Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle

By Bruno Hans Bürgel

The Project Gutenberg EBook of Die seltsamen Geschichten des Doktor
Ulebuhle, by Bruno H. Bürgel

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Title: Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle

Author: Bruno H. Bürgel

Illustrator: Edmund Fürst

Release Date: October 14, 2020 [EBook #63460]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SELTSAMEN GESCHICHTEN ***




Produced by Jens Sadowski





                       Die seltsamen Geschichten
                                  des
                            Doktor Ulebuhle


                              Zeichnungen
                                  von
                              Edmund Fürst




                       Die seltsamen Geschichten
                                  des
                            Doktor Ulebuhle


                                  Ein
                         Jugend- und Volksbuch

                                  von
                            Bruno H. Bürgel


                                  1920
                      Verlag Ullstein & Co, Berlin


                        Alle Rechte vorbehalten
                    Copyright 1920 by Ullstein & Co
                                 Berlin




                                 Inhalt


               Ein Vorwort für die Großen             VII
               Vom Doktor Ulebuhle                      1
               Die versunkene Stadt                     6
               Der Wassertropfen                       16
               Gespenster-Heinrich                     30
               Der Diamant und seine Brüder            44
               Der alte Baum                           56
               Johann der Wunderbare                   60
               Das Zündholz und die Kerze              73
               Der Weltuntergang                       83
               John Dolland, der Taucher               87
               Das Herz und die Taschenuhr            110
               Ein Tag auf dem Monde                  115
               Die Schwalbe und der Telegraphenpfahl  135
               Der Eisberg                            142
               Die Busennadel                         151
               Der Tod in der Flasche                 161
               Als die Sonne feierte                  176
               Der gläserne Sarg                      184
               Gebrüder Sturm                         188
               Die sonderbare Welt                    211




                       Ein Vorwort für die Großen


Der deutschen Kinderwelt steht eine Fülle von wundervollen
Märchendichtungen zur Verfügung. Sie alle sind so gemütvoll, anziehend
und phantasiereich, ja zum Teil (insbesondere für den Erwachsenen) so
reich an ernsten Gedankengängen, daß sie auch in unserer immer
materialistischer werdenden Zeit das Herz des Kindes wie des
Erwachsenen, der sich ein Plätzchen für das Stille und Beschauliche
bewahrt hat, mit Freude erfüllen werden.

Dennoch entgeht es wohl dem tiefer Blickenden nicht, daß die Jugend des
zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere die Großstadtjugend, und auch da
wieder vor allem die Buben, sobald der erste Schmelz der Kindlichkeit
dahin ist, kein rechtes Verhältnis mehr zu diesen Märchen gewinnt. Es
geht dem alten poesievollen Märchen so ähnlich wie dem so reizenden
Kasperletheater unserer _eigenen_ Jugendtage: Die oft recht wenig
poesievolle und noch weniger zum Kinderherzen sprechende flimmernde
Leinwand hat es zum alten Eisen geworfen.

Die Zeiten haben sich geändert! Man kann das bedauern, aber schwer
ungeschehen machen. Das Kind des zwanzigsten Jahrhunderts hat einen
starken _Wirklichkeitssinn_ und eine große Hinneigung zu _technischen_
Dingen, mit denen es ja auch tagtäglich -- zum mindesten in größeren
Orten -- in engste Berührung kommt. Kein Wunder, daß es mit einer
mechanischen Eisenbahn lieber spielt als mit dem hölzernen Harlekin, der
einmal _unsere_ Freude war, und kein Wunder auch, wenn es spannend
geschriebene Erzählungen, in denen moderne technische Wunder und
aufregende Abenteuer eine Rolle spielen, lieber liest als das Märchen
vom Wolf und vom Rotkäppchen, das sein Wirklichkeitssinn einfach als
»unsinnig« beiseite schiebt, während wir Großen erst wieder das
Symbolische darin zu würdigen wissen.

Aus solchen Erwägungen heraus sind die vorliegenden Geschichten
entstanden. Es sind gewissermaßen _naturwissenschaftliche_ Märchen.
Märchen nur der _Form_ nach; ihr Kern besteht aus leicht faßlichen
naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen und Erfahrungen,
und wenn die Kinder dieses Buch mit einigem Interesse (wie ich hoffen
darf) gelesen haben werden, so haben sie eine ganze Masse dabei gelernt
und sich doch gut unterhalten. Auch der Humor und eine kleine moralische
Nutzanwendung kommen da und dort zu ihrem Recht.

Als ich vor nunmehr zwanzig Jahren zum erstenmal den Versuch machte, in
der hier vorgetragenen Weise das »Märchen des zwanzigsten Jahrhunderts«
zu schaffen, fanden die wenigen Proben eine so allgemein günstige
Aufnahme, daß ich den oft mir geäußerten Wünschen, einen ganzen Band
solcher Erzählungen herauszugeben, glaubte nachkommen zu sollen. Wozu
mir schöne Friedensjahre nicht Zeit ließen, das entstand dann in langen
Kriegsjahren draußen »an französischen Kaminen«. Im Kriege ersonnen, in
Revolutionstagen niedergeschrieben, mögen diese Erzählungen, das ist
mein Wunsch, den deutschen Kindern, die nicht minder schwer als wir
Großen die Härte der Zeit gespürt, ein wenig Freude und ein wenig
Sonnenschein bringen.

                                                       Bruno H. Bürgel

Neubabelsberg bei Potsdam




                          Vom Doktor Ulebuhle


Meine lieben jungen Freunde! Ehe ihr nun die Geschichten des Doktor
Ulebuhle lest, wollt ihr sicher auch wissen, wie sie denn zustande
gekommen sind, und was es mit dem Ulebuhle für eine Bewandtnis hat.
Eigentlich hieß er gar nicht so, und wie in Wahrheit sein Name war, das
haben die Kinder nie erfahren, oder sie hatten es wieder vergessen, aber
so viel weiß ich, daß er ein schnurriger Kerl war, so schnurrig wie der
Name, den ihm die Leute gegeben hatten.

Da unten im Harzgebirg mit seinen dunklen Tannenbergen liegt die alte
Kaiserstadt Goslar, mit ihren uralten spitzen Türmen, seltsamen Torbogen
und engen Gassen mit wunderlichen, jahrhundertealten Häusern am Fuße des
Rammelsberges, in dem tief, tief unter der Erde die Bergleute pochen.
Vor vielen Jahren lebte da der Doktor Ulebuhle. Er bewohnte ganz allein
eines jener etwas windschiefen, mittelalterlichen Häuser, die verwundert
aus ihren vom Alter fast erblindeten winzigen Fensterchen in die neue
Zeit hineinblinzeln. Oben auf dem Hause war ein Turm, gedeckt mit lauter
Schiefertafeln, fast so wie die, mit denen wir Buben zur Schule zogen,
und da oben hatte Ulebuhle ein großes Fernrohr stehn, mit dem man den
Mond und die Kometen betrachten konnte. Und dann waren da im Hause ein
paar ganz einfache Zimmerchen, mit alten Möbeln und seltsamen Uhren und
allerlei Schnickschnack, und eines davon war ganz mit Büchern
vollgestopft, daß man nicht wußte, wohin man treten und wohin man sich
setzen könnte. Nebenan sah es noch viel toller aus! Das wahre Museum.
Ausgestopfte Tiere, versteinerte Fische und Schnecken, Tiergeripp und
Totenbein, und Schmetterlingssammlungen und seltene Käfer. Erdglobus und
Himmelsglobus, Elektrisiermaschinen und Mikroskope, hundert Instrumente
und weiß der Teufel was noch für Krimskrams.

Und da hauste der alte Ulebuhle ein Leben lang wie ein Maulwurf in
seinem Bau. Er hatte keine Frau und keine Kinder; ein ganz altes
Weiblein mit einer großen schwarzen Haube besorgte alles und war der
einzige Mensch, mit dem sich Ulebuhle vertrug, denn er war ein rechter
alter Knurrhahn.

Und wenn ihr nun fragt, wie er ausgesehen hat, der Doktor Ulebuhle, so
muß ich sagen, höchst schnurrig! Er war so groß, daß er kaum durch die
niederen Türen des alten Hauses ging, und dürr wie ein Pfeifenrohr. Das
Alter hatte sein Gesicht in tausend Runzeln zerrissen, es war bartlos
und von vielem Tabakrauch gebräunt wie eine alte Meerschaumpfeife, und
eisengraues Haar bedeckte das Haupt. Was aber ganz putzig aussah und uns
Kindern als das Sonderbarste vom Sonderbaren erschien, das war das
kleine Zöpfchen, das dem guten Ulebuhle hinten über den Rockkragen
baumelte. Ein Zöpfchen, nicht länger und kaum dicker als ein
Rattenschwanz, eisengrau, und mit einer winzigen schwarzen Schleife nahe
der Spitze. Mein Vater sagte mir zwar, und aus alten Büchern könnt ihr
das ja auch an den Bildern sehen, früher hätten die Männer _alle_ so
kleine Zöpfchen getragen, und der gute alte Ulebuhle, der schon fast
siebenzig Jahre alt war, habe es sich nur nicht mehr abgewöhnen wollen,
als die neue Mode kam und eines Tages schnipp-schnapp die ganzen Zöpfe
von der großen Schere der Zeit weggeputzt wurden, aber das ist egal, es
sah doch zu schnurrig aus. Zudem trug er auch noch eine mächtige
Hornbrille, mit großen runden Gläsern, und wenn er dann so bedächtig mit
den Augendeckeln klappte, dann sah das in Verbindung mit der Brille und
der scharfen Hakennase aus wie bei einer Eule oder »Ule«, wie die Leute
da unten sagen. So aber war auch sein seltsamer Name entstanden.
Eigentlich hieß er nur Doktor Buhle, für uns aber war er nur der
Ule-Buhle, und dabei blieb es!

In einem langen grauen zugeknöpften Rock, Sommer und Winter mit
buntkarrierten Filzschuhen an den Füßen, saß der Doktor Ulebuhle so, aus
der langen Pfeife blaue Rauchwolken von sich stoßend, über seinen
Büchern, seinen Instrumenten, und kümmerte sich um keinen Menschen in
der weiten Welt.

Aber wenn er auch wunderlich aussah, und wenn die Leute auch verstohlen
über ihn lachten, sie zogen doch tief den Hut vor ihm, wenn er mal aus
dem Fenster schaute oder in seinem Garten die Bäume beschnitt, denn er
war ein Mann, der so viel wußte wie keiner in weiter Runde, die Lehrer
und den Pfarrer, die Ärzte und den Bürgermeister mit eingeschlossen, und
das will was heißen, denn von denen wollte doch auch einer immer mehr
wissen wie der andere. Er hatte viele gelehrte Bücher geschrieben, und
aus fernen Ländern schickten berühmte Professoren, die so weise waren,
daß sie sich Tonnenbänder um den Kopf legen lassen mußten, damit er
nicht vor lauter Wissen auseinandersprang, Briefe an unseren Ulebuhle
und baten um seinen Rat.

Wie aber, so werdet ihr fragen, kam nun der Doktor Ulebuhle dazu, diese
Geschichten zu erzählen?

Das ging so zu: Da, wo das Haus des Doktor Ulebuhle stand, war ein
freier Platz, und ein Brunnenbecken stand darauf. Hier aber versammelten
wir Kinder uns am liebsten und lärmten da umher, wie eine Schar Spatzen
im Kirschenbaum. Das aber war schrecklich für den Alten! Es störte ihn
ganz gräßlich bei seinem gelehrten Tun, und als all sein Schimpfen
nichts half, da versuchte er es auf einem anderen Wege. Er ließ uns
einst, als wir an einem Sommerabend wieder um den Brunnen jagten, von
der alten Dienerin heraufholen, was ihm aber nur bei den Mutigsten
zunächst gelang. Mit einem seltsamen Schauder und mit einer noch
größeren Neugierde betraten wir das sonst so fest für jedermann
verschlossene Haus. Ulebuhle aber hielt uns eine lange Rede. Wir wären
zwar allesamt Taugenichtse, die noch einmal ein übles Ende nehmen
würden, sagte er in einem seltsam knurrigen Ton, aber er wolle uns alle
Sonntagabend bei Kuchen und Tee schöne Geschichten erzählen, durch sein
Fernrohr den Mond und die Sterne zeigen und andere Dinge, wenn wir
versprächen, künftig nicht mehr um den Brunnen zu tollen und Bälle in
den Garten zu werfen.

Und so geschah's! Erst kamen nur wenige, dann mehr, und schließlich
alle. Und die Geschichten waren sehr interessant, der Kuchen voller
Rosinen, und um den Brunnen war es still geworden, denn keiner wollte es
mit Ulebuhle verderben. Dieser aber war ein kluger Mann! Das waren
_keine gewöhnlichen Märchen_, die er da erzählte, keine von Hexen und
Menschenfressern, von Prinzessinnen und verwunschenen Froschkönigen und
all solchen Dingen, die es gar nicht gibt, sondern es waren Geschichten,
aus denen wir Kinder viel lernen konnten und viel gelernt haben, und nur
_scheinbar_ waren es Märchen. So wie der Apotheker eine bittere Pille,
die uns kurieren soll, mit einer Zuckerhülle umgibt, damit wir sie
bereitwilliger schlucken, umgab der gelehrte Doktor seine _Erzählungen
von all den wunderbaren Dingen der Natur_ mit einem Märchenkleid.

Was ich behalten habe von diesen Geschichten, das habe ich hier
niedergeschrieben, und wenn ihr sie alle gelesen haben werdet, so habt
ihr eine ganze Masse gelernt von Sonne, Mond und Sternen, von Wolken,
Regen, Schnee und Wind, von Feuerbergen und Meerestiefen.

Wenn ihr aber etwas nicht verstanden habt oder mehr davon wissen
möchtet, dann schreibt mir nur und denkt, ich wäre der Ulebuhle selber,
und dann will ich mir die Hornbrille aufsetzen, es sorgfältig lesen und
euch antworten, wenn auch nicht so knurrig und brummig wie Doktor
Ulebuhle.




                          Die versunkene Stadt


«Ach, da unten im Süden ist es herrlich! So tiefblau ist der Himmel, wie
wir Nordländer ihn gar nicht kennen. Eine warme Luft weht herüber vom
Mittelländischen Meere, und wundervolle Blumen blühen. Lorbeerhaine
stehen am Ufer, und in sonnigen Gärten leuchten Apfelsinen- und
Zitronenbäume. Ja, es ist herrlich da unten im Lande Italien.

Seht, da pflügte an einem schönen Frühlingstage ein Bauer das Feld. Er
zog das blanke Eisen durch die dampfende Erde, die ein warmer Regen
aufgeweicht, und rauchte vergnüglich seine Tonpfeife. Das war nicht weit
von dem spitzen Kegelberge, der da hoch aufragt wie ein mächtiger,
umgestülpter Napfkuchen, und den die Leute »_Vesuv_« nennen. Und was der
Bauer konnte, das konnte der Berg auch! Eine feine Rauchsäule stieg aus
seinem Gipfel, denn er ist ein feuerspeiender Berg und ein gefährlicher
Bursche. Wenn er seinen Rappel kriegt, rumort er plötzlich los. Mit
Blitz und Donner fährt das glühende Teufelszeug aus ihm heraus, heiße
Asche und brennende Steine sausen durch die Luft und zerstören alles
ringsum. Dann ist der tiefblaue Himmel verschwunden, die Lorbeerhaine
verbrennen, die Apfelsinen- und Zitronengärten werden im heißen Schlamm
begraben. Ach, dann ist es nicht mehr herrlich da drunten im Süden, im
Lande Italien.

Der Berg raucht, aber ganz friedlich nur, und der Bauer raucht
unbekümmert um ihn sein Pfeifchen, da fährt sein blankes Pflugeisen
gegen ein hartes Ding. Ein Stein, denkt er und bückt sich, ihn aus dem
Wege zu räumen. Aber wie er das Ding aufheben will, ist es eine
wunderschöne Bronzekanne, ein metallener Krug, wundervoll verziert. Wenn
man die Erde und Asche abscheuert, die ihn mit dicker Kruste überzieht,
sieht man, daß er uralt ist, so, wie ihn die Menschen heute nicht mehr
herstellen.

Der Bauer freut sich wie ein König. Das ist eine gar seltene Erdfrucht,
denkt er, und nachdem er den Krug lange genug betrachtet, stellt er ihn
behutsam seitwärts. Sein Weib wird sich freuen, ein so feines Ding auf
ihrem Schrank zu haben.

Der Bauer pflügt und pflügt, und als der Mittag kommt und er eben
aufhören will mit seiner Arbeit, da sitzt das Eisen wieder fest und will
sich nicht mehr lösen. Ei, denkt der Bauer, bin ich ein Schatzgräber
heute! Er holt seinen Spaten und gräbt das Ding heraus. Was ist es? Ein
riesiger Metall-Leuchter mit fünf Armen und Löwenfüßen, und ist wohl
einen Meter groß und so schwer, daß man ihn kaum heben kann.

Der Bauer ist ein Pfiffikus. Er schiebt den Strohhut in den Nacken und
überlegt. Wo das gesteckt hat, kann noch mehr stecken, sagt er zu sich,
und so gräbt er im Schweiße seines Angesichts immer tiefer auf seinem
Acker und sieht, daß da unten alles Asche ist, Asche, die der
feuerspeiende Berg wohl vor vielen Jahrhunderten ausgeworfen hat. Einen
niedlichen Handspiegel findet er noch, und ganz unten stößt er auf
Mauerwerk und kann nicht weiter. Tief da unten muß also einmal ein Haus
gestanden haben, sagt sich der Bauer, denn wo wollte sonst das Mauerwerk
herkommen?

Da lädt er denn Krug und Leuchter und Spiegel auf seinen Wagen und fährt
vergnügt nach Hause. Ja, das war mal ein Glückstag für einen armen
kleinen Bauersmann da drunten am Fuße des Feuerberges!

Die Bäuerin ist voll Staunen über die schönen Sachen und stellt sie
stolz in ihre gute Stube, aber sie sind so schön, daß man merkt, sie
gehören gar nicht hin, wo die alten wackligen Tische, die Stühle mit dem
Strohgeflecht stehen.

Der Bauer sucht noch morgen und übermorgen, aber er findet nichts mehr.
Am Abend sitzt er vor seinem Häuschen, schmaucht seine Pfeife und flickt
am Sattelzeug seines Esels. Sieh, da staubt es auf der Landstraße, und
eine Kutsche, mit zwei schönen Pferden bespannt, kommt dahergerollt.

Ein vornehmer Mann sitzt darin. Der Bauer grüßt und der Vornehme grüßt
freundlich wieder. Er läßt halten.

»Kann man einen guten Schluck Landwein bei Euch haben, guter Mann?«
fragt der Vornehme.

»Ei freilich, Euer Ehren!« antwortet der Bauer.

Da steigt der Mann aus seinem Wagen und geht in das Haus. Er trinkt sein
Gläschen Wein und sieht verwundert Leuchter und Kanne und Spiegel und
betrachtet sie von allen Seiten rundum, wieder und immer wieder.

»Freund,« sagt er endlich zu dem Bauer, »wo habt Ihr diese Dinge her?
Das ist uralte wunderbare Arbeit. Vor Jahrhunderten, wenn nicht vor
Jahrtausenden muß diese Gegenstände ein Künstler geschaffen haben. Sie
sind einen Scheffel Silber wert, und wie kommt es, daß sie in Eurem
bescheidenen Hause stehen?«

Ein Wort gibt das andere, der Bauer will erst nichts von seinem
Geheimnis erzählen, aber als er merkt, daß der Vornehme ein Mann von der
Regierung ist, da berichtet er, wie alles hergegangen.

Der Fremde nickt und hat verstanden, und dann sagt er, daß er
wiederkommen werde, und bedeutet dem Bauer, seine Schätze wohl
aufzuheben, denn man würde sie ihm zu hohem Preise abkaufen. Dann fährt
er davon.

Nach drei Tagen rollen zwei Kutschen vor des Bauern Haus. Der Vornehme
ist wieder da, und noch sechs andere Herren in feinen Röcken und mit
goldenen Brillen auf der Nase sind bei ihm. Alle betrachten die alten
Schätze, und dann fahren sie hinaus auf den Acker und bedeuten dem
Bauer, mit einigen Arbeitern, mit Schaufeln und Picken nachzukommen.

Da graben sie denn bis zum Abend und graben da und dort und finden
überall unter der viele Meter dicken Aschenschicht Mauerreste, Teile von
Dächern, Säulen, auch manches kleine Kunstwerk noch, und endlich, gegen
Abend, das Knochengerüst eines Menschen.

Da wissen die gelehrten Männer, hier unter dem Acker liegt eine alte
Stadt. Eine Stadt, die vor vielen Jahrhunderten versunken ist,
verschüttet wurde durch den Steinregen und Ascheregen, den der
feuerspeiende Berg da hinten über die unglückliche Stadt schüttete.

»Freund,« sagen die gelehrten Männer zu dem Bauern, »Ihr habt einen
großen Fund gemacht und sollt dafür reich belohnt werden, so daß Ihr
Euch ein schönes Häuschen kaufen könnt, und neue Äcker und wohl gar ein
Weingut. Diese Schätze aber und Euren alten Acker, den müßt Ihr
freigeben, denn wißt, Ihr pflügt über einer versunkenen Stadt, die hier
unterging, bald nachdem Jesus Christus am Kreuze verschieden. Wir wissen
es lange aus alten Schriften, daß hier zwei Orte standen, Herculanum und
Pompeji geheißen, die der Vesuv verschüttete. Ihr habt endlich ihre
erste Spur gefunden, und nun wollen wir sie wieder ausgraben, die alten
Städte.«

So sprachen die Männer, und so geschah es. Der Bauer wurde reich
belohnt, er zog ein wenig weiter hinunter in die Ebene und wurde bald
ein wohlhabender Mann. Auf seinem Acker aber, und weit in der Runde,
ging es nun geschäftig her. Hunderte von Arbeitern kamen, die
schaufelten und pickten Tag um Tag, Monat um Monat, rollten unablässig
die Aschenmassen fort, unter denen die alten Städte versanken, und
langsam kamen sie zum Vorschein.

Ja, das war wie ein großes Wunder! Nach Jahr und Tag konnte man wieder
durch die Straßen von Herculanum und Pompeji wandern, in die Häuser
eintreten, die siebzehn Jahrhunderte früher versanken. Der alte Berg im
Hintergrunde, der noch immer ein klein wenig schmauchte, blickte
verwundert herüber. Da kamen all seine Schandtaten wieder ans
Tageslicht. Der gute Mond aber, der sein bleiches Licht in die öden,
toten Gassen der ausgegrabenen Städte warf, machte ein verdutztes
Gesicht. Ja, vor siebzehn Jahrhunderten sah es hier anders aus, da
liefen fröhliche Menschen in langen weißen Gewändern in den Gassen
einher, spielten Kinder, tönte Gesang durch die Straßen, fuhren hohe
zweirädrige Wagen mit schönen, kräftigen Männern ratternd hinaus in die
Ebene. Nun war die Stadt tot, aber sie war wieder auferstanden, und der
alte Mond konnte wieder sein Licht auf die weißen Wände der Häuser
werfen, die so lange Zeit unter der Erde verborgen waren, begraben durch
den rauchenden Berg.

Die Menschen aber wanderten durch die Ruinen und konnten sich nicht satt
daran sehen, wie hier ihre Vorväter gewohnt und gearbeitet, gelebt und
gelitten hatten.

Ja, da sah man noch alles so deutlich, als sei es erst gestern
geschehen! Die Straßen waren grade und sauber, schöne Tempel standen da
und kreisrunde Zirkus-Theater, Säulentore und steinerne Badehäuser,
Gärten und Türme. Wundervolle Malereien waren an den Wänden, Tische und
Bänke, Leuchter und Spiegel, Kannen und Krüge, Teller und Messer, Betten
und Schränke fanden sich noch überall in den Häusern. Da sah man noch
allerlei Ankündigungen an den Mauern der Häuser, sah noch allerlei
Kritzeleien, die auch damals schon ungezogene Buben eingeritzt, und
konnte in Kaufmannsläden und Schenken, Apotheken und Bäckereien
eintreten.

                   *       *       *       *       *

Noch heute ist das alles zu sehen, und wer hinunterreist nach dem
sonnigen Lande Italien, da, wo der Vesuv raucht, der sieht sie noch
jetzt so stehen, die versunkenen Städte, kann dahinwandeln in den Gassen
und die Bilder beschauen, die vor fast zweitausend Jahren die alten
Künstler an die Wände malten.

Aber wenn die Männer, die die Städte ausgruben aus dem Aschenmeer,
hineingingen in die Häuser, dann fanden sie zusammengekauert die
Skelette der Menschen, die damals gelebt, die der Berg lebendig
begraben. Da konnte man sehen, wie die Mutter ihre Kinder an sich
preßte, wie sie nahe der Tür kauerten, die nicht mehr aufging, weil der
Steinregen sie zusperrte. Da konnte man noch sehen, wie die Männer sich
abgemüht hatten, die Hauswände zu durchbrechen, und fand in den Gassen
Fliehende, die vom Steinregen erschlagen wurden.

Ach, es war ein trauriges Bild, und es gab wohl Leute, die noch weinen
konnten über die Armen, die vor vielen Jahrhunderten hier mitten im
friedlichen Glück des Hauses grausam getötet wurden von dem
schrecklichen Berge.

Kommt ihr hinunter in den schönen Süden, vergeßt sie nicht aufzusuchen,
die Stätte des Schreckens: Herculanum und Pompeji!

                   *       *       *       *       *

Seht, da wandeln die kleinen Menschen vergnügt auf der Erdkugel umher,
wie die winzig-winzigen Bazillen, die auf einem Apfel leben. Sie bauen
ihre Häuser und Städte, sie säen ihr Korn und pflanzen ihre Bäume und
tummeln sich in tausenderlei Geschäften. Aber die Schale eines Apfels
ist nur ganz dünn, und dann kommt das Fleisch, und die Schale der
Erdkugel ist auch nur ganz dünn, und drunten ist alles Glut und Feuer.
Die kleinen Menschlein aber spazieren da oben auf der Erdschale herum
und denken gar nicht daran, daß unten das Feuermeer brodelt, wie in
einer wahrhaftigen Hölle. Die dicke Schale von Stein und Sand wird es
schon da unten schön beieinander halten, denken sie. Aber die Schale hat
tausend kleine Risse und Löchlein, und da hinein läuft auch dann und
wann das Wasser des Meeres. Es rinnt durch allerlei geheimnisvolle Gänge
und Schluchten tief hinunter in die Gesteine, und plötzlich kommt es
dahin, wo das unterirdische Feuer glüht und sprüht. Da vermischt es sich
mit der heißen Höllenglut, und mit einem Male ist der Teufel losgelassen
von seiner Kette. Die Höllenglut und das Wasser vertragen sich nicht.
Das dampft und zischt und explodiert wie Millionen Granaten, wie
hunderttausend Dampfkessel, und schleudert mit wilder Wut gegen die
Erdschale. Da reißt sie entzwei, das wilde Feuer bricht aus dem Innern
hervor, schleudert Steine und Erde ringsum, und der feuerspeiende Berg
ist fertig. Aus dem Loch in der Erdschale aber fließt glühendes Gestein
als ein siedeheißer Brei immer weiter hervor, heiße Asche und Millionen
Steine schießen aus dem schrecklichen Berge, der sich über dem
Höllenloch türmt, tagelang hervor wie aus einer Kanone, und alles
ringsum wird verwüstet und vernichtet. Die Menschlein aber kriegen es
mit der Angst! Die Erdschale ist zerrissen, das wilde Feuer steigt
heraus, sie fliehen entsetzt von der grausigen Stätte.

                   *       *       *       *       *

Es war am 23. August des Jahres 79. Ein blauer Himmel lag über dem
Meere, und aus Blütengärten zog ein süßer Duft über das Land. Die weißen
Häuser der Städte Herculanum und Pompeji glänzten in der Sommersonne,
und im Hintergrunde stand der Kegel des Feuerberges, umgeben von grünen
Weingärten.

Die Menschen wanderten fröhlich durch die Straßen, saßen bei allerlei
Handwerk vor ihren Hütten, und die Kinder spielten zwischen den
steinernen Säulen der Torbogen. Am Abend, bei Sonnenuntergang, sollte in
dem großen Zirkus ein Wagenrennen sein, und die Frauen saßen in ihren
Gemächern und schmückten sich.

Als die Sonne sich hinabsenkte zum Meere, da stand über dem Berge eine
dunkle Rauchwolke, und wenn es einen Augenblick still war in den
Straßen, hörte man unter der Erde ein dumpfes Brausen und Grollen, aber
niemand achtete darauf, denn jahrhundertelang war der brennende Berg
friedlich gewesen und die Menschen hatten vergessen, daß er wie ein
Panter heimtückisch auf der Lauer lag, sie zu überfallen. Sorglos noch,
eilten sie festlich gekleidet zu dem Schauspiel, aber immer dunkler
stand über dem Berge die Wolke, immer lauter grollte es in der Tiefe,
und ganz leise zitterte der Boden unter den Füßen. Da wandten viele den
Blick zu dem Berge, und ein dunkles Ahnen kommenden Schreckens stieg auf
in den Herzen der Menschen.

Die Nacht verging noch ruhig, am nächsten Morgen aber stieg die Sonne
blutig rot auf, und unheimlich rumorte es in den Schlünden der Erde.
Über dem Berge stand eine seltsame schwarze Wolke, riesenhoch. Wie ein
Baum erhob sie sich und breitete sich in der Höhe aus gleich einem
breiten Blätterdach. Immer weiter und weiter schwebte ihre Masse, sie
verdunkelte die Sonne, machte den Tag zur Nacht, und ungeheure
Aschenregen senkten sich aus ihr hernieder. Dumpf grollte der Donner vom
Berge her, grelle Blitze zuckten durch die zunehmende Finsternis. In der
Ferne aber lag im Sonnenschein das Meer und die Küste, und in den
Ortschaften dort standen die Menschen und sahen entsetzt nach dem
furchtbaren Berge und betrauerten die Menschen, die an seinem Fuße
wohnten.

Zur Mittagszeit ringelten sich plötzlich glühende Schlangen aus dem
Rachen des Berges hervor, flossen in die Weingärten, verbrannten alles
ringsum, zerstörten die Wohnungen der Menschen. Da liefen die Bewohner
von Herculanum und Pompeji wehklagend durch die Gassen, eilten mit ihrer
Habe fort aus der Stadt, weiter hinaus in die Ebene. Aber ein neues
Unheil kam vom Feuerberge! Aus seinem Innern schoß ein unendlicher Hagel
von glühenden Steinen, stundenlang, tagelang, der erschlug Hunderte der
Fliehenden, und die Landstraßen und Felder waren bedeckt mit Männern,
Weibern und Kindern, die in der tiefen Finsternis mitten im hellen Tag
untergingen. In Todesangst eilten die andern weiter, umwallt von der
sinkenden Asche, umrauscht vom Steinhagel, umzuckt von den Blitzen aus
der Höhe. Der Donner rollte. Aus dem Erdboden, der da und dort barst,
stiegen giftige Schwefeldämpfe auf, dunkelrot glühend krochen die
Schlangen des Feuerbreies, der dem Berge entquoll, immer weiter hinein
in die Ebene. Jeder dachte nur an die eigene Rettung. Der Freund verließ
den Freund, schreiend wälzte sich der Strom der Fliehenden dahin.

Mit Schiffen wollte man vom Meere her den Bedrohten Rettung bringen,
aber der Steinregen vertrieb die Seeleute, und einige, die gelandet,
erstickten in den giftigen Dämpfen, die dem Boden entstiegen.

Viele von den Einwohnern der unglücklichen Städte waren in den Häusern
zurückgeblieben. Sie fürchteten in dem Steinregen umzukommen und
verkrochen sich in ihren Gemächern vor dem dichten Staub, der die Luft
erfüllte. Da harrten sie der Stunde der Erlösung von all den Übeln. Aber
drei Tage und drei Nächte wütete der schreckliche Berg. Immer dichter
fiel der Staub, immer höher türmten sich die Steine. Die Häuser
versanken darin, die Menschen wurden begraben in der heißen Asche, und
jeder Laut erstarb.

Fern auf den Höhen aber standen die Bewohner glücklicherer Orte und
sahen Herculanum und Pompeji untergehen.

Als am vierten Tage der Himmel sich wieder ein wenig geklärt, das
unterirdische Rollen nachgelassen, die Sonne wieder ein wenig die noch
immer mit Asche gefüllte Luft durchdrang, wagten sich mutige Männer
heran an die Stätten des Grauens, aber keine Spur mehr fanden sie von
den Ortschaften, die hier gestanden. Bis an den Knien versanken sie in
der heißen Asche, Herculanum und Pompeji waren vom Erdboden
verschwunden, versunken im Aschenmeer, und in der Ferne ragte der
Feuerberg düster und drohend aus der stauberfüllten Luft.

Da wandten sie sich verstört und traurig um und verließen das weite
Aschenfeld, auf dem vor wenig Tagen noch zwei reiche Städte gestanden.»




                           Der Wassertropfen


«Kinder,» sagte der Doktor Ulebuhle, «heut will ich euch die
Lebensgeschichte eines winzigen kleinen Tropfens erzählen, den ihr alle
kennt und der euch schon überall in der Welt angenehm und unangenehm
begegnet ist, und dieser kleine Wicht ist der _Wassertropfen_!»

«Ulebuhle, das wird aber nur eine kurze Geschichte werden, denn so ein
Wassertropfen ist eins, zwei, drei hin und beim Teufel, und dann ist die
Geschichte aus!»

«Schnedderengteng, ihr Naseweise und Galgenvögel!» schnob der Alte los
und putzte sich mit seinem großen, buntgeblümten Taschentuch die
Hornbrille. «Erst einmal abwarten! Und wem's nicht paßt, der drückt
sich. So ein Wassertropfen hat mehr erlebt als ihr, und ist vor allen
Dingen nützlicher und alten Leuten weniger ärgerlich.»

Da saßen wir Kinder denn schnell nieder, schluckten unseren Tee und
hackten mit dem Sägewerk unserer Zähne gewaltige Stücke aus dem Kuchen
der alten Christine, denn der war allemal gut und voller Rosinen.

«Seht,» hub der alte Ulebuhle an, «da saß ein kleines Mädchen im Garten
auf der Rasenbank unter dem Holunderbusch, und eine Träne rann ihm über
die Wange. Des Mädchens Mutter war zu Grabe getragen worden, und das ist
der traurigste Augenblick im Leben eines Menschen, denn Leute gibt es
viele auf der Welt, aber nur _eine_ Mutter. -- Die Träne funkelte wie
ein Diamant auf der Wange des Mädchens, denn die liebe warme Julisonne
spiegelte sich in ihr. Das war die Geburtsstunde unseres
Wassertröpfchens, denn eine _Träne_ ist ja nichts anderes als ein
Wassertropfen edelster Art; der Schmerz ist seine Mutter.

Aber unser Wassertröpfchen selbst war gar nicht traurig. Dem kleinen
Wicht gefiel es ganz gut auf der Welt. Er saß da schön weich und warm
und liebäugelte mit der Frau Sonne, die hoch oben im Blauen stand, als
unentgeltliche Zentralheizung im großen Weltgebäude. Da hinauf zu der
hellen Lampe möchte ich auch einmal, dachte das Tröpfchen, und es war,
als ob es die Sehnsucht nach der Sonne verzehrte, denn es wurde immer
kleiner und kleiner, und schließlich ward es ganz unsichtbar für ein
menschliches Auge.

Nun denkt ihr sicher, die Geschichte ist aus, denn der Tropfen ist fort,
wie wir es gleich anfangs gesagt haben, und der alte Ulebuhle ist zu
Ende mit seinem Latein. Aber da irrt ihr sehr, ihr Grünspechte, denn
jetzt fängt meine Geschichte eigentlich erst richtig an. Glaubt nur ja
nicht, daß der Wassertropfen nun nicht mehr vorhanden war, weil man ihn
nicht mehr _sehen_ konnte. Es geht überhaupt nichts verloren in der
Welt, denn das wäre eine schöne Türkenwirtschaft. _Alles bleibt
bestehen, nur die Form ändert sich._

Unser Tröpfchen hatte sich in der Sonnenwärme in lauter winzige
Wasserbläschen aufgelöst, die so ähnlich beschaffen waren wie eine
Seifenblase, nur unendlich winziger. Da schwebten sie nun hin in der
lauen Luft, und der Wind trieb sie langsam vor sich her. So kamen sie
schließlich über eine große Heide, wo dünne Kiefern im heißen Sande
standen. Der Sand war so warm, daß er die Luft erhitzte, und wie die
heiße Luft im Zimmer emporsteigt, zur Decke, so auch hier. Der Luftstrom
strebte aufwärts, immer höher und höher, und nahm die Bläschen unsres
Wassertropfens mit sich, hoch hinauf in den blauen Äther. Ein Flieger
sauste schnurrend vorüber und hätte beinahe die Teilchen des Tropfens
auseinander gewirbelt, und dann wäre es um ihn geschehen gewesen, aber
es ging noch einmal gut ab.

Da oben war es empfindlich kalt, und wie die Wärme die Teilchen des
Tropfens auseinandergezogen hatte, so _verdichtete_ sie die Kälte
wieder, und mit vielen tausend Millionen anderen zusammen bildeten die
Wasserteilchen eine _Wolke_. Weit da drunten lag die Erde, mit winzigen
Dörfchen, und das kleine Mädchen, das hinaufsah zu der weißen Wolke, die
da in der Höhe wie ein Schiff hinsegelte, dachte gewiß nicht daran, daß
in ihr der Wassertropfen schwebte, der als Träne aus ihrem Auge
geflossen war. Seht, so geht es oft im Leben, daß wir an einem guten
alten Bekannten vorbeigehen und ihn nicht erkennen, weil er alt und grau
geworden ist und einen anderen Rock an hat als damals, als wir mit ihm
gut Freund waren!

Der Wassertropfen segelte in der Wolke weit über Länder und Meere und
dachte ein über das andere Mal: Wie groß ist doch die Welt und wo
überall wohnen doch Menschen! -- Als der Abend kam, da war die Wolke
drunten im Süden, über dem Mittelländischen Meere, und in der Ferne
blinkten die Lichter der italienischen Küste. Aus dem Meere aber stieg
immer mehr Feuchtigkeit empor zu den Wolken, so daß die Luft das viele
Wasser nicht mehr tragen konnte, denn es war nach Sonnenuntergang sehr
kühl geworden, und die Wasserteilchen hatten sich immer mehr
zusammengeballt, bis es wieder Tropfen wurden. Da beschloß denn die
Luft, die ganze Gesellschaft einfach abzuschütteln. Der Wind brauste
daher, und mit Millionen anderen fiel unser Wassertropfen aus der Wolke
nieder, schneller und schneller. _Er war zum Regentropfen geworden!_

Drunten rollten die grünlichen Wellen des Meeres. Ein großer Dampfer mit
roten, grünen und weißen Lichtern rauschte in voller Fahrt daher und
warf mächtige, weißschäumende Strudel mit seiner Schiffsschraube auf.
Die Steuerleute standen auf ihrem Posten und spähten scharf hinaus in
das Dunkel. Ganz in der Ferne sah man ein helles Licht, das abwechselnd
aufblitzte und wieder verschwand; das war der Leuchtturm der
Hafeneinfahrt von Neapel. »Wir müßten schon lange im Hafen sein,« sagten
die Steuerleute, »und nun fängt es auch noch an zu regnen!« Und dann
schimpften sie über Wind und Wetter, denn es ist kein Vergnügen für
einen Seemann, in Sturm und Regen auf dem Posten zu sein.

Klatsch! Da lag unser Regentropfen plötzlich im Meer und hatte seine
Reise von der Wolke zur Erde vollendet. Das ist doch endlich wieder
etwas Reelles, dachte er. So als Luftikus in den Wolken zu schweben ist
eine gefährliche Sache, denn man kann nie wissen, wo man hinfällt,
wenn's abwärts geht. Aber so im Ozean zu schwimmen, wo man eigentlich
hingehört von Rechts wegen, das ist eine sichere Sache. Aber o weh, es
kam ganz anders! Er war noch nicht eine Minute im Meer, da brauste mit
voller Fahrt der Dampfer daher, und man hörte das taktfeste Stampfen
seiner Maschinen. Und so eine große Schiffsdampfmaschine ist ein
gefräßiges Ungeheuer, das gierig Kohlen und Wasser verzehrt, um den
Dampf zu erzeugen, der die Schiffsschrauben in Bewegung erhält, die den
Dampfer vorwärts treiben. Da war eine Saugpumpe seitwärts am Schiff, und
die saugte grade in dem Augenblick, als unser Wassertropfen an ihr
vorbeiglitt, mit breitem Maul neues Wasser in den Schiffskessel, um das
verbrauchte zu ersetzen.

Das Tröpfchen fühlte sich plötzlich ergriffen, in einem rasenden Strudel
fortgerissen und langte wenige Sekunden später _im Schiffskessel_ an.
Herr Gott, war das eine schreckliche Geschichte! In diesem eisernen
Ungetüm war eine Siedehitze, denn gewaltige Feuergluten durchströmten
die Kesselröhren, um das Wasser in Dampf zu verwandeln. Dem Tröpfchen
wurde weh und übel; es wurde von der Hitze gezwickt und gezwackt und
auseinandergezerrt, und schließlich war es wieder in seine Teile
aufgelöst, war _Wasserdampf_ geworden, der unter ungeheurem Druck
wallend und zischend in ein enges Rohr hineingepreßt wurde. Es geht ans
Leben, dachte das Tröpfchen, das eigentlich keines mehr war, jetzt ist
es aus mit mir, das kann kein Teufel überstehen, und ich bin ein
verlorener Mann! Auf einmal tat sich eine winzige Öffnung vor ihm auf,
die führte in den Zylinder der Dampfmaschine. Mit ungeheurer Gewalt
schoß der Dampf da hinein und drückte, voll Wut über die schlechte
Behandlung, die ihm im Kessel widerfahren, gegen den dickschädligen
Kolben, der ihm den Weg versperrte. Dieser wich verblüfft zurück, schob
die Kolbenstange vor sich her, und die gab den Stoß wieder weiter an die
riesige Kurbel, die die Schiffsschraube drehte und das Schiff vorwärts
trieb.

Weiter aber wollte man auch gar nichts von den Wassertropfen, die das
vollbracht! Der Dampf entwich durch eine Öffnung, da war es wieder kühl,
und die Bläschen schlossen sich wieder eng aneinander und bildeten
Tropfen. So kam denn auch unser kleiner Wicht wieder aus der Hölle
heraus und rann durch einen Wasserhahn ins Meer.

Seht, Kinder,» sagte der alte Ulebuhle, «so ist das nun in der Welt!
Wenn einer arbeiten soll, dann geht das nicht ohne Plackereien ab, und
man hat seinen Ärger dabei, aber wenn's vorüber ist, dann sieht man
doch, daß man was Nützliches getan hat, und das ist auch was wert, und
der Mann im Arbeitskittel ist allemal mehr wert als der Nichtstuer, und
wenn sein Rock noch so verbrämt ist!

Es ist doch nicht zu sagen, was man alles erlebt, dachte das Tröpfchen.
Hätte ich wohl je geglaubt, als ich im Sonnenschein auf der Wange des
kleinen Mädchens schwebte, daß ich noch einmal helfen würde, einen
Dampfer nach Neapel zu treiben?! Es geht schnurrig zu in der Welt.

So schwamm denn das Tröpflein mit den _Wellen_ dahin und erholte sich
von den ausgestandenen Schrecken, denn es war ganz vergnüglich, so an
den sonnigen Küsten des Südens, mit ihren Orangen- und Olivenhainen,
dahinzutrollen und den Italienern und Spaniern beim Singen ihrer
Nationallieder zu lauschen. Um die Mittagszeit brannte die Sonne aber
derart auf die See nieder, daß viel Wasser _verdunstete_ und als feiner
bläulicher Schleier träge über Meer und Küste lag. Die Leute, die
draußen auf den Feldern und in den Gärten arbeiteten, bekamen rote
Köpfe; fortwährend wischten sie den Schweiß von der Stirne und sagten
ein über das andere Mal: »Puh, wie ist es schwül!«

Auch unser Wicht schwebte wieder mit in dem warmen Dunst, und es war
recht langweilig, denn auch der Wind schlief, und so blieb die ganze
Gesellschaft immer an derselben Stelle, in öder Eintönigkeit. Erst gegen
Abend erwachte der Wind, und langsam trieb er den Wasserdampf vom Meere
hinweg, hinüber zur afrikanischen Küste. Hier war der weiße Sand von der
Sonnenglut erhitzt wie eine Ofenplatte, und die Hitze trieb den blauen
Dunst empor wie einen Luftballon, bis er hoch im Blauen schwebte. Hier
aber war es eisig kalt, und aus den Wasserteilchen schuf der Frost
winzige spitze Eisnadelchen, bis eine ganze _Wolke von Eisnadeln_
entstanden war. Das geschah in sehr großer Höhe, wohl zehntausend Meter
über der Erde, und nur die allerhöchsten Wolken schweben so fern vom
Erdboden, wo kein Flieger und kein Luftschiff mehr hinaufsteigt. Es
waren aber auch ganz besondere Wolken. Die Leute, die sie von der Erde
aus sahen, sagten erfreut: »Ei seht, was für seltsame Wolkenfederchen da
oben hinziehen. Es sieht aus, als habe der alte Petrus seine Bettdecke
ausgeschüttelt!«

Der scharfe Wind trieb die Eisnadelwolken nach Norden, bis sie über
hohen, schneebedeckten Bergen standen, und das waren die _Alpen_. Tief
drunten waren wunderschöne grüne Wiesen, auf denen bei den Almhütten
Kühe weideten, und noch tiefer niedliche Dörfchen. Droben aber
glitzerten die Gipfel von Eis und Schnee, und es war ganz einsam und
still.

Langsam senkte sich die Wolke infolge ihrer eigenen Schwere immer
tiefer, und die winzigen Eisnadeln drängten sich aneinander und wurden
zu wundervollen Sternchen, so schön, wie sie der größte Künstler nicht
zierlicher hätte herstellen können, und dann fielen sie langsam, langsam
zur Erde nieder: _Es schneite!_

So war aus unserem Wassertropfen ein kunstvolles Wunderwerkchen
geworden, ein _Schneesternchen_, und das hatte der Künstler Frost
geschaffen, ohne alle Werkzeuge, und zu Millionen in einer einzigen
Minute! Das Sternchen wirbelte nieder, andere gesellten sich unterwegs
zu ihm, legten sich daneben, darauf und darunter, und so entstand eine
Schnee_flocke_, und mitten darinnen hauste unser winziger Wicht.

Die Schneeflocke fiel hoch oben in den Bergen zu Boden, und da lag sie
mit Milliarden zusammen, und Milliarden neue kamen hinzu und legten sich
darüber. Da lag nun die ganze feuchte Gesellschaft, und es war eine
höchst langweilige Geschichte, denn es war da oben öde und kalt, und man
war gefangen. Das Wassertröpfchen seufzte sehr und dachte darüber nach,
wie schön es doch war, da oben im Blauen umherzusegeln, und wie warm die
Sonne da drunten an den Gestaden des Mittelmeeres gewärmt hatte, wo
lustige Menschen in bunten Gewändern lustige Lieder sangen, und wie
wechselreich doch überhaupt das Leben war.

Aber nichts ist ewig, und alles nimmt einmal ein Ende! Eines Tages, als
das zu Eis erstarrte Wichtlein da oben in den Bergen monatelang gelegen
hatte, kam der Frühling ins Land gezogen, und vor ihm her zog mit
brausenden Liedern sein Herold, der Tauwind. Der kam auch in die Berge
und machte die Schneemassen weich und schmiegsam. Sie kamen langsam ins
Rutschen und wurden nur noch durch eine schräge Gesteinsplatte
notdürftig festgehalten, aber das Tröpfchen sah ein, daß sie da wohl
nicht lange würden hängen bleiben, und daß die geringste Kleinigkeit
hinreichen würde, sie allesamt hinabzuschleudern in die Tiefe. Das war
eine gefährliche Sache, aber unser Wicht konnte nichts daran tun, sie zu
ändern, denn er war einfach in der Masse gefangen.

Unten im Tal lag ein Dörfchen mit niedlichen Tiroler Häuschen und
freundlichen biederen Leuten darin. Zuweilen, wenn der Frühlingswind so
recht übermütig durch die Gassen pfiff, nahmen die Bauern die Pfeife aus
dem Munde, guckten bedächtig herauf zu den Berghängen droben, und
sagten: »No, jetzt muß ma fein Obacht gebn. Dös is die Zeit, wo die
Lähn[1] zu Tal kimmen!«

Eines Tages, als wieder neuer Schnee gefallen war und die Luft besonders
still und warm erschien, zog der Schmölzler-Seppl seine langen Stiefel
an und stieg hinauf zur kleinen Sennhütte auf den Bergwiesen. Und wie er
so dahinstapfte und bald oben war, da sauste es plötzlich hoch droben
gar sonderbar, und eh der Seppl noch recht zur Besinnung kam, da brauste
eine ungeheure weiße Masse auf ihn zu: _eine Lähn oder Lawine!_ Wäre der
Schmölzler-Seppl grade mitten davor gewesen, so war's um ihn geschehen,
so aber war er etwas seitwärts. Die riesigen Schneemassen warfen den
guten Seppl um, drehten ihn siebenmal umeinand, so daß seine Arme und
Beine wie Windmühlenflügel umherwirbelten, und dann war er plötzlich
mitten in der zu Tal sausenden Schneekugel eingebacken wie eine
Speckgriebe in einem Kartoffelknödel. Da rollte er denn schneller, als
er hinaufgekommen war, mitten in der weichen Masse wieder hinab ins
Dorf. Sie prallte gegen einen Heuschober und zerfiel, und die
erschreckten Leut, die angsterfüllt aus ihren Häuschen herausgestürzt
waren, sahen, wie sich der gute Schmölzler aus dem weichen Grab, das ihn
nur wenige Minuten beherbergt hatte, herausarbeitete und humpelnd und
fluchend in der Lawinenkugel seine Pfeife suchte.

Die Hauptmasse der Lawine aber hatte Gott sei Dank das Dorf seitwärts
liegen lassen. Fauchend und krachend, riesige Bäume wie Zündhölzer
abknickend, kam sie angestürmt, und ein heftiger Sturmwind ging ihr
voraus. Sie verwüstete einen großen Teil des Waldes, schlug eine große
Scheune wie eine Zigarrenkiste zusammen, und dann kamen ihre Massen
endlich an einer Berglehne, wo ein Bach floß, zum Halten. Da waren denn
die guten Tiroler Leut von Herzen froh, denn vor ein paar Jahren erst
hatte eine solche Lawine den ganzen Ort begraben und Menschen und Vieh,
Häuser und Scheunen vernichtet.

Aber wie war die Masse dort oben ins Rollen gekommen? O, sehr einfach!
Ein Raubvogel hatte sich nur einen Augenblick ganz hoch oben
niedergelassen, und als er wieder abstrich, da rollten unter seinen
Krallen lose Eisstückchen bergab, um die sich der weiche Schnee
herumrollte zu einem Ball, der immer größer und größer wurde, und als
der Ball dann die mächtige überhängende Schneeschicht erreichte, in der
unser Wassertropfen gefangen lag, da riß er sie mit sich, und nun wuchs
und wuchs die Masse ins Ungeheure und stürzte als Lawine donnernd zu
Tal.

Unser Wicht hatte natürlich von all dem nichts gesehen, und es dauerte
lange, ehe er aus seinem Gefängnis befreit wurde. Erst als die Sonne Tag
um Tag immer länger und wärmer schien, taute die Schneemasse hinweg, und
endlich kam auch des Wichtes Befreiungsstunde! Da war wieder der blaue
Himmel über ihm, und die liebe Sonne streichelte den erfrorenen Gesellen
mit ihren Strahlenfingern. Da taute sein Herz auf, er wurde wieder der
Wassertropfen und rann in den unter ihm murmelnden Bach, der frisch und
klar dahinfloß.

Das war fürwahr ein lustigeres Leben, als so still und gebunden im Eise
zu stecken! Das Bächlein hüpfte von Stein zu Stein, durchfloß das Dorf,
kam durch saftige Wiesen und dann in einen lieblichen Talgrund. Da war
es ganz reizend, und eine Wassermühle klapperte zwischen grünenden
Buchen. Der alte Müller hatte eine weiße Mütze auf und nagelte hinter
dem Hause an einer Schiebkarre, vorn aber, am Mühlenwehr, stand sein
Gesell und seine Tochter, und die beiden hatten sich so viel schöne
Dinge zu sagen, daß sie Gott und die Welt und die Mühle drüber vergaßen.
Das Wassertröpfchen floß durch die dicke Holzrinne, die zum Mühlrad
führte, stürzte rauschend in dessen breite, mit Moos bewachsene
Speichen, so daß es sich knarrend drehte und drinnen die Mahlsteine die
Weizenkörner knirschend zu Mehl zerrieben, und lief dann unten wieder
hurtig im Bach davon. Es konnte grade noch sehen, wie der Müllerbursch
die schmucke Dirn fest an seine rotsamtene Weste drückte, und wollte
gern zuschauen, wie die Geschichte weiter gehen würde, aber da bekam ihn
ein Strudel beim Schopf zu fassen und wirbelte ihn hinweg. -- So geht es
immer in der Welt! Wenn es anfängt interessant zu werden, müssen wir von
dannen, und die Geschichten haben dann keinen Schluß!

Der Tropfen rann noch manchen guten Kilometer im Bach dahin, dann aber
wurde der dünner und dünner, denn er lief über brüchiges Gestein hinweg,
und das Wasser sickerte durch tausend Ritzen hinab in den Erdboden. Da
war es stockdunkle Nacht und wenig interessant. Die Tropfen wanden sich
mühsam durch tausend feine Kanäle und Löcher und sanken tiefer und
tiefer in die Felsenmassen. Allerlei Gestein durchrieselten sie, kamen
an Eisenlagern und Silberadern vorüber und lösten allerlei Salze auf,
die da im Schoß der Berge ruhten. Schließlich aber traten all die
versickerten Tröpfchen als Quelle wieder ans Tageslicht. Kühl und klar
war das Wasser, und es schmeckte ein wenig nach den Salzen, die es
gelöst, weshalb die Ärzte meinten, es sei gut für die Leute, die sich
ein zu rundes Bäuchlein angemästet hätten.

Da, wo die Quelle aus dem Gebirge austrat, war eine schöne Stadt, und
der Magistrat dieser Stadt hatte deshalb die Quelle auffangen lassen und
leitete das Wasser durch viele tausend Röhren in alle Häuser. So kam
denn auch unser Tropfen, kaum daß er das Tageslicht wieder gesehen
hatte, abermals ins Dunkle und durchsauste all die Eisenröhren, bis er
schließlich in einem großen Hause vor einem blanken Messinghahn stehen
blieb, der hier wie ein Portier auf Posten stand und niemand durchließ.
Dieses große Haus war aber eine Universität, und da war es wie in einer
Schule. Es waren viele Zimmer darinnen, mit Bänken, und davor stand ein
Pult, und bei dem Pult war eine große schwarze Tafel, auf der die Lehrer
lauter gelehrte Dinge aufschrieben. Diese Lehrer aber hießen Professoren
und mußten ohne Rohrstock lehren, denn ihre Schüler waren junge Herren,
von denen manche schon einen stattlichen Schnurrbart hatten. Sie trugen
bunte Mützen und hießen Studenten, und darauf waren sie sehr stolz.

In einer dieser Lehrstuben ging es ganz besonders gelehrt zu. Da stand
ein berühmter Professor an seinem Pult. Er war so gelehrt, daß die
Gedanken, die aus seinem Kopfe gekommen waren, im Laufe der Jahre
sämtliche Haare mitgenommen hatten, aber das war für den Professor ein
Glück, denn wenn er weniger kahlköpfig gewesen wäre, hätten ihn die
Leute für weit weniger gelehrt gehalten. Und dieser Professor hielt eine
Rede und sagte:

»Meine Herren! Alle Menschen brauchen vom ersten bis zum letzten Tage
ihres Lebens Wasser, aber die wenigsten wissen, woraus das Wasser
eigentlich besteht. Vor hundertfünfzig Jahren wußte es überhaupt noch
kein Mensch, aber damals haben es ein paar englische Gelehrte
herausbekommen. _Das Wasser besteht aus zwei unsichtbaren luftigen
Körpern, oder wie die Gelehrten sagen, aus zwei Gasen, nämlich aus
Wasserstoff und aus Sauerstoff._ Beide allein sind so unsichtbar wie die
Luft, die wir einatmen, aber wenn man sie miteinander vereinigt, dann
entsteht Wasser. Damit Sie mir das auch glauben, will ich hier vor Ihren
Augen das Wasser in seine beiden Luftarten auflösen, und nachher will
ich aus den beiden Luftarten wieder Wasser machen.«

Der Professor winkte seinem Gehilfen, und der ging an den Hahn der
Wasserleitung und ließ das Wasser in ein seltsam geformtes Gefäß
hineinlaufen. So kam denn auch unser Wassertröpfchen mit hinein in die
gelehrte Versammlung. Es war sehr stolz darauf, denn es ist immer eine
Ehre, der Wissenschaft zu dienen, aber bald wurde ihm schlimm und weh
zumute, so ähnlich wie damals, als es im Dampfkessel des Schiffes
gewaltsam in seine Bestandteile zerrissen wurde. Der Professor steckte
nämlich zwei Drähte in das Gefäß und schickte durch diese einen
elektrischen Strom, und da wurde die Sache sehr unangenehm. _Der
elektrische Strom zersetzte das Wasser_, so daß an den beiden Drähten
unablässig Gasblasen aufstiegen, am einen Draht Wasserstoff und am
anderen _Sauerstoff_. So wurde unser Tröpfchen ein Opfer der
Wissenschaft. Es wurde gewissermaßen auf elektrischem Wege hingerichtet,
wie die Mörder in Amerika. Es hätte gern geweint, da es aber nur aus
_einer_ Träne bestand, so wäre es Selbstmord gewesen. So sehr sich der
Wicht auch zu verkriechen suchte, wie die Buben im Wartezimmer des
Zahnarztes, endlich war auch die Reihe an ihm, und er verwandelte sich
in zwei Gase, die emporstiegen in dem Glasgefäß. Schließlich aber war
alles zu Ende. Es war keine Spur Wasser mehr in dem Glase zu sehen, es
hatte sich in Wasserstoff und Sauerstoff verwandelt, die unsichtbar da
oben schwebten.

Aber was ein richtiger Gelehrter ist, der macht nichts halb, und so ging
denn auch unser Professor daran, aus den beiden Gasen wieder Wasser
herzustellen. Er ließ die beiden Gase zusammenströmen im Glasgefäß, und
dann sandte er mit Hilfe einer Elektrisiermaschine starke elektrische
Funken hindurch. Da verbanden sich die Gase wieder zu Wassertropfen und
rannen zu Boden.

Die Zuschauer fanden das sehr nett, und sie gaben ihren lebhaften
Beifall kund, indem sie gewaltig mit den Füßen trampelten. Der gelehrte
Professor aber machte eine kleine Verbeugung und schritt erhobenen
Hauptes von dannen.

Das Tröpflein lag nachdenklich im Glase. Es war gestorben und wieder
auferstanden, und sein innerstes Wesen war ihm hier enthüllt worden,
denn woraus es eigentlich bestand, darüber hatte es bisher noch niemals
nachgedacht. Aber lange Zeit zum Überlegen hatte es nicht, denn die
Stunde war aus, und alle verließen den Saal. Da kam denn auch der Diener
und goß das Wasser in das Leitungsbecken, und da rollte es wieder durch
viele Röhren und kam endlich außerhalb der Stadt wieder zum Vorschein,
floß in einem breiten Graben dahin, der durch Wiesen ging, und endlich
endete ein Teil des Wassers in einem _Dorfpfuhl_, mitten zwischen Gärten
und Feldern und Scheunen.

Hier riecht es wenig vornehm, dachte das Tröpflein, und ein furchtbares
Lumpengesindel treibt sich herum. Da schwamm eine leere Medizinflasche
einher, ein paar Weinkorke, die sehr aufgeblasen taten, dann trieb ein
zerrissener Kinderschuh vorüber, Seiten aus einem Lesebuch, und
Strohhalme und dürre Blätter. Ratten liefen am Rande hin, und ein paar
Enten schnatterten umher. Am schlimmsten aber waren die vielen winzigen
Tierchen, die da im Wasser umherwirbelten und so klein waren, daß
Hunderte in einem einzigen Tropfen herumschwimmen konnten. Zwei Buben
kamen daher, die waren auf einer Landpartie, und da es heiß war, füllten
sie hier ihre Flaschen, und tranken von dem Wasser. Wenn sie gewußt
hätten, was alles für Gesindel darin umherwirbelte, hätten sie es wohl
gelassen, wie es ihnen ihr Lehrer schon oft geraten. Aber Buben sind
allemal Taugenichtse und wissen alles besser!

Das war kein schönes Leben hier für unseren Wicht. »Da sieht man,« sagte
er zu sich selbst, »wie man herunterkommen kann, ohne eigene Schuld! Vor
wenig Stunden noch in einer gelehrten Gesellschaft auf der Universität,
und nun unter diesem Lumpengesindel, das aus allen schmutzigen Gossen
zusammengelaufen ist. Pfui Deubel!«

Aber auch das nahm ein Ende, denn der Reinliche und Anständige kommt
doch schließlich immer wieder auf die Beine, wenn er auch mal Unglück
haben kann. Da kam eines schönen Morgens der Weinbauer Jochen daher, mit
seiner großen Wassertonne, die der Braune mit Hüh und Hott langsam ins
Dorf zog. Am Teich machten sie halt, und ein Eimer von dem trüben Wasser
nach dem anderen wanderte in die Tonne, bis sie voll war. Und dann
trabte Bauer Jochen mit seinem Braunen wieder mit Hüh und Hott von
dannen, hinaus zu den Weinpflanzungen. Da goß der Jochen das Wasser
zwischen die Weinstöcke, und es sickerte in den Boden zwischen all dem
Wurzelwerk, das von der Hitze ganz ausgedörrt war.

_Da drang unser Tropfen durch die feinen Poren der Weinstockwurzeln
langsam hoch empor in den Stamm_, in die feinen Stiele, und endlich in
die noch winzigen grünen Weinbeeren, durch die das helle Sonnenlicht
hindurchschien. Da drinnen aber war es ganz merkwürdig. Wie in einer
chemischen Fabrik. Das Sonnenlicht und die Sonnenwärme zersetzten das
Wasser und die Stoffe, die es aus dem Erdboden mit heraufgebracht hatte,
und ganz feine Ströme von Säften zogen hin und her und lösten endlich
auch unseren Tropfen mit auf, _so daß er Weinsaft wurde_.

Und dann kam der Herbst! Da wurden die Blätter bunt, und überall wehten
Fahnen, und geputzte Burschen und Mädel zogen in die Weinberge, und die
Musikanten spielten einen lustigen Ländler nach dem anderen, denn es war
Weinernte, und in ungeheuren Massen wanderten die vollen, süßen, reifen
Trauben hinab von den sonnigen Höhen zu den Pressen, wo ihnen der Saft
entzogen wurde, um in die Weinbottiche zu wandern, und endlich in die
Fässer und später dann in die Flaschen.

So hatte auch unser Tropfen sich unter den Zauberkräften der Sonne in
Wein verwandelt, und dann lag er lange Jahre in einer staubigen Flasche
tief unten im Keller, wo die Spinnen ihre kunstvollen Netze zogen und
die Mäuse wisperten. Dann aber hatte auch das ein Ende, denn der alte
Doktor Ulebuhle schrieb an seinen Freund, den Weinhändler drunten am
Rhein, er möchte ihm noch so ein Dutzend Flaschen senden von dem guten
alten Rheinwein, und da wurde denn auch die Flasche mit herausgenommen,
in der unser Tröpfchen so lange gefangen saß. Hier ist sie, ihr Racker,
nun seht sie euch an!»

Damit langte der Doktor Ulebuhle hinter sich auf den Tisch und stellte
eine verstaubte Weinflasche vor uns hin.

«So,» sagte er, zog schnalzend den Pfropfen aus dem grünen Flaschenhals
und goß sein Gläschen voll, «nun habe ich mir die Zunge wund und den
Gaumen trocken geredet, über den Wassertropfen und seine Abenteuer, und
nun soll er selbst mich wieder laben und meinen Durst stillen, denn hier
funkelt er golden im Glase. Wer's aber nicht glaubt, der läßt es bleiben
und trollt von dannen!»




                          Gespenster-Heinrich


Wenn wir zum alten Ulebuhle wollten, dann mußten wir durch eine stille,
dunkle Gasse, und in der lag ein uralter Klosterfriedhof mit
windschiefen Kreuzen und hohen alten Bäumen, in denen klagend der Wind
harfte. Das war denn am Abend immer so ein bißchen gruselig, wenn wir
Größeren auch so taten, als ob wir uns vor Hölle und Teufel nicht
fürchteten. Wir gingen dann immer nahe beieinander und auch merklich
schneller, denn so ganz behaglich war es uns doch nicht da in der
Dunkelheit. Einmal aber war ein kleines Mädchen hinter uns
zurückgeblieben. Und wie sie nun so dahintrappte, kam etwas Weißes über
die Kirchhofsmauer geflattert. Es war nichts weiter als ein Leinentuch,
das der Pförtnerin von der Wäscheleine geflogen war, aber es genügte, um
die kleine Urschel in Todesangst zu versetzen, weil sie glaubte, ein
Gespenst sei hinter ihr her. Da lief sie denn laut kreischend und
weinend nach und kam noch immer weinend bei der alten Christine und dem
Doktor Ulebuhle an.

Die alte Christine brachte Tee und Kuchen und tröstete unsere ängstliche
Kameradin, aber der Doktor Ulebuhle ging knurrend und brummend auf
seinen mächtigen Filzschuhen im Zimmer umher und schimpfte über das
unvernünftige »Weiberzeug« und über die Mägde und Ammen, die den Kindern
Gespenstergeschichten erzählen und sie so verängstigen, daß sie in kein
dunkles Zimmer zu gehen wagen.

«Kinder,» sagte er, «die Toten kommen nicht wieder heraus aus ihren
Gräbern, um kleine Mädchen zu erschrecken. Sie schlafen da unten im
Frieden und bewegen kein Zehenspitzchen mehr. _Gespenster gibt es
nicht_, aber es gibt allerlei Angstmeier, die an Gespenster _glauben_,
und von so einem will ich euch jetzt etwas erzählen. Er wohnte auch hier
in dieser Stadt und war Kutscher und Diener beim alten Doktor Horn. Mit
dem mußte er dann und wann über Land fahren, zu den Kranken, oder er
mußte ihnen die Medizin bringen. Aber überall sah er in der Dunkelheit
Gespenster, so daß ihn die Leute >_Gespenster-Heinrich_< nannten.

Der gute Doktor hatte seine Plage mit dem dummen Heinrich, und so oft er
ihm auch zeigte, daß all seine Gespenster ganz harmlose Dinge waren, er
fand immer neue Gespenstersorten. Von einigen seiner Schreckbilder aber
will ich euch hier erzählen, damit ihr selber nicht so töricht werdet,
an solchen Schnickschnack zu glauben!

Einmal, im Winter, war droben auf dem Steinberge der Bergwirt krank
geworden, und der Doktor Horn schickte den Heinrich mit einer Flasche
Medizin noch spät am Abend hinauf in den Tann. Anfangs war es noch ein
wenig schummrig, und der Schnee leuchtete genügend, aber langsam wurde
es dunkel. Da steckte denn der Heinrich seine große Stallaterne an und
trabte weiter, immer bergan. Das ging eine Weile ganz gut, und nichts
konnte dem Burschen beängstigend in den Weg treten. Schließlich aber kam
er aus den Tannen heraus auf eine freie Hochfläche, über der dichter
Nebel zog.

Es war bitter kalt, und Heinrich stellte einen Augenblick seine Laterne
hinter sich in den Schnee, um sich die Handschuhe anzuziehen. Wie er
eben damit fertig ist und wieder aufschaut, erschrickt er derart, daß
ihm die Haare wie Stricknadeln in die Höhe fahren! Vor ihm, nicht weit
fort, steht ein riesenhafter Kerl, ganz schwarz und körperlos, wie aus
dunkler Pappe geschnitten. Er ist gut ein Haus hoch und in dem Nebel nur
undeutlich zu sehen, aber es ist wahr und wahrhaftig keine Täuschung, er
steht leibhaftig da!

»Heiliger Gottseibeiuns!« sagt der Gespenster-Heinrich und bleibt wie
angewurzelt stehen, aus Angst, der Riesenkerl könnte eine harmlose
Bewegung als eine Drohung auffassen, und auf ihn losfahren. »Heiliger
Gottseibeiuns! Was für ein gottvermaledeiter Türkenteufel ist jetzt das
nun wieder! Da wünscht' ich doch, der Doktor Horn stände zur Stund' an
meiner Stelle, damit er endlich einmal sieht, was für ein unchristliches
Lumpenvolk sich nachts in den Wäldern und Bergen herumtreibt, denn wenn
ich's ihm morgen erzähle, dann lacht er mich wieder aus und sagt: Jochen
Päsel, wat büst du für'n Esel!«

Verstohlen guckt sich Heinrich den schwarzen Spuk vor ihm an. Der steht
vollkommen still und scheint zu warten, was der gute Heinrich beginnen
wird. Kaum hebt der aber vorsichtig ein wenig den Arm, da nimmt auch der
schwarze Kerl schon zum Angriff den seinen hoch, so daß der Heinrich
schleunigst kehrt macht, in seiner Angst gegen die hinter ihm stehende
Laterne rennt, so daß sie umfällt und verlischt, und dann saust er wie
ein Hase mit seiner Medizinflasche den Berg wieder herunter.

Am Waldrande bleibt er endlich pustend und schnappend stehen und schaut
sich um. Der Riese ist ihm nicht nachgekommen; keine Spur ist von ihm zu
sehen. -- Schwerenot, denkt der Heinrich, wenn ich nur meine Laterne
mitgenommen hätte, denn nun so durch den dunklen Tann stapfen, das ist
auch wieder nicht das rechte. Ob du noch einmal ganz vorsichtig
hinaufgehst und sie wieder aufklaubst? Der Heinrich nimmt seinen
gesamten Mut auf einen Haufen zusammen und stapft wieder ganz vorsichtig
zu der Hochfläche hinauf. Er findet seine Spur im Schnee leicht wieder,
und ... da liegt auch wirklich die Laterne noch, der elende Höllenbraten
hat sie also nicht mitgenommen, und von ihm selbst ist nichts mehr zu
sehen, nur der dicke Nebel zieht noch immer wie eine weiße Wand daher.

Der Gespenster-Heinrich zieht sein Feuerzeug hervor, um die Laterne
wieder zu entzünden. Dabei überlegt er, wie sie wieder auf ihn schimpfen
werden, wenn er unverrichteter Sache nach Hause kommt und der Bergwirt
auf dem Steinberge seine Medizin nicht zu schlucken kriegt. Ob er's wohl
noch einmal versucht? Es ist ja nur eine Viertelstunde Wegs noch, und
der Schwarze ist vielleicht inzwischen auf und davon.

Die Laterne brennt nun wieder, und der Heinrich hockt vor ihr am Boden,
um noch seine Pfeife anzuzünden. Wie er ein wenig zur Seite blickt:
»Kreuzmillionen Türkenteufel, da drüben hockt auch wieder der schwarze
Höllenspuk und ist womöglich noch größer geworden!«

Vorsichtig richtet sich unser Heinrich auf, aber der Schwarze erhebt
sich ebenfalls und wächst hinauf bis in den Himmel. Nun aber ist kein
Halten mehr. Der Gespenster-Heinrich erwischt noch schnell seine
Laterne, und dann trabt er talwärts, daß der Schnee wie Puder hinter ihm
herstiebt.

Und wie er ein Weilchen gelaufen ist, da kommt auch _vor_ ihm wieder
eine schwarze Gestalt, aber die ist Gott sei Dank kleiner. Immerhin,
heut ist es mal wieder ganz und gar zum Hinwerden, denkt der Heinrich
und bleibt wie angewurzelt stehen. Hinten ein großer Teufel, vorn ein
kleiner, das ist doch gegen alle Polizeiverordnung. Da kommt der kleine
Teufel näher und ruft: »Heinrich, bist du es, mein alter Rabe?«

Dunnerkiel, denkt Heinrich, das ist ja der Doktor! Na, Gott sei Lob und
Preis. Und so ist es wirklich. Der Bergwirt hat dem Doktor sagen lassen,
daß es ihm schlechter geht, und der brave alte Arzt hat sich darum
selber auf die Beine gemacht, um nach dem Manne zu sehn. Er denkt, der
Heinrich kommt schon wieder vom Berge zurück, und ist ganz erstaunt, als
er hört, daß er noch gar nicht oben war. Da erzählt denn der
Gespenster-Heinrich sein schreckliches Erlebnis.

»Heinrich,« sagt der Doktor, »es ist wirklich doch zum Haarausraufen mit
dir! Du wirst jeden Tag dümmer und furchtsamer. Jetzt kommst du mit mir.
Wer weiß, was du wieder gesehen hast! Einen verkrüppelten Baum oder
einen Felsen, der dir im Nebel wie ein schwarzer Riese erschienen ist.
Pass mal auf, wenn ich bei dir bin, ist der Riese fort.«

So steigen sie denn also aufwärts und kommen bald an die Stelle, wo
unser Heinrich den greulichen Spuk gesehen hat. Der Nebel ist noch immer
da, aber vom Riesen keine Spur.

»Wie war das nun?« fragt der Doktor.

»Jä,« sagt der Heinrich, »das war nu so: Also hier hatte ich meine Lampe
hingestellt, un will meine Hannschen anziehn, un wo ich nu hinkucke, da
steht der Kerl da!«

Damit stellt der Heinrich seine Laterne wieder so hin, wie sie damals
stand, und zeigt dann nach vorn, und dann kreischt er los:

»Dunnerschlag und Hagel, Härr Dukter! Da, da is er wieder, na, Deubel
ok, jetzt sinn es _zwaa_!«

Und wirklich, es ist so! _Zwei_ riesige schwarze Gestalten stehen da
vorn im Nebel. Der Doktor putzt seine Brille und schaut noch einmal hin,
und dann lacht er aus vollem Halse, daß es nur so hallt und schallt.
»Jochen Päsel, wat büst du für'n Esel!« sagt er zu dem betroffenen
Gespenster-Heinrich, »_Menschenskind, das ist ja dein eigener Schatten,
den die Laterne, die hinter dir steht, auf die Nebelwand vor dir wirft_,
und du bist also vor deinem eigenen Schatten davongelaufen! Du brauchst
ja nur die Arme zu schwenken oder mit den Beinen zu strampeln, dann
wirst du sehen, daß der schwarze Teufel da vorn dir all diese Bewegungen
nachmacht, denn er ist nichts anderes als dein Schatten, nur daß er
nicht auf den Erdboden fällt, wie er es tut, wenn dich die Sonne
bescheint, oder der Mond, oder eine Straßenlaterne, sondern daß er auf
der Nebelwand vor dir entsteht, weil deine Laterne tief unten am Boden
steht!«

Das sah denn auch der gute Heinrich ein, und still ging er mit hängenden
Ohren neben dem Doktor her, und nahm sich vor, ein andermal verständiger
zu sein.»

Doktor Ulebuhle klopfte seine Pfeife aus und stopfte sie aufs neue.
«Ja,» sagte er, «da seht ihr nun, was es mit den Gespenstern für eine
windige Sache ist! Die Erscheinung, die der Heinrich da gesehen hatte,
ist in den Bergen gar nicht selten, man nennt sie das »_Berggespenst_«
oder »_Brockengespenst_«, denn auf dem Brocken, dem höchsten Berge im
Harz, ist sie besonders häufig. Da ziehen viele Tage im Jahre dichte
Nebelschleier um die Bergkuppe, und wenn die Sonne aufgeht, dann wirft
sie unseren Schatten auf die Nebelwand, die zuweilen ein ganzes Endchen
von uns entfernt ist, wodurch dann der Schatten riesenhaft vergrößert
erscheint. Aber ihr werdet zugeben, daß das ein recht harmloses Gespenst
ist, das niemandem etwas zuleide tut und mit dem Nebel in alle Winde
zerflattert!»

«Ulebuhle,» fragte das kleine Mädchen, «hat denn der Heinrich später
noch andere Gespenster gesehen?»

«Ei freilich, Urschel! Er war ein dummer Tropf und erfand immer neuen
Spuk, als wenn er dafür bezahlt bekommen hätte! Einmal mußte er des
Abends spät über Land, um seinem Herrn allerlei winzige Instrumente zu
bringen, denn ein Kranker hatte ein böses Geschwür, und das mußte
aufgeschnitten werden. Drüben sah er das Dorf jenseits der Wiesen
liegen, und er beschloß, sich den Weg abzukürzen und quer durch Wiesen
und Felder zu wandern. Es waren aber auch große Seen in der Nähe, und an
manchen Stellen waren die Wiesen sehr sumpfig. Langsam wurde es dunkel,
und nur ganz fern in dem Dörfchen brannten ein paar Lichter, so daß sich
der Heinrich immerhin zurechtfinden konnte, wenn er auch aufpassen
mußte, nicht in den Sumpf zu geraten. Das ging eine ganze Weile gut,
aber plötzlich wurde ihm gar sonderbar zumute! _Vor ihm tanzte in der
Dunkelheit ein merkwürdiges Lichtlein, es hüpfte auf und nieder, war
bald hier, bald dort_ und kam einmal seiner Hand so nahe, daß er es
greifen konnte, und da verlöschte es.

Zugleich merkte unser Heinrich, daß er vom Wege abgekommen war und daß
unter ihm der feuchte Moorboden wabberte. Er blickte sich um und sah nun
hinter seinem Rücken da und dort einen schwachen Lichtschein. »Aha,«
meinte er, »das sind die Lichter vom Dorf, da wär ich beinahe in der
Irre umhergelaufen.«

So ging er denn auf jene Lichter zu. Aber da flackerte wieder vor ihm
das seltsame Flämmchen, das frei in der Luft tanzte, nicht weit über dem
Boden. »Tanz du nur, Höllenspuk,« sagte er, »ich gehe meines Weges, und
wenn du willst, so komm mit!«

Auf einmal war er ganz dicht bei den Lichtern, von denen er glaubte, sie
seien noch weit fort und gehörten zum Dorfe. Er sah, daß auch sie nicht
feststanden und immer vor ihm hertanzten, und als er sich nun seitwärts
wandte, da _flackerten auch dort und ringsum die hüpfenden Flämmchen_.
Dazu zischelte und wisperte es so seltsam in der Runde, als ob's im
Teekessel siedete, und der Boden wurde immer weicher und wabberte wie
Gummi. Mitunter klang es wie verhaltenes Kichern um ihn herum, und wenn
er sich in Trab setzte, um dem Spuk zu entgehen, dann wichen die
grünlichen Flämmchen vor ihm aus und verschwanden seitwärts, aber neue
tauchten vor seinen Füßen auf und schienen aus dem Boden zu kriechen.

Schließlich blieb der arme Heinrich zitternd stehen. Das Wasser ging ihm
schon dann und wann oben zu den Stiefelschäften hinein, und der
Lichterspuk nahm kein Ende. Da stand der arme Kerl nun und wußte nicht
mehr aus und ein. Er war vollkommen vom Wege ab und konnte nicht einmal
mehr feststellen, in welcher Richtung das Dorf lag, denn andere Lichter
als die hier hin und her hüpfenden grünen Flämmchen waren nirgends zu
entdecken.

»Was mag es nur für Teufelszeug sein, das hier umherwimmelt,« sagte er
zu sich selbst, »sicher sind es Geister. Ich glaube, Geister sind immer
etwas grünlich, oder es sind die Seelen Verstorbener, vielleicht in
diesem Teufelsmoor Ertrunkener. Gespenster sind es auf jeden Fall, denn
sie treiben sich hier zur Nachtzeit umher und belästigen mit ihrem
Tausendsapperlot-Getänzel und -Geflunker anständige Christenleute und
bringen sie vom richtigen Wege ab. Ich möchte wohl wissen, was mein
Herr, der Doktor Horn, nun wieder über diese vermaledeite Türkenteufelei
für Sprüchlein machen würde!«

So stand der Gespenster-Heinrich eine ganze Weile unschlüssig, denn er
wußte wirklich nicht, wie er sich aus der Klemme ziehen sollte. Zuweilen
kamen die seltsamen Flämmchen so nahe heran, daß er sie mit der Hand
erwischen konnte, und das tat er in seiner Wut auch mehrmals, aber es
geschah nichts weiter, als daß sie wie ein wesenloses Nichts zwischen
seinen Fingern verlöschten, wobei auch nicht eine Spur von Wärme zu
spüren war.

Heinrich mochte wohl eine Viertelstunde da gestanden haben, als er
plötzlich freudig die Ohren spitzte. Irgendwo, aber noch fern, klang es,
als ob ein Wagen im Sandweg dahinmahle. Gott sei Dank, er kam langsam
näher, und nach einer Weile hörte man auch, daß sich zwei Männer auf dem
Wagen unterhielten. Schließlich konnte der Gespenster-Heinrich auch in
einiger Entfernung das rötliche Licht der Wagenlaterne erkennen, und nun
lief er spornstreichs drauf zu, daß das Wasser nur immer so um ihn her
spritzte. Bald hatte er das Gefährt erreicht.

»Hallo, hallo!« schrie er.

»Hallo!« antworteten die Leute vom Wagen.

»Geht hier der Weg zum Dorf, und fahrt ihr selber hin?«

»Ei freilich! Wenn Ihr mitwollt, so kommt nur herauf!«

Da sprang der Heinrich schnell auf den Wagen und war seelenvergnügt, es
so gut getroffen zu haben.

»Ihr kamt ja aus dem Moor heraus,« sagte der eine der Bauern, »habt Ihr
Euch verlaufen? Da ist es nicht geheuer in der Dunkelheit, denn man
ersäuft, ehe man's recht selbst merkt!«

Und nun erzählte Heinrich, wie es ihm ergangen, und wie ihn die
hüpfenden Lichter vom Wege abgeführt.

»Ei der Deubel,« riefen die Bauern, »das waren die _Irrwische_. Die
haben manchen schon betrogen, die Teufelsdinger. Sie lockten ihn vom
rechten Pfade ab, führten ihn immer weiter ins Moor, und da ist er
lautlos ersoffen. Die Leute sagen, vor vielen hundert Jahren hätten
hartherzige Bauern im Dorf gewohnt, und es seien einmal in einer
Regennacht hungrige Musikanten gekommen, die hätten um Nahrung und
Obdach gebeten, und die Bauern hätten sie davongejagt. Da seien die
Musikanten in das Moor geraten und seien ertrunken, und nun tanzten ihre
Seelen da des Abends umher, um die Bauern _auch_ ins Moor zu locken und
zu verderben. -- So sagen die Leute, aber der Pfarrer und der Lehrer
meint, das sei dummes Zeug, und mit den Irrwischen ginge das ganz
natürlich zu!«

»Tausenddonner, es sind vermaledeite Gespenster und Türkenteufel, sage
ich!« schrie noch immer erbost der Heinrich, »die Polizei muß sich darum
kümmern, aber die kommt nur, wenn man mal ein Gläschen über den Durst
getrunken hat und des Nachts ein Liedchen singt auf der Gasse!«

»Ja, ja,« meinten die Bauern, »so is dat!« Aber dann riefen sie »Hüh«
und »Hott«, und die Pferde setzten sich in Trab und bogen in die
Dorfstraße ein. Der Heinrich aber hütete sich, dem Doktor sein Erlebnis
mitzuteilen, denn er wußte, daß jener ihn doch nur auslachen würde ...»

«Solche Lichter habe ich auch schon gesehen,» sagte eines der Kinder,
«aber die flogen im Sommer des Abends draußen zwischen den Bäumen herum
und waren sehr spaßig, wie lauter kleine grünliche Laternchen, nicht
größer als ein Nadelkopf.»

«Oho, das waren nicht solche Irrwische, wie sie dem Gespenster-Heinrich
begegnet sind, das waren sogenannte _Glühwürmchen_ oder
Johanniswürmchen,» antwortete Ulebuhle. «Die fliegen in warmen
Sommernächten um die Büsche oder liegen im Grase, und jeder freut sich
über diese seltsamen leuchtenden Kerle. Aber die _Irrwische_, die sind
von ganz anderer Art, und daß durch sie Leute in Sümpfe und Moore in der
Irre umhergeführt worden sind, das kann wohl vorgekommen sein, denn _nur
an solchen feuchten Stellen, wo im Boden viele Pflanzen verwesen, bilden
sich die hüpfenden Flämmchen_. Aber das geht alles natürlich zu, und es
ist nichts Gespenstisches dabei! Seht! überall da, wo etwas verwest,
bilden sich _Gase_, und die verwesenden Pflanzenmassen der Wiesenmoore
erzeugen ebenfalls solche Gase. Wenn man bei ruhigem Wetter in der
Abendstille durch ein solches Gelände schreitet, dann hört man es
merkwürdig leise wispern und zischeln, ganz so, wie es der
Gespenster-Heinrich gehört hat, aber das sind nicht irgendwelche
Geister, sondern das Singen und Zerspringen von Millionen winziger
Gasbläschen, die aus dem Boden emporsteigen. Diese Gase aber haben
zuweilen die Eigentümlichkeit, daß sie sich von selbst entzünden und in
Gestalt von kleinen Flämmchen über dem Sumpf- und Moorboden schweben.
Das sind die _Irrlichter_ oder Irrwische. -- Ihr seht, Gespenster sind
es nicht, und doch sind sie geheimnisvoll, denn die gelehrten Herren
haben noch nicht ganz sicher herausgebracht, wie sich diese Gase
entzünden, denn richtige Flammen, wie die Gasflammen in den Laternen,
sind es nicht, sondern sie leuchten nur so ähnlich wie der Phosphor an
alten Zündhölzern, in einem kalten, merkwürdigen Schein, der wie ein
leichter Nebelbausch beim leisesten Windhauch hin und her treibt, so daß
es aussieht, als hüpfe er tanzend über das Moor.

Ja Kinder, es gibt sonderbare Dinge in der Welt, und man darf es den
Leuten, die nicht viel haben zur Schule gehen können, nicht verargen,
wenn sie bei manchen Dingen an Wunder und Zauberei glauben, aber immer,
wenn man die Dinge genau ansieht und erforscht, dann zeigt es sich, daß
sie nicht wunderbarer sind als die Wolken, die am Himmel schweben, oder
als die Kornähre, die aus einem winzigen Samenkörnchen wächst. -- Der
Gespenster-Heinrich war aber darin ein schnurriger Kauz! Er blieb bei
seinem Gespensterglauben und ließ sich nicht belehren, auch als alter
Knabe, und da aller guten Dinge _drei_ sind, so will ich euch noch ein
Stücklein von ihm erzählen!

Da ging er einstmals im Spätsommer des Abends durch den dunklen Wald
zurück von Hahnenklee nach Goslar. Es war eine schöne laue Nacht, aber
es war sehr finster im Tann, und der Himmel dunkel und verhangen. Es
knackte überall so seltsam in den Zweigen, und dem guten Heinrich, dem
immer das Gruseln nahe war, kamen wieder allerlei dumme Gedanken.

Plötzlich hörte er ein erschrecktes Kreischen und einen schweren
Flügelschlag, und da sah er dicht vor sich im Tann ein seltsames Ding
stehen.

Es war gut mannshoch und leuchtete in einem seltsam gelbgrünen Licht vom
Kopf bis zu den Füßen. Der Kopf war dick und unförmig, man sah in ihm
nur ein paar dunkle mächtige Augenflecke und breite Haarbüschel fielen
bis in die Stirn. Die wehten ständig hin und her, obgleich kein bißchen
Wind im Walde ging. Auch starke Arme waren zu sehen, sie waren
kohlschwarz und weit ausgespannt, als ob sie den Heinrich beim
Vorbeischreiten festhalten wollten. Dazu miaute das unheimliche Wesen in
schrecklichster Weise. Bald wimmerte es wie ein kleines Kind, bald
stöhnte und krächzte es gottserbärmlich.

Je länger der Gespenster-Heinrich hinschaute, je stärker sah er den
greulichen Spuk leuchten in der tiefen Dunkelheit, und er blieb wie
angenagelt stehen, weil er sich nicht vorbeitraute.

Aber innerlich schimpfte er um so mehr auf diese »vermaledeite
Türkenteufelei« und das ganze »polizeiwidrige
Gespenster-Lumpengesindel«. Das Ding stand da und rührte kein Glied, nur
die Haare auf seinem Kopf sah man auf der hellen Stirn hin und her
fliegen. Die Arme aber hielt es noch immer weit ausgespannt.

Plötzlich ließ der zitternde Heinrich seinen Wanderstock fallen. Da
kreischte der Spuk vor ihm laut auf, und es rauschte etwas miauzend auf
den Gespenster-Heinrich zu. Dieser aber sah und hörte schon nichts mehr!
Er drehte kurz um und stürzte laut schreiend durch den Tann, daß ihm die
Zweige nur so das Gesicht peitschten. Erst als er weit fort war, hielt
er schnaufend inne und ging über den nächsten Holzfällerweg in einem
weiten Bogen um das Waldstück herum und kam sehr spät erst, müde und
ausgehungert daheim an.

»Diesmal,« sagte er, »will ich's aber doch dem Doktor gehörig
auseinandersetzen! Ich werde ihm sagen, was da wieder für eine elende
Himmelhöllenschwerenot im Tann gewesen ist, und daß ich meinen schönen
Krückstock eingebüßt habe, und daß ich überhaupt nicht mehr nachts
allein zu solchen Botengängen herhalten will. Da bin ich doch gespannt,
was er nun wieder für Ausreden hat für diesen neuen Spuk!«

Das tat der Heinrich denn auch, und der alte Doktor, der ihn schon
genügend kannte, und der den sonst so braven Kerl nicht noch mehr
verärgern wollte, sagte zu ihm:

»Gut, mein bester Heinrich! Heut abend werden wir zusammen den Weg gehn,
denn ich muß sowieso einmal nach dem kranken Lehrer in Hahnenklee
schauen. Wenn ich dir die Sache nicht an Ort und Stelle ganz harmlos
erklären kann, dann sollst du recht behalten und brauchst nicht wieder
nachts Medizin durch die Wälder zu tragen. Wenn du aber wieder ein
Hasenfuß gewesen bist, dann kann ich nichts weiter tun als sagen: Jochen
Päsel, wat bist du für'n Esel!«

Am Abend gingen sie denn richtig los, und sie kamen auch bald an die
Stelle, wo unser Freund gestern solche Angst ausgestanden. Da lag auch
noch unberührt auf dem Waldwege der Krückstock, und zehn Schritt davon
stand ein _abgebrochener, ganz vermorschter hoher Baumstumpf_, von dem
nur noch die Hälfte übrig war. Hinter ihm stand eine kleine Fichte, die
seitwärts ihre Arme hinter dem faulenden Stumpf hervorstreckte, und oben
auf dem morschen Stumpf wuchsen Farnkräuter, die weit herniederhingen.
An allerlei Unrat und Federn sah aber der Doktor, daß oben auf diesem
Stumpf wohl dann und wann ein Käuzchen[2] zu rasten pflegte.

Aha! sagte der Doktor bei sich, das ist das Gespenst. Zum Heinrich aber
bemerkte er lachend: »Da schau' her, mein Lieber, das ist der greuliche
Spuk, der dich genarrt. _Faules Holz leuchtet sehr häufig stark im
Dunkeln_, und wenn wir heute nacht, wenn es ganz finster sein wird,
zurückkehren, dann wirst du den Stamm auch wieder leuchten sehen. Die
Augen waren nichts als diese beiden Moosbüschel, die da wachsen, und die
Haare waren die Farnkräuter. Was du für Arme gehalten hast, sind die
beiden großen Zweige der Fichte da hinter dem Stumpf, und das Miauze und
Gewimmer kam von einem Käuzchen, das oben auf dem Stumpfe saß, und auch
die Farnkräuter, die Haare deines Gespenstes, bewegte. -- Als du deinen
Stock fallen ließest, hat sich der Vogel erschreckt, und flog kreischend
davon! -- So, das ist die ganze Geschichte!«

Der Heinrich war halb schon überzeugt, aber ein wenig mußte er sein
Gespenst doch noch verteidigen. »Es leuchtete gar zu gruselig,« bemerkte
er, »aber wenn es heute nacht wirklich ebenso flimmert an dem alten
Wurzen da, so will ich es wohl glauben, daß ich mich geirrt!«

Als der Doktor seine Geschäfte erledigt und sie zu später Stunde wieder
beim Heimweg an den morschen Stamm kamen, da schimmerte und flimmerte er
wirklich so stark, wie es auch der Doktor noch selten erlebt. »Siehst du
es nun, ungläubiger Thomas, daß ich recht hatte!« sagte er. »Brich ein
wenig ab und nimm es mit nach Hause, es leuchtet so stark, daß du nachts
die Taschenuhr bei dem Lichte ablesen kannst. -- Ich will dir auch
sagen, wie das Leuchten zustande kommt! Es gibt eine ganze Anzahl
leuchtender Bazillen und Pilze. _Faulende Fische und faulendes Fleisch
leuchten in dunklen Räumen sehr stark, besonders wenn es warm ist, denn
auf ihnen haben sich Millionen solcher leuchtenden Bazillen
angesiedelt._ In den Wäldern Südamerikas trifft man Pilze, die leuchten
gar gespenstisch aus dem Walddunkel hervor. Dieser alte Baumstamm aber
ist durchwachsen von unendlich vielen ganz winzigen _Pilzsträngen, die
das Faulen des Holzes hervorrufen und die verwesende Masse zum Leuchten
bringen_. -- Nicht wahr, das ist nicht so schwer zu begreifen, alter
Knabe, aber es wird alles nichts helfen, und du wirst immer wieder neue
Gespenster sehen. Darum aber bleibe ich dabei und sage: Jochen Päsel,
wat bist du für'n Esel!«»




                      Der Diamant und seine Brüder


Eines Tages, als wir Kinder uns vor dem Hause unseres alten Freundes
versammelt hatten, um zu ihm hinaufzugehen, entstand plötzlich ein Zank.
Da hatte sich auch der kleine Junge des Flickschusters eingefunden, der
auch einmal Märchen hören und Kuchen essen wollte. Aber seine
Holzpantoffeln und sein fadenscheiniges, geflicktes Röcklein paßten
nicht so recht zu dem Putz der anderen. Der Sohn des reichen Bergrats
wollte den kleinen armen Teufel nicht mit hinauf lassen.

«Man kann nicht wie ein Haderlump zum Doktor Ulebuhle!» rief er ein über
das andere Mal. Andere aber meinten, er solle ruhig mitkommen, und der
Kleine stand unglücklich und zögernd dabei.

Der alte Ulebuhle aber hatte oben leise ein Fenster geöffnet und den
Zank mit angehört, und plötzlich fauchte er los, so böse, wie wir ihn
selten gehört hatten.

«Ihr vermaledeiten Nichtsnutze,» krächzte er wütend, «fangt ihr auch
schon an, wie die Großen, den Menschen nach dem Preise seines Rockes zu
achten!? Samt und sonders soll euch der Teufel holen, wenn ihr das noch
einmal tut. Zu mir wenigstens kommt ihr nicht mehr ins Haus, wenn ich
wieder etwas davon erfahre. Jetzt aber kommt herauf, alle wie ihr da
seid, und des Schusters Hannes zuerst! Ich will euch ein Stücklein
aufgeigen, aus dem ihr ersehen könnt, daß der Mann im Arbeitskittel mehr
wert ist als der Stutzer und Nichtstuer im samtnen Wams. Und dann könnt
ihr nach Hause gehen und den Eurigen sagen, der alte Ulebuhle habe euch
das gelehrt, dieweil sie es offenbar versäumt hätten!»

Und dann kam die alte Christine, brachte Kuchen und Tee, und der kleine
Hannes saß dicht beim warmen Ofen und war seelenvergnügt, daß sich der
gefürchtete Alte seiner so angenommen. Der aber stopfte zunächst seine
lange Pfeife, brummte noch allerlei Unwirsches und begann schließlich
also:

«Auf dem Schreibtische eines sehr reichen Mannes, dem viele Bergwerke
und Schiffe und Fabriken gehörten, lag ein wundervoller _Diamantring_.
Der Stein, so groß wie eine Bohne, funkelte in tausend Farben, und es
war, als ob Feuer aus ihm hervorbräche. Er hatte viele Tausende
gekostet, und sein Kleid war von Gold.

Neben ihm lag ein einfacher _Bleistift_ in einem braunen Röcklein aus
Tannenholz und ruhte von der Arbeit, denn sein Herr hatte den ganzen
Vormittag Pläne und Zahlen mit ihm auf das Papier geworfen. Es war sehr
still in dem Zimmer, nur die hohe Pendeluhr sagte in vornehmer Ruhe ganz
langsam und gleichmäßig »Tick ... tack ... Tick ... tack!«

Plötzlich hörte der Bleistift, der ein wenig eingenickt war, neben sich
eine feine Stimme. Es war der Diamant.

»Es ist höchst langweilig hier,« sagte er, »unsereiner, der an glänzende
Gesellschaften und rauschende Feste gewöhnt ist, wo man so allerlei
amüsante Histörchen hört, ist hier nicht in seinem Element.«

Der einfache Mann im hölzernen Röckchen schwieg. Er war noch müde und
hätte lieber weiter geschlafen, als sich zu unterhalten.

Der Diamant ärgerte sich. Ein unhöflicher Kerl, dachte er. Ich glaube,
er weiß gar nicht, mit wem er es zu tun hat. Und dann strahlte er um so
heller und sagte geziert:

»Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Baron
Diamant. Ich stamme aus Südafrika. Meine Frau ist eine geborene Gräfin
Perle. Uralter Adel. Sie ist nahe verwandt mit dem Herrscher des
Weltmeeres Neptun.«

»Ich heiße Bleistift,« sagte der andere, »ich bin hier nur einfacher
Angestellter im Hause, mache meine Arbeit und kümmere mich sonst nicht
viel um die Leute.«

»Das muß doch furchtbar langweilig sein, so nur immer arbeiten für
andere Leute. Mein Fall wäre das nicht!«

»Langweilig ist das gar nicht!« entgegnete der Bleistift. »Meine
Tätigkeit ist sehr interessant, denn alle neuen Pläne, die mein Herr
hat, erfahre ich zuerst, und das sind Sachen, die nachher in der ganzen
Welt besprochen werden. Die Geldleute und die Zeitungsmänner warten
schon darauf, was wir wieder Neues vorhaben, und hundert Ingenieure und
Tausende von Arbeitern werden zu tun bekommen, wenn das erst alles
bekannt wird, was ich heute morgen geschrieben habe. -- Sehen Sie, da
drüben liegt mein ärgster Feind, der Herr Federhalter. Der wütet sich,
daß er diese Arbeiten nicht machen durfte, denn bei _uns_ ist eben die
Arbeit die Hauptsache, und bei _Ihnen_ das Vergnügen.«

»Jeder nach seinem Stande,« meinte hochnäsig der Baron von Diamant. »Ich
habe auch einen Feind und Neider, das ist der Herr von Rubin. Manchmal
steckt ihn mein Herr auch an den Finger, aber er ist lange nicht so
elegant wie ich, und in die ganz vornehmen Kreise wird er nicht
eingeführt, denn er funkelt nur wie ein Blutstropfen, ich aber brilliere
in allen Farben des Regenbogenlichtes, und jeder sieht auf den ersten
Blick meine hohe Herkunft und meinen enormen Wert!«

»Ja, ja, das haben Sie schon einmal gesagt,« meinte der Bleistift, »aber
eigentlich sind Sie doch zu nichts nütze, und unser Herr hätte Sie nicht
kaufen können, wenn wir hier alle nicht tüchtig gearbeitet und viel Geld
verdient hätten.«

»Gott ja, es muß auch Arbeiter geben, und wir können nicht alle vornehme
Herren sein,« entgegnete der Diamant, »aber Arbeit ist nun mal nicht für
mich. Das ist eintönig. Sie machen hier nur immer dasselbe und erleben
nichts. Ich aber bin in der großen Welt gewesen und habe das Leben
kennengelernt und weiß, wie es zugeht!«

»Erzählen Sie mal, wie es da draußen ist,« sagte der Bleistift, »so
etwas höre ich ganz gern, denn ich bin vor lauter Arbeit nicht dazu
gekommen, die Welt zu sehen!«

»Es ist eine lange Geschichte,« sagte der Baron von Diamant, »aber wenn
es Sie interessiert, dann will ich Ihnen davon berichten. Man muß auch
mal etwas für die Armen tun, wenn man ein vornehmer Herr ist. Also
passen Sie auf! -- Ich und viele meiner Brüder wurden da drunten in
Südafrika geboren. Wir lagen tief unten im Gestein verborgen, im dunklen
Schoß der Erde. Sehen Sie, was die Menschen jeden Tag finden können, das
schätzen sie nicht, aber wenn man sich rar macht, dann wird man eben als
vornehmer Mann behandelt.

Eines Tages kamen lauter schwarze Arbeiter, die hackten und schaufelten
und gruben unablässig, denn sie suchten uns. Es waren arme Neger, und
sie wurden für das Suchen bezahlt, aber behalten durften sie uns nicht,
und damit sie uns nicht heimlich in ihren Taschen verschwinden ließen,
mußten sie nackend arbeiten. Auch in Indien und in Brasilien suchen die
Menschen nach Diamanten, aber nirgends haben sie so große und prächtige
gefunden wie da unten in meiner Heimat Südafrika. Manche meiner Brüder
sind noch viel vornehmer als ich. Den größten, der überhaupt aus der
Erde herausgeholt wurde, besitzt der König von England. Er heißt
»_Cullinan_«-_Diamant_, ist so groß wie eine Kinderfaust und wiegt mehr
als ein Pfund. Sechzehn Millionen kostet er, und ein ganzes Heer von
Polizisten hat ihn nach London gebracht, damit er unterwegs nicht
gestohlen werden konnte. Der arme Neger, der ihn fand, bekam tausend
Mark und ein gesatteltes Pferd für den schönen Fund. Auch der
»_Exzelsior_«-_Diamant_ ist aus dieser Gegend. Er ist halb so groß wie
der Cullinan und hat einen Wert von zwölf Millionen Mark, aber der
berühmte _Koh-i-nor_, was soviel heißt wie »Berg des Lichtes«, mein in
der ganzen Welt bekannter Verwandter, der ebenfalls dem König von
England gehört, stammt aus Indien. Er kostet wohl acht Millionen Mark,
aber die Engländer haben ihn den Indern, die sie besiegten, abgenommen
und nichts für bezahlt. Früher war er als Auge in das Bildnis eines
Götzen eingesetzt, der in einem berühmten indischen Tempel stand, und da
wurde er geraubt, und viele Morde und Untaten sind begangen worden, um
ihn in Besitz zu bekommen. Ja, so sind die Menschen in ihrer Habgier!«

»Meinetwegen begeht man keine Bluttaten,« sagte der Bleistift. »Ich bin
doch froh, daß ich nur ein einfacher Mann bin, der seine Arbeit tut und
in Frieden leben kann. -- Aber bitte, erzählen Sie weiter!«

»Ja, es geht schnurrig zu in der großen Welt! Passen Sie auf, wie es mir
nun erging. Also eines Tages hackte neben mir eine Picke in den Boden,
und dann kam eine Schaufel, und ich wurde mit allen möglichen
Gesteinbrocken auf eine Schiebkarre geworfen. In einer großen Halle
wurde dann das Gestein genau untersucht, und da ich zufällig in einem
Eckchen der Schiebkarre liegen geblieben war, ganz unansehnlich und mit
einer dicken Schmutzkruste bedeckt, so fand man mich nicht. Ganz
nebenher bemerkte mich dann der Neger, der die Karre wieder hinausschob.
Er verbarg mich in der Achselhöhle und wollte mich behalten. Aber ein
Kamerad von ihm hatte es doch gesehen. Er sagte es jenem, und die beiden
beschlossen, zusammen zu fliehen und mich später in Kapstadt, oder gar
in Europa, zu verkaufen.

Wirklich entflohen sie bei Nacht und Nebel durch den öden
südafrikanischen Busch und durch dichte Wälder. Aber die Habgier brachte
beide ins Verderben. Als der eine schlief, erstach ihn der andere, nahm
mich an sich und floh weiter. -- Die Polizei der Diamantengruben war
aber schon hinter den beiden her, denn jedermann konnte sich denken, daß
sie nur entwichen waren, weil sie einen Diamanten von großem Wert
gestohlen hatten. So mußte denn der Mörder und Dieb auf einsamen
Waldwegen weiterziehen, um nicht gefangen zu werden und am nächsten Baum
zu enden. Schließlich verlief er sich in der wilden Einöde. Er hatte
nichts mehr zu essen, brach zusammen und verhungerte elend. Erst nach
Wochen fand man seine von der Sonne verdörrte Leiche, und in seiner
schwarzen Hand hielt er noch immer mich, seinen Raub.«

»Da können Sie aber sehen, wie wenig man doch am Ende mit Ihrer
Vornehmheit anfangen kann,« so unterbrach hier der Bleistift den
Erzähler. »Ich glaube, der Verhungernde hätte Sie in seinen letzten
Stunden gern für ein Stückchen trockenen Brotes fortgegeben!«

»Das mag wohl sein, mein Lieber!« entgegnete etwas von oben herunter der
Diamant. »Etwas so Vornehmes, wie ich es bin, ist eben nichts für einen
schmutzigen Nigger. Er hätte seine Hände davon lassen sollen. -- Aber
hören Sie weiter! Ich kam nun zu meinen rechtmäßigen Besitzern zurück,
und dann nach Amsterdam, der Hauptstadt von Holland, wo die größten und
berühmtesten Diamantenhändler und Diamantenschleifer wohnen, und da erst
wurde ich richtig zum Licht erweckt, denn _jeder Diamant ist, wenn er
aus der Erde kommt, unansehnlich wie ein gewöhnlicher Stein_. Erst wenn
er _geschliffen_ wird, kann das Licht in ihn hineindringen und er kann
es dann tausendfach funkelnd zurückwerfen. -- Ich kam dann zu einem
Goldarbeiter, der mich mit einem goldenen Gürtel umgab, und dann lag ich
in Paris im Schaufenster des berühmtesten Juweliers im Strahl der
elektrischen Lampen auf einem Kissen von blauem Samt, und alle
Vorübergehenden blieben stehen und riefen aus: »Oh, was für ein
wundervoller Edelstein!« Die Damen aber blieben lange stehen und
schauten mich mit ihren dunklen Augen sehnsüchtig an, und dann gingen
sie schließlich seufzend weiter.

Eines Nachts geschah etwas Schreckliches. Über die einsame Straße kam
ein Mann daher, der blitzschnell mit einem Hammer die Scheibe einhieb
und mich ergriff. Dann eilte er durch viele Gassen und Straßen, immer
kreuz und quer mit mir dahin, aber es half ihm alles nichts, die Wächter
hatten das Klirren des Glases gehört und waren ihm nachgeeilt. In einer
dunklen Hausnische wurde er ertappt und verhaftet. Ich wurde zu einer
Berühmtheit, die ganze Sache kam in die Zeitungen und kam vor die
Richter, und der Dieb wurde viele Jahre eingesperrt. Ich aber war aus
seinen schmutzigen Händen befreit und lag wieder auf meinem Samtkissen,
und die Leute, die vorbeigingen, sagten: »Das ist der große Diamant, den
jener Dieb entwendet hatte.«

Dann aber kam ein vornehmer Mann zu dem Juwelier, und an seinem Arm ging
eine reizende junge Dame von großer Schönheit. Das war die berühmte
Tänzerin der Großen Oper in Paris, und jener bleiche ernste Mann liebte
sie mehr als sein Leben und seine Ehre. Sie hatte sich in mich verliebt
und ihren Freund immer und immer wieder gebeten, daß er mich erwerben
möchte, als Halsschmuck für sie. -- Der ernste Mann hatte lange
gezögert, aber dann gab er nach, und so kam ich in den Besitz jener
gefeierten Künstlerin. Welch ein Tag des Triumphes für mich, als ich zum
erstenmal abends an ihrem blütenweißen Halse an einem feinen
Goldkettchen hing und im Licht von tausend Lampen funkelnd mit ihr die
Bühne betrat! Welch eine wundervolle Musik, welch eine Farbenpracht
ringsumher! Tausende von Menschen schauten mit ihren Opernguckern zu mir
hin. Die Herren schmunzelten, und die Damen wurden grün vor Neid, am
meisten aber die alten und häßlichen, und sie sagten, es sei ein
Skandal. Aber das verstand ich nicht!

Aber dann kam etwas Trauriges. Während hier die Musik rauschend den
weiten Saal mit seinen goldschimmernden Säulen und rotsamtnen Logen
füllte und um mich herum die zierlichsten Damen in Gewändern, zart wie
Engelwölkchen, tanzten, saß der ernste bleiche Mann daheim an seinem
Schreibtisch und rechnete. Und dann schrieb er mehrere Briefe an das
große Bankhaus, dessen Direktor er war, und sagte darin, daß er Geld,
das ihm nicht gehörte, verwendet hätte und darum sterben müsse, und dann
zog er ein glänzendes Ding aus seiner Schublade hervor, es gab einen
Knall, und dann war er tot.« --

Dem Bleistift war es ordentlich unheimlich geworden neben dem
»vornehmen« Kerl da in seiner Nähe, und er wäre gern etwas seitwärts
gerückt, wenn ihm das möglich gewesen wäre. »Mein Gott,« sagte er, »Sie
haben aber doch nichts weiter als Unglück angerichtet mit Ihrer
Schönheit und Vornehmheit. Ich bin jedenfalls froh, daß ich nicht so
vornehm bin wie Sie!«

»Je nun,« entgegnete mit feinem Lächeln der Baron von Diamant, »was kann
ich für die Torheit der Menschen! Es gab einen Mordsskandal, die ganze
Geschichte kam wieder in die Zeitungen, und ich wurde noch berühmter als
vorher. Die schöne Tänzerin aber kam auch ins Unglück durch den Tod
ihres Freundes; sie mußte fort von dem herrlichen Theater, mußte mich
verkaufen, kam in Not und ging außer Landes, wo sie ganz verarmt
gestorben ist. -- Schließlich aber kam ich zu meinem jetzigen Herrn, der
mich in einen Ring fassen ließ, und da hat denn meine Geschichte ein
Ende. Aber Sie sehen, die Welt hat mich geliebt und bewundert, und ich
bin eine berühmte Person geworden und gehöre zu dem Vornehmsten, was es
gibt.«

Der Bleistift antwortete nicht, er wußte nicht recht, was er sagen
sollte, aber so recht ehrenhaft und _wirklich_ vornehm kam ihm der Baron
von Diamant, dessen Frau eine geborene Gräfin Perle war, nicht vor.
Plötzlich aber wurde er aus seinem Sinnen aufgeschreckt, und auch der
Herr von Diamant horchte erschrocken auf. Eine ziemlich grobe und harte
Stimme sagte plötzlich aus der einen Ecke des Zimmers heraus:

»Lieber Herr, blasen Sie sich nicht auf, sonst zerspringen Sie noch! Das
wäre zwar kein Unglück nach all dem Unheil, das Sie angerichtet haben,
aber unser guter Herr würde sich vielleicht drüber ärgern!«

In der Ecke des Zimmers stand ein schöner Kamin mit blanken
grünen Kacheln und vernickelten Türen, hinter denen man durch
Marienglasscheiben die Kohlen glühen sah. Neben dem Kamin aber stand ein
schönes Gefäß, in dem Steinkohlen lagen, und eine kleine Schaufel mit
vernickeltem Griff lag dabei. Da merkten der Diamant und der Bleistift,
daß es eine große, spiegelblanke Steinkohle war, die da gesprochen
hatte. Und die fuhr fort:

»Drei Menschen sind Ihretwegen ums Leben gekommen, zwei andere ins
Gefängnis und Unglück, und das alles wegen eines Nichtstuers und
Tagediebes, denn das sind Sie, und wenn Sie noch so schön funkeln!«

»Mein Lieber, aus Ihnen spricht der Neid, daß ich einer vornehmen
Familie entstamme und Sie ein Arbeiter sind, der Stuben heizen muß und
einen schmierigen Rock anhat, so daß ihn selbst der Diener nur mit der
Schaufel anfaßt!«

Die Steinkohle lachte im tiefsten Baß: »Hahaha! Sie eitler Wicht! _Ich
stamme aus derselben Familie wie Sie und wie mein Freund da, der
Bleistift, und wir drei sind leibliche Brüder._ Aber wir beide sind
ehrliche Arbeiter geworden und Sie ein Müßiggänger, der die Eitelkeit
der Menschen ausnützt!«

»_Brüder? Wieso Brüder?_« sagte unwillig der Diamant. »_Wie kann ein
Diamant der Bruder einer Kohle und eines Bleistiftes sein?_«

»Ja, das ist aber so,« meinte der Brummbaß der Steinkohle, »wenn's Ihnen
auch unangenehm ist. Wir alle drei stammen aus derselben Familie, unser
aller Vater ist der _Kohlenstoff_. Sie sind nichts weiter als
kristallisierter Kohlenstoff, und der Bleistift, der ja eigentlich
_Graphit_ heißt, ist ebenfalls Kohlenstoff, genau so wie ich, nur daß in
meinem Körper noch mancherlei andere Stoffe enthalten sind.«

»Das verstehe ich nicht,« sagte der Diamant.

»Das ist aber ganz einfach,« antwortete die Kohle. »Sehen Sie, da vor
Ihnen auf dem Tisch stehen Blumen im Wasser, und da an der
Fensterscheibe sitzt Eis, und da draußen fährt eben eine Lokomotive
vorbei, aus der weiße Wasserdampfwolken aufsteigen. Nun, das sind _auch
drei Brüder_ wie wir. Da im Glase ist _flüssiges Wasser_, am Fenster ist
zu _Eis kristallisiertes Wasser_, und die weiße Lokomotivwolke ist
_verdampftes Wasser_. Aber aus Wasser bestehen sie alle drei, und genau
so bestehen wir drei hier aus _Kohlenstoff_ und sind also Brüder!«

»So, so,« meinte der vornehme Mann schon recht kleinlaut, aber doch noch
immer von oben herab, »_dann müßte ich doch aber genau so im Feuer
verbrennen wie Sie, und dann müßte man doch aus Kohlen Diamanten
herstellen können!_«

»Ei freilich, Sie vornehmer Bruder, das kann man auch, und die Menschen
haben es auch schon getan! In einer sehr heißen Flamme verbrennen Sie
genau so wie ich, mein Lieber, und man hat auch schon aus Kohle _kleine
künstliche Diamanten hergestellt_, wenn das auch sehr schwierig ist,
denn die Menschen haben das Küchenkochbuch der Natur, die uns alle drei
gebraut hat, noch nicht gefunden. -- Ja sehn Sie, so ist es mit Ihrer
Vornehmheit. Wenn man genau hinsieht, ist sie eine windige Sache, und
auf alle Fälle sind Sie höchst unnütz. Nur einer aus Ihrer Sippe ist ein
braver und fleißiger Mann, das ist der Diamant, mit dem der _Glaser_
seine Scheiben zerschneidet, und der ist eine ganz biedere gemütliche
Seele. Er riecht zwar immer ein bißchen nach Fensterkitt, und Sie würden
ihn sicher nicht als Ihren Bruder anerkennen, aber mir ist er lieber als
Sie!«

»Nun,« entgegnete der schwerbeleidigte Baron von Diamant, »Sie mögen ja
über die Verwandtschaftsverhältnisse in meiner Familie besser
unterrichtet sein als ich, aber wenn wir selbst so ganz weitläufig
miteinander eine Stammesgenossenschaft bilden sollten, eins können Sie
doch nicht bestreiten, nämlich daß ich eben der Vornehmste unserer
Familie bin und bleibe!«

»Bester Herr,« meinte gutmütig brummend der schwarze Arbeiter da vom
Kamin her, »glauben Sie ja nicht, daß es ein Vergnügen ist, mit Ihnen
verwandt zu sein. Schöner sind Sie gewiß als ich und mein Bruder, der
Bleistift, aber Sie sind eine höchst anrüchige Person, die in üble Mord-
und Raubtaten verwickelt worden ist, und ich lege keinen Wert darauf,
mit Ihnen verwandt zu sein. Ob ich aber trotz meines schwarzen Rockes
nicht in Wahrheit doch vornehmer bin als Sie, das ist noch sehr die
Frage, denn ohne uns Steinkohlen ginge bei den Menschen alles zum
Teufel, und wenn wir auch nur einen Tag streiken würden, verlöre unser
Herr zehnmal mehr, als Sie samt Ihrer Frau, der geborenen Gräfin Perle,
wert sind. Wir treiben mit unserer Kraft die tausend Fabriken,
beleuchten und heizen die Riesenstädte der Menschen, wir ziehen die
unablässig ein- und ausfahrenden Eisenbahnzüge von Land zu Land, wir
sind es, die die Schiffe durch die Wasserwüste des Ozeans treiben.
Kaiser und Könige, Herren und Knechte, Millionäre und Bettler sind auf
unsere Kraft angewiesen, alles stände still, wenn _wir_ feiern würden.
-- Wenn man aber heute alle Diamanten der Welt ins Wasser werfen würde,
nun, dann wäre auch weiter nichts, und kein Rädchen in der Welt drehte
sich deshalb schneller oder langsamer. -- Aber still jetzt, ich höre
unsern Herrn kommen, und der liebt das Schwätzen nicht. Leben Sie wohl,
Sie eitler Fratz, und grüßen Sie Ihre Frau von mir, die geborene Gräfin
Perle!«

Die Steinkohle lachte im tiefen Baß >Hahaha<, der spitzige Bleistift
kicherte schadenfroh >Hihihi<, und der Baron von Diamant konnte vor Wut
kein Wort herausbringen. Dann war er mäuschenstill. Die Gebrüder
Kohlenstoff schwiegen.

Da ging plötzlich die Tür auf, und der Herr trat ins Zimmer. Er rief
seinen Diener. »Legen Sie noch Kohlen auf,« sagte er, »es ist kalt, und
ich habe noch lange zu arbeiten!« Und dann setzte er sich an den
Schreibtisch, nahm den Bleistift und fing an emsig zu schreiben.

Den Diamantring aber schob er achtlos beiseite. _Den brauchte er nicht!_

Seht Kinder,» meinte der alte Ulebuhle, «so ist es in der Welt, und
darum merkt euch den Spruch: Es kommt nicht auf das Röcklein an, man
frage stets: Was _kann_ der Mann?»




                             Der alte Baum


«Höret nun die Geschichte von dem alten Baum, ihr Kinder, der da wohl
ein Jahrhundert im stillen Walde stand und ein merkwürdiges Ende nahm.

Kerzengerade war er gewachsen, denn das ist für eine rechtschaffene
Fichte eine Ehrensache. Sein dunkelgrünes Nadelkleid war dicht und voll,
und wenn der Wind durch den Wald fuhr, dann rauschte er durch das Geäst
des alten Baumes und klapperte mit dürren Zweigen wie ein Storch mit
seinem Schnabel. Die kleinen Vögel saßen auf den breiten Fächern von
Nadeln, die so schön nach Harz dufteten, und sangen ihre Lieder. Der
Specht hämmerte, daß ihm der Kopf brummte, und die Eichkätzchen jagten
auf und nieder und spielten Verstecken in dem Dunkel des dichten
Geästes.

Im Winter lagen mächtige Schneewuchten auf den breiten Armen der Fichte,
und im Frost knackten ihre mit tausend Diamanten behangenen Zweige, daß
man es weithin schallen hörte. Dann kamen Hirsche und Rehe und
schnoberten an der Rinde, denn sie litten Hunger. Reineke, der Fuchs,
schnürte mit gespitzten Ohren vorüber, wartete hinter dem breiten Stamm
auf Lampe, den Hasen, und nachts saß zuweilen eine Eule auf dem Wipfel
und schrie und miauzte wie ein Wickelkind.

Aber am schönsten war es doch im Sommer, wenn die Sonne so warm schien
und die Vögel sangen. Einmal kam ein alter Mann und ein altes
Mütterchen. Sie gingen Hand in Hand. Sie blieben vor dem alten Baum
stehen.

»Dieser war es,« sagte der alte Mann und putzte seine Brille.

Und dann suchte er ringsum am Stamm und betastete die rissige Rinde.

»Ja,« rief er plötzlich fröhlich, »da ist es! Oh, wie lange ist es her,
und wie jung waren wir damals!«

Richtig, da war ein Herz in die Rinde des alten Baumes eingeschnitten,
und zwei Buchstaben standen darunter, aber man konnte sie kaum noch
lesen, denn die Zeit hatte sie zernagt und verwischt. Ja, vierzig Jahre
sind eine lange Zeit, und so lange war es her, daß der alte Mann, der
damals ein ganz junger war, die Zeichen hier eingegraben in die Rinde.
-- Lange standen die beiden Alten vor dem Baum und redeten kein Wort,
und dann gingen sie Hand in Hand weiter.

Ja, so ein alter Baum ist wie ein treuer Freund, und der junge Jäger,
der oft in seinem Schatten ruhte, wenn die Mittagshitze über der Welt
lag, liebte ihn wie einen Menschen.

Aber eines Tages nahm das alles ein Ende. Da kamen die Holzfäller mit
blanker Säge und scharfer Axt, und viele Bäume mußten sterben. Der
Förster kam und machte mit Kreide drei Kreuze an den Stamm der alten
Fichte, und das war ihr Todesurteil.

»Es tut mir leid, alter Bursche,« sagte der Grünrock, »aber es ist nicht
zu ändern, die Welt braucht Holz!«

Ach, es war nicht zu ändern! Da kamen die Männer und sägten den Stamm
durch. Die Vögel hörten den alten Baum ächzen und stöhnen, erschreckt
flogen sie weit fort. Der Star, der da oben im Wipfel eine Dachkammer
bewohnt hatte, mußte schleunigst ausziehen. Er setzte sich auf den
nächsten Baum und schnatterte und schimpfte stundenlang auf die Störer
des Waldfriedens.

Dann legten die Männer ein Seil um den Baum, riefen ziehend »Hoh-Ruck
... Hoh-Ruck«, und krachend stürzte die Fichte nieder auf den moosigen
Waldboden.

Äste und Zweige wurden abgeschlagen, die dicke braune Rinde abgelöst,
und der lange, kahle Stamm lag wie ein Leichnam im Walde. Nach ein paar
Tagen aber kam ein riesiger Wagen mit vier Pferden daher, und der Stamm
wurde davongefahren, fort aus der grünen Heimat, herunter in die Stadt,
zum Sägewerk.

Da kreischten die Sägen von früh bis spät, schnitten den Stamm in lauter
kleine Scheiben, und dann hackte die Hackmaschine das alles in tausend
Trümmer. Ja, das Sägewerk war schrecklich. Ganze Wälder hatte es schon
gefressen, und die Leute, die den grünen Wald liebten, mochten die
blanken Sägen mit ihren tausend Raubtierzähnen nicht leiden.

Als die beiden alten Leute nach Monaten, im Frühlingssonnenschein wieder
durch den Wald schritten, da fanden sie den alten Baum nicht mehr. Nur
ein breiter Stumpf ragte noch aus dem Boden. Lange standen sie da, und
als sie fortgingen, glänzten Tränen im Auge des alten Mütterchens.

Der junge Jäger aber schimpfte und wetterte, als er seinen Liebling
nicht mehr fand, und mißmutig warf er die Flinte über die Schulter und
ging heimwärts.

Die Trümmer des Baumes waren inzwischen weiter gewandert. Sie kamen in
eine große Fabrik, da machte man Papier. Man warf sie in mächtige
Kessel, in denen kochte ein scharfer Teufelssaft, und schließlich wurde
ein dicker Brei aus dem Holz der alten Fichte. Der Brei wurde weiß
gefärbt, kam auf mächtige Siebe, das Wasser wurde verdampft, und da war
ein dünner feuchter Filz aus dem Holzbrei geworden. Der ging dann durch
viele Walzen und Pressen, wurde immer dünner und dünner, und endlich
wurden schöne glatte Papierbogen daraus.

Ja, es ist eine tolle Geschichte, was die Menschen alles aus so einem
alten Baume machen können! Aber was nutzt das ganze schöne Papier, wenn
es nicht beschrieben oder bedruckt wird, sagten sich die Leute. Das
sagte auch der langgelockte Dichtersmann, der da drinnen in der großen
Stadt hauste, und so nahm er ein paar von den schönen weißen Bogen,
tauchte die Feder in die Tinte und schrieb lauter Reime und Gedichte auf
das Papier. Ja, da besang er den Wald mit seinen grünen Bäumen, und die
Vögel, die da in den Zweigen wohnen, und sagte, daß es nichts Schöneres
gebe in Gottes weiter Welt als den stillen Wald mit den rauschenden
Wipfeln. -- Ach, er dachte nicht daran, daß der alte Baum sterben mußte,
damit der Dichter auf dem Papier seine Lieder über den Wald
niederschreiben konnte.

Aber das meiste Papier, das aus dem Fichtenstamm entstanden, kam in eine
große Druckerei, und da wurden die Gedichte über den Wald zehntausendmal
abgedruckt, und aus dem Baum waren zehntausend Bücher geworden, die
hinaus wanderten in alle Welt.

Eines kam auch hinauf in das Forsthaus im Walde, wo der junge Jäger
wohnte. Der nahm es mit sich in die grüne Einsamkeit der Tannen und
Buchen. Er lagerte sich unter einem hohen Baum und las darin.

»Schnedderengteng!« sagte er ärgerlich. »Da hauen die Städter die Bäume
um und machen Papier daraus, und aus dem Papier machen sie Bücher, und
in den Büchern schreiben sie, daß man in den grünen Wald gehen soll, und
ihn heilig halten muß. -- Es ist ein verrücktes Zeug, und es ist schade
um den Baum, der deswegen sterben mußte!«

Da nahm er das Buch und warf es weit fort in das grüne Walddunkel.

Lange lag es da! Die Ameisen krochen zwischen den Seiten. Reineke, der
Fuchs, beschnoberte es mißtrauisch und konnte über das seltsame Ding
nicht klug werden, und der Starmatz pfiff darauf und benahm sich noch
weiterhin unanständig, denn er verstand nichts von Gedichten. Die Sonne
vergilbte das Papier, dörrte es aus; der Regen durchweichte es, der
Frost zerriß es, die Mäuse knabberten daran, der Schnee des Winters
löste es auf in einen Brei. Der Brei sickerte langsam in den Erdboden
hinein, gerade da, wo ein ganz winziges Fichtenzweiglein wuchs. Seine
feinen Wurzeln saugten die Nahrung ein, und das zerstörte Buch gab der
jungen Fichte wieder, was es dem alten Baum genommen hatte.»




                         Johann der Wunderbare


«Zu Basel,» so erzählte eines Abends der alte Ulebuhle, «lebte vor
Jahren ein berühmter Uhrmacher, der war ein Meister in seiner Kunst, wie
ihn die Welt noch nicht gesehen. Er baute wundervolle Uhren mit allerlei
beweglichen Figuren, die zu jeder Stunde aus dem Gehäuse herauskamen,
ihre Verbeugung machten und mit einem Stab die Stunde wiesen. Dann
drehten sie sich um, schlugen mit einem kleinen Hämmerchen auf silbernen
Glocken die Zeit, und dann verbeugten sie sich wieder und verschwanden.

Von weit und breit kamen die Leute herbei, um die Kunstuhren des
Meisters zu sehen, und Fürsten und hohe Herren ließen sich für teures
Geld da prunkvolle Werke bauen. Aber der Meister schuf immer
wunderbarere Sachen. Da war ein Reiter aus purem Golde, der alle Mittag
um zwölf eine Trompete zum Munde führte, ein lustiges Stücklein blies
und dann eine Pistole abfeuerte. Das Pferd aber konnte wiehern und mit
dem rechten Vorderhuf scharren. Schließlich baute er eine künstliche
Ente, die auf dem Wasser schwimmen konnte und so natürlich schnatterte,
daß alle Welt voll Staunen war. Setzte man sie aufs Trockene, so
watschelte sie dahin und schlug auch zuweilen mit den Flügeln. Man ließ
sie in der ganzen Welt sehen, als einen Beweis menschlicher
Kunstfertigkeit, und endlich kaufte sie ein reicher Mann für viele
tausend Gulden.

Aber der Meister, verwöhnt durch die Gunst hoher Herren, wollte immer
höher hinaus. Er wollte etwas schaffen, das seinen Namen bis in die
fernsten Zeiten berühmt machte, und darüber grübelte er Tag und Nacht.
Endlich hatte er den richtigen Gedanken gefunden. Er beschloß einen
künstlichen Menschen zu bauen, einen Mann aus Eisen, in Lebensgröße, der
täuschend Menschenart und Menschentun nachahmen sollte.

Er schloß sich in seine Werkstatt ein, rechnete und zeichnete und ließ
niemand vor. Als er endlich das große Werk auf dem Papier fertig vor
sich hatte, ging er daran, es wirklich auszuführen. Alles machte er
selber, denn mit niemand wollte er seinen Ruhm teilen. Er goß die Form
in Eisen und Bronze, er schmiedete und hämmerte, feilte und bohrte,
schuf tausend Räder und Hebel, Gelenke und Lager, Wellen und Kurbeln,
Federn und Gewichte. Aber nur langsam ging das schwierige Werk
vonstatten, und da er keinerlei andere Arbeit annahm, so verbrauchte
sich schnell das früher erworbene Geld, und seine Familie kam in Not.

»Mann,« sagte seine Frau, »es ist bald kein Pfennig mehr im Hause. Seit
Jahr und Tag sitzt du bei deiner geheimnisvollen Arbeit in deiner
Werkstatt, niemand, nicht einmal ich weiß, was du da für ein Kunstwerk
baust, und da du alle alten Kunden mit ihren Aufträgen abweisest, so
wird bald niemand mehr kommen, und wir wissen nicht mehr, wovon wir
leben sollen.«

»Geht zum Teufel mit eurem Plunderzeug,« sagte wütend der Meister. »Für
die nichtige Schusterarbeit sind genug andere Uhrmacher da, die nichts
weiter verstehen, aber ich will etwas bauen, daß alle Gelehrten und
Künstler der Welt vor Neid erblassen sollen, etwas, das Fürsten und
Könige aus aller Welt nach Basel locken wird. Dann werde ich berühmt
werden auf der ganzen Erde, man wird mich zum Ober-Hofmechanikus
ernennen, und es wird Gulden regnen.«

»Es wird aber noch lange dauern,« entgegnete die Frau, »und inzwischen
ergeht es uns elender als dem kleinsten Uhrmacher, der die Schwarzwälder
Uhren repariert. Es ist kein Brot mehr im Hause und kein Fleisch für
dich und die Kinder.«

»So nimm die Tauben, mit denen Jung-Heinrich spielt,« sagte der Mann,
»das hilft einen Tag weiter!«

»Das bringe ich nicht über das Herz, Mann, sie sind seine liebsten
Gefährten, sie sitzen auf seinen Schultern und picken ihm die Erbsen aus
dem Munde, sie schmiegen sich an seine Wangen, er hängt mit ganzem
Herzen an ihnen, und es wäre grausam, dem Knaben die beiden weißen
Täubchen zu nehmen. Was hülfe es auch, nur _einen_ Tag Rat zu schaffen!«

»So laß mich in Ruh! Geh borgen und warte die Zeit ab. Ich schaffe ein
Kunstwerk, das Scheffel Goldes bringt, und man wird mich feiern wie
einen Großen!«

»Mann, sieh dich vor! Dich hat der Hochmutsteufel beim Kragen! Versuche
Gott nicht!«

»Hol euch alle der Fuchs!« schrie wütend der Meister und stürzte davon
in seine Werkstatt, die Tür donnernd hinter sich zuschlagend. Er schloß
sich ein, Frau und Kinder sahen ihn kaum mehr, denn er schlief auch dort
in seiner verborgenen Klause, und selbst die Mahlzeiten nahm er da ein.

So verging noch ein Jahr und noch ein halbes. Die Frau borgte sich
überall den Lebensunterhalt zusammen, verkaufte, was in der Wirtschaft
entbehrlich, und bald stak des Künstlers Familie so tief in Schulden,
daß niemand mehr eine Semmel leihen wollte. Die Frau des Künstlers und
seine Kinder wurden blaß und mager, und es flossen viel Tränen im Hause.
Aber der Mann sah das alles nicht. Eine unstete Hoffart, eine
unbezwingliche Ruhmsucht flackerte aus seinen Augen. Er sah zuweilen
aus, als sei sein Geist verwirrt.

Aber eines Tages war er mit dem Werk fertig. Mitten in der Nacht, als
alles schlief, beschloß er, es zu probieren. Er stand auf und machte
Licht, und dann nahm er die schwarzen Decken, die das Kunstwerk
verhüllten, ab.

Es war wirklich ein Kunstwerk! Da stand ein leibhaftiger Mensch, ein
hochgewachsener, kräftiger Mann. Er hatte eine dunkelblaue Livree an,
mit blanken Knöpfen, wie ein vornehmer Bedienter. Das Gesicht war, da
die äußere Hülle aus feinster Emaille bestand, so natürlich, daß man auf
den ersten Blick einen wirklichen lebenden Menschen vor sich zu haben
glaubte. Ein schwarzer Vollbart floß vom Kinn lang hernieder, die Augen,
obwohl von Glas, blickten durchaus nicht starr, die Hände waren
wohlgeformt, nur die Füße, die in hohen Stiefeln mit flachen Sohlen
steckten, sahen ein wenig plump aus, aber das mußte so sein, denn der
Mann war ganz aus Eisen, und er mußte auf diesen mit Blei beschwerten
Füßen sicher stehen.

Der Künstler knöpfte die Livree auf und öffnete die eiserne Tür, die die
Brust des künstlichen Menschen verschloß. Himmel, wie sah es darin aus!
Ein Gewirr von Hebeln und Rädern und Drähten und Magneten und
Drahtspulen, es konnte einem schwindlig werden, und kein Mechaniker der
Welt hätte diesen verwickelten Apparat auseinandernehmen und wieder
zusammensetzen können. Nicht anders sah es in den Armen und Beinen aus.
Da waren Laufwerke und Gewichte und elektrische Batterien, Zugfedern und
kunstvolle Gelenke, und alles bewegte sich wie am Schnürchen.

Am großartigsten aber war es im Kopfe des eisernen Mannes bestellt! Der
Uhrmacher nahm ihm die Perücke ab und öffnete den Schädel, um noch
einmal nachzusehen, ob alle Schrauben am rechten Fleck. Die Glasaugen
konnten wirklich sehen. Ein photographischer Apparat war an ihnen
angebracht. Ein Uhrwerk bewegte langsam den Film weiter, auf dem die
Aufnahmen entstanden, und was die Glasaugen sahen, das wurde so auf dem
abrollenden Photographenfilm festgehalten und abgebildet. Auch hören
konnte dieser eiserne Mensch. In den Ohren steckten Schallkapseln, wie
bei einer Sprechmaschine, und der eingebaute Phonograph grub in eine
Wachswalze ein, was die Ohren hörten. Drückte man auf einen verborgenen
Knopf, dann wiederholte die Figur, was sie gehört hatte, denn dann fing
die Sprechmaschine an zu schnurren, und aus dem Munde kamen deutlich
alle Worte wieder. Dabei bewegten sich die Lippen so naturgetreu, daß
man einen lebenden Menschen vor sich zu haben glaubte. Da war außerdem
noch eine besondere Walze, die mancherlei alltägliche Redensarten
enthielt, wie »Guten Tag«, »Gute Nacht«, »Schlafen Sie wohl!«, »Wie geht
es Ihnen?«, »Ich danke, mir geht es gut!«, »Ich heiße Johann der
Wunderbare und stamme aus Basel. Mein Vater ist der Uhrmacher
Cornelius!«, »Hatschi, es zieht, schließen Sie das Fenster!« Dies und
ähnliches konnte das Kunstwerk sprechen.

Die Figur drehte den Kopf, nickte, hob Arme und Beine, grüßte wie ein
Soldat, und vor allem konnte sie auch gehen. Freilich, sie ging ein
wenig schwerfällig, und der Gang war langsam, aber im ganzen sah es doch
recht natürlich aus, denn es gibt ja auch Menschen, die sich ein wenig
langsam und unbeholfen fortbewegen. Durch ein Uhrwerk und einige
einstellbare Hebel konnte man erreichen, daß der Mann soundso viele
Schritte geradeaus ging, dann links oder rechtsum machte, wieder eine
bestimmte Zahl Schritte tat und dann stehen blieb.

Aber er konnte auch ein treuer Wächter sein. Trat ein unberufener
Eindringling auf einen elektrischen Draht, der von ihm ausging, so schoß
er eine Pistole auf jenen Platz hin ab. Diese Pistole mußte man ihm
natürlich zuvor in die Hand schrauben.

Ja, es war wirklich ein Kunstwerk.

Es kam der große Tag, an dem der eiserne Mann öffentlich gezeigt werden
sollte. An allen Straßenecken war das Wunder in großen Plakaten
angekündigt, alle Zeitungen hatten davon berichtet. Der Meister
Cornelius wolle ein nie dagewesenes Kunstwerk zeigen, einen künstlichen
Menschen: »_Johann den Wunderbaren._« Tausende und Abertausende liefen
herzu. Die armen Leute gingen, die Vornehmeren fuhren im Wagen, und die
ganz Hochgeborenen saßen zu Pferde. Es war ein Geschiebe und Gedränge
vor dem Hause des Meisters, daß es beängstigend wurde, und die
Polizisten liefen mit blauroten Köpfen umher, ihre Schnurrbärte waren
gesträubt, und sie fuchtelten mit weißbehandschuhten Händen gewaltig in
der Luft herum.

Es war angekündigt, daß Johann der Wunderbare ganz allein von seinem
Geburtshause bis zu der großen Ausstellungshalle laufen sollte, in der
er sich der Menge und den hohen Herrschaften vorstellen würde. Das war
ein schöner glatter Weg bis dahin und ging zweimal um eine Ecke.

Die Frau des Künstlers und seine Kinder hatten Johann den Wunderbaren
schon einen Tag vorher zu sehen bekommen. Da stand nun die Figur, wegen
der sie zwei Jahre lang so viel hatten leiden und dulden müssen. Johann
der Wunderbare hatte einen bösen Zug um den Mund, und auf der Stirn
hatte er eine düstere Falte. Dazu sein langer dunkler Bart ... ja, so
kunstvoll er war, die Frau konnte keine Freude empfinden. Er kam ihr vor
wie ein böser Dämon. Auch die Kinder fürchteten sich fast vor diesem
künstlichen Menschen; am meisten aber Heinrich, des Meisters Jüngster.
Er haßte diesen eisernen kalten Mann, wegen dessen die Mutter so viel
geweint. »Er sieht so böse aus,« sagte Heinrich zur Mutter, »so wie ein
Mensch, der kein Herz hat.« -- »Da hast du recht, mein Junge,« meinte
die Mutter, »aber er hat ja auch kein Herz, und deshalb ist er auch kein
richtiger Mensch. Aber wir dürfen dem Vater seinen Stolz und seine
Freude über sein Werk nicht verderben. Gebe Gott, daß er uns wieder
besseren Zeiten zuführe und Geld bringe und wieder Frieden im Hause.«

Da ging Jung-Heinrich wieder hinweg, um mit seinen beiden weißen
Täubchen zu spielen, denn das war sein größtes Vergnügen auf der Welt,
und er liebte nichts so wie diese Täubchen.

Die Menge vor dem Hause wuchs immer mehr. Endlich aber kamen in
Begleitung des Bürgermeisters und der gelehrten Herren der Stadt die
hohen fürstlichen Gäste an, und man benachrichtigte den Meister
Cornelius, daß es an der Zeit sei.

Da tat sich die Tür auf, Meister Cornelius erschien, und hinter ihm kam
langsam und bedächtig, sorgsam die Beine hebend und senkend, Johann der
Wunderbare. Hurra, schrie die Menge, als sie seiner ansichtig wurde. Er
legte ein paarmal die Hand an die Mütze, und dann lief er kerzengerade
die glatte Straße hinunter. Vor ihm her ging sein Verfertiger. Weiter
hinten folgten des Meisters Frau und die Kinder.

Im Winde wehte der dunkle Bart Johanns. Hin und wieder drehte er den
Kopf nach rechts und nach links, und zuweilen hob er die Hand und
grüßte.

Die Leute staunten und schrien durcheinander, und alle rühmten laut, wie
er daherkam. Das Erstaunen wuchs aber, als Johann der Wunderbare im
richtigen Augenblick linksum machte und um die Ecke bog, in die
Seitenstraße, und der Jubel und das Verwundern nahm zu, als er richtig
an der nächsten Ecke wieder einschwenkte und dann geradenwegs auf die
große Halle zulief.

»Bei Gott, er ist wie ein lebendiger Mensch,« sagten die Leute,
»hoffentlich betrügt uns der Meister Cornelius nicht, und es ist nicht
wirklich ein Mensch, der nur eine Figur vortäuscht!«

Die vornehmen Leute aber sagten, es wäre »pyramidal«, und die Gelehrten
meinten, es wäre »ein exorbitantes Phänomen«. Die kleinen Bürger, die
das hörten, wußten zwar nicht, was das zu bedeuten hätte, aber sie
bekamen noch mehr Respekt vor Johann dem Wunderbaren, über den die hohen
Herren so seltene Worte sagten.

Mitten in der weiten Halle lag ein Teppich, und als der eiserne Mann
diesen Platz erreicht hatte, machte er Halt. Nun setzten sich die
Vornehmen auf Sesseln ringsum, und alles Volk füllte die weite Halle bis
auf den letzten Platz.

Meister Cornelius hob die Hand, und alles wurde mäuschenstill.

»Meine hohen Herrschaften, hochgelehrte Herren, verehrtes Publikum,«
sagte er und machte eine tiefe Verbeugung, »hier stelle ich Ihnen mein
neuestes Kunstwerk vor, an dem ich zwei und ein halbes Jahr gearbeitet
habe. Es ist etwas noch nie Dagewesenes, ein künstlicher Mensch. Ich
darf mich rühmen, der erste Mensch auf Erden zu sein, dem es gelang, ein
solches fast vollkommenes Wesen herzustellen. Der von mir geschaffene
Johann der Wunderbare handelt so natürlich, daß vielleicht manche
glauben, es sei ein wirklicher Mensch, und sie würden betrogen. Ich
werde daher meinem Kunstwerk den Kopf abnehmen, werde seinen Körper
öffnen, damit sich jeder überzeugen kann, daß es eine Maschine ist.«

Das tat der Meister dann, und alle sahen, es ist wirklich ein Kunstwerk.
Dann brachte der Künstler sein Werk wieder in Ordnung, und als er
abermals die Hand hob und Schweigen gebot, begann die Figur ihre
Vorstellung. Sie machte eine kleine Verbeugung, legte die Hand an die
Mütze und sagte mit deutlicher Stimme: »Guten Tag! Ich heiße Johann der
Wunderbare und stamme aus Basel. Mein Vater ist der Uhrmacher Cornelius!
Hatschi!! Es zieht, schließen Sie das Fenster!«

Erstaunen ging durch die Menge. Die Leute lachten vergnügt über den
spaßigen Kerl, und einige schlossen wirklich das Fenster. Ja, das ist
ein großes Kunstwerk, sagten die Leute. Die Vornehmen aber meinten, es
wäre wirklich pyramidal, und die gelehrten Herren schüttelten die Köpfe
und sagten einmal über das andere Mal: »In der Tat, ein exorbitantes
Phänomen!«

Dann sang Johann der Wunderbare ein kleines Lied, und als die Leute
klatschten, verbeugte er sich und sagte: »Ich danke, mir geht es sehr
gut!«

»Jetzt,« meinte der Meister, »wird der künstliche Mann zeigen, daß er
auch hören und verstehen kann. Einer von den Herrschaften wird ihm mit
lauter Stimme etwas zurufen, und er wird es wiederholen.«

Einer der gelehrten Herren, der berühmte Professor Konfusemathesius,
trat heran und sagte laut zu dem wunderbaren Johann: »Kannst du mir
sagen, wer Amerika entdeckt hat?«

Der Meister, der neben der Figur stand, drückte auf den Knopf, der den
Phonographen in Tätigkeit setzte, und so nahm er die Worte auf.
»Johann,« sagte er dann, »was sagte der berühmte Professor
Konfusemathesius zu dir?« Da schnurrte die Walze wieder ab, und die
Figur sprach deutlich: »Kannst du mir sagen, wer Amerika entdeckt hat?«

Die Leute klatschten und waren ganz aus dem Häuschen. Inzwischen aber
rief der Meister in das andere Ohrhinein: »Christoph Kolumbus.« Und als
die Figur nun den Namen des Entdeckers Amerikas aussprach, da war alles
des Lobes voll.

»Jetzt,« rief Meister Cornelius, »wird der künstliche Mann zeigen, daß
er auch sehen kann. Er wird an das Fenster treten, Sie werden ihm irgend
etwas zeigen, und nachher werde ich Ihnen sagen, was Sie ihm gezeigt
haben. Ich aber werde hier ruhig stehen bleiben, Sie sollen mir die
Augen verbinden, damit ich es selbst nicht sehen kann, was meiner Figur
vorgeführt wird.«

Man verband dem Künstler fest die Augen und führte ihn in eine dunkle
Ecke. Johann stand am Fenster. Draußen auf dem Platz standen zwei
Schimmel. Man setzte auf jeden einen Knaben und führte die Pferde vor
das Fenster. Dann führte man sie wieder weit fort und nahm dem Meister
die Binden ab. Er brachte sein Kunstwerk wieder auf den Teppich zurück,
griff hinein in das Hinterhaupt, zog den photographischen Film hervor,
ging in eine dunkle Ecke, goß eine Flüssigkeit darüber, die das Bild
sichtbar machte, und kam wieder zurück.

»Man hat Johann dem Wunderbaren zwei Schimmel vorgeführt. Knaben saßen
darauf. Einer hatte eine Fahne in der Hand. Ja, er hat das alles
deutlich gesehen und mir verraten.«

Eine Bewegung ging durch die Menge. Viele sagten, daß es eine tolle
Sache sei, eine Art Hexerei, und ein paar Frauen meinten, es sei
unheimlich, und man könnte sich fürchten vor dem eisernen Kerl mit dem
schwarzen Bart.

Aber den Meister Cornelius, den das Staunen über sein Werk immer
hoffärtiger machte, plagte der Teufel. Er wollte immer mehr und mehr von
ihm zeigen.

»Geben Sie Obacht,« rief er, und sein Gesicht war vor Eifer feuerrot,
»jetzt wird sich Johann der Wunderbare als Kunstschütze produzieren.
Dort vor dem Fenster ist ein Pfahl aufgestellt, und auf ihm ist eine
Taube angebunden, die wird er herabschießen. Er ist ein treffsicherer
Schütze.«

Damit schraubte er seinem Mann eine Pistole in die Hand und drehte ihn
dem Fenster zu. Richtig, da draußen war ein Pfahl, und auf dem Pfahl
saß, an einem Band befestigt, das ihr Davonfliegen verhinderte, eine
niedliche weiße Taube. Die machte Gurr-Gurr und langweilte sich, denn
sie war gewöhnt, mit ihrer Schwester zu spielen und auf der Schulter des
kleinen Knaben zu sitzen, der Erbsen in der Tasche hatte und auch kleine
süße Kuchen. Sie liebte den kleinen Knaben, und er liebte sie. Sie
pickte mit ihrem rosa Schnäbelchen vorsichtig Erbsen von seinen Lippen,
sie saß oft mit ihrer Schwester stundenlang auf seiner Schulter, wenn er
in seinen Märchenbüchern las.

Heut aber war er nicht gekommen, sie aus ihrem Wohnkäfig zu befreien.
Ein harter Mann kam, der fest zufaßte und sie in einen Sack steckte. Nun
saß sie hier auf der Stange, sagte unablässig Gurr-Gurr, denn sie hatte
Sehnsucht nach der Schwester, nach dem kleinen Jungen und nach Erbsen
und Wasser.

Johann der Wunderbare stand mit finsterem Gesicht und starren Augen da.
Sein schwarzer Bart stand weit ab vom Kinn, sein Mund schien zu lächeln,
es war, als läge ein böser Zug auf seinem Antlitz. Er hatte den Arm
erhoben und zielte auf das Täubchen.

Es entstand ein Murmeln in der Menge. Einige Kinder und Frauen sagten,
es sei schade um das niedliche Täubchen, und es sei nicht recht, es von
dem Eisernen töten zu lassen. Plötzlich drängte sich ein kleiner Knabe
vor. Jung-Heinrich war es. Er hatte ganz hinten mit der Mutter und den
Geschwistern gestanden, und nun drangen die Worte vom Schießen und von
dem Täubchen an sein Ohr. Da packte ihn ein düsteres Ahnen. Sollte es
gar sein Täubchen sein? Er zwängte sich durch die Menschen hindurch, um
das Fenster und den Pfahl sehen zu können und erblickte seinen Liebling
mit dem blauen Band um den weißen Hals. Ein heftiger Zorn faßte ihn. Er
sprang vor, geradewegs auf den eisernen Menschen zu, der ihm so großen
Schmerz antun wollte. Er sah den Vater kaum, er stand plötzlich neben
Johann dem Wunderbaren auf dem Teppich, und viele tausend Menschen
blickten erstaunt auf ihn.

»Was willst du tun, eiserner Mann?« schrie er. »Warum willst du mein
Täubchen töten? Du bist ein böser Mensch, du hast kein Herz, du bist ein
grausamer Mensch, ein herzloser Mensch!«

Aber schon hatte der Vater auf den Mechanismus gedrückt, der den Schuß
auslöste, und als der Knall verhallt war, sah man das Täubchen an der
Schnur niederfallen. Johann hatte gut getroffen, oh, er war ein
trefflicher Schütze, ja er war wirklich ein Kunstwerk.

Es ging ein Murren durch die Menge.

Der kleine Knabe aber brach in Tränen aus. Er war außer sich. Wütend
sprang er auf den Verhaßten zu. »Herzloser, böser Mensch! Mörder,
Mörder!« schrie er ihm zu, und dann stieß er mit der ganzen Kraft seines
Körpers nach ihm. Die Figur, die den einen Arm weit vorgestreckt hielt
und auf einer Kante des Teppichs stand, war nicht im Gleichgewicht. So
wankte sie, drehte sich und es war, als ob sie den Knaben erschlagen
wollte. Sie neigte sich vornüber, ihm zu, stürzte mit ihm, über ihn zu
Boden.

Das ging alles so schnell, daß der Künstler, der verblüfft daneben
stand, gar nicht Zeit hatte, einzugreifen.

Erschreckt drängten sich die Menschen hinzu, zogen den Knaben unter der
eisernen Figur hervor. Es war ihm weiter nichts geschehen, nur eine
blutige Schramme ging quer über die Stirn. Aber das Murmeln der Menge
wuchs drohend an, es wurde zu wildem Schreien, zu brausendem Rufen.

»_Er hat kein Herz, nein, er hat kein Herz,_« so schrie es von allen
Seiten. »Er kann Tiere und Menschen töten, er würde auch uns ohne
Erbarmen töten, wenn es ihm befohlen wird. Er ist ein Bösewicht, ein
Mörder!«

»Mörder, Mörder, herzloses Ungeheuer,« tobte die Menge. Man nahm den
Knaben auf den Arm, führte ihn der Mutter zu, man versprach ihm neue
Täubchen. Empört und wütend, schreiend und tobend schob und drängte sich
die Menge aus der Halle.

»Ja,« sagten die Vornehmen, »er ist ein pyramidales Kunstwerk, aber ein
Herz, nein, ein Herz hat er nicht!« -- »In der Tat, ein exorbitantes
Phänomen,« sagten die Gelehrten und wiegten die Köpfe, »aber _cum venia_
zu sagen, gewissermaßen herzlos!« Darauf verschwanden auch sie.

»Er kann alles,« brüllten die erregten Massen, »er kann sich bewegen wie
wir, er kann sehen und hören, sprechen und singen, aber er tötet, _denn
er hat kein Herz, kein Herz, kein Herz_!«

In der Ferne verlor sich das Toben und Schreien, schließlich war es nur
noch ein fernes Brausen, und dann wurde es ganz stille.

Einsam stand in der weiten Halle Cornelius der Künstler. Er war
leichenblaß. Unheimlich funkelten seine Augen. Neben ihm lag sein Werk.
Da faßte ihn eine namenlose Wut. Er ergriff eine schwere eiserne Stange,
die in der Ecke der. Halle lehnte, er hieb wie ein Rasender mit
wuchtigen Schlägen auf den wunderbaren Johann ein, der ihn mit starren
Augen und offenem Munde höhnisch anblickte. Er zerschmetterte ihn mit
wahnsinnigem Eifer, er trat mit den Füßen in das kunstvolle Gewirr von
Rädern und Hebeln, Walzen und Gelenken, Drähten und Federn, bis alles
ein wüster Trümmerhaufen war.

Dann hüllte er sich in seinen Mantel, und als der Abend hereinbrach,
eilte er aus der Stadt, wanderte ohne Ruh und Rast durch Wälder und
Felder in die unbekannte Ferne.

Man hat ihn nie wieder gesehen.»




                       Das Zündholz und die Kerze


Einmal ging eine böse Krankheit durch die Stadt. Auf leisen Sohlen
schlich sie heimtückisch in alle Häuser, zu den Armen und zu den
Reichen, und der Wagen des alten Doktor Horn klapperte von früh bis spät
durch die winkligen Gassen mit den schnurrig-schiefen Häuschen; aber
weder die bittere Medizin noch die lustigen Scherze des Alten vom
Theresienhof wollten diesmal helfen. Der Tod, der überall im Lande
reiche Ernte hielt, wollte auch aus der Bergstadt Goslar seinen Zehnten
haben, und war kein Kraut gegen ihn gewachsen.

Eines Tages starben zu gleicher Stunde der alte Bergmann Klaus, der
achtzig Sommer gehen und kommen sah, und sein Enkelchen Friedel, das mit
uns auf der Schulbank saß und mit zum Märchenkreis des alten Ulebuhle
gehörte.

Am Abend, als sie zu Grabe getragen wurden, das uralte Menschenkind und
das ganz junge, saßen wir betrübt beim Doktor Ulebuhle, und da erzählte
er die Geschichte vom Zündholz und der Kerze, vom kurzen und vom langen
Leben.

«Kinder,» sagte er, «kurz und lang, das ist Menschenwitz. Für den Herrn
der Welt ist es eins. Ihm lebt der Maikäfer so lange wie der Elefant,
obgleich der ein paar hundert Jahre alt werden kann, denn für die
Ewigkeit ist die Minute so lang wie das Jahrhundert. Seht, da stand eine
Kerze auf dem Tisch eines jungen Mannes und ein Zündholz lag dabei. Die
Kerze war schön weiß und hatte noch nie geleuchtet, denn die Magd hatte
sie erst am Morgen vom Krämer gekauft. Das Zündholz hatte einen ganz
roten Kopf. Es war ein Bullerjahn, wie alle aus seiner Familie, und
immer gleich Feuer und Flamme und immer auf dem Sprunge, sich an allem
und jedem zu reiben. Die Kerze tat sehr steif und vornehm und war von
ihrem Beruf ungemein eingenommen. Oben hatte sie einen kleinen Zopf und
unten ein Spitzenkleid aus Papier; ihr Fuß steckte in einem
Porzellanschuh, und dicht daneben lag das Zündhölzchen in einer kleinen
hölzernen Bettlade ganz allein, denn es war das letzte Glied einer
kinderreichen Familie.

Ein Sonnenstrahl drang durch die Fensterladen und fiel auf die beiden.
Das Zündhölzchen erwachte, besah sich eine Weile die Kerze und sagte
plötzlich:

»Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Zündholz ist mein Name.
Ich stamme aus Schweden. Meine Mutter war eine geborene Tanne, die erst
mit einem Herrn Schwefel und nachher mit Herrn Phosphor verheiratet war.
Entschuldigen Sie, daß ich im Liegen spreche. Wenn man ein Holzbein hat
--, Sie begreifen! Ich bin der Letzte meines Stammes. Wir sind ein
kurzlebiges Geschlecht.«

Die Kerze schwieg eine Weile und überlegte, ob sie dem kleinen
rotköpfigen Wicht überhaupt antworten sollte. Endlich aber sagte sie mit
fettiger Stimme:

»Ich heiße Kerze. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß ich
nicht auf vertraulichem Fuße mit Ihnen verkehren kann, denn Sie sind als
mein Diener hier angestellt. Mein Vater war der Baron von Rindertalg,
und meine Mutter stammt aus der reichen Kaufmannsfamilie Baumwolle. Ein
Verwandter von mir ist ein hervorragendes Kirchenlicht, und einer meiner
Brüder stand an der Spitze des Christbaumes, dicht neben dem
Weihnachtsengel. Sie unterhielten so enge Beziehungen, und der
wundervolle Engel verliebte sich derart in meinen Bruder, daß er vor
Sehnsucht zerfloß, denn er war eine wachsweiche Natur.«

»Das ist alles sehr interessant,« meinte das Zündholz, »aber Ihr Diener
bin ich denn doch nicht!«

»Aber freilich, Verehrtester, Sie sind ja nur meinetwegen hierher gelegt
und werden mich heut abend entzünden! Was meinen Sie wohl, welche Rolle
ich hier im Hause spiele! Ich bringe Licht in die ganze Geschichte. Ich
ersetze die Sonne, bin ihr Stellvertreter auf Erden. Ohne mich könnte
der junge Herr gar nicht seine schönen Gedichte zu Papier bringen, denn
das tut er nur des Nachts, und dann seufzt er, denn er liebt eine schöne
Dame.«

»Sehr interessant,« meinte der kleine Mann mit dem Holzbein wieder,
»aber wenn ich nicht wäre, dann könnten Sie gar nicht leuchten, denn ich
muß durch mein Feuer Sie erst entzünden. Seien Sie nicht so hochmütig!
Wenn ich auch nur klein bin und nur ein Holzbein habe, bin ich doch ein
tüchtiger Kerl, denn ich habe es im Kopfe.«

»Nur keinen Streit, mein Bester! Ich darf mich nicht erhitzen, das
schadet meiner Figur, und ich habe noch ein langes Leben vor mir. Sie
freilich, mit Ihrem Holzbein, sind schnell in Asche zerfallen, aber ich
zehre von meinem Fett und überlebe Sie und alle Ihre Brüder.«

Der alte Tisch mit den seltsam verschnörkelten krummen Beinen, der schon
länger als ein Jahrhundert in diesem Hause diente, knackte plötzlich
laut, so daß die beiden erschraken und der Holzwurm, der in dem alten
Möbel hauste, zu bohren aufhörte. Es war, als ob der Tisch irgend etwas
knurrte, aber man konnte den alten Burschen nicht verstehen.

»Sie sind schrecklich aufgeblasen und hochmütig wie alle reichen Leute,
die von ihrem Fett zehren,« meinte das Zündholz, »aber wenn Sie auch ein
wenig länger leben als ich, sterben müssen Sie auch einmal, und ob Sie
das in Ihrem letzten Stündlein so mutig tun werden wie ich, das ist noch
die Frage, denn ich verschieße im letzten Moment mutig mein Pulver, wie
ein alter Soldat, daß es zischt und pufft, und dann hat die liebe Seele
Ruhe, ich habe meine Schuldigkeit getan, und damit Gott befohlen! Denn
darauf kommt es im Leben allein an, daß man seine Schuldigkeit tut. Wir
waren sechzig Schweden in einer Schachtel; alle taten ihre Pflicht; sie
gaben Feuer und starben. Nur zwei waren Drückeberger; sie brachen
zusammen, und der Herr schleuderte sie wütend ins Wasser und sagte:
»Lumpenzeug!«

»Nun,« sagte die Kerze, »es wird sich alles finden. Wenn Sie mich nur
heut abend nicht im Stich lassen und kräftig Feuer geben, denn dazu sind
Sie hierher gelegt. Mein Zopf ist schön gedreht und gefettet. Noch ist
er weiß, aber je älter ich werde, je länger ich leuchte, um so dunkler
wird er. Es ist umgekehrt wie bei den Menschen. Die haben in der Jugend
einen schwarzen Zopf und im Alter einen weißen! Schade, daß Sie mich
nicht strahlen sehen können. Aber zu Herzen wird es mir doch gehen, und
dann weine ich große Tropfen, die an meinem Kleide niederrollen. Ja, das
Leben ist schwer!«

Der kleine hölzerne Gesell schwieg. Die Kerze war ihm zu hochnäsig und
selbstgefällig. Da lag er in seiner winzigen hölzernen Bettlade und
träumte vor sich hin.

Und dann ging die Sonne unter und die Nacht kam, und es war dunkel
ringsum. Die Finken, die in den hohen Bäumen vor dem Hause gelärmt
hatten, waren schlafen gegangen, und hinter dem mächtigen alten
Kachelofen wisperten die Mäuse. Dann schlug die alte brummige Turmuhr
neun, und da ging die Tür auf, und der junge Mann trat ins Zimmer.

Jetzt, dachte die Kerze und war so aufgeregt, daß sie an Herzschlag
gestorben wäre, hätte sie eines besessen. Die Sonne ist schlafen
gegangen, der Mond ist all diese Tage an Amerika verborgt, nun komme ich
dran. Mein Licht allein leuchtet durch die Finsternis.

Da ergriff der junge Mann die hölzerne Lade mit dem Zündhölzchen. »Eines
nur,« meinte er, »hoffentlich tut es seine Schuldigkeit!«

Der Mann mit dem Holzbein aber stand kerzengerade zu Befehl, wie ein
braver, guter Soldat von anno dazumal, und mutig ließ er sein Leben für
die Pflicht.

»Leben Sie wohl!« schrie er, als er mit seinem dicken Pulverkopf gegen
die Reibfläche stieß, und dann puffte und zischte er und gab Feuer, denn
das war sein Beruf. Schnell verkohlte er und zerfiel in Asche, aber die
Kerze konnte das alles gar nicht beobachten, denn nun kam sie an die
Reihe. Der junge Mann setzte ihr weißes Zöpfchen mit dem Zündholz in
Brand, und das war der feierlichste Augenblick in ihrem Leben, denn nun
strahlte sie ihr helles Licht aus und meinte, sie könne es mit der Sonne
aufnehmen.

Der junge Mann, der die schöne Dame liebte, saß bis tief in die Nacht
hinein und schrieb Gedichte, und dann seufzte er. Die Kerze aber wollte
immer heller leuchten; ihr Zöpfchen wurde immer länger, und ihre Flamme
flackerte. Da kam aber die große eiserne Lichtputzschere, sperrte ihren
Rachen auf und sagte: »Nur keine Aufregung, Jungfer!« Dann biß sie ein
Stück von dem Zopf ab, und die Kerze fand das so empörend, daß sie dicke
Tränen weinte. Aber die Lichtputzschere kümmerte sich nicht darum. Sie
hatte ein Gemüt wie ein Fleischerhund. Sie lag breitbeinig und mit
offenem Rachen zu Füßen der Kerze und wartete auf den nächsten Biß.

»Sie sind äußerst unliebenswürdig und verstehen nicht, mit Damen
umzugehen,« sagte die Kerze weinend, »hier zu meinen Füßen lag vorher
ein alter Soldat; der ging für mich durchs Feuer und ließ sein Leben für
mich. Aber Sie sind kein Kavalier.«

»Schnedderengteng! Hier herrscht Ordnung!« meinte die Schere und klappte
das Maul auf. »Ich tue hier meine Pflicht und damit basta! Damen mit
langen Zöpfen werden hier nicht geduldet. Ich liebe die langen Flammen
nicht; mein Herr auch nicht. Damen dürfen nicht rauchen. Sie haben aber
eben geraucht, gequalmt sogar, Verehrteste. Und nun hören Sie auf zu
weinen, sonst kriegen Sie die Abzehrung und sterben bald.«

»Meine Verwandte war ein hohes Kirchenlicht, mein Bruder der ...«

»Hat den Weihnachtsengel geschmolzen! Haben Sie ja vorhin schon alles
erzählt, Madame! Geben Sie Obacht auf Ihren Spitzenrock, den haben Sie
mit Ihren dicken Tränen schon ganz betropft. Je mehr Sie heulen, je
schneller geht es mit Ihnen zu Ende.«

»Ich lebe noch lange,« meinte die Kerze, »das Leben ist sehr
interessant, und man lernt immer wieder etwas Neues.«

»Schnedderengteng! Es ist immer wieder dasselbe. Ich liege hier schon an
die hundert Jahre und putze den Kerzen die langen Zöpfe, damit sie nicht
die Bude vollqualmen, aber es ist immer dasselbe. Die jungen Damen
denken immer, sie leben ewig und bleiben ewig strahlend schön und voll
Wärme, und dann sind sie übermütig und wollen hoch hinaus und denken, es
muß ein Prinz kommen, der sich in sie verliebt. Aber langsam werden sie
alle klein und häßlich, weinen immer mehr und kriegen ganz absonderliche
Figuren und dicke Füße. Lange Krokodilstränen hängen auf dem weißen
Kleide, der Zopf fasert aus, sie gewöhnen sich das Rauchen an, und es
fehlt nicht viel, so fangen sie noch an zu schnupfen wie der alte
Gustav, der hier morgens immer alles ins reine bringt. Endlich aber sind
sie so zusammengedörrt wie eine Backpflaume, klein und unansehnlich, und
dann will sie keiner mehr, und die Geschichte hat ein Ende. Ich mag das
ganze Weibsvolk nicht leiden. Ich war fünfundzwanzig Jahre mit einer
gewissen Kette verheiratet. Ich hing an ihr mit all meiner Kraft. Wir
standen in enger Verbindung mit einem sehr hohen Herrn, einem gewissen
Messingleuchter. Was soll ich Ihnen sagen, eines Tages riß sie sich von
mir los und ging mit dem Kerl auf und davon. Darum sage ich: Weg mit
dem Weibervolk, mit der Liebe und den langen Zöpfen! Alles
Schnedderengteng!« Sprach's und biß wieder ein Stück vom Zopf der Kerze
ab, denn die war so empört von der Rede des alten Bullenbeißers, daß sie
in hellem Zorn aufloderte.

»Wenn Sie mit der Kette auch so umgegangen sind wie mit mir, dann kann
ich es ihr nicht verdenken, daß sie mit dem Messingleuchter durchging,
denn Sie sind ein roher Patron. Aber für mich fängt das Leben erst an,
und ich glaube, es wird ganz interessant werden. Ich mache Furore und
sicher einmal eine gute Partie, eine glänzende Partie, wie es mir
zukommt. Freilich, den ersten besten würde ich nicht nehmen.«

Schrumm! sagte es plötzlich. Ein dicker Käfer, angelockt durch das Licht
der Kerze, war zum Fenster hereingeflogen und lag nun zu ihren Füßen. Er
hatte große Bürsten an den Beinen, und damit strich er über seinen
Schnurrbart und seine Frackflügel, denn er wußte, was sich schickt, wenn
man einer Dame seinen Besuch macht. Er machte eine gar possierliche
Figur, denn er war sehr dick, hatte einen kugelrunden Kopf und ganz
kurze Beinchen. Er kribbelte langsam an dem Leuchter herum, machte ein
paarmal seine Verbeugung und schien zu warten.

»Da kommt der erste Freier,« sagte die Lichtputzschere, »halten Sie sich
zu, sonst schwirrt er wieder ab.«

»Pee,« meinte schnippisch die Kerze, »er ist mir zu dick und zu klein.
Es wird noch ein anderer kommen. Ich habe Zeit, das Leben fängt ja erst
an!«

Der Käfer kletterte inzwischen an der Kerze hoch, und als er dicht bei
ihrem Flammengesicht war, knisterte sie so böse, daß er vor Schreck auf
den Tisch herunterfiel und auf seinen runden Rücken zu liegen kam. Da
lag er nun, strampelte unbeholfen mit den Beinen und konnte nicht wieder
aufkommen, bis ihm die Schere einen Arm entgegenstreckte und ihm wieder
auf die Beine half.

»Sehen Sie, Verehrtester, so geht es, wenn man auf Abenteuer ausgeht.
Suchen Sie sich eine andere Flamme, denn diese hier will hoch hinaus,
und man wird am besten mit ihr fertig, wenn man ihr den Zopf abbeißt.«

Der Käfer war ganz verstört. Schnurr, schnurr, sagte er, und dann flog
er in die Gardinen.

Aber schon kam ein neuer Freier daher! Das war eine Pferdemücke.
Entsetzlich dünn und langbeinig, eng geschnürt wie ein Gardeleutnant und
mit roten Stielaugen im Kopfe. Sie schnurrte immer rundum um die Kerze
und tat sehr verliebt.

»Herrgott,« sagte die, »was für ein dünner Schneider! Ein gräßlicher
Kerl! Ich mag ihn nicht um einen Wald voll Affen! Da muß ein ganz
anderer kommen!«

Die Pferdemücke war, geblendet durch die Flamme, in das Tintenfaß
geraten, hatte sich die Flügel gefärbt und kroch nun über das
Schreibpapier des Dichters, einen langen Strich mit Tinte hinter sich
ziehend. Da wurde er ärgerlich und warf sie in weitem Bogen zum Fenster
hinaus.

»Nun werden Sie eine alte Jungfer,« schnauzte die Schere. »Der eine ist
Ihnen zu dick, der andere zu dünn. Ja, denken Sie vielleicht, es kommt
ein Prinz?«

Aber wirklich, da kam ein Prinz! Ein niedlicher bunter Falter mit einem
blauen Seidenmantel und schwarzem Samtkragen. Er hatte zarte
Fühlhörnchen, umtanzte die Kerze und wisperte so fein, daß man es kaum
hören konnte. Zudem war es eine fremde Sprache, die keines im Zimmer
verstand. Der bunte Fremdling machte der strahlenden Kerze seine
tiefsten Verbeugungen. Vielleicht hielt er sie wirklich für die Sonne.
Ihr Licht und ihre Wärme lockten ihn, er war geblendet von ihrem Glanz
und umschmeichelte sie mit seinen surrenden bunten Flügeln.

Die Kerze fühlte sich äußerst gehoben. Stolz stand sie da. Endlich ein
eleganter junger Herr, dachte sie, und strahlte noch einmal so hell.

»Junger Mann,« brummte die Lichtputzschere, »hören Sie auf einen alten
Knasterbart, der das Leben kennt, und machen Sie, daß Sie fortkommen,
sonst gibt's ein Unglück! Ich sah schon manchen Ihresgleichen ein Ende
nehmen. Er verbrannte sich die Frackflügel an der Flamme und mußte zu
Fuß nach Hause gehen, oder es ging ihm wie jenem dicken Nachtschwärmer,
der an der Kerze hängen blieb und elend mit ihr versengte.«

Der kleine bunte Fremdling aber hörte nicht. Er taumelte um die Kerze,
und sie lockte ihn mit ihrem Strahlenlächeln.

»Das Leben ist doch schön!« sagte sie. »Nun liebt mich auch jemand so,
wie der junge Mann, der dort sitzt und Gedichte schreibt, das Fräulein
liebt.«

Da zuckte sie plötzlich erschreckt zusammen. Es gab einen kleinen Puff,
und der bunte Schmetterling fiel auf den Tisch nieder, gerade neben die
Lichtputzschere. Er hatte die Kerze küssen wollen, und richtig
verbrannte er sich dabei die Flügel. Da lag er nun und schnurrte
unbeholfen, und das schöne Spiel war aus.

»Sehen Sie, junger Mann! Was habe ich Ihnen prophezeit!« schnarrte die
Schere. »Übermut tut selten gut. Wer nicht hört, muß fühlen, und Jugend
hat keine Tugend!«

»Es ist schade,« meinte die Flamme, »aber vielleicht kommt ein anderer.«

»Sie sind ein herzloses Frauenzimmer, und außerdem rauchen Sie schon
wieder!« Mit diesen Worten sprang die Lichtputzschere empor, klappte das
Maul auf und biß herzhaft ein Stück von dem brennenden Zopf ab. Sie
konnte das tun, denn sie war von Eisen.

Die alte Uhr sagte zehn, und dann elf, und endlich zwölf. Die Kerze
wurde kleiner und kleiner und die Schatten im Zimmer immer länger und
länger. Alles tauchte immer mehr in Finsternis, und die Welt wurde so
beängstigend stille. Der Bohrwurm in der Tischplatte schlief, und der
kleine Schmetterling hatte sich traurig hinter den Büchern verkrochen.
Auch die Schere war eingenickt. Als die alte Uhr zwölf gesagt hatte,
brummte sie noch lange ganz leise vor sich hin, denn das war ihre größte
Arbeit, und nun mußte sie wieder mit eins anfangen, aber dann schliefen
die Leute schon, und keiner hörte zu.

Da erhob sich endlich der junge Mann, der das schöne Mädchen liebte. Er
seufzte noch einmal, und dann ging er ganz leise hinaus, hinüber in sein
Schlafzimmer. Aber der alte Gustav, sein Kammerdiener, hatte ihn doch
gehört. Er stellte die Pantoffeln zurecht und den Stiefelknecht, und
dann ging er hinüber in das Studierzimmer seines Herrn, um nach Ordnung
zu sehen. Da stand die Kerze noch auf dem Tisch und brannte noch. Aber
wie sah sie aus! Alt und häßlich! Ganz winzig klein war sie geworden und
flackerte ängstlich hin und her. Ihr Spitzenkleid war angesengt. Sie
weinte dicke, dicke Tränen und sagte einmal über das andere Mal: »Nun
ist es aus! Wie ist das Leben so kurz!«

Der alte Gustav nahm den winzigen Kerzenstumpf mit der Schere aus dem
Leuchter heraus. Aber seine alten zittrigen Finger zerdrückten ihn.

»Autsch!« sagte die Kerze, und dann verlöschte sie, und es war
rabenschwarze Nacht. Das winzige Wachsstümpfchen rollte in die Ofenecke,
und als der alte Gustav mit seinen Filzschuhen davongeschlurft war,
kamen die kleinen Mäuse hinter dem Ofen vor, strichen ihre Schnurrbärte,
schnupperten umher und verzehrten das Wachs. Nur den kleinen Zopf ließen
sie liegen.

Die Lichtputzschere erwachte, riß das Maul auf und gähnte. Alles schon
dunkel, dachte sie, die Jungfer Kerze ist inzwischen gestorben, wie es
scheint. Ja, das Leben ist kurz. Schnedderengteng, die Welt ist eng! --
Einmal werde auch ich in die Grube fahren, ich spüre es doch schon in
den Gelenken, daß ich hundert Jahre alt bin. Es ist das Zipperlein.

Der alte Tisch knackte, und da schwieg die Schere, denn sie wußte, er
war ein alter Brummbär und liebte das Reden nicht.

Seht, Kinder,» sagte der alte Doktor Ulebuhle und stopfte noch eine
Pfeife, «das war die Geschichte vom Zündholz und der Kerze. Die Kerze
glaubte wunder wie langlebig sie sei, aber die Schere und der Tisch, die
schon ein Jahrhundert lang im Dienste des Hauses waren, für die war die
Kerze so vergänglich wie das Zündhölzchen. Die Hauptsache ist, daß man
sich schlecht und recht durchs Leben schlägt und seine Pflicht tut,
damit einem die Lichtputzschere nicht fortwährend in den Zopf beißt.»

So sagte der schnurrige Alte, und dann nieste er, daß sein eigenes
Puderzöpfchen mit der kleinen Schleife entsetzt einen Seitensprung tat,
und schlurfte mit der Kerze uns voran, die alte steile Stiege hinab.




                           Der Weltuntergang


«Hier,» sagte der alte Ulebuhle und putzte seine mächtige Hornbrille,
«ist das Allerwelts-Vergrößerungsglas, das die Leute ein Mikroskop
nennen. Jetzt stellt euch alle um mich herum, und dann wollen wir
hineinsehen. Seht, da steht ein Gläschen mit trübem Wasser, das hat die
alte Christine aus dem kleinen Teich im Garten heraufgeholt, und nun
wollen wir einen Tropfen von diesem Wasser unter das Vergrößerungsglas
bringen und ihn viele hundert Male vergrößern.

Schaut her, das ist getan, und jetzt guckt hinein.

Oh, welch eine schnurrige Welt ist doch so ein Wassertropfen. Hui, wie
es da wibbelt und kribbelt. Tausend winzige Tierchen schießen hin und
her, tauchen auf und nieder, jagen sich und plagen sich, wirbeln
durcheinander wie die Menschen in einer großen Stadt. Seht, da sind die
winzigen Schiffchen, glasdurchsichtig sind sie alle. Mit ihren feinen
Wimperhärchen rudern sie pfeilschnell dahin, als ob sie wer weiß was für
wichtige Geschäfte zu vollführen hätten. Sie jagen nach Beute, sie
hetzen einander, sie gebärden sich so närrisch wie die Menschen und sind
für ihre kleine Welt vielleicht doch eben so gescheit wie die.

Da kommen andere, das sind die Rädertierchen. Sie haben am Kopfe so
einen drolligen Kranz von winzigen Fingerchen, die sind in ständiger
Bewegung, und es sieht aus, als ob es ein feines kleines Zahnrad wäre
aus einer ganz kleinen Uhr. Wenn sie es drehen, so entsteht ein kleiner
Wirbel im Wasser, und allerlei winziges Zeug wirbelt heran, gerade
hinein in ihr aufgesperrtes Maul. Ja, so ist es, und die Rädchen müssen
immer fleißig kreisen, sonst bleibt der Magen leer.

Seht, da ist mitten in der Wasserkugel eine Insel. Ein ganz kleines
Teilchen eines verwesenden Blattes ist es, mit dem freien Auge kann man
es gar nicht sehen, aber für diese kleine Welt ist es eine große Insel,
und all die Wasserwichte, die so klein sind, daß ein paar Hundert von
ihnen in einem Nähnadelöhr wohnen könnten, eilen aus allen Richtungen
des Wassertropfens herbei, denn hier gibt es Nahrung für viele Tausende
dieser schnurrigen Kerle. Seht ihr sie eilen, sich stoßen und drängen?
Seht, da tanzen welche in einem wilden Knäuel umeinander herum, wie die
Menschen auf einem Jahrmarkt, und es ist ein Gedränge bei der Nahrung
spendenden Insel wie bei der Würstelbude auf dem Schützenfeste. Ha,
welch eine wilde Jagd kommt daher! Seht, sie verfolgen einander, sie
fliehen und jagen nach wie Räuber und Polizeisoldaten, quer durch die
ganze Weltkugel von Wasser, vom Nordpol zum Südpol. Jetzt sind sie
verschwunden am Rande des Glases, vielleicht untergetaucht in dem weiten
Weltmeer des Wassertropfens.

Ja, wer hätte das gedacht, daß so ein winziger Wassertropfen, nicht
größer als eine halbe Erbse, eine ganz richtige Weltkugel ist, voll von
Bewohnern, die ein Leben führen wie wir. Hätten wir nicht unser
Vergrößerungsglas, wir wüßten gar nichts von ihrem Vorhandensein. Seht,
Kinder, wenn die Leute, die auf den fernen Sternen leben, nicht ganz
mächtige Vergrößerungsgläser haben, dann wissen sie gar nichts von der
Erdkugel, und daß wir Menschen darauf leben. Ja, die kleine Erde ist
unter den vielen Millionen Sternen auch nur so eine Art Wassertropfen.

Die kleinen Kerle in dem Wassertropfen wissen gar nicht, daß sie in
unserer Hand sind, daß wir über ihnen thronen wie der liebe Gott über
der ganzen Welt. Wenn wir mit dem Finger über das Glas wischen, dann,
Schrumm! ist die ganze Herrlichkeit in dem Wassertropfen zu Ende, und er
ist weggewischt und verschwunden. Ja, wenn die Bewohner des Tropfens uns
sehen könnten und wüßten, daß sie von unserer Gnade abhängen, so
glaubten sie wohl, wir wären der Herrgott selber.

Aber schaut her, es ist eine Veränderung mit der kleinen Welt vor sich
gegangen! Ja, seht, sie ist kleiner geworden. Die Wärme des Zimmers hat
langsam ein wenig von dem Wasser des Tropfens verdunstet. Es ist eine
schlimme Geschichte. Nun müssen sich die Bewohner der Wasserwelt auf
einen immer kleineren Raum zusammendrängen, die Welt ist für sie zu eng
geworden, und es gibt Mord und Totschlag da unten. Ja, es würde auf
Erden mit den Menschen nicht anders sein, wenn der Erdball plötzlich auf
die Hälfte zusammenschrumpfte. Nun drängen sich die armen Teufel alle
bei der kleinen Insel zusammen. Seht, wie sie kämpfen, wie sie einander
verjagen. Alles strömt der Mitte des Tropfens zu, denn keiner will aufs
Trockne geraten und sterben. Ja, es ist eine schlimme Geschichte, Krieg
und Revolution ist in der Wasserwelt ausgebrochen.

Aber die Natur kümmert sich nicht um das Elend im Wassertropfen. Die
Wärme trocknet den Tropfen immer mehr zusammen. Jetzt ist er nur noch
ganz winzig. In einem wilden Knäuel wirbeln die Bewohner durcheinander,
immer mehr sieht man eingetrocknet und bewegungslos als winzige
Stäubchen am Rande im Trockenen liegen, indes die andern noch immer um
ihr Leben ringen. Es hilft ihnen doch nichts, und wenn sie auch noch
eine Minute länger im letzten Tümpelchen sich halten. Der Gevatter Tod
hat auch hier in dem kleinen Wassertropfen Allmacht und erwischt sie
alle, die flinken Schiffchen und die zierlichen Rädertiere.

Schluß und aus! Seht, das ist das Ende. Nun ist der Tropfen
eingetrocknet. Nur ein graues Staubfleckchen sieht man noch im
Allerwelts-Vergrößerungsglas. All die munteren Burschen, die da hausten,
sind nur noch Stäubchen. Kein Schiffchen schießt mehr durch den Ozean
des Wassertropfens, kein Rädchen kreist mehr und wirbelt Nahrung herbei.
Es war ein kurzes Vergnügen.

Ja, da sahen wir nun einen Weltuntergang!

Freilich, es war nur eine kleine Welt, nur ein Wassertropfen, aber für
seine Bewohner war er doch die ganze Welt. Kein Hahn kräht danach, daß
die Geschichte dieser Welt ein Ende genommen hat, aber wenn morgen die
Erdkugel untergehen würde, dann würden sich die Menschen auf den anderen
Sternen auch weiter nicht darum kümmern, denn die Erde ist auch nur eine
kleine Welt, die Sonne ist viele millionenmal größer, und des Abends
seht ihr viel hunderttausend Sterne und Erden da oben am Himmel blinken,
mindestens soviele, wie es Wassertropfen gibt im Gartenteich. Der liebe
Gott taucht einen Finger ein und spritzt einen neuen Erdenstern in den
Himmelsraum, und wenn der alte Ulebuhle will, taucht er seinen Finger in
das Kribbel-Krabbelwasser und tupft eine neue Wasserwelt unter das
Vergrößerungsglas, aber das tut er nicht, denn ein Weltuntergang am Tage
ist genug!»




                       John Dolland, der Taucher


Das Haus des alten Ulebuhle am Frankenberger Plan zu Goslar, das so
putzig aussah mit seinem Jahrhunderte alten, spitzen Schieferdach, dem
bunten Holzwerk und den kleinen Fensterchen, war wie ein Museum. Bücher
und Instrumente und Sammlungen aller Art füllten es vom Keller bis zum
hohen Giebel. Überall standen uralte Truhen mit eisernen Bändern und
Messingschlössern, und sie waren angefüllt »mit tausend
Schnurrpfeifereien«, wie die alte Christine sagte, aber die verstand
nichts davon. Da gab es Kästen mit seltsamen Muscheln und Käfern, mit
versteinerten Tieren, mit Totengebein und ausgestopften Vögeln. Alte
Uhren und Seefahrerinstrumente, Vergrößerungsgläser, seltsame Münzen und
Briefmarken, Eier von indischen Vögeln, Bogen, Pfeile und Messer wilder
Völker füllten Kisten und Kasten.

Und noch ein ganz besonderer Schrank stand im Studierzimmer des
seltsamen Alten. Hinter den Scheiben war eine grüne Gardine; man konnte
die Dinge, die da lagen und standen, nicht sehen, aber zuweilen -- wenn
wir Kinder kamen -- kramte der gelehrte Mann zwischen diesen Raritäten
herum, und da sahen wir denn allerlei krauses Zeug. Ein paar ganz
merkwürdige Tabakspfeifen, riesige Schlüssel, einen rostigen Säbel, eine
zerbrochene bunte Tasse, eine reichverzierte Schnupftabaksdose, einen
alten Gänsekiel, der früher als Schreibfeder gedient hatte, eine grüne
Weste, eine leere braune Bouteille, Knochen, Metallteile von einem
Sargdeckel, vergilbte Briefe, Lorbeerkränzlein und vieles andere.

«Das ist des Doktor Ulebuhle Erinnerungsschrein,» sagte die alte
Christine, wenn wir sie fragten. «Ihr dürft ihn nicht stören, wenn er in
dieser Raritätenkiste herumkramt, denn jedes Stück ist irgend ein Zeuge
seltsamer Erlebnisse oder stammt von berühmten Männern, die längst im
Grabe ruhen.»

Als wir eines Tages wieder bei ihm erschienen, stand er vor dem alten
Schrein und betrachtete mit seiner mächtigen Hornbrille einen eisernen,
rostigen Riegel. Wir standen still daneben, um ihn nicht zu erzürnen,
und begriffen nicht, was es an dem alten Eisenstück zu sehen gäbe. Da
drehte sich der Alte plötzlich um und sagte:

«Seht her, ihr Racker! Dieses Eisenstück ist weit her. Einst lag es auf
dem Grunde des Meeres. Da hat es einem Menschen das Leben gerettet.
Dieser Mensch war meines Vaters Freund. Er hieß John Dolland und war ein
Taucher. Und weil ihr mir so brav von den Bergwiesen Kräuter gesammelt
habt, will ich euch heute die Geschichte, die mit dem alten rostigen
Riegel zusammenhängt, erzählen, so wie sie John Dolland uns selbst
erzählte.»

Der Alte schlurfte zu seinem hochlehnigen Sorgenstuhl, nahm umständlich
eine Prise, nieste zweimal, wie es bei ihm alter Brauch, und dann begann
er seine Geschichte.

«Damals, als John Dolland der Taucher zu uns kam, war ich selbst noch
ein Bub. Mein Vater hatte ihn auf einer langen Seereise, die ihn als
Arzt bis herunter nach Südafrika geführt, kennengelernt. Zu jener Zeit
gab es noch keine Eisenbahnen und kein Dampfschiff und all das andere
Teufelszeug, mit dem sich der moderne Mensch herumärgern muß, und allein
die großen Segelschiffe fuhren nach fernen Ländern. -- John Dolland war
ein echter rechter Seemann nach altem Schlag. Groß und breit und
wetterhart. Blaue Augen saßen in dem braunen Gesicht, und im linken
Ohrläppchen trug er einen Goldring. Das war ein alter Brauch.

Drei Tage und Nächte wohnte er in unserem Hause und erzählte mit meinem
Vater von alten Seefahrten. Und eines Abends, als der Regen rauschte und
der Wind durch die Schlüssellöcher winselte, als die gute Mutter bei uns
saß und strickte, die Männer einen heißen Grog tranken, zog der Taucher
den alten Eisenriegel hervor und wickelte sein Garn ab, wie die Seeleute
sagen, wenn sie eine Geschichte erzählen.

»Herr Doktor,« sagte er, »ich habe Ihnen gestern versprochen, mein
Erlebnis mit der >Isabella< zu erzählen. Heut, so kalkuliere ich, ist
der rechte Augenblick dazu, und so will ich das Ding abrollen. Also das
war im Jahr 1822, und ich trieb damals so zwischen Gibraltar und den
Kap-Verdeschen Inseln mein Handwerk. Das war eine vielbefahrene
Wasserstraße, und manches gute Schiff kam bei den Azoren, bei Madeira,
den Kanarischen Inseln oder den Kap-Verden auf Grund, und ein guter
Taucher konnte da immer einen Beutel Silberlinge verdienen. Eines
Abends, ich arbeitete gerade im Hafen von Funchal auf der schönen Insel
Madeira, wo unter Wasser an den Hafenanlagen große Ausbesserungen nötig
waren, kam ein Bote zu mir, den der alte berühmte Tauchermeister Cook
gesandt hatte. -- Ein großer Segler, der von Lissabon, der Hauptstadt
Portugals, nach hier unterwegs war, sei draußen auf See, nordöstlich von
Porto Santo in der Nacht untergegangen, und der alte Cook wolle mit mir
über die Sache sprechen.

Ich saß mit meinen Kameraden bei einem guten Schluck Portwein in der
uralten verräucherten Taverne >La Paloma<; wir spielten Karten und
rauchten, daß die alte Ölfunzel an der Decke kaum noch durchdringen
konnte. »Kinder,« sagte ich zu meinen Kumpanen, »der Mensch kann nicht
mehr als ein ehrliches Stück Arbeit tun, und dann hat er seinen Schluck
Wein und seine Pfeife Tabak verdient; Wenn der alte Wassermolch glaubt,
daß ich zu dem weggesackten Kasten vor Porto Santo heruntersteige, dann
hat er falsche Segel gesetzt. -- Sagt ihm das, Jüngling, und laßt Euch
auf meine Kosten eine Pinte Roten vom Wirte geben.«

Der Bote tat so, und ging wieder mit starker Schlagseite unter Segel.

Als wir noch so ein Stündchen gespielt hatten, ging plötzlich die Tür
auf, und aus dem dichten Tabakrauch tauchte Oll Cook auf, rund wie ein
Oxhoft Wein.

»Jungens,« sagte er, »ich denke, wenn der Berg nicht zu Sankt Peter
kommt, dann kommt Sankt Peter zum Berg.« Und damit ließ er sich
schnaufend an dem breiten Eichentisch nieder.

»Wirt,« schrie ich, »einen großen Humpen, einen ganz großen Humpen vom
Allerbesten für Seine Eminenz Oll Cook, die bravste Teerjacke zwischen
den Wendekreisen.«

Da saßen wir denn und pokulierten und schmokten, daß einer den andern
nicht mehr sah, aber so gegen Mitternacht meinte der alte Wassermolch
plötzlich ganz ruhig: »So, und morgen früh fahren wir mit dem
Taucherschiff raus und John Dolland sieht nach der gesunkenen
>Isabella<. Sie liegt bei dreißig Faden[3] tief, und wenn John Dolland
nicht heruntergeht, ein anderer kann's schon gar nicht; höchstens Nils
Nielsen, aber der fühlt sich seit Tagen nicht so recht wohl, sein Magen,
sagt er, muß kalfatert[4] werden.«

»Dreißig Faden,« sagte ich, »das ist ein hübsches Ende. Da kann einem
die Puste bei wegbleiben. Da hab ich aber auch kein Quentchen Lust zu!
Was ist es denn mit diesem Kasten von >IsabellaIsabella< kam von Lissabon, und an Bord war ein
ganz hohes Tier von der Regierung, ein Gesandter oder so was, und er
hatte wichtige Papiere bei sich, an den Gouverneur dieser Insel. Auch
Waffen und Pulver für die Hafenkanonen waren an Bord. Es muß irgend ein
Unglück damit geschehen sein, eine Explosion, denn sonst hätte das gute
Schiff in der ruhigen und windstillen Nacht nicht plötzlich und schnell
sinken können. Der Leuchtturmwächter bei Porto Santo hat auch draußen im
Meer in der Nacht einen grellen Lichtschein und einen starken Knall
wahrgenommen. Das hängt wohl mit dem Unglück zusammen. Die
portugiesische Regierung zahlt einen hohen Preis für die Papiere. Ihr
Vertreter war heut bei mir und hat mich gebeten, für einen zuverlässigen
Taucher zu sorgen, und ich sagte ihm, daß dreißig Faden für einen
Christenmenschen mit einem gewöhnlichen Herzen und Lungen, die nicht aus
Büffelleder sind, zu viel wären. Ich kenne nur einen, der es versuchen
könnte, und das ist John Dolland, aus dem der Herrgott eigentlich einen
Zugochsen machen wollte und sich im Teig und in den Knochen vergriffen
hat!«

»Einen Schluck zu Ehren Oll Cooks,« sagten lachend meine Freunde, »das
ist ein wahres Wort!«

Ich war immer noch im Zweifel, ob ich das schwierige Stück Arbeit
übernehmen sollte, aber da rückte der schlaue Fuchs noch mit einer neuen
Geschichte heraus.

»Früher, als ich noch ein junger Kerl war, Maate, habe ich manches
ähnliche Stück vollführt, und da waren die Taucheranzüge und die
Luftpumpen noch nicht so gut wie heut, aber jetzt kann ich das nicht
mehr. Indessen, beinahe würde ich es dennoch wagen, denn es befand sich
an Bord der >Isabella< auch noch eine junge Frau, die ihre beiden Kinder
von hier nach Spanien herüberholen wollte, in die Heimat. Ihr Gatte, ein
Offizier, bei dem die Kinder hier lebten, starb vor kurzem. Nun ist auch
sie mit dem Schiff zugrunde gegangen, und die armen Waisen standen den
ganzen Tag am Leuchtturm und starrten weinend hinaus auf die See, die
ihnen die Mutter nahm. Wahrscheinlich hat die Frau ihr Barvermögen bei
sich. Auch das könnte man retten, und es wäre eine gute Tat, denn
welcher Seemann hülfe Kindern nicht, die das nasse Element so schwer
geschlagen!«

»Oll Cook,« sagte ich, »Ihr sprecht wie ein Advokat und würdet eine
verlorene Seele aus dem Fegefeuer herausreden. Also gut! Die Kinder
sollen sehen, daß ein Seemann noch mehr kann als Grog und Portwein
trinken. So will ich also herunter zur >Isabella<, aber nur unter einer
Bedingung, nämlich daß Ihr selbst auf dem Taucherschiff alle Arbeiten
leitet, denn wenn nicht alles bis aufs I-Tüpfelchen seine Ordnung hat,
riskiert man Kopf und Kragen bei dem Geschäft!«

»Selbstverständlich, Maat!« rief der Alte freudig und hieb mir mit
seiner noch immer eisenfesten Pranke kräftig auf die Schulter. »Und nun,
Jungens, schnell noch ein paar Augen voll Schlaf, denn morgen früh bei
Sonnenaufgang geht's hinaus auf die See.«

Da trollten wir denn von dannen. Draußen war es dunkel und etwas neblig,
aber die Kupfernase des alten Cook leuchtete wie eine Backbordlaterne
durch die Finsternis.»

Doktor Ulebuhle unterbrach hier seine Erzählung, um sich eine frische
Pfeife zu stopfen, und die alte Christine brachte Tee für uns Kinder und
einen guten Abendtrunk für ihren Herrn. Dann stocherte sie noch ein
wenig im Kamin herum und schlurfte wieder davon.

«So ein Taucher hat ein gefahrvolles Handwerk, Kinder,» hub der Alte
wieder an. «Es ist keine Kleinigkeit, auf den Boden des Meeres
hinabzusteigen, und das ist überhaupt nur für eine ganz geringe Tiefe
möglich, so etwa bis auf rund sechzig bis siebzig Meter. Damals, als
John Dolland tauchte, war das noch ein großes Wagnis, und man begreift,
daß er keine Lust verspürte, das dreißig Faden, also fünfundfünfzig
Meter tief liegende Schiff aufzusuchen.

Was aber ist es, das die Arbeit unter Wasser so schwierig macht? Nun, es
ist der Druck der Wassermassen auf den menschlichen Körper! Seht, wir
alle leben ja eigentlich auf dem Grunde eines Meeres, nämlich des
Luftmeeres, und da die Luft viele Kilometer hoch emporreicht, so drückt
sie auch auf uns, und wir könnten uns viel leichter bewegen, wenn der
Raum um uns luftleer wäre, wie es auf dem Monde der Fall ist.

Das Wasser aber ist fast achthundertmal schwerer als die Luft, was ihr
ja alle merkt, wenn ihr mit dem leeren Eimer, in dem nur Luft ist, nach
dem Brunnen geht, und mit dem gefüllten Eimer zurückkommt. Steigt der
Taucher nun ins Meer hinab, so drückt die Wassermasse mit immer größerer
Wucht auf ihn, je tiefer er geht. Dieser Druck aber wirkt auf den
menschlichen Körper, der eben nicht für das Meer, sondern für die
Erdoberfläche gebaut ist, schädlich ein. Herz und Lungen werden in ihrer
Tätigkeit sehr gestört. Bei alten Tauchern findet man zudem häufig
Blindheit, fast immer aber Taubheit und allerlei Herzkrankheiten.

Läßt man eine leere Blechbüchse tief herab auf den Meeresgrund und zieht
sie dann wieder herauf, so ist sie zusammengedrückt, und eine Kugel aus
Kork wird fast so flach wie ein Taler. Aber das ist freilich erst in
mehreren tausend Metern Tiefe möglich. Ja, ihr Buben, so tief ist das
Meer. An manchen Stellen, bei den Japanischen Inseln, ist es neuntausend
Meter tief, und wenn man da den höchsten Berg der Erde hineinstellen
würde, der in Asien liegt und Gaurisankar heißt, dann guckte er nicht
einmal mehr mit der Nasenspitze heraus, denn er ist nur
achttausendachthundertvierzig Meter hoch.

Nun denkt einmal an, daß die Taucher noch nicht einmal hundert Meter
tief heruntersteigen können. Wie wenige Schiffe, die gesunken sind,
liegen in so flachem Wasser! Auf ewig bleiben also die versunkenen
Menschen und Schätze in diesen Tiefen unseren Augen verborgen. Sie
liegen in der grausigen Finsternis da unten, wo ewiges Schweigen
herrscht, denn weder das Sonnenlicht noch der Wellenschlag dringen hinab
auf den Grund des Ozeans.

Aber nun will ich euch weiter berichten, was John Dolland der Taucher
erzählte!

»Am andern Morgen, bei Sonnenaufgang,« so sagte er, »waren wir alle auf
dem Taucherschiff versammelt. Der alte Cook, mein Kamerad Nils Nielsen,
der Beamte der portugiesischen Regierung, der sogar ein Bild von dem
ertrunkenen Gesandten mitgebracht hatte und alle Leute, die dienstlich
bei der Taucharbeit zu tun hatten. Als wir eben nach Porto Santo
hinausfahren wollten, kam noch eine fromme Schwester mit den beiden
Kindern, deren Mutter mit der >Isabella< in die Tiefe ging, denn da
nirgendwo ein Rettungsboot angekommen war, mußte man annehmen, daß das
Unglück nächtlicherweile und urplötzlich erfolgt sei und niemand ihm
entgangen war.

»Hier, ihr Kinder,« rief der alte Cook, »seht ihr den Mann, der
hinabsteigen will zu eurer ertrunkenen Mutter! Er wird euch mit
heraufbringen, was sie an Gütern bei sich trug. Wünscht ihm Glück und
Gottes Schutz. Er ist ein tapferer Mann, und hauptsächlich um euch zu
nützen, wird er tauchen!«

Die weinenden Kleinen flüsterten kaum hörbar ihre Bitten. Die fromme
Schwester schlug ein Kreuz und betete für gutes Gelingen, und dann
gingen wir unter Segel und verließen die Bucht von Funchal.

Wir wendeten nach Norden. Noch war es frisch; ein leichter Dunst lag auf
dem Wasser, aus dem in der Ferne da und dort, wie weiße Schmetterlinge,
ein paar Segler auftauchten. Ein schwacher Wind nur strich über das
blaue, fast glatte Meer; zum Tauchen ein vortreffliches Wetter.

Bei Porto Santo kam der Leuchtturmwärter zu uns an Bord, um die Stelle
zu zeigen, bei der etwa die >Isabella< gesunken sein mußte. Bald hatten
wir diese dem Lande nahe Gegend erreicht. Wir ließen einen Anker bis
fast zum Meeresgrunde herab und fuhren nun ganz langsam kreuz und quer,
bis nach etwa einstündigem Suchen der Anker faßte. Wir zogen ihn empor
und umfuhren das Hindernis von allen Seiten, immer wieder mit dem Anker
seine Lage prüfend. Kein Zweifel, hier lag ein gesunkenes Schiff. Einmal
saß der Anker fest, und als wir ihn losrissen und emporwanden, hing
Takelwerk zwischen seinen Klauen. So hatten wir also die >Isabella<
aufgefunden, schneller als wir erwartet hatten. Das Taucherschiff wurde
nun mit mehreren Ankern festgelegt, und jetzt begannen die
Vorbereitungen, die Oll Cook, der erprobte Tauchermeister, mit
gewissenhafter Sorgfalt leitete.

Wir Taucher da drunten auf dem Meeresgrund sind ja mit Leib und Leben
abhängig von der Luft, die uns von oben her durch den Schlauch zugepumpt
wird. Geht der Schlauch entzwei oder die Luftpumpe, dann ist es mit der
Herrlichkeit vorbei, wenn man nicht selber schnell nach oben kommt, was
nicht immer möglich ist. Aber gottlob passiert es selten, daß die
Apparate versagen. Die Druckpumpe, die mir die Luft zuführen sollte,
wurde genau untersucht, zuverlässige Leute zu ihrer Bedienung wurden
ausgewählt, und dann zog ich mir in aller Ruhe meinen Taucheranzug an,
von Oll Cook unterstützt. Der Anzug war fast neu und vollkommen
wasserdicht. Gummimanschetten schlossen ihn an den Hand- und Fußgelenken
ab. Dann zog man mir die schweren Taucherstiefel an, mit den dicken
Bleisohlen, die dafür sorgen, daß man im Wasser einen festen Stand hat
und nicht umkippt wie ein leichtes Holzmännchen. Endlich kam die runde
Kupferkugel des Helmes an die Reihe, die den Kopf umschließt. Sie wurde
am kupfernen Halsring des Taucheranzuges festgeschraubt. Ein
Gummistreifen schützte auch hier gegen das Eindringen des Wassers. Nun
den Gürtel um, mit dem Dolchmesser, das gegen Haifische und andere
gefährliche Burschen schützen kann, und wir sind soweit.

Oll Cook schraubte bereits den Luftschlauch, der von der Luftpumpe
kommt, an meinem Helm fest, und Nielsen hatte schon das Verschlußstück
des Helmes, mit dem dicken Glasfenster, in der Hand, um mich ganz von
der Außenwelt abzuschließen, aber ich nahm noch einmal schnell meine
geliebte alte Tabakspfeife, um einige Züge zu tun. »Nils,« sagte ich,
»alter Bursche, man kann nie wissen, was der Teufel mit einem vorhat,
und ob man noch einmal einen Gipskopf voll Kanaster in die Luft paffen
kann, und darum soll man's beizeiten tun!«

»Richtig,« sagte der alte Cook. »Das habe ich auch immer so gehalten,
Maate. Und noch eins, mein Junge! Für die Schiffskasse und die
Schiffspapiere bekommen wir einen ganz hübschen Batzen extra, der für
jeden mindestens ein Stückfaß vom besten Rum und eine Klafterkiste voll
Holländer Tabak ausmacht! Sieh zu, daß du den Krempel heraufbringst.«

Da trat auch der Portugiese heran, der bisher neugierig zugeschaut
hatte, wie ich in meinen Wasseranzug schlüpfte. Er hatte ein viereckiges
Glasstück, mit einer seidenen Schnur daran, in das eine Auge geklemmt
und trug einen hohen Zylinderhut, der uns Teerjacken ringsum sehr
komisch vorkam. »Seht noch einmal das Bild des Senor Cabrella an,
Meister Dolland. Tausend Peseten in Gold zahlt meine Regierung für die
Papiere, die er bei sich trug. Geht ans Werk und die heilige Jungfrau
sei mit Euch!«

Ich nickte und versprach zu tun, was sich ermöglichen ließ. Tausend
Peseten -- hörte ich Oll Cook brummen. Und sicher berechnete er im
Kopfe, wieviel Stückfässer Rum man dafür kaufen könne, denn sein roter
Riechhaken schnupperte verdächtig in der Luft herum.

»Fertig!« rief ich.

Man schraubte das Helmfenster zu. Die Männer an der Luftpumpe traten in
Tätigkeit, Cook befestigte die Signalleine, mit der der Taucher durch
ein- oder mehrmaliges Ziehen von unten sein Zeichen gibt, an meinem
Gürtel, und dann schlurfte ich mit meinen schweren Bleischuhen der
Strickleiter zu, die über Bord hing.

Das Letzte, was ich sah, war der Zylinderhut des Mannes mit dem
Glasscherben im Auge, dann war ich unter Wasser, und Kühle drang zu mir.
Am Ende der Strickleiter ergriff ich das Seil und zog kräftig daran. Da
ließ man mich an ihm langsam und vorsichtig hinab, tiefer und tiefer. --
Um mich war die grünliche, klare Flut. Über mir, der dunkle Schatten,
war der Boden des Taucherschiffes.

Ganz langsam glitt ich tiefer und tiefer, hin und wieder hing ich mal
eine Weile unbeweglich am gleichen Ort, denn es ist von großer
Wichtigkeit, daß der Taucher seinem Herzen und seinen Lungen Zeit gibt,
sich an den veränderten Wasserdruck zu gewöhnen, ehe er in immer größere
Tiefen hinuntertaucht. Das Wasser war von gläserner Durchsichtigkeit,
und weithin konnte ich kleine, zierliche Fischchen blinken sehen. Unter
mir gewahrte ich nach einiger Zeit auf gelblichem Grunde undeutlich eine
verschwommene dunkle Masse; offenbar war es das gesunkene Schiff, doch
war ich noch nicht tief genug, um Einzelheiten zu erkennen.

Ich glitt, immer wieder meine Fahrt unterbrechend, tiefer und tiefer
hinab, und langsam wurde es dunkler um mich her. Selbst in sehr klarem
Wasser ist es in dreißig Metern Tiefe am hellen Mittag schon schummrig,
wie droben auf dem festen Lande zur Zeit der Abenddämmerung, und nun gar
dreißig Faden oder fünfundfünfzig Meter tief kann man nicht mehr viel
sehen, denn soweit dringt das Sonnenlicht nur in günstigsten Fällen.
Hier aber lag heller Sand am Grunde, und er war bedeckt mit Millionen
silbrig schimmernden Muscheln und Muschelsplittern, und so ging es
einigermaßen. Außerdem sind wir Taucher an das Arbeiten bei dieser
Beleuchtung gewöhnt und sehen, wie die Maulwürfe, fast noch im Dunkeln.

Nicht überall ist der Meeresgrund so günstig. Ich tauchte an Stellen, wo
er mit einem zähen Schlamm bedeckt war, in dem man leicht versank. Das
war freilich an der englischen Küste, in der Nähe der Einmündung eines
großen Flusses, der viel Sand und Schlamm am Grunde ablagert. An anderen
Orten wieder sah der Boden wie ein wilder Wald aus, bedeckt mit einem
Gewirr von Schlingpflanzen, worin man sich fortwährend verhedderte und
aller paar Minuten auf der Nase lag. Dann aber gibt es auch Stellen, da
ist es bergig. Es geht auf und ab, Schluchten und Felswände stehen da,
oder Korallenriffe steigen aus der finsteren Tiefe auf.

Der alte Cook machte seine Sache wirklich vorsichtig! Nach acht Minuten
berührte mein Fuß den Grund. Ich gab durch Ziehen an der Leine
Nachricht, daß ich drunten angekommen.

Zwanzig Schritt von mir entfernt hob sich vom Grunde die dunkle Masse
der >Isabella< ab. Sie lag schräg gegen eine Sandwelle, ihre Masten
ragten gespenstisch aufwärts, und Segel und Tauwerk hingen in
abenteuerlichen Formen hernieder. -- Unten bist du nun, alter Knabe,
sagte ich zu mir, jetzt nimm dich zusammen, daß du auch wieder gut nach
oben kommst. Eile mit Weile. Abrackern darf man sich in solcher Tiefe
nicht, sonst ist man in fünf Minuten so erschöpft, daß man schleunigst
das Aufzugsignal geben muß, wenn man nicht ein schlimmes Ende nehmen
will. Langsam und bedächtig kletterte ich an über Bord hängendem Tauwerk
hinauf auf Deck. An zwei Stellen sah ich Seeleute liegen, aber ich hielt
mich nicht auf, denn zu helfen war den armen Teufeln ja nicht mehr, und
hier unten sind die Minuten kostbar. Eine Viertelstunde konnte ich es
wohl aushalten, aber was sollte in dieser Zeit alles geschehen!

Hier oben war weder etwas vom Kapitän noch von dem Gesandten noch von
der Mutter jener Waisen zu sehen. Sicher befanden sie sich unter Deck.
Vorsichtig, immer meinen Luftschlauch und meine Signalleine vor
Verwicklungen mit dem Segelwerk schützend, wandte ich mich zu der
Treppe, die hinabführt zum Schiffsinnern, zu den Kajüten. Aber da war
nicht durchzukommen. Die >Isabella< war ein alter, unmoderner Kasten.
Die Tür am Ende der Treppe war durch einige Fässer und Balken, die im
Augenblick des Sinkens ins Rollen gekommen waren und sich vor die Tür
gelegt hatten, gesperrt. Bald entdeckte ich aber einen zweiten Eingang,
eine einfache Öffnung, die mit einer Falltür zu verschließen war. Eine
steile Stiege führte hinunter, und ich kroch vorsichtig hinein.

Es war stockdunkel da unten. Ganz allmählich gewöhnte sich mein Auge an
das schwache Licht, das durch die mit dicken Glasplatten bedeckten
Bullaugen, den Oberlichtfenstern und Seitenfenstern, hineindrang. Gleich
am Ende des schmalen Ganges lag die Kajüte des Kapitäns. Er selbst war
nirgends zu sehen. Aber der eiserne Kasten unter dem Kartentisch
enthielt sicher Schiffspapiere und Schiffskasse. Ich beschloß, erst
einmal dieses eiserne Ungetüm nach oben zu bringen. Droben auf dem
festen Lande hätten zwei starke Männer ihre ganze Kraft nötig gehabt,
das schwere Ding zu bewegen, aber unter Wasser sind alle Gegenstände
viel leichter. Es ist, als ob das Wasser den eingedrungenen Fremdling
wieder nach oben drücken will, und dieser Druck bewirkt, daß wir ihn
weitaus leichter halten und emporheben können. -- So schleifte ich denn
den großen Kasten bis zur Luke und bugsierte ihn die steile Stiege
hinauf. Endlich stand er oben, und ich gab das Signal, ein Seil
herabzulassen. Nach einer Minute schwebte es, mit Eisenstücken
beschwert, nahe bei mir. Die Kiste wurde befestigt, ein Zug am Tau, und
langsam wurde die kostbare Last von den Kameraden droben emporgewunden.
Sie entschwand meinen Augen im grünlichen Schimmer über mir.

Ich hatte mich inzwischen derart an das geringe Licht gewöhnt, daß ich
deutlich das Leben des Meeres um mich her wahrnahm. In allerlei
wunderlichen Formen schwammen seltsame Geschöpfe an mir vorüber. Manche
standen wie lauschend still zwischen dem Takelwerk des gesunkenen
Schiffes. Da zog lautlos ein Pelikan-Weitmaul heran, ein mißgestalteter
Geselle, wohl einen halben Meter lang und nicht unähnlich einem großen
Schöpflöffel, denn der ganze Bursche besteht fast nur aus einem
Riesenmaul. Er war schwarz wie eine Katze und blickte blöde meinen
kupfernen Helm an, bis er, sicherlich verwundert über das seltsame
Wesen, das er hier traf, langsam in der Ferne verschwand. Liebliche, in
allen Farben schillernde Seerosen und Medusen kamen angeschwommen, fast
durchsichtig war ihr zarter Leib, und mit ihren zarten Armen flatterten
sie hin und her, griffen nach unsichtbaren Dingen. Wie Spielzeuge aus
Glas waren sie anzuschauen, bunt und zerbrechlich. Riesige Seesterne,
mit fünf langen Armen glitten lautlos vorüber, gräßliche Tiefseekrebse
mit starren Stielaugen, mit einem Gewirr von Beinen, Hörnchen, Fühlern
folgten ihnen. Eine Seespinne stelzte unbeholfen auf hohen Beinen neben
mir vorüber, ein Schwarm kleiner, silbern blinkender Fischlein spielte
um mich her, wie Mücken um die Weide am Bach. Und wieder ein gräulicher
Bursche! Ein Melancetus, ein Schlammbewohner, wie ein unförmiger Beutel
anzuschauen. Vorn am Kopf trug er einen langen dünnen Fühler, wie der
Zirkusklown eine Pfauenfeder balanziert. Das riesige Maul war angefüllt
mit spitzen Zähnen. Er jagte einer Schar winziger Krebschen nach, die
vor dem gefräßigen Beutel, der sie schlucken wollte, zu entkommen
suchten. Auch leuchtende Tiefseebewohner, die in mattem, gelbgrünem
Licht schimmerten wie alte Phosphorzündhölzer, sah man dann und wann. Es
kribbelte und krabbelte um mich herum in seltsam abenteuerlichen Formen
und Farben. Zerrbilder der Natur glitten vorüber und wundervolle
Gebilde, die wie bunte Blumen anzuschauen waren.

Aber einen Augenblick nur wandte ich meine Aufmerksamkeit auf das
Schauspiel, meine Zeit war knapp. Ich stieg wieder zur Luke hinein,
glitt aber plötzlich auf der steilen Hühnerleiter aus und riß ein wenig
an dem Seil. Da gab es plötzlich über mir einen dumpfen Ton, es wurde
noch etwas dunkler, und erschreckt nach oben blickend sehe ich, wie die
Falltür zugeschlagen ist. -- Mein Herz pocht gewaltig, eine Hitzewelle
und ein Kältestrom schießt durch meinen Körper, jeden Augenblick glaube
ich, daß die Luftzufuhr unterbrochen wird, denn offenbar hat die
zugefallene Klappe den Schlauch zugeklemmt. Ich haste die Treppe wieder
hinauf, stemme mich mit aller Kraft gegen die Klappe, immer und immer
wieder, aber sie wankt nicht. Es ist, als säße der Teufel oben drauf.
Indessen, nach wie vor funktioniert die Luftzufuhr. Wie ich näher
hinschaue, sehe ich, daß ein eiserner Riegel das vollkommene Zuschlagen
der Falltür verhindert hat. Es ist noch eine daumendicke Spalte offen,
und so ist der Luftschlauch vor dem Zusammendrücken bewahrt geblieben.
Wäre es anders, ich müßte elend ersticken, aber so lebe ich in meinem
unterseeischen Gefängnis und kann auf Rettung hoffen. Freilich, die
Signalleine sitzt fest. Sie muß bei meinem Ausgleiten die Tür
niedergerissen haben. Zeichen nach oben kann ich nun nicht mehr geben
und bin ganz abhängig von der Aufmerksamkeit der Kameraden droben. Eine
verteufelte und sehr ungemütliche Geschichte, denn lange kann ich es
nicht mehr aushalten unter Wasser. Ein Pochen in den Schläfen, ein
Summen im Ohr zeigt bereits an, daß der Körper dem Wasserdruck nicht
gewachsen ist. -- -- -- --

Kinder,» sagte der alte Ulebuhle, «in Erinnerung an diese gefahrvolle
Lage fand es der Taucher für nötig, sich ein neues Glas Grog zu mischen.
Er machte ihn sehr nördlich, will sagen mit wenig Zucker und Wasser und
viel Rum. Ich aber war damals noch ein kleiner Tunichtgut wie jetzt ihr
und saß dabei und sperrte vor Erwartung den Mund so weit auf wie der
Hannes da drüben, der aussieht, als wollte er sich die Ohren abbeißen.
Der Taucher stopfte umständlich eine frische Pfeife, und hätte, in
Gedanken versunken, beinahe in die Stube gespuckt, besann sich aber noch
rechtzeitig, daß er nicht an Bord war, und erzählte weiter:

»Manches Gefährliche habe ich vorher erlebt und auch manches nachher,
aber das war doch der bitterste Augenblick meines Lebens. Ich starrte
lange den Eisenriegel an, meinen Lebensretter, und beschloß, ihn -- wenn
ich wieder herauskommen sollte aus der üblen Lage -- abzuschlagen und
mitzunehmen. Es konnte lange dauern, bis die Leute oben merkten, daß
etwas nicht in Ordnung war, und schließlich war es fraglich, ob Nils
Nielsen, der einzige, der es wagen durfte so tief zu tauchen, mich
befreien konnte. Allerlei traurige Bilder stiegen vor meiner Phantasie
auf. Ich erinnerte mich verschiedener Kollegen, die elend durch ähnliche
Begebenheiten umgekommen waren. Da hatte sich der eine mit dem Kopf in
eine Tauschlinge verwickelt, und als seine Kameraden ihn hochzogen,
schnürten sie ihm die Luft ab, so daß er erstickte. Viel später erst
merkte man oben, daß der Mann da drunten offenbar nicht mehr am Leben
war, und ein zweiter Taucher brachte ihn tot nach oben.

Indessen, langsam fand ich mich in meine Lage. Wie Gott will, sagte ich
mir. Und um die Zeit wenigstens nützlich auszufüllen, ging ich wieder an
die Arbeit. Ich schnitt das Signalseil, das mich an der Falltür
festband, durch und eilte in die Kajüten. In der dritten bereits fand
ich die Mutter, die ihre Kinder zu sich holen wollte. Angekleidet lag
sie, von den hereinbrechenden Wassern überrascht, an der Tür, eine
Tasche, offenbar mit ihren wichtigsten Habseligkeiten, fest an sich
drückend. Auch im Tode noch war ihr Gesicht freundlich, aber ein Zug von
unendlicher Traurigkeit lag darauf, die Trauer um ihre Kinder. Auf dem
Tisch fand ich ein Tagebuch. Reiseeindrücke und Betrachtungen über ihre
Kinder hatte die Mutter da niedergeschrieben. Auf der letzten,
aufgeschlagenen Seite aber stand; wenige Stunden vor ihrem Tode,
angesichts des nahen Landes niedergeschrieben, ein kleines Gedicht:

   Verglüht ist nun im Westen der Sonne letztes Gold,
   Horch, wie an ferner Küste der Schlag der Wogen grollt!
   Es schmiegt sich in die Segel ein warmer, sanfter Süd,
   Und stiller Abendfrieden hin durch den Dämmer zieht.

   Wenn nun der junge Morgen umspielet unsren Kiel,
   Vor uns im Schmuck der Wälder liegt unsrer Sehnsucht Ziel;
   Laßt flattern dann im Winde der Segel blankes Weiß,
   Der Anker falle nieder, dem Herrn sei Lob und Preis!

Es wurde mir beim Anblick der Zeilen weh ums Herz, und meine eigene
trübe Lage kam mir doppelt zum Bewußtsein. Die Mutter hatte den so nahen
Hafen nicht erreicht. Wer wußte, ob auch ich ihn wiedersehen würde!

Plötzlich wurde ich aufgeschreckt! Was war das?! Laute Glockenschläge
tönten an mein Ohr, und dann schnarrte etwas, und dröhnende Musik
erfüllte den Raum. Ich war so entsetzt, daß ich alles um mich her vergaß
und wie besessen hinausstürzte in den Gang, der Treppe zu. Allmählich
kam ich wieder zum Bewußtsein. Eine lustige Tanzweise schallte noch
immer laut zu mir herüber. Plötzlich schnarrte es wieder, und die
Totenstille im versunkenen Schiff, die dem Lärm folgte, war nicht minder
unheimlich. Ich lief zurück. Alter Junge, sagte ich mir, alles in der
Welt geht natürlich zu. Es lebt hier außer dir niemand mehr, und ein
Geisterkonzert kann es nicht gewesen sein. Ich blickte mich in der
Damenkajüte um und entdeckte schnell über der Tür den Grund meines
Schreckens. Da hing eine große Spieluhr, die noch ging und alle Stunden
ein Stücklein zum Besten gab. Nun muß man wissen, daß das Wasser den
Schall vielmals kräftiger und besser weiterleitet als die Luft. Da das
ganze Schiff mit Wasser angefüllt war, so war die Schallwirkung inmitten
der lautlosen Stille derart gewaltig, um so mehr, als kein Mensch hier
Musik erwarten konnte, daß mich vor Schreck fast der Schlag getroffen
hätte. Heute lache ich über die verrückte Geschichte, aber damals dachte
ich, die Hölle wäre hinter mir her! Als ich mich wieder etwas gesammelt
hatte, ergriff ich das Tagebuch der Ertrunkenen, nahm ihre Reisetasche
an mich und begab mich zur Treppe zurück, denn mir war fürchterlich
elend zumute. Ich spürte es deutlich, meine Zeit hier unten war
abgelaufen. Mein Schädel brummte wie eine Baßgeige, Blut sickerte mir
aus der Nase, die Glieder wurden schwer. Ich ließ mich auf der Stiege
nieder, nahe daran ohnmächtig zu werden. Alles um mich herum erschien in
verschwimmendem, grünlichem Licht, es wallte und wogte wie ein Meer von
wogenden grünen Halmen und Büscheln, und dazu summte eine sonderbare,
klagende Melodie eintönig an mein Ohr. Es war nichts weiter als die
verbrauchte Luft, die in Bläschen zischend am Ablaßhahn meines
Kupferhelmes austrat, aber mein Denken war so verwirrt, daß ich das
alles nicht mehr richtig auseinanderzuhalten wußte.

Plötzlich war es mir, als erwache ich aus einem bleiernen Schlafe. Es
pochte in dumpfen Schlägen über mir, und dann gab es einen
ohrenbetäubenden Lärm, ein Krachen, als stürze ein Haus ein. Erst später
begriff ich, was es war. Nils Nielsen war zu meiner Hilfe
heruntergekommen. Er sah Luftschlauch und Signalleine in der Luke enden,
sah die zugefallene schwere Klappe, über die sich beim Fallen noch ein
schweres Eisenstück geschoben hatte, und begriff nun, weshalb ich gar
keine Zeichen mehr nach oben gegeben hatte. Mit Mühe wälzte er die
Hindernisse beiseite, warf im Wege liegendes Gerümpel fort, steckte eine
Brechstange durch die Luke und vermochte sie so endlich zu öffnen. All
diese Geräusche, durch die große Schallstärke unter Wasser hundertfach
gesteigert, waren mir in halber Ohnmacht wie wildes Krachen erschienen.

Der gute Kamerad zog mich empor, befestigte das Aufzugtau an meinem
Gürtel und gab das Signal, mich emporzuwinden. Die Tasche mit dem
Eigentum der Kinder hielt ich mit starren Händen fest, als wollte sie
mir jemand entreißen. Ich tat es unbewußt, aber es war in meinem müden
Hirn wohl noch dieser letzte Gedanke, daß ich sie auf alle Fälle den
Kindern bewahren müßte. -- So wurde ich langsam, ganz langsam höher
gezogen, im Wasser auf dem Rücken treibend, wie ein gefühlloser Sack.

Diese Langsamkeit des Emporwindens war wieder eine verständige Maßnahme
des alten Meisters Cook, denn ebensowenig wie man zu schnell in die
Tiefe gehen darf, immer stärkerem Wasserdruck entgegen, darf man das
Gebiet des Druckes, auf den sich inzwischen die Organe des Körpers
eingestellt haben, schnell verlassen. So mancher Tiefseetaucher hat
solche Unbedachtheit schwer gebüßt! Es treten dann Lähmungen aller
Organe ein, ja es dringen Luftbläschen in Herz und Adern ein und führen
den Tod herbei.

Endlich aber war ich doch oben, man zog mich über Bord, schraubte den
Helm ab, legte mich lang in der Sonne auf die Planken des Schiffes, und
schnell wie die Schwäche über mich gekommen, verschwand sie wieder. Da
schien die liebe Sonne wieder, ein warmer Wind strich daher, köstliche,
reine Luft strömte in die Lungen und Seevögel umschwirrten kreischend
das Schiff. Neben mir hockte Oll Cook, und der Mann mit dem Zylinderhut
und der Fensterscheibe vor dem Auge stand dabei und schien darüber
nachzudenken, daß das Tauchen im Meer doch keine ganz einfache Sache
sein müsse.

»Jung!« schrie Oll Cook und spuckte kunstvoll eine halbe Handvoll
Kautabak über das Ankerspill hinweg, »wat in aller drei Deibel Namen
machst du für verzwickte Geschichten. Dachten wir doch alle, der
Haifisch habe John Dolland zum zweiten Frühstück auf der Speisekarte
gehabt!«

»Habt Ihr die Papiere, Meister?« fragte zögernd der Portugiese.

Ich schüttelte den Kopf und erzählte dann in kurzen Worten, was sich
zugetragen. Die Schiffskasse war oben, die Habseligkeiten der Mutter
waren gerettet, nur die vertrackten Papiere waren noch drunten. Da ließ
der alte Tauchermeister schleunigst eine Schiefertafel hinab zum Grund,
auf der die Worte standen: »Nielsen, sucht die Papiere des Portugiesen.«

Ein Zug an der Signalleine von unten gab Kunde, daß der Kamerad, der
jetzt in dem versunkenen Kasten umherstöberte, die Weisung richtig
empfangen.

Ich hockte noch immer in meinem Taucherkleide am Boden und ließ mich von
der Sonne bescheinen. Ja, schon hatte ich wieder Appetit auf meine
Tabakspfeife.

»Es war ein schweres Stück Arbeit, Jung,« sagte der Alte, »und Ihr habt
es zum größten Teil geleistet. Wäre die verdammte Klappe nicht
zugefallen, sicher wären die Papiere jetzt in unseren Händen, aber der
Deibel hält seine Krallen drauf, wie es scheint, und wenn der
Eisenriegel nicht gewesen wäre, so wäret Ihr ein toter Mann und rauchtet
jetzt Eure Gipspfeife droben bei den Engeln, kalkulier ich. Der alte
Cook aber könnte gar nicht genug Rum auftreiben, um auf Eure ewige
Seligkeit zu trinken.« So schwatzte Oll Cook noch eine Weile in seiner
lustigen Art, ich aber fing an ein wenig einzunicken bei dem dumpfen,
eintönigen Geräusch der Luftpumpe, die unserem Nils Nielsen den
Lebensodem auf dem Meeresgrunde in Gang erhielt.

Ich mochte etwa ein Viertelstündchen geträumt haben, als ich durch
hastiges Laufen und erregte Stimmen aufgeweckt wurde. Ich hörte die
Stimme des Tauchermeisters. »Der vermaledeite Dreideibel muß heut sein
Spiel haben,« schrie er, »ich wundere mich schon lange, daß Nielsen es
da unten so tapfer aushält, aber da er gar keine Signale gibt, zieh ich
endlich selbst dreimal am Seil, und nichts antwortet. Ich zieh noch
einmal und noch einmal, doch kein Antwortzeichen kommt. Es muß Nielsen
nicht gut gehen in dem vertrackten Kasten da unten, Maate! Ist es zu
glauben, die beiden besten Taucher zwischen den Wendekreisen holt der
Geier bei dieser Geschichte. Aber der alte Cook läßt seine Jungens nicht
stecken, er wird seine alten Knochen selbst noch einmal in den
Wasserfrack stecken, und wenn er dabei das Atmen vergißt. Reicht mir
schleunigst den dritten und letzten Taucheranzug, Maate, schnell,
schnell, sonst hat es keinen Zweck mehr!«

Aber schon sprang ich empor. »Cook,« sagte ich, »laßt den Unfug sein.
Ihr seid ein altes Uhrwerk und Eure Räder stehen still, ehe Ihr noch
halb unten seid. Muß noch einer hinunter, so bin ich der Mann, denn Nils
Nielsen sprang mir bei, und so ist es Seemannspflicht, ihm gleiches mit
gleichem zu vergelten. Nur gut, daß ich das Gelump noch am Leibe habe.
Den Helm her, und in einer Minute bin ich im Wasser.«

Die anderen stimmten mir bei. Oll Cook gefährde nur zwecklos sein Leben.
Es sei sein sicherer Tod, und wenn John Dolland fühle, daß er wieder bei
Kräften sei, so mag er's wohl ein zweites Mal auf einige Minuten nur
wagen. -- Schon brachte man mir den Helm, ich nahm all meine Energie
zusammen. Zwei Minuten später war ich bereits im Wasser und glitt, noch
langsamer als das erstemal, in die Tiefe. Ich kam gut unten an, stieg an
Bord, kletterte durch die Luke und fand Nils Nielsen zusammengesunken in
einer Ecke des Ganges zu den Kabinen. Ich schüttelte ihn, er rührte sich
nicht. Ob er ohnmächtig sei oder gar bereits ein toter Mann, konnte ich
nicht erkennen. Mit großer Anstrengung schleppte ich ihn nach oben, ließ
ihn emporziehen, wie er es mit mir vor kaum einer halben Stunde getan,
denn nur droben in der frischen Luft konnte ihm Hilfe werden, wenn dem
alten Kameraden solche noch nützen mochte. Sollte Nils Nielsen, der
herabgestiegen war, um mir beizustehen, wirklich sein Leben verloren
haben? Der Gedanke ließ mich nicht los und stimmte mich natürlich so
traurig, daß ich kaum fähig war, noch das letzte Werk hier unten zu tun.
Dennoch durchschritt ich eilig die Kajüten, denn ich gedachte nicht
länger als zehn Minuten auf Grund zu verweilen, selbst wenn ich die
Staatspapiere der Herren in Lissabon nicht nach oben bringen konnte. Und
ich fand jenen Senor Cabrella in der Tat in der vornehmsten Kabine. Er
lag zwischen Sessel und Stühlen, alles war umgestürzt in dem wilden
Wirrwarr, da der Mann in der Dunkelheit von den hereinbrechenden
Wassermassen aus dem Schlaf gerissen wurde. Ich erkannte ihn nach dem
Bilde, das man mir gezeigt. Auch trug er einen Ordensstern auf der
Brust. -- Nach längerem Suchen fand ich endlich eine dicke, versiegelte,
schweinslederne Tasche in seinen Kleidern, die wohl jene Papiere
enthielt. In der Tat hat man sie dann darin gefunden.

Ich hielt mich keine Minute länger auf, denn schon brauste es wieder in
meinen Ohren. Ich stieg zur Luke hinaus, ergriff ein schweres
Eisenstück, schlug damit den Riegel an der Falltür, der mir das Leben
gerettet, los, und gab das Aufstiegsignal. -- Langsam schwebte ich höher
und höher, bis mein blanker Kupferhelm im Sonnenlicht der
Meeresoberfläche glänzte.

Ich kletterte an Bord, man befreite mich von meiner Kleidung. Da lag der
arme Nielsen als ein toter Mann in der Morgensonne auf den nassen
Planken, von den Kameraden umgeben, die sich vergeblich abgemüht hatten,
ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ein Herzschlag hatte ihn im dunklen
Kajütengang des gesunkenen Seglers schnell und schmerzlos von allen
Sorgen und Freuden der Zeitlichkeit befreit.

Was war zu tun! Der Seemann sieht den Tod oft an sich vorbeischreiten,
und trifft seine Sense einen Kameraden, so zieht er seinen Ölhut, betet
für das Seelenheil des Entschlafenen und gedenkt seiner noch lange, wenn
er bei seiner Pfeife Tabak und seinem Grog von Wind und Wellen spricht
und von alten Freunden, mit denen er so manches Mal gewirkt und fröhlich
gezecht.

Das Meer ist grausam. Einmal fallen wir ihm alle zum Opfer, wenn wir
nicht beizeiten unsere Gebeine auf dem Lande verstauen. Wir alle
trauerten ehrlich um unsern Freund. Reiche Belohnung ward uns allen
zuteil, und ich verwendete ein hübsches Sümmchen, um Nils Nielsen einen
würdigen Grabstein zu setzen. Auf dem Friedhof zu Funchal, wo hohe
Zypressen zum Wellenschlag des Meeres rauschen und die weißen Grabsteine
weithin in der blendenden Sonne leuchten, schläft Nils Nielsen den
langen Schlaf. Jene beiden Kinder, denen ich damals ihr Erbe aus dem
gesunkenen Schiff heraufholte, und die noch einen guten Teil meiner
Belohnung durch die portugiesische Regierung abbekamen, sind inzwischen
große und verständige Menschen geworden. Noch heute schmücken sie am
Jahrestage des Unterganges der >Isabella< das Grab des Tauchers, und
auch mir haben sie ein treues Andenken bewahrt. Dann und wann kommt von
da unten, wo die Sonne heißer ist und der Wein feuriger, eine Kiste
herüber in die kalte, neblige Seestadt da oben an der deutschen Küste,
wo ich nun hause, und allemal ist sie gefüllt mit einem Wein, der des
alten John Dolland Herz wieder erwärmt. Dann fülle ich zwei Gläser,
rücke zwei Sessel an den Tisch in meiner kleinen Stube und trinke und
plaudere mit dem alten Nielsen, als ob er mir gegenüber säße!«

Damit schloß der Taucher seine Erzählung, und mein Vater stieß mit ihm
an, und sie sprachen noch lange von Jugendtagen. Der eiserne Riegel aber
blieb in unserem Hause. Nun habt ihr seine Geschichte gehört und wißt,
warum ihn der alte Ulebuhle in seinem Raritätenkasten aufbewahrt.
Menschenschicksale hängen daran. Ja, so ist es zuweilen mit den toten
Dingen, Sie greifen ein in das Leben der Menschen, bringen Glück und
Unglück, wie dieses rostige Eisenstück, für das der Lumpenmatz keinen
Dreier zahlen würde!»




                      Das Herz und die Taschenuhr


«Seht,» sagte der alte Ulebuhle, «da lag ein reicher Mann auf seinem
Sofa und hielt sein Mittagsschläfchen. Er hatte den Mund weit geöffnet
und scharrte und rasselte wie ein Sägewerk. Sonst aber war es so still
im Zimmer, daß man die Fliegen summen hören konnte. Sie tranken mit
ihren kleinen Rüsseln von dem Weinrest, der im Glase stand, und machten
sich über die Kuchenkrümchen her, die auf dem zarten Porzellantellerchen
lagen. Ja, hier war es gut sein, aber deshalb tanzten sie dem Manne, bei
dem sie ungeladen zu Gaste waren, dennoch auf der Nase herum, denn
Undank ist der Welt Lohn.

Aber in der Brust und auf der Brust des Schläfers war es lebendig. Wenn
man genau hinhörte, so hörte man es leise und geschwätzig wispern:
»Ticktickticktick-Ticktickticktick,« und von drinnen antwortete es dumpf
und taktfest: »Poch-Poch-Poch-Poch!« Die Taschenuhr war es und das Herz.
Sie lagen dicht beieinander, und jedes tat seine Arbeit.

»Unser Herr schläft,« sagte das Herz, »ich darf nicht schlafen, ich
schlafe niemals, dann wenn ich einschlafen wollte, würde mein Herr nie
wieder aufwachen!«

»Was machen Sie eigentlich da drinnen?« fragte die Taschenuhr.

»Ich halte den ganzen Krempel in Schwung. Ich bin ein großes Pumpwerk
und pumpe das Blut durch die Adern meines Herrn. Ja, das ist keine
Kleinigkeit. Wenn ich auch nur eine Minute aussetzen wollte, dann könnte
sich mein Herr begraben lassen. Seit fünfzig Jahren arbeite ich nun
ununterbrochen, aber Dank hat man nicht davon. Sehen Sie, fünfzig Jahre,
das sind achtzehntausendundzweihundertsechzig Tage oder mehr als
vierhundertachtunddreißigtausend Stunden. Es sind also über
sechsundzwanzig Millionen Minuten vergangen, seit mein Herr geboren
wurde, und seitdem ich unablässig das Blut durch seinen Körper pumpe.
Wenn Sie nun aufpassen, so werden Sie leicht zählen können, daß ich in
jeder Minute siebzig Schläge mache, ich habe also in den fünfzig Jahren
achtzehnhundertvierzigmillionenmal geschlagen, ohne auch nur einmal
auszuruhen!«

»Ja, das ist wirklich ein Stück Arbeit, das sich sehen lassen kann,«
meinte die Uhr. »Das sind treue Dienste, und Ihr Herr müßte Sie
fürstlich belohnen.«

»Ach du lieber Gott,« brummte das Herz, »er ist noch unzufrieden
obendrein! Neulich ist er in der größten Hitze mit mir auf einen hohen
Berg hinaufgerannt. Es war eine schreckliche Geschichte, und ich habe
mich abgerackert, daß ich glaubte, es gehe mit mir zu Ende. Schließlich
ging es aber nicht mehr, und als er immer schneller lief und immer mehr
von mir verlangte, da setzte ich einen einzigen Schlag aus. Da wurde
mein Herr ganz furchtbar aufgeregt und schimpfte immerfort, daß er ein
so schlechtes Herz habe. Da sehen Sie, daß es ein undankbarer Herr ist.«

»Sind Sie auch aus Metall?« fragte die Uhr.

»Nein,« entgegnete das Herz, »und es ist ein Glück, denn da wäre ich
schon lange hin. Ich bin aus lauter Muskeln und Häuten zusammengesetzt,
die halten besser wie Stahl und Eisen!«

»Aber wenn Sie nun einmal repariert werden müssen!« meinte die
Taschenuhr. »Wenn Sie zum Uhrmacher müssen, der Ihre Räder ausbürstet
und eine neue Feder einsetzt, was macht Ihr Herr dann?«

»Alles nicht nötig,« brummte das Herz, »Räder und Federn habe ich nicht,
und ich repariere mich ganz allein. Einmal aber war mein Herr mit mir
bei einem Manne, der Menschen reparieren kann. Er hatte eine große
Brille auf der Nase und sagte meinem Herrn auf lateinisch, was ihm
fehle. Dann horchte er mit einem Rohr auf meinen Schlag, und mein Herr
mußte eine große Flasche voll bitterer Tropfen trinken. Der Magen war
sehr ärgerlich darüber, denn er sagte, ihn gehe die ganze Geschichte gar
nichts an.«

»Seien Sie froh,« sagte die Uhr, »daß der Uhrmacher nichts mit Ihnen zu
tun hat. Es ist eine schreckliche Geschichte. Alle Glieder werden einem
da auseinandergerissen, man kommt unter die Bürste, sie stochern mit
eisernen Haken in den Eingeweiden herum, zwicken und zwacken, und ein
scharfes Ding kratzt an einem herum, daß die Späne fliegen. Der Herr
bezahlte drei harte Taler und schimpfte, und der Doktor sagte, ich sei
eine alte Knarre und hätte einen verbeulten Zylinder.«

»Pumpen Sie auch Blut?« sagte das Herz.

»Gott soll mich bewahren,« wisperte erschreckt die Uhr. »Ich bin aus
purem Golde, aber das ist nicht die Hauptsache, das ist nur eine
Äußerlichkeit. Ich habe ein reiches Innenleben. In mir geht es zu wie in
einer Mühle. Da dreht ein Rad das andere, und die Hauptsache ist, daß
ich pünktlich bin. Pünktlichkeit ist die beste Höflichkeit, sagt mein
Herr, und er wird fuchsteufelswütend, wenn ich mich mal verspätet habe.
Ich bin aber so gewissenhaft und laufe dafür am nächsten Tage wieder
etwas schneller, aber das ist ihm _auch_ wieder nicht recht. Die
Menschen sind undankbar und wissen nicht, was sie wollen.«

»Was mahlen Sie denn in Ihrer Mühle?« fragte das Herz.

»Gar nichts mahle ich, ich mache Zeit!«

»Zeit? Zeit?« fragte verwundert das Pumpwerk in der Brust, »was ist das
für ein Ding?«

»Ja,« wisperte die Uhr, »genau weiß ich es auch nicht, aber es ist eine
kostbare Sache, denn mein Herr sagt, Zeit ist Geld und Geld regiert die
Welt. -- Ich spiele eine wichtige Rolle im Leben. Kaiser und Könige
richten sich nach mir, und bei allen wichtigen Geschäften werde ich zu
Rate gezogen. Dennoch sind die Menschen zu mir nicht dankbarer
als zu Ihnen. Sehn Sie, ich bin nun schon zwanzig Jahre im
Dienste meines Herrn, und das will etwas heißen. In einer
Sekunde ticke ich fünfmal, also achtzehntausendmal in der
Stunde und vierhundertzweiunddreißigtausendmal am Tage.
Einhundertachtundfünfzigmillionenmal im Jahr. Tag und Nacht arbeite ich
ununterbrochen. Mein Schwungrädchen ist nicht größer als ein Fingernagel
meines Herrn, es dreht sich blitzschnell seit Jahren und Tagen hin und
her, so schnell, daß man es kaum sehen kann. Würde es immer geradeaus
rollen, so legte es in einem Tage sechsunddreißig Kilometer zurück, und
in drei Jahren hätte es einmal die ganze Erdkugel umwandert. Dabei ist
alles an mir zart und fein, ich habe Achsen so dünn wie ein Haar und
eine winzige kleine Feder. Ich esse nichts und trinke nichts, brauche
nur alle paar Jahre ein kleines Tröpfchen Öl, aber die Menschen sind
trotzdem undankbar, und man kann es ihnen nicht recht machen. Wenn ich
könnte, so ginge ich weit fort in die Welt, aber ich liege hier an der
Kette wie ein Bullenbeißer.«

»Jeder hat seinen Ärger,« meinte das Herz. »Ich muß aufpassen, daß die
ganze Geschichte hier drinnen in Schwung bleibt. Mein Herr hat vierzehn
Liter Blut in seinen Adern, und die pumpe ich in einem Tage
sechshundertmal rundum. Ja, es ist ein schönes Stück Arbeit, und anstatt
mir die zu erleichtern, macht mich mein Herr fast krank mit seinem
ewigen Weintrinken und Zigarrenrauchen. Dazu der Ärger mit den einzelnen
Gliedern! Bald ist zuviel Blut im Kopf, und der hat Schmerzen, bald
setzt sich mein Herr so ungeschickt, daß er die Adern zudrückt und ihm
die Beine einschlafen, weil das Blut nicht durch die Leitungsröhren
hindurch kann, und ein anderes Mal wieder beschweren sich die Hände, daß
sie zu wenig Blut bekommen und frieren. Immer hab ich die Schuld!«

»Ich,« meinte die Taschenuhr, »lebe in einem langjährigen Kriege mit den
Gebrüdern Zeiger. Sie denken, sie wären das Wichtigste, weil der Herr
nur auf sie schaut, aber wenn das Räderwerk sie nicht dreht, so sind sie
zu nichts nütze. Ewig leben sie miteinander in Hader. Der kleine dicke
ärgert sich, daß der lange dünne ihn immer überholt, und so hängt er
sich zuweilen an seine Frackschöße und geht mit ihm, so daß die ganze
Zeigerei beim Teufel ist. Am übelsten aber ist der ganz kleine, der sich
nur immer in einem engen Kreise herumschwingt wie ein Zirkuspferd. Er
möchte so gern auch weit herum, wo all die großen dicken Zahlen stehen,
und so klammert er sich fortwährend an den langen dünnen oder schleift
vor Ärger auf dem Zifferblatt, bis die ganze Geschichte stillsteht. Dann
nimmt mich der Herr wutschnaubend und klopft mich hart gegen die
Tischkante, daß mir die Eingeweide durcheinanderzufallen drohen, und
dann schimpft er greuliche Worte, behauptet, ich wäre eine
niederträchtige Zwiebel, und wenn ich nicht von Gold wäre, würde er mich
zum Fenster hinauswerfen.«

»Pssst!« machte das Herz, »er erwacht!«

Richtig, er erwachte, machte laut »Uäh! -- Aah! Huaaaa!« und dann sprang
er mit beiden Beinen herab von seinem Ruhebett. Er zog die Uhr. »Halb
fünf!« sagte er. »Hoffentlich geht die alte Pfeffermühle richtig!«

»Ja, ja,« seufzte die Uhr, »Undank ist der Welt Lohn!«»




                         Ein Tag auf dem Monde


«Kinder» -- sagte der Doktor Ulebuhle an einem schönen Sommerabend, als
der Mond wie ein Wächterhorn über den hohen Tannen stand -- «ihr seid
allesamt große Rüpel und Taugenichtse und werdet eines Tages ein übles
Ende nehmen, aber ich habe es euch versprochen, und was man verspricht,
das muß man halten, und so will ich euch denn den Mond durch mein großes
Fernrohr zeigen!»

«Au fein, Ulebuhle! Wenn Ihr das tut, dann sammeln wir auch wieder
Kräuter für Euch im Bergwald und Moos für Eure Käfer!»

«Nun gut, das läßt sich hören!» brummte der Alte, löste einen mächtigen
Schlüssel von seinem Bund und trat mit uns hinaus auf den Vorflur, wo
die Treppe hinaufführte zum schiefergedeckten Turm, in dem das große
Fernrohr stand.

Es war gruselig und dunkel auf der Stiege, aber dann zündete Ulebuhle
sein Öllämpchen an, der Schlüssel drehte sich kreischend im Schloß, und
knarrend öffnete sich die Turmtür, um uns einzulassen in den
geheimnisvollen Raum. -- Da stand in der Mitte auf einer Säule ein
großes Ding, wie eine Kanone, und so dick, daß die dünnsten von uns wohl
hätten durch das Rohr hindurchkriechen können. Es blinkte daran von
allerlei Schrauben und Griffen, von Stahl und Messing. Oben war ein
großes Glas im Rohr, wohl wie ein Teller, und unten ein ganz winziges,
durch das man hindurchschauen mußte. Und dann tickte da noch eine große
Uhr in einem Glasgehäuse, mit einem langen Perpendikel, der mächtig
vornehm und langsam hin und her schwang und unablässig ganz bedächtig
sein »Tick-Tack ... Tick-Tack« sagte. -- Da waren auch noch allerlei
Apparate in den Ecken und an den Wänden, und Bilder hingen da von Mond
und Sternen, und dicke Bücher lagen in den Fächern. Aber wenn wir
Ulebuhle nach all dem fragten, dann sagte er nur in seiner knurrigen
Weise: «Schnickschnack und Finger davon! Das versteht ihr nicht!»

Im Dach des Turmes waren große Klappen, die konnte man öffnen, und dann
schauten die Sterne hinein, so daß man sie im Fernrohr betrachten
konnte. Ganz dunkel war es im Turm, nicht einmal die Lampen auf den
Straßen drangen mit ihrem Licht hinein, aber dann schob Ulebuhle die
Riegel von den Klappen zurück, öffnete sie, und das bleiche Licht des
Mondes blinkerte auf den Instrumenten und warf unsere Schatten lang über
den Boden.

Jetzt aber richtete der alte Gelehrte das große Rohr auf das silbern
glänzende Gestirn der Nacht. Er drehte viele Schrauben und Hebel,
schaute selbst hinein in die Himmelskanone, und dann durften wir eins
nach dem anderen herzutreten und sahen vor uns viel hundertmal
vergrößert die stille, ferne Welt des Mondes, mit allen ihren
merkwürdigen Ländern und Bergen.

Wie war das seltsam, als man hindurchschaute! Man sah nur einen Teil des
Mondes, ganz riesenhaft groß. Wie eine mächtige Gipsplatte erschien
zunächst, was man bemerkte; eine Gipsplatte, die ganz grell beleuchtet
ist. Da sah man große graue Flecke, von denen Ulebuhle sagte, daß es
große Ebenen auf dem Monde wären, ungeheure Wüsten, die wahrscheinlich
früher einmal vom Mondmeer bedeckt waren. Was aber besonders interessant
war, das waren die Berge. Man sah da allerlei blinkende Berggipfel, und
Ulebuhle erklärte uns, daß sie so hell im Sonnenlicht strahlten, denn
der Mond wird genau so von der Sonne erleuchtet wie die Erde und ist
eigentlich genau so dunkel wie sie. Die Berge warfen lange, spitze
Schatten weithin über die Ebenen, und in den Tälern, wo das Sonnenlicht
nicht hindringen konnte, lag tiefschwarze Nacht. Viel tausend kreisrunde
Krater waren da zu sehen, und dann wieder lange Gebirgszüge, und alles
war so wild zerrissen und zerklüftet, daß es im Glase aussah, als sei es
ein großer Kuchen, in den die Mäuse Loch an Loch geknabbert.

So standen wir und schauten, und der alte Ulebuhle erzählte uns
mancherlei über das, was wir sahen. Als wir aber immer wieder fragten,
da wurde er wieder grimmig, schnaufte in sein großes buntes Taschentuch,
rückte die Hornbrille zurecht und knurrte in seiner alten Weise:

«Still jetzt, ihr Racker! Und nicht alle durcheinander geschrien! Ihr
habt den Mond gesehen und erfahren, daß er eine Weltkugel ist wie die
Erde, aber eine erstorbene, auf der kein Mensch mehr lebt. Wollt ihr
aber noch mehr wissen, dann will ich euch die Geschichte von dem kleinen
Jungen erzählen, der einen Tag auf dem Monde zubrachte. Setzt euch hier
ringsum und öffnet weit eure Lauscher!»

Und dann nahm Ulebuhle eine mächtige Prise aus der buntbemalten Dose,
nieste zweimal gewaltig, so daß sein Zöpfchen erschrocken einen Satz
über den Rockkragen tat, und dann erzählte er:

«Seht, da war ein kleiner Junge, der lag des Abends spät in seinem Bett
und konnte nicht einschlafen. Der Mond schien ihm voll ins Gesicht; er
stand, ein einsamer Nachtwandler, drüben hinter den Bergen, und seine
Strahlen spielten mit all den kristallenen Sternchen der hartgefrorenen
Schneedecke, die auf der Erde ruhte. Und der kleine Junge schaute hinauf
zu der silbern glänzenden Scheibe, die mit ihren grauen Flecken wie ein
gutmütig lächelndes Gesicht aussah, und überdachte, was er an diesem
Abend alles gehört hatte. Seine Eltern hatten Besuch bekommen; ein
Freund des Vaters, ein sehr gelehrter Professor, der sein ganzes Leben
nichts getan als Sonne, Mond und Sterne zu erforschen, war angekommen,
und beim Abendbrot hatte er allerlei vom Himmel erzählt. Da hatte der
kleine Franz auch nach dem Monde gefragt, der eben aufgegangen war und
durch das Fenster schaute. Und der alte Professor mit der goldenen
Brille hatte ihm gesagt, daß es alles ganz anders wäre, wie die Kinder
sich das immer erzählten, vom >Mann im Monde<, der dort ewig sein
Reisigbündel tragen muß, und was sonst für Märchen. Der Mond sei eine
ferne Weltkugel, sagte er, voll von Bergen und Tälern, weiten Ebenen und
tiefen Kratern, aber still und tot, und kein lebendes Wesen sei darauf
anzutreffen, ebensowenig wie je eines Menschen Fuß diese seltsame Welt
betreten hätte.

»Wenn man doch da einmal hinauf könnte,« hatte die Mutter gesagt, und
der Vater meinte, die Menschen hätten schon viel schnurrige Dinge
erfunden, sie würden es auch noch einmal fertig bekommen, nach dem Monde
zu fliegen. Da hatte der alte Professor seltsam durch die goldene Brille
gelächelt und zum kleinen Franz gesagt: »Nun, mein Junge, dann machen
wir die erste Reise nach dem Monde miteinander!«

Dann aber war die Mutter gekommen und hatte den kleinen Jungen ins Bett
gebracht, denn es war spät, und Kinder müssen viel schlafen, wenn sie
gesund bleiben wollen. -- Aber des Professors Erzählen von der
Weltkugel, die da oben so ruhig in weiter Ferne ihre Bahn zog, hatte den
Buben gewaltig erregt. Nun lag er da und grübelte darüber nach, wie es
sein müßte, da hinaufzufliegen und zu wandern auf einem fernen Gestirn.
Langsam aber fielen ihm die Augen zu, über die des Mondes Strahl, durch
die weißen Gardinen gedämpft, wie streichelnd hinwegglitt. Er wurde
müder und müder und glitt hinüber ins Land der Träume.

Und plötzlich sah unser Franz die Tür aufklinken. Des Professors Kopf
wurde sichtbar. Er nickte dem Schläfer freundlich zu, aber er sah viel
älter aus, und sein Haar war schneeweiß. Viele Jahre mußten vergangen
sein. »Junge,« rief er, »kennst du mich noch? Ich bin doch dein Freund,
der Sterngucker! Weißt du noch, was ich dir damals versprochen, als du
zum Monde hinauf wolltest? Nun, inzwischen habe ich lange gearbeitet an
der großen Himmelsflugmaschine, und nun ist sie fertig. Ich habe
versprochen, dich mitzunehmen auf die Mondreise. Was man verspricht, muß
man halten! Jetzt komm! Der Vater steht schon draußen und wartet.«

Da fuhr unser kleiner Freund wie ein Wiesel aus dem Bett und hinein in
die Kleider. Die Mutter kam und hüllte ihn noch warm ein in Tüchern und
Pelzen, und dann traten sie vor das Haus.

Da stand auf dem großen Platz eine gar wunderliche Maschine, halb wie
ein Flugzeug, halb wie ein Zeppelin gebaut, mit Flügeln und
Luftschrauben und einer großen Gondel mit dicken gläsernen Wänden. Und
viele Leute standen drum herum und staunten, und Nachbars Philipp, der
immer alles besser wußte als andere Leute, schrie weit über den Platz:
»Da kommt der Präsident rinn. Er fahrt nach dem Nordpol. Da streiken die
Schneeschipper, und er will ihn' jut zureden!« Polizeisergeant Lemke
aber hatte einen ganz roten Kopf und rannte mit gesträubtem Schnauzbart
umher und schrie: »Jehn Sie weiter, jehn Sie weiter, meine
Herrschaften!«

Jetzt aber kam der Vater mit dem Professor durch die Menge hindurch. Sie
waren beide in dicke Pelze gehüllt und winkten ihm zu. Auch die Mutter
war da, reichte allen noch einmal die Hand, umarmte den kleinen Jungen
und blickte recht bekümmert und mit rotgeweinten Augen auf die
Himmelsflugmaschine, denn Mütter halten nun mal nicht viel von Reisen
nach dem Monde! Dem Franz wurde zwar auch etwas bänglich zumute, aber
der Professor war kreuzvergnügt und sagte, es wäre gar nichts dabei. So
stieg man denn hurtig in die große gläserne Gondel ein, der Professor
drehte an allerlei Hebeln und Schrauben, und schnurrend erhob sich der
große Vogel vom Boden und stieg kerzengerade in die Luft.

Unten schrien die Leute: »Hoch« und »Hurra« und winkten mit den
Taschentüchern und Hüten, so daß man sehen konnte, wer keine Haare mehr
auf dem Kopfe hatte, und die Mutter stand abseits und weinte. --

Immer kleiner wurde die Stadt. Die Häuser sahen wie Spielzeug aus und
die Gärten wie Moosstückchen, und schließlich war sie nur noch ein
bunter Farbenfleck. Dann sah man das weite Land. Aber wie verändert war
es! Die Wälder waren große dunkelgrüne Tücher geworden, die Berge waren
kaum noch von der Ebene unterschieden, und die Flüsse glichen dünnen,
glänzenden Staniolstreifen. Auf einmal aber war alles wie weggeblasen!
Eine undurchdringliche weiße Masse wogte ringsum, wie ein Ozean von
Milch, und an den Scheiben der Gondel lief das Wasser nieder, als würden
sie mit einer Gießkanne besprengt. Der kleine Junge lief ängstlich zu
den beiden Männern, aber sie beruhigten ihn lachend.

»Nur Mut, mein Sohn,« sagte der Professor, »was dich schreckt, ist
nichts anderes als eine _Wolke_, durch die wir hindurchfahren, eine
Wolke, die etwa siebentausend Meter über der Erde schwebt. Paß auf,
gleich werden wir hindurch sein!«

Und so war es. Da war wieder der blaue Himmel mit der Sonne, und unten
zog wie ein mächtiges Gebirge aus Schlagsahne die Wolke, die wohl mehr
als tausend Meter lang war, schnell seitwärts hinweg, vom Winde
getrieben. Durch Löcher in ihrer fortwährend die Gestalt ändernden Masse
sah man dann und wann die Erde tief unten hindurchschimmern. -- »Wie
aber kommt es, daß alles so naß geworden ist?« fragte der schon wieder
beruhigte Franz.

»Ei, das ist ganz einfach,« antwortete der Professor. »Eine Wolke ist ja
nichts anderes als Wasserdampf, genau so wie die weiße Wolke, die aus
der Lokomotive steigt. Das ist wie in einer Waschküche! Wenn der
Wasserdampf gegen die kalten Scheiben schlägt, dann fließt er zu lauter
Wassertröpfchen zusammen, und die Scheiben beschlagen, und das Wasser
rinnt an ihnen hernieder.«

»Es ist doch schnurrig, so durch eine Wolke hindurchzureisen, das haben
meine Kameraden drunten noch nie erlebt wie ich nun!«

»Da bist du in einem Irrtum, mein Junge! Auch sie waren, genau so wie
du, schon oft mitten in einer Wolke, nämlich im _Nebel_, und das ist ja
nichts anderes als eine Wolke, die sich tief unten auf der Erdoberfläche
befindet.«

Aber schon gab es wieder etwas Interessantes zu sehen! Die Erde lag
jetzt als eine ungeheure Scheibe tief unter den Reisenden. Man sah auf
ihr nur noch helle und dunkle, leicht gefärbte Flächen von Ländern und
Meeren. Selbst die Wolken lagen jetzt so tief unten, daß es aussah, als
wären es Schneeflächen auf der Erde selbst. Mit riesiger Geschwindigkeit
sauste die Flugmaschine aufwärts. Europa sah aus, so ähnlich wie auf der
Landkarte. Man bemerkte den Stiefel von Italien, der sich in einen
langgestreckten, dunklen Fleck, das Mittelländische Meer, hineinschob,
man sah im Norden wie einen springenden Löwen die große Halbinsel der
Schweden und Norweger und noch weiter nördlich eine blendend helle weiße
Fläche, die Eis- und Schneegefilde rings um den Nordpol. Nach Westen zu
aber wuchs eine tiefdunkelgraue Ebene ins Endlose, und das war der
Atlantische Ozean. Von Menschen und Menschenwerk war auch nicht die Spur
mehr zu entdecken, und man erkannte hier so recht, wie winzig doch in
Wahrheit die menschliche Welt ist und wie töricht die Bewohner der Erde,
wenn sie sich gegenseitig in schrecklichen Kriegen zerfleischen, um
einen Landzipfel mehr zu haben als die andern.

Nun aber geschah etwas ganz Eigenartiges! Bisher war das Flugschiff
immer senkrecht von der Erde emporgeflogen, der Sonne zu. Da die Reise
aber zum Monde gehen sollte, der der Sonne fast gegenüberstand, denn es
war gerade Vollmond, so mußte man jetzt seitwärts steuern, hinüber zur
anderen Hälfte der Erdkugel, wo es Nacht war und der Mond am Himmel
stand. Der alte Professor lenkte seine wunderbare Maschine nach dort
hinüber, und da sah denn der kleine Franz etwas ganz Merkwürdiges. Die
Erde, die bis dahin als mächtige hellbeleuchtete, kreisrunde Scheibe
unter den Reisenden gelegen hatte, wurde plötzlich an dem einen Rande
immer mehr und mehr abgefressen, und schließlich sah sie nur noch wie
der Halbmond aus; die andre Hälfte war verschwunden. Auch der Vater
stand ganz erstaunt und betrachtete das sonderbare Schauspiel. Ihre
erstaunten Ausrufe weckten den gelehrten Professor aus seinem Grübeln.
»Ja,« sagte er, »das nimmt euch wunder, aber es ist ganz einfach zu
erklären. Die Erde ist ja nichts als eine große dunkle Kugel, die auf
der einen Seite von der Sonne erleuchtet wird, genau so wie ein
Tennisball, den man in ein dunkles Zimmer bringt und von einer Seite mit
einer Kerze beleuchtet. Die andere Seite ist ganz dunkel, da ist es
_Nacht_. Bisher waren wir über der beleuchteten Tagseite der Erde, und
jetzt fahren wir zur Nachtseite hinüber. Wir stehen jetzt grade in der
Mitte. Links ist noch die Hälfte der Tagseite zu sehen, und rechts ist
es eben Nacht. Die Sonnenstrahlen kommen da nicht hin, und so sehen wir
diesen Teil der Erde nicht! Das ist doch ganz einfach, nicht wahr, und
selbst der kleine Franz wird das begreifen!«

Ja, das begriff denn auch der kleine Mondreisende. Er hatte schon in der
Schule etwas davon gehört, aber jetzt sah er es mit eigenen Augen, und
es sah doch recht sonderbar aus. Es kam aber noch viel schnurriger!
Plötzlich, mit einem Schlage, waren sie in ihrem Fahrzeug in tiefste
Dunkelheit gehüllt. Die Sonne war wie auf Zauberwort verschwunden,
_verschwunden hinter der Erdkugel_. Hoch über ihnen standen die
blinkenden Sterne, und etwas seitwärts der volle Mond, an dessen
schwaches Licht sich die Augen erst langsam gewöhnen mußten.

»Seht,« sagte der alte Sterngucker, »jetzt steht die Erde zwischen uns
und der Sonne, und ihre Strahlen können uns daher nicht treffen. Wir
stehen im Schatten, den die Erde, von der Sonne beschienen, hinter sich
wirft. Es geht uns jetzt genau so wie dem Monde bei einer
Mondfinsternis. Da steht er auch im Schatten der Erde und wird also
verdunkelt. Das ist alles ganz einfach, und es ist keine Hexerei dabei!«

»Was man doch bei so einer Reise alles lernt,« meinte der Vater,
»langsam werden wir selber noch Astronomen[5], mein Junge!«.

Die Erde war jetzt kaum noch zu sehen. Man war ganz über ihrer
unbeleuchteten _Nachtseite_, die nur vom Monde sanft erhellt wurde. Als
eine mattgraue Scheibe verschwand sie mehr und mehr in der Ferne, rings
umgeben von den noch viel ferneren Sternen. Vor allem aber war es
außerordentlich kalt geworden, so daß die Reisenden trotz der
elektrischen Heizung in der Luftschiffgondel erbärmlich froren in ihren
dicken Pelzen. Der Vater erkundigte sich nach dem Grunde dieser Kälte,
und der Professor gab bereitwillig Auskunft. »Im Weltenraum«, erklärte
er, »herrscht eine Temperatur von etwa zweihundert Grad Kälte. Genau
kann man sie natürlich nicht angeben, aber man weiß bestimmt, daß es
annähernd so ist. Näheres darüber kann ich hier nicht sagen, denn der
kleine Franz würde es nicht verstehen, aber wenn er bedenkt, daß überall
da auf Erden, wo die Sonne monatelang nicht scheint, also am Nordpol und
am Südpol, alles in Eis erstarrt und von den Polarforschern schon
fünfundsechzig Grad Kälte gemessen worden sind, obgleich das doch noch
auf der Erde ist, wo durch Luftströmungen, die aus wärmeren Ländern
kommen, immer noch Wärme zugeführt wird, so wird er mir wohl glauben.
Wie sollte es auch im Weltenraum warm sein? Warm ist es nur da, wo
irgend etwas ist, das die Sonne oder ein anderer heißer Körper erwärmen
kann. _Der Weltenraum aber ist leer._ Nicht einmal Luft ist in ihm, und
...« Der gelehrte Mann wurde plötzlich unterbrochen. Alle schrien
ängstlich auf. Ein gewaltiges Rauschen war vernehmbar, und dann
knatterte und polterte es gegen die Wände der Flugmaschine, daß man
fürchten mußte, sie gingen in Splitter. Der kleine Franz wich entsetzt
zurück vom Fenster. Faustgroße Steine kamen vorbeigeflogen und prallten
da und dort an, und einige zerbarsten funkensprühend.

»Die Mondmenschen, die Mondmenschen,« schrie der kleine Junge auf, »sie
haben uns entdeckt, sie schießen auf uns!«

Auch der Vater war entsetzt zurückgewichen, und der Astronom stand
bleich im Hintergrunde und trippelte ratlos hin und her.

Es dauerte nur einen Augenblick, dann war die gefährliche Erscheinung
vorüber, aber der Professor war sehr erregt, antwortete nicht auf die
stürmischen Fragen seiner Begleiter. Er untersuchte sorgfältig jeden
Teil der Maschine, und erst als er sich überzeugt, daß sie keinen
Schaden gelitten, atmete er erleichtert auf.

»Alle Teufel,« sagte er, sich die weißen Haare krauend, »das war eine
schlimme Geschichte! Eigentlich hätte ich darauf vorbereitet sein
müssen, aber etwas vergißt man halt immer!«

»Und was war es?« fragte der Vater.

»_Es waren Meteorsteine_, wie sie zu Millionen durch den Weltenraum
ziehen. Die kleineren von ihnen sieht man häufig am Himmel der Erde als
schnelle Fünkchen dahinfliegen. Wir nennen sie >_Sternschnuppen_<, die
großen aber sehen wir selten, sie leuchten wie Raketen auf, und sprühend
fallen sie als _Stein- und Eisenmassen_ zur Erde. In jedem Museum kann
man solche Meteorsteine liegen sehen. Hätten sie die Fenster unsrer
Gondel zerschlagen, so wäre es um uns geschehen gewesen, denn wir wären
erstickt.«

»Erstickt? Weshalb das?«

»Ja nun, _der Weltenraum ist vollkommen luftleer_. In großen
Stahlflaschen, die im Boden der Gondel liegen, habe ich den Sauerstoff,
die Lebensluft, von der Erde für unsere Reise mitgenommen, und sie
strömt langsam hier aus und erhält uns am Leben. Wäre aber die Gondel
zerschmettert worden von den Meteoren, so wären wir im luftleeren
Sternenraum erstickt!«

Da merkten die beiden Mitreisenden erst, daß es doch gar keine so
ungefährliche Vergnügungsreise war, die sie unternommen, und ein bißchen
bänglich wurde ihnen nun doch, wenn auch die Gefahr glücklich vorüber
war.

Inzwischen waren sie dem Monde bedeutend näher gekommen. Als mächtige
Scheibe, auf der man schon allerlei Einzelheiten sah, schwebte das
bleiche Nachtgestirn über ihnen, und sie fuhren mit märchenhafter
Geschwindigkeit darauf zu.

»Wie weit ist denn eigentlich der Mond von der Erde entfernt, und wie
lange haben wir zu reisen?« fragte der Vater.

»Von der Erde bis zum Mond sind es dreihundertvierundachtzigtausend
Kilometer, meine Freunde,« antwortete der Astronom. »Das ist so schlimm
nicht, denn es ist nur dreißigmal so weit wie eine Reise von Berlin nach
New York und wieder zurück, und viele Kapitäne haben schon längere
Reisen unternommen. Eine Kanonenkugel würde in zehn Tagen von der Erde
zum Monde fliegen können, wenn ihr unterwegs nicht die Kraft ausginge,
und ein Schnellzug müßte ununterbrochen sechs Monate fahren, wenn es
einen Schienenweg zum Monde gäbe. Wir aber fahren so rasend schnell mit
meiner Erfindung, daß wir bald da sein werden. Seht, wie nahe uns der
gute alte Freund schon gerückt ist; es ist die höchste Zeit, daß wir die
Vorbereitungen zur Landung treffen. Das wichtigste ist, daß jeder
zunächst seinen Lufthelm und Lufttornister aufsetzt, denn es ist auf dem
Monde keine Spur von Luft anzutreffen, weshalb ja auch keine Menschen
dort leben können. -- Dann aber muß ich vor allem meine großartige
Bremsmaschine in Bewegung setzen, denn sonst fliegen wir mit solcher
Gewalt auf die Mondoberfläche nieder, daß wir mitsamt unsrer
Himmelsdroschke zerpulvert werden!«

Und nun begannen alle drei sich lebhaft zu tummeln. Bald sahen sie aus
wie Meerestaucher mit ihren kupfernen Helmen, die den ganzen Kopf von
der Außenwelt absperrten, und durch Gummiringe am Halse luftdicht
schlossen. Auf dem Rücken waren Luftzylinder befestigt, und durch
Schläuche kam von dort die Atemluft zu den Helmen. Durch vergitterte
Fenster in den Helmkugeln konnte man draußen alles bequem überblicken,
aber ob man durch sie auch würde hören können, was draußen zu hören war,
und was die anderen sagten, das war dem kleinen Franz doch etwas
fraglich.

Eine gewaltige Helligkeit war nun wieder ringsum, sie kam von der schon
ganz nahe über ihnen liegenden, blendend erleuchteten Mondoberfläche.
Der Professor arbeitete an allerlei Hebeln und Schrauben, drehte an
vielen Hähnen und Rädern, und der Vater half ihm dabei. Der Alte war so
eifrig, daß seine weißen Haare und seine Frackflügel hin und her
flatterten, aber endlich war alles bereit.

»So,« sagte er, »jetzt ist der feierliche Augenblick da! Nun werden
sofort die ersten Menschen den Mond betreten, infolge meiner großartigen
Erfindung. Nun aber Achtung, denn wenn auch die Bremsmaschinen tadellos
funktionieren, einen gehörigen Stoß wird es doch geben und vielleicht
auch ein paar blaue Flecke. Darum schleunigst in die Schaukeln, die an
der Decke hängen, sie sind aus Gummi und Federn und wohl auswattiert,
damit die Knochen ganz bleiben.«

Da schlug denn doch den Reisenden das Herz, und der kleine Junge
bibberte nicht schlecht bei dem Gedanken, all seine Knöchelchen wie in
einem Würfelbecher auf dem Monde herumzustreuen, aber es war keine lange
Zeit mehr zum Überlegen. Kaum saßen sie in den Gummischaukeln, da ging
es auch schon los! »Festhalten! Festhalten!!« schrie der Professor. Dann
gab es einen enormen Krach, es splitterte alles mögliche ringsum, und
dann brauste es dem kleinen Franz jämmerlich in den Ohren, er fühlte nur
noch, wie ihm fast jedes Knöchlein im Leibe weh tat, und dann war es mit
einem Male Nacht und alles aus.»

Hier unterbrach der alte Ulebuhle seine Erzählung und nahm eine neue
mächtige Prise, während wir Kinder ganz gespannt und mäuschenstill mit
offenem Munde über das weitere Schicksal der Mondreisenden nachdachten.
«Jungens,» sagte Ulebuhle, «macht um Gottes willen den Mund zu, sonst
fliegen euch die Fledermäuse hinein! Ihr müßt mich erst einmal
ausschnaufen lassen, ich bin ein alter Mann, und die Zungenmühle geht
bei mir nicht mehr so wie bei euch unklugen Schreihälsen!» Hierauf
nieste er wieder zweimal, daß der Turm dröhnte und das Zöpfchen entsetzt
in die Höhe fuhr, und dann fuhr er also fort:

«Die Reisenden lagen mit arg zugerichtetem Flugschiff auf dem Monde, und
wenn sie jemand gesehen hätte, er hätte angenommen, sie seien tot. Aber
sie hatten von dem Sturz nur die Besinnung verloren, und der Vater, als
der kräftigste von den dreien, war zuerst wieder auf den Beinen. Gott
sei Dank, er hatte nichts gebrochen und erkannte auch schnell, daß die
anderen noch lebten. So richtete er sie auf, und einer nach dem anderen
kam zu sich. Außer einigen Beulen und Schrammen war nichts vorgefallen,
und die Reiseapotheke des Professors kurierte diese kleinen Schäden
schnell. Ein ganz klein wenig heulte unser Franz zwar dennoch, aber im
ganzen hatte er sich doch recht tapfer benommen.

»Sind wir nun auf dem Monde?« fragte er, noch immer etwas verängstigt,
»aber das sind ja hier genau solche Steine wie bei uns auf der Erde und
ebensolcher Sand. Und was ist denn das? Nein, das ist aber ganz
schnurrig, da steht die Sonne am Himmel, und zugleich sind auch alle
Sterne zu sehen wie mitten in der Nacht, und der Himmel ist auch ganz
schwarz, trotzdem es doch heller Tag ist!«

So fragte der kleine Junge unablässig, aber niemand antwortete ihm, es
war, als hörte ihn keiner, und nun merkte er erst, daß er selbst nur
ganz undeutlich seine eigene Stimme vernahm. Ei, sagte er zu sich
selbst, das liegt sicher an dem dicken Kupferhelm, der unsere Köpfe
umschließt, daß wir uns nicht hören. Da berührte der Professor seinen
Arm und bedeutete auch dem Vater aufzupassen. Dann zog er eine Pistole
hervor und feuerte sie zwei-, dreimal ab. Man sah zwar den Feuerschein
und den Pulverdampf, aber man hörte kein bißchen von dem Krachen des
Schusses. Man sah, wie der gelehrte Herr über die Verwunderung seiner
Mitreisenden lächelte, dann zog er einen Notizblock hervor und schrieb
darauf:

»_Da es auf dem Monde keine Luft gibt, die den Schall zum Ohr trägt, so
kann man hier auch nichts hören._ Wenn wir auf Erden eine elektrische
Klingel in einen Glaskasten bringen, aus dem wir mit einer Luftpumpe die
Luft heraussaugen, dann hören wir sie auch nicht mehr klingeln. Hier auf
dem Monde könnte jemand neben uns eine Kanone abschießen, wir hörten es
nicht. Alles was ihr wissen wollt, müßt ihr jetzt _aufschreiben_, und
ich kann es euch auch nur schriftlich beantworten.«

Sie gaben durch Nicken zu verstehen, daß sie das begriffen hätten, und
dann zeigte auch der Vater auf den seltsam aussehenden Himmel. Da stand
wirklich als hellstrahlende Feuerskugel die Sonne, genau so wie am
Himmel der Erde, _aber dieser Himmel war tiefschwarz wie bei uns in der
Nacht, und alle Sterne waren sichtbar_.

Der Professor nickte, setzte sich auf einen Felsblock und schrieb: »Auch
das kommt daher, daß der Mond ohne Lufthülle ist! Der blaue Himmel auf
Erden entsteht nur, weil das Sonnenlicht die _Luftschichten_ erhellt,
und so werden die Sterne unsichtbar. Hier, wo die Luft fehlt, sind sie
auch am Tage zu beobachten.«

Das ist doch eine schnurrige Welt! dachte Franz. Hier kann niemand Lärm
machen, keine Musik und kein Gesang ertönt, und wenn ein ganzes Heer von
Soldaten und Wagen entlangzöge, man hörte nichts davon. In der Schule
würde es hier nur schriftliche Arbeiten geben, und die Leute könnten
sich nur brieflich zanken.

Der Professor stand auf und bedeutete seinen Gefährten, ihm zu folgen.
Ein hoher Berggipfel lag vor ihnen; er stand am Rande einer weiten
Ebene, und der Astronom hatte die Absicht, ihn zu besteigen, um einen
Blick weit ins Land zu tun. Alles ringsum war kahl und öde. Nicht ein
grünes Fleckchen weit und breit, kein Baum, kein Strauch, kein Vogel,
kein Insekt war zu sehen. Nichts als zerrissene Felsen ringsum, so weit
das Auge reichte, tiefe dunkle Schluchten und breite Risse im Gestein.
Dann wieder noch trostlosere Ebenen, gefüllt mit ausgedörrtem, glühend
heißem Sand. Dazu die Grabesstille und der schwarze Himmel, es war
wirklich schauerlich und beängstigend. Wie schön war doch dagegen die
Erde, mit ihrem blauen Himmel, ihren Wiesen und Wäldern, ihren Flüssen
und Meeren, dem tausendfachen Getier, den ziehenden Wolken, dem Flüstern
des Windes, dem Sang und Klang und munteren Leben allüberall.

Sie standen nun nach kurzer Wanderung auf dem Gipfel des Berges, und
jetzt erst konnte man die Formen der Berge so recht erkennen. Vor ihnen
lag eine mächtige Ebene. Der Professor sagte, mit den großen Fernrohren
sehe man das alles auch deutlich von der Erde aus, und die Mondforscher
hätten vom Monde selber sehr genaue Photographien und Karten hergestellt
und alle Berge und Ebenen auf dem Monde genau so mit Namen bezeichnet,
wie es die Geographen mit den irdischen Landschaften gemacht haben.

»Diese große Ebene,« so bedeutete er seinen Freunden, »nennen die
Astronomen >Mare Imbrium<. Früher war das wohl ein großes _Meer_, aber
nun liegt es _ausgetrocknet_ da, denn wie es keine Luft gibt, so gibt es
auch _kein Wasser_ auf dieser toten Welt. Der große Gebirgszug mit
seinen wie Silber glänzenden Spitzen, den ihr da in weiter Ferne am
Rande der Ebene erkennt, das ist eine Kette von großen Berggipfeln, und
die Astronomen haben sie >Mond-Apenninen< getauft. Hier mitten drin in
der Ebene seht ihr aber nun die ganz sonderbaren Mondkrater, von denen
es auf dieser seltsamen Welt Zehntausende gibt. Seht, es sind alles
mächtige, _kreisrunde Gesteinsringe_, und manchmal steht noch ein
kleiner Bergkegel im Mittelpunkt des Ringes.«

Der kleine Franz nahm den Notizblock und schrieb darauf: »Diese
Kraterberge des Mondes sehen alle aus wie hohle Backenzähne!« Da lachte
der Professor und schrieb darunter: »Ja, da hast du recht, mein Junge,
nur daß diese Backenzähne oft fünfzig Kilometer breit sind.«

Die Reisenden schritten nun weiter, nach der anderen Seite zu, wo das
Land in Dunkelheit gehüllt war, denn dort schien die Sonne nicht mehr
hin, und es begann an dieser Stelle die von der Sonne abgewendete
Nachtseite des Mondes. Franz hatte sich schon lange gewundert, wie
merkwürdig schnell und leicht er auf dem Monde laufen konnte. Als er nun
zum Spiel einen Stein aufnahm und ihn in die Luft warf, da blieb er
überrascht stehen! Der Stein flog so hoch, daß er ihn kaum noch sehen
konnte, und kam erst in großer Entfernung zu Boden. Der alte Professor
aber hatte seinem Spiel und seinem Erstaunen zugesehen und bedeutete
ihm, einmal aufzupassen. Der alte Herr nahm einen kleinen Anlauf, und
dann sprang er vor einem kleinen Hügel vom Boden ab, hoch in die Luft,
über den haushohen Hügel hinweg, und schwebte sanft jenseits wieder
herunter. Es sah so komisch aus, wie der gute alte Professor da
plötzlich mit wehenden Frackschößen und flatternden Haaren, mit
schlenkernden Armen und seltsam herumrudernden Beinen in der Höhe
hinsauste, daß Vater und Sohn zunächst nicht aus dem Lachen herauskamen.
Aber dann faßte sie doch das Erstaunen über das Gesehene, und so
probierten sie denn auch diese Luftsprünge (wenn man so sagen kann, da
es auf dem Monde keine Luft gibt!). Die des Vaters fielen noch viel
höher aus als die des Gelehrten. Der Vater schleuderte auch Steine, die
so weit fort flogen, daß man sie aus dem Auge verlor. Dann aber traten
sie zu dem Professor, um sich erklären zu lassen, weshalb ihre Kraft
hier auf dem Monde zu Leistungen hinreichte, die auf Erden der stärkste
Mann nicht zu vollbringen vermöchte. Hob der kleine Junge doch
Felsblöcke empor, die auf der Erde sein starker Vater nicht hätte heben
können. Aber der Astronom wußte auch dafür eine einfache Erklärung.

Er setzte sich nieder und schrieb: »Der Mond ist viel kleiner als die
Erde. Man könnte aus der Erde neunundvierzig Monde machen. Der viel
kleinere Mond zieht auch alle Gegenstände, die sich auf ihm befinden,
nicht so stark an wie die große Erde, daher kommen uns also alle Steine
und so weiter auch auf dem Monde viel leichter vor, wir brauchen viel
weniger Kraft, um sie zu heben, oder können mit unserer Kraft viel
schwerere Steine hier aufheben und viel weiter werfen als auf Erden. Da
wir selbst auf dem Monde nur etwa sechsmal weniger wiegen als auf der
Erde, so können wir uns mit unserer Kraft auch sechsmal leichter bewegen
und über sechsmal höhere Hügel hinwegspringen als auf der Erde! Seht,
das ist alles ganz einfach, und nirgends in der Welt gibt es Hexerei.
Alles geht natürlich zu, und wenn man viel gelernt hat, kann man auch
viel erklären!«

Es ist wirklich eine schnurrige Welt hier, dachte der kleine Junge. Wenn
ich mir von der Erde ein Pfund Schokolade mitgebracht hätte und würde es
hier nachwiegen, so wäre es nur noch ein sechstel Pfund, selbst wenn ich
gar nichts davon genascht hätte!

Die Reisenden schritten rüstig weiter, immer weiter nach dorthin, wo es
Nacht auf dem Monde war und die geringe Schwere ihres Körpers bewirkte,
daß sie äußerst schnell vorwärts kamen und nicht müde wurden. Die Sonne
sank tiefer und tiefer zum Horizont herunter, und ganz plötzlich waren
sie mitten in der tiefsten Finsternis, denn so eine allmähliche
Lichtabnahme zwischen Tag und Nacht wie auf der Erde gibt es auf dem
Monde nicht, weil eben keine Luft vorhanden ist, die noch lange nach
Sonnenuntergang von den Sonnenstrahlen erhellt wird. Nur einige
Berggipfel, zu denen die Sonnenstrahlen noch hinaufdrangen, glänzten wie
aus blankem Eise geformt, als aber auch diese durch andere Berge
verdeckt wurden, war es rabendunkel ringsum, und man sah nicht die Hand
vor Augen. Der Vater wollte ein Zündhölzchen entflammen, aber es blitzte
nur auf und verlosch wieder; er hatte vergessen, daß in einem luftleeren
Raum ja nichts brennen kann. Aber auch dafür hatte der Professor
gesorgt, denn an seinem Gürtel hing eine große elektrische Handlampe,
die genügend Licht auf den Weg warf. Sie gingen noch ein gutes Stück, da
zeigte sich plötzlich tief unten am Horizont ein heller Schein. Eine
runde, leuchtende Kuppe wurde sichtbar, die immer mehr wuchs, je weiter
sie wanderten. Es war genau so, als wenn auf Erden der Mond aufgeht.
Immer mehr rundete sich diese Lichtscheibe, die da am Horizont des
Mondes emporstieg, und endlich stand sie leuchtend unter all den Sternen
schon ziemlich hoch droben über den Berggipfeln, und zwar so hell, daß
man ringsum alles klar erkennen konnte und der Professor seine Lampe
löschte.

Die Mondreisenden standen und blickten voll Staunen zu dem seltsamen
Monde empor, der da am Himmel des Mondes aufging, aber diese leuchtende
Scheibe war wohl zwölfmal größer, als auf Erden der Mond erscheint. Und
auf ihrer Oberfläche sahen der Vater und Franz helle und dunkle Flecke,
die ihnen merkwürdig bekannt vorkamen, grade so, als hätten sie sie
schon früher wo gesehen. Da zog der Astronom seine Notiztafel hervor und
schrieb ein paar Worte, die unsere Freunde in großes Erstaunen
versetzten:

»_Jene Scheibe dort droben am Mondhimmel ist die Erde!_« Und wirklich,
es war so. Deutlich sah Franz die ihm vom Schulglobus bekannten Umrisse
der Länder und Meere auf der Erde, das große Dreieck von Südamerika, den
Atlantischen Ozean und am Südpol die weiße Kuppe der Eis- und
Schneefelder. So war den Reisenden nun der Mond zur Erde geworden und
die Erde zum Monde, und der gelehrte Professor erklärte ihnen, daß das
alles ganz selbstverständlich sei, denn genau so, wie von der Erde aus
gesehen der Mond als ein Gestirn am Himmel schwebt, muß vom Monde aus
gesehen die Erde als Gestirn erscheinen, nur daß sie größer ist.

Da wandelten denn die Reisenden im _Licht der Erde_ auf dem Monde
spazieren, wie die guten Leute da auf Erden im Mondenschein promenieren.
Aber der Anblick der so fernen Erde, die doch so schön war mit ihren
Wäldern und Feldern, ihren Blumen und Vögeln, ihren Meeren und Flüssen
und geschäftigen Menschen, hatte dem Vater und dem kleinen Franz
plötzlich die Sehnsucht ins Herz gesenkt, wieder dahin zurückzukehren,
zu ihrem kleinen Hause mit dem Gärtchen und zu der Mutter, die gewiß
schon in tausend Ängsten sehnsüchtig nach dem Himmelsschiff ausschaute.
Der kleine Junge trat an den Vater heran, ergriff seine Hand und deutete
nach der Erde hinüber. Und der Vater verstand ihn. Er ging auf den
gelehrten Mann zu, legte seine Hand auf seine Schulter und machte ihm
begreiflich, daß man nun umkehren müßte, zurück zu dem Luftschiff, um
die Rückreise anzutreten.

Aber der schüttelte den Kopf. »Das Flugschiff ist zerschellt,« so
schrieb er nieder, »wir müssen hier bleiben!«

»So werden wir es ausbessern,« entgegnete der Vater.

»Nein! Hierbleiben, hier ist es interessant, und ich muß noch viel
untersuchen hier oben, denn ich werde ein ganz dickes Buch über den Mond
schreiben.« Das war die Antwort des Astronomen.

Der Vater redete heftig auf ihn ein und machte dem eigensinnigen
Professor schwere Vorwürfe, daß er sie hierher gelockt, ohne ihnen die
Rückreise zu ermöglichen, und der Alte stampfte mit dem Fuße auf und
entgegnete nur immer das eine: »Wir bleiben hier!«

Es war plötzlich, als ob der alte Gelehrte zu einem teuflischen Dämon
geworden wäre. Seine Augen blitzten höhnisch hinter den Brillengläsern
hervor, und er fuchtelte wild und drohend mit den Händen in der Luft
herum, so daß der kleine Junge in Angst und Schrecken geriet.

Und da mit einem Male waren die beiden Männer zusammengeraten. Sie
rangen miteinander und suchten sich zu umfassen. Immer weiter schoben
und zerrten sie sich, und nun standen sie ganz nahe an einer tiefen
Felsenspalte, die rabenschwarz ins Unbekannte ging. Da lief der weinende
kleine Junge hinzu, packte den Vater am Rock, um ihn hinwegzuzerren von
dem dunklen Abgrund, aber schon war es zu spät. Sie stürzten, sie fielen
immer tiefer, immer weiter ins bodenlose, undurchdringliche Dunkel ...

Und plötzlich fühlte der kleine Junge, wie eine Hand ihn erfaßte, es
wurde Licht ... da stand die Mutter vor seinem Bett und sagte lächelnd:

»Ei guten Morgen, Herr Langschläfer! Wach auf! Die Sonne steht schon
hoch droben. Ich hörte dich schreien im Schlaf, du hast geträumt, ja ja,
das kommt davon, wenn man noch spät abends vom Monde plaudert!«»




                 Die Schwalbe und der Telegraphenpfahl


«Heute», sagte der Doktor, «kommt die Geschichte von der Schwalbe und
dem Telegraphenpfahl. Die ist nicht lustig und ist auch nicht traurig,
und wer sie nicht hören will, der läßt es bleiben. Basta!

Ja, da wandern die blanken Telegraphendrähte von der großen Stadt
weithin weg durch Felder und Wälder. Längs der Eisenbahn ziehen sie
dahin, und wenn die Vögel darauf sitzen, sehen sie aus wie Notenlinien
mit dickköpfigen Noten. Das geht durch stille Dörfer, immer auf hohen
Stangen, und die Kinder halten die Ohren an die dicken Pfähle, denn sie
summen eine sonderbare Melodie, aber die machen sie nicht selbst,
sondern es ist der Wind, der auf den Drähten spielt wie auf einer Harfe.

Und dann geht es über Land, wo das Getreide gelb in der Sonne steht, und
geht durch stille Buchenwälder mit frischem Grün, immer weiter und
weiter, bis wieder eine neue Stadt kommt, mit Rauch und Staub und
lärmenden Menschen.

Da, wo die Felder jenseits des Dorfes aufhörten und eben der grüne Wald
anfing, stand ein Telegraphenpfahl, der hielt mit starken Armen die
Drähte beieinander droben, dicht unter den grünen Zweigen der Bäume.
Eine Schwalbe mit blauschwarzem Frack und weißer Weste kam
dahergeflogen. Sie setzte sich auf den Telegraphenpfahl, wippte mit dem
Schwänzchen und pickte dem alten, ewig brummenden Burschen auf seinen
dicken Holzschädel.

»Pitt, komm mit,« sagte sie, wippte zierlich und hackte mit ihrem
kleinen Schnabel dem Alten vertraulich aufs neue auf den Holzkopf.

»Reisende Musikanten sind lockere Vögel,« brummte der. Aber er war nicht
böse, denn er liebte die kleinen munteren Sänger, die von weit her kamen
und ihm guten Tag sagten.

»Pitt, komm mit,« sagte die Schwalbe, das hatte sie sich so angewöhnt,
denn ihre Mutter hatte es schon gesagt und ihre Großmutter, und es ist
Schwalbenart.

»Ich stehe hier schon zwanzig Jahre,« sagte der Telegraphenpfahl, »und
ich komme hier nicht weg. Ich bin ein alter getreuer Beamter. Es wäre
eine schöne Geschichte, wenn die Telegraphenstangen auch so in der Luft
herumfliegen wollten wie ihr Federvolk.«

»Ich komme von weit her,« sagte die Schwalbe, »von dort, wo die Sonne
wärmer scheint und der Himmel so tief blau ist wie die Kornblumen. Da
liegen sonnige Küsten am Meer, Lorbeerhaine stehen am Ufer, goldgelbe
Zitronen und Orangen hängen im dunklen Laub, und die Menschen sind
fröhlich und singen lustige Lieder zur Laute. Ja, da ist es schön. Pitt,
komm mit.«

»Ja,« sagte der alte Pfahl, »das muß wohl schön sein. Unsereiner sieht
von all dem nichts und tut hier oben seinen Dienst als alter Beamter.
Wenn ich nicht Obacht gäbe auf die Drähte und ihnen den Willen ließe,
dann gäbe es eine schöne Verwirrung in der Welt. Sie sind widerspenstig
und zerren wie ein Fleischerhund, der an der Kette liegt, aber ich halte
sie in Ordnung, denn Ordnung muß sein bei einem alten Beamten, der treu
ist und pensionsberechtigt!«

»Aber es ist langweilig,« zwitscherte das Schwälbchen und zupfte an
seiner weißen Weste. »Ich komme durch die ganze Welt und höre viel
Neuigkeiten. Wenn du willst, erzähle ich dir welche.«

»Ach Gott,« meinte der Telegraphenpfahl, »Neuigkeiten kannst du mir
nicht erzählen, die kommen hier alle durch meine Drähte, und da höre ich
sie zuerst.«

»Aber die Dinge, die ich heute auf meiner Reise sah, die sind dir noch
unbekannt, denn ich komme in eilendem Fluge herauf aus dem Süden, und
was da geschah, das kannst du nicht wissen, alter Holzkopf!«

»So schnell kannst du gar nicht fliegen wie die Gedanken der Menschen
hier in den Drähten, windiger Federball. Mit Blitzesschnelle sausen die
Begebenheiten aus aller Welt hier an mir vorüber. Wenn man nicht aufpaßt
wie ein Jagdhund, sind sie schon wieder hundert Meilen fort, ehe man
noch recht verstanden hat, um was es sich handelt. Ja, die Menschen sind
kluge Leute und haben es weit gebracht. Da braucht man nicht vom Ort,
braucht keine weiten Reisen zu machen und hört doch alles, was in der
Ferne, weit über Länder und Meere vor sich geht. Das kommt hier alles
durch diese dünnen Drähte hindurch. Telegramme nennen es die Menschen.
Ganz da in der Ferne, in der großen Stadt sitzen die Männer, die die
ganze Geschichte machen. Da haben die Drähte in einem großen Hause ein
Ende, und dieses Haus ist das Telegraphenamt. Da stellen sie in
sonderbaren Gefäßen eine ganz schnurrige Sache her, eine unsichtbare
Kraft, noch zarter wie der feinste Windhauch und doch mächtig und stark.
Kommt man mit dem Finger an diese Geräte, dann gibt es einen Schlag und
es ist, als bisse es einem in die Hand. Diese seltsame Kraft nennen die
Menschen Elektrizität. Was aber das tollste ist, sie läuft schneller
davon als der wildeste Sturmwind, schneller als die schnellsten Vögel
fliegen, so schnell wie der Blitz, der ja auch von der Elektrizität
fabriziert wird. Und mit dieser sonderbaren Kraft schicken die Menschen
ihre Worte und Gedanken durch diese Drähte, so daß man sie am anderen
Ende genau verstehen kann. Ja, so ist es, die Gedanken der Menschen
schwirren auf elektrischen Flügeln durch diese Drähte. -- Aber nun mußt
du erzählen, was du auf deiner Reise erlebt hast.«

»Ich war da unten im Süden in den sonnigen Gärten. Schöne seltene Blumen
dufteten. In einem Hain von alten Bäumen stand ein Schloß. Es war alles
von Gold und Silber darin, und hohe Spiegel von Kristall deckten die
Wände. Ein kranker König wohnte dort. Er saß im Hain bleich und elend in
einem Sorgenstuhl. Seine Diener standen um ihn herum, viel Herren und
Damen in kostbaren Gewändern. Alles war stumm. Die Sonne schien so warm,
die Blumen dufteten so süß, die kleinen Vögel sangen so lieblich in den
Zweigen, aber eine Träne rann dem König über die fahlen Wangen, denn er
wußte, daß er sehr krank sei und sterben müsse. -- Es war zu traurig,
ich strich dicht über ihn hin und sagte: Pitt, komm mit. Er hörte es,
denn er lächelte ein wenig und hob den Blick ... aber dann flog ich fort
und weiß nicht, wie die Geschichte zu Ende gegangen ist.«

»Aber ich weiß es,« sagte der alte hölzerne Wächter. »Es kam hier durch
die Drähte durch. In wenigen Sekunden waren die elektrischen Boten aus
dem fernen Süden bis hier heraufgeeilt in den kalten Norden, wo des
Königs Reich liegt, und Trauer geht durch das Land, denn der gute König
ist am nämlichen Abend, als die Sonne hinter den Bäumen des schönen
Gartens ins Meer sank, gestorben.«

»Es ist schnurrig,« sagte die Schwalbe, »ich komme im schnellsten Fluge
von dort unten her, und doch weißt du besser über die Dinge, die sich da
zugetragen haben, Bescheid als ich selbst.«

»Ja, das ist alles die Elektrizität und die Telegraphie,« meinte der
Hölzerne, und man sah es ihm an, daß er stolz darauf war, ein
Telegraphenbeamter zu sein.

»Ich flog über die Alpen hinweg,« sagte die Schwalbe, »o wie glänzten
die vereisten Gipfel, die mächtigen Schneefelder im Sonnenlicht. Die
Felszinnen ragten hoch in den Himmel hinein. Ich sah einen Eisenbahnzug
drunten am Fuße der Bergwände dahinkriechen, und dann kam etwas
Seltsames! Aus der Höhe rollten mächtige Schneemassen zu Tal, wahre
Berge von Schnee ballten sich zusammen und fuhren abwärts. Sie rissen
Felstrümmer und Geröll mit sich und knickten die hohen Tannen unten in
den Bergwäldern. Es war eine gefährliche Geschichte, und man hörte den
Eisenbahnzug drunten ängstlich kreischen, und dann kamen die
Schneemassen über die glitzernden Schienen des Bahnstranges, ja weicher
Pulverschnee hüllte selbst den Zug ein, und da saß er nun fest im weißen
Meer mit allen seinen Menschen, eingegraben im Schnee zwischen den hohen
Felswänden. Ich hätte gern gesehen, wie sie die Sache nun wieder in
Ordnung gebracht haben. Aber ich mußte weiter und flog nordwärts.«

»Siehst du,« sagte der Telegraphenpfahl, »ich wußte schon alles, was du
berichtest. Die ganze Geschichte ist schon längst hier durch die blanken
Drähte geschnurrt, und heut abend lesen es die Leute in der großen
Stadt, wenn sie in Schlafrock und Filzpantoffeln gemütlich auf dem Sofa
sitzen und ihren Tee trinken, in der Zeitung, denn der Telegraph hat es
gemeldet. Es war eine große Schneelawine, die du da in den Bergen
niedergehen sahst, und eben kam die Nachricht durch, daß es noch viele
Stunden dauern wird, bis der Schienenweg wieder frei ist und der Zug
weiterfahren kann. Von allen Dörfern kommen die Menschen mit Schaufeln
und Picken herbei, den Schnee fortzuräumen, ein ganzes Bataillon
Soldaten kämpft gegen den Racker Schnee, aber nicht mit der Flinte,
sondern mit der Schippe.«

»Ja, ja,« zwitscherte das Schwälbchen, »seit die blanken Drähte durch
die Welt gehen, können wir fliegenden Boten keine Neuigkeit mehr
erzählen. Wir müssen nach den Urwäldern auswandern, denn da gibt es noch
keine Telegraphendrähte, aber da sieht man auch nicht so viel
Interessantes wie in der großen Welt, wo die Menschen wohnen.«

»Höre,« sagte der alte Pfahl, »was alles mit Blitzesgeschwindigkeit hier
hin und her schnurrt. Gutes und Böses, Lustiges und Trauriges. Da ist
ein berühmter Mann gestorben, sagen die Drähte. Eine Minute später
erzählen sie, daß irgend wo eine Mutter ein Kind geboren hat. Ein Schiff
ist auf dem Meere untergegangen, schnurrt es. Ein armer Mann, der für
seine Kinder kaum das Brot kaufen kann, hat plötzlich das große Los
gewonnen. Trauer und Freude schnurrt hier entlang, und der Wanderer, der
durch die stille Waldstraße zieht, sieht nur blanke Drähte und weiß
nicht, was für wichtige Dinge sie über seinem Kopf hinweg erzählen. --
Aber nun mußt du weiter berichten, vielleicht weißt du eine Neuigkeit,
von der die Drähte nichts berichten.«

»Ich flog durch einen dunklen Wald. Ein einsames Haus stand darin. Ich
ruhte einen Augenblick auf dem Giebel. Ein schlechter Mensch kam aus dem
Walddunkel herangeschlichen, er sah unheimlich aus und trug eine Flinte
unter dem Mantel verborgen. Er stieg durch ein Fenster. Nur eine Frau
war in der kleinen Stube, die saß am Bette ihres Kindes und wartete, daß
ihr Mann, der Waldhüter, heimkehre. Ich hörte sie ängstlich schreien,
hörte, wie der Bösewicht sein Gewehr abschoß, und dann war es stille.

Nach einer Weile stieg er mit einem Bündel geraubten Gutes wieder aus
dem Fenster heraus. Er sah sich scheu um, niemand hatte ihn gesehn, und
er verschwand schnellen Schrittes im Dunkel der Tannen. Ich allein habe
den Räuber gesehen, ich flog über ihn dahin und schrie unablässig: Pitt,
komm mit, Pitt, komm mit, aber er entschwand im dichten Gehölz meinen
Blicken und ist entkommen.«

»Nein, er ist nicht entkommen,« sagte der alte Stamm, »aber er wäre
entkommen, wenn die blanken Drähte des Telegraphen nicht durch die Welt
zögen. Der Waldhüter war nicht mehr weit, er hatte den Schuß gehört.
Sein Weib lebte noch und wird wieder genesen. Mit schwacher Stimme
konnte sie erzählen, wie alles gewesen und wie der Räuber ausgesehen.
Sie beschrieb sein wildes Gesicht und seine Kleidung. Auf seinem
blinkenden Rade fuhr der Waldhüter wie ein Sturmwind nach dem nächsten
Marktflecken und berichtete alles. Und nun kam der Telegraphist an die
Reihe. Er schickte durch die Drähte Zeichen und Worte, erzählte die
ganze Geschichte, beschrieb genau den Täter und was er entwendet, und
die Drähte trugen die Nachricht mit Blitzesschnelle von einer
Bahnstation zur anderen, von einer Stadt zur anderen, so daß bald jeder
Landgendarm wußte, was sich zugetragen.

Ganz spät in der Nacht wollte der Räuber, der auf dichten Waldwegen weit
hinweg geeilt war, auf einer kleinen Bahnstation in den Zug steigen, um
in die große Stadt zu fahren, wo niemand ihn kannte. Aber da stand ein
Mann mit einer Pickelhaube und einem mächtigen Schnauzbart. Seine
scharfen Augen besahen sich jeden, der daherkam, und dann verglich er
sein Aussehen mit der Beschreibung, die die Drähte von dem Bösewicht
gegeben. Sieh, da kommt der Vogel geflogen, sagte er plötzlich, denn der
Flüchtling hatte den kleinen Bahnhof betreten. Und ehe er sich nur zur
Wehr setzen konnte, hatte man ihn gepackt, mit Ketten gefesselt, und als
ein Gefangener fuhr er nun der großen Stadt zu, in der er seinen Raub
verbergen wollte. Wären die Drähte nicht gewesen, er wäre entwischt,
denn wer kann ohne sie überallhin so schnelle Nachricht geben!«

»Alter,« sagte die Schwalbe, »mit dir kann man sich keine Neuigkeiten
erzählen, denn du weißt sie alle am besten. Ich bin aber doch froh, daß
sie den Bösewicht erwischten. Lebe wohl, alter Holzkopf, künftig werde
ich mich in die Wipfel der alten Tanne setzen, sie weiß nichts von den
blanken Drähten, und alles, was ich ihr berichte, ist neu und
interessant.«

Damit flog der kleine Vogel zwitschernd davon, und noch von weitem hörte
man ihn rufen: »Pitt, komm mit!«

Die Telegraphenstange brummte laut vor sich hin. Ein Wanderbursch, der
da unten vorbeizog auf der Straße, einen grünen Zweig am Hute und ein
Ränzel auf dem Rücken, hörte es, aber er wußte nicht, was sie sagte.»




                              Der Eisberg


An einem Frühlingstage saß der alte Ulebuhle tief in seinem Sorgenstuhl
vergraben. Sein Zöpfchen baumelte über die hohe Lehne, die große
Hornbrille schwebte wie ein Fahrrad auf seiner Nase, und mächtige
Rauchwolken stiegen aus seiner langen Pfeife auf.

So saß er, als wir eintraten, in seiner verräucherten Studierstube und
las die Zeitung.

«Kinder,» sagte er, «ihr habt gehört, daß draußen auf dem Weltmeere ein
Amerikafahrer mit Mann und Maus gesunken ist. Viele hundert Menschen
sind mit ihm in die finstere Tiefe gegangen. Da steht es haarklein in
der Zeitung. Ein Berg von Eis hat das Unheil angerichtet, und wenn ihr
Lust habt, so sollt ihr nun eine solche Eisberggeschichte hören. Sie
trug sich vor langen Jahren zu und war so ähnlich wie das, was hier die
Zeitung berichtet. Es ist eine kalte Angelegenheit, und dazu trinkt sich
allemal eine warme Tasse Tee gut. Ruft die alte Christine, damit sie uns
nicht vergißt, und dann setzt euch um den warmen Ofen, denn es geht weit
herauf nach Norden, wo das kalte Grönland liegt.

Ja, das ist ein unwirtliches Stück Erde. Eskimos leben da und Robben-
und Walfischfänger, und das Renntier scharrt sich unter dem Schnee seine
Nahrung, das graugrüne Moos, hervor. Seht, da oben ist die Heimat des
Eisberges, dessen Geschichte ich euch heute erzählen will. Wochenlang
geht da im Winter die Sonne nicht auf, ein eisiger Nordsturm fegt durch
das Land der Kälte und der Dunkelheit, und bis auf fünfzig Grad unter
den Gefrierpunkt sinkt das Thermometer. Da ist das Vorzimmer des
Nordpoles. Immer höher und höher türmen sich Eis und Schnee. Eine fast
zweitausend Meter hohe Eisschicht bedeckt das Land, aus der nur die
Bergeshäupter wie Inseln hervorschauen. Aber immer neues Eis kommt
hinzu, das Land kann es nicht fassen, und so schiebt es langsam, ganz
langsam gewaltige Eisströme der Küste zu, wo es etwas wärmer ist und das
Meer rauscht. Diese ungeheuren Eisströme sind viele tausend Meter breit,
und man nennt sie Gletscher. Ein solcher Gletscher war die Mutter jenes
Eisberges. Langsam schob sich der kalte kristallene Strom dem Meere zu.
Es war seit Wochen Nacht. Die Sonne stand tief unter dem Horizont, nur
die Sterne blinkten wider an den glitzernden Eiswänden, und in
wunderbaren, grünlichen Lichtern spielte des Nordlichtes geheimnisvoller
Schein über der kalten, einsamen Welt des Nordens.

Als der Eisstrom die Meeresküste erreicht hatte, die steil abfiel in das
tief drunten rauschende Wasser, da schwebten plötzlich ungeheure
Eismassen frei in der Luft, dort, wo das Land ein Ende hatte und das
Meer begann. Es knisterte und knasterte im Eis, es dröhnte und bullerte
und gab breite Risse, und plötzlich brach die schwebende Masse ab. Ein
Eisblock, aus dem man wohl zehn Großstadthäuser hätte bauen können,
brach vom Gletscher, seiner Mutter, los und stürzte mit Donnergepolter
in das wild brausende und schäumende Meer, so daß es in mächtigen Wellen
und Strudeln wild sich empörte und bis zum Himmel weißliche Wassersäulen
emporsandte.

So ward unser Eisberg geboren!

Wie eine schwimmende Burg lag er da im eisigen Wasser, mit Türmen und
Wällen und Spitzen, und langsam trieb ihn die Meeresströmung fort von
der Küste, immer weiter nach Süden, am Baffinsland vorüber, entlang der
Küste von Labrador, hoch oben im Norden Amerikas, und schließlich hinein
in den Atlantischen Ozean.

Und siehe da, je weiter der Eisberg nach Süden abtrieb, fort von seiner
nordischen Heimat, je lichter und wärmer wurde es. Endlich kam auch die
Sonne wieder hervor. Als ein tiefroter Ball zog sie dicht über dem
Horizont dahin, wie ein feuriges Rad, das auf dem Wasser rollte. Aber
wie sah unser Eisberg aus! Welch ein wundervoller Anblick! Er war zu
einem Zauberschloß geworden. Von fern sah er aus wie eine brennende
Festung. Die rotglühende Sonne spiegelte sich in den glitzernden
Eiswänden, flammende Garben schienen aus dem Innern hervorzudringen,
denn mächtige Sprünge durchzogen die kristallene Burg, in denen das
Licht sich brach und in allen Farben funkelte wie im Demantstein.

Die Sonne stieg, je tiefer der Eisberg nach Süden kam, immer höher
empor, und immer wärmer wurden ihre Strahlen. Sie schmolz langsam tiefe
Höhlen hinein in die schwimmende Burg. Das Wasser tropfte an allen Ecken
und Kanten unablässig, und Tausende von mächtigen Eiszapfen, dick wie
Eichen und lang wie Telegraphenstangen hingen an den Seiten nieder.
Große Tore schmolz die Sonnenwärme hinein in den kristallenen Bau, den
die Kälte gezimmert, Säulen und Balkone entstanden darin, Türme und
Giebel. Blendendweiß lag das Feenschloß des hohen Nordens zur
Mittagszeit auf den blauen Wogen des Ozeans, rotglühend funkelte es,
wenn des Abends die Sonne im Meer versank, grünlich flimmerte das
Mondlicht zur Nachtzeit in seinen Eisgalerien.

Hoch wie eine Kirche ragte der Berg von Eis über dem Wasserspiegel
empor, aber zehnmal tiefer und mächtiger dehnte er sich noch unter dem
Wasser, dem Auge unsichtbar, denn seine Schwere brachte es mit sich, daß
sein größter Teil eingetaucht blieb im Wasser.

Eines Tages aber, als ein heftiger Wind über das Wasser fuhr, gab es
eine Katastrophe! Die Sonne hatte auf der Mittagsseite so viel Eis
abgeschmolzen, warme Strömungen im Wasser hatten dieselbe Seite so stark
benagt, daß der Eisberg aus dem Gleichgewicht gekommen war. Immer
schräger stellten sich seine Wände, immer mehr hob sich der Eisfuß auf
der einen Seite aus den Wellen heraus, und als ein heftiger Windstoß
gegen die Eiswände anprallte, da stürzte die ganze riesige Burg um, und
was unten lag, kam nach oben.

Das Meer wurde bis in seine Tiefen aufgerührt durch den umkippenden
Berg. Eine halbe Stunde weit ins Meer hinaus wanderten die mächtigen
Wellen, die der Sturz verursacht, weißschäumender Gischt sprühte hoch
hinauf in die klare Luft, und rauschend gurgelte das Wasser um den
kristallenen Riesen. Aber dann zog er wieder, von der Meeresströmung
fortgetragen, langsam und ruhig seines Weges weiter, immer entlang an
der Küste von Neufundland.

Scharen von Seevögeln ließen sich auf seinem Dache nieder, flogen
kreischend, mit silberglänzenden Flügeln, weithinweg und kamen wieder,
gefangene Fische in den scharfen Schnäbeln.

Der Eisberg aber trieb und trieb, und langsam kam er auf die große
Fahrstraße der Schiffe, die von Neufundland herüberfahren nach den
englischen Inseln.

Ein großer Dampfer, der »Nordstern«, fuhr langsam durch die dunkle
Nacht. Droben glitzerten die ewigen Sterne, und drunten schäumten die
Wellen. Ebenhard, der Steuermann, stand, den Südwester auf dem Kopfe,
die Öljacke über der wollenen Strickjacke, auf seinem Posten und blickte
scharf durch die Dunkelheit. Er schob sich ein mächtiges Stück Kautabak
zwischen die Zähne und stapfte in seinen dicken Schmierstiefeln von
einem Fuß auf den anderen.

Der Kapitän, die kurze Stummelpfeife im Munde, trat herzu. Sein langer
grauer Bart flatterte im Winde. »Ebenhard,« sagte er, »wir sind bei den
miserablen Straßen, wo die verdammten Eisberge von Norden her südwärts
treiben. Jetzt heißt es Maul zu und Augen auf, sonst haben wir plötzlich
einen solchen Burschen in den Rippen sitzen! Ich habe noch zwei Mann
nach vorn geschickt, mit Augen wie Habichte, und auch der Mann im
Ausguck ist angewiesen, Löcher in die vermaledeite Dunkelheit zu gucken,
aber man kann nicht genug auf der Hut sein!«

»Ich habe eine feine Nase für die eisigen Biester, Kapitän,« sagte der
alte Steuermann und spuckte nach Seemannsart kunstgerecht ein handliches
Stück Priem vier Meter weit über die Planken, »ich bin ihnen oft hier
herum begegnet, den niederträchtigen Burschen, und ich hab's im Gefühl,
wenn sie sich so in der Dunkelheit heranschleichen. Aber die Hauptsache
sind die Thermometer!«

Ja, die Thermometer waren die Hauptsache. Da hingen zwei links und
rechts am Schiff im Wasser, und zwei andere hingen beim Steuerhause in
der Luft. So konnte man genau verfolgen, ob die Temperatur im Wasser und
in der Luft fiel, denn die mächtigen Eisberge strahlen so viel Kälte
aus, daß es schon auf weite Entfernung an den Wärmemessern zu spüren
ist, wenn sie in der Nähe eines Schiffes dahintreiben.

»Ich werde die Wasserthermometer im Auge behalten, Ebenhard, seht Ihr
nach den Luftthermometern,« sagte der Kapitän, und dann ging er mit
wiegendem Seemannsgang davon.

Die Wellen rauschten leise, die roten und grünen Signallichter und die
weißen Positionslaternen spiegelten sich im Meer, am Horizont tauchte
das Sternbild des Orion auf, und die Milchstraße zog als leuchtendes
Band über den Himmel hinweg. Viele Augen starrten durch das Dunkel nach
schimmernden Wänden, die plötzlich und verderbenbringend haushoch neben
dem Schiff auftauchen konnten.

Aber langsam verschleierten sich die Gestirne, die Positionslaternen
warfen wie ein Scheinwerfer kleine Strahlenbündel voraus, denn dünner
Nebel kam auf. Erst war er nur gering, aber er nahm schnell an Dicke zu,
und nach einer Stunde war man mitten in einem weißlichen Schwaden. Da
konnte kein Auge durchdringen.

Des Nebelhornes schauriger, langgezogener Ton hallte weit durch die
Einöde des Meeres, um entgegenkommende Schiffe, die die Lichter des
»Nordsterns« nicht mehr zu sehen vermochten, zu warnen, und auch die
Ohren der Seeleute lauschten nun angestrengt hinaus, ob aus der Ferne
der gleiche Ton zu ihnen herüberdrang.

Oll Ebenhard wetterte allerlei zwischen den Zähnen hindurch und
verbrauchte mehr Priem, als es christlich war. In dicken Tropfen rann
der Nebel an seiner Öljacke nieder, und sein Bart war naß. Da kam auch
der Kapitän wieder.

»Das ist eine schöne Teufelei, Ebenhard,« schimpfte er. »Nebel ist hier
immer verdächtig, denn die vermaledeiten Eisbiester können ihn durch
ihre Abkühlung der Luft hervorrufen. Ich wette, es sind welche in der
Nähe, aber wie soll ein ehrlicher Christenmensch durch diese
Waschküchenluft hindurchblicken? Jetzt können wir uns nur noch auf den
alten Herrgott und die Thermometer verlassen.«

»Tjä,« meinte der Steuermann, »es is die schwere Not in dieser
gottverlassenen Gegend bei den Neufundlandbänken. Da soll der Deubel zur
See fahren. Aber ich habe einen Riecher für die Biester, und noch
wittert mein Dufthorn nüscht!«

»Wenn wir nur erst diese Nacht hinter uns haben, Alter,« sagte der
Kapitän, »morgen früh sind wir aus der Zone der Gefahren heraus, und bei
Tage sind alle Deibel halb so schlimm. Aber jetzt gehe ich an die
Thermometer!«

Er verschwand im Nebel.

Nach einer halben Stunde tönte plötzlich die Stimme Oll Ebenhards durch
das grauliche Dunkel: »Kapitän, es riecht sengrich. Es kommt so eine
gewisse Luft über Backbord, dat is Eis.«

»Um Himmels willen,« sagte der Kapitän, »es wird doch nicht! Es kommt
mir freilich so vor, als ob das Wasserthermometer um einen halben Strich
gefallen sei, aber es ist so wenig, daß man nichts drauf geben kann!«

»Aber es riecht sengrich, Kapitän, da bin ich gut vor, und dat is Eis!«

Der Kapitän ging wieder zu seinen Instrumenten. Kurz darauf kam er
eiligen Schrittes zurück. »Ebenhard, weiß Gott, die Thermometer fallen!«

»Tjä, das Luftthermometer auch. Deubel nochmal, jetzt sind wir richtig
dran an so ein infamigtes Biest!«

»Ja, und wo mag er liegen, von wo mag er uns zutreiben?! Ist er _vor_
uns, _hinter_ uns, kommt er von Backbord? Sind wir vorüber, kommen wir
ihm näher, ist er fern, ist er nah? Man weiß nicht aus noch ein!«

Tiefe Sorgenfalten standen im Gesicht des Mannes, dem das Schiff mit
seiner Ladung, seinen Passagieren und seiner Besatzung anvertraut war.
Ein gefährlicher Feind war in der Nähe des »Nordsterns«, und keine
Seemannskunst der Welt konnte vor ihm schützen, denn da man den Ort des
Eisberges nicht kannte, so war jedes Manöver überflüssig. Was man auch
tat, immer konnte man gegen den kristallenen Riesen anrennen.

»Kapitän,« sagte der Steuermann, »wir müssen es nehmen, wie es kömmt,
denn wir können nicht gegen an. Vielleicht, daß wir im letzten
Augenblick, wenn der Berg uns zu Gesicht kömmt, noch das Unheil
abwenden. Alles andere ist Gott befohlen!«

Der Kapitän eilte fort. Er rief die Mannschaft zusammen, gab Anweisungen
zur Rettung bei einem Zusammenstoß mit dem schwimmenden Feind und ließ
die Maschinen langsamer laufen, um die Gewalt eines Zusammenstoßes zu
mildern. Mehr aber konnte er auch nicht tun. Alle Augen spähten hinaus
in das Dunkel.

Es war unheimlich still. Ganz in der Ferne, kaum hörbar, dröhnte dumpf
ein Nebelhorn. Die Wellen gurgelten leise an den Seiten des Schiffes,
das nur langsam noch dahintrieb, auf der Hut vor seinem eisigen Gegner.
Noch war er unsichtbar, verborgen im Unbekannten.

Und mit einem Male wuchs undeutlich eine graue Wand voraus empor.
Schwach beleuchtet von den Lichtern des Schiffes. Wie ein Gespenst stand
sie plötzlich in abenteuerlichen Formen da, mit hängenden Girlanden von
Eis, mit ragenden, verschnörkelten Türmen, ein Ungetüm, das sich
riesenhoch im Nebelwallen verlor. _Der Eisberg!_

-- Kalt wehte es herüber. Die Männer erschauerten.

Aber das alles dauerte nur einen Augenblick, dann war jeder am Werk. Das
Steuerruder drehte vom Eisberg ab, die Schiffsschraube arbeitete mit
voller Kraft rückwärts, alles wurde getan, um dem drohenden Zusammenstoß
zu entgehen. Nur langsam hemmte das nun einmal in Bewegung nach vorn
begriffene Schiff seinen Lauf. Schiff und Eisberg schienen wie zwei
bissige Hunde drohend um einander herumzugehen. Da knisterte und
knasterte es am Schiffsboden, kreischte und schleifte. Der Kiel des
»Nordsterns« hatte den unter Wasser liegenden Eisfuß des Berges
erreicht, aber schon war seine Bewegung so verlangsamt, daß eine starke
Beschädigung des Fahrzeuges verhindert wurde. So nah waren jetzt die
glitzernden Wände des Eisberges, daß sich die rote Backbordlaterne an
ihnen widerspiegelte. Flämmchen schienen in den Sprüngen und Brüchen des
Eises zu tanzen. Der »Nordstern« erzitterte bei der Berührung mit dem
kristallenen Sockel des Riesen, er legte sich ein wenig seitwärts, das
Ruder wurde verstellt, die Maschine manövrierte hin und her, kreischend
glitt der Kiel wieder von dem splitternden Eise ab. Langsam, ganz
langsam zunächst, dann aber mit wachsender Geschwindigkeit trieb das
Schiff rückwärts, vom Eisberge ab.

Vom Schein der Positionslaternen beleuchtet, zog die glitzernde Burg
lautlos und gespenstisch dicht vor dem »Nordstern« vorüber, jetzt
glänzte eine spiegelnde Fläche grünlich im Schein der Steuerbordlampe,
dann entschwand der Gefährliche, südwärts treibend, wie ein blasser
Schemen im dichten Nebel.

»Himmel und Hölle,« sagte Steuermann Ebenhard, »das war eine ganz
unchristliche Geschichte, und nicht für einen Wald voll Affen möcht' ich
sie noch mal erleben!«

Dann entdeckte er, daß er keinen Priem mehr zwischen den Zähnen hatte,
und schüttelte bedenklich den grauen Kopf, denn das war ihm noch kaum
passiert seit zwanzig Jahren, und er ersah daraus, daß es eine
aufregende Sache gewesen mit diesem Burschen, den sein Dufthorn richtig
erschnuppert hatte, ehe noch ein Auge ihn sah.

»Ja, Oll Ebenhard,« meinte der Kapitän, »da sind wir nochmal mit Gottes
Hilfe so drum herum gekommen, aber um ein Zimmermannshaar breit, und der
verdeubelte Nordländer hätte uns den >Nordstern< zusammengeknickt wie
eine alte Hutschachtel! Jungens,« rief er dann, »ich denke, daraufhin
geziemt uns ein gutes Glas Grog, und dafür will ich sorgen!«

Er stapfte davon, und aufs neue nahm der »Nordstern« seinen Kurs auf,
ostwärts, dem Lande Europa zu.

                   *       *       *       *       *

Der Eisberg aber trieb langsam weiter und weiter, immer wärmeren
Gegenden zu. Die Sonne fraß mit immer zunehmender Glut an ihm herum, das
immer wärmer werdende Meer umschmeichelte ihn, unterhöhlte ihn, so daß
er mehr und mehr zusammenschmolz. Er verlor alle Augenblicke das
Gleichgewicht, überschlug sich, seine ragenden Türme zerflossen, die
Säulen zerfielen, die hängenden Zapfengalerien tropften ab wie
Wachsfäden von der brennenden Kerze, er wurde klein und unansehnlich.

So trieb der eisige Sohn des hohen Nordens bis nahe an die afrikanische
Küste, und als in der Ferne die Palmenhaine Marokkos sich im Meer
spiegelten, zerfloß die letzte dünne Scheibe von Eis in den warmen
Wellen und der Eisberg hatte aufgehört zu sein.»




                             Die Busennadel


Der alte Ulebuhle trug Sommer und Winter ein kleines buntes
Seidentüchlein um seinen dürren Hals, das durch eine große Busennadel
zusammengehalten wurde. Es war eine merkwürdige Nadel. Sie war nicht von
Gold und nicht von Silber, kein Edelstein und keine Perle bildete ihren
Kopf, und doch mußte sie sehr wertvoll sein, denn einmal suchte sie der
merkwürdige Alte und war sehr ängstlich, daß sie verloren sein könnte.
Ein unansehnlicher, roher schwarzer Stein, so groß wie ein Kirschkern,
bildete den Kopf der Busennadel, und wir Kinder schauten sie oft an,
weil wir vermuteten, daß es irgend eine besondere Bewandtnis mit ihr
haben müsse. Irgend eine schnurrige Geschichte steckt dahinter, sagten
wir, und einmal muß der gute Alte damit herausrücken!

Und als wir eines Tages wiederkamen, da brachten wir auch die verlorene
Busennadel wieder mit. «Ulebuhle,» schrien alle zugleich, «da ist sie!
Sie lag drunten vor Eurem Gartenfenster. Wäre nicht ein Frosch
vorübergehuppt, wir hätten sie nicht gesehen. Aber nun müßt Ihr auch
erzählen, warum Euch das eiserne Ding mit dem unansehnlichen Stein so
wertvoll ist. Bestimmt ist es eine spannende Geschichte!»

Der Alte lächelte verschmitzt und nahm eine riesige Prise aus seiner
Schnupftabaksdose. «Spitzbuben,» sagte er, «fast möchte ich glauben, ihr
habt die Nadel versteckt, um beim Wiederbringen die Geschichte zu hören.
Aber da die alte liebe Nadel wieder da ist, so sollt ihr auch belohnt
werden, denn der Stein am Kopf, der euch so unscheinbar vorkommt, hat in
der Tat eine Geschichte, die interessanter ist als manche Räuberpistole,
denn der Stein in der Busennadel ist von weit her. Er stammt nicht aus
den Tiefen der Erde noch vom Grunde des Meeres, er ist nicht auf
Bergeshöhen gewachsen, noch schufen ihn die Menschen, ja, er wurde
überhaupt nicht auf der Erde erzeugt. Ferner als der Mond und manche
Sterne war er einst unserer Erde. _Aus dem Weltenraum_ kam er nach
vieltausendjähriger Wanderung zu uns. Seht, das habt ihr ihm nicht
angesehen, dem Unscheinbaren, und nun merkt auf, denn jetzt kommt seine
Geschichte und alles was mit ihr zusammenhängt.»

Der Alte setzte sich in seinem Stuhl zurecht, zündete seine lange Pfeife
an und begann:

«Das war im Jahre 1690. Die kleine Stadt lag friedlich noch im Schlafe,
nur der Turmwächter, der hoch oben im Turm der uralten Kirche saß und
auf Feuer und anderes Ungemach aufpaßte, war wach und spähte hinaus in
die Winternacht. Die Sterne standen glitzernd zu vielen Tausenden am
weiten Himmelsbogen, und der Alte im Turm kannte sie fast alle, denn
viele Jahre saß er schon einsam in der Höhe und machte sich über Welt
und Menschen seine Gedanken.

Da sah er droben ein schwaches, lichtes Wölkchen stehen, das er bislang
noch nicht gesehen. Am anderen Tage war das Wölkchen wieder da, und nach
einer Woche war es immer heller und größer geworden und hatte seine
Gestalt verändert. Da sah der alte Turmwächter, daß es ein _Komet_ war,
der langsam der Erde näher zog.

Ein wundervoller, heller Stern, heller als alle anderen, weithin
strahlend, entstand aus der lichten Wolke, und ein wundervoller,
schimmernder Schweif zog hinter dem Stern her. Der Komet wuchs und
wuchs; immer näher kam er der Erde. Blendender Glanz ging von ihm aus,
sein Schweif war so gewachsen, daß er den ganzen Himmel überspannte; wie
eine mächtige Rute hing die seltsame Lichtgestalt droben am Firmament.

Wenn es dunkel wurde, dann standen die Menschen zu vielen Tausenden auf
den Gassen oder wanderten ins Freie, vor die Tore der Stadt, um den
wunderbaren Stern zu sehen. Kein Mensch hatte je am Sternenzelt so
Seltsames erschaut. Der König der Sterne schien gekommen, denn alle
anderen verschwanden in seinem Glanz und Schein, alle anderen wurden
verdeckt, und der riesige Komet nahm den ganzen Himmel ein.

Da wisperten und flüsterten die Menschen geheimnisvoll in allen Ecken
und Gassen, und ihre Gesichter wurden besorgt. Was hatte es zu bedeuten,
daß der Vater im Himmel ein so seltsames, nie gesehenes Zeichen, eine so
feurige Rute über die Erde hinstreckte?

Und immer glänzender wurde der schreckliche Komet, immer strahlender
sein Stern, immer größer sein schimmernder Schweif. Die Menschen standen
ängstlich in den Gassen und zitterten vor dem Zorn des Herrn der Welt.

Da kam ein fremder Mönch von weither in die Stadt gezogen. Er hatte ein
blasses, strenges Gesicht, in dem zwei dunkle Augen düster brannten.
Eine graue Kutte trug er, mit einem hänfenen Strick darum, und
barhäuptig wandelte er durch die Gassen. -- Als es Abend wurde und die
Menschen wieder hinaus liefen, den wunderbaren Stern zu sehen, da stand
der Mönch am Toreingang auf dem Steinblock und hatte die Hände erhoben
zum Himmel, an dem der Komet in magischem Glanze leuchtete.

»Männer und Frauen dieser Stadt,« sagte er, »seht ihr den vom
Himmelsvater gesandten Stern droben erschrecklich leuchten? Seht ihr die
feurige Rute, die der zürnende Gott drohend über euch erhebt? Euch droht
die gerechte Strafe für alle Missetat, die ihr begangen. Habt ihr nicht
einer den anderen bestohlen, wo es ging? Hat nicht der Kaufmann betrogen
und gefälscht, hat nicht selbst Mord und Aufruhr durch die stillen
Gassen der Stadt getobt? Wer hat dem Nächsten in seinen Nöten geholfen,
wie Gottes Sohn am Kreuz geboten, und wer hat Vater und Mutter Ehrfurcht
erwiesen, wie das Gesetz es befahl? Immer weiter habt ihr euch vom Wege
des Heils entfernt. Die Kirchen sind verödet, ihr habt den alten Gott in
frevelhaftem Übermut abgesetzt, nun wird er euch mit dem himmlischen
Feuer kommen, da ihr seine Güte nicht verstanden. Er sendet den
schrecklichsten Kometen, den die Welt gesehen, über die Erde hin, Pest
und Hungersnot, Krieg und Mord, Feuersbrunst und Weltuntergang wird er
euch bringen, die ihr des Heilands vergessen, die ihr den Herrn
geschmäht und verraten. Der letzte Tag ist gekommen, der Tag der Rache
und der Vergeltung für alles, was verharrt in Unglauben und Sünde. Macht
euch bereit, vor den Richterstuhl des Herrn der Welt zu treten. Wenige
Tage noch, und der Komet wird sich niedersenken zur Erde, mit Feuer und
Tod!«

So sprach der Mönch. Er stand mit bleichem Gesicht wie ein Rächer, der
unbekannt aus fernen Landen kam. Der Schein des Kometen leuchtete auf
seinem Antlitz gespenstisch, seine Arme reckte er drohend in den Himmel,
das Kruzifix in seiner Rechten funkelte, sein graues Büßergewand wehte
im Winde. Die Menge sank nieder auf die Knie und betete. -- Der Mönch
aber verschwand still wie er gekommen, doch lange noch stand seine
ernste Gestalt, sein bleiches Gesicht mit dem strafenden Blick im
Gedächtnis der Menschen, und seine Worte vergaßen viele nach Jahrzehnten
nicht.

In feierlichen Prozessionen bewegten sich in den nächsten Tagen die
Massen zur Kirche, um den Himmelsvater zu bitten, den schrecklichen
Kometen, der den Untergang der Welt bringen sollte, wieder fortzunehmen
vom Sternenzelt. Die Glocken läuteten noch nie so oft zum Kirchgang wie
jetzt, und frommer Gesang und Orgelspiel tönten allenthalben aus den
Gotteshäusern.

Aber ein noch größerer Teil der Menschen hatte nun ganz den Kopf
verloren. »Das Ende der Welt ist gekommen, der jüngste Tag,« sagten sie,
»nun ist es zu spät, Buße zu tun, nun müssen wir doch sterben und
verderben, was wollen wir uns da noch plagen! Der Komet wird uns alle
hinwegraffen, die Guten und die Bösen, laßt uns die letzten paar Tage
noch fröhlich sein. Was sollen wir noch arbeiten und schaffen? Das Ende
der Welt ist da!«

Sie warfen Hammer und Kelle, Nadel und Elle, Axt und Spaten hin und
schmausten und pokulierten Tag und Nacht. Überall quiekte die Flöte,
brummte der Dudelsack, zirpten die Geigen, und die Menschen tanzten, bis
sie umfielen. Die Frommen wollten ihnen wehren, da gab es blutige Kämpfe
in den engen Gassen. Die Stadtwache hieb mit der Waffe dazwischen, durch
die nächtliche Stille tönte Tanzmusik und Orgelklang, Beten und Fluchen
und das Geschrei der Kämpfenden, und über alldem leuchtete der Komet mit
wunderbarem Glanze.

Ja, es war eine tolle Zeit, und niemand wußte mehr, wie es enden solle.
Da trat der hohe Rat des Kurfürsten zusammen und besprach den tollen
Wirrwarr des Landes und die Not und Angst und Unordnung seiner Bürger.
Der Kurfürst ließ die weisen Magister und Professoren zusammenkommen und
trug ihnen auf, Mittel zu finden, Unheil abzuwenden, das Volk zu
beruhigen.

Die berühmtesten Sterngucker des Landes wurden herbeigeholt, damit sie
ihre Meinung über den Kometen sagen möchten, und ob er wirklich sich
niedersenken werde auf die Erde, alles zu vernichten.

»Nein,« sagten die Sterngelehrten, »das wird er nicht tun, und der Mönch
hat den sündigen Leuten nur Angst machen und sie zurückführen wollen auf
den Weg der Tugend und der Gottesfurcht, wie es Rechtens ist.«

»Aber morgen schon kann der Komet mit der Erde zusammenstoßen und alles
in Trümmer schlagen und verbrennen,« sagten manche.

»Nein,« riefen die Sterngelehrten, »er steht zehnmal weiter als der Mond
von der Erde und zieht nun langsam fort. Bald wird er verblassen und
ganz klein werden, ferner und ferner wird er wandern und im Sternenraum
verschwinden.«

»Aber wo kommt der wunderbare Fremdling des Himmels her und wo geht er
hin?« forschten die kurfürstlichen Räte.

»Seht,« antworteten die Sternkundigen, »der Komet läuft schon viele
Jahrhunderte lang immer rundum einen mächtig weiten Weg um die Sonne.
Alle hundertfünfzig Jahre kommt er wieder und besucht sie, und dann muß
er auch an der Erde vorbei. Vor hundertfünfzig Jahren war er schon
einmal da, und auch damals haben die Menschen geglaubt, daß die Welt
untergehen wird, aber sie steht heute noch. Seht nur in den alten
Geschichtsbüchern nach, da werdet ihr es finden.«

Der Kurfürst ließ alle alten Chroniken und Historienbücher kommen und
erkannte, daß die Sternkundigen recht hatten. »Aber so erzählt uns,«
befahl er, »was so ein Komet für ein sonderbarer Stern ist, und ob er
uns schaden kann!«

»Großmächtiger Herr Kurfürst,« sagten die Gelehrten, »der Kometstern ist
nichts weiter als eine viele tausend Meter dicke Wolke von Steinen. Die
meisten Steine sind nicht größer als eine Erbse, aber es sind auch
welche darunter, so groß wie ein Wagenrad. Wenn die Wolke der Sonne nahe
kommt, wo es erschrecklich heiß ist, dann fängt sie an zu glühen, und
leuchtende Gase bilden sich aus den Steinen, die hinter der Wolke als
ein wundervoller, schimmernder Schweif herziehen, wie der Rauch hinter
dem Kohlenfeuer. Wenn aber der Komet wieder von der Sonne fortzieht,
dann wird er wieder kalt und leuchtet nicht mehr, und der schöne Schweif
nimmt ein Ende!«

»Das läßt sich hören,« sagte der Kurfürst. »Jetzt aber geht und beruhigt
unser Volk. Es wird sich ja bald zeigen, ob ihr recht gesprochen habt,
denn dazu seid ihr da, und ich bezahle euch Jahr und Tag euer Gehalt,
daß ihr die Sterne studiert. Habt ihr aber falsch gesprochen, so wird
ein peinliches Gericht über euch gehalten werden. Und nun geht!«

Da verbeugten sich die Sterngelehrten tief und verließen den
kurfürstlichen Hof. Der Kurfürst aber ließ in allen Städten anschlagen,
was die Sternkundigen von dem Kometen berichtet, und befahl jedermann,
wieder in Ordnung zu leben und fleißig zu arbeiten, und wo noch ein
Tänzer und Dudelsackpfeifer, ein Tagedieb und Prasser sich blicken
ließe, dem solle der Stadtvogt mit einem nicht zu dünnen spanischen Rohr
das Sitzleder gerben, daß es eine Art habe. Ja, solches befahl der hohe
Herr bei strenger Strafe!

Da bekam denn so mancher wegen des leuchtenden Kometen ein christlich
gemessenes Schock spanischen Pfeffers, aber das war auch das einzige
Unglück, das der Schweifstern fürder anrichtete. Langsam wurde er immer
kleiner und blasser, und endlich sah man ihn nur noch als ein winziges
Wölkchen am Sternenhimmel verschwinden, genau so, wie ihn der
Turmwächter hatte kommen sehen.

Da erkannten der Kurfürst, seine Räte und alles Volk, daß die
Sternkundigen wahr gesprochen hatten. »Gut,« sagte der Fürst, »so will
ich euch zur Belohnung noch ein größeres Fernrohr bauen lassen, damit
ihr die Sterne so deutlich betrachten könnt wie nie zuvor.«

Und das tat er, denn er war ein strenger und gerechter Herr.

                   *       *       *       *       *

Der Komet aber zog in seiner Bahn wieder unbekümmert dahin. Er ahnte
nicht, daß die Menschen solche Angst seinetwegen ausgestanden. Im bitter
kalten Weltenraum schwirrte er, tausendmal schneller als die schnellsten
Vögel, von der Sonne und von der Erde fort. Selbst in ihren großen
Fernrohren konnten ihn die Sternforscher auf der Erde nicht mehr
erkennen, denn er war endlich viele tausendmal weiter von ihr entfernt
als der Mond.

Viele Jahre waren vergangen, da kam der Komet in großer Ferne an einer
anderen Erde vorbei, die war wohl ein paar hundertmal größer als unsere
Weltkugel, auf der die Menschen wohnen. Ja, wer mit so einem Kometen
mitfliegen könnte durch die Sternenräume! Was sieht er nicht alles, was
wir Menschen nie zu sehen kriegen! Da wandert er dicht am Monde vorbei
und schaut hinein in die tiefen Krater und späht wohl umher, ob er nicht
irgendwo etwas Lebendiges sieht, aber nichts regt sich auf der
ausgestorbenen Mondwelt, und nur die Sonne glitzert an den hohen
Felsenwänden. -- Dann huscht der himmlische Wandersmann wieder dicht an
der Sonne entlang und blickt hinein in das brodelnde Glutmeer, aus dem
in hunderttausend Meter hohen Springbrunnen das wilde Flammenfeuer
emporschießt, und dann späht er neugierig auf die Erde, sieht die
Eisbären auf den Schneewüsten des Nordpols, sieht die Beduinen in weißen
Mänteln durch die heiße afrikanische Wüste reiten. Sieht, wie sich die
Erde dreht im Wechsel von Tag und Nacht und Länder und Meere im
Sonnenschein glänzen. -- Dann aber trifft er auf seinem Wege andere
Erden in weiter Ferne, die alle rund wie Tennisbälle um die feurige
Sonne wandern. Große trifft er und kleine, und auf allen ist es wieder
anders. Auf manchen leben andere Menschen von sonderbarer Gestalt, und
auf manchen sind sie schon ausgestorben, oder sie sind noch nicht
erschienen, weil es noch so heiß auf dem Stern ist, daß man da
verbrennen würde, wie der Fisch, der in kochendem Wasser leben sollte.

Ja, was sieht so ein Komet alles, der dahinbummelt durch die
Sternenräume!

Eines Tages also kam unser Komet ganz dicht an einer anderen Erde
vorbei, die ein paar hundertmal größer war als unsere. Ein mächtiger
Ball war es. Wolken umzogen ihn, und viele Monde tanzten rings um die
Weltkugel.

Der Komet war ein fürwitziger Bursche, er rückte dem Riesen so nahe auf
den Leib, daß er fast seinen Wolkenring berührte. Aber es bekam ihm
schlecht!

»Schönen guten Tag,« schrie der Komet und rauschte auf den großen
Burschen los.

»Bleiben Sie mir vom Leibe, Luftikus, oder es gibt ein Unglück!« brüllte
der andere.

Aber schon war es zu spät! Krach, rannten sie aneinander, daß die Funken
stoben. Der Erdenstern aber hatte einen härteren Schädel, und so
erging es dem Kometen erbärmlich. Er wurde in mehrere Stücke
auseinandergerissen, in einzelne Wolken von Staub- und Steinmassen, die
nun hintereinander her durch den Weltenraum zogen. Da war es nun aus mit
der schönen Herrlichkeit des Schweifsternes. Nie wieder konnte er nun
als ein schimmernder, alle Welt in Bewunderung und Staunen, in Angst und
Schrecken setzender Prinz bei der Erde erscheinen, und trübselig
wandelte er dahin.

Und als die Zeit erfüllt war, als er nun wieder seine große Reise
vollendet und nach hundertfünfzig Jahren zur Sonne zurückkehrte, da
guckten sich die Sternkundigen die Augen nach ihm aus. Sie schraubten
immer stärkere Linsen in ihre großen Operngucker, aber sie konnten
nichts von dem Fremdling sehen. Es ist schnurrig, sagten sie, damals war
er so groß, daß alle Menschen in Todesangst kamen und glaubten, er würde
die Erde zertrümmern, und nun bleibt er ganz unsichtbar. Sie wußten
nicht, daß den alten Bummler auf seinem Wege ein schwerer Unglücksfall
betroffen, und daß er krank und siech, gewissermaßen auf Filzschuhen
durch den Sternenraum dahinzog.

»Er ist tatsächlich verschwunden,« sagten die Sterngucker, die mit
blaugefrorenen Nasen eine kalte Winternacht nach der anderen am Fernrohr
saßen. »Übermorgen müßte er der Erde am nächsten stehen und sie fast
berühren, aber er scheint nicht wiederzukommen!«

Seht, Kinder, als diese Zeit gekommen war, da war euer alter Ulebuhle
ein junger Mann, der auch nach dem Himmel guckte, um den berühmten
Kometen zu sehen. Und als nun der Tag kam, an dem der Schweifstern ganz
dicht bei der Erde stehen sollte, da wanderte er hinaus ins Freie, um
die Sterne zu betrachten. Es war ein kalter Winterabend, und die
Sternlein blitzten wie lauter Diamantsplitter in der klaren Höhe. Auf
einmal, gegen Mitternacht, kamen viele Sternschnuppen geflogen. Erst
wenige, dann mehr, und dann Hunderte und Tausende, Stunden um Stunden!
Halt, halt, sagten die Sterngucker, da ist endlich der Komet! Himmel,
wie hat er sich verändert. Er hat sich aufgelöst in lauter kleine Teile,
und nun wandert die Erdkugel mitten durch den ganzen Krempel. All die
einzelnen Steinchen und Staubmassen, aus denen der Kometenkopf bestand,
schwirrten nun einzeln durch die Lufthülle der Erde, entzündeten sich da
und glühten und sprühten. Ja, es war ein wundervolles Feuerwerk und
kostete nicht einen Pfennig; der alte Petrus gab es ganz umsonst!

Manchmal kamen größere Steine, und dann glühten sie grün und rot auf
hoch droben und krachten wie Raketen. Auf einmal, siehe da, kam ein ganz
großes. Es puffte und zischte und knallte und zerbarst in tausend
schimmernde Funken, und die fielen zur Erde nieder. Huiii! ging es
plötzlich, als wenn eine Flintenkugel daherpfiffe, und dann sagte es
Ratsch und knatterte gegen einen alten Baum, der am Wege stand. Wir
liefen hinzu, und da lagen ein paar kleine Steinchen auf der harten
Schneedecke unter dem Baum, Steinchen, die von der Sternschnuppe
abgesplittert waren, Steinchen, die zu dem Kometen gehörten. So hoben
wir sie auf und brachten sie als Andenken mit nach Hause.

Den meinen aber ließ ich einsetzen in die Busennadel. Seht her, da ist
er! Hat er nicht eine ganz absonderliche Geschichte? Er ist ein Stück
von dem schrecklichen Kometen, der vor Jahrhunderten die Menschen
geängstigt, er wanderte weithin durch die Sternenräume, besuchte den
Mond und die Sonne, sah, wie es auf anderen Sternen aussieht, und fiel
endlich aus Himmelshöhen nieder zur Erde. Ja, er hat eine absonderliche
Geschichte wie kein Stein sonst in der Welt!»

                   *       *       *       *       *

«Ulebuhle,» sagten die Kinder, «flunkert Ihr uns auch nichts vor, und
bestehen die Kometen wirklich nur aus solchen Steinen?»

«Galgenvögel!» sagte der Alte grimmig, «wenn der Ulebuhle etwas sagt,
dann ist es so. Geht hin in das Museum, da könnt ihr solche vom Himmel
gefallenen Steine von Kometen aufbewahrt finden, und wenn ihr des Abends
die Nase hinaufreckt zum Himmel, so werdet ihr dann und wann so ein
Steinchen als Sternschnuppe fliegen sehen, das sich verspätet hat und
nun einsam hinter der aufgelösten Kometenwolke daherzieht wie ein
Schulbub, der die Zeit verschlafen. Jetzt aber trollt euch von dannen,
denn die Geschichte von der Busennadel ist zu Ende!»




                         Der Tod in der Flasche


Der alte Ulebuhle saß vor seinem Raritätenschrein und kramte in alten
Erinnerungen. Längst schon hatte die treue Christine die Studierlampe
mit dem grünen Schirm gebracht, leise waren die Kinder in das Zimmer
getreten, aber der seltsame Alte saß noch immer schweigend und in
Gedanken versunken vor seinem Schrein.

Eine merkwürdig geformte Glasflasche hielt er in der Hand. Sie war mit
einem Holzkorken geschlossen, über dem ein dicker Wattebausch lag, und
eine dicke Schicht schwarzen Siegellackes saß wie eine Haube oben
darauf. Ein Papierstreifen, mit Tinte beschrieben, voll lateinischer
Worte, überzog den kugelrunden Bauch der Flasche, die in einen langen
dünnen Hals auslief. Eine verdickte gelbliche Flüssigkeit, gleich
festgewordenem Leim füllte das Gefäß, ein Totenkopf, weiß auf schwarzem
Papier gemalt, umgeben von drei Kreuzen, saß wie ein Siegel oben am
Halse. Die Flasche paßte in einen dick mit Watte ausgefütterten eisernen
Kasten, den ein kunstvolles Schloß vor unberufener Öffnung schützte, und
auf diesem Kasten klebte ein vergilbter Zettel mit der kaum noch
lesbaren Aufschrift: Bangalore, in den Tagen des Schreckens. Doktor
Gravesgrave.

«Ulebuhle,» sagten die Kinder nach langem geduldigen Schweigen, «was ist
in der sonderbaren Flasche, die Ihr so lange betrachtet?»

Da erwachte der Alte wie aus einem Traum. Er fuhr sich mit der Hand über
die Stirne und sagte: «Kinder, ich war mit meinen Gedanken weit fort und
habe euch nicht eintreten hören. Laßt mich erst die Flasche wieder
verschließen und bleibt davon!»

Da tat er den gläsernen Kolben wieder behutsam in den eisernen Kasten
und verschloß ihn dreimal sorgfältig. Dann verschloß er den Schrein und
langte nach seiner Pfeife.

«Was war in der Flasche?» fragten die Kinder.

Da sah sie der alte Ulebuhle lange eigentümlich an und sagte ernst: «Der
Tod!»

Das klang so schön gruselig und geheimnisvoll, und die Kinder witterten
eine schöne Geschichte hinter der ganzen Sache. So bestürmten sie den
gelehrten Alten mit tausend Fragen, bis er knurrig Ruhe gebot und --
tief in seinem Lehnstuhl vergraben -- sich anschickte, die Geschichte
vom Tod in der Flasche zu erzählen.

«Schweigt,» sagte er, «denn es ist eine lange Geschichte, und wenn man
nicht gut aufpaßt, kann man sie nicht verstehen, denn es handelt sich um
eine gelehrte Sache und um ein großes Unglück.»

Da setzten wir uns still rings um den Alten herum, und er begann:

«Ich hatte einen Jugendfreund, der hieß Gravesgrave. Er war klüger als
wir alle zusammen und studierte später auf allen möglichen Universitäten
die schwere Kunst, die Krankheiten der Menschen zu erkennen und zu
heilen. Aber ganz besonders wollte er herausbekommen, wie man die Pest,
die Cholera, die schwarzen Pocken und andere böse Krankheiten bekämpfen
könne, die mit einem Male über die Erde hereinbrechen wie der furchtbare
Würgeengel selbst und ganze Städte, ganze Provinzen, ganze Länder
aussterben machen.

Eines Tages, als er sich in England befand, hatte er gehört, daß im
fernen Indien eine furchtbare Pest wüte, an der Hunderttausende starben.
Kein Mensch wußte, woher sie kam, wie sie zu heilen sei. Sie griff um
sich wie ein Feuer, das zur Hochsommerzeit einen ausgedörrten
Kiefernwald befällt, von Baum zu Baum springt und erst erlischt, wenn
der ganze Wald verkohlt am Boden liegt. So auch erlosch die Krankheit an
manchem Ort erst, wenn nichts mehr zu töten war.

Machtlos standen die berühmtesten Ärzte, die aus Europa hingeschickt
wurden nach dem fernen Indien, ja sie mußten trachten, sich selbst zu
retten im großen Sterben. Die Inder aber taten gar nichts. Sie beteten
zu ihrem Gott und sagten, es sei sein Wille. Der Mensch könnte dagegen
nichts tun.

Der rätselhafte Tod aber wütete weiter.

Da hörte der Doktor Gravesgrave von den Dingen, und er erkannte, daß
grade dort für ihn der rechte Platz sei, denn Seuchen zu studieren und
zu vertreiben, das war sein Wunsch und Wille. So schiffte er sich denn
ein zu der weiten Reise und landete endlich nach glücklicher Fahrt an
Indiens Küste. Furchtlos durchstreifte er die Stätten des Schreckens,
ausgestorbene Städte und Landstriche. Er studierte unablässig, wie
gesunde Leute in wenigen Stunden erkrankten und starben, wie der
geheimnisvolle Tod sie wie der Räuber hinterm Busch anfiel und zu Boden
schlug, ohne daß sie selbst wußten, wie es kam und warum es kam.

Doktor Gravesgrave grübelte Tag und Nacht, Woche um Woche, er
untersuchte Lebende und Tote, Gesunde und Kranke und konnte das Rätsel
der Krankheit nicht entdecken. Er wurde aber nicht mutlos. Wie ein
tapferer Soldat stürzte er sich immer aufs neue in den Kampf gegen den
geheimnisvollen Würger, und wie durch ein Wunder entging er selbst der
Krankheit und dem Tode. Eines Tages, als er wieder in seinem
Studierzimmer saß und bei einer Pfeife darüber nachdachte, daß all seine
Arbeit bisher erfolglos gewesen sei und die armen Menschen im Lande noch
immer zu vielen Tausenden starben, kam er auf den Gedanken, daß man
vielleicht den unsichtbaren Feind im Blute der kranken Menschen
entdecken könne. Da ging er hin und nahm das allerstärkste
Vergrößerungsglas, das er unter all seinen vielen Instrumenten hatte,
ein mächtiges Mikroskop, mit dem man die Dinge dreitausendmal vergrößern
konnte. Dann rief er seinen jungen Diener, der kerngesund war, stach ihn
mit einer kleinen Nadel ganz wenig in den Arm, so daß ein kleines
Tröpfchen Blut hervortrat, und brachte den kleinen Blutstropfen unter
sein mächtiges Vergrößerungsglas.

Habt ihr schon einmal einen Tropfen Blut unter dem Mikroskop gesehen?
Das sieht gar sonderbar aus. Da sieht man eine helle Flüssigkeit und in
der schwimmen Millionen gelbliche runde Blättchen, wie kleine
Tellerchen. Das sind die roten Blutkörperchen. In einem winzigen
Blutstropfen sind an die zwanzig Millionen dieser kleinen Scheiben
enthalten, und an die fünfzigtausend Milliarden kreisen unablässig durch
eure Adern, wie in der großen Stadt das Wasser in den Wasserleitungen
durch tausend Kanäle und Röhren strömt. Und dann sind da noch andere
kleine Scheiben, die sind weiß, und es sind ihrer viel weniger. Das sind
die Polizeisoldaten in den Adern. Dringt irgend ein böser Feind, der die
roten Blutkörperchen zerstören will, in das Blut ein, so stürzen die
weißen Blutkörper über ihn her und suchen ihn zu töten. Ja, es ist ein
wunderbares Leben in den Adern unseres Körpers, ein Gewimmel wie in
einer großen Stadt. Sobald aber die Millionen und Abermillionen
Blutkörperchen krank werden oder gar absterben, dann ist es um uns
geschehen, dann erstirbt das Leben in den Straßen unseres Leibes, dann
sterben wir selbst.

Der gelehrte Doktor Gravesgrave schaute durch sein wundervolles Glas
hinein in den Tropfen Blut seines Dieners, er sah die roten und die
weißen Blutkörperchen, aber sie waren frisch und lebendig, und es war
alles in Ordnung.

Am anderen Morgen jedoch lag der arme braune Teufel bereits auf seiner
Matte und murmelte, schwerkrank, Gebete. Der geheimnisvolle Tod hatte
ihn in der Nacht überfallen. Sein Herr stand dabei und konnte ihm nicht
helfen. Aber er hatte einen guten Gedanken. Er nahm wieder eine Nadel
und stach ein Tröpfchen Blut aus dem Arm des Burschen hervor, und wieder
besah er ihn unter dem mächtigen Glase. Ja, das war ein guter Gedanke,
denn nun machte er eine wichtige Entdeckung! Da sah er, wie winzig
winzige Lebewesen in dem Tröpfchen Blut hin und her schossen, die
gestern noch nicht darin gewesen. Deutlich konnte man sehen, wie sie die
roten Blutkörperchen anfielen und verzehrten. Er sah, wie die weißen
Blutkörper, die Polizisten der Adern, sich den gefräßigen Räubern
entgegenwarfen, viele von ihnen töteten, aber ihre Zahl war so groß, daß
die Weißen mit ihnen nicht fertig werden konnten und immer mehr rote
Scheibchen zerfressen und vernichtet wurden. Es war ein wilder Kampf in
diesem Tröpfchen Blut, und ein viel wilderer Kampf mußte im Körper, in
den Adern des kranken jungen Inders vor sich gehen.

Da sprang der gelehrte Doktor fröhlich auf. »Ha,« rief er, »nun habe ich
den geheimnisvollen Tod entdeckt. Mit eigenen Augen habe ich ihn
gesehen. Im Blut der Kranken schwimmt er, ein gefräßiger Räuber, den
Lebenssaft vernichtend und zerstörend. In den Adern der kranken Menschen
kämpft ein ungeheures Heer von Räubern gegen die Schutzgarde der weißen
Blutkörper. Er überwindet sie, tötet die roten Träger des Lebens, und
der Mensch muß sterben!«

Aber dann wurde Doktor Gravesgrave wieder still und traurig. »Ach,«
klagte er, »was nützt es mir, und was kann es den Kranken nützen, daß
ich nun weiß, _weshalb_ sie sterben müssen, _helfen_, helfen kann ich
ihnen auch damit nicht, und darauf allein kommt es an. Ja, wenn ich
wüßte, wie dieses Heer von Räubern, wie diese seltsamen winzig winzigen
Geschöpfe in das Blut, in die Adern der Menschen hineingelangen, dann
vielleicht könnte ich helfen. Aber, ach, ich werde es niemals erfahren!«

Da ging er wieder hinab zu dem jungen Inder, der sterbend auf seiner
Matte lag. Er legte nasse Tücher um seine heiße Stirn und gab ihm kühle
Getränke, aber jener fühlte all das kaum noch. In seinen Adern ging der
Kampf zu Ende.

Doktor Gravesgrave betrachtete ihn traurig. Eine kleine grünliche Fliege
saß auf des Kranken brauner Brust. Nun flog sie fort und schwirrte um
des Doktors Hand, um sich dort niederzulassen. Dem Doktor war sie
widrig. Eine Fliege, die eben auf dem Körper eines Sterbenden gesessen,
mochte er nicht dulden, und er verjagte sie. -- Aber wie er das tat, da
zuckte plötzlich ein Gedanke durch seinen Kopf. Wenn nun diese
Stechfliege, die ihren kleinen Rüssel hineinsenkt in das Blut der
Menschen, von einem Kranken zu einem Gesunden fliegt, erst dort sticht,
das kranke Blut hineinsaugt, und dann ihren Rüssel wieder in das Blut
des Gesunden senkt? Konnte sie nicht auf diese Weise die winzigen
Lebewesen, die gefährlichen Räuber in die Adern der Gesunden
hineintragen?«

Der Doktor sprang plötzlich wie ein Besessener im Zimmer herum, er jagte
mit seinem Hut hinter der grünen Stechfliege her, und endlich fing er
sie. Dann stürzte er in sein Studierzimmer, zerlegte mit feinen
Zänglein, winzigen Nadeln und Messerchen den Rüssel und den Körper der
Fliege und brachte alle Teile nacheinander unter sein Mikroskop. Da sah
er denn hinein in die ungeheuer vergrößerte Stachelröhre, die unter dem
Glase wie ein Rohr aus einem Pumpwerk aussah, besetzt mit Tausenden von
spitzen Härchen. Er sah, wie in diesem Stachel der Fliege winzige Spuren
von dem Blut des Kranken hingen, mit zertrümmerten roten Blutkörperchen
und mit vielen jener winzigen Wesen, jener Räuber der Adern. Er sah, daß
sie noch immer lebten, und wenn jene kleine grüne Stechfliege ihren
Stachel in seine Hand gesenkt, dann hätte auch ihn die Krankheit
befallen, dann wären jene winzigen Räuber, die die Fliege aus dem Blut
des Kranken mit sich geführt, in seine Adern eingedrungen, hätten sich
millionenfach vermehrt, hätten ihn in wenigen Tagen getötet. Die grüne
Fliege war der Verbündete jener unsichtbaren Heerscharen der Pest, und
wenn man sich vor dem Stich der Fliege schützte, so blieb man gesund.

Das war die große Entdeckung des Doktor Gravesgrave. Er reiste so
schnell es ging nach der Hauptstadt des Landes, erzählte den Fürsten und
Herren, den Männern, die das Land regierten, alles, was er wußte, von
den Räubern im Blut und von der grünen Fliege, und zeigte ihnen durch
sein Vergrößerungsglas, was er selbst gesehen. Und in alle Welt drang
der Ruhm des gelehrten Doktors, der endlich ein Mittel gefunden hatte,
die indische Pest zu verjagen, Millionen Menschen vom Tode zu retten.
Und nun begann ein furchtbarer Kampf gegen die grüne Fliege. Sie wurde
verfolgt mit Feuer und Gift, ihre Brutstätten in den sumpfigen
Niederungen der Flüsse, wo sie im hohen Schilf lebte, wurden abgemäht
und ausgeräuchert, vom kleinsten Hindububen bis zum ältesten indischen
Weisen jagte alles auf die grüne Fliege, und wenn wirklich noch jemand
wo erkrankte, so brachte man ihn in einen Raum mit Fenstern, die durch
dichte Drahtnetze verschlossen waren, so daß keine Ameise, viel weniger
eine Fliege hineingelangen konnte. Da starb die Pest langsam aus, der
besiegte Würgeengel zog sich grollend zurück in die Einöden der Sümpfe,
wo allein noch an wenigen Stellen die grüne Fliege hauste und selten ein
armer Fischer seinem Geschäft nachging.

Doktor Gravesgrave aber wurde fürstlich belohnt. Die Kaiserin von Indien
ernannte ihn zu ihrem Oberhofarzt und ließ ihm ein Mikroskop bauen, noch
größer und wertvoller als sein eigenes, und die Großen des Landes kamen
mit kostbaren Geschenken, reich besetzt mit Edelsteinen.

Das war eine glückliche Zeit für den braven Doktor, aber auf gute Tage
folgen schlimme, und sie treffen oft schuldlos den Guten wie den Bösen.
Der Doktor zog sich nun in die große indische Stadt Bangalore zurück. Da
mietete er draußen vor den Toren, inmitten eines großen Gartens, ein
kleines Landhaus, und hier, wo es so friedlich war, so seltsame Bäume
grünten, so farbenprächtige Blumen blühten, so fremdartige Vögel
pfiffen, rächte sich der unerbittliche Tod, dem er so viele Opfer
abgejagt, an dem gelehrten Doktor Gravesgrave.

Und das ging so zu! Ihr wißt, daß der allgewaltige Tod zuweilen der
Kleinarbeit müde wird und durch Krieg, durch Erdbeben und verheerende
Seuchen in kurzer Zeit so viele Menschen fortrafft wie sonst in Jahren.
Eine solche Krankheit ist die Cholera, die in früheren Zeiten ganze
Länder verödet hat, vor allem aber das ferne Indien seit Jahrtausenden
plagt. Tausend und abertausend Millionen winziger Lebewesen, die
Bazillen, dringen in den Körper ein und sie bringen die Cholera,
vernichten das Leben.

»Ich werde ein Mittel finden,« sagte Doktor Gravesgrave, »ein Mittel,
das die gewaltigen Heere der kleinen Räuber im Körper zerstreut und
tötet. Hier will ich unablässig sitzen und arbeiten, bis ich es gefunden
habe, denn ich bin der Doktor Gravesgrave, der gegen den Tod kämpft.«

Da reiste er an einen fernen Ort, wo ein paar Menschen an der
furchtbaren Krankheit daniederlagen. Weit draußen hinter hohen Zäunen,
in niederen Häusern eingepfercht, fern von allen Menschen gehalten,
damit sie nicht alle anderen mit in den Tod jagten, fand er sie. Er
hatte zwei solche Flaschen mitgebracht wie die, welche hier in meinem
Schrank steht, und in ihnen eine Flüssigkeit, in der die winzigen
Teufelchen weiterzuleben vermochten. Mit größter Vorsicht brachte er auf
der Spitze einer Nadel eine kleine Menge hinein in die Flaschen, mit
größter Vorsicht verschloß er sie und brachte sie wohlverwahrt in
eisernen Kästen, die er nie aus seinen Händen ließ, nach Bangalore in
seine stille Studierstube. Mit rasender Schnelligkeit vermehrten sich
die gefährlichen Teufel von Bazillen in den Flaschen. Aus
Hunderttausenden wurden Millionen, Milliarden, tausendmal tausend
Milliarden, und wenn er nur eine Nadelspitze von der Flüssigkeit unter
sein wundervolles Vergrößerungsglas brachte, so sah er sie als winzige
Pünktchen, wie ein Komma geformt, in unzähliger Menge darin
herumwimmeln.

Da versuchte er denn alle möglichen Mittel, die man den Menschen als
Medizin eingeben konnte, versuchte, ob die argen Feinde starben, wenn er
einen Tropfen davon hineinwarf in das Gewimmel. Ganz vorsichtig mußte er
das alles machen, denn wehe, wenn er auch nur die Nadel, mit der er aus
seinen Flaschen ein winziges Tröpfchen der Todesflüssigkeit herausnahm,
unachtsam fortgeworfen. Ein Mensch konnte sie ergreifen, die winzigen
Kobolde hafteten an seinen Händen, kamen in seinen Mund, vermehrten sich
rasend schnell in seinem Körper, er mußte sterben und steckte alle um
sich her an, und immer weiter und weiter zog dann der schwarze Tod.
Stets waren die Flaschen, in denen der Tod millionenfach hockte, in den
eisernen Kästen verborgen, und die Schlüssel trug Doktor Gravesgrave um
den Hals.

Der Doktor hatte einen eingeborenen Diener, der hieß Shingar. Er war
lang und mager, die Backenknochen standen weit hervor in dem dürren
Gesicht. Dunkle Augen glühten darin, und ein eisgrauer kurzer Kinnbart
stand mit stachlichten Haaren weit vor. Er trug einen Turban auf dem
Kopfe, und eine braune Kutte schlotterte um seine dürren Glieder. Ein
wilder Haß glühte in dem Inder gegen die Fremden, die aus dem fernen
Europa hierher gekommen waren, das Land seiner Väter zu beherrschen,
jene Fremden, die an einen anderen Gott glaubten und den Inder
verachteten. Ja, er haßte sie und gehörte einem über das ganze Land
verbreiteten Geheimbunde an, der einstens aufzustehen hoffte, die
Fremden zu verjagen.

Da er nun schon ein alter Mann und gezwungen war, seinen Lebensunterhalt
zu verdienen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als dem fremden Herrn,
der so seltsame Arbeiten machte mit geheimnisvollen Instrumenten und
Gläsern, zu dienen. Dieser Herr war gut, und man konnte mit ihm leben,
aber dennoch mußten sie eines Tages fort, die fremden Eindringlinge, die
das heilige Land der Väter beherrschten.

»Shingar,« hatte eines Tages der Fremde gesagt, »rühre nie diese
Flaschen an, und sollte ich einmal plötzlich sterben, so nimm die
eisernen Kästen, grabe ein tiefes Loch in die Erde und verscharre sie,
daß kein Mensch sie findet. Der Tod sitzt in diesen Flaschen. Ein paar
Tropfen davon in das Trinkwasser, und viele Menschen können sterben.«

Shingar hatte es schweigend gehört. Leise nur nickte er mit dem Kopfe,
aber ein dämonischer Gedanke zog durch sein haßerfülltes Herz. Wenn man
mit diesem rätselhaften Tod in der Flasche doch all die Fremden
vernichten könnte, die Fremden dieser Stadt und die des Landes!

Hätte Doktor Gravesgrave geahnt, welche Gedanken der Inder in seinem
Hirn bewegte, er hätte ein großes Unheil verhüten können!

Eines Tages aber kam das Unglück über Bangalore. Der europäische
Stadtteil hatte sich immer weiter ausgedehnt und man baute eine neue
Straße. Da stand ein alter indischer Tempel im Wege, und da er schon ein
halber Trümmerhaufen war und nur wenig besucht wurde, so zerstörte man
ihn ganz, um Platz zu schaffen. Die Inder aber waren voll Zorn über die
Tat und glaubten, die Fremden wollten ihnen damit ihre Mißachtung
beweisen, ihre heiligen Stätten hohnvoll vom Boden tilgen, ihre Religion
schmähen. Aufs neue flammte ihr Haß auf, der Wunsch, die Eindringlinge
zu züchtigen, zu verjagen, ein Blutbad unter ihnen anzurichten wie
damals, als vor Jahrzehnten Nena Sahibs und Tantia Topis Scharen die
verhaßten Engländer niedergemetzelt.

Da schien dem fanatischen Shingar die Zeit gekommen, die Europäer in
Bangalore zu vernichten. Sein Haß war stärker als alle Überlegung, und
als der Zufall auch noch zu Hilfe kam und den gelehrten Doktor, seinen
Herrn, zu einer kleinen Reise nötigte, da stand sein Entschluß fest.

Am späten Abend, als alles ringsum still und einsam und nur aus der
Fremdenstadt leise von einem Fest Musik herübertönte, erbrach er die Tür
zum Studierzimmer des Doktors, erbrach er den Schrank, der die eisernen
Kästen mit den Flaschen, die immer warm stehen mußten, enthielt. Lange
arbeitete er an den Schlössern, doch widerstanden sie all seinen
Bemühungen. Endlich meißelte er die ganze Rückwand des einen Kastens ab,
und nun hatte er die gefährliche Flasche, die Flasche des Todes, in der
Hand.

Da stand er, von einer Kerze nur matt beleuchtet, schwarz fiel sein
riesiger Schatten auf Wand und Decke. Sein braunes Gesicht verzog sich
zu einem wilden und teuflischen Grinsen, das Weiße in seinen Augen
flimmerte wie Perlmutter, sein eisengrauer Bart sträubte sich am dürren,
spitzen Kinn weit vor, triumphierend schwenkte er in der knochigen Hand
die bauchige Kolbenflasche mit dem langen Hals, den ein großer
Wattepfropfen verschloß, und auf dem das Totenkopfsiegel zur größten
Vorsicht warnte.

Seltsame indische Sprüche murmelte er vor sich hin, und dann flüsterte
er: »Wenige Tropfen in das Trinkwasser und viele Menschen können
sterben, sagte der gelehrte Mann, der mit den Flaschen so ängstlich ist
wie die Mutter mit dem Kind im Schlangenbusch. O weiser Mann, du gabst
uns selbst das Mittel, euch alle zu vernichten. Nicht Pulver haben wir,
Flinten und Kanonen wie ihr. Ihr fühlt euch sicher im Schutz der
Feuerrohre, dies aber ist eine Waffe, die schnell und lautlos eine ganze
Stadt vernichtet!«

Er verbarg die Flasche des Todes sorgfältig unter der braunen Kutte,
verließ rasch das Haus und verschwand im Walde. Langsam stieg der Weg
an, und nach einer halben Stunde hatte er den kleinen Hügel hinter der
Stadt erreicht, wo sich die Wasserleitung befand, die das europäische
Viertel versorgte. Das große Bassin lag in einer niederen Halle aus
Mauerwerk. Leise schlich Shingar herzu. Es war dunkel ringsum, nur das
Blattwerk der Bäume hob sich vom gestirnten Himmel ab. Schwach hörte man
das Wasser in dem großen Rohr rauschen, das zur Stadt niederführte. Nur
wenig Licht war in der Halle. Durch das niedere Fenster sah man den
Wärter in einer Ecke sitzen. Er rauchte seine Pfeife und las in den
letzten Zeitungen, die die Post aus dem fernen England herübergebracht
in das indische Wunderland. Neben ihm hingen an einem Brett große
eiserne Schlüssel und Hebel zum Öffnen des Wasserbassins, zum Abdrehen
der Leitung.

Shingar kauerte sich nieder und wartete, überlegte, wie er unbemerkt an
das Wasserbassin gelangen könne. Die Nacht war schwül und drückend. Es
war heiß in der niederen Halle, und die Luft war dumpf. Schon war es
spät. Da sah Shingar, wie dem Wärter der Kopf tiefer sank, wie die
Zeitung seinen Händen entglitt. Ein Lächeln ging über das Gesicht des
Inders. Alles ging ihm gut an diesem Tage. Er wartete noch ein Weilchen,
dann eilte er auf leisen Sohlen zu der Tür. Aber sie war von innen
verschlossen. So mußte er den Weg durch das Fenster nehmen. Das war
gefährlich, denn es konnte Geräusch machen, aber es mußte geschehen.
Sein oberer Flügel war ein wenig geöffnet, um frische Luft
hereinzulassen; da hindurch mußte der Weg gehen. Der Inder zog seine
Sandalen aus. Jede Bewegung überlegend, langsam, ganz langsam
erkletterte er den Sims, das Auge fest auf den Schlummernden gerichtet,
jeden Moment bereit, wieder herabzuspringen, wenn der erwachte. Aber die
schwüle Luft, die späte Stunde hielt den Wärter weiter in traumlosem
Schlaf.

Die dürre Gestalt des Inders zwängte sich durch das schmale Fenster.
Zentimeter um Zentimeter drückte er es vorsichtig weiter auf, immer
spähend, ob sein leises Knarren den Schläfer störte. Er trug das
gefährliche indische Messer bei sich, es wäre ihm ein Leichtes gewesen,
den Mann stumm zu machen, aber vielleicht hätte man die Tat zu früh
entdeckt, Verdacht geschöpft, das Wasserwerk abgestellt.

Endlich stand er mit beiden Beinen auf dem inneren Fensterbrett. Nun
glitt er geräuschlos nieder, trat auf leisen Sohlen an den Tisch,
löschte die Lampe. Er tastete sich an das Wasserbassin, steckte die
Flasche des Todes tief hinein in die Flüssigkeit, schlug vorsichtig mit
dem Griff seines langen Messers dagegen. Nur ein leises Klingen hörte
man unter Wasser, dann fielen die Scherben lautlos nieder zum Boden des
Kessels.

Ein wildes Triumphieren ging über die eingefallenen Wangen des
Fanatikers. Er lauschte einen Augenblick, dann glitt er wie eine Katze
zum Fenster zurück, schwang sich lautlos empor und stand nach wenigen
Minuten wieder draußen im Freien. Durch den dichten Busch eilte er
heimwärts. Nicht eine Spur von seinem Tun war zurückgeblieben, und nie
hat man erfahren, wie das grausige Werk geschah.

                   *       *       *       *       *

Wenige Tage nach dem nächtlichen Rachewerk Shingars brach in dem
Europäerviertel von Bangalore eine Krankheit aus. Nur wenige wurden
zunächst befallen, aber ihre Zahl wuchs von Tag zu Tage, aus Hunderten
wurden Tausende. Voll Grauen erkannten die Ärzte, daß es die Cholera
sei. Niemand wußte, woher sie kam, und weshalb sie gerade in dem
reinlichen Europäerviertel ausbrach, nur mitten im Lande, in dieser
einen Stadt hauste, statt wie früher die schmutzigen, engen, ungesunden
Stätten der Hindus zu befallen. Ganze Familien starben aus, ganze
Häuser, ganze Straßenzüge. Der Tod raste mit mähender Sense durch die
Europäerstadt. Der Vater verließ die Seinen, der Bruder den Bruder,
alles floh, was noch fliehen konnte, aber der Tod eilte ihnen nach,
erschlug sie auf der Flucht. Niemand konnte helfen, niemand wußte Rat.
Ein böses Ahnen zog durch das Herz der wenigen Ärzte, die noch am Leben
waren. Sollte die schreckliche Seuche aus dem Hause des Doktor
Gravesgrave kommen? Er war verschwunden, verreist, sagte man. Sie eilten
hinaus zu seinem Hause. Es war verschlossen. Man erbrach es. Im Vorflur
lag zusammengekrümmt mit schrecklich verzerrtem Gesicht der Leichnam
seines Dieners Shingar. Ihn hatte als einen der ersten der Tod aus der
Flasche erreicht, er hatte ihn mit eigenen Händen nach Hause gebracht.
An seinen Fingern hafteten genug der tödlichen Keime, zwei Tage nach
seiner Tat schon verendete er hilflos in dem einsamen Hause. Zur selben
Stunde auch erlag der Mann im Wasserwerk dem Feinde, der von hier aus
seinen Weg nahm in die unglückliche Stadt.

Aber seine Tat zog immer weitere Kreise, wie der Raubvogel, der in den
Höhen sein Reich umzirkelt. Der Sensenmann machte nicht Halt im Viertel
der Fremden, er sprang hinüber in die dicht gedrängten Vorstädte der
Eingeborenen, raste durch ihre engen Gassen, machte sie zu stillen,
ausgestorbenen Stätten. Der Schrecken lief mit Sturmeseile durch das
Land, ergriff Nachbarstädte, wanderte mit den Kleidern der Entflohenen
von Ort zu Ort, saß verborgen in den Frachten der Güter, die mit Bahn
und Wagen von Bangalore zu anderen Handelsplätzen wanderten. Die Sense
des Todes mähte und mähte.

Längst war Doktor Gravesgrave zurück. Die Stadt war wie ausgestorben. Er
eilte in sein Haus, Schreckliches ahnte ihm. Er fand den toten Diener
noch an der alten Stelle. Er fand in seinem Schrank den zertrümmerten
Eisenkasten. Die eine der Flaschen war fort. Er sah die Werkzeuge
Shingars umherliegen, er ahnte alles. Es war zu spät, er konnte nicht
mehr helfen, niemand konnte es. Da packte er seine Sachen in eine große
Kiste, auch den anderen Kasten mit der zweiten Flasche. Längst waren die
Keime darin während seiner langen Abwesenheit abgestorben und
unschädlich. Aber auch er sollte dem Ort des Schreckens nicht mehr
entfliehen, dem sein Tun, das nur Gutes schaffen wollte, so schweres
Unglück gebracht. Auch ihn ergriff die Krankheit, einsam starb er in dem
totenstillen Hause, und er starb gern, denn es schien ihm eine Sühne für
die grausige Tat, die doch nicht seine Schuld war. Der Tod aber stand
triumphierend an seinem Sterbelager. Er hatte seinen Feind besiegt.

Langsam erlosch die furchtbare Seuche, die die winzigen Kobolde in der
Flasche hervorgerufen. Der Tod lehnte die Sense in die Ecke und ruhte
von seiner Arbeit. Langsam auch kam wieder Hoffnung und Freude über die
Stadt. Die Entflohenen kehrten zurück, die Arbeit begann wieder, das
Leben ging seinen alten Gang.

Ein Freund des Doktor Gravesgrave zog in das ausgestorbene Haus. Er fand
die Kiste mit den prächtigen Vergrößerungsgläsern, mit gelehrten Büchern
und einem Bericht über das Unglück von Bangalore. Er fand auch einen
Brief an den Doktor Buhle, fern in Deutschland, und sandte Brief und
Kiste her. So kam der alte Ulebuhle in den Besitz der Flasche des Todes
und der genauen Nachrichten über das Unheil, das sie oder ihre Gefährtin
angerichtet. Seht, da steht sie im Schrank, und man sieht es ihr nicht
an, daß sie eine große Vergangenheit hat, gelehrte Sachen, ein großes
Unglück und weite Reisen erlebte.»

Der Alte schwieg.

«Ulebuhle,» sagten die Kinder, «sitzt der Tod noch immer in der
Flasche?»

«Nein, er ist längst gestorben, aber mit gefährlichen Dingen muß man
auch dann noch vorsichtig umgehen, wenn sie schlummern. Auch dem toten
Löwen nähern wir uns mit Scheu und Vorsicht, und wir sprechen leise am
Orte, wo die Sense des Knochenmannes durch die Halme ging!»




                         Als die Sonne feierte


«Die Menschen,» so erzählte eines Abends der alte Ulebuhle, «waren
einmal wieder mit sich, mit Gott und der Welt unzufrieden. »Ach,« sagten
sie, »es ist ein Kreuz. Das Leben ist viel Arbeit und wenig Vergnügen.
Es müßte umgekehrt sein, und kurz und gut, wir wollen nun endlich einmal
eine schöne Weile ausruhen!«

Da ließen sie alles stehen und liegen und sagten Feierabend! Alle Räder
standen still, und keine Esse rauchte mehr. Die Häuser ragten halbfertig
mit großen Gerüsten in den Himmel hinein, die Schneider rührten keine
Nadel mehr an, die Schuster drehten keinen Pechdraht mehr und klopften
kein Leder, die Kaufleute schlossen ihre Läden, die Bergleute fuhren
nicht mehr zur Grube, und kein Fischer warf mehr Netze aus. Am meisten
freuten sich die Ochsen und die Kälber. Sie brummten und blökten
vergnügt in die Welt hinein, denn niemand wollte ihnen mehr das Fell
über die Ohren ziehen.

Die Bauern draußen auf dem Lande, Hinz und Kunz und Jochen Päsel, kamen
im Kruge zusammen, rückten ihre Zipfelmützen von einem Ohr auf das
andere und sagten: »Ja, wenn die Lüt in de Stadt nischt mehr duhn, wat
wulln wie da noch dat Feld bestelln, da duhn wie ook nischt mehr!« Und
so ruhten Pflug und Egge, Sense und Dreschflegel. »Macht wie ihr wollt,«
meinten die Städter. »Wir haben noch alle Speicher bis an die Decke voll
Korn und alle Keller voll Kartoffeln, wir brauchen vorläufig eure
Feldfrüchte nicht!«

Die Sonne stand droben im Blauen und machte verwunderte Augen ob all der
sonderbaren Geschehnisse auf Erden.

»Ja,« sagte der alte Mond zu ihr und rauchte noch eine Wolkenpfeife an,
»der Teufel ist in die Menschen gefahren. Ich habe schon manches
Jahrhundert lang den Erdball umwandert, ich habe schon viele verrückte
Geschichten auf Erden mit angesehen, aber so toll waren sie bisher noch
nicht. Ich glaube, es nimmt ein schlechtes Ende mit den Menschen, denn
die Arbeit hält doch alles in Ordnung beieinander, aber wenn sie nun
nicht eine Hand mehr rühren wollen, werden sie bald ganz zugrunde gehen.
Mir soll es recht sein. Ich mache nach wie vor meine Nachtbeleuchtung
und führe die goldenen Sternenschafe auf die Weide und damit basta!«

Als nun aber auch die Bauern die Felder nicht mehr bestellten, Hinz und
Kunz und Jochen Päsel den ganzen Tag im Kruge saßen, Karten spielten und
Kümmel mit Rum tranken, da wurde es Frau Sonne zu viel. »Ja, wozu
scheine ich denn noch,« rief sie eines Tages unwillig aus. »Wenn ich
keine Saaten mehr zu reifen habe und euch nicht mehr bei der Arbeit
leuchten brauche, so hat es keinen Zweck, denn faulenzen könnt ihr auch
im Dunkeln, und wenn die Sonne auf die faule Bärenhaut scheint, dann ist
das nur ungemütlich. Also besinnt euch und arbeitet wieder, sonst mache
ich selbst Feiertag!«

»Laß uns in Ruhe, Frau Sonne,« brummten die Menschen, »mach, was du
willst, wir machen es auch!«

Da ging die Sonne am Abend mit zornrotem Gesicht unter und kam am
nächsten Morgen nicht wieder. Sie feierte!

»Die Sonne ist wirklich fortgeblieben,« meinten die Menschen, und manche
machten doch bedenkliche Gesichter. »Nun wird es kalt werden,« sagten
sie, »und rabenschwarze Nacht wird es auch am Tage sein.« »Nachts wird
es helle,« schrien die anderen, »da scheint der gute alte Mond!«

Aber als es Nacht war, blieb es stockdunkel, und auch der Mond schien zu
feiern. Da gingen die Menschen zu den berühmtesten und gelehrtesten
Sternkundigen und fragten, was sie von der Sache hielten, und warum der
Mond nicht scheine.

»Ja,« meinten die, »er kann nicht, denn wenn die Sonne nicht mehr ihr
Licht aussendet, so bleibt auch der Mond im Dunkeln, denn er wird ja
erst von der Sonne erleuchtet und strahlt nur das geliehene Sonnenlicht
wieder.«

»Gut,« schimpften die Menschen, »so soll er es lassen. Dann beleuchten
wir die Städte mit unseren elektrischen Lampen und heizen mit
Elektrizität.« Da heizten sie ihre Kessel mit Steinkohlen, setzten ihre
mächtigen Dampfmaschinen in Gang und machten elektrischen Strom, der
durch hunderttausend Lampen ging und Haus und Stadt erhellte. Aus den
Steinkohlen machten sie auch Gas. Sie erhitzten sie in großen Kesseln,
so daß das Gas aus ihnen entwich, leiteten es durch Röhren in alle
Häuser und brannten es an. Da konnten sie sich an Gasöfen wärmen und auf
Gasöfen kochen, und sie lachten über die Sonne.

Eines Tages aber waren die Steinkohlen aufgebraucht, und da die
Bergleute nicht für die anderen arbeiten wollten, sondern auch ihren
Feiertag zu machen wünschten, hörte das Wasser in den Kesseln auf zu
kochen und die Maschinen standen still. Da gab es auch kein Gas, kein
Licht und keine Wärme mehr, und die Leute murrten.

Die anderen aber sagten: »Nur nicht verzagt, wir werden auch ohne die
Sonne fertig! Haben wir keine Steinkohlen mehr, um unsere Maschinen zu
treiben, so nehmen wir die Kräfte des Wassers zu Hilfe. Das Wasser
strömt in tausenden Wasserfällen von den Höhen herab, da bauen wir
mächtige Wasserräder und Turbinen, die dreht das herabstürzende Wasser,
und sie drehen uns unsere elektrischen Maschinen. Da haben wir wieder
Licht und elektrische Wärme!«

Als die Menschen aber zu den Wasserfällen kamen, da floß kein Tropfen
mehr hernieder. Nicht als ob das Wasser eingefroren war, nein, es war
überhaupt keines mehr in den Wasserfällen. Da gingen sie zu den
Gelehrten und sagten: »Erklärt uns, wie es kommt, daß die Wasserfälle
versiegt sind.«

»Ja,« sagten die weisen Räte, »das ist ganz einfach! Die Wasserfälle
kommen von den Bergen herab, weil die Sonne hoch droben den Schnee und
das Eis schmilzt und wieder zu Wasser macht. Da die Sonne nicht mehr
scheint, so schmilzt auch das Eis und der Schnee nicht mehr, und so kann
es auch keine Wasserfälle geben. Auch der Regen, der in den Bergen
niedergeht, rauscht in den Wasserfällen zu Tal. Da aber die Sonne kein
Wasser mehr aus Flüssen und Meeren verdunstet, so steigt auch kein
Wasserdunst mehr empor zu den Wolken, es entstehen keine Regenwolken
mehr, und so gibt es auch keinen Regen und keine Wasserfälle! Das alles
hat die Sonne durch ihre Wärme in Gang gebracht, aber nun, wo sie
feiert, ist es aus damit.«

»Es sollte doch mit dem Teufel zugehen,« meinten die Menschen, »wenn wir
uns von der Sonne unterkriegen lassen würden! Wißt ihr, was wir jetzt
machen? Wir benutzen den Wind. Der Wind treibt uns große Windmühlen, und
mit ihrer Kraft drehen wir unsere Räder und elektrischen Maschinen. Auf,
laßt uns große Windmühlen bauen.«

»Ach du lieber Gott,« meinten ärgerlich die Zimmerleute und die
Schmiede, »da geht ja die Arbeiterei schon wieder los!«

Aber die anderen entgegneten, das müßte nun mal auf kurze Zeit so sein,
und wenn die Windmühlen erst fertig wären, könnten wieder alle feiern.

Da bauten sie denn bei Tag und Nacht mächtige Windmühlenflügel und große
Triebwerke und froren jämmerlich dabei, denn es wurde immer kälter auf
Erden. Endlich aber war auch dieses Werk getan, und nun brauchte nur
noch Wind zu wehen, dann drehten sich die großen Flügel, drehten sich
mit ihnen die mächtigen Räder und elektrischen Maschinen, und dann gab
es wieder elektrische Kraft und Licht und Wärme. Aber sie warteten und
warteten, doch es kam kein Wind. Kein Blättchen regte sich, kein
Staubkörnchen wirbelte auf.

Da gingen die Menschen wieder zu den Gelehrten und sagten: »Nun erklärt
uns, wann endlich einmal Wind wehen wird!«

Die Weisen aber seufzten schwer und rückten an ihren großen Brillen, und
endlich sagten sie: »Es wird überhaupt kein Wind mehr wehen, solange die
Sonne nicht scheint, denn die Sonne ist es, die den Wind und den Sturm
macht. Sie erwärmt an manchen Gegenden die Luft mehr als an anderen. Da
steigt die warme Luft empor, fließt von einem Erdort zum anderen, und
dieses Strömen der Luft, das ist der Wind. Wenn die Luftmassen schnell
dahinströmen, dann ist es Sturm, und wenn sie langsam ziehen, dann
säuselt es nur so ein wenig in den Zweigen. Da nun die Sonne die Luft
nicht mehr erwärmt, so strömt sie auch nicht mehr, und ihr habt eure
Windmühlenwerke umsonst gebaut.«

Da schimpften die Menschen von früh bis abend und fuhren sich
gegenseitig in ihrer Wut in die Haare, aber davon wollten die Windmühlen
sich auch nicht drehen. »Ihr müßt wieder hinabsteigen in die Gruben und
neue Kohlen aus dem Gestein herausschlagen,« riefen die Leute den
Bergarbeitern zu, aber diese weigerten sich, denn sie wollten nicht
schaffen, wenn die anderen feierten. »Wir aber wollen nicht erfrieren!«
brüllten die Menschen, und so gab es überall Aufruhr und Streit und
blutige Köpfe. Die Leute holzten alle Wälder ab, um das Holz zu
verbrennen und sich eine warme Suppe und eine warme Stube zu machen,
aber viele erfroren bei dieser Arbeit im Freien.

Es wurde immer kälter und kälter auf Erden, und es war ein Leben wie am
Nordpol. Das Meer war hundert Meter dick in die Tiefe gefroren, so daß
kein Schiff nach fernen Ländern fahren konnte, Getreide und andere Dinge
zu holen. Kein Fischer konnte ein Netz auswerfen. Die Tiere des Waldes
verendeten vor Kälte, die Vögel fielen erfroren aus der Luft herunter,
ihr Blut war zu Eis erstarrt. Der Erdboden war bis in die Tiefen hinein
gefroren und fest wie ein Felsen, kein Pflug konnte ihn durchdringen.
Tiefe, schaurige Dunkelheit lag über der Welt, nur die fernen Sterne
glitzerten aus der eiskalten Höhe auf die unglückliche, von der Sonne
verlassene Erde.

Es wurde immer jammervoller mit den Menschen. »Wir wollen wieder
arbeiten,« schrien sie, »wir wollen wieder Licht und Wärme, Wolken und
Wind, grüne Wälder und wogende Kornfelder, Vogelsang und Blumenduft, wir
wollen die Sonne wieder droben haben im Blauen, ja die Sonne, die Sonne,
die die Menschen so froh macht und glücklich und reich!«

Die Anführer aber, die all das Unglück angezettelt, die alle Maschinen
angehalten, alle Arme gelähmt hatten, die sich gegen die Sonne
verschworen, widersetzten sich der Menge, denn sie hatten noch Kohlen
und viele gute Dinge für sich heimlich in Sicherheit gebracht und lebten
herrlich und in Freuden in einer verborgenen Klause, fern im Walde.

Eines Tages aber ertrugen es die Menschen nicht länger. In ungeheuren
Scharen zogen sie durch die tiefe Finsternis hinaus zu den Verschwörern,
griffen sie und erschlugen sie auf der Stelle.

»Arbeiten wollen wir wieder, und die Sonne soll wieder scheinen,« so
tönte ihr Rufen mächtig durch das Land.

Als die Sonne das hörte, da erkannte sie, daß die Menschen wieder
vernünftig geworden waren, und mit heiterem Strahlenlächeln stieg sie in
blendender Helle über dem Horizont empor und hüllte die Welt in ihren
wärmenden Mantel.

Die Menschen standen, geblendet von der Helle, unzählbar an Masse
draußen und erwärmten die zitternden Glieder. Neues Leben huschte über
die bleichen Gesichter. Und tausend Wunder vollbrachten die
Sonnenstrahlen, Wunder, auf die die Menschen früher gar nicht geachtet
hatten. Sie lösten alle Quellen aus den Banden des Eises, so daß sie
murmelnd dahinsprangen, sie tauten Seen und Flüsse auf, ließen die
Wellen des Meeres wieder ungehindert dahinrauschen, und Schiffer und
Fischer gingen ans Werk. Die Sonne erwärmte die Luftschichten, trieb sie
durcheinander, der Wind wehte wieder, die Mühlenflügel drehten sich
wieder lustig im Kreise. Da wachten die Wasserfälle auf, denn hoch von
den Bergen kamen die Schmelzwasser nieder. Windmüller und Wassermüller
rauchten wieder ihre Pfeifen und mahlten fröhlich ihr Mehl, und Hinz und
Kunz zogen tiefe Furchen mit dem Pflug in die erwärmte, dampfende
Ackerscholle. Die Bäume setzten neue Knospen an, die Vögel, die die
schwere Zeit überlebt hatten, kamen aus ihren Verstecken hervor und
jubilierten in der Luft, und droben, zwischen den Wolken, zog der Mond,
der alte Kunde, mit pfiffigem Gesicht.

Frau Sonne aber lächelte mit runden Backen herab wie eine gute, sorgende
Mutter.

Da fielen die Leute nieder auf die Knie und sangen der Sonne ein
Loblied, denn ihr Trotz war verflogen.»




                           Der gläserne Sarg


«Heute, ihr Kinder, kommt die Geschichte von dem Glassarg an die Reihe!»

«Ulebuhle, die kennen wir schon, das ist die Geschichte von
Schneewittchen, die von den Zwergen in einen gläsernen Sarg gelegt
wurde!»

«Und ich sage euch, ihr kennt sie nicht, denn in meinem Glassarg liegt
gar kein Schneewittchen oder sonst eine niedliche Jungfer. Ihr könnt
euch nachher ansehen, was in meinem gläsernen Sarge zur Ruhe bestattet
ist, denn der Sarg liegt da in dem großen Schrank. Aber erst sollt ihr
die Geschichte hören, denn man muß nicht vorher die Rosinen aus dem
Kuchen herauspicken!»

Da setzten sich die Kinder und waren gespannt, was der Alte heut wieder
ersonnen hatte.

«Ach, es ist lange her, als meine Geschichte begann. Viele Jahrtausende!
Ein schöner Sommertag war es, und die Sonne schien warm vom blauen
Himmel nieder. In der Ferne rauschte das Meer, und nahebei rauschten die
Wipfel der Bäume, denn da stand ein großer Wald.

Eine niedliche kleine Fliege mit zarten Flügeln schwirrte vergnügt in
der Sonne daher, zwischen Gräsern und Blumen, und endlich spannte sie
die Flügel und schwebte mit leisem Summen hinüber in den Wald. Da
standen große Nadelbäume und reckten sich hoch in den Himmel, und es
duftete ganz wundervoll harzig, denn die Sonne schien heiß hernieder.

Unsere kleine Fliege setzte sich an einen der mächtigen Stämme, um
auszuruhen. Sie putzte mit ihren Beinbürsten die Flügel und den runden
Kopf mit den roten Augen, denn alles war verstaubt, wie es bei einem
rechtschaffenen Wandersmann eben so ist.

Seht, da kroch langsam mit dünnen Beinen ein vermaledeiter Spinnerich
daher und dachte in seinem Sinn, daß die kleine Fliege justament ein
artiger Braten zu Mittag wäre. Er setzte vorsichtig ein Bein vor das
andere, was keine Kleinigkeit ist, wenn man acht Beine hat, und
krabbelte langsam am Baumstamm näher an das kleine Flugtier heran.

Der Spinnerich überlegte sich die ganze Geschichte sehr sorgfältig. Du
lieber Himmel, dachte er, viel ist nicht dran an der kleinen
Mademoiselle! Da gehen die grünen Flügel ab und die langen
Fühlerhörnchen, und es bleibt nicht viel, aber man muß Gott auch für das
wenige dankbar sein. Wenn ich nicht ganz vorsichtig bin, erspäht sie
mich mit ihren runden Kugelaugen und schwirrt ab, dann ist der Braten
dahin, und ich muß vielleicht hungrig schlafen gehen.

Die kleine Fliege war eitel wie alle Frauenzimmer. Sie bürstete
unablässig ihre grünseidenen Schleierflügel und zupfte vorn und hinten,
beleckte und beschleckte sich wie ein Kätzchen und sah den bösen Feind
nicht, der mit List und Tücke näherzog.

Schon war er dicht heran -- da geschah etwas ganz Greuliches!

Die Mittagshitze lag drückend über dem Walde, und die alten Bäume
schwitzten in dicken Tropfen das Harz aus. Auf einmal fiel von droben
ein dicker Harztropfen, goldgelb in der Sonne funkelnd, nieder,
klatschte gegen den Stamm und begrub unter sich die Fliege und Spinne.

Da war es nun aus mit dem Putzen und mit dem Schmausen, Freund und Feind
waren eingeschlossen in der zähen gelben Träne des Baumes, zappelten
noch ein wenig hin und her, und dann waren sie tot.

Aber neues Harz tropfte von oben hernieder und auf das alte darauf, und
schließlich war es ein ganz dicker Batzen geworden, in dessen Innern die
beiden Tiere lagen wie in einem durchsichtigen Sarge.

Aber die Weltgeschichte geht ihren Gang ruhig weiter, und alles kommt,
wie es kommen muß. Jahrhunderte gingen hin und Jahrtausende. Viele neue
Sommer waren gekommen und viele Millionen neue Fliegen mit grünen
Flügeln und Spinneriche mit acht Beinen, und niemand dachte mehr an die
beiden, die vor langer Zeit da in dem Harztropfen begraben wurden, der
unansehnlich und dick an dem Stamm des alten Baumes hing, der längst
vermodert im Waldboden ruhte.

Da geschah wieder einmal etwas Neues! Langsam hatte sich das Land
gesenkt, und die Wassermassen des Meeres da oben, wo heut die Ostsee
rauscht, kamen immer dichter an den alten Wald heran. Eines Tages hatten
sie ihn erreicht, und nun spülten die Wellen zwischen den Stämmen,
entwurzelten sie, und der Wald mußte sterben. Ein Baum nach dem anderen
sank in das nasse Wellengrab, in den Kronen des sterbenden Waldes
rauschte der Seewind wilde Gesänge, und die alten Stämme ächzten und
stöhnten, wenn sie niederstürzten in das Meer, das ihre Heimat
überspülte.

So kam es, daß da, wo früher der Wald rauschte, nun die Ostsee rauscht.
Auch der alte vermoderte Baumstamm mit der dicken Harzperle versank in
den Fluten, das Meer wälzte Sand darüber, und langsam verweste der Stamm
vollkommen. Nur die Harzperle blieb übrig und war im Sande der See
begraben.

Und wieder gingen tausend Jahre hin. Da schnob ein mächtiger Sturm über
die See, und die Wellen warfen Sand und Schlamm in wilder Wut an den
Strand. Seht, da ging ein armer Fischer mit seinem Jungen am Ufer hin
und her, der suchte das Harz, das hier vor Jahrtausenden die alten Bäume
in dicken Tropfen in der Mittagshitze geweint hatten. _Bernstein_
nannten die Menschen dieses Harz, und sie machten allerlei Perlenketten
und Ohrhängerchen aus den gelben Tropfen, die das Alter zu Stein
verhärtet hatte.

Der kleine Junge stieß mit seinen nackten Füßen gegen ein dickes Ding im
Sande, hob es auf.

»Sieh, Vater!« rief er fröhlich, »da habe ich ein großes Stück gefunden,
das bringt wohl einen halben Taler.«

Der Vater nahm das Bernsteinstück und reinigte es vom Sande, dann hielt
er es gegen das Licht.

»Potztausend, Junge!« rief er vergnügt. »Das nenne ich ein Glück am
frühen Morgen! Zwei Tierchen sind drin eingeschlossen in dem gläsernen
Sarg, eine Fliege und eine Spinne. Das Stück kaufen die gelehrten Herren
drinnen in Greifswald wohl um ein Goldstück, denn zwei Tiere in einem
Bernsteintropfen, das ist eine Seltenheit.«

Ja, die gelehrten Herren in Greifswald kauften den gläsernen Sarg, und
endlich kam er an den alten Ulebuhle, und nun wollen wir ihn gemeinsam
betrachten. Seht, da liegen die beiden Tierchen noch so, wie sie der Tod
vor vielen Jahren überraschte. Die Jungfer Fliege, die da im hellen
Sonnenschein auf dem Stamm saß und ihr Röcklein putzte, der arge
Spinnerich, der auf der Jagd nach dem Mittagsbraten war. Man sieht noch
jedes Härchen an ihnen und sieht noch, wie sie im Sterben die Beine
streckten. Man sieht, wie sie vergeblich in dem zähen Harzbrei
umherruderten, denn rings um die Beine sind lauter trübe kleine Ringel
und Kringel. Ja, da kann man die ganze Geschichte, die sich vor
zehntausend Jahren zugetragen hat, in allen Einzelheiten anschauen, als
ob man damals dabei gewesen, und sieht, daß es damals schon niedliche
Fliegen und böse Spinneriche gab. Ja, die Welt ist uralt!»




                             Gebrüder Sturm


Das war ein böses Ungewitter! Der Sturmwind hatte sein ganzes Orchester
aufgeboten; er sauste und brauste, heulte und winselte, pfiff und
klirrte durch Stadt und Land und über die Bergwälder. Auf den
Schornsteinröhren pfiff er wie auf Klarinetten, er harfte in den
Telegraphendrähten, rasselte mit den blanken Barbierbecken wie mit
Schellenbäumen, klirrte mit den Fensterflügeln, die er auf und zu warf,
winselte an den Ritzen und Schlüssellöchern der Türen, raufte brausend
den Bäumen den dichten Haarschopf des Blätterwerks und heulte um die
Dachgiebel und kreischenden Wetterfahnen. Er balgte sich mit großen
Papierfetzen, die er bald hoch emporwirbelte, bald am Boden
dahinschleifte, er kollerte den runden Hut des alten dicken
Gerichtsrates einen Kilometer weit fort, hielt ihn an und blies ihn
hohnlachend weiter, sobald sich der Herr Rat schnaufend bückte, bis er
ihn endlich mit einem kühnen Wuppdich ins Wasser warf. Er drehte Tante
Juliens Regenschirm vollkommen um, so daß es aussah, als wollte die gute
Tante zum Himmel hinauffliegen, und dem Registrator, der am Fenster
stand und darüber lachte, warf er plötzlich einen Blumentopf durch die
Scheiben, und da lachte er nicht mehr.

Ja, so war es, und dazu kam der Regen, der den wilden Sausewind in all
seinen Schandtaten kräftig unterstützte, und die beiden hatten es
fertiggebracht, daß die Straßen der Stadt wie ausgestorben waren und die
Kinder die Nasen gegen die Fensterscheiben drückten, um zu sehen, ob
denn der graue Himmel sich nicht endlich lichten wolle, denn mit dem
Herumtollen draußen war es nichts. -- Am Abend aber trippelten sie doch
mit flatternden Mänteln und wehenden Halstüchern hinüber zum alten Hause
des Doktor Ulebuhle, denn das war just das rechte Wetter, um eine gute
Geschichte zu hören, besonders wenn man eine Tasse süßen Tee dazu
trinken konnte.

Der alte Ulebuhle hockte in Schlafrock und Filzschuhen in seinem noch
älteren Lehnstuhl, rauchte wie ein Postdampfer aus seiner langen Pfeife
und knurrte dann und wann, denn das Zipperlein plagte ihn bei solchem
Wetter und zwickte und zwackte in seinen alten Knochen.

«Kinder,» sagte er knurrig, «das ist ein Tausend-Teufel-Wetter, und der
Sturm wirft mit Dachziegeln und Blumentöpfen nach anständigen Leuten. Da
sitzt es sich gut in der warmen Stube bei einem gemütlichen
Schnickschnack. Aber draußen in der weiten Welt geht es noch ganz anders
her mit dem Unwetter, und was ein richtiger Seemann und Wandergesell
ist, der ferne Länder und Meere gesehen hat, der lacht über die Mütze
voll Wind, vor der wir Stadtmenschen uns in unseren Höhlen verkriechen,
denn was so ein echter Sturm ist, das wissen wir gar nicht. Seht,
Kinder, es geht den Menschen so ähnlich wie den Fischen in der
Meerestiefe. Die haben um sich und über sich den Wasserozean, und wir
haben über uns den Luftozean und leben auf seinem Grunde. Und wie der
Fisch auf dem Trockenen ersticken muß, so wir, wenn man uns aus dem
lufterfüllten Raum herausnehmen würde. Und wie im Meere gewaltige
Strömungen sind, so im Luftmeer. Die Sonne aber ist es, die diese
Luftströmungen macht. Sind sie gering, so nennen wir sie Wind, und sind
sie stark, so heißen sie Sturm. Die Sonne erhitzt die Luft in heißen
Ländern, und dann wird sie leicht und steigt empor, und von allen Seiten
strömt dann die schwerere kalte Luft herbei, und so entstehen Wind und
Sturm. Wenn man in einem ganz schnell fahrenden Eisenbahnzug sitzt, dann
saust man in jeder Sekunde fünfundzwanzig Meter dahin, die Stürme aber
rasen mitunter fünf- und sechsmal schneller über die Erde, und dann
zerstören sie alles, was Menschen geschaffen haben, und sind gefährliche
Bösewichter. Davon aber will ich euch heute etwas erzählen. Rückt näher
herzu und spannt eure Lauscher weit auf, denn jetzt kommt die Geschichte
von den Stürmen!

Die wilden Brüder Sturm sahen sich das ganze Jahr nicht. In allen fünf
Weltteilen wirbelten sie umher und plagten die Menschen, aber an einem
ganz bestimmten Tage kamen sie zu einer Familiensitzung zusammen, und
dann war es ruhig in der Luft, kein Blättchen regte sich, und die
Matrosen auf den großen Segelschiffen, die weit herüber fahren nach
Westindien, brannten sich behaglich die Tonpfeifen an und freuten sich,
daß sie nicht viel zu tun hatten. Immer an diesem Tage im Jahre kamen
die Winde zusammen. Sie trafen sich auf dem Berge Demawend, tief unten
in Persien, der über viertausend Meter hoch in den Himmel strebt. Da war
eine gewaltige Höhle tief in den Felsen eingegraben, um den die Wolken
zogen wie Vögel um den Kirchturm. Am frühen Morgen schon war der erste
der Gebrüder Sturm erschienen. Es war der _Samum_ oder Sandsturm. Der
hatte es nicht weit. Er kam geradenwegs aus der heißen Wüste Afrikas,
der Sahara, und war quer über das Mittelländische Meer geflogen. Die
Perser, die da drunten umherwanderten mit ihren großen Lammfellmützen,
wunderten sich, wie warm es plötzlich wurde, denn der Samum brachte
einen ganzen Strom Sonnenglut aus seiner heißen Heimat mit und
schüttelte gelben Wüstensand aus seinen mächtigen Schwingen, so daß die
ganze Luft davon erfüllt war und ihn die Perser zwischen den Zähnen
knirschen fühlten.

Wie der leibhaftige Teufel fuhrwerkte er in die Höhle des Demawend
hinein. »Bei Allah!« schrie er, »welch eine Hundekälte ist hier oben.
Nicht zum Aushalten. Da lob' ich mir meine Wüstensonne und den schönen
heißen Sand, in dem sich Löwen und Schakale sonnen und die Schlangen
ihre Eier ausbrüten. Welch ein elendes Loch das ist! Außerdem bin ich
wieder der Erste am Platze. Eh die anderen Kerle kommen, werde ich einen
schönen Schnupfen weg haben.«

Darauf schlug er seine breiten Schwingen wie einen Mantel um sich,
kauerte verdrießlich in der äußersten Ecke nieder und träumte vor sich
hin.

Gegen Mittag rauschte und brauste es in der Höhe, als seien tausend
Teufel losgelassen. Die Wolken jagten Sturmvögeln gleich von dannen, der
Regen prasselte wie ein Trommelwirbel, der Donner rollte wie
Geschützfeuer von hundert Kanonen durch die Berge, und der flammende
Strahl des Blitzes zuckte blendend von den Wolken zur Erde. Inmitten
eines grauslichen Hagelschauers kam der zweite der Brüder angefegt, der
_Orkan_ oder Gewittersturm.

Lachend und Regen und Hagel wie einen Gießbach von seinen bleigrauen
Flügeln schüttelnd, tobte er in die Höhle hinein. »Pfui Teufel,«
schnauzte er, »was für eine vermaledeite staubige Luft ist hier drinnen.
Beim Vater aller Meere, da wird einem ja die Kehle trocken!«

Da erkannte er endlich den Samum in seiner dunklen Ecke. Er stürmte auf
ihn zu. »Bruderherz,« schrie er mit donnerndem Lachen, »da bist du ja,
altes Wüstensandfaß! Zum Millionen-Donnerwetter, daher die Stickluft!
Aber es macht nichts, sei mir gegrüßt, Sohn der Sonne!«

»Bei Allah und den Propheten, bleib' mir vom Leibe,« zischte der Samum,
»welch ein Betragen! Dieses Gepauke und Geblitze, diese Flut von Wasser.
Es ist gräßlich. Du riechst nach Fischen und Teer! Bleib' mir vom Leibe,
du weißt, ich kann die Nässe nicht vertragen. Das nächste Mal werden wir
uns bei mir im Lande treffen, damit du erst einmal trocken wirst.«

Der Orkan lachte gutmütig. »Du bist noch immer der alte Ofenhocker, mein
Junge,« sagte er, »die ganze Bude hier ist voll Wüstensand, und man
sieht nachher wieder aus wie ein Mehlsack, wenn man ins Freie kommt!«

So nörgelten sie noch eine ganze Weile miteinander, bis ein immer
stärker werdendes Geräusch ihnen die Ankunft des dritten Bruders
anzeigte. Der kam näher und näher, und erschreckt flohen die Menschen
drunten in ihre Häuser. Es brüllte in der Luft und rauschte, als wälze
sich ein ganzer Ozean heran. Der Himmel war nach Osten zu schwefelgelb,
und von Westen her kam eine ungeheure schwarze Wand herangebraust, aus
der ein Wolkentrichter bis auf die Erde reichte. Dieser Trichter drehte
sich mit rasender Geschwindigkeit, und er saugte alles in sich hinein,
über das er hinwegzog, Sand und Kräuter, Dachziegel und Wasserpfützen,
und was nicht mitging, das brach er krachend ab, so daß die Bäume unter
ihm zusammenknickten wie Zündhölzer. Der _Tornado_ oder Wirbelsturm war
es, der verheerend daherkam. Nun aber hatte er die Höhle erreicht, und
wie aus der Kanone geschossen, fuhrwerkte er hinein.

Sein Ungestüm war derart, daß der Samum aus seiner Ecke fortgeweht wurde
und heulend bis an die Decke der Höhle flog. Den Orkan aber drehte es
wie einen Kreisel rundum und kollerte ihn in einen Winkel.

»Himmelhund!« fluchte er, »das sind wohl amerikanische
Ringkämpfermanieren! Laß das, zum Teufel!«

Der Samum heulte wie ein Schakal vor Wut und spie eine wahre Flut
arabischer Schimpfworte gegen den groben Bruder. Der aber lachte in
tiefem Baß wie ein Bär aus vollem Halse und schrie ein über das andere
Mal:

»_Good day, my dear brothers!_«[6] Denn er war ein echter Amerikaner und
kam eben aus Kalifornien herüber.

Seine Brüder aber schimpften noch lange mit ihm herum, und es war ein
Höllenspektakel in der Höhle. Der Tornado aber machte sich nicht viel
daraus, rauchte sich eine kurze Stummelpfeife an und schnitzte zum
Zeitvertreib mit seinem Taschenmesser aus einem Eichenstamm, der sich
zwischen seinen Flügeln festgeklemmt hatte, Zahnstocher.

Gegen Mittag, wo es sonst schön warm war im Perserlande, kühlte es sich
plötzlich stark ab. Es wurde kälter und kälter, die Sonne verschwand,
und hoch droben bildeten sich niedliche Federwölkchen, die aus lauter
Eisnadeln bestehen. Dann aber fing es in der Höhe an zu schneien, erst
langsam, dann immer stärker, und endlich kam mit einem eisigen Winde,
der das Blut in den Adern gefrieren machte, ein undurchdringliches
Schneetreiben, so daß man keine fünf Schritte weit sehen konnte. Aus
weiter Ferne kam der vierte Bruder daher, der _Blizzard_ oder
Schneesturm.

Er war der älteste der Gebrüder Sturm. Weiß waren Haar und Bart, lange
Eiszapfen hingen daran herunter, flimmernde Schneemassen bedeckten seine
Flügel, und Eisklumpen hingen an den Füßen. Wo sein Atem hinkam,
erstarrte alles Leben. Gemächlich trat er schnaufend in die Höhle.

»Seid mir gegrüßt, Brüder, in der Höhle des Demawend!« sagte er und
schüttelte den Schnee von seinem Körper.

Die Höhle war urplötzlich mit eisiger Kälte gefüllt, und sofort jammerte
der Samum wieder los: »Beim Barte des Propheten, du hast hier noch
gefehlt! Welch eine entsetzliche Kälte. Ich komme um!« Damit kroch er in
eine Felsspalte, um sich nach Möglichkeit vor dem erstarrenden Hauch
seines Bruders zu schützen. Auch der Orkan brummte über den Eisbären,
denn sofort gefror das Regenwasser, das noch von seinen Flügeln tropfte.

»Meine Brüder,« sagte der Blizzard, »laßt uns nicht miteinander hadern!
Wir sehen uns das ganze Jahr nur einmal und müssen unsere Eigenheiten
ertragen. Die trockene Hitze und den Sand des Samum, das Donnerwetter
und die Regengüsse des Orkan, das alles zerbrechende Ungestüm des
Tornado und meine Kälte- und Schneemassen, das alles ist den anderen
Brüdern unangenehm, aber wir haben eben jeder ein anderes Handwerk und
leben in verschiedenen Ländern, und so müssen wir aufeinander Rücksicht
nehmen. Laßt also den Streit. Wir haben wichtigeres vor. Ihr wißt, daß
ich als der Älteste von uns Vieren am Neujahrstage dem alten Wettergott
über unser Tun und Lassen Bericht erstatten muß. Es sind wieder bittere
Klagen über uns eingelaufen. Die Menschen haben sich bei Petrus über
alle möglichen Zerstörungen beschwert; Neptun, der Beherrscher der
Meere, war sehr wütend auf uns, und Flora und Fauna, die Beschützerinnen
der Pflanzen- und Tierwelt, klagen über Verwüstungen der Gebrüder Sturm
in allen Zonen. Ich sehe schon, es wird ein ganzer Sack voll
Anschuldigungen gegen uns einlaufen, und wir müssen sehen, wie wir's am
besten wieder ins reine bringen. Vor allem aber berichtet nun über eure
schlimmen Taten, denn es ist besser, ich weiß Bescheid und kann gleich
meine Entschuldigungen vorbringen!«

»Den Menschen kann man es nie recht machen,« brummte der Orkan. »Schläft
man oder bläst man zu wenig, so klagen sie, daß das Korn nicht wächst
und die Bäume keine Früchte tragen und die Segelschiffe nicht vorwärts
kommen und die Windmühlen stillstehen. Tut man mal einen ordentlichen
Schnaufer, so ist es ihnen auch nicht recht. Da sollen sie sich halt das
Wetter selber machen!«

»Ja, so ist es,« sagte der Tornado. »Die Menschen sind undankbar, und
Flora ist eine zimperliche Jungfer, die über jedes abgeknickte Bäumchen
anfängt zu greinen!«

»Macht euch nicht besser als ihr seid, ihr wilden Burschen,« entgegnete
der Blizzard. »Mir macht ihr nichts vor! Als ich noch jung war, trieb
ich's ebenso. Aber nun wollen wir nicht unnötig Zeit verlieren!
Berichtet eure Schandtaten!«

Da hockten die vier Winde in der Mitte der Höhle des Demawend nieder,
und der Jüngste von ihnen, der Samum, hub an zu erzählen:

»Eines Tages ging nicht alles wie es sollte, und die Menschen hatten da
wohl recht, über mich zu klagen, aber es geschah nicht mit Absicht. Ich
lag auf dem Berge Mogodom, in der Oase Kauar, und schlief. Unter mir
dehnte sich weit in die Ferne das mächtige Sandmeer der Wüste Sahara.
Die Sonne brannte unbarmherzig nieder. Die Steine waren so heiß, daß sie
die Gräser versengten. Schlangen und Krokodile lagen träge und mit
offenen Mäulern da, und ein alter Löwe, den die Hitze aus dem heißen
Sande vertrieben, träumte neben mir im Schatten eines dürren
Dattelbaumes. Der stinkende grüne Tümpel der Oase, in dem die Krokodile
faulenzten, dampfte vor Hitze. Es war totenstill ringsum.

Am Nachmittag, als die Sonne sich senkte, wachte ich auf. Der Löwe neben
mir, die Schlangen im Sande, die Krokodile im Tümpel schliefen noch
immer, und es war furchtbar langweilig. Da sah ich weit in der Ferne
eine Kette dunkler Punkte ganz langsam im heißen Wüstensande
dahinschleichen, und die Neugierde trieb mich, zu sehen, was es sei.
Zudem war es auch Zeit, an die Arbeit zu gehen. Es war seit Wochen
glühheiß und trocken, alles verdorrte. Ich mußte ein wenig mit dem
großen Quirl im Luftmeer herumrühren, vom Meere her Feuchtigkeit
herzutragen, vielleicht daß es mir gelang, einen Regen zusammenzubrauen.
Da erhob ich mich denn gegen Abend, breitete die Flügel aus und
schwirrte davon, der Kette von Punkten zu, die noch immer in der Ferne
langsam dahinkroch.

Gewaltige Massen glühendheißen Staubes und Sandes rissen meine Schwingen
mit. Die ganze Luft war davon erfüllt, so daß der Himmel tiefgelb
erschien und die Sonne einen rostroten Schein annahm. Alle Tiere krochen
in ihre Höhlen, und als ich nun jener Punktreihe näher kam, sah ich, daß
es eine Karawane von Kaufleuten war; zehn Kamele führten sie mit sich,
und nebenher ritten Beduinen in weißen Mänteln. Als sie mich in der
Ferne in meinem rotgelben Staubschleier dahinstürmen sahen, warfen sie
sich nieder in den Wüstensand, der unabsehbar, in lauter Wellen sich
türmte, bis fern am Horizont. Die Kamele drängten aneinander und ließen
sich nieder auf die Knie, und zwischen ihnen lagen die Menschen, das
Gesicht zum Erdboden gewendet. Ich aber brauste über sie dahin wohl drei
Stunden lang, dem Meere zu, und achtete ihrer nicht. Hätte ich gewußt,
daß der glühendheiße Atem sie ausdörrte, daß der unaufhörlich auf sie
niederrieselnde feine Sand sie begrub, ich hätte einen anderen Weg
genommen. Wer kann wissen, daß die Menschen so empfindlich sind, und
weshalb wagen sie sich in das Sandmeer, wenn sie so leicht darin
zugrunde gehen!

Ich aber schwirrte weiter und weiter, über die tripolitanischen Berge,
über Tunis und die immergrüne Oase Biskra, über die weißen Häuserreihen
der Stadt Constantine, und überall, wo die Menschen mich kommen sahen,
wo mein Staubmantel die Sonne rostbraun färbte, das Klingen und Singen
der Milliarden wirbelnder Sandkörnchen in der Luft Botschaft brachte vom
Wüstensohne Samum, da eilten sie erschreckt in die Hütten und Häuser.

Bei Sonnenuntergang stand ich am Ufer des Mittelländischen Meeres. Der
Staub war meinen Flügeln entglitten, und ich war müde. Ich war an der
Grenze meines Reiches und meiner Macht. Ich verschnaufte ein wenig und
kehrte um. Der Mond stand schon am Himmel, und bleich lag das Sandmeer
der Wüste vor mir, als ich wieder jene Stelle kreuzte, an der ich der
Karawane begegnet war. Ein verwehter Hügel nur war erkennbar, aus dem
die Gebeine der schwer beladenen Kamele herausschauten und da und dort
das Gesicht eines Menschen starr und grünlich im Mondenschimmer
leuchtete.«

Der Samum schwieg.

»Da hast du etwas Schönes angerichtet, Lausbub,« sagte der alte Blizzard
und strich den vereisten Bart. »Man hört selten etwas Gutes von dir.
Überall in der Sandwüste bleichen die Gebeine von Menschen und Tieren,
die dein heißer Atem erstickt hat, die du lebend im heißen Sande
begrubst. Am besten wäre es, der Wettergott gerbte dir tüchtig das
Fell!«

Da zog sich der Samum gekränkt in eine Felsenspalte zurück und murmelte
unverständliche arabische Flüche vor sich hin. Dann aber nahm sein
Bruder, der Orkan, das Wort.

»Ich,« sagte er, »habe das ganze Jahr hindurch meine Plage. Bruder Samum
haust in wenig bewohnten Gegenden, und bei ihm geht es das ganze Jahr
gleichmäßig zu. Er ist ein Faulenzer. Ich aber habe alle Hände voll zu
tun, und in meinem Reich sind große Wälder und Felder und Städte und
Meere mit vielen Schiffen. Blas' ich zu wenig, laß ich's nicht genug
regnen, dann ist die Ernte schlecht. Dreh' ich den Wasserhahn mal
ordentlich auf und schnaufe mal so recht aus voller Brust und blitze und
donnere, dann geht wieder alles zum Teufel auf den Feldern, und die
Bauern laufen gleich in die Kirche und beschweren sich beim
Himmelsvater. Am schlimmsten aber sind die Schiffer! Da fahren sie mit
ihren Nußschalen auf dem großen Weltenmeer herum, und wenn man sie mal
mit dem Frackschoß streift, gleich ist das Unglück fertig! Das tollste
ist mir im Frühjahr passiert. Ich saß gemächlich ein paar Wochen im
Riesengebirge und spielte mit dem alten Rübezahl Karten. Auf einmal
kommen ganze Stöße Beschwerdebriefe, wo denn der Wind bliebe, und der
Regen. Die Baumblüte sei in ganz Europa, aber der Wind fehle, der den
feinen Blütenstaub von Blume zu Blume trage und sie befruchte, damit der
Herbst auch Äpfel und Birnen und Kirschen bringe. Zudem sei es
staubtrocken in Gärten und Ackern.

Herrgott, sage ich zum alten Rübezahl, ich muß schleunigst fort. Er
schimpft wie ein Starmatz, denn er hat gerade alle vier Asse in der
Hand, ich aber werfe die Karten hin und huiii hinaus, über die Berge,
und hinein ins Land.

Anfangs ließ ich mir noch etwas Zeit, ich fuhr fünfzig Kilometer in der
Stunde; als ich dann aber unten einen Schnellzug sah, der mich
überholte, da breitete ich die Schwingen und legte gewaltig zu, so daß
der Schnellzug bald weit hinter mir zurückblieb. Und als ich so über
Deutschland dahinschwebte, da sah ich denn, daß die Frau Sonne mal
wieder eine Seite im Kalender überblättert und viel zu stark eingeheizt
hatte für die Jahreszeit. Die jungen Bäumchen ließen in ihrem Durst die
Ohren hängen, und die Blumen sahen blaß und kränklich aus. Da trieb ich
mir dann den Wasserdunst, der reichlich aus Meeren, Seen und Flüssen
aufstieg, zusammen, trieb ihn empor, kühlte ihn ab und schuf die
schönste, graublau und weiß gemusterte Wolkendecke, so daß die Sonne
ihre Strahlenpfeile nicht mehr herniedersenden konnte auf die
verschmachtende Erde. Und dann ließ ich es so ganz langsam und bedächtig
trippeln und tröpfeln.

Unten, in den Dörfern, standen Bauer Jochen und Krischan Päsel, nahmen
die Piepe aus dem Munde, nickten bedächtig mit dem Kopfe und sagten:
»Man tau! Dat is höchste Tid!« In der Stadt schimpften natürlich wieder
ein paar vornehme Damen, daß ich die Spitzenkleider und die neuen
Sommerhüte ruiniere. Auch eine Schar Kinder, die mit Lehrer Meier einen
Schulausflug machte, erhub ein zorniges Geschrei. Sie streckten die
Zungen heraus, zu den Wolken empor und sagten: »Sechs Wochen war
Sonnenschein; heut natürlich gießt es Feuereimer!«

Bauer Jochen und Krischan Päsel aber standen noch immer da unten,
pafften ihren Kanaster, spuckten links und spuckten rechts und sagten:
»Dat is vör de Katz! Man en beten döller!«

Kann man's den Menschen recht machen? Da wurde ich ärgerlich, drehte
alle Schleusen auf und ließ es gießen wie am Sintfluttage. Und dann
kramte ich die alte Donnerbüchse raus und die Hageltrommel und
musizierte ein Gewitter, daß es eine Lust war. Die Menschen in den
Städten rannten wie besessen, als ich so daherpfiff. Tante Jules
falscher Zopf, Lehrer Meiers neuer Hut und die zum Fenster
herausgeflogenen Gardinen der Frau Wirklichen Geheimen Staatsrätin
wirbelten mitten auf dem Schillerplatz einen steirischen Dreher, und
alle Regenschirme schnappten über vor Vergnügen. Der Volksgartenwirt,
der so dick war wie ein Weinfaß, war puterrot vor Zorn. »Herr des
Himmels,« schrie er, »wer wird nun heut' abend kommen, mein schon etwas
saures Bier und die schon nicht mehr frischen Hammelbraten essen? Ich
bin ein geschlagener Mann!« Die Droschkenkutscher und Schirmflicker aber
jubelten: »Immer feste! Das gibt Geld in den Beutel!«

Wem kann man's recht machen?

Während ich so über das Festland dahinzog, über Oder und Elbe, über
Weser und Rhein und die Wälder erfrischte, die Saaten tränkte, die heiße
Stickluft aus den Städten jagte, hatte ich aber nicht genug acht auf die
See. Kann man seine Augen überall haben, gleichzeitig Obacht geben auf
den falschen Zopf der Tante Jule, die Birnbäume in Jochens Garten und
den Frachtdampfer >Nordstern<, der da von Schweden nach England
unterwegs ist und sich den Klippen nähert? -- Ich brauste dahin mit
Blitz und Donner, die Sonne war schon untergegangen, die blaugrauen
Wolkenmassen hingen tief hernieder, man sah keine tausend Meter weit.
Den Menschen auf ihrem Schifflein wurde es unheimlich. Meine grellen
Blitze schienen Himmel und Erde in Brand zu setzen, der Donner rollte
und grollte zwischen den Wolkenwänden wie die zürnende Stimme des Herrn
der Welt. Ich peitschte die graugrünschillernden, sich überschlagenden
Wogen, die mit wildem Trotz, mit weißen Häuptern gegen mich ankämpften,
und brauste über die weite Wasserfläche, doppelt so schnell als die
schnellsten Kriegsschiffe der Menschen. Ich pfiff und heulte mein
Kampflied gegen das alte, widerspenstige Meer und brachte es in Wut und
Aufruhr, und zu spät erst entdeckte ich plötzlich in der Ferne die roten
und grünen Signallaternen des >Nordstern<. Der arbeitete mit aller Macht
seiner Maschinen gegen mich an. Aus seinen Schornsteinen quoll wie
Schafwolle der dicke schwarzbraune Qualm. Zuweilen hob eine Riesenwelle
das Hinterteil des Schiffes weit aus dem Wasser, und die Flügel der
blanken Schiffsschrauben rasselten dann in der Luft, daß man glauben
konnte, das ganze niedliche Spielzeug würde zerbersten wie die Spieluhr
eines Knaben, die von hoher Felsenwand in eine wilde Felsschlucht
stürzt.

Die kleinen Menschlein waren wacker und mutig und arbeiteten aus
Leibeskräften, und man mußte alle Hochachtung vor ihnen haben. Gern wäre
ich ihnen zu Hilfe gekommen, aber es war zu spät! Das Schiff wurde mit
voller Wucht gegen eine Felsenklippe geworfen, nahe der englischen
Küste. Es zersplitterte, lief voll Wasser, kippte auf die Seite. Die
Menschlein wurden fortgespült wie Zündhölzchen. Einige wurden auf die
Klippen geworfen und kamen wohl mit dem Leben davon, die meisten aber
versanken lautlos im tiefen Meer. -- Ich bemitleidete sie, aber ich
konnte ihnen nicht helfen. Es ist das Unglück der kleinen, schwachen
Geschöpfe, daß sie sich mit ihren niedlichen Spielsachen mitten
hineinwagen in den Kampf der Elemente!«

Der Orkan schwieg, und sein alter Bruder, der Blizzard, wiegte
nachdenklich das Haupt.

»Es sind in jener Sturmnacht noch sehr viele Schiffe und Fischerboote
untergegangen, und auch Flora betrauert schweren Schaden, den dein
Ungestüm, vor allem die Hagelwetter in Feld und Garten angerichtet
haben. Du wolltest es sicher gut machen und hast auch Dürre und Hitze
vortrefflich bekämpft, aber dein wildes Balgen mit dem Meer, mit Neptun,
unserem alten Widersacher, hat dich verführt, Rücksichten gegen die
Menschen fallen zu lassen, und das war unrecht. Aber wir sind alle
Sünder, und so ziemt es mir nicht, zu richten.«

»Zu spät erst,« verteidigte sich der Orkan, »bemerkte ich sie, denn mein
Auge hing über halb Europa und dem ganzen Nordmeer. Aber ebensowenig wie
die Menschen ihre Eisenbahnzüge noch eine Minute vor dem Zusammenstoß
aus voller Fahrt zum Stillstand bringen können, kann ich der ungeheuren
Kraft gebieten, im Augenblick zu verwehen wie ein Nichts. Auch der
Mensch muß vorsichtiger sein!«

Plötzlich sprang der Amerikaner auf, der Tornado oder Wirbelsturm. Er
lachte aus vollem Halse, daß es dröhnte, und tanzte einen richtigen
Niggertanz. Dann pflanzte er sich breitspurig vor dem Orkan auf und
sagte: »_Old boy_, du bist der richtige europäische Kleinstädter. Ihr
fangt an zu weinen wie eine zimperliche Jungfer, wenn ihr irgendwo ein
paar Fensterscheiben eingeschlagen habt oder ein alter Frachtkahn
ersoffen ist. _By Jove!_ Wenn die Ameisen sich ausgerechnet da anbauen,
wo die Elefanten spazieren zu gehen pflegen, so dürfen sie sich nicht
wundern, wenn sie da eines Tages ums Leben kommen! Wo geholzt wird, da
fallen Späne! Wir in Amerika denken anders darüber, und wenn ich einmal
meinen wilden Tag habe, so kümmere ich mich den Teufel um die Menschlein
und ihre Werke!«

»Du bist allenthalben als ein übler Bursche bekannt und bringst uns alle
in Verruf, alter Freund,« sagte mißbilligend der Blizzard. »Es nimmt
noch einmal ein schlimmes Ende mit dir!«

»Nur nicht so selbstgerecht, alter Grislybär! Wo du hausest, da haben
die Menschen auch keinen Grund Halleluja zu singen!«

»Macht, daß ihr zu Ende kommt,« schimpfte der Samum, »ich habe Sehnsucht
nach der Sonne Afrikas!«

»Hört mich an, _old boys_! -- Die Menschen sind ein widerspenstiges und
freches Gezücht, besonders da drüben bei mir in den Staaten! Da rühmen
sie sich, die Naturkräfte besiegt zu haben, Meister der Welt zu sein,
diese Knirpse mit ihren Kartenhäusern, ihren blinkeblanken Spielsachen,
die auf dem Meere fahren, auf eisernen dünnen Bändern bis hoch in die
Berge hineinklettern mit ihren piepsenden und pfauchenden Wasserkochern.
Da spannen sie ihre kupfernen Spinnfäden hinaus in alle Lande, und in
letzter Zeit werden sie immer dreister und fahren hoch oben in den
Wolken mit mächtigen aufgeblasenen Würsten und schnurrenden Spindeln
umher. Zudem schießen sie mit künstlichem Blitz und Donner Eisenstücke
in die Luft. Sollen wir uns all das von diesen Ameisen gefallen lassen
und gar noch Rücksicht darauf nehmen? Sie sind unsere Feinde, unsere
Sklaven, und dabei wollen sie _uns_, die Riesen, zu Sklaven machen. Tut,
was ihr wollt! Ich für mein Teil werde diese Zwerge bekämpfen, wenn sie
meine Kreise stören!«

»Alter Bursche, du hast ihnen neulich nicht schlecht zugesetzt, als du
durch ganz Mittelamerika fuhrwerktest. Alle Zeitungen, selbst in Europa,
waren voll von den Verheerungen des Wirbelsturmes! Nun beichte, wie das
war!«

»Gut, Bruder Orkan, das will ich tun, und dann wirst du nicht mehr
weinen wegen der paar Blumentöpfe, die du hier in deinem alten
gemütlichen Europa auf die Straße geworfen hast. -- Ihr wißt, ich mache
es nicht wie ihr, ich _blase_ nicht, sondern da, wo ich am stärksten
wirken will, da _sauge_ ich! Wie ein ungeheurer Elefantenrüssel hängt
mein saugender, ständig wirbelnder Wolkentrichter aus der Höhe nieder,
und alles, was ihm in den Weg kommt, das saugt er schlürfend ein, reißt
er hoch empor, um es irgendwo wieder krachend niederzuwerfen. Was aber
nicht gutwillig mitgeht, das zerbricht meine eiserne Gewalt. Nur schmal
ist das Gebiet meiner Macht, aber dort bin ich auch ein unerbittlicher
Herrscher, der Menschenwerk nicht schont. Die Spur meines Weges ist
sichtbar wie die einer Sense, die eine tiefe, kahle Furche durch das
Kornfeld zog.

Von den Höhen des Felsengebirges, im gesegneten Lande Colorado brach ich
auf. Von Gipfeln, die im ewigen Schnee wie Silber glänzen, stieg ich an
einem heißen Maitage nieder. Langsam zunächst schraubte ich mich durch
die Felsentäler. Hinter mir war der Himmel wie eine Mauer, blauschwarz
und drohend. Die wilden Bergmassen des Felsengebirges boten mir trotzig
die Stirne, suchten meine Wucht zu brechen. Aber meine Kraft wuchs von
Minute zu Minute. Mit der vierfachen Geschwindigkeit eines Schnellzuges
rannte ich gegen die steinernen Wände. Jahrhunderte alte Bäume, dick wie
Tempelsäulen, zersplitterte mein Zorn. Ein Eisenbahnzug, aus der
Kansasebene emporkeuchend zu den Felsen, kam mir in den Weg. Er fauchte
an steiler Wand mit seinen zwei Riesenlokomotiven immer weiter bergan,
unter sich Abgründe mit rauschenden Bergwassern, die über gefallene
Riesenbäume hinwegtobten, die schon zu Zeiten hier lagen, als die
Menschen noch keine Eisenbahnen kannten. Ich rannte gegen das rollende
Spielzeug an, so daß es zu stürzen drohte. Es kreischte wild auf. Die
Bergmassen warfen seinen Schrei tausendfach wieder, aber er ging unter
in dem Dröhnen und Brausen der Luftmassen, die ich durch die
Felsenschluchten schleuderte. Ich duckte mich nieder zu neuem Sprunge,
rannte aufs neue gegen die rollende Schlange. Die Fenster der Wagen
zersplitterten. Da und dort flog ein Wagendach ab und segelte wie ein
Fetzen Papier zur Tiefe. Dann trat der Zug in einen Tunnel ein. Er
hielt! Er gab den Kampf mit mir auf. Nur die letzten Wagen der Schlange
schauten noch aus dem dunklen Felsenloch hervor. Ich hatte nicht Zeit,
ich mußte weiter, aber noch einmal sprang ich ihn an. Fünfmal schneller
als ein Schnellzug warf ich meine breiten Flügel gegen das
Menschenspielwerk. Meine Kraft war so stark, daß ich auf jeden
Quadratmeter mit einer Wucht von fünfzehn Zentnern drückte. -- Rasselnd
wankten die beiden letzten Wagen des Zuges, vollgefüllt mit Gepäck und
Post. Sie stürzten, die eisernen Verbindungen rissen, sie kollerten von
dem glänzenden Schienenstrang herunter, über die Felsenwand hinweg in
die finstere Schlucht. Wie Zündholzschachteln sah ich sie tief unten
verschwinden.

Felsblöcke schleuderte ich hinterher und haushohe Tannen. Dann hatte ich
den Rand des Gebirges erreicht und stieg nieder in die Ebene. Düster und
drohend stand mein blauschwarzes Wolkenheer ringsum und machte den Tag
zur Nacht. Wie einen Elefantenrüssel steckte ich meinen dunklen, alles
zerbrechenden, alles aufsaugenden, sich ständig in wildem Wirbel
drehenden Lufttrichter nieder zur Erde. Vor mir lagen die großen
Viehweiden von Texas. Büffelherden flohen vor meinem alles ergreifenden
Arm, verwegene Reiter auf schnellen Pferden jagten über die Grassteppen,
um mir zu entkommen. Hier aber konnte ich mit voller Kraft, ungehindert
durch Felsenwände, dahinschwirren. Ein Wäldchen stellte sich mir
entgegen, ich knickte es wie ein Elefant die Gräser, die seinen Lauf
hemmen wollen. Ich schraubte mit meinem Rüssel hundertjährige Bäume hoch
in die Luft, trug sie mit mir, warf sie wie Besen mitten in die
enteilenden Viehherden hinein. Ein Rancho stand da drunten, ein
hölzernes, einstöckiges Landhaus mit Garten darum. In ihm wohnten die
Besitzer der Viehherden und ihre Leute. Ich nahm eine Tanne, warf sie
wie einen Speer durch die Bretterwand. Die kleinen Menschlein, die sich
immer rühmen, daß sie die Naturkräfte beherrschen, lagen blaß und
zitternd am Boden. Da wandelte mich die Lust an, ihnen zu zeigen, daß
die Naturkräfte noch immer Selbstherrscher sind auf Erden. Ich rüttelte
und schüttelte ihr Wohnkästchen wie eine Maikäferschachtel, riß es mit
einem ganzen Stück Gartenboden ab, mein saugender Rüssel faßte es, hob
es empor und setzte es einige hundert Meter weiter in einem Wäldchen
wieder nieder, wobei allerdings die ganze Sache ein wenig durcheinander
kam[7]. Ich tat es so sanft wie möglich, denn es lag mir nicht daran,
die Menschlein in der Holzkiste zu töten, sondern ihnen eine Lehre zu
geben. Ich glaube, sie haben sich doch etwas gewundert, die klugen
Ameisen!«

»Allah ist groß, und seine Werke rühmen Himmel und Erde!« sagte der
Samum. »Der Bruder aus Amerika kann Märchen erzählen wie ein Derwisch!
Ein ganzes Haus durch die Luft tragen, das ist mehr, als die Propheten
verkünden!«

»Tausend Donner!« schrie der Tornado, »was sagt diese vertrocknete
Wüstenmumie? Er hält meinen Bericht für Humbug!! _By Jove_, da soll doch
gleich ...«

»Nur Ruhe!« beschwichtigte der Blizzard, »was uns der verwegene Bursche
hier erzählt, ist leider alles richtig! Alle Zeitungen der Menschen
haben alles Unheil, was er damals anrichtete, genau notiert, und die
Gelehrten haben dicke Bücher darüber geschrieben. Sie nennen jene Taten
den Wirbelsturm von Galveston.«

»Ja, _old boys_! Galveston! Das war es! Das ist die große Stadt am Ufer
der mexikanischen Seen, über die ich hinfuhr, als die Wälder und Weiden
von Texas hinter mir lagen. Ein Wagen mit einem Ochsengespann kam mir
entgegen. Ich hob die ganze zappelnde Gesellschaft empor und trug sie
von dannen. Gleich am Eingang der Stadt stand wieder so ein niedliches
Spielzeug der Menschen, ein Haus mit vielen schnurrenden Rädern drin,
die alle getrieben wurden durch einen Kessel, in dem Wasser kochte.
Unter dem Kessel war Feuer, und ein hoher steinerner Turm stand draußen,
der qualmte wie eine Pfeife. Ich gab ihm einen Rippenstoß, da fiel er
um, brach das Genick. Dann riß ich den Wasserkessel aus der Wand und
legte ihn draußen auf die Wiese. Dann erst ging ich in die Stadt und
habe da noch manchen kleinen Scherz vollführt. Ein großer Platz war da
inmitten der Häuser, und auf dem Platz stand ein mächtiges eisernes Ding
mit hellen Lichtern daran, die den Platz beleuchteten. Ich habe mir
redliche Mühe gegeben, dem alten eisernen Burschen zu einer Luftfahrt zu
verhelfen, aber sie hatten ihn an schweren Steinplatten tief in den
Boden eingeschraubt. Da er absolut nicht mitwollte, ergriff ich seine
eiserne Säule mit meinem Rüssel und drehte sie sechsmal um und um, so
daß ein Korkenzieher daraus wurde. Er steht noch so da. Die Menschen
bewahren ihn als Andenken an meinen Einzug in die Stadt. Kandelaber
heißt der verdrehte eiserne Kerl! -- -- Ich hob Türen und Fenster aus,
deckte Dächer ab, zerriß tausend kupferne Spinnfäden, die die Leute
überall auf den Dächern ausgespannt hatten, und spielte im Hafen, wo
viele Schiffe lagen, zum Tanz auf, bis sie der Teufel geholt hatte.

Weit draußen auf See kam ich erst wieder etwas zur Ruhe, und gegen Abend
schlief ich ein! Tausend Donner, es war ein arbeitsreicher Tag!«

Die Brüder Sturm schwiegen! Die Heldentaten des Amerikaners waren doch
etwas zu stark. Sie erkannten, daß es ein gefährlicher Bursche war, und
hüteten sich, mit ihm in Streit zu kommen. Nur der alte Blizzard
ergänzte seine Erzählung und sagte: »Du hast vergessen zu sagen, daß
deine Heldentaten bei Galveston fünftausend Menschen das Leben
kosteten.«

»_By Jove_, war es so? Ich habe sie nicht gezählt! Aber in ihren Kriegen
bringen sie sich ja selbst zu Millionen um. Mit Absicht tat ich es
nicht. Ich blies einmal die Erde rein von allen faulenden Düften und
tötete ungezählte Mengen von schädlichen Insekten und Bazillen, und das
war für die Menschen auch etwas wert, denn es schützte sie vor
Krankheiten und gab ihnen eine gute Ernte. -- Nun aber erzähle du, alter
Eisbart, der du immer nur andere auszankst, damit auch wir dir die
Wahrheit geigen können!«

Der Blizzard strich seinen langen, vereisten Bart, räusperte sich und
begann: »Ich bin alt und grämlich geworden. Mir fehlt die Glut des
Samums, die Frische des Orkans, die Kraft des Tornados. Ich trage ein
Totenkleid und breite es, wo ich wandle, über die Erde. In blendendes
Weiß hülle ich die Welt, und über Nacht verwandle ich die bunten Bilder,
die der Maler Herbst mit vieler Mühe hinzaubert, in Schwarz-Weiß-Kunst.
Ich bin friedlich, und doch muß auch ich Menschen und Tieren und
Pflanzen weh tun! >Der weiße Tod< nennen sie mich.

An einem Novembertage zog ich, als es mir auf den Höhen zu kalt wurde,
schwer bepackt mit ungeheuren Schneewuchten durch Britisch-Kolumbien
nieder zur Ebene. Als ich meine Schwingen ausbreitete, war der Himmel
den Menschen verfinstert in eintönigem Grau, und am hellen Tage konnte
man keine hundert Schritte weit sehen. Überall brannten die Menschen
ihre Lichter an. Ich schüttelte meinen grauen Wolkenmantel, und ein
Flockengestiebe begann, wie es die ältesten Leute der Gegend sich nicht
zu erinnern wußten. In wenigen Minuten war die weite Welt in meine
glitzernden Schleier von kristallenen Sternen eingehüllt. Der Schnee
fiel so dicht, so schnell und schwer, daß niemand mehr Weg und Steg
fand, meterhoch alles verweht war. Er fiel so dicht, daß es schien, als
hüllte sich die Erde in eine weiße Dampfwolke. Niemand sah mehr etwas!
Er sah den Baum nicht, der dicht vor seinen Augen stand, das Haus nicht,
gegen das er im nächsten Augenblick anrannte.

Ein Viertelstündchen nur, und die Welt war nicht mehr wieder zu
erkennen; kein Mensch konnte mehr laufen, kein Wagen mehr fahren.
Unübersteigbare Schneemauern wehte ich zusammen. In den Straßen der
Städte stockte alles Leben. Eiskalt pfiff ich daher und warf meine
spitzen Eisnadelgeschosse zu Millionen dem Wanderer ins Gesicht. Die
Straßen verödeten. Die Häuser schneiten ein. Die schwere Last der
Schneewuchten zerriß das Spinnennetz, mit dem die Menschen von Haus zu
Haus sprechen; Dächer brachen ein, und von den schiefen Flächen und
Gesimsen stürzten Schneeberge gewuchtig in die Tiefe.

Die Dörfer waren eingeschneit; bis zu den Dachsparren lagen die niederen
Hütten im weißen Pulverschnee. Die Menschlein versuchten sich
herauszuschaufeln, aber mein eisiger Atem, der Anprall meiner spitzen
Nadeln trieb sie zurück.

Eisenbahnzüge tobten mit heißer Wut, mit wildem Kreischen und
Rädergerassel gegen mich an. Sie keuchten und schossen heiße
Dampfstrahlen gegen mich. Ruhig drückte meine Hand die Spielwerke fest
im glitzernden, weißen Meer. Da kreischten sie ihre Hilferufe in die
Ferne, und andere Spielzeuge kamen, sie zu befreien! Es waren schnurrige
Dinger. Sie sausten auf den Schienen dahin, stürzten sich mutig
vorwärts. Ihr Dampf trieb große Flügelräder, die den Schnee in weitem
Bogen seitwärts warfen. Sie pusteten und stöhnten, erlahmten, fuhren
aufs neue wütend an. Ich ließ sie gewähren, bis sie ermattet und
keuchend stillstanden und im weichen Schnee eingegraben waren, den sie
vom Schienenweg räumen wollten, um den langen Zügen da draußen den Weg
zu ebnen.

Alles stockte, alles erlahmte, nichts kam mehr vorwärts in dem
wimmelnden Ameisengetriebe der Städte, und die Menschen waren
verzweifelt über ihre Ohnmacht. Niemand kam in die Dörfer hinein,
niemand heraus. Unablässig warf ich meine Schneewuchten nieder. Die
Eisenbahnzüge staken ringsum fest in dem weißen Meer. Die Postwagen mit
den Reisenden, die mitten in den stillen Bergtälern von mir überrascht
wurden, versanken bis über die Achsen in den alles hemmenden Massen, und
in ihnen saßen die Leute frosterstarrt als meine Gefangenen. Draußen auf
der See verwandelte ich die Schiffe in abenteuerliche Gestalten. Ich
bedeckte alle ihre Segel, ihre Masten und Rahen, ihre Geschütze und
Winden, ihre Kommandobrücken, ihr Seilwerk mit ungeheuren Schneemassen,
die langsam vereisten. Hilflos trieben sie einher, wie Schmetterlinge,
die in ein Honigglas gefallen sind.

Die Hochwälder ächzten unter der Last der Schneewuchten, die die Wipfel
trugen. Die Äste waren im scharfen Frost glasiert mit dicken
Schneekrusten. Sie verloren ihre Biegsamkeit, und wenn ich durch die
Forsten sauste, zerbrachen Riesenbäume, gebeugt von der Last, wie
Glasstangen. Ganze Bergwälder zerstörte der Schnee- und Windbruch, und
es ging ein Klagen und Wimmern durch Tann und Eichforst.

Aber ich bin ein alter Mann! Nicht lange währt meine Kraft. Nach wenigen
Stunden lag ich selbst ermattet am Rande der Hudson-Bay. Die Welt hatte
ich in blendendes Weiß verwandelt, mein Leichentuch deckte die Erde,
doch die Sonne brach durch das Gewölk, und schon zerfraß sie die
kunstvollen Eis- und Schneebauten, löste das Leben aus der Erstarrung.«

Der Alte schwieg.

»Brüder,« sagte der Orkan, »wir haben uns nichts vorzuwerfen! Jeder von
uns tat, was er mußte. Die Taube kann nichts für ihre Sanftmut, der
Tiger nichts für seine Wildheit. Der Herr der Welt hat uns so erschaffen
wie wir sind!«

Der Samum und der Tornado stimmten ihm bei. »Die Sitzung der Stürme in
der Höhle des Demawend ist beendet,« sagte der alte Blizzard. »Laßt uns
nun von hinnen ziehen, jeder zu seinem Werk. Ich werde dem alten
Wettergott alles getreulich berichten! Und nun laßt uns scheiden bis zum
Wiedersehen am nächsten Familientage übers Jahr!«

Die Stürme erhoben sich. Sie breiteten ihre Schwingen und machten sich
reisefertig.

»Allah sei Preis, daß ich aus eurer kalten Gegenwart erlöst werde!«
sagte der Samum. Er kroch hinaus ins Freie und verschwand, Wärme um sich
breitend, gen Süden.

»Lebe wohl, Wüstensandfaß!« schrie ihm der Orkan nach und brauste mit
rollendem Donner und Regengüssen nach Westen zu, dem Lande Europa
entgegen.

»Wir haben ein gutes Stück Weges gemeinsam, Eisbart,« brüllte der
Tornado. »Auf zum Dollarlande!«

»Du gehst mir zu schnell,« winkte der Blizzard ab, »und außerdem ginge
es den Menschen übel, wenn wir beide gleichzeitig über ihr Reich
hinwegzögen. Geh' nur voran, wilder Bursche!«

Da heulte der Amerikaner mit Getöse davon, und noch von weitem hörte man
ihn brüllen: »Lebe wohl, alter Griesgram und Nußknacker!«

Dieser jedoch zögerte noch ein Weilchen, dann aber flog er in großen
Höhen bedächtig seiner fernen Heimat zu, und Schneesternchen rieselten
nieder auf die wilden Felsengipfel des Kaukasus.

Die Menschen drunten hörten stundenlang ein wunderliches Brausen hoch
droben, wo die Adler kreisen: das Wanderlied der Stürme.

Seht, Kinder,» sagte der alte Ulebuhle, «das war die Geschichte von den
Stürmen! Hört ihr, wie der Orkan auf den Schornsteinorgeln spielt? Zieht
die Mützen über die Ohren und knöpft die Mäntel zu, und dann trabt heim.
Liegt ihr dann im warmen Federbett und hört den Wind an den Fensterladen
winseln, so gedenkt im Herzen jener, die da draußen in der weiten Welt,
im Ozean, in Felsenbergen, im Sandmeer der Wüste ankämpfen gegen die
wilden Burschen aus der Höhle von Demawend.»




                          Die sonderbare Welt


Das war einmal ein wirklich schöner Abend. Die Linden blühten in
Ulebuhles Garten, und es war warm und still.

«Seht, wie klar die Sterne leuchten!» sagte der Alte. «Laßt uns das
große Fernrohr aufbauen und sie betrachten.»

Da bauten wir den Himmels-Operngucker unter den Bäumen auf, und der alte
Ulebuhle zeigte uns den Mond und die Gestirne.

O, was gibt es doch so viele Welten draußen im Sternenraum! Sonnen und
Erden und Kometen die Menge. Ja, wer hätte es gedacht, daß die Erde nur
wie ein Apfel an einem mächtigen Baum ist, und daß ringsum noch viele
tausend Äpfel hängen. Aber mit dem Fernrohr sieht man es ganz genau,
Berge und Täler, Wolken und Länder und Meere auf anderen Sternen.

«Da schaut einmal schnell hinein in das Glas,» rief der Alte. «Seht ihr
die kleine mattschimmernde Kugel schweben? Das ist eine ganz, ganz ferne
Erde. _Uranus_ nennt man sie. Ach sie ist so fern, man kann sie kaum
noch sehen, und bitter kalt ist es da, denn die Sonne kann kaum noch mit
ihren Strahlen hinlangen, so fern ist das alles. Ja, das ist eine
sonderbare Welt, und es läßt sich eine schnurrige Geschichte von ihr
erzählen. Kommt in die grünumwachsene Laube, wo das Mondlicht so eigen
flimmert, da läßt es sich gut plaudern von der sonderbaren Welt des
Uranus, die eine ferne Erde ist.

Seht, da saß ein alter Professor und Sterngucker an seinem mächtigen
Fernrohr und schaute hinein in das Sterngewimmel. Sonnen sah er schweben
und Kometen in weiter Ferne. Aber das Schönste waren doch die
Erdensterne, die Planeten, denn da sah man Länder und Meere und Schnee
und Wolken.

»Ach ja,« seufzte der alte Professor, »wenn man doch einmal wirklich da
hinauf spazieren könnte, denn mit dem Fernrohr sieht man noch immer
nicht genug. Eines weiß ich! Komme ich wirklich einmal in den Himmel,
dann bitte ich den Herrn der Welt, zunächst einmal eine Reise nach den
fernen Erden machen zu dürfen.«

Ja, so dachte der alte Sterngucker und grübelte so lange, bis er in
seinem tiefen Lederstuhl einschlief, denn es war Mitternacht vorbei, und
der Holunder blühte und duftete so stark, daß man ganz betäubt wurde.

Auf einmal ging die Tür des Sternwartenturmes auf, und der Tod trat
herein. Er trug einen dunklen Mantel um sein bleiches Klappergebein, und
auf seinem Schädel saß ein breiter schwarzer Schlapphut. Er trat auf den
Sterngucker zu und sagte: »Lieber Herr Professor, Ihre Uhr ist
abgelaufen. Wenn es Ihnen weiter keine Unbequemlichkeiten macht, so
verlassen wir jetzt diese Welt und beziehen eine andere. Sie haben sich
die Sterne siebzig Jahre von unten angesehen, nun werden Sie die
Geschichte droben viel besser betrachten können, und die Erde dazu, denn
die sieht man droben im Himmel auch als fernen Stern dahinschweben!«

Der alte Christian, des Professors Diener, der schon dreißig Jahre bei
ihm war, erwachte plötzlich, denn er war in seinem Sessel ein wenig
eingenickt. Er rieb sich verwundert die Augen. Sapperment, da stand der
Tod bei seinem Herrn und holte ihn ab zur letzten Reise.

»Christian,« sagte der Professor, »was willst du hier allein ohne mich
auf der Erde? Wir gehören zusammen, also komm mit!«

»Ja,« meinte der alte Diener, »das ist wohl das Beste, denn was wollen
der Herr Professor ohne mich im Himmel anfangen? Herr Professor haben
ein schlechtes Gedächtnis, verlegen fortwährend Brille und
Schnupftabaksdose und Taschentuch und Schirm, vergessen Hut und Mantel
beim Spazierengehen, da ist es besser, ich komme mit. Und was tue ich
auch allein auf der Welt!«

»Mir ist es recht!« meinte der Tod. »Die Uhr des alten Christian tickt
auch nur noch schwach. Da ist es ein Abmachen!«

»Gut,« sagte der Professor, erhob sich aus seinem tiefen Stuhle, nahm
noch schnell eine Prise und schritt zur Tür.

»Halt!« rief Christian, »vergessen Sie Ihren Schirm nicht, denn nun
kriegen wir keinen wieder.«

Da schritten sie denn mit dem Tode davon, und in Sturmessausen ging es
hinauf zum Himmel. Es dauerte gar nicht lange, so standen sie droben am
Himmelstor, und Petrus kam, sie zu begrüßen. Der Tod aber machte seine
Verbeugung und ging davon, denn er hatte alle Hände voll zu tun.

»Ah, Sie sind der berühmte Professor Quadratwurzel,« sagte Petrus und
strich seinen weißen Bart.

»Nein, nein,« entgegnete der Professor, »so heiße ich nicht, ich habe
nur ein dickes Buch über Quadratwurzeln geschrieben!«

»So, so!« meinte Petrus, »das habe ich verwechselt! Aber nun kommen Sie,
ich werde Ihnen einen guten Platz am Himmelsfenster aussuchen, da können
Sie den ganzen Tag die Sterne sehen. Zu den anderen Professoren dürfen
Sie nicht; jeder von ihnen sitzt allein, denn sonst streiten sie sich
von früh bis spät, und Streit darf nicht sein im Himmel. Hier gleich
links, Zimmer Nr. 3, gibt es die Flügel, denn Flügel müssen Sie haben im
Himmel, sonst sind Sie nur ein _halber_ Engel.«

»Ach,« seufzte der Professor, »ich möchte noch gar nicht in den Himmel!
Kann ich den lieben Gott nicht persönlich sprechen? Ich wollte ihm eine
Bitte vortragen!«

»Um Himmels willen,« rief Petrus, »das geht nicht! Erstens hat Gott
Vater alle Hände voll zu tun, und dann ist er auf die Professoren nicht
gut zu sprechen, weil sie beinahe alles besser wissen wollen als er
selber! Aber tragen Sie mir nur Ihre Bitte vor; vielleicht kann ich sie
erfüllen.«

»Ja,« sagte der Professor, »mein ganzes Leben lang habe ich auf der Erde
gesessen und habe mit dem Fernrohr nach anderen Erden geschaut, nun
möchte ich doch gar zu gern einmal so eine ferne Erde besuchen. Und
darum wollte ich den Herrgott bitten!«

»Und welche Erde soll das sein?«

»Nun, da ich auf der Erde gelebt habe, die dicht bei der Sonne schwebt,
so möchte ich mal auf einem von der Sonne fernen Erdenstern Umschau
halten. Vielleicht auf dem _Uranus_!«

»Na,« meinte Petrus, »eine schöne Gegend ist das nicht, und Sie werden
schön frieren, aber mir soll es recht sein, denn des Menschen Wille ist
sein Himmelreich! -- Eins aber sage ich Ihnen: Länger als vier Wochen
dürfen Sie nicht bleiben, denn Ihre Uhr ist nun mal abgelaufen, und
Menschen mit abgelaufenen Uhren gehören in den Himmel oder in die Hölle.
Das hat der liebe Gott so angeordnet, und es läßt sich nicht ändern! Und
dieser Mann? Will er auch nach dem Uranus?«

»Ich ginge viel lieber in den warmen Himmel und sähe mir den ganzen
Krempel aus der Ferne an,« sagte der alte Christian, »aber mein Herr hat
es anders bestimmt, und da kann der Christian nicht fortlaufen!«

»Gut, so wartet draußen vor dem Tor. Gleich wird ein Sternenbote euch
von hinnen tragen, nach jener Welt, die ihr erwählt. In vier Wochen holt
er euch wieder ab! -- Auf Wiedersehen! -- Halt! -- Vergessen Sie Ihren
Schirm nicht!«

Petrus verschwand.

Plötzlich fühlte sich der Professor von unsichtbaren Händen
emporgehoben. Es rauschte wie schwerer Flügelschlag, und fort ging es
wie Sturmessausen. Dem Professor vergingen die Sinne, er sah und hörte
nichts, und als er wieder zu sich kam, fühlte er Boden unter den Füßen,
und eine gewaltige, mit Posaunenton rufende Stimme sagte: »Sie sind auf
dem Uranus, wie es Ihr Wille war. Hier ist Ihr Schirm. Leben Sie wohl!«

Da rauschte es wieder in der Luft, und der Unsichtbare enteilte.

                   *       *       *       *       *

Das erste, was der Professor spürte, war eine entsetzliche Kälte. Sie
war so stark, daß im Augenblick der Hauch am Munde zu dicken Eiszapfen
gefror und das Blut in den Adern zu erstarren drohte. Es blieb dem
Sterngucker nichts anderes übrig, als schnell zu laufen, um sich warm zu
machen. Aber er kam kaum vorwärts. Als ob er plötzlich aus Blei geworden
wäre, so schwer war sein Körper, und trotz aller Anstrengung kam er nur
ganz langsam weiter.

Der alte Christian trottete mühsam mit dem blaugrauen Riesenschirm
hinterher.

»Ach du lieber Himmel, Herr Professor,« seufzte er endlich und blieb
stehen, »das ist ja eine jammervolle Welt! Diese Kälte, diese Schwere in
den Gliedern, da haben wir richtig den Himmel mit der Hölle vertauscht!«

»Christian, maule nicht schon gleich zu Anfang! Der Uranus ist
neunzehnmal weiter von der Sonne entfernt, und da muß es natürlich viel
kälter sein als auf der Erde. Das habe ich vorher gewußt. Außerdem ist
diese Weltkugel beinahe hundertmal größer als die Erde und zieht alle
Gegenstände darum viel, viel kräftiger an. Das ist ganz ähnlich wie bei
einem großen und einem kleinen Magneten. Darum sind wir hier so schwer.
Das ist doch ganz in der Ordnung!«

»Schöne Ordnung,« brummte Christian, »wenn einem die Nase abfriert und
die Beine am Boden kleben!«

Ringsum war pechschwarze Nacht, und die Sterne flimmerten droben am
Himmel. Nirgends sah man Baum und Strauch, keine Spur einer menschlichen
Niederlassung, auch keinen Lichtschimmer in der Ferne, der sie verraten
hätte. Die Welt des Uranus schien ausgestorben, unbewohnt. Rings türmte
sich in gewaltigen Massen blankes Eis. Der eigentliche Boden war gar
nicht zu sehen. Bei der furchtbaren, immer auf dieser Welt herrschenden
Kälte konnte ja Wasser überhaupt nicht in flüssiger Form existieren.

Plötzlich wurde es unten am Horizont heller, und es dauerte nicht lange,
so sah man einen sehr bleichen, nur ganz schwach leuchtenden Mond
emporsteigen.

»Du lieber Gott,« schimpfte Christian, »auf dieser elenden Erde taugt
selbst der Mond nichts. Er ist so schwach wie eine Ölfunzel.«

»Sieh,« rief der Professor, »da kommt noch ein zweiter Mond herauf.«

»Ja, und da ein dritter, noch kleinerer. Hier scheinen die Monde im
Dutzend billiger zu sein!«

»Vier Monde hat der Uranus. Man kann sie von der Erde aus in einem
großen Fernrohr deutlich sehen.«

»Aber sie taugen alle miteinander nichts,« schimpfte der alte Diener.

»Sei still, Dummkopf!« schrie erbost der gelehrte Mann. »Erstens sind
sie viel kleiner als der Mond der Erde, und zweitens erleuchtet sie die
ferne Sonne so wenig, daß sie nur ein schwaches Licht widerstrahlen. Es
kann doch nicht alles hier so sein wie auf der Erde, Nörgelpeter. Sei
froh, daß du anschaun kannst, was vordem nie ein Mensch gesehen!«

»Endlich ist es ein wenig heller geworden, im Licht der drei Tranlampen
da oben, aber man sieht nichts als Eis und keine Spur von Menschen. Es
ist Zeit, daß wir ins Warme kommen.«

Der Professor schwieg. Er war mit seinen Gedanken beschäftigt. Ja, der
Uranus schien unbewohnt. -- Sie wanderten noch ein gutes Stück, mühsam
und ganz ermattet, da hielt der Gelehrte plötzlich inne. Nicht weit
entfernt schimmerte aus dem Boden ein Lichtstrahl hervor. Sicher, da war
eine Lampe unter der Erde, oder vielmehr unter dem Eise.

Auch der alte Diener sah es, und mit letzter Kraft humpelten die beiden
Wanderer darauf zu. Richtig, da war eine Öffnung im Boden, so groß wie
ein Brunnenschacht, und ein Gitterwerk verschloß sie. Man sah eine
Treppe aus glänzendem Metall, die in die Tiefe führte, und Lampen
beleuchteten den Weg hinunter in das Innere des Schachtes.

»Gott sei Dank!« rief Christian. »Wo Lampen sind und eiserne Treppen, da
sind auch vernünftige Leute; vielleicht vernünftiger als auf Erden,«
fügte er mit einem Blick auf seinen Herrn hinzu, aber der untersuchte
schon das Gitter, um hineinzugelangen.

»Es läßt sich nur von innen öffnen,« sagte er, »es muß hochgeklappt
werden, denn es soll wohl das Hineinfallen von Steinen oder von Eis in
den Schacht verhindern. Aber ich wette drei Jahre von deinem Leben, daß
irgendein Signal vorhanden ist, das drunten in der Tiefe anzeigt, daß
jemand hinein will, denn die Uranusmenschen werden doch wohl mal aus
ihren unterirdischen Löchern hervorkriechen!«

»Ganz meine Meinung,« sagte Christian. »Aber wenn wir nicht bald
hineinkommen, sind wir erfroren. Ich kann kein Glied mehr rühren.
Indessen schnuppert meine Nase warme Luft, die aus dem Schacht
herausdringt. Himmel, was ist es kalt auf diesem vermaledeiten Urian!«

»Halt!« schrie plötzlich der Professor, »ich hab's. Da, diese
Metallplatte; ich glaube, man muß mit dem Fuß darauftreten. Das wird das
Signal sein, die Gitter zu öffnen.«

»Die Platte hat eine schnurrige Form. Wenn die Menschen hier solche Füße
haben, dann müssen es Elefanten sein, mit Entenbeinen!«

Aber schon hatte der Professor die Fußplatte mit großer Anstrengung
niedergedrückt. Freilich, er mußte das ganze Gewicht seines Körpers
wirken lassen, ehe sie sich bewegte. Da gab es drunten irgendwo in der
Tiefe ein merkwürdiges Signal. Es klang wie ein Nebelhorn. Bald darauf
ertönte dasselbe Signal nahe dem Schachteingang.

»Ich bin gespannt wie ein Trommelfell und wie der Hahn einer
Reiterpistole,« sagte Christian und kraute sich hinter die Ohren. »Wenn
es man gut abgeht! Wir haben keine Waffe als Ihren Regenschirm, Herr
Professor, und damit kann man keine Schlacht gewinnen. Am besten ist es,
wir rufen schleunigst den Flügel-Heinrich wieder, der uns hierher
gebracht hat. Ich wollte, ich säße bei Herrn Abraham im Himmel, oder
wenigstens auf unserer Sternwarte. Eben fällt mir ein, daß ich vergessen
habe, die Blumentöpfe vor dem Fenster zu begießen!«

»Ruhig, alter Maulwurf!« wisperte der Professor, »da kommt einer
heraufgekrochen!«

Ja, man sah eine dunkle Gestalt aus der Tiefe aufsteigen, aber noch war
nichts Näheres zu erkennen. Je weiter sie indessen nach oben kam, ins
helle Licht, um so länger wurden die Gesichter der beiden Erdensöhne,
und Christian zitterte wie ein Pappelzweig im Winde.

»Heiliger Chinchinchindra von Kalkutta,« flüsterte er, und seine Haare
standen wie Zündhölzer einzeln kerzengrade in die Höhe, »welch ein
Monstrum kommt da angekrochen. Es ist eine ganze Menagerie zu einem
einzigen Schnedderengteng zusammengekocht. Ich wollte, ich läge zwölf
Klafter tief unter der Erde!«

»Ei, ei, ei,« wisperte auch der Professor, »ein erschröcklich Exemplar
von Menschenbruder im Sternenraum!«

Der Uranusbewohner war oben angelangt. Man sah ihn jetzt in voller
Deutlichkeit.

Er war kleiner als ein Mensch. Kaum dreiviertel so groß. Sein Körper
glich einer Kugel mit Armen und Beinen. Gewaltige Fettmassen polsterten
das ganze Wesen aus. Die Beine waren dick wie Elefantenbeine, die Füße
klumpig und unförmig, unten platt wie Teller oder Bleiplatten. Auf ihnen
saß wie eine Kugel der ungegliederte Körper. Seitwärts ragten unförmig
dick zwei Arme hervor. Die Hände hatten acht Finger, durch Schwimmhäute
verbunden, und vorn hatten sie kleine Tellerchen, wie man sie bei
manchen Fröschen findet.

Auf dem Rumpf saß -- ohne Hals -- ein merkwürdiger Kopf. Er war fast so
groß wie der Leib. Seine Farbe war schwärzlich-grau, wie die eines
Seehundes. Vor allem fielen die riesenhaften Augen auf. Sie waren so
groß wie Obsttellerchen und tiefdunkel. Ohren waren nicht zu sehen am
Kopfe, wohl aber ein rüsselartiger Mund. Kein Haar sproßte auf dem Kopfe
oder im Gesicht. Die Haut glänzte wie die eines Seehundes.

Entsetzt traten die beiden Erdmenschen zurück, aber auch der
Uranusbewohner schien erschreckt, und seltsame Laute, wie dumpfe
Klarinettentöne, kamen aus seinem Rüsselmunde.

So blickten sich die Bewohner zweier verschiedener Erden lange erstaunt
und furchtsam an. Dem Uranusmann erschienen die Fremden genau so häßlich
und mißgestaltet wie er ihnen. Er trat fortwährend kräftig auf die
Signalplatte, und hastig kamen von unten immer neue Gestalten gleicher
Art herauf, bis der ganze Gitterraum von ihnen erfüllt war. Alle standen
starr und aufs höchste verwundert.

Da trat aus dem Kreise einer hervor. Auf seiner Stirn glänzte ein
blanker Stein wie ein Diamant. Er beleuchtete die Fremdlinge mit einer
hellen Lampe und sprach mit eigenartiger, melodischer Stimme auf sie
ein. Natürlich verstanden sie nicht, was er sagte.

Aber der Professor griff mit den Händen das Eis an, schüttelte sich vor
Kälte und zeigte abwärts, in die Tiefe des warmen Schachtes. Und die
Uranusmänner, die selbst unter der Kälte hier oben litten, verstanden
sein Begehren. Ihr Führer öffnete das Gitter, und die ganze
Gesellschaft, die Erdbewohner mit sich führend, stieg abwärts, hinein in
die Eingeweide der Uranus-Welt. Und je mehr man in die Tiefe kam, um so
wärmer wurde es. Mit Staunen sahen die Reisenden, daß sich hier eine
ungeheure unterirdische Welt auftat. Es sah aus wie in einem großen
Dachsbau, in dessen einzelnen Gängen Bienenwaben stehen. In mehreren
Etagen übereinander zog sich ein Netz von unterirdischen Straßen hin
durch das Gestein, und die Häuser oder vielmehr die Wohnungen waren zu
beiden Seiten in die Felswände eingegraben. Es wimmelte überall von
Uranusmenschen wie in einem Bienenstock von Bienen, und die in die
Felswände gehauenen Wohnungen glichen wirklich Bienenstöcken mit
Hunderttausenden von Zellen.

Ein merkwürdiges künstliches Licht beleuchtete die Straßen, die freilich
nur eng und niedrig waren. Es gab aber auch solche, in denen unablässig
kleine flinke Bahnen fast geräuschlos dahinglitten. Die Luft war gut
hier unten und alles äußerst reinlich gehalten.

All diese Beobachtungen konnten die beiden Fremden freilich erst nach
und nach machen. Zunächst brachte man sie durch den nur engen und selten
benutzten Schacht bis zur nächsten Straßenetage und schob sie sofort in
einen der flinken Bahnwagen. Freilich, sie mußten sich an die Erde
setzen, denn für so große Wesen war die Uranuswelt nicht eingerichtet:
keinen sah der Professor, der größer war als auf Erden ein sechsjähriges
Kind, aber ihre Kraft übertraf ganz sicher die des kräftigsten Menschen.

Der Wagen glitt schnell durch die lange Gasse, blieb an ihrem Ende
stehen und senkte sich langsam, wie ein Fahrstuhl, in die Tiefe. Man
fuhr an verschiedenen Straßenetagen vorbei, und in einigen hundert
Metern Tiefe bog die Bahn auf Befehl des Mannes mit dem glänzenden Stein
auf der Stirn in eine Straße ein. Sie war breiter als die anderen und
die Felswände reich verziert und mit seltsamen Zeichen bedeckt. Vor
einem besonders prächtig geschmückten, hell beleuchteten Teil der
Felsstraße hielt der Wagen. Viele Uranusmenschen liefen herbei, und als
der Professor und sein Diener dem Gefährt entstiegen, erhob sich ein
allgemeines Staunen und ein seltsames Durcheinanderschnattern von
Klarinettentönen. Da sahen die Reisenden auch die ersten Frauen. Sie
waren noch kleiner als die Männer, noch runder, und in seltsam
glitzernde Gewänder gehüllt, die den Eindruck machten, als seien sie aus
bunten Glasfäden gewebt. Sie fuhren entsetzt und schnurrige Laute aus
ihren Rüsseln hervorstoßend zurück, als sie die schrecklichen
Mißgestalten der Menschen sahen.

»Ach du lieber Gott,« sagte Christian, »hübsch sind sie wirklich nicht,
und nicht für einen Wald voll Affen möchte ich eine von ihnen heiraten!«

Die Menge machte gehorsam sofort Platz, als der Mann mit dem Stein dazu
aufforderte, und dann betrat man den Eingang des Regierungsgebäudes. Man
schritt durch beleuchtete, schön verzierte Felsengänge, und endlich
wurden unsere beiden Freunde in ein Zimmer geführt, in dem auf dicken
weichen Matten reichgekleidete Uranusmenschen saßen. Alle hatten mehrere
glänzende Steine auf der Stirn, denn es waren hohe Beamte. Der in der
Mitte aber trug ein funkelndes Diadem auf dem Kopfe, denn er war der
Präsident dieses Teiles des Uranus-Reiches.

Staunen und Kopfschütteln auch hier. Erregtes Schnattern der Rüssel. --
Dann hielt der Gitterwächter, der die Fremden zuerst gesehen, einen
Vortrag über alles Geschehene. Der Präsident winkte, näher zu treten,
und nun kam endlich der Professor dazu, eine Verständigung zu versuchen.

»Christian,« hatte er schon unterwegs gesagt, »Leute, die solche Bahnen
und Straßen, Kleider und Lampen haben, wissen sicher auch etwas von den
Sternen, und sicher gibt es auch hier Sterngucker, und mit denen werde
ich mich schon verständigen!«

Der Professor griff in die Tasche, zog Papier und Bleifeder hervor und
malte Sterne hin, und schließlich eine ganze Anzahl Sternbilder, den
großen Bären, den Orion und andere, die man am Himmel des Uranus genau
so sieht wie am Himmel der Erde. Die Uranusmenschen sahen mit ihren
großen Telleraugen andächtig zu, und plötzlich tuteten sie mit ihren
Rüsseln erstaunte Töne. Ja, sie hatten begriffen. Sie zeigten nach oben,
zur Decke, zum Himmel, und schleunigst sandte der Mann mit dem Diadem
auf der Stirne einen Diener mit einem Auftrage fort.

»Ich wette, Christian, daß man einen Sternkundigen herbeiholen läßt,«
sagte der Professor, »und daß in den Leuten der Gedanke aufgeblitzt ist,
daß wir Menschen von anderen Sternen sind!«

»Es ist das reine Klarinettenkonzert,« meinte Christian, der alte
Diener. »Wie wäre es, wenn ich dem Gevatter Urian mit den
Kompott-Telleraugen mal ein Stücklein vorpfiffe, >Ach du lieber
Augustin< oder so dergleichen. Sie würden es für unsere Sprache halten.«

Aber schon öffnete sich der Vorhang des Raumes wieder, und der Diener
trat mit dem Manne ein, der hierher befohlen war. Es war ein ganz alter
Uranusbewohner, das sah man auf den ersten Blick. Sein Seehundskopf
zeigte tausend Falten, und vor seinen trüben Augen saß ein Ding, das
sicher eine Art Brille war. Er ging gebeugt und stützte sich auf einen
dicken Metallstock.

»Himmel,« sagte der alte Christian, »das ist sicher ein Urian-Professor
und Sterngucker. Ja, ich glaube, die sind auf allen Sternen gleich. Nun,
seine Brille kann er so leicht nicht verlegen wie mein Herr, der sie
bald in die Zuckerdose hineinlegt und bald in den Briefkasten steckt und
dafür die Briefe in der Rocktasche herumträgt, denn diese Brille ist so
groß, daß man darüber stolpern kann!«

Der Ankömmling hatte inzwischen mit Ehrerbietung den Präsidenten
begrüßt. Sicher hatte er schon die neue Nachricht von dem Eintreffen
seltsam fremdartiger Wesen vernommen und betrachtete sie jetzt durch
seine Brille wie wir einen seltenen Käfer. Dabei schwibbte sein Rüssel,
schnurrige Grunztöne ausstoßend, auf und nieder.

Der Professor jedoch hielt ihm plötzlich das Blatt mit den Sternen vor
Augen, und der gelehrte Uranussterngucker, denn ein solcher war er
wirklich, erkannte sie sofort und sprach erstaunt auf seine Landsleute
ein. Der Professor deutete auf die Sterne und auf sich, und machte durch
allerlei Zeichen klar, daß er und sein Begleiter aus dem Sternenraum zum
Planeten Uranus heruntergekommen wären.

Da verschwand der Uranussterngucker und kam nach kurzer Zeit mit einem
großen Metallkasten wieder. Er enthielt feine Metallblätter, die mit rot
gefärbten Zeichnungen bedeckt waren. Es war so etwas Ähnliches wie ein
Himmelsatlas. Da nahm er ein Blatt hervor, auf dem war die Sonne
abgebildet und alle Erdkugeln, die sie umkreisen. Der Professor deutete
mit dem Finger auf den Uranus und dann auf die Leute ringsum. Sie
machten Zeichen der Zustimmung. Ja, man befand sich auf dem fernen
Erdenstern Uranus. Dann aber deutete der Professor auf sich und
Christian und legte den Finger auf den Punkt der Karte, wo nahe der
Sonne die Erde abgebildet war.

Der fremde Astronom hatte ihn begriffen. Er gab Laute höchsten
Erstaunens von sich und erklärte seinen Gefährten, daß jene seltsamen
Geschöpfe aus den warmen, sonnennahen Räumen stammten, von jenem fernen
Sternlein, das man nur schwer selbst in den besten Fernrohren auf dem
Uranus zu sehen vermochte.

Lange versuchte man noch, sich zu verständigen, bis endlich Christian,
der es vor Hunger nicht mehr aushalten konnte, mehrfach sehr deutlich
gegen seinen Bauch klopfte und mit den Fingern in den weit geöffneten
Mund fuhr. Er hatte die Freude, daß man ihn begriff.

»Mein Herr, der Professor, ist so zerstreut, daß er seelenruhig
verhungert, ohne es zu bemerken,« sagte er knurrig.

Alle erhoben sich. Offenbar war es auch Ruhezeit geworden, denn in den
Straßen wurde es still. Man führte die Erdensöhne in ein schön
durchwärmtes Gemach, mit eigenartigen Möbeln und Lagerstätten, die aus
gepolsterten Säcken oder Häuten bestanden. Auf warmen Metallschalen
brachte man Speisen verschiedenster Art. Sie schmeckten nicht schlecht,
aber es schien nichts dabei zu sein, das aus dem Pflanzenreich stammte,
und vor allem waren sie unseren Freunden zu fett.

Endlich waren sie allein, und auf ihren Lagern ausgestreckt, besprachen
sie noch lange die seltsamen Erlebnisse.

»Wollen mir der Herr Professor nur mal erklären, weshalb unsere
Urianbrüder so gräßliche Kerle sind?« sagte endlich Christian und machte
sich aus seinem Sacktuch eine Nachtmütze zurecht, denn ohne diese konnte
er nicht schlafen. »Ich werde die ganze Nacht von ihnen träumen, wie
damals, als Herr Professor mit mir in Afrika waren, wo wir den
vermaledeiten Tausendteufelsbraten von Riesen-Seespinnerich sahen!«

»Ach, Christian!« rief kopfschüttelnd der Professor, »du bleibst doch
immer der alte Holzkopf, trotzdem du nun schon dreißig Jahre bei einem
gelehrten Herrn Dienste tust! Wir erscheinen ihnen ebenso häßlich wie
sie uns. Du mußt doch bedenken, daß jedes Geschöpf von der Natur so
ausgestattet wird, wie es für seine Welt zweckmäßig ist. Darum hat der
Fisch Flossen und atmet durch Kiemen, und darum hat der Vogel Flügel und
haben die Raubtiere eine feine Nase, zum Wittern ihrer Beute. -- Nun
sieh mal, mein guter Christian: Der Uranus ist eine kalte und dunkle
Welt, die ganz wenig Wärme und Licht von der Sonne erhält. So haben die
Leute hier möglichst große Augen, um recht viel Licht damit einfangen zu
können. Die Luft ist sehr dicht und leitet den Schall sehr kräftig. Du
merktest selbst, wie mächtig unsere Stimmen droben erklangen. Die
Uranusleute brauchen also keine Ohrmuscheln am Kopfe wie wir, zur
Verstärkung des Schalls, und darum hat ihnen die Natur auch keine
gegeben!«

»Und wie ist es mit ihren Rüsselnasen, Herr Professor? Sie könnten
beinahe einen Fünfer mit vom Boden aufheben, wie der Elefant Jumbo in
der Menagerie, der Herrn Professor damals die Regenschirmkrücke abriß!«

»Nun, Geschöpfen, die nicht gut sehen können, gibt die Natur dafür meist
eine gute Nase. Alle Rüsseltiere sind Nasentiere, können dafür aber
schlecht sehen. Wegen der Dunkelheit auf dem Uranus können die Leute
hier trotz ihrer großen Augen nicht besonders viel sehen, daher brauchen
sie die große Rüsselnase.

Du siehst außerdem, daß sie dick und rund sind, eine dicke Fettschicht
ihren Körper bedeckt. Bedenkst du aber, daß magere Leute, wie wir beide,
leicht frieren, und daß die Eskimos, die am Nordpol der Erde leben,
ebenfalls fett sind und auch viel Fett essen, weil es die Kälte besser
ertragen läßt, so siehst du wohl, daß alles seine Ursache hat. Die Leute
sind hier ferner sehr kräftig und plump gebaut. Es hängt damit zusammen,
daß auf dieser mächtigen Weltkugel alle Dinge schwerer sind und die
Menschen mehr Kraft brauchen, um Steine zu heben, sich fortzubewegen und
dergleichen. Da hat ihnen die Mutter Natur eben kräftigere Muskeln und
Knochen gegeben!

Du siehst, alles läßt sich erklären, und wenn wir länger hier sind,
werden wir alles verstehen. Eins ist wohl sicher. Auf der _Oberfläche_
dieser Welt leben keine Menschen, denn sie ist dunkel und vereist. Sie
bauten sich ihre Städte tief unten, wo es warm ist. Auch die Erdkugel
ist ja im Innern noch heiß, und je tiefer man hinabsteigt in die
Bergwerke, je wärmer wird es. Ebenso scheint es hier zu sein. Morgen
will ich versuchen, mehr darüber zu erfahren!«

»Vielleicht steigen wir morgen hinauf, wenn es Tag ist, die Sonne
scheint und wärmt, Herr Professor!«

»Da kannst du lange warten, Christian, einige zwanzig Jahre vergehen,
bis es hier wieder Tag wird, wenn man dieses trübe Sonnenlicht hier Tag
nennen kann. Diese Gegend auf dem Uranus hat ungefähr vierzig Jahre Tag
und Sommer, und dann wieder vierzig Jahre Nacht und Winter!«

»Um des Himmels willen, was für ein verrückter Stern ist das!« rief
Christian. »Vierzig Jahre lang sieht man die Sonne nicht und lebt wie
ein Schlamm-Molch in tiefster Finsternis, und dann wird es wieder
vierzig Jahre nicht dunkel? Nein, das ist keine Welt für mich! Wenn nun
hier jemand während der langen Nacht geboren wird, da kann er, wenn er
mit vierzig Jahren stirbt, niemals in seinem Leben die Sonne sehen. Und
die lange Nacht, das ist etwas für Riesenfaulpelze!«

»Nun, Christian, die Leute wohnen ja hier unterirdisch bei künstlichem
Licht und werden schon durch eine ihnen angenehme Einteilung des Tages
Arbeit und Schlaf trennen. Aber hier, nahe dem Südpol des Uranus, ist es
tatsächlich so, wie ich dir sagte. Der Uranus braucht vierundachtzig
Jahre, um einmal die Sonne zu umwandern. Zweiundvierzig Jahre lang ist
der Südpol dieses Erdenballes der Sonne zugekehrt, und dann kommt wieder
zweiundvierzig Jahre lang der Nordpol an die Reihe. Wir sind hier, wie
mir mein Uranuskollege klarmachte, nahe dem Südpol und befinden uns in
der zweiundvierzigjährigen Nacht. Wollen wir also die Sonne sehen und
die dicht bei ihr dahinziehende Erde, so müssen wir zur anderen
Halbkugel hinüber reisen. Und das wollen wir morgen in Begleitung des
Astronomen und eines hohen Staatsbeamten auch tun. -- Jetzt aber wollen
wir schlafen, mein Freund, denn ich bin todmüde.«

Sie drehten sich jeder auf die andere Seite, und als sie die Köpfe auf
die Polster legten, erlosch auch das Licht an der Decke.

Die beiden Erdensöhne erwachten durch ein wohl drei Minuten währendes,
melodisches Summen, das die ganze Uranuswelt durchtönte. Es war das
Signal, das den Beginn des neuen Tages verkündete. Sie erhoben sich von
ihren Lagern, und alsbald flammte auch das Licht wieder auf. Christian
machte nun erst eine »Entdeckungsreise« durch die Räumlichkeiten, wie er
sagte. Und man war hocherfreut, alles vorzufinden, was man brauchte. Da
floß in einem Nebenzimmer unablässig warmes Wasser in eine in den Felsen
gehauene Wanne, und in einem Nachbarraum war auf Matten am Boden die
Tafel gedeckt. Da die Uranusbewohner sehr klein waren, zudem die
Anlegung der Gänge, Wohnungen, Straßen in den Felsen eine gewaltige
Arbeit machte, weshalb man sie so niedrig wie möglich baute, konnten
unsere Freunde nur gebückt gehen, was recht unbequem war. Die Uranier
pflegten auf Matten am Boden zu sitzen, und die Erdensöhne mußten es
ihnen schon des Raummangels wegen nachtun. Da saßen sie nun vor ihrem
Frühstück und fanden, daß es sich hier ganz gut leben ließ. In
Heißwasserbädern standen Krüge mit einer nach Fleischbrühe schmeckenden
Flüssigkeit. Kleine warme Pasteten lagen in einem ebenfalls im heißen
Wasser stehenden Metallkasten, und Christian fand, daß sie recht
wohlschmeckend waren.

»Das heiße Wasser scheint in dieser Welt eine große Rolle zu spielen,«
sagte der Professor und nahm eine Prise. »Hätte ich nur meine
Tabakspfeife bei mir,« klagte der alte Diener, »dann wollte ich mit
Herrn Professors Erlaubnis ein paar Züge tun, denn das Rauchen ist nun
mal meine Leidenschaft.«

»Es scheint,« sagte sein Herr, »als rauche man hier nicht.
Wahrscheinlich, um die Luft reiner zu erhalten, denn natürlich ist es
keine Kleinigkeit, in diesen unterirdischen Städten gute Luft zu
schaffen. Sieh, das Ding, das da oben in der großen Deckenöffnung
schnurrt, ist sicher ein Ventilator. Der Schacht, durch den wir
hinabstiegen in diese Unterwelt, scheint ein Luftkanal gewesen zu sein.«

Über der Tür leuchtete plötzlich eine rote Lampe auf. Gleich darauf
betrat der Uranus-Astronom mit einem anderen Manne, der drei Steine an
der Stirn trug, die Hoheitszeichen der Uranier, den Raum. Sie begrüßten
ihre Gäste, indem sie sich mehrmals mit den Fingern auf den glänzenden
Kopf klopften und einen hellen Ton ausstießen, der wie ein kurzes
Trompetensignal klang. Unsre Freunde versuchten das, so gut es ging, zu
erwidern, wobei der Professor mit seinem ebenfalls glänzend-kahlen
Schädel im Vorteil war. Nach einigen Andeutungen, ob die Fremden gut
geschlafen und gespeist hätten, machte man ihnen klar, daß die Reise zur
Nordhalbkugel beginnen könne. Erst suchte der Professor noch seine
Brille, die Christian endlich im Schlafsack fand -- »wahrscheinlich hat
er sie nachts auf den Hühneraugen gehabt!« brummte der alte Diener --
und dann ging es fort.

Man bestieg einen kleinen, besonders bereitgestellten Bahnwagen, der für
eine längere Reise eingerichtet war, und in schneller Fahrt sauste man
dahin, bald geradeaus, bald senkrecht tiefer hinein in die unterirdische
Welt, auf schnellstem Wege dem Ziele zu. Durch Zeichen und durch
Zeichnungen auf Metallplatten gaben die Uranier nun alle möglichen
Erklärungen und Schilderungen ihrer seltsamen Welt. Da erfuhr der
Professor dann folgendes:

Zur Zeit lebten keine Menschen mehr auf der Oberfläche des Sternes; die
Kälte war zu stark, und die langen Zeiten der Finsternis verhinderten
höheres Leben. Aus Spuren, die man am Äquator, da, wo es noch am
wärmsten und hellsten war, gefunden hatte, ging hervor, daß vor grauen
Zeiten wilde Menschen da gehaust, als die Oberfläche dieser Welt noch
wärmer war, weil das innere Feuermeer noch bis dicht unter die Erdkruste
flammte, sie wie eine Ofenplatte erwärmte. -- Jetzt hausten am Äquator
nur noch wenige Tiere mit mächtigen Zottelpelzen, die sich von Flechten
und Moosen ernährten, die da spärlich wuchsen.

Seit vielen Jahrtausenden lebten die Uranier unterirdisch. Die Städte
lagen in Etagen übereinander. Je tiefer sie lagen, je wärmer waren sie.
Luft wurde durch große Pumpwerke in Schächten herabgeführt, die
verbrauchte Luft oben abgesaugt.

Es führten Schächte aus den tiefen Städten hinunter bis zu Stellen, wo
es siedeheiß war. Dahin leitete man auch das Wasser unterirdischer
Quellen und Seen und verdampfte es. So erhielt man die Kraft zum Treiben
von Maschinen. Im Gestein fand man überall Metalle, aus denen alle
möglichen Gebrauchsgegenstände hergestellt wurden. In mächtigen
unterirdischen Höhlen wuchsen filzige Flechten, aus denen man Stoffe für
Kleider webte. Auch Tiere seltsamer Art, zumeist mit dichtem Haarkleid,
hausten da und wurden gezüchtet. In warmen Seen gab es Fische und
Muscheltiere, große eßbare Würmer und dergleichen. So ließ es sich ganz
gut da unten leben, und niemand kam auf den Gedanken, daß es anders sein
könnte, denn die Gewohnheit schafft des Menschen Glück.

Der Professor notierte sich das alles sorgfältig. »Wenn ich im Himmel
bin, werde ich ein großes Buch darüber schreiben. Vielleicht kann es zur
Erde gebracht werden, und dann ärgert sich mein Kollege Sauerbrot, daß
er es nicht schreiben konnte!« sagte er fröhlich.

Dann erzählte der Professor, ebenfalls durch Zeichen und Zeichnungen,
von der Erde, und so verging die Zeit. Der Bahnwagen rollte durch Orte
und kam an Bergwerken vorbei, er fuhr durch mächtige Höhlen, in denen
Seen lagen, und kam einmal so tief hinein in die Unterwelt, daß der
Professor und sein Diener sich vor Hitze nicht zu lassen wußten. »Am
Gottes willen,« sagte der, »hier kommt man auf seine alten Tage noch an
den Bratspieß wie eine Ente!«

Endlich aber, nach vielen Tagen, hatte die Fahrt ein Ende, und man
entstieg dem Gefährt. Jetzt, deutete der Uranusbeamte an, geht es durch
die Oberwelt. Wir sind auf der südlichen Halbkugel und werden die Sonne
sehen. Alle hüllten sich in mächtige Pelze, und man stieg durch einen
Luftschacht hinauf. Es wurde kälter und kälter, und schließlich war man
am Gitter angelangt, trat hinaus.

Ja, da war es Tag und Sommer! Aber was für ein »Tag«, und was für ein
»Sommer«! Ein trübes Dämmerlicht, gegen das eine mondhelle Nacht auf
Erden blendende Lichtfülle gewesen wäre, lag über der vollkommen
vereisten Landschaft. Am Himmel standen die Sterne, und nahe dem
Horizont glänzte ein blendend heller Stern von mächtigem Glanze: _die
Sonne!_

»Da ist die Sonne, die liebe Sonne!« rief der Professor und deutete mit
dem Regenschirm auf den wundervollen Stern. »Dicht dabei muß auch unsere
Heimatserde schweben!«

»Was, dieser Stern ist unsere mächtige Sonne? Oh, wie hat sie sich
verändert!« rief Christian. »Und wo ist die Erde?«

»Sie steht von hier aus gesehen ganz dicht bei der Sonne, verschwindet
in ihren Strahlenflügeln. Nur ein großes Fernrohr kann sie uns sichtbar
machen!«

Der Uranus-Astronom winkte. Man begab sich etwas abseits, wo schon für
die Erdengäste ein Fernrohr aufgebaut war, das freilich ganz anders
aussah wie irdische Ferngläser und aus großen Metallspiegeln bestand. Es
wurde auf die Sonne gerichtet, und dann wurde das Erdensternlein
gesucht.

Der Alte zog den Professor näher. Er schaute hinein in den Spiegel. Ja,
da schwebte ein zitterndes Lichtpünktchen: _die Erde!_

»Ach, du lieber Gott!« rief der enttäuschte Christian, »dieses Fünkchen,
das aussieht, als sei es aus meiner Tabakspfeife geflogen, ist unsere
Erde? Nun, ich glaubte wenigstens, unser Haus mit der Sternwarte zu
sehen und die Blumenstöcke vor dem Fenster, die nun wohl schon ganz
vertrocknet sind! Himmlische Güte, _das_ ist die Erde!«

»Ja, das ist sie,« sagte der Professor.

»Nun, ich wollte, wir wären wieder dort, ich könnte Herrn Professor
wieder die Pantoffeln hinter dem Ofen wärmen, meine Pfeife im Garten
rauchen und aufpassen, daß die jungen Studenten nicht der Katze eine
alte Bratpfanne an den Schwanz binden!«

Auf einmal rauschte und brauste es in der Höhe, und eine Posaunenstimme
rief nieder aus den Wolken. Die beiden Uranier bekamen einen
Todesschreck. Ihre Augen rollten wie Kegelkugeln, und ihre Rüssel
schnoberten entsetzt in der Luft herum. Dann aber liefen sie schleunigst
zum Schacht und verschwanden in der Tiefe.

Die Stimme aus der Höhe rief abermals:

»Wo seid ihr, Erdensöhne? Eure Zeit ist abgelaufen!«

»Heiliger Chinchinchindra von Kalkutta,« raunte Christian dem Professor
zu, »es ist der Flügel-Heinrich, der uns in den Himmel zurückbringen
will.«

»Ich will aber nicht in den Himmel!« schrie wütend der Professor.

Da legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter, er ließ vor Schreck
den Schirm fallen, denn blendende Helligkeit war mit einem Male um ihn.
Dann riß er weit und erstaunt die Augen auf.

»Ich will nicht in den Himmel!« schrie er noch einmal.

»Ja, wollen Herr Professor denn in die Hölle, um Gottes willen!« sagte
die Stimme seines alten Dieners neben ihm.

»Ich will auf dem Uranus bleiben, zum Geier!«

»Auf dem Uranus??? -- Wie kommen Herr Professor denn auf den Uranus?«

»Christian, du schrecklicher Holzkopf, bist du denn ganz und gar
übergeschnappt? Wir sind doch auf dem Uranus.«

»Erlauben der Herr Professor, ich bin auf der Erde.«

»Ja, wie kommst du denn auf die Erde?«

»Genau so wie der Herr Professor! Ich wurde eines Tages da geboren, ohne
meine Einwilligung! Aber Herr Professor machen mich ganz ängstlich! Herr
Professor sind doch nicht krank und fiebern? Ich lag drinnen auf meinem
Ruhebett, auf einmal höre ich Herrn Professor laut schreien. Ich eile
herbei, da finde ich Herrn Professor am Fernrohr im Stuhl eingeschlafen.
Es ist ja schon gegen Morgen, und die Sonne muß bald aufgehen. Herr
Professor scheinen lebhaft geträumt zu haben.«

»Geträumt? Nur geträumt? Ja, ist denn nicht mein Regenschirm auf dem
Uranus liegengeblieben?«

»Er steht noch immer da bei der Tür in der Ecke, Herr Professor!«

»Ja,« sagte der alte gelehrte Herr und erhob sich mühsam und mit steifen
Gliedern aus seinem tiefen Stuhl, »ja, dann war das alles ein Traum!«

Er rieb sich die Augen und schlurfte kopfschüttelnd hinweg.»




                                Fußnoten


[1] »Lähn« nennen die Tiroler die Schneelawinen.

[2] Das Käuzchen gehört zu den Eulen, und sein eigenartiges Geschrei
vermag im nächtlichen Walde furchtsame Leute zu erschrecken.

[3] 30 Faden = 55 Meter.

[4] _Kalfatern_ nennen die Seeleute das Dichtmachen eines Fahrzeuges
durch Werg und Pech.

[5] Die Wissenschaft von den Sternen heißt »Astronomie«, und die
Sternkundigen nennt man »Astronomen«.

[6] Guten Tag, meine teuren Brüder!

[7] Diese sowie andere hier erzählte Sturmwirkungen sind in der Tat so
geschehen.


                  Im Verlage _Ullstein & Co, Berlin_,
                         erschienen ferner von

                            Bruno H. Bürgel

                           Aus fernen Welten


                    Eine volkstümliche Himmelskunde

                            Vom Arbeiter zum
                               Astronomen


                     Ergötzliches Experimentierbuch

                        von Dr. Albert Neuburger


                      Mit etwa 500 Textabbildungen

   In Form von Spiel und Unterhaltung gibt dieses Buch einen
   Einblick in die Ergebnisse der Technik und ihre
   naturwissenschaftlichen Grundlagen. Mit erstaunlichem
   Sammeltalent hat Dr. Neuburger eine fast unübersehbare Vielzahl
   von Versuchen und Experimenten in leichtfaßlicher Anleitung
   zusammengetragen, und zwar neben ernstem und lustigem
   Schnick-Schnack auch ganz neue, durch die jüngsten physikalischen
   Forschungen erst möglich gewordene Experimente. Aus wertlosen
   Konservenbüchsen entstehen so Laterna magicas, aus Zigarrenkisten
   photographische Apparate und aus elektrischen Klingelleitungen
   eine vollständige Einrichtung zur drahtlosen Telegraphie. Wir
   finden in der einfachsten, leicht ausführbaren Form Anleitung zur
   Herstellung leuchtender Zifferblätter und zur Veranstaltung von
   Geistererscheinungen sowohl wie zur Anfertigung von Mikroskopen
   und Fernrohren, von Stereoskopen, Kompassen, sowie von
   Miniatur-Flugapparaten und Lenkballons. Fast jedes Experiment ist
   durch eine Illustration erläutert, und so wirken Bild und Wort
   zusammen, um dem Leser nützliche und ergötzliche Kenntnis
   »spielend« zu übermitteln.

                      Verlag Ullstein & Co, Berlin


                         Die Gewalten der Erde

                            von R. H. Francé


                  Mit etwa 700 Abbildungen auf Tafeln

   Das Werk Francés ist von einem Forscher geschrieben, der die
   Phantasie und die Sprachkraft eines Dichters hat. Nicht ein
   prähistorisches Ereignis ist in diesem großen Gemäldezyklus die
   Schöpfung, sondern ein Hergang, der sich immer erneuert. Immer
   noch bebt in den glühenden Tiefen die Erde und baut an Gebirgen
   kommender Äonen. Immer wogt die salzige Flut um die Länder, hier
   abreißend, dort hinzutragend. Immer wandern und sterben, durch
   Sonne und Luft verwitternd, die eisigen Alpengipfel. Üppig und
   schön blüht die Vegetation; doch nicht in fernen Erdzeiten,
   sondern in einer, die nur wenig zurückliegt, vielleicht erst in
   der Gegenwart hat sie diese Üppigkeit und Schönheit erreicht.
   Immer wirft das Leben alte Formen zu den Toten und bringt in
   geheimnisvoller Anpassung neue hervor. Nur ein Tag ist die
   Geschichte der Erde und dennoch uferlose Ewigkeit. Mit einer
   Versinnlichung, die die Rätsel der Geologie hell überleuchtet,
   wie ein Erzähler von einem Bild zum andern führend, gibt Francé
   Zusammenfassungen letzter Resultate. Jedem Leser verständlich,
   gehört dieses Buch zu den Meisterwerken einer volkstümlichen
   Darstellungskunst.

                      Verlag Ullstein & Co, Berlin


                             Ullstein & Co
                                 Berlin




                     Anmerkungen zur Transkription


Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Eigentlich war das Jahr des Kometen 1680 und nicht 1690, wie hier
geschrieben (S. 152).

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.





End of the Project Gutenberg EBook of Die seltsamen Geschichten des Doktor
Ulebuhle, by Bruno H. Bürgel

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SELTSAMEN GESCHICHTEN ***

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