Schwedenklees Erlebnis

By Bernhard Kellermann

The Project Gutenberg EBook of Schwedenklees Erlebnis, by Bernhard Kellermann

This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
www.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll have
to check the laws of the country where you are located before using this ebook.

Title: Schwedenklees Erlebnis

Author: Bernhard Kellermann

Release Date: April 8, 2019 [EBook #59222]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SCHWEDENKLEES ERLEBNIS ***




Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net.









                         Schwedenklees Erlebnis


                                  von
                          Bernhard Kellermann


                                  1923
                      S. Fischer / Verlag / Berlin


                        Erste bis zehnte Auflage
       Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
           Copyright 1923 by S. Fischer, Verlag A.-G., Berlin




                         Schwedenklees Erlebnis




                                   1


Es gibt Menschen, die vom Glück geradezu verfolgt werden. Sie wachsen in
angenehmen Verhältnissen auf, behütet von Eltern und Verwandten, ihre
Gesundheit ist vorzüglich, sie sind begabt genug, um ohne besondere
Anstrengungen und Qualen ihre Erziehung zu beenden. Sie haben gerade
soviel Leidenschaftlichkeit, als dazu gehört, das Leben zu genießen,
allen wirklichen Konflikten aber weichen sie instinktiv aus -- oder
weichen die Konflikte vor ihnen zurück? Was immer sie anpacken, gelingt,
sie kommen nach Monte Carlo und setzen auf eine ganz unmögliche Nummer,
schon schiebt ihnen der Croupier zur Verblüffung der ergrauten
Serienspieler einen Haufen Banknoten zu. Aber sie, diese vom Schicksal
Verwöhnten, finden das vollkommen in Ordnung, so sehr sind sie an die
Ovationen des Glücks gewöhnt. Es kann vorkommen, daß solch ein
Umschmeichelter einmal aufs Trockene gerät, schon wird ihm der Atem
etwas kurz -- aber da stirbt im rechten Augenblick irgendein Verwandter,
den man völlig vergessen hatte ...

Wie fangen diese Auserwählten es an, daß das Glück ihnen wie ihr
Schatten folgt? Tragen sie einen Talisman auf der Brust? Vielleicht die
Konstellation der Gestirne --?

Wie kommt es, das ist die Antwort, daß ein Vogel als Papagei am
Amazonenstrom zur Welt kommt, dem Paradies der Vögel, in einer Luft,
schwirrend von Insekten, warm selbst in den kalten Jahreszeiten -- und
ein anderer Vogel wird als Sperling in einer Dachrinne Berlins oder
Londons geboren, wo jeder Tag ein Problem ist und jeder Winter ein Kampf
auf Leben und Tod?

                   *       *       *       *       *

Zu jener Klasse von Umschmeichelten gehörte ohne Zweifel der Architekt
Philipp Schwedenklee. Schwedenklee war wohlhabend, ohne gerade ein
Rothschild zu sein. Er konnte es sich jedenfalls, zum Beispiel, leisten,
einer jungen Dame ein Paar der elegantesten Lackschuhe zu schenken, nur
dafür, daß sie einen Abend mit ihm bei einer Flasche Wein verplauderte.
Er besaß ein schönes Wohnhaus im alten Westen von Berlin, daneben einige
große Bauplätze am Kurfürstendamm, auf denen seit Jahren Scharen von
Möbelwagen standen. Diese Bauplätze verzinsten sich mit nur drei
Prozent, aber ihr Wert hatte sich im Laufe der Jahre verdreißigfacht.
Daneben besaß er ein Landgut in Mecklenburg -- aber Schwedenklee
kümmerte sich wenig um seine Reichtümer. Sie schimmerten beruhigend im
Hintergrund seines Bewußtseins, genug.

Schwedenklee hatte sein Vermögen von seinem Vater geerbt. Der alte
Schwedenklee hatte schon mit fünfzehn Jahren im Schweiße seines
Angesichts die Maurerkelle geschwungen, zehn Stunden täglich. Mit
fünfunddreißig heiratete er eine reiche Gastwirtstochter und wurde
Bauunternehmer, und im Alter von fünfundvierzig hatte er bereits einen
ganzen Straßenzug einer Provinzstadt in der Mark aufgebaut. Mit fünfzig
kam er nach Berlin, und damals erwarb er das schöne Wohnhaus im alten
Westen, etwas später, spottbillig, die Bauplätze, deren Wert sich
seitdem verdreißigfacht hatte.

Die Begabung des alten Schwedenklee, aus Mauerflächen, Fenstern und
Türen ein Haus zusammenzustellen -- so sahen seine Bauten aus --, war
verfeinert in das Blut des Sohnes übergegangen. Philipp Schwedenklee
wurde Architekt. Er war über den Durchschnitt begabt, in der Sauberkeit
und Reinheit seiner Zeichnungen übertraf er alle seine Kameraden. Er
hatte auch kaum seine Studien beendet, als er sich schon auszeichnete.

Eines Tages nämlich veröffentlichte die kleine Stadt in der Mark, die
der alte Schwedenklee zum Teil aufgebaut hatte, ein Preisausschreiben:
Eine alte Apotheke sollte in ein kleines Provinzmuseum umgebaut werden.
Der alte Schwedenklee machte seinen Sohn auf den Wettbewerb aufmerksam.
Und siehe da, schon hatte Philipp Schwedenklee -- unter vierzig
Bewerbern! -- das Preisausschreiben gewonnen. Nun aber zögerte der alte
Schwedenklee nicht länger. Er übertrug seinem Sohn die Aufgabe, ihm die
Pläne für eine Villa in Schmargendorf, wo er seine Tage zu beschließen
gedachte, zu entwerfen. Die Villa war im Rohbau kaum fertig, als ein
Nachbar, ein Ofenfabrikant, den jungen Schwedenklee ebenfalls mit dem
Entwurf einer Villa beauftragte. Dann kam ein Gastwirt, bei dem der alte
Schwedenklee zweimal in der Woche Kegel spielte. Dieser Gastwirt wollte
sich vergrößern und wünschte die Entwürfe zu einem Tanzlokal, in einem
ganz besonderen, heiteren Stil, mit chinesischen Anklängen. Philipp
Schwedenklee aber lehnte diesen Auftrag ohne Umstände ab! Er wollte sich
nicht verzetteln, denn, bei Gott, er hatte höhere Pläne, als Tanzlokale
mit chinesischen Anklängen zu entwerfen. Der alte Schwedenklee stimmte
ihm bei. Philipp reiste zur weiteren Ausbildung nach Italien, und von
Italien nach Paris. Einige Jahre blieb er im Ausland. Er gab viel Geld
aus, man hörte wenig von ihm. Einmal wurde erzählt, daß er in Paris wie
ein wahrer Zigeuner lebe, daß er in sozialistischen, ja sogar
anarchistischen Kreisen verkehre. Aber das war offenbar eine
Verleumdung, denn er kehrte aus Paris sehr elegant und als
ausgezeichneter Billardspieler zurück.

Philipp Schwedenklee nahm sofort fieberhaft den Umbau der
Parterrewohnung in dem alten Haus im Westen in Angriff. Wände, Türen und
Fenster riß er heraus, zuletzt stand nichts mehr auf dem alten Fleck.
Ja, er wollte Berlin, dieser Kapitale des Kitsches, zeigen, was
Architektur war! Umbau und Einrichtung dauerten über zwei Jahre: nun
aber war jeder Raum, jedes Möbelstück genau nach seinem Geschmack!
Führende Zeitschriften veröffentlichten Photographien von Schwedenklees
Wohnung. Zusammen mit einem befreundeten Architekten baute er dann ein
Riesenhaus am Kurfürstendamm, ein Palais mit Marmortreppen und
Marmorsäulen, das großes Aufsehen erregte. Beinahe wäre das Unternehmen
eine finanzielle Katastrophe geworden, aber nur beinahe! Die
Kinematographie war eigens zu dem Zwecke erfunden worden, um
Schwedenklee vor dem Ruin zu bewahren. Sein Palast wurde in ein Kino
umgebaut und er verdiente Unsummen.

Schwedenklee wurde später in den Zeitungen noch als der Erbauer eines
Elektrizitätswerkes voller Achtung genannt, er baute eine Reihe von
Bureauhäusern und Villen. Dann hörte man nichts mehr von ihm. Seine
Laufbahn als Architekt, die so verheißungsvoll begonnen, schien zu Ende
zu sein.

Er hatte sich in seine Parterrewohnung zurückgezogen und arbeitete, wie
verlautete, an einem Werke über Städtebau. Es hieß, daß er Berlin von
Grund auf umbauen wolle! Dieses ganze Berlin war völlig falsch angelegt!
Er verschob Straßenzüge, ganze Stadtviertel. Sollte jemals aus Berlin
etwas werden, so mußte man seinen Schwerpunkt an die Flußläufe verlegen!
Der Reiz anderer Großstädte -- Paris, London, Neuyork -- bestand darin,
daß sie von den Flußläufen aus sich entwickelt hatten. Berlin hatte
unglücklicherweise seinen Aufschwung in einer Zeit genommen, da die
Frachten der Bahnen kaum höher waren als jene der wenig entwickelten
Flußschiffahrt. Es hatte sich in die Sandwüste des Westens
hinausgeschoben und das landschaftlich schönste Gelände untergeordneten
Vororten überlassen. Nun er, Schwedenklee, würde jedenfalls versuchen zu
retten, was zu retten war. Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete er dem
Wirrwarr der Berliner Verkehrsverhältnisse. Auch in dieser Hinsicht
würde er eine Lösung finden.

Jahrelang beschäftigten Schwedenklee diese Probleme. Er tat
geheimnisvoll -- eines Tages würde er Berlin mit seinem Werke
überraschen! Zuweilen schlug er sogar einen etwas überheblichen Ton an.

Der alte Schwedenklee jedenfalls erlebte die Veröffentlichung des Werkes
nicht mehr.




                                   2


Schwedenklee pflegte spät aufzustehen, da er häufig, wie er dem Mädchen
sagte, bis »zum frühen Morgen« arbeitete. Gegen zehn Uhr, wunderbar
ausgeschlafen, ausgehöhlt vom Hunger, frühstückte er mit Genuß: Kaffee,
Weißbrot, Honig, Butter, Schinken, Eier, abwechselnd gekocht und
gebraten. Nach dem Frühstück zog er sich in die geheiligten Räume,
Bibliothek und Arbeitszimmer, zurück, wo ihn niemand stören durfte. Hier
legte er sich noch etwas auf die Ottomane und las ausführlich die
Zeitungen -- er war sogar auf die Frankfurter Zeitung abonniert, die
dreimal täglich erscheint. Er arbeitete an seinen Zeichnungen,
telephonierte, sah nach dem Wetter, schrieb einen Brief -- schon war es
zwölf Uhr geworden. Schwedenklee ging spazieren, um »das Leben zu
betrachten«.

Ohne jeden Tadel, fast etwas auffallend elegant gekleidet, das zart
gepuderte runde Kinn in den Pelzkragen gedrückt, in Schuhen der letzten
Mode, schwang er sich dahin, mit der Miene eines Menschen, der sich
seines Wertes wohl bewußt ist. Zuweilen erschien er auch -- ohne jeden
Anlaß -- im glänzenden Zylinder. Sein rascher, etwas kecker Blick
streift Mädchen und Frauen, während ein zufriedenes Lächeln seine vollen
Lippen umspielt. Er beobachtet sich, wie er, etwas voll, durch den
schwarzen Glanz der Spiegelscheiben schreitet -- sein Pelzkragen, seine
koketten Schuhe. Voller Genuß zieht er die Luft in die breite Brust.
Eine anziehende junge Dame geht an ihm vorüber und Schwedenklee folgt
ihr eine Weile in angemessener Entfernung, voller List, um sich keine
Blöße zu geben. Einen Augenblick später sieht man ihn in einem
Antiquitätengeschäft, eine kleine blaue Vase in den Händen.

Um zwei Uhr aß er zu Mittag. Er hatte das Glück gehabt, eine
ausgezeichnete Köchin zu finden, ein Wunder von einer Kochkünstlerin:
Augusta, die sein Hauswesen führte. Sie hatte nur den einen Fehler, daß
sie zuweilen Weinkrämpfe bekam, die Küchendünste und das Stehen vor dem
Herde hatten ihre Nerven ruiniert. Und er, Schwedenklee, der nichts so
sehr haßte als Tränen! Aber schließlich ging es immer wieder vorüber.
Vollkommen war ja nichts auf dieser Welt.

Schwedenklee liebte es, gut zu essen, und er machte gar kein Hehl
daraus. Er hatte einen ausgezeichneten Appetit und einen noch besseren
Magen. Sein Magen -- lieber Himmel, was für einen Magen hatte
Schwedenklee! Diese Veranlagung verdankte er seiner Mutter, Tochter
eines Provinzwirts. Er konnte essen, so oft und so viel er wollte. Er
konnte, für gewöhnlich war er mäßig, auch trinken, so viel es sein
mußte. Wenn andere schon lallten, begann Schwedenklee erst zu tanzen!
Diese Veranlagung verdankte er dem alten Schwedenklee, der Tag für Tag
schon von sechs Uhr morgens an mit allen denkbaren Getränken den Kampf
gegen den Baustaub aufgenommen hatte. Schwedenklee, es muß ausdrücklich
betont werden, stammte nicht von wohlhabenden Eltern ab, die das
Wohlleben schon verweichlicht hat, die ihren Kindern mit ihrem Gelde
degenerierte Organe hinterlassen, o nein, er wuchs mit beiden Füßen
direkt aus der Scholle. Seine Gesundheit war ausgezeichnet.

Nach Tisch schlief Schwedenklee bis vier Uhr, dann schlürfte er den Tee,
während er sich über seine Zeichnungen beugte oder die Abendzeitungen
las. Zuweilen spielte er auch in der Dämmerstunde Geige. In den letzten
Jahren allerdings seltener. Schwedenklee war ein ganz ausgezeichneter
Dilettant! Seine Eltern, vernarrt in den Knaben, hatten keine Ausgabe
für seine Erziehung gescheut. Zwei Jahre lang hatte Schwedenklee jeden
Mittwoch und Sonnabend mit einigen Musikschülern, die er sehr gut
bezahlte, Quartett gespielt. Die Musik erschien ihm damals als das
Herrlichste auf der Welt, herrlicher noch als die Frauen! In dieser Zeit
hatte er sich sogar mit dem Gedanken beschäftigt, Geiger zu werden. Er
vernachlässigte seine Projekte vollkommen -- wie nebensächlich
erschienen sie ihm doch! -- und übte täglich mehrere Stunden. Er
träumte, ganz im geheimen, davon, wie er im Konzertsaal erscheinen
würde, umbrandet vom Beifall. Die Damen steigen auf die Stühle und
schwingen die Taschentücher: Schwedenklee, Schwedenklee! Oft gab er sich
diesen Ausschweifungen hin.

Indessen, die Quartettabende fielen schließlich ganz aus, die Geige
ruhte in ihrem Kasten, nur zuweilen -- wie gesagt -- nahm er sie noch
heraus, nicht ohne Sehnsucht, Inbrunst, Reue ...

Um sieben Uhr ging Schwedenklee wieder etwas an die frische Luft, um
»das Leben zu betrachten«, um acht Uhr aß er zu Abend, mit Genuß und
Appetit. Dann wusch er sich, polierte die Nägel und erschien heiter und
strotzend von guter Laune in seinem Stammcafé in der Potsdamer Straße.

In den früheren Jahren noch hatte er häufig Theater und Konzerte
besucht, in der letzten Zeit aber verbrachte er die Abende fast
ausschließlich im Café.

Acht Jahre verkehrte er in diesem Café. Nach drei Jahren gab ihm der
Oberkellner den Titel »Herr Baurat«. Nach fünf Jahren »Herr Oberbaurat«.
Jedermann nannte ihn so, die Kellner, die Gäste. Also selbst seinen
Titel hatte Schwedenklee ohne Mühe erworben! Wie lange Jahre sitzt
mancher Beamte in einer Behörde, bis er einen solch herrlichen Titel wie
»Oberbaurat« erhält? Schwedenklee erhielt ihn vom Oberkellner eines
Cafés in der Potsdamer Straße, und er war genau so gut, als ob ihn ein
Ministerium verliehen hätte.

Schwedenklee war heute fünfundvierzig Jahre alt. Die Anstrengungen
seines Berufes hatten ihn fast sämtliche Haare gekostet -- nur im
Nacken, der sich feist über den weißen Kragen schob, stand noch ein
dünner fahlblonder Saum. Die Pflege, die er genoß, hatte ihm eine
gewisse vornehme Wohlbeleibtheit verliehen. Seine Wangen waren rund und
leuchtend rot wie die eines Prälaten. Das Kinn fett und glänzend. Was er
tief beklagte, war, daß sich sein Bauch nur noch schlecht in der elegant
geschnittenen Kleidung verbergen ließ. Mit bekümmerten Blicken
beobachtete er sich oft im Spiegel.

Übrigens, sonderbar: Schwedenklees Augen -- einst förmliche Lampen --
schienen von Jahr zu Jahr kleiner zu werden. Wie war es nur möglich?
Seit einiger Zeit sah er auch schlechter. Er war genötigt, beim Lesen
eine Hornbrille zu tragen.




                                   3


In den letzten Wochen allerdings war Schwedenklee, der immer Heitere,
Strahlende, der Sieghafte, vom Glück Umschmeichelte, verändert. Er war
zerstreut, nachdenklich. Nur noch selten waren seine lauten Lachsalven,
die jedermann mit fortrissen, zu hören. Sprach man ihn unvermutet an, so
öffnete er erschrocken und hilflos den Mund, oft gab er überhaupt keine
Antwort. Allen Stammgästen des Cafés fiel die Veränderung auf.

»Der Herr Oberbaurat scheinen in der letzten Zeit nicht ganz wohl«,
sagte der von schlaflosen Nächten bleiche Oberkellner, ein alter Wiener.
Also selbst ihm fiel die Veränderung auf!

»Etwas abgearbeitet.« Schwedenklee runzelte die Stirn.

»Ich habe gelesen, der Herr Oberbaurat haben einen Vortrag im
Architektenhaus gehalten.«

Schwedenklee seufzte.

»Nichts als Plackereien, die nichts einbringen.«

Ja, so hatte man zu tun. Schwedenklee hatte über »Moderne
Bahnhofsarchitektur« gesprochen -- ein ganzer Winter Arbeit!

Schwedenklees Stammcafé war scheinbar ein Café wie jedes andere. Ein
altes Berliner Café mit Gold und Stuck, verräuchert, die Plüschsofas
zusammengesessen, die Kellner in befleckten Fräcken und ausgetretenen
Schuhen. Unten saß das gewöhnliche Publikum, Familien, Liebespaare,
einsame Zeitungsleser. Eine vergoldete Treppe mit Plüschgeländer führte
zu dem großen Billardsaal empor, wo sechs Billards standen, und erst
wenn man den Billardsaal durchquert hatte, gelangte man in das
Allerheiligste: das Spielzimmer! Hier waren von fünf Uhr nachmittags an
bis zum grauenden Morgen einige Spieltische, umgeben von Kiebitzen, im
Gange, und hier kannte ein Gast den andern. Ärzte, Rechtsanwälte,
Kaufleute, ein Bassist von der Oper, ein bekannter Pianist und einige
junge Herren, die keinen ausgesprochenen Beruf zu haben schienen. Die
Karten wurden gemischt, die Zigarren qualmten, die Kellner flogen mit
Kaffeegeschirr und Biergläsern hin und her. Einzelne der Stammgäste
kamen hierher schon um fünf Uhr und blieben bis drei Uhr nachts. Andere
kamen nach dem Essen, wie Schwedenklee, nach Schluß der Theater und
Konzerte kam noch ein Trüppchen Nachzügler. Es wurde in Schichten
gearbeitet, fieberhaft und ohne jede Pause.

Die Billardbälle knallten nebenan im Saal. Zuweilen verirrte sich sogar
eine Dame mit ihrem Freund in den Billardsaal und einer der Spieler
machte es bekannt.

»Haben Sie die hübsche Person im Billardsaal gesehen?«

Der eine oder der andere der Kartenspieler warf einen Blick durch die
Tür, während die Karten neu gegeben wurden, oder er machte sogar rasch
einen Gang durch den Saal, wenn es sich lohnte. »Eine verteufelt hübsche
Person, und Augen hat sie!«

Aber es geschah nur sehr selten, daß eine Dame sich zu den Billards
hinan verirrte. Sonst gab es im Spielzimmer keinerlei Ereignisse. Das
Spielzimmer ignorierte Berlin und die große Welt, wie Berlin und die
große Welt das Spielzimmer ignorierten. Nur flüchtig wurden besondere
Ereignisse gestreift: ein Krieg irgendwo, ein Sensationsprozeß, ein
Schneesturm, eine Stockung der elektrischen Bahnen -- blitzschnell
flogen die Karten über die grünbespannten fleckigen Tische.

Es gab sogar Stammgäste, die noch länger als Schwedenklee im Café
verkehrten. Ein Rechtsanwalt war zwölf Jahre lang Stammgast, und der
Bassist kam schon seit fünfzehn Jahren hierher. In den Sommermonaten
zerflatterten die Gäste auf einige Wochen, aber es blieb doch immer ein
Spieltisch wenigstens im Gange.

So also sah Schwedenklees Heim aus, wo er seine Abende verbrachte,
anstatt Museen, Bahnhöfe und Kaufhäuser zu entwerfen, wie er es früher
plante.

Schwedenklee spielte vorzüglich Karten! Er war als Gegner gefürchtet,
als Partner gesucht. Er war frisch und gut ausgeruht, natürlich, während
zum Beispiel die Rechtsanwälte und Ärzte, die schon seit acht Uhr
morgens in den Gerichtssälen und Kliniken arbeiteten, manchmal vor
Müdigkeit einschliefen, wenn die Karten gemischt wurden.

Zuweilen war man der Karten überdrüssig. Man machte ein Spiel auf dem
großen Matchbillard, und der Kellner mußte das sorgfältig
eingeschlossene Privatqueue Schwedenklees aus dem Schrank holen. Dann
und wann auch spielte Schwedenklee mit dem Bassisten eine Partie Schach.

Gegen drei Uhr, vier Uhr morgens leerte sich das Spielzimmer, die
letzten Kiebitze verließen den Kartentisch, und schließlich riefen auch
die leidenschaftlichsten Spieler, dem Erschöpftsein nahe, nach dem
Zahlkellner.

Schwedenklee blieb selten länger als bis zwei Uhr. Nur während einer
ganz kurzen Periode hatte der Spielteufel so heftig von ihm Besitz
ergriffen, daß er jede Nacht hindurch bis sechs Uhr morgens Bakkarat
spielte. Doch das war schon einige Jahre her, und nicht er allein war
schwach geworden, die sämtlichen Spieler hatte plötzlich eine Art
Besessenheit befallen.

Um zwei ging Schwedenklee nach Hause, um tief und ohne Pause zu
schlafen, ganz allein in einem großen zweischläfrigen Bett mit einem
hellgrünen Seidenhimmel.

Schwedenklee war Junggeselle, natürlich. Über Frauen und Ehe hatte er
seine ganz besonderen Ansichten!

Ein einziges Mal hatte er den Kopf so weit in der Schlinge, daß er das
Schlimmste befürchtete! Es war die »furchtbarste Zeit seines Lebens«,
wie er sagte. Er hatte sich mit einer hübschen Base eingelassen, nettes
Gesichtchen, plapperte erfrischend, und die Sache war gerade deshalb so
verzweifelt, weil die ganze Verwandtschaft, die er jahrelang völlig
ignoriert hatte, dabei im Spiele war. Schwedenklee verlor den Appetit
und verbrachte die Nächte ohne Schlaf. Er entwarf hundert
Abschiedsbriefe, ohne den Mut zu haben, die Base zu verabschieden. Es
war ja ganz unmöglich, ein so entzückendes Geschöpf bloßzustellen. Das
Wunderbare ereignete sich in dieser Periode: Schwedenklee hielt der
Braut die Treue, so schwer es ihm auch zuweilen wurde! »Eine herrliche
Sache ist die Treue,« pflegte er in dieser Zeit zu sagen, »aber sie
kostet Nerven, mein Freund!« Eines Tages aber übersandte das entzückende
Geschöpf ihm einen Abschiedsbrief! Voller Zerknirschung und Tränen: sie
hatte sich auf einer Bahnfahrt in einen Offizier verliebt.

Gott sei gelobt! Glück zu, Schwedenklee!

Ja, in der Tat, es war eine furchtbare Zeit!

Schwedenklee schlief prachtvoll unter seinem hellgrünen Seidenhimmel,
obschon neben ihm noch recht gut Platz gewesen wäre.

                   *       *       *       *       *

Wie gesagt, aber in den letzten Tagen gefiel Schwedenklee den
Kartenspielern nicht mehr! Wer sollte sich sonst um ihn kümmern, wenn
nicht sie? Etwa Augusta? Nein, Augusta wich ihm aus, floh ihn direkt,
wenn sie merkte, daß er in schlechter Laune war, mit Rücksicht auf ihre
zerstörten Nerven. Augusta hatte nur beobachtet, daß eines Tages ein
Brief mit einem schwarzen Trauerrand angekommen war, und Schwedenklee
die Augen rollte. Die Kartenspieler aber, sie kannten ja jeden Zug in
seinem feisten, leuchtenden Gesicht. Und wenn ein gewiegter Spieler wie
Schwedenklee ein »angesagtes« Solo verlor, soviele Buben, soviele Asse,
Könige, Damen, eine Farbe blank -- was sollte man dann sagen? Wie? Ja,
nun war es offenbar, nicht mehr wegzuleugnen: etwas war bei Schwedenklee
nicht in Ordnung!

Es entstand eine solch furchtbare Aufregung, daß man eine Runde
aussetzte und die Kellner aus dem Billardsaal zusammenliefen.

Schwedenklee war sogar erbleicht, als das Solo so katastrophal
zusammenbrach! In all den Jahren hatte niemand beobachtet, daß
Schwedenklee erbleichte. Heute aber, in der Tat, war das Blut aus seinen
roten Wangen gewichen, und seine Nasenspitze war für eine Sekunde
schneeweiß geworden.

Es nützte Schwedenklee nichts, daß er seine bekannte Lachsalve losließ.
Die Ärzte, die Notare blickten prüfend und argwöhnisch in sein Gesicht.

Schwedenklee hatte trotz der geheuchelten Heiterkeit immer noch einen
verwirrten Gesichtsausdruck. Sein Blick war flackernd, nicht unbekümmert
und etwas keck wie gewöhnlich. Nun errötete er sogar. Er tat, als schäme
er sich, ein mit solch triumphierendem Lächeln angesagtes Solo verloren
zu haben.

Die Erregung verflog. Die Kiebitze, die aufgesprungen waren, saßen
wieder ruhig auf ihren Stühlen, der Wollust hingegeben, die Chancen des
Spielers besser zu kennen als die einzelnen Spieler, die große
Überraschung, die jede Sekunde offenbar werden mußte, schon lange vorher
genießend. Hinter Schwedenklees breitem Rücken verschanzt saßen drei
Kiebitze dicht nebeneinandergedrängt. Schwedenklees Spiel interessierte
heute abend am meisten. Er erhielt eine große Karte nach der andern, er
spielte nunmehr konzentriert, führte jedes Spiel in großem Stil durch
und gewann. Er wurde rot, sooft er die Karte aufnahm: so wie heute hatte
ihn das Glück noch nie umschmeichelt. Den Kiebitzen aber fiel es auf,
daß er gepreßt atmete, sooft er ein großes Spiel gewonnen hatte.

Plötzlich aber -- mitten in der Glücksserie! -- zog er die Uhr und erhob
sich ohne alle Umstände, zum Erstaunen der Spieler, zur Enttäuschung der
erregten Kiebitze. Er entschuldigte sich hastig mit dringlichen
Arbeiten. Sofort sprang ein anderer Spieler, der schon eine Stunde
lauerte, für ihn ein. Der Pikkolo lief mit seinem Überzieher herbei.

Begleitet von einem der Kiebitze, dem bekannten Nervenarzt Wittmann,
einer Kapazität, durchschritt Schwedenklee, in Gedanken versunken, das
Billardzimmer. Und er erbleichte tatsächlich an diesem Abend zum
zweitenmal! Es war heute wirklich alles wie verhext, es gibt solche
Tage. Auf dem Mittagsspaziergang hatte er jene ganz in sich
zusammengekrümmte Bettlerin auf der Potsdamer Brücke getroffen, die wie
eine Verkünderin von Unheil an jenen Tagen auftauchte, da irgend etwas
Unangenehmes sich ereignen würde. Nun dieses Gesicht! Es saß gegenüber
der Tür des Spielzimmers im Billardsaal an einem kleinen
Marmortischchen. Das Gesicht eines zermürbten, alternden, grauhaarigen
Künstlers, eines völlig Hoffnungslosen, eines Bittstellers, fahl, mit
dunkeln, fiebernden Augen, und diese Augen streiften seinen Blick scheu
und tastend. Vielleicht hatte dieser Hoffnungslose, Hungrige voller Neid
beobachtet, wie Schwedenklee seinen Kartengewinn in die Tasche steckte?
Jedenfalls gehörte dieses Antlitz voller Gram und Elend zur Klasse jener
Gesichter, die Schwedenklee fürchtete, denen er aus dem Wege ging. Sie
verdarben ihm die gute Laune und riefen in ihm augenblicklich die
tausend Unannehmlichkeiten wach, große und kleine, die ihm das Leben
getrübt hatten.

»Sie sind nervös, Schwedenklee«, sagte der berühmte Nervenarzt, die
Kapazität, mit einem mahnenden Blick hinter dem schiefsitzenden Kneifer.
»Sie sollten etwas für Ihre Nerven tun. Die ganzen Tage fiel mir schon
Ihr Wesen auf. Ich möchte fast vermuten, daß irgend etwas
Außergewöhnliches -- ich will nicht aufdringlich erscheinen ...«

Schwedenklee schlug den Pelzkragen hoch, um sein Frösteln -- dieser
Nervenarzt! -- zu verbergen. Dann reckte er sich ein wenig und lachte
laut heraus, während er stehen blieb. »Was soll ich haben?« rief er
etwas zu laut. »Bedenken Sie, schon morgens um sieben Uhr kommt ein
falscher telephonischer Anruf. Ich hatte nachts gearbeitet und nur
wenige Stunden geschlafen. Dann kommen allein am Vormittag drei
unangenehme Besuche. Es ist ein Wahnsinn, in dieser Stadt zu leben!«

»Ja, dieses Berlin ist eine Hölle!«

»Eine völlig sinnlose Hölle -- eine Hölle ohne jeden Scharm. Bedenken
Sie dagegen, zum Beispiel, Paris, eine Hölle mit Reizen ...«

»Mit fürchterlichen Reizen, Schwedenklee! Vielleicht ist Swedenborgs
Ansicht berechtigt, daß diese Erde überhaupt nichts anderes ist als eine
Art Fegefeuer, eine Vorhölle ...?«

»Swedenborg?«

»Ja, Swedenborg.«

Schwedenklee gestand nicht ein, daß er diesen Namen heute zum erstenmal
hörte.

»Oft scheint es mir, als ob diese Großstädte Exponenten der
Swedenborgschen Hölle seien: riesenhafte Kloaken, in die Tag und Nacht,
ohne Unterbrechung, der Schmutz rinnt, Bordelle, Mördergruben,
infernalische Verneinungen des göttlichen Gedankens!«

Der kleine Arzt fröstelte.

»Ja, in der Tat, vielleicht leben wir mitten in der Hölle, ohne es zu
wissen! Vielleicht sind all unsere Freunde, die jetzt da droben Karten
spielen, nichts als Teufel, Gespenster, Verdammte, Verfluchte ...«
Bleich und erschöpft von der Stubenluft blinzelte der berühmte
Nervenarzt in Schwedenklees rotes Gesicht.

Plötzlich lächelte Schwedenklee und streckte dem Arzt die Hand hin.
»Hölle hin, Hölle her!« rief er mit einem sieghaften Lächeln. »Das Leben
ist doch schön! Gute Nacht, Doktor!«

»Trotzdem« -- der Arzt berührte wohlwollend Schwedenklees Ärmel --
»sollten Sie sich etwas Ruhe gönnen. Gehen Sie doch in Ihre Villa an der
Ostsee!«

»Jetzt, im April? Sie ahnen nicht, Doktor, wie entsetzlich kalt es da
oben ist. Übrigens regnet es immer. Nein, danke herzlich!«

Schwedenklee stand und sah dem kleinen, unsicher gehenden Arzt, der
Kapazität, betroffen nach. Welch eindringliche Ermahnungen! Und
»Fegefeuer, Gespenster --«?

»Ja,« sagte Schwedenklee, »vielleicht hat er sogar recht! Aber, was für
eine Welt wäre das -- ein Betrug, nichts sonst! Und doch --?«

In tiefes Nachdenken versunken ging er weiter. Es half nichts, daß er
die vorübergehenden Frauen musterte, um sich zu zerstreuen. Ein Paar
herrische, schöne Augen leuchteten aus der feuchten Dunkelheit der Bäume
-- vergebens.

Schwedenklee atmete die laue Luft ein, er blickte in das knospende Geäst
der hohen Bäume empor, sah die Sterne durch das leichte, schillernde
Gewölk am Himmel jagen -- aber seine Gedanken wurden düsterer und
düsterer. Immer schwerer wurde die Last auf seinem Herzen.

Endlich blieb er stehen und holte tief Atem.

»Ja,« sagte er halblaut vor sich hin, »vielleicht sind wir in der Tat
von Gespenstern umgeben und vielleicht ist es _wahr_, daß die Toten nach
mir greifen!« Und er nickte ein paarmal schwer mit dem Kopfe.

Wie? Schwedenklee?

Wie ist es möglich, daß gerade er, Schwedenklee, der immer gut Gelaunte,
Strahlende, der vom Glück Umschmeichelte, von der Melancholie übermannt
wird?




                                   4


Beruhigend brennt die grüne Schirmlampe auf dem riesigen
Diplomatenschreibtisch. Besänftigend blicken all die vertrauten Dinge
des Arbeitszimmers. Dort die Büste der Nubierin. Sie lächelt
vertraulich, fast etwas verschämt.

Schon scheint das Düstere nicht mehr so drohend.

In weichen gefütterten Hausschuhen gleitet Schwedenklee über den
Teppich, sein Blick wandert über die Decke. Schwedenklee schüttelt
abwehrend den Kopf. »Es ist ja alles Unsinn!« sagt er zu sich. »Diese
pathetische Phrase von den Toten -- und auch das mit dem kalten Hauch!«

In der letzten Zeit war es ihm zuweilen gewesen, als ob ihm ein kalter
Hauch ins Genick blase.

»Alles Unsinn! Es sind deine Nerven, mein Freund! Wie kann ein Brief,
ein unsinniger Brief -- ja, wie ist es nur möglich?«

Schwedenklee bleibt stehen und mustert entschlossen den riesigen
Diplomatenschreibtisch. Plötzlich steuert er mit zwei, drei großen
Schritten auf den Schreibtisch zu und zieht, etwas asthmatisch atmend,
die unterste Schublade heraus.

Es ist das beste! Er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen,
da es sich als unmöglich herausstellte, darüber hinwegzugleiten. Es war
feige, keine Worte, _nicht nachzuforschen_! Nein, heute hatte es ihm bei
den Karten keine Ruhe mehr gelassen ...

Diese Schublade stellte er auf einen niedrigen Rauchtisch und
betrachtete, schon wieder etwas mutlos, den Wust von Karten, Bildern,
Briefen, Theaterzetteln. Sogar eine graue Seidenschleife befand sich
darunter.

Schwedenklee warf sich in einen Sessel und streckte die Hand nach einem
der vergilbten Briefe aus. Aber schon erhob er sich wieder. Er entkorkte
eine Flasche Bordeaux und zündete sich umständlich -- um Zeit zu
gewinnen -- eine Zigarre an.

Ja, nun war er bereit!

»Eine von euch weilt also nicht mehr unter den Lebenden!« sagte er laut,
um sich Mut zu machen, und blies heftig in die Zigarre. Eine leise, aber
nicht quälende, ja fast angenehme Trauer überkam ihn. Ja, es ist
sonderbar, er fühlte sich sogar als eine gewissermaßen wichtige
Persönlichkeit, weil eine jener Frauen, die er geliebt hatte, schon ins
Reich der Schatten entwichen war.

»Und sie gedachte meiner noch in ihrer letzten Stunde!« Wieder schwebte
Schwedenklee in den gefütterten Hausschuhen hin und her. Dann aber warf
er sich in den Sessel und griff entschlossen mitten in die vergilbten
Briefe hinein.

Dieses graue Seidenband -- o, so deutlich erinnerte er sich -- vor
Jahren schmückte es Lissis blonden lockeren Haarschopf. Und es fiel ihm
ein: wie sie einmal unerwartet in sein Zimmer stürmte, es war im Winter,
Schneegestöber. Ihr Pelz war dick mit Schnee bedeckt -- und so, wie sie
war, im beschneiten Pelz, schloß er sie in die Arme. Noch heute fühlte
er die stechende Kälte der einzelnen Schneekristalle ... Und hier ist
eine Karte von Lissi, aus Oberhof, Lissi im Skikostüm.

Nein, Lissi, die Heitere, war es gewiß nicht! Lissi kann nicht sterben!
Sie saß jetzt irgendwo in Nizza oder Gardone in der Diele eines Hotels
und blies lächelnd den Rauch der Zigarette in die Luft.

Schwedenklee zog einen vergilbten Brief aus der Lade und begann ihn mit
hochgezogenen Brauen zu lesen. Er erinnerte sich an diesen Brief nicht
mehr! Wie? Er erinnerte sich auch nicht, jemals auf der Rennbahn in
Karlshorst gewesen zu sein? Der Brief war signiert: M. Z.? Wer war M.
Z.? Vorwürfe, Beteuerungen, Verdächtigungen, Küsse -- voller Interesse
las er den Brief vom Anfang bis zum Ende.

Aber wie merkwürdig -- und er erinnerte sich gar nicht mehr!

Schwedenklee schlug die Schenkel behaglich übereinander und machte es
sich im Sessel bequem: Diese Briefe, diese Erinnerungen waren weder so
langweilig, noch so erschreckend, noch so unangenehm, wie er es
befürchtet hatte.

Wo mochte, zum Beispiel, jetzt diese Martha sein, die ihn Sonnabend ein
Viertel vor acht im Foyer des Lessingtheaters erwartete? Sie hatte wohl
einen kleinen Beamten geheiratet und schlief jetzt Seite an Seite mit
ihrem Gatten. Breit und weich waren ihre Hüften, eine schneeweiße, etwas
volle Büste hatte sie, und plötzlich erinnerte er sich an den Geruch
ihres Körpers: süße, frischgemolkene Milch. Martha schwärmte fürs
Theater, wöchentlich zweimal führte er sie aus. Dann soupierten sie
irgendwo, um bei ihm noch eine Tasse Kaffee zu trinken. Nie hatte er
eine bescheidenere, sanftere Frau gekannt.

»So geht das Leben dahin!« sagte Schwedenklee und legte die Karte zur
Seite.

Wer war Otti? Unmöglich, sich rasch an alles zu erinnern. Sie schrieb
etwas von Halensee -- ja, o richtig, es war Otti mit der Matrosenbluse!
Eine zierliche Stenotypistin, mit der er vor Jahren eine kleine Liebelei
unterhielt. Otti liebte es, in zweitklassigen Lokalen zu tanzen und sich
den frechen Blicken der Männer preiszugeben, die sie erregten. Sie war
eitel auf ihre Beine, edle, rassige Beine, glatt und hart wie Elfenbein,
und diese Beine stellte sie gern zur Schau. Auf Zurufe antwortete sie
mit seltener Schlagfertigkeit, wobei sie das Stupsnäschen keck in die
Luft warf. Unaufhörlich wanderten die Blicke ihrer großen blassen Augen,
unausgesetzt auf der Suche nach neuen Abenteuern, neuen Erregungen.
Sobald aber er auch nur einen Seitenblick wagte --! Verwirrend süß, die
Ungerechtigkeit der Frauen!

Ihre Lippen waren breit und weich, dachte Schwedenklee, und sie standen
immer vor Erregung etwas offen. Ihre Brüste aber waren klein und spitz,
die Knospen waren deutlich unter der Bluse zu erkennen und gerade darauf
war Otti stolz.

»Hoffentlich aber haben wir Ottis Abschiedsbrief noch!« Ja, er erinnerte
sich jetzt plötzlich, daß sie ihm einen solch amüsanten Abschiedsbrief
geschrieben hatte, seinerzeit, und er suchte ihn hastig in heiterster
Laune.

Er hatte damals, als er mit dem Kompagnon das Haus am Kurfürstendamm
baute, das ihn beinahe ruiniert hätte, Otti in sein Bureau genommen. Ein
unverzeihlicher Fehler! Otti erschien, wann es ihr behagte, saß rauchend
bald auf diesem, bald auf jenem Zeichentisch, kokettierte mit dem
Kompagnon, zeigte allen Besuchern ihre schönen Beine -- kurz und gut, er
mußte, so leid es ihm tat, eines Tages ein offenes Wort mit ihr reden.
Es gab eine schreckliche Szene, an die er sich jetzt voller Behagen
erinnerte. Diese kleine Otti bebte vor Wut, und ehe er es sich versah,
schlug sie ihm mit ihrer kleinen, festen Hand ins Gesicht. Ja,
tatsächlich! Und dann schrieb sie ihm einen Brief, er entsann sich
genau, einen äußerst drolligen Brief.

Hier ist er!

Laut auflachend las Schwedenklee diesen Brief.

Ja, sie, Otti, wußte es schon vom ersten Tage an, daß sein Wesen im
Grunde genommen ordinär war, obgleich er sich immer so aufspiele. Und
wie geizig er doch sei: welche Vorwürfe -- ein Dutzend Seidenstrümpfe,
zwei Paar Tanzschuhe, ein Sommerhut -- nein, nicht geizig, einfach
schmutzig war er! Ja, sie, Otti, würde wohl nicht so verrückt sein und
ihm die tausend Mark, die er ihr geliehen hatte, zurückzahlen, nein, für
so wahnsinnig werde er sie gewiß nicht halten. »Was die Ohrfeige
betrifft,« schloß Otti, »so wird es mir noch in meiner letzten Stunde
eine Befriedigung sein, daß ich Dich in Dein hochmütiges, aufgeblasenes
Gesicht geschlagen habe, auf das Du Dir so viel einbildest.«

Noch in ihrer letzten Stunde! Schwedenklee lachte so laut, daß er husten
mußte und seine rote Zunge herausfuhr. »Auf deine Gesundheit, Otti!«

Schwedenklee hatte nie Mangel an Frauen gelitten. Er war wohl keine
Schönheit, aber er war auch nicht häßlich, und wenn er lächelte -- seine
Lippen waren voll und schön geschwungen --, so erhielt sein Gesicht
sogar einen angenehmen Ausdruck. Er war elegant und er hatte stets Geld.
Er besaß eine schöne, behagliche Wohnung und er war gesund. In der Tat,
Schwedenklee konnte den Frauen etwas bieten. Schon als Student hatte er
vor den Kameraden einen nicht zu unterschätzenden Vorsprung gehabt. Er
verstand es ja ebenso gut wie sie, schöne Worte zu machen und
schlagfertig zu antworten, aber es reichte bei ihm noch etwas weiter: zu
einem kleinen Blumenstrauß, zu einer Einladung in eine Konditorei --
siehst du!

Schwedenklee wählte für gewöhnlich die Frauen aus der sozialen Schicht,
die gerade etwas unter der seinen lag. Diese Frauen schienen ihm am
umgänglichsten. Natürlich gab es auch Ausnahmen, und zuweilen mußte er
alle seine Energie aufbieten, um sich nicht zu verlieren. Man denke an
die Base!

Nein, nein, Schwedenklee hatte geschworen, seine Freiheit nie
aufzugeben! Man konnte als Junggeselle tun und lassen, was man wollte.
Willst du ein Theater besuchen, so gehst du, ziehst du im letzten
Augenblick doch das Café vor, nun so wendest du noch im Foyer um. Du
willst ein paar Tage reisen, gut, du reisest, du wählst Reisetag und Zug
ganz nach deinem Belieben. Einmal verheiratet, ist es mit aller Freiheit
vorbei. Jeder deiner Schritte wird beobachtet, wann du dich niederlegst,
wann du aufstehst, alles. Deine Frau erkrankt, das Kind hustet, schon
telephonierst du erschrocken nach dem Arzt. Es könnte ein Unglück
geschehen -- nein, daran wollte er gar nicht denken! Als er die Mutter
verlor, war er ein leichtsinniger Student, der es nicht allzu schwer
nahm -- als sein Vater starb, war er schon gereift genug, um sich zu
beherrschen. Es war sein letzter wirklicher Schmerz. Nein, nein,
Schwedenklee hatte alles genau durchdacht, es war am besten so, wie es
war, und damit genug! Er wollte keine Aufregungen, keine Spannungen,
keine Qualen.

Konnte man -- um nur etwas zu sagen -- als Ehemann mitten in der Nacht
in einem bequemen Sessel sitzen, bei einer Flasche Wein und einer
Zigarre, und in alten Liebesbriefen und Erinnerungen wühlen?

Wie? Versuch' es. Und dazu, solange man wollte, es konnte Morgen werden
...

Da war noch diese und jene Freundin -- diese und andere, in Rom, in
Paris, in Wien -- alle zogen sie vorüber: jung, heiter, strahlend.
Tanzfeste, Ausflüge, eine Reise im Schlafwagen, eine Dampferfahrt nach
Kopenhagen, ein kleiner Abstecher ins Holländische ...

Alle diese Freundinnen gehörten mit wenigen Ausnahmen jener bequemen
sozialen Schicht an, die um ein Etwas tiefer lag als Schwedenklees
Gesellschaftsklasse. Es waren Stenotypistinnen, Modistinnen,
Erzieherinnen, kleine Schauspielerinnen, Tänzerinnen, sogar eine Dame
vom Varieté war dabei. Sie alle waren gierig nach dem Leben, wollten
zuweilen in einem eleganten Restaurant dinieren, wie feine Damen,
wollten zu einem Rennen fahren, im Auto über den Kurfürstendamm rollen,
wollten eine Oper besuchen, um vor ihren Freundinnen damit prahlen zu
können. Eine kleine Reise, lieber Himmel, wie wunderbar, ein Paar
Sommerschuhchen mit Seidenstrümpfen, herrlich! Ein Ausflug aufs Land,
mein Gott, sie wurden sofort um Jahre jünger, dreizehn, plapperten wie
Kinder. Sie genossen jede Kleinigkeit, das Nichts selbst, diese guten
Geschöpfe, schlürften, waren berauscht. Sie schrien vor Erregung, wenn
das Pferd, auf das sie gesetzt hatten, mit einer vollen Länge in den
Einlauf einbog, und zerbrachen den Sonnenschirm, wenn es knapp vor dem
Ziel noch geschlagen wurde.

Es war nicht schwierig, ihre Bekanntschaft zu machen. Schwedenklee war,
es ist die Wahrheit, in gewissem Sinne schüchtern, und das Herz schlug
ihm im Halse vor jedem Abenteuer, aber es gelang fast immer. Schwieriger
war es schon, sie, wie er es nannte, »in der rechten Distanz zu halten«.
O, oft war es eine Kunst! Sie durften in ihren Gefühlen und Ansprüchen
niemals eine gewisse Linie überschreiten, die Beziehungen mußten leicht
und immer unverbindlich bleiben. Und doch lag es im Wesen dieser
Sehnsüchtigen, diese Linie stündlich, in jeder Minute zu verletzen.

Das schwierigste aber war es, sie zu verabschieden! Ein unerfreuliches
Kapitel. Wirkliches oder geheucheltes Erkalten der Empfindungen, eine
vorgebliche Geschäftsreise, etwas Schauspielerei -- und, wenn es sein
mußte, sogar Härte! Es fiel Schwedenklee nicht leicht, Härte zu zeigen.
Zorn, Tränen, verzweifelte Briefe, Drohungen. Nein, nicht immer ging es
so leicht und einfach wie bei Otti, die einfach auf ihn einschlug und
einen rasenden Brief schrieb.

Schwedenklee saß hingestreckt in dem bequemen Ledersessel, die Beine
übereinandergeschlagen, die Zigarre im Mund, und sah zur Decke empor.
Der Wein ging zur Neige, er war in eine warme, heitere Laune geraten.
Die Stunden flogen. Lächelnd, träumerisch war Schwedenklees Miene.

Gestehen wir es nur, er hatte es verstanden, sein Leben zu genießen!
Seine Freundinnen waren alle gute, liebe Geschöpfe gewesen, auch Otti
natürlich, er hatte wenige, fast keine Enttäuschungen mit ihnen erlebt.

Sonderbar, er hatte sie fast alle vergessen! Er erinnerte sich kaum noch
an ihr Aussehen, die Züge waren in seinem Gedächtnis verblaßt. Welche
Farbe hatten, zum Beispiel, ihre Augen? Die Farbe der Haare war
einigermaßen haften geblieben, ähnlich wie die Haare sich in den Gräbern
am längsten erhalten, wenn alles andere längst vermodert ist. Einzelne
hatten nicht den geringsten Eindruck hinterlassen, von anderen wußte er
nur, daß sie groß oder daß sie klein und zierlich waren. Von Otti hatte
er am klarsten die Matrosenbluse in Erinnerung und, wie gesagt, die
herrlichen Beine. Von einer Tänzerin wußte er noch, daß sie hohe
Straßenstiefelchen trug, aus einem Leder wie graue rauhe
Glacéhandschuhe. Von einer Französin war kaum mehr in seinem Gedächtnis
verblieben, als daß sie einen Bleistift mit den nackten Zehen hochheben
konnte.

Für eine gewisse Ellen, eine Schauspielerin, hatte er fortwährend Villen
und Landhäuser entwerfen müssen, mit einem Schwimmbassin, das in ein
Palmenhaus eingebaut war. Er erinnerte sich an Ellens zarte
Fingerspitzen, die leise bebten, wenn sie ihn berührte. Diese Ellen
errötete leicht und sehr merkwürdig. Ihre Haut war sehr zart, und die
Röte überflog ganz unvermittelt wie ein Gluthauch ihr Gesicht und
bedeckte auch Hals und Nacken. Nichts sonst fiel ihm in dieser Sekunde
von Ellen ein.

Eine andere quälte ihn eifersüchtig, und ihre schwarzen Augen funkelten.
Die Tänzerin sah er vor sich, wie sie im Varieté auftrat, abwechselnd
kalkgrün und korallenrot beleuchtet. Ihre Züge waren ihm entfallen, aber
er erinnerte sich, daß sie beim Souper nach dem Theater immer noch etwas
Farbe von der Schminke um die Augenlider hatte. Das sah ungeheuer
interessant aus.

Berta mit dem pechschwarzen, schnurgeraden Scheitel hatte die Unart an
sich, in den Restaurants unbemerkt kleine Brotkugeln nach den
Nachbartischen zu werfen. Sie trug eine Narbe von einer
Blinddarmoperation am Leibe, und diese silbrige Narbe sah er ganz scharf
vor sich. Die Dame vom Varieté, die er bald verabschiedete, weil sie
täglich größere Ansprüche stellte, liebte es, eine schwermütige Miene
anzunehmen, während sie ihn mit ihren glasig-glänzenden braunen
Tieraugen ansah, um dann seufzend zu lächeln und ihr herrliches Gebiß zu
zeigen.

Hier, siehst du, Schwedenklee, ist ein kleines, von schwarzen Haaren
umflattertes Gesichtchen, das große Tränen in den schönen Augen hat. Und
hier, Schwedenklee, da ist sie, wie hieß sie doch gleich, sie konnte so
wunderbar lachen! Sie war eine Virtuosin im Lachen, sie steckte die
Nachbartische an, sie gab Gastspiele im Lachen -- ach Gott, wie hieß sie
denn? Sie ging von dir zu einem Karikaturenzeichner über, der sie dann
hundertmal zeichnete, in allen Witzblättern war sie zu sehen. Es wird
ihr wohl nicht schlecht ergangen sein -- wir wünschen es ihr.

Und da: Hanny im Schlafwagen -- mit der kleinen blauseidenen Nachthaube
...

Schwedenklee saß und träumte. Er war so tief in Gedanken versunken, daß
er regungslos zur Decke blickte und in der Tat mehr schlief als wachte.
Aus seinem vollen, satten Gesicht stieg kerzengerade der Rauch der
Zigarre.

Die Gesichte glitten ineinander; ein Rücken wie aus frischgefallenem
Schnee geformt, ein Haarschopf, der im Nacken funkelt, rasche,
flüchtende nackte Füße, ein Knie, wie aus der Hand Rodins, zitternde
Hände, die das Haar aufstecken ...

Sonderbar! Schwedenklee sah fast keine seiner Freundinnen wieder, sobald
er sich von ihnen getrennt hatte. Berlin verschlang sie, die Welt, das
große Leben verschlang sie, ohne daß sie je wieder auftauchten. Sie
verwehten wie die Blätter im Walde.

Schwedenklee sitzt inmitten einer Wolke von Träumen, der Zauber
versunkener Herrlichkeiten hat ihn gebannt. Das Leben! Gab es etwas
Wunderbareres als dieses verwirrende, unverständliche, dreimal
verfluchte, dreimal gepriesene Leben? Er lächelt, und sein Lächeln
verändert sich nicht mehr. Er ist glücklich.




                                   5


»Aber Rosa?«

Plötzlich sprang Schwedenklee auf und ging mit erregten Schritten in den
gefütterten Hausschuhen hin und her. Es war schon zwei Uhr morgens. Erst
in diesem Augenblick war ihm wieder eingefallen, aus welchem Anlaß er
nach den verblaßten Briefen gegriffen hatte.

»Aber Rosa? Wer ist diese Rosa?«

Unter all den Frauen gab es ja keine Rosa weit und breit! Wer war also
diese Rosa, von der ihm dieser Unbekannte geschrieben hatte?

Geschrieben hatte --? Also hatte Augusta, die sonst wenig scharf
beobachtete, doch recht, daß ein Brief -- irgendein sonderbarer Brief --
die Veränderung in Schwedenklees Laune hervorgerufen hatte!

»Wie kommt dieser Unglückselige überhaupt dazu, mir, einem Unbekannten,
zu schreiben?« fuhr Schwedenklee fast drohend fort.

In großer, ja förmlich unbegreiflicher, krankhafter Erregung eilte
Schwedenklee im Zimmer auf und ab.

»Wie kommt dieser Unbekannte dazu?«

»Vielleicht aber hat diesen Unglückseligen der Verlust seiner Gattin um
den Verstand gebracht -- wie?«

»Rosa? Rosa? Aber, zum Satan, es gibt ja keine Rosa!«

»Vielleicht habe ich sie einmal gekannt, möglich -- ganz flüchtig,
vielleicht gab sie einen falschen Namen an -- alles ist möglich!«

»Möglich, ja, natürlich! Was sollte sie dann aber bewegen, sich nach
Jahren, in der Stunde ihres Todes, meiner zu erinnern --?«

Ja, unbegreiflich, unverständlich, ganz unerklärlich!

»Oder --?« Schwedenklee blieb mit einem triumphierenden Lächeln stehen.

O ja! Auch das war recht gut denkbar!

Vielleicht war dieser Unglückselige gar kein fassungsloser Ehemann, der
seine Frau betrauerte? Wie? Vielleicht war er nicht mehr und nicht
weniger als ein Schwindler, der einen Pumpversuch schlau einleitete? Ein
Erpresser? Schwedenklee war geneigt, sich wegen seines Scharfsinns
selbst zu bewundern. »Man braucht nur die Zeitungen zu öffnen, beim
großen Gott, welche Sorte von Spitzbuben haust in diesem Berlin! Sie
simulieren epileptische Anfälle in der Untergrundbahn, um die
mitleidigen Reisenden ungestört ausplündern zu können -- sie verfallen
auf die unmöglichsten Dinge! Ein Freund übersendet dir ein Billett zur
Oper, du gehst hin, und unterdessen plündern sie dir die Wohnung aus.«

»Nein, mein Freund, du bist an den Unrechten gekommen. So einfach ist
die Sache mit mir nicht!« rief Schwedenklee mit überlegenem Lächeln aus.
Aber schon klang sein Lachen wieder unsicher, schon wurde er wieder
nachdenklich.

Der _Ton_ dieser Briefe! Denn Schwedenklee hatte ja nicht einen, er
hatte _eine Reihe_ von Briefen erhalten -- seit Wochen erhielt er
Briefe! Und diese Briefe waren es ja, die in der letzten Zeit seinen
Gemütszustand so sehr beeinflußten. Der _Ton_ dieser Briefe war ohne
Zweifel -- _echt_!

»Prüfen wir, überlegen wir,« rief Schwedenklee eifrig, schon etwas
berauscht -- »weshalb diese unsinnige Beunruhigung? Wir werden, wenn es
nicht anders geht, den Unglückseligen selbst aufsuchen. Ja, selbst, das
wird das allerbeste sein!«

In dieser Minute war Schwedenklee außergewöhnlich mutig und
entschlossen. Er kam sich in seiner Entschlossenheit fast verwegen vor
-- beinahe wie Don Juan, der mitten in der Nacht im Friedhof das
Standbild des Comturs zu Tische lädt.

»Gehen wir der Sache auf den Grund!«

Aus einem Winkel der Bibliothek zog er einen Stoß Briefe hervor.

Fast überkam ihn wieder Kleinmut. Wozu schließlich? Was kümmerte ihn das
Schicksal dieses Unbekannten?

Schwedenklee hatte diese Briefe nie richtig gelesen -- nur durchflogen,
unwillig, ungehalten -- und doch im Tiefsten, ohne ersichtlichen Grund!
erschrocken. Drohung des Schicksals ging von diesen Blättern aus und
dumpfe Traurigkeit. Sie rochen nach welken Kränzen, und diesen Geruch
hatte er noch deutlich in der Erinnerung von der Beerdigung des alten
Schwedenklee her. Er haßte diesen Geruch von Moder, er haßte diese
Kränze in den Blumengeschäften, mit den Aufschriften in bleicher
Silberschrift auf den schwarzen Seidenbändern. Er schloß sogar die
Augen, wenn er an einem jener Geschäfte mit den häßlichen plumpen Särgen
vorbeiging, deren öffentliche Ausstellung die Polizei, die sich sonst in
alles mischt, verbieten sollte. Diese Särge waren in der Tat solch
unglaubliche Monstrositäten, daß Schwedenklee sich einmal die Mühe
genommen hatte, einige Särge zu entwerfen, die nobel und würdig
aussahen, wie sie eigentlich sein sollten. Er haßte wie gesagt alles,
was mit dem Tode und den Zeremonien der Bestattung zusammenhing. Vor
zwei Jahren war einer der Kartenspieler gestorben, der Doktor Helm, ein
Landgerichtsrat, ein sympathischer Mann -- einige der Spieler waren zur
Beerdigung gegangen, aber Schwedenklee hatte sich wohl gehütet.

Er liebte es nicht, an den Tod zu denken, nein, ganz im Gegenteil, diese
Gedanken haßte er! Manchmal erwachte er mitten in der Nacht und mußte
daran denken, daß auch er einmal sterben mußte! Diese entsetzliche
Stunde wird kommen, so sicher wie etwas -- er sah sich liegen, er
röchelte noch, eine Pflegerin stand am Bett mit einer Kompresse. Oh, es
konnte auch ganz anders sein! Zum Beispiel, ein Autobus konnte ihn auf
der Potsdamer Straße zermalmen. Diese Gedanken folterten ihn zuweilen
derart, daß er Licht machen mußte. Und doch, die Menschen lebten dahin,
lachten, rauchten Zigarren, spielten Billard, tanzten -- unbegreiflich!

Aus all diesen Gründen machte er sich hart und gefühllos gegen das
Geschick dieses Unglücklichen, den der Schmerz gezwungen hatte, an ihn,
Schwedenklee, zu schreiben.

»Nun wohl«, sagte Schwedenklee und setzte sich, ergeben in sein
Schicksal, zurecht. »Dieser hier, ohne Trauerrand, war der erste!«

Schwedenklee holte tief Atem.

»Mein Herr!« Schon diese fahrige Schrift, diese Gespenster von
Buchstaben! »Ich fühle mich gedrängt, Ihnen mitzuteilen, daß eine Frau,
die wir beide geliebt haben -- heute abend nach langem Krankenlager zur
ewigen Ruhe heimgegangen ist. Das edelste Frauenherz hat aufgehört zu
schlagen. Rosa hielt ein Leben lang die Freundschaft, die sie einst mit
Ihnen verband, hoch in Ehren. Es wird Ihnen gewiß ein Bedürfnis sein,
der edlen Verblichenen die letzte Ehre zu erweisen. Die Beisetzung
findet am Freitag, den 21., statt ... In tiefstem Schmerz -- Edgar
Blank, ehemaliger Hofopernsänger.«

Schwedenklee las den Brief mit fast der gleichen Verwunderung,
Verblüffung, dem gleichen leisen Grauen, wie vor Wochen, da er ihn
erhalten hatte. In einer Art von leichter Lähmung hielt ihn der Sessel
fest.

Was sagt man dazu? Er war natürlich nicht zur Beerdigung gegangen, wie
sollte es ihm in den Sinn kommen -- eine ihm völlig Unbekannte! Als er
seinen Vater begraben hatte, hatte er sich geschworen, nie mehr einer
solchen Zeremonie beizuwohnen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
Unvergeßlich war ihm dieser schreckliche Vormittag. Der alte
Schwedenklee ließ sich verbrennen. Im Krematorium warteten schon mehrere
Parteien, und Schwedenklee geriet, noch heute empfand er die
Peinlichkeit, zuerst in eine falsche Gruppe von Seidenhüten. Alle hatten
Eile. Dann sank der Sarg in die Versenkung. Der alte Schwedenklee hatte
noch im Alter den typischen Kopf eines Maurers gehabt, mit etwas zu
langem Schnurrbart, etwas abstehenden Ohren und verwittertem Gesicht.
Als der Sarg sank, verwandelte sich, so schien es Schwedenklee, der
ganze Sarg in den Kopf des Vaters. Schwedenklee jagte voller Schrecken
nach Hause, und noch heute sah er, wie der langsam sinkende Sarg sich in
den Kopf des Vaters verwandelte, noch heute hörte er das fürchterliche
kalte Klirren der sich schließenden Eisenplatten.

Der zweite Brief des Unglücklichen schilderte ausführlich die Beerdigung
der Unbekannten. »Wir haben heute Rosa zu Grabe getragen. Sie sind nicht
gekommen! Es hätte die Tote geehrt. Aber vielleicht sind Sie gar nicht
in Berlin. Vielleicht hat mein erster Brief Sie überhaupt nicht
erreicht! Wir waren nur zwei im Trauergefolge, von den Trägern
abgesehen. Ein jämmerliches Trauergefolge -- und doch jubelten Rosa
früher auf der Bühne Tausende zu -- vergessen und einsam ging sie zur
Ruhe, und selbst Sie, den sie ihren Freund nannte, sind nicht gekommen
...«

Diesen Brief hatte Schwedenklee vor Wochen, als er ihn empfing, entsetzt
zur Seite gelegt, ohne ihn zu Ende zu lesen. Der Briefschreiber verlor
sich selbstquälerisch in all die traurigen Einzelheiten: der Regen, der
Schmutz, die Grabsteine, der Trott der Sargträger, das lehmige Grab --.

»-- ich schäme mich nicht, Ihnen zu bekennen, daß mich der Schmerz
übermannte, als der Sarg hinabglitt. Ich schrie und fiel zu Boden ...«

Schwedenklee war erbleicht und wischte sich die Stirn ab. Er ging auf
und ab in seinen weichen Schuhen und suchte Beruhigung bei einer neuen
Zigarre. Man durfte nicht vergessen, daß ein Unglücklicher diesen Brief
schrieb!

Aber Rosa? Ja, bei Gott, wer sollte --?

Vielleicht war es ein Mißverständnis, eine Verwechselung --? Aber nein,
nein, in einem der Briefe schrieb der Unglückliche, daß Rosa mit
Schwedenklee in dem und dem Jahre in Paris zusammengetroffen sei. Er,
Schwedenklee, habe damals im Hotel Panthéon gewohnt. Alles stimmte.

In einem der zuletzt eingetroffenen Briefe drückte der Unbekannte seine
Verwunderung darüber aus, daß Schwedenklee sich in Stillschweigen hülle.
»Ich habe mir in meinem letzten Brief«, schrieb er, »die Freiheit
genommen, anzudeuten, daß ich glücklich wäre -- so weit ich es in dieser
Zeit sein kann -- wenn ich Sie aufsuchen dürfte. Ich habe zwei Wochen
vergebens gewartet. Sie zögern, aus welchem Grund? Ich weiß, daß Sie in
Berlin sind. Vielleicht erscheine ich aufdringlich. Befürchten Sie
nichts. Ich befinde mich in tiefer Not, ich bin ein Bettler, aber nichts
läge mir ferner, als Rosas freundschaftliche Beziehung zu Ihnen zu
beflecken. Was ich wünsche, ist, einen Menschen zu sprechen, der Rosa
kannte, den Rosa liebte -- ich wiederhole: liebte!«

Schwedenklee schüttelte den Kopf. Immer wirrer, dunkler schien das
Labyrinth. Ein Unglücklicher wollte sich in seinem Schmerze an ihm
aufrichten!

Den Rosa liebte --? War es möglich, daß eine der vielen, die durch sein
Leben gegangen waren, noch nach zwanzig Jahren seiner gedachte? Daß eine
der vielen, die er »in der nötigen Distanz hielt«, für ihn eine
wirkliche Liebe empfunden haben sollte?

»Ich werde ihn besuchen«, beschloß Schwedenklee mit feierlichem Ernst.
»Morgen -- und wenn es morgen nicht geht, spätestens übermorgen.« Er war
plötzlich von schwerer Müdigkeit überwältigt worden. Der Wein, die
Zigarren ...

Fast augenblicklich schlief Schwedenklee hinter den hellgrünen
Seidenvorhängen ein.




                                   6


Schwedenklee hatte in dieser Nacht verworrene, aber angenehme Träume:
Fremde, phantastische Landschaften, transparente Wälder, glühende Meere,
fremde, bezaubernd schöne Städte, unwirklich, wie aus Alabaster
geschnitten, sonderbare Begegnungen, seltsame Abenteuer, Frauen,
bekannte und fremde, eigenartig, aber alle in Tun und Gefühl nach ihm,
Schwedenklee, strebend. Er war umdrängt von Zuneigung, von Bewunderung,
von Liebe, es war ein großer und einziger Reichtum, man verschwendete
sich an ihn. Er genoß diese Bevorzugung, sie schien ihm
selbstverständlich, und gerade der Umstand, daß sie selbstverständlich
schien, erfüllte seine Seele mit Ruhe und Heiterkeit.

Trotz der angenehmen Träume erwachte Schwedenklee spät am Morgen in
gereizter Laune und mit schmerzenden Schläfen. Er nahm sein Bad, und von
der Badewanne aus gab er das dreimalige Klingelzeichen zum Frühstück, so
scharf und hart, daß Augusta genau wußte, woran sie war. In grau- und
weißgestreiftem seidenen Pyjama betrat Schwedenklee das Speisezimmer.
Beschwörend hatte Augusta den Frühstückstisch gedeckt: Lachs und
Appetitsild, Oliven und gekochte Eier.

Schwedenklee näherte sich dem Tisch mit gerunzelten Brauen. Ein Brief!
Wieder ein Brief mit den Gespensterbuchstaben! Mit zitternder Hand nahm
ihn Schwedenklee auf.

»Sie verschmähen es, mir zu antworten. Sie ahnen wohl kaum, daß ich
Ihnen unter Umständen Mitteilungen machen könnte, die für Sie von
Wichtigkeit wären. Ich werde mir die Freiheit nehmen, bei Ihnen
anzurufen, und hoffe, daß Sie einer Begegnung nicht länger ausweichen.«

Schwedenklee war an diesem Morgen schonungsbedürftig. Er hatte in der
Nacht eine Flasche schweren Bordeaux getrunken -- hingerissen von den
Erinnerungen, er hatte ein halbes Dutzend Zigarren geraucht. Er war
übernächtig, abgespannt, und seine Schläfe schmerzten.

Ohne zu denken, ohne die Herrlichkeiten des Frühstückstisches zu
beachten: Lachs, Appetitsild, Oliven, stürzte er an den Schreibtisch und
schrieb mit wütender Hand, ihn endlich gefälligst mit diesen sinnlosen
Zuschriften verschonen zu wollen. »Sie mögen der Ansicht sein, daß Sie
mir wichtige Mitteilungen zu machen haben, behalten Sie diese
Mitteilungen für sich, ich lege nicht den geringsten Wert darauf.«

Fort, Rohrpost -- augenblicklich!

Augusta zitterte, sie hatte ihren Gebieter nie mit solch zornrotem
Gesicht gesehen.

»Das überschreitet doch alle Grenzen!« schrie Schwedenklee wütend.

»Welche unverschämte Zudringlichkeit! Besuchen, habe ich gesagt, ich
will ihn besuchen? -- Aber ich bin doch kein Narr!«

Nun, nachdem er seinem Herzen Luft gemacht hatte, schmeckten all die
Leckerbissen des Frühstückstisches plötzlich wunderbar. Der Ärger
verflog, und Schwedenklee vertiefte sich in die Zeitung.

Sein Unmut verrauchte vollends. Der Ausbruch von Raserei kam ihm nun
selbst lächerlich vor. Als er das Frühstückszimmer verließ, hatte er
sich soweit wiedergefunden, daß es ihn befriedigte, den zudringlichen
Brief noch einmal in die Hand zu nehmen. Offenbar hatte der Unbekannte
dieses letzte Schreiben in der größten Erregung hingeworfen. Die
Buchstaben waren kaum zu entziffern. Mit einem verächtlichen Lächeln riß
Schwedenklee den Brief mitten durch -- die Antwort würde ihre Wirkung
nicht verfehlen, er hätte schon lange Schluß machen sollen.

Zu seinem Erstaunen entdeckte er aber plötzlich auf der Rückseite des
Briefbogens eine Nachschrift!

»Ihr mir so unverständliches Verhalten, Ihre unbegreifliche
Gleichgültigkeit kann ich mir nur so erklären, daß Sie sich offenbar
nicht mehr entsinnen, wer Rosa ist -- oder leider -- war, dieser Gedanke
zuckt eben durch mein _krankes_ Gehirn! Rosa, meine geliebte Frau, die
ich, selbst dem Tode nahe, betrauere, war eine geborene Rosa Ellen
Fröhlich, ihr Bühnenname lautete Rosa Froh.«

                   *       *       *       *       *

Eine leise Lähmung befiel die Hand, die den Brief hielt. »Ellen
Fröhlich!« sagte Schwedenklee leise. »Dieses reizende Geschöpf! Sie also
...«

Ein leises flüchtiges Bedauern, andere Empfindungen der Trauer löste
diese Mitteilung nicht aus. Diese lebenslustige Frau, für die er Villen
und das berühmte Schwimmbassin entwerfen mußte! Sie, die so sonderbar
rasch errötete, die Röte überzog sogar den Nacken -- diese Arme, sie
schien nicht glücklich geworden zu sein ...

Und er, dieser Törichte, der sein Gehirn selbst ein _krankes_ Gehirn
nannte, hätte er ihm nicht schon früher sagen können, wer sich hinter
dieser Frau Rosa Blank versteckte?

Schwedenklee fühlte sich ordentlich erleichtert. Die Ungewißheit, das
Grübeln wider Willen hatten ihn gemartert. Was hatte er weiter mit der
ganzen Sache zu schaffen? Er hatte vier Wochen lang, oder vielleicht
sechs, eine Liebschaft mit dieser Frau gehabt, eine kleine reizende
Liebelei, vor achtzehn, zwanzig Jahren -- damals in Paris -- das war
alles.

Er instruierte Augusta, daß heute vormittag ein gewisser Herr Blank
anrufen werde. Sie möge sagen, er sei auf unbestimmte Zeit verreist.

In bester Laune kleidete er sich an, um auszugehen. Seit langen Tagen
kam endlich die Sonne wieder durch.

Schwedenklee war gerade mit der Toilette fertig, als das Telephon
klingelte.

Er öffnete die Türe und hörte Augusta mit weinerlicher Stimme einigemal
wiederholen, daß der Herr Oberbaurat verreist sei. Offenbar gab sich
Blank mit dieser Auskunft nicht zufrieden.

Augusta geriet in große Erregung. »Unverschämte Leute gibt es schon!«
rief sie aus, als sie abgehängt hatte.

»So und damit ist die Sache erledigt«, dachte Schwedenklee und begab
sich in ausgezeichneter Laune zu seinem Schneider in der
Charlottenstraße.

Bei diesem Schneider in der Charlottenstraße -- einer großen Firma --
war eine junge Dame, ein Fräulein Wiedehopf, als Buchhalterin tätig. Die
dicken, glänzend braunen Flechten turmartig über dem heiteren, offenen
Gesicht aufgebaut, die Fingernägel glänzend poliert, duftend nach
Frische, wie aus dem Ei geschält, ohne das kleinste Staubkörnchen -- auf
diese junge Dame hatte Schwedenklee seit einiger Zeit ein Auge geworfen.

»Ich lebe zu stumpfsinnig«, sagte er zu sich, als er dahinschlenderte.
»Immer das ewige Kaffeehaus. Dieses Leben bekommt dir nicht,
Schwedenklee. Wir werden diese kleine Wiedehopf heute abend zu >Figaros
Hochzeit< einladen.«

Unterwegs löste er Karten zur Oper, und obwohl die Schar der Verkäufer
und Zuschneider diesen weiblichen Schatz mit eifersüchtigen Blicken
bewachte, hatte er Fräulein Wiedehopf, ohne daß es irgendwie auffiel,
beim Hinausgehen zu >Figaros Hochzeit< eingeladen. Man mußte es nur
verstehen.




                                   7


Eine ganze Woche blieb Schwedenklee dem Kaffeehause fern. Theater,
Ballhäuser, Bars, sogar in ein Kino führte er die junge Dame mit den
turmartig aufgebauten Haaren und den glänzenden Fingernägeln.

Diese kleine Wiedehopf war verlobt, nahezu verlobt, der Auserwählte war
zur Zeit auf Reisen -- wie oft hatte er das schon gehört! Sie spielte
die Dame, ließ sich verwöhnen, lockte an, wehrte ab -- sie tat, bei
Gott, wie eine Generalstochter ...

Als Schwedenklee nach so langer Abwesenheit wieder das Kaffeehaus
aufsuchte, fand er die Spielergesellschaft von einer neuen Spielwut
besessen wieder. Man hatte die Karten verlassen und war zum Billard
übergegangen.

Man spielte »vom roten«. Jeder Billardspieler kennt dieses Spiel. Die
Karambolage wird nur dann gezählt, wenn der rote Ball zuerst getroffen
wurde. Es spielten drei bis vier der besten Spieler, und auf sie wurde
gesetzt wie auf Pferde.

Die Ärzte, die Rechtsanwälte, die Kaufleute, Spieler und Kiebitze,
Kellner saßen und standen in dichten Reihen um das Matchbillard herum,
in atemloser Spannung jeden Stoß verfolgend.

Schwedenklee wurde freudig begrüßt.

»Wie gut Sie aussehen, Schwedenklee!« rief der Nervenarzt Wittmann. »Sie
waren also doch verreist!«

»Nein, ich war hier, habe gearbeitet und abends ein bißchen
Zerstreuung.«

»Sie haben Ihr altes Aussehen wiederbekommen, prächtig!«

»Ah, der Herr Oberbaurat. Nun wird es interessant! Kellner, das Queue
des Herrn Oberbaurat!«

Sofort stiegen die Einsätze ums Dreifache.

Einige Abende hintereinander spielte Schwedenklee hier vier, fünf
Stunden »vom roten«. Es wurden hohe Summen umgesetzt. Seine Kopfstöße,
Rückzieher, Zwei- und Dreibänder riefen lautes Händeklatschen hervor.

Schwedenklee war bei bester Laune. Selbst das graue kreidige Antlitz des
alternden Künstlers, der nun häufiger ins Café kam, störte ihn in seinem
jetzigen Gemütszustande nicht mehr. Er genoß den Triumph. Nach dem
dritten Abend ließ er seinen schwarzseidenen weitärmeligen Billardkittel
von Augusta ins Kaffeehaus bringen, und nun konnte man fast meinen, es
mit einem Billardchampion zu tun zu haben. Er mußte seinen Gegnern
zuerst zwei Points auf zehn vorgeben, sodann drei. Je länger er spielte,
desto vollendeter wurde sein Spiel.

»Schwedenklee ist in großer Form!« Man tuschelte.

Es war Schwedenklee äußerst angenehm, für einige Abende Zerstreuung
gefunden zu haben: es war gewiß das beste Mittel, den Hochmut der
kleinen Wiedehopf zu beugen, wenn er eine Woche lang nichts von sich
hören ließ. Diese Methode nannte er die Methode des »Aushungerns«, im
Gegensatz zur Methode der »Belagerung«, die darin besteht,
ununterbrochen um die geliebte Frau zu werben, so daß sie -- wie
Schwedenklee sich ausdrückte -- überhaupt »nicht mehr zur Besinnung
kam«.

In der Tat, die Methode des Aushungerns schien Erfolg zu versprechen.
Fräulein Wiedehopf wurde mürbe, schrieb ein violettes Kärtchen: Weshalb
hört man nichts mehr von Ihnen? Sind Sie verstimmt?

O nein, nein, gar nicht verstimmt, gnädiges Fräulein Wiedehopf. Ganz im
Gegenteil! In vorzüglicher -- ich wiederhole: vorzüglicher Laune.

Zwei Tage beantwortete Schwedenklee das Billett gar nicht. Dann schrieb
er einige höfliche Zeilen: gesellschaftliche Verpflichtungen -- in
einigen Tagen aber würde er wieder zur Verfügung sein.

»Sonderbare Wesen sind doch diese Frauen!« dachte Schwedenklee, als er
nach dem Billardspiel nach Hause ging und den gleißenden Vollmond über
den Dächern betrachtete. »Zeigt man ihnen seine Verliebtheit, so neigen
sie augenblicklich dazu, ihre Macht zu mißbrauchen, zeigt man
Zurückhaltung, so lassen sie sofort wieder alle ihre Künste spielen.
Merken sie, daß man sich zurückziehen will, so entdecken sie plötzlich
ihre große Liebe. Ja, wie soll man sich bei ihnen zurechtfinden?«

»Heiratet man sie, so ist man vollkommen verloren! Sieh dich doch um,
Schwedenklee -- die Ehen all deiner Bekannten und Freunde, mit ganz
vereinzelten Ausnahmen? Gleichgültigkeit, Untreue, Kampf bis aufs
Messer, Lüge.

Ja, wie soll man es anstellen? Etwas ist hier sicher nicht in Ordnung,
das Leben ist zu kompliziert.«

Es war gegen Abend etwas Schnee gefallen -- der Vollmond brachte die
Kälte mit -- Schwedenklee steckte das rasierte Kinn wohlig in den
Pelzkragen, während er langsam zwischen den hohen Bäumen am Kanal
dahinschlenderte. Die Straße war fast menschenleer, nur hinter ihm, in
einiger Entfernung, kroch eine hagere, zusammengekrümmte Gestalt, die
zuweilen scharf hüstelte. Die dünne Schneeschicht war an den Sohlen der
Passanten haften geblieben, so daß eine Anzahl geisterhafter schwarzer
Fußspuren kreuz und quer über die Straße lief, aus dem Unbekannten
kommend, ins Unbekannte verschwindend, verwirrend, wenn man sie lange
betrachtete.

Plötzlich blies ein kalter Hauch in Schwedenklees Genick, ja, so schien
es ihm wenigstens. Er blieb erschrocken stehen und fröstelte. Kalte
Schauer überrieselten seinen Rücken. Weshalb mußte er gerade in diesem
Augenblick an die tote Ellen Fröhlich denken? Und weshalb hatte die
Erinnerung an diese Frau den Beigeschmack einer leisen, unerklärlichen
Scham?

Unergründlich ist das Leben, und auch sein Herz, Schwedenklees Herz, war
ein unerforschtes Labyrinth. Weshalb? Weil die Fußspuren schwarz kreuz
und quer liefen? Ja, nur aus diesem Grunde! In Paris fällt selten Schnee
-- aber einmal hatte er Ellen abends nach Hause gebracht, und durch ihre
verschneite einsame Straße liefen genau dieselben schwarzen verwirrenden
Fußstapfen. Er sah sie in dieser Sekunde, zierlich, in ihren weiten
Mantel eingehüllt, klar vor sich, Schneekristalle glitzerten auf ihren
Haaren, und aus dem dunklen Gesicht glänzten heiter und lebensfreudig
die Augen. Fast zwanzig Jahre lang hatte diese Erinnerung in seinem
Kopfe geschlummert.

Fragend, lauschend waren diese Augen gewesen, sie waren bernsteingelb,
wenn das Licht voll in sie fiel, dunkel, fast schwarz, wenn sie
beschattet waren -- Schwedenklee gab sich mit einer gewissen Wehmut der
Erinnerung hin, obgleich ihn dieses unerklärliche Schamgefühl im
Innersten peinigte. Er hatte sich jedoch nichts vorzuwerfen, o nein, er
erinnerte sich sogar, daß er ihr später zwei- oder dreimal noch geholfen
hatte, als sie sich an ihn wandte. Sie war damals Anfängerin und hatte
noch zu kämpfen.

Plötzlich kroch eisige Kälte an ihm empor. Vielleicht -- wer weiß es --
schritt ihr Geist in der Tat neben ihm? Schwedenklee war sehr
abergläubisch.

»Ellen Fröhlich!« sagte er leise zu sich, etwas betreten. »Ich habe
keine Furcht, an dich zu denken!«

Klar bis in die kleinsten und unscheinbarsten Einzelheiten stand vor ihm
die erste Begegnung mit Ellen. Er sitzt an einem kleinen Marmortisch auf
den großen Boulevards, zwei Damen, Mädchen, nehmen neben ihm Platz. Sie
sprechen deutsch, sie sprechen ungeniert und vergessen ganz oder wissen
es nicht, daß auf den großen Boulevards in Paris jeder vierte Mensch
deutsch versteht. Ihre Ungezwungenheit entzückt Schwedenklee: die jungen
Damen sprechen mit einer gewissen Kühnheit von unschuldigen
Liebesabenteuern. Eine hat wunderbar warme und weiche Augen, die
offenbar die Farben wechseln, von hell zu dunkel leuchten. Zuweilen
streifen diese fragenden Augen, lächelnd, voller Übermut, Schwedenklees
absichtlich kühl beobachtenden Blicke. Das ist Ellen Fröhlich! Die
Freundin ist eine Schwedin, eine Bildhauerin.

Die jungen Damen gehen. Sie wandern zu Fuß durch die wimmelnden Straßen
bis zum Boulevard Raspail. Die Schwedin verabschiedet sich von der
Freundin, die in ein kleines Hotel verschwindet. Es ist sieben Uhr. Als
sie um neun Uhr das Hotel wieder verläßt -- wer tritt ihr in den Weg?
Schwedenklee.

»Ein Landsmann, der das Vergnügen hatte, Ihr Gespräch heute nachmittag
im Café zu belauschen, bittet tausendmal um Entschuldigung --«

Ihr Blick gesteht, daß sie ihn wiedererkennt. Sie ist verwirrt. Er habe
also alles gehört? Ja. Sie bricht in Lachen aus.

»Aber,« sagt sie -- »wie kommt es, daß Sie hier sind?«

»Ich wartete auf Sie!«

»Es ist nicht schön von Ihnen, so etwas zu sagen, selbst wenn Sie es
getan haben sollten. Sie hätten sagen sollen: zufällig!«

»Gut -- also zufällig!«

Schwedenklee war ja nicht zwei Stunden auf und ab gegangen, so war es
nicht gerade. Gegenüber lag eine kleine Speisewirtschaft, und hier aß er
zu Abend; dann trank er Kaffee, und gerade als er gezahlt hatte, war sie
wieder aus dem Hotel getreten.

Jedenfalls aber -- sie verzieh -- sie hatte nichts vor, und er brachte
sie in ein Tanzlokal, das er als äußerst anständig kannte.

Museen, Ausstellungen, Ausflüge, Tanzlokale -- wie Ellen Fröhlich genoß!
Sie saugte die Eindrücke in sich, sie staunte, wunderte sich,
bewunderte. Ellen sprühte auf, berauscht, verwandelt, verhundertfacht.

Und Schwedenklee, obgleich weniger schwärmerisch, lebt und atmet
leichter und heiterer in ihrer Nähe.

Ja, es war die Jugend, nichts sonst. Die Sonne schien, man fuhr auf dem
Dach des Omnibusses, unvergleichlich, herrlich, als sei man nie auf dem
Omnibus im Sonnenschein gefahren.

»Die Jugend, nichts anderes!« dachte Schwedenklee. »Wie herrlich! Ein
Zauber! Ist die Jugend ein Zauber?«

Ein Ausflug nach St. Cloud. Vorfrühling. Das erste Grün, einige
versteckte Blümchen, die Knospen glänzen, die schwarzen Baumstämme
schwitzen Feuchtigkeit. Rasch schnellen die hohen Wasser der Seine
dahin. Auf dem Dampfer einige Pärchen -- er und Ellen unter ihnen, zu
den »Pärchen« gehören sie! Ein junger Geck mit einem dünnen
Spazierstöckchen amüsiert sämtliche Passagiere. Ellen klemmt zu ihrem
Vergnügen ein Monokel ins Auge, der junge Geck macht ihr den Hof, und
Ellen mustert ihn durchs Monokel und spielt etwas Theater. Wie sie
lachten, die »Pärchen«. Ja, worüber lachten sie so furchtbar? Und damals
gehörten sie zu den »Pärchen« und waren jung wie die anderen.

Der frische Wind hat ihre Gesichter gerötet, die reine Luft hat den
Glanz in ihren Augen entfacht. Ihre Stimmen sind klar und laut geworden.
Ellen wirbelt und tanzt. Sie kriecht in die triefenden Büsche und findet
unter dem faulenden Laub Veilchen und gelbe Sternblumen. Sie steht auf
einem Stein und spricht voller Inbrunst ein paar wundervolle Verse, die
er vergessen hat. Sie essen zu Abend in einer kleinen Wirtschaft mit
fleckigen Tischtüchern und feuchter Tapete. Der Kellner bringt eine
verstaubte Macon in einem Körbchen.

Sie plaudern. Ellens schöner frischer Mund steht nicht eine Sekunde
still. Sie lachen den ganzen Abend. Worüber? Wie herrlich war dieser
Tag, wie lang! War es nicht sonderbar, die Tage der Jugend schienen so
lang, sie nahmen kein Ende. Was war heute ein Tag? Nichts. Kaum hatte er
begonnen, war er schon zu Ende.

»Es ist die Jugend, nichts anderes! Es gibt keine andere Erklärung
dafür«, rief Schwedenklee aus. »Sie verleiht dem Unscheinbarsten einen
zauberhaften Glanz. Ja, wie lang war dieser Tag doch. Reich an
Erlebnissen, an guten Einfällen, an schönen Gefühlen. Und Ellen mit dem
Monokel auf dem Dampfer! Ja, die Jugend! Und das da, was dahinten keift
und hustet« -- Schwedenklee drehte sich um, empört, daß man ihn in
seiner Träumerei störte -- »das ist das Alter! Das häßliche Alter!«

Die hagere, zusammengekrümmte Gestalt, die den ganzen Weg hinter ihm
herkroch, stand wenige Schritte hinter ihm, mit der Hand an einen Baum
gestützt, geschüttelt von einem Hustenanfall.

»Das abscheuliche Alter! In zwanzig Jahren wirst du auch so häßlich
husten, und die Jüngeren, die nicht gestört werden wollen, werden dich
verfluchen. Oh, wie boshaft und grausam ist dieses Leben eingerichtet!«

Aber Schwedenklee schüttelte die düsteren Gedanken ab. Ellen! Wo waren
wir doch gleich geblieben?

Ellen klagte über ihr Hotel. Schwedenklee, befreundet mit dem Pförtner,
Kellner und der Besitzerin seines Hotels, arrangierte alles aufs
vorzüglichste. Er trat Ellen sein großes bequemes Zimmer ab und bezog
eine kleine danebenliegende Kammer. Ellen staunte, wie billig ihr
schönes Zimmer war! Ja, man mußte nur Freunde und Beziehungen haben!

»Wir werden Ihren Einzug feiern, Ellen, und heute abend zu Hause
speisen. Sie sollen sehen. Lassen Sie mich nur machen.«

Schwedenklee besorgt den ganzen Nachmittag lang alles, was Paris an
leckeren Dingen zu bieten vermag. Geröstete Hähnchen und Hummer,
Vorspeisen und Nachtisch, Früchte. Auch Blumen vergißt er nicht.

»Muß man in Abendtoilette kommen?«

»Es wird gebeten, Ellen!«

Von sieben bis acht ist Schwedenklee fieberhaft tätig. Punkt acht Uhr
klopft Ellen -- herein! Ellen ist im Abendkleid, er im Frack -- und
schon lachen sie, daß sie kaum die Tür zu schließen vermögen.

Der Hausknecht, der im Kamin nachlegte -- Ellen sollte es recht
behaglich haben -- wird von der Heiterkeit mit fortgerissen. Der
Kellner, der den Wein angeschleppt bringt, wird ebenfalls angesteckt,
und so lachen sie alle -- weshalb? Gott allein weiß es.

Ellen steht und staunt: »Jetzt sehe ich, daß Sie ein Künstler sind,
Schwedenklee!« ruft sie aus. »Mein Gott, wir sind ja Hunderte von
Personen!«

»Sie sind in großer Gesellschaft, Ellen!«

Dank Schwedenklees Freundschaft mit dem Pförtner und Hausknecht war es
ihm möglich gewesen, einige große Spiegel und Leuchter aus anderen
Zimmern des Hotels auszuleihen für den Abend. Die Kerzen blendeten, und
infolge der Spiegelung glaubte man in einem langen, sonderbar gebauten
Saale voller Lichter und Blumen zu sein. Schwedenklee führte seine Dame
zum Sessel -- und im gleichen Augenblick geleiteten Dutzende von
befrackten Kavalieren ihre Dame in heller Seide zu Tisch. Er sah Ellen
gleichzeitig von allen Seiten, und nie kam ihr herrlicher schmaler
Nacken mit dem braunroten Haarknoten reizvoller zur Geltung ... Ellens
Augen richteten sich blitzend im Schein der Kerzen auf ihn, und
augenblicklich funkelten Dutzende von gleichen Augen von allen Seiten
ihm entgegen.

»Das Diner kann beginnen, Ellen -- aber ich habe vergessen« -- und er
erhebt sich und küßt Ellen auf den Mund.

»Willkommen!«

Sie errötet. Auch ihr Busen wird behaucht von flüchtigem Rot.

»Das Diner kann beginnen«, wiederholt sie mit einem verwirrten Lächeln,
mit etwas matter Stimme.

                   *       *       *       *       *

Schwedenklee war bei seinem Hause angelangt. Automatisch stieg er die
Treppe empor, automatisch schloß er auf.

So tief war er in die Erinnerung dieses Diners versunken, daß die Kerzen
ihn in der Tat blendeten und Ellens zarter wunderbarer Nacken aus all
den blitzenden und flammenden Spiegeln ihm entgegenleuchtete.

»Und zu denken, daß ich zwanzig Jahre lang nicht an diesen Abend
dachte!« sagte er seufzend, als er in das kalte finstere Haus trat, und
begann zu pfeifen, um seine melancholische Anwandlung zu überwinden.

In diesem Augenblick glaubte er das hastige, ungeduldige Scharren eines
raschen Schrittes draußen auf der Treppe zu vernehmen. Irgend jemand,
der die Gelegenheit benutzen wollte, ins Haus zu kommen.

Aber auch das ist nicht völlig sicher. Jedenfalls wußte Schwedenklee nie
zu erklären, was in dieser Sekunde vorgegangen war. Hatte er diesen
hastig scharrenden Schritt gehört oder nicht? Es schien ihm später, als
ob er in der Tat gar nichts gehört habe, aber ein gänzlich
unverständlicher, ja mysteriöser Zwang ihn veranlaßt habe, das Haustor
nochmals zu öffnen.

Jedenfalls, Schwedenklee ging, ohne viel zu denken, zur Türe, öffnete
sie ...

Kaum aber hatte Schwedenklee das Tor geöffnet, da erschrak er so heftig,
daß er zurückprallte und am ganzen Körper entlang einen Schlag
verspürte, wie von einem schweren Eisenstab. Später erinnerte er sich
deutlich, daß sich ihm die Haare im Nacken gesträubt hatten, eine
Erscheinung, die er bisher nur für eine leere Redensart gehalten hatte.

Dicht vor ihm war ein Gesicht erschienen, eine gespenstische
Erscheinung, etwas größer als er, die offenbar in diesem Augenblick
ausholte, um zu pochen. Gerade diese Geste hatte etwas ungeheuer
Drohendes und Erschreckendes an sich gehabt.

Die Erscheinung prallte ebenfalls erschrocken zurück und tastete sich
hastig rückwärts die Stufen hinab. Das unter einem weichen, flachen
Filzhut verborgene Gesicht der Erscheinung glitt durch den Lichtschein
der Straßenlaterne, und in diesem Augenblick erkannte Schwedenklee das
Gesicht: es war das bleiche, vergrämte Antlitz jenes alternden,
verbrauchten Künstlers, das ihm zuweilen unangenehm und störend im
Billardsaal des Cafés aufgefallen war.

Am Fuße der Treppe blieb die hagere, etwas zusammengekrümmte Gestalt
stehen und griff hastig nach dem flachen Hut. Es sah aus, als wollte sie
den Hut im Winde festhalten.

Im Augenblick, da Schwedenklee das Gesicht erkannte, ließ das tödliche
Erschrecken nach. Er öffnete das Tor völlig und machte einen
entschlossenen Schritt vorwärts, obgleich der Schrecken noch in all
seinen Gliedern zitterte.

»Was wünschen Sie?« fragte er, unnötig laut, und seine Stimme bebte noch
vor Erregung.

Der Hagere wich noch einen kleinen unsicheren Schritt zurück, die Hand
aufs Herz gepreßt. Es schien Schwedenklee, als ob er heftig zittere.
Deutlich hörte er seinen hastig keuchenden Atem.

»Was wollen Sie von mir?« wiederholte Schwedenklee, weniger laut, aber
härter im Ton. Er erkannte die völlige Gefahrlosigkeit der Situation.

Der Hagere nahm den Filzhut ab und verbeugte sich, den Hut gegen die
Brust pressend. Sein graues wirres Haar bewegte sich im Winde.

»Ich heiße Blank!« stammelte er, ganz Demut. Seine Stimme klang leise,
kaum vernehmbar, heiser dazu. Aber Schwedenklee verstand den Namen
augenblicklich!




                                   8


Schwedenklee hatte schon manches erlebt. Nicht ohne weiteres wird man
fünfundvierzig Jahre alt! Einmal, zum Beispiel, war in einer hellen,
heißen Sommernacht ein Herr auf ihn zugetreten und hatte in
liebenswürdigstem Ton gefragt, ob er die Ehre habe, mit Herrn
Schwedenklee zu sprechen? Schwedenklee aber hatte kaum bejaht, als der
Liebenswürdige schon den Stock gegen ihn schwang. Es stellte sich
heraus, daß er der Gatte einer schönen Frau war, mit der Schwedenklee
zuweilen im Bristol Tee trank. Damals war es zu einer regelrechten
Schlägerei gekommen, und der Eifersüchtige brachte sogar die Passanten
gegen ihn auf. Erst als Schwedenklee heilige Eide schwor, daß die
bewußte Beziehung völlig platonisch sei, war der Rasende ruhiger
geworden. Die schöne Frau hatte ganz einfach gelogen, um ihren Gatten
bis aufs Blut zu reizen. Immerhin, Geständnis und Eide in der Bedrängnis
waren so peinlich, daß Schwedenklee den Auftritt als einen dunkeln
Schatten in seinen Erinnerungen empfand.

Ja, schon mancherlei hatte er erlebt, Herr Schwedenklee -- nie aber
hatte er sich in einer Situation befunden, die peinlicher und
unbehaglicher war.

Die unverständlichen Briefe Blanks schossen ihm wirr durch den Kopf,
auch sein brutaler Rohrpostbrief, der ihm im Augenblick noch weitaus
brutaler erschien, auch jene alberne, pathetische Phrase: »Die Toten
greifen nach dir!«

Und hier unten also, dieser Grauhaarige, der sich demütig verbeugte und
vor Erregung kaum stammeln konnte, das war also Ellens Gatte -- der ihn
aus unerklärlichen Gründen zu sprechen wünschte ...

Schwedenklee hatte das Gefühl, langsam in den Boden zu sinken. Es schien
ihm später, wenn er an diese unbehagliche Szene dachte, als habe er für
Sekunden das Bewußtsein verloren gehabt. Er glaubte sich auch zu
erinnern, wie seltsame Ahnungen, daß diese Begegnung ungeheure Bedeutung
für sein Leben gewinnen sollte, ihn erfüllten und erschreckten.
Jedenfalls empfand er deutlich die Ungewöhnlichkeit dieser nächtlichen
Begegnung, anders wäre sein Verhalten nicht zu erklären.

Verlegen und unschlüssig starrte Schwedenklee auf die hagere Gestalt,
die unter ihm stand. Vor kaum fünf Minuten -- sonderbar genug! -- hatte
er sich der Erinnerung an Ellen hingegeben. Er konnte Blanks Gesicht nur
sehen, wenn ein schwankender Zweig das Licht des Mondes durchließ.
Gleich verlegen und hilflos starrten Blanks dunkle Augen aus dem
bleichen Gesicht zu ihm empor.

Schwedenklees Empfindungen waren Chaos. Er wollte die Türe wütend ins
Schloß werfen, wollte seiner Empörung, daß Blank es wagte, ihn zu
verfolgen, unverblümt Ausdruck geben -- aber er tat nichts dergleichen.

Im Gegenteil! »Herr Blank?« sagte er nach einer Weile, mit einer
unsicheren und unterwürfigen Stimme, deren er sich später schämte, und
einer verstümmelten Verbeugung.

»Sie haben mir geschrieben, Herr Blank?« fuhr er fort, nur um das
unerträgliche Schweigen zu unterbrechen.

Blank antwortete mit einer Verbeugung. Er erwiderte nichts.

Ratlos stand Schwedenklee auf der Treppe. Nacht ringsum, kein Mensch auf
der Straße. Und ohne Unterbrechung fühlte er Blanks Blick auf sich
gerichtet. Schwedenklee trat wieder etwas mehr in das Haustor zurück.

»Vielleicht erklären Sie mir --«, begann er von neuem.

Endlich bewegte sich Blank.

»Ich handle unter einem geheiligten Willen«, begann er leise, mit
heiserer Stimme, aber doch verständlich, ja sogar etwas deklamatorisch,
wie Schauspieler es häufig zu tun pflegen. Schwedenklee sah deutlich,
daß er hin und her schwankte und nach Atem rang.

»Ich bitte um Verzeihung! Ich persönlich würde es ja nie gewagt haben.«

Die Hand Blanks fuhr in die Rocktasche, er zog einen hellen
Briefumschlag heraus.

»Hier«, sagte er, sehr leise. »Ich bitte.« Und er streckte Schwedenklee
mit flatternder Hand den Briefumschlag hin. »Die Tote hat mich
beauftragt.«

Schon streckte Schwedenklee die Hand aus, aber er zog sie sofort wieder
erschrocken zurück. Eine tödliche Kälte strömte ihm von diesem
Briefumschlag entgegen. Und Schwedenklee sammelte sich zu einem letzten
Widerstand. Jene gewisse Brutalität, die, meist schlummernd, einen Teil
seines Wesens bildete, erwachte plötzlich und formte seine Gedanken zu
einer letzten Abwehr.

»Mein Herr! Sie besaßen die Kühnheit, mir eine Anzahl von Briefen zu
schreiben, obgleich Sie mir völlig unbekannt sind. Sie verfolgen mich
und sind unverfroren genug, mich vor meinem Hause zu überfallen! Ihre
Unverschämtheit überschreitet alle Grenzen. Lassen Sie mich gefälligst
in Ruhe mit Ihrem Brief, lassen Sie mich überhaupt zufrieden. Scheren
Sie sich zum Teufel!«

Das also war es, was Schwedenklee dieser zitternden, hageren Gestalt,
die demütig vor ihm stand, entgegenschrie, in äußerster Empörung. Aber
was geschah? Blank wagte es, die Treppe emporzusteigen -- und
Schwedenklee selbst war es, der ihm höflich das Tor öffnete -- Blank
verbeugte sich mit großer Förmlichkeit und trat ein.

Schwedenklee hatte diese Ansprache ja nur in Gedanken gehalten. In
Wirklichkeit aber hatte er höflich, ergeben in sein Schicksal, wie sein
wahres Wesen es ihm befahl, Blank gebeten einzutreten.

So geschah es, daß der unheimliche Gast, die »Erscheinung«, wie
Schwedenklee in seiner ersten Verwirrung gedacht hatte, zur großen
Verwunderung Schwedenklees sich ins Haus tastete.

                   *       *       *       *       *

»Nun wohl,« dachte Schwedenklee, als er das Licht in der Diele andrehte,
halb benommen im Kopf, »es muß wohl so sein. Irgend etwas Merkwürdiges,
Unabwendbares ist hier im Spiel. Im übrigen vergessen wir nicht, daß
dieser arme Teufel Ellens Gatte ist. Nun, wir werden ja sehen, komme,
was kommen soll ...«

Ein fadendünner Überzieher mit einem abgeschabten lächerlich schmalen
Pelzkragen und zu kurzen Ärmeln, ein schmales, fast schönes, wachsfahles
Gesicht, von hundert kleinen Fältchen zerknittert wie Papier, mit einer
hohen, mächtigen Stirn, die graue Haarsträhnen umflatterten, mit
bläulichen Lippen und fiebrisch glänzenden, dunkeln, aber gutartigen, ja
gütigen Augen -- so sah die Erscheinung aus, als Schwedenklee sie bei
Licht besah. Ein ins Elend geratener, vergrämter Künstler mit der Miene
fatalistischer Hoffnungslosigkeit -- sein erster, obwohl flüchtiger und
unbewußter Eindruck war völlig richtig gewesen. Vielmehr noch: ein
körperlich und seelisch vollkommen Erschöpfter, der in dem überheizten
Zimmer von heftigen Hustenanfällen geschüttelt wurde, während er mit
heiserer, bescheidener Stimme Entschuldigungen stammelte.

Schwedenklee betrachtete das Abenteuer schon mit ruhigeren Augen. Die
Erscheinung hatte gänzlich ihre Unheimlichkeit eingebüßt -- ein Kranker,
ein Hilfsbedürftiger, das war alles, was von ihr geblieben war. Ja,
schon empfand Schwedenklee, der brutale Schwedenklee, der Leute, die ihn
störten, zum Teufel schickte, Mitleid mit seinem Gast.

Wie hatte Blank seinerzeit geschrieben? »Mein _krankes_ Gehirn.«
Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, war manches nicht mehr ganz in
Ordnung bei ihm. Er erweckte ohne Zweifel den Eindruck, besonders diese
_leuchtenden_ gütigen Augen! Wir werden sehen, höflich, freundlich, um
ihn nicht zu erregen, und dann wird sich ja alles weitere von selbst
finden.

Schwedenklee setzte also eine alltägliche, freundliche Miene auf, als
sei überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen.

»Ich bitte doch abzulegen, Herr Blank!« sagte er mit großer
Liebenswürdigkeit.

Blank schälte sich, verwirrt und zerstreut um sich blickend, aus dem
fadenscheinigen Überzieher. Sein Anzug war so jämmerlich, daß
Schwedenklee sich betroffen abwandte.

»Ich werde ihm helfen!« dachte er nun schon. »Ich habe ja genug alte
Kleider, Herrgott noch einmal!«

»Mein Benehmen --,« stammelte Blank, während er zu einem Sessel
schwankte, »mein Benehmen muß aufdringlich und unverständlich
erscheinen. Eine abscheuliche Rolle, die ich nie in meinem Leben spielte
-- die ich verabscheue ...«

»Ich bitte, Herr Blank.«

Blank erhob sich wieder aus dem Sessel und tastete nach Schwedenklees
Hand. »Jedenfalls Dank, daß Sie mich nicht abweisen, Herr Schwedenklee!«
sagte er mit einem heißen Blick der dunklen Augen. »Allein das teuerste
Wesen, das ich besaß, eine Tote, befiehlt und ich gehorche!«

»Eine Zigarre vielleicht?« Wollte er doch aufhören, von Toten zu
sprechen, dachte Schwedenklee, um Gottes willen!

»Nein, unmöglich -- mein Husten --«

Schwedenklee war bestrebt, die Peinlichkeit der Situation, die noch
immer, wenn auch gemildert, bestand, durch eine zerstreute
Geschäftigkeit zu verwischen.

Blank saß im Sessel, die Hände auf die Lehne gelegt, und versuchte, ein
Zittern, das seinen kranken Körper ohne Aufhören durchlief, zu
verbergen. Wie sein Gesicht waren auch die Hände von hundert Fältchen
zerknittert, wie weiches Papier. Sie waren lang, wachsfahl und peinlich
gepflegt.

»Ich zittere noch immer!« begann Blank, seine Schwäche verspottend.
»Aber Sie ahnen ja nicht, welche Angst ich hatte, als ich Ihnen folgte«,
fuhr er flüsternd, bekennend fort. »Kaum, daß mich die Füße trugen.
Schon gestern, vorgestern folgte ich Ihnen, aber ich wagte es nicht.
Gestern wollte ich Ihren Namen rufen, aber die Stimme versagte. In der
letzten Nacht nun mahnte mich ein Gesicht« -- er hielt inne, als erwarte
er, daß Schwedenklee etwas sagen werde, aber Schwedenklee sagte nichts
--, »ich legte ein Gelübde ab, und so wagte ich es heute, obschon die
Furcht mich fast tötete. Nie werde ich wissen, woher ich den Mut nahm
--«

»Ich bitte Sie, sich nicht zu erregen, Herr Blank,« entgegnete
Schwedenklee, »vielleicht würde ein Gläschen Wein Sie beruhigen?« Hastig
war Schwedenklee bemüht, den Gast von dem unheimlichen Thema abzulenken.
Ohne jede Frage, eine sehr peinliche Geschichte! Aber es würde
sich ja wohl nach einiger Zeit Gelegenheit bieten, den Gast
hinauszukomplimentieren.

Blank errötete flüchtig, als er die zitternde Hand nach dem Glase
ausstreckte. Sein Handgelenk war von einer erschreckenden Magerkeit, wie
Schwedenklee es noch nie beobachtet hatte. Langsam und bedächtig
schlürfte Blank den Wein, der ihn augenblicklich zu erfrischen schien.
Das Zittern seines Körpers ließ nach, ruhig glitt sein Blick durch
Schwedenklees Bibliothek.

»Was für ein herrlicher Raum«, sagte er, indem er mehrmals nickte und
die Lippe hob, als versuche er zu lächeln. »Ich verstehe wohl, daß Sie
das Unglück meiden.«

Schwedenklee wurde blutrot vor Scham.

»Ich verstehe wohl, daß Sie die Armut meiden.«

»Verzeihen Sie ...«, stammelte Schwedenklee.

»Ich verstehe alles so gut. Ich bin ja selbst nicht anders gewesen --
früher!«

»Ich bin, wenn ich offen sein darf,« verteidigte sich Schwedenklee,
etwas stotternd, »aus Ihren Briefen nicht recht klug geworden. Zuerst
glaubte ich überhaupt an ein Mißverständnis. Ich dachte -- dazu war ich
sehr überarbeitet in dieser Zeit.«

Blank nickte und hob abwehrend die Hand.

»Meine Briefe waren wohl sehr verwirrt? Heute noch bin ich nicht
imstande, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich verstehe Sie jetzt,
heute vollkommen, Herr Schwedenklee! Vielleicht dachten Sie sogar, ein
Bettler -- oder noch schlimmer: ein Erpresser ...«

»Aber nein!« Schwedenklee lachte verlegen. »Wie können Sie so etwas
denken. Ich wüßte nicht« -- endlich kam Schwedenklee der rettende
Einfall --, »ich ahnte ja nicht -- Sie schrieben mir erst ganz zuletzt,
welche Geborene Ihre Frau Gemahlin war.«

»Ich nahm in meiner Verwirrung, meinem Schmerze an, jeder Mensch müsse
es wissen! Ich glaubte auch, es schon geschrieben zu haben. Habe ich es
nicht in der ersten Mitteilung geschrieben?«

»Ich bitte Sie, sich jedenfalls in meine Lage versetzen zu wollen, Herr
Blank.«

Blank schüttelte den Kopf und hob beide Hände beschwichtigend empor.

»Kein Wort mehr, ich bitte Sie herzlich. Wer hier um Verzeihung zu
bitten hat, das bin ich und nicht Sie!« sagte er mit einer Verbeugung.
Zum erstenmal, seit er das Zimmer betreten hatte, blickte er
Schwedenklee ins Gesicht. »Sie erinnern sich nicht mehr, daß wir uns
schon einmal trafen?« begann er nach einem langen, wie es Schwedenklee
schien, forschenden Blick, mit etwas veränderter, leichterer Stimme.

»Wir?« Schwedenklees Blick wurde unsicher. Nun wird sich das Geheimnis
enthüllen, dachte er voller Spannung und sofort wieder erregt.

»Ja, ich hatte schon einmal die Ehre -- vor vielen Jahren. Vor etwa
zwanzig Jahren.«

»Zwanzig --?« rief Schwedenklee erschrocken aus, als sei so etwas
gänzlich unmöglich.

»Ja, vor mehr als zwanzig Jahren.«

»Mehr als zwanzig!«

»Ja, es war in München. Erinnern Sie sich an den Maler Pfitzner?«

»Pfitzner? Aber natürlich. Ein guter alter Freund!«

»Pfitzner hatte damals seinen ersten Porträtauftrag erhalten und gab
seinen Freunden ein Atelierfest, das drei Tage und drei Nächte dauern
sollte. Aber schon am ersten Abend gab es Zwistigkeiten. Einer der Gäste
war auf Pfitzner eifersüchtig geworden, es kam nahezu zu Tätlichkeiten
--«

»Richtig, nun dämmert es in mir! Aber Sie, Herr Blank -- ich muß offen
gestehen ...«

»Vielleicht entsinnen Sie sich noch, daß einer der Gäste sang?«

»Ein junger Mann, jawohl.«

»Er sang den Prolog von >Bajazzo<.«

»Ja! Deutlich erinnere ich mich. Der Sänger stand dicht in meiner Nähe,
ich höre heute noch, in diesem Augenblick, seine prächtige, kernige
Stimme. -- Aber es ist doch wohl nicht möglich, Herr Blank, daß Sie
...?« rief Schwedenklee mit naivem Erstaunen aus und sprang auf.

Blank nickte. »Doch, ich war dieser Sänger!« sagte er errötend, und die
Heiserkeit seiner Stimme drückte tiefste Traurigkeit aus.

Sofort sah Schwedenklee ein, daß er eine ganz unbegreifliche
Taktlosigkeit begangen hatte. »Ist es möglich,« rief er hastig aus, »vor
zwanzig Jahren, sogar mehr als zwanzig Jahren, sagen Sie? Um Gottes
willen, wohin sind diese zwanzig Jahre nur gekommen? Ja, wunderbar haben
Sie damals gesungen -- es ist volle Wahrheit, was ich Ihnen sage, all
die Jahre habe ich den Klang Ihrer Stimme im Ohr behalten. Merkwürdig,
und Sie erinnern sich meiner noch? Das finde ich erstaunlich.«

»Ich erinnere mich noch ganz deutlich an Sie. Sie haben sich nicht sehr
verändert.«

»Nicht sehr?«

»Sie sind etwas voller geworden und etwas breiter. Ich habe Sie auch
sofort wiedererkannt, als ich Sie vor Wochen auf der Straße sah.«

»Als Sie mich auf der Straße sahen?«

»Ja, vor Ihrem Hause«, gestand Blank errötend.

»Ich erinnerte mich ganz besonders an Sie, weil Sie auf Pfitzners
Atelierfest eine Theorie vortrugen, die mich lange und oft
beschäftigte.«

»Ich -- eine Theorie, sagen Sie?«

»Ja, Sie erklärten, es sei an der Zeit, eine über den Staaten stehende
Republik der freien Geister und Künstler zu gründen.«

»Ich hätte --?« Schwedenklee war äußerst erstaunt.

»Ja, Sie führten diesen Gedanken bis ins einzelne aus und wir hörten
voller Interesse zu. Sie sprachen sehr ketzerische und revolutionäre
Gedanken aus, und wir waren um so mehr erstaunt, als Sie ja aus
Norddeutschland kamen.«

Schwedenklee füllte die Gläser. »Sonderbare Einfälle hat man in der
Jugend!« rief er lachend aus. »Ja, ganz verrückte Gedanken!«

»Sie gingen bald darauf nach Paris. Als ich Pfitzner wieder eines Tages
im Atelier besuchte, sagte er mir: Schwedenklee ist nach Paris gegangen,
um seine überstaatliche Republik der freien Geister und Künstler zu
gründen.«

Hier lachte Schwedenklee laut und belustigt auf.

»Im nächsten Jahre wurde ich nach Nürnberg engagiert«, fuhr Blank fort,
und seine Stimme veränderte sich wieder. »Und hier war es, wo ich Rosa
Fröhlich traf«, schloß er leise.

»Ja, sie ging damals nach Nürnberg, ich entsinne mich«, warf
Schwedenklee etwas unsicher ein. Er war plötzlich rot geworden.

»Ich kam mit ihr ins Gespräch und sie sagte mir gleich, daß sie aus
Paris käme. Aus Paris? Haben Sie vielleicht zufällig einen Bekannten von
mir, einen Architekten Schwedenklee getroffen? -- Nie werde ich Rosas
verblüfftes, ja entgeistertes Gesicht vergessen ...«

»Ist das Leben nicht sonderbar?«

»Ohne daß Sie es ahnten, haben Sie, Herr Schwedenklee, rasch unsere
Freundschaft vermittelt.«

»Welch merkwürdige Zufälle es gibt!«

»So also begann es. Mit Ihrem Namen!« sagte Blank leise und nickte vor
sich hin. »So also begann es!« wiederholte er, die Stimme von Trauer
überschattet.

Sein Blick verlor sich ins Unbestimmte. Er bewegte die dünnen blutleeren
Lippen und feuchtete sie mit der Zunge an. Er schien noch um einen Grad
bleicher geworden zu sein.

Schwedenklee erhob sich und bewegte sich lautlos über die Teppiche.
Diese ganze Erde sei in der Tat nichts als ein großes Bauerndorf! Und er
erzählte hastig und mit halblauter Stimme einige ähnliche Erlebnisse,
die ihm begegnet waren und seine Ansicht bestätigten, daß die Erde
nichts als ein Bauerndorf sei. Blank antwortete nicht, er schien gar
nicht zuzuhören.

Mit aller Umständlichkeit machte sich Schwedenklee eine Zigarre zurecht.
Wieder bewegte er sich lautlos über die Teppiche. »Und was ist
eigentlich aus Pfitzner geworden?« Er blieb stehen.

Aber Blank hörte ihn gar nicht. Er saß, den verschleierten Blick ins
Ungewisse verloren. Er hatte vergessen, wo er war, wandelte in einer
fernen, unbegreiflichen Welt. Ein wundes Lächeln spielte um seine
Lippen. Die schmalen gepflegten Hände lagen regungslos auf den Lehnen
des Sessels, sie zitterten nicht mehr, nur sein gebeugter Oberkörper
schwankte leise hin und her.

Verstohlen blickte Schwedenklee auf die Uhr. Da erwachte Blank aus
seiner tiefen Versunkenheit. Er atmete tief auf und blickte sich
verstört um.

»Verzeihung«, sagte er und schüttelte sich, als friere er.

Schwedenklee streckte sich in den Sessel.

»Und nun, Herr Blank,« begann er mit einer Stimme, die seinen Gast
ermutigen sollte, »Sie hatten mir etwas mitzuteilen?«

Blank erschrak heftig. Die nervöse Hand zuckte, seine dunkeln Augen
weiteten sich.

»Mitzuteilen --?« stammelte er, anscheinend tief betroffen.

Schwedenklees Miene, der etwas leichtfertige und gutmütige
Gesichtsausdruck, versuchte ihn zu beruhigen.

»Ja«, sagte Schwedenklee, sich lächelnd vorbeugend. »Sie schrieben mir
in einem Ihrer Briefe, Sie hätten mir Mitteilungen zu machen, die für
mich unter Umständen von Interesse sein könnten.«

»Schrieb ich das?« Blank erhob sich erregt, ließ sich aber sofort wieder
in den Sessel fallen. »Nein, nein, mein Herr,« fuhr er hastig fort,
zuweilen errötend, »was ich zu tun habe, ist, Sie tausendfältig um
Entschuldigung zu bitten, das ist alles. Ich befinde mich in einem
Zustande der Verwirrung, der Verzweiflung -- ja, des, Sie verzeihen, es
klingt wie Pose, des Irrsinns. Ich muß um Nachsicht bitten. Ich weiß
nicht mehr, was ich in diesen furchtbaren Wochen sagte oder schrieb.
Verzeihen Sie mir. Aber, mitzuteilen? Nein, bei Gott, nein! Ich habe
Ihnen nichts mitzuteilen.« Rote fieberische Flecke erschienen unter den
Augen des fahlen Gesichts.

Blank war in großer, ganz unbegreiflicher Erregung. Aber allmählich
beruhigte er sich.

»Was ich Ihnen gerne sagen möchte, wenn Sie noch eine Minute Geduld mit
mir haben wollen,« fuhr er mit ruhigerer, feierlicher Stimme fort, »ist
dies --« Er holte tief Atem und senkte den Blick zu Boden. »Meine
Gattin, deren Verlust mich nahezu um meine Sinne gebracht hat, sagte mir
wenige Stunden vor dem Tode: Gehe zu Schwedenklee und grüße ihn von mir.
Sage ihm, daß ich ihm nicht mehr grolle.«

»Nicht mehr grolle --?« Schwedenklee horchte auf.

»Ja, so sagte sie. Vielleicht aber habe ich auch die Worte verwirrt.
Sage ihm, daß ich ihm stets gut war und noch heute gut bin --«

Hier wurde Schwedenklee plötzlich ergriffen.

»Sagte sie das wirklich?« flüsterte er.

»Ja, und sie beauftragte mich, Ihnen dies Bild zu bringen. Es würde Sie
freuen, dachte sie. Eine Erinnerung aus der Pariser Zeit.« Blank schlug
sich an die Stirn. »Ja, dieses Bild, das war ja die Ursache meines
Besuches! Schon habe ich es wieder vergessen, ich sitze hier und
plaudere --«

Blank erhob sich und tastete nervös die Taschen des Überrocks ab.

»Mein Himmel, ich werde es doch nicht draußen verloren haben!« rief er
in äußerstem Schrecken. »Nein, hier, gottlob, hier ist es. Das ist ja
der eigentliche Grund, weshalb ich Sie aufsuchte.«

                   *       *       *       *       *

Eine verblaßte Photographie, in Paris aufgenommen -- seinerzeit. In
irgendeiner übermütigen Stunde.

Eine zierliche Dame, in einem großen Hut -- das Gesicht kaum
erkenntlich. Daneben er, Schwedenklee, zwanzig Jahre jünger, mit einem
flotten kleinen Schnurrbart. Schwedenklee zerbrach sich den Kopf, wo das
Bild aufgenommen sein konnte. Er erinnerte sich nicht mehr.

Er trat unter die Lampe und nahm eine Lupe vom Schreibtisch.

Nun erkannte er die Züge der jungen Dame wieder, die in all den vielen
Jahren nur selten, flüchtig und verblaßt in seiner Erinnerung wieder
auflebten. Ein wehmütiges Gefühl überkam ihn -- daß diese herrliche
Jugendzeit vorbei war für immer.

»Ellen Fröhlich!« sagte er vor sich hin.

»Sie hatte zwei Namen«, warf Blank mit verletzter, fremder Stimme ein.
»Da Sie sie Ellen genannt hatten, wählte ich ihren anderen Namen. Ellen
für Sie, Rosa für mich!«

Schwedenklee blickte ihn verständnislos an.




                                   9


Als Schwedenklee am nächsten Morgen, etwas müde und abgespannt, in
seinem breiten Himmelbett erwachte, fiel ihm augenblicklich ein, daß er
Blank für heute zum Abendessen eingeladen hatte.

Was für ein Dummkopf bin ich doch, dachte er, unzufrieden mit sich
selbst, immer diese alte Gutmütigkeit. Ich bin wütend über einen
Menschen und doch kann ich es mir nicht versagen, den Liebenswürdigen zu
spielen. Aber sofort erinnerte er sich auch, daß es ganz unmöglich war,
Blank, der Begriffe wie Zeit und Nachtruhe nicht zu kennen schien, auf
andere Weise zu verabschieden. Er hatte sich auch in der verflossenen
Nacht hin und her überlegt, wie er Blank seine Hilfe anbieten könnte,
aber keine Möglichkeit gefunden. Da war ihm der Einfall der Einladung
gekommen.

Lieber Himmel, dachte er plötzlich erschreckend und setzte sich auf, wie
mag dieser arme kranke Mensch in der Nacht nach Hause gekommen sein?
Nach dem Osten. Ob er wohl, wie er ihm riet, eine Droschke genommen
hatte? Aber vielleicht hatte er gar nicht das Geld dazu? Ich selbst
hätte ihm eine Droschke holen und den Kutscher bezahlen sollen -- aber
dieser Einfall kam reichlich spät.

Etwas Gutes hatte die gestrige Begegnung auf jeden Fall. Schwedenklee
fühlte sich erleichtert! Das »im Hintergrund lauernde Schicksal«, wie er
sich ausdrückte, hatte sich entschleiert. Obgleich Schwedenklee
eigentlich nicht an Gott, an ein zweites Leben, an Auferstehung,
Seelenwanderung und derartige Dinge glaubte, glaubte er doch an
mystische Einflüsse, an ein Fatum, das unheilvoll in das Leben eines
Menschen eingreifen konnte. In den zwei letzten Jahren hatte er sich
unsicher gefühlt. Es war ihm, als wäre er von heimtückischen Gefahren
umlauert. Einer seiner Bekannten starb plötzlich am Herzschlag, und
schon dachte er: wer weiß es, ob du morgen erwachen wirst? Zuweilen sah
er sich alt und krank als Bettler auf der Straße stehen und der Wind
blies eisig. Oder ein unheilbares Leiden befiel ihn, zum Beispiel Krebs.
Ganz deutlich spürte er die fortwährende Drohung feindseliger Mächte,
und nur so -- nicht anders -- läßt es sich erklären, daß die Briefe
Blanks auf ihn einen solch ungeheuren Eindruck machten. Nun also kam es,
heimtückisch schlich es näher, um ihn zu umstricken und zu vernichten!
Deutlich witterte er die Vorboten eines bösen Schicksals, das seine
Demütigung und Vernichtung beschlossen hatte.

An diesem Morgen atmete er seit vielen Wochen befreit auf, seine
düsteren Grübeleien erschienen ihm unsinnig und albern. Seine
Hilfsbereitschaft für Blank entsprang ebenfalls, ohne daß er sich dessen
bewußt wurde, diesem Gefühl der Erleichterung und einer gewissen
Dankbarkeit gegen das Schicksal, das sich ihm nicht ungnädig gezeigt
hatte.

Werde ich ihm denn abgelegte Kleider geben können? dachte er. Vielleicht
aber wird es ihn verletzen? Also Geld. Aber wieviel und in welcher Form?

Man könnte ihm auch einen Korb mit Früchten und guten Sachen schicken,
eine Flasche Kognak dazu. Das war ein ausgezeichneter Einfall, und
Schwedenklee beschloß, noch heute den Korb zurecht machen zu lassen.

Den ganzen Vormittag war Schwedenklee mit dem gestrigen Abenteuer
beschäftigt. Blank hatte ihm, mit einer gewissen Schwatzhaftigkeit, im
Laufe der Nacht sein Herz ausgeschüttet, er hatte ihm jede Einzelheit
seines Lebens erzählt -- und all das nur aus dem Grunde, weil er einige
Wochen lang eine Liebschaft mit seiner Frau gehabt hatte! Notabene: noch
bevor sie überhaupt seine Frau war ...

Schwedenklee konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er ging an den
Schreibtisch und nahm -- seine Hand zitterte etwas -- das verblichene
Bild aus dem Schubfach.

Bei Tageslicht war das Gesicht unter der Lupe etwas deutlicher zu
erkennen. Lange, mit einer Art furchtsamer Neugierde, betrachtete er das
Bild, und sonderbarerweise begann sein Herz stark zu klopfen, als wäre
es frevelhaft, dieser Toten ins Gesicht zu sehen.

Je länger er das verblaßte Bild betrachtete, desto klarer formte es sich
in seiner Phantasie, und plötzlich stand es, wie durch ein Wunder,
lebendig vor ihm.

Ellen hatte Grübchen in den Wangen gehabt, auf der einen Wange war das
Grübchen um ein geringes tiefer als auf der andern -- das fiel ihm jetzt
ein, obschon die Grübchen auf dem verblaßten Bild nur dann zu erkennen
waren, wenn man wußte, daß sie existierten. Er erinnerte sich an ihre
schönen weißen Zähne, die sich beim Lachen ganz entblößten, als lachten
sie mit -- und wie scharf waren diese Zähne gewesen! Er erinnerte sich
an die Glätte ihrer Haut, die er nie wieder gefunden hatte bei einer
Frau, an die Ebenmäßigkeit ihres zarten Körpers, die weiche Biegsamkeit
ihrer schlanken Taille. Klar sah er in diesem Augenblick die
Modellierung ihrer sanften Schultern vor sich.

Zartheit, Behutsamkeit, Stille und unendliche Sanftheit ging von dieser
Frau aus. Ihr Schritt war still, die Berührung ihrer Hand leise.
Schmiegte sie sich an ihn, so war es kaum zu fühlen, und doch war die
Berührung unsagbar innig.

Ja, jetzt in dieser Sekunde fühlte er deutlich ihre zärtliche
Liebkosung.

Sein Herz wurde schwer und er legte das Bild zurück. »Ein rührendes
Wesen, in der Tat«, sagte er. »Vorbei -- tot! Ja, das Leben ist eine
höllische Einrichtung!«

Traurig das Schicksal dieser Frau, die das Leben so heiß geliebt hatte.
Von Paris war sie in ein Sommerengagement nach Nürnberg gegangen. Daran
erinnerte er sich noch deutlich. Sie hatten noch einige kurze Briefe
gewechselt, bis die Korrespondenz plötzlich ohne jeden sichtbaren Grund
einschlief. In Nürnberg hatte sie Blank kennengelernt, der sie -- wie er
selbst gesagt hatte -- liebte, bevor er sie sah.

»Ich sah sie noch gar nicht. Die Tür ging auf -- ihre Seele strömte vor
ihr her. Wer kommt hier? dachte ich. Und ich liebte diese Frau, die im
Begriffe stand, über die Schwelle zu treten, bevor ich sie überhaupt
sah. Es ist mir heute noch rätselhaft!«

Blank sollte in Köln gastieren. Sie begleitete ihn. Er sang »um Rosa«.
Er gefiel, zweijähriger Kontrakt, auch Ellen wurde engagiert. Sie
heirateten auf Grund dieses Engagements. Drei Jahre hier, zwei Jahre
dort, in kleineren und größeren Provinzstädten -- ein Nomadendasein,
fröhlich und heiter ertragen, obwohl voller Sorgen. Plötzlich aber ging
es in die Höhe: München, Mannheim, endlich Dresden! Blank hatte den
Gipfel erreicht. Das Dasein der beiden war ohne Sorgen -- einen
Pelzmantel mit Bärenkragen trug Blank, wie er sagte. Sie reisten im
Sommer nach der Schweiz, ans Meer.

»Nie gab es wohl zwei glücklichere Menschen als uns beide! Ein Kreis
prächtiger Freunde, immer Blumen in den Zimmern, und ein Heim, das
widerhallte von der herrlichsten Musik! Der und der spielte Cello, der
und der Geige, der und der den Flügel -- erste Künstler, die in der
ganzen Welt konzertierten. Berühmte Dirigenten aßen bei uns zu Abend.
Und Rosa im Mittelpunkt, Rosa umschwärmt, bewundert, geliebt ...«

In Dresden aber holte Blank das Geschick ein. Eine Erkältung, wenig
beachtet. Eine Wucherung an den Stimmbändern. Blanks Laufbahn als Sänger
war besiegelt. Ellen dagegen spielte noch, sie erhielt ihn Jahre
hindurch. Kuren, Ärzte. Der Niedergang begann. Schließlich erkrankte
auch Ellen, die Lunge. Das war das Ende.

Furchtbarer Sturz in das tiefste Elend. Auch Blank wurde brustkrank.

»Wir liefen um die Wette nach dem Tode, Rosa und ich. Sie hat das Ziel
zuerst erreicht, aber ich bin nicht weit hinter ihr.«

Gestorben an der Schwindsucht, zwei Menschen trugen sie zu Grabe ...

»Arme Ellen!« sagte Schwedenklee und legte das Bild zurück in das
Schubfach.

Er war in solch melancholische Stimmung geraten, daß er, was selten
vorkam, schon am Nachmittag das Stammcafé aufsuchte.

Hier saß er an einem kleinen Marmortisch und sah lustlos zu, wie der
Rechtsanwalt Cohnstamm mit dem Polizeileutnant Hammerstein eine
Cadrepartie auf dem Matchbillard ausfocht. Er war wortkarg und
zerstreut, trank ohne Genuß seine Tasse Kaffee. Der Rechtsanwalt erbat
seinen Rat bei einer schwierigen Stellung. Sprang Schwedenklee auf, wie
es sonst seine Art war, um sein Licht leuchten zu lassen? Er zuckte
gleichgültig die Achseln.

»Und zu denken, wie diese Ellen lachen konnte! Wie sie es verstand, auch
das Nichtigste zu genießen! Und wie drollig sie sein konnte! Immer
bereit zu einem übermütigen Streich!«

Der Oberkellner näherte sich, zutraulich: Es seien schon große Beträge
auf Herrn Oberbaurat für heute abend gesetzt.

»Ich werde heute abend nicht spielen«, sagte Schwedenklee, mit Falten in
der Stirn. »Ich habe Gäste zu Hause.«

Schon um einhalb acht Uhr begab sich Schwedenklee nach Hause. Er freute
sich auf Blanks Besuch. Ja, er freute sich, ist es zu glauben?

»Und gestern zerbrach ich mir den Kopf, wie ich ihn loswerden könnte!«

                   *       *       *       *       *

Schwedenklee bekümmerte sich eigentlich nie um die Wirtschaft. Seine
ganze Tätigkeit bestand darin, jeden Monat das Wirtschaftsbuch
nachzuprüfen. Er nahm sich natürlich nie die Mühe, das Buch wirklich
nachzusehen, da aber Augusta den Eindruck gewinnen solle, als ob er
ganze Nächte hindurch rechne, so ließ er das Buch stets einige Tage
liegen. Einmal half ihm der Zufall. Er addierte eine Seite, eigentlich
aus Zerstreutheit, es stimmte nicht.

»Sie haben sich hier zu Ihren Ungunsten getäuscht, Augusta!«

Es war wirklich eine Fügung des Himmels, geschehen vor drei Jahren. Seit
dieser Zeit öffnete Schwedenklee dieses furchtbare Wirtschaftsbuch
überhaupt nicht mehr.

Seine Anordnungen pflegte Schwedenklee in lakonischer Kürze zu erteilen,
häufig schrieb er sie auch auf einen Zettel. Ja, er liebte Scherereien
nicht, Schwedenklee. Es ging wunderbar.

Auf den heutigen Abend aber hatte er Augusta besonders hingewiesen. Es
war seine Absicht, Blank mit der größten Sorgfalt zu bewirten. Dieser
arme Teufel sollte noch einmal eine Freude haben in seinem Leben ...

Das Unglaubliche geschah. Schwedenklee inspizierte das Speisezimmer.
Augusta hatte sich wirklich Mühe gegeben. Man konnte jedermann
empfangen, einen Fürsten, wenn es sein mußte.

»Und wie war das eigentlich, auf dem Atelierfest von Ellens Freundin,
der schwedischen Bildhauerin, wie hieß sie doch -- sagen wir: Fräulein
Svenska?« fragte sich Schwedenklee, als er, in der Bibliothek auf und ab
gehend, auf Blank wartete.

Es war da jemand, der die Mundharmonika spielte, und man saß, da nicht
genug Stühle da waren, auf dem Boden -- nicht wahr? Es war ein
Kostümfest!

Mein Gott, was konnte man doch damals alles machen. Man drehte den Rock
um, band sich ein Taschentuch um den Hals: schon war man ein Apache!

Es war eine ungeheure Hitze in dem Atelier, ganz richtig. Man trank
schwedischen Punsch, und schon nach dem ersten Glas änderte sich der
Glanz von Ellens Augen.

Ja, jetzt fiel es ihm ein: Sie, Ellen, führte ihn in einen Winkel neben
eine der mit nassen Tüchern verhängten Tonbüsten und schlang die Arme
zart und weich um seinen Hals. »Dich werde ich ewig lieben!« flüsterte
sie.

Da ertönte die Klingel: Blank!

Schwedenklee spürte noch Ellens weiche Arme, ihre Stimme flüsterte dicht
an seinem Ohr, als Blank eintrat.

Er errötete, als er Blank die Hand reichte.




                                   10


Blank hatte sich in große Gala geworfen. Er trug unter dem fadendünnen
Überzieher mit dem abgeschabten Pelzkragen einen grauen, dünnen Gehrock,
einen schlechtgebügelten Kragen, eine alte flotte graue Binde. Die
Knöpfe der altmodischen Weste waren aus Glas und einer fehlte. Seine
Hände waren gepflegt, wie gestern, die Manschetten ausgefranst, aber
peinlich sauber.

»Wie glücklich ich bin!« rief er mit seiner heiseren Stimme etwas
theatralisch aus und drückte Schwedenklee die beiden Hände, mit einer
Herzlichkeit, die Schwedenklee in Verlegenheit brachte.

»Ich freue mich, daß Sie heute viel wohler aussehen«, erwiderte
Schwedenklee, der das Bedürfnis empfand, seinem Gaste seinerseits etwas
Angenehmes zu sagen. In der Tat, die Leichenblässe, die Blank gestern
zeigte, schien heute etwas gemildert.

»Wohler?« Blank lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich lag den ganzen
Tag mit Fieber zu Bett.«

»Und Sie haben nicht einfach angerufen?«

»Dieses bißchen Fieber sollte mich abhalten? Bei meinem
Gesundheitszustand ist es ja völlig einerlei, ob ich mich schone oder
nicht. Könnten Sie auch nur ahnen, wie ich mich auf das Zusammensein mit
Ihnen freute!«

Beim Anblick der gedeckten Tafel blieb Blank vor Erstaunen auf der
Schwelle stehen.

»Ist es möglich?« rief er aus.

Augusta hatte sogar einen Strauß Maiglöckchen in die Mitte des Tisches
gestellt. Das helle Speisezimmer war von einem herrlichen Duft erfüllt.

»Ist es möglich? Für mich diese Mühe! Nie werde ich Ihnen das
vergessen.« Und wieder drückte er Schwedenklees beide Hände, während er
bemüht war, seine Ergriffenheit zu verbergen. Lebhaft fuhr er fort: »Ich
weiß ja wohl, daß Sie ein Künstler im Arrangement von Festen sind! Rosa
erzählte mir, daß Sie ihr einst in Paris -- Himmel, daß ich Sie nicht
belauschen konnte! -- ein Abendessen gaben, mit Dutzenden von Kerzen,
deren Glanz sich in geschickt aufgestellten Spiegeln verhundertfachte.
Vielleicht erinnern Sie sich noch? Ja, Sie erinnern sich -- ich sehe es
--«

»Sonderbar, gerade dieser Tage --«

»Verzeihen Sie mir, ich sehe, daß es Ihnen nicht angenehm ist, an
vergangene Zeiten erinnert zu werden. Ich muß Sie um Nachsicht bitten,
wenn ich im Laufe des Abends dann und wann auf das Vergangene
zurückkomme. Ich fürchte, ich kann nicht anders, denn gerade die Qual,
die ich bei jeder Erinnerung empfinde, ist mir eine Wollust. Ich darf
Ihnen wohl sagen, daß Rosa mir alles aus ihrem Leben erzählte, jede
Einzelheit. Ich bitte auch, obschon es unnötig genug erscheint, erklären
zu dürfen, daß nicht das geringste Arg gegen Sie in meinem Herzen ist.
Wie sollte es auch? Einmal war ich ja sehr eifersüchtig auf Sie« --
Blank lächelte schmerzlich -- »furchtbar eifersüchtig, ich gestehe es
Ihnen offen. Ich haßte Sie, Sie ahnen nicht, wie ich Sie haßte.« Blank
errötete und seine dunkeln Augen glühten -- allein bei der Erinnerung an
diesen Haß.

»Ich begreife nicht, weshalb haßten Sie mich?«

»So wahnsinnig hatte mich die Eifersucht gemacht. Ich hatte natürlich
nicht den geringsten Grund. Nun, es ist lange her -- zwanzig Jahre.
Heute empfinde ich für Sie nur Freundschaft und Zuneigung, ohne zu
erwarten, daß Sie meine Gefühle erwidern. Darf ich dieses Glas auf Ihre
Gesundheit leeren?«

Mit einem tiefen, wunderbar warmen Blick der dunkeln Augen und einem
schönen Lächeln des verwüsteten Gesichts hob Blank das Glas ins Licht.

»Wenn jemand hier Ursache hätte, böse zu sein,« fuhr er mit großer
Lebhaftigkeit, leise lächelnd, fort, »so wären ja wohl Sie es!«

»Ich? Aber, ich bitte --«

»Gewiß, Sie! Denn ich war es ja, der Ihnen diese wundervolle Frau
entfremdete -- in einer Zeit, da sie noch sehr an Ihnen hing.«

Schwedenklee hob verwundert den Blick vom Teller. »Noch an mir hing?«
fragte er, errötend und geschmeichelt.

»Ja! Es war nicht so einfach, wie es heute aussieht ...«

»Nicht so einfach?«

»Nein, ganz im Gegenteil -- es war sehr schwer!«

»Reden wir nicht mehr davon«, brummte Schwedenklee.

Nichts mehr von der Peinlichkeit des gestrigen Abends. Man plauderte wie
alte Bekannte. Blank, dessen krankhafte Erregung gestern Schwedenklee
folterte, war heute viel ruhiger und beherrschter. Er zeigte sich als
ein Mann von den besten gesellschaftlichen Formen, wenn er auch seine
weltmännischen Allüren etwas zu stark betonte. Schwedenklee liebte es
nicht, bei Tisch viel zu reden, er antwortete nur träge und zerstreut.
Blank dagegen sprach mit großer Lebhaftigkeit, die Rede, begleitet von
lebhaften Gesten, schien ihm eine wahre Wohltat zu sein. Seine Wangen
färbten sich, seine Augen sprühten. Er fühlte sich wohl, er fühlte sich
fast wie zu Hause, nach dem zweiten Glas nannte er Schwedenklee, der
zuweilen seine Sicherheit verlor, sogar manchmal »lieber Freund«. Ja,
dann und wann hatte Schwedenklee den Eindruck, als spielte Blank den
Überlegenen.

Augusta hatte sich in der Tat alle Mühe gegeben und ein vorzügliches
Menü zusammengestellt. Sie servierte aber schmollend. Sobald sie Blank
erblickt hatte -- sie starrte förmlich auf die ausgefransten Manschetten
-- hatte sie nur verächtliche Bewegungen. Jede Geste von ihr sagte: und
wegen dieses Bettlers lassen Sie mich den ganzen Tag herumrennen?

»Eine Flasche Selters, Augusta«, sagte Schwedenklee mit einer gewissen
rügenden Schärfe, und Augusta zog brummend ab.

Trotz des vorzüglichen Menüs und des herrlichen Weins fühlte sich
Schwedenklee nicht recht behaglich, ja vorübergehend war er sogar den
Anwandlungen einer schlechten Laune unterworfen. Die Lebhaftigkeit
Blanks störte ihn. Er hätte Blank gerne -- so albern es ihm selbst
vorkam -- bescheidener und demütiger gesehen. Nein, von den
ausgefransten Manschetten wollte er natürlich nicht sprechen, aber daß
Blank, den er gestern von der Straße aufgelesen hatte, den er aus purer
Gutmütigkeit zum Essen eingeladen hatte, ihn »lieber Freund« nannte --
war das ganz in Ordnung? Mit einem gewissen Neid prüfte er zuweilen mit
verstohlenen Blicken Blanks Erscheinung. Ohne Zweifel mußte er vor
Jahren von großer, ja seltener Schönheit gewesen sein. Noch jetzt wirkte
sein großgeformter Musikerkopf imposant. In dem bleichen, zerknitterten
Gesicht glühte ein Paar wundervoller Augen. Was für Augen habe ich
dagegen? dachte Schwedenklee. Diese dunkeln Augen schienen das einzig
Lebendige -- Überlebende -- in dem wachsfahlen Gesicht zu sein. Sie
waren Feuer, Gedanke, Seele, Jugend, sie waren dreißigjährig, das
Gesicht fünfzig-, hundertjährig, wenn man will.

So oft Schwedenklee von einer dieser Anwandlungen schlechter Laune
ergriffen wurde, verbarg er sie hinter ausgesuchtester Höflichkeit:
»Bitte zuzugreifen -- bitte sich zu bedienen!«

»Ich sehe, ich ermüde Sie mit meinem Redestrom«, rief Blank aus. »Ich
muß auch in dieser Hinsicht um Ihre Nachsicht bitten. Seit Jahren habe
ich fast nie mehr mit einem gebildeten Menschen gesprochen. Sie ahnen
nicht, welcher Genuß für mich Ihre Gesellschaft ist. Bedenken Sie, diese
Menschen, mit denen ich noch zusammenkomme -- oh, mein Gott, welches
Niveau! Sie, mein verehrter Freund, der es wagte, einen Bettler ins Haus
zu laden ...«

»Jeder Mensch kann einmal eine unglückliche Periode --« murmelte
Schwedenklee.

»Einen Bettler, sage ich, was bin ich sonst? Sie verkehren mit einem vom
Unglück Gezeichneten auf gleich und gleich -- unterbrechen Sie mich
nicht -- wer tut das noch? Es ist das _Alleraußergewöhnlichste_ in der
heutigen Gesellschaft! Sie bewirten einen Mann, der gewissermaßen an
einem Wendepunkt Ihres Lebens als Ihr Rivale auftrat. Wie gut Rosa Sie
doch kannte! Sie kennen keine Vorurteile, keine kleinlichen Gefühle.«

»Ich bitte!« stammelte Schwedenklee, aufs tiefste beschämt. Nichts ist
ja peinlicher, dachte er, als derartige Lobeshymnen anhören zu müssen.
Mein Himmel, diese liebe Ellen, was für Vorstellungen sie wohl von mir
gehabt haben mag!

                   *       *       *       *       *

»Dieses Glas dem Gedächtnis Rosas!« sagte Blank feierlich nach dem
dritten Glase und ließ den Wein im Licht funkeln. Obschon den Tod im
Antlitz, sah er schön aus in diesem Augenblick. Später, wenn
Schwedenklee sich an den Abend erinnerte, sah er Blank immer in dieser
Geste vor sich.

Schwedenklee tat ihm Bescheid.

Aber Blank erhob sich vom Sitze, und so konnte auch Schwedenklee, dem
jede Exaltiertheit ein Greuel war, nicht sitzenbleiben. Wenn er nur
diese theatralischen Manieren sein ließe, dachte er, tief unglücklich.

Lange verharrte Blank in Schweigen und Versunkenheit. Aber seine Augen,
ohne Blick auf einen Stich an der Wand gerichtet, leuchteten verklärt.

Augusta servierte mit verdrossener Miene den Nachtisch.

Plötzlich fühlte Schwedenklee Blanks Auge auf sich gerichtet. Er hob die
Lider und begegnete einem forschenden, sonderbar und befremdend
forschenden, grübelnden, bohrenden Blick, dessen Ausdruck sich indessen
augenblicklich änderte.

»Ich dachte eben --« begann Blank mit sonderbar leiser, heiserer,
zerstreuter Stimme.

»Sie dachten --?«

»Ja.« Blank sammelte sich. »Ich dachte: wie merkwürdig es ist, daß wir
beiden hier beisammensitzen.«

»Was ist daran so merkwürdig?« sagte Schwedenklee, schon etwas
gelangweilt. Was kümmerte ihn schließlich dieser Blank, was kümmerte ihn
schließlich diese Ellen? Nichts, letzten Endes gar nichts. Er fing an,
die Einladung zu bereuen.

»Merkwürdig ist natürlich ein falscher und völlig unzulänglicher
Ausdruck«, fuhr Blank mit leiser Stimme fort. »Dieser Augenblick
bedeutet mehr! Er ist erhaben, nichts anderes als erhaben! Wir drei --
geeint -- in diesem Augenblick!«

»Wir drei? Geeint?«

»Ja!« Blanks Augen weiteten sich. »Nur uns beide, Sie und mich, hat
diese wunderbare Frau in ihrem Leben geliebt. Hier sitzen wir beide nun
-- und sie -- sie ist bei uns! Und sie ist glücklich!«

Es entstand eine Pause.

»Glauben Sie denn an diese Dinge?« fragte Schwedenklee dann betroffen
und etwas bleich.

»Ob ich daran glaube? Es ist für mich Gewißheit, daß sie in diesem
Augenblick gegenwärtig ist. Ich empfinde es deutlich. Ein Strom von
Glück durchrinnt mich. Sie segnet uns aus einer unbegreiflichen,
vollkommeneren Welt.«

Schwedenklee schüttelte den Kopf.

»Der Gedanke wäre unerträglich, daß Verstorbene uns beobachten.« Er
erhob sich sogar vor Erregung.

»Weshalb unerträglich?« Blank lächelte voller Nachsicht.

»Ja, unerträglich!« wiederholte Schwedenklee an Stelle einer Antwort und
sah gereizt aus. Er ist doch wahnsinnig, dachte er, ganz im geheimen.

Blank schwieg und versank in Gedanken. »Sie war ein Genie der Liebe«,
hub er nach langer Pause, als spräche er für sich, von neuem an.
»Stellen Sie sich eine Pflanze vor, die täglich neue Blüten treibt,
immer schönere, immer herrlichere Blüten -- so war sie! Sie konnte
lieben, wie nie ein Mensch liebte! Die Liebe machte sie genial,
schöpferisch. Denken Sie, sie wachte eine ganze Nacht, saß aufrecht
neben mir und sagte am Morgen: ich wollte dich eine ganze Nacht lang
atmen hören! Denken Sie: Rosa war eine leidenschaftliche Raucherin. Sie
rauchte zwanzig bis dreißig Zigaretten am Tage. Wenn ich aber verreiste,
auf ein Gastspiel, und sie konnte nicht mitkommen -- all die zwanzig
Jahre waren wir zusammengerechnet nicht vier Wochen voneinander
getrennt! -- so rauchte sie nicht. Das sind natürlich nur geringfügige
Beispiele, schlecht gewählt dazu. Tausende solcher Züge könnte ich Ihnen
berichten. Sie war ein unerschöpfliches Wunder. Nein, mein verehrter
Freund, Sie haben sie nicht gekannt! -- Gottlob, sage ich,« fügte er mit
einem eigentümlichen, verletzenden Lächeln hinzu, »denn sonst wären Sie
_seinerzeit nicht eine Stunde länger in Paris geblieben. Nicht eine
Minute!_« Triumphierend rief Blank dies plötzlich mit seiner heiseren
Stimme Schwedenklee ins Gesicht.

Schon keimte ein sonderbares Gefühl des Neides in Schwedenklee auf. Und
Unmut über das Betragen seines Gastes. Man soll mit Leuten vom Theater
nichts zu tun haben, dachte er. Diese Pathetik, diese Theatralik, die
Bühne verdirbt den Menschen! Er wurde dunkelrot im Gesicht.

Blank entging diese Veränderung Schwedenklees völlig.

»Rosa erwartete Sie damals!« fuhr er geheimnisvoll und erregt fort. »Ich
sagte Ihnen ja, in der ersten Minute -- unvergeßlicher Augenblick! --
fiel Ihr Name. Ihr Name war es ja, der rasch eine Verbindung zwischen
uns herstellte, erst später begriff ich es. >Schwedenklee,< sagte sie,
>oh, Sie kennen ihn? Er wird wohl in den nächsten Tagen ebenfalls hier
sein!<«

»Sie glaubte also, daß ich kommen würde?«

»Sie äußerte diesen Gedanken wiederholt. Aber Sie kamen nicht. Vierzehn
Tage lang wurden Sie erwartet. Dann sprach sie nicht mehr davon. Aber
ich fühlte deutlich, daß sie litt.«

»Litt?«

»Ja. Ich -- ohne Besinnung vor Eifersucht -- fühlte es allzu deutlich.«

»Ich hatte seinerzeit -- bestimmte Studien hielten mich in Paris fest
--«

Spöttisch war Blanks Blick. »Ich zitterte -- ich spreche offen -- jeden
Tag, daß Schwedenklee eintreffen könne. Aber Schwedenklee _kam nicht_!«

»Nein!« warf Schwedenklee mit schwankendem Blick ein. »Er kam nicht!«

»Und da fühlte ich -- beruhigt, daß Sie Rosa in Wahrheit nicht liebten.
Sie waren ja unabhängig, Sie konnten reisen --«

»Ich? Wieso? Woraus schließen Sie, daß ich Rosa oder Ellen nicht
liebte?« Schwedenklee setzte sich zur Wehr.

»Weil Sie nicht kamen!« triumphierte Blank.

»Das sagt nichts«, knurrte Schwedenklee.

»Doch, es sagt alles!« ereiferte sich Blank, unter dessen Augen rote
Flecke erschienen, in großer Erregung. »Sie hätten kommen _müssen_!«

»Aber Sie sehen ja, daß ich nicht _kam_!« rief Schwedenklee, ebenfalls
außerordentlich erregt.

»Ja!« Blank lehnte sich triumphierend zurück. Sein Auge funkelte. »In
der Tat, Sie kamen nicht! Sie waren leichtsinnig, Sie ahnten gar nicht
die Bedeutung dieser Tage! Sie ahnten gar nicht, daß es um das Glück
Ihres Lebens, um Ihr Lebensglück ging --«

»Sie werden mir mehr und mehr unverständlich, Herr Blank«, entgegnete
Schwedenklee und zog die Brauen hoch.

»Wieso? Aber ich bin ja der einzige, der ermessen kann, was Sie
weggegeben, was Sie verschwendet, was Sie achtlos fortgeworfen haben.
Ich! Ich allein! Zwanzig Jahre Glück -- wissen Sie, was das bedeutet?«
rief Blank triumphierend aus. »Verstehen Sie, was zwanzig Jahre Glück
bedeutet? Als Rosa starb, küßte ich sie, und ich fühlte, wie sie
versuchte, mich wiederzuküssen, obschon sie halb bewußtlos war. Ich
küßte sie, als sie schon erkaltete. Das ist das Glück von zwanzig
Jahren! Verstehen Sie? Ich küßte sie in den Tod. Und wenn ich sterbe --
bald! -- so werde ich ihr meine Küsse _entgegensenden_! Das ist das
Glück von zwanzig Jahren. So steht es also. Sie sind reich -- ich bin
ein Bettler und weiß nicht, wovon ich morgen leben soll. Und doch: ich
würde für nichts mit Ihnen tauschen, für nichts!«

Hier wurde Schwedenklee wirklich böse.

»Schweigen Sie doch endlich!« schrie er, indem er aufsprang, rot vor
Zorn.

Blank, der sich in der Erregung ebenfalls erhoben hatte, taumelte, wie
von einem Schlage getroffen, zurück. Er rang nach Atem. Dann streckte er
Schwedenklee flehend die mageren Hände entgegen, er rang diese Hände,
daß die Finger knackten.

»Verzeihen Sie mir!« schrie er. »Ich weiß nicht, was ich tue!« Er war
einer Ohnmacht nahe. »Ein Glas Wasser!« stammelte er, und Schwedenklee
sah, daß sich ganz plötzlich Blanks von hundert Fältchen zerknitterte
Stirn mit unzähligen kleinen Schweißperlen bedeckt hatte.

Mit zitternden Händen griff er nach dem Glas Wasser. Sein Blick war
scheu, Vergebung heischend. Der Blick eines Menschen, der Jahre hindurch
sich demütigen mußte -- oh, wie abscheulich!

                   *       *       *       *       *

Ja, grausam und unerbittlich sind die Menschen. Ein Mensch mit 39 Grad
Fieber kommt zu ihnen -- trotz dem Fieber! Sie sind gerührt. Aber wenn
der Fiebernde sich nicht wie ein normaler Mensch benimmt, gleich
verwünschen sie ihn.

Als man bei Kaffee und Likören in der Bibliothek saß, hatte Blank sich
vollkommen wiedergefunden. Man plauderte über Theater, Oper,
Bühnenkünstler, Dirigenten, und Blank wußte anregend zu erzählen. Der
Name Rosa-Ellen fiel nicht mehr.

Schließlich erhob sich Blank und ging an den Flügel.

»Einmal noch wollen wir es versuchen!« sagte er, und seine langen
blassen Finger glitten scheu und zögernd, als fehle ihm der richtige
Mut, über die Tasten.

Großer Ernst war über sein weißes Antlitz gebreitet. Er sang. Eine
italienische Romanze, schwermütig, mit Anläufen der Hoffnung, zuweilen
geheuchelt heiter. Schwedenklee verstand nicht ganz den Text.

Blanks Stimme klang anfangs heiser und kraftlos, bald aber leuchteten
einzelne Töne klar und hell auf, und schließlich floß die Stimme groß
und gleichmäßig dahin. Mit Inbrunst, erschüttert sang Blank, und seine
Augen füllten sich mit Tränen.

Welch herrliche Stimme er gehabt haben muß, dachte Schwedenklee, der
sich bedrückt in eine Ecke zurückgezogen hatte.

Da machte ein hartnäckiger Hustenanfall Blanks Gesang ein Ende. Er
führte das Taschentuch an die Lippen.

Entmutigt und still erhob sich Blank, den Blick zu Boden gerichtet.

Er reichte Schwedenklee die Hand.

»Leben Sie nun wohl, Herr Schwedenklee, und Dank für diesen Abend!«
sagte er und wandte die glänzenden Augen Schwedenklee zu.

                   *       *       *       *       *

Auch Schwedenklee griff nach dem Hut.

»Ich bitte dringend, sich nicht bemühen zu wollen.«

»Ich habe das Bedürfnis, noch ein paar Schritte zu gehen.«

Schweigend gingen sie die dunkle Straße hinab.

»Wie lau die Luft ist,« sagte Schwedenklee, sich verlegen räuspernd, »es
wäre Zeit, daß der Frühling endlich käme.«

»Es wäre wirklich Zeit!« antwortete Blank in Gedanken.

Endlich faßte sich Schwedenklee ein Herz. Er begann damit, wie erfreut
er wäre, ihn, Blank, näher kennengelernt zu haben. Wie gesagt, er hoffe,
daß sein Gesundheitszustand sich bald bessere. Nun wisse er ja wohl, daß
es ihm zur Zeit schwierig sei, seinem Körper jene Pflege angedeihen zu
lassen, wie es geboten sei. -- Kurz und gut, Schwedenklee nahm einen
Brief aus der Tasche.

Blank hatte argwöhnisch auf Schwedenklees Rede gelauscht und fuhr nun
entsetzt zurück. »Nie, nie werde ich unser freundschaftliches Verhältnis
beflecken«, rief er mit großer Geste aus.

»Aber gerade, wenn Sie das Wort Freundschaft gebrauchen --«

»Nie, niemals.«

Schwedenklee hatte wie gewöhnlich in seiner Unbeholfenheit nicht die
richtige Form gefunden. In der letzten Minute, er wollte den Brief schon
entmutigt einstecken, fielen ihm die rechten Worte ein. Er sprach davon,
daß man einem Freunde die Erlaubnis einräumen müsse, in besonderen
Fällen ein bescheidenes Darlehen --.

Blank schien zu schwanken.

»Wenn ich Ihr großherziges Anerbieten annehme, so geschieht es aus
Gründen, die ich Ihnen nicht auseinandersetzen kann!« sagte er dann mit
einem tiefen, langen Blick und nahm den Brief unter Dankesversicherungen
in Empfang.

»Sobald ich in der Lage sein werde ...«

»Keine, nicht die geringste Eile!«

Es gelang schließlich Schwedenklee sogar, Blank in eine Droschke zu
stopfen, deren Kutscher er entlohnte.

»Und wenn Sie einmal einen freien Abend haben, Herr Blank?«

»Ich werde Ihre Güte nicht mißbrauchen. Dank und leben Sie wohl -- für
immer!« rief Blank. Und dann, schon in der Droschke, fügte er noch
einige Worte hinzu, denen Schwedenklee an diesem Abend keinerlei
Bedeutung beimaß. Er sagte: »Ich bin glücklich, Sie näher kennengelernt
zu haben. _Wie wichtig das für mich ist, werden Sie vielleicht einmal
erfassen._« Aber, wie gesagt, Schwedenklee beachtete diese Worte an
diesem Abend kaum.

Blanks bleiche Hand winkte aus dem Fenster. Die Droschke rollte davon
und im Nu war sie unter anderen Gefährten untergetaucht.

»Nun, Gott sei Dank, das wäre überstanden!« sagte Schwedenklee zu sich
selbst. »Großer Gott, was für Elend gibt es auf dieser Welt.«

Schwedenklee fühlte sich erleichtert und befreit von einem
Schuldbewußtsein, das ihn quälte, ohne daß er bestimmte Ursachen hätte
angeben können.

Das Schicksal seiner Mitmenschen, ja sogar seiner Bekannten und Freunde,
kümmerte Schwedenklee, der immer mit sich selbst beschäftigt war, nicht
allzusehr. Von Zeit zu Zeit hatte er das Bedürfnis, diese
Gleichgültigkeit, die er recht wohl als Mangel empfand, durch irgendeine
gute Handlung zu sühnen. Er schenkte, zum Beispiel, einer armen Frau,
die fünf Kinder hatte, eine Summe Geldes, einen Posten Wäsche und
Kleider.

So hatte er Blank heute eine ziemlich große Summe aufgedrängt, um Ruhe
zu finden vor peinigenden Gedanken, Reflexionen über die heutige
Gesellschaft, Ungerechtigkeit der sozialen Schichtung und andere
peinliche Dinge.

Beruhigt ging er zu Bett.

Sein Schlaf indessen war unruhig. Er träumte von Ellen. Sie hatte ihren
Koffer gepackt, bereit abzureisen. Er brachte sie in einem Wagen zur
Bahn, aber schon angesichts der glühenden Uhr des Bahnhofs befahl sie
dem Kutscher zu wenden und zum Hotel zurückzufahren. Später, da stand
sie schon im Zuge, der Zug fuhr schon an, aber sie sprang im letzten
Moment -- zum Erstaunen und Schrecken aller Reisenden, die laut
aufschrien -- aus dem Zuge. Ich kann nicht, ich kann nicht, schrie sie.
Da verfiel Schwedenklee -- im Traum -- auf einen infamen Gedanken. Er
beschwätzte Ellen, daß er mit ihr reisen werde. Sie war überglücklich,
und sie fuhren zusammen. Bei der ersten Station verließ er heimtückisch
den Zug. Es war eine Station voller Dunkelheit und Düster, und er sah
das schöne glückliche Gesicht der Ahnungslosen an sich vorübergleiten.

Hier erwachte Schwedenklee. Er war heiß, unruhig und voller Ängste. Die
Nacht war finster und lang. Vielleicht, dachte er, wäre ich mit dieser
Frau glücklich geworden? Vielleicht hat er recht, vielleicht habe ich
das Glück meines Lebens leichtsinnig fortgeworfen?

Am Morgen erinnerte er sich deutlich an den Traum. Wie sonderbar, dachte
er, Ellen reiste in der Tat schwer ab. Wir telegraphierten sogar an das
Theater, jetzt erinnere ich mich. Aber ich wünschte, daß sie reiste,
denn -- ich hatte ja schon eine Verabredung mit ihrer Freundin, dieser
rotbäckigen, stupsnäsigen Schwedin -- wie hieß sie? -- Fräulein Svenska.
Ja, leichtsinnig ist die Jugend.

»Welch ein Schuft bist du doch gewesen, Schwedenklee!« sagte er zu sich.
»Und diese Frau hat dich vielleicht wirklich geliebt!«




                                   11


Ellen -- Blank -- schon nach kurzer Zeit streifte Schwedenklee das
immerhin nicht alltägliche Erlebnis nur noch selten in seinen Gedanken.
Er hatte die Verbindung mit Fräulein Wiedehopf wieder aufgenommen, und
seine Beziehungen zu der jungen Dame waren rasch vertraut geworden, in
viel kürzerer Zeit, als er anfänglich beabsichtigt hatte. Er hatte
Verpflichtungen, war wenig zu Hause, seine Gedanken waren durch die neue
Freundschaft hinlänglich beschäftigt.

Etwa zwei Wochen nach jenem Abendessen, als er nachmittags gerade das
Programm zu einem Ausflug entwarf, klopfte Augusta und meldete Blank.

»Herr Blank wartet mit einem Wagen vor der Türe.«

»Wer?«

»Herr Blank. Der Herr von neulich!«

Ungläubig und etwas verwirrt starrte Schwedenklee auf Augusta -- schon
kam ihm Blank mit ausgestreckten Händen entgegen.

»Ich hatte gelobt, Ihre Liebenswürdigkeit nicht mehr zu mißbrauchen!«
rief er lebhaft aus. »Sie sehen, ich bin schwach geworden. Wenn Sie mich
nicht tief unglücklich machen, kränken wollen, müssen Sie mir erlauben,
Sie zu einer Wagenpartie nach dem Grunewald einzuladen.«

»Ich bin leider gerade sehr beschäftigt, Herr Blank.«

»Nein, nein, verletzen Sie mich nicht, ich bitte Sie! Geben Sie mir
Gelegenheit, mich für Ihre Einladung zu revanchieren.«

Schwedenklee fand sich noch immer nicht zurecht. Wagen -- Grunewald --
und wie sah Blank aus? Er war kaum wiederzuerkennen!

Er trug einen noch recht ordentlich aussehenden dunkeln Ulster, einen
neuen Hut, neue Schuhe -- und seine Blässe war völlig verschwunden. Sein
Gesicht war leicht und gleichmäßig gerötet, wie das eines gesunden,
glücklich erregten Menschen. Erst später fand Schwedenklee, daß diese
Röte von hohem Fieber herrührte.

Blanks Augen strahlten vor Freude, es war Schwedenklee ganz unmöglich,
ihn zu enttäuschen. Er bat noch um eine Minute Geduld.

»Ich werde dem Kutscher unterdessen Bescheid sagen. Sie essen doch im
Grunewald mit mir?«

Nun rollten sie dahin.

»Mein Freund!« rief Blank unter lebhaften Gesten aus. »Ich sehe, Sie
sind außerordentlich erstaunt. Ich bin es ja selbst! Noch immer kann ich
es nicht fassen. Wissen Sie denn, was geschehen ist? Niedergebrochen,
erschöpft, in Verzweiflung, habe ich plötzlich neuen Lebensmut bekommen.
Ahnen Sie, was das bedeutet? Neuen Lebensmut? Ich fange wieder an zu
hoffen. Vielleicht -- ja wer weiß es, aber ich habe immerhin die
Hoffnung --, vielleicht hat das Schicksal in einer guten Laune
beschlossen, mir so etwas wie einen Nachsommer zu schenken! He,
Kutscher, fahren Sie doch etwas hurtiger, nicht so langsam!«

»Ich freue mich aufrichtig, Sie zuversichtlicher zu sehen!«

»Und das kam so, mein lieber und verehrter Herr Schwedenklee! Hören Sie
nun. Sie, mein verehrter Freund, Sie sind die Ursache! Ja! Ihr, wie
sagten Sie in Ihrer großen Güte, Ihr Darlehen -- damit begann es. Mein
Himmel, was ist seitdem alles geschehen! Ich bin verwirrt, kindisch
geradezu. Ich hatte den Mut, die Selbstüberwindung, Ihren Brief nicht
sofort zu öffnen. Bei jeder Laterne kämpfte ich mit mir. Nein, sagte
ich, du bist kein Bettler! Zu Hause öffnete ich Ihren Brief und --
glauben Sie mir -- ich war vor Erstaunen minutenlang betäubt. Morgen,
sagte ich, bringe ich ihm das Geld zurück. Morgen! Aber am Morgen dachte
ich anders. Plötzlich -- es war wie ein Wunder, stieg wieder, nach
Monaten, ein Gefühl der Hoffnung in meinem Herzen empor. Ich sagte mir:
wenn Gott dir einen gütigen Freund in den Weg gesandt hat, weshalb
willst du diesen Wink des Himmels nicht verstehen? Gut, ich brachte das
Geld nicht zurück!

Ich handelte! Ich raffte mich auf! Ich löste meine Kleider aus -- hier,
diese Kleider. Ich ging zu einem Friseur. Ich ging in eine Badeanstalt.
Ich ging in ein Restaurant und aß. Ich wurde plötzlich ein anderer
Mensch! Hoffnungen beflügelten mich. Ich ging in die Filmbörse. Waren
Sie schon in der Filmbörse? Ein Kaffeehaus in der Friedrichstraße?«

Schwedenklee schüttelte den Kopf.

»Gehen Sie nicht hin. Sie werden nie so viel Elend, offenes und
verborgenes, schlecht verborgenes Elend, auf einer Stelle finden. Ich
gehe hin -- ich bin gesättigt, anständig gekleidet, ich bestelle Kaffee.
Glückt es heute nicht, so glückt es morgen. Ich fühle Ihr Kuvert in
meiner Tasche, ich habe keine Eile, ich fühle mich sicher.

Was denken Sie? Regisseure kommen herein. Sie haben das ja nie
beobachtet. Man kennt diese Regisseure, die Herren und Damen stürzen
sich förmlich auf sie --! Aber auf _mir_ ruht sein Blick, der Blick des
Allmächtigen. Ich tue, als kümmere es mich nicht im geringsten. Er
geruht an meinen Tisch zu kommen. Er stellt sich vor, denken Sie,
obschon ihn hier jedermann kennt und er es genau weiß. Was denken Sie,
was geschieht? Er verpflichtet mich für zwei Filme, zwei -- bei sehr
gutem Honorar! Zwei Filme!« Blank lachte laut heraus und breitete die
Arme den Vorübergehenden entgegen.

»Ich hatte früher eine Verachtung für den Film, müssen Sie wissen. Er
erschien mir wie eine Profanierung der Kunst. Ich war immer Idealist,
das heißt ein Dummkopf -- werde es bleiben bis an mein Lebensende, kann
nicht anders. Ich lehnte früher, da ich noch auf hohem Rosse saß, jedes
Engagement ab. Später aber gab sich es bescheidener und war zufrieden,
in der Komparserie zu filmen, bis ein Regisseur schrie: Bedauere, Sie
_verhusten_ mir ja jede Aufnahme. Ja, so sagte er: Sie verhusten ...
hahaha!«

So laut war Blank, so froh erregt, daß Schwedenklee der Überzeugung war,
er sei etwas angeheitert.

»Zwei Filme also,« fuhr Blank lebhaft fort, »Sie sehen, das Unfaßbare
war geschehen. Ein Wunder hat sich ereignet! Das Schicksal hatte mich
völlig vergessen, plötzlich aber ließ es sein Auge wieder in Gnaden auf
mir ruhen. Ich filme bereits eine ganze Woche, heute, am ersten freien
Tag, eilte ich zu Ihnen, um Ihnen die große Neuigkeit zu verkünden. --
Im ersten Film, der zur Zeit gedreht wird, spiele ich die Rolle eines
Günstlings der großen Katharina, der an schleichendem Gift, das ihm sein
Rivale, ein französischer Abbé, eingab, dahinsiecht. >Die Rolle ist
Ihnen wie auf den Leib geschrieben, Blank<, sagte der Regisseur. Sie
sehen! Ja, eine herrliche Sache: ich sieche dahin, drei Akte hindurch.
Meine erlauchte Geliebte läßt mich fallen im Augenblick, da ich den
Stempel des Todes auf der Stirn trage. Aber ich räche mich ...«

Blank nahm eine Schachtel aus der Tasche und bot Schwedenklee eine
Zigarette an. »Ich habe nicht vergessen, daß Sie ein leidenschaftlicher
Raucher sind, hoffentlich schmeckt Ihnen die Marke. He, Kutscher, lieber
Freund, halten Sie einen Augenblick!« Und Blank bot mit fliegender Hand
Feuer. »Und nun, lassen Sie das Pferdchen wieder laufen!«

Wohlig stieß Blank die Rauchwolken in die durchsonnte Luft, indem er
fortfuhr:

»Weitaus amüsanter ist der andere Film, den wir in acht Tagen drehen
werden. Er wird Sie erheitern, mein verehrter Freund. Ich bin also ein
heruntergekommener Graf und sitze an der Straße als Bettler! Eine Dame,
die mich in meinem früheren Leben kannte, eine Tänzerin, reicht mir --
sie ist eben im Begriff, in ihr Auto einzusteigen -- ein Goldstück. Aber
siehe da, schon erkennt sie mich. Sie nimmt mich in ihren Wagen. Die
Menge der Neugierigen, die sich ansammelte, spendet ihrem mitleidigen
Herzen Beifall. Ich werde gefüttert, gepflegt -- und schon bin ich
wieder ein Graf, ein hochfeudaler, etwas hinfälliger Greis. Die Tänzerin
unterbreitet mir einen Ehekontrakt. Sie will meinen Adel heiraten, und
ich soll nach der Trauung, laut Kontrakt, verschwinden für immer. Aber
was glauben Sie? Ich tue es nicht, ich bin nun wieder an das gute Leben
gewöhnt, drohe, verteidige meine Ehre, werfe die Liebhaber die Treppe
hinunter, sperre meine schöne Gattin in die Bügelkammer. Hahaha! Ist es
nicht lustig? Ja, auch Sie müssen lachen. Ich sehe sogar, daß Sie
gespannt sind, wie es endet, aber Sie schämen sich zu fragen. Habe ich
recht?«

»Ja, Sie haben recht.«

»Nun, so sollen Sie hören. Meine Gemahlin ist schlauer als ich. Sie lädt
eine Nichte ein, ein süßes Geschöpf -- ich bin töricht genug, mich zu
verlieben, werde bei einem zärtlichen Tete-a-tete ertappt -- Scheidung!
Meine Aktien stehen schlecht, ich bin genötigt, mich zu verabschieden,
stecke die Abfindungssumme ein, und in der Schlußszene sehen Sie mich
als alten Gecken flanieren. Ich mache Bekanntschaft, Sekt, meine Dame
stiehlt mir die Abfindungssumme und die Kellner werfen mich auf die
Straße -- hahaha!«

»Aber Kutscher,« unterbrach Blank plötzlich seinen Redeschwall und
berührte, erschrocken aufspringend, die Schulter des Kutschers, »ist es
denn nötig, daß Sie uns mitten in den See hineinfahren?« Augenblicklich
aber sah Blank seine Täuschung ein. »Verzeihung -- ja, es war eine
Sinnestäuschung. Ich sehe ja, es ist der Himmel, der sich im Asphalt
spiegelt, es war nur eine vorübergehende -- wie soll ich sagen --?«

»Ich glaube,« fuhr Blank nach einer Pause mit der gleichen Lebhaftigkeit
fort, »mein Glück hat mich schwindlig gemacht! Ich fiebere in diesen
Tagen sehr stark, aber ich fiebere, weil ich wieder hoffe. Ich empfinde
dieses Fieber geradezu angenehm! Ja, merkwürdig und geheimnisvoll ist
dieses Leben! Ist es nicht sonderbar, daß schon früher einmal Sie, ja
gerade Sie, verehrter Freund, Sie und kein anderer es waren, der in
einem Augenblick der größten Verlegenheit entscheidend in mein Leben
eingriff? Soll man da nicht an Mysterien, an wunderbare, geheime
Zusammenhänge glauben?«

Schwedenklee war äußerst erstaunt. »Ich sollte schon früher einmal --?«

»Ja!« Blank rückte vertraulich näher und lachte. »Ja! Ein Geständnis.
Ich habe Ihnen erzählt, daß ich Rosa in Nürnberg kennenlernte. Mein
Engagement in dieser Stadt war geradezu kläglich, und ich war ziemlich
abgerissen. Nun schrieb mir ein Kollege aus Köln, daß dort eine Vakanz
sei. Köln! Aber wie nach Köln kommen, ohne Geld, in diesem Aufzuge --
zum Verzweifeln. Ich sprach mit Rosa, und Rosa sagte, ich werde an
Schwedenklee schreiben.«

»Schrieb sie denn?«

»Ja. Sie flunkerte ein bißchen, daß sie notwendige Garderobe brauche.
Und Sie sandten postwendend tausend Franken.

Tausend Franken! Reise, Anzug, Hotel, oh, wie wichtig ist das -- Sie
ahnen es nicht, da Sie das Theater nicht kennen. Alles war plötzlich
ermöglicht! Übrigens haben wir Ihnen die tausend Franken nach zwei
Monaten zurückgeschickt«, sagte Blank voller Genugtuung.

»Ja -- was für merkwürdige Zusammenhänge! Und nun wieder! Fühlen Sie,
wie wunderbar die Luft ist!« schwärmte Blank, während sie in den
Grunewald hineinrollten. »Und die Sonne wärmt schon ordentlich! Sie
ahnen nicht, wie glücklich ich bin ...«

Blank lehnte sich behaglich in den Wagen zurück. Er nahm den Hut ab und
ließ die heiße Stirn im Luftzuge kühlen.




                                   12


Fräulein Nelly Wiedehopf -- die Dame mit den turmartig aufgebauten
Haaren und den glänzend polierten Fingernägeln -- hatte ihre
Eigenheiten. Es ging nicht alles so, wie Schwedenklee gedacht hatte.
Einmal erschien sie höchst erregt -- ihr Polarfuchs war gestohlen worden
oder sie hatte ihn verloren. Jedenfalls, der Polarfuchs war
verschwunden. Sie redete tagelang von dem Polarfuchs, war in
schlechtester Laune, so daß sich Schwedenklee endlich entschloß, ihr
einen neuen Polarfuchs zu kaufen. Kaum aber hatte er den Pelz gekauft,
da fand sich der alte Polarfuchs wieder! Und nun ließ sie den alten
Polarfuchs in einen Muff umarbeiten, mit Seidenfutter und einer
eleganten Innenausstattung für Spiegel und sonstige Kleinigkeiten --
vergebens wies Schwedenklee darauf hin, daß der Sommer vor der Türe
stand.

Kürzlich aber passierte folgende, immerhin etwas peinliche Sache: Nelly
erschien mit rotgeweinten Augen. Ihre Tante in Lübeck war gestorben. Sie
brauchte ein Trauerkostüm, Reisegeld und, da die Tante sehr arm war,
noch einen Zuschuß zu den Beerdigungskosten. »Ich kann die Schwester
meiner Mutter unmöglich wie eine Armenhäuslerin begraben lassen auf
städtische Unkosten!« Nelly war völlig aufgelöst. Schwedenklee griff in
die Brieftasche. Besonders der Zuschuß zu den Beerdigungskosten
schmerzte ihn. Ging es nicht etwas sehr weit, daß er sogar die
Bestattungskosten einer Tante tragen sollte, von deren Existenz er erst
in dem Augenblick etwas erfuhr, da sie starb?

Er empfahl Sparsamkeit, die wahre Trauer zeige sich nicht in
Äußerlichkeiten. Er, für seine Person, würde zum Beispiel gern mit einer
einfachen Holzkiste zufrieden sein -- er würde sie einem der
entsetzlichen Särge sogar vorziehen! Überhaupt mache man zu große
Scherereien mit Verstorbenen, die ja nur den einen Wunsch hätten, daß
man sie in Ruhe lasse.

Nelly nannte ihn herzlos. »Natürlich,« rief sie aus, »du hast ein
herrliches Leben genossen, was kümmert es dich, wenn du in einer
billigen Kiste begraben wirst? Aber Leute, denen es kümmerlich ging im
Leben, wollen wenigstens als Tote einigermaßen wohlhabend erscheinen.
Aber das wirst du nie begreifen.«

Immer wurde Nelly sofort ausfallend!

Um es gleich zu sagen: die ganze Sache mit der verstorbenen Tante war
eine Lüge. Nelly fuhr nach Lübeck, das ist wahr. Sie erschien nach etwa
einer Woche wieder, in ihrem schwarzen Trauerkostüm, das die Blässe
ihres Gesichtes herrlich hervorhob, kokettierte sie nach allen Seiten --
später aber verplapperte sie sich. Es kam an den Tag, und sie gestand:
es war ein Einfall von ihr, dem sie nicht widerstehen konnte.

Schwedenklee war verstimmt und zog sich zurück. Das ging denn doch zu
weit. Und dazu hatte Nelly richtig geweint, aus Schmerz über den Tod
einer Tante, die gar nicht existierte. Diese Frauen waren wirklich ein
Rätsel!

»Nein, nein,« sagte Schwedenklee zu sich, »dir kann man ja schon alles
aufbinden!« Seine Eitelkeit war tief verletzt.

Aber Nelly hatte ihre Vorzüge, ohne Zweifel. So war sie, zum Beispiel,
sehr leidenschaftlich. Sie zitterte, wenn man sie nur mit den Lippen
berührte. Aber vielleicht ist auch das nur Komödie? dachte Schwedenklee,
unsicher geworden. Man weiß wirklich nicht mehr, woran man bei diesen
Frauen ist!

Sodann war Nelly interessant! Ihr Teint war bleich, und je näher man sie
betrachtete, desto bleicher erschien ihr Teint. Sie hatte kleine
rötliche Sommersprossen, die den Teint noch durchsichtiger erscheinen
ließen. Sie hatte scharfe, helle Vogelaugen, die Brauen wuchsen leicht
zusammen, und wenn man sie ganz nahe betrachtete, erschien ihr Gesicht
in der Tat fast gespenstisch.

Nelly verstand es, sich zu kleiden -- mit nichts! Mit nichts täuschte
sie den Luxus einer reichen Ausländerin vor. Man nahm an, daß
Schwedenklee Tausende für sie ausgab. Das schmeichelte Schwedenklees
Eitelkeit immerhin.

Nelly verstand es, sich zu benehmen. Man konnte mit ihr getrost in
ersten Hotels dinieren -- die Kellner wichen ersterbend zurück. Ein
Lächeln von ihr entzückte den Direktor, die Herren verdrehten die Hälse.
(Und doch war sie nur Buchhalterin in einem Herrenschneidergeschäft!)
Wie sie ihren Fuß setzte -- das allein war ein Roman!

Aber was zuviel ist, ist zuviel. Schwedenklee zog sich zurück. Er
erkaltete. Aus purer Bosheit reiste er nach Lübeck -- zu Studienzwecken
-- und sandte ihr eine Ansichtskarte.

Als er zurückkehrte, fand er einen kurzen, aber zu seiner größten
Verwunderung herzlich und warm gehaltenen Brief von Nelly vor. Dazu ein
Paar antiker goldener Ohrringe, die er ihr geschenkt hatte.

Schwedenklee war beschämt. Er hatte kaum den Mantel abgeworfen, so
schrieb er Nelly schon einen langen Brief. »Das mit den Ohrringen würde
er ihr nie verzeihen!«

Am nächsten Tage schon kam Nelly. Sie stürzte in seine Arme und biß ihn
so stark in die Wange, daß man tagelang ihre Zähne sah. »Das zur
Strafe!« sagte sie. Nach Tisch begann sie plötzlich zu singen -- nun,
kurz und gut, es stellte sich heraus, daß man während seiner Abwesenheit
ihre Stimme entdeckt hatte! Sie wollte sich ausbilden lassen. Sie war in
größter freudiger Erregung. In Wirklichkeit, Nelly hatte eine kräftige,
wenn auch etwas grelle Stimme.

»Du hast jene unerklärliche Nebenschwingung in der Stimme,« sagte
Schwedenklee sachverständig, »jenes Timbre, das nur große Sängerinnen
haben, dazu hat deine Stimme Umfang. Du hast auch die bezeichnende,
etwas belegte Sprechstimme -- weiß Gott, wieso ich deine Stimme nicht
früher erkannte.«

»Weil du kein wirkliches Interesse für mich hast!«

Schwedenklee tat gekränkt. Die Versöhnung war vollständig. Schon in den
nächsten Tagen lud Schwedenklee den Bassisten von der Oper -- mit dem er
zuweilen Schach spielte -- zu sich zum Abendessen. Er sollte sein Urteil
abgeben.

Wiederum hatte Augusta sich alle Mühe gegeben. Sie liebte Nelly, denn
Nelly lief immer in die Küche, umarmte Augusta, die von der Hitze des
Herdes schwitzte, und küßte sie sogar auf die Backe.

Der Bassist aß mit vorzüglichem Appetit und trank ganz allein eine
Flasche teuren Rheinwein. Dann sang Nelly zu Schwedenklees Begleitung.

»Herrlich, wunderbar!« schrie der Bassist begeistert und klatschte mit
den fetten Händen. »Die Patti, die Hempel, die Farrar -- in zwei Jahren
werden Sie in Neuyork singen!«

»Siehst du?« sagte Nelly mit einem triumphierenden Blick.

Man schmiedete Pläne, entwarf Programme, wählte Lehrer, der Bassist bot
sich für die stimmtechnische Ausbildung an. Und zwar ohne jegliches
Honorar! Aber Schwedenklee protestierte energisch und erklärte Schwarz
klipp und klar, daß er ihm Nellys Ausbildung nur dann anvertrauen würde,
wenn der Sänger sie zu seinen gewohnten Bedingungen als Schülerin
annehmen würde. In die Ecke gedrängt, willigte Schwarz endlich ein.
Schwedenklee war in gehobener Laune und holte neuen Wein aus seinem
Geheimschrank.

Nelly hauchte ihm in einer Sekunde zehn kleine verliebte Küsse auf die
Glatze. Es blieb alles beim alten. Trotzdem -- die Sache mit der Tante
konnte Schwedenklee nie ganz vergessen.

                   *       *       *       *       *

Es wurde schon heiß. Die Kartentische leerten sich langsam. Die
Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute fuhren mit ihren Familien aufs Land. Nur
in dieser Zeit wurde man plötzlich gewahr, daß fast alle Stammgäste und
Spieler Familienväter waren. Gewöhnlich hielt man sie für Junggesellen
ohne jegliche Verpflichtungen.

Schwedenklee reiste mit Nelly auf vier Wochen nach Heringsdorf. Der
Bassist Schwarz -- der die stimmtechnische Ausbildung übernommen hatte
-- begleitete sie. Schwedenklee hatte ein kleines Gut an der Ostsee, und
Nelly, der er zuweilen von dem Landgut vorgeschwärmt hatte, wollte
zuerst dort den Urlaub verbringen. Sie träumte von Hühnern, Schweinen,
Leiterwagenpartien. Aber Schwedenklee setzte plötzlich die Besitzung
herab -- das Haus sei feucht! Die Kinder des Pächters hätten
Diphtheritis! Aus irgendeinem Grunde -- das fühlte Nelly -- wollte er
sie nicht in »Siebenbirken« haben.

Aber sie tröstete sich schließlich mit Heringsdorf. Sie brachte ein
halbes Dutzend von Badekostümen mit, die Aufsehen erregten, so kühn
waren sie. Und woraus waren sie gemacht? Aus _nichts_!

Nelly feierte Triumphe. Nach drei Tagen schon war sie eine der
bekanntesten Erscheinungen in Heringsdorf. Man beneidete Schwedenklee um
diese Frau, er fühlte es deutlich. (Und doch war sie nur Buchhalterin in
einem Herrenschneidergeschäft!)

Die stimmtechnische Ausbildung nahm ziemlich viele Stunden des Tages in
Anspruch. Es gab sogar kleine Eifersuchtsszenen, obschon es
Schwedenklees oberstes Prinzip war, nie zu zeigen, daß ihm eine Frau so
viel wert war, daß er eifersüchtig werden könnte. »Denn dann«, pflegte
er zu sagen, »bist du verloren, mein Sohn!«

Es war ja selbstverständlich, daß Schwedenklee die Hotelrechnungen des
Bassisten bezahlte -- sonstige Honorare forderte Schwarz während des
Badeaufenthalts nicht. Er tat es aus Begeisterung für Nellys Stimme.

Nun, Gott sei Dank, auch diese Wochen gingen vorüber, und nun saß Nelly
wieder -- duftend, wie aus dem Ei geschält -- in der Herrenschneiderei.

Nellys Unterricht bei Schwarz ging natürlich ohne Unterbrechung weiter
-- in nächster Zeit begann auch der dramatische Unterricht bei einem
Schauspieler.

Alles hat schließlich seine Grenzen, dachte Schwedenklee, als er die
letzten Stundengelder bezahlte.




                                   13


Schwedenklee hatte im Laufe des Sommers kaum mehr an Blank gedacht. Bei
seiner Rückkehr fand er einen Brief vor, voller Dankesbeteuerungen --
die geliehene Summe lag bei -- bei Heller und Pfennig.

Auch das hatte Schwedenklee vergessen, als der Winter anbrach.

Er dachte gar nicht mehr an Blank. Plötzlich aber erhielt er einen
Brief: Blank war erkrankt. Sein »Nachsommer« hatte ein rasches Ende
gefunden. Eine Lungenentzündung hatte seiner Tätigkeit als
Filmschauspieler ein rasches Ende bereitet. Er war in größter Not, in
Verzweiflung. Selbstverständlich zögerte Schwedenklee nicht, ihm
beizuspringen. Er fühlte sich förmlich verpflichtet dazu.

Dann hörte er nichts mehr von Blank.

Nelly deutete an, daß sie ihre Stellung in der Herrenschneiderei
aufgeben wolle. Aber sie fand bei Schwedenklee nur taube Ohren. Eine
Frau von ihrer wirtschaftlichen Basis loslösen -- was bedeutete das?
Nein, dafür war Schwedenklee nicht zu haben, sein Verantwortungsgefühl
war zu groß.

Also blieb Nelly in ihrer Stellung. Sie schmollte indessen, sie warf
Schwedenklee vor, daß er »nicht großzügig« sei, ja geradezu geizig, eine
Krämerseele. »Wenn ich nur einen deiner Bauplätze hätte, die heute
Millionen wert sind,« sagte sie, »da solltest du sehen, wie ich meine
Freunde behandeln würde! Da könntest du etwas lernen.«

So sind die Frauen, dachte Schwedenklee, unersättlich!

Er bezahlte die Stunden bei Schwarz, wöchentlich vier, und diese Sänger
hatten ja unerhörte Honorare! Neuerdings kam dazu der dramatische
Unterricht, und er hatte herausgefunden, daß Nelly mindestens die Hälfte
der Stunden zuviel notieren ließ. So viel freie Zeit erlaubte ihr ja
ihre Stellung in der Schneiderei gar nicht!

Überdies mißfiel ihm das Verhältnis zwischen Schwarz und Nelly. Es
schien eine etwas sonderbare Vertraulichkeit angenommen zu haben. Er
hatte einmal einen kleinen, gänzlich unscheinbaren Blick zwischen den
beiden aufgefangen. Nun, er, Schwedenklee, war kein heuriger Hase, er
wußte genau, zu genau, was solch ein Blick unter Umständen bedeuten
konnte! Er behandelte den Sänger um einige Grade kühler.

»Ich habe den Eindruck,« sagte der Bassist mit gekränkter Miene, »daß
Ihnen meine Honorare zu hoch sind?«

»Ihre Honorare? Aber ich bitte Sie, Verehrtester, ich wünsche doch
nicht, daß Sie mir besondere Preise machen. Mißverstehen Sie mich nicht
-- die Ausgaben für Nellys Ausbildung im allgemeinen ...«

»Aber ich bitte Sie, Verehrtester -- für solch eine Stimme!«

»Zugegeben! Aber Sie ahnen nicht, welche Beträge ich monatlich zu
bezahlen habe. Jetzt taucht schon die Frage der Kostüme auf ...«

»Gut.« Der Bassist bearbeitete mit der Kreide kunstgerecht das Leder des
Billardqueues -- die Unterredung fand im Billardsaal des Cafés statt --
»Ich werde also künftighin kein Honorar mehr fordern. Ich unterrichte
aus Interesse für diese ungewöhnliche Begabung.«

Schwedenklee protestierte mit großer Beredsamkeit. Unmöglich konnte er
diesen Vorschlag annehmen, ganz unmöglich! Er geriet sogar in Erregung.
Alles blieb beim alten.

Schließlich aber hat alles seine Grenzen, dachte Schwedenklee, während
er sorgfältig mit der Spitze des kunstvoll aufgestützten Queues nach dem
Ball zielte.

                   *       *       *       *       *

Der Winter war lau. Nebel, Dunst, Regen. Nur dann und wann lag schwarzer
Schnee auf den Dächern. Im Februar aber setzte plötzlich eine solch
grimmige Kälte ein, daß die Dampfheizung nicht mehr genügte.
Schwedenklee mußte seinen elektrischen Ofen zu Hilfe nehmen, um nicht zu
frieren. Nichts haßte er mehr als Kälte.

Gerade als Schwedenklee sich nach Tisch etwas niedergelegt hatte, die
Decke über den Knien, den elektrischen Ofen neben der Ottomane, wurde er
von Augusta aufgeweckt.

»Eine Krankenschwester wünscht Sie dringend zu sprechen.«

»Eine Krankenschwester?« fragte Schwedenklee ziemlich mürrisch.
Plötzlich, schnell erwachend, erschrak er. »Mich? Ja, was in aller Welt
--?« Vielleicht Nelly, dachte er. Ah, mit diesen Frauen hat man nie
Ruhe.

Schon trat die Schwester ein, ohne viele Umstände zu machen. Sie war ein
großes, ungeschlachtes Mädchen mit weißgelbem Haar.

»Herr Schwedenklee?« Ihre Stimme klang gefühllos und herrisch.

Rügend ruhte Schwedenklees Blick auf ihren unförmigen Gummischuhen, die
sie mit ins Zimmer brachte und die seinen Teppich beschmutzten.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, brummte er, während er die Decke
völlig von sich warf. »Ich bin nicht ganz wohl, etwas erkältet.«

Die Schwester ignorierte seine Erkältung, seine Verlegenheit, seinen
deutlichen Unwillen über die Störung.

»Ich komme von Herrn Blank«, sagte sie laut und mit völlig gefühlloser
Stimme, als bitte ihn Blank zu einer Partie Billard. »Er liegt im
Sterben.«

»Wie sagen Sie --?« Schwedenklee sprang erschrocken auf. Er erbleichte.
Sterben, Tod ...

Die Schwester erklärte, daß Blank den dringenden Wunsch habe, ihn zu
sehen.

»Was will er von mir?« stammelte Schwedenklee.

»Das weiß ich nicht. Es geht mich auch nichts an. Er hat im Fieber viel
von Ihnen gesprochen. Ich habe den Eindruck, daß er Ihnen etwas
Wichtiges mitteilen möchte.«

»Mir? Mitteilen? Etwas Wichtiges?«

»Was weiß ich? Es interessiert mich auch nicht. Sie werden also kommen?«

»Ja, gewiß werde ich kommen.« Schwedenklee hätte gar nicht den Mut
besessen, dieser energischen Person etwas abzuschlagen.

»Ich schreibe Ihnen hier die Adresse auf. Im Osten. Bei der Frankfurter
Allee.«

»Sie gehen, Schwester?«

»Ich kann ihn nicht allein lassen.«

Schon war sie fort.

»Eine unangenehm energische Person!« dachte Schwedenklee. »Gott soll
mich davor behüten, daß ich in meiner Sterbestunde solch ein Wesen, mit
so großen Füßen, um mich habe!«

»Augusta!«

Schwedenklee war sehr erregt. Einen Augenblick dachte er sogar trotz
seiner Zusage daran, nicht hinzugehen. Der Gedanke entsetzte ihn
plötzlich, in ein Sterbezimmer treten zu müssen. Armut dazu, vielleicht
war es schlecht gelüftet? Aber nein, das war ja Feigheit. Ein
Sterbender! Lieber Himmel, dieses Leben ist in der Tat eine höllische
Erfindung. Er starrt zur Türe, wartet auf ihn, den Todesschweiß auf der
Stirn. Nein, unmöglich! Ein Sterbender ist ein heiliges Wesen -- jeden
Wunsch muß man ihm erfüllen.

Aber in welchem Anzug geht man zu einem Sterbenden? Schwedenklee kam in
seiner Aufregung auf den unglücklichen Einfall, einen Zylinder
aufzusetzen -- um die Feierlichkeit zu betonen.

»Mitzuteilen?« Ja, was in aller Welt mochte er ihm mitzuteilen haben?
Schwedenklee erinnerte sich plötzlich jenes Briefes, in dem Blank
seinerzeit schrieb, daß er ihm unter Umständen wichtige Mitteilungen zu
machen habe.

Und später hatte er widerrufen ...

»Ich werde nie Ruhe vor diesem Menschen haben!«

In großer Erregung eilte Schwedenklee auf die Straße. Die unmögliche
Adresse hielt er in der Hand. Es war ja ganz undenkbar, hier an der
Potsdamer Brücke einem Chauffeur _diese_ Adresse zu nennen. Schwedenklee
ging zu Fuß bis zum Potsdamer Platz, um sich zu sammeln.

Nein, eine unangenehmere Sache konnte man sich beim besten Willen nicht
ausdenken. Und dazu -- plötzlich blieb Schwedenklee verwirrt stehen --
dazu sollte Nelly um sechs Uhr zum Tee kommen! Schließlich konnte er ja
telephonieren ... Und diese eisige Kälte, die sich wie Säure in die Haut
fraß.

Am Potsdamer Platz hatte Schwedenklee folgende Entschlüsse gefaßt.
Erstens: ich werde hingehen. Zweitens: ich werde bis zum Alexanderplatz
mit der Untergrundbahn fahren und dort eine Droschke nehmen -- dort
fällt es nicht auf -- drittens: ich werde Augusta telephonieren, für den
Fall, daß ich bis sechs Uhr nicht wieder zurück sein sollte. Viertens
werde ich jetzt erst einen Kaffee trinken.

Es dämmerte schon, als Schwedenklee in der bezeichneten Straße ankam.
Das Auto, der Herr im Pelz und Zylinder erregten großes Aufsehen.
Beklemmend war diese düstere Straße voll schleichender, hüstelnder
Menschen, die seinen Zylinder und Pelz anstarrten, mit gierigen,
höhnischen, erstaunten Augen. Frech streiften Schwedenklee die Blicke
halbwüchsiger Mädchen.

Das bezeichnete Haus strömte Armut und Verzweiflung aus. Es stand und
schwieg, wie ein düsteres Gesicht mit zusammengebissenen Zähnen.

Schwedenklee betrat es klopfenden Herzens.

Das Stiegenhaus war erfüllt von fernem, wirrem Lärm. Gezänk,
Kinderweinen, schlagende Türen. Ein saurer, unangenehmer Geruch stieg
von der schmutzigen Treppe auf -- hier roch es nicht nach Lack und dem
feinen Parfüm emporschwebender Pelze wie im Westen.

Schwedenklee hatte von solchen Häusern bis jetzt nur _gelesen_. Hier
wurde gemordet, tagelang lagen Verstorbene in den kalten Wohnungen,
bevor man sie fand, Hoffnungslose lösten den Gasschlauch --

»Pst -- mein Herr -- wollen Sie zu Fräulein Lisa?« Zischeln unter ihm.

Schwedenklee kletterte rascher die Treppe empor, sein Herz klopfte
erschrocken.

»Pst -- pst -- mein Herr!«

Achtunggebietend räusperte sich Schwedenklee, von Ekel und Furcht
ergriffen.

Er floh an den Türen vorüber, hinter denen sich unbegreifliche
Schicksale verbargen, die zu erfahren ihn nicht gelüstete.

Lärm empfing ihn im nächsten Stockwerk. Die Türe öffnete sich und eine
korpulente Dame, offenbar in festlicher hochzeitlicher Kleidung, trat
zigarettenrauchend, anscheinend etwas angeheitert, auf den Flur. Drinnen
lärmten und schrien ausgelassen die Hochzeitsgäste.

Schwedenklee griff an die Krempe des Zylinders.

»Guten Abend!« sagte die zigarettenrauchende Braut und warf Schwedenklee
einen langen verführerischen Blick zu. Langsam schloß sie die Türe,
während sie Schwedenklee, der sich nicht enthalten konnte
zurückzublicken, mit zusammengekniffenem Auge zulächelte. Der Lärm der
Hochzeitsgäste klang ferner.

Schärfer stieg wieder der schlechte Geruch aus den feuchten
ausgetretenen Treppenstufen.

Da hielt Schwedenklee den Schritt an: an einer Türe klebte ein Zettel.
»Leise klopfen, ein Schwerkranker! Man bittet auf der Treppe nicht zu
lärmen. Schwester Anna.«

Hier also war es. Schwedenklees Herz stockte. Ein schweres, rätselhaftes
Schnarchen, ein Sägen wie das Schnarchen eines Riesen ertönte hinter der
Türe. Augenblicklich -- obschon er nicht weiter darüber nachdachte, was
das sonderbare Schnarchen zu bedeuten habe -- ergriff Schwedenklee die
Flucht.

Er stieg bis zur Hochzeitsgesellschaft hinab. Dann wandte er um. »Wie
feige ich doch bin!« dachte er.




                                   14


Zaghaft pochte Schwedenklee, und sofort, lautlos, öffnete ihm die
weißblonde, ungeschlachte Pflegerin mit den eckigen Hüften.

»Sie kommen zu spät«, flüsterte sie vorwurfsvoll, mit einem
mißbilligenden Blick auf Pelz und Zylinder. »Noch vor einer halben
Stunde hat er nach Ihnen gefragt. Jetzt hat er das Bewußtsein verloren.«
»Er« nannte sie den Sterbenden, »er« -- nicht mehr wert ist ein Mensch,
der stirbt.

Der gleiche röchelnde, furchtbare Schnarchton --. Schwester Anna schob
Schwedenklee resolut durch die Türe.

»Hier, diese Türe!« sagte sie.

In großer Befangenheit trat er ein.

Da sah Schwedenklee, daß dieser röchelnde Schnarchton aus dem weit
geöffneten Munde eines im Bett halb aufrecht sitzenden leichenfahlen
Mannes mit großen, gläsernen Augen kam.

Da sah Schwedenklee -- nie wußte er später zu sagen, was er früher
gesehen hatte, den Sterbenden oder das _Andere_ -- das Wesen, das vor
dem Bette kniete ...

Das Zimmer war nicht hell. Eine kleine Petroleumlampe ohne Schirm stand
irgendwo auf dem Tische. Der Sterbende saß in den Kissen eines grau und
elend aussehenden Bettes. Seine Brust keuchte in kurzen Stößen, sein
gemarterter Atem stieß Rauchsäulen in die eisige Luft, sein
eingefallenes Gesicht blendete von Schweiß.

Vor dem Bett aber kniete ein Wesen -- ein Geschöpf, etwas
Unbegreifliches, Wunderbares, vielleicht nur eine Vision seiner
aufgeschreckten und verwirrten Sinne? -- ein Mädchen, die Hände betend
verkrampft, die Augen auf das Antlitz des Sterbenden gerichtet -- ein
Wesen, verklärt, unfaßbar -- _Ellen Fröhlich_, dieselbe Ellen Fröhlich,
die er in Paris gekannt hatte -- nur jünger und seltsam verklärt!

Fassungslos stand Schwedenklee und schloß die Augen. Er tastete mit der
Hand nach der Wand, da er fühlte, wie er schwankte ...

                   *       *       *       *       *

Wie lange dauerte dieses furchtbare Röcheln? Stunden, eine Ewigkeit. Und
immerfort, unbeweglich kniete dieses verklärte Wesen, die Hände betend
verkrampft vor dem Bette.

Zuweilen nahm die Schwester ein feuchtes Tuch und wischte die Stirn des
Sterbenden ab.

Zuweilen hörte man den heiteren, trunkenen Lärm der
Hochzeitsgesellschaft fern und wirr durch die Decke.

Schwedenklee hatte nie gesehen, wie ein Mensch starb. Der Tod seiner
Mutter war ihm telegraphisch mitgeteilt worden. Als der alte
Schwedenklee im Sterben lag, hatte man ihm telegraphiert, und als er
ankam, war schon alles vorbei.

Schwedenklee stand versteinert, regungslos in der Ecke, das
unbeschreibliche, unbegreifliche Wesen kniete, die Schwester tauchte
zuweilen mit ihren feisten Händen das Handtuch in das Waschbecken -- und
der Sterbende röchelte.

                   *       *       *       *       *

Das Röcheln wurde schwächer, pfeifender, und plötzlich -- nach einer
unfaßbaren Stille -- schrie eine ganz unbegreiflich entsetzte Stimme,
die Stimme eines Mädchens, eines Kindes: »Papa! Papa!«

Augenblicklich, ins innerste Herz getroffen durch den Ton des Mädchens
-- der Kinderstimme, diesen Ton der letzten menschlichen Qual --
augenblicklich wandte Schwedenklee sein Gesicht zur Wand. Nie in seinem
Leben hat er diesen Schrei vergessen. Er war totenbleich und zitterte an
allen Gliedern.




                                   15


Die Schwester zog Schwedenklee in einen feuchten, eisigen Vorraum, eine
Art Küche mit Ausguß, die Fenster waren gefroren.

»Man hat ihm,« sagte sie, »während er schon todkrank lag, die letzten
Habseligkeiten gepfändet. Noch gestern kam die Hauswirtin und machte
eine solch fürchterliche Szene, daß es zu Tätlichkeiten zwischen mir und
ihr kam. Sie holte die Polizei, die Polizei aber hatte doch mehr
Einsicht, als sie den Kranken sah, und zog ab.«

»Wie schön von Ihnen!« stammelte Schwedenklee ergriffen. Er drückte der
Schwester bewundernd die Hand »Was für eine prächtige Frau sind Sie
doch!« Diese ungeschlachte, kalte Person, ja, es gab immer noch
Menschen! »Ich komme für alles auf, Schwester Anna,« stotterte er
verlegen. Immer noch zitterte er am ganzen Körper, und seine Zähne
klapperten. Seine Nerven hatten völlig versagt.

»Wir haben nichts, auch nicht einen Pfennig, nur Schulden.«

»Nun, so nehmen Sie, bitte. Ich gehe. Morgen früh bin ich wieder hier,
ich habe heute nicht länger Zeit.«

»Einen Augenblick!« sagte Schwester Anna und nahm ein Päckchen Briefe
von einem verstaubten Brett.

»Das hier ist für Sie, und hier ist ein Brief, den Blank gestern
schrieb.«

»Danke«, stammelte Schwedenklee und stürzte mit seinem Zylinder die
Treppe hinab.

Noch heute wußte Schwedenklee nicht zu sagen, wie er wieder in sein
Stadtviertel zurückgekommen war. Er erwachte aus einer Art von geistiger
Starre, als der Chauffeur die Türe des Autos öffnete. Zu seinem großen
Erstaunen stand das Auto vor seinem Stammcafé.

In einem völlig verstörten, entgeisterten Zustand kam Schwedenklee in
den Billardsaal. Ohne zu denken hatte er offenbar dem Chauffeur das
Stammcafé genannt.

Niemand sprach ihn an, der Kellner wagte kaum guten Abend zu sagen --
jeder fühlte, daß mit Schwedenklee etwas Außergewöhnliches geschehen
war.

»Lieber Freund!« Hinter einer Zeitung verborgen, zitternd an allen
Gliedern, zuweilen Kaffee schlürfend, um seine Erregung zu verbergen,
entzifferte Schwedenklee Blanks letzten Brief.

»Lieber Freund! Ich habe große Eile. Schon umhüllen mich die Schleier
des Todes. Ich verbrenne vor Qual. Der Gedanke an Sie ist mein einziger
Trost, und ich klammere mich an Sie.

Erbarmen Sie sich meiner Tochter Ellen! Beim Andenken Ihrer Mutter --
erbarmen Sie sich meines Kindes. Ich übergebe Ellen Ihrem Schutz!«

Schwedenklee zitterte, totenbleich im Gesicht, hinter seiner Zeitung.

Der Bassist Schwarz näherte sich.

»Nelly ist bitterböse auf Sie!« schrie er laut lachend. »Sie hat eine
Stunde auf Sie gewartet, mein Gott, wie böse sie war!«

Schwedenklee wich dem Blick des Sängers aus.

»Verzeihen Sie«, sagte er leise und stockend, bebend vor verhaltener
Erregung. »Ich komme soeben vom Sterbebett eines Freundes.«

»Oh, ich bitte um Entschuldigung«, stammelte Schwarz und begab sich
rasch zu den Kartentischen.

»Ich übergehe Ellen Ihrem Schutz ...«

Heiß stieg ein heiliges Gelübde aus Schwedenklees Herzen. Plötzlich nahm
er Pelz und Zylinder, und mit einem verwirrten Lächeln auf dem
verstörten Gesicht eilte er zum großen Erstaunen der Gäste rasch die
Treppe hinab.

                   *       *       *       *       *

In den folgenden Tagen sah man Schwedenklee sehr geschäftig: im
Zylinder, schwarzem Überzieher. Er fuhr im Auto ab, er kehrte im Auto
zurück. Den ganzen Tag war er unterwegs, er aß in der Stadt. Er sprach
fast nichts, seine Miene war ernst, feierlich.

Stundenlang ging er, tief in Gedanken versunken, durch die Zimmer seiner
Wohnung. Endlich war er ins reine gekommen. Er klingelte Augusta.

»Augusta,« sagte er, »wir müssen diese Zimmer umräumen. Sagen Sie dem
Portier, daß er mir morgen früh helfen soll. Ich --« er verlor unter
Augustas Blick die Sicherheit -- »wir werden Besuch bekommen. Die
Tochter meines verstorbenen Freundes wird bei uns wohnen.«

Augusta legte den Kopf auf die Seite, zog den Mund breit und betrachtete
ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Dann wandte sie sich hastig ab und schlug
die Türe zu. Das war Augustas Antwort.

»Nun gut,« dachte Schwedenklee, »soll sie gehen, die alberne Gans!«

An einem Nachmittag fuhr ein Auto vor Schwedenklees Haus vor. Zuerst
stieg Schwedenklee aus, sehr erregt, scheue Blicke um sich werfend, und
dann eine schmächtige, ganz in Schwarz gekleidete, tief verschleierte
junge Dame, die eine armselige kleine Handtasche trug und den Blick auf
den Boden heftete.

Unbeweglich, hilflos stand die junge verschleierte Dame auf der Treppe,
während Schwedenklee den Chauffeur entlohnte.

»Augusta!« rief Schwedenklee. Aber niemand regte sich, das Haus schien
verlassen.

Schwedenklee war äußerst verlegen und sehr aufgeregt.

Er hatte zwei kleine Zimmer seiner Wohnung mit antiken Möbeln hübsch und
anheimelnd eingerichtet, so daß ein junges Mädchen von Geschmack daran
Gefallen haben mußte. Sogar einen kleinen elektrischen Ofen hatte er
angeschafft, damit sein Gast nicht frieren solle.

»Ich habe diese kleinen Zimmer für Sie eingerichtet, Ellen«, sagte
Schwedenklee mit unsicherer Stimme. »Hoffentlich fühlen Sie sich wohl
hier. Auf jeden Fall, Sie sind hier ganz zu Hause.«

»Danke«, sagte die tief verschleierte junge Dame tonlos, ohne einen
Blick in die Zimmer zu werfen, die Augen zu Boden gerichtet,
unbeweglich.

»Jedenfalls vergessen Sie nicht, daß Sie hier ganz zu Hause sind«,
wiederholte Schwedenklee verwirrt und ging zur Türe. »Sie werden gleich
Tee bekommen. Ich denke, Sie wollen allein sein, und werde Ihnen Augusta
schicken.«

Das Mädchen in schwarzer Kleidung wandte sich ihm zu.

»Dank für alles, was Sie für Papa getan haben«, flüsterte sie tonlos,
ohne den Blick zu heben. Sie zitterte heftig. Und plötzlich fiel sie vor
Schwedenklee in die Knie. »Dank!«

Schwedenklee hob den schlanken, zarten Körper auf. Er war aufs tiefste
erschüttert.

»Sie sollen nicht so sprechen. Es ist ja alles selbstverständlich.«
Rasch verließ er das Zimmer.

»Jetzt ist sie hier! Jetzt ist sie bei mir!« flüsterte Schwedenklee, als
er die Türe seines Zimmers hinter sich geschlossen hatte, und ein Strom
von Glückseligkeit durchrann ihn.




                                   16


Immer noch sah er sie vor sich, wie sie, die schlanken Hände verkrampft,
mit dem Ausdruck letzter Inbrunst, Andacht, Aufgelöstheit vor dem Bette
kniete, das bleiche, schöne Antlitz verklärt von unbegreiflichem
Schmerz. Eigentlich, sagte er sich, sah sie aus, als ob sie grenzenlos
erstaunt wäre, ja, Staunen, Verwunderung -- nein, ich weiß nicht, es ist
jedenfalls nicht in Worten auszudrücken.

Unauslöschlich hatte sich dieses Bild in sein Gedächtnis eingegraben.

Er liebte es, sich diesem Anblick hinzugeben, obschon ihn die Dampfwolke
peinigte, die aus dem verzerrten Munde des Sterbenden über die rauhe
Wolldecke fuhr.

Dann sah er sie, in letzter Schärfe, in ihrer Trauerkleidung vor sich.
Das schwarze Hütchen, der schwarze Schleier, der ihr Gesicht ganz
durchsichtig erscheinen ließ -- ihre Lippen, ihr atmender Mund, ihr
scheues Tierauge, die Grübchen in ihren glatten Wangen -- und wie bei
ihrer Mutter war das Grübchen auf der rechten Wange etwas tiefer als auf
der linken. Die schwarze Halskrause, aus der ihr feiner Nacken stieg,
ganz wie Ellens, der Mutter, Nacken. Und nun war sie hier!

Lieber Himmel, Schwedenklee war ganz verwirrt!

Es war nicht leicht gewesen, Ellen, die der Schmerz fassungslos gemacht
hatte, in ein Magazin für Trauerkleider zu bringen. Hundertmal
wiederholte Schwedenklee mit unendlicher Geduld: »Aber Sie können doch
nicht _so_ Ihren Vater beerdigen, seien Sie doch vernünftig!«

Endlich ließ sie sich bewegen. Aber sie wünschte das Kleid so einfach
wie nur möglich. Die Verkäuferinnen, gerührt von ihrer Schönheit und
Hilflosigkeit, bemühten sich um sie. Schließlich stand sie fertig
angekleidet vor dem Spiegel. Sie blickte hinein und errötete!
Blitzschnell ergoß sich die Röte, zart, wie ein Hauch, über ihr Gesicht
und ihren Nacken -- ganz wie bei ihrer Mutter. Sie errötete, weil sie
sich in der Trauerkleidung gefallen hatte.

»Und nun neue Schuhe, Ellen!«

Sie sah ihn verständnislos an, während sie im Wagen weiterfuhren.

»Aber Sie können doch nicht in diesen abgetretenen Schuhen --?«

»Aber weshalb sorgen Sie sich um mich?« fragte sie unwillig, die kleine
Stirn zerknittert, und preßte die Hände an die zarten Schläfen.

»Sie vergessen es immer wieder: ich bin ein Freund Ihrer Mutter und
Ihres Vaters.«

Ellen nickte. »Ich vergaß es, ja!«

»Nun will ich alles tun, wie Sie es wünschen«, sagte sie und schmiegte
sich an ihn, in kindlicher Aufwallung, obschon sie neunzehn, zwanzig
Jahre alt sein mußte. »Ich will gehorsam sein.«

Schwedenklee sagte ihr, daß sie sich wegen ihrer Zukunft keine Sorgen zu
machen brauche.

Sie sah ihn ohne jedes Verständnis an. »Ich mache mir ja keine Sorgen.«

»Ich verstehe wohl. Sie müssen aber doch irgendwo bleiben.«

»Bleiben?« Feindselig blendete ihr Blick.

»Ja, natürlich. Sie müssen essen, trinken, schlafen.«

»Nein, nein« -- unterbrach sie ihn -- »nein, das muß ich nicht!«

»Sie haben mir versprochen, an all diese Dinge für Sie denken zu
dürfen.«

»Ja!«

Nach einer Pause fühlte er ihren Blick.

»Papa ist sehr arm gewesen, aber er war trotzdem ein großer Künstler!«

»Ein großer Künstler!«

Ellens scheues, verstörtes Tierauge wanderte ruhelos.

Fragmente ihrer kurzen Gespräche fielen Schwedenklee ein, Blicke,
Bewegungen. Als man den Sarg abholte, kniete Ellen in der Ecke der
Stube. Bei der Beerdigung war Ellen gefaßt. Sie stand wie versteinert,
den Blick zu Boden gerichtet. Sie waren nur zu dritt. Ellen, er, die
weißblonde Schwester, die heftig weinte.

Bei ihrer Mutter waren es nur zwei, dachte Schwedenklee: Blank und
Ellen. Und er erinnerte sich, daß Blank ihm schrieb, er habe sich auf
die Erde geworfen ...

Augusta servierte mit feuchten Augen, mit reuevoller Weichheit, das
Abendessen.

»Sie werden uns also nicht im Stich lassen?« fragte Schwedenklee,
kauend, ohne vom Teller aufzusehen.

»Sagte ich denn das?« Schon weinte Augusta, diese gute Seele. »Ich habe
ihr zugeredet, und sie hat eine Tasse Tee getrunken. Nun will ich sehen,
daß sie noch ein Ei ißt, dieses arme Kind!«

Schwedenklee verbrachte den Abend zu Hause. Die Aufregungen der letzten
Tage hatten ihn so sehr mitgenommen, daß es ihm unerträglich gewesen
wäre, Menschen zu sehen. Er genoß jede Minute des Alleinseins. Seit
vielen Jahren hatte er einen solch zufriedenen, ausgeglichenen Abend
nicht gehabt. Er strich an seiner Bibliothek entlang. »Ich werde ein
schönes Buch lesen, ja!« Seit Jahren hatte er nicht mehr die Sammlung
besessen, sich auf ein umfangreicheres Werk einzulassen.

Er zog eine Reihe von Büchern heraus, ohne sich entschließen zu können.
Die »erotische Abteilung« betrachtete er mit einem verächtlichen
Lächeln.

»Augusta?« Schwedenklee erschien in der Küchentür! »Was macht unser
Gast?«

»Sie hat jetzt den Hut abgenommen. Sie will versuchen zu schlafen, sagte
sie.«

»Hat sie das Ei gegessen?«

»Sie versprach es zu essen.«

Schwedenklee klopfte an Ellens Türe.

»Ich will Ihnen gute Nacht sagen«, sagte er mit väterlicher Wärme, indem
er den Kopf ins Zimmer streckte. »Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«

»O nein, danke«, antwortete Ellens kleine Stimme, ganz fern.

Ellen hatte wirklich den Hut abgenommen. Sie stand mitten im Zimmer und
wandte ihm ihr scheues, helles Auge zu.

»Schlafen Sie wohl. Und wenn Sie Wünsche haben, so klingeln Sie.«

»Ich habe keine Wünsche, danke!«

»Hier ist jener Brief, den Ihr Vater mir hinterließ. Ich lege ihn
hierher, vielleicht haben Sie jetzt Sammlung genug, ihn zu lesen.«

»Danke!« Regungslos stand Ellen.

                   *       *       *       *       *

Das Leben hat merkwürdige Einfälle, dachte Schwedenklee verwundert und
triumphierend zugleich. Ist es nicht sonderbar, daß Ellens Tochter, die
wiedergeborene und verjüngte Ellen, bei mir ist? Wer hätte sich das je
träumen lassen?

Dank einer Fügung des Schicksals habe ich, ohne mein Zutun, plötzlich
eine Tochter bekommen -- ein wunderbares Wesen, ein Kleinod dazu -- den
angebeteten Liebling unglücklicher Eltern ...

Ja, in der Tat, es war das alte Glück Schwedenklees, immer noch folgte
es ihm wie sein Schatten. Wie man sich erinnern wird, erhielt er den
Titel eines »Oberbaurats« vom Oberkellner des Cafés, ohne jede
Anstrengung -- ohne jedes Verdienst hatte ihn das Schicksal plötzlich,
gänzlich unerwartet, mit einer Tochter beschenkt.

Schwedenklee war ganz erfüllt von seinem Glück. Als Blank, dieser gute,
arme Blank, dachte er, mir seinerzeit auflauerte, ahnte ich damals
nicht, daß diese merkwürdige Begegnung eine besondere Bedeutung für mein
Leben haben wird? Wie? Und Blanks unverständliche Bemerkungen,
Anspielungen, seine prüfenden Blicke -- ja, nun verstehe ich alles. Sie
ist in guten Händen bei mir, teuerster Freund -- unwillkürlich hatte er
Blanks Tonfall nachgeahmt, als er »teuerster Freund« sagte.

Schwedenklee hatte die Briefe, die ihm Schwester Anna als ein
Vermächtnis Blanks in der eisigen Küche überreichte, schon flüchtig
durchflogen. Nun aber war er in der ausgeglichenen, ruhigen Verfassung,
sie genauer zu lesen.

Es waren im ganzen sechs Briefe, kürzere und längere, die er an Ellen
von Paris aus geschrieben hatte. Er erkannte seine Handschrift wieder --
seine Handschrift vor zwanzig Jahren --, heute schrieb er etwas
kräftiger und klarer.

In dem ersten Briefe nach Ellens Abreise schrieb er ihr, daß er in ihr
Zimmer gezogen sei (im Hotel Panthéon) und daß sie gegenwärtig sei in
Möbeln und Wänden und tausend kleinen Dingen.

Es lag ja so nahe, dies zu schreiben! Aber, sagte sich Schwedenklee,
welch bodenlose Verlogenheit! Um 9 Uhr abends reiste Ellen, ich weiß es
noch genau -- um 10 Uhr speiste ich mit Fräulein Svenska, mit der
rotbäckigen Schwedin, in diesem Zimmer -- und am nächsten Morgen schrieb
ich diesen Brief.

Und hier, das war offenbar die Antwort auf einen Brief Ellens, in dem
sie ihm für ein Darlehen dankte.

»Kein Wort, liebste Freundin,« schrieb er, »ich bin glücklich, Dir
gefällig sein zu können. Es ist ja so selbstverständlich! Es gibt eine
Solidarität des Adels, der Reichen, sollte es nicht auch eine
Solidarität der Künstler und geistig Schaffenden geben?«

Lesen wir dies nochmals, sagte Schwedenklee, habe ich wirklich diese
Phrasen geschrieben? Ja, er hatte Ellen ganze tausend Franken geschickt
und auf ihren Dankesbrief mit derartig hochtrabenden Worten geantwortet!

In einem anderen Brief entwickelte er mit großer Beredsamkeit und vieler
Wärme ein System, wie die Künstler und geistig Schaffenden zu leben
hätten! Wie Mönche, nicht anders, arm, anspruchslos, materielle Genüsse
und Güter verachtend, nur ihrer Kunst ergeben, in einer
kameradschaftlichen Gemeinschaft. Alle, die dem »Orden« angehörten,
hätten ihre Einnahmen der Gemeinschaft zu überweisen -- um der Welt ein
Beispiel zu geben, wie die Menschen eigentlich leben sollten. Es sollte
künftig nicht mehr Maler geben, die Millionen verdienten, während ihre
Kollegen darbten -- nein, die Millionen der Erfolgreichen sollten in die
Kasse der Gemeinschaft der Maler fließen. Wie bei den Malern, so bei den
Musikern, den Schriftstellern --

»Sind das meine Worte, wahrhaftig? Habe ich je solchen Anschauungen
gehuldigt?«

Schwedenklee war erstaunt, ja förmlich verblüfft, auf diesen ihm
gänzlich fremden, jungen Schwedenklee zu stoßen.

War dieser Einfall vielleicht schlecht? O nein, nein!

War es nicht im Gegenteil ein herrlicher Gedanke? Und was ist daraus
geworden?

Nichts, nichts.

Schwedenklee erhob sich, verlegen. Wirklich nichts! Ich habe diese Idee
ganz einfach -- _vergessen_.

Je länger er in den Briefen las, desto mehr erkannte er, daß der frühere
Schwedenklee und er eigentlich zwei völlig verschiedene Personen waren.
Schwedenklee der Jüngere, der leidenschaftlich soziale Probleme
erörterte, dessen Religion, wie er schrieb, die »Kameradschaft« war --
und Schwedenklee der Ältere, der sich, Gott weiß es, den Kopf nicht mehr
mit derartigen Dingen zerbrach. Ja, in der Tat: zwei Welten. Ein
behaglicher Bourgeois war aus dem jungen Schwedenklee geworden, gestehen
wir es nur -- ein Bourgeois wie die andern, mit genau den gleichen
Ansichten wie der Kaufmann Jaffe, der Kinderkleider fabriziert.

O ja, wahr! Wahr!

Ähnliche Anschauungen kehrten in all den Briefen wieder. Tapfer hatte
sich Schwedenklee der Jüngere den Problemen entgegengeworfen.

»Vorurteilslosigkeit und Mut brauchen wir,« schrieb er, »um dem Leben
entgegenzugehen, das vor uns liegt ...«

Schwedenklee las und staunte. War er das wirklich? Etwas wie ein leises
Schamgefühl überkam ihn.

In einem Briefe fand sich diese Stelle: »Ich finde ja an und für sich,
daß wir schon korrumpiert sind. Wir Künstler müßten gekleidet sein wie
Monteure und Arbeiter, in Manchesterhosen, wir müßten _betonen_, daß wir
und die Bourgeoisie verschiedene Welten sind.«

Er? Er, Schwedenklee in Manchesterhosen? Er bekam einen roten Kopf.

Ja, was ist doch aus diesem Schwedenklee geworden? Mit einem verlegenen
Lächeln erhob sich Schwedenklee. Was ist aus mir geworden? Sein ganzes
Leben, das Leben der letzten zehn, zwanzig Jahre erschien ihm plötzlich
unverständlich ...

                   *       *       *       *       *

»Herr Schwedenklee!«

Jemand pochte an der Türe. Es war Augustas Stimme.

Schwedenklee streifte die Uhr mit einem Blick. Es war schon spät in der
Nacht.

»Was wollen Sie, Augusta?« fragte Schwedenklee, weich und versöhnlich
gestimmt.

»Es ist etwas nicht in Ordnung mit dem Fräulein.«

»Wie --?«

»Ja, es ist etwas nicht in Ordnung!«

Augenblicklich erschien Schwedenklees fahles Gesicht in der Türe.

»Erst stöhnte sie so eigentümlich und jetzt antwortet sie nicht mehr.«

Tödlich erschrocken eilte Schwedenklee an Ellens Türe und pochte. Erst
leise, dann ohne jede Rücksicht.

Nichts regte sich, kein Laut. Aber durch das Schlüsselloch schimmerte
Licht.

Schwedenklees Blicke begegneten dem entsetzten Auge Augustas. Das Haus
schwankte.

Rasch, ohne zu denken, eilte er durch die Zimmer und klinkte die Tür
auf, die vom Speisezimmer in Ellens Räume führte. Diese Türe war offen:
Auf das Sofa gekauert sah er Ellen, in ihren Trauerkleidern, bleich,
still, die blutleeren Lippen schmerzvoll geöffnet, die Augen
erschrocken, wie die eines überraschten Tieres, auf ihn gerichtet. Ihre
kleine Hand hing herab, wie gebrochen ... es tropfte und rieselte --

Sofort übersah Schwedenklee alles.

»Aber mein Kind!« rief er aus und berührte die schmale Schulter. Er war
selbst totenbleich und zitterte an allen Gliedern. In diesem Augenblicke
erkannte er ganz die Größe der Leidenschaft, die ihn für dieses Wesen
erfaßt hatte.

Mit den gleichen Augen eines überraschten, erschrockenen Tieres blickte
ihn Ellen an.

»Verzeihen Sie mir«, flüsterte sie, ohne jede Regung.

Mit der Scherbe eines zerschlagenen Glases hatte Ellen sich die Pulsader
geöffnet.

Um den Teppich nicht zu beflecken, hatte sie eine Blumenvase unter die
herabhängende Hand gestellt.

Im Hause wohnte ein Arzt. In kaum zehn Minuten war er da. Es bestand
keine Gefahr für Ellens Leben.

Schwedenklee schloß die ganze Nacht kein Auge. Kreidebleich, zuweilen in
Ellens Zimmer lauschend, schlich er schwankend in seiner Wohnung hin und
her. Er zitterte und fror entsetzlich. Laß sie leben, großer Gott im
Himmel! Ja, in der Tat, Schwedenklee betete.

Und wieder stand er im dunkeln Speisezimmer und lauschte gegen die
offene Tür. Sie schlief -- ruhig und langsam ging ihr Atem. Der Arzt
hatte ihr Morphium gegeben. Unbegreiflich schön schien es ihm, hier zu
stehen, im dunkeln Zimmer, und ihren leisen Atemzügen zu lauschen.




                                   17


Die Türen zu Ellens Zimmer standen immer offen. Am Tage behütete sie
Augusta und in der Nacht Schwedenklee. Er hatte die Schlösser von Ellens
Türen abgeschraubt. Jede Nacht wachte er, lesend, rauchend, mit sich
plaudernd, Gedanken hingegeben, bis er Augusta am Morgen in der Küche
hörte.

Ellen genas rasch. Eines Tages saß sie in ihrem Bett aufrecht, die
Wangen gerötet, wie in leichtem Fieber, das brünette lockere Haar, das
einen Anflug ins Rötliche hatte, lässig um den zart, gleichsam
zerbrechlich geformten Kopf geschlungen, und _lächelte_. Zum erstenmal
sah Schwedenklee sie lächeln. Ihr Gesichtsausdruck war verändert. Ihr
Auge verträumt, voller Glanz und Hoffnung.

»Schrauben Sie die Schlösser wieder an,« sagte sie klar und wach, »ich
verspreche Ihnen --«

»Kann man Ihnen vertrauen?« fragte er lächelnd.

»Ja!« Sie nickte beschwörend. »Ich gebe Ihnen mein Wort.« Sie winkte ihn
heran. »Jetzt erst verstehe ich Papa!« sagte sie, ihn ernst und groß
anblickend, und berührte seine Hand mit leisen, zarten Fingern. »Er hat
mir viel von Ihnen erzählt. Ein paarmal sagte er mir: wenn du
irgendeinen Rat brauchst, man weiß ja nicht, wie es kommen kann -- so
gehe getrost zu Herrn Schwedenklee. Er ist gütiger als alle Menschen.«

Schwedenklee brachte keine Silbe über die Lippen. Er errötete und schlug
rasch die Augen nieder.

»Jetzt erst verstehe ich Papa!« wiederholte Ellen nickend und zog sich
mit leisen Händen an ihn heran. »Wie soll ich Ihnen danken?«

Schwedenklee lachte, um seine Verlegenheit zu verbergen.

»Sie können mir danken, Ellen, indem Sie mir vertrauen. Sprechen Sie mit
mir, wie mit« -- beinahe hätte er Vater gesagt -- »wie mit einem Bruder.
Verfügen Sie über mich und versprechen Sie, immer Vertrauen zu mir zu
haben, was es auch sei.«

»Ich verspreche es Ihnen«, erwiderte Ellen mit einem ernsten, hellen
Blick. »Ich war so unglücklich!« setzte sie flüsternd hinzu und drückte
leise, kaum merklich, seine Hand, und er fühlte, daß ihre Finger
zitterten.

Schwedenklee sagte nichts. Verwirrt und scheu verließ er ihr Zimmer.

                   *       *       *       *       *

Schwedenklee hatte über eine Woche das Haus nicht verlassen. Er sprach
mit niemanden, er hütete sein Geheimnis! Natürlich war es nicht zu
umgehen gewesen, daß er Nelly von den Ereignissen der letzten Wochen
unterrichtete. Er hatte sie gebeten, ihn für einige Zeit zu
entschuldigen -- bis alles in Ordnung gebracht sei. Telephonisch hatte
er ihr alle Einzelheiten erzählt -- besonders den Selbstmordversuch
Ellens hatte er ausführlich und mit allen Einzelheiten berichtet, obwohl
er sich seiner Schwatzhaftigkeit schämte, noch während er am Telephon
stand. Aber es war doch notwendig, Nelly zu überzeugen, daß er für
einige Zeit ans Haus gebunden sei.

Nelly telephonierte täglich. Der Patient sei noch immer nicht recht in
Ordnung. Er ermahnte sie, ihren Gesangsunterricht nicht zu
vernachlässigen und den dramatischen Unterricht ja nicht zu
unterbrechen. Er sei auch damit einverstanden, daß sie als dramatischen
Lehrer doch Dunker nehme -- ein ziemlich junger, hübscher Schauspieler,
der wegen seiner Liebesabenteuer berühmt war.

Schwedenklee hatte keine Eile, Nelly zu sehen.

Eines Tages aber trat Nelly ohne jede telephonische Anmeldung bei ihm
ein.

Sie erschien Schwedenklee fremd, sozusagen unbekannt. Er erblickte sie
wie aus weiter Ferne -- ihre Züge, ihre interessante Blässe und die
turmartige Frisur, diese »schweren Flechten«, ließen ihn völlig
unberührt.

Nelly verstand seinen Blick sofort: diese unverschämte Gleichgültigkeit
eines erkaltenden Geliebten! Sie war außerordentlich freundlich,
teilnahmsvoll.

»Es ist merkwürdig,« sagte sie, »du hast mir nie gesagt, daß du so
intime Freunde hättest. Im Gegenteil, du klagtest ja immer, du habest
keine Freunde!«

Sie hielt die Teetasse auf den Fingerspitzen, spielte die Dame auf
Teebesuch.

Schwedenklee behandelte sie mit grausamer Höflichkeit. Er spielte den
Herrn, der eine Dame auf Teebesuch bewirtet.

»Natürlich habe ich Freunde -- von früher her. Wir alle haben Freunde
nur von früher her, aus der Jugend. Es ist allerdings wahr, meine
Freunde haben sich wenig um mich bekümmert, und es ist ebenso wahr, daß
ich mich wenig um sie bekümmerte.«

Er sprang auf und reichte ihr Feuer für die Zigarette.

Sie dankte. »Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir so lebhaft zu Dunker
geraten hast!«

»Ist er also doch tüchtig?«

»Oh!« Nelly lächelte sonderbar, indem sie die Augen zur Decke hob. »Er
ist ein wirklich moderner Künstler! Aber er ist keck --!« Schwedenklee
sagte nichts. »Er ist sehr keck. Er verfolgt mich unaufhörlich mit
seinen Anträgen.«

»Aber du bist ja kein Kind mehr, Nelly!« Oh, wie gleichgültig klang hier
Schwedenklees Stimme!

Welch bösen Blick sie ihm gab! Aber sofort lächelte sie wieder
gleichmütig. »Ich sagte ihm: spielen Sie Theater auf der Bühne!«

»Sehr gut!« lobte Schwedenklee und lachte.

Pause. Nelly forschte in seinem Gesicht.

»Du bist gar nicht eifersüchtig?« Nelly lachte.

»Eifersüchtig? Ich kenne dich ja, Nelly!« sagte Schwedenklee im Tone
unerschütterlichen Vertrauens.

Nelly kokettierte über die Teetasse.

»Vielleicht kennst du mich doch nicht? Er ist ein netter Junge! Erst
fünfunddreißig.« Sie lächelte anmutig.

Schwedenklee ignorierte diesen impertinenten Angriff. Dabei war er
überzeugt, daß Nelly sich gar nichts aus Dunker machte -- es war ihm
übrigens völlig gleichgültig.

»Er ist nett. Und was das Reizendste an ihm ist, er ist solch ein Kind.
Er ist -- trotz allem -- ein kleiner Junge!«

»Wirklich?« Schwedenklee lachte anerkennend. »Gerade diese Naivität
liebe ich bei Männern.«

Hier richtete sich Nelly in ihrem Sessel auf. Sie gab ihrem Kopf einen
Ruck und schleuderte die Tasse auf den Teppich. Sie stand auf.

»Aber Nelly?« sagte Schwedenklee, scheinbar völlig erstaunt und gut
gelaunt.

»Was zuviel ist, ist zuviel!« Nellys Brauen flogen in die Höhe.

»Aber ich bitte dich, Nelly!«

»Wenn du mich loshaben willst --«, schrie Nelly mit funkelnden Augen.

»Einen Augenblick ..« Schwedenklee schloß eine Türe.

»Ach so!« sagte Nelly, voller Hohn.

Schwedenklee wurde rot, seine Schläfe zuckte.

»Sie ist ein Mädchen«, sagte er beruhigend, aber seine Stimme zitterte
etwas, im Gefühl der Befriedigung, ihren impertinenten Angriff von
vorhin mit gleicher Impertinenz erwidert zu haben. »Sie soll sich
erholen, und ich möchte jede Aufregung von ihr fernhalten.«

»Oh, welche Rücksichtnahme! Jede Aufregung von ihr fernhalten --!«

»Bitte, Nelly!« sagte Schwedenklee lächelnd, beschwichtigend.

Seine Ruhe und Gleichgültigkeit versetzten sie in Raserei. Ja,
Schwedenklee war als Gegner nicht zu verachten, wenn es darauf ankam.

»Bitte, Nelly«, äffte sie ihm nach. »Ich möchte jede Aufregung von ihr
fernhalten. Ja, ja! Halte mich nicht für so töricht ...«

Schwedenklee sandte ihr einen warnenden Blick zu. Er wußte -- und er
empfand es triumphierend --, daß sie jetzt verspielen würde.

»Du hast dich in ein kleines Mädchen verliebt, das ist alles«, schrie
Nelly außer sich. »Und alles andere -- das mit dem Freunde, mit der
Doppelwaise, mit dem Selbstmordversuch, ist einfach eine dumme Komödie!«

Sie ist verloren, dachte Schwedenklee mit Befriedigung -- und schon mit
einem gewissen Mitleid.

»Nelly!« sagte er beruhigend, beschwörend. »Ich schwöre dir, alles ist
Wahrheit. Du bist heute sehr erregt --«

Ja, Nelly war verloren. Sie schrie, sie verleumdete, beschimpfte. Sie
tobte und verließ rasend das Haus.

Schwedenklee tat aufs tiefste gekränkt und machte keinen Versuch, sie
zurückzurufen.

»Es ist sehr schade«, sagte Schwedenklee, als er allein war und sich mit
zitternden Fingern eine Zigarette anzündete. »Es ist sehr schade, daß
man mit Frauen nicht offen sprechen kann. Nun gut, daß es zu Ende ist!
Fort mit ihr! Fort mit allen -- ich will sie _alle_ nicht mehr sehen --
Gott sei Dank!«

Schwedenklee horchte an Ellens Türe. Kein Laut. Ellen hatte von der
ganzen Szene nichts gehört.

Einige Wochen später aber sagte Ellen: »Es war einmal eine Dame bei
Ihnen. Sie war sehr erregt. Ich möchte nicht irgendwie im Wege sein.«

»Aber Ellen! Wie können Sie so etwas denken. Sie sind zu jung, um das zu
verstehen!«




                                   18


Schwedenklee hatte sich völlig verändert. In all den Wochen von Ellens
Genesung hatte er kaum das Haus verlassen. Ins Stammcafé kam er nicht
mehr. Man wunderte sich. Gerüchte schwirrten. Ein Stammgast berichtete,
Schwedenklee habe in einer Nacht, da er aus dem Café kam, eine junge
Dame -- eine Lebensüberdrüssige -- aus dem Kanal gezogen und zu sich ins
Haus genommen.

Er wies auf eine Notiz hin, die in den Zeitungen erschienen war.
Architekt S. rettete eine Lebensüberdrüssige, die aus Liebeskummer in
den Landwehrkanal sprang.

Kurzum, Schwedenklee erschien nicht mehr im Café, und eine Woche später
war er schon vergessen: ganz als ob er tot wäre.

Schwedenklee holte seine großen Mappen aus der Bibliothek. In der
Bibliothek befanden sich besondere Schränke, und in diesen Schranken
standen die Mappen, die er vor Jahren hatte anfertigen lassen. Es waren
zehn graue Mappen, herrlich gebunden -- manche enthielten gar nichts,
manche enthielten ein, zwei Skizzen, andere mehrere. Die Mappe
»Fabriken« war besonders umfangreich, die Mappe »Warenhäuser« ebenso.
Die dickste Mappe hatte die Aufschrift »Städtebau -- Verkehr«.

Über diese Mappe gebeugt saß Schwedenklee in all den Nächten, da er den
Schlummer Ellens bewachte.

Vor Jahren hatte er sich, man wird sich erinnern, mit
verkehrstechnischen Problemen Berlins intensiv beschäftigt. Es waren
seinerzeit sogar einige Notizen darüber in den Zeitungen erschienen. Es
gab in Berlin ein halbes Dutzend Bahnhöfe: die Bahnhöfe der Stadtbahn,
den Lehrter Bahnhof, den Potsdamer, Anhalter, Schlesischen Bahnhof -- es
war, mit einem Wort, ein völliges Durcheinander.

Schwedenklee aber hatte in der Arbeit vieler Jahre eine Lösung gesucht
und gefunden: von jedem beliebigen Punkte Berlins aus sollte man bequem
jede Reiseroute antreten können!

Schwedenklee plante einen Riesenbahnhof, der gegenüber dem
Reichstagsgebäude, mitten im Tiergarten, gelegen war und, über und unter
der Erde, im Zusammenhang stand mit sämtlichen bereits vorhandenen
Bahnhöfen.

Dieses interessante Problem fesselte ihn von neuem. Es schien ihm noch
schwieriger, noch interessanter geworden zu sein. Ganze Nächte hindurch
zeichnete er. Er plante die Veröffentlichung einer Broschüre, die
Berlin, die Behörden verblüffen sollte.

Ellen genas.

Der Arzt sagte: »Sobald die Witterung es erlaubt, heraus aus der Stadt.
Sie haben doch, höre ich, eine Besitzung auf dem Lande?«

»Ja.«

»Nun gut, dann sobald wie möglich aufs Land.«

Es war noch kalt, noch fiel Schnee, und schon machte Schwedenklee Pläne.

»Augusta,« sagte er, »halten Sie sich bereit. Wir werden bald aufs Land
gehen. Ich hoffe, Sie haben genügend eingekocht --«

Zu Ellen sagte er: »Liebe Ellen, der Arzt will, daß du aufs Land in
frische Luft kommst. Wir werden bald reisen. Aber, liebes Kind, wir
müssen dich etwas ausstaffieren.«

Herrliche und ganz wundervolle Tage für Schwedenklee, da er mit Ellen
einkaufte!

Wäsche, Kleider, Schuhe. Sie besaß ja _nichts_!

Ellen sträubte sich.

»Aber, erlaube doch,« sagte Schwedenklee, so bestimmt, daß Ellen nicht
zu widersprechen wagte, »wir leben nun einmal in dieser Welt! Du mußt
Kleider haben, Mäntel, Hüte, Schuhe ...«

Wochenlang waren sie in den Geschäften unterwegs.

Er stattete sie aus wie eine Braut, als ob sie seine Tochter wäre, die
er zu verheiraten hätte.

Obschon nur Junggeselle, wußte Schwedenklee ganz genau, was eine junge
Dame alles brauchte -- von den Taschentüchern angefangen bis zu den
Unterleibchen und Gürteln, an denen die Strumpfbänder befestigt sind.
Schwedenklee wußte genau, wie Taschentücher einer Dame gearbeitet sein
müssen, wie der Besatz eines Hemdes auszusehen hatte.

Es war Schwedenklees höchste Freude, wenn er sah, wie Ellen errötete,
weil sie sich in einem Kostüm, einem Mantel gefiel. Oder, wenn sie
erregt wurde beim Befühlen von Linnen und Batist.

Ellen war äußerst bescheiden, sie widerstrebte, aber zuletzt gelang es
ihm doch stets, sie umzustimmen. Zu Hause beobachtete er beglückt, wie
sie Hüte und Mäntel vor dem Spiegel aufprobierte und die Erregung ihre
Wangen färbte.

Es war ihm ein Genuß, mit Ellen auf der Straße zu gehen. Niemand ging
vorüber, ohne daß sein Blick gefesselt auf ihrem Gesicht geruht hätte.
Voller Stolz kassierte er all ihre Erfolge ein, die sie nicht einmal
bemerkte. Sie ging leicht, ihr Schritt war leise, wie der ihrer Mutter,
nie hatte er einen solch schwebenden Gang, eine solche natürliche Würde
bei einer Frau beobachtet. Sie ging wie ein Tier, eine Katze vielleicht,
unbewußt und schön, ihre schmalen Hüften spielten.

In einigen Geschäften gebrauchte man die Redensart: »Das gnädige
Fräulein, Ihre Tochter --«

Schwedenklee wurde verlegen, zuweilen blutrot -- Ellen lachte wie ein
Kind. Sie hatte die Gewohnheit, wenn sie schelmisch lachte, die oberen
Zähne in die Unterlippe zu drücken und etwas mit den Augen zu blinzeln.

Einige Sommerkleider für Ellen ließ Schwedenklee bei einer Schneiderin
Henrietta anfertigen, die er von Nelly her kannte.

»Ich begreife nun, weshalb Nelly so rasend eifersüchtig ist«, flüsterte
die Schneiderin eines Tages in unverschämt zutraulichem Tone.

»Ich bitte Sie, die Kleider, so wie sie sind, sofort an mich zu senden
und Rechnung vorzulegen«, schrieb Schwedenklee am gleichen Tage, empört,
daß die unverschämte Person Nelly und Ellen in einem Atem zu nennen
gewagt hatte. Ja, diesem Volke mußte man Manieren beibringen!




                                   19


Endlich waren alle Einkäufe beendet. Koffer wurden gepackt. Der Tag der
Abreise aufs Land wurde festgesetzt.

Der Zug verließ den Bahnhof.

»Nun gehörst du ganz mir«, dachte Schwedenklee triumphierend, und seine
Erregung war so groß, daß seine Hände zitterten.

»Was denkst du?« fragte Ellen, verwirrt durch seinen Blick.

»Ich fürchte, Ellen wird sich langweilen«, erwiderte Schwedenklee
lächelnd, um seine Erregung zu verbergen.

»Ich? Auf dem Lande? Oh, nie!« rief Ellen aus. Dann saß sie still, mit
großen Augen, die erfüllt waren von Genugtuung, diese grauen Hauswände,
zwischen denen der Zug sich durchzwang, hinter sich zu lassen.

»Gott sei Dank!« flüsterte sie und atmete auf, als die Stadt zu Ende war
und die Wiesen kamen.

»Allmächtiger!« dachte Schwedenklee. »Wie wird es sein, wenn ich mit ihr
allein sein werde?«

                   *       *       *       *       *

Schwedenklees Landgut »Siebenbirken« lag an der Ostsee, ganz in der Nähe
von Warnemünde. Es lag nicht direkt am Meer, gewährte aber eine
herrliche Aussicht über die See.

Der Name stammte von Schwedenklee selbst. Früher hatte dieses Bauerngut
überhaupt keinen Namen gehabt, nur eine Hausnummer. Aber da gerade
sieben Birken vor dem Hause standen, hatte Schwedenklee den Besitz sehr
poetisch »Siebenbirken« genannt.

In einer Anwandlung von Weltflucht hatte Schwedenklee vor Jahren
»Siebenbirken« gekauft. Er wollte allein, zurückgezogen, »wie ein Bauer«
leben. Damals. Er hatte das Bauernhaus und die Wirtschaftsgebäude
gelassen, wie sie waren, etwas krumm, plump, mit Stroh gedeckt, und ein
Haus auf einem Punkte errichtet, der die schönste und vollkommenste
Aussicht über die See bot. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr um
»Siebenbirken« gekümmert. Er hatte einige Monate -- damals als er
weltflüchtig war -- auf dem Landsitz verbracht und den Bau des
Landhauses geleitet. Als der Bau fertig dastand, war er noch eine Woche
geblieben. Aber am Ende der Woche hatte ihn das Grauen der Einsamkeit
erfaßt. Noch in der Nacht hatte er gepackt: es war ja nicht auszuhalten!
Mit dem Frühzug schon war er nach Berlin gefahren. Nur einige Male war
er noch auf zwei, drei Tage in all den Jahren nach Siebenbirken
gekommen, und stets hatte ihn das Gefühl trostloser Langeweile wieder
vertrieben. Nein, nein, er hatte kein Talent, einsam zu leben!
Verschiedenen Anwandlungen, das Landgut zu verkaufen, hatte er nur aus
Trägheit nicht nachgegeben.

»Ahnte ich etwas?« sagte er sich heute, in sein Inneres horchend.

Der Bauer, an den das Gut verpachtet war, holte sie in einem wackligen
Stuhlwagen ab.

Der Wagen war so klein, daß Augusta mit den Koffern und Kisten auf der
Station warten mußte.

»Wie wunderbar! Wie herrlich!« rief Ellen mit leuchtenden Augen aus, als
sie durch die scharfe Märzluft dahinfuhren. In den Wäldern lag noch da
und dort Schnee.

»Wird es dir hier gefallen?«

Ellen nickte freudig.

Am ersten Tage hätte Schwedenklee nahezu die gute Laune verloren: die
Mahlzeiten schienen ihm etwas sehr ländlich. Augusta ging mit Tränen in
den Augen, fiebernd, aufgelöst, in der völlig kahlen Küche hin und her.
»Es ist ja nichts da, gar nichts da!« sagte sie. Ellen hatte sich eine
von Augustas Schürzen umgebunden und versuchte durch ihre Munterkeit
Augustas Verzweiflung zu verscheuchen.

Am nächsten Tage fuhren Augusta und Ellen zur Stadt, um einzukaufen.
Bepackt mit Töpfen, Schüsseln, Kochlöffeln, Sieben, Porzellan, Gläsern
kehrte der Wagen zurück. Augusta strahlte.

                   *       *       *       *       *

Auf Siebenbirken lebten der Bauer mit seiner Familie, ferner zwei
Pferde, drei Kühe, ein Rudel Schweine, etliche dreißig Hühner, einige
Familien Gänse und Enten. -- Es gab einen Hund, eine Art Schäferhund,
fahlgelb mit dunkelgrauen Rückenhaaren, mit Namen Strolly. Diesen Hund
hatte Schwedenklee aufgezogen, zur Zeit, da er baute, und obschon er nur
zwei-, dreimal auf das Gut zurückgekehrt war, hatte der Hund ihn
wiedererkannt. Das rührte Schwedenklee. »Strolly«, furchtbar bissig und
rasend allen Fremden gegenüber, war liebenswürdig, untergeben, sittsam
und von äußerstem Entgegenkommen gegen Freunde. Schon am ersten Tage war
er zu Ellen übergegangen, obschon ihn sein Feingefühl hinderte, es allzu
deutlich zu zeigen. Sooft er Schwedenklee sah, tat er so, als ob er ihm
die gleiche Anhänglichkeit bewahrt habe. Sobald aber Ellen nur sichtbar
wurde, zeigte sich offen seine Heuchelei.

Es gab einen schwarzen, dicken Kater, Munki, der es liebte, sich auf den
Schultern spazierentragen zu lassen, ein menschenliebendes Tier, das
sich an den Beinen rieb, sobald man sich zeigte. Dick, befriedigt,
glücklich saß der Kater auf Ellens schmaler Schulter. Am dritten Tage
schon war auch er zu Ellen übergegangen.

Es gab eine Stute »Lotte«, die -- ein Phänomen -- mit der Zunge eine
Türklinke hob, sobald sie neben dem Pferdestall Stimmen hörte.

Es gab zwei Hähne, einen dicken alten, mit in hundert Schlachten
zerzausten Federn, und einen jungen -- schlank, graziös, mit den
Bewegungen eines Fechters --, die sich wie Teufel bekämpften. Zuweilen
wurde der jüngere von dem alten bis tief hinein in den Wald gejagt.

Es gab ein kleines Schwein, das zärtlich war wie ein Hund und sich gerne
den Kopf graulen ließ. Das waren die Besonderheiten von Siebenbirken,
sonst war es ein Landgut wie jedes andere. Nicht zu vergessen eine Gans,
die -- ein Einzelgänger, nicht auf dem Hof gebrütet -- von den übrigen
Gänsen verleugnet und gehaßt wurde und den Menschen wie ein Hund folgte.
Sonst wie überall: Geschrei, Gegacker, Lärm, Blöken, und die Jauche rann
aus den Ställen in den großen Misthaufen des Wirtschaftshofes.

Beglückt beobachtete Schwedenklee, daß Ellen auf dem Gute auflebte. Vom
Morgen bis zum Abend war sie unterwegs in Ställen und Scheunen. Munki,
der schwarze Kater, saß auf ihrer Schulter, Strolly sprang ihr bis an
die Ohrläppchen -- und sie zankte den fetten Hahn aus, der sich gegen
den jungen, den sie »Spanier« nannte, albern und eifersüchtig benahm.
Die Blässe ihres Gesichtes verlor sich, zartrotes Geäder erschien auf
den Wangen. Ihre Stimme zwitscherte fröhlich.

Nur dann und wann saß sie in sich versunken abseits, den Blick gequält
in die Ferne gerichtet. An diesen Tagen sprach sie nur selten, leise,
die Stirn zerknittert. Ihr Blick war verschleiert von Schwermut, die
Gedanken ferne.

Ein Zittern durchrieselte sie, wenn man sie berührte. Abends brannten
dann zwei Kerzen in ihrem Zimmer, und am Morgen erschien sie bleich,
verstört, mit geröteten Augen. Aber immer seltener wurden diese Anfälle
schwerer Traurigkeit, die Schwedenklee, besonders anfangs, sehr
beunruhigten.

Ellen interessierte sich für alles, was in der Wirtschaft vorging. Sie
war als Stadtkind nur flüchtig mit dem Lande in Berührung gekommen. Was
für Futter erhielten Hühner und Schweine, weshalb wurde der Acker
gewalzt, wie kam es, daß der Klee zwei, drei Jahre stand, was war
eigentlich »Winterroggen«, von dem so viel die Rede war -- über all das
konnte sie nicht ausführlich genug mit dem Bauer sprechen, und sie
fragte auch Schwedenklee unausgesetzt, Schwedenklee, der kaum Weizen von
Roggen zu unterscheiden vermochte.

Als die Pferde zum erstenmal auf die Koppel durften, war es ein
richtiger Festtag für Ellen. Sie selbst brachte die Pferde in den Stall
zurück. Sie lernte sogar das Melken der Kühe. Schwedenklee hatte sich
nie überwinden können, das Euter einer Kuh zwischen die Finger zu
nehmen.

»Dir gefällt es hier?« Seine größte Sorge war, daß es ihr schließlich
doch nicht gefallen könnte. Allein, fern von allen Menschen wollte er
sie haben. Ja, so mußte es sein, grenzenlos war sein Egoismus, das
Schicksal hatte gesprochen.

»Wir werden also hierbleiben? Du wirst sehen, es ist gar nicht zu
langweilig. Wenn erst die Badegäste kommen werden.«

Ellen zog die Braue hoch, ihre feine nervöse Braue. »Ich will keine
Menschen sehen!«

Wie dankbar war Schwedenklee.

»Du willst also vorläufig nicht nach Berlin zurückkehren?«

»Berlin?« Ellen war entsetzt. »Ich will bei Strolly und Munki bleiben!«

Schwedenklees Gesicht wurde dunkel: er war eifersüchtig auf die Tiere
...




                                   20


Schwedenklee hatte sich von dem Dorftischler einen großen Zeichentisch
nach eigener Angabe anfertigen lassen. Hingegeben an seine Idee
zeichnete er: er hatte nun den großen Berliner Zentralbahnhof weiter in
den Tiergarten hinein verlegt. Er brauchte -- ja, was er brauchte, das
war vor allem Platz! Monumentalität, Raum, Auffahrts- und
Abfahrtsalleen! Nicht, daß man nach zehn Jahren sagte: bei aller
Genialität, Schwedenklee hat es nicht verstanden, zehn, zwanzig, fünfzig
Jahre in die Zukunft zu blicken. Eine Stadt wie Berlin ging wie eine
Mine hoch! Also Raum -- immer tiefer hinein in den großen Tiergarten --.

Aber schon nach kurzer Zeit beschäftigte ihn eine neue Idee
leidenschaftlich.

Das Landhaus war zu klein! Es war nur für ihn, Schwedenklee, berechnet.
Er hatte es seinerzeit mit Absicht so klein gehalten: anders würden ihn,
hatte er befürchtet, fortwährend Bekannte überlaufen! Von einem kleinen,
sehr bescheidenen Gastzimmer abgesehen, das unter dem Dache lag,
enthielt es nur drei Zimmer. Schwedenklee hatte sich auf einen Raum
beschränkt, Ellen bewohnte das andere Zimmer, dazwischen lag die
»Halle«, die als Speiseraum diente. In dem Giebelzimmer hauste Augusta.

Schwedenklee beschloß, das Landhaus in großem Stil auszubauen. In großem
Stil? Nein, in allergrößtem Stil, mochte es kosten, was es wollte.
Tagelang tat er geheimnisvoll. Als er mit sich im reinen war, rief er
Ellen an den Zeichentisch.

Sie kam, den schwarzen Kater auf der Schulter. Strolly sah eifersüchtig
zum Fenster herein und winselte flehentlich.

Lieber Himmel, was für ein stattliches Gebäude das Landhaus plötzlich
geworden war! Nach beiden Seiten und nach der Höhe baute Schwedenklee
aus.

Ellen stimmte allen Plänen zu. So und so -- erklärte Schwedenklee. »Und
du sollst ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer haben -- mit einer kleinen
Loggia.«

»Oh, wie fein!« rief sie aus. »Aber ich brauche alles gar nicht. Ich bin
so zufrieden mit meinem Zimmer!«

»Und hier, siehst du, werden wir das Badezimmer hinausbauen!«

Schwedenklee schwebte eine Art Glashaus vor: in der Mitte ein versenktes
Bassin, ringsum eine Art Gewächshaus mit Palmen, Blattpflanzen, Kakteen.
Schwedenklee sprach mit auffallend unsicherer, stotternder Stimme. Ellen
war hell begeistert.

Schwedenklee verlor sich in Einzelheiten. Erschrocken und fast mystisch
erregt erinnerte er sich, daß er die gleichen Pläne, ganz die gleichen,
mit Ellens Mutter, der unglücklichen Ellen, in vielen Stunden
durchgesprochen hatte! Sein Atem stockte. Wie viele Jahre ist es her?
Und nun steht sie hier, ihre Tochter --! Jetzt aber sollten die Pläne
Wirklichkeit werden!

»Und dann,« sagte er, atemlos vor Erregung -- denn Ellen schmiegte sich,
zärtlich, mädchenhaft, an seine Schulter -- »weißt du, wenn alles fertig
ist, was ich dann tun werde?«

Ihr schönes reines Auge blendete. »Nein.«

»Dann werde ich Siebenbirken der kleinen Ellen schenken.«

»Ich will es nicht haben!« rief Ellen aus, und ihr Blick verriet
Unsicherheit und Argwohn. Sie löste leise die Hände von seiner Schulter
und lief verlegen lachend davon.

»Meine Freude!« stammelte Schwedenklee und erhob sich schwankend, indem
er ihr mit den Blicken folgte.




                                   21


Schon in der nächsten Woche kamen die Werkleute, und der Umbau und
Ausbau des Hauses begann. Es wimmelte auf Siebenbirken plötzlich von
Handwerkern.

Schwedenklee erhob sich schon am frühen Morgen. Er ging mit dem
Meterstab hin und her. Er fertigte für Maurer und Zimmerleute und
Tischler Detailzeichnungen an.

Man muß es zugeben, in den letzten Jahren war Schwedenklee die
Entschlußkraft einigermaßen abhanden gekommen. Er sollte zum Beispiel
einen wichtigen Brief schreiben. Er konnte sich nicht dazu aufraffen. Da
ist dieser Brief, dachte er, es wird höchste Zeit! Aber die Tinte war
dick geworden. Der Brief unterblieb.

Schwedenklee hatte sich sehr geändert. Er sieht, daß eine Latte an einem
Zaun lose ist. Sofort holt er Hammer und Nägel und hämmert, daß es
lustig widerhallt.

Da steht ein alter Fliederbusch, dessen Blätter matt herabhängen.
Schwedenklee hätte früher nie einen Finger gerührt. Jetzt holte er
sofort einen Hammer und einen langen Zimmermannsnagel und meißelt Löcher
in den zementharten Lehm rings um den Stamm.

»Was tust du?« staunt Ellen, hingerissen und voll äußerster
Verwunderung.

Schon schleppt Schwedenklee Wasser heran und gießt die Löcher voll,
sorgfältig, geduldig, bis der Zement sich erweicht. Schon am zweiten
Tage stellen sich die matten Blätter des Fliederbusches steif und prall.
Und Ellen staunt!

Schwedenklee ließ sich wiegen -- auf derselben Wage, wo die Schweine, in
einem Holzverschlag, gewogen wurden. Sein Gewicht war außerordentlich
hoch. Er verschwieg es! Aber man sah ihn nun schon am frühen Morgen mit
dem Spaten im Garten. Er arbeitete im Schweiße seines Angesichts den
ganzen Tag über. Nach einer Woche hatte er bereits fünf Pfund verloren.

Nun begann Schwedenklee schwere Steine, Feldsteine, die in Massen an
einer Hecke angehäuft waren, zu schleppen und zu rollen. Er hatte
beschlossen, einen Steingarten zu bauen. Der Schweiß rann ihm in Strömen
von der Stirne.

In dieser Woche nahm er acht Pfund ab. Schon waren ihm die Hosen zu
weit. Sein Gang war leichter, er lief sogar zuweilen, allerdings nicht
lange, da ihm der Atem kurz wurde. In seine schlaffen Arme kam wieder
Kraft.

Zuweilen strichen Radfahrer flink an Siebenbirken vorbei. Mit einem
merkwürdigen Interesse sah Schwedenklee diesen flinken Radfahrern nach.

»Kannst du radfahren, Ellen?« fragte er eines Tages, voller
Entschlossenheit.

»Nein!«

»Vielleicht wäre es hübsch, Partien zu machen?«

»Oh!«

Schon fuhr Schwedenklee in die Stadt und brachte zwei funkelnagelneue
Räder mit.

Ja, bei Gott, vielleicht hatte Schwedenklee sich doch etwas zuviel
zugemutet! Er fuhr vor etwa zwanzig Jahren Rad und glaubte nicht, daß es
möglich wäre, diese Kunst zu verlernen? Kaum aber hatte er das Rad
bestiegen, als er schon auf der anderen Seite in das Gras hinabstürzte.
Augusta lachte, Ellen lachte, die Handwerker lachten. Wurde Schwedenklee
böse? O nein, auch Schwedenklee lachte. Kühn fuhr er einige zwanzig
Meter geradeaus, um bei einem Holzhaufen zu kentern.

Ellen, zierlich, leicht, gewandt, kletterte in das Rad, und Schwedenklee
führte die Maschine voller Vorsicht. Ellen schrie, lachte -- und wenn
sie fallen sollte, landete sie an Schwedenklees Schulter.

Schon am vierten Tage nach den ersten Übungen unternahmen sie eine
kleine Radtour, die so reich an Erlebnissen war, daß sie tagelang
darüber sprachen.

Schwedenklee wurde in der Tat täglich schlanker. Sein Blick wurde
offener, freimütiger. Seine dicken roten Prälatenwangen wurden flächig
und braun, sein Körper straffte sich. Seine Stimme bekam einen
metallischen Klang.

Schwedenklee trug beim Lesen eine Hornbrille. Einmal trat Ellen ein, die
ihn nie mit dieser abscheulichen Brille gesehen hatte. Sie lächelte, ja
sie mußte laut herauslachen.

In Zukunft trug Schwedenklee diese Brille nicht mehr. Die frische Luft,
die Bewegung stärkten seine Augen in wenigen Wochen so sehr, daß er
keine Brille mehr brauchte.

                   *       *       *       *       *

Eine ganze Woche regnete es. Schwedenklee zeichnete wieder an seinem
Zentralbahnhof.

Dann packte er die Geige aus und begann, lustlos anfangs, Instrument und
Klang entfremdet, ganz leise zu spielen.

Da erschien Ellen plötzlich -- ganz entgeistert! -- in der Türe.

»Du spielst Geige?« rief sie maßlos überrascht aus. Freude stand in
ihren hellen Augen.

»Du spielst ja sehr gut!« sagte sie, noch mehr überrascht.

Schwedenklee kam in Verlegenheit. Er erinnerte sich an die Zeit -- viele
Jahre war es her -- da er begeistert mit den Musikstudenten zweimal in
der Woche musizierte, da er sogar den Ehrgeiz besessen hatte, Geiger zu
werden -- still!

Es stellte sich heraus, daß auch Ellen Geige spielte. Ihr Vater hatte
sie unterrichtet.

»So spiele.«

»Nein. Ich werde üben, wenn du nicht zuhörst. Ich habe lange nicht
gespielt.«

»Weshalb nicht?«

Ellen errötete.

»Papa verkaufte seine Geige.«

»Ja, weshalb denn?«

»Er verkaufte sie, als Mama starb. Wir hatten so große Ausgaben damals.«

Schwedenklee fragte nichts mehr.

»Es ist keine besondere Geige«, sagte er. »Aber wenn du mir eine Freude
bereiten willst, Ellen, so nimm sie als Geschenk an.«

Alles, alles wollte er ihr schenken, nur um ein freudiges Feuer in ihren
Augen zu entzünden. Zart und kühl war die Haut ihrer Schultern. Sie war
nicht schöner als andere Frauen, oh, keineswegs, aber sie war jung und
unerfahren, das war alles, was sie anderen Frauen voraus hatte. Es war
die Jugend, nicht mehr, nicht weniger.

                   *       *       *       *       *

Er bemühte sich, Ellens Wünsche und Pläne zu erforschen. Sie war scheu,
sprach nie von sich und den Dingen, die sie im Innersten beschäftigten.
Sie errötete, wenn man sie nach ihren Wünschen fragte, und erklärte, sie
wünsche nichts. Vielleicht aber hatte sie irgendwelche Neigungen, Lust
zur Musik, zu irgendeinem Berufe? In allen Dingen wollte er ihr wie ein
Freund zur Seite stehen.

Endlich überwand Ellen ihre Scheu und erschloß sich. Es fand sich, daß
Ellen längst einen Entschluß gefaßt hatte. Verlegen und errötend
bekannte sie, daß sie zur Bühne gehen wolle. Mehr als das, es stellte
sich heraus, daß ihre Ausbildung bei verschiedenen Lehrern bereits so
weit gefördert war, daß sie schon in diesem Sommer, wäre der Todesfall
nicht eingetreten, in ihr erstes Engagement in einen kleinen Badeort
hätte gehen sollen.

Schwedenklee, der fürchtete, daß das Theater sie ihm entfremden könne,
versuchte sie umzustimmen. Aber Ellen hing voller Leidenschaft an dem
gewählten Berufe. Sie war fest entschlossen, denselben verführerischen
und gefährlichen Weg zu gehen wie ihre Eltern.

»Nun gut«, dachte Schwedenklee. »Ich habe gute Beziehungen zu den
Theatern in Berlin. Sie wird es leichter haben, soll es leichter haben,
als andere. Freilich: das Theater -- lieber wäre mir ein anderer Beruf
-- lieber wäre mir gar kein Beruf ...«

Ellen hatte einen hellen, ergreifenden Sopran: vielleicht Sängerin?

Nun, sie sollte wählen, sie sollte werden, was sie wollte!

Tagelang stand eine Überraschung in Schwedenklees Augen. Ellens
Neugierde war aufs höchste gestiegen.

Eines Tages wurde ein kleiner funkelnagelneuer Stutzflügel vor dem Hause
abgeladen. Es war ein Glück, daß Ellen im Walde war! Als sie zurückkam,
fand sie den Flügel im Speisezimmer. Ein kleiner Strauß von
Frühlingsblumen stand darauf, und an der Vase lehnte eine Karte, auf die
Schwedenklee geschrieben hatte: der kleinen Ellen für ihre neue
Wohnstube.

Ellen war überglücklich. Sie schlang ihre weichen, nach Gras und Wald
duftenden Arme um seinen Hals. Die Berührung ihrer Arme war leise und
doch unsagbar innig.

Am Abend fand das erste Konzert statt. Schwedenklee spielte aus
bekannten Opern, und er spielte außerordentlich aufgeregt. Er spielte
Klavier keineswegs so gut wie Geige. Aber er spielte ohne Mühe, las
gewandt, und zudem konnte er die meisten Opern auswendig. Schon nach
wenigen Tagen hatte er sich wieder eingespielt, und der kleine Flügel
sang und donnerte wie ein Provinzorchester, das sich alle Mühe gibt. Nun
begann er auch einzelne Partien halblaut zu singen.

Ellen war wie verzaubert. Mit glänzenden Augen saß sie da, den Mund
offen, die Ohren leuchteten purpurrot. Ihre Kindheit erwachte, da sie in
einer Luft von Musik aufwuchs.

Bald aber -- wie angezogen -- stand sie hinter Schwedenklees Stuhl und
begleitete ihn mit leiser, erregt bebender Stimme.

Fast jeden Abend wurde musiziert. Draußen die Nacht, der Mond klettert
in den samtschwarzen Himmel empor, die Bäume brausen.

Mehr und mehr verlor Ellen ihre Scheu, und ihre Stimme strömte klar,
rührend, voller Leidenschaft. Sie glühte vor Erregung.

»Vielleicht werden wir doch noch eine Sängerin aus dir machen, Ellen?«

»Papa sagte, meine Stimme sei zu klein«, erwiderte Ellen, errötend über
das Lob.

»Nun, wir werden ja sehen.« Schon war auch Schwedenklee vom Fieber
ergriffen: oft sah er sie, Ellen, seine Ellen, auf der Bühne stehen,
umbrandet vom Beifall.




                                   22


Ellen verbarg nicht ihre Dankbarkeit für Schwedenklees Fürsorge und
Anteilnahme an allem, was sie betraf. Sie hielt diese Fürsorge für
völlig uneigennützig, der tiefen Freundschaft entspringend, die ihn mit
ihren Eltern verbunden hatte. Natürlich verriet ihr ihr weiblicher
Instinkt, daß er sie gern um sich sah. Wirkliches und aufrichtiges
Vertrauen aber empfand sie erst seit den letzten Wochen, da er sich so
lebhaft für ihre Pläne interessierte.

Er hatte ihr eine kleine Bibliothek, die sie für ihre Studien brauchte,
besorgt.

Mit allem Eifer gab sie sich der Arbeit hin. Jeden Morgen verschwand sie
nach dem Frühstück in den Wald, der an Schwedenklees Acker grenzte. Erst
gegen Mittag kehrte sie zurück, die Wangen gerötet, Glanz und den
Widerschein frohen Erlebens in den Augen.

Neugierig schlich ihr Schwedenklee eines Tages nach. Er hätte sie nie
finden können, wenn nicht der Hund ihr Versteck verraten hätte. Auf
einer Kuppe des Waldes war eine kleine, von Erlen umgebene Lichtung, so
dicht abgeschlossen, daß es nahezu unmöglich war, die Lichtung zu
finden.

Dies war Ellens Versteck. Er beobachtete, wie sie mit dem Buche in der
Hand auf und ab ging. Sie sprach, deklamierte, ohne daß er die Worte
verstanden hätte. Sie spielte! Sie kniete flüchtig nieder, hob die Arme,
sie flüchtete, sie wehrte unsichtbare Feinde ab, erstarrte in Qualen,
löste sich befreit -- wieder klang ihre Stimme.

»Was mag sie wohl spielen?« dachte Schwedenklee neugierig in seinem
Versteck. Nie kam sie ihm seltsamer, rührender vor als in diesem Moment.

Offenbar war sie nicht zufrieden. Wieder kniete sie nieder, ihre dünnen,
zarten Hände flehten, ihre ganze Gestalt, die Arme, die Neigung ihres
Kopfes. Wieder wich sie zurück -- herrlich und wunderbar erschien sie
ihm, leidenschaftlich hingegeben ihrem Werke, inmitten der Einsamkeit
und Heiligkeit des Waldes.

Strolly, der Hund, gewöhnt an ihr wunderliches Gebaren, lag im Grase,
den Kopf zwischen die Pfoten gesteckt. In der Gabel eines Astes
entdeckte Schwedenklee den schwarzen Kater.

Bei einer lebhaften Geste schreckte der Hund auf und sprang an ihr
empor. Sie umarmte ihn, küßte ihn und beide wälzten sie sich im Grase.
Hell und herzlich klang Ellens Gelächter.

Heute, morgen, übermorgen belauschte sie Schwedenklee klopfenden
Herzens. Aber der Hund lief hin und her, bellte -- endlich stutzte
Ellen, unterbrach ihre Deklamation und lauschte. Sie machte Miene, dem
Hund zu folgen.

Schwedenklee entfloh und belauschte sie fortan nicht mehr.

Trotz dem kameradschaftlichen, harmlosen und nahezu kindlichen Tone, der
zwischen ihnen herrschte, bewahrte Ellen immer noch eine gewisse Scheu
und Fremdheit. Zuweilen sprach sie von ihren Hoffnungen in der Zukunft,
niemals, oder fast niemals rührte sie an die Vergangenheit.

Bis zum Alter von ungefähr fünfzehn Jahren hatte sie wohl ein ziemlich
sorgloses, ja heiteres Leben geführt. Dann kam die Krankheit der Mutter.
Ellen, ein Kind noch, führte den Haushalt, die Sorge trat ihr ganz nahe.
Früh gereift in manchen Dingen, hatte die Schwere dieser Jahre sie in
ihrer seelischen Entwicklung in anderer Beziehung gehemmt.
Unentwickelter als Mädchen ihres Alters, die sorglos und heiter
erblühten, war sie in anderen Dingen.

Oft beobachtete Schwedenklee, wie sie mit den Tieren plauderte. Sie
sprach mit ihnen wie mit kleinen Geschwistern, so naiv gläubig und
zärtlich. Die Tiere aber schienen sie völlig zu verstehen.

»Wie rührend sie ist!« dachte Schwedenklee, und ein tiefes Gefühl der
Dankbarkeit und des Glückes erfüllte ihn.




                                   23


Sterne, das Rauschen der Bäume, der laue Wind haucht, das Gras flüstert
unter den Büschen, eine Eule schreit schwingend in der Finsternis. Die
Dunkelheit berauscht, die Seele ist trunken von der Stille.

Unfaßbar war Schwedenklee diese wundervolle, weiche Dunkelheit, die in
den Städten ausgestorben ist, vertrieben vom elektrisch glühenden
Kohlenfaden. Jeden Abend überraschte sie ihn aufs neue. Unfaßbar die
Stille. Unfaßbar die Sterne, die auf ihn herabstürzten, wenn er das Auge
zum Firmament hob. Matter Glanz lag auf dem Meere, ein feiner roter
Lichtfunke glitt irgendwo in die Weite.

Wie ein Verzauberter, sich selbst fremd, wanderte Schwedenklee in der
Dunkelheit hin und her, sobald Ellen sich zurückgezogen hatte. Beglückt
hörte er zuweilen ihre Stimme in die Stille dringen. Sie sprach mit dem
Hunde, der in ihrem Zimmer schlief. Ellen schloß die Läden ihres Zimmers
nicht, wenn sie sich entkleidete. Diese Reinheit rührte ihn, und er
hütete sich wohl, ihrem Fenster zu nahe zu kommen. Nur aus der Ferne,
durch die Büsche hindurch, wagte er zuweilen einen kurzen Blick: ihre
Arme ordneten die Haare, sie schritt im Nachtgewand zur Kerze, spitzte
den Mund und blies das Licht aus. Ihr schönes mädchenhaftes Profil blieb
noch lange in der Dunkelheit haften, zuletzt verschwand der kindlich
gespitzte Mund.

Schwedenklee setzte sich auf die Treppe des Hauses. Hingegeben, voller
Andacht atmete er Stille und Dunkelheit ein. Zu denken, daß es Menschen
gab, die in dieser Stunde in rauchigen Kaffeehäusern saßen und
schmutzige Karten mischten! Zu denken, daß er vor Jahren gerade vor
dieser Dunkelheit und Stille die Flucht ergriffen hatte! Unvorstellbar
der Gedanke, daß er einmal wieder in diese Höllenstadt zurückkehren
würde.

In der Tat, war sein Leben bisher nicht leer, sinnlos? Welche
Freudlosigkeit, Nüchternheit, Betäubung, Unrast, Lärm, Flucht vor sich
selbst.

Wunderbare Wendung, die sein Leben genommen hatte! Deutlich erkannte er
die Hand eines wohlwollenden Schicksals.

Schwedenklee blickte in die Dunkelheit und überließ sich seinen
Empfindungen. Schon fühlte er die Schwere nicht mehr, schon schien er zu
schweben, schon schien er zu segeln auf den Fittichen der Nacht.

                   *       *       *       *       *

Mitten in einer lauten Nacht -- die Zweige peitschten gegen das Fenster
und der Vollmond flog rasend dahin -- erwachte Schwedenklee plötzlich,
von einem Gedanken gepeinigt. Dieser Gedanke quälte ihn so sehr, daß
sein Herz schmerzte. Es war ein Gedanke, den er in all den Wochen
verscheucht hatte, so oft er sich nahte.

Er erhob sich, in Schweiß gebadet, warf den seidenen Schlafrock über und
ging in dem schattigen, von Lichtschwertern durchzuckten Zimmer hin und
her, immer hin und her.

»Und wenn sie doch mein Kind wäre?« flüsterte er. Da! Nun war er
ausgesprochen, der Gedanke!

Schwedenklee taumelte, so stark erschütterte ihn der Gedanke.

Die arme Ellen, sie war damals von Paris nach Nürnberg gefahren und
hatte dort schon in den ersten Tagen Blank kennengelernt. Blank hatte
sich sofort in sie verliebt und sie hatten -- nach anfänglichem Zögern
Ellens -- geheiratet. Anfangs Januar des nächsten Jahres war die kleine
Ellen geboren worden.

Soweit die Tatsachen -- gänzlich unverfänglich, wie man zugeben wird,
von dem verhältnismäßig frühen Termin der Geburt des Kindes abgesehen.
Ja, wann zum Beispiel hatte Ellen Fröhlich Paris verlassen? April, März,
früher? Ja, mein Gott, _man lebte damals in den Tag hinein_ -- wer
dachte an solch abenteuerliche Möglichkeiten?

Nein, der Termin der Geburt war ohne Bedeutung. Leidenschaftlich und
rasch ist die Jugend, hatte er nicht selbst in dieser Hinsicht genug
Erfahrungen gesammelt?

Aber Schwedenklee erinnerte sich noch heute deutlich an eine Andeutung
im ersten Brief, den Ellen Fröhlich von Nürnberg aus schrieb, eine
Andeutung, die ihm sofort die Hitze ins Gesicht getrieben hatte. Er
hatte diese Andeutung ignoriert, und in den folgenden Briefen war nicht
mehr die Rede davon gewesen. Später hatte er sich seiner Feigheit
geschämt, und gerade aus diesem Grunde erwachte ein leichtes, nicht
abzuschüttelndes Gefühl der Scham in ihm im Augenblick, da die
Erinnerung an Ellen Fröhlich unerwartet in ihm geweckt wurde. Es war
natürlich auch möglich, daß er diese Andeutung, jene dunkel klingende
Bemerkung, völlig mißverstanden hatte?

Und doch, um ehrlich zu sein, augenblicklich hatte er sich an diese
seltsame Andeutung erinnert, als Blank ihm seinerzeit schrieb:
vielleicht habe ich Ihnen Mitteilungen zu machen, die Sie interessieren
könnten!

Es gab aber ein weiteres gewichtiges Argument: Weshalb hatte Blank, der
ihm alle Einzelheiten seines Lebens anvertraute, _nie mit einer Silbe
erwähnt, daß er eine Tochter besaß_? Ja, weshalb, bei allen Göttern?

Schwedenklees Herz blieb stehen. Der Schweiß brach erneut aus seiner
Stirn.

Ja, war es nicht das allersonderbarste, daß Blank nie von seiner Tochter
sprach? Wie?

War es -- mehr noch! -- nicht auffallend, daß Blank kurz vor seinem Tode
alle Papiere, die er besaß, vernichtete?

»Es steht fest,« resümierte Schwedenklee, zitternd vor Erregung, »Ellen
ist deine Tochter! Ich will es dir beweisen!«

Nehmen wir es einmal an: sofort ist Blanks sonderbares Benehmen, sind
all seine Worte und Anspielungen sonnenklar.

Ellen Fröhlich trug dein Kind unter dem Herzen, als sie von Paris kam.
Sie machte eine Andeutung, sie war überzeugt, du würdest auf diese
Anspielung hin sofort zu ihr eilen. Blank berichtete ja, daß sie dich
bestimmt erwartete. Du ignoriertest die Andeutung, du kamst nicht. Sie
haßte dich! Ließ sie dir nicht bestellen: Sage ihm, daß ich ihm nicht
mehr grolle! Grolle? Oh, ja, nun wurde es klar. Blank liebte sie rasend,
er nahm das Kind als sein Kind entgegen. Das war das Geheimnis ihrer
Ehe! Aus welchem anderen Grunde solltest du zwanzig Jahre hindurch in
dieser Ehe diese wichtige Rolle gespielt haben? Weshalb vergaß man dich
nicht? Nun, sehr einfach, weil man dich nicht vergessen konnte! Das Kind
...

Als Ellen fühlte, daß ihre Kräfte zu Ende gingen, war es da angesichts
der wirtschaftlichen Not nicht naheliegend, daß die beiden im Interesse
des Kindes beschlossen, das Geheimnis preiszugeben? Blank sollte zu dir
kommen, dich sprechen, dir das Geheimnis enthüllen. Aber du wolltest ihn
nicht empfangen -- er war gezwungen, Anspielungen zu machen, die dich
stutzig machen sollten. Ja, ja -- so ist es und nicht anders!

Er kam zu dir -- aber im Augenblick, da er dich sah, war es ihm gänzlich
unmöglich, aus rasender Liebe für das Kind, aus rasender Eifersucht, die
entscheidenden Worte zu sprechen. Aus diesem Grunde sprach er nie von
seiner Tochter ...

Es ist ja nur selbstverständlich: wäre mit der jungen Ellen nicht ein
Geheimnis verknüpft, so würde Blank in der ersten Stunde zu allererst
nur von ihr erzählt haben ...

»Alles, alles erklärt sich!«

Schwedenklee schwankte durch das Zimmer. »Ja,« sagte er zu sich,
inbrünstig, bis zu Tränen erregt, »ohne jeden Zweifel -- sie ist dein
Kind! Und morgen werde ich es ihr sagen. Von morgen an werden unsere
Beziehungen einen anderen Charakter tragen.«

Schon aber blieb Schwedenklee verwirrt stehen. Obwohl es heiß im Zimmer
war, zitterte er vor Frost. Nein, das, gerade das war ja gänzlich
unmöglich!

»Oder werde ich es ihr lieber nicht sagen --?« flüsterte er, aufs
äußerste erregt.

»Oder werde ich es ihr _nie_ sagen?«

»Aber selbst: wenn ich es ihr sagen würde, wie würde ich sie
_überzeugen_ können?«

»Nie würde ich sie überzeugen können! Sie wird mich für einen Betrüger
halten. Sie wird mich hassen, weil ich das Andenken ihrer Eltern schmähe
...«

Schwedenklee trat an das Fenster und blickte lange, ratlos, verquält,
zum rasend fliehenden hellblinkenden Mond empor. Dann tauchte er wieder
in das warme Dunkel des Zimmers zurück.

»Es ist ja alles Unsinn!« dachte er und nahm die Wanderung wieder auf.
»Völliger Unsinn! Sie ist _nicht_ dein Kind!«

»Nein, nun werde ich es dir beweisen! Die Sache ist ja so einfach, wenn
man sie ruhig betrachtet, und alles andere sind leere Spekulationen.«

Ellen Fröhlich war lange leidend. Sie lebte wie alle schwer Leidenden,
fast ausschließlich in der Erinnerung. Ihre Erlebnisse, wie die der
meisten Frauen, einfach, klar und nicht chaotisch, ließen sich leicht
überblicken, und so konnte sie nicht umhin, an das Erlebnis in Paris zu
denken. Sie fand das verblaßte Bild. Vielleicht sagte sie zu Blank:
bring es ihm, wenn ich einmal nicht mehr bin, grüße ihn von mir. Ich
grolle ihm nicht mehr -- weil er mich damals so schwer enttäuschte ...

Blank konnte auch recht gut ganz von selbst auf den Gedanken gekommen
sein! Verlassen, arm, krank, suchte er Anlehnung, Stütze. Nichts wäre
verständlicher. Der Gedanke an die Zukunft seines Kindes marterte ihn.
Mit dem Starrsinn eines Verzweifelten klammerte er sich an dich.
Vielleicht, sicher, hatte ihm auch seine Frau nahegelegt, daß in der
letzten Not du dich wohl als Freund erweisen würdest.

Ich reagierte nicht auf seine Briefe. Er machte bedeutsam klingende
Anspielungen, um meine Neugierde zu reizen -- Anspielungen, die er
augenblicklich widerrief, als er seine Absicht, mich kennenzulernen,
erreicht hatte.

Während er harmlos zu plaudern versuchte, während er zu lächeln
versuchte, marterte ihn vielleicht der Gedanke: kann man diesem da --
wenn es zum Äußersten kommen sollte --, kann man diesem da, diesem
Schwedenklee, das Kind anvertrauen? Wird er nicht, teilnahmslos und
gleichgültig, die Bitte eines Unglücklichen verhallen lassen?

Nun schien auch plötzlich die Bemerkung Sinn zu bekommen, die er machte,
als er nach dem Abendessen in der Droschke fortrollte: einmal werden Sie
vielleicht begreifen, welche Bedeutung es für mich hat, Sie näher
kennengelernt zu haben.

Weshalb aber sprach er nicht von Ellen? Aus Scheu, aus Scham -- aus
letzter Scham ...

»So und nicht anders ist die Sache«, wiederholte Schwedenklee, »und
alles andere sind nervöse Konstruktionen --«

»Und ein Argument gibt es, wichtiger als alle, unwiderlegbar!«

»Nehmen wir an, Ellen wäre deine Tochter -- hätte der sterbende Blank,
der ja noch die Kraft hatte, dir zu schreiben, hätte er in dieser
furchtbaren Stunde nicht die Wahrheit bekannt? Schon um sicher zu sein,
daß du Ellen gut aufnehmen würdest?«

»Mit dem Tod vor Augen -- nein, nein, ganz unmöglich!«

»Sie ist natürlich nicht deine Tochter!« rief Schwedenklee beglückt aus.

Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Erregung hatte ihn völlig
erschöpft.

»Wie albern die Menschen doch sind!« dachte er befreit und leicht. »Wie
albern! Mit welchem Unsinn sie sich die Köpfe angefüllt haben! Es ist ja
schließlich höchst einerlei, ob sie nun mein Kind ist oder nicht. Das
wesentliche ist ja doch, daß sie bei mir ist! Sie ist mein, sie wird
mein sein, sie wird meine Geliebte, meine Frau sein -- ja, selbst wenn
ich es wüßte, daß sie mein Kind ist! Ich werde glücklich sein. Was
kümmert mich schließlich alles andere?«

Schon graute der Tag. Abgezehrt, verhärmt sank der Mond, eine blasse,
zerfressene Scheibe, in den Morgennebel, der aus den Feldern stieg. Ein
früher Vogel schrie geisterhaft.

Spät am Morgen erwachte Schwedenklee. Als er sich ankleidete und durchs
Fenster blickte, sah er Ellen hoch oben auf einem Wagen herrlich
gehobelter Bretter sitzen, der so eben von einem Gespann starker
Bauernpferde in den Hof gezogen wurde. Es war der Fußboden des Anbaues.
Sie lachte mit dem Kutscher. Strolly, der Hund, tanzte wie rasend vor
den Nasen der Pferde. Ellen erblickte ihn am Fenster, und ihr zarter Arm
winkte, während die Sonne auf ihren Wangen funkelte.

Verflüchtigt waren die Nachtgespenster.




                                   24


Die Saat schoß aus der Erde, über Nacht wuchs das Gras auf der Wiese.
Die Wälder standen plötzlich in dichtem Grün. In Schwedenklees
verwahrlostem Garten erblühten plötzlich Scharen von Lilien, Päonien,
Stauden aller Art, Schlingrosen -- vor Jahren hatte er sie gepflanzt und
völlig vergessen. Der kleine Obstgarten, Pflaumen und Birnen, war eine
einzige schneeige Wolke, zwischen Haus und Wald gebettet. Ellen war
nichts als seliges Staunen.

Heiß und plötzlich setzte der Sommer ein. Reichtum quoll aus der Erde,
Gräser, Blumen, Unkraut. Schon wogte das junge Getreide, der Klee stand
einen Schuh hoch. Bis an die Knie standen die Kühe im Gras, die Pferde
grasten in der grünen Koppel, die Schweine grunzten auf dem schwitzenden
Misthaufen. Die Hühner gackerten lärmend, und Scharen von Küken
wimmelten um die Glucken. Der Bauer schnitt die erste Mahd, und der
Schweiß rann ihm über das braune Gesicht.

Ellen hatte bis jetzt fast immer dunkle Kleider getragen. Sie
vertauschte sie nun endgültig mit hellen Sommerkleidern. So erschien sie
plötzlich weltlicher, reizender, strahlender -- Schwedenklees Blicke
hingen an ihr, wie sie durch den Garten schritt, in den Wald lief, sich
zu einer Blume bückte, das lockere Haar mit der Hand in den Nacken warf.

Schwedenklee schien größer geworden zu sein, da er sich besser hielt.
Sein Bauch war fast völlig verschwunden, sein Gesicht, wenn auch noch
massig und viereckig, war straff und braun, niemand konnte leugnen, daß
er sich um zehn Jahre verjüngt hatte.

Er war in diesem Frühling und Sommer nicht müßig gewesen. Zusammen mit
Ellen hatte er einen neuen Obstgarten angelegt, gegen hundert Bäume, er
hatte eine Bewässerungsanlage von fünfzig Meter Länge gebaut. Er hatte
Wege ausgehoben, Bauschutt und Sand gefahren und festgestampft. Nun war
er dabei, eine Laube zu zimmern, die eine herrliche Aussicht bot. Er
hatte Schwielen an den Händen, ganz wie der Bauer. Am Abend sank er
todmüde ins Bett, um wie ein Stein zu schlafen.

Sie waren viel auf den Rädern unterwegs. Ein wenig außer Atem folgte
Schwedenklee Ellen, die wie ein Rennfahrer dahinfuhr. Ellen hatte auch
kutschieren gelernt, etwas ängstlich noch saß sie, die Peitsche in der
Hand, in steifer Haltung auf dem Bock, und die Pferde trappelten hurtig
dahin. Schwedenklee hatte ihr einen kleinen eleganten Wagen gekauft.

Das kameradschaftliche Verhältnis zwischen Ellen und Schwedenklee hatte
an Herzlichkeit gewonnen. Sie lachten und schwatzten zusammen -- nicht
wie Erwachsene eigentlich, eher wie Kinder. Sie umarmte ihn, schmiegte
sich an ihn, er gab ihr einen Gutenachtkuß, wenn sie schlafen ging.

Bald!

Schwedenklee war in großer Erregung. Oft ging er, verwirrt und unruhig,
mit großen Schritten im Garten hin und her und sprach halblaut mit sich
selbst.

Bald! Bald! Tausend Kosenamen hatte er für Ellen in Gedanken, zärtliche
Namen, deren er sich vor Wochen noch geschämt hätte.

                   *       *       *       *       *

Der Sommer stand in voller Glut, die Mückenschwärme tanzten über den
Wegen, in den Augen glänzte Schweiß. Vom Strande unten stiegen an den
Abenden häufig bunte Leuchtkugeln in den Nachthimmel empor, der Strand
wimmelte von Menschen. Die Saison stand auf der Höhe.

Der Anbau war fertig, ein mit Bändern geschmückter Tannenbaum funkelte
auf dem First.

Schwedenklee hatte den Handwerkern ein Faß Bier gestiftet, am Abend aber
sollte das Ereignis im Hause gefeiert werden. Schon seit einer Woche war
das Programm erörtert worden.

»Heute abend um sieben, Ellen, mache dich schön!« sagte Schwedenklee.

Augusta hatte ihr letztes hergegeben. Allerlei Leckerbissen als
Vorspeise, eine göttliche Suppe mit Leberklößchen, gebratene Hähnchen
mit dem herrlichsten Salat der Welt. Törtchen von Walderdbeeren, Ellen
hatte sie gesammelt. Sekt im eisigen Wasser des Brunnens gekühlt. Im
Speisezimmer brannten zwei Dutzend Kerzen. Zur Feier des Tages durften
Strolly und Munki bei Tisch gegenwärtig sein. Sie benahmen sich anfangs
gesittet, aber, ganz wie Kinder bei außerordentlichen Anlässen, wurden
sie mehr und mehr ausgelassen: zuletzt sprang der Kater, von
unbezwinglicher Begierde fortgerissen, mitten auf den Tisch und
versuchte ein Hähnchen zu stehlen.

Ellen war in der herrlichsten Laune. Die Katze kauerte aufgeregt auf
ihrer Schulter. Der Hund saß, ganz Spannung und Bereitschaft, an ihrer
Seite -- ihre Augen blendeten vor Freude.

Schwedenklees Fröhlichkeit klang anfangs etwas gezwungen. Ein Schatten
war über sein Gesicht gebreitet. Gewiß, alles war wunderbar, es war ein
Abend, auf den er sich seit Wochen freute, ein Abend von ganz besonderer
Bedeutung, ein Schicksalsabend, und nur um die Feierlichkeit dieser
Stunde zu betonen, ohne jeden Nebengedanken, hatte er die zwei Dutzend
Kerzen angezündet. Aber als Ellen eintrat, strahlend, den Widerschein
der Kerzen in den klaren Augen, mußte er sich plötzlich an das Diner
erinnern, das er seinerzeit in Paris Ellens Mutter gab, mit den
Spiegeln, im Hotel Panthéon.

Unvollkommen ist das menschliche Gehirn eingerichtet, dachte er, voller
Vorwurf gegen den Schöpfer, gänzlich unvollkommen. Die Erfindung eines
Pedanten. Kaum zündet man ein paar Kerzen an, schon ist man gezwungen,
an Dinge zu denken, die zwanzig Jahre zurückliegen -- weshalb? Etwas
steif und melancholisch sah sein Gesicht anfangs aus, etwas
melancholisch und dunkel klang seine Stimme. Mit einem Faltengekräusel
in der gebräunten Stirn saß er inmitten der vierundzwanzig Kerzen.
Vielleicht ist es Vermessenheit? dachte er, und sein Herz wurde
plötzlich düster. Vielleicht hat ein Mensch wie ich gar nicht mehr das
Recht, die Hand auszustrecken nach ...! Ellen -- die Liebliche -- sie
ahnte nichts, wie sollte sie?

In diesem Augenblick aber sprang Munki auf den Tisch und versuchte ein
geröstetes Hähnchen mit der Kralle zu angeln. Ellen gelang es gerade
noch in der letzten Sekunde, den Kater abzufangen. Sie warf ihn ein
paarmal hoch in die Luft, um ihn dann an ihr Herz zu drücken und seinen
wilden struppigen Kopf mit Küssen zu bedecken. Ihr Lachen klang so
heiter und glücklich, daß Schwedenklee augenblicklich mit fortgerissen
wurde. Der Kater hatte den Abend gerettet.

Schwedenklee erhob sich und füllte mit der großen Geste des erfahrenen
Zechers die Kelche. Fort mit den törichten Gedanken, fort! Gehen wir dem
Schicksal beherzt entgegen ...

»Auf deine Gesundheit, Ellen!« rief er und ließ das Glas im Lichte der
Kerzen funkeln.

»Sekt?« sagte Ellen. »Ich habe noch nie Sekt getrunken, es ist das
erstemal!«

»Versuch' es nur! Es ist noch niemand daran gestorben.«

»Er kitzelt!« rief Ellen und lachte.

In wunderbarer Laune verlief das Diner. Schwedenklee wurde gesprächig.
Sie tranken auf Ellens Zukunft, ihren Ruhm, sie tranken auf ihre
Freundschaft und auf die Herrlichkeit dieses Sommers. Der Sekt hatte
Schwedenklees Gesicht gerötet, seine Augen glänzten, sein Gebiß
leuchtete jung und stark. Er fühlte sich wieder als derselbe lebensfrohe
Schwedenklee, der er in Paris war, seinerzeit. Zwanzig Jahre -- was
sollen sie bedeuten, es ist nur ein albernes Vorurteil ... Nein, damals
gab es nichts Unmögliches für ihn -- und heute?

Schwedenklee leerte den Kelch und warf ihn lachend gegen die Wand.

Ellen saß mit blendenden Augen, umweht vom Schein der Kerzen. Ihre Haut
leuchtete wie Blüten. Häufig kühlte sie die heißen Wangen mit den Rücken
der schmalen Hände. Sie lachte übermütig, und schon nach dem dritten
Glas lachte sie ausgelassen über die geringste Kleinigkeit. Sie fütterte
die Tiere mit Leckerbissen, und Strolly, obschon ein großer Hund, durfte
auf ihrem Schoß sitzen.

»Unser Haus ist also glücklich fertig!« sagte Schwedenklee. »Nun beginnt
die Einrichtung. Es soll wunderbar werden, warte nur! Ein so behagliches
Nest wollen wir uns bauen, und hörst du, ein Bett soll Ellen bekommen --
wie ein Traum!«

»Ja, wie eine Muschel soll es sein und ganz in Spitzen eingehüllt --«

»O, wie fein!« lachte Ellen.

»Und dann werden wir hier in Mecklenburg herumfahren und antike hübsche
Möbel zusammenkaufen.«

Ausführlich besprachen sie die Einrichtung des Hauses. Schwedenklee
wurde nicht müde, neue Vorschläge zu machen.

»Und welche Farbe soll dein Schlafzimmer bekommen, Ellen?«

Ellen dachte lange nach. »Rosa!« rief sie. »Weißt du, so ein zartes
Rosa, wie Korallen.«

»Und dein Wohnzimmer?«

»Himmelblau!«

Schwedenklee lächelte. Ob wohl die Farben zusammenstimmen würden?

»Weshalb sollten sie nicht zusammenstimmen?«

»Gut also -- und dann das Badezimmer. Blattpflanzen, Palmen, Gummibäume,
Farne, Kakteen -- es wird wie ein Palmenhaus sein, Ellen!«

Wohl eine volle Stunde wurde über das Badezimmer gesprochen, das das
schönste und originellste in ganz Deutschland werden würde. Dafür sollte
sein, Schwedenklees Name bürgen!

»Aber Arbeit! Viel Arbeit. Bis alles soweit ist, wird auch schon der
Herbst da sein, Ellen!«

»Oh, weh!«

»Ja. Und dann werden wir nach Berlin zurückkehren und du wirst deine
Studien wieder aufnehmen. Ich werde dich zu den ersten Lehrern bringen.
Viele kenne ich ja persönlich.« Schwedenklee renommierte ein wenig mit
seinen Bühnenbekanntschaften.

Ellen war hell begeistert. »Wie ich mich auf die Arbeit freue!
Hoffentlich enttäuscht mein Talent nicht.«

»Weshalb sollte dein Talent enttäuschen? Ich sage dir nur eines« --
Schwedenklee lächelte vielsagend und zwinkerte ein wenig mit den Augen
-- »du hast mehr Talent, als du je ahnen kannst, ja!«

»Mein Himmel!« Ellen wirft erregt die Hände in die Luft.

»Du wirst also deine Studien aufnehmen. Aber wir werden immerhin noch
Zeit haben, um im Winter auf vierzehn Tage nach St. Moritz zu fahren.«

»St. Moritz?«

»Ja. Es ist phantastisch im Winter. Es gibt dort Häuser, zehnstöckig --
wie in Neuyork. Du wirst sehen. Es ist wunderbar. Am Tage Sport, abends
Tanz.«

»Und dann,« fuhr Schwedenklee fort, »im Frühling fahren wir auf einige
Wochen nach Florenz. Du sollst Florenz sehen! Ein Schmuckkästchen! Ein
Museum! Die Straßen allein sind schon ein Museum!«

»Wie herrlich!«

Schwedenklee entwarf Plan um Plan. Schön und berauschend stand die
Zukunft vor ihm.

Augusta hatte längst abserviert. Die Kerzen erloschen, es brannten nur
noch drei. Da sah man auch plötzlich den dunkeln Nachthimmel, flimmernd
von Sternen, in der offenen Türe stehen. Es funkelten die großen
Sternbilder, deren Namen Schwedenklee sich nie merken konnte.
Berauschend strich der Atem der Sommernacht ins Zimmer, die Grillen
feilten. Wolken von Düften hoben sich aus der trächtigen Erde.

Plötzlich knatterte es und am Himmel erschienen farbige Leuchtkugeln und
Feuerräder. Rote Lohe schlug aus dem Meer empor, und die Sterne wurden
bleich und unscheinbar.

Nein, Ellen hatte noch nichts von der Welt gesehen, noch gar nichts.
Aber ihre Augen weiteten sich, heiß vor Begierde, wenn er erzählte.
Höher noch schwang sich die feine Braue, und die Lippen atmeten erregt.

Er also war ausersehen, er, ihr die Wunder der Erde zu zeigen, ihr
keusches Staunen, ihre reine Verzücktheit zu genießen! Er! Dank den
erhabenen Göttern ...

Dann also würde er ihr Paris zeigen: wimmelnde Stadt, immer auf den
Beinen, ohne Schlaf, bebend von Lärm, widerhallend von Freude,
schwimmend in Licht.

Und dann also --

Erregt ging Schwedenklee hin und her, von den großen Sternbildern zu
Ellen mit den glänzenden Augen und heißen Wangen, immer hin und her.

Auch auf einem großen Dampfer war sie ja noch nicht gewesen: surrend und
tobend Tag und Nacht, das kühle gischtende Meer durchschneidend,
angefüllt mit Luxus und Behaglichkeit. Meer, Wolken -- unbeschreiblich
herrlich! Nein, sie hatte ja noch nichts, gar nichts gesehen -- wie
glücklich er war!

So würden sie also dahinfahren, Tag um Tag. Indien! Japan!

»Japan?« rief Ellen und schlug die kleinen Hände zusammen.

»Ja, Japan. Ich bin ja auch noch nicht dagewesen, aber es soll ein
einziges Wunder sein. Man fährt in kleinen Wagen dahin, von braunen,
flinken Burschen gezogen -- die Teehäuser, die Tempel -- und die ganze
Bevölkerung in Kimonos und auf hohen Stöckelschuhen. Da gibt es einen
Berg, den man immer auf den Holzschnitten abgebildet sieht -- wie heißt
er doch? Fujiyama! Diesen Fujiyama wollen wir besteigen!«

Wie Ellen sich freute zu reisen, die Welt zu sehen! Denn sie hatte ja
bis jetzt nichts gesehen. Sie kannte nur Dresden, Berlin, und einmal war
sie in Potsdam gewesen.

Man höre! Schwedenklee lachte laut heraus.

Und wieder ging Schwedenklee erregt hin und her, von den großen
Sternbildern zu Ellen, von Ellen zu den großen Sternbildern. Immer
größer wurden seine Schritte. Seine Stimme klang plötzlich unsicher.

Sie würden also reisen, und er versprach, ihr die Welt zu zeigen, so
wahr er hier auf und ab gehe.

»Aber«, begann Schwedenklee tastend, »in welcher Form -- ich meine, in
welchem gegenseitigen Verhältnis werden wir zusammen reisen?«

Ellen verstand nicht.

»Ich meine, in welcher Eigenschaft wirst du mit mir reisen?«
Schwedenklee blieb stehen, sein Herz pochte.

»In welcher Eigenschaft?« Ellen saß mit offenen Lippen. Sie konnte gar
nicht begreifen.

»Ja.« Aus lauter Hilflosigkeit runzelte Schwedenklee die Stirn. »Du
kannst doch nicht etwa als meine Nichte mit mir reisen, oder als meine
Sekretärin.«

Ellen lachte laut heraus!

Ihr Lachen ermutigte Schwedenklee wieder. Er verlor etwas seine
Befangenheit. »Auch als meine Tochter doch wohl nicht?« fragte er.

»Nein!« Ellen schlug sofort die Augen nieder.

Mutig ergriff Schwedenklee ihre beiden Hände. Er bemühte sich, seiner
Stimme einen heiteren, harmlosen Klang zu geben, als er fortfuhr: »Dann
bleibt ja nur eines, Ellen --?«

Groß und hell bis in die tiefsten Tiefen waren Ellens Augen auf ihn
gerichtet. Sie errötete, ein zarter Gluthauch überzog blitzschnell
Gesicht und Nacken. Ja, nun hatte sie verstanden. Ihre Arme begannen
leise zu zittern. Sie zog die Hände an sich, schob den Sessel weit
zurück und stand auf.

»Sprich nicht!« rief sie und hielt sich die Ohren zu, da sie sah, daß
Schwedenklee Miene machte, weiterzusprechen. Sie schüttelte hastig den
Kopf, in entzückender Verwirrung. »Nicht heute, nicht jetzt, frage nicht
--« stammelte sie -- »wie sollte ich heute antworten können? Sprich
nicht -- morgen ...«

»Gut, dann morgen. Ich wollte dich nicht erschrecken, Ellen. Gute
Nacht.« Er streckte ihr die Hand hin.

Sie nahm seine Hand. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, so sanft, daß
er sie kaum fühlte, und bot ihm -- zum erstenmal -- die Lippen zum
Gutenachtkuß. Ihr Mund war heiß und weich.

                   *       *       *       *       *

Fiebernd, mit heißem Kopf, trat Schwedenklee ins Freie.

»Ihr Sterne!« sagte er zu den großen Sternbildern, trunken vom Sekt,
berauscht von seinem Glück, und blickte lange zum flimmernden Firmament
empor. »Du grundgütiger Himmel, herrlich und wunderbar ist das Leben!«

Es war ja wohl kein Zweifel, daß sie einwilligen würde. Immer noch
fühlte er ihren heißen, weichen Mund auf seinen Lippen. So zart, wie ein
Hauch nur.

»Ja, dies ist die Lösung, und ich werde glücklich sein!«

Mit glühenden Schläfen ging Schwedenklee lautlosen Schrittes durch das
taunasse Gras. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Kühle hauchte vom
Walde her. Sternschnuppen schossen über den Himmel.

Schwedenklee träumte, die Augen weit geöffnet. »Und immer wird sie um
mich sein,« flüsterte er, »am Morgen, am Mittag, in der Nacht. Immer
werde ich sie sehen, fühlen, sie wird plaudern, und ich werde entzückt
sein, nur ihre Stimme zu hören.«

»Ich werde mit ihr reisen. Ich habe ja Geld, ich kann alles, alles
bezahlen! Wenn es sein muß, verkaufe ich die Bauplätze! Die Menschen
werden auf der Straße, in den Dielen der Hotels die Hälse verdrehen. Und
meine Bekannten werden sagen: Seht an, Schwedenklee, ja, das ist ein
Bursche!«

»Schwedenklee, geschworener Gegner der Ehe, wird also plötzlich
heiraten? Seht an! Nun, laß sie reden. Eine junge Frau, die reizendste
Frau der Erde werde ich haben -- und glücklich sein -- laß sie reden
--!«

»Vielleicht aber --?«

Schwedenklee ging hastig weiter, über ein gemähtes Kleefeld, im
silbernen Licht der Sternennacht.

»Vielleicht aber werde ich Kinder haben? Kinder? Ich, der Väter, die
ihre Sprößlinge spazieren führen, immer ungeheuer komisch fand -- nun
weshalb nicht? Man wird sie baden, pudern, pflegen -- sie werden
schreien -- aber was schadet es, laß sie nur schreien. Sie werden süß
sein. Und Ellen -- dieses süße Wesen, selbst noch ein Kind -- Mutter!«

Schwedenklee blieb erschüttert stehen. Sternschnuppen fegten über ihn
hin.

»Eins, zwei, drei --« zählte Schwedenklee. »Also drei Kinder! Gut!«

»Sie, die selbst noch so zart ist, ein Kind fast --!«

Ȇberlegen wir: mein bisheriges Leben -- nein, keine Reue, keine
Vorwürfe -- was geschehen ist, ist geschehen -- aber es wird von nun an
_Sinn_ in mein Dasein kommen, dieses In-den-Tag-hinein-Leben hat ein
Ende.«

Ein Verzauberter, ging Schwedenklee über die Felder. Süß stieg der
Geruch der Erde auf. Nie in seinem Leben hatte er diesen Glanz der
Gestirne gesehen.

»Und wir werden reisen, und alle werden mich beneiden! Welch ein junges,
herrliches Wesen er sich erobert hat, werden sie sagen, seht an, dieser
tolle Knabe! Und sie -- Ellen -- eine schlechte Partie wird sie ja nicht
machen. Nein, das kann wohl niemand behaupten ...«

»Und wodurch habe gerade ich dieses Glück verdient?« fragte
Schwedenklee. »Durch nichts, durch nichts ...«

»Durch nichts!« rief er triumphierend und herausfordernd. »So ist das
Leben!«




                                   25


Schwedenklee schlief in dieser Nacht wunderbar! Er träumte angenehm: er
packte Koffer, Koffer, streute Trinkgelder um sich, Scharen von Kellnern
dienerten, Autos rollten, Dampfer tuteten, beglückt fühlte er Ellens
Gegenwart in jeder Sekunde, ohne daß er sie eigentlich je sah -- sie
waren unterwegs.

Spät am Morgen erwachte er, dampfend und erfrischt vom Schlaf. Es war
fast schon neun Uhr. Ellen hatte soeben gefrühstückt und erhob sich vom
Tisch, als er eintrat.

Sie errötete, rasch und tief -- augenblicklich mußte er wieder an ihre
heißen, weichen Lippen denken -- flüchtig, mit einer gewissen Hast,
berührten ihre kühlen Finger seine Hand.

»Was für Langschläfer wir doch sind!« rief sie lachend aus. »Ich habe
einen richtigen Katzenjammer!« Und sie strich sich mit den Fingerspitzen
über die Schläfen, so daß die Hände ihr Gesicht verbargen. »Und was für
törichte Dinge ich wohl geschwatzt haben mag, heute nacht?«

Schon war sie zur Türe hinaus.

Schwedenklee fand ihre mädchenhafte Verwirrung entzückend. Sie schämte
sich, ohne jeden Grund. Wie herrlich, diese Reinheit!

Nein, er hatte natürlich nicht erwartet, daß sie ihm um den Hals fallen
würde, keineswegs. Sie war ein junges Mädchen, vor eine bedeutsame Frage
gestellt, sie mußte Zeit zur Überlegung haben -- er würde weder mahnen
noch drängen, nicht, daß man einmal sagen könnte, er habe sie
überrumpelt.

Und doch ...

Nein, nein, Schwedenklee war gewissermaßen dankbar, daß sich die erste
Begegnung nach seinem Antrag so und nicht anders abgespielt hatte.

Er frühstückte mit gutem Appetit. Aber, während er ein Ei in der Hand
aufschlug, konnte er doch den Gedanken nicht unterdrücken, daß es
schließlich nicht nötig war für Ellen, so rasch, so verwirrt und
verlegen wegzulaufen. Nein, nein, ganz unter uns, er hätte es hübscher
und richtiger gefunden, wenn sie ihm zum Beispiel beim Frühstück
Gesellschaft geleistet hätte.

Mit einer kleinen Falte in der Stirn zerlegte er eine Sardine.

Schwedenklee begann den Tag mit einer gewissen Feierlichkeit. Er ging
bedächtig durch die Ställe, was er selten tat, er sprach lange und fast
freundschaftlich mit dem Pächter, er stand und blickte über Felder und
Äcker. Hell glänzte der Tag, eine Lerche schmetterte im Sonnendunst,
sein Herz wurde heiter und froh.

Trotzdem -- je länger er stand und in den hellen Tag hineinblickte --
desto leerer und verwirrter wurde es in seinem Herzen. Er fühlte sich
vereinsamt, verlassen, der Glanz des Tages bedrückte ihn. Obschon er
sich geschworen hatte, Ellen in ihrem Versteck im Walde nie mehr zu
belauschen, trieb ihn doch ein unwiderstehliches Verlangen, sie zu
sehen, hinein in den Wald. Er pirschte sich vorsichtig durch das
Erlengebüsch, erschreckend bei jedem Knacken eines Astes. Die Naturbühne
aber war verlassen. Ellen war nicht da.

Schwedenklee kehrte enttäuscht in den Garten zurück und nahm, um die
Langeweile zu verscheuchen, die Leere, mit übertriebenem Eifer seine
Arbeit auf. Der Garten, muß man wissen, stieg von der Eingangspforte zur
Treppe des Hauses sanft an. Schwedenklee beabsichtigte, diese Steigung
in zwei Terrassen abzubauen, die, mit Stauden und Sommerblumen
bepflanzt, dem Vorgarten ein heiteres und repräsentatives Gepräge geben
sollten. Schon seit Wochen war er mit dieser Terrassierung beschäftigt,
die Arbeit würde noch Wochen beanspruchen.

Eifrig handhabte er den Spaten. Die Sonne stach scharf ins Genick. Und
Ellen, wo war sie?

                   *       *       *       *       *

Plötzlich hörte er eine Stimme, eine kernige, helle, etwas
selbstbewußte, ja arrogante Männerstimme.

»Erlauben Sie mal, hören Sie mal!« rief diese Stimme.

Schwedenklee richtete sich auf. Ein dicker Schweißtropfen lief über
seine Nase.

An der Gartentüre stand ein junger Mann. So unangenehm ihn der
selbstbewußte, herrische Ton der Stimme berührt hatte, so sympathisch
erschien ihm zu seiner Überraschung das Aussehen des jungen Mannes. Er
war ein hübscher, großer Bursche mit gebräuntem Gesicht und hellen
blauen Augen, blonden, strähnigen Haaren, die flott zurückgebürstet
waren. Das Gesicht strahlte Jugend, Gesundheit und Selbstvertrauen. Er
trug einen lichtgrünen Touristenanzug, graue Wickelgamaschen, gelbe
Schuhe und einen weichen, breiten Kragen. Keinen Hut. Ein Badegast,
dachte Schwedenklee. Häufig verirrten sich Badegäste an seine Türe.

»Sind wir hier richtig?« rief die helle, selbstsichere Stimme. »Ist dies
die Residenz des Herrn Schwedenklee?«

Schwedenklee, etwas verwundert, nickte.

»Nun wohl, Dank den erhabenen Göttern!«

Der junge Mann klinkte die Türe auf und stieg die Stufen empor.

In der Geste des Aufklinkens der Pforte, in der Art des Eintretens
erkannte Schwedenklees geschultes Auge sofort die Bühne.

Etwas unwillig stach er den Spaten in die Erde und wischte sich den
Schweiß vom Gesicht.

»Und wo, teurer Freund,« fuhr der Eindringling mit strahlender Miene und
einer höflichen Verbeugung fort, »wo können wir diesen sagenhaften
Millionär Schwedenklee finden?«

»Schwedenklee, das bin ich.«

Lachend, mit übertriebenem Erstaunen trat der Gast einen Schritt zurück.
»Sie? Verzeihen Sie, man sagte mir: ein _älterer Herr_! Es ist mir eine
Ehre, mich Ihnen zu Füßen zu legen: Richard Pohl -- nicht zu verwechseln
mit dem berühmten Nord- oder Südpol gleichen Namens -- Mitglied der
Vereinigten Sommertheater in Hamburg.« Kräftig und zutraulich schüttelte
er Schwedenklees Hand. »Also Sie sind es, dessen Güte die Himmel rühmen?
Es ist mir eine hohe Freude!«

»Seit einigen Tagen bin ich hinter Ihnen her«, fuhr Pohl gesprächig und
lebhaft fort. »Sie sehen eine Art Odysseus vor sich! Ja, in der Tat, es
ist nicht leicht, Sie zu finden, Ehrwürdiger, und selbst hier im Ort
hatte ich noch Mühe. Aber nicht Sie suche ich eigentlich, obschon es
sich der Mühe lohnte, sondern eine Dame: Ellen Blank!«

Aus der weitschweifigen Erzählung erfuhr Schwedenklee, daß Pohl mit der
Familie Blank schon seit der Dresdener Zeit bekannt war. Er war der Sohn
eines Musikers der Dresdener Oper, und Blank war sein erster Lehrer
gewesen. Zufällig hatte er in einer Fachzeitung von Blanks Tod gelesen.
Er schrieb einen Brief an Ellen nach Berlin, bekam ihn aber als
unbestellbar zurück, mit einem zweiten Brief erging es ihm ebenso.
Sobald seine Tätigkeit es ihm erlaubte, fuhr er nach Berlin, um Ellens
Spur aufzufinden, was ihm erst nach vieler Mühe gelang, nachdem er die
Hilfe der Polizei in Anspruch genommen hatte. Ja, und nun also war er
endlich hier, und er strahlte vor Freude und Genugtuung, sein Ziel
erreicht zu haben.

Schwedenklee hörte ihm mit zerstreuter Miene zu. Ganz offen gestanden,
zu keiner Zeit hätte ihm der Besuch ungelegener kommen können als gerade
heute, an einem solch ungeheuer bedeutsamen Tage.

»Welcher Teufel führt ihn gerade heute hierher!« dachte er, während Pohl
seiner Bewunderung über die herrliche Aussicht beredten Ausdruck
verlieh. Diese Aussicht riß ihn derart hin, daß er Miene machte zu
singen. »Gerade heute, da ich auf Ellens Bescheid warte und nicht weiß,
was ich vor Ungeduld tun soll!« Die überschäumende Fröhlichkeit und
heitere Natürlichkeit des Sängers -- trotz seiner etwas erkünstelten
Redeweise -- söhnten ihn indessen rasch wieder aus. »Nun gut, er wird
über Mittag bleiben, und am Abend sind wir ihn wieder los!«

»Einen kleinen Imbiß werden Sie wohl nicht abschlagen?« Immer wenn
Schwedenklee in Verlegenheit war, bot er seinen Gästen zu essen oder zu
trinken an.

Pohl aß mit vorzüglichem Appetit. Er hatte seit Tagen, während seiner
Irrfahrt, nur sehr wenig zu sich genommen. Mit Genuß schlürfte er eine
kleine Flasche Bordeaux.

Ellen war noch immer nicht zurückgekehrt.

Pohl wollte sie im Walde suchen, aber Schwedenklee machte ihm klar, daß
der Wald tief und labyrinthisch sei und Ellen ihre geheimen
Schleichpfade habe.

»Gut, so werden wir sie rufen!«

Schwedenklee lächelte.

Aber Pohl kümmerte sich nicht darum. Er trat einen Schritt vor, reckte
sich in die Höhe und legte die Hände an die Wangen. Dann pumpte er die
breite Brust voller Luft und schrie: »Ellen!« Schwedenklees Ohren
gellten, der Ruf fuhr hell dahin, das Echo klang aus dem Walde. In der
Ferne arbeiteten Landleute auf dem Felde, sie alle hoben die Köpfe.

»Sie werden sehen, es wird nicht lange dauern und wir haben sie hier. --
Ellen!« Noch lauter hallte der Ruf. Die Luft schmetterte, der ganze Wald
hallte. Laut und hell antwortete das Echo. Die Pferde, die in der Koppel
grasten, blieben stehen und blickten neugierig herüber.

Das Sonderbare geschah: kurz nach Pohls drittem Rufe erschien etwas
Gelbes zwischen den Büschen. Es war Strolly, hoch auf den Beinen
stehend, den Kopf gehoben. Dann teilten sich die Brombeerstauden, und
Ellen sprang auf den Acker. Ihr weißes Kleid flatterte im Winde.

Pohl rief und schwenkte die Arme. Ellens Haltung war ganz Staunen. Sie
erkannte ihn nicht. Plötzlich aber stieß Ellen einen hohen Schrei aus
und winkte und begann zu laufen. Wie der Wind flog der blonde junge
Bursche ihr entgegen, und während er lief, lachte und rief er.

Schwedenklee kehrte, etwas übelgelaunt, zu seinem Terrassenbau zurück.
Er wollte bei der Begrüßung nicht stören.

                   *       *       *       *       *

Ellen erschien bei ihm. Sie umschlang ihn freudig mit den Armen. »Ich
habe Besuch bekommen!« rief sie, glühend vor Erregung. »Richard ist
gekommen! Ich muß Augusta verständigen. Er hat Zeit bis zum Frühzug.
Augusta muß ihm ihr Zimmer abtreten. Du bist doch einverstanden, daß er
bei uns bleibt? Ich kenne Richard schon seit sieben Jahren.«

»Du bist ja die Herrin im Haus!« antwortete Schwedenklee schweißtriefend
und strich etwas verlegen über ihre heiße Wange.

Ellen stürzte ins Haus.

Das Mittagessen verlief in ausgelassener Stimmung. Ellen konnte kaum
einen Bissen über die Lippen bringen, so sehr mußte sie über Pohls
Schnurren und seine drollige Ausdrucksweise lachen. Er hatte eine Anrede
für Schwedenklee gefunden, die sie begeisterte! Er nannte Schwedenklee,
etwas keck und zutraulich nach einer so kurzen Bekanntschaft: Don
Philipp!

»Don Philipp! Wie herrlich der Name zu dir paßt!« lachte sie, indem sie
sich an ihn schmiegte.

Nach Tisch legte sich Schwedenklee aufs Ohr. Er war noch müde vom
gestrigen Abend. Nach einstündigem Schlaf erwachte er: in vorzüglicher
Laune. Er war nunmehr direkt erfreut über Pohls Besuch! Seit vielen
Wochen war er mit Ellen allein, ihre Gespräche waren etwas monoton
geworden, viele Gesprächsstoffe nahezu erschöpft. Oft war es etwas sehr
still auf Siebenbirken, nicht für ihn, o nein, er liebte die Ruhe, aber,
wie er fand, für Ellen. Der Besuch regte sie an. Es war sehr wohltuend,
daß ein Hauch der Umwelt in das Leben auf Siebenbirken strich.

»Don Philipp, Edler von Siebenbirken -- Pauken und Tusch!« begrüßte ihn
Pohl, der mit Ellen in der hellen Sonne auf einem Heuhaufen der gemähten
Wiese saß. (Schon mußte Ellen wieder laut herauslachen!) »Habt die
Gnade, das Programm entgegenzunehmen, das wir für Euch, um unsere
Ergebenheit zu bezeigen, entworfen haben: Zuerst die olympischen Spiele,
die sofort ihren Anfang nehmen. Sodann Festtafel bei Don Philipp mit
königlichen Weinen. Hierauf Festvorstellung im Hoftheater Euer
Durchlaucht: Figaros Hochzeit. Später Divertissements, Empfang, Defilé,
Cour. Genehm? -- Anfang! Don Philipp befiehlt den Beginn! Pagen heran!
Zurück der Pöbel!«

»Ich starte,« fügte Pohl rasch hinzu, »nimm die Uhr, Ellen. Los!« Wie
ein fliehender Hirsch umrundete er die Wiese. Nie in seinem Leben hatte
Schwedenklee solch einen Läufer gesehen.

»Ellen Blank!« schrie Pohl. Und Ellen lief. Schwedenklee war ergriffen,
als er sie laufen sah. Sie schleuderte die Knie, daß man ihre Wäsche
sah. Ihr Haarschopf fiel herunter und sie steckte ihn im Laufen auf.
Während sie lief, schrie sie aber ununterbrochen vor Vergnügen und
Erregung.

Nun kam die Reihe an Schwedenklee. Er tat sein Bestes, um sich nicht zu
blamieren. Blutrot und schwitzend kam er an.

»Don Philipp hat gewonnen!« entschied Pohl. Er behauptete allen Ernstes,
daß Schwedenklee ihn um zwei Sekunden geschlagen habe, und überreichte
ihm mit feierlicher Ansprache einen Birkenzweig.

Es ist eine Tatsache, daß Erwachsene viel kindischer sein können -- in
besonderen, seltenen Stunden -- als Kinder, und es kann als Maßstab
ihrer Unverdorbenheit und Güte gelten, wenn sie diese Fähigkeit noch
besitzen.

Jedenfalls, je länger die olympischen Spiele währten, desto
ausgelassener wurden die drei.

Pohl war unerschöpflich an Erfindungen. Es gab Läufe, Sprünge, Hüpfen
auf einem Bein. Dann mußte man mit einer Hand an einem Aste hängen.
Schwedenklee hing, bis er blau im Gesicht wurde. Er schlug alle Rekorde.

Zuletzt kam der Sprung in den Strohhaufen -- vom Dache des Stalles aus,
drei Meter tief. Pohl sprang im Hechtsprung, als spränge er ins Wasser.
Ellen sprang mit festgehaltenen Kleidern, schreiend und lachend.
Schwedenklee riskierte einen Purzelbaum. Kaum aber war er ins Stroh
versunken, so spürte er, wie die beiden über ihn herfielen und ihn immer
wieder mit Stroh bedeckten. Völlig außer Atem (und fast etwas böse!)
wühlte er sich endlich heraus. Er war mit Strohhalmen gespickt und sah
so komisch aus, daß Ellen laut herauslachen mußte.

                   *       *       *       *       *

Pohl kniete vor ihm. »Don Philipp, nehmet mein Haupt!«

Schwedenklee hatte seine gute Laune schon wiedergefunden.




                                   26


Nach dem Abendessen -- diesmal hatte Ellen die Kerzen angezündet! --
wurde programmäßig »Figaros Hochzeit« aufgeführt.

Richard sang Figaro -- vollendet, mit einer frischen, kernigen Stimme,
er agierte, als stände er auf der Bühne. Ellen hatte -- sehr erregt --
Susanna und Cherubino übernommen. Sie sang schön, rührend, mit leicht
zitternder Stimme. Was übrigblieb, fiel Schwedenklee zu, der sich recht
und schlecht aus der Affäre zog.

Es war -- alles in allem -- ein wundervoller Sommertag, ein Tag, der
kein Ende zu nehmen schien. Die Divertissements fielen aus. Ellen wurde
ins Bett geschickt, da ihre Augen vor Müdigkeit fieberten.

Die Herren aber saßen noch bei einer Flasche Wein.

»Eine neue Flasche, Don Philipp!«

»Sofort!«

Nach der dritten Flasche bot Pohl Schwedenklee die Brüderschaft an. Sie
stießen an.

»Selten habe ich einen solch prachtvollen Menschen kennengelernt wie
dich, Don Philipp!« schrie Pohl, indem er begeistert aufsprang.

Schwedenklee kletterte nun selbst in den Keller, um einen ganz
besonderen Rheinwein zu holen, einen seltsamen Jahrgang.

»Und nun Schluß mit all den Dummheiten!« rief der Sänger aus. »Ein
ernstes Wort. Daß du dich des armen Blank erbarmt hast, das soll dir
ewig unvergessen bleiben! Daß du dich aber wie ein Vater Ellens
annahmst, das wird dir Gott im Himmel persönlich danken! Dafür laß dich
umarmen, bester aller Menschen!«

Pohl drückte Schwedenklee an seine Brust und küßte ihn. Beide hatten
Tränen in den Augen.

Es war das erstemal, daß Schwedenklee von einem Mann geküßt worden war.




                                   27


Am gestrigen Tage hatte sich wahrhaftig keine Gelegenheit geboten, mit
Ellen über die Dinge zu sprechen, die Schwedenklee so sehr am Herzen
lagen. Dieser unglaubliche Bursche, der wie ein Meteor vom Himmel
gefallen war.

Heute -- um die Wahrheit zusagen --, Schwedenklee war mit etwas schwerem
Kopf aufgestanden, er war müde, verschlafen, apathisch und freute sich
während des ganzen Tages schon auf die Stunde des Schlafengehens. Welch
ein Glück, daß dieser Pohl, so amüsant er auch war, am Mittag wieder
abreiste!

Aber trotz seiner Müdigkeit beobachtete Schwedenklee, oder sollte er
sich täuschen? -- daß mit Ellen seit gestern eine Veränderung vor sich
gegangen war. Sie schien merkwürdig erregt, sie lachte ohne jeden Grund,
zerstreut lief sie hin und her, den ganzen Nachmittag war sie mit ihrer
Wäsche und Garderobe beschäftigt.

Von der Antwort auf die bewußte wichtige Frage war nicht die Rede!
Vergebens wartete Schwedenklee auf ein Wort, einen Blick. Sie stammelte
erregt, wenn sie mit ihm sprach, ihr Blick flackerte, sie errötete,
schlug die Augen nieder. Es schien ihm sogar, als ob sie ihm auswiche
...

Am nächsten Tage aber glaubte Schwedenklee zu seinem nicht geringen
Staunen zu beobachten, daß Ellen ernsthaft damit beschäftigt war,
einzupacken.

Die Sache war, kurz gesagt, die: der Direktor der Vereinigten
Sommertheater in Hamburg war Pohls bester Freund. Es bestand, wie Pohl
versichert hatte, gar kein Zweifel, daß er Ellen engagieren würde. Im
Sommer sollte sie sich in kleineren Rollen einspielen, um im Herbst mit
dem Ensemble nach Bremen überzusiedeln. Ein gutes, ein vorzügliches
Theater! Der Zufall hatte ihr eine herrliche Gelegenheit geboten, eine
geradezu selten günstige Gelegenheit, ihre Laufbahn zu beginnen. War
Ellens glückliche Verwirrtheit nicht verständlich?

Natürlich. Oh, Schwedenklee verstand ja wohl manches, er verschloß sich
keineswegs vernünftigen Gründen, er wußte nur zu gut, daß eine Frau, die
sich die Bühne in den Kopf gesetzt hatte, durch nichts abzubringen war.
Aber, hatte sie, Ellen, denn ganz vergessen, daß sie ihm auf eine
bestimmte Frage eine bestimmte Antwort schuldig war?

Er bemühte sich, die Sache von der scherzhaften Seite zu nehmen. »Du
hast ja noch Zeit, Ellen, wozu diese Aufregung?«

»Ich muß bereit sein, wenn das Telegramm kommt!« schrie Ellen.

Ja, sie schien es in der Tat ganz vergessen zu haben. Allen Andeutungen,
die er wagte, wich sie aus. So oft er sie »antwortheischend« ansah --
oh, sie verstand seinen Blick sehr wohl! --, geriet sie in hilflose
Verwirrung. Sie lenkte sofort errötend ab, sie sprach von ihren Plänen,
Erwartungen, und beschwor ihn, nicht nach Hamburg zu kommen, wenn sie
das erstemal auftrat. Sie würde auf der Bühne kein Wort hervorbringen
können. Aber er mußte ihr versprechen zu kommen, sobald sie einigermaßen
eingespielt wäre.

»Aber, ich sehe schon, du wirst nicht kommen, Don Philipp. Du wirst mich
rasch vergessen!« sagte sie mit hochgezogener Braue.

Also, er würde _sie_ vergessen? Schwedenklee fand vor Erstaunen kein
Wort der Entgegnung.

                   *       *       *       *       *

So vergingen zwei Tage in Unruhe und Spannung. Dann aber sah Ellen den
Depeschenboten an der Gartentüre, und sie rannte ihm entgegen.

Strahlend vor Freude schwenkte sie das Telegramm.

Sie umarmte Schwedenklee. »Er hat mich engagiert!« schrie sie in größter
Erregung. »Der Direktor war verreist, daher die Verspätung!« Rasch löste
sie sich aus der Umarmung und stürzte zu Augusta und beschwor sie, ihr
zu helfen, sie wisse weder aus noch ein.

»Mein Gott, Augusta, ob die Wäsche noch trocknen wird?«

Schwedenklee fühlte, daß er erbleichte: er wußte nun, daß sie ihn
verlassen würde.

War es zu glauben: in diesen wenigen Tagen hatte Ellen alles vergessen,
das Badezimmer mit den Palmen, Florenz, Paris, Japan -- sie dachte gar
nicht mehr daran. Sie hatte auch ganz vergessen, daß sie ihm versprochen
hatte, auf eine gewisse Frage zu antworten ...

Aber nein, nein, sie hatte nicht vergessen. Sie dachte vielleicht jede
Sekunde daran! Sie stammelte, errötend, verlegen, voller Scham: »Du
verstehst mich doch? Ich freue mich, tätig zu sein, ich freue mich
_anzufangen_. Es ist ja so schön bei dir, du weißt es, aber --! Ich muß
ja zusehen, mir mein Leben selbst zu gestalten. Du verstehst mich doch?«

Schwedenklee verstand alles!

»Ich verstehe sehr wohl!« sagte er, lächelnd, nachsichtig, verzeihend.

Aber diese Nachsicht schien sie zu quälen. »Nein, du verstehst mich
vielleicht doch nicht?«

»Doch, ich verstehe dich, Ellen.«

Ihr Blick ruhte groß und voller Scheu auf ihm, während ihre Hände seine
Wangen streichelten. Genau so zart und sanft, mit zitternden Fingern,
wie die Hände ihrer Mutter -- seinerzeit in Paris ...




                                   28


Schwedenklee sitzt in der Nacht auf der Treppe des Hauses. Das Haus ist
dunkel, schwarz der Wald, Schwedenklee sitzt in völliger Finsternis.
Zuweilen schlägt Feuer aus der Treppe des Hauses: das ist Schwedenklees
Zigarre, die Funken stiebt.

Heute, morgen, übermorgen sitzt Schwedenklee in der Nacht, und nur
zuweilen fahren wilde Funken aus seiner Zigarre.

Ruhelos rennt der Hund hin und her, die Nase am Boden. Durch den Garten,
über die Felder, in den Wald, immer die Nase am Boden, alten Spuren
nach. In der Nacht fällt Regen, und nun ist der Hund plötzlich ruhiger.

Ellen also war ins Engagement abgereist ...

Er hatte nicht mehr erwartet, daß sie ihm auf die gewisse Frage
antworten würde -- und doch, sie hatte es getan! Auf dem kleinen
Bahnhof, der wimmelte von lauten Badegästen, hatte sie zart seinen Arm
berührt und ihn mit einem Blicke angesehen -- ja, was für ein Blick war
es doch?

Das war ihre Antwort! Schwedenklee atmete tief -- ja! Und er hatte sie
verstanden. Sie sagte: »Es wäre ja alles so wunderbar gewesen, aber
siehst du -- es ist nicht so einfach ...«

Nun, er hatte verstanden, vollkommen. O gewiß, es war nicht so einfach
...

Es ist ja möglich, dachte Schwedenklee, daß ihr, die hilflos und
vereinsamt im Leben steht, im ersten Augenblick eine Verbindung mit dir
erwägenswert erschien. Es ist wahrscheinlich, daß sie auf deinen
Vorschlag eingegangen wäre, da sie einen anderen Ausweg nicht fand! Da
aber erschien Pohl! Seine Stimme weckte plötzlich die Stimmen ihrer
Jugend. Und was die Hauptsache ist: er zeigte ihr einen Ausweg, in einem
Augenblick, da sie ratlos war, keinen Ausweg fand, ja nicht einmal mehr
an die Möglichkeit eines Ausweges dachte. Daher ihre unverständliche
Erregung. Blitzschnell folgte sie ihren Instinkten.

»Aber wozu die vielen Worte?« sagte Schwedenklee zu sich. »Es gibt eine
viel einfachere Erklärung: sie liebte dich nicht! Sie fühlte, daß diese
Verbindung für sie nie glücklich sein konnte. Ja, die Wahrheit ist
zuweilen bitter!«

Und dann kam da vielleicht noch etwas hinzu ...

Schwedenklee lächelte.

»Sie versteht es ja heute noch nicht, weshalb sie so begierig war, nach
Hamburg zu reisen -- die Reine, Wundervolle!« flüsterte er. »Später,
später! Ich habe vom ersten Augenblick an alles geahnt!«

»Daß ich noch das Wettrennen um die Wiese mitmachte! Und an dem Ast hing
ich so lange, daß mir heute noch der Arm weh tut!«

Funken fuhren aus Schwedenklees Zigarre.

Jeden Abend saß Schwedenklee in der Dunkelheit auf der Treppe des
Hauses, und die Funken stoben. Es war Neumond.

Am Tage arbeitete er an seiner Terrasse.

»Diese fünfzig Kubikmeter Erde werden wir schon bewältigen!« sagte er,
selbstbewußt, und der Schweiß rann ihm über das Gesicht.

Es darf indessen nicht verschwiegen werden, daß Schwedenklee in diesen
Tagen sich häufig selbst in den Weinkeller begab.

Es gibt Menschen, die einen Stoß in die Herzgrube ohne besondere
Erschütterung ertragen, sie sind sehr selten, andere, die lamentieren
und ein großes Geschrei machen, und wieder andere, die einfach eine
Flasche aufziehen, sich räuspern und eine Zigarre anzünden ...

Schwedenklee stand in diesen Tagen sehr spät auf und ging erst schlafen,
wenn der Morgen graute. Augusta betrachtete ihn mit vorwurfsvollen
Blicken. Er aß ihr zu wenig.

Ja, diese Augusta, sie war keineswegs so albern, wie er glaubte. Sie sah
in sein eingesunkenes, verstörtes Gesicht und sagte sich: »Diese
Frauenzimmer, wie sie ihm zusetzen -- es ist schon eine Schande!«

Der Neubau war fertig. Er roch nach Kalk, Gips und Glaserkitt. Auch das
Badezimmer -- das alle Badezimmer Deutschlands schlagen sollte -- war im
Rohbau fertig. Die versenkte Wanne war vier Meter lang und zwei Meter
breit, die Hähne blitzten. Eines Tages mühte sich ein Fuhrwerk, ein
kleiner Wald auf Rädern, die Straße herauf: die Blattpflanzen kamen. Sie
hatten ein Vermögen gekostet.

»Stellen Sie sie einfach in den Baderaum!« sagte Schwedenklee. Da
standen sie, bis sie verkamen.

Weshalb aber, zum Teufel, war es in diesem Neubau so kalt? Strömte der
Putz diese Kälte aus? Schwedenklee betrat den Neubau nicht mehr.

                   *       *       *       *       *

Zart und fein stieg die Mondsichel aus dem Meer empor.

Schwedenklee saß im Dunkel auf der Treppe des Hauses und rauchte.

Er hatte heute den ersten Brief Ellens erhalten. »Dank, Dank -- du wirst
mich verstehen -- du bist mir gewiß nicht böse ...«

Ja, gewiß, Schwedenklee gehörte zur Klasse jener Menschen, die alles
verstehen und daher alles vergeben, denen nichts Menschliches fremd ist
-- gewiß, er verstand alles. Mehr als sie ahnte! Und böse? Nein, böse
konnte Schwedenklee überhaupt nicht werden.

Und doch, gerade an diesem Abend wurde Schwedenklee von starker Unruhe
erfaßt. Er ging auf und ab, die Funken sprühten aus seiner Zigarre.
Schweiß brach aus seiner Stirn.

Seine Augen sanken ein. »_Wenn sie nun aber doch mein Kind wäre?_« sagte
er voller Gram. »Auch die Krankenschwester, du erinnerst dich, sagte,
sie glaube, Blank habe dir besondere Mitteilungen zu machen ...«

»Hätte ich Gewißheit -- alles wäre ja anders!«

Verraten wir es: Schwedenklee ging in die Dunkelheit, wo sie am
schwärzesten war, um hier, ganz im Dunklen, obschon niemand in der Nähe
war, die Finger in die Augen zu drücken und zu stöhnen.

Ja, Schwedenklee hatte heute einen schlechten Tag. Er strich die ganze
Nacht in der Finsternis hin und her, fröstelte im Nachtnebel.

»Gerade als ich die Hand nach ihr ausstreckte --!« sagte er, aber er
sprach nicht weiter.




                                   29


Am nächsten Tage gab Schwedenklee plötzlich seine Arbeit an der Terrasse
auf. Er stach den Spaten in die Erde, und hier mochte er steckenbleiben,
bis er verfaulte, wenn ihn der Pächter nicht unter Dach nahm.

Schwedenklee hatte einen neuen resedafarbenen Anzug, den er noch nie
getragen hatte. Diesen Anzug legte er an. Er rasierte sich sorgfältig
und begab sich in den Badeort.

Hier saß er auf der Terrasse des Kasinos und betrachtete mit finsterer
und verächtlicher Miene die promenierenden Badegäste. Was für
entsetzliche Frauen! Dick, formlos, lächerlich, unverschämt in ihrer
Einbildung, grotesk in ihrer Eitelkeit, mit falschen Haaren, gemalt, die
meisten krummbeinig -- ah, Schwedenklee war zur Zeit nicht gut auf die
Frauen zu sprechen.

Am dritten Tage -- seine Miene war gleich geringschätzig und abweisend
-- hörte er plötzlich eine Frauenstimme: »Ist es möglich, Herr
Schwedenklee?« Und ein heiteres Lachen.

Zwei flachsblonde Frauen in dünnen Sommerkleidern standen vor ihm,
Schwestern. Er hatte die eine der Schwestern gekannt, bevor sie
verheiratet war, die Unverheiratete lernte er heute erst kennen.

Schwedenklee lächelte verlegen und wich etwas auffällig zurück. Zu nahe
drangen ihm Atem und Parfüm der beiden Damen. Die heitere Stimme klang
ihm zu laut ins Ohr. Nichts haßte er mehr als die Aufdringlichkeit der
Frauen, die der Ansicht waren, daß eine vorübergehende Verliebtheit eine
Freundschaft fürs ganze Leben bedeute.

Knapp und kühl klangen Schwedenklees Antworten. Die Flachsblonden aber
schienen seine Zurückhaltung gar nicht zu merken und lachten fröhlich
und laut.

Schwedenklee erhob sich und ging. Ein paar Tage vergrub er sich in
Siebenbirken. Dann aber erschien er wieder im Badeort, und schon nach
einigen Tagen ruderte er die beiden Flachsblonden hinaus in die See.

Von nun an begab sich Schwedenklee schon am Morgen in seinem
resedafarbenen Anzug in den Badeort. Er aß im Kasino und kehrte erst
spät nach Siebenbirken zurück.

Nach einer Woche reisten die flachsblonden Schwestern nach Berlin
zurück.

Schwedenklee blieb zu Hause. Er beschäftigte sich wieder mit seinem
Zentralbahnhof, rauchte, trank, lebte in den Nächten. Kaum hatte er aber
einen Brief aus Berlin erhalten, der ihn sehr heiter stimmte, so befahl
er Augusta zu packen.




                                   30


Es regnete leise, als Schwedenklee nach Berlin zurückkehrte. Die Stadt
dampfte. Seine Wohnung umfing ihn mit Behagen.

»Vielleicht ist es doch das beste so! Wer weiß, wozu es gut war --!«
sagte er sich, indem er in den weichen Hausschuhen auf und ab ging.

Dann telephonierte er lange in bester Laune.

»Augusta,« sagte er, »morgen abend drei Gedecke, lassen Sie es an nichts
fehlen!«

Gewiß, Schwedenklee erhielt Briefe von Ellen und schrieb ihr wieder. Die
erste Firma Berlins mußte auf seine Kosten Ellens Bühnengarderobe
anfertigen, und Schwedenklee selbst überwachte die Fertigstellung der
Kostüme.

Schwedenklee wußte sehr wohl, was er versprochen hatte. Eines Tages
packte er einen Handkoffer und fuhr nach Bremen. Er fand Ellen heiter,
strahlend, wunderbar erblüht, er beobachtete, befriedigt fast, daß die
beiden, Pohl und Ellen, einander um vieles nähergekommen und sehr
glücklich waren.

»Don Philipp, herrlichster aller Menschen!« schrie Pohl begeistert und
umarmte ihn, als sie im Bremer Ratskeller in später Nacht eine Flasche
leerten.

                   *       *       *       *       *

_Und wenn sie doch dein Kind wäre?_

Auch diese Frage, die ihn oft in den Nächten gemartert hatte, daß er
schlaflos auf und ab ging, die sein Herz verbrannte -- auch diese Frage
verblaßte allmählich in Schwedenklees Herzen -- --

Als der erste Schnee fiel, erschien Schwedenklee eines Abends wieder um
neun Uhr in seinem alten Stammcafé. Sein Rücken schien etwas gebeugt,
sein Gesicht hatte die Prälatenröte eingebüßt und schien etwas fahl, die
dünnen Haare waren grauer -- sonst aber war es ganz der alte
Schwedenklee. Mit lauter Herzlichkeit wurde er von den Spielern
empfangen. Nach einer Viertelstunde aber war es, als sei er nicht eine
Stunde abwesend gewesen. Schon saß er an einem der Pokertische, und drei
Kiebitze rückten ihre Stühle hinter seinen Sessel.


                                  Ende




                     Werke von Bernhard Kellermann


                             Yester und Li

                          Roman. 152. Auflage


                                Ingeborg

                          Roman. 115. Auflage


                                Der Tor

                           Roman. 50. Auflage


                                Das Meer

                           Roman. 87. Auflage


                               Der Tunnel

                          Roman. 227. Auflage


                            Der 9. November

                           Roman. 51. Auflage


                              Die Heiligen

                                Novelle

                     Illustriert von Magnus Zeller

                              12. Auflage


             Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig




                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 17]:
   ... Die Anstrengungen seines Berufes hatten ihm fast sämtliche ...
   ... Die Anstrengungen seines Berufes hatten ihn fast sämtliche ...

   [S. 103]:
   ... sich es bescheidener und war zufrieden, in der Komparerie ...
   ... sich es bescheidener und war zufrieden, in der Komparserie ...

   [S. 180]:
   ... deren Namen Schwedenklee nie merken konnte. ...
   ... deren Namen Schwedenklee sich nie merken konnte. ...






End of Project Gutenberg's Schwedenklees Erlebnis, by Bernhard Kellermann

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SCHWEDENKLEES ERLEBNIS ***

***** This file should be named 59222-8.txt or 59222-8.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/5/9/2/2/59222/

Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net.

Updated editions will replace the previous one--the old editions will
be renamed.

Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
law means that no one owns a United States copyright in these works,
so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
States without permission and without paying copyright
royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
of this license, apply to copying and distributing Project
Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
specific permission. If you do not charge anything for copies of this
eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
performances and research. They may be modified and printed and given
away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
trademark license, especially commercial redistribution.

START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
Gutenberg-tm electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
1.E.8.

1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country outside the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

  This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
  most other parts of the world at no cost and with almost no
  restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
  under the terms of the Project Gutenberg License included with this
  eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
  United States, you'll have to check the laws of the country where you
  are located before using this ebook.

1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
provided that

* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
  the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
  you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
  to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
  agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
  within 60 days following each date on which you prepare (or are
  legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
  payments should be clearly marked as such and sent to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
  Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
  Literary Archive Foundation."

* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
  you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
  does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
  License. You must require such a user to return or destroy all
  copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
  all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
  works.

* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
  any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
  electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
  receipt of the work.

* You comply with all other terms of this agreement for free
  distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.