Die Brüder Schellenberg

By Bernhard Kellermann

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Kellermann

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Title: Die Brüder Schellenberg

Author: Bernhard Kellermann

Release Date: January 6, 2022 [eBook #67112]

Language: German

Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE BRÜDER
SCHELLENBERG ***





                        Die Brüder Schellenberg


                               Roman von
                          Bernhard Kellermann


                                  1925
                      S. Fischer / Verlag / Berlin


                      Erste bis zwanzigste Auflage
       Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
           Copyright 1925 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin




                        Die Brüder Schellenberg




                              Erstes Buch


                                   1

Das Tor des Krankenhauses fiel hinter Georg Weidenbach ins Schloß. Er
hüstelte, als er die rauhe Straßenluft einatmete, und stülpte den
Mantelkragen in die Höhe. Und schon schlug er, fast automatisch, jenen
Weg ein, den er in tausend Träumen und Phantasien während seines
Krankenlagers gegangen war. Er verlor sich rasch im Gewimmel jener
endlosen Straßenzüge, die quer durch die Stadt nach dem Alexanderplatz
führen. Hier, am Alexanderplatz, war in einem Warenhaus seine Geliebte
als Verkäuferin tätig, Christine, „der schwarze Teufel mit den Augen
eines wilden Hengstes“, wie der Zeichner Katschinsky sie genannt hatte.
Seine Geliebte, und wenn man wollte, seine Frau. Oder durfte er sie
nicht so nennen? Nach all dem, was sich zwischen ihnen ereignet hatte?
Und das war, bei Gott, nicht alltäglich!

Trotz der Knappheit seiner Barschaft, die zu äußerster Sparsamkeit
mahnte, hätte Georg wohl die Elektrische nehmen können, aber er empfand
es als eine Art Wollust, diese Stunde zwischen der Entlassung aus dem
Krankenhaus und dem Wiedersehen mit Christine bis auf die letzte Minute
und Sekunde auszukosten.

Ja, nun kam er also, treibend in diesem Strom hastender Menschen und
jagender Wagen, und sie sah ihn nicht! Sie ahnte es nicht, daß er,
Schritt für Schritt, immer näher kam. Würde sie zu Boden sinken? Er
lächelte mit geweiteten Augen, ein erregtes, fast verzücktes Lächeln,
aber so elend hatte ihn die Krankheit gemacht, daß sein Lächeln wie eine
Grimasse des Schmerzes aussah. Er keuchte leise. Schweißperlen standen
auf seiner Stirn, die Knie zitterten ihm.

Das lange Krankenlager hatte ihn der Gegenwart entfremdet. Menschen,
Stimmen, Gesichter, Gebärden erschienen ihm fremd, als sei er nach
Jahrzehnten in diese Stadt zurückgekehrt, als sei er verändert in sie
zurückgekehrt. Das monatelange Rauschen des fiebernden Blutes hatte
seine Sinne verfeinert, so daß er Bewegung und Lärm um vielfaches
verstärkt empfand. Die Straße jagte, die Straße donnerte, und fast
überkam ihn eine Beklemmung.

Menschen und Gefährte schienen von einem wilden Strom fortgerissen zu
werden, sie glitten und schossen vorüber, um in den Wirbel der
Seitenstraßen geschleudert zu werden. Funken stoben aus den Rädern,
blaues Feuer spritzte durch die nasse Luft. Omnibusse, mit
Menschenleibern dicht beladen, Gesicht an Gesicht, bleich und fahl,
schwankten wie Schiffe in den Strudel der Plätze, wo sie auf und ab
stampften wie auf hoher See, und versanken. Der Boden zitterte und
schwankte, die Luft gellte, es knallte wie von Explosionen. Wahrhaftig,
es war wie in einer Schlacht.

Aus einem dicht über den düsteren Häusern hängenden lehmfarbenen Himmel
fiel gleichmäßig ein feiner Sprühregen wie durch ein dünnes Sieb herab.
Der Regen lag in Bläschen auf den schwarzen steifen Hüten der Herren,
auf den Pelzen der Damen. Er hing auf den Schnurrbärten der
Trambahnführer, und wenn man das Gesicht etwas schräg hielt, so netzte
er, angenehm kühlend, Augenlider und Wangen.

Schritt für Schritt – und sie ahnte es nicht!

Würde sie einen ihrer wilden Schreie ausstoßen? Würde sie die Arme in
die Luft werfen und an seine Brust stürzen, angesichts der Käufer,
angesichts der Kolleginnen, angesichts der strengen Augen der
Aufsichtsdame? Oh, Christine – nein, nein, sie kümmerte sich um nichts
...

Die großen Scheiben des Warenhauses blendeten, drinnen schwankten
Lichter und Menschen. Georgs Herz schlug: Die Stunde war da, tausendmal
ersehnt und erträumt. In wenigen Minuten würde er sie sehen – würde er
alles erfahren, Aufklärung erhalten über all das Unbegreifliche. Oder –?
Sein geschwächter Körper bebte.

Um ganz offen zu sein, es gab ja manches, das nicht so einfach war. Er
hatte nur nicht den Mut, es sich einzugestehen. Wie oft war er mitten in
der Nacht aus dem Schlafe aufgefahren, um mit offenen Augen dazuliegen,
bis der Tag graute? Wenn Christine etwa, nehmen wir es an, auch das war
ja möglich – wenn sie nicht mehr hier sein sollte? Seit Wochen – warum
betrügst du dich? –, seit Monaten hatte er, seit genau drei Monaten,
keine Antwort mehr auf seine Briefe erhalten ...

Die trockene Wärme beruhigte, die Lichter, die Teppiche, die den Schritt
dämpften. Eine Art von Wohlbehagen, ein Gefühl des Geborgenseins kroch
über seinen durchfrorenen Körper, Röte überzog seine eiskalten, nassen
Wangen.

Wie herrlich die Seide schimmerte! Eine Kaskade bunter Seidenstoffe
stürzte aus einem hohen Brunnenbecken herunter in den Saal, funkelnd im
Licht. Das Silber in den Vitrinen blitzte. Ein Verkäufer schleuderte
einen Ballen Tuch auf den Ladentisch, daß er sich wie eine Schlange
entrollte, die Schere blitzte in der Luft. Es roch nach feinem Leder,
Juchten, nach den Parfüms der Frauen, die vorüberglitten. Die Türen der
Aufzüge klirrten, Menschenbündel flogen in die Höhe, stürzten
blitzschnell ins Bodenlose.

Hier war Reichtum, Luxus, Überfluß. Es sah ganz so aus, als gäbe es auf
dieser Erde weder Hunger noch Kälte noch Entbehrungen. Das Riesengebäude
mit seinen hundert Sälen war von oben bis unten angefüllt mit Waren. Die
Waren waren bis zur Decke aufgeschichtet, sie überschwemmten die Säle,
sprengten die Wände, überströmten die Wandelhallen und Treppenhäuser.
Aber, war es nicht auffallend, im Vergleich zu diesen ungeheuren
Warenmassen war die Zahl der Käufer nur gering. Man drängte sich nicht
wie früher, stieß einander nicht an, kein Gedränge an den Kassen. Die
Verkäuferinnen saßen hinter den Tischen, polierten sich die Nägel,
färbten sich die Lippen, tuschelten. Glatzköpfige Herren gingen in den
Gängen hin und her und blieben ab und zu stehen, um eine abgeschabte
Stelle des Läufers zu untersuchen. Eine auffallende, fast bedrückende
Stille herrschte in dem Warenpalast.

Nun brauchte man nur noch das Lager der Damenkonfektion zu durchqueren,
an einigen gespreizten Wachspuppen vorbei, und man war in Christines
Reich: Wäsche, Linnen, Spitzen für Damen.

Georg verbarg sich hinter einer dieser gezierten Puppen, die heiter
glänzte und ihn mit ihren Augen verführerisch anstrahlte. Von hier aus
vermochte er die Abteilung „Damenwäsche – Spitzen“ unauffällig zu
überblicken. Auch hier, wo früher tausend eifrige Hände erregt in den
Waren wühlten, waren nur vereinzelte Käuferinnen zu sehen. Eine dicke
Dame in einem rötlichen Pelz, wie ein dicker Hamster, einige
halbwüchsige Mädchen mit hohen fleischroten Strümpfen.

Wie oft stand dieser Saal, glitzernd von Lichtern, wie eine Vision vor
seinen Augen, während er in schlaflosen Nächten in die Ampel des
Krankensaals starrte!

Plötzlich aber – plötzlich verspürte Georg einen Riß in der Brust, als
sei ein Blutgefäß zersprungen: dort stand Christine!

Er hielt sich an der glänzenden Wachspuppe fest, an dem dünnen Kimono,
das sie über den nackten, lackierten Beinen trug: an der Kasse lehnte,
in einem blau-weiß gestreiften Kleide, ein Mädchen, das, einen Zettel in
der Hand, mit der Kassiererin sprach. Beine und Arme etwas dünn, der
Nacken mager, aber die Hüfte breit. Über dem Nacken ein Gewirr von
Locken, schwarz, blauschwarz, lebendig bei jeder kleinen Bewegung,
fliegend, und immer in Erregung. Die Damen schienen sich zu zanken. Die
Kassiererin setzte den Kneifer auf und beugte sich ärgerlich über den
Zettel.

Georgs Herz schlug. Wie lange schon mochte sich die Kassiererin über den
Zettel beugen? Die Wachspuppe, die er mit den Fingern berührte, begann
zu schwanken und drohte über ihn zu stürzen.

Plötzlich aber wandte sich das Mädchen mit den schwarzen Locken ab und
kam geradewegs auf ihn zu ...

Es war nicht Christine. Ein flaches, ödes Gesicht, wie Insulaner sie aus
Kokosnüssen schneiden, die Augen flach wie Kürbiskerne, leer,
ausdruckslos. Er blieb betäubt stehen. Das hölzerne Gesicht kam immer
näher, wurde größer und ging vorüber.

Aber – so sagte er sich –, und er fühlte, daß er sich mit einer Hoffnung
betrog, um sich zu beruhigen, sie kann ja in einer andern Abteilung
tätig sein, nicht wahr? Langsam, leise zitternd in den Knien, wanderte
er durch alle Stockwerke des Warenhauses. Höhlen aus blitzenden Messern,
Grotten aus funkelndem Kristall. Phonographen schrien, elektrische
Sonnen glühten ihn an. Er spähte, forschte. Nirgends.

Als er wieder die Straße betrat, war es Nacht geworden. Es regnete noch
immer. Die Häuser schienen geborsten, und das Licht brach aus allen
Fugen und zerrann in den Asphaltseen.

Georg verkroch sich in die Ecke einer kleinen Kneipe, um sich mit einem
Imbiß zu stärken. Plötzlich aber sprang er auf, bezahlte und eilte zu
dem Warenhaus zurück. Es war geschlossen.

„Wie töricht!“ rief er aus und schlug sich heftig die Stirn. „Du hättest
doch ihre Kolleginnen fragen können. Sie hätten dir gewiß Auskunft
gegeben. Einen ganzen Tag hast du verloren, du Narr! Jetzt ist es zu
spät.“


                                   2

In einer Nebenstraße fand Georg nach langem Suchen ein kleines Hotel,
das ihm billig genug schien. Er kroch unter die Decke und schlief,
völlig erschöpft, augenblicklich ein, obschon es noch früh am Abend war
und die Treppen und Türen des Hotels (für Wochen und Tage!) unaufhörlich
knarrten. Nach tiefem Schlaf erwachte er früh am Morgen, dampfend am
ganzen Körper, aber erfrischt und in zuversichtlicher Laune. Selbst die
mürrischen Mienen der Zimmermädchen und Kellner, die in den Einzelgästen
ein schlechtes Geschäft sahen, konnten ihm die Laune nicht verderben.

Er suchte eine Kaffeeschenke auf, und während er sein bescheidenes
Frühstück einnahm, entwarf er einen genauen Plan für den heutigen Tag.
Es galt vor allem zu handeln, nicht eine Stunde durfte er verlieren:
seine Barschaft ging zu Ende! Erstens, sagte er sich, erstens also
wollte er nochmals das Warenhaus besuchen, um nach Christine zu fragen.
Es gab ja keinen Grund, sich zu erregen, verstehe mich recht, er würde
Christine finden, heute, morgen. Berlin war eine Stadt der Ordnung,
niemand konnte sich hier verbergen.

Zweitens wollte er bei Winter & Co. vorsprechen, jener Baufirma, bei der
er zuletzt als Zeichner beschäftigt war, und anfragen, ob es Arbeit für
ihn gäbe. Sollte ihm bei Winter kein Erfolg beschieden sein, nun, so gab
es andere Firmen, Hausmann & Brune oder Hegelström oder Feinhardt. Er
war nicht verlegen, oh, keineswegs.

Wenn die Zeit reichte, so wollte er – drittens – die wenigen Bekannten
und Freunde besuchen, die er in Berlin besaß. Das waren vor allem der
Bildhauer Stobwasser und der Zeichner Katschinsky. Vielleicht würden sie
ihm raten können, was er beginnen solle. Mein Himmel, sechs Monate waren
eine Ewigkeit! Er mußte ganz von vorn anfangen.

Es regnete noch immer, feine Regenschnüre rieselten auf dieses endlose
Berlin herab. Die Wasserperlen lagen auf den Haaren der Hunde und auf
den Lackschuhen der Damen, die in ihre Mäntel gewickelt vorübereilten.
Die Straßenkehrer fegten den gelben Schlamm mit Gummistreifen in die
Gosse, und Automobile mit großen Walzen wuschen den Asphalt der
Straßendämme.

Das Warenhaus war noch völlig verödet. Die Geländer wurden poliert, es
wurde Staub gewischt, der Fußboden gewichst. Die glatzköpfigen Herren
gingen auf den Teppichen hin und her und gähnten. In der Damenabteilung
wurden die Vitrinen abgestaubt, die Wäsche zurechtgelegt.

„Christine März?“ Die Verkäuferinnen kannten sie nicht.

„März?“ sagten sie. „Nein. Es gab große Veränderungen im Personal. Viele
Damen wurden entlassen.“ Die Kassiererin mit dem Kneifer kam hinzu. Sie
kannte Christines Namen. „Ich erinnere mich,“ sagte sie. „Aber ich
glaube nicht, daß Fräulein März noch bei uns ist. Es scheint mir – wenn
ich mich recht erinnere, hat sie vor einigen Monaten gekündigt. Sie
hatte etwas Besseres gefunden.“

„Besseres?“

„Vielleicht täusche ich mich. Fragen Sie in der Personalabteilung nach.“

Zu allem Unglück war der Chef der Personalabteilung bei einem Termin auf
dem Gericht, und die Schreibdamen wagten es nicht, Auskunft zu geben.
Der Chef aber würde bestimmt am Nachmittag hier sein.

Gut, also am Nachmittag.

Bei Winter & Co., wo Weidenbach zuletzt gearbeitet hatte, wurde er mit
Anteilnahme empfangen. Man erinnerte sich seiner. An der Tür und den
Schalterfenstern erschienen einige neugierige Gesichter. Jemand nickte
ihm zu. Der stattliche und nach Pomade duftende Prokurist kam heraus und
erklärte ihm höflich, daß eine Vakanz zur Zeit – leider! – nicht offen
sei. „Später vielleicht. Versuchen Sie es in einigen Wochen, Herr
Weidenbach. Und mit Ihrer Gesundheit geht es wieder besser?“ Ein
Lächeln, eine Verbeugung.

Georg empfahl sich.

Er erwog, ob es sich überhaupt lohnte, zu Hausmann & Brune zu gehen. Es
war eine kleine Firma, die nicht immer mit Aufträgen versehen war. Sie
baute Laden aus, Dachwohnungen. Das war ihre Spezialität. Indessen, er
beschloß einen Versuch zu machen. Aber – Hausmann & Brune waren nicht
mehr zu finden! In den früheren Geschäftsräumen standen, so schien es
von außen, Öfen und Herde. Ein Herr, in einen Pelz gehüllt, ging hinter
den angelaufenen, nassen Scheiben auf und ab, eine riesenhafte
Erscheinung.

Georg klopfte. „Ist hier Hausmann & Brune?“

Ein rothaariger junger Mann, schmächtig und klein, erschien, in einen
Pelz eingewickelt, im Türrahmen und putzte sich den Kneifer. „Nein, hier
ist Mohrenwitz Söhne, Öfen und Heizungsanlagen.“

„Und Sie wissen nicht, wohin Hausmann & Brune verzogen sind?“

Der Rothaarige zog sich kopfschüttelnd zurück.

Bei der Firma Hegelström hatte Georg vor zwei Jahren, als er nach Berlin
gekommen war, als Volontär begonnen. Diese Firma machte alles: Häuser,
Kirchen, Theater, Läden, Innenausstattungen, was man wollte. Hegelström
war einer der begabtesten und meistbeschäftigsten Architekten Berlins.
Er hatte jahraus, jahrein gegen zwanzig Zeichner sitzen.

Georg aber fand die Bureaus verödet. In dem kleinen dunklen Vorzimmer
saß ein älterer Herr, der Prokurist. Georg erkannte ihn wieder.

„Mein Name ist Weidenbach,“ sagte er, indem er seiner Stimme einen
mutigen Klang gab und ungeniert näher trat, „ich habe bei Ihnen vor zwei
Jahren sechs Monate lang als Volontär gearbeitet und frage an, ob Sie
Beschäftigung für mich haben.“

Der Prokurist drehte ihm erstaunt den grauen Kopf zu und lächelte
hämisch. Er war schlecht rasiert und sah verwahrlost und ungemütlich
aus, wie ein verärgerter zottiger Hofhund, der auf Streit wartet.
„Beschäftigung?“ keuchte er, „Sie wollen Beschäftigung? Sie glauben
wohl, daß wir nur auf Sie gewartet haben, Herr Weidenbach? Oder sind Sie
hierher gekommen, um sich einen Scherz zu erlauben?“ Er stand auf, schob
die Hände in die weiten Hosentaschen und weidete sich an Georgs
Verlegenheit. „Sie sollten also nicht wissen, daß Hegelström bankerott
gemacht hat?“

„Hegelström – bankerott?“

„Ja, junger Mann, und ich sitze hier und verwalte die Masse, das ist
meine Beschäftigung. Wir haben umgeworfen. Die Zehlendorfer Terrainkäufe
haben Hegelström ruiniert. Ich war immer dagegen gewesen, aber
Hegelström hörte ja nicht auf mich. Seine Gläubiger haben ihm ohne Gnade
die Kehle zugezogen. Und Sie wissen das nicht? Wo in aller Welt steckten
Sie, daß Sie das nicht wissen?“

Georg entschuldigte sich, er sei lange Zeit krank gewesen.

Der Prokurist ächzte: „Ich sitze hier noch bis zum Ersten. Dann liege
auch ich auf der Straße. Sie wissen also nicht, was mit Hegelström
geschehen ist? Ganz Berlin sprach wochenlang von nichts anderem.“

„Nein, wie sollte ich es wissen?“

„Er hat sich vergiftet, junger Mann. Uns allen wird schließlich nichts
anderes übrig bleiben, als Arsenik zu fressen. Die Zeiten sind
miserabel. Hegelströms Sozius ist Antiquitätenhändler geworden, wie
viele Architekten. Er hat einen kleinen Laden in der Kantstraße.
Besuchen Sie ihn. – Ja, nun erinnere ich mich wieder an Sie, Herr
Weidenbach. Sie haben seiner Zeit die kleinen Villen entworfen, die
Hegelström so gut gefielen, nicht wahr?“

„Es waren kleine Landhäuser für Zehlendorf.“

„Ja, richtig. Und Sie waren krank, sagen Sie? Warten Sie einmal – es ist
mir so, als habe man mir etwas von Ihnen erzählt? Oder habe ich über Sie
etwas in den Zeitungen gelesen?“

Georg wurde blutrot.

Der Prokurist aber gab es gottlob sofort auf, in seinem Gedächtnisse
nachzuforschen. „Es sind schwere Zeiten für das Baugewerbe, Herr
Weidenbach,“ fuhr er fort. „Es gibt keine Aufträge, und die meisten
Neubauten wurden eingestellt. Raten? Nein, ich kann Ihnen keinen Rat
geben, ich wüßte nichts.“

Georg war schon in der Türe, als ihm der Prokurist hämisch lachend
nachrief: „Vielleicht gehen Sie zu Schellenberg! Versuchen Sie es doch
einmal bei ihm!“

„Schellenberg? Wer ist Schellenberg?“

„Schellenberg, das ist ein Unternehmer, der den Arbeitslosen zwanzig
Pfennig die Stunde bezahlt, und dazu verspricht er ihnen eine Villa auf
dem Monde. Ich sehe schon, Sie haben nicht übel Lust, zu ihm zu gehen –
hahaha. Aber nun leben Sie wohl, Herr Weidenbach.“

Bestürzt verließ Georg das Haus.

Er hatte heute nicht mehr den Mut, bei anderen Firmen sein Glück zu
versuchen. Kurz entschlossen sprang er auf eine Elektrische, um nach
Charlottenburg zu fahren, wo sein Freund Stobwasser wohnte.


                                   3

Karl Stobwasser sah nicht aus wie ein Bildhauer, eher wie ein Schneider.
Es war ein kleiner schmächtiger Bursche mit einem schmalen Kopf, etwas
schiefem Mund und auffallend spitzer, langer Nase. Auf der
Baugewerbeschule in der Provinz – wo Weidenbach sein Mitschüler war –
hatten seine vorzüglichen Steinmetzarbeiten und Holzschnitzereien die
Bewunderung der Mitschüler und selbst der Lehrer erweckt. Vor zwei
Jahren war Stobwasser nach Berlin gegangen, fest entschlossen, seinen
Weg als Bildhauer zu machen. Er hatte auch bald Erfolge, wenn auch nur
geringe. Ein angesehener Kunstkritiker hatte lobend auf seine
Holzplastiken hingewiesen.

Stobwasser hatte seine Werkstatt im Hofe einer Charlottenburger
Mietskaserne in einer Art Remise oder Stall aufgeschlagen. Dieses kleine
Loch nannte er sein Atelier. Neben der Werkstatt befand sich ein
wirklicher Stall, aus dem ununterbrochen eine Ziege in den kleinen
finsteren Hof hinausjammerte, sooft sich nur ein Schritt vernehmen ließ.

Stobwasser war zu Hause, Gott sei Dank! Eine heisere, krächzende Stimme
antwortete auf Georgs Klopfen. Als er in den kleinen, eisigkalten,
halbdunklen Raum eintrat, fuhr ein verwilderter Kopf aus den Decken
einer kleinen Eisenbettstelle empor. Eine lange, spitze Nase war das
einzige, was Georg klar erkennen konnte.

„Wer ist es?“ fragte die heisere Stimme des Bildhauers, und Nebel
dampfte aus seinem Munde.

„Ich bin es, Georg.“

Der Bildhauer fuhr noch höher aus den Decken empor und richtete seine
spitze Nase auf Georg. Er bewegte den wilden Haarschopf hin und her und
vermochte kein Wort hervorzubringen.

„Wie? Wer?“ rief er dann erschrocken aus.

„Georg!“

„Aber ist es möglich?“ Stobwasser warf erregt die Arme in die Luft. „Du?
Weidenbach? Ist es denkbar? Aber – verstehe mich – du siehst, daß ich es
nicht fassen kann! Man hat mir doch gesagt, daß du – gestorben seist!“

„Nein, ich lebe noch,“ entgegnete Georg mit einem leisen, bitteren
Lachen.

Der Bildhauer schüttelte fassungslos den Kopf. „Wie ist es denkbar?“
rief er aus. „Wer erzählte es denn nur? Katschinsky? Die Jenny Florian?
Ich verstehe es nicht, wie konnte man es denn erzählen, wenn es nicht
wahr war? Oh, mein armer Kopf, ich kann gar nicht denken! Nun, einerlei,
wie das Gerücht aufkam – du lebst!“ schrie Stobwasser mit heiserer
Stimme. „Du lebst also noch! Ach Gott sei Dank! Dreimal war ich im
Krankenhaus, um dich zu besuchen, aber man hat mich nicht vorgelassen!
Und dann also – dann erzählte man es im Café! Lieber Himmel, was für
Dinge geschehen können!“ Er streckte Georg beide Hände entgegen. „Nun,
Gott sei gelobt! Umarme mich, Bruderherz! – Oder bist du aus dem
Jenseits gekommen, um mir einen Besuch abzustatten? Wie?“ Der Bildhauer
lachte und hustete. Glühendheiß brannten seine Hände. Er schwieg eine
Weile, während er Georg mit großen, glänzenden Augen betrachtete. „Laß
dich ansehen, alter Freund,“ sprudelte er dann außer sich vor Freude
hervor. „Wie wunderbar ist es doch! Und ich trauerte schon um dich. Und
manchmal, es ist wahr, da habe ich dich beneidet. Nein, wie wunderbar
ist es doch! Und da kommt er also plötzlich herein –!“

Georg sah sich in der kahlen Werkstatt um. „Wo sind deine Tiere?“ fragte
er, um von dem Thema abzulenken, das ihn peinigte. Früher war Stobwasser
stets von einer Menge von Tieren umgeben gewesen: Papageien, Katzen,
Kakadus, Mäusen.

„Meine Tiere?“ Der Bildhauer ließ den Kopf sinken. „Meine lieben Tiere?
Ach, es war zu kalt für sie hier, ich habe keine Kohlen. Eine Dame, eine
barmherzige Seele, hat sie in Kost und Logis genommen. Seit Wochen bin
ich nicht wohl. Selbst ein Hund würde in diesem Loch krank werden. Setze
dich doch, Georg. Ich war eben aufgestanden, um etwas Tee zu kochen. Auf
dem Wandbrett dort steht eine Tasse, nimm diese Tasse für dich und gib
mir das Glas.“

Der Bildhauer nahm das heiße Glas in die Hände und wurde von Frost
geschüttelt. „Schade, schade. Auch nichts kann ich dir anbieten, nicht
einmal einen Kognak. Es ist zu ärgerlich!“

„Und wie ging es dir, seit wir uns nicht sahen, Stobwasser?“

Stobwasser führte das Glas mit zitternden Händen zum Munde und
versuchte, den heißen Tee zu schlürfen. „Ich kann es immer noch nicht
fassen, liebster Kamerad – aber sprechen wir nicht mehr davon. Ja, du
fragst, wie es ging? Gut und schlecht. Es war nicht so einfach
durchzukommen,“ sagte er heiser, „aber ich verlor den Mut trotz allem
nicht. Du weißt ja, ich hatte damals drei Figuren zu modellieren für die
Villa eines Seifenfabrikanten. Nun, die Figuren mißfielen leider der
Madame und wurden wieder heruntergeschlagen, und ich bekam keinen
Pfennig. Ich konnte ja klagen, siehst du, so sind sie, die reichen
Leute. Aber ich konnte ja nicht einmal den Anwalt bezahlen. Dann
verkaufte ich eine kleine Holzschnitzerei, aber der Käufer zahlte nur
eine geringe Summe an, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.
Die Reichen können sich nicht in die Lage des Armen versetzen. Sie
können sich nicht vorstellen, daß man dasitzt und auf jeden Schritt
horcht. Dann hatte ich Aussichten, die sich nie verwirklichten. Und nun
bin ich krank und liege hier. Aber nun erzähle du,“ schloß der
Bildhauer, indem er das Glas abstellte und sich in die Decken hüllte.
„Das Sprechen strengt mich an.“

„Ich? Es gibt nichts zu erzählen von mir,“ wich Georg aus.

Stobwasser blickte ihn mit großen, fiebernden Augen an. „Nichts zu
erzählen, sagst du? Man sollte doch meinen! Höre, Weidenbach, wir haben
ja stundenlang über dich diskutiert und sind uns doch nicht klar
geworden.“

„Worüber wolltet ihr euch denn klar werden?“ unterbrach ihn Georg
verlegen, mit leiser, hilfloser Stimme.

„Es war uns allen unerklärlich,“ flüsterte der Bildhauer und streckte
den Kopf so nahe wie möglich an Georg heran. „Es ist mir noch wie heute!
Zwei Tage vorher waren wir alle zusammen in Potsdam, Katschinsky und
Jenny Florian, du und die kleine Christine, und wir waren ja in solch
ausgelassener Laune. Oh, du meine Güte!! Und zwei Tage später, da kommt
Katschinsky zu mir hereingestürzt, hier herein in mein Atelier und sagt:
‚Weißt du schon – Weidenbach –?‘ Und ich sagte: ‚Unmöglich, wie soll das
nur möglich sein!‘“ Der Bildhauer brach ab, neigte sich vor und fragte
noch leiser, während seine Augen doppelt so groß wurden: „Sage mir doch,
Weidenbach, weshalb hast du es getan?“

Weidenbach erhob sich hastig und stammelte irgend etwas.

Augenblicklich versuchte Stobwasser ihn zu beruhigen. Beschwörend
streckte er die Hand aus. „Setze dich wieder, Weidenbach, ich bitte
dich! Ich will nicht mehr davon sprechen. Es gibt Dinge, die man selbst
seinen Freunden nicht sagen kann. Aber, wie gesagt, es war uns
unerklärlich, denn wir waren doch alle in solch vorzüglicher Laune,
damals. Nun, ich verstehe, man tut manches, und später –“ Der Bildhauer
hustete.

„Wie geht es Katschinsky?“ unterbrach ihn Georg.

„Katschinsky?“ Stobwasser lachte leise. Irgend etwas Lustiges war ihm
eingefallen beim Klang dieses Namens. Er streckte die spitze Nase zur
Decke. „Ich weiß es nicht. Du kennst ja Katschinsky, man sieht ihn oft
wochenlang nicht. Er brachte mir den Kunden, der mir die kleine
Holzplastik abkaufte und bis heute nicht bezahlte. Seitdem habe ich ihn
nicht mehr gesehen. Es soll ihm nicht schlecht gehen. Er ist elegant und
vornehm geworden, verkehrt in Tanzdielen und Spielklubs. Soviel ich
weiß, ist er beim Film angekommen. Höre, Weidenbach, eben denke ich
daran, was wirst du beginnen? Hast du schon eine Beschäftigung?“

„Ich suche etwas. Ich fragte heute da und dort an.“

„Schön. Höre. Gehe sofort zu Katschinsky. Er hat ja Verbindungen in
allen Kreisen, und ohne Verbindungen ist heute schwer etwas zu machen.
Vielleicht kannst du auch beim Film ankommen?“ Ein Hustenanfall
unterbrach Stobwasser, dann fuhr er lebhaft fort: „Und Christine, Georg,
wie geht es Christine?“

Pause. Stille.

„Ich habe Christine im Warenhaus gesucht, aber sie scheint nicht mehr
dort beschäftigt zu sein.“

Der Bildhauer richtete sich erstaunt auf. „Scheint? Scheint? Aber stehst
du denn nicht in Verbindung mit Christine?“ schrie er vor Erregung.

Leise antwortete Georg: „Christine schrieb zuletzt nicht mehr. Meine
Briefe, meine letzten Briefe“, schaltete er ein, da er sich vor dem
Freunde schämte, „kamen als unbestellbar zurück.“

Stobwasser erwiderte nichts. Er lag lange still, und sein Atem pfiff.
„Die Frauen sind merkwürdig,“ sagte er dann, mit einem neuen
Hustenanfall kämpfend. „Sonderbar. Ich hätte es nicht für möglich
gehalten,“ fuhr er fort, während er Georg mit seinen großen, fiebernden
Augen aufmerksam betrachtete. „Und du hast dir doch ihretwegen – es ist
doch ganz gewiß, sonst wäre es ja überhaupt unverständlich –, du hast
dir doch Christines wegen eine Kugel in die Brust geschossen,
Weidenbach?“

Wiederum erhob sich Weidenbach. Er trat einen Schritt zurück, schwieg,
blickte zu Boden. Dann erwiderte er ganz leise, so daß Stobwasser ihn
kaum verstehen konnte: „Sprich nicht mehr davon, Stobwasser, ich bitte
dich herzlich. Was geschehen ist, ist geschehen. Es gab eine Szene
zwischen Christine und mir, es gab immer Szenen und immer heftigere, und
schließlich wußte ich nicht mehr, was ich tat.“

Stobwasser drückte Georgs Hand. Nach langem Schweigen sagte er: „Welch
ein Satan, diese Christine! Und dabei ist sie noch kleiner als ich! Ach,
und sie hörte auf, dir zu schreiben. Ja, die Frauen! Der Teufel soll sie
holen, alle zusammen. Weißt du, Weidenbach, ich glaube, diese
periodischen Störungen machen die Frauen völlig verrückt. Sie wissen
nicht, was sie tun. Nun wohl, Christine hin, Christine her. Vergiß sie,
Weidenbach – es gibt hundert Christinen!“

Georg schüttelte den Kopf. „Du täuschst dich, es gibt nur eine,“
entgegnete er.

Stobwasser saß keuchend in den Decken und sah Georg lange an. „Also –
trotz alledem?“ rief er überrascht aus. „Nun, sie war ja ein
wundervolles Mädchen, diese Christine, zugegeben. Sie war ein herrliches
Geschöpf, gütig und wild in einem und voll toller Einfälle. Aber gehe
jetzt, Weidenbach,“ keuchte er, „das Sprechen tut mir weh. Die Brust
schmerzt mich. Ich bin so glücklich, daß ich dich wiedersah, alter
Freund. Und komme bald wieder, ich liege hier tagelang. Du kannst auch
bei mir wohnen, wenn du willst. Wir können recht gut zu zweien hier
hausen. Und der Kaufmann kann ja jeden Tag bezahlen, ich habe ihm
geschrieben. Lebe wohl, Weidenbach, und vergiß nicht zu Katschinsky zu
gehen, er weiß stets Rat.“

Schon im Hofe hörte Georg Stobwasser noch husten. Aus dem Ziegenstall
schob sich zwischen Lumpen der Kopf der hungrigen Ziege, die Georg
kläglich nachmeckerte.


                                   4

„Heißes Wasser nennen Sie das?“ rief Katschinsky unwillig der Wirtin zu.
Noch immer tyrannisierte er die alte gutmütige Frau. Sie ließ sich alles
von ihm gefallen. Er mochte bezahlen oder nicht, sie scharrte ihre
letzten Groschen für ihn zusammen, denn sie hatte sich in den hübschen
Jungen vergafft.

Katschinsky war eben dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen. Während
er sich mit dem Apparat den weichen, kaum sichtbaren blonden Flaum von
Wangen und Kinn schabte, unterhielt er sich mit Georg. Es war warm und
hell in seinem Zimmer.

„Stobwasser? Natürlich werde ich Karl besuchen,“ sagte er mit seiner
immer etwas spöttisch und hochmütig klingenden Stimme. „Aber ich will
Ihnen etwas sagen, Weidenbach. Dieser Stobwasser ist ein kurioser
Bursche. Ich bringe ihm einen Käufer, er kauft ihm eine Plastik ab,
macht eine Anzahlung, und nun schreibt ihm dieser unglückselige
Stobwasser fortgesetzt Mahnbriefe.“

„Es geht ihm nicht gut, zur Zeit, Katschinsky,“ warf Georg ein.

„Nun, wem geht es gut, frage ich? Man tut so etwas nicht, es verstimmt
den Käufer. Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er Karl die Plastik
zurückgeschickt.“

„Stobwasser ist krank. Er hat nicht einmal Geld, um zu heizen.“

„Trotzdem, trotz alledem, Sie müssen zugeben, Weidenbach –“

Katschinsky hatte offenbar ganz vergessen, daß sie sich früher geduzt
hatten. Er hatte augenblicklich einen um eine Nuance förmlicheren Ton
gewählt, als sein Blick Georgs abgetragene Kleidung streifte. So schien
es Georg wenigstens.

Für Kurt Katschinsky, den Maler und Zeichner, hatte er immer Bewunderung
empfunden und sich ihm ganz von selbst untergeordnet. Einige Karikaturen
Katschinskys waren in Witzblättern erschienen. Katschinsky hatte in der
Juryfreien mit Erfolg ausgestellt, und es bestand für Georg kein
Zweifel, daß Katschinsky den Weg zum Ruhm betreten hatte.

Katschinsky war ein ungewöhnlich hübscher junger Mann. Er war blond und
trug das Haar peinlich genau gescheitelt. Er wirkte größer, als er
tatsächlich war, und auch schlanker. Er hatte große graue Augen und das
etwas zarte und blasierte Gesicht eines verwöhnten Muttersöhnchens. Er
war der Sohn einer Beamtenwitwe in Hamburg, die ihren letzten Pfennig
für ihn opferte. So kam es, daß Katschinsky stets etwas Geld hatte und
es sich leisten konnte, Jenny Florians Freund zu sein, einer jungen
Schauspielerin, die zu den schönsten Frauen Berlins zählte. Wenn diese
beiden jungen Menschen sich auf der Straße oder in einem Restaurant
zeigten, so richteten sich stets alle Augen voller Bewunderung auf sie.

„Darf ich eine Frage an Sie richten?“ fragte Katschinsky, während er
sich mit einem heißen Tuch, das die alte Wirtin gebracht hatte, das
Gesicht abtrocknete und Georg durch den Spiegel mit seinem schönsten,
liebenswürdigsten Lächeln zulächelte.

„Fragen Sie ruhig.“

„Ich meine, Weidenbach“ – der Maler puderte Wangen und Kinn mit einer
zarten flockigen Quaste – „es interessiert mich: tut es weh – das, Sie
verstehen mich?“

Georg antwortete nicht. Das Blut stieg ihm in die Wangen.

Da begann Katschinsky zu lachen. „Ach, es fehlte noch, daß Sie mir böse
sind, lieber Freund. Es interessierte mich. Ich werde es ja nie tun, ich
hätte gar nicht den Mut dazu. Und einer Frau wegen – ach, du lieber
Himmel!“ Er goß eine Essenz ins Haar und zog sorgfältig den Scheitel.
Dann legte er den Kragen an und knüpfte mit großer Sorgfalt die Binde.
Er schien für eine Weile die Anwesenheit Georgs ganz vergessen zu haben.

Katschinsky war stets gut gekleidet gewesen, und doch staunte Georg über
die Eleganz des modischen Anzugs, den er heute trug. Die Hosen, an den
Hüften weit geschnitten, waren tadellos gebügelt. Dazu trug Katschinsky
Seidenstrümpfe und Lackschuhe. Die Krawatte war aus schiefergrauer
schwerer Seide.

„Ich freue mich, daß es Ihnen gut geht, Katschinsky,“ sagte Georg – und
er schämte sich des heimlichen Gedankens, daß Katschinsky ihm vielleicht
aus der Verlegenheit helfen könnte. Die Wärme des Zimmers hatte Georg
aufgetaut. Seine Stimme wurde leichter, sein Benehmen freier.

„Der Schein trügt,“ erwiderte Katschinsky, indem er kokett den Kopf über
die Schulter drehte und spöttisch lächelte.

„Sie haben gewiß Erfolge? Stobwasser deutete es an.“

Katschinsky prüfte mit einem Handspiegel die Zähne, wobei er das Gebiß
von den Lippen entblößte. Seine Zähne waren vorbildlich schön,
regelmäßig, schneeweiß. „Erfolge!“ rief er aus und lachte leise. „Es ist
eine sonderbare Art von Erfolgen!“

„Haben Sie viel gearbeitet?“

Katschinsky schüttelte den Kopf. „Nein, nein,“ erwiderte er und polierte
sorgfältig die Nägel, „ich habe fast nichts gearbeitet, seitdem wir uns
nicht mehr gesehen haben. Es ist eine Müdigkeit über mich gekommen, eine
ungeheure Müdigkeit. Ich bin wohl stets ehrgeizig gewesen, Weidenbach,
aber ich hatte nie eine große Energie. Wozu auch? Im übrigen habe ich
nicht die geringste Begabung.“

„Sie sollten keine Begabung haben, Katschinsky!“ rief Georg erstaunt aus
und lachte, seit langer Zeit zum erstenmal.

Katschinsky sah einen Augenblick auf. Der bedingungslose Glaube an sein
Können, der so deutlich aus Weidenbachs Lachen klang, hatte seiner
Eitelkeit geschmeichelt. Er errötete leicht. „Nein, nein,“ sagte er,
„ich habe es einmal geglaubt, aber ich sehe jetzt ein, daß ich kein
Talent habe. Ich kann nur nachahmen, was andere vorgemacht haben. Ich
müßte arbeiten, viel arbeiten, aber dazu fehlt mir die Energie.“

„Was tun Sie also?“

Katschinsky zog die Schultern hoch. „Sie sind ein ehrlicher Junge,
Weidenbach,“ sagte er, während er die Hände mit Puder einrieb. „Es ist
möglich, daß Sie einmal ein großer Künstler werden, gerade weil Sie so
einfach und aufrichtig empfinden. Ich will Ihnen nichts vormachen. Meine
Mutter ist gestorben, und ich habe die Möbel, die sie mir hinterließ,
verkauft. Für den Erlös habe ich mir Garderobe angeschafft. Ich tat das
nur aus Eitelkeit, aber es stellte sich heraus, daß es das Vernünftigste
war, was ich tun konnte. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, Weidenbach, daß
es hier in Berlin Hunderte von jungen Männern gibt, die elegant
gekleidet sind – Bügelfalten, Monockel, elegante Schuhe –, und man weiß
nicht, wovon sie leben. Aber sie haben das Aussehen der Sorglosen, ihre
Gesichtsfarbe ist gut, die Hände sind gepflegt. Auf den Kleidern auch
nicht ein Stäubchen. Sie gehen auf dem Kurfürstendamm spazieren und
trinken in den Hallen der vornehmen Hotels um fünf Uhr Tee. Wovon leben
all diese jungen Leute, Weidenbach? Nun, sie werden es Ihnen nicht
verraten. Sie bilden eine Klasse für sich. Und erst, wenn Sie sich so
kleiden wie diese jungen Männer, haben Sie die Möglichkeit, in ihre
Geheimnisse einzudringen.“

„Also wovon leben sie denn?“ unterbrach Georg den Maler ungeduldig und
sah ihn mit einem neugierigen Blick an.

„Wovon wir leben?“ antwortete Katschinsky, und ein eitles, zynisches
Lächeln umspielte seinen schönen Mund. „Das ist nicht so leicht gesagt.
Nun, wir leben, und wir leben nicht schlecht. Können Sie tanzen,
Weidenbach, gut tanzen? Nun, so kommen Sie mit mir in eine Tanzdiele, um
fünf Uhr. Ich führe Sie ein. Sie tanzen ein paar Schritte, man wird
Ihnen Tee, Gebäck, Zigaretten und Liköre servieren, und wenn Sie
besonders gute Figur machen, wird man Sie noch honorieren. Sie werden
erfahren, daß es elegante Restaurants gibt, wo man mit einer hübschen
Dame, die natürlich ebenfalls ohne jeden Tadel gekleidet ist, ganz
umsonst zu Abend speisen kann.“

„Ist es möglich?“ fragte Georg.

„Ja, es ist möglich,“ erwiderte Katschinsky, dem die Verblüffung dieses
armen, abgehetzten, bleichen, vom Regen zerweichten Weidenbach Vergnügen
bereitete. Er schlüpfte in das Jacket und strich es mit den Händen am
Körper glatt. Dann begann er mit leisen Schritten auf und ab zu gehen,
und in seinem Gang drückten sich Befriedigung über die tadellose
Kleidung und jenes Wohlbehagen aus, das eine sorgfältige Toilette
bereitet. Sein schönes Gesicht strahlte von einem leichtsinnigen
Lächeln, während er plauderte. „Man macht Bekanntschaften, knüpft
Beziehungen an. Zuweilen trifft man auch da und dort eine hübsche Dame,
die einen in ihr Haus einlädt. Man ißt und trinkt und läßt es sich wohl
sein. Und dann, das ist das Allerwichtigste, gibt es eine ganze Menge
von Spielklubs, die sich erkenntlich zeigen, wenn man ihnen
zahlungskräftige Mitglieder zuführt. Man kann auch spielen, wenn man es
versteht. Aber, um ehrlich zu sein, Weidenbach, darin bin ich noch
Dilettant. Ich habe einen Freund, früherer Offizier der russischen
Garde. Oh, der versteht zu spielen! Nimmt er nur die Karten in die Hand,
so ist das Glück auf seiner Seite. Sie sehen, Weidenbach, so lebt man
also. Und wenn man so leben kann, weshalb soll man sich anstrengen?
Kunst – wer will heute in diesem Lande etwas von Kunst wissen, wer
versteht etwas von Kunst. Diese Zeiten sind vorläufig vorüber.“
Plötzlich hielt Katschinsky inne. Er blieb stehen und blickte Georg
nachdenklich an. „Es gibt übrigens noch etwas, womit man mühelos Geld
verdienen kann!“ rief er dann lebhaft, von seinem Einfall begeistert,
aus. „Hören Sie, Weidenbach, vielleicht wäre dies etwas für Sie!“

In Weidenbachs Augen erwachte Hoffnung.

„Ja, mein lieber Junge, ich glaube, ich habe es gefunden! Am Ende sind
Sie zu mir gekommen, weil Sie Geld brauchen und sich sagten, Katschinsky
hat vielleicht etwas. Aber Weidenbach, Sie brauchen nicht zu erröten, um
Himmelswillen. Ich kann Ihnen nur dies sagen,“ Katschinsky zeigte
lächelnd seine schönen Zähne, „es gibt in der Welt nichts Törichteres,
als vor einem Katschinsky zu erröten. Aber, um es nicht zu vergessen.
Diese eine Sache, die vielleicht etwas für Sie wäre! Kokain!“

„Kokain,“ flüsterte Georg enttäuscht.

Katschinsky lachte laut auf. „Ja, Kokain!“ rief er aus. „Sie scheinen
wenig begeistert zu sein, und die Sache ist doch so einfach. Sie
versuchen Kokain aufzutreiben. Sie werden schon Leute finden, die Kokain
haben, und wir könnten dann zusammen arbeiten. Für die Abnehmer sorge
ich. Was sagen Sie dazu?“ Katschinsky lachte laut und fröhlich.

„Das ist nichts für mich,“ stammelte Georg. „Ich bin nicht für solche
Dinge geschaffen. Ich habe dazu nicht die geringste Begabung.“

Katschinsky betrachtete ihn mit einem leisen Bedauern in den grauen
Augen. „Schade, sehr schade,“ sagte er dann leise. „Ich befürchte, daß
Sie es nicht leicht haben werden, Weidenbach. Nein, Sie sind nicht für
solche Dinge geschaffen, das sehe ich. Sie sind nur für die Arbeit
geschaffen. Sie werden ewig arbeiten, und die andern werden den Nutzen
von Ihrer Arbeit haben und Sie auslachen?“

„Nun, so lassen Sie sie lachen. Meinetwegen, wenn ich nur Arbeit habe,“
antwortete Georg, indem er sich erhob. Der Zynismus Katschinskys widerte
ihn plötzlich an. „Sie sind nicht böse, Katschinsky, daß ich Sie
besuchte?“

„Böse, wieso? Ich versäume ja nichts. Ich gehe hier auf und ab und warte
auf einen telephonischen Anruf. Ich muß wissen, wo heute abend gespielt
wird, und dann, sehen Sie, habe ich eine Verabredung im Bristol.“

„Und Jenny, Jenny Florian?“ fragte Georg, schon den Hut in der Hand.
„Wie geht es Jenny Florian? Ist sie noch in Berlin?“

Katschinsky erbleichte. Er blieb augenblicklich stehen. Seine Augen
schillerten böse, und sein hübscher, knabenhafter Mund wurde plötzlich
hart und herrisch. Dieses Gesicht würde Georg nie vergessen. Es war
hochmütig und kalt und verriet allzu deutlich, daß Katschinskys
freundliches und liebenswürdiges Benehmen nur Verstellung war.

„Sie sollen Jennys Namen nie mehr aussprechen!“ herrschte Katschinsky
Georg an, und wie ein eigensinniges Kind stieß er mit dem Schuh auf den
Boden. Sofort aber sah er ein, daß er Georg verletzt hatte, und er
versuchte es wieder gutzumachen. „Verzeihen Sie,“ sagte er mit ruhigerer
Stimme, obwohl die Worte noch zitterten. „Vergeben Sie mir, daß ich
erregt wurde. Aber sooft ich an Jenny denke, könnte ich rasend werden.
Sie hat Karriere gemacht, Weidenbach. Sie fährt in einem wunderbaren
Mercedeswagen, und Sie sollten einmal sehen, wie sie lächelt, wenn sie
mich grüßt, ganz als sei ich ihr einmal auf einer Gesellschaft so
nebenbei vorgestellt worden. Jenny Florian, ich will Ihnen eines
verraten, Weidenbach, ist eine Frau, die es weit bringen wird! Sie ist
die gewandteste Schauspielerin auf der Bühne des Lebens, die es gibt.
Auf der Bühne versagte sie. Sie wissen, daß sie es versuchte. Sie
versucht es jetzt mit dem Film, wir werden ja sehen, wie weit sie kommt.
Allerdings – in diesem Falle steht eine Finanzmacht hinter ihr. Im Leben
aber, das muß man zugeben, spielt sie ihre Rolle wunderbar! Sie spielt
nur gegen sehr hohe Gage. Und sie wird jedes Engagement sofort brechen,
wenn Sie ihr mehr bieten können.“ Katschinskys Gesicht war während der
letzten Worte – er deklamierte etwas – wieder erbleicht. Seine Lippen
bebten. In seinen hellgrauen Augen funkelte ein kalter böser Glanz.

In diesem Augenblick schrillte das Telephon.

„Hier ist der Anruf,“ sagte Katschinsky erregt und reichte Weidenbach
flüchtig die kühle Hand.

„Leben Sie wohl, Weidenbach,“ sagte er, ohne Georg anzusehen, und eilte
an den kleinen Schreibtisch, wo das Telephon stand.


                                   5

Georg stieg langsam die Treppe hinab. Er hat sich ja sogar die Lippen
gefärbt! dachte er. Er roch nach Essenzen, Puder und Zahnwasser des
Malers.

Das also war Katschinsky, vor dem er sich neigte, dachte Georg, während
er, verwirrt von dem Besuch, zur Station der Untergrundbahn eilte. Wenn
er mit den Zügen Glück hatte, so konnte er noch vor Geschäftsschluß am
Alexanderplatz sein. Enttäuschung und Traurigkeit bemächtigten sich
seiner. Was war aus Katschinsky geworden? Was machte diese Zeit und
diese Stadt mit den Menschen? Ein Verräter, ein Abtrünniger, ein
Schamloser. Er wollte es sich nicht eingestehen, daß er Katschinsky
geliebt hatte und zwei Jahre lang um seine Freundschaft warb. Und wie
erregt er wurde, als er Jennys Namen nannte? Wie er sie sofort
beschimpfte. Was war geschehen? Nun, er würde ihn nicht wiedersehen,
lebe wohl!

Gerade noch zur rechten Zeit erreichte Georg das Warenhaus. Die
Verkäufer und Verkäuferinnen, erschöpft von der trockenen verbrauchten
Luft, warfen schon Blicke auf die Zeiger der Uhren. Der Chef der
Personalabteilung aber, ein kleiner runder Herr, hatte eigentlich schon
Schluß gemacht und empfing Georg mit einer verdrießlichen Miene. Er zog
die Brauen zusammen und sah nun wahrhaft vergrämt und verzweifelt aus.

„Ich bin ja eigentlich kein Auskunftsbureau, junger Mann,“ rief er aus,
„aber immerhin – Christine März, sagen Sie? Nun, einen Augenblick. März,
Christine – sie hat vor drei Monaten die Firma verlassen und wohnte
damals –“ Er schrieb die Adresse nieder und reichte Georg den Zettel mit
den Fingerspitzen, als klebe Schmutz daran. Es war eine etwas verrufene
Straße.

Georgs Gesicht aber leuchtete. Augenblicklich machte er sich auf den
Weg, und blitzschnell, wie ein Mensch, dem die Verfolger auf den Fersen
sind, schoß er durch die Menge, die in der Zeit des Geschäftsschlusses
die Straßen überschwemmte. Außer Atem und mit Schweiß bedeckt erreichte
er das bezeichnete Haus. Er blieb stehen und sah sich dieses Haus an.
Sofort schüttelte er, enttäuscht und niedergeschlagen, den Kopf.

Die Adresse war vom August, und jetzt war man im November. Es war recht
gut möglich – ja es war sicher, er fühlte es – daß Christine nicht mehr
in diesem Hause wohnte. Immerhin, vielleicht würde man ihm Auskunft
geben können.

Und während er langsam und etwas zaghaft auf das Haus zuging, quälten
ihn wiederum die alten Gedanken, die ihn seit drei Monaten marterten:
Weshalb hatte sie plötzlich keine Nachricht mehr gegeben? Hatte sie
Berlin verlassen? O nein, er fühlte, daß sie in der Stadt war! War sie
gestorben? O nein, er fühlte, daß sie lebte! War sie krank? Lag sie in
irgendeinem Krankenhaus? Vielleicht. Unmöglich, gänzlich unmöglich war
es ja, daß sie ihn verlassen haben könnte, ohne ein Wort. Hatte er nicht
Beweise ihrer Liebe und Leidenschaft, wie? Gab es größere Beweise als
das, was Christine getan hatte?

Wie eine gewöhnliche Mietskaserne im Osten sah das Haus aus, ebenso
verwahrlost, dunkel und finster wie die Häuser ringsum. Neben dem
Toreingang war eine Kneipe. Zwei bezechte Kutscher standen darin, kleine
Schnapsgläschen in der Hand. Hier trat Georg ein und fragte nach der
Adresse des Schlossers Rusch. Rusch? Das sei richtig hier. Im dritten
Hof, parterre.

Die Höfe waren klein und eng, eigentlich nur Lichtschächte. Es brannten
winzige Laternen, und die Wände sahen wie mit Schimmel bedeckt aus. Da
und dort glomm ein trübes Licht, der Geruch schlechten Fettes, mit dem
gekocht wurde, drang aus den Türen. Aus dem dritten Hof kam eine kleine
Frau, ein Tuch über den Kopf geschlagen. Georg beugte sich vor, um unter
das Tuch blicken zu können: das kleine bleiche Gesicht einer älteren
Frau, die still und lautlos weinte.

Der dritte Hof war der kleinste. Er war ganz dunkel, und das Regenwasser
plätscherte aus irgendeiner durchlöcherten Rinne mitten auf den Hof
herab. Zwei Parterrefenster des Hofes zeigten hinter herabgelassenen
fleckigen Vorhängen mattes Licht.

Diesen Vorhängen tastete sich Georg entgegen. Sofort roch er, daß er an
der rechten Stelle war. Er roch die Werkstatt eines Schlossers. Noch
einen anderen Geruch unterschied er – den Geruch von Kerzen.

Die Türe zur Wohnung des Schlossers war nur angelehnt, und Georg lugte
durch den Spalt. Sein Herz schlug so sehr, daß es ihm nicht möglich
gewesen wäre, jetzt irgendein Wort zu sprechen. Drinnen glitzerte es –
was war es doch? – Kerzenlicht, wie ein Christbaum. Er hatte in der
Erregung die Tür berührt, so daß der Spalt sich vergrößerte. Da sah er,
daß in der Stube, der Werkstatt des Schlossers, die Leiche einer dicken,
behäbigen Frau aufgebahrt lag. Zu beiden Seiten des fahlen, gutmütig
lächelnden Gesichts standen zwei flackernde Kerzen. Er hörte ein
gurgelndes Schluchzen und dann ein lautes Räuspern. Ein Schatten reckte
sich über Wände und Decke, und eine laute, rauhe Stimme sagte: „Ist
jemand hier?“

„Ich bitte zu verzeihen, daß ich störe,“ stammelte Georg, und schon
näherte sich die Gestalt der Türe.

Ein großer breitschultriger Mann stand vor Georg. Seine Augen waren
verweint. Er hatte sich offenbar mit den schmutzigen Fäusten die Augen
ausgerieben, so daß dicke schwarze Ringe um die Augen lagen, wie eine
phantastische Brille.

„Was wollen Sie?“ fragte der Mann unwirsch und heftete den Blick scharf
und funkelnd auf Georg.

„Ich komme sehr ungelegen,“ erwiderte Georg leise. Der Blick dieses
Mannes erschreckte ihn. „Ich wollte eine Auskunft haben.“ Er fragte, ob
Christine März noch hier wohne?

Das Gesicht des Schlossers nahm einen verächtlichen Ausdruck an. „Die!“
knurrte er. Oh, die sei schon lange, lange nicht mehr hier. „Aber was
wollen Sie von ihr, junger Mann? Wollen Sie etwa die Schulden bezahlen,
die diese Person hinterlassen hat? Sie ist noch zwei Monate Miete
schuldig.“

Georg stammelte eine Entschuldigung und wich zurück.

Der Schlosser Rusch trat aus der Türe und rief ihm nach: „Es ist noch
eine Pappschachtel von dieser Person hier, mit alten Lumpen! Vielleicht
wollen Sie die Pappschachtel haben? Ich werde sie Ihnen bringen.“

„Ich will nichts,“ erwiderte Georg, indem er in den Torweg eilte.

„Nun, so warten Sie doch!“ polterte Rusch. „Weshalb gehen Sie so rasch.
Warten Sie doch! Es ist ja alles nicht so schlimm gemeint. He, Sie!“

Bei der Kneipe, die am Ausgang des Torwegs zur Straße lag, holte ihn der
Schlosser ein. Nun erst bemerkte Georg, daß der Schlosser mit dem
beschmutzten Gesicht betrunken war.

„Sie wollten nach Christine fragen?“

„Ja.“

„Nun, ich werde Ihnen von Christine erzählen.“

„Sie wollten?“

„Ja, kommen Sie.“ Er drängte Georg mit dem Eigensinn eines Betrunkenen
in die Kneipe. „In aller Gemütlichkeit,“ fuhr er fort, indem er Georg
auf einen Stuhl schob, „in aller Gemütlichkeit wollen wir sprechen.
Bringe zwei Kognak, Anton!“ schrie er dem hemdärmeligen Wirt zu. „Ja,
Christine – ein feines Kerlchen, ein apartes Kerlchen, aber –“

„Ich wollte Sie ja nicht erschrecken und beleidigen, mein Herr,“ wandte
er sich wieder an Georg und schob ihm ein Glas Branntwein hin. „Es war
nicht meine Absicht. Sie haben gesehen, daß meine Frau dahinten tot
liegt, und aus diesem Grunde bin ich bei jeder Gelegenheit gleich so
außer Rand und Band.“ Er goß sich den Kognak in die Kehle und nötigte
Georg zu trinken. „Trinken Sie, junger Mann, damit Sie Farbe bekommen.
He Anton! Auch Christine liebte es, zuweilen ein Gläschen zu trinken.
Sie war garnicht so zimperlich.“

„Christine?“ unterbrach ihn Georg verwundert.

„Ja, Christine. Am Abend, da tranken sie zuweilen ein Gläschen zusammen,
Ihre Christine und sie, die nun dahinten liegt.“ Rusch deutete mit dem
Daumen hinter sich.

„Einmal nun, sehen Sie, da stieg sie in eine Droschke ein – und hast du
nicht gesehen – auf der andern Seite fiel sie wieder hinaus. Und wir
lachten, hahaha! Alles lachte. Was ist dabei, wir haben alle unsere
Schwächen.“

„Christine fiel aus der Droschke?“

„Aber nein, nein. Sie fiel aus der Droschke, sie, die nun dahinten
liegt. Trinken Sie doch, trinken Sie aus, damit ich sehe, daß Sie mir
nichts nachtragen.“

Georgs Augen brannten. Seit wann Christine nicht mehr bei ihm wohne?

Der Schlosser dachte nach. Er kniff das beschmierte Gesicht zusammen.
„Seit wann?“ erwiderte er. „Lassen Sie mich nachdenken? Ja, seit wann?
He, Anton, erinnerst du dich? Diese kleine Schwarze, weißt du, die
soviel lachen konnte.“

„Verkehrte sie auch hier, in diesem Lokal?“ fragte Georg, bemüht, sein
Erstaunen zu verbergen.

„Ja, gewiß. Sie verdarb niemand den Spaß, lachte, scherzte, erzählte
Schnurren. Ein feines wildes Kerlchen. Sie wollte ja zum Theater gehen.
Sie erzählte immer Großes von einer Schauspielerin, die einen Millionär
zum Freund hatte. Mit ihr zusammen wollte sie zum Theater gehen. Oder
zum Kino.“

Das sind alles Phantasien, dachte Georg. Er ist ja betrunken. „Auch Sie
wissen nicht, wo Christine hingezogen ist?“ fragte er.

Der Schlosser kniff wieder das beschmierte Gesicht nachdenklich
zusammen. Es sah aus, als begänne er zu weinen. „Lassen Sie mich
nachdenken, mein Herr,“ antwortete er. „Mir scheint – eines Tages
verschwand sie – ich weiß es nicht. Lassen Sie mich nur nachdenken.“

Abermals brachte der Wirt zwei neue Gläschen Kognak.

„Tun Sie mir Bescheid, mein Herr,“ drang der Schlosser in Georg. „Sind
Sie Künstler? Christine erzählte immer, daß sie mit Künstlern verkehre.
Auf Ihre Gesundheit! He, du, Anton,“ wandte er sich plötzlich an den
Wirt. „Ob man es wohl riskieren kann? Sie liegt da hinten, und die Tür
steht offen. Sie trägt noch den Ring an der Hand. Hier in diesem Hause
lebt solch ein Gesindel, das vor nichts Respekt hat. Hier in dieser
Stadt ist alles möglich, mein Herr. Ich kannte einmal einen verflixten
Burschen, der erzählte mir, er brach in einer Villa im Grunewald ein,
und plötzlich, was sieht er: einen toten Juden, der aufgebahrt liegt.
Aber das hat ihn nicht abgehalten, das ganze Silber auszuräumen. Sehen
Sie, mein Herr, solche Menschen gibt es hier.

Und nun will ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen,“ fuhr er berauscht
fort, rückte näher und legte die schwere Hand auf Georgs Arm. „Hören
Sie, noch eine Geschichte, und eine so merkwürdige Geschichte, wie Sie
sie noch nicht gehört haben werden. So etwas lesen Sie nicht einmal in
der Zeitung.

Sehen Sie, junger Herr, ich bin heute nicht mehr der jüngste, aber vor
zwanzig Jahren, da hätten Sie mich kennen sollen. Da war ich ein toller
Kerl. Ich hatte da ein Mädchen, sie hieß Mariechen. Sie hatte Augen wie
ein Reh, so groß und sanft. Und sie war zart und schlank, nur so groß,
sehen Sie, kaum so groß wie eine Konfirmandin. Aber wie die Frauen so
sind, sie wollte Schuhe aus Lackleder, dann wünschte sie sich Schuhe mit
grauem Einsatz, und wenn sie die Schuhe mit grauem Einsatz hatte, dann
wünschte sie sich Knopfstiefelchen. Und so ging es immer fort. Und wie
es mit den Schuhen war, so war es auch mit den Hüten. Ich arbeitete
damals in einer Fabrik in Weißensee, und mein Lohn reichte nicht aus,
alle die Schuhe und Hüte und Kleider zu kaufen, die Mariechen sich
wünschte. Wenn ich sie aber nicht kaufte, dann ging Mariechen zu einem
andern, denn die Männer liefen alle hinter ihr her.

Nun hören Sie aber weiter,“ fuhr Rusch fort, „hören Sie weiter, und Sie
werden staunen. In der Fabrik arbeitete ein Kollege. Er war ein
einfacher Schlosser, aber wenn er am Sonntag ausging, so konnten Sie
glauben, er sei ein Baron. Wie er das machte, das war unbegreiflich. Er
hieß Roth.

Eines Tages nun kam dieser Roth zu mir und sagte: Höre, Rusch, willst du
viel Geld verdienen? Ich sagte, warum nicht, denn Mariechens Geburtstag
war nahe, und ich hatte auch nicht einen Pfennig Geld in der Tasche.
Mariechen hatte im Jahr dreimal Geburtstag. Aber ihre Augen waren so
schön, und wenn sie sprach, diese schöne Stimme, und wenn man mit ihr
tanzte, und alle verdrehten die Hälse nach ihr, nun, weshalb sollte sie
nicht dreimal im Jahre Geburtstag haben? Ich will es Ihnen kurz
erzählen. Dieser Roth brachte mich auf Abwege. Es ist lange her, und es
ist ja keine Schande. Sehen Sie, dieser Roth ging durch verschlossene
Türen, genau so wie der Wind durch ein offenes Fenster geht. Wir
arbeiteten also zusammen, und Mariechen hatte gute Tage. Wir waren
vorsichtig und übernahmen uns nicht. So ging es eine lange Weile. Aber
nun hören Sie, nun kommt das Interessante. Wir gingen ja nun viel aus
und tanzten, Roth, Mariechen und ich. Eines Tages nun sagte Roth zu mir,
wir können eine Menge Geld verdienen. Dieser Lederhändler ist verreist,
bei dem ich das elektrische Licht repariert habe. Hast du Courage? Ich
sagte, weshalb nicht. Wir gingen tags vorher um das Haus, und Roth
zeigte mir ein Fenster und sagte mir, ich werde also vorausgehen, und
wenn ich dieses Fenster aufmache, so steigst du ein. Morgen abend, sagte
Roth, morgen abend ist Neumond, da wollen wir die Sache machen.

Aber nun hören Sie, Herr, nun kommt das Interessante. Eine Straße vorher
verließ mich Roth und sagte mir, in genau einer Viertelstunde wirst du
nachkommen. Es ist jetzt ein Viertel vor zwölf Uhr. Komme du Punkt
zwölf. Ich komme Punkt zwölf. Das Fenster wird langsam aufgemacht, und
ich steige ein. Wissen Sie, mein Herr, was nun passierte?“

„Nein,“ sagte Georg, der nur aus Höflichkeit zuhörte. „Wie sollte ich es
wissen?“

Rusch lachte, daß seine dicke Zunge zwischen den Bartstoppeln sichtbar
wurde. „Sofort ergriffen mich zwei Paar Arme. Ich war der Polizei in die
Hände gefallen. Haben Sie in Ihrem Leben so etwas gehört?“

„Also hatte Roth Sie verraten?“

„Er hatte mir eine Falle gestellt, und ich war in diese Falle gegangen.
Er und Mariechen wollten mich loshaben, und so ließen sie mich
hochgehen.

Nun, ich bekam zwei Jahre, und ich schwieg.

Aber ich sagte mir, wenn ich herauskomme, seid ihr beide verloren. Und
als ich herauskam, sehen Sie, mein Herr, da kaufte ich mir ein Messer
und einen Revolver, und ich sagte mir, wartet nur ihr beiden, wo ich
euch auch finde! Aber es war schwer sie zu finden. Ich arbeitete am
Tage, abends aber besuchte ich immer eine Reihe von Tanzlokalen. Und nun
hören Sie, Herr, nun kommt das Interessanteste.“ Rusch goß sich ein
neues Glas hinunter. „Nun kommt das Interessanteste, mein Herr. Eines
Abends komme ich in ein kleines Tanzlokal in Treptow. Es war nicht sehr
voll, und plötzlich, wen sehe ich? Roth und Mariechen. Ich gehe auf sie
zu, und was glauben Sie? Ich hatte die Hände in den Taschen und hatte
den Revolver und das Messer bereit. So kam ich also auf sie zu. Roth riß
sofort aus. Aber Mariechen, was glauben Sie, was sie tat? Mariechen fiel
in die Knie und schrie so jämmerlich, wie ich nie einen Menschen
schreien hörte. Und dabei hob sie die Arme in die Höhe. Und was glauben
Sie, was geschah? Ich vergaß meinen ganzen Zorn und alle Eide, die ich
geschworen hatte. Ich hob Mariechen auf und sagte, aber Mariechen, was
gibt es denn zu brüllen? Und sie weinte und schluchzte, und ich
beruhigte sie. Da wurde sie endlich ruhig, und sie sagte, sie werde
jetzt wieder bei mir bleiben. Denn sie liebe mich viel mehr als diesen
Roth. Das tat sie auch, mein Herr. Und sehen Sie, solche Dinge gibt es
auf der Welt.“

Plötzlich hob Rusch die beiden großen Fäuste in die Luft und brüllte:
„Und nun ist sie tot, Mariechen! Nun liegt sie da hinten und ist tot!
Mariechen! Mariechen!“ Er schlug sich mit der Faust auf den Kopf.

„Nun, Rusch, beruhige dich,“ sagte der Wirt. „Du wirst es schon
verwinden.“

„Und nun ist Mariechen tot!“ brüllte Rusch nochmals.

Georg erhob sich, um zu gehen.

„Nein, nein, bleiben Sie bei mir,“ bat der Schlosser, „bleiben Sie bei
mir. Ich muß einen Menschen haben, mit dem ich reden kann. Ich werde Sie
nicht mehr mit meinen Geschichten belästigen. Wir wollen von Ihrer
Christine sprechen.“

Und er fing an zu erzählen, wie gut Christine zuerst mit seiner Frau
ausgekommen sei. Sie haben immerzu Kuchen gebacken – ah, fein! Dann aber
habe sie ihre Stellung verloren und sei in Verlegenheit geraten. Da sei
öfter ein kleiner, blonder Herr gekommen mit einem Kneifer und habe sie
ausgeführt. Und später, da sei ein hagerer, dunkler gekommen, vielleicht
ein Russe. Er kam immer in den Hof und pfiff – so eine traurige Weise
...

Georg sprang auf, und er war so rasch verschwunden, daß der Schlosser
ins Leere griff, als er mit den beiden Fäusten nach ihm langte.


                                   6

Die Herrlichkeit in dem kleinen Hotel, in dem Georg Unterschlupf
gefunden hatte, dauerte nicht lange. Schon nach wenigen Tagen konnte er
die Dachkammer nicht mehr bezahlen, und eines Morgens schlich er sich in
aller Frühe aus dem Hotel – die kleine Handtasche mit den Habseligkeiten
ließ er zurück. Mochten sie sehen wie sie zurecht kamen.

Nun, da er merkte, daß es abwärts mit ihm ging, daß der Boden unter
seinen Füßen einbrach, rang er seinem erschöpften Körper die letzten
Kräfte ab. Er wehrte sich.

Vom grauenden Tag bis zur sinkenden Nacht war er unterwegs. Treppauf,
treppab. Er holte seine Papiere hervor. Stunden des Wartens. Geduld. Wie
andere Stellungslose las er an den Anschlägen der Zeitungen die noch
nassen Zeitungsblätter, um davonzustürmen, irgendeiner blassen Hoffnung
entgegen. Er verlor nicht den Mut, mit jedem Tag nahm er den Kampf mit
neuer Zähigkeit auf. Er stand nicht mehr bescheiden in der Ecke, er trat
vor, fragte, forderte. Seine Stimme klang sicherer, sein Blick wurde
tapfer.

Immer mußte er an die Geschichte jenes Kapellmeisters denken, die man
ihm einmal erzählt hatte. Dieser Kapellmeister kam völlig unbekannt und
ohne einen Pfennig in der Tasche in eine größere Provinzstadt, und am
Abend dirigierte er bereits die Oper. Die beiden Kapellmeister waren
plötzlich erkrankt. Heute ist er einer der ersten Operndirigenten
Deutschlands.

Weshalb sollte ihm, Georg Weidenbach, das Glück nicht ebenfalls
zulächeln? Und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre es ihm wie jenem
Kapellmeister ergangen. Er sprach bei einem der ersten Architekten
Berlins vor, zu dem er sich bis heute noch nicht gewagt hatte. Es schien
nicht ohne Aussicht. Nicht das höfliche Lächeln und gelangweilte
Abwenden des Blickes. Man bat ihn zu warten. Eine Fabrik war abgebrannt
und sollte so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden. Siehst du,
dachte Georg, und er erinnerte sich an seinen Kapellmeister, den man
wenige Minuten vor der Vorstellung in den Frack steckte. Eine Fabrik
mußte im rechten Augenblick abbrennen, damit er – aber ein hagerer,
glatzköpfiger Herr trat ins Wartezimmer, streifte seinen dünnen,
abgeschabten Mantel mit einem raschen Blick und schüttelte bedauernd den
Kopf. So war es also nichts.

Nun, wenn nicht hier, so anderswo.

Auf den Bahnhöfen gab es dann und wann für eine Dienstleistung, eine
Auskunft ein paar Groschen zu verdienen. Aber man mußte einen schnellen
Blick und rasche Beine haben. Die Konkurrenz lauerte.

Mittags dampften auf dem Alexanderplatz drei Feldküchen der Heilsarmee
und zwei Küchen eines großen Zeitungsverlags. Scharen von Weibern und
Männern, elend, zerlumpt, bleich, stellten sich in endloser Reihe an und
schoben sich geduldig vorwärts. Hier erhielt man einen Napf heißer
Suppe, es war nicht viel, aber es war doch etwas. Neugierige umdrängten
die Küchen. Einmal kam sogar ein Photograph, um eine Aufnahme zu machen.
Georg wandte den Kopf ab. Sollte ihn etwa Katschinsky auf dem Bilde
sehen, während er in einer vornehmen Diele den Tee schlürfte?

Schwer waren die Nächte. Sie waren die Hölle. Rot lohte der Himmel
zwischen den schwarzen Häusern. Ein Zufallsquartier, Wartesäle der
Bahnhöfe, Asyle. Georg hatte eine Schlafstelle im Norden entdeckt, wo
man für ein paar Groschen auf dem Fußboden übernachten konnte. Hier lag
Körper an Körper gedrängt, und selbst auf den Gängen lagen die
erschöpften Leiber. Man mußte über sie wegsteigen. Die Ausdünstungen
dieser zusammengepferchten, mit Schmutz bedeckten Menschen benahmen den
Atem. Georg fiel zumeist erst gegen Morgen in Schlaf. Da lag er also mit
offenen Augen. Die Schläfer schnarchten, röchelten und stöhnten. Manche
schrien wirr im Traum. Es schliefen Männer und Frauen und Kinder
durcheinander, und zuweilen kam aus einem Winkel ein wollüstiges
Stöhnen, bis irgendeine Stimme ungehalten knurrte. So war es in dieser
Stadt, deren Straßen am Tage mit Gummiwalzen reingefegt wurden.

Ein paarmal fand Georg seinen Platz neben einem jungen Mädchen, einem
Kind eigentlich noch, mit dünnen Beinen und kleiner, unentwickelter
Brust. Auch sie lag schlaflos. Oft sah er ihren Schatten ganze Stunden
lang aufrecht sitzen. In einer Nacht rückte sie ganz nahe an ihn heran,
so daß er ihren mageren Körper spürte, und flüsterte lüstern: Schlafen
Sie? Sie zupfte ihn behutsam am Ärmel, beugte sich über ihn. Aber er
regte sich nicht, seine Glieder waren vor Entsetzen gelähmt.

Manche Nächte aber schienen kein Ende zu haben. Ruhelos warf er sich von
einer Seite auf die andere. Bald zitterte er vor Frost, bald glühte sein
Körper wie im Fieber. Die Schläfer röchelten und schrien, und die Stadt
grollte zuweilen in der Ferne. Es hörte sich ganz so an, wie wenn das
Eis eines Flusses im Frühjahr aufbricht. Mittendurch schien die große
Stadt zuweilen zu reißen – arm, reich, elend, gesund, Untergang,
Auferstehung. Mittendurch: Tod, Leben, Zerstörung, Wiedergeburt, Freude,
Jammer. Er dachte an Stobwasser, der nun unter seiner dünnen Decke
hustete. Er dachte an Katschinsky, und er sah den Maler elegant und
lächelnd in irgendeinem Spielklub sitzen, wo das Licht von Decken und
Wänden blendete. Eigentümlich, die Vision hellerleuchteter und
überheizter Räume folgte ihm jede Nacht in seine Finsternis.

Bald würden die Elektrischen wieder fahren und die flinken Autos
dahinfliegen, die Geschäftshäuser sich mit frischen, ausgeschlafenen
Menschen füllen – noch aber war es Nacht, und noch war die Stadt düster
und schrecklich. Gestern Nacht, da hatten sie einen Mann vom dritten
Stock herab in den Hof geworfen, sie hatten die Wächter einer
Automobilfabrik ermordet, sie hatten einen Schutzmann erschossen. Und so
geschah es in jeder Nacht.

Oft auch dachte er an Christine, die ihn betrogen hatte. Dann saß er die
ganze Nacht aufrecht.


                                   7

An jedem Morgen – in diesen regnerischen Tagen war es noch völlig
finster – erschienen die Massen der Arbeitslosen vor den Bureaus der
Arbeitsnachweise. Es waren Scharen, Bataillone, Armeen, die die Straßen
überfluteten. Jeden Morgen kamen sie fröstelnd und hustend auf ihren
dunklen Löchern hervor, in die sie sich in den Nächten verkrochen. Ihre
Schuhe waren zerweicht und zerrissen, die abgetragenen, zerfetzten
Kleider feucht vom Regen. Viele trugen nicht einmal ein Hemd auf dem
Leibe. Sie sahen fahl aus, schmutzig und ungepflegt, und manche krümmte
der Husten bis zum Boden.

Da standen sie nun geduldig im Sprühregen, die roten Hände in den
Hosentaschen, vertraten sich die Füße und warteten. Sie sprachen wenig.
Nur einzelne schrien erregt, redeten von ihren hungernden Weibern und
Kindern, fluchten und schimpften auf die Regierung, die Gewerkschaften,
die Kapitalisten. Nach einer halben Stunde waren die Arbeitsnachweise
schon wieder geschlossen, so gering war die Zahl der offenen Stellen.

Für heute war es vorbei, und so setzten sich die Bataillone der
Unglücklichen wieder in Bewegung und zerstreuten sich über die tausend
Straßen der Stadt, die sie müde, stumpfe Verzweiflung im Herzen,
durchzogen. Was hatten sie verbrochen, daß sie verdammt waren, die müden
Füße zwölf Stunden lang über das harte Pflaster zu schleppen?

Eine schwere wirtschaftliche Krise war über die Welt hereingebrochen.
Die Märkte waren überfüllt. Die Speicher waren bis zum Bersten angefüllt
mit Waren, die die Fabriken aller Kontinente ohne Pause ausspien. Bis
tief hinauf den Yangtsekiang, den Amazonenstrom hatten die Schiffe die
Waren getragen, bis tief hinein in die Kontinente der farbigen Völker.
Die Händler saßen auf ihren Ballen und warteten. Erst wenn diese
ungeheuren Lager der Welt anfingen, sich zu lichten, konnte eine
Besserung erwartet werden.

Unterdessen lagen die Flotten der Handelsschiffe still in den Häfen. Die
Kohlenberge der Zechen häuften sich zu Gebirgen, und täglich schwoll das
Heer der Arbeitslosen mehr und mehr an.

Es schien fast ohne alle Aussicht. Tag für Tag, zwei Wochen lang, war
Georg mit dem Morgengrauen vor den Arbeitsnachweisen erschienen. Ohne
den geringsten Erfolg! Er runzelte die Stirn, seine Gedanken verwirrten
sich. Oft schwankte er beim Gehen.

Er war nun genötigt, die Nächte häufig im Freien zu verbringen. Die
Nächte waren zur Zeit noch nicht kalt, gottlob. Zufällig hatte er einen
kleinen Platz entdeckt, der auffallend windgeschützt war. Hier kauerte
er auf seiner Bank, in den Mantel gewickelt. Und auf anderen Bänken
kauerten andere Schatten.

Die Automobile tuten, Gelächter, Geschrei, Zank. Liebespaare huschen
durch die Schatten, Dirnen standen bei den Laternen, das Täschchen in
der Hand. Es kamen Betrunkene, die laut vor sich hinsprachen. Nicht eine
Sekunde kam die Stadt während der ganzen langen Nacht zur Ruhe. Und nun
kam auch jener langsam knirschende Schritt wieder, den man von weitem
schon erkannte. Dann hieß es aufstehen, gehen, um wiederzukehren, sobald
der langsame Schritt in der Ferne verklang.

Wie eine Feuersbrunst lohte der Himmel über der schwarzen Stadt. In der
Ferne, irgendwo, rauschten die Züge, bald hämmernd, sausend, bald nur
feinklingend in der stillen Nacht.

In einem solch rauschenden Zuge war Georg vor zwei Jahren aus der
kleinen thüringischen Provinzstadt nach Berlin gekommen, die Augen
fiebernd von Träumen, das Herz berauscht von Hoffnungen. Berlin! Stadt
der Kühnheit und des zähen Wollens, die Stätte seines Aufstiegs. Hier
würde er seinen Weg machen, er fühlte es, als er auf dem Bahnhof aus dem
überfüllten Abteil kroch. Diese Gewißheit blitzte aus den Bogenlampen,
die so stark und mächtig flammten. Die Stimmen der Stadt, dröhnend und
gewaltsam, schrien ihm diese Gewißheit entgegen. Die ganze erste Nacht
war er durch diese Stadt gewandert, seinen Träumen hingegeben. Etwas wie
Triumph lag in seinen Schritten, daß er diese Stadt erobern werde.

Hart war seine Jugend gewesen. Seine Mutter war eine Witwe, eine kleine
fleißige Frau, die noch früher aufstand als die Hühner und noch spät in
der Dunkelheit bei ihrer kleinen rußenden Lampe rumorte. Sie wusch,
fegte und plättete in den Häusern, und mit ihren vom Munde abgesparten
Pfennigen hatte sie seine Erziehung bestritten.

Mit sieben Jahren trug Georg die Morgensemmeln aus, mit acht setzte er
im „Goldenen Engel“ des Abends die Kegel auf, bis er vor Müdigkeit
umfiel. Hier arbeitete er zusammen mit Stobwasser, der noch nebenbei
Chorsänger war. Aber von seinem vierzehnten Jahre an mußte er sein Brot
ganz allein verdienen. Er machte Schreibarbeiten, zeichnete für einen
Möbeltischler, malte ein Schild für einen Krämer, gab Nachhilfestunden.
Um sechs Uhr morgens schon kam sein erster Schüler. Es war ein
Mechaniker, der in die Baugewerkschule eintreten wollte und dem er die
Elemente der Mathematik beibrachte. Am Nachmittag und am Abend
unterrichtete er Mitschüler, die der Nachhilfe bedurften. An den Abenden
und in den Nächten aber arbeitete er für sich selbst. Sein Traum war es,
zu bauen: Museen mit unerhörten Sälen und Kuppeln, mächtige Rathäuser,
Theater, riesenhafte Fabriken und Industrieanlagen – und seiner Mutter
baute er ein schönes schlichtes Haus in einen Garten. Das war sein
schönster Traum. Arme Mutter! Welche Entbehrungen! Während die
Mitschüler in den Straßen spazieren gingen, mit Mädchen lachten,
Ausflüge machten, Sport trieben, in der Kneipe sangen, saß er zu Hause
bei der Arbeit. Während seine Kameraden leichtfertig in den Tag
hineinlebten, fing er schon an, das Lachen zu verlernen, das er kaum
kennengelernt hatte. Es gab an der Schule kleine Unterstützungen,
Stipendien und Freitische. Georg war ein stets erfolgreicher Bewerber.
Aber diese Unterstützungen verpflichteten zu einem besonderen Aufwand an
Fleiß und Betragen, zu Katzbuckeleien und Danksagungen. Welche
Demütigungen! Georg ertrug sie, still, ohne Auflehnung, nur dumpf
bedrückt. Nur wenige Jahre, und die Stadt sollte erfahren, wer Georg
Weidenbach war! Welch glühende Träume im Gehirn eines jungen Menschen,
welche Ausschweifungen der Phantasie!

Und nun saß er hier auf der Bank, einsam in der großen Stadt. Er sah
seine Mutter, wie sie in ihrer mit Backsteinen ausgelegten Küche bei der
kleinen Lampe scheuerte und wusch, wie sie dann und wann aus der blauen
Tasse einen Schluck ihres dünnen Kaffees trank, wie sie die faltigen
Lippen dabei spitzte und die Augen zukniff. Er hatte ihr nichts von
seinem Aufenthalt im Krankenhaus geschrieben. Sie durfte nicht wissen,
wie es ihm ging. Er hatte ihr nur geschrieben, daß die Zeiten hier in
Berlin schwer seien und daß man sich zur Zeit mit Hungerlöhnen begnügen
müsse, so gering, daß er ihr leider nichts schicken könne.

Die Träume der Jugend kamen wieder, die Versuchungen des Ehrgeizes,
während er in der langen Nacht auf der Bank kauerte, und sein Herz
erbebte.


                                   8

Mitten im Gedräng der Menschenmassen blieb Georg plötzlich stehen. Er
runzelte die Stirn – dachte nach. Welcher Gedanke war ihm doch soeben
durch den Kopf geschossen? Die Rettung. Ja, Stobwasser.

Vielleicht sollte er doch zu Stobwasser gehen?

Sie waren ja alte Freunde, seit den Tagen, da sie als Knaben im
„Goldenen Engel“ die Kegel aufgesetzt hatten. Hatte Stobwasser ihn nicht
aufgefordert, ihn zu besuchen, hatte er ihm nicht seine Kammer
angeboten? Schon begann Georg dahin zu eilen, aber nach wenigen
Schritten blieb er, außer Atem, wieder stehen. Er sah Stobwasser in der
eisigen Werkstatt liegen, krank, fiebernd, ohne Mittel. Unmöglich konnte
er ihm zur Last fallen.

Einige Tage später aber überwältigte ihn plötzlich die Mutlosigkeit, und
er konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Es gab keine andere
Rettung mehr. Zwei Stunden lang schleppte er sich nach dem Westen, bis
er endlich, schwindelig und erschöpft, den Hof erreichte, in dem
Stobwassers Werkstatt lag. Kläglich meckernd streckte die Ziege den Kopf
aus ihrem Stall. Schon wollte er an Stobwassers Türe pochen: da hörte er
drinnen eine Frauenstimme plaudern und lachen. Er schlich sich davon, es
war wohl besser so. Er zitterte plötzlich, Schweiß bedeckte seine Stirn,
als habe er ein Verbrechen begehen wollen.

Nein, es ging nicht gut mit ihm, er fühlte es selbst.

Er hatte jetzt schon das elende und verwahrloste Aussehen jener
Verarmten bekommen, denen die Gutgekleideten, die noch einiges Mitgefühl
haben, nicht gerne begegnen. Es gab viele, die den Anblick jener elend
aussehenden Menschen, denen man auf Schritt und Tritt begegnete, nicht
mehr ertragen. Nur die Stiernacken, die Feisten, die Krieg und
Revolution prächtig überstanden hatten, waren nicht aus ihrer Bahn zu
bringen. Mit eisigen und harten Blicken sahen sie mitten durch ihn
hindurch, ohne ihn zu sehen. Andere rollten in ihren Autos vorüber, die
sie von den Sesseln ihres Bureaus zu ihren Villen brachten. Sie blieben
sogar vom Anblick der Elenden und den hündischen Blicken der Bettler
verschont.

Plötzlich bemerkte Georg, daß er Blut spuckte. Ah, seht an, sagte er
sich, ein Rückfall!

Aber bald beruhigte er sich, er war nicht der einzige, dem es so erging.
Es waren viele, viele, da draußen im Osten, unter den Arbeitslosen und
Armen litt jeder zehnte Mensch an diesem Übel.

In diesen Tagen, da sein Blick immer leerer wurde und sein Schritt immer
müder, sah er einmal ganz plötzlich Katschinsky. Fast hätte er ihn
übersehen. Es war in der Nähe des Anhalter Bahnhofs. Katschinsky kam mit
einem jungen Manne aus einem Blumenladen und überschritt schnell die
Straße, beladen mit einem Strauß gelber Rosen, um in ein Auto zu
steigen. Er trug einen herrlichen mausgrauen Mantel und einen grauen
Plüschhut. Der Geruch seiner Zigarette schwebte in der Luft.

Katschinsky hatte ihn mit einem Blick gestreift. Hatte er ihn erkannt?
Ja, ja, o gewiß, er hatte ihn erkannt! Georg beobachtete, wie er nervös
in den Wagen kroch.

In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas ganz Unverständliches,
etwas, was Georg, wenn er sich dessen erinnerte, nie begriff. Plötzlich
sprang er mit zwei, drei wilden Schritten auf das Auto zu, um an die
Scheibe zu klopfen. Aber der Wagen fuhr in dieser Sekunde ab. Gottlob.

Bleich vor Scham blieb Georg stehen. Er zerbiß sich die Lippe: so ging
es nicht weiter, nicht einen Tag länger. Ein Entschluß, ein Entschluß!

Und wieder nahm er seine planlose Wanderung durch die Straßen auf. Da
aber erwachte ein Gedanke in seinem Kopf. Weshalb war er nicht schon
früher auf diesen Gedanken gekommen?

Er erinnerte sich plötzlich, daß er in einem Asyl für Obdachlose, wo er
zuweilen übernachtete, einen kleinen, alten Bettler kennengelernt hatte,
der, in eine Wolke von Schnapsdünsten eingehüllt, neben ihm kampierte.
Dieser Bettler, ein „Zitterer“, der aus Gewohnheit zuweilen sogar im
Asyl zitterte, hatte ihm von einer sagenhaften Firma, einem
Großunternehmen erzählt, das Arbeitslose beschäftige. Diese Firma sollte
sich in der Lindenstraße befinden, und das Haus wäre nicht zu verfehlen,
da es in ein großes Gerüst eingehüllt sei.

„Dahin sollten Sie gehen,“ riet der Alte. „Für mich ist es nichts, aber
für Sie ist es vielleicht etwas, junger Mann. Fragen Sie getrost nach
einem Herrn Schellenberg. Den Namen sagte mir ein Bekannter. Ich ging
also in den Neubau und fragte nach Herrn Schellenberg. Dieser Herr
Schellenberg, nun, Glück muß der Mensch haben, kam zufällig die Treppe
herunter. Was glauben Sie? Er schenkte mir sofort fünf Mark und befahl
seinen jungen Leuten, mir Beschäftigung zu geben. Sie gaben mir eine
Fahrkarte nach Nauen und sagten mir, da gehst du hin und meldest dich da
und da.“

„Sind Sie hingegangen?“ hatte Georg geforscht.

„Ich? Was sind Sie denn für einer? Nein, das ist nichts für mich, ich
bin zu alt dazu, die Stadt zu verlassen. Ich habe ganz einfach die
Fahrkarte am Bahnhof verkauft.“

Es war eine merkwürdige Geschichte, so merkwürdig, daß Georg sie für
eine Phantasie des Schnapses halten mußte. Aber jetzt, in diesem
Augenblick, da er der Verzweiflung nahe war, sagte er sich plötzlich:
Und doch? Vielleicht existiert diese sagenhafte Firma Schellenberg
wirklich? Jedenfalls, was konnte es schaden, er konnte ja nachsehen,
wie? Es kostete ja kein Geld! Er befand sich in dieser Minute beim
Wittenbergplatz, und es war eine ziemlich weite Entfernung bis zur
Lindenstraße.

Trotzdem beschloß Georg, sich augenblicklich, jetzt in dieser Sekunde
noch, auf den Weg zu machen. Wenn es auch schon spät am Tage war,
vorwärts. Und sofort begann er auszuschreiten.

Es war schon reichlich dunkel, nahezu sieben Uhr, als er, keuchend und
in Schweiß gebadet, die Lindenstraße erreichte. Ja, nun hatte ihn wieder
jegliche Hoffnung verlassen. Das Geschwätz eines Säufers.

Zu seiner größten Überraschung aber fand er tatsächlich ein Haus, das
ganz in Gerüststangen eingehüllt war. Es roch nach Kalk und Nässe. Das
Erdgeschoß war mit einer Bretterverschalung zugeschlagen, und darauf
stand mit riesigen Buchstaben: „Arbeit! Wir geben euch Arbeit! Tretet
sofort ein! Jede Auskunft!“

Das Haus war fast dunkel. Nur die obere Etage war hell erleuchtet.

Ein Pförtner trat aus der Loge und sagte mürrisch und übermüdet:
„Bedaure, es ist geschlossen.“

In diesem Augenblick kam ein junger Mann in einem langen Arbeitskittel,
wie ihn Architekten und Maler bei der Arbeit tragen, über den Korridor
und warf einen Blick auf Georg. Dieser junge Mann war bereits im
Begriff, in einer Tür zu verschwinden, blieb aber plötzlich stehen und
sah Georg mitten ins Gesicht: dieses Gesicht war schneeweiß, die
Augenhöhlen schiefergrau, und die Augen darin fieberten ohne Blick und
Gedanken.

„Der Arbeitsnachweis ist bereits geschlossen, mein Herr,“ sagte der
junge Mann und lächelte liebenswürdig. Er blickte zu Boden, dachte nach
und winkte dann mit dem Kopfe. „Aber kommen Sie, wir wollen sehen, was
ich für Sie tun kann. Schließen Sie das Tor ab,“ rief er dem Pförtner
zu, „und lassen Sie niemand mehr herein, niemand, hören Sie!“ Und zu
Georg gewandt, fuhr er fort: „Wir haben in den letzten Tagen fünftausend
Leute angenommen und sind mehr als überfüllt. Wir haben keinen Pfennig
Geld mehr, um auch noch einen einzigen Mann zu bezahlen. Aber treten Sie
ein. Ich sehe, Sie sind leidend, und ich will sehen, was ich für Sie tun
kann.“

Georg atmete auf. Seit Wochen hatte niemand mit ihm mit einer solch
schlichten Freundlichkeit gesprochen wie dieser junge Mann.

„Ist es möglich, Herrn Schellenberg zu sprechen?“ wagte Georg zu fragen.

Der junge Mann sah ihn verwundert an. Er trat sogar einen kleinen
Schritt zurück. „Herrn Schellenberg wollen Sie sprechen?“ sagte er
leise, mit dem Ausdruck äußersten Erstaunens. „Haben Sie besondere
persönliche Empfehlungen an Herrn Schellenberg?“

„Nein, nein,“ stotterte Georg.

Der junge Mann lächelte. „Es ist ganz unmöglich, Herrn Schellenberg zu
sprechen, ganz unmöglich. Herr Schellenberg arbeitet sechzehn Stunden am
Tag, und ich selbst, ich gehöre zum Komitee der Ärzte, kann ihn jede
Woche nur fünf Minuten sprechen.“ Der junge Arzt sah Georg prüfend ins
Gesicht und sagte nach einer Weile: „Gehen Sie in dieses Zimmer. Man
wird Ihnen unsere Arbeitsbedingungen mitteilen. Leben Sie wohl und alles
Gute!“

Georg las irgendein Formular, ohne es zu verstehen. Er war geneigt,
Arbeit zu jeder Bedingung anzunehmen, und es konnte ihm völlig
gleichgültig sein, was dieser Unternehmer Schellenberg bot. Man
informierte ihn, daß er das Haus heute nicht mehr verlassen könne, und
wies ihm eine Holzpritsche in einem langen Korridor an.

Es ist alles wie ein Wunder, sagte Georg zu sich, als er sich
zerschlagen und fiebernd auf der Holzpritsche ausstreckte. Vielleicht
träume ich, vielleicht ist es das Fieber? Vielleicht ist es das Ende?
Plötzlich aber schlief er vor Erschöpfung ein.

Als er am Morgen erwachte, befand er sich zu seinem Erstaunen noch immer
auf der gleichen Pritsche. Es war also kein Traum, keine Gaukelei des
Fiebers gewesen. Man drückte ihm eine Eisenbahnfahrkarte in die Hand,
mit der Weisung, sich da und dort, es war der Name einer kleinen Stadt
in der Nähe Berlins, bei der Arbeitsstelle zu melden.

Georg bestieg den Zug, und als der Zug aus der Halle fuhr, beugte er
sich weit hinaus, um diese Stadt nochmals zu sehen, durch die er
wochenlang wie ein Hund, der seinen Herrn verlor, geirrt war.

Die Stadt dampfte. Es regnete noch immer. Wolken von Dampf stiegen aus
der Stadt empor und hüllten ganze Viertel in dichten Dunst.

„Ich komme wieder!“ sagte Georg. Und – zu scheu, um in Wirklichkeit
durch eine Geste seine Erregung zu verraten – breitete er in Gedanken
die Arme gegen die Stadt aus. „Ich komme wieder, Christine!“

Und Christine, die irgendwo in diesem unendlichen Meer von steinernen
Würfeln verborgen war, streckte ihm die Arme entgegen und erwiderte:
„Ich warte auf dich. Komm! Ich liebe dich noch immer!“

Als der Zug die letzten Häuser der Stadt hinter sich ließ, rückte sich
Georg auf der Holzbank zurecht, und eine Empfindung, die er lange nicht
mehr gefühlt hatte, erfüllte sein Herz. Es schien ihm fast, als sei er
glücklich. Trotz allem.


                                   9

Die Brüder Schellenberg stammten aus Mecklenburg. Hier auf dem fetten
mecklenburgischen Boden, in einer anmutigen, stillen, dünnbesiedelten
Landschaft hatte sich vor zwanzig Jahren der Major Schellenberg das Gut
Klein-Lücke gekauft, nachdem er seinen Abschied beim Regiment genommen
hatte.

Der Major war ein großer Mann, breit, mit sehnigen, schweren Händen, die
immer etwas rot waren, und einem kantigen, massiven Schädel. Er war früh
ergraut und wurde schnell weiß. In seiner Jugend war er ein
leichtlebiger Offizier gewesen, Spieler, unermüdlich im Dienst des
Bacchus und der Venus, bis er sich eines Tages ganz plötzlich von der
Gesellschaft übermütiger Freunde zurückzog. Irgend etwas hatte sich
ereignet, er sprach nie darüber. Eine Frau? Das Schicksal einer der
vielen? Wer weiß es? Er lebte fortan nur noch für den Dienst, und es
fiel den Kameraden auf, daß er von Jahr zu Jahr schweigsamer wurde.
Anfangs lächelte er über ihre Spöttereien, dann überhörte er sie, und
schließlich ließ man ihn in Ruhe. Er war streng, gerecht, sein
Lebenswandel ohne Tadel, das Muster eines Offiziers. In späteren Jahren
war er leicht reizbar. Er neigte zum Jähzorn und war furchtbaren
Zornesausbrüchen unterworfen, unter denen er mehr noch als seine
Umgebung litt. Die Maßlosigkeit der Jugendjahre schien wieder
durchzubrechen. Einen Knecht, der faul im Heu schlief, schlug er einmal
mit der Hundepeitsche nahezu tot.

Das Gut des Majors, Klein-Lücke, war nicht groß, kaum vierhundert
Morgen, aber es wurde musterhaft bewirtschaftet. Die Felder stachen
gegen die Äcker der Nachbargüter derartig ab, daß man glauben konnte,
der Boden sei vollkommen verschieden. Die Wagen standen in Reih’ und
Glied, blitzblank alles Gerät, die Ordnung musterhaft. Wenn nur eine
Schaufel am unrechten Ort stand, so begann die Stimme des Majors zu
gellen. Die Ställe! Er liebte Pferde und Vieh leidenschaftlich.

Der Major sprach am Tage kaum zehn Worte. Selbst im Schelten war er
wortkarg. Er redete in einer Art von Telegrammstil. Nach der Tagesarbeit
zog er sich in seine Bibliothek zurück. Er besaß mehrere tausend Bände
und pflegte bis spät in die Nacht zu lesen, während er langsam seinen
Rotwein schlürfte und drei Zigarren rauchte. Nie mehr. Sein
Spezialgebiet waren Werke über Napoleon, Cromwell, Bismarck, Friedrich
den Großen, kurz über Menschen der Tat. Die schöne Literatur
interessierte ihn überhaupt nicht. Oft las er die halbe Nacht durch,
aber in früher Morgenstunde war er wieder auf dem Hof.

Eines Tages erwachte der Major mit einer leichten Lähmung des linken
Armes und der linken Schulter. Der Knecht mußte ihn mit Franzbranntwein
einreiben, und als das nichts half, befahl er ihm, ihn mit der Peitsche
zu schlagen. „Schlag zu!“ schrie er. „Fester! Fester!“ Schließlich ging
er an einem Stock. Es war nicht Rheuma, wie er angenommen hatte, es war
eine Lähmung, die langsam aber stetig fortschritt.

Das Leiden verhinderte den Major, aktiv am Krieg teilzunehmen. Er
verwünschte sein Dasein; ohne mit der Wimper zu zucken hätte er sein
Leben für sein Land hingegeben. Während der Kriegsjahre war er
nachsichtig gegen das Gesinde und fürsorglich für alle Familien. Er
schlief nun fast nicht mehr. Große Karten lagen auf den Tischen in der
Bibliothek ausgebreitet. Den Verlust des Krieges konnte er nicht
verwinden. Er sprach nun überhaupt nicht mehr, zog sich völlig zurück
und vernachlässigte sogar den Hof. Am Tage der Unterzeichnung des
Friedens von Versailles schoß er sich eine Kugel durch den Kopf. Man
hörte einen dumpfen Fall in der Bibliothek, mitten in der Nacht. Es war
ein Laut, als falle ein Baum.

Eine Sekunde nach dem Fall wurde das Haus alarmiert durch ein
verzweifeltes, hilfloses Weinen, als weine ein entsetztes Kind. Das war
die Gattin des Majors. Sie hatte den dumpfen Fall gehört und wußte
augenblicklich, was geschehen war.

Margarete Schellenberg war eine zarte, stille Frau, im Wesen völlig
verschieden von ihrem Gatten. Sie war verträumt und ging durch die
Wirklichkeit wie eine Schlafwandlerin. Sie zitierte Verse von Goethe und
Heine und las Romane. Früher hatte sie auch gesungen – Schellenberg
hatte sich in ihre süße Stimme verliebt. Sie sang auch jetzt noch
zuweilen, mit einer kleinen, rührenden, etwas zittrigen Stimme. Das aber
tat sie nur, wenn sie sich unbelauscht glaubte. Sie hatte die zartesten
Hände und einen leisen, fast unhörbaren Gang. In den letzten Jahren
hatte sie neben ihrem Gatten gelebt, fast ohne von ihm noch beachtet zu
werden. Er sah sie kaum mehr, auch wenn er ihr bei Tisch gegenübersaß.
Nach dem Tode des Majors verließ sie ihre Zimmer nicht mehr. Der Hof
verfiel.


                                   10

Die Brüder Schellenberg, Wenzel und Michael, hatten die Statur ihres
Vaters.

Sie waren groß, breitschultrig und hatten denselben massiven, eckigen
Schädel. Beiden war es eigentümlich, daß immer ein Lächeln auf ihren
etwas derben, gebräunten Gesichtern lag, ein fast unsichtbares Lächeln,
oft nur der Schimmer einer inneren Fröhlichkeit. Wenzel hatte die
stahlgrauen, zuweilen etwas harten Augen des Vaters, während Michael die
sanften braunen Augen der Mutter erbte. Allerdings ohne den goldenen
Grundton, der die Augen der Mutter auszeichnete, als sie noch jung war,
und der herrlich warm funkelte, wenn das Licht tief in die Augen fiel.
Wenzel und Michael wuchsen wie junge Wölfe auf Klein-Lücke auf. Der
Vater kümmerte sich kaum um sie, ihre Wildheit gefiel ihm. Die Mutter,
verschüchtert und still, hatte nicht die Kraft, sie zu bändigen. Sie
zitterte nur. Sie waren die wildesten Knaben, die man weit und breit
finden konnte. Sie ritten zu zweit, ohne Sattel, auf einem Pferde, einem
Hengst, den sonst niemand berühren durfte. Das Tier – sonderbar genug –
ließ sich von ihnen alles gefallen. Es stand still, wenn einer der
Knaben abstürzte. Sie kletterten auf die höchsten Bäume, sodaß die
Mutter fast ohnmächtig wurde, wenn sie sie oben in den Wipfeln schwanken
sah. Im Alter von zehn Jahren waren sie schon gewaltige Jäger. Sie
jagten, was sie jagen konnten: Vögel, Eichhörnchen, Schlangen, Hasen.
Damals lebte auf dem Hof ein Hund, ein Fleischerhund – genannt Isaak –
groß wie ein Kalb, ein bissiges und übelgelauntes Tier. Mit diesem
Hunde, dessen Augen gelb und böse blendeten und dem selbst der Knecht
auswich, balgten sie sich auf der Erde, daß die Kleider in Fetzen
gingen. Sie hatten Bogen, nahezu zwei Meter hoch, und schossen riesige
Pfeile, die dreizöllige Nägel als Spitze trugen. Sie beschossen sich
gegenseitig, und bei einem dieser Kriegsspiele erhielt der jüngere
Michael einen Schuß in den Knöchel, der leicht fatale Folgen hätte haben
können. Aber es ging gut ab. Seit dieser Zeit hinkte Michael ein wenig.

Mit zwölf Jahren kamen die beiden Knaben zur Schwester der Mutter in die
Stadt. In dieser Stadt – einer kleinen Stadt Mecklenburgs – sah man sie
auf den Dachfirsten reiten. Bei einem Eisgang trieben sie auf einer
Eisscholle, mächtige Prügel schwingend, durch die ganze Stadt, zur
Belustigung der Straßenjugend und zum Schrecken der Erwachsenen. Bei
einer Brücke, wo sich das Eis staute, kletterten sie, gewandt wie
Gemsen, über das Eis ans Ufer, um eine Viertelstunde später wieder auf
einer Eisscholle, prügelschwingend, durch die Stadt zu treiben. Es waren
richtige Teufel.

Der ältere, Wenzel, wurde Offizier. Der jüngere, Michael, wurde Landwirt
und Chemiker.

Nach Beendigung seiner Studien arbeitete Michael einige Jahre in den
Laboratorien der Deutschen Stickstoffwerke. Diese Laboratorien bildeten
einen Komplex wie ein riesiges Hotel, und hier, inmitten des Luxus der
wunderbarsten Apparate, fühlte sich Michael wie im Paradiese. Er war
noch nicht dreiundzwanzig Jahre alt, als er ein Verfahren zur
Herstellung von Harnstoff erfand, das fast um ein Drittel billiger war
als die bekannten Methoden. Sein Name wurde in der Fachwelt bekannt. Die
Deutschen Stickstoffwerke beeilten sich, die Erfindung zu erwerben, und
auf diese Weise fiel dem jungen Mann eine jährliche Rente von
beträchtlicher Höhe in den Schoß.

Michaels neue Methode zur Herstellung von Harnstoff sollte in dem großen
Stickstoffwerk Logan am Rhein zuerst praktisch angewandt werden.
Umbauten und Einrichtungen würden etwa sechs Monate Zeit beanspruchen.
Michael befand sich aber kaum vierzehn Tage in Logan, als jene große
Explosionskatastrophe eintrat, die noch in aller Erinnerung ist. Es
flogen im ganzen fünfhundert Eisenbahnwaggons Stickstoff in die Luft,
vierhundert Menschen wurden getötet, und ein großer Teil des etwa
fünfzehn Kilometer langen Werkes von Logan wurde zerstört. Bei dem
Explosionsherd entstand ein Loch, in das man eine fünfstöckige
Mietskaserne ohne jede Schwierigkeit hätte unterbringen können.

Wie durch ein Wunder kam Michael bei der Katastrophe mit dem Leben
davon. Er schlief im Junggesellenheim des Werkes und wurde am frühen
Morgen, die Explosion ereignete sich bei der ersten Morgenschicht, aus
dem Bett geschleudert. Im gleichen Augenblick schwankte das Haus und
zerriß in zwei Teile. Mit einem verknitterten Schlafanzug bekleidet,
erreichte Michael inmitten einer Lawine von Schutt das Freie. Was, um
Himmelswillen, war geschehen? Er vermochte nicht zu denken, dann aber
schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß die Stickstofflager explodiert
sein müßten. Die Silos waren in die Luft gegangen! Mauern von Staub
verdunkelten die Sonne. Die durch die Explosion zerrissenen Rohre und
Röhren, die unter Druck standen, heulten infernalisch, und aus der
Staubwolke stieg wie aus einem brodelnden Nebel eine rubinrote, glasige
Stichflamme zum Himmel empor. Gestalten stürzten dahin, taumelnd,
schreiend, schlugen mit dem Gesicht auf die Erde. Unaufhörlich folgten
kleinere Explosionsschläge, und Felsblöcke, wie beim Ausbruch eines
Vulkans, surrten heulend durch die Luft.

Die wenigen Überlebenden dieses Teiles des Loganwerkes erinnern sich
heute noch an Michael, wie er augenblicklich handelte, dahin, dorthin
eilte, um Verschüttete, die fürchterlich schrien, zu befreien. Dann
sammelte er ein Häufchen verstörter Arbeiter um sich und disponierte.
Und es fiel allen auf, mit welcher Klarheit er, dieser junge Mensch, der
mit einer Kruste von Staub und Blut bedeckt in seinem Schlafanzug vor
ihnen stand, seine Anordnungen gab.

„Erstens“, sagte er, „müssen wir die Verschütteten befreien. Zweitens
müssen wir die Toten bergen. Drittens müssen wir sofort die Straße vom
Schutt räumen, um sie für den Verkehr freizumachen. Viertens müssen wir
alles, was einzustürzen droht, niederreißen, um weiteres Unglück zu
verhüten, und fünftens müssen wir Logan wieder aufbauen. Vorwärts,
schafft Leute! Und sofort eine Telephonverbindung!“

Den ganzen Tag über gab Michael den Kolonnen seine Anweisungen, immer in
seinem verknitterten Schlafanzug. Aber niemand kam es in den Sinn,
darüber auch nur zu lächeln. Erst am Abend gab man ihm einen Mantel, und
erst als es dunkel wurde, wusch er sich das Gesicht.

Drei Wochen lang war Michael taub, obschon die Schallwelle der Explosion
über ihn hinweggesprungen sein mußte, da sie ihm anders das Trommelfell
zerrissen hätte. Irgendeinen Schaden trug er nicht davon. Einige
schlaflose Nächte, dann war er wieder vollkommen in Ordnung.

Michael arbeitete hierauf zwei Jahre auf dem großen Versuchsgut der
Deutschen Stickstoffwerke, Breda. Er veröffentlichte in dieser Zeit eine
Reihe von Aufsätzen über Fragen der wissenschaftlichen Bodenkultur, die
die Aufmerksamkeit der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin
erregten. Die Hochschule bot ihm einen Lehrstuhl an, und so geschah es,
daß Michael nach Berlin kam. Aber schon nach einem Jahre drehte er
diesem Institut den Rücken zu.

Er kapitalisierte seine Tantieme bei den Deutschen Stickstoffwerken und
erwarb ein dreihundert Morgen großes Gut in der Nähe von Berlin –
Sperlingshof –, das er zu einem modernen Versuchsgut ersten Ranges
umwandelte. Die Erde! Mit seiner ganzen Leidenschaft – die Schellenberg
taten alles leidenschaftlich – richtete er seine Energie auf die Erde,
den Boden, der, fast unbekannt, unerforschter als die chemischen
Elemente, seine Geheimnisse streng hütete, ob ihn die Menschen auch
schon Tausende von Jahren bebauten.

Es gab keine neue oder alte Methode des Land- und Gartenbaus, die
Michael auf Sperlingshof nicht versucht hätte. Es gab keine Maschine,
die er nicht ausprobiert hätte. Bodenimpfung, Berieselungsmethoden,
Regenanlagen, Glashäuser. In Tausenden von Töpfen standen, sauber
etikettiert, verschieden behandelte Versuchspflanzen. Der Boden war
schlecht, Sand, aber er vollbrachte Wunder. Wie eine Oase lag
Sperlingshof in der kargen Landschaft. Fachleute kamen, staunten,
disputierten, kritisierten. Michael arbeitete im Schweiße seines
Angesichts. Die chinesische Landwirtschaft! Sie beschäftigte ihn
monatelang. Sie gab Aufschluß über vieles. In diese Zeit fiel eine
Broschüre, die großes Aufsehen in Fachkreisen erregte. Michael bewies,
daß die Großstädte jährlich Hunderte von Millionen an kostbaren
Nährstoffen in ihren falsch behandelten Abwässern verschwendeten.
Europa, behauptete er, habe zugunsten der Technik in frevelhafter Weise
die Probleme des Landbaus vernachlässigt.

Aber nicht jene Probleme allein beschäftigten Michael. Plötzlich taten
sich – im Zusammenhang mit ihnen – ganz ungeheure Horizonte auf. In der
Einöde von Sperlingshof wurde Michael von sozialen und soziologischen
Problemen so leidenschaftlich ergriffen, daß sie bestimmend für sein
ganzes Leben werden sollten.

Hier reiften die Pläne, in deren Verwirklichung er seine Lebensaufgabe
erblickte!

Die Wintermonate pflegte Michael in Berlin zu verbringen. Er hatte im
Osten der Stadt ein paar Zimmer gemietet. Hier arbeitete er Tag und
Nacht, und Bücher, Pläne, Zeichnungen, Notizen häuften sich auf allen
Tischen.

Seinen Bruder Wenzel sah Michael nur selten. Im ersten Winter kam Wenzel
nach Berlin, um sich eine passende Stellung zu suchen – „nicht allzuviel
Arbeit und ein hohes Einkommen“. Die Brüder verbrachten fast alle Abende
zusammen. Sie waren sich noch immer wahrhaft zugetan, obschon Michael in
seiner Entwickelung eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte.

Wenzel, der stets Glück hatte, fand in der Tat eine ausgezeichnete
Stellung! Er wurde Sekretär bei dem alten Raucheisen, dem Chef des
Raucheisen-Konzerns, dem ein großer Teil des Ruhrgebiets gehörte – „ein
deutsches Fürstentum unter der Erde“, wie Wenzel sagte – und der gegen
achtzig industrielle Großbetriebe kontrollierte. Wenzel ließ seine
Familie nachkommen, Lise und die beiden Kinder, und richtete sich
irgendwo im Westen eine luxuriöse Wohnung ein. Seit dieser Zeit sahen
sich die Brüder – ohne jeden sonderlichen Grund – ganz selten. Im
letzten Winter nur zweimal.


                                   11

In diesem Herbst kehrte Michael früher als sonst von Sperlingshof
zurück. Ganz plötzlich hatte er die Zelte abgebrochen. Die Pläne
reiften! Es gab viele Arbeit hier in der Stadt, und jeder Tag war
kostbar. In diesem Winter wollte er die Arbeitsgemeinschaft gründen,
eine Gemeinschaft der besten und verantwortungsvollsten Köpfe
Deutschlands. Besuche, Besprechungen, Korrespondenz, Arbeit in Hülle und
Fülle, fast ohne Pause, sechzehn Stunden am Tag und mehr.

Es war nur zu verständlich, daß er keine Zeit fand, sich nach Wenzel
umzusehen. Jeden Tag nahm er sich vor, ihn aufzusuchen.
Merkwürdigerweise dachte er in diesen Wochen häufig an den Bruder.

Eines Tages aber fand er unter der eingegangenen Post einen
umfangreichen Brief von einer Hand, die ihm bekannt vorkam. Die Schrift
und die grünlichschillernde Tinte berührten ihn nicht sympathisch. Da
erinnerte er sich, daß es die Schrift der Schwiegermutter Wenzels war,
einer Frau von dem Busch, einer arroganten und herrschsüchtigen Dame,
der er am liebsten aus dem Wege ging.

Was will sie nur von mir? dachte er erstaunt und schon etwas ärgerlich.
Ich habe gehofft, sie würde mir für immer böse sein, wegen unseres
letzten Disputs. Sie hatten damals über Sozialismus debattiert, und
Michael, den der anmaßende Ton der Frau von dem Busch tief verletzt
hatte – sie nannte die Arbeiter nur Tagediebe und Faulpelze, die sich
volltrinken –, hatte ihr vor allen Leuten mit ziemlicher Schärfe
bewiesen, daß sie nicht einmal wisse, was Sozialismus sei, obschon sie
ihn verdamme.

Frau von dem Busch war eine jener Damen, die in ihrem Leben nichts
gearbeitet haben, von ein paar gehäkelten Deckchen abgesehen. Vom frühen
Morgen bis zum späten Abend mußten die Mädchen für sie rennen. Sie tat
nichts ohne eine ungeheure Verschwendung von Worten, sie verbreitete
Unruhe. Immerzu war sie auf Reisen, Nizza, Italien, Marienbad. Ohne
Unterbrechung hatte sie es mit den Ärzten zu tun. Ihr Mann war Landrat
gewesen und hatte keineswegs Glücksgüter hinterlassen. Wovon bestritt
sie ihren Haushalt, ihre Reisen? Niemand wußte es. Sie hatte große Pläne
mit ihrer einzigen Tochter Lise gehabt. Irgend etwas ganz
Außergewöhnliches hatte sie erwartet, einen Prinzen oder Vanderbilt oder
einen russischen Fürsten. Gott mochte es wissen. Sie konnte es Wenzel
niemals verzeihen, daß er ihre Pläne zunichte machte.

„Eine verdrießliche Sache,“ sagte Michael ärgerlich, nachdem er einen
Blick in den Brief geworfen hatte, und steckte ihn in die Tasche. Erst
am Abend, als er seine Abendmahlzeit in einem stillen Restaurant
einnahm, machte er sich an die Lektüre. Weshalb schreibt sie nicht an
Wenzel direkt? dachte er. Was habe ich mit ihr zu schaffen?

Der Brief der Frau von dem Busch versetzte Michael in schlechte, nervöse
Laune. Er errötete ein paarmal vor Unwillen, zuweilen aber amüsierte er
sich und mußte laut auflachen. Zuletzt aber erschrak er. Was war das?
Wenzel?

Frau von dem Busch begann mit der Versicherung, daß sie an Michaels gute
Eigenschaften glaube, während sie bei Wenzel zu ihrem Bedauern nie gute
Eigenschaften entdecken konnte, so sehr sie sich auch bemüht habe. (Eine
boshafte, taktlose Person! dachte Michael.) „Ich schreibe an Sie,
Michael, im Vertrauen auf Ihr gutes Herz, wenn Sie auch heute vielleicht
noch Weltanschauungen huldigen, die ich nicht billigen kann, ja, die ich
bekämpfen muß. Aber Ihre Jugend entschuldigt Sie.“ („Welche
Unverschämtheit!“ sagte Michael laut vor sich hin.)

„Lises Briefe beunruhigen mich,“ fuhr Frau von dem Busch fort, nachdem
sie Wenzel erneut einen Hieb versetzt hatte. „Sie schreibt wenig,
ausweichend und unaufrichtig. Sie wissen ja, Michael, daß ich gegen
diese Ehe eingenommen war. Mein mütterliches Herz hat mich gewarnt. Was
könnte Lise heute sein, wer könnte sie sein! Sie verkehrten nie in
meinem Hause, Sie können also nicht wissen, wer bei mir aus- und
einging, der höchste Adel und sogar Fürstlichkeiten. Alle bewunderten
Lise und prophezeiten ihr eine große Karriere, und Professor Livonius
sagte, in drei Jahren würde sie Primadonna an der Hofoper sein. Ich
verbringe schlaflose Nächte, wenn ich an all das denke. Ich habe meine
Tochter Ihrem Bruder nicht gegeben, Sie wissen es. Er hat sie einfach
geraubt, geraubt wie ein gemeiner Straßenräuber!“ (Hier mußte Michael
laut auflachen, so daß die beiden Kellner zu ihm herblickten. In der Tat
hatte sein Bruder Lise seinerzeit entführt, es war am Anfang des
Krieges, und Wenzel hatte nur fünf Tage Urlaub.)

Nach einer langatmigen, jammernden Betrachtung über den Verfall der
Sitten kam Frau von dem Busch wieder zu ihrem Thema zurück. Ihre
schlimmsten Befürchtungen, schrieb sie, schienen sich zu erfüllen. „Lise
schreibt mir, daß Sie Wenzel schon seit einem halben Jahre nicht mehr
besuchten. Ich begreife sehr wohl, daß Sie sich, wie fast alle Menschen,
von ihm zurückziehen.“ (Oh, wie unverschämt ist diese Alte, dachte
Michael zornig.) „Denn, wie Lise mir schreibt, haben nach und nach alle
seine Freunde ihn verlassen, auch Lises Bekannte bleiben aus, und sie
hatte doch einen so reizenden Kreis geachteter Persönlichkeiten,
Legationssekretäre, Attachés und hohe Offiziere. Aus Freundschaft und
Achtung zu unserer Familie verkehrten sie bei Lise. Aber es ist kein
Wunder, daß einer nach dem andern wegbleibt. Meine Tochter aber ist tief
unglücklich, ich fühle es aus jeder ihrer Zeilen. Sie wissen, lieber
Michael, daß Ihr Bruder seit drei Monaten nicht mehr im
Raucheisen-Konzern tätig ist.“ (Wenzel? Was ist mit Wenzel? dachte
Michael erschrocken über diese unerwartete Nachricht.) „Weshalb? Wissen
Sie den Grund? Und er hatte gewiß dort eine wundervolle und
ausgezeichnet bezahlte Stellung. Was ist vorgefallen? Geben Sie mir
Auskunft! Lise schweigt sich darüber aus. Von Berliner Bekannten konnte
ich Positives nicht erfahren, sie machten nur Andeutungen, die mich noch
mehr beunruhigten. Etwas ist hier nicht in Ordnung. Ich wäre nach Berlin
gekommen, muß aber zu meiner Schwester nach Bremen reisen und von dort
aus nach Frankfurt am Main, wohin mich eine alte Freundin dringend
bittet. Ich hätte gewünscht, daß Lise mehr Vertrauen zu ihrer Mutter
habe. Gehen Sie zu ihr, machen Sie ihr Vorwürfe! Welch törichter Stolz,
sich vor seiner Mutter zu schämen. Aber ich kann mir vorstellen, daß
Lise nicht gerne über diese unerquicklichen Dinge spricht. Ich weiß
nicht, ob Sie Ihren Bruder letzthin gesehen haben. Lise schreibt mir,
daß er in den letzten Monaten von einer außerordentlichen Ruhelosigkeit
ergriffen war. Er kam oft tagelang nicht nach Hause. In ihrem heutigen
Briefe nun gesteht mir Lise, daß Wenzel seit zwei Wochen in Geschäften
abwesend ist. Ich fühle, daß Lise sich in der allergrößten Erregung
befindet. Was ist aus Ihrem Bruder geworden?“

Michael hatte diese Mitteilungen mit dem größten Erstaunen und mit einem
leichten Erschrecken gelesen. Der Brief schloß mit der Bitte, zu Lise zu
gehen, sie auszuforschen und sodann ihr, Frau von dem Busch,
ausführlichen Bericht zu erstatten. Ungeduldig warte sie auf seine
Nachricht.

Michael erhob sich und schlüpfte in den Mantel. Verstimmt und beunruhigt
verließ er das Restaurant.

Er beschloß, Lise morgen zu besuchen.

Am nächsten Tage, etwas nach vier Uhr, machte sich Michael auf den Weg
zu Lise. Sie wohnte draußen im Westen, in einer jener Straßen, die sich
alle gleichen, in einem jener Häuser voll von falschem Prunk, die alle
verschieden sind. Das Treppenhaus war ganz aus Marmor. Neben dem Lift
stand eine Bank aus weißem Marmor, auf die sich niemand setzte, weil sie
eisigkalt war. Lise aber fand Treppenhaus und Bank herrlich.

Das Mädchen, eine hübsche, schlanke Person mit einem Häubchen auf dem
Kopfe, empfing ihn mit freudig erstaunter Miene. „Herr Doktor
Schellenberg! Ist es möglich?“ rief sie aus und öffnete die Tür so weit
als es möglich war.

„Ist meine Schwägerin zu Hause? O ja, ich höre sie.“

Aus Lises Zimmer drang Gesang und Klavierspiel. Lise übte zwei-, dreimal
die gleiche Kadenz. Sie hatte einen hohen, etwas spitzen Sopran.

„Gnädige Frau haben Stunde,“ sagte das Mädchen. „Ich darf nicht stören.
Aber die Stunde muß bald zu Ende sein.“

„Führen Sie mich unterdessen zu den Kindern,“ bat Michael.

Sobald er nur den Kopf in das Kinderzimmer steckte, erscholl lautes und
freudiges Geschrei der beiden Kinder. Marion, das Mädchen, das die Züge
Lises trug, wollte sich augenblicklich auf ihn stürzen. Sie kauerte auf
einem Schemel in der Mitte des Zimmers. Der Junge aber, Gerhard – schon
jetzt zeigte sein Kopf die breiten und etwas derben Züge der
Schellenberg –, schrie die Schwester in erregtem Tone an. „Steige nicht
aus, Marion! Du wirst sofort ertrinken! Du kannst ja nicht schwimmen!
Und du, Onkel, bitte, gehe nicht weiter. Siehst du nicht, daß dieser
Strich der Wannsee ist?“ Gerhard saß oben auf dem Kleiderschrank. In der
Hand hielt er eine Tute aus zusammengerolltem Papier, die er zuweilen an
den Mund setzte, um schauerlich zu tuten. Das Zimmer war in großer
Unordnung, die Kinder nicht ganz sauber und etwas vernachlässigt. In der
Ecke stand idyllisch ein Nachtgeschirr.

„Was gibt es?“ fragte Michael lachend.

„Marion sitzt auf einem Segelboot, das soeben gekentert ist, Onkel,“
erklärte Gerhard hastig und erregt vom Schrank herab, denn er fürchtete,
das Spiel könnte gestört werden. „Und ich bin der Leuchtturmwächter und
tute um Hilfe. Steige nicht aus, Marion, du wirst augenblicklich
ertrinken! Siehst du nicht die hohen Wellen? Und der Wind bläst – huh!“

Marion warf Michael hilfesuchende Blicke zu, während sie sich krampfhaft
an ihrem Schemel festhielt, als fürchte sie fortgeweht zu werden. In
ihrer Angst hatte sie sich das Höschen naßgemacht. Sie war nahe daran,
in Tränen auszubrechen.

„Nur keine Angst, Marion,“ beruhigte sie Michael, „wenn du ins Wasser
fällst, so ziehe ich dich sofort wieder heraus!“

„Du mußt um Hilfe schreien, Marion! Oh, wie dumm du bist!“

„Hilfe! Hilfe!“ zeterte die Kleine.

„Das Rettungsboot kommt!“ tutete Gerhard.

Blitzschnell, wie eine Katze, sprang er vom Schrank und rutschte auf
einem Stuhl über den Fußboden langsam heran an Marions Schemel. Er warf
Marion unter vielen Zurufen eine Schnur zu und zog sie auf ihrem Schemel
in eine Ecke. Nun waren sie angekommen.

„Komm hierher, Onkel!“ rief der Knabe, „wir sind auf der Pfaueninsel.“

Die Stimme des Knaben, der bisher, vom Spiel erregt, wild und laut
geschrien hatte, war plötzlich sanft und weich. „Weshalb kommst du so
selten, Onkel? Man sieht dich gar nicht mehr!“ fragte er und sah Michael
mit einem langen, reinen Blick an. Marion aber kletterte an ihm in die
Höhe, wie an einem Baum, und bedeckte seine Wange mit Küssen, während
sie die dünnen Arme um seinen Hals legte.

„Ich hatte zu arbeiten,“ antwortete Michael verlegen, denn er fühlte,
daß der Knabe ihm nicht glaubte.

Gerhard sah ihn von der Seite an. „Ihr mit eurer Arbeit!“ sagte er und
zuckte geringschätzig die Achsel. „Auch Papa behauptet immer, er müßte
arbeiten, und dabei sitzt er doch Tag und Nacht in den Weinstuben.“

„Aber Gerhard!“ erwiderte Michael mit sanftem Tadel. „Pfui, wie häßlich.
Was sagst du da? Wer sagt dir, daß Papa Tag und Nacht in den Weinstuben
sitzt?“

„Nun, Mama,“ antwortete der Knabe und verzog die Lippen.

Michael verteilte die Schleckereien und mußte mit Marion zusammen eine
Schokoladenstange verspeisen. Sie aß an einem Ende und er am andern, bis
sie mit den Lippen zusammenstießen. Nun, aber ja – wollten sie zusammen
spielen. Onkel! Sie wußten genau, daß Michael ihnen entrissen wurde,
sobald die Gesangsstunde zu Ende war.

„Komm, Onkel!“ rief Gerhard, „was wollen wir spielen? Wir wollen den
Mont Blanc besteigen, willst du?“

„Nun schön, meinetwegen,“ stimmte Michael lächelnd zu. „Wie geht das:
den Mont Blanc besteigen?“

Marion aber heulte. „Ich will nicht auf den Mont Blanc. Onkel, man muß
auf den Schrank klettern, und ich fürchte mich.“

„Ach wie dumm und albern du bist, du Heullise!“ rief der Knabe und
stampfte mit dem Fuße. „Fünftausend Meter, was ist schon dabei?“

Michael beruhigte das Mädchen. „Also, Marion, wenn ich in deiner Nähe
bin, so wirst du wohl Mut haben. Sieh zu, ich werde dich an der Hand
führen, und es wird dir nichts geschehen. Fallen wir herunter, nun was
schadet es, so fällst du in meine Arme.“

Gerhard aber betrieb augenblicklich eifrig die Vorbereitungen. Ein Tisch
wurde an den Schrank geschoben und auf den Tisch ein Stuhl gestellt. An
den Tisch wiederum wurde ein Stuhl gerückt. Nun wurden sie alle drei mit
einer Schnur aneinander gebunden, und Gerhard, mit einem Stock
bewaffnet, begann den Aufstieg. Er schlug mit dem Stock Stufen in das
Eis, er ließ Warnungen ertönen, so daß Marion zu zittern anfing.
Schließlich aber ging alles gut ab, und alle drei waren oben.

In diesem Augenblick öffnete das Mädchen die Tür und sagte, während sie
in lautes Lachen ausbrach: „Die Stunde ist eben zu Ende, ich werde Sie
sofort der gnädigen Frau melden.“


                                   12

Das Mädchen lachte noch hell heraus, als es über den Korridor eilte.
Michael stieg mit Marion auf dem Arm vom Mont Blaue herab und begab sich
in die Diele.

Hinter einer der vielen langweiligen weißen Türen hörte er die erregte
Stimme seiner Schwägerin. Sie zankte. Das Dienstmädchen schlüpfte mit
bestürzter Miene durch den Türspalt. Gleich darauf öffnete sich der eine
Flügel der Tür, und Lise wurde sichtbar. Sie war in höchster Erregung
und blickte Michael mit zornigen Augen an.

„Bestellen Sie es dem Herrn nur!“ rief sie und schob das zögernde
Dienstmädchen in die Diele. „Bestellen Sie dem Herrn, was ich Ihnen
sagte: Ich will nichts mehr mit den Schellenberg zu tun haben!“

Verblüfft und betreten tat Michael einen Schritt rückwärts. Er griff mit
einer bedauernden Geste nach Hut und Mantel. „Nun, dann lebe wohl,
Lise,“ sagte er und zuckte die Achsel. „Ich werde mich dir nicht
aufdrängen.“

In diesem Augenblick streckten die Kinder die Köpfe in die Diele und
riefen: „Michel! Michel!“

Lise trat einen Schritt vor. „Macht, daß ihr fortkommt!“ herrschte sie
die Kinder an.

Michael ging. Welch eine unerquickliche Szene, dachte er. Wie tief muß
Wenzel sie verletzt haben, daß sie so außer sich ist! In großer Erregung
stieg er die Treppe hinab. Er bereute nun, daß er die Beleidigung Lises
ohne jede Erwiderung eingesteckt hatte.

Aber Lise erschien am Geländer der Treppe und schrie mit einer rasenden
Stimme in das Stiegenhaus hinein: „Ich will das Schellenbergsche Gesicht
nicht mehr sehen! Ich habe genug davon!“ Dann schlug sie die Tür zu, daß
das Haus zitterte. Oh, wie böse sie heute war!

Michael hatte indessen kaum das Foyer mit den Marmorsäulen und der
weißen Marmorbank erreicht, als das junge Dienstmädchen nachgestürzt
kam. „Die gnädige Frau bittet Sie, sofort heraufzukommen. Sie bittet
vielmals, sie zu entschuldigen.“ Und als Michael, dessen Zorn schon
wieder verraucht war, mit ihr die Treppe emporstieg, fügte sie
entschuldigend und erklärend hinzu: „Die gnädige Frau ist außer sich.
Ihr Herr Bruder hat schon seit Wochen das Haus nicht mehr betreten.“

Lise erwartete Michael in ihrem Musiksalon. Sie streckte ihm erregt die
Hand hin, ihre Augen standen voll Tränen. „Verzeihe, Michael,“ rief sie
aus. „Ich bin in einer Erregung, die unbeschreiblich ist. Du bist mir
doch nicht böse, wie? Nein, du bist immer ein guter Kerl gewesen und
verstehst alles.“

„Was in aller Welt geht hier vor?“ fragte Michael mit gerunzelter Stirn.

„Nimm Platz. Ich werde nach Tee klingeln. Bringen Sie Tee, Anna!“ Sie
schrie das Dienstmädchen an, um ihre Beschämtheit zu verbergen.

Lise gehörte zur Klasse jener Blondinen, die zur Üppigkeit neigen und
Gefahr laufen, frühzeitig ihre reinen Formen zu verlieren. Ihre sanften
Wangen waren voll und immer lebhaft gerötet, als sei sie erhitzt, die
Augen, die vorhin, als sie erregt war, so groß aussahen, waren von
zarter, etwas verblaßter blauer Färbung. Ein heller, lockerer, etwas
unordentlicher Haarschopf wippte über der Stirn.

Sie suchte nervös nach Zigaretten und warf sich auf den Diwan, der dicht
neben dem Flügel stand. Das Zimmer war voll von Notenblättern und
Büchern, in ziemlicher Unordnung. Der riesige Diwan war mit einer
lachsroten Decke bedeckt, und darauf waren einige Dutzend Kissen in
grellen Farben verteilt. Eine Stehlampe mit rotem Schirm und langen
schwarzen Quasten stand neben dem Flügel.

„Wie schön, daß du gekommen bist, Michael,“ sagte Lise, nur um etwas zu
sagen. So lächerlich es war, versuchte sie dem Dienstmädchen, das den
Tee servierte, nach dieser erregten Szene vorzutäuschen, daß alles in
bester Ordnung sei. „Du siehst gut aus, braun,“ plapperte sie. „Das
Landleben bekommt dir gut. Ich war im Sommer in Heringsdorf mit den
Kindern und Major Puchmann und seiner Frau.“

Sie plauderte noch dies und jenes, zuweilen mit einem kleinen,
glucksenden Lachen, solange das Mädchen im Zimmer war.

Kaum aber hatte das Mädchen das Zimmer verlassen, als sie erregt nach
Michaels Hand tastete und mit hilflosem Blick fragte: „Hast du Wenzel
gesehen?“

„Ich bin erst seit kurzer Zeit in Berlin,“ erwiderte Michael. „Ich habe
ihn nicht gesehen und wollte euch heute besuchen.“ Er sprach etwas
unsicher und stockend, es fiel ihm schwer, sich zu verstellen. Den Brief
von Lises Mutter erwähnte er absichtlich nicht. „Was, um alles in der
Welt, ist mit Wenzel?“

Lise sah ihn lange an, dann erhob sie sich und ging ein paar Schritte,
während sie die Zigarette zwischen den Lippen zernagte. „Was mit Wenzel
ist?“ fragte sie. Sie blieb vor Michael stehen. „Ich weiß es nicht.“

„Du weißt es nicht?“

„Nein. Ich weiß seit – seit längerer Zeit nichts mehr von Wenzel. Es ist
alles merkwürdig. Daß er nicht mehr bei Raucheisen tätig ist, weißt du
wohl? Der alte Raucheisen hat ihn entlassen.“

„Entlassen?“

Lise zerknitterte die Stirn. „Entlassen oder nicht entlassen, jedenfalls
ist er nicht mehr bei Raucheisen. Und irgend etwas muß ja wohl
vorgefallen sein. Ich habe mit einigen Freunden Wenzels gesprochen, die
bei Raucheisen arbeiten. Vielmehr nicht ich, ich habe Major Puchmann
gebeten, mit ihnen zu sprechen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Denn es gehen Gerüchte, Michael! Aber die Herren machten nur Ausflüchte.
Sie sagten nichts. Jedenfalls schied Wenzel von heute auf morgen bei
Raucheisen aus.“

Michael versuchte, Lises Hand zu fassen, um sie zu beruhigen.
„Vielleicht hat es Wenzel nicht mehr bei Raucheisen gefallen,“ sagte er.
„Laß dich doch von den Leuten nicht beschwätzen, Lise.“

Lise schüttelte den Kopf. „Beschwätzen?“ sagte sie und wurde immer
erregter und geriet nahezu wiederum in den früheren Zustand der
Verzweiflung. „Beschwätzen? Ich bin doch nicht irgendeine kritiklose
Person, Michael. Es ist ja auch gar nicht die Hauptsache, was bei
Raucheisen vorfiel. Aber nun höre: die Hauptsache ist, daß Wenzel ohne
jede Erklärung, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Hause gegangen ist!“

„Er hat dein Haus verlassen?“

Lise schlug die Hände vors Gesicht. „Ja! Ich verstehe nicht, wie ich das
alles ertragen habe. Oh, diese Schmach und Schande, mich hier sitzen zu
lassen mit den Kindern. Was soll meine Mutter denken? Ich wagte es ihr
nur anzudeuten. Was sollen meine Freunde denken? Müssen sie nicht
glauben, ich hätte meine Pflichten verletzt, ich hätte irgendeine
Liebschaft angefangen? Meine Verwandten, die alle hohe Beamte und
Militärs sind, korrekt bis in die Fingerspitzen – für die es so etwas
einfach nicht gibt. Oh, wie furchtbar ist dies alles!“

„Ich verstehe nicht –“

„Ich werde dir alles erzählen,“ sagte Lise, indem sie sich Mühe gab,
sich zu beruhigen. Sie nahm wieder auf dem Diwan Platz. „Höre zu,
Michael. Über ein Jahr war Wenzel bei Raucheisen. Zehn Minuten vor
sieben, jeden Morgen, holte ihn das Auto ab. Punkt sechs stand er auf,
und er machte sich selbst das Frühstück in der Küche, denn ich konnte
dem Mädchen doch nicht zumuten, so früh aufzustehen. Zwischen sieben und
neun Uhr abends kam er nach Hause. Wir besuchten Theater, Konzerte,
Gesellschaften. Es ging alles vorzüglich. Schon nach einem Vierteljahr
hatte Raucheisen Wenzels Gehalt verdoppelt. Ich atmete auf, denn die
Jahre während des Krieges, die ich bei Mama zubrachte, waren nicht
leicht gewesen.“

„Also bis dahin ist alles gut gegangen?“

„Sehr gut sogar. Er verrichtete seine Arbeit mit einem Eifer und einer
Peinlichkeit, die nur ein Offizier kennt. Er war lieb und reizend zu
mir. Obwohl er den ganzen Tag arbeitete, war er abends in den
Gesellschaften noch in sprühender Laune.“ Lise legte die Stirn in
Falten. „Vom Frühjahr an aber wurde es anders. Er wurde unruhig, er
schlief schlecht, und er brachte Freunde mit ins Haus, die mir nicht
sonderlich gefielen. Kennst du Mackentin, einen früheren Oberleutnant
der Fliegertruppe?“

„Ich kenne ihn nicht,“ erwiderte Michael. „Aber ich hörte seinen Namen.“

„Oh, er hat ein widerliches Gesicht und so freche Augen. Wie eine Ratte.
Dann kam noch ein früherer Leutnant. Seinen Namen habe ich vergessen.
Sie schlossen sich in Wenzels Zimmer ein, qualmten, tranken und
plauderten.“

„Spielten sie?“ fragte Michael.

„Nein, sie spielten nicht. Aber sie waren sehr laut, und Wenzel hatte
seine Periode. Du weißt, daß er Perioden hat, wo er trinken muß.“

„Nun, Wenzel kann eine gute Menge vertragen,“ sagte Michael mit einem
breiten Lächeln.

„Ich machte ihm Vorwürfe, aber er sagte nur: ‚Geschäfte, Geschäfte.
Davon verstehst du nichts. Warte!‘ Dann kam er oft nach Mitternacht nach
Hause und noch später. Er roch nach Wein und Zigarren, und es gab
Szenen. Manchmal roch er auch nach zweifelhaften Parfüms. Das sage ich
dir!“ schrie Lise plötzlich und hielt die verkrampfte Hand vor Michaels
Gesicht. „Wenn ich herausbekomme, daß er mich schon damals mit
Frauenzimmern hintergangen hat, dann soll es ihm leid tun!“

„Beruhige dich,“ unterbrach sie Michael. „Berichte weiter. Vielleicht
spielte er. Es ist ja wohl möglich, denn er hatte ja früher zuweilen
diese Leidenschaft. Urteile doch nicht so hart.“

„Du verteidigst ihn?“

„Natürlich, denn ich kenne ja auch seine guten Eigenschaften. Kann ein
Mensch denn nicht Leidenschaften haben?“

Lise machte die Augen groß. „Leidenschaften? Weshalb? Mit welcher
Berechtigung? Aber“ – korrigierte sie sich – „meinetwegen auch
Leidenschaften – solange andere nicht darunter leiden. Vielleicht hast
du recht, Michael. Es ist möglich, daß er in dieser Zeit spielte. Denn
zuweilen hatte er viel Geld, und er warf es mit jener unangenehmen Geste
auf den Tisch, die er hat, wenn er viel Geld besitzt.“

Michael errötete unwillig. „Unangenehme Geste? Verschwender sind mir
lieber als Geizhälse, Lise.“

„Vielleicht urteile ich zu streng, du magst recht haben,“ lenkte Lise
ein. „Aber kannst du verlangen, daß ich noch nachsichtig urteile – nach
allem, was geschehen ist? Nun höre weiter. Schließlich blieb Wenzel
ganze Nächte weg. Dann wieder kam er spät in der Nacht, um das Haus
schon wieder um vier Uhr morgens zu verlassen. Ich machte ihm Vorwürfe.
Er erwiderte nur, er habe zu arbeiten. Dieses Leben war eine Hölle, denn
ich wußte, daß etwas mit ihm vorging, daß etwas nicht in Ordnung war.
Eines Tages aber erfuhr ich durch Zufall, daß er gar nicht mehr bei
Raucheisen tätig war. Er hatte mir nie ein Wort darüber gesagt.“

Michael schüttelte den Kopf. „Es mußte ihm natürlich peinlich sein.
Verstehst du nicht, Lise?“

Lise fuhr fort: „Was er aber tat, konnte ich nicht erfahren. Er kam
nicht mehr zu mir. Zuweilen schickte er einen Boten mit Geld. Das ist
alles, was ich von ihm höre und sehe. Ich aber will seine Almosen nicht!
Wenn es nicht anders wird, so werde ich die beiden Kinder nehmen und
mich ins Wasser stürzen.“

„Lise!“ Michael lächelte.

Lise begann zu weinen. „Und dann die Gerüchte! Denke, Michael, daß alle
meine Verwandten hohe Beamte und Militärs sind!“

Nun stieg Michael die Röte ins Gesicht. „Sei nicht böse, Lise,“ sagte
er, „es langweilt mich, immerzu von deinen Verwandten zu hören. Wir
Schellenberg sind auch kein hergelaufenes Gesindel. Mache dich nicht
lächerlich –“

„Lächerlich?“ Lise tat äußerst erstaunt und verletzt. „Ah, ein
Schellenberg!“ sagte sie. „Den Ton kenne ich!“ Sie stand auf, erregt,
feindselig.

Schon bereute Michael. „Laß uns nicht streiten, Lise,“ sagte er. Und
sofort war auch Lise wieder bereit, einzulenken. „Höre, Lise, sprich
jetzt offen: Was, in Teufels Namen, ist vorgefallen?“

Lise nahm Michaels beide Hände, sah ihn an und flüsterte: „Ich weiß
nichts Bestimmtes. Aber es gehen Gerüchte. Wenzel – es sind nur
Gerüchte, man trug es mir zu – soll eine Unterschlagung begangen haben.
Raucheisen wollte keinen Skandal und entließ ihn von einem Tag auf den
andern.“

Michael erbleichte. „Wenzel und eine Unterschlagung! Aber Lise, laß dir
doch so etwas nicht weismachen! Eher würde Wenzel sich eine Kugel durch
den Kopf schießen. Ich kenne ihn ja.“

Lise sank in sich zusammen. „Vielleicht war es auch nicht gerade eine
Unterschlagung, Michael. Vielleicht war es nur eine Inkorrektheit.
Jedenfalls – wir sind arm und gehören nicht zu dem Gesindel, das heute
in Deutschland obenan ist. Wir haben nichts mehr als unseren guten
Namen.“

„Du weißt nicht, was Wenzel zur Zeit tut?“

Verzweifelt schüttelte Lise den gelben Haarschopf. „Ich weiß es nicht,
nein. Ich weiß nur, daß er mit diesem Mackentin zusammen ist. Sie machen
irgendwelche Geschäfte.“

„Nun gut,“ antwortete Michael, „ich werde ihn besuchen, wo wohnt er?“

Lise starrte ihn an. „Wo er wohnt? Auch das weiß ich nicht. Ich weiß gar
nichts. Ich habe den Boten, der das Geld bringt, schon hier
hereingenommen und ihm gedroht, ihn niederzuschießen, wenn er mir nicht
seine Wohnung angibt.“

„Aber er sagte nichts?“ Michael lachte. „Siehst du, Lise, so war er
immer. Immer hatte er so einen kleinen theatralischen Zug an sich. Und
wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?“

„Drei Monate.“

„Wie?“

„Drei Monate.“

Michael sprang auf.

„Ja, drei Monate lang ertrage ich dies schon!“ schrie Lise. „Und jetzt
ist es genug. Jetzt ist es genug!“ wiederholte sie.

„Arme Lise! Wie kann ich dir helfen?“

Lise dachte nach. „Helfen? Helfen? Es scheint aussichtslos. Aber –“ Sie
dachte nach, und plötzlich hob sie das Gesicht in die Höhe, ein Gedanke
erhellte ihre Augen. Sie sprang auf. „Höre, Michael,“ rief sie, „du
wirst gehen und Wenzel suchen.“

„Wie soll ich ihn in dieser großen Stadt finden?“

„Du wirst ihn finden!“ rief Lise gläubig und überzeugt, begeistert von
ihrem Einfall. „Ja, als sein Bruder wirst du ihn unbedingt zu finden
wissen. Du wirst Erkundigungen einziehen. Es wird dir nicht schwerfallen
... Höre, Puchmann sagte mir, in der Nähe des Gendarmenmarkts, da sind
einige kleine Kaffeehäuser und einige kleine Weinstuben, wo viele
Börsenmenschen und Geschäftsleute verkehren. Dort soll Wenzel verkehren.
Gehe nur, Michael, und suche ihn.“ Sie zog Michael am Ärmel, so daß er
aufstehen mußte. „Gehe nun sogleich, und wenn du ihn findest, so erzähle
ihm, was ich dir gesagt habe.“ Lise brach in Schluchzen aus, warf sich
auf den Diwan und drückte das Gesicht in die Kissen.

Vergebens versuchte Michael, sie zu beruhigen.

„Geh! Geh!“ rief sie. „Suche ihn, und wenn du ihn gefunden hast, so sage
ihm, daß er sofort zu mir zurückkehren soll. Es ist mir schließlich
einerlei, was meine Verwandtschaft denkt. Aber höre, Michael,“ und Lise
schlang ihren Arm um Michael und barg ihren blonden Haarschopf an seiner
Brust, „höre und sage ihm, daß ich ihn trotz allem liebe. Es ist mir
auch gleichgültig, was er getan hat. Ich werde ihm alles verzeihen. Sage
ihm das.“

Michael ging. Lise, das Gesicht in Tränen gebadet, geleitete ihn hinaus.
„Und versprich mir eins, Michael, sobald du ihn findest, so gib mir
Nachricht. Rufe mich an. Schwöre es mir!“

Michael schwor.


                                   13

Michael verließ Lises Haus in großer Beunruhigung. Die ehelichen
Zwistigkeiten nahm er nicht allzu ernst. In allen Ehen gab es
Differenzen, und in der Ehe seines Bruders hatten sich schon in den
ersten Jahren schwere Verstimmungen eingestellt. Zweimal war Lise schon
durchgegangen.

Was ihn beunruhigte, ja erregte, das waren Lises Andeutungen über das
veränderte Wesen seines Bruders. Wenzel war nie ein leichtsinniger
Mensch gewesen, wenn er auch das Leben nie allzu schwer genommen hatte.
Er machte sich keine großen Sorgen, in welcher Situation er sich auch
befinden mochte. Sein unerschütterlicher Optimismus trug ihn über alle
Schwierigkeiten des Daseins hinweg. „Immer Mut! Man muß dem Schicksal
nicht aus der Hand fressen!“ war sein Wahlspruch. Und es ging immer, um
die Wahrheit zu sagen. Mit dem gleichen Optimismus hatte Wenzel den
Krieg durchgemacht. „Was soll mir geschehen?“ sagte er. „Vielleicht
schießen sie mir einen Arm oder ein Bein ab, das ist mir völlig
gleichgültig. Mehr können sie mir nicht anhaben.“ Und in der Tat, Wenzel
trug kaum einige Schrammen in all den vier Jahren davon.

Wenzel hatte „zwei Spezialteufel“, wie er zu sagen pflegte. Der eine war
der große Teufel Kohol, der Alkohol, der zweite war der Teufel Karo, der
Karobube. Unter den Anfechtungen dieser seiner zwei Teufel hatte Wenzel
in gewissen Perioden sehr zu leiden. Der Teufel Kohol verfuhr noch
glimpflich mit ihm. Schlimmer war es, wenn er dem Spielteufel verfiel.
Er spielte dann Wochen hindurch, er verspielte alles – aber am Schlusse
stellte es sich heraus, daß er alle Verluste wieder wettgemacht hatte.
„Ein blaues Auge!“ Oder: „Zwei blaue Augen!“

Was war nun mit Wenzel geschehen? Hatten seine „zwei Teufel“ wieder
Gewalt über ihn bekommen? Er schickte Lise Geld, also mußte er entweder
im Spiel gewinnen oder auf irgendeine Weise Geld verdienen. Was tat er?
Wie lebte er? Michael kannte Wenzels Trotz und Stolz. Er würde eher
verhungern als seine, Michaels, Hilfe anrufen, wenn es ihm, wohlgemerkt,
wirklich schlecht ging.

Ja, sonderbare und merkwürdige Dinge waren das. Er verlor die Stellung
bei Raucheisen, machte Geschäfte mit einem Bekannten, schickte Geld –
aber mied Lises Haus. Was war das?

Auf jeden Fall beschloß Michael nun, Wenzel zu „suchen“, und doch hatte
er noch vor einer Viertelstunde über die merkwürdige Zumutung seiner
Schwägerin lächeln müssen.

„Eine sonderbare Aufgabe,“ sagte er, während er rasch dahinschritt. „Ich
könnte eher eine Stecknadel in einem Haufen Spreu finden. Aber trotzdem
tausend gegen eins steht, wollen wir es versuchen. Nur eine Frau kann
solch einen Einfall haben.“

Er nahm ein Auto und befahl dem Chauffeur, ihn zu sämtlichen Weinstuben
und Restaurants in der Nähe des Gendarmenmarktes zu fahren.

Schon in der fünften Weinstube stieß er zu seiner größten Verwunderung
auf die Spur seines Bruders. Der Oberkellner, an den er sich wenden
wollte, kam ihm rasch, mit diensteifriger Miene, mit den Worten
entgegen: „Herr Hauptmann Schellenberg ist noch nicht hier.“

Michael war so verblüfft, daß er kein Wort hervorbrachte. Der
Oberkellner indessen versicherte, daß ihm die frappante Ähnlichkeit
sofort aufgefallen sei. „Ich dachte im ersten Augenblick, der Herr
Hauptmann selbst trete ein.“

Ob er wisse, wo sein Bruder sich zur Zeit etwa aufhalten könne?

Der Kellner sann nach. „Wenn ich mich recht entsinne, so verabredete er
sich zu einer Partie Schach mit Herrn Hauptmann Mackentin, und zwar,
wenn ich mich nicht täusche, im Café Thielscher oder im Café Philipp.
Thielscher ist gleich in der Nähe. Das Café Philipp liegt bei der
Börse.“

Es wäre doch wahrhaftig wie ein Wunder! dachte Michael und kroch,
angeregt von dem Abenteuer, ins Auto.


                                   14

In der Tat saß Wenzel Schellenberg zu dieser Stunde im Spielsaal des
Cafés Philipp. Er saß mit einem steinernen Gesicht da und starrte auf
das Schachbrett, eine tiefe Falte zwischen den Brauen. Wenzel war
leidenschaftlicher Schachspieler, ganz wie Michael. Das Spiel
faszinierte ihn. Es war fast wie eine Schlacht, Kampf von Gewalten,
deren Stärke mit jeder Änderung der Position wechselte. Tag und Nacht
konnte er vor dem Schachbrett sitzen, und noch nach Wochen war er
imstande, besonders interessante Partien aus dem Gedächtnis
nachzuspielen.

Wenzel gegenüber saß Hauptmann Mackentin, mit schmalem, hohem Kopf und
grauen Schläfen. Die Nase dieses Herrn stand auffallend schräg im
Gesicht. Im Munde hielt er eine Zigarre in der Richtung der Abweichung
der Nase, so daß die Nase noch um vieles schiefer im Gesicht zu stehen
schien. Dieser Herr blinzelte zuweilen mit einem leisen Lächeln in
Wenzels steinernes Gesicht. Er hatte dunkle, rasche, kluge und
verschlagene Augen. (Ratte hatte ihn Lise genannt!) Am gleichen Tisch
saß in respektvoller Haltung ein wenig abseits vom Schachbrett ein
junger, unbedeutend aussehender Mann mit blondem Scheitel und jugendlich
roten Bäckchen, wie ein kleiner Leutnant in Zivil.

Trotz der späten Nachmittagsstunde war das Kaffeehaus noch ziemlich
dicht besetzt. Aus allen Winkeln stieg dicker Zigarrenrauch empor. Die
Börse war heute außerordentlich lebhaft und fest gewesen. Die meisten
Effekten waren gestiegen, man erwartete eine Belebung der Geschäfte. Die
Erregung der Börse zitterte noch in allen Gesprächen nach.

Wenzel lehnte sich in den Sessel zurück, trank ein Gläschen Wermut und
biß die Spitze einer großen Zigarre ab, ohne die Augen auch nur einen
Moment vom Schachbrett zu entfernen. Der Herr mit der schiefstehenden
Nase hob zwinkernd die dunklen, raschen Augen zu ihm und ließ ein
kleines Lachen hören.

„Sie täuschen sich, lieber Freund,“ sagte Wenzel. „Sie überschätzen die
Stellung dieses Springers, und ich werde es Ihnen beweisen. Die Partie
wird aber noch zwei Stunden dauern. Wir wollen sie morgen fortsetzen,
wenn Sie nichts dagegen haben, Mackentin.“

Der Herr mit der schiefen Nase erklärte sofort mit einer kleinen
Verbeugung sein Einverständnis.

Wenzel wandte sich hierauf an den jungen Mann, der bescheiden nebenan
saß und sich augenblicklich etwas steifer aufrichtete, als Schellenbergs
Blick auf ihn fiel. „Und nun zu Ihrem Walde, Herr von Stolpe. Es ist
eine Sache, die mich sehr interessiert, eine sehr interessante Sache.
Was meinen Sie, Mackentin?“

„Mein Vetter kam zufällig wieder einmal nach Berlin und erzählte mir von
der Angelegenheit. Ich dachte sofort, daß Sie Interesse dafür haben
würden.“

„Also Sie glauben, daß der Wald unter Umständen zu kaufen wäre? Wie
groß, sagten Sie?“

Der junge Mann rückte etwas näher und begann mit etwas dünner,
knabenhafter Stimme über den Wald zu berichten: es war ein Wald in der
Nähe der Oder, soundso groß, der Wald gehörte dem Staat. Die
Forstverwaltung hatte beschlossen, den Wald abzuholzen und das Terrain
unter Umständen zu verkaufen, konnte sich aber nicht entschließen, die
vorliegenden Angebote zu akzeptieren. Ein Vertreter des
Raucheisen-Konzerns habe lange Unterhandlungen geführt, zuletzt aber
seien alle Unterhandlungen gescheitert.

„Der Vater meines Vetters bekleidet eine einflußreiche Stellung in der
Forstverwaltung,“ warf Mackentin ein.

„Sie deuteten es mir an,“ unterbrach ihn Wenzel. „Also Raucheisen kam
nicht zum Ziel?“

„Nein, er hat zu wenig geboten.“

Wenzel lächelte spöttisch: „Raucheisen bietet immer zu wenig. Ich kenne
ihn. Sagten Sie nicht, daß der Wald an die Oder grenzt?“ Er nahm ein
Notizbuch aus der Tasche und begann sich Notizen zu machen. „Fünfhundert
Hektar, sagten Sie?“

„Der springende Punkt, Schellenberg,“ warf Mackentin mit leicht
schnarrender Stimme ein, „der springende Punkt scheint mir der zu sein:
Die Forstverwaltung will das Terrain nur abgeben, wenn es zu Zwecken
verwandt wird, die der Allgemeinheit der ganzen Provinz sozusagen
wiederum zugute kommen.“

„Ich verstehe, Mackentin,“ erwiderte Wenzel mit einem leisen Lachen.
„Wann kehren Sie zurück, Herr von Stolpe?“

„Ich werde morgen zurückfahren.“

„Fahren Sie morgen mit Ihrem Vetter, Mackentin, und sehen Sie sich den
Wald an.“

„Sehr wohl.“ Mackentin verbeugte sich.

„Sehen Sie zu, ob das Gelände sich zu Industrieanlagen eignet, und
klopfen Sie dann bei den hohen Herren an. Sagen Sie“ – wieder erschien
das leise Lächeln auf Wenzels Lippen –, „sagen Sie, wir beabsichtigen
auf dem Gelände große Industrieanlagen zu schaffen, die den Handel der
Provinz günstig beeinflussen würden. Wenn man den Wunsch haben sollte,
sich zu beteiligen, so sei dagegen natürlich nichts einzuwenden.“

„Ausgezeichnet, sehr wohl.“

„Vielleicht können Sie auch vorschlagen, daß wir ein Stickstoffwerk auf
dem Gelände errichten, das den ganzen Osten mit Stickstoff versorgen
soll. Machen Sie ein ausführliches Exposé, so daß wir völlig fertige
Vorschläge unterbreiten können. Wir können später ja immer noch tun, was
wir wollen. Und was die Zahlungen anbetrifft, drei bis sechs Monate
Ziel.“

„Sehr wohl,“ antwortete Mackentin.

„Und Sie, Herr von Stolpe,“ wandte sich Wenzel an den jungen Mann mit
den roten Bäckchen und sah ihm mit einem klaren, festen Blick in die
Augen. Sein Gesicht erschien in diesem Augenblick fast hart. „Was
fordern Sie als Provision für den Fall, daß das Geschäft perfekt wird?“

Der junge Mann wurde tiefrot.

Wenzel lachte laut heraus: „Man sieht, daß Sie aus der Provinz kommen.
Geschäft ist Geschäft!“

Hier griff Mackentin ein. „Mein Vetter verlangt natürlich keine
Provision, lieber Schellenberg,“ sagte er. „Er wäre dagegen glücklich,
wenn er eine Anstellung hier in Berlin bekäme.“

„Schön! Entwerfen Sie den Vertrag, Mackentin. Ich bitte Sie, Herr von
Stolpe. Worte kann man vergessen. Die Welt schwankt in diesen Tagen.“

Die beiden Herren erhoben sich.

„Ich spreche Sie heute noch, Mackentin. Es kann etwas spät werden. Und
noch etwas – einen Augenblick – es fiel mir etwas ein – noch etwas,“
wiederholte Wenzel zerstreut. Sein Blick schweifte durch den Raum des
Kaffeehauses. Er war bei seinen letzten Worten völlig unsicher geworden,
als habe ihn plötzlich das Gedächtnis verlassen. Irgend etwas hatte ihn
verwirrt, und doch wäre er nicht imstande gewesen zu sagen, was es war.
Diese Gesichter, die um die Tische herum saßen, kannte er fast alle.
Seit zwei Jahren bewegte er sich unter diesen Gesichtern. Sie saßen in
den Direktionszimmern der Konzerne, der Banken, der Filmgesellschaften,
stürzten sich mit ihren Aktentaschen in ihre Autos hinein. Sie waren
immer auf der Jagd von einer Konferenz zur andern, hatten nie Zeit,
arbeiteten bis in den späten Abend, um ihre Nerven in der Nacht in
irgendeinem Spielklub aufzupeitschen. Vielen von ihnen sah man es
bereits deutlich an, daß sie nicht mehr mit fünf, sechs Stunden Schlaf
auskamen. Die trockene Luft der Dampfheizung und der Zigarrenrauch der
Konferenzzimmer hatten sie vernichtet.

Ja, alle diese Gestalten waren seinem Blick vertraut, jede, er kannte
ihre Gewohnheiten, ihren Gang – plötzlich aber war unter ihnen eine
Gestalt von völlig verschiedener Haltung aufgetaucht. Von einer
gelassenen, ruhigen, sicheren Haltung, und diese Gestalt, die er nur
dann und wann zwischen den unruhigen Köpfen und den hin und her eilenden
Kellnern undeutlich sah, absorbierte auf eine völlig rätselhafte Art
seine Aufmerksamkeit so vollkommen, daß ihm die Worte entfielen. Und
plötzlich stand über diesen unsteten Gesichtern, die er seit zwei Jahren
um sich sah, ein ganz anderes Gesicht: ein Gesicht der Ruhe und
Sammlung, mit einem höchst merkwürdigen und feinen Lächeln. In der Tat,
es war sein Bruder.

„Mein Bruder!“ rief Wenzel leise aus und erhob sich freudig erschreckt.

In diesem Augenblick sah ihn Michael und kam mit einem frohen Lächeln
auf ihn zu. „Ah, da bist du ja!“ rief Michael erfreut aus und drückte
Wenzels Hand.

„Mein Bruder Michael, meine Herren,“ sagte Wenzel, und sein dunkles
Gesicht wurde vor Erregung um eine Schattierung dunkler. „Ich habe Ihnen
von ihm erzählt. Er ist seinerzeit mit dem Stickstoffwerk Logan in die
Luft geflogen, aber es hat ihm, da er ein Schellenberg ist, weiter nicht
geschadet. Er ist eine der ersten wissenschaftlichen Leuchten unseres
Landes.“

„Oh, ich weiß, ich weiß sehr wohl,“ schnarrte Mackentin mit einer etwas
steifen Verbeugung, „ich bin sehr wohl informiert. Ihr Bruder erzählte
häufig von Ihnen.“

„Da hörst du es!“ warf Wenzel ein und lachte.

„Und zwar mit einer gewissen Schwärmerei, die man selten findet unter
Geschwistern. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Doktor
Schellenberg.“

„Wie kommst du hierher?“ fragte Wenzel, nachdem die beiden Herren sich
verabschiedet hatten. Erst jetzt schien ihm das Merkwürdige dieses
Zusammentreffens aufzufallen.

„Ich war bei Lise, ich wollte dich besuchen.“

Sofort verfinsterte sich Wenzels Gesicht. „Oh,“ sagte er. „Ich
verstehe.“

Schon bei dem ersten Blick in das Gesicht seines Bruders hatte Michael
erkannt, daß mit Wenzel eine Veränderung vorgegangen war. Wenzels
Gesicht hatte früher stets ein gutmütiges, spöttisches Lächeln gezeigt.
Dieses Lächeln war verschwunden. Das Gesicht war verschlossen, der Blick
kalt, und wenn Wenzel lächelte, so war es nicht das leichte, gutmütige,
spöttische Lächeln von früher, es war ein flüchtiges, zerstreutes
Lächeln, das urplötzlich wieder erstarrte.

„Du hast nichts vor, Michael? Nun, das ist prächtig. Höre, wir haben uns
lange nicht gesehen, wir werden einen herrlichen Abend zusammen
verbringen und einander ganze Romane erzählen. Komm jetzt, ich werde
dich in eine ganz wundervolle Schlemmerkneipe führen. Der Koch war
früher bei einem russischen Großfürsten in Stellung.“ Mit einer scheuen
Zärtlichkeit legte er Michael den Arm um die Schulter, während sie das
Kaffeehaus verließen.


                                   15

Wenzel war offenbar hocherfreut über das unerwartete Wiedersehn mit dem
Bruder. Während sie gingen, legte er den Arm noch fester um Michael.
Sein verschlossenes Gesicht löste sich, seine Augen glänzten.

„Wir wollen das Wiedersehen ordentlich feiern, Brüderchen!“ rief er aus,
nachdem sie in der Ecke eines kleinen, feierlichen Restaurants Platz
genommen hatten. „Was für eine wundervolle Überraschung ist das! Nicht
für die schönste Frau Berlins würde ich dich austauschen. He, Kellner,
wo bleibt ihr so lange? Seht ihr nicht, daß ich einen erlauchten Gast
mitgebracht habe?“

Der Kellner verneigte sich vor Michael. Dann harrte er, diensteifrig,
den Notizblock in der Hand, in einer Haltung, die Achtung vor dem hohen
Trinkgeld ausdrückte. Hinter dem kunstvoll aufgebauten Büfett dienerte
der Küchenchef mit seiner hohen weißen Mütze.

„Frische Oderkrebse sind eingetroffen, Herr Hauptmann.“

„Bitte, Wenzel, ich bin gewöhnt, sehr einfach zu essen,“ warf Michael
ein.

„Du wirst essen, was ich dir vorsetze, und es nicht bereuen. Oderkrebse,
sagen Sie?“ Wenzel nahm das Einglas aus dem Auge, das er zum Studium der
Speisekarte eingeklemmt hatte, und blickte Michael an. „Hörst du?
Glaubst du an Vorbedeutungen? Erst vorhin sprach ich mit den beiden
Schafsköpfen, die ich dir im Café vorstellte, von der Oder, in ganz
besonderer Angelegenheit. Na – also gut, mein Freund, Oderkrebse.“

„Ein halbes Dutzend?“

Nun lachte Wenzel, daß sein starkes Gebiß blitzte. „Ein Dutzend
natürlich! Wofür halten Sie uns? In der Brühe gekocht, und dazu, hören
Sie, ein Glas von dem alten Sherry, den nur die Stammgäste bekommen. Du
mußt wissen, Michael, das Etablissement hat den Weinkeller eines
bankerott gewordenen früheren Staatsministers aufgekauft. Kostbarkeiten!
Diese Leute waren noch Kenner, das muß man sagen. Also mit den Krebsen
bist du einverstanden?“

„Einverstanden, meinetwegen. Seit Jahren habe ich allerdings keine
Krebse mehr gegessen.“

„Um so besser werden sie dir schmecken. Aber nun weiter. Sie können
einstweilen die Krebse bestellen,“ wandte er sich an den Kellner, der
mit einer Verbeugung verschwand. „Aber nun höre weiter,“ fuhr Wenzel
fort. „Sie haben hier ein Konsommee mit Spargelköpfen, ein Tropfen nur,
herrlich. Gut, angenommen. Und dann sieh hier, Michael, Forellen,
Bachforellen. Wie wäre es damit?“

„Was willst du noch alles bestellen?“ fragte Michael.

„Noch alles?“ Wenzel lachte. „Aber höre, es beginnt ja erst. Nun kommen
die schweren Kaliber. Alles Bisherige war nur leichtes Schützenfeuer, um
den Feind zu reizen. Notieren Sie, Kellner. Brathühner mit diversen
Salaten, Kalbsrücken mit Champignons. Keinen Widerspruch, Michael.
Hierauf Pfirsich-Melba, und dann Käse. Sodann eine Schwadron Schnäpse.
Zuletzt Kaffee – aber Sie kennen meinen Geschmack: so stark, daß sich
ein Toter im Sarge überschlägt. Den Sekt haben Sie kaltgestellt? So, das
wäre erledigt.“ Wenzel lehnte sich behaglich in den Sessel zurück. „Du
lebst wohl sehr bescheiden auf Sperlingshof, Michael?“

„Ich lebe wie ein Bauer.“

„Prächtig siehst du aus! Braun wie das Brot, das aus dem Backofen kommt!
Es ist wunderbar, wie ein Bauer zu leben,“ fuhr Wenzel mit einem
leichten Seufzer fort. „Zuweilen jedenfalls. Aber auf die Dauer ist es
langweilig, sehr, sehr langweilig. Für mich jedenfalls wäre es nichts
mehr. Zur Zeit wenigstens. Ich brauche Unruhe, Lärm, Abwechslung – ah,
da sind ja die Krebse schon! Und der Sherry! Sieh ihn dir an – die
Reliquie eines Weins. Und nun, Michael, laß uns in aller Ruhe genießen.
Erzähle mir, wie es dir geht. Erzähle mir von Sperlingshof und deinen
Plänen! Du hast gewiß noch die alten Pläne – wie ich dich kenne?“ Wenzel
zeigte sein altes, gutmütig spöttisches Lächeln und kniff ein Auge zu.

„Natürlich! Ich sehe nun die Lösung in voller Klarheit vor mir!“
erwiderte Michael eifrig. „Gerade jetzt bin ich dabei, den
Arbeitsausschuß zusammenzustellen. Manche Enttäuschung, viel begeisterte
Zustimmung –“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Unverbesserlich bist du!“ sagte er und
zerriß knackend einen Krebs.

„Unverbesserlich? Weshalb sagst du –?“

„Nun, nun – stoße dich nicht an meinen Worten, Michael. Du hast deine
Ansichten – ich die meinen. Ich bin zur Zeit etwas skeptisch allen
derartigen Dingen gegenüber. Ich sehe die Menschen mit andern Augen an –
aber nichts davon! Später wollen wir ja über alles sprechen. Hörst du –
über alles! Erzähle, sprich. Ich habe heute zehn Stunden lang gesprochen
und bin etwas abgespannt. Erzähle vorläufig nur von dir, ich höre zu.“

Michael berichtete, während sie speisten. Seine Arbeit, seine Versuche,
sein „großer Plan“. Seine Augen strahlten, und die Röte färbte ihm das
Gesicht. Er konnte nicht von seiner Arbeit und von seinem „großen Plan“
sprechen, ohne augenblicklich Feuer und Flamme zu werden.

Plötzlich unterbrach ihn Wenzel, der nur zerstreut zuzuhören schien.
„Übrigens, wie hast du mich eigentlich gefunden?“ fragte er.

Michael lächelte verlegen. „Ein Zufall! Man hatte mir gesagt, daß du in
den Lokalen in der Nähe des Gendarmenmarktes zu verkehren pflegst.“

„Man?“ Wenzel runzelte die Stirne und sog eifrig an einer Krebsschere.
Er schwieg eine Weile. „Und so hast du dich also auf den Weg gemacht?“
fragte er dann spöttisch.

„Es war gar nicht schwer, dich zu finden, so wunderlich es auch scheinen
mag.“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Nur du kannst so etwas fertigbekommen. Aber
sprich weiter. Ich interessiere mich für all diese Versuche, wenn ich
auch wenig oder nichts davon verstehe. Ich war Offizier und nur auf
mechanische Arbeit gedrillt. Was kann diese berühmte Bodenfräse?“

Michael setzte eifrig auseinander, daß diese Fräse den Boden auf fünfzig
Zentimeter Tiefe mit kleinen Messerchen zerschnitt, so daß der Boden
rigolt wurde, besser als es ein Gärtner mit dem Spaten je vermöchte, vom
Pfluge gar nicht zu sprechen.

„Sehr interessant!“

Michael fuhr fort. Er sprach von Methoden, die geeignet waren, die
landwirtschaftliche Produktion zu verdreifachen, zu verfünffachen. „Ich
habe zum Beispiel eine Wiese angelegt, nur fünf Morgen, die künstlich
beregnet wird. Diese Wiese liefert mehr Futter, als eine gewöhnlich
bewirtschaftete Wiese von zwanzig Morgen hervorbringt.“

Wenzel hob den Blick und lächelte. „Du läßt also regnen,“ sagte er. „Du
läßt den Weizen auf der flachen Hand wachsen? Wie teuer kommt dich das
Gras zu stehen?“

„Vorläufig ist es ja noch etwas teuer, zugegeben.“

Wenzel brach in lautes Lachen aus. „Du bist ja ein ausgezeichneter
Wirtschafter!“ rief er aus.

„Es sind Versuche, mißverstehe mich nicht.“

„Verzeihe, daß ich lachte, Michael. Du weißt, ich verstehe von all
diesen Dingen nicht das geringste.“

„Weshalb hast du mich nicht auf Sperlingshof besucht, Wenzel? Du hattest
es ja versprochen.“

Wenzel ließ die Gabel sinken. „Ich hatte es versprochen, ja,“ sagte er.
„Oh, mein Gott, was habe ich nicht alles versprochen im Frühjahr und
Sommer? Aber siehst du, ich hatte keine Zeit. Nicht eine Stunde bin ich
von Berlin weggewesen, es sei denn in Geschäften.“

„Ich habe es sehr bedauert, daß du nicht Wort halten konntest. Vieles
würde dich interessieren. Meine Versuchsfelder, meine Kalt- und
Warmhäuser. Es ist eine ungeheure Arbeit, aber sie belohnt sich. Ich
habe die überraschendsten Erfolge erzielt, eine fast tropische
Vegetation.“

Hier lachte Wenzel wiederum laut heraus. „Tropisch? In dieser
fürchterlichen und von Gott verfluchten Sandwüste! Ah, seht an!“

„Nun,“ lenkte Michael ein, „lege meine Worte nicht auf die Goldwage.
Tropisch mag ja etwas übertrieben sein. Höre weiter.“

Endlich kam Michael auf seinen „großen Plan“ zu sprechen. Die Synthese
von Industrie und Landwirtschaft. Industrialisierung des Landbaus. An
Stelle der anarchischen Wirtschaftsform eine großzügige Planwirtschaft
für das gesamte Reich. Produktive Zusammenfassung aller Kräfte der
Nation. Systematische produktive Verwendung freiwerdender oder
brachliegender Arbeitskräfte ...

Der Kellner servierte die Brathühner und den Kalbsrücken.

Wenzel hörte mit gerunzelter Stirn zu. Dieser „große Plan“ Michaels – er
erschien ihm verstiegen, ja phantastisch. „Ich fürchte sehr,“ unterbrach
er Michael, der immer eifriger wurde, „ich fürchte, daß du dich
trügerischen Hoffnungen hingibst. Es mag wissenschaftlich sehr
interessant sein, zugegeben, aber einen Rat will ich dir geben, Michael,
und der kostet dich nichts. Wenn du soweit bist – wenn! –, dann sieh zu,
daß du dich möglichst schnell nach Amerika verziehst. Hier, höre, in
diesem Deutschland, in diesem Europa überhaupt, ist kein Boden für
Reformen und derartige Dinge, die sich nicht sofort bezahlt machen!“

Michael schüttelte den Kopf. „Amerika? Sollte es dort besser sein?“

„Vielleicht. Ich lese zuweilen in den Zeitungen, daß irgendein
Millionär, der Zeit seines Lebens das Volk ausplünderte, plötzlich für
eine Sache Unsummen stiftet. Hast du hier je so etwas gehört? Wie? Ich
bitte dich! Bei den Riesenvermögen, die es hier im Lande gibt? Seitdem
es keine Ordenssterne mehr gibt und tönende Titel, halten sie die
Taschen noch ängstlicher geschlossen. Nein, glaube mir, Michael, hier
ist kein Platz für dich, in diesem Lande und in diesem Europa!“ Wenzel
wurde dunkel vor Zorn.

„Du scheinst kein besonderes Vertrauen in dieses Europa zu setzen!“
Michael lächelte.

„Nein! Wahrhaftig nicht! Sprich mir nicht mehr davon!“ rief Wenzel aus,
und das Blut stieg ihm abermals ins Gesicht. „Lüge, Heuchelei, Egoismus,
nationalistischer Wahnsinn und Größenwahn, das ist heute Europa. Ein
materieller und moralischer Trümmerhaufen! Lassen wir das.“

„Höre, Wenzel,“ entgegnete Michael mit erhobener Stimme, „wenn Europa so
ist, wie du es darstellst, müßte man dann nicht um so mehr bemüht sein,
diesen Trümmerhaufen wegzuräumen und Europa neu aufzubauen?“

Mit Genuß verspeiste Wenzel die Pfirsich-Melba, die in einem
mattsilbernen Pokal serviert wurde. Er schüttelte den Kopf und sagte
ruhig und mit einer nicht ganz echten Gleichgültigkeit: „Wir wollen uns
nicht ereifern, Michael. Glaube du, was du willst, und laß mir meinen
Glauben. Ich fürchte nur, Michael – du wirst deine Wunder erleben. Ich
fürchte es, ich fürchte! Kennst du denn diese Menschen? Nein, sage ich
dir, du kennst sie nicht. Ich habe mich nun zwei Jahre mit ihnen
herumgeschlagen, und ich weiß heute, wie sie sind.“ Mehr und mehr redete
sich Wenzel ganz gegen seinen Willen wieder in Zorn. Er fletschte die
Zähne, während er die Frucht in den Mund schob. „Für diese Menschen
hier, für diese sogenannten Europäer, gibt es nur noch ein Ziel: Geld!
Geld! Besitz! Dabei schreien sie immer, die Amerikaner seien Tag und
Nacht auf der Jagd nach dem Dollar. Sie sind es, ja zum Teufel, sie
selbst sind es! Geld! Und wenn der Staat dabei aus den Fugen geht!“
Wenzel lachte zornig auf und schlug mit der Hand auf den Tisch. „So
sehen sie in Wahrheit aus, mein Brüderchen, verlasse dich auf mich. Alle
diese berühmten Herren in ihren tadellosen Cutaways, Gamaschen und
Seidenhüten, einer wie der andere. Für sie gibt es weder Umkehr noch
Rettung.“

Michael schüttelte lächelnd den Kopf. „Du kennst nur einen geringen Teil
der Gesellschaft, Wenzel,“ erwiderte er. „Ich kenne einen ganz anderen
Teil. Ich kenne hunderte, die uneigennützig von früh bis spät in ihren
Laboratorien und Bibliotheken arbeiten.“

„Nun schön, irgendwo in einem Winkel werden noch solche Käuze hausen.
Von dir abgesehen, Michael, habe ich noch nie einen kennengelernt.“

„Sieh zu, Wenzel,“ fuhr Michael fort, „wenn es für diese Gesellschaft,
wie du glaubst, keine Einsicht gibt, so müßte man trotzdem versuchen,
sie vor dem Chaos zu retten, indem man soziale Ausgleiche schafft und
eine neue Volksgemeinschaft anstrebt.“

Wenzel lachte zornig auf. „Sie wollen ja gar nicht gerettet werden!“
rief er. „Sie fühlen ja nicht einmal, daß der Boden unter ihnen
schwankt. Sie wollen auch keinen Ausgleich. Zum Teufel, was für Worte
gebrauchst du doch? Sie wollen alles für sich allein, und den anderen
gönnen sie nichts. Das allein ist ihre Lebensanschauung! Ah, sieh da,
jetzt kommen die Schnäpse.“

Michael aber gab sich nicht so rasch geschlagen. Er werde ihm, Wenzel,
die Angelpunkte zeigen, um die sich diese Probleme bewegen, und sofort
werde Wenzel begreifen –

Nunmehr gab Wenzel es auf, dem Bruder zu widersprechen. Mit großer
Sorgfalt mischte er sich aus drei verschieden gefärbten Likören einen
Schnaps zurecht. Dann betrachtete er Michael mit einem gutmütigen,
nachsichtigen Lächeln. „Nun gut,“ unterbrach er ihn endlich, „glaube,
was du willst. Ich für meine Person glaube nicht, daß diese Probleme
gelöst werden können. Sie sind zu schwer, zu groß, zu verworren.“

„Sie werden gelöst werden, Wenzel! Trotzdem, trotz alledem!“ erwiderte
Michael voll Überzeugung und Eifer.

Wenzel sah ihn erstaunt an. Dann lächelte er. „Willst du vielleicht
diese Probleme lösen?“ fragte er und zwinkerte mit den Augen.

„Ja, ich will sie lösen!“ schrie Michael, nun war es an ihm, laut zu
werden. „Ich, Michael Schellenberg, dein Bruder!“

Wenzel lehnte sich zurück, und es sah ganz so aus, als wolle er wieder
in das laute, sarkastische Lachen ausbrechen, das Michael verletzte.
Aber er tat es nicht. Er schwieg eine Weile, dann hob er das Glas und
sagte: „Nun schön, Michael, auf deine Gesundheit! Vielleicht, es ist ja
nicht unmöglich – löst du in der Tat diese Probleme! Denn du hast etwas,
was zu diesen Dingen gehört. Du hast noch die Kraft zu glauben. Ich habe
diese Kraft längst nicht mehr.“ Seine Hand zitterte heftig, als er das
Glas zum Munde führte.

In diesem Augenblick trat der Direktor des Restaurants mit einer
Verbeugung an den Tisch, um sich zu erkundigen, ob die Herren mit den
Leistungen des Etablissements zufrieden seien.

Michael benutzte die Unterbrechung, um das Versprechen einzulösen, das
er Lise gegeben hatte. „Ich habe versprochen zu telephonieren,“ sagte
er, indem er sich erhob. „Wirst du mich eine Minute entschuldigen,
Wenzel?“


                                   16

Als Michael zurückkam, saß Wenzel in den Stuhl zurückgelehnt, die
Zigarre im Munde, und betrachtete ihn mit einem spöttischen, aber
gutmütigen Lächeln. „Nun, was sagte sie?“ fragte er, und seine grauen
Augen blinkten.

Michael errötete. „Lise läßt dich grüßen,“ antwortete er. „Und sie läßt
dich bitten, sie anzurufen.“

„Sie wird sich wohl noch etwas gedulden müssen.“ Wenzels Brauen zuckten.
„Sie hat ja Zeit!“

Michael legte die Hand auf den Arm des Bruders und fügte leiser hinzu:
„Und sie läßt dich bitten, zu ihr zurückzukehren. Sie quält sich,
Wenzel! Was in aller Welt ist zwischen euch vorgefallen?“

Nun flammten Wenzels Augen auf. Sein Gesicht verdunkelte sich. „Ich
werde nie, niemals zu ihr zurückkehren,“ sagte er mit großer Bitterkeit
in der Stimme. Er schlürfte hastig den Kaffee. „Und nun werde ich dir
erzählen, Michael,“ fuhr er fort. „Wir haben uns lange nicht gesehen,
und in dieser Zeit ist vieles geschehen, vieles! Ich werde dir
berichten, wie alles gekommen ist. Lange, viel zu lange sprachen wir uns
nicht.“

„Es ist nicht meine Schuld, Wenzel. Du weißt es.“

Wenzel atmete erregt. „Also höre,“ begann er, „um mit der einen Sache
anzufangen: Ich habe nichts gegen Lise, hörst du? Ich schätze sie, ich
achte sie. Ich habe sogar etwas Liebe für sie übrig behalten. Manchmal
habe ich sogar Sehnsucht nach ihr – und den Kindern. Trotzdem werde ich
nicht zu ihr zurückkehren, nie, nie! Und weißt du weshalb, Michael? Ich
werde es dir offen bekennen: weil sie mir im Wege ist.“

„Wie soll ich das verstehen?“ fragte Michael. „Sie ist dir im Wege?
Lise?“

„Nun, die Worte scheinen doch klar zu sein,“ fuhr Wenzel mit einem
feindseligen Klang in der Stimme fort. „Sie ist mir im Wege! Sagt das
nicht genug? Auch ich habe nämlich meine Pläne, mein Brüderchen, genau
wie du. Meine Pläne sind allerdings ganz anderer Art, ganz anderer. Und
bei diesen Plänen steht mir Lise im Wege. Das ist alles! Übrigens,“
unterbrach er sich, „von diesen Plänen wirst du später erfahren. Du hast
ja mit Lise gesprochen. Was hat sie dir über mich gesagt?“

Michael gab einen kurzen Bericht seines Besuches. Er vermied es, dabei
den Bruder anzusehen.

Wenzels Augen aber waren forschend auf ihn gerichtet. „Und? Und du
verschweigst mir nichts? Hat sie mir nicht Vorwürfe gemacht? Hat sie
nicht diese Geschichte mit Raucheisen wieder vorgebracht? Schon errötest
du! Hat sie nicht auch Andeutungen gemacht, daß ich inkorrekt gehandelt
hätte, sogar ein bißchen – sagen wir – sagen wir es offen: ein bißchen
ehrlos?“

„Nicht in dieser Form, keineswegs, Wenzel.“

Wenzel lachte bitter. „Da siehst du es. Sie sollte mich kennen, und sie
sollte – wäre das nicht das Selbstverständliche – mich decken, für den
Fall, daß irgend etwas vorgefallen wäre. Niemand ist auch nur auf den
Gedanken gekommen, daß ich bei Raucheisen irgend etwas Inkorrektes getan
hätte. Da fing Lise an, Gerüchte auszustreuen. Irgend etwas müsse da
vorgefallen sein! Nun, du hast ja gehört, wie weit sie schließlich
gegangen ist. Schließlich hat sie ihrer ganzen Bekanntschaft erzählt,
daß ich ein Defraudant sei.“

„Ich beschwöre dich, Wenzel!“ fiel ihm Michael ins Wort.

Wenzel hob die große Hand und legte den Kopf zur Seite. „Nun, lassen wir
das, es ist nicht wesentlich. Soll sie behaupten, was sie will. Sollen
die Leute glauben, was sie wollen. Was kümmert es mich? Es ist mir
völlig einerlei. Es ist mir sogar einerlei, wenn sie glauben, daß ich
Raucheisens Tresor ausgeplündert habe. Ich bin so weit gekommen, daß ich
auf das Urteil meiner Mitmenschen keinen Wert mehr lege.“

Michael schwieg. Welche Bitterkeit, dachte er, was muß mit Wenzel
vorgegangen sein?

„Sieh, das mit Lise ist also sehr einfach,“ fuhr Wenzel, seine Erregung
beherrschend, fort. „Sie ist mir im Wege. Das ist die ganze Erklärung.
Ich kann sie nicht brauchen. Sie langweilt mich. Ich bin nicht für die
Ehe geschaffen, Michael, und du bist es auch nicht, glaube ich. Du
weißt, ich habe Lise seinerzeit entführt. Was würde ich heute dafür
geben, wenn es möglich wäre, sie ihrer Mutter wieder zurückzubringen!“

„Das ist häßlich von dir!“ rief Michael empört aus.

„Häßlich? Vielleicht! Aber es ist die Wahrheit, und ich habe mir
vorgenommen, mit dir offen und aufrichtig zu sprechen. Du sollst dann
urteilen. Du magst mich dann selbst verurteilen. Aber nun weiter! Ich
habe vom frühen Morgen bis in die späte Nacht bei Raucheisen gearbeitet.
Ich stand also sehr früh auf, heißt das, und kam erschöpft nach Hause.
Lise pflegt lange liegen zu bleiben und nach Tisch eine Stunde zu ruhen.
Da ist es natürlich kein Kunststück, am Abend frisch und munter zu sein.
Abends gingen wir aus. Sie schleppte mich zu ihrer langweiligen,
hochmütigen Verwandtschaft, in Theater, Konzerte. Das alles kostete
Kraft und vor allem Geld. Ich schaffte das Geld herbei, und das Geld
zerrann in Lises Händen. Sie verschwendet nicht, aber sie versteht nicht
zu wirtschaften. Sie hat auch gar keine Zeit, sich mit diesen
lächerlichen Dingen abzugeben. Du weißt, sie ist Sängerin. Sie hat eine
sehr hübsche Stimme, und du weißt ja auch, daß ein ‚berühmter
Gesangspädagoge‘ ihr prophezeit hat, daß sie Primadonna an der Scala von
Mailand werden würde. Ich wünsche ihr viel Glück. Wir Männer haben
unsern Beruf und machen nicht viel Aufhebens davon. Aber wenn eine Frau
einen Beruf hat, so ist dieser Beruf der Mittelpunkt, um den sich alles
dreht, Haushalt, Kinder, alles. Natürlich mußte Lise öffentlich
auftreten. Sie hat zwei Konzerte gegeben und immerhin einige Erfolge
gehabt. Die Konzerte mußte ich bezahlen. Ich bezahlte den Agenten, den
Saal, den Pianisten, die Blumensträuße, mit einem Worte, alles. Das
Kleid für die Konzerte kostete mich ein halbes Monatsgehalt. Und dazu
die Aufregung! Acht Tage vor dem Konzert ist sie krank. Zwei Stunden vor
dem Konzert ist sie vollständig heiser. Der Agent fleht. Und schließlich
steht sie strahlend auf dem Podium. Soll sie ihren Weg zur Scala machen,
aber soll sie es allein tun und mich nicht verrückt machen! Ich gebe dir
einen Rat, Michael, wenn du einmal heiraten solltest, so heirate nie
eine Frau mit einem Beruf, und vor allem, heirate nie eine Sängerin.
Heirate überhaupt nicht, wenn es dir möglich ist! Denn du heiratest ja
nicht die Frau allein, du heiratest ihre ganze Verwandtschaft, du
heiratest ihre Gewohnheiten, Fehler, Laster, alles.

Lise hat es immer gut gemeint, ich möchte gar nichts gegen sie sagen,
aber es lag an ihrer Erziehung, und es lag an ihrer Anschauung, daß sie
mich langsam an Händen und Füßen knebelte. Keine Angst, Michael, es
waren keine Ketten, die man meilenweit rasseln hörte, es waren dünne
Stricke, ein kleiner Ruck, und ich war frei. Es gibt eben Menschen, die
auch nicht einen Bindfaden um den kleinen Finger vertragen, und zu
diesen gehöre ich. Verstehst du jetzt, Brüderchen?“

Michael saß lange still. „Ich sollte meinen,“ begann er dann
nachdenklich, „daß sich doch irgendein Weg finden lassen sollte. Vergiß
nicht, da sind auch deine Kinder.“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht sentimental. Zuweilen habe
ich Sehnsucht nach den beiden Kleinen. Aber es vergeht wieder. Auch
Kinder sind solche Fesseln, und ich habe mir vorgenommen, alle Fesseln
abzuschütteln. Ich sehe schon, daß ich dich mit meiner Erklärung nicht
befriedigen kann. Du hast noch immer nicht begriffen, daß es unmöglich
ist, unter diesen Verhältnissen einen Weg zu gehen, der die ganze Kraft
eines Mannes braucht.“

Michael sah den Bruder mit forschendem Blick an. „Was für ein Weg ist
das, von dem du immer sprichst?“ fragte er.

„Nun, auch das sollst du hören. Aber wir wollen jetzt eine neue Flasche
bestellen. He, Kellner!“


                                   17

Die neue Flasche war angekühlt. Wenzel biß die Spitze einer Zigarre ab
und steckte sie umständlich in Brand. Dann legte er die Hand auf den Arm
Michaels.

„Um alles zu verstehen, Michael, muß ich dir aber meine Geschichte mit
Raucheisen erzählen.

Du weißt, wie ich zu Raucheisen kam. Ich glaube, ich habe es dir einmal
geschildert. Raucheisens Sohn – er war der einzige Sohn des alten
Raucheisen, Otto, und da ist noch seine Tochter Esther, jetzige Lady
Weatherleigh, die kürzlich diesen englischen Schiffsreeder geheiratet
hat –, also dieser Otto Raucheisen hauste mit mir über ein Jahr in einem
Unterstand an der Westfront. Er ist gefallen und starb in meinen Armen.
Der alte Raucheisen wünschte Näheres zu hören, und da er einer der
Gewaltigen Deutschlands war, so schickte man mich hin, um Bericht zu
erstatten. Diese Szene werde ich dir nicht erzählen, vielleicht
gelegentlich einmal. Darüber spreche ich nicht gerne. Nun, Raucheisen
entließ mich mit den Worten, daß er mir jederzeit zur Verfügung stände,
wenn ich einmal irgendeinen Wunsch hätte. ‚Sie haben meinem einzigen
Sohn in seiner Todesstunde Beistand geleistet‘, sagte er, ‚ich bin Ihnen
für immer verpflichtet‘. Schön, schön.

Der Krieg war zu Ende, und ich saß auf der Straße. Vier Jahre lang hatte
ich den Buckel hingehalten, die Heimat mit meinem Leibe gedeckt, wie es
so schön hieß, und nun konnte ich krepieren. Da ich nichts gelernt hatte
und nichts konnte, so wollte ich in das neue Heer eintreten. Aber Lises
Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. ‚Um Himmels willen, wie
kannst du, nie, niemals!‘ Sie würde es nicht überleben. Du kennst sie
ja, diese eingebildete Närrin!

Schön, ich fügte mich also dieser albernen alten Frau, die mit ihrem
Dünkel ihre ganze Umgebung tyrannisiert. Irgendwo würde sich ja wohl
Beschäftigung für mich finden. Ich ging von Pontius zu Pilatus, und
überall war man sehr höflich, notierte sich meine Adresse, und ich hörte
nichts weiter. Viele meiner Kameraden saßen in herrlichen Stellungen.
Ja, zum Teufel, wie waren sie zu diesen herrlichen Stellungen gekommen?
Sie saßen die letzten Kriegsjahre in Kriegsämtern, Beschaffungszentralen
und allen möglichen Institutionen, wo sie Beziehungen zur Industrie
anknüpfen konnten. Ich will nichts dagegen sagen, kein Wort, um Gottes
willen, mißverstehe mich nicht, aber sie haben eben diese
Beziehungen anknüpfen können, und diese Beziehungen haben sich
schließlich prachtvoll verwenden lassen. Siehst du, es gab da zum
Beispiel Geheimräte, die die Verhandlungen in der Abfindung der
Schiffahrtsgesellschaften zu führen hatten, sie sind heute in leitenden
Stellungen bei diesen Schiffahrtsgesellschaften. Das sind, mein lieber
Freund, die guten Beziehungen. Auf deine Gesundheit!

Also ich hatte keine Beziehungen, und da ich ebensowenig wußte und
konnte wie die andern, so kam ich nirgends an. Schließlich, nachdem
Lises Briefe immer jämmerlicher wurden und immer flehender, schließlich
tat ich das, was Lise und ihre Mutter von vornherein als das
Selbstverständliche empfohlen hatten: nämlich, ich wandte mich an den
alten Raucheisen. Du kannst meine Gründe verstehen, weshalb ich es nicht
gerne tat. Sein Sohn war zufällig in meinen Armen gestorben, und dafür
sollte ich – nun, es war nicht meine Sache. Aber schließlich gab ich
auch in diesem Punkte nach. Du kannst beobachten, daß ich bisher in
allen Punkten nachgegeben habe – nun, das ist jetzt zu Ende.

Ich schrieb also an Raucheisen, und zu meinem größten Erstaunen
antwortete er mit wendender Post. Drei Tage später war ich mit einem
glänzenden Gehalt engagiert. Ich sage offen: glänzend, denn meine
Leistungen waren anfangs gleich Null. Ich wurde zu einem von Raucheisens
Sekretären abgerichtet. Punkt einhalb acht Uhr mußte ich anwesend sein.
Um sechs Uhr steht Raucheisen auf. Es kommt der Masseur, der Friseur,
der Bademeister. Der Kammerdiener kleidet ihn an, und ein Viertel vor
sieben sitzt Raucheisen am Frühstückstisch, und ein Viertel nach sieben
trägt ihn der Wagen in sein Bureau. Wir Sekretäre harren auf das
Klingelzeichen des Gebieters. Wir haben zu erinnern, zu notieren, wir
sind lebendige Terminkalender. Wir führen Unterhandlungen mit den
einzelnen Direktoren und Abteilungschefs, wir notieren, erstatten
Bericht. Es war ein infernalischer Dienst, mit einem Wort.

So verlief mein Leben anderthalb Jahre lang. So lange, mein lieber
Michael, dauerte es also, bis ich begriff – kannst du dir denken, was
ich begriff –?“

Ohne Michaels Antwort abzuwarten, fuhr Wenzel fort: „Du kannst es dir
nicht denken, Michael, also will ich es dir offen sagen – bis ich
begriff, daß ich ein vollendeter Narr war! Wie alle andern Sekretäre und
Direktoren, die sich um die Sonne Raucheisen drehten. Viele von diesen
Narren haben es heute noch nicht begriffen und werden es nie begreifen.“

„Ja, weshalb warst du denn ein Narr?“ fragte Michael.

Wenzel brach in ein lautes Gelächter aus. „Weshalb?“ erwiderte er, indem
er die Gläser auffüllte. „Das sollst du gleich erfahren. Ein Narr war
ich und dazu noch ein unwürdiger und lächerlicher Narr! Bei meiner
Vorstellung hatte sich Raucheisen meiner natürlich noch erinnert und
sich die Mühe genommen, mit mir fünf Minuten zu plaudern, mit einem
etwas geheuchelten Interesse zwar, aber immerhin mit einem menschlichen
Ton in der Stimme. Er hat mir nie verziehen, daß er weinte – was ist
natürlicher? –, als ich ihm den Tod seines Sohnes schilderte. Und doch,
dieser Otto Raucheisen hat mich durch und durch mit Blut getränkt, und
ich mußte ihm Mut zubrüllen, weil er so schreckliche Angst vor dem Tode
hatte. Doch das gehört nicht hierher. Fortan aber war ich für Raucheisen
ein Automat wie alle seine Mitarbeiter. Er sah mich von dieser Zeit an
kaum noch an. Er hatte eine leise, etwas belegte Stimme, aber er sprach
nur so leise, um Kraft zu sparen. Er ist das verkörperte Prinzip der
Ökonomie der Kräfte. Da saß er also, der kleine alte Mann, etwas
zusammengekrümmt, wachsgelb von seinem Leberleiden, eine gelbe,
mattglänzende Glatze mit Wölbungen und Buckeln. Du hast ihn nie
gesehen?“

„Nein.“

„Er hat den Kopf eines Römers, in heller Bronze gegossen. Tiefe
Augengruben, eine Hakennase, breite, satte Lippen mit tiefen Rissen. Die
Unterlippe ist besonders breit und besonders satt. Aber vielleicht ist
das mit dem Bronzekopf übertrieben. Man könnte auch sagen, sein Kopf sei
in Wachs modelliert, und wenn er die breiten Lippen öffnet, so sieht man
kleine Zähne, Puppenzähne, und seine Augen sind wie kleine grüne
Glaskugeln, scharf und ängstlich, fast feige. Nein, Michael, er ist
jemand, glaube es mir, und wenn ich abfällig über ihn urteile, so mußt
du manches abstreichen, denn ich – hasse ihn! Das war er also: Johann
Karl Eberhard Raucheisen, dem ein Fürstentum unter der Erde gehört und
ein Fürstentum über der Erde. Vor dreißig Jahren hatte er das
horizontale Prinzip der Vertrustung begonnen, seit zehn Jahren war er
zum vertikalen Prinzip übergegangen. Erst hatte er nur Eisen und Kohle.
Dann produzierte er alles, vom Dampfkessel bis zum Rasiermesser. Und
heute hat er seine eigenen Dampfer, um seine Produkte zu befördern. Der
Konzern ist so groß, daß niemand imstande ist, ihn mit allen seinen
Verzweigungen zu überblicken – aber Raucheisen tut es! Ich habe heute
noch die größte Bewunderung für ihn, trotz allem. Es gibt keinen zweiten
Kopf wie ihn in ganz Deutschland.“

„Wie hast du dich mit ihm verstanden?“

„Eigentlich sehr gut. Ich war ja ein Automat, und unser Verkehr vollzog
sich ohne jede Reibung. Langsam aber begann ich den alten Mann zu
hassen. Ich haßte seine Kälte, oft saß er da, klein, in sich
zusammengezogen, ganz Eis und Gefühllosigkeit. Ich haßte seine
menschliche Teilnahmlosigkeit. Zu welchem Zwecke arbeitete dieser alte
Mann vom frühen Morgen bis in die späte Nacht? Es galt, dieses große
Werk zu verwalten. Gut. Aber weshalb vergrößerte er es fast täglich? Und
langsam begriff ich, daß nicht er das Werk dirigierte, sondern das Werk
ihn. Er war ein Sklave dieser unheimlichen Maschinerie geworden, die er
aufgebaut hatte. Ich fühlte seinen Geiz in allen, auch den kleinsten
Dingen. Dieser Geiz war entsetzlich. Ich fühlte seine Habgier. Und ich
begriff endlich, daß er gar nicht der Idee diente, dieses Werk zu
verwalten, sondern daß es sein einziges und wahres Ziel war, Geld
zusammenzuraffen. Und das ist die Wahrheit! Und als ich dies begriffen
hatte, haßte ich ihn noch mehr!

Ein einziges Mal, da verriet er sich. Du wirst wissen, daß er wie ein
Rasender aufkaufte, mit Krediten der Reichsbank, die er mit entwertetem
Gelde zurückzahlte. Ganze Komplexe, Walzwerke, Gruben bekam er fast
umsonst. Bei einer großen Transaktion, wo er einen beträchtlichen Teil
seines Vermögens einsetzte, wagte einer der Finanzdirektoren
einzuwerfen, daß doch der Tag kommen könne, da die Mark plötzlich
steigen werde. Raucheisen schüttelte den Kopf und lächelte. Er lächelte
nur sehr selten und dann das Lächeln eines eitlen alten Mannes, und dann
sah man seine kleinen, schmalen Zähne, die ich hasse. ‚Die Mark wird
sinken, bis sie in Atome zersplittert ist,‘ sagte er. ‚Es gibt keine
Macht der Welt, sie aufzuhalten, ich weiß es. Ich weiß es seit‘ – nun
höre, Michael, seit wann er es wußte! Mit einem triumphierenden Lächeln
sagte er: ‚Ich weiß es seit der Marneschlacht und habe danach meine
Finanzpolitik eingerichtet.‘“

„Sagte er das wirklich? Oh, wie schändlich!“

„Michael, ich begriff es vorerst nicht! Aber dann begriff ich es, und
dann verstand ich es. Seit der Marneschlacht spekulierte er auf das
Fallen der Mark. Während ich Narr noch da draußen im Dreck herumlag,
während wir uns alle noch in Fetzen schießen ließen, war dieser alte
Mann schon längst an der Arbeit, aus unserm sicheren Untergang Geld zu
machen.

So kam es, daß ich ihn von Tag zu Tag mehr haßte. Einmal geschah es, daß
ich zehn Minuten zu spät kam. Er blickte auf die Uhr und sagte, ohne
mich anzusehen: ‚Sie sind zehn Minuten zu spät.‘ Ich erwiderte: ‚Der
Wagen wurde aufgehalten.‘ Daran antwortete er nichts mehr, und dieses
Schweigen war viel beleidigender als irgendwelche Vorwürfe. In diesem
Augenblick fühlte ich ganz das Entwürdigende meines Automatendaseins.
Ich fühlte die Unverfrorenheit, die Kälte, die Härte, die scheinbar
selbstverständliche Unverschämtheit, die der Reichtum einzugeben
scheint.

Ich fühlte, so geht es nicht weiter. Und schon damals – verstehe mich
recht –, schon damals begann ich meine Maßnahmen zu treffen. Ich hatte
es satt, mich täglich beleidigen und demütigen zu lassen. Der Haß trat
mir in die Augen, wenn ich den alten Mann nur ansah. Aber siehst du, er
beachtete mich ja gar nicht.

Ein halbes Jahr später hatte ich verschlafen und kam fünfzehn Minuten zu
spät. Nun mußt du wissen, daß ich fast anderthalb Jahre bei Raucheisen
war und im ganzen acht Tage Urlaub gehabt hatte. An diesem Tage sagte
Raucheisen nichts. Ich empfand deutlich die Kälte, die er ausströmte. Am
nächsten Tage wurde ich in eine andere Abteilung versetzt. Er hatte kein
Wort gesprochen, er hatte sich nicht von mir verabschiedet. Das setzte
allen Kränkungen die Krone auf.

Aber die Ungnade des alten Mannes war mein Glück. In dieser Abteilung
hatte ich viel mehr Zeit, viel mehr Sammlung, und ich konnte meinen
Schlachtplan ausarbeiten. Nun sollst du weiter hören, und es wird dir
Vergnügen machen. Aber erst wollen wir den Musikern ein Glas schicken!“

Eine kleine russische Kapelle war in das Restaurant gekommen und hatte
zu konzertieren begonnen. Wenzel beorderte den Kellner und ließ der
Kapelle Erfrischungen schicken. „Sie sollen das Wolgalied spielen!“ Und,
schon spielten und sangen die Russen das Wolgalied.

„Höre!“ rief Wenzel aus. „Das ist ein Lied! Höre zu, dieses Lied
berauscht mich, und ich höre es immer in meinen Ohren, seitdem ich
unterwegs bin.“

Michael zog die Uhr und berichtete Wenzel etwas verlegen, daß er Lise
versprochen habe, bis elf Uhr telephonisch Nachricht zu geben. „Willst
du ihr nicht irgendein gutes Wort durch das Telephon sagen, Wenzel?“ bat
Michael den Bruder.

Wenzel schüttelte nur heftig den Kopf. Er brauste nicht mehr auf, der
Wein hatte ihn schon versöhnlicher und milder gestimmt. Aber er blieb
halsstarrig. Michael wagte einen neuen Versuch. Lise sei vorhin am
Apparat so außerordentlich erregt gewesen, daß er aufs äußerste
erschrocken sei. Lise habe erklärt, daß sie die Nacht nicht überleben
würde, wenn Wenzel nicht nach Hause käme. Sie habe gedroht, sich aus dem
Fenster zu stürzen.

Nun stieg Wenzel das Blut ins Gesicht. Er beherrschte sich jedoch, sein
Atem ging schwer. „So soll sie sich meinetwegen aus dem Fenster
stürzen!“ sagte er, und sein Mund war hart und brutal. „Möchten doch
alle Menschen in die Hölle gehen, die ihre Mitmenschen mit diesen feigen
Drohungen quälen!“

Michael stand auf. „Nun, ich werde ihr irgendein Wort sagen, um sie zu
beruhigen. Zum Beispiel, daß du sie morgen anrufen wirst.“

„Sage, was du willst,“ sagte Wenzel, schon wieder etwas ruhiger.


                                   18

Schweren Herzens forderte Michael die Verbindung. Es gab nichts
Peinlicheres für ihn, als Notlügen gebrauchen zu müssen. Lieber Himmel,
was sollte er der unglücklichen Lise nur sagen? Er würde ihr also
erzählen, daß sie einträchtig beisammen säßen, daß er Wenzel
versöhnlicher gestimmt habe und morgen bei ihr vorsprechen werde, um ihr
über alles zu berichten, daß er – aber, siehe da, Lise war gar nicht zu
Hause.

„Gnädige Frau ist ausgegangen,“ sagte das Mädchen.

„Sie ist nicht zu Hause?“

„Nein, sie ist bei Major Puchmann und kommt erst gegen zwölf Uhr
zurück.“

Michael atmete auf.

Das Wolgalied hatte stürmischen Applaus. Wenzel war aufgestanden und
trank der russischen Kapelle mit einer begeisterten Geste zu.

„Spielt es nochmals!“ schrie Wenzel den Musikern zu. Er hatte leuchtende
Augen. „Welch ein Lied, Michael! Höre doch.“

Die Kapelle spielte das Lied abermals.

„Lise ist bei Major Puchmann,“ berichtete Michael, als die Kapelle
geendet hatte.

Wenzel lachte laut heraus. „Siehst du!“ rief er. „So sind die Frauen!
Man darf sie nicht zu ernst nehmen. Ach, wir wollen sofort eine neue
Flasche bestellen. He, Kellner!“

„Und nun, Wenzel, erzähle weiter,“ sagte Michael, nachdem der Kellner
die neue Flasche gebracht hatte. „Du sagtest vorhin, dieses Lied klänge
in deinen Ohren, seitdem du unterwegs bist. Unterwegs? Was heißt das?
Ein merkwürdiger Ausdruck!“

Wenzel nickte. „Ja,“ erwiderte er, „seitdem ich unterwegs bin. Du mußt
nämlich wissen, daß ich schon seit Monaten unterwegs bin!“

„Also sprich deutlicher! Was tust du, was willst du? Was hast du vor?“

„Was ich vorhabe, Michael? Ich werde es dir mit einem Worte sagen!“
Wenzel sah Michael mit starren, glänzenden Augen an. „Ich bin unterwegs,
ein Raucheisen zu werden,“ sagte er dann.

Michael begriff nicht. „Ein Raucheisen?“

„Ja, ein Raucheisen!“

Michael sah den Bruder verblüfft und völlig verständnislos an. „Ist es
wirklich dein Ernst?“ sagte er. „Was heißt das, ein Raucheisen zu
werden?“

„Was das heißt? Mißverstehe mich nicht. Nicht einer von jenen kleinen
Raucheisen, wie es Dutzende gibt, sondern ein wirklicher Raucheisen.
Wenn er es vermocht hat, weshalb soll ich es nicht können? In dieser
Zeit des wirtschaftlichen Chaos ist alles möglich.“

Michael war noch immer fassungslos. „Aber ich verstehe nicht, was für
einen Sinn soll es haben, was für einen Zweck? Sagtest du vorhin nicht
selbst –“

Aber Wenzel unterbrach ihn: „Ein Raucheisen, weißt du, was das bedeutet?
Es bedeutet absolute und letzte Unabhängigkeit! Ich will, siehst du, um
es kurz zu sagen, auch endlich zu den Leuten gehören, die auf den Knopf
drücken, und dann kommen die Sekretäre herein, und die Autos fahren vor.
Ich habe keine Lust mehr, als Automat behandelt zu werden und andern
Leuten den Narren zu machen. Wozu? Ein schönes Leben, schöne Dinge,
Pferde, Automobile, Wein, Frauen, Reisen.“

Michael schüttelte den Kopf. „Aber ist dies ein Ziel?“ fragte er. „Kann
dies einen Lebensinhalt bilden?“

„Lebensinhalt? Ziel? Was für große Worte. Ich bin kein ägyptischer
Pharao.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Wäre ich ein ägyptischer Pharao, so würde ich mir sagen: Es ist
einerlei, wie lange und auf welche Weise ich lebe – in meiner Pyramide
werde ich ewig leben. Aber ich habe keine Ewigkeit vor mir. Wenn ich tot
bin, ist alles zu Ende. Ich bin nicht dünkelhaft genug, um an ein ewiges
Leben zu glauben. Fünfzig, sechzig Jahre, und in dieser Zeit muß alles
vollendet sein. Alle denken so, heute, mehr oder weniger bewußt. Daher
unsere Eile – Schnellzüge, Schnelldampfer, Flugzeuge. Um aber diese
fünfzig, sechzig Jahre vollzufüllen, vollzufüllen bis zum Rand, Michael,
dazu brauche ich Geld, Geld! Habe ich Geld, so habe ich alles: Freiheit,
Gesundheit, die Erde, die Sonne, Schönheit, Liebe – alles andere ist
Unsinn.“

Michael war erbleicht. Er schüttelte ganz verstört den Kopf. „Wie
töricht, wie töricht,“ wiederholte er fast zornig. „Wenzel! Sprachst du
nicht selbst vorhin voller Verachtung –?“

„Verstehe mich recht, Michael. Ein Ziel muß der Mensch haben, und wenn
es auch nicht gerade ein erhabenes Ziel ist. Was ich soeben sagte, ist
meine Philosophie, und danach will ich handeln. Verächtlich oder nicht,
das ist mir gleichgültig. Ich habe nicht die Gabe, mich für eine Idee zu
begeistern wie du. Ich habe auch, offen gestanden, keinen Glauben an die
Menschen mehr.“

„Keinen Glauben an die Menschen mehr?“

„Glauben? Haß, Verachtung, das ist alles, was mir blieb. Oh, ich
verabscheue sie. Ich habe ihre Feigheit, Grausamkeit, Eitelkeit, ihren
Geiz, ihre Habsucht, Albernheit und ihren schmutzigen Egoismus zur
Genüge kennengelernt. Ich glaube auch nicht mehr an sogenannte Ideale.
Siehst du, so völlig bankerott bin ich, Michael. Ganz wie diese Zeit und
diese Welt, in der alles bankerott geworden ist, Glaube, Wissenschaft,
alles.“

„Täusche dich nicht,“ warf Michael sofort eifrig ein. „Keineswegs ist
der Glaube bankerott. Fühlst du nicht, daß in allen Herzen ein neuer
Mystizismus erwacht? Und die Wissenschaft? Der Materialismus ist
bankerott, nicht sie. Die Wissenschaft ist soeben in eine neue Epoche
eingetreten, die glänzender sein wird als alle vergangenen.“

„Sei es,“ entgegnete Wenzel, „du kannst recht haben. Aber du kannst mich
nicht überzeugen! Du kannst rufen, so laut und so lange du willst, ich
höre und verstehe dich nicht mehr, Bruder. So wahr es ist, daß du der
einzige Mensch bist, den ich liebe und achte, so wahr ist das, was ich
sage.“ Wenzel deutete auf sein Herz. „Hier liegt ein Toter. Er steht
nicht mehr auf,“ sagte er etwas pathetisch.

Es war nicht so sehr das Bekenntnis Wenzels, das Michael erschütterte,
es war der verzweifelte, zynische Ton, in dem er es vorbrachte. „Nun
bedaure ich es noch mehr,“ sagte er, „daß du mich nicht auf dem Land
besucht hast, vielleicht wärst du dort auf andere Gedanken gekommen.“

„Wie konnte ich denn?“ erwiderte Wenzel. „Bedenke, mein Ziel reizt mich
ebenso, wie dich das deine reizt. Es lockt, und ich kann nicht mehr
widerstehen. Es ist zu spät, Michael. Ich bin auf dem Absprung! Hörst
du? Ich bin auf dem Absprung. Mehr noch: ich bin schon abgesprungen! In
die Leere – in das Nichts vielleicht. Ich weiß, daß es kein großes Ziel
ist. Trotzdem! Ob ich zurückkehre und wie ich zurückkehre, wer weiß es?
Komm, und nun sollst du etwas sehen, Michael!“

Hastig brach Wenzel auf.

Vor dem Restaurant stand eine elegante, schwarzlackierte Limousine.
„Steige ein,“ sagte Wenzel mit einer fast knabenhaften Freude über
Michaels verblüfftes Gesicht.

„Ist es dein Wagen?“ fragte Michael.

„Natürlich ist es mein Wagen. Anders geht es nicht.“

Der Wagen hielt vor einem Bureaugebäude in der Wilhelmstraße. „Folge
mir,“ sagte Wenzel, und zögernd kam Michael hinterher. An einer Tür
stand nichts geschrieben als „Schellenberg“. Ein Diener öffnete, und
Wenzel führte Michael durch eine Flucht großer Arbeitsräume voller
Schreibmaschinen und Bureaumöbel. Alles war völlig neu. Man roch noch
Lack und Farbe.

„Das alles hier ist Schellenberg,“ sagte Wenzel mit einem fröhlichen
Lachen. „Wir haben diese Räume erst vor einer Woche bezogen. Vorher
hauste ich in ein paar Löchern in einem Hof, ganz im Geheimen,
sozusagen.“ Wenzel öffnete eine Tür und führte Michael in ein sehr
bescheiden eingerichtetes Schlafzimmer. Neben der eisernen Bettstelle
stand ein Stuhl mit einem Telephonapparat. „Das hier sind meine
Privatgemächer,“ erklärte Wenzel. „Vorläufig, Bruder, vorläufig nur. Wir
wollen sehen, ob ein Schnaps zu finden ist. Ah, siehst du, hier. Ich
bitte dich herzlich, Michael, ein Gläschen wollen wir noch trinken,
bevor die große Reise weitergeht.“

Michael staunte noch immer. „Was tust du eigentlich?“ fragte er den
Bruder. „Was für eine Firma hast du? Wie hast du dies alles geschaffen?“

Gerade auf diese Frage hatte Wenzel gewartet. Hätte Michael nicht
gefragt, so hätte er von selbst davon zu sprechen begonnen. „Was ich
tue?“ fragte er und ging, die Hände in den Hosentaschen, auf und ab.
„Ich kaufe, ich verkaufe. Ich fing damit an, die Holzladung eines
viertausend Tonnen großen finnischen Dampfers zu kaufen. Es war
Grubenholz, das der Raucheisenkonzern aus irgendeinem Grunde nicht
abgenommen hatte. Ich erfuhr es und kaufte das Holz auf eigene Rechnung.
Ich verkaufte die Ladung zwei Wochen später, ohne sie je gesehen zu
haben. So fing es an.“

„Hattest du denn Geld?“ unterbrach ihn Michael.

Wenzel lachte. „Geld? Ich hatte kein Geld, aber ich hatte Kredit. Damals
war ich ja noch bei Raucheisen. Es gab Bankfirmen, die auf meine
Vermittlung, Empfehlung und Freundschaft angewiesen waren. Eine einzige
Information von meiner Seite konnte ein kleines Vermögen bedeuten.“

„Ah, jetzt fange ich an, zu begreifen.“

„Ich habe, höchst einfach, meine Verbindungen mit dem Raucheisenkonzern
benutzt, wie andere ihre Verbindungen benutzten. Es ist vielleicht nicht
vollkommen – wie soll ich sagen – honorig, aber ich habe mir diese
feinen Unterschiede längst abgewöhnt. Dann kaufte ich ein kleines
Bergwerk im Anhaltischen, um es nach einem Monat wiederum an einen
Holländer zu verkaufen. Es war ein großes Geschäft, das mir die nötige
Anfangsgeschwindigkeit gab, und doch habe ich dafür nicht einen Pfennig
Geld ausgegeben. Ich habe das Bedürfnis, mich dir mitzuteilen, Michael,
und so will ich dir nicht verhehlen, daß dieses Bergwerk Raucheisen
angeboten war. Raucheisen zögerte. Ich kam ihm zuvor und ließ das
Bergwerk rasch durch meine Bank ankaufen. Nun brauchte ich Raucheisen
nicht mehr. Ich kündigte meine Stellung. Nicht er hat mich entlassen,
ich entließ ihn! Das kannst du Lise sagen! Und so ging es weiter. Ich
lieh Geld und arbeitete damit, ganz wie andere es machen, ganz wie
Raucheisen es macht. Zur Zeit spezialisiere ich mich auf
Papierfabriken.“

Michael erhob sich. „Nun gut, ich wünsche nur, daß du es nicht bereust.“

„Schön, dann also lebe wohl! Unsere Wege werden sich wohl vorläufig
etwas trennen, so fürchte ich.“

„Ich fürchte es,“ antwortete Michael und blickte zu Boden.

„Warte, halt!“ rief Wenzel und ging an einen Schreibtisch. „Ich will dir
etwas sagen, Michael. Du kannst vielleicht Geld brauchen, für deine
Pläne, und ich habe gerade Geld. Nimm es. Wie gesagt, mein Gewissen ist
noch nicht ganz so abgestumpft wie das anderer Geschäftsleute. Zuweilen
ist es noch ein bißchen beunruhigt. Ich möchte mich sozusagen freikaufen
mit diesem Scheck, von gewissen sozialen Verantwortungen, und du tust
mir einen großen Gefallen, wenn du ihn annimmst.“

Es war ein Scheck von außerordentlicher Höhe.

„Schön,“ sagte Michael. „Ich nehme den Scheck, denn ich gebrauche ja das
Geld nicht für mich. Gut, gut, und nun lebe wohl!“

Die Brüder reichten sich die Hände und sahen sich in die Augen. Oh, es
hatte keiner Angst vor dem andern, und keiner wich um einen Millimeter
zurück.

„Den Wagen!“ rief Wenzel dem Diener zu.

„Danke,“ antwortete Michael. „Ich gehe zu Fuß. Lebe wohl!“

Und er ging mit der Trauer im Herzen, seinen Bruder verloren zu haben.


                                   19

Was Georg Weidenbach in den ersten Wochen nach seiner Abfahrt von Berlin
da draußen auf dem Lande erlebte, schien ihm gleich verwunderlich wie
das sonderbare Haus in der Lindenstraße.

Er meldete sich in der kleinen Stadt, die man ihm bezeichnet hatte, und
hier schickte man ihn in ein Dorf, Dobenwitz, etwa eine halbe Wegstunde
entfernt. Die Nacht sank schon über das flache, öde Land, als Georg,
erschöpft und vor Kälte zitternd, Dobenwitz zu Gesicht bekam. Bei den
ersten Hütten holte ihn ein klingender, mutiger Schritt ein. Ein junger,
breitschultriger Mann in einer gestrickten Wolljacke trat dicht an ihn
heran und blickte ihm unter den Hut.

„Zur Arbeitsstelle?“ fragte er mit einer hellen, freundlichen Stimme,
die augenblicklich Georgs Vertrauen gewann. „Nun, so gehen wir
zusammen.“ Der breitschultrige junge Mann in der Wolljacke war munter
und gesprächig. Er erzählte, daß er Schlächter sei, Moritz mit Vornamen,
aber es seien elende Zeiten. Seit Monaten sei er ohne Arbeit, obschon er
sich die Beine krumm gelaufen habe. „Was willst du?“ rief er aus.
„Niemand hat Geld, um Fleisch zu kaufen. Die Schlachthöfe sind verödet.
Wo sie früher dreitausend Stück antrieben, da treiben sie heute keine
fünfhundert an. Da hast du es!“

„Was für eine Arbeit wird man uns hier geben?“ fragte Georg, von der
Munterkeit des Gefährten ermutigt.

Das wußte Moritz nicht. Es war ihm auch völlig gleichgültig, wenn es nur
Arbeit war. Steineklopfen oder Erde karren, einerlei, immer noch besser,
als auf der Straße zu liegen. Er hatte nur gehört, daß sie hier außen
einen Kanal bauten. Allerdings, um ganz ehrlich zu sein, großes
Vertrauen hatte er zu dieser Sache nicht! Etwas stimmte da nicht oder –?
Er schob die Mütze ins Genick und kratzte sich den Kopf. Dann entwarf er
von diesem Unternehmer Schellenberg kein sonderlich günstiges Bild. Er
bezahle nur ein Viertel der Löhne in bar und die übrigen drei Viertel in
Versprechungen. „Ha? Wie? Aber was solle man tun? Besser als auf dem
Pflaster verrecken. Was bleibt uns armen Hunden übrig?“

Das Dorf lag dunkel und verlassen im Regen. Keine Seele weit und breit,
nicht einmal ein Hund schlug an. Das letzte Haus aber zeigte ein
matterleuchtetes Fenster. Ein Schatten ging vor dem Hause auf und ab.
Georg roch den Rauch von Tabak.

„Arbeitsstelle?“ schrie der Schlächter.

„Richtig!“ antwortete eine klare Stimme, und der Schatten trat in den
Lichtschein. Es war ein noch ziemlich junger schlanker Mann, der eine
Pfeife in der Hand hielt. Trotz der Dunkelheit sah Georg, daß er nur
einen Arm hatte. „Noch zwei!“ rief der junge Mann mit komischer
Verzweiflung aus. „Sie senden mir mehr und mehr, der Teufel soll sie
holen! Was soll ich mit euch anfangen? Nun, es wird gehen, es muß gehen.
Tretet ein!“

Das kleine Haus war eine Art Scheune. Im Lichtschein einer Talgkerze,
die auf den Tisch geklebt war, unterschied Georg eine Anzahl von
Gestalten, die auf dem Stroh lagen und offenbar schliefen. Ein großer
breitgebauter Mann lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und starrte sie
mit großen fiebernden Augen an, ohne ein Wort zu sprechen und ohne eine
Miene zu verziehen. Einer drehte sich im Stroh herum und erwiderte
mürrisch ihren Gruß. Woher waren sie alle gekommen, und welches
Schicksal hatte sie hierher in die Einöde geführt? Wie lange fieberten
die Augen dieses Mannes schon, bis er den Weg nach Dobenwitz gefunden
hatte?

Der Einarmige öffnete die Türe und sagte halblaut: „Ich habe nur ein
Stück Brot heute abend. Ich war auf euch nicht eingerichtet. Nehmt es
aus dem Tisch! Es ist mein Brot, aber ich gebe es euch gern. Und nun
gute Nacht, Kameraden!“

Georg erinnerte sich, daß das Unternehmen sich verpflichtete, die
Arbeiter zu verpflegen.

„Das also nennen sie Verpflegung,“ sagte der Schlächter und schnitt das
Brot in zwei Teile. „Hier, nimm! Wenn sie uns morgen nicht besser
füttern, laufe ich nach Berlin zurück.“

Dann warf sich Moritz kauend ins Stroh, und bald schlief er ein.

Georg suchte sich ebenfalls einen Winkel und streckte die zerschlagenen
Glieder aus. Hinter der Wand rasselte eine Kette, eine Kuh schnob. Das
Talglicht erlosch, und nun war es ganz dunkel. Trotzdem konnte Georg
sehen, daß der Einarmige ohne Pause vor dem Hause auf und ab ging, wie
ein Wachposten. Zuweilen stoben Funken aus seiner Pfeife.

Dobenwitz? Und was soll all das bedeuten? Betäubt von der frischen Luft
und ermüdet von der Reise fiel Georg in einen unruhigen Schlaf, die
ganze Nacht hindurch von schrecklichen Träumen gemartert. Er empfand es
als Wohltat, daß er am Morgen all diese entsetzlichen Träume, in denen
auch Christine eine Rolle spielte, völlig vergessen hatte.


                                   20

„Aufstehen und fertig machen zur Arbeit!“ rief die helle Stimme des
Einarmigen, und die Schläfer fuhren aus dem Stroh. „Auch dich meine ich,
Kamerad,“ fügte er hinzu und zog den Schlächter am Bein. „Immer munter,
Kinder!“

Das Frühstück bestand aus warmer Milch und Schwarzbrot.

„Es wird schon besser, siehst du,“ lachte der Schlächter und stieß Georg
an.

Vor dem Hause wartete auf der Straße ein kleiner Bauernwagen mit einem
schmutzigen Schimmel. Der Wagen war beladen mit Sägen, Äxten, Spaten und
allerlei Gerät.

„Fahr nur voraus!“ rief der Einarmige dem Bauern zu, der auf dem Wagen
saß. „Du kennst ja den Weg.“ Und der Schimmel setzte sich in Bewegung.

Mißmutig, verschlafen, verstört und vergrämt setzte sich die Rotte von
Männern in Bewegung. Sie waren im ganzen zwölf, mit dem Einarmigen, der
langsam hinter ihnen herging, dreizehn.

Der Regen hatte etwas aufgehört, und die Felder dampften. Es schien
dürftiger Boden zu sein. In dem schiefergrauen, riesenhaften Himmel war
ein heller Fleck von noch kälterer grauer Färbung. Dort hinten, irgendwo
hinter meilendicken Nebelwänden, mußte sich die Sonne befinden.

Vor ihnen lag ein großer Wald, in den die schmale, schlechtgehaltene
Landstraße schnurgerade hineinführte. Offenbar war dieser Wald ihr Ziel.
Aus den Äxten und Sägen konnte man auf die Arbeit schließen, die man
ihnen zuweisen würde.

Ohne ein Wort zu sprechen trotteten sie dahin. Der große breitgebaute
Mann mit den fiebernden Augen, der Georg am Abend aufgefallen war, ein
Zimmermann, schwankte zuweilen beim Gehen. Nach etwa einer halben Stunde
hatten sie den Wald erreicht, und nach einer weiteren halben Stunde
schien es, als ob sie im Herzen eines unendlichen Waldes angekommen
wären. Der Einarmige befahl Halt, und der Wagen blieb stehen.

„Abladen!“ kommandierte der Einarmige. Niemand rührte sich. Alle standen
sie und starrten den Wagen an. Der Einarmige lachte laut heraus. „Seid
ihr denn eine Gesellschaft von Narren? Habt ihr noch nie einen Wagen
abgeladen? Munter, Kinder, munter. Ich heiße Lehmann und verstehe keinen
Spaß!“ Aber er lachte, als er diese Warnung aussprach.

„Dahin! Dorthin!“ kommandierte Lehmann mit seiner hellen Stimme
zuweilen. Er ging langsam auf der schmutzigen Straße hin und her, sog an
seiner kurzen Pfeife und lächelte vor sich hin, das zarte Gesicht in die
Höhe gerichtet, Regentropfen auf den Augen und auf den frischen roten
Wangen. Dann – der Wagen war fast entladen – ging er ein Dutzend
Schritte in den Wald und deutete auf einige eingeschlagene weiße Pfähle.
„Hier, wo die Pfosten stehen, soll der Schuppen Nr. 1 stehen!“ rief er.
„Das Unterholz zuerst weg, dann die Bäume. Spaten, Äxte!“ Plötzlich
blickte er Georg ins Gesicht. „Leiten Sie das Abholzen,“ sagte er zu
ihm. „Das Material für den Schuppen kann jeden Augenblick kommen, und
wir kommen in die Nacht hinein.“ Laut schrie er über die Kolonne hinweg:
„Wir kehren heute nicht mehr ins Dorf zurück! Munter, Kinder! Arbeitet,
damit wir heute Nacht unter Dach kommen!“

Unter Dach kommen? Wie stellte er sich das vor?

Und wieder ging Lehmann auf der schmutzigen Landstraße auf und ab,
zwanzig Schritte vor und zwanzig Schritte zurück, und rauchte. Nur
zuweilen setzte er sich auf einen Stein, um die Pfeife zu stopfen. Er
klemmte sie zwischen die Knie, stopfte den Tabak mit dem Daumen hinein,
dann nahm er die Streichholzschachtel zwischen die Knie, strich das
Streichholz an und setzte die Pfeife in Brand.

Schon kam Moritz mit einer Axt. Er hatte die Ärmel der Wolljacke
hinaufgestülpt, herausfordernd sah er eine Fichte an. Die Muskeln seines
Nackens schwollen an, und schon hieb er den Stamm, daß die Späne flogen.

„Was für ein Schuppen soll hierherkommen?“ fragte ein kleiner
Krummbeiniger mit großem Schnauzbart, Schlosser seines Zeichens, und
blickte Georg hilflos an.

„Rede nicht, arbeite!“ antwortete ihm Moritz an Georgs Stelle. „Was
kümmerst du dich um Dinge, die dich nichts angehen?“

Blaugefroren und zitternd vor Schwäche leitete Georg die Arbeit, die Axt
in der Hand. An den eingeschlagenen Pflöcken konnte er erkennen, daß der
erste Schuppen etwa zwanzig Schritt lang und zehn Schritt breit werden
sollte. Einige Schritte davon entfernt war ein zweiter Schuppen von etwa
dreifacher Größe abgesteckt und daneben ein dritter von der gleichen
Größe.

„Was soll hier geschehen?“ fragte der kleine krummbeinige Schlosser
hartnäckig.

„Offenbar sollen wir den Wald abholzen,“ antwortete Georg.

Der Schlosser warf einen verzweifelten Blick in die Kronen der hohen
Föhren und Fichten empor und schüttelte den Kopf.

Unterdessen war der Wagen völlig abgeladen, und Lehmann gab dem Bauern
Instruktionen. Er möge sofort einen Boten ins Depot schicken und sagen
lassen, er, Lehmann, lasse die ganze Gesellschaft verfluchen – aber der
Einarmige fluchte gar nicht, sondern er lächelte ganz freundlich –,
lasse die ganze Gesellschaft verfluchen, wenn man nicht sofort die Autos
mit dem Material für den Schuppen sende. Sie säßen hier im Regen.
„Radfahrer brauche ich, Boten!“ Und der Teufel soll sie holen, wenn das
Material nicht heute noch eintrifft. „Du aber,“ sagte er zu dem Bauern,
„siehst zu, daß du möglichst schnell den Proviant herbringst. Meine
Leute müssen essen. Also nun los, mein Freund, und laß deinen Renner
laufen.“

Moritz stieß Georg den Ellenbogen in die Seite. „Was sagte ich dir!“
rief er. „Es sind die richtigen Ausbeuter! Höre nur, wie der kleine
Leutnant kommandiert, wir werden hier nichts zu lachen haben.“ Der
Schlächter arbeitete, daß ihm der Schweiß über das breite gutmütige
Gesicht lief. Nach monatelanger Untätigkeit berauschte er sich an der
Arbeit.

Eine Zeitlang hatte der hellgraue Fleck da oben über den finsteren
Kronen einen lebhafteren Glanz angenommen. Es waren schon einzelne
blendende Flecke sichtbar geworden, und Georg hatte gehofft, die Sonne
würde endlich durchbrechen. Nun aber begann es wieder zu regnen. Es war
nicht niedergehender Nebel wie vorher, es regnete in dünnen Schnüren.
Und plötzlich pfiff der Wind, und es begann zu graupeln und zu schneien.
Im Augenblick war der Wald weiß.

Der Zimmermann mit den fiebernden Augen, der, die großen Hände auf den
Knien, teilnahmlos auf einer Kiste saß, begann vor Kälte zu zittern. Man
fluchte und schimpfte. Welche Schweinerei und was für eine verrückte
Arbeit! Der Teufel solle diesen Schellenberg und die ganze Bande holen!
Georg fühlte, wie sich sein ganzer Körper mit einer Eisschicht überzog.
Der Schlächter in seinem Wollkittel aber lachte. „Das bißchen Wasser?
Schämt euch, was für Kerle seid ihr!“

„Und wo sollen wir schlafen heute nacht? Auf dem nassen Boden?“

„Schurken sind das! Schleppen uns mitten in den Wald, damit wir hier
krepieren!“

„Und wie steht es mit dem Futter?“

Ein junger Mann mit feindseliger Miene warf die Axt hin und spie aus.
„Ich bin kein solcher Narr!“ rief er aus und ging mit schnellen wütenden
Schritten davon. Bald war er außer Sicht.

„Laßt den Langen ruhig nach Berlin zurücklaufen!“ lachte Moritz. „Die
Bauern werden die Hunde auf ihn hetzen!“

Da tauchte Lehmann im Schneegestöber auf der Landstraße auf. „Der
Schuppen kommt!“ schrie er laut.

Und in der Tat, auf der Landstraße, inmitten des Schneegestöbers, kamen
zwei mächtige Lastautos mit Balken und Brettern angefahren. Auf diesen
Balken und Brettern standen zwei verwegene Burschen, halbnackt in der
Kälte, herkulisch gebaut, die reinen Athleten. Diese verwegenen Burschen
schrien schon, bevor die Autos standen, und begannen augenblicklich
Balken und Bretter hinunterzuwerfen.

„Seht ihr, so wird bei uns gearbeitet,“ sagte Lehmann mit
triumphierendem Lächeln.

Die Balken und Bretter waren mit Nummern und farbigen Zeichen versehen,
und die verwegenen Burschen dirigierten das Abladen.

„Die roten Zeichen dorthin und die grünen dorthin!“ Es konnte ihnen
nicht schnell genug gehen. Trotz des Schneegestöbers lief allen der
Schweiß vom Gesicht, und schon setzten sich die Autos wieder in
Bewegung.

„Wohin fahrt ihr?“

„Nach Glücksbrücke!“

„Geht es dort vorwärts?“

„Sie wollen die Häuser noch aufstellen, bevor der Frost kommt!“

Die Häuser aufstellen? Was für ein sonderbarer Ausdruck!

„Grüßt den Chef!“

Schon waren sie verschwunden. Augenblicklich wurde der Bau des Schuppens
in Angriff genommen.

„Zurücktreten!“ brüllte der Schlächter, genau wie die Stationsbeamten
schreien, wenn ein Schnellzug heranbraust. Er balancierte auf der
Schulter einen schweren Balken, den zwei Mann kaum tragen konnten. Seine
Blicke nach links und rechts heischten Bewunderung.

Lehmann hatte sich eine neue Pfeife angezündet und gab klar und ruhig
seine Befehle. Der Schuppen war bis ins kleinste vorgearbeitet und
brauchte nur aufgestellt zu werden.

Nun ging es plötzlich. Die Teilnahmlosigkeit und Gleichgültigkeit war
verschwunden. Alle griffen eifrig zu. Die Arbeit hatte plötzlich Sinn
und Ziel. Es galt ein Obdach für die Nacht zu schaffen.

In der Kolonne befand sich ein alter Maurer, dem das Alter die Beine
krummgezogen hatte. Er war in großer Erregung. Verzweifelt ging er hin
und her und suchte bei den Kameraden Gehör zu finden. Endlich hielt er
es nicht mehr aus und trat zu Lehmann, der ihn ruhig anhörte, ohne den
Blick von der arbeitenden Kolonne zu wenden.

„Fundamente?“ sagte er endlich. „Lieber Freund, wozu sollen wir
Fundamente mauern, der Schuppen ist ja nur provisorisch.“

Selbst der Große, Bleiche, der Zimmermann, hielt es auf seiner Kiste
nicht mehr aus. Er kroch heran und setzte sich auf einen Baumstamm, um
wenigstens zuzusehen. Die Sehnsucht, mitzuarbeiten, brannte in seinen
kranken Augen. Schließlich erhob er sich, um mit anzupacken.

„Bleiben Sie weg!“ rief Lehmann. „Werden Sie mir erst gesund!“ Und den
andern schrie er zu: „In einer Stunde ist es Nacht. Schlagt ein Dach
zusammen! Ein paar provisorische Wände gegen den Wind. Hier sind
Bretter, Äxte, Nägel. Und dann Feierabend, Schluß für heute. Zündet ein
Feuer an! Was für Narren seid ihr! Hier ist Holz in Fülle, und ihr
friert!“

Ein Feuer! Herrliche Idee! Weshalb war niemand auf diesen Gedanken
gekommen? Einer blickte den andern an, zitternd vor Kälte und blau
gefroren.

Im Nu flammte das Feuer auf, Späne, Äste. Es lohte mächtig in der
Dunkelheit, und eine beizende dicke Rauchwolke stieg bis in die Kronen
der Bäume empor.

„He, du da auf deiner Kiste!“ rief der krummbeinige Schlosser, „komm
hierher und wärme dich!“

Wärme, die die durchnäßten Kleider trocknete. Schon entspannten sich die
bleichen, mürrischen Gesichter. Glühende Äste sprangen durch die Luft,
und die brennenden Tannenzweige verbreiteten einen erfrischenden,
starken Geruch. Dieses Dasein im Walde, das vor ein paar Stunden
unmöglich schien und Trostlosigkeit in allen Herzen erweckte, es
erschien nun schon erträglicher, fast wie ein Abenteuer.


                                   21

Plötzlich war es Nacht geworden. Eine feindselige, kaltblinkende
Finsternis, und aus dieser Finsternis, die erschrecken konnte, tauchte
plötzlich ein gespenstisch flammendes Pferd, ein scheinbar riesiger,
glühender Schimmel, im Feuerschein auf. Der Bauer war zurückgekehrt mit
Stroh und Proviant.

„Ist hier jemand, der etwas vom Kochen versteht?“ fragte Lehmann.

Ein dünnbeiniger hagerer Mann, mit mächtiger Hakennase, trat vor. Ein
Kellner, der früher, wie er behauptete, auf den großen Ostasiendampfern
Dienst gemacht habe.

„Nun gut, nehmen Sie die Sache in die Hand.“

Der Kellner zog den Rock aus und fing augenblicklich an mit großer
Gewandtheit zu wirtschaften. Kartoffeln, Erbsen, geräucherte Wurst.
Schon dampfte der Kessel, und es dauerte nicht lange, so war die
Mahlzeit fertig. Die Blechgeschirre in der Hand, hockte die
Arbeitskolonne um das Feuer. Wie das schmeckte! Gierig schlangen sie die
Mahlzeit hinunter, manche verbrannten sich Lippen und Mund.

Ohne Gnade enthüllte der grelle Schein des Feuers die Abgezehrtheit und
Blässe der Gesichter, die fahlen Wangen mit den Hungerfurchen, die
Lumpen, die den Körper bedeckten. Fast alle starrten ins Feuer, die
Gedanken weit von hier, während sie die Mahlzeit aus den Blechgeschirren
löffelten. Fiebernde Augen, andere stumpf verkrochen in die Höhlen, ohne
Blick, als scheuten sie sich, noch mehr zu sehen von dieser Welt. Augen,
entzündet von Entbehrungen, gerötet von ungeweinten Tränen, Augen, deren
Blick unstet irrte, Augen, angefüllt mit Angst und Schrecken. Und alle
starrten ins Feuer, und jedes Auge sah in der Flamme ein anderes
furchtbares Bild: bettelnde Kinder, hungernde Frauen, frierende alte
Leute, Kranke, die auf Lumpen lagen. Gesprochen wurde nicht, kaum daß
dann und wann eine Bemerkung fiel. Man war müde, verstimmt, argwöhnisch
und ohne Hoffnung.

Georg, vor Erschöpfung fiebernd, sah sich die Gefährten genauer an. Da
war zuerst Moritz, der Schlächter, dessen stahlblaue Augen lebenslustig
sprühten, breit, mit Muskeln bepackt, ein untersetzter Boxer. Er
lächelte vor sich hin und strich zuweilen sein kleines helles
Schnurrbärtchen, das zu knistern schien. Er war der einzige, der ohne
Sorge war. Da war der dünnbeinige Kellner, dessen große Hakennase einen
mächtigen Schatten über das bläulich-weiße hohlwangige Gesicht warf.
Unaufhörlich nagte er an der Lippe, als quäle ihn ein und derselbe
Gedanke. Seine pechschwarzen Rattenaugen flackerten unruhig. Da war der
bleiche große Zimmermann mit den groben Händen und den glühenden
Fieberaugen. Er berührte kaum das Essen. Da war der kleine krummbeinige
Schlosser mit dem großen Schnauzbart. Er hieß Heinrich. Er konnte nicht
eine Minute auf einem Platz stillsitzen. Immer erhob er sich wieder, um
Zweige zu brechen und sie ins Feuer zu werfen. Neben ihm kauerte der
alte Maurer, ein kleiner Mann, mit fahlem Greisengesicht. Seine Augen
tränten. Er hatte über den Schädel einen alten breitkrempigen Hut
gestülpt, der offenbar einmal auf einem Maskenball mitgewirkt hatte.
Rings um die Krempe waren noch Spuren einer Pleureuse zu sehen, die
einstmals herumgenäht war und schlecht abgetrennt wurde.

Da war noch ein älterer Mann, in einen langen geflickten alten
Soldatenmantel gewickelt. Der Schlächter titulierte ihn „Herr General“.
Er hatte mächtige Brauen, wie Vogelfedern. Sein eckiger Schädel war
völlig kahl, aber sein Bart, wenn auch dünn, reichte bis auf die Brust.
Irgendein gestrandeter Krämer oder Handwerker. Er war nahezu
eingeschlafen und schwankte in seinem grauen Soldatenmantel hin und her.
Da war ein junger Mann mit einem Diebsgesicht und abstehenden großen
Ohren, die im Feuerschein lackrot glühten. Er trug eine Hose und ein
zerfetztes Hemd und sah grüngefroren aus, trotzdem er sich so dicht ans
Feuer gesetzt hatte, daß seine zerrissenen Stiefel dampften. Da waren
noch ein paar nichtssagende Gesichter, ein Kriegskrüppel mit einem
Glotzauge.

Das also waren die Gefährten, die ihm das Geschick zugewiesen hatte.
Jeder dieser Männer war vom Schicksal getroffen, sonst säße er nicht
hier in der Finsternis des Waldes. Die einen waren verbraucht, und die
Wirtschaft hatte keinen Platz mehr für sie, andere waren nicht
mitgekommen und gestrandet, andere ein Opfer der wirtschaftlichen
Krisis. So saßen sie also und starrten ins Feuer und wälzten ihr
Schicksal in ihrem Kopf hin und her, ohne es fassen zu können.

„Wenn man nur wüßte, was hier gebaut werden soll?“ fragte der kleine
alte Maurer mit dem breitkrempigen Hut.

Niemand antwortete, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Endlich sagte der Schlosser: „Du siehst doch, daß der Wald umgeschlagen
werden soll.“

„Aber wenn er umgeschlagen ist, so muß doch etwas hier gebaut werden.“

„Es wird eine Kirche gebaut werden, damit du es weißt!“ warf Moritz
dazwischen.

Der Alte kicherte kindisch. „Eine Kirche!“ rief er aus. „Wer wird hier
mitten im Walde eine Kirche bauen? Du bist ja ein ganz Kluger! Mitten im
Walde!“

Damit war das Gespräch zu Ende, und alle schwiegen wieder. Nur der alte
Maurer kicherte noch zuweilen: „Eine Kirche! Eine Kirche!“ Und er
erzählte, daß er vor dreißig Jahren eine Kirche gebaut habe, in Hamburg.
Aber niemand hörte zu.

Die Wärme, die sie röstete, die Luft und die Arbeit hatten sie alle müde
gemacht. Einer nach dem andern kroch ins Stroh. Auch Georg. Aber er
schlief nicht. Er blickte in die Glut des erlöschenden Feuers draußen,
in die grenzenlose grimmige Finsternis des Waldes. Ein wunderbares und
herrliches Sausen ging in der Ferne durch den Wald. Stark, wie Gewürz,
hauchte die Luft aus den nassen Wipfeln. Tannen, frisches Holz und
faulende Rinde. Man roch den Schnee, obschon er fast vollständig wieder
geschmolzen war. Das gänzlich Unbegreifliche aber, das war diese
wunderbare große Stille da draußen.

Plötzlich war es Georg, als sinke er in die Tiefe, und schon war er
eingeschlafen. Er erwachte einige Male in der Nacht, um immer sofort
wieder in tiefen Schlaf zu versinken. Als er das erstemal erwachte, sah
er plötzlich den Einarmigen neben dem niedergebrannten Feuer auf einem
Baumstamm sitzen, die Pfeife im Munde. Wieder erwachte er. Es regnete,
und durch das provisorische Dach fielen einzelne Tropfen auf sein
Gesicht. Das Feuer glimmte noch ein wenig. Lehmann war verschwunden. Die
Gefährten lagen mit verzerrten Gesichtern, den Mund offen, schnarchten
und röchelten. Nur der große, bleiche Zimmermann saß schlaflos mit
offenen Augen, die glänzten, wie die Augen einer Eule.


                                   22

Am nächsten Morgen erwachte Georg als letzter von den Gefährten. Die
helle Stimme Lehmanns hatte ihn aufgeweckt. Er hörte, daß Lehmann
schalt, ohne ihn jedoch zu sehen und ohne zu wissen, wem die heftigen
Worte galten. Obwohl er fühlte, daß er fieberte, erhob er sich rasch.

„Wenn es Ihnen nicht behagt bei uns!“ rief Lehmann, „so gehen Sie doch
wieder zurück nach Berlin und lassen Sie sich von den Läusen auffressen.
Sie haben die Bedingungen der Gesellschaft gelesen, wir haben Ihnen also
nichts vorgemacht. Wir brauchen hier Leute, die arbeiten wollen und die
vor allem Freude an der Arbeit haben. Das ist die Hauptsache für uns.“

Georg eilte an den kleinen Bach, der ganz in der Nähe vorüberfloß, um
sich zu waschen. Der Schlächter begrüßte ihn, gut gelaunt wie immer. Er
hatte die Hosen hinaufgestülpt und stand bis an die Knie im eisigen
Wasser, während er sich, krebsrot am ganzen Körper, Brust und Rücken
wusch und dabei lachte. „Lehmann ist heute früh munter geworden,“ sagte
er lachend. „Plötzlich, siehst du, hört er auf zu schmunzeln.“

Es war noch düster im Wald. Ein frischer Luftzug, der nach Schnee
schmeckte, strich durch die Stämme, hoch oben glitten mächtige helle
Wolken dahin, ganze Gebirge von Schnee. Zuweilen zuckte etwas wie eine
dünne Lichtnadel durch das Geflecht der schwarzen Wipfel. Der
fürchterliche Regen schien endlich ein Ende zu haben! Ein würziger
Geruch, wie ihn Pilze ausströmen, wenn man sie auseinanderbricht, stieg
aus dem feuchten Boden. Raben krächzten über den Bäumen, und ein paar
dunkle Fittiche schwankten irgendwo gespenstisch.

Schon aber klangen die Hammerschläge im Walde. Eine helle Stimme schalt.

„Spute dich: er meint uns.“

Lehmann hatte die Leitung der Arbeit übernommen, ohne jeden Zweifel. Er
befahl, ordnete an, schrie, sprang selbst zu, half mit. Riesenkräfte
schienen in seinem einen Arm zu stecken. Er bestimmte das Arbeitstempo,
nichts entging seinem Blick. Aber obwohl er schrie, so sah sein Gesicht
niemals böse aus. Seine Pfeife paffte aufgeregt, seine Wangen waren
frisch gerötet.

Das Rahmenwerk des Schuppens wuchs in die Höhe.

Der „General“, jener Kahlköpfige mit dem vorspringenden Bart, und der
kleine alte Maurer mit dem Schlapphut hatten zusammen eine
Arbeitsgemeinschaft gegründet. Sie handhabten zusammen eine Säge und
versuchten ein dickes Brett durchzusägen. Sie sägten ein paar Minuten,
dann sahen sie beide nach, wie tief die Säge schon in die Bohle
eingedrungen war, und hielten eine lange Konferenz ab.

Lehmann trat rasch an sie heran. „So geht es nicht,“ sagte er. „Arbeitet
langsam, wenn euch der Atem ausgeht, aber arbeitet regelmäßig und
schwätzt nicht soviel. Und Sie,“ sagte er zu dem „General“, „in diesem
langen Mantel können Sie doch nicht arbeiten.“

Der „General“ streckte mit gekränkter Miene den langen Bart vor und
knöpfte zur Antwort langsam den langen Militärmantel auf. Er trug ein
zerrissenes Hemd, das nur noch aus schmutzigen Schnüren bestand, und
eine alte an den Knien zerschlissene Hose.

„Das ist etwas anderes,“ sagte Lehmann mit einer gewissen Härte in der
Stimme, die seine Beschämung verbergen sollte. „Ich werde dafür Sorge
tragen, daß Sie Kleider bekommen. Unsere Gesellschaft ist vorzüglich
organisiert. Wenn jetzt manches stockt, so kommt es daher, daß man uns
in den letzten Tagen Tausende von Arbeitslosen geschickt hat. Es wird
alles in Ordnung kommen.“

Mittag! Der Kellner hatte gekocht. Das Feuer wärmte. Alle staunten den
halbfertigen Schuppen an, während sie aßen.

„Ob wir es heute noch schaffen?“

Kopfschütteln. Zweifel.

„Am Abend steht der Schuppen,“ versicherte Lehmann, der mit ihnen aus
demselben Kessel aß.

Und in der Tat, als die Dämmerung kam, stahlblau und kalt, mit einem
eisigen Wind, war der Schuppen bis auf Kleinigkeiten aufgestellt. Er
hatte zwei Fenster – nicht größer als Stallfenster allerdings, und
einige Scheiben waren dazu zerbrochen –, aber doch Fenster, und eine
solide Tür mit einem richtigen Schloß. Das Stroh wurde in den Schuppen
gebracht, der Kochherd, schon wirbelte der Rauch aus dem Blechrohr.
Kisten wurden zurecht gerückt. Der Schlächter kam mit einer völligen
Ladung grüner Tannenzweige durch die Türe und nagelte die Zweige an die
Wand. Nun sah es in der Tat schon ganz festlich aus. Es war behaglich.
Der Wind pfiff nicht mehr. Es war warm, es war sauber. Der kleine
Bauernwagen hatte Decken gebracht. Viele waren alt und geflickt, aber es
waren immerhin Decken, und sie waren rein. In einer Ecke hatte Lehmann
sich sein Lager eingerichtet und daneben sein „Bureau“. Das waren
Notizbücher, Rollen, Pläne.

Plötzlich, es war fast schon dunkel, kam ein Radfahrer! Es war ein
junger Mann, ein Knabe fast noch, mit einer verblaßten Schülermütze auf
dem Kopfe. Forsch und keck trat er in den Schuppen, das Gesicht rot von
der frischen Luft. „Ist Post mitzunehmen?“ rief er.

„Wie, alle Wetter, Post?“ Man sah ihn verblüfft an. „Kannst du Tabak
besorgen?“

„Wenn Sie mir Geld geben, dann bringe ich Ihnen morgen auch Tabak mit.“

„Schön, dann bringe Tabak. Alle Wetter, wieviel bekommst du bezahlt,
mein Junge, am Tage?“

„Wir arbeiten ohne Bezahlung!“

Wir? Wer waren diese „Wir“?

Es war gewiß eine ganz merkwürdige Sache. Wie hatte sich das alles seit
gestern geändert! Es zeigte sich, daß der Radfahrer in seinem Rucksack
ein Paket Zeitungen mitgebracht hatte. Es waren allerdings etwas
veraltete Zeitungen, aber man erfuhr immerhin, was in der Welt vorging,
während man hier im Walde hauste. Eine Azetylenlampe hing von der Decke
herab. Das hätte von allen keiner erwartet. Man fand es nun ganz
behaglich und angenehm in der Baracke. Eine Gruppe spielte Karten mit
einem alten schmutzigen Spiel. Andere lagen müde auf dem Stroh, und
einige plauderten halblaut. Die Verdrossenheit war geschwunden, das
finstere Grübeln, der gegenseitige Argwohn.

„He!“ rief Moritz Georg zu. „Worüber spintisierst du immer? Den ganzen
Tag spintisierst du! Nimm es nicht so schwer, es wird noch schlimmer
kommen. Der Teufel holt uns ja doch alle am Ende!“ Und Moritz lachte.

Um den Kellner mit der Hakennase und den unsteten Rattenaugen, er nannte
sich Henry Graf, hatten sich Zuhörer gesammelt. Henry, der, wie er
sagte, jahrelang Steward auf den großen Passagierdampfern war, erzählte
von seinen Reisen. Er erzählte von Südamerika und China, als sei er erst
gestern dagewesen, von Schmetterlingen, so groß wie die Hand, und von
einer Hitze, daß die Ölfarbe der Schornsteine schmolz. Er hatte in China
Hinrichtungen mitangesehen, in Japan war er in den Teehäusern gewesen –
lauter kleine Puppen, lauter kleine braune nackte Puppen. Er erzählte
von reichen Leuten, amerikanischen Millionären, sonderbaren Passagieren.
Da war zum Beispiel eine reiche Engländerin, die immer betrunken war.
Man schickte sie auf Reisen, um sie los zu sein, und sie war der
Schrecken aller Schiffe. Diese Engländerin verliebte sich in ihn, Henry.
Er könnte heute, weiß Gott, ein Schloß haben. Aber nein, eine betrunkene
Frau, etwas Schrecklicheres gibt es nicht.

„Laß dich nicht auslachen, Henry! Sie hätte dich nie geheiratet!“
Gelächter.

Heinrich, der kleine krummbeinige Schlosser, entpuppte sich als ein
vorzüglicher Tierstimmenimitator. Kanarienvögel, Stare, Hühner,
Eichelhäher, Katzen und Hunde aller Größen und Rassen ahmte er nach und
erntete großen Beifall.

Es zeigte sich, daß sich unter den Genossen Talente verschiedener Art
befanden. Selbst der Verstümmelte – mit dem Glotzauge –, selbst er
steuerte etwas zur Unterhaltung bei. Er war in Sibirien in
Kriegsgefangenschaft gewesen und ahmte das Heulen des Wolfes nach. Er
hielt die Hände vor den Mund und begann schauerlich zu heulen. Und alle,
die nie einen Wolf gehört hatten, überlief ein Schauer.

Um neun Uhr mußte das Licht gelöscht werden. Fast augenblicklich sanken
alle in tiefen Schlaf.

Nur Lehmann legte sich später zur Ruhe. Jeden Abend ging er, die Pfeife
rauchend, eine Stunde lang vor der Baracke auf und ab.


                                   23

Die Axt klang im Walde, die Sägen kreischten. Krachend stürzten die
Bäume. Lehmann hatte jedem der Gefährten die Arbeit im Walde und in der
Baracke nach Befähigung angewiesen. Es herrschte gute Disziplin, und das
Leben auf der Arbeitsstätte spielte sich ohne jede Reibung ab. Den
hochgeschossenen jungen Menschen mit den abstehenden Ohren und dem
Diebsgesicht hatte Lehmann abgelohnt und fortgeschickt, weil er, wie er
sagte, Tagediebe und Faulpelze nicht brauchen könne. Sie mögen
verrecken. Es waren sechs neue Kameraden dazugekommen.

Vom frühen Morgen bis zur Nacht trieb Lehmann zur Arbeit. „Vorwärts,
immer vorwärts!“ rief er. „Ohne zäheste Arbeit können wir das große Werk
nicht schaffen. Die Gesellschaft muß jede Minute ausnützen, sonst geht
sie bankerott. Vorwärts! Schellenberg versteht keinen Spaß! Er setzt
mich an die Luft, wenn ich zurückfalle!“

„Und was wollen wir mit Ihnen anfangen?“ sagte Lehmann zu dem großen,
bleichen Zimmermann. „Ich werde Sie in ein Krankenhaus schicken.“

Die tief eingesunkenen, fieberischen Augen des Zimmermanns flehten.
„Nein, nein,“ bat er. „Lassen Sie mich hier im Walde. Hier werde ich
gesund werden. Haben Sie nur noch einige Tage Geduld. Schicken Sie mich
nicht in ein Krankenhaus.“

Der Zimmermann, er hieß Martin, war auf einem Bau verunglückt, die Hüfte
verrenkt, gar nichts Besonderes, aber seitdem war es mit ihm bergab
gegangen. Es war vorbei mit dem Schleppen schwerer Balken, die Meister
sahen an ihm vorüber. Ohne Verdienst hauste er drei Monate lang mit
seiner Frau und drei Kindern in einer Dachkammer ohne Fenster, bis er
erkrankte. Die Kinder gingen betteln, die Frau verkaufte Schnürsenkel.
Nun, Lehmann schickte ihn nicht fort. Martin erhielt Krankenkost – was
man hier im Walde Krankenkost nannte! –, und nach einer Woche schon sah
man ihn zuweilen langsam unter den Bäumen hin und her gehen, während er
früher sich kaum vom Lager erheben konnte. Nach zwei Wochen aber nahm er
schon die Axt in die Hand, aber er schwankte noch, wenn er zuschlagen
wollte.

„Noch eine Weile Geduld,“ sagte Lehmann zu ihm.

Eines Tages fuhr – sollte man es für möglich halten? – ein wirklicher
Automobilomnibus auf der Landstraße heran. Alle sahen staunend von der
Arbeit auf.

„Was ist das!?“ sagte Moritz, der Schlächter. „Haben wir schon
Omnibusverbindung bekommen? Es wird gar nicht lange dauern, so werden
sie uns eine Untergrundbahn hierher bauen.“

Aus dem Omnibus kletterten zwei junge Herren in grauen Arbeitskutten.
Lebhaft schüttelten sie Lehmann die Hand. Es zeigte sich bald, daß einer
der Herren Arzt war und der andere Zahnarzt. Der Omnibus aber enthielt
eine vollkommene Einrichtung, wie Ärzte und Zahnärzte sie benötigen.

Jeder einzelne mußte zur Untersuchung in den Wagen klettern. Dem einen
wurde dieses geraten und verschrieben und dem andern jenes. Die Herren
waren außerordentlich freundlich. Unter Scherzen verrichteten sie ihre
Arbeit. Der Zahnarzt zog rasch einige Zähne, und dem General setzte er
eine Plombe ein. Martin wurde mit besonderer Sorgfalt behandelt.

„Da sind Sie ja!“ rief der junge Arzt, als er Georg erblickte. Erstaunt
erkannte Georg jenen Arzt wieder, der ihn seinerzeit in dem Haus in der
Lindenstraße empfangen hatte. Der junge Arzt schüttelte ihm herzhaft die
Hand. „Eine Freude, Sie wiederzusehen, so gut haben Sie sich erholt!“
rief er aus. „Sie haben schon etwas Farbe bekommen. Sie sehen, auch wir
kommen zuweilen aufs Land. Aber es ist leider selten, und um diesen
Außendienst reißen sich alle. Nun kutschieren wir vierzehn Tage in der
Umgebung umher, das ist unsere Erholung, sehen Sie!“

Die beiden Ärzte blieben bis zum Anbruch der Dunkelheit. Dann fuhren sie
davon, Lehmann mit ihnen.

Der Omnibus mit seiner verwirrenden Einrichtung beschäftigte am Abend
alle Gemüter.

„Was für einen Wagen doch die beiden Burschen hatten! Sie haben ja
alles! Hast du gesehen, sogar eine kleine Apotheke ist eingebaut. Ihr
Leute – und sie waren nicht entfernt so grob wie die Kassenärzte.“

„Und dieser Zahnarzt! Das ist ein feiner Bursche!“

„Die Gesellschaft zahlt schlecht, das ist Tatsache, aber man muß
zugeben, daß sie für ihre Leute sorgt. Hemden, Wäsche, Socken haben sie
uns gegeben, und der General hat sogar eine gestrickte Wollweste
bekommen.“

„Man sagt, die Arbeitslosenfürsorge bezahle alles, und das Rote Kreuz
soll auch dahinterstecken.“

„Und diese Jungens, die auf ihren Rädern kommen und Botendienste tun,
sie scheinen alles überlegt zu haben und alles heranzuziehen.“

„Und doch verstehe ich es nicht,“ hub der alte Maurer wieder an und
schüttelte bedächtig den Kopf, „was wollen sie eigentlich hier bauen?“

„Was geht es dich an? Sei froh, daß du etwas zu nagen und zu beißen hast
auf deine alten Tage.“

„Man möchte es doch wissen. Sie müssen doch etwas hier wollen? Und ein
großer Schuppen soll noch kommen? Und der Plan, den Lehmann bei sich
hat?“

Georg hatte bei Gelegenheit einen Blick in den Plan werfen können.
„Soviel ich sehen konnte,“ sagte er, „soll hier eine Art Stadt gebaut
werden.“

„Eine Stadt?“

„Eine Stadt?“ Der alte Maurer lachte kindisch.

„Eine Stadt?“ Allgemeines Gelächter.

„Laß dich nicht auslachen, Weidenbach!“

Georg kam, bei Gott, in Verlegenheit, weil sie alle derart wieherten.
„Und doch – denkt, was ihr wollt. Ich habe doch den Plan gesehen,“ sagte
er. „Eine Stadt oder eine größere Ansiedelung mit großen Gärtnereien.“

„Gärtnereien!“

„Gärtnereien, sagst du?“

„Jawohl, Gärtnereien!“

Wiederum Gelächter. Was hier wachsen solle? Auf diesem Boden – nichts
als Sand!

Aber der alte Maurer mit dem Schlapphut kam Georg zu Hilfe. „Worüber
lacht ihr denn, ihr Narren?“ rief er. „Man kann auf den ersten Blick
sehen, daß ihr nie aus der Stadt herausgekommen seid und vom Boden
nichts versteht.“ Und er erzählte umständlich, mit allen Einzelheiten,
von einem Garten, den er vor zwanzig Jahren aus einem Sandhaufen
geschaffen hatte. Schon nach zwei Jahren blieben die Leute stehen, so
sah der Garten aus, und schon im dritten Jahre blühten darin die
Fliederbüsche. Im vierten Jahre aber, da kam er also eines Abends in den
kleinen Garten, und was hörte er? – Der Alte streckte die Hände in die
Höhe, rückte den Schlapphut mit den Pleureusenresten aus der Stirn und
begann zu pfeifen – tüh – tüh – tüh. „Eine Nachtigall, ihr Leute! Mein
Herz hat geschlagen, so schön sang die Nachtigall.“

Der kleine krummbeinige Schlosser machte eine verächtliche Handbewegung.
Er wußte es besser als alle.

„Weshalb zerbrecht ihr euch die Köpfe?“ fragte er. „Wie? Was sie hier
machen wollen? Geld wollen sie machen, aber nicht für uns! Es ist ja
alles aufgelegter Schwindel. Unsere Arbeitsstunden sollen gebucht
werden, und wenn du fünftausend Arbeitsstunden erreicht hast – im Laufe
der Jahre, sooft du stellungslos bist –, so sollst du einen Morgen Land
und eine Behausung bekommen. Wer soll das glauben? Es ist ja alles
Schwindel und Lüge. Ich habe es euch ja oft gesagt: Es ist Schellenberg
und kein anderer als Schellenberg. Wir werden uns schinden, und
Schellenberg wird den Profit einstreichen. Ich habe ja bei Schellenberg
gearbeitet. Er baut sich einen Palast im Grunewald, das müßt ihr gesehen
haben. Ein halbes Jahr lang habe ich dort Erde gekarrt. Schellenberg hat
sich ein Schwimmbad im Keller eingerichtet, hat man so etwas schon
gesehen? So groß wie eine Reitschule. Da sind fünfzig Zimmer und Säle,
und sogar die Diener haben Badezimmer. Da sind Ställe, Garagen, ein
Bootshaus und ein Pavillon am See. Eine Küche so groß wie eine Kaserne,
und alles aus weißen Kacheln!

Ihn aber selbst solltet ihr sehen, Schellenberg!“ fuhr der Schlosser
fort und fettete sich den Schnauzbart mit den Fingern ein. „Wenn er in
seinem Auto angefahren kommt, in einem Pelz, von oben bis unten, eine
Bärenmütze auf dem Kopf. Und immer schöne Weiber hat er bei sich, und
manchmal ist er schon am hellen Tag betrunken. Oh, man muß ihn nur
gesehen haben, dann weiß man alles. Dieser Schellenberg hat in den
letzten Jahren das Geld mit Scheffeln zusammengerafft. Niemand weiß, wie
reich er ist! Und womit? Mit Holz und im Holzhandel. Er hat zehn
Papierfabriken, ihr Leute. Es ist ja kein Kunststück bei den
Hungerlöhnen, die er uns zahlt. Und die Regierung – sie stecken ja alle
unter einer Decke – zahlt ihm noch zu, weil er die Arbeitslosen
beschäftigt. So ist es. Häuser? Eine Stadt, Gärtnereien? Laßt euch nicht
auslachen.“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Türe, und herein sah schüchtern
und scheu das runzlige Gesicht einer alten Frau. Auf ihrem Kopftuch
lagen einige Schneeflocken. „Bin ich hier richtig?“ sagte die alte Frau.
„Ist das die Station Lehmann?“

„Hier bist du richtig,“ antwortete der Kellner.

„Immer herein, Großmutter!“ schrie der Schlächter. „Was willst du denn?“

„Ich komme hierher zur Arbeit. Ich soll euch die Küche führen.“

Die Männer blickten einander an. „Was sollst du?“ Dann brachen sie in
lautes Gelächter aus. Und sie lachten so sehr, und ihre Bemerkungen
waren so derb, daß der alten Frau die Tränen in die Augen traten. Sie
drehte sich verlegen und verletzt in ihrem abgeschabten Mantel. „Ihr
seid ein loses Volk!“ schrie sie und bewegte heftig die Arme. Am
liebsten wäre sie wieder zur Türe hinaus.

Dann aber begann sie hastig zu plappern, und ihre runzligen Lippen
schienen nicht mehr zur Ruhe kommen zu wollen. Sie erzählte ihre
Lebensgeschichte und verlor sich in Einzelheiten, die niemand verstand.
Sie war Witwe, ihr Mann, ein Schreiner, seit Jahren tot. Sie hatte ein
kleines Haus besessen und einen kleinen Garten. Und sechs Kinder hatte
sie großgezogen und vier Töchter ausgestattet. Aber durch den Krieg
hatte sie alles verloren. Und nun war sie alt und mußte wieder arbeiten.

Die Männer sahen einander an, brummten verlegen und schämten sich ihrer
derben Späße.

Der Schlächter Moritz aber hatte genug Lebensart und wußte, was sich
gehört. Er sprang auf, ging der Alten entgegen und schüttelte ihr
herzhaft die Hand. „Nun schön!“ rief er aus. „So bleibe bei uns,
Großmutter! Hoffentlich kannst du gut kochen. Wir essen hier fein auf
der Station. Wir werden dich neben den Ofen hinpacken, da hast du es
warm. Komm, gib den Mantel her. So, und jetzt gib mir einen Kuß!“ Und
wirklich wollte der Schlächter der alten Frau einen Kuß geben.

„Du bist ein loser Vogel!“ rief die Alte und stieß ihn zurück. Sie
lachte, während die Tränen auf ihren runzligen Wangen noch nicht trocken
waren. „Ei, was für ein loser Vogel ist er doch!“ und sie gab dem
Schlächter eine kleine gutgemeinte Ohrfeige.

„Ah, da hast du es, Moritz!“ schrien die Männer. Die Bekanntschaft war
geschlossen.

„Und das hier ist also deine Küche, siehst du!“

„Das ist die Küche?“ Die Alte lachte.

Ja, das sei die Küche. Ob sie ihr nicht vornehm genug sei? „Und die
Bedienung, die wir haben, wie in einem erstklassigen Hotel. He, Henry,
zeige der Großmutter, wie es bei uns hergeht.“

Henry, der Kellner, stand auf, klemmte ein schmutziges Handtuch unter
den Arm und tat, als serviere er. Einen Teller auf der Hand
balancierend, rannte er mit kurzen, schnellen, komischen Schritten von
der Küche in die Mitte des Zimmers, wo er unsichtbaren, an einer Tafel
sitzenden Gästen aufwartete. Er beugte sich vor, drehte die Platte auf
den Fingern, damit der Gast bequem abheben konnte, richtete sich auf und
schob sich neben den nächsten Gast. Sein Gesicht war von tödlichem
Ernst. Zuweilen tat er, als mache er einem zweiten Kellner, vielleicht
einem Pikkolo, Zeichen mit den Augen. Dann rannte er mit denselben
komischen Schritten wieder in die Küche zurück.

Die Männer brüllten vor Lachen, und in der Tat, Henry spielte diese
Szene mit unglaublicher Komik. Auch die Alte lachte, daß ihr die Tränen
über die Wangen liefen.

In diesem Augenblick ließ auch schon der Schlosser seine Kunst hören. Er
ahmte einen ganzen Käfig voller Hühner nach, und die Alte glaubte
wirklich eine Weile, daß in der Ecke Hühner seien.

„So also geht es bei euch zu!“ schrie sie.

„Jawohl, Großmutter, so und nicht anders!“ rief der Schlosser und gab
ihr einen derben Schlag auf die Schulter. „Wir werden dich nicht
fressen. Es wird dir gut bei uns gefallen!“


                                   24

Den Männern, die Familie hatten, war es freigestellt, jeden Sonnabend zu
ihren Angehörigen in die Stadt zu fahren. Am Montag kehrten sie zurück.
Einzelne kamen nicht wieder. Der Arbeitsnachweis der Gesellschaft hatte
sie in ihrem Beruf irgendwo untergebracht. Den Unverheirateten aber
sollte erst nach einigen Wochen ein Urlaub gewährt werden. Es hing ganz
davon ab, wie Lehmann mit ihnen zufrieden war. Georg hatte ihn schon am
ersten Sonnabend um einen Urlaub gebeten.

„Nicht daran zu denken,“ antwortete Lehmann mit einem Lächeln. „In vier
Wochen vielleicht.“

Nun, auch vier Wochen würden wohl vergehen.

Georg hatte sich im Walde rasch erholt. Am Anfang, da zitterte sein
entkräfteter Körper unter den Anstrengungen der schweren Arbeit, und des
Morgens, wenn der Lärm der Kameraden ihn weckte, war es ihm oft kaum
möglich, sich vom Lager zu erheben. Er war in Schweiß gebadet, die Füße
trugen ihn kaum. In der zweiten Woche aber fühlte er seine Kräfte
langsam zurückkehren, und in der dritten Woche war es ihm, als ob er
seit Jahren diese schwere Arbeit verrichtete. Er war kein Riese, wie
Moritz, daran war nicht zu denken, aber immerhin, er stellte seinen
Mann.

Sein Körper war abgehärtet, er erschauerte nicht mehr unter jedem
Luftzug. Er fror auch nicht, als die scharfen Ostwinde einsetzten und in
den Nächten das Wasser in den Furchen der Landstraße gefror. Reif
bedeckte am Morgen den Boden und die Stämme der Bäume.

Nach dem Feierabend pflegte Georg noch eine Stunde zu wandern. Er hatte
das Bedürfnis, allein zu sein und sich mit seinen Angelegenheiten in
aller Stille zu beschäftigen.

Gewöhnlich ging er bis an den Rand des Waldes, der in einer
Viertelstunde zu erreichen war. Hier stieß der Wald an eine sanft
geneigte Heidefläche, die nur von dünnem Gestrüpp und einigen Birken
bestanden war. Auch auf dieser Heide waren Arbeitskolonnen am Tage
tätig. In der Ferne, ganz klein, schimmerte ein Licht, und dort hausten
sie. Die Station hieß Glücksbrücke. Er hatte sie an einem Sonntag
besucht.

Groß und funkelnd standen die Sterne über der stillen Heide. Wie ein
Gespenst, scheu und ängstlich, schob sich der Mond aus dem Rauch des
Horizonts, bald aber funkelte er herrisch hoch am Himmel und spiegelte
sich ohne Teilnahme an den Geschicken dieser Erde im Wasser des Kanals,
der in der Senkung die Heide durchquerte. Frei und ohne jedes Hindernis
stürzte der Wind über die kahle riesige Fläche.

Hier war Georg ganz allein, ganz allein mit seinem Gram. Kein Mensch,
kein Tier. Das rote glimmende Licht der Arbeiterbaracke am Rande der
Heide war das einzige Zeichen der Nähe lebender Wesen. Zuweilen sauste
und pfiff es in der Ferne: ein Eisenbahnzug irgendwo.

In der Stille, unter dem funkelnden Firmament, im Angesicht des kalt
blendenden Mondes wanderte Georg dahin, seinen Gedanken hingegeben.

Seit er im Walde arbeitete, hatte er auch nicht eine Stunde Christine
und ihr Schicksal vergessen. In den ersten Wochen hatte er versucht, die
Erinnerung an sie aus seinem Herzen zu verdrängen. Hatte sie ihn nicht
verlassen und betrogen? Aber die schwere Arbeit im Walde hatte ihn
ruhiger gemacht. Es war ja nichts erwiesen, nichts wußte er, nichts.

Das Geschwätz eines Betrunkenen, das war alles.

Er hatte an Stobwasser geschrieben und ihn gebeten, sich beim
Einwohneramt nach Christines Adresse zu erkundigen. (Erst hier im Walde
war ihm eingefallen, daß es polizeiliche Meldestellen gibt.) Stobwasser
indessen hatte geantwortet, daß er noch immer krank sei. Sobald er
aufstehen könne, werde er Nachforschungen anstellen. Seit dieser Zeit
hatte er nichts mehr gehört.

Nun, in vier Tagen sollte er einen zweitägigen Urlaub nach Berlin
bekommen. Diese Tage wollte er gut verwenden. Dazu hatte er etwas Geld
in der Tasche.

„Sonderbar,“ sagte er zu sich, während er über die stille verlassene
Heide wanderte, „eigentlich liebte ich dieses Mädchen anfangs gar nicht
so sehr. Ich hatte mich immer nach einer sanften stillen Frau gesehnt,
nicht wahr? Und Christine, sie war leidenschaftlich, immer erregt,
Tränen und Raserei. Sie hatte mehr Temperament als zehn Mädchen
zusammengenommen. Und es schmeichelte meiner Eitelkeit, daß dieses
leidenschaftliche, von vielen begehrte und umworbene Mädchen – wo sie
auch ging, wandten sich alle Männer nach ihr – sich in mich verliebte.
Wie sie flehte, wie sie bettelte, wie demütig sie war. Wie sie um mich
warb! Und ich – ich nahm ihre Liebe als etwas Selbstverständliches hin,
ihre Leidenschaft, ihre Briefe, alles, als müsse es so sein.“ Er
durchlebte in der Erinnerung alle Phasen ihrer Liebelei – denn mehr war
es, in den ersten Monaten wenigstens, nicht gewesen. Wie sie ihn mit
ihrer sinnlosen Eifersucht, die keine Grenzen kannte, quälte und
folterte. Diese ewigen Szenen! Sie lauerte ihm auf, bewachte ihn, wachte
über jeden seiner Blicke. Sie war selbst eifersüchtig auf seine Freunde,
seine Arbeit, seine Pläne. Katschinskys Freundin, der schönen Jenny
Florian, durfte er nicht einmal die Hand geben. Welche Qual! Sie drohte
sich ins Wasser zu stürzen, sie drohte ihn zu erschießen. Hundertmal
hatte er beabsichtigt, das Verhältnis zu lösen, aus Berlin zu flüchten,
wenn es sein mußte ...

„Und nun?“

„Aber wie sonderbar ist der Mensch doch!“ sagte Georg und blieb inmitten
der Einsamkeit der Heide stehen. „Seit Christine in ihrer Raserei auf
mich geschossen hat, seit diesem Augenblick liebe ich sie über alle
Maßen.“

                   *       *       *       *       *

In den letzten Tagen war Lehmann damit beschäftigt, die Umrisse von
Buchstaben mit weißer Ölfarbe auf die Schuppenwand zu zeichnen. Seine
Pfeife qualmte, und sein junges Gesicht mit den roten Knabenwangen
strahlte vergnügt, während er den Pinsel führte. Eines Mittags, als die
Männer von der Arbeit zurückkehrten, war die Aufschrift, die in großen,
glänzend weißen Lettern die ganze Schuppenwand bedeckte, fertig. Sie
lautete:

   Gesellschaft Neu-Deutschland!
   Tod dem Hunger!
   Tod der Krankheit!
   Es lebe die Kameradschaft!

Dies war der Tag, an dem Georg seinen Urlaub antreten sollte.

„Leben Sie wohl, Weidenbach!“ rief Lehmann, der seine Malerei
wohlgefällig betrachtete. „Und vergessen Sie nicht, wiederzukommen!“

„Ich komme bestimmt zurück!“ erwiderte Georg. Rasch ging er dahin. Die
Sonne blinkte, obwohl einzelne Schneekristalle in dem kalten Wind durch
die Luft trieben.


                                   25

Die Axt klang im Walde. Die Sägen kreischten, und die elektrisch
angetriebenen ambulanten Kreissägen sangen mit einem schrillen Ton vom
Grauen des Tages bis zum Einbruch der Nacht. Achtung! Mit krachendem
Gesplitter fielen die Bäume, einer nach dem andern. Schon kletterten
Leute mit Axt und Säge in den Kronen der gestürzten Bäume, um die Äste
zu entfernen. Über die ganze Waldfläche zerstreut lagen die Leichen der
gefällten Föhren und Fichten. Es roch nach feuchten Spänen und Harz.

Lehmann, der Einarmige, hatte seine Schar prachtvoll in der Hand und
trieb zur Arbeit. Überall war er. Überall war auch Georg Weidenbach, der
zu einer Art Unterführer aufgerückt war. Er dirigierte, schrie, gab
Befehle, nahm selbst die Axt zur Hand. Sein Gesicht war rot von der
Arbeit und vom Frost.

Schon lichtete sich der Wald, und die Heidefläche, die an ihn grenzte,
war bereits von den Baracken aus sichtbar. An klaren Tagen sah man auf
der Heide kleinere und größere Arbeitsgruppen, bald hier, bald dort, an
der Arbeit. Dann und wann ertönte ein dumpfer Knall: sie sprengten die
Stubben der Bäume, die vereinsamt auf der Heide gestanden. Meist aber
war die Heide in Dunst und Nebel eingehüllt, und man sah nichts.

Die Zahl der Baracken hatte sich vermehrt. Es waren noch zwei große
Schuppen dazugekommen, in denen die Belegschaft, über hundert Köpfe
stark, hauste. Ein wenig abseits stand eine mächtige Baracke mit einer
Reihe großer Fenster, die, sobald es dunkel wurde, ihr Licht wie große
Scheinwerfer in die Finsternis warfen. Auch hier kreischten und sangen
die Sägen. Eine Schar von Tischlern und Zimmerleuten war hier an der
Arbeit, und Martin, der Zimmermann, der in den ersten Wochen bleich und
elend in der Baracke lag, war hier Meister. Zwei große Schuppen waren
noch geplant. Glückshorst sollte eine der großen Tischlereien der
Gesellschaft werden. Sie machten da drinnen Fenster und Türen, Stühle
und Bänke, Tische, primitive Pritschen zum Schlafen, immer die gleichen
Maße und Größen.

In dem kleinen alten Schuppen, in dem die Holzfäller anfangs gehaust
hatten, befand sich heute nur noch die Küche, wo Mutter Karsten mit den
Töpfen rasselte. Bei ihr hauste noch eine stämmige Bäuerin, die aus dem
Dorf zu ihr gekommen war. Dazu hatte Mutter Karsten Gehilfen, die sie
schalt und anspornte. Man konnte nie flink genug bei ihr sein, ohne jede
Pause ging ihr rasches Mundwerk.

Neben der Küche hatte sich Lehmann eingerichtet. Er hatte dort eine
Pritsche mit einem Strohsack und einer Pferdedecke, einen Tisch und
einen Stuhl, wie sie in der Tischlerei hergestellt wurden. Auf dem Tisch
stand das Telephon, das vom Morgen bis zum Abend klingelte. Das Bureau
war voller Pläne, Rollen und Bücher. In all der Unordnung saß Lehmann,
die Pfeife im Munde, und lächelte und wühlte in den Papieren. Oh, er war
zufrieden. Die Station Glückshorst, seine Station, war tüchtig in
Schwung gekommen. Die Zentrale hatte ihn beglückwünscht und ihm eine
große Karriere prophezeit. Und darüber freute sich Lehmann. Er war
früher Offizier gewesen, lange ohne Brot und Stellung und hatte eine
Mutter und zwei Schwestern zu erhalten. Für sich selbst brauchte er
nichts. Ein Paket billigen Tabaks, das war alles.

An der Türe seines Bureaus schlug Lehmann jeden Morgen die Vakanzen der
Berliner Arbeitsnachweise an und musterte dann die Leute aus, die sich
für die Vakanzen meldeten. „Du wirst noch vierzehn Tage hierbleiben, du
bist erst gekommen. Wir wollen diesen Freund da hinschicken. Er hat Frau
und Kind in Berlin sitzen. Und dich, Moritz, kann ich hier nicht
entbehren, dich brauche ich hier. Mit dir habe ich ganz besondere Dinge
vor, warte nur, bald sollst du es hören.“

Moritz stand mit breiten Schultern und wölbte die Brust und wurde rot
über das Lob. Täglich gingen Leute nach Berlin zurück, und andere
Arbeitslose kamen. Manchmal waren es zehn, manchmal zwanzig, manchmal
mehr.

Die Neuankömmlinge mußte Georg in die einzelnen Kolonnen einreihen. Es
gab leichtere und schwerere Arbeiten, Arbeiten, die jeder Dummkopf
leisten konnte, und Arbeiten, die etwas Verstand verlangten. Georg hatte
es gelernt und wußte mit einem raschen Blick die Fähigkeiten der
einzelnen Leute einzuschätzen. Die Musterung dauerte keine fünf Minuten,
und schon ging es an die Arbeit.

Georg war – als er den zweitägigen Urlaub erhielt – in Berlin gewesen.
Aber seine Reise war völlig ergebnislos verlaufen. Bei den polizeilichen
Meldestellen wußte man nichts von Christine. Er war auch nochmals in dem
düsteren Hause bei dem Schlosser Rusch gewesen, da er hoffte, der
Schlosser könne ihm, im nüchternen Zustande, nähere Auskunft geben. Und
wenn nicht er, so vielleicht irgendein Hausbewohner. Alles vergeblich.
Die Stunden vergingen schnell. Sein Urlaub war nur kurz, und es reichte
kaum noch zu einem kurzen Besuch bei Stobwasser, den er immer noch
hustend und frierend in seiner kalten Werkstatt vorfand.

Georg war schon völlig ohne Hoffnung, als er plötzlich einen Brief von
Stobwasser erhielt. Seht an, das erste Wort, das Georg in die Augen
sprang, war der Name Christines. So also war es: Katschinsky hatte es
Stobwasser berichtet. Die schöne Jenny Florian, die Schauspielerin,
jetzt bei der Odysseus-Film-Gesellschaft als Diva engagiert, hatte vor
mehreren Wochen eine Nachricht von Christine aus Berlin erhalten.
Unglücklicherweise aber war die schöne Jenny auf Reisen, sie filmte in
Italien. Erst in einigen Wochen wurde sie zurückerwartet.

So hieß es, sich gedulden.

Eine Hoffnung! Ein Strahl von Hoffnung! Georg stürzte sich in die
Arbeit, damit die Tage vergingen. Plötzlich schlug sein Herz wieder
freier.


                                   26

Der Winter war bis jetzt ziemlich mild gewesen. Reif, einige Frostnächte
unter dem blitzenden Mond, das war alles. Nun aber war in der Nacht
heftiger Schneefall eingetreten. Weiß und weich lag die Landschaft,
völlig verändert. Es schneite auch am Tage, nicht besonders heftig, aber
gegen Abend fiel der Schnee in ganzen Tonnen vom Himmel herunter. Am
Morgen waren die Baracken fast einen Meter tief in den Schnee gesunken.
Auf den Bäumen hingen ganze Fahnen von Schnee, und die Sonne glitzerte.

Man mußte Wege ausgraben. Die Tischler und Zimmerleute forderten eine
besondere Kolonne an, da sie bis zum Bauch im Schnee zu ihrer Werkstatt
waten mußten.

Wie wird es mit der Post und den Zeitungen und den Briefen? Die
Radfahrer können unmöglich durchkommen. Aber siehe da, schon kamen die
Boten an. Es waren jetzt sechs fröhliche junge Burschen, die den Dienst
mit Begeisterung versahen. Sie kamen auf Skiern! Bestaunt und bewundert.
Viele der Arbeiter, die diesen eifrigen jungen Leuten, die freiwillig
Dienst taten, nicht grün waren – sie hielten sie für Mitglieder
reaktionärer Verbände –, sahen sie von diesem Tage an mit anderen Augen
an. Man denke: auf Skiern waren sie gekommen. Solche Teufelskerle!

Immer noch schneite es. Man mußte den Schnee von den Dächern fegen, sie
bogen sich unter der Last. Aber die Arbeit erfrischte und ermunterte. So
sonderbar es war, man sah in diesen Tagen nur heitere Gesichter.

Nun fing der Wind an zu fegen, und das war gut, denn er fegte die Straße
frei und wehte den Schnee hinunter in den Kanal.

„Ein wahres Glück, Weidenbach,“ sagte Lehmann, „ist dieser Wind, denn
die Stubben müssen heraus. Wir müssen die Sprenglöcher bohren.“

Nun knallte es wochenlang im Walde. Die Stubben flogen in die Luft.

Auch dieses Knallen, diese Stimme der Arbeit belebte und ermunterte.
Laut und fröhlich ging es bei den Mahlzeiten her. Nur jene, die erst vor
wenigen Tagen aus Berlin gekommen waren, ausgehungert, verstört, müde,
verhielten sich noch still und stumpf.

An den Abenden aber herrschte in den Baracken starker Tumult. In der
Tat, in keiner der Kneipen der Berliner Vorstädte, wo am Abend müde und
verbrauchte Menschen verkehrten, herrschte eine solch ausgelassene
Fröhlichkeit.

Die Spielkarten klatschten. Neckereien, allerhand Unfug, Gelächter.

Noch immer stand der Schlächter-Moritz im Mittelpunkt der Gesellschaft.
Jeden Abend gab es ein lustiges Geplänkel zwischen ihm und Mutter
Karsten. Moritz faßte die Alte unterm Kinn, verdrehte verliebt die Augen
und sagte: „Nun, Großmutter, wann werden wir endlich Hochzeit feiern?“

„Oh, du loses Maul,“ erwiderte die Alte, „eine alte Frau zu verspotten,
du Schlingel! Siehst du nicht meine Runzeln und daß ich keine Zähne mehr
habe. – Hier hast du etwas!“ Und Moritz erhielt eine schallende
Ohrfeige.

Aber die Bäuerin, die aus dem Dorfe gekommen war und Mutter Karsten
beistand, seht an! Sie war eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, derb,
aber noch gut aussehend. Mit ihren vorstehenden glänzenden Augen folgte
sie jeder Bewegung des Schlächters, und Moritz begann, ihr Augen zu
machen. Schon stieß man sich an und machte Scherze.

An den Sonntagen sah man ihn häufig in der Küche sitzen, wo er die
Kessel fegte. Die besten Bissen wurden ihm zugesteckt.

Ein kleiner, bleicher Geselle mit wachsgelbem Gesicht war vor kurzem in
die Baracke gekommen. Er war von Beruf Schneider und spielte vorzüglich
die Mundharmonika. Er spielte, und Henry Graf, der Kellner, begann
seinen Niggertanz zu tanzen. Alle Wetter! Bravo! Er rückte einen kleinen
steifen Hut aufs Ohr, schwang eine Gerte als Stöckchen, und wie schnell
gingen seine Füße, man konnte sie kaum verfolgen. Dann begann er zu
stampfen, die Absätze zu schleudern, und nun sang er in einer Sprache,
die niemand kannte. Manchmal sah es aus, als falle er seitlich um, aber
er tänzelte graziös dahin, das Hütchen kokett schwingend. Diese Nummer
war stets ein großer Erfolg. Der größte Erfolg aber in den letzten
vierzehn Tagen war der Boxkampf, den Moritz mit einem neuangekommenen
hageren, düsteren jungen Mann auskämpfte. Dieser Hagere behauptete ein
Boxer zu sein. Er renommierte und prahlte, daß er schon da und dort
öffentlich im Ring erschienen sei. Niemand glaubte es, auch Moritz
nicht. Ohne jeden Zweifel war Moritz der stärkste Mann im Lager, und er
empfand es als einen Angriff auf seine Stellung, wenn der Hagere so
unverschämt renommierte.

„Ein Boxer willst du sein? Du siehst nicht aus, als ob du weit kämest.“

„Nun gut, versuche es. Ich boxe auch mit dir.“

„Ah, ein Boxkampf!“

Alle versammelten sich im Kreise. Eine solche Sensation war noch nie
dagewesen. Der Hagere zog den Rock aus, und Moritz schlüpfte aus seiner
gestrickten Wollweste. Und da alles seine Ordnung haben mußte, wurde
Georg zum Schiedsrichter erwählt.

„Über wieviel Runden soll der Kampf gehen?“

Der Hagere wackelte mit dem Knie. „Über zwanzig Runden, je drei
Minuten.“ Alle Teufel!

Moritz aber übertraf ihn. Er wölbte die Brust und warf nach allen Seiten
Blicke. „Wir boxen, bis einer ausgezählt wird,“ sagte er.

„Bravo, Moritz!“ Das war mehr, als man erwarten konnte. Ungeheure
Erregung.

Es muß gesagt werden, daß Moritz nach fünf Runden, elend
zusammengeschlagen, aufgeben mußte. Die Bäuerin aus dem Dorfe aber war
dunkelrot und warf dem Hageren wütende Blicke zu.

Häufig prallten die Meinungen so heftig aufeinander, daß die Baracke in
Wahrheit zu toben begann. Politische Gespräche waren in der Baracke
verfemt. Lehmann entließ zwei junge Burschen, die offenbar nur in der
Absicht in die Baracke gekommen waren, um Agitation zu treiben.

„Die Gesellschaft Neu-Deutschland kennt keine Parteien und keine
Konfessionen, und wer in dieser Beziehung nicht pariert, fliegt
augenblicklich hinaus. Ich habe strengsten Befehl und verstehe in dieser
Beziehung keinen Spaß!“

An jedem zweiten Sonntag aber kam das Filmauto, immer mit großem Jubel
empfangen. Drei Stunden lang wurden Filme vorgeführt, und die Männer,
die einsam im Walde hausten, konnten sich nicht sattsehen. Lustspiele,
Trauerspiele, alles durcheinander. Die Filme flimmerten schon stark und
waren etwas zerschlissen, aber das war den Zuschauern einerlei. Den
Schluß bildeten immer Filme, die die Stätten der Arbeit zeigten:
Bergwerke mit sausenden Rädern und riesigen Fördermaschinen, Werften, wo
die Arbeiter in den Eisengerüsten kletterten, Maschinenhallen,
Gießereien, und am Schluß erschienen stets Filme der Gesellschaft
Neu-Deutschland. Siedlungen, kaum begonnen, Siedlungen, in denen die
Häuser emporwuchsen, Gärten, Siedlungen wimmelnd von Menschen, neue
Werkstätten, kleine, völlig neue Städte ...


                                   27

Es ist nur natürlich, daß sich alle möglichen Personen für das Lager
interessierten.

Eines Tages kamen zwei merkwürdig aussehende Männer in einem alten Auto
an. Sie gingen zu Lehmann ins Bureau und kamen nach einer Weile wieder
heraus, um die ganze Arbeitsstätte eingehend zu besichtigen. Sie gingen
in die Tischlerwerkstätte und erschienen wieder. Sie besuchten die
Kolonne, die die Bohrlöcher bohrte, und schienen sich für alles zu
interessieren, auch für jeden einzelnen Mann, denn sie sahen jedem mit
raschem Blick ins Gesicht. Ganz plötzlich standen sie neben Henry Graf,
dem Kellner.

Einer der Männer sagte: „Herr Bollmann.“

Sofort drehte sich Henry Graf herum. Ah, seht an, er hieß gar nicht
Henry Graf. Und weshalb wurde der Kellner so bleich?

„Da sind Sie ja wieder, Bollmann,“ sagte der zweite der Männer. „Kommen
Sie mit uns!“

Henry Graf machte eine verzweifelte Gebärde. Er war weiß geworden wie
der Schnee im Walde. „Nun wollte ich ja arbeiten!“ schrie er. „Seht an!“

Der eine der Herren aber sagte: „Noch zwei Jahre, dann sind Sie frei.“

Es war also alles klar, man wollte den Kellner mitnehmen. Die Kameraden
strömten herbei und umringten die Kommissare und den Verhafteten.

Moritz legte die Hand auf die Schulter des einen Kommissars. „Lassen Sie
ihn doch hier, Herr Kommissar, er ist doch ein wirklich guter Kamerad.“

Auch die übrigen Männer verlegten sich aufs Betteln. Der Schlosser aber
nahm ein paar Zigaretten aus der Tasche und wollte sie einem der Herren
zustecken.

„Machen Sie keine Geschichten,“ flüsterte er dem Kommissar zu. „Drücken
Sie ein Auge zu, Herr Kommissar. Ist denn wirklich nichts zu machen?“

Nein, es war wirklich nichts zu machen. Ein Trupp gab dem Kellner bis
zum Auto das Geleit.

„Nun sieh zu, daß du bald wiederkommst! Beiß die Zähne zusammen. Es ist
ja nicht so schlimm!“

„Ja, ich komme bestimmt wieder!“ Und sie sahen dem Auto nach, bis es
verschwand.

Was mochte Henry Graf ausgefressen haben? Und noch zwei Jahre, sagte der
Kommissar? War er ausgerückt? Welch ein Pech, daß sie ihn gefunden
hatten!

An diesem Abend war es verhältnismäßig ruhig in der Baracke. Immer
wieder sprach man von den Kommissaren und dem Auto und Henry Graf, der
eigentlich Bollmann hieß.

„Und wie töricht, hast du gesehen, er drehte sich gleich um, als sie
Bollmann zu ihm sagten. Er hätte einfach davonlaufen sollen.“

„Konnte er denn ahnen, daß es Polizisten waren? Jeder Mensch hielt sie
für Bauleute. Natürlich konnte Henry das nicht ahnen. Nein, solch ein
Pech!“

Und alle sprachen davon, wie Henry tanzte, mit dem Stöckchen und dem
kleinen steifen Hut, wie man glaubte, daß er umfalle, wie er dicht am
Boden kauerte und das Hütchen über dem Kopfe schwang und einmal den
linken und einmal den rechten Absatz herausschleuderte und dazu in einer
fremden Sprache sang. Nein, nein, war das möglich? Und nun also saß er
im Kittchen.

Der Schneider wollte ein Konzert auf seiner Mundharmonika geben. Er kam
aber nicht weit. „Hör’ auf, hör’ auf!“ klang es von allen Seiten.

So war es also nichts mit dem Konzert. Man spielte verdrießlich Karten,
um die paar Abendstunden totzuschlagen, und wickelte sich frühzeitig in
die Decken.

Es passierten noch andere Dinge im Lager Glückshorst. Da war zum
Beispiel dieser kleine alte Maurer. Man erinnert sich, er trug einen
Hut, einen großen Schlapphut mit den Resten einer Pleureuse daran. Er
war alt und lief den andern nur in den Weg und störte bei der Arbeit,
und wenn er ging, so wackelte sein hängender Hosenboden. Dieser alte
Maurer, der eines Abends von seinem Gärtchen erzählt hatte und zum
Ergötzen der Kameraden den Versuch machte, die Stimme einer Nachtigall
nachzuahmen, er war eines Abends verschwunden. Man bemerkte es nicht.
Erst am andern Morgen fiel es seinem Nachbar auf, daß das alte Männchen
fehlte. Nun gab es im Lager natürlich dann und wann Durchbrenner, die
sich mit der Einsamkeit im Walde und mit den Arbeitsbedingungen der
Gesellschaft nicht aussöhnen konnten. Aber er, der Alte, ganz unmöglich!
Viele Wochen war er schon da.

Man suchte also, und man sah Fußstapfen, Schritte, die in den Wald
hineinführten, immer tiefer. Und dort also, an jenem Baum, da hing er.
Der Alte hatte sich erhängt.

Am Baum war ein Zettel befestigt, worauf stand: „Alles, was ich
erarbeitet und erspart hatte, habe ich verloren. Ich bin zu alt, um von
vorn anzufangen. Betet für meine Seele!“

Es gab eine richtige Beerdigung im Walde. Zuerst wollte man ihn im
Friedhof des Dorfes begraben. Aber nach einer längeren Debatte am Abend
mehrten sich die Stimmen, die für eine Bestattung im Walde waren.

„Er wird lieber bei uns sein wollen als bei den dummen Bauern im
Friedhofe. Hier außen hat er seine Ruhe, und vielleicht kommt eine
Nachtigall zu ihm.“

„Wie soll eine Nachtigall hierherkommen?“ fragte der Schlosser.

„Du hast noch immer nicht verstanden!“ schrie ihn der Schlächter-Moritz
an. „Weshalb sollen keine Nachtigallen hierherkommen, wenn es doch sogar
in Berlin Nachtigallen gibt.“

„Gewiß hat er recht. Auch hierher werden Nachtigallen kommen,“ erklärte
Georg.

So kam also die Stunde der Beerdigung heran. Punkt zwölf Uhr
kommandierte Lehmann: „Sammeln zum Leichenbegängnis!“

Dann trotteten sie in den Wald hinein. Lehmann hielt sogar eine richtige
Rede, wobei er heftig den einen Arm schwang. Alle fanden diese Rede sehr
schön. Er sprach davon, daß der tote Kamerad einer der vielen Tausende
sei, die ihrem Leben ein Ende gemacht hätten, weil sie es einfach nicht
mehr ertrugen. Während die Betrüger und Spekulanten in die Höhe kamen,
hatte man ehrwürdige Leute wie unsern toten Kameraden einfach in den
Dreck hinabsinken lassen, ohne auch nur eine Hand zu rühren. Erst die
Gesellschaft „Neu-Deutschland“ schaffe Wandlung. Sie sei spät gekommen,
aber doch nicht zu spät. „Unser toter Kamerad“, schloß Lehmann, „ist
ebensogut ein Opfer des Krieges und der Revolution wie irgendein General
oder Minister. Über seinem Grabe werden glücklichere Menschen wandeln,
als er einer war.“

Dann trat er vom Grabe weg, zündete sich die Pfeife an, und die
Feierlichkeit war beendet.

Die Rede hatte gut gefallen und wurde am Abend lebhaft diskutiert.
Besonders die Stelle mit dem Minister und General fand Anklang, war der
Alte doch nur ein armer Maurer gewesen. Sie fanden, daß Lehmann, obwohl
er früher Offizier war, ein umgänglicher Mann sei, mit dem sich
auskommen ließ.

So schnell, wie der Schnee gekommen war, so schnell verschwand er. Ein
warmer Wind kam vom Süden, und es tropfte und rieselte von den Bäumen.
In ein paar Tagen war vom Schnee nichts mehr zu sehen. Die Sonne schien,
und zum ersten Male zog der Schlächter-Moritz seine braune Strickjacke
aus, er schwitzte.

Die Sonne und der warme Wind hatten rasch den Frost aus dem Boden
vertrieben, und die Erde trank das Schneewasser gierig in sich.

Kaum war der Boden einigermaßen trocken, so begann es draußen auf der
Heide zu knattern und zu prasseln, als ob Flugmaschinen über die Erde
surrten. Eine Kolonne von Traktoren hatte die Arbeit aufgenommen. Tag
für Tag sah man sie quer über die Heidefläche ziehen. Erst schleppten
sie mächtige Pflüge, dann schleppten sie mächtige Bodenfräsen, die die
Erde zertrümmerten und zerschnitten, dann schleppten sie
Düngerstreumaschinen, dann Eggen und Walzen. Wochenlang dauerte es.
Immer sah man diese Kolonnen wie merkwürdige Raupen über die Heide
kriechen.

„Immer vorwärts!“ schrie Lehmann. „Es wird gar nicht so lange dauern,
dann haben wir sie hier!“

Noch ein anderes Ereignis fiel in diese Zeit, das in den Baracken eifrig
besprochen wurde.

Eines Tages kam in schneller Fahrt von Glücksbrücke herüber ein Auto,
das in einem ganz auffallenden Tempo dahinflog und mit einem Ruck
stehenblieb. Bisher hatte man so ein Auto im Lager noch nicht gesehen,
denn die Wagen der Gesellschaft, die gelegentlich kamen, waren
ausrangierte alte Kasten.

Aus dem Auto stiegen vier Herren, darunter ein hochgewachsener,
breitschultriger Mann in einem alten Regenmantel und ein etwas
schiefgewachsener blaubleicher Herr in einem langen Pelz.

Kaum hatte Lehmann die Herren erblickt, als er in großer Eile auf sie
zuging. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und verbeugte sich! Das war
bisher noch nicht beobachtet worden, daß Lehmann so große Höflichkeit
zeigte. Er verbeugte sich zuerst vor dem hochgewachsenen Herrn, dann vor
dem kleinen Schiefgewachsenen mit dem blaubleichen Gesicht. Man drückte
sich gegenseitig die Hand, und schon kam die Gruppe über das Arbeitsfeld
geschritten. Lehmann erklärte dem hochgewachsenen Herrn mit
weitausholenden Armbewegungen dies und jenes – er schien wirklich
aufgeregt zu sein. Die Herren besuchten die Baracken, die Küche, die
Tischlerei besahen sie, alles. Sie sprachen auch mit dem und jenem, der
gerade in der Nähe war, und blieben hierauf noch eine halbe Stunde in
Lehmanns Bureau. Dann stiegen sie wieder in den Wagen, und mit einem
Ruck fuhr das Auto an und jagte die Landstraße hinunter.

„Ei der Tausend, das waren gewiß ganz besondere Leute! Waren es
Direktoren der Gesellschaft? Und dieser verwachsene, bleiche, alte Mann,
sah er nicht aus, als sei er eben aus dem Sarge gestiegen? Und dieser
Große mit dem braunen Gesicht!“

„Wer sind die Herren gewesen?“

„Das war der Chef,“ erwiderte Lehmann, der noch ganz erregt war und
eifrig die Pfeife paffte.

„Wer war der große Herr?“ fragte Georg, den das ruhige und klare Gesicht
interessiert hatte.

„Das war Schellenberg,“ antwortete Lehmann. „Und der kleine Alte war der
Geheimrat Augsburger, ein früherer Bankier, der der Gesellschaft sein
ganzes Vermögen vermacht hat. Er leitet jetzt den finanziellen Teil.“

„Wie stehst du da?“ schrie der Schlächter-Moritz den krummbeinigen
Schlosser an. „Stundenlang hast du damit geprahlt, daß du bei
Schellenberg gearbeitet hast, ein halbes Jahr lang! Und nun war dieser
Schellenberg hier, und du hast ihn nicht erkannt.“

Der Schlosser schwankte auf seinen krummen Beinen, schob die Mütze ins
Gesicht und kratzte sich hinter dem Ohr. „Es war nicht der Schellenberg,
bei dem ich arbeitete,“ stotterte er, denn, wie gesagt, er hatte sich
aufs tiefste blamiert und stand als ein elender Renommist da. „Er kam
mir bekannt vor. Es war Schellenberg, und es war doch nicht
Schellenberg.“

„Unterstehe dich nicht, wieder mit deinen Geschichten zu prahlen,“
drohte Moritz mit seiner großen Faust. „Hörst du? Es ist eine Schande,
und was hat er uns alles vorgeschwindelt!“




                              Zweites Buch


                                   1

Im Auktionssaal von Duval & Co. in der Potsdamer Straße wurde die
berühmte Sammlung des Barons Flottwell versteigert. Diese Versteigerung
war ein gesellschaftliches Ereignis für Berlin. Baron Flottwell,
früherer Königlicher Zeremonienmeister, einst sagenhaft reich, hatte in
den letzten Jahren sein Vermögen bis auf den letzten Pfennig verloren,
so daß sein ganzer Besitz schließlich unter den Hammer kam. Zugleich mit
den Herrlichkeiten Flottwells wurden Antiquitäten, Möbel, Bronzen,
Porzellane, Schmuckgegenstände aus dem Besitz verschiedener
Persönlichkeiten, die zumeist der verarmten Aristokratie angehörten,
ausgeboten.

Der Saal war überfüllt von Menschen. Die wohlbekannten Profile einiger
Museumsdirektoren, die bekannten Gesichter von Kunsthändlern, Maklern,
ganz wie vor dem Kriege. Das Publikum aber hatte sich vollkommen
verändert. Viele Fettwänste drängten sich in den Reihen, mit mächtigen
Glatzen, breiten Rücken und gepolsterten Hüften, völlig neue Gesichter,
die niemand kannte. Viele Damen in kostbaren Pelzen, deren Urteil aber
nur wenig Verständnis zeigte. Drei fabelhafte Nerzpelze waren anwesend,
darunter ein Pelz, der früher einer Prinzessin gehörte.

Die Herrlichkeiten, die den Raum füllten und in den Vitrinen glitzerten,
verwirrten die Sinne. Die Summen und Unsummen, die durch den Saal
schwirrten, steigerten die Erregung zum Fieber.

In der ersten Seitenreihe saß ein ältlicher vertrockneter Agent, der
alle Dinge von Wert und erlesener Schönheit an sich riß. Er trug eine
graugrüne schäbige Perücke über den gierigen Raubvogelaugen und kämpfte,
das Gesicht bleich und naß vor Erregung, mit knarrender, trockener
Stimme gegen alle diese phantastischen Summen. Als ein Manet, ein
herrliches kleines Stück des Meisters, ausgeboten wurde, entstand
zwischen ihm und einem bekannten Museumsdirektor ein erbittertes Duell.
Andere Liebhaber und Sammler waren längst zurückgeblieben, nur die
beiden kämpften noch. Der kleine Makler mit der Perücke trug den Sieg
davon, und der Museumsdirektor verließ bleich und tödlich gekränkt den
Saal. Mit der gleichen Heftigkeit kämpfte der Makler mit der Perücke um
das alte Familiensilber des Barons Flottwell. Er schlug sich hier mit
einigen Händlern und einer Schar von Specknacken wie ein Rasender –
seine Stimme aber blieb gleichmäßig quäkend, trocken und unangenehm.
Auch hier blieb er Sieger. Dieser Kampf war viel erregter als der Kampf
um das Gemälde, denn das Tafelsilber Flottwells stand wie der
Silberschatz eines Domes auf dem Auktionstisch aufgebaut. Die Damen in
den Pelzen erhoben sich erregt von den Sitzen, ihre Augen funkelten, nie
hatten sie so herrliches Silber gesehen. Der Kampf um das Silber wurde
dramatisch. Mit Genugtuung sah man, daß ein Specknacken nach dem andern
niedergekämpft wurde. Die Frauen gönnten niemandem diesen herrlichen
Schatz. Ein Aristokrat, ein früherer bekannter Herrenreiter, kämpfte
noch eine Weile um den Flottwellschen Schatz. Ihm hätte man ihn
vielleicht gegönnt, aber auch ihm nicht. Weshalb denn? Schließlich war
man sogar befriedigt, als der frühere Herrenreiter sich geschlagen geben
mußte.

Der siegreiche Makler rückte sich die Perücke auf dem Kopfe zurecht und
wischte sich mit einem nicht ganz sauberen Taschentuch den Schweiß vom
Gesicht.

Welche Macht war hier auf dem Kampfplatz, die alles an sich riß?
Zuweilen trieb der Makler mit der Perücke ein Objekt bis zu fabelhafter
Höhe empor, um plötzlich abzuspringen. Aber das Silber? Welch eine
phantastische Summe! Wer soll es haben? Ein Unbekannter?

Ein fetter Rücken flüsterte in das knorplige Ohr seines Nachbarn: „Es
ist Schellenberg, was sagte ich Ihnen! Sehen Sie, dort steht er, jener
große Herr, der sich Notizen in den Katalog macht.“

„Unmöglich!“

„Weshalb unmöglich? Ich sagte Ihnen ja –“

Wenzel Schellenberg folgte der Auktion mit aufmerksamer, gesammelter
Miene und einem leisen gutgelaunten Lächeln. Nur zuweilen weiteten sich
seine Augen, wie die eines Spielers, der einen hohen Einsatz wagt.

Einige Reihen vor ihm stand gegen die Wand gelehnt Herr von Stolpe,
jener kleine Leutnant mit den rosigen Kinderwangen, der vor etwa drei
Jahren den Waldverkauf vermittelt hatte. Er war anscheinend eifrig in
den Katalog vertieft, und nur, wenn die Zahlen gespenstisch in die Höhe
kletterten, streifte er mit einem unauffälligen Blick Wenzels Gesicht.
Rollte Schellenberg den Katalog zusammen, so strich sich Stolpe
unauffällig übers Haar, und in dem gleichen Augenblick sprang der Makler
mit der grauen Perücke ab und überließ den andern das Schlachtfeld.

Nun ging es um die Louis-XVI.-Garnitur. Wiederum begannen die Zahlen wie
Raketen in die Höhe zu schießen. Wiederum schien ein rasender Kampf
zwischen dem Agenten mit der Perücke und einer Schar von Händlern
bevorzustehen. Die Zahlen schossen derartig in die Höhe, daß der Saal
unruhig wurde und die Frauen sich wiederum von den Sitzen erhoben.
Stolpe wurde nervös. Er blickte auf Schellenberg. Aber Wenzel schien der
Auktion gar nicht zu folgen. Er stand da und blickte zwischen den Köpfen
hindurch, auf irgend jemand. Plötzlich wandte er zerstreut den Kopf,
blickte in den Katalog, hörte die quäkende, trockene Stimme des Maklers
und rollte den Katalog zusammen. Aber es war zu spät.

An den nächsten drei Objekten war Schellenberg nicht interessiert. Er
blickte wieder zwischen den Kopfreihen hindurch: Es war hier auf der
Auktion der Sammlung Flottwells, wo Schellenberg Jenny Florian
wiedersah! Vor etwa drei Wochen hatte sie ihm Stolpe flüchtig
vorgestellt. Er erkannte sie sofort wieder, an ihrem aschblonden Haar,
das sie weich und schlicht in einem bescheidenen lockeren Knoten im
Nacken trug. Ihr Profil, das er nun ruhig prüfen konnte, war klassisch
schön. Eine gewölbte ruhige Stirne, darunter ein strahlendes,
forschendes, klares Auge, das wie Perlmutter schimmerte. Das Gesicht,
fein, träumerisch, in der Tat, Jenny Florian galt nicht umsonst als eine
der schönsten Frauen Berlins. Nun fühlte sie den Blick und wurde
unruhig.

„Wer war diese blonde Dame?“, hatte Wenzel damals Stolpe gefragt.

„Jenny Florian! Sie ist Schauspielerin, sie ist Tänzerin, man sagt, daß
sie sehr gut modelliert und zeichnet. Sie singt auch.“

„Sie hat viele Talente. Alle Wetter!“ Wenzel lachte.


                                   2

Während einer Pause sah er Jenny Florian mit Stolpe und noch einem
jungen Herrn, den er schon irgendwo flüchtig kennengelernt hatte, auf
der Treppe plaudern. Er trat näher und machte eine kurze, knappe, etwas
trockene Verbeugung. „Darf ich Ihnen guten Tag sagen, Fräulein Florian?“

Jenny errötete. Ihr klarer Blick wurde dunkler, und sie ließ den Kopf,
wie sie es stets tat, wenn sie verlegen wurde, etwas auf die linke zarte
Schulter sinken. „Herr Schellenberg!“ sagte sie. Ihre Stimme war zart,
aber sehr hell.

Schellenberg wandte sich an ihren Begleiter mit einer noch kürzeren,
noch trockeneren Verbeugung. Diese Verbeugung hatte sich Wenzel in den
letzten Jahren angewöhnt, sie war fast geschäftsmäßig und schien
auszudrücken, daß er auf Bekanntschaften eigentlich nicht mehr den
geringsten Wert lege. „Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er. „Ich habe
leider Ihren Namen nicht behalten.“

„Es ist der Maler Katschinsky, Herr Schellenberg,“ warf Stolpe ein.

Katschinsky verzog etwas den schönen Mund, schob die Schultern in die
Höhe und reichte Wenzel mit hochmütiger Lässigkeit die Hand. Er war
nicht gekränkt, daß Schellenberg seinen Namen vergessen hatte, das
konnte vorkommen. Die geschäftsmäßige Kühle aber, mit der Schellenberg
ihn ansprach, verletzte seine Eitelkeit. Die Selbstverständlichkeit, die
Sicherheit, wenn man nicht mehr sagen wollte, mit der Wenzel ohne
weitere Umstände an Jenny herantrat, fand er im höchsten Grade
unpassend. Wenn irgendein Mann von einigen Qualitäten mit Jenny
plauderte, so fühlte er sich, so töricht es auch war, augenblicklich im
Innersten erregt und bereit zu feindlicher Abwehr. Es war nicht
Eifersucht, denn über derartige Gefühle war Katschinsky längst erhaben,
es war die fortwährende dauernde Angst, daß Jenny an irgendeinem Manne
Eigenschaften bewundern könne, die er nicht besaß. Wenzel war groß und
stattlich, und der Glanz eines jungen, rasch und kühn erworbenen
Reichtums umstrahlte ihn.

Wenzel beobachtete recht gut das hochmütige Zucken um Katschinskys
Lippen, aber er ignorierte es. „Ich bitte um Verzeihung, Herr
Katschinsky,“ sagte er um vieles freundlicher. „Ich erinnere mich nun
genau, wir trafen uns bei der Gräfin Poppow.“ Glücklicherweise war ihm
dies in der letzten Sekunde eingefallen, und während er sich wieder an
Fräulein Florian wandte, erinnerte er sich eines unbehaglichen Gefühls,
das er zuletzt im Salon der Gräfin Poppow empfunden hatte. Diese Gräfin
Poppow lebte davon, daß sie jeden Sonntag ihren Salon einer
Spielergesellschaft öffnete. Stolpe hatte Wenzel bei der Gräfin
eingeführt. Er hatte dort einige Male gespielt, ohne jede Leidenschaft,
ohne Genuß, und sich vorgenommen, den Salon der Gräfin Poppow zu meiden,
ohne daß er einen bestimmten Grund angeben konnte. Die Atmosphäre sagte
ihm nicht zu.

Unter den Spielern im Salon der Gräfin befand sich ein Russe, ein sehr
eleganter junger Mann mit einem großen Brillanten am Finger. Diesen
Brillanten hielt Wenzel für falsch, und es schien ihm gefährlich, mit
Leuten zu spielen, die falsche Steine trugen. Er erinnerte sich, daß
Katschinsky neben dem Russen saß und einmal ein Lächeln mit ihm
austauschte. Dieses Lächeln hatte ihm mißfallen, er wußte nicht warum.

An all das dachte er, während er sich an Jenny Florian wandte: „Haben
Sie etwas gesteigert, Fräulein Florian?“

Jenny errötete unter seinem Blick. „Oh, ich habe kein Geld!“ rief sie
aus, und nachdem sie das gesagt hatte, errötete sie ein zweites Mal.

Katschinsky richtete sich auf. Wie töricht, dachte er, muß sie ihm denn
gleich sagen, daß sie kein Geld hat? Sie wird es nie lernen, es ist zum
Verzweifeln!

„Lieben Sie diese schönen Dinge?“ fragte Wenzel weiter. Die Verwirrung
des jungen Mädchens entzückte ihn.

„Ich liebe sie leidenschaftlich!“ erwiderte Jenny. „Woher kommt es, daß
diese alten Dinge schöner sind als die unserer Zeit?“

Wenzel zuckte die Achseln. „Wer sollte heute soviel Geld haben, diese
kostbaren Dinge herstellen zu lassen? Hat aber jemand die Mittel, so hat
er sicherlich nicht den Geschmack.“

Es schien Katschinsky an der Zeit, ebenfalls etwas zu äußern, und nur um
etwas zu sagen, warf er lässig hin: „In früheren Zeiten hatte der Mensch
von Kultur die Möglichkeit, sich in den herrschenden Kunststil
einzufühlen, heutzutage aber veraltet ein Kunststil innerhalb von drei
Jahren.“ Schellenberg hörte nur mit halbem Ohr zu, und Katschinsky
schämte sich, etwas so Banales gesagt zu haben.

„Ich vermag die einzelnen Stile nicht zu unterscheiden,“ sagte Jenny.
„Ich fühle nur, das ist schön, oder das gefällt mir nicht. Haben Sie
viel gekauft, Herr Schellenberg?“

Diese Frage fand Katschinsky wiederum taktlos. Seine Augen blendeten
vorwurfsvoll. Was ging es sie an, ob Schellenberg kaufte oder nicht? Er
ahnte nicht, daß Jenny nur aus Verlegenheit diese Frage stellte.

„Einiges, einige Möbel und einige Porzellane,“ erwiderte Wenzel. „Ich
kaufe weniger, weil ich mir ein besonderes Verständnis für Antiquitäten
zuspreche, weniger aus ästhetischen Gesichtspunkten, ich kaufe vielmehr,
weil ich in guten Antiquitäten eine bessere Kapitalsanlage sehe als in
zweifelhaften Effekten.“

Jenny starrte ihn verständnislos an, so sehr hatte sie seine Offenheit
verblüfft.

„In welchem Theater spielen Sie zur Zeit?“ fragte Wenzel.

Sie errötete einige Male nacheinander und legte den Kopf ganz schief.
„Ich spiele zur Zeit gar nicht,“ sagte sie hastig. „Die hiesigen
Direktoren wollen mich nicht haben.“

„Fräulein Florian beendet ihre Studien,“ kam ihr Katschinsky zu Hilfe.

„Meine Frage war nicht Neugierde, Fräulein Florian,“ fuhr Wenzel fort,
„sie war höchst eigennützig. Würden Sie sich für den Film
interessieren?“

Sofort war Jenny Feuer und Flamme. „Aber natürlich!“ rief sie.

„Nun,“ erwiderte Wenzel, indem er sich verabschiedete, „vielleicht darf
ich mir erlauben, einmal auf unser Gespräch zurückzukommen. Ich
unterhandle zur Zeit mit einigen großen Gesellschaften, aber die Dinge
sind noch völlig in der Schwebe.“

Die Auktion ging weiter.

„Sehen Sie zu, daß uns die Meißner Uhr nicht entgeht,“ raunte Wenzel
Stolpe ins Ohr.

„Ich werde nicht verfehlen,“ antwortete Stolpe mit einer knappen,
unterwürfigen Verbeugung.

Um die Meißner Uhr entbrannte wiederum ein äußerst heftiger Kampf.
Wiederum war es der frühere Herrenreiter, der ein Duell auf Leben und
Tod mit dem Agenten Wenzels ausfocht.

Die Uhr war ein herrliches Stück von großer Kostbarkeit, im Empirestil.
Das Besondere an ihr war ein wundervolles Schlagwerk, und während das
Duell zwischen den beiden am heftigsten tobte, begann dieses Schlagwerk
plötzlich zu spielen. Es war ein Glockenspiel. Schon bei den ersten
Tönen setzte das Duell zwischen den beiden aus, und es wurde vollkommen
still im Saal. Hell, rein, in unirdischen Tönen erklang aus der Uhr der
Choral: „Ein’ feste Burg ist unser Gott –“

Als die letzten Töne verklangen, hörte man eine Frauenstimme schluchzen.
Alle Blicke wandten sich einer weißhaarigen Dame zu, die mitten im Saal
saß und das Taschentuch vors Gesicht preßte.

Schon aber setzte der Auktionator die Versteigerung fort. Man hörte
wiederum die beiden Stimmen der Kämpfer, und die quäkende, trockene
Stimme des Maklers siegte abermals.

Gleich nachdem der Agent den Sieg davongetragen hatte, erhob sich die
alte Dame und verließ, den Schleier über das Gesicht gezogen, in
verschämter Haltung den Saal.

Wenzel winkte Stolpe zu sich heran. „Sehen Sie zu,“ sagte er zu seinem
Adjutanten, „finden Sie heraus, wer diese alte Dame ist! Es interessiert
mich zu wissen, ob sie in irgendeiner Beziehung zu dieser Meißner Uhr
steht.“

„Sehr wohl,“ erwiderte Stolpe und klappte mit den Hacken. Für derartige
Aufträge war er glänzend zu gebrauchen. Wenzel war kaum in sein Bureau
zurückgekehrt, als Stolpe ihm Bericht erstattete.

„Diese alte Dame“, sagte er, „ist eine Freifrau von Griesbach, Witwe
eines Landrats. Die Uhr stammt aus ihrem Besitz. Sie lebt im alten
Westen am Matthäikirchplatz. Ihre Verhältnisse sind noch leidlich
geordnet, aber sie scheint Geld zu brauchen.“

„Nun, dann will ich Ihnen was sagen, Stolpe. Sie werden Frau von
Griesbach persönlich die Uhr überbringen. Sie werden ihr sagen, daß wir
uns erlauben, ihr die Uhr zurückzugeben. Frau von Griesbach könne uns
das Vorkaufsrecht einräumen für den Fall, daß sie sich später doch noch
von der Uhr trennen will. Ganz unter uns gesagt,“ fügte Schellenberg
hinzu, „so schön die Uhr ist, dieser sentimentale Choral würde mich
krank machen. Ich würde das Spielwerk doch abstellen. Das aber brauchen
Sie Frau von Griesbach nicht zu sagen.“

Stolpe entledigte sich seines Auftrages noch am gleichen Tage. Bei
Schellenberg mußte alles rasch gehen, und Stolpe war schon einige Male,
da er zur Nachlässigkeit neigte, Gefahr gelaufen, von Wenzel
hinausgeworfen zu werden. Obwohl er nur eine Art Kammerdiener war, so
fand er doch, daß er die angenehmste Beschäftigung habe, die man in
diesem Berlin finden konnte. Keine Bureauarbeit, keine anstrengende
Tätigkeit, keine besondere Verantwortung, fast den ganzen Tag im Auto
unterwegs, in den Straßen voller Menschen. Und Schellenberg gab ihm ein
hohes Gehalt. Wenzel war überhaupt ein Mann nach Stolpes Geschmack.

Dieses ganze Glück verdankte er dem Waldverkauf, den er vor etwa drei
Jahren vermittelt hatte. Allerdings – Stolpe war nicht so einfältig,
dies zu übersehen – hatte Wenzel Schellenberg mit diesem Wald ein
Vermögen verdient! Wegen irgendeiner Klausel des Vertrags hatte er mit
der Forstverwaltung prozessiert. Der Prozeß dauerte zwei Jahre, und als
Wenzel schließlich bezahlen mußte – die Mark war damals noch nicht
stabil –, zeigte es sich, daß er den ungeheuren Komplex für ein
Butterbrot erhalten hatte.

Stolpe gab seine Karte bei Frau von Griesbach ab. Ein ältliches Mädchen,
schüchtern, verblüht, empfing ihn. Sonderbar, so unsicher sich Stolpe
Wenzel und seinen Geschäftsfreunden gegenüber benahm, so sicher wurde
er, sobald er sich in seinen eigenen Kreisen bewegte. Er klappte mit den
Hacken, dienerte, schnarrte, zog die Hose an den Fingerspitzen übers
Knie, sprach ohne jede Stockung. Ein sonderbarer Auftrag! Das ältliche
Mädchen errötete, stand auf und verließ das Zimmer.

Die großen Zimmer waren kalt und hell. Schon zeigte sich eine
auffallende Kahlheit. An einigen dunklen Vierecken an der verblaßten
Tapete erkannte man, daß Bilder von der Wand entfernt worden waren.
Offenbar hatte man die Teppiche fortgenommen. Dort hatte eine Vitrine
gestanden. Die Tapete zeigte ganz deutlich das Gespenst des Schrankes.

Frau von Griesbach erschien selbst, schwarzgekleidet, in ein
Schultertuch eingehüllt, fröstelnd, mit spitzer Nase und kalkigem
Gesicht. Sie war außerordentlich erregt. Wenzels Anerbieten schien sie
tief verletzt zu haben.

„Wir sind allerdings verarmt,“ rief sie mit einer dünnen, unangenehmen
Stimme aus. „Wir sind gezwungen, ein Stück um das andere zu verkaufen,
um das Leben zu fristen. Aber das ist doch kein Grund, daß uns jeder
reichgewordene Börsenspekulant, jeder Jude –“

„Mamachen!“ unterbrach sie das ältliche Mädchen mit zärtlicher Stimme.

Wer war dieser Herr Schellenberg, der da glaubte –? Nein, sie wolle um
keinen Preis eine Gefälligkeit von einem völlig Unbekannten annehmen.

Hier aber erhob sich Stolpe, beteuerte, erklärte. Sein Chef, Herr Wenzel
Schellenberg, bekleide den Rang eines Hauptmanns, sie verkenne ihn
völlig. Es sei ihm einfach unmöglich, jemand eine geliebte Sache zu
rauben. Frau von Griesbach war plötzlich völlig umgestimmt, gerührt über
so viel Großherzigkeit. Sie willigte ein, die Uhr wenigstens noch einige
Zeit bei sich zu haben. Ihr Herz hänge an der Uhr, besonders an dem
Glockenspiel, das sie durch glücklichere Jahrzehnte begleitet habe. Die
Uhr sei ein Erbstück ihrer Familie. Ihr Vater habe sie persönlich vom
König von Sachsen bekommen. Sie vergoß sogar Tränen über Schellenbergs
Großmut.

„Nur leihweise, Sie verstehen mich, Herr von Stolpe. Herr Schellenberg
kann die Uhr jederzeit wieder abholen lassen.“

Sie ließ Wenzel eine silberne Tabakdose übersenden, um ihren Dank
auszudrücken. Anders tat sie es nicht.

Als Stolpe Schellenberg die Tabakdose aushändigte, brach er in lautes
Gelächter aus.

Am andern Tage überbrachte Stolpe die Uhr. Dazu ein großes
Blumenarrangement, das Wenzel zum Dank für die Dose sandte.


                                   3

Wenzel Schellenberg hatte sich in dem Bureauhaus in der Wilhelmstraße im
Laufe der Jahre über alle Etagen ausgebreitet. Er hatte das Haus gekauft
und die Mieter langsam, einen um den andern, hinausgedrängt. Nun war er
dabei, zwei Etagen aufzustocken und der Fassade das rechte Gesicht zu
geben.

Wenzel Schellenberg kam wie eine Lawine daher.

Er besaß einen ganzen Park von Automobilen und ein halbes Dutzend der
edelsten Reitpferde. Er hatte die Dampfjacht einer Herzogin gekauft. Von
dem ersten Architekten Berlins, Kaufherr, hatte er sich eine Villa in
Dahlem bauen lassen. Die Villa war indessen noch nicht im Rohbau fertig,
da zeigte es sich, daß sie viel zu klein für ihn war. Er erwarb einen
Bauplatz im Grunewald, wunderbar an einem kleinen See gelegen. Hier
baute Kaufherr zur Zeit das Schellenbergsche Palais, ein Schloß
sozusagen, wie es seit Jahrzehnten in Berlin nicht mehr errichtet worden
war.

Wenzel hatte in den ersten Jahren gekauft und verkauft, alles, was ihm
gut schien, wo er einen Gewinn witterte. Es war nicht sein Verdienst,
daß er immer gewann. Es war der Sturz der Mark, der ihm die Reichtümer
in den Schoß warf. Er hatte Raucheisens Wort nicht vergessen, daß keine
Macht der Welt imstande sei, die Mark aufzuhalten, bevor sie nicht in
Atome zersplittert sei. Er kaufte Wälder, Schiffe, Terrain, Güter,
Bergwerke, Fabriken. Als die Ziegeleien ausgeschlachtet wurden, kaufte
er alle Ziegeleien, die er auftreiben konnte. Als die Gärtnereibetriebe
in den Glashäusern unrentabel wurden und ganze Städte aus Glas
ausgeschlachtet wurden, ließ Wenzel aufkaufen, was nur erreichbar war.
Ganze Straßenzüge in den Provinzstädten gehörten ihm. Diese Narren, die
verärgert waren durch die Schikanen der Mietgesetze und die geringen
Zinserträge, ließen sich von den Zahlen verwirren. Um die Häuser, die
Schellenberg gehörten, kümmerte er sich nicht. Es war eine besondere
Abteilung, und zwei Anwälte fochten die Legion von Prozessen aus, die
die Mieter gegen Wenzel führten.

Wenzel kaufte in Papiermark. Wenn er aber verkaufte, so forderte er
wenigstens einen Teil der Kaufsumme in Devisen. Das war gegen das
Gesetz, aber das kümmerte ihn nicht. Niemand, der nicht ein völliger
Narr war, kümmerte sich um Gesetze, die einen jeden ruinieren mußten,
der sie befolgte. Seine Verträge aber waren so entworfen, daß es auch
nicht die kleinste Masche gab, durch die man entschlüpfen konnte.

Dann kaufte er Patente und Erfindungen, die ihm aussichtsreich schienen.
In irgendeiner zweifelhaften Gesellschaft hatte er einen Patentanwalt
kennengelernt, der dem Alkohol völlig verfallen war, aber eine
ausgezeichnete Witterung für gewinnversprechende Erfindungen hatte. Er
engagierte ihn, und es war ihm völlig gleichgültig, daß der Patentanwalt
nur einen Tag in der Woche wirklich brauchbar war. Er opferte für diese
Patente viel Geld, aber eine einzige glückliche Erfindung warf ihm die
zehnfache Summe in den Schoß. Er gründete eine Fabrik in Holland, die
ungeahnte Gewinne abwarf. Von dieser Fabrik wußte überhaupt nur sein
erster Direktor, Goldbaum, sonst niemand. Sie erschien nicht in seinen
Büchern.

Wenzel schnitt niemandem die Kehle durch, um die Wahrheit zu sagen. Wenn
er erfuhr, daß ein Vertrag allzu große Nachteile für den Kontrahenten
hatte, so machte er großzügige Konzessionen. Bei Raucheisen hatte es das
nicht gegeben. Ein Vertrag war ein Vertrag, und wenn er den Kontrahenten
zermalmte.

Allmählich kam in seine Geschäfte System und Gedanke. Eine Zeitlang warf
er sich auf die Papierfabrikation. Er brachte eine große Anzahl von
Papier- und Zellulosefabriken in seine Hand. Diese Fabriken besaß er
noch heute, aber sie waren längst nicht mehr die Hauptobjekte des
Konzerns. Mit dem größten Teil seines Vermögens hatte er sich auf die
chemische Produktion geworfen, deren Hauptabsatzgebiet im Auslande lag.
In dieser Zeit hatte er häufig lange Besprechungen mit Michael, der ihm
manchen gewinnbringenden Rat gab. Er hatte die Absicht, Michael für
seine Firma zu gewinnen. Aber Michael wies auch die phantastischsten
Angebote zurück.

Die Arbeit war keineswegs einfach. Sie erforderte große Energie und eine
unverwüstliche Gesundheit. Wenzel gönnte sich keine Ruhe. Er arbeitete
sechzehn Stunden und mehr am Tage. Er schlief mit dem Telephonhörer am
Ohre ein, und wenn es sein mußte, saß er nach dreistündigem Schlaf,
bevor es noch recht Tag war, schon wieder im Auto. In all den drei
Jahren hatte er noch nicht drei Wochen Ferien im ganzen gemacht. Je
bewegter der Tag war, je fiebernder, desto wohler fühlte sich Wenzel. Es
war ganz genau so, als ob er am Spieltisch saß und pointierte, er
spielte nun den ganzen Tag. Es war nichts anderes für ihn als ein
fortwährendes Hasardieren. Wenzel hatte sogar schon seine Grabschrift in
diesem Sinne entworfen. Auf seinem Grabstein sollte einmal stehen: „Hier
ruht Wenzel Schellenberg, der Spieler.“

Er liebte diese Tätigkeit mehr als alles. Ja, nun gehörte er zu jenen,
die „auf den Knopf drückten“. Die Türen sprangen auf, die Direktoren und
Beamten stürzten mit Mappen und Akten über die Korridore ...

Unter seinen Mitarbeitern und Agenten befand sich eine größere Anzahl
ehemaliger Offiziere, sogar ein General war unter ihnen. Alle drängten
sich an ihn heran, der Erfolg war wie ein Magnet, das Geld zog an. In
allen Augen entdeckte er die Gier nach dem Besitz und die Begierde, das
Geheimnis seiner Erfolge zu ergründen. Alle demütigten sich um dieses
elenden Geldes willen.

Wenzel Schellenberg war eine Macht geworden. Er hatte ein ungeheures
Vermögen zusammengerafft, eine Masse von Geld, die anschwoll, abebbte
und wieder anschwoll. Als man daranging, die Mark zu stabilisieren, traf
Wenzel seine Vorbereitungen. Ohne jeden Zweifel mußte eine völlige
Änderung der ganzen Wirtschaft eintreten. Um seine Unternehmungen
flüssig zu halten, würde er für den Übergang riesige Summen benötigen.
Man erinnert sich noch an jene Börsentage, da die Effekten sich von
einer Börse zur andern verdoppelten. Es waren schwere Tage für Wenzel.
Mit dem starren Gesicht des leidenschaftlichen Spielers, der alles wagt,
saß er da und wartete. Zwei, drei Börsentage wartete er ab, dann aber
entschloß er sich. Als alle Welt noch glaubte, daß dieses Spiel sich
endlos fortsetzen würde, verkaufte er seinen gesamten Aktienbesitz.

Es war eine Donnerstagbörse. Diesen Tag würde er nie vergessen. Er hatte
die Order gegeben. Seine Finanzdirektoren, gewiegte und gerissene
Burschen, hatten ihn beschworen, zu warten, besonders der dicke
Goldbaum, der sein ganzes Leben auf der Börse verbracht hatte. Gegen
alle diese Stimmen hatte er den Auftrag zum Verkauf gegeben.

Goldbaum fuhr blaß wie eine Leiche zur Börse. Noch heute mußte Wenzel
lachen, wenn er an diese Szene dachte. Und es ist wahr: Er lachte auch
damals! Denn es war ihm schließlich gleichgültig, ob er morgen das
Doppelte oder nur den zehnten Teil besaß. An diesem Börsentage hatten
die Kurse der meisten Papiere sich verdoppelt, an der nächsten Börse
aber krachte das ganze Gebäude zusammen. Innerhalb von zwei Tagen hatte
Schellenberg sein Vermögen verdoppelt und verdreifacht. Er war flüssig,
er hatte Millionen zur Verfügung. Und selbst Raucheisen, dieser riesige
Konzern, schwankte in diesen Tagen. Vielleicht wäre es besser gewesen,
wenn der alte Raucheisen ihn nicht kaltgestellt hätte, weil er zehn
Minuten zu spät kam, wie?

Schellenberg trat als Geldgeber auf und diktierte die Zinssätze. Während
Tausende von Unternehmungen in dem Höllenstrudel versanken, stand
Schellenberg wie ein Leuchtturm in der Brandung.


                                   4

Wenzel besaß zwei große Fabriken für Rohfilme. Sie lagen im Rheinland.
Schon vor längerer Zeit hatte er ein Patent erworben, das die
Herstellung farbiger Filme in großer Vollendung gewährleistete. Es waren
nicht jene Filme mit grellen Farben. Die Farben waren weich getont, wie
Pastell. Auf dieses neue Verfahren setzte Wenzel große Hoffnungen.

Häufig hatten große Filmkonzerne eine Geschäftsverbindung mit ihm
gesucht. Aber Wenzel war bis heute nicht dazu zu bewegen gewesen, sich
an der Filmproduktion auch nur mit einem Pfennig zu beteiligen. Die
Rentabilität war nicht sicher und die Filmleute so gerissene
Geschäftsleute, daß er ihnen nur mit der größten Vorsicht begegnet war.
Die Filmindustrie war in den letzten Monaten völlig niedergebrochen. Man
wandte sich immer dringender um Kredite an Wenzel, und in den letzten
Monaten hatte ihm ein bekannter Filmkonzern verlockende Angebote
gemacht. Sein Finanzberater, der dicke Goldbaum, hatte stundenlang auf
ihn eingeredet. Aber Wenzel zögerte. Vielleicht bekam Goldbaum Prozente,
wenn er das Geschäft vermittelte? Vielleicht? Sicher bekam er sie.
Goldbaum hatte sich Reichtümer erworben, deren Quellen nicht bekannt
waren. Nun gut, weshalb nicht? Er machte Geschäfte wie jeder andere, wie
alle seine Mitarbeiter.

Als Wenzel Jenny Florian im Auktionssaal von Duval & Co. erblickte,
forschte er augenblicklich nach einer Möglichkeit, mit der schönen
Schauspielerin in Verbindung treten zu können. Während er mit ihr auf
der Treppe sprach und ihre helle Stimme und der Reiz ihres scheuen
Benehmens ihn entzückten, hatte sich dieser Wunsch in ihm verstärkt. Mit
welcher Inbrunst hatte sie, als er sie fragte, ob sie diese schönen
Dinge liebe, geantwortet: „Ich liebe sie leidenschaftlich!“ Kindliche
Begierde und Sehnsucht strahlten aus ihren Augen, während sie diese
Worte sprach. In diesem Augenblicke empfand Wenzel das Verlangen, daß
diese Frau ihm näherkommen möchte, und da fielen ihm plötzlich die
Verhandlungen mit dem Filmkonzern ein. Nur aus diesem Grunde hatte er
sie gefragt, bei welchem Theater sie zur Zeit spiele. Es traf sich
günstig, daß sie ohne Engagement war.

Schon am Tage nach der Versteigerung rief er Mackentin und Goldbaum zu
sich, um mit ihnen die Frage des Kredits an den Filmkonzern erneut zu
beraten. Goldbaum war hocherfreut, daß er auf diesen Gegenstand
zurückkam. Sein fettes, mit hellroten Bartstoppeln bedecktes Gesicht
strahlte, seine kleinen Augen blitzten listig hinter dem schiefen
Kneifer. Mackentin aber verzog mißmutig das Gesicht mit der schiefen
Nase.

„Versuchen Sie die äußersten Bedingungen zu erzielen und ziehen Sie die
Daumenschrauben tüchtig an.“ ‚Die Daumenschrauben‘, das war ein
stehender Begriff im Schellenbergschen Sprachschatz geworden. „Sehen Sie
zu, daß wir im Laufe des morgigen Vormittags eine Besprechung mit den
Herren haben können.“

„Sie wollen also wirklich diese hohe Summe daran setzen?“ fragte
Mackentin düster, zu Wenzel emporschielend.

„Ich habe meine Gründe.“

Mackentin sah Wenzel an und machte eine kleine Verbeugung. „Schön,
schön,“ erwiderte er. „Die Konferenz wird im Laufe des morgigen
Vormittags stattfinden.“

Einige Tage später erhielt Jenny Florian von der
Odysseus-Film-Gesellschaft einen äußerst höflichen Brief mit der
Aufforderung, sich sobald wie möglich im Bureau der Gesellschaft
vorzustellen. „Herr Wenzel Schellenberg hatte die große
Liebenswürdigkeit, uns auf Ihre Begabung aufmerksam zu machen.“

„Herr Wenzel Schellenberg!“

Jenny errötete. Sie las den Brief einigemal und fühlte, wie ihre Hand
eine leichte Lähmung überkam. Dann aber geriet sie in einen wahren
Freudentaumel. Sie kleidete sich hastig an und stürzte augenblicklich zu
Katschinsky.

„Sieh diesen Brief!“ rief sie aus. „Es ist die Odysseus-Gesellschaft!“

Aber Katschinsky schien über diese frohe Botschaft gar nicht so sehr
erfreut zu sein. Er nahm den Brief mit zwei Fingerspitzen auf und kniff
die Lippen zusammen. „Ah, Schellenberg,“ sagte er, leise und spöttisch
lachend, und kräuselte die Stirne bedeutungsvoll.

„Vielleicht ist es möglich, daß du ebenfalls bei der Gesellschaft
ankommst?“ Jennys Stimme schmeichelte, sie sah, daß er blaß geworden
war.

Katschinsky setzte ein verletztes Lächeln auf. „Ich brauche keine
Protektion,“ sagte er gekränkt.

„Aber nun höre zu!“ rief Jenny und warf sich aufgeregt in einen Sessel.
„Sie schreiben, ich möchte ihnen eine kleine Szene vorspielen, damit sie
wissen, wie sie mich am günstigsten herausstellen können. Was für eine
Szene soll ich spielen? Rate mir!“

Katschinsky ging nachdenklich auf und ab. „Was für eine Szene? Nun, wir
wollen darüber nachdenken. Strindberg? Willst du eine Szene aus
Strindbergs ‚Christine‘ spielen?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, nicht Strindberg.“ Sie berieten hin und
her. Endlich sprang Jenny ungeduldig auf. „Wir wollen zu Stobwasser
gehen, vielleicht fällt ihm etwas ein.“

Stobwasser saß still, das Antlitz voller Sammlung, in seinem Atelier,
umgeben von seinen Papageien, Kakadus, Staren und seiner Katze, und
modellierte an einer kleinen Tierplastik. Er begriff nicht sofort, was
die beiden wollten, die ihn überfallen hatten. Dann aber glühte in
seinen dunklen Augen die Wärme auf. „Das ist ja eine herrliche Sache,
Jenny!“ rief er aus. „Ich beglückwünsche Sie herzlich!“

„Das Auge eines Finanzgewaltigen ist auf Jennys blonden Scheitel
gefallen,“ sagte Katschinsky sarkastisch.

Jennys Gesicht wurde hellrot, wie im Fieber. „Es wird dir nicht
gelingen, mir die Freude zu verderben!“ rief sie aus. Sie lachte dabei,
aber sie schämte sich für Katschinsky, der selbst vor Stobwasser seine
Eifersucht nicht verbergen konnte.

Stobwasser aber schob die Arbeit zur Seite und begann nachzudenken. Ja,
was sollte Jenny spielen? Es war natürlich von der größten Wichtigkeit,
daß das Debüt erfolgreich verlief. Schließlich hob er die Hände zur
Decke empor. „Himmel, eine Inspiration!“ rief er aus. „Laß uns
nachdenken, Katschinsky. Von diesen zehn Minuten kann Jennys ganze
Zukunft abhängen. Wir wollen ins Café gehen und beraten.“

Im Kaffeehaus wurde beschlossen, daß Jenny weder Strindberg noch sonst
einen Dichter spielen sollte. Sie sollte eine kleine Szene vorspielen,
die ihr schauspielerisches Talent und alle die Vorzüge ihrer Erscheinung
ins rechte Licht setzen sollte. Ja, aber was für eine Szene?

Plötzlich hatte Jenny eine Inspiration. „Ich werde folgende Szene
spielen!“ rief sie aus. „Seid still! Ich spiele einen Mannequin in einem
Modesalon. Das heißt, nicht einen Mannequin, sondern eine Wachspuppe.
Ein schöner Herr geht vorüber, die Wachspuppe erwacht langsam zum Leben.
Der Herr fühlt es, dreht sich um, nun wird sie ganz lebendig. Sie
plaudert mit dem Herrn. Da aber kommt der Abteilungschef, sie erstarrt
wieder zu einer Wachspuppe. Aber sie ist nicht an der richtigen Stelle
erstarrt. Nun muß sie sich ganz langsam zu ihrem Postament
zurückbegeben. Endlich steht sie wieder auf dem alten Platz. Wie gefällt
euch dies?“

Katschinsky schüttelte den Kopf. Er war nicht zufrieden.

Stobwasser aber sprang begeistert auf. „Was für eine wunderbare Szene!“
rief er aus. „Sie werden Augen machen. Wenn sie Sie dann nicht
engagieren, ist ihnen nicht zu helfen!“

„Sie werden sie engagieren,“ sagte Katschinsky mit großer Bestimmtheit.

„Wieso weißt du das?“ fragte Jenny, verletzt durch seinen Ton.

Katschinsky lenkte ein. „Ich wollte sagen, wenn du die Szene gut
durcharbeitest, so bin ich überzeugt, daß du Erfolg haben wirst.“

Jenny aber hatte seine Gedanken wohl erraten. Sie erhob sich. „Ich werde
nun gehen, um gleich mit der Arbeit zu beginnen,“ sagte sie.

Katschinsky hob seinen Blick flehend zu ihr. Sie schien ihn nicht zu
bemerken.


                                   5

Jenny hatte ihre kleine Szene „Die verliebte Wachspuppe“ bis in die
letzten Einzelheiten ausgearbeitet und hundertmal vor dem Spiegel
eingeübt.

Man empfing sie bei der Odysseus-Gesellschaft mit äußerster
Zuvorkommenheit. Sie brauchte nicht eine Sekunde zu warten. Die Türen
öffneten sich von selbst, und über lange Korridore wurde sie direkt in
das Heiligtum des Direktoriums geleitet.

Eine Sekretärin nahm sie zur Seite und übergab ihr mit geheimnisvoller
Miene einen Brief. Es war ein kurzes Schreiben Schellenbergs, der sie
ermahnte, keinerlei Vertrag zu unterschreiben, bevor er ihn nicht
gesehen habe. Er wünsche die Angelegenheit mit ihr gründlich zu
besprechen und würde sich freuen, wenn sie übermorgen die Oper mit ihm
besuchen könne, da er am Tage keine freie Minute habe.

Jenny las. Oh, sie verstand, sofort war ihr Gesicht fieberrot.

Im Direktionszimmer erhoben sich einige elegant gekleidete, beleibte
Herren, höflich, ja fast unterwürfig.

„Haben Sie sich irgend etwas ausgedacht, womit Sie uns überraschen
werden, Fräulein Florian?“ fragte einer der Direktoren.

Jenny erzählte kurz ihre Szene. Ihre Augen waren vor Angst doppelt so
groß geworden.

Man war sehr zufrieden mit dem Einfall. Dann begann sie, aber sie
spielte verwirrt und schlecht.

„Ich muß noch einmal anfangen,“ sagte sie.

„Bitte, seien Sie ganz ruhig. Es besteht kein Grund zur Erregung.“ Die
Herren verschwanden tief in ihren Sesseln, um sie ja nicht zu stören.

Als sie die kleine Szene schlecht und verwirrt gespielt hatte, drückten
ihr die Direktoren anerkennend die Hand. „Wir werden sehen, Fräulein
Florian. Es wird nötig sein, Sie in einer ganz besonderen Sache
herauszubringen. Sie sollen der Star unserer Gesellschaft werden. Der
Vertrag, den wir Ihnen anbieten, läuft über drei Jahre. Sie können ihn
morgen unterzeichnen.“ Unter vielen Bücklingen komplimentierten die
Direktoren Jenny hinaus. Als sich aber die Polstertür hinter Jenny
geschlossen hatte, sahen sie einander bedeutungsvoll an.

„Es ist eine Katastrophe,“ schrie der eine der wohlbeleibten Direktoren.
„Sie ist ja eine völlige Dilettantin!“

„Sie ist begabt,“ warf der Regisseur ein. „Und sie ist hübsch, ja schön.
Ihr Körper ist ohne Tadel, ihre Bewegungen sind ungekünstelt, reizvoll,
bezaubernd, rührend, voller Musik. Sie war heute verwirrt und unsicher.
Überlassen Sie sie mir. In zwei Monaten ist sie nicht wiederzuerkennen.“

„Zwei Monate! Oh! du gerechter Himmel!“

Katschinsky wurde kreidebleich, als Jenny ihm Schellenbergs Brief
zeigte. „Wirst du gehen, Jenny?“ fragte er, indem er die grauen Augen
streng auf sie heftete.

„Natürlich werde ich gehen! Ich gefährde doch nicht meinen Ruf, wenn ich
mit einem Herrn eine Opernvorstellung besuche, der guten Kreisen
angehört?“

„Aber weißt du denn, wer Wenzel Schellenberg ist? Gute Kreise?
Zugegeben, er war früher Offizier – sein Ruf ist jetzt nicht der beste.
Du weißt, daß er einer der rücksichtslosesten Ausbeuter ist, die heute
in Deutschland leben. Dazu ist er einer der bekanntesten Frauenjäger
Berlins. Er hat die Frauen zu Dutzenden. Er kauft sie, wie man Ware
kauft!“ Katschinskys Stimme bebte.

Nun war es an Jenny, blaß zu werden. „Beruhige dich,“ versuchte sie ihn
zu besänftigen, bebend unter seinen versteckten Beschimpfungen. „Ich
habe dir nie Anlaß gegeben, mich für leichtsinnig zu halten. Wie töricht
ist deine Erregung! Ich werde die Oper mit ihm besuchen, um nicht
ungefällig zu erscheinen, und das ist alles.“

„Also du gehst?“

„Ja, ich gehe.“

Krachend flog die Türe ins Schloß.

Jenny weinte. Sie warf sich auf die schmale Ottomane ihres bescheidenen
Zimmers. Dann aber erhob sie sich, wusch sich die Augen, kühlte die
Wangen mit Kölnischem Wasser.

„Soll er gehen,“ sagte sie, während sie sich eine Zigarette anzündete.
„Ja, soll er gehen! Schluß, Schluß, Schluß! Oh, wie gut es ist, daß es
zu Ende ist!“ Jetzt erst wurde sie zornig. Sie stieß mit dem Fuß auf den
Boden. „Er ist anmaßend, er ist lächerlich. Und was ist er schließlich?
Sobald ein Mann Erfolg hat, beschimpfen ihn die andern Männer! Es ist
Zeit, es ist hohe Zeit, daß ich diese Verbindung löse! Ich aber habe
gefallen,“ fuhr sie in anderem Tone fort, triumphierend, und wiegte sich
tänzelnd in den Hüften, während sie auf dem abgetretenen Teppich hin-
und herging. „Mein Engagement ist perfekt. Ich werde meinen Weg machen.
Und Schellenberg –“ Freude durchströmte sie. „Sofort werde ich an Papa
schreiben.“

Jenny Florian stammte aus Lübeck. Hier kannte sie jedermann. Sie hatte
als kleines Mädchen Gedichte vorgetragen und Blumensträuße überreicht,
wenn eine hohe Persönlichkeit ihre Vaterstadt besuchte. Mit zwölf Jahren
hatte sie bei einem Festzug in bedeutender Rolle mitgewirkt. Mit
vierzehn Jahren bekam sie einen Preis bei einem Schwimmfest. Wer sollte
Jenny Florian nicht kennen? Täglich ging sie durch die Breite Straße,
zwischen fünf und sechs Uhr, wie alle Welt. Mit sechzehn Jahren malte
und modellierte Jenny Florian. Eine Buchhandlung arrangierte eine kleine
Ausstellung ihrer Arbeiten, und die Kritiker der Zeitungen schrieben
anerkennende Aufsätze darüber. Mit siebzehn Jahren trat Jenny Florian
beim Stadttheater als Volontärin ein und feierte in einigen kleinen
Rollen Triumphe. Wer sollte also Jenny Florian nicht kennen? Man
prophezeite ihr eine große Zukunft. Sie galt als das größte Talent ihrer
Vaterstadt, und es war nicht zweifelhaft, daß sie eines Tages eine
berühmte Künstlerin werden würde. Vielleicht Malerin, vielleicht
Schauspielerin, vielleicht auch eine berühmte Sängerin? Denn es war
bekannt, daß Jenny eine wunderbare Stimme habe. Erschien sie nur auf der
Straße, so wandten sich alle Leute nach ihr um.

Es war klar, daß die kleine Stadt Lübeck nicht der Ort war, wo Jennys
große Begabung sich entwickeln konnte. Ihr Vater, ein Beamter, stolz auf
seine begabte Tochter, sandte sie zuerst auf die Kunstschule in Hamburg.
Dann aber ging sie nach Berlin, um sich ernsthaft der Bühne zu widmen.

In Hamburg, auf der Kunstschule, hatte sie Katschinsky kennengelernt,
und in Berlin hatten sie sich natürlich wieder getroffen. Katschinsky
hatte in dieser Zeit einige kleine Erfolge erzielt. Ein paar Witzblätter
brachten einige seiner Karikaturen. Bei einer Ausstellung wurde er
anerkennend von der Kritik erwähnt. Sie sah zu ihm auf. Katschinsky
begleitete sie in die Museen, er führte sie in die Theater, erzählte ihr
Interessantes über diesen und jenen Bühnenkünstler, Anekdoten, Klatsch.
Er führte sie in das Künstlercafé und zeigte ihr diese und jene
Berühmtheit. Er stellte sie jungen Malern, Architekten, Schriftstellern
vor, führte sie in verschiedenen Ateliers ein. Er war ein unschätzbarer
Mentor. Mehr als das: er liebte sie.

Nun aber war Jenny in einen großen Konflikt geraten. Schon seit einigen
Monaten hatte sie es sich vorgenommen und immer gezögert. Von Woche zu
Woche. Sie wollte sich von Katschinsky trennen! Sie entfernte sich von
ihm täglich mehr, aber er schien es nicht zu bemerken. Ihr Urteil war
rasch reifer geworden. Sie erkannte, daß sie die Persönlichkeit des
Freundes überschätzt hatte. Sie sah plötzlich seine Fehler und
Schwächen. In den Zeiten, da sie ihn zu lieben glaubte – denn in
Wahrheit hatte sie ihn nie geliebt, das wußte sie jetzt –, in diesen
Zeiten hatte sie zu ihm gesagt: „Du bist so schön wie Apollo.“ Nunmehr
aber sagte sie zu ihm: „Dein Mund ist zu weich, du hast den Mund eines
Mädchens.“ Sie hatte sein seidenes, blondes Haar geliebt, nun aber fand
sie, daß dieses Haar zu zart, zu seidig, viel zu mädchenhaft war. Noch
vor Monaten hatte sie aller Welt die Tugenden Katschinskys gepriesen. Es
gab keinen uneigennützigeren Menschen. Nunmehr aber wußte sie, daß
Katschinsky nichts war als ein Egoist, der nur an sich dachte und an
nichts anderes. Mehr als einmal mußte sie sich überzeugen, daß er sie
belog. Und nichts haßte sie mehr als die Lüge. Sie war in Verlegenheit,
er versicherte, kein Geld zu haben, aber doch ging er da und dort hin,
in dieses Café, in jene Diele. Ihr Vater sandte ihr jeden Pfennig, den
er entbehren konnte. Es war nur wenig, aber dieses Wenige teilte sie mit
Katschinsky, wenn es ihm schlecht ging. Sie vergaß es ihm nicht, daß er
einmal Geld von ihr borgte, um, wie er sagte, einem kranken Freunde
beizuspringen. Sie gab ihm das Geld und lebte eine Woche von Tee und
Weißbrot. Dann aber erfuhr sie, daß Katschinsky das Geld von ihr geborgt
hatte, um auf einen Maskenball zu gehen. Sie erfuhr es ganz durch
Zufall. Sie erfuhr aber auch durch Zufall, daß Katschinsky eine Liebelei
mit einer Verkäuferin angefangen hatte und von dem Mädchen Geld nahm.
Mehr und mehr wurde es ihr klar, daß man seinen Worten nicht vollen
Glauben schenken konnte. Oh, mehr als das, es wurde ihr klar, daß er
fast immer log. In letzter Zeit hatte er sie auch bei seinen neuen
Freunden eingeführt, wo man spielte, aber sie hatte sich vorgenommen, in
Zukunft diese Kreise zu meiden.

„Bedenklich,“ sagte sie sich, „scheinen mir seine neuen Bekanntschaften
und Ambitionen.“

Ganz allmählich war der Glanz verblaßt, in dem sie den einst
Vergötterten gesehen hatte.

An all das dachte sie, während sie an ihren geliebten alten Vater
schrieb, um ihn durch die Nachricht zu erfreuen, daß sie einen
dreijährigen Kontrakt mit einer der ersten Filmgesellschaften
abgeschlossen habe. Der Vertrag sei so gut wie perfekt. Über die
Bedingungen würde sie morgen berichten. Aber während sie schrieb –
ausführlich schilderte sie den heutigen Empfang bei der Gesellschaft,
nur den Namen Schellenberg erwähnte sie nicht –, während sie schrieb,
quälte sie dieser Konflikt, in dem sie sich befand. Ich werde mit
Katschinsky brechen, sagte sie sich. Oh, ich hätte es schon längst tun
sollen. Was wird er nun glauben? Er wird allen Leuten erzählen, daß –

Das aber war nicht alles, nein. Das allein hätte sie nicht so gepeinigt,
es kam noch etwas dazu, und das war weit fürchterlicher: Sie fühlte, daß
ihr dieser Wenzel Schellenberg nicht gleichgültig war. Ja, es war
unzweifelhaft, sie fühlte es zu deutlich. Oft schien es, als stocke ihr
der Atem, ihr schwindelte. Und dann schien es wieder, als habe man mit
einem haarscharfen Messer ihre Brust geritzt und ein Tropfen Blut fließe
über ihre Brust herunter. Es war keine Selbsttäuschung möglich: sie
sehnte sich nach diesem großen, breitschulterigen Mann mit dem etwas
derben Gesicht und dem – wie war es doch, sein Lächeln? Verächtlich,
überheblich? Sie sehnte sich nach ihm, mehr noch, sie liebte ihn, sie
wußte es, und daß sie ihn liebte, das war entsetzlich! Nicht sein Geld
liebte sie, seinen Reichtum, seine Schätze, Pferde und Automobile. Sie
wollte nicht sein Geld. Nicht einen Pfennig würde sie von ihm annehmen.
Sie wollte nicht seine Pferde und Automobile, was gingen sie die an? Er
protegierte sie. Sollte er nicht das Recht haben, sie zu protegieren?
Zugegeben, daß der Vertrag mit der Odysseus-Gesellschaft ohne seine
Vermittlung niemals zustande gekommen wäre. Er wollte ihr gefällig sein.
Konnte sie es ihm verbieten? Katschinsky aber hatte stets nur an sich
gedacht, und selbst jetzt empfand er nichts als Eifersucht, weil sie
Erfolg hatte.

Aber am entsetzlichsten war es, daß nicht ihr Herz allein erregt war,
auch ihre Sinne. Was würde werden? Was würde geschehen? Er würde es ihr
sofort ansehen, auf den ersten Blick. „Ratet mir, was soll ich tun?“

„Mein lieber, geliebter alter Seehund,“ schloß Jenny den Brief. Seehund
war ihr Kosename für den Vater, der, mit seiner Glatze, seinen runden
Augen und seinem hängenden Schnauzbart tatsächlich eine gewisse
Ähnlichkeit mit einem Seehund hatte. „Mein geliebter alter Seehund,
morgen schreibe ich mehr. Es gehen hier große Dinge vor. Ich fühle es,
daß ich glücklich sein werde!“

Dies schrieb sie, es floß von selbst aus der Feder, während die Qual sie
zerriß. Mochte es stehen bleiben.

Sie verschloß den Brief und trug ihn zum Kasten. Dann ging sie langsam
durch die Straßen, um nachzudenken, um sich zu sammeln, um das heiße
Gesicht zu kühlen. Sie legte die Fingerspitzen an die Schläfen und
wiederholte immer die gleichen Worte: „Was soll geschehen? Er wird es
mir sofort ansehen! Ich werde nicht in die Oper mit ihm gehen. Ich werde
abschreiben.“ Sie blieb stehen und fragte sich: Wann? Ist es übermorgen?
Das sind noch achtundvierzig Stunden weniger zwei, also sechsundvierzig
Stunden. Sie ging nach Hause und zeichnete auf einen Briefbogen
sechsundvierzig Quadrate, und wenn eine Stunde vergangen war, strich sie
ein Quadrat aus.

Sie las, aber die Zeit stand still, die Uhr stockte, sobald sie sich
über das Buch beugte. Sie ging auf und ab.

Gut? Nein, sein Gesicht ist nicht gut, aber es ist etwas Gutes darin.
Und dann ist etwas Furchtbares darin. Seine Stimme ist oft so laut.
Immer verschwendet er Kraft, auch wenn er spricht. Wenn man in den
Sternen lesen könnte –! Sie trat ans Fenster und blickte über die
dunkeln Giebel. Keine Sterne, nichts. Aber was war das? Was kam da
zwischen den Schornsteinen hervor? Sie erschrak. Was war das? Licht,
gleißendes Licht stieg in die Höhe, verzehrte die finstern Schornsteine,
breitete sich aus zu einem gleißenden Tor. Es war der Mond.

„Darf man dieses Anzeichen günstig nennen, ohne die Götter zu erzürnen?“
fragte sich Jenny und legte sich nieder, den Glanz des Mondes in der
Brust. Als sie am Morgen erwachte, konnte sie acht weitere Quadrate
ausstreichen.

An diesem Vormittag kam Katschinsky zu ihr, verstört, bleich, die Augen
gerötet, mit zuckendem Mund, schweigsam. „Was ist geschehen, um Gottes
willen?“ fragte sie bestürzt.

Er stand und blickte starr auf den Briefbogen mit den unverständlichen
Quadraten. „Meine Mutter ist gestorben,“ sagte er. „Ich muß heute nach
Hamburg fahren.“

Sie umschlang ihn und preßte ihren Kopf gegen seine Brust. „Armer, armer
Freund,“ sagte sie. „Tröste dich.“

Er sah sie an. „Wirst du auch jetzt noch in die Oper gehen?“ fragte er.

„Nein,“ erwiderte sie rasch, „ich werde abschreiben.“ Aber sie wußte,
daß sie log. Schwache Menschen, Eifersüchtige muß man belügen, um Ruhe
vor ihnen zu bekommen. Sie freute sich, daß er wegfahren mußte. Oh, wie
weit weg war sie schon von ihm.


                                   6

Langsam wurde die Überzahl der dunklen Quadrate erkennbar. Nun waren es
nur noch vierundzwanzig Stunden. Nur um einige Stunden totzuschlagen,
ging sie in ein Caféhaus, obwohl sie diesen Abend am liebsten allein
verbracht hätte. Am nächsten Morgen stand sie frühzeitig auf und begann
mit den Vorbereitungen ihrer Toilette für den Abend. Ihre Garderobe war
armselig, fast wäre sie verzweifelt. Dann aber begann sie mit ihren
geschickten Händen zu arbeiten. Sie stürzte aus dem Hause, kaufte
Kleinigkeiten, Handschuhe, und am Abend fand sie, daß sie ganz annehmbar
gekleidet war. Schellenberg brauchte sich ihrer ganz gewiß nicht zu
schämen. Am Nachmittag kam ein Bote mit der Nachricht, daß der Wagen um
ein Viertel nach sieben vor dem Hause warten würde. Genau ein Viertel
nach sieben Uhr verließ sie ihr Zimmer. Der Wagen stand da. Aber zu
ihrer Enttäuschung fand sie nicht Schellenberg, sondern den kleinen
Stolpe vor dem Wagen stehen. Sie verlor fast die Besinnung.

Mein Gott, wie entsetzlich! sagte sie sich. Wie kann man sich nach einem
Menschen so wahnsinnig sehnen!

Stolpe überbrachte Wenzels Entschuldigung. Herr Schellenberg sei noch in
einer sehr wichtigen, gänzlich unerwarteten Konferenz und könne zu
seinem Bedauern erst später in die Oper kommen. Stolpe sei beauftragt,
ihr vorläufig Gesellschaft zu leisten.

Nun, das ging an. Jenny atmete wieder, während sie den Schmerz einer
leichten Kränkung zu verwinden suchte. Auch nicht die dringendste
Konferenz hätte ihn abhalten dürfen. Schon aber urteilte sie milder.
Augenblicklich, sie hatte kaum Platz genommen, überschüttete sie Stolpe
mit einem Schwall von Worten. „So geht es bei uns Tag für Tag, Fräulein
Florian,“ seufzte er, indem er sich in die Ecke des Autos fallen ließ
und nach Luft rang. „Von sieben bis acht ritten wir schon unsere Stunde
im Tiergarten ab, Galopp, Springen, anders geht es bei Schellenberg
nicht. Dann Konferenzen bis elf Uhr. Um elf Uhr im Flugzeug nach
Leipzig. Mittagessen: zwei Eier im Glas, einen Mokka, einen Kognak. Um
fünf Uhr zurück, geschlafen im Flugzeug, wieder Besprechungen und
Konferenzen. Ich habe gewiß nichts zu lachen. Sechzehn bis siebzehn
Stunden bin ich täglich im Dienst, und so geht es Tag für Tag, auch am
Sonntag. Es ist mir unbegreiflich, wie Schellenberg das aushält. Was
gibt man eigentlich in der Oper?“

Jenny hatte aufmerksam auf sein Geschwätz gehört. Alles interessierte
sie, was Schellenberg betraf, alles. „Man gibt ‚Figaros Hochzeit‘,“
antwortete sie lächelnd. „Sie wissen es nicht?“

„Nein, ich bitte um Verzeihung, Fräulein Florian, woher sollte ich es
wissen? Ich wurde ja erst vor einer Viertelstunde zu diesem allerdings
sehr, sehr angenehmen und ehrenvollen Auftrage kommandiert. Haben Sie
übrigens den Vertrag der Gesellschaft mitgebracht? Nun, dann ist es gut.
Ich atme auf. Schellenberg befahl mir, Sie daran zu erinnern. Und hier –
ich bitte um Verzeihung – sind die Blumen, Kamelien. Schellenberg hat
sie in Leipzig gekauft, und ich hätte sie beinahe vergessen. Er hat sie
mir ans Herz gelegt, Fräulein Florian. Loben Sie mich, wenn er fragen
sollte, ob Sie mit mir zufrieden waren. Er war heute schon sehr
ungnädig! Nein, ich habe ein schweres Brot, glauben Sie mir.“

Jenny richtete die Augen hell auf Stolpe. „Weshalb arbeitet Herr
Schellenberg so angestrengt?“ fragte sie. „Kann er sich nicht irgendwie
entlasten?“

„Es ist mir gewiß unverständlich,“ erwiderte der kleine Herr von Stolpe.
„Ich weiß es nicht. Entlasten, sagen Sie? Entlasten? Gänzlich unmöglich.
Er macht alles selbst. Der Drang zur Tätigkeit ist bei ihm wie eine
Krankheit. Eine ganze Bibel von Depeschen schleudert er am Tage hinaus.
Am Abend aber, sollte man annehmen, sinke er tot um. Aber nein, weit
gefehlt, am Abend wirft er sich in Gala, und dann geht es los: Theater,
Gesellschaften, Spiel. Es ist mir rätselhaft, wann er schläft. So geht
es nun schon drei volle Jahre. Unverständlich. Dabei ist er immer in
prächtiger Laune. Sie werden ja sehen, Fräulein Florian. Ein sonderbarer
Mensch ist Schellenberg, ein ganz sonderbarer Mensch! In meinem ganzen
Leben habe ich einen solchen Menschen noch nicht kennengelernt. Wenn ich
ihn auch zuweilen verfluche – ich würde umsonst für ihn arbeiten. Er hat
Format, sehen Sie, das ist es. Format! Alles an ihm ist groß,
schrankenlos, ohne Grenzen.“ Während der ganzen Fahrt schwärmte Stolpe
von Wenzel Schellenberg. Er bewunderte ihn.

Und Jenny lauschte! Sonderbar genug, dieser unbedeutende Stolpe, dieses
rotbäckige, mit den Absätzen knallende Nichts, bei dessen Anblick sie
früher die Brauen hochzog, war ihr plötzlich fast sympathisch geworden.

In der Oper verwandelte sich Stolpe in einen schweigsamen Lakai, der
steif hinter ihr saß. Nur in den Pausen wagte er leise und devot nach
ihren Wünschen zu fragen. „Eine Erfrischung, Fräulein Florian? Ein Glas
Sekt?“

Kurz vor Beginn des Schlußaktes wurde die Tür geöffnet, und Wenzel trat
in die Loge. Stolpe verschwand ohne Abschied, wie ein Schatten. Wenzel
begrüßte Jenny, bat um Entschuldigung, und kaum hatte er neben ihr Platz
genommen, als das Orchester schon wieder einsetzte.

Jenny geriet in große Erregung. Ihre Brust flog. Sie suchte sich zu
beherrschen, vergebens. Sie fühlte Wenzels Blick, der prüfend, ohne jede
Hast über sie glitt. Diesen Blick, der sie bei jedem andern Mann empört
hätte, sie empfand ihn als Lust. Der Blick tastete über ihr Profil, über
ihr Haar, über ihren Nacken, über ihre Arme, und sie begann unter diesem
Blick zu zittern. Welche Macht hat er über mich, wer wird mir beistehen?
Dann aber spürte sie diesen Blick plötzlich nicht mehr. Wenzels Atem
ging ganz leise und auffallend regelmäßig. Sie blickte zur Seite und
sah, daß er die Hand vor die Augen gelegt hatte, als ob er schlafe. Und
in der Tat, während Mozarts Musik dahinrauschte und das ganze Haus mit
Zauber, Wundern und Wohlgerüchen erfüllte, schlief Wenzel Schellenberg
still in seinem Sessel.

Jenny versuchte ihm böse zu sein. Ihre Wangen wurden noch schmaler, ihr
Blick unglücklich und verletzt. War es, auch wenn man die größte
Nachsicht übte, nicht der Gipfel der Taktlosigkeit: erst kam er nicht,
und dann schlief er ein? Nie hätte ein anderer Mann das gewagt! Sie
versuchte bitterböse zu werden – aber sie vermochte es nicht! Er
schläft, er ist müde, dachte sie, sonst nichts, und lächelte.

Der Beifall weckte Wenzel. Er rieb sich die Augen und starrte auf die im
Applaussturm sich verneigenden Sänger wie auf eine Schar von Narren.
„Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, Fräulein Florian, daß ich
schlief,“ rief er aus und lachte. „Anfangs hörte ich noch die Musik, und
dann schlief ich plötzlich ein. Ich war furchtbar müde. Ist es zu Ende?“

Seine Aufrichtigkeit söhnte sie wieder vollends mit ihm aus. Ihre
schönen Augen lächelten Verzeihung.

Schellenberg hatte ein erlesenes Souper in einem stillen, feierlichen
Restaurant bestellen lassen – in dem gleichen Restaurant, wo er vor
Jahren mit Michael soupierte.

Es gibt Menschen – so dachte Jenny Florian –, die man nie kennenlernt,
die sich verhüllen, verschleiern, mit ihrem Willen oder gegen ihre
Absicht. Dumme, eingebildete, überhebliche unglückliche Wesen. Wiederum
gibt es Menschen, die sich erst nach Jahren langsam erschließen, und es
gibt Menschen, sie sind selten, mit denen man in der ersten Minute
vertraut ist. Das sind die Ehrlichen, Einfachen, Reichen, die sich nicht
scheuen, die Türe weit aufzumachen. Zu diesen Menschen, so schien es
Jenny, gehörte Wenzel Schellenberg. Er machte keine Redensarten,
versuchte nicht zu fesseln, geistreich zu erscheinen, vorzutäuschen, er
posierte nicht, er war schlicht und einfach und gerade. Nach einer
kurzen Befangenheit hatte Jenny das Gefühl, als ob sie Wenzel schon
jahrelang kenne.

Zum erstenmal wagte sie ihm voll ins Gesicht zu sehen, zum erstenmal sah
sie ihn wirklich. Dieses Gesicht war breit, derb, fast etwas bäurisch,
aber fest und groß. Die Haut war rissig, braun, wie Leder. Die Augen
hingen wie unregelmäßige Scherben darin. Und es war sonderbar, es schien
Jenny, als sähe sie in diesem Augenblick zum erstenmal wirklich ein
menschliches Gesicht. Alles, was sie sich früher über das menschliche
Antlitz gedacht hatte, schien Vorurteil und Nachempfindung. Nun also
begann es, nun trat sie ins Leben ein, nun sah sie das Gesicht des
Menschen, wie es wirklich ist – ohne Beschönigung.

„Haben Sie Mut, Fräulein Florian?“ fragte Wenzel, die grauen Augen,
deren Blick etwas kalt schien, fest auf sie gerichtet.

Diese undurchsichtige Frage erschreckte Jenny. „Mut? Wozu Mut, Herr
Schellenberg?“ fragte sie, den schmalen Kopf verlegen zur Seite geneigt.

„Mut, dem Leben in die Augen zu sehen?“

„Oh, ich weiß nicht, ob ich diesen Mut habe. Vielleicht –?“

„Ich hoffe es, obschon dieser Mut in unserer Zeit selten geworden ist.
Die kleinlichen gesellschaftlichen Maßstäbe haben die Menschen im
allgemeinen zu einem erbärmlichen Gesindel gemacht. Ich kenne Leute, die
Angst davor haben, ihre Miete nicht bezahlen zu können, die das Urteil
ihres Portiers fürchten, die bei dem Gedanken zittern, gelegentlich,
wegen irgendeiner Sache, ein paar Wochen eingesperrt zu werden. Ja, so
lächerlich sind diese Menschen in diesem Zeitalter geworden. Klein und
ekelhaft – ich verabscheue sie! Wissen Sie, was es bedeutet: Mut zu
haben, dem Leben in die Augen zu sehen? Es bedeutet den Mut zu haben,
unter Umständen auch zugrunde zu gehen. Diesen Mut müssen Sie haben,
Fräulein Florian. Sie wissen, daß auch der wilde Tiger sich wie eine
Katze zu Füßen des Bändigers legt, wenn er nur Mut hat.“

„Ich habe entsetzliche Angst vor Tigern!“

„Um so größer muß Ihr Mut sein, Fräulein Florian. Denn Sie haben es ja
im Leben nicht mit Tigern zu tun, sondern mit Menschen. Der Tiger ist
gewiß eine achtunggebietende Erfindung des Schöpfers. Aber er könnte
noch schrecklicher sein. Zum Beispiel, wenn er imstande wäre, sein Gebiß
mit der Tatze herauszunehmen und meilenweit nach seinem Opfer zu
schleudern. Das alles aber kann der Mensch, der weitaus schrecklicher
ist als der Tiger. Er opfert für seine Eitelkeit, seinen Ehrgeiz, seine
Genußsucht, ohne mit der Wimper zu zucken, Tausende von Mitmenschen, für
seinen Wahnsinn Millionen, was auch dem wildesten Tiger nicht in den
Sinn käme.“

„Wie schrecklich Sie den Menschen sehen!“

„Aber, Fräulein Florian, auch dieser furchtbare Mensch wird sich demütig
zu Ihren Füßen niederlegen, wenn Sie nur Mut haben. Und Sie werden
diesen Mut haben. Auf Ihre Gesundheit!“

Jenny hob das Glas. Die Erregung färbte langsam ihre Wangen mit einem
zarten Orangehauch, der Wenzel entzückte. Es ist ein Rot, wie es
Ziegelsteine abfärben, dachte er.

„Die meisten Menschen scheitern im Leben,“ fuhr er fort, „weil sie feige
sind! Es wird sich also darum handeln, Fräulein Florian, daß Sie alle
Ihre Fähigkeiten steigern und meistern. Sie haben viele Talente,
erwidern Sie nichts, ich sehe es an jeder Ihrer Bewegungen. Ich gestehe
es Ihnen ganz offen, daß ich mich lebhaft für Ihre Talente interessiere.
Ich selbst bin ohne jede Begabung, wenn man es nicht eine Begabung
nennen will, daß jemand mit Kanonen schießen kann. Die Beherrschung von
Maschinen aber – heute maßlos überschätzt – ist eine Kunst für Kinder
und Schwachsinnige, nicht mehr. Um so mehr ziehen mich Menschen mit
Talenten an. Endlich also komme ich zu meinem Ziel. Ich bitte um die
eine Gunst, Ihnen ein Berater sein zu dürfen, anfangs wenigstens. Später
brauchen Sie weder mich noch den Teufel! Ihr ganzes Dasein muß auf die
Pflege und Schulung Ihrer Talente eingestellt sein, ohne daß es
ausartet, mißverstehen Sie mich nicht. Sie werden vorerst ein bißchen
filmen, und vom Film werden Sie zur Bühne kommen. Ein paar Jahre
zähester Arbeit – hören Sie! –, und die Welt liegt zu Ihren Füßen, ich
weiß es.“

Jenny lächelte verwirrt, beglückt. Glaubte er so bedingungslos an sie?

Ohne jede Pause aber fuhr Wenzel fort: „Und morgen beginnen wir,
Fräulein Florian! Sagten Sie nicht, daß Sie auch tanzen? Schön, damit
werden wir anfangen. Ich werde sehen, daß ich einen hervorragenden
Lehrer für Sie finde, der Sie ausbildet. Ich werde mich ebenso nach
einem Schauspieler umsehen, der Ihnen etwas geben kann. Sie werden
täglich reiten, wenn es Ihnen Freude macht. Meine Pferde stehen sich die
Beine lahm im Stall. Sie werden Ihre jetzige Wohnung mit einem guten
Hotel oder einer vorzüglichen Pension vertauschen. All diese Dinge sind
nicht unwesentlich und spielen eine größere Rolle, als Sie vielleicht
ahnen. Ihr Tag wird eingeteilt sein, Sie werden sich disziplinieren.
Ohne Disziplin ist nichts! Glauben Sie nicht an die Legende des Genies,
dem es der Herr im Schlafe gibt. Wollen Sie sich meiner Leitung
anvertrauen?“

Oh, ob sie wollte! Sie fühlte hier eine ungeahnte, ungewöhnliche Kraft
des Willens, und sie begann plötzlich Wenzel Schellenbergs Erfolge zu
begreifen.

„Seien Sie selbstbewußt, stolz, ohne töricht eitel zu sein –“ Plötzlich
änderte Wenzel den Ton. „Da fällt mir ein,“ sagte er, „wo ist der
Vertrag der Filmgesellschaft? Darf ich ihn sehen? Man kann nie
vorsichtig genug sein.“ Aufmerksam studierte er den Vertrag. „Es ist gut
so,“ sagte er dann. „Sie werden für jeden Film, den Sie spielen, ein
besonderes Honorar erhalten und dazu ein Fixum. Werden Sie mit
zweitausend Mark im Monat reichen?“

„Aber gewiß.“

„Nun, dann unterzeichnen Sie den Vertrag. Ich werde als Ihr Wächter
hinter Ihnen stehen wie der Erzengel mit dem Schwert. Ich glaube nicht
an die Liebe, Fräulein Florian, aber ich glaube an die Kameradschaft und
schätze sie höher ein als die Liebe. Ich hoffe, wir werden gute
Kameraden werden.“


                                   7

Lise war den ganzen Tag sehr erregt. Am Abend um sechs Uhr sollte Frau
von dem Busch in Berlin eintreffen. Trotzdem Lise sich schon am frühen
Nachmittag fertig gemacht hatte, sich förmlich „abhetzte“ – trotzdem kam
sie zehn Minuten zu spät auf den Bahnhof. Zu ihrem großen Glück mußte
der Zug einige Minuten Verspätung gehabt haben. Die Reisenden strömten
gerade über den Bahnsteig.

Lise sah die Mutter neben dem Waggon stehen, eingehüllt in Mantel und
Pelzkragen. Ihr Hut hatte einen zu breiten Rand. Dazu trug sie einen
Schleier. Frau von dem Busch liebte es, sich für die Reise extravagant
zu kleiden: etwa wie eine etwas schrullenhafte englische Millionärin.
Einige Jahre zurück, aber kostbar im Material.

Frau von dem Busch winkte mit dem Schirm. Diese Bewegung erschien Lise
ungnädig und ungeduldig.

„Da bist du ja, Mamachen!“ rief Lise aus und stürzte in die Arme der
Mutter. „Verzeihe, daß ich mich verspätet habe, aber das Auto hatte eine
Panne.“ Sie log zu ihrer Entschuldigung, obwohl es gänzlich unnötig war.

„Oh, dieses Berlin!“ seufzte Frau von dem Busch, die mit großer
Aufmerksamkeit ihr Handgepäck im Auge behielt. „Hier, Träger Numero
zweiundvierzig, nehmen Sie das Handgepäck. Vergiß die Nummer nicht,
Lise.“

„Welch häßliches Wetter du mitgebracht hast, Mamachen.“ Es schneite in
dicken Flocken. Aber die Flocken zerrannen sofort wieder auf dem
Pflaster.

Endlich war das Gepäck verstaut und sorgfältig nachgezählt.

„Gott sei Dank, das wäre überstanden,“ sagte Frau von dem Busch, und
ihre Stimme wurde klar und sicher. „Die Ankunft ist immer das
Schlimmste. Wie geht es zu Hause, Lise? Ja, mein Kind, ich bin gekommen,
um deine Angelegenheiten etwas in die Hand zu nehmen.“

„Ich freue mich, daß deine Erkältung vollkommen verschwunden ist,
Mamachen,“ lenkte Lise ab. Sie wollte nicht, daß ihre Mutter schon im
Wagen von diesen unerquicklichen Dingen spreche.

„Es war nicht eine Erkältung, Lise. Es waren zwei und dazu das Rheuma.
Der Winter war sehr schlecht.“

Wieviel Gepäck sie mitgebracht hat, dachte Lise. Wie lange wird sie
bleiben wollen?

Die beiden Kinder, Gerhard und Marion, empfingen die Großmutter im
Treppenhause. Sie hatten länger als eine halbe Stunde vor der Tür
gewartet. Als sie die Großmama erkannten, stießen sie ein lautes,
freudiges Geheul aus.

„Aber so tobt nicht so, ihr Wildfänge,“ besänftigte sie Frau von dem
Busch. „Was sollen die Leute sagen? Kommt erst herein!“ Sie herzte und
küßte die Kinder, und ihr sonst etwas frostiges Gesicht strahlte
glücklich. Sie errötete vor Freude. „Da sieht man euch endlich wieder,
und wie reizend sie euch herausgeputzt haben.“

Das Mädchen gab sich den Liebkosungen der Großmutter vollkommen hin. Sie
schmiegte sich mit ihrem ganzen Gewicht in ihre Arme und wäre
herabgestürzt, hatte man sie nicht festgehalten.

Gerhard dagegen war zurückhaltend und scheu. Er wand sich abwehrend, so
gut es ging, ohne daß es allzusehr auffiel, in den Armen der Großmutter.
Er liebte es nicht, von ihr abgeküßt zu werden. Wo sie ihn küßte,
entstand ein nasser Fleck, und das haßte er. Sie hat ja einen
Schnurrbart, dachte Gerhard. In der Tat, Frau von dem Busch hatte einige
dünne Härchen auf der Oberlippe, die für gewöhnlich aber niemand
beachtete.

„Lege doch erst ordentlich ab, Mamachen.“

Frau von dem Busch trug noch den Mantel. Nur den Pelzkragen hatte sie
abgeworfen. Ihr Hut saß etwas schief von den Liebkosungen der Kinder.

„Ich kann mich nicht satt an ihnen sehen!“ rief sie aus. „Marion hat
genau solche hübsche rote Backen, wie du sie hattest, Lise. Jede ein
Apfel. Gerhard sieht nicht so wohl aus. Das ist ein ganz anderes
Gesicht,“ sagte sie zögernd, und Gerhard, der sie nicht verstand, aber
ahnte, daß diese Worte nichts Angenehmes bedeuteten, sah sie mit einem
argwöhnischen Blick an.

Frau von dem Busch stopfte den Kindern Schokolade in den Mund. „Und du,
wie heißt du?“ wandte sie sich plötzlich an das Zimmermädchen.

„Ich heiße Marie,“ antwortete das Mädchen und lachte. Das Mädchen lachte
nur, weil Frau von dem Busch sie duzte.

„Weshalb lachst du? Bei mir sollte ein Mädchen es sich einfallen lassen,
so zu lachen. Bringe eine Nadel und einen Faden, siehst du nicht, daß
eine Masche von Marions Strumpf rinnt. Oh, diese Mädchen von heute haben
keine Augen im Kopf.“

Gerhard mußte der Großmutter die französische Grammatik bringen und ihr
zeigen, wie weit er bereits in den Lektionen gekommen war. „Und, wie
sagt man: Hier bin ich, Gerhard?“ fragte sie. Gerhard wußte wohl, wie
man sagte, aber er empfand es beleidigend, daß man ihm alberne Fragen in
dieser herrischen Form vortrug, und so antwortete er nicht. Seine grauen
Augen glänzten abweisend, es waren Wenzels Augen. Zudem entdeckte die
Großmutter Eselsohren in der Grammatik, und sie versprach Gerhard, ihm
morgen zu zeigen, wie man ein Buch einbindet.

„Ein stolzes, eigenwilliges Kind, Lise,“ sagte die Großmutter. „Aber
schon ist die große Begabung des Vaters unverkennbar.“

Lise staunte.

Endlich war die Begrüßung zu Ende. Frau von dem Busch hatte die
Reisekleidung abgelegt. Sie küßte Lise, sah ihr lange und zärtlich in
die Augen, und dann begaben sich die beiden Frauen in das Speisezimmer.

„Ich habe gleich decken lassen, Mamachen.“

„Oh, wie gut, ich bin ordentlich hungrig. Ja, es war höchste Zeit, daß
ich wieder einmal nach Berlin kam, um mit dir über all die Dinge zu
sprechen.“

„Wollen wir zuerst essen, Mamachen?“ fragte Lise und zerknitterte die
Stirne.

Nach Tisch aber – nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren – gab
es für Frau von dem Busch kein Halten mehr. „So,“ sagte sie und lehnte
sich in den Sessel zurück, und Lise wußte, daß die Mutter nunmehr von
dem wichtigen Thema nicht mehr abzubringen war. „Also,“ begann Frau von
dem Busch, „ihr zankt euch noch immer?“

„Zankt?“ Lise sah die Mutter verständnislos an.

„Zankt, ja. Ihr seid beide Kinder. Auch Wenzel, Gott, was für ein Kind
er ist, ein wilder Junge, der dumme Streiche macht. Aber man muß zugeben
– und ich habe es ja auch nie geleugnet –, daß er viele gute
Eigenschaften hat. Zum Beispiel, er ist kühn, mutig, entschlossen, das
ist eine Eigenschaft, die nicht alle Männer, ja, die wenigsten, haben.
Dabei ist er ja eigentlich gutmütig –“

Lises Gesicht flammte. „Mama,“ unterbrach sie die Mutter, sofort erregt.
„Du scheinst die Situation, die du ja zur Genüge kennst, absichtlich
verkennen zu wollen.“

„Absichtlich? Ich bitte recht herzlich, mein Kind.“

„Ja, absichtlich. Du weißt sehr gut, daß es zwischen mir und
Schellenberg aus ist, ein für allemal zu Ende.“

Frau von dem Busch lächelte nachsichtig. „Das sind nur Worte, Lise,“
entgegnete sie. „Ich habe Eheleute gekannt, die dreimal geschieden
wurden und sich immer wieder heirateten. Wenzel ist eine schrankenlose
Natur, er mußte sich austoben. Ich bin überzeugt, daß er jetzt schon
anderer Meinung geworden ist. Jedenfalls werde ich den Versuch machen –“

Lise machte Miene aufzustehen. „Ich habe es dir hundertmal wiederholt,
Mama,“ sagte sie mit eigensinnig zerknitterter Stirn. „An eine
Aussöhnung ist nicht zu denken. Wenigstens was meine Person betrifft,
nie, niemals. Und auch Schellenberg –“

Zärtlich griff Frau von dem Busch nach Lises Hand. „Ich meine es ja nur
gut mit dir,“ fuhr sie fort, „wir können doch über all diese Dinge ruhig
und offen sprechen. Deshalb bin ich ja nach Berlin gekommen. Man hört so
viel. Neulich war Oberst von Carlowitz aus Berlin bei mir. Was er alles
erzählte! Dieser Wenzel, wer hätte es gedacht, soll ja eine ganz
fabelhafte Karriere gemacht haben! Wer hätte ihm das zugetraut? Oberst
von Carlowitz sagte, Wenzel sei einer der fabelhaftesten Köpfe von
Berlin. Das heißt, ich will offen sagen, an Wenzels großen Fähigkeiten
habe ich ja nie gezweifelt.“

Lise verzog die Lippen. „Es quält mich, Mama,“ sagte sie.

„Aber ich verstehe nicht, wieso soll es dich denn quälen? Man muß über
all diese Dinge ruhig sprechen können. Der Zeitpunkt einer Aussöhnung
scheint dir also noch nicht gekommen zu sein? Das ist schade, sehr
schade. Ich hätte es begrüßt. Oberst Carlowitz erzählte, daß Wenzel sich
in geradezu blendenden Verhältnissen befindet. Er sprach von ungeheuren
Reichtümern.“

Gequält preßte Lise die Hände an die Schläfen. „Oh, Mama, ich will
nichts von diesen Reichtümern. Ich will nichts von diesem
zusammengescharrten Geld!“

Frau von dem Busch öffnete erstaunt den Mund. „Wie töricht du bist!“
rief sie aus. „Du bist ja immer noch seine gesetzmäßige Frau! Wie gut
ist es, daß ich wieder einmal gekommen bin. Du bist eine Künstlerin,
eine Idealistin, du verstehst es natürlich nicht, deine Interessen
wahrzunehmen.“

„Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe,“ erwiderte Lise gelangweilt.

„Du bist zufrieden? Und Oberst von Carlowitz erzählte, vielleicht
übertreibt er, daß Wenzel vor kurzem die Jacht einer Großherzogin
gekauft habe!“ Frau von dem Busch wollte alles, jede Einzelheit wissen,
sie war ja nur zu diesem Zwecke nach Berlin gekommen.

Lise wiederholte, daß sie nichts Neues zu erzählen habe. Sie hatte ja
über alles bereits hundertfach schriftlich und mündlich berichtet. Das
war die Wahrheit. Bis auf jene Dinge, die Lise absichtlich verschwieg,
war Frau von dem Busch in alles eingeweiht.

Als Lise eingesehen hatte, daß Wenzel auf keinen Fall mehr zu ihr
zurückkehren würde, hatte sie sich, wenn auch unter Qualen, damit
abgefunden. Sie spielte zuerst die Rolle der verkannten, verlassenen
Frau. Sie war auch in der Tat viele Monate wirklich unglücklich. Sie sah
plötzlich alle guten Eigenschaften Wenzels im hellsten Lichte
erstrahlen. Aber die Zeit ging, die guten Eigenschaften verblaßten, und
die schlechten Eigenschaften traten hervor. Nunmehr sah sie nur noch die
schlechten Eigenschaften Wenzels, und sie sah ein, daß ein Mensch wie er
„nicht zu ihr paßte“. Das anfängliche Unglück aber hielt sie nicht ab,
ihr Leben wenigstens äußerlich in den gewohnten Formen fortzuführen. In
ihrem Salon gingen Damen und Herren aus und ein. Man kam zum Essen, wann
man wollte, zum Tee. Man konnte zu Lise Schellenberg immer kommen, immer
gab es Umarmungen und Küsse. Es verging fast kaum ein Tag, an dem nicht
drei, vier Besuche dagewesen wären. Zweimal in der Woche spielte ein
Quartett, jeden Tag war Gesangsstunde, dazu Konzerte, Theater,
Einladungen aller Art. Als es mehr und mehr bekannt wurde, daß Wenzel
Reichtümer erwarb, beobachtete Lise, daß das Interesse an ihrer Person
sich wesentlich erhöhte. Man betrachtete sie aufmerksam, und ihre
Freundinnen begannen auf diese Veränderung hinzuweisen. „Lise, man hört
Dinge –“ Aber Lise richtete sich sofort überempfindlich auf und machte
weiteren Ausführungen mit einem Blick ein Ende. „Sprechen wir nicht
davon, kein Wort mehr.“

Es lag nicht in Wenzels Natur, geizig zu sein. Er hatte kein Arg gegen
Lise im Herzen. Im Gegenteil, er wußte, daß er sie tief verletzt hatte.
Da waren ja auch seine beiden Kinder, und es lag ihm daran, daß sie eine
vorzügliche Erziehung genossen. Lises Ansprüche aber wuchsen von Monat
zu Monat.

Michael fungierte in diesen Jahren als Vermittler zwischen dem Bruder
und Lise. Wenzel, der klare Verhältnisse liebte, hatte ihr durch Michael
und den Anwalt mehr als einmal die Scheidung vorgeschlagen und ihr
glänzende Vorschläge in materieller Hinsicht gemacht. Oft war Lise nahe
daran gewesen, anzunehmen. Aber seit sein Reichtum notorisch geworden
war, setzte sie allen Vorschlägen ein eigensinniges Nein entgegen.

Sie kaufte Wäsche, sie kaufte Kleider und Schuhe, sie kaufte Hüte und
Pelze, aber die Rechnungen ließ sie alle Wenzel zustellen. Er befahl,
daß sie bezahlt werden sollten, daß man aber den Firmen mitteilte, daß
er nicht mehr für die Schulden seiner Frau aufkäme. Er fing an mit
einzelnen Firmen zu prozessieren. Lise ging zu anderen Firmen, und
wieder kamen Stöße von Rechnungen.

„Es tut mir leid, daß sie mich zu anderen Schritten zwingt,“ sagte
Wenzel mit einem bösen Lächeln. Er übergab die Angelegenheit einem
seiner Anwälte. Und die Richter, die beim Anblick dieser Rechnungen kaum
die Sprache zurückfanden, entmündigten Lise.

Als der Anwalt Lise diese Nachricht mitteilte, wurde Lise zum erstenmal
in ihrem Leben wirklich ohnmächtig. Drei Tage lang schwankte sie
kreidebleich durch die Wohnung. „Ich hätte nicht gedacht, daß er ein
Schuft ist,“ sagte sie. „Das ist die furchtbarste Enttäuschung, ich
hielt ihn nur für leichtfertig.“

Natürlich hatte Lise der Mutter diese beschämende Sache mit der
Entmündigung nie mitgeteilt. Sie hatte ihr nur angedeutet, daß sie mit
Wenzel prozessiere, da er die Rechnungen – Schuhe, Kleider, Wäsche für
die Kinder – beanstande.

Und über diesen Prozeß, der nach Lises Darstellung noch immer nicht
beendet war, geriet Frau von dem Busch an diesem Abend abermals in helle
Erregung.

„Wie gut ist es, daß ich wieder einmal gekommen bin, um nach dem Rechten
zu sehen, Lise!“ rief sie aus. „Die Anwälte machen mit dir natürlich,
was sie wollen. Morgen werde ich zu Justizrat Davidsohn gehen. Er ist
ein alter Freund von Papa. Und dann noch etwas. Weißt du, Lise, wozu ich
mich entschlossen habe, jetzt in dieser Minute?“ Frau von dem Busch
hatte sich vor Erregung erhoben und blickte Lise mit einem kühnen Blick
an.

„Wozu, Mama?“ fragte Lise.

„Ich werde morgen zu Wenzel gehen! Ja, ich werde es tun!“

„Er wird dich nicht einmal empfangen, Mama,“ entgegnete Lise mit einem
spöttischen Lächeln.

Schon funkelten die Augen der alten Dame zornig. „Oh, er wird es nicht
wagen, mich abzuweisen,“ sagte sie und ballte die kleine, bleiche Faust.


                                   8

Lise gab sich alle Mühe, der Mutter den Aufenthalt in Berlin so angenehm
wie möglich zu machen. Frau von dem Busch wollte nur eine Woche in
Berlin zubringen, um sich hierauf in ein Sanatorium zu begeben.
Wahrscheinlich in den Weißen Hirsch bei Dresden. Ihre Nerven waren
angegriffen und ihr Darm geschwächt. Überhaupt fühlte sie sich noch
nicht ganz erholt.

Die Damen besuchten Theater, Konzerte. Lise gab Einladungen. Die Wohnung
wimmelte von Menschen. Das berühmte Quartett spielte, Lise sang. Ein
Lohndiener mit weißen Handschuhen reichte den Tee. Frau von dem Busch
saß mit ihrer weißen Haarkrone, umringt von Damen und Herren, und
strahlte vor Entzücken. Man sagte ihr Schmeicheleien über ihr Aussehen,
über Lise und Lises Stimme. „Hören Sie doch, dieser Ton!“ Sie war eine
noch schöne Frau, mit roten Wangen. Besonders schön waren ihre
gepflegten, mit Ringen geschmückten Hände. Ihr linkes Augenlid war etwas
gelähmt und bedeckte das Auge um eine Kleinigkeit mehr als das rechte.
Das gab ihrem Gesicht den Ausdruck großer Nachdenklichkeit und
geheimnisvoller Verschwiegenheit.

Die Woche war längst vorüber, aber Frau von dem Busch traf noch nicht
die geringsten Anstalten abzureisen. Wie lange bleibt sie noch? fragte
sich Lise. Sie liebte die Mutter aufrichtig, aber sie ertrug ihre
Gegenwart nach einer Reihe von Tagen nur schwer.

„Herrlich ist es bei dir in Berlin, Liebling,“ sagte Frau von dem Busch
und tätschelte Lises volle, weiche Wangen. An den Vormittagen
„arbeitete“ sie im Haushalt. Das heißt, sie beschäftigte die Mädchen.
Die Gardinen wurden gewaschen, die Türen und Fenster abgeseift. Die
Garderobe wurde nachgesehen, die Wäsche. Dann wurden die Fußböden
gewichst. Frau von dem Busch selbst rührte keinen Finger. Sie erledigte
am Schreibtisch ihre umfangreiche Korrespondenz und erschien nur alle
fünfzehn Minuten. Ihre Dispositionen waren indessen so klar, daß niemand
zu widersprechen wagte.

An einem Vormittag aber verschwand sie geheimnisvoll. Lise wußte sofort,
was dies zu bedeuten hatte. Sie war zu Wenzel gegangen! Sie kannte den
Eigensinn der Mutter und war der Ansicht, daß ihr eine kleine Demütigung
nicht schaden würde.

Es muß gesagt werden, daß Frau von dem Busch nicht nur die Interessen
ihres Kindes verteidigen wollte; auch ihre Neugierde trieb sie zu
Wenzel. Da hatte sie nun unaufhörlich die verschiedensten Gerüchte und
Legenden vernommen – sie war ja vor zwei Jahren schon einmal in Berlin
gewesen –, aber gerade im letzten Jahre hatten diese Legenden eine
phantastische Färbung angenommen.

Das Haus in der Wilhelmstraße wimmelte von Menschen. Ein
Paternoster-Werk stieg auf und ab. Menschen sprangen heraus, schlüpften
hinein. Der Lift stieg lautlos in die Höhe. Ein Diener nahm ihre Karte
höflich und wohlerzogen entgegen und öffnete ihr die Tür eines kleinen,
luxuriös eingerichteten Wartesalons. Nicht ein Stäubchen! Hier konnte
Lise lernen.

Und das gehörte alles ihm, den sie – in ihrem Zorn, als er Lise
entführte – einen „gemeinen Verbrecher“ genannt hatte, einen „dummen
Jungen, der noch nicht trocken sei hinter den Ohren“ – das war nun
allerdings viele Jahre her und durch ihre Erregung erklärlich. Sie
bereute.

Zuerst kam ein junger Mann mit roten Bäckchen ins Zimmer, dem man sofort
die gute Erziehung anmerkte. Er klappte mit den Absätzen, verbeugte
sich, bat um eine Sekunde Geduld. Dann kam ein sehr distinguiert
aussehender Herr mit einer schiefen Nase, ein Hauptmann mit einem
unverständlichen Namen, der höflich ersuchte, sich noch eine Minute
gedulden zu wollen. Frau von dem Busch war nahe daran, Wenzel alle seine
Sünden zu vergeben.

Dann aber kam etwas zur Tür herein, etwas Massiges, Schwammiges, das
über den Kneifer schielte, rot wie eine Rübe, einen kleinen roten
Scheitel auf der Glatze, rote Bartstoppeln auf den feisten Backen.
Goldbaum. Er verdarb den ganzen guten Eindruck.

„Mein Name ist Goldbaum, gnädige Frau,“ sagte die rote Rübe und nahm in
einem Sessel Platz. „Ich bearbeite die privaten Angelegenheiten des
Herrn Schellenberg. Ich bitte, gnädige Frau, Ihre Wünsche zu äußern –“

Frau von dem Busch aber verlangte Herrn Schellenberg persönlich zu
sprechen. Die Masse schwankte, erhob sich, beteuerte, daß es schwer sei,
außerhalb der Reihenfolge – und der Rothaarige verschwand.

Man sagte mir ja, sonderbare Elemente, dachte Frau von dem Busch. Es ist
natürlich manches wahr daran.

Da kam der kleine rotbäckige Leutnant mit den guten Manieren wieder und
führte sie direkt in Wenzels Arbeitszimmer.

Frau von dem Busch hatte sich vorgenommen, um der „Sache ihres Kindes zu
dienen“, auf Wenzel einfach zuzugehen, als sei nichts geschehen, und ihm
zu sagen, daß zwischen den Menschen – aber der Blick Wenzels, der sich
hinter einem großen Schreibtisch höflich erhob, belehrte sie sofort, daß
bei diesem Burschen ein solcher Ton ganz und gar nicht am Platze sei.

Sie breitete nicht die Arme aus, wie sie es beabsichtigt hatte, von
ihrer ganzen einstudierten Rolle blieb nur ein harmloser Ton der Anrede,
dessen Unverfrorenheit Wenzel verblüffte.

„Ich bin in Berlin, Wenzel,“ sprudelte sie hervor, „und ich mußte dich
sehen, um dir guten Tag zu sagen und dich zu beglückwünschen. Wie du
aussiehst, prächtig. Etwas voller bist du geworden. Nicht dieses
Gesicht, Wenzel – wir haben uns zuweilen gestritten, ich weiß es. Aber
wir sind ja nur Menschen, und du bist klug genug, um zu vergessen.“

„Ich vergesse nichts! Ich vergesse niemals!“ fiel ihr Wenzel brüsk ins
Wort. Sein Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick. Dann bat er
sie mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Seine Augen waren kalt,
hart und ohne jede Gnade.

„Ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen, Frau von dem Busch,“ sagte er
hierauf, indem er die Augen ruhig und leidenschaftslos auf das Gesicht
seiner Schwiegermutter heftete. „Was wollen Sie?“

Wenzel war der alten Dame vom ersten Augenblick an überlegen. Er war,
nachdem er sich von der ersten Verblüffung erholt hatte, völlig ruhig,
sachlich, geschäftsmäßig, während sie vor Erregung bebte.

„Ich bin gekommen, Wenzel,“ sagte Frau von dem Busch, die plötzlich ihre
Sicherheit verloren hatte, „um mit dir die geschäftlichen
Angelegenheiten Lises zu ordnen.“

„Sie sind geordnet,“ erwiderte Wenzel kühl und höflich. Er schob Frau
von dem Busch eine Mappe mit Rechnungen und einen Kontoauszug hin. „Hier
sind die Abrechnungen, und hier sind die Rechnungen, die ich für Ihre
Tochter bezahlt habe.“

Frau von dem Busch setzte ihm mit vielen Worten auseinander, daß es
seine Pflicht sei, Lise und seine Kinder seinem Vermögen gemäß zu
unterhalten.

„Ich tue es,“ erwiderte Wenzel erstaunt. „Aber Sie werden zugeben, daß
es natürlich Grenzen gibt. Ich habe keine Lust, sechzehn Stunden zu
arbeiten, um die Launen Ihrer Tochter zu befriedigen. Ich habe auch
keine Lust, alle die Folgen der schlechten Erziehung zu tragen, die Sie
Ihrer Tochter angedeihen ließen.“

Frau von dem Busch sah ihn mit einem beleidigten Blick an. „Sie sind
herzlos und grausam!“ schrie sie außer sich. Ihr Gesicht war vor
Erregung so weiß geworden wie ihr Haar.

„Nun, so will ich lieber herzlos als schwachsinnig erscheinen,“
erwiderte Wenzel. „Aber ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen.“ Er
erhob sich und wies auf einen älteren, weißhaarigen Herrn, sehr schlank,
der soeben eintrat. „Darf ich Ihnen Herrn General von Simmern
vorstellen, der Ihnen zur Verfügung stehen wird?“

Es zeigte sich indessen, daß auch dieser würdige alte Militär die
Interessen Wenzels vertrat.

„Ich muß offen bekennen,“ sagte der weißhaarige General, „daß sechzig
Paar Schuhe in einem Jahr und zweihundert Paar Seidenstrümpfe doch
immerhin –“

Frau von dem Busch unterbrach ihn. „Darf ich bitten, ich möchte mit
meinem Schwiegersohn persönlich verhandeln.“

„Herr Schellenberg ist nicht mehr im Hause.“

Bleich, mit hektischen Flecken im Gesicht, verließ Frau von dem Busch
das Haus. Sie nahm ein Auto und fuhr sofort zu Justizrat Davidsohn,
einem Anwalt, den sie von früher her kannte und zu dem sie das größte
Vertrauen hatte.

„Er ist taktlos und brutal!“ schrie sie im Auto, rasend, außer sich.

Davidsohn bat sie, sich zu beruhigen und ihm in aller Ruhe den Fall
auseinanderzusetzen.

„Ich bitte Sie, ohne jegliche Schonung vorzugehen,“ ermahnte sie den
Anwalt.

„Schellenberg?“ fragte der Justizrat. „Welcher Schellenberg? Es gibt
zwei Schellenberg.“

„Wenzel Schellenberg.“

„Oh, Wenzel Schellenberg! Berichten Sie weiter, gnädige Frau. Es gibt
noch Michael Schellenberg, von dem die Zeitungen so häufig sprechen.“

Frau von dem Busch trug ihre Angelegenheit mit allen Einzelheiten vor.
Der Anwalt betrachtete sie mit aufmerksamen Augen, aber er hörte nur mit
halbem Ohre hin. Er dachte an den Schriftsatz, den er in dem Prozeß
Bergenthal & Co. noch in dieser Stunde diktieren mußte. Nur dann und
wann warf er eine zerstreute Frage dazwischen.

„Hat Ihre Tochter eine Mitgift in die Ehe eingebracht?“

„Mitgift? O nein. Mein Mann war ein hoher Verwaltungsbeamter, er liebte
es, ein Haus zu führen und legte großen Wert auf Kleidung. Es war seine
Pflicht. Er diente nur dem Staat. Es war ihm unmöglich, Reichtümer zu
sammeln. Damals waren die Beamten ganz anderer Art, Sie wissen es.“

„Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau. Ich wollte nur Klarheit. Hätte
Ihre Tochter eine Mitgift bekommen, so wäre es vielleicht möglich
gewesen, zu beweisen, daß Herr Schellenberg sein Vermögen auf Grund
dieser Mitgift erworben hat. Gewiß, es wird alles geschehen, was in
meiner Macht steht. Es ist selbstverständlich, daß Ihre Tochter
Ansprüche und Rechte hat. Und wir werden diese Ansprüche und Rechte zu
wahren wissen. Schellenbergs Vermögen wird heute schon auf viele
Millionen geschätzt. Wir werden ihn zwingen, einige seiner Millionen
herauszugeben.“ Das Gesicht des Anwalts rötete sich flüchtig vor
Erregung. Er sprach, stand auf, ging hin und her, versprach, erweckte
große Hoffnungen, er redete sich in Eifer. Und doch dachte er, während
er sprach, ausschließlich an den Schriftsatz von Bergenthal & Co. Vor
zehn Minuten hatte er genau so erregt vor Bergenthal gesprochen.

Ganz begeistert verließ Frau von dem Busch das Bureau des Anwalts.

Es ist gut, daß ich gekommen bin und die Angelegenheit in die Hand
genommen habe, sagte sich Frau von dem Busch, als sie in das Auto stieg.
Lise allein wäre nie zurechtgekommen. Millionen, hatte er gesagt. Es
wäre wirklich ein Glück, wenn diese kleinliche Rücksichtnahme auf jeden
Pfennig endlich aufhören würde. Lise würde sie noch segnen.

Frau von dem Busch gab sich Träumereien hin, während sie durch die von
Menschen überfluteten Straßen rollte. Sie war zum Beispiel noch nie in
Ägypten gewesen. Und bei ihrer Neigung zur Bronchitis wäre für sie das
ägyptische Klima im Winter gewiß eine Wohltat.


                                   9

Jenny speiste mit Wenzel im Hotel Eden.

„Haben Sie schon an die neue Wohnung gedacht, Fräulein Florian?“ fragte
Wenzel.

„Nein,“ erwiderte Jenny, und sie errötete. Es schien ihr, als klänge
Wenzels Stimme streng und rügend. Du mein Gott, sie konnte solch rasche
Entschlüsse nicht fassen. „Ich habe zur Zeit noch mit meiner Garderobe
zu tun. Das läßt sich in meiner alten Wohnung besser bewerkstelligen.“

„Dann trifft es sich sehr gut,“ fuhr Wenzel erfreut fort. „Ich war
vorgestern hier im Hotel mit einem schwedischen Geschäftsfreund. Er
hatte hier zwei Zimmer und ein Schlafkabinett und ein Bad, eine wirklich
reizende Wohnung, die auf den Tiergarten hinausgeht. Der Schwede ist
abgereist, und ich habe diese kleine Wohnung für Sie gemietet.“

Jenny betrachtete ihn mit großen Augen, dann schüttelte sie den Kopf.
„Hier im Eden? Aber, du lieber Himmel, das ist mir viel zu teuer.“

„Sie bekommen die Wohnung sehr billig, Fräulein Florian,“ entgegnete
Wenzel. „Ich bin mit dem Direktorium gut bekannt. Aber nun kommen Sie
gleich mit, ich werde Ihnen die Wohnung zeigen. Ich bin gewiß, daß Sie
davon entzückt sein werden.“

In der Tat, die Räume waren herrlich. Besonders das Bad entzückte Jenny.
In alle Räume hatte Wenzel große Blütensträuße stellen lassen. Jenny
sagte kein Wort, sie errötete tief. Das war ihr Dank.

Als Katschinsky aus Hamburg zurückkam und erfuhr, daß Jenny ins Eden
gezogen war, wurde er blaß wie ein Toter. Das luxuriöse Logis schien ihm
mehr zu verraten als alles andere. Augenblicklich machte er sich auf,
Jenny zu besuchen. Oh, sie war sehr vornehm geworden. Man mußte sich bei
ihr anmelden lassen, bevor man empfangen wurde.

Als Katschinsky die Tür des kleinen Salons öffnete und Jenny erblickte,
erschrak er, so schön war sie. Nie hatte er sie so schön gesehen. Sie
trug ein Kleid, das er nicht kannte. Ihre Haltung war sicher und ruhig,
voll natürlichen Stolzes. Sie ging wie ein Reh.

Sie stand am Fenster und wandte ihm ganz langsam den sanft schimmernden
Blick zu, mit einem leichten, etwas verlegenen Lächeln in den
Mundwinkeln, als ob sie sagen wollte: Ah, da bist du ja wieder, du
hättest noch länger wegbleiben sollen. Nein, nie war sie so schön
gewesen. Er hatte alle Linien ihres Gesichtes und ihres Körpers in
diesen beiden Wochen in Hamburg mit sich herumgetragen, den Glanz ihrer
Augen und den unbegreiflichen Reiz ihres sanften Gesichtes. Und doch war
sie viel, viel schöner, als er sie in seinen Gedanken gesehen hatte.

Aber als Jenny Katschinsky durch die Tür kommen sah, war ihr erster
Gedanke der gewesen, daß sein Gesicht zu zart, zu unmännlich, zu
weichlich, ja weibisch war.

Katschinsky nahm Platz, schlug die Beine übereinander und stützte das
Kinn in die Hand.

Er kann keine Bewegung machen, ohne zu posieren, dachte Jenny. Früher
hatte sie häufig gesagt: sein wunderbar gebauter und trainierter Körper
zeigt immer schöne Linien, er kann gar keine häßliche Bewegung machen.

„Wie war es in Hamburg?“ fragte Jenny.

Welche Gleichgültigkeit lag in ihrer Stimme. Er kam von der Beerdigung
seiner Mutter, und sie fragte: Wie war es in Hamburg? Offenbar hatte sie
vollkommen vergessen, daß seine Mutter gestorben war.

Jenny errötete nun. Die Taktlosigkeit ihrer albernen Frage kam ihr zum
Bewußtsein.

Katschinsky erzählte von seiner Reise. Er spielte den Gleichgültigen und
Unbeteiligten, den Freund, der tief gekränkt, aber zu stolz und
großmütig ist, um sich diese Kränkung merken zu lassen.

Jenny bemerkte, daß er sich vollkommen neu eingekleidet hatte. Strümpfe,
Schuhe, alles war völlig neu und modern. Es fiel ihr ein, daß seine
Mutter ein kleines Vermögen besessen hatte.

„Und wie steht es mit der Odysseus-Gesellschaft?“ fragte Katschinsky.
„Hast du abgeschlossen?“

„Ja, ich habe abgeschlossen.“

„Die Bedingungen gut?“ fuhr Katschinsky mit großer Gleichgültigkeit
fort.

„Ja.“

Dann verließ Katschinsky das Thema, obwohl er doch ein Recht gehabt
hätte, Näheres über die Bedingungen zu erfahren. Er ging.

Am nächsten Nachmittag aber kam er wieder. Jenny sah es sofort seinen
Augen an, daß er heute nicht die Rolle des Gleichgültigen spielen werde.

„Ich bin gekommen, dich zu einem Spaziergang abzuholen,“ sagte er in
munterem Tone, als habe es nie eine Verstimmung zwischen ihnen gegeben.
„Wir wollen etwas gehen, und dann möchte ich mit dir Stobwasser
besuchen.“

Jenny schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht,“ antwortete sie. „Willst du
Tee haben? Um sechs Uhr kommt der Regisseur zu mir. Ich habe zu
arbeiten.“

„Nun, wenigstens eine halbe Stunde, er kann ja ruhig etwas warten. Mache
mir die Freude, Jenny.“ Er haschte nach ihrer Hand und versuchte sie zu
berühren. Er wußte wohl, welche Macht er früher über sie besessen hatte.
Sobald er sie nur berührte, verlor sie alle Kraft und war ohne jeden
Widerstand. Aber Jenny wich ihm aus und wiederholte nur, daß sie zu
arbeiten habe, daß sie aber gern mit ihm ein halbes Stündchen beim Tee
plaudern wolle.

Sie klingelte, und sofort erschien der Kellner. „Wenn Herr Doktor
Brinkmann kommt, so sagen Sie ihm, daß ich ihn erwarte.“

Sie will mir beweisen, daß ich ihr gleichgültig geworden bin, dachte
Katschinsky.

Als Jenny den Tee eingoß, wobei sie ihren schlanken Körper leicht
zurückneigte, während sie mit einem Finger den Deckel der Teekanne
festhielt, wurde Katschinsky von einer Art Raserei ergriffen. Seine
Vorsätze, sich zu beherrschen, waren wie weggeblasen. Er erhob sich
bleich. Sein Atem ging hörbar vor Erregung.

Jenny, die Teekanne in der Hand, schlug das Auge groß und abwehrend zu
ihm auf. Aber dieser Blick, der ihn zurückdrängte, verstärkte nur noch
seine Erregung. Er nahm eine Zigarette vom Tisch, preßte sie zwischen
den zuckenden Fingern und fragte, während er versuchte, die Zigarette
anzuzünden: „Wie weit bist du mit ihm, Jenny? Ich wäre dir dankbar, wenn
du aufrichtiger wärest. Bist du schon die Seine geworden?“ Seine Brauen
flogen auf und ab.

Jenny wich zurück. „Was für ein Ton ist das?“ fragte sie leise und
erbleichte. Nie war sie schöner, als wenn sie bleich wurde.

Katschinsky geriet noch mehr in Erregung. „Ich habe nie gedacht, daß du
so feige bist, Jenny!“ rief er.

„Ich gebe keine Antwort auf eine solche Frage,“ erwiderte Jenny, und ihr
Auge glühte auf.

„Du weißt so gut wie ich, daß er ein Halsabschneider ist!“ schrie
Katschinsky rasend.

Jenny streckte zur Abwehr die Hände aus. „Pfui, pfui! Ich will es
nicht!“ rief sie und stampfte zornig mit dem Fuße auf.

„Jedermann weiß es, also weißt du es auch.“ Katschinsky brachte erregt
einige Fälle vor, die man sich von Wenzel Schellenberg erzählte.

Sie ließ ihn nicht aussprechen. „Gehe, gehe,“ sagte sie. „Du bist
ungerecht, ich will dich nicht hören, wenn du so sprichst.“

Katschinsky lenkte ein. „Du brauchst mir nur meine Frage zu beantworten,
und ich gehe – für immer,“ sagte er, und sein Blick grub verzweifelt in
ihren Zügen. Seine grauen Augen glänzten böse, sie funkelten vor Haß.
Ja, er haßte sie, Jenny, ebensosehr wie er sie liebte. Aber mehr als
sie, tödlich haßte er jenen Abenteurer, der diese Frau mit seinem Gelde
gekauft hatte, er haßte ihn um so mehr, je weniger er die Möglichkeit
hatte, ihm irgendwie beizukommen. Aber er würde sich rächen, eines
Tages, oh, keine Angst, die Stunde der Rache würde kommen. Tag und Nacht
würde es für ihn, Katschinsky, keinen anderen Gedanken mehr geben.

In diesem Augenblick klopfte es, und Doktor Brinkmann, der Regisseur,
trat ein.

Katschinsky stand bleich, mit zitternden Lippen. Eine Sekunde lang hatte
er geglaubt, Schellenberg werde kommen.

Jenny aber fand augenblicklich die Sicherheit zurück. Sie begrüßte Dr.
Brinkmann und machte die Herren bekannt. Während sie den Tee servierte,
plauderte und klingelte ihre Stimme heiter durch den Salon.

„Herr Katschinsky hat es schon beim Film versucht, aber er fand nicht
die richtige Anerkennung. Ich glaube aber, daß er sehr große Begabung
hat. Sie sollten ihn sich einmal näher ansehen, Herr Doktor Brinkmann.“

Dr. Brinkmann blinzelte mit den Augen und betrachtete Katschinsky
aufmerksam, wie ein Händler, der ein Pferd betrachtet. „Oh, vorzüglich,“
sagte er, „das Äußere ganz vorzüglich,“ und er traf mit Katschinsky eine
Verabredung.

Welche Torheit habe ich begangen, dachte Jenny. Aber nur um rasch ein
Gesprächsthema zu finden, war sie auf diesen Gedanken verfallen.
Katschinsky küßte ihr artig die Hand, lächelte, verbeugte sich und ging.


                                   10

Für Wenzel Schellenberg gab es nur zwei Dinge: Arbeit und Vergnügen.
Dazwischen eingeschoben ein paar Stunden Schlaf. Er befand sich
unausgesetzt in einer Art Rausch. Die Arbeit berauschte ihn. Und an den
Abenden und in den Nächten versuchte er sich zu betäuben durch
Vergnügungen aller Art. Er besuchte die Theater, aber er zog die
leichtere Muse vor, Operetten, Revuen, Dinge, die lachen machten, die
ihn sättigten, ein Rausch von Farben und Fleisch. Die ernsteren Dinge
verschob er auf später. Es wird wohl eine Zeit kommen, da ich nicht mehr
die „hohe Fahrt“ habe, sagte er zu sich, da ich im Rennen zurückfalle,
wie alle, und dann habe ich immer noch Zeit genug, mich mit diesen
Dingen zu beschäftigen. Dazu rechnete er auch Museen und Konzerte. Oh,
er liebte die Musik, aber sie mußte wild sein und ein mörderisches Tempo
haben. Er liebte die Zigeunerkapellen, deren Musik dahinfegte. Eine
rumänische Zigeunerkapelle, die er in einer Bar entdeckt hatte, mußte
bei seinen Einladungen aufspielen. Ihr Spiel entzückte ihn so sehr, daß
er große Summen an diese Kapelle verschenkte. „Diese Lieder soll man
spielen, wenn ich einmal sterbe! Sterben – sollte! Denn ich sterbe
nicht!“

Zu den Pflichten des kleinen Stolpe gehörte es auch, herauszufinden, wo
in Berlin „etwas los war“. Irgendeine besondere Varieténummer,
irgendeine Tänzerin, die gefiel, eine Kapelle, die berauschte, ein
Clown, über den man sich totlachte. Stolpe hatte keine leichte Arbeit.

„Es ist immer das gleiche, Stolpe,“ sagte er. „Sie müssen sich mehr
umtun.“

Als Stolpe ihn einmal zu Seehunden führte, die mit Bällen balancierten,
wurde er fast böse. Stolpe klopfte die Theater in den Vororten und im
Osten ab. Da gab es zuweilen irgend etwas Prachtvolles zu entdecken,
etwas Starkes, etwas Schamloses, etwas außergewöhnlich Häßliches, etwas
außergewöhnlich Komisches, irgendeine kleine Tänzerin oder Sängerin, die
Schellenberg interessieren konnte.

Schellenberg selbst gab häufig Einladungen. Da waren die offiziellen,
bei denen Direktoren von Banken und Geschäftsfreunde mit ihren Frauen
erschienen. Das war notwendig, aber Schellenberg langweilten diese
Abende maßlos. Dann gab es die intimen Einladungen für seine Freunde,
bei denen gespielt, gesungen und gezecht wurde. Die Gesellschaften
währten bis zum frühen Morgen, und es ging hoch her.

Ende Oktober, das Wetter war prachtvoll, kam Wenzel die Lust an, ein
Herbstfest auf seinem Gut Hellbronnen zu geben. Der leuchtende Himmel,
den er über den Häuserschluchten glühen sah, verlockte ihn. Stolpe
schrieb die Einladungen und reiste nach Hellbronnen voraus, um die
Vorbereitungen zu treffen.

Mit diesem Landgut Hellbronnen hatte es eine ganz besondere Bewandtnis.
Es war ein altes Jagdschlößchen, und Mackentin hatte vor dem Kriege bei
einem Manöver einmal, ganz zufällig, in diesem Schlößchen in Quartier
gelegen. Durch einen Kameraden erfuhr Mackentin, daß Baron Müncheberg,
der Besitzer von Hellbronnen, das Jagdschlößchen verkaufen wolle. Wenzel
kaufte es, ohne es gesehen zu haben. Als er ein Vierteljahr später die
Zeit fand, es zu besichtigen, war er entzückt.

Das Jagdschlößchen, ein alter Schinkelbau, lag inmitten eines alten
Parkes, von einem Gartenfreund vor mehr als hundert Jahren geschaffen.
Das aber war nicht alles, es gab in diesem Park Wandelgänge,
Taxushecken, romantische Spielereien, einen kleinen Irrgarten und eine
kleine Naturbühne. Aber das war noch nicht alles. Das Jagdschlößchen
spiegelte sich in einem stillen, kleinen See, der drei kleine Inseln
hatte. Auf diesen Inselchen waren Pavillons errichtet, und zwei der
Inseln waren durch eine japanisch anmutende hohe Brücke miteinander
verbunden.

Wenzel hatte das Jagdschlößchen und die Pavillons von seinem Architekten
Kaufherr instandsetzen lassen.

Das Sommerfest, das er zur Einweihung gab, hatte bis heute noch
keiner der Gäste vergessen. Wochenlang sprach man davon. Eine
Schauspielertruppe hatte auf der kleinen Naturbühne einige Szenen aus
dem „Sommernachtstraum“ gespielt. Nicht den ganzen „Sommernachtstraum“,
das wäre ja langweilig gewesen. Ein Feuerwerk lohte über dem See.
Kurzum, es war unvergleichlich. Gegen zweihundert Gäste waren anwesend.

Zu diesem Herbstfest sollte etwa nur ein Dutzend Gäste geladen werden,
nur der intimste Freundeskreis. Sie wurden in einigen Automobilen
verfrachtet und trafen mit dem sinkenden Abend in Hellbronnen ein. Schon
empfing sie die rumänische Kapelle mit ihrer rasenden Zigeunermusik.

Jenny war entzückt von Hellbronnen. „Es ist ja wie ein verwunschenes
Schloß,“ sagte sie.

„Ich will Ihnen Hellbronnen zeigen,“ sagte Wenzel, nahm sie ohne viele
Umstände unter dem Arm und führte sie fort.

Das Fest selbst enttäuschte Jenny. Sie fühlte sich nicht wohl bei all
diesem Lärm, bei all diesem lauten Gelächter, bei dieser rasenden Musik
und bei den Scherzen der Gesellschaft. Es waren die intimen Freunde und
Bekannten Schellenbergs, zwei mit ihren Frauen, die einen leichtsinnigen
Ton liebten, die andern zumeist mit Freundinnen, eleganten Geschöpfen,
eine Kollegin von ihr darunter und eine sehr bekannte und sehr schöne
Tänzerin, berüchtigt durch ihre Skandale. Unter den Herren befanden sich
einige bekannte Bankiers, die Söhne reicher Eltern, ohne Tadel
angezogen, ohne Tadel der Scheitel, die Hände, aber blasiert und
langweilig. Sie erzählten Witze, die Jenny schon alle im Kaffeehaus
dutzendmal gehört hatte. Welche Leere.

Die Mahlzeit war verschwenderisch. Es gab reichlich zu trinken, und
selbst die Damen wurden rasch ausgelassen. Die Tänzerin stieg auf den
Tisch und tanzte zwischen den Gläsern und Blumen. Ihr Erfolg war groß.
Wenzel hob sie vom Tisch und drückte sie an die Brust. Und als Jenny
dies sah, zerriß es ihr das Herz. Sie litt fast unaufhörlich an diesem
Abend. Wenzel bevorzugte sie. Wenzel stellte sie in den Mittelpunkt der
Gesellschaft, aber doch fuhr ihr jeder seiner freien, offenen Blicke,
die er einer anderen Frau zuwarf, wie ein Messer ins Herz, ja wie ein
Messer, das auf beiden Seiten geschliffen ist und sehr spitz, so fühlte
sie es. Aber sie liebte sein Lachen. Nie hatte sie ihn so lachen gehört.
Er lachte ausgelassen wie ein Knabe.

Nach dem Abendessen wurde es vor den Fenstern plötzlich hell wie bei
einem Brande. Wenzel hatte riesige Pechfackeln am Seeufer aufstellen
lassen. Sie brannten alle zur gleichen Zeit. Feuerströme wälzten sich in
dem stillen Wasser. Es sah herrlich aus, fast erschreckend. Man
beglückwünschte Wenzel zu dieser Idee.

„Man muß ja etwas sehen,“ sagte er. „Was sollen wir mit dieser Nacht
anfangen, und wie schauerlich finster ist es doch auf dem Lande.“

In einem Boot fuhr die rumänische Kapelle mit ihrer rasenden Musik
davon. Die Gesellschaft verteilte sich in vier kleine Boote, und man
ruderte zu den Inseln. Wenzel half der Tänzerin beim Aussteigen. Er
legte seine große knochige Hand um ihren schlanken Körper, und wieder
litt Jenny. Großer Gott, sagte sie sich, hoffentlich ist es bald zu
Ende.

In den Pavillons gab es Kaffee, Liköre und Schleckereien. Die Damen
fröstelten, die jungen Bankiers stülpten den Rockkragen in die Höhe und
sagten: „Es ist kalt, Schellenberg!“

„Nun gut, so fahren wir zurück. Fahrt voraus.“

„Wollen Sie hier bleiben, Schellenberg?“

„Ihr werdet schon sehen!“

Die Boote stießen ab, und alle wunderten sich, was Schellenberg
unternehmen werde.

In diesem Augenblick aber sprang Wenzel von der japanisch anmutenden
Brücke aus im Hechtsprung ins Wasser und schwamm hinter den Booten her.
Er lachte und prustete. „Ich will euch nur zeigen, daß es nicht kalt
ist!“ schrie er. Am Ufer angekommen, schüttelte er sich wie ein Pudel,
der aus dem Wasser steigt.

Jenny zitterte am ganzen Körper. Sie trat dicht an Wenzel heran,
berührte seinen nassen Ärmel und sagte: „Sie werden sich erkälten,
kleiden Sie sich sofort um.“

Schellenberg lachte, aber mitten im Lachen brach er ab und sah Jenny in
die Augen. Der Ton, in dem sie ihre Bitte aussprach, hatte ihn betroffen
gemacht. Jenny war ganz bleich. „Ich gehorche!“ rief er und verschwand
schnell im Hause.

Es wurde getanzt, gelacht, getrunken. Oh, Jenny war glücklich, als sie
wieder in Berlin war.


                                   11

Jenny hatte ihre Arbeit längst voller Eifer aufgenommen. Es war
eigentlich das erstemal in ihrem Leben, daß sie voller Fleiß, Hingabe
und Ausdauer arbeitete. Die Möglichkeit, die ihr geboten wurde, war
ungeheuer selten, ein wahrer Glücksfall, und sie wußte, daß es an ihr
lag, sie zu nützen.

Wenzel hatte ihren Tag eingeteilt, ihr Instruktionen gegeben, und sie
folgte ihnen. Sie nahm Unterricht bei einem Tanzmeister und begann ganz
von vorn mit der alten Ballettschule. Erst ging es sehr schwer, dann
machte sie rasch Fortschritte, und ihr Lehrer war zufrieden.

Wenzel hatte ihr seine Reitpferde zur Verfügung gestellt, und sie nahm
Reitunterricht. Jeden Morgen ritt sie im Tattersall. Sie fühlte sich
leicht und frisch, war entzückt von dem Glanz der Pferde, ihren guten
Augen und ihrem Geruch. Und es kam der Tag, da sie mit Genugtuung die
völlige Beherrschung ihres Körpers verspürte. Sie fühlte jede Bewegung,
jede kleinste Muskel. Sogar das Gehen auf der Straße war ihr ein Genuß,
sie empfand es fast als Wollust.

Täglich arbeitete sie mit dem Regisseur. Doktor Brinkmann war eine
schlichte, immer begeisterte Seele von einer grenzenlosen Geduld und
Güte. Wenn er mit ihr arbeitete, saß er da und blinzelte, korrigierte,
ließ wiederholen. Jetzt erst fing sie an zu begreifen, was es hieß, zu
gestalten. Nach einigen Wochen ließ Doktor Brinkmann sie vor dem
Aufnahmeapparat spielen. Sie sollte sehen lernen, wie sie sich gefilmt
ausnahm. Die ersten Aufnahmen hätten Jenny fast entmutigt. Doktor
Brinkmann hatte es darauf abgesehen, ihr ihre Fehler vorzuführen. Nun
begann eine anstrengende, ja qualvolle Arbeit. Jeder Schritt, jede
Bewegung, jede Geste mußte gelernt sein. Doktor Brinkmann selbst malte
ihr das Gesicht, wie die Linse es verlangte. Plötzlich ging es. Es war
keine Hast mehr da, keine Unsicherheit. Die Bewegungen flossen, das Auge
glänzte und flammte leidenschaftlich.

„Sie werden es lernen!“ rief Doktor Brinkmann erfreut aus. (Sie ahnte
nicht, daß er ein besonders hohes Honorar von Wenzel für seine Arbeit
erhielt.)

Schon in kurzer Zeit wollte die Gesellschaft einen kleinen Spielfilm in
Italien aufnehmen lassen.

Jenny gab sich ihrer Tätigkeit begeistert hin. Sie arbeitete, sie
fieberte Tag und Nacht. Fast jeden Abend besuchte sie irgendein
Lichtspieltheater, um zu beobachten, zu lernen. Langsam schien sich ihr
auch diese schwierige Kunst zu erschließen.

Oh, und sie arbeitete auch – sie gestand es sich offen –, um die Stunden
und Tage zu töten, da sie Wenzel nicht sehen konnte. In den Theatern,
Bars und Weinstuben, die er mit ihr besuchte in der Gesellschaft seiner
Freunde, quälte sie die Nähe dieser Freunde und eine kleinliche
Eifersucht, die ihr jede Minute vergällte. Sie war glücklich, wenn er
allein mit ihr speiste. Dann aber verging der Abend so schnell, und wenn
sie allein war, überfiel sie die Qual der Trennung von neuem mit
schrecklicherer Gewalt. Es war nicht möglich Wenzel zu erreichen. Er bat
sie, ihn anzurufen. Aber häufig stand sie zwei Stunden am Apparat, sie
stampfte mit den Füßen vor Ungeduld, aber immer wieder meldeten sich
Stolpe, Mackentin, Goldbaum oder sonst jemand.

Jenny hatte nie geliebt. Sie wußte es jetzt, ihre Liebschaft mit
Katschinsky, was war das gewesen? Nichts. Nun aber fühlte sie zum
erstenmal in ihrem Leben, was Liebe ist. Und nun wußte sie, daß Liebe
keine Freude ist, sondern eine Qual. Das Herz brannte ihr in der Brust
wie Feuer. Sie vermochte nicht mehr an etwas anderes zu denken. Sie
schrieb Briefe an Wenzel, aber sie sandte diese Briefe nicht ab. Sie
fürchtete sein Lächeln, und auch sie selbst, Jenny, haßte nichts mehr
als Sentimentalität.

In manchen Stunden der Unruhe versuchte sie, sich gegen ihre
Leidenschaft zu Wenzel aufzulehnen. In der Einsamkeit der schlaflosen
Nächte zeichnete sie sich sein Bild, und sie übertrieb alle seine
Eigenschaften. Sie machte ihn maßloser, als er war, genußsüchtiger,
brutaler, herzloser, sie sah, wie sein Blick schamlos die Frauen traf,
aber es nützte alles nichts. Augenblicklich erhob sich ein anderer
Wenzel, aus dessen kräftiger Stimme ein Hauch von Wärme auf sie
eindrang, ein Freund, der seine Freundschaft eher verbarg als zeigte,
der fürsorglich war und es nicht liebte, daß man ihn daran erinnerte.
Oft schien er ihr wie ein Dämon, der dahinraste und Menschen verschlang,
und in der gleichen Minute erschien er ihr wie ein großer Knabe, der
herzlich lachte und dem man nicht böse sein konnte.

Wie war er wirklich? Wer war dieser Wenzel Schellenberg? Sie versuchte
ihn zu ergründen, vergebens.

Aber es war geschehen, das Unglück, oder Glück, wie man es nennen
wollte, war geschehen. Es gab für sie kein Zurück mehr. Wie zitterte
sie, wenn sie seinen Schritt hörte! Wie erbleichte sie, wenn er zur Tür
hereinkam! Er hatte ihr versprochen, mit ihr, sobald er Zeit habe, auf
zwei, drei Tage irgendwo hinzureisen, wo sie ganz allein wären. Sie
sehnte diese Reise herbei, für sie gab es nur noch die eine Frage: Wann?
Aber Wenzel hatte nie Zeit.


                                   12

Eine Hölle waren diese Tage und Nächte für Katschinsky. Zu spät kam die
Reue über sein Benehmen bei seinem letzten Besuch in Jennys Salon. Er
selbst war es gewesen, der die Brücken, die zu Jenny führten,
abgebrochen hatte. Es gab nichts Törichteres für einen Mann, er wußte es
genau, als seinen Rivalen mit Schmähungen anzugreifen. Wie furchtbar,
wie ehrlos, wie erbärmlich war all das gewesen. Es war so rasch und
unverständlich gekommen, daß er es noch Tage nachher nicht begreifen
konnte.

Nun war es zu spät. Reue, Gram und Eifersucht peinigten ihn. Er ertrug
das Leben nur, wenn er die Möglichkeit hatte, Jenny wenigstens zuweilen
zu sehen. Das beschäftigte seine Gedanken, erfüllte seine Phantasie. Im
luftleeren Raum konnte niemand leben. Also lauerte er Jenny auf: um
hinter einer Litfaßsäule zu erbleichen, sobald er auch nur einen Ärmel
ihres Mantels sah. Wenn dieses dunkelblau lackierte, breit und niedrig
gebaute Auto vor dem Hotel vorfuhr, so grub er die Nägel in das Fleisch
seiner Hände, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er war
ohnmächtig, aber er würde sich rächen, – wie und wann, das würde sich
finden.

War Stolpe im Auto, so empfand er eine freudige Erleichterung. An der
Gewalttätigkeit, mit der der Wagenschlag zugeworfen wurde, erkannte er
Schellenberg. Das Auto fuhr fort, und er wartete stundenlang, bis es
wiederkam. Er kannte seine Scheinwerfer. Oh, wie furchtbar, all diese
funkelnden Lampen dieser Schar von Automobilen, die ihn anfunkelten, die
in der Nacht aus der Finsternis herankamen und den Kurfürstendamm
entlangflogen. Sie blendeten ihn, daß er taumelte, er erschrak wie vor
Gespenstern. Und jetzt endlich, dort kamen die beiden bösen Lampen
herangeflogen. Nun war sie zu Hause. Ihre Zimmer waren hell. Ihre Zimmer
erloschen.

Nun konnte er wieder atmen. Er besuchte einen Tanzklub, eine Diele, eine
Spielergesellschaft, bleich, ein blasiertes Lächeln auf seinem schönen
Munde, mit einem hochmütigen Gesichte saß er da. Er begann zu trinken.
Katschinsky hatte nie getrunken und vertrug nichts. Schnell war er sehr
berauscht. Er schritt, wirre Worte hervorstoßend, oft weinend durch die
finsteren Straßen und griff nach der ersten Dirne, der er begegnete. So
ging es Nacht für Nacht. Schließlich hatte er sich, wenn er berauscht
war, eine Lüge ersonnen, die er immer wieder vorbrachte und an die er im
trunkenen Zustande nahezu selbst glaubte. Er erzählte diesen Dirnen, daß
er eine Geliebte gehabt habe, schön wie eine Göttin, sagenhaft schön,
und sie sei an der Grippe gestorben. Das erzählte er jede Nacht mit
allen Einzelheiten. Schließlich kam es so weit, daß er bei den Dirnen
weinte, wenn er seine Geschichte erzählte.

Tiefste Schmach. Tiefste Erniedrigung.

Er fing an, Jenny glühend zu hassen. Auch an ihr wollte er sich rächen.
Er entwarf Pläne. Vielleicht würde er ihr schönes Gesicht mit einer
Säure übergießen, aber schon erschrak er und schrie: „Nein! Nein!“

Eine Wendung trat ein. Unscheinbar begann sie. Jener Regisseur, jener
Doktor Brinkmann hatte ihm in der Tat eine Unterredung, wie er es
versprochen hatte, gewährt. Er hatte ihn in einigen Statistenrollen
verwandt, um ihn auszuprobieren; hierauf aber hatte Katschinsky nichts
mehr von ihm gehört. „Natürlich,“ sagte er bitter, „hinter mir stehen
keine Millionen.“ Plötzlich aber erhielt er von Doktor Brinkmann einen
Brief mit der Bitte, sich so bald wie möglich bei ihm einzufinden.

„Sie können nichts, Herr Katschinsky,“ sagte Doktor Brinkmann ganz
offen. „Sie haben es auch nie behauptet, daß Sie etwas können. Sie sind
ja kein Schauspieler. Aber vielleicht werden Sie es lernen. Eine unserer
Tochtergesellschaften dreht einen Film, und Sie sollen darin eine der
Hauptrollen spielen. Sie sollen nichts spielen als sich selbst.
Unterstehen Sie sich nicht, an etwas anderes zu denken.“

Katschinsky spielte. Die ersten Aufnahmen waren gänzlich unverwendbar.
Bald aber ging es. Man brauchte in diesem Film einen gutaussehenden
jungen Mann, der sich gut kleidete und sich zu benehmen wußte. Gerade
die etwas falsche Eleganz Katschinskys, das falsche Benehmen
Katschinskys waren es, was der Regisseur suchte.

Der Film gefiel. Nun, da die Regisseure ihm die Maske gemacht hatten,
zeigte es sich, daß Katschinsky mit seinem schmalen Gesicht, seinen
etwas schrägstehenden Mandelaugen, seinem blasierten Mund sich
außerordentlich gut photographieren ließ. Er war gerade jener Typ
schöner junger, amerikanisch aussehender Männer, den man suchte. Die
Gesellschaft unterbreitete ihm einen Jahresvertrag. Der Erfolg machte
Katschinsky sicherer, seiner Eitelkeit wurde geschmeichelt, und er fand
wieder etwas Halt. Er hatte Jenny keineswegs vergessen. Noch häufig
versuchte er einen Blick von ihr zu erhaschen. Aber er zitterte nicht
mehr, er erbleichte nicht mehr.

Eines Tages, als er am Eden vorbeischlenderte, lief er Jenny in die
Arme. Plötzlich stand sie vor ihm, wie aus dem Boden gewachsen. Sie
hielt den Schritt an und betrachtete ihn mit erschrockenen, hilflosen
Augen.

Ja, nun zitterte sie, und er war ganz ruhig. Er wechselte die Farbe,
dann zog er den Hut und begrüßte Jenny, als sei nichts vorgefallen.

„Ich bitte dich um Verzeihung, Jenny,“ sagte er mit seinem hübschesten
Lächeln. „Der Teufel ist in mich gefahren, wie konnte ich dir eine
solche Szene machen, es ist mir heute unbegreiflich. Aber begreife,
Jenny, daß ich toll war vor Eifersucht. Nichts aber ist hündischer als
Eifersucht, und du weißt, Jenny, daß das immer meine Ansicht war.“ Schon
lächelte er leichtsinnig und fröhlich. „Es ist viel besser, daß wir gute
Kameraden sind, Jenny. Findest du nicht auch?“

„Es ist gewiß viel vernünftiger,“ antwortete Jenny und nahm seine Hand.
„Du bist ein törichter Junge gewesen.“ Sie gingen nebeneinander her und
plauderten wie gute Freunde.

Ja, nun waren sie wieder gute Freunde geworden. Katschinsky erwies ihr
Aufmerksamkeiten. Er sandte ihr Blumen und Bücher. Sie sah seine
Bemühungen, alles wieder gutzumachen, und sie freute sich darüber. Dann
und wann besuchte er sie auch zum Tee. Sie trafen sich in den
Filmateliers zuweilen zufällig. Katschinsky benahm sich immer
gleichmäßig kameradschaftlich.

Eines Abends aber – sie waren zusammen mit Stobwasser im Café gewesen –
änderte er plötzlich den Ton. Sie gingen durch eine dunkle,
menschenleere Straße. Er berührte plötzlich ihren Arm und drückte ihn
zart an sich. „Höre, Jenny,“ begann er, bemüht seine Erregung zu
verbergen, „ich will dir alles beichten. Ich habe das Bedürfnis, dir
alles zu gestehen, was geschehen ist.“

Die Berührung seiner Hand empfand Jenny unangenehm. Dieser leichte Druck
seiner Hand verletzte sie – obgleich sie ihn einst geliebt hatte –, nur
aus Nachsicht duldete sie seine Berührung. Mit hochgezogenen Brauen und
nervösen, gequälten Lippen hörte sie seine Beichte.

Er gestand ihr alles: wie er ihr auflauerte, wie er trank, bis er
sinnlos betrunken war, wie er den Straßenmädchen die Geschichte erzählte
von seiner schönen Geliebten, die an der Grippe gestorben sei.

Jenny zog die Schultern an. Sie zog sich scheu wie ein Tier, das sich
bedroht fühlt, zurück. Sie machte ihren Arm frei und trug Sorge, daß
auch ihr Gewand ihn nicht berührte. Und mit jedem Wort, das er sprach,
hervorstieß, stammelte, mit jedem Wort entfernte sie sich mehr von ihm.
Jedes Wort trieb sie in immer weitere Fernen. Sie hätte Lust gehabt zu
laufen, aber sie wußte, daß er ihr dann nachgelaufen wäre, und sie
wollte vor den wenigen Menschen, die diese Straße passierten, jegliches
Aufsehen vermeiden. Seine Worte waren verletzend, sie schmerzten und
beleidigten sie, sie waren schamlos. „Sieh, so liebe ich dich, Jenny, so
maßlos liebe ich dich! Ich kann deinen Körper nicht vergessen! Verstehe
mich doch, fühle es doch!“

Nein, sie fühlte es nicht. Sie begriff es, ja, aber in ihrem Herzen gab
es kein Echo mehr. Im Gegenteil, das kameradschaftliche Gefühl, das sie
für ihn noch gehegt hatte, war vernichtet. Sie wurde augenblicklich
kalt, feindselig. Sie wußte, daß er nicht schlecht war, nur ein
schwacher Mensch. Aber es wäre ihr lieber gewesen, wenn er schlecht
gewesen wäre. Sie verachtete ihn. „Du hast unsere Verabredung
vergessen,“ sagte sie, um ihn zu ermahnen.

„Nicht ich habe vergessen,“ rief Katschinsky leidenschaftlich aus,
„sondern du hast vergessen, Jenny!“ Und er fragte sie bebend, ob sie ihn
nicht wenigstens ein bißchen lieben könne, damit sein Leben wieder Sinn
erhalte.

Sie wich zurück. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte leise, aber mit
einer kühlen, unbeirrbaren Stimme: „Du weißt es, ich liebe einen
andern.“

„Liebst du ihn wahrhaftig?“

„Dreimal wahrhaftig!“

Katschinsky schüttelte verzweifelt, etwas theatralisch die Fäuste. „Dann
ist alles ohne Hoffnung,“ sagte er.

Sie gingen still weiter und sprachen kein Wort mehr. In der Nähe des
Hotels blieb Jenny stehen und sah Katschinsky mit klaren, forschenden
Augen ins Gesicht. „Eines will ich dich noch fragen,“ sagte sie. „Es
gibt boshafte Menschen. Man hat meinem Vater geschrieben, er möge ein
Auge auf mich haben. Ich sei die Geliebte eines berüchtigten Abenteurers
geworden.“ Jenny heischte Antwort.

Jede Spur von Farbe war aus Katschinskys Gesicht gewichen, selbst seine
immer roten Lippen waren fahl geworden wie die eines Toten.

„Ich habe es getan,“ stammelte er. „Ich hatte es schon vergessen. Ich
habe diesen Brief einmal in der Nacht geschrieben, als ich getrunken
hatte. Ich erinnere mich nicht, ihn in den Kasten geworfen zu haben. Oh,
wie niedrig!“ rief er aus und schlug die Hände vors Gesicht. „Ich wage
nicht, dich zu bitten, mir auch dies zu verzeihen!“

Jenny sah zu Boden. Nach einer Weile erwiderte sie: „Auch dies will ich
dir noch verzeihen.“

Sie streckte ihm die Hand hin. „Lebe wohl.“

Katschinsky nahm ihre Hand, ohne sie anzusehen.

„Eine Bitte habe ich noch,“ fügte Jenny hinzu. „Du hast an Schellenberg
einen anonymen Brief geschrieben, worin du ihn vor einem gewissen Herrn
K. warnst. Von wem sollte der Brief sonst sein? Tue es nicht wieder, du
machst dich nur lächerlich!“

In ihrem Zimmer saß Jenny lange im Dunkeln. Sie zitterte am ganzen
Körper. Sie wagte es nicht, Licht zu machen. Vielleicht steht er unten,
sagte sie sich, und wartet? Er, jener andere, den ich liebe, wartet
nicht, bis das Licht erlischt.


                                   13

Die großen Holzscheite flammten und krachten im Kamin. Der Schein des
Feuers blendete, und gespenstische Schatten zuckten durch den
halbdunkeln Raum.

Wenzel sagte: „Sie sind eine seltene Frau, Jenny Florian! Sie wissen,
daß ich alle Phrasen und übertriebenen Worte hasse. Ich habe mir eines
Tages vorgenommen, immer zu sagen, was ich denke, oder ganz zu
schweigen. Also können Sie mir getrost glauben, was ich Ihnen sage. Sie
sind schön, und Sie wissen es. Aber Sie tun nicht, wie andere schöne
Frauen, als ob es Ihr persönliches Verdienst sei und man Ihnen aus
diesem Grunde Bewunderung zollen müsse. Sie nehmen Ihre Schönheit wie
etwas, das Ihnen geliehen wurde. Sie sind klug, aber Sie vermeiden es,
geistreich erscheinen zu wollen, nach Art der meisten Frauen. Sie halten
sich gleich weit entfernt von der Geziertheit des Ausdrucks wie von der
Lässigkeit. Sie haben mehr Talente als fünf Frauen zusammen, und doch
sprechen Sie nie mit einer Silbe davon. Sie schweigen darüber, wie alle
Leute, die sich ihrer Kräfte bewußt sind.“

Jenny hob den seidigglänzenden Scheitel. Ihre Augen blendeten wie die
eines Tieres, in die ein Lichtschein fällt. Auf ihren Wangen und Lippen
und Zähnen sprühten Funken. Ihr kleines, glühendes Ohr trank berauscht
Wenzels Worte. Sie hörte Wenzels wahre Stimme so selten, auch wenn sie
allein waren. In Gegenwart seiner Bekannten und Freunde aber verbarg er
sich hinter einem burschikosen, derben Jargon, den sie verabscheute.

Jenny saß zu Wenzels Füßen auf einem Teppich, die Knie angezogen. Sie
saß dicht am Feuer, das verwegen nach ihr züngelte. Heute mittag waren
sie in dem kleinen Jagdschloß Hellbronnen angekommen. Die Herrlichkeit
sollte drei Tage dauern.

„Es tut gut, ein bißchen verwöhnt zu werden!“ erwiderte Jenny. Wenn sie
sprach, funkelten alle Vokale. Ihre Stimme war keusch, als schäme sie
sich zu sprechen. Sie errötete, während sie sprach. „Sie sind ein
Freund, ein guter Freund, und ich fühle mich wohl und sicher in Ihrer
Nähe. Gibt es ein schöneres Gefühl für eine Frau? Sie sind viel zarter,
als Sie ahnen lassen. Weshalb geben Sie sich oft so unempfindlich?“

Das Feuer knisterte und lohte. Über die geschwärzten Kaminwände
kletterten eilige Funken.

Wenzel dachte lange nach. Dann erwiderte er, langsam den Kopf
schüttelnd, die Stirn in Falten: „Fast hätten Sie mich verführt, etwas
zu glauben, nur weil es angenehm ist, sich für besser zu halten, als man
ist. Nein, Sie kennen mich nicht, Jenny Florian. Meine Gefühle sind
verschüttet oder erloschen, wie Gefühle in einem bestimmten Alter und in
gewissen Lebensverhältnissen vergehen. In Ihrer Nähe, so scheint es mir
allerdings, erwacht manche Empfindung wieder, die ich lange nicht mehr
kannte. Lieben Sie Gedichte?“

Jenny sah erstaunt auf.

Wenzel lachte. „Eine sonderbare Frage, nicht wahr? Ich würde es auch
nicht wagen, sie in Berlin zu stellen. In meiner Jugend habe ich viele
Gedichte gelesen, aber nur ein einziges behalten – mein Gedächtnis ist
schlecht. Mein Bruder dagegen, Michael, er kann den halben Faust
auswendig, er behält alles spielend. Und Sie, Jenny Florian? Sie müssen
doch den ganzen Kopf vollgestopft haben mit solchen Dingen.“

Jenny bejahte. Sie habe ein sehr gutes Gedächtnis.

„Dann haben Sie wohl auch viele Gedichte im Kopf? Könnten Sie ein
Gedicht sprechen, irgendeinen Vers? Ich möchte hören, wie Ihre Stimme
dabei klingt.“

Ohne Zögern erhob sich Jenny, als habe ein Regisseur sie aufgerufen. Sie
dachte kurz nach, dann faltete sie die Hände, indem sie die Spitzen der
Finger gegeneinander legte. Und nun sprach sie, mit leiser, ganz
monotoner, inniger Stimme ins Feuer hinein, die Augen halb geschlossen:

   „O gib, vom weichen Pfühle
   Träumend, ein halb Gehör!
   Bei meinem Saitenspiele
   Schlafe! Was willst du mehr?“

Sie hatte geendet. Eine Weile stand sie still, dann ließ sie die Hände
sinken. „Ist es schön?“ fragte sie, wie aus tiefem Schlaf aufgewacht.

„Es ist schön, und Sie haben es sehr schön gesprochen. Diesen Vers hatte
ich vergessen. Aber, wie kamen wir eigentlich auf dieses merkwürdige und
unzeitgemäße Thema, sagen Sie doch? Ja, richtig, nun fällt es mir ein.
Ich sprach von einem Gedicht, dem einzigen, das ich behalten habe. Auch
das ist nicht ganz richtig. Ich habe nur einen Vers davon behalten, und
selbst ihn könnte ich vielleicht nicht fehlerlos zitieren. Dieses
Gedicht ist für mich das schönste Gedicht, das es in unserer Sprache
gibt. Ja, vielleicht ist es das schönste Gedicht, das je ein Dichter auf
dieser Erde schrieb, weil es das schlichteste, zarteste und wahrste ist.
Es ist Heines ‚Du bist wie eine Blume‘. Sie staunen, daß ich, gerade ich
dies sage? Nun, Sie haben recht, nur ein ganz gläubiger Mensch darf
dieses Gedicht aussprechen – also will ich nicht fortfahren. Aber, um
zur Hauptsache zu kommen. Ein ähnliches Empfinden wie jenes, das Heine
in seinem Gedicht ausdrückt – ein ähnliches natürlich nur! –, habe ich
oft, wenn ich Sie ansehe, Jenny Florian. Verzeihen Sie mir, ich schäme
mich jetzt schon dieser Trivialität.“

Darauf erwiderte Jenny nichts. Sie senkte den Scheitel tiefer und
schwieg.

Und Wenzel fuhr fort: „Mißverstehen Sie mich nicht! Zwei Dinge hasse ich
mehr als alles auf der Welt, Hysterie und Sentimentalität. Die
hysterischen Menschen – es gibt vielleicht mehr hysterische Männer als
Frauen – müßte man totschlagen und die sentimentalen – nun sagen wir,
ertränken.“

Jenny lachte auf. „Sie machen ganze Arbeit, Schellenberg!“ rief sie aus;
aber doch war ein versteckter Schrecken in ihren Augen. Welch ungeheure
Verachtung klang aus Wenzels Stimme.

„Unsere Zeit braucht Fäuste – etwas rücksichtslose Fäuste, die
zupacken,“ fuhr Wenzel fort. „Gefühle sind der Luxus einer reichen
Epoche, einer Epoche ohne Schulden. Ich spreche ganz offen. Ich möchte
nicht in den Verdacht kommen, mich einer Sentimentalität überlassen zu
haben, als ich von Heines Versen sprach und Sie bat, ein Gedicht zu
sprechen. Nein – das ist etwas ganz anderes. Ich möchte auch nicht in
den Verdacht kommen, Ihnen etwas vorzumachen. Ihnen etwa vorzumachen,
daß ich Sie liebe. Oh, nein. Ich gestehe offen – verzeihen Sie diesen
banalen Ausdruck –, Sie ‚gefallen‘ mir – aber das ist noch lange nicht
Liebe. Vielleicht bin ich auch in Sie verliebt? Aber, wer wäre in seinem
Leben nicht öfter verliebt gewesen? Vielleicht ist dies das normale
Empfinden? Liebe? Ich weiß nicht, ob ich lieben kann. Ich weiß nicht, ob
ich einen anderen Menschen lieben kann als mich selbst. Ich weiß nicht
einmal, ob es überhaupt möglich ist, einen andern Menschen zu lieben als
sich selbst. Es scheint mir, daß hier viel Geflunker vorliegt – bei den
Dichtern. Denn Liebe ist ja keine Wissenschaft und kann nicht chemisch
analysiert werden. Es ist aber keine Lüge, wenn ich Ihnen sage, Jenny
Florian, daß Sie mir sympathischer sind als alle Frauen, die ich kenne.
Aber ich weiß nicht, ob Ihnen das genügt, was man Sympathie nennt?“

Jenny nickte. „Es ist viel,“ erwiderte sie leise. „Es wird mehr werden,“
fügte sie noch leiser hinzu.

„Nun, dann gut, Jenny Florian, dann wollen wir Freunde werden. Aber da
ich es nicht liebe, einen Menschen zu täuschen, so will ich dir meine
Bedingungen nicht verschweigen.“

Groß und klar wie eine Quelle, kristallen lagen die Augen Jennys unter
ihm. Er mußte an Bäche denken, die er als Knabe gesehen hatte. Auf
Klein-Lücke gab es einen solchen klaren Bach. Weshalb sieht man später
nie mehr diese Klarheit des Wassers?

Und er fuhr fort: „Ich verlange volle Freiheit für mich, denn ich
brauche die Freiheit. Ich kann in einer anderen Luft nicht leben, so bin
ich. Aber ich gewähre dir, hörst du, nicht die geringste Freiheit! Ich
weiß, daß es Narren gibt, die von einer Gleichstellung der Frau
sprechen. Es sind armselige Narren, die die Frauen nicht kannten, die in
ihrem Leben vielleicht nur eine oder zwei Frauen besaßen. Es sind
Lügner. Ich gehöre nicht zu jener Klasse modern denkender Männer. Ich
bin ein ganz altmodischer Mensch, in dieser Beziehung wenigstens, und
keineswegs geneigt, mich in meinen Ansichten beirren zu lassen. Dabei
bin ich nicht kleinlich. Ein Flirt, ein Kuß – aber nicht mehr, mehr
dulde ich nicht. So also lauten meine Bedingungen, Jenny. Nun sollst du
mir antworten.“

Jenny lächelte mit glänzenden Augen. „Ich nehme alles an, Wenzel. Ich
kapituliere.“

„Um wahr zu sein,“ sagte Wenzel weiter, „ich finde, daß es falsch ist,
diese Dinge, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, so furchtbar ernst
zu nehmen. Ich finde, der Sinn des Lebens besteht darin, soviel Genuß
aus dem Leben zu holen, als möglich ist. Die Menschen aber scheinen alle
bemüht zu sein, sich gegenseitig so wenig Genuß wie möglich zu gönnen.“

Jenny verstand nicht. Irgend etwas beunruhigte sie. Aber schon fuhr
Wenzel fort: „Was also würdest du tun, Jenny Florian, wenn du mich
liebtest – zuviel gesagt –, wenn ich dir sympathisch wäre?“

Darauf antwortete Jenny, ohne zu zögern: „Frage, was würde ich nicht
tun?“

So also wurde Jenny Florian Schellenbergs Geliebte.

Ja, nun hatte das Leben allerdings ein anderes Gesicht bekommen.

Jenny ging auf der Straße mit gespitzten Lippen. Sie pfiff wie ein
Vögelchen. Immer schien die Sonne zu scheinen, auch wenn es regnete.
Wenn die Sonne aber schien, so schwamm Jenny im Licht. Alle Menschen,
sonst so griesgrämig und unhöflich, schienen sich zu bemühen, ihr
Artigkeiten, Schmeicheleien zu sagen. Es gab plötzlich nur reizende,
liebenswürdige Menschen, die sie mit Freundlichkeiten überhäuften. Jenny
selbst war hilfreich, gütig, gefällig. Sie funkelte vor Glück, wie ein
Diamant funkelt, in den das Licht fällt.

Eines Tages fuhr Wenzel sie hinaus nach Dahlem. Er zeigte ihr die Villa,
die er hatte bauen lassen und die ihm zu klein geworden war, während er
baute. Er nannte diese Villa, auf die Form des Hauses anspielend, die
„Hutschachtel“. Das Haus, bis auf Kleinigkeiten fertig, war in einem
modernen Barock erbaut von Kaufherr, dem begabtesten Architekten
Berlins. Maler und Handwerker schabten, bürsteten und strichen, und es
roch nach Farbe, Gips und frischgehobeltem Holz. In einigen Zimmern
waren schon die Tapeten gespannt. Da und dort standen schon Möbel. In
einigen Wochen konnte die Villa bezogen werden. Das Badezimmer aus
rosigem Marmor entzückte Jenny.

„Wie gefällt dir die Hutschachtel?“ fragte Wenzel.

Jenny war begeistert. Sie hatte so etwas Herrliches nie gesehen.

„Nun, ich will sie dir schenken. Hier soll Jenny Florian wohnen.“

Jenny schrie auf. Aber schon hob sie abwehrend die Hände. „Nicht
schenken, Wenzel!“ rief sie. „Nein, nicht schenken!“ Sie wurde plötzlich
nachdenklich.

„Nun, dann wohne hier, solange es dir gefällt. Das Haus wird fertig
sein, bis du aus Italien zurückkommst.“

In den nächsten Tagen reiste Jenny mit der Filmgesellschaft nach dem
Süden. Der Zug fuhr vorwärts, aber sie fuhr in Gedanken schon wieder
zurück. Bei jedem besonderen Gehöft, bei jedem besonders aussehenden
Baume sagte sie sich: Wenn ich euch erst wiedersehen werde! Sie war
unglücklich. Aber – so sagte sie sich resigniert – es ist dein Beruf.


                                   14

Der Wind pfiff über die Heide. Er war noch naß vom Schnee, aber schon
war ein lauer Hauch des Frühlings in ihm. Ein heftiger Südweststurm
brauste seit einigen Tagen dahin.

Von Glücksbrücke an, dessen Baracken in der Ferne, am Horizont
verschwammen, bis zu den mächtigen Werkstätten von Glückshorst
erstreckte sich jetzt eine einzige ungeheure Fläche, nur unterbrochen
von einem windgeschüttelten Birkenhain, den die Axt plangemäß verschont
hatte. Er sollte später ein „Park“ werden.

Die Maschinen waren gekommen und hatten den Boden von Glückshorst, wo
früher der Wald stand, aufgerissen, zermalmt, umgegraben und gewalzt.
Tag für Tag zogen große Traktoren und Motorwalzen auf den
neugeschaffenen Straßen langsam hin und her. Auf dem Kanal waren
Frachtkähne angekommen, die Schottersteine und Schlacke brachten. Auf
diesen Straßen waren Scharen von Arbeitern beschäftigt. Am Kanal unten
entluden andere Gruppen die Kähne. Feldbahnengeleise zogen kreuz und
quer über das Gelände.

Lehmann kam in diesen Wochen kaum aus den Stiefeln. Ein Glück nur, daß
die Tage länger wurden. Er erhielt Schreiben über Schreiben aus Berlin,
Ingenieure kamen, das Telephon klingelte von früh bis nachts. Es war zum
Verrücktwerden. Natürlich drängten sie. Zuerst hatten sie ihn gelobt,
nun stellte es sich heraus, daß er eine ganze Woche zurück war. Lehmann
schrie und wetterte, und trotzdem er nur einen Arm hatte, hatte er sich
ein Fahrrad zugelegt. Auf diesem Fahrrad fuhr er den ganzen Tag hin und
her. Es ging ihm nicht mehr rasch genug.

Von dem großen Arbeitertrupp abgesondert, arbeitete ein kleines Häufchen
Männer, das Georg Weidenbach befehligte. Der General mit seinem langen
Bart war in dieser Gruppe und der krummbeinige Schlosser, der vorgab,
seinerzeit bei Wenzel Schellenbergs großem Neubau gearbeitet zu haben.
Sie schleppten Meßstangen und Meßbänder, visierten, maßen und schlugen
Pflöcke ein. Georg trug einen zerknitterten, zerweichten und
beschmutzten Plan unter dem Arm. Er hatte den Auftrag erhalten,
Glückshorst zu vermessen.

„Sie bringen mich zur Verzweiflung!“ schrie ihm Lehmann durch den
Sturmwind zu. „Diese Burschen in Berlin glauben, wir können hexen! In
drei Tagen sollen die Kähne mit dem Baumaterial kommen! Was sagen Sie
dazu. Es ist einfach verrückt!“

An diesem Abend blies der Wind so heftig, daß die freiwilligen
Postfahrer, diese Kolonne frischer Jungen, kaum auf ihren Rädern
vorwärtskamen. Von dieser Gruppe der Radfahrer löste sich einer los und
erkämpfte sich durch den Sturm den Weg bis zu Weidenbach. Er überbrachte
Georg einen Brief.

Ein Brief! Noch immer zitterte Georg, wenn er einen Brief erhielt.

Er klemmte den Plan unter den Arm und musterte im sinkenden Tageslicht
die Aufschrift: es war ein Brief von Stobwasser. Es war schon so düster,
daß Georg kaum mehr imstande war, den Brief zu lesen. Aber eines
verstand er doch sofort: der Brief enthielt eine Angabe über Christines
Aufenthalt! Georg erbleichte. Er war so erregt, daß er gute zehn
Schritte zur Seite trat. In dem Briefe war die Rede davon, daß Christine
sich an Jenny Florian mit einer Bitte gewandt hatte. Jenny Florian,
unterrichtet von Stobwasser, hatte dem Bildhauer augenblicklich
Mitteilung gemacht. Berlin, im Norden, irgendwo da draußen, die Spur war
also gefunden! Dann folgten lange Betrachtungen über das wirtschaftliche
Elend der jungen Künstler in Berlin. Georg las nicht weiter.

Ohne ein Wort zu sagen, verließ er seine Arbeitsgruppe und begab sich
raschen Schrittes zu den Baracken, zuletzt lief er. In Lehmanns Bureau
war Licht. Außer Atem, bleich und in größter Erregung, trat Georg ein
und bat um einen sofortigen Urlaub von zwei Tagen. Noch heute abend
wollte er nach Berlin.

„Aber zum Teufel mit Ihnen!“ schrie Lehmann. „Sind Sie toll geworden?
Gerade jetzt?“ Plötzlich aber hielt er inne. Sein Blick war auf Georgs
Gesicht gefallen. „Aber was ist mit Ihnen?“ fragte er voller Teilnahme.
„Wie sehen Sie aus? Setzen Sie sich! Was ist passiert?“

„Es hat sich nichts Unglückliches ereignet,“ sagte Weidenbach, und das
Blut kehrte langsam in sein Gesicht zurück. „Im Gegenteil, etwas
Glückliches oder vielleicht etwas Glückliches, es ist noch nicht ganz
sicher.“

„Um so besser,“ erwiderte Lehmann. „Natürlich, wenn es sein muß, müssen
Sie fahren, das sehe ich ein, so fatal es ist. Sie wollen also zwei Tage
Urlaub haben. Vielleicht können Sie es früher schaffen? Ich werde
unterdessen Ihre Arbeit mit übernehmen. Kommen Sie in einer Stunde zu
mir, zu einer längeren Besprechung. Daß Sie heute abend noch gehen, hat
ja keinen Sinn.“

Aus den Fenstern der Tischlerei strömte helles Licht. Unter eines dieser
Fenster stellte sich Georg, um Stobwassers Brief nochmals und aufmerksam
zu lesen. Ohne Zweifel, er hatte recht gelesen, Christines Spur war
gefunden, nicht ihre Adresse, aber doch wenigstens eine Spur! Und
endlich fand Georg auch die Sammlung, den Brief Stobwassers zu Ende zu
lesen.

„Sei glücklich, Georg,“ schrieb Stobwasser, „daß du eine Beschäftigung
hast. Vielleicht komme ich auch bald zu dir hinaus. Uns allen hier, die
wir die Fahne der Kunst noch hochhalten, geht es miserabel. Ich mache
Schnitzereien für eine Möbelfabrik, aber zu welchem Preise! Katschinsky
hat sich in den Film gerettet und scheint eine Zukunft vor sich zu
haben. Allen andern aber geht es elend.“ Und Stobwasser berichtete von
bekannten Malern und Bildhauern, die heute einen Gegenstand um den
andern verkauften und verpfändeten, um das nackte Leben zu fristen. Eine
junge Geigerin, Meisterschülerin eines berühmten Virtuosen, spielte
jeden Abend für zwei Mark im Kino. Ein bekannter Maler und Radierer
zeichnete für einige Groschen Porträts in den Kaffeehäusern. Die guten
Theater brechen zusammen, die Filme und Revuen triumphieren. „Was soll
werden?“ rief Stobwasser aus. „Die Regierungen kümmern sich nicht um
uns, die Städte, kaum noch die Zeitungen. Soll die Kunst in diesem Lande
zugrunde gehen –?“


                                   15

Im Morgengrauen ging Georg zur Station, und kurz nach Mittag sprang er,
in äußerster Erregung, aus dem Zug, um sich augenblicklich nach dem
Norden der Stadt zu begeben. Die kleine Kutscherkneipe, die Christine in
ihrem Briefe angegeben hatte, war ohne Mühe zu finden. Hier sollte der
Bote Jennys sich an ein Fräulein Pauline wenden und sagen, er käme von
Fräulein Florian.

Fräulein Pauline war ein üppiges, schlechtgelauntes Mädchen, das, die
Haare noch ungeordnet, mit schmutzigen Händen hinter dem Schenktisch
Gläser spülte. Sie gähnte und betrachtete Georg voller Argwohn, obschon
er sich Mühe gab, eine gleichgültige, uninteressierte Miene zu zeigen.

„Also Sie kommen von Fräulein Florian?“ fragte Pauline wiederum gähnend.
Und nach einigen argwöhnischen Blicken fügte sie hinzu: „Nun,
hoffentlich bringen Sie ihr etwas Gutes, sie kann es brauchen. Die Alte
hat ihr schon die Schuhe weggenommen, so verschuldet ist sie. Gehen Sie
Nummer dreiundzwanzig, im Seitenflügel drei Treppen, Agent Lederer.“

Das also war Christines Adresse! Georg taumelte die Straße entlang, und
bei Nummer dreiundzwanzig blieb er stehen. Wie oft, hundertmal hatte er
dieses Haus in seinen Träumen gesehen! Aber es sah noch erschreckender,
bedrückender aus, als seine Visionen es ihm zeigten.

Ein schmutziger Torweg, rechts eine übelriechende Roßschlächterei, links
ein leerer, verstaubter Laden mit zerbrochenen Scheiben. Der Torweg
wimmelte von krank aussehenden Kindern mit greisenhaften Gesichtern.
Verwahrloste Weiber, in Fetzen gehüllt, gingen aus und ein. Halb von
Sinnen, betäubt von dem Gestank der Roßschlächterei, gemartert von dem
Gedanken, daß Christine in einer derartigen Hölle hausen sollte,
kletterte Georg die schmale Treppe empor. Auch diese Treppe starrte von
Schmutz und war erfüllt von den üblen Gerüchen der Ausgüsse und
schmutziger Küchenlöcher. Und wieder Kinder, krank, verkommen, auf
dünnen verkrümmten Beinen, Lumpen, hustende Frauen und hier und da das
fahle Gesicht eines Mannes mit finsterer Miene. Das ganze Haus bebte von
Geschrei, Lärm und zugeschlagenen Türen. Es schien von Hunderten von
Familien bewohnt zu sein, die die große Stadt ausgestoßen hatte, damit
sie hier verkamen. Ein dickes Frauenzimmer, ein gewaltiger Klumpen
Fleisch, in zerrissener Jacke, ging an ihm vorüber und stieß ihn derb
an, während sie ihn mit frechen verquollenen Augen musterte und lachte.

Georg war gestärkt durch den langen Aufenthalt im Freien. Die Arbeit
hatte ihn gestählt. Er war an manches gewöhnt, und doch begann er in
dieser Höhle des Elends zu zittern.

„Mut! Mut! Vorwärts!“ rief er sich zu.

Vor einer mit einem Schild „Lederer, Agent“ bezeichneten schmutzigen Tür
angelangt, nahm er seine ganze Kraft zusammen und klopfte einmal,
zweimal. Dann lauschte er angestrengt, ob sich drinnen etwas rege. Und
während er lauschte, schien der Lärm des Hauses sich zu verzehnfachen.

Endlich wurde der Riegel zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich. Ein
junger Mensch, fast noch ein Knabe, mit stechenden, frechen Augen
erschien. Sein Gesicht war fahl, glänzend, als sei es mit Schweiß
bedeckt. Er trug keinen Kragen, sein Hemd war schmutzig.

„Sie wünschen?“ fragte der junge Mann frech und kurz. Neben ihm tauchte
argwöhnisch das Gesicht einer aufgedunsenen Frau mit grauen, wirren
Haaren auf. Sie war klein, dick, zwischen den Augen hatte sie eine lange
Narbe, als habe man ihr einmal mit dem Beil das Gesicht gespalten.

Nun gilt es, dachte Georg, der beinahe die Besinnung verlor. Er
verbeugte sich höflich und sagte, daß er von Fräulein Florian käme und
Fräulein Christine März einen Brief zu übergeben habe.

„Endlich,“ keifte die aufgedunsene Frau. „Wir werden froh sein, wenn wir
sie endlich los sind. Bringen Sie Geld?“

„Ja, ich bringe Geld.“

Der junge Mensch wies Georg in einen schmalen, dunklen, übelriechenden
Korridor. Georg, fast von Sinnen, konnte sich später niemals mehr an
Einzelheiten erinnern. Aber er erinnerte sich, daß folgendes geschah:

Er klopfte an irgendeine Tür, und irgendeine ferne, fremde, unwirkliche
Stimme sagte: „Herein!“ Es war nicht Christines Stimme. Es war ein
fremdes, verwahrlostes Mädchen, das in einer armseligen Kammer auf einem
niedrigen, schmalen Eisenbett saß und einen zerrissenen Strumpf stopfte,
blaß, schwindsüchtig, mit großen, glühenden Augen. Fast wie eine
Wahnsinnige sah sie aus. Sie heftete die großen, glühenden, schwarzen
Augen auf ihn, regungslos ... auch die Hände, die Strumpf und Nadel
hielten, blieben ganz in der gleichen Haltung. So saß sie und staunte
ihn an, wie eine Wachsfigur. Wie lange? Georg konnte es niemals sagen.

Aber er erinnerte sich, daß er ganz plötzlich auf dieses fremde,
regungslose Mädchen, das ihn anstarrte, zuschritt und vor ihr in die
Knie fiel: es war doch Christine.

Er streckte in seiner Verzweiflung die Hände nach ihr aus. „Bist du
krank, Christine?“ fragte er, aber er hörte nicht einmal selbst seine
Stimme.

Christine saß ohne jede Bewegung, blickte ihn mit fiebernden Augen an,
ohne Regung. Er flüsterte ihren Namen, aber sie regte sich nicht. Er
stammelte verwirrte Fragen in seiner Seelenangst. Sie schwieg. Er griff
nach ihrer Hand, sie zog die Hand zurück. Fast wäre er verzweifelt. Nie
in seinem Leben erlebte er solch fürchterliche Minuten. Er war dankbar,
daß er sich später nicht mehr an die Einzelheiten erinnerte; nur ein
Entsetzen blieb in seinem Herzen zurück, unauslöschlich und für immer.

Ein Gesicht an der Türe schreckte ihn auf, ein Gesicht, das ein Axthieb
gespalten hatte, mit einem großen und einem kleinen Auge, das große
gespenstisch, geisterhaft, das kleine tierisch und frech. Eine grelle
Stimme keifte und zeterte: daß sie zu arm sei, fremde Leute zu
unterhalten und daß sie beabsichtigt habe, Christine heute vor die Tür
zu setzen. Dies und ähnliches keifte die Stimme, noch heute hatte Georg
ihren entsetzlichen Klang im Ohr.

Nun aber, nun ereignete sich das Überraschendste, etwas gänzlich
Unerwartetes – und gerade diese Überraschung, es gibt kein Wort dafür,
gab Georg augenblicklich, auch das ist merkwürdig, die Klarheit der
Sinne zurück. Von diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an jede
Einzelheit.

Christine lächelte plötzlich – oder besser gesagt – sie machte den
Versuch, zu lächeln. Ein krankes Lächeln breitete sich langsam über ihr
Gesicht aus. Dann wandte sie sich mit einer ganz langsamen, unsagbar
zärtlichen Bewegung zu dem Kopfkissen des armseligen Bettes, schlug die
Decke zurück: und Georg erblickte plötzlich den Kopf eines kleinen
Kindes. Mit einer zärtlichen Bewegung nahm Christine mit beiden Händen
das in einen Lappen gewickelte Kind und streckte es ihm entgegen.

„Hier ist es,“ flüsterte sie.

„Was ist das?“ stammelte Georg.

„Es ist dein Kind,“ flüsterte Christine, und wieder versuchte sie zu
lächeln.

„Mein Kind?“ schrie Georg. „Wie ist das möglich? Wie soll ich das alles
verstehen?“ Und er stürzte sich auf das Kind, nahm es aus Christines
Händen und drückte es gegen die Brust.

Das Gesicht an der Türe lachte schallend.

Von diesem Augenblick an war Georg wieder völlig Herr seiner Sinne. Er
beschwor Christine, mit ihm zu kommen. Sie begann zu zittern. Ihr Blick
irrte voller Angst zur Türe.

„Nimm mich fort von hier!“ flüsterte sie, leise, voller Furcht, die Alte
könne es hören. Da wandte sich Georg gegen die Türe und trat auf die
Alte mit dem gespaltenen Gesicht zu.

„Ich verlange eine Erklärung!“ rief er. „Was geht hier vor? Was bedeutet
das alles?“

Die Alte keifte. Sie überschüttete Georg mit Schmähungen, sie
beschimpfte Christine mit den unflätigsten Worten. Sie hätte nichts
dagegen, daß er die „Dame“ mit sich nähme – oh, ganz im Gegenteil –,
aber erst hieße es bezahlen. Schulden, Geld – zweihundert Mark, eine
Unsumme! Zweihundertfünfzig Mark! Unmöglich!

Christines Blick, das in Lumpen gehüllte Kind – Georg stürzte aus dem
Hause wie von Peitschenhieben vorwärts getrieben.


                                   16

In Schweiß gebadet traf er vor Stobwassers Werkstatt ein.

Er war so von Sinnen, daß er die Tür aufklinkte, bevor Stobwasser noch
auf sein Pochen antworten konnte. Er stürzte in die Werkstatt und
prallte zurück: Ein junges, nacktes Mädchen lag auf einem kleinen Sofa.
Stobwasser stand und modellierte eifrig.

„Du mußt helfen, Stobwasser!“ schrie Georg, dessen Hände flogen. „Helfen
mußt du!“ Er zerrte den Bildhauer in den Hof hinaus und erzählte wirr,
atemlos, unzusammenhängend.

Aber das Herz eines Freundes ist wie das einer liebenden Frau, und
Stobwasser verstand sofort alles.

Er blieb mit gespreizten Beinen stehen, den Kopf gesenkt, und dachte
nach. „Wir werden Rat schaffen,“ sagte er. „Die Hauptsache ist nur, daß
du dich beruhigst, Weidenbach.“

„Oh, ich bin sehr ruhig,“ erwiderte Georg mit einem abwesenden Lächeln.
Er zitterte am ganzen Körper. Er strich sich über das Gesicht, und seine
Hand war so naß, als habe er sie in Wasser getaucht.

Stobwasser nahm Hut und Mantel. „Sie können sich anziehen,“ sagte er zu
dem Modell, und sie gingen.

„Nicht so schnell!“ rief er Georg zu, der schon wieder zu laufen begann.
„Wir wollen es bei Katschinsky versuchen. Oh, wie ich meine Armut
verfluche!“ schrie er laut. „Für sich allein arm zu sein, was bedeutet
es? Aber – oh, wie ich meine Armut verfluche!“

Katschinsky hatte die Wohnung gewechselt. Seit seinen Erfolgen beim Film
wohnte er in einer großen Pension im Westen. Unglückseligerweise hatte
er Besuch. Er kam in die Diele, runzelte die Stirn, als er die beiden
keuchenden Freunde sah, denen der Schweiß auf der Stirn stand. Er trug
einen Hausanzug aus dunkelblauer Seide und schwarze Hausschuhe aus
Lackleder.

„Was gibt es?“ fragte er und ließ sich in einem Korbsessel der Diele
nieder. Aber augenblicklich stand er wieder auf. „Zweihundertfünfzig
Mark!“ rief er aus. „Ich habe keinen Pfennig, nur Schulden!“

„Du mußt das Geld schaffen!“ schrie Stobwasser.

Katschinsky runzelte wieder die Stirn und verzog die Lippen zu einem
spöttischen Lächeln. „Wie soll ich eine so große Summe herbeischaffen?“
fragte er. „Sagt doch selbst.“

„So gib alles, was du hast!“ rief Stobwasser. „Wir werden es
verpfänden!“

Katschinsky zuckte die Achseln und wandte sich der Tür zu. „Ich habe
leider keine Zeit mehr,“ sagte er hochmütig. „Ich habe Damenbesuch.“

„Du bist ein Schuft!“ schrie Stobwasser, als Katschinsky die Tür schon
geschlossen hatte.

Sie wischten sich beide den Schweiß von der Stirn.

„Dann wollen wir es bei Jenny selbst versuchen,“ riet Stobwasser und
stürzte die Treppe hinab.

Im feierlichen Foyer des Hotels, wo sorgfältig gekleidete Damen und
Herren still in Klubsesseln saßen, mißbilligte der Portier ihre Eile und
Hast. „Es ist dringend,“ sagte Georg und eilte die Treppe empor.

Jenny war zu Hause, welch ein Glück! Aber der Page machte sie darauf
aufmerksam, daß Fräulein Florian Besuch habe. „Herr Schellenberg ist
soeben gekommen,“ verkündete er voller Ehrfurcht.

„Wir lassen bitten, es ist in dringender Angelegenheit,“ sagte
Stobwasser, und der Page klopfte zögernd und scheu an Jennys Tür. Nach
geraumer Weile verschwand er.

Es vergingen nur wenige Minuten, da kam Jenny heraus auf den Flur. Sie
hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und ging mit leichten,
tänzelnden Schritten, aber ganz langsam, auf die beiden zu.

„Was gibt es?“ fragte sie mit einem schönen Lächeln. „Und wer ist das?
Sind Sie es, Weidenbach?“

„Was es gibt?“ fragte Stobwasser und erzählte hastig.

Jenny dachte nach. Sie zog an der Zigarette, schüttelte den Kopf,
blickte zu Boden. „Wie peinlich,“ sagte sie. „Ich habe kein Geld. Es ist
fast Monatsende. Aber wartet, es wird sich Rat finden. Ich hoffe es.“

Mit denselben langsamen tänzelnden Schritten ging sie in ihr Zimmer
zurück. Nach wenigen Minuten erschien sie wieder und hob triumphierend
drei Geldscheine in die Höhe. „Nun, seht ihr!“ rief sie freudig aus.
„Oh, Weidenbach, wie freue ich mich, Ihnen gefällig sein zu können!
Grüßen Sie Christine.“

Schon stürzten die beiden die Treppe hinab.

„Wir werden ein Auto nehmen!“ entschied Georg.

Drei Stunden, nachdem Georg Christine verlassen hatte, war er schon
wieder zurück. „Ich bringe das Geld!“ rief er dem grauhaarigen Weib mit
der gespaltenen Stirn zu, indem er sich den Schweiß von der Stirn
wischte.

Aber die Alte hatte es sich anders überlegt. „Es sind nur
zweihundertundfünfzig Mark! Es sind aber mehr als dreihundert Mark!“
keifte sie. „Wir haben uns barmherzig erwiesen, und das ist nun der
Dank!“

Da aber verwandelte sich Georg plötzlich. Er schwang die Faust und
machte Miene, sich auf die Alte zu stürzen. Stobwasser hatte ihn nie so
gesehen. „Wir geben nicht mehr! Wir können nicht mehr geben! Das ist
alles, was wir aufbringen konnten!“ schrie Georg mit drohender Gebärde.
Und nun willigte die Alte ein, daß Christine die Wohnung verlassen
könne.

Aber Christine war so schwach, daß sie nicht imstande war, die Treppe
hinabzugehen. Georg nahm sie auf den Arm und trug sie hinunter.
Stobwasser kam hinterher mit dem Kinde, das in einen alten Lappen
gewickelt war. Der junge Mensch und das alte Weib mit der gespaltenen
Stirn schrien freche Scherze in das Stiegenhaus hinab.

Sie fuhren nach Stobwassers Werkstatt.

„Es ist ein Glück, daß ich heute geheizt habe!“ rief Stobwasser vergnügt
aus und rieb sich die Hände. „Ich heize nur, wenn ich Modell habe.“

Der Bildhauer schürte den Ofen, daß das rostige Rohr, das durch die
Werkstatt führte, zu krachen begann. Er kochte Tee. Dann stürzte er aus
dem Hause, um das Abendbrot einzukaufen. Brot, Butter, Eier und sogar
ein Viertel Schinken besorgte Stobwasser.

„Nun wird es gemütlich bei uns!“ rief er vergnügt aus, und auf seinen
Wangen erschienen rote Flecke vor Eifer. „Es ist selbstverständlich, daß
ihr bei mir übernachtet, wo solltet ihr hin? Wir werden uns schon
zurechtfinden. Und Sie, Christine, Sie sollen sich ausruhen,“ sagte er,
während er den Tisch abräumte, einige Zeitungen über die schmutzige
Tischplatte breitete und das Abendbrot servierte.

Christine schwieg noch immer. Georg und Stobwasser hatten sie genötigt,
sich auf Stobwassers Bett auszustrecken. Da also lag sie nun, bleich und
still, die fiebernden Augen zur Decke gerichtet, das Kind an ihrer
Seite. Sie wiegte nur unmerklich den Kopf hin und her, wenn Georg eine
Frage an sie richtete. Ihre Lippen zuckten verquält, und wenn er sie
berühren wollte, so ging ein Zittern über ihren ganzen Körper.

Stobwassers Tiere hatte der große Besuch unruhig gemacht. Die Vögel
sprangen neugierig in ihren Käfigen hin und her. Der Kakadu knarrte und
streckte den Kopf durch das Gitter. Der grüne Papagei turnte an seinen
Ringen und schlug mit den Flügeln. Die pechschwarze Katze aber saß auf
dem Bettpfosten und starrte mit ihren großen grünen Augen unaufhörlich
auf das kleine Kind. Das Kind begann zu schreien, und Christine reichte
ihm die Brust. Sie neigte dabei leicht den Kopf, und ein unmerkliches
Lächeln lag auf ihrem bleichen Gesicht. In dieses Gesicht hatte das
Schicksal Furchen und Linien geschrieben, so daß Christine um zehn Jahre
gealtert schien. Sie trank eine Tasse Tee, dann lag sie wieder still und
sah zur Decke empor. Bald schlief sie erschöpft ein.

Stobwasser und Georg saßen still. Der Bildhauer rauchte seine Pfeife,
und nur zuweilen flüsterten sie einige Worte.

„Was ist mit ihr?“ fragte Stobwasser leise.

„Ich weiß es nicht, sie ist krank.“

„Nun, es wird alles gut werden.“

„Und das Kind, Stobwasser? Was sagst du zu meinem Kinde?“ Georgs Augen
glänzten. „Mein Kind!“

„Es ist in der Tat ein sehr schönes Kind,“ antwortete Stobwasser voller
Überzeugung. „Ein außerordentlich schönes und genial aussehendes Kind!“

Und wieder schwiegen sie lange, und jeder dachte seine eigenen Gedanken.


                                   17

Früh am nächsten Morgen begab sich Georg in das Bürohaus
„Neu-Deutschland“, um dem Referenten seine Bitte vorzutragen, Christine
und das Kind nach Glückshorst mitnehmen zu dürfen.

Der Umbau des Bürohauses der Gesellschaft schien nahezu beendet zu sein.
Es wimmelte von Menschen. Boten und Beamte eilten hin und her. In den
Vorhallen standen Scharen von Männern, abgerissen und bleich, die Arbeit
suchten.

Der Referent schüttelte den Kopf, als er Georg angehört hatte. „Es ist
unmöglich,“ sagte er. „Die Siedlung ist ja erst im Bau. Ich würde es ja
gerne tun, mißverstehen Sie mich nicht. Welch ein Jammer und welch ein
Elend!“ rief er aus. „Können Sie begreifen, daß ich oft verzweifle?
Solche Fälle wie den Ihrigen höre ich täglich hundertmal. Das Elend
strömt zu diesem Hause herein wie eine Flut, und diese Flut steigt mir
bis an die Lippen! Ich werde versuchen, Herrn Schellenberg oder einen
seiner Sekretäre zu erreichen.“ Der Referent telephonierte.

Michael Schellenberg aber hatte soeben sein Büro verlassen und wollte
wegfahren. Welch ein Verhängnis! „Folgen Sie mir,“ sagte der Referent
eilig. „Vielleicht treffen wir ihn noch.“

Als sie auf den Flur traten, kam Michael soeben die Treppe herab. Er
schien es sehr eilig zu haben. Der Referent trat auf ihn zu und trug ihm
in aller Kürze Georgs Bitte vor. Michael schüttelte den Kopf und ging
rasch weiter. Als er an Georg vorüberkam, sah er ihm in die Augen und
blieb eine Sekunde stehen.

„Handelt es sich um Sie?“ fragte er.

„Ja,“ erwiderte Georg, „um mich. Ich würde herzlichst bitten –“

Michael zog die Uhr. „Ich habe mich schon verspätet,“ sagte er und
runzelte die Stirn. „Ich muß ins Ministerium. Kommen Sie mit mir. Sie
können mir ja unterwegs den Fall vortragen.“ Hastig und ungeduldig schob
er den zögernden Georg ins Auto, und der Wagen fuhr ab.

Georg erzählte rasch seine Geschichte, während Michael ihn mit klaren
prüfenden Augen anblickte.

„Es ist gut,“ sagte Michael, als Georg geendet hatte. „Nehmen Sie
Fräulein März und das Kind getrost mit nach Glückshorst. Und werden Sie
recht glücklich,“ fügte er hinzu, indem er Georgs Hand schüttelte. Er
klopfte ans Fenster. Der Wagen hielt, und Georg stieg aus.

Rasch machte Georg für Christine und das Kind die allernötigsten
Einkäufe, und dann fuhren sie ab.

Christine fügte sich willig. Sie hatte nur eine Bedingung gestellt, daß
er, Georg, nie eine Frage an sie richte. Sie selbst werde ihm einst
alles erzählen.

Als es dämmerte, kamen sie in Glückshorst an. Eine Weile standen sie
verlegen auf der Straße. Der Wind blies. Christine hielt das in eine
Decke gehüllte Kind auf den Armen, dann erstattete Georg Lehmann Bericht
und übergab Christine und das Kind der Fürsorge der Mutter Karsten. „Was
für ein schönes Kind!“ rief die Alte aus und hob das Kind in die Höhe,
um das Geschlecht festzustellen. „Ein Knabe! Wie heißt er?“

„Er heißt Georg,“ sagte Christine.

„Etwas bleich sieht Ihre kleine Frau aus,“ sagte Mutter Karsten dann zu
Georg. „Aber wir werden sie schon herausfuttern.“

Der Schlächter-Moritz streckte den dicken Kopf in die Tür, dann
überbrachte er der Baracke die Neuigkeit. Aber die Männer regten sich
nicht im geringsten darüber auf. Eine Frau, ein Kind, was war weiter
dabei?

„Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit, Weidenbach,“ sagte Lehmann.
„Morgen früh fangen wir mit den Häusern an.“


                                   18

Es war kaum richtig Tag, da rief Lehmann schon zur Arbeit. Fünfhundert
Häuser sollten vorläufig in Glückshorst errichtet werden, und die
Gesellschaft hatte Lehmann wissen lassen, daß sie keinen Spaß verstehe.
Kein Wunder, daß der Einarmige etwas erregt war und zur Eile antrieb.

Bauplätze, Straßen, alles war genau vermessen und durch Pflöcke
gekennzeichnet. Als die Sonne über dem Walde heraufkam, wimmelte es
schon von Arbeitergruppen im Gelände. Georg führte jene Gruppen, die den
Grund der Häuser aushuben. Siebzig Zentimeter tief und siebzig
Zentimeter breit mußte der Boden für die Grundmauern ausgehoben werden.
Bis auf wenige Gebäude waren die Häuser alle gleich groß. Sie waren zehn
Meter lang und viereinhalb Meter breit. Georgs erste Arbeitsgruppe trug
besondere Meßlatten mit sich; ihre Aufgabe bestand darin, den Grundriß
des Aushubs mit dem Spaten genau vorzuzeichnen. Die zweite Gruppe hob
die Erde bis zur vorgeschriebenen Tiefe aus, und der dritten
Arbeitsgruppe lag die Aufgabe ob, die Arbeit der früheren Gruppen
sorgfältig nachzuprüfen und auszugleichen. Vom Kanal aus hatte Georg die
Arbeit aufgenommen, und schon am Nachmittag wurden Geleise für die
Karren gelegt, die das Baumaterial von den Kähnen herauf befördern
sollten, und schon am nächsten Morgen wurde mit dem eigentlichen Bau
begonnen. Die Arbeit war ganz ähnlich eingeteilt, wie die des Aushubs
der Erde. Jede Kleinigkeit war vorgesehen und vorbereitet. Die
Betonmischmaschine des Schleppkahns begann zu arbeiten, und schon
rollten die Karren über das Gelände, die die Betonmassen zu den
Baustellen beförderten. Aus Brettern gefügte Gehäuse wurden in die
Ausschachtungen gesetzt und mit Beton vollgeschüttet. So ging es von
Haus zu Haus. Und während oben die Arbeitsgruppen noch beschäftigt
waren, die Erde auszuheben, wurden unten am Kanal bereits die
Grundmauern gestampft.

Lehmann hatte gegen zweihundert Arbeiter zur Verfügung, dazu war noch
eine Gruppe gelernter Bauarbeiter gestoßen, die diese Arbeit in anderen
Siedlungen schon hundertfach ausgeführt hatte. Mit der Gleichmäßigkeit
und Präzision einer Maschine bewegten sich Lehmanns Arbeitsgruppen über
das Baufeld. Nicht die geringste Störung entging ihm, nicht der
geringste Aufenthalt. Der Schweiß lief den Männern übers Gesicht.

Unnötig zu sagen, daß der Schlächter-Moritz, dieser Berg von Muskeln, in
diesen Tagen wahre Wunder verrichtete. Es war in der Tat unbegreiflich,
mit welcher Schnelligkeit er sich in die Erde einwühlte. Später übergab
ihm Lehmann die Kolonnen, die die Betonmassen einstampften, und nun
hörte man Moritz vom frühen Morgen bis zum späten Abend brüllen. Nichts
ging ihm schnell genug.

Schon aber schob sich auf dem stillen Kanal ein neuer eiserner Kahn
heran, der weiteres Material brachte. Es waren Zementrahmen, aus denen
die Hauswände zusammengestellt wurden, ganz ähnlich den Abmessungen des
früheren Holzfachwerks. Diese Rahmen waren etwas über zwei Meter hoch
und einen Meter breit. Eine Type von Rahmen enthielt eine Öffnung für
die Türe, eine andere Type Ausschnitte für die Fenster.

Alles war Typ, alles war Norm, jede noch so unscheinbare Einzelheit. Die
Gesellschaft baute Häuser, wie man Fahrräder oder Automobile serienweise
fabriziert.

Es begann das Aufrichten und Ausloten des Rahmenwerks, das
Zusammenfügen. Diese Zementrahmen für die Außenwände und die Querwand,
die jedes Haus in zwei Räume teilte, wurden in besonderen über das ganze
Land verstreuten Zementfabriken der Gesellschaft hergestellt. Das
Ausmauern des Rahmenwerkes aber war eine Arbeit, die selbst jeder Laie
leicht unter der Anleitung eines geschulten Vorarbeiters ausführen
konnte. Die Maschine preßte die Mauersteine aus dem Material, das sie an
Ort und Stelle vorfand.

Ein neuer Kahn kam den Kanal herauf. Er brachte Holz, Balken, Bretter.
Schon sah man reihenweise die Skelette von neuen Gebäuden stehen.
Während die Häuser aus der Erde wuchsen, erkannte man deutlich Straßen,
Nebenstraßen und die Abmessung der Gärten.

Die Zimmerleute kletterten in den Dachgestühlen. Die Äxte blitzten, und
es dröhnte von allen Seiten. Es kamen Ingenieure aus Berlin zur
Inspektion und gingen wieder. Lehmanns Gesicht strahlte vor Freude. Die
Stadt wuchs empor. Täglich sah man, wie sie sich ruckweise aus dem Boden
hob.

Immer noch kämpfte der Schlächter-Moritz seinen heroischen Kampf mit den
Betonmassen vom frühen Morgen bis in die späte Nacht.

„Wollen Sie hier eine Schlächterei errichten?“ fragte ihn Lehmann eines
Tages.

Der Schlächter warf sich in die Brust: „Ich?“ erwiderte er, während er
sich mit dem bloßen Arm den Schweiß vom Gesicht strich. „Ich habe kein
Geld, ich habe kein Kapital.“

„Das wird sich alles finden. Wenn Sie wollen, Moritz, ist die Sache
abgemacht.“

Das Wetter war in den letzten Wochen herrlich gewesen. Es wehte ein
würziger, lauer Wind, und die Sonne wärmte schon gehörig.

Wenn man nun gegen Glücksbrücke blickte, wo es ebenfalls von
Arbeiterhaufen wimmelte und ganze Häuserreihen aus dem Boden wuchsen,
wenn man etwas schräg gegen das Licht blinzelte, so sah man, daß die
riesige weite Heide von einem grünen Hauch übersponnen war: die Saat kam
heraus.

Eines Abends ließ Lehmann Georg in dringender Angelegenheit zu sich
rufen. Georg fand ihn in angeregter Laune, mit roten Backen. Seine
Pfeife paffte doppelt so heftig wie gewöhnlich.

„Nun ist also dieser Brief gekommen!“ rief er Georg entgegen und lachte
fröhlich.

„Welcher Brief?“

„Setzen Sie sich, Weidenbach. Die Stunde des Abschieds hat geschlagen.
Meine Arbeit hier ist zu Ende. Ich bin auf einen schönen und
interessanten Posten aufgerückt, und nun richte ich die Frage an Sie:
Weidenbach, wollen Sie der Chef dieser Station werden?“

Georg saß mit offenem Munde da und errötete. „Sie meinen, ich?“

Lehmann nickte: „Sie meine ich, jawohl, Weidenbach. Es ist meine
Pflicht, meinen Nachfolger zu bestimmen. Sie müssen sich auf fünf Jahre
verpflichten bei der Gesellschaft, das ist alles. Das Gehalt ist gering,
aber die Gesellschaft bietet Ihnen für später große Vorteile.“

„Es ist mir nicht um Geld zu tun,“ warf Georg ein.

„Ich weiß es. Sie sind der Verständigste hier. Sie haben auch die größte
Begeisterung für die Sache, und das ist es, was die Gesellschaft
braucht: Männer, die sich für ihre Ziele begeistern! Wir können keine
ängstlichen, verzagten und mürrischen Burschen brauchen!“ schrie Lehmann
und schlug auf den Tisch, daß die Papiere sprangen. „So ist es, also
schlagen Sie ein?“

„Ich schlage ein!“

„Nun, dann wollen wir ein Gläschen zum Abschied trinken, Weidenbach,
mein lieber Kamerad,“ sagte Lehmann. Er nahm eine Flasche aus dem
Schrank und goß die Gläser voll. „Sie waren von Anfang an dabei, und Sie
haben beobachtet, wie es sich abspielt. Es gehört viel Takt dazu,
Menschenkenntnis, hier Nachsicht und dort Strenge. Sie wissen, es kommen
Menschen, verbrauchte Menschen, zu uns, die sich auf dem Pflaster krank
gelaufen haben, und ein wesentlicher Teil unserer Aufgabe besteht darin,
ihnen wieder Lebensmut einzuflößen. Deshalb müssen Sie da und dort
nachsichtig sein. Ein gutes Wort tut einem verprügelten Hund wohl, und
da und dort Strenge, und da und dort unerbittlich: hinaus mit dir.
Beobachten Sie, und wenn es nicht geht: hinaus.

Tausende, Weidenbach, Tausende von jungen Leuten wie Sie und ich
arbeiten in der Gesellschaft Neu-Deutschland, arm wie die Kirchenmäuse,
aber freudig am Werk. Die Ärzte, die Zahnärzte, die Ingenieure, die
Baumeister, Chemiker, Landwirte, Architekten, wir alle arbeiten für
einen Hundelohn, aber wir arbeiten für eine Sache. Sie kennen ja die
Parole der Gesellschaft: ‚Tod dem Hunger!‘ Sie wissen ja, diese Parole
hat Michael Schellenberg erfunden. Was er will, ist Ihnen klar, aber der
Hauptzweck, den er verfolgt, ist der, eine neue Volksgemeinschaft zu
schaffen. Warten Sie ein Jahr, warten Sie zwei Jahre, die Gesellschaft
rollt wie eine Lawine über ganz Deutschland. Bald wird dieses arme und
mutlose Land wieder zu brausen beginnen.

Und hören Sie, Weidenbach, Sie werden die Siedlung ausbauen, und Sie
werden sich aus den Leuten, die Sie haben, die besten auswählen, sie
sollen den Kern der Siedlung bilden. Menschen wie Moritz und die Mutter
Karsten und der Schlosser eignen sich prachtvoll dazu. Sie werden mit
großer Umsicht vorgehen müssen, um den Stamm zu schaffen. Man wird Ihnen
ja dann von der Zentrale erprobte Kräfte zuweisen. Und nun, gute Nacht,
Weidenbach. Morgen ist wieder ein heißer Tag. Morgen mittag werde ich
euch allen Lebewohl sagen.“

In der Mittagspause des folgenden Tages stellte Lehmann Georg als den
neuen Chef der Station vor. Dann hielt er eine kurze Ansprache, brachte
ein Hurra aus auf das Gedeihen der Gesellschaft und schwang den Hut.

Die Männer brüllten und schüttelten ihm die Hand, und nun ging er.

„Da also geht er, er war ein netter Bursche!“


                                   19

„Was sagst du dazu, Christine?“ sagte Georg. „Ich bin Chef der Station
geworden.“

Christine hob den fieberischen Blick und lächelte leise. „Ich freue mich
für dich,“ sagte sie. Sie saß vor der Küche in der Sonne und schnitt
Kartoffeln in Scheiben, die sie in einen Topf voll Wasser fallen ließ.
Ihr zu Füßen saß der kleine Georg, in eine alte Decke eingehüllt. Frisch
und reizend blickte sein kleiner zarter Kopf aus der derben Decke.

In der Mittagspause oder am Abend nahm Georg häufig das Kind auf den Arm
und trug es durch das Lager, oder auch Moritz nahm das Kind oder
irgendein andrer.

„Ah, da ist ja der kleine Georg!“ riefen die Männer und nahmen mit
zartem Griff der rauhen Arbeitshände das kleine Händchen des Kindes. „Da
bist du ja, und wie er wächst und gedeiht.“

Das Kind gehörte dem ganzen Lager. Es war ihr gemeinschaftliches Kind.

Christine schwieg noch immer. Sie war noch so blaß wie an dem Tage, da
Georg sie ins Lager gebracht hatte. Aber dieser bläuliche Glanz in den
eingesunkenen Wangen und an den Schläfen war verschwunden. Und das
kalkige Weiß der Ohren, das Georg so sehr erschreckt hatte, denn er
befürchtete, daß Christine schwindsüchtig geworden sei, war einem zarten
Elfenbeingelb gewichen. Oder sollte er sich täuschen? Aber auch Mutter
Karsten war seiner Meinung.

„Sie sieht besser aus,“ sagte die Alte. „Und sie hustet nicht mehr so
fürchterlich in der Nacht.“

Am Tage hustete Christine selten. Auch die hektischen Flecken, die er
dann und wann in ihrem Gesicht beobachtet hatte, zeigten sich immer
seltener.

„Hast du Fieber?“ fragte er sie und nahm ihre Hand in seine Hände.
„Frierst du? Soll ich dir eine Decke umlegen?“

Christine schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem dankbaren Blick an.

Wie glücklich war er, daß dieser starre und abwesende Glanz ihrer Augen
verschwunden war. Immer hatte sie ihn angesehen, als wäre sie nicht bei
ihm, als sei sie in einer fernen unbekannten und fürchterlichen Welt.
Nun schien es, als ob ihr alter Blick langsam in die Augen zurückkehre.

Täglich machte Christines Genesung Fortschritte. Sie fing an, sich für
die Arbeit ringsum, die sie sonst kaum beachtet hatte, zu interessieren.

„Was macht ihr hier?“ fragte sie eines Tages ganz unvermittelt.

„Wir bauen eine Stadt mit großen Werkstätten und Fabriken,“ erwiderte
Georg, froh erregt über ihr Interesse. „Ganz allmählich wird die Stadt
entstehen. Sie soll später fünftausend Menschen beherbergen. Und auch
dort hinten, siehst du, wo die kleinen Pünktchen hin- und hereilen, auch
dort wird eine Stadt für fünftausend Menschen errichtet.“

Christine begann zuweilen hin- und herzugehen, zerstreut und
geistesabwesend; dann stand sie still und blickte in die Sonne empor. An
den Sonntagen machten sie häufig mit Georg einen kleinen Spaziergang in
den Wald hinein, der stehen geblieben war. Aber Christine wagte sich
nicht weit von der Straße.

„Nein,“ sagte sie, „kehren wir zurück.“

Eines Tages beobachtete sie Georg, ohne daß sie ihn bemerkte, wie sie
mit dem Kinde spielte. Sie kniete auf der Erde und ließ das Kind, dessen
kleinen Körper sie mit den Händen zärtlich hielt, auf der Erde tanzen
und flüsterte ihm leise und zärtliche Worte zu. Sie lächelte dazu, und
plötzlich erkannte Georg in ihrem Gesicht Christines frühere Züge
wieder. Nun wußte er, daß sie gerettet war.

Weshalb schwieg sie? Weshalb sprach sie nicht?

Er deutete über die weite Fläche, die sich bis zu dem Gewimmel von
Glücksbrücke dehnte. Sie war nun smaragdgrün geworden, und weich und
zärtlich lag die Sonne darauf.

„Sieh, wie herrlich grün es ist!“ rief Georg aus. „Vor einem halben
Jahre war hier nichts als Sand und Gebüsch.“

Weshalb aber sprach sie nicht, weshalb schwieg sie? Sie fühlte Georgs
Blick auf sich gerichtet. Sie fühlte immer die gleiche Frage in seinem
Blick.

Eines Tages sagte sie mit einem leisen Aufseufzen zu ihm: „Bald werde
ich dir alles sagen,“ und leiser fügte sie hinzu: „und dann werde ich
wohl gehen müssen.“

„Weshalb gehen?“ fragte Georg erschrocken.

„Frage nicht, ich werde sprechen, wenn die Zeit gekommen ist.“ –

Auf der Landstraße kamen zwei Lastautos angerollt. Sie waren hoch
beladen, und es sah aus, als brächten sie einen ganzen Wald. Das waren
Bäume, Obstbäume, Sträucher, Stauden für die Gärtnereien von
Glückshorst.

Die Gärtnereien und Baumschulen bildeten das Herz aller Siedlungen.


                                   20

Das Verwaltungsgebäude der „Gesellschaft Neu-Deutschland“ in der
Lindenstraße summte wie ein Bienenstock im Hochsommer. Tausende von
Menschen strömten täglich ein und aus. In all den hundert Abteilungen
schwirrte die Arbeit, und überall sah man fröhliche, hoffnungsfrohe
Gesichter.

Schon am frühen Morgen standen die Scharen der Arbeitsuchenden vor dem
Gebäude und warteten auf das Öffnen der Tore. Die Aufnahmesäle
vermochten kaum die Massen zu fassen. Nun da der Umbau fertig war,
konnten alle Einrichtungen mustergültig genannt werden. Die Angeworbenen
passierten die Zimmer der Ärzte, die sie sorgfältig untersuchten. Ihr
Urteil bestimmte die Tätigkeit, leichtere oder schwerere Arbeit. An die
Zimmer der Ärzte stießen Badesäle mit Duschen und Desinfektionsräume, in
denen die Kleidungsstücke der Angeworbenen gereinigt wurden. Michael
Schellenberg ging gegen Schmutz und Krankheitskeime mit allen
erdenklichen Mitteln vor.

In der Nacht aber blendete von der Fassade des Gebäudes in riesigen
gleißenden Lettern der Wahlspruch der Gesellschaft:

   Tod dem Hunger!
   Tod der Krankheit!
   Es lebe die Kameradschaft!

Jede Nacht leuchtete diese Parole in die dunkeln Straßen hinaus, wie ein
Leuchtfeuer in die Finsternis des Meeres. Tausenden und Abertausenden
von erschöpften, ermatteten, kranken und verzweifelten Menschen hatte
dieses flammende Licht den Weg zur Rettung gewiesen.

Michael Schellenberg war es ernst mit dieser Parole: in Wahrheit, es
sollte keinen Hunger mehr geben auf Erden! Es war ja unsinnig, daß auch
nur ein Mensch hungerte, setzte man alle Kräfte richtig ein. In
Wahrheit, die Krankheiten sollten bis auf den letzten Rest bekämpft
werden, wie man Pocken und Pest niederkämpfte, sie sollten, soweit es
möglich war, völlig von der Erde verschwinden! In Wahrheit, über allen
Religionen und Bekenntnissen, über allen Rassen und Nationen sollte
versöhnend und verbindend das Weltbekenntnis der Kameradschaft thronen.

In kaum drei Jahren hatte Michael diese ungeheure Organisation
geschaffen, die heute bereits ganz Deutschland umspannte und die
Aufmerksamkeit des Auslandes und der Welt erregte. Unermüdlich und ohne
Pause war er an der Arbeit gewesen, Begeisterte um sich zu scharen,
Zögernde mitzureißen, die Zersplitterten zu sammeln, die Widerstände der
Bureaukratie zu brechen, den Argwohn und die Eifersucht politischer
Parteien, steril und ohne schöpferische Kraft, zu überwinden.

Worum aber ging es?

Es war sehr einfach. Es ging darum, dem Boden soviel an Nahrung zu
entreißen, als es möglich war. Mit allen Mitteln, die Wissenschaft und
Technik boten. Es ging um die Industrialisierung der Landwirtschaft und
des Gartenbaus. Es ging darum, alle freien und alle vorübergehend freien
Arbeitsenergien des Volkes in den Boden zu werfen. Es ging darum, alle
in Zeiten industrieller Krisen brachliegenden Arbeitskräfte nach einem
großen, einheitlichen Plan produktiv zu verwenden.

Das war – in großen Umrissen – Michaels ganzer Plan, und er hatte
besonders zu Beginn seine ganze Kraft jenem Teil des Planes zugewandt,
der sich mit der produktiven Verwendung brachliegender Arbeitsenergien
beschäftigte. Es schien unsinnig, in Perioden einer industriellen
Stagnation Abertausende von Arbeitern auf die Straße zu werfen und ihnen
eine geringe Unterstützung zu bezahlen, die sie gerade vor dem
Verhungern schützte. Es schien sinnvoll und naheliegend, mit dem Aufwand
der gleichen finanziellen Mittel die brachliegenden Arbeitskräfte
schöpferisch zu verwerten. Ein Betätigungsfeld aber gab es, das ohne
Grenzen war und nicht von der Weltkonjunktur abhing: das war der Boden!
Er gab allen Arbeit – selbst jenen, die nicht mehr ihre volle Kraft
besaßen, selbst den Alternden, und selbst jenen, die noch nicht ihre
ganze Arbeitskraft erreicht hatten, der Jugend.

Jene Unsummen heute verschleuderter Arbeitsenergien zusammengefaßt und
zur inneren Kolonisation nach einem großen Plane verwandt, mußten
Wohlstand und Glück erzeugen. Es gab in Deutschland heute noch fünf
Millionen Hektar Ödland. Fruchtbar gemacht, konnte es Millionen
ernähren. Fünftausend Arbeitsstunden, richtig und systematisch
angewandt, so hatte Michael berechnet, sicherten jedem Menschen
Behausung und Garten. Es schien ihm an der Zeit, daß die Menschheit den
Kampf gegen den Hunger und gegen das Elend mit derselben Sorgfalt und
demselben Aufwand an Mitteln organisiere, wie sie den Krieg
organisierte. Ein amerikanischer Automobilfabrikant hatte das Wort
geprägt: Wenn wir arbeiten müssen, so laßt uns vernünftig arbeiten! Gut,
gut. Michael Schellenberg hatte es dahin ergänzt: Wenn wir arbeiten
müssen, so laßt uns Vernünftiges vernünftig arbeiten. Das allein
erschien ihm die Wahrheit.

Es war nicht leicht, keineswegs, es war schwer, unendlich schwer, die
Probleme waren ohne Zahl. Je näher man ihnen kam, desto ungeheuerlicher
wuchsen sie in die Höhe. Aber Michael hatte nicht eine Stunde den Mut
verloren. Ein Kreis ernster und verantwortungsbewußter Köpfe hatte sich
um ihn gesammelt. Er hatte Männer gefunden, die seine Pläne förderten.
Ein Deutschamerikaner, der Bankier Augsburger, ein alter Mann, hatte
sich so sehr für seine Gedanken begeistert, daß er ihm sein ganzes
Vermögen zur Verfügung stellte. Als erst der Anfang gemacht war,
strömten ihm begeisterte Mitarbeiter von allen Seiten zu. Hunderte von
jungen Architekten, Chemikern, Technikern, Ingenieuren, Städtebauern,
Landwirten, Gärtnern, Ärzten boten ihm ihre Mitarbeit an. Er griff
freudig zu. Er benutzte alle Organisationen, die helfen konnten. Das
Rote Kreuz, die Jugendorganisationen, alles. Er sammelte die
mannigfachen Siedlungsgesellschaften und Vereinigungen, die,
zersplittert, systemlos und ohne einen großen Gesamtplan ähnliche Ziele
verfolgten. In allen Provinzen Deutschlands hatte die Gesellschaft ihre
Niederlassungen. Und die Gesellschaft wuchs täglich!

Das deutsche Volk, ermattet durch Krieg und Revolution, brauchte ein
großes Ziel, und Michael gab ihm dieses Ziel! Er blickte nicht
zurück, er wies in die Zukunft – und schon strömten ihm die
Verantwortungsvollen, die Begeisterungsfähigen, die vom
Kameradschaftsgedanken Ergriffenen zu. Die Jugend kam mit ihren
Organisationen. Die Frauen stellten sich in seinen Dienst. Die
ungeheuere Aufgabe erforderte alle Kräfte des Volkes. Selbst die
Gefängnisse zog Michael heran. Die Häftlinge strichen Ziegel, an der
Nordsee transportierten sie Schlick, vorzüglichen Dung, auf die sandigen
Ödländereien. Michael kämpfte zur Zeit dafür – die Zeitungen hallten
wider von dem Streit –, alle Freiheitsstrafen in Arbeitsleistungen
umzuwandeln.

Die Gesellschaft Neu-Deutschland erwarb Ödländereien und verbesserte
sie. Sie bezahlte mit diesem verbesserten Land ihre Arbeitskräfte und
deckte damit ihre Verpflichtungen. Aus sich selbst heraus, aus dem Boden
heraus schuf sie neue ungeheuere Werte.

Die Gesellschaft besaß heute endlose Ländereien, Wälder, Sägewerke,
Steinbrüche, Ziegeleien, Zementwerke, Fabriken, Bagger, Frachtkähne. Sie
besaß ein Arsenal von Maschinen, die sie beliebig hin und her werfen
konnte. Plan, Methode, Ersparnis war ihr Grundprinzip.

Fiebernd vor Erregung arbeitete Michael die halben Nächte hindurch. Sein
Gesicht war hager und straff geworden. Er war glühend von seinem Werke.

Unendlich und gigantisch erschien es – und doch einfach und leicht
verständlich in seinen Elementen.

Das Problem der Großstädte, ihr Ausbau, ihre Korrektur. Die
Trabantenstädte, die sie umlagerten, ähnlich in der Struktur, die
Grüngürtel, die sich um diese Stadtschaften zogen, die Gärtnereigürtel,
die sich an ihre Peripherien drängten, die Verwertung der Abfälle dieser
Städte, heute zum großen Teil sinnlos verschwendet.

Neue Städte mußten geschaffen werden, Industriesiedlungen,
Handwerkerdörfer, Gärtnereisiedlungen. Die Dampfmaschine hatte
zentralisiert, der elektrische Strom erlaubte Auflösung. Kraftwerke,
Kanäle, Schnellbahnen, Schnellautostraßen – Arbeit für Jahrzehnte, für
ein Jahrhundert, wenn man wollte, bis das ganze Land in einen blühenden
Garten verwandelt war. Die Probleme des dünnbesiedelten Ostens, des
Rheins, des Ruhrgebietes – ja, in Wahrheit unendlich ...

Gegen dreihunderttausend Heimstätten hatte die Gesellschaft bereits
geschaffen, etwa zweihundert größere und kleinere Siedlungen aller Art
und für alle Zwecke waren im Bau. Das war nur der Anfang. Michael aber
sah dieses neue Deutschland schon vor sich, wie es in das alte
Deutschland hineinwuchs, allmählich, mit jedem Tag mehr und mehr.
Zweihundert Millionen glücklicher und gesunder Menschen würde es einst
beherbergen, würde es einst Arbeit und Nahrung und Heiterkeit des
Herzens geben.


                                   21

Die Sonne schickte sich schon an unterzugehen, da sagte Christine, nach
langem Stillschweigen, ganz plötzlich: „Und nun will ich sprechen! Nun
will ich dir alles beichten! Aber versprich mir, mich nicht zu
unterbrechen. Und versprich mir, nichts zu erwidern, wenn du alles
gehört haben wirst. Später, später – –. Beichten will ich – Gott sei
meiner Seele gnädig ...“

Christine vergrub das Gesicht in die Hände und begann:

„Damals – als das Schreckliche geschah, als ich die Waffe gegen dich
erhob, in meiner sinnlosen Eifersucht, damals war ich gewiß nicht Herr
meiner Sinne. Ich hatte dir ja nur drohen wollen. Ich wollte dir nur
Schrecken einjagen, du solltest Furcht vor mir haben. Ich wollte die
Waffe nicht abdrücken, Gott weiß es, es ist die Wahrheit. Vielleicht
wollte ich, um dich zu ängstigen, einen Schuß in die Wand feuern. Nun,
es war geschehen. Plötzlich floß Blut aus deiner Brust – und ich
verstand nichts mehr. Du beschworst mich, zu schweigen, und nahmst die
Sache auf dich. Von diesem Augenblick an war ich nicht mehr ein Mensch
wie andere Menschen, ich hatte keine Freiheit mehr, ich gehörte ganz
dir. Ich war eine Leibeigene geworden, so empfand ich es.

Ich weiß heute nicht mehr, wie ich die ersten Wochen verbrachte. Ich
weiß nur, daß ich alles ohne Bewußtsein, ganz automatisch tat. Ich stand
hinter dem Verkaufstisch, legte die Wäsche vor, sprach, ich hörte einen
fremden Menschen sprechen. Alle diese Wochen hindurch betete ich
unaufhörlich – es ist wahr, Gott weiß es –, ob ich auf der Straße ging
oder im Geschäft war oder auf meinem Zimmer, unaufhörlich betete ich,
daß Gott dich dem Leben erhalten möge. Ich schloß mich in mein Zimmer
ein, ich ging nicht aus, sah keinen Menschen, ich weiß nicht, wann ich
schlief, wann ich aß, ich lebte in einer Art von Ohnmacht.

Erst als sie mir im Krankenhaus sagten, daß nun keinerlei Gefahr mehr
bestände für dein Leben, erst dann konnte ich wieder atmen. Denn bis
dahin war mir die Brust zugeschnürt gewesen, und ich konnte nur ganz
kurze Atemzüge tun, wie jemand, den schreckliche Angst verzehrt. Nun
atmete ich wieder.

Ich hatte in den ersten Wochen nicht geweint, jetzt aber weinte ich sehr
viel. Ich weinte aus Freude, daß du gerettet warst. Und jeden Tag am
Morgen und am Abend dankte ich Gott auf den Knien, daß er mein Gebet
erhört hatte. Es ist wahr, Gott weiß es.

So war es also in den ersten Wochen und Monaten. Es war Sommer, und ich
ging viel spazieren. Ich hatte mich von allen Bekannten losgesagt, und
so kam es, daß ich immer allein war. Die Menschen plauderten und lachten
und waren fröhlich. Nach diesen langen Wochen überkam mich plötzlich das
Verlangen, unter heiteren Menschen zu sein. Dieses Verlangen war gewiß
harmlos, aber so begann es.

Im Warenhaus, in der Konfektionsabteilung, arbeitete ein junges Mädchen,
ein lebenslustiges Geschöpf, voller Übermut. Sie hieß Susanna. An
Susanna schloß ich mich an, und wir gingen zusammen in die Tanzhallen,
um zu tanzen. Ich empfand es wie Sünde, daß ich tanzte und heiter war,
während du, durch meine Schuld, im Krankenhaus lagst. Aber ich konnte
nicht widerstehen. Hier nun traf ich einen Russen. Er sagte, er sei
früher russischer Offizier gewesen und lebe heute von dem Schmuck seiner
Mutter, den er über die Grenze gebracht habe. Er erzählte interessante
Dinge, war düster und immer etwas melancholisch. Das zog mich an. Er
warb um mich, aber ich widerstand. Immer aber hörte ich seine Stimme,
wenn ich allein war. Ich sah ihn dann ganz nahe vor mir. So kämpfte ich
wochenlang. Aber mein Blut konnte nicht widerstehen. Es war oft wie eine
Raserei in mir, und so geschah es also. Ich habe dich damals noch
besucht, aber ich sank vor Scham fast in den Boden, wenn ich dir die
Hand reichte. Ich verachtete mich.

Eines Tages hatte ich mich mit dem Russen wie häufig vor dem Potsdamer
Bahnhof verabredet. Er kam nicht. Ich schrieb ihm. Keine Antwort. Ich
fragte in seinem Hause nach, in dem Hause, das er mir genannt hatte, er
hatte nie dort gewohnt. Es geschah mir recht, natürlich. Ich freute mich
über diese Züchtigung.

Aber wiederum kam sie über mich, diese Raserei des Blutes, mächtiger als
alle Vorsätze, als alle Eide, als alle Gebete. Ich zitterte auf der
Straße unter den Blicken der Männer, das Blut schoß mir augenblicklich
ins Gesicht, berührte mich jemand im Vorübergehen. Wieder ging ich
häufig mit Susanna aus. Ich machte die Bekanntschaft eines jungen
Mannes, eines Schriftstellers. Er sagte, er käme nur in dieses
Tanzlokal, um Studien zu machen. Er tanzte wenig, und er tanzte nicht
gut. Aber er war so witzig und verstand es, gut zu plaudern. Er lud mich
zu sich zum Tee ein, aber was soll ich weiter erzählen – ich wurde seine
Geliebte, und ich verachtete mich nun noch mehr. Nun bist du auf dem
besten Wege, sagte ich mir, von einem gehst du zum andern.

Von dieser Zeit an habe ich dich nicht mehr besucht. Den ersten Brief,
den du in dieser Zeit schriebst, habe ich noch gelesen. Die andern habe
ich ungelesen verbrannt. Ein Geschöpf wie ich durfte nicht mehr
existieren für dich. Ich hatte mich selbst aus deinem Leben gestrichen.
Und doch liebte ich dich noch, vergiß das nicht. Ich habe mich selbst
dazu verurteilt, aus deinem Leben zu verschwinden.

Eines Tages traf ich meinen neuen Freund, den Schriftsteller, vor seinem
Hause, er kam mit einem Mädchen die Treppe herab. Er blickte mich an,
ging an mir vorüber über die Straße, er kannte mich nicht mehr! Ich
schämte mich für ihn. Aber auch diese Züchtigung tat mir wohl. Ich
verdiente es nicht anders. Sie behandeln dich so, wie du es verdienst,
sagte ich mir, und trotzdem ich litt, empfand ich es als eine große
Genugtuung.

Weiter, weiter, laß mich zu Ende kommen. Was war in mich gefahren? War
mein Blut vergiftet? Ich weiß es nicht. Die Raserei des Blutes überfiel
mich, und plötzlich kam mir der Gedanke, daß es das beste wäre, wenn ich
mich, elend und verworfen wie ich war, in den Taumel stürzen würde, um
darin umzukommen.

In diesen Tagen verlor ich meine Stellung. Ich wurde entlassen. Das
kümmerte mich wenig. Ich suchte mir einen neuen Freund. Ich fand ihn. Es
war ein Gutsbesitzer aus der Provinz. Aber er langweilte mich, ich nahm
einen andern. Es war ein schüchterner Mensch, der an mir hing und seinen
letzten Pfennig für mich opferte. Ihn betrog ich. So also lebte ich nun.
Soweit war es also mit mir gekommen. Nur im Rausche der Ausschweifungen
lebte ich noch auf, sonst war ich stumpf und verzweifelt. Nie in meinem
Leben, noch wenige Wochen vorher, hätte ich es mir auch nur in einem
bösen Traum einfallen lassen, daß ich so tief sinken könnte. Ich
verstand mich nicht mehr. Wie waren die andern Frauen? Wie sind sie? Was
beschäftigt sie? Lügen sie, heucheln sie? So wie ich log und heuchelte?
Die guten Geister, die mich bisher begleitet hatten, sie hatten mich
verlassen, und ich war verloren. Ich fühlte es damals schon, nicht mehr
lange konnte es dauern, und ich mußte umkommen.

Ich habe nicht mehr gekämpft, ich hatte dazu keine Kraft mehr. Nur den
Genuß wollte ich, die Betäubung. Einmal stieß ich plötzlich auf Jenny
Florian. Es war auf einer Untergrundbahnstation. Gott war gnädig, es war
düster hier. Sie konnte nicht sehen, wie ich aussah, sie konnte nicht
sehen, daß ich blaß wurde wie der Tod. Sie fragte nach dir, und ich
erzählte ihr, du seiest gestorben. Diese Lüge fiel mir in dieser Sekunde
ein, und ich zögerte nicht, sie auszusprechen. Es war ja jetzt
schließlich alles einerlei, und auf eine Lüge mehr oder weniger kam es
nicht an.

In dieser Zeit aber geschah das Furchtbarste. Plötzlich hatte ich
untrügliche Beweise, daß ich Mutter werden sollte. Ich nahm auch dies
als Züchtigung des Himmels hin, und ich sagte mir, daß ich nun das Ende
noch rascher herbeiführen müsse. Ich wollte das Kind nicht zur Welt
bringen, auch das gestehe ich. Dieses süße Kind, das ich nun liebe wie
nichts auf der Welt, es würde heute, wäre es nach meinem Willen
gegangen, nicht leben. Hier muß ich dir sagen, daß ich nicht annahm, daß
es dein Kind sei. Ich ging zu einem Arzte, um ihn zu bitten, mir zu
helfen. Aber er wies mich ab, er versicherte mir, daß ich schon im
vierten Monat schwanger sei. Unfaßbar, unbegreiflich! Und plötzlich
erhellte mich ein Gedanke: dann war es ja dein Kind!

Aber dieser kurzen Helligkeit folgte im nächsten Augenblick die tiefste
Finsternis. Nun war ja alles nur um so fürchterlicher, um so
schrecklicher geworden. Es gab nun keinen Ausweg mehr, es blieb mir nur
das eine übrig, mich selbst zu vernichten.

Schließlich aber kam das Kind doch zur Welt. Ich wollte es zuerst
ermorden, denn was sollte das Kind mit einer solch verworfenen Mutter?
Dann aber weinte ich über das Kind. Sollte es gehen, wie es ging. Ich
war halb von Sinnen, völlig ratlos. In dieser Zeit wandte ich mich an
Jenny Florian. Ich widerrief meine Lüge, daß du gestorben seiest. Ich
sagte ihr, daß ich mich unwürdig fühle, noch deine Freundin zu heißen.
Ich bat sie um Geld, da ich in großer Not war. Ich beschwor sie,
niemandem etwas zu sagen. Sie hielt Wort.

Kurz nach der Geburt des Kindes wurde ich krank. Ich fieberte stark. Der
Arzt sagte, meine Lunge sei angegriffen und ich müßte sofort in ein
Sanatorium. Ich lachte ihm ins Gesicht. Nun also war es soweit, nun
würde es rasch gehen. Ich hatte mir aber vorgenommen, wenn ich merkte,
daß es mit mir zu Ende ging, Jenny Florian dein Kind zu schicken.

Aber es ging nicht so rasch, wie ich dachte. Ich wurde nur schwächer und
immer schwächer. Meine Freunde wandten sich von mir ab und überließen
mich der Not. So wie ich es verdiente. Rasch sank ich in das tiefste
Elend. Schließlich konnte ich nicht mehr aufstehen. Ich hatte auch nicht
einen Pfennig mehr. Die Wirtin verkaufte meine Kleider, das bißchen
Schmuck, das ich besaß. Nun war ich in die Hölle gekommen, wo ich
hingehörte. Der Vater stellte mir nach, der Sohn stellte mir nach. In
der Nacht lag ich schlaflos, in Schweiß gebadet. Schließlich schrieb ich
wieder an Jenny Florian, da ich völlig verzweifelt und ganz von Sinnen
war – und da kamst du!“

Nun war die Sonne vollkommen untergegangen, und es war dunkel geworden.
Furchtbar und erschreckend standen schwarze Wolkenhaufen über der Heide.
„Das also bin ich,“ schloß Christine. „Nun weißt du, wer ich bin. Sprich
nicht!“ schrie sie und hielt sich die Ohren zu. „Sprich nicht! Erwidre
nichts! Nach Worten sollst du mir antworten!“

„Wir wollen vergessen,“ sagte Georg trotz ihres Verbotes. „Wir wollen
alles vergessen, was gewesen ist. Wir wollen vorwärtsblicken und nicht
zurück.“ Er wies auf das Kind, das in Christines Schoß schlief, und zog
sie leise an sich.

Da begann Christine zu schluchzen, sie weinte und schrie laut wie ein
Tier.


                                   22

In diesem Frühjahr kursierte an der Börse und in Finanzkreisen das
Gerücht, daß sich der Schellenberg-Konzern in Schwierigkeiten befände.
Niemand wußte, wo und wann dieses Gerücht aufgekommen war, es war da.
Und in der Tat, es war nicht zu leugnen, daß Goldbaum, der
Generaldirektor des Konzerns, mit verschiedenen Banken wegen größerer
Kredite verhandelte. Es war auch eine Tatsache, daß plötzlich große
Aktienpakete des Konzerns angeboten wurden. Die Papiere aller
Unternehmungen des Schellenberg-Konzerns fielen rapide und verloren
innerhalb von vier Wochen den vierten Teil ihres Kurswertes.

Goldbaum wurde beurlaubt und fuhr an die Riviera.

Es hieß, daß Wenzel Schellenberg beabsichtige, sein Palais im Grunewald,
das noch nicht einmal ganz fertig war, zum Verkauf anzubieten – ein
Objekt von so enormem Wert, daß sich ein Käufer wohl kaum finden werde.
Man munkelte auch, daß die Schellenbergsche Jacht, jene Jacht einer
früheren Großherzogin, nach England verkauft sei. Die Papiere des
Konzerns gaben noch weiter nach.

Wenzel blieb gleichmütig. Im Gegenteil, man hatte ihn noch nie in so
heiterer Laune gesehen.

Es gab kein gesellschaftliches Ereignis in Berlin, wo Wenzel nicht
zugegen gewesen wäre. Keine Premiere, kein Rennen, wo man ihn nicht
gesehen hätte. Fast immer erschien er in der Gesellschaft Jenny
Florians. Ihr zarter Körper war in die kostbarsten Gewänder gehüllt,
Geschmeide funkelte an Händen und Nacken.

Die Kenner lächelten. „Er spielt Maskerade,“ sagten sie mit einem
Blinzeln. „Uns täuscht er nicht. Wenn es bei ihm zu krachen beginnt, so
stürzt alles in einer Nacht zusammen.“

Aber seht an, die Kenner blickten einander enttäuscht in die Augen. Was
war das? Ein unbekannter Käufer trat plötzlich an der Börse auf und
kaufte riesige Pakete der gesunkenen Schellenberg-Aktien. Bei der
nächsten Börse geschah das gleiche. Die Papiere zogen an. Sie stiegen in
einer Woche ohne jede Stockung und kletterten schließlich über ihren
alten Kurs.

Wenzel hatte eine ungeheure Summe gewonnen und schob sie mit einem
breiten Lachen in die Tasche. Plötzlich, war es zu glauben, tauchte auch
Goldbaum, der lange Zeit in der Versenkung verschwunden war, wieder im
Konzern auf. Da war er wieder, rund und glänzend, als sei nichts
geschehen. Vergnügt rieb er sich die Hände.

Vielleicht war alles nur ein Manöver gewesen, das Wenzel selbst
eingeleitet hatte?

In diesen Tagen kaufte Wenzel den Rennstall des Herrn von Kühne.
Zweiunddreißig Pferde, darunter ganz hervorragendes Material. Einen
früheren bekannten Herrenreiter hohen Adels engagierte er als Trainer.

Nun sah man die Schellenbergschen Farben auf jedem Rennen. Jenny hatte
sie auf Wenzels Wunsch vorgeschlagen. Die Jacke war gelb, die Ärmel
rotweiß gestreift. Auch in der Ferne konnte man die Schellenbergschen
Farben mitten im jagenden Rudel gut erkennen.

Es zeigte sich nun auch, daß Schellenberg nicht im Traum daran dachte,
sein im Grunewald neuerbautes Palais zu verkaufen. Weshalb er aber
plötzlich alle Arbeiten eingestellt hatte, weshalb er seinen Anwälten
den Auftrag gab, mit den Lieferanten, Baumeistern und Baufirmen zu
verhandeln und die Rechnungen abzuschließen – das wußte nur Schellenberg
allein.

Auch die Nachricht über den Verkauf seiner Jacht erwies sich als
Legende. Allerdings war die Jacht, dies entsprach der Wahrheit,
plötzlich nach England gefahren. Der Kapitän hatte den Auftrag, die
Jacht nach Hull zu bringen, um dort weitere Befehle abzuwarten. In
verschiedenen Zeitungen erschien damals die Notiz, daß Lord Beaverbrook
als Käufer der Jacht genannt werde. Nach einigen Wochen aber erhielt der
Kapitän in Hull die Order, das Schiff wieder nach Warnemünde zu steuern.
Wenzel dachte nicht im Schlafe daran, die Jacht zu verkaufen. Weshalb
aber hatte er sie nach Hull geschickt? Und in seinem neuen Palais im
Grunewald wimmelte es wieder von Handwerkern.

Jede Woche fuhr Wenzel zwei-, dreimal mit Jenny hinaus in den Grunewald,
um den Fortgang der Arbeiten zu kontrollieren. War er verhindert, so
fuhr Jenny allein, denn Wenzel hatte Jenny zum „obersten Bauleiter“
ernannt. Sie tänzelte, in ihren Mantel gewickelt, lächelnd durch die
Säle, und die Architekten küßten ihr die Hand. Die Maler und Handwerker
grüßten freundlich von den Gerüsten herab. Jenny gehörte zu jenen
Menschen, die gute Laune erzeugen, wo immer sie erscheinen. Und doch,
sie sprach nur wenig, sie grüßte freundlich, lächelte.

Alles in dem Gebäude war von großer Pracht und letzter Gediegenheit. Das
kostbarste Material, die teuersten Edelhölzer waren verwendet worden zu
Türen, Wandbekleidung und Parkettböden. Im großen Speisesaal waren die
Wände bespannt mit kostbaren Seidenstickereien. Zwanzig Arbeiterinnen
hatten zwei Jahre an diesen Bespannungen gestickt. Marmor, Bronze,
Brokat, die Decken Wunderwerke, Saal an Saal. Die Bibliothek, in Ausmaß
und Pracht wie die eines Schlosses. In halbfertigen Gemächern standen
Möbel, Berge von Kisten. Wenzel hatte seine besonderen Einkäufer für
Antiquitäten, Bilder, Bücher. Das Palais enthielt zwanzig Gastzimmer,
jedes mit einem Bad, und alle verschieden und originell. Was Jenny am
meisten interessierte, waren die Küchen- und Kellerräume. Hier lagen die
Zimmer für die Dienerschaft. Hier lagen zwei Badeanlagen für die
männliche und weibliche Bedienung. Hier war der Weinkeller, mit dem
letzten Raffinement ausgestattet. Und hier lag, erst halb fertig, das
Schwimmbassin des Hausherrn, fünfzehn Meter lang und fünf Meter breit.
Es war von Wenzels Gemächern aus über eine Treppe aus weißem Marmor zu
erreichen.

Für dieses Schwimmbassin hatte Jenny eine blendende Idee! „Es ist mir
etwas eingefallen, Wenzel,“ sagte sie. „Darf ich Vorschläge machen?“

„Aber gewiß, du hast doch die Bauleitung.“

Jenny also ging zu Stobwasser. „Hören Sie, Stobwasser,“ sagte sie,
„sehen Sie zu, daß Sie einige Ihrer Keramiken zusammenbringen, und
räumen Sie ein bißchen auf. Morgen oder übermorgen, ich kann es noch
nicht genau sagen, bringe ich Ihnen einen Kunden. Aber sehen Sie zu, daß
es nicht so unordentlich aussieht.“

„Schön, schön,“ erwiderte Stobwasser und warf die spitze Nase in die
Luft. „Sie sollen bedient werden, Jenny.“

„Daß Sie zur Stelle sind. Ich komme zwischen elf und ein Uhr.“

Stobwasser hatte wundervolle Keramiken geschaffen, Kakadus, Papageien,
Fasanen, Reiher, Flamingos. Die Tiere waren seine Spezialität. Er
brannte und glasierte seine Arbeiten selbst in einem alten verstaubten
Ofen, der in der Ecke stand.

Stobwasser lief den ganzen Tag umher, um seine Arbeiten, die zum größten
Teil verkauft waren, zum größten Teil aber bei den Händlern standen,
zusammenzuholen.

Und richtig, da kam auch schon Jenny mit Wenzel an.

Fast hätte Jenny laut herausgelacht. Stobwasser verbeugte sich linkisch
und ungeschickt und viel zu tief. Er hatte sich irgendwo einen langen
Gehrock ausgeliehen, der ihm etwas zu weit war. Er bat, Platz zu nehmen,
und wischte die Stühle mit dem Taschentuch ab. Er war dunkelrot vor
Verlegenheit und wurde noch verlegener, als er beim Rückwärtstreten über
seine Katze stolperte. Unruhig rückten die Tiere in ihren Bauern hin und
her, und der Papagei begann laut zu schreien und zu singen: „Wer will
unter die Soldaten, der muß haben ein Gewehr ...“

„Sei ruhig!“ herrschte ihn Stobwasser an.

„Leider sind diese Arbeiten nicht so gut, wie ich es gern wünschte,“
sagte er. „Ich bitte Sie zum Beispiel diesen Kakadu nicht anzusehen, er
ist direkt schlecht.“

Jenny lachte laut auf. „Sie haben eine drollige Art, Ihre Werke zu
empfehlen!“ rief sie aus. „Stobwasser brennt die Arbeiten selbst,“
erklärte sie.

Mit einer steifen Geste des Armes deutete Stobwasser, wie ein Führer in
einem Museum, auf den verstaubten und verräucherten Brennofen in der
Ecke. „Ja, ich brenne sie selbst, hier in diesem Ofen!“

Wenzel zeigte aufrichtiges Interesse. Er betrachtete alle Werke des
Bildhauers aufmerksam, die Keramiken, die Schnitzereien. Am meisten
schienen ihn aber die lebenden Tiere, Stobwassers Modelle, zu
interessieren.

„Ich habe leider heute keine Zeit mehr,“ sagte er plötzlich. „Wir sehen
uns bald wieder, Herr Stobwasser.“

Stobwasser verbeugte sich tief und erbleichte.

„Oh, wie oft habe ich das gehört: ich komme wieder,“ sagte er, als die
beiden gegangen waren. Und er drohte dem Papagei mit der Faust. „Und du,
wie kannst du dein dummes Lied singen, wenn gerade Besuch da ist. Und
noch dazu ein früherer Hauptmann.“

Er war völlig verzweifelt.

Jenny aber trug Wenzel, während sie im Auto saßen, ihren Einfall vor:
Sie dachte es sich hübsch, wenn das Schwimmbassin mit Keramiken
Stobwassers geschmückt würde. Es würde lustig und reizend aussehen,
vielleicht kleine Nischen, man sollte Stobwasser auffordern, eine Skizze
zu machen.

„Gut,“ erwiderte Wenzel, „ich werde ihn auffordern. Sehr gut aber gefiel
mir sein Wandleuchter. Erinnerst du dich, der weiße Kakadu? Ich habe dem
Architekten gestern gesagt, daß ich die Wandleuchter für den oberen
Korridor nicht abnehmen werde, sie gefallen mir nicht. Wenn Stobwasser
diese Wandleuchter machen könnte? Varianten seines Entwurfes?“

Stobwasser hatte nicht mehr auf Wenzels Rückkehr gehofft. Als Wenzel am
nächsten Vormittag mit Jenny eintrat, stand Stobwasser da, die Fäuste
voller Ton, mitten in der Arbeit, in einem mit Ton beschmierten Kittel,
krebsrot das Gesicht vor Verlegenheit. Seine Miene war fast feindselig.
Wenzel bat ihn also, gelegentlich mit Jenny nach dem Grunewald zu fahren
und sich das Schwimmbassin anzusehen. Es war Gott sei Dank noch nicht
gekachelt. Dann fragte er ihn, ob er die Wandleuchter für den oberen
Korridor übernehmen könne, in der Art dieses Leuchters dort in der Ecke.

Natürlich konnte das Stobwasser. Er hatte auch nicht für einen Pfennig
Aufträge.

„Wieviel Leuchter sollen es sein?“ fragte er.

„Es sind dreißig Stück,“ antwortete Wenzel. „Ich bestelle sie hiermit
und bitte Sie, sich möglichst zu beeilen.“

Als die beiden die Tür hinter sich geschlossen hatten, stand Stobwasser
immer noch mit offenem Munde da, die spitze Nase gegen die Tür
gestreckt.

„Dreißig Stück, du lieber Himmel,“ sagte er, und die Beine begannen ihm
zu zittern. Er mußte sich in den Stuhl setzen. Er konnte sein Glück gar
nicht fassen.

„Dein Freund Stobwasser ist ein ganz reizender Mensch,“ sagte Wenzel zu
Jenny. „Ich liebe diese einfachen Menschen, die etwas können. Sie sind
so selten bei uns.“


                                   23

Es war natürlich, daß Wenzel fortan auf allen Rennbahnen zu sehen war,
wo seine Pferde liefen. Herr von Kühne hatte im vorigen Jahre und in
diesem Frühjahr mit seinem Stall keine besonderen Erfolge erzielt. Aber
es schien, als hätten die Pferde nur darauf gewartet, in Wenzels Besitz
zu kommen. Sie liefen, daß es eine Freude war. Sie waren nicht mehr
krank. Sie husteten nicht mehr. Sie lahmten nicht mehr. Ein Hengst, der
Hengst ‚Kardinal‘, ein völlig unbekanntes Pferd, das Herr von Kühne
schon hatte verkaufen wollen, gewann ein bedeutendes Rennen gegen hohe
Klasse.

„Sieh doch, wie er läuft!“ schrie Wenzel vor Entzücken und lachte laut
auf.

In der Tat, ‚Kardinal‘ lief vier Pferdelängen vor dem Rudel und zog in
einer rasenden Fahrt dahin. Die gelbe Jacke blitzte in der Sonne. Die
Tribünen waren stumm vor Verblüffung. Kardinal gewann im Kanter. Jenny
klatschte, daß ihre Handschuhe platzten. Sie hatte auf Wenzels Rat
hundert Mark auf ‚Kardinal‘ gesetzt.

Mackentin beglückwünschte Wenzel zu diesem überraschenden Siege. „Wird
Ihnen bei all diesem Glück nicht zuweilen etwas unbehaglich,
Schellenberg?“ fragte er.

„O nein, nicht im geringsten. Ich bin schwindelfrei,“ erwiderte Wenzel.

Oft litt Jenny Florian bittere Qualen. Es gab Wochen, da Wenzel sie
vernachlässigte. Kaum daß er einmal anklingelte oder die Zeit fand, ihr
ein Wort oder eine Blume zu schicken. Als sie in Italien filmte, fast
sechs Wochen lang, hatte er ihr nur einen einzigen Brief geschickt, in
die Maschine diktiert. Und in diesem Brief war nur die Rede von einem
Kampf, den er mit einem Pferde ausfocht, das ihn beim Reiten im
Tiergarten gegen die Bäume rennen wollte.

In jenen Wochen, da sie für Wenzel nicht zu existieren schien, wäre sie
am liebsten geflohen. Fliehen! Aber wohin? Sie wußte, daß sie nie
fliehen konnte, es war unmöglich, es war viel zu spät. Natürlich wußte
sie, daß Frauen dabei im Spiel waren. Die Frauen drängten sich an Wenzel
heran, wohin er auch kam. Viele blendete sein Erfolg, sein Reichtum.
Andere bestach sein Aussehen, seine weißen Zähne, seine Kraft und seine
unverwüstliche Laune.

Jenny aber litt Qualen, wenn sie allein in ihrem Hause in Dahlem saß.
Sie wußte – man hatte es ihr hinterbracht –, daß Wenzel zwei oder drei
Wohnungen in verschiedenen Hotels in der Stadt ständig gemietet hatte.
Sie hörte von allen möglichen Abenteuern und Liaisons. Obwohl sie sich
die Ohren mit beiden Händen zuhielt, unterließ man es nicht, ihr alles
mögliche zuzuflüstern. Ihre Kolleginnen machten sich ein Vergnügen
daraus, ihr derartige Neuigkeiten mitzuteilen. Wenzel sollte in einem
kleinen Vorstadtvarieté eine kleine Sängerin entdeckt haben, die täglich
ein Revolutionslied und einige Dirnenlieder mit frecher Geste vortrug.
Die Musik war von einem verwahrlosten Kapellmeister geschrieben, der das
kleine Orchester des Varietés dirigierte und der der Geliebte dieses
Mädchens war. Man sagte, Wenzel halte die Sängerin nunmehr aus, und er
habe dem eifersüchtigen Kapellmeister fünftausend Mark Abstand für die
Frau gezahlt. Er habe sich eine Quittung geben lassen und sie dann der
Sängerin unter die Nase gehalten. Der Kapellmeister, völlig rasend, habe
auf Wenzel geschossen, ohne ihn jedoch zu treffen. Wenzel habe ihn mit
einer Ohrfeige zu Boden geschlagen.

Woher wußten die Leute all diese Dinge? Wie ekelhaft war dieser Klatsch,
wie unverständlich! Jenny hatte den kleinen Stolpe in Verdacht, daß er
aus der Schule plaudere. Sie sagte es ihm ins Gesicht. Stolpe kam in
große Verlegenheit. Sie warnte ihn, sie war zornig und stampfte sogar
mit dem Fuße, was sie sonst nie tat. Stolpe beteuerte, aber sie wußte,
woran sie war.

Das war natürlich alles Klatsch, und doch war manches an diesem Klatsch
wahr. Ob nun diese Geschichte von der Sängerin und ihrem Freund, dem
Kapellmeister, sich tatsächlich so zugetragen hatte, das wußte Jenny
nicht. Aber diese Sängerin existierte, und ohne Zweifel hatte Wenzel
Interesse für sie! Er selbst zeigte sie ihr. Sie besuchten ein Varieté
im Westen, und plötzlich trat eine freche kleine Person auf, anzusehen
wie ein Straßenmädchen aus dem Osten. Sie sang im Berliner Dialekt mit
einer schrillen Stimme, aber mit so großer Leidenschaft, daß sie das
Publikum hinriß. Ihre Augen funkelten und drohten, während sie sang und
sich frech in den Hüften wiegte. Sie sang zuerst zwei Dirnenlieder, dann
trug sie mit rasenden Blicken und fanatisch schriller Stimme ihr
Revolutionslied vor, das mit den Worten begann: „Wartet, wenn der Tag
kommt, wartet, wenn mein Tag kommt! Dann wird meine Fahne wehn!“ Ihr Haß
und ihr Fanatismus schienen so echt, daß das Publikum, das aus reichen
Nichtstuern und reichen Damen bestand, stumm und erschrocken dasaß.

„Wie gefällt sie dir?“ fragte Wenzel und forschte mit dem Blick in ihren
Augen.

Jenny erbleichte und erwiderte nichts. Sie haßte diese Frau. Sie
schüttelte die kleine Faust, als sie allein war, und Tränen der Wut
stürzten in großen Tropfen aus ihren Augen. Oh, wie sie diese Person
haßte! Sie nannte sich geschmackvoll Fritzi Frettchen!

In den letzten Wochen, es war heißer Sommer geworden, gefiel ihr Wenzels
Aussehen nicht mehr. Sein braunes Gesicht schien plötzlich etwas fahler
geworden zu sein. Seine Augenlider schienen wie mit grauem Puder
bedeckt. Er selbst gab zu, daß er sich zurzeit in einer „höllischen
Fahrt“ befände, bald aber werde er „die Geschwindigkeit vermindern“. Er
trank in diesen Wochen Sekt, immer Sekt. Seine Hände zitterten.

„Schenke mir dieses Glas,“ bat Jenny zärtlich und legte die Hand um
seinen Hals.

„Dein Wille geschehe!“ sagte er. „Aber es schadet mir ja nichts,
beunruhige dich nicht. Es ist eine Periode, sie wird vergehen. Ich bin
überarbeitet und schlafe zu wenig. In der vergangenen Woche habe ich im
ganzen – laß sehen –, im ganzen dreißig Stunden geschlafen. Eine Nacht
gar nicht. Es gibt Leute, die für Geld wachen. Schade, daß es nicht
Leute gibt, die für Geld schlafen. Ich wäre ein guter Kunde. Die Welt
ist noch recht unvollkommen. Habe noch etwas Geduld mit mir! Warte nur,
bis der erste August kommt, dann gehen wir an das Meer.“

Käme doch dieser erste August bald! Endlich wurden die Vorbereitungen
für die Sommerreise getroffen. Man wollte drei Wochen mit der Jacht auf
der Ostsee segeln. Wenzel wollte nur Stolpe und Mackentin mitnehmen und
Stobwasser einladen.

„Und dann habe ich noch diese Fritzi Frettchen eingeladen, du erinnerst
dich, diese kleine freche Person. Sie soll uns vorsingen.“

Jenny blickte zu Boden. Ihre Wimpern zitterten. Sie sagte leise: „Dann
bleibe ich zu Hause.“

„Wenn du ein Ultimatum stellst,“ sagte Wenzel lachend, „dann werde ich
diese Fritzi Frettchen wieder ausladen. Sie wird es verwinden.“

Mackentin wollte seine Frau mitbringen, eine geborene Baronin
Biberstein, eine stille, etwas korpulente Dame, die Jenny bemutterte.
Dagegen hatte Jenny nichts einzuwenden. Sie lachte in sich hinein. Diese
Frau Mackentin war ganz ungefährlich.

Aber die Abreise wurde von Tag zu Tag verschoben. Goldbaum erkrankte,
und Wenzel konnte nicht reisen, bevor Goldbaum die Geschäfte übernahm.
Dieser fürchterliche fette Goldbaum, der von früh bis nachts Speisen in
sich hineinschlang. Gewiß hatte er sich den Magen verdorben. Mitte
August endlich fuhren sie ab. Stolpe war am Tage vorher mit dem Gepäck
vorausgefahren. Am nächsten Morgen rasten sie mit dem hundertpferdigen
Wagen nach Warnemünde, wo die Jacht lag.

Stobwasser, der neben dem Chauffeur saß, liefen die Tränen aus den Augen
bei der scharfen Fahrt, und wenn er das Gesicht zur Seite drehte, so bog
der Wind seine lange Nase um. Die Luft heulte und schrie.

Wenzel machte es ein knabenhaftes Vergnügen, in diesem Höllentempo
dahinzujagen. Jenny aber war froh, als sie wohlbehalten in Warnemünde
eintrafen.


                                   24

Da lag die Jacht „Kleopatra“, dunkelblau gestrichen, glatt wie Seide.
Zehn Matrosen standen in Reih und Glied an Bord, und der Kapitän
begrüßte sie. Jenny klopfte das Herz, als sie das Schiff betrat. Sie
hatte es sich nicht so groß vorgestellt. Alles war blitzblank und
wunderbar, und der Mast, welch eine Höhe! Ein kleiner Dampfer schleppte
sie an der Mole und am Leuchtturm vorbei hinaus ins Meer. Es wehte nur
eine leichte Brise, der Tag war herrlich. Die Segel stiegen in die Höhe,
der kleine Schlepper warf los, und es ging dahin. Schon aber ertönte das
Gong, und der Steward bat zu Tisch. Die Tafel war herrlich geschmückt,
Blumen, kostbares altes Silber.

„Ein wahres Glück, daß diese Großherzogin ihr Silber nicht im Krieg
abgeliefert hat, wie es der Patriotismus vorschrieb!“ rief Wenzel
lachend auf. „Sonst würden wir heute nicht dieses schöne Silber hier
haben!“

Zauberhaft schön erschienen Jenny diese Tage. Sie glitten dahin, wie das
Schiff durch die See glitt. Tag ging in Nacht über und Nacht in Tag.
Unwirklich und unirdisch erschienen sie wie der Dunst auf dem Meere und
die hellen Nächte unter dem Sternenhimmel.

Sie fuhren, und die Leuchtfeuer blitzten am Horizont.

„Was ist das für ein Feuer, Wenzel?“

„Das ist das Feuerschiff Gjedser, Jenny. Das ist Langeland, Kiels Nor.“

Einmal lagen sie am späten Abend in einer völligen Windstille in der
Nähe einer dänischen Insel. Das Meer floß wie geschmolzenes Blei dahin.
Am Horizont stand violetter Dunst, fast wie fernes Land sah es aus. Kein
Lüftchen regte sich. Die Nacht kam, sie gingen vor Anker. Deutlich hörte
man die Stimmen von der Insel herüber zur Jacht klingen, den Laut einer
Glocke.

„Was ist das, Wenzel?“

„Das ist Vieh, das auf der Weide ist.“

„Aber horch, nun kommen sie gerudert.“

In der Tat schien es, als höre man Ruder knarren. Sie spähten hinaus in
die Dunkelheit, allein nichts war zu sehen. Die ohne jede Bewegung
ruhende See verstärkte zehnfach jeden Laut, wie eine empfindliche
Membrane. Nun schien ein blendender Berggipfel, unheimlich gezackt, am
Horizont aufzutauchen. Ein Eisberg, der im Lichte glänzte. Aber es war
der Mond, der groß und feierlich emporstieg. Wenn Jenny zum Firmament
emporblickte, so erschauerte sie, es schien ihr, als seien Tausende
lichter Augen überirdischer Wesen auf sie gerichtet.

„Ich bin glücklich,“ sagte sie und schmiegte sich an Wenzel.

„Es ist schön,“ entgegnete Wenzel. In ihrer Nähe, in der Stille des
Meeres fand er wieder jene Schlichtheit des großen Knaben, die sie an
ihm so sehr liebte – wie damals in Hellbronnen. „Die reichen Leute sind
alle Heuchler!“ fuhr Wenzel fort. „Sie sagen nicht: Geld gibt Freude,
Gesundheit, Genuß. O nein, sie sagen: Das Schönste auf der Erde ist
Arbeit, Pflichterfüllung. Nun, ich lüge nicht! Ich liebe dieses Leben!
Und all das ist gekommen, weil ein alter Mann glaubte, mich als Automat
behandeln zu dürfen, weil er mich bezahlte. Weil ein alter Mann mich
rügte, als ich zehn Minuten zu spät kam. Das ist meine Rache!“

Gegen Morgen hörte Jenny das Schiff knarren und das Wasser gegen die
Schiffswände klatschen. Die „Kleopatra“ war wieder unterwegs.

Das Wetter war fast immer schön. Nur einmal kamen sie in ein furchtbares
Gewitter, das Jenny ihr ganzes Leben lang nicht vergessen würde. Eine
mächtige, schiefergraue Wetterwand stand senkrecht über dem Meer,
zerrissen von einem rasend zuckenden Netz von Feuer. Der Donner dröhnte
wie eine ferne Schlacht. In diese graue, von Blitzen zerfetzte
Wetterwand glitt die „Kleopatra“ langsam hinein, einem kleinen
Fischereihafen entgegen. Auf dem Lande brannte ein Gehöft, das der Blitz
entzündet hatte.

Wenzel saß auf der Reling und starrte aufmerksam und gespannt in das
Netz der Blitze. Sein Kopf war vorgebeugt, seine Augen glänzten, und
sein Mund war halb geöffnet, alles an ihm war Spannung und geballte
Kraft. Es sah aus, als bereite er sich stumm auf den Kampf mit dem
Gegner vor.

Jenny war in Schweiß gebadet. Sie zitterte vor Hitze, Erregung und
Angst.

„Weshalb fahren wir in das Gewitter hinein?“ fragte sie. „Ich ängstige
mich.“

Wenzel lachte. „Es hat noch nie ein Blitz in ein Schiff eingeschlagen
oder nur selten. Sonst würde auch ich Angst haben und umkehren.“

„Weshalb schlägt der Blitz nicht in ein Schiff ein?“

„Frage die Gelehrten. Sie werden dir ein Märchen erzählen.“

Jenny sagte etwas, aber der Donner nahm ihre Stimme fort.

Wieder starrte Wenzel in das Netz von Blitzen, die Stirn gerunzelt, zum
Angriff bereit.

„Was denkst du, Wenzel?“ fragte Jenny. Es regnete vereinzelt große
Tropfen, die wie harte Taler auf das Deck prasselten.

„Es ist schade,“ erwiderte Wenzel und ballte die Fäuste „Es ist schade,
daß man nicht ewig leben kann! Alles besitzen – und ewig leben! Kraft,
Gesundheit! Und dich!“

Er hob Jenny auf den Arm und trug sie über das Deck hinunter in die
Kajüte. Sie zitterte.

„Wir wollen die Götter versuchen! Wir wollen sehen, ob sie Kavaliere
sind!“


                                   25

So kreuzten sie Tag für Tag. Zuweilen blieben sie einige Tage bei einem
Seebad liegen. Farbig der Strand, ein Gewimmel von Flaggen. Gäste kamen
an Bord, und es ging laut her bis spät in die Nacht. Jenny war froh,
wenn sie die Küste mieden.

Jeden Morgen und Abend badeten sie im Meer, wenn die See es erlaubte.
Das Schiff lag bei. Eine der Jollen wurde herabgelassen, und sie
schwammen um die Jacht herum.

Besonders Stobwasser entpuppte sich als ein großer Schwimmer. Sonst sah
man ihn, von den Mahlzeiten abgesehen, nur selten. Immer schlief er,
irgendwo zusammengerollt wie ein Igel. Seit er, zusammen mit Weidenbach,
in der kleinen thüringischen Stadt die Kegel aufgesetzt hatte, genoß er
auf dieser Reise die ersten Tage des Ausruhens, der Erholung und
Sorglosigkeit.

„Kleopatra“ ging nach Kopenhagen, nach Schweden. Sie lief bestimmte
Häfen an, um die Post abzuholen. Dann kehrte sie wieder nach Warnemünde
zurück. Goldbaum wurde erwartet und Michael Schellenberg mit seiner
Freundin Eva Dux. Sie sollten drei Tage an Bord bleiben.

Jenny freute sich. Sie hatte eine aufrichtige Zuneigung zu Michael
gefaßt. Eva Dux kannte sie noch nicht.

Als die Jacht anlegte, standen die drei bereits am Kai. Der dicke
Goldbaum kletterte mühsam die Treppe empor und betrachtete argwöhnisch
das Schiff. Er mißtraute dem Meer. „Man ist zu sehr in Gottes Hand,“
pflegte er zu sagen.

Eva Dux war eine schmale, zierliche junge Dame, knabenhaft, mit einem
sehr schlichten, offenen Gesicht und großen dunkelblauen Augen. Sie war
sehr scheu und bekannt für ihre Schweigsamkeit. Sie war Michaels erste
Sekretärin und genoß den Ruf, ebenso unermüdlich arbeiten zu können wie
Michael selbst.

„Wie gefällt Ihnen das Meer?“ fragte Jenny, als die Jacht wieder die
offene See gewonnen hatte und das Land versank.

Eva blickte über das Meer und antwortete leise: „Es ist schön.“

In der Tat, sie sprach wenig, und es war ganz unmöglich, mit ihr in ein
Gespräch zu kommen, was man auch versuchen mochte. Jenny legte ihr, als
es kühler wurde, zärtlich ein Tuch um die Schultern.

Eva wich leicht mit der Schulter zurück und sah sie mit einem langen und
erstaunten, dankbaren Blick an. Sie bewegte die Lippen, aber sie sagte
nichts.

Von diesem Moment an aber fühlte Jenny, daß sie Freundinnen geworden
waren.

Am Abend ging es an Bord lauter zu als gewöhnlich. Die Herren besprachen
Geschäfte. Michael war nach Warnemünde gekommen, um seinen Bruder in
Ruhe sprechen zu können, denn er wußte, daß es in Berlin ganz unmöglich
war. Er wollte ihn für ein großes Projekt interessieren, für eine
Industriesiedlung größten Ausmaßes, die zurzeit am Mittelland-Kanal
vermessen wurde. Wenzel wich aus, aber er versprach, sich die Sache zu
überlegen.

Nach Tisch lag man in den Stühlen auf Deck. Der Abend war gekommen, und
die erlöschende Lohe des Sonnenunterganges brannte braun und gewaltig
wie der Rauch eines Vulkans. Die Jacht arbeitete mit leisem Knarren. Das
Bugwasser zischte gleichmäßig. Dieses leise Knarren und gleichmäßige
Zischen schläferte fast alle ein. Man sprach leise, oder man schwieg.
Stobwasser war schon tief eingeschlafen.

Nur Mackentin konnte sich noch nicht beruhigen. Er war mit Michael in
ein Gespräch geraten, das gedämpft, aber mit großer Leidenschaftlichkeit
geführt wurde. Jenny hörte nur dann und wann Bruchstücke des Disputs.

„Gestatten Sie mir,“ sagte Mackentin sehr höflich, mit leicht näselnder
Stimme, „Sie werden doch zugeben, daß wir Getreide billiger importieren
können, als wir es selbst zu produzieren vermögen?“

„Zurzeit gewiß,“ entgegnete Michael. „Wir werden unsere Methoden
verbessern, um konkurrenzfähig zu werden. Ich leugne nicht, daß es heute
wirtschaftlicher ist, Nähmaschinen zu exportieren und für den Erlös
Getreide einzuführen. Vorausgesetzt natürlich, daß Sie Ihre Nähmaschinen
verkaufen können.“

„Aber das kann ich doch jederzeit?“

„Nein, das können Sie nicht. Sonst ständen diese Probleme gar nicht zur
Diskussion.“

Pause.

Mackentin überlegte offenbar. Dann fuhr er fort: „Nehmen wir an, daß es
Ihnen tatsächlich möglich sein wird, mit Hilfe einer ungeahnten
Bodenverbesserung und völlig neuer Methoden die Produktion so zu
steigern, daß Sie mehr Getreide produzieren, als Deutschland benötigt,
was dann?“

„Dann würde ich das überschüssige Getreide Futterzwecken zuführen und
zum Beispiel die Geflügelzucht um ein bedeutendes heben, sodaß
Deutschland keine Eier mehr einzuführen braucht.“

„Gut, gut,“ fuhr Mackentin mit etwas erregter Stimme fort. „Gestatten
Sie weiter. Nehmen wir an, Sie produzieren noch mehr Getreide und
Nahrungsmittel, mehr als Sie verwenden können.“ Mackentin gab sich noch
immer nicht geschlagen.

„Das wird kaum eintreten, aber nehmen wir es an. Dann würde ich einen
Teil des Bodens zur Anpflanzung von Hanf, Flachs und Ölfrüchten
verwenden.“

„Gut, gut, gestatten Sie weiter. Sie wollen, wenn ich Sie recht
verstand, gegen drei Millionen Pferde in Deutschland durch Motorkraft
ersetzen. Ist das Ihr Programm? Und wenn das Ihre Absicht ist, werden
Sie das Geld haben, um die großen Mengen von Benzin zu importieren, die
für den Betrieb der Maschinen notwendig sind?“

„Gewiß ist dies mein Programm. Diese drei Millionen Pferde, die nur
einige Monate im Jahr arbeiten, fressen Deutschland arm. Sie sind der
unerhörteste Luxus, die unerhörteste Verschwendung, die vorstellbar ist.
Anstatt des Hafers werde ich Kartoffeln pflanzen und den Betriebsstoff
für die Motore in meinen Brennereien herstellen, wenn es sein muß. Im
übrigen werde ich ja ganz andere Kraftquellen verwenden. Der Wind und
das Wasser werden billige Kraft liefern!“

„Dann gestatten Sie eine weitere Frage,“ fuhr Mackentin fort. „Sie
beliebten zu sagen –“

Aber Wenzel unterbrach ihn. Er lachte laut heraus und sagte, während er
aufstand: „Strecken Sie die Waffen, Mackentin, Sie werden mit ihm nie in
Ihrem Leben fertig.“

Michael ging mit Jenny auf dem Verdeck auf und ab. Er schob seine Hand
unter ihren Arm und sagte: „Ich freue mich, Fräulein Florian, daß Sie
Wenzel betreuen. Sie üben einen günstigen Einfluß auf ihn aus. Er
braucht jemanden, der sein unstetes Wesen ausgleicht. Seien Sie
nachsichtig zu ihm! In Wahrheit ist er ja nichts als ein großer Knabe.“

Und Wenzel sagte zu Jenny: „Wie gefällt dir Michael? Er ist einer der
reizendsten und sympathischsten Menschen, die es gibt. Wäre ich eine
Frau, so würde ich mich tödlich in ihn verlieben! Seine Güte ist ohne
alle Grenzen, aber er ist ein Kind. Unter uns gesagt, ich halte ihn für
einen Narren. Ich befürchte, er wird schlechte Erfahrungen machen. Schon
jetzt greift ihn die Presse heftig an.“

Rätselhaft war Eva, die Schweigsame. Sie schien ganz in sich zu ruhen,
ganz Harmonie, sie schien, in sich gesammelt, sich selbst zu genügen.
Fast wie ein edles, scheues Tier stand sie, atmete, lauschte, den klaren
Blick in die Weite gerichtet. Jenny verliebte sich in sie und küßte sie
zum Abschied auf den Mund. Schön, voller Dankbarkeit und Freude war Evas
glänzendes Auge auf sie gerichtet.

Jenny vergaß diesen schimmernden Blick nie mehr. „Zum ersten Male habe
ich mich in eine Frau verliebt,“ sagte sie lächelnd zu Wenzel.

Oh, wie herrlich waren diese Tage auf der See! Jenny war glücklich und
ohne Wunsch. Schon aber bemerkte sie Unruhe in Wenzels Gesicht.




                              Drittes Buch


                                   1

Im Herbst reiste Wenzel in Geschäften nach Holland, England und Amerika.
Als er zurückkehrte, sah es in Deutschland schon winterlich aus. In
Kuxhaven schneite es, und zwischen Hamburg und Berlin waren die Felder
schneeweiß. Der Winter setzte außerordentlich früh ein.

Kaum in Berlin angekommen, stürzte sich Wenzel in die Arbeit. Er hatte
Pläne mitgebracht, du lieber Himmel. Selbst Goldbaum, der an manches
gewöhnt war, verschlug es die Sprache. Tochtergesellschaften in England
und Amerika, Neugründungen, ein deutsch-amerikanischer Konzern
riesenhaften Ausmaßes war im Entstehen. Aber auch in bezug auf
Zerstreuungen hatte Wenzel viel nachzuholen. Feste, Spiel, Theater,
Frauen. Die Wochen flogen dahin.

In dieser Zeit sah man Wenzel fast jeden Abend in der Gesellschaft
Jennys. Jenny in immer neue kostbare Gewänder, Umhänge, Mäntel
gekleidet.

Wenige Tage vor Weihnachten speiste er mit ihr und einem dicken
holländischen Bankier im Adlon. Sie plauderten und unterhielten sich
vorzüglich – plötzlich aber rauschte eine Dame durch den Saal, die alle
Blicke auf sich zog. Die Dame trug eine Struwwelpeter-Frisur, lackrot
glänzend, wie Goldfische, die sich rasch bewegen. Sie war schlank, groß,
ihr fast magerer Körper in eine kühne, extravagante Robe eingehüllt. Ihr
Profil, hochmütig in die Luft geworfen, war kühn, ja verwegen. Zwei
hagere Herren begleiteten sie, offenbar Engländer oder Amerikaner.
Geschmeide blitzte, herausfordernd war ihr Gang, die ganze Verwöhntheit
und Arroganz ihrer Kaste umgab sie.

Ihre Stimme traf Wenzels Ohr – und augenblicklich horchte er auf. Er
kannte diese Stimme, obschon sie englisch sprach. Und plötzlich fiel ihm
ein, wer diese Frau war, der die Blicke aller Männer und Frauen folgten.

Seine Augen begannen sonderbar zu brennen.

„Oh,“ rief der dicke Holländer bewundernd aus.

„Wer ist diese Dame?“ fragte Jenny, der Wenzels Erregung nicht entging.
(Später erinnerte sie sich deutlich der Beklemmung, die sie in diesem
Augenblick befiel.)

Wenzel tat gleichgültig. Er zuckte die Achsel. „Fast hätte ich sie nicht
wiedererkannt,“ sagte er. „Sie hat jetzt rötliches Haar, früher war sie
brünett. Es ist die Tochter des alten Raucheisen, Esther Raucheisen,
jetzt Lady Weatherleigh.“

Vor Jahren war Wenzel auf ihrer Hochzeit gewesen, auf dem Schloß des
alten Raucheisen, Charlottenruh. Oh, nicht als Gast, keineswegs. Als
Automat, als Sekretär Raucheisens hatte er allerlei kleine Dienste zu
verrichten, Pässe, Papiere zu besorgen, Telegramme zu senden. Er war
nicht einmal zur Tafel geladen gewesen. Esther hatte Sir John
Weatherleigh, Sohn des Reeders Weatherleigh in London, geheiratet und
war seit etwa einem Jahre geschieden. Die Ehe war nicht glücklich. Sir
John, ein hübscher, blonder, gutgekleideter und korrekt gescheitelter,
nichtssagender Junge, machte sich, so erzählte man, nichts aus Frauen.
Also war Lady Weatherleigh, war Esther Raucheisen wieder in Deutschland.

Diese Frau, umsprüht vom Glanz ihres Reichtums und ihrer Extravaganzen,
beschäftigte ihn von diesem Augenblick an. Er hatte an diesem Abend noch
eine sehr wichtige geschäftliche Konferenz, aber er war zerstreut, müde
und bat, die Besprechung auf morgen zu verschieben. Wenzel Schellenberg
müde! Goldbaum sah ihn erstaunt an. Es war das erstemal, daß Wenzel
etwas verschob. Er, der sonst nicht vor Konferenzen zurückschreckte,
sollten sie auch bis zum frühen Morgen dauern.

Was, zum Henker, mochte in ihn gefahren sein?

Wenzel war nachdenklich. So sonderbar es war, er konnte nicht mehr
vergessen, wie diese Frau durch den Speisesaal _ging_. Welch ein Gang
war das doch!

Esther Raucheisen war also wieder in Berlin. Sie war eigentlich nicht
schön, wenn man es genau überlegte. Aber sie hatte Rasse, ihre Mutter
war Engländerin alten Adels. Ihr Profil kühn, fast leichtsinnig, gab zu
denken. Sah man sie aber von vorn, so erschien das Gesicht plötzlich
nachdenklich, geheimnisvoll, rätselhaft. Sie hatte große graue Augen und
einen schönen, etwas herrischen Mund. Ihre Backenknochen waren betont,
die Wangen kantig geschnitten – so wenigstens hatte er sie in der
Erinnerung. Sie war launisch, verwöhnt, unberechenbar, ein Geschöpf
ihrer Kaste. Plötzlich aber kam Wenzel dieser sonderbare, launenhafte
Einfall: Diese Esther Raucheisen, sagte er sich nachdenklich, ist gewiß
eine Frau, wert, sie zu erobern. Es war eine Sache, wie? Nicht ihr
Reichtum würde mich interessieren, dieser Besitz bedeutet Belastung.
Nein, die Frau allein, auch wenn sie nicht einen Pfennig besäße! Und wie
amüsant wäre es, der alte Raucheisen würde Gift und Galle speien!

Dieser Gedanke versetzte Wenzel in strahlende Laune. Am nächsten Abend
ging er mit Jenny in den Zirkus, und nach der Vorstellung speisten sie
zusammen in Jennys Villa. Seit langem hatte Jenny Wenzel nicht bei so
prachtvoller Laune gesehen.


                                   2

In den nächsten Tagen aß Wenzel jeden Mittag und Abend im Adlon. Endlich
erschien Esther wieder. Sie erwiderte seinen Gruß verletzend kühl, mit
hochmütig hochschnellenden Brauen. Hinter ihrer launischen Stirn
arbeitete es, sie dachte nach. Aber plötzlich schien sie sich seiner zu
erinnern. Sie öffnete die Lippen und lächelte. Später begrüßte er sie.
Sie wechselten sechs Worte, und Wenzel verließ den Saal.

Am nächsten Tag war Esther Raucheisen nicht mehr im Hotel. Sie war
abgereist, nach Sankt Moritz, Stolpe stellte es fest.

Von diesem Augenblick an war Wenzel völlig verändert. Er war finster,
grübelte.

Stolpe erhielt einen Auftrag, der ihm außerordentlich willkommen war. Er
mußte heraus aus Berlin, und so nahm er Wenzels Order, sofort nach Sankt
Moritz zu reisen, mit vergnügten Bücklingen entgegen.

Drei Tage später lief sein Bericht ein: Esther Raucheisen war im Hotel
Carlton abgestiegen. Sie trieb viel Sport und befand sich meistens in
der Gesellschaft eines englischen Majors Fairfax und des bekannten
Pariser Bankiers Monsieur Blau. Stolpe hatte Zimmer bestellt.

Mackentin erhielt den Auftrag, die Vorbereitungen zur Reise zu treffen.

Wenzel befahl einem Sekretär, ihn mit dem Anwalt zu verbinden, der seine
Scheidung bearbeitete. Er erkundigte sich bei dem Anwalt, wie weit die
Angelegenheit gediehen sei.

Es zeigte sich, daß die Sache auch nicht um einen Schritt vorwärts
gekommen war. Der Anwalt hatte offenbar nicht das geringste unternommen.
Nach wie vor sträubte sich Lise gegen die Scheidung. Wenzel hatte ihr
eine hohe Abfindungssumme angeboten. Sie verlangte das Sechsfache.

„Schicken Sie mir Ihre Liquidation!“ rief Wenzel ins Telephon. Seine
Stimme klang nicht gerade höflich.

Am gleichen Tage noch konferierte er mit einem Anwalt, der ein
hervorragender Spezialist in Scheidungsangelegenheiten war. Dieser
Anwalt hieß Vollmond. Er war schlicht, nüchtern, ruhig. Wenzel trug ihm
seine Angelegenheit vor, und Vollmond schoß wie aus der Pistole kurze
Fragen gegen ihn ab.

„Es wird gehen, Herr Schellenberg,“ führte Vollmond hierauf in seiner
hastigen Sprechweise aus. „Wir setzen den Hebel bei den Kindern an. Wir
werden Frau Schellenberg drohen, ihr die Kinder wegnehmen zu lassen. Wir
werden den Nachweis erbringen, daß die Lebensführung von Frau
Schellenberg nicht geeignet ist, die Erziehung der Kinder günstig zu
beeinflussen.“

Wenzel unterbrach ihn. „Ich möchte, wenn es geht, diesen Weg nicht
einschlagen.“

„Dieser Weg ist der einzige, der rasch zum Ziele führt,“ entgegnete der
Anwalt. „Ich betrete ihn selbst nicht gern, man ist doch ein Mensch.
Aber solch hartnäckigen Frauen gegenüber bleibt etwas anderes nicht
übrig. Wir werden Frau Schellenberg beobachten lassen, sind Sie damit
einverstanden?“

„Auch das möchte ich gern vermeiden.“

„Dann werden Sie die Scheidung nie erreichen! Also Sie stimmen zu? Wir
werden Frau Schellenberg beobachten lassen und dann unsere Trümpfe
ausspielen. Es geht nicht anders, glauben Sie mir. Ich habe hundert
derartige Fälle bearbeitet. Ich werde Sie auf dem laufenden halten, Herr
Schellenberg.“

Schließlich pflichtete Wenzel allen Vorschlägen des Anwaltes bei. „Es
ist ja möglich, daß ich mich wieder verheiraten möchte,“ sagte er
lachend.

„Ich verstehe Sie, Sie wollen in erster Linie klare Verhältnisse.“

Wenzel spielte nur mit dem Gedanken einer möglichen Heirat. Aber auf
jeden Fall traf er bereits seine Vorbereitungen. Seit einem vollen Jahre
hatte er seine Scheidungsangelegenheit völlig außer acht gelassen.

Mackentin hatte ein Flugzeug bestellt. Um zehn Uhr morgens waren die
Koffer verstaut, und zehn Minuten später hob sich die Maschine in die
Luft. Schon begann Mackentin die Handtasche zu öffnen, die er mit in die
Kabine gebracht hatte. Er entnahm ihr eine Flasche Sherry, zwei Gläser
und ein Schachbrett. Sie hatten kaum das Weichbild von Berlin verlassen,
als sie schon eifrig im Spiel waren. Mackentin rieb sich die Hände.
Endlich einmal eine ruhige Partie!

Mit Behagen steckte er seine Zigarre in Brand.

Der Pilot schob einen Zettel in die Kabine: „Das Rauchen ist untersagt.“

Wenzel antwortete ihm auf einem Zettel: „Bauen Sie Ihre Kähne so, daß
sie nicht brennen können!“

Über Leipzig zeigte es sich, daß Wenzel einen groben Fehler gemacht
hatte. Er fluchte und gab die sorgfältig angelegte Partie auf. Sofort
begannen sie ein neues Spiel. Über dem Fichtelgebirge kamen sie in ein
Schneetreiben, aber das kümmerte sie nicht. Als sie über Nürnberg waren,
schien die Partie für Wenzel sehr günstig zu stehen, aber als sie den
Bodensee überquerten, zeigte es sich, daß Mackentin listig und
verschlagen einen Ausweg gefunden hatte. Er erzwang den Damenabtausch,
und Wenzels Siegesaussichten waren nur noch gering. Mackentin versuchte
verzweifelt ein Remis zu erzwingen. Aber Wenzel kämpfte heroisch,
während die Maschine über schneebedeckte, glitzernde Gebirgszüge
dahinflog. Schließlich blieb ihm indessen nichts anderes übrig, als die
Partie remis zu geben.

„Welcher Wahnsinn!“ schrie Wenzel wütend. „Ich hatte die Partie schon
gewonnen!“

„Hahaha!“ Mackentin packte vergnügt seine Handtasche zusammen. „Und hier
ist ja schon Sankt Moritz!“ sagte er und deutete auf ein gleißendes
Gebirgsmassiv, das, eine ganze Provinz aus Eis und Schnee, vor ihnen
lag. „Die Berninagruppe.“

Der Motor schwieg, und die Maschine tauchte sanft in den blendenden
Sonnenschein hinab.

„Man könnte glauben, man sei in New York!“ rief Mackentin aus, als die
Maschine an den vielstöckigen Hotels entlangstrich, deren tausend
Fenster in der Sonne funkelten.

„Und da ist Stolpe!“ Mackentin deutete auf eine winzige Gestalt, die mit
komischer Hast über das besonnte Schneefeld torkelte. „Wie er läuft!“

Sie waren angekommen.


                                   3

Und da war in der Tat der kleine Stolpe, atemlos, strahlend, kupferrot
gebrannt von der Sonne. Die Haut schälte sich von seiner Nase.

„Alles in Ordnung?“ fragte Wenzel.

„Alles in Ordnung,“ erwiderte Stolpe. „Ich habe die Gunst des Portiers
mit dreihundert Franken gekauft und glücklich die Zimmer erhalten. Und
hier kommt der Schlitten!“

Wenzel hatte im Hotel kaum den Koffer ausgepackt, als die Sonne hinter
den Berggipfeln verschwand. Das Berninamassiv flammte düster auf, dann
aber fiel rasch schwärzeste Finsternis über das Tal. Wenzel speiste auf
dem Zimmer und legte sich früh schlafen, nachdem er an Jenny ein kurzes
Telegramm abgesandt hatte. Seit Monaten kam er zum erstenmal wieder
frühzeitig ins Bett. Er schlief bis in den hellen Morgen hinein, volle
zwölf Stunden, ohne auch nur ein einziges Mal zu erwachen. Als er,
wundervoll ausgeruht, aus dem Hotel trat, mußte er geblendet die Augen
schließen.

Der weite Talkessel, in dem Sankt Moritz winzig und versteckt liegt,
fing wie ein Hohlspiegel die Sonne auf, um sie in tausend blitzenden
Feuern zurückzuschleudern. Die Luft, eisig von den Gletschern und
gereinigt von den endlosen Schneefeldern, war erfüllt von dem fröhlichen
Klingeln der Schlittenglocken. Es wimmelte von lachenden Menschen in
bunten Vermummungen. Auf den Eisplätzen der Hotels blitzten die
Schlittschuhe, die Bobs sausten durch den in einer Schneelawine
versunkenen Hochwald, die Skeletons klirrten die steilen Eisrinnen
hinab. Skiläufer, von Pferden in rasender Fahrt gezogen, flogen, in eine
Schneewolke gehüllt, dahin. Es kamen ganze Ketten engbesetzter
Rodelschlitten, übermütiges Volk. Die Gesichter kupferrot und schwarz
gebrannt von der Sonne. Und überall Fröhlichkeit, Lachen, Gesundheit.
Ein lustiger Ort, er gefiel Wenzel.

Während die übrige Menschheit sich anstrengte, die schwere Tagesarbeit
zu bewältigen, ohne vor Erschöpfung zusammenzubrechen, war hier eine
ausgelassene Schar von früh bis nachts fieberhaft bemüht, sich die
nötige Müdigkeit für einen gesunden Schlaf zu erarbeiten. Um fünf tanzte
man in den Dielen und Teestuben. Die Jazzorchester tobten. Um acht Uhr
aber waren alle die tagsüber in dicke Wolle verpuppten Wesen plötzlich,
gereizt von den Fluten elektrischen Lichtes, ausgeschlüpft – zarte
Seide, zartes Fleisch, zarter Duft. Es war ein Ort ganz nach Wenzels
Geschmack.

„Ich habe diesen Tisch hier belegen lassen,“ sagte Stolpe eifrig und
führte Wenzel in eine Ecke des Speisesaales.

Sie hatten den Löffel kaum in die Suppe getaucht, so erschien auch schon
Lady Weatherleigh, begleitet von ihren beiden Trabanten, die sie zu
Tisch führten.

Ihr Erscheinen erregte, wie immer, Aufsehen im Saal. Alles an ihr
funkelte und blitzte. Die Augen, Zähne, Lippen, das Haar, die Schultern,
Hände. Das kühne Profil herausfordernd in die Luft geworfen, rauschte
und funkelte sie dahin. Das Lächeln der großen Dame, die gewohnt ist zu
siegen, wo sie erscheint, umspielte ihren tiefrot gemalten, hochmütigen
Mund.

„Wer ist das?“ murmelte Mackentin hingerissen. Stolpe machte ihm ein
Zeichen.

Wenzel aber wurde schweigsam. Er saß mit zusammengezogenen Brauen, die
Kinnladen fest aufeinander gepreßt, wie bereit zum Angriff. So sah er
stets aus, wenn er einen Entschluß gefaßt hatte. Und Wenzel Schellenberg
hatte einen Entschluß gefaßt, als er Esther funkelnd und strahlend durch
den Saal rauschen sah und alle Leute aufblickten. Was flüchtiges Spiel
der Gedanken war, wurde zum Vorsatz. Er wollte Esther Raucheisen
erobern, koste es was es wolle.


                                   4

Nach Tisch begrüßte er Esther in der Halle des Hotels, ungezwungen und
keineswegs in der ehrfürchtigen Haltung, die die Herren annahmen, wenn
sie vor sie hintraten. Hier in der Halle pflegten sich die Gäste des
Hotels von der Tagesarbeit und den Strapazen der Tafel eine Stunde lang
auszuruhen, um Kräfte für den Ball und die Bar zu sammeln.

Esther war nicht im geringsten überrascht, Wenzel plötzlich vor sich zu
sehen. Es wimmelte in Sankt Moritz von ihren Bekannten aus Paris, London
und Berlin. Wo sie hinblickte, sah sie bekannte Gesichter.

„Sie sind hierhergekommen, um Sport zu treiben, Herr Schellenberg?“
fragte sie, während sie lächelte und ihn mit raschem, gewandtem Blick
musterte, sein Gesicht, seine Kleidung, seine Haltung, alles im
Bruchteil einer Sekunde.

„Ich nicht, aber meine Pferde,“ erwiderte Wenzel. „Ich werde meine
Pferde hier laufen lassen, mich persönlich aber so wenig wie möglich
anstrengen.“

Esther fand seine Antwort belustigend. Sie machte ihn mit ihren
Trabanten bekannt. Durch Stolpe war Wenzel bereits genügend informiert.
Da war also der bekannte Millionär Bankier Blau aus Paris, einer der
reichsten Männer Frankreichs, der im Kriege sein Vermögen verzehnfacht
hatte. Da war Major Fairfax, Sir Stuart Fairfax aus London, Inhaber der
Golfmeisterschaft von England.

„Weshalb haben Sie nicht auch zu dem Rennen auf dem See gemeldet,
Baron?“ wandte sich Esther an den Baron Blau.

„Mein Trainer befürchtet, die dünne Luft sei den Pferden nicht günstig,“
antwortete der Bankier gelangweilt, während er seine schwarzen runden,
melancholisch glänzenden Augen aufmerksam und gänzlich ungeniert auf
Wenzel richtete.

Der Bankier war ein zierlicher Herr mit pechschwarzem Scheitel und schon
etwas angegrauten Schläfen. Im Gegensatz zu den meisten Gästen war sein
Gesicht nicht braun gebrannt von der Sonne, sondern von einer leidenden
Blässe, einer Art glasiger, bläulicher Glasur überzogen. Seine Miene war
hochmütig und gelangweilt, und die nervös eingezogenen Nasenflügel
erweckten den Eindruck, als sei er stets etwas gekränkt. Er hatte die
Angewohnheit, zuweilen die Schultern in die Höhe zu ziehen und sich zu
strecken, als versuche er, sich größer zu machen. Wenzels Größe schien
ihn zu verletzen, er schien sie als Anmaßung und Herausforderung zu
empfinden.

Baron Blau war, ganz wie Wenzel, nicht nach Sankt Moritz gekommen, um
Sport zu treiben. Er lief allerdings jeden Vormittag eine Stunde
Schlittschuh, und zwar genau von zehn bis elf Uhr. Da sah man ihn auf
der spiegelglatten Eisfläche des Hotels mit etwas verdrossener Miene
seine Acht fahren. Von Viertelstunde zu Viertelstunde machte er eine
Pause, um den Rauch einer dünnen Zigarette durch die Nase zu stoßen.
Dabei sah er mißmutig den andern Schlittschuhläufern zu. Er trug
schwarzweiß karierte, weitausladende Breeches und einen auffallenden
himmelblauen Sweater, über den Wenzel laut lachen mußte. Am Nachmittag
spielte er eine Partie Curling. Runde Steine, gepreßten Käsen ähnlich,
in der Größe von Wärmflaschen, wurden über die spiegelglatte Bahn nach
einem Ziel geschossen. Es war mehr ein Spiel der alten Herren, die
diesem Sport mit großer Begeisterung oblagen. Sie schabten und kehrten
das Eis mit kleinen Besen, fieberhaft, um die Geschwindigkeit des
Steines zu beschleunigen. Oft sah es aus, als ob sich eine Gruppe von
Straßenkehrern auf der Eisfläche tummelte. Das war die ganze
Beschäftigung des Barons. Am Tage sah man ihn nur wenig, jede Nacht aber
ging er als letzter schlafen.

Major Fairfax dagegen war der typische Sportsmann. Er war hager, noch
etwas größer als Wenzel, Körper und Kopf nichts als Haut und Knochen.
Auf seiner mächtigen Adlernase schälte sich die Haut, so vollständig
schwarz gebrannt war er von der Sonne. Er trug eine kleine rote
Zahnbürste als Schnurrbart, und seine rötlichen Haare standen in
eigensinnigen Büscheln um den kahl werdenden Schädel. Wo andere Leute
Augen haben, hatte der Major etwas wie geschmolzenes Silber.

Am Vormittag pflegte der Major auf dem Skeleton zu trainieren. Mit dem
Bauch auf dem niedrigen Schlitten liegend, schnellte er im Hechtsprung
über die vereisten Fahrrinnen, die schräg wie ein Dach abstürzten. Er
hatte an seinem Schlitten zwei Stoppuhren angebracht, deren Mechanismus
er während der rasenden Fahrt auslösen konnte. Wenn er dahinsauste, war
seine gebogene Nase kaum eine Spanne von der harten Eisfläche entfernt.
Am Nachmittag saß er am Steuer seines Bobs „Old England“. Da lag er
ebenfalls auf dem Bauch, das Steuer in den ausgemergelten Händen, die
Augen auf die ihm entgegenrasende Schneebahn gerichtet. Er trainierte
für das große Bobrennen, das in vierzehn Tagen stattfinden sollte. Auf
ihm lag Lady Weatherleigh, und hinter ihr lagen noch drei Mitfahrer.
Lord Hastings, einer der berühmtesten Fasanenschützen Englands, bediente
die Bremse. Mit dem Ausdruck der tödlichen Langweile auf seinem
Bulldoggengesicht saß er da, wenn der Bob in die Tiefe fuhr. Gestern
hatten sie umgeworfen, und Lord Hastings hatte sich den Arm verstaucht.

Esther, stets von einem Schwarm von Verehrern umlagert, schien diese
beiden Trabanten an die Spitze ihrer Bewerber gestellt zu haben. Beide,
so erzählte man sich, hatten ihre Anträge gemacht und warteten auf ihre
Entscheidung. Baron Blau bot ihr seine Millionen, seine Schlösser, seine
Minen, seine Provinz in Tunis, seine Dampfjacht. Major Fairfax bot ihr
seinen Titel eines Golfmeisters von England, immerhin eine Sache, seine
Gesundheit, seine Größe von einem Meter neunzig und seine Faust aus
Eisen, die ein Pferd niederschlagen konnte. Er hatte kein Geld, nur
Schulden. Die beiden pflegten Esther seit zwei Jahren überall
nachzureisen, nach Ägypten, nach Monte Carlo, Paris, den französischen
Modebädern. Esther zog sie hinter sich her, ohne sich je zu erklären.

„Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Schellenberg,“
wandte sich Baron Blau an Wenzel, nachdem er ihn lange genug ungeniert
gemustert hatte. „Wir sind ja, irre ich nicht, für die gleichen Ziele
tätig.“ Er sprach französisch, immer im gleichen Ton, auf einer Note,
gleichgültig, unbeteiligt, als spräche ein fremder Mensch aus ihm, der
sich nur seiner Stimmbänder und seines Adamsapfels bediente.

Wenzel zeigte eine erstaunte Miene.

„Wenn ich mich nicht irre, haben wir schon zusammen korrespondiert,“
fuhr Baron Blau im gleichen Ton fort. „Oder sind Sie nicht jener Herr
Schellenberg, der für die Vereinigten Staaten von Europa und für den
Frieden unter den Nationen tätig ist?“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Ich bedaure, Sie enttäuschen zu müssen,
Herr Baron,“ antwortete er. „Es ist mein Bruder, von dem Sie sprechen.
Ich für meine Person gebe mich derartigen Illusionen und Träumereien
nicht hin.“

„Sie also nicht? Und Sie sagen, Illusionen? Oh!“ erwiderte Baron Blau
enttäuscht, aber mit der alten gleichgültigen, gelangweilten Stimme.

„Baron Blau ist Delegierter des französischen Roten Kreuzes und
fanatischer Pazifist,“ erklärte Esther.

Der Baron streifte ihr Gesicht mit einem argwöhnischen, verletzten
Blick. Es schien ihm, als ob Esther Pazifisten verachte. Wie die meisten
Damen der Gesellschaft schien sie Männer zu bevorzugen, die sich in
Stücke schießen ließen. Wie die meisten dieser Damen wußte sie nicht aus
welchem Grunde.

„Sie glauben also nicht, daß ein dauernder Friede zwischen den Völkern
möglich ist?“ wandte sich Baron Blau wieder an Wenzel, die Brauen
hochgezogen.

„Nein,“ sagte Wenzel mit nachsichtigem Lächeln.

„So glauben Sie also, daß diese Kriege ewig währen müssen?“

„Ich glaube es. Die Menschen müssen eine Lüge haben, für die sie töten
dürfen und sterben können.“

Baron Blau prallte zurück.

Esther übersetzte Wenzels Antwort ins Englische, da der Major keine
andere Sprache als seine Muttersprache verstand.

Kaum hatte Major Fairfax begriffen, so streckte er Wenzel begeistert die
knochige Hand hin. „_Right you are! Right you are!_“ schrie er.

In diesem Augenblick aber kam eine kleine runde Dame, braun gebrannt wie
eine Nuß, auf sie zu und rief aufgeregt: „Major Fairfax!“

Der Major bog den Körper zur Erde, und sie flüsterte ihm etwas in das
knorplige Ohr. Fairfax schien aufs äußerste betroffen.

„Was sagte Peggy?“ fragte Esther voller Neugierde.

Der Major antwortete: „Peggy sagte, daß Nutcracker meine beste Zeit um
drei Sekunden unterboten hat.“ Nutcracker war der Name eines
rivalisierenden Bobs.

„Sie gingen heute zu hoch in die Kurven, Major Fairfax, Nutcracker geht
ganz eng herum,“ erwiderte Esther mit leisem Tadel. Zu Wenzel sagte sie:
„Ich erwarte übrigens morgen meinen Vater, Herr Schellenberg. Es wird
ihn gewiß freuen, Sie hier zu finden.“

Seine Freude wird nicht ungetrübt sein, dachte Wenzel mit einem leisen
Triumph im Herzen. Sie kennt nicht die Eitelkeit alter Männer, die
schlimmer ist als alle Eitelkeiten. Und weiter dachte er: Vor diesen
beiden Burschen da habe ich keine Angst. Was sind sie? Nichts!

Man hatte schon wieder genügend Kräfte gesammelt und begab sich, um die
Zeit bis zum Ball totzuschlagen, ins Billardzimmer. Esther war eine
leidenschaftliche Billardspielerin, und für Baron Blau bedeutete diese
Partie Billard nach der Abendmahlzeit die Entschädigung für einen ganzen
Tag des Wartens. Er spielte sehr gut, mit allen Finessen, geschult in
den ersten Billard-Akademien von Paris. Der Major spielte nicht. Er sah
zu, die Pfeife im Mund, und verfolgte jede Bewegung Esthers. Wenzel
wollte sich verabschieden, aber Esther lud ihn ein, mitzukommen. Sie
liebte es, gutgewachsene und gutaussehende Männer in ihre Gefolgschaft
einzureihen.

Die Blicke der Gäste, die, in die tiefen Sessel gebettet, noch
verdauten, folgten ihnen. Man flüsterte. Manchmal waren es fünf,
manchmal mehr, einige Tage waren es nur zwei gewesen, aber heute war
schon ein Neuer hinzugekommen. Eine schöne, verführerische Frau, gewiß,
aber ...


                                   5

Auf dem Marktplatz des Dorfes, inmitten der blendendweißen Schneemassen
– es war Neuschnee gefallen – erblickte Wenzel plötzlich die Gestalt
eines kleinen, anscheinend älteren Herrn, dessen Gang ihm sofort
auffiel. Der kleine Herr war in einen dicken Pelz gehüllt, und sein Kopf
verschwand fast vollständig unter der hohen Pelzmütze. Die Füße staken
in pelzgefütterten Überschuhen. In der Hand trug der Herr einen Stock
mit eiserner Spitze. Er schien sich nicht im geringsten um das Leben auf
dem Marktplatze zu kümmern. Eine Schar von Schlitten, mit buntem,
lachendem Volk beladen, zog übermütig vorüber, aber der Herr wandte
nicht einmal den Kopf. Zuweilen blieb er stehen und stieß mit dem Stock
auf irgendein Eisstück der Straße, dann schritt er wieder vorsichtig
weiter. Einige Schritte hinter dem Vermummten spazierte ein Diener. Am
Gang, an einer eigenwilligen, rechthaberischen Bewegung des Armes
erkannte Wenzel den kleinen Herrn. Es war Raucheisen in höchsteigener
Person!

Ganz im geheimen, wie ein Fürst, der inkognito reist, war der Herr des
Eisens und der Kohle, der Erfinder des kombinierten vertikalen und
horizontalen Trustsystems, nach Sankt Moritz gekommen. Bis Chur hatte
ihn ein Salonwagen gebracht. In einem geschlossenen Schlitten fuhr er
zum Hotel, und hier hatte der vorausgereiste Sekretär schon Vorsorge
getroffen, daß niemand das Antlitz des Gewaltigen erblickte. Raucheisen
ertrug den Anblick der Menschen nicht mehr, er ertrug auch nicht mehr
die Blicke der Menschen.

Nun lebte er den ganzen Tag verborgen in seinen Zimmern, still wie eine
Maus. Nur zuweilen verließ er das Hotel und stapfte eine halbe Stunde im
Schnee hin und her. Er war ja nur gekommen, um seine Tochter zu sehen.
Dann kehrte er wieder zu dem Berg von Telegrammen zurück, der von Tag zu
Tag auf seinem Schreibtisch höher wuchs.

„Mein Vater ist hier!“ rief Esther Wenzel lebhaft zu. „Er wird Sie zu
sich bitten, sobald er etwas ausgeruht ist.“ Und Esther zog die
zinkgelbe Zipfelmütze über ihren wilden roten Haarschopf und legte sich
auf dem Bob zurecht.

„Abfahrt!“ rief der Starter, und der Bob setzte sich weich und lautlos
in Bewegung. Major Fairfax hielt das Steuerrad in seinen mageren,
schwarzgebrannten knochigen Händen, die Augen fest auf die glitzernde
Bahn geheftet. An der Bremse saß mit dem gleichen Ausdruck der tödlichen
Langweile Lord Hastings. „Hallo! Wie geht es Ihnen?“ rief er Wenzel zu,
als sie vorüberglitten.

Schon aber begann der Bob zu sausen, und einen Augenblick später
verschwand er zwischen den von Schnee und Reif starrenden Bäumen.

Schon am nächsten Abend lud Raucheisen Wenzel zur Tafel. Wenzel hatte
sich in große Gala geworfen und erwartete den Alten, einen stillen
Triumph in den Augen. Aber er erschrak, als er Raucheisen in den kleinen
Salon eintreten sah. Raucheisen schien kleiner und dünner geworden,
zusammengezogen vom Alter. Sein Gesicht war fahl, kreidig, von gelben
Flecken bedeckt. Er betrachtete Wenzel einen Augenblick mit seinen
lebhaften, schnellen Blicken und reichte ihm die kleine, lasche Hand,
die beim Gruß nie einen Druck gab.

„Ich freue mich, Herr Schellenberg,“ sagte er und versuchte es mit einem
Lächeln, das freundlich sein sollte. „Sie sind noch ganz der gleiche,
Sie sind noch in dem Alter, in dem man sich nicht verändert. Wieviel
Jahre ist es schon her? Ich aber –?“

Aber er wartete Wenzels Antwort nicht ab. Er begrüßte Baron Blau und
schritt hastig zur Tafel, als habe er keine Minute zu versäumen. Er tat
es ja nur seiner Tochter zuliebe, daß er mit den beiden Herren speiste.

Baron Blau begann augenblicklich mit seiner monotonen, etwas hohen
Stimme zu plaudern. Er sprach, lebhafter als gewöhnlich, von besonderen
Schiffahrtsplänen im Mittelmeer, die ihn außerordentlich interessierten
und für die er, so schien es Wenzel, den alten Raucheisen zu gewinnen
suchte. Raucheisen indessen, der kaum die Speisen berührte, schien nicht
hinzuhören. Aber nach einer Weile schüttelte er den kleinen Kopf.

„Das Mittelmeer,“ sagte er ohne aufzublicken, „hat seit dem Kriege noch
mehr von seiner einstigen Bedeutung verloren. Es ist zu einer
nebensächlichen Pfütze geworden, in die ich keine tausend Tonnen
schicken würde.“

Baron Blau schwieg eine Weile. Sein blasses Gesicht wurde ganz
allmählich von einer eigentümlich hellen Röte überzogen. Sein dunkles
Auge brannte. Der geringschätzige Ton, mit dem Raucheisen seine Pläne
abgetan hatte, hatte ihn verletzt. Aber er gab sich keineswegs
geschlagen. Es war ja gerade seine Absicht, den Verkehr auf dem
Mittelländischen Meer wiederum zu beleben. „Sie beliebten zu sagen:
nebensächliche Pfütze,“ rief er, noch immer gekränkt, aus. „Das ist doch
wohl etwas übertrieben. Bedenken Sie, Frankreich, Italien, Ägypten –“

Aber Raucheisen antwortete nicht mehr. Er hatte sich längst von diesem
Thema abgewandt. Wie ist es nur möglich, daß dieser Baron ein Vermögen
gemacht hat, dachte er.

Nun begann Esther lebhaft von Ägypten zu erzählen, wo sie den letzten
Winter zugebracht hatte. „Welch ein wundervolles, märchenhaftes Land,
Papa! Und dabei jeglicher Komfort, jegliche Bequemlichkeit. Du mußt es
unbedingt kennenlernen. Fahre mit mir nach Ägypten, Papa!“

„Ich habe keine Zeit für eine solch lange Reise, mein Kind,“ erwiderte
Raucheisen.

Wenzel machte darauf aufmerksam, daß man heute in wenigen Stunden nach
Ägypten fliegen könne. Das war ein Vorschlag, den Esther begeistert
aufgriff. „Ja, fliegen wir, Papa!“ rief sie aus.

Raucheisen aber schüttelte den Kopf. „Ich bin zu alt,“ erwiderte er.
„Ich habe Furcht vor der Luft. Die neue Generation hat diese Furcht
überwunden.“

Dann sprach er mit Wenzel über die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands.
Es schien fast, als sei er, der Kühnste von allen, dessen Wagemut kein
Zögern kannte, der der Wirtschaft die Gesetze diktierte, in dem alle den
Meister bewunderten, als sei er ganz plötzlich unsicher geworden. Er sah
Schwierigkeiten, Hindernisse, Dunkelheiten, durch die sein Blick nicht
dringen konnte. Neue Fragen erhoben sich, Probleme, die unlösbar
schienen.

„Ich habe neulich lange mit Ihrem Bruder Michael konferiert,“ sagte er.
„Ihr Bruder hat diese Probleme erkannt. Er versucht in sie einzudringen.
In vielen Punkten hat er mich überzeugt. Zum Beispiel, daß wir eine neue
Generation gesunder Arbeiter erziehen müssen, sollen wir nicht auf dem
Weltmarkt in Bälde geschlagen werden. Und vieles andere. Nie haben sich
die Probleme derart gehäuft, nie schien ihre Lösung schwieriger. Wir
müssen Mut haben.“

Wenzel sah die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands mit
hoffnungsvolleren Blicken. Er äußerte sich zuversichtlich.

„Vielleicht sehen Sie schärfer als ich,“ entgegnete Raucheisen. „Ihre
Augen sind jünger.“ Er erhob sich, um sich zurückzuziehen. „Wir sehen
uns noch, Herr Schellenberg,“ sagte er, indem er sich verabschiedete.
„Ich möchte mit Ihnen noch über dies und jenes sprechen.“

Aber Raucheisen log, oder er vergaß es, denn Wenzel sprach ihn nicht
mehr. Geheimnisvoll, wie der alte Mann gekommen war, verschwand er.


                                   6

Wenzel gehörte nunmehr zu Esthers Gefolge, ganz wie der Baron und
Fairfax, als sei es von jeher so gewesen. Tag für Tag verbrachte er in
ihrer Nähe. Auf dem Schlitten, auf dem Eisplatz, beim Tanz in der
Teestube, im Billardzimmer und nachts in der Bar, wo die Jazzband
lärmte. Hier thronte Esther, hoch über allen Gästen, wie eine Königin.
Wenzels offene und ungenierte Art schien ihr zu gefallen. Häufig brach
sie in ein lautes Gelächter aus über eine seiner witzigen und
sarkastischen Bemerkungen. Dann rückte Baron Blau verletzt und unruhig
auf seinem Sessel. Die Augen des englischen Majors aber glänzten
selbstbewußt: er hatte das Bobrennen gewonnen! Nutcracker, sein
gefährlichster Rivale, hatte in der Haarnadel-Kurve beim dritten Lauf
umgeworfen.

Eines Tages, als ein heftiger Sturm Schnee und Dunkelheit um das Hotel
wirbelte, rief Esther plötzlich in Wenzels Zimmer an und bat ihn, bei
ihr Tee zu trinken.

„Ich habe heute eine große Bitte an Sie,“ sagte sie, als er bei ihr
eintrat, und ihr Mund zeigte nicht das übermütige, manchmal etwas
frivole Lächeln. Sie erschien ernst und der Blick ihrer großen Augen war
nachdenklich und etwas abwesend. „Ich fürchte zwar, daß Ihnen meine
Bitte nicht sonderlich angenehm sein wird, aber ich muß sie doch
aussprechen.“

„Ich stehe Ihnen zur Verfügung,“ erwiderte Wenzel verwundert und blickte
ihr in die Augen.

„Nehmen Sie Platz, Herr Schellenberg. Und nun hören Sie. Ich habe Sie
einmal gesehen, als ich noch ein ganz junges Mädchen war. Man hatte mir
gesagt: Heute kommt der Offizier, in dessen Armen dein Bruder gestorben
ist. Ich habe meinen Bruder sehr geliebt, er war ein herzensguter Junge.
Wollen Sie mir erzählen, wie er starb?“

Wenzel runzelte die Stirn. „Weshalb?“ sagte er, bereit sich zu erheben.
„Weshalb diese Dinge? Wir wollen sie vergessen.“

„Ich bitte Sie darum, Herr Schellenberg! Und ich bitte Sie, mir alles
ausführlich und sorgfältig zu berichten und mir nichts, auch nicht eine
scheinbar unbedeutende Einzelheit zu verschweigen. Versprechen Sie mir
dies?“

„Sie werden es bereuen,“ erwiderte Wenzel und begann zu erzählen.

Er berichtete von dem Furchtbaren, dem Entsetzlichen dieser Tage, von
dem noch Entsetzlicheren jener Stunde, da der junge Raucheisen in seinen
Armen verblutete.

„Gehen Sie,“ sagte Esther leise, während sie ihre Hand über die Augen
breitete.

„Ich wußte, daß Sie es bereuen würden. Weshalb rühren Sie an diesen
Dingen, die vergangen sind?“ entgegnete Wenzel und verabschiedete sich.

Am nächsten Morgen aber klingelten wieder die Schlittenglocken, die
Sonne glitzerte und brannte. Man frühstückte auf dem Eisplatz, die
Schlittschuhe an den Schuhen, die Bobs schossen durch den verschneiten
Wald. Abends tanzte man wiederum in der Bar, und nur zuweilen war es
Wenzel, als ob Esther seinen Blick meide.


                                   7

Am Morgen hatte Esther noch ein großes Programm für die Woche entworfen,
am Mittag erklärte sie, einer plötzlichen Laune folgend, daß sie morgen
früh nach Paris abreisen werde.

Die Freunde gaben ihr ein Abschiedsbankett, und Esthers brennendroter
Haarschopf sah in der Tat kaum eine Handbreit aus den Bergen von Blumen
hervor, die man auf der Tafel angehäuft hatte. Sie genoß strahlend ihren
Triumph.

Schon war das Foyer des Hotels angefüllt mit ihren Koffern. Und in einer
Ecke türmten sich die eleganten, nagelneuen Koffer des Barons Blau, der
es sich nicht nehmen ließ, Esther persönlich nach Paris zu begleiten.
Major Fairfax mußte, so sehr er es bedauerte, noch eine Woche in Sankt
Moritz bleiben, da er zum Skeletonrennen gemeldet hatte. Am Morgen
standen die Schlitten bereit, einer für Esther und Baron Blau, ein
zweiter für die Blumen und ein dritter für die Dienerschaft der beiden.

„Leben Sie wohl, Schellenberg,“ sagte Esther lachend auf englisch zu
Wenzel. „Ich hoffe, Sie wiederzusehen.“

Wenzel hatte Esther ein Riesenbukett von gelben Rosen ins Coupé bringen
lassen, einen ungeheuren Strauß, der eine ganze Ecke ausfüllte.

„Oh, hier sind ja auch noch Blumen!“ rief Esther mit der Stimme eines
erfreuten Kindes aus und nahm die Karte aus dem Bukett „Wenzel
Schellenberg!“ sagte sie. „Seht an! Wie originell!“

Es war ihr gar nicht aufgefallen, daß Wenzel ihr bis zu dieser Minute
keine Blumen gesandt hatte. Sie nahm es als selbstverständlich an. Alle
hatten ihr Blumen geschickt, natürlich auch Wenzel. Sein origineller
Gedanke, sich auf diese Weise bei ihr nochmals in Erinnerung zu bringen,
fand ihren Beifall.

Sie wußte nicht, daß Wenzel sich einen ganz besonderen Plan
zurechtgelegt hatte.

Als Esther ihre Gemächer im Hotel de Riz in Paris betrat, waren
natürlich auch diese Räume schon angefüllt mit Blumen. Die Pariser
Freunde hießen Esther willkommen. Während die Abschiedssträuße aus Sankt
Moritz auf irgendeinem Kehrichthaufen eines rußigen Bahnhofs verwelkten,
war hier schon ein neuer Blütengarten aus Flieder, Rosen, Maiglöckchen,
Tulpen, Narzissen wie durch Zauberei erstanden.

Und dieses Riesenbukett gelber Marschall-Niel-Rosen, erinnerte es nicht
an den Strauß Schellenbergs, der in Sankt Moritz die Ecke des Abteils
völlig ausgefüllt hatte, wie? Genau so, die Farben, die Größe.

Sie griff nach der Karte: Wenzel Schellenberg!

„Seht an, Wenzel Schellenberg,“ sagte Esther leise und erstaunt. Sie
wurde nachdenklich, warf den Blick rasch durch das Zimmer. Irgend etwas
an dieser Sache war sonderbar. Und nun fiel es ihr ein: Wenzel konnte
natürlich telegraphisch ein Bukett bei einem Pariser Blumenhändler
bestellen. Er konnte die Art des Straußes und die Farbe genau
bezeichnen, aber die Karte, wie sollte die Karte hierher kommen?

Sie fragte den Diener. Er wußte nichts. Der Strauß war mit der Karte im
Hotel abgegeben worden.

Das ist höchst merkwürdig und rätselhaft, sagte sich Esther, die
hartnäckig über dieses Rätsel nachdachte, das sie nicht lösen konnte.
Dieser Schellenberg ist gewiß ein merkwürdiger Bursche, dachte sie, der
drollige Einfälle hat. Aber meine Abreise kam ja so plötzlich, daß er
unmöglich die Zeit finden konnte, die Karte in einem Brief zu senden.

Aber als Esther, funkelnd und glitzernd in einer wunderbaren neuen
Pariser Robe, eine Stunde später in den Speisesaal rauschte, wer stand
da, kupferbraun, fast schwarz wie ein Neger durch den Kontrast des
weißen Frackhemdes, mit blitzenden Zähnen, und die Hände so braun, daß
die Fingernägel korallenrot aussahen? Wenzel!

Baron Blau, der Esther in den Speisesaal geleitete, starrte auf Wenzel
wie auf eine Erscheinung. Er glaubte im ersten Augenblick, es sei
Zauberei, eine heimtückische und auf jeden Fall unbehagliche Zauberei.
Und schlecht verbarg er hinter der erstaunten Miene seinen Verdruß. Er
hatte nichts gegen Schellenberg, oh, ganz und gar nicht, aber dieses
Große, Gesunde, Kraftstrotzende irritierte unaufhörlich seine Nerven. Er
schleudert Felsen, dachte er sich, er sieht stets aus, als sei er zu
Gewalttätigkeiten bereit, und wenn er lacht, muß man sich Watte in die
Ohren stopfen.

„Bei Gott, es ist Schellenberg!“ rief Esther mit heller Stimme aus,
überrascht, erfreut, geschmeichelt. Sie verstand augenblicklich.

„Auch ich habe dringende Geschäfte in Paris,“ antwortete Wenzel lachend
und schüttelte ihr die Hand.

Es war gar keine Zauberei im Spiel. Wenzel war mit dem nächsten Zug von
Sankt Moritz nach Zürich gefahren und von Zürich aus mit dem
Postflugzeug nach Paris gekommen. Er war schon seit heute mittag hier.

Mit einem resignierten Lächeln setzte sich Baron Blau zu Tisch. Seine
Stimme schwang hoch und gekränkt. Endlich hatte er gehofft, einige Tage
allein mit Esther verbringen zu können, ohne diesen fürchterlichen
Bobfahrer und ohne alle diese andern, die unaufhörlich Esthers
Fingerspitzen küßten. Nein, mit diesem derben Burschen da war nicht zu
spaßen. Wie hatte er das Hotel erfahren? Wie packte er alles an? Und
diese naive Zudringlichkeit, zartfühlend war er gewiß nicht.

„Herr Schellenberg ist zum ersten Male in Paris, Baron,“ sagte Esther.

Der Baron hatte sein Gleichgewicht noch immer nicht zurückgefunden. „Zum
ersten Male?“ fragte er mit gelangweilter Stimme. „Ist es möglich? Und
wie gefällt Ihnen Paris?“

Aber es tröstete das Herz des Barons einigermaßen, daß Wenzel von Paris
förmlich berauscht war. „Es lohnt sich in der Tat, mein lieber Baron,“
rief er aus, „sich Paris in tausend Meter Höhe zu nähern. Zuerst ist da
eine Staubwolke am Horizont, rotbraun wie ein Wüstensturm. Dann
erscheint eine Vision, eine Fata Morgana über der Staubwolke – eine
Moschee, schneeweiß und durchsichtig. Ich traute meinen Augen nicht,
glaubte beinahe, wir hätten uns verflogen. Diese schneeweiße Moschee ist
_Sacré coeur_, wie man mir später sagte. Die Staubwolke lichtet sich,
man erblickt ein Stadtviertel, und urplötzlich ist die Staubwolke
gänzlich verschwunden und eine ungeheure Stadt mit Millionen funkelnden
Fenstern erstreckt sich von Horizont zu Horizont.“

Wenzel hatte bereits vier Stunden lang die Stadt im Auto nach allen
Richtungen durchquert. Er hatte Stadtviertel gesehen, die der Baron, ein
geborener Pariser, kaum dem Namen nach kannte. Er hatte Gewohnheiten des
Volkes entdeckt, die dem Baron nie aufgefallen waren. Eine ganze Reihe
von Industrien hatte er festgestellt, von deren Existenz der Baron
nichts ahnte.

„Welche Vitalität!“ dachte Baron Blau mit einem melancholischen Blick.

„Ich werde Ihnen Paris zeigen, Schellenberg,“ sagte Esther. „Es gibt
eine Anzahl kleiner Theater, Kneipen und Tanzlokale, wo Sie noch das
echte Pariser Leben beobachten können. Wollen Sie uns begleiten, Baron?“

„Sie wissen, welche tiefe Abneigung ich vor diesen Dingen habe, meine
Freundin. Weshalb quälen Sie mich also?“ entgegnete der Baron mit
verletzter Miene.

„Dann müssen wir leider auf Ihre Gesellschaft verzichten. Oh, es wird
ganz wunderbar sein, Schellenberg. Wir werden uns sehr schlicht kleiden,
manchmal wie Apachen. Ich werde Sie durch das ganze unbekannte Paris
führen. Wenn Sie Lust haben, heißt das.“

„Natürlich habe ich Lust!“ erwiderte Wenzel.

Baron Blau zankte ärgerlich mit dem Kellner. Er haßte diese Neigung
Esthers, durch obskure Lokale zu ziehen. Die blasse Glasur seines
Gesichtes wurde von einer leisen, eigentümlich hellen Röte überzogen.

„Wann fangen wir an?“ fragte Wenzel in bester Laune.

„Heute, wenn Sie wollen,“ entgegnete Esther.

„Nun gut, dann heute.“

Aber Baron Blau legte hier feierlichen Protest ein. Die melancholischen
Tieraugen auf Esther gerichtet, erinnerte er sie mit gekränkter Miene
daran, daß sie den ersten Abend ihren Freunden versprochen habe. Ah, nun
war es offenbar, daß der Teufel diesen Schellenberg auf dem Rücken nach
Paris getragen hatte.

Jeden Abend, den sich Esther, eifersüchtig umlagert von ihren Freunden,
frei machen konnte, durchstreifte sie mit Wenzel diese große,
unheimliche Stadt, die mehr Geheimnisse birgt als irgendeine Stadt der
Welt, die großen Städte Chinas vielleicht ausgenommen. Sie besuchten
Theater, in denen man derbe Possen aufführte, wo die Zuschauer
mitspielten und Bemerkungen auf die Bühne hinaufriefen. Sie besuchten
Varietés, Tingeltangel, Verbrecherkeller, Künstlerkneipen. Da und dort
ging es etwas ausgelassen zu. Esther schüttelte sich vor Lachen. Da
Wenzels Französisch nicht so weit reichte, so machte sie den
Dolmetscher.

„Es sind etwas starke Dinge,“ sagte sie.

„Weshalb sollen sie nicht stark sein? Alle Völker, die gesund und
phantasievoll sind, hassen die Prüderie.“

Sie besuchten die Tanzlokale der Studenten. Sie besuchten Bars, wo
kleine Tänzerinnen so, wie Gott sie geschaffen hatte, auftraten. Sie
streiften bei Nacht in den Hallen umher, zwischen Bergen von Gemüsen und
Blumen, und aßen in einem kleinen Restaurant die Zwiebelsuppe, die die
Lastträger aßen. Es war herrlich, und niemals hatte Wenzel sich so wohl
gefühlt. Welch eine wundervolle Stadt, bis zum Rand mit Energien
angefüllt!

Die Nähe dieser verwöhnten und launenhaften Frau, die an jedem Abend, in
jeder Stunde anders war, wirkte auf ihn wie starker Wein. Sein Blick
glitt über ihren feinen, zarten Nacken, auf dem ganz feine, kaum
sichtbare hellbraune Härchen schimmerten. Sein Blick lag auf ihrem
hellrot gemalten Mund – den er bald küssen würde, das wußte er. Sein
Blick lag auf ihren Wangen, die sie rot und braun malte, und auch diese
Wangen würde er bald mit Küssen bedecken. Dann sollte ihr das frivole,
leichtfertige Lachen vergehen! Gib acht, gib acht! Sein Blick lag auf
ihren schmalen und wundervoll gepflegten Händen. Bald würde er sie in
seine Hand nehmen, um sie zusammenzupressen. Sein Blick tastete über
ihren Körper, und bald kannte er jede seiner Linien. Bald würde er ihn
mit seinen Küssen verbrennen. Hüte dich, Esther Weatherleigh! Zuweilen
standen Wildheit und Begierde so deutlich in seinen Augen, daß sie es
fühlte. Und nichts war für Esther verwirrender, als wenn sie hörte, daß
seine Stimme vor Erregung schwang. Ihre Miene aber blieb kühl und
undurchdringlich.

Die Besuche der verschiedenen Kneipen und Varietés erlaubten kleine
Vertraulichkeiten, wie der Speisesaal des Hotels und das Licht der
großen Theater sie nie erlaubt hätten.

„Sie haben den schönsten Nacken, den ich je bei einer Frau sah,“ sagte
Wenzel.

Esther zog ungnädig die Brauen in die Höhe. „Sie können mich betrachten,
solange Sie wollen,“ antwortete sie. „Aber ich wünsche nicht, daß Sie
über Ihre Entdeckungen sprechen.“

Eines Tages wurde Wenzels Verlangen, diese hellrot gemalten Lippen zu
küssen, so unwiderstehlich, daß er Esther, als er ihr aus dem Auto half,
ohne darüber nachzudenken, in die Arme nahm, an sich preßte und küßte.

Esther stand völlig überrascht. Sie starrte Wenzel mit offenem Munde an
und fand keine Worte. Nie in ihrem Leben hatte ein Mann eine solche
Verwegenheit gewagt, und noch dazu vor dem Tor des Hotels, durch dessen
Scheiben der Nachtportier starrte.

„Wie töricht Sie sind!“ sagte sie ganz leise, tadelnd und
zurechtweisend, indem sie ins Hotel trat.


                                   8

Einige Tage sah und hörte Wenzel nichts von Esther. Er wartete, aber
wenn die Stunde vorüber war, in der sie sich gewöhnlich mit ihm
verabredet hatte, verließ er das Hotel, um sich in den Strudel von Paris
zu stürzen.

So war es wahr, daß er diese Frau liebte und begehrte, so wahr war es
auch, daß sie Jahrzehnte warten konnte, ehe er den ersten Schritt zur
Aussöhnung tun würde. So war es wahr, daß er sich nach dieser Frau
verzehrte, so wahr war es auch, daß es tausend verführerische und schöne
Frauen in dieser Stadt gab, die reizend plauderten und deren Reize
entzückten. So war es wahr, daß Wenzel sich in jeder Minute nach dieser
Frau sehnte, so wahr war es auch, daß er in dieser gleichen Minute das
Leben in vollen Zügen in sich trank und sich keineswegs sentimentalen
Schwärmereien hingab. Da war also Wenzel Schellenberg, da war Esther
Weatherleigh, und da war Paris.

Des Mittags pflegte Wenzel im Hotel zu speisen. Esther mied den
Speisesaal seit jenem Vorfall. Eines Tages aber kam sie mit Baron Blau
und einem blonden, hübschen, außerordentlich sorgfältig gekleideten
jungen Herrn in den Speisesaal. Sie winkte Wenzel zu sich an den Tisch,
als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.

„Sie müssen mit uns speisen!“ rief sie aus. „Und hier ist Sir John, mein
früherer Gatte. Sie sehen, wir sind gute Freunde geblieben.“

Am nächsten Abend schon machten sie einen ihrer gewöhnlichen
Abendausflüge nach einem Vorstadttanzlokal, ganz als sei nichts
geschehen.

Einige Tage später reiste Wenzel nach Berlin, aber nach fünf Tagen war
er schon wieder in Paris.


                                   9

Es fing bereits an zu dämmern. Christine, den kleinen Georg auf dem Arm,
stand am Waldrand – gerade da, wo sich früher die ersten Arbeitsschuppen
befunden hatten – und spähte die Landstraße hinab. Schon eine Stunde
stand sie hier und wartete. Ihr Gesicht schimmerte bläulich in der
Dämmerung, das Umschlagetuch auf ihren schmalen Schultern flatterte im
Abendwind. Endlich erblickte sie Georg. Mit seiner kleinen Reisetasche
in der Hand kam er raschen Schrittes daher. Als er seine Frau mit dem
Kinde sah, begann er zu laufen. Auch Christine lief.

„Willkommen zurück!“ rief sie und streckte ihm das Kind entgegen.

Georg herzte das Kind und küßte Christine. Sie umschlang ihn, und
während sie vor Freude lachte, sprangen ihr die Tränen über das Gesicht.

Georg war verreist gewesen, volle vier Tage. Zum ersten Male, seit sie
nach Glückshorst gekommen waren, hatten sie sich getrennt. Diese vier
Tage aber waren Christine endlos erschienen. Sollte man es für möglich
halten, wie lange ein Tag sein konnte? Abend für Abend war sie mit dem
Kinde die Landstraße entlang gegangen, obwohl sie wußte, daß Georg erst
heute kommen konnte. Endlich war er wieder bei ihr.

„Wie geht es euch, und was gibt es Neues?“ fragte Georg.

„Eine Menge Post ist da!“ antwortete Christine, während sie den Arm um
Georgs Schulter legte. „Ich habe alle Telephongespräche aufgeschrieben,
und – fast hätte ich es vergessen – der Plan von Glückshorst ist aus
Berlin zurückgekommen.“

„Genehmigt?“ Georg blieb voll Spannung stehen.

„Ja, genehmigt! ‚Genehmigt, Schellenberg‘ steht unten am Rand.“

Mit dem Kind auf dem Arm, vollführte Georg einen Freudentanz auf der
Straße.

„Wie wunderbar!“ rief er aus. „Und doch muß ich noch Verbesserungen
anbringen. Was ich gesehen habe in diesen Tagen! Nun, ich werde es dir
erzählen.“

Schon begannen die Lichter von Glückshorst zu glitzern. Weit
auseinandergezogen lag die Siedlung da. Die großen Fenster der
Tischlereien und Werkstätten und ganze Reihen von Arbeiterbaracken
leuchteten in die Dämmerung. Jene hellstrahlenden drei Fenster waren das
Gasthaus, die Herberge, in der Mutter Karsten, plappernd und plaudernd
von früh bis nachts, das Zepter führte. Gleich daneben blinzelte ein
kleines Licht. Das war der Laden des Schlächters Moritz, der noch
arbeitete. Das ruhig schimmernde Fenster rechts gehörte zum Hause eines
pensionierten Lehrers, der die Schule übernommen hatte. Und die übrigen
verstreuten Lichter, das waren die Häuser von Siedlern, die mit ihren
Familien nach Glückshorst gekommen waren. Ein Arzt, eine
Krankenpflegerin, Kaufleute, Handwerker. Schon war fast jeder Beruf
vertreten. Weiter unten am Kanal stand eine ganze Reihe blendender
Fenster. Es sah fast aus wie ein Bahnhof in der Nacht. Das waren die
Werkstätten einer Fahrradfabrik, die sich hier niedergelassen hatte.
Eben heulte ihre Sirene in den stillen Abend.

Ja, in der Tat, eine richtige kleine Stadt war Glückshorst schon
geworden. Weit über die Heide greifend, erkannte man schon ihre
zukünftige Gestalt.

Es war Ende Mai, aus den Gärten stieg der feuchte Atem der
Fruchtbarkeit, die riesigen Gärtnereien dufteten.

Christine hatte ein herrliches Empfangsmahl hergerichtet. Sie hatte
einen ihrer jungen Hähne geopfert, blutenden Herzens, denn sie liebte
ihre Tiere, und diesen Hahn hatte sie buchstäblich an ihrem Busen
aufgezogen. Als Küken war er krank gewesen, und um ihn zu wärmen, hatte
sie ihn auf ihrer Brust getragen. Dazu hatte Christine Radieschen und
frischen, jungen Salat aufgetischt, alles aus ihrem Garten, und – eine
Überraschung für Georg – eine Schale voll Erdbeeren, herrliche, große,
fehlerlose Früchte.

„Du hast schon Erdbeeren?“ fragte Georg erstaunt, als sie sich zu Tisch
setzten.

„Ich habe ein kleines Warmbeet, ganz im geheimen,“ lachte Christine.

Georg bewunderte Größe und Glanz der Früchte. „Ich sehe, du hast den
Gärtnern schon ihre Kunst abgeguckt!“

Nun aber ging es ans Erzählen. Noch jetzt war Georg ganz benommen. Was
er alles gesehen hatte!

„Es ist unglaublich, was sie da geschaffen haben, Christine! Es ist
unvorstellbar! Wir waren alle völlig berauscht, und Schellenberg wurde
von allen Seiten beglückwünscht.“

Er war in dem großen Siedlungsgebiet „Neuland“ gewesen, wohin Michael
Schellenberg eine große Anzahl seiner Mitarbeiter gebeten hatte.
„Neuland“ war ein Komplex von acht Städten, die neu angelegt und neu
geschaffen werden sollten. Industriegartenstädte, in mächtiger
Ausdehnung auf der ungeheuren Heide angelegt, die sich nördlich von
Hannover bis hinauf nach Lüneburg und zur Elbe erstreckt. Man hatte vom
Mittellandkanal in Hannover aus einen Kanal begonnen, der, mit einer
Anzahl von Abzweigungen versehen, quer durch die Heide zur Elbe führen
sollte. Diese Kanäle bedeuteten die Arbeit vieler Jahre. Scharen von
Arbeitslosen, Kolonnen jugendlicher Freiwilliger und Bataillone von
Strafgefangenen waren mit dem Bau beschäftigt. In diesem Netz von
Kanälen waren die neuen Stadtkomplexe gelagert, alle schon fix und
fertig vermessen und zum Teil schon begonnen. Riesige Gärtnereien,
Wälder, Parkanlagen, ungeheure Industrieterrains. Eine Million Menschen
sollte in „Neuland“ die Heimat finden.

Staub, Rauch, Maschinen, Dampfpflüge, Traktoren, Walzen,
Arbeiterkolonnen. Und vordem war hier nichts als ein kläglicher Wald mit
verdorrtem Boden und unfruchtbare Heide. Georg fand in seiner Erzählung
kein Ende.

„Aber nun an die Arbeit, Christine!“ rief er plötzlich aus, indem er
ungeduldig aufsprang. „Nicht eine Stunde wollen wir versäumen.“

Die Tür zu der Kammer, in der das Kind schlief, stand offen. Georg hatte
den großen Plan von Glückshorst mit Reißnägeln auf den Zeichentisch
geheftet, und nun legte er sich darüber, um den Plan noch einmal nach
seinen neuen Erfahrungen zu überprüfen. Die Pläne wurden von
Schellenbergs Städtebauern in großen Umrissen vorgezeichnet. Aber der
Chef jeder Station hatte sie bis in die kleinsten Einzelheiten
durchzudenken. Jede Einzelheit für die zukünftige Entwicklung der
Siedlung mußte vorgesehen werden.

Am Kanal entlang zog sich das Industriegelände, und in der Mitte lagen
die großen Gärtnereien. Dies war der Platz, vorgesehen für spätere
Parks, Verwaltungsgebäude, Kirchen, Schulen, das Herz der Stadt. In fünf
Jahren konnten diese Bauten begonnen werden. Der einzige Bau, der zur
Zeit in Angriff genommen war, war ein Flügel des Schulhauses. Auch ein
Platz für einen Kanalhafen war vorgesehen. Ebenso der Gürtel eines
Parks, der die Stadt umschließen sollte und den Übergang bildete zu den
Großlandwirtschaften, die die Bestimmung hatten, diese Stadt künftig zu
ernähren.

„Ich bin noch nicht zufrieden mit der Lage des Bahnhofs,“ sagte Georg
erregt. „Ich muß alle Gesichtspunkte noch einmal durchdenken.“

Christine stand neben ihm und blickte eifrig in den Plan, in dem sie zu
lesen gelernt hatte, ganz wie Georg. Wie er, sah sie die vollendete
Stadt vor sich.

„Vielleicht war der frühere Platz doch besser, Georg.“

„Wir müssen alles noch einmal durchdenken, Christine,“ wiederholte
Georg, dessen Wangen vor Eifer brannten.

Christines Wange streifte seinen Kopf. Sie war glücklich. Und wie ruhig
das Kind schlief!


                                   10

Lise Schellenberg hatte den ganzen Winter an der italienischen Riviera
verbracht. Nicht zu ihrem Vergnügen, sondern um eine leichte Entzündung
ihrer Stimmbänder auszuheilen, die sich beim Singen störend bemerkbar
machte. Die leichte Heiserkeit, die selbst beim Sprechen auffiel, hatte
sich verloren, und als es warm wurde in Deutschland, kehrte Lise wieder
nach Berlin zurück.

Müde von der Reise, widmete sie sich den ersten Abend ihren Kindern, für
die sie nach der langen Trennung eine unsägliche Zärtlichkeit empfand.
Sie sah sich in ihrer Wohnung um, die ihr fremd geworden war. Sie
telephonierte an alle ihre Bekannten. Und schließlich sah sie die Post
der letzten Woche durch, die nicht mehr nachgesandt worden war. Nichts
von Bedeutung. Das unverschämte Angebot eines Konzertagenten zu einer
Tournee in der Provinz, ohne jegliches Honorar, nein, danke schön. Und
hier war eine Art amtliches Schreiben. Lise nahm es mit beleidigter
Miene in die Hand, während sie eine Zigarette zwischen den Lippen hin
und her schob. Sie liebte behördliche Schreiben nicht. Sie liebte
Gesellschaften, fröhliches Geplauder, Chopin, aber sie liebte nicht
Dinge, die sie daran erinnerten, daß sie ihren Mitmenschen gegenüber,
der Gesellschaft, dem Staate, Verpflichtungen hatte. Man forderte sie
auf – es war gänzlich unwürdig, daß es Einrichtungen gab, die über ihre
Zeit verfügen konnten.

Sie hatte aber kaum einen Blick in das Schriftstück geworfen, als sie so
fahl wurde, daß ihr hellblonder Haarschopf dunkel erschien und ihre
blauen Augen grau wie dunkler Schiefer. Die Zigarette entfiel ihrer Hand
und qualmte auf einem Stück Papier weiter.

Was war das?

Lises Augen wurden starr vor Schrecken. Wie war das möglich? Eine
Vorladung des Gerichts zu einem Termin. Wenzel hatte die Klage auf
Scheidung eingereicht.

Plötzlich flammte ihr ganzer Körper, als stände sie mitten in einem
Feuer. Sie sprang bestürzt auf und warf das Schreiben von sich. Wie war
all das möglich? Hatte sie es mit einem Teufel zu tun? Und hier war ein
Brief von Wenzels Anwalt, der sie seit Monaten mit seinen Zuschriften
bombardierte. Wenzel ließ ihr mitteilen, daß er ihr eine glänzende
Sicherstellung verspreche für den Fall, daß sie sofort in die Scheidung
willige. Weigere sie sich aber, so werde er nicht vor dem Äußersten
zurückschrecken. Oh, ja gewiß, sie hatte es hier mit einem Schurken und
einem Teufel zugleich zu tun. Lise stürzte in das Kinderzimmer und riß
die Kinder aus dem Bett, um sie an die Brust zu drücken und mit Küssen
zu bedecken. „Sie wollen euch von mir wegnehmen!“ schrie sie. Die
Kinder, verschlafen und verstört, begannen zu weinen.

Gerhard blickte sie mit den grauen Augen Wenzels an. „Wer will uns
wegnehmen?“ fragte er, das Gesicht in Tränen gebadet.

„Nun, Papa!“

Oh, nun war ihr schon etwas leichter. Sie vermochte wieder zu denken, es
war zuviel gewesen. Sie klingelte Michael an, und Michael ließ ihr
sagen, daß er noch etwa zwei Stunden im Bureau sein werde und sie
erwarte.

Augenblicklich nahm Lise einen Wagen. Es war etwas nach neun Uhr, als
sie im Bürogebäude Michaels ankam. Michael saß an seinem Schreibtisch,
müde und abgespannt, und diktierte Eva Dux Briefe.

„Ich stehe sofort zu deiner Verfügung, Lise,“ sagte er mit einem müden
Lächeln. Eva erhob sich, ohne ein Wort zu sprechen, und verließ das
Zimmer.

„Wie geht es mit der Stimme?“ fragte Michael. Nun aber bemerkte er Lises
außerordentliche Erregung und Blässe. Von ihren Wimpern sprangen die
Tränen. Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Die alte Sache?“ fragte er. „Weshalb könnt ihr euch nicht in Frieden
trennen?“ Diese langwierige Scheidungsangelegenheit quälte ihn tödlich.

Lise warf das Schreiben des Anwalts und die Vorladung auf den Tisch.
„Lies nur, Michael, lies!“ schrie sie. „Wenzel ist ein Schurke! Ein
vollendeter Schurke!“

„Weshalb diese Heftigkeit, Lise?“ sagte Michael und runzelte ärgerlich
die Stirn. Er durchflog das Schreiben des Anwalts und die Vorladung des
Gerichts.

Nun begann Lise leise zu wimmern.

„Du sollst mir helfen, Michael!“ flehte sie. „Ich ertrage es nicht
länger! Bin ich wirklich eine Frau, der man die Erziehung der Kinder
nicht anvertrauen kann?“

Michael sah sie mit einem klaren Blick an. „Ich will nichts fragen,“
sagte er nach einigem Nachdenken. „Es sind deine Privatsachen, die mich
nichts angehen. Ich rate dir, was ich dir immer geraten habe: Trenne
dich in Frieden von Wenzel. Ich werde morgen früh mit euren Anwälten
sprechen und zu vermitteln suchen.“

„Wenzel zieht mit dieser Lady Weatherleigh durch die Tanzsäle von Paris.
Ich weiß wohl, was er beabsichtigt!“ rief Lise aus.

Sie verbrachte eine unruhige Nacht und schlief erst gegen Morgen ein.
Der telephonische Anruf ihres Anwalts weckte sie. Justizrat Davidsohn
ersuchte sie, ihn noch im Laufe des Vormittags zu besuchen.

Der Justizrat prüfte die Schriftstücke zuerst flüchtig, dann aber
studierte er sie mit großer Gründlichkeit. Er drehte sie sogar um, ob
nicht auf der Rückseite noch etwas stehe. Schließlich trommelte er mit
den behaarten Händen auf den Tisch. Nunmehr hatte er sich so weit
gesammelt, um sich aller Einzelheiten dieser Sache Schellenberg contra
Schellenberg zu erinnern.

„Sie wurden beobachtet, gnädige Frau,“ sagte er endlich, ohne jede
Vorbereitung.

„Beobachtet? Von wem?“ Lise erbleichte.

„Es geht aus dem Schreiben meines Kollegen hervor, daß Sie monatelang
unter genauer Beobachtung standen.“

„Das ist eine Infamie!“

„Es ist nicht schön, gewiß nicht,“ antwortete Davidsohn und schüttelte
den Kopf. „Aber Sie sehen, es gibt Anwälte, die vor keinem Mittel
zurückschrecken. Es fragt sich nun, wie weit die Beobachtungen auf
Wahrheit beruhen. Sie waren drei Monate an der italienischen Riviera.
Mein Kollege behauptet nun, daß Sie zwei Monate lang einen Freund zu
Besuch gehabt hätten, der in ihrer Villa wohnte. Ein gewisser, lassen
Sie sehen, Dr. Friedrich, wohnhaft Achenbachstraße 5. Trifft das zu,
gnädige Frau?“

Lises Augen blitzten. „Ich antworte auf diese Frage nicht!“ erwiderte
sie.

Der Justizrat lächelte nachsichtig. „Mir, Ihrem Anwalt, können Sie
getrost antworten, gnädige Frau. Sie waren etwas unvorsichtig, aber
erregen Sie sich bitte nicht. Mein Kollege behauptet ferner, dieser
Freund habe Sie auch in Berlin schon zuweilen besucht und das Haus erst
am Morgen verlassen.“

„Diese Behauptung ist eine nichtswürdige Lüge!“ schrie Lise.

Wiederum lächelte der Anwalt nachsichtig. „Sie sollen sich nicht
erregen. Vielleicht haben Sie unzuverlässiges Personal. Ich habe den
Eindruck. Es sind Daten genannt.“

Lise schwur, noch heute ihre beiden Dienstmädchen zu entlassen. (Sie
entließ tatsächlich ein Mädchen, eine Polin, die sich unter ihrem
strengen Verhör verriet. Sie gab ihr ein paar Ohrfeigen und warf sie
noch in der gleichen Stunde hinaus.)

„Was die Kinder anbetrifft,“ so fuhr der Justizrat fort, „so ist das ja
nicht so ernst zu nehmen. Sie werden beweisen können, daß die Kinder
eine sorgfältige Erziehung genießen und nicht ganze Nächte ohne Aufsicht
sind, wenn die beiden Mädchen zu Tanzvergnügungen gehen.“

„Das alles ist empörend! Das alles unsagbar empörend und eine schamlose
Lüge!“

„Ich weiß, ich weiß,“ beruhigte sie der Justizrat. „Das ist ja nicht so
schlimm. Und diese Bemerkungen hier, die mein Kollege in sehr taktloser
Weise in sein Schreiben einfügen zu müssen glaubt, diese Bemerkung hier,
einen Augenblick. Er behauptet, Sie hätten wenige Tage nach der Geburt
des ersten Kindes geäußert, in bezug auf das Kind: Ein paar Pfund
Fleisch, und wie häßlich!“

Hier sprang Lise empört auf. „Ich habe es mit den größten Schurken und
Schuften der Welt zu tun!“ schrie sie.

Der Justizrat erhob sich an der andern Seite des Tisches und bat sie mit
einer beschwörenden Handbewegung, wieder Platz zu nehmen und sich nicht
zu erregen. „Das ist ja nicht von Bedeutung. Ob Sie diese Bemerkung
gemacht haben oder nicht, das spielt gar keine Rolle. Aber daß Sie
unvorsichtig waren, gnädige Frau, hat Ihre Position, ich darf offen
sprechen, keineswegs verbessert. Das Gericht könnte immerhin der Ansicht
sein, daß tatsächlich ein Ehebruch vorliegt, und Sie für den schuldigen
Teil erklären.“

„Wie, mich?“ unterbrach ihn Lise maßlos erstaunt. „Ich werde nachweisen,
daß Wenzel die Ehe mit einem Dutzend von Frauen gebrochen hat.“

Der Justizrat schüttelte den Kopf. „Sie kennen die Gesetze nicht,
gnädige Frau. Es wäre ja immerhin möglich, und wir müssen jedenfalls
damit rechnen. In diesem Falle aber, gnädige Frau, wäre Herr
Schellenberg jeglicher Verpflichtung Ihnen gegenüber ledig.“

„Wie?“

„Ich will auch nicht verschweigen, daß das Gericht in diesem Falle sich
dahin entscheiden könnte, Ihnen die Kinder nicht weiter zu belassen.“

„Dann sind die Gesetze einfach Unfug!“

In Anbetracht all dieser Umstände, angesichts der Tatsache, daß sich die
Lage leider verschlechtert habe, unleugbar, riet der Justizrat zum
Vergleich. Er werde sich bemühen, die günstigsten Bedingungen zu
erzielen.

Aber Lise wollte unter keinen Umständen etwas von einem Vergleich
wissen. Wenzel hatte die letzte „Brücke“ abgebrochen, und diese
Bemerkung mit den „paar Pfund Fleisch“ würde sie ihm bis zu ihrem Tode
nicht verzeihen. Sie liebte ihre Kinder abgöttisch, Wenzel wußte es
genau, und doch ließ er diese Schurkerei von seinem Anwalt schreiben.
Sie leugnete ja gar nicht, daß sie seinerzeit jene alberne Bemerkung
gemacht hatte, aber spricht nicht jeder Mensch einmal eine Roheit und
eine Dummheit aus?

Nein und dreimal nein! Sie wollte keinen Vergleich, und wenn er ihr zehn
seiner erwucherten Millionen auf den Tisch legen würde. Sie wisse recht
gut, weshalb Wenzel es plötzlich so eilig hatte, seine erste Ehe zu
lösen, oh, recht gut! Sie fürchtete den Prozeß nicht, und sie würde den
Richtern wohl sagen, wer hier der Ehebrecher sei.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau,“ unterbrach sie der Justizrat. „Wenzel
Schellenberg hat gegen Sie Klage erhoben und nicht Sie gegen Wenzel
Schellenberg. Wir können ja eine Gegenklage einreichen, und es besteht
kein Zweifel, daß das Gericht ohne jedes Zögern die Scheidung
aussprechen wird.“

„Nun verstehe ich gar nichts mehr!“ rief Lise verzweifelt aus. „Ich will
ja die Scheidung nicht!“

Kaum hatte Lise das Sprechzimmer des Justizrates verlassen, so klingelte
Davidsohn bei dem Kollegen Vollmond an. Er beklagte sich, allerdings mit
großer Höflichkeit, über die Schärfe des Tones in Vollmonds Schreiben.
Diese Schärfe sei leider nicht geeignet, jene Versöhnlichkeit
herbeizuführen, die wünschenswert sei. Er werde sich um den Ausgleich
bemühen und bäte um eine Aussprache, am liebsten morgen. Kollege
Vollmond hatte am morgigen Tage keine Zeit, er müßte zu einer
Verteidigung in die Provinz reisen, die etwa drei bis vier Tage in
Anspruch nehmen dürfte. Trotz größter Überlastung schlage er eine
Konferenz am heutigen Nachmittag vor, um sich dem Kollegen gefällig zu
zeigen. Dann unterhielten sich die beiden Anwälte lebhaft über eine
Sache Ledermann _contra_ Schuster. Es waren da hohe Kosten aufgelaufen,
und Ledermann, Davidsohns Mandant, stand dicht vor dem Bankerott.

Noch am gleichen Abend drahtete Vollmond an Wenzel nach Paris, daß seine
Maßnahmen den gewünschten Erfolg gehabt hätten. Die Starrköpfigkeit der
Gegenpartei sei besiegt. Er bitte um Angabe, um wieviel Prozent er
eventuell die Abfindungssumme erhöhen dürfe.

Wenzel telegraphierte aus Paris: „Verdoppeln Sie, wenn nötig, die Summe!
Setzen Sie als äußersten Termin vierzehn Tage an. Beschleunigen Sie die
Angelegenheit mit allen Mitteln!“


                                   11

Es war anfangs Juni, aber schon war die Hitze in Paris unerträglich. Die
Benzinschwaden der Automobile, die alle Straßen der ungeheuren Stadt
überschwemmten, verpesteten die Luft. Wenzel fuhr häufig ins Freie und
betrachtete sich die Umgebung der Stadt. Nur selten begleitete ihn
Esther auf diesen Entdeckungsfahrten. Sie verließ die Stadt nur ungern,
es sei denn in großer Gesellschaft. Sie brauchte das Gewimmel der
Menschen, das Gewimmel der Automobile, das Brüllen der Hupen, die
verwirrenden Läden der Boulevards und der Rue de la Paix. Das alles
brauchte sie und die bewundernden Blicke der Männer, jener Unzahl von
Männern, die in Paris spazieren gehen und deren Beschäftigung darin
besteht, schönen Frauen nachzusehen.

An einem Nachmittag lag eine so drückende Schwüle über der rasenden
Stadt, daß die Gesichter aller Menschen in Schweiß gebadet waren.

Man wollte nach Tisch einen Zirkus besuchen, wo zwei Clowns das Publikum
jeden Abend zu tobendem Gelächter hinrissen. Esther, die gerne lachte,
freute sich bereits wie ein Kind darauf. Wenzel aber fand, daß es heller
Wahnsinn sei, heute in der Stadt zu bleiben. „Kommen Sie mit mir ins
Oisetal. Ich will Ihnen endlich mein kleines Zauberschloß zeigen,“ sagte
er.

Esther rieb sich Schläfen und Wangen mit Kölnischem Wasser. In der Tat,
die Luft war unerträglich, man atmete glühende Staubsplitter. „Es ist
gut,“ entschied sie. „Fahren wir.“

Wenzels Zauberschloß an der Oise war ein ehemaliges Barockschlößchen,
das man in ein kleines vornehmes Hotel umgewandelt hatte. Gebäude und
Park waren fast unberührt geblieben und von großem Reiz. Wenzel hatte
das Hotel auf seinen Ausflügen entdeckt.

Esther war hell entzückt. Eine solche Köstlichkeit, eine Autostunde von
Paris, war es möglich? Es gab hier Springbrunnen mit bemoosten Tritonen,
Grotten aus Muscheln, einen Irrgarten aus Taxushecken, von Rosen
umwachsene Statuen, wie Esther sie bisher nur auf alten Kupferstichen
gesehen hatte. Man speiste auf einer Terrasse, die den Blick über den
verwunschenen Park erlaubte. An Stelle des elektrischen Lichtes
leuchteten Kerzen in alten silbernen Leuchtern. Esther war zufrieden.
Welche Ruhe! Der Nachthimmel wölbte sich blau wie alte Kirchenfenster,
große, geschliffene Edelsteine blitzten am Firmament. Aus dem Park trieb
in spürbaren Wellen ein betäubender Geruch von Flieder und Rosen. Sie
speisten eine volle Stunde, der Wirt hatte seine ganze Kunst aufgeboten,
und sie hatten keine Eile. Dann schlenderten sie durch den Park. Esther
blieb stehen und sog langsam die Luft ein.

„Es ist in Wahrheit zauberhaft schön hier,“ sagte sie, und zum ersten
Male hörte Wenzel in ihrer Stimme einen weichen, schwärmerischen Klang.

Sie besuchten den Brunnen mit den bemoosten Tritonen, die umwachsenen
Statuen, und sogar in den Irrgarten aus Taxushecken wagte sich Esther,
obwohl es drinnen ganz dunkel war. Sie verirrten sich wirklich, und es
dauerte eine geraume Weile, bis sie unter Scherzen und Lachen den
Rückweg fanden.

Nun schien es plötzlich für Esther genug zu sein. Die Stille bedrückte
sie, die Schweigsamkeit des alten Parkes. Sie drängte zum Aufbruch.

Es zeigte sich jedoch, daß der Motor des Autos nicht in Ordnung war.
Schweißtriefend lag der Chauffeur unter dem Wagen. Er versicherte, den
Mangel spätestens in einer halben Stunde zu beheben.

„Oh, wie unangenehm!“ rief Esther ärgerlich, und augenblicklich wandte
sie sich in herrischem Ton an den Wirt und verlangte einen Wagen. Der
Wirt hatte einen Wagen, gewiß, aber er deutete an, daß die Herrschaften
mit diesem Wagen nach Paris wohl vier Stunden fahren würden.

Esther runzelte die Stirn. „So telephonieren Sie nach einem Auto. Es muß
sich doch ein Auto finden lassen? Ich habe Baron Blau versprochen, mit
ihm nach dem Theater die Schokolade zu nehmen.“

Wenzel lächelte. „Telephonieren Sie in das Hotel,“ sagte er.

„Sie sind abscheulich,“ erwiderte Esther verletzt. Sie schwieg eine
Weile, während sie in dem dunklen Park hin und her ging. Plötzlich
schien es ihr, als ob sie Wenzel im Dunkeln lachen höre.

„Sie lachen?“ fragte sie verwundert.

Wenzel trat näher und berührte vertraulich ihren Arm. „Ich lache über
Sie, Esther Weatherleigh,“ sagte er, „ich muß lachen, weil Sie so
ärgerlich sind, ein paar Stunden von Paris fern bleiben zu müssen. Das
Auto ist natürlich völlig in Ordnung. Ich habe den Chauffeur nur
beauftragt, diese kleine Komödie zu spielen.“

Esther blieb stehen. Im Dunkeln stand sie schmal wie eine Statue vor
Erstaunen. „Und was bezwecken Sie damit?“ fragte sie – oh, nun war sie
wirklich schlechter Laune – und die Statue schien noch schmaler und
steifer zu werden.

Lächelnd und etwas spöttisch erwiderte Wenzel: „Spielen Sie nicht die
gekränkte Göttin, ich beschwöre Sie. Sie sehen ja, daß ich das Komplott
sofort selbst aufdeckte, als ich sah, daß es Ihnen kein Vergnügen macht,
länger hier zu bleiben. Ich will Ihnen auch ganz offen gestehen, was ich
mit dieser kleinen Komödie bezweckte. Sie sind in Paris immer von einem
Schwarm von Menschen umgeben, und selbst, wenn wir allein ausgehen,
befinden wir uns inmitten von Menschen. Ich hatte schon lange den Plan,
Sie in dieses stille Hotel, das ich durch Zufall entdeckte, zu
verschleppen, um mit Ihnen ruhig über gewisse Dinge sprechen zu können.“

Esther ging weiter. „Welche Dinge wollen Sie denn mit mir besprechen?“
fragte sie mit gemachtem Erstaunen. Als ob sie gar nicht ahnen könne, um
welche Dinge es sich handeln könnte.

„Es ist eine sehr einfache Sache,“ fuhr Wenzel fort, etwas unsicher und
tastend. „Da ist dieser Baron Blau, und da ist dieser Major Fairfax, und
...“

„Und da sind noch andere,“ unterbrach ihn Esther.

Wenzel sah in der matten Dunkelheit des Parkes, daß ihre Zähne blitzten.

„Nun gut, und noch andere. Und da bin ich. Ich habe keineswegs Lust, die
lächerliche Rolle eines Barons Blau oder eines anderen zu spielen,
Esther Weatherleigh!“

Und wieder blieb Esther vor Erstaunen stehen und wurde zu einer
schmalen, steifen Statue.

„Ich wollte mit Ihnen über diese Dinge ausführlich sprechen, aber es ist
vielleicht besser, wenn wir wenig Worte machen. Sie sollen sich
entscheiden, Esther Weatherleigh. Entweder ich oder einer der andern!“

Esther lachte. Dieses Lachen war frivol, hochmütig und verletzend.
Augenblicklich verlor Wenzel die Besinnung. Viele Monate lang hatte er
sich dieser Frau gegenüber beherrscht, und oft war es ihm nicht leicht
gewesen. Dieses Lachen aber brachte ihn außer sich.

„Sie sollen nicht lachen über diese Frage!“ rief er, viel zu laut für
einen Gentleman, und trat auf die Statue zu und faßte sie an den
Schultern. Ihre nackten Arme fühlten sich wie Eis an in seinen Händen,
wie Eis, das brannte. „Ich habe diese Frage nie an eine Frau mit solcher
Aufrichtigkeit gerichtet.“

„Sie tun mir weh,“ sagte Esther leise, indem sie den Kopf senkte. „Oh,
wie verwegen Sie sind! Ich hasse Entschlüsse. Ich hasse vor allem rasche
Entschlüsse. Sie wissen sehr wohl, daß Sie mir nicht gleichgültig sind,
Wenzel, aber ich liebe Sie nicht. Sie verlangen zuviel. Ich glaube
nicht, daß ich aufrichtig lieben kann.“

Darauf Wenzel: „Ich verlange ja gar nicht, daß Sie mich lieben. Ich
verlange nur, daß Sie meine Frau werden.“

„Das ist mir zu wenig,“ antwortete Esther.

„Dann werden Sie meine Geliebte!“

„Das ist mir zuviel,“ entgegnete Esther mit einem Lächeln. „Aber,“ fuhr
sie zögernd fort, „vielleicht läßt sich darüber sprechen, Wenzel
Schellenberg. Ohne Bedingungen, hören Sie. Wir wollen dem Himmel die
Entscheidung überlassen. Gehen wir diese Allee hinunter. Fällt eine
Sternschnuppe, so haben Sie gewonnen, fällt keine Sternschnuppe, so
versprechen Sie mir, nie wieder auf diese Dinge zurückzukommen. Gilt
das?“

„Es gilt!“

Sie gingen durch die Allee, die hellen Gesichter zum Firmament
gerichtet. Kaum aber waren sie zehn Schritte gegangen, als ein
leuchtendes Meteor über das Firmament zog.

Esther stieß einen Schrei aus und griff mit der Hand nach Wenzel. „Sie
haben gewonnen, Wenzel!“ rief sie und lachte.


                                   12

„Da bist du ja wieder,“ sagte Jenny Florian freudig lächelnd und
schmiegte den zarten Arm sanft um Wenzels Nacken. Ihre Augen strahlten
von einer tiefen und milden Freude.

Der Klang ihrer weichen, gütigen Stimme, die zärtlich gesprochenen
Vokale griffen an Wenzels Herz. Seit langer Zeit hatte er diese schöne
Stimme nicht mehr vernommen.

„Da bin ich wieder, mein Liebling,“ erwiderte er laut, mit etwas
gemachter Lustigkeit, um die Bewegung zu verbergen, die ihn ergriffen
hatte, als er Jenny, zarter, etwas schmaler im Gesicht, eilig die Treppe
herabkommen sah. Auch nicht der leiseste Vorwurf stand in ihren Augen.
Er küßte sie herzhaft auf den Mund.

Jenny geleitete ihn in das Haus. Überall Blumen, er sollte sehen, daß
sie sich auf seine Rückkehr gefreut hatte.

Ja, nun war also Wenzel wieder in Berlin, und es sah ganz so aus, als
habe sich unterdessen nicht das mindeste ereignet und solle alles
bleiben wie früher.

Wenzel verbrachte fast alle Abende mit ihr, was er früher nicht getan
hatte. Sie besuchten Gesellschaften, Theater, Rennen, zumeist aber
speisten sie in Jennys Haus. Wenzel war herzlich, voll Interesse für
alles, was Jenny betraf, ein guter Kamerad und Freund. Sie beobachtete
jedoch häufig eine sonderbare Zerstreutheit an ihm, die sie früher nie
bemerkt hatte. Oft stand Wenzel auf, um nachdenklich und unruhig im
Zimmer hin- und herzugehen.

„Woran denkst du?“ fragte sie.

Wenzel schüttelte den Kopf. Er gab ihr auf diese Frage keine Antwort.

Jenny hatte von seinen Beziehungen zu Esther Weatherleigh gehört,
natürlich. Sie wußte, daß ihn diese Frau mehr als andere beschäftigte,
aber es ging doch wohl nicht an, seine Unruhe auf diese Frau
zurückzuführen. „Hast du Sorgen?“ fragte Jenny schmeichelnd.

Wenzel schüttelte den Kopf. Er hatte keine Sorgen.

„Aber vielleicht hast du doch Sorgen,“ drängte Jenny weiter. „Ich
verstehe nichts von Geschäften und möchte mit dir auch nicht über
Geschäfte sprechen. Aber vielleicht hast du geschäftliche Sorgen? Man
sprach in Berlin davon, daß du große Verluste in einer Francsspekulation
erlitten hast.“

Wenzel lachte laut auf, gutmütig und belustigt. „Wie lächerlich klein
ist diese Welt!“ rief er aus. „Ich habe in der Tat anfangs einen
tüchtigen Lappen Haut hängen lassen. Ich habe dir von einem Bekannten
erzählt, einem Baron Blau, einem Bankier. Nun, ich war töricht genug,
auf seine Ratschläge zu hören. Er behauptete, der Franc würde gestützt
werden und steigen. Man soll nie auf einen Bankier hören, und so habe
ich eine ziemliche Summe verloren, gegen vierzigtausend Pfund. Später
aber behauptete dieser Baron Blau, der Franc würde fallen, und diesmal
handelte ich seinem Rate entgegen und habe meine Verluste mehr als
wettgemacht. Das ist die ganze Sache meiner Francsspekulation.“

Nach einer Woche war Wenzel plötzlich wieder abgereist. Er sandte Jenny
Blumen und einen Gruß. Geschäfte! Drei Tage später kam er wieder zurück.
Er blieb zwei Tage und flog nach London. In diesen Monaten war Wenzel
fast ununterbrochen in D-Zügen und Flugzeugen unterwegs: Paris, London,
Trouville, Ostende. Je länger diese ununterbrochenen Reisen währten,
desto größer wurde Wenzels Unruhe. Jenny konnte es deutlich von Monat zu
Monat beobachten. Was früher fast nie vorkam, ereignete sich jetzt
häufig: Wenzel war schlechter Laune! Wenzel, der immer behauptete: Nur
dumme Menschen können schlecht gelaunt sein. Wenn Wenzel früher
ärgerlich war, so gab es irgendeine, oft heftige Explosion, eine
Eruption von Zorn und Galle, und einige Minuten später hatte er seinen
früheren Gleichmut wiedergefunden. Anders jetzt. Er saß mit verdüstertem
Gesicht und schwieg.

Jenny berichtete ihm, um ihn zu zerstreuen, von ihrer Arbeit. Oh, sie
arbeitete, doppelt eifrig, seit Wenzel fast immer abwesend war. Sie
übte, schulte, lernte, studierte, beobachtete. Ihr letzter Film, „Der
Roman einer Tänzerin“, hatte einen sensationellen Erfolg gehabt. Er ging
um die ganze Erde. Man machte ihr verführerische Angebote, aber schon
hatte Jenny ihr Ziel weiter gesteckt. Sie wollte zur Bühne gehen und nur
noch zuweilen filmen. Wenzel hatte ein Theaterunternehmen finanziert und
als Gegenleistung Jennys Engagement gefordert. Im Herbst sollte sie zum
ersten Male auftreten, und man tat alles, um das Debüt zu einem Erfolg
zu gestalten. Jenny erzählte von den Proben.

Wenzel hörte kaum zu. Er deutete an, daß seine Scheidungsangelegenheit
ihm großen Verdruß bereite. Eines Abends aber kam er in strahlender
Laune zu Jenny, nachdem er zwei Stunden vorher abgesagt hatte. Er
brachte einen riesigen Korb erlesener Leckerbissen mit. Das Auto war
buchstäblich bis zum Rand mit Blumen angefüllt.

„Laß deine besten Weine auftischen, Jenny!“ rief er, in jenem
übermütigen Ton, den Jenny so gut von früher her kannte. „Wir wollen
tafeln. Endlich hat diese unleidige Scheidungsgeschichte ein Ende
gefunden.“

Fröhlich und beglückt gab Jenny ihre Befehle.

In der Tat hatte Lise an diesem Tage kapituliert. Wenzel bat am
Vormittag den Anwalt Vollmond zu sich und erklärte ihm ohne alle
Umstände: „Lise Schellenberg ist von der Reise zurückgekehrt. Sie werden
dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie die Angelegenheit nicht in
Ordnung gebracht haben. Meine Geduld ist jetzt zu Ende. Hier ist das
Telephon, fangen Sie an.“

Vollmond tat beleidigt, lächelte sauer, ging aber trotzdem ans Telephon.
Und nun wollte er seine ganze Kunst beweisen, während Wenzel mit dem
finsteren Blick und starren Nacken eines Tyrannen dasaß, der seinen
Willen durchsetzen will, und gehe die Welt dabei in Scherben.

Vollmond begann mit einer liebenswürdig vorgebrachten Entschuldigung,
daß er es nochmals wage, Frau Schellenberg zu stören. Er spreche jedoch
weniger als der Anwalt ihres Ehemannes, er spreche vielmehr als Lises
Freund, dem ihr Schicksal und das Schicksal der beiden Kinder am Herzen
liege. Er rechne natürlich auf ihre Diskretion! Er berichtete also, daß
Herr Schellenberg eine Klage einreichen wolle, Herbeiführung eines
Gerichtsbeschlusses zur sofortigen Herausgabe der Kinder.

„Gnädige Frau!“ Der Anwalt sprach, wie gesagt, als Freund, aber schon
wurde er etwas deutlicher. Er setzte ihr auseinander, daß das Gericht
ohne allen Zweifel, sie könne alle Anwälte der Welt fragen, sie für den
schuldigen Teil erklären würde und daß sie dann nicht einmal Anspruch
auf einen roten Heller erheben könne. Herr Schellenberg habe ihm als
letzten Termin den heutigen Abend, und zwar Punkt sechs Uhr genannt.
Eine Minute nach sechs Uhr werde die Klage abgehen. Heute abend reise
Herr Schellenberg auf vier Wochen von Berlin weg, und unterdessen werde
sich das Schicksal erfüllen.

Wieder erging sich Vollmond in Freundschaftsbeteuerungen. Dann
versicherte er ehrenwörtlich, daß Herrn Schellenbergs letzte Bedingungen
die seien: Er biete zwei Millionen Abfindung und eine Rente von
fünfzigtausend Mark jährlich. Bis heute Abend sechs Uhr. Er werde in
einer halben Stunde wieder anrufen, und er hoffe auf ihre bestimmte
Zusage. „Nach sechs Uhr, sechs Uhr eine Minute, gnädige Frau, keinen
roten Heller.“

Dann telephonierte Vollmond – Wenzels Gesicht war immer finsterer
geworden – mit dem Justizrat Davidsohn. Er beschwor den verehrten
Kollegen, bei seiner Klientin seinen ganzen Einfluß geltend zu machen.
Der Fall sei hoffnungslos. In einer halben Stunde werde Herr
Schellenberg abreisen, und dann sei es zu Ende.

Hierauf rief er wiederum bei Lise an. Wenzel hörte Lises erregte Stimme
im Apparat. Vollmond war die Liebenswürdigkeit selbst, er verbeugte sich
sogar am Apparat. Dann spannten sich seine Gesichtszüge, und endlich
sagte er: „Ich werde in fünfzehn Minuten bei Justizrat Davidsohn zu
Ihrer Verfügung sein, gnädige Frau. Sie sagen drei Millionen? Ich bin
nahezu sicher, daß Herr Schellenberg diese Forderung zurückweisen wird,
aber ich bürge mit meinem Ehrenwort, daß ich alles tun werde, was in
meinen Kräften steht.“ Vollmond war vor Erregung blaß geworden.

Auf diese Weise hatte Lise kapituliert. Noch am selben Abend erzählte
sie bleich und verstört allen ihren Bekannten, daß Wenzel sie mit einem
Butterbrot abgefunden habe, aber man habe ihr gedroht, die Kinder morgen
durch die Polizei wegnehmen zu lassen. Und alle Freunde Lises erklärten
Wenzel Schellenberg für den brutalsten Schurken Berlins.


                                   13

Wenzel hatte den Familienschmuck eines früheren regierenden herzoglichen
Hauses gekauft, eine wunderbare Goldschmiedearbeit italienischen
Ursprungs, Perlen, Diamanten und Smaragden. Sein Einkäufer für
Antiquitäten hatte die Kostbarkeit entdeckt. Wenzel brachte den Schmuck
nach Paris und machte ihn Esther zum Geschenk. Es war ein Schmuck, der
selbst die verwöhnte Tochter des alten Raucheisen entzückte. Baron Blaus
Gesicht zuckte an diesem Abend nervös, und der Chef des Speisesaals war
kaum imstande, ihm ein Täßchen Hühnerbrühe einzuflößen.

Als der alte Raucheisen von Esther die Nachricht erhielt, daß sie
beabsichtige, sich mit Wenzel Schellenberg zu verheiraten, saß er bleich
und still wie ein Leichnam. Sein ganzes Lebenswerk, seine Zechen,
Kokereien, Walzwerke, Hochöfen, Fabriken, Schiffe, sah er vor seinen
Augen in den Abgrund versinken.

„Dieser Abenteurer!“ keuchte er leise. Es gab kein Wort für Raucheisen,
das eine größere Verachtung ausgedrückt hätte. Er streckte die
totenbleiche Hand aus, um zu klingeln. Aber er beobachtete, daß sein
Finger zu schwach war, um die Klingel herabzudrücken. Erst nach einer
Weile gelang es ihm. Am Abend speiste der Sachverwalter seines Hauses,
Justizrat Barenthin, bei ihm. Vor dem alten Freunde hatte Raucheisen
keine Geheimnisse. Barenthin versprach, seine Fühler vorsichtig
auszustrecken. Er reiste nach Paris, wo es ihm gelang, eine Aussprache
mit Wenzel zu haben. Er war glücklich, Raucheisen die Mitteilung
überbringen zu können, daß Wenzel Schellenberg auf einer Gütertrennung
der beiden Ehegatten bestehe.

Der alte Raucheisen atmete auf. Die Ehe wird ein, zwei Jahre währen,
sagte er sich. Ich kenne Schellenberg, und ich kenne meine Tochter. Aber
den Gedanken, daß Lady Weatherleigh, geborene Esther Raucheisen, einen
„Abenteurer“ heiratete, würde er nie verwinden können. Das fühlte er.


                                   14

„Wenzel ist seit acht Tagen in Berlin?“ Erstaunt und ungläubig sah Jenny
Stobwasser an.

Ja, seit acht Tagen sei Schellenberg bereits wieder hier. Und Stobwasser
berichtete, daß in der letzten Zeit fieberhaft in der Villa im Grunewald
gearbeitet werde, um das Haus bis auf die letzte Leiste und den letzten
Beschlag fertig zu machen.

„Er war lange verreist, er wird zu beschäftigt sein,“ versuchte Jenny
Wenzel zu entschuldigen.

Aber als sie allein war, fragte sie sich betrübt und erregt: Weshalb
kommt er nicht zu mir? Weshalb ruft er nicht an? Sie hatte natürlich von
Wenzels beabsichtigter Heirat gehört. Es war nicht leicht für sie,
dieser Gedanke bedrückte, dieser Gedanke verdunkelte, aber es mußte
sein, wenn es ihm Freude machte, diese verwöhnte Frau zu heiraten.
Weshalb nicht? Was kümmerte es sie? Wenn er nur der gute Kamerad blieb,
der er bisher gewesen war. Mehr wollte sie nicht.

Wenzel reiste wieder ab, er kam wieder zurück. Sie hörte nichts von ihm.
Eines Tages aber, es ging schon auf den Herbst, überbrachte der kleine
Stolpe einen Brief von Wenzels Hand, den er nur gegen Quittung
aushändigen durfte.

Welche Feierlichkeit, welche Formalität, dachte Jenny erbleichend. Sie
war eben zum Ausgehen fertig, der Wagen wartete vor der Tür, um sie ins
Theater zur Probe zu bringen. Die Premiere war schon angesagt, in acht
Tagen sollte sie zum ersten Male auftreten.

Jenny zog die Handschuhe wieder aus und öffnete zaghaft den Brief.
„Weshalb zittert meine Hand so?“ schrie sie. Sie überflog das Schreiben.
Wieder wich das Blut aus ihrem Gesicht. Dann legte sie Wenzels Brief zur
Seite, gab den Auftrag, das Auto wieder in die Garage zu bringen, und
ließ beim Theater die Probe absagen wegen einer plötzlichen
Unpäßlichkeit. Dann nahm sie den Hut ab, zog den Mantel aus und begann
in ihren Räumen auf und ab zu gehen, immer hin und her. Es wurde drei
Uhr. Der Tisch war gedeckt, aber Jenny schüttelte nur den Kopf. Sie
unterbrach ihre Wanderung nicht. Um sechs Uhr übergab man ihr die Karte
von Hauptmann Mackentin. Ach ja, in Wenzels Schreiben war ja davon die
Rede, daß Hauptmann Mackentin um sechs Uhr bei ihr vorsprechen werde, um
„alles Weitere“ mit ihr zu ordnen. Jenny legte die Karte weg, winkte mit
der Hand ab und setzte ihre Wanderung fort.

Es wurde dunkel. Im Speisezimmer flammte das Licht auf. Das Abendessen
war serviert, aber Jenny schüttelte wiederum nur den Kopf, ohne ihre
Wanderung zu unterbrechen. Es war schon tief in der Nacht, als sie sich
auskleidete. Sie hüllte sich in ein weiches, seidenes Hauskleid, und
wieder ging sie hin und her. Der Tag begann zu grauen, und plötzlich sah
sie wieder Wenzels Brief im Dämmerlicht auf dem Tisch liegen. Da setzte
sie sich auf einen Stuhl und begann leise in ihre Hände zu weinen. Aber
sofort stand sie wieder auf und nahm bleich und verstört ihre Wanderung
wieder auf.

Die erschrockene Zofe versuchte sie zu beruhigen. Das Telephon
klingelte. Hauptmann Mackentin machte einen neuen Versuch, sie zu
sprechen, das Theater rief an.

„Ich komme nicht zur Probe, ich spiele nicht, ich werde nicht auftreten.
Sagen Sie das!“ Und wieder ging Jenny ohne Pause hin und her.

Jenny lebte in einer Art von Betäubung. Sie kam sich selbst wie eine
Fremde vor. All die schönen Dinge, die sie geliebt hatte, erschienen ihr
fremd und tot. Jene beiden meterhohen chinesischen Porzellanvasen –
einst standen ganze blühende Fliederbäume darin, ganze Büsche von Rosen,
Gladiolen, Chrysanthemen, Astern, einst, einmal, vor langer Zeit –, sie
sahen sie kalt und feindselig an. Sie wünschten abgeholt zu werden. All
diese Dinge ringsum gehörten ihr, Wenzel hatte ihr alles geschenkt, das
Haus, alles. Aber sie wollte es nicht haben. Sie wollte nur noch einige
Tage hier unterschlüpfen, bis sie einen Entschluß fassen konnte. Dann
sollte er alles, alles von ihr zurück erhalten. Sie wollte nichts von
ihm.

Dieser Brief!

Ja, weshalb hatte er doch diesen Brief geschrieben? Hatte er nicht mehr
als drei Minuten Zeit für sie gefunden? Weshalb war er nicht gekommen,
um ihr all dies zu sagen? Weshalb diese plötzliche Fremdheit, dieser
fast geschäftsmäßige Ton? War sie eine Ware, die man kaufte und
zurückgab, wenn sie einem nicht mehr gefiel? Wenn er schrieb, daß er
„sein Leben auf eine völlig neue Basis stellen wolle“ – störte sie ihn?
„Das Weitere wird Mackentin mit dir besprechen.“ Das Weitere ...

Und wiederum nahm Jenny ihre Wanderung auf. Ich bin vergiftet, sagte sie
zu sich. Dieser Brief hat mich vergiftet, ich wußte nicht, daß Worte
vergiften können.

Jenny bat Stobwasser zu sich. Er war augenblicklich zur Stelle, erregt,
überrascht. Seit es ihm besser ging, hatte er seine drollige alte
Bohemienkleidung abgelegt und sich einen neuen Anzug gekauft. Dieser
Anzug war zu weit, die grelle Krawatte saß schief, der Kragen war zu
hoch und die Farbe der Strümpfe war schlecht gewählt. Er sah in der Tat
noch komischer aus als früher. Alle diese Nichtigkeiten beobachtete
Jenny, obwohl sie von ihrem Schmerz betäubt war.

„Lesen Sie bitte diesen Brief, Stobwasser,“ sagte sie und reichte ihm
Wenzels Schreiben.

Stobwasser sah sie entsetzt an, so sehr hatte sie sich in der kurzen
Zeit verändert. Sie sah bleich und durchsichtig aus wie eine
Schwindsüchtige. Dann senkte er die spitze Nase über Wenzels Brief. Er
schüttelte unwillig den schwarzen, wilden Haarschopf.

„Ein Geschäftsbrief!“ sagte er dann empört. „Ich hätte Schellenberg eine
solche Roheit niemals zugetraut.“

„Beschimpfen Sie ihn nicht,“ entgegnete Jenny leise, die Stirn
zerknittert, die Hände abwehrend erhoben. „Diese Frau hat ihm die Sinne
verwirrt.“

Stobwasser machte einen schwachen Versuch sie zu trösten, aber sie hörte
ihm nicht zu, antwortete nicht. Da gab er es auf. Er lud sich selbst zum
Abendessen ein, um der unglücklichen Jenny Gesellschaft zu leisten. Aber
Jenny rührte kaum einen Bissen an. Stobwasser plauderte, er tat, als sei
nichts geschehen, erzählte tausend Kleinigkeiten, einige Anekdoten. Sein
Papagei Gurru war entflohen und hatte das ganze Stadtviertel in
Aufregung versetzt. Schließlich hatte ihn die Feuerwehr gefangen.

Jenny lächelte unmerklich mit schiefgezogenem Mund. Sie saß in einem
Sessel, das schmale Gesicht in die blassen Hände gestützt. Um zehn Uhr
verließ Stobwasser das Haus, und Jenny nahm wieder ihre Wanderung auf.

Sie schrieb an Eva Dux, mit der sie nun innig befreundet war. Aber Eva
konnte erst am Sonntagnachmittag kommen und auch da nur auf eine Stunde.

„Lies diesen Brief, Eva,“ sagte Jenny.

Eva, die Schweigsame, Stille, Gesammelte, las den Brief. Dann stand sie
eine lange Weile still. Sie legte ihre Hände auf Jennys Schulter, strich
ihr unmerklich über das Haar und sagte: „Du mußt es tragen, Jenny, das
Leben ist schwer. Denke an deine Arbeit.“

Jenny schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht tragen, sie konnte nicht
arbeiten.

Eine Stunde saß Eva, ohne ein Wort zu sprechen. Sie schlürfte eine halbe
Tasse Tee, dann ging sie wieder, und wiederum nahm Jenny ihre Wanderung
auf. Alle Vorhänge ihrer Zimmer waren zugezogen.

Fast täglich gab Hauptmann Mackentin seine Karte bei ihr ab. Endlich
ließ sie ihn eintreten, aber nur um ihm zu sagen, daß sie Herrn
Schellenbergs Schenkung nicht annehmen könne und daß sie Herrn Mackentin
bitte, sich nicht mehr zu bemühen. Mackentin erhob Einwendungen, er
begann mit Erklärungen und Entschuldigungen, aber Jenny verabschiedete
ihn mit einem kleinen Winken ihrer Hand. Mit einer tiefen Verbeugung,
die seine ganze Achtung vor dem Schmerze Jennys ausdrückte, zog sich
Mackentin zurück.


                                   15

Michael Schellenberg fluchte. Er fluchte eine ganze Viertelstunde lang,
und seit der Gründung der Gesellschaft Neu-Deutschland hatte ihn niemand
so zornig gesehen. Es war, als ob in der letzten Zeit der Teufel los
wäre.

Man hatte in den Büchern Unregelmäßigkeiten entdeckt, und schließlich
war es an den Tag gekommen, daß einer der Finanzdirektoren der
Gesellschaft größere Unterschlagungen begangen hatte. Es handelte sich
um nahezu eine halbe Million Mark. Der Skandal! Wie die Zeitungen wieder
über die Gesellschaft herfallen würden!

Und in der Tat, die Zeitungen schonten die Gesellschaft nicht. Einige
Blätter wiederholten ihre Forderung, daß die Gesellschaft, die zwar in
enger Fühlung mit der Regierung, aber völlig unabhängig arbeitete,
endlich unter die Kontrolle der Regierung gestellt werde. Manche
Zeitungen gingen so weit, zu behaupten, daß die Gelder des Reiches und
der Gemeinden unzweckmäßig verwendet würden. Ein Blatt schrieb: Der
Sündenlohn der arbeitenden Klasse wird in den Bars und Tanzpalästen
verpraßt!

„Da haben wir es,“ rief Michael und lachte wütend. „Wir, die wir nicht
einen Heller besitzen, wir, die wir unsere ganze Arbeit gemeinnützigen
Zwecken widmen, wir verprassen also das Geld in Tanzlokalen und Bars.
Herrlich! Wunderbar! Oh, dieser Halunke!“

Dabei hatte er gerade diesem Finanzdirektor immer das allergrößte
Vertrauen entgegengebracht.

„Wie kann ein Gesicht so lügen?“

Eine Atmosphäre von Übelwollen, ja Feindseligkeit umgab Michael. Häufig
mußte er in diesen Tagen an Wenzel denken, der ihm diese Feindschaft
schon vor Jahren prophezeit hatte. Es gab politische Parteien in
Deutschland, die von der Zerrissenheit des deutschen Volkes lebten.
Ihnen war er ein Dorn im Auge. Es gab Interessengruppen, die eine
Schädigung ihrer Privatinteressen befürchteten. Und in der Tat zwang
Michael sie durch die Konkurrenz der Gesellschaft, ihre Arbeitsmethoden
zu verbessern und sich mit geringeren Gewinnen zufriedenzugeben. Auch
diesen war er ein Dorn im Auge. Die Landwirtschaft betrachtete ihn mit
argwöhnischen Blicken. Man las voller Neid die Statistiken der
Gärtnereien der Gesellschaft, die Statistiken der technisch betriebenen
Großlandwirtschaften. Es gab Ehrgeizige, die ihm seine Erfolge nicht
gönnten, Neidische, die alles besser wußten.

„Oh, dieser Halunke!“ wiederholte Michael. Und dazu kamen noch die etwas
peinlichen Geschichten seines Bruders, seine Scheidung, die viel Staub
aufgewirbelt hatte, und jene Sache mit dem herzoglichen Familienschmuck.
Manche seiner Gegner machten ihn, so grotesk es klang, verantwortlich
für die Handlungen seines Bruders. Sie deuteten an, daß das Vermögen
Wenzels zum großen Teil aus Geschäften stamme, die er mit der
Gesellschaft Neu-Deutschland machte.

Michael ließ der Presse eine Notiz zugehen, daß die Verluste, die die
Gesellschaft durch die Unterschlagung erlitten habe, von Freunden der
Gesellschaft gedeckt werden würden. Er gab sich der Hoffnung hin, daß
Wenzel, der häufig eine offene Hand gezeigt hatte, ihm gefällig sein
würde. Aber er täuschte sich. Wenzel gab ihm nicht einmal eine Antwort.

Es dauerte immerhin einige Wochen, ehe Michael, übermüdet und
überanstrengt, sein Gleichgewicht wiedergewann. Nunmehr betrachtete er
alle Angriffe ruhiger.

Mochten sie toben und ihn mit Schmutz bewerfen, sagte er sich voller
Triumph, eine Tatsache war nicht zu leugnen: die Gesellschaft
Neu-Deutschland wuchs von Monat zu Monat. Es gab keine Provinz, keine
Landschaft, keine große und kleine Stadt, die nicht Projekte und Ziele
der Gesellschaft erregt diskutiert hätte. Der Plan von Deutschlands
Neuaufbau lag heute bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitet vor:
die Kanäle, die die einzelnen Ströme verbinden mußten, die
Schnellbahnen, die die großen Wirtschaftszentralen einander näher
bringen sollten, die Schnellautostraßen, die zu schaffen waren, die
Wasser- und Windkraftstationen. Es war eine ungeheure Arbeit für zehn,
zwanzig, fünfzig Jahre. Aber neu und groß würde das Land erstehen, und
allerorts hatte man eifrig und begeistert mit der Ausführung des Planes
begonnen. Hunderttausende von jungen Männern jubelten Michael zu.
Hunderttausende von freiwilligen Helfern bauten Straßen und Kanäle. Die
Frauenorganisationen hatten ihm ihre Mitarbeit zur Verfügung gestellt.
Es gab keinen Schmutz in den Lagern der Gesellschaft, keine Krankheiten,
keine zerfetzten Hemden und zerrissenen Kleider, alles dank der Fürsorge
der Frauen.

Unerschrocken ging Michael – der Devise der Gesellschaft getreu – dem
Hunger und dem Elend entgegen, und überall belebte sich das erstorbene
Gefühl der Kameradschaft.

Seine Reformen und seine Gedanken einer wohldurchdachten organischen
Wirtschaft des Reichs hatten im Ausland Aufsehen erregt. Kommissionen
kamen, das wachsende Werk zu besichtigen.

Vor einem halben Jahr etwa hatte Michael die Gesellschaft „Neu-Europa“
gegründet. Ähnliche Grundsätze, angewandt entsprechend den Bedürfnissen
der einzelnen Länder Europas, sollten sämtliche europäischen Staaten
reformieren. Die einzelnen Länder tauschten ihre Erfahrungen aus, ohne
jede Geheimnistuerei berichtete man gegenseitig über die Fortschritte
des Gartenbaues, der Landwirtschaft, des Heimstättenbaues, über neue
Maschinen und Erfindungen. Zufriedene europäische Völker – war es nicht
einleuchtend? – würden ein zufriedenes Europa schaffen, das es heute
nicht gab. Die Zölle würden fallen, die Schranken der Grenzen würden
fallen, das Paßwesen würde fallen. Unter dem Druck der wirtschaftlichen
Übermacht der Vereinigten Staaten von Amerika würde Europa früher oder
später gezwungen werden, eine Planwirtschaft für ganz Europa
einzuführen, sollte es nicht zum Sklaven des amerikanischen Kapitals
werden.

War Europa erst auf diesem Punkt angelangt, nun, so waren nur noch zwei,
drei Schritte zu den Vereinigten Staaten Europas! Und sie würden kommen,
morgen, übermorgen ...

Unermüdlich arbeitete Michael an diesen Problemen. Bis in die späte
Nacht hinein saß Eva Dux über das Stenogrammheft gebeugt.

„So wird es sein, so und nicht anders!“ schrie Michael.

Die Zeitschrift „Neu-Europa“, die er gegründet hatte, wurde in Millionen
von Exemplaren in allen Sprachen verbreitet. In unzähligen Versammlungen
hatte er, von Beifall umtost, gesprochen. Würden die europäischen
Staaten das Geld und die Arbeitsenergien, die sie heute für ihre Armen
aufbrachten, produktiven Zwecken zuwenden, so gäbe es heute schon keinen
Hunger und kein Elend mehr unter den europäischen Völkern! Und ein neuer
Tag würde über Europa emporsteigen.

Der Tag war nahe!

„So wird es sein und nicht anders!“ schrie Michael, und Eva Dux schrieb
mit fliegenden Händen.

Viele verspotteten Michaels Optimismus. Andere bekämpften ihn mit
rasendem Fanatismus. Je mehr Anhänger er gewann, desto größer wurde auch
die Schar seiner Feinde.


                                   16

Knirschend hielt das pechschwarzglänzende Auto, das neu war wie ein
Nagel, der aus der Maschine fällt, auf dem breiten Kiesweg vor der
Schellenbergschen Villa im Grunewald. Eine Reihe von Dienern stand auf
der breiten Freitreppe, der Haushofmeister, ein würdig aussehender
älterer Herr, ein früherer Regimentskommandeur, stürzte eifrig die
Treppe herab zum Wagen.

Wenzel stieg aus und half Esther aus dem Coupé. Sie betrachtete
aufmerksam das Palais, aber man konnte deutlich ihre Enttäuschung auf
dem etwas blassen, gemalten Gesicht sehen. Sie hatte die Lippen
gespitzt, während sie das Gebäude musterte. Sie hatte sich das Palais
etwa gedacht wie einen herzoglichen englischen Landsitz. Besonders aber
enttäuschten sie die Bäume. Oh, sie hatte riesiggroße Bäume erwartet,
wie in den englischen Parks, und diese Bäume hier waren unansehnlich,
unbedeutend, ohne Großartigkeit und ohne jegliche Physiognomie, neue
Bäume, mit einem Wort. Dazu war es Herbst, und die meisten Bäume hatten
das Laub schon abgeworfen, so daß Park und Garten einen etwas kläglichen
Eindruck machten.

Die Innenausstattung des Hauses aber fand Esthers Beifall. Ihre
kultivierten Sinne erkannten augenblicklich, da war Geschmack,
Kostbarkeit, Pracht, alles von der Hand eines Meisters angeordnet. Nicht
überladen die Räume, Farben, Formen und Einrichtung in voller Harmonie –
ja, ein solches Haus konnte sich auch recht gut in England sehen lassen.
Man konnte seine Freunde einladen, ohne ihre Kritik fürchten zu müssen.
Sie bewunderte den Speisesaal mit den gestickten Wänden, welche Arbeit,
welche Linien und Farben! Die riesige Bibliothek mit den Abertausenden
von Bänden und tausend alten, kostbaren Ausgaben versetzte sie in
Entzücken. Ihre Gemächer hatte Wenzel in den letzten Monaten einrichten
lassen. Sie gefielen ihr. Sie war zufrieden. Das Schlafzimmer, in
Lachsrot und Gold gehalten, war ein vollendetes Kunstwerk. Wenzels
Architekten, Kaufherr und Stolzer, hatten ihr ganzes Können eingesetzt.
Esther aber liebte Lachsrot nicht, sie wünschte die Ausführung in
Bordeauxrot. Das gekachelte Schwimmbad, in das eine weiße Marmortreppe
hinabführte, begeisterte sie wiederum. Vor ihrem Schlafzimmer aber
sollte eine helle Glasveranda angebracht werden, mit bequemen
Korbsesseln und einem Teetisch, wie in England. Und sie wünschte, daß
die Wege des Gartens mit großen Steinplatten ausgelegt würden, wie sie
es bei Freunden in England gesehen hatte. Verschiedene Moose und
Steinpflanzen in den Ritzen.

Wenzel lachte. Er versprach, alle ihre Wünsche zu erfüllen.

Den ersten Abend speiste Esther bei ihrem Vater. Am zweiten Abend aber
lud Wenzel den alten Raucheisen zu Tisch. Es war eine ganz kleine
Gesellschaft. Nur Mackentin, Michael und Eva Dux waren eingeladen.

Der alte Raucheisen übersah absichtlich Glanz und Prunk des Hauses. Er
warf kaum einen Blick in die Bibliothek und beachtete auch die
gestickten Wände des Speisesaals nicht, obschon ihn Esther darauf
aufmerksam machte. Es roch hier noch nach Lack und Farbe! In Wahrheit
aber war Wenzels Palais mit weit größerem Geschmack eingerichtet als das
Schloß Charlottenruh des alten Raucheisen an der Ruhr, das vollgestopft
war mit Kostbarkeiten von zweifelhaftem, ja sogar schlechtem Geschmack.
Da saß ein Mädchen, keine Dame, das sicherlich nicht der Gesellschaft
angehörte. Sie saß still und wagte kaum die Speisen zu berühren und trug
zwei falsche Perlen in den Ohren. Während des ganzen Abends vermied es
der alte Raucheisen mit ungeheurer Geschicklichkeit, Eva Dux auch nur
eines Blickes zu würdigen.

Esther hatte Michael noch nie gesehen, war aber durch Wenzels
schwärmerische Schilderungen neugierig auf ihn geworden. Seine warmen,
leuchtenden Augen gefielen ihr und die weiche Linie seines Mundes.
Welche Ruhe, trotz einer gewissen Müdigkeit, die auf seinem Gesicht
lagerte. Er sah Wenzel ähnlich, nur daß alle Züge etwas zarter waren.
Sie unterhielt sich während des ganzen Abends fast ausschließlich mit
ihm. Er war ihr sympathisch – und doch beschloß sie, seine Gesellschaft
in Zukunft zu meiden, soweit es anging. Sie haßte jene Klasse von
Menschen, die alles gleichmachen wollten. Gewiß würde dieser Mann, wenn
er die Macht hätte, überall Kartoffeln und Getreide anbauen und Parks
und Golfplätze verbieten, vielleicht auch die Blumengärten, aus deren
Blüten man die Parfüms destillierte? Vielleicht war es in Zukunft nicht
mehr erlaubt, sich Dienerschaft zu halten. Sie erblickte in ihm einen
Feind, einen Gegner von großer Gefährlichkeit, und ihre Abneigung wuchs
mit jeder Minute, die sie mit ihm heiter und klug verplauderte.

Michael zuckte über Esther die Achseln. Eine mondäne Frau, sagte er
sich, verwöhnt, hoffärtig und eigenwillig. Sie ist nicht nach meinem
Geschmack. Möge Wenzel mit ihr glücklich werden.

„Wie gefiel dir Esther?“ fragte er Eva.

Eva dachte lange nach, dann sagte sie: „Sie ist interessant und
geistreich, aber ich könnte ihr niemals volles Vertrauen schenken.“

Schon am nächsten Tage fuhr Esther nach England zurück. Mitte Dezember
sollte die Hochzeit in London stattfinden. Es war Esthers Wunsch. Sie
wollte alle ihre englischen Freunde um sich sehen. Der alte Raucheisen
hatte ihr versprochen, zu kommen, trotz der beschwerlichen Reise. In
Wahrheit hatte er aufgeatmet: wenn die Hochzeit nur nicht in Berlin
stattfand.

Wenzel gab seiner Jacht „Kleopatra“ den Auftrag, ihn vom zehnten
Dezember an in Nizza zu erwarten, und die „Kleopatra“ stach sofort in
See.


                                   17

Welke Blätter klebten an den Scheiben. Der Wind blies, der Regen
klatschte gegen das Haus, die Tage wurden kürzer. Immer noch waren alle
Vorhänge in Jennys kleiner Villa, die so fröhlich von außen aussah,
zugezogen. Immer noch wanderte Jenny wie ein Gespenst in ihren Zimmern
hin und her, ohne jede Ruhe. Sie wußte kaum, ob es Tag war oder Nacht.

Heute war der letzte Oktober, der letzte Tag. Sie hatte Hauptmann
Mackentin mitgeteilt, daß sie ihm das Haus vom ersten November an zur
Verfügung stelle. Also war heute der letzte Tag, und heute würde es
geschehen.

„Ich werde Wort halten. Ich habe ihm geschrieben, daß er morgen über das
Haus verfügen könne,“ sagte Jenny zu sich. „Nun gut, ich werde nicht
mehr hier sein.“

Sie hatte die Gewohnheit angenommen, laut zu sprechen, während sie durch
die Zimmer ging oder müde in irgendeinem Sessel kauerte. Alles war
vorbereitet. Den Chauffeur und die Zofe hatte sie schon vor einem Monat
entlassen. Sie waren nur im Wege. Die Köchin würde morgen das Haus
verlassen. Nur noch der Hausverwalter wohnte in seinem Gartenhaus
nebenan.

Ja, heute war also der letzte Tag. Nun war er da! Sie schlüpfte in ein
gelbseidenes Kimono, das sie liebte, und schritt durch die Zimmer, mit
einem fernen, leisen Lächeln auf den Lippen. Nur zuweilen blieb sie
stehen und starrte in die Luft. Ihre Augen waren sehr groß und hell
geworden. Und sie sprach laut mit Wenzel. Sie erzählte ihm das und
jenes. Sie lächelte über seine Antworten, mit etwas schiefgezogenen
Lippen.

Sie sagte: „Da bist du ja wieder, mein lieber Junge.“ Oder sie sagte:
„Weshalb gehst du schon? Bleibe doch noch etwas hier. Ach, diese ewigen
Konferenzen!“ Und sie runzelte mit gespieltem Unmut die Stirne.

Sie sagte: „Wie töricht bist du doch, Wenzel! Wenn du diese Frau
heiraten willst, so heirate sie ruhig! Ich habe nie danach gefragt, ob
du mich etwa heiraten willst. Es war für mich schön, so wie es war. Eine
Heirat ist doch kein Grund, daß du weggehst. Du konntest mir alles
sagen, du konntest mir auch sagen, daß wir fortan nur als Freunde leben
würden, auch das hätte ich begriffen, ich bin doch nicht so töricht.“

Sie sah Wenzels Gesicht deutlich vor sich, diese gebräunte Haut mit
etwas großen Poren, seine Zähne, seinen derben, kräftigen Mund, seine
Augen. Das Augenlid bildete nicht eine geschwungene Linie, es war eckig.
Wenn man Wenzels Augen zeichnen wollte, so mußte man sie mit lauter
Ecken zeichnen. Und die Augen selbst waren von einem etwas strengen,
harten Grau. Auch wenn Wenzel lachte und heiter war, blieben seine Augen
immer etwas hart. Das lag wohl an der Farbe.

Sie durchlebte ihr Zusammenleben mit Wenzel immer wieder. Das Feuer im
Kamin von Hellbronnen, wie es prasselte und blendete! Wie sagte er doch?
„Ich dulde nicht das geringste von deiner Seite, aber ich verlange
völlige Freiheit für mich.“ Und sie kapitulierte, ohne jeden Widerstand.
Wie ein Traum die Woche auf der Ostsee, das Gewitter. Erinnerst du dich?
Wie er dich auf den Armen in die Kajüte trug, während es blitzte, und
wie er sagte: „Wir wollen sehen, ob die Götter Kavaliere sind.“ Jenny
lachte leise auf. Es klang wie ein leiser Schrei um Hilfe.

„Oh, was für ein wilder Junge bist du doch!“ rief sie.

Und wieder sah sie sein Gesicht vor sich, so wie sie es zuerst sah. Es
war etwas Furchtbares in diesem Gesicht, das sie nur zuweilen, selten
darin erblickte; dann war es wieder verschwunden. Was war es doch? Woran
lag es? Es war ein gewalttätiger Zug. Vielleicht war Wenzel einer jener
Menschen, die morden konnten?

Und plötzlich hörte sie die Lobeshymne des kleinen Stolpe, damals, als
sie im Auto zur Oper fuhren, man gab „Figaros Hochzeit“. Erinnerst du
dich? Es war ihr erstes Rendezvous, und Wenzel kam zu spät und schlief
dann in der Loge ein. Was sagte Stolpe? „Er hat Format, in allem, was er
tut, hat er Format,“ – sagte er das? oder sagte er „Kaliber“? Wiederum
erhob sich Jenny und begann ihre Wanderung. Das lange, gelbseidene
Kimono schleppte hinter ihr her. Wenzel hatte es so sehr an ihr geliebt.
Er hatte es ihr aus Paris mitgebracht.

„Oder hast du dich in diese Frau so sehr verliebt, daß du eine alte
Freundin nicht mehr sehen kannst? Liebst du sie so rasend? Vielleicht
bist du auch in deiner Leidenschaft so maßlos wie in allen Dingen. Ich
zürne dir nicht, mein Liebling. Ich begreife dich nur nicht. Den Ton
deines Briefes nehme ich dir schon lange nicht mehr übel. Deine Worte
waren verfälscht, im Augenblick, da du nicht aufrichtig warst wie
gewöhnlich. Oh, ich muß annehmen, daß du diese Frau ohne alle Grenzen
liebst.“

Verwirrt irrte Jenny hin und her. Das gelbe Kimono flammte durch die
Spiegel, dann verschwand es und leuchtete wieder im Glase eines dunklen
Zimmers auf.

„Ich habe geträumt,“ sagte Jenny zu sich, mit gerunzelter Stirn,
nachdenklich. „Ich habe von einer giftigen Blume geträumt in der letzten
Nacht. Sie war klein, ein schwefelgelber, kleiner Stern. Aber von weitem
sah ich sie schon und eilte auf sie zu – und es waren so viele schöne,
schlichte Blumen im Walde – aber ich sah nur die glänzende, gelbe. Was
tat ich mit ihr?“ Lange stand sie nachdenklich, vergrämt, weil sie sich
des Traumes nicht mehr entsann.

„Gute Nacht, mein Junge,“ sagte Jenny hierauf mit einem Lächeln, „du
mußt jetzt gehen, und Jenny geht schlafen,“ und sie verschränkte die
Hände hinter dem Haar und rezitierte mit einer leisen Stimme, fast als
ob sie im Theater spräche:

   „O gib, vom weichen Pfühle,
   Träumend, ein halb Gehör!
   Bei meinem Saitenspiele
   Schlafe! Was willst du mehr?“

Zweimal wiederholte sie die Verse, das letzte Mal mit einer leisen,
wimmernden, hilfeflehenden Stimme. Dann rief sie: „Gute Nacht, Wenzel!“
und ging in das Badezimmer.

Dieses Badezimmer war kreisförmig gebaut, aus korallenrotem Marmor. Das
Bassin war versenkt, es führten zwei Stufen hinunter. In Nischen standen
Waschtische, und in einer Nische stand eine Bank.

Jenny ließ das heiße Wasser einlaufen, dann wandte sie sich um und
blickte zur Nische.

„Da bist du ja wieder, Wenzel,“ sagte sie leise lachend. Ja, da saß er!
Wie oft saß er auf dieser Bank und sah zu, wie sie badete. Überall im
Hause war er, man konnte gehen, wohin man wollte. Diesen Raum hatte er
am meisten geliebt, die weiche Beleuchtung, sie behagte seinen Augen.
Das Licht fiel durch Schalen an der Decke, dünn und zart wie die Blätter
einer Rose.

Jenny legte das Gewand ab und stieg in das Bassin. „Sieh nur zu,
Wenzel,“ sagte sie gegen die Nische. Dann saß sie eine Weile still, und
wieder sprach sie, aber diesmal ganz leise.

„Schlafe! Was willst du mehr?“

Dann sagte sie, wiederum zur Nische gewandt: „Nun sieh zu, wie ich
schlafen gehe, Wenzel.“

Sie entnahm einem Etui ein kleines silbernes Rasiermesser und zeigte es
Wenzel. „Siehst du das?“ fragte sie. Das Messer blitzte im Licht, und
schon hatte Jenny sich mit einem schnellen Ruck die Pulsader der linken
Hand durchschnitten. Nun floß das Blut, und sie zeigte es ihm
triumphierend.

„Siehst du nun, das ist Jennys Blut?“ sagte sie, fiebrisch lächelnd, und
ihre Augen waren sehr groß. Die Wunde schmerzte. Sie neigte den Arm ins
Wasser, und das Blut quoll. Wie ein roter Rauch bewegte es sich im
Wasser. Bald sah man ihre Hand nicht mehr, und nun verdeckte der rote
Rauch ihren Schoß. Sie bewegte sich, und das Wasser des Bassins war nun
genau so rot wie das Zimmer. Nun schloß sie die Augen und lag lange
still. Plötzlich aber erschrak sie. Irgend etwas krachte. Es war
plötzlich ein so lautes Krachen in ihren Ohren gewesen. Sie erwachte.

„Was ist? Was tue ich?“ sagte sie. „Weshalb tue ich es? O Gott, nein,
ich will es nicht tun.“

Sie richtete sich auf und berührte die Klingel. „Aber es ist ja niemand
im Hause,“ sagte sie hastig zu sich, und nun erschrak sie plötzlich vor
der Leere des Hauses. Sie versuchte aus dem Bassin zu steigen. Zweimal
fiel sie auf die Treppe zurück, so sehr zitterten ihre Glieder. Endlich
gelang es. Da stand sie mitten im Badezimmer und preßte die Hand um den
verletzten Arm und versuchte vorwärtszugehen, aber sie taumelte
furchtbar.

„So hilf mir doch, Wenzel!“ schrie sie laut und stürzte zu Boden. „Hilf
mir doch, bevor es zu spät ist. Ich will es nicht tun!“

Und da kamen auch schon Schritte. Da kam schon Wenzel. Er nahm sie auf
den Arm und trug sie davon wie seinerzeit, als die Blitze um das Schiff
fuhren. Oder nein, war es nicht Wenzel? War es Michael? Es war Michael,
der sie dahintrug! Und weshalb lief er so schnell?

Da schwand ihr das Bewußtsein.


                                   18

Es meldet sich niemand, sagte Hauptmann Mackentin, ungeduldig und
nervös, und klingelte erneut bei Jenny Florian an. Er wollte ihr kurz
mitteilen, daß er auch nicht die geringste Vollmacht habe, das Haus für
Herrn Schellenberg zurückzunehmen. Sie möge darüber nach Gutdünken
verfügen. Für den Fall aber, daß sie zu verreisen gedenke, sei es ihm
natürlich eine Freude, das Haus während ihrer Abwesenheit zu verwalten.

Abermals meldete sich niemand auf den Anruf! Nunmehr verlangte Mackentin
den Hausverwalter. Eine Viertelstunde später, während er gequält und von
bösen Ahnungen gepeinigt an den Nägeln zupfte, wußte er alles.

Mackentin hatte den Auftrag, in etwa drei bis vier Tagen zur
Berichterstattung nach London zu kommen. Er nahm indessen schon am
nächsten Vormittag das Londoner Postflugzeug und kam nach einer
stürmischen Fahrt gegen Abend in London an. Er meldete sich bei Wenzel
und wurde augenblicklich vorgelassen.

Wenzel war eben dabei, sich für den Abend fertigzumachen. Er lag in
einem Sessel, die langen Beine behaglich von sich gestreckt, und ließ
sich vom Barbier rasieren, während ein junges, zartes Mädchen seine
Hände manikürte. Das Zimmer roch intensiv nach Essenzen und Parfüms. Ein
feuchtes Handtuch war zum Glätten der Haare wie ein Turban um Wenzels
Kopf gebunden.

Mit einer Verbeugung trat Mackentin ein. „Melde mich ergebenst zum
Vortrag,“ sagte er, bemüht, seiner Stimme einen alltäglichen Klang zu
geben.

Wenzel winkte mit der Hand und nickte ihm durch den Spiegel zu. „Ich
habe Sie erst übermorgen erwartet, Mackentin. Sie sehen ja so bleich
aus. Nehmen Sie Platz, ich bin sofort zu Ihrer Verfügung.“

„Die Fahrt war schlecht, ich wurde seekrank,“ erwiderte Mackentin und
nahm Platz.

Die Maniküre verschwand, dann verabschiedete sich auch der Friseur.

Wenzel schüttelte die langen Beine und erhob sich aus dem Sessel, um
Mackentin zu begrüßen. Aber schon beim ersten Blick in Mackentins
Gesicht erkannte er deutlich, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen
sein mußte. Mackentins Nase schien noch schiefer zu stehen als
gewöhnlich.

„Hat es einen besonderen Grund, daß Sie zwei Tage früher gekommen sind?“
fragte er, seine Unruhe verbergend, und seine Haltung wurde straffer.

„Leider eine sehr traurige Ursache,“ entgegnete Mackentin. Und er
berichtete, kurz, mit militärischer Sachlichkeit und Knappheit. Diesen
militärischen Ton pflegte er stets zu wählen, wenn er völlig ratlos war.

Wenzels Gesicht kam immer näher. Es war grau wie Erde geworden. Seine
blendenden Augen wurden größer, es sah ganz so aus, als ob er sich auf
Mackentin stürzen wolle. Dann öffnete sich der verzerrte Mund, die
Lippen rangen nach Luft, und das erdgraue Gesicht entfernte sich wieder.
Als Mackentin nach einer Weile aufzublicken wagte, sah er Wenzel, die
Fäuste auf den Knien, in demselben Sessel sitzen, in dem er vorhin
rasiert wurde. Seine Schultern hoben und senkten sich. Endlich stand er
tief aufatmend auf und ging im Zimmer hin und her, langsam, den starren
Blick zu Boden geheftet.

Das Telephon klingelte. Wenzel runzelte heftig die Stirn, und es sah
aus, als ob er in diesem Augenblick das Telephon und noch ganz andere
Dinge verfluche. Dann aber sprach er mit ruhiger, nur etwas heiserer
Stimme in den Apparat hinein. Er werde in fünf Minuten bereit sein.
Mackentin hatte deutlich Esthers lebhafte Stimme im Apparat gehört.
Wenzel vollendete langsam seine Abendtoilette, immer noch die Stirn
gerunzelt. Er schien nicht die geringste Eile zu haben. Er schlüpfte in
die Weste, band die Krawatte und zog den Frack über. In diesem
neumodisch geschnittenen Frack eines Londoner Ateliers erschienen seine
Schultern noch um vieles breiter als gewöhnlich. Sein Gesicht war so
grau, als sei es mit Straßenstaub bestäubt.

Ein Diener legte ihm den Umhang um und reichte ihm Handschuhe und
Zylinder.

Wenzel drückte Mackentins Hand. Es war ein fester, harter Druck,
wochenlang spürte ihn Mackentin. „Ich danke Ihnen, lieber Freund!“ sagte
Wenzel. „Heute nacht um ein Uhr erwarten Sie mich hier.“

„Sehr wohl.“

Und Wenzel ging. Er speiste an diesem Abend mit Esther bei Sir Alfred
Thomson, dem Onkel Esthers. Es war eine große, blendende Gesellschaft.
Fast die ganze englische Verwandtschaft Esthers und alle ihre Londoner
Freunde waren zugegen. Anfangs sah das Gesicht Wenzels immer noch aus,
als sei es mit grauem Straßenstaub bestäubt. Aber als er sich erst eine
halbe Stunde unter den Gästen Sir Alfreds bewegt hatte, nahm es seine
natürliche braune Farbe wieder an. Aber der Blick in seinen Augen blieb
starr. Er lächelte sogar einigemal, dabei zuckten seine Lippen
sonderbar. Er trank viel Wein, ohne daß man es ihm anmerkte.

Gegen zwei Uhr kam er ins Hotel zurück. Er warf den Frack ab und setzte
sich in Hemdärmeln an den Schreibtisch.

„Und nun lassen Sie sehen, Mackentin,“ sagte er, und diktierte bis vier
Uhr morgens Briefe.

„Leben Sie wohl, lieber Mackentin, ich werde Ihnen diesen
Freundschaftsdienst nie vergessen!“ sagte er zum Abschied zu Mackentin.
„Es hat mich tief getroffen. Glauben Sie es mir, es war der furchtbarste
Abend meines Lebens. Sie war ein gütiges und in vielen Beziehungen
seltenes Wesen. Es ist schade um sie. Aber ich habe keine Schuld,
Mackentin! Ich habe sie nie belogen, ich war stets aufrichtig zu ihr.
Sie war zu zerbrechlich geschaffen für dieses Leben. Sie mußte
zerbrechen. Was kann ich dafür? Gute Nacht!“ –


                                   19

Esther war in diesen Wochen in großer Erregung, überreizt und oft
wirklich schlecht gelaunt. Sie hatte die Robe für die Trauung, die
Reisekleider, die Wäsche bei einer ersten Firma in Paris in Auftrag
gegeben. Aber nichts stimmte, sie waren da drüben nicht einmal imstande,
ein Knopfloch richtig zu nähen. Dazu ging es nicht vorwärts, obschon sie
in jeder Woche einige Boten nach Paris jagte. Schon jetzt sah Esther
ein, daß die Hochzeit um einen Monat verschoben werden mußte. Es ging
nicht anders.

Nun, schließlich, um ganz offen zu sein, hatte sie ja eigentlich gar
keine Eile. Diese Heirat, wozu eigentlich? fragte sie sich hundertmal in
jenen Tagen, da sie in schlechtester Laune war. Natürlich konnte sie
jetzt nicht mehr zurück, nachdem sie ihre Wiederverheiratung all ihren
Verwandten und Freunden bekanntgegeben hatte. Sie mußte wohl oder übel
konsequent bleiben, aber –.

Mitte Januar wurde die Hochzeit mit großem Aufwand gefeiert. Klein, mit
eingefallenen Zügen, fahlen Lippen und krankem Blick saß der alte
Raucheisen bei der Tafel. Er sprach fast kein Wort. Zuweilen fröstelte
er, und frühzeitig zog er sich, aschfahl vor Schwäche, zurück.

Michael ist nicht gekommen, dachte Wenzel während des ganzen Tages, und
immer kehrte dieser Gedanke wieder. Alle andern hätte er entbehren
können. Er empfand Michaels Absage als Kränkung, mehr als das, als eine
Abkehr Michaels von ihm. Was sollten ihm diese Major Fairfax, Baron Blau
und die andern? Ihre rasierten, gepflegten, gepuderten, leeren Gesichter
langweilten ihn.

Am späten Abend begaben sich die Neuvermählten mit dem Nachtschnellzug
nach Paris. Hier nahmen sie den Rivieraexpreß. Auf der Reede von Nizza
lag in der hellen Sonne, schneeweiß und berückend schön, die
„Kleopatra.“ Wenzel hatte die Jacht völlig überholen lassen. Das Boot,
das die beiden an Bord brachte, war mit weißen Rosen geschmückt, ebenso
das Fallreep. Die Matrosen standen in Gala, lustig flatterten die bunten
Wimpel der Jacht. Wie eine Fürstin stieg Esther an Bord, fröhlich und
heiter wie ein Kind, das mit naiver Selbstverständlichkeit alles
entgegennimmt, was man ihm bietet.

Eine warme Brise blies vom Lande her, und mit dem Wind zog die Jacht in
die glitzernde Bai hinaus. Erst jetzt bemerkte Esther, daß Wenzel den
Namen der Jacht geändert hatte. Überall, wo man früher „Kleopatra“ las,
stand jetzt der Name „Esther Schellenberg“. Diese Aufmerksamkeit
entzückte sie. Ja, fast war sie in diesem Augenblick glücklich.

Die Jacht ging nach Süden. Sie suchte die Sonne. In Korsika und
Sardinien war es noch zu kalt. Die Jacht ging nach Sizilien, von da nach
Ägypten. Hier war die Sonne, und hier lag sie vierzehn Tage. Dann nahm
sie wieder nördlichen Kurs. Sie lief Zypern an, dann Kreta und die
griechischen Inseln. In Ragusa machte man längere Station. Hier war es
schon heiß. Die Glyzinen blühten, die Orangenblüten dufteten, die Palmen
setzten ihre dottergelben, fetten Blütentrauben an, und schon trieben
die Agaven ihre armdicken Blütenstengel aus den stachligen
Riesenleibern. Das Meer blendete, die verkarsteten Berge glühten in der
Sonne. Es war eine frohe und glückliche Woche an Bord.

Schon aber trafen Stöße von Telegrammen an Esther ein, und sie gab den
Befehl zur Abfahrt. Die Jacht nahm direkten Kurs auf Venedig. Hier, am
Lido, wollte Esther einige Wochen verbringen, bis es Frühling wurde in
Deutschland.

In Venedig traf sie schon wieder ihre alten Freunde. Baron Blau kam aus
Paris, um ihr die Hand zu küssen, Major Fairfax streckte seinen braunen
hageren Körper im Sande. Es kamen englische und französische Freunde in
ganzen Scharen, und Esther war wieder in ihrem Element. Sie hatte sich
von einem Pariser Künstler phantastische Badekostüme, Umhänge und Mäntel
entwerfen lassen, die den Neid aller Frauen erregten.

Diese Kostüme waren mit solchem Raffinement komponiert, daß Esther in
ihnen weitaus nackter erschien, als wenn sie unbekleidet gegangen wäre.
Jede Linie ihrer Hüfte, die spitzen kleinen Brüste, die Formen ihres
etwas mageren Rückens, alle ihre Reize wurden sichtbar.


                                   20

Michael fand den Bruder verändert. Schien es nicht, als sei Wenzel etwas
voller geworden? Sein Gesicht, sonst derb und kantig wie aus einem
Eichenklotz gehauen, erschien etwas schwammig. Das blendende Weiß der
Augen war gelblich und stumpf geworden, seine Hände zitterten.
Vielleicht trinkt er zur Zeit wieder, dachte Michael. Wie lange wird er
dieses Leben noch aushalten? Trotz all dieser unverkennbaren Anzeichen
von Übersättigung und Übermüdung schien Wenzel zu funkeln vor
Lebensfreude und Glücksgefühl.

„Ich bin also gekommen, lieber Wenzel,“ begann Michael etwas unsicher
und flocht die Hände verlegen ineinander, wie er es immer tat, wenn er
ein Anliegen hatte. „Ich bin also gekommen, um anzuklopfen, ob du meiner
Gesellschaft einen Kredit von ein bis zwei Millionen einräumen willst.“

Wenzel legte die Stirn in Falten und verzog den Mund zu einem
spöttischen Lächeln.

„Die Gesellschaft zahlt Zinsen, wenn auch nur mäßige.“

Wenzel schüttelte den Kopf und erhob sich. „Ich will nicht,“ sagte er
kurz.

„Du willst nicht?“ Michael sah überrascht auf. „Schade, ich hatte auf
dich gerechnet, Wenzel. Wir kommen vorwärts, aber es ist noch unendlich
viel zu tun, und wir brauchen Kapital. Wüßtest du, welches Elend in den
breitesten Schichten der Bevölkerung herrscht!“

Wenzel holte tief Atem und schnob durch die Nase. „Was kümmert es mich,“
sagte er mit einem erregten Kopfschütteln, „was geht mich das Elend der
breitesten Schichten an?“

„Es geht dich nichts an?“ fragte Michael. Er war plötzlich bleich
geworden. Ein fremder, feindseliger Klang war in Wenzels Stimme.

„Nein, es geht mich natürlich nichts an!“ fuhr Wenzel mit einer
unverständlichen Erregung fort. „Es ist Sache der Regierung und des
Parlaments und nicht die meinige!“

Michael senkte den Kopf. „Du weißt, Wenzel, daß weder die Regierung noch
das Parlament eine derartig riesige Aufgabe lösen könnte, ohne durch
tausend Widerstände gehemmt zu werden.“

„Nun, dann sollen die breitesten Schichten, die es angeht, sich um eine
andere Regierung und ein anderes Parlament umtun. Was geht es mich an,
wenn sie zu indolent dazu sind?“

Michael blickte mit erschrockenen, verwunderten Augen auf den Bruder. Er
erwiderte nichts.

Und Wenzel fuhr mit großer Erregung fort: „Weshalb mischst du dich in
die Angelegenheiten anderer Menschen? Sie lohnen es dir nicht! Im
Gegenteil, ich sage es dir nicht zum ersten Male, nimm dich in acht, die
Menschen haben noch immer ihre Wohltäter gesteinigt. Ich öffne die
Zeitungen und lese, wie heftig man dich angreift!“

„Laß sie mich doch angreifen. Ich habe Gegner, natürlich, aber ich habe
auch Anhänger, die für mich durchs Feuer gehen.“

Wenzel blieb vor dem Bruder stehen. „Du bist töricht, Michael. Weshalb
greift man mich nicht an, von ein paar obskuren Blättern abgesehen? Ich
will dir das Geheimnis verraten. Mein Konzern gibt jährlich
Hunderttausende für Inserate aus. Wehe, wenn sie es wagten! Zuweilen
kommt irgendein Revolverjournalist mit dem noch nassen Bürstenabzug
eines Artikels gegen meinen Konzern oder mich zu mir. Man gibt ihnen ein
Trinkgeld und wirft sie zur Tür hinaus. Warum machst du es nicht
ähnlich? Niemand wird es wagen, dich anzugreifen.“

Michael schüttelte den Kopf. Er hielt den Blick lange vorwurfsvoll auf
Wenzel gerichtet.

„Wenn man dich auch in der Presse nicht angreift, Wenzel, so übt man
doch in der Öffentlichkeit lebhafte Kritik an dir. Man kritisiert deine
Passionen, deinen Aufwand, deine Verschwendung, deine Geschäftsmethoden.
Verzeihe, daß ich es dir offen sage, Bruder. Niemand wagt es ja, sie
sind alle abhängig von dir und zittern vor deinem Zorn. Man spricht sehr
abfällig über deine Scheidungsangelegenheit, und man hat die
unglückliche Jenny Florian nicht vergessen.“

Wenzel wurde bleich vor Zorn. Seine Augen funkelten. „Wer ist man?“
schrie er. „Wer kritisiert? Sie sollen schweigen! Sage ihnen, daß sie
schweigen sollen! Ich kann ihnen kein Recht auf Kritik einräumen. Es
sind dieselben Leute, die mich auf der Straße krepieren ließen, als ich
aus dem Krieg zurückkam. Es sind Lügner und Heuchler, ich mache diese
Lüge nicht mit, sage es ihnen. Es sind Leute, die ihre Dienstboten wie
Leibeigene behandeln und ihre Arbeiter wie Sklaven! Frage in meinem
Hause nach, erkundige dich in meinen Betrieben. Ich gebe viele
Hunderttausende im Jahre aus für Wohlfahrtseinrichtungen und Renten. Und
meine Geschäftsmethoden? Sage ihnen, daß meine Geschäftsmethoden ebenso
gut und ebenso schlecht sind wie die anderer großer Konzerne.“

Michael erhob sich, um das Gespräch abzubrechen. War das Wenzel? Welche
Hoffart, welche Selbstherrlichkeit in dieser lauten, gewalttätigen
Stimme! Es hatte keinen Sinn, dagegen zu kämpfen.

„Wir wollen das Gespräch nicht fortsetzen, Wenzel,“ sagte Michael. „Ich
wollte ja eigentlich nicht von diesen Dingen beginnen. Ich kam mit ganz
anderen Gedanken zu dir.“ Er blickte nochmals in Wenzels Augen. „Du
willst uns das Darlehn also nicht geben?“

Wenzel wandte sich ungeduldig ab.

„Ich begreife nicht,“ fuhr Michael fort und ließ den Blick langsam durch
den mit Kostbarkeiten und Prunk angefüllten Saal der Bibliothek
schweifen, „ich verstehe es nicht, daß du so leben kannst, während
Tausende und Abertausende deiner Volksgenossen nicht das Stück Brot
haben, das nötig ist, um den Hunger zu stillen.“

Wieder lächelte Wenzel sein spöttisches Lächeln. „Weshalb richtest du
derartige Fragen an mich, Michael?“ erwiderte er, um vieles
beherrschter. „Frage doch die Regierung, weshalb sie zugibt, daß Frauen
für zehn Pfennige in der Stunde arbeiten. Frage doch den Präsidenten der
Vereinigten Staaten, weshalb er zugibt, daß einzelne Bürger Milliarden
anhäufen, während Tausende in der Gosse krepieren! Frage alle diese
Menschen, aber frage doch nicht mich! Ich bin doch nicht verantwortlich
für diese Gesellschaftsordnung.“

Michael schwieg eine Weile. Dann sagte er sehr ruhig: „Erinnerst du
dich, Wenzel, daß wir einmal eine Nacht hindurch über ähnliche, ja, die
gleichen Dinge debattierten? Wir sprachen, erinnerst du dich, über den
tiefen Sinn des indischen Wortes ‚_Tat tvam asi_ ...‘ Das bist du! Das
heißt: Dein Mitmensch, das bist du selbst?“

Wenzel beugte den Nacken. Er stand trotzig da, mit gespreizten Beinen.
Dann sagte er, die Adern auf seiner Stirn schwollen an: „Das ist Wunsch,
aber nicht Wahrheit. Es ist Lüge und Heuchelei. Buddha, Christus, und
wie sie alle heißen –“

Michael wich zurück. „Du wirst bereuen,“ sagte er mit entsetztem Blick.
„Ja, du wirst bereuen.“ Dann blickte er zu Boden, und nach langem
Schweigen fügte er hinzu: „Lebe wohl, Wenzel.“

Er ging, ohne dem Bruder die Hand zu reichen. Wenzel kam ihm einige
Schritte nach. „So höre doch, Michael,“ versuchte er einzulenken.

„Wir verstehen uns nicht mehr,“ erwiderte Michael unter der Tür,
schüttelte den Kopf und ging.


                                   21

Esther Schellenberg war im Mai nach Berlin zurückgekommen und hatte ihre
Residenz im Schellenbergschen Palais im Grunewald aufgeschlagen. Tag und
Nacht knirschten die Pneus der eleganten Autos auf den Kieswegen vor der
Freitreppe. Tag und Nacht gingen die Gäste aus und ein. Der
Haushofmeister, der ehemalige Regimentskommandeur, hatte vollauf zu tun.
Fast ständig waren die Gastzimmer des Hauses besetzt. Es kamen viele
ausländische Gäste. Baron Blau betrachtete sich das Haus und sagte aus
Höflichkeit einige Schmeicheleien. Major Fairfax kam auf vierzehn Tage.
Er beachtete das Haus kaum. Er spielte vom frühen Morgen bis zur
sinkenden Nacht Tennis, mit jedermann, der gerade mit ihm spielen
wollte.

Esther hatte die Absicht, den größten Teil des Jahres im Auslande zu
verbringen und sich in Deutschland so wenig wie möglich aufzuhalten. Ein
paar Monate im Frühling und im Sommer vielleicht und ein paar Wochen im
Winter etwa, wenn das Theater- und Konzertleben Berlins sich wieder
beleben sollte.

Aber auch für diese wenigen Monate mußte Abwechslung und Zerstreuung
geschaffen werden. Für diese Zwecke schien ihr das Jagdschlößchen
Hellbronnen ganz besonders geeignet. Vielleicht ließ sich daraus etwas
machen, was ihre englischen und französischen Bekannten nicht hatten,
eine Attraktion, die die Freunde von weither anlockte. Sie plante auf
Hellbronnen Sommerfeste, Maskeraden, italienische Nächte, sie plante
alle möglichen Dinge. Man konnte gewiß recht ausgelassen in dem
Schlößchen und dem verschwiegenen Park sein, ohne irgendwie gestört zu
werden. Es ließ sich dort alles mögliche arrangieren. Sie beabsichtigte
zu diesen Festen ihre englischen und französischen Freundinnen, die sich
auf das Leben verstanden, einzuladen. Es sollte eine Sache werden, von
der man überall sprach.

„Willst du mir eine Freude machen?“ fragte sie Wenzel. „Willst du mir
Hellbronnen schenken?“

„Was bietest du dafür?“ fragte Wenzel.

Esther blickte ihn an und lächelte mit den gemalten schmalen Lippen. „Du
kannst fordern,“ erwiderte sie.

„Gut, so will ich dir Hellbronnen verschreiben lassen.“

„Ich kann damit anfangen, was ich will?“

„Natürlich.“

Schon am nächsten Tage fuhr Esther mit den Architekten Kaufherr und
Stolzer nach Hellbronnen, um ihnen ihre extravaganten Wünsche
vorzutragen. Es sollten Pavillons errichtet werden, da und dort, für die
Gäste, möglichst verschwiegen, möglichst abgesondert, mit allem
Raffinement ausgestattet. Der Park sollte wie ein Zaubergarten wirken.
Phantastische Gondeln sollten auf den Teichen fahren, Wasserkünste, die
man farbig beleuchten konnte, waren zu bauen. In einem großen Treibhaus
sollten exotische Pflanzen gezüchtet werden, die man im Sommer ins Freie
bringen konnte, um den phantastischen Eindruck zu erhöhen. Ein kleiner
Teich aber sollte, so wie er war, vollständig mit Glas überdacht werden!
Der Teich war mit ausgewählten Seerosen zu bepflanzen. Vielleicht ließ
sich der Grund so behandeln, daß das Wasser türkisblau erschien? Eine
Heizanlage war vorzusehen, damit man auch an kühlen Tagen in dem kleinen
Teich baden konnte.

Das waren Esthers vorläufige Wünsche. Sie bat um Vorschläge, gewiß würde
ihr selbst noch manches einfallen. Und Esther eilte wieder nach Berlin
zurück, um die Vorbereitungen zu dem ersten großen Fest zu treffen, das
sie geben wollte. –

In der gleichen Nacht, in der dieses Fest stattfand, von dem die
Gesellschaft Berlins lange Wochen sprach, in dieser gleichen Nacht starb
fern von Berlin der alte Raucheisen auf seinem Schloß Charlottenruh an
der Ruhr.

Am Abend hatte ihn ein leichtes Unwohlsein befallen, eine vorübergehende
Schwäche des Herzens. Der Arzt war ohne jede Besorgnis. Er schlief fest
und tief in seinem Zimmer, nachdem er dem Kammerdiener, der die
Nachtwache hielt, den Auftrag gegeben hatte, ihn augenblicklich zu
wecken, wenn es irgendwie nötig werden sollte.

Und in der Tat schlief der alte Raucheisen zwei Stunden lang ganz
vorzüglich. Dann aber erwachte er plötzlich und setzte sich hastig
aufrecht und lauschte. Eine matte Ampel erhellte den Raum. Ein kleines
blasses Männchen, saß er in dem riesigen Bett mit den dunkelblauen
seidenen Vorhängen, kaum größer als ein Knabe. Nicht einmal so groß wie
ein Knabe, fast wie ein Kind sah er zwischen den schweren dunkeln
Vorhängen aus. Dieses Kind war bleich, die Nase sprang weiß und eckig
vor. So saß er da und atmete hastig und leise, und die Hände tasteten
mit gespreizten Fingern über die seidene Decke. Es waren die Hände eines
Toten.

Und er lauschte.

Von seinem Bett aus sah er am Tage das Förderrad der Zeche Charlotte
Raucheisen in der Luft schwirren. In der Nacht sah er die Hochöfen
flammen ringsum, es war das große Eisenwerk Himmelsbach. Er sah auch,
wenn er den Kopf etwas vorstreckte, die glühenden Koksberge aus den Öfen
quellen, von feurigen Männern umtanzt. Er sah Glut und Rauch am Himmel,
als lohe eine Feuersbrunst. Diese Feuersbrunst, gewohnt seit vielen
Jahren, ängstigte den kleinen Mann nicht, sie beruhigte ihn.

Hinter diesen Koksöfen aber lagen – am Tage – hellgrüne Ebenen. Das
waren die Siedlungen, die er für seine Arbeiterschaft geschaffen hatte.
Hunderte von Morgen Gärten, Spielplätze, Parks, Schulen. Man hatte diese
Gärten und Spielplätze und Schulen in den Zeitschriften abgebildet als
vorbildliche Einrichtungen – aber niemand hatte es ihm gedankt. In jenen
Tagen, da die Massen gährten, hatte man seinen Generaldirektor
erschlagen, und er selbst – Raucheisen – mußte im Nachtgewand im Zuge
schreiten, eine Tafel in der Hand, worauf stand: „Ich bin der Blutsauger
Raucheisen.“

Ja, daran dachte der kleine blasse Mann, ohne Bitterkeit. Es waren
Zeiten der Verwirrung, der Verirrung, längst vergangen. Alles war wie
früher.

Und da unten, gerade hier, unter dem Bett mit den dunkelblauen seidenen
Vorhängen, da unten, da liefen die Stollen und Querschläge. Da unten
waren jetzt sechshundert Männer beschäftigt, für die Zeche Charlotte die
Kohle zu schlagen. Hörst du, hörst du nicht, wie die Picken klingen? Und
kleine Lämpchen wandern durch die Dunkelheit? Oh, der alte, kleine Mann
sah die Lämpchen wandern. Dicht unter dem Bett, gerade unter dem Bett,
in siebenhundert Meter Tiefe, lief das Flöz Charlotte II, von einer
Mächtigkeit von einem Meter siebzig, sehr selten im Ruhrgebiet. Dieses
Flöz war der Reichtum der Zeche. Hier unten hatte der kleine, bleiche
Mann vor mehr als fünfzig Jahren die Kohle geschlagen, als er
praktizierte, nicht lange natürlich, nur um alles zu sehen. Und hier
unten klangen jetzt die Picken, und er hörte sie bis hier herauf. War
das nicht sonderbar? Wie der Berg heute den Schall trug! Und wie die
Scharen von Lämpchen hin- und herwanderten, wie sie zwischen den
Verschlägen und dem Wald der Stützungspfosten verschwanden. Und der
Schweiß rann über das Gesicht der schwarzen Männer.

Ganz deutlich hörte der kleine, bleiche Mann die Picken klingen, nun
klangen sie sogar in der Mauer, dicht neben ihm. Hunderttausende von
Stahlpicken hämmerten ringsum, und der kleine, bleiche Mann lächelte
verzückt. Da waren sie, und wie fleißig sie doch waren! Wie sie
arbeiteten, immerzu, ohne Pause, nicht eine Sekunde pausierten sie, und
sie arbeiteten alle für ihn.

Plötzlich aber pochte es ganz laut und deutlich gegen die Tür. Hörst du
nicht? Der kleine, bleiche Mann lächelte und sagte leise: „Herein“.

Dann sank er in das Kissen zurück, und das große, matterleuchtete Zimmer
lag ganz still, bis der Morgen kam.

Als die Scharen der Morgenschicht in den Zechenhof strömten, sahen sie
eine schwarze Fahne auf Charlottenruh. „Den alten Raucheisen hat heute
nacht der Teufel geholt!“ sagten sie und stiegen in den Förderkorb, der
klirrend in die Tiefe fegte.

Esther hatte nur wenige Stunden geschlafen, als sie die Nachricht vom
Ableben ihres Vaters erhielt. Während sie tanzte und lachte, war ihr ein
ungeheures und unübersehbares Vermögen in den Schoß gefallen.


                                   22

Im Sommer ging Schellenbergs Jacht nach der Isle of Wight. Ein ganzes
Geschwader von Jachten und Motorkreuzern, die Esthers Freunden gehörten,
kam hier zusammen. Baron Blau übertrumpfte sie alle mit seiner großen,
luxuriösen Dampfjacht. Esther aber gab an Bord Tanzgesellschaften, die
bald in der ganzen englischen Sportwelt berühmt wurden.

Wenzel war den ganzen Sommer über zwischen Berlin und England unterwegs.

Den ersten Winter verbrachte Esther, abgesehen von einer Reise nach
Paris und Sankt Moritz, ganz gegen ihre frühere Absicht, in Berlin.
Wiederum wimmelte ihr Haus von Gästen. Alles, was Namen und Geld hatte,
verkehrte bei ihr. Der alte Adel, soweit er nicht verarmt war, die
Finanz, Wissenschaft und Kunst, die Presse. Träger berühmter Namen,
bekannte Politiker und Minister gingen bei ihr ein und aus. Man bewarb
sich um Einladungen zu ihren Festen. Ihr Kostümball – die „Voliere“, man
mußte als Vogel kostümiert erscheinen – war ein gesellschaftliches
Ereignis. Von dem Tanzturnier, das sie im Februar veranstaltete, sprach
ganz Berlin. Die illustrierten Zeitungen brachten sogar die Bilder der
Sieger. Den ersten Preis unter den Herren hatte Katschinsky erhalten,
heute eine Berühmtheit als Filmschauspieler und Bühnenkünstler.

Wenzel fühlte sich in seinem Element. Es gab keine leere Stunde mehr,
keine Stunde der Langeweile. Fast jeden Tag Gäste, in der Nacht Tanz,
Spiel, Gelächter. Aber als die Tage länger wurden, begrüßte er den
Schluß der Saison. Die gesellschaftlichen Anstrengungen allein hätten
genügt, die Gesundheit eines Menschen zu vernichten. Wenzel aber
leistete nebenher noch eine ungeheure Arbeit. Dazu hatte er auf Esthers
Wunsch eine Aufsichtsratsstelle im Raucheisenkonzern angenommen, wodurch
sich sein Arbeitspensum bedeutend vergrößerte.

Sobald es Frühling wurde, fuhr Esther jeden zweiten, dritten Tag nach
Hellbronnen, um den Umbau und Ausbau von Hellbronnen zu leiten. Sie war
in diesen Monaten in prachtvoller Laune, voller Ausgelassenheit. Immerzu
war sie von einem Schwarm von Bewunderern und Anbetern umgeben. Wenzel
aber fühlte sich glücklich. Sein Leben hatte einen Mittelpunkt, um den
es sich bewegte. Seine Arbeit, seine Erfolge, sein Reichtum, alles
schien plötzlich erst den richtigen Sinn erhalten zu haben. Er spielte
eine tonangebende Rolle in der Gesellschaft. Man drängte sich an ihn.
Politiker, Redakteure, Künstler, Gelehrte von Ruf suchten seine
Freundschaft. Kapazitäten der Wirtschaft und Industrie erbaten seinen
Rat. Minister zogen ihn in eine Ecke, um seine Ansicht zu hören. Man sah
ihn in den Salons der Gesandten und Botschafter aller Nationen, die
Presse nannte seinen Namen voller Achtung. Und dazu erfreute sich Wenzel
einer ausgezeichneten, unvergleichlichen Gesundheit!

Wenzel war nicht eitler als andere Menschen, keineswegs. Aber zuweilen
empfand er doch etwas wie eine Art Hochachtung vor sich selbst, war er
ganz erfüllt von Befriedigung.

„Das also ist Wenzel Schellenberg, seht an!“ sagte er sich manchmal,
wenn er sich, in großer Gala, im Spiegel betrachtete. „Und doch ist dies
erst der Anfang! Der Anfang – ah, man wird ja sehen!“ Ehrgeizige Träume
berauschten ihn –.

Im Mai jedoch – es war einer der letzten Tage im Mai – ereignete sich
ein kleiner, eigentlich ganz unbedeutender Vorfall, dessen Folgen
niemand voraussehen konnte.

An diesem Tage, einem warmen, wundervollen Frühlingstag, wie sie in
Berlin selten sind, begleitete Wenzel Esther in den Zoologischen Garten.
Esther schwärmte für Tiere, wie die meisten Frauen, und in dieser Zeit
gab es im Zoologischen Garten junge Löwen, Affen und kleine Bären zu
bewundern. Der schöne Tag hatte alle Welt herbeigelockt, und der Garten
wimmelte von heiteren Menschen und lärmenden Kindern. Plötzlich –
beinahe hätte es Wenzel nicht einmal beachtet, sie standen in der Nähe
des Bärenzwingers – drängte sich ein kleines, milchweißes Windspiel
freudig an Esther heran, beschnupperte sie, sprang winselnd und kläffend
vor Erregung an Esther empor und versuchte ihr das Gesicht abzulecken.
Wenzel lachte. Das Windspiel war in der Tat in seiner Freude äußerst
reizvoll. Es hatte rosige Pfoten, ein rosiges Maul und rosiggeränderte
sanfte braune Augen. Fast vermochte Esther sich der Liebkosung des
Tieres nicht zu erwehren.

„Meine liebe, kleine Philly, wie geht es dir? Sei nicht so närrisch,“
rief sie wieder und wieder aus.

Die reizende Szene erregte die Aufmerksamkeit einer großen Anzahl von
Menschen.

Da ertönte plötzlich ein kurzer, schriller Pfiff, irgendwo, das
Windspiel stutzte und verschwand augenblicklich in der Menge.

„Woher kennt dich der Hund?“ fragte Wenzel.

„Er gehört einem meiner Bekannten,“ erwiderte Esther lächelnd und
widmete sich wieder den jungen Bären.

Das war alles. Das war der ganze Vorfall, unbedeutend, geringfügig, und
Wenzel vergaß ihn nach einigen Tagen vollkommen.

Eines Abends aber, als er spät in der Nacht nach Hause kam und nicht
einschlafen konnte, da er überarbeitet war – Esther war heute nach
Hellbronnen gereist und kehrte erst morgen zurück –, fiel ihm plötzlich
wieder diese bedeutungslose Szene mit dem Windspiel ein. Er ging auf und
ab, und ganz unerwartet – denn er lächelte sogar bei der Erinnerung an
diese Szene – erschien eine Falte auf seiner Stirn. Was sollte an dieser
Sache besonderes sein? fragte er sich, indem er auf- und abging und
seine Zigarre tauchte. Ein Hund begrüßt meine Frau, ein Hund, der
irgendeinem ihrer Bekannten gehört. Aber nun zerbiß er plötzlich die
Zigarre, was er zu tun pflegte, wenn er in schlechte Laune geriet.

„Es ist doch etwas Besonderes an dieser Sache,“ sagte er plötzlich.
„Nämlich die seltene und ganz außergewöhnliche Freude dieses Windspiels!
Das Tier war ja völlig närrisch. Sie läßt darauf schließen, daß Esther
sehr häufig mit diesem Windspiel zu tun hat. Ich aber habe dieses Tier
nie gesehen, weder auf einem Rennen noch sonst irgendwo. Und dann dieser
Pfiff! Warum hat der Bekannte Esther nicht begrüßt. Nun, sehr einfach,
es war auch möglich, daß er sie gar nicht gesehen hat, daß er nur seinen
Hund vermißte. Warum aber sagte Esther, als er sie fragte, nicht den
Namen dieses Bekannten? Vielleicht schien es ihr völlig gleichgültig.
Wandte sie sich nicht etwas hastig nach diesem Vorfall mit dem Hund dem
Bärenzwinger zu?“

Eigentlich war der Vorfall ja wirklich unbedeutend, und es war
lächerlich, sich überhaupt damit zu beschäftigen. Es war nur seine
Abgespanntheit und seine Gereiztheit.

Sonderbarerweise aber blieb doch eine Unruhe in ihm zurück. Er erinnerte
sich plötzlich eines Blickes, den Major Fairfax mit Esther ausgetauscht
hatte. Dieser Blick hatte in seinem Gedächtnis geschlafen, um
urplötzlich wieder wach zu werden. Es war damals, als sie auf ihrer
Hochzeitsreise von Ragusa nach Venedig kamen. Nur ein Blick! Auch dieser
Blick war ganz unbedeutend und nicht der Mühe wert, sich mit ihm zu
beschäftigen. Vielleicht hatte er diesen Blick völlig mißdeutet.

Trotzdem, die Unruhe nagte. Er beschloß, so lächerlich ihm dieser
Vorsatz selbst vorkam, auf jeden Fall den Besitzer des Windspiels
auszukundschaften. Wie? Nun, das würde sich finden. Er nahm eine
doppelte Dosis Schlafpulver und begab sich zur Ruhe.

Am nächsten Morgen war der erste Gedanke, mit dem er erwachte, der
Gedanke an dieses Windspiel mit den rosigen Pfoten und dem rosigen Maul.
Ganz deutlich sah er das Hündchen vor sich. Er würde es aus dem
Gedächtnis malen können. Wie es tänzelte! Wie eine Gazelle ging es, den
Kopf zurückgebogen. Ohne jeden Zweifel, unter hundert Windspielen würde
er das Tier herausfinden. Er nahm sich vor, die Augen aufzumachen und
nach diesem Windspiel überall Ausschau zu halten.

Indessen, das Windspiel schien aus Berlin verschwunden zu sein. Wenzel
besuchte häufig den Zoologischen Garten, er war auf allen Rennplätzen,
er kam nun häufig zu den Tees, die Esther im Garten gab. Die Gäste
brachten oft ihre Hunde mit. Von dem Windspiel keine Spur. Vielleicht
war der Bekannte, dem das Tier gehörte, aus Berlin abgereist? Endlich,
nach einigen Wochen, begann Wenzel über seine Marotte, in einer
Millionenstadt nach einem Hund zu suchen, zu lachen, und schließlich
hatte er das Windspiel vergessen.


                                   23

Aber plötzlich, eines Tages, als Wenzel gar nicht mehr an den Hund
dachte, sah er das Windspiel zu seiner großen Verblüffung in einiger
Entfernung dicht neben einem Herrn stehen! Er erkannte das Tier
augenblicklich wieder. Er war bei einem Tennisturnier, und er war nur
gekommen, um Esther abzuholen.

Dort also stand das Windspiel, nach dem er so lange gesucht hatte! Eine
Täuschung war unmöglich. Der Herr trug einen silbergrauen
Sommerüberzieher und einen silbergrauen Hut. Er war nach der neuesten
Mode gekleidet, übertrieben elegant, schlank, groß, blond. In diesem
Augenblick drehte er sich um, da das Tier an ihm in die Höhe sprang, und
Wenzel erblickte sein Gesicht. Augenblicklich erbleichte Wenzel.

Es war jener junge Mann, der im Frühjahr das Tanzturnier gewonnen hatte,
wie war doch sein Name? Er kannte ihn seit Jahren, traf ihn zuweilen in
einem Spielklub, er war ein Freund von Jenny Florian gewesen. Jetzt
spielte er eine gewisse Rolle bei der Bühne und beim Film. Er hatte
diesem jungen Mann nie Vertrauen geschenkt, vielleicht weil er
sogenannte schöne feminine Männer haßte. Da fiel ihm der Name ein.
Katschinsky hieß der junge Mann.

Weshalb hatte Esther damals nicht Katschinskys Namen genannt?

Von einer dumpfen Unruhe bedrückt, verließ er den Turnierplatz, ohne
weiter nach Esther zu suchen. Er ließ ihr den Wagen zurück, mit dem
Bescheid, daß ihn ein dringendes Geschäft ins Büro zurückrufe.

Er ging eine Stunde spazieren, ohne Ziel. Die Luft, die Bewegung
erfrischten ihn. Plötzlich begann er über seine unsinnigen Kombinationen
zu lachen.

„Es sind ja nur die Nerven!“ sagte er sich. „Wir werden drei Wochen auf
die See gehen!“

Trotz allem, von diesem Tage an war Unruhe über Wenzel gekommen. Er ging
nicht an die See. Nach einer Woche ertrug er diese Unsicherheit nicht
mehr.

Er kannte zuverlässige Leute, denen man derartige heikle Angelegenheiten
anvertrauen konnte. Und ganz im geheimen gab er diesen Vertrauensleuten
seine Aufträge.

Er beobachtete Esther. Es schien ihm, als ob sie gerade gegen
Katschinsky, der übrigens nur selten sein Haus betrat, eine ganz
besondere Zurückhaltung übe. Er versuchte in ihrem gepuderten und
gemalten Gesicht zu lesen. Es lag etwas Fremdes in diesem Gesicht, die
Künste der Toilette verschleierten es. Ihre Augen schienen infolge der
Färbung der Haare dunkler geworden zu sein und, wie es Wenzel schien,
rätselhafter.

Je länger er dieses Gesicht betrachtete, desto fremder erschien es ihm.
Je mehr er diese Frau zu ergründen suchte, desto unbekannter schien sie
ihm zu sein. In der Tat, eine völlig fremde Frau lebte mit ihm in seinem
Hause.

Er erinnerte sich plötzlich eines Gesprächs, das zwei Herren über Esther
im Teeraum des Londoner Hotels führten. Sie waren augenblicklich
verstummt, als sie bemerkten, daß er zuhörte, und behandelten ihn von
diesem Augenblick an mit ausgesuchter Höflichkeit, als hätten sie etwas
gut zu machen. Das war kurz vor seiner Hochzeit gewesen. Sein Englisch
war nur mangelhaft, und doch schien es ihm jetzt, als hätten die beiden
Herren mit einer gewissen Frivolität über Esther gesprochen. Es lag mehr
im Ton als in den Worten. Esthers erste Ehe, ihre Scheidung, ihr ganzes
Leben, bevor sie in seinen Gesichtskreis trat, war ihm bis heute völlig
gleichgültig gewesen. Nunmehr interessierte ihn plötzlich alles über
alle Maßen. Wer war diese Frau, die seinen Namen trug?

Es traf sich, daß Goldbaum in den nächsten Tagen nach London fahren
mußte. Wenzel hatte mit ihm eine vertrauliche Aussprache. Goldbaum war
klug und taktvoll genug, um sich für eine derartig schwierige Mission
besonders zu eignen.

Goldbaum sträubte sich anfangs, wälzte den dicken, rothaarigen Schädel
verdrießlich hin und her, versprach aber endlich, sein möglichstes zu
tun und bei seinen Freunden ein „bißchen herumzuhorchen“.

Voller Unruhe erwartete Wenzel seine Rückkehr. Mit noch größerer Unruhe
erwartete er den Bericht seiner Berliner Vertrauensleute. Esther ahnte
nicht das geringste.

Es fiel ihm ein, daß Mackentin einmal, sehr taktvoll und vorsichtig,
eine Bemerkung über Esthers allzu große Außerachtlassung der
gesellschaftlichen Formen gemacht hatte. Er hatte damals mit Esther
gesprochen und sie um mehr Zurückhaltung gebeten.

„Die Leute hier sind nicht Leute der großen Welt, Esther,“ sagte er.
„Sie sind zum größten Teil Spießbürger, die die Dinge mit andern Augen
sehen und manches mißdeuten könnten.“

Esther warf die Lippe in die Höhe.

„Laß sie doch,“ sagte sie mit einem hochmütigen Zurückwerfen des Kopfes.
„Ich tue, was ich will, du weißt es, und kümmere mich nicht um die
Menschen.“

Diese Antwort erschien Wenzel nunmehr unsicher und ausweichend.

Da kam Goldbaum zurück und erstattete über seine Reise Bericht. Wenzel
empfing ihn in seinem Arbeitszimmer und gab den Auftrag, niemanden
vorzulassen. Zuerst besprachen sie ausführlich die geschäftlichen
Angelegenheiten. „Nun, und die andere Sache?“ fragte Wenzel und wurde
dunkelrot, da er sich schämte.

Goldbaum verzog das Gesicht und machte Ausflüchte. Klatsch, Geschwätz
und Gerede hätten ihm seine Freunde zugetragen, nichts sonst, nichts
Positives, keine einzige positive Tatsache.

Wenzel bat ihn, ihm wenigstens zu sagen, was man über Esther rede. Auch
das interessiere ihn. Er bitte ihn als Freund.

Und schließlich berichtete Goldbaum, daß man manches über die Ehe
Esthers mit Sir Weatherleigh zusammenfasele. Es sei da nicht alles so
glatt und einfach gegangen. Natürlich nur Klatsch und Geschwätz. So
erzählte man, daß Esther mit einem Major Fairfax ein Verhältnis gehabt
habe. Sie habe vier Wochen mit ihm zusammen in einem ägyptischen Hotel
gewohnt – behaupten die bösen Zungen. Man habe auch die Namen von
anderen Männern genannt, aber wie gesagt, all das sei einfacher Klatsch,
wie er in jeder Gesellschaft üblich sei.

Wenzel tat gleichgültig und drückte Goldbaum die Hand. „Ich hatte
bestimmtere Dinge gehört,“ sagte er. „Dieses Geschwätz kümmert mich
natürlich nicht im geringsten.“

Er war allein, und nun sah sein Gesicht plötzlich anders aus. Er
erinnerte sich an den Gesichtsausdruck der beiden Herren, die über
Esther tuschelten und deren Gespräch er unterbrach. Damals im Teeraum
des Londoner Hotels. Er sah das Bild der Hochzeitstafel vor sich. Da saß
Fairfax – nun verstand er den Blick, den er seinerzeit in Venedig
auffing –, da saßen andere gutaussehende junge Männer. Vielleicht
lachten sie im geheimen über ihn, während er feierlich neben Esther an
der Tafel saß.

Jedenfalls, er wollte Gewißheit haben, und am nächsten Tage verließ
einer seiner Agenten mit dem Londoner Flugzeug Berlin.

Von seinen Berliner Vertrauensmännern hörte er nichts Positives.
Katschinsky war nicht in Berlin, er filmte irgendwo in Frankreich. Also
hieß es sich gedulden.

Nach einer Woche schon kam der Agent aus London zurück. Es war sein
Beruf, sich ernsthaft mit den Privatangelegenheiten seiner Mitmenschen
abzugeben, und so berichtete er ausführlich über alles, was er in
Erfahrung gebracht hatte.

Nicht Fairfax allein, eine ganze Reihe anderer Liebhaber wurde mit
Bestimmtheit genannt. Jeder Mensch in London wußte, daß Sir Weatherleigh
als Gentleman die Schuld auf sich genommen hatte, um den Skandal zu
vermeiden.

Man erzählte sich auch, daß Baron Blau einmal eine Schuld Esthers in der
Höhe von zwanzigtausend Pfund eingelöst habe und daß seine Beziehungen
zu ihr, wenn auch nur ganz kurze Zeit, intim gewesen seien.

Der Boden brach unter Wenzels Füßen ein. Er fing an zu ahnen, wer Esther
war.

Wohlgemerkt aber, wohlgemerkt, alles, was vor seiner Verheiratung
geschehen war, ging ihn nichts an. Es war ihm nicht gleichgültig,
keineswegs, aber er hatte nicht das Recht, darüber zu richten. Esther
hatte nie die Tugendhafte und Prüde gespielt. Sie schwieg, aber sie
heuchelte nicht.

Wehe aber, wenn sie, seit sie seinen Namen trug, ihre Pflichten verletzt
haben sollte! Er sagte wehe – mehr wollte er nicht sagen.

Wenzel betäubte sich mit Arbeit, Wein und Schlafmitteln. Er blieb seinem
Hause möglichst fern. Seine Unruhe wuchs mit jedem Tag. Katschinsky war
seit einer Woche zurückgekehrt. Bald würde er Gewißheit haben, so oder
so.

Eines Abends ließ sich der Vertrauensmann melden. Wenzel verschloß die
Türen. Der Vertrauensmann zog ohne große Einleitung ein Notizbuch aus
der Tasche und legte es vor Wenzel auf den Tisch. Da stand alles schwarz
auf weiß notiert. Dienstag, den soundsovielten, um fünf Uhr das Haus
betreten, um sieben Uhr verlassen, Freitag um sechs Uhr das Haus
betreten, um einhalb acht Uhr verlassen, am Sonntag nach dem Theater das
Haus um elf Uhr betreten, um ein Uhr verlassen.

Dann machte der Vertrauensmann noch auf einen Tennisspieler sehr
bekannten Namens aufmerksam. Er werde auch diese Spur verfolgen, wenn
Herr Schellenberg es befehle. Allerdings sei er in diesem Fall noch
keineswegs sicher. –

Wenzel saß regungslos am Tisch, wie aus grauem Stein gehauen.

„Es ist nicht nötig,“ sagte er, doch seine Stimme klang ruhig und völlig
unverändert. Seine Hände aber zitterten so stark, daß er sie unter der
Tischplatte verbarg. Plötzlich funkelten seine Augen: „Wehe, wenn Sie
mich belügen, Herr!“ schrie er den Agenten an. „Ich werde mich
überzeugen, ob Sie die Wahrheit sprechen! Wehe Ihnen!“

Der Agent wich erschrocken zurück. „Herr Schellenberg können sich
überzeugen.“


                                   24

Eine ganze Woche lang verließ Wenzel an den Nachmittagen sein Büro
nicht eine Minute. Er arbeitete an einer Neuorganisation des
Schellenberg-Konzerns, die die Verwaltungskosten um ein Drittel
vermindern sollte. Ein ungeheurer Plan, zu dessen Durcharbeitung er nie
die Zeit gefunden hatte. Er verbiß sich in die Arbeit. Nur zuweilen
erhob er sich, um einen Blick durch das Fenster zu werfen: Das Mietsauto
stand an der Ecke.

Plötzlich, an einem Nachmittag etwas nach fünf Uhr, kam der Anruf des
Vertrauensmannes.

Wenzel erbleichte. Er nahm den Hut und eilte auf die Straße, um das
Mietsauto an der Ecke zu besteigen. Straße, Nummer, warten, bis ich
Order gebe, zwanzig Mark Trinkgeld. Der Chauffeur fuhr. Vielleicht gibt
es wieder einmal eine Schießerei, dachte er, er scheint ganz rabiat zu
sein.

Der Beobachtungsposten war gut gewählt. Wenzel saß regungslos im Wagen,
die Augen auf das bezeichnete Haus gerichtet, und rauchte. Es war eine
kleine Villa in Charlottenburg, ganz in der Nähe vom Steinplatz. Der
Stein ist im Rollen. Die Lawine geht zu Tal, es wird sich vollenden,
dachte Wenzel und hielt den Blick auf das Haus geheftet. Die Gedanken
jagten. Er rauchte eine Zigarette nach der andern und wartete. Eine
Stunde verging. Schon war der Wagen ganz verqualmt. Er verfiel in eine
Art von Halbschlaf. Seine Gedanken standen still, sie bewegten sich nur
noch um kleine Nebensächlichkeiten. Wer diese Villa wohl gebaut hatte?
Welche Gagen ein Schauspieler beziehen mußte, um diese Villa bewohnen zu
können? Oder erhielt er noch Bezüge von anderer Seite? Dort an der Ecke
stand der Vertrauensmann, las die Zeitung und aß eine Banane. Er
verabscheute ihn.

Etwas vor sieben Uhr öffnete sich die Tür und eine Dame erschien. Sie
trug einen kleinen, koketten zimmetfarbenen Hut und ein dünnes, weiches
Cape der gleichen Farbe, das sie dicht um den schlanken Körper gelegt
hatte. Ein Windspiel schlüpfte durch die Haustür, wurde aber sofort ins
Haus zurückgerufen. Die Dame verließ das Haus, unauffällig, sorglos, so
wie täglich in jeder großen Stadt tausend Damen irgendein Haus zu dieser
Stunde verlassen.

Aber diese Dame trug seinen Namen.

Gelassenen Schrittes ging Esther die Straße entlang, dann nahm sie ein
Mietsauto und fuhr davon.

Eine Weile noch wartete Wenzel regungslos in seinem Wagen. Der Agent
ging vorüber und wandte das Gesicht gegen die Scheibe. Dann befahl er
dem Chauffeur, ihn in sein Büro zurückzufahren.

Es ist also nichts geworden, dachte der Chauffeur, kein Gericht, keine
Zeugenschaft.

Wenzel blieb nur einige Minuten in seinem Büro. Mechanisch
unterzeichnete er einige Dutzend Briefe. Dann fuhr er nach dem Grunewald
zurück.

Er betrat das Haus mit finsterer Miene. Seine Stirn war böse gerunzelt.
Ohne Laut flüchtete die Dienerschaft vor seiner schlechten Laune.

„Die Damen sind im chinesischen Zimmer.“

Das chinesische Zimmer war ein Raum in exotischem Charakter, keineswegs
chinesisch, aber es wurde so genannt. Es war ganz gekachelt,
ultramarinblau, die Decke vergoldet und bemalt. Esther liebte diesen
Raum zur Dämmerstunde.

Schon vernahm Wenzel die Stimmen der Damen. Sie sprachen englisch und
französisch. Zwei Freundinnen waren seit gestern auf Besuch gekommen.
Die Frau eines englischen Teegroßhändlers, Violet, madonnenhaft
frisiert, mit lüsternem Mund, und Georgette, eine kleine quecksilberige
pechschwarze Französin, die ihrem Mann durchgebrannt war und sich bei
Esther versteckte. Die Damen sprachen eifrig über das geplante Nachtfest
in Hellbronnen, das in den nächsten Tagen stattfinden sollte. Man
wartete nur auf wärmeres Wetter. Von Esthers Empfangssalon aus sah
Wenzel in das chinesische Zimmer. Der Rauch der Zigaretten hatte unter
der Decke eine unbewegliche schwebende Schicht gebildet.

In diesem Augenblick wurde Esther eine Karte überreicht, und gleich
danach trat die Gestalt eines jungen Mannes ein. Wenzel erkannte
Katschinskys Stimme.

„Sie waren lange weg, Herr Katschinsky,“ sagte Esther, fast
gleichgültig, fast gelangweilt.

„Ich hatte im Ausland zu tun,“ erwiderte Katschinsky. „Ich bin seit
einigen Tagen wieder hier, finde aber erst heute eine freie Stunde.“

„Meine Freundinnen Violet Taylor aus London und Madame Georgette Leblanc
aus Paris.“

Plötzlich war Wenzels ganzer Körper mit Schweiß bedeckt.

„Oh, welch schamlose Komödie!“

Sein Gesicht war grau, wie Blei, das lange an der Luft liegt.

Langsam stieg er die Treppe empor. Die Treppe knarrte unter seinem
Gewicht. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und ließ bestellen,
daß man ihn nicht zu Tisch erwarten solle. Er habe dringende Geschäfte
zu erledigen.

Stöße von Depeschen und Schriftstücken, von seinem Sekretär
bereitgelegt. Er beachtete sie nicht. Er ging in seinem halbdunklen
Arbeitszimmer hin und her, immer hin und zurück, und wiederholte immer
von neuem: „Oh, welch schamlose, erbärmliche Komödie!“ Wiederum war sein
ganzer Körper mit Schweiß bedeckt.

Es wurde Mitternacht, und noch immer ging Wenzel finster und stumm
rasend und halblaut redend in seinem Zimmer hin und her. Von unten
herauf erklangen zuweilen Stimmen und Gelächter. Es schienen noch mehr
Gäste gekommen zu sein.

Betrug, Lüge, Heuchelei. Die Lawine war ins Rollen gekommen. Sie wird
mich und sie und alle erschlagen! Oh, welche Infamie!

Plötzlich schien es ihm, als hätten alle Blicke von Männern und Frauen,
die in seinem Hause verkehrten, immer einen ganz merkwürdigen und
sonderbaren Ausdruck gehabt. Als verbärgen sie ihm etwas, was sie nicht
ganz zu verbergen vermochten. Er sah, wie oft in diesen Tagen, die
Hochzeitsgesellschaft in London vor sich, die jungen, gutgewachsenen
Männer, Major Fairfax, Baron Blau, und plötzlich schien es ihm, als
säßen sie alle herausfordernd da und blickten ihn mit kaltem Spott in
den Augen an.

Er preßte die Zähne zusammen, daß sie knirschten. Wie entsetzlich
schamlos war das alles! Sie hat mich in den Schmutz gezogen und, was
weitaus furchtbarer war – furchtbarer in Wenzels Augen –, sie hat mich
dem Spott und dem Hohn der Gesellschaft ausgeliefert. Oh, gewiß, diese
Fairfax und Blau und Katschinsky und alle, mußten sie nicht toll lachen
über ihn? Er wollte es nicht anders, er hatte, was er wollte. Alle
wußten, was sich ereignen würde, nur er nicht.

„Ich werde es nicht dulden, daß man mich in den Schmutz tritt!“
knirschte Wenzel. „Ich werde mich rächen, ich werde mich furchtbar
rächen!“

Freiheit forderte sie, Freiheit in jeder Beziehung. Er wußte es. Er
hatte sie ihr zugebilligt. Aber waren ihrer Freiheit nicht Schranken
gezogen, durch ihr Geschlecht und die Gebote der Gesellschaft? Aber
vielleicht gab es diese Schranken für sie nicht? Vielleicht war sie
ebenso maßlos im Genuß wie er selbst? Vielleicht war sie ein weiblicher
Wenzel Schellenberg? Vielleicht? Was wußte er von ihr? Eine fremde Frau,
unbekannt wie ein unbekanntes Tier, dessen Eigenschaften niemand kennt.

Immer düsterer, immer furchtbarer erschien ihm sein Schicksal. Von unten
herauf drang Gelächter. Der Flügel. Man tanzte.

„Ich werde es nicht dulden!“ rief er abermals und wieder und wieder aus,
mit verzerrten Zügen.

Es war eine furchtbare Nacht.


                                   25

Vor dem Gebäude der Gesellschaft „Neu-Deutschland“ drängten sich
unübersehbare Scharen von Arbeitslosen, Kopf an Kopf. Ihr Geschrei
erfüllte die Straße.

„Gib uns Arbeit, Schellenberg! Gib uns Brot!“

Die Tore der Gesellschaft waren geschlossen.

Michael sprach von der Treppe aus zu den Scharen der Entmutigten. Er
erklärte, daß die Gesellschaft in den letzten Wochen Abertausende
eingestellt habe, daß sie aber vorläufig über keine weiteren Mittel
verfüge. Er werde erneut bei der Regierung und dem Magistrat
vorsprechen.

Die wirtschaftliche Krisis hatte sich verschärft. Auf den Zechen häuften
sich Gebirge von Kohlen, eine große Zahl von Hochöfen war bereits
ausgeblasen worden. Der Export war auf ein Minimum herabgesunken.
Jahrelang hatte er tauben Ohren gepredigt.

Tag für Tag drangen die Rufe bis in sein Arbeitszimmer: „Gib uns Arbeit!
Komm heraus, Schellenberg!“

Lärm brauste auf. Die Straße tobte, Fensterscheiben wurden eingeworfen.
Die Polizei schritt ein.

Vor einigen Tagen war ein Trupp Arbeitsloser durch die Fenster
eingedrungen. Man hatte alle Mühe, die Verzweifelten zur Ruhe zu
bringen. Gestern erschien ein Betrunkener, der sich wie ein Tobsüchtiger
gebärdete. Er hatte schon früher bei der Gesellschaft gearbeitet, war
aber entlassen worden, da er zu irgendeiner Arbeit überhaupt nicht zu
gebrauchen war. Er forderte, sofort wieder eingestellt zu werden, oder
er werde das Gebäude in die Luft sprengen. Er habe eine kranke Frau und
vier kleine Kinder, die in einem Kellerloch verhungerten! Mit einem
Stuhl in der Faust, drang er auf die Beamten ein. Er war Steinträger,
ein krummbeiniger, breitschulteriger Bursche mit rotem Schnauzbart und
schwammigem Trinkergesicht. Endlich gelang es, ihn zu überwältigen und
an die Luft zu setzen. Der Rasende schwor, morgen wiederzukommen!

Und in der Tat, er kam wieder.

An diesem Tage sollte eine Sitzung von Vertretern der Regierung und
Arbeitgeberverbände stattfinden, zu der Michael eingeladen war. Er
sollte seine Pläne vortragen.

Etwas verspätet, wie gewöhnlich, stieg Michael eilig die Treppe hinab,
so rasch, daß Eva, die ihn zur Sitzung begleitete, kaum zu folgen
vermochte.

Michael pflegte in diesen unruhigen Tagen das Gebäude durch einen
Nebenausgang zu verlassen. Kaum aber hatte er den Fuß auf die erste
Stufe des Nebenausgangs gesetzt, als er einen heftigen Schlag gegen die
linke Schulter verspürte. Es war ihm, als habe man ihn mit einem
schweren Stock, mit einer massiven Eisenstange gegen die Schulter
gestoßen. Er taumelte und wäre beinahe gefallen. In dieser Seitenstraße
waren nur wenige Menschen, und er sah nichts Auffälliges. In diesem
Augenblick aber beobachtete er, wie sein Chauffeur, der neben dem Wagen
gestanden hatte, sich auf einen Mann stürzte und ihn zu Boden warf.
Sofort sammelten sich Menschen an.

„Er hat auf Schellenberg geschossen,“ schrie der Chauffeur und deutete
auf das schmutzbedeckte schwammige Gesicht des Mannes, den er zu Boden
geschlagen hatte. Es war der Steinträger mit dem roten Schnauzbart, der
gestern Rache geschworen hatte.

Michael hatte nicht einmal einen Schuß gehört. Der Knall war im Lärm der
Straße verhallt.

Das alles dauerte kaum zwei Sekunden. Michael stand noch immer und
begriff nicht. Er spürte immer noch den heftigen Schmerz an der
Schulter.

„Bist du getroffen?“ fragte Eva, die Augen geweitet in Angst und
Besorgnis, und blickte ihm ins Gesicht. Michael schüttelte den Kopf, er
vermochte kein Wort zu erwidern. Der Schlag gegen die Schulter war immer
stärker spürbar.

„Oh, du blutest ja!“ rief Eva aus, und sie nahm ihr kleines Taschentuch
und schob es hastig unter seine Weste. Erregt versuchte Eva ihn wieder
ins Gebäude zurückzudrängen.

Endlich vermochte Michael zu sprechen. „Es ist nichts,“ sagte er. „Was
kann es sein? Was wollte er?“ schrie er dem Menschenknäuel zu, der sich
um den Steinträger ballte.

Das alles geschah am hellichten Tag, gegen drei Uhr nachmittags.

Eine Stunde später heulte die Meute der Zeitungsverkäufer, die mit den
feuchten Blättern durch die Straßen rannten.

„Attentat auf Michael Schellenberg! Ein Arbeitsloser schießt auf
Schellenberg!“

Die Abendzeitungen brachten nur eine kurze Notiz. Ein Arbeitsloser habe
auf den bekannten Volkswirt und Chemiker Michael Schellenberg, den
Gründer und Leiter der Gesellschaft „Neu-Deutschland“, ein
Revolverattentat verübt. Die Volksmenge machte Miene, den Attentäter zu
lynchen, aber Michael Schellenberg sei für ihn eingetreten. Der Zustand
des Verletzten gäbe, soweit sich dies feststellen ließe, zu Besorgnissen
keinen Anlaß.

Die Morgenblätter brachten ausführliche Berichte. Der Attentäter war ein
Steinträger namens Heinecke, ein notorischer Trinker, der schon
wiederholt mit den Gerichten in Konflikt gekommen war. Seine Aussagen
waren verworren. Die Zeitungen neigten dazu, Heinecke für geistig
minderwertig zu erklären. Die Motive des Attentats waren höchst unklar.

Einmal behauptete Heinecke, die Not habe ihm die Waffe in die Hand
gedrückt. Schon hatten Reporter seine häuslichen Verhältnisse untersucht
und allerdings konstatieren müssen, daß die kranke Frau des Steinträgers
und seine vier kleinen Kinder in einem vier Quadratmeter großen feuchten
Kellerverschlag in unbeschreiblichem Elend hausten. Ein andermal
erklärte Heinecke, er habe sich an Schellenberg rächen wollen. Er habe
bei der Gesellschaft „Neu-Deutschland“ gearbeitet, man habe ihm einen
Hungerlohn gezahlt und ihn dann einfach hinausgeworfen. Dabei besitze
Schellenberg ein Palais im Grunewald, einen Palast mit hundert Sälen und
einen Rennstall, alles mit dem Schweiße der Arbeitslosen erworben. Eine
tragische Verwechslung, schrieb eine Zeitung. Der Attentäter hat den
Volkswirt Michael Schellenberg mit seinem Bruder, dem Industriellen und
Geldmann Wenzel Schellenberg, verwechselt!

Man machte Heinecke auf seinen Irrtum aufmerksam. Es ist ein und
dasselbe, erwiderte er, sie sind alle gleich. Schließlich sagte er, er
habe geschossen, um ins Zuchthaus zu kommen. Es sei ihm nur noch die
Wahl zwischen dem Zuchthaus und dem Strick geblieben, da er Arbeit doch
nicht finden konnte.

Wie gesagt, ein verworrener Kopf, ein geistig minderwertiger Trinker.

Die Berichte der Ärzte, die die Morgenzeitungen veröffentlichten,
lauteten günstig. Die Kugel, die das Schlüsselbein zerschmetterte, war
noch in der Nacht entfernt worden. Michael Schellenberg werde in wenigen
Wochen, wenn nicht irgendwelche Komplikationen eintreten sollten,
wiederhergestellt sein.

Michael hatte etwas erhöhte Temperatur, die sich am Abend zu leichtem
Fieber steigerte. Das war alles. Sein allgemeines Befinden war
vorzüglich. Schon am dritten Tage verlangte er, aus der Klinik entlassen
zu werden, um seine Arbeit wieder aufnehmen zu können. Die Ärzte aber
widersprachen, sie steckten sich hinter Eva, deren Einfluß auf den
Patienten sie kannten, und so mußte Michael wohl oder übel in der Klinik
bleiben. Die Kommissare kamen, um ihn zu vernehmen.

„Lassen Sie den armen Teufel laufen,“ sagte Michael. „Es ist ein Opfer
der allgemeinen Notlage. Seine verzweifelte Tat ist nicht der Akt eines
einzelnen, die Verzweiflung von Abertausenden von Arbeitslosen fand
darin ihren Ausdruck.“

Nach einer Woche war die Wunde so weit verheilt und die Temperatur so
befriedigend, daß die Ärzte Michael erlaubten, täglich zwei Stunden lang
die Berichte seiner Direktoren entgegenzunehmen. Nun fühlte er sich
sofort um vieles wohler! Eva wich nicht aus seinem Zimmer.

Eines Tages ließ sich Wenzel in der Klinik melden.

Wenzel war ein paar Wochen von Berlin abwesend gewesen. Wie ein
Racheengel erschien er bei einer großen Zahl seiner Unternehmungen, nur
in Begleitung von Mackentin und Stolpe. Seine Miene war kalt und
finster, und die Direktoren und Prokuristen zitterten vor seinem Blick.
Eine Reihe von Direktoren erhielt den Abschied. Nein, Wenzel
Schellenberg war nicht der Mann, der hohe Gehälter bezahlte dafür, daß
man sich auf die faule Haut legte. Sie täuschten sich. Er brauchte
schöpferische Köpfe, die unausgesetzt das Interesse des Konzerns im Auge
hatten.

Auf der Reise hatte er von dem Attentat auf Michael Kenntnis erhalten.
Er kaufte in Hannover eine Zeitung, bevor er in den Kölner Schnellzug
einstieg. Es war am Morgen nach dem Attentat. „Sehen Sie her,
Mackentin!“ rief er Mackentin erbleichend zu. „Was ist das?“
Augenblicklich erhielt Stolpe den Auftrag, nach Berlin zu reisen und
ausführlich nach Köln zu berichten. In Köln raffte Wenzel alle Zeitungen
zusammen. „Lesen Sie, Mackentin,“ sagte er mit einem verstörten Lächeln.
„Eigentlich hat die Kugel dieses Lumpen mir gegolten. Wenn etwas mit
Michael passiert, so habe ich es auf dem Gewissen.“ Tagelang sah
Mackentin die folternde Unruhe in Wenzels Blicken.

Die Berichte über Michaels Befinden lauteten täglich günstiger, und
Wenzel schien ruhiger zu werden. „Es ging noch einmal vorüber, Gott sei
Dank!“

Nach Berlin zurückgekehrt, fuhr er vom Bahnhof geradewegs zur Klinik.

Aber die Ärzte verbaten noch immer Besuche, die Michael erregen konnten.
Infolgedessen mußte Wenzel sich damit zufrieden geben, Eva Dux zu
sprechen. Eva fand Wenzel auffallend verändert, als ob ihn plötzlich
eine Krankheit befallen habe. Er schien um einige Jahre älter, die Züge
hart und fast entstellt. Sie mußte ihm versprechen, täglich zweimal
telephonischen Bericht zu geben. Sie versprach es gern. Wenzel schien zu
leiden.

Nun durfte Michael schon das Bett verlassen! Man erlaubte ihm einige
Zigaretten und schwarzen Kaffee. Aber die Ärzte hielten ihn noch in der
Klinik fest, da sich zuweilen in der Nacht geringes Fieber eingestellt
hatte. Sie gestatteten dagegen leichte geistige Beschäftigung, natürlich
keine schwere, ach, sie waren gnädig, die Herren Ärzte.

Behaglich die Zigarette rauchend, ging Michael im Zimmer auf und ab.

„Wir finden nun Zeit für manchen Gedanken, den wir immer zurückstellen
mußten, Eva. Da ist zum Beispiel dieser Plan mit den schwimmenden
Werkstätten, die überallhin leicht transportiert werden können. Willst
du schreiben, Eva?“

Eva streikte. Das sei eine zu anstrengende Arbeit. Sie erinnerte dann,
daß der Termin des Preisausschreibens bereits überschritten war.

Auch damit war Michael einverstanden.

Die Gesellschaft hatte vor mehreren Monaten ein Preisausschreiben
veröffentlicht. „Verbesserungen und Vorschläge zum Bebauungsplan der
Lüneburger Heide.“ Städtebauer, Architekten, Ingenieure und Volkswirte
hatten sich an dem Preisausschreiben beteiligt, und es war nur
selbstverständlich, daß sich unter den Bewerbern eine große Anzahl
seiner Mitarbeiter befand. Die Durchsicht der eingereichten Arbeiten
erfreute Michael. Das Kollegium trat zusammen, und es zeigte sich, daß
einer seiner jüngsten Mitarbeiter, ein in der Öffentlichkeit völlig
unbekannter Mann, die beste Arbeit geliefert hatte. Er hieß Georg
Weidenbach und war der Leiter einer der kleineren Siedlungen in der Nähe
von Berlin.

Michael bat Weidenbach zu sich, um ihn zu beglückwünschen. Ein
schmächtiger junger Mann mit blondem Haar, gebranntem Gesicht und
strahlenden Augen trat in sein Zimmer.

„Sie haben eine vorzügliche Arbeit geliefert,“ sagte Michael zu ihm und
schüttelte ihm die Hand. „Ich werde Ihnen die Leitung einer Abteilung
übergeben. Halten Sie sich bereit, nach Berlin zu kommen. Sobald ich aus
der Klinik heraus sein werde, hören Sie von mir.“ Er betrachtete Georg
aufmerksam. „Wo habe ich Sie schon gesehen?“ fragte er dann.

Georg erinnerte ihn an jene Szene, da er ihn bat, seine jetzige Frau mit
nach Glückshorst nehmen zu dürfen.

„Oh, Sie sind es!“ entgegnete Michael. „Ich erinnere mich noch deutlich.
Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Sie sehen um vieles besser aus
als damals.“

Wenige Tage, nachdem die Ärzte Michael als geheilt entlassen hatten,
rief er Weidenbach nach Berlin. Er führte Georg persönlich in die
Abteilung ein, deren Chef er wurde, und übergab ihm seine Arbeitsräume.

„Also Glückauf und immer vorwärts, Weidenbach!“ rief er ihm zu.

Auf diesem Umweg war Georg nach langer Zeit wieder nach Berlin
zurückgekehrt, durch dessen Straßen er einst verstört irrte, wie ein
Hund, der seinen Herrn verlor.

Schwere Wochen für Christine! Sie war mit dem kleinen Georg nach Berlin
gekommen, um die Wohnung einzurichten, die ihnen die Gesellschaft
überwiesen hatte. Christine kaufte ein! Oh, bescheiden, sie drehte jeden
Pfennig dreimal um, bevor sie ihn ausgab. Tag und Nacht nähte sie an den
Vorhängen. Aber endlich war es soweit, und das kleine Einweihungsfest
konnte stattfinden. Es prasselte und krachte in Christines kleiner
Küche.

Als Gäste erschienen: Lehmann, der Einarmige, Georgs früherer Chef in
Glückshorst, man erinnert sich? Er brachte eine Flasche Burgunder mit.
Dann kam der Schlächter-Moritz. Er eilte aus Glückshorst herbei,
berstend von Gesundheit und Kraft, beladen mit Produkten seiner Kunst.
Dann kam Stobwasser, der jetzt sein Atelier am Nollendorfplatz hatte. Er
brachte einen schwarzen Kater mit, von dem er sich nicht trennen konnte.
Er brachte ferner einen Riesenstrauß mit, der kaum durch die Türe ging.

„Da seid ihr ja wieder!“ schrie er außer sich vor Freude und umarmte die
Freunde.


                                   26

Wenzel war in dieser Zeit fast immer in Geschäften unterwegs. Nur
zuweilen kehrte er auf ein bis zwei Tage nach Berlin zurück. Er wohnte
in seinem Hause im Grunewald, lebte aber völlig zurückgezogen. Er
arbeitete.

Esther vermißte ihn nicht. Sie war zu sehr mit ihren Plänen für das
Sommerfest in Hellbronnen beschäftigt. Das Fest sollte eine ganze Woche
dauern, von Sonntag zu Sonntag. Ein junger Dichter hatte „Drei Szenen
aus dem Leben Casanovas“ geschrieben, die an drei aufeinanderfolgenden
Abenden aufgeführt werden sollten. Katschinsky führte die Regie. Esther
hatte vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein zu tun. Sie war
vollauf beschäftigt. Konferenzen mit Malern, Architekten, Schauspielern,
Musikern, Dutzende von Depeschen und Briefen, sie lachte und ereiferte
sich – es fiel ihr gar nicht auf, daß Wenzel, wenn er zuweilen auf zwei,
drei Tage zurückkam, auf seinem Zimmer speiste und sie ihn fast nicht zu
Gesicht bekam.

Wenzel fing an, an sich irre zu werden. Die Sicherheit, mit der Esther
ihm gegenübertrat, ihre Herzlichkeit, wenn er auf wenige Minuten in
ihrem Freundeskreis erschien, machte ihn stutzig. Sollte er ihr, trotz
allem, Unrecht tun?

Eines Tages beobachtete Wenzel, daß das Benehmen Mackentins scheu und
unsicher wurde. Ah, kein Zweifel, er täuschte sich nicht, das war nicht
der alte Mackentin. Es war fast, als habe er ein schlechtes Gewissen. Er
wich seinem Blick aus, seine Stimme klang belegt. Er schien etwas zu
verbergen. Endlich stellte Wenzel ihn zur Rede.

„Was ist mit Ihnen, Mackentin? Was ist in Sie gefahren? Was geht hier
vor?“ drang er in ihn.

Mackentin erblaßte, seine Hände zupften verlegen an der Zigarre. „Oh,
nichts,“ erwiderte er, während er Wenzels Blick auswich. „Oh, nichts,
gar nichts oder fast nichts. Indessen, ich schäme mich, ich glaube es
Ihnen als Freund schuldig zu sein. Sie waren mir gegenüber immer
großmütig und ließen mich mit in die Höhe kommen, obwohl ich doch von
Geschäften nichts verstehe und Ihnen sogar häufig Schaden zufügte.“
Und endlich fiel Mackentin wieder in jenen Ton, den er bei
Unannehmlichkeiten wählte. Es war ein etwas kurzer, etwas schnarrender
Ton, der an den früheren Soldaten erinnerte. Kurz und gut, ohne viele
Umstände erklärte Mackentin, er halte es für seine Pflicht, Wenzel daran
hinzuweisen, daß der Schauspieler Katschinsky in aller Öffentlichkeit
damit prahle, der Geliebte Esther Schellenbergs zu sein. Stolpe habe es
ihm vor einigen Tagen mitgeteilt.

Wenzel saß mit grauem Gesicht. Es hatte wieder die Farbe von Blei, das
lange an der Luft liegt. Er faßte sich indessen rasch, es ging nun zu
Ende. Er nahm Mackentin das Wort ab zu schweigen. Dann hatte er eine
längere Aussprache mit Stolpe. Stolpe stand das Wasser in den Augen, als
er, zitternd an allen Gliedern, Wenzels Zimmer verließ.

An demselben Nachmittag noch verließ Wenzel Berlin im Automobil. Ein
Narr! Welch ein Narr! Fast wäre er an sich irre geworden. Dieses Stück,
das man spielen wollte, diese „Drei Szenen aus dem Leben Casanovas“,
hatten ihn beinahe düpiert. Oh, welch grandiose Dummheit! Es traten ihm
fast die Tränen in die Augen, aus Trauer über ein solches Ausmaß von
Naivität und Borniertheit. Der Dichter dieses Stückes wohnte bei
Katschinsky. Er erfuhr alle diese Dinge nebenher, und eines Tages, in
einer totalen Verdunkelung seines Gehirns, hatte er sich folgendes
Blendwerk vorgegaukelt: der Dichter des Stückes wohnt bei Katschinsky,
dem Regisseur. Esthers unfaßbare Begeisterung für dieses Fest.
Vielleicht ging sie zu Katschinsky, vielleicht berieten sie zu dritt,
debattierten, ereiferten sich. Oh, es war möglich, daß sich alles ganz
einfach, lächerlich einfach erklärte – während er sich die Brust mit
beiden Händen aufriß. Oh ja! Ein Narr! Welch ein Narr! Nun aber hatte
ihn der Keulenschlag mitten ins Gesicht getroffen. Man muß dich
schlagen, wie man den Stier schlägt, bevor du begreifst.

Dieser Bursche überhaupt, dieser „Regisseur“! Wie? Er erinnerte sich,
wie lange war es her? Es war damals, als er die Geschichte mit Jenny
Florian hatte. Am Anfang. Damals erhielt er einen anonymen Brief: „Hüten
Sie sich vor dem Maler K. Er hat Ihnen Rache geschworen! Rache für Jenny
Florian!“ Er zeigte diesen Brief Jenny. Sie sagte: Er selbst hat diesen
Brief geschrieben.

Seht an! Seht an!

Der Wagen fegte durch Schmutz und Regen. Wenzel klopfte an die Scheiben,
und der Wagen hielt.

„Wohin fahren Sie?“

„Nach Warnemünde, wie Herr Schellenberg befohlen haben,“ antwortete der
Chauffeur.

Wenzels Blick schweifte leer durch den Regen. Er besann sich. „Es schien
mir, als führen Sie falsch.“ Wieder fegte der Wagen durch Schmutz und
Regen. Es wurde Nacht. Also gut, Warnemünde. Es war höchst gleichgültig.
In Warnemünde lag die Jacht.

Gegen Mitternacht kamen sie in Warnemünde an. Es regnete und der Wind
fegte. Die Scheinwerfer des Autos blendeten über Glasveranden. Sie
schienen in eine Stadt von Treibhäusern geraten zu sein. Am Bollwerk,
gegenüber vom Kai, lag die Jacht vertaut. Die Jacht schien wie
verlassen.

Der Chauffeur pfiff, er schrie den Namen der Jacht, und Wenzel zuckte,
wie geschlagen, zusammen, so oft der Chauffeur in die Nacht
hineinbrüllte: „Halloh, Esther Schellenberg!“ Nichts regte sich. Endlich
fand der Chauffeur einen Nachen, der Schellenberg übersetzte. Und
endlich zeigte sich auf der Jacht ein verschlafenes und verstörtes
Gesicht.

„Schlaft ihr alle?“ schrie Wenzel zornig, und in diesem Augenblick wurde
die Jacht lebendig. Licht flammte auf, Schritte eilten. Der Kapitän war
nicht an Bord. Wenzel befahl, ihn sofort zu holen und die Jacht
segelfertig zu machen. Ja, plötzlich war es ihm in den Sinn gekommen, in
das Meer hinauszufahren. Das Wasser rauschte, der Wind trillerte in den
Tauen. Schon saß Wenzel in der Kajüte, und plötzlich fühlte er sich
freier und stiller. Welche Ruhe! Welche wunderbare Stille! Sein Zorn
verging. Wie wunderbar rauschte das Wasser!

Der Steward brachte heißen Kaffee, in den Wenzel Kognak goß, dann
zündete er sich eine Zigarre an und ging auf und ab. Fast hatte er seine
ganze Schmach und Schande vergessen. Als der Kapitän der Jacht nach
einer Stunde, bestürzt und verwirrt, Entschuldigungen stammelnd, in den
Salon trat, war Wenzels Zorn schon verraucht.

„Machen Sie keinen Unsinn,“ unterbrach er den Kapitän, einen früheren
U-Bootführer, namens Wittgenstein. „Wir sind unter uns Kameraden, und es
ist doch völlig einerlei, wenn Sie eine Nacht nicht an Bord schlafen.
Leisten Sie mir Gesellschaft beim Essen! Ich habe es plötzlich in Berlin
nicht mehr ausgehalten. Ich brauche etwas frische Luft. Wir werden einen
Schlag in die See machen. Sind Sie bereit?“

Wittgenstein erwiderte, daß er nach dem Schleppdampfer geschickt habe,
es werde wohl eine geraume Weile vergehen.

„Wir haben ja Zeit, Wittgenstein!“ rief Wenzel gutgelaunt aus. „Wir
werden essen und trinken.“

Er ließ Wein bringen und stürzte ein Glas um das andere hinunter. „Ich
bin zur Zeit mit den Nerven fertig, Wittgenstein!“ rief er lachend aus.
„Sehen Sie, wie meine Hände fliegen. Ich muß ein paar Tage auf die See.
Auch die Mannschaft soll trinken, Wittgenstein. Es ist schlechtes
Wetter, und ich habe sie um ihre Nachtruhe gebracht. Geben Sie jedem
eine Flasche von diesem Bordeaux und ein paar tüchtige Schnäpse!“

Der Morgen graute, als der Schleppdampfer das Tau loswarf und die Jacht
klatschend gegen die See ankämpfte. Wittgenstein hatte wegreffen lassen,
was möglich war, es war schweres Wetter.

„Welchen Kurs befehlen Sie, Herr Schellenberg?“

„Nehmen Sie Kurs auf Kopenhagen. Wie wunderbar ist es hier auf der See!“

Stampfend und klatschend flog die Jacht dahin. Als die dänische Küste in
Sicht kam, befahl Wenzel den Kurs auf Bornholm.

„Kreuzen Sie, fahren Sie, wohin Sie wollen,“ sagte er. „Ich will nur
nicht in die Nähe von Menschen kommen.“ Am Nachmittag schlief er ein,
und am Abend begann er wieder mit Wittgenstein zu zechen. Um Mitternacht
war das ganze Schiff betrunken. So flogen sie dahin.

Wenzel war laut und ausgelassen. „Was würden Sie sagen, Wittgenstein,“
schrie er dem Kapitän zu, „wenn ich einen Menschen totschlüge?“ Eine See
brach zischend über das Deck.

„Ich würde es sehr bedauern. Sie werden es gewiß nicht tun.“

„Vielleicht doch, Wittgenstein! Vielleicht hören Sie es eines Tages.“

Etwas später wandte er sich lachend an den Kapitän. „Hören Sie,
Wittgenstein, ich habe einen prachtvollen Gedanken. Wie wäre es, wenn
wir zwei eine Schmugglerfirma aufmachen würden? Wir könnten Alkohol nach
Norwegen und Finnland schmuggeln, ein wunderbarer Beruf für zwei alte
Kriegsleute, wie wir es sind!“ Und Wenzel brach in ein lautes Gelächter
aus.

Was ist mit ihm vorgefallen? fragte sich Wittgenstein. Er war bemüht, so
wenig wie möglich zu trinken, so sehr ihn auch Wenzel nötigte. Kühl und
nüchtern blieb er während der ganzen Fahrt.

Drei Tage und drei Nächte jagte die Jacht unter grauen Regenböen in der
schweren See dahin. Dann endlich war es auch für Wenzel genug. Sie
steuerten nach Warnemünde zurück, und Wenzel begab sich ins Hotel, um
sich augenblicklich zu Bett zu legen.


                                   27

Wenzels Körper glühte. Er stöhnte im Schlaf.

Er träumte, daß er auf der Flucht sei. Irgend etwas war geschehen, etwas
Schreckliches, und er war entflohen. In einem Schnellzug jagte er dahin.
Die Scheiben klirrten, schwankend ging er durch den Zug in den
Speisewagen. Plötzlich bemerkte er, daß seine linke Manschette blutig
war. Er erhob sich rasch, warf erschrocken Blicke um sich, und kehrte
durch den schwankenden Zug in sein Abteil zurück. Da sah er zu seinem
Schrecken, daß seine Weste mit Blut befleckt war. O ja, das war es, er
hatte gemordet! Wen? warum? Er wußte es nicht. Und plötzlich wußte er
ganz deutlich, daß er auf der Flucht war und daß er den Führer des Zuges
bestochen hatte, möglichst dahinzurasen. Phantastisch war die Stadt, in
der er ankam, voll vom Gebrüll von Dampfern, ein Wald qualmender
Schlote, die Sirenen heulten und schrillten. Und hier lag ein Dampfer,
der eben zur Abfahrt fertigmachte. Er hieß „Creol“. Er tutete dumpf, die
Luft erbebte. Eben waren sie im Begriff, die Schiffstreppe einzuziehen,
schon wurden die Taue gelöst. Gerade im letzten Moment gelang es Wenzel
noch, an Bord zu kommen.

Ja, nun war er gerettet, er atmete auf. Der Dampfer fuhr brüllend und
tutend dahin, und der Wald rauchender Schornsteine versank. Sicherheit,
Ruhe, kein Mensch konnte ihn mehr einholen.

Beim Diner bemerkte Wenzel plötzlich, daß auf seinem Frackhemd ein
kleiner Blutfleck zu sehen war, der sich immer mehr vergrößerte. Schon
blickten ihn viele Augen argwöhnisch an. Er erhob sich erbleichend,
schlüpfte rasch in ein neues Hemd. Aber als er zurückkam, siehe, da
waren plötzlich auf dem weißgestärkten Frackhemd Spuren von blutigen
Fingerspitzen zu sehen. Nun aber schien ihn niemand mehr zu beachten.

Der Dampfer jagte dahin, mit rasender Schnelligkeit zog er durch das
Meer. Ein Strom, breit und kochend wie der Rhein, war das Kielwasser.
Niemand schenkte Wenzel besondere Aufmerksamkeit, auch der Steward, der
seine Kabine aufräumte, schien gar nicht zu beachten, daß seine
Taschentücher blutig waren und selbst die Bettwäsche Blutspuren zeigte.

„Wo sind die Passagiere?“ fragte Wenzel in bester Laune den Kapitän, als
er den Speisesaal betrat. Auch der Kapitän hatte sein alltägliches
Gesicht aufgesetzt. Anfangs schien es Wenzel, als verfolge er ihn mit
prüfenden Blicken.

„Sie sind seekrank.“

Und weiter jagte der Dampfer, der den Namen „Creol“ trug. Ein
sonderbarer Name.

Aber die Passagiere kamen nicht wieder. Mehr und mehr schien der Dampfer
auszusterben. Es war nur noch ein einsamer Steward an Deck, und auf der
Brücke ging ein einsamer Offizier hin und her.

„Was ist eigentlich los?“ schrie Wenzel zu dem einsamen Offizier auf der
Brücke empor.

Aber der Offizier schüttelte nur den Kopf und antwortete nicht. Und der
Dampfer raste dahin, die Maschine bebte. Schwarze Rauchwolken wirbelten
aus den drei Schornsteinen.

Wenzel klingelte nach dem Steward, niemand kam. Er öffnete die Tür der
Kabine und rief in den Korridor hinaus, niemand antwortete. Er ging an
Deck, niemand war zu sehen. Er schritt durch das ganze Schiff, kein
Mensch. Und dabei zitterte der Dampfer von oben bis unten, so furchtbar
raste er dahin. Auch auf der Brücke war niemand mehr zu finden. Wenzel
stieg in den Heizraum hinab. Niemand. Da ergriff ihn eine
unbeschreibliche Angst. Er eilte durch alle Korridore, durch alle Etagen
des dahin rasenden Schiffes, auf alle Verdecke eilte er, nach Menschen
suchend, und plötzlich erkannte er, daß er allein war auf dem Schiffe.
Nun aber, gerade in diesem entsetzlichen Augenblick, begann die Sirene
des Dampfers, von einer unsichtbaren Hand bedient, dumpf und furchtbar
zu tuten.

Da streckte er die Hände empor zum Himmel und schrie voller Entsetzen:
„Ich habe gemordet! Ja, ich bin es!“

In diesem Augenblick erwachte er, in kalten Schweiß gebadet. „Ich habe
geträumt,“ sagte er, „etwas ganz Entsetzliches.“ Er betrachtete seine
Hände. Was war es doch mit meinen Händen?

Er klingelte, und ein Kellner trat ein und fragte nach seinen Wünschen.
Wenzel starrte ihn lange an. Er begriff nicht, er wußte nicht, wo er
war. War er nicht eben auf einem Schiff gewesen? Da sah er endlich, daß
ein Kellner vor ihm stand.

„Bringen Sie mir starken schwarzen Kaffee,“ sagte er.

Draußen tutete ein Dampfer, und plötzlich erinnerte sich Wenzel, daß er
sich in Warnemünde befand.


                                   28

Auf den Rat der Ärzte war Michael auf einige Wochen nach Sperlingshof
gegangen, um sich völlig zu erholen. Dann nahm er seine Arbeit in Berlin
wieder auf. Sonderbar, in all den Jahren hatte er nie Gelegenheit
gehabt, sich so lange auszuruhen, und doch schien es ihm, als ob ihm die
Arbeit nicht so leicht wie sonst von der Hand ginge. Die Zeiten waren
indessen nicht danach, daß man sich hinlegen konnte, wenn man müde war,
oder schlafen, wenn man schläfrig wurde. Es mußte gehen, und es ging
auch einige Zeit. Eines Tages aber erlitt er mitten in einer Sitzung
einen Schwächeanfall. Er war gezwungen, die Sitzung zu unterbrechen.
Ganz plötzlich hatte ihn starkes Fieber überfallen. Eva rief
augenblicklich die Ärzte.

Die Ärzte kamen und machten besorgte Gesichter. Der längst verheilte
Wundkanal schien sich aus irgendeinem Grunde wieder entzündet zu haben.
Ein leiser Schmerz stellte sich in der Schulter ein, und am nächsten
Tage war der linke Arm von der Schulter an leicht gelähmt. Diese
Erscheinung ging indessen rasch vorüber. Das hohe Fieber aber blieb
bestehen.

Michael war ein höchst ungeduldiger Patient. „Ich kann doch nicht wegen
des bißchen Fiebers wochenlang im Bett liegen!“ rief er aus.

Aber Eva beschwor ihn, den Ärzten gehorsam zu sein. Sie wich Tag und
Nacht nicht von seinem Lager. Wann schlief sie? Michael wußte es nicht,
denn immer war sie gegenwärtig. Wenn sich am Abend das Fieber steigerte,
legte sie ihm ihre kühlen Hände auf die Stirn. Das beruhigte ihn.

Da lag er, und das Blut sang in seinen Ohren. Auf seiner Haut knisterten
Funken, und zuweilen brauste es in seinem Hirn.

Sein Werk! Wie albern, hier untätig liegen zu müssen in einer Zeit, da
jede Arbeitsstunde kostbar war! Sein Blut kochte, und ungeduldige,
gebieterische, rasche Gedanken jagten durch seinen Kopf.

Oh, erst jetzt war er imstande, die ungeheure Aufgabe zu übersehen!

Billiger, besser, rationeller, schöpferischer. Jede Einzelheit mußte
überprüft werden. Die hygienischen Gesichtspunkte waren noch mehr zu
beachten. Er brauchte Erholungsheime, er brauchte Bäder, an den Häusern
ließ sich noch viel sparen, die Geräte mußten verbessert werden,
vereinfacht. Ein Spaten zum Beispiel, wieviele Spatenstiele verfaulten
jedes Jahr, wieviele Hämmer wurden im Jahre nutzlos weggeworfen, weil
die Stiele abbrachen. Gerade das Kleinste und Unscheinbarste war bei
einer solch ungeheuren Organisation das Wichtigste.

„Versuche zu schlafen,“ bat Eva und legte ihm eine kalte Kompresse auf
die Stirn.

Michael schüttelte den Kopf und starrte sie mit fiebernden Augen an.
„Ich kann nicht schlafen, mein Liebling,“ sagte er.

Ja, wie sollte er schlafen können, wenn die Gedanken ihn überrannten?
Man mußte die Verpflegung verbessern und die Bekleidung. Man mußte
besondere Arbeitsschuhe und Arbeitskleidung schaffen. Ging es da oben in
Ostfriesland vorwärts, wo sie den Schlick des Meeres als Dünger für das
Ödland benutzten? Man mußte besondere Waggons konstruieren zum Transport
des Schlicks. Er verwandelte den Sand in Weideland. Und wie ging es in
der Lüneburger Heide? Wer leitete dort die Arbeiten? Er hatte den Namen
vergessen.

Ärgerlich, dieses Fieber! Diese Arbeit in der Lüneburger Heide würde
zehn Jahre dauern. Weshalb hatte ihm die Regierung verweigert, die
Strafgefängnisse aus Berlin nach der Heide zu verlegen, wo er
Arbeitskräfte brauchen konnte ohne Zahl? Weshalb zögerten sie noch
immer, die Vorlage einzubringen, daß alle Freiheitsstrafen in
Arbeitsleistungen umzuändern seien? Nichts ging vorwärts. Er hatte seit
vierzehn Tagen keinen Bericht erhalten über die Fortschritte des Kanals
Hannover-Elbe. Die Ärzte erlaubten nicht, daß man ihn über das
Notwendigste unterrichtete. Und die Industriesiedlungen am
Mittellandkanal, gingen sie vorwärts? Und die Bauernsiedlungen in
Ostpreußen und auf den bayrischen Hochmooren? In vierzehn Tagen sollte
der Kongreß der Wasserbautechniker stattfinden. Würde er bis dahin
genesen sein? Und der Weser-Main-Kanal? Die Gärtnereigürtel an den
Peripherien der Städte, die Gärten und Gärtnereien für die Schulen,
welch ein wichtiges Thema! Welch ein wichtiges Kapitel die Sommerschulen
im Freien! Die Probleme waren ohne Zahl.

„Versuche doch zu schlafen,“ bat Eva.

„Daß die Ärzte nicht imstande sind, solch ein bißchen Fieber zu heilen,“
antwortete Michael und schüttelte den Kopf.


                                   29

„Bald!“ sagte Wenzel und nickte bedeutsam. Er blickte Esther nach, die
in einer phantastischen Abendrobe, halbnackt, über den Korridor schritt
und sich von der Zofe in den Abendmantel hüllen ließ.

Bald! Bald! Wenzel war sehr schweigsam geworden, seitdem er wieder in
Berlin war. In seinem Bürogebäude zitterte man, wenn man ihn von weitem
sah. Wenzel war laut, heftig, häufig sogar zornig gewesen. Man hatte
sich daran gewöhnt. Es war nicht so gefährlich, wie es sich anhörte.
Aber der schweigende Wenzel war ein Schrecken. Die Abteilungsvorsteher
näherten sich auf Zehenspitzen seinem Schreibtisch. Da saß er, die Stirn
umwölkt, die Lippen zusammengekniffen, und bemühte sich, äußerst höflich
und äußerst korrekt zu sein. Man hätte es lieber gehört, wenn er laut
und ärgerlich wie früher gewesen wäre. Häufig streifte ein forschender
Blick Mackentins Wenzels kaltes und verschlossenes Antlitz. Was brütete
er? Mackentin kannte Wenzel so lange und so genau, daß er wußte, daß
etwas ganz Ungewöhnliches in Wenzel vorging.

Wie damals, als er anfing, verbrachte er die Abende wieder in den
Weinstuben in der Nähe des Gendarmenmarktes. Er saß immer allein. Er
vertrug keine Gesellschaft. Er spielte auch nicht mehr Schach.

Mackentin arbeitete oft die halbe Nacht hindurch. Wie häufig kam es vor,
daß Wenzel um zwei, um drei Uhr nachts sein Büro betrat, um stundenlang
auf- und abzugehen. Worüber grübelte er?

Mackentin hatte Wenzel in seinem Hause beobachtet. Wie sonderbar, Wenzel
schien gut gelaunt wie früher. Er plauderte und scherzte, als sei nichts
geschehen, als brüte er nicht über irgendeiner geheimnisvollen Sache.
Aber Mackentin kannte Wenzels Stimme zu genau. Er hörte die Verstellung
heraus, aus dem etwas zu hellen Klang, und häufig beobachtete er Wenzels
Augen, wenn er Esther nachsah. Es war ein Glanz in diesen grauen Augen!
Sie waren ja niemals gütig gewesen, aber in diesen Sekunden war ein
Glanz in diesen Augen, der nichts Gutes versprach.

Zu Hause spielte Wenzel mit Mackentin häufig Schach, Billard und Karten.
Sie rauchten, das Weinglas zur Seite, als habe sich nicht das mindeste
ereignet. Aber wie spielte Wenzel jetzt Schach? Er, der etwas wie ein
kleiner Meister gewesen war, ein verschlagener, zäher Gegner, er spielte
wie ein Anfänger. Mackentin wußte genau, daß alles nur Verstellung war.
Dieses schlechte Schachspiel verriet ihn mehr als alles andere.

Fast an allen Abenden, die Wenzel zu Hause zubrachte, lud er Mackentin
zu sich ein. Es schien Mackentin, als ob er ihn brauche, vielleicht um
die Ruhe zu bewahren, vielleicht um seine Rolle durchzuspielen.

Worüber grübelte er?

Gestern abend hatten ihn zwei Angestellte des Konzerns in einem kleinen
Café am Alexanderplatz zufällig gesehen. Was tat er dort? Er, Wenzel,
der sonst Tag und Nacht in seinem Auto herumjagte, benutzte fast nie
mehr seine Privatwagen. Der Chauffeur besprach sich mit Mackentin. Er
fand Herrn Schellenberg auffallend verändert. Mackentin zuckte die
Achseln und lächelte.

„Er ist überarbeitet,“ sagte er. „Das ist alles. Er hat mehr Sorgen als
wir.“

Häufig ging Wenzel viele Stunden spazieren. Dann geschah es, daß er oft
laut vor sich hinsprach.

„Es muß geschehen,“ sagte er. „Es gibt nur diese eine Lösung.“

Ja, damals auf der Jacht, als er auf der Ostsee herumjagte, war ihm
diese Lösung eingefallen. Es gab keine andere. Er hatte es dem alten
Raucheisen nie vergessen können, daß er ihn tadelte, weil er zehn
Minuten zu spät kam. Was sollte er nun tun, da man seinen Namen in den
Schmutz trat?

„Es wird wohl so sein müssen!“ sagte Wenzel laut zu sich, während er
unter dunklen Bäumen dahinging. „Es gibt nur diese eine Lösung! Das
Schicksal hat gesprochen. So wahr ich lebe, mein Leben hätte keinen
Zweck mehr. Es wäre verächtlicher als das eines Jagdhundes. Man wird
mich verstehen, und alle werden begreifen, daß es eine andere Lösung
nicht gab.“

Und so oft er Esther nachblickte und der harte Glanz in seine Augen
trat, dachte er und sagte er: „Bald! Bald!“

Und Esther? Sie tänzelte dahin, sie lachte, sprühte von witzigen
Bemerkungen, bewegte sich in ihrem Hofstaat, in Konzerten, Theatern,
Gesellschaften. Ihre Beschäftigung bestand darin, das Programm für jeden
Tag zu entwerfen und es zu absolvieren. Sie ahnte nichts, sie wußte
nicht, daß er, Wenzel, ihren Tod beschlossen hatte ...


                                   30

Nein, es gab keine andere Lösung. Wenzel wußte es. Er wiederholte es
sich tausendmal am Tage und tausendmal in der Nacht. Er oder sie, etwas
anderes gab es nicht. Kein Mensch kann ohne Selbstachtung leben, ein
Wenzel Schellenberg auf keinen Fall. Zu infam hatte sie gehandelt, es
gab Grenzen, die man nur mit dem Einsatz seines Lebens überschreiten
durfte. Was weiter geschah, darum kümmerte er sich nicht.

Er untersuchte seinen Vorsatz gründlich, von allen Seiten betrachtete er
ihn. Wenn man ihm einen Ausweg angeben würde, so wollte er ja gern
diesen Ausweg wählen. Aber es gab keinen Ausweg. Niemand konnte ihm
einen Ausweg sagen. Er konnte ja zum Beispiel nach Südamerika gehen, in
die Wälder des Amazonenstromes, wo ihn niemand fand, niemand kannte,
aber das war keine Lösung. Das schamlose Lächeln dieser Frau würde ihm
folgen, ihr hochmütiges Gesicht und ihre freche Stirne. Er würde auch
nicht eine Sekunde vergessen können, daß diese Frau seine Würde und
Selbstachtung, alles, was er war, in den Schmutz getreten hatte. Es gab
keinen Ausweg, es gab nur diese eine Lösung.

Er hatte nur noch diesen einen Gedanken im Kopf, Tag und Nacht. Er war
wie ein Mensch, der unter einer Felsplatte begraben liegt und nicht mehr
atmen kann. Erst von diesem Augenblick an würde er wieder atmen können –
und was dann kam, kümmerte ihn nicht. Sieh doch zu, alles andere ist
völlig einerlei, sagte er sich. Er war wie ein Mensch, dem man
andauernd, Tag und Nacht, ins Gesicht spie, und diese ewige, ekelhafte
Besudelung würde erst von diesem Moment an aufhören.

Nein, es gab keine andere Lösung!

Soweit war er. Und nun überlegte er, in aller Ruhe, wie er seinen
Vorsatz in die Tat umsetzen sollte. Er würde nicht leugnen, gewiß nicht,
aber er war kein gewöhnlicher Totschläger. Er konnte Esther auf die
Jacht locken und ins Meer stürzen, er konnte sie bei dem Sommerfest in
Hellbronnen vor allen Gästen töten. Er konnte sie erwürgen, in ihrem
Schlafzimmer, um ihren letzten Blick, den Blick des letzten Erschreckens
zu sehen.

Noch war er unschlüssig. Er brütete. Da kam ganz unerwartet aus England
Besuch. Drei Herren, ein älterer und zwei jüngere, und zwei Damen.
Vielleicht waren die beiden jungen Männer frühere Liebhaber Esthers? Wer
weiß es? Esther plante zu Ehren ihrer englischen Gäste ein großes Fest.

Und plötzlich stand Wenzels Entschluß fest: Dieses Fest sollte sie noch
erleben. Noch einmal sollte sich ihre Eitelkeit in der Bewunderung ihrer
Gäste spiegeln, noch einmal sollte sie sich den Blicken der Männer
preisgeben dürfen. Noch einmal sollte sie alles genießen, was ihr das
Leben bedeutete. Nach dem Fest aber würde er sie erschlagen, erschlagen,
höchst einfach, genau so, wie man einen Hund erschlägt.

„So wahr ich Wenzel Schellenberg bin!“

Nun, da der Entschluß feststand, fühlte sich Wenzel erleichtert. Die
Fahlheit seines Gesichts wich, seine Wangen färbten sich wieder, seine
Stimme schien wieder ihren alten Klang zu bekommen.

Vielleicht hat er die Krisis überstanden, dachte Mackentin, den das
freie Lachen Wenzels überraschte. Selbst er ließ sich täuschen.


                                   31

Das Fest kam heran.

Die Autos rollten über den Kiesweg der Auffahrt. Schultern, Arme, Roben,
Lackschuhe und Fräcke quollen aus den Autos. Es kamen Minister und
Diplomaten, Botschafter und Gesandte, die Finanz, der alte Adel, die
neuen Vermögen, Industrielle mit starken Backenknochen, es kam die
Presse. Die Photographen waren schon durch einen Seiteneingang in das
Haus geschlichen und lauerten. Es kamen Leuchten der Wissenschaft und
berühmte Namen der Kunst. Es kamen auch einige Sterne vom Theater und
vom Film.

Auch Katschinsky befand sich unter den Gästen. Wenzel hatte ihn recht
gut gesehen. Oh, ob er ihn gesehen hatte! Vollendet spielte Wenzel die
Rolle des Gastgebers. Für jeden Gast hatte er ein höfliches Wort. Aber
er übersah Katschinsky. Niemand fiel es auf, Katschinsky selbst nicht.
Es waren gegen zweihundert Personen geladen. Das ganze Haus strahlte vor
Licht. Wie ein gleißender Würfel lag es im Grunewald. Durch die Säle
fluteten die Gäste. Glanz, Licht, Brandung der Stimmen, mitten darin
Esther wie eine Fürstin, die empfängt.

Esther hatte die Haare für das heutige Fest brennendrot gefärbt, um ihre
Freunde und Freundinnen zu überraschen. Sie trug ein silbergraues, ganz
dünnes Kleid, das jede Linie ihres Körpers, die Form ihrer kleinen
Brüste mit den mädchenhaften Knospen, den Schwung ihrer Schenkel allen
Blicken preisgab.

Sie ahnt nichts, dachte Wenzel triumphierend. Würde sie es ahnen, so
würde sie mir vor allen Leuten zu Füßen fallen, um nur ja diese Welt
voller Musik und Glanz, voll Heiterkeit und törichter Worte, voll ewig
wechselnder Kleider und blitzender Steine nicht verlassen zu müssen.

Sie hatte den alten herzoglichen Schmuck angelegt.

Wenzel trank an diesem Abend nur zwei Gläser Sekt und eine Tasse Kaffee.
Er betrachtete seine Hände. Sie waren ruhig, sie bebten nicht. Ja,
vollendet spielte er seine Rolle als Wirt. Er sprach mit den Gesandten
über Politik, mit den Industriellen über die Industrie und mit einem
Filmstar, der ihm große blaue Augen machte, über die Schwierigkeiten
ihres Berufes. Und da, in irgendeinem Winkel, entdeckte er den Bildhauer
Stobwasser. Er schob die Hand unter seinen Arm und ging mit ihm in ein
stilles Zimmer und unterhielt sich mit ihm über seine Tiere, ob er noch
den Papagei habe, der singen konnte: Wer will unter die Soldaten, der
muß haben ein Gewehr? Wenzel lachte laut heraus, so daß Stobwasser, der
einen viel zu weiten Frack und viel zu große Schuhe trug, in
Verlegenheit geriet, so laut und merkwürdig lachte Wenzel. Dann
unterhielt Wenzel sich mit ihm über einen Brunnen, den er für seinen
Garten gern besäße. Er habe da einen Gedanken, und Stobwasser möge sich
diesen Gedanken durch den Kopf gehen lassen. Und Wenzel entwickelte ganz
konfuse Pläne.

Schon war Wenzel gegangen. Er verbeugte sich vor einer älteren, über und
über bemalten Dame, die eine flachsfarbene Perücke trug. Stobwasser sah
Wenzel mit noch immer verdutztem Gesicht nach. Er ist irrsinnig, dachte
er.

Das Geklirr der Bestecke, das Klingen der Gläser, die Reihen der Diener.
Der Haushofmeister, der frühere Regimentskommandeur, schwitzte Blut. Es
war natürlich viel leichter, ein Regiment zu kommandieren.

„Weshalb sind Sie so aufgeregt?“ fragte ihn Wenzel und legte ihm
beruhigend die Hand auf die Schulter.

„Ich bin in der Tat heute außerordentlich nervös,“ stammelte der
Haushofmeister. „Ich bitte um Ihre Nachsicht!“

Das Diner war beendet. Wieder brausten die Stimmen auf. Welch ein
ungeheurer Lärm! Die Stimmen der Damen schwangen, mitten darin Esthers
Lachen. Musik brauste. Irgend jemand sang, wunderbar tönte ein Cello.
Wiederum entdeckte Wenzel Stobwasser und wollte mit ihm sprechen, aber
der Bildhauer war plötzlich verschwunden. Er wich Wenzel aus, er
fürchtete sich vor ihm. Er, dessen Beruf es war, das menschliche Antlitz
zu ergründen, war der festen Überzeugung, daß Wenzel Schellenberg
irrsinnig geworden war. Man wird es morgen in den Zeitungen lesen, sagte
er sich und verließ das Haus, ihm graute.

Die Musik spielte zum Tanz. All die Lackschuhe und Fräcke, Vorhemden,
Roben, dünnen Seidenstrümpfe, nackten Schultern und Arme flossen
durcheinander. Wenzel sah Esther zu, wie sie tanzte. Sie tanzte fast
ausschließlich mit den jungen Engländern, die kürzlich gekommen waren.

Sie ahnt es nicht, dachte er. Würde sie es ahnen, so würde sie mir zu
Füßen fallen, nur um diese Welt nicht verlassen zu müssen, wo man tanzt.

Der Haushofmeister hatte schon den dritten Kragen gewechselt. Die Musik
verstummte. Die Photographen verschwanden mit ihren Kästen. Die Diener
hielten die Mäntel bereit. Die Autos fuhren knirschend über den Kiesweg
ab. Der Haushofmeister trank ganz im geheimen in einem Winkel rasch zwei
Gläser Sekt, er atmete auf. Die letzten Autos fuhren ab. Die Gäste, die
im Hause wohnten, stiegen lachend und scherzend die Treppe empor. Die
Lichter erloschen. Ganz plötzlich lag der große Saal dunkel, und der
graue Tag blickte durch die hohen Fenster. Wenzel blickte Esther nach,
wie sie in ihren Räumen verschwand. Sie waren von seinem Schlafzimmer
nur durch den Korridor getrennt.


                                   32

Nun lag das ganze Haus in Finsternis. Wenzel saß in seinem dunklen
Zimmer und lauschte, er wagte kaum zu atmen. Oben, in den Gastzimmern,
lachte noch eine weibliche Stimme. Georgette, die Französin, die ihrem
Mann durchgebrannt war, dann wurde es ganz still.

Plötzlich aber knackte ein Schritt, eine Türe ging. Wer schleicht durch
das Haus? Wenzel ging leise zur Treppe und horchte. Er hatte sich
umgezogen. Er trug einen Straßenanzug. Nun klinkte er leise die Tür zu
Esthers Gemächern auf und verschwand. Das Haus war ganz still, nichts
regte sich. Er stand eine Weile und atmete. Sein Atem ging ruhig und
gleichmäßig. Hier kannte er jeden Quadratfuß, jedes Möbelstück, jeden
Gegenstand, alles, denn wie oft war er nachts hier in der Dunkelheit
eingetreten? Aus dem Vorzimmer kam er in den kleinen Salon. Auf dem
Fußboden stand ein blühender Busch. Aber es war kein Busch, es waren
riesige Dahlien in einer hohen, bauchigen japanischen Vase. Daneben
stand eine zierliche, kleine Toilettenkommode, die all die Lippenstifte,
Bürsten, Farben, Schminken enthielt. Auf dieser kleinen Kommode stand
ein schwerer Bronzeleuchter, eine italienische Arbeit, Menschenleiber,
männliche und weibliche, die sich ineinander verschlangen. Diesen
Leuchter nahm Wenzel in die Hand, er prüfte sein Gewicht. Dann stellte
er ihn wieder vorsichtig auf die Kommode zurück. Es würde wohl besser
mit den Händen geschehen. Plötzlich erschrak er. Aus dem kleinen
Seitenspiegel starrte ihm eine schneeweiße Maske entgegen. Es war sein
Gesicht. Ich bin etwas bleich, dachte er und klinkte vorsichtig die Tür
zu Esthers Schlafzimmer auf. Er öffnete sie weit. Die Tür machte nicht
den geringsten Laut. Wunderbar war alles in diesem Hause gearbeitet. In
Esthers Schlafzimmer brannte Licht. Er war nicht überrascht, er wußte,
daß sie eine kleine Ampel zu brennen pflegte.

Nun war es also so weit ...

Da lag sie ausgestreckt auf einem Bett, das wie eine Muschel geformt
war, wie eine breite Muschel, in der gut vier Menschen schlafen konnten.
Das Bett war silbern bemalt.

Da lag sie, das rote Haar hingeweht wie das Feuer einer Fackel, ihr
einer Arm lag auf der Decke, der Mund stand halb offen. Er ging näher,
Schritt für Schritt. Das war sie also, und Wenzel ging näher, er achtete
gar nicht darauf, ob seine Schuhe knarrten oder nicht. So stand er und
betrachtete sie. Plötzlich begann Esther sich zu regen. Die Augen
schienen zu blinzeln, ihr Mund öffnete sich.

Wenzel beugte sich über sie, er hielt den Atem an, schon hob er die
Hände vor: da begann Esther plötzlich im Schlaf zu lachen. Es war ein
kleines, klingendes und helles Lachen, das Wenzel bis ins tiefste Herz
erschreckte. Seine Hände sanken herab, und er stand lange still. Wieder
lachte Esther. Es war das Lachen eines heitern, unschuldigen Kindes.

Nun begann Wenzel zu schleichen. Er schlich vorsichtig rückwärts und
verließ das Zimmer.

Am andern Morgen war Esther erstaunt, daß alle ihre Türen offen standen.
Lachend erzählte sie beim Frühstückstisch ihren Gästen, daß sie wirklich
einen kleinen Schwips gehabt haben müsse.

Wenzel aber erwachte zu seinem großen Erstaunen in dem einfachen
Schlafzimmer, das er noch immer in seinem Bürogebäude beibehielt und wo
er zuweilen, wenn er müde war, schlief. Er erwachte, und sofort schloß
er wieder die Augen. Er wagte nicht zu denken.

Was war geschehen?


                                   33

Mit geschlossenen Augen lag Wenzel viele Stunden. Irgend etwas war
geschehen. Er wußte es nicht, sein Kopf war leer. Irgend etwas
Furchtbares mußte sich ereignet haben. Hatte er sie getötet? Er wußte es
nicht. Wie kam er hierher? Er klingelte und bestellte das Frühstück.
Sein Blick lauerte. Er beobachtete jede Miene des Dieners. Aber die
Miene des Dieners war wie an andern Tagen. Also schien dieser Mann noch
nichts zu wissen. Es war schon spät am Tage. Mit leerem Kopf saß Wenzel.
Dann erhob er sich und kleidete sich langsam an. Er war kaum mit der
Toilette fertig, als Mackentin sich melden ließ. Auch Mackentins Gesicht
war ganz wie sonst. Es war also nichts vorgefallen, und doch, er
erinnerte sich, einen schweren Gegenstand, irgend etwas aus Bronze, in
der Hand gehalten zu haben.

„Sie haben mir gestern befohlen, Sie zum Rennen abzuholen,
Schellenberg,“ sagte Mackentin gut gelaunt und aufgeräumt.

Wenzel sagte: „Ich bin sehr müde. Es ist heute nacht sehr spät geworden.
Wieviel Uhr ist es, und was ist das für ein Rennen?“

Mackentin lachte laut auf und zündete sich eine Zigarre an, deren Spitze
er, wie gewöhnlich, mit den Zähnen abbiß. „Sie scheinen noch zu
schlafen, Schellenberg!“ rief er aus. „Es ist drei Uhr. Kommen Sie, der
Preis von Brandenburg wird heute gelaufen.“

Oh, nun erinnerte sich Wenzel. Er hatte das schnellste Pferd seines
Stalles, die Stute „Spaßvogel“ gemeldet.

„Schön, gehen wir,“ sagte er, indem er aufstand und mühsam ein Gähnen
unterdrückte. Er hatte alles vergessen. Ein Teil dieser Nacht war in
seinem Gedächtnis wie ausgelöscht. Er erinnerte sich noch, daß er mit
dem Haushofmeister gesprochen hatte, dann war einer Dame die Perlenkette
gerissen – sonst wußte er nichts mehr.

Während der ganzen Fahrt redete Mackentin. Er erzählte von dem
herrlichen Fest heute Nacht. Selten war ein Fest so gut gelungen. Die
Gäste waren des Lobes voll. Und Mackentin erzählte eine schnurrige
Geschichte: Der Haushofmeister, der frühere Regimentskommandeur, ein
Graukopf, etwas bekneipt wohl, hatte Madame Georgette Leblanc einen
Antrag gemacht, der alte Knabe. Allerdings schien Frau Esther
Schellenberg ihn aufgehetzt zu haben – aber Wenzel schien zu schlafen,
er hörte gar nicht zu.

Die Rennbahn, die Tribünen, Farben, Geschrei, Lärm. Er hörte und sah
nichts. Kühl und teilnahmslos sah sein Gesicht aus. Aber sein Blick
suchte etwas.

In diesem Moment bemächtigte sich der Tribünen eine ungeheure Erregung.
Die gelbe Schellenbergsche Jacke flog dem Feld voran. „Spaßvogel“ lag
sicher in Front, als das Rudel in den Auslauf einbog. Plötzlich aber
verlangsamte sie ihr Tempo. Die gelbe Jacke blieb plötzlich stehen.
Dieser Vorfall hatte die Tribünen in rasende Erregung versetzt. Die
sichere Favoritin war geschlagen.

„Aber sehen Sie doch, Schellenberg!“ rief Mackentin, „Spaßvogel wurde
angehalten!“

Wenzel erwiderte nichts. Er schüttelte nur den Kopf. Sein Blick suchte,
und plötzlich hatte er gesehen, was er suchte. Er wußte nicht, was er
tat und was er wollte. Dort stand Esther. Sie stand in einem Rudel von
Freunden, mitten in ihrem Hofstaat, die englischen Gäste waren da, die
englischen Damen, eine große Anzahl der Gäste des gestrigen Festes.
Georgette Leblanc, frech und ausgelassen, die ihrem Mann durchgebrannt
war, Violet Taylor, mit der Madonnenfrisur und dem lüsternen Mund.
Wenige Schritte von Esther entfernt aber stand der Schauspieler
Katschinsky. Neben ihm sein kleines Windspiel. Wenzel sah ihn eigentlich
nicht. Erst als er auf Esther zuging und Esther plötzlich im Lachen
innehielt und ihn mit einem großen Blick ansah, äußerstes Entsetzen in
den Augen, erst in diesem Augenblick sah er Katschinsky, der
leichtfertig und in blendender Laune lächelte. Sofort änderte Wenzel die
Richtung und ging auf Katschinsky zu. Er hatte es nicht beabsichtigt,
plötzlich stand er vor ihm. Immer noch lächelte der Schauspieler.

In diesem Augenblick aber gewahrte ihn Katschinsky und erbleichte. Seine
Nasenspitze wurde schneeweiß, ein kleines Eiterbläschen.

Ganz ruhig blickte Wenzel ihn an und sagte mit einer ruhigen, klaren
Stimme, alle hörten es, ganz ruhig sagte er: „Wenn man mit einer Dame
eine Liebschaft hat, junger Herr, so erzählt man es nicht allen Leuten.“
Dann hob er die Faust, und augenblicklich stürzte Katschinsky zu Boden.
Er hatte ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Dann ging Wenzel, ohne
jemanden anzublicken, ruhig seines Wegs.

Was war geschehen? Er hatte es nicht beabsichtigt. Was ging mit ihm vor?

Niemand folgte ihm. Ganz allein verließ er die Rennbahn.


                                   34

Plötzlich hielt das Auto, und Wenzel kletterte mit etwas müden, steifen
Beinen aus dem Wagen. Er befand sich in Hellbronnen. Wahrscheinlich
hatte er dem Chauffeur diesen Namen zugerufen, als er den Rennplatz
verließ und ins Auto stieg. Er wußte es nicht mehr. Die Landschaft,
durch die sie fuhren, hatte er nicht beachtet.

Es dämmerte schon, als er das Kaminzimmer des Jagdschlößchens betrat.

Irgend jemand zündete Licht an und fragte nach seinen Wünschen. Er
wünschte nichts. Schweigsam, mit einem Gesicht, dessen Züge sich nicht
veränderten, auch wenn er sprach, saß er auf einem Stuhl. Nach einer
Stunde meldete irgend jemand, daß gedeckt sei. Er begab sich in das
Speisezimmer, ganz automatisch, und aß etwas kaltes Fleisch. Den Wein
berührte er nicht. Dann kehrte er wieder in das Kaminzimmer zurück und
saß still auf dem gleichen Stuhl. Er erinnerte sich, daß er hier in
diesem kleinen Raum einst mit Jenny Florian gesessen hatte. Damals
flammte das Feuer im Kamin, und noch heute war der Glanz ihrer blonden
Haare in der Luft und ein Widerhall ihrer schönen weichen Stimme. Der
Gedanke an Jenny Florian beunruhigte ihn nicht. So war das Leben: man
tötete, oder man wurde getötet. Erst tief in der Nacht, als die
Erinnerung an diese Frau mehr und mehr in ihm erwachte, spürte er ein
leises Frösteln. Sie ist nicht der einzige Mensch, den du unglücklich
gemacht hast, sagte er sich. Ja, in der Tat, wenn er über die letzten
Jahre blickte, er hatte manchen Menschen niedergeworfen, daß er sich
nicht mehr erhob. Was konnte er dafür? Er war ein Mensch, der schnell
und tief atmete. Das war alles. Welche Gewalten hatten ihn
unwiderstehlich vorwärtsgetrieben?

Nun aber war das Ende gekommen. Es war vorbei, ein für allemal. Dieser
Faustschlag in das Gesicht eines lächerlichen Wichtes hatte ihn in das
eigene Gesicht getroffen! Der Skandal, was kümmerte ihn der Skandal? Der
gesellschaftliche Boykott, nicht einmal gewiß, kümmerte ihn noch
weniger. Er verachtete diese Gesellschaft. Vielleicht würde sich
Katschinsky in seiner Schmach töten? Was ging es ihn an? Aber, wie
lächerlich, er würde sich keineswegs töten, er würde vielleicht auf
einige Zeit Berlin verlassen und dann wieder auftauchen, und nichts war
geschehen. Die Gesellschaft, verächtlich wie sie war, würde den
Faustschlag längst vergessen haben. Und Esther? Er hatte sie vor aller
Welt gezüchtigt und entblößt. Nun, sie würde nach London oder nach Paris
reisen, nach Nizza, lachen, plaudern, in eleganten Wagen dahinrollen und
neue Kleider anprobieren. Es war nicht der erste Skandal in ihrem Leben,
und ihre Freunde würden rasch alles vergessen. Die Scheidung, das war
eine Formalität, die ging ihn nichts an. All das lag weit hinter ihm.

Trotz allem, es war zu Ende mit ihm. Wenzel Schellenberg war nicht mehr.
Er selbst hatte sich gerichtet. Der alte Wenzel Schellenberg war dahin.
Vielleicht glaubten manche Leute, wenn sie ihn sahen, daß er noch
existiere? Oh, nein, sie täuschten sich. Er war dahin. Vielleicht hatte
ein Leben voller Unrast und Ausschweifungen ihn vernichtet?

Man hatte ihn in den Schmutz getreten – und er mußte sich erheben,
furchtbar. Ein Faustschlag, war das alles? Er hatte ein Insekt
zertreten. Das kleine kindliche Lachen einer Frau, die träumte, hatte
ihm Furcht eingejagt. Nun, dieses kleine kindliche Lachen hatte ihn
ausgelöscht. Wenzel Schellenberg war in seiner eigenen Schmach
versunken. Was dann geschah, diese lächerliche Szene – tausend
verächtliche Menschen hätten ebenso handeln können. Zu seiner Schmach
hatte er noch die Lächerlichkeit gefügt.

Nun war es ganz klar, es war entschieden. Diese Frau mit den gemalten
Wangen hatte über ihn triumphiert. Sie, der einzige Mensch, hatte ihn
besiegt, sagen wir es offen, den er in seinem Leben wahrhaft geliebt
hatte. Und vielleicht liebte er sie nur wegen ihrer Lasterhaftigkeit und
Schamlosigkeit, wer weiß es? Nun verzog sie wohl spöttisch die Lippen,
wenn sie an diesen Tölpel Schellenberg dachte, der in seiner
lächerlichen Eifersucht einem Nebenbuhler vor aller Welt ins Gesicht
schlug wie ein Fuhrknecht.

Wenzel krümmte sich zusammen. Gut, daß der Morgen kam. Als der Tag
graute, ging er durch den Park. Pavillons, Treibhäuser, Brücken,
Baumaterial. Eine Welt, mit der er nichts mehr gemein hatte. Er weckte
den Chauffeur, der noch schlief, und fuhr wieder ab. Er fuhr nach
Warnemünde. Wohin sollte er sonst fahren? Trotzdem er kein geringes
Vermögen besaß, war er jetzt ohne jede Heimat. Die Jacht stach in See.
Wittgenstein konnte deutlich sehen, daß ein völlig veränderter, ein
fremder Mann an Bord war. Wenzel sprach kein Wort. Er kam nicht an Deck.
Er saß unten in der Kajüte und brütete vor sich hin, und plötzlich gab
er den Befehl zur Rückkehr. Auch hier an Bord waren die folternden und
quälenden und beschämenden Gedanken. Es schien, als ob selbst die
Matrosen ihm deutlich ansehen mußten, daß er ein verächtlicher, zu Boden
getretener, in den Schmutz gezogener Mann war, den man erniedrigen
konnte, ohne daß er sich wehrte.

„Leben Sie wohl, Wittgenstein,“ sagte er, als er sich verabschiedete, zu
dem Kapitän. „Es hat sich manches geändert, und es wird sich noch vieles
ändern. Ich brauche die Jacht nicht mehr. Ich werde sie Ihnen schenken,
so wie sie steht. Ich werde Ihnen die notarielle Urkunde zuschicken,
sobald ich etwas Sammlung finde. Leben Sie wohl, vielleicht können Sie
doch noch den Spiritusschmuggel anfangen.“ Und Wenzel versuchte es mit
einem gequälten Lächeln.

Wittgenstein schüttelte den Kopf. Schellenberg war krank geworden.

Und wieder war Wenzel im Automobil unterwegs. Er besuchte ein großes Gut
in Mecklenburg, das ihm vor Jahren aus der Konkursmasse eines Schuldners
zugefallen war und das er noch nie besichtigt hatte. Hier blieb er drei
Tage. Er schlief fast die ganze Zeit und sprach kaum mit dem Verwalter.
Aber nachdem er sich gründlich ausgeschlafen hatte, schien es plötzlich,
als habe er einen Ausweg gefunden. Eines Morgens erwachte er frisch und
voller Entschlußkraft.

„Ich kehre um! Ich kehre um! Ja, ich kehre um! Ich bin in voller Fahrt
gegen eine Mauer gelaufen und zerschellt,“ sagte er. „Dieses ganze Leben
war unsinnig. Ich werde zu Michael gehen und ihm sagen: Bruder, hier bin
ich wieder, ich kehre um.“

Ja, Michael, er war der einzige, zu dem man kommen konnte, woher man
auch kommen sollte.

Zum erstenmal sah der Chauffeur, der Wenzel gut kannte und diese letzte
Irrfahrt mitgemacht hatte, aus dem verfallenen Gesicht seines Herrn
wieder die alten Züge auftauchen. Fast hörte es sich an, als ob die alte
Stimme Wenzels wieder gekommen sei, etwas gedämpfter als sonst freilich.

„Wir fahren nach Berlin zurück,“ befahl Wenzel. „Aber auf dem Rückweg
werden wir meinen Bruder auf seinem Gut Sperlingshof besuchen. Sie
kennen den Weg?“ Wenzel hatte erfahren oder gelesen, daß Michael sich
zur Zeit auf Sperlingshof aufhalte.

Aber welche Enttäuschung! Michael war nicht auf Sperlingshof. Man wollte
den Verwalter benachrichtigen, der ihm gewiß Auskunft geben könne, wo
Michael sich zur Zeit aufhalte. Wenzel wartete geduldig, und während er
wartete, ging er auf dem Gut hin und her. Wie eine saftstrotzende Oase
lag Sperlingshof in der armseligen Landschaft. Trotz aller
Versprechungen, die er Michael gemacht hatte, war er noch nie nach
Sperlingshof gekommen. Nun staunte er. Hier herrschte Ordnung, Fleiß,
Wille, Sinn. Alles blühte und grünte, die Versuchsbeete, die
Treibhäuser. Tausende von Kübeln, in denen Pflanzen zu Versuchszwecken
wuchsen, standen in Reih und Glied, alle sauber mit Etiketten versehen.

Der Verwalter, ein alter Mann mit buschigen grauen Haaren und
gekrümmten, abgearbeiteten Händen, kam herbei und begrüßte Wenzel mit
bestürzter Miene.

„Sie wissen nicht, daß Herr Michael Schellenberg in Berlin ist?“ fragte
er. „Er ist krank, sehr krank, Sie wissen es nicht?“

„Krank? Er ist wieder krank?“

„Seit längerer Zeit. Wir haben schlechte Nachrichten.“

Augenblicklich fuhr Wenzel nach Berlin. Gegen Abend kam er in der Stadt
an, und im Geschäftshaus der Gesellschaft in der Lindenstraße sagte man
ihm den Namen des Sanatoriums, in dem sich Michael befand. Auch hier, in
der Lindenstraße, sah er bestürzte Mienen. Er gebot dem Chauffeur
höchste Eile.

Das Sanatorium lag ganz still. Eine Pflegerin führte ihn durch einen
matterleuchteten Gang und bat ihn, sich in einem Wartezimmer zu
gedulden. Einen Augenblick später trat der Arzt ein.

„Wir haben nur noch wenig Hoffnung, Herr Schellenberg,“ sagte der Arzt.
„Seien Sie ganz leise.“

Und als Wenzel das Krankenzimmer seines Bruders betrat, übersah er mit
einem Blick alles.


                                   35

Viele Tage hatte Michael mit dem Fieber gekämpft. Endlich unterlag auch
die sprichwörtlich zähe Schellenbergsche Konstitution. Und nun war
Michael schon drei Tage und drei Nächte ohne Bewußtsein. Die Pfleger
mußten ihn mit aller Gewalt im Bett zurückhalten, er wollte weg von
hier. Er habe keine Zeit zu versäumen.

Hunderttausende von Hungernden sah er, Armeen von Hungernden, die durch
die Riesenstädte marschierten, ohne einen Laut zu sprechen, ohne einen
andern Vorwurf als den ihrer fahlen Gesichter. In den Höfen sah er
Hunderttausende von Kindern, verfallen, gelb und schwindsüchtig. Er sah
Hunderttausende von alten Menschen, die auf der Straße niederfielen vor
Erschöpfung. Er sah die Massenquartiere, in denen Tausende
zusammengepfercht, Leib an Leib, die Nächte verbringen. Und er sah die
Hölle des Lasters, in die das Elend diese Unglücklichen stürzte, den
Brand am Volkskörper, der das ganze Volk vernichten würde. Dies alles
sah er in diesen Fiebernächten, da er mit riesigen Kräften mit den
Pflegern rang.

Nun aber war er still geworden. Er lag ohne jede Bewegung. Er atmete
leise. Er tat keiner Fliege mehr etwas zuleide. Die Pfleger konnten
ruhig schlafen. Er war besiegt, und er sah es ein. Eva hatte sein Haupt
höher gebettet, und so lag er nun, bleich und fahl, blutleer das
Gesicht, und lächelte. Seine Augen glänzten, und Friede und Glück lagen
auf seinen fahlen, lächelnden Lippen. Nun sah er nicht mehr die Stätten
des Elends, er sah gleißende Ebenen, die Erde. Und der Regen rieselte
durch die Sonne, und die grüne Saat schob sich aus dem Boden. Und er sah
die Saat sprießen und wachsen.

Er sah goldene Flächen. Das war der Weizen, das Brot, das im Winde
wogte. Er sah glänzende Wasserstraßen, die blühende Länder durchzogen,
er sah blühende Siedlungen voll gesunder Menschen. Die Glashallen der
Werkstätten, wo die Maschinen schwirrten, voll brauner, starker Männer,
die Gärtnereien, erfüllt vom Gewimmel gesunder Kinder. Er sah Städte,
die von Arbeit fieberten, er sah Schiffe dahinziehen, beladen mit
Gütern. Und da fing alles an zu blinken und zu funkeln, alles war in
Licht und Sonne getaucht. Und Michael seufzte, als erfüllte ihn
Glückseligkeit.

Plötzlich wandte sich Eva Dux vom Lager ab und legte ihre schmale Hand
vor die Augen.

Das war in der neunten Abendstunde. Um ein halb zehn senkte sich die
Flagge der Gesellschaft – weiß, mit drei goldenen Ähren – auf dem
Verwaltungsgebäude in der Lindenstraße auf Halbmast. Unaufhörlich aber
jagten die riesigen Flammenschriften über die Front des Gebäudes und
blendeten hinaus in die Nacht:

       Tod dem Hunger!
       Tod der Krankheit!
   Es lebe die Kameradschaft!


                                   36

Still, ohne ein Wort zu sprechen, ohne sich von jemandem zu
verabschieden, schlich sich Wenzel aus dem Sanatorium. Er schickte den
Wagen fort und ging langsam durch die Straßen. Ja, nun war es zu Ende.
Er fühlte ganz deutlich, daß das Schicksal gegen ihn aufgestanden war,
um ihn zu Boden zu werfen. Gott hatte die Stirn gerunzelt ...

Mitten in der Straße krampfte er die Hände vors Gesicht – fast hätte er
geschluchzt. Michael – er hatte ihn geliebt, nicht weil er sein Bruder
war. Nein, es war etwas in Michael, das ihn seit seiner Jugend anzog.
Der Attentäter aber hatte auf Michael geschossen, weil er sich aus dem
Schweiß der Arbeitslosen ein Palais erbaut hatte. Nun eilte Wenzel
dahin. Dies war der Keulenschlag, mit dem ihn das Schicksal
niederschlug.

Fast hatte er geschluchzt, aufgeschrien, aber er schluchzte nicht, er
schrie nicht auf. Er wanderte zum Bahnhof und wartete auf einer Bank des
Wartesaals geduldig auf den ersten Zug, der nach dem Osten ging. Früh um
fünf Uhr ging dieser Zug, es war ein Personenzug, und er stieg ein. Ohne
jegliche Ungeduld fuhr Wenzel die Nacht und den folgenden Tag, und
endlich erreichte er die Station, wo er aussteigen mußte.

Vor drei Jahren hatte er ein Gut in Ostpreußen gekauft, das
niedergebrannt war, ein Gut von fünfzigtausend Morgen, das er für fast
nichts erwarb. Es hieß Schwarzlake. Er hatte das Gut nie gesehen. Es war
seine Absicht gewesen, sich dahin zu begeben.

Es war dunkel, als er den Personenzug auf der kleinen Station verließ.
Bald war er einsam in der Dunkelheit auf der Landstraße und schritt
tüchtig aus. Gegen Mitternacht erreichte er das Gut. Ein Hund kläffte.
Er rief. Endlich zitterte ein kleines Licht, und aus einem Fenster fuhr
der Kopf eines alten Weibes.

„Was wollen Sie?“ rief sie unwirsch und keifend.

„Ich bin Schellenberg,“ erwiderte Wenzel.

Aber die Alte hatte seinen Namen nie gehört. Wie wunderbar war es, in
eine Gegend zu kommen, wo man seinen Namen nicht kannte!

„Ich bin der Besitzer des Gutes.“

Argwöhnisch verschwand die Alte, und nach geraumer Weile kam ein vom
Alter krummgezogener Knecht aus dem Hause, der wußte, daß das Gut vor
Jahren an einen Herrn Schellenberg in Berlin verkauft worden war. Ratlos
stand der Knecht.

„Was wollen Sie hier?“ fragte er. „Das Gutshaus ist ja abgebrannt.“

Und in der Tat, selbst in dieser undurchdringlichen Dunkelheit konnte
Wenzel etwas wie eine langgestreckte Ruine zwischen den Bäumen
entdecken. Man roch noch den Brand.

„Ich will hier auf dem Gute leben,“ sagte Wenzel.

Der Knecht ging ins Haus, zündete eine Laterne an und bat ihn,
einzutreten. Es war das Haus der Dienstleute. Nebenan lag ein größeres
Gebäude, in dem früher der Verwalter wohnte.

„Es ist aber nicht in Ordnung,“ sagte der Knecht.

„Lassen Sie mich ruhig hier sitzen,“ erwiderte Wenzel. „Schlafen Sie,
und stören Sie mich nicht.“

So saß er still auf der Treppe, mitten in der Nacht, und groß gingen die
Gestirne über ihn dahin. Der Morgen graute. Ketten rasselten im Stall,
ein Hahn krähte, Kühe schnaubten. Der alte Knecht und das alte Weib
nahmen ihre Arbeit auf. Aus der Dämmerung stiegen deutlich die Umrisse
der Gebäude, Stallungen und auch der niedergebrannten Ruine des Gutes.

Das also ist Schwarzlake, dachte Wenzel. Er war sehr zufrieden. Hier
würde er bleiben. Die Alte setzte ihm heiße Milch auf den Tisch, und
daneben legte sie ein Stück Roggenbrot. Ja, hier würde er bleiben.


                                   37

Die Alte stellte ein primitives Bauernbett in die frühere Stube des
Verwalters, dazu einen kleinen Tisch und einen wackligen Stuhl. Auf eine
Kiste stellte sie ein Waschbecken und einen Krug mit Wasser.

So war Wenzel eingerichtet. Schwarzlake war völlig verfallen. Das Gras
wuchs auf dem Hof, die Äcker waren verwahrlost, die Wiesen versumpft.
Nur ein ganz geringer Teil des ungeheuren, von vielen schwarzen Weihern
durchzogenen Geländes war bewirtschaftet. Im Stall standen vier Kühe und
zwei alte Pferde. Das Gutshaus selbst war eine geschwärzte Ruine,
langgestreckt, mit gähnenden Fensterlöchern und eingestürztem,
verbranntem und verkohltem Dach. Der Schutt und das verbrannte Holzwerk
lagen genau noch wie am Tage nach der Feuersbrunst.

Wenzel hauste nun vierzehn Tage auf Schwarzlake in seinem kleinen,
primitiven Zimmer. Am Tage sah man ihn wenig, in den Nächten aber saß er
bis zum grauenden Tag auf der Treppe und blickte in die Nacht hinaus.
Schon war der Hofhund zutraulich geworden, und es sah aus, als bewachten
beide die Ruine.

Der Knecht fragte, was geschehen solle, was der Herr anordne. Wenzel
schüttelte den Kopf.

„Später,“ sagte er. „Wir werden sehen.“

Eines Tages aber begann er plötzlich den Schutt des Gutshauses
aufzuräumen. Er geriet in Eifer, mit Schaufel, Karre und Axt schaufelte
er und schleppte mit mächtigen Armen, und bald war sein Gesicht vom
Schweiß überströmt. Täglich arbeitete er von früh bis spät in die Nacht
hinein. Er hatte noch einen Knecht und eine Magd angenommen. Aus den
Nachbarflecken kamen die Bauhandwerker, und bald wimmelte es auf dem Hof
von Zimmerleuten, Steinmetzen, Stellmachern, Tischlern, Wenzel mitten
unter ihnen, das Gesicht schweißüberströmt. Die Handwerker staunten über
ihn. Nie hatten sie solch einen Arbeiter gesehen.

Plötzlich war wieder Leben über Wenzel gekommen. Er telephonierte nach
Berlin. Einige Tage später traf Goldbaum auf Schwarzlake ein. Der fette
Goldbaum strahlte vor Vergnügen, als er Wenzel frisch und bei guter
Gesundheit wiedersah.

„Hoffentlich haben wir Sie bald wieder in Berlin, Schellenberg,“ sagte
er. „Wir vermissen Sie an allen Ecken und Enden. Diese letzten Wochen
waren eine höllische Arbeit.“

Wenzels Gesicht wurde düster. Er schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht
zurück,“ sagte er, und er gab Goldbaum den Auftrag, seinen gesamten
Besitz allmählich zu liquidieren. Er mußte Rücksicht nehmen auf Tausende
und Abertausende von Arbeitern und Angestellten, anders hätte er seinen
Besitz um jeden Preis unbedenklich losgeschlagen. Und er gab Goldbaum
ferner den Auftrag, Land zu kaufen, wo er es immer erlangen könne. Es
sei ihm ein Plan durch den Kopf gegangen.

„Mackentin wird vorläufig die Verwaltung dieser neuen Ländereien
übernehmen, und den kleinen Stolpe entlassen Sie.“

Auch das Haus im Grunewald sollte verkauft werden, wie es liegt und
steht.

Eines Tages kam auch ein junger, hochaufgeschossener Mann mit ernster,
gesammelter Miene, bescheiden, höflich. Einer jener sachlichen
anspruchslosen Menschen, wie sie mehr und mehr auftauchten, die nichts
für sich wollten, sondern einer Idee dienten, unvorstellbar der früheren
Generation. Diesen jungen Mann hatte Wenzel die Gesellschaft
Neu-Deutschland gesandt, deren Rat er erbeten hatte. Der junge Mann
lebte beinahe eine Woche auf Schwarzlake. Er schlief auf einem Strohsack
in einer leeren Stube. Er war völlig anspruchslos. Am Tage, vom frühen
Morgen bis zur Dunkelheit, untersuchte er das Gelände, den Boden, die
sumpfigen Wiesen, die schwarzen, schilfbestandenen Weiher, die von
Wasservögeln wimmelten. Wenzel hatte von dem Tischler einen großen
Arbeitstisch anfertigen lassen, und auf das rohe Holz war ein großer
Plan des Gutes Schwarzlake genagelt. Daran arbeitete der junge Mann bis
in die späte Nacht. Entwässerungsgräben, Verbindungsgräben der Weiher,
Straßen. Ein Kanal.

„Es ist ja nur ein provisorischer Vorschlag,“ sagte der junge Mann. „Ich
werde Ihnen Ingenieure und Landwirte schicken, sobald ich nach Berlin
zurückkehre.“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar. Leben Sie wohl, Herr Weidenbach,“ erwiderte
Wenzel.

Am Tage arbeitete er nun am Wiederaufbau des Gutshauses, der
Ausbesserung der Scheunen und Ställe. Ein neuer Stall sollte angelegt
werden. Am Abend aber saß er beim Licht von zwei Kerzen über dem Plan
von Schwarzlake. In wenigen Jahren sollte Schwarzlake so aussehen. Wo
heute Unkraut wuchs, sollte Getreide wachsen. Wo das Wasser in den
Wiesen stand, sollten die Herden weiden. Eine richtige kleine Stadt aber
hatte Wenzel entworfen. Und diese Stadt würde entstehen in zehn bis
zwanzig Jahren, und sie sollte den Namen Schellenberg tragen. Nicht
seinen Namen, dem Gedächtnis seines Bruders war sie gewidmet.

Eines Tages, Wenzel schrie gerade mit den Zimmerleuten, die den
Dachstuhl aufsetzten, meldete man ihm, daß eine Dame angekommen sei und
ihn zu sprechen wünsche. Wenzel runzelte die Stirn und blickte finster
in den Hof hinaus. Sofort aber erhellte sich sein Gesicht wieder. Da kam
die Dame schon. Es war Eva Dux. Ruhig und still, mit einem herzlichen
Leuchten in den Augen begrüßte sie ihn, als hätte sich seit ihrem
letzten Wiedersehn nicht das geringste ereignet.

„Ich komme erst jetzt zu Ihnen, Herr Schellenberg,“ sagte Eva. „Ich habe
die letzten Wochen damit zugebracht, Michaels Papiere zu sichten. Ich
habe sie Ihnen mitgebracht. Sie sind in meinem Koffer.“

Es waren Michaels Aufzeichnungen, seine Pläne, Entwürfe, Notizen,
Manuskripte, Aufsätze, Vorträge. Noch am gleichen Abend begann Eva ihm
Stück für Stück vorzulesen und zu erläutern.

„Und dies hier,“ sagte Eva, „schrieb er in den letzten Tagen seiner
Krankheit. Es ist sein Testament. Er muß es geschrieben haben, wenn ich
schlief.“

Mit fiebernder Hand hatte Michael diese Aufzeichnungen hingeworfen. Sie
waren nur für Eva lesbar.

„Lesen Sie, lesen Sie,“ bat Wenzel.

Und Eva las:

„Neue Welt, Erde glücklicher Geschlechter. So wird es sein und nicht
anders. Der große Tag wird kommen, und er ist nicht mehr ferne.

So wird es sein. Mitten auf dem Meere kommen sie zusammen, alle
Kriegsschiffe der Erde, begleitet von einer Flotte von Schiffen, die die
weiße Flagge zeigen. Und man wird die Kriegsschiffe in die Tiefe des
Meeres versenken, und die Menschen auf den Begleitschiffen werden
jubeln, und der Funke wird es dem Erdball verkünden, daß der Augenblick
des großen und ewigen Weltfriedens gekommen ist.

Auf dem Lande, in allen Ländern wird man Geschütze und Kriegsgerät zu
Pyramiden häufen und verbrennen, und die weiße Flagge wird im Winde
wehen.

So wird es sein. Es wird keine Grenzen mehr geben, und der Mensch,
gleich welcher Farbe und welcher Rasse, wird sich bewegen können auf
dieser Erde, wo er will.

So wird es sein. Die Rohstoffe der Erde werden allen Völkern gehören und
nach Bedarf verteilt werden.

So wird es sein. Die Heere der Freiwilligen aller Nationen, die
Jünglinge werden hinausziehen in die Welt und künftigen Geschlechtern
die Wohnstätten bereiten. Sie werden die Urwälder des Amazonenstromes
und die Urwälder des Kongos in fruchtbares Land verwandeln. Sie werden
die Wüsten kultivieren, es wird keine Wüsten mehr geben.

So wird es sein. Es wird keinen Haß mehr geben zwischen den Völkern,
keinen Egoismus der Nationen wird es mehr geben, keine Bedrücker und
keine Unterdrückten, welcher Farbe sie auch seien. Der Welt-Bund wird
die Schicksale des Erdballs leiten, und geehrt wird nur der sein, der
die menschliche Glückseligkeit vermehrt und die menschliche
Arbeitsleistung mindert. Nicht zur Versklavung werden die Maschinen
gebaut werden, diese ungeheuren, unvorstellbaren Maschinen der Zukunft,
zur Befreiung der Menschen wird man sie erbauen. Wissenschaft und Kunst
werden blühen. Und die Weisheit wird höher im Range stehen als Reichtum
und Geburt.

Dann wird der Tag kommen, da die Menschen das verlorene Paradies
wiederum gefunden haben werden, nach tausendjährigen Qualen und
tausendjährigen Verirrungen.

Die Erde wird ein Paradies glücklicherer Geschlechter sein. Es wird
keinen Hunger und kein Elend mehr geben, und die Kameradschaft wird die
Religion aller Menschen sein.

So wird es sein und nicht anders!“

                   *       *       *       *       *

Eva ging auf dem Hofe hin und her, die schmalen Hände auf dem Rücken,
und betrachtete mit großen, stillen, aufmerksamen Augen die Arbeit der
Werkleute. Sie blieb heute, sie blieb morgen, sie traf keine Anstalten
zu gehen. Sie bemühte sich, Wenzel nicht im Wege zu sein, ihm nicht
lästig zu fallen, und doch war sie fast immer in seiner Nähe. Sie hörte
Michaels Stimme in Wenzels Stimme. In seinem Gang erkannte sie Michaels
Gang. Aus Wenzels Gesicht blickte, nur für sie erkennbar, Michaels
Gesicht.

Eines Tages sagte sie: „Es gefällt mir hier auf Schwarzlake, Herr
Schellenberg. Haben Sie Arbeit für mich, so möchte ich gern bleiben.“

„Bleiben Sie, Eva,“ erwiderte Wenzel. „Es gibt hier viel Arbeit, auch
für Sie.“

Still und schweigsam saß Wenzel in der Nacht auf der Treppe, den Hofhund
zur Seite, und blickte in die Dunkelheit hinaus.

Immer mußte er an Michael denken und an sein Testament, das Eva
abgeschrieben hatte und das er auswendig konnte.

„Vielleicht,“ dachte er, „war Michael mehr als ein Träumer, vielleicht
war er ein Seher. Vielleicht sind seine Gesichte morgen Wahrheit, und
die billigen Wahrheiten der Zweifler sind vielleicht morgen zuschanden.“

Schon graute es im Osten, und über die schwarzen Weiher stieg sanft die
Morgenröte eines neuen Tages empor.


                                  Ende




                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 29]:
   ... „Ich freue mich, daß es ihnen gut geht, Katschinsky,“ ...
   ... „Ich freue mich, daß es Ihnen gut geht, Katschinsky,“ ...

   [S. 41]:
   ... Gesindel, daß vor nichts Respekt hat. Hier in dieser ...
   ... Gesindel, das vor nichts Respekt hat. Hier in dieser ...

   [S. 174]:
   ... auf Schellenberg. Aber Wenzel schien der Aktion gar nicht ...
   ... auf Schellenberg. Aber Wenzel schien der Auktion gar nicht ...

   [S. 249]:
   ... zu haben, als ich von Heines Versen sprach und sie bat, ...
   ... zu haben, als ich von Heines Versen sprach und Sie bat, ...

   [S. 392]:
   ... werden. Er ließ sich dort alles mögliche arrangieren. Sie ...
   ... werden. Es ließ sich dort alles mögliche arrangieren. Sie ...

   [S. 453]:
   ... Schwarzlake. Er hatte das Gute nie gesehen. Es war seine ...
   ... Schwarzlake. Er hatte das Gut nie gesehen. Es war seine ...


*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE BRÜDER SCHELLENBERG ***

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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
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or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation's website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without
widespread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
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