Mutter Natur erzählt : Naturgeschichtliche Märchen

By Carl Ewald

The Project Gutenberg eBook of Mutter Natur erzählt
    
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Title: Mutter Natur erzählt
        Naturgeschichtliche Märchen


Author: Carl Ewald

Editor: Hermann Kiy

Illustrator: Willy Planck

Release date: January 9, 2024 [eBook #72666]

Language: German

Original publication: Stuttgart: Franckh'sche Verlagshandlung, 1921

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MUTTER NATUR ERZÄHLT ***

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                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1921 so weit
  wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler
  wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr
  verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert;
  fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

  Im Original waren in zwei Absätzen Zeilen untereinander vertauscht,
  was das Verständnis des Texts erschwert. Die Vertauschung wurde
  vom Bearbeiter wieder rückgängig gemacht. Hierbei waren die Stellen
  betroffen, die mit den folgenden Passagen beginnen:

    »Du mußt mir nicht böse sein, mein lieber Dorsch,«

  und

    »Wenn ich euch nur beide unterbringen kann,«

  Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter der Übersichtlichkeit
  halber an den Anfang des Buches verschoben.

  Besondere Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der
  folgenden Symbole gekennzeichnet:

        fett:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

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                         Mutter Natur erzählt

                      Naturgeschichtliche Märchen

                                  von

                              Karl Ewald

                     Erster Band der autorisierten
                      deutschen Gesamtausgabe von
                             +Hermann Kiy+


                    Mit neun Tafeln und zahlreichen
                     Abbildungen von Willy Planck


                              28. Auflage

                            [Illustration]

                +Kosmos+, Gesellschaft der Naturfreunde
                Franckh’sche Verlagshandlung, Stuttgart
                                 1921




                       Alle Rechte vorbehalten.


                 ~STUTTGARTER SETZMASCHINEN-DRUCKEREI
                      HOLZINGER & Co. STUTTGART~




Inhalt


                                       Seite

  Das Meer                                 5

  Die Erde und der Komet                  28

  Die Spinne                              44

  Die Anemonen                            74

  Die Heuschrecken                        84

  Der alte Pfahl                         107

  Der Sperling                           124

  Die Bienenkönigin                      136

  Der alte Weidenbaum                    148

  Fünf Großmächte                        188

  Der Nebel                              206

  Der Regenwurm und der Storch           214

  In der Tiefe                           229




Vorwort.


„Natur! Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres
Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem
Arm entfallen... Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte
ist unzugänglich... Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr,
und doch rückt sie nicht weiter... Sie hat an allen ihre Freude und
findet bei allen ihre Rechnung... Man gehorcht ihren Gesetzen, auch
wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie
wirken will... Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft
sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde,
lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig.“

Diese Worte Goethes werden in uns lebendig, wenn wir die Märchen
Karl Ewalds lesen, mit denen der vorliegende Band uns bekannt macht.
Allmutter Natur erzählt sie uns durch den Mund eines Poeten, in dessen
Schöpfungen sich die schlichte Anmut und dichterische Phantasie H.
C. Andersens mit frischem, launigem Humor, genauer Naturkenntnis
und modernem Forschergeist vermählen. Der erquickende Hauch freien
Menschentums durchweht diese Märchen, deren Dichter die großen und die
kleinen Geschöpfe und Wunder der Welt mit gleicher Liebe umfaßt. Feld
und Wald, Luft und Wasser, Weltall und Bienenstaat nehmen Leben an,
und vor unsern Augen spielt sich eine Fülle ergötzlicher Tragikomödien
ab. Das verborgene Getriebe der Natur enthüllt sich uns als ein
heftiger Kampf aller gegen alle. Und doch spenden die Geschichten
heiteren Trost und helle Lebensfreude; denn immer wieder wird das eine
Grundgesetz offenbar, daß alle Vernichtung gleichbedeutend ist mit dem
Entstehen neuen Lebens. Über allem Kampf und Spiel der Kräfte leuchtet
die innere Harmonie der Welt. Und wenn der Dichter auch oft die
Gelegenheit wahrnimmt, den lieben Menschenkindern einen unsanften Hieb
zu versetzen, so bleibt es doch sein besonderes Verdienst, daß es ihm
gelingt, seine kleinen Helden lebendig zu machen, ohne sie in banaler
Weise zu vermenschlichen und ohne die Natur zu vergröbern oder Moral zu
predigen; der Respekt vor dem Unfaßbaren geht ihm niemals verloren.

Karl Ewald wurde am 15. Oktober 1856 auf Bredelykke bei Gramm
in Schleswig geboren als der älteste Sohn des Kgl. Landmessers,
späteren Professors und Romanschriftstellers, Hermann Frederik
Ewald. Er absolvierte das Gymnasium in Frederiksborg, bestand sein
„Philosophicum“, war ein Jahr Hauslehrer und widmete sich dann auf
der Landwirtschaftlichen Hochschule in Kopenhagen dem Studium der
Forstwissenschaft. Eine langwierige Krankheit veranlaßte ihn jedoch,
das Studium aufzugeben. Er wurde Lehrer an verschiedenen Lehranstalten
der dänischen Hauptstadt. 1880 übernahm er die Leitung einer
Knabenschule. 1883 trat er von diesem Amte zurück, und nun begann seine
literarische und journalistische Tätigkeit, der er bis zu seinem am
23. Februar 1908 erfolgten Tode ohne Unterbrechung treu blieb. 1882
erschien in Kopenhagen das erste Heft der „Märchen“, die seinen Ruhm
begründen sollten.

Ewalds Liebe und Kampf galten einer freien Entwicklung der Kräfte in
Staat, Schule und Familie. Vor allem bewies er für die Seele des Kindes
viel feines, warmes Verständnis.

Sein literarisches Schaffen war außerordentlich vielseitig. Neben den
Märchen schrieb er moderne Erzählungen, Lustspiele und historische
Romane. Besondere Meisterschaft offenbarte er auf dem Gebiet der kurzen
satirischen Skizze. Mehrere seiner Werke sind ins Deutsche übersetzt
worden; Erwähnung verdienen die Erzählung: „Der Kinderkreuzzug“ sowie
die beiden prächtigen Erziehungsbücher: „Mein großes Mädel“ und „Mein
kleiner Junge“.

Die naturgeschichtlichen Märchen Ewalds sind bisher nur zum +kleineren+
Teil in deutscher Sprache erschienen; von den Arbeiten des vorliegenden
ersten Bandes der Gesamtausgabe sind die meisten in Deutschland noch
nicht veröffentlicht worden. Eine deutsche Gesamtausgabe dieser
reizvollen, glänzend geschriebenen Geschichten, in denen sich
Ewalds Kunst am reinsten und schönsten entfaltet, war stets ein
Lieblingswunsch des Dichters selbst und längst ein Bedürfnis, nachdem
bereits Gesamtausgaben der Märchen in England, Amerika, Schweden
und Holland erschienen und nachdem auf Veranlassung des dänischen
Kultusministeriums mehrere der Märchen in die dänischen Schullesebücher
aufgenommen worden waren. Karl Ewald hat die Erfüllung seines Wunsches
nicht mehr erlebt. Der Verlag hat es sich jedoch, ohne Opfer zu
scheuen, angelegen sein lassen, des Dichters Gedächtnis durch eine
würdige Ausgabe von bleibendem Wert zu ehren.

  =Hermann Kiy.=




Das Meer.


Mit seinen weißen Kreidefelsen ragte das Land aus dem +Meere+ empor.

Da oben wuchsen grüne Buchenwälder und Gräser und goldenes Getreide und
tausend bunte Blumen. Die Vögel zwitscherten und die Hirsche sprangen.
Die Bauern pflügten ihre Felder, und hart am Felsufer hatte ein
vornehmer Herr sich ein Schloß erbaut, das mit Türmen und Türmchen und
goldenen Wetterfahnen in die Lüfte ragte.

[Illustration]

Darüber lag, hoch und blau, der Himmel. Und unten rollten die Wogen des
Meeres.

„Ich kann machen, was ich will,“ rief das Meer. „Bin ich milde
gestimmt, so lasse ich die kleinste Nußschale auf meinem Rücken
tanzen; und es geschieht ihr nichts. Bin ich aber zornig, so
zerschmettre ich das größte Schiff und sende es mit Mann und Maus auf
meinen Grund hinab. Niemand ist über mir, niemand neben mir.“

„+Ich+ bin über dir,“ grollte der +Himmel+.

„Gott mag wissen, was für ein Geselle du eigentlich bist,“ sagte das
Meer. „Du hängst da oben und blähst dich auf, aber bei genauerer
Prüfung würde sich wohl herausstellen, daß du nur Humbug bist.“

„Ich spiegle mich ja in dir, so daß du sehen kannst, wer ich bin,“
erwiderte der Himmel.

„Das tust du, solange es +mir+ paßt,“ sagte das Meer. „Kräusle ich mich
aber nur ein wenig, so verwische ich dein Bild.“

„Von mir hast du deine blaue Färbung,“ entgegnete der Himmel.

„Pah,“ sagte das Meer. „Das magst du Kindern und Bauern vorreden. Ich
habe meine eigne Farbe. Und ich habe viele Farben ringsum in der Welt,
soweit ich meine Wellen rollen lasse. Die habe ich von den Tieren und
Pflanzen, die in meinem Schoße wachsen.“

Da rief das Land: „Ich bin auch noch da, und ich bin doch zum mindesten
deinesgleichen, wenn nicht noch mehr.“

Da schlug das Meer mit seinen Wellen gegen die Felsküste und riß ein
kleines Stück von dem Kreidefelsen los.

„Du?“ drohte es. „Du bist mein Geschöpf und nicht ein bißchen mehr. So
wie du dastehst mit all der Herrlichkeit, mit der du prahlst, bist du
aus meinem Grunde emporgewachsen.“

„Du lügst,“ rief das Land.

„Wirklich?“ war die Antwort des Meeres. „Greif’ in deine Brust, und
du wirst sehen, daß es wahr ist, was ich sage. Deine weiße Kreide ist
voll von meinen Tieren, Schnecken, Muscheln und Korallen. Jede Handvoll
deines Bodens zeigt, woher du stammst.“

„Ich mache mir nichts aus solchen alten Geschichten,“ sagte das Land.
„Das ist schon so lange her, daß es jetzt nicht mehr wahr ist. Jetzt
habe ich meine eigenen Pflanzen und meine eigenen Tiere, die hundertmal
schöner sind als die deinen. Und ich denke, du läßt mich bleiben, was
ich bin.“

„Das meinst du,“ sagte das Meer. „Aber daß du so dastehst, verdankst
du meiner Gnade. Ich habe dich aufgebaut; und ich reiße dich wieder
nieder, wenn ich Lust dazu habe. Ich mache, was ich will.“

„Komm, wenn du den Mut hast,“ rief das Land.

Das Meer lachte und zeigte seine weißen Zähne. Dann erfaßte es wieder
ein kleines Stück Kreidefelsen und noch eins und noch eins.

„Viel Vergnügen!“ sagte das Land.

Und die Wälder und Gräser grünten, die Blumen dufteten, die Vögel
zwitscherten, und die Hirsche sprangen, die Bauern pflügten ihren
Acker, und das Schloß ragte mit seinen Türmen und Türmchen und goldenen
Wetterfahnen in die Lüfte.

Jahr auf Jahr, Jahrhundert auf Jahrhundert verging; denn die Großen
rechnen mit großen Zahlen. Das Meer umschäumte das Land und nahm ein
Felsstückchen nach dem andern fort.

„Du wirst mir etwas zudringlich,“ sagte das Land.

„Ich mache, was ich will,“ entgegnete das Meer. „Und ich nehme nur, was
mein ist.“

„Meine Spitze erreichst du nie,“ versicherte das Land.

Aber das Meer wogte und arbeitete, Tag auf Tag, Jahr auf Jahr,
Jahrhundert auf Jahrhundert. Immer mehr Felsstücke rollten in seinen
Schoß und wurden zerdrückt und fortgespült. Immer tiefer höhlte das
Meer den Felsen aus. Im Keller des Schlosses hörte man bei richtigem
Sturme schon das Getöse der See.

Und eines Nachts stürzte der Kreidefelsen mit der Burg und dem Walde
zusammen.

Mit fürchterlichem Krachen fiel er ein, so daß niemand den Todesschrei
der Menschen und Tiere hörte. Der Schaum spritzte hoch empor, während
der Sturm sang und die Wogen erbrausten.

Drei Tage danach war das Meer still und blank. Nur die Hälfte des
Felsens war übriggeblieben. Der Rest war zerschmettert, verschwunden,
spurlos ausgelöscht von der Erde.

„Jetzt bist du da, wo du vorher warst,“ triumphierte das Meer. „Wir
wollen einmal sehen, wie du dich aufführst; vielleicht erlaube ich dir,
dich noch einmal zu erheben.“

„Du böses Meer,“ schalt der Felsen.

Doch das Meer blieb hart: „Ich mache, was ich will.“

       *       *       *       *       *

Dem Felsen gegenüber, auf der andern Seite des Meeres, aber viele,
viele Meilen weit entfernt, sah das Land ganz anders aus.

Es war flach, und ringsum grünten große Wiesen, auf denen die Kühe
weideten. Viele Häuser gab es dort nicht; und die, die da waren, waren
auf hohen Wällen, Steindämmen oder Pfahlwerken errichtet.

„Ich habe Furcht vor dem Meere,“ sagte der Bauer, „dem mächtigen,
eigenwilligen Ungetüm, das da macht, was es will. Stets kann es kommen
und mir meine Wiesen und Kühe wegspülen. Ich lebe von seiner Gnade und
hoffe auf seine Barmherzigkeit.“

„Sieh da -- das war wohlgesprochen,“ sagte das Meer. „Der Vernünftige
weiß, wer der Stärkere ist.“

Und manchmal überspülte das Meer die Wiesen, um zu zeigen, daß es
machen konnte, was es wollte. Der Bauer erbaute Deiche, um sich durch
Schleusen zu schützen, damit das Meer wieder ablaufen konnte, wenn es
hereingespült war.

„Bau’ du nur,“ höhnte das Meer, „ich spül’ über die Firlefanze da weg,
sobald ich Lust habe.“

[Illustration]

„Ich weiß es wohl,“ erwiderte der Bauer. „Ich habe die Schleusen
erbaut, damit deine Herrlichkeit möglichst leicht zurücklaufen kann,
wenn es dir behagt.“

„Gut,“ sagte das Meer.

„Verschone meine grünen Wiesen,“ bat das Land.

„Ich mache, was ich will,“ rief das Meer.

Und um seine Macht zu zeigen und sie in Unruhe zu versetzen, spielte
das Meer täglich mit ihnen.

Es zog sich so weit zurück, daß man nur fern am Horizont einen
glitzernden Streifen gewahrte. Der ganze Grund war trocken, der Tang
ließ seine Blätter hängen und die Garnelen ihre Fühler, und sie fühlten
sich entsetzlich unbehaglich.

„Es ist Ebbe,“ sagte der Bauer.

Eine Weile danach kam das Meer wieder, zuerst sachte und dann
schneller, in kleinen Wellen, die sprangen und hüpften, und in großen,
die mit Macht heranrollten. Im Handumdrehen war der Boden wieder
bedeckt. Die Tangblätter fächelten wie die Blätter im Walde. Und die
Garnelen sprangen zwischen ihnen umher wie die Vögel in den richtigen
Bäumen oben am Lande.

„Es ist Flut,“ sagte der Bauer.

„Ich bin es,“ berichtigte das Meer. --

Eines Tages ging die Möwe dicht am Strande spazieren. „Ich weiß nicht,
was das ist,“ bemerkte sie, „hier wird es seichter und seichter. Man
kann sich ja kaum noch ordentliche nasse Füße holen.“

„Das kommt daher, weil ich ein Stück Land baue,“ erklärte das Meer.

[Illustration]

„Du?“ erwiderte die Möwe. „Ich dachte, du reißt nur nieder.“

„Ich mache, was ich will,“ sagte das Meer.

Und als es Ebbe wurde, und das Meer fort war, stand eine seltsame
Pflanze auf dem Meeresgrunde. Die hatte keine Blätter, sondern nur
merkwürdige, dicke Stengel, in denen Saft war. Sie war rot und grün und
durchsichtig wie Glas. Und ihre Blüten waren so winzig, daß man sie
kaum bemerkte.

„Was bist du für ein Geselle?“ fragte der Tangbusch.

„Ich bin das Salzkraut.“

„Du gleichst uns nicht.“

„Ich gehöre auch nicht zu euch,“ antwortete das Salzkraut. „Ich gehöre
zu den Pflanzen oben am Lande.“

„Dann steh dir Gott bei, wenn das Meer kommt,“ erwiderte der Tangbusch.

„Mach’ dir meinetwegen keine Sorgen,“ sagte das Salzkraut. „Ich finde
mich schon zurecht und erfülle meine Mission.“

[Illustration]

„Also du hast sogar eine Mission,“ sagte der Tangbusch und lachte; aber
ganz schwach; denn er war sehr ermattet von der Dürre.

„Ich sammle Schlick,“ sagte das Salzkraut. „Ich helfe nach, so daß
alles, was von kleinen Stückchen Lehm und Kreide und andern Dingen im
Meere ist, Zeit findet, zu Boden zu sinken. Das ist der Schlick. Mit
der Zeit wird richtiges Land, werden grüne Wiesen daraus.“

„Und du bildest dir ein, daß das Meer dich gewähren läßt?“ fragte der
Tangbusch.

„Wart’ es ab,“ erwiderte das Salzkraut. „Und ruhe ein bißchen! Du
siehst ziemlich angestrengt aus. Du kannst nicht alles vertragen, so
wie ich.“

Dann kam die Flut wieder, und das Meer rollte herzu.

Der Tangbusch freute sich, das Salzkraut ins Unglück kommen zu sehen.
Aber es wurde ein mäßiges Vergnügen. Denn das Salzkraut stand aufrecht
da und streckte seine Zweige ins Wasser aus.

„Du mächtiges Meer,“ sagte der Tangbusch. „Da steht ein grüner Bursche,
der sich Salzkraut nennt und erzählt, daß er mit deiner Erlaubnis Land
baut. Ist das wohl richtig?“

„Gewiß,“ sagte das Meer. „Du dummer Tangbusch verstehst auch immer nur
die Hälfte von den Dingen. Du glaubst, ich hätte kein andres Vergnügen
als zu rollen und zu schäumen und das Land zu zerstören; und du weißt
nicht, daß es mir ebensogut gefällt, Land +aufzubauen+. Jetzt baue
ich; und es wird nicht lange dauern, dann liegst du in der Sonne und
verfaulst.“

„Gott stehe denen bei, die sich auf die großen Herren verlassen,“ sagte
der Tangbusch.

„Du bist heute so unruhig, Meer,“ schalt das Salzkraut. „Wenn du dich
nicht legst, so kann ich keinen Schlick sammeln.“

„Verzeihung, Verzeihung, mein liebes Salzkraut,“ sagte das Meer. „Jetzt
werde ich aufpassen. Ist es nun gut?“

„Du mußt noch ruhiger sein,“ sagte das Salzkraut.

Und es breitete seine Zweige aus, so daß sie den Wellenschlag
durchbrachen, und schimpfte und zeterte unaufhörlich. Immer neue
Millionen winziger Lehm- und Kalkstückchen sanken zu Boden, der
unmerklich, aber stetig stieg.

„Hat man je so etwas gesehen?“ fragte der Tangbusch. „Er redet mit dem
Meere, als wäre er sein Herr.“

„Es ist mein Kind,“ sagte das Meer, „mein liebes, liebes Salzkraut.“

Da war der Tangbusch vor Erstaunen ganz sprachlos. Die Möwe aber flog
in die Welt hinaus und erzählte, das Meer habe sich völlig verändert
und sei nicht mehr wiederzuerkennen.

Der Bauer stand auf seinem Deich und sah über den blanken Spiegel hin.

[Illustration]

„Wie schön das Meer heute ist,“ sagte er. „Wer sollte glauben, daß das
dasselbe Meer ist, das neulich so sehr gebrüllt und schäumend meine
Deiche durchbrochen hat?“

Plötzlich begann das Meer zu zittern.

„Salzkraut,“ sagte es. „Liebes Salzkraut!“

„Was ist denn?“ rief das Salzkraut ungeduldig. „Jetzt ist es so
großartig mit dem Schlick gegangen, und nun verdirbst du das ganze
durch deinen Wellengang.“

„Du darfst nicht böse auf mich werden,“ sagte das Meer. „Aber jetzt
kommt die Ebbe, und ich muß meiner Wege gehen. Wie ich sehe, sind deine
Samen jetzt reif; und wenn du sie jetzt fortwirfst, fürchte ich, daß
ich sie unversehens mit mir in die Tiefe ziehe.“

„Daran habe ich wohl gedacht,“ sagte das Salzkraut. „Kümmere dich nur
nicht darum! Jedem meiner Samen habe ich eine Menge Härchen gegeben, so
daß sie sich am Boden festhalten können. Nimm du nur Reißaus, wenn du
dazu genötigt bist, und komm mit neuem Schlick zurück!“

„Wie klug und bedachtsam du doch bist, mein liebes Salzkraut,“ lobte
das Meer.

Dann lief es davon, und das Salzkraut säte seine Samen aus.

Nach einiger Zeit war der ganze Meeresboden voller Salzkrautpflanzen,
die sich ausbreiteten und blühten, Schlick sammelten und Samen
auswarfen. Das Wasser wurde immer niedriger.

„Darf man sich hier aufhalten?“ fragte der Tangbusch.

„Rücke lieber etwas weiter fort,“ entgegnete das Salzkraut.

„Kann ich denn?“ seufzte der Tangbusch verdrießlich. „Ich sitze auf
einem Stein, den kaum das Meer von der Stelle bewegen kann; so tief
steckt er im Sande.“

„Ja, ich kann dir nicht helfen,“ sagte das Salzkraut. „Deine Zeit ist
vorbei. Auch die meine wird einmal vorübergehen.“

Und der Boden wuchs mehr und mehr an. Jetzt war kaum noch etwas andres
da als Pfützen zur Flutzeit. Dann starb der Tangbusch.

„Ich finde übrigens auch, daß es hier etwas trocken zu werden anfängt,“
sagte das Salzkraut.

„Ich werde dir helfen,“ meinte der Bauer. „Du stiftest Nutzen; ich kann
dich gut leiden.“

Er grub tiefe Gräben, darin das Wasser eine Weile stehen blieb; und
da wuchs das Salzkraut stark und üppig. Es bildete einen regelrechten
grünen Teppich überm Meeresboden. Und in diesem Teppich sprangen munter
alle möglichen Tiere umher, die einander auffraßen und starben und den
fruchtbaren Boden düngten.

Das Meer kam und ging wie gewöhnlich.

„Mein liebes Salzkraut!“ rief es.

Doch das Salzkraut erwiderte: „Ich bekomme dich jetzt so wenig zu
sehen. Ich fürchte, es geht zu Ende mit mir.“

„Soll ich eine Sturmflut kommen lassen?“ fragte das Meer.

„Gott bewahre, nein,“ antwortete das Salzkraut erschrocken. „Dann
vernichtest du ja meine ganze Arbeit. Verhalte dich nur vollständig
ruhig, dann helfe ich mir, solange ich kann.“

„Ich mache, was ich will,“ sagte das Meer.

Aber diesmal tat es nichts.

Der Bauer stand da und blickte über das neue Land hin.

„Das sind die Watten,“ sagte er. „Wir werden nichts davon haben. Aber
es kommt einmal, es kommt einmal.“

Eines Morgens stand eine neue Pflanze zwischen den Salzkrautpflanzen.

„Wer bist du, und was willst du?“ fragten die Salzkräuter.

„Ich heiße Strandhafer,“ erwiderte die Pflanze. „Und ich will hier
stehenbleiben. Ich bin übrigens nur ein ganz gewöhnliches Gras.“

[Illustration]

[Illustration: „Aber das Meer wogte und arbeitete, Tag auf Tag, Jahr
auf Jahr, Jahrhundert auf Jahrhundert.“]

„Wie bescheiden du bist!“ riefen die Salzkräuter.

Der Strandhafer trieb ein paar lange Ausläufer, die Wurzel schlugen,
und aus denen neue Gräser aufschossen.

„Wohin willst du nun?“ fragten die Salzkräuter. „Halt ... da kommst du
ja auch von der +andern+ Seite her. Was beabsichtigst du eigentlich?“

„Ach, ich breite mich ein wenig aus,“ antwortete der Strandhafer. „Ich
denke, meine Ausläufer halten die neue Erde zusammen. Sie ist ja so
schrecklich lose.“

„Ich danke dir für deine Hilfe,“ sagte das Salzkraut. „Du bist
willkommen, wenn du für die neue Erde sorgen kannst. Wir haben sie
zusammengebracht, will ich dir sagen. Ich glaube nicht, daß das Meer
gegen deine Anwesenheit etwas einzuwenden hat.“

„Mit dem Meer habe ich nichts zu schaffen,“ entgegnete der Strandhafer.
„Ich halte mich nicht wie du einmal zu dieser und dann zu jener Seite.
Ich gehöre dem Lande und nur dem Lande an.“

„Gut,“ sagten die Salzkräuter. „Du brauchst dich nicht so aufzuregen.
Wenn wir nur hier bleiben dürfen!“

„Jeder sorge für sich selbst, und ein jeder hat seine Zeit,“ sagte der
Strandhafer. „Jetzt ist die meine gekommen.“

Und das Gras wuchs. Ein Hügelchen hier und ein Hügelchen da. Immer
mehr Ausläufer schossen mit fabelhafter Geschwindigkeit auf und faßten
sofort Wurzel. Und bald wuchs das Gras hoch über die Salzkräuter weg
und wuchs mitten zwischen ihnen und ringsum auf allen Seiten.

„Wir ersticken,“ schrien die Salzkrautpflanzen.

„Das ist der Lauf der Welt,“ sagte das Gras. „Wenn man seine Pflicht
getan hat, so ist man eben fertig und muß dem nächsten Platz machen.“

„Meer! Meer! komm und hilf uns!“ riefen die Salzkräuter.

Aber das Meer war weit weg und hörte sie nicht. Nie mehr kam es zur
Flutzeit bis dahin, wo das Gras stand. Es blieb weiter draußen, wo
andere Salzkräuter standen, die Schlick sammelten.

Dann starben die alten Salzkräuter, sie verfaulten und düngten den
Boden, wie der Tang es getan hatte. Und der Strandhafer breitete sich
nach und nach über das ganze Land aus, das sich aus dem Meere erhoben
hatte. Und mitten dazwischen kamen andere Pflanzen hervor.

Da wuchsen Strandnelken und Strandastern mit hohen Stielen und
violetten Blüten; und die Bienen umsummten sie und sogen Honig aus
ihnen. Da wuchs Meermilchkraut und Sandkraut und Meerstrandwegerich und
noch manches andere.

Die Möwen brüteten auf dem Lande und düngten es, so daß es mit jedem
Tage fruchtbarer wurde. Planken kamen herangetrieben und Tang und was
sonst noch im Meere schwamm; und das alles sammelte sich an und machte
das neue Land höher und stärker.

Und so wie der Strandhafer die Salzkräuter erstickt hatte, so kam auch
der Tag, wo der Strandhafer weichen mußte.

Das Harrilgras nahm seinen Platz ein. Und Schwingel und Beifuß.

„Jetzt glaub’ ich beinahe, daß es am besten ist, wenn ich ein wenig
helfe,“ sagte der Bauer. „Hier kann eine schöne Wiese entstehen, wenn
ich Glück habe.“

Aber weit draußen rief das Meer, das an diesem Tage ziemlich unruhig
war:

„Vergiß nie, daß du das neue Land von mir bekommen hast! Wenn jemand
dir erzählen will, daß ich böse sei und nur Unglück anstifte, so zeige
ihm deine neue Wiese und sage ihm, daß das gute Meer sie dir geschenkt
hat!“

„Das werde ich besorgen,“ erwiderte der Bauer; „wenn deine
Großmächtigkeit das nur nicht eines Tages vergißt und mit der einen
Hand nimmt, was sie mit der andern gibt. Ich halte es für das beste,
die Wiese mit einem kleinen Deich einzufriedigen, für den Fall, daß du
dich in einem Augenblick der Erregung vergessen solltest.“

„Darin steckt etwas Richtiges,“ sagte das Meer. „Bau’ du nur einen
Deich, der mich daran erinnern kann, daß es mein Land ist, wenn ich
es vergessen sollte. Du weißt ja wohl: wenn ich ernstlich böse werde,
nützen dir die Narrenpossen nichts.“

„Das weiß ich allerdings,“ sagte der Bauer. „Ich entsinne mich ...“

„Gut,“ sagte das Meer, das nicht gern an seine Ausbrüche erinnert
wurde, besonders wenn es unruhig war.

[Illustration]

Der Bauer baute die Deiche und machte sie so hoch, wie er konnte. Er
grub und dränierte und säte Futtergras. Jahr auf Jahr wurde das Land
fruchtbarer und grüner. Es war bald voll roter Kühe, die bis zum Bauch
im Grase gingen und sich fett fraßen.

Eines Tages, als er grub, stieß sein Spaten auf etwas Hartes. Er nahm
den Gegenstand auf und betrachtete ihn. Es war ein großes, rostiges
Eisen; und er erkannte, daß es einmal eine Wetterfahne gewesen war.

„Gott mag wissen, wo du einmal gesessen und dich gedreht hast,“ sagte
er. „Vergoldet bist du vielleicht auch gewesen. Du hast eine so
vornehme Form.“

Mit diesen Worten warf er das Ding auf den Deich und vergaß es.

       *       *       *       *       *

Jahr auf Jahr verging, und ein Bauerngeschlecht folgte dem andern.

Das neue Land war nicht von dem alten zu unterscheiden. Ruhig und grün
lag es hinter den Deichen, die die Menschen fortwährend stärker machen
lernten, so daß sie dem Meere besser widerstehen konnten, wenn es
herankam; und das tat es ja hin und wieder.

[Illustration]

Ringsum in der +Marsch+ -- so hieß das fruchtbare Land -- lagen reiche
Höfe. Aus weiter Ferne kamen magere Kühe, weideten in dem saftigen
Grase, fraßen sich fett und wurden zum Schlächter gesandt.

Und vor den Deichen lag das Meer und hatte seine Ebbe und Flut und
spülte über Salzkräuter hin, die Schlick sammelten, neues Land bildeten
und von dem Strandhafer erstickt wurden -- genau so wie früher.

[Illustration]

Dann kam ein Tag, wo einmal ein Hänfling in dem Fliederstrauch im
Garten des Bauern saß. Er war auf dem Wege nach Süden, denn es war
Herbst; seine Kinder waren längst flügge, und die Fliegen begannen
spärlicher zu werden.

„Das ist ein schönes Land,“ sagte er und sah über all das Grün hin.
„Wären hier mehr Bäume, so hätte ich Lust, hier zu wohnen, wenn ich im
Frühling zurückkomme.“

„Ich bin das schönste Land der Welt!“ sagte die Marsch. „Aber ich bin
auch auf seltsame Art entstanden. Aus dem Meere bin ich emporgestiegen.
Das Meer hat mich gebildet. Vögel und Fische, Tang und Salzkräuter
und tausend andere Tiere und Pflanzen haben mir jeder sein Scherflein
gegeben. Darum bin ich schöner und merkwürdiger als alle andern Teile
der Erde.“

„Hat das Meer dich gebildet?“ fragte der Hänfling. „Wie merkwürdig!
Ich habe immer gedacht, das Meer tut nur Böses. Darüber muß ich etwas
Näheres hören. Erzähle! Ich habe Zeit. Die Sonne scheint heute so warm,
und ich habe hier im Garten siebzehn Fliegen gefunden. Erst heute nacht
reise ich weiter.“

Und die Marsch erzählte, wie alles zugegangen war.

„Hörst du das Meer draußen hinter den Deichen?“ fragte sie zuletzt.
„Es ist meine Mutter. Ihr verdanke ich das Leben. Geduldig hat sie
Millionen kleiner Stücke Lehm und Sand und Kreide zusammengetragen, um
mich daraus zu bauen. Sie hat mich mit ihren eigenen Pflanzen gedüngt.
Sie blieb stillstehen, damit das alles Zeit fände, zu sinken, und damit
ich fest und gut würde.“

„Ja,“ sagte der Hänfling. „Ich kenne auch eine Geschichte vom Meere.
Die sollst du jetzt hören. Sie spielt viele, viele Meilen weit von
hier; und es ist viele, viele Jahre her. Dort lag ein Land, so schön
wie du, aber ganz anders. Das ragte mit weißen Felsufern zum Himmel auf
und trug grüne Wälder, wogendes Getreide und üppiges Gras. Im Walde
sangen die Vögel, und die Hirsche sprangen. Die Bauern pflügten ihren
Boden, und überall dufteten die Blumen. Ganz zu äußerst am Felsufer
hatte der Gutsherr sein Schloß erbaut. Mit Türmen und Zinnen und
goldenen Wetterfahnen ragte es in die Lüfte.“

„Das Land möchte ich sehen,“ sagte die Marsch.

„Du kannst nicht hinkommen,“ fuhr der Hänfling fort. „Denn jenes Land
existiert nicht mehr. Es ist eines Tages zusammengestürzt, und das Meer
ist schuld daran.“

„Du lügst,“ sagte die Marsch. „So etwas könnte das Meer niemals tun.
Es kann wohl hier und da einmal böse werden und bis über die Deiche
hinaufspritzen. Ich habe auch den Bauern erzählen hören, daß es eines
Nachts zur Zeit seines Urgroßvaters ganz über mich hereingebrochen ist.
Doch am nächsten Tage lief es wieder durch die Schleusen hinaus und lag
hübsch da und baute Land wie früher.“

„Ich lüge nicht,“ sagte der Hänfling. „Höre weiter! Jeden Tag nahm das
Meer ein Stück Kreide von dem Felsen fort und höhlte ihn so völlig
aus. Dann schüttelte sich das Meer mit aller Gewalt und nahm einen
Anlauf, und da stürzte das Felsufer ein. Menschen und Tiere und Bäume
und Blumen stürzten nieder und wurden zerschmettert. Die Burg fiel ein
mit ihren Türmen und Zinnen und goldenen Wetterfahnen. Am nächsten Tage
überspülte das Meer das Ganze in aller Ruhe, als ob nichts geschehen
wäre.“

„Ich glaube dir trotzdem nicht,“ sagte die Marsch. „Woher weißt du das?“

„Ich habe es von meiner Urururururgroßmutter,“ erzählte der Hänfling.
„Die hatte ihr Nest in einer wunderschönen Buche. Fünf Junge hatte sie
und dann natürlich einen Mann. Die stürzten alle nieder und kamen in
den Wellen um. Sie selbst wurde durch ein reines Wunder gerettet. Aber
die Katastrophe hatte sie so erschüttert, daß sie sie nie vergaß. Als
sie im nächsten Jahr aus Italien zurückkehrte und einen neuen Mann nahm
und sechs neue Kinder bekam, da erzählte sie es ihnen. Und die haben
es ihren Kindern erzählt. Und so ist es bis zu mir gelangt. Und du
kannst überzeugt sein, daß die Geschichte von dem bösen Meer sich von
Generation zu Generation forterben wird.“

„Ich kann es nicht glauben,“ rief die Marsch.

„Warte ein wenig,“ sagte der Hänfling. „Was ist denn das da?“ Er flog
auf den Deich, wohin der Bauer die alte, rostige Wetterfahne geworfen
hatte, betrachtete sie und hackte mit dem Schnabel darauf.

[Illustration]

„Das ist eine Wetterfahne!“ sagte er. „Und zwar eine feine Wetterfahne
ist es gewesen. Vielleicht war sie auf dem Schloß am Felsufer
angebracht. Du solltest das Meer einmal fragen.“

Die Marsch lag ein Weilchen da und dachte nach. Das Meer war unruhiger
als gewöhnlich. Ab und zu spritzte Schaum über den Deich auf.

„Hör’ einmal dein sanftes Meer,“ sagte der Hänfling höhnisch.

„Meer!“ rief die Marsch.

„Laß mich!“ rief das Meer zurück. „Ich bin heute wütend und weiß nicht,
was ich tue.“

Da rief die Marsch: „Stets habe ich dich als meine milde Mutter verehrt
und dir gedankt, daß du mir das Leben gegeben hast. Nun sitzt hier
ein Hänfling, der erzählt, du seiest böse und wild und habest ein
entsetzliches Unglück angerichtet.“

„Ich mache, was ich will,“ erwiderte das Meer. „Sende den Hänfling zu
mir heraus, so werde ich ihn ertränken!“

„Hör’ mal an!“ rief der Hänfling.

Und die Marsch fragte: „Ist das wahr, daß du vor vielen Jahren ein
prachtvolles Felsufer mit der Schloßherrschaft, mit Bauern, Hirschen
und Wäldern und einer ganzen Hänflingfamilie vernichtet hast?“

„Das wird wohl stimmen,“ antwortete das Meer. „Was weiß ich noch von
den alten Geschichten! Ich mache, was ich will.“

„Ist das die Windfahne des Schlosses, die da auf dem Deich liegt?“ rief
die Marsch.

„Wenn da eine Windfahne liegt, so hat sie auch wohl mal irgendwo
gesessen,“ sagte das Meer. „Was soll all das Gerede? Du bist mein Land.
Ich habe dich gebaut; und was in dir ist, hast du von mir erhalten. Laß
mich zufrieden! Und hüte dich!“

„Hörst du es?“ rief der Hänfling.

Die Marsch dachte nach. Die Dämmerung brach herein. Die Kühe lagerten
sich im hohen Grase nieder, um wiederzukäuen. Der Bauer stand in seiner
Tür und sah nach Westen.

„Der Himmel sieht schlimm aus,“ sagte er. „Und das Meer ist heute abend
sehr unruhig. Wenn wir zur Nacht nur kein Gewitter bekommen!“

„Ich bleibe bis morgen hier,“ zwitscherte der Hänfling. „Laß uns noch
ein bißchen zusammen plaudern, Marsch! Ich verstehe recht gut, daß du
es satt hast. Es ist niemals angenehm, über seinen Nächsten so etwas
zu erfahren. Aber die Wahrheit ist die Hauptsache.“

Die Marsch lag schweigend da und dachte nach. Der Abend rückte vor.
Der Bauer schlief mit den Seinen. Im Busch schlief auch der Hänfling.
Das Meer aber brüllte lauter und lauter. Wilde Wolken jagten am Himmel
dahin.

Da plötzlich erwachte die Marsch aus ihren Gedanken.

„Du böses Meer!“ rief sie.

„Was sagst du?“ brüllte das Meer. „Bist du von Sinnen? Schiltst du mich
aus, obwohl ich dir das Leben gegeben habe?“

„Du böses Meer!“ rief die Marsch wieder. „Dieb! Lügner! Heuchler!
Kein Körnchen von dem, was du mir gabst, ist dein Eigentum. Du hast
jeden Fetzen von +mir+ geraubt. Dieb! Lügner! Heuchler! Den Fels
zertrümmertest du und trugst ihn herüber und spieltest den Wohltäter
mit deiner Diebesbeute! Jetzt kenne ich dich, und ich verachte dich.“

„Rasest du?“ brüllte das Meer, und alle die weißen Wogenkämme sprangen
auf den Deichrand. „Das Felsufer habe ich erbaut, und dich habe ich
erbaut. Das Felsufer habe ich niedergerissen, und ich reiße dich
nieder, sobald es mir Spaß macht. Ich mache, was ich will.“

„Dieb! Lügner! Heuchler!“ schrie die Marsch.

Es war, als ob das Meer vor Wut einen Augenblick still würde. Aber dann
erhob es sich mit all seiner Macht.

„Nieder mit dir, du undankbares Kind!“ schrie es.

Es durchdrang die Deiche und stürmte auf die Marsch los. Es zerbrach
die Schleusenpfähle, die Bäume und alles, was ihm im Wege stand. Es
überschwemmte das Gehöft des Bauern, so daß er und die Seinen in ihren
Betten ertranken, wie die Kühe auf der Wiese ertrunken waren.

Das Ganze spielte sich in kürzester Zeit ab. Eine Stunde, nachdem
es begonnen hatte, standen die Marsch und noch viel mehr Land unter
Wasser. Nur die höchsten Kirchtürme ragten noch auf. Kein lebendes
Wesen war übriggeblieben.

Auf der Flaggenstange im Garten des Bauern saß der Hänfling.

[Illustration]

Nur so entging er dem Wasser. Er schlug mit den Flügeln, war ganz
verwirrt vor Schrecken und konnte nicht fliegen.

„Du böses Meer!“ schrie er.

„Ich mache, was ich will,“ sagte das Meer.

Dann schlug es auch über dem Hänfling zusammen, und nun war alles
begraben.




Die Erde und der Komet.


Die Geschichte, die ich nun erzählen will, ist höchst seltsam. Sie
dauert ein paar hundert Jahre, so daß derjenige von uns, der mit
darin vorkäme, lange vor ihrem Ausgang, ja bevor sie so recht in Gang
gekommen wäre, tot und begraben sein würde.

Sie spielt draußen im Weltraume, wo die Sterne schwimmen, und wo es so
kalt ist, daß der dickste Winterüberzieher nicht mehr Schutz bietet als
ein kurzes Hemd. Und der Weltraum ist so groß, daß niemand es in Worten
ausdrücken kann. Aber das macht nichts. Denn wenn einer es könnte, so
würden ihn die andern doch nicht verstehen.

       *       *       *       *       *

Draußen im Weltraum drehte sich die Erde um die Sonne, wie sie es seit
vielen Jahrtausenden bis auf den heutigen Tag getan hat. Sie drehte
sich in einem fort; einem andern wäre längst schwindlig davon geworden.

Aber die Erde war an diese Drehung gewöhnt, die ein ganzes Jahr
dauerte; und sobald sie die eine Umdrehung beendet hatte, begann sie
die nächste.

Während der ganzen Zeit drehte sie sich außerdem noch um sich selbst,
wie ein junger Hund, der hinter seinem Schwanz herläuft. Doch dazu
brauchte sie nicht mehr als vierundzwanzig Stunden; und das tat sie
auch nur, damit die Sonne alle ihre Seiten gleichmäßig beschiene. Denn
auf der Seite, die der Sonne abgewandt war, herrschte stets finstere
Nacht. Und wenn die Erde Europa, Asien und Afrika ununterbrochen der
Sonne zukehren würde, so kämen die Leute in Amerika ja überhaupt nicht
aus dem Bett heraus.

Die Erde hatte also gar nicht so wenig zu tun; und außerdem hatte sie
auch noch auf den Mond achtzugeben.

Der Mond konnte ja freilich, wenn es darauf ankam, für sich selber
sorgen. Denn er hatte nichts andres zu tun, als sich, ganz wie die
Erde, um sich selbst zu drehen und außerdem um die Erde, so wie die
Erde sich um die Sonne bewegte. Er war viel kleiner als die Erde und
hatte in Wirklichkeit nichts zu sagen. Darum redete die Erde immer in
befehlendem Tone mit ihm, und dafür neckte der Mond sie unaufhörlich.

Ein wenig kam das ja auch daher, daß die beiden einander so nahe waren,
und daß alle die andern Sterne zu weit entfernt waren, so daß man nicht
mit ihnen sprechen konnte. Und wenn man immer und ewig zusammen sein
muß, wird man leicht ärgerlich aufeinander.

Regelmäßig einmal in jedem Monat war der Mond voll. Dann grinste sein
rundes Gesicht so recht von Herzen, so daß die Erde stets ganz wütend
wurde.

„Seht, wie er leuchtet, der jämmerliche Trabant!“ sagte die Erde. „Er
bildet sich ein, er wäre ein Fixstern.“

Der Mond grinste, solange es dauerte. Aber es dauerte nie lange. Mit
jeder Nacht bekam er ein immer längeres Gesicht; und es sah aus, als
hätte er Katzenjammer. Schließlich verschwand er ganz, kam aber sofort
wieder hervor und wurde größer und größer, bis er dann wieder voll war.

„Kannst du mir folgen?“ fragte die Erde.

„Natürlich,“ erwiderte der Mond.

„Hoffentlich nimmst du die Zeit richtig wahr,“ fuhr die Erde fort.
„Vergiß es nur nicht: wenn ich einmal um die Sonne laufe, läufst du
dreizehnmal um mich. Sonst kommt der Kalender in Unordnung.“

„Ich bin schon lange genug umhergerennt, um zu wissen, was ich zu tun
habe, du böser, alter Planet!“ sagte der Mond; denn er war an diesem
Tage gerade voll, und dann pflegte er kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Aber er neckte die Erde auch noch auf andere Art. Manchmal zog er
von dem Wasser auf der Erde so viel, wie er konnte, auf die eine
Seite hinüber, so daß dort Hochwasser war, während auf der andern
das Wasser niedrig stand. Dann geschah es, daß an der einen Stelle
Überschwemmungen und Unglücksfälle eintraten, und daß an der andern
die Schiffe strandeten. Und die Leute, die darunter zu leiden hatten,
riefen, auf dieser verfluchten Erde sei das Leben nicht auszuhalten.
Aber das kränkte die Erde natürlich, da sie unschuldig war, und darum
wurde sie doppelt böse auf den Mond.

„Nun ist der Bursche schon wieder voll,“ schalt sie. „Ich möchte
eigentlich wissen, was für einen Zweck es hat, daß er in einem fort
herumrennt.“

So zankten sie sich, während ein Jahr nach dem andern verstrich und
sie ihre bestimmten Bahnen zurücklegten. Ringsum wanderten die andern
Sterne mit ihren Sorgen und Kümmernissen dahin. Und in der Mitte des
Ganzen leuchtete über ihnen allen die Sonne.

       *       *       *       *       *

Eines Tages im März kam ein fremder Stern durch den Weltraum
angeschwommen.

Weder die Erde noch der Mond hatten ihn jemals gesehen; und darum
machten sie große Augen, als sie ihn erblickten. Er glich auch den
andern Sternen durchaus nicht; denn er hatte einen langen, leuchtenden
Schweif.

„Was in aller Welt ist das für ein Bursche?“ fragte die Erde.

„Ich habe noch nie so etwas gesehen!“ sagte der Mond.

Sie waren beide so überrascht, daß sie nahe daran waren, stillzustehen.
Der fremde Stern kam immer näher; und die Erde bekam Angst, daß er
gegen sie anrennen werde. Als er nahe genug war, so daß man ihn anrufen
konnte, schrie die Erde:

[Illustration]

„Hallo! Was willst du hier auf meinem Weg? Wer bist du? Woher kommst
du? Wohin gehst du?“

„Du fragst viel auf einmal,“ sagte der fremde Stern.

„Wer bist du?“ fragte die Erde wieder.

„Ich bin bloß ein kleiner Komet,“ erwiderte der Stern. „Aber wer bist
du denn?“

[Illustration]

„Ich bin ja die Erde. -- Nun weißt du wohl Bescheid?“

„Bescheid weiß ich wahrhaftig noch nicht,“ antwortete der Komet. „Diese
Himmelsgegend ist mir nämlich ganz fremd; ich bin noch nie hier gewesen
und noch keinem einzigen von den Sternen vorgestellt worden.“

„Da bist du an die richtige Quelle gekommen,“ erklärte die Erde
wichtig. „Es ist nicht meine Gewohnheit zu prahlen; aber ich darf wohl
sagen, daß ich der Begabteste von uns allen bin.“

„Da habe ich ja Glück gehabt,“ sagte der Komet. „Aber spute dich ein
bißchen mit deiner Erzählung. Ich habe keine Zeit, müßig zu sein.“

[Illustration]

„Wir bewegen uns sehr schön schnell dahin,“ versetzte die Erde in
freundlichem Ton. „Komm mit und begleite mich einmal um die Sonne
herum! ... Wie? Es dauert bloß ein Jahr. Währenddessen können wir uns
hübsch unterhalten.“

„Püh!“ erwiderte der Komet höhnisch. „Das nennst du schön schnell? Ich
pflege ganz anders dahinzusausen. Spute dich und laß hören, was für
Leute ihr hierzulande seid!“

„Versprich mir zuerst, daß du dich in acht nehmen willst, nicht gegen
mich anzurennen,“ sagte die Erde.

Da lachte der fremde Stern so sehr, daß sein Schweif sich in drei Teile
spaltete.

„Hab’ keine Angst,“ erwiderte er. „Ich bin ein lockerer, loser Geselle;
und wenn ich mit einem Klotz wie du zusammenstieße, würde ich in
tausend Stücke gehen.“

„Aha,“ meinte die Erde voll Eifer. „Du bestehst aus nichts als Feuer?
In dem Zustand bin ich auch einmal gewesen.“

„Das ist wohl schon ziemlich lange her?“ fragte der Komet mißtrauisch.
„Mich dünkt, du hast eine große Eiskapuze auf deinem Pol.“

„Allerdings,“ antwortete die Erde. „Sogar eine auf +jedem+ Pol. Aber
ich glaube, es schadet nichts, wenn man einen kalten Kopf und kalte
Füße hat, sobald man nur den Leib ordentlich warm hält.“

„Nun ... und das Feuer?“ fragte der Komet.

„Das hab’ ich in mir,“ erwiderte die Erde. „Du kannst es auch zu sehen
kriegen, wenn du Lust hast.“

Und ohne zu zögern, ließ sie ein paar ihrer größten Vulkane lustig
Feuer speien.

„Sieh, sieh!“ rief der Komet. „Etwas ist also wirklich vorhanden.“

„Etwas?“ fiel die Erde gekränkt ein. „Ich habe den ganzen Leib voll,
wenn du’s wissen willst. Gerade das macht mich so außerordentlich
interessant. Siehst du ... früher bin ich einmal ein ebenso
loser, lustiger Gesell gewesen wie du. Aber dann hab’ ich mich
zusammengenommen und habe mich verdichtet. Schließlich hat sich rings
um mich eine dicke Kruste gebildet; und jetzt kann ich nur noch
Kaminfeuer in meinen Vulkanen brennen lassen. Aber Feuer hab’ ich in
mir!“

„Mit der Kruste, das muß eine lästige Sache sein,“ sagte der Komet.

„Nun ja,“ sagte die Erde. „Man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Und
jetzt leben Menschen darauf.“

„Menschen?“ wiederholte der Komet. „Was ist denn das?“

Die Erde juckte sich nachdenklich am Nordpol und stieß dabei an die
Eiskapuze, so daß sich ein paar gewaltige Blöcke loslösten, die als
Eisberge ins Meer hinaustrieben.

[Illustration]

„Tja,“ sagte sie dann. „Eigentlich ist es wohl so eine Art Ungeziefer.“

„Pfui!“ warf der Komet ein.

Die Erde schwieg ein Weilchen, wie wenn sie nachdächte. Dann fuhr sie
fort:

„Wenigstens kribbeln und krabbeln sie herum, daß man manchmal rein
verrückt dabei werden möchte. Und je mehr hinzukommen, desto ärger wird
es. Sie durchwühlen mich in Kreuz und Quere, um Kohlen und Metall zu
finden und was sie sonst noch brauchen können. Sie legen Schienen und
fahren mit Dampf rings um mich herum, sprengen Löcher in meine größten
Berge und schlagen Brücken über meine Gewässer. Und dann sagen sie, sie
seien meine Herren.“

„Ich finde es nicht sehr rühmlich für einen Stern, sich von solchem
Gewürm Vorschriften machen zu lassen,“ sagte der Komet. „Kannst du
diese Wesen denn nicht von dir abschütteln?“

„+Versucht+ hab’ ich es,“ entgegnete ihm die Erde. „Und zwar mehr
als einmal und auf verschiedene Weise. Ich habe eine Menge Feuer und
glühende Steine durch meine Vulkane ausgeworfen und ganze Städte der
Menschen darunter begraben. Oft habe ich auch Sturmfluten kommen
lassen, so daß sie zu Tausenden ertranken. Und wenn ich finde, daß
sie gar zu zudringlich werden, dann schüttle ich mich und erzeuge ein
+Erdbeben+.“

„Na,“ warf der Komet ein, „und hilft das denn gar nicht?“

„Ein bißchen nützt das ja allerdings,“ erwiderte die Erde. „Auf die
Dauer aber doch nicht. Es sind zu viele geworden, glaube ich. Ich hätte
früher daran denken sollen, als es noch weniger waren, und als sie noch
nicht so klug waren. Wenn ich ein paar tausend von ihnen ertränkt oder
begraben habe und hoffe, daß die Familien dieser Menschen vor Hunger
und Kummer umkommen, dann sammeln die andern für sie und trösten sie
und helfen ihnen; und nach ein paar Jahren bin ich wieder genau so
überfüllt wie vorher.“

„Ich habe noch nie so etwas gehört,“ sagte der Komet, „und begreife
nicht, daß du das duldest.“

„Ja ... was soll ich machen?“ entgegnete die Erde. „Ich kann nicht
mehr fertig mit ihnen werden. Sie haben mich von Pol zu Pol untersucht,
so daß ich bald keinen Fleck mehr für mich habe. Sie haben Berechnungen
mit mir angestellt und Messungen an mir vorgenommen und haben mich von
allen Ecken und Kanten beschrieben ... Manche von ihnen setzen auf
ihren Tisch eine Kugel, die mich vorstellen soll, und auf der sie mich
aufs genaueste untersuchen können. Sie berechnen im voraus, wann Sturm
und Gewitter eintritt und Erdbeben und dergleichen ... An ihren Wänden
hängen Apparate, die es ihnen erzählen. Was soll ich nun mit ihnen
anfangen?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte der Komet. „Aber das weiß ich: +ich+ würde
so etwas nicht dulden.“

Da lachte die Erde höhnisch und sagte:

„Pah! Bilde dir nur nichts ein! In diesem Augenblick, während wir beide
hier zusammen plaudern, haben meine Menschen dich bereits entdeckt.
Durch ihre Fernrohre starren sie dich an, und sie berechnen deine
Bahn, geben dir einen Namen und schreiben ganze Bücher über dich. Das
heißt, das tun die Klügsten von ihnen. Die Idioten aber haben Angst vor
dir und glauben, daß du gekommen seist, um den Untergang der Welt zu
verkünden.“

„Wer sind die Idioten?“ fragte der Komet.

Da gab die Erde ihrer Eiskapuze einen Stoß, so daß das halbe
Atlantische Meer sich mit Eisbergen füllte und die Bäume zu Pfingsten
noch immer kahl waren.

„Ich wünschte, du hättest mich nicht danach gefragt,“ sagte sie
verlegen.

„Verzeihung,“ fiel der Komet ein. „Vielleicht ist es ein
Familiengeheimnis.“

„Nein,“ entgegnete die Erde. „Durchaus nicht. Aber es ist mir bis auf
den heutigen Tag unmöglich gewesen herauszufinden, +wer+ eigentlich die
Idioten sind. Vorhanden sind sie -- +das+ weiß ich. Sogar in großer
Zahl. Aber sie sind nicht ohne weiteres zu erkennen. Danach, was die
Menschen selbst sagen, kann man sich ganz und gar nicht richten. Denn
jeder einzelne von ihnen hält sich selbst für klug und alle andern für
Idioten.“

„Dann sind sie wohl alle Idioten,“ meinte der Komet.

Doch da fühlte sich die Erde im Namen ihrer Menschen gekränkt. Es kam
ihr der Gedanke, daß sie doch wohl zu offenherzig gegen solch einen
fremden Stern gewesen sei, von dem sie ja im Grunde nicht das geringste
wußte, und der sich obendrein selber als lose, unsolide Person
vorgestellt hatte. Darum schlug sie einen sehr würdigen Ton an, als sie
erwiderte:

„Durchaus nicht, mein lieber Komet. Durchaus nicht. Aber es hat ja
keinen Zweck, weiter über diese Dinge zu reden, von denen du doch
nichts verstehst. Ich pflege sonst nicht zu prahlen, aber ich möchte
dich doch bitten zu beachten, daß ich von allen Sternen bei weitem
der interessanteste bin. Sieh dich im ganzen Weltraum um, soweit du
willst: meinesgleichen wirst du nicht finden. Schau’ auf die Venus,
die da drüben leuchtet, schau’ auf den Jupiter und Mars, und wie sie
alle heißen, die gleich mir die Sonne umkreisen. Und dann sieh +mich+
richtig an! Und übersieh nicht meine tiefen, frischen Meere, meine
Buchenwälder und Palmenhaine ...“

„Offen gestanden, ich kann nichts von alledem entdecken,“ erwiderte der
Komet. „Aber darum kann es ja doch wahr sein. Übrigens kommt es mir so
vor, als hättest du einen regelrechten Nebel um dich herum.“

„Ach so,“ sagte die Erde, ein wenig peinlich berührt. „Den hab’ ich
ganz vergessen gehabt. Das ist meine +Atmosphäre+.“

„Es ist ja beängstigend, wie du geplagt bist ... mit deiner Kruste,
deinen Menschen und deiner Atmosphäre.“

„Komet!“ sagte die Erde ernst. „Allerdings renne ich um die Sonne wie
die andern Sterne, die ich vorhin erwähnte; allerdings bin ich einer
der allerkleinsten darunter. Und doch bin ich überzeugt, daß ich im
Grunde den Mittelpunkt der Welt bilde.“

„Du kommst außer Atem,“ antwortete der Komet. „Du pflegst ja nicht zu
prahlen, wie du sagst ... Setz’ dich ein bißchen und prahle weiter!“

„Mich setzen?“ wiederholte die Erde in beleidigtem Ton. „Ja, wenn ich
das täte, wäre es bald aus mit mir. Das Ganze beruht ja gerade darauf,
daß ich meine Drehung um die Sonne genau ausführe. Und ich kann dir
sagen: ich prahle +nicht+. Ich bin wirklich der wunderbarste aller
Sterne ... allein meiner Menschen wegen. Ihresgleichen hat kein andrer
Stern ... He, hallo! Was fehlt dir? Du rennst mir wohl gar davon?“

„Das tu’ ich allerdings,“ versetzte der Komet.

„Herrgott,“ sagte die Erde betrübt. „Kannst du denn nicht noch ein paar
Jahre hier bleiben? Ich finde unser Beisammensein so gemütlich. Und
das kannst du mir glauben: besonders amüsant ist es nicht, immer den
gleichen Weg zurücklegen zu müssen und sich mit niemand als dem dummen
Mond unterhalten zu können.“

„Wer ist das ... der Mond?“ fragte der Komet.

„Das ist der kleine Bursche, den du drüben siehst,“ antwortete die
Erde, „und der mich die ganze Zeit umkreist. Es ist ein elender,
pensionierter Stern, den ich zu mir genommen habe, als er sich
verwahrlost im Weltraum umhertrieb. Jetzt ist er völlig erloschen --
ein dummes, unglückliches Geschöpf, das man ebensogut ins Armenhaus
bringen könnte. Aber hierzulande pflegt man einen Mond um sich zu
haben. Der Jupiter hat sogar +acht+. Aber ich finde, das ist blöde
Großtuerei.“

„Adieu!“ sagte der Komet.

„Bleib noch ein Weilchen!“ bat die Erde.

„Ich kann nicht,“ erwiderte der Komet. „Ich habe meine bestimmte Bahn
zurückzulegen und muß mich jetzt schneller vorwärtsbewegen. Außerdem
hab’ ich deine Prahlereien satt.“

„Wann kommst du wieder?“ fragte die Erde.

Der Komet sauste mit seinem dreiteiligen Schweif dahin.

„In dreihundert Jahren!“ rief er zurück.

Dann wurde er kleiner und kleiner, und schließlich verschwand er ganz.

[Illustration]

„Ein fixer Bursche!“ sagte der Mond. „Wie der dahinschießt, und was
für einen Schweif er hat! Das muß ein andres Leben sein als das eines
armseligen Planeten.“

„O gewiß,“ spottete die Erde. „Fast so schön wie das eines Mondes.“

Aber der Mond war voll und grinste bloß darüber.

       *       *       *       *       *

Dreihundert Jahre später kam der Komet wieder.

Die Erde hatte ihn längst mit Sehnsucht erwartet und getreulich
ihre Umdrehungen um die Sonne gezählt. Sie hatte sich mit Veilchen
geschmückt und mit den Blumen, mit denen sie im März sonst noch
aufwarten konnte.

Und auf der Erde standen die Menschen mit ihren Fernrohren und hielten
Ausschau nach dem Kometen, dessen Bahn sie sorgfältig berechnet hatten.
Die Klugen freuten sich darauf, etwas Hübsches und Merkwürdiges zu
sehen, und die Idioten lagen in ihren Betten und weinten vor Angst oder
liefen in ihrer Furcht umher und berauschten sich und trieben allerhand
Possen.

„Da ist der Komet!“ sagte derjenige der klugen Menschen, der auf
dem höchsten Turme stand, das beste Fernrohr besaß und am meisten
Verständnis für Kometenangelegenheiten hatte.

„Da ist der Komet!“ schrie der Mond. „Hurra! Nun wird es lustig!“

[Illustration]

„Da ist der Komet!“ rief auch die Erde vergnügt.

Und als dann der Komet heransegelte, groß und leuchtend, mit seinem
langen, dreiteiligen Schweif, da lüftete die Erde ihre Eiskapuze, so
daß in den Meeren die Eisberge umherschwammen und es so grimmig kalt
wurde, daß die Idioten vom Untergang der Welt felsenfest überzeugt
waren und selbst die klugen Leute Bedenken äußerten.

„Guten Tag, guten Tag, Komet!“ rief die Erde. „Willkommen! Es freut
mich, dich gesund und munter wiederzusehen.“

Doch der Komet blieb stumm. Die Erde bot ihm nochmals einen guten Tag,
bekam aber wiederum keine Antwort. Da rief sie erstaunt: „Was zum
Kuckuck fällt denn dem Kometen ein! Ist er so hochnäsig geworden, daß
er noch nicht einmal einen alten Bekannten begrüßen will?“

„Er wird Sie wohl nicht bemerkt haben,“ sagte der boshafte Mond.
„Bedenken Sie, wie klein Sie sind!“

„Halt’s Maul und tu, was deines Amtes ist!“ rief ihm die Erde erbost zu.

Und dann schrie sie wieder:

„Komet! Komet! Komet!“

[Illustration]

Aber der Komet segelte ruhig dahin und sagte kein Sterbenswörtchen.
Da bekam die Erde Angst, er möchte vorbeifliegen, ohne ein kleines
Plauderstündchen mit ihr abzuhalten; und sie hätte beinahe angefangen
zu weinen. Ist es doch auch kein Kinderspiel, wenn man sich dreihundert
Jahre hindurch darauf gefreut hat, mit einem Menschen zu reden, und
wenn dieser Mensch einem dann noch nicht einmal guten Tag sagt!

„Hallo, Komet!“ rief sie in wehleidigem Ton. „Du willst doch wohl nicht
an meiner Türe vorüberrennen, ohne mich zu begrüßen? Ich bin ja dein
alter Freund, die Erde! Entsinnst du dich meiner denn gar nicht mehr?
Nun bist du viele Millionen Meilen weit gereist -- -- Ist es nicht so
gekommen, wie ich dir prophezeit habe: du hast nirgendwo meinesgleichen
gefunden?“

„Pah!“ sagte der Komet.

[Illustration]

„Ach, laß hören,“ fuhr die Erde fort. „Vorläufig freue ich mich,
daß du die Sprache nicht verloren hast. Erzähle! Willst du mir etwa
weismachen, daß du irgendwo im Weltenraume so tiefe, herrliche Meere
angetroffen hast, so schöne Wälder und so prächtige Palmenhaine?“

„Ha! ha! ha!“ lachte der Komet.

„Oder +Menschen+ -- was?“ frage die Erde wieder.

„Ha! ha! ha! -- ha! ha! ha!“

Der Komet lachte, daß sein Kopf und Schweif wackelten; und die Erde
begann sich ernstlich gekränkt zu fühlen. Sie dachte nach, ob sie nicht
etwas fände, womit sie dem Kometen so recht imponieren könnte. Darum
fragte sie höhnisch:

[Illustration]

„Hast du etwa auch anderswo +Idioten+ angetroffen? -- Wie?“

„Ha! ha! ha! -- ha! ha! ha!“

Da lachte der Komet so sehr, daß er einen Schweif verlor. Die Erde
bekam einen Schreck, und die Menschen auf der Erde, die es durch ihre
Fernrohre mitansahen, waren aufs höchste erstaunt; denn so etwas hatten
sie noch nie gesehen. Der Komet aber lachte und lachte in einem fort.
Jetzt verlor er den zweiten Schweif ... und jetzt den dritten ... und
jetzt platzte er kreuz und quer. Den ganzen Raum füllten Funken, die
nach rechts und links flogen; ein paar fielen als große Steine auf die
Erde -- und einer von ihnen traf einen klugen Mann an den Kopf und
schlug ihn mitsamt seinem Fernrohr nieder.

Als das gewaltige Feuerwerk vorbei war, da war von dem Kometen nichts
mehr zu entdecken.

„Er ist vor Hochnäsigkeit geplatzt,“ sagte die Erde. „Das Ärgerliche
ist nur, daß er starb, bevor er mir erzählen konnte, was er auf seiner
Reise gesehen hat.“

„Ja -- -- da hätten Sie beinahe etwas zu wissen gekriegt!“ sagte der
Mond und grinste lustig; denn er war wieder voll.

Doch die Erde rief grimmig: „Marsch! Halt dein Maul und tu, was deines
Amtes ist! Dreizehnmal hast du dich um mich zu drehen, während ich
einmal die Sonne umkreise. Sonst kommt der Kalender in Unordnung.“

[Illustration]




Die Spinne.


Die Hecke war ganz voller Bäume und Sträucher gewesen, aber sie waren
weggehauen worden; und nun schossen kahle, lange dünne Zweige aus den
Stümpfen empor.

Zwischen den Baumstümpfen wuchsen Geißfuß und wilde Petersilie und
anderes mehr dieser Art, davon das eine dem andern so ähnlich sieht,
und das die, die es nicht besser verstehen, Schierling nennen.

Ihre Zweige waren fast ebenso lang wie die der Sträucher. Und sie
spielten sich so auf, als ob sie wirkliche Sträucher wären und nicht
im Herbste verwelken und wieder von vorn anfangen müßten mit einem
kleinen Samen, genau so wie eine einfache, elende Hundskamille oder ein
Stiefmütterchen. Sie strotzten vor Stolz und spreizten sich, ließen
sich vom Winde zausen, knickten um, verloren Blätter und bekamen neue,
als ob sie noch lange Zeit zu leben hätten. Fragte einer, welche
Bewandtnis es denn eigentlich mit ihnen habe, so taten sie, als hörten
sie es nicht, oder schlugen es in den Wind oder leugneten, etwas von
ihrer Zukunft zu wissen.

Und dann trugen sie schöne, weiße Blüten, die sie hoch emporhoben wie
Sonnenschirme, während aus den richtigen Zweigen, die auf den Stümpfen
wuchsen, nie etwas andres wurde als aufgeschossene Sprößlinge, die
weder Blüte noch Frucht treiben konnten.

[Illustration]

„Hier ist ja ein ganzer Wald,“ sagte die Maus eines Abends, als sie im
Grünen saß und mit ihren klaren Augen aufschaute.

„Wir sind der Wald,“ sagte der Geißfuß.

„Sieh dich, bitte, um,“ sagte die Petersilie. „Gefallen wir dir, so
bau’ dein Nest in uns! Was wir dir bieten können, steht zu Diensten.“

Doch die richtigen Sträucher warnten die Maus.

„Glaub’ ihnen nicht! Sie prahlen nur, solange es Sommer ist. Im Herbste
sind sie weg, und nicht eine Spur von ihnen ist übrig.“

„Ich weiß nichts vom Herbste,“ sagte die Petersilie.

„Ich glaube nicht an den Herbst,“ fiel der Geißfuß ein. „Es ist ein
Märchen, das man den Strauchkindern aufgebunden hat.“

„Mit dem Herbste hat es seine Richtigkeit,“ sagte die Maus. „Und danach
kommt der Winter. Dann gilt’s, die Vorratskammer in Ordnung zu halten.
Es war gut, daß ihr mich daran erinnert habt. Ich glaube, ich grabe mir
ein kleines Loch zwischen die Steine hinein und fange an zu sammeln.“

„Mag in die Erde gehen, wer da will,“ sagte die Petersilie.

„Wir streben höher hinauf,“ sagte der Geißfuß.

Dann standen sie ein Weilchen und sagten nichts, bis die Petersilie
seufzte und das sagte, woran sie beide dachten:

[Illustration]

„Wenn doch nur ein Vogel kommen wollte, um in uns sein Nest zu bauen!“

„Wir wollen ihn beschatten und ihn schaukeln, und er soll sich so wohl
fühlen, daß die richtigen Sträucher vor Neid vergehen,“ sagte der
Geißfuß.

„Wollt ihr mich nicht haben?“ fragte eine Stimme.

Und ein komisches graues Wesen kam auf der Hecke heranspaziert.

„Wer bist du?“ fragte die Petersilie.

„Ich bin die Spinne,“ erwiderte das Wesen.

„Kannst du fliegen?“ fragte der Geißfuß.

„Ich kann von allem etwas, wenn es notwendig ist.“

„Ißt du Mücken?“ fragte die Petersilie.

„Den ganzen Tag lang.“

„Legst du Eier?“ fragte der Geißfuß. „Denn du bist doch wohl ein
Frauenzimmer?“

„Ja, Gott sei Dank,“ entgegnete die Spinne.

„Dann bist du für uns ein Vogel,“ sagte die Petersilie.

„Herzlich willkommen,“ rief der Geißfuß. „Leicht siehst du aus, du
zerbrichst keine Zweige.“

„Fang nur ja an zu bauen, sobald du Lust hast,“ sagte der Geißfuß.
„Material ist hier auf der Hecke genug vorhanden.“

„Wenn du uns hie und da ein Blatt mausest, so macht das nicht das
geringste,“ fügte die Petersilie hinzu.

„Vielen Dank, ich habe mein Material bei mir,“ erwiderte die Spinne.

„Ich kann kein Gepäck sehen,“ sagte der Geißfuß.

Und die Petersilie fragte: „Vielleicht kommt dein Mann damit nach?“

„Ich habe, Gott sei Dank, keinen Mann,“ entgegnete die Spinne.

„Du Ärmste,“ sagte die Maus, die dabeisaß und zuhörte. „Das muß doch
grauenhaft öde für dich sein.“

„Na -- da haben wir das gewöhnliche Frauenzimmergeschwätz,“ höhnte
die Spinne. „Das ist es, was uns Frauen zu so lächerlichen und
verächtlichen Geschöpfen macht. Immer heißt es: mein Mann hier und mein
Mann da. Ich möchte wissen, was man überhaupt mit einem Manne soll! Er
fällt einem wirklich nur zur Last. Wenn ich jemals einen nehme, so soll
er wenigstens auf alle Fälle nicht bei mir wohnen.“

„Wie du sprichst,“ sagte die Maus. „Ich kann mir nichts Unheimlicheres
denken, als wenn mein Mann nicht bei mir wohnte. Und ich möchte wissen,
wie ich mit den Kindern fertig werden sollte, wenn er mir nicht hülfe,
die gute Seele!“

„Ach, lirum, larum, Kinder hin, Kinder her,“ antwortete die Spinne.
„Ich verstehe nicht, was die Verhätschelung soll. Man legt seine Eier
an eine vernünftige Stelle und überläßt sie sich selbst.“

„Sie spricht nicht wie ein Vogel,“ sagte die Petersilie nachdenklich.

Und der Geißfuß meinte: „Auch ich fange an, mich vor ihr zu fürchten.“

„Ihr könnt mich nennen, wie ihr wollt,“ sagte die Spinne. „Unter keinen
Umständen verkehre ich aber mit den gewöhnlichen Vögeln. Sind hier zu
viele von ihnen, dann mag ich hier gar nicht hausen.“

„Gott behüte,“ erwiderte die Petersilie, die fürchtete, daß die Spinne
weggehen würde. „Hier ist fast nie einer.“

„Damals, als die Bäume umgehauen wurden, sind sie in den Wald
geflogen,“ berichtete der Geißfuß.

„Ja, hier ist es öde,“ klagten die langen Zweige auf den Baumstümpfen,
„man hört nie einen Ton.“

Doch die Spinne war andrer Meinung. „Hier ist gut sein,“ sagte sie.
„Die Fliegen summen, und das macht mir Vergnügen.“

Da reckten sich der Geißfuß und die Petersilie vor Stolz in die Höhe.

Die Spinne aber kroch ringsumher und sah sich um, während die Maus ihr
die ganze Zeit mit den Augen folgte.

„Mit Verlaub,“ sagte die Maus, „warum willst du eigentlich ein Nest
bauen, wenn du deine Eier sich selber überläßt?“

„Hör’ mal, liebe Maus,“ erwiderte die Spinne, „du kannst mich ebensogut
gleich als selbständiges Frauenzimmer betrachten. Ich denke nur an mich
und meine Bedürfnisse und sorge selbst für mich. Wenn ich mich jemals
herablasse, einen Mann zu nehmen, so mag er für sich sorgen, der Wicht.“

„Gott behüte, wie du von ihm sprichst!“ sagte die Maus. „Mein Mann ist
viel größer und stärker als ich.“

[Illustration: „Die Maus dagegen lief fort ...“]

„Ich kenne ihn nicht,“ erwiderte die Spinne gleichgültig. „Die
Mannspersonen in meiner Familie sind etwa viermal so klein als wir
Frauen. Es sind ganz erbärmliche Wichte, die keine Fliege wert sind.
Ich würde mich schämen, mit so einem Kavalier zusammen zu wohnen ...
Aber jetzt baue ich.“

„Du solltest lieber warten, bis es hell wird,“ riet ihr die Petersilie.

„Womit willst du überhaupt bauen?“ fragte der Geißfuß.

„Ich liebe nun einmal die Dunkelheit,“ entgegnete die Spinne. „Und
Baumaterial habe ich bei mir.“

Nach diesen Worten kletterte sie auf den Wipfel des Geißfußes hinauf
und sah sich in der Landschaft um.

„Es gehören gute Augen dazu, um heute abend etwas zu sehen,“ sagte die
Maus. „Meine sind nicht für die Katze, aber ich möchte mich bei der
Beleuchtung doch nicht ans Nestbauen begeben.“

„Was die Augen betrifft, so habe ich acht,“ erzählte die Spinne.
„Und sie sehen, was sie sehen sollen. Ich habe auch acht Beine,
damit du das auch gleich erfährst und nicht in Verwunderung darüber
gerätst. Überhaupt bin ich eine Weibsperson, die gewohnt ist, sich im
Handumdrehen zurechtzufinden. Ich kenne keine Zimperlichkeit und kein
Getue.“

Nun drückte sie den Hinterleib gegen den Geißfußzweig, auf dem sie saß,
und stürzte sich kopfüber in die Luft.

Da schrie die Maus erschrocken: „Sie bricht den Hals!“

[Illustration]

Doch die Spinne antwortete von unten her: „Ich habe keinen Hals. Und
wenn ich einen hätte, so würde ich ihn nicht brechen. Geh du nach Hause
zu deinem lieben Manne und kose mit ihm! Wenn du morgen wiederkommst,
sollst du sehen, was ein tüchtiges Frauenzimmer ausrichten kann, wenn
es nicht die Zeit mit Liebe und dergleichen überflüssigen Gefühlen
vergeudet.“

Da ging die Maus fort, einmal, weil sie zu tun hatte, und dann, weil
die Worte der Spinne sie verletzt hatten. Aber der Geißfuß und die
wilde Petersilie waren ja gezwungen zu bleiben, wo sie waren; und
die langen Zweige auf den Baumstümpfen ebenfalls. Und so merkwürdig
benahm sich die Spinne, daß keiner von ihnen die ganze Nacht ein Auge
schließen konnte, nur weil sie ihr zusahen.

Sie tat nämlich nichts, als fortwährend kopfüber in die Luft springen.
Bald hüpfte sie von dem einen Zweige und bald von dem andern hinab,
kletterte dann wieder hinauf und sprang von neuem. Und obschon
sie keine Flügel hatte, was jeder sehen konnte, senkte sie sich
ganz langsam zu Boden oder auf einen andern Zweig; sie sprang kein
einzigesmal fehl und kam nicht im geringsten zu Schaden. Hin und her,
auf und ab fuhr sie die ganze Nacht hindurch.

„Es ist +doch+ ein Vogel,“ rief die Petersilie freudig aus.

„Gewiß,“ fiel der Geißfuß ein. „Was sollte es sonst wohl sein?“

Aber die Zweige auf den Baumstümpfen schwankten höhnisch gegeneinander.

„Nie und nimmermehr ist das ein Vogel,“ sagten sie. „Kann er denn
singen? Habt ihr ihn je auch nur piepen hören?“

Der Geißfuß und die Petersilie sahen sich nachdenklich an. Und als
die Spinne einen Augenblick stillsaß und sich verschnaufte, wagte die
Petersilie eine Frage:

„Kannst du singen?“

„Puh!“ antwortete die Spinne. „Glaubst du, daß ich mich mit solchem
Unsinn abgebe? Weswegen sollte man denn singen? Das Leben ist nur Mühe
und Arbeit, und soll ein alleinstehendes Frauenzimmer durchs Dasein
kommen, so muß es die Hände rühren und ordentlich zufassen.“

„Die Vögel singen aber doch,“ beharrte der Geißfuß.

„Sie singen, weil sie verliebt sind,“ erklärte die Spinne. „Ich bin
aber nicht verliebt.“

„Wart’, bis der Rechte kommt,“ meinte die Petersilie.

[Illustration]

„Sollte er kommen, so mag er sich in acht nehmen,“ sagte die Spinne.

Damit sprang sie wieder kopfüber in die Luft, und das wiederholte sie
noch oft.

Aber als der Tag zu dämmern anfing, wären der Geißfuß und die
Petersilie vor Verwunderung beinahe umgefallen.

Mitten in der Luft zwischen den Zweigen hing die Spinne. Sie hatte die
Beine unter sich angezogen, sich zu einem Klumpen zusammengeballt und
schlief fest wie ein Stein.

„Sitzt sie auf dir?“ fragte der Geißfuß.

„Nein,“ versetzte die Petersilie. „Sitzt sie denn nicht auf dir?“

„Bewahre,“ sagte der Geißfuß.

„Auch auf uns sitzt sie nicht!“ fielen die Zweige ein.

„Dann ist es also doch ein Vogel!“ riefen die Petersilie und der
Geißfuß entzückt.

„Ein Vogel hängt nicht mitten in der Luft und schläft,“ sagten die
Zweige.

„Es muß wohl eine Zauberin sein,“ flüsterte die Maus, die in diesem
Augenblick hinzukam. „Wartet nur, bis es ganz hell wird, dann bekommen
wir es vielleicht zu sehen.“

Und als die Sonne aufging, da sahen sie es.

Zwischen den Zweigen des Geißfußes und der wilden Petersilie war
kreuz und quer eine Menge feiner Fäden ausgespannt, die in der Sonne
glänzten, daß es ein Vergnügen war. Andere Fäden gingen quer hindurch
in Ringen, der eine immer größer als der andre.

„Ah,“ sagte die Maus. „Jetzt versteh’ ich es. Da in der Mitte hat sie
gesessen. Aber wo ist sie denn jetzt?“

„Ich bin hier,“ erwiderte die Spinne unter einem Blatte her. „Ich kann
den starken Sonnenschein nicht leiden. Wie gefällt dir meine Arbeit?
Übrigens bin ich noch nicht fertig damit.“

„Tja,“ sagte die Maus, „offen gestanden, du hast dir da ein komisches
Nest gebaut.“

„Nest hin, Nest her,“ sagte die Spinne. „+Ihr+ habt von einem Neste
geschwatzt, ich nicht. Du gehst die ganze Zeit davon aus, daß ich ein
elendes, weichliches Weibsbild bin wie du und die andern. Ihr irrt
euch. Was sollte ich wohl mit einem Neste? Ich fühle mich sehr wohl
hier unter diesem Blatte. Hier ist Schatten, und hier ist es gemütlich.
Die Fäden sind mein Fangnetz. Darin fange ich Fliegen. Ob nicht ein
kleiner Regenschauer heraufziehen wird? Dann kann ich mich wieder an
die Arbeit machen.“

Kurz darauf verschwand die Sonne hinter Wolken. Es regnete still und
sanft; und als es aufhörte, kam; die Spinne hervor und streckte in der
feuchten Luft vergnügt ihre acht Beine.

Und dann begab sie sich an die Arbeit.

Sie sahen alle, wie sie eine Menge ganz feiner Fäden auf einmal aus
ihrem Hinterleib zog. Darauf begann sie, sie mit Kämmen, die sie an
der Spitze ihrer Beine trug, zu ordnen; sie wand sie zusammen zu einem
einzigen, dicken Faden und hängte den einen neben dem andern auf,
überall da, wo ihr eine zu große Öffnung vorhanden zu sein schien, oder
wo das Netz ihr zu schwach vorkam. Alle Fäden waren fettig und klebrig,
so daß die Fliegen an ihnen hängenbleiben mußten. Im Laufe des Tages
wurde das Netz fertig; und sie bewunderten es alle, so hübsch war es.

[Illustration]

„Jetzt hab’ ich alles geordnet,“ verkündete die Spinne.

In diesem Augenblick kam ein Star und setzte sich auf die Spitze eines
der langen Zweige.

„Ist hier nicht ein bißchen Eßbares?“ fragte er. „Ein paar Larven? Eine
Spinne?“

Der Geißfuß und die Petersilie sagten nichts; fast wären sie vor
Schreck darüber, ihren Logierbesuch zu verlieren, verwelkt. Die Maus
machte sich der Sicherheit halber aus dem Staube; aber die Zweige der
Baumstümpfe riefen eilig durcheinander, daß gerade eine wunderschöne,
dicke Spinne gekommen sei, die in dieser Nacht ihr Netz, gesponnen
hatte.

„Ich sehe keine,“ brummte der Star, und damit flog er weg.

Die Spinne hatte sich geschwind wie der Blitz an einem langen Faden zur
Erde niedergelassen und lag da so still, als wäre sie tot. Jetzt kroch
sie wieder hinauf, setzte sich mitten in ihr Netz und streckte alle
ihre acht Beine aus.

„Das wäre beinahe böse abgelaufen,“ sagte sie. „Nun kommt aber die
Reihe an mich.“

In diesem Augenblick näherte sich eine kleine, nette Fliege, die das
Netz nicht sah; sie flog mitten hinein und blieb elendiglich darin
hängen.

„Das ist Handgeld,“ triumphierte die Spinne.

Mit ihren Kiefern, die voller Gift waren, biß sie die Fliege, so daß
sie augenblicklich starb. Dann fraß sie sie. Und ebenso machte sie es
mit den drei nächsten, die ins Netz kamen. Darauf konnte sie nicht
mehr. Verschiedenes kleines Gewürm, das jämmerlich gefangen wurde,
ließ sie hängen und zappeln, ohne daß sie sich rühren machte. Als
schließlich noch eine schöne, fette Fliege kam, biß sie sie tot, spann
sie in ein kleines Netz ein und hängte sie auf.

„Sie wird mir nächstens gut munden, wenn schlechte Zeiten kommen,“
sagte sie.

„Sehr vernünftig,“ sagte die Maus. „Das ist eigentlich das erste deiner
Worte, das ich billigen kann. Aber sonst, das muß ich sagen, gefällt
mir deine Methode nicht. Du bist mir allzu hinterlistig. Und dann
verwendest du Gift wie die Schlange. Das finde ich nicht ehrenhaft.“

„Findest du das?“ antwortete die Spinne höhnisch. „Das ist wohl
schlimmer, als was +ihr+ tut? Du stößt wohl in die Trompete, wenn du
auf deine Beute zuschleichst ... nicht wahr, du liebe, fromme Maus?“

„Ich möchte es schon tun, wenn ich nur eine Trompete hätte,“ sagte die
Maus. „Ich bin -- Gott sei Dank! -- kein Räuber und Mörder wie du. Ich
sammle meine Nüsse und Eicheln und was mir sonst zufällt, und habe nie
jemandem etwas zuleide getan.“

„Nein, du bist ein süßes, liebes Mädel von der alten Sorte,“ höhnte die
Spinne. „Du nimmst, was abfällt, und bist froh dabei. Dann gehst du
nach Hause und läßt dich von deinem Manne und deinen Kindern liebkosen.
Ich bin nun mal aus andrem Stoffe gemacht, will ich dir sagen. Ich
mache mir nichts aus der Koserei, aber ich habe +Appetit+. Ich will
Fleisch haben ... schönes, saftiges Fliegenfleisch. Und viel. Ich bitte
um nichts, sondern verschaffe mir selbst, was ich nötig habe. Geht es
mir gut, so habe ich selbst die ganze Ehre und das Vergnügen; geht
es schlecht, so heule ich keinem was vor. Es wäre gut, wenn es viele
Frauenzimmer gäbe wie mich.“

„Du bist so roh,“ sagte die Maus.

„Unsinn!“ versetzte die Spinne. „Es ist mit dem einen wie mit dem
andern. Ich bin nicht schlimmer als die meisten Leute. Was den Geißfuß
und die Petersilie angeht, die machen einander die Schmetterlinge und
Bienen streitig und stehlen sich Licht und Luft weg, wo sie nur können.“

„Sehr richtig,“ bestätigte die Petersilie.

„Ein ungeheuer verständiges Frauenzimmer,“ fügte der Geißfuß hinzu.

Aber die Maus meinte: „Du hast einen so häßlichen Namen.“

„Kann nichts dafür,“ erwiderte die Spinne. „Die Menschen haben ihn mir
gegeben, weil ich in meinen Kiefern ein klein wenig Gift habe. Die
armen Fliegen, die ich fange, tun ihnen so furchtbar leid; und dabei
schlagen sie selbst jede Fliege tot, die sich auf ihre Nase setzt.
Jacke wie Hose. Nichts als Getue und Ziererei. Übrigens habe ich nichts
dagegen, den Namen zu wechseln. Du kannst mich +Spinner+ nennen, wenn
das dir besser gefällt. Das kann ein feines Dämchen wie du sagen, ohne
in Ohnmacht zu fallen; und das paßt für mich, weil kein Tier der Welt
so hübsch spinnt wie ich.“

„Das mag ja alles sein,“ sagte die Maus und schüttelte ihren Kopf.
„Aber es sieht nun einmal schlimm aus, was du tust; und unerlaubt
häßlich bist du auch.“

Da lachte die Spinne: „Ach so, daran nimmst du Anstoß! Sieh mal, liebe
Madam’ Maus, ich bin +praktisch+ angezogen. Mein ärmliches graues
Kleid paßt zu meiner Arbeit, und es erweckt kein unnötiges Aufsehen.
Gott sei Dank! Ich brauche mich nicht zu putzen wie die andern, die
sich aufdonnern, um Glück in der Liebe zu haben, und tirilieren und
stolzieren, daß ein vernünftiges Wesen sich schämen muß. Aber natürlich
verachten die Tröpfe mich wegen meiner einfachen Kleidung. Laß ihnen
die Freude! Ich mache mir nichts daraus. Und ich fresse sie, wenn sie
in mein Netz kommen.“

Die Maus schüttelte den Kopf und ging, während die Petersilie und der
Geißfuß leise miteinander tuschelten. Die Spinne aber hing in ihrem
Netze, streckte die Beine aus und verdaute.

Als die Sonne hervorkam, kroch sie unter ihr Blatt; und nun war die
Maus wieder da und guckte hinauf.

„Schläft sie?“ fragte sie.

„Ich glaube wohl,“ erwiderte die Petersilie. „Und du darfst sie nicht
mit deinem Geschwätz aufwecken.“

„Es ist und bleibt nun einmal +unser+ Vogel,“ sagte der Geißfuß. „Wenn
sie sich auch anders aufführt wie andere Vögel, jedenfalls hat sie uns
die Ehre und das Vertrauen erwiesen, sich in uns anzubauen; und darum
verlangen wir, daß sie respektiert wird.“

„Hat sich was, so ein Vogel!“ höhnten die Zweige.

„Auf alle Fälle ist sie besser als gar nichts,“ sagte die Petersilie.

„Solche Wichte wie ihr sollten das Maul halten,“ fügte der Geißfuß
hinzu. „In euch baut sich wahrhaftig niemand an.“

„Ein Vogel ist sie nicht,“ begann die Maus. „Aber darum kann sie ja
doch etwas taugen. Ich glaube, daß sie eine arme, unglückliche alte
Jungfer ist, die sich mit dem Leben überworfen hat. Vielleicht hat ihr
Liebster sie im Stiche gelassen. So etwas tut weh. Mein erster Mann
ist mit einer weißen Maus fortgelaufen, gerade als ich meine Jungen
bekommen hatte. Ich spreche aus Erfahrung.“

„Das mag wohl sein,“ sagte die Petersilie nachdenklich. „Aber was ist
da zu tun?“

„Wir müssen sehen, sie glücklich zu machen,“ meinte die Maus. „Fährt
sie fort, ein so einsames Leben zu führen, so wird sie mit jedem
Tage verbitterter, und zuletzt werden alle weicheren Regungen in ihr
erstickt werden. Könnten wir nur einen Mann für sie finden!“

„Ja -- könnten wir nur!“ seufzte die Petersilie.

„Dann baut sie sich vielleicht ein richtiges Rest mit kleinen Eiern
drin,“ sagte der Geißfuß.

In diesem Augenblick streckte die Spinne mit den Worten: „Wovon
schwatzt ihr?“ den Kopf unter dem Blatte hervor.

„Wir schwatzen von dir,“ erwiderte die Maus. „Wir sprachen soeben
davon, daß du dich verheiraten solltest. Es ist auf die Dauer nicht
gut für ein Frauenzimmer, allein zu sein. Davon wird man wunderlich
und sauertöpfisch. Du solltest nur wissen, wie reizend es ist, seinen
lieben Kinderchen zuzusehen und ihnen zu essen zu geben und sie leben
zu lehren.“

„Gefasel!“ brummte die Spinne.

[Illustration]

„Es ist die Bestimmung der Natur,“ sagte die Maus. „Und du magst sagen,
was du willst, ich werde doch für dich tun, was in meinen Kräften
steht. Auf meinem Wege an der Hecke entlang sehe ich jeden Tag eine
Menge Spinnen. Sie sind zwar viel kleiner als du, aber sonst doch recht
nett. Vielleicht treffe ich eine große. Der sage ich dann, daß hier
eine schöne Jungfrau sitzt und sich nach einem Freier sehnt.“

„Dann sagst du eine arge Lüge,“ fiel die Spinne ihr ins Wort. „Und
du brauchst auch nicht nach einem Freier zu suchen, der größer ist
als ich; denn unsere Mannsleute sind allesamt +jämmerliche kleine
Krüppel+. Keine von uns Spinnen glaubt, daß die Männer etwas wert
sind, mußt du wissen. Wir haben längst verstanden, daß es nur die
Frauenzimmer sind, an denen etwas dran ist.“

[Illustration]

„Jetzt laufe ich,“ sagte die Maus. „Ich finde schon den Rechten. Und
ich glaube bestimmt, daß du viel liebenswürdiger werden wirst, wenn du
dich verliebst.“

„Lauf du nur, kleine Maus,“ sagte die Spinne. „Der Mann wird nie
geboren, der +mir+ gefallen könnte. Aber +du+ hast ja nichts anderes im
Kopf, als Liebe und dergleichen Unsinn.“

Sie tötete eine Fliege, spann sie ein und hängte sie auf; und dann
verbarg sie sich unter dem Blatte. Die Maus dagegen lief fort, während
die Petersilie und der Geißfuß die Köpfe zusammensteckten und die
Zukunft besprachen.

Am nächsten Vormittag saß ein wirklich netter Spinnenherr auf der
Petersilie, aber ein gutes Ende von der bissigen Jungfrau entfernt.

Er hatte seine Fühler geputzt und spann ein paar schöne Fäden, um zu
zeigen, was er könne. Und er bog und streckte die Beine, damit sie
sehen konnte, welch gute Figur er habe. Sieben seiner Augen strahlten
vor Verliebtheit, während das achte aufpaßte, daß sie ihn nicht fraß.

„Erlauben Sie, Jungfrau, daß ich Ihnen Herz und Hand anbiete,“ sagte er.

„Er kann seine Worte beweisen,“ sagte die Petersilie.

„Ein reizender Mann!“ lobte der Geißfuß. Und die Maus erzählte, daß sie
ihn hergeschickt habe.

Doch die Jungfrau blieb kühl. „Der Tropf,“ sagte sie.

Aber der Spinnenherr räumte das Feld nicht so leicht. Er bog zierlich
den Vorderkörper, ließ zwei Augen aufpassen, daß ihm nichts zustieß,
die andern sechs aber sahen noch einmal so verliebt aus.

„Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen zur Last fallen will,“ beteuerte er.
„Ich habe mein eigenes Gespinst ein Stück weiter unten auf der Hecke
und kann bequem die paar Fliegen fangen, die ich brauche. Ich habe
sogar fünf schöne, fette aufgehängt und eingesponnen, und es wird mir
eine Ehre sein, sie Ihnen morgen anzubieten, damit Sie sehen, daß mich
nur die Liebe treibt.“

„Wie du faselst!“ spottete die Jungfrau. „Was zum Teufel sollte ich mit
einem so erbärmlichen Mannsbild anfangen?“

„Gott bewahre,“ sagte er -- und jetzt war nur noch ein verliebtes
Auge vorhanden, so grimmig sah sie aus. „Kommt meine Bewerbung Ihnen
ungelegen, so ziehe ich mich auf der Stelle zurück und warte, bis Sie
ein andermal ...“

„Ich glaube, das ist das Ratsamste für dich,“ sagte sie. „Sieh zu, daß
du schleunigst fortkommst, oder ich werde ...“

Da ließ er sich im Nu an einem Faden hinab, während sie hinter ihm
hereilte. Aber er entkam, und ein Weilchen darauf saß sie wieder in
ihrem Gespinst und sah sauertöpfischer aus als je.

„So ein Frauenzimmer!“ sagte die Maus.

„Ja ... nicht wahr!“ höhnte die Spinne. Doch die Petersilie wollte
einlenken:

„Man kann doch auch nicht den ersten besten nehmen.“

Und der Geißfuß tröstete: „Es war nur nicht der Rechte.“

Währenddessen lief der unglückliche Bewerber in der Hecke umher und
erzählte den anderen Spinnenherren von der schönen, merkwürdigen
Dame, die ihr Gespinst zwischen dem Geißfuß und der wilden Petersilie
ausgespannt habe.

[Illustration]

„Sie ist +so+ groß,“ berichtete er und spreizte dabei seine Beine,
soweit er konnte. „Ich habe nie in meinem Leben etwas so hübsches
gesehen. Aber stolz ist sie ... unglaublich stolz. Mir ist so weh ums
Herz, weil sie mir einen Korb gegeben hat, und das ist sicher mein Tod.
So viel steht jedenfalls fest: ich heirate nie!“

Alle hörten ihn mit großen Augen an und wollten es noch einmal hören.
Und es dauerte nicht lange, so erzählte man sich auf der ganzen Hecke
von der stolzen und schönen Spinnenprinzessin. Sobald die Mannsleute
mit ihrem Tagewerk fertig waren, kamen sie zusammen und sprachen von
ihr. Alle wurden nach und nach von Liebe zu ihr ergriffen, so daß sie
meinten, gar nicht ohne sie leben zu können.

Einer nach dem anderen zog aus, um die Hand der Schönen anzuhalten, und
allen erging es gleich jämmerlich.

Der erste war ein flotter Bursche. Er hatte den unglücklichen Freier
gewaltig verhöhnt, weil er der Prinzessin die fünf eingesponnenen
Fliegen versprochen, die er daheim im Neste hatte.

„Aus solchen Versprechungen machen sich die Frauenzimmer nichts,“ sagte
er. „Sie müssen es auf der Stelle bar ausbezahlt bekommen. Sieh einmal,
wie ich es machen werde!“

Und er kam mit einer prächtigen Schmeißfliege zu der Jungfrau und legte
sie ihr ohne ein Wort zu Füßen.

Doch sie empfing ihn anders, als er erwartet hatte.

„Sollte ich mich von einer Mannsperson ernähren lassen?“ schrie sie.

Und bevor er sich’s versah, hatte sie sich über ihn hergemacht und ihn
gefressen. Die Fliege ließ sie zunächst verächtlich liegen; doch im
Laufe des Nachmittags, als sie glaubte, daß keiner es sähe, ließ sie
sich an einem der Fäden hinunter und fraß auch sie.

Nicht besser erging es den Freiern, die nach ihm kamen.

Sechs von ihnen fraß sie, während sie mitten in ihrer Freiersrede
waren; nur zweie ließ sie nicht einmal den Mund auftun. Einen
erwischte der Star, gerade als er seine Reverenz machen wollte, und
einer fiel, als sie ihn ansah, vor Schreck in den Graben und ertrank
sofort.

„Nun wären es zwölf,“ sagte die Maus.

„Ich habe sie nicht gezählt,“ erwiderte die Spinne. „Aber jetzt wird
man mich wohl in Frieden lassen.“

„Du bist ein entsetzliches Frauenzimmer,“ sagte die Maus. „Ich
prophezeie dir, daß du es erleben wirst, kinderlos in dein Grab zu
gehen.“

Da machte die Spinne zum erstenmal ein nachdenkliches Gesicht.

„Es ist zu dumm, daß man die Kinder nicht bekommen kann, ohne einen
Mann zu haben.“

„Jetzt schmilzt ihr hartes Herz,“ sagte die Maus.

Und die Petersilie und der Geißfuß riefen „Oh“ und „Ah“ vor Neugier.

Doch die Spinne zerstörte alle Hoffnungen. „Gefasel!“ sagte sie.

Aber sie sah noch immer nachdenklich aus, betrachtete ihre Kämme und
bemerkte gar nicht, daß eine Fliege in ihr Netz flog. Kurz darauf sagte
sie:

„Man müßte ja eigentlich doch dafür sorgen, ein paar tüchtige
Spinnenmädel in die Welt zu setzen. Ich vermute, es ist meine Pflicht,
Erben zu hinterlassen, denen ich meine Verachtung der elenden
Mannsbilder vermachen kann.“

„Sie nimmt Vernunft an!“ flüsterte die Maus.

Und der Geißfuß und die wilde Petersilie nickten, aber keiner von
ihnen sagte etwas, um sie nicht in ihren Betrachtungen zu stören.

Doch die Maus rannte die Hecke entlang und rief alle überlebenden
Spinnenherren zusammen.

„Der, der +morgen+ um die Prinzessin anhält, bekommt sie,“ verkündete
die Maus. „Sie ist nicht wiederzuerkennen. Das Eis ist geschmolzen.
Ihr Herz ist wie Wachs. Sie fangt keine Fliegen, ißt nicht und trinkt
nicht, sitzt bloß und starrt sehnsüchtig in die Luft hinaus. Beeilt
euch!“

Nach diesen Worten lief die Maus weg.

Aber die Spinnenherren sahen sich nachdenklich an. Keiner von ihnen
hatte so recht den Mut, noch einen Versuch zu wagen; zu schlimm war es
den zwölfen ergangen; und ein paar von den Vernünftigsten kletterten
sogar flugs in die Höhe und verkrochen sich unter den Blättern, um
nicht in Versuchung zu kommen.

Nur wenige blieben zurück und dachten über die Worte der Maus nach;
unter ihnen war auch ein kleiner, dünner, junger Spinnenherr, der
immer zugehört hatte, wenn die anderen von der wunderbaren Prinzessin
sprachen, aber nie selbst etwas gesagt hatte.

„Ich glaube, +ich+ mache den Versuch,“ erklärte er plötzlich.

„Du?“ riefen die anderen durcheinander.

Und sie fingen an, bei dem Gedanken zu lachen, daß der Wicht das
durchsetzen sollte, wobei schon so mancher kecke Spinnenbursch sein
Leben eingebüßt hatte.

Aber der Kleine ließ sie lachen, soviel sie wollten.

„Ich denke, ich komme keinem von euch ins Gehege,“ sagte er ruhig.
„Von euch wagt es ja doch keiner. Und ich habe eben Lust, den Versuch
zu machen. Ich bin da gewesen und habe sie mir angesehen; sie ist,
weiß Gott, ein schönes Frauenzimmer. Hat sie zwölf Freier verworfen,
so nimmt sie vielleicht den dreizehnten. Ich glaube auch, die anderen
haben sich falsch benommen.“

„So, das glaubst du also?“ sagten die anderen und lachten weiter. „Und
wie willst +du+ dich denn benehmen?“

„Ihr könnt mitgehen und selbst sehen,“ erwiderte er. „Morgen halte ich
um sie an.“

Und am nächsten Morgen tat er es wirklich.

[Illustration]

Er kam auf seinen acht Beinen angekrabbelt, ganz ruhig und bedächtig.
Ein Stück hinter ihm kam alles, was es an Spinnenmannsleuten auf der
Hecke gab. Die langen Zweige auf den Baumstümpfen reckten den Hals,
um ihn zu sehen, und die Petersilie und der Geißfuß breiteten ihre
Blüten und Blätter aus, damit ihm das Gehen möglichst leicht fallen
sollte. Die Maus stand vor Neugier auf den Hinterbeinen und stierte und
lauschte.

Die Prinzessin selbst aber saß in ihrem Netze und tat so, als sähe sie
ihn nicht.

„Erlauchte Prinzessin,“ begann er. „Ich komme, Sie zu fragen, ob Sie
mich zum Manne nehmen wollen?“

„Das ist der dreizehnte,“ sagte sie.

Aber im stillen dachte sie, daß sie ihn besser leiden mochte als die
andern. Sie hatten sie sämtlich +zur Frau nehmen+ wollen ... der hier
bat, ob sie ihn zum Manne nehmen wollte. Das klang bescheiden und
hübsch.

„Sie gibt nach,“ rannte die Maus und tanzte vor Entzücken.

„Pst!“ rief die Petersilie.

„St!“ sagte der Geißfuß.

Und die Spinnenherren flüsterten einander zu: „Sie hat ihn noch nicht
gefressen!“

„Ich weiß wohl, daß es anmaßend von mir ist, eine solche Bitte an Sie
zu richten,“ sagte der Freier. „Was ist eine arme Mannsperson wohl
gegenüber einem Weibe, und was ist speziell ein elender Bursche wie ich
Ihnen gegenüber, die Sie die größte und schönste Dame der ganzen Hecke
sind. Aber das ist’s just, was mich zu Ihnen zieht.“

Da drehte sich die Spinne nach ihm um und sah ihn an. Er wäre fast vor
Schreck in den Erdboden versunken und schlug seine acht Augen vor ihr
nieder. Alle die andern Spinnenherren stürzten von dannen, so schnell
sie konnten.

„Jetzt frißt sie ihn,“ riefen der Geißfuß und die Petersilie.

„Sie ist ein liebliches Mädchen,“ triumphierten die Zweige auf den
Baumstümpfen.

„Ein entsetzliches Frauenzimmer ist es!“ sagte die Maus.

Aber sie fraß ihn nicht.

Sie nahm eine Fliege, die gerade in ihr Netz flog, biß sie tot und
schickte sich an, sie in Ruhe und Bequemlichkeit zu verzehren, wobei
sie ihn unausgesetzt aufmerksam beobachtete.

Ein gräßlicher Wicht war er, besonders jetzt, wo er am ganzen Körper
zitterte, weil er glaubte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe.
Aber so hatte sie ihn gerade gern. Sie war der Ansicht, das passe
gerade zu einem Mannsbild. Und als er sah, daß sie keine Miene machte,
auf ihn loszufahren, ermannte er sich so weit, daß er seine Rede
beenden konnte.

„Ich verstehe so gut, daß Sie an mir nichts besonders Hübsches finden
können,“ sagte er. „Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, und
ich bin nur eine arme Mannsperson. Aber wenn ich Vater einer Tochter
werden könnte, die Ihnen gliche, so würde ich mein Lebensziel für
erreicht halten und demütig für mein Glück danken.“

Da geschah das Wunderbare. Sie nahm ein Fliegenbein und warf es ihm
hin, was bei den Spinnen dasselbe bedeutet wie Ja.

Bebend vor Glück und Angst, kroch er näher zu ihr hin.

„Gut,“ sagte sie, „ich nehme dich. Aber gib acht, daß du mich nicht
ärgerst! Denn dann fresse ich dich.“

„Sie hat ihn genommen!“ rief die Maus und geriet außer sich vor Freude.

„Sie hat ihn genommen!“ sagten der Geißfuß und die Petersilie.

„Sie hat ihn genommen!“ sagten die Zweige auf den Stümpfen und
raschelten vor lauter Verwunderung.

„Sie hat ihn genommen!“ riefen die Spinnenherren, die zurückgekommen
waren, aber jetzt wieder davonliefen, teils um die Neuigkeit rings auf
der Hecke zu verkünden, teils um nicht zur Hochzeit gefressen zu werden.

Und die Hochzeit wurde wirklich gefeiert.

Auf der ganzen Hecke herrschte ein Jubel ohnegleichen, und die Maus
war die froheste von ihnen allen; denn das Ganze war ja ihr Werk. Oder
vielleicht waren die wilde Petersilie und der Geißfuß noch froher;
denn sie sollten ja nun in ihren Wipfeln das Familienleben haben, nach
dem sie sich so lange gesehnt hatten, und das sie im Range mit den
richtigen Sträuchern gleichstellte. Und sogar die Zweige auf den alten
Stümpfen wurden von der allgemeinen Freude angesteckt und vergaßen
ihren Neid.

Die Hochzeit wurde sofort begangen, denn man hatte ja auf nichts zu
warten. Die Petersilie und der Geißfuß ließen allerorten ihre weißen
Blüten niederrieseln, um das Fest mitzufeiern. Die Maus schleppte ihre
Jungen auf die Hecke hinauf, damit sie das glückliche Brautpaar sehen
sollten, die Glockenblume läutete, der Mohn lachte, und die Winde
schloß ihre Blumenkrone eine halbe Stunde früher als sonst, um die
Neuvermählten nicht mit unzeitiger Neugier zu belästigen.

Die Braut fraß alle die Fliegen, die sie eingesponnen hatte, ohne dem
Bräutigam etwas davon anzubieten. Aber das machte nichts aus, denn sein
Glück saß ihm ganz oben im Halse, so daß er sowieso keinen Bissen
hätte hinunterbekommen können. Er machte sich so klein wie nur möglich.
Als sie ihm einmal mit einem von ihren Kämmen über den Rücken strich,
schüttelte er sich, so daß die anderen glaubten, er müsse sterben. --
-- --

Am nächsten Morgen war die Maus schon in der Frühe auf den Beinen.

„Habt ihr noch nichts von den jungen Eheleuten gesehen?“ fragte sie.

„Nein,“ erwiderte die Petersilie.

„Sie schlafen,“ meinte der Geißfuß.

„Ach,“ sagte die Maus, „was für ein Glück, daß wir sie endlich
verheiratet haben! Jetzt sollt ihr sehen, wie lieb und umgänglich sie
werden wird. Der Wunder, die die Liebe ausrichtet, gibt es kein Ende.
Und wenn Kinder kommen ...“

„Glaubst du, daß sie dann singen wird?“ fragte der Geißfuß.

„Ich glaube das Beste,“ entgegnete die Maus. „Sie sieht nicht danach
aus, als hätte sie eine Singstimme; aber wie gesagt -- die Liebe! Jetzt
sollt ihr bloß sehen, was für ein Glanz über ihr ist, wenn sie kommt.
Wenn wir sie nur wiedererkennen können!“

Und die Maus lachte, und die Petersilie und der Geißfuß lachten, und
die Sonne ging auf und lachte mit.

Schließlich kam die Spinne aus ihrem Blätterversteck hervorgekrabbelt.

„Viel Glück, viel Glück!“ piepste die Maus.

„Viel Glück, viel Glück!“ sagten der Geißfuß und die Petersilie.

Die Spinne aber streckte sich und gähnte. Dann ging sie hin und setzte
sich in ihr Netz, als ob nichts vorgefallen wäre.

„Wo ist der Herr Gemahl?“ erkundigte sich die Maus. „Kann er nicht so
schnell aus den Federn kommen?“

„Ich hab’ ihn heute morgen gefressen,“ antwortete die Spinne.

Da schrie die Maus, daß es über die ganze Hecke schallte. Und die
Petersilie und der Geißfuß zitterten, daß alle ihre Blüten abfielen.
Und die Zweige krachten wie im Sturm.

„Er sah so dumm und ekelhaft aus, wie er da neben mir saß,“ erklärte
die Spinne. „Da hab’ ich ihn gefressen. Er hätte ja seine Finger von
mir lassen können.“

„Gott steh uns bei!“ schrie die Maus. „Seinen eigenen, rechtmäßigen
Mann zu fressen!“

Und der Geißfuß und die Petersilie riefen „Ach!“ und „Weh!“

An diesem Tage blieb es merkwürdig still auf der Hecke, und es wurde
nicht lustiger an den folgenden Tagen.

Die Spinne gab acht auf ihr Netz und fing und fraß mehr Fliegen als
je. Sie sagte kein Wort und sah dabei so grimmig aus den Augen, daß
auch keiner ein Wort zu ihr zu sagen wagte. Die Spinnenherren hüteten
sich wohl, ihr zu nahe zu kommen. Sie versammelten sich jeden Abend und
sprachen davon.

„Ja, aber bekommen hat er sie doch,“ sagte derjenige von ihnen, der am
schwärmerischsten veranlagt war.

Da fielen die anderen über ihn her und fragten ihn, ob er es denn für
ein Glück halte, von seiner Frau am Hochzeitmorgen gefressen zu werden.
Und darauf wußte er nichts zu antworten, denn seine Schwärmerei war
nicht ganz echt.

Die Maus schlich ganz niedergeschlagen umher. Sie nahm sich die
Geschichte so zu Herzen, als wäre sie in ihrer eigenen Familie
passiert. Der Geißfuß und die wilde Petersilie ließen die Schirme
hängen und fühlten sich verlegen und beschämt gegenüber den Zweigen auf
den Stümpfen. Und so groß war die Niederlage, die sie erlitten hatten,
daß es sogar den Zweigen unrecht schien, sie zu verhöhnen. -- -- --

Doch eines Tages, als die Sonne heiß herniederbrannte, beugte sich die
Petersilie hinab an das Loch der Maus und flüsterte:

„Pst ... liebe Maus ...“

„Was gibt es?“ fragte die Maus und kam hervor.

„Wir sind es, der Geißfuß und ich. Wir wollen dich etwas fragen,“ sagte
die Petersilie. „Du bist so klug ... sag’ uns einmal ... hältst du es
für denkbar, daß die Spinne ein anderer Mensch werden wird, wenn sie
jetzt ihre Eier legen muß?“

„Ich glaube nichts mehr,“ erwiderte die Maus. „Ich glaube nimmermehr,
daß das Frauenzimmer Eier legt.“

Und doch kam es so.

Eines schönen Morgens begann die Spinne wirklich Eier zu legen; und
sie tat es so, daß keiner auf der Hecke die Geschichte je vergaß.

„Puh,“ klagte sie. „Daß man sich nun mit dem Kinderschnickschnack
plagen muß!“

Sie legte einen Klumpen von zehn Eiern und stand da und betrachtete ihn
ärgerlich.

„Bau’ dir ein Nest für die Eier,“ sagte die Petersilie. „Alles, was wir
besitzen, steht zu deiner Verfügung.“

„Leg’ dich darauf und brüte sie aus,“ setzte der Geißfuß hinzu.
„Wir werden ein Dach über dir flechten, damit die Sonne dich nicht
belästigt.“

„Sammle kleine Fliegen für die Kinder, wenn sie ausschlüpfen,“ riet die
Maus. „Du ahnst nicht, was solche Jungen fressen können.“

„Übe dich darin, ihnen etwas vorzusingen,“ ermahnten die Zweige auf den
Stümpfen.

„Blödsinn!“ war die Antwort der Spinne auf alle diese guten Ratschläge.

Sie legte noch vier Klumpen, und dann spann sie jeden Klumpen für sich
in ein dichtes und feines Gehäuse aus feinen, Fäden.

„Ganz ohne Herz ist sie nicht,“ sagte die Maus.

Und nun nahm die Spinne einen Klumpen, lief die Hecke hinunter und grub
ihn in die Erde ein. Dann ging’s wieder hinauf, der nächste Klumpen
wurde geholt und so fort, bis alle fünf Klumpen vergraben waren.

„So,“ sagte sie, „nun ist die Geschichte überstanden. Und keiner kann
mich überreden, die Sache noch einmal durchzumachen. Jetzt ist man
doch wieder ein freies, selbständiges Frauenzimmer.“

„Ein allerliebstes Frauenzimmer!“ sagte die Maus. „Ein Schimpf und eine
Schande ist sie für ihr Geschlecht.“

Und die Zweige auf den Baumstämmen sagten spöttisch: „Ein süßer,
kleiner Vogel!“

Aber der Geißfuß und die Petersilie sagten nichts.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen war die Spinne fort.

„Der Star hat sie erwischt,“ erzählte die Maus. „Im Handumdrehen war
sie weg. Ich habe es selbst gesehen.“

„Wenn ihm nur nicht schlecht wird,“ sagten die Zweige. „Das muß ein
schlimmer Bissen sein.“

Dann wurde es Herbst und Winter.

Die Maus saß warm in ihrem Loch, und die Eier der Spinne lagen in der
schützenden Erde. Der Geißfuß und die Petersilie welkten und starben.
Die Zweige auf den Baumstümpfen verloren ihre Blätter, aber sie
raschelten weiter durch Sturm und Frost und Schnee bis ins Frühjahr
hinein.




Die Anemonen.


Kiwitt! Kiwitt! rief der Kiebitz und flog über das Waldmoor hin. „Nun
kommt der Junker Frühling. Ich kann es in den Beinen und in den Flügeln
spüren.“

Als das neue Gras unten in der Erde das hörte, schoß es gleich ein
Stück in die Höhe und guckte vergnügt zwischen den alten gelben Halmen
hervor; denn das Gras hat es nun einmal immer fürchterlich eilig.

[Illustration]

Auch die Anemonen drinnen im Walde zwischen den Bäumen hörten, was der
Kiebitz rief, aber sie wollten unter keiner Bedingung aus der Erde
heraus.

„Glaubt dem Kiebitz nicht,“ flüsterten sie sich zu. „Das ist ein
leichtsinniger Bursche, auf den kein Verlaß ist. Der kommt immer so
früh und macht ein großes Geschrei ... Nein, wir warten ganz ruhig, bis
der Star und die Schwalbe kommen. Das sind vernünftige, zuverlässige
Leute, die die Dinge besser verstehen.“

Und die Stare kamen.

Sie setzten sich auf den Pflock vor ihrer Sommervilla und schauten sich
um.

„Zu früh, wie gewöhnlich,“ murrte Vater Star. „Nicht ein grünes Blatt
und keine Fliege; nur eine alte, zähe vom vorigen Jahre, für die es
sich nicht den Schnabel aufzusperren lohnt.“

Mutter Star erwiderte nichts, aber sie sah gleichfalls nicht gerade
begeistert aus.

[Illustration]

„Wären wir doch nur in unserer gemütlichen Winterwohnung hinter den
Bergen geblieben,“ sagte Vater Star. Er war ärgerlich darüber, daß
seine Frau ihm nicht antwortete; denn ihn fror so, daß er meinte,
es würde ihm gut tun, ein wenig mit ihr zu zanken ... „Aber es ist
natürlich wieder deine Schuld, wie voriges Jahr. Du hast es immer so
furchtbar eilig damit, aufs Land zu kommen.“

„Wenn ich es eilig habe, so weiß ich auch wohl warum,“ entgegnete
Mutter Star. „Und du solltest dich schämen, wenn du es nicht auch
weißt, so wahr die Eier dir so gut gehören wie mir.“

„Gott behüte,“ sagte Vater Star beleidigt. „Wann hätte ich meine
Familie je verleugnet? Du verlangst vielleicht noch gar, daß ich dir
bei der Kälte etwas vorsingen soll?“

„Ja -- allerdings,“ erwiderte Mutter Star in einem Tone, dem er nicht
widerstehen konnte.

Er fing sofort an zu flöten, so schön er konnte. Aber als Mutter Star
die ersten Töne gehört hatte, schlug sie mit den Flügeln um sich und
hackte mit dem Schnabel auf ihn ein.

„Willst du wohl gleich aufhören!“ schrie sie erbost. „Das klingt ja so
traurig, daß es einem ordentlich zu Herzen geht. Sorge lieber dafür,
daß die Anemonen aufspringen! Ich meine, es ist Zeit. Und außerdem wird
es einem immer wärmer, wenn auch andere mitfrieren.“

Aber kaum hatten die Anemonen die ersten Triller des Stars gehört, so
steckten sie vorsichtig ihre Köpfchen aus der Erde heraus. Freilich
waren sie noch so in grüne Tücher eingepackt, daß man sie noch gar
nicht sehen konnte. Sie sahen wie grüne Keime aus, aus denen alles
mögliche werden konnte.

[Illustration]

„Es ist zu früh,“ flüsterten sie. „Wie schändlich von dem Star, uns
heraufzulocken! Man kann sich doch auch auf keinen mehr in der Welt
verlassen.“

Dann kam die Schwalbe.

„Twi! Twi!“ zwitscherte sie und durchschnitt die Luft mit ihren langen,
spitzen Flügeln. „Heraus mit euch, ihr dummen Blumen! Merkt ihr denn
nicht, daß der Junker Frühling gekommen ist?“

Aber die Anemonen waren vorsichtig geworden. Sie nahmen nur die grünen
Tücher ein ganz klein wenig beiseite und lugten hinaus.

„Eine Schwalbe macht keinen Sommer,“ sagten sie. „Wo ist deine Frau?
Du bist wohl nur hergekommen, um zu sehen, ob es hier schon erträglich
ist; und jetzt willst du uns etwas weismachen. Aber wir sind nicht so
dumm. Wir wissen wohl, daß, wenn wir uns eine ordentliche Erkältung
holen, es aus mit uns ist für diesmal.“

„Ihr seid mir ein paar Rechte,“ zwitscherte die Schwalbe und setzte
sich auf die Wetterfahne auf Försters Dach und schaute in die
Landschaft hinaus.

Aber die Anemonen warteten und froren. Ein paar, die ihre Ungeduld
nicht bezähmen konnten, warfen die Tücher im Sonnenschein ab. Doch
in der Nacht biß die Kälte sie tot, und die Geschichte von ihrem
jämmerlichen Tode ging von Blume zu Blume und erregte überall großes
Entsetzen.

Endlich kam der Junker Frühling -- in einer wunderschönen milden,
stillen Nacht.

Niemand weiß, wie er aussieht, denn niemand hat ihn je gesehen. Aber
alle sehnen sich nach ihm und danken ihm und segnen ihn. Er geht durch
den Wald und rührt die Blumen und Bäume an, und flugs springen die
Knospen auf. Er geht durch die Ställe und macht die Tiere los und läßt
sie auf die Wiese hinaus. Bis in die Menschenherzen dringt er ein und
macht sie froh. Wenn er da ist, hält es der artigste Bube nicht aus,
ruhig auf seiner Schulbank zu sitzen, und er hat furchtbar viele Fehler
in den Schulheften auf dem Gewissen.

Aber nicht auf einmal richtet er das alles aus. Nacht für Nacht ist
er bei der Arbeit, und er kommt zuerst zu denen, die sich am meisten
sehnen.

So kam es, daß er in derselben Nacht, wo er eintraf, gleich zu den
Anemonen hinging, die es in ihren grünen Tüchern nicht mehr aushalten
konnten.

Und eins, zwei, drei! standen sie in neuen, weißen Kleidern da und
waren so frisch und schön, daß die Stare vor Vergnügen darüber ihre
schönsten Lieder sangen.

„Nein ... wie schön ist es hier!“ riefen die Anemonen. „Wie ist die
Sonne so warm, und wie lieblich singen die Vögel! Tausendmal besser ist
es als im vorigen Jahr.“

Aber das sagten sie nun jedes Jahr, darauf kann man also nichts geben.

[Illustration]

Als die Welt sah, daß die Anemonen aufgesprungen waren, da gerieten
viele andere ganz außer sich. Da war ein Schulbube, der schon
Sommerferien haben wollte; und dann die Buche; wie fühlte sie sich
zurückgesetzt!

„Kommst du nicht auch bald zu mir, Junker Frühling?“ fragte sie. „Ich
bin doch eine viel wichtigere Person als die armseligen Anemonen, und
ich kann wirklich meine Knospen nicht länger halten.“

„Ich komme, ich komme!“ antwortete der Frühling. „Aber ein wenig mußt
du dich noch gedulden.“

Und weiter nahm er seinen Weg durch den Wald. Und bei jedem Schritt
sprangen neue Anemonen auf. In dichten Büscheln standen sie zu Füßen
der Buche und neigten ganz verschämt ihre runden Köpfchen zur Erde.

„Seht nur frei auf,“ sagte der Frühling, „und erfreut euch an unsres
Herrgotts Sonne! Euer Leben ist nur kurz, drum müßt ihr es genießen,
solange ihr es habt.“

Und die Anemonen taten das. Sie reckten sich und streckten sich und
breiteten ihre weißen Blätter nach allen Seiten aus, um so viel
Sonnenschein zu trinken wie möglich. Sie stießen mit den Köpfen
aneinander und lachten darüber und waren sehr vergnügt.

„Jetzt kann ich mich nicht länger halten,“ sagte die Buche, und ihre
Knospen sprangen auf.

Blatt für Blatt kroch aus seiner grünen Hülle und entfaltete sich und
fächelte im Winde. Die ganze grüne Krone wölbte sich über der Erde wie
ein mächtiges Dach.

„Ach, ist es schon Abend?“ fragten die Anemonen, denen es vorkam, als
werde es ganz dunkel.

„Nein ... das ist der Tod,“ sagte der Frühling. „Nun ist es aus mit
euch. Euch geht es nicht anders wie allem hier auf Erden, auch dem
Besten. Alles muß keimen und blühen und sterben.“

„Sterben?“ riefen ein paar kleine Anemonen. „Müssen wir schon sterben?“

Und ein paar von den Großen bekamen ganz rote Köpfe vor Zorn und Trotz.

„O, wir wissen es wohl!“ sagten sie. „Die Buche tötet uns. Sie stiehlt
allen Sonnenschein für ihre eigenen Blätter und gönnt uns keinen
Strahl. Wie häßlich und schlecht ist sie!“

Ein paar Tage lang fuhren sie fort zu schelten und zu weinen. Dann kam
der Junker Frühling zum letztenmal durch den Wald gegangen. Er hatte
noch die Eichen und einige andere alte Käuze zu besuchen.

„Legt euch jetzt hübsch hin und schlaft in der Erde,“ sagte er zu den
Anemonen. „Es nützt euch nichts, wenn ihr euch auflehnt. Im nächsten
Jahr komme ich wieder und erwecke euch zu neuem Leben.“

Und einige von den Anemonen folgten seinem Rat. Aber andere fuhren
fort, die Köpfe emporzurecken, und wuchsen weiter, bis sie ganz häßlich
wurden und lange Stengel bekamen, so daß sie garstig anzusehen waren.

„Pfui, schämt euch!“ riefen sie den Buchenblättern zu. „Ihr tötet uns.“

Aber die Buche schüttelte ihre langen Zweige, daß die braunen
Blattspelze auf die Erde herabrieselten.

„Wartet nur bis zum Herbst, ihr kleinen Dummriane,“ sagte sie und
lachte. „Dann werdet ihr schon sehen.“

Die Anemonen verstanden nicht, was sie meinte. Aber als sie sich
gestreckt hatten, soviel sie konnten, knickten sie ein und verwelkten.

       *       *       *       *       *

Der Sommer war vorbei, und der Bauer hatte sein Korn eingefahren.

Der Wald war noch grün, seine Färbung war nur dunkler geworden, und an
vielen Stellen schimmerten gelbe und rote Blätter zwischen den grünen
durch. Die Sonne war müde von ihrer heißen Arbeit während des Sommers
und ging früh zu Bett.

[Illustration]

[Illustration: „Endlich kam der Junker Frühling.“]

In der Nacht schlich der Winter zwischen den Bäumen umher und wollte
sehen, ob seine Zeit nicht bald gekommen sei. Wenn er eine Blume
fand, küßte er sie galant und sagte:

„Ei, ei! Bist du noch hier? Das freut mich, daß ich dich treffe. Bleib
nur ruhig stehen! Ich bin ein guter Kerl und tue keiner Fliege etwas
zuleide.“

[Illustration]

Aber die Blume erschauerte bei seinem Kusse, und der klare Tautropfen,
der unter ihrem Blatte hing, wurde auf der Stelle zu Eis.

Häufiger und häufiger lief der Winter durch den Wald. Sein Atem ging
über die Blätter hin, so daß sie sich gelb färbten, und über die Erde,
so daß sie hart wurde.

Sogar die Anemonen, die unten in der Erde lagen und warteten, daß der
Frühling zurückkehrte, wie er es ihnen versprochen hatte, verspürten
seinen Atem, und es lief ihnen eiskalt über die Wurzeln.

„O weh, wie kalt ist es,“ sagten sie zueinander, „Wie werden wir nur
den Winter überstehen? Wir sterben sicher, ehe er um ist.“

„Jetzt ist +meine+ Zeit gekommen,“ sagte der Winter. „Jetzt brauche ich
nicht länger umherzuschleichen wie ein Dieb in der Nacht. Von morgen an
will ich allen Leuten frank und frei ins Gesicht sehen, will sie in die
Nase beißen und ihnen das Wasser in die Augen treiben.“

Und in der Nacht ließ er den Sturm los.

„Mach reinen Tisch, hörst du!“ befahl er.

Und der Sturm gehorchte. Heulend fuhr er durch den Wald und rüttelte
an den Ästen, daß sie knarrten und krachten. Die, die nicht mehr ganz
frisch und lebensfähig waren, fielen ab, und die, die aushielten,
mußten sich nach allen Seiten beugen und biegen.

„Weg mit dem ganzen Staat!“ heulte der Sturm und riß die Blätter ab.
„Jetzt ist nicht die Zeit, sich zu putzen. Über ein Weilchen kommt
Schnee auf die Zweige -- das wird eine andere Geschichte.“

Die Blätter fielen vor Schreck zu Boden, aber der Sturm ließ sie nicht
in Ruhe. Er faßte sie um den Leib und tanzte mit ihnen über das Feld
hin, hoch in die Luft und wieder in den Wald, fegte sie zu großen
Haufen zusammen und wehte sie nach allen Seiten auseinander -- ganz wie
er Lust hatte.

Erst als der Morgen kam, war der Sturm müde und legte sich.

„Nun sollt ihr für diesmal Frieden haben,“ sagte er. „Ich ruhe mich
jetzt aus bis zum Frühjahrsreinemachen. Dann können wir wieder eine
Runde tanzen, das heißt, wenn dann noch etwas von euch übrig ist.“

Da gingen die Blätter schlafen und legten sich als dicker Teppich über
die ganze Erde.

Die Anemonen empfanden die wohltuende Wärme und fragten sich, ob wohl
der Frühling schon da sein sollte.

„Ich habe meine Knospen noch nicht fertig!“ rief eine von ihnen.

„Ich auch nicht! Ich auch nicht!“ schrien die anderen durcheinander.

Aber eine faßte Mut und guckte aus der Erde hervor.

„Guten Morgen!“ riefen die welken Buchenblätter. „Es ist noch ein
bißchen zu früh, liebes Fräulein ... Wenn es Ihnen nur gut bekommt!“

„Ist das nicht der Junker Frühling?“ fragte die Anemone.

„Nicht so ganz,“ antworteten die Buchenblätter. „Es sind die grünen
Buchenblätter, auf die Sie im Sommer so böse waren. Jetzt ist unsere
grüne Farbe verschwunden, und wir können keinen großen Staat mehr
machen. Wir haben unsere Jugend genossen und genug getanzt, wissen Sie.
Und jetzt liegen wir hier und schützen die Blumen in der Erde vor dem
Winter.“

„Und inzwischen stehe ich hier mit meinen bloßen Zweigen und bin der
Kälte ausgesetzt,“ sagte die Buche verdrießlich.

Die Anemonen unten in der Erde besprachen die Sache und waren von
Herzen froh.

„Die guten Buchenblätter,“ sagten sie.

„Seht zu, daß ihr noch daran denkt, wenn im nächsten Sommer meine
Knospen aufspringen,“ sagte die Buche.

„Ja, das werden wir! Das werden wir!“ flüsterten die Anemonen.

Denn so etwas verspricht man, aber man hält es nicht.




Die Heuschrecken.


Tief drinnen in Afrika, wo die Neger wohnen, sprang die Heuschrecke
eines Tages im Grase umher und fraß. Da kam die Schwalbe geflogen,
setzte sich auf einen Strauch und sah ihr zu.

„Was bist denn du für eine?“ fragte die Heuschrecke.

Die Schwalbe nickte. Sie war gut gelaunt, denn morgen wollte sie
wegreisen. Drum sang und zwitscherte sie:

    „Die kleine Schwalbe nennt man mich,
    Kiwitt ... kiwitt ... kiwiwiwitt!
    Im Norden fror es bitterlich,
    Gar sehr ich Hunger litt.
    Ich fand kein Futter, fand kein Blatt, kiwitt
    Drum flog ich mit dem Winde mit,
    Nach Süden flog ich her, kiwitt, kiwitt!“

[Illustration]

„Willkommen,“ rief die Heuschrecke. „Es freut mich, dich begrüßen zu
können. Hier ist genügend Futter von allen Sorten, wie du siehst.“

Aber die Schwalbe schüttelte den Kopf und sang weiter:

    „Es kribbelt in meinen Flügeln,
    Nach Norden es wieder mich zieht
    Die Sehnsucht kann ich nicht zügeln:
    Kiwitt, kiwitt, kiwitt!
    Jetzt grünen drüben die Blätter, kiwitt
    Nach Norden es wieder mich zieht:
    Kiwitt, kiwitt, kiwitt!“

[Illustration]

„So, so,“ sagte die Heuschrecke. „Du nimmst Reißaus. Das ist dumm. Wir
hätten uns sonst viel Vergnügen verschaffen können. Du hast ein nettes
musikalisches Talent.“

„Man sagt es,“ entgegnete die Schwalbe. „Aber wer bist du denn?“

Da sang die Heuschrecke mit einer feinen, klaren Stimme:

    „Die große Heuschrecke nennt man mich:
    Hopp, hopp ... hoppe lopp ... loppe hopp, hopp, hopp!
    Die Gräser alle fresse ich:
    Hopp, hopp ... hoppe lopp ... loppe hopp, hopp, hopp!
    Viel lieber platze ich,
    Wenn es auch ärgerlich,
    Als daß ich ein Hälmchen vergäße -- hopp, hopp!
    Und immer und immer im Galopp!“

„Du bist +auch+ musikalisch?“ fragte die Schwalbe.

„Und ob!“ erklärte die Heuschrecke. „Ich spiele die erste Violine in
Afrika, wenn ich bitten darf. Übrigens gereicht es dir zur Ehre, daß
du das heraushörst. Viele können meinen Gesang gar nicht hören. Die
Menschen zum Beispiel.“

„Ach ... die Menschen,“ sagte die Schwalbe verächtlich.

„Nein, die können weder hören noch sehen,“ sagte die Heuschrecke. „Und
sie bilden sich obendrein ein, daß sie besser seien als wir. Mein
Verlobter hat einen viel gröberen Ton. +Seine+ Violine können sie
hören.“

„Darf ich fragen, wo du dein Instrument hast?“ fragte die Schwalbe.

„Das sitzt hier,“ erwiderte die Heuschrecke und hob das Hinterbein.
„Innen am Schenkel. Die niedlichste Violine, die du dir denken kannst.
Nun streiche ich sie mit den Flügelrippen.“

„Höchst interessant,“ sagte die Schwalbe. „Und ein feines Gehör hast
du, so viel steht fest.“

„Meine Ohren sitzen an meinen Vorderbeinen,“ fuhr die Heuschrecke fort.

„Hat man je so etwas gehört!“ rief die Schwalbe.

Da erklang eine andere Violine drüben im Grase.

„Verzeihung,“ sagte die Heuschrecke. „Das ist mein Bräutigam. Er ruft
mich. Wir feiern heute Hochzeit.“

„Viel Glück!“ sagte die Schwalbe.

Aber die Heuschrecke hörte es nicht. Mit einem ungeheuren Satz war sie
verschwunden.

„Der Bursche hat ordentliche Beine,“ dachte die Schwalbe. Dann blieb
sie im Busche sitzen, denn sie wollte nach Norden, sobald es dunkel
wurde und sie ihre Angelegenheiten in Afrika geordnet hatte.

Am Abend kehrte die Heuschrecke zurück.

„Das wäre erledigt,“ sagte sie.

„Darf ich dir Glück wünschen?“ fragte die Schwalbe.

„Nicht nötig,“ entgegnete die Heuschrecke. „Für mich und meinesgleichen
ist die Hochzeit der Anfang vom Ende. Jetzt muß ich nur noch meine Eier
legen, und dann sterbe ich.“

„Und was wird aus deinem Manne?“

„Er stirbt jedenfalls heute nacht, wenn er nicht schon zum Himmel
gefahren ist.“

„Herr Gott,“ sagte die Schwalbe. „Andre Leute haben ein Nest mit Jungen
darin und einen Mann, der einem etwas vorsingt, wenn man ...“

„Entschuldige, daß ich dich unterbreche,“ sagte die Heuschrecke.
„Das ist das gewöhnliche Vogelgeschwätz, und ich mag es, offen
gestanden, nicht hören. Du bist ja viel gereist und hast dich in der
Welt umgesehen, darum meine ich, daß du nicht sentimental zu werden
brauchst. Laß uns als welterfahrene Leute über die Sache reden! Der
eine singt +vor+ der Hochzeit, der andere +nachher+. Jeder hat seine
Manier. Nur Dummköpfe glauben, daß die ihre die einzig richtige ist.“

Die Schwalbe sagte nichts. Die Heuschrecke aber fraß große Grashappen;
und sobald sie sich vollgefressen hatte, spuckte sie alles wieder aus.

„Du issest nicht gerade hübsch,“ bemerkte die Schwalbe.

„Kommst du mir wieder damit?“ erwiderte die Heuschrecke. „Ich esse auf
meine Art. All das Stroh ist nichts für meinen Magen. Ich sauge bloß
den Saft heraus. Übrigens brauchst du wohl auch nicht alles, was du in
dich hineinstopfst?“

„Nein, nein,“ gestand die Schwalbe. „Aber ich lasse es den andern Weg
abgehen.“

„Hältst du das etwa für feiner?“ fragte die Heuschrecke lachend. „Aber
ich will über diese Narrenspossen nicht mit dir streiten. Sag’ mir
einmal ... du sitzest höher als ich ... Ist da viel Gras?“

„Soweit ich sehen kann, ist überall nur Gras und wieder Gras,“ sagte
die Schwalbe. „Genug Futter für eine Million Heuschrecken.“

„Aber was hilft das?“ sagte die Heuschrecke mißmutig. „Wir haben es
hier sehr schön warm; und falls es trocken bleibt, wenn die Jungen
auskriechen, so bekommen wir ein gutes Heuschreckenjahr. Dann reicht
das bißchen Gras nicht aus.“

„Wirklich?“ rief die Schwalbe. „Was macht ihr denn dann?“

„Dann +wandern+ wir,“ entgegnete die Heuschrecke.

„Ja, springen kannst du ja,“ sagte die Schwalbe. „Das habe ich gesehen.
Aber etwas Großes kann es doch nicht werden.“

„Eins kommt zum andern,“ erwiderte die Heuschrecke. „Sag’ mir einmal
... das Land, aus dem du kommst ... ist das grün?“

„Ganz gewiß,“ sagte die Schwalbe froh. „Im Sommer ist es das grünste
Land der Welt. Felder und Wiesen und Wälder und Moore ... alles ist
grün und herrlich anzusehen.“

„Ich werde daran denken,“ sagte die Heuschrecke.

„Das kannst du, wenn es dir Spaß macht,“ meinte die Schwalbe lachend.
„Aber du kommst nie so weit mit deinen dünnen, kurzen Flügeln. Es sind
viele hundert Meilen bis dorthin.“

„Ich fliege besser, als du glaubst,“ erwiderte die Heuschrecke. „Wenn
ich nicht zuviel gegessen und den Körper nicht voller Eier habe, dann
kann ich sehr schnell fliegen. Ich bin überall hohl, mußt du wissen.
Ich pumpe mich voll Luft, und dann geht es.“

„Na ja,“ sagte die Schwalbe. „Es würde mich freuen, da oben einige von
deinen Kindern zu treffen.“

„Einige?“ wiederholte die Heuschrecke höhnisch. „Du hast mich wohl
nicht richtig verstanden. Wenn es Heuschrecken gibt, dann gibt es so
viele, daß sie sich unmöglich zählen lassen.“

„So so,“ sagte die Schwalbe.

„Siehst du,“ fuhr die Heuschrecke fort. „Du hast deinen Mann, deine
Kinder und dein Nest; und du glaubst, daß du etwas vorstellst. Eine
Heuschrecke aber glaubt nicht, daß sie etwas vorstellt ... so allein
für sich. Wenn wir jedoch alle zusammenkommen, dann sind wir stärker
als alle anderen. Niemand kann uns aufhalten, niemand kann uns
widerstehen. Alles, was uns in den Weg kommt, vernichten wir. Willst du
unsern Schlachtgesang hören?“

„Ich habe nichts zu versäumen,“ erwiderte die Schwalbe. „Aber ich
glaube, du prahlst.“

„Dann höre,“ rief die Heuschrecke, legte den Bogen an ihre Violine und
sang:

    „Wir Heuschrecken ... hopp, hopp, hopp ...
    Kommen gesaust im Galopp, lopp, lopp ...
    Gras und Strauch fressen wir,
    verdunkeln das Sonnenlicht,
    Morden und ruhen nicht,
    Bis wir ins Menschennest
    Tragen die Pest!
    Millionen ... Billionen ...
    Trillionen ... Quadrillionen ...
    Fliegen ... hopp, hopp, hopp ..
    Durch alle grünen Zonen
    Im Galopp, lopp, lopp.“

„Sehr gemütlich klingt das nicht gerade,“ bemerkte die Schwalbe. „Aber
wenn das wahr ist, was du sagst: was tut ihr denn, nachdem ihr alles
aufgefressen habt?“

„Das weiß ich nicht,“ entgegnete die Heuschrecke. „Ich weiß nichts.
Jetzt muß ich meine Eier legen.“

Und nun grub sie da, wo sie saß, ein Loch in die Erde und legte eine
Kapsel Eier hinein.

„Das waren fünfundzwanzig,“ sagte sie.

Dann grub sie noch ein Loch und noch eins und legte in jedes eine
Kapsel.

„Das erleichtert,“ sagte sie. „Jetzt sind nur noch fünfundzwanzig
übrig.“

Als sie auch die gelegt hatte, ließ sie Kopf und Flügel hängen und sah
sehr entkräftet aus.

„Ich habe ihnen eingeschärft, daß sie nach Norden ziehen sollen,“ sagte
sie. „Dann erreichen sie vielleicht dein grünes Land.“

„Gott behüte,“ rief die Schwalbe.

Und dann fügte die Heuschrecke hinzu: „Jetzt sterbe ich. In meiner
letzten Stunde denke ich an meinen Mann.“

„Das ist hübsch von dir.“

„Ich denke daran, wie fett er war, als er gestorben ist, -- falls er
nicht immer noch umherhüpft und frißt,“ sagte die Heuschrecke. „Alle
Frauenzimmer in der Welt sind in dieser Beziehung einer Meinung: den
Männern geht es schändlich gut.“

Damit starb sie.

[Illustration]

Ende Mai, als die Schwalbe hoch oben im Norden auf ihren Eiern lag und
jeden Tag erwartete, daß ihre Jungen auskriechen würden, da kamen die
Heuschreckenkinder aus der Erde hervor.

Sie glichen ihrer Mutter aufs Haar, aber sie waren kleiner und hatten
keine Flügel. Und sie glichen allen andern Kindern darin, daß ihr
erster Schrei dem Futter galt.

Sie fraßen vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne und die Flinksten
von ihnen auch während der Nacht. Wenn die Schwalbe jetzt im Gebüsch
gesessen hätte, würde sie den Kummer des Heuschreckenweibchens
verstanden haben. Denn es war ein gutes Jahr geworden, wie die Mutter
prophezeit hatte; und soweit man auch sehen mochte, war nichts anderes
vorhanden als fressende Junge.

Niemals wurden sie satt. Sie fraßen und fraßen und spuckten das
Gefressene wieder aus; und nach zwei Tagen war kein Grashalm mehr in
der Gegend. Die Blätter des kleinen Strauches waren mit daraufgegangen.
Er ließ seine nackten Zweige in die Luft ragen, als ob es Winter wäre.

[Illustration]

Es sah schrecklich aus, aber die Neger freuten sich. Denn sie bauten
kein Getreide und hatten kein Vieh mit Gras zu füttern, so daß sie
keinen Schaden erlitten. Und dann glaubten sie auch, die Heuschrecken
seien heilige Tiere, die Gott gesandt habe. Kein Neger trat mit
Willen darauf. Aber trotzdem aßen sie sie. So ein Gericht gerösteter
Heuschrecken war das Beste, was sie kannten.

Als nun die Jungen gefressen hatten, was zu fressen war, gerieten sie
ganz außer sich.

„Futter! Futter! Futter!“ schrien sie, während ihnen der grüne Grassaft
aus dem Halse lief. „Futter! Futter! Futter! Wir sterben vor Hunger.“

Und dann begannen sie zu wandern.

Einige von ihnen gingen nach Norden ... Das waren diejenigen, deren
Mutter ihnen von dem grünen Land der Schwalbe ins Ohr geflüstert hatte.
Und dann folgten die andern nach.

[Illustration]

Sie gingen in langen, endlosen Reihen; und die Reihen folgten einander
so dicht, daß die hintersten den Vordersten auf die Fersen traten; und
es waren so viele Reihen, daß niemand sie zählen konnte. Aus allen
Richtungen kamen neue Scharen, die sich den Reihen anschlossen und
mitmarschierten. Es war ein beständig wachsendes Heer von kleinen
Soldaten, die das Land leerfraßen, wohin sie kamen.

Nichts konnte ihnen Einhalt gebieten.

Kamen sie an einen See, so marschierten sie frischweg ins Wasser
hinaus, Reihe nach Reihe, bis der See von einem dicken Teppich toter
Heuschreckenkinder bedeckt war, den die nächsten dann überschritten.
Es machte nichts aus, wenn eine Million oder zwei oder zehn Millionen
ertranken. Es waren genug übrig. Und jeder Tag brachte neue, zahllose
Scharen.

„Futter! Futter! Futter!“ schrien sie und gingen weiter.

[Illustration]

Die Vögel fraßen so viele von ihnen, wie sie vermochten. Die Ameisen
bissen sie tot, die Igel veranstalteten einen Festschmaus, und viele
andere hungrige Burschen verschlangen sie. Große Herden von Elefanten,
Nashorntieren und Antilopen liefen darüber hin und traten sie nieder.

Aber dem ungeheuern Heuschreckenheer war der Verlust nicht anzumerken.
Es wurde immer größer, was auch mit ihm geschah, und rückte immer
weiter nach Norden vor.

Und überall, wo die Heuschrecken gewesen waren, da war das Land
verödet. Die Elefanten und Antilopen brüllten vor Hunger, denn es war
kein Blatt für sie zurückgeblieben. Wasser war nicht vorhanden, weil
die Seen voller Heuschreckenleichen lagen, die verfaulten und weit
umher Gestank verbreiteten. Die Insekten starben, weil keine Blätter
da waren, die sie fressen konnten. Und die Vögel starben, weil keine
Insekten für sie und ihre Jungen da waren.

Und weiter und weiter wanderte das Heer.

Eines Nachts machte man Rast. Die ganze Erde glich einem wogenden
braunen Teppich; nicht eine von den Heuschrecken war ruhig.

„Ich berste!“ schrie eine.

„Wir bersten! Wir bersten! Wir bersten!“ klang es durch die Reihen hin.

Und dann barsten sie.

Sie hatten sich so groß und dick gefressen, daß sie es in ihrer Haut
nicht mehr aushielten. Sie platzten der Länge nach, traten aus den
alten Häuten heraus und marschierten in den neuen weiter, die darunter
saßen. Das war ihre Art zu wachsen, und die ist ja ebensoviel wert wie
jede andre. Am Morgen, als sie fort waren, lag das ganze Land voll
alter Häute.

Fünfmal platzten sie auf diese Art, und jedesmal wurden sie größer und
gefräßiger, und jedesmal erscholl ihr Schrei nach Futter lauter. Und
mit immer größerer Geschwindigkeit marschierten sie nach Norden.

Eines Nachts, ein paar Tage darauf, waren sie zum fünften Male geplatzt.

Sie hatten ein Lager oder richtiger tausend Lager aufgeschlagen, denn
in der letzten Zeit war das Heer mehr angewachsen als je zuvor. Man
konnte glauben, die neuen Scharen hätten auf ihrem Wege auf die andern
gewartet, wenn das Warten nicht das einzige gewesen wäre, was die
Heuschrecken nicht konnten. Die Sache war die, daß überall ein gutes
Heuschreckenjahr war, so wie das Heuschreckenweibchen prophezeit hatte.

Aber in dieser Nacht herrschte viel mehr Unruhe im Lager als gewöhnlich.

Es waren so viele da, daß sie einander beständig im Wege waren. Sie
drängten und stießen einander, aber sonderbarerweise schrie niemand wie
sonst nach Futter. Es spuckte auch niemand Gras aus. Es war als ob sie
mit etwas fertig wären und darauf warteten, daß etwas Neues beginnen
würde. Mit großen Augen blickten sie einander an, steckten die Köpfe
zusammen und flüsterten.

„Heute nacht geschieht es,“ sagte die eine.

„Heute nacht kommt es,“ sagte die andre.

„Heute nacht ... heute nacht ... heute nacht,“ erbrauste es durch die
endlosen, zahllosen Reihen.

Nicht eine einzige von den vielen Millionen war gleichgültig. Alle
waren in feierlicher Stimmung und gespannt auf das seltsame, das sie
erwarteten.

Und kurz vor Sonnenaufgang geschah es.

Wie auf Kommando platzten alle Heuschrecken auf einmal. Aber es war
ganz anders als die andern fünf Male, als sie geplatzt waren.

Denn diesmal krochen sie aus der alten Haut als vollerwachsene
Heuschrecken mit Flügeln und Violine und allem.

[Illustration]

Eine jede hatte vier schöne, klare Flügel, mit denen schlug sie um
sich, und sie betrachtete sich und die andern; ihr Vergnügen und ihre
Freude wollten kein Ende nehmen. Da war ein Surren, Summen, Schwatzen
und Pfeifen ohne Ende. Und sie hüpften und sprangen, flogen ein wenig
umher und setzten sich wieder auf die Erde. Wenn sie die Flügel
ausbreiteten, so sah es aus, als wären doppelt so viele vorhanden wie
vorher.

Als die Sonne aufging und sie beschien, rief eine der Heuschrecken:

„Futter!“

„Futter! Futter! Futter!“ schrien die Millionen.

Es war kein Futter zu sehen, doch das machte nichts; denn jetzt konnten
sie ja fliegen. Alle Magen waren leer; so lange war es her, seit sie
gefressen hatten. Und nun begannen sie, sich voll Luft zu pumpen, und
sie pumpten und pumpten, bis sie richtige Luftballons waren.

Und dann erhoben sie die Flügel.

In diesem Augenblick stimmte eine Heuschrecke ihre Violine. Gleich
fielen auch die vielen Millionen Violinen ein; und während der Schwarm
in die Lüfte stieg, klang es hernieder über das verwüstete Land:

    „Wir Heuschrecken ... hopp, hopp, hopp ...
    Kommen gesaust im Galopp, lopp, lopp ...
    Gras und Strauch fressen wir,
    Meere durchmessen wir,
    verdunkeln das Sonnenlicht,
    Morden und ruhen nicht,
    Bis wir ins Menschennest
    Tragen die Pest!
    Millionen ... Billionen ...
    Trillionen ... Quadrillionen ...
    Fliegen ... hopp, hopp, hopp ...
    Durch alle grünen Zonen
    Im Galopp, lopp, lopp.“

[Illustration]

Und sie stiegen und stiegen in die Luft; noch nie hatte man ein so
gewaltige flatternde Schar gesehen. Sie verdeckten die Sonne gleich
einer Wolke, so daß es ganz dunkel wurde. Die Neger warfen sich aufs
Gesicht und dachten, die Sonne sei erloschen und der Weltuntergang sei
nahe herangekommen.

Aber einmal nimmt ja alles ein Ende. Als der Schwarm endlich nach
Norden hin verschwunden war, da kam die Sonne wieder hervor, und neues
Gras wuchs auf den verödeten Landen.

       *       *       *       *       *

Ganz im Norden von Afrika, an der Küste des Mittelländischen Meeres,
liegt ein Land, das eines der schönsten in der ganzen Welt ist.

Regen und Sonne wechseln miteinander ab, so daß das Getreide aufs beste
gedeiht. Das Gras steht mannshoch auf den Wiesen, und die Weinreben
auf den Bergen biegen sich unter den schweren Trauben. Dort gibt es
keinen Winter, der das Leben trübe und traurig macht, sondern bloß
eine stille Zeit, wo alles Wachsende ruht, ehe es wieder blüht. Und
es gibt keinen dürren Sommer, wo die Sonne das Gras absengt und
das Wasser austrocknet, so daß Menschen und Tiere verdursten. -- Die
Quellen springen und geben klares, kühles Wasser, und die Sonne ist
schön anzusehen, wenn sie über die Berge steigt, und wenn sie ins Meer
sinkt. Die großen wilden Tiere sind längst erlegt. Der Wald ist voll
springender Hirsche und munterer Vögel. Bienen und bunte Schmetterlinge
schwärmen zwischen duftenden Blumen umher.

[Illustration: „Sie traten auf die Heuschrecken, die unter ihren
Füßen knirschten, aber immer mehr fielen hernieder -- ein endloser
Sturzregen.“]

Und mitten in all dem leben die Menschen, von der Sonne gebräunt,
zufrieden mit ihrem Lose und Frieden miteinander bewahrend.

In einem Dorfe dieses Landes waren eines Sonntags die Leute vor einem
Gehöft versammelt, in dem eine Hochzeit gefeiert wurde.

Alle waren seelenvergnügt, und die Munterkeit sollte gegen Abend
noch größer werden, da auf dem Rasen getanzt werden sollte. Die
Mütter hatten ihre kleinen Kinder auf dem Arm, -- alle wollten an
der allgemeinen Freude teilnehmen. Die Musikanten stimmten ihre
Instrumente; sie mußten aber noch ein wenig warten, denn ein alter
Mann, der Älteste des Dorfs, hielt eine Ansprache an das Brautpaar.
„Hier habt ihr’s besser als irgendwo anders in der Welt,“ schloß er.
„Wenn ihr nur gut und fromm seid, so sorgt der liebe Gott für das
übrige. Die Erde gibt euch eure Aussaat hundertfältig wieder; und
nichts Böses bedroht die Menschen in unserm glücklichen Lande.“

Dann drückte er ihnen die Hände, und sie riefen alle Hurra. Auf einmal
aber zeigte ein junger Mann nach dem südlichen Himmel und sagte:

„Seht ... seht ... die schwarze Wolke dort! Wir bekommen zur Nacht ein
Gewitter.“

„Zu dieser Jahreszeit bekommen wir kein Gewitter,“ entgegnete der Alte.
„Und seit hundert Jahren, solange ich lebe, hat uns der Wind, der heute
weht, keinen Regen gebracht.“

„Was hat denn die Wolke zu bedeuten?“ fragte der Jüngere.

Da sahen alle nach der Wolke hin. Aber niemand konnte sagen, was sie
bringen werde.

Sie war groß und dicker und schwerer, als Wolken gewöhnlich sind. Sie
schwebte tief über der Erde, und es sah aus, als ob sie bis an den Rand
des Himmels hinabreichte Und sie kam näher und wuchs und wuchs. Die sie
betrachteten, meinten bereits, daß es um sie her finsterer werde.

„Was ist das? Was ist das?“

Sie scharten sich zusammen und starrten und fragten. Die kleinen Kinder
schrien, und die Gesichter der Männer wurden ernst und die der Frauen
ängstlich.

Vergebens forderte der Bräutigam seine Gäste auf, zu trinken und
vergnügt zu sein. Vergebens begannen die Spielleute aufzuspielen.
Bald verstummten sie, standen bei den andern, starrten nach der Wolke
hin und wunderten sich, was es sein könnte. Mit der Festfreude war es
vorbei. Niemand konnte sagen, wovor er Angst hatte; aber alle wurden
von bösen Ahnungen befallen.

Und die Wolke wuchs und wuchs und senkte sich immer dichter über sie
nieder. Jetzt trat sie vor die Sonne. Eine Finsternis befiel das Land,
die Vögel im Walde verstummten, und die Menschen faßten einander voller
Furcht bei den Händen.

„Still!“ sagte der Alte. „Hört ihr?“

    „Wir Heuschrecken ... hopp, hopp, hopp ...
    Kommen gesaust im Galopp, lopp, lopp ...
    Gras und Strauch fressen wir,
    Meere durchmessen wir,
    Verdunkeln das Sonnenlicht,
    Morden und ruhen nicht,
    Bis wir ins Menschennest
    Tragen die Pest!“

Es war der Schlachtgesang der Heuschrecken. Die Leute verstanden ihn
nicht, denn es waren ja nur Menschen. Sie hörten nur das Sausen und
Brausen der unzähligen Flügel und sahen die Wolke wachsen und wachsen.

„Da ist etwas von der Wolke herabgefallen,“ rief ein kleiner Knabe.

Er hielt eine Heuschrecke in der Hand; und alle liefen herzu, um zu
sehen, was das sein könnte. Aber im selben Augenblick fielen immer mehr
Heuschrecken aus der Wolke herab, und jetzt stürzte die ganze Wolke mit
seltsamem Krachen und Tosen herab.

Die Leute faßten sich an die Köpfe und bürsteten die Tiere von sich
ab. Frauen und Kinder schrien, und die Männer schlugen mit ihren
Stöcken um sich. Sie traten auf die Heuschrecken, die unter ihren
Füßen knirschten, aber immer mehr fielen hernieder -- ein endloser
Sturzregen, wie ihn noch niemand erlebt hatte.

Da liefen die Menschen durcheinander, fochten schreiend mit den Armen
um sich und wußten nicht aus noch ein. Jeder lief nach Hause, fand es
aber dort ebenso schlimm oder noch schlimmer. Die Heuschrecken fielen
in die Brunnen, durch die Schornsteine und durch offene Fenster herein
... Es gab keinen Fleck, wo sie fehlten.

Zwei Stunden lang dauerte der Regen an. Dann war der Himmel wieder
klar, und die Sonne schien. Aber jeder Fleck war mit einem Gewirr von
Heuschrecken bedeckt. Sie hingen an den Zweigen der Bäume, die zu Boden
niedergedrückt wurden und zerbrachen. Sie bissen in die Steine, wenn
sie in nichts andres zu beißen hatten. Sie krochen und sprangen auf
Menschen, Hunden und Hühnern herum, rieselten herunter und kletterten
wieder hinauf. Und wo ein Grashalm oder ein Blatt war, da fraßen sie
sofort alles auf.

Die Leute wußten sich nicht zu helfen. Sie stiegen auf die Anhöhen
und blickten über ihre fruchtbaren Felder hin ... alles war von dem
Heuschreckenteppich bedeckt. Sie starrten zum Himmel und sahen in der
Ferne am Horizont eine neue Wolke, drohend und schwarz wie die erste.
Und während sie starrten, wuchs sie und kam näher; und ehe sie zur
Überlegung kamen, fiel ein neuer Heuschreckenregen über sie nieder. Sie
glaubten, das Ganze habe weder Anfang noch Ende, saßen in ihren Häusern
und verzweifelten.

Dann stürzten sie hinaus, brachen die Zweige von den Bäumen und
schlugen auf die Tiere los, bis sie die Arme nicht mehr bewegen
konnten. Millionen lagen erschlagen auf der Erde. Billionen und
Trillionen krochen und sprangen knirschend und fressend umher.

Man zündete das Gras an, wo die Tiere am zahlreichsten waren. Das Feuer
knisterte, der Rauch quoll empor, das grüne Gras und das gelbe Getreide
loderten auf. Man konnte die Heuschrecken im Feuer krachen hören. Aber
es half nichts. Millionen und Billionen flogen über das Feuer weg an
Stellen, wo es nicht brannte, und fraßen und fraßen weiter.

Acht Tage dauerte es. Dann war nichts mehr zu fressen da. Der Schwarm
erhob sich, sammelte sich in der Luft zu einer ungeheuren Wolke und zog
fort ... nach Norden übers Meer hin.

Und die Menschen standen und starrten ihnen nach. Braut und Bräutigam
beweinten ihr zerstörtes Heim. Die Spielleute hängten die Geige an die
Wand, und der alte Mann starb vor Gram.

Das ganze glückliche Land war verödet.

       *       *       *       *       *

Im Herbst flog die Schwalbe wie gewöhnlich nach Afrika. Sie hatte
Hochzeit gefeiert und ein Nest erbaut, hatte ihre Eier gelegt und
ausgebrütet und die letzte Mücke verzehrt. Damit war ihre Arbeit im
Norden für diesmal getan, und zugleich war der Sommer vorbei. Es war
eine alte Schwalbe, die die Reise bereits viele Male hin und her
zurückgelegt hatte, so daß sie den Weg recht genau kannte. Sie hatte
auch ihre Raststätten, wo sie ihre Flügel für einen oder zwei Tage
ausruhen ließ, bevor sie weiterflog.

Im Mittelmeer lag eine wunderschöne kleine Insel, die die Schwalbe auf
ihrem Wege nach Süden stets besuchte. Sie war nicht so groß, daß sie
auf der Landkarte stand; aber darum kann es doch eine schöne Insel
sein, besonders für eine Schwalbe; und außerdem hat sie den Vorzug,
daß man sich in der Geographie nicht mit ihr zu quälen braucht. Und
herrliche Bäume waren da und Felder und Menschen und Tiere; darunter
befand sich ein kleiner grüner Zeisig, der ein guter Freund der
Schwalbe war.

[Illustration]

Als nun die Schwalbe diesmal auf die Insel kam und sich auf dem Baume
niederließ, wo der Zeisig wohnte, sah sie sich erstaunt um.

Die Insel war gar nicht wiederzuerkennen. Im Walde hörte man keinen
einzigen Vogel zwitschern, und es war kein Tier auf dem Felde. Auch
Menschen sah man nicht. Kein Rauch stieg aus den Schornsteinen der
Häuser auf; alle Fenster und Türen waren weit geöffnet. Von Getreide
war keine Spur zu sehen, alles Gras war weg; die Bäume hatten nur
noch wenige Blätter, viele von ihnen waren gestürzt, bei andern waren
die Zweige abgestorben. Es war ein trauriger Anblick. Da begann die
Schwalbe zu glauben, sie sei verkehrt geflogen, aber dann kam der
Zeisig und setzte sich neben sie. Er war mager und zerzaust und sah
traurig drein.

„Was in aller Welt bedeutet das hier?“ fragte die Schwalbe.

„Das darfst du wohl fragen,“ erwiderte der Zeisig. „Ich bin der einzig
Überlebende auf der ganzen Insel, und ich werde auch sterben, ehe die
Woche um ist. Denn ich glaube nicht, daß ich die Kraft habe, mit dir zu
fliegen.“

„Was ist denn geschehen?“ fragte die Schwalbe.

„Es sind die Heuschrecken,“ erzählte der Zeisig. „Sie sind zur
Hochsommerzeit gekommen und haben die ganze Insel kahlgefressen.“

„Das verstehe ich nicht,“ sagte die Schwalbe. „Ich habe einmal weit,
weit in Afrika mit einem Heuschreckenweibchen gesprochen. Sie spielte
Violine und fraß Gras, ohne sonst einer Menschenseele etwas zuleide zu
tun ... Ja ... wart’ ein wenig ... jetzt entsinne ich mich, daß sie
davon sprach, daß ihre Kinder nach Norden reisen sollten ... Millionen
von Kindern sollten zur Welt kommen.“

„Die sind zur Welt gekommen,“ sagte der Zeisig. „Millionen und
Billionen und Trillionen. Sie sind über uns hergefallen gleich einer
schwarzen Wolke und haben das Ganze aufgefressen.“

„Mit dem Gras und den Blüten mag es hingehen,“ sagte die Schwalbe.
„Aber wo sind die Kühe und Pferde und Menschen geblieben? Die haben sie
doch nicht fressen können.“

„Nicht so unmittelbar,“ antwortete der Zeisig. „Aber nun sollst du
hören.“

Da bekam die Schwalbe plötzlich Angst. Es fiel ihr ein, daß das
Heuschreckenweibchen sich so genau nach dem grünen Lande im Norden
erkundigt und seinen Kindern in den Eiern zugeflüstert hatte, daß sie
dorthin ziehen sollten.

„Um Gottes willen ... sag’ mir zu allererst, wohin die Heuschrecken
gezogen sind,“ fragte sie.

„In den Tod,“ erwiderte der Zeisig. „Nicht viele von ihnen sind mit dem
Leben davongekommen.“

„Erzähle,“ sagte die Schwalbe beruhigt.

Und der Zeisig erzählte.

Daß sie gekommen wären, wie sie zu kommen pflegten, und daß sie am
Himmel gestanden hätten als eine ungeheure schwarze Wolke, die dann
über die Insel niedergefallen wäre. Die Wolke wäre größer als die Insel
gewesen, so daß viele der Tiere ringsum ins Meer gefallen wären. Und
nur einen Tag hätte es gedauert, bis alle grünen Hälmchen aufgefressen
waren.

„Und was dann?“ fragte die Schwalbe.

„Dann entstand am Abend ein entsetzlicher Sturm,“ berichtete der
Zeisig. „Noch nie habe ich solch einen Sturm erlebt. Die Dächer flogen
von den Häusern, die Bäume im Walde zerbrachen, und die Wogen rollten
in Bergeshöhe auf die Küste zu. Und dieser Sturm vernichtete das ganze
Heuschreckenheer. Als er vorüber war, da war das Meer, soweit man sehen
konnte, mit toten Heuschrecken bedeckt. In vielen Schichten lagen sie
da, gleich einer dicken Decke, die auf und nieder wogte. Das Ufer war
ganz mit Leichen angefüllt, und jeder Wellenschlag brachte mehr und
mehr heran. Zuletzt umgab ein gewaltiger Wall von toten Heuschrecken
die ganze Insel. Denn es war gleichgültig, woher der Wind wehte; das
Meer war überall voller Leichen, und sie trieben hierhin und dorthin
und endigten sämtlich auf der Insel.“

„Das war gut für sie,“ sagte die Schwalbe.

„Vielleicht,“ sagte der Zeisig. „Aber es war nicht gut für uns. Denn
dann kam die Pest.“

„Erzähle,“ bat die Schwalbe.

„Es ist bald erzählt,“ sagte der Zeisig. „Auf den Sturm folgte eine
Windstille, und dann folgte viele Wochen hindurch eine solche Wärme,
wie sie noch niemand je erlebt hatte. Die Sonne brannte vom Morgen bis
zum Abend hernieder, die Bäume ließen ihre entblätterten Zweige hängen,
alles Wasser trocknete ein, und Tiere und Menschen saßen still da und
ächzten und konnten sich kaum bewegen.“

„Und dann?“

„Dann kam die Pest,“ fuhr der Zeisig fort. „Die toten Heuschrecken
verfaulten, und es entstand ein entsetzlicher Gestank, der sich mit
jedem Tage verschlimmerte. Ein ganzer Nebel von Gift und Fäulnis lag
über der Insel. Die Tiere wurden krank, und die Menschen wurden krank.
Die Fliegen fielen tot aus der Luft herab, die Vögel piepten und waren
im selben Augenblick entseelt. Die Pferde und Kühe stürzten tot zu
Boden. Die Menschen seufzten auf, wo sie saßen und Qualen litten, und
dann war es vorbei. Es war die Pest, die alle lebenden Wesen ergriff.
Ich bin der einzige Überlebende auf der Insel, und ich sterbe, bevor es
Abend wird.“

„Das ist ja eine grauenhafte Geschichte,“ sagte die Schwalbe. „Das
einzige Gute daran ist, daß auch die Heuschrecken tot sind. Das
kommt davon, wenn man den Mund zu weit auftut. Und dann spuckten sie
obendrein ihr Futter wieder aus. Hätten sie wie andere ordentliche
Leute gegessen, so wäre genug für sie und für uns alle vorhanden. Ich
will daran denken, es da unten zu sagen, wenn ich in das Land komme, wo
sie wohnen. Wie seltsam! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön
das Heuschreckenweibchen Violine spielte!“

Sie saß ein Weilchen da und dachte über die Sache nach. Dann lüftete
sie die Flügel.

„Jetzt muß ich fort,“ sagte sie. „Willst du mit?“

Der Zeisig antwortete nicht. Er war vom Zweige herabgefallen und lag
tot auf der Erde.

Da flog die Schwalbe allein weiter.

[Illustration]




[Illustration]




Der alte Pfahl.


An einer Stelle im Limfjord in Jütland stand einmal ein alter +Pfahl+.

Niemand wußte, wie er dahingekommen war. Er wußte es selbst nicht mehr,
so alt war er. Und zuweilen war es recht ärgerlich für ihn, daß er dort
stand.

Eines Tages lief ein Dorsch mit der Stirn gegen ihn und fluchte darob
ganz grauenhaft.

„Du mußt mir nicht böse sein, mein lieber Dorsch,“ sagte der Pfahl.
„Ich kann mich nicht von der Stelle rühren, aber du kannst es. Sieh
dich vor und schwimm ein andermal um mich herum.“

Und dann stieß eines Tages ein Boot gegen den Pfahl; denn er reichte
nicht bis über die Wasserfläche, so daß man ihn von oben hätte sehen
können.

„Wozu in aller Welt steht denn hier dieses alte Gestell von Pfahl!“
rief der Mann in dem Boote ärgerlich.

„Ich weiß es wahrhaftig nicht,“ erwiderte der Pfahl sanftmütig. „Ihr
dürft deswegen nicht böse auf mich sein, denn ich kann nichts dafür.
Ich habe mich nicht selbst hierher gesetzt und kann mich nicht mehr
darauf besinnen, wer es getan hat. So alt bin ich. Will jemand mich
wegnehmen, so sei er so gut! Ich hab’ die Sache längst satt.“

[Illustration]

So bescheiden sprach der Pfahl jedesmal, wenn er jemandem unbequem war.
Aber man antwortete ihm nie. Denn niemand hörte, was er sagte. Die
Sache war die, daß er seine Reden in den Bart hineinmurmelte.

Einen +Bart+ hatte er nämlich.

Einen großen, grünen Tangbart, darin sich kleine Muscheln und Schnecken
und andere Tiere aufhielten. Dieser Bart wallte im Strome hin und her,
war sehr hübsch und gab dem Pfahl ein ehrwürdiges Aussehen, so daß er
durchaus Respekt bei der Jugend verdient hätte.

Aber die Jugend ist nun einmal nicht anders. Und es quälte den Pfahl
über die Maßen, daß er nicht Rede und Antwort auf die Frage stehen
konnte, welchen Sinn sein Leben hier im Fjord habe. Wenn er es gekonnt
hätte, würde er größere Achtung bei den Leuten genossen haben, davon
war er überzeugt. Aber wie sehr er sich auch mit seinen alten Gedanken
quälte, es schwebte ihm nur eine undeutliche Erinnerung daran vor,
daß er einmal jung und grün gewesen war und Blätter und Zweige gehabt
hätte. Dann war er als Nutzholz gefällt worden ... aber was für Nutzen
hatte er gestiftet?

Der einzige Lichtpunkt im Leben des alten Pfahls waren seine beiden
Logiergäste.

Zuerst war da der +Bohrwurm+.

Das war ein komischer Kerl, der eines Tages kam und sich daran machte,
den Pfahl auf das sorgfältigste zu untersuchen, ohne um Erlaubnis zu
bitten oder überhaupt ein Wort zu sagen. Er hatte einen langen, weichen
Würmerleib, an dessen Ende ein paar Luftgefäße saßen, während sich am
andern Ende zwei kleine harte Schalen befanden.

Als er genug herumgeschnuppert hatte, fing er an, sich mit den Schalen
in den Pfahl hineinzubohren, und die Arbeit machte ihm nicht lange zu
schaffen. Bald war sein ganzer langer Körper darin geborgen. Von Zeit
zu Zeit steckte er die Luftgefäße zu dem Loche hinaus. Und im übrigen
fuhr er fort zu bohren und zu wühlen, so daß der Pfahl dachte, er würde
zusammenbrechen.

„Guten Tag in der Stube,“ sagte schließlich der Pfahl.

„Guten Tag, guten Tag,“ erwiderte der Bohrwurm. „Entschuldige, ich
vergaß gewiß, mich vorzustellen. Ich bin der Bohrwurm, und ich möchte
gerne bei dir wohnen.“

„Du bist willkommen,“ sagte der Pfahl. „Wenn du dich nur wohl fühlst!
Es ist immer ein Vergnügen für ein altes Wrack wie mich, sich nützlich
machen zu können. Und dann ist es ja schön, wenn man hier und da ein
wenig mit jemand plaudern kann.“

„Ich habe nicht viel Zeit zum Plaudern,“ antwortete der Bohrwurm. „Aber
da kommt die Auster. Ich werde dich ihr empfehlen, falls sie sich die
Hörner abgelaufen hat und daran denkt, sich festzusetzen. Das ist eine
redselige Mamsell, das kannst du mir glauben. Sie gehört zu meiner
Familie, ist aber zu fein für einen Arbeitsmann wie mich.“

Und dann kam die +Auster+.

Der Bohrwurm rief sie an und erzählte, daß hier eine gute Wohnung bei
dem alten Pfahl frei sei.

„Wenn ich euch nur beide unterbringen kann,“ sagte der Pfahl betrübt.
„Ich möchte so gerne; aber wenn du ebenso in mir herumrumorst wie der
Bohrwurm, dann wird es, denke ich, kein gutes Ende nehmen.“

„Es braucht dir nicht bange zu sein,“ erwiderte die Auster und lachte
still und vornehm vor sich hin. „Der Bohrwurm und ich haben nicht viel
gemeinsam, und wir leben jeder auf seine Weise. Ist das Wasser hier in
der Gegend frisch? Rinnt es lebhaft? Ist der Grund klar?“

„Das glaube ich wohl,“ sagte der Pfahl. „Aber du fragst ja nur nach den
Bequemlichkeiten +außerhalb+ des Hauses.“

„Das ist das einzige, was mich interessiert,“ entgegnete die Auster.
„Und ich frage nicht deshalb, weil ich ausgehen und mich unterhalten
will. Wenn ich mich jetzt auf dir festsetze, dann bleibe ich sitzen und
rühre mich nie vom Fleck.“

„Gott behüte,“ sagte der Pfahl. „Dann bist du ja ein unvergleichlich
ruhiger Logiergast ... Darf ich fragen, ob du nicht wenigstens hin und
wieder ausgehst, um zu essen?“

„Das könnte mir nie einfallen,“ sagte die Auster. „Ich gähne nur.
Dann fließt mir das Wasser mit all seinem kleinen Gewürm in den Magen
hinein, und dann bin ich satt.“

„Sehr vornehm,“ bemerkte der Bohrwurm.

„Untertänigst willkommen,“ sagte der Pfahl.

So saß nun die Auster da und blieb sitzen. Der Bohrwurm nagte, und
der Bart des alten Pfahls wogte im Strome hin und her. Wenn er
zwischendurch einmal melancholisch wurde, klagte er seinen Logiergästen
sein Leid.

„Wüßte man nur, warum man überhaupt in die Welt gesetzt ist und gerade
hier in den Limfjord,“ sagte er oft.

„Ich wohne ja in dir ... ist dir das nicht genug?“ fragte der Bohrwurm.

„Du hast die Ehre, +mich+ zu beherbergen,“ fügte die Auster hinzu. „Und
ich bin das vornehmste Tier im Meere.“

„Zum Teufel, ist das wahr?“ fragte der Pfahl.

„Es ist wahr,“ erwiderte die Auster. „Ich will dir etwas sagen ... Ich
bin überzeugt, daß du nur deshalb hierher in den Fjord gesetzt bist,
damit ich auf dir wohnen soll.“

„Sollte das möglich sein?“ fragte der Pfahl. „Du darfst nicht böse
auf mich werden ... Aber dann ist es doch verwunderlich, daß du nicht
früher gekommen bist. Ich stehe hier seit vielen, vielen Jahren, so
lange schon, daß ich mich gar nicht mehr auf den Anfang besinnen kann.
Und früher bin ich ein anderer Kerl gewesen. Jetzt bin ich nur ein
altes Wrack.“

„Spät ist besser als nie,“ versetzte die Auster. „Und ich bin vorläufig
recht zufrieden mit dir.“

„Hättest du etwas dagegen, wenn du mir ein wenig von deiner Vornehmheit
erzähltest?“ fragte der Pfahl.

Die Auster gähnte mit Wohlbehagen und ließ das Wasser aus- und
einströmen.

„Nicht das geringste,“ sagte sie. „Ich habe nichts anderes zu tun als
zu gähnen und zu fressen und Schicht auf Schicht auf meine Schalen
zu legen, darum habe ich Zeit genug für ein Plauderstündchen. -- Du
mußt wissen, daß meine Vornehmheit eigentlich erst bei meinem Tode zum
Vorschein kommt.“

„O weh!“ rief der Pfahl.

„Ich kann dein Bedauern wohl verstehen,“ fuhr die Auster fort. „Es ist
allzu natürlich. Aber es ist nicht vornehm. Und wenn ich plötzlich
etwas Feines würde und dann stürbe, sobald ich das Glück erreicht
hätte, dann würdest du recht haben. Aber so verhält es sich gar nicht.
Ich bin fein von meiner Geburt an. Mein Leben und mein Wohlergehen sind
Kostbarkeiten. Mein Tod ist ein Fest.“

„Wollen Sie mir nicht sagen, für wen Sie so viel Wert haben?“ fragte
der Pfahl.

„Gerne,“ antwortete die Auster. „Das ist wahrhaftig kein Geheimnis. Die
+Menschen+ sind es, die vornehmsten Geschöpfe der Welt. Dieselben, die
dich hierher ins Wasser gesetzt haben. Die Menschen sind überhaupt die
Beherrscher der Welt.“

„Wenn ich mir erlauben darf, meine Meinung zu äußern,“ sagte der
Bohrwurm, „so gibt es doch auch Dinge, über die die Menschen keine
Macht haben. Zum Beispiel mich.“

„Lieber Bohrwurm,“ erklärte die Auster. „Natürlich gibt es winzige
Dinge, aus denen sich die Menschen nichts machen.“

„Ja, aber aus mir machen sie sich etwas,“ sagte der Bohrwurm. „Ich
ärgere sie, wenn ich mich in ihre Schiffe und in ihre Brücken
hineinbohre und sie zerstöre.“

[Illustration: „Ein Mann kam auf dem Boden gegangen ....“]

„Du sprichst so laut und bist so rechthaberisch,“ tadelte die Auster.
„Man kann gleich merken, was für ein gewöhnlicher Kerl du bist.“

„Unterbrich die Auster doch nicht immer,“ sagte der Pfahl.

In diesem Augenblick entstand eine starke und ungewöhnliche Bewegung im
Wasser.

Ein Mann kam auf dem Boden gegangen. Er hatte einen Taucherhelm auf
dem Kopfe und guckte durch zwei große Glasaugen in die Runde nach den
Steinen, die dort lagen. Jetzt sah er die Auster scharf an.

„Noch nicht reif,“ sagte er und ging weiter.

„Wer in aller Welt war das?“ fragte der Pfahl.

„Das war der Fischer,“ erwiderte die Auster. „Es war doch immerhin ein
feierlicher Augenblick.“

„Du warst aber froh, daß du so leichten Kaufs davonkamst, Cousine!“
sagte der Bohrwurm.

„Viertelscousine, wenn ich bitten darf, falls wir überhaupt von
Verwandtschaft reden wollen,“ sagte die Auster. „Na -- es eilt nicht.
Ich erlebe es ja doch einmal.“

„Aber wenn er dich nun genommen hätte?“ fragte der Pfahl.

„Ja, dann wäre ich außerordentlich sorgfältig behandelt worden,“ sagte
die Auster. „Ich wäre zusammen mit meinesgleichen in einen Korb gelegt
worden ... nur zusammen mit meinesgleichen, verstehst du? Die Menschen
haben auch so etwas Ähnliches ... Sie nennen es Damenstifte, glaube
ich ... dahin dürfen auch nur adelige Damen kommen.“

„Werden die auch gegessen?“ fragte der Pfahl.

„Das glaube ich nicht,“ sagte die Auster. „Davon habe ich nie gehört.
Die haben kaum so ein flottes Lebensende. Sie sitzen wohl da und welken
hin.“

„Aber du?“

„Ja, der Korb wird dann irgendwohin gesandt, wo reiche, vornehme
Menschen sind. Da wird er geöffnet und wir werden herausgenommen. Wir
werden selber auch geöffnet und auf eine Schüssel gelegt, und dann
werden wir lebend gegessen.“

„Uha!“ sagte der Pfahl. „Mir scheint nun doch ...“

„Natürlich scheint dir das seltsam,“ sagte die Auster. „Das kann ich
so gut verstehen. Wie solltest du den Tod eines Kavaliers oder einer
vornehmen Dame begreifen können? Du, der du hier stehst und verfaulst.
Oder wie sollte es der Bohrwurm verstehen, der eines Tages tot in
seinem Hause liegt? Es ist gewiß am besten, ich erzähle euch gar nichts
mehr.“

„Ach doch, erzähle, bitte,“ sagte der Pfahl. „Kümmre dich nur nicht um
das Geschwätz eines alten, armseligen Pfahls!“

„Na schön,“ sagte die Auster. „Wie weit waren wir doch gekommen?“

„Du hörtest genau an der Stelle auf, wo du gegessen werden solltest,“
erwiderte der Bohrwurm. „Es ist wahrhaftig kein Wunder, daß du die
Geschichte ein wenig in die Länge ziehst.“

„Da haben wir wieder diese ungebildete Auffassung,“ sagte die Auster
und wandte sich dem Pfahl zu. „Na, ich will sie ignorieren ... Also,
wir werden auf die Schüssel gelegt, auf Eis, weißt du, viel Eis.
Denn, wenn wir kalt sind, kommen unsere edlen Eigenschaften am besten
zur Geltung; und dann werden wir auf einen Tisch gesetzt, der aufs
festlichste geschmückt ist. Geschliffene Gläser und schönes Porzellan,
feines Tischtuch, Blumen und viele Kerzen. Die Menschen, die rings um
den Tisch herum sitzen, sind auch so fein wie nur möglich. Und dann
wird Champagner eingeschenkt, und wir werden gegessen.“

„Lebend?“ fragte der Pfahl.

„Lebend, wie wir sind,“ erwiderte die Auster. „Wir sind ja nicht so
zappelig wie die niederen Tiere. Das ist überhaupt ein sicheres Zeichen
von Vornehmheit, daß man in allen Lebenslagen so ruhig wie möglich
bleibt.“

„Dann muß +ich+ über die Maßen vornehm sein,“ sagte der alte Pfahl und
lachte. „Denn ich habe mich in den vielen Jahren um keinen Zoll von der
Stelle gerührt.“

„Ich weiß wahrhaftig nicht, wie es sich mit den Pfählen verhält,“ sagte
die Auster. „Jetzt bist du jedenfalls ein Austernpfahl; und ich müßte
mich sehr irren, wenn es in deinem Stande möglich ist, noch höher zu
steigen. Übrigens mußt du mich jetzt für ein paar Tage entschuldigen.
Ich muß Kinder zur Welt bringen.“

[Illustration]

Der Pfahl schwieg ehrerbietig, während der Bohrwurm lustig in ihm
bohrte. Er wagte es höchstens, einen Seufzer von sich zu geben, um die
Auster in ihren Wochenbettbetrachtungen nur ja nicht zu stören. Und
auch die Auster war schweigsam und zurückhaltend für einige Zeit. Dann,
an einem schönen Julitag, öffnete sie die Schalen weit, und ein Strom
kleiner schwarzer Körner quoll hervor, die aussahen wie Schießpulver.

„Die jungen Austern,“ stellte sie vor.

„Ich hoffe, sie denken an mich, wenn sie sich häuslich niederlassen,“
sagte der Pfahl. „Das heißt, wenn ihre Frau Mutter bei mir zufrieden
gewesen ist. -- Es sind ja sehr viele.“

„Zwei Millionen,“ sagte die Auster.

„Gott steh uns bei!“ rief der alte Pfahl.

„Ich kann wohl verstehen, daß die Zahl dir groß vorkommt,“ erklärte die
Auster. „Du weißt ja eben nicht, wie es in vornehmen Häusern zugeht,
wo man nicht zu sparen braucht. Ich kann mich nicht gut auf weniger
einlassen. Du mußt wissen, daß es mit den allermeisten von ihnen schief
abläuft, ehe sie zwei Tage alt sind.“

„Gott steh uns bei!“ wiederholte der Pfahl. Es fiel ihm nichts anderes
ein. Es kam ihm so vor, als dächte die Auster zu großartig über alles.

„Junge Menschen aus unserem Stande sind einer Menge von Gefahren und
Versuchungen ausgesetzt, die einfacher Leute Kinder gar nicht kennen,“
sagte die Auster. „Und dann sind sie auch etwas wild und unbändig.
Daran ist gleichfalls das feine Blut schuld. Dazu ist nichts zu sagen,
daß sie sich ein wenig austoben, bevor sie in die vornehme Ruhe
versinken sollen, die einem echten Austerndasein das Gepräge verleihen
muß. Von denen, die übrigbleiben, lassen sich dann wieder die meisten
in unvernünftiger Weise nieder, ohne sich ordentlich vorzusehen. Ich
möchte es viel nennen, wenn in einem Jahr noch zwanzig am Leben sind.“

„Aber tust du denn nicht das geringste, um ihnen auf den rechten Weg zu
helfen?“ fragte der Pfahl.

„Das könnte mir nie einfallen,“ erwiderte die Auster. „Es paßt sich
durchaus nicht für meinen Rang und Stand, Kindermädchen zu spielen. Ich
würde außerdem mager davon werden und so meinen Platz nicht ausfüllen
können, wenn der große Augenblick kommt.“

„Ha ha!“ sagte der Bohrwurm. „Deinen Platz in einem Menschenmagen! Du
bist ganz verstört im Kopfe vor purer Vornehmheit, meine feine Cousine.“

Die Auster gähnte und schloß die Schalen wieder und tat, als ob
sie nichts gehört hätte. Aber der alte Pfahl versank in sonderbare
Gedanken, während sein ehrwürdiger Bart im Strome auf und ab wogte.

„Ich kann’s nicht verstehen,“ sagte er vor sich hin. „Wenn ich einen
kleinen lieben Pfahl hätte, der mein Alter erfreuen könnte, so würde
ich ihn besser behüten als mein eigenes Leben.“

Inzwischen schwammen die kleinen Austern ringsumher. Winzig klein waren
sie, rund, mit zwei kleinen Schalen und einem Büschel Haare an dem
einen Ende. Und sie waren ganz durchsichtig und in ihnen war etwas, das
aussah wie ein ~S~.

„Das bedeutet Schampanjer,“ sagte die alte Auster, die so fein war,
daß sie nie buchstabieren gelernt hatte. „Das ist ihr Adelsabzeichen.“

Sie spielten und mischten sich unter andere Austernkinder. Das Wasser
war ganz getrübt von ihnen, so viele waren es. Aber die Dorsche fuhren
mitten unter sie und würgten sie hinunter, und die Aale und Goldbutten
machten es ebenso. Auch die schnatternden Enten fraßen sie auf ... Da
waren genug, die ihnen zu Leibe wollten; aber es waren ja auch genug
Austernkinder vorhanden.

Fünf Tage später saßen elf kleine Austern auf dem Pfahl neben der
großen.

„Willkommen,“ sagte der Pfahl. „Ich werde alles tun, um die jungen
Herrschaften zufriedenzustellen.“

In den Tangbart setzten sich mehrere; ein paar setzten sich auf die
Steine des Grundes und ein paar auf den bloßen Sand.

„Das ist ausgezeichnet,“ lobte der Pfahl. „Wie munter und gesellig es
nun bei mir auf meine alten Tage wird!“

„Es ist nicht alles Gold, was glänzt,“ verkündete die alte Auster. „Wir
wollen abwarten.“

Und die Zeit verging.

Sie verging mit Gesprächen, wie sie früher vergangen war; und die
Gespräche waren immer dieselben. Der alte Pfahl beteiligte sich nicht
mehr immer daran, denn jetzt hatten die Austern sich ja untereinander,
und ihre Unterhaltung war ungeheuer vornehm. Aber der Pfahl hörte doch
zu und schob auch hin und wieder eine kleine bescheidene Bemerkung ein.

Da geschah es eines Tages, daß ein ganz außerordentlich niedriger
Wasserstand eintrat.

Der Meeresgrund lag von der Küste an bis weit in den Fjord hinaus offen
da. Alle Boote lagen auf dem Trockenen, und große Schiffe strandeten
und stürzten auf die Seite. Steine, die nie das Tageslicht erblickt
hatten, guckten nun über die Meeresfläche auf ... Alles war anders als
sonst; niemand konnte sich erinnern, je einen solchen Tiefstand des
Wassers erlebt zu haben.

[Illustration]

Mehr als die Hälfte des alten Pfahls ragte über die Wasserfläche
hervor, und er war außer sich vor Entzücken. Die Sonne trocknete
ein gutes Stück seines Innern, und er hatte ein Gefühl wie nie
zuvor. Er konnte über das Land hinsehen, wo der Wald stand, in dem
er aufgewachsen war; und es war, als ob sich der Nebel vor seiner
Erinnerung höbe.

„Wart’ ein wenig ... wart’ ein wenig!“ rief er. „Jetzt erinnere ich
mich daran ... Jetzt weiß ich es. ... Dort in jenem Walde habe ich
einmal gestanden und war lebendig und grün ... mit Blättern angetan ...“

„Schrei nicht so laut,“ ermahnte die alte Auster, die dicht unter der
Oberfläche des Wassers saß. „Du zitterst ja, daß das Wasser von mir
wegplätschert.“

„Ja, aber jetzt erinnere ich mich!“ rief der Pfahl entzückt. „Es taucht
alles wieder vor mir auf ... Es standen Blumen in dem Walde ... und die
Vögel sangen.“

„Sehr wohl möglich, lieber Pfahl,“ sagte die Auster. „Ich ehre deine
Gefühle. Es sind vermutlich solche Blumen gewesen, wie die Menschen
sie auf den Tisch stellen, wenn sie mich verspeisen. Aber die
Geschichte hier fängt wahrhaftig an, unangenehm zu werden. Ich bin oben
schon halb trocken ... Sinkt das Wasser noch einen Zoll, so muß ich den
schändlichsten Tod erleiden, der einer Auster widerfahren kann.“

Doch der alte Pfahl hörte und verstand nichts von dem, was sie sagte.

„Jetzt erinnere ich mich!“ rief er immer wieder. „Jetzt erinnere ich
mich an alles! Ich bin einmal in alten Tagen eine +Brücke+ gewesen. Sie
haben mich in den Erdboden eingerammt und haben mir eine Leibbinde von
Eisen gegeben, damit der Bohrwurm mich nicht zerstören sollte ...“

In diesem Augenblick ertönte in seinem Innern ein herzzerreißender
Seufzer.

„Ich sterbe ... Ich sterbe!“ stöhnte der Bohrwurm. „Die Sonne verbrennt
mich bei lebendigem Leibe ... Wasser ... Wasser ... Wasser!“

Da erwachte der Pfahl aus seinen Kindheitsträumen und wurde wieder der
brave Kerl, der in erster Linie für das Wohl seiner Gäste besorgt ist.

„Herr Gott! Herr Gott! Was sollen wir nur tun!“ rief er aus. Und er
schlug und peitschte mit seinem ehrwürdigen Tangbart, aber er erreichte
kaum noch das Wasser.

„Wir sterben! Wir sterben!“ seufzten die zwölf jungen, schönen Austern,
die in seinem Barte hingen. „Wasser ... Wasser ... Wasser!“

Und der Bohrwurm gab schließlich den Geist auf, und auch die zwölf
jungen, schönen Austern atmeten ihre Seelen in den klaren Sonnenschein
aus, so daß der alte Pfahl ganz verzweifelt war.

„Es hält schwer,“ sagte die alte Auster. „Aber es geht noch.“

Am folgenden Tage stieg das Wasser zu seiner alten Höhe.

„Gott sei Dank,“ sagte der Pfahl, als er wieder ganz vom Wasser umspült
wurde.

„Wir wollen erst sehen, was daraus wird,“ warnte die Auster. „Ich habe
ganz sonderbare Ahnungen.“

Und das Wasser stieg und stieg, und es begann zu wehen. Und der Wind
wurde zum Sturm. Von den Häusern an der Küste wurden die Dachziegel
herabgeweht. Zwei Boote kenterten, und die Menschen, die darin waren,
ertranken jämmerlich. Der alte Pfahl schwankte bedenklich unten am
Grunde. Die Steine auf dem Meeresboden stürzten rings um ihn um; sie
fielen aufeinander und zermalmten die Austern, die auf ihnen saßen.
Schlamm wurde vom Lande her in ganzen Wogen ins Meer geschwemmt und
bedeckte die Austern, die auf dem Sande saßen, so daß sie jämmerlich
erstickten.

Als der Sturm drei Tage lang gewütet hatte, ließ er endlich nach. Es
saßen noch sechs Austern an dem Pfahl unterhalb der alten. Der Pfahl
selbst war gerade über der Stelle, wo die Auster saß, zerbrochen, und
seine obere Hälfte schwamm Gott weiß wo.

„Da kannst du es selbst sehen,“ sagte die Auster. „Die sechs sind die
einzigen, die von meinem ungeheuern Kinderschwarm übriggeblieben sind.“

Da lachte der Pfahl auf eine sonderbare, einfältige, demütige Art, ohne
daß er Grund zum Lachen gehabt hätte. Er war nicht mehr ganz klar im
Kopfe. Ob der Anblick des Waldes daran schuld war und das Erwachen der
alten Erinnerungen oder der jämmerliche Tod, den so viele von seinen
Logiergästen erlitten hatten, oder der Verlust, den ihm selber der
Sturm zugefügt hatte ... genug, er hatte den Verstand verloren und
faselte allerhand dummes Zeug.

Das machte den jungen Austern ungeheuern Spaß.

Wenn sie zusammen von ihrer Vornehmheit sprachen und all dem Staat,
den die Menschen später mit ihnen machen würden -- von etwas anderm
sprachen sie nämlich nicht --, dann schwatzte der Pfahl mit, ganz als
ob auch er gegessen werden und mit Champagner hinuntergespült werden
sollte ... Und darüber lachten die Austern so sehr, daß sie beinahe
nicht mehr aufhören konnten.

Und mit der Zeit, als ein Jahr und zwei und drei Jahre verstrichen,
wurde der Pfahl immer spaßiger.

Er verfaulte immer mehr, und fortwährend lösten sich große Stücke von
ihm los, so daß er zuletzt eine ganz lächerliche Figur abgab.

„Du siehst aus wie ein ~S~,“ sagte eine von den jungen Austern.

„Das bedeutet Schampanjer,“ sagte der Pfahl vergnügt. Denn er war recht
einfältig und hatte nie buchstabieren gelernt.

Darüber lachten die jungen Austern so sehr, daß sie beinahe von dem
Pfahl abgefallen wären; doch die alte Auster befahl ihnen zu schweigen.

[Illustration]

„So etwas erlebt man so oft,“ sagte sie. „Das passiert alten
Dienstboten in vornehmen Häusern recht häufig. Sie haben sich so in
den Gedankengang der Herrschaft eingelebt, daß sie glauben, sie selbst
gehörten mit zur Familie. Das ist komisch. Aber es liegt doch auch
etwas Schönes und Rührendes darin.“

Da kam eines Tages im Oktober der Fischer auf dem Meeresgrunde
dahergewandert, mit der Taucherglocke auf dem Kopfe.

„I, da haben wir sieben schöne Austern,“ rief er erfreut aus.

„Jetzt kommt der große Augenblick,“ sagte die alte Auster.

Und der Fischer zog sein Messer hervor und wollte sie losschaben. Aber
als er die erste anrührte, zerbrach der Pfahl. Da warf er ihn mit allen
Austern in seinen Korb.

Als er ans Land kam, wurden die Austern abgenommen, eingepackt und in
die Hauptstadt geschickt. Der alte Pfahl aber wurde auf den Misthaufen
des nächsten Dorfes geworfen.

Da lag er in der Sonne und verfaulte im Nu; er knisterte vor Vergnügen
und murmelte vor sich hin:

„Lichter ... Blumen auf dem Tisch ... Legt mich auf Eis ... Champagner
...“

[Illustration]




Der Sperling.


Die Schwalbe war schlechter Laune. Sie setzte sich aufs Dach, dicht
neben den Starkasten, und ließ die Flügel hängen.

„Keine Mücke ist aufzutreiben!“ piepste sie kläglich. „Und ich bin so
hungrig, so hungrig.“

„Und ich hab’ heute noch keinen einzigen Wurm erwischt,“ sagte der Star
und schüttelte den klugen Kopf.

[Illustration]

Drüben auf dem gepflügten Felde, gerade vor der Gartenhecke, stand der
Storch und sah ganz melancholisch aus.

„Von euch hat wohl keiner einen Frosch gesehen?“ fragte er. „Unten im
Moor ist keiner; und ich habe heute noch nicht gefrühstückt.“

Da kam die Drossel geflogen und setzte sich auf das Dach des
Starkastens.

„Wie ihr die Flügel hängen laßt,“ sagte sie. „Was ist euch denn?“

„Ach,“ antwortete der Star, „nichts Besonderes, aber die Blätter fangen
an zu fallen, und die Schmetterlinge und Fliegen und Würmer sind
verzehrt.“

„Ja, das ist ja allerdings schlimm für euch,“ sagte die Drossel.

„Etwa nicht ebenso schlimm für dich, du Großmaul?“ sagte die Schwalbe.

Aber die Drossel trillerte vergnügt und schüttelte den Kopf.

„Durchaus nicht,“ sagte sie. „Hab’ ich doch immer noch die Tannen, die
verlieren nie die Blätter. Und dann kann ich noch viele Wochen lang von
all den herrlichen Beeren im Walde leben.“

„Wir wollen aufhören mit dem Gezänk,“ erklärte der Storch. „Wir wollen
lieber beratschlagen, was wir tun sollen.“

„Da ist wirklich nicht viel zu überlegen,“ antwortete der Star. „Wir
haben keine Wahl. Wir müssen abreisen. Alle meine Jungen fliegen jetzt
ganz gut; wir haben alle Morgen auf der Wiese exerziert. Ich habe sie
schon darauf vorbereitet, daß wir in den nächsten Tagen abreisen.“

Das leuchtete den anderen Vögeln ein, außer der Drossel, die meinte, es
habe keine Eile. Man verabredete also, am nächsten Tage unten auf der
Wiese zusammenzukommen, um Musterung unter den Reisegefährten zu halten.

Dann flogen sie auseinander, jeder seines Weges; aber oben unter dem
Dache saß der Sperling, und der hatte gehört, wovon sie sprachen.

„Ach, wer doch mitreisen könnte!“ dachte er. „Ich möchte so gerne die
fremden Länder sehen. Die Schwalbe, die gleich nebenan wohnt, hat
mir erzählt, wie schön es da ist. Da gibt es eine Menge Fliegen und
Kirschen und Getreide und solch wundervolle Wärme. Aber mich fordert
niemand auf mitzufliegen. Ich bin nur ein armseliger Sperling; und die
andern sind reiche, vornehme Vögel.“

[Illustration]

Lange saß er so da und dachte über die Sache nach; und je mehr er
nachdachte, desto betrübter wurde er. Als die Schwalbe am Abend nach
Hause kam, bat der Sperling, ob er nicht mitreisen dürfe.

[Illustration]

„Du? Du willst mit?“ rief die Schwalbe und lachte ihn höhnisch aus.
„Die Reise würdest du bald satt bekommen! Es geht in fliegender Fahrt
über Land und Meer und über Berg und Tal. Viele, viele Meilen fliegen
wir ohne Unterbrechung, ohne uns auszuruhen. Wie kannst du glauben, daß
deine kurzen Flügel dich so weit tragen können!“

„Ach, ich möchte so gerne mit!“ bat der Sperling. „Könntest du mir
nicht die Erlaubnis verschaffen, daß ich mit den andern fliegen darf?
Ich habe Ausdauer, und ich werde schon mitkommen.“

„Ich glaube, du bist verrückt,“ sagte die Schwalbe. „Du vergißt wohl,
wer du bist.“

„O nein,“ erwiderte der Sperling.

Aber die Schwalbe machte sich daran, ihn über seine soziale Stellung zu
belehren.

„Siehst du,“ sagte sie, „der reiche Kaufmann, der diesen Sommer über
hier in seinem Landhause gewohnt hat, ist jetzt in die Stadt gereist,
und der Baron von Taarnholm hat es ebenso gemacht. Die Maler, die sich
hier draußen aufgehalten haben, sind gleichfalls in Kopenhagen ... Und
erst im nächsten Frühjahr kommen sie wieder hier heraus. So machen
wir vornehmen Vögel es auch. Sobald wir den Winter spüren, reisen
wir dahin, wo es besser zu wohnen ist -- nach den warmen Ländern im
Süden. Aber ihr armen Burschen müßt natürlich zu Hause bleiben und Not
leiden. So hat unser Herrgott nun einmal die Welt eingerichtet ... Dem
Taglöhner und Kätner und anderen kleinen Leuten geht es nicht anders.“

Der Sperling schwieg zu dieser langen Rede still. Aber während die
Schwalbe in ihrem Neste schlief, lag er wach und weinte über sein
hartes Schicksal. Er hatte keineswegs die Hoffnung aufgegeben, doch
noch mitzukommen.

Am folgenden Tage kamen die Vögel aus allen Himmelsgegenden geflogen
und stellten sich unten auf der Wiese auf. Da waren Stare und Störche
und Schwalben und viele kleine Singvögel. Aber weder der Kuckuck noch
die Nachtigall waren darunter, denn die waren längst abgereist.

„Angetreten!“ kommandierte ein alter Storch, der zwanzigmal in Ägypten
gewesen war und darum als der Klügste von allen galt.

Alle Vögel stellten sich auf; und nun gingen die ältesten und
erfahrensten im Kreise herum und sahen nach, ob man sein Reisegepäck
in Ordnung habe. Alle, die zerzauste Flügel hatten, und denen
Schwanzfedern fehlten, oder die nicht gesund und frisch aussahen,
wurden verworfen und fortgejagt. Gehorchten sie nicht gleich, so wurden
sie ohne Barmherzigkeit totgeschlagen.

Auf einmal entstand ein großer Spektakel, als man den Sperling
entdeckte, der unbemerkt hinzugeflogen war und sich mit den anderen in
Reih und Glied aufgestellt hatte.

„So ein Bürschchen!“ rief der Star. „Er will auch mit!“

„So ein paar Flügel!“ spottete die Schwalbe; „mit denen glaubt er nach
Italien fliegen zu können.“

Und alle Zugvögel machten ein großes Geschrei und lachten den armen
Sperling aus, der ganz erschrocken mitten in dem Kreise saß.

„Ich weiß es wohl,“ sagte er ganz demütig, „ich bin nur ein armseliger
kleiner Sperling. Aber ich möchte so gerne die warmen, schönen Länder
sehen. Versucht es doch und nehmt mich mit! Ich werde schon meine
Flügel zu gebrauchen wissen. Ich bitte euch herzlich darum.“

„Ein naseweiser Kerl ist’s,“ sagte der alte Storch. „Aber sein elendes
Leben wollen wir ihm lassen. Jagt ihn geschwind weg!“

Da jagten die Vögel den Sperling weg, und er versteckte sich ganz
unglücklich unter dem Dache. Aber als die Musterung zu Ende war, fingen
die Zugvögel an davonzuziehen. Schwarm um Schwarm flog durch die Lüfte
von dannen, und der Sperling guckte ihnen vom Dache her traurig nach.

„Jetzt sind sie alle fort,“ sagte er, „und niemand außer mir ist
zurückgeblieben.“

„Ich bin auch noch hier!“ krächzte die Krähe.

„Und ich auch!“ sagte der Buchfink.

„Und ich, nicht zu vergessen, mit Verlaub!“ piepste die Kohlmeise.

„Ja,“ sagte der Sperling, „so geht es. Es kommt, wie die Schwalbe sagt.
Wir armen Vögel müssen hier bleiben und Not leiden!“

       *       *       *       *       *

[Illustration: „Auf einmal entstand ein großer Spektakel, als man den
Sperling entdeckte ...“]

Der Winter war gekommen.

Auf allen Feldern lag Schnee, und die Gewässer waren zugefroren. Die
Blätter lagen tot und zerknittert am Boden; und keine anderen Blumen
waren da als hier und dort ein kümmerliches verfrorenes Gänseblümchen,
das sich von dem gelben Grase abhob.

Und die Fliegen und Mücken und Schmetterlinge und Maikäfer waren tot.
Die Natter hielt ihren Winterschlaf und die Eidechse desgleichen. Auf
dem Grunde des Teiches hatte der Frosch sein Winterquartier bezogen. Er
saß ganz tief im Schlamm, nur das Maul ragte hervor; und so gedachte er
den ganzen Winter über zu sitzen.

Den Vögeln, die zurückgeblieben waren, ging es jedoch gar nicht so
schlecht.

Die Krähen hatten jeden Abend große Gesellschaft in dem Wäldchen und
krächzten und schwatzten, daß man es weit, weit hören konnte. Der
Buchfink und die Kohlmeise hüpften vergnügt in den Büschen umher und
pickten auf, was sie finden konnten.

[Illustration]

Nur der Sperling war beständig verzagt. Er saß auf dem Dachfirst und
kroch in sich zusammen und dachte die ganze Zeit an die Zugvögel.

„Jetzt sind sie da unten,“ sagte er. „Hier liegt Schnee und Eis. Aber
im Süden in den wunderschönen, warmen Ländern ist ewiger Sommer.
Hier habe ich kaum das trockene Brot, aber da unten schwelgen sie im
Überfluß. Ach, wer doch mitgereist wäre!“

„Komm herunter zu uns!“ riefen der Buchfink und die Kohlmeise.

Aber der Sperling schüttelte den Kopf und blieb auf dem Dache sitzen.

„Ich sterbe vor Sehnsucht, ich kann es nicht aushalten!“ schrie er und
machte einen langen Ausflug durch die Luft, um sein Blut zu beruhigen.

Aber es half nichts. Wo er auch hinkam, alles kam ihm ärmlich und kahl
vor. Draußen auf dem Felde stieg die Lerche empor und sang ihre Triller.

„Guten Morgen, Spatz!“ zwitscherte sie. „Es freut mich zu sehen, daß
du daheim geblieben bist. Ich bleibe auch hier, solange ich es nur
aushalten kann. Es ist so wunderschön hier in der Heimat, und im
Winter. Sieh nur, wie sich die Bäume mit Reif geschmückt haben, und wie
blank das Eis und wie glänzend weiß der Schnee ist!“

„Hier ist’s erbärmlich,“ erwiderte der Sperling. „Armut und Not
allerwegen.“

Aber die Lerche hörte gar nicht, was er sagte; jubelnd flog sie weiter.

„Rab!“ krächzten die schwarzen Dohlen. „Der Winter ist gar nicht so
schlimm.“

[Illustration]

Und stolz spazierten sie auf dem Felde umher und sahen sich nach allen
Seiten um, denn sie wußten, daß sie sich gut ausnahmen auf dem weißen
Schnee.

„Der Winter ist eigentlich ganz erträglich,“ sagte die Waldmaus und
steckte die Schnauze zu ihrem Loche hinaus. „Dauert er nur nicht zu
lange, so reicht der Vorrat schon aus. Ich habe meine Speisekammer im
Sommer gut gefüllt; und solange man zu essen hat, bleibt man immer
warm.“

Der Sperling hörte das alles, aber es half ihm nichts.

„Die scheinen mit ihrem Lose zufrieden zu sein,“ sagte er, „und das ist
ja gut für sie. Ich jedoch kann mich nicht in mein armseliges Dasein
finden.“

Mißmutig flog er nach Hause und setzte sich wieder auf das Dach.

„Nun weiß ich, was ich tun werde!“ sagte er plötzlich. „Ich will in das
Nest der Schwalbe kriechen. Da will ich heute nacht schlafen; dann kann
ich träumen, ich wäre eine Schwalbe.“

Das tat er auch, und die ganze Nacht träumte er, er flöge über Berge
und Täler dahin, über Länder und Meere, bis nach Italien. Ihm war so
leicht zumute, so frei; seine Flügel trugen ihn pfeilschnell durch die
Luft -- es war der herrlichste Traum, den er je gehabt hatte.

Von nun an kroch er jeden Abend in das Schwalbennest hinein und blieb
bis in den hellen Tag hinein darin liegen. Wenn er herauskam, setzte er
sich auf den Dachfirst oder in den kahlen Lindenbaum und kroch in sich
zusammen. Und wenn die Frau des Gärtners ihm nicht hin und wieder ein
paar Krumen hingeworfen hätte, dann wäre er sicher verhungert.

Denn er kümmerte sich um nichts -- sehnte sich nur darnach, daß es
Abend würde, damit er wieder träumen konnte. Und jeden Abend träumte er
unermüdlich ein und dasselbe.

„Das ist beinahe ebensogut wie Reisen,“ dachte er. „Könnte ich doch nur
auch am Tage träumen!“

Aber allmählich wurde er ganz wirr im Kopfe und achtete auf nichts mehr.

Nach und nach verstrich der Winter. Die Tage wurden länger und der
Sonnenschein wärmte wieder mehr.

„Was, bist du noch hier?“ fragte die Sonne den Schnee.

[Illustration]

Und unablässig starrte sie auf ihn nieder, bis der Schnee zuletzt ganz
verlegen wurde und schmolz und in die Erde sank.

„Wart’ ein wenig,“ sagte die Wolke zur Sonne, „wir müssen erst ein
großes Reinemachen veranstalten, ehe du an die Arbeit gehen kannst.“

Da fiel sie als Gußregen zur Erde nieder, wusch die Zweige der Bäume
und Büsche und sammelte sich zu einem richtigen kleinen See oben auf
dem Eise.

„Nun komme ich! Nun komme ich!“ sagte der wirkliche See, der unter dem
Eise war.

Er hob seine Brust und sprengte mit einem mächtigen Seufzer die
Eisdecke, so daß alle die kleinen Wellen hüpften und tanzten wie
Jungen, die der Schule entronnen sind.

[Illustration]

Und nun brach die Sonne durch die Wolken, und tausend kleine grüne
Zweige guckten aus der Erde hervor.

„Leih mir deine Flügel!“ sagte der Winter zum Sturmwind. „Ich muß fort!“

Und weg flog er nach den kalten Ländern hoch im Norden, wo immer Winter
ist.

Aber der Junker Frühling schickte Botschaft, daß man ihn nun bald
erwarten könne.

Der einzige, der nichts merkte, das war der Sperling.

Er lag jetzt den ganzen Tag in dem Schwalbennest und flog nur ein
Viertelstündchen aus, um ein wenig Nahrung in den Leib zu bekommen. Er
hatte keine Ahnung davon, daß es jetzt wieder Sommer werden sollte.
Denn er war ganz närrisch geworden und bildete sich ein, er wäre die
Schwalbe.

Aber dann kehrte die Schwalbe eines Tages zurück.

„Tsi! Tsi!“ trillerte sie. „Ist alles bereit, uns aufzunehmen?“

Sie wollte erst selber nachsehen, und darum flog sie den ganzen Tag auf
Feld und Wiese umher.

„Sehr viele Mücken sind noch nicht da; aber die können ja noch kommen,“
sagte sie am Abend, als sie zurückflog.

Sie guckte in den Starkasten hinein, um den Nachbarn zu begrüßen; aber
da war gerade niemand daheim; und dann schickte sie sich an, zu Bett zu
gehen.

Aber als sie in ihr Nest kriechen wollte, merkte sie, daß jemand darin
lag.

[Illustration]

„Was ist das?“ schalt sie. „Wer hat sich unterstanden, mein Nest in
Besitz zu nehmen?“

„Das ist nicht dein Nest!“ sagte der Sperling, der darin lag; „ich bin
die Schwalbe! Ich bin soeben von Afrika heimgekehrt. Das kannst du
mir glauben; da unten war es herrlich; ich kann dir eine ganze Menge
erzählen.“

Die Schwalbe war einen Augenblick sprachlos. Dann aber schrie sie
wütend:

„Ja, das kannst du mir glauben, ich werde dir etwas erzählen, du
erbärmlicher Spatz! Konnte ich es mir nicht denken, daß du es warst,
der so frech gewesen ist, mir mein Nest zu stehlen! Du warst ja schon
im vorigen Jahr nicht ganz richtig im Kopfe. Willst du jetzt wohl
machen, daß du herauskommst, und zwar geschwind!“

Aber es half nichts, soviel die Schwalbe auch schreien und drohen
mochte. Der Sperling war fest davon überzeugt, daß er in seinem guten
Rechte war. Er fuhr fort, der Schwalbe zu erzählen, daß er eben aus
Afrika heimgekehrt, und daß er sehr müde sei; nun wolle er Ruhe zum
Schlafen haben.

„Ich werde mich rächen!“ sagte die Schwalbe und flog fort.

Aber im Neste lag der Sperling seelenruhig und schlief. Er träumte
von den warmen, schönen Ländern mit allen den Mücken und Fliegen und
Kirschen.

Er schlief noch immer, als die Schwalbe mitten in der Nacht wiederkam.
Den breiten Schnabel hatte sie voll Schlamm; und in aller Stille begann
sie, das Nestloch zu vermauern. Die ganze Nacht flog sie hin und
zurück; und als die Sonne aufging, war das Loch dicht verschlossen.

„Jetzt kann der da drinnen zufrieden sein!“ dachte sie und fing an,
sich ein neues Nest zu bauen.

Drei Tage später trafen sich die Schwalbe und der Star auf der Wiese.
Sie begrüßten sich und erzählten, was sie erlebt hatten seit dem Herbst.

„Das Sonderbarste kommt zum Schlusse!“ sagte die Schwalbe. „Kannst du
dir denken ... als ich nach Hause kam, hatte der Sperling mein Nest in
Beschlag genommen; und ich konnte ihn gar nicht herausbekommen.“

„Was!“ rief der Star. „Was hast du denn da mit ihm angefangen?“

„Komm mit, dann wirst du sehen,“ antwortete die Schwalbe. Sie flogen
beide zu dem Neste; und die Schwalbe erzählte, wie sie sich gerächt
hatte.

Sie hackten mit ihren Schnäbeln ein Loch in das Nest; und der
unglückliche Sperling fiel tot zu Boden.

„Es geschah ihm recht,“ sagte die Schwalbe; und der Star nickte, denn
er war derselben Meinung.

Aber der Buchfink und die Kohlmeise standen unten auf der Erde und
betrachteten den toten Vogel.

„Der arme Sperling,“ sagte der Buchfink, „er tut mir leid.“

Doch die Kohlmeise erwiderte: „Er konnte kein besseres Geschick
erwarten. Er war ehrgeizig; und das darf man nicht sein, wenn man ein
Sperling ist.“

[Illustration]




Die Bienenkönigin.


Der Bauer machte seinen Bienenkorb auf.

„Heraus mit euch!“ sagte er zu den Bienen. „Die Sonne scheint, und
überall springen die Blumen auf, daß es ein Vergnügen ist. Jetzt seid
mir schön fleißig und sammelt mir recht viel Honig, damit ich ihn im
Herbst dem Kaufmann bringen kann! Eins muß zum anderen kommen, und ihr
wißt wohl, es steht schlimm mit der Landwirtschaft.“

[Illustration]

„Was geht uns deine Landwirtschaft an!“ summten die Bienen.

Aber sie schwärmten doch aus, denn sie hatten den ganzen Winter im
Bienenkorb gesessen und hatten die frische Luft bitter nötig. Mit
Summen und Brummen streckten sie sich und versuchten, ihre Flügel zu
gebrauchen. Allerorten wimmelten sie hervor, kletterten am Korbe auf
und nieder, flogen auf die Blumen und Büsche und spazierten auf der
Erde umher.

Einige hundert Bienen waren es.

Zuletzt kam die Königin. Sie war größer als die anderen und herrschte
über den Bienenstaat.

„Hört jetzt auf mit den Narrenstreichen, Kinder!“ befahl sie, „und
macht euch an die Arbeit! Eine ordentliche Biene faulenzt nicht,
sondern faßt tüchtig mit an und nützt ihre Zeit aus.“

Dann teilte sie sie in Kompagnien ein und gab ihnen Anweisungen für
ihre Arbeit.

[Illustration]

„Ihr da fliegt aus und seht nach, ob Honig in den Blüten ist! Die
zweite Kompagnie kann Blütenstaub sammeln, und wenn ihr nach Hause
kommt, liefert ihr alles hübsch an die alten Bienen dort ab!“

Und fort flogen sie. Aber alle Jungen waren noch übrig. Sie standen in
der letzten Kompagnie, denn sie waren noch nie mit dabei gewesen.

„Was sollen +wir+ tun?“ fragten sie.

„Ihr? Ihr sollt +schwitzen+!“ erwiderte die Königin. „Eins, zwei, drei!
Dann fangen wir mit der Arbeit an.“

Und sie schwitzten, so schön sie es gelernt hatten; das prächtigste
gelbe +Wachs+ drang aus ihrem Körper hervor.

„So ist’s recht!“ lobte die Königin. „Jetzt fangen wir an zu bauen.“

Und die alten Bienen nahmen das Wachs und begannen, eine Menge
kleiner, sechseckiger Kammern zu bauen, allesamt gleichmäßig und dicht
aneinander. Während sie noch bauten, kamen die anderen mit Blütenstaub
und Honig geflogen, den sie der Königin zu Füßen legten.

„Nun kneten wir Teig!“ sagte sie. „Aber gießt erst ein wenig Honig
hinein, dann schmeckt es besser!“

Sie kneteten und kneteten und fertigten niedliche, Bienenbrötchen an,
die sie in die Kammern trugen.

„Und jetzt bauen wir weiter!“ kommandierte die Bienenkönigin, und sie
schwitzten Wachs aus und bauten, daß es eine Lust war.

„Ich werde mich nun wohl an meine Arbeit machen müssen,“ sagte die
Königin und seufzte tief auf; denn das war das Schwerste vom Ganzen.

[Illustration]

Sie setzte sich mitten in den Bienenkorb und fing an, Eier zu legen.
Große Haufen legte sie; und die Bienen liefen herzu, nahmen die kleinen
Eier in den Mund und trugen sie in die neuen Kammern. Jedes Ei bekam
sein eigenes Stübchen; und als alle untergebracht waren, befahl die
Königin, an den Kämmerchen Türen anzubringen und sie fest zuzumachen.

„So ist’s gut,“ sagte sie, als sie fertig waren. „Jetzt könnt ihr mir
zehn schöne, große Stuben am Rande des Korbes bauen.“

Das taten die Bienen denn auch schleunigst und darauf legte die Königin
zehn niedliche Eier, eins in jede von den großen Stuben, und setzte
Türchen davor.

Tag für Tag flogen die Bienen aus und ein und sammelten große Haufen
von Honig und Blütenstaub; aber am Abend, wenn ihre Arbeit beendigt
war, machten sie die Türen ein klein wenig auf und guckten zu den Eiern
hinein.

„Paßt auf!“ sagte die Königin eines Tages. „Jetzt kommen sie.“

[Illustration]

Und auf einmal barsten alle Eier; in jedem Kämmerlein lag ein
niedlicher, kleiner Säugling.

„Was für Bürschchen das sind!“ sagten die jungen Bienen. „Die haben ja
keine Augen, und wo haben sie denn ihre Beine und Flügel?“

„Es sind +Maden+,“ sagte die Königin, „und so habt ihr Grünschnäbel
auch einmal ausgesehen. Man muß erst eine Made sein, ehe man eine
ordentliche Biene werden kann. Geschwind jetzt, gebt ihnen etwas zu
essen!“

Die Bienen hatten viel zu tun, um die Jungen zu füttern; aber sie
behandelten nicht alle gleich gut. Die zehn, die in den großen Stuben
lagen, bekamen so viel zu essen, wie sie nur wollten; und jeden Tag
wurde eine große Portion Honig zu ihnen hineingetragen.

„Das sind Prinzessinnen,“ sagte die Königin. „Darum müßt ihr sie gut
behandeln. Die andern könnt ihr knapper halten mit der Kost, das sind
nur Arbeiter, und sie müssen sich daran gewöhnen, zu nehmen, was man
ihnen gibt.“

Und die armen, kleinen Geschöpfe bekamen jeden Morgen ein Stückchen
Bienenbrot und mehr nicht; damit mußten sie sich zufriedengeben,
mochten sie auch noch so hungrig sein.

In einem von den sechseckigen Kämmerchen, dicht neben den Stuben der
Prinzessinnen, lag eine kleine, winzige Made. Sie war die jüngste von
allen und erst vor kurzem aus dem Ei gekommen. Sehen konnte sie nicht,
aber sie konnte ganz deutlich draußen die erwachsenen Bienen schwatzen
hören; und währenddessen lag sie mäuschenstill da und hatte ihre
eigenen Gedanken.

„Ich könnte wohl ein bißchen mehr essen,“ sagte sie und klopfte an ihre
Tür.

„Du hast genug bekommen für heute,“ antwortete die alte
Biene, die draußen auf dem Gange hin und her kroch und als
Bienen-Oberkindermädchen angestellt war.

„Ja, aber ich bin hungrig!“ rief die kleine Made. „Und dann möchte ich
in eine Prinzessinnenstube, hier wird’s mir zu eng.“

„Nun höre mal einer das an,“ sagte die alte Biene spöttisch. „Man
sollte meinen, sie wäre eine echte, rechte Prinzessin, bei den
Ansprüchen, die sie macht! Du bist auf der Welt, um dich abzurackern,
liebes Kind. Eine ganz gewöhnliche Arbeitsbiene bist du, und etwas
anderes wirst du nie, solange du lebst.“

„Aber ich will Königin werden!“ rief die Made und trommelte gegen die
Tür.

Auf solch dumme Rede gab die Alte natürlich gar keine Antwort, sondern
ging weiter zu den andern. Überall wollten sie mehr zu essen haben; die
kleine Made konnte alles hören.

„Das ist doch grausam,“ dachte sie bei sich, „daß wir so hungern
sollen.“

Und schließlich klopfte sie an die Wand, die an das Zimmer der
Prinzessin stieß, und rief:

„Gib mir ein bißchen von deinem Honig! Darf ich zu dir in deine Stube
kommen? Ich verhungere sonst hier, und ich bin doch nicht schlechter
als du!“

„Wart’ du nur, bis ich Königin bin!“ sagte die Prinzessin; „ich werd’
dir deine Unverschämtheit ankreiden, das kannst du mir glauben.“

Aber kaum hatte sie ausgesprochen, da fingen die anderen Prinzessinnen
an zu schreien und zu toben, daß es schrecklich anzuhören war.

„Du wirst nicht Königin! Ich werde es ... ich werde es!“ schrien sie
durcheinander und fingen an, auf die Wände loszuhämmern und einen
entsetzlichen Lärm zu machen.

Das Oberkindermädchen kam schleunigst herbeigelaufen und machte die
Türen auf.

„Was befehlen Ew. Gnaden?“ fragte die alte Biene mit vielen
Verbeugungen und Kratzfüßen.

„Mehr Honig!“ riefen sie alle wie aus einem Munde. „Aber ich zuerst,
ich zuerst; +ich+ werde Königin!“

„Auf der Stelle, auf der Stelle, Ew. Gnaden!“ antwortete das
Kindermädchen und lief von dannen, so schnell seine sechs alten Beine
es tragen konnten.

Bald darauf kam die Alte mit mehreren andern Bienen zurück.
Sie schleppten eine Menge Honig mit sich; den steckten sie den
unzufriedenen kleinen Prinzessinnen in den Mund; und nach und nach
schwiegen die denn auch still und legten sich schlafen.

Aber die kleine Made war wach und dachte nach. Sie war gar zu hungrig
und rüttelte an ihrer Tür.

„Gib mir Honig! Ich kann es nicht mehr aushalten! Ich bin nicht
schlechter als die anderen!“

Die alte Biene befahl ihr zu schweigen.

„Sei still, du kleiner Schreihals; die Königin kommt!“ Und da kam die
Königin auch wirklich schon.

„Macht daß ihr fortkommt,“ sagte sie zu den Bienen. „Ich will allein
sein!“

Lange stand sie stumm vor den Stuben der Prinzessinnen.

„Da liegen sie nun und schlafen!“ sagte sie endlich. „Essen und
schlafen, das können sie, vom Morgen bis zum Abend; und mit jedem Tag
werden sie größer und dicker. Noch ein paar Tage, dann sind sie groß
und kriechen aus. Und dann ist meine Zeit vorbei. Ich weiß es wohl! Ich
habe gehört, wie die Bienen davon sprachen, sie möchten eine jüngere
und schönere Königin haben, und dann jagen sie mich mit Schimpf und
Schande davon. Aber das lasse ich mir doch nicht gefallen. Morgen
schlage ich sie alle zehn tot; dann kann ich auf dem Thron bleiben, bis
ich sterbe.“

Damit ging sie, aber die kleine Made hatte alles mit angehört.

„Ach Gott!“ dachte sie, „eigentlich ist es doch schade um die kleinen
Prinzessinnen. Furchtbar eingebildet sind sie ja freilich, und häßlich
sind sie auch gegen mich gewesen; aber es wäre doch traurig, wenn die
alte Königin sie totschlüge. Ich glaube, ich sag’s dem alten Brummpeter
draußen.“

Und sie fing wieder an, auf die Tür loszutrommeln; und die alte Biene
kam angelaufen, aber diesmal war sie ordentlich böse.

„Jetzt nimm dich aber in acht, mein liebes Kind,“ sagte sie. „Du bist
die Allerjüngste und machst am meisten Lärm. Das nächstemal sage ich es
der Königin.“

„Hör’ mich doch erst mal an,“ sagte die Made; und sie erzählte den
bösen Plan der Königin.

„Du meine Güte, ist das wahr?“ rief die Alte und schlug vor Schreck mit
den Flügeln um sich. Und ohne weiter zuzuhören, machte sie, daß sie
fortkam, um es den andern Bienen zu erzählen.

„Mir scheint, ein wenig Honig hätte ich für meinen guten Willen
verdient,“ sagte die kleine Made. „Na, wenigstens kann ich mich jetzt
mit gutem Gewissen schlafen legen.“

Am nächsten Abend kam die Königin, als sie glaubte, alle Bienen wären
zu Bette, und wollte die Prinzessinnen töten. Die Made konnte hören,
wie sie laut mit sich selbst sprach; aber sie hatte Angst vor der bösen
Königin und wagte nicht, sich zu rühren.

„Wenn sie doch nur die Prinzessinnen nicht totschlüge!“ dachte sie bei
sich und rutschte näher an die Tür, um zu hören, was geschehen würde.

[Illustration]

Vorsichtig sah sich die Bienenkönigin nach allen Seiten um. Aber in
diesem Augenblick strömten auf einmal die Bienen herzu, packten sie, an
den Beinen und Flügeln und schleppten sie fort.

„Was soll das bedeuten?“ schrie sie; „seid ihr Rebellen?“

„Nein, Majestät,“ erwiderten die Bienen ehrerbietig; „aber wir wissen,
daß Sie vorhaben, die Prinzessinnen zu töten, und das können wir
unmöglich zulassen. Was sollen wir dann im Herbste anfangen, wenn Ew.
Majestät sterben?“

„Laßt mich los!“ schrie die Königin und versuchte sich loszureißen.
„Noch bin ich Königin und kann tun und lassen, was ich will. Woher wißt
ihr, daß ich zum Herbst sterben muß?“

Aber die Bienen hielten sie fest und schleppten sie vor den Bienenkorb.
Da ließen sie sie frei; sie aber schüttelte zornig ihre Flügel und rief:

„Ihr Aufrührer seid es gar nicht wert, daß ich über euch herrsche. Ich
bleibe keine Stunde länger hier, ich fliege fort und gründe mir einen
neuen Staat. Will einer mit von euch?“

Mehrere von den alten Bienen, die zusammen mit der Königin Maden
gewesen waren, erklärten, sie wollten mit ihr reisen, und bald darauf
flogen sie fort.

„Nun haben wir keine Königin,“ sagten die anderen Bienen. „Wir müssen
nur gut für die Prinzessinnen sorgen.“

Sie überfütterten die Prinzessinnen mit Honig vom Morgen bis zum Abend;
und sie wurden größer und größer, gediehen und zankten sich und machten
immer mehr Lärm, je älter sie wurden.

An die kleine Made dachte niemand.

Eines Morgens flogen die Türen zu den Stuben der Prinzessinnen auf,
und alle zehn traten als schöne, ausgewachsene Königinnen heraus. Die
andern Bienen kamen gelaufen und staunten sie mit bewundernden Blicken
an.

„Nein, wie schön sie sind!“ sagten sie. „Es ist schwer zu sagen, welche
die Schönste ist.“

„Ich!“ rief eine.

„Da irrst du dich,“ fiel eine andere ein und stach sie mit ihrem
Stachel.

„Was ihr euch einbildet!“ schrie die dritte; „ich sollte meinen, ich
bin denn doch viel schöner als ihr.“

Gleich schrien sie durcheinander, und bald entbrannte eine
heiße Schlacht. Die Bienen wollten sie trennen, aber das alte
Oberkindermädchen sagte zu ihnen:

„Laßt sie nur; dann sehen wir, welches die Stärkste ist, und die wählen
wir dann zur Königin. Mehr als eine können wir ja doch nicht brauchen.“

Die Bienen stellten sich rings im Kreise auf und sahen dem Kampfe zu.
Er dauerte lange, und es ging blutig her. Abgebissene Flügel und Beine
flogen in der Luft umher, und nach kurzer Zeit lagen acht Prinzessinnen
tot am Boden. Die zwei letzten kämpften noch lange miteinander. Die
eine hatte alle ihre Flügel eingebüßt, und die andere hatte nur noch
vier Beine.

„Wir bekommen eine invalide Königin, welche von beiden es auch sein
wird!“ sagte eine von den Bienen. „Wir hätten die alte behalten sollen!“

[Illustration]

Aber diese Bemerkung hätte sie sich sparen können, denn in diesem
Augenblick stachen sich die Prinzessinnen so heftig mit ihren Stacheln,
daß beide mausetot umfielen.

„Das ist eine schöne Geschichte!“ riefen die Bienen und liefen verstört
umher. „Jetzt haben wir keine Königin! Was sollen wir machen? Was
sollen wir machen?“

Verzweifelt und ratlos krochen sie in dem Bienenkorbe hin und her. Aber
die Ältesten und Klügsten setzten sich in einen Winkel und hielten Rat.
Sie redeten lange hin und her, was sie bei diesem unvorhergesehenen
Unglücksfall anfangen sollten; zuletzt nahm das Oberkindermädchen das
Wort:

„Ich will euch sagen, wie ihr aus der Klemme kommt; ihr braucht nur
meinen Rat zu befolgen! Ich kann mich noch entsinnen, daß dasselbe
Unglück einmal vor langer Zeit hier im Bienenkorb passiert ist. Damals
war ich selbst eine Made; ich lag in meiner Kammer und hörte deutlich,
was vorging. Alle Prinzessinnen hatten einander erschlagen, und die
alte Königin war weggeflogen -- ganz wie jetzt. Aber da nahmen die
Bienen eine von uns Maden und legten sie in eine von den Kammern der
Prinzessinnen. Täglich fütterten sie sie mit dem feinsten und besten
Honig, der im Bienenkorbe zu finden war, und als sie groß wurde, war
sie eine echte Königin. Ich besinne mich ganz genau auf die Sache,
denn ich war damals der Ansicht, sie hätten ebensogut mich nehmen
können. Aber das ist jetzt gleichgültig. Ich schlage euch vor, daß wir
es ebenso machen.“

Die Bienen riefen erfreut, das wollten sie auch tun, und liefen gleich
hin, um eine Made zu holen.

„Wartet mal!“ rief das Oberkindermädchen, „und nehmt mich mit! Ich kann
euch ja noch helfen. Seht mal, es muß eine von den jüngsten Maden sein;
denn sie muß Zeit haben, über ihre neue Stellung nachzudenken. Wenn
man zur einfachen Arbeitsbiene erzogen ist, gewöhnt man sich nicht so
leicht daran, eine Krone zu tragen.“

Das leuchtete den Bienen denn auch ein, und die Alte fuhr fort:

„Gleich neben den Stuben der Prinzessinnen liegt eine kleine Made. Sie
ist die Jüngste von allen. Die hat vielleicht etwas von der vornehmen
Art der Prinzessinnen gelernt, und ich habe bemerkt: sie hat Charakter.
Außerdem war sie so ehrlich, mir die bösen Absichten der alten Königin
wiederzuerzählen. Die wollen wir nehmen!“

Da begaben sich die Bienen in feierlichem Aufzug in die enge Kammer, in
der die kleine Made lag. Höflich klopfte das Oberkindermädchen an die
Tür, machte sie vorsichtig auf und erzählte der Made, was die Bienen
beschlossen hätten. Anfangs wollte die Made ihren Ohren nicht trauen;
aber als man sie behutsam in eine von den schönen, großen Stuben trug
und ihr so viel Honig brachte, wie sie nur essen konnte, da merkte sie,
daß das alles Ernst war.

„Ich werde also doch Königin!“ sagte sie zum Oberkindermädchen. „Das
hättest du dir wohl nicht träumen lassen, du alter Brummbär?“

„Ich hoffe, Ew. Majestät vergessen mir meine unpassenden Bemerkungen
aus jener Zeit, als Sie drüben lagen!“ sagte die alte Biene und
verneigte sich ehrerbietig.

„Ich vergebe dir!“ antwortete die neugebackene Prinzessin. „Hol’ mir
mal ein bißchen mehr Honig!“

[Illustration]

Nach kurzer Zeit war die Made zur Biene herangewachsen und trat aus
ihrer Kammer, so groß und schön, wie die Bienen es sich nur wünschen
konnten. Und wie sie kommandieren konnte!

„Fort mit euch!“ befahl sie. „Wir brauchen mehr Honig für den Winter,
und ihr da müßt noch viel mehr Wachs ausschwitzen. Ich gedenke, einen
Flügel an den Korb anzubauen. Darin sollen die neuen Prinzessinnen im
nächsten Jahr wohnen; es ist zu unangenehm für sie, so nahe bei den
einfachen Maden liegen zu müssen.“

„Ei der Tausend!“ sagten die Bienen untereinander. „Man sollte
wahrhaftig glauben, daß sie zur Königin bestimmt war, seitdem sie im Ei
lag.“

„Nein,“ erklärte das Bienen-Oberkindermädchen, „das war sie nicht;
aber die +Gedanken+ einer +Königin+ hat sie gehabt, und das ist die
Hauptsache.“




Der alte Weidenbaum.


Es gibt viele Sorten von Weidenbäumen; und sie gleichen einander so
wenig, daß man gar nicht glauben sollte, daß sie zu einer Familie
gehören.

[Illustration]

Einige kriechen an der Erde hin, so klein und armselig sind sie. Sie
wohnen auf der Heide oder hoch oben auf den Bergen oder in den kalten
Polarländern. Im Winter sind sie ganz verborgen unterm Schnee, im
Sommer stecken sie ihre Nasen gerade über die Heidekrautspitzen weg.

Sie gleichen Leuten, die sich verstecken, weil es ihnen so dürftig
geht. Es ist aber dumm, sich zu schämen, weil man arm ist, und das
tun die kleinen Zwergweiden auch nicht. Doch sie wissen, daß die
Erde, in der sie wachsen, so arm ist, daß sie es nie zu ordentlichen
Bäumen bringen können. Würden sie in die Höhe laufen und, gleich ihren
vornehmen Vettern, den Pappeln, in die Wolken ragen, so würden sie bald
etwas anderes erfahren.

Die Pappeln sind nämlich ihre Vettern.

Sie sind die vornehmsten von allen Weiden, und sie wissen es, was ihnen
jeder auf den ersten Blick ansieht. Sobald man nur darauf achtet, wie
sie sich recken, weiß man Bescheid.

Die Buche und die Eiche und die Birke und wie all die anderen Bäume
heißen mögen, strecken höflich einen Zweig nach der einen und einen
nach der andern Seite aus.

„Darf ich ergebenst um ein bißchen Sonnenschein bitten?“ fragt der
Zweig, der oben in der Luft ragt.

„Kann ich vielleicht mit ein bißchen Schatten dienen?“ fragt der Zweig
weiter unten an der Erde.

Aber bei den Pappeln hört man ein ander Lied. Da heißt es:

„Alle Zweige geradeaus in die Luft! Dicht an den Stamm mit euch! Da
unten gibt es nichts zu gucken! In die Höhe gesehen! ... Marsch!“

Und alle Zweige starrten gerade empor, und der ganze Baum wächst
aufrecht und stolz.

Das strengt an. Aber es ist vornehm. Und es lohnt sich. Denn hat man je
einen schmuckeren Baum gesehen, als so eine richtige, echte Pappel, die
aufrecht dasteht wie ein Zinnsoldat und hoch ist wie ein Kirchturm?

Und wenn die Pappeln so längs des Weges stehen, in langer Reihe auf
beiden Seiten, bekommt man beim Hindurchwandern durch die Allee ganz
ehrfürchtige Gedanken und ist nicht im geringsten erstaunt, wenn es
sich herausstellt, daß die Allee zu einem hübschen Schlosse führt.

Die Zwergweide und die Pappel gehören zu derselben Familie. Die eine
ist die einfachste der einfachen Linie, die andre die vornehmste der
vornehmen Linie. Zwischen ihnen gibt es noch viele andre Weiden. Es
gibt Weiden, deren Blätter auf der einen Seite wie Silber sind, und
Weiden, deren Blätter wehmütig im lauen Sommerwinde zittern, so daß
die Dichter sie in Versen besingen. Und es gibt Weiden, deren Zweige
so traurig zur Erde hinabhängen, daß die Menschen sie auf ihre Gräber
pflanzen, und Weiden, deren Zweige so zäh und geschmeidig sind, daß
die Menschen sie verwenden, um Körbe daraus zu flechten. Es gibt auch
solche, aus denen man sich Pfeifen schnitzen kann, -- wenn man sich auf
diese Kunst versteht. Und dann gibt es noch eine Menge Weidenarten, von
denen sich gar nichts Besonderes erzählen läßt.

Der Weidenbaum in dieser Geschichte gehörte eben zu dieser Mittelsorte.
Aber er hatte ein eigenartiges Schicksal, und darum wird die Geschichte
hier erzählt.

Sein Schicksal nahm seinen Anfang damit, daß eine der stolzen Pappeln,
die in der Allee des Herrenhofs standen, von einem fürchterlichen
Sturme umgeweht wurde. Ganz unten an der Wurzel brach sie durch, der
Stumpf wurde ausgegraben, und das Loch, das in der langen Reihe der
Bäume entstand, sah recht häßlich aus. Sobald es Frühjahr wurde, kam
der Förster deshalb mit einem Steckling und steckte ihn dort, wo die
alte Pappel gestanden hatte, in die Erde, trat den Boden ringsherum
fest und nickte dem Steckling zu.

„Nun spute dich und werde groß,“ sagte er. „Ich weiß, es liegt dir im
Blute, und du brauchst bloß den Weg entlangzuschauen; da siehst du ein
paar Musterexemplare, nach denen du dich richten kannst.“

Der Mann glaubte eine Pappel gepflanzt zu haben. Aber aus Versehen
hatte er einen ganz gewöhnlichen Weidenzweig genommen; und als die
Zeit verstrich und der Steckling heranwuchs, kam dies an den Tag.

[Illustration]

„Was ist das für eine Mißgeburt?“ sagte der Förster. „Den ziehen wir
wieder heraus.“

„Lassen Sie ihn nur stehen, wo er einmal steht,“ meinte der Besitzer
des Herrenhofs.

Er war nun einmal in dieser Laune an jenem Tage.

„Sollen wir ihn unter uns dulden?“ fragten die Pappeln längs des Weges.

Lange rauschten sie und berieten die Sache; und da niemand wußte, wie
sie den Neuling loswerden sollten, kamen sie überein, ihn zu dulden. Er
gehörte ja nun einmal zur Familie, wenn auch nicht zu ihrem vornehmen
Zweige.

„Aber gib dir Mühe und recke dich so viel wie möglich,“ sagte die
Pappel, die ihm am nächsten stand. „Du bist in feine Gesellschaft
geraten, verstehst du. Du hättest besser an den Tümpel eines
Bauerndorfs gepaßt als in eine Herrenhofallee. Aber nun ist der Skandal
einmal da; und nun kommt es darauf an, ihn zu verdecken. Wir andern
recken uns noch ein bißchen mehr; und dann wollen wir hoffen, daß die
feinen Leute vorbeifahren, ohne dich zu beachten.“

„Ich werde tun, was in meinen Kräften steht,“ erwiderte die Weide.

[Illustration]

Auf dem Felde ganz in der Nähe auf einer kleinen Anhöhe stand eine
Eiche. Außerdem wuchs auf der Anhöhe eine wunderschöne wilde Rose. Die
hörten beide mit an, was die Alleebäume sagten, und die Eiche begann,
die Bäume zu verhöhnen.

„Daß ihr da draußen am Wege stehen mögt!“ sagte sie. „Wollt ihr nicht
auch noch auf und ab rennen wie die törichten Menschen? Es ist häßlich
und dumm von eurer Mutter, daß sie euch dorthin gesät hat. Man soll
in einem Walde zusammen mit andern wachsen, wenn man nicht schön und
vornehm genug ist, um allein zu stehen, wie ich.“

„Meine Mutter hat mich gar nicht gesät,“ sagte der Weidenbaum.

„Gott behüte,“ spottete die Eiche. „Also deine Mutter hat dich gar
nicht gesät? Und die andern sind vielleicht auch nicht gesät? Ihr seid
vielleicht gar vom Himmel herabgefallen?“

„Wenn du deine Augen aufgemacht hättest, würdest du gesehen haben, daß
der Förster mich hierhergesetzt hat,“ sagte die Weide. „Ich bin ein
Steckling.“

Und den ganzen Weg entlang rauschten die Pappeln einander zu:

„Wir sind Stecklinge .. Stecklinge .. Stecklinge ...“

Es war eine richtige Allee.

„Da hast du dich ganz richtig benommen,“ sagte die Pappel, die der
Weide zunächst stand. „Fahre nur so fort, wie du angefangen hast; dann
werden wir dir vergeben, daß du nicht so vornehm bist wie wir.“

„Ich werde tun, was in meinen Kräften steht,“ erwiderte der Weidenbaum.

Die Eiche sagte nichts. Sie wußte nicht, was Stecklinge sind, und
wollte sich keine Blöße geben und keine Dummheit sagen. Aber gegen
Abend flüsterte sie dem wilden Rosenstrauch zu:

„Was war das für dummes Zeug, das von den Stecklingen?“

„Das ist kein dummes Zeug,“ erwiderte der Rosenstrauch. „Was die
Weide gesagt hat, ist richtig. Ich selbst bin zwar aus einem Samen
aufgewachsen wie du, und ich habe auch nicht gesehen, daß der Förster
den Weidenbaum gepflanzt hat; denn ich hatte an dem Tage gerade viel
mit meinen Knospen zu tun. Aber ich habe im Garten auf dem Herrenhof
ein paar vornehme Cousinen. Die sind aus Stecklingen entstanden. Ihr
Duft ist lieblich, ihre Farben sind schön und ihre Kelche vielblättrig!
Aber Samen bekommen sie nicht.“

„So etwas!“ sagte die Eiche.

Und der Rosenstrauch fügte hinzu: „Ich will auch lieber die wilde Rose
bleiben, die ich bin.“

       *       *       *       *       *

Die Jahre vergingen. Es wurde Frühling und Sommer, Herbst und Winter.
Es kam Regen und Schnee, Sonnenschein und Sturm, es kamen gute und böse
Tage. Die Vögel flogen aus dem Lande fort und kehrten wieder zurück,
die Blüten sprangen auf und verwelkten, die Bäume belaubten sich und
warfen ihr Laub wieder ab, wenn ihre Zeit gekommen war.

Der Weidensteckling wuchs und wuchs rasch heran, wie es nun einmal in
der Familie lag. Er war jetzt ein ganzer Baum geworden, mit dickem
Stamm und vielverzweigter Krone.

Aber eins ließ sich ja nicht leugnen -- eine Pappel war es nicht. Und
die Kollegen in der Allee waren sehr unzufrieden mit ihm.

„Ist es dir denn gar nicht möglich, etwas mehr in die Höhe zu wachsen?“
fragte die nächste Pappel. „Du hättest ja überhaupt nicht hier stehen
dürfen; aber da du nun einmal durch einen unglücklichen Zufall in
die Allee geraten bist, so möchte ich doch wünschen, daß du dich ein
bißchen emporreckst.“

„Ich werde tun, was in meinen Kräften steht,“ erwiderte der Weidenbaum.

„Ich fürchte, daß deine Kräfte nicht ausreichen,“ sagte die Pappel.
„Du verstehst es gar nicht, deine Zweige in deiner Nähe zu halten.
Sie hängen ganz schlapp nach allen Seiten heraus, als ob du eine
gewöhnliche Buche oder Birke oder Eiche wärst, oder wie die ordinären
Bäume alle heißen mögen.“

[Illustration]

„Nennst du mich ordinär, du Windbeutel?“ rief die Eiche.

Aber die Pappel kümmerte sich nicht um diese Worte, sondern fuhr fort,
die Weide zu ermahnen.

„Du solltest dir ein Beispiel an der Frau auf dem Herrenhof nehmen,“
sagte sie. „Anfangs war sie nichts andres als ein ganz gewöhnliches
Küchenmädchen. Sie scheuerte die Töpfe, machte das Feuer an und rührte
im Milchbrei. Ich habe oft gesehen, wie sie mit einem Eimer in der
Hand durch die Allee spazierte, mit bloßen Armen, bloßem Kopf und
aufgeschürztem Kleide.“

„Wir haben es mitangesehen ... wir haben es mitangesehen,“ rauschte es
die Allee entlang.

„Dann verliebte sich der Besitzer des Herrenhofs in sie und machte sie
zu seiner Frau,“ fuhr die Pappel fort. „Jetzt trägt sie seidene Kleider
mit Schleppen und einen Straußfederhut und Goldkäferschuhe und lange
Handschuhe aus Paris und sieht von oben auf die Leute herab ... Noch
gestern fuhr sie in dem feinen Wagen mit den vier Braunen hier vorbei!“

„Wir haben es mitangesehen ... wir haben es mitangesehen,“ rauschte es
die Allee entlang.

„Sie ist auch so in die Allee hineingeraten, verstehst du,“ sagte die
Pappel. „Sie hat es gelernt, sich aufzurecken und zu +rauschen+, und
nun rauscht sie. Mir scheint, du kannst von ihr lernen. Du gehörst doch
wenigstens zur Familie, wenn du auch keine richtige Pappel bist; da
müßte es dir doch leichter fallen als ihr.“

„Ich werde tun, was in meinen Kräften steht,“ erklärte der Weidenbaum.

Aber es wurde nichts daraus. Seine Zweige fuhren fort, nach den Seiten
zu wachsen, und der ganze Baum war nur halb so hoch wie die niedrigste
der Pappeln. Übrigens war er wirklich hübsch und nett, aber darauf
kommt es ja nicht an in der vornehmen Welt.

Und die Pappeln ärgerten sich mit jedem Tag mehr über ihn.

Sie selbst standen aufrecht, ragten in die Luft und gaben keinen andern
Schatten als den, den ihre Stämme warfen. Aber unter dem Weidenbaum war
ein recht großer, schattiger Platz.

„Er verdirbt die ganze Allee,“ schalt der zunächst stehende Baum.

„Die ganze Allee ... die ganze Allee ... die ganze Allee,“ rauschten
die Pappeln.

An einem schönen, sonnenwarmen Sommertag kam der Herrenhofbesitzer
durch die Allee. Er nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiß von der
Stirn und setzte sich in den Schatten des Weidenbaums.

„Hab’ Dank für deinen Schatten, du guter Weidenbaum,“ sagte er. „Die
verfluchten Pappeln ragen in die Luft und geben kaum Schatten wie meine
Hand groß. Ich glaube, ich lasse sie alle fällen und pflanze an ihrer
Stelle Weiden.“

An dem Tage war er nun einmal in dieser Laune.

„Habt ihr gehört, wie der Herr mich gelobt hat?“ fragte der Weidenbaum,
als jener gegangen war.

„Du lieber Gott,“ sagte die nächste Pappel. „Ob wir’s gehört haben! Es
ist ein richtiger Skandal. Er redet wie ein ganz gewöhnlicher Bauer.
Aber das kommt natürlich von der Heirat mit der Köchin. Es bleibt doch
ewig wahr: Gleich und gleich gesellt sich gern.“

„Gleich und gleich gesellt sich gern ... gesellt sich gern ...“
rauschte es die Allee entlang.

Die Eiche auf der kleinen Anhöhe auf dem Felde bog ihre krummen Zweige
vor Lachen. Und die wilde Rose, deren Hagebutten sich bereits zu röten
begannen, nickte dem Weidenbaum zu.

„Jedem das Seine,“ sagte sie. „Wir haben unsre Sorgen, und die
Vornehmen haben die ihren. Ich tausche mit keinem.“

„Man möchte ja gerne seinen Platz ausfüllen,“ sagte seufzend die Weide.

Auf die warmen Tage folgten Regen und Sturm. Die Wege glichen Morästen
und waren schlecht zu befahren. Nur in der Allee war es immer sofort
wieder trocken, soviel es auch geregnet hatte. Denn die Pappeln gaben
keinen Schatten, so daß die Sonne gleich herzu konnte, sobald der Regen
aufgehört hatte. Und auch vor dem Winde boten sie keinen Schutz, so daß
der Wind herbeieilen und die Pfützen trocknen konnte.

Der Besitzer des Herrenhofs kam mit seiner Frau gefahren. Als der Wagen
an die Stelle gelangte, wo der Weidenbaum stand, bespritzte der Schlamm
das neue Seidenkleid der Frau.

„Uh!“ rief sie.

„Was ist das für eine Schweinerei?“ schrie der Herr.

Der Förster, der beim Kutscher auf dem Bock saß, zeigte auf den
Weidenbaum.

„Der Bursche ist schuld daran,“ sagte er. „Er ist aus Versehen
gepflanzt worden, und nun ist er herangewachsen. Die Weide hindert den
Wind und die Sonne, so daß immer ein großer Tümpel unter ihm steht,
wenn sonst schon alles trocken ist in der Allee.“

„Hat man je so etwas gehört!“ sagte der Gutsherr. „Und wie er aussieht!
Er verdirbt ja die ganze, schöne Pappelallee. Sorgen Sie dafür, daß er
noch morgen gekappt wird, Förster ... Die ganze Krone soll herunter,
hören Sie!“

[Illustration]

An dem Tage war er nun einmal in dieser Laune.

Am nächsten Tag kamen die Leute und sägten den Weidenbaum in Mannshöhe
ab. Der dicke, nackte Stamm blieb allein zurück. Es waren nur noch fünf
Blätter an ihm, die saßen an einem kleinen Zweige unten über der Erde
und gehörten eigentlich gar nicht dahin. Die ganze schöne Krone lag im
Graben. Und dann zerhieb der Förster mit seiner Axt alle Zweige.

[Illustration]

„Werden Stecklinge daraus?“ fragte die Weide verzagt.

„Sie werden als Brennholz dienen,“ erwiderte der Förster und zerhieb
die letzten Reiser.

„Dann laß mich lieber auch gleich sterben,“ sagte der Weidenbaum.

„Vorläufig bleibst du den Winter über stehen,“ erklärte der Förster.
„Wenn der Schnee überall dick und gleichmäßig liegt, kannst du als
Wegweiser an dem Graben dienen. Was später geschehen wird, hat der
Gutsherr zu entscheiden.“

„Da findet die Stecklingskomödie ein schönes Ende,“ bemerkte die Eiche.

„Armer Weidenbaum,“ sagte der wilde Rosenstrauch.

„Vielen Dank,“ rief der Weidenbaum. „Ich bin noch ein bißchen verwirrt.
Es ist nicht so einfach, wenn man seine ganze Krone verliert. Darum
weiß ich nicht recht, was aus mir wird.“

„Es ist ein fürchterlicher Skandal,“ schalt die nächste Pappel. „Ein
Familienskandal, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat! Möchten die
Leute dich doch ganz fortnehmen, damit du uns nicht länger blamierst,
du ekliger, welker Pflock!“

„Familienskandal ... Skandal ... Skandal,“ rauschte es die Allee
entlang.

„Ich fühle mich gar nicht welk ... sonderbarerweise,“ sagte der
Weidenbaum. „Ich weiß auch nicht, daß ich etwas getan habe, dessen
ich mich schämen müßte. Ich bin hierhergesetzt worden; und ich habe
mein Möglichstes getan, um meinen Platz auszufüllen. Der Gutsherr
hat mich das einemal gelobt und das andremal abhauen lassen. Man muß
das Leben nehmen, wie es kommt. Eine Pappel bin ich nicht geworden,
aber zur Familie gehöre ich doch. Und die Familie hat auch noch andre
Eigenschaften als den Stolz. Wir wollen sehen, was aus mir wird.“

„Er spricht wie ein Mann,“ sagte der wilde Rosenbusch.

Die Eiche sagte nichts. Und die Pappeln rauschten vornehm, sprachen
aber nicht mehr vom Familienskandal.

       *       *       *       *       *

Der Gutsherr und seine Frau reisten nach Italien und blieben ein paar
Jahre dort wohnen. Das hatte zur Folge, daß der gekappte Weidenbaum
ruhig zwischen den stolzen Pappeln stehenbleiben durfte. Wenn die
Herrschaft nicht auf dem Gut war, dachte niemand an die vornehme Allee.

Den Winter über stand der Weidenbaum still und verzagt da. Es ist
ganz natürlich, daß man keine Lust hat zu reden, wenn einem der Kopf
abgehauen ist. Aber im März begann er plötzlich aufs jämmerlichste zu
stöhnen:

„Ach, mein Kopf! mein Kopf!“ schrie er.

„Hat man je so etwas gehört?“ sagte die Eiche. „Redet er nicht
von seinem Kopf? Und dabei kann doch jeder sehen, daß der ihm
abgeschnitten, und nur ein elender Knorren zurückgeblieben ist.“

„Du hast gut reden,“ klagte der Weidenbaum. „Du solltest nur an meiner
Stelle sein. Meine ganze Krone ist weg mit all den großen Ästen und
kleinen Zweigen, an denen die Knospen fürs nächste Jahr so nett saßen,
jede in ihrem Blattwinkel. Aber alle meine Wurzeln habe ich noch ...
alle die, die ich mir damals angeschafft habe, als ich noch für einen
großen Haushalt zu sorgen hatte. Jetzt scheint die Sonne, und die
Wurzeln saugen und saugen. Der Saft strömt durch meinen Stamm empor und
steigt mir zu Kopfe. Zu gar nichts kann ich ihn gebrauchen ... au, au
... ich zerspringe, ich sterbe!“

„Armer Weidenbaum,“ sagte der Rosenbusch.

Aber drüben auf der andern Seite der kleinen Anhöhe stand ein
Holunderstrauch, mit dem sonst niemand sprach, und der sich sonst nie
in die Unterhaltung der andern einmischte.

„Es wird schon alles gut werden,“ sagte er. „Höre nur auf einen armen,
aber ehrlichen Holunderstrauch! Zuletzt kommt alles, so oder so, wieder
in die Reihe.“

„Ja, du hast allerhand im Leben durchgemacht,“ warf die Eiche ein.

„Herrje,“ sagte der Holunder. „Sie haben mich abgehauen und gestutzt
und gekappt und an allen Ecken und Kanten geknickt. Aber so oft sie mir
auf der einen Seite etwas fortnahmen, immer trieb ich auf der andern
Seite einen neuen Zweig. Dem Weidenbaum geht es wohl ebenso. Der gehört
auch zu einer zähen Familie.“

[Illustration: „Er nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiß von der
Stirn und setzte sich in den Schatten des Weidenbaumes.“]

„Habt ihr’s gehört?“ rief die nächste Pappel. „Der Holunderstrauch
vergleicht seine Familie mit uns! Wir tun so, als hörten wir es nicht
... wir recken uns und rauschen.“

„Wir recken uns und rauschen ... rauschen ... recken uns ... rauschen,“
flüsterte es die Allee entlang.

„Was sind das für sonderbare kleine Dinger da oben am Ende des
Weidenbaums?“ fragte die Eiche. „Seht doch bloß ... oben schwillt es an
... es ist wohl Ausschlag ... Wenn wir nur nicht angesteckt werden!“

„Ach Gott, das sind Knospen,“ entgegnete der Weidenbaum. „Ich verstehe
es nicht, aber ich fühle es. Es sind wirkliche, lebendige Knospen. Ich
werde wieder grün ... ich bekomme eine neue Krone.“

Nun kam die alleremsigste Zeit des Jahres, wo ein jeder genug mit sich
zu tun hatte, und niemand an den armen Weidenbaum dachte.

Die vornehmen Pappeln und der arme Holunder bekamen Blätter. Das
Gras am Grabenrande wurde grün, das Getreide wuchs auf dem Felde,
der wilde Rosenstrauch streckte seine feinen Blättchen hervor, auf
daß seine Blüten sich im Juni um so schöner ausnähmen. Veilchen und
Anemonen blühten und starben, Gänseblümchen und Stiefmütterchen,
Löwenzahn, wilder Kerbel und Petersilie erwachten ... überall herrschte
ein freudiges Leben und Treiben. Die Vögel sangen, wie sie noch nie
gesungen hatten, die Frösche quakten im Sumpfe, und die Schlange lag
auf dem Steinwall und sonnte ihren schwarzen Leib.

Die einzige, die sich nicht an der allgemeinen Freude beteiligte, war
die Eiche. Sie war von Natur mißtrauisch und wollte durchaus nicht
aufspringen, bevor sie sah, daß alle die anderen grün waren. Darum
schaute sie vom einen zum andern und entdeckte zuerst, was mit dem
Weidenbaum geschah.

„Seht! Seht!“ schrie sie.

Da sahen alle hinüber und bemerkten, daß der Weidenbaum eine ganze
Masse wunderschöner, grüner, langer, schwanker Zweige trug, die
geradeaus in die Luft ragten, und an denen frische, grüne Blätter
wehten. Alle die Zweige saßen in einem Kranze oben auf dem abgehauenen
Stamm und waren so rank und schön, daß keine Pappel sich ihrer hätte zu
schämen brauchen.

„Ich sagte es ja,“ meinte der Holunderstrauch, der ganz mit
dunkelgrünen Blättern bedeckt war.

[Illustration]

„Nun habe ich wieder eine Krone,“ sagte der Weidenbaum. „Selbst wenn
sie nicht so hübsch ist wie die alte -- eine Krone ist es, das kann
niemand leugnen.“

„Nein,“ bestätigte die wilde Rose. „Das ist richtig. Übrigens kann man
sehr glücklich +ohne+ Krone sein. Ich habe keine und habe nie eine
gehabt und genieße doch Ehre und Ansehen in der Welt.“

„Wenn ich meine Meinung sagen darf, so ist einem die Krone bloß
unbequem,“ sagte der Holunderstrauch. „Ich habe auch einmal eine
gehabt, bin aber sehr zufrieden damit, daß sie sie mir weggenommen
haben und daß ich meine Zweige wachsen lassen kann, wie ich will.“

„So denke ich nicht,“ sagte der Weidenbaum. „Ich bin ein Baum, und ein
Baum muß eine Krone haben. Hätte ich keine neue Krone bekommen, so wäre
ich vor Kummer und Scham zugrunde gegangen.“

„Es ist doch Pappelblut in ihm,“ bemerkte die nächste Pappel.

Die andern rauschten beifällig.

„Wir wollen sehen, was daraus wird,“ sagte die Eiche.

Der Sommer verging, wie er zu vergehen pflegt. Die Sonne schien so
lange, bis alles, was Leben hatte, um Regen bat. Dann regnete es, bis
alle den Himmel um Sonnenschein anflehten.

Der Weidenbaum gehörte nicht zu den Schlimmsten. Von Natur war er
genügsam. Und außerdem freute er sich so sehr über seine neue Krone,
daß es schien, als könne er sich in alles finden, was es auch sein
mochte.

[Illustration]

Oben im Wipfel, mitten in dem Kranz von grünen Zweigen, war ein Loch,
das damals entstanden war, als der Förster die Krone kappte. Dieses
Loch war gar nicht so klein; und wenn es geregnet hatte, stand es voll
Wasser, das sich eine ganze Weile lang darin hielt, wenn die Sonne die
Erde unten schon wieder getrocknet hatte.

Eines Tages kam eine Schwarzamsel geflogen und setzte sich dort oben
nieder.

„Erlaubst du, daß ich einen Tropfen bei dir trinke, du alter
Weidenbaum?“ fragte sie.

„Mit dem größten Vergnügen,“ antwortete der Weidenbaum. „Übrigens bin
ich gar nicht so alt. Sie sind nur übel mit mir umgesprungen.“

„Jawohl,“ sagte die Schwarzamsel, „du bist gestutzt. Das kennen wir.“

„Sei doch so gut, dir die Füße abzutrocknen,“ bat der Weidenbaum. „Ich
meine bloß, damit das Wasser nicht trübe wird, falls ein andrer kommt
und trinken will. Bei dieser Dürre kann man ja nie wissen.“

Da scheuerte sich die Schwarzamsel die Füße an einem Holzsplitter rein.
Der Splitter ging los; und als der Vogel fortflog, lag ein ganz kleiner
Erdklumpen da. Am nächsten Tage kam eine Schwalbe und dann eine Lerche,
und später kamen noch viele andere Vögel. Denn es sprach sich ja bald
herum, daß man, wenn Wassernot herrschte, in der Regel einen Tropfen
Wasser bei dem gekappten, alten Weidenbaum in der Allee bekommen
konnte. Alle hinterließen sie dies oder jenes; und im Herbst lag so
viel da, daß es eines schönen Tages zusammenstürzte und das ganze
kleine Loch anfüllte, worin das Wasser war.

„Du hast da wohl eine kleine Kneipe,“ meinte die Eiche.

„Warum soll man nicht freundlich gegen seine Mitmenschen sein?“ fragte
der Weidenbaum. --

Es wurde Herbst; welke Blätter wehten in den Weidenbaum hinein und
verfaulten dort. Schon am Ende des Sommers hatte sich eine Libelle da
oben zum Sterben niedergelegt; einer der flockigen Samen des Löwenzahns
war neben sie herabgesunken. Und der Winter kam, und der Schnee fiel
auf den kleinen Fleck hinunter und blieb seine Zeit über liegen, genau
wie unten auf der Erde.

„Es ist ja so, als hätte ich ein ganzes kleines Stück; von der Welt in
meinem Kopfe,“ sagte der Weidenbaum.

„Es ist nicht gesund, zu viel im Kopfe zu haben,“ belehrte ihn die
Eiche.

„Einst hab’ ich eine große, herrliche Krone gehabt,“ sagte der
Weidenbaum bekümmert. „Jetzt bin ich mit weniger zufrieden. Man muß das
Leben nehmen, wie es kommt.“

„Ganz recht,“ sagte der wilde Rosenstrauch.

„Es wird schon alles gut werden,“ fiel der Holunderstrauch ein. „Ich
sagte es ja.“

„Simpler, genügsamer Gesell,“ sagte die nächste Pappel.

„Simpler ... genügsamer ... Gesell,“ rauschte es die Allee entlang.

       *       *       *       *       *

Der Winter verging und der Frühling kam ins Land. Mitten im Wipfel des
Weidenbaums kam ein kleiner, grüner Zweig zum Vorschein.

„I, was bist denn du für einer?“ fragte der Weidenbaum.

[Illustration]

„Ich bin nur ein kleiner Löwenzahn,“ sagte der Keim. „Ich habe mit
einer Menge von Geschwistern auf Mutters Kopfe gesessen. Jeder von uns
hatte einen kleinen Fallschirm auf. Fliegt jetzt, Kinderchen, sagte
die Mutter; je weiter ihr wegfliegt, desto besser ist’s. Ich kann
nicht mehr für euch tun, als ich getan habe; und ich will’s nicht
leugnen: ich bin ein wenig besorgt um alle die Kinder, die ich in die
Welt gesetzt habe. Aber es läßt sich nun mal nicht wieder gutmachen;
und ich hoffe, ihr findet einen Fleck, wo ein ehrlicher Löwenzahn sich
durchschlagen kann.“

„Ja, genau so muß eine kleine Blumenmutter sprechen,“ sagte der wilde
Rosenstrauch.

„Und dann?“ fragte der Weidenbaum.

„Dann kam ja ein Windstoß,“ fuhr der Löwenzahn fort. „Und wir flogen
alle in die Luft, von unsern Fallschirmen getragen. Wo die andern
geblieben sind, davon hab’ ich keine Ahnung; aber ich entsinne
mich, daß es auf mich zu regnen anfing; und da wurde ich hierher
verschlagen. Natürlich dachte ich, wenn ich trocken geworden wäre,
weiterfliegen zu können. Aber daraus wurde nichts; denn mein Fallschirm
war entzweigegangen. Drum mußte ich bleiben, wo ich war. Zu meiner
großen Verwunderung sah ich, daß ich Erde unter mir hatte. Und es kam
immer mehr Erde hinzu; den ganzen Winter über habe ich darin versteckt
gelegen, und nun bin ich ausgekeimt. Da hast du meine ganze Geschichte.“

„Das ist ja ein richtiges Märchen,“ rief der wilde Rosenstrauch.

„Wohl möglich!“ sagte der Löwenzahn. „Aber wie soll’s mir in Zukunft
gehen? Offen gestanden, ich möchte für mein Leben gern wieder unten auf
der Erde sein.“

„Ich will für dich tun, was in meinen Kräften steht,“ versicherte der
Weidenbaum. „Ich habe selber mancherlei Unglück gehabt; und es dient
mir zu großer Ehre und Ermunterung, daß du in meinem armen Kopfe
wächst.“

„Vielen Dank für deine Freundlichkeit!“ erwiderte der Löwenzahn.
„Freundlichkeit ist nicht so häufig hier in der Welt, so daß man sie
anerkennen soll, wo man sie antrifft. Aber schließlich kommt alles auf
das Talent an; und ich fürchte, daß es damit hapern wird.“

„Ich weiß wohl, woran du denkst,“ sagte der Weidenbaum betrübt. „Ich
kann dir keinen Schatten geben, weil der Förster mir meine schöne Krone
weggenommen hat. Meine langen Zweige da oben gefallen mir zwar sehr und
ich möchte sie nicht entbehren; aber Schatten können sie nicht geben,
und eine Krone werde ich nie wieder bekommen, das spüre ich wohl. Du
hast wohl Angst, daß dich die Sonne zu sehr bescheinen wird?“

„Ach wo!“ sagte der Löwenzahn. „Je mehr mir die Sonne in mein
gelbes Gesicht scheint, desto mehr freue ich mich. Nein, du ... der
+Erde+ wegen habe ich Angst.“

„Die ist auch das Allerwichtigste,“ erklärte die Eiche. „Aber das
ist Sache des Weidenbaums. Will er in seinem Kopfe ein Blumenhotel
unterhalten, so muß er natürlich auch für Erde sorgen.“

„Ja, aber +ist+ denn keine Erde da, lieber Löwenzahn?“ fragte der
Weidenbaum.

„Allerdings,“ erwiderte der Löwenzahn. „Und gut ist sie auch; nicht
deswegen sage ich es. Aber ich fürchte, daß nicht +genug+ da ist. Ich
will dir etwas sagen, ich habe eine furchtbar lange Wurzel ... einen
ganzen Pfahl, du kannst mir’s glauben. Wenn ich ausgewachsen bin,
reicht er eine gute Viertelelle in die Erde hinunter.“

„Hm,“ spottete die Eiche. „So ein lumpiger Löwenzahn will von Wurzeln
reden.“

Der Weidenbaum stand ein Weilchen schweigend da; aber desto emsiger
dachte er nach. Der wilde Rosenstrauch tröstete den Löwenzahn und sagte
dem Weidenbaum nur Gutes nach; und der Holunder meinte, daß gewiß noch
alles gut gehen werde; die Eiche aber fragte in brummigem Ton, ob man
von einem Baum ohne Krone überhaupt etwas Gutes erwarten könne.

„Hör’ einmal,“ sagte schließlich der Weidenbaum, der überhaupt nicht
nach den andern hingehört hatte. „Nun will ich dir etwas sagen, lieber
Löwenzahn, wovon ich sonst nicht gern rede. Du weißt ja, daß ich das
Unglück gehabt habe, meine Krone zu verlieren.“

„Ich hörte es dich vorhin sagen,“ erwiderte der Löwenzahn. „Und ich
sehe ja auch, daß du etwas verzagt aussiehst zwischen den andern Bäumen
der Allee.“

„Sprich nicht von den Pappeln,“ sagte der Weidenbaum betrübt. „Es
sind meine Verwandten, aber sie haben es mir nie verziehen, daß ich
aus Versehen als Steckling hierhergesetzt worden bin. Sieh sie an und
sieh mich an, dann kannst du erkennen, daß solch ein Mißgeschöpf ein
Schandfleck für eine vornehme Pappelallee ist!“

„Etwas Schamgefühl hat sie wenigstens noch im Leibe,“ sagte die
zunächst stehende Pappel.

Und alle die andern Bäume der Allee rauschten ihr Beifall zu.

„Du denkst zu viel nach,“ sagte der Holunderstrauch. „Je mehr Gedanken
man sich macht, desto schlimmer wird die Sache. Ich wäre längst in die
Erde geraten, wenn ich all den Verlusten nachweinen wollte, die ich
schon erlitten habe.“

„Ja, das hat nichts zu sagen,“ meinte der Weidenbaum. „Ein jeder hat
seine Art, und ich habe die meine. Ich denke gar nicht daran, die Hände
in den Schoß zu legen; aber ich weiß, daß ich ein Krüppel bin und nie
etwas anderes werden kann. Ich hatte zuerst geglaubt, daß meine langen
Zweige dort oben eine neue Krone bilden würden; aber das waren bloß
Dummheiten. Sie wachsen und breiten sich aus und grünen, und mehr wird
nicht aus ihnen. Und dann fühle ich auch selber recht gut, daß ich zu
verfaulen beginne.“

„Was sagst du?“ rief der wilde Rosenstrauch erschrocken.

„Verfaulst du?“

„Ja -- das ist das Schlimmste,“ sagte der Holunderstrauch.

„Sie liefert dem Park ihre tiefsten Geheimnisse aus,“ sagte die nächste
Pappel entrüstet. „Wir wollen uns recken und wollen rauschen, liebe
Alleebrüder.“

Und alle die Pappeln rauschten.

„Ich verfaule,“ sagte der Weidenbaum. „Ich verfaule an der Spitze. Wie
sollte es auch anders sein? Da oben steht ein See im Sommer, im Winter
liegt Schnee darin und jetzt feuchte Erde. Ich merke ganz deutlich,
daß das Loch immer größer wird und immer tiefer in mich hinabreicht.
Mein Holz vermorscht. Die Rinde ist noch gut; und ich freue mich, daß
sie sich noch hält. So kann der Saft aus meinen Wurzeln in meine
lieben, langen Zweige hinausströmen. Na ... ich denke, die Vögel werden
trotzdem wie gewöhnlich kommen und mich besuchen; und die bringen ja
Erde mit, so daß immer mehr hinzukommt, je tiefer das Loch wird. Auch
für die Düngung sorgen sie. Und welke Blätter fallen auf meinen armen,
verstümmelten Wipfel. Ich glaube auch bestimmt, daß ich einen Regenwurm
da oben habe. Wie der dorthin gekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht
hat ein Vogel ihn aus dem Schnabel verloren. Aber er zieht die Blätter
in den Boden herab, frißt sie und macht sie zu Erde. Drum sage ich wie
der Holunderstrauch: es wird schon alles gut werden.“

„Du wirst also hohl?“ fragte die Eiche.

„Allerdings,“ antwortete die Weide. „Daran läßt sich nichts ändern. Man
spricht ja sonst nicht von diesen Dingen; aber der Löwenzahn war so
betrübt. Und niemand soll mir nachsagen können, daß ich eine anständige
Blume in Pension genommen hätte und sie dann umkommen ließe vor Angst.“

„Hat man je einen Baum so reden hören?“ meinte die Eiche.

„Nein, das muß ich auch sagen,“ fiel der wilde Rosenbusch ein.

„Jetzt glaube ich selber nicht, daß es noch lange so weitergehen wird,“
fügte der Holunderstrauch hinzu.

Aber der Löwenzahn sagte: „Hab’ Dank, du lieber, alter Weidenbaum!
Jetzt wachse ich getrost weiter. Ich habe ja bloß für dieses Jahr zu
sorgen. Wenn ich meine Samen mit ihren kleinen Fallschirmen in die Welt
gesandt habe, so habe ich getan, was von mir verlangt wird. Es würde
mich freuen, wenn einer von ihnen hier bleiben und bei dir wachsen
wollte.“

„Vielen Dank,“ erwiderte der Weidenbaum.

„Sie läßt sich vom Rosenbusch und vom Holunder trösten ... Sie
bedankt sich beim Löwenzahn ... So eine ist verwandt mit uns ... Wie
abscheulich!“ zeterte die nächste Pappel.

„Abscheulich ... abscheulich ... abscheulich!“ rauschte es die Allee
entlang.

Es wurde Abend und Nacht; und alle schliefen. Der Wind hatte sich
gelegt, so daß in den Pappeln nicht das leiseste Rauschen mehr zu hören
war. Doch die Eiche auf der Anhöhe im Felde rief den Weidenbaum an:

„Pst ... pst ... Weidenbaum ... schläfst du?“

„Ich kann nicht schlafen,“ klagte der Weidenbaum. „Es rumort und nagt
und sickert und siedet in meinem Innern. Ich spüre, wie es tiefer und
tiefer hinabsinkt ... ich weiß nicht, was das ist; aber es macht mich
so melancholisch.“

„Du wirst hohl,“ sagte die Eiche.

„Vielleicht ist es das,“ sagte der Weidenbaum bekümmert. „Daran ist ja
nun einmal nichts zu ändern. Niemand entgeht seinem Schicksal.“

„Hör’ einmal, Weidenbaum,“ entgegnete die Eiche. „Im Grunde kann ich
dich nicht leiden.“

„Ich weiß nicht, daß ich dir etwas getan hätte,“ sagte der Weidenbaum.

„Das ist wohl möglich,“ erwiderte die Eiche. „Mir scheint nur, du
hast dich von Anfang an, als du noch ein Steckling warst, ziemlich
aufgespielt. Aber es mag sein, wie es wolle. Du hast mir so entsetzlich
leid getan, als ich hörte, daß du angefangen hast, hohl zu werden. Gib
nur ja acht, das will ich dir sagen! Das ist ein gräßliches Unglück.“

„Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich mich benehmen soll, um es zu
verhindern,“ sagte der Weidenbaum.

„Das weiß ich ebensowenig,“ erwiderte die Eiche. „Aber ich sage
trotzdem: gib acht! Sieh zu, ob du die Vögel, die dich besuchen,
nicht veranlassen kannst, all die Erde aus dem Loch in deinem Kopf
herauszuscharren, bevor es allzu tief wird.“

„Ich kann doch dem Löwenzahn nichts anhaben,“ sagte der Weidenbaum.
„Noch hat es wohl keine Gefahr. Meine Zweige grünen und gedeihen, und
meine Wurzeln saugen Kraft auf. Solange die Wurzel gut ist, ist alles
gut, wie du weißt.“

[Illustration]

„Gib nur acht,“ sagte die Eiche. „Du weißt nicht, was auf dem Spiele
steht; aber ich weiß es. Ich will dir etwas sagen: Ich habe einen
alten, hohlen Onkel.“

„So?“ fragte der Weidenbaum eifrig. „Ja, in jeder Familie gibt es ja
etwas Trübes. Du hast den Onkel, und die Pappeln haben mich.“

„Du ahnst nicht, was für ein Leben er führt,“ erzählte die Eiche. „Er
ist fürchterlich alt und fürchterlich hohl. Ja, in gewisser Beziehung
gleicht er dir; aber es ist viel, viel schlimmer um ihn bestellt.
Es ist nichts von ihm übrig als eine ganz dünne Rinde und dann ein
elender Ast am Wipfel. Auch fast alle seine Wurzeln sind tot. Und stets
ist er voller Eulen, Fledermäuse und andern Getiers. Er führt ein
fürchterliches Leben.“

„Es tut mir leid, das zu hören,“ versicherte der Weidenbaum.

„Ich sage bloß: Nimm dich in acht!“ wiederholte die Eiche.

       *       *       *       *       *

Und die Jahre kamen und schwanden, und die Zeit verstrich.

Immer tiefer verfaulte der Weidenbaum, und das Loch füllte sich mit
Erde, und es kamen immer mehr Gäste herzu. Im Frühjahr stand auf einmal
ein kleiner, feiner Schößling da, den der Weidenbaum willkommen hieß,
in dem Glauben, es sei ein Löwenzahn.

„Na,“ fragte der Schößling. „Wofür siehst du mich an?“

„Ich habe die allerbeste Meinung von dir,“ erwiderte der Weidenbaum.
„Aber du bist ja noch so klein. Darf ich mich nach deinem Namen
erkundigen?“

„Ich bin eine Erdbeerpflanze,“ sagte der Schößling. „Und zwar eine der
vornehmsten. Ich glaube, ich gehöre zu derselben Familie, die im Garten
des Herrenhofs wächst. Warte nur, bis ich Früchte trage, dann werden
wir sehen!“

„Gott behüte,“ rief der Weidenbaum. „Wenn ich nur begreifen könnte,
woher du gekommen bist!“

Und es kam ein anderer Schößling hinzu, der sich als Anfang eines
Johannisbeerstrauches entpuppte. Und ein dritter, der zu einem kleinen,
niedlichen Vogelbeerbaum heranwuchs. Löwenzahnpflänzchen waren in
jedem Jahr ein paar zur Stelle. Die Bienen kamen und summten und
sogen Honig und flogen damit heim zu ihren Körben. Die Schmetterlinge
flatterten von Blüte zu Blüte, sogen hier und da ein wenig Honig und
verzehrten ihn sogleich. Sie wußten, daß sie sterben mußten, darum
hatte es keinen Zweck, etwas zu verwahren.

[Illustration]

„Wie wunderbar!“ sagte der Weidenbaum. „Wenn ich doch nur wüßte, woher
all das Glück gekommen ist!“

„Danach soll man nicht fragen, sondern es hinnehmen, wenn es kommt,“
belehrte ihn der Holunderbusch.

Und der Rosenstrauch prophezeite: „Du wirst ein schönes Alter haben.“

„Du wirst immer hohler,“ sagte die Eiche. „Denke daran, was ich dir von
meinem armen, alten Onkel erzählt habe!“

Die zunächst stehende Pappel aber erklärte: „Er ist mit der Zeit
schwachsinnig geworden.“

„Schwachsinnig geworden ... schwachsinnig geworden,“ rauschte es die
Allee entlang.

Die Schwarzamsel hatte den Weidenbaum als erster Gast besucht, und sie
kehrte jedes Jahr oftmals wieder. Eines Tages kam sie sehr erschrocken
an und bat, ob sie sich hier oben verstecken dürfe. Ein böser Junge
habe den ganzen Vormittag mit einer Salonflinte nach ihr geschossen.

„Ich habe freilich Schonzeit jetzt,“ sagte sie. „Aber was machst
sich so ein naseweiser Junge daraus! Und wenn man schon das Leben
einbüßen soll, so kann man doch wenigstens verlangen, daß man in einer
ordentlichen Dohne eingefangen wird.“

„Ich finde es angenehmer, erschossen zu werden,“ meinte der Weidenbaum.
„Dann hat die Sache doch mit einem Male ein Ende!“

„Das finde ich nicht,“ erwiderte die Schwarzamsel. „Solange man noch
am Leben ist, braucht man auch nicht aufzuhören zu hoffen. In der
Dohne zappelt man und denkt, daß man doch noch einmal wieder loskommen
könnte.“

„Ach ja,“ rief der Weidenbaum nachdenklich. „Wenn man es sich richtig
überlegt, so ist es ja auch nicht anders mit mir. Ich sitze gleichfalls
in der Schlinge und weiß, daß ich bald sterben muß, und doch hänge ich
am Leben. Na ... ich habe ja jetzt auch ein gesegnetes Alter erreicht,
wie die wilde Rose sagte. Wenn ich nur wüßte, woher alle die lieben
Wesen, die oben auf mir wachsen, gekommen sind!“

„Das will ich dir sagen,“ berichtete die Schwarzamsel. „Du kannst
überzeugt sein, daß die allermeisten durch mich hierhergekommen sind.“

Und dann erzählte sie, wie gern sie rote Beeren naschte, von dieser und
von jener Sorte. Besonders gern hielt sie sich im Garten des Herrenhofs
auf, der voll von den allerleckersten Sachen war. Und wenn sie dann im
Weidenbaum saß und ihr Essen verdaute, so hinterließ sie wohl etwas,
davon man in guter Gesellschaft nicht spricht, und das sich unmöglich
in einem guten Buche erwähnen läßt. Und wenn man dann richtig nachsah,
so waren darin die Keime.

„Ist das wahr?“ fragte der Weidenbaum. „Ja, natürlich ist es wahr. In
Wirklichkeit verdanke ich +dir+ also mein ganzes Glück!“

„Wahrscheinlich,“ sagte die Schwarzamsel und pfiff witzig vor sich
hin. „Man hat ja -- Gott sei Dank! -- seine Mission hier in der Welt
zu erfüllen. -- Aber sieh nur ... ich glaube wirklich, da sitzt eine
schöne, reife Erdbeere.“

[Illustration]

Sie fraß die Beere und sagte: „Hm!“ und „Ah!“ und „Oh!“ So delikat
schmeckte sie.

„Genau so wie die, die auf des Gutsherrn Beet wachsen,“ sagte sie.
„Aber mir scheint beinahe, die Beere hat einen noch delikateren
Geschmack davon bekommen, daß sie hier oben in dir aufgewachsen ist, du
alter Weidenbaum.“

„Liebe Schwarzamsel,“ flüsterte die Erdbeerpflanze. „Du kommst ja
häufig auf den Herrenhof. Willst du mir nicht den Gefallen tun, dem
Gutsherrn zu erzählen, daß ich hier oben wachse?“

„Das werde ich ganz gewiß nicht tun,“ erwiderte die Schwarzamsel.
„Erstens würde es mir nie einfallen, einem andern zu erzählen, wo
eine gute Beere steht. Zweitens bin ich allmählich so dick und
fett geworden, daß ich ein bißchen vorsichtig sein muß. Sonst
könnte dem Gutsherrn leicht der Einfall kommen, daß Erdbeeren nach
Schwarzamselbraten doppelt gut schmecken.“

[Illustration: „Da hob ihn der Förster hinauf.“]

„Wie ärgerlich!“ sagte die Erdbeere. „Ich weiß, daß der Gutsherr gesagt
hat, er esse nur die Beeren, die zu unserer Familie gehören; und unser
sind so wenige. Ich habe auch einen Vogel davon singen hören, daß er
aus Italien zurückgekommen ist; und ich bin überzeugt: wenn er wüßte,
daß ich hier oben wachse, so würde er selber heraufklettern und meine
Beeren pflücken.“

[Illustration]

„Gott soll mich behüten,“ seufzte der Weidenbaum. „Die Ehre könnt’ ich
nicht ertragen.“

„Das könntest du nicht,“ sagte die Eiche. „Denn du bist hohl und wirst
mit jedem Tage hohler. Deine langen Zweige sind in diesem Jahr auch
nicht so grün wie im vorigen. Du wirst meinem unglücklichen Onkel immer
ähnlicher. Es geht zu Ende mit dir, Weidenbaum.“

„Vielleicht hast du recht,“ antwortete der Weidenbaum. „Niemand entgeht
seinem Geschick. Ich fühle selber, daß meine Rinde dünner und dünner
wird, und unten ist sie schon an zwei Stellen durchlöchert.“

„Weg mit ihm!“ sagte die nächste Pappel. „Er ist ein Schandfleck für
die Familie.“

„Weg ... weg ... weg,“ rauschte es die Allee entlang.

       *       *       *       *       *

Die Zeit verstrich; und es war unbegreiflich, daß der alte Weidenbaum
noch am Leben war.

Die Borke war in großen Stücken herabgefallen, die Löcher unten waren
immer größer geworden, so daß der Fuchs eines Tages zu dem einen
herein- und zum andern hinausschlüpfen konnte. Die Mäuse zernagten das
morsche Holz. Von den obern Zweigen waren nur noch drei, vier Stück
übrig; und sie waren so dünn und so arm an Blättern, daß es ein Jammer
war.

Doch der Garten oben in seinem Wipfel gedieh wie nie zuvor.

[Illustration]

Die Erdbeere trug große Blüten, daraus schwere, rote Beeren wurden.
Und auch der Johannisbeerstrauch war aufgeschossen und trieb seine
erste Frucht. Die Löwenzahnpflanzen erglänzten im schönsten Gelb;
auch ein kleines blaues Veilchen war hinzugekommen, ferner eine rote
Gauchheilblüte, die sich nur gegen Mittag öffnete, wenn die Sonne am
stärksten schien, und eine große Roggenähre, die sich im Winde bog.

„Es wird immer besser,“ sagte der wilde Rosenstrauch. „Wenn du auch
Unglück gehabt und deine Krone verloren hast, so kannst du doch sagen,
daß das Schicksal dir geneigt war und dir Ersatz gab.“

„Das sage ich wahrhaftig auch,“ entgegnete der Weidenbaum. „Wenn ich
nur all das Glück ertragen kann! Meine Rinde wird immer dünner und
dünner; und mit jedem Jahr verliere ich ein paar Zweige.“

„Es nimmt ein schlimmes Ende,“ prophezeite die Eiche. „Ich habe dich
gewarnt ... denke an meinen armen, alten, hohlen Onkel!“

„Es endigt wohl so wie immer,“ sagte der Holunderstrauch. „Entweder so
oder so; es bleibt sich gleich. Aber ich glaube, der Weidenbaum ist
noch zu etwas gut.“

„Es ist nicht mehr zu sehen, daß er mit zur Familie gehört,“ sagte die
nächste Pappel. „Seine Zweige verwelken mehr und mehr, und er fächelt
nur noch mit fremden Zweigen und Blättern. So ist es gut. Wir lassen
uns nichts davon merken, daß er zu uns gehört ... pst!“

„Pst ...pst ... pst!“ flüsterte es die Allee entlang.

Eines Abends kroch der Regenwurm dort oben hervor. Bisher hatte er sich
aus Furcht vor den vielen Vögeln, die herbeikamen, stets unten in der
Erde gehalten. Er war so lang und dick und fett, wie ein Regenwurm nur
sein kann.

„Nein, sieh mal an, guten Tag, lieber Regenwurm,“ rief der Weidenbaum.
„Ich wußte wohl, daß du hier seist, aber ich habe bisher noch nicht das
Vergnügen gehabt, dich zu sehen. Es freut mich, daß du bei mir so gut
gedeihst. Wie bist du eigentlich hier heraufgekommen?“

„Daran war die Schwarzamsel schuld,“ sagte der Regenwurm. „Die hat mich
aus ihrem Schnabel verloren. Das heißt, sie hatte nur die Hälfte von
mir gepackt. Der Rest verzog sich in die Erde hinab; darum war ich nur
halb, als ich kam.“

„Willkommen warst du trotzdem,“ sagte der Weidenbaum. „Es macht mir
nichts aus, ob du ganz oder halb bist. Ich selber habe ja meine Krone
eingebüßt und werde immer ein unglückseliger Krüppel bleiben. Aber du
hast dich also wieder erholt?“

„Ach ja,“ entgegnete der Regenwurm. „Das geniert mich nicht im
mindesten, wenn sie mir ein Ende abhacken. Es wächst gleich wieder
heraus, wenn man mich nur in Ruhe läßt. -- Aber weißt du, was das für
ein kleiner Schößling ist, der hier neben mir mit dem sonderbaren
dicken Hut auf dem Kopfe hervorsprießt?“

„Ich kenne ihn nicht,“ sagte der Weidenbaum. „Ich bin ja mit den Jahren
schwach geworden und kann mich in all dem, was in mir wächst, fast gar
nicht mehr zurechtfinden. Kennst du ihn denn?“

„Gewiß,“ sagte der Regenwurm. „Ich selber habe ihn vor Jahren in
die Erde heruntergezogen. Er hing mit einem Blatt und einem Stengel
zusammen; und Blatt und Stengel habe ich gefressen, aber mit dem
Burschen habe ich nicht fertig werden können. Es war nicht so
verwunderlich, denn es war eine Eichel. Jetzt ist sie ausgekeimt ... Es
ist eine kleine Eiche.“

„Eine Eiche!“ wiederholte der Weidenbaum ehrerbietig.

„Die Eichel ist von dem starken Sturme herübergeweht worden, der vor
zwei Jahren im Herbst geherrscht hat,“ erzählte der Regenwurm. „Ich
erinnere mich noch ganz deutlich daran, weil du so knarrtest, daß ich
glaubte, es wäre mit uns allen zu Ende.“

„Was sagst du?“ fragte die Eiche auf der kleinen Anhöhe im Felde.
„Wächst eins von meinen Kindern bei dir?“

„Ja,“ erwiderte der alte Weidenbaum. „Es ist wirklich eine kleine
Eiche. Welche große Ehre für mich!“

„Verrücktheit!“ sagte die Eiche. „Sie muß ja sterben.“

„Sterben müssen wir alle,“ fügte der Holunder hinzu.

       *       *       *       *       *

Eines Tages machte der Gutsherr einen Spaziergang durch die Allee.

[Illustration]

Er war in Begleitung des Försters und seiner beiden Kinder, eines
Knaben und eines Mädchens. Sie waren erst seit kurzer Zeit auf dem Gut
und sahen sich neugierig um; denn es war alles neu für sie.

„Was zum Henker steht denn da für ein alter Knorren?“ fragte der
Gutsbesitzer und zeigte mit dem Stock auf die alte Weide. „Der verdirbt
uns ja die ganze Allee. Sorgen Sie dafür, daß er morgen fortkommt,
Förster! Der Anblick macht mich ganz krank.“

Denn an dem Tage war er nun einmal in dieser Laune.

„Nun kommt es,“ sagte die Eiche. „Das war dein Todesurteil, du alter
Weidenbaum. Na ... ärgere dich nicht! Mir scheint, es ist besser, daß
das Ende kommt, als daß man Tag für Tag immer hohler wird.“

„Und doch hängt man am Leben,“ sagte der Weidenbaum traurig. „Wie wird
es nun allen meinen Pensionären ergehen?“

„Sie müssen sich über die Zeit freuen, die sie gelebt haben,“ sagte der
wilde Rosenstrauch.

„Wir wollen erst mal sehen, was daraus wird,“ sagte der
Holunderstrauch. „Ich habe Schlimmeres durchgemacht und bin doch immer
wieder durchgekommen.“

„Gott sei Dank! es geht zu Ende,“ sagte die zunächst stehende Pappel.

„Gott sei Dank! ... Gott sei Dank! ... Gott sei Dank!“ rauschte es die
Allee entlang.

Am nächsten Vormittag kam der Förster. Er hatte bloß eine Axt bei sich,
denn er dachte, er brauche nur ein paar Schläge zu tun, um mit dem
alten, verfaulten Weidenstumpf fertig zu werden. Doch gerade, als er
zuhauen wollte, gewahrte er den Johannisbeerstrauch oben im Wipfel.
Der hatte große, reife Beeren. Er streckte die Hand aus, pflückte eine
davon und aß sie.

[Illustration]

„Das ist ja merkwürdig,“ sagte er. „Genau dieselben Beeren, wie im
Garten auf dem Herrenhof. Der liebe Gott mag wissen, wie die hierher
gekommen sind.“

„Förster! Förster!“

Der Sohn des Gutsherrn kam die Allee entlang gelaufen. Er wollte
zusehen, wie die alte Weide gefällt wurde. Der Förster erzählte ihm von
dem Johannisbeerstrauch, pflückte eine Beere und gab sie ihm.

„Heb mich in die Höhe; ich will mir selbst Beeren pflücken,“ sagte der
Junge.

Da hob ihn der Förster hinauf. Mit beiden Händen ergriff der Junge die
Weidenzweige dort oben und packte so hart zu, daß sie zerbrachen.

Dann umfaßte er die dünne Rinde des Baumes, die so verwittert war, daß
er ein großes Stück in jeder Hand behielt. Aber dann klatschte er vor
Verwunderung und Freude in die Hände und rief laut aus:

„Förster! Förster! Hier oben ist ein ganzer Garten! Hier stehen die
herrlichsten Erdbeeren neben dem Johannisbeerbusch ... und hier steht
ein kleiner Vogelbeerbaum ... und eine kleine, liebliche Eiche ... und
Unkraut ist auch hier ... fünf gelbe Löwenzahn ... und ein Gerstenhalm,
Förster ... Nein, wie schön das ist, wie schön das ist! Das muß meine
Schwester sehen ... und Vater ...“

„Spute dich und iß die Erdbeeren auf,“ sagte der Förster. „Denn nun
soll der Baumstumpf umgehauen werden, und dann ist es aus mit der
ganzen Herrlichkeit!“

[Illustration]

„Setz’ mich nieder!“ sagte der Junge zappelnd. Und als er auf der Erde
stand, rief er:

„Du wagst es nicht, den Baum umzuhauen! Hörst du ... du wagst es nicht!“

„Das wage ich doch wohl,“ sagte lachend der Förster. „Du hast es ja
selber gehört, daß der Herr es mir befohlen hat.“

„Dann laufe ich und hole den Vater,“ sagte der Junge. „Und du wagst
nicht, den Baum anzurühren, bis ich zurück bin. Tust du es trotzdem,
so kannst du mir glauben, daß ich mich an dir rächen werde, wenn ich
selber einmal Gutsherr werde.“

Damit lief er durch die Allee. Der Förster setzte sich an den Graben
und wartete; denn das schien ihm das Klügste zu sein.

„Die Herrenlaune hat den Burschen gepackt,“ sagte er.

[Illustration]

„Was habe +ich+ gesagt?“ rief der Holunderstrauch. „Ihr solltet stets
auf die hören, die Bescheid wissen.“

„Die Spannung, in der man sich befindet!“ sagte der Weidenbaum. „Wenn
ich nur nicht vor lauter Angst in Stücke zerfalle. Der Junge hat mich
schon ordentlich angepackt; und Gott weiß, daß ich nicht mehr sehr
widerstandsfähig bin.“

„Jetzt mußt du aushalten, bis wir sehen, was daraus wird,“ sagte der
wilde Rosenbusch. „Ich habe noch nie etwas so Spannendes erlebt.“

„Ich auch nicht,“ bestätigte die Eiche. „Aber es kann kein gutes Ende
nehmen, wenn man erst einmal hohl ist.“

Dann kam der Junge mit dem Gutsherrn. Der kleine Bursche zeigte und
erzählte. Der Förster rollte einen Stein herzu, so daß der Gutsherr
sich darauf stellen und in den Wipfel des Weidenbaums gucken konnte.

„Nein, so etwas habe ich denn doch noch nicht gesehen!“ sagte er. „Das
ist ja wirklich wahr ... da oben ist ein ganzer Garten. Und meine
eigenen Erdbeeren, glaub’ ich ...“

Er pflückte eine Beere und aß sie.

„Hm!“ sagte er. „Gewiß, das ist der richtige Geschmack. Beinahe kommen
sie mir noch leckerer vor als die zu Hause.“

„Soll der Baum denn nun umgehauen werden, Vater?“ fragte der Junge.

„Ganz gewiß nicht!“ entschied der Gutsherr. „Das wäre eine Sünde und
Schande. Es ist ja der merkwürdigste Baum, den ich auf dem ganzen Gut
habe. Sorgen Sie dafür, daß oben ein Tonnenband darum gelegt wird,
Förster! Und dann stellen Sie ein Staket darum auf, damit die Kühe sich
nicht daran reiben und ihm Schaden antun! Den schönen alten Weidenbaum
wollen wir uns so lange wie möglich zu erhalten suchen. Er macht mir
wirklich Freude.“

An dem Tage war er nun einmal in dieser Laune.

Es wurde oben ein eisernes Band um den Stamm des Weidenbaums gelegt,
und unten wurde ein Staket angebracht. So oft der Gutsherr mit Gästen
durch die Allee fuhr, ließ er den Wagen vor dem Weidenbaum halten.

„Ja ... die Allee ist sehr nett,“ sagte er. „Doch es sind ja bloß ganz
gewöhnliche Pappeln. Aber hier will ich Ihnen etwas ganz Merkwürdiges
zeigen ... Ja, es sieht aus wie ein alter Weidenstumpf, aber kommen Sie
bloß mal hierher ...“

Einer nach dem andern stieg dann aus dem Wagen aus, und sie traten auf
den Stein und bewunderten den Garten im Wipfel des Weidenbaums.

[Illustration]

„Hätte ich nicht das Eisenband, so würde ich bersten,“ sagte der
Weidenbaum. „So viel Ehre und Glück für einen so elenden Krüppel wie
mich! Denkt einmal .... der Gutsherr ist heraufgestiegen und hat
Erdbeeren bei mir verzehrt! Und all die fremden Gäste auf dem Gut
bekommen mich zu sehen.“

„Unglaublich,“ sagte die Eiche. „Es ist ja genau so, als ob ein Preis
auf das Hohlwerden gesetzt wäre.“

„Es ist ein Märchen,“ sagte der wilde Rosenstrauch. „Ich will es jedem
Vogel erzählen, der sich auf mir niederläßt, damit er es der ganzen
Welt verkünden kann.“

„Es ist so gekommen, wie ich gesagt habe,“ meinte der Holunderstrauch.

Doch die Schwarzamsel erklärte: „Wenn man die Sache bei Licht besieht,
so bin ich es sozusagen gewesen, der das Märchen in Szene gesetzt hat.
Aber ich habe, offen gestanden, mehr von den +alten+ Zeiten gehalten.
Da hatte man seine Ruhe hier oben. Jetzt riskiert man jeden Augenblick,
daß dieser oder jener den Kopf heraufsteckt und sagt: ‚Nä!‘ und ‚Ah!‘
und ‚Oh!‘“

„In meinem ganzen Leben ist mir so etwas noch nicht vorgekommen,“
sagte die nächste Pappel. „Habt ihr gehört, was der Gutsherr von
seinen stolzen, vornehmen Pappeln gesagt hat? Von uns, die wir am Wege
Posten gestanden haben Sommer und Winter, Jahr für Jahr? ... Ganz
gewöhnliche Pappeln hat er uns genannt. Und nun dieser widerwärtige,
simple Weidenbaum ... der alte, verfaulte Stumpf ... mit dem wir noch
obendrein verwandt sind ... Uh!“

„Uh ... uh ... uh!“ rauschte es die Allee entlang.

       *       *       *       *       *

An einem Wintertage kam ein Sturm auf, so daß in allen Bäumen des
Waldes ein donnerndes Krachen laut wurde; und alle die stolzen Pappeln
bogen sich wie Schilfrohr. Der Schnee stob hernieder, so daß Himmel und
Erde ineinander übergingen.

„Jetzt kann ich nicht mehr,“ stöhnte der alte Weidenbaum.

Da zerbrach er, ganz unten an der Wurzel. Das Eisenband, das er um den
Kopf gehabt hatte, flog rasselnd auf den festgefrorenen Weg hinab.
Das Staket stürzte um. Den Garten dort oben verstreute der Wind nach
allen Seiten ... Der Johannisbeerbusch und die Erdbeere, die Vogelbeere
und die kleine Eiche, die Löwenzahnpflanzen und das Veilchen ... alles
wurde weggemäht; und niemand weiß, was daraus geworden ist.

[Illustration]

Und unten lag der Regenwurm und wand und krümmte sich.

„Das übersteh’ ich nicht,“ seufzte er. „Sie mögen mich in zwei ... und
in drei Stücke zerhauen. Aber dies ist schlimmer. Die Erde ist hart
wie Eisen; kein Loch ist da, in das man hineinkriechen könnte. Und der
Frost beißt mich in die Haut. Lebt alle wohl, jetzt sterbe ich!“

Im Frühjahr wurde der Weidenstumpf ausgerodet. Doch der Gutsherr gab
den Befehl, daß kein neuer Baum an der Stelle gepflanzt werden dürfe.
So oft er vorbeifuhr, erzählte er denen, die bei ihm waren, von dem
merkwürdigen alten Weidenbaum, der in seinem hohlen Kopfe einen ganzen
Garten getragen hatte.

Und der wilde Rosenstrauch erzählte es den Vögeln, die es über die
ganze Welt hin verkündeten. Die Eiche lernte es nie begreifen; und
der Holunderstrauch sagte, er habe es sich von Anfang an gedacht. Die
Schwarzamsel wurde in einer Dohne eingefangen und gegessen.

Aber die Pappeln stehen noch heut in der Allee und rauschen, vornehm
und beleidigt.




Fünf Großmächte.


Katharine machte die Stube zurecht.

Sie öffnete die Fenster, sprengte Wasser auf den Fußboden und fegte.
Sie klopfte das Sofa und die Lehnstühle aus, so daß der Staub in dicken
Wolken umherstob. Und dann nahm sie das Staubtuch und machte die Runde
damit. Jedes Stuhlbein und jedes Buch auf dem Regal bekamen etwas ab.

[Illustration]

Als alles in Ordnung war, schloß sie die Fenster und ging aus dem
Zimmer.

In diesem Augenblick fiel ein höchst unbedeutender Geselle aus der Luft
herab. Auf die Ecke des blanken Mahagonitisches fiel er. Er war so, daß
man nie hätte daran denken können, ihn mit bloßem Auge zu entdecken.
Betrachtete man ihn durch ein Vergrößerungsglas, dann glich er einem
Komma.

So +klein+ er aber war, so zäh war er auch.

Auf der Stelle, auf der er gefallen war, blieb er liegen, ohne sich zu
rühren; er gab keinen Laut von sich und sah aus, als ob ihn alles um
ihn herum nichts anginge. Wäre ein Wind gekommen, so wäre er weggeweht
worden. Aber es kam kein Wind, und so blieb er liegen und spielte sich
auf.

Bald darauf kam noch einer angepurzelt und legte sich neben ihn.

Er war genau so verschwindend klein wie der erste und genau so zäh
anzuschauen. Aber durch das Vergrößerungsglas konnte man sehen, daß er
an dem einen Ende dicker war als an dem andern, so daß er einer kleinen
Keule glich.

„Ergebenster Diener,“ rief der erste.

„Ergebenster Diener,“ antwortete der zweite.

Dann schwiegen sie ein Weilchen. Durch den Tonfall hatten beide sich
als vornehme Leute zu erkennen gegeben; und darum wußten sie, daß das
übrige sich von selber ergeben mußte.

„Hier ist es gehörig trocken,“ begann nun der zweite.

„Ich bin ganz Ihrer Meinung,“ erwiderte der erste. „Es ist hier so
trocken, daß ich bald sterben muß, falls nicht eine Änderung zum Nassen
hin eintritt.“

„Es tut mir außerordentlich leid, das zu hören.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme. Es ist mir eine Ehre, in so guter
Gesellschaft zu sterben.“

„Sie sind zu liebenswürdig,“ sagte der zweite. „Vielleicht darf ich
mich vorstellen, da kein anderer da ist, der es tun könnte. Mein Name
ist +Diphtheriebazillus+.“

[Illustration]

„Freut mich außerordentlich, Ihre persönliche Bekanntschaft zu
machen,“ entgegnete der erste. „Ihr Name ist mir selbstverständlich
längst bekannt. Vielleicht kennen Sie auch den meinen. Ich bin der
+Cholerabazillus+.“

„Ach, Sie sind der berühmte Cholerabazillus!“

„Berühmt hin, berühmt her. -- Aber wer kommt denn da?“

Es kam noch so ein Gesell aus der Luft herabgepurzelt, der sich
neben die beiden legte. Er hatte dieselbe Größe wie die andern, war
jedoch steif wie ein Pflock. Er sah so zäh aus, daß sie sofort seine
Familienzugehörigkeit erkannten.

„Wir sprechen soeben davon, daß es hier sehr trocken ist,“ sagte der
Cholerabazillus und verbeugte sich.

„Sie haben gewiß recht,“ fiel der neue ein. „Aber das macht mir nichts
aus. Ich kann mich auf dem Trocknen zurechtfinden, solange es sein muß.
Mein Name ist +Tuberkelbazillus+, zu dienen.“

„Freut mich außerordentlich. Ich bin der Cholerabazillus. Und der Herr
dort ist der Diphtheriebazillus.“

„Ah. Da kann ich ja wenigstens auf ein behagliches Plauderstündchen
rechnen, während ich hier müßig sitze.“

„Wir sprachen soeben von der Berühmtheit des Cholerabazillus,“ sagte
der Diphtheriebazillus.

„Es ist kein Wort darüber zu verlieren,“ unterbrach ihn der
Cholerabazillus. „Mit mir ist es abwärts gegangen, seitdem ich entdeckt
wurde.“

„Ach ja,“ fiel der Diphtheriebazillus ein. „Mir ist es ebenso ergangen.“

„Mir auch,“ seufzte der Tuberkelbazillus.

„Diese verfluchten Vergrößerungsgläser sind schuld daran,“ rief der
Cholerabazillus. „Die elenden Menschen machen einen ausfindig, mag
man noch so gut versteckt sein. Und dann bekämpfen sie einen bis aufs
äußerste.“

„Man muß sich wehren,“ sagte der Diphtheriebazillus. „Wenn man gut
aufpaßt, kann man sich schon durchschlagen. Es kommt nur darauf an, daß
man sich ganz still verhält; und wenn man dann Kameraden genug hat, so
macht man sich über die Menschen her und erwürgt sie.“

„Ich mache gern alles in Ruhe ab,“ begann der Tuberkelbazillus. „Ich
finde, es hat keine so fürchterliche Eile. Man logiert sich ein, macht
es sich gemütlich und breitet sich aus, und dann geht alles von selbst,
ohne viel Lärm.“

„Das Ruhige liegt mir nicht,“ berichtete der Cholerabazillus. „Ich
falle am liebsten wie ein Gewitter über die Menschen her. In alten
Zeiten war ich eine +Macht+. Da war ich für die Menschen etwas
Grauenerregendes, Rätselhaftes. Sie hielten mich für eine Strafe Gottes
für ihre Sünden und ließen mich wüten, so toll ich wollte. Ich habe sie
totgeschlagen wie die Fliegen, und sie blieben unbegraben liegen. Sie
betranken sich gottsjämmerlich, so daß ich um so leichteres Spiel mit
ihnen hatte. Ich verbarg mich in ihren Kehrichthaufen, die allerorten
umherlagen; und wenn sie glaubten, daß es vorbei mit mir sei, so
war ich im nächsten Frühjahr doch wieder da und verheerte das Land.
Ich habe einmal einem Krieg Einhalt geboten, weil ich alle Soldaten
totschlug.“

„Ich weiß, ich weiß ...,“ sagte der Diphtheriebazillus.

„Sie haben eine glorreiche Geschichte,“ rief der Tuberkelbazillus.
„Ich bin, wie gesagt, immer mehr fürs Ruhige gewesen, habe aber darum
doch dies und jenes ausgerichtet. Ich habe mich in den Familien von
Geschlecht zu Geschlecht gehalten und hab’ es mir da recht gemütlich
gemacht. Aber ich kann ja nicht leugnen, daß die guten Tage jetzt
zur Neige gehen. Überall bauen sie Sanatorien und legen mir auf jede
erdenkliche Weise Hindernisse in den Weg.“

„Ja, es sieht schlimm aus,“ bestätigte der Cholerabazillus. „Jetzt
passen sie viel zu gut auf, daß es überall sauber ist. Wenn ich mich
in einem Menschen einlogiert habe, stecken sie ihn in ein Hospital und
sperren ihn von der ganzen Welt ab, so daß ich nicht weiterkommen kann.
Hab’ ich drüben auf der andern Erdhälfte gut Fuß gefaßt, so erzählt es
den Leuten hier sofort ihr verfluchter Telegraph. Und dann wird es in
ihren widerwärtigen Zeitungen abgedruckt, und am Tage darauf weiß man
in der ganzen Welt, wo die Cholera ist.“

„Ja, es ist traurig,“ sagte der Tuberkelbazillus.

Und auch der Diphtheriebazillus stimmte mit ein: „Es geht abwärts.“

Eine Weile hingen sie ihren betrüblichen Gedanken nach. Dann sagte der
Cholerabazillus:

„Am allermeisten ärgert es mich, daß wir gerade so armseligen
Geschöpfen wie den Menschen unterliegen sollen.“

„Viel Staat ist nicht mit ihnen zu machen.“

„Weiß Gott nicht!“

„Es ist ja unzweifelhaft, daß wir Bazillen die vollkommensten Wesen
sind, die auf Erden leben,“ fuhr der Cholerabazillus fort. „Alle
diese sogenannten höheren Tiere und Pflanzen sind ganz lächerlich,
wenn man näher zuschaut. Sie bilden sich und andern ein, daß sie es
außerordentlich weit gebracht hätten, und in Wirklichkeit vergeuden sie
drei Viertel ihres Lebens mit Narrenspossen.“

„Je größer sie sind, desto lächerlicher sind sie.“

„Der Mensch ist am lächerlichsten von ihnen allen!“

„Ja, nicht wahr,“ fuhr der Cholerabazillus fort. „Betrachten Sie zum
Beispiel einmal die Fortpflanzung! Ich weiß nicht, wie es bei den
Herren ist; aber ich vermute, Sie benehmen sich wie ich und andere
verständige Leute.“

„Ich teile mich.“

„Ich auch.“

„Selbstverständlich,“ sagte der Cholerabazillus, sich verbeugend. „Ich
habe Ihnen keinen Augenblick etwas anderes zugetraut. Man wächst und
geht mitten entzwei. Man wächst weiter und geht wieder mitten entzwei,
und so bis ins Unendliche. Im Laufe eines Tages sind Millionen aus
einem von uns geworden. Aber die Menschen können eine so einfache und
natürliche Geschichte selbstverständlich nicht mitmachen. Bei ihnen
sind zwei nötig zum Kinderkriegen.“

„Unbegreiflich!“

„Sinnlos!“

„Und was sind das für Junge, die auf so unnatürliche Weise entstehen?“
rief der Cholerabazillus. „Erstens vergeht fürchterlich viel Zeit,
bevor sie kommen. Dann sind sie zunächst die jämmerlichsten Dinger, die
man sich denken kann, und ganz außerstande, allein fertig zu werden.
Sie müssen in einem Nest aufbewahrt, genährt, gehegt, gepflegt und
erzogen werden. Die Menschen bekommen jedesmal nur ein Junges. Sind es
zwei, so kommt es in die Zeitung. Und ebenso merkwürdig wie bei ihrer
Geburt geht es auch bei ihrem Tode zu. Wenn ein Mensch stirbt, wird
fast noch mehr Wesens daraus gemacht als bei seiner Geburt. Sie weinen
und jammern und stecken ihn mit viel Allotria in die Erde ... Ja,
vielleicht ist es lächerlich von mir, Sie mit allen diesen Bemerkungen
zu belästigen. Aber ich bin wohl der Älteste von uns und kenne die
Menschen aus und ein. Namentlich habe ich an außerordentlich vielen
ihrer Begräbnisse teilgenommen. Ha ha ha!“

„Hi hi hi!“

„Ho ho ho!“

„Da sind +wir+ doch bessere Wesen,“ fuhr der Cholerabazillus fort.
„Wenn wir sterben, dann sterben wir eben. Wir sind weg, verschwinden
ohne viel Gewäsch und Begräbnislärm. Ich kann mich da selber als
Beispiel anführen. Es ist mir unmöglich, länger als drei Tage auf dem
Trockenen zu leben. Heute ist mein dritter Tag. Nun kommt es darauf
an, ob Katharine morgen mit einem trocknen oder nassen Wischtuch ins
Zimmer tritt ... das bedeutet für mich Tod oder Leben. Aber weine ich
deswegen? Versammle ich meine Familie um mein Lager?“

„Sie haben vollkommen recht,“ bestätigte der Tuberkelbazillus.

„Mir aus der Seele gesprochen,“ stimmte auch der Diphtheriebazillus zu.

„Nein, die guten Menschen sind recht armselige Geschöpfe,“ sagte der
Cholerabazillus. „Denken Sie doch daran, wie lange Zeit man gebraucht
hat, um uns zu entdecken. Jahrtausendelang haben sie sich mit den
gleichgültigsten Dingen beschäftigt. Sie haben Krieg mit Löwen und
Tigern geführt, mit Schlangen, Krokodilen und andern unbedeutenden
Wesen; und als sie sie bezwungen hatten, hielten sie sich für die
Herren der Erde und für die Krone der Schöpfung. Über uns wußten sie
nicht Bescheid. Ihre ausgezeichneten Augen konnten uns nicht sehen.
Ihre klugen Gedanken konnten uns nicht erraten. Ihre scharfen Waffen
konnten uns nicht treffen.“

„Aber nun kennen sie uns,“ warf der Diphtheriebazillus ein.

„Ach ja,“ seufzte der Tuberkelbazillus.

„Ja, nun kennen sie uns leider,“ sagte der Cholerabazillus.

Während alle drei so ihren melancholischen Gedanken nachhingen,
purzelten zwei neue Bürschchen aus der Luft herab und legten sich nicht
weit von ihnen nieder.

[Illustration]

Sie waren nicht größer als die drei, die schon da waren. Aber der
eine war so dick wie eine kleine Tonne und der andere so dünn, daß es
kaum zu verstehen war, daß er existieren konnte; und außerdem war er
gewunden wie ein Korkzieher.

„Gott mag wissen, was das für Gestalten sind,“ sagte der
Cholerabazillus leise zu seinen Kameraden.

„Ich habe sie noch nie gesehen,“ flüsterte der Diphtheriebazillus. Und
der Tuberkelbazillus sagte das gleiche.

„Wir wollen ihnen ein bißchen auf den Zahn fühlen,“ schlug nun der
Cholerabazillus vor.

Er verbeugte sich vor den beiden Ankömmlingen, und sie grüßten höflich
wieder.

„Darf ich fragen ... sind die Herren zäh?“

„Na ... gewiß,“ rief der Dicke und rollte lustig herum.

„Ich kann unglaublich viel aushalten,“ sagte der Korkzieherartige und
drehte sich wild im Kreise.

„Freut mich außerordentlich,“ erwiderte der Cholerabazillus. „Und wenn
Sie sich vermehren, teilen Sie sich dann? In vier ... acht ... sechzehn
Stücke?“

„In viel, viel mehr,“ rief der Dicke.

„Wofür halten Sie uns?“ fragte der Korkzieherartige.

„Ich halte Sie für Bazillen, meine Herren,“ sagte der Cholerabazillus
und verbeugte sich wieder. „Und ich heiße Sie in unsrer Mitte
willkommen. Mein Name ist Cholerabazillus. Der steife Herr dort ist der
Diphtheriebazillus ... der keulenförmige der Tuberkelbazillus.“

„Guten Tag, guten Tag,“ sagte der Dicke. „Ich hoffe, es wird gemütlich
werden. Mein Name ist +Gärungsbazillus+. Dieser Herr hier, dem ich in
der Luft begegnet bin, ist der +Fäulnisbazillus+.“

„Ehrt mich sehr,“ sagte der Korkzieherartige. „Aber gemütlich bin ich
nicht.“

„Wir sprachen soeben von den Menschen,“ berichtete der Cholerabazillus.

Da wälzte sich der Gärungsbazillus vor Freude und Wohlgefallen um
seine Achse: „Ach, die lieben, lieben Menschen! Etwas Besonderes ist
ja nicht an ihnen, aber sie sind wirklich nett zu mir! Sie sind meine
allerbesten Freunde.“

„Leider kann ich mich keiner vornehmen Verbindungen rühmen,“ bemerkte
der Tuberkelbazillus mit steifer Gebärde.

„Auch ich nicht,“ sagte der Diphtheriebazillus.

Und der Cholerabazillus erklärte: „Ihre Bemerkung verletzt uns. Wir
haben soeben festgestellt, daß die Menschen unsre ärgsten Feinde sind.“

„Was soll die Feindschaft?“ entgegnete der Gärungsbazillus. „Wir
wollen gemütlich sein. Sie können wirklich nicht verlangen, daß ich
den Menschen zürnen soll, da sie doch so unvergleichlich gut zu mir
sind. Sie züchten mich geradezu. Freilich haben sie sehr lange Zeit
gebraucht, um mich zu entdecken. Aber niemand kann ja gegen seine Natur
handeln; und man muß sich mit dem Verstande begnügen, den einem der
liebe Gott gegeben hat. Als sie mich dann endlich gewahrten, da ging
es im Ernst los, das dürfen Sie mir glauben. Jetzt können sie mich gar
nicht mehr entbehren. Ich spiele die erste Geige in ihren Molkereien
und Brauereien.“

Der Cholerabazillus, der Tuberkelbazillus und der Diphtheriebazillus
sahen einander an.

„So!“ rief der Diphtheriebazillus. „Sie sollten also der einzige von
allen Bazillen sein, den die Menschen lieben?“

„Auch mir kommt es so vor, als ob bei der Geschichte nicht alles
stimmte,“ sagte der Tuberkelbazillus.

Und der Cholerabazillus meinte, die Äußerungen des fremden Herrn seien
eines Bazillus gänzlich unwürdig.

„Ich bezweifle, daß der Herr wirklich ein Bazillus ist,“ sagte der
Diphtheriebazillus.

„Mir ist er gleich verdächtig vorgekommen,“ sagte der Tuberkelbazillus.

„Er ist zu dick,“ erklärte der Cholerabazillus. „Er platzt fast vor
Hochmut.“

„Platze ich, so werden zwei aus mir,“ sagte der Gärungsbazillus munter.
„Zwei dicke. Es tut mir leid, daß die Herren böse auf mich sind. Aber
ich kann wahrhaftig nichts daran ändern. Glücklicherweise ist meine
Lebensführung derartig, daß die Menschen mich nötig haben. Ich gebe
zu, daß mir das eine Sonderstellung unter den Kollegen verleiht;
aber ich versichere Ihnen, daß ich mein Bazillenleben in völliger
Übereinstimmung mit meiner Natur führe, ohne mich im geringsten nach
den Menschen zu richten. Darum geht es mir gut. Ich rate den Herren,
es ebenso zu machen; dann werden Sie sich viel besser fühlen. Wenn der
hochgeehrte Cholerabazillus, der ausgezeichnete Diphtheriebazillus und
der vortreffliche Tuberkelbazillus etwas gemütlicher sein möchten, so
würden Sie sehen, wie Sie zu Ehren und Würden kämen.“

Da rückten die drei Bazillen, die zuerst gekommen waren, näher
zusammen und sahen sehr gekränkt aus. Keiner von ihnen antwortete. Der
Gärungsbazillus rollte herum, so rund er war, und lachte seelenvergnügt.

Dann verbeugte sich der Cholerabazillus vor dem Korkzieherartigen und
sagte:

„Ich wünsche, +Ihre+ Ansicht zu hören, mein Herr. Sie sind zusammen mit
dem dicken Herrn dort gekommen. Aber Sie sehen aus wie ein Mann, der
den nötigen Ernst besitzt.“

„Das will ich meinen,“ antwortete der Fäulnisbazillus.

„Vielleicht werden Sie uns nun die Ehre erweisen, sich über die
Menschenfrage zu äußern?“ fragte der Cholerabazillus.

Der Fäulnisbazillus wand sich in außerordentlich gleichgültiger und
überlegener Weise:

„Ja, was ist denn Besonderes an den Menschen? Soweit ich sehe, sind sie
nicht anders als alle die andern. Tiere, Pflanzen und Menschen ... das
alles ist für mich ein und dasselbe. Ich stehe über all dem. Ich bin
der Fäulnisbazillus. Ich bin eine Großmacht.“

„Pardon,“ warf der Cholerabazillus ein. „Ich halte mich gleichfalls für
eine Großmacht.“

„Ich auch,“ rief der Diphtheriebazillus.

„Und ich desgleichen,“ meinte der Tuberkelbazillus.

„Sehr wohl,“ sagte der Fäulnisbazillus. „Ich gebe zu, daß die Herren
Großmächte +gewesen+ sind. Es hat Zeiten gegeben, wo Sie die Welt
regierten, wohin Sie immer kamen. Sie jagten den Lebewesen Schrecken
ein und töteten sie. Niemand konnte Sie verstehen, niemand Ihnen
Widerstand leisten. Aber jetzt ist Ihre Zeit vorbei. Sie sind entdeckt,
und Sie werden bekämpft. Und Sie haben keine Freunde, die Sie
verteidigen können. Es ist nicht schwer vorauszusagen, daß Sie binnen
kurzem aus der Welt ausgerottet sein werden.“

Die drei Bazillen ließen die Köpfe hängen. Sie waren wütend, aber sie
wußten nichts darauf zu erwidern; denn es war ihnen klar, daß der
Fäulnisbazillus recht hatte.

„Mich haben Sie gar nicht erwähnt,“ sagte der Gärungsbazillus und sah
so gekränkt aus, wie er nur konnte.

„Sie sind ein ganz tüchtiger Kerl,“ erwiderte der Fäulnisbazillus. „Sie
sind auf dem Gipfel Ihrer Macht. Vielleicht dauert es lange, vielleicht
auch nicht. Jedenfalls aber können Sie sich nicht mit mir vergleichen.“

„Hat man je so etwas gehört!“ rief der Cholerabazillus.

„Pardon,“ sagte der Gärungsbazillus. „Wie dumm, daß ich Sie
unterbrechen muß, aber ich sehe mich gezwungen, es zu tun, indem ich
Ihnen die Mitteilung mache, daß ich jetzt sterben werde.“

„Müssen Sie sterben?“ fragte der Cholerabazillus.

„Ja,“ erwiderte der Gärungsbazillus. „Mehrere Tage lang bin ich
umhergeschwebt, ohne etwas zu finden, was in Gärung übergehen kann; und
allmählich bin ich bedenklich eingetrocknet. Also leben Sie wohl, meine
Herren! Ich sterbe, wie es sich für einen guten Bazillus geziemt, in
der Überzeugung, daß Millionen und Billionen mein Großmachtwerk in der
Welt fortsetzen werden.“

Nach diesen Worten starb er.

Die andern sahen ein wenig verblüfft aus.

„Er hat gesprochen wie ein Gentleman und ist wie ein Bazillus
gestorben,“ sagte der Fäulnisbazillus.

„Vielleicht,“ meinte der Cholerabazillus. „Aber ich weiß nicht, ob Sie
berechtigt sind, sich über diese Frage zu äußern.“

„Hört, hört!“ rief der Tuberkelbazillus.

„Bravo,“ sagte der Diphtheriebazillus.

„Wenn schon der Verstorbene ein wenig vertrauenerweckendes Aussehen
hatte, so ist es +um+ Sie ganz schlimm bestellt,“ fuhr der
Cholerabazillus fort. „Noch nie hab’ ich einen Bazillus sich so winden
sehen, wie Sie es tun. Ich gestatte mir darum, an Ihrer Echtheit zu
zweifeln.“

„Ich zweifle schon lange daran,“ bemerkte der Tuberkelbazillus. „Ein
Bazillus ist entweder krumm oder gerade, dick oder dünn. Die Echtheit
des Gärungsbazillus wage ich nicht zu bestreiten, einen Korkzieher
aber haben wir nicht unter uns.“

„Ich bitte die Herren zu beachten, daß er Wimperhärchen an beiden
Enden hat,“ sagte der Diphtheriebazillus. „Welcher Bazillus ist so
beschaffen? Das ist ohne Zweifel ein Versuch, die sogenannten höheren
Wesen nachzuäffen.“

Der Fäulnisbazillus aber wand sich gleichgültig und überlegen.

„Sehen Sie, meine Herren,“ sagte er. „Wie ich schon vorhin gesagt habe,
erkenne ich an, daß jeder von Ihnen seine Bedeutung hier in der Welt
hat. Unzweifelhaft ist aber +mein+ Beruf der wichtigste. Ohne mich
würde die Welt verkommen. In Wirklichkeit bin +ich+ es, der die
Dinge in Gang bringt.“

„Ist es zuviel verlangt, wenn ich Sie um eine nähere Erklärung Ihrer
rätselhaften Worte bitte?“ fragte der Cholerabazillus. „Vielleicht
würden wir Sie besser verstehen, wenn Sie es für einen Augenblick
unterlassen wollten, sich so grauenhaft zu drehen.“

„Leider kann ich Ihnen den Gefallen nicht tun,“ erwiderte der
Fäulnisbazillus. „Meine Natur bringt es mit sich, daß ich mich winde
und drehe. Wenn ich aufhören würde, es zu tun, dann würde ich auch
aufhören zu leben, und alles würde aufhören.“

„Hat man je so etwas gehört?“ fragte der Cholerabazillus.

„Er ist schwachsinnig,“ sagte der Diphtheriebazillus.

„Das ist der reine Größenwahn,“ rief der Tuberkelbazillus.

„Sehen Sie, meine Herren ... Sie haben vorhin von den Menschen
geredet,“ fuhr der Fäulnisbazillus fort. „Auch ich kann über sie
mitreden, da es den Anschein hat, daß Sie sehr großen Respekt vor ihnen
haben. Die Menschen sind lächerliche, kleinliche, dumme Geschöpfe. Das
steht fest. Aber natürlich haben sie auch ihre guten Seiten, wie der
selige Gärungsbazillus mit Recht bemerkte. Ich muß zugeben, daß meine
Bedeutung von den Klügsten von ihnen erkannt worden ist. Für die große
Menge bin ich allerdings nur ein Gestank für die Nasen. Aber das ist
mir vollkommen gleichgültig. Ich lasse sie verfaulen, die Klugen und
die dummen, ohne Ansehen der Person.“

„Soll das eine Erklärung sein?“ fragte der Cholerabazillus.

„Allerdings,“ entgegnete der Fäulnisbazillus. „Überall, wo ein
Wesen liegt, das gestorben ist, erscheine ich und verwandle es
im Handumdrehen in die nützlichsten Stoffe, die die lebenden
Wesen brauchen können. Existierte ich nicht, so wäre die ganze
Welt ein Haufen von Leichen. Nehmen wir z. B. an, daß der geehrte
Cholerabazillus eine Anzahl der Menschen erschlagen hat, auf die er so
ergrimmt ist. Dann komme ich und bewirke, daß sie verfaulen. Ich lasse
Menschen verfaulen und lasse Cholerabazillen verfaulen, ohne Ansehen
der Person. Und selbst wenn die Menschen die sämtlichen drei anwesenden
Herren und alle möglichen andern Krankheiten, die sie plagen,
überwunden haben, +mir+ entgehen die Menschen darum doch nicht. Sterben
müssen sie; und wenn sie gestorben sind, dann lasse ich sie verfaulen.
Darum mache ich mich so oft über alle ihre Sorgen und Faxen lustig. Sie
endigen ja alle bei mir.“

„So so,“ sagte der Cholerabazillus nachdenklich.

Und auch die beiden andern dachten nach. Der Diphtheriebazillus wollte
soeben etwas sagen, als sich der Fäulnisbazillus wand, wie er es noch
nie getan hatte.

„Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche,“ bemerkte er. „Und
vergessen Sie nicht, was Sie sagen wollten! Ich bedaure, daß ich dem
Beispiel des Gärungsbazillus folgen und sterben muß. Ich bin ganz
eingetrocknet, und hier ist nichts für mich zu tun. Mein verstorbener
Kollege dort ist zu klein und zu vertrocknet. Sonst würde es mir eine
Ehre und Freude sein, ihn verfaulen zu lassen. Adieu also, meine
Herren!“

Damit war auch er tot.

„Tja,“ sagte der Cholerabazillus. „Komisch! Ich glaube, der war echt.“

„Das glaub’ ich auch,“ stimmte der Diphtheriebazillus zu.

„Ich auch,“ gestand der Tuberkelbazillus.

Nun lagen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Dann krümmte sich
plötzlich der Cholerabazillus sehr heftig.

„Warum kommt Katharine nicht mit dem nassen Tuch?“ seufzte er. „Was für
ein Pech, daß ich in so ein unordentliches Haus hineingeplumpst bin! Es
ist ja doch ein dringendes Bedürfnis, daß hier abgestäubt wird.“

Die andern sagten nichts dazu, und der Cholerabazillus krümmte sich
noch mehr. Er glich einem ganz kleinen, fürchterlich alten Mann mit
krummem Rücken.

„Ich sterbe,“ rief er schließlich „Adieu, meine Herren! Lassen Sie es
sich gut gehen!“

Damit war er tot.

„Nun sind nur wir beide noch übrig,“ seufzte der Tuberkelbazillus.

„Das sind wir.“

„Das kommt daher, weil wir am zähesten sind. Zähigkeit ist die
wichtigste Eigenschaft für einen Bazillus.“

„Allerdings,“ bestätigte der Diphtheriebazillus. „Nächst seiner
Kleinheit natürlich. Stellen Sie sich einmal vor, daß wir so groß wie
Elefanten wären!“

„Ho ho ho,“ lachte der Tuberkelbazillus „Ja, dann wären wir allerdings
bald fertig. Oder was meinen Sie dazu, wenn wir so empfindlich wären
wie die Menschen?“

„Hi hi hi,“ lachte der Diphtheriebazillus. „Ja, dann wäre wirklich kein
Staat mit uns zu machen.“

In diesem Augenblick wurde eine Tür geöffnet. Ein Zugwind wehte durch
die Stube. Es war ein so schwacher Zugwind, daß ein Mensch schon
fürchterliche Zahnschmerzen hätte haben müssen, um ihn zu merken. Aber
für die Bazillen war es ein regelrechter Sturm.

Er packte sie und wirbelte sie in die Luft empor; und wo sie geblieben
sind, das weiß ich nicht.




Der Nebel.


Die Sonne war soeben untergegangen.

Der Frosch quakte sein Gutenacht, das so lang war, daß er gar nicht
fertig damit wurde. Die Biene kroch in ihren Bienenkorb; und die
kleinen Kinder weinten, weil sie zu Bett sollten. Die Blume schloß ihre
Blätter und neigte ihren Kopf, der Vogel barg seinen Schnabel unter dem
Flügel, und der Hirsch ließ sich in dem hohen, weichen Grase auf der
Waldwiese nieder.

[Illustration]

In der Dorfkirche läutete die Glocke, und als das besorgt war, ging der
alte Küster nach Hause. Auf dem Heimwege plauderte er ein wenig mit
den Leuten, die draußen ihren Abendspaziergang machten oder vor der
Tür standen und eine Pfeife rauchten; und dann sagte er gute Nacht und
schloß seine Tür.

Allmählich wurde es ganz still, und die Dunkelheit brach herein. Im
Pfarrhof und beim Doktor war noch Licht. Aber in den Häusern der Bauern
war es dunkel; denn die stehen im Sommer früh auf, und darum müssen sie
früh zu Bett.

Die Sterne schimmerten am Himmel hervor, und der Mond schlich sich
höher und höher hinauf. Drunten im Dorfe bellte ein Hund. Aber das
war sicher im Traume, denn es war nichts da, weswegen er hätte bellen
können.

„Ist hier niemand?“ fragte der Nebel.

Aber niemand antwortete, denn da war niemand.

Da brach der Nebel in seinen hellen, leichten Gewändern hervor. Er
tanzte hin über die Wiesen, auf und nieder, hin und her. Dann lag er
ein Weilchen ganz still da, und nun begann er seinen Tanz wieder.
Hinaus über den See hüpfte er und in den Wald hinein, wo er seine
langen, nassen Arme um die Baumstämme schlang.

„Wer bist du, Kamerad?“ sagte die Nachtviole, die dastand und ihren
Duft zu ihrem eigenen Vergnügen aussandte.

Der Nebel antwortete nicht, sondern tanzte weiter.

„Wer bist du, Kamerad?“ fragte die Nachtviole. „Weil du mir keine
Antwort gibst, vermute ich, daß du ein Grobian bist.“

„Jetzt werd’ ich dich einschließen,“ flüsterte der Nebel und legte sich
um die Nachtviole.

„Nimm deine Finger fort, Freund! Mir ist, als wäre ich in den Teich
getaucht. Du brauchst doch nicht gleich so böse zu werden, weil ich
dich frage, wer du bist.“

Da hob sich der Nebel wieder.

„Wer ich bin?“ sagte er. „Du würdest es doch nicht verstehen, wenn ich
es dir auch erzählte.“

„Versuch’s einmal,“ bat die Nachtviole.

„Ich bin der Tautropfen an der Blume, die Wolke am Himmel und der Nebel
auf der Wiese,“ begann der Nebel.

„Was ist das?“ sagte die Nachtviole. „Willst du das nicht noch einmal
sagen! Den Tautropfen kenne ich. Der setzt sich jeden Morgen auf meine
Blätter: und mir scheint, er gleicht dir gar nicht.“

„Ja, und doch bin ich es,“ sagte der Nebel betrübt. „Aber keiner kennt
mich. Ich muß mein Leben in mancherlei Gestalten zubringen. Manchmal
bin ich Tau, und manchmal bin ich Regen, und manchmal riesle ich als
klare, kühle Quelle durch den Wald. Aber wenn ich am Abend auf der
Wiese tanze, dann sagen die Menschen: der Fuchs braut.“

„Das ist eine sonderbare Geschichte,“ erklärte die Nachtviole.
„Möchtest du sie mir nicht erzählen? Die Nacht ist so lang, und ich
langweile mich zuweilen wirklich ein wenig.“

„Es ist eine traurige Geschichte,“ erwiderte der Nebel. „Aber ich will
sie dir gern erzählen.“

[Illustration]

Damit wollte er sich niederlegen, aber die Nachtviole bewegte
erschrocken alle ihre Blätter.

„Sei so freundlich und bleib mir ein paar Schritt vom Leibe,“ sagte
sie, „wenigstens bis du dich ordentlich vorgestellt hast! Ich bin nie
gern gleich mit Leuten intim gewesen, die ich noch nicht kenne.“

Da ließ sich der Nebel ein Endchen weiter weg nieder und fing an zu
erzählen:

[Illustration: „Dann lag er ein Weilchen ganz still da ...“]

„Ich bin tief unten in der Erde geboren -- viel tiefer, als deine
Wurzeln reichen. Da kamen wir, ich und meine Schwestern -- denn
wir sind eine große Familie, mußt du wissen -- zur Welt als reine,
kristallklare, kleine Quellen, und da unten mußten wir lange verborgen
liegen. Aber eines Tages sprangen wir plötzlich an der Halde hervor,
mitten im vollen, hellen Sonnenlicht. Du kannst dir nicht denken,
wie herrlich das war, so durch den Wald dahinzutollen. Wir hüpften über
die Steine und plätscherten gegen das Ufer. Hübsche Fischlein tummelten
sich in uns, und die Bäume neigten sich über uns und spiegelten ihre
grüne Pracht in uns. Fiel ein Blatt herunter, so wiegten wir es und
liebkosten es und trugen es in die weite Welt hinaus. Oh -- es war so
schön! Das war die glückseligste Zeit meines Lebens.“

„Bekomme ich bald zu wissen, wie es zuging, daß du zu Nebel wurdest?“
fragte die Nachtviole ungeduldig. „Die Quelle kenne ich. Wenn es ganz
still ist, kann ich sie von hier aus, wo ich stehe, rieseln hören.“

Der Nebel hob sich ein wenig und machte ein Tänzchen über die Wiese
hin. Dann kam er zurück und erzählte weiter:

[Illustration]

„Das ist das schlimmste hier im Leben, daß man nie zufrieden mit dem
ist, was man hat. So liefen wir weiter und weiter, und zuletzt liefen
wir in einen großen See hinaus, auf dem die Seerosen auf dem Wasser
schaukelten und über dem die Libellen mit ihren großen, steifen Flügeln
schwirrten. An der Oberfläche war der See blank wie ein Spiegel, aber
wir mochten wollen oder nicht, wir liefen ganz unten am Boden entlang,
wo es dunkel und unheimlich war. Und das konnte ich nicht aushalten.
Ich sehnte mich nach den Sonnenstrahlen. Die kannte ich ja so gut von
der Zeit her, wo ich mit im Bache dahinlief. Da guckten sie zwischen
den Blättern durch und fuhren wie hastige Lichter über mich hin. Ich
wollte sie wiedersehen, drum schlich ich an die Oberfläche hinauf und
legte mich im Sonnenschein mitten zwischen die weißen Seerosen und
ihre großen, grünen Blätter. Aber, o weh, wie die Sonne da draußen
auf dem See brannte! Es war gar nicht auszuhalten, und ich bereute es
bitterlich, daß ich nicht da unten auf dem Grunde geblieben war.“

„Das macht mir keinen Spaß,“ sagte die Nachtviole. „Kommt nun bald der
Nebel?“

„Hier ist er!“ drohte der Nebel und legte sich von neuem um die Blume,
daß ihr fast der Atem verging.

„Au! Au!“ schrie die Nachtviole. „Du bist wahrhaftig der hitzigste
Gesell, den ich kenne. Weg mit dir; und erzähle weiter, wenn es denn
nicht anders sein kann.“

„Am Abend, als die Sonne untergegangen war, wurde mir plötzlich so
sonderbar leicht zumute,“ fuhr der Nebel fort. „Ich weiß nicht, wie es
zuging, aber mir war, als müßte ich aus dem See aufsteigen und fliegen.
Und ehe ich mich’s versah, schwebte ich wirklich über dem Wasser, fort
von den Libellen und Seerosen. Der Abendwind trug mich von dannen; hoch
in der Luft flog ich, da traf ich viele von meinen Schwestern, die
ebenso neugierig wie ich gewesen waren, und denen es ebenso ergangen
war. Wir schwebten am Himmel dahin ... wir waren Wolken geworden,
verstehst du?“

„Ich weiß nicht,“ sagte die Nachtviole. „Sehr glaubwürdig klingt das
eigentlich nicht.“

„Aber wahr ist es doch,“ antwortete der Nebel. „Höre jetzt weiter ...
Ein langes Stück trug uns der Wind durch die Luft. Aber da auf einmal
mochte er nicht mehr und ließ uns fahren. Als ein plätschernder Regen
fielen wir auf die Erde nieder. Die Blumen hatten es eilig damit, sich
zu schließen; und die Vögel verkrochen sich -- nur die Enten und Gänse
nicht; denn die waren um so froher, je nässer sie wurden. Ja ... und
dann der Bauer, der freute sich, weil sein Getreide Wasser nötig hatte.
Er machte sich nichts daraus, daß er naß wurde. Aber sonst richteten
wir gar große Verwirrung an.“

[Illustration]

„So so, also der Regen bist du auch,“ sagte die Nachtviole. „Hör’ mal,
du hast eigentlich ziemlich viel zu besorgen.“

„Ja ... ich habe nie Ruhe,“ erwiderte der Nebel.

„Aber ich habe nun doch nicht gehört, wie du zu Nebel wurdest,“ sagte
die Nachtviole. „Werd’ aber nur nicht gleich wieder hitzig ... du
hast mir ja selbst versprochen, es mir zu erzählen; und ich will
lieber die ganze Geschichte von vorne hören, als noch einmal in deinen
widerwärtigen, feuchten Armen liegen.“

Der Nebel lag ein Weilchen traurig da, und dann erzählte er weiter:

„Nachdem ich als Regen zur Erde niedergefallen war, sank ich durch das
schwarze Erdreich hindurch und freute mich schon darauf, an meinen
Geburtsort zurückzukommen, zu der tiefen, unterirdischen Quelle. Da
hatte man doch wenigstens Frieden und keine Sorgen. Aber wie ich
schön sank, saugten mich die Wurzeln der Bäume auf; und ich mußte
mich dareinfinden, den lieben, langen Tag rings in den Zweigen und
Blättern umherzuspazieren. Die gebrauchen mich als Lasttier, verstehst
du. All die Nahrung, die die Blätter und Blüten nötig hatten, mußte
ich von der Wurzel her zu ihnen hinaufschleppen. Erst am Abend kam
ich frei. Als die Sonne untergegangen war, seufzten alle Blumen und
Bäume tief auf, und ich und meine Schwestern flogen bei ihren Seufzern
fort als helle, leichte Nebel. Heute nacht tanzen wir auf der Wiese.
Aber morgen, wenn die Sonne aufsteht, werden wir wunderschöne, klare
Tautropfen, die unter deinen Blättern hängen. Dann schüttelst du uns
ab; und wir sinken tiefer und tiefer, bis wir zu der Quelle kommen, von
der wir herstammen, wenn uns nicht diese oder jene Wurzel unterwegs
aufschnappt. Und dann geht die Fahrt weiter: durch den Bach, in den See
hinaus, in die Luft hinauf und wieder zur Erde nieder ...“

„Halt!“ rief die Nachtviole. „Mir wird ganz schwindlig, wenn ich dich
höre.“

Jetzt fing der Frosch an, sich zu rühren. Er streckte seine Beine aus
und ging in den Graben hinab, um sein Morgenbad zu nehmen. Die Vögel im
Walde fingen an zu zirpen, und der Hirsch brüllte zwischen den Stämmen.

[Illustration]

Der Morgen graute, und die Sonne guckte über den Hügel.

„Was ist das?“ rief sie. „Wie sieht es hier aus? Man kann ja nicht die
Hand vor Augen sehen. -- Morgenwind, auf mit dir, du Faulpelz, und feg’
die häßlichen Nebel fort!“

Und der Morgenwind fuhr über die Wiese und blies die Nebel weg. Da
sandte die Sonne ihre ersten Strahlen gerade auf die Nachtviole hinab.

„Potztausend!“ sagte die Blume. „Da haben wir schon die Sonne. Dann muß
ich mich aber schnell schließen. Wo in aller Welt ist nun der Nebel
geblieben?“

„Hier bin ich ja,“ sagte der Tautropfen, der an ihrem Stengel hing.

Aber die Nachtviole schüttelte sich ärgerlich.

„Das kannst du anderen weismachen,“ sagte sie. „Ich glaube kein Wort
von dem, was du erzählt hast. Das ist alles dummes, wässeriges Zeug.“

Die Sonne aber lachte und sagte:

„Da hast du recht!“




Der Regenwurm und der Storch.


Mitten in einem alten Garten lag einmal ein altes Haus, und rings um
den Garten dehnten sich grüne Wiesen, soweit man sehen konnte.

[Illustration]

Das Haus hatte ein Strohdach und war ganz mit Efeu überwachsen. Die
Ranken krochen über das Dach bis zum Schornstein hin und über diesen
weg und hingen vor den Fenstern wie dichte, grüne Gardinen hinab, so
daß beinahe gar kein Lichtstrahl in die Stuben hineinschlüpfen konnte.

Das machte freilich nichts aus, denn das alte Haus war leer.

Vor vielen Jahren hatte ein Pastor darin gewohnt; als aber seine Frau
und seine beiden kleinen Jungen infolge der Feuchtigkeit gestorben
waren, reiste er fort; und seitdem wollte niemand mehr dort wohnen.
Das Haus lag einsam und verlassen da, die Wände waren schimmlig
vor Feuchtigkeit, der Keller stand voll Wasser, und die Fußböden
verfaulten. Im Garten wuchsen die Bäume, wie sie Lust hatten, und das
Gras wucherte wild auf allen Wegen.

Doch draußen auf den Wiesen weideten und brüllten im Sommer die Kühe,
und die Frösche quakten am Abend munter in den tiefen Gräben. Wenn die
Erntezeit heranrückte, kamen die Knechte oben vom Gute, mähten das
Gras und banden es zusammen und fuhren es nach Hause. Dann wurde es
Herbst, und der Sturm heulte, und die Blätter fielen von den Bäumen
im Garten. Und dann kam der Winter, und der Schnee lag auf dem alten,
toten Hause und den großen Wiesen.

Doch wenn der Schnee geschmolzen war, und die Wiesen wieder grün
wurden, und das Frühjahr seinen Einzug hielt, dann kam der Storch.

Er hatte sein Nest seit langer Zeit auf dem Dache des alten Hauses
gehabt und seine Sommerwohnung da oben behalten, als der Pastor auszog.
Die Feuchtigkeit drang nicht so hoch hinauf, und im übrigen war die
Wohnung ganz nach seinem Geschmack. Ruhig konnte er auf den Gartenwegen
spazierengehen, das ganze Haus hatte er zu seiner Verfügung; und
anderswo hätte er lange suchen müssen, um so viele Frösche zu finden,
wie auf den großen Wiesen. Er wußte auch recht gut, daß er den besten
Storchbezirk im ganzen Lande hatte, und machte sich in jedem Frühjahr
schleunigst auf den Weg dort hinauf, daß kein anderer Storch ihm
zuvorkäme.

[Illustration]

An einem Sommertag kehrte er einmal von einem Wiesenspaziergang nach
Hause zurück. Er hatte fünf Frösche zu seiner Frau und den Kindern
hinaufgebracht, die im Neste auf dem Dache lagen. Er selbst hatte zwei
verzehrt und dann eine halbe Schlange zum Nachtisch, so daß er satt und
guter Laune war. Die andere Hälfte der Schlange hatte er im Schnabel.

Mitten auf dem Wege blieb er stehen; denn er hatte einen gewaltigen
Regenwurm bemerkt, der sich auf der Erde wand.

„Du hast doch nicht etwa Angst?“ fragte der Storch.

„Verschont mein Leben, hoher Herr, wer Ihr auch seid!“ bat der
Regenwurm und krümmte sich noch jämmerlicher.

„Du kannst doch sehen, wer ich bin,“ erwiderte der Storch.

„Ach nein!“ sagte der Regenwurm. „Das kann ich nicht; denn ich bin
ja blind. Aber ich hörte Euch kommen und habe einen solchen Schreck
gekriegt, daß ich vor lauter Verwirrung das Erdloch nicht finden
konnte.“

Dem Storch schmeichelte die Angst des Wurmes. Er legte die halbe
Schlange vor sich in das Gras und blähte sich und stand auf einem Bein,
was dasselbe ist, wie wenn ein feiner Mann die Arme über der Brust
kreuzt.

„Ich bin der Storch!“ sagte er und sah senkrecht in die Luft.

„Jesses!“ rief der Regenwurm.

„Kennst du mich nun?“ fragte der Storch.

„Wie sollte ich den vornehmsten Vogel im ganzen Lande nicht kennen?“
wehklagte der Regenwurm. „Die Frösche zittern ja vor Euch in den
Gräben, und die Schlangen ziehen Siebenmeilenstiefel an, wenn sie Euch
nur in der Ferne erblicken. Ach ja! Ihr habt, weiß Gott, viele Hunderte
meiner Brüder gefressen.“

„Allerdings,“ erwiderte der Storch, „und bei Gelegenheit fresse ich
dich natürlich auch. Zufällig bin ich im Augenblick satt. Dafür kannst
du deinem Schöpfer danken.“

„Ich danke Ew. Hochwohlgeboren viel tausendmal,“ sagte der Regenwurm.
„Oh ... ich kenne Euch ja so gut vom Hörensagen. Die Menschen verehren
Euch mehr als irgendeinen andern Vogel. Ihr seid es doch wohl, der die
kleinen Kinder bringt?“

„Nun,“ antwortete der Storch ein wenig verlegen und setzte das Bein
hastig wieder auf die Erde. „So ist es eigentlich nicht ... das heißt:
das ist eine Übertreibung. Übrigens habe ich nichts dagegen, daß man
sich das erzählt. Es verleiht einem immerhin ein gewisses Ansehen.“

Inzwischen war der Regenwurm ein Stück weitergekrochen.

„Wohin willst du?“ fragte der Storch und hackte mit seinem langen
Schnabel ein wenig auf den Rücken des Wurmes ein.

„Au ... ach ... Verzeihung!“ stöhnte der Wurm. „Ich wollte bloß zu
meinem Erdloche hin. Ich habe keine Zeit, hier zu liegen und zu
faulenzen, und wage außerdem nicht, Ew. Hochwohlgeboren Edelmut zu
mißbrauchen.“

„Solange ich Zeit habe, hast du sie auch, sollte ich meinen,“ belehrte
ihn der Storch. „Ich verspreche dir, daß ich dich nicht fressen werde;
und ein Kavalier hält sein Wort. Aber das gilt nur für heute und für
den Fall, daß ich nicht hungrig werde.“

„Ihr seid zu gütig,“ antwortete der Regenwurm ehrerbietig.

Nun fing der Storch an, auf dem Wege auf und ab zu spazieren. Er legte
den Nacken zurück, drückte den Bauch heraus und hob die Beine ungeheuer
hoch. Aber dann fiel ihm ein, daß der Regenwurm ihn ja nicht sehen
konnte, und da stand er wieder still. In diesem Augenblick rief die
Störchin oben vom Neste her, und er klapperte mit dem Schnabel, um ihr
zu antworten.

„Sagten Ew. Hochwohlgeboren etwas?“ fragte der Regenwurm.

„Ich habe mit meiner Gemahlin ägyptisch gesprochen,“ erwiderte der
Storch. „Wir haben ein Gut in Afrika, weißt du. Und wir sprechen
diese Sprache immer, wenn wir unter uns sind. Übrigens ist es da viel
schöner; und ich bliebe gern immer in Afrika, wenn man nicht Rücksicht
auf die Kinder nehmen müßte. Aber du verstehst wohl kaum, was ich sage
... Hast du jemals Reisen gemacht?“

„Ach nein!“ seufzte der Regenwurm.

„Wo bist du denn im Winter?“

„Ich bleibe hier,“ antwortete der Wurm.

„Uha! Das muß häßlich sein, hier im Schnee und Eis umherzuwaten.
Bekommst du denn keine kalten Füße?“

„Ich habe gar keine Füße,“ antwortete der Regenwurm vergnügt. „Und ich
grabe mich tief in die Erde hinein, wenn es kalt ist.“

Der Storch besah sich den Regenwurm nachdenklich und sagte dann:

„Ich weiß eigentlich nicht recht, ob es sich für mich paßt, hier zu
stehen und mit einem Burschen, wie du einer bist, zu schwatzen. Dir
fehlt ja fast alles, was zu einem ordentlichen Menschen gehört. Bist du
von Rang?“

„Rang?“ wiederholte der Regenwurm verwundert. „Was ist das? Ich bin ein
fleißiger Arbeitsmann. -- Ist das Rang?“

[Illustration]

Da tanzte der Storch vor Lachen umher und teilte seiner Frau oben mit,
was der Wurm gesagt hatte.

„Ich hoffe nicht, daß ich etwas Unpassendes geäußert habe,“ sagte der
Regenwurm verzagt. „Übrigens bin ich der älteste Regenwurm hier am
Platze; ich war schon zur Zeit des Pastors hier.“

„Ach!“ sagte der Storch gnädig. „Du bist also eine Art Altmeister
aller Regenwürmer. Das ist doch wenigstens etwas. Dann kann ich mich
wenigstens im Gespräch mit dir sehen lassen; unsere +Familien+
brauchen ja nicht zu verkehren.“

„Ich habe, weiß Gott, keine Familie,“ unterbrach ihn der Regenwurm.

„Du hast keine Familie?“ fragte der Storch und gähnte vor lauter
Verwunderung.

„Nein,“ antwortete der Wurm. „Ich weiß nicht, wo meine Frau und meine
Kinder sind, habe meine Eltern nie gesehen und würde meine Geschwister
nicht wiedererkennen, wenn ich sie träfe.“

Der Storch zog das eine Bein unter sich ein und sah außerordentlich
würdig aus.

„In den niederen Klassen herrschen fürchterliche Zustände,“ sagte er.
„Ich will nichts mehr hören; es verdirbt meine Laune. Leb’ wohl. An
einem andern Tage komme ich vielleicht wieder; aber nimm dich in acht,
mir zu begegnen, wenn ich hungrig bin!“

Dann flog der Storch auf das Dach des alten Hauses hinauf; und der
Regenwurm machte, daß er in sein Erdloch hinunterkam. -- -- --

Ein paar Tage später ging der Storch wieder auf dem Wege spazieren, wo
er mit dem Wurm geredet hatte.

„Regenwurm!“ rief er; aber niemand antwortete ihm.

„Regenwurm, komm herauf! Ich will mit dir reden!“

„Ich wag’ mich nicht hervor,“ erwiderte der Regenwurm schließlich unten
aus seinem Loche.

Aber da wurde der Storch sehr böse. Er schlug so stark er konnte, mit
seinem großen roten Schnabel auf die Erde, und der Wurm kam herauf und
krümmte sich in größter Angst und Untertänigkeit.

„Will Er wohl kommen, wenn ich rufe!“ gebot der Storch streng auf einem
Bein stehend. „Weiß Er nicht, wer ich bin, und wer Er ist? Weiß Er die
Ehre, die ich Ihm erweise, wenn ich mich mit Ihm unterhalte, nicht
besser zu würdigen?“

„Werdet nicht böse, Ew. Hochwohlgeboren!“ bat der Wurm. „Ich hatte so
große Angst; und Ihr sagtet selbst, ich solle mich in acht nehmen, Euch
zu begegnen, wenn Ihr hungrig wäret.“

„So ist es!“ sagte der Storch stolz. „Aber erzähle mir jetzt ein wenig
von deinem Leben! Ich langweile mich, und uns vornehmen Herren schadet
es nicht, wenn wir das Leben in den niederen Volksschichten kennen
lernen.“

„Was soll ich erzählen? Es würde Euch ja doch nicht interessieren,“
sagte der Wurm bescheiden. „Ich rackere mich ab, seitdem ich auf der
Welt bin; und bis man mich frißt, pflüge ich die Erde um und lege
Gräben an ...“

„So so!“ sagte der Storch freundlich. „Du bist es, der die Gräben
gräbt, in denen die Frösche sind?“

„Ach nein!“ erwiderte der Wurm. „Etwas so Großes bringe ich denn doch
nicht fertig. Unten unter der Erde grabe ich winzig kleine Gänge in die
Kreuz und Quere.“

„Was für Nutzen haben wir Störche denn nun zum Beispiel von dir?“

„Ja,“ antwortete der Regenwurm, „erstens können Ew. Hochwohlgeboren
mich ja fressen, wann es Euch beliebt.“

„Das weiß ich,“ sagte der Storch und warf den Kopf in den Nacken. „Du
solltest mich nicht so oft daran erinnern. Und dann noch?“

„Außerdem mache ich die Erde zurecht, damit das Gras und die Blumen
und Bäume wachsen und gedeihen können. Ich bereite die fruchtbare
Ackererde.“

„Ist das der Dreck, in dem man watet?“ fragte der Storch.

„Verzeiht, wenn ich widerspreche,“ erwiderte der Regenwurm ehrerbietig;
„aber Ihr dürft das nicht Dreck nennen. Es ist die fruchtbare Erde, in
der alle Pflanzen wachsen; und von den Pflanzen leben die Insekten, und
von den Insekten leben die Frösche, und die geruht ja sowohl Ihr wie
Eure Familie zu verspeisen.“

„Glaubst du, das wüßte ich nicht alles?“ fragte der Storch, zog dabei
das Bein unter sich ein und starrte vornehm in die Luft. „Ich will dich
bloß auf die Probe stellen. Wie machst du denn diese -- wie nanntest
du’s doch?“

„Ackererde,“ sagte der Regenwurm. „Ich trage die Erde, die am tiefsten
liegt, zur Luft, zur Sonne und zum Regen hinauf; und die, die oben
liegt, trage ich hinunter. So mische und vertausche ich, und dann wird
Ackererde daraus.“

„Sehr vernünftig!“ sagte der Storch. „Was dann weiter?“

Der Regenwurm kroch eifrig näher und erzählte; denn er war es nicht
gewohnt, daß jemand Lust hatte, ihm zuzuhören.

„Habt Ihr nicht bemerkt, daß die welken Blätter zuweilen
zusammengerollt auf der Erde stehen wie eine Tüte, mit der Spitze nach
unten? Das ist mein Werk. Ich tu’ es in der Nacht, wenn es dunkel und
still ist, und niemand mir etwas zuleide tut. In der nächsten Nacht
ziehe ich weiter daran; und das setze ich fort, bis das Blatt ganz in
die Erde hinabgezogen ist. Dann mache ich Erde daraus.“

„Das interessiert mich.“

„Ach, wenn nur alle so gnädig wären wie Ew. Hochwohlgeboren! Ich will
mich wirklich nicht rühmen, denn andere würden es gewiß viel besser
machen. Aber wenn man ein fleißiger Regenwurm ist und seine Pflicht
tut und keiner Menschenseele ein Haar krümmt, dann ist es hart, von
allen +verkannt+ und +verfolgt+ zu werden. Du lieber Gott! Sobald man
das Unglück hat, Ew. Hochwohlgeboren in den Weg zu laufen, wenn Ihr
hungrig seid, oder wenn die jungen gnädigen Herren oben im Nest eine
kleine Erfrischung nötig haben, dann wird man natürlich gefressen. Das
ist ganz in der Ordnung, und ich sage nichts dazu. Aber alle verachten
uns und treten auf uns herum. Sie nennen uns häßlich; doch was sollten
wir wohl unten in der feuchten, schwarzen Erde mit schönen Kleidern
anfangen? Dann könnten wir ja unsere Arbeit gar nicht verrichten. Sie
treten uns und glauben, wir haben kein Gefühl im Leibe; die Knaben
hängen uns an den Angelhaken ... Ach, Ew. Hochwohlgeboren, es ist
mitunter nicht leicht für einen, der tut, was in seinen Kräften steht.“

„Hm hm!“ sagte der Storch. „Du weißt dich ja in ein ganz gutes Licht zu
rücken, wenn du erst einmal in Gang kommst. Ich habe wirklich Mitleid
mit dir.“

„Tausend Dank, Ew. Hochwohlgeboren!“ sagte der Regenwurm und wand sich.
„Seht, es gibt für einen Regenwurm nichts Schöneres, als an einem
feuchten Sommerabend nach beendetem Tagewerk ganz langsam auf der Erde
herumzukriechen. Dann genießt man das Leben so recht und sucht sich
die Blätter aus, die man zur Nacht hinunterziehen will. Aber man wagt
es kaum, weil die Leute so schlecht sind. Zum Beispiel der Pastor, der
hier wohnte, das war ein guter Mann; aber er hatte nicht das richtige
Verständnis. Ich hörte einmal, wie er zu einem von den Jungen, der auf
einen Wurm trat, sagte, das dürfe er nicht; es sei zwar ein ekelhaftes
Tier, und er solle es nicht anrühren; aber er dürfe ihm auch kein Leid
antun, denn es sei doch eins von des Herrgotts Geschöpfen. Das war
ja sehr schön; aber warum sagte er dem Jungen nicht lieber, daß wir
schlichte Kleider haben, weil wir arbeiten, und daß unsere Arbeit allen
anderen Tieren und den Menschen zugute kommt.“

„Tja--a!“ sagte der Storch. „Da haben wir diese Unwissenheit.“

„Könnte Ew. Hochwohlgeboren nicht ein gutes Wort für uns einlegen?“ bat
der Regenwurm.

Der Storch blähte sich und sah sehr tiefsinnig aus, als er antwortete:

„Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll. An dem, was du da
sagst, ist etwas Wahres; und du tust mir wirklich leid; aber ich weiß
nicht recht; vielleicht ändere ich meine Meinung, wenn ich hungrig
werde. Doch ich will mir die Sache überlegen. Ich bin ja nicht ohne
Einfluß bei den Menschen. Allerdings fresse ich Frösche und Schlangen
und eine ganze Menge andere ihnen nützliche Tiere; aber ich bin ja
schön und ziemlich selten, und dann ist da noch das mit den Kindern, du
weißt ja. Wie gesagt, ich werde es mir überlegen.“

„Tausend Dank, Ew. Hochwohlgeboren!“ sagte der Regenwurm entzückt. „Und
dann hört ... Ich kann Euch zur Entschädigung einen Dienst leisten.“

„Jetzt bildest du dir gewiß allerhand ein,“ rief der Storch und stellte
sich sofort auf ein Bein.

„Ach Gott, nein! Ich weiß nur allzugut, was für ein geringes Geschöpf
ich im Vergleich mit Euch bin. Ich will Euch bloß vor einer Gefahr
warnen, die Euch droht!“

„Mir? Mir droht keine Gefahr. Ich werde im ganzen Lande geehrt und
geschätzt; und der, der Jagd auf mich macht, muß Strafe zahlen. Ich
glaube, du bist ein wenig übergeschnappt, mein lieber Regenwurm.“

„Wenn Ihr mich nur einen Augenblick anhören möchtet! Seht, -- wir
graben ja unsere Gänge allerorten; und weil unser so viele sind, ist
die ganze Erde durch Gräben unterwühlt. Hier im Garten sind wohl
fünfzigtausend Regenwürmer vorhanden.“

„Das ist ja eine ganze Schar,“ sagte der Storch und leckte sich den
Schnabel, so daß der Regenwurm schleunigst auf sein Loch zukroch.

„Wohin?“ fragte der Storch.

„Ich wage nicht, hier zu bleiben, wenn Ew. Hochwohlgeboren in einem so
hungrigen Tone sprechen,“ sagte der Wurm.

„Spute dich und erzähle,“ rief der Storch ungeduldig.

Der Regenwurm steckte nur den Kopf zum Loche heraus und sagte:

„Ich will Euch nur mitteilen, daß wir das ganze Haus untergraben haben.
Es kann jeden Tag einstürzen.“

„Ha ha ha!“ lachte der Storch.

„Ihr dürft nicht über mich lachen! Was ich da sage, ist wirklich wahr.
Denkt daran, wie viele unser sind. Es liegt oft an uns, wenn die Häuser
sich senken und Risse bekommen. Und der alte Pfarrhof ist so baufällig
und morsch, daß er bald einfallen wird.“

Der Storch fuhr fort zu lachen und hackte mit seinem Schnabel nach dem
Wurm. Aber der war schon tief unten in der Erde. Und der Storch flog
aufs Dach zu seiner Frau hinauf und erzählte ihr von dem lächerlichen
Regenwurm, der sich einbildete, er könne das Storchennest und das ganze
Haus zerstören.

[Illustration]

„Man soll sich mit dieser Sorte nicht einlassen,“ sagte die gnädige
Frau; „solche Leute bilden sich zu leicht etwas ein.“

„Das nächste Mal fresse ich ihn,“ sagte der Storch.

       *       *       *       *       *

Eine Woche verging, und der Storch und der Regenwurm sprachen nicht
mehr miteinander.

An einem schönen, warmen Sommertag saß das Storchenpaar oben auf dem
Dache und besah sich seine Jungen, die im Neste lagen.

„Nun haben sie Flaumfedern,“ begann die Störchin.

„Ja ... es dauert aber noch lange genug,“ sagte der Storch. „Die
Frösche fangen an, vorsichtig zu werden. Es wird uns schwer genug
werden, bis wir so weit sind. Heute morgen hab’ ich nur einen gefangen.
Könnte ich den Regenwurm heute treffen, so sollte er gefressen werden,
ehe er den Mund auftun könnte.“

„Was ist denn das?“ rief in diesem Augenblick die Frau. „Mir scheint,
das Dach schwankt.“

„Was ist das ...“ schrie der Storch.

Doch bevor er ausgesprochen hatte, stürzte das Haus unter ihnen mit
gewaltigem Getöse zusammen. Eine Staubwolke wirbelte hoch empor, und
die beiden Störche flogen mit Geschrei in die Luft.

Das alte Haus war nur noch ein Haufen von Ziegelsteinen und morschen
Brettern. Alles lag traurig aufgestapelt da, und ganz zu unterst lagen
das Nest und alle Storchenkinder zermalmt und begraben.

„Meine Kinder! Meine Kinder!“ schrie die Frau.

[Illustration]

Beide Vögel kreisten viele Stunden lang über den Trümmern. Sie hackten
mit den Schnäbeln in den Steinen und dem Kalk umher, sie horchten und
riefen, aber niemand antwortete, denn die Kinder lagen tief unten tot
da.

Am Abend saß das Storchenpaar in einem hohen Baume im Garten; und sie
besprachen das große Unglück, das sie betroffen hatte.

„Der Regenwurm!“ schrie der Storch plötzlich.

Die Warnung, die ihm der Wurm gegeben hatte, fiel ihm ein; und jetzt
bereute er, daß er ihr nicht gefolgt war.

„Wie konnte ich ahnen, daß der närrische Wurm die Wahrheit sprach? Aber
komm jetzt, wir wollen ihn fressen! Er und seine Brüder sind’s, die das
Haus untergraben und den Tod unserer Jungen verschuldet haben.“

Damit flogen sie beide auf den Weg nieder und riefen den Regenwurm mit
den zärtlichsten Worten:

„Komm getrost hervor, lieber Regenwurm!“ säuselte der Storch; denn er
machte seine Stimme so sanft, wie er nur konnte. „Meine Frau ist hier
und möchte gern hören, was du von deinem interessanten Leben drunten in
der Erde zu erzählen weißt.“

Aber der Regenwurm hatte den Fall des Hauses vernommen und war so tief
hinuntergekrochen, wie er nur konnte. Er hörte die Worte des Storches
nicht und merkte es auch nicht, als die beiden Vögel wütend mit ihren
Schnäbeln auf die Erde klopften.

Schließlich flogen die Störche fort, um bei den Nachbarstörchen Besuch
zu machen und ihnen ihr Unglück zu erzählen. Aber als es dunkle Nacht
war, kroch der Regenwurm ans Licht und streckte sich mit Wohlbehagen in
dem taufeuchten Grase aus.

„Wie ist die Luft so wunderschön schwer,“ sagte er. „Wir bekommen Regen
heut nacht. Ach ja, das Leben ist herrlich -- besonders seitdem Seine
Hochwohlgeboren abgereist sind. Er war ja allerdings ein freundlicher
Herr, aber man lebte doch in ewiger Angst, daß er hungrig werden
könnte.“




In der Tiefe.


Der Einsiedlerkrebs ging auf dem Meeresgrunde spazieren. Schwerfällig
zog er das Schneckenhaus hinter sich her, worin sein Magen und sein
ganzer Hinterleib steckten. Er hatte gerade genügend gefressen, so daß
er nicht hungrig war; freilich hätte er deswegen einen besonders guten
Happen nicht verschmäht, falls ihm einer in die Quere gekommen wäre.

Aber dazu war keine Aussicht vorhanden. Der Einsiedlerkrebs sah nichts
als eine alte Krabbe, die, in Gedanken versunken, mit seitlichem Gange
daherkam, ferner eine Meerschnecke, die sich im Wasser wiegte, und
endlich ein lächerlich-runzliges, eingeschrumpftes Ding, das auf dem
Grunde lag und einer Feige glich.

„Du bist mir eine lächerliche Schnecke,“ höhnte die Meerschnecke.

„Ich bin gar keine Schnecke,“ erwiderte der Einsiedlerkrebs. „Ich bin
ein Krebs.“

„Dann bist du ein lächerlicher Krebs,“ sagte die Krabbe. „Scheren hast
du ja und einen Panzer auf der Stirn und Stielaugen, aber mit was
für einem Schneckenhaus schleppst du dich in aller Welt herum? Ist
vielleicht etwas Gutes darin?“

„Das sollt’ ich meinen! Mein +Magen+ ist in dem Schneckenhaus.“

„Wo ist denn aber die Schnecke?“

„In meinem Magen,“ erwiderte der Einsiedlerkrebs freundlich.

„Pfui,“ sagte die Meerschnecke und wiegte sich durchs Wasser weiter.

Gedankenvoll sah ihr der Einsiedlerkrebs nach:

„Wie ärgerlich, daß sie Reißaus genommen hat! Ihr Haus hätte so gut für
mich gepaßt. Na ... es eilt nicht. Dann behelfe ich mich eben noch eine
Weile mit dem alten.“

„Hast du vor, die Wohnung zu wechseln?“ fragte die Krabbe.

„Das muß man ja von Zeit zu Zeit,“ entgegnete der Einsiedlerkrebs. „Man
wächst ja.“

„Ja, das bleibt ewig wahr. Die Wachstumsgeschichte ist das größte
Unglück. Die anderen Geschöpfe wachsen +nach und nach+ und merken
es nur daran, daß sie größer werden und mehr Appetit bekommen. Aber
wir armen Krebse müssen es unsrer harten Schalen wegen auf einmal
abmachen. Es ist noch gar nicht so lange her, seitdem ich die alte
Schale abgeworfen und ganz weich und unglücklich dagestanden habe. Das
kleinste Sandkorn, das ich berührte, tat mir weh. Oh, wie verdrießlich
war ich da; und Appetit hatte ich auch nicht! Volle vierzehn Tage lang
hab’ ich unter einem großen Stein gehockt und wäre vor Angst beinah
gestorben. Wäre der kleinste Stichling gekommen, so hätte er mich
umbringen können. Es ist eine aparte Sache.“

„Ja, mit meinen Scheren ist es genau so,“ sagte der Einsiedlerkrebs.

„Mit deinem Hinterleib verhält es sich wohl auch nicht anders,“ sagte
die Krabbe.

„Mein Hinterleib hat keinen Schild,“ erwiderte der Einsiedlerkrebs.
„Was sollte er auch damit? Er liegt ja wohlverwahrt im Schneckenhause.
Für ihn brauche ich keinen Kalk und kann meine Scheren desto stärker
machen.“

[Illustration]

„Wie apart!“ sagte die Krabbe. „Es interessiert mich außerordentlich,
das zu hören. Ich bin auf alles Aparte versessen. Ich bin selber apart.
Onkel Hummer geht rückwärts, und Cousine Garnele hüpft. Mich lachen
sie aus, weil ich einen seitlichen Gang habe. Aber nun sage mir einmal
Vetter ... denn ich darf dich doch wohl Vetter nennen?“

„Ja, was liegt mir daran!“

„Sag’ mir einmal, Vetter ... wenn du nun umziehst, suchst du dir dann
einfach ein neues Schneckenhaus?“

„Natürlich,“ erwiderte der Einsiedlerkrebs.

„Und dann ziehst du um?“ fragte die Krabbe weiter. „Das ist apart. Du
hast es in Wirklichkeit viel besser als wir. Du kannst dir dein Haus
selber aussuchen; und sobald du darin bist, ist alles in Ordnung.“

„Allerdings. Mein Hinterleib muß sich freilich erst ein bißchen an die
neue Wohnung gewöhnen. Beim Umzug ergeben sich stets allerhand kleine
Unzuträglichkeiten.“

„Höchst apart!“ sagte die Krabbe. „Willst du denn nicht bald umziehen?
Ich würde mir die Sache gern einmal ansehen.“

„Das könntest du ja,“ entgegnete der Einsiedlerkrebs. „Freilich nur,
wenn du gerade selbst die Schale wechselst; sonst fürchte ich, daß du
meinen leckeren Hinterleib mit deinen Scheren attackierst.“

„Na, na. Wir sind doch anständige Leute. -- Ist er denn wirklich so
lecker?“

„Anständige Leute +essen+, wenn sie hungrig sind.“

„Und dann gehören wir doch auch zu derselben Familie. Selbst wenn wir
beide apart sind.“

„Familie ist Blödsinn. Da lobe ich mir einen rechten, guten Freund.
Aber den findet man auf dem Meeresgrunde nicht so leicht.“

„Ich denke, wir könnten uns recht gut Freunde nennen, nachdem wir uns
so voreinander ausgesprochen haben,“ sagte die Krabbe.

„Findest du?“ meinte der Einsiedlerkrebs. „Ich finde, nur Dummriane
sprechen gleich von Freundschaft, sobald sie eine Stunde miteinander
geplaudert haben, nachdem sie sich satt gefressen. Sollte ich einen zum
Freunde wählen, so müßte es einer sein, der mir nützlich wäre, und dem
auch ich Nutzen brächte. An andre Freundschaft glaube ich nicht.“

Da machte die Krabbe den Vorschlag: „Ich will dein Freund sein. Ich
will daneben stehen, wenn du in ein andres Schneckenhaus einziehst, und
achtgeben daß niemand dir etwas antut. Das wird apart.“

„Du alter Schwätzer!“

„Beschimpfst du mich?“

Die Krabbe wurde plötzlich wütend und ging auf ihren Vetter los.

[Illustration]

„Nimm dich in acht,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Es mag sein, daß du
ein bißchen behender bist als ich, aber dafür sind meine Scheren auch
doppelt so groß.“

„So ein Wichtigtuer!“ rief die Krabbe. „Du glaubst, du seist besser als
wir, weil dein Gesäß in einem Schneckenhause steckt. Und doch bin ich
überzeugt, daß du der dümmste Wicht im ganzen Meere bist.“

„Und vorhin sprachst du von Familienzusammengehörigkeit,“ spottete
lachend der Einsiedlerkrebs.

„Ich begreife nicht, wie ich mich überhaupt mit dir einlassen konnte,“
sagte die Krabbe. „Treff’ ich dich einmal mit bloßem Hinterleib, so ist
es um dich geschehen.“

„Und soeben hast du noch von Freundschaft geschwatzt!“ rief der
Einsiedlerkrebs und lachte noch mehr.

„Warte nur,“ sagte die Krabbe und lief dreimal nach der Seite um ihn
herum.

„Gutnacht!“ sagte der Einsiedlerkrebs.

Er zog die Scheren ein und legte sie so, daß sie die Öffnung zum
Schneckenhause ganz verdeckten. Da schimpfte die Krabbe noch ein wenig,
und dann schwamm sie auf und davon.

Gleich nachdem die Krabbe fort war, steckte der Einsiedlerkrebs Kopf
und Scheren wieder heraus.

Er konnte nicht einschlafen. Er dachte an das, was er selber von
Freundschaft und Verwandtschaft gesagt hatte. Es war ihm nicht nur
vorübergehend eingefallen, sondern er hatte schon oft darüber
nachgegrübelt.

Wenn er so auf dem Meeresgrunde dahinkroch oder sich im Wasser in
seinem Schneckenhause wiegte, dann +dachte+ er mehr nach als die
meisten andern dort unten in der Tiefe. Und vor allem dachte er, wie
schön es sein würde, wenn er irgendeinen guten Freund oder Kameraden
hätte, auf den er sich ganz verlassen, mit dem er Plaudern und
schweigen könnte, ganz nach Belieben.

Angehörige hatte er nicht. Seine Frau hatte er am Hochzeitstage zum
ersten- und letztenmal erblickt. Kinder hatte er zu Tausenden in die
Welt gesetzt, ohne sie je gesehen zu haben und ohne zu wissen, wo sie
sich aufhielten. Niemals ließ er sich in Schwärmen sehen, wie die
Garnelen und Fische. Darum war es nicht so verwunderlich, daß er sich
zuweilen einsam fühlte.

„Könnte ich doch einen guten Freund ausfindig machen!“ dachte er.
„Einen, der mir Nutzen brächte, und dem ich gleichfalls nützen könnte.“

Wie er nun seine Scheren im Wasser vorstreckte, stieß er auf das
seltsame, verschrumpelte Ding, das da unten lag und wie eine Feige
aussah.

„Gott weiß, was das für ein Kerlchen sein mag,“ dachte er. „Daß er
hübsch sei, kann man nicht gerade sagen. Aber darauf kommt es auch
nicht an. Vielleicht ist er tot. Vielleicht ist es ein einsamer
Kavalier wie ich.“

Er stieß mit den Scheren daran, aber das Wesen regte sich nicht.

„Auf mit dir,“ rief der Einsiedlerkrebs. „Ich bilde mir ein, daß Leben
in dir ist, und daß du dich bloß totstellst. Auf mit dir, oder ich
beiße!“

Er schnappte ein klein wenig zu, um zu zeigen, daß er es ernst meinte.
Im selben Augenblick fuhr er aber erschrocken zurück und retirierte, so
schnell er es mit seinem Schneckenhause konnte.

[Illustration]

Das unbekannte Geschöpf schwoll plötzlich an und faltete sich mit
fabelhafter Geschwindigkeit auseinander. Im Augenblick hatte es sich in
eine wunderbare, bunte Blume auf dickem Stengel verwandelt, der unten
mit breiter Scheibe auf dem Meeresgrunde festsaß.

„Wer bist du?“ fragte der Einsiedlerkrebs. „Woher kommst du? Was willst
du hier? Warum entfaltest du dich so? Warum hast du vorher wie ein
sonderbarer Klumpen dagelegen?“

„Ich bin die Seeanemone,“ sagte der Fremdling.

„Das klingt hübsch,“ rief der Einsiedlerkrebs ihr zu. „Es deutet darauf
hin, daß du eine Blume bist. Wir haben hier unten nicht gerade viele
Blumen. Schön bist du auch. Und nun will ich noch mit deiner Erlaubnis
feststellen, wie du duftest.“

Er streckte seine Fühlhörner mitten in die Krone der Seeanemone hinein,
zog sie jedoch mit lautem Gebrüll wieder zurück.

„Ja, ich bin eine Brennessel,“ sagte die Seeanemone. „Du hättest mir
fernbleiben sollen.“

Da schüttelte der Einsiedlerkrebs seine Fühler und putzte sie ächzend.
Die Seeanemone aber freute sich und fächelte munter mit ihren schönen
Blättern.

„Was wolltest du von mir? Warum warst du so naseweis?“

„Warum sollte ich zurückhaltend sein? Ich konnte ja nicht wissen, ob du
nicht ein guter Happen für mich wärest. Noch bin ich eigentlich nicht
hungrig, aber für einen guten Bissen habe ich stets Platz.“

„Mir geht es genau so,“ sagte die Seeanemone seufzend. „Ich weiß mich
gar nicht mehr zu entsinnen, daß ich jemals richtig satt geworden bin.
Sähest du nicht so verflucht hart aus, dann fräße ich dich.“

„Na, nur immer sachte,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Ich lasse mich denn
doch nicht so mir nichts dir nichts fressen. Aber wenn ich auch außen
hart bin, in meinem Innern bin ich dafür um so weicher. Du kannst dir
keinen Begriff davon machen, was für einen leckeren Schwanz ich in dem
Schneckenhause habe!“

„Laß mich ihn sehen!“ sagte die Seeanemone.

„Pah!“ rief der Einsiedlerkrebs. „Du würdest ihn mit deinen Brennesseln
einklemmen und fressen.“

Die Seeanemone leugnete es nicht: „Natürlich. Dazu hab’ ich ja meine
Brennesseln; das sind übrigens meine Fangarme, denn ich bin gar keine
Pflanze, sondern ein richtiges, gefräßiges Tier wie du selber.“

„Ich mag dich gut leiden,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „In dir steckt
keine Hinterlist.“

In diesem Augenblick kam ein Fisch daher, den die Seeanemone einfing
und fraß. Und bald darauf trieb eine tote Muschel mit offenen Schalen
heran. Sie segelte gerade auf den Einsiedlerkrebs zu, der ein Stück
von ihr fraß und den Rest zur Seeanemone hinüberschob.

„Bitte schön,“ sagte er.

„Schmeckt sie nicht?“ fragte die Seeanemone.

„Ganz gewiß. Ich hab’ nur keinen Hunger mehr. Sonst hätte ich sie
natürlich selber gefressen.“

„Natürlich.“

Als die Seeanemone gefressen hatte, zog sie die Arme ein, so daß sie
wieder einer Feige glich.

„Jetzt bist du nicht mehr so schön wie vorher,“ sagte der
Einsiedlerkrebs.

„Jetzt bin ich satt,“ sagte die Seeanemone. „Dann ist kein rechter
Grund vorhanden, sich zu putzen. Und du bist gleichfalls satt; darum
brauche ich keine Angst vor dir zu haben.“

„Wie vernünftig du sprichst! Dich möchte ich zum Freunde haben.“

„Was ist Freundschaft?“ fragte die Seeanemone. „Befreundet ist man,
wenn man einander nützen kann.“

„Genau dasselbe sage ich,“ fiel der Einsiedlerkrebs voll Entzücken ein.
„Ich sagte es noch vorhin zur Krabbe, diesem Rindvieh.“

„Ich habe es gehört.“

„Ja richtig, du warst ja hier. Erzähle mir ein bißchen von dir!“

„Soll ich mit der Jugend beginnen?“ fragte die Seeanemone.

„Ach ja; die Jugend ... die wunderschöne Jugend,“ erwiderte der
Einsiedlerkrebs.

„Hast du auch eine Jugend gehabt?“

„Und ob. Du würdest mich ganz und gar nicht wiedererkennen, wenn du
mich in meiner Jugendgestalt sähest. Hier geh’ ich jetzt Schritt
für Schritt als bedächtiger, alter Knabe umher, der ein großes
Schneckenhaus auf dem Rücken trägt. Als ich jung war, da hab’ ich im
wilden Meere umhergeschwärmt und mir keine Sorgen gemacht.“

„Genau wie ich,“ meinte die Seeanemone.

„Wie ulkig!“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Es besteht wirklich eine
merkwürdige Übereinstimmung zwischen uns. Wünschest du dir nicht oft
die frohen Jugendtage zurück? Es war herrlich, so frei umherzuschweben.
Man sah sich um. Und man erlebte etwas!“

„Das tat man,“ sagte die Seeanemone. „Aber es hatte auch seine
Unzuträglichkeiten. Man riskierte z. B. überaus leicht gefressen zu
werden.“

„Das ist wahr. Die allermeisten meiner Geschwister sind von den Fischen
gefressen worden. Die Fische haben sie zu Hunderten in einem Mundvoll
genommen und gleich verschlungen. Wenn ich nachdenke, so ist es das
reine Wunder, daß ich entwischt bin.“

„Dasselbe sage ich. Also in dieser Hinsicht sind wir jetzt eigentlich
besser daran. Man hat Lebenserfahrung. Man kann sich vorsehen. Man hat
Waffen und kann um sich beißen, wenn ein Feind herankommt.“

„Das sind wahre Worte,“ sagte der Einsiedlerkrebs.

„Und dann ist da noch etwas,“ fuhr die Seeanemone fort. „Man kann viel
mehr fressen als damals, und man frißt mit viel mehr Verstand.“

„Sehr richtig,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Das ist mir aus der Seele
gesprochen.“

„Streng genommen, weiß man nicht, was fressen heißt, bis man großjährig
wird und seine endgültige Gestalt annimmt.“

„Nein. Alles in allem ist der ruhige Tagesverlauf viel mehr wert als
das Getümmel und Vergnügen der Jugend.“

Dann sprachen sie noch eine Weile zusammen und erfreuten sich mehr und
mehr aneinander. Aber ein jeder hält sich sorgsam für sich und war
stets auf dem Posten. Und durch diese Vorsicht stiegen sie noch höher
in der gegenseitigen Achtung. Dann gingen sie zur Ruhe und schliefen. --

Sie ruhten so lange, bis sie sich wieder frisch fühlten, denn da unten
auf dem Meeresgrunde gibt es weder Tag noch Nacht; dort scheint nicht
Sonne, nicht Mond. Als sie also erwachten, schloß der Einsiedlerkrebs
sein Haus auf und steckte Haupt und Scheren heraus, und die Seeanemone
entfaltete ihre ganze, strahlende Blüte.

„Guten Morgen,“ sagte der eine.

„Guten Morgen,“ die andere.

„Schönen Dank für den gestrigen Tag,“ sagte der Einsiedlerkrebs.

„Gleichfalls,“ sagte die Seeanemone.

„Ich habe in meinem Schneckenhaus gelegen und mir etwas überlegt,“
erzählte der Einsiedlerkrebs. „Siehst du ... nicht alle Tage trifft man
jemand, mit dem man so vernünftig reden kann, wie wir beide gestern
geredet haben.“

„Das ist wahr,“ gab die Seeanemone zu. „Mit den meisten, mit denen ich
spreche, ist kein Staat zu machen. Außerdem sind da natürlich die, die
man frißt. Aber mit denen spricht man ja nicht. Und die, die einen
fressen. Aber die sprechen ja auch nicht mit einem.“

„Findest du nicht, daß wir zusammenbleiben sollten?“ schlug der
Einsiedlerkrebs vor.

„Tja -- --,“ sagte die Seeanemone. „Das könnte ja recht amüsant werden.
Aber ich weiß nicht recht, wie es zugehen sollte; denn es besteht
eigentlich kein sonderlicher Unterschied in unserer Ernährungsweise.
Wenn dann eines Tages nicht genug für uns beide vorhanden ist, könnten
wir leicht aneinander geraten; und das Ende vom Liede wäre vielleicht,
daß der eine den andern auffräße.“

„Ja, das wäre allerdings nicht schön.“

„Für den, der gefressen würde, wäre es nicht schön. Für den andern wäre
es ja, streng genommen, nicht so schlimm.“

„Du bist furchtbar spaßig,“ sagte der Einsiedlerkrebs.

Die Seeanemone fächelte mit ihren bunten Armen ins Wasser hinein und
ließ sie mit dem Strome hin und her wogen. Sie sah hübsch und heiter
aus, wie die Blumen auf dem Lande. Aber auf einmal ergriffen die bunten
Arme einen kleinen Fisch, der in den Magen hinabglitt und sofort
verzehrt war.

„Den kleinen Fisch hättest auch du essen können,“ sagte die Seeanemone.
„Da siehst du es.“

„Ich hab’ auch meinen Fisch im Leibe,“ erwiderte der Einsiedlerkrebs.
„Hast du nicht gesehen, daß es zwei waren?“

„Nein,“ sagte die Seeanemone. „Ich habe nur einen gesehen, und den habe
+ich+ gepackt.“

„Es war noch einer da. Er schwamm direkt auf mich los, ohne mich zu
sehen; denn deine Arme verbargen mich von der Seite, von der er kam.“

Als er das gesagt hatte, machte er einen gewaltigen Sprung auf die
Seeanemone zu, die sofort alle ihre Brennesseln gegen ihn kehrte.

„Au, au,“ schrie der Einsiedlerkrebs.

„Ist das eine Art, auf die Leute loszufahren?“ zeterte die Seeanemone.
„Besonders wenn man weiß, daß du noch nichts gefressen hast.“

„Du hast mich gänzlich mißverstanden,“ sagte der Einsiedlerkrebs und
putzte seine Fühlhörner. „Ich bin vor Freude so gesprungen; denn jetzt
hab’ ich eine Methode ausfindig gemacht, wie wir ewig zusammenbleiben
können.“

„Dann solltest du dich deutlicher ausdrücken.“

„Hör’ einmal. Worauf sitzest du?“

„Augenblicklich sitze ich auf einem Stein,“ sagte die Seeanemone.
„Aber ich möchte mich nicht verpflichten, bis zu meinem Tode hier
sitzenzubleiben, obwohl es mühselig genug ist, sich von der Stelle
zu bewegen. Es ist noch nicht lange her, da saß ich auf einem
Schiffsanker, der untergegangen war. Einmal hab’ ich auch auf einem Hai
gesessen, der sich hier unten zur Ruhe gelegt hatte und so lange liegen
blieb, daß ich annahm, er würde nicht mehr fortgehen. Aber er hat sich
nur ein bißchen ausgeruht, und eines Tages suchte er das Weite. Es war
höchst unbehaglich, auf wie stürmische Weise das geschah.“

„Nun will ich dir was sagen,“ meinte der Einsiedlerkrebs. „Ich habe
eine Methode ausfindig gemacht, wie du ganz glatt von der Stelle kommen
kannst. +Du sollst dich auf mir festsetzen.+“

„Auf dir?“

„Auf mir. Auf meinem Schneckenhaus. Dann trag’ ich dich mit mir herum.
Ich bin ein gesetzter Bursche, der keine Luftsprünge mehr macht; und
andererseits komme ich viel schneller vom Fleck als du.“

Die Seeanemone zog sich mit grauenhafter Geschwindigkeit zusammen.
Weg war die ganze Blume, und nur die kleine Feige war noch da, die so
unglaublich mißtrauisch aussah.

„Du scheinst nicht an meine ehrlichen Absichten zu glauben,“ sagte der
Einsiedlerkrebs.

„Was kostet das Billett?“ fragte die Seeanemone.

„Ach so. Deinen eigenen Profit bei der Sache erkennst du recht wohl,
und nun willst du wissen, was +ich+ dabei verdiene. Ja, siehst du, ich
denke an den kleinen Fisch von vorhin, der mir direkt ins Maul rannte.“

„Aha, du meinst, ich soll dich verstecken, wenn du auf Beute ausgehst.“

„Ganz recht,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Wir können ganz famos
zusammen jagen. Der Fisch, der sich vor mir fürchtet, rennt dir direkt
in den Rachen. Und wer +dir+ entgehen will und sich schon gerettet
glaubt, der ist +mir+ verfallen.“

Die Seeanemone dachte nach: „Hm, das hat allerdings manches für sich.“

„Nicht wahr? Und dann werden mir deine Brennesseln großartige Dienste
gegen meine Feinde leisten. Die großen Fische sind sehr hinter mir her,
aber vor deinen Brennesseln nehmen sie sich in acht.“

Die Seeanemone entfaltete wieder ihre Blüte. Sie leuchtete, daß es eine
Lust war, sie anzusehen.

„Komm doch,“ sagte der Einsiedlerkrebs ungeduldig.

„Laß uns erst essen,“ entgegnete die Seeanemone. „Ich glaube nicht, daß
es zuträglich ist, einen solchen Freundschaftsbund mit nüchternem Magen
zu schließen. Ich nehme den Fall an, wir säßen beieinander, und der
Hunger quälte uns, dann könnten leicht böse Gedanken in uns auftauchen.“

„Wie vorsichtig du bist! Ich versichere dir: es könnte mir niemals
einfallen, dich zu fressen.“

„Ja, aber mir könnte es vielleicht einfallen, dich zu fressen,“ sagte
die Seeanemone.

Nun kam eine Schnecke heran, die der Einsiedlerkrebs mit seiner Schere
fing, zerdrückte und sofort fraß. Gleich darauf kam noch eine und noch
eine und wiederum eine. Die letzte stieß der Krebs zur Seeanemone
hinüber, die nichts mitbekommen hatte.

„Glaubst du, daß du nun satt genug bist, um auf mein Haus hinüberziehen
zu können?“ fragte der Einsiedlerkrebs.

„Ich weiß nicht,“ erwiderte die Seeanemone. „Aber du bist jedenfalls
satt, und das ist die Hauptsache. Dreh’ dich ein bißchen nach der
Seite, denn jetzt komme ich!“

„Setz dich über die Mündung des Schneckenhauses! Wir müssen uns von
Anfang an so praktisch wie möglich einrichten.“

„Weg mit der Schere!“

Die Seeanemone bewegte sich auf ihrem Fuße fort, der nichts als eine
große Saugscheibe war, bis sie sicher und gut saß.

„Nun reisen wir ein bißchen,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Breite die
Arme tüchtig aus, damit alle Leute sehen können, daß eine prachtvolle
Seeanemone kommt, und damit niemand ahnt, daß ein böser Einsiedlerkrebs
darunter liegt.“

[Illustration]

Der Einsiedlerkrebs kroch weiter, und die Seeanemone fächelte mit ihrer
Blüte.

„Dir werd ich schon aus dem Wege gehen,“ sagte ein kleiner Fisch, der
ihnen entgegenkam.

Er machte einen flotten Purzelbaum, tauchte unter die Seeanemone hinab
und lief dem Krebs unmittelbar in den Schlund.

„Nimm die Hälfte,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Wir haben ihn ja zu
zweien gefangen. Jetzt segeln wir ein bißchen.“

Nun schaukelte das Schneckenhaus mit den beiden Passagieren durchs
Wasser dahin; und überall, wohin sie kamen, erweckte die Seeanemone
unter allen Bewohnern der Meerestiefe großes Aufsehen.

„I, du Allmächtiger,“ rief der Seeigel. „Wer hat je eine Seeanemone
so schnell daherkommen sehen! Ich gehöre mit zur Familie; und ich muß
sagen, daß mir die Sache ganz unbegreiflich ist.“

„Es muß etwas dahinter stecken,“ äußerte eine große Auster, die gähnend
im Tang saß.

„Ich stecke dahinter,“ sagte der Einsiedlerkrebs und streckte seine
große Schere zwischen die Schalen der Auster.

„Au,“ sagte die Auster und preßte ihre Schalen zusammen.

„Es hilft dir nichts. Ich bin dir zu hart. Eine herrliche Auster,
Seeanemone! Nun sollst du deine Hälfte abbekommen, sobald ich sie
aufgedrückt habe.“

„Behalte sie nur,“ erwiderte die Seeanemone. „Ich hab’ meinen Magen
noch nie im Leben so voller Würmer und kleiner nackter Schnecken
gehabt. Sie gehen mir noch nicht einmal aus dem Wege; denn sie glauben
ja nicht, daß ich mich so schnell von der Stelle bewegen kann.“

„Da siehst du es,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Es lebe unser
Kompagniegeschäft!“

       *       *       *       *       *

Eines Tages ging es dem Einsiedlerkrebs nicht recht gut. Er fühlte
einen unangenehmen Druck im Magen und konnte fast gar keine Luft
kriegen.

„Was ist denn mit dir los?“ fragte die Seeanemone. „Du hast dir soeben
einen Fisch entgehen lassen.“

„Ja,“ versetzte der Einsiedlerkrebs. „Es geht mir jämmerlich. Ich
werde nicht anders können, ich muß umziehen.“

„Du willst umziehen?“ rief die Seeanemone.

„Ja, ich muß. Ich kann in diesem Hause nicht mehr bleiben. All das gute
Essen hat mich zu dick gemacht.“

„Das ist ja eine schöne Geschichte. Und es ging uns doch gerade so gut.“

„Es wird uns auch weiterhin gut gehen. Wir wollen uns nach einem neuen,
großen Schneckenhaus umsehen.“

Da machten sie sich auf die Wanderung; und noch am selben Tage fanden
sie eine wunderschöne große Königsschnecke, die auf dem Meeresgrunde
lag. Der Einsiedlerkrebs wandte und drehte sie, klopfte mit der Schere
darauf und sah nach, ob sie dicht sei.

„Sie ist gut,“ sagte er. „Die nehme ich.“

„Und obendrein ist sie leer,“ sagte die Seeanemone. „Das ist ein Vorzug
mehr.“

„Das kann ich nun freilich nicht finden,“ sagte der Einsiedlerkrebs.
„Wäre eine Schnecke darin gewesen, so hätten wir sie ja fressen können.
Und dann wäre das Haus auch rein gewesen. Jetzt ist es vermutlich
voller Sand und kleiner Steine, und ich muß vor dem Einzug ein
gehöriges Reinemachen veranstalten.“

„Wie genau du es nimmst!“

„Ich bin dazu gezwungen. Wenn auch nur das kleinste Sandkorn drinnen
zurückbliebe, so würde es meinen Hinterleib furchtbar martern, daß ich
gleich wieder ausziehen müßte.“

„Ja, es ist wahr ... dein Hinterleib,“ sagte die, Seeanemone. „Den hab’
ich ja noch gar nicht zu sehen gekriegt. Heraus mit ihm, damit ich
mich davon überzeugen kann, ob er wirklich so weich und lecker ist, wie
du sagst.“

„Er kommt schon, wenn es Zeit ist,“ erwiderte der Einsiedlerkrebs.

[Illustration]

Und nun fing er mit dem Reinemachen an. Er stülpte das Schneckenhaus
um, schüttelte es, beklopfte es mit den Scheren und steckte seine
langen Beine hinein, um in allen Winkeln herumzuscharren. Dann drehte
er es mit der Mündung nach der Richtung, aus der der Strom kam, so daß
das Wasser gehörig hindurchspülen konnte. Zuletzt schnüffelte er mit
seinen Fühlhörnern nach, ob noch ein wenig Sand oder Fäulnisstoff darin
war. Das Ganze dauerte über zwei Stunden, und der Seeanemone fing die
Sache an langweilig zu werden.

„Jetzt genügt es, glaube ich,“ sagte sie. „Man kann auch +zu+
sorgfältig sein.“

„Nicht, wenn es sich um den Schwanz handelt,“ sagte der Einsiedlerkrebs.

Er saß eine Weile in Gedanken versunken da, betrachtete sein neues Haus
und betrachtete auch die Seeanemone.

„Bist du wirklich satt, lieber Freund?“ fragte er dann.

„Nicht allzusehr,“ erwiderte die Seeanemone. „Hast du einen
Leckerbissen für mich, so soll’s mich freuen.“

„Allerdings habe ich einen,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Ich habe
meinen Schwanz. Und es würde mir außerordentlich leid tun, wenn er den
Anlaß zur Beendigung unserer Freundschaft geben würde.“

Er sah die Seeanemone scharf an, und die Seeanemone erwiderte seinen
Blick. Dem Einsiedlerkrebs kam es so vor, als ob sein lieber Freund
einen sehr hungrig-gierigen Ausdruck im Gesicht hätte.

„Tu’ mir den Gefallen und dreh’ dich nach der andern Seite um, wenn
ich den Schwanz aus dem alten Schneckenhause hervornehme,“ sagte er.
„Ich muß dir gestehen, deine Anwesenheit ist mir äußerst peinlich. Ich
glaube, ich habe mein Hinterteil noch niemand gezeigt.“

„Ach was, ich bin doch dein bester Freund,“ sagte die Seeanemone.

„Ganz richtig,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Aber ich kann trotzdem
nicht. Hör’ einmal ... ich hab’ eine Idee. Ich will dir zuerst auf das
neue Schneckenhaus hinüberhelfen. Das ist das Allervernünftigste.“

Sie machten sich an die Arbeit, und nach Verlauf einer geraumen Weile
saß die Seeanemone da, wo sie sitzen sollte.

„Du bist nicht hungrig,“ sagte sie.

„Das bin ich allerdings nicht,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Ich kann
bloß nicht verstehen, woher du das wissen willst!“

„Ich merke es an der Art, wie du mich mit deinen Scheren anrührst,“
erwiderte die Seeanemone. „Ich merke es immer an den Scheren der Leute,
ob sie hungrig sind. Aber komm nun ... jetzt ist die Reihe an dir. Kann
ich helfen, so stehe ich zu Diensten.“

Der Einsiedlerkrebs rührte sich nicht von der Stelle.

Er hatte eingesehen, daß er sich sehr dumm angestellt hatte. Er hätte
die Seeanemone zuerst hinabsteigen und in einiger Entfernung warten
lassen sollen. Dann hätte er selbst hinüberziehen können, und die
Seeanemone wäre nachgekommen.

„Ich bin doch nicht recht zufrieden mit dem Schneckenhaus,“ sagte
der Einsiedlerkrebs dann. „Bleib du nur so lange sitzen, während ich
umherkrieche und mich nach einem andern umsehe! Ich werde bald wieder
hier sein.“

„Niemals,“ sagte die Seeanemone. „Es kann nicht deine Absicht sein, daß
ich die Unbequemlichkeit noch einmal haben soll. Komm ... sonst ist es
vorbei mit uns.“

„Dann schließe dich,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Zieh’ die Arme mit
den Brennesseln ganz ein, wie du es machst, wenn du dich ausruhst.“

„Schwatz’ nicht so dumm! Nimm einmal an, es käme gerade ein schöner
Fisch heran! Du weißt ja, ich bin hungrig.“

„Dann wart’ ich, bis du satt bist.“

Und dabei blieb es. Die Seeanemone fing ein paar Fische und fraß
sie. Dann zog sie die Arme ein und saß wieder wie eine trockene,
eingeschrumpfte Feige da. Da ließ der Einsiedlerkrebs das alte Haus
fahren und kam heraus.

„Nä --,“ sagte die Seeanemone und guckte heraus.

„Hinein mit dir,“ schrie der Einsiedlerkrebs. „Wenn du nicht gleich
hineingehst, beiß’ ich dich.“

Die Seeanemone entfaltete sich ganz und fächelte mit den Brennesseln
ganz nah am Hinterleib des Einsiedlerkrebses herum.

„Denk’ daran, wieviel Freude und Nutzen wir noch voneinander haben
können,“ sagte der Einsiedlerkrebs und wand sich jämmerlich.

„Ich überlege mir das gerade,“ sagte die Seeanemone. „Sonst hätte ich
natürlich längst deinen Schwanz gefressen. Noch nie im Leben hab’ ich
einen solchen Leckerbissen gesehen.“

„Aber es ist nur ein Bissen. Hast du ihn gefressen, so ist er weg.“

Die Seeanemone sagte nichts, fächelte und fächelte nur mit den
Armen und kam dem Hinterleib ihres guten Freundes immer näher. Der
Einsiedlerkrebs krümmte sich in größten Nöten.

„Wenn du das tust, so begehst du eine große Dummheit,“ sagte er. „Dann
mußt du morgen dein altes Leben wieder anfangen, das nicht entfernt so
bequem war wie das, das du führst, seitdem du bei mir wohnst. Du wirst
wieder nur langsam von der Stelle kriechen. Den einen Tag sitzest du
auf einem dummen Stein und lässest alle Fische entwischen. Den nächsten
sitzest du auf einem Hai, der mit dir auf und davon schwimmt und dich
herumwirbelt, so daß du weder aus noch ein weißt.“

Die Seeanemone fächelte mit den Armen.

„Au!“

„Ich habe dich nicht angerührt.“

„Du warst nahe daran,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Du denkst an nichts
andres. Das kann ich dir ansehen. Wenn du das tust, so benimmst du dich
wie ein junger, unbesonnener Mensch. Als wir jung waren, da taten wir
so etwas. Da dachten wir nie an den morgigen Tag.“

„Das war eine schöne, schöne Zeit,“ sagte die Seeanemone fächelnd.

„Neulich sind wir doch übereingekommen, daß +die Gegenwart+ die bessere
Zeit ist,“ sagte der Einsiedlerkrebs verzweifelt. „Jetzt sind wir
ruhiger und verständiger und machen uns zunächst immer klar, wie es
werden wird. Wenn ich alt und hinfällig wäre, würd’ ich noch nichts
dazu sagen. Und wenn einer von uns auf dem letzten Loche pfiffe, so
wäre es nur recht und billig, daß der andere ihn fräße. Er wäre ja der
Nächste dazu. Aber nun stehen wir beide im kräftigsten Alter und können
einander für lange Zeit Nutzen und Freude bringen. Daran solltest du
denken.“

„Ich denke daran. Und ich glaube, du hast recht. Kriech also hinein ins
neue Haus! Ich werde dir nichts tun.“

„Ziehst erst deine Brennesseln ein!“

Die Seeanemone tat es, und der Einsiedlerkrebs schaffte langsam und
vorsichtig seinen Hinterleib in das neue Haus. Das nahm Zeit in
Anspruch; ordentlich mußte es ja gemacht werden, und während der ganzen
Prozedur heftete er das eine seiner Stielaugen auf die Seeanemone. Aber
sie bezwang sich, bis alles überstanden war.

„Das war keine Kleinigkeit,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Ich hatte
wirklich Furcht vor dir.“

„Dazu hattest du auch allen Grund,“ erwiderte die Seeanemone. „Ich
habe mich sehr zusammennehmen müssen. Erinnerst du dich daran, was
du sagtest: Daß wir einander auffressen sollen, wenn wir alt und
verbraucht sind?“

„Ich erinnere mich meiner Worte recht gut und bleibe auch dabei,“
sagte der Einsiedlerkrebs. „Es ist auch noch gar nicht so sicher, daß
ich früher alt werde als du. Aber das soll unsre Sorge einstweilen
nicht sein. Jetzt ist die Freundschaft erprobt und wird desto länger
vorhalten.“

Drauf kroch er vergnügt von dannen mit seinem neuen Hause und seinem
Freunde auf dem Nacken. Sie fingen eine Menge Fische ein und gediehen
beide aufs beste.

       *       *       *       *       *

Einige Zeit darauf war der Seeanemone etwas sonderbar zumute.

Sie hatte ihre Not mit der Entfaltung ihrer Blüte und ließ einen
kleinen Fisch nach dem andern entwischen.

Der Einsiedlerkrebs sah es wohl, aber er hatte selber ein paarmal mit
seiner Schere daneben gegriffen und sagte darum nichts.

„Wie geht es dir?“ sagte die Seeanemone hierauf.

„Danke, vortrefflich,“ antwortete der Einsiedlerkrebs. „Und dir?“

„Es ist mir noch nie so gut gegangen wie heute. Ich fragte nur, weil
ich sah, daß du nach einem Fisch fehlgriffst.“

„Wirklich? Ich habe selber gar nicht darauf geachtet. Dagegen hab ich
gesehen, wie +du+ vorhin zwei Fische vorbeisegeln ließest, außer einer
wunderschönen Schnecke. Du fängst doch nicht etwa an, dich alt zu
fühlen?“

„Gott, wie kannst du das glauben!“ sagte die Seeanemone und fing
an, wie toll mit den Armen zu fächeln. „Du fällst wohl eher als ich
zusammen.“

„Ich ... alt?“ sagte der Einsiedlerkrebs und schnitt heftig mit der
Schere vor sich hin. „Nein, ich werde dich ganz gewiß überleben. Und
dann fress’ ich dich auf. Du weißt ja, so haben wir’s verabredet.“

„Gott behüte! Ich werde dich auch auffressen, verlaß dich darauf!
Im Augenblick bin ich leider nicht hungrig, sonst tät’ ich es gerne
sofort.“

„Na, also hungrig bist du auch nicht! Das ist ja ein schlechtes
Zeichen.“

Der Einsiedlerkrebs fing an, das Haus tüchtig zu schütteln, und
bemerkte, daß die Seeanemone nicht so fest saß wie sonst. Aber es
krachte so in ihm selber, daß er einen gehörigen Schreck bekam. Die
Seeanemone ließ ihre Brennesseln auf einen vorbeistreichenden Fisch
gleiten, aber sie brannten nicht mehr. Der Einsiedlerkrebs griff
mit der Schere danach, traf aber nicht, so daß der Fisch unversehrt
weiterschwamm.

Die beiden Freunde sahen sich mißtrauisch an.

„Lieber Freund,“ sagte der Einsiedlerkrebs. „Jetzt, glaube ich, ist
unsre Freundschaft in ihr letztes Stadium getreten. Es ist kein Zweifel
mehr: du bist alt und taugst nichts mehr. Deine Brennesseln brennen
nicht mehr, und du bist so schlecht zu Fuß, daß du dich kaum an meinem
Schneckenhaus festhalten kannst. Unsrer Verabredung gemäß, beabsichtige
ich darum, dich aufzufressen.“

„Ich wollte gerade dasselbe zu dir sagen,“ entgegnete die Seeanemone.
„Du bist ja ein reines Wrack geworden. Deine Schere ist gar nicht mehr
scharf, und du kannst sie ganz und gar nicht mehr regieren. Das Beste
ist: ich mache deinen Leiden ein Ende.“

Dann betrachteten sie einander wieder ein Weilchen, und keiner von
ihnen wollte beginnen.

„Wie gut, daß du zuerst alt geworden bist,“ sagte hierauf die
Seeanemone. „Was wolltest du ohne mich machen?“

„Das will ich dir sagen,“ erwiderte der Einsiedlerkrebs. „Wenn ich
dich gefressen habe, werd’ ich mich auf der Stelle nach einer jungen,
schönen Seeanemone umsehen.“

„Ja, wie gut wir zueinander passen! Ich überlegte mir gerade, daß ich
mich nach einem tüchtigen Einsiedlerkrebs umsehen muß.“

„Hau, hau,“ sagte die Krabbe, die in diesem Augenblick mit seitlichem
Gang herankroch. „Ah ... da haben wir ja den großmäuligen Vetter. Na
... hast du einen Freund gefunden?“

[Illustration]

„Allerdings,“ sagte der Einsiedlerkrebs; und er bebte vor Schreck in
seinem Schneckenhaus, denn die Krabbe sah so entsetzlich groß aus.
„Darf ich dir die Seeanemone vorstellen? Hier sitzt sie. Sie ist mein
bester Freund und hat grauenhafte Fangarme voller Brennesseln. Wenn
jemand mir auch nur das geringste Leid antun will, so verbrennt sie ihn
augenblicklich.“

„Das ist richtig,“ fiel die Seeanemone ein und fächelte matt mit den
Armen. „Und wenn mich jemand schief ansieht, so beißt mein Freund, der
Einsiedlerkrebs, ihn mit seiner Schere kaputt.“

„Ja, ihr seid mir ein paar schöne Helden,“ sagte die Krabbe und kam
näher.

Die Seeanemone wollte ihre Arme einziehen, konnte aber nicht. Der
Einsiedlerkrebs wollte sich in seinem Hause verstecken, hatte aber
gleichfalls nicht mehr die Kraft dazu. Die Krabbe war dicht bei ihnen
und betrachtete sie mit gefräßigen Augen.

„Also ihr zwei habt wirklich gemeinsame Fahrten gemacht?“

„Ganz recht,“ sagte der Einsiedlerkrebs und richtete sich auf. „Und wir
bleiben noch vie--iele Jahre zusammen.“

„Ja, wir bleiben noch vie--iele Jahre zusammen,“ fiel die Seeanemone
ein und reckte sich empor.

„Ihr seid mir zwei aparte Bürschchen!“ sagte die Krabbe. „Aber jetzt
seid ihr fertig. Ich bin von jeher hinter dem Aparten her gewesen, und
jetzt fresse ich euch.“

„Das da--arfst du nicht,“ sagte der Einsiedlerkrebs und focht wild
mit seiner großen Schere umher. „Wir haben vera--abredet, daß wir uns
gegenseitig auffressen wollen.“

„So i--ist es,“ sagte die Seeanemone und fächelte verzweifelt mit den
Armen.

Und dann fraß die Krabbe die beiden.




        
            *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MUTTER NATUR ERZÄHLT ***
        

    

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the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
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facility: www.gutenberg.org.

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