre Lippen: wie stattlich
noch – und schon Oberst! Aber sein liebes Gesicht hatte er noch wie
früher, nur nicht mehr so strahlend heiter und so vergnügt! Ach, so
viele Jahre lagen dazwischen! Sie seufzte leicht: ach ja, da war sie
eben an ihrer Jugend vorbeigegangen!

Sie stand in Gedanken verloren – ja, ja, heute morgen, als sie vor’m
Spiegel ihr Haar gekämmt, hatte sie die ersten grauen Fäden im noch
vollen Blond gefunden.

Fritz zupfte sie am Ärmel und drängte voran, die Onkels waren schon
weiter gegangen. Da raffte sie sich auf und machte große Schritte.

Das Grab von Feldwebel Rinke lag jetzt nicht mehr abseits und allein,
mit wenigen ungepflegten Hügeln in der Nähe. Jetzt waren hier rund
herum auch Blumen gepflanzt und die Hecke erweitert; es grünte Hügel
bei Hügel, es ragte Kreuz bei Kreuz. Franzosen und Deutsche reihten
sich dicht um des alten Preußen Grab.

Friedrich legte seinen Lorbeerkranz darauf nieder. Josefine bückte
sich, um hier und da zu ordnen und ein Unkräutchen auszurupfen; sie
kniete dabei hin und blieb so knieend, eine lange Weile.

Um sie die große Stille. Kein Laut zwischen Himmel und Erde. Regungslos
stehen die Büsche. Kein Säuseln in den Bäumen, die Wolken dicht. Doch
jetzt ein starker Luftzug vom Rhein her, man hört die Wellen rauschen,
der Wind ist umgesprungen. Und jetzt kommt er plötzlich daher und beugt
die stolzen Kronen und bläst in die grauen, verhängenden Wolken, daß
sie auseinanderfahren wie eilends geschobene Kulissen. Das geht mit
Zauberschnelle – Hülle fällt auf Hülle – der letzte Vorhang weg – da
steht sie, die Sonntagssonne, voll im Mittag, ohne Schleier, groß,
blendend, leuchtend, und lacht hinunter auf die strahlende Erde.

›Jetzt scheint die Sonn’, Vater, siehst du?!‹ Es war Josefine fast,
als müsse sie ihm das laut hinunterrufen in seine dunkle Kammer. Eine
kindliche Liebe ergriff sie heiß zu dem Toten. Sie murmelte:

»Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre – lieber Vater,
ich dank’ dir!«

Langsam richtete sie sich auf. Aber dann stand sie doch fest auf ihren
Füßen und nahm ihren Knaben an die Hand. Der war nun ihr einziger,
ihr letztes Glück – nein, noch ein Glück hatte sie, ein schmerzliches
freilich, dem sie auch noch Thränen schenken würde in stillen Stunden,
aber es war ein Glück. Sie hatte einmal etwas empfunden, eine
Begeisterung, die sie über sich selbst erhoben. Ihr Bestes hatte sie
hingegeben für’s Vaterland, so wie der Vater sie gelehrt.

Und wenn jetzt der König kam, wie damals in ihrem Traum, und seine
Hand ausstreckte: ›Was giebst du mir?‹ Dann konnte sie auch ihre Hand
ausstrecken und, über das Grab ihres Sohnes weg, weg über Gräber von
Tausenden von Söhnen, ihm weite, schöne Länder zeigen: das ganze,
große, geeinigte Deutschland im höchsten Mittagssonnenglanz, – und
stolz zu ihm sagen:

»Das gab ich dir!«




Verlag von Egon Fleischel & Co., Berlin W 35.

Die stumme Mühle

Roman von

Otto von Leitgeb

Preis geh. M. 5.–; geb. M. 6.50

Aus den Besprechungen:


#Münchener Neueste Nachrichten.# Dieser Roman ist eine
durchaus eigenartige, literarische Erscheinung, ein Werk voll
großer Schönheiten, voll tiefen Ernstes und erfüllt von idealer
künstlerischer Lebensauffassung. Vielleicht wird mancher sich nur
zögernd entschließen, ein Buch zur Hand zu nehmen, das ihm für einen
Roman etwas zu umfangreich erscheinen möchte. Es ist auch kein Buch für
jene Kategorie von Lesern, denen es nur darum zu tun ist, mit möglichst
aufregender Lektüre eine müßige Stunde auszufüllen. Der Verfasser,
ein treuer Freund unseres unvergeßlichen Leibl, hat etwas von dessen
Eigenart in sein Werk übertragen, und so wenig wir an Leibl Haß und
Unvollkommenheiten kennen, so wenig werden wir auch hier Flüchtigkeiten
entdecken; manchmal will es uns sogar erscheinen, als hätte sich der
Verfasser hie und da allzu sorgfältige Ausmalung mancher Details
schenken können. Über dem ganzen Werk aber liegt, was wir an Leibl
schätzen: Naturtreue und Wahrhaftigkeit und innige Klarheit.

#Neue Preußische (Kreuz) Zeitung.# Der Roman, den wir mit
Interesse gelesen haben, verdankt seinen ziemlich großen Umfang nicht
der Mannigfaltigkeit der Figuren und häufigem Wechsel der Szenerieen,
sondern dem auf die wenigen Gestalten verwendeten Fleiß und der Freude
an stimmungsvollen Schilderungen. Die Handlung kann wohl menschlich
ergreifen, und die Entwicklung vermag psychologische Vorgänge in
anziehender und anschaulicher Weise nahe zu bringen. Immerhin ist der
im Vordergrund stehende Charakter, ein Mann von Bildung, der jedoch
seines Lebens ernste Aufgabe in der Jugend nicht streng genug erkannte
und mit seinem verwundeten Herzen überhaupt nicht mehr in die scharfen
Forderungen absoluter Sittlichkeit hineinzudringen versteht, eine etwas
seltsame Natur, der auch in der Dichtung ein feiner Schleier umgehängt
ist. Wir glauben, die Figur wäre wirkungsvoller, wenn seine Liebe zu
Marie =ganz= ideal geblieben wäre. Es wäre etwas für die Menschheit
gewonnen. So kommt eine doppelte Schwäche in die Sache hinein. Die
Gestalt der Schwester ist tadellos gezeichnet, während das Ehepaar
doch zuletzt aus der Skizzierung nicht herauskommt, auch Marie, die
Frau, nicht, welche sich doch von Wolf, jenem erstgenannten Charakter,
so sehr entwickeln und zum Schluß verwickeln läßt. Dem Dichter steht
aber bei alledem Wahrheit und Sittlichkeit so hoch als wünschenswert;
er ist infolgedessen auch gerecht und beschönigt nichts. Die beiden,
welche schließlich den Rest des Lebensweges miteinander machen, sind
die kernigen, wenig angefochtenen Naturen. Eine originelle Nebenfigur,
sowie eine episodenartige Szenerie, die jedoch nicht ohne Verbindung
mit der gesamten Entwicklung ist, kommt dem Eindruck zugute. Die
Schreibweise ist einfach und entbehrt doch nicht großer Züge und
poetischen Reichtums.

#New-Yorker Staatszeitung.# ... Auch in »Die stumme Mühle« von
Otto von Leitgeb sendet dieses Motiv (– die Ehe –) seinen beängstigend
fragenden Ruf. Tief unten im Flußtal, wohin die rings aufsteigenden
Bergwände keinen Sonnenstrahl dringen lassen, liegt die Mühle, die
noch keinem ihrer Besitzer Glück gebracht und oft lange Jahre hindurch
stumm geruht, nur von Daniel, dem alten Müllerknecht, behütet, dem
Hausgeist, der hin und wieder an die Mühlsteine klopft und die
Schaufelräder streichelt und laut mit den Schlüsseln klirrt, die in
den rostigen Schlössern knirschen, nur um doch einmal einen Laut zu
hören in der Stille und dem Schweigen ringsum. Denn einsam war der
Alte; sein Weib war ihm gestorben, sein Kind verdorben; und wie ein
Unglücksrabe kreist er um die stumme Mühle und kündet denen, die sie
an sich bringen, kein Glück. Auch Robert Willmut nicht, dem neuen
Herrn, der einst als Kind mit dem Töchterlein des benachbarten Auhofs
Mann und Frau gespielt, aber um das kräftig erwachsene, reiche Mädchen
nicht zu werben wagt und eine zarte, feine Treibhausblume aus der
Stadt als Weib heimführt: Marie. Aber die Kinderfreundschaft war nicht
vergessen, und zwischen der stummen Mühle, wo die junge Frau neben dem
nüchternen, rastlos tätigen Gatten sich in eine Traumwelt einspinnt
und in die Vergangenheit versenkt, und dem einsamen Auhof, den die
praktische, verständige Klara für den Bruder verwaltet, den Träumer
Wolf, der eine Jugendschuld büßend die Welt flieht, entwickelt sich
ein reger Verkehr. Denn diese Menschen sind aufeinander angewiesen;
sie bedürfen einander. Eine Reihe entzückender Stilleben, wunderbar
stimmungsvoller Naturbilder entrollt der Verfasser, aber fest und klar
schlingt sich mitten durch der Faden der Tragödie, des Schicksals. Wird
auch Marie, diese ideale Verkörperung des passiv Lust und Leid auf sich
nehmenden Weibes sich dessen, was ihrer Ehe zum Glück fehlt, nicht
bewußt; gesteht auch Klara, dieses arbeitstüchtige, mutige Mädchen,
sich nicht ein, daß die schwesterliche Hingebung ihr Leben trotz seines
Pflichtenreichtums nicht ausfüllt – tief unter der ruhigen Oberfläche
dieser tragischen Idylle lauert das Schicksal auf den Augenblick, da
es allgewaltig in das Leben dieser vier Menschen einschreitet und sie
aufrüttelt aus ihrem stummen Dahindämmern und Dahinträumen.

Zu einer Tragödie der Selbsttäuschung spitzt sich die Handlung zu, als
Marie, die sich in der sonnenlosen Mühle an der Seite des poesielosen
Robert glücklich wähnt, allmählich verkümmert und dahinsiecht,
bis die Ahnung eines echten Glücks ihr den Todesstoß versetzt.
Seelenkundig hat Leitgeb die Wahlverwandtschaft angedeutet, die
zwischen Marie und Wolf besteht, dieser fein gezeichneten, unruhigen
Künstlernatur, und zwischen Robert und Klara, diesen beiden für das
Alltagsleben geschaffenen Menschen. Es sind Gestalten von packender
Lebendigkeit. Goldene Worte hat er Schmidt in den Mund gelegt, dem
Fünften im Bunde; einem Lebensphilosophen von fesselnder Originalität
und herzgewinnender Liebenswürdigkeit. Sympathisch berührt auch die
Gestalt des Landarztes mit seiner aus der Kenntnis menschlicher
Schwächen und Gebrechen gesogenen, viel verstehenden und verzeihenden,
milden Lebensweisheit. Das welsche Wanderblut der schönen Hannah, der
verbissene Proletariergroll Daniels, die prickelnde, lebensvolle und
schaffensfreudige Atmosphäre des Münchener Künstlerkreises vollenden
das wechselreiche Lebensbild. Sieghaft wie ein Sonnenblick durchbricht
manchmal ein schalkhafter Humor die Wolken und die Schatten der
stummen Mühle. Der Dichter versteht sich auf die Verteilung der
Kontraste. Die Szene in der Künstlerrunde, wo in Gegenwart Wolfs
von dem Bilde die Rede ist, dessen Modell Hannah gewesen, ist eine
Prachtleistung. Leitgebs Kunst ist eine feinnervige. Schon in seinen
Novellen offenbarte er sich als Meister im Erahnen und Erfassen der
flüchtigsten und verborgensten Seelenregungen, im Empfinden und
Wiederspiegeln der zartesten Naturstimmungen. Er schwelgt ordentlich
in dieser seiner eigensten Kunst. Aber er ist zu sehr Künstler, um den
Gang der Handlung dadurch aufhalten zu lassen; sie schreitet langsam
vorwärts, steigert sich ganz allmählich zum tragischen Konflikt und
bricht in dem Augenblick ab, da die alte Schuld gesühnt wird und ein
neues Leben beginnen soll für die drei Überlebenden in der Tragödie
der Wahlverwandtschaft, die sich uneingestanden in der stummen Mühle
abspielt.

#Berliner Morgenpost.# Einen Band von nahezu vierhundert Seiten
durchzulesen, dazu gehört heutzutage in der Zeit der _short story_ schon
ein Entschluß. Man traut sich kaum, mit der Lektüre anzufangen, und in
den seltensten Fällen bringt man sie zu Ende. Hat man aber sich selbst
überwunden, so kommt man sich wie ein Triumphator vor und hat beinahe
die Empfindung, als schulde einem der Autor Dank. Nun, bei Leitgebs
Roman bleibt man von solcher Überhebung weit entfernt. Trotzdem die
Handlung durchaus nicht sensationell ist, also keinen stofflichen Reiz
bietet, folgt man ihr mit sich stets steigernder Spannung. Dabei hat
man immer wieder Gelegenheit, den großen Gesichtskreis des Dichters
zu bewundern, der alle Verhältnisse des menschlichen Lebens, die
Beziehungen des einzelnen zur Natur und zur Allgemeinheit behandelt
und in einer Fülle von gedankenreichen Bemerkungen seine Menschen- und
Weltkenntnis zeigt. Unter dem Nachdenklichen des Buches leidet aber die
Plastik der Figuren durchaus nicht. In vollem blühenden Leben stehen
sie vor uns, und die »unwahrscheinlichste« von allen, der Schwärmer
Schmidt, am meisten. Mit einem Worte ein gutes Buch, das aber ernste
Leser verlangt.


Buchdruckerei Roitzsch vorm. Otto Noack & Co.




Liste korrigierter Druckfehler


Seite 6: Punkt am Satzende ergänzt (... gleich darauf fuhr sein Blick
wieder rollend über die Soldaten hin.)

Seite 8: Punkt am Satzende ergänzt (Der armen, jungen Frau so den
christlichen Taufnamen zu verschimpfieren.)

Seite 20: Punkt am Satzende ergänzt (Hinter dem letzten Pfeiler trat
Vater Zillges auf sie zu.)

Seite 51: Punkt am Satzende ergänzt (Die Kleinsten konnten die Mutter
noch nicht entbehren.)

Seite 60: Schließendes doppeltes Anführungszeichen nach
„Wiedersehen,‹“ entfernt (»›Adjö, Karline, auf’s Wiedersehen,‹
sagte er.)

Seite 65: Öffnendes einfaches Anführungszeichen vor „Bunten“ ergänzt
(Der Feldwebel machte sich eines Tages auf nach dem ›Bunten Vogel‹.

Seite 70: Komma am Satzende durch Punkt ersetzt (Aber schon war er bei
ihr und faßte ihr Handgelenk.)

Seite 79: Schließendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Hörst du
denn gar nicht?«)

Seite 79: Apostroph hinter „als“ entfernt (... aber er thut mindestens
schon so, als ob er Major wäre wie Papa.)

Seite 81: „Freudin“ durch „Freundin“ ersetzt (Kräftig schlug sie die
Freundin auf den Rücken.)

Seite 84: Schließendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Frech
Weit!«)

Seite 93: Punkt am Satzende ergänzt (Selbst der Himmel ist sein; er
hält den umarmt im grauen Dunst.)

Seite 100: Schließendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (Bande!
Verfassungsreform – was heißt das?!«)

Seite 105: „gegesagt“ durch „gesagt“ ersetzt (»Ich begreife nicht,
Rinke,« hatte der vertraulich gesagt, ...)

Seite 115: Zweimal „Tina“ durch „Trina“ ersetzt (Aber Frau Trina ließ
sich jetzt so leicht nicht mehr einschüchtern, ... – »Rinke!« Frau
Trina sprach es vorwurfsvoll und ...)

Seite 134: Gedankenstrich eingefügt (... die hatte er ihnen abgejagt –
aber beim Wilhelm, beim Wilhelm!)

Seite 154: „Allerle“ durch „Allerlei“ ersetzt (Allerlei Burschen –
rechte Lotterbuben – mit roten Halstuchzipfeln, ...)

Seite 166: Komma ergänzt hinter „los“ (Es war nirgends etwas los, der
Hofgarten zum sterben langweilig, ...)

Seite 186: „flüsteree“ durch „flüsterte“ ersetzt (... und Conradi ihr
in’s Ohr flüsterte, ob sie ...)

Seite 211: Schließendes einfaches Anführungszeichen ergänzt (... und
machte mit einem: ›ksch, ksch – puff!‹ die hungrigen Spatzen bange, ...)

Seite 224: Schließendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Rinke,
ich jeh’ ens kucken!«)

Seite 234: Punkt am Satzende ergänzt (Die Morgensuppe schmeckte heute
dem Feldwebel nicht.)

Seite 243: „Straßenplaster“ durch „Straßenpflaster“ ersetzt (...
finster bohrte sich sein Blick in’s Straßenpflaster.)

Seite 256: Punkt am Satzende ergänzt (Sie hatte noch nie einen
leibhaftigen preußischen König gesehen.)

Seite 262: Öffnendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Na, na,«
tröstete der Feldwebel ...)

Seite 270: „Wirshaus“ durch „Wirtshaus“ ersetzt (War’s denn erlaubt,
nach zehn Uhr noch das Wirtshaus offen zu halten?!)

Seite 281: „Kaferne“ durch „Kaserne“ ersetzt (Ein schriller Mißton
gellte durch die Kaserne.)

Seite 298: „Konigsverräters“ durch „Königsverräters“ ersetzt (Du bist
der Vater eines Rebellen, eines Königsverräters!)

Seite 303: „abwährend“ durch „abwehrend“ ersetzt (Mit einem Angstschrei
sprang sie auf und streckte abwehrend die Hände von sich in einem
wilden Grauen:)

Seite 303: Öffnendes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Komm,
Finchen,« flüsterte sie fast vorwurfsvoll, ...)

Seite 338: Punkt am Satzende ergänzt (Sie trat davor und hielt das
Lämpchen hoch.)

Seite 338: „Klied“ durch „Kleid“ ersetzt (Seltsam genug stand das
schwarze Kleid gegen das helle Gesicht.)

Seite 359: „Feldwebelwohnnng“ durch „Feldwebelwohnung“ ersetzt (Auf
einmal sah sie das Kasernenthor und den Hof und die Feldwebelwohnung
...)

Seite 361: Punkt am Satzende ergänzt (Nun hielten die kräftigen
Kinderarme sie fest.)

Seite 363: „Kartätchenprinz“ durch „Kartätschenprinz“ ersetzt (Der
Kartätschenprinz war ja nun König, ...)

Seite 403: Punkt am Satzende ergänzt (... und machte das Zeichen des
Kreuzes über seine Gemeinde.)

Seite 422: „Arzte“ durch „Ärzte“ ersetzt (... die gehetzten Ärzte
reinigten ihre Sonden und griffen nach neuem Verbandzeug.)

Seite 422: Schließ endes doppeltes Anführungszeichen ergänzt (»Unsre
Neununddreißiger, unsre braven Füsiliere!«)

Seite 425: Punkt am Satzende ergänzt (Josefine fuhr so hastig empor,
daß der Fahnenträger die Augen nach ihr rollte.)

Seite 427: Doppelpunkt am Satzende ergänzt (Und dann des
Oberstleutnants dringendes Zureden:)

Seite 429: Gedankenstrich eingefügt („Josefine blieb stumm, aber sie
zitterte am ganzen Leib – das war die schöne Frau vom Werth, die reiche
Frau vom Werth?“)

Seite 478: „beänstigend“ ersetzt durch „beängstigend“ (... seinen
beängstigend fragenden Ruf.)






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE WACHT AM RHEIN ***


    

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To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase “Project
Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg™ License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™
electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person
or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the
Foundation” or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting
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works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily
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you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country other than the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work
on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the
phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed,
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    This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
    other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
    whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
    of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
    at www.gutenberg.org. If you
    are not located in the United States, you will have to check the laws
    of the country where you are located before using this eBook.
  
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derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase “Project
Gutenberg” associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg™ License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg™.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg™ License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format
other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg™ website
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain
Vanilla ASCII” or other form. Any alternate format must include the
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1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg™ electronic works
provided that:

    • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
        the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method
        you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
        to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has
        agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
        within 60 days following each date on which you prepare (or are
        legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
        payments should be clearly marked as such and sent to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
        Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg
        Literary Archive Foundation.”
    
    • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
        you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
        does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™
        License. You must require such a user to return or destroy all
        copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
        all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™
        works.
    
    • You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
        any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
        electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain “Defects,” such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

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of Replacement or Refund” described in paragraph 1.F.3, the Project
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Gutenberg™ trademark, and any other party distributing a Project
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liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

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defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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