Schuhlin: Eine Erzählung

By Carl Sternheim

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Title: Schuhlin
       Eine Erzählung

Author: Carl Sternheim

Release Date: November 17, 2012 [EBook #41390]

Language: German


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Produced by Jens Sadowski








SCHUHLIN


EINE ERZÄHLUNG
VON
CARL STERNHEIM


LEIPZIG
KURT WOLFF VERLAG


Mit Titelzeichnung von Ottomar Starke.
Gedruckt bei Poeschel & Trepte in Leipzig
Oktober 1915 als einundzwanzigster Band
der Bücherei »Der jüngste Tag«


COPYRIGHT 1915 BY KURT WOLFF VERLAG · LEIPZIG




SCHUHLIN


OB der musikalischen Erfindung des Ludwig Schuhlin Größe in dem Umfang
innewohnte, wie er selbst sie ihr zumaß, wird die Zeit lehren. Ob er im
Gewissen die gewaltige Überzeugung hatte, die er zur Schau trug, weiß Gott
allein. Die ihm nahe standen, sind von seinen Stücken angerührt worden; die
weitere Welt hat ihnen den Erfolg versagt.

Schuhlin kam aus der Tiefe des Volkes. Proletarisch ernährt und erzogen,
lief ihm bis ins Jünglingsalter das Leben schmucklos hin. Ein Pianoforte,
aus einem Erdgeschoß klingend, traf zum ersten Mal sein Herz mit edler
Erfindung und versetzte ihn in Schwung, dem er nicht mehr entrann. An eine
Regentraufe gelehnt, hörte er in der Folgezeit viel feierliche und
fröhliche Musik, die sich in seine Seele senkte. Bis eines Tages er,
entdeckt von dem gerührten Spieler, in dessen Umgebung gezogen wurde. Näher
hinhörend, lernte er nun die Elemente des Spiels, griff bald und begriff
die Tasten und ihre Bedeutung. Die Welt ward ihm völlig Klavier. In Terzen,
Quinten, Oktaven sprang sein Denken, Dur und Moll spannte sein Herz. Über
die Leiter der Schubert- und Beethovenschen Empfindungsstürme entrückte er
dem gemeinen All und stand mit zwanzig Jahren in Kleidern des Kleinbürgers,
die Stirn in den Sphären auserwählter Menschheit. Geld auf Fahrten
verdienend, die er mit einem Flötenbläser, einem Trompeter über die Märkte
seines Bezirks zu Kirmeß und Kirchweih unternahm, gab er es nur zu Teilen
für seinen Unterhalt aus, verwandte das Meiste für den Unterricht bei
bedeutenden Lehrern, bis er große Klavierstücke technisch vollendet so
selbständig aus dem Flügel hämmerte, daß ihm innere Bewegung verständiger
Zuhörer überall gewiß war. Da verließ er die Heimat und gewann auf Reisen
beträchtliche Sicherheit der Lebensformen. Man traf ihn im Frack, den er
nicht übel zu tragen wußte, in den Salons situierter Kaufleute nach dem
Abendessen vor dem Klavier. Den schönen Kopf auf freiem Hals über das
Notenblatt gehoben, spielte er, und die bürgerlichen Frauen im Umkreis
öffneten ihm die Herzen. Stand er auf, kam, noch getragen von rhythmischen
Wellen, durch den Raum, senkte er den Blick in begeisterte Augen, die er
merkte, und von denen er Lohn forderte. Überall nahm er das leicht zu
ergreifende Weib mittlerer Kreise als Beute, schüttelte ihr geringes
Eigenteil aus ihr heraus, mit dem er sich stärkte. In immer bessere Zirkel
brachte ihn die mit Begeisterung geübte Kunst, und es fehlte ihm
schließlich ein bedeutendes Einkommen, lebhafter Beifall nicht. Sein
Selbstbewußtsein verlangte alsbald überzeugendere Erfolge: die Verehrung
einer großen Dame, Freundschaft eines in den Künsten dilettierenden Mannes
von Welt. So wurde er der repräsentable Geliebte manch reicher Frau, die
sich langweilte; geistiger Zusammenklang eines blasierten Dandys.

Doch war Hingabe und Aufopferung von seiner Seite größer als desjenigen,
der den Bund mit ihm einging. Denn seines Gehirnes Kraftentfaltung war das
Äquivalent zu ruhenden Gütern, die der andere aus Geburt und Vererbung
besaß. Nie war Schuhlins Übergewicht von vornherein so groß, daß ein Mensch
sich einfach ihm beugte. Er bedurfte des polierten schwarzen Kastens, die
Aufmerksamkeit für sich zu erzwingen, die seine Eigenliebe wollte. War aber
Zuneigung einmal erlangt, wuchs nie er allein dem andern ans Herz, sondern
Vorstellung gespielten Klaviers, musikalisches Genie eines Toten mit ihm.
Aus Liebesversunkenheit lallte die Frau nicht das bezügliche Wort, aber
eine empfindsame Tonfolge, deren Schöpfer nicht, deren Vermittler er war.
Das heimlichste Gespräch, jeder kostbare Augenblick des Lebens glitt über
ihn hin zu den ursprünglichen Geistern, deren Einfälle er auf die Tasten
abspielte.

Im zarten Anschlag einer Nerve noch spürte er vom Nächsten her Atome eines
Gefühls, das über etwas prompt zu Lieferndes quittiert. Wie ein blasiertes
»danke«, das man dem Bedienten lispelt. Kein spontaner Dank, kein Jubel kam
ihm entgegen und hob sein Herz zu den Sternen auf. Davon wurde er krank,
begann alles Erreichte, den augenblicklichen Zustand zu hassen und floh
schließlich aus bequemen Verhältnissen aufs Land, wo er in einem Bauernhaus
am Seeufer Vergangenheit und Zukunft umständlich bedachte.

Er begriff, reproduzierendes Künstlertum konnte der Hebel nicht sein, mit
dem die Welt aus den Angeln sich heben ließ, der in ihm gärende Machthunger
zu befriedigen sei. Keinen Augenblick zögerte er, alle Brücken zur
Vergangenheit abzubrechen, verschwand vollständig von der Weltbühne und
rollte sich wie ein Igel in die Einsamkeit des ländlichen Platzes, wo er
drei Jahre lang das eigene, mächtige Wesen in Scharniere preßte, nicht
einen Hauch seiner Person durch Gespräch oder Mitteilung entweichen ließ.
Wie in einen Spartopf senkte er mit grimmigem Lächeln jeden Einfall, allen
Gefühlsüberschwang in das eigene Innere, verbot sich den winzigsten
Gedanken von sich fort. Abends im Bett faltete er die Hände über den
schwellenden Bauch und freute sich, als schließlich Wesensüberfülle innen
gegen die Wände des Leibes tobte. Nachdem er der Stärke des Dranges und
seines Umfangs sicher geworden, legte er weißes Notenpapier vor sich hin,
und wie durch geöffnete Hähne hochgespannter Dampf mit Kraft auszischt,
fuhr jäher Empfindungssturm in Noten Kopf an Kopf über die Seiten. Er sah
die ersten Niederschriften durch, verglich sie und begriff ihren
unterschiedlichen Wert. Auf Spaziergängen ließ er das mindeste gelten, nahm
es in sich zurück und sah bei erneutem Ausbruch die geläuterten Themen in
gültiger Form als sein erstes Lied aufgezeichnet.

Aus den Gedichten Hoelderlins wählend, was durch Verwandtschaft des
Gedankens etwa vereint war, drängte er in heftigem Schaffenssturm an die
zwei Dutzend Gesänge zyklisch zusammen und erschien mit dem Manuskript von
neuem in der Hauptstadt. Er versammelte den Kreis ehemaliger Freunde und
spielte ihnen das Werk mit so innigem Ausdruck, daß die Zuhörer gepackt
waren, er selbst von seiner einzigen Bedeutung überzeugt wurde. Mit Wucht
etablierte er jetzt vor sich und andere die Geste des Genius, der
außerordentliche Rechte hat, und nahm ohne Bedenken, von bemittelten
Anhängern den monatlichen Zuschuß, der ihn ernähren mußte. Saß nach dem
Vortrag einer gelungenen Komposition die Gesellschaft in Ergriffenheit um
seinen Platz am Flügel, brachte er ihr, von Schöpferglück geschwellt,
leicht die Überzeugung bei, es sei ihres irdischen Daseins besserer Zweck,
ihm auf alle erdenkliche Weise über die Härten des Lebens zu helfen. Ihr
Lohn sei ihnen in seiner Lebensbeschreibung gewiß. So ließ die
geschmeichelte Wohlhabenheit sich zu größerem Aufwand herbei, verschönte
sein Leben mit praktischen Gaben nicht nur, sondern mit verschwenderischem
Lob. Er aber, Anerkennung von überall her unersättlich schlürfend, schwoll
zu einem Koloß des Selbstbewußtseins, der alsbald nicht duldete, daß in dem
von ihm beglückten Haus von anderem die Rede war als von ihm selbst, wobei
es ihm gleich blieb, ob man seine menschlichen oder künstlerischen
Eigenschaften mehr verherrlichte. Dazu schied er den Freund vom Freunde,
indem er den verächtlich machte, Gatten voneinander, weil jede Gemeinschaft
zweier Wesen seinen Zwecken gefährlich schien. Nie versäumte er, war ihm
aus der Überlegenheit seiner Person ein Eindruck gelungen, auf die
Niedrigkeit jemandes, der bedürftig war, hinzuweisen. Wie zum Teufel
verdiente der Betreffende Teilnahme, während Auserwählte mühselig ihr Leben
fristeten? Müsse er nicht immer noch, nachdem Gott ihm schon den genialen
Einfall seines großen Klavierkonzerts geschenkt, auf die notwendige
Erholungsreise in den Süden verzichten? Wer von den Anwesenden ahne
überhaupt etwas von den zerfleischenden Ausgleichungen, die in der Seele
dämonischer Menschen stattfinden? Und von Ergriffenheit über sich selbst
gepackt, vermochte er ein Tonstück so rührend zu spielen, daß die im
Gewissen gemahnten Freunde sich ernstlich bedachten, ob ihnen vor Schuhlin
Besitz erlaubt sei. Es lief der Hausherr schnell zum Bücherschrank, und ein
kostbares Werk aus den Reihen nehmend und dem Meister zum Andenken an den
feierlichen Abend reichend, zwang er Tränen aus den Augen der übrigen, die
sich insgeheim jeder ein weiteres Opfer gelobten.

Als aber Schuhlin sah, welch unwiderstehliche Macht er auf törichte und
eitle Menschen hatte, ergriff ihn die Vorstellung phantastischer
Möglichkeiten. Wirkung auf sie, Absicht mit ihnen wurde ihm des Lebens
Hauptzweck, und er ließ seine Arbeit ruhen. Mächtig reizte es ihn, fühlte
er eines Opfers Bereitwilligkeit, dies weit über ursprünglich gesetzte
Grenzen zu stoßen. Widerstände mit Worten, rührenden Gebärden sanft
fortbiegend, schritt er über den Willen des Schwächeren auf Ziele zu, die
ihn anfangs nur mit der Wonne, Sieger zu sein, beglückten. Später aber sog
er aus der Überwindung fremder Person um so größeren Genuß, je mehr der
Besiegte und wenn möglich ein dritter durch sie verächtlich wurde. Denn aus
der Niederwerfung sittlich Entseelter trank er müheloser und gründlicher
den Rausch zügellosen Selbstbewußtseins. Aber die auf die Knochen
Geprügelten fingen an, ihn zu scheuen und mieden ihn schließlich. Fama
begann, Neugierige zu warnen. Wie er auch seine Anstrengungen verdoppelte,
Ruten geschickter legte, die Opfer wurden selten und magerer, und auch die
letzten Versuche, die er mit Aufwendung gleißnerischer Tränenströme und
hysterischer Erschütterungen anstellte, einstiger Macht entscheidenden
Erfolg zu spüren, schlugen fehl. Die Wirkung des allzusehr bekannten, oft
gehörten, wenig umfangreichen musikalischen Werkes einerseits, seiner
menschlichen Spiegelfechtereien anderseits war erschöpft. Es drückten ihn
die unwiderstehlichen Energien der großen Städte in den Schatten. Innere
und äußere Existenzmittel begannen, immer mehr zu fehlen.

                   *       *       *       *       *

Ehe noch das Elend ihn völlig erreichte, war er zum zweiten Mal in die
ländliche Vergessenheit enteilt, angefüllt mit Haß gegen die Welt, die
seinem eisernen Griff entschlüpft war. Er begriff nicht, wie der schlichte
Mensch, der bei Verstand war, sich der Wollust, von ihm Gottbegnadeten
beherrscht zu werden, entziehen mochte. Dieses Gottesgnadentums recht
deutlich selbst wieder inne zu werden, setzte er sich gleich zu ernsthafter
Arbeit nieder und entzündete sich an der unbesiegten, ja erweiterten
Schöpferkraft, die aus ihm brach. Begier, Machtwillen, Dämonie, den Verein
ihn aufwärtsstoßender Triebe türmte er zu Tongebilden, aus denen nach
Ausbrennung der Schlacken heroisches Menschentum klang. So finden wir ihn
am strahlenden Sommertag bei offenen Fenstern vor dem Instrument. Die Beine
wuchtig ins Pedal gestemmt, zwei gespreizte Hände voll zuckender Tasten,
schlägt die gesammelte Person ihren unbeugsamen Willen prachtvoll aus dem
Klavier.

Es gab keine Seele im Dorf die von der Schalldynamik aus Schuhlins Haus
nicht irgendwie berührt wurde. Mit Widerstand oder andächtigem Hinhören
nahmen sämtliche Bewohner zu ihr Stellung. Klara Kroeger, eine junge
Blondine, die in dem waldreichen Ort Erholung suchte, wurde von ihr, wie
einst der halberwachsene Ludwig vom Spiel eines anderen, augenblicklich im
eigenen Wandel aufgehalten und zum Ausdruck fremden Ichs gezogen. Auch sie
umkreist mit angehaltenem Atem das Haus, in dem Gefühlsstürme jauchzen,
auch sie wird, die Hände gegen die hochwogende Brust gedrückt, vom Spieler
zuerst durch das Fenster gesehen und läßt sich, halb fähig, halb unfähig,
sich noch zu entfernen, von ihm dort finden. Ihn umhing noch die ganze
Pracht und Wärme der aus ihm entbundenen Kraft, als er kam, sie stak noch
in der Hingabe Mitten, da zum Willkomm er sie bei der Hand nahm. So führte
er sie ins Haus zu ihrem Platz dicht bei ihm im Zimmer und vollendete am
gleichen Tag das Werk der Verschmelzung ihres Schicksals in das seine.

Doch wie vieler Menschen Los auch vorher von ihm abgehangen, um jede Seele
hatte er gegen Widerstände kämpfen müssen, bis sie erlag. Und auch dann
noch hatte es Augenblicke gegeben, in denen der Unterworfene sich zu
eigenem Willen zurückfand. Hier aber lag seinem gierigen Blick die junge
Person vor jeglicher Empfängnis bloß. Haut und Haar, jeder Eingang Leibes
und der Seele war unbefleckt. Es atmete ihn Erstaunen, gerührte
Überraschung zu jeder Geste an, als bewege er mit Schöpfers Fingern von
allen Dingen dieser Welt zum erstenmal die Schleier fort. Er sah, sein
plattes Wort entwirrte für sie noch irgendein Geheimnis, und so willige
Andacht bereitete ihm unaussprechliches Vergnügen. Denn unumschränkter als
je über einen Menschen herrschend, spürte er, welcher Aufwand der Kräfte
bei ihr erspart war. Hier blieb vom Aufstehen bis zum Niederlegen er König,
ohne mehr als der seiner läßlichen Bequemlichkeit hingegebene Mensch zu
sein. Sie war, wo immer sie sich um ihn bewegte, seines leisesten Rufes
nach Anerkennung stets bereites Echo. Tauchte in seines Auges Grund
Herrschwille nur erst wie ein Flämmchen auf, breitete sie vor ihn wie einen
Teppich ihre weibliche und menschliche Bereitwilligkeit. Wohin er treten
wollte, da kniete sie schon, ihn huldigend zu empfangen. Sein stets
möglicher Marsch durch sie hindurch räumte ihm die Vorstellung etwaiger
Widerstände von außen gegen ihn und sein Werk aus dem Bewußtsein und
vollendete in diesem Mann ein Maß von Selbstbewußtsein, das man sonst nicht
in der Welt gesehen.

Es erhielten zu dieser Zeit seine Bewegungen eine Wucht und Schwere, als
wirkten innen mächtige Gewichte. Er sprach mit so ungeheurem Pathos, als
müsse dem Hörer die Rede eingestampft werden. Daß er diesem gesteigerten
Ausdruck einen einigermaßen entsprechenden geistigen Inhalt unterlegen
konnte, war Folge einer Selbsterziehung, die mit dem übrigen Fortschreiten
Hand in Hand gegangen war.

Band er sich damals frühmorgens vor dem ovalen Spiegel im Schlafzimmer die
Kravatte, sah über seine Schulter das bezauberte Mädchen, trafen sich im
Glas ihre begeisterten Augen mit dem naiven Ausdruck: welch ein Mann,
Ludwig! Klara sieh, doch, welch ein Mann!

In inniger Gemeinschaft mit dem Weibe entstand so manches Werk, und da es
den Musiker letzthin deuchte, es würden die kleinen monatlichen Beiträge,
die zwei treugebliebene Anhänger ihm von der Stadt her sandten, und die
sein ganzes Einkommen ausmachten, unpünktlicher und weniger gern gezahlt,
beschloß er, wie zu einem Vorstoß von sicherer Warte aus, sich
vorübergehend in die Welt der Menschen zurückzubegeben. Aber so mächtig war
einst der Eindruck auf die Freunde gewesen, daß sie das Mal seiner
Herrschaft noch im Fleisch spürten und nicht Lust hatten, es vertiefen zu
lassen. Sie versteckten sich, und es gelang nur an einem Abend, mehrere
Verehrer von ehemals in ein Zimmer zu versammeln, wo er sein symphonisches
Stück über ein ländliches Thema spielte. Die Hörer, mit grimmiger Abwehr
gegen ihn gewappnet, blieben kühl und vollkommen höflich. Unmittelbar nach
dem Vortrag reichte man zu essen und zu trinken. Vereinter Wille hielt das
Gespräch von seiner Schöpfung fern. Andern Tags fuhr er heim, und Klara war
seines Ausdrucks kaum ansichtig geworden, als mit der Erzählung eines
Traumes sie ihn überraschte, in dem er den schier beispiellosen
Enthusiasmus einer vor das Haus versammelten Menge entgegengenommen hatte.
Vorher aber sei im Traumbild eine überirdische Person aufgetreten, die ihr
verkündet, es stünde dem geliebten Freund Leid des mißverstandenen
Künstlers in außergewöhnlichem Umfang bevor. »Laß dich also,« fügte sie,
bevor Schuhlin überhaupt zu Wort gekommen, flehentlich hinzu, »vom großen
Erfolg, den du dort gehabt, nicht täuschen. Der Beifall beweist nur, man
hat dich völlig mißverstanden.«

Schuhlin beruhigte sie. Es sei der Eindruck nicht allzu groß gewesen. Er
war aber durch des Mädchens Verhalten in die alte Sicherheit gewiegt, und
die einzige Folge des Ausflugs blieb, daß er sich endgültig von den
Menschen fort zu Klara zog, die den doppelten Vorteil bot, Schutz gegen die
Außenwelt und hemmungslos in seine Gewalt verloren zu sein.

Er heiratete sie, ihr die letzten Stege zur Umkehr abzusägen. Den
verklärten Blick seines Opfers, als sie vom Standesamt heimkamen,
beantwortete er mit einem so ausholenden Druck beider Hände in ihre
Schultern, daß sie in den Knieen knickte. Dann ließ er unverzüglich ein
Leben beginnen, in dem er durch des Weibes schöpferische Demut als
Künstler, Mensch und Mann unablässig Herr des Universums war; denn Klara
begnügte sich nicht mehr damit, die Winke seines Willens vorzuerfüllen.
Weit über seine Begriffe flog ihre Vorstellungskraft und blies ihm mit
immer größerem künstlerischem Ansinnen an sich selbst, ihre tiefere
Unterwerfung unter ihn als Forderung belohnenden Ausgleichs ein. Da zögerte
er nicht länger, sich für jede gelungene Harmonie einen hohen Preis aus
ihrem zur Kreuzigung bereitem Leib auszuzahlen und hätte zwischen
Werktätigkeit und der einzigen Frau ein in häusliche Stürme begrenztes
Leben bis ans Ende seiner Tage geführt, wäre er nicht durch das
unentschuldigte Ausbleiben jeder Subsidienzahlung plötzlich vor die Frage
gestellt worden, wie er den irdischen Leib ernähren sollte.

Zwar drängte Klara dazu, auch da mit allen Kräften für ihn einzutreten. Sie
hatte ein bedeutendes photographisches Talent und konnte hoffen, in
absehbarer Zeit zu verdienen. Doch war Schuhlin überzeugt, es würde selbst
bei angestrengtem Fleiß, was sie vermöchte, zu einem behaglichen Leben für
ihn nicht ausreichen. Vom Ertrag seiner gedruckten Kompositionen aber war,
wie die jährlichen Abrechnungen bewiesen, das Geringste nicht zu hoffen,
und so begann Unsicherheit, woher die notwendigen Existenzmittel in Zukunft
regelmäßig zu beschaffen seien, den bisher in sich beschlossenen Frieden
des Hauses zu verwirren.

Da betrat eines Tages ein junger Mensch Schuhlins Wohnstube und brachte
vor, er sei Musiker, habe vor Wochen den Vortrag des Meisters in der
Hauptstadt gehört, und durch die Größe der Komposition und die Person des
Spielers zu doppelter Bewunderung hingerissen, sei er zur Prüfung des
eigenen Ichs geschritten. Das Ergebnis bilde die Erkenntnis seines
Unvermögens nach jeder Richtung hin und der unbeugsame Wille, sich in
Zukunft völlig dem erwählten Vorbild anzuschließen. Sein Leben, solle es
überhaupt noch höherem Zweck dienen, müsse unter Schuhlins Leitung in
dessen unmittelbarer und ständiger Nähe geführt werden. Er besitze Mittel,
methodischen Unterricht eine geraume Zeit zu entgelten und flehe den
Meister an, ihn nicht von sich zu weisen. Bei diesen Worten hatte sich sein
Antlitz gerötet, die Augen, ein wenig aus den Höhlen, glänzten. Schuhlin
stellte, ihn betrachtend, fest, es müßten sich mit dem Sturm solcher
Erregung, würde er in richtige Bahnen gelenkt, Effekte erzielen lassen. Der
Mensch und seine Ergebenheit für ihn war ihm sofort angenehm. So ließ er
denn einiges Allgemeine in Lehrsatzform hören und verabredete mit dem
Schüler das Nähere über dessen Unterbringung im Dorf sowie über die
Einteilung künftiger Tage. Denn da das Zusammensein sich nicht auf die
Unterrichtsstunden beschränken solle, sei es richtig, daß durch keine
Abhaltung verhindert, der Lernende dem Lehrer stets zur Verfügung sei. Im
Hinblick auf dies Ziel wurde von den Männern das Nötige sofort in die Reihe
gebracht. Es freuten sich später die Gatten des Ereignisses, durch das mit
einem Schlag alles Gewölk verscheucht schien. Klara pries den Entschluß des
jungen Mannes in den Himmel und verklärte sein Auftreten und seine
Erscheinung. Hier habe Schuhlin an einem Fremden endlich den Beweis, welche
Wunder seine Kunst auf unverbildete Jugend wirke.

Ein harmonisches Leben begann. Neander wurde in Kontrapunktik, daneben
fleißig im Klavierspiel unterrichtet. Was er vorher nach neuzeitlichen
Methoden gelernt, von moderner Musik gehört hatte, ward verworfen. Über
aller Tonkunst stand Sebastian Bach, der Gott. Neben ihm als Götter,
_Haendel_ und Philipp _Emanuel_, des Vaters Sohn. Mit _Mozart_ kam schon
fin de siècle-Kunst, _Beethoven_ schien Barock; alles Fernere bloßer
Unsinn. Es galt, an die Quellen zurückzufinden, dort neue Wege zu suchen.
Mit schönem Ernst legte Schuhlin in des Jünglings Seele die Überzeugung von
der unvergleichlichen Wichtigkeit ihrer gemeinsamen Aufgabe. Vor dem
Instrument, wurde eines Sextakkordes, einer Synkope Ursinn aufgedeckt,
strahlten ihre Augen sich in freudiger Erleuchtung an. Spielte Neander vom
Blatt, genügte schließlich das rhythmische Nicken des neben ihm sitzenden
Lehrers, dessen huschende Handbewegung, daß der Schüler den verborgenen
Sinn des Musikstücks erriet. Um ihre Körper stand eine heiße Wolke steil,
die sie wie ein Gerüst von der Welt abschloß, das sie erst durchbrechen
mußten, erhoben sie sich nach beendigtem Spiel. Die bedeutenden Anmerkungen
Schuhlins beim Unterricht zeichnete der andere in ein Buch auf und trug so
des Meisters Wesen auch in den Freistunden bei sich. Er hing an dessen
Mund, wo der stund und ging. Manchmal spintisierte auf Spaziergängen der
Ältere. War ihm des Rätsels Lösung gekommen, und er wandte das Haupt dem
Gefährten zu, hatte der die gleiche Erkenntnis mit eins in den Augen. Bei
einem solchen Vorfall griff Neander, da sie im Wald auf einer Lichtung
rasteten, nach Schuhlins Hand und küßte sie. Dem aber hatte es geschienen,
zugleich seien auch des Jünglings Knie völlig gewichen.

Auf dem Heimweg, -- Neander ging einen Schritt voraus, -- umfaßte mit
mächtigem Griff Schuhlins Hand plötzlich des anderen Arm und zog die ganze
willige Person an sich heran. Der Gepackte dreht das Haupt gegen den
verehrten Mann und senkt den Blick mit dem Gelöbnis ewiger Treue in die ihn
anherrschenden Lichter.

Fortan bildeten die Drei eine Gemeinschaft. Neander nahm an allen
Mahlzeiten teil und übersiedelte auf Klaras Aufforderung bald ins Haus. In
dem engen Logis war man auch dann dicht beieinander, befand sich jeder im
eigenen Zimmer. Strich man tagsüber durch die schmalen Stuben, berührte man
sich fortwährend und blieb immer im Dunstkreis der Gefährten. Aus der
innegewordenen Enge des Raumes nahm sich nun Schuhlin den ersten sichtbaren
Beweis seiner gleichmäßigen Macht auf beide Mitbewohner. Denn seine
Bewegungen nicht beschränkend, sondern mit Griff und Tritt noch mehr
ausladend, zwang er Weib und Schüler zu beständigem Ausweichen und
Zurücktreten vor ihm und, da er ständig die Mitte der Stuben und des Flurs
besetzt hielt, gewöhnten sich die zwei allmählich daran, längs der Wände
hinzuschleichen, an ein Sitzen und Verweilen in entfernten Ecken. Doch war
es ihnen natürlich und angenehm.

Und wie froh wurden sie beim Essen um den runden Tisch! Zuerst und sofort
flogen die Schüsseln zu Schuhlin, der sich mit ausgesuchten Stücken
regalierte und weitergab. Bescheiden nahmen die Mitessenden, bedacht, es
möchte für den Meister noch ein zweites Mal reichen. Der eigenen Nahrung
nicht achtend, folgten sie jedem Bissen des Hausherrn mit Aufmerksamkeit
und Genuß. Hei, wenn ein Braten gelungen war! Was gab es für ein
Schmunzeln, welch saftige Bemerkungen des Zufriedenen! Und immer
strahlender wurde seine Laune, prasselnder sein Witz, bis er bei Kaffee und
Zigarre, die man nur ihm anrichtete, freundlich anerkennende Blicke für
seine Umgebung hatte. Um die Belohnung durch solchen Blick war es den
beiden einzig zu tun. Sie steckten die Köpfe zusammen und berieten abends,
was man morgen zu Tisch geben solle. Obwohl Neander einen hübschen
Unterkunftspreis bezahlte, reichten Klaras Mittel nicht immer aus, des
vorgeschlagenen Mahles Kosten zu bestreiten. Dann legte der Pensionär hier
eine Mark, dort einen Taler zu, den geplanten Schmaus und die mit
Sicherheit folgende Belohnung zu ermöglichen, und als eines mißlungenen und
knappen Mittagessens schrecklicher Eindruck sie beide ein einziges Mal
getroffen hatte, gewöhnte sich Klara, der breiteren Haushaltführung erhöhte
Kosten ohne weiteres von Neander zu fordern, der ein Übriges tat und einen
unerschwinglichen Leckerbissen, Frühgemüse, Wildpret ins Haus brachte. Dann
kam für das ausgegebene Goldstück von der Hausfrau entzücktem Händedruck
bis zu Schuhlins wollüstigem Verdauungsschnaufen unaufhörlicher Dank an den
Geber und Feststimmung ins ganze Haus, die ihren Gipfel erreichte,
schlürfte der Meister ans Klavier und gab seiner dankbaren Gemütsstimmung
tönenden Ausdruck.

So lief die Zeit. Draußen in der Welt gab's Ereignis auf Ereignis;
Politisches und Kulturelles beschäftigte abwechselnd die Aufmerksamkeit der
Zeitgenossen. Luftschiffe wurden wichtig, ein afrikanischer Aufstand. Es
tobten und beruhigten sich die Börsen abwechselnd. Im Haus am bayrischen
Bergsee nahm man von nichts Kenntnis. »Was leistete die Musik bis zu Ludwig
Schuhlin, und in wiefern geht dessen Werk über alles Erreichte hinaus,«
hieß das in unzähligen Variationen behandelte strenge und ewige Thema. Der
Meister im Lehnstuhl läßt die Trabanten Fragen um diesen Kern herum
stellen. Dann spricht er gütig und anerkennend von den großen Musikern vor
ihm, macht kluge Anmerkungen zu seinem eigenen Schaffen und läßt durch den
beseelten Blick ahnen, alles von ihm bis jetzt Fertiggestellte sei im Grund
Stückwerk, und seiner Sendung wahrer Anlaß ruhe in der Zukunft Schoß.

Alle Regung der Zuhörer war schon verstummt. Glieder und Blick sind in
Andacht gelähmt. Schuhlins Atem, nach schönen Perioden seiner Satzbauten,
strömt in breiten Wellen. Er lächelt endlich gerührt, und eine blanke Träne
über sich selbst hängt ihm im Auge. Er verläßt das Zimmer.

Aber, während Klara, wie in den Stuhl gestampft, sitzt, läuft der Jüngling
mit erhobenen Armen und gerollten Fäusten von Tür zu Tür, und seine
hingerissene Begeisterung macht sich in Stöhnen und Seufzen Luft. Er faßt
auch wohl Klaras Hände, und mit Druck und Widerdruck verständigten sich die
beiden über Anfang und Ende der gemeinsamen Welt. Ihrer selbst waren sie
blind und taub. Es wußte der eine nichts vom Gesicht des anderen.
Gegenseitiges Wesen und Gestalt blieb ihnen Luft.

Also waren sie einander nirgends im Weg, bis im Bestreben, aus abendlichen
Plaudereien Erkenntnisse festzustellen, der ältere Mann für den anderen
Aufmerksamkeiten hatte, die das Weib ausschlossen. Da gleichzeitig Neander
begann, seine Geschenke, Kosthappen, Flaschen guten Weins, aber auch
Klavierauszüge und schließlich Gebrauchsgegenstände aller Art mit Umgehung
Klaras an Schuhlin unmittelbar auszuliefern, sah sich die Hausfrau in
Gefahr, in unebenbürtige Stellung gedrängt oder aus der Gemeinschaft
überhaupt ausgeschlossen zu werden. Ihre sofort mit Tatkraft unternommenen
Gegenmaßregeln, den Gatten nachts, war er nur ihr erreichbar, mit allen
Mitteln zu sich hinüber zu ziehen, konnten nur halben Erfolg haben, da mit
Tagesanbruch die Bindung zwischen den Männern wieder hergestellt war, und
Neander zielbewußt jeden Erfolg Klaras, den er wahrnahm, durch immer
kostspieligere Überraschungen für Schuhlin ausglich. Des Eindringlings
Überlegenheit war, bei gleicher Hingabe Leibes und der Seele beider an den
Herrn, durch sein geldliches Vermögen gewährleistet. Dies zu zerstören, sah
Klara als ihres Lebens nächsten und unvergleichlichen Zweck ein.

Sie stellte sich, als sei ihr um des Vergnügens willen, das er darüber
empfand, ein engeres Zusammengehen ihres Mannes mit dem Schüler sogar
angenehm. Bei jedem Geschenk für ihren Gatten schien sie sich mitzufreuen,
und nachdem sie aus Neander die Höhe der ihm zur Verfügung stehenden Mittel
herausgelockt und die Geringfügigkeit einer Summe von vierundzwanzigtausend
Mark dem zu leistenden Aufwand gegenüber erkannt hatte, reizte sie ihn
unaufhörlich, beiläufig geäußerte Bedürfnisse Schuhlins unverzüglich zu
befriedigen. Dem aber brachte sie im Bett auf unterirdischen Wegen immer
neue und gesteigerte Wünsche bei: wie mußte im Wohnzimmer ein Teppich sich
ausnehmen? Gewänne mit einem Velociped er nicht die Fähigkeit, die
herrliche Umgebung im Umkreis kennen zu lernen und aus der Kenntnis zu
beherrschen?

Schuhlin schien's, er sei zum erstenmal mit Gott ganz einig. Wie sich an
seiner Seite die beiden Geschöpfe tummelten und bis ins Innerste regten,
daß Sinn und Nerve um ihn zitterte und sich aufrieb, fand er als
Schöpfungseinfall prachtvoll und sinngemäß. Im Ausdruck glaubte er manches
steigern und folgerichtig miteinander verknüpfen zu können. Hier zügelte er
Neander, da stieß er Klara vorwärts. Er wies und verwies sie, sprach von
Himmel und Erde, in welcher Erscheinungsweise sie ihm angenehm seien, und
was geschehen müsse, mit Menschenmitteln den ersehnten Zustand der Elemente
für ihn immer herzustellen. Wie man Licht blende oder verstärke, Geräusche
abstelle, Schwingungen, Gerüche verhindere oder wirken lasse. Kurz: er
spitzte die Ohren der Unterworfenen für den leisesten Hauch der Atmosphäre.

Ihre Zwistigkeiten entgingen ihm mitnichten. Er peitschte sie mit
Wettstreit. Potz! sagte er zu Klara, Hei! zu Neander und ließ in beiden die
Motore knattern. Sie fuhren ihn, während alles Gas auf die Ventile drückte,
mit der letzten Übersetzung über die steilsten Hindernisse des Tages und
lagen abends, ausgeblasene Hülsen, vor ihm, aus denen er mit aufgesetzten
Füßen die letzte Luft trat. Mit Hebel, Kupplung und Bremse fuhr er sie,
wohin er wollte.

Darüber hinaus mußten sie auch Einfälle haben. Sie sollten nicht nur
wirklich, auch transzendental mußten sie sein. Mit dem Mann gelang das am
besten. Immer demütiger, bot das Weib nur Fleisch an. Aber der Jüngling
zuckte aus einer nicht übermäßigen Begabung manchmal jäh ins Erhabene.

So riet er einst, Schuhlin solle sein Bett in der breiten Wand Mitte
stellen, daß durchs Fenster er über Landschaft gen Osten zum Horizont in
die aufgehende Sonne blicke wie Louis Quatorze einst zu Versailles. Das
wurde selbigen Tages noch angeordnet. Klara flog zu Neander ins Beigemach,
und Schuhlin holte fortan, allein im Schlafgemach, nachts breiteren Atem.

Vier sehnsüchtige Augen hingen durchs Dunkel an der Tür, aus deren Spalten
Licht drang, las der Herr vor dem Einschlafen noch die Zeitung. Das
Rascheln umgewendeten Papiers, Geräusch des sich rekelnden Körpers, ein
Knacken schließlich der verlöschenden Lampe, erregte zwei hochaufhorchende
Herzen. War alles still, belauschte an entgegengesetzten Wänden Weib und
Mann, parallel ausgestreckt, mit Neid und Erbitterung den gegenseitigen
Herzschlag.

                   *       *       *       *       *

Doch während Schuhlins menschliches Ausmaß wie die Krone eines ungeheueren
Baumes durch das Dach des Hauses brach und alles beschattete, was darin tot
und lebendig war, während in Klaras Herz der Haß gegen Neander sich zu
einem Zuckerhut aus Stahl verdichtete, der eines Tages mit Geschrei des
Flugs sein Sprengmehl wie einen furchtbaren Strahl auf ihn niederstreuen
mußte, schmolz durch wütende und überstürzte Ausgaben für sein Idol diesem
das mitgebrachte Geld. Die Gewißheit erfüllte mit so heißer Schadenfreude
Klara, daß ihr Antlitz tagsüber davon brannte, den Verschwender zittern
machte und ihm jede Genugtuung zerschlug. Vom Gesicht des Weibes konnte er
den Blick nicht wenden und fürchtete ein in ihm auftretendes Lächeln lange,
bevor es noch da war. Je kleiner seine Barschaft wurde, um so toller schien
ihm das Grinsen der Feindin. Durch schwarze Nacht glaubte er ihre
verzerrten Züge zu erkennen, und wie dicht er sich in die Decke mummte, es
lächelte um ihn, hinter ihm her. Als er einst ein ersticktes Kichern hörte,
sprang er aus den Kissen mitten ins Zimmer so zischenden Atems, daß die
Bedrohte ihm hoch auf dem nackten Boden entgegenstand. Dort griffen sie
sich bei den Leibern, und stumm rissen, traten, schüttelten sie einander,
bis ihnen das Leinen in Fetzen hing, und im Allerheiligsten ein leichtes
Stöhnen sich hören ließ. Da nahm jeder die Fänge von des anderen Fleisch
und kroch geschunden auf seine Matratze zurück. Zu solcher nächtlichen
Melodie klang weiter bei Tag Schubert, Chopin und Schuhlin mit Symphonie
und Sonate. Aus Himmeln wurden zwei Menschen in Abgründe geschleudert.
Unaufhörlich trieb sie ein Mühlrad aus den Sternen zur Hölle hinunter;
wieder hinauf.

An Schuhlins fünfunddreißigstem Geburtstag waren fast vier Jahre ihres
Zusammenlebens vergangen. Gegen Abend dieses Tages sprang dem Hausherrn von
neuem der Gedanke, dessen er sich letzthin immer weniger erwehren konnte,
ins Bewußtsein. Wenn heute man sich zur Nacht getrennt haben würde, wollte
er im Bett endlich von Grund auf feststellen, was seine Spekulationen ihm
in runden Ziffern verbürgten, was Klara, die er, ihr photographisches
Geschick durchzubilden, unaufhörlich getrieben, und die schon jetzt im Dorf
und Umkreis mit ihren Bildern Einnahmen hatte, bei zielbewußter Arbeit
unter allen Umständen, was Neander durch den Klavierunterricht für ihn
verdienen mußte, den er nach seiner Methode Fortgeschrittenen binnen kurzer
Frist zu geben imstande sei. Wenn er auch Auslagen für Fahrgeld,
Einnahmeminderung durch Krankheit der Verdienenden, alles Unvorhergesehene
von dem durchschnittlichen Erträgnis gewissenhaft in Abzug bringe, glaubte
er doch jetzt schon die Summe von viertausend Mark als nicht mehr zu
bezweifelndes Jahresergebnis der gemeinsamen Arbeit für ihn schlimmsten
Falls einsetzen zu können. Durch Hin- und Herrechnen wolle er aber der
Sache heute Nacht noch schriftlich an den Leib und, vor jeder Überraschung
sicher, auf frisches Papier mit schwarz und roter Tinte die genaueste
Bilanz machen.

Immerhin freute er sich der gefundenen Zahl schon von Herzen, die er mit
oft verändertem Tonfall vor sich hinsagte. Am Tisch sitzend, hatte er die
Beine von sich gestreckt, die Zunge stand aus dem geöffneten Mund durch die
Zähne schweißend hervor. Volkslied ging ihm mit: »O wie wohl ist mir am
Abend« durch den gehobenen Sinn. Als er schließlich ein hinreichendes Maß
Behagen aus günstigen Voraussichten in sich gesogen, formte er, an den
Flügel sich ziehend, den anmutigsten Tanz auf die Tasten, aus dem er, eine
Gegenbewegung zögernden Zweifels bewußt erfindend, Hoffnung immer
fröhlicher klingen ließ. Dann riß er das Thema von neuem durchs Gewissen zu
höheren Sphären hinauf, ließ das Taktgefüge wuchtiger brausen, Harmonien
die Melodik begründen, bis seines blühenden Daseins Gewißheit und
angenehmer Zukunft Überzeugung so süß aus den Saiten rauschte, daß
allenthalben Tür und Fenster sich auf die Straße öffnete, und aus den
Stuben die Menschen lauschten.

Ins Zimmer selbst aber traten vor des Spielenden transparent erleuchtete
Augen die liebenden Antlitze zweier Menschen. Langflügelige Engel Fra
Angelicos, stützten sie von beiden Seiten sich an das tönende Instrument.
Aus den geblähten Backen blies wie aus Posaunen so gewaltig ihrer Seelen
zustimmender Oberton, daß er das Segel von Schuhlins Herz wellte und es
beflügelter _Ja_ und _Amen_ spielen ließ zu der Absicht, die es mit den
zufriedenen Opfern ferner hatte.

Als man später die schweigende Mahlzeit, bei der Blicke emsig hin- und
hergesprochen, beendet hatte, zog feierlicher Geste Neander eine Zigarre
aus der Tasche, die er dem Meister reichte. Sie war lang und dick, glatt
gedreht, von graubrauner Farbe. Ein breiter Ring aus gold und rotem Papier
lief um ihre Mitte, auf dem das Wort »Intimidad« stand. Hoch auf zuckte im
gleichen Moment Klara, wußte sie doch, hier gab der Nebenbuhler endlich den
letzten Rest seines Vermögens fort und habe in Zukunft keinen Vorteil vor
ihr mehr voraus. So erschütterte sie die ersehnte Wahrnehmung, daß sie die
Augen schloß, die Gesichtsmuskeln verhielt, fürchtend, es könne die Gewalt
des ausbrechenden Glücks Neander zu einer Verzweiflungstat augenblicklich
hinreißen. Wie inständig der auch ihr Antlitz durchforschte, er fand in ihm
gleichmäßige Ruhe.

Schuhlin aber schnitt mit leichter Verbeugung gegen den Geber umständlich
die Spitze der Zigarre herunter, beroch, klopfte und schüttelte die
Havanna, bis er sie mit zwei Streichhölzern von allen Seiten her in
leuchtenden Brand setzte. Während sich nun Wölkchen erhoben, Ringe, Blasen,
gezackte Ränder, aus des Rauchers Mund und Nase gestoßen, und Klara hinter
gekniffenen Lidern jeder einzelnen, die verschwebte, folgte, trat eiskalter
Schweiß Neandern auf die Stirn, und der Boden des Zimmers schien ihm zu
schwingen.

Dämmerung sank; fast saß man im Dunkel. Es leuchtete bei jedem Zug der
feurige Ring der Zigarre, noch einmal, immer noch, bis Schuhlin ein
Überbleibsel in die Schale warf und zerdrückte.

Dann gab er Neander die Hand, schien dessen gespenstische Grimasse nicht zu
bemerken und ging in sein Zimmer hinaus. Klara, das völlig entflammte Auge
jetzt furchtlos in Neanders erstarrten Blick gedreht, folgte unmittelbar.
Da der Geplünderte allein stand, brach ihm das Haupt wie von einer Axt
angeschlagen auf die Brust, aus der ein einziger Ton heraufgrollte. Den
hört, schon hinter der Tür, die Frau, und während er noch in allen Sinnen
wohltut, überläßt sie sich schrankenlos ihrem größeren Glück.

Als später sie, die Federn schüttelnd, von Schuhlins Bett her durch die
Pforte zurücktritt -- ihres stets zu erneuenden Sieges Glanz stand als
Stern ihr zu Häupten --

Da der Stahl aus Neanders Hand, ihr ins Herz gestoßen, sie schon
hingeworfen, und des Totschlägers Entseelter Leib, über sie stürzend, sacht
an die geschlossene Tür schlägt, in diesem Augenblick dreht sich Schuhlin
ermuntert der Nachtlampe zu und beginnt, die Brust weitend, die Arme von
sich stemmend und wieder anziehend, kraft- und glücksgeschwellt, unter
lateinisch A und B Zahlen zu malen, deren Addition ihm die materielle
Sicherheit seines Daseins gewährleisten soll.

Andern Tages sah er überrascht ein, daß die gefundene Ausrechnung hinfällig
geworden war.

Sanfte Trauer hindert ihn nicht, unverzüglich neue Verbindungen zu suchen,
die die Mittel zu jenem Leben sichern sollen, das er als ihm gemäß und
seiner Bedeutung zukommend, ein für allemal erkannt hatte.

_ENDE_

KURT WOLFF VERLAG · LEIPZIG

Über Wedekind, Sternheim und das Theater

Fünfzehn Kapitel von Franz Blei

Geheftet M 2.--, gebunden M 3.--

ÜBER den vom Titel bezeichneten Inhalt hinaus ist diese Schrift eine
grundsätzliche Kritik heutiger Literatur; ist Definition ihres Begriffes
und Untersuchung ihrer Leistung. Die letzten dreißig Jahre deutschen
Schrifttums erfahren ihre prinzipielle Würdigung. Es wird abgerechnet mit
dem, was ist. Aufgezeigt das, was man zu erhoffen Grund hat. Das
Literarische wird durchaus als Teil eines kulturellen Ganzen, gesehen und
an diesem Ganzen gemessen: so ist diese kritische Untersuchung auch im
gewissen Sinne eine politische. Daß der Verfasser zu dem kritischen Amte
berufen ist, braucht nicht mehr gesagt zu werden. Daß er Kenntnisse,
Urteil, Geschmack und Gesinnung besitzt, weiß man. Auch daß er einer
unserer gedankenreichsten und bestschreibenden Autoren ist, wissen seine
Leser.





End of the Project Gutenberg EBook of Schuhlin, by Carl Sternheim

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