Der Tor: Roman

By Bernhard Kellermann

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Title: Der Tor

Author: Bernhard Kellermann

Release Date: January 20, 2013 [EBook #41882]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER TOR ***




Produced by Jens Sadowski








Der Tor


Roman
von
Bernhard Kellermann

Achte Auflage


S. Fischer, Verlag, Berlin
1913


Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1908 S. Fischer, Verlag, Berlin.




Erster Teil





Erstes Kapitel


Jener junge Mann, um den es sich hier handelt, ein schlichter junger Mann,
wie es deren Tausende gibt, traf gerade zu einer Zeit in der kleinen
fränkischen Stadt ein, als sich alle Welt in der größten Aufregung befand.

Ein Dienstmädchen nämlich, eine brave und beliebte Person, die jeder
hundertmal mit ihren roten Backen und dem Mund voll weißer Zähne gesehen
hatte, nahm sich das Leben. Sie war nicht zur Stelle, als man sie rief; man
wartete, suchte und fand sie erhängt auf dem Speicher. Aber das war nicht
alles. Dieses Dienstmädchen mit den roten Backen und weißen Zähnen, diese
ordentliche, unschuldig aussehende Person hatte zuvor ein Kind geboren und
es in ihrer Kammer versteckt. Sie hatte das Kind in ein Körbchen gebettet
und in die Ecke hinter einen Schrank gelegt. Ein Gesangbuch lag dabei, ein
goldenes Kreuzchen, ein silberner Ring mit einem winzigen blauen Stein. Das
Kind war in ein weißes seidenes Tuch gehüllt. In die Wand, oberhalb des
Körbchens, hatte sie eine Unmenge von Kreuzen geritzt, einen ganzen
Friedhof. Plötzlich nun schrie das Kind jämmerlich in der Kammer der Magd.
Ja, da schreit ja ein Kind, sagten die Leute, in ihrer Kammer! Und die Frau
des Hauses, Frau Häberlein, die Gattin des Bezirksamtmannes, fand das Kind
in der Ecke. Es war in ein seidenes Tuch eingehüllt, das die Frau des
Hauses dem Dienstmädchen einige Wochen vorher zu Weihnachten geschenkt
hatte. Ein fast neues, feines Tuch.

Die Stadt geriet mehr und mehr in Aufregung. Man riß die Fenster auf und
rief: Was ist denn wieder? Ein Kind, sie haben ein Kind in ihrer Kammer
gefunden! Zwei barmherzige Schwestern schwebten über den Marktplatz und
verschwanden im Hause des Bezirksamtmannes. Sie trugen das Kind in das
Waisenhaus.

Aber damit war es noch nicht zu Ende. Plötzlich hörte man ein Geschrei auf
der Straße, ein schreckliches Geschrei, und man sah eine verschrumpfte,
alte Frau, ein winziges Etwas von einer alten Frau, in großen Filzsocken
durch die Straßen rennen. Sie lief in das Haus des Bezirksamtmannes,
erschien wieder schreiend, lief zum Westtor und zurück zum Osttor, hin und
her, und immer tauchte sie wieder auf und ihr Geschrei und entsetzliches
Weinen schien überall zu sein und plötzlich dicht unter den Fenstern aus
dem Erdboden zu dringen. Die Leute öffneten die Fenster: Beruhigen Sie sich
doch! sagten sie. Sie sagten es mit eindringlicher, tiefer Stimme; sie
sagten es weich und tröstend. Aber die kleine alte Frau sah nichts, hörte
nichts. Sie schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, rannte Straße auf,
Straße ab und schrie, schrie.

Vor dem Westtor gab es eine Szene. Hier kam ein Fleischergeselle auf einem
Karren angefahren, in dem ein Rudel kleiner Schweine saß. Arbeiter,
Handwerker stellten den Wagen und fielen mit den Fäusten über den Gesellen
her. Der Bursche wehrte sich so gut er konnte und brüllte, daß man es bis
in die Stadt hinein hörte. Die kleinen Schweine steckten die Schnauzen
durch das Gitter und quiekten. Zwei Stadtsoldaten nahmen den
Fleischergesellen in Schutz, man hätte ihn sonst erschlagen. Ich bin nicht
schuld! schrie er. Sie führten ihn zur Sicherheit aufs Stadthaus. Auf dem
Wege dorthin begegneten sie der alten, kleinen Frau, die in ihren
Filzsocken hin und her rannte. Das ist er! riefen die Leute und deuteten
auf den Burschen. Aber die schreiende Frau sah und hörte nichts, sie schrie
und rannte weiter.

Man sprach den ganzen Abend und den folgenden Tag von nichts anderm als dem
Dienstmädchen und dem Kinde und der kleinen schreienden Frau. Es gab
förmliche Redeschlachten und erregte Szenen. Man verurteilte, verteidigte,
mutmaßte, und in dem Abendzug, der von der Nachbarstadt zurückkehrte, wäre
es beinahe zu einer richtigen Schlägerei gekommen. Da war ein Lehrer, ein
entlassener Volksschullehrer, ein riesenhafter Mann mit einem schwarzen,
wilden Kopf, der den Zorn aller Reisenden herausforderte. Er sagte, es wäre
nun genug, immer nur dieses Dienstmädchen und nichts als dieses
Dienstmädchen, eine solch alberne, beschränkte Person --

Kurz und gut, damit begann es.

»Genug nun von dieser albernen, beschränkten Person, die sich wegen eines
Kindes und eines untreuen Geliebten aufhängt,« schrie er. »Genug und
abermals genug --« Aber da erhob sich ein solcher Tumult in dem überfüllten
Coupé, daß man nicht verstand, was er sonst noch sagte, trotzdem er mit
einer ungeheueren tiefen Stimme wie eine Baßtrompete wetterte. Eine Bäuerin
in Trauerkleidern, die bis jetzt ruhig dagesessen war, stand plötzlich auf
und stieß eine Menge Schimpfwörter heraus, einen ganzen Strahl von
Schimpfwörtern, allein ihre Stimme schnappte über, man hörte nichts als
Gekreische. Sie schüttelte einen dünnen raschelnden Blechkranz in der Hand
und machte Miene auf den Lehrer loszufahren; ein starker Geruch von Schmalz
und saurer Milch drang aus ihren Kleidern. In der Mitte des Abteils saß ein
jüdischer Viehhändler, ein dicker, fetter Kerl mit Brillantringen an den
Händen und Stallmist an den Stiefeln, der vor Vergnügen auf- und abtanzte
und mit den Händen seine kurzen, fetten Schenkel bearbeitete. Er lachte,
daß ihm das Wasser aus den Augen sprang und stieß einen hohen gurgelnden
Laut hervor, ähnlich einer Turteltaube, während er hin- und herschaukelte
und die Leute zu beiden Seiten zusammendrängte. Im Nebenabteil hatte sich
eine Dame erhoben, sie blickte über die Trennungswand, drehte den Kopf hin
und her in einer bauschigen Boa aus schillernden Hahnenfedern und lächelte
mit tief herabgezogenen Mundwinkeln. »Pfui!« rief sie, »Pfui! Welch
entsetzliche Roheit. Pfui!«

Der Lehrer stand ruhig im Lärm und lächelte. »Sie vergeben, meine Dame!«
wandte er sich mit einer Verbeugung zu dem Kopfe, der sich noch immer in
der bauschigen Federboa hin und her drehte. »Aber ich denke, wenn dieses
Dienstmädchen, diese Margarete Sammet oder wie sie heißen mag, mit Ruhe und
Überlegung, mit Stolz --«

Aber man unterbrach ihn. »Ruhe! Ruhe!«

»Die Herrschaften müssen doch einräumen --«

Man räume nichts ein, gar nichts räume man ein! Alle schrien und der Lehrer
lachte und zuckte die Achseln. Der jüdische Viehhändler schaukelte auf und
ab, so sehr gurrte er, und schließlich bekam er einen brüllenden
Hustenanfall, der jedes andere Geräusch verschlang.

In diesem Augenblick hielt der Zug und unwillkürlich wurden alle still.
Aber sobald sich die Laterne in der Nacht draußen schwang und die Maschine
heulte, begann der Lärm von neuem. Eine heisere Stimme arbeitete sich
mühsam durch das Getöse.

»Davon war ja gar nicht die Rede!« sagte ein Mann mit aufgeblähtem Hals,
ein Schuhmachermeister, und riß die Augen so weit auf, daß man fürchtete,
sie fielen heraus. »Wir sprechen vom Dekan, vom Pfarrer, von der
Beerdigung.«

»Ich würde sie auch nicht beerdigen!« sagte der Lehrer mit ruhigem Baß und
der Kopf der Dame mit der Boa schnellte augenblicklich wieder empor.

»Schweigen! Schweigen!«

Der Viehhändler riß den Mund auf, um laut zu schreien, wurde aber im
gleichen Moment vom Sitze geschleudert, die Bäuerin mit dem Blechkranz und
alle auf der einen Bank flogen in die Höhe. Ein runder schwarzer Korb
rollte aus dem Netz und fiel dem Händler auf den Rücken. Die Bremsen waren
plötzlich angezogen worden, der Zug hatte sich kaum in Bewegung gesetzt
gehabt.

Es wurde still und eine Stimme in der Dunkelheit draußen rief: »Ja, weshalb
schlafen Sie denn, wenn Sie mitfahren wollen, Sie! Ein solcher Tölpel --
marsch!« Die Coupétüre sprang auf und ein junger Mann wurde
hereingeschoben. Hut und Mantel des jungen Mannes waren beschneit und mit
Eiskörnern bedeckt, wie sie entstehen, wenn man sich lange in der Kälte
aufhält. Er zog einen roten Reisesack nach sich, beugte sich zum Fenster
hinaus und rief: »Vielen Dank, mein Herr!« Der Zug fuhr wieder. Alle sahen
auf den jungen Mann, dessen Augen von Schlaf, Ermüdung und Kälte gerötet
waren. Er kniff die Augen zusammen, blickte durch die Wimpern, die
auffallend lang und dicht waren, in den Tabaksqualm und schob sich behutsam
mit seiner Reisetasche zwischen den Stiefeln, Knien, Packen und Säcken
hindurch.

»Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er leise, ohne die Lippen zu öffnen,
»vielleicht erlauben Sie mir --«

Alle Augen folgten seinem Reisesack. Es war ein gestickter Reisesack. Auf
einem abgewetzten roten Grund war eine Henne gestickt, die auf farbigen
Eiern brütete. Sie hatte einen ziegelroten, flammenden Kamm und als Auge
eine große schwarze Perle. Mit diesem roten Kamm und schwarzen Auge sah sie
herausfordernd und zornig aus. Über ihr stand in weißen Perlen: Glückliche
Reise. Der Viehhändler deutete auf den Reisesack und gluckste, und alle
begannen plötzlich über die herausfordernd und zornig dasitzende Henne zu
lachen. Nur der Lehrer blieb ernst, er sah sich aufmerksam den Reisenden
an.

Der junge Mann fand ein schmales Plätzchen in der Ecke, er machte sich so
dünn als möglich, nahm den Hut ab und legte ihn aufs Knie, knöpfte den
Mantel eng zu und schloß sofort die Augen.

Der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals betrachtete mit einem
raschen Blick die vom Schnee rotgebeizten Stiefel des jungen Mannes, dann
ließ er wieder die aufgerissenen Augen von einem zum andern gleiten und
schrie:

»Ist das nicht -- meine Herren -- hören Sie! Ist das nicht empörend! Der
Dekan will sie nicht beerdigen. Nein, er will sie nicht beerdigen!«
wiederholte er und rollte die Augen.

Der Lehrer lachte belustigt.

»Schweigen Sie!« schrie der Schuhmachermeister empört und deutete auf den
Lehrer. »Ja, Sie, Sie sollen schweigen! Ich finde es unbegreiflich! Er
beerdigt sie nicht. Wie einen Hund wird man sie einscharren, kein
Glockengeläute, kein Gesang, kein Segen.« Tränen traten in seine großen
Augen. Er zog die Dose heraus und schnupfte. »Keine geweihte Erde!« fügte
er hinzu. Die Bauernfrau in Trauerkleidern jammerte. »Oh du lieber guter
Himmelsvater --«

»Es wird sich nicht mit den Kirchengesetzen in Einklang bringen lassen,«
sagte der jüdische Händler, »so scheint es mir -- die Kirchengesetze --
eben --«

Hier begann der Schuhmachermeister sich vollständig zu verändern. Er
schwoll an, sein Hals, sein Gesicht, er wurde dunkelrot, und mit den
stierenden großen Augen hatte er Ähnlichkeit mit einem jener rotlackierten
chinesischen Götzenbilder. Er sah aus, als wolle er den Händler vernichten,
aber im letzten Momente schrumpfte er zusammen, er beugte sich zu dem
Händler und reichte ihm mit übertriebener krampfhafter Freundlichkeit die
Dose. »Mein Freund!« zischelte er. »Mein Freund, Kirchengesetze, ich bitte
Sie! Kirchengesetze hin, Kirchengesetze her. Gehen Sie zum Henker, mein
verehrter Herr, mit Ihren Kirchengesetzen. Kirchengesetze? Ich will Ihnen
--«

»Ich will Ihnen mal einen Fall erzählen,« unterbrach ihn der Händler, die
Prise Tabak auf dem Daumen.

»Lassen Sie mich mit Ihrem Fall in Teufelsnamen in Ruhe. Ich sage Ihnen,
die Mutter, hören Sie, eine alte, kleine, eine arme kranke Frau, rannte wie
verrückt herum und schrie, verrückt, ich wiederhole. Sie lief also ins
Pfarrhaus, obwohl sie doch wissen sollte, daß unser Pfarrer gestorben ist.
Sie klopft also, trommelt an die Tür, schreit, jammert. Er ist ja
gestorben, der alte Hummel, sagten sie, ja, bei allen Heiligen, Sie wissen
doch, daß er gestorben ist, vor einem Monat, Sie waren ja selbst bei der
Beerdigung. Aber die Frau, hören Sie, sie verstand kein Wort, sie klopfte,
pochte, hämmerte an die Tür. Sind Sie denn ganz verrückt, sagten sie, wie
kann er aufmachen, wenn er tot ist? Es ist niemand da, keine Seele, der
neue Pfarrer ist ernannt, aber er ist noch nicht da. Gehen Sie nach
Weinberg, zum Dekan, er hat die Verwesung, gehen Sie dahin. Sie lief also
nach Weinberg -- sie lief eine Stunde weit im Schnee, geängstigt, gehetzt,
verzweifelt -- sie lief und lief -- sie stellte sich vor das Haus des
Dekans und schrie. Meine liebe Frau, sagt der Dekan -- Gesundheit, Sie
beniesen es -- meine liebe, gute Frau, es tut mir leid. Hören Sie in
Teufelsnamen, ich brauche also gar nicht erst Ihren Fall zu erfahren --
lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Fall, lassen Sie mich in Ruhe und Frieden
damit -- diese verzweifelte Frau wirft sich ihm zu Füßen, jammert, schreit.
Aber alles ist umsonst, für die Katze, alles. Meine liebe gute Frau, sagt
der Dekan, ich kann nicht. Es ist unmöglich. Ja, wenn der Lebenswandel
Ihrer Tochter -- ich kann nicht -- ich sage, der Lebenswandel Ihrer Tochter
-- es tut mir leid. Die alte Frau, eine Greisin, grau, alt, ein
beklagenswertes Mutterherz, wirft sich ihm zu Füßen, beschwört ihn in des
Heilands Namen, aber er sagt, liebe, gute Frau, trösten Sie sich -- des
Allmächtigen Wege sind unerforschlich --«

»Da sehen Sie eben die Vorschriften!« sagte der Händler und nieste
dröhnend, indem er Mund und Nasenlöcher und Augen läppisch aufsperrte und
das Coupé mit sprühendem Dunst anfüllte.

»Die Frau Dekan hat der verzweifelten Mutter eine Tasse Kaffee angeboten,
es sind gute Menschen -- aber eine Tasse Kaffee macht ihr die Tochter nicht
lebendig, eine Tasse Kaffee ist kein Trost für ein verzweifeltes
Mutterherz, keine Einsegnung.«

Hier wurde der Schuhmachermeister von einem Herrn mit langem messinggelben
Schnurrbart und großer Glatze, Postadjunkt Kaiser, unterbrochen. »Sie hat
ihn zurückgewiesen, den Kaffee«, sagte er. »Die Frau Dekan hat es mir
selbst erzählt. Mein Mann kann nicht, es ist unmöglich«, sagte sie.

Der Händler nieste zweimal, leckte sich den Bart und sagte:

»Die Kirchenverordnung meine Herrn, es steht fest, die Kirche muß einen
Unterschied machen zwischen einem Selbstmörder und einem anständigen
Menschen --« Der Lehrer ließ ein lautes Lachen hören -- »zwischen einem
Mädchen, das außerehelich entbindet und einer, sagen wir, einer
barmherzigen Schwester --«

Aber der Schuhmachermeister mit dem Blähhals fiel ihm ins Wort. »Hören Sie
auf!« zischte er und sein Gesicht schwoll an, als werde es von einer
unsichtbaren Macht bis zum Zerplatzen aufgeblasen. »Was verstehen Sie? Ich
sage, solch ein Jammer, eine alte arme Frau, die nahe daran ist, den
Verstand zu verlieren, ja, vielleicht hat sie ihn schon verloren? -- Sie
kniet vor dem Pfarrhaus und schreit wie besessen, sie rennt in alle Häuser
und bittet die Leute zu bezahlen -- die Kosten zu bezahlen -- ein jeder ein
wenig, dann ginge es. Sie will ja alles zurückbezahlen --«

Die Stimme eines kleinen graubärtigen und sauber gekleideten Mannes, der
sich bisher mit keinem Worte an dem Gespräche beteiligt hatte, sagte: »Der
Herr Dekan wird recht wohl wissen, was zu tun ist!« Die Stimme sprach so
bestimmt und die Kinnladen des alten Herrn bewegten sich mit solcher Würde,
daß alle auf ihn hören mußten. »Weshalb also ereifern Sie sich so, meine
Herren? Die Kirche kann ihre Segnungen nur Gliedern derselben angedeihen
lassen, die sich ihrer würdig zeigen. Ein Mädchen jedoch, das einen solch
unzüchtigen Lebenswandel führte und zuletzt zu all den Sünden noch jene des
Selbstmordes fügte, ist meines Erachtens dieser Segnungen unwürdig --
unwürdig, voll und ganz --«

Der Lehrer, der in der Mitte des Abteils stand, funkelte mit den
Brillengläsern und brach in ein lautes lustiges Lachen aus, der alte Herr
hielt inne und starrte ihn mit offenem Munde an. Diese Pause benutzte der
Schuhmachermeister. Er rollte die Augen und schrie zu allen gewendet:

»Sodann also rannte die alte Frau, dieses gepeinigte Mutterherz, zu dem
katholischen Geistlichen. In des Heilands Namen, helfen Sie mir! Aber der
geistliche Rat sagt, es tut mir leid, liebe Frau, gehen Sie zum Herrn Dekan
nach Weinberg. Ich habe hier nichts zu tun!« Er schlug die Hände zusammen
und ließ die Augen fragend von einem zum andern wandern.

Der graubärtige Herr hatte sich von seiner Verblüffung erholt und nahm das
Wort wieder auf. »Ich selbst habe Angehörige auf dem Friedhof liegen,«
sagte er, »ich glaube den Herrschaften bekannt zu sein -- Messerschmied
Ulrich, eingesessener Bürger und Magistratsrat -- ich wünsche nicht, daß
meine Angehörigen in der gleichen geweihten Erde ruhen mit einer Person --
nun, ich habe nicht zu richten -- aber es ist in Ordnung, was der Herr hier
sagt: Es muß ein Unterschied herrschen! Wer unwürdig ist, ist unwürdig.«

O Gott, o Gott, jammerte die Bäuerin in Trauerkleidern.

»Hier!« schrie der Schuhmachermeister, »hier sitzt sie! Hier sitzt eine
Tante von ihr! Sie muß so etwas mit anhören!«

Der Händler sagte: »Ein Unterschied muß herrschen, das ist klar!«

Da erhob sich der Schuhmachermeister und schrie zornig: »Was verstehen denn
Sie, wie? Sie als Israelit, was verstehen Sie?« Das rief ein lautes
Gelächter hervor. »Nein!« fuhr der Schuhmachermeister fort und dämpfte die
Stimme. »Ich kann dem Herrn Dekan nicht recht geben und auch Ihnen, Herr
Rat Ulrich, auch Ihnen kann ich nicht recht geben, niemals, niemals!« Er
flüsterte.

Messerschmied Ulrich zuckte die Achseln. »Ich äußerte nur meine bescheidene
Meinung!« sagte er und ein böser Glanz kam in seine Augen. »Ich gebe dem
Herrn Dekan vollkommen recht und kann auf keinen Fall dulden, daß man eine
Behörde öffentlich in dieser beleidigenden Weise kritisiert. Das ist meine
Meinung! Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!«

»Ja, Gott helfe ihm, Amen!« sagte lachend der Lehrer. »Gott helfe dem Herrn
Messerschmied Ulrich, eingesessenen Bürger und Magistratsrat und mache ihn
selig, Amen! Er kann nicht anders! Er hat gestritten für die gute Sache und
sein Leben dabei aufs Spiel gesetzt! Gott helfe ihm! Hahaha! Aber die
Wahrheit ist die, meine Herrschaften, daß morgen Hochzeit auf Schloß Bruck
ist, der Dekan hält die Trauung. Hohe Herrschaften kommen von allen
Himmelsgegenden, nach der Feier ist großes Diner, bei dem der Herr Dekan
beileibe nicht fehlen kann. Das ist -- hol' mich der Teufel! -- der Grund,
weshalb er so standhaft und mutig die in der Erde ruhenden Bürger, Ulrich
und Konsorten verteidigt. Im übrigen kann er nicht da und dort sein, das
versteht sich von selbst.«

Der dicke Händler ließ wiederum den hohen gurrenden Laut hören, ähnlich
einer Turteltaube, und sein Bauch begann zu zittern. Er zog ein gelbes
Taschentuch heraus, eine Art Fahne, die für einige Zeit durchs ganze Coupé
flatterte und einen Staubregen von Schnupftabak, Brotkrumen und andern
Dingen ausstreute; dahinter verbarg er sich.

Aber, was der Lehrer doch daher schwätze! Der neue Vikar sei ja angekommen
-- he! -- hier, Kaiser habe es erzählt!

»Ja, ich habe ihn gesehen!« sagte der Adjunkt und wischte sich etwas
unsicher den langen messinggelben Schnurrbart. »Auf Ehre! Er sieht wie ein
Offizier in Zivil aus, schwarzer Schnurrbart, Zylinder. Im übrigen hat mir
die Frau Dekan erzählt, daß es der neue Vikar ist. Aber ich bitte Sie,
meine Herrn -- das ändert an der Sache ja nichts. Der Dekan ist sein
Vorgesetzter und er hat zu gehorchen, fertig!«

»Also, trotzdem ein Verweser da ist, trotz alledem, das ist ja -- das ist
ja --« sagte ratlos der Schuhmachermeister.

Der Lehrer lachte. »Alterieren Sie sich nicht, mein Freund!« sagte er. »Ich
gebe Ihnen die Versicherung, daß es dem Dienstmädchen ganz gleichgültig
ist, ob man sie einsegnet oder nicht, ob man sie beerdigen wird wie einen
eingesessenen, ehrenhaften Bürger oder nicht.«

»Wie? Wie?«

»Sie hat, was sie will. Sie ist tot. Basta! Und gesetzt den Fall, daß es
einen Himmel gibt -- was ich für meine Person nicht glaube -- so ist es
einerlei, ob sie erster, zweiter oder dritter Klasse beerdigt wird. Sie
kommt hinein, ob ihr der Herr Dekan von Weinberg einen Empfehlungsbrief
mitgibt oder nicht. Oder? Deshalb sage ich, ich würde sie auch nicht
kirchlich beerdigen -- ganz wie der Magistratsrat Herr Ulrich -- ebenfalls
nicht, nein!«

»Wie? Wie?«

»Nein, denn es ist ja absolut einerlei, absolut einerlei. Ich für meine
Person verzichte freiwillig auf jede Einsegnung, ja, ich verbiete diesen
Pfarrern, Vikaren und geistlichen Räten, sich überhaupt einzumischen. Ich
will nicht einmal etwas zu tun haben mit dieser Gesellschaft!«

»Wie? Wie? Ja, da hört sich denn doch --«

Ein unbeschreibliches Getöse entstand. Einige sprangen auf, und der Kopf
der Dame tauchte wieder hinter der Scheidewand empor und drehte sich empört
hin und her. Der Händler schaukelte vor Vergnügen hin und her und der
Schuhmachermeister saß wie niedergeschmettert da und starrte mit großen,
leeren Augen auf den Lehrer.

Der Lehrer antwortete mit einem dröhnenden Gelächter.

Aber hier nahm die Sache plötzlich eine Wendung.




Zweites Kapitel


Der Messerschmied Ulrich nämlich stand auf. Er stand auf und trat auf den
Lehrer zu. Sein Kinn und sein grauer Bart, der lang und schmal war und
Ähnlichkeit hatte mit einem Zopfe, fingen an zu zittern, noch ehe er zu
sprechen begann.

»Herr!« sagte er dann. »Herr!« sagte er dann. »Herr! Ich sage, Sie haben --
Herr! -- Sie gehörten früher einem Stande an, einem gebildeten Stande --
ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten! Nein! Sie haben sich --
erfrecht -- jawohl, erfrecht, die mir teuern Toten auf dem Gottesacker zu
bespei -- bespeien, jawohl! -- Aber nicht genug damit -- Sie haben sich
erfrecht, die Religion und ihre Priester zu verhöhnen. Das ist mir zuviel!«
Der Lehrer lächelte gutmütig, und der Messerschmied schöpfte tief Atem,
wurde blaß und wiederholte einigemal keuchend: »Das ist mir zuviel!« Und
sein Bart zitterte.

Der Lehrer winkte nachlässig mit der Hand und sagte mit ruhigem Lächeln und
gutmütigen Augen hinter den Brillengläsern: »Beruhigen Sie sich doch,
Verehrtester! Sie können sich in Ihrer Gesundheit schädigen.«

Jedoch der Messerschmied Ulrich gehörte dem Stadtrat an und war überhaupt
ein Mann, der keinen Spaß verstand.

»Wie?« schrie er pfeifend. »Wissen Sie auch, mit wem -- mit wem -- Sie
sprechen? Und erinnern Sie sich vielleicht, was Sie, wer Sie eigentlich
sind?«

Der Lehrer lächelte und sein gleichsam von einem braunen Firnis überzogenes
Gesicht nahm einen gütigen, väterlichen Ausdruck an. Seine Augen waren von
verschiedener Größe, das größere betrachtete erstaunt den Messerschmied,
das kleinere lachte ihn lustig an.

»Fragen Sie mich, junger Mann?« sagte er endlich.

»Junger --!«

»Ich sage vergleichsweise: junger Mann,« fuhr der Lehrer fort, »denn Sie
sind ja mir gegenüber noch sehr jung, eine Art Säugling, möchte ich sagen,
ja, noch ungeboren -- in der Tat! Ich meine, ob Sie mich fragen?«

»Ob ich Sie frage?« antwortete der Messerschmied und seine Stimme zitterte,
als ob ihn jemand unausgesetzt auf den Rücken klopfe. »Ja, gewiß, ich frage
Sie! Ich möchte das zu gerne wissen!«

Der Lehrer kämmte mit der Hand den langen, knisternden, schwarzen Bart und
schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich nun fragen -- und Sie fragen mich doch,
nicht wahr? -- so kann ich Ihnen wohl antworten, aber es tut mir leid für
Sie, denn ich sage keine Schmeichelei: Sie sind eine Art Scherenschleifer
und ich bin ein Edelmann!«

Es wurde ganz still und man hörte die Räder auf den Schienen stampfen. Der
jüdische Händler gluckste leise.

Der Messerschmied tat zuerst gar nichts. Es schien, als ob er nichts gehört
habe. Dann schüttelte er die Schultern, als sei ihm der Rock unbequem, er
schnitt eine Grimasse, zischelte und plötzlich verbeugte er sich tief vor
dem Lehrer. Er lachte meckernd und sagte mit wütender, zitternder Stimme:

»Gut! Sie mögen im Recht sein, Herr Edelmann -- mein Herr Edelmann. Sie
mögen zehnmal im Recht sein -- aber, wenn Sie ein Edelmann sind -- was hier
von all diesen Herren niemand bezweifelt -- ach, nein, nein, niemand
bezweifelt es -- ach, du gütiger Himmel, nein, nein! -- so werden Sie
gefälligst, Herr Edelmann, zuvor Ihre Schulden bezahlen. Nicht wahr, Sie
werden zuvor Ihre Schulden bezahlen, mein Herr Edelmann. Sie erinnern sich
vielleicht, daß Sie mir seit sechs Jahren -- seit sechs Jahren! -- neun
Mark und fünfzig Pfennig schuldig sind! Bitte! Ich weiß nicht, wo Ihr
Schloß liegt oder Ihr Besitztum -- also, bitte sehr, bitte!«

Gelächter. Er streckte die bebende Hand hin und musterte mit übertrieben
spöttischer Miene den Lehrer vom Kopf bis zum Fuße. Der Lehrer war ohne
Kragen, ein Tuch war um seinen braunen Hals geschlungen. Wie sein Gesicht,
so war seine ganze Kleidung verwettert und verwildert, seine Schuhe
klafften und man sah die nackten Füße, die Ärmel waren an vielen Stellen
zerrissen und mit unordentlichen Stichen zusammengenäht.

Der Lehrer blickte mitleidig lächelnd auf die bebende Hand des
Messerschmieds und schüttelte den haarigen Kopf. »Ist das Ihr Ernst?«
fragte er voller Bedauern, im tiefsten Baß.

»Ja -- hähä -- das ist mein Ernst!«

»Wie leid es mir tut, daß Sie sich so in meine Hände liefern, mein Herr!«
sagte der Lehrer. »Aufrichtig gestanden, ja! Wie niedrig Sie doch denken,
Geld, Schulden und dergleichen Geschichten mit dem Begriffe Edelmann in
Verbindung zu bringen? Edelmann, mein Herr, das ist Noblesse, Weltgefühl,
Kraft, Genialität -- Dinge, von denen Sie noch gar nichts gehört haben,
nicht mehr als ein Hering vom süßen Wasser. Aber nun hören Sie: Ich bezahle
nie, nie mit Geld. Ich bezahle mit Liebenswürdigkeit, Geist, Humor.«

»Bitte, bitte!« heulte der Messerschmied und schüttelte die Hand.

»-- eine Münze, die für Sie gar nicht existiert, leider. Ich habe die halbe
Welt durchwandert, ohne zu bezahlen, Tatsache! Ich habe tausend Freunde in
der Welt, Edelleute, Fürsten -- ich bringe Glück und frohen Sinn in jedes
Haus -- man empfängt mich mit Freuden, man entläßt mich mit Tränen in den
Augen -- ich kann den ganzen Heine, Schiller, Goethe und Shakespeare
auswendig, jede Szene, die die Herrschaften nur immer wünschen -- wollen
Sie eine Probe? -- Nun, wollen Sie eine Probe -- he! Und nun Sie, ein
geborener Scherenschleifer, der alle Schaltjahre einen Gedanken hat, eine
krankhaft zur Menschenähnlichkeit aufgeblähte Blase, ein alter Hanswurst,
der dreißigtausend Siriusfernen abseits aller Kultur geboren ist --«

»Bitte, bitte!« heulte der Messerschmied unaufhörlich und schüttelte die
ausgestreckte Hand, daß seine Gummimanschetten rasselten. Alles lachte,
weniger oder mehr ungeniert, je nachdem man in freundschaftlicher Beziehung
zu dem Magistratsrat stand. Aus dem Lachen des Viehhändlers hörte man die
aufrichtige Freude eines fetten Menschen heraus.

Der Lehrer aber stand ruhig wie ein Turm inmitten des Gelächters, mit
seinem verwilderten schwarzen Kopf, seinem nußbraunen Gesicht, seinen
kindlichen gütigen Augen, und deklamierte lächelnd und in aller Ruhe mit
einer solch tiefen Stimme, wie man sie noch nie gehört hatte.

»Aha, ich sehe schon, Sie bestehen auf Bezahlung!« sagte er endlich. »Ich
habe nun zwar keinen Pfennig in der Tasche, arm wie eine nackte, junge
Ratte bin ich -- ich werde Sie trotzdem bezahlen, hier im Augenblick werde
ich Sie bezahlen, in diese Hand, Sie sollen sehen, Sie kostbare
Versteinerung, teuerste Essenz der bürgerlichen Gesellschaft,
Aushängeschild der Krämergilde, Sie werden es erleben, daß ich Sie bezahle.
Ehe Sie sich auch nur den Geruch Ihrer Lieblingsspeise vorstellen können,
wird das Geld auf Ihrer Hand liegen. Es ist Ihnen doch einerlei, woher ich
es nehme?«

»Bezahlen, bezahlen, Herr Edelmann!«

»Gut! Wieviel, sagten Sie? Neun Mark und fünfzig Pfennig, wenn ich richtig
hörte, nicht wahr? Schön. Sofort. Ich habe zwar keinen Heller in der Tasche
-- aber sofort.« Er wandte sich an die Anwesenden. »Wer ist so freundlich,
mir sofort neun Mark fünfzig Pfennig zu schenken -- zu schenken?« fragte er
und verneigte sich.

Gelächter. »Bitte, bitte!« wiederholte der Messerschmied, der sich dem
Siege nahe wußte.

»Seine Münze ist außer Kurs!« sagte der Viehhändler. »Hat er nicht selbst
gesagt, daß er niemals bezahlt?«

»Schenken, schenken -- meine Herrn?«

»Bitte, bitte!« triumphierte der Messerschmied. »Sie großes Maul von einem
Edelmann -- Sie Vagabond von einem Edelmann (er sagte Vagabond), bezahlen
Sie, haha -- so etwas von -- haha.«

»Geduld!« sagte der Lehrer. »Sofort werde ich Sie befriedigen, verehrter
Herr!« Er musterte spöttisch die Gesellschaft und zog mit der Hand den
schwarzen Bart herab, so daß seine roten Lippen zum Vorschein kamen. Sie
sahen aus, als pfeife er. Er rief über die Scheidewand ins Nebenabteil
hinüber -- »neun Mark und fünfzig -- schenken!« Aber man lachte und sagte
ihm Schmeicheleien.

»-- so etwas von einem großen Maul von einem Edelmann -- haha!«

Der Lehrer lächelte, er verlor nicht die Fassung. Er zuckte bedauernd die
Schultern und sagte: »Aus Kieselsteinen läßt sich kein Likör abziehen, ich
hätte das wissen sollen. -- Aber Geduld, Edler, wenn ich nicht sofort
bezahle, so sollen Sie sagen, ich sei eine Null, ein Loch, eine Einbildung,
ein eingesessener Bürger.« Damit wandte er sich an den jungen Mann, der in
der Ecke schlief.

Der junge Mann saß mit geschlossenen Augen. Die Lippen halb geöffnet, den
Hut auf den Knien, genau so wie er sich nach seinem Eintritt gesetzt hatte.
Er hatte dunkelbraunes weiches Haar, eine hohe Stirne, die weit über die
Augen vorsprang, sein Gesicht war fein, mager und lang, ohne Bart und von
jener weißlichen Hautfarbe, wie man sie oft bei Rothaarigen findet. Sein
Mund war knabenhaft und rot.

Der Lehrer näherte sich ihm und berührte seinen Arm mit der Fingerspitze.

Sofort schlug der Fremde die Augen auf, braune, sanfte Augen; nun sah sein
Gesicht auffallend schön und strahlend aus.

Der Lehrer verbeugte sich und wiederholte seine Bitte: »neun Mark und
fünfzig Pfennig, sofort. Wenn es dem Herrn möglich sein sollte.«

Gelächter.

Aber nun ereignete sich etwas, was alle verblüffte, nur den Lehrer nicht.
Der Fremde lächelte, richtete sich ein wenig auf und griff in die Tasche
und klimperte mit Geld. Es reichte nicht. Er errötete leicht, griff nach
dem gestickten Reisesack und öffnete ihn, tauchte mit der langen Hand
hinein und zog ein Taschentuch mit einem Knoten heraus. Den Knoten öffnete
er und es fand sich ein zusammengefaltetes Stück Papier darin Diesem Papier
entnahm er ein kleines Goldstück und gab es dem Lehrer.

»Danke!« sagte der Lehrer und verbeugte sich. Er wandte sich an den
Messerschmied. »Sie sehen, daß es noch immer Edelleute auf der Welt gibt.
Bitte, Herr Messerschmied Ulrich!«

Alle saßen mit aufgerissenen Mäulern und Augen und begannen erst zu lachen,
als der Messerschmied, der einen Augenblick nicht wußte, was er tun sollte,
das Goldstück einsteckte und fünfzig Pfennig zurückgab. Diese fünfzig
Pfennig überreichte der Lehrer dem Fremden, der sofort wieder die Augen
schloß und sich in die Ecke zurücklegte.

In der letzten Station -- Stadt Weinberg -- stieg ein Herr mit glänzendem
Zylinder und schwarzem gewichsten Schnurrbart ein. Adjunkt Kaiser grüßte
und rückte höflich zur Seite. Das Gespräch stockte. Dann wandte sich der
Viehhändler an den Herrn mit dem glänzenden Seidenhut.

»Verzeihen Sie mir die Kühnheit;« sagte er mit schmeichlerischer Stimme.
»Können Sie mir vielleicht Auskunft geben, ob man dieses Dienstmädchen,
diese Selbstmörderin, kirchlich beerdigen wird oder nicht?«

Der Herr mit dem Seidenhut legte die Stirne in Falten und sagte kühl: »Nein
-- soviel mir bekannt ist -- hat das Dekanat von einer Einsegnung Abstand
genommen.«

Er zog ein Notizbuch heraus und blätterte darin, um weitere Fragen
abzuschneiden.

Der Händler verneigte sich. »Danke!« Und er flüsterte den andern zu: »Nein,
nein.«

Der Schuhmachermeister nickte resigniert mit dem Kopfe und bot allen eine
Prise an.

Der Zug verlangsamte die Fahrt und schließlich schlief er ein und regte
sich nicht mehr. Als man hinaus sah, fand es sich, daß man weit draußen vor
der Station stehen geblieben war. Man war angekommen. Der erste, der
ausstieg, war der Herr im Zylinder, alle ließen ihm den Vortritt. Zuletzt
stieg der Fremde mit dem gestickten Reisesack aus.

Es war düster und kalt; nur wenige Laternen brannten in der kleinen
Station, die ganz im Schnee versank.




Drittes Kapitel


Der Fremde stieg aus und er wäre beinahe in den großen Filzhut gestiegen,
den der Lehrer vor ihm bis zur Erde schwang. Er lachte laut und fröhlich.

»Sie konnten sich wohl vorstellen, daß ich nicht verschwinden würde, ohne
Ihnen zuvor unter vier Augen gedankt zu haben!« sagte er und half dem
Fremden beim Aussteigen. Das heißt, er griff nach dem rechten, dem linken
Arm, der Achselhöhle des Fremden, ohne ihn jedoch zu berühren. »Erlauben
Sie Ihre Tasche -- bitte -- nur bis Sie richtig auf den Beinen sind.«

Der Fremde lächelte fein und gütig. »Danke, ganz und gar unnötig,« sagte
er. Er hatte schöne Augen, denn sie waren golden. Ihr klarer und
leuchtender Blick machte den Lehrer einen Moment lang betroffen. Der Fremde
sprach leise, als ob er sehr müde wäre. Er lächelte und sah den Lehrer an,
wie wenn er ihn schon Jahr und Tag kennte. Der Lehrer betrachtete ihn eine
Weile, er bog sogar den Kopf zurück, um ihn genau ansehen zu können; dann
stürzte er sich wieder auf die Reisetasche. Er strömte über von
Freundlichkeit und Diensteifer.

»Erlauben Sie, nur bis Sie über die Geleise sind!«

»Bitte, oh, ich kann ja selbst --« sagte der junge Mann und zog mit einer
geradezu lächerlichen Besorgnis die Tasche an sich, und verbeugte sich
leicht gegen den Lehrer. Er blickte sich um. Er sah die Leute an, die über
den beschneiten Bahnsteig eilten, er sah in die Höhe, nach rechts, nach
links, er sog die Luft ein. Jede Kleinigkeit schien ihn zu interessieren.

Aber der Lehrer verneigte sich abermals, zog den Hut und ergriff endlich
die Tasche. »Ich betrachte es als eine Auszeichnung, mein Herr!« sagte er.
»Welche Kälte, nicht wahr? Eine verfluchte, angenehme Kälte, bei allen
Teufeln! -- Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen,« fuhr er fort,
indem er unvermittelt seinem beweglichen, von vielen Falten durchzogenen
Gesicht einen ernsten Ausdruck gab. »Das war eine echte Edelmannstat!«
Seine kindlichen Augen leuchteten.

Der Fremde sah umher. »Aber die Sache ist ja nicht der Rede wert,« sagte
er.

Der Lehrer lachte. »Da haben Sie recht! Klar gesehen ist es etwas ganz
Selbstverständliches, ein Edelmann springt dem andern bei, ja, er springt
jedem bei, der in der Klemme sitzt. Ganz einerlei wer es auch sei, und sei
es der Teufel selbst. Aber trotz alledem, ich freue mich und danke Ihnen!
Wenn Sie nun nicht dagewesen wären -- nehmen wir an -- oder keine zehn Mark
gehabt hätten? -- Hol' mich der Teufel, wie wäre ich vor diesen
Scherenschleifern und Schuhflickern dagestanden. Es juckt mich immer, sehen
Sie, dieses Gesindel mit Worten niederzuschmettern, aufzudonnern -- zum
Beispiel, einmal wollte ein Lump von einem Gastwirt mich hinauswerfen,
buchstäblich hinauswerfen aus seiner Bude. Er hetzte den Hund auf mich!
Immer heran mit deinem gichtbrüchigen Hund, schrie ich und breitete die
Arme aus -- heran mit diesem Floh von einem Hund! -- Was glauben Sie, was
passierte? Es war eine Ulmer Dogge --«

»Nun?« fragte der junge Mann lächelnd.

»Haha, er riß mich zu Boden, buchstäblich, wie einen Pfahl rannte er mich
um -- aber, bin ich gegangen? -- Nein -- werde doch vor keinem Hunde
ausreißen -- hahaha!«

Auch der Fremde lachte.

»Dann hören Sie, einmal, da donnere ich also, donnere vor Wichten und
Schneidern und sage, ich bin ein Mann, der ein Pferd an den Zähnen in die
Höhe hebt und einen Kilometer weit damit springt. Hebe den Tisch, sagen
sie, hebe diesen Tisch. Ich hob diesen Tisch, ein schwerer Tisch, mein
Herr, ich hob ihn und brach mir einen Zahn dabei aus -- sehen Sie hier --
sehen Sie in der Mitte, diesen schönen Zahn, auf den ich immer stolz war,
brach ich mir ab -- aber ich hob den Tisch! Entschuldigen Sie einen
Augenblick!« Er wandte sich ab und zog den Hut vor einer jungen Dame mit
auffallend reichem schwarzen Haar und stolzem Profil, die, gefolgt von
einem Diener in ledergelber Livree, die Geleise überschritt. Der Diener war
mit Schachteln und Paketen beladen. »Guten Abend, gnädiges Fräulein!« sagte
der Lehrer und verbeugte sich mit großer Würde.

Die Dame aber schenkte ihm nicht die geringste Beachtung.

Der Lehrer lachte gutmütig und wandte sich an den Fremden. »Sie ist sehr
stolz? Haben Sie es bemerkt?« sagte er mit gedämpftem Baß. »Sie dankte mir
nicht, aber ich grüße sie -- erstens ist sie sehr schön und zweitens ist
sie eine Freundin meiner Tochter Susanna! -- Deshalb grüße ich sie und
deshalb werde ich sie immer grüßen, wenn sie mir auch hundertmal nicht
danken sollte. Denn, wer meiner Tochter Susanna nur zulächelt, den küsse
ich auch schon, sehen Sie,« fügte er mit einem leisen zutraulichen Lächeln
hinzu. »Geben Sie acht, eine Schiene. Welche Rattenfalle von einem
Bahnhofe, nicht wahr? Sie kommen in Geschäften in die Stadt, mein Herr?«

Der Fremde, der der Dame mit dem auffallend reichen schwarzen Haar
nachblickte, sagte: »Ja, man könnte es so nennen.« Und er nickte. Die Dame
verschwand.

Der Lehrer berührte die Schulter des Fremden. »Verzeihung!« Er lachte und
sein lautes, gesundes Lachen hallte in dem schmalen nach Papier riechenden
Gange wieder, den sie durchschritten. »Es war mehr eine Verlegenheitsfrage
als Neugierde. Ich hoffe aber, ja, ich wünsche Ihnen ganz speziell, daß Sie
nicht lange hier zu tun haben werden. Eine recht elende Stadt, von
bürgerlichem Volke bewohnt. Ohne Würde, ohne schöne Gebärde, ohne Ziel und
Wunsch, mit verächtlichen Maßstäben. Eine Grube voller Ausschuß, Scherben
von Menschen, wie in den meisten kleinen Städten, wo die geistige
Konkurrenz gleich Null ist und dickranzige Bürger jeden Gedanken in Grund
und Boden hineinlächeln. Sind Sie Sammler von Abnormitäten, so werden Sie
auf Ihre Kosten kommen. Gewissermaßen ein Museum von Bürgerlichkeit und
Dummheit. Aber was wollen Sie, verehrter Herr: Ein Kork kann sich so schwer
machen wie er will, er sinkt nicht unter! Dies ist wiederum eines meiner
dreitausend Sprichwörter über den Bürger.« Der Lehrer lachte zufrieden;
dann fuhr er fort: »Da haben Sie zum Beispiel den geistlichen Rat, fett wie
ein Schwein -- aber, ich bitte Sie, welch prächtiges kluges Geschöpf ist
ein Schwein im Vergleich zu ihm! Er treibt Teufel aus, am lichten Tag und
verbrennt sie auf einem Spirituskocher. Da haben Sie wimmelnde Beispiele.
Der Bürgermeister allein -- von einer Essenz aus ihm gewonnen, würde ein
einziger Tropfen hinreichen, ein Genie augenblicklich zu verblöden. Solch
eine Stadt ist das! Geist ist alles, sehen Sie, auf Moral pfeife ich!«

Der Lehrer war wieder im Schwunge. Er zog den Hut in die Stirne, so daß
sein halber Kopf darunter verschwand, sprach, gestikulierte, lachte, und je
länger er sprach, desto glücklicher und zufriedener sah er aus. Er streckte
die Arme bald gerade aus, bald gegen den Himmel, er wiegte sich hin und her
und drehte sich auf dem Absatze.

Vor dem Bahnhofe wartete eine Art Wagen, einer großen Hutschachtel ähnlich,
die ganz oben ein winziges Fensterchen hatte. Aus dem Fenster blickte das
fette, zufriedene Gesicht des Viehhändlers, der sich im Zuge so gut
amüsiert hatte. Eine Zigarre glimmte in seinem Munde und sein Gesicht
füllte das ganze Fenster aus. Auf dem Bock des Wagens saß ein dunkles
Bündel und dieses Bündel rief: »Weißer Elefant?«

»Nein, danke!« antwortete der Fremde, der in der eisigen Luft heftig zu
zittern begann. »Ist es denn weit zur Stadt?«

»Höhö! Eine halbe Stunde! Der Herr fahren also nicht mit? Hü!«

Die Hutschachtel rollte davon und die glimmende Zigarre des Händlers
erlosch in der Nacht wie ein kleines Fünkchen.

Der Lehrer lachte herzlich. »Sie können sich doch denken, verehrter Herr,«
rief er aus, »daß der Bahnhof weit außerhalb der Stadt liegt! Man
befürchtete, die Häuser würden einfallen. Ich werde mir erlauben, Ihnen in
aller Eile eine Skizze von dieser Stadt zu entwerfen und Sie werden mir in
einer Woche, nein, morgen schon sagen können, ob ich ein Talent zu
Schilderungen habe oder nicht. Diese Stadt also --«

»Verzeihung!« unterbrach der Fremde den geschwätzigen Lehrer. »Darf ich mir
eine Frage erlauben? Hier in der Stadt hat sich ein Unglück ereignet, nicht
wahr?«

»Ja.«

»So viel ich hören konnte, ein Mädchen hat sich das Leben genommen?«

»Ja -- ja -- richtig!« Der Lehrer blickte den jungen Mann prüfend von der
Seite her an. »Haben Sie denn nicht geschlafen?« fragte er, ohne seine
Überraschung verbergen zu können.

»Nein!« Der Fremde lächelte fein. »Ich habe nicht geschlafen, ich habe
jedes Wort gehört.«

»Ah!« Das größere Auge des Lehrers erweiterte sich vor Erstaunen, das
kleinere prüfte den Fremden mit einem langen scharfen Blick.

»Aber Sie haben sich schlafend gestellt?« sagte der Lehrer langsam,
gleichsam für sich; und er fügte rasch hinzu: »Ja, ich habe dies und jenes
gehört. Interessiert Sie der Fall?«

Der junge Mann nickte. »Ich habe das allergrößte Interesse!« sagte er.

Der Lehrer erzählte. »Was für merkwürdige Dinge auf der Welt passieren!«
schloß er. »Nicht wahr?« Er lachte leise. Wenn man des Lebens komischen
Spuk recht ins Auge fasse, murmelte er, indem er sich den schwarzen Bart
strich, man müsse die Folgerung ziehen, daß Gott wahnsinnig sei.

Der Fremde blickte den Lehrer mit klaren, ernsten Augen an. »Sie kennen
vielleicht die unglückliche Mutter des Mädchens?«

Der Lehrer erstaunte immer mehr. Er trat einen Schritt zurück und vermochte
nicht sofort zu antworten. Aber er faßte sich und lächelte. »Diese kleine,
alte Frau?« sagte er und blickte den Fremden mit einer gewissen Scheu an,
die immer wieder in seinen Zügen auftauchte, so oft er sie auch zu
unterdrücken versuchte. »Sie ist eine Eierhändlerin, wissen Sie, geht herum
in den Dörfern und kauft Eier ein, um sie in der Stadt zu verhandeln. Ein
armes Dingchen, sie wohnt neben dem Armenhaus, dicht daneben, fast im
Armenhaus selbst, im Hexengäßchen wohnt sie, jedes Kind kennt sie.«

»Danke!« sagte der Fremde und streckte dem Lehrer mit einer offenherzigen
Bewegung die Hand entgegen. »Danke Ihnen aufrichtig!« Die Herzlichkeit in
seiner Stimme besiegte die sonderbare Scheu des Lehrers vollständig. Ein
Lächeln verklärte sein männliches, wildes Gesicht. Er streckte ihm beide
Hände hin.

»Verehrter!« rief er aus. »Verehrter! Es ist mir eine große Freude, Ihnen
auf meiner Wanderschaft begegnet zu sein. Ich hoffe, das Glück wird nicht
ohne Nachwuchs bleiben, das heißt, Sie verstehen mich wohl, ich hoffe, daß
ich Sie wiedersehen werde. Vielleicht schenken Sie mir die Ehre Ihres
Besuches? Ich bin in Acht und Bann, ohne jeglichen bürgerlichen Kredit, ein
entlassener Volksschullehrer -- sage es gleich, ohne zu befürchten, daß Sie
das abhalten könnte mein Haus zu betreten.« Und als der Fremde mit
herzlichen Worten für die Einladung dankte und seinen Besuch zusagte, fügte
er mit strahlendem Gesichte und aufrichtiger Freude flüsternd hinzu: »Ah,
herrlich! Mein Heim ist bescheiden, aber die Flagge des Glückes flattert
darüber. Sie werden Mütterchen kennen lernen, meine Frau! -- Mütterchen, so
heißt sie in der ganzen Stadt -- haha -- Sie werden sie kennen lernen, so
klein wie sie ist! Ich bezahle Ihnen hundert Flaschen Wein, wenn Sie sich
vorstellen können, wie klein sie ist und wie leicht! Oft, wenn ich in den
Feldern herumliege, denke ich, wie klein ist sie doch -- wie klein und
leicht -- wie ein Kork. Und Susanna werden Sie kennen lernen -- meine
Tochter -- ein herrliches Geschöpf, herrlich an Körper und Geist -- eine
Art Heldin -- nun, Sie werden sie ja sehen! Ich bin eben auf dem Wege zu
ihnen, zu Mütterchen und Susanna, seit einem Jahre bin ich nicht mehr da
gewesen -- aber plötzlich hat mich die Sehnsucht gepackt, so daß ich sogar
den Zug nahm, was seit sechs Jahren nicht mehr passierte, ich mache alles
zu Fuß --«

»Sie arbeiten also auswärts?« fragte der Fremde.

»Wie?«

»Sie arbeiten also auswärts, nicht hier am Platze?«

Der Lehrer gab seinem Kopfe einen Ruck und beugte das Ohr lauschend herab.
»Ah!« rief er, »arbeiten?« Er schüttelte langsam den haarigen Kopf und
seine Augen glühten. »Ich hasse die Arbeit! Ich bin ein freier Mann, ein
Wanderer, wandere umher, jahraus -- jahrein -- in Sturm und Wetter, in
Sonne und Tau -- ein Bruder der Vögel, ein Freund der Bäume, ein Sohn der
Sonne« -- hier legte er die Hand aufs Herz und seine Augen glänzten
schwärmerisch -- »ein Schrecken für alle eingesessenen Bürger! Ein Komet,
der unterwegs ist, wenn Sie wollen. Nein, ich arbeite nicht, junger Freund,
haha, was Ihnen doch einfällt!« Er betrachtete den Fremden mit einem
gönnerhaften, väterlichen Blick. »Meine Familie lebt in angenehmen
Verhältnissen -- sozusagen in sehr angenehmen Verhältnissen. Ich hoffe, Sie
werden den Besuch nicht vergessen, gleich hier beim Bahnhof!«

»Auf keinen Fall.«

Der Lehrer sah den jungen Mann lange an, gleichsam, um sich sein Antlitz
für alle Zeiten einzuprägen; er bewegte den Kopf in kleinen Rucken, um
genauer zu sehen und tiefer in die Züge eindringen zu können. Dann
schüttelte er leicht den Kopf.

»Sie sind ein eigentümlicher Mensch!« sagte er leise. »Ich habe auch Ihr
Gesicht noch nicht gesehen, alle anderen Gesichter habe ich ja tausendfach
gesehen. Ich schätze es mir zur Ehre, Ihnen begegnet zu sein. Allezeit Ihr
Diener!« Darauf nahm er den Hut ab, drückte ihn gegen die Brust und
verbeugte sich. »Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen zum Abschied
vorstelle!« sagte er in tiefstem Baß. »Heinrich Löwenherz, ein fahrender
Gesell!«

Der Fremde nahm den Hut ab und verbeugte sich seinerseits.

»Richard Grau,« sagte er.

Der Lehrer verschwand wie ein Phantom irgendwohin und der Fremde sah ihm
mit einem nachdenklichen und erstaunten Blicke nach. Aber dieser Heinrich
Löwenherz hatte eine schöne Empfindung in ihm zurückgelassen, und er nahm
sich vor, ihn sobald als möglich aufzusuchen.




Viertes Kapitel


Die kleine Stadt lag schon ganz ausgestorben. In den krummen Gassen
brannten einige Laternen, halb zugeschneit, mit kleinen verrußten
Petroleumlämpchen. Die alten buckligen Häuser standen stumm und vornüber
gebeugt und erinnerten an im Stehen schlafende Pferde. Da und dort
schimmerte ein helles Fenster. Der Schuhmachermeister Männlein saß
friedlich über die Arbeit gebeugt, der Fleischer Keim hackte etwas auf
einem Blocke und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch Fräulein
Karola Sperling, Modes, hatte noch Licht. Denn sicherlich war sie es, die
da droben im Giebelzimmer wohnte.

Über den öden Marktplatz fuhr der Wind und kämpfte mit einem Zeitungsblatt,
das offenbar die Absicht hatte, die Kirchgasse hinauf zu rollen. Aber der
Wind zwang es, umzukehren, zerrte es an den Häusern entlang und ließ es
endlich die Gasse, die zum Flusse führte und Fischergasse hieß,
hinabflattern.

Sobald das Zeitungsblatt in der Fischergasse verschwunden war, tauchte der
Fremde, der sich Richard Grau genannt hatte, aus der langen Gasse auf, den
Reisesack in der Hand.

Er ging langsam auf das Hotel »Zum weißen Elefanten« zu und sah sich das
Hotel von oben bis unten aufmerksam an. Es war ein alter gelber
Fachwerkbau, der die Fenster gerade da hatte, wo niemand sie suchte und
sich im Gegensatz zu all den andern Häusern ringsum zurückbog. Rechts unten
hatte es einen kleinen Erker, der sich auf eine kurze, plumpe Säule
stützte. Aus dem Erker schimmerte Licht. Vor dem breiten Tor stand der
Hotelwagen, der einer großen Hutschachtel ähnlich sah.

Die Aufschrift »Hotel zum weißen Elefant« zog sich über die ganze Breite
des mächtigen Hauses hin und zum Überfluß hing noch ein Schild über dem
breiten Tore, ein kleiner, drolliger Elefant mit kurzen Stoßzähnen und
geschwungenem Rüssel und listigem Schmunzeln, ähnlich jenen ausgestopften
Exemplaren, die die Kinder an einem Stricke hinter sich herschleifen.

Der kleine weiße Elefant schwang sich im Winde und schmunzelte.

Grau stellte die Reisetasche ab und ordnete sein Halstuch. Es wird wohl
besser aussehen! dachte er und suchte in den Manteltaschen nach den
Handschuhen. Aber diese Handschuhe, dicke, warme Handschuhe, die er erst
gestern gekauft hatte, waren nicht zu finden. Plötzlich hörte Grau auf zu
suchen. »Aber natürlich!« rief er aus und lächelte und sein Antlitz nahm
einen glücklichen und träumerischen Ausdruck an.

Er räusperte sich und zog die Klingel. Ein kleines Fenster an der Wand fiel
herab und eine hastige, sich überstürzende, ärgerliche Stimme fragte:
»Wollen Sie Bier?« Es hörte sich wie Gebell an.

Grau nahm den Hut ab. »Nein,« sagte er, »ich will ein Zimmer -- ein
einfaches Zimmer, nicht zu teuer. Nur für diese Nacht.«

»Äh!« bellte die Stimme und ein ärgerliches kleines Gesicht fuhr zum
Fenster heraus. »Sie haben an der Gassenschenke geläutet, sehen Sie denn
nicht die Fremdenglocke? Können Sie denn nicht lesen?«

Grau lächelte. »Natürlich kann ich lesen,« sagte er, »entschuldigen Sie
nur, wenn ich an der Gassenschenke geläutet habe --«

»Jajajaja!« Der Wirt, ein x-beiniger Mann mit winzigem Kopfe kam heraus und
musterte Grau. Er schlich im Halbkreis um ihn herum, wog den Reisesack mit
den Blicken, betrachtete Graus alten Hut, abgetragenen Mantel, seine
frostroten Hände und endlich machte er die Augen scharf und musterte sein
Gesicht, das vor Erschöpfung bleich und ausgehungert und vor Kälte blau
gefroren aussah.

»Treten Sie ein! Ins Gastzimmer!«

Nach all der Dunkelheit erschien das Gastzimmer festlich beleuchtet,
obgleich nur eine einzige Hängelampe brannte. Alles erschien nahezu weiß,
die Wände, der lange, mit Vasen, Papierblumen und Gipsfiguren barbarisch
geschmückte Tisch, die Vorhänge, die Wände und selbst der Fußboden. Die
Decke aber war braun. Es war wohltuend warm hier, und der Duft einer feinen
Zigarette vermischte sich mit dem abgestandenen Geruch von Speisen und
etwas Ranzigem. Aus dem Geruch schloß Grau, daß hier die unverheirateten
Beamten der Stadt aßen, etwa zehn an der Zahl, die alle gut zu speisen
liebten. Ihr durch die Tafel angeregtes Gespräch schien noch in der Luft zu
hängen und irgendwo zu stecken, gleich dem Rauche der schweren Zigarren,
die sie nach dem Essen pafften. Nun war das Zimmer öde. Irgendwo zirpte
eine Spieldose eine Arie, und an einem Tischchen in einem Erker saßen eine
Frau und ein junger Mann vor einer Batterie von Weinflaschen. Die Frau saß
sehr unschön da, den Stuhl weit zurückgeschoben, die Ellbogen auf den Tisch
gestützt, das Gesicht in den Händen. Der junge Mann saß in seinem Stuhle,
die Füße, an denen er abgeschabte Reitstiefel trug, weit von sich gestreckt
und rauchte. An seiner weißen Hand blitzten Steine. Er kitzelte die Frau
mit einer Reitpeitsche am Halse. Beide wandten das Gesicht zur Türe, als
Grau eintrat und Guten Abend wünschte, die Frau tat es, ohne die Hände vom
Gesicht zu nehmen. Sie war blond und schön wie eine Puppe. Sie hatte auch
das Puppenlächeln. Der junge Mann hatte ein fahles, langes Gesicht und
seine schwarzen gescheitelten Haare spannten sich wie glänzender Atlas über
den Schädel.

»Hö!« schrie der junge Mann und sprang auf. Er eilte auf Grau zu, nahm die
Reitpeitsche unter die Achsel, verbeugte sich wie ein Kellner und rieb sich
die Hände, als wasche er sie.

»Was befehlen der Herr?« fragte er mit einer für seine zwanzig Jahre
außerordentlich tiefen und rauhen Stimme und lachte betrunken. In seiner
Rocktasche zirpte die Spieldose.

Grau sah ihn mit erstaunten Blicken an. »Sind Sie der Kellner?« fragte er,
indem er sich, unangenehm berührt, abwandte und den Mantel auszog. Ein
alter, etwas knapper, dunkelfarbiger Gehrock kam zum Vorschein. Die Ärmel
waren mit schwarzen Borten eingesäumt und die Brustaufschläge zeigten etwas
wie schwarze Seide. Da und dort schien der Stoff mit Tinte nachgefärbt zu
sein.

Die blonde Frau lachte kichernd. »Aber, Herr Baron!« rief sie mit einer
Mischung von Vorwurf und Koketterie in der inhaltslosen, hohen Stimme und
sah Grau mit ihren großen Augen neugierig an.

»Ich fühle mich hier zu Hause, Tante!« sagte der junge Mann, den die Frau
Baron nannte und lachte. »Deshalb, mein Herr, deshalb. Außerdem, weil Sie
mir gefallen. Sagen Sie das eine, sind Sie kurzsichtig?«

Ja, er sei ein wenig kurzsichtig, entgegnete Grau höflich.

»Aha -- deshalb. Deshalb sehen Sie einen so eigentümlich an. Wenn Sie nun
nicht kurzsichtig wären, so wäre -- aber Ihre Kurzsichtigkeit entschuldigt
Sie, natürlich, haha -- natürlich. Haben Sie schon den Trompeter von
Säckingen gehört? Wie? Ja, wenn Sie ihn noch nicht gehört haben, sofort
soll das Orchester antreten -- sofort --«

Der Baron lachte und sprach auf Grau unausgesetzt ein. Er nahm die
Spieldose aus der Tasche und zog sie auf. Der Blick seiner dunkelgrauen
Augen war unsicher und flackernd, ruhelos und gequält. Grau erinnerte sich,
diesen Blick bei einem Manne gesehen zu haben, der mit nackten Füßen auf
Glasscherben tanzte, um sich zu vergessen, um sich selbst zu foltern -- der
Mann hatte wohl seinen Grund gehabt. -- Auf der rechten Wange hatte der
junge Mann einen kleinen Schmutzflecken und gerade dieser Schmutzfleck
allein schien sein Gesicht brutal und betrunken zu machen, denn außerdem
war es fein und regelmäßig, ja sanft.

»Hören Sie das Orchester? Behüt' dich Gott -- Onkel!« schrie er den Wirt
mit dem kleinen Kopf an. »Bringe mir den schwersten Wein, den du hast im
Keller -- schwarz muß er sein -- sofort! Das heißt, du brauchst dich nicht
zu beeilen. Du kannst wegbleiben, solange du willst, Onkel, wir brauchen
dich ja nicht hier -- keine Seele fragt nach dir! Herrgott im Himmel,
Onkel, wie ein Floh kommst du mir heute vor, genau wie ein im Dienst
ergrauter Floh --«

»Herr von Hennenbach, Herr Baron!« rief die blonde Frau im Erker und
kicherte in die Hände.

Der Wirt murmelte eine Verwünschung und näherte sich Grau. »Was wünschen
der Herr? Abendbrot?«

»Ja, eine Kleinigkeit.«

»Schweinebraten, Schnitzel, Nieren --«

Grau winkte ab und schüttelte den Kopf. Der Wirt begann laut zu bellen.
»Der Herr können auch Taube haben, Huhn --«

Grau machte ein hilfloses Gesicht. »Nein, danke,« sagte er, »ich bin
nämlich gar nicht hungrig, müssen Sie wissen. Vielleicht haben Sie etwas
Wurst und Bier?«

Der Wirt entfernte sich mit einer ärgerlichen Grimasse.

Die Frau im Erker begann zu kichern und zu keuchen und plötzlich stieß sie
einen leisen Schrei aus. Dann hustete sie und rückte den Stuhl. »Sie
sollten nicht mehr trinken, Herr Baron, Sie Wildfang!« kicherte sie.

»Ruhe, Tante, Ruhe!« sagte der junge Mann rauh. »Ich trinke die ganze
Nacht, morgen, übermorgen, die ganze Woche, ich habe meine Periode und muß
mich betäuben --«

Plötzlich stand er vor Grau und verbeugte sich. »Darf ich den Herrn zu
einer Partie Billard einladen?«

»Danke.«

»Einsatz zwanzig Mark. Ich gebe dem Herrn fünfzig Bälle auf hundert vor.«

»Ich bedaure, ich spiele nicht Billard.« Grau sprach sanft und höflich.

Der Baron lachte. Also nicht einmal Billard spiele der Herr? »Sie waren
wohl nie Student? Kann ich mir denken.«

»Doch, mein Herr!«

»Ja, du meine Güte, da haben Sie nicht Billard gelernt? Ich möchte schon
wissen, was Sie dann in Ihrer freien Zeit taten?«

»Ich habe Stunden gegeben.«

»Aha! Das ändert die Sache allerdings. Aber hören Sie, ob Sie Billard
spielen oder nicht, das ist ganz egal -- ganz egal -- Sie lernen es.
Trotzdem Sie sehr kurzsichtig zu sein scheinen -- trotzdem prophezeie ich
Ihnen, daß Sie es in fünf Minuten können. Ich gebe Ihnen auf hundert Bälle
neunzig vor -- Einsatz zwanzig Mark --«

Grau lächelte. »Entschuldigen Sie --«

»Ich gebe Ihnen fünfundneunzig vor -- neunundneunzig -- hören Sie -- und
wenn Sie blind sein sollten -- einen Ball werden Sie doch machen.«

»Nein, ich danke Ihnen vielmals. Ich bin zu müde.«

»Ah!« Der junge Mann warf sich rittlings auf einen Stuhl am Tische. »Dann
vielleicht -- Dame, Domino -- oder Schach oder Mühle, was Sie wollen -- Sie
können ja sitzen bleiben, wenn Sie müde sind -- ja, Sie brauchen nicht
einmal zu ziehen, ich ziehe für Sie -- die Hälfte Steine gebe ich Ihnen --
ja, Donner und Doria!« rief er plötzlich aus und lachte laut und roh. Er
hatte Graus Reisesack entdeckt. Er sprang auf und besah sich den Reisesack
in der Nähe. Er lachte und bewegte die Reitpeitsche, als ob er die Henne
kitzle. »Was für eine kostbare Sache!« schrie er. »Wohl ein altes Stück?«

»Es dürfte ziemlich alt sein, ja.« Grau lächelte, er änderte nicht den Ton
der Stimme.

»Wohl ein -- ein Familienstück -- ein Erbstück?«

»Nein.«

»Nicht! Es sieht genau so aus. Was würden Sie sagen, mein Freund, wenn
Ihnen jemand für die Tasche zwanzig Mark gäbe?«

»Ich verkaufe sie nicht,« antwortete Grau geduldig.

Der Baron lachte laut heraus. Er lachte Grau ins Gesicht, dicht ins Gesicht
und sagte: »Hundert Mark! In die Hand! Na?«

Hier erhob sich Grau und verbeugte sich. »Ich sehe, der Herr sind in guter
Laune,« sagte er, »ich verstehe das recht wohl, daß der Herr scherzen
wollen, aber sollte es nicht jetzt genug sein?« Er sah den Baron an und
plötzlich veränderten sich seine Augen. Eine leichte Glut begann in ihnen
aufzuleuchten und ihr Blick schien langsam in die flackernden Augen des
Barons einzudringen, bis hinab in die Tiefe.

Der Baron blinzelte, wie um sich von einer Macht zu befreien. Er kniff die
Lider zusammen und lachte.

»Aber, Herr Baron!« kicherte die blonde Frau im Erker.

»Hundert Mark! Für die Tasche hier! Barzahlung? Nicht? Aber Herr, Herr, was
ist mit Ihnen? Sie scheinen nicht allein kurzsichtig zu sein -- aber hole
mich der Teufel, ich darf Sie doch zu einer Flasche Wein einladen?«

»Ich danke Ihnen herzlich,« sagte Grau und errötete, »ich habe keine Lust.
Ich bin zu müde, danke!«

Der Baron lachte und schrie: »Dieser Herr errötet, Tante, wie ein junges
Mädchen, wie ein Jüngferchen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Also, Sie
schlagen die Einladung aus?« wandte er sich wiederum an Grau. Er wartete
ein wenig und sah Grau in die Augen; er wollte wieder zu sprechen beginnen,
aber er zögerte und verlor von neuem unter dem Blicke Graus die Sicherheit.
Einen Augenblick lang sah er überrascht aus, dann lachte er heraus und
schrie: »Gut! Und wenn Sie mich auch noch so kurzsichtig ansehen, wissen
Sie nun, was? -- Hole Sie der Teufel!« Er klappte die Reitstiefel zusammen
und drehte sich um.

Grau zuckte die Achseln und winkte den Wirt heran. »Wo ist das
Hexengäßchen, bitte?« fragte er.

»Hexengäßchen? Hexengäßchen? Ja, was wollen Sie denn im Hexengäßchen, im
Hexengäßchen?«

»Ich will jemand besuchen, der hier wohnt. Neben dem Armenhaus.«

»Armenhaus? Armenhaus?«

»Eine Frau Sammet möchte ich besuchen, eine Eierhändlerin. Sie wohnt doch
da, nicht wahr?«

Nun verstand der x-beinige Wirt mit dem kleinen Kopf, der in Wirklichkeit
mit den großen Augen, der langen, flachen Nase, dem kleinen Mund und dem
verkümmerten Kinn dem Kopfe eines Flohs glich. »Der Herr kommen zur
Beerdigung?«

»Ja,« sagte Grau und schlüpfte in den Mantel, während ihm der Wirt den Weg
beschrieb.

»Wenn er doch zum Teufel ginge!« schrie der Baron mit einer zu Graus
Verwunderung nahezu haßerfüllten Stimme.

Ah, wie traurig, dachte Grau, er ist unglücklich, und noch so jung!

Grau kehrte nach einer Viertelstunde unbefriedigt zurück und ging sogleich
auf sein Zimmer. Er hatte die Eierhändlerin nicht zu Hause angetroffen.




Fünftes Kapitel


Grau schloß die Türe seiner Kammer und begann augenblicklich erregt mit
sich selbst zu sprechen.

»Man nimmt sich doch nicht so rasch das Leben!« sagte er und gestikulierte
heftig. »Das Mädchen war doch so jung und gesund! Aus Scham allein hat sie
es nicht getan, das glaube ich nicht. Nein, nie und nimmer! Es mußte noch
etwas anderes mitspielen, eine Kränkung oder sonst etwas. Der
Fleischergeselle leugnet. Man kennt den Verführer nicht. Ich werde ihn
herausfinden, bei Gott, das werde ich!«

Er war todmüde und legte sich zu Bett. Er war einen vollen Tag unterwegs
gewesen und hatte, um Geld zu sparen, noch dazu eine Strecke von fünfzehn
Kilometern zu Fuß zurückgelegt, um einen Umweg der Bahnlinie abzuschneiden.

Dieses arme Mädchen! dachte er. Entsetzlich! Mit einem Seufzer der Lust
empfangen, in Angst getragen, in Verzweiflung geboren und mit dem Leben
bezahlt. Genug, genug!

Er schlief ein, wurde aber gleich darauf durch das Bimmeln einer dünnen
Blechglocke geweckt.

Im Gastzimmer unter ihm rumorte die rauhe Stimme des jungen Barons. Hier
und da bellte ärgerlich der kleine Wirt, und in nahezu gleichen
Zwischenräumen ließ sich das leere Lachen der blonden Wirtin hören. Es
hörte sich an wie der Ton einer kleinen dünnen Blechglocke, an der der
Baron zog, wann es ihm gefiel. Einmal zog er zweimal nacheinander daran,
ein andermal tat er nur einen kurzen, schrillen Ruck. Die Personen da
drunten verkleideten sich, der Baron wurde zu einem Manne, der auf
Flaschenscherben tanzte und seine Augen glühten.

Grau richtete sich im Bette auf. Er konnte nicht schlafen.

»Dieses arme Mädchen ist es ja nicht allein!« rief er aus und schlug mit
der flachen Hand auf die Bettdecke. »Da ist noch diese alte verzweifelte
Mutter, die ganz von Sinnen hin- und herrannte und schrie. Da ist noch das
arme verwaiste Kind! -- Aber auch das ist noch nicht alles!« fuhr er fort,
wobei sich sein Herz zusammenkrampfte. »Tausende solch unglücklicher
Mädchen gibt es, Tausende solch verzweifelter Mütterchen, Tausende solch
verwaister Kinder! Tausende! Tausende! Tausende!«

Er befreite sich von diesem Gedanken.

Aber augenblicklich erschien an einer andern Stelle seines Kopfes ein
Gefangener, der an der Wand der Zelle lehnte; es war Nacht, aber er schlief
nicht, durch das kleine Gitter über seinem Kopfe drang ein fahles Licht, da
stand er mit bleichem Gesichte, starrte vor sich hin und nagte an der
Lippe. Wieder, da sah er in eine Kammer: Auf dem Bett lag eine tote Frau,
eine Kerze brannte daneben, ein Kind saß auf dem Boden und lächelte ihm zu.
Auf dem fahlen Gesicht der Toten stand mit erschreckender Deutlichkeit
geschrieben: Ich wurde geboren und weiß nicht weshalb, ich habe gelebt,
weiß nicht warum und weshalb bin ich doch gestorben? Nun aber kann ich den
Weg zur Seligkeit nicht finden, ach! Dann sah er einen schlafenden Mann mit
kurzen aschgrauen Haaren vor sich und er sah einen Gedanken, der im Haupte
des Schlafenden wanderte. Der Gedanke wanderte hin und her, wie ein Licht,
das in der Nacht wandert und vor verschlossenen Türen stehen bleibt.
Plötzlich stand das Licht ruhig und loderte hell auf und der Schlafende
erwachte verstört. Er schlüpfte in die Kleider, hastig, schlich sich aus
dem Hause, verstohlen, und sein schneller Schritt verschwand in einer
dunkeln Gasse. Aus der Ferne drang ein entsetzlicher Schrei.

Grau schrak zusammen. Den Schrei hatte die blonde Wirtin ausgestoßen. Aber
es war kein Schrei des Schreckens, es war ein schrilles, ersticktes Lachen.
Der junge Baron verabschiedete sich, das Tor fiel ins Schloß und durch das
ganze Haus lief ein dumpfes Zittern vom Keller bis zum Boden. Der Wirt
zankte, die Frau lachte gedämpft. Schritte schlichen hin und her auf
knarrenden Dielen, bald unten, bald oben, an seiner Tür vorbei. Es war der
kleine Wirt, der nachsah, ob alles in Ordnung war. Er flüsterte, tuschelte,
zankte. Und wieder knarrte sein schleichender Schritt durch das ganze Haus.

Graus Züge fielen ein. All das Leid, das auf der Erde war! Er fühlte es, es
lag wie eine Last auf seiner Brust, er hörte es, ja, er roch es! Dunkler
und dunkler wurde es in seiner Brust und endlich erschauerte er von all der
Finsternis, die in seinem Innern war. Er preßte die Hände vors Gesicht und
zitterte und dieses Zittern kam nicht von der Kälte allein. Die ganze Erde
schreit ja immerzu, dachte er, sie zittert und bebt ja unausgesetzt. Wenn
sich das Schluchzen einer einzigen Nacht vereinigt, so tobt es lauter als
das wilde Meer! Dieses leise Weinen in den Kissen, dieses Klopfen der
Herzen, das Keuchen der Sterbenden, die Schreie der Gebärenden --

Ob man auch das Auge schließt, was hilft es, das verquälte Antlitz des
Menschen ist überall, es dringt durch die Lider hindurch, ob man die Ohren
verschließt, was hilft es doch?

Scheint nicht manchmal ein entsetzlicher Schrei durch die Nacht zu hallen,
aller Menschen Stimmen, die sich zu einem einzigen Schrei der Anklage
vereinigen, zu einem Schrei nach Erlösung?

Ein Schweigen noch furchtbarer als dieser Schrei ist die Antwort.

Grau saß regungslos im Bette und starrte vor sich hin. Und er sah Tausende
von Menschen vor sich, die im Bette saßen und starrten und nur den Wunsch
hatten, zu vergessen, zu schlafen, nicht mehr zu denken. Aber draußen in
der finstern Nacht murmelte und tobte es und wollte nicht ruhig werden.

»Wenn man doch etwas tun könnte,« sagte Grau und nickte und seine Augen
brannten. »Nichts sollte mir zuviel sein, nichts! Aber man ist ja so arm --
viel zu arm!«

Die Kerze erlosch, aber er regte sich nicht. Nun war es dunkel um ihn her
und er starrte in dieses Dunkel hinein, seine Züge fielen ein, sie
verzerrten sich. Er dachte, dachte, grub die Zähne in die Lippe --

Aber mit einem Male veränderte sich der Ausdruck seines Gesichtes und
seiner Augen. Er blickte auf das Fenster, und Neugierde, Erstaunen,
Verwunderung und Freude spiegelten sich in seinen Zügen.

Auf diesem Fenster jedoch war nichts Besonderes zu sehen. Es war eine
schwarze Scheibe und vom Marktplatze, von irgendwoher fiel der Schein einer
Laterne darauf, so daß feine Lichtbogen entstanden, wie man sie um den Mond
sieht, wenn er einen Hof hat. Doch das war nicht alles. In diesem
Lichtbogen lebte es! Es regte sich, es flimmerte, es zuckte darin. Feine
Kristalle formten sich. Es war wie gesticktes Moos, wie feine zitternde
Gräser, dann strebten schmale, wehende, glitzernde Pflanzen empor, dem Tang
ähnlich, der auf dem Grunde des Meeres wächst. Weiße Korallenzweige wuchsen
zwischen ihnen hindurch, verästelten sich feiner und feiner, etwas wie
spitze Flossen tauchte auf, Sterne, deren Enden zitterten -- und alles
glitzerte und flimmerte als sei es aus Splittern von Brillanten gebildet.

Es war ein betörend schönes Bild, ein Wunder an Reichtum, Glanz und Formen,
das eine unsichtbare Hand hier an das schwarze Fenster eines nichtigen
Wirtshauses zeichnete.

Grau saß und seine Augen waren wach und hell und sahen zu, wie es sich
formte, veränderte, wuchs. Auf seinen knabenhaften Lippen schwebte ein
seltsames Lächeln und in seinen Augen war ein fremder Glanz. Er atmete
wieder. Er atmete tief und befreit.

»Er schreibt! Er schreibt!« flüsterte er leise und Freude erfüllte ihn und
stummer Jubel. Gleichzeitig aber schämte er sich.

»Ich bin müde gewesen, er möge mir verzeihen!«

Grau schlief ein und er atmete tief und froh und lächelte im Schlafe. In
seinen Traum kam ein alter kranker Bauernknecht mit entzündeten Augen, der
eine zerrissene Jacke trug und dicke neue Handschuhe an den Händen hatte;
er schwang die Hände vor ihm und lachte. »Deine Handschuhe sind warm,
vergelt's Gott!« schrie er und nickte ihm zu.




Sechstes Kapitel


Es kamen viele Leute in Trauerkleidern und stiegen die beschneiten Stufen
zu der kleinen Kirche mit dem weißen Turm empor. Es kamen Leute vom Land,
Bauern, die ernste Gesichter machten und langsam daherstampften, es kamen
immer mehr, auch die jungen Damen, die ein gutes Herz hatten, kamen; auch
der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals kam, feierlich pustend, in
einem engen Gehrock, mit frostroten Handgelenken, ein kleines Bukett aus
Wachsblumen in der Hand. Es kamen immer mehr, in all den weißen Gassen
wanderte es. Viele kamen aus Neugierde, natürlich. Der kleine Friedhof war
ganz schwarz und alle drängten der Ecke zu, die den Namen Selbstmörderecke
hatte. Es war sehr stille über dem Städtchen und die Sonne blendete.

Plötzlich hörte man ein Schluchzen, ein Schreien, und man sah, daß ein Sarg
die Staffeln heraufgetragen wurde, ein roher Kasten. Man schaffte ihn aus
dem Spital herauf. Hinter dem Sarge kam eine Gruppe von Frauen, die in der
Mitte etwas Weißhaariges führten, das sich schüttelte und hin- und herwarf
und sich auf die Staffeln werfen wollte und schrie.

Der Sarg kam heran und alle nahmen den Hut ab. Man räusperte sich, man
hustete, man zog die Brauen zusammen und in den schwarzen Fäusten der
jungen Damen erschienen blendendweiße Taschentücher. Die kleine Frau schrie
ohne Aufhören, aber als sie an das Friedhoftor kam, schwieg sie plötzlich.
Das aber war noch viel schrecklicher als ihr Geschrei. Sie wankte zwischen
den Frauen einher, und alle wichen zurück, niemand wollte einem solch
schrecklichen Jammer nahe kommen. Eine breite Gasse entstand.

Gestern sind ihre Haare noch grau gewesen, aber heute sind sie weiß. Aber
diese Haare waren nicht nur weiß, das war es nicht allein, die Haare
flatterten. Sie waren dünn und kurz und befanden sich in ununterbrochener
Bewegung, immerzu stiegen einzelne Haare in die Höhe, kräuselten sich,
sanken zurück, andere lösten sich und flatterten langsam in die Höhe.

Der gelbe Sarg wanderte durch die Menge, getragen von sechs Männern, es
schien als stelze er auf diesen vielen dunkeln Beinen durch den Schnee,
direkt auf das Grab zu, wie auf seine Höhle. Die weißhaarige Frau sagte
etwas und machte mit beiden Händen Zeichen, daß man nichts zu befürchten
habe. Dann ließ sie sich in die Knie nieder und küßte das Ende des gelben
Sarges, küßte es mit gespitzten runzeligen Lippen, wobei sie die beiden
Seitenwände des Sarges mit den Händen streichelte. Als die Träger sich
anschickten, den Sarg hinabzulassen, begann die alte Frau zu lachen und mit
den Fäusten auf ihre Stirn zu schlagen. Alle Leute wichen zurück und
erblaßten. Der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals wurde blaurot
im Gesicht und öffnete weit den Mund, die jungen Damen wandten sich ab und
bissen in die Taschentücher.

Da begann es in der Luft zu schwirren, ein feines Sausen schwang sich in
der Stille und es klang als fiele ein klingendes Becken hoch aus der Luft
herab; die Glocken begannen zu läuten. Süß und feierlich klangen sie und
alle Augen richteten sich auf den kleinen, weißgetünchten Turm, wo sie sich
in den Luken schwangen. Es läutet! Ja, natürlich, es läutet, es läutet in
der Kirche. Und alle Glocken läuteten, nicht nur die Beerdigungsglocke. Es
gab einige, die sofort in den Turm hineingingen, wo der Kirchner und sein
Gehilfe an den Stricken auf und abtanzten. Es läutet ja?

»Er hat es befohlen, der Neue!«

Die kleine verzweifelte Frau hörte auf zu lachen und lauschte, indem sie
den weißen Kopf zur linken Schulter neigte und den Mund öffnete. Sie wandte
sich nicht um, sie lauschte nur. Es war das große Geläute.

Die schmale Türe der Sakristei öffnete sich und der Vikar stieg die Stufen
herab. Er war im Talar und auf seinem Arme lag ein Buch. Alle sahen ihn
kommen und bildeten eine Gasse. Er schritt hindurch, den Blick auf den
Boden geheftet. Er trat ans Grab und nahm das Barett ab.

Seine Haare waren braun und weich, mit einem Schimmer ins Rote, und alle
konnten sehen, daß sein Gesicht lang und mager war.

Er schlug die Augen auf und sah nun aus, als ob er noch nicht zwanzig Jahre
alt wäre. Er lächelte unmerklich und richtete den sanften, schimmernden
Blick auf die weißhaarige Frau. Dann begann er zu sprechen. Es war
totenstill und man hörte einen gedämpften Schritt im Schnee knarren. So
leise sprach der Vikar, daß man ihn kaum verstand, seine Stimme zitterte
und plötzlich blieb er stecken. Er schwieg eine lange Weile, errötete, aber
er wandte den Blick nicht von der kleinen Frau ab. Dann fand er sich wieder
zurecht und nun sprach er rasch und sicher bis ans Ende. Seine Stimme wurde
nicht laut, aber sie schwebte doch klar und deutlich bis in jede Ecke des
Friedhofes und ein feines, feierliches Echo antwortete von der Kirchenwand
her.

Die Rede des Vikars war schlicht und nicht lang. Er sprach von den vielen
Kränzen, die man der Verblichenen gebracht habe, und daß sie aus Nah und
Fern gekommen seien, die sie kannten, so viele, viele seien gekommen, alle
habe ihr Tod und ihr Schicksal erschüttert und in der Stadt und auf dem
Lande trauere ein jeder um sie. Nun erst, da sie tot sei, wisse man, wie
sehr man sie geliebt habe.

»Sie war jung und frisch und voll von Leben,« sagte er, »ihr habt sie
gekannt, ich habe nur von ihr gehört. Sie wandte sich ab von der Erde und
starb den schwersten Tod, den es gibt.«

Der Vikar sprach davon, wie fleißig und treu sie gewesen sei, wie
diensteifrig sie war und wie fein doch ihr Herz war.

»Es war so fein, ihr Herz,« sagte er und lächelte leise, »sie starb an
ihrem feinen Herzen. Sie glaubte auch, daß ihr alle sie mißachten würdet,
sie fürchtete euren Blick, sie schämte sich vor euch. So fein war sie. Das
aber wollte sie nicht. Da warf sie denn alles hin, was sie hatte, ihre
Jugend, ihre Frische, ihre Erinnerungen, ihre Wünsche und alle Freuden, die
auf sie warteten. Das alles warf sie hin. Viel zu viel war es, viel zu
viel.«

»Viel zu viel war es, viel zu viel,« wiederholte der Vikar, und das feine,
klingende Echo rief: Zu viel, zu viel.

Da begann die alte Frau zu weinen, ihr Gesicht zog sich zusammen, nichts
als braune Runzeln war ihr Gesicht, es sah wie eine Nuß aus.

Der Vikar blickte auf sie und lächelte. »Sie hat wohl Grund zu weinen,«
sagte er, »wer von uns allen würde nicht weinen an ihrer Stelle. Wir würden
klagen wie sie und Worte könnten uns nicht trösten. Aber in ihrem Schmerze
wird es wie eine feine Freude sein, daß die, um die sie trauern muß, so
fein war und gut. Und sie wird ja ihr Kind haben! Es ist auch ein Mädchen,
es wird wachsen, spielen, lachen, es wird etwas sein, das sie tröstet,
nicht alles, aber doch viel, nicht wahr, viel!«

Nun sprach er ausschließlich zu der alten Frau und er sagte auch, daß ihre
Tochter nun bei Gott sein werde, zu den feinsten Seelen werde sie gehören.

»Denn Gott versteht sich wohl besser auf Menschenseelen als wir,« sagte er.
»Er wird sagen: Ich habe gesehen, wie du gekämpft hast, wie du gerungen
hast -- ich habe alles gesehen, es ging über deine Kraft. Ich habe auch
gesehen, daß du auf dem Wege zum Tode einem Kinde begegnetest und du hast
es gestreichelt. Auch das habe ich gesehen, auch das. Ein Hund hat vor
deinem Hause gebellt und du hast ihm Nahrung gegeben -- damals warst du
noch ein Kind -- auch das habe ich gesehen und nicht vergessen, denke
nicht, daß mir etwas entgeht und daß ich etwas vergesse -- zittere nicht
--«

Die alte weißhaarige Frau lauschte. Sie legte ein wenig den Kopf auf die
Seite, ganz wie ein Vogel, der lauscht, und heftete die tränenwunden Augen
auf die Lippen des Vikars; kein Wort sollte ihr entgehen, nichts, nicht das
kleinste Wort. Sie begann leise und schmerzlich mit dem Kopfe zu nicken und
die Tränen flossen langsam über ihr welkes Gesicht und tropften in den
Schnee.

Der Vikar segnete die Tote ein und alle beugten die Köpfe, sein Blick ging
über sie hin.

Unter all den Anwesenden befand sich ein Mann mit gelbem Gesicht und
kleinem Spitzbart und dieser Mann war der einzige, der den Kopf nicht
senkte. Er stand und lächelte und heftete die kleinen Mausaugen erstaunt
und spöttisch auf den Vikar.

Der Vikar ging rasch durch die Menge hindurch und sein Talar verschwand in
der schmalen Türe der Sakristei.

Die alte Frau folgte ihm und ging die Stufen empor. Aber hier geschah etwas
Merkwürdiges. Auf jeder Stufe kniete sie nieder und küßte sie. Dann machte
sie den Knöchel des Fingers ganz spitz und pochte an die Türe.

Sie blieb über eine Stunde in der Sakristei.




Siebentes Kapitel


Graus Hände zitterten: Nein, nein, er hatte nicht die rechten Worte
gefunden, er hatte es nicht vermocht!

Er warf einen Blick in die kleine alte Kirche, wo er eine blitzblanke
kleine Orgel entdeckte und an einem Fenster die Reste einer ehemaligen
Bemalung. Ein herrliches Fleckchen Blau, ein Streifen von einem seltenen
Weinrot. Dann ging er durch den gedeckten Gang und hinüber ins Pfarrhaus.
Während er sich umkleidete, sah er sich in der neuen Wohnung um. Das
Pfarrhaus war ebenfalls alt, klein, mit Winkeln und Erkern,
Holzvertäfelungen und einer kleinen Wendeltreppe. Im Vorraum hing ein altes
pechschwarzes Ölgemälde. An der Türe war eine große Glocke angebracht und
zwar war sie so aufgehängt, daß sie gleichsam zu schwingen anfing, wenn man
sie nur ansah.

Vorläufig war es für Grau noch ein Rätsel, was er mit all den Zimmern
anfangen sollte.

Er öffnete eines der kleinen Fenster. Sonne, Stille, Weite! Unter ihm lag
die Stadt und die weite Talebene. So unregelmäßig und klippig wie sich das
Treibeis staut, so unregelmäßig und klippig drängten sich all diese hundert
steilen Giebel und Dächer ineinander. Da und dort klafften Risse und
Spalten, das waren die Gassen und kleinen Plätze. Über diese beschneiten
Giebel war eine Unmasse von Türmchen und Dachreitern geschüttet. Aus den
unzähligen Kaminen stiegen dünne opalisierende Rauchsäulen in die klare
Winterluft. Hunderte von Fenstern und Scheiben blitzten und blendeten und
farbige Fünkchen tanzten auf den Schneedächern.

Rings um die weiße Stadt war alles weiß. Auch der Fluß, der die Stadt die
Höhe hinaufdrängte, war weiß, er war gefroren. Eine Menge von Kähnen,
Barken, Fähren und Frachtschiffen mit Masten und Stangen lag fest im Eise
und auf den Schiffen kletterten kleine Pünktchen herum, Kinder, die
spielten.

Eine weiße Brücke spannte sich über den weißen Fluß. Dann begann die Ebene,
weit und weiß dehnte sie sich, bis zu den Höhenzügen, ferne Wälder,
kriechendem Moose ähnlich, waren über sie ausgestreut.

Ein feines Klingen schwang in der winterlichen Stille, es klang aus einer
Schmiede. Die Pünktchen, die auf den Schiffen klettern, erwiderten es
schrill.

Zwei Fenster gingen auf den Garten hinaus. Der Garten war klein, nahezu
dreieckig und in zwei Terrassen angelegt. Er war angefüllt mit unberührtem,
wie Seide schimmerndem Schnee, und in den Ecken lagen Büsche, Gestrüpp,
Stickereien aus Schneekristallen und mit Schichten von Schnee bedeckt, die
eigentümlichen Blütentellern ähnlich sahen. Gegen die Straße zu, die Höhe,
war der Garten mit einem grünen Zaun abgegrenzt, auf den andern Seiten
stieß er gegen Gärten. Da war ein Park, ein wahrer Wald alter, hoher Bäume,
die tief im Schnee wateten; er konnte weit in ihn hinein sehen, denn die
Mauer war niedrig. Zwischen den Stämmen der alten Bäume schimmerte ein
langes weißes Gebäude, ein Herrschaftshaus. Die Mauer des andern
anstoßenden Gartens war übermäßig hoch und sah düster aus wie eine
Gefängnismauer. Über sie hinweg blickten die zwei trüben Fenster eines
grauen alten Hauses, wie zwei düstere traurige Augen unter einer niedern
vergrämten Stirn. Die übermäßig hohe Mauer aber bot einen ganz merkwürdigen
Anblick dar. Sie war mit Glassplittern und Eisenspitzen gespickt und trug
eine große Tafel, die man leicht von der Straße aus lesen konnte, mit der
Aufschrift: Vor den Hunden wird gewarnt! Achtung, Selbstschüsse! Vorsicht!
Fußangeln!

Grau lächelte. »Eigentümlich!« sagte er.

Dann nahm er rasch den Hut und verließ das Haus, immer noch zitterten leise
seine Hände. Wie töricht!

Grau begab sich in den »weißen Elefanten« und trug den roten Reisesack in
seine Wohnung hinauf. Auf dem Wege begegnete er jenem Mann mit dem gelben
Gesicht, der ihm im Friedhof aufgefallen war. Der Mann strich an den
Häusern entlang, blieb stehen, als er Grau gewahrte und ging dann
geradeswegs auf ihn zu, als ob er ihn ansprechen wolle. Aber er tat es
nicht, er machte plötzlich einen Bogen, blinzelte und verzog die Lippen zu
einem saueren Lächeln. Er griff an den Hut und Grau grüßte hastig und
freundlich.

»Ein schöner Tag!« sagte er lächelnd. »Nicht wahr?«

Der Mann aber machte nur ein verblüfftes, ernstes Gesicht, zwinkerte und
strich sich die Haare aus der Stirn, er grüßte nicht. Wie sonderbar! dachte
Grau und vergaß die Begegnung nicht wieder.

Nach einer Weile sah man Grau wieder die Staffeln herabkommen, einen
lächerlichen kleinen Zylinder auf dem Kopfe, eine Liste in der Hand. Er
ging rasch und schwebend. Er schritt über den Marktplatz und trat beim
Uhrenhändler Lux ein. Hier sprach er lange. Dann erschien der Uhrenhändler
Lux im Fenster, eine goldene Uhr in der Hand, er ritzte, prüfte, zwängte
ein Glas ins Auge und drehte die Uhr hin und her. Darauf verließ Grau
heiter den Laden und der Uhrenhändler verbeugte sich hinter ihm.

Grau ging in den »weißen Elefanten« und beglich seine Rechnung. Der
x-beinige mürrische Wirt bellte wie am Abend, aber er gab sich Mühe zu
lächeln. Hätte er gewußt, wer der Herr sei, so würde er ihm ein besseres
Zimmer gegeben haben. »Bitte, bitte, ich habe prächtig geschlafen!« Der
Wirt verbeugte sich vor Grau und Grau verbeugte sich vor dem Wirt. Die
blonde Frau sah übernächtig aus. Grau betrachtete sie mit einem
eigentümlichen Ausdruck der Augen, und ein fades Lächeln kam auf ihr
Puppengesicht und in ihre wasserblauen Augen. Grau errötete und ging.

Nun konnte man Grau mit seinem kleinen Zylinder, die Liste in der Hand, die
Straße hinab gehen sehen. Er verschwand in den Häusern, verhielt sich
einige Zeit darin und erschien wieder auf der Straße, um im nächsten Hause
zu verschwinden. Ganz wie ein Briefträger.

Was Grau in den Häusern tat, ist sehr einfach zu erklären. Er klopfte an
die Türe, zog den Zylinder, stellte sich vor und rückte mit der Liste
heraus.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, diese arme, alte Frau, sie ist im
höchsten Grade bedürftig, der Kummer macht sie auf einige Zeit
erwerbsunfähig -- dazu die Unkosten -- Grau, Vikar Grau -- dann ist ja auch
das Kind da, verzeihen Sie die Störung, ich bitte tausendmal um
Entschuldigung!«

Überall brachte er das gleiche vor. Die Leute räusperten sich, putzten sich
die Nasen, kamen in Verlegenheit -- denn Grau stand geduldig wartend da,
blickte sich lächelnd im Zimmer um und verbeugte sich ab und zu ein wenig
mit der Liste in der Hand -- sie fuhren hastig in die Taschen und
klapperten mit Schlüsseln. Hier und da waren aber diese Schlüssel absolut
nicht zu finden, und sie sprangen umher, rannten gegen Türen und Wände,
aber die Schlüssel waren ganz einfach fort. Man wird die Spende ins
Pfarrhaus senden.

»Schön, schön! Ganz nach Belieben, gnädige Frau. Darf ich Sie vielleicht
bitten, Namen und Betrag einzuzeichnen, hier in diese Liste, Bleifeder habe
ich, bitte hier. Es ist der Ordnung halber und dann ermutigt es die andern
Herrschaften -- denn wo ein Sperling ist, da sind auch schon zwei, wo zwei
sind, sind drei, wo drei sind, da sind auch gleich hundert, nicht wahr?
Hier, erlauben Sie gütigst, ein ungenannt sein wollender Wohltäter hat auf
einen Schlag zwanzig Mark gezeichnet, Herr Bürgermeister Stürmer zehn Mark,
Frau Tierarzt Hammer fünf, Frau Rentamtmannswitwe Ulzhöfer eine Mark --
wenn es auch nur eine Kleinigkeit ist -- mit einem Tropfen kann man den
Durst ja nicht löschen, aber in einer Ansammlung von Tropfen kann man recht
schön ertrinken -- danke, herzlichen Dank, gnädige Frau.«

»Vergessen Sie nicht zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, Herr Vikar!«

»Danke, auf keinen Fall! Ich danke Ihnen aufs herzlichste!«

Er kam in alle diese alten, krummen Häuser, in alle möglichen Stuben, zu
allen möglichen Menschen. Jedes Haus roch anders, die Treppen knarrten
anders. Die einen waren steil und dunkel und kletterten in eine Art von
Turm hinauf, andere waren breit und licht, knarrten vornehm und führten auf
weite, helle Vorplätze. Zuweilen stand man unvermutet dicht vor den Türen,
es gab aber auch Treppen, auf denen man sich verirren konnte; sie liefen
kreuz und quer, endeten im Boden oder führten auf einen Hof hinaus. All die
Glocken, die Grau an diesem Tage läutete, hätten zusammen ein Konzert
gegeben. Da waren schüchterne und anmaßende Glocken, gutgelaunte und
mißgestimmte, winselnde und lachende, solche die knarrten und fauchten,
bevor sie einen Ton herausstießen, andere, die bei der leisesten Berührung
in ein übermäßiges Gebimmel ausbrachen, die einen beruhigten sich sofort
wieder, die andern läuteten fleißig weiter; es gab freundliche Glocken, die
sofort höflich sagten: Herein, herein! es gab ungastliche, die brummten:
Geh weg, weg! Die Zimmer, in die Grau trat, waren weit und licht, oder
düster, oder schmal wie ein Omnibus. Es gab eine Menge von interessanten
Dingen zu sehen, eine Uhr aus Porzellan, einen Ofen, der merkwürdigerweise
an der ungeschicktesten Stelle im Zimmer stand, dafür aber die zwölf
Apostel auf den Kacheln zeigte, Schränke von unglaublicher Größe, förmliche
Häuser, alte Waffen, Truhen, Zinnkannen, in jedem Zimmer wenigstens etwas.

Grau sah sich alles aufmerksam an und nichts entging ihm. In einem Hause
rannten ihn zwei große Jagdhunde beinahe um, Kinder prügelten sich in einem
andern und rollten ihm unter die Füße, das aber brachte ihn nicht aus der
Fassung. »Bitte, bitte, ich bin ja der Eindringling, entschuldigen Sie --
Grau, Vikar Grau.« Er lächelte, verbeugte sich vor den jungen Mädchen, die
steif wie Besen dastanden, vor den Männern und Frauen, den Dienstboten, ja
vor den Hunden. An die Hausfrauen hatte er nach dem ersten Anliegen noch
ein zweites. Nachdem er sie mit Worten, Entschuldigungsformeln, Redensarten
und Sprichwörtern, die er selbst erfand, allen erdenklichen
Liebenswürdigkeiten genügend bearbeitet hatte, um sie für sein erstes
Anliegen günstig zu stimmen, rückte er noch mit einem andern heraus. Ja,
nämlich, wo sie Eier, Butter und Schmalz bezögen? Es wäre am Platze, diese
Eierhändlerin auch anderweitig zu unterstützen. -- »Darf ich Ihre Adresse
in dieses Notizbuch schreiben, wie? Die Frau wird sich erlauben, zu Ihnen
zu kommen, ich habe alles mit ihr besprochen. Gut!«

Er hatte überall Erfolg. Die Leute waren anfangs ein wenig erstaunt, aber
gegen so viel Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit konnten sie nicht
aufkommen. Dann waren es auch Graus Augen, die sie alle ansehen mußten. Wie
merkwürdig, dieser Mensch hatte goldene Augen. Auch seine Weise dazustehen,
zu plaudern, zu lächeln, so unerhört herzlich, frei und fein -- sie
zeichneten!

Das Gerücht ging vor ihm her und er fand sie alle vorbereitet; die Türen
waren entweder verschlossen oder sie öffneten sich sofort, als ob man
dahinter gewartet habe. Fräulein Karola Sperling, die Modistin, die in der
Stadt die »ewige Braut« hieß, ließ ihn sogar durch ein Mädchen bitten, bei
ihr vorzusprechen. Sie sah aus wie ein junges Mädchen und hatte weißblondes
Haar, ihre Manieren waren verschämt und kokett und doch war sie über
fünfzig Jahre alt. Ihr weißblondes Haar war an den Schläfen schneeweiß. Sie
hatte den Bräutigam im Kriege verloren und trauerte seitdem um ihn. Sie
erzählte Grau ihre ganze Lebensgeschichte, ein trauriges Idyll; sie zeigte
ihm auch das Bildnis des Bräutigams, eines Offiziers, während sie lächelte
und eine Träne verbarg. Zuletzt zeichnete sie dreißig Pfennig, nicht ohne
zu erröten. Grau dankte ihr aufs herzlichste und hätte ihr am liebsten die
Hand geküßt.

Ein feister, glänzender Herr mit einer großen Zigarre im Munde, die das
ganze Zimmer mit Rauch angefüllt hatte, wies ihn dagegen kurz ab. Er gab
prinzipiell nichts.

»Wieso?«

»Ja, zum Teufel -- Pardon! -- aber ich bin ein Feind von all diesen Dingen,
Almosengeben und Unterstützungen und so weiter,« sagte er und paffte, so
daß er nahezu in der Rauchwolke verschwand!

»Ah!« sagte Grau schüchtern. »Ich bitte um Entschuldigung, wenn es brennt,
so nimmt man Wasser und löscht und denkt nicht weiter. Man kann nicht
weniger geben als Geld, mein Herr, glauben Sie mir. Ich habe einen Mann
gekannt, der bei keinem Juden etwas kaufte, ja niemals mit einem Juden
sprach -- ebenfalls aus Prinzip! Was sagen Sie dazu? Hahaha! Aber könnten
Sie nicht eine Ausnahme machen -- diese unglückliche Eierhändlerin --«

»Ich habe weder mit Ihrem Manne noch mit der Eierhändlerin etwas zu tun!«

»Mehr als Sie glauben!« Grau setzte sich auf einen Stuhl, obgleich ihn der
feiste, glänzende Herr nicht zum Setzen aufgefordert hatte. »Weit mehr, als
Sie glauben. Ich habe beobachtet, daß eine Schwalbe in einer Dachrinne
festgeklemmt wurde, nun kamen hunderte von Schwalben --« begann er
lächelnd.

»Ich bin aber keine Schwalbe!« unterbrach ihn der feiste Herr mit einer
verzweifelten Gebärde und verschwand in der Rauchwolke.

»Mehr als Sie glauben, mein Herr!« sagte Grau und stand auf. »Entschuldigen
Sie, daß ich Sie in Ihrer Arbeit gestört habe. Vielleicht könnten Sie aber
Ihre Frau Gemahlin oder Ihre Haushälterin dazu bewegen, Eier und Schmalz
bei dieser armen Frau --«

Der Herr brach in ein zorniges Lachen aus. »Hier!« sagte er. »Hier nehmen
Sie drei Mark, basta. Aber meinen Namen lassen Sie hübsch aus dem Spiele!«
Er warf ärgerlich die Münze auf den Tisch.

Grau verneigte sich. »Also ungenannt sein wollender Wohltäter -- gut,
danke! Sehen Sie, wie recht ich hatte, Sie sind doch eine Schwalbe,
trotzdem!«

»Ich gebe Ihnen diese Kleinigkeit da,« sagte der Herr und stand auf,
»ehrlich gesagt, um meine Ruhe zu bekommen. Das ist der wahre Grund, der
wahre!«

»Das glauben Sie nur!« sagte Grau, merkwürdig lächelnd.

Der dicke Herr stutzte; er griff sich an den Kragen, dann lachte er, und
zwar ein komisches Gemisch von zornigem und vergnügtem Lachen.

»Ich war vielleicht etwas geradeaus!« sagte er lachend und seine Mienen
hellten sich mehr und mehr auf. »Aber es ist mein Prinzip, stets unverblümt
zu sagen, was ich denke! Ich bin ein Feind aller Verzärtelung und alles
Damenhaften! Hom, hom! Ich bin auch ein Feind der Damen, ehrlich gestanden,
hahaha! Ich bin auch ein Feind aller phrasenhaften Entschuldigungen,
verdamm' mich Gott! Aber ich bitte Sie, zum Zeichen Ihrer Nachsicht --
Ihrer -- ein paar meiner Zigarren zu rauchen. Bitte, bitte!«

Grau wollte ablehnen, aber der feiste Herr schüttelte erregt den Kopf und
fuhr so energisch in die Zigarrenkiste, daß es aussah, als ob er Grau alle
Zigarren auf einmal geben wollte. Je tiefer seine Hand aber in der Kiste
wühlte, desto mehr mäßigte er seine Erregung und als er die Hand zurückzog,
befanden sich nur vier Zigarren darin; er legte sie vor Grau auf den Tisch,
merkwürdigerweise jedoch blieb eine Zigarre in seinen Fingern hängen und
wanderte wieder in die Kiste zurück.

Grau dankte, nahm zwei Zigarren und ging. Der Herr begleitete ihn hinaus,
bis ans Stiegenhaus, und verneigte sich laut lachend.

»Also, ich bitte nochmals um Entschuldigung, ich bin zuweilen sehr reizbar
-- hahaha -- auf Wiedersehen, Herr Grau!« Er lachte noch in das Stiegenhaus
hinein, als Grau schon das Haus verlassen hatte.

Grau kam auch zu dem Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals. Hier
mußte er eine Tasse Kaffee annehmen. Der Schuhmachermeister versprach, die
Schuhe der alten Frau kostenfrei auszubessern, zu sohlen, zu flecken, auch
eine Filzsohle wollte er hineinlegen. Übrigens bezog er Eier und Schmalz
schon von ihr.

»Vergessen Sie ja nicht, zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, neben
dem >Elefanten<, das alte Haus -- er ist der reichste Mann der Stadt!«

»Auf keinen Fall!«

Graus Liste wuchs. Es ging die Straßen links hinunter und rechts herauf. Er
vergaß kein Haus. Auf diese Weise lernte er die ganze Stadt kennen; er
machte die Bekanntschaft von vielen liebenswürdigen Menschen; viele Güte,
die sich in einem Lächeln verriet, viel Stolz und Feinfühligkeit, die sich
in einem Verstecken des Blickes offenbarte, ja, selbst Adel, den Grau in
einer kleinen Bewegung der Hand entdecken konnte. Versteckte Schönheiten
und viel Sehenswertes, so daß er sich für die geringe Mühe überreich
belohnt fühlte. Seine Laune wurde noch besser. Endlich kam er zum x-ten
Male auf den Marktplatz und ging auf Eisenhuts Haus zu.

Da lag dieses Haus, in dem der reichste Mann der Stadt wohnte, inmitten all
dieser gepflegten, gestrichenen und mit Schnitzwerk und Erkern gezierten
Häuser, grau, elend und verwahrlost. Ein kalter Hauch ging von ihm aus. Der
Bewurf war an vielen Stellen herabgefallen und die nackte Mauer blickte
hervor, es war geschwärzt von Ruß und lange, schmutzige Regenspuren liefen
vom Dache bis zum Erdgeschoß herab wie Tränenspuren über ein altes,
schmutziges Gesicht. Kinder hatten Gesichter an die Wand gemalt und unter
einem riesigen Kopf mit spitziger Nase und zwei kleinen Augen auf der
gleichen Seite des Gesichtes stand geschrieben: »Ich bin der Geizhals
Eisenhut, bembele bembum --.« Von der Türe war die Farbe gesprungen und sie
sah fleckig aus wie ein Pilz und so staubig, als hinge der ganze Staub vom
letzten Sommer daran.

Grau zog an einem Glockenring und eine Glocke im Hause bellte wie ein
alter, heiserer Hund. Grau läutete drei-, viermal, die Glocke bellte und
klaffte, aber niemand öffnete.

Vor dem Nachbarhause stand der Schlächtermeister Keim unter der Tür des
Ladens, dick und wohlgenährt, eine Kappe auf dem Ohr. Er stemmte die Fäuste
in die Hüften und seinen Bauch erschütterte ein verhaltenes Lachen.
Trotzdem es Winter war, glänzte er von all dem Fett, das er ausschwitzte,
seine Schürze flatterte leicht und er erweckte durchaus nicht den Eindruck
der Schwere trotz seiner Dicke. Er erinnerte an einen jener komischen
Papierballone, die man zur Volksbelustigung an Jahrmärkten steigen läßt,
und das Zittern des Bauches drückte gleichsam die Ungeduld des Ballons aus,
in die Höhe zu segeln.

»Er ist da, er ist zu Hause!« sagte der Schlächtermeister Keim und schon
zitterte das Lachen in seinen dicken Backen. »Er ging soeben hinein.«

Grau läutete wieder.

»Unterdessen,« sagte er zu dem Schlächtermeister, »ich komme in einer
Angelegenheit, die nicht nur Herrn Eisenhut betrifft -- Grau, Vikar Grau --
Sie kennen diese alte Frau Sammet, diese Eierhändlerin, Herr Keim, nicht
wahr, das ist Ihr Name -- auf dem Firmenschild da --«

»Jawohl, Keim, so heiße ich.«

»Wer so prächtig aussieht wie Sie -- hier ist die Liste -- deswegen wird
kein Auge weniger auf der Suppe schwimmen --«

In dem Gesichte des Schlächtermeisters, der vor Wohlgenährtheit nahezu
platzte, verschwand augenblicklich jede Spur von Fröhlichkeit, ja, er sah
plötzlich betrübt aus. Er hatte in letzter Zeit soviel gegeben, daß er
wirklich nicht mehr konnte. Er rückte die Kappe vor, um sich hinterm Ohr
kratzen zu können. Jeden Tag käme etwas Neues.

Grau sah ihn an und lächelte. »Aber wer so gütig aussieht wie Sie?« sagte
er. »Ich glaube ja gerne, daß Sie in der letzten Zeit stark in Anspruch
genommen wurden, aber das ist doch ein besonderer Fall, nicht wahr?«

»Jeder Fall ist eben besonders.« Der Schlächtermeister steckte die Hände in
die Hosentaschen und schaukelte leise auf den kurzen schwammigen Beinen hin
und her.

Grau lächelte. »Erlauben Sie,« begann er von neuem, »würden Sie sich zu
einer kleinen Gabe entschließen können, wenn ich Ihnen einen Scherz
erzählte, über den Sie herzlich lachen müssen und den Sie Ihr ganzes Leben
-- ich sage, Ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen?«

Herr Keim bemühte sich ein ernstes Gesicht zu machen.

»Das kommt darauf an!« sagte er und spuckte gleichgültig in den Schnee.

Grau sagte lächelnd: »Hören Sie, Sie heißen Keim, aber wenn Sie schon Keim
heißen, so muß man zugeben, daß der Keim hübsch aufzugehen verspricht!«

Der dicke Fleischer brach augenblicklich in ein lautes Gelächter aus. Er
hielt den hüpfenden, dicken Bauch mit den beiden Händen und schüttelte
sich.

»Hahaha!« lachte er und hustete, »hahaha!«

Grau wippte mit der Liste und Herr Keim gab zwei Mark.

Da rasselte etwas an der alten fleckigen Haustüre und ein Guckfensterchen,
nicht größer als eine Streichholzschachtel, fiel herab.

Dieses Geräusch des herabfallenden Fensterchens kam Grau bekannt vor. Und
nun schien es ihm, als ob er dieses Guckfensterchen selbst schon vorher
gesehen hätte.

Ein Auge funkelte in dem Guckloch und eine zaghafte, hohe Fistelstimme
fragte:

»Wer ist da?«

»Ist Herr Eisenhut zu Hause?«

»Nein!« antwortete die Fistelstimme und Grau glaubte ein feines Kichern zu
hören.

»Wann kommt er denn zurück?«

»Er ist verreist!« Das Guckfensterchen schloß sich wieder.

Grau verließ die Türe mit einer eigentümlichen Empfindung. Wie merkwürdig!
dachte er und die Fistelstimme klang ihm noch lange im Ohr, während er die
Jungferntreppe hinaufstieg, eine Art von schmalem Kamin, der zwischen
kahlen Hauswänden und Gartenmauern zur Höhe führte. Er wollte im Schlosse
vorsprechen, jenem weißen Herrschaftshause, das er heute von seinem Fenster
aus gesehen hatte.

Er ging durch den weiten Park, dessen Bäume so hoch waren, daß er sich
winzig klein dagegen vorkam, und sann darüber nach, wo er das kleine
Guckfensterchen schon gesehen habe. Jenes Geräusch, das es beim Herabfallen
verursacht hatte, verfolgte ihn hartnäckig. »Es ist doch höchst einerlei,«
sagte er vor sich hin, »wo ich solch ein Guckfenster schon gesehen habe,
was liegt viel daran? Aber trotzdem, trotzdem! Ich habe dieses Guckfenster
schon gesehen oder vielmehr gehört, das ist es.« Er schüttelte den Kopf und
stand vor dem weißen Hause. Nun erst sah er, daß ein Flügel des
Herrschaftshauses eingeäschert war bis auf den Grund. Die Brandstätte war
abgeräumt, Gerüststangen waren eingerammt, aber man sah keine
Handwerksleute.

Er stieg die Treppe hinauf, öffnete die schwere Türe und stand plötzlich
vor einem pechschwarzen Neger, der eine Laterne auf dem Kopfe trug.

»Ach,« ging es ihm durch den Kopf, »jetzt erinnere ich mich! Ich habe
dieses Guckfensterchen schon gesehen in einem Hause, in dessen Flur eine
alte Holzfigur stand, ein Heiliger. Die Arme des Heiligen waren
abgeschlagen. Aber wo, wo denn?«

Der pechschwarze Neger war aus Bronze und von der Laterne hingen schwere
Messingketten herab. Grau wollte eben an einer Türe pochen, als ein Diener
hinter ihm fragte, was der Herr wünsche. Die Jacke des Dieners war
gestreift und erinnerte an das Fell eines Zebras. Der Diener öffnete die
Türe eines kleinen Salons und bat Grau zu warten.

Der Salon wurde von einem Sonnenstrahl erhellt, der sich durch die Gardinen
zwängte. Die Möbel waren hell und niedrig und standen auf zierlichen weißen
Beinen.

Grau wartete und wagte nicht zu atmen, so still war es hier und so vornehm.
Er hätte sich gerne geräuspert, aber das ging wohl nicht gut hier. Da hörte
er einen gedämpften Schritt und eine junge Dame erschien in der Türe.

Sie nickte und fragte: »Womit kann ich Ihnen gefällig sein?« Sie sprach
höflich aber kühl.

Grau erwiderte nichts. Er sah die junge Dame an. Sie hatte auffallend
reiches Haar von tiefschwarzer Farbe und war von fremder, stolzer
Schönheit. Sie stand im Schatten und ihr Gesicht sah lang und bleich aus.
Ihre Augen waren klar und ernst. Aber das Merkwürdige daran war, daß sie
heller aussahen als selbst die blassen, langen Wangen. Das kam von den
schwarzen wie Atlas glänzenden Haaren, die fast die ganze Stirn bedeckten
und von den langen glänzenden Wimpern, die die Augen einsäumten. Etwas von
dem Glanze, der Kerzenlicht bei Tag eigen ist, war in diesen Augen.

»Womit kann ich Ihnen gefällig sein, mein Herr?« wiederholte das Mädchen.

Grau brachte hastig seine Bitte vor, und die junge Dame erwiderte, daß sie
mit ihren Eltern sprechen werde und ihm Bescheid zugesandt werden würde.

Grau verbeugte sich und sah noch einmal in dieses schöne, regungslose
Gesicht und ging. Er vergaß ganz mit seiner Liste herauszurücken und zu
fragen, wo die Herrschaften Eier und Schmalz bezögen.

Er ging rasch durch den Park hindurch und war so erregt, daß er nichts sah
und nichts hörte, bis er wieder auf dem Marktplatze stand.

»In welche Stadt bin ich doch da geraten!« flüsterte er. »Zuerst diese
Sache mit dem Guckfensterchen und nun dieses Mädchen. Ich habe ja dieses
Mädchen schon einmal gesehen, irgendwo und irgendwann, ich erinnere mich
deutlich an dieses Gesicht und diese sonderbaren Augen.«

Er eilte weiter und erst nachdem er bis zum Flusse hinabgelaufen war, fiel
ihm ein, daß er noch einen Besuch hatte machen wollen.




Achtes Kapitel


Grau sprach bei Frau Bezirksamtmann Häberlein vor, wo das Dienstmädchen
zuletzt gedient hatte. Hier hielt er sich längere Zeit auf.

Die Frau des Hauses, eine Dame mit breiten Hüften, schmaler, fast
zierlicher Büste, porzellanartigem Teint und viel äußerlicher Vornehmheit,
empfing ihn mit übersprudelnder Herzlichkeit im Salon. Ihre Stimme bimmelte
immerfort wie ein kleines helles Glöckchen, besonders hell, wenn sie
lachte; sie konnte aber auch und zwar ganz unvermittelt, Teilnahme,
Mitleid, Resignation, Ergebenheit, Schmerz, Trauer und sogar Verzweiflung
ausdrücken, um gleich darauf wieder in Heiterkeit zu erklingen.

Frau Häberlein verheimlichte nicht, daß sie ein wenig verletzt sei, da Grau
so spät erst zu ihr komme. Als Frau des Bezirksamtmannes spielte sie die
Rolle einer Königin in der Stadt und jeder ankommende Beamte beeilte sich
ihr augenblicklich unter tiefen Bücklingen seine Ergebenheit zu Füßen zu
legen. Aber als Grau ihr mitteilte, daß er absichtlich zuletzt zu ihr
gekommen wäre, um sich über das unglückliche Mädchen näher zu erkundigen,
erklang das kleine Glöckchen ihrer Stimme um so lebhafter und heller. Mit
Vergnügen!

Sie begann sofort eifrig zu sprechen, schien aber merkwürdigerweise Graus
Anliegen zu vergessen. Sie sprach von ihrem Gatten, ihrem Vater -- sie war
von adeliger Abkunft -- eine Menge Offiziere in bunten Uniformen und mit
ordengeschmückter Brust tauchten auf, besonders ein General, ein Onkel von
ihr, erfreute sich ihres Interesses, und schließlich wimmelte es in ihrem
Gespräche von Herren und Damen wie in einem Ballsaal. Sie plauderte ohne
Pause, mit vor Liebenswürdigkeit und Eifer glänzenden Augen, die sie nur
gelegentlich von Grau abwandte, um sie einem schrägen Wandspiegel
zuzuwenden, in dem sie sich selbst sprechen sehen konnte. Wie man einen
Hasen mit Speck verziert, so war ihr Gespräch mit Worten und Zitaten aus
allen lebenden und toten Sprachen gespickt.

Glücklicherweise mußte sie niesen und es gelang Grau ihr ins Wort zu
fallen. Er erfuhr nun die näheren Umstände der Katastrophe, Einzelheiten
aus dem Leben des Mädchens, nichts wesentlich Neues.

Ja, sie sei ein braves, ein sehr fleißiges Mädchen gewesen, ordentlich,
reinlich, sparsam, ehrlich, frohsinnig -- mit einem Wort -- es sei sehr,
sehr schade, daß sie so traurig enden mußte.

»Man sagt, ein Fleischergeselle soll der Vater ihres Kindes sein?«

Wie unangenehm ihr die ganze Angelegenheit sei -- wie peinlich -- bei all
dem Bedauern mit dem armen Mädchen, natürlich -- kein Mensch könne sich
vorstellen -- wie peinlich ihr die Angelegenheit sei. »Ja, so sagen die
Leute, der Bursche aber leugnet es.«

»Er wollte wohl nichts mehr wissen von ihr?«

»Nicht eigentlich das. Er wartete oft stundenlang vor der Haustüre --
Margarete klagte oft darüber -- er belagerte das Haus, so daß ich meinen
Gatten aufforderte es ihm zu untersagen.«

»In den letzten Monaten wartete er?«

»Ja, sogar in den letzten Wochen.«

Grau versank in Nachdenken. »Das ist sehr merkwürdig,« sagte er. Er dachte
nach und erinnerte sich erst wieder, wo er war, als Frau Häberlein sich
leise räusperte.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau,« sagte er, »darf ich noch fragen, wie
lange das Mädchen in Ihrem Hause gedient hat?«

»Ein halbes Jahr. Genau ein halbes Jahr.«

»Und vorher?«

»Bei Herrn Eisenhut. Ach, solch eine heikle und penible Angelegenheit!«

Grau erhob sich. »Entschuldigen Sie die lange Störung, gnädige Frau!« Er
verbeugte sich. »Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet für Ihre gütige
Aufklärung.« Er ging, aber unter der Türe wandte er sich zurück und sagte:
»Noch eine Frage, verzeihen Sie gütigst. Von welcher Farbe waren die Augen
des Mädchens?«

Frau Bezirksamtmann Häberlein lächelte und sagte mit feiner Stimme, sie
bedaure, so genau pflege sie ihre Dienstmädchen nicht zu betrachten.

»Ja, entschuldigen Sie gütigst. Aber Sie mußten es ja sehen, ohne zu
wollen. Waren die Augen braun oder grau oder blau, erinnern Sie sich
nicht?«

»Wenn ich mich recht erinnere, so hat sie braune Augen gehabt, dunkelbraune
Augen, die im Dunkeln schwarz und glänzend aussahen. Sicherlich waren sie
braun, ja, ich glaube ganz sicher zu sein.«

»Das stimmt mit der Aussage der Mutter des Mädchens überein,« sagte Grau.
»Danke.«

Die Sammlung hatte eine hübsche Summe eingebracht, Grau war zufrieden und
lachte in sich hinein. Ordentlich habe ich abgegrast, dachte er. Er ging
geradeswegs ins Waisenhaus.

Die Schwestern empfingen ihn mit wenigen feierlichen und gütigen Worten in
den stillen Räumen, in denen sie sich ohne Laut bewegten. Er gab das
gesammelte Geld ab, die eine Hälfte bestimmte er für die alte Frau, die
andere Hälfte bat er für die Verpflegung des Kindes zu verwenden.

»Kann ich das Kind sehen?« fragte er.

»Oh, recht gern können Sie das,« lispelten die Schwestern und er sah das
Kind. Er betrachtete es lange und aufmerksam. »Es kann ein schönes Kind
werden,« sagte er, »was für kluge, hellgraue Augen es doch hat! Ist es
nicht auffallend zierlich gebaut? Aber es sieht kränklich aus, oder täusche
ich mich?«

Ja, der Arzt sei ebenfalls nicht zufrieden, es liege an der Amme. Eine
Schlossersfrau habe sich erboten, das Kind zu nähren, aber sie sei
brustleidend.

»Nein, das geht freilich nicht. Ich werde nachfragen. Sie haben niemand im
Hause, der das Kind stillen könnte?« fragte Grau.

Die Schwestern lächelten und erröteten unter der weißen Haube. »O nein,«
flüsterten sie.

Grau sah sie erstaunt an. Dann errötete auch er und machte sich eiligst
davon. »Du bist doch der größte Dummkopf der ganzen Welt,« sagte er zu sich
und lachte in sich hinein.

Am andern Morgen besuchte er zum Erstaunen der Leute alle drei Hebammen,
die es am Platze gab, um nach einer geeigneten Amme zu fragen. Er war den
halben Tag unterwegs, bis es ihm gelang, eine Magd dazu zu überreden, sich
des verwaisten Kindes anzunehmen. Die Magd war derb und stark, sicherlich
gesund und nach Graus Meinung imstande zwei, drei Kinder spielend zu
stillen. Die Magd erklärte sich nach langem Sträuben bereit, aber nun stieß
er unerwartet auf Schwierigkeiten bei der Dienstherrschaft.

Das waren zwei alte Leutchen, ein alter Rentier und seine Gattin, und sie
wollten die Erlaubnis nicht hergeben. Sie waren ohnedies ärgerlich, daß das
Mädchen, eine Verwandte von ihnen, in ihrem Hause geboren hatte, und
wollten nicht, daß es noch weiter bekannt wurde als es schon war. Sie
blickten einander an, der Alte, der eine Kappe mit einer Quaste auf dem
kahlen Schädel trug, und seine Frau, eine verschrumpfte Greisin mit
schneeweißem störrischen Haar und pfiffigem Lächeln, und sagten nein, ein
für allemal nein. Da saß denn Grau zwei geschlagene Stunden auf einem
harten Sofa und führte die Unterhandlung mit den beiden Alten, die noch
dazu schwerhörig waren. Der Greis beschäftigte sich damit, aus einem Topfe
Mehlwürmer hervor zu suchen für ein Rotkehlchen, das lustig in seinem Bauer
trillerte. Dann zerdrückte er Hanfkörner mit einem Bügeleisen. Die Greisin
tat nichts, sie saß da und blickte pfiffig lächelnd auf Grau.

Grau gab sich alle erdenkliche Mühe, aber die Alten rührten sich nicht.
Endlich sagte der Alte mit der Quaste: »Wir sind ja katholisch, mein Herr,
das Dienstmädchen aber ist ja protestantisch gewesen.«

Grau lachte. »Aber, du gütiger Himmel.«

Nun wollte der Greis den wahren Grund sagen. Er sagte: »Das wäre es ja
nicht, Herr, aber es wird so bekannt -- so bekannt überall -- und wir
wollten in aller Stille Gras über das Kind unserer Verwandten wachsen
lassen.«

»Gut! Aber man muß sich doch des verlassenen Kindes annehmen, nicht wahr?«

Oh, da gebe es ja die schwere Menge, sagte die Greisin und lächelte
pfiffig.

»Ganz einerlei! Man muß sich jedes einzelnen Kindes annehmen. Da ist nun
der Herr beschäftigt, Hanf zu knacken und er hat extra Mehlwürmer gezüchtet
und richtet jeden einzelnen her für sein Rotkehlchen wie einen Braten, man
kann recht gut beobachten, mit welcher Sorgfalt er es tut -- und nun ein
Kind! Ein Menschenkind! Vielleicht wird etwas Besonderes aus ihm -- das ist
wie eine Lotterie, vielleicht ist es ein Treffer.«

Man gewinne nie etwas. Der Alte mit der Quaste gluckste. Er band sich eine
grüne Schürze um und begann Schleißen zu schnitzen.

»Oh, erlauben Sie recht sehr, ich habe bei einem Tischler gewohnt, der
gewann das große Los -- er hat jetzt ein Karussell und ein
Wachsfigurenkabinett, zieht umher und bläst die C-Trompete« -- nein,
vielleicht sei es nur ein kleiner Treffer, oder gar kein Treffer, man müsse
sich des Kindes unbedingt annehmen.

Die Alten sahen einander an, lächelten, glucksten und sagten: »Nein!«

Grau wechselte das Thema. Er sprach über alles mögliche, über die Zucht von
Mehlwürmern und die Lebensweise der Rotkehlchen, über die
Verkehrsverhältnisse in früherer Zeit und was für eine Sache das doch
gewesen sei, mit Zunder und Stein Feuer zu machen. Die Alten lachten und
glucksten und machten es ihm vor. Sie konnten es, ja, das war eine Freude,
es zu sehen! In der ganzen Stadt gibt es vielleicht keinen mehr, der es
kann! Alterchen ging, um Kaffee aufzutischen, das andre Alterchen nahm die
grüne Schürze wieder ab, nachdem es genug Schleißen zum Anschüren
geschnitten, und brachte aus einem Schranke ein Gläschen mit Öl, ein paar
alte Schlüssel und krumme Nägel und ölte all das mit einer Taubenfeder
behutsam ein.

Grau erkundigte sich, ob sie Söhne oder Töchter hätten. Ja, das hatten sie,
einen Sohn, zwei Töchter. Nun wollte Grau gerne wissen, wo sie lebten, wie
sie lebten, ob sie gesund und glücklich seien, welchen Beruf der Sohn und
die Schwiegersöhne hätten, jede Kleinigkeit. Aber ehe sich's die beiden
Alten versahen, sprang Grau auf die Enkel über, ja, diese Enkelchen, nicht
wahr? Sechs, oh du meine Güte! Die Greisin ging und brachte Photographien
herbei und der Greis putzte sich die Hände an einer Zeitung, einem Ballen
Putzwolle und einem wollenen Lappen und entnahm dem Schubfache ein
Vergrößerungsglas, denn er mußte nun die Enkel ebenfalls genau sehen.

Grau fragte, wie alt die Enkel seien, wann sie geboren seien, ob sie krank
waren, er mußte alles genau wissen. Er sah die Bilder an, lobte den
trotzigen Zug eines Knaben, über den kleinen Zopf der Enkelin Babettchen
wurde er ganz außer sich vor Freude. Er besang diese Enkel. Ja, so klug, so
gesund, so blühend --

Die beiden Alten kicherten und glucksten.

Plötzlich sagte Grau: »Also, wie steht es jetzt mit der Amme? So ein armes,
verwaistes Kindchen, nicht wahr?«

Die Alterchen erschraken -- denn jetzt konnten sie ja nicht mehr, sie
konnten nicht -- sie sagten: »Ja.«

Grau schüttelte ihnen die Hände. Der Alte nahm die Kappe mit der Quaste ab
und ließ es sich nicht nehmen, Grau an die Türe zu begleiten; sein kahler
Schädel glänzte wie ein Feuerwehrhelm.

»Da fällt mir noch etwas ein,« sagte Grau, »könnten Sie nicht im Frühling
Ihr Rotkehlchen fliegen lassen, zum Beispiel?«

»Wie?«




Neuntes Kapitel


Als Grau nach Hause kam, warteten drei Leute auf ihn. Zwei Dienstmädchen,
die Geld brachten, das die Herrschaft gezeichnet hatte; dann stand noch
eine kleine, elend aussehende Frau da, die ihn zu sprechen wünschte.

Sie war die Frau eines Flickschneiders, ihr Mann war krank und dazu waren
noch fünf Kinder zu erhalten. Sie hatte nun gedacht, vielleicht könnte Herr
Grau ihr helfen.

Grau freute sich über ihr Vertrauen. »Ich danke Ihnen!« sagte er und
drückte ihr die Hand und seine Augen leuchteten. »Bitte, treten Sie ein!«
Er plauderte mit der Frau, der es offenbar Erleichterung verschaffte, ihm
ihr Herz auszuschütten. Sie war sehr arm, der Kranke hatte nicht einmal ein
ordentliches Bett. Grau ermutigte sie und sprach mit ihr wie ein Freund.
Dann ging er in die Küche hinaus, wickelte etwas Geld in Papier und übergab
es der Frau. »Ich werde morgen früh kommen,« sagte er. »Sagen Sie keinem
Menschen etwas davon,« fügte er flüsternd hinzu, »und kommen Sie heute
abend mit einem Karren zu mir, ich habe den ganzen Keller mit Holz gefüllt.
Auch ein Bettstück will ich Ihnen geben, es muß natürlich unter uns
bleiben, denn die Sachen gehören ja zum Hause und nicht mir, es muß ganz im
geheimen geschehen.«

Grau machte Feuer und packte eine Bücherkiste, die eingetroffen war, und
den roten Reisesack aus. Das nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Die Bücher
stellte er, ohne sie anzusehen oder zu ordnen in ein Gestell, der rote
Reisesack enthielt nur weniges. Ein alter Anzug, etwas Wäsche, ein Pack
beschriebener Papiere, Hefte, zwei zusammengerollte Bilder, ein Glasprisma,
eine Tabakspfeife, eine verkorkte Flasche Rotwein und verschiedene
Kleinigkeiten. Die Flasche Rotwein, die ihm ein Freund, ein
Gefängnisdirektor, auf die Reise mitgegeben hatte, stellte er in die Ecke,
die Tabakspfeife stopfte er und setzte sie in Brand. Die Pfeife war von
jener Art, wie Jäger und Bauern sie rauchen. Der Kopf einer Gemse war auf
den Porzellankopf gemalt.

Die Pfeife war kaum richtig im Gange, als es klopfte und der
Fleischergeselle Anton Hammerbacher eintrat. Er war ein dicker, kleiner
Mensch, trug eine Bluse, eine aufgerollte Schürze und gestickte Hausschuhe.
Sein Gesicht war rund und freundlich, seine Backen leuchteten wie rote
Äpfel, aber seine kleinen dunklen Augen waren scheu und verschlagen.
Auffallend an ihm war, daß er immerfort den Mund zu einem breiten Lächeln
verzog und sich vergeblich abmühte, ein ernstes Gesicht zu machen. Seine
Hände waren vor Kälte aufgesprungen und das rote Fleisch sah hervor.

Er sagte, daß er hierher käme, weil es nicht mehr auszuhalten sei. Sie
hätten ihn fast totgeschlagen, niemand verkehre mehr mit ihm, aus dem
Kegelklub hätten sie ihn gestrichen und der Metzgerverein habe ihn
ausgestoßen.

Grau rauchte die Pfeife. »Setzen Sie sich, bitte, nehmen Sie Platz,« sagte
er, indem er den Burschen von oben bis unten musterte. »Es ist mir sehr
angenehm, daß Sie kommen, wenn ich offen sein will, ich habe Sie auch
erwartet. Wenn Sie nicht gekommen wären, so hätte ich Sie aufgesucht. Sie
haben ein Verhältnis mit Fräulein Margarete Sammet gehabt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wann hat es geendet?«

»Vorige Weihnachten.«

»Gut. Und warum? Haben Sie es abgebrochen oder das Mädchen? Erzählen Sie
mir, wie es herging. Und erlauben Sie mir, daß ich unterdessen diese Sachen
hier in Ordnung bringe. Sie können ganz frei reden, denn es wird alles
unter uns bleiben, ich gebe Ihnen mein Wort.« Grau streckte ihm die Hand
hin.

Der Bursche mit den rotleuchtenden Backen begann zu erzählen. Grau
unterbrach ihn.

»Ein Wort noch,« sagte er. »Sie können mir alles sagen und Sie dürfen
sicher sein, einen Freund und Ratgeber in mir zu finden. Lügen Sie nicht,
denn es ist so lächerlich zu lügen und auch ganz und gar unsinnig, denn ich
fühle es ja sofort, ich höre es am Ton Ihrer Stimme. Nun, bitte!«

Grau nagelte die zwei Bilder, die sich im Reisesack gefunden hatten, an die
Wand, während der Bursche erzählte. Das eine Bild war ein Farbdruck nach
einem wenig bekannten alten Niederländer; es stellte einen Heiligen dar,
der in einer Landschaft saß und dachte. An seiner Seite saß ein kleines
weißes Lamm. Der Heilige hatte den Kopf in die rechte Hand gestützt und
sein Gesicht zeigte einen so tiefen Ausdruck des Nachdenkens, daß es nahezu
idiotisch erschien. Aber gerade dieses nachdenkliche, nahezu idiotische
Gesicht liebte Grau an dem Bilde. Er liebte auch die nackten Füße des
Heiligen, sie waren unschön, eckig, die Zehen aufwärts gestellt; aber auch
diese Füße schienen nachzudenken. Nach Graus Meinung war dieses Bild eines
der größten Meisterwerke psychologischer Darstellung. Das andere Bild war
eine Radierung von Klinger, die Grau irgend einer Zeitschrift entnommen
hatte: Ein nackter Jüngling, der mit verhülltem Gesicht vor dem offenen
Meere im Grase kniet. Es war betitelt: An die Schönheit.

»Das heißt, sie fing an das Feine zu lieben, ist es nicht so?« wandte sich
Grau an den Burschen.

»Ja,« sagte der Bursche. »Sie sagte, ich rieche wie das Schlachthaus. Sie
kaufte mir einen Hut, weil ihr meine Mütze nicht gut genug war, sie konnte
auch meine Bluse nicht mehr leiden. Ich habe mir dann alles neu gekauft,
aber sie wollte trotzdem nichts mehr wissen von mir.«

»Man hat Sie aber im Sommer noch und im Herbst mit dem Mädchen gehen sehen,
was sagen Sie dazu?«

Das sei wahr. Sie habe ihm einmal zugerufen auf der Straße, wie es ihm
gehe. Darauf habe er sie gefragt, ob es nicht wieder wie früher zwischen
ihnen sein könne.

»Was hat sie darauf geantwortet?«

»Sie hat gesagt, sie wolle es mir bald sagen.«

»Hat sie wirklich bald gesagt?«

»So ähnlich. Sie kann auch bald gesagt haben.«

»Und das nächste Mal, sagte sie es da?«

Der Bursche schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »aber sie war sehr gut
zu mir. Ich habe mit ihr unter der Türe gesprochen. Es war ein sehr schöner
Abend und ich sagte, ob wir nicht ein wenig spazieren gehen könnten. Wir
gingen bis ans Tor aber da blieb sie stehen und sagte, sie müsse heim. Ich
wußte nicht, was sie hatte. Sie weinte auch ein wenig.«

»Sie verstanden sie nicht mehr?«

»Nein.«

»Damals war sie schon sehr unglücklich!« sagte Grau und nickte.
»Verzweifelt war sie damals schon. Sie dachte, vielleicht kann er mir
helfen, aber trotzdem sie schon ganz verzweifelt war, tat sie doch nichts
Unehrenhaftes. Sie haben keine Unwürdige geliebt, mein Freund. Aus all dem,
was mir die Leute erzählt haben, konnte ich mir ein Bild von Fräulein
Sammet machen. Sie hätten wohl alles für sie getan?«

»Ja!«

Grau nickte. »Das ist schön von Ihnen und macht Ihnen alle Ehre. Halten Sie
das Gedächtnis der Toten hoch!«

Plötzlich nun zog Grau einen Ring mit einem winzigen blauen Stein aus der
Westentasche und hielt ihn Hammerbacher dicht unter die Augen. Er sah den
Burschen mit scharfen, eigentümlichen Blicken an. Der Bursche saß verblüfft
und sah fast erstarrt zu Grau empor.

Grau lächelte unmerklich.

»Ich habe schon mit ganz anderen Leuten gesprochen,« sagte er leise und
ließ den Burschen nicht aus den Augen, »mit Verbrechern und Mördern, aber
sie konnten mir nicht auskommen, sie mußten die Wahrheit sagen. Und nun,
haben Sie den Ring dem Mädchen gegeben? Sie wissen ja von welcher Bedeutung
dieser Ring ist. Nun? Nein? Gut!«

Grau steckte den Ring wieder in die Westentasche, er lächelte und klopfte
Hammerbacher auf die Schulter. Er fuhr in verändertem Tone fort: »Ich will
Ihnen sagen, was ich denke, mein Freund. Wir brauchen kein Wort mehr über
diese Angelegenheit zu sprechen. Ich habe das und jenes gesagt und gefragt
um Sie zu prüfen, um ganz sicher zu gehen. Sie sind unschuldig, absolut
unschuldig. Fräulein Sammet hätte sich ja auch nicht das Leben genommen,
wenn Sie der Vater des Kindes wären. Es ist vielmehr so, irgend einer hat
sie beschwätzt, einer aus einer höheren Schichte der Gesellschaft. Sie hat
ihn geliebt, auch das weiß ich, ich sage Ihnen nicht, wieso ich es weiß.
Und er, ein roher, ungebildeter Patron, hat das Mädchen auf dem Gewissen.
Ich sah mir zum Beispiel auch Ihre Augen an, Herr Hammerbacher -- aber das
hat ja wenig zu sagen, ich könnte mich ja allein schon auf mein Gefühl
verlassen. Ihre Nähe macht mich weder unruhig noch zweifelnd! Ich will
Ihnen sagen, ich war früher Gefängnisprediger und Dutzende von Gefangenen
haben mir geschworen, daß sie unschuldig seien. Sie haben geweint, sich
fromm gestellt, wahnsinnig gestellt -- man fühlt aber nur zu deutlich was
Wahrheit und was Lüge ist. Aber hören Sie, unter diesen vielen Dutzenden
war einer, der wirklich unschuldig war. Sein erster Blick sagte es mir! Er
sollte zehn Jahre absitzen wegen eines Verbrechens, das er nicht beging --
er ist nun frei. Doch, das alles gehört ja nicht hierher, ich will Ihnen
nur sagen, daß von meiner Seite nicht der geringste Verdacht auf Sie fällt
und daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, um Ihre Ehre zu
verteidigen!«

Der Bursche verzog den Mund und zeigte seine großen schaufelförmigen Zähne.

Grau stopfte die Pfeife und steckte sie in Brand. Er setzte sich
Hammerbacher gegenüber und sagte in vertraulichem Tone: »Nun sollen Sie mir
aber einiges erzählen. Sie wissen ja, ich bin erst wenige Tage hier und
weder mit den Verhältnissen der Stadt noch mit den Menschen hier vertraut.
Ich bin nun nicht gerade neugierig -- aber ich habe meine Gründe -- die
Unterredung bleibt natürlich ganz unter uns. Das versprechen Sie mir. Wo
hat Fräulein Sammet zuerst gedient?«

»Bei einem Wirt in Weinberg.«

Grau stellte einige Fragen. »Und hierauf?«

»Bei Herrn Eisenhut.«

»Gut. Was für ein Mann ist das doch, dieser Herr Eisenhut, der
Steinbruchbesitzer? Ist er nicht eine Art Sonderling, es scheint mir so.«

Herr Eisenhut erfreute sich keineswegs eines guten Rufes. Trotzdem er zwölf
große Steinbrüche besaß, war er sehr geizig. Er hatte die merkwürdige
Angewohnheit, Holz- und Kohlenstücke auf der Straße zu sammeln und seine
Jagdtasche war stets gefüllt mit Tannenzapfen, wenn er von der Jagd
zurückkehrte. Seine Dienstboten hielt er knapp und meistens besorgte er
sein Hauswesen selbst, um Ausgaben zu ersparen. Man sagte ihm nach, daß
sein Sinn für Reinlichkeit nicht besonders entwickelt sei. Zu all dem kam
noch, daß er ein Trinker war und oft des Nachts auf allen Vieren nach Hause
kroch; zuweilen war er auch am lichten Tage betrunken und taumelte durch
die Straßen, gefolgt von einer Menge Kinder, die Spottverse sangen. Seine
Furchtsamkeit war bekannt, er konnte zuweilen nachts mit einem Revolver in
der Hand durch sein Haus streichen.

»Er ist nicht verheiratet?« fragte Grau.

»Ach nein!« Hammerbacher lachte laut auf. »Keine mag ihn, trotzdem er so
reich ist. Er hat auch einmal Margarete einen Antrag gemacht.«

»Unmöglich!«

»So wahr ich dasitze! Sie hat es mir selbst erzählt. Er sagte: Du sollst
ein seidenes Kleid haben, eine Uhr, Ohrringe, einen Wagen und in acht Tagen
wollen wir Hochzeit machen, diese Damen vom Tennisklub sollen vor Neid grün
und blau werden.«

»Ah! Er hatte wohl schlimme Erfahrungen gemacht?«

»Er soll sich einen Korb geholt haben, ja. Aber auch Margarete mochte ihn
nicht. Sie ging aus seinem Hause.«

Grau stand auf und ging ans Fenster. Wie merkwürdig und wie einfältig, nun
hatte ihn plötzlich ein Gefühl der Rührung ergriffen. Aber was in aller
Welt sollte denn Ergreifendes an dieser Erzählung sein?

»Er hat wohl keine Freunde, Herr Eisenhut?« fragte er endlich.

»Doch, er hat schon Freunde, die kommen zu ihm um zu trinken. Sie trinken
oft die ganze Nacht hindurch bei ihm, das ist in der Stadt bekannt, sie
schreien und brüllen bis zum Morgen. Wenn ich ins Schlachthaus fahre, gehen
sie heim, sie sind dann alle betrunken und schreien und lachen. Sie heißen
sich: >Der goldene Zirkel<.«

»Dazu ist er also nicht zu geizig? Wie soll man das verstehen?«

»Er schickt ihnen am andern Tag die Rechnung.«

»Tut er das?«

»Ja, Margarete hat immer die Rechnungen herumtragen müssen, aber sie haben
nur gelacht und nie etwas bezahlt!«

»Was für Leute sind das, die bei ihm verkehren?«

»Das? Das sind immer die gleichen. Das ist ein Arzt, der Doktor Nürnberger,
ein Jude, der dicke Professor Richter von der Realschule, ein Adjunkt von
der Post, Kaiser heißt er, dann der junge Herr von Hennenbach, vom Schloß,
Amtsrichter Leutlein, ein Rechtspraktikant Schmitt --«

»Nun ja, ja --« unterbrach ihn Grau. »Die Herren sind wohl zumeist
Junggesellen?«

»Ja, man kennt sie alle hier in der Stadt. Margarete hat mir genug von
ihnen erzählt. Manchmal, wenn sie betrunken sind, da --«

Grau unterbrach ihn. »Ich will das nicht wissen,« sagte er.

»Herr Eisenhut hat mir einmal fünf Mark angeboten,« fuhr der Bursche fort,
»dafür sollte ich die Herren alle durchprügeln.«

Grau lächelte.

»Ja, für fünf Mark wollte er, daß ich mich zwei Monate einsperren lasse!«
Hammerbacher lachte. »Sie treiben oft ihre Späße mit ihm und da wird Herr
Eisenhut rasend vor Zorn. Einmal da drohten sie ihm ihn zu erschießen. Sie
nahmen Gewehre und Revolver, die er hat, und Herr Eisenhut rannte in den
Garten hinaus, aber sie umzingelten ihn. Er hat sie Diebe und Räuber
genannt. Er schrie um Hilfe, da sagten sie, wenn du dich entschuldigst, so
wollen wir dich diesmal noch laufen lassen. Aber du mußt auch das Notizbuch
herausgeben.«

»Was für ein Notizbuch?«

»Wo er hineinschreibt, was sie ihm schuldig sind. Dann hat er ihnen allen
die Hände küssen müssen und sie haben furchtbar gelacht. Am andern Morgen
habe ich das Fleisch gebracht und Eisenhut hat mich gefragt, ob ich mir
fünf Mark verdienen will.«

»Sie haben aber abgelehnt?«

»Ja.«

»Vielleicht hatten Sie nicht den Mut dazu?« fragte Grau und rauchte
lächelnd.

Der Bursche antwortete mit einem kühnen Blick.

»Ich? -- Oh, was das anbetrifft -- aber ich riskierte zuviel.«

»Ein wenig Prügel hätten die Herren wohl verdient,« sagte Grau; »wenn Ihnen
Herr Eisenhut aber hundert Mark angeboten hätte?«

»Dann schon!« sagte der Bursche und lachte.

Grau sah ihn an.

Er stand auf. »Ich darf wohl annehmen, daß Sie über unser Gespräch
Stillschweigen beobachten,« sagte er und gab Hammerbacher die Hand. »Ich
danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihr Vertrauen. Ich denke es wird das beste
sein, Sie durch eine Notiz in der Zeitung von dem Verdachte zu reinigen,
nicht wahr? Das wäre wohl das klügste und wirksamste. Guten Abend, Herr
Hammerbacher! Eine Frage noch, erlauben Sie, Herr Eisenhut steht ganz
allein, wie? Leben seine Eltern nicht mehr?«

»Sein Vater ist tot, er ist vor Geiz verhungert. Herrn Eisenhuts Mutter
lebt noch, aber sie ist nicht richtig im Kopfe.«

»Wohnt sie bei Herrn Eisenhut?«

»Nein. Sie wohnt bei einer Lehrersfrau beim Bahnhof draußen.«

»Sie wissen nicht wie die Lehrersfrau heißt? Heißt sie nicht Löwenherz?«

»Nein, ich weiß es nicht. Aber sie hat den Namen Mütterchen, weil sie so
klein ist.«

»Ah, ja!« rief Grau aus. »Herr Eisenhut wird wohl öfters hinaus kommen zu
seiner Mutter?«

»Ja, ich sehe ihn oft hinausgehen.«

»Gut, danke Ihnen, mein Freund! Morgen werde ich die Notiz in der Zeitung
bringen. Und vergessen Sie nicht, Herr Hammerbacher: Halten Sie das
Andenken an Fräulein Sammet hoch!«

Grau schob nie etwas auf. Er setzte sich augenblicklich an den Tisch und
warf folgende Notiz auf ein Blatt: »Der Fleischergeselle Herr Anton
Hammerbacher hat sich auf dem Vikariate eingefunden und die Erklärung
abgegeben, daß seine Beziehungen zu dem Dienstmädchen Fräulein Margarete
Sammet seit Jahresfrist vollständig gelöst waren. Seiner Aussage ist
unbedingter Glaube zu schenken. Grau, Vikar. --«

Nun wurde es Abend.




Zehntes Kapitel


Der Schnee im Garten draußen leuchtete stahlblau, die Nacht brach schnell
herein und mit ihr kam die Kälte, die kahlen Bäume begannen zu glitzern.

Grau gab sich dem schönen Gefühle des Alleinseins hin. Er setzte sein
Abendessen zu, Linsen, dann ging er wartend hin und her in seiner Stube und
dachte an tausend Dinge. All diese vielen Menschen, die er in den letzten
Tagen kennen gelernt hatte, welche Mannigfaltigkeit und welche Einheit
trotzdem.

Die Linsen begannen zu duften. Herrlich! Welch wunderbare Produkte es doch
auf dieser Erde gab, Linsen, Nüsse, Erdbeeren, die Birne, die Weintraube.
Man brauchte Stunden dazu sie alle aufzuzählen, nur um die Namen aller
Nüsse zu nennen, wie lange doch? Und schon von den Namen dieser Dinge geht
ein Zauber aus, man sieht sie, man schmeckt und riecht sie, sie sind die
Meisterwerke von Millionen großen Chemikern, jeder noch so unscheinbare
Strauch hat gearbeitet mit aller Kraft, um seine Frucht herrlich zu
bereiten in dieser Welt, da in die kleinsten Dinge der Wunsch nach
Vollendung gehaucht ist.

Man spricht ja nur von den einfachsten Produkten, wie Eisenbahnzüge und
Schiffe sie in jeder Stunde über Kontinente und Meere tragen --
Eisenbahnzüge und Schiffsbäuche gefüllt mit Wohlgerüchen, Farbenräuschen
und Formenwundern! Man spricht ja von nichts anderem, oder?

Spricht man hier zum Beispiel von den Steinen? Von den Kristallen, den
Quarzen, den Topasen, Smaragden, Diamanten? Oder von Perlen, Korallen und
Muscheln? Nein. Man kann ja nur an ein Ding denken, man kann ja nur in eine
Richtung denken. Wenn man gleichzeitig in alle Richtungen denken könnte, in
tausend Richtungen? Man hat zuerst an die Nüsse gedacht, dann an die
Diamanten, aber wenn man gleichzeitig an alle Dinge denken könnte? An die
Steine, die Pflanzen, die Tiere und alle, alle Dinge zu gleicher Zeit? An
die Muscheln, den Sand, die Palmen, die Kirschblüte, die Orchidee, die
Mammutfichte, den Seestern, den Sägefisch, die Wale, die Tiger und die
Giraffen, an die Papageien und die Adler -- an alles in seinem Wesen,
seinem Charakter, seiner Form und Farbe, würde man nicht taumeln wie der
Habgierige, auf den es Gold herabregnet?

Man spricht ja nur von den einfachsten und nächstliegenden Dingen.

Und doch da draußen existiert das alles, jetzt, in diesem Augenblick wehen
die Palmenwälder, die endlosen Fischzüge ziehen durch die Flut, die
Elefantenherden weiden, da und dort ist eine Insel, auf der sich Schwärme
von Paradiesvögeln sonnen, da und dort glüht jetzt eine Wiese in der Sonne
und Tausende von farbenprächtigen Faltern schaukeln sich, an einem fernen
Flußufer stehen Armeen von Flamingos, die Wölfe heulen im Schneefelde, in
diesem Augenblick öffnet die schönste purpurne Blume in irgend einem
einsamen Gebirgstale den Kelch, einerlei wo, in dieser Sekunde funkelt der
Gischt einer Woge im stillen Ozean in der Morgensonne -- es ist schön das
zu denken, es betäubt, berauscht. Hat man an alle Dinge gedacht, nein, nur
an wenige. Hat man an die jüngsten Geschöpfe gedacht, die der Mensch selbst
schuf? Die Geige, die sausenden Maschinen, menschliche Gehirne in Eisen,
die großen Dampfer, die mit ihren Schrauben die Flut des Meeres peitschen?
Es ist schön daran zu denken, es macht reich.

Aber man hat ja nur an die Oberflächen der Dinge gedacht, an das Sichtbare
der Erscheinungen. Würde man erst in die Dinge hineinblicken, wie? Schon
wie Zelle sich an Zelle gliedert, wie das Blut in den Adern rollt. Der
Gedanke allein macht schwindlig.

Hätte man auch das getan, hätte man schon alles getan?

Man hätte ja nur an das gedacht, was auf der Erde ist, an nichts anderes,
nicht an den Raum, die Sterne, die Geheimnisse, die sich zwischen Wesen und
Wesen spinnen, nicht an die ungesehenen Ströme, die in jeder Sekunde aus
unendlichen Fernen fluten und das Menschenherz erbeben lassen.

Es ist ja gut, daß man nicht an alle, alle Dinge in einer Sekunde denken
kann --

Die Linsen waren gekocht und Grau setzte sich zur Mahlzeit nieder. Es war
schön, allein zu sein. Er konnte denken an was er wollte, an alltägliche
Merkwürdigkeiten, zum Beispiel an den Löffel, den Teller, an die Fliege
dort auf dem Buche.

Draußen erwachte ein leiser Wind und Grau lauschte auf ihn. Bald hörte er
ihn wie ein Geräusch, bald unterschied er kleine Melodien, die immer
wiederkehrten und doch nie dieselben waren. Wie merkwürdig ist doch mein
Ohr nur, dachte er. Etwas Merkwürdigeres kann ich mir kaum denken. Wie eine
Orgel, in die der Wind fährt, wie eine Geige, wie eine Trommel, was man
will. Dazu habe ich zwei Ohren, aber weshalb wohl zwei? Ich habe zwei Augen
um rund zu sehen, vielleicht habe ich zwei Ohren um rund zu hören? Sollte
es das sein?

Grau lächelte. Hat nicht jeder Punkt meines Leibes Augen und Ohren, sieht
und hört nicht mein kleiner Finger?

Er lachte: Ah, ich denke für mich, ich spreche für mich, niemand schadet
das etwas, das sind meine Gedanken und ich bin gerne bereit, die andern
Leute zu vernehmen.

Meine Haare, zum Beispiel, welch geheimnisvolle Funktionen -- genug!

Er winkte mit der Hand, als ob er jemand zum Schweigen auffordern wolle,
und lächelte. Dann machte er sich an die Arbeit.

Zu den Mürrischen und Griesgrämigen wollte er reden, zu den Kleinherzigen,
Eng- und Kaltherzigen, den Armen, den Geizhälsen und Ofenhockern. Es ist ja
zuviel Armut in der Welt, meine Freunde, zuviel Geiz. Zuviel Zaghaftigkeit,
Schwäche, Mißtrauen und Trägheit und Haß! Zuviel Hader und Zank!

Da bist du zum Beispiel, du Kleinherziger! Wenn du allein bist, so ist dein
Herz mit Liebe angefüllt, du denkst, das werde ich tun und jenes, das wird
ihn freuen -- sobald du aber einen Menschen siehst, so mißfällt dir seine
Stimme oder sein Anzug und deine Seele zieht sich zurück wie die Schnecke
in ihr Haus. Habe ich dich entdeckt, Kaltherziger! Ich halte dich fest! Du
sollst ihn ansehen, er hat gelitten, er hat gewartet, ja siehst du nicht,
daß er gewartet hat im Wachen und im Schlafen, daß jemand zu ihm spräche,
sich Mühe gäbe ihn zu verstehen.

Und du, Empfindlicher, der für jedes Wort empfindlich ist, das man ihm
sagt, und so rasch die Laune verliert?

Und du, du Fauler, wie? Du bist dick und rund und deinem Gesichte sieht man
die Gutmütigkeit an. Eine Bettlerin pocht an deine Türe und fleht, ach,
denkst du, ich habe mich eben ein wenig ausgestreckt, ich würde ihr ja
gerne etwas geben, aber ich bin müde, ich werde still sein und sie wird
denken, es ist niemand zu Hause und wird fortgehen. Willst du denn dein
ganzes Leben lang so faul bleiben? Sprich?

Die Menschen wußten ja nicht, welche Schätze in ihren Herzen lagen. Er war
gekommen darin zu graben und die Schätze ans Licht zu heben.

Ein Mensch ohne Liebesfähigkeit, wie sollte er fähig sein, die Schönheit zu
empfinden -- oder jenes Größte zu fühlen, das Liebe und Schönheit
einschließt und sich dem Menschen nur in seltenen, kostbaren Augenblicken
offenbart?

Ja, wolle Gott ihm die Kraft verleihen, für die Griesgrämigen und Geizigen
und Faulen die richtigen Worte zu finden! Was war es doch, das sein Herz so
wild schlagen ließ, wenn er sich vorbereitete zu den Menschen zu reden, so
wild, daß er stets glaubte, sterben zu müssen?

Bald war Grau in die Arbeit vertieft, und der Heilige an der Wand, dessen
Füße sogar nachdachten, sah ihm zu.




Elftes Kapitel


Schon am nächsten Tage machte sich Grau auf den Weg, die Lehrersfrau zu
besuchen, bei der Eisenhuts Mutter wohnte. Es traf sich so günstig, daß er
von dem Lehrer zu einem Besuche aufgefordert worden war.

Es war kalt, aber die helle Sonne schmolz den Schnee auf den Dächern und wo
man ging, fielen einem langsame schwere Tropfen auf die Hand, den Hut, die
Schultern. Vor allen Häusern waren Kinder, Frauen und Männer beschäftigt,
das Eis aufzuhacken; in der ganzen Stadt hackte und pickte es lustig. Ein
heller gleichmäßiger Lärm erfüllte die Straßen, fast wie ein Singen. Und
unwillkürlich begann Graus Herz mitzuklingen. Im ersten Stocke eines
schönen alten Hauses blitzte ein Fensterspiegel und das war wie ein Winken,
ein Grüßen und durchfuhr ihn wie ein Gruß des Lichtes von weither. Vor
einer Schmiede stand ein Schimmel und Grau sah ihm einen Augenblick lang in
die großen Augen, die wie zwei schwarze Zauberspiegel glänzten. Er
streichelte die Schnauze des Pferdes und flüsterte ihm ins Ohr und der
Schimmel wandte sich nach ihm um, als ob er verstanden habe.

Die Straße machte eine Biegung und tauchte vollständig in Sonne. Die Sonne
blitzte in allen Fenstern, in all den Picken und Äxten, in all den Tropfen,
die langsam und schwer von den Dächern fielen.

Grau suchte sich seinen Weg zwischen den arbeitenden Leuten; er hatte eine
eigentümliche Art sie anzusehen, ihnen zuzulächeln und in die Augen zu
blicken. Was ist doch so sonderbar an den Menschenaugen, jener Schein,
frage ich? Nun, sie haben alle Sonne, Mond und Sterne im Blut, das ist
jener Schein, nicht wahr? Aber was ist doch jenes Leuchten in den
Menschenaugen, jenes besondere Leuchten?

Grau nickte den kleinen Knirpsen zu, die arbeiteten, daß sie schwitzten,
und als ein junges Mädchen mit halboffenem Munde an ihm vorüberging,
starrte er das Mädchen beinahe erschrocken an. Das Mädchen knickste hastig
und wurde rot. Ja, dachte Grau, etwas Schönes ist ein junges Mädchen, ob es
nun Sommer oder Winter ist; die Vögel, die Blüten, Kinder und junge
Mädchen, das ist alles ein und dieselbe Sache.

Er blickte dem jungen Ding nach und wäre beinahe überfahren worden. Ein
Jagdwagen fuhr rasch daher, der junge Freiherr von Hennenbach kutschierte.

Grau durchschritt den Torturm. Es war ein schöner Tag heute, das mußte man
sagen! Er atmete die frische Luft ein und fühlte wie seine Augen klarer und
sein Geist freier wurden. Es ist ja nur die Luft, dachte er, großer Gott im
Himmel, nur die Luft, nichts als die Luft, die Vögel atmen sie, die Bäume
und Menschen, aber was ist sie doch? Er blickte in die Höhe, da glitzerte
die Luft als sei sie aus kristallhellen Sternen gebildet. Die Bäume der
Allee streckten ihre Äste zitternd in diese helle, sonnige Luft empor.

Vor seinen Blicken breitete sich die weiße, weite Ebene aus. In ihrer Mitte
lag der vom Rauch geschwärzte kleine Bahnhof und aus einer Lokomotive,
nicht größer als ein Kinderspielzeug, stieg feiner brauner Rauch empor. Der
Schnee lag unberührt auf den Feldern, nur da und dort hatte der Wind mit
ihm gespielt, ein Feld klippiger kleiner Berge gebaut oder Wellen und
Schleifen in ihn gezeichnet. Er lag weithin wie schimmernder weißer Samt,
auf dem es glitzerte, als sei der Samt mit Brillanten bestickt. In der
Ferne sah es aus, als beginne der Schnee zu brennen, farbige Feuerchen
bewegten sich auf ihm hin und her; lichtes Grün, feuriges Rosa,
Schwefelgelb.

Auf der Straße gingen drei junge Mädchen und ein hagerer, etwas
schiefschultriger Mann, der ein Bündel Schlittschuhe trug. Sie hatten es
nicht eilig und gingen ganz langsam. Die Mädchen sprachen und lachten mit
klingenden Stimmen und der schiefschultrige Mann, der in einem gelben
abgetragenen Überzieher steckte, ein rotbraunes Halstuch und einen kleinen
spitzen Hut trug, meckerte dazwischen und sprach in hastigen, abgerissenen
Sätzen.

Zwei der Mädchen gingen Arm in Arm und waren ganz gleich gekleidet, ihre
Haare waren von schlichtem deutschen Blond, auch ihr Gang war der gleiche;
sie gingen beide als schritten sie auf einem Seil. Offenbar waren es
Schwestern. Das Mädchen, das an ihrer Seite schritt, war etwas größer,
freier in allen Bewegungen; sie trug den Kopf wie ein stolzes Tier im
Walde. Sie war gekleidet in ein langes flottes Jackett aus seidenhaarigem
Pelz, eine kleine Pelzmütze saß auf dem auffallend reichen, schwarzen Haar,
das in einen lockeren Knoten gebunden war. Ein dünner gelber Schleier floß
um die Pelzmütze herum und flatterte lustig im Winde.

Grau sah wie sie sich dahin bewegten und etwas in der Art ihrer Bewegung
ergriff ihn nahezu bis zu Tränen. Sie gingen mit der Seele der Frau, mit
der schwebenden, wehenden Seele der Frau, die in die Weite strebt, wartet,
späht, lockt und hofft. Der Mann an ihrer Seite dagegen ging nicht, er
schlich. Seine Seele war zusammengedrängt, gefesselt, er blickte in sich
hinein, er war beschäftigt mit sich selbst, ob er auch plauderte und
lachte.

Grau holte die Gesellschaft ein und da der Weg nur zum Teil vom Schnee
freigemacht war, mußte er sich hinter ihr halten. Er hörte, was sie sagten.

»Haben Sie die Geschichte von dem Manne gehört, der von der Doktorkutsche
auf der Straße gefunden wurde, nachts, im Schnee?« wandte sich das Mädchen
mit den schwarzen Haaren an den Mann, der die Schlittschuhe trug. Sie
sprach scharf, mit einem kaum hörbaren fremden Akzent.

»Adele!« sagten die Schwestern leise und lächelten.

Der Mann mit den Schlittschuhen lachte meckernd. »Jä,« sagte er, »ich habe
diese Geschichte gehört, natürlicherweise habe ich sie gehört -- am andern
Tag -- aber ich kann schwören --«

»Schwören Sie besser nicht!« fuhr das Mädchen fort. »Wie leicht hätten Sie
im Schnee erfrieren können.«

»Jä, wie leicht hätte ich im Schnee erfrieren können!«

»Sie sollten sich schämen, ich an Ihrer Stelle würde mich schämen.«

»Gewiß, Sie, ja Sie würden sich schämen, Fräulein von Hennenbach.«

»Sie ruinieren sich auch. Sie sind ein ganz origineller Mann, aber
vollständig verwahrlost. Vielleicht sind Sie auch nur originell, weil Sie
verwahrlost sind.«

Der junge Mann mit dem spitzen Hut lachte. »Wie geistreich!« sagte er und
lüftete ein wenig den Hut, indem er ihn bei der Spitze mit zwei Fingern
anfaßte und in die Höhe hob. »Wie geistreich!« meckerte er. »Wie
geistreich!«

»Es ist nichts mit Ihnen anzufangen!« sagte kühl das junge Mädchen und
wandte sich den Freundinnen zu.

Eine Weile blieb es still, dann begann sie von neuem: »Lassen Sie sich's
gesagt sein,« sagte sie, »daß ich meinem Bruder nicht mehr erlaube, Sie zu
besuchen. Sie treiben es zu toll bei Ihren Gelagen. Das ist ja die reinste
Lasterhöhle. Vier Nächte nacheinander hat er mit Ihnen durchgezecht. Es
wird auch Hasard gespielt, nicht wahr? Heute nacht hat er zweihundert Mark
dabei verloren.«

»Was hat er verloren?«

»Zweihundert Mark. Er hat sie heute von mir verlangt. Weiß Gott, es ist
unrecht von Ihnen. Natürlich muß er bezahlen, wenn er sein Ehrenwort
gegeben hat, aber es ist eine Sünde von Ihnen, er ist noch so jung.«

Der schiefschultrige Mann lachte laut heraus. »Aber es ist ja keine Silbe
wahr von all dem, was Sie da sagen!« rief er. »Keine Silbe, nicht eine
einzige Silbe! Er war eine ganze Woche nicht bei mir, kein Mensch war bei
mir. Wie kann er da zweihundert Mark verloren haben, wie denn? Ich habe
nicht mit ihm gespielt, das schwöre ich Ihnen!«

»Schon gut! Sie werden es ja nicht eingestehen, Sie werden es leugnen. Das
ist selbstverständlich. Ich werde Ihnen aber die Polizei ins Haus schicken,
mein Herr! Daß Sie es nur wissen. So wahr ich hier gehe, das werde ich tun.
Es ist Ihnen doch bekannt, daß Hasard polizeilich verboten ist, nicht
wahr?«

Der Mann rasselte mit den Schlittschuhen, warf dem Mädchen einen bösen
Blick zu, aber dann lachte er wieder. »Was Sie nicht sagen?« rief er aus.
»Ich bekümmere mich nicht um die Polizei. Sehen Sie, ich stecke jedem eine
Flasche Wein in die Tasche und dann gehen sie wieder. Übrigens, Fräulein
von Hennenbach, hat gerade Ihr Herr Bruder das Spiel eingeführt. Er brachte
es von Monte Carlo mit.«

Es blieb einen Augenblick still, dann erwiderte das Mädchen: »Er war ja nie
in seinem Leben in Monte Carlo, niemals!«

»Also hat er auch keine hundertundfünfzigtausend Mark dort verloren, wie?
Also lügt er?«

»Er macht sich einfach lustig über Sie, das ist alles!«

Der junge Mann nahm den Hut ab und verbeugte sich. Er lachte.

»Herr von Hennenbach lügt nicht!« rief er aus. »Herr von Hennenbach machen
sich einfach lustig. Er macht sich lustig, ja, das muß man sagen, er lügt
nicht, er macht sich lustig. Er sagt, er habe zweihundert Mark im Spiel
verloren und er hat drei Tage vorher mich um genau zweihundert Mark
gebeten, da er sie brauche. Ich habe sie ihm aber abgeschlagen -- rundweg
-- ich gebe nichts mehr, keinen Pfennig, ich habe die schlimmsten
Erfahrungen gemacht in der letzten Zeit!«

Grau watete nun durch den Schnee und beschrieb einen weiten Bogen um die
Gesellschaft. Hinter ihm meckerte der junge Mann, er räusperte sich und
rasselte mit den Schlittschuhen.

»Aber, nein!« sagten die Schwestern vorwurfsvoll, und die junge Dame fügte
in scharfem Tone hinzu: »Was denken Sie doch --?«

Doch der junge Mann lachte nur. Er sagte laut: »Alle Welt macht sich über
mich lustig -- ergo -- weshalb soll ich mich denn nicht auch ein wenig
lustig machen, wenn es mir einfällt! Wie? Bin ich etwas andres vielleicht
als die andern Menschen? Ich erlaube mir das zu fragen! Man soll sich nur
ein wenig in acht nehmen vor mir. Ich könnte eines schönen Tages einen
Skandal heraufbeschwören und das wäre manchen Leuten nicht angenehm, nein!«
Er meckerte, aber er schien zornig zu sein.

»Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch!« sagte eine der Schwestern.

Fräulein von Hennenbach aber sagte kurz: »Tun Sie doch, was Sie nicht
lassen können, aber lassen Sie mich mit Ihren Anspielungen gefälligst in
Ruhe!«

Darauf bat der Mann um Entschuldigung. Ein solch harmloser Mensch, wie er
sei! Wenn er sich nur erlaube, zu scherzen --

Die Stimmen verloren sich. Grau war beim Bahnhof angelangt, blieb stehen
und blickte sich um. Dem Bahnhof gegenüber stieg der Wald an; eine Hütte,
gefüllt mit Brettern, Leitern, Balken, lag am Wege, dort stand ein dicker,
niedriger Turm mit leeren Fensterlöchern -- ein alter Wartturm -- aber von
einem Wohnhaus war nichts zu sehen. Allein dieser Lehrer, dieser Lehrer
Löwenherz, hatte er nicht gesagt: Gleich beim Bahnhof?

Die Gesellschaft holte ihn ein. Die Mädchen standen still, führten
flüsternd eine Beratung, dann sagte eine der Schwestern: »Suchen der Herr
etwas?«

Grau zog den Hut. »Ja, ich suche ein Haus,« sagte er.

»Hier sind keine Häuser,« sagte der Mann mit den Schlittschuhen mit dünner
Stimme und lächelte spöttisch. Grau hatte ihn schon gesehen. Er hatte ein
gelbes Gesicht, einen kleinen Spitzbart und Mausaugen.

»Ja, hier scheinen allerdings keine Häuser zu sein,« sagte Grau und blickte
umher. »Aber man hat mich hierher gewiesen -- ich suche das Haus eines
Lehrers, eines gewissen Lehrers Löwenherz!«

»Löwenherz?«

Die jungen Mädchen blickten einander an. Sie besannen sich und schüttelten
die Köpfe. Die Schwestern sahen einander so ähnlich, wie zwei rotbackige
Äpfel auf einem Zweig. Man hätte sie nicht zu unterscheiden vermocht, wenn
nicht die eine ein kleines braunes Mal auf der Wange gehabt hätte. Sie
hatten frische, runde Gesichter mit roten Wangen, die etwas rissig von der
Kälte waren, und nachdenkliche blaue Augen.

Fräulein von Hennenbach sah nicht so bleich aus wie neulich, als Grau in
ihrem Hause vorsprach, ihre Wangen waren von einer feinen Röte überzogen,
aber ihre Augen erschienen um so klarer und heller. Sie waren nahezu weiß.

Der Mann mit den Schlittschuhen begann plötzlich zu kichern und zu lachen.
Er streckte wichtigtuerisch die spitze Nase vor. »Es ist der Lehrer!« rief
er aus. »Sicherlich ist es der Lehrer. Er heißt Lenz, mein geehrter Herr.
Löwenherz! Was sagen die Damen dazu? Ein ausgezeichneter Einfall --
Löwenherz!«

Fräulein von Hennenbach öffnete erstaunt die Lippen. »Ah, Susannas Vater!«
sagte sie, und die Schwestern fügten wie aus einem Munde hinzu: »Ach ja,
Susannas Vater!«

»Ich erinnere mich, er sprach von seiner Tochter Susanna,« sagte Grau.

»Das ist ganz in der Ordnung, er wohnt hier. Nur muß man durch den Turm
gehen, bis zur Brücke. Der Herr hier hat im gleichen Hause zu tun.«

Sie gingen zusammen und schwiegen. »Ein schöner Tag!« sagte Grau nach einer
Weile. »Ja!« antworteten die Mädchen wie aus einem Munde und sahen ihn alle
an. Es war schön, wie sie alle die Gesichter zu ihm wandten, die außen
gehende mußte sich etwas vorbeugen. Er sah in diese drei Paar Augen hinein.
Aber es fiel ihm weiter nichts ein, was er den Mädchen sagen hätte können.

Von der Brücke aus konnte man ein kleines Häuschen im Felde liegen sehen.
Dieses Häuschen lag ganz einsam, halb zugeschneit lugte es mit zwei trüben,
kleinen Fenstern aus dem Schnee. Weit und breit war nichts zu sehen als
Schnee, kein Baum, kein Strauch, nur einige Krähen bewegten sich langsam in
einem Acker. Es lag da gleichsam ausgestoßen aus der Stadt, wie ein
Siechenhaus, wie die Hütte des Abdeckers. Ein Zaun lief um das Haus herum
wie ein Gitter, aus dem Kamin stieg ein Hauch von Rauch, den man nur mit
scharfen Augen wahrnehmen konnte.

Dieses Haus sei es!

Grau nahm den Hut ab. »Ich danke, meine Damen!« sagte er und verneigte sich
vor den drei jungen Mädchen. »Bitte, bitte!«

Fräulein von Hennenbach blickte ihn an. Sie heftete ihre hellen, klaren
Augen eine Weile auf Grau, dann sagte sie: »Wie schön Sie neulich
gesprochen haben!« Sie streckte ihm die Hand hin. Sie lächelte, aber ihr
Mund und ihre Züge blickten trotzdem ernst.

Die Schwestern lächelten ebenfalls, Grübchen erschienen in ihren Wangen und
ihre weißen, kleinen Zähne blitzten; sie richteten die Augen groß und
leuchtend auf Grau.

Grau verbeugte sich verwirrt. Er wagte kaum, die Hand des Mädchens zu
berühren. Er errötete und machte abermals eine verwirrte Verbeugung.

»Viele Grüße an Susanna, viele Grüße!« riefen die Mädchen.

»Morgen kommen wir!« setzten die Schwestern hinzu.

Der junge Mann lieferte die Schlittschuhe ab und ging an Graus Seite
feldeinwärts. Sie wateten bis an die Knie im Schnee. Grau ging wie ein
Träumender.

Wie merkwürdig, dachte er, wie merkwürdig! Und unwillkürlich wandte er sich
nochmals nach dem Mädchen um. Nun fällt es mir ein, wo ich dieses Mädchen
schon früher gesehen habe. Ich ging einst im Traume mit ihr über die Heide
-- damals unter dem Sternschnuppenregen. Es sind dieselben Augen und
besonders ihre Art, den Kopf zu tragen -- wie merkwürdig ist das Leben!

Er hörte kaum, was sein Begleiter sagte, obwohl er sich aus mehreren
Gründen außerordentlich für ihn interessierte.




Zwölftes Kapitel


Der Mann mit dem gelben Gesichte und den Mausaugen begann sogleich zu
sprechen; er sprach hastig und nahezu ohne Pause, bis sie das Häuschen
erreicht hatten. Er kicherte und hüstelte, während er sprach, und er sah
Grau immerzu mit seinen blinzelnden Augen an. Aber jedesmal, wenn Grau ihm
den Blick zuwandte, tat er, als suche er etwas im Schnee. Er kicherte, auch
als Grau einmal im Felde ausglitt.

Vorhin hatte er mit gezwungener Keckheit gesprochen, nun aber sprach er mit
unterwürfiger, fast demütiger Stimme, nach der Art vieler Männer, die ihr
Benehmen vollständig ändern, sobald sie die Gesellschaft von Frauen
verlassen.

»Sie erlauben wohl, daß ich Sie begleite?« begann er und lüftete den
spitzen Hut. »Ja, ich habe gehört, auf welche Weise der Herr mit dem Lehrer
zusammengetroffen sind, man hat es mir erzählt. Sie haben den Lehrer
natürlich nicht gekannt, sonst wären Sie wohl etwas vorsichtiger gewesen.
Ich muß Ihnen leider sagen, daß man sich mit den Leuten hier in acht nehmen
muß. Sogar gebildete Herren, Ärzte, Professoren, sie versprechen Ihnen das
Blaue vom Himmel herunter und halten -- nichts. Man kann hier Geld
zusetzen, du große Güte!«

»Kennen Sie Herrn Lenz?« fragte Grau.

»Ja, und ob ich ihn kenne. Jedermann kennt ihn. Er kommt auch zuweilen zu
mir, mitten in der Nacht kommt er angeschlichen. Er darf sich ja in der
Stadt nicht blicken lassen.«

»Er darf sich in der Stadt nicht sehen lassen? Was heißt das?«

Der junge Mann zog einen kleinen Zigarrenstummel aus der Tasche und steckte
ihn in Brand. »Er hat den Stadtverweis, mein Herr!« sagte er vergnügt
lächelnd und paffte. »Auch seine Familie, seine Frau, seine Tochter,
niemand darf die Stadt betreten.«

»Ja, was hat er denn Schreckliches getan?« fragte Grau und blieb stehen.

Der junge Mann lachte meckernd. »Er hat,« sagte er flüsternd und kicherte
-- »er hat sie durchgeprügelt! Die Polizeidiener zuerst und dann den
Bürgermeister. Weil sie ihn entließen. Er war ja Lehrer hier in der Stadt.«

»Warum wurde er denn entlassen?«

»Oh, er machte Streiche. Er hat auch oft getrunken, mehr als er vertragen
konnte. Einmal lag er am Morgen betrunken auf dem Marktplatze, gerade als
die Sonne aufging. Ich muß lachen, wenn ich nur daran denke! Denn ich habe
ihn liegen sehen, bevor noch jemand kam, und gewartet und gedacht: Was für
ein Spaß wird das werden! Er lag so komisch da, er lag da, als ob er eben
einen großen Sprung machen wollte, so lag er da. Ich dachte, das wird einen
hübschen Spaß geben. Dann kamen die Leute, die Kinder kamen, die in die
Schule gingen, Frauen, Männer, aber er lag da und schlief, er war nicht
wach zu bekommen. Was ich gelacht habe!«

»Deshalb also wurde er entlassen?«

»Nein, nein. Damals unterrichtete er das Töchterchen des Bürgermeisters,
deshalb wurde er nicht entlassen. Auch seine Frau, die lief zum
Bürgermeister, flehte und winselte, und deshalb ließen sie es hingehen.
Aber später. Er hatte so eigentümliche Einfälle und er machte Streiche über
Streiche. Er sagte zu den Kindern: Heute ist keine Schule, es ist zu
schönes Wetter, geht hinaus in den Wald. Das ist aber doch keine Schule,
nicht wahr? Oder er hat ihnen keinen Unterricht gegeben, er hat ihnen
tagelang Märchen erzählt. Aber das tollste, was er gemacht hat, sehen Sie,
das hat ihm auch den Hals gebrochen. Ja, er ging also mit der Klasse
spazieren, er hatte die Mädchenklasse, an einem sehr heißen Tag im Juni. Da
kamen sie nun an einen Bach, es war sehr heiß, wie gesagt, und was meinen
Sie nun, was er tat? Er sagte: Alle auskleiden! Nun, Sie können sich
denken, das ging hui, hui, das kam den kleinen Mädchen gerade recht, sie
kleideten sich aus und plätscherten alle dreißig im Bach herum. Er, Lenz,
er saß dabei und lachte. Plötzlich aber kam der katholische Geistliche, der
geistliche Rat -- ein fetter -- ein etwas korpulenter Herr -- er kam -- und
so war es, der Lehrer mußte gehen. Aber hören Sie, er ging nicht, er ging
nicht!«

»Er ging nicht?«

»Nein, er sagte es, er sagte es zu mir. Ich werde nicht gehen, sagte er,
ich lasse es darauf ankommen. Ich werde morgen Schule halten und werde sie
hinauswerfen, wenn sie kommen. Tue das, sagte ich, welch einen Spaß wird
das geben, einen unbezahlbaren Spaß. Er sagte auch, daß der Bürgermeister
sich ein wenig in acht nehmen solle, außerdem könne er Prügel fassen. Ja,
tue es, tue es, sagte ich, das wird ganz unsagbar drollig werden. Du nimmst
dich meiner Familie an, ja? Ja, sagte ich, du kannst ruhig sein. Und hören
Sie, Herr, er tat es, er tat alles. Er hielt Schule und sie wollten ihn aus
dem Schulhaus weisen, aber er prügelte die Polizeidiener durch, dann ging
er ins Rathaus und prügelte den Bürgermeister durch -- vor all den
Schreibern --«

Der junge Mann lachte und hustete.

»Ich habe niemals mehr gelacht. Solch ein Mensch -- er mußte dann sitzen,
lange, lange Monate, er verlor seine Stellung, sein bißchen Vermögen,
alles, alles -- hähähä -- nun treibt er sich in der Welt herum und seine
Frau und seine Tochter sie sitzen hier. Wir wollen hoffen, daß der Herr ihn
antreffen.«

Sie näherten sich dem Häuschen und Graus Herz begann eigentümlicherweise zu
pochen.

»Sie hat keine Pension?« fragte er. »Die Frau?«

»Pension? Aber wieso denn Pension? Woher?«

»Hm. Sie hat auch kein Vermögen?«

»Hahaha, nein. Vermögen, um Gottes willen --!«

»Sie ist also arm,« sagte Grau leise zu sich selbst. »Wie sagten Sie? Sie
glauben also nicht, daß wir Herrn Lenz antreffen werden?« fügte er hinzu
und blickte den Mann mit dem Spitzbart an.

Der Mann mit dem Spitzbart zuckte zusammen. »Nein,« sagte er verwirrt, »ich
glaube es nicht. Er bleibt immer nur da, bis ihn seine Frau
zusammengeflickt hat, dann geht er wieder. Ich habe auch gehört, daß er in
Weinberg in einer Wirtschaft alle Fenster eingeschlagen hat, nun wird ihm
wohl der Boden zu heiß geworden sein. Vielleicht ist er da, wer weiß es? Er
ist sehr amüsant und er kann deklamieren -- was er doch alles im Kopfe hat!
Er kann Ihnen ganze Theaterstücke vorspielen. Er hat mir oft die ganze
Nacht hindurch vorgespielt.«

»Sie lieben es wohl, ihm zuzuhören?« fragte Grau lächelnd.

»Warum?«

»Nun, ich meine nur!« sagte Grau und lächelte.

»Ja, ich liebe es!« antwortete der Mann mit dem Spitzbart und errötete ein
wenig und blinzelte. »Er deklamiert oft die ganze Nacht bei mir, bis er zu
lachen anfängt --«

»Zu lachen?«

»Ja, zuletzt lacht er stets fürchterlich, so daß Sie Angst bekommen -- dann
wird er gefährlich -- hier sind wir!« Er öffnete das Gartentürchen und ließ
Grau eintreten. Man hörte keinen Laut hier außen, auch das Haus lag ohne
jedes Zeichen von Leben. Eine ganz besondere Stille und Einsamkeit
herrschte hier und auch der Wind, der leise um die Wände des Häuschens
strich, schien ein besonderer Wind zu sein.

Der Mann mit dem gelben Gesicht klopfte an die Haustüre. Sie warteten und
standen einander gegenüber.

Grau sah sich seinen Begleiter aufmerksam an. Eigentlich war das Gesicht
nicht gelb, es spielte in allen Schattierungen von Gelb bis Grau, gegen die
Schläfen zu ins Grünliche. Es war von tiefen Furchen durchzogen, die
fächerartig von den Augenwinkeln ausgingen und sich hart um den Mund
eingruben. Diese Furchen waren grau und es schien als sei Schmutz in ihnen.
Der Bart am Kinn sprang vor wie ein Geißbart; seine Haare waren von
unbestimmter Farbe, sie schienen feucht und klebend zu sein und waren grau
an den Schläfen, obgleich der Mann die Dreißig kaum überschritten hatte.
Seine Augen waren leicht entzündet, klein und neugierig bewegten sie sich
in dem getrübten Weiß hin und her. Die Lider zwinkerten unaufhörlich.

Dieses Gesicht verriet keinen bestimmten Charakter; Schüchternheit,
Keckheit, Demut und Hochmut, Habgier, Bosheit und Argwohn, alles konnte man
in diesen Zügen finden; aber Grau entdeckte ein Paar schöngezeichneter
Lippen, die sich zusammenzogen und gleichsam hinter dem dünnen Schnurrbart
versteckten, der in feuchten, kurzen Büscheln über den Mund herabhing.

Ihre Blicke begegneten sich und plötzlich hörte der Mann mit dem Geißbart
auf zu blinzeln; das Blut stieg ihm in die Wangen, als ob er tief
erschrocken wäre, dann erbleichte er. Er griff hastig an den Hut und sagte
mit kaum hörbarer Stimme: »Eisenhut!«

Grau reichte ihm die Hand. Eisenhuts Hand war feucht und schlaff.

Eisenhut begann wieder zu blinzeln. Er legte sein gelbes Gesicht in Falten
zu einem Lächeln, so daß man seine schlechten braunen Zähne sah, und sagte:
»Danke, danke, es ist mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er sprach hastig, ruckweise, und man hätte sagen können, auch seine Stimme
blinzelte.

Die Türe öffnete sich lautlos, und ein schmächtiges Mädchen, eine
Hornbrille auf der großen Nase, stand im Rahmen.




Dreizehntes Kapitel


»Guten Tag, Mütterchen!« sagte Eisenhut zu dem schmächtigen Mädchen, das
die Türe öffnete. Er deutete auf Grau und fügte geheimnisvoll hinzu: »Hier
ist ein Herr vom Gericht, der etwas von Ihnen will!«

Mütterchen krümmte sich zusammen und lugte scheu durch die Brille, aber sie
versuchte zu lächeln.

»Keineswegs!« rief Grau aus und zog den Hut und trat näher. »Herr Eisenhut
scherzt. Ich komme lediglich --«

Eisenhut lachte. »Nein,« unterbrach er Grau, »haben Sie keine Angst,
Mütterchen, es ist ein Herr, der Sie besuchen will, Herr Vikar Grau.«

Grau verbeugte sich und sagte, daß er so glücklich gewesen sei, Herrn Lenz
kennen zu lernen, einen ausgezeichneten und interessanten Mann, Herr Lenz
habe ihn zu einem Besuche aufgefordert.

Mütterchen öffnete den welken Mund, ging ein paar kleine Schritte rückwärts
und verbeugte sich schüchtern und mädchenhaft. Sie war klein, schmal,
hüftenlos wie ein Mädchen. Mit den pechschwarzen Haaren und der gebogenen
Nase sah sie wie eine kleine zusammengeschrumpfte Jüdin aus. Sie starrte
mit großen fragenden Augen, die wie bestaubter schwarzer Samt aussahen, zu
Grau empor, dann schüttelte sie langsam den Kopf.

»Sie haben ihn gesehen?« fragte sie leise und singend, und ihre Stimme
zitterte. »Er ist nicht hier!« Sie schüttelte traurig den Kopf, dann fügte
sie ganz leise hinzu: »Er wird noch zu tun haben.« Sie versuchte zu
lächeln.

»Ja, er wird noch zu tun haben, auf ein Haar!« rief Eisenhut boshaft aus
und ging hinein ins Haus.

Mütterchen stand ratlos, sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie zog den
verblichenen türkischen Schal enger um die schmalen Schultern und blickte
Grau hilflos an.

Aber Grau ging nicht.

Er sah Mütterchen an, die Türe, das Haus, er blickte auf die matten dunkeln
Fenster, er wandte den Blick wiederum auf Mütterchen.

»Wie fatal, wie fatal!« sagte er, und es hatte den Anschein als wolle er
gehen. Aber er ging nicht. Er sann nach, errötete und begann plötzlich
hastig zu sprechen. Ja, wie unangenehm es ihm doch wäre, den Herren nicht
anzutreffen. Er habe sich so darauf gefreut mit ihm zu sprechen. Und vieles
mehr.

»Könnte ich nicht auf ihn warten?«

»Warten?«

»Ja, warten, auf ihn warten!« wiederholte Grau und sah aus, als horche er
in sich hinein. Er blickte wiederum auf das Haus, die Fenster, und fügte
hinzu: »Wäre es nicht möglich, daß er gerade jetzt käme? Aber natürlich, im
Falle ich stören sollte? Gewiß erscheine ich Ihnen zudringlich, Frau Lenz.«

»Stören?« Mütterchen lächelte und schüttelte den Kopf. »Der Herr stören
keineswegs,« flüsterte sie, »wenn der Herr mir die Ehre antun wollen?« Sie
trat zurück und forderte Grau mit einer linkischen, rührenden Verbeugung
auf einzutreten.

»Die Ehrung ist auf meiner Seite!« sagte Grau freudig und verbeugte sich
ehrerbietig vor Mütterchen. »Wie liebenswürdig von Ihnen, Frau Lenz!«

Mütterchen öffnete eine Türe zur rechten Hand. Das erste, was Grau sah, als
er in das von verbrauchter warmer Luft erfüllte Zimmer eintrat, war der am
Boden hinhuschende Schein eines Feuers und zwei glänzende, große Augen in
einem fahlen, mageren Gesicht. Ein krankes, zwerghaftes Mädchen saß in
einem Lehnstuhle, eine Decke über den Knien. Sie heftete unausgesetzt die
großen Augen mit einem forschenden, starren Blick auf ihn. Das also ist
Susanna, dachte Grau, von der der Lehrer sprach. Unwillkürlich wurde er
kleiner, er duckte sich und sah nun nicht mehr so heiter aus.

»Hier ist ein Herr, Susanna,« sagte Mütterchen leise. »Herr --?«

»Grau!« Grau lächelte. Er ging auf die Kranke zu und begrüßte sie. Sie
legte ihre kleine gelbe Hand in die seinige, ohne auch nur eine Sekunde den
Blick von ihm zu wenden. Sie machte auch einen Versuch aufzustehen, aber
Grau erlaubte es nicht.

»Wie schön!« sagte Susanna. »Seien Sie herzlich willkommen. Es ist so
selten, daß uns jemand besucht, so daß es mir stets wie ein Traum
erscheint. Ach, Mütterchen, gib dem Herrn einen Stuhl.« Graus Herz begann
zu pochen, als Susanna zu sprechen anfing.

Susanna sprach mit einer hohen dünnen Stimme und sehr leise. Wie Mütterchen
so sang auch sie beim Sprechen ein wenig, aber ihre Stimme schien gleichsam
durch eine Wand zu kommen. Ihre Augen aber glänzten wie schwarze Spiegel,
während sie sprach, und sie sahen ihn unausgesetzt an. Die Lider schienen
nicht zu zucken. Sie sah gealtert aus und doch sah man, daß sie jung und
noch nicht zwanzig Jahre alt war. Sie hatte ein Gesicht wie ein seltsamer
Vogel. Ihr Hals war dünn und gelb und zwei schmale Sehnen hielten den
kleinen, abgemagerten, vorgebeugten Kopf. Die Augen lagen tief und füllten
die ganzen Augenhöhlen aus. Die Haare waren schwarz und glatt über der
niedrigen Stirne gescheitelt, zwei dünne, straffgeflochtene Zöpfchen hingen
über die Ohren herab, in denen sie Ringe mit langen silbernen Quasten trug.

Grau bestellte die Grüße, die ihm die Mädchen aufgetragen hatten, und
erzählte, welcher Zufall ihn hierher bringe.

»Die Schwestern werden Sie morgen besuchen,« fügte er hinzu.

Susanna lächelte ein wenig. Es war ein kleines, glückliches Lächeln, das
nur mühsam den langen Weg vom Herzen bis zu den Lippen zu finden schien.
»Danke!« sagte sie und blickte Grau an. »Ich habe auch schon von Ihnen
gehört, Herr Grau,« fügte sie hinzu, »und ich habe gewünscht Sie zu sehen
-- und nun sind Sie hier. -- Wie eigentümlich ist doch das? Aber noch
merkwürdiger ist es, daß ich mir gedacht habe, das muß Herr Grau sein, der
mit Herrn Eisenhut über die Wiese kommt. Nicht wahr? Ich fühlte es. Ich
weiß nicht warum.« Sie sah Grau abermals aufmerksam an und drehte den Kopf
etwas zur Seite, wie um besser seine Augen sehen zu können.

»Das ist eigentümlich!« sagte Grau lächelnd. »Und doch hat jeder Mensch das
so und so oft erlebt. Zum Beispiel als ich hier ankam, sah ich im Friedhof
einen Herrn und als ich später von Herrn Eisenhut reden hörte, wußte ich,
daß er jener Herr sein müsse, er und kein anderer.«

»Er war es auch?«

»Ja.«

»Merkwürdig. Vielen Dank für die Grüße, Herr Grau. Ich sah sie alle fünf
über die Brücke gehen. Es waren die Schwestern Sinding von der
Buchhandlung, sie sind Zwillinge, Klara und Maria Sinding. Sie sollten sie
kennen, so gut sind sie, so treu und schlicht. Und dann war ja auch die
andere dabei, nicht wahr?« Susanna blickte fragend in Graus Augen. »Haben
Sie die andere gesehen?«

»Fräulein von Hennenbach?«

»Ja, ja, ja! Haben Sie sie genau angesehen? Wie hat Sie Ihnen gefallen?«
Sie lächelte.

Sie war so gelb, so wächsern, so häßlich mit ihrer Hakennase, den
eingefallenen Wangen und der niedern Stirn, aber sobald sie lächelte, sah
man all das nicht mehr, man sah nur das Lächeln; es verzauberte ihre
Wangen, daß sie jung und süß wurden, ihre Lippen kräuselten sich und
enthüllten eine Reihe schneeweißer Zähne, die Augenbrauen zogen sich ein
wenig an der Nasenwurzel in die Höhe, der Glanz ihrer Augen veränderte
sich. Wenn sie darauf sprach, so war das Lächeln gleichsam in ihrer Stimme,
sie wurde sanfter und singender. Mit dieser lächelnden Stimme wiederholte
sie: »Nun, wie hat sie Ihnen gefallen?«

»Wie schön sie doch ist!« sagte Grau und lächelte ebenfalls.

Susanna nickte ein paarmal. »Ja, wie schön sie doch ist!« sagte sie. »Sie
ist berückend schön, ja! Wenn die zu mir kommt -- und sie scheut sich nicht
zuweilen zu mir zu kommen, so stolz sie auch ist, wir sind
Schulfreundinnen, müssen Sie wissen -- wenn sie nun eintritt in das kleine
Zimmer hier, so ist es mir, als wäre es Mai, Mai, und ich fühle mich gesund
und stark und so reich werde ich plötzlich im Herzen. So schön ist sie! Ich
liebe sie! Wie stolz sie geht! Ganz anders wie andere Menschen! Wie langsam
sie den Kopf bewegt! Ich liebe es schöne Menschen zu sehen, ich liebe es,
man fühlt sich selbst schön bei ihrem Anblick. Ich liebe Adele besonders.
Wenn ich ein Mann wäre, so würde ich nicht eher ruhen, als bis sie mich
wiederliebte. Nun es waren ja auch alle Männer der Stadt in sie verliebt!«

Grau lächelte. »Jetzt nicht mehr?« fragte er.

»Freilich, aber sie hüten sich wohl es laut werden zu lassen,« fuhr sie
geheimnistuerisch fort, »denn sie hat sich über alle, alle lustig gemacht.
Sie hat in Gesellschaft wieder erzählt, was sie zu ihr sagten -- nun, das
war ja vielleicht nicht recht von ihr -- sie haben es alle wieder hören
müssen, und dann -- dann sagen sie auch, sie lege es darauf an, jeden Mann
an sich zu ziehen -- aber das ist ja immer so -- auch er« -- sie flüsterte
und deutete auf die Türe -- »auch er, Herr Eisenhut, ist verliebt in sie,
auch er!«

»Also deshalb!« sagte Grau, und Susanna sah ihn fragend an.

»Susanna!« sagte Mütterchen. »Wenn er es hört!« Sie warf einen ängstlichen,
argwöhnischen Blick auf Grau.

Susanna lachte leise und hustete. »Wie sollte er es hören können,
Mütterchen, er kann es nicht hören und wenn er das Ohr an die Türe legt --
Herr Grau wird ihm nichts verraten, du solltest dir deine Leute doch
ansehen. Aber der Herr steht ja immer noch, Mütterchen, siehst du es nicht?
Ach, nicht diesen Stuhl, mein Herr, er ist nicht fest auf den Beinen.«

Mütterchen hatte sich abgemüht einen großen Lehnsessel herbeizuschleppen
und wartete bis Grau Platz nehmen wolle. Grau dankte und ließ sich nieder.
Der Stuhl war alt und knarrte, einen Augenblick lang glaubte Grau bis auf
den Erdboden zu sinken. Aber schließlich saß er und es sah aus, als ob er
nicht tiefer sinken sollte. Nun stand Mütterchen wieder wartend in der
Ecke; in das Tuch gehüllt, mit der Brille sah sie wie eine Eule aus.

Susanna lächelte, blickte auf ihre gelben kleinen Hände und blickte wieder
auf Grau.

»Aber das ist es ja nicht allein, daß sie so schön ist!« fuhr sie fort. »Es
ist noch etwas anderes.«

»Sie ist gewiß sehr eigentümlich.«

Ja, ob er das gefunden habe?

»Ich glaube, man kann es recht gut an ihren Augen sehen,« sagte Grau, der
Susanna unausgesetzt in die Augen blickte.

»Nicht wahr! Ja, sie ist so eigentümlich. Sie ist wie eine Fremde und hat
eine ganz andere Seele als wir andern alle. Es ist so schwer sie zu kennen,
und niemals kennt man sie ganz, denn immer kommt etwas Neues zum Vorschein.
Man kann nie wissen, was sie fühlt. Sie ist so verschlossen. Sie scheint
sich weder zu freuen, noch scheint sie zu leiden, ja manchmal könnte man
glauben, sie habe gar kein Herz. Aber sie ist ja nichts als Güte, nur ist
sie ganz anders gut als andere Menschen. Sie ist auch sehr mutig,
unerschrocken und kaltblütig. Hören Sie, als es gebrannt hat im Schloß --
Herr Grau haben wohl gehört von dem Brande --«

»Ich habe die Brandstätte gesehen.«

»-- was denken Sie, was sie tat? Sie ging beim ersten Alarm zu ihrer Mutter
ins Schlafzimmer und gab ihr ein Schlafpulver in Zuckerwasser. Denn die
Mutter Adeles ist leidend und wäre wohl vor Schrecken gestorben. Die Mutter
hat es selbst den Schwestern Sinding erzählt. Ist das nicht
bewundernswert?«

»Solch ein Gedanke!« sagte Grau. »Wie rasch sie denkt!«

»Ja, so rasch denkt sie! Der Gärtner bemerkte das Feuer zuerst, er ging
leise zu den Leuten und weckte sie, auch Adele. Sofort ging sie nun zu
ihrer Mutter. Auch dann, während des Feuers, blieb sie so ruhig und gefaßt
und gab an, was man tun sollte. Alle Leute hatten den Kopf verloren, auch
die Feuerwehrmänner. Es brennt so selten hier, das ist der Grund.«

»Wann war denn der Brand?« fragte Grau.

»Mütterchen, wann war es wohl?«

Mütterchen sagte: »Mitte August!«

»Und wie entstand das Feuer? Es hat ja einen ganzen Flügel zerstört, nicht
wahr?«

Das wisse niemand. Susanna schüttelte den Kopf. »Niemand weiß es,« sagte
sie. »Ja, es hat einen ganzen Flügel zerstört und gerade den, der nicht
bewohnt war. Kein Mensch wohnte darin, kein Dienstbote, niemand.«

»Welch ein Glück!«

»Ja, nicht wahr! Man hat wochenlang von nichts anderem gesprochen.
Vielleicht war es ein Racheakt. Aber man weiß es nicht. Sie dachten an ein
Dienstmädchen, das nicht richtig im Kopfe ist und das die Herrschaft
entließ. Aber dieses Dienstmädchen war zu einer Hochzeit verreist, also
konnte auch sie es nicht getan haben. Das Feuer muß von selbst entstanden
sein.«

»Von selbst?« Aber ein Feuer könne doch nicht von selbst entstehen? Grau
schüttelte den Kopf.

»Doch, ganz von selbst! Durch Wolle oder Vorhänge oder irgend etwas. Es war
furchtbar für die Familie. Denken Sie nur, all die alten kostbaren Möbel
und Bilder, die verbrannt sind. Aber das ist es nicht allein. Sie müssen
wissen, daß die Hennenbachs sich seit Jahren in Schwierigkeiten befinden.
Oh, denken Sie doch, solch ein feines Haus! Der Freiherr war Major und ist
ein Leben großen Stils gewöhnt, der Sohn, was er Geld brauchen mag --«

»Der Sohn?« unterbrach sie Grau.

»Ja,« erwiderte Susanna ein wenig überrascht. »Kennen Sie ihn?«

»Ich habe ihn ganz flüchtig kennen gelernt,« antwortete Grau. »Was ist das
für ein Mensch, ich interessiere mich für ihn.«

»Das? Ach, er ist ein sehr liebenswürdiger junger Mann, aber ein wenig --
ein wenig --«

Grau lächelte. »Nun?«

Mütterchen in der Ecke sagte: »Er ist ein Leichtfuß!«

Susanna lachte leise: »Aber wie kannst du das doch behaupten, Mütterchen!
Nun, ja, er ist ein wenig leichtsinnig, Herr Grau. Und er ist
verschwenderisch. Die ganze Familie gibt das Geld leicht aus. Auch Adele
braucht viel Geld, ja, sie wirft das Geld zum Fenster hinaus, kann ich
Ihnen sagen. Und nun brach das Feuer aus! Sie waren hoch versichert.«

Susanna blickte Grau lange an. »Denken Sie, wie böse die Menschen sein
können! Sie wissen, was ich meine!« Susanna ballte die Fäuste.

»Ja,« sagte Grau; »es ist übrigens recht gut möglich, daß das Feuer von
selbst entstanden ist,« fügte er hinzu, »durch Wolle, Späne oder irgend
etwas.«

Susanna lächelte. »Aber hören Sie, es war doch ein Glück dabei. Ja, ein
großes Glück. Nämlich er, der Major, er wollte keine Versicherung mehr
bezahlen. Auch die Freifrau nicht. Der Beamte der Gesellschaft
unterhandelte mit ihnen und da warf sich Adele ins Zeug und sagte, man
müsse versichern. Die Freifrau hat es den Sindings-Mädchen erzählt. Wie
gut, daß wir Adele nachgegeben haben, sagte sie.«

»Das war allerdings Glück im Unglück!« sagte Grau.

»Aber ich wollte ja von Adele erzählen, wie eigentümlich sie ist,« fuhr
Susanna fort. »Denken Sie, sie hat keine Miene gerührt, als das Feuer
ausbrach und niemals darüber gesprochen. Sie war der einzige Mensch in der
Stadt, der nicht davon sprach, es war gerade, als ob nichts geschehen wäre.
Auch den glücklichen Umstand, daß gerade sie es war, die auf die Erneuerung
der Versicherung drang, ließ sie unerwähnt, zu keinem Menschen sprach sie
davon. Auch als sie sich verlobte -- sie hat sich mit einem Baron Kirchgang
verlobt, aus einer sehr reichen und feinen Familie -- ja, da hat sie
ebenfalls keine Miene gerührt. So eigentümlich ist sie. Manchmal scheint es
als ob sie aus einer andern Welt sei.«

Grau blickte Susanna an. »Vielleicht ist sie es auch, nicht wahr?«

»Wie?«

»Vielleicht ist sie aus einer andern Welt,« sagte Grau mit eigentümlichen
Lächeln.

»Ich verstehe nicht?« sagte Susanna gespannt.

»Nun, vielleicht ist sie aus einer andern Welt als der Erde. Weshalb sollte
das nicht möglich sein?«

»Ja, wieso sollte es möglich sein?« fragte sie.

Grau zuckte die Achseln. »Ja, wieso sollte es nicht möglich sein?« fragte
er.

Susanna sah ihn lange an, sie lächelte verwundert, dann schüttelte sie
leise den Kopf und wandte den Blick dem Fenster zu. Der Schnee schimmerte
auf den Feldern.

»Ich werde jetzt mit Herrn Eisenhut reden, Susanna,« sagte Mütterchen leise
und wandte sich langsam der Küchentüre zu.

»Ja, tue das. Stelle es ihm vor, Mütterchen, nicht wahr? Du weißt ja, er
hatte noch immer ein Einsehen.«

»Ja,« sagte Mütterchen kleinlaut. Dann wandte sie sich an Grau. »Der Herr
müssen mich einen Augen -- blick ent -- schuldigen --«

»Mütterchen ist sehr scheu,« flüsterte Susanna. »Sie kann nicht sprechen,
aber sie fühlt. Ich möchte Sie auch bitten, nicht vom Vater zu sprechen in
ihrer Gegenwart. Sie leidet so. Er war hier, ich weiß es. Ich sah ihn zum
Fenster hereinblicken, in der Nacht, und am Morgen, da sah ich die
Fußspuren im Schnee. Mütterchen hat nichts gemerkt, das ist gut. Sie geht
umher und denkt an ihn, aber sie spricht nichts. Manchmal, wenn es stürmt,
beginnt sie zu weinen. Es ist solch schlimmes Wetter, sagt sie. Sonst
nichts. Aber ich weiß, daß sie meint, Vater könnte draußen sein. So ist
sie. Manchmal -- ach, nicht oft -- vielleicht zwei-, dreimal im Jahr, da
sagt sie: >Wenn er doch einen Brief schriebe!< Dann kann sie nicht mehr
schweigen, dann muß sie von ihm sprechen. Vater kommt so selten -- so
selten! Er hat eine unruhige Seele, aber er ist der allerbeste Mensch von
der Welt.« Sie hielt inne und lauschte gegen die Türe, hinter der man
Stimmen hörte, sie zitterte ein wenig, dann sagte sie: »Ich hoffe, Sie
werden noch ein Weilchen dableiben, Herr Grau, nicht wahr?«

»Mit dem größten Vergnügen,« sagte Grau. »Ich liebe es, Ihnen zuzuhören.
Aber ich muß meinen Mantel ablegen dürfen.«

»Natürlich, natürlich! Oh, denken Sie, wie ich mich gesehnt habe, mit
jemand zu sprechen.«

»Verzeihen Sie einen Augenblick,« unterbrach sie Grau, »da wir vorhin von
dem jungen Herrn von Hennenbach sprachen -- er ist wohl Student?«

»Ja. Weshalb?«

Grau lächelte. »Ich kann nicht verstehen, daß er hier ist, wenn er doch
Student ist. Er lebt wohl immer hier bei seinen Eltern?«

»Ja. Er ist seit zwei Jahren an der Universität eingetragen, aber er war
noch nie dort.«

»So, so. Er lebt also immer hier?«

»Ja, ja. Ich verstehe nicht --«

»Oh, bitte, es ist nur eine kleine Neugierde -- aber sprechen Sie doch nun,
bitte, Fräulein Lenz!«

Susanna lächelte, sah Grau an und fuhr fort: »Ja, ich freue mich, sprechen
zu können. Ich führe zuweilen lange Gespräche mit mir selbst, ich spreche
zu meiner Seele und meine Seele spricht zu mir. Und nun weiß ich ja nicht,
wovon ich anfangen soll. Und denken Sie, wie ich mich gesehnt habe, einen
fremden Menschen, einen neuen Menschen zu sehen!«

»Warum gerade das?« Grau rückte den Stuhl näher heran.

Susanna kicherte. »Sie werden vielleicht lachen!« sagte sie mit hoher
Stimme. »Aber, nein, Sie werden es wohl verstehen. Ich liebe es, ein neues
Gesicht zu sehen. Es ist mir fremd und gibt mir zu denken. Und ein neuer
Mensch, hören Sie doch, was hat er alles gesehen und gehört! Die Menschen,
die in unser Haus kommen, was haben denn die gesehen? Sie haben die Stadt
gesehen, den Wald, die Dörfer ringsumher, alle Gesichter, die auch ich
gesehen habe, alles, was sie gesehen haben, das kenne auch ich. Aber ein
neuer, ein fremder Mensch! Er hat so viele Städte gesehen, ferne Städte mit
wunderlichen Häusern und Türmen, und obwohl ich ja das nicht sehen kann, so
ist es mir doch, als brächte er all das mit. Er hat fremde Menschen gesehen
und mit ihnen gesprochen, all das scheine ich auch zu erleben, wenn er zu
mir kommt. Er hat gesehen, wie sie kämpfen da draußen um all die neuen
Ideen -- all das fühle ich. Er hat Musik gehört, große Werke, große
Künstler, das alles bringt er mit zu mir herein. Er ist ein Erlebnis, denn
all die Zeitlang, die ich nun hier sitze oder liege -- es ist ein Jahr und
noch ein halbes dazu -- habe ich nur sechs verschiedene Menschen hier bei
mir gesehen -- ja, sechs waren es.«

»Wie lange sind Sie denn schon leidend, Fräulein Lenz?«

»Es ist nun,« sagte Susanna und blickte in die Weite, »es ist nun vier
Jahre. Aber erst die letzten Jahre ist es so schlecht, daß ich nur im
Sommer noch ein wenig im Freien gehen kann.« Sie lächelte. »Trotzdem
vergeht die Zeit sehr rasch für mich. Ja, mein Gott, wo kommen doch die
Tage hin? Es ist so selten, daß ich mich langweile --«

»Wie gut das ist! Das ist gut!« unterbrach sie Grau.

»So selten. Nur wenn es in meinem Kopfe leer wird, dann kann es geschehen,
daß ich die Röschen der Tapete zähle, oder die Tassen im Glasschrank, oder
ausrechne wieviele Fingerbreiten wohl von hier zur Türschwelle sein mögen.«

»Jeder Mensch hat solche Augenblicke!«

»Ja, das mag sein. Es ist selten. Zuweilen ist es mir erlaubt zu lesen. Die
Sindings bringen mir Bücher und Adele, die alle Bücher hat, die es nur
gibt. Da lese ich dann. Diese Ideen! Ich liebe die Ideen, müssen sie
wissen, die neuen! Ja, wie ganz anders er doch die Welt betrachtet, denke
ich. Ich liebe die Dichter! Siehst du denn alle Menschen, von denen er
spricht, sage ich zu mir. Siehst du sie? Manchmal schüttle ich den Kopf:
Nein, sage ich, das ist nicht wahr. Aber ich liebe die Dichter! Ich liebe
die sanften, die zuweilen in den Büchern zu singen anfangen, so daß sie
sagen: Ja, wie schön, wie schön ist das doch! Ich liebe die grausamen, die
von wilden Herzen reden. Ich sitze und denke darüber nach, all das ist so
fern, so fremd, aber ich denke, von jeder dieser Personen hast du ein
kleines Etwas, von jeder, sie mögen schlecht oder gut sein.«

»Wie schön Sie das sagten!« sagte Grau bewundernd und nickte.

Susanna fuhr fort: »Es ist schade, daß es mir verboten ist, viel zu lesen,
denn sonst -- ich würde ja Tag und Nacht lesen, ich tue alles
leidenschaftlich, was ich tue. Aber dann kann ich ja dasitzen und zum
Fenster hinaussehen. Mütterchen hat den Stuhl so gestellt, daß ich zur
Brücke sehen kann. Es kann nichts in die Stadt gehen, es kann nichts aus
der Stadt kommen, ohne daß ich es sehe. Ist das nicht herrlich! Es ist nun
so schön und spannend, dazusitzen und zu warten bis etwas kommt. Lange Zeit
kann verstreichen, aber plötzlich -- sagen wir -- taucht der nickende Kopf
eines Pferdes auf. Ein Pferd! sage ich zu mir, und ich sehe das Pferd noch,
wenn es schon weit fort ist. Aber dann kommt eine Bäuerin mit einem Korbe
auf dem Rücken, oder es kommen Kinder. Ich denke, werden sie ins Wasser
spucken oder nicht. Aber da haben Sie sie schon an der Brüstung -- immer
sehen Kinder interessante Dinge im Wasser -- und sie müssen
hinunterspucken. Auch ich mußte es tun -- auch Sie?«

Grau lachte. »Ja,« sagte er.

Susanna fuhr fort: »Dann kommt die gelbe Postkutsche. Sie kommt in der
Frühe und kehrt spät am Nachmittage zurück. Ich freue mich, so oft ich sie
sehe, denn sie kommt regelmäßig wie ein Freund. Es scheint auch, als sei
ich persönlich mit ihr verknüpft, sie ist wie ein Mensch! Ich muß lachen,
wenn ich sie sehe, und manchmal winke ich ihr auch. Abends kann ich sie
jetzt nicht sehen im Winter, aber ich sehe, wie ein kleines Licht über die
Brücke kriecht. Dann sehe ich den Schnee. Er schmiegt sich wie heute, er
ist wie Sand, wenn es kalt ist -- er glänzt, wenn es getaut hat und Frost
darauf folgte. Er bewegt sich, wenn der Wind weht, und manchmal da sieht es
aus als tolle ein närrischer weißer Pudel im Felde herum. Dann sehe ich die
Wolken. Sie können mich froh und leicht machen, sie können machen, daß mein
Blut schneller läuft, daß mein Herz stockt, und es gibt solche, vor denen
ich mich leicht verneige, so drohend stehen sie da. Dann sehe ich die
Pappeln an der Brücke. Sie sehen jetzt wie Besen aus, aber wenn es stürmt,
so flattern sie wie Mähnen, und sie scheinen fürchterliche Angst zu haben.
Fast immer sitzt eine Krähe dort oben auf der Spitze, sie sitzt und lugt
aus und plötzlich fliegt sie fort. Aber sofort ist eine andere da, die ganz
genau aussieht wie die erste, man könnte glauben, es sei immer die gleiche.
Wenn es dunkel wird, warte ich auf den ersten Stern. Ich warte auf den
Mond. Sie sehen, so vergeht die Zeit, selbst im Winter gibt es so vieles zu
sehen. Aber dann werde ich oft müde und muß die Augen schließen, und wissen
Sie, was dann geschieht?«

»Dann träumen Sie!«

»Ja, dann träume ich.«

»Was träumen Sie denn?«

Mannigfacher Art waren die Träume Susannas. Am liebsten aber träumte sie
Musik. Ja, wenn sie nicht müde war, da träumte sie von Menschen; wie sie
sprechen und denken und handeln, wie wunderlich sie sind; aber wenn sie zu
müde dazu war, so träumte sie Musik.

»Ich würde zu gern hören, in welcher Weise Sie das tun, Fräulein Lenz. Ich
bin etwas neugierig, ich muß es gestehen. Aber ich werde mich gewiß
revanchieren, ich verspreche es Ihnen. Ich habe sehr viel erlebt und
gesehen und das alles werde ich Ihnen erzählen. Aber vorläufig ist die
Reihe an Ihnen.«

Susanna zögerte eine Weile. Sie hatte gesprochen und gesprochen, wie es oft
Menschen tun, die lange allein gewesen sind mit ihren Gedanken. Nun
erinnerte sie sich plötzlich, daß Grau ein Fremder war. Sie lächelte, aber
Grau verstand es, ihr zuzureden.

Susanna blickte lange zur Seite, dann fuhr sie fort: »Es kann eine
Abendwolke sein, die über den Himmel zieht und singt. Oder es kann sein --
aber Sie werden es besser verstehen: Zuerst, da ist es eine kleine Melodie,
das kleine Lied eines kleinen Vogels im Walde. Das ist die Flöte! Und es
ist ganz leise. Es ist der kleine Vogel, der singt, und sein Lied
schmeichelt den Bäumen. Sie beginnen sich zu wiegen und nun saust die
Melodie des kleinen Vogels im ganzen weiten Walde. Das sind die Violinen!
Sie wiederholen, sie verändern die Melodie des kleinen Vogels, aber sie
hören immer den kleinen Vogel singen. Plötzlich ist es wie ein Schreck, wie
eine Warnung, das ist die Klarinette, die warnt, das ist die Trompete, die
mit einem Stoß den Schreck hervorruft. Nun kommt der Sturm, die Pauken und
die Baßgeigen, er jagt daher, der Wald braust und wiederholt klagend und
furchtsam das Lied des kleinen Vogels. Der aber ist ganz still. Der Sturm
greift den Wald an, um den Vogel zu vernichten, aber der Wald verteidigt
ihn. Der Sturm und der Wald kämpfen miteinander. Sie hören nur den kleinen
Vogel lachen, denn er fürchtet sich nicht, er verspottet den Sturm. Das
macht den Sturm rasend, er wütet gegen den Wald, aber endlich macht er sich
grollend davon und die Bäume wiegen sich und sie hören den kleinen Vogel
wieder wie am Anfang. -- So ähnlich ist es, wenn ich Musik träume. Haha,
ich kann es ja nicht in Worten wiedergeben -- aber so ähnlich ist es, Sie
müssen es sich eben ausmalen.«

Grau zitterte. Ein eigentümliches Zittern machte seinen ganzen Körper
erbeben.

»Sie frieren?« sagte Susanna und richtete sich auf.

Grau gab sich Mühe gegen das Zittern anzukämpfen, aber es half nichts.
»Nein,« sagte er und lächelte, »ich friere nicht. Keineswegs. Ich hatte
einmal Fieber, ich kam einem Fieberkranken zu nahe und daher rührt das
Zittern. Seien Sie ganz unbesorgt und sprechen Sie ruhig weiter. Ich habe
die Musik gehört, Fräulein Lenz, ich habe alle Instrumente gehört, so gut
haben Sie das beschrieben! Welche Melodie aber hat der kleine Vogel
gesungen? Ich habe mir eine fröhliche, ein wenig kecke Melodie gedacht.«

»Fröhlich und ein wenig keck, ja. Es war ja nur ein Beispiel, weil Sie es
wissen wollten. Es kann auch sein, daß er traurig singt und es regnet, die
Regentropfen singen dieselbe traurige Melodie, die Blätter, der Wind. Es
muß auch nicht gerade ein Vogel sein, es kann ein junges Mädchen sein, das
man in einen schönen Garten eingeschlossen hat und das in der Sonne geht
und singt.«

»Warum muß das Mädchen gerade eingeschlossen sein?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich fühle es so. Es kann auch das Meer sein, das
singt, oder Grotten oder eine Linde, in deren Zweigen Tausende von Vögeln
hüpfen.«

Grau schüttelte langsam den Kopf und Susanna sah ihn fragend an.

»Nun haben Sie sich verraten, Fräulein Lenz,« sagte er, »Sie sind ja ganz
außerordentlich für Musik begabt. Sie komponieren ja im Kopfe!«

Susanna lachte leise und errötete.

»Haben Sie auch schon als Kind solche Träume gehabt?«

Ja, da hatte Susanna gehört, daß die Glocken nicht einfach läuten, sondern
ein Lied singen, auch das Wasser, das man in einen Krug laufen ließ, es
sang.

»Da haben wir es!« Grau lachte. »Sie müssen Musik von Grund auf studieren.
Spielen Sie ein Instrument? Nein? Das schadet nichts; Sie müssen unbedingt
ein Piano haben!«

Susanna hörte ihm erstaunt zu, sie sah froh aus und sie lächelte und sagte
mit hoher Stimme: »Ich kann aber doch nicht spielen!«

»Das? Was das anbelangt -- da seien Sie ganz außer Sorge. Sie werden es
sehr schnell lernen. Ich habe Ihre Hände betrachtet, die Glieder der Finger
sind so fein, so fein und voll nervöser Kraft, ja, schön sind Ihre Hände,
Fräulein Lenz. Oh, vergeben Sie mir, wenn das zu kühn ist. Es fällt mir
natürlich gar nicht ein, Ihnen Schmeicheleien zu sagen, weder Ihnen noch
sonst jemandem, nein, aber wenn etwas schön ist, warum soll ich es nicht
beim Namen nennen -- nicht wahr? Ja, Sie haben Hände zum Klavierspielen, in
einem Vierteljahr werden Sie schon ganz prächtig spielen -- nach einem Jahr
oder zwei Jahren aber ausgezeichnet. Ich erbiete mich, Ihnen Unterricht zu
geben. Meine Kenntnisse sind gering, aber für den Anfang, da kann ich schon
zu gebrauchen sein, später, da wird sich ja alles finden --«

Susanna hörte ihm zu und lächelte. Sie erwiderte nichts darauf, aber ihr
Blick wurde plötzlich düster. Dieser Blick sagte: Ja, was spricht er denn
von Jahren und Jahren, sieht er denn nicht, wie es um mich steht?

Dann sagte sie leise: »Sie sind gut, Herr Grau. Zuweilen da blicken Sie so
streng, aber Ihre Augen sehen immer gütig aus. Ich habe gehört, wie
tatkräftig Sie sich der alten unglücklichen Frau Sammet angenommen haben --
ich --«

Aber davon wollte Grau nichts wissen. Er lachte und sagte: »Das ist mein
Privatvergnügen. Es macht mir Freude, das ist es. Ich habe ja im Grunde
genommen nichts für die Arme getan. Eine Kollekte, das war alles. Habe ich
mit dieser alten Frau gelitten, habe ich sie etwa an die Brust gedrückt,
ihren Scheitel, ihre Wangen gestreichelt, ihre Stirn geküßt, hat man etwas
derartiges etwa erzählt? Wie? -- Habe ich ihr Handreichungen getan, da sie
vor Schmerz nicht wußte wo aus und wo ein? Nein, all das habe ich nicht
getan. Leider nicht. Es ist also nicht richtig, was Sie sagen. Ein Dame
hier hat mir gesagt, ich hätte bei der Beerdigung schön gesprochen. Ich
habe mich geschämt. Schön! Ach nein, schlecht, ein paar armselige Worte
habe ich gesagt und die Scheu vor all den Zuhörern war größer als mein
Mitgefühl mit der unglücklichen Mutter. Sie sind also im Irrtum --«

Da kam Mütterchen ins Zimmer. Susanna wurde unruhig und sagte: »Es muß
heute schön draußen sein, der Schnee ist so weich.«

Mütterchen sah niedergeschlagen und entmutigt aus. Sie hatte feuchte Augen.
»Er hat nein gesagt!« flüsterte sie Susanna zu. Sie stellte eine Tasse
neben Grau.

»Nein?« jagte Susanna erschrocken. Sie blickte zu Boden, errötete, dann
setzte sie hinzu, indem sie Mütterchens Hand streichelte: »Ach, Mütterchen,
du mußt den Mut nicht sinken lassen. Du weißt, er will gebeten sein, er
ließ sich stets nach einigen Tagen erweichen.«

»Ja,« hauchte Mütterchen hoffnungslos und goß Kaffee in die Tasse.

»Ja, was tun Sie denn!« schrie Grau erschrocken und sprang auf.

»Ein Täßchen Kaffee, wenn der Herr mir die Ehre antun wollen.«

Grau sah Mütterchen lange an, seine Augen glänzten. »Wie liebenswürdig von
Ihnen,« sagte er und drückte Mütterchen die Hand. »Ich breche in Ihr Haus
ein, ich bin ein Fremder, das ist mir noch nie passiert, ich danke Ihnen!«
Er verneigte sich dankbar und setzte sich wieder.

Aber da war das Unglück schon geschehen. Durch die Küchentüre nämlich war
ein freches braunes Huhn in die Stube spaziert und stolzte keck im Zimmer
umher.

Mütterchen erstarrte vor Schrecken. »Da ist -- nun -- diese --« Sie blickte
starr und hilflos auf Grau. »Hsch, hsch -- du ungezogene --«

»Putt -- putt,« machte Grau. »Ein schönes Huhn. Sie halten Hühner, Frau
Lenz, seht an.« Er blickte freundlich auf die Henne als sei sie ein Mensch.

»Ja, in der Küche -- aber -- der Herr müssen entschuldigen -- mein ganzes
Leben bin ich noch nicht so in Verlegenheit gebracht worden -- wie mich
diese ungezogene -- hsch, hsch -- Kreatur blamiert -- Geh hinaus,
Klatschbase.«

»Klatschbase, so heißt sie,« erklärte Susanna, »weil sie so viel gackert.«

Klatschbase segelte endlich gackernd und schreiend zur Türe hinaus, nicht
ohne vorher zu zeigen, daß sie ein echtes Huhn sei. »O -- o --« hauchte
Mütterchen, aber Grau hatte es gar nicht bemerkt. Er sprach mit Susanna. Da
habe sie recht, ein schöner Tag sei heute. »In der Stadt hacken sie das Eis
auf,« sagte er. »Es kann nun nicht mehr lange währen, bis der Frühling
kommt.«

Susannas Augen glänzten. Sie blickte Grau erstaunt und lange an.

»Nun?«

»Als ob Sie erraten hätten, worauf ich warte!« sagte sie langsam. »Denn die
Wahrheit zu sprechen, ich sitze den ganzen Tag hier und warte auf den
Frühling. Ich warte auf ihn, ich liebe ihn, mein Herz klopft, denke ich an
ihn. Er ist mein Geliebter. Sie lieben ihn auch?«

Grau lächelte. »Ja, wer liebt ihn nicht?« sagte er. »Es gibt auf der ganzen
weiten Welt nicht einen einzigen Menschen, der ihn nicht liebt, er kann
noch so mißmutig sein.«

Susanna fieberte bei dem Gedanken an den Frühling. Sie lächelte und atmete
tief. »Oft denke ich,« fuhr sie fort, »ob es sich nicht jetzt schon rührt
da drinnen in der kalten Erde, ob nicht die Keime schon ein wenig erwachen
und sich dehnen, all die tausend, tausend Keime da drunten. Denn hören Sie,
sie müssen sich ja jetzt schon dehnen, denn haben Sie nicht plötzlich schon
ein Schneeglöckchen im Walde angetroffen, wie? Also müssen sie wohl oder
übel jetzt schon beginnen, nicht wahr? Ich freue mich auf all das, was
jetzt kommt, denn der Winter war doch recht lang. Wenn er schon kommt, der
Frühling! Guter Gott, wie weht es doch! Er haucht! Man spürt es an der
Schläfe, vor allem an der Schläfe, da haucht es, als ob ein warmer Mund
hauche. Wie warm es haucht! Denken Sie daran, wenn Sie hinaustraten und
dachten, ja, was ist dies plötzlich, so warm? Dann fassen Sie etwas an,
einen Ast, er ist feucht, er klebt! Das ist, wenn er kommt.«

Sie schwieg. Dann, nach einer langen Weile sagte sie -- und es klang wie
ein frohes Seufzen: »Dann wächst das Gras!«

Nein, dachte Grau, es klang nicht nur wie ein frohes Seufzen, nimmermehr
wirst du das vergessen können, es klang wie eine Liebkosung, es klang wie
ein Gebet. So eigentümlich sagte sie es, daß er einen Schmerz in der Brust
empfand, einen leisen Stich. Er sprach nichts, er war still und blickte auf
Susanna.

»Dann regnet es und Sie lachen!« fuhr Susanna fort. »Es regnet und Sie
lachen! Ja, regne nur, regne nur, denken Sie und lachen, denn jetzt kommt
er. Sie schließen die Augen und schlafen und Sie träumen, wie es sich regt
im Lande, die Wolken, die Erde, die Luft, alles ist in Bewegung. Die Luft
ist süß wie Milch, das Wasser wie Wein, die Menschen sind freundlicher
geworden. Im Walde da riecht es, der Schuh sinkt in den Boden, nasses,
faulendes Laub. Dann kommt der erste Keim hervor, das erste Grün, die erste
Blume. Kommen denn nicht die Tiere des Waldes zusammen, die Hasen und Rehe
und Eichhörnchen, Igel und Füchse, die Raben und die Marder, diese erste
Blume zu sehen? Wie aber sieht es unter den Hecken aus! -- Ja, wie sieht es
denn da aus?« rief sie und lachte. »Aber das ist ja alles, wenn er nur im
Anzuge ist --«

Plötzlich fiel etwas vor dem Fenster draußen herab, dann tanzte eine weiße
Flaumfeder herab, zwei, drei kleine Federchen folgten, nun fielen einige
Flocken zu gleicher Zeit und dann so viele, als ob man Hände voll Federchen
in die Luft streue, die Luft war grau getüpfelt. Sie fielen immer dichter,
sie wirbelten, tanzten, taumelten kreuz und quer, klebten an den Scheiben,
und endlich schossen weiße und graue Streifen durch die Luft und verhüllten
den Ausblick. Es schneite ordentlich. Sofort wurde es dunkel im Zimmer und
Susannas Augen glänzten aus einem fahlen ledergelben Flecken.

Susanna aber sah es nicht, sie sprach vom Frühling, den Bächen, den Wiesen,
den Wolken, vom Himmel, diesem blauen schimmernden Frühlingshimmel! Glanz
und Herrlichkeit --

»Sie gehen in den Wald!« sagte sie fiebrisch. »Sie gehen hinein wie in eine
Kirche. Die Buchen stehen da, naß und fleckig, sie haben Knospen wie grüne
Blüten überall, aber der Boden des Waldes ist von Anemonen gefärbt. Sie
kommen an einen Hang, der ist ganz gelb: Das sind die Schlüsselblumen, sie
kommen über die Wiese, da steht das Schaumkraut, so blau, so duftig. Sie
kommen an einen Bach, der ist golden gesäumt, das sind die Dotterblumen,
mit einem Griff können Sie einen ganzen Strauß pflücken, sie sind so saftig
und innen glänzen sie wie Schmalz. Das Gras wächst und wächst und wächst,
es wird immer länger, und wenn nun der Wind weht, so zittern die Gräser
nicht mehr, sie schwingen sich, sie wiegen sich, ganze Wellen. Oft liege
ich stundenlang hier und denke wie der Wind über die Wiese streicht und die
Wiese gibt sanft nach. Wie schön wäre es, barfüßig im Grase zu gehen!«

Ihre Augen fieberten, ihre Wangen röteten sich. Sie lachte und hustete.

»Du sollst solche Gedanken gar nicht haben,« sagte Mütterchen.

»Ich meine ja nur,« sagte Susanna. »Lieben Sie die Margareten, Herr Grau?«

»Ja,« sagte Grau. »Sie sehen so besonders reinlich aus.«

»Reinlich! Ja, ich sehe sie vor mir, alle, alle, alle Margareten sehe ich
vor mir! Ich liebe die Blumen, sage ich Ihnen.«

»Das kann ich wohl merken, Fräulein Susanna!« sagte Grau. »Oh -- verzeihen
Sie mir die vertrauliche Anrede, sie kam ganz von selbst auf meine Lippen.«

Susanna verneigte sich in ihrem Sessel. »Das ehrt mich!« sagte sie und sah
Grau erfreut an. »Ja, ich liebe sie!« fuhr sie fort und rang ein wenig die
kleinen mageren Hände. »Sie sind wie Kinder. So schön sind sie, so still
und geduldig. Sie blühen auf und sterben, und niemand hat sie gehört, daß
sie sich beklagten. Es scheint mir, die Menschen könnten viel von ihnen
lernen. Dann tun sie auch niemand etwas zu leide, sie leben ja von Erde,
Tau und Luft. Sie freuen sich, wenn die Sonne scheint, und wenn es Abend
wird, da schließen sie die Kelche und stehen schlafend da. Können Sie sich
eine ganze Wiese oder einen Abhang vorstellen in der Nacht, alle Blumen
haben die Kelche geschlossen und schlafen? Können Sie das? Ich kann es,
denn ich beschäftige mich unausgesetzt mit solchen Dingen. Das alles habe
ich von Mütterchen gelernt, nicht wahr, Mütterchen? Sie liebt die Blumen so
sehr.«

Grau wandte Mütterchen den Blick zu, und sie sagte: »Früher, ja, früher da
liebte ich sie.«

»Jetzt nicht mehr, aber --!«

Es gäbe so manches, sagte Mütterchen, nahm die Tasse und ging hinaus. Sie
kam mit der gefüllten Tasse zurück und stellte sie neben Grau hin, ohne ein
Wort zu sagen.

»Nein, aber ich protestiere!« sagte Grau.

»Wenn der Herr mir die Ehre antun wollen --«

Susanna aber fuhr fort vom Frühling zu sprechen. Draußen schneite und wehte
es, aber sie sah es nicht. Sie sah wie die Blumen im Gärtchen draußen
wuchsen, all die Nelken, Tulpen, Rosen und dieser Flieder von einer ganz
seltenen blaßblauen Farbe. Februar, März, sagte sie, und zählte die Wochen
an den Fingern ab.

Plötzlich schwieg sie. Sie blickte in die Weite und versank in Gedanken.
Ihre schweren Vogellider sanken halb über die schwarzen Augen, die Lippen
öffneten sich. Sie sprach mit sich selbst.

»Ich muß das grüne Gras noch einmal sehen, ich muß!« flüsterte sie. Sie
dachte nicht, daß Grau es hören könnte.

Grau erhob sich. Susanna erschrak.

»Oh, es ist spät?« sagte er. »Es ist spät!« Er griff in alle Westentaschen
und suchte nach der Uhr, dann, als er sie nicht fand, schlüpfte er rasch in
den Mantel. Es schien als könne es ihm nicht schnell genug gehen. »Es ist
spät!«

»Sie müssen gehen?«

»Ja, bei Gott, ich muß. Ich werde wiederkommen, ich werde wiederkommen,
wenn es die Damen erlauben, ganz gewiß --«

»Kommen Sie bald wieder!«

»Danke, danke! Ihnen habe ich tausendmal zu danken, Fräulein Susanna, es
ist einer der schönsten Nachmittage meines Lebens gewesen -- der schönste
vielleicht! Ich werde keine Silbe vergessen von dem was Sie mir erzählt
haben. Und wieviel habe ich Ihnen zu danken, Frau Lenz. Ja, ich muß,
erlauben Sie mir, ich bin ein Fremder für Sie, ein Eindringling, aber mit
welcher Freundlichkeit haben Sie mich aufgenommen!«

Er gab Susanna die Hand und sah sie lange mit leuchtenden Augen an. »Wie
rasch wir Freunde geworden sind!« sagte er.

»Ja!«

»Adieu, Fräulein Susanna!«

»Adieu, Herr Grau!«

Unter der Türe verbeugte sich Grau nochmals und wiederholte: »Adieu,
Fräulein Susanna!«

Mütterchen stand nicht davon ab Grau hinauszubegleiten. Der Herr wisse ja
nicht, wie man das Gartentürchen öffne.

Grau wehrte ab. »Sie können sich eine Erkältung holen, Frau Lenz. Wie es
doch schneit!« -- Nein, nein, der Herr wisse ja nicht --

Draußen fragte Mütterchen, was er von Susanna halte?

»Oh!« rief Grau aus, den Hut in der Hand, »ein prächtiges Geschöpf, ein
ganz und gar wundervolles Mädchen. Sie hat mich entzückt, ganz unter uns
gesagt!«

Mütterchen lächelte ein wenig. Ob der Herr sich nicht bedecken wolle? Sie
frage, was er von ihrem Befinden halte.

»Eine Erkältung,« sagte Grau scheu, mit einer Bewegung, als wolle er
entfliehen, und blickte auf Mütterchen herab, in deren Haaren sich der
Schnee ansammelte. »Eine schlimme Erkältung vielleicht -- aber --«

Ob der Herr sich nicht doch bedecken wolle? Sie sei nun schon über zwei
Jahre leidend. Sie sah Grau mit angsterfüllten Augen an.

Nun käme ja bald der Frühling! Luft, starke, stärkende Luft, Balsam für
Kranke. »Was übrigens das Leiden anbetrifft, so kann ich Ihnen recht wohl
sagen -- und jedermann wird es Ihnen bestätigen -- mit einem Leiden kann
man alt werden. Ich selbst habe einen Herrn gekannt --« Grau sprach noch
scheuer und wich ein wenig zurück. »Übrigens der Frühling, die Sonne --« Er
konnte nicht weitersprechen. Die jungen Vögel werden sie ins Grab singen,
dachte er.

Mütterchen verbeugte sich, aber sie sagte kein Wort, mit komischen Sprüngen
lief sie ins Haus zurück.

Grau setzte den Hut auf und ging. Er blickte sich einigemal um, als ob er
verfolgt werde. Sobald das kleine Häuschen im Düster untertauchte, begann
er zu laufen, was er konnte, und entfloh durch den wirbelnden Schnee.




Vierzehntes Kapitel


»Sie ist einer von jenen Menschen, für die man sein Leben lassen müßte!«
sagte Grau, der in seinem dunkeln Zimmer auf und ab ging. »Nur um ihr einen
einzigen glücklichen Tag zu schenken, müßte man tropfenweise sein Blut
hergeben!« Es blieb lange dunkel in Graus Zimmer, dann machte er Licht und
schrieb an Susanna einen langen Brief. Verehrte und bewunderte Freundin,
schrieb er. Er trug den Brief zur Post. Vielleicht kommt der Briefbote
selten in das kleine Haus da draußen vor der Stadt, dachte er und lächelte.
Und morgen würde Susanna lesen, daß sie einen Freund und Bruder gefunden
hatte.

Er fühlte sich froh und erleichtert, als er wieder die Staffeln
hinaufstieg. Obwohl es empfindlich kalt war und der Schnee unter seinen
Schritten knarrte, trat er nicht in das Haus, sondern er ging weiter, die
Parkmauer entlang. Plötzlich stand er vor einem hohen eisernen Gitter und
merkwürdigerweise pochte sein Herz, als er dieses Gitter sah. Der Park lag
öde und kalt. Grau dachte an den Mohren aus Bronze, der drinnen in dem
weißen Hause stand, an die Stille des Salons mit den zierlichen Möbeln und
an den leisen Schritt, der sich plötzlich der Türe genähert hatte; dann kam
sie. Ihre Stimme, ihre Augen -- er ging weiter, diese Erinnerung schmerzte
ihn. Er stieg die Höhe hinauf. Schnee, Düster und unheimliche Stille. Ein
paar Lichter blinzelten im Tal, als ob die Kälte sie beize wie Augen, ein
kleiner grüner Stern sprühte am Himmel, der fast schwarz aussah. Der Wald
begann. In ihm war es noch stiller und ganz dunkel, aber es war wärmer
zwischen den Bäumen, die ohne jedes Zeichen von Leben dastanden und sich
gleichsam aneinander drängten.

Grau lauschte unwillkürlich, Scheu, Friede und Feierlichkeit erfüllten ihn
inmitten des winterstillen Waldes, den ein Zauber in Erstarrung versetzt
hatte. Die Herzen all der Bäume standen still und regten sich nicht mehr
und schienen tot zu sein. Er ging leise, nur der Schnee ächzte unter seinen
Schritten. Und er dachte an den großen Winterschlaf, den die Erde schlief,
die Wälder schliefen, die Quellen, selbst ganze Völker im Norden schliefen,
die Bären in den Höhlen. Aber Gott wird die Wimper heben und vom Süden wird
der Tauwind kommen, die Bären werden die Tatzen lecken, der Schläfer wird
vom Ofen kriechen, die Quellen werden sprudeln und die Wälder sich
schütteln. Auch die erstarrten Herzen dieser Bäume werden wieder zu pochen
beginnen: Denn da ist ja nichts Totes in der Welt. Was tot ist, ist nur
scheintot und selbst der Stein am Wege, er schläft nur.

Grau blieb stehen. Ging nicht jemand an seiner Seite? Er lauschte. Nein.
Aber hatte nicht eben eine feine Stimme in sein Ohr geflüstert? Es
flüsterte und pochte. Es war sein Blut, das in seinem Körper strömte. Und
mit einer Art von Schrecken lauschte er auf jenes Pochen, Pulsieren, Atmen
in seinem Körper, das ihm Kunde gab von den geheimnisvollen Vorgängen, die
ohne sein Wissen Tag und Nacht in ihm walteten. Die Zellen in ihm
verschoben sich, änderten sich, er wußte es nicht, eine Stelle in seinem
Körper mochte in großer Gefahr sein, die Blutkörperchen stürzten herbei, zu
verteidigen, zu helfen, zu heilen, die Nerven zitterten, ein unausgesetztes
Signalsystem war in Tätigkeit, er wußte es nicht. Die Blutwelle
überschwemmte sein Gehirn, ein vergessener Ton erwachte, ein vergessenes
Bild, ein Gedanke formte sich, ein Wunsch irrte hin und her, flackerte,
leuchtete Monate und Jahre, bis er ihn entdeckte, oder er erlosch
ungesehen, unbeachtet -- und er wußte von all dem nichts! Er sprach,
lachte, ging, er war nichts als Oberfläche, er lebte an der Oberfläche,
während in ihm unausgesetzt eine Welt von Geheimnissen wirkte.

Plötzlich stand er vor einer Waldwiese, aus der ihm Kälte entgegenstürzte.
Diese Wiese schien lebendig, bewohnt zu sein. Es war Licht auf ihr. Das
Licht kam vom Mond, das Licht des Mondes von der Sonne -- welches Licht, um
des Himmels willen, war es doch, das ihn, den nichtigen Wanderer, hier
grüßte? Aus welchen Zeiten, welchen Fernen kam es? Wie, wie, wie?

Er, der hier stand und nicht mehr war als eines der Millionen
Schneesternchen, die auf einem Aste lagen, er wurde von Entsetzen gepackt,
denken zu können und zu fühlen, daß er lebte.

Denn was Leben heißt, wer hat es doch je zu Ende gedacht? Niemand. Selbst
der schnelle, scharfe Gedanke des Weisen, er erlahmt, er erschrickt, er
kehrt entsetzt um.

Da ist zum Beispiel das Blut! Nicht seine Funktionen allein, die die
wunderbaren menschlichen Apparate (ein Lob dem Menschen!) belauschen
konnten. Ein Tropfen Wasser ist köstlich, wer ersann ihn? Eine Faser Eisen,
köstlich, wer erdachte sie? Aber ein Tropfen Blut, wie --?! Das Blut
verrichtet seine Arbeit -- sein Schöpfer sagte: schaffe! und es gehorcht --
aber es ist zugleich wie ein Volk, hat Gebräuche, Eigenschaften,
Geschichte, denn das Volk es ist ja aus Blut erbaut, es ist ja nichts als
die Vergrößerung des kleinen Tropfens. War nicht ein ewiges Vergehen in
ihm, Grau, der durch den Wald ging, ein ewiges Vergehen und Erblühen? Von
Eigenschaften und Fähigkeiten, von Völkern, Geschlechtern und Rassen, wer
weiß, wann sie lebten, woher sie kamen? War nicht ewiger Kampf,
Unterhandlung, Waffenstillstand dieser Geschlechter in ihm? Jene Rasse, die
vom Osten kam, vielleicht erstarb sie in ihm in dieser Minute und übergab
ihre Waffen an ein Geschlecht, das aus dem Norden kam, mit Ketten aus
Bärenzähnen geschmückt? Woher sollte es doch kommen, daß ihn zuweilen
namenlose Traurigkeit befiel, ohne jeden Grund? Namenloses Glück in ihm
aufloderte wie ein Siegesgeschrei, ohne jeden Grund? Tod und Geburt in ihm
wie in der Welt, Kampf und Sieg. Dieses Auf und Ab, dieses Gehen und
Kommen, dieses Laut und Leise, Fragen und Befehlen, Erschrecken und Locken,
wie wunderbar war es doch! Wie entsetzlich und wie köstlich schön!

Und doch -- das war ja noch nicht das ganze Leben in ihm, nur ein kleines
Stück, soviel wie ein Blatt vom Walde ist, nicht mehr, nicht weniger.

Die geheimnisvollen Lebenswellen, die ihn unausgesetzt umkreisten,
durchdrangen, dieses Sausen des Lebens nah und fern, das Brausen der Sonne
und der kräftespeienden Gestirne, das ihn erreichte.

Jene blitzartigen Offenbarungen einer verborgenen Welt, von der er ein Teil
war, die sich öffnete und schloß in der gleichen Sekunde vor dem
geblendeten Auge. Jenes Singen und Flüstern, Tag und Nacht? Oder erinnerst
du dich nicht mehr, da du zwischen Schlaf und Wachen warst und deine Seele
plötzlich in dir zu sprechen begann? Du erbebtest, Schreck und Freude
erfüllten dich. Zu leicht, zu seicht, zu lau und flau bist du, sprach deine
Seele. Und du antwortetest, gebannt von dem Unbekannten: »Ja, ja!« Deine
Seele sagte: »Tue dies, tue das!« Und du sagtest: »Ja, ja, ich gehorche!«
Das ist der Weg, sagte deine Seele und du sagtest: »Ich werde ihn gehen!«

Und solltest du dich nicht mehr daran erinnern, an jenen Moment, da
plötzlich ein Auge in dir leuchtete und dich von innen heraus anblickte.
Das Auge blickte mit großem, majestätischem Glanz auf dich und war in dir
-- und du, du sprangst auf. »Ich bin ja allein!« sagtest du laut, aber du
glaubtest dir nicht. Hattest du den Mut, zu fragen: »Wer ist hier?« Nein!
Denn du fürchtetest ja, eine Stimme könnte dir antworten!

Nichts fürchten wir ja mehr, als daß sich jenes geheimnisvolle Leben, das
wir ahnen, uns offenbarte.

Grau ging nach Hause; er schüttelte den Kopf, seine Augen waren groß und
leuchtend. Der Mensch geht auf schwankendem Grunde, dachte er, noch mehr:
er geht in der Luft.

Auf dem Rückwege kam er wieder an dem hohen, eisernen Gitter vorbei. Es war
noch immer angelehnt. Über dem Park sprühte wie vorhin der kleine, grüne
Stern. Und wieder rief sich Grau jene Szene in dem kleinen Salon ins
Gedächtnis zurück und es schmerzte ihn, daß er nicht genug in jenes schöne,
stolze Mädchenantlitz geblickt hatte, um es für alle Zeiten zu behalten.

Er schlief erst spät ein. Das Auge nimmt ein Bild mit aus dem Tage und das
Bild erscheint im Traum. So träumte Grau in jener Nacht von dem Gitter des
Parkes. Es war nur angelehnt. Er träumte, er stände davor und wartete. Ja,
worauf wartete er doch nur? Da kam ein hohes, stolzes Mädchen aus dem Park
hervorgegangen, es war jenes Mädchen mit den hellen Augen. »Hast du mich
heute wiedererkannt?« rief sie. Aber je näher sie kam, desto mehr
veränderte sie sich. Es war Susanna, die kam; sie trug den kleinen grünen
Stern auf der Hand und winkte ihm mit den Blicken, ihr zu folgen. Er
zögerte -- aber dann folgte er ihr.




Fünfzehntes Kapitel


Grau war nun in der ganzen Stadt bekannt. Das war kein Wunder, denn man sah
ihn tagtäglich einigemal auf der Straße; über den Marktplatz konnte man
überhaupt nicht gehen, ohne daß er aus irgend einer Gasse auftauchte.
Immerzu hatte er zu grüßen, denn jedermann kannte ihn. Er grüßte alle Leute
zuerst, auch Kinder und Schüler. Man konnte ihn überall sehen, hinter den
dunkelsten Fenstern, die keine Vorhänge hatten, auf den breiten Treppen der
reichen Leute, einerlei.

Er hatte viel zu tun. Wenn er am Morgen das Haus verließ, so hatte er schon
einige Arbeitsstunden hinter sich. Er stand auf, sobald der Tag graute;
voll von Interesse für alles, was den Menschen betraf, wünschte er alles
kennen zu lernen, was der Mensch je gedacht und ersonnen hatte; dazu
benutzte er die Morgenstunden. Der vorläufige Arbeitsplan war bei
angestrengtester Tätigkeit in zehn bis zwölf Jahren zu bewältigen. Dann
wollte er weiter sehen.

Er hatte Unterricht in den Schulen zu geben, Besuche zu machen. Keine
Stunde des Tages ließ er unbenutzt. Er war wiederholt bei der alten Frau
Sammet gewesen, im Waisenhaus, bei dem Arzt, der Susanna behandelte, auch
sprach er häufig bei der »ewigen Braut« vor, um mit ihr zu plaudern.
Susanna besuchte er, so oft er frei war.

Trotzdem er täglich so vieles tat, hatte er doch stets Zeit. Niemals war er
in Hast, stets ruhig. Sein Tag schien viel länger als der andrer Menschen
zu sein.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß man in jeder Stadt einen Menschen hat,
dem man immer wieder und wieder begegnet. In dieser Stadt schien es für
Grau Eisenhut zu sein, den zu treffen ihm bestimmt war. Er begegnete ihm,
so oft er das Haus verließ, ja, selbst im Walde hatte er ihn getroffen.
Eisenhut ging hastig vorüber, grüßte, blinzelte und sah Grau stets mit
sonderbar forschenden Augen an, argwöhnisch, ja, sogar furchtsam und scheu;
zuweilen schüttelte er den Kopf, räusperte sich und lief weg, indem er Grau
einen raschen Blick zuwarf, der keineswegs Sympathie ausdrückte. Manchmal
kam es auch vor, daß er auf der Straße stehen blieb, Grau spöttisch
lächelnd musterte und die Lippen bewegte, als spräche er mit sich selbst.
Bei einer solchen Begegnung sprach ihn Grau an und fragte ihn, ob er nicht
etwas tun wolle, um für Susanna ein Piano zu beschaffen. Aber Eisenhut
blinzelte, lächelte, krümmte sich und begann von schlechten Zeiten zu
sprechen, in solch winselndem, demütigem Tone, daß sich Grau angewidert
abwandte. Er sah Eisenhut wieder und Eisenhuts Augen sprühten offenen Haß.

Grau war nicht erstaunt: Alles geht wunderbar, dachte er und lächelte in
sich hinein vor Freude, dieser Mann ist mir sicher! Ja, es gab solch
wunderliche Dinge auf dieser Erde!

Einmal sah er Eisenhut auf der Straße, gefolgt von einer Schar
ausgelassener, johlender Kinder. Eisenhut taumelte am hellen Tage betrunken
nach Hause.

Nur Geduld, das sollte bald anders werden! Nur etwas Zeit brauchte er dazu.

Graus erste Predigt war kläglich ausgefallen. So heiß war sein Herz
gewesen, so groß hatte er sich alles gedacht, aber plötzlich hatte ihn
Unsicherheit befallen: Würde er die rechten Worte finden, das auszudrücken,
was ihn erfüllte, was er fühlte im Wachen und im Schlaf? -- Er war
unzufrieden mit sich. In den folgenden Predigten aber war es ihm besser
geglückt.

Es erschien ein Tag mit einigen freien Stunden. Grau erstaunte und wußte
nicht wie das zuging. Er spielte Orgel.

Er spielte ein paar Stunden lang und fühlte sich darauf wie neugeboren. Die
Musik und die menschliche Seele, es ist ja gar kein Unterschied zwischen
den beiden, sie sind Schwestern. Und wenn der Mensch Musik hört, so finden
sich die beiden Schwestern, umschlingen sich, vertrauen sich einander an,
ihre Sehnsucht, ihre Schmerzen, ihr Glück, ihre Hoffnung, liebkosen
einander und küssen sich, und der Mensch fühlt Freude und weiß nicht warum.

Als Grau endlich aufhörte zu spielen, war er von Glück und Jubel erfüllt.
Seine Hände bebten. All das Singen und Jauchzen der Orgel war noch in ihm.
Seine Augen waren so licht, daß er ihren Schein fühlte. Die Sonne leuchtete
am Himmel.

Nun wollte er zu Susanna gehen.

Er hatte sich lange Tage an der Freude gelabt, Susanna einen kleinen Hund
zu schenken. Er sollte klein und schneeweiß sein und wie Zucker schimmern.
Natürlich durfte er am Ende einige Flecken haben, etwa schwarze Pfoten oder
einen halben schwarzen Kopf, das würde nichts schaden, am besten aber war
er schneeweiß. Jedoch ein solcher Hund ließ sich nicht finden, trotz Graus
eifriger Nachfrage, weder ein weißer noch irgend ein anderer. Somit war es
mit seiner Freude nichts geworden.

Ja, wie doch heute die Sonne leuchtete! Grau machte einen Umweg, um sein
Gesicht von der Sonne baden zu lassen. Wie die sanftesten warmen Hände
berührte die Sonne seine Wangen, und wenn er die Lider schloß, so war es,
als ob sich ein sanfter, warmer Finger auf seine Lider legte. Dann sah er
Feuer.

Er lächelte einer jungen Mutter, die des Weges daherkam und ihr kleines,
wie ein junger Eisbär aussehendes Kind an der Hand führte, freundlich zu.
Die Frau errötete, sie mißverstand Graus Blick.

Der Himmel war blau und leuchtete. Jedermann hat schon gesehen mit welch
blauer Flamme der Schwefel verbrennt, so stählern und durchsichtig blau war
der Himmel. Grau blickte hinein, tiefer, tiefer -- es lockte.

Ich bin ja nichts, dachte Grau, ein Nichts, eine Kleinigkeit, und doch habe
ich die Gabe mich zu freuen, die Fliege selbst hat sie, jedes Wesen -- und
doch habe ich solch eine rätselhafte Sehnsucht in mir und doch
durchschauert mich manchmal eine Ahnung von dem Großen, das irgendwo ist.
Hast du Gott gesehen, frage ich dich? Nein. Und wenn du mich fragst, nein,
nein, wie sollte ich doch? Aber ich fühle, oft bin ich gleichsam betäubt
wie heute. Vergebt mir. Und doch, was könnte ich sagen, wenn mich einer
fragte? Ich weiß ja nichts. Ist Gott ein Sausen, das durch die Welt fährt,
oder ein Ton, ein ewig schwingender Ton, nach dem unsere Ohren haschen,
oder ein Blick, der auf uns ruht, auf jeder Stelle unseres Leibes, dem
Kopfe, der Fußsohle, Tag und Nacht, um Mitternacht und am Mittag? Oder ein
Lächeln, ist er in jenem Lächeln, das zuweilen auf allen Dingen zu ruhen
scheint, dem Grase selbst, dem glänzenden Felle des Stieres, dem Wasser.
Weiß ich es denn? Es gibt so viele, die sagen, es gibt keinen Gott. Es ist
möglich, aber die Welt ist göttlich schön. Ich strecke meine Hand in die
Höhe, sie ist golden, das ist die Sonne, ich strecke meine Hand in die
Höhe, sie ist silbern, das ist der Mond. Ferne da kniet ein Mann im Grase
und betet und ungezählte Stirnen beugen sich in den Sand und preisen Gott
in fremden Zungen. Trotzdem? Doch dann ist es der Mensch, der sich einen
Gott geschaffen hat, des Menschen Sehnsucht ist dann Gott. Aber es ist ja
nicht möglich, daß es keinen Gott gibt, nein, denn des Menschen Sehnsucht
ist göttlich und wie göttlich schön ist die Welt. Was fühlst du, wenn du
deine Hand anblickst? und wenn die Vögel im Walde singen -- wie wird dir?
Nun? warum dieses ewige Verlangen, diese Sehnsucht, dieses Brennen im
Herzen, warum denn? Dieses Fieber? In uns, die wir nichts sind als
Sandkörner, die vor dem Winde rollen. In diesem Sandkorn Gefühl, Wunsch,
Ekstase.

Nein, niemand hat ihn gesehen, es ist wahr. Viele haben ihn geahnt. Jene
glänzenden Antlitze im Dunkel! Viele sind aufgestanden und haben
gesprochen, ihre Worte mögen unrichtig sein, sie konnten nicht ausdrücken,
was sie fühlten, aber ihre Gebärde, vergeßt mir diese Gebärde nicht.

Grau blieb stehen und sah einen Hund an, der unter der Haustüre saß und in
die Sonne empor blinzelte. In der Vorstadt trat er in einen dunkeln
metergroßen Blumenladen ein und erstand eine kleine rote Tulpe. Als er
bezahlen wollte, stellte es sich heraus, daß er kein Geld mehr hatte. Aber
die Leute kannten ihn und es wäre fast eine Beleidigung gewesen, ihr
Anerbieten, später zu bezahlen, zurückzuweisen. Während er noch zögerte,
trat jemand in den metergroßen Laden ein und er roch ein feines Parfüm, das
sich ohne Hindernisse in dem Raume bemerkbar machen konnte; die Blumen hier
waren zumeist aus Wachs und Papier, und die wenig lebenden, die es hier
gab, rochen nicht.

»Herr Grau?« sagte eine schöne Stimme.

Diese Stimme drang sofort bis zu seinem Herzen.

Adele von Hennenbach schob den gelben Schleier in die Höhe und ihr schmales
blasses Gesicht und die klaren hellgrauen Augen kamen zum Vorschein. Sie
lächelte und blickte Grau freundlich an. An ihrem Arme hing die
Schlittschuhtasche; sie war gekleidet wie neulich und aus dem flotten
Pelzjackett stieg jenes feine Parfüm.

»Ich kann mir wohl denken, für wen diese Tulpe hier ist!« sagte sie und
blickte Grau mit einem leisen Lächeln an; sie betrachtete die Tulpe mit ein
wenig geöffneten Lippen.

Grau kam in Verlegenheit, als ob sie ihn bei einer unschönen Handlung
ertappt habe. Er lächelte und drehte an einem Knopfe seines Mantels. »Es
macht mir Vergnügen, Susanna eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen, sie
freut sich so,« sagte er, sich gleichsam entschuldigend. »Sie gehen zum
Eise, Fräulein von Hennenbach?«

Adele streckte sich ein wenig in die Höhe. »Ja,« sagte sie, »man muß die
letzten Tage noch benützen, es wird bald vorbei sein mit der Herrlichkeit.
Ich habe mit Ihnen einige Worte zu sprechen, Herr Grau, wenn Sie nicht
ungehalten sein würden, daß ich die Gelegenheit benütze?«

»Bitte.« Er war hocherfreut. Sie verließen zusammen den Laden. Adele
erkundigte sich nach den Formalitäten -- es handelte sich um ihre Trauung.
Dann plauderten sie.

»Wie froh Sie heute doch aussehen, Herr Grau!« sagte Adele. »Ganz als ob
Sie eine frohe Nachricht erhalten hätten!«

»Das habe ich auch!« sagte Grau. »Aus weiter Ferne.«

»Diese arme Susanna,« bemerkte Adele im Laufe des Gespräches, »wie es mir
doch leid tut um sie. Sie hat nichts als Kummer gehabt, nicht ein Quentchen
Glück, keine frohe Jugend, kaum ein wenig Freude. Wie klug und vornehm und
bescheiden ist sie doch! Wie schade, daß sie krank ist, daß sie so häßlich
ist, so mißgestaltet, ich bin traurig, so oft ich an sie denke. -- Wollen
wir den Weg zum Fluß hinunter gehen, Herr Grau? Es ist kaum ein Umweg.«

Sie gingen den Fluß entlang, an den beschneiten Schiffen vorbei, worauf die
Kinder herumkletterten und schrien. Kleine Knirpse und Mädchen mit
zerzausten Haaren liefen auf einer glatten Bucht Schlittschuh und schrien
ebenfalls was sie nur konnten.

Grau schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht finden,« erwiderte er, »daß
Susanna häßlich ist. Ich muß freilich zugeben, daß ich beim ersten Anblick
dachte, die Natur habe sie stiefmütterlich behandelt, nun aber erscheint
sie mir schön.«

»Wirklich?«

»Ja, ich entdecke mehr und mehr Schönheit an ihr. Sie hat doch ganz
wunderbare Augen! Haben Sie beobachtet, wie Susannas Augen Ihnen das Wort
von den Lippen horchen, den letzten Sinn aus den Augen horchen, den das
Wort nicht geben kann oder gibt? Wie ihre Augen antworten, noch bevor sie
die Lippen öffnet?« Er blickte mit schwärmerischem Lächeln auf Adele.

»Ja, ja.«

»Und dann ihre Hände! Haben Sie diese Hände genau betrachtet? Wie lebendig
sie sind, wie sie alles miterleben, was Susanna erlebt. Und wie schön sie
doch sind, Susannas Hände! Ja, bei Gott, sie sind außerordentlich schön!
Ich schwärme, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit, seitdem ich Susanna zum
erstenmal sah, schwärme ich für sie -- ich gestehe es. Sie werden es ihr ja
auch nicht wieder sagen,« fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Adele sagte: »Wer weiß es?«

»Ich würde es nicht wünschen,« sagte Grau. »Sie werden doch nicht am Ende
glauben, daß ich gerade deshalb so aufrichtig bin?«

Adele schüttelte den Kopf und lachte. »Sie wissen, daß Sie es mit einer
Frau zu tun haben!« sagte sie scherzend. »Susanna würde all das wohl gerne
hören, denn sie ist so stolz auf Ihr Lob. Sie haben ihr auch gesagt, daß
sie eine Dichterin sei und Bücher schreiben könnte. Glauben Sie das
wirklich?«

»Würde ich es sonst sagen?« Grau nickte. »Ja, das glaube ich,« sagte er.
»Hat Ihnen Susanna schon die Geschichte erzählt, die sie über das
Porzellandämchen in Mütterchens Glasschrank ersonnen hat? Die Abenteuer der
Madame Ypsilon? Eine drollige und wunderschöne Sache! Als ich mein erstes
Kind erwartete, beginnt die Geschichte dieser Porzellandame -- haha!«

Adele kannte diese Geschichte. »Wenn es weht, vermeide ich es, auf die
Straße zu gehen, erzählt Madame Ypsilon,« sagte sie. »Ich habe gar keine
Talente,« fügte sie hinzu und schüttelte lächelnd den schönen, stolzen
Kopf.

»Jeder Mensch hat seine Talente.«

Ja? Nun, dann möchte sie recht gerne wissen, welche Talente er ihr
zuschreibe?

»Erstens,« antwortete Grau und blickte sie an, »sind Sie sehr musikalisch,
ich sehe das aus Ihrer Art unwillkürlich auf Geräusche und Töne der Straße
zu reagieren, sodann sind Sie eine vorzügliche Tänzerin, an Ihrem Gange
kann man das erkennen, mehr noch an der Art wie die Bewegungen Ihres
Körpers eine Unregelmäßigkeit des Weges ausgleichen. Sie haben die
Fähigkeit fremde und unmögliche Dinge zu träumen, vielleicht mitunter
grausame Dinge.«

Adele sah ihn an. »Bitte, bitte!« rief sie aus und lächelte.

»Ihre größte Gabe aber scheint mir zu sein,« fuhr Grau fort, »unklare
Situationen zu überblicken -- zuweilen geht Ihr Blick so rasch hinter den
Wimpern hervor und unvermittelt in die Weite -- und rasch und unerschrocken
zu handeln -- sogar tollkühn,« fügte er leiser hinzu.

»Ich habe mir vorgenommen, sobald ich Sie treffe, für meinen Bruder um
Entschuldigung zu bitten,« sagte Adele ablenkend. »Wegen jener Affäre im
Elefanten.«

Grau lächelte und schüttelte den Kopf. Aber das sei doch nicht der Rede
wert.

Adele blickte ihn erstaunt an. »Nicht der Rede wert?« fragte sie. »Haben
Sie denn keinen Streit mit ihm gehabt?«

»Nein, nein!« Grau lächelte.

»Wie merkwürdig!« sagte Adele. »Er hat mir erzählt, Sie hätten Billard
zusammen gespielt, er habe gewonnen und es sei zu einem Wortwechsel -- und
fast zu Tätlichkeiten gekommen,« fügte sie zögernd hinzu.

Grau sah sie an. »Das ist nicht wahr!« sagte er ernst und leise, denn etwas
beschäftigte seine Gedanken.

Adele öffnete erstaunt die Lippen. »So?« sagte sie gedehnt. »Ich habe mich
gewundert darüber -- er hat mir eine ganze Geschichte erzählt. Auch die
Geschichte mit der Flasche ist also -- nicht wahr?« Sie errötete flüchtig,
»Ich habe bisher meinem Bruder alles geglaubt,« sagte sie mit einem Tone
von Verwunderung und Betrübtsein in der Stimme. Sie schwieg lange Zeit und
dachte nach, dann wandte sie sich wiederum an Grau, der ebenfalls in
Nachdenken versunken war. »Lassen wir das!« sagte sie, indem sie ihrer
Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben versuchte. »Man hat mir erzählt,
daß Sie früher Gefängnisgeistlicher waren, Herr Grau? Das war wohl Ihre
erste Anstellung?«

Aber Grau hörte nicht. Er hatte den Blick zu Boden gerichtet und seine
Mienen drückten tiefes Nachdenken aus. Erst als Adele ihre Frage
wiederholte, fuhr er verwirrt auf.

»Ich bitte um Verzeihung!« sagte er verlegen. »Allein ich kann manchmal
vollständig in Gedanken versinken. Nun hat mich eben eine Angelegenheit
beschäftigt, die mich schon seit meiner Ankunft stark interessiert. Es gibt
Dinge, die mich gar nichts angehen, aber meine Gedanken kaprizieren sich
gerade darauf. Gefängnisgeistlicher, sagten Sie das? Ja, aber es war nicht
meine erste Stelle. Zuvor war ich Lehrer an einem Blindeninstitut für
Kinder.«

»Oh!« Adele zog wie unter einem körperlichen Schmerze die feinen schwarzen
Brauen hoch. Sie grüßte jemand auf der Straße, dann sagte sie: »Unter
Blinden, wie furchtbar! Und noch dazu unter blinden Kindern! Wie
schrecklich muß das sein!«

»Viel schrecklicher ist es noch blind zu sein,« sagte Grau und blickte
Adele an.

»Ja, entsetzlich!« Adele richtete die hellen klaren Augen auf ihn.

»Stellen Sie sich vor, wie es ist blind zu sein, versuchen Sie es! Ja, ich
habe es einmal versucht, ich kann Ihnen das ruhig erzählen, denn Sie denken
vornehm, ich habe es einmal versucht und mich blind gemacht --«

»Was taten Sie?« Adele sah Grau erschrocken an.

»Verstehen Sie es recht,« fuhr Grau fort. »Ich habe mir eine Binde um die
Augen gelegt -- es war in jenem Institut -- vier Tage lang -- ich tat es
aus Interesse -- aus einer Art von Interesse, wenn Sie wollen, um meine
blinden Lieblinge besser zu verstehen, vielleicht auch um ihnen gleich zu
sein -- kurzum, aber ich sage Ihnen gleich -- doch es ist besser nicht
davon zu sprechen. Entschuldigen Sie, Fräulein von Hennenbach.« Er wurde
plötzlich rot, dann fuhr er in anderem Tone fort: »Denken Sie daran, wie
wir uns freuen, wenn nur ein bißchen Licht durch die Fensterladen sickert,
wenn das Licht im Laube der Bäume spielt, wir Menschen leben ja vom Licht
wie die Pflanzen, unsere Seele nährt sich davon. Jeder Sonnenaufgang, jedes
Glitzern eines Sternes, es ist in uns, wir wären nicht die gleichen ohne
diese Eindrücke und glauben Sie mir, Fräulein von Hennenbach, ein Mensch
mit zehntausend Sonnentagen und zehntausend Sternennächten in seinem Leben
ist ein ganz andrer als ein Mensch mit fünftausend nur.«

Ein Mann schlendert an ihnen vorüber, in hohen Stiefeln, das Gewehr auf dem
Rücken. Es war Eisenhut. Er grüßte tief, blinzelte beide an und stieg
hocherhobenen Hauptes vor ihnen her. Er nahm eine Zigarre aus dem Etui und
steckte sie in Brand.

»Schönes Wetter, schönes Wetter!« rief er und blinzelte.

»Ja, schönes Wetter!« sagte Grau.

Aber Eisenhut blickte Adele an, er beachtete ihn gar nicht, und
wiederholte: »Schönes Wetter!«

»Danach hat man Sie also zu den Gefangenen geschickt, Herr Grau?« sagte
Adele, die Eisenhut gänzlich ignorierte. Eisenhut blinzelte, reckte den
Spitzbart in die Luft und zog mit seiner Zigarre ab, deren blauer Rauch
regungslos über dem Wege schwebte.

»Es geschah auf meine Bitte hin,« antwortete Grau.

Ȇbrigens hat mich in diesem Falle etwas ganz besonderes dazu getrieben,
ich hatte eine Art Vision -- oder --«

»Eine Vision?«

»Eine Art Vision, ja. Es ist übrigens kaum des Erzählens wert.«

Grau lächelte und blickte Adele an, deren Wangen allmählich ein frisches
Rot überzog.

»Sie müssen mich recht verstehen,« sagte Grau, »was heißt das schließlich,
eine Vision, nicht wahr? Es ist eine Art Traum in halbwachem Zustande,
nichts weiter. Einmal zum Beispiel, glaubte ich ein Sandkorn zu sein und
ich sah das Leben all des kleinen Getieres zwischen den Gräsern, das
Wachsen der Halme, wie Zelle sich an Zelle schloß -- ganz wunderbare
Lebensvorgänge --«

»Einmal nun, da schloß ich die Augen; ich war müde, aber ich schlief nicht
und plötzlich sah ich einen Mann vor mir mit erdfahlem Gesicht, in der
Kleidung eines Gefangenen. Er ging hin und her, vier Schritte vorwärts und
vier Schritte zurück, so daß ich einmal sein erdfahles Gesicht sah, einmal
seinen Rücken. Aber mit einmal war es nicht einer, es waren unendlich
viele, vielleicht hundert. Wie Sie im Traume in Häuser hinein blicken
können, durch Mauern hindurch, so sah ich in all diese Zellen hinein. Sie
gingen hin und her, vier Schritte vorwärts, vier Schritte zurück, sie
hatten alle erdfahle Gesichter und waren gekleidet wie Gefangene. Sie
gingen hin und her, wie ein Tier in seinem Käfig, plötzlich aber blieben
sie alle stehen, all die Hundert, sie blieben stehen und trommelten mit den
Fäusten an die Wände. Nur einen Augenblick. Dann nahmen sie das Wandern
wieder auf.«

»Wie schrecklich!«

»Ja, in der Tat, in der Tat schrecklich!« sagte Grau leise und schwieg eine
Weile. Er fuhr fort: »Aber nach einer Weile standen all die Hundert wieder
still, gerade in dem Moment, da sie kehrt machen wollten um mir den Rücken
zuzuwenden -- sie standen still, sage ich -- und sahen mich an. Alle auf
einmal! All die Hunderte von Augen, von toten erloschenen Augen, sie sahen
mich an. Ein Traum, denke ich, ein Traum, nur ein Traum und klammere mich
an den Gedanken, daß es ja nur ein Traum ist, während der Blick dieser
entsetzlichen Augen auf mir ruht. Dieser Blick aber war kaum länger als ein
Gedanke, dann lächelten all die erdfahlen Gesichter. Sie zogen die Münder
ein wenig schief und sie lächelten alle das gleiche Lächeln: Spöttisch,
überlegen, verächtlich -- dann machten sie kehrt und wanderten wieder.«

Grau schwieg. Sie gingen eine Weile nebeneinander her und blickten beide
auf den Boden. Als sie den dicken Wartturm durchschritten, wo ihre Schritte
leicht widerhallten, sagte Adele: »Deshalb also gingen Sie dorthin?«

»Ja, deshalb, ich hatte keine Ruhe mehr.«

Adele atmete die frische Winterluft ein, und ihr Schleier flatterte
plötzlich im Winde; denn die Höhe trat hier zurück und der Wind hatte freie
Bahn. Ein paar Krähen flogen, tief mit den Flügeln schlagend, in einer
Reihe über das Schneefeld und schrien. Bald tauchte auch das Dach von
Susannas Häuschen auf.

»Ich hatte ja früher nie länger über diese Gefangenen nachgedacht,« nahm
Grau das Wort wieder auf, »aber jetzt mußte ich es tun. Es war besonders
jenes Lächeln mit dem schiefgezogenen Mund, das mir zu denken gab. Ich
sagte, sie lächelten spöttisch, überlegen, verächtlich, aber all das sagt
nicht genug. Ihr Lächeln schien auszudrücken: Du bist auch einer von jenen
Gedankenlosen.«

»Gedankenlosen?«

»Ja,« sagte Grau, »und ich mußte immerzu an dieses rätselhafte Lächeln
denken und schließlich kam es dahin, daß ich um jeden Preis wissen mußte,
was es bedeute. Ich hatte mich ja mit solch falschen Anschauungen über
Gefangene und Verbrecher getragen.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, was für Menschen sie eigentlich sind?« fragte
Adele mit aufrichtigem Interesse.

Grau sah Adele an. »Was für Menschen?« antwortete er und lächelte. »Sie
sind genau wie andere Menschen, wie die Bürger dieser Stadt hier, wie ich,
nur daß sie etwas getan haben, irgend etwas, das gegen einen Paragraphen
des Gesetzes verstieß, daß sie nicht vorsichtig genug waren und daß man sie
packte.«

Plötzlich erbleichte Adele. Sie lächelte und blickte in die Ferne, genau
dahin, wo jetzt die Krähen flogen; sie sagte: »Ja -- daß man sie packte,
das ist ganz richtig, das ist wahr!« Sie lachte ein wenig seltsam.

Grau sah sie mit einem raschen erstaunten Blicke an.

Dann aber fuhr er mit gleichmütiger, ja fast auffallend gleichmütiger
Stimme fort: »Ich sehe, Sie interessieren sich für diese Unglücklichen,
Fräulein von Hennenbach. Ich gestand Ihnen ja, daß auch ich mich mit
falschen Anschauungen trug. Der größte Teil, das sind Leute, bei denen eine
der allgemein menschlichen Eigenschaften, Eitelkeit, Hochmut, Trägheit
Genußsucht, Sinnlichkeit, Habgierde, Verlegenheit, Gutmütigkeit,
Leichtsinn, Leidenschaftlichkeit -- (eine ungeheure Menge von allgemein
menschlichen Eigenschaften zählte Grau auf, sie wollten gar kein Ende
nehmen) -- unglücklich stark entwickelt ist im Vergleich zur Willenskraft,
stärker sogar als die Furcht vor dem Gesetze. Jener Anschauung, daß alle
Verbrecher und Sträflinge geisteskrank oder seelisch defekt sind, stimme
ich nicht bei. Im Gegenteil, Sie finden darunter einen nicht geringen Teil,
der sehr gesund ist, gesunder oft als die freien Menschen. Ganz prächtigen
Leuten können Sie dort begegnen, welche Kraft, Unerschrockenheit, welches
Feingefühl, welcher Stolz! Die meisten natürlich sind krank, sie haben
einen Tropfen krankes Blut im Körper, den der Arzt natürlich weder sehen
noch nachweisen kann. Endlich kommen die schrecklichen Verbrecher, die als
Teufel geboren wurden und eines Tages ein Verbrechen begehen, daß alle
Zeitungsleser der ganzen Welt schreien: Er gehört geschlagen, gebrüht, die
ärgste Folter müßte ersonnen werden!«

»Haben Sie solche gesehen? Was für Menschen mögen das wohl sein?«

»Ich habe vier solche gesehen, ja. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Sie
sind ein Mysterium, uralte Raubtiernaturen, Finsternisseelen, blutige
Gespenster -- irgend eine schreckliche Kraft, ein entsetzlicher Geist haust
in ihnen, ich weiß es nicht, ich habe das noch nicht zu Ende gedacht!«

Adele schüttelte den Kopf. »Nach all dem, nach Ihrer Auffassung vom
Verbrecher,« sagte sie, »die ja sehr gütig ist --«

Grau unterbrach sie. »Das Resultat von Beobachtungen, erlauben Sie, mein
Gefühl spricht nicht mit.«

Nun wohl, seiner Anschauung gemäß müßte es unrecht sein, die Verbrecher zu
bestrafen.

Grau blieb stehen. Er sah Adele an und sagte: »Natürlich! Das ist eins
jener Dinge, die ich gar nicht verstehen kann. In hundert Jahren wird man
diesen menschlichen Irrtum mit den gleichen Augen betrachten, mit denen man
heute auf die mittelalterlichen Hexenprozesse blickt.«

»Aber --?«

Grau lächelte. »Die Gesellschaft!« sagte er.

»Ich verstehe. Ich werde kein großes Geschrei machen, ich werde gar nicht
von den Verbrechen sprechen, die die Gesellschaft in aller Ruhe begeht oder
von den Verbrechen, die im Gesetz selbst enthalten sind. Die Gesellschaft
will in Ruhe und Frieden die Arbeit der Kultur verrichten, nicht wahr?
Störenfriede schafft sie aus dem Wege. Aber das ist nicht ganz richtig, der
Gesellschaft ist es ja nur zum geringsten Teil um Kulturarbeit zu tun, zum
allergeringsten Teil -- denn die Gesellschaft ist ja eigentlich nichts
anderes als ein Ring kleiner und großer Bankiers -- es ist ihr vielleicht
ein wenig um das Werk der Zivilisation zu tun, um den Export von Seifen und
Gasmotoren und Kanonen -- vielleicht nur um Bereicherung, aber auch das ist
wohl nicht gerecht -- sagen wir die Gesellschaft will leben, bequem und in
Frieden. Deshalb also schafft sie sich Gesetze, nur weil sie bequem und in
Gemütsruhe leben will -- das Motiv steht nicht sehr hoch! Gut, sie kann
also Störenfriede ausschließen -- aber bestrafen, wieso? Vielleicht hat sie
das Recht, Elemente, die ihre Gesetze nicht respektieren und sich dagegen
verfehlten, zu erziehen -- das aber ist alles!«

»Ja, aber ich verstehe nicht ganz?« warf Adele ein.

Grau schüttelte den Kopf und lächelte. »Sie meinen, wenn jemand mir zum
Beispiel hundert Mark stiehlt -- ja, was habe ich dagegen? Werde ich ihn
bestrafen? Nein, ich würde mich schämen, so großen Wert auf ein bißchen
Besitz zu legen, ich würde es gar nicht vornehm finden -- die Gesellschaft
aber glaubt das Recht zu haben, einem Menschen, der einen alten Überzieher
gestohlen hat, ein Stück seiner Seele zu stehlen. Ich begreife das nicht.
Übrigens keine Einzelheiten. Müssen Sie nicht immer ein Auge schließen,
wenn Sie auf die Gesellschaft blicken, oder beide Augen zuweilen, wie? Oder
müssen Sie sich nicht schämen oder erwacht der Gedanke nicht in Ihnen,
fortzugehen, weit fort, zu den Wilden auf eine Insel, wohin kein Schiff aus
Europa kommt, wie? Europa, jenem Kontinente der bestechenden Theorien und
der schmutzigen Praxis. Sie werden sagen, Ehre, Gut, Leben müssen beschützt
werden. Gut -- obgleich ich finde, daß unsere Zeit zu viel Wert darauf
legt. Man wirft den Verbrecher in den Kerker, jahrelang -- ohne zu
bedenken, daß das grausamer ist als jedes Verbrechen. Der Verbrecher hat
sich am Besitz, am Leben eines anderen vergriffen, aber nicht an der Seele,
wohlgemerkt, das aber tut die Gesellschaft. Sie martert die Seelen, sie
läßt sie vermodern und verfaulen. Dabei handelt die Gesellschaft mit klarer
Überlegung -- könnte man fast sagen -- aber der Verbrecher --? Nun?«

»Nun werden Sie aber sagen: Wenn ein Mensch jedoch ein Teufel ist, nicht
wahr? Ja, aber muß denn die Gesellschaft ebenfalls teuflisch sein? Was ist
das anders als niedrige Rachsucht? Es mag ja Zeiten gegeben haben, wo all
das am Platze war -- aber heute? Das Leben wäre ja wohl nicht mehr so
bequem und so ungefährlich, das mag sein. Aber wäre es nicht besser, wenn
es ein wenig mehr gefährlich wäre und dafür gerechter? Übrigens haben schon
viele Leute darüber nachgedacht und Reformen geschaffen, zum Beispiel in
Amerika. Man kann nicht leugnen, daß es allmählich etwas lichter wird. Von
der Todesstrafe will ich ja gar nicht sprechen.«

Adele dachte nach. Sie schüttelte den Kopf. »Wie soll man es aber
anstellen?« fragte sie. »Soll man die Verbrecher etwa alle auf eine Insel
verschicken?«

»Nein, dann kämen ja auf dieser Insel alle Verbrecher und Kranken
zusammen.«

Grau entwickelte ihr seine Gedanken. Arbeit und Schulen, Gelegenheit den
Gefallenen gesund zu machen.

»Schulen?«

»Ja, Schulen, die ihn erziehen, die ihm die Augen öffnen, ihn auf ein
höheres Niveau der Anschauung vom Leben, vom Menschen, der Gesellschaft
stellen. Frische Luft, gute Nahrung, viele Bewegung, Spaziergänge in Wald
und Feld. Die Arbeit kann ja hart sein, in Bergwerken, Steinbrüchen, das
ist einerlei, aber sie darf nicht alle Zeit in Anspruch nehmen, kaum die
Hälfte des Tages.«

Adele hatte noch eine Frage. Nämlich, wenn das alles nichts helfe und der
Verbrecher rückfällig werde.

Wiederum Bergwerke, Steinbrüche, Schulen. Ja, wenn er wolle, könne er ja
sein ganzes Leben in den Bergwerken arbeiten und täglich ein paar Stunden
spazieren gehen.

Ob Herr Grau nicht glaube, daß dadurch die Ziffer der Verbrecher steige,
bei dieser linden Behandlung?

Nein, nimmermehr glaube er dies! Das moralische und ethische Bewußtsein des
Volkes würde gerade dadurch gehoben werden.

Hm. Ja, aber es gäbe Verbrecher, eigenartig angelegte Menschen, die nicht
eine Spur von einer moralischen oder ethischen Anlage in sich hätten, es
seien oft die schrecklichsten --

»Ein Landhaus für sie in einsamer Gegend, ein Stück Gartenland.«

»Ein Landhaus!« Adele lachte unwillkürlich. Grau errötete. Er blickte sie
an. »Nun, natürlich, eine Hütte,« sagte er sanft, »da mögen sie hausen. Man
kann sie nicht erziehen, man kann sie nicht bestrafen -- aber sie sind aus
dem Wege.« Ja, die Gesellschaft müsse es sich schon einiges kosten lassen,
wenn sie leben wolle, wie sie es wünsche.

Sie standen auf der Brücke. »Leben Sie wohl nun,« sagte Adele. »Das
Gespräch hat mich angeregt, ich danke Ihnen.«

»Ich danke Ihnen!« wehrte Grau ab. »Nicht weil Sie mir so aufmerksam
zuhörten, sondern für Ihr Interesse an diesem Gegenstand, Fräulein von
Hennenbach.« Das sagte er mit einem warmen Blick.

»Wie lange waren Sie denn bei den Gefangenen?«

»Leider nur ein Jahr.«

»Leider?«

»Ja. Ich wäre noch gerne bei ihnen geblieben, aber es hat sich nicht so
gefügt.«

»Weshalb?«

Grau lächelte. »Die Wahrheit ist die,« sagte er, »ich habe eine Broschüre
geschrieben, die einiges Aufsehen erregt hat, und man hat mich zur Strafe
versetzt.«

»Ah!« Adele gab ihm die Hand.

Grau drückte Adeles Hand und sagte ganz unvermittelt: »Ich sehe Sie dann
und wann in Ihrem Parke gehen, Fräulein von Hennenbach. Einmal da trugen
Sie ein brennend rotes Kostüm. Sie kamen auch bis an die Mauer, es war ein
japanisches Kostüm denke ich --«

Ja, es sei für den Liederkranzball am Faschingsmontag bestimmt. Sie liebe
es sich zuweilen phantastisch zu kleiden.

»Einmal da gingen Sie ganz in Gold,« fuhr Grau fort, »es sah aus als ginge
ein Sonnenstrahl im Park spazieren, möchte ich beinahe sagen.« Er sah Adele
lange an und dann nickte er. »Ich denke zuweilen an Sie,« sagte er
aufrichtig mit einem Lächeln auf den knabenhaften Lippen, »ich wünsche, daß
Ihr Leben reich und herrlich sein möge, denn Sie sind sehr schön! Ich habe
stets ein eigentümliches Gefühl, wenn ich Sie sehe, Fräulein von
Hennenbach, denn ich hatte einst einen sonderbaren Traum von einer Frau,
der Sie sehr ähnlich sind --«

Adele errötete etwas und lächelte, um ihre Verlegenheit und Verwunderung zu
verbergen. »Wollen Sie mir diesen Traum nicht erzählen?«

Nein, nein, das sei eine Geschichte für sich. »Leben Sie recht wohl.« Er
lächelte und verbeugte sich, dann nahm er den Blumentopf mit der kleinen
roten Tulpe auf den andern Arm und stieg zu Susannas Häuschen hinab. Er
hatte Mühe, gegen den Wind anzukämpfen, der heftig über die Felder blies.

Susanna hatte sich geschmückt.




Sechzehntes Kapitel


Ein Sonnenstrahl leuchtete in Susannas Stube umher, als Grau eintrat. In
Mütterchens Glasschrank, dessen Scheiben halb blind waren, wurde es auf
eine Weile tageshell und man sah all die Teller und Tassen, die da standen.
Auf dem Fensterbrett, dem Tisch und der Kommode standen Blumen, Tulpen,
Hyazinthen und ein kleiner blühender Baum, der genau wie ein blühender
Kirschbaum in kleinem Format aussah, die Blumen glänzten und lächelten als
der Sonnenstrahl sie berührte und die roten Tulpen glühten als hauche man
auf rote Glut.

In der Mitte ihres Gartens saß Susanna und lächelte. Der Sonnenstrahl
beleuchtete ihr Gesicht und ihre Augen glänzten wie dunkles Kupfer. Sie
hatte sich geschmückt.

Um die Ärmel ihres schwarzen Kleides hatte sie Spitzen genäht, um die
Schultern hatte sie ein goldgelbes Seidentuch gelegt, es warf einen warmen
Widerschein auf ihr schmales Gesicht. Hinter dem Kopfe lag ein weißes
Kissen. Es mochte sein, daß sie sich schlechter fühlte, aber man konnte
auch glauben, daß das weiße Kissen den Zweck habe, die schwarzen Haare mehr
zur Geltung zu bringen. Diese Haare waren mit größter Sorgfalt frisiert,
sie glänzten von irgend einer Salbe, die Zöpfchen, die über die Ohren
herabhingen, waren zu Bändern geflochten, und man konnte sich recht gut
vorstellen, wie lange solche kleinen müden Hände wohl dazu brauchten.

Sie lächelte als Grau eintrat und ihre Augen glänzten ihm entgegen.
»Willkommen, mein Freund! Aber da haben Sie sich ja trotz meines Verbotes
wiederum Ausgaben gemacht!« Sie drohte ihm mit den Finger.

»Entschuldigen Sie nur, Fräulein Susanna!« sagte Grau und lachte, indem er
die kleine Tulpe auf den Tisch stellte. Er legte den Mantel ab, hauchte auf
die Fingerspitzen, er stampfte auch mit den Füßen, ganz als ob er zu Hause
wäre. »Welche Kälte, dieser Winter scheint kein Ende zu nehmen. Nun, wie
geht es?« Er gab ihr die Hand.

»Gut. Ich habe sehr gut geschlafen.«

»Ich danke Ihnen für Ihren Brief, Fräulein Susanna!« sagte Grau und hielt
Susannas Hand. »Welch ein schöner und unvergeßlicher Brief!« Sie habe sich
gedrungen gefühlt, ihm zu schreiben, denn sie vergäße so vieles zu sagen
und manches lasse sich auch nicht erzählen. »Was gibt es neues?« sagte
Grau.

Endlich entzog ihm Susanna sanft die Hand.

»Sie sollten sich am Ofen wärmen,« sagte sie mit ihrer hohen feinen Stimme,
»Sie sehen ganz durchgefroren aus!«

»Ja, neues? Mütterchen hat Streit mit Herrn Eisenhut gehabt; zum
hundertsten Male hat er gedroht, ihr zu kündigen.« Dann die Blumen. »Die
weiße Hyazinthe steht so matt da. Übrigens sie riecht am allerfeinsten. Sie
riecht wie ein feiner Apfel, nur noch feiner. Die weißen haben überhaupt
den feinsten Duft, die blauen oder roten, auch sie riechen fein, aber es
ist nicht das gleiche. Betrachten Sie die gelbe Tulpe. Sie hat ihre meisten
Tage gesehen, sie stirbt. Sehen Sie, wie sie verzweifelt den Kelch öffnet?
Aber so riechen Sie doch daran -- wie feinster Zimt, nicht wahr?«

»Hören Sie, welch prächtige Menschen es doch auf der Welt gibt!« rief Grau
aus. »Da haben Sie diese alte Frau Sammet. Was tut sie, diese arme
Kirchenmaus? Heute kommt sie wieder zu mir und bringt zwölf Eier und ein
halbes Pfund Butter. Ja, sage ich, was soll das eigentlich? Jetzt sind Sie
erst vor acht Tagen dagewesen? Sie legt die Eier auf den Küchentisch und
die Butter, aber sie rückt nicht mit der Sprache heraus. Es ist Montag,
sagt sie. Sie nimmt auch kein Geld. Es ist Montag, sagt sie, sonst nichts.
Also scheine ich jeden Montag meine zwölf Eier und das halbe Pfund Butter
zu bekommen -- ist Ihnen so etwas schon im Leben passiert?«

»Sie ist Ihnen so dankbar, die alte Frau,« sagte Susanna, »sie weint, so
oft sie von Ihnen spricht.«

»Ah!« sagte Grau und lachte und wandte sich ab. »Da haben Sie es, sie ist
ein altes Weib. Wofür, um Gottes willen, sollte sie mir zu danken haben?
Nun rennt sie meilenweit in den Dörfern umher, um ihr bißchen Brot zu
verdienen, und bringt mir jeden Montag zwölf Eier und ein halbes Pfund
Butter -- ja, vielleicht ist es ein Pfund, wer weiß es -- für nichts, für
rein nichts, solche Menschen gibt es unter der Sonne.«

»Sie soll jetzt eine große Kundschaft haben. Sie hat sich einen kleinen
Handwagen angeschafft. Das alles hat mir Adele erzählt.«

»Fräulein von Hennenbach?«

»Ja, sie war hier. Sie hat viel von Ihnen gesprochen.«

»Wie freundlich von ihr.«

»Adele hat mir das seidene Tuch hier geschenkt, auf eine kleine Äußerung
hin, auch die Spitzen hier. Ich habe nur gesagt, die Ärmel des Kleides
sehen so kurz aus. Von ihr habe ich eine ganze Menge Neuigkeiten!« Susanna
lächelte schelmisch und wichtigtuend. In ihren pechschwarzen Augen glänzten
goldene Funken, Reflexe des Seidentuches. »Sie haben die alte Frau Sammet
auch aufgefordert im Pfarrhaus zu wohnen, ist es nicht so?«

Grau sah erstaunt auf. »Grundgütiger Himmel, welch eine Stadt ist das
doch!« sagte er. »Jeder Pflasterstein scheint ein Ohr zu haben. Ja, ich
habe der alten Sammet dieses Anerbieten gemacht, weil ich vier Zimmer habe
und weil ich dachte, sie könnte mir vielleicht ein wenig in der Wirtschaft
helfen --«

»Aber Sie tun ja alles allein, nicht einmal die Stiefel lassen Sie sich von
der Küstersfrau putzen.« Susanna lachte.

Susanna lächelte. »Wenn Sie wüßten, was ich alles erfahren habe! Ja, bei
Gott, das ist eine Stadt, jeder Pflasterstein scheint ein Dutzend Ohren zu
haben, da haben Sie recht!« Sie lachte und klatschte ein wenig in die
Hände. Dabei verrückte sich das Kissen hinter ihrem Rücken und Grau eilte,
ihr behilflich zu sein. Aber Susanna wurde dunkelrot und wehrte ab. Sie
wollte nicht, daß er sehe, daß sie ausgewachsen war. »Es betrifft ihn,
Herrn Eisenhut,« fuhr sie leise fort, »er ist hier und Mütterchen spricht
mit ihm -- wegen einer Rechnung von zwölf Mark ist ein langwieriger Krieg
zwischen den beiden ausgebrochen -- es betrifft ihn. Sie wissen nicht, was
ich meine? Nein? Wie klug Sie es auch angestellt haben, es ist doch bekannt
geworden. Ja, zuerst haben Sie einen Schulknaben herausgefischt und ihm das
Versprechen abgenommen, nicht mehr hinter Herrn Eisenhut herzulaufen und
Spottlieder zu singen, auch das Versprechen, daß er niemandem etwas sagen
sollte, daß Sie mit ihm sprachen -- dann einen zweiten und dritten und auf
diese Weise alle zusammen, aber es ist doch bekannt geworden.«

Grau zog die Brauen zusammen, seine Augen wurden groß, er sah
niedergeschlagen und unglücklich aus. »Es ist also glücklich
herausgekommen, wie?« sagte er leise. »Ich hätte es mir denken können, wenn
ich ein klein wenig mehr gedacht hätte, so hätte ich es mir -- ja, es war
ein schlechter Einfall. Auf diese Rangen ist kein Verlaß! Ich habe gedacht,
sehen Sie, es war so, ich habe es gesehen, wie sie hinter Eisenhut
herliefen und sangen. Er war ein wenig angetrunken. Sie sangen und schrieen
und tanzten, grausam, wie Kinder sein können, die Polizei wollte sie
verjagen, aber das gelang natürlich nicht, und nun sah ich, daß Eisenhut
sich gegen alle umwandte und eine hilflose Gebärde machte. Diese Gebärde
aber und vor allem sein Blick -- nein, wie dumm ich es aber angestellt habe
--« Er schüttelte den Kopf und sah auf den Boden.

Susanna aber lächelte und begann von neuem: »Sodann sagen die Leute, Sie
seien eine Art Freidenker und gar kein Geistlicher, wie er sein soll. Auch
sagt man, Sie lebten in Feindschaft mit dem Dekan in Weinberg.«

Grau schien gar nicht zuzuhören. Er blickte zum Fenster hinaus. Der Schnee
sah eigentümlich rot aus und die Wolken waren kupferrot und drohend. Aber
rasch erblaßten die Farben und ein schweres düsteres Grau schlug über die
Erde zusammen. Nun wurde das Feuer im Ofen lebendig und tauchte Susannas
Gesicht in zarte huschende Glut.

Grau sah Susanna an und lächelte. »Wie schön das Feuer doch Ihr Gesicht
macht,« sagte er leise, gleichsam als spräche er für sich selbst. Dann
sagte er: »Was ist doch mit der Bank, von der Sie in Ihrem Briefe
schrieben? Sie nannten sie >meine< Bank, es muß also eine ganz besondere
Bewandtnis mit der Bank haben? Wollen Sie mir nicht davon erzählen?«

Susanna zögerte. Aber dann feuchtete sie die Lippen mit der kleinen Spitze
ihrer Zunge an und begann: »Wenn man um das Haus herum geht, über den Bach
hinüber und dann die Höhe hinaufsteigt, so kommt man an diese Bank. Hier
saß ich schon mit zwölf Jahren. Aber nur dann und wann. Später öfter und
endlich saß ich jeden Abend dort, wenn die Sonne sank. Die Bank liegt so
hoch! Von ihr aus sieht man ein Stückchen von der Stadt und das sieht so
friedlich aus, jenes Stückchen, mit den alten Häusern und den vielen
rauchenden Kaminen. Dann sieht man die breite Landstraße weit hinab ins Tal
ziehen und man sieht auch das Bahngeleise. So hoch liegt die Bank, daß man
über das Bahnhofgebäude hinweg noch die Waggons auf den Rangiergeleisen
stehen sieht. Noch etwas gutes hat die Bank, sie liegt so versteckt, müssen
Sie wissen, daß jemand nahe an ihr vorbei gehen kann, ohne einen zu sehen.
Dann hat sie auch im Sommer ein ordentliches Dach aus grünen Blättern, so
daß es nicht durchregnen kann. Das ist gut. Hier saß ich und blickte über
das Land hinaus und träumte. Ich träumte -- ja, mein Gott, ich träumte alle
möglichen Dinge hier oben. Ich war jung, ich war fröhlich! Ich träumte und
träumte, aber da wurde es ganz eigen mit meinen Träumen. Was war es doch,
ja, was sollte es sein? Was wollte ich hier und was nagte an meinem Herzen?
-- Ich wartete! Ich wartete! Das war es, ich wartete und wußte nicht,
worauf ich wartete. Ich wußte es lange nicht, hören Sie, so lange,
vielleicht zwei Jahre lang nicht. Aber ich wartete und ich dachte: Ja,
worauf wartest du denn eigentlich? Ich wußte nur, daß ich wartete. Was
sollte denn kommen, wie und wann denn eigentlich? Nicht wahr? Aber ich saß
da und wartete, wartete und die Sonne ging unterdessen unter. Ich glaube,
es gibt keinen Menschen auf der Welt, der so oft in die untergehende Sonne
blickte wie ich! Auf der Landstraße kam ein Wagen daher, ein Fußgänger, ein
Trüpplein Kinder. Sonst nichts. Heute? Ist es das? Ich blickte hin und her,
weit hinein ins Land, weit hinab die Straße. Nun war die Sonne gesunken,
ich ging nach Hause. Aber etwas in mir wartete unausgesetzt, auch auf dem
Weg nach Hause, auch zu Hause, aber richtig und bestimmt wartete ich
eigentlich nur oben auf der Bank.« Sie schwieg.

»Weiter?« sagte Grau leise. Er saß und sah sie an.

Susanna feuchtete wieder die Lippen mit der Zungenspitze und fuhr fort: »Da
saß ich Tag für Tag, da droben auf der Bank, sah die Sonne sinken, und
wartete und wußte nicht, worauf ich wartete. So ging der Frühling und der
Sommer und der Herbst und so ging der Winter. Ich wartete. Die Tage wurden
lang, die Tage wurden kurz. Das konnte man so gut beobachten, am Expreßzug
nämlich. Ich höre ihn auch jetzt noch jeden Nachmittag rauschen, aber ich
kann ihn nicht mehr sehen, nur die kleine Postkutsche, die gelbe, die sehe
ich jetzt. Im Sommer da war es lichter Tag, wenn er kam, er tauchte auf als
kleiner Punkt zwischen den Feldern und roten Dächern der fernen Dörfer,
flog heran und flog in die Ferne und ließ nichts zurück als einen kleinen
Schreck und ein feines Klingen in der Luft. Im Frühling und Herbst da kam
er in der Dämmerung, und im Winter da kann man ihn gar nicht sehen, nur ein
feuriger Streifen fliegt vorüber und man hört ihn donnern, viel lauter als
im Sommer. Da fing es immer mit den Träumen an, wenn ich ihn sah, und ich
hatte Sehnsucht mit ihm zu fahren. Ich reise leidenschaftlich gern, aber
ich bin nie weit gekommen und nur zweimal kam ich fort. Ich und Mütterchen
zusammen, wir sollten einsteigen, wir zwei, unsere Billete in der Hand --
er sollte ja extra für uns beide halten! Ja, großer Himmel, wie oft habe
ich das gedacht! Wie viele Reisen haben Mütterchen und ich zusammen
gemacht! Und denken Sie sich, daß der Zug extra für uns zwei anhalten
sollte, alles würde erstaunt sein, die Beamten, die Leute, auch die
Reisenden, daß er hält in dieser kleinen Stadt, nicht wahr, ausnahmsweise
sollte er anhalten. Vielleicht würde nun kein Platz sein und ein
freundlicher alter Herr würde sein Reisegepäck ins Netz legen und zu
Mütterchen sagen: Wollen Madame nicht Platz nehmen? Vielleicht wäre es ein
Franzose und er würde uns französisch ansprechen. Vielleicht aber würde nun
noch nicht Platz für mich sein und der freundliche alte Herr würde die
Zeitung zusammenlegen und sagen: Wollen Sie nicht meinen Platz nehmen?
Mille merci, monsieur, würde ich sagen, ich stehe sehr gern und sehe zum
Fenster hinaus. Der Zug kommt von Paris und geht nach Wien, und von Wien
geht er weiter -- immer weiter, bis Konstantinopel. Ja, bei Gott, wie viele
Nächte schläft man wohl, bis er endlich, endlich hält? Nun, was gibt es da
nicht zu träumen? Man konnte einmal nach Paris fahren, einmal aber nach
Konstantinopel, wie man wollte. Paris, Paris, dachte ich, so weit ist es,
so fern, es lockt, schon der Name, nicht wahr? Und ich dachte an Paris und
ich stellte es mir vor wie eine Stadt, in der immer ein Feuerwerk ist und
die Leute Feste feiern und in den Straßen ziehen, als ob jeden Tag ein
König zu empfangen wäre. Welche Hüte sie dort tragen, welche Kleider, wie
sie sich verbeugen, verneigen und alle fein und graziös sprechen und so
schnell, daß niemand sie verstehen kann. Dann müßte es auch hohe spitze
Türme haben, die in der Sonne funkelten, denn die Dächer der spitzen Türme
waren vergoldet. Und die Museen so still, so kühl, grüne Grotten, und da
müßten die Statuen aus Marmor stehen, so schön und so alt, und die sie
meißelten sind lange tot. Von daher kommt der Zug, und er saust und saust
und zuweilen heult er in großen Bahnhöfen und wenn Sie hinausblicken, so
blenden Sie all die vielen Bogenlampen, die da hängen. Aber je weiter er
nach dem Osten fährt, desto niedriger werden die Häuser und ich stellte mir
die fremden Städte vor, viele, viele fremde Städte mit dicken, runden
Türmen und roten und gelben Dächern. Sogar die Menschen stellte ich mir
kleiner vor, dick mit runden Backen, in gelben und roten Kleidern. Wenn Sie
nun hinhorchen, was sie sprechen, so verstehen Sie keine Silbe mehr, denn
sie sprechen alle eine fremde Sprache. Plötzlich aber hielt der Zug und da
sind wir nun. Da ist die Sonne, so viele, viele Sonne und -- Palmen! Die
Sonne ist wie ein heißer Nebel und wenn Sie gehen, so durchdringt Sie die
Sonne und Sie fühlen, wie Sie warm werden und glühen durch und durch und
plötzlich kommt ein neuer Geist über Sie. Können Sie sich diese Sonne
vorstellen, die ich meine?«

Sie blickte Grau an und wartete. Über ihr Gesicht huschte der Schein des
Feuers. Sie zog das Tuch um die Schultern, als ob sie friere, und wandte
die großen Augen dem Feuer zu. Sie lächelte.

»Können Sie sich diese Sonne vorstellen, die ich meine, gerade diese
Sonne?« fragte sie, da Grau nicht antwortete.

»Ja,« sagte Grau mit auffallend tiefer Stimme. Das aber war wahr, denn er
sah diese Sonne vor sich, gerade diese Sonne -- er, der so viel von Licht
und Sonne träumte -- er sah diese Palmen, in einem Nebel von Sonne zittern,
genau wie Susanna es beschrieb.

Susanna lächelte und fuhr mit hoher, dünner Stimme fort: »Die Leute aber
haben einen Turban auf, rot oder grün oder gelb, mit Edelsteinen übersät,
und sie rauchen aus langen Pfeifen. Sie sehen aber so aus als ob sie in
Teppiche gehüllt wären, und nun können Sie sich wohl vorstellen, wie das
blitzt und funkelt, zumal wenn die Pfeifen aus Gold und Silber und mit
Edelsteinen besetzt sind -- und wie hübsch sich der Rauch aus dieser
Unmenge von Pfeifen in der Sonne ausnimmt. Die Türme sind spitz wie Nadeln
und funkeln ebenfalls, es gibt viele, viele Kuppeln aus farbigem Glas, die
Sonne leuchtet und leuchtet durch alles hindurch, so daß alles durchsichtig
aussieht, die Türme, die Kuppeln, die Leute, die Gesichter, die Palmen, die
Kamele und Elefanten -- denn da gibt es unzählige! -- die Pfeifen -- können
Sie sich das vorstellen?«

Je mehr Susanna sprach, desto glänzender und größer wurden ihre schwarzen
Augen, und je mehr sie von der Sonne sprach, desto mehr fröstelte sie.
Zuweilen sprach sie ganz langsam und ihre kleinen abgezehrten Hände
beschrieben alles mit, was sie erzählte. Wenn sie Turban sagte, so tat sie,
als schlinge sie sich ein Tuch um die Stirne, sprach sie von den Pfeifen,
so fuhr sie wagrecht von den Lippen aus mit den Fingerspitzen in die Luft,
dann formte sie den Pfeifenkopf und darauf ließ sie die Finger
emporwirbeln, daß man den Rauch ordentlich emporsteigen sah. Sprach sie von
den Elefanten, so machte sie die Augen klein und listig und zeichnete sich
einen langen Rüssel an die Nase. Meistens aber sprach sie hastig, wie im
Fieber, und ihre eingesunkene schmale Brust arbeitete krampfhaft. Auf ihren
Wangen erblühten giftige Rosen.

Sie fror. Sie legte die Fingerspitzen an die Wangen, ihre Augen fieberten,
ihr Mund lächelte.

»Nun rennt einer auf uns zu und schreit und brüllt. Mütterchen bekommt
Angst. Was will er nur? fragt sie, dieser Türke. Vielleicht will er deine
Tasche tragen, Mütterchen. Ich fühle mich gar nicht wohl bei diesen
Ungläubigen. Sage ich: Sie glauben an Gott wie wir, Mütterchen, und
plötzlich spreche ich türkisch! Hören Sie, ich spreche türkisch! Ich öffne
den Mund und es geht, ich verstehe, ich spreche. Haha -- Mütterchen steht
da und staunt, und die Türken paffen aus ihren Pfeifen und lachen über sie.
Ich aber erkläre ihnen, daß das meine Mutter ist. Da nehmen sie alle die
Pfeifen aus dem Munde, alle, alle, und verneigen sich bis zur -- bis zur
Erde --«

Susanna hielt inne und lauschte.

Man hörte Mütterchen in der Küche draußen mit Geschirr klappern. Man
vernahm auch Eisenhuts Stimme. Er sagte etwas und Mütterchen machte pst,
pst! Aber Eisenhut kümmerte sich nicht darum. Er sagte laut: »Ach was!
Machen Sie doch keine solche Wirtschaft! Es ist sein Beruf Krankenbesuche
zu machen, dafür wird er ja bezahlt, punktum.« Er sagte es absichtlich
laut, damit man es durch die Türe höre. Mütterchen schrie leise auf und
sagte: Pst, pst! Eine Tasse klirrte am Boden und Eisenhut lachte belustigt.
Er meckerte nicht, er lachte ganz anders als sonst.

Es war still im Zimmer und man hörte die kleine Uhr ticken und schnarchen,
denn die kleine Uhr hatte die Angewohnheit zuweilen zu schnarchen, als ob
sie aufatme.

Susanna errötete, ganz langsam stieg ihr das Blut ins Gesicht, während sie
die großen Lider niederschlug, die an die Lider eines Vogels erinnerten.
Sie saß still, bewegungslos und wagte kaum zu atmen.

»Wie geht es weiter mit Ihren Türken?« fragte Grau.

Aber Susanna wandte ihm den Blick zu, mit einer hilflosen Bewegung der
Hände flüsterte sie hastig: »Er hat getrunken, Sie hören es am Lachen. Er
hat auch sein Gewehr dabei, da steht es zumeist schlimm um ihn. Dann kann
er so boshaft sein, so schrecklich boshaft.«

Grau lachte. »Er wollte Mütterchen erschrecken, das tut mir leid,« sagte er
absichtlich laut. »Was seine Bemerkung anbetrifft, so weiß er recht gut,
daß ich so etwas richtig auszulegen verstehe. Er weiß es recht gut, denn er
ist klug, Herr Eisenhut!«

Eisenhut räusperte sich in der Küche.

»Freilich! Sie sind so vernünftig,« hauchte Susanna. »Nun wird Mütterchen
sich aber nicht ins Zimmer wagen?«

»Klingeln Sie ihr!«

Susanna klingelte und Mütterchen erschien zaghaft in der Türe. Sie trug ein
Servierbrettchen in der Hand.

»Die Zeitung -- die Zeitung, nehmen Sie die Zeitung nur mit!« rief
Eisenhut, dessen gerötetes Gesicht in der Türspalte erschien. Er beugte
sich vor und legte ein Zeitungsblatt auf das Servierbrett. »Für ihn, für
Herrn Grau!« fügte er hinzu und lachte und zog die Tür zu.

Susanna wurde glühend rot. Mütterchen wagte Grau nicht in die Augen zu
blicken. »Wenn der Herr mir die Ehre antun wollen?«

Grau dankte. Er wechselte einige Worte mit Mütterchen und Mütterchen
schlich sich wieder hinaus.

»So ist es gut!« sagte Susanna mit einem dankbaren Blick. »Nun ist sie
glücklich! Was ist es denn mit der >ZeitungSchlafen Sie< und sahen ihn
an. Da schlief er.«

Grau schüttelte den Kopf.

»Doch!« sagte Susanna. »Die ganze Stadt spricht darüber, selbst die Ärzte,
denn sie konnten ihn ja nicht mehr einschläfern.«

Grau lächelte.

»Er schlief ja fast schon, Fräulein Susanna. Da legte ich ihm die Hand auf
die Stirn und sagte: Schlafen Sie -- das ist alles.«

Susanna lachte und hustete. »Ich sagte ja ganz dasselbe, mein Freund,
nichts andres. Es ist ja so merkwürdig mit Ihnen. Sie kamen zu mir herein
und sofort begann ich zu erzählen, Dinge, die ich noch niemand erzählt
habe, und doch waren Sie ein Fremder. Aber ja, ich will fortfahren, lassen
Sie mich alles sagen. Es tut gut. Ich liebe es. Wir waren bei den Türken,
nicht wahr? Bei den Träumen, ja.«

»Die Sie träumten, während Sie auf der Bank da droben saßen und warteten.«

»Ja, als ich wartete.«

»Sie warteten und wußten es lange nicht, worauf sie warteten. Vielleicht
zwei Jahre lang wußten Sie es nicht.«

Susanna lächelte fein. »Wie gut Sie aufmerken!« wiederholte sie. »Jedes
Wort wissen Sie. Ja, damit fing ich an und dann vergaß ich es ganz und
verlor mich in Träumen. Es passiert mir jetzt häufig, daß ich den Faden der
Erzählung verliere, mein Gedächtnis wird sehr schlecht, auch ist es mir oft
so schwer mich zu sammeln. Lassen Sie mich nachdenken. Ich wartete, sagte
ich, ja, ich wartete und die Tage gingen, Frühling ging, Sommer ging,
Herbst ging, Winter ging -- die Jahre gingen und ich wartete. Jeden Abend
saß ich da oben auf der Bank und wartete ohne zu wissen, worauf. Ich spann
Träume, ich träumte all diese Dinge, von denen ich Ihnen erzählte, immer
neues, immer mehr. Aber die Traume füllten mich nicht aus. Es blieb eine
große Leere und diese große Leere habe ich fast wie eine Höhlung in mir, in
der Brust, gefühlt, wie ein Loch, wo gar nichts war: Das war das Warten.
Ich wartete immer sehnsüchtiger, aber nie war ich ungeduldig. Es gab
manches in unserer Familie, nicht besonders viel, aber doch einiges. Wie
Vater seine Stellung aufgab -- da litt ich, für Vater, für Mütterchen, wir
standen so allein, wir zwei, und mußten uns verkriechen und allein sein.
Wir wollten es auch so. Es ging uns auch zeitweise etwas knapp. Aber ich
sage Ihnen, ich habe nie Hunger gelitten, denn Mütterchen, hören Sie, sie
kann ja auch aus nichts etwas machen und immer fand sie etwas. Ich war nie
ungeduldig. Ich wartete und dachte, man müsse etwas Geduld haben. Es konnte
nicht so bald kommen, wiederum aber konnte es doch schon morgen oder
übermorgen da sein. Und ich sehnte mich und wartete. Und endlich, endlich,
da wußte ich, worauf ich wartete. Ich wartete auf etwas Seltenes!«

Susanna hielt inne und sah Grau an. Ihre Augen waren groß und glühend.
»Seltenes!« wiederholte sie und sie sprach das Wort aus wie ein
unheimliches fremdes tiefes Wort. Dann lächelte sie schmerzlich und indem
sie ins Feuer starrte fuhr sie fort: »Auf etwas Seltenes und Großes! Nicht
auf etwas Alltägliches, nein, auf etwas, das nicht jeden Tag zu den
Menschen kommt, auf etwas Seltenes und Großes. Vielleicht so groß und
selten, daß mein Herz es nicht ertrüge. Aber was würde wohl größer, süßer
und seltener sein, als eben etwas, das unser Herz nicht ertrüge? Oh, so
unfaßbar sollte es sein. Ich stellte mir das Unfaßbare, dieses Seltene vor.
Es erfüllte mich, es blendete mich und oft schlug ich die Hände vors
Gesicht und lachte und weinte: Weil es so groß, so herrlich, so blendend
und so selten war. Aber ich wußte ja nichts davon?«

Susannas Stimme sank zu einem Flüstern herab, das Lächeln irrte hin und her
auf ihren Lippen, sie senkte den Kopf. Sie fügte leise und singend hinzu:
»Und ich träumte davon -- wie es wohl sein würde -- wenn das Seltene mich
verklärte -- wenn es mich niederbeugen würde mit seiner süßen Schwere --
niederbeugen -- wie der Tau -- der Tau die kleine Glockenblume niederbeugt
-- wenn der große Tag erschien, da es kann --«

Susannas Stimme erstarb. Sie lächelte und blickte in das Feuer. Lange. Aber
dann, mit einer plötzlichen, unerwarteten Bewegung schlug sie die Hände
heftig vors Gesicht und krümmte sich zusammen. Sie krümmte sich wie unter
einer Last, sie bog den Kopf und die Brust vor und ihre Stirne drückte sich
auf die Knie. Ihre schmalen Schultern zuckten. Das geschah so schnell und
mit solch schmerzlicher Leidenschaft, daß Grau erschrak und vom Stuhle
auffuhr. Susanna krümmte sich tiefer und preßte die Stirn zwischen die
Knie, ihre Schultern zuckten und sie begann am ganzen Körper zu beben.
Plötzlich fing sie an zu husten. Sie hustete pfeifend und schrecklich, sie
nahm eine Hand vom Gesicht und winkte Grau, hinauszugehen.

Grau verließ das Zimmer. Ihm schwindelte und sein Herz pochte laut in der
Brust. Es war kalt hier außen, die Dämmerung war grau und des Winters
trübes, vergrämtes Gesicht stand riesengroß über die Erde gebeugt.

Er ging wieder hinein. Susanna lächelte heiter. Sie war sehr bleich. Sie
reichte ihm die Hand hin und sagte: »Vergessen Sie es. So töricht war es
von mir. Wie konnte es doch so heftig über mich kommen! Es ist ja nicht so,
schon lange ist es ja nicht mehr so.«

»Erzählen Sie weiter!« sagte Grau leise und blickte Susanna an.

Und Susanna fuhr fort: »Es verging ein Jahr und wieder ein Jahr, Jahr um
Jahr verging. Nein, es kam nicht! Und so ist es: Zuerst, da hat die Frage
gesungen in mir. Es klang: Wann kommt es? Und ich bebte vor Sehnsucht und
Freude der Erwartung. Ich stand auf dabei und mußte einige Schritte gehen.
Die Zeit verstrich und nie kam es. Nun sang die Frage nicht mehr in mir.
Nun war es ganz leise und ohne Musik: Wann kommt es? Und ich bebte wohl
noch ein bißchen, aber es war nicht das alte Beben, ich stand auch nicht
mehr auf, nein, ich fühlte wie die Füße mir etwas schwer wurden. Und jetzt?
Jetzt weiß ich, daß es ein Traum war, der Traum eines jungen Mädchens, wie
jede ihn träumt. Ja, aber doch denke ich zuweilen noch -- zuweilen klingt
es noch in mir: Es kommt doch, es kommt doch!«

Sie lächelte und blickte Grau an.

Und Grau sagte leise: »Warum sollte es nicht mehr kommen?«

Susanna schüttelte langsam den Kopf. Sie antwortete nichts. Dann schüttelte
sie wieder den Kopf und sie sagte heiter: »Nein, ich glaube es nicht mehr,
das ist es. Früher hoffte ich und ich glaubte, daß es käme, jetzt hoffe ich
zuweilen noch -- ach, selbst wenn man verzweifelt, hofft man ja noch --
aber ich glaube es nicht mehr. Ich bin nicht unglücklich. Das kommt
vielleicht von der Krankheit, daß ich nichts mehr wünsche. Einen Wunsch
habe ich noch, wissen Sie welchen?« Aber ehe Grau antworten konnte, fügte
sie hinzu: »Ich möchte noch einmal die Blumen auf dem Felde sehen.«

Grau stand hastig auf und ging in der Stube umher. »Hören Sie, Fräulein
Susanna,« sagte er und lachte halblaut, »hören Sie, Fräulein Susanna,«
wiederholte er und lachte, »Sie sind bescheiden, das muß man sagen, zu
bescheiden!«

Susanna betrachtete ihn erstaunt und folgte ihm mit den Blicken.

Grau ging an ihren Sessel heran und lächelte. »So übermäßig bescheiden
brauchen Sie nun gerade nicht zu sein. Vielleicht werden Sie noch die Welt
sehen, ja, wer kann es wissen, vielleicht werden Sie noch dieses Paris
sehen, wo ein ewiges Feuerwerk knattert und die Statuen in den kühlen,
grünen Grotten der Museen stehen und diese Sonne, die wie ein heißer Nebel
ist, diese Muselmänner mit den Pfeifen. Sie und Mütterchen, wer kann es
denn wissen? Und das, worauf Sie warten, das Seltene, ja, warum um alles in
der Welt sollte es denn nicht mehr kommen? Nun sind Sie krank und müde,
aber sobald es Frühling wird -- meine Freundin, meine liebe Freundin?«

Susanna blickte ihn an und ihre Augen füllten sich langsam mit Traurigkeit.
Sie schüttelte langsam den Kopf und lächelte mit den traurigen Augen. Sie
sagte nichts.

»Sobald es Frühling wird,« wiederholte Grau, und seine Augen nahmen einen
bannenden Ausdruck an, »da werden Sie ganz anders denken!« Er lächelte und
begann im Zimmer umherzugehen. Sie sprachen nichts mehr. Die Uhr tickte und
schnarchte und in der Küche draußen gackerten die Hennen, die gefüttert
wurden. Grau stand am Fenster und blickte hinaus, der Schnee leuchtete in
tiefem Violett. Er ging an den Glasschrank und blickte hinein, er
betrachtete eine Photographie an der Wand. Von Zeit zu Zeit richtete er den
Blick auf Susanna. Es wurde ganz dunkel im Zimmer. Plötzlich ging Grau auf
Susannas Sessel zu. Es war so dunkel, daß er nur ihre Hände, ihr Gesicht
und den Glanz der Augen sah. Er legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls
und blickte Susanna lange an.

»Haben Sie da droben auf der Bank nicht auch von Liebe geträumt?« fragte er
flüsternd.

Susannas Blick wurde starr. Ihr Gesicht sah plötzlich viel dunkler aus, sie
errötete. Sie regte sich nicht, sie sah ihn an.

Grau ging langsam weg; er trat ans Fenster. Hier stand er lange, dann
verabschiedete er sich hastig. »Grüßen Sie Mütterchen, Susanna,« sagte er.
»Auf Wiedersehen.« Er ging.

Als er das Gärtchen durchschritten hatte, blieb er am Türchen stehen und
zögerte es ins Schloß zu werfen. Er blickte auf das Fenster und wartete. Da
erschien ein kleines, fahles Gesicht an der dunkeln Scheibe, er warf das
Türchen ins Schloß und ging rasch weg.




Zweiter Teil





Erstes Kapitel


Der Liederkranzball bildete den Glanzpunkt des gesellschaftlichen Lebens in
der kleinen Stadt und kehrte seit undenkbarer Zeit ebenso sicher wieder wie
der Faschingsmontag. Die ganze Stadt lebte davon, ob man nun dabei war, am
Hotel stand und die Masken hineingehen sah, oder nur die Berichte des
»Gauboten« las, der alle Reden, humoristischen Vorträge usw. ausführlich
brachte, ganz einerlei. Für dieses Jahr hatte der »Gaubote« als Programm
angekündigt: Im Reiche der Mitte. »Nachdem am Sonntag ein lustiges
Maskentreiben die sonst vom gewerblichen Fleiß widerhallenden Straßen
unserer geliebten Vaterstadt erfüllte --«

Dieses lustige Maskentreiben bestand darin, daß ein paar Hanswurste mit
Schweinsblasen knallten und ein als Frau verkleideter Schlotfegergeselle
auf einem Fahrrade hin- und herraste, abgesehen von einigen Kindern, die
als Tiroler, Rotkäppchen und Clowne verkleidet in den Straßen
einherstolzierten.

Auch von dem Ball des Liederkranzes zu reden würde sich kaum lohnen, wenn
sich dabei nicht einige recht sonderbare Dinge ereignet hätten.

Grau war von verschiedenen Seiten eingeladen worden, aber er hatte keine
Lust, den Ball zu besuchen. Er verbrachte den Abend in der Gesellschaft von
Susanna und Mütterchen.

Sie leerten jene Flasche Rotwein, die Grau von seinem Freunde, dem
Gefängnisdirektor, seinerzeit auf die Reise mitbekommen hatte, sie tranken,
lachten und plauderten und Mütterchen hatte ordentlich aufgekocht. Es war
schon spät als Grau aufbrach um nach Hause zu gehen. Er schritt über den
Marktplatz und plötzlich bemerkte er einen Burschen mit heller Bluse, einer
niedrigen Kappe und einem starken Nacken; der Bursche stand gerade vor dem
festlich beleuchteten »Elefanten« und blickte ins Tor hinein. Es war
Hammerbacher. Grau blieb stehen.

Er suchte Hammerbacher seit einigen Tagen, konnte ihn aber nirgends finden.
So viel er hörte, hatte der Geselle seine Stelle verlassen und trank mit
einigen Burschen in den Wirtschaften der Umgebung -- seit jenem Tage, da
die Notiz in der Zeitung gestanden hatte.

Grau war so erregt, daß er augenblicklich auf den Burschen zugehen wollte,
aber er besann sich. Er ging über den Platz und beobachtete von hier aus
den Burschen. Hammerbacher ging hin und her, wie ein Posten. Zuweilen
stampfte er auf den Boden, um die Füße warm zu halten, und jedesmal, wenn
er am Tore vorbei kam, blieb er eine Weile stehen und lugte hinein. Er
schüttelte den Kopf, blickte auf die Uhr und begann wiederum seine
Wanderung. Er wartete! Ja, natürlich, er wartete! Es gab nichts mehr zu
sehen, kein Mensch stand mehr vor dem Hotel, es war überdies empfindlich
kalt. Aber Grau wollte ganz sicher gehen, er ging unten am Platze eine
halbe Stunde lang auf und ab, während Hammerbacher vor dem Hotel Posten
stand. Ein merkwürdiger Gedanke stieg in ihm auf.

So rasch wie möglich eilte Grau nach Hause, kleidete sich um und nach einer
kleinen Weile kam er wieder rasch die Stufen herab.

Die helle Bluse Hammerbachers leuchtete gerade unter dem Tore. Er wartete
immer noch.

Grau berührte Hammerbachers Schulter und sagte: »Wünschen Sie, daß ich den
Herrn herunterrufe, ich gehe gerade hinein?«

Hammerbacher fuhr herum, er blickte Grau erschrocken an, schlug die Augen
nieder und nahm die Kappe ab. »Guten Abend.«

»Nun, wie steht es, soll ich den Herrn herunterrufen? Es ist nicht sehr
angenehm zu warten in dieser Kälte, nicht wahr?«

»Welchen Herrn?«

»Wie gut wir uns verstehen!« sagte Grau und blickte den Burschen scharf an.
»Ist es nicht merkwürdig, wie gut wir uns verstehen?«

Hammerbacher lächelte verlegen. »Ich habe damals gelogen, als ich bei Ihnen
war, aus Not -- sie ließen mir keine Ruhe mehr -- dieses Gestichel --«

Grau schüttelte den Kopf: »Wie konnten Sie nur so etwas tun?« sagte er mit
mildem Vorwurf. »Das hätten Sie nicht tun sollen, es hat Sie befleckt für
immer. Nein, sagen Sie mir nichts, ich weiß wohl, wann Sie gelogen haben,
Hammerbacher. Damals haben Sie nicht gelogen, denn damals konnten Sie gar
nicht lügen, das wissen Sie recht wohl!«

Sie hätten ihm ja keine Ruhe mehr gelassen.

Grau schüttelte den Kopf. »Geben Sie sich weiter keine Mühe mehr!« rief er
zornig aus. »Ich habe mir recht wohl gedacht, daß Sie zu Dem und Jenem
fähig sein könnten, deshalb habe ich Ihnen so dringend nahe gelegt das
Andenken jenes unglücklichen Mädchens hoch zu halten. Seien Sie nur still!
Ich will Ihnen das eine sagen, daß Sie von meiner Seite aus nicht das
geringste zu befürchten haben werden. Aber ich werde nicht ruhen -- ich
werde nicht eher ruhen! -- bis ich jenen Herrn gefunden habe, der Sie
beschwätzt hat, um ihn an seine Pflicht zu erinnern. Sagen Sie ihm das!
Leben Sie wohl -- wenn Sie einmal einen Rat brauchen, ich stehe zu Ihrer
Verfügung. Es läßt sich noch alles in Ordnung bringen, überlegen Sie es!«

Grau stieg hinauf in den Saal, wo er mitten in den Trubel des Festes trat.

Der Saal war angefüllt von Menschen, er war so voll, daß man sich kaum
bewegen konnte. Alles lachte, schrie, riß den Mund auf, alle waren in
übermütiger, vom Tanzen und Trinken erregter Stimmung. Eine Menge von
Chinesinnen und Chinesen in allen denkbaren Kostümen und Farben schob sich
hin und her und wo man hinsah, erblickte man Zöpfe, Pfauenfedern, Schirme,
Fächer, breite chinesische Hüte, in fortwährender Bewegung. Der Saal aber
hatte sich verwandelt in eine chinesische Straße mit Tee-, Kaffee-, Sekt-,
Wein-, Bier- und Verkaufsbuden; bunte schmale Tücher mit phantastischen
Drachen und Schriftzeichen hingen von der Decke herab und überall brannten
Lampione in allen Farben und Formen, klein, nicht größer als eine Faust,
mächtig groß und dick wie ein Faß, glühend rot, zart und schimmernd und
manche verblaßten vollständig in all dem Rauch und Dunst, der aus der
lachenden, treibenden Menge emporstieg.

Grau hatte keine Zeit alles genau zu betrachten, er begann augenblicklich
fieberhaft zu suchen.

Der erste Bekannte, den er sah, war Eisenhut. Er trug ein unglückliches,
gelbes Kostüm, eine Art Sack mit weiten Ärmeln, eine gelbe runde Mütze und
merkwürdigerweise einen hohen Stehkragen, in den er den Spitzbart drückte,
so daß er wie ein Pinsel vorsprang. Er trug eine gelbe Maske, aber jeder
mußte ihn sofort erkennen, an seinem Spitzbart, den tiefen Furchen um den
Mund, der Körperhaltung. Er schlich sich durch die Menge und seine kleinen
Augen lugten mit komischer Lebhaftigkeit aus den Schlitzen der Maske, er
ging, als wolle er alles sehen und selbst nicht gesehen werden.

Einen Augenblick lang ruhten ihre Blicke ineinander, aber Grau blickte weg,
als ob er ihn gar nicht kenne. Er wollte ihm die Freude nicht rauben. Zwei
Chinesinnen stürzten auf Eisenhut zu und drängten ihm Zigaretten auf, aber
Eisenhut machte eine ärgerliche Handbewegung und entfloh zu einer Weinbude,
wo er rasch ein Glas Wein hinunterstürzte.

Die Menge kam aus irgend einem Anlaß in Bewegung und Grau wurde dicht ans
Orchester gedrückt, wo ihm die Baßtrompete direkt ins Ohr plärrte. Er
verlor Eisenhut aus den Augen. Plötzlich wurde er von zwei Seiten
angepackt. »Herr Grau, Herr Grau!«

Es waren die Schwestern Sinding, die ihn bestürmten, Sie hatten glühendrote
Wangen. In ihren losen Kostümen sahen beide etwas dick aus. Hahaha, also er
sei doch hier! Welch ein Lärm, abscheulich, puh! Aber er sei wohl
Nichtraucher?

»Wir haben Zigaretten zu verkaufen -- buh, buh!« Klara Sinding winkte der
Baßtrompete still zu sein. »Es geht lustig zu! Ja, wir sind heute alle
vergnügt!«

»Im Gegenteil, ich rauche leidenschaftlich gern!« sagte Grau und er erstand
ein Paket Zigaretten.

»Wie gefällt es Ihnen? Bitte, Feuer!«

»Ganz prächtig!« sagte Grau und paffte. »Ganz herrlich ist das.«

Die beiden Mädchen sahen einander an und dann riefen sie wie aus einem
Munde aus: »Aber wir haben ja ganz vergessen zu gratulieren! Herzlichsten
Glückwunsch! Allerherzlichsten Glückwunsch!«

»Danke! Danke!« Grau verneigte sich.

»Wir waren so überrascht, als wir es in der Zeitung lasen! Und wie sehr wir
uns gefreut haben! Wie glücklich Susanna ist! Und Mütterchen erst!
Mütterchen hat die Zeitung mit der Anzeige naß geweint! Ja, so herzlich
haben wir uns darüber gefreut! Wir lieben Susanna!« Hahaha -- diese ganz
abscheuliche Baßtrompete!

Sie plauderten und es trat noch eine Chinesin zu ihnen, ein hoch
aufgeschossenes Mädchen mit vorstehenden langen Zähnen, die eine
eigentümliche Art hatte den Kopf langsam auf den Schultern zu drehen. Dann
rannte eine pechschwarze Jüdin heran, die Grau einen Fächer aufschwätzte,
es kam noch eine Chinesin, die Orangen zu verkaufen hatte, ein kleines
häßliches Mädchen mit stumpfer Nase und großen Ohren, eine andere, und
schließlich stand ein ganzer Kreis von Mädchen um Grau herum. Alle lachten,
schwätzten und sahen Grau an.

»Gestatten Sie, daß ich vorstelle -- Fräulein Anna Mohr --«

»Keine Namen, keine Namen! Es ist ja Fasching!« schrien die Damen.

Grau lachte und rauchte die Zigaretten. »Ich habe gar nicht gewußt, daß es
so viele schöne Damen in der Stadt gibt?« sagte er und sah alle der Reihe
nach an. Sein Blick war ruhig und rein.

Die Mädchen lachten.

»Wir wollen ihn fragen --« Aber ja! Sie wollten fragen, welche die schönste
von ihnen sei.

»Welche ist die schönste von uns allen,« sagte Klara Sinding, jene, die das
kleine Mal auf der Wange hatte.

»Die schönste?« Grau blies den Rauch durch die Lippen. Das sei eine sehr
schwierige Frage. Er errötete ein wenig, denn alle blickten ihn an und ihre
Gesichter sahen aus, als ob sie auf eine Gelegenheit warteten,
herauszuplatzen mit Gelächter. Er sah eine nach der anderen an und fügte
hinzu: »Das ist schwer zu sagen, denn ich kenne ja die Damen kaum. Aber Sie
meinen -- so nach dem ersten Blick zu urteilen -- aber auch das ist schwer,
denn sobald ich glaube jene Dame sei die schönste, springt mir etwas im
Gesichte einer andern Dame in die Augen -- ja, es ist unmöglich.« Er
blickte zuerst das kleine häßliche Mädchen mit der stumpfen Nase und den
großen Ohren an und sagte: »Bei Ihnen, mein Fräulein, da sind es die Augen,
es sind die schönsten silbergrauen Augen, die ich in meinem ganzen Leben
gesehen habe --« das Mädchen errötete und lachte allen verlegen ins Gesicht
-- »bei Ihnen, mein Fräulein, sind es vor allem die Wangen, die so zitternd
weich sind und von eigentümlichen Rot -- bei Ihnen sind es die Brauen und
die Schläfen --«

Die Mädchen lachten und schrien durcheinander und machten solchen Lärm, daß
alles nach der Ecke blickte. Nein, das sei ja keine Antwort -- aber nein --
wir sollten ihn fragen wer die klügste von uns allen ist --! Sie fragten.

»Die klügste? Aber, bitte, meine Damen, das ist ja noch schwerer!« Grau
lachte. »Wenn ich aber nun etwas Bestimmtes sagen soll, so erkläre ich
dieses Fräulein hier für die klügste von allen.« Es war das kleine häßliche
Mädchen. Gelächter. Die Damen klatschten in die Hände. Das kleine häßliche
Mädchen sagte mit tiefer Stimme: »Ich war stets die Dümmste im Institut!«
Aber sie lächelte.

Grau lächelte ebenfalls. »Was sollte das beweisen? Ich werde den Damen eine
Frage vorlegen und wir werden es gleich sehen. Hören Sie zu --«

Aber ja! Das würde ja schrecklich interessant werden.

»Wie hübsch er plaudert!« flüsterte das hochaufgeschossene Mädchen der
Jüdin ins Ohr. Die Jüdin ließ ihre Augen funkeln. »Ja,« wisperte sie, »er
ist so jung und schön. Siehst du, wie schüchtern er ist -- er zittert immer
ein wenig.« »Pst, er hört dich.«

Die Mädchen brachen in heiteres Gelächter aus. Klara Sinding also würde
eine Nadel nehmen und in die Bohnen stechen. »Es ist aber verboten, die
Bohnen irgendwie mit der Hand oder sonst etwas zu berühren.« Die jungen
Damen öffneten die Münder und blickten einander verdutzt an: Ja, große
Güte, da liegen nun zwölf Bohnen auf dem Tische, zwölf weiße Bohnen, alle
ganz gleich, und unter ihnen ist eine Bohne aus Elfenbein, ganz wie die
andern, wie könnte man sie doch herausfinden?

»Nun werden wir es gleich sehen, wer die Klügste ist!« sagte Grau und
lachte. Die Damen dachten angestrengt nach. Sie brachten die
abenteuerlichsten Projekte vor, aber es stellte sich immer heraus, daß sie
unbrauchbar waren.

Grau wandte sich an das kleine häßliche Mädchen. Sie schüttelte den Kopf.
Sie habe ja von vornherein erklärt, daß sie die Dümmste sei.

»Ich werde Ihnen etwas helfen,« sagte Grau lächelnd und blickte sie an.
Plötzlich nun schrie das kleine Mädchen aus vollem Halse: »Ein Huhn!«

»Ein Huhn! Hahaha, ja, mein Gott --« die Mädchen schüttelten sich vor
Lachen. Wer sollte auch daran denken! Es sei das Ei des Kolumbus!

Das kleine häßliche Mädchen aber sagte ganz verwirrt: »Es ist ganz
merkwürdig, ich habe ja gar nicht daran gedacht und plötzlich ist mir der
Gedanke gekommen -- gerade als Herr Grau sagte, er wolle mir ein wenig
helfen --« Sie blickte mit verwirrten, fast scheuen Augen auf Grau.

Grau lächelte. »Die Damen müssen mir den Scherz vergeben. Denn es war ja
ein Scherz. Ich maße mir keineswegs an, Behauptungen solch kühner Art
aufzustellen. Mein Beispiel ist ebenfalls schlecht gewesen, das erste
beste, das mir in den Kopf gekommen ist, natürlich. Klugheit und
Scharfsinn, rasches Denken und langsames Denken, das ist ja alles so
verschieden -- ich weiß das wohl, aber da sie mich nun gerade gefragt haben
--?«

Das Orchester spielte die ersten Takte eines Walzers und die jungen Mädchen
machten Miene auseinander zu stieben.

»Auf eine Sekunde noch!« bat Grau; und nun lud er sie alle zu einer kleinen
Feier bei Susanna ein. Er wollte ihnen mitteilen, wann die kleine Feier
stattfinden sollte -- Fräulein Sinding wäre vielleicht so gütig ihm die
Adressen der Damen aufzuschreiben --?

Die Mädchen lachten, waren etwas verblüfft und sagten alle zu. »Ja,
natürlich, natürlich.« Sie schrien, was sie konnten.

Wirklich liebenswürdige Mädchen, sagte Grau ganz gerührt zu sich selbst,
mischte sich in die treibende Menge und spähte nach links und rechts aus.

Er wanderte im Saale umher, blickte in den Tanzsaal, wo alles wirbelte und
fegte, musterte jede Gruppe. Er begegnete einigemal Eisenhut, aber der
schien es nicht zu sein, den er suchte, denn er hörte nicht auf
umherzuspähen. Er begrüßte da und dort Bekannte, aber er ließ sich nicht in
Gespräche ein. Über einer Gruppe von Köpfen, Hüten, Glatzen sah er etwas
ungeheuer Schönes, eine feine Bewegung, eine feine Hand, kurz und huschend;
das war Adele. Grau blieb stehen und blickte zwischen einem großen
chinesischen Schirm und einer geschminkten Wange hindurch auf die Gruppe.
Zufälligerweise schneuzte sich ein Herr und zufälligerweise einer jener
Herren, die sich beim Schneuzen verneigen. So oft der Herr sich verneigte,
sah er Adeles Gesicht. Sie lachte gerade heiter und übermütig.

Dann zwängte er sich wieder zwischen den Masken hindurch und spähte in
jeden Winkel. Vielleicht doch unter den Tanzenden? Er stand an der Türe des
Tanzsaales und blickte aufmerksam in jedes Gesicht.

Da berührte jemand leise seine Schulter und Adele stand vor ihm.




Zweites Kapitel


In purpurroter Seide stand sie da. Mächtige, weitausgreifende Chrysanthemen
waren in lackroter Farbe auf das Kostüm gestickt. Ihr Hals war frei, er war
lang und weiß und ganz besonders nackt, die Linien ihrer weißen Arme
verschwammen in den weiten hängenden Ärmeln und ihre schmalen Hände waren
besät mit Ringen, sie waren gleichsam gepanzert mit flimmernden Steinen.
Ihre schwarzen Haare waren zu einer Art lebendigem Helm geflochten, durch
den ein silberner Pfeil sauste. Große gelbe Rosen schmückten das Haar, die
Schulter, den Gürtel. Sie lächelte. Ihre Zähne waren so weiß, ihre Lippen
so rot. Aber ihre Augen waren hell und tief wie zwei Quellen, auf deren
Grund Licht brannte.

Ihr Anblick verwirrte ihn. Er lächelte. Er sah sie an und eine Weile ruhten
ihre Blicke tief ineinander. Grau errötete langsam. Adele lächelte.

»Ich gratuliere Ihnen herzlich, mein Freund!« sagte sie dann.

»Danke!« Adeles Hand war brennend heiß.

»Susanna wird wohl sehr glücklich sein. War sie nicht ein wenig überrascht,
als Sie um ihre Hand anhielten?«

Sie sei einigermaßen überrascht gewesen, ja. Es habe einen langen Kampf
gekostet, bis sie einwilligte.

Adele blickte ihn mit einem eigentümlichen Blicke an. Sie schüttelte
unmerklich den Kopf, dann öffnete sie die Lippen zu einem schnellen
Lächeln. »Heute ist Fasching!« sagte sie. »Kommen Sie, wir wollen fröhlich
sein. Ich bin in solch ausgezeichneter Stimmung. Sie sollen mir etwas
erzählen, wollen Sie? Sehen Sie den Kiosk dort? Dort bin ich engagiert, wir
machen Geld. Oh, wie heiß es ist! Und ich habe auch so viel Sekt
getrunken.« Sie preßte die Rücken der Hände an die langen flächigen Wangen
und kühlte sie mit den Steinen. »Erzählen Sie mir Ihr schönstes Erlebnis,
wir werden dabei umhergehen.«

Grau lächelte. »Mein schönstes Erlebnis erzähle ich nicht,« sagte er »aber
wenn ich Ihnen eines von meinen vielen schönen Erlebnissen erzählen darf?
Ein kleines hübsches Erlebnis, wenn Sie wollen. Einmal fuhr ich des Nachts
in einem Zuge und an meiner Seite saß ein junges Mädchen, ein auffallend
schönes und zartes Geschöpfchen. Sie war sehr müde, immerfort fielen ihr
die Augen zu und ihr Köpfchen schwankte hin und her. Ich dachte, wollte sie
doch den Kopf an meine Schulter legen -- und so geschah es. Plötzlich sank
ihr Kopf an meine Schulter, sie schlief. Sie schlief die ganze Nacht an
meiner Schulter und atmete so tief.« Das erzählte er.

»Wie hübsch!« sagte Adele und lachte. »Sehen Sie die Lauben und all die
närrischen Leute? Wie gefällt Ihnen der Ball?«

»Prächtig!«

»Echte Provinz -- haha! -- echte, gute Provinz, Herr Grau. Ich glaube Sie
sind noch nicht oft auf Bällen gewesen, wie? Ich werde Sie später meiner
Mutter vorstellen, sie hat mich gebeten darum. Wir werden auch ein Glas
Sekt zusammen trinken. Lassen Sie mich eines wissen, können Sie tanzen?
Aber ich befürchte Sie können es nicht --«

»Doch,« sagte Grau, »ich habe tanzen gelernt als ich zwölf Jahre alt war.«

»Unmöglich!«

»Zu Hause, ja. Meine Mutter gab mir Unterricht.«

»Ah! -- Ja, das Kostüm ist echt, da haben Sie recht. Ein Onkel, ein
Gesandter, hat es mir geschenkt. Auch der Fächer ist echt. Sie sind der
erste, der das fragt, denn der Fächer ist ja so schlicht. Oh, welches
Geschrei! Sie fühlen sich hier nicht heimisch, wie? Ich protegiere Sie ein
wenig, wenn Sie mir das erlauben. Wollen wir jetzt tanzen? Ja! Kommen Sie!«

Sie legte ihre Hand in seinen Arm.

»Sie haben doch in den letzten Tagen soviel Orgel gespielt? Sie waren es
doch, nicht wahr?« fragte sie während sie sich geschickt durch die Menge
bewegte.

»Ja, zuweilen kommt es über mich, dann muß ich ganze Tage spielen,«
antwortete Grau.

»Ich hörte es bis in mein Zimmer. Was haben Sie denn da? Einen Ring?«

Graus Finger spielten mit einem Ring, einem schmalen silbernen Reif mit
winzigem blauen Stein. Das sei ein Ring, den er sozusagen gefunden habe.
Sie habe ihn wohl nicht verloren? Er steckte den Ring wieder in die
Westentasche.

Adele lachte. »Ich habe niemals einen solchen Ring gehabt,« rief sie aus,
»sicherlich gehört er einer Köchin. Weshalb sehen Sie mich denn so
verwundert an?«

»Tat ich das?«

»Ja, zuweilen können Sie recht wunderlich sein!«

Als sie in den Tanzsaal kamen, war der Walzer gerade zu Ende und die
erhitzten Paare strömten heraus. Die Herren wischten sich den Schweiß von
der Stirne und grüßten Adele, die Damen wechselten ein paar Worte mit ihr
und blickten erstaunt auf Grau, der Adele am Arme führte.

»Warten wir bis zum nächsten Tanze,« sagte Adele und lächelte. »Hier ist es
übrigens kühler. Guten Abend, Klara! Vielleicht könnte man sich auch einen
Augenblick irgendwo hinsetzen, nicht wahr? Mein Gott, dieser Herr Eisenhut
glaubt, man erkennt ihn nicht. Ist das nicht komisch? Dann werden Sie mir
jene Geschichte, erzählen, die Sie mir schon solange schuldig sind.«

»Welche Geschichte? Jede Geschichte, die Sie wollen, natürlich, denn Sie
sind so freundlich zu mir, daß ich mich gerne dankbar zeigen möchte, aber
ich erinnere mich ja gar nicht --?«

Ein schmetterndes Trompetensignal erscholl und alles rannte in die
chinesische Straße hinaus. Herr Bezirksamtmann Häberlein sprach einige
Worte, die einen lauten Beifall wachriefen. Ein kleiner Mann mit weißer
Künstlermähne trat auf die Bühne. Das war Herr Photograph Leistlein, der
eine Extranummer zum besten gab.

Adele lachte. »Was für ein Unsinn! Es ist zu dumm. Sie lachen, weil Sie
nicht begreifen können, daß die Leute über einen solchen Unsinn lachen
können. Nun sind wir Gott sei Dank allein.«

Der Saal hatte sich geleert und nur zwei junge Mädchen gaben sich
gegenseitig Anweisungen im Tanzen; sie hüpften hin und her und kicherten
und quiekten. Eine Mauer von Rücken versperrte den Eingang zur chinesischen
Straße, die in all dem Rauch wie ein Bild in einem blinden Spiegel aussah.
Man hörte Herrn Leistlein in verschiedenen Stimmen sprechen, zuweilen
unterbrach ihn rasender Beifall.

»Wie wohl das tut, diese Ruhe!« sagte Adele und ließ sich auf eine kleine
Bank nieder. »Sehen Sie doch, die vielen Lampione, wie hübsch! -- Die
Geschichte von jener Frau, der ich ähnlich sehe, Sie erinnern sich wohl?«

»Gewiß erinnere ich mich,« antwortete Grau. »Ist es nicht merkwürdig, daß
ich seitdem wieder von dieser Frau geträumt habe? Sie sieht Ihnen übrigens
nicht so sehr ähnlich, es ist nur Ihre Art den Kopf zu tragen und vor allem
Ihre Augen.«

Adele unterbrach ihn. »Sind denn so schreckliche Dinge in jenem Traume
geschehen!« rief sie lachend aus. »Setzen Sie, sich Herr Grau. Weshalb muß
ich Sie erst dazu auffordern? Lassen Sie alles Zeremoniell beiseite, Sie
sind auf einem Maskenball und sprechen mit einer Japanerin. Beginnen Sie
mit dem Traum. Ein Traum, das war es doch?«

»Danke,« sagte Grau und nahm neben Adele Platz. »Ja, es war ein Traum. Es
war übrigens einer der schönsten und einer der merkwürdigsten Träume, der
mir je geschenkt wurde. Es kommt ein Sternschnuppenregen darin vor und was
diese Frau mir alles gesagt hat -- ich träumte, ja, nun will ich endlich
beginnen -- ich träumte, daß ein Geist mich dahintrage.«

»Ein Geist?« Adele stützte das Kinn in die Hand und blickte gerade aus. Sie
hatte ein feines anliegendes Ohr.

»Ja. Ein Geist, der wie ein Wind sauste, er trug mich dahin über die Lande
in schwindelnder Schnelligkeit durch Wolken hindurch, plötzlich näherten
wir uns der Erde und flogen über schlafende Städte, riesige, schlafende
Städte mit hohen steilen Häusern. Die Städte waren ohne Licht, ohne Laut,
ungeheuer stumm und tot. Sie schliefen und wir flogen an einem Heer von
Fenstern vorbei. Ich sah in all diese Fenster hinein und obgleich es dunkel
war, sah ich sehr genau.«

»Was sahen Sie denn da?« fragte Adele.

»Ich sah Kinder, die schliefen, Tausende und Tausende von schlafenden
Kindern sah ich, alle schliefen sie, friedlich, müde, gesund, ihre Backen
glänzten rot und ihre Münder standen halb offen, ich sah all diese kleinen
Brustkörbe atmen, Millionen solcher Kinder habe ich gesehen, es war ja im
Traum, gelbe, braune, weiße Gesichter, alle Rassen.«

Eine Lachsalve raste durch den Saal.

»Wie schön!« Er möge doch fortfahren.

»Ja. Ich denke daran, wie schön es war, nie mehr habe ich soviel Frieden
gesehen und auch nie mehr diesen Frieden gefühlt. Aber wie rasch es doch
dahinging, mit welch rätselhafter Leichtigkeit ich an diesen Fenstern
vorbeischwebte! Nun kamen immer neue Städte, plötzlich tauchten sie stets
unter mir auf, riesenhaft und alle schrecklich stumm und tot. Als ich nun
in eines der schwarzen Fenster blickte, sah ich zu meiner Überraschung ein
kleines Licht im Zimmer brennen und einen Mann, der am Tische saß; er hatte
reiches, aber ergrautes Haar.«

»Was tat er?«

»Er tat nichts. Er saß an dem Tische und starrte in das kleine Licht und
lächelte seltsam. Ich zog an tausenden von Fenstern vorüber und überall sah
ich den Mann mit den grauen Haaren und dem seltsamen Lächeln vor der
kleinen Kerze sitzen. Ich sah nicht nur ihn. Ich sah auch andre und alle
tausendfach. Ich sah eine Frau, die ein Licht in der Hand hatte und auf
einem Stuhle saß. Aber sie las nicht, sie blickte über das Buch weg und
lächelte, ebenfalls seltsam. Ich sah einen jungen Mann, der leise tanzte
und einen Kuß in die Luft warf, er war sehr bleich und auch er lächelte
seltsam, ich sah junge Mädchen, die die Lippen öffneten und ohne Laut
sangen. Tag und Nacht könnte ich wohl erzählen, wollte ich all diese
Menschen beschreiben, die ich gesehen habe. Alle waren sie allein mit einer
kleinen Kerze, wach, während die andern schliefen, alle lächelten sie
seltsam. Sie beschäftigten sich alle so sonderbar, lasen ohne zu lesen,
sangen ohne zu singen, sie spielten, runzelten die bleichen Stirnen,
lächelten, ihre Beschäftigungen waren mannigfacher Art, sie bauten
Kartenhäuser, einer hatte ein dickes Buch in Zettel geschnitten und mühte
sich damit ab es wieder zusammenzusetzen. Sie waren alle allein. Verstehen
Sie?«

»Ah!« sagte Adele und sah rasch auf. »Es waren die einsamen Menschen der
Erde, die Sie sahen. Wie merkwürdig!«

Grau nickte. »Ja, ich denke es. Aber weit merkwürdiger ist es, daß ich
wußte, was die Menschen dachten. Vergessen Sie nicht, daß es ein Traum war.
Nun habe ich seitdem -- es ist ja sechs Jahre her -- die meisten dieser
Gesichter in Wirklichkeit gesehen, oder es wird richtiger sein, im Traum
sah ich alle Gesichter, die ich in der Wirklichkeit gesehen hatte, ein
wenig verschieden vielleicht -- kurz und gut, ich sage, ich sah die meisten
dieser Gesichter in Wirklichkeit und es schien mir nun, als wisse ich, was
sie ausdrückten. Ich sehe ein Gesicht auf der Straße und es erinnert mich
an eines jener Gesichter im Traume -- aber ich wollte das ja nicht sagen,
Pardon.«

»Fahren Sie doch fort!« sagte Adele.

Grau lächelte leise, schüttelte nachdenklich den Kopf und sagte: »Wie
sonderbar aber ist es doch, daß wir im Antlitz des Menschen zu lesen
wünschen! Daß uns jeder Mensch so sehr beschäftigt, daß wir wissen möchten,
wie er ist!«

»Ja, wie eigentümlich ist das,« sagte Adele und blickte Grau an. »Man sagt,
an den Augen erkenne man den Menschen am besten. Wie meinen Sie?«

Grau lächelte. »An den Augen?« sagte er. »Vielleicht. Ein wenig an den
Augen, ein wenig am Gang, an den Händen, an den Ohren, an den Lippen. Ganz
besonders an der Nase! Aber das alles kann trügen. An den Worten? Auch sie
können trügen, sie verbergen den Menschen und der Mensch verbirgt sich
hinter ihnen. Selbst wenn er die ehrliche Absicht hat, aufrichtig zu sein,
er kennt sich ja selbst nicht, seine Worte sind alle ein wenig falsch,
schief gleichsam -- oder er ist ein großer Dichter. All das kann trügen.
Vielleicht ist das Lächeln noch am zuverlässigsten -- wie meinen Sie? --
Das Lächeln, sagte ich, das unbewußte und kaum bemerkte, leiseste Lächeln.
Vielleicht. Der Mensch kann lachen, schreien, weinen -- und es kann sein,
daß er nicht im Lachen, Schreien oder Weinen steckt, aber im Lächeln? Das
Lächeln ist schwer zu heucheln, ganz wenig Menschen können es auch
unterdrücken, es ist unkontrollierbar, es kommt und geht, schnell, es kann
die ganze Niedrigkeit und den ganzen Adel eines Menschen ausdrücken, den
ganzen wahren Schmerz, wahre Freude. Vor allem aber die Entwickelungsstufe
des Menschen.«

»Haben Sie das ebenfalls aus jenem Traume?« fragte Adele. »Aus dem Lächeln
dieser Einsamen? -- Hören Sie die Narren lachen, haha?«

»Gewissermaßen,« fuhr Grau eifrig fort. »Gewissermaßen ja. Aber ich mache
zu viele Worte. Ich sage, auch das Lächeln kann trügen, es bleibt Ihnen
also nichts als das Gefühl. Vielleicht fühlen wir die Menschen! Der
seelische Zusammenhang der Menschen ist vielleicht so stark, daß wir
erschrecken würden, könnten wir ihn erkennen, ja, es ist möglich, daß
zwischen den Menschen -- zwischen den Seelen -- überhaupt keine scharfe
Trennung existiert -- ich für meine Person glaube das -- vielleicht können
Sie an keinen Menschen denken, ohne daß er es fühlt, ja, ohne daß er weiß,
was Sie denken. Nicht wahr? Wenn Sie ihn lieben, er wird es fühlen und wenn
Sie nur auf der Straße aneinander vorbeigehen, er wird es fühlen, er wird
Ihren Haß fühlen, alles, vielleicht überkommt ihn nur ein leises Behagen
oder Unbehagen, vielleicht weiß er es nicht, aber seine Seele weiß es ganz
genau. Jeder Mensch könnte Ihnen aus seinen Erfahrungen Beispiele erzählen
und Sie selbst haben gewiß ähnliche Beobachtungen gemacht. Ich sage zum
Beispiel, es begegnet Ihnen auf der Straße ein Mensch, er blickt Sie an,
blinzelt, sieht weg. Sie denken: Das ist ein armer, einsamer und guter
Mensch. Die Leute erzählen Ihnen alle denkbaren Schlechtigkeiten von ihm --
jener Mensch selbst spricht mit Ihnen, ja er beleidigt sie und legt es fast
darauf an, einen ungünstigen Eindruck auf Sie zu machen -- und doch können
Sie den Glauben nicht lassen -- er ist einsam, arm, aber gut.«

Adele sah auf. »Sprechen Sie von einem bestimmten Menschen? Nein? Ich
dachte, weil Sie sagten, er sieht Sie an, blinzelt --«

Grau antwortete ihr darauf nicht. Er lachte plötzlich und sagte: »Ich bin
ja ganz vom Thema abgekommen!«

Auch Adele lachte. »Aber ja! Sie wollten von jener Frau erzählen?«

»Sofort. Die Reise ging an Fenstern, Fenstern und Fenstern vorüber, über
all die schlafenden Städte hinweg, das erzählte ich, nicht wahr. Dann ging
es über endlose Wälder und ich erinnere mich, daß vier Sterne am Himmel vor
uns standen, vier Sterne in der Gestalt eines Quadrats. Wir kamen den
Sternen näher und ich glaubte, wir würden durch sie hindurch fliegen, aber
sie entfernten sich plötzlich wieder und standen ganz klein am schwarzen
Himmel. Nun blickte ich plötzlich in ein Fenster und hier sah ich eine
Frau, die vor einem Kaminfeuer saß. Sie hatte so reiches schwarzes Haar wie
Sie und ihre Haut war ebenso weiß wie die Ihrige, sie trug die Haare in
einem losen Knoten im Nacken, wie Sie es gewöhnlich zu tragen pflegen, sie
hatte ebenfalls auffallend helle Augen. Aber trotzdem sah sie anders aus
als Sie.«

»Was tat sie denn?« fragte Adele gespannt und zog das Gewand an sich, da
die beiden Backfische vorbeitanzten.

»Sie war damit beschäftigt, kleine Rosen anzufertigen,« fuhr Grau fort.
»Sobald eine Rose fertig war, sah sie die Rose unzufrieden an und warf sie
in den Kamin. Die Rose verbrannte. Es sah aus wie ein brennendes Schiff. Es
sah aus wie eine Wüste mit feuriger Sonne und eine kleine Karawane, ganz
glühend, zog durch die Wüste. Es entstand ein brennender tanzender Bär,
ganz klein, aus der brennenden Rose.«

»Wie amüsant!« sagte Adele. »Die Dame hat sich ganz gut unterhalten.«

»Man sollte es glauben,« fuhr Grau fort. »Plötzlich nun sagt die Frau leise
und zaghaft: Herein! und zu meinem größten Erstaunen trat ich selbst ins
Zimmer, obgleich ich doch gleichzeitig zum Fenster hereinblickte.«

Adele lachte. »Aber so pflegt es ja in den Träumen zuzugehen!«

»Ja. Ich trat ins Zimmer und die Frau sah mich an. Sie kam mir
gewissermaßen wie ein Geist vor, nicht irdisch. Sie trug Ohrringe und eine
silberne Kette um den Hals. Sie lächelte leise und dann rief sie mir ein
Wort zu, das ich nicht verstand. Sie sagte etwas und auch das verstand ich
nicht. Es war eine seltsame, fremde Sprache von unglaublicher Weichheit des
Klanges. Sie warf alle Papierschnitzel, die sie auf dem Kleide hatte, ins
Feuer und daraus entstanden eine Menge winzig kleiner goldener Vögel, die
zwitschernd in den Kamin hinauf flatterten. Sie stand auf und sagte: Ich
habe nicht gedacht, daß du heute kommst.«

»Verstanden Sie denn jetzt?« unterbrach ihn Adele, die eifrig zuhörte,
während ihre Blicke mechanisch den Tanz der Backfische verfolgten.

»Ja,« antwortete Grau, »ich weiß übrigens nicht, ob sie sich der fremden
Sprache bediente. Kurzum, ich verstand sie. Ich sah sie erstaunt an, denn
ich hatte sie nie im Leben gesehen. Haben Sie mich denn erwartet? fragte
ich. Sie sah mich lächelnd an, lange. Dann ging sie näher und legte ihre
Hand auf meinen Arm und ich sah ihre Augen ganz dicht vor mir. Sie waren
klar und hell, von unbestimmter Farbe und mit einem Schein als ob sie
phosphoreszierten. Wie sagst du? fragte sie. -- Ich wiederholte das
gleiche. -- Wie sagst du? Wiederum sagte ich: Haben Sie mich denn erwartet?
Sie schüttelte den Kopf und sagte lächelnd, aber gleichsam verletzt: Kennst
du mich denn nicht mehr? -- Ich schüttelte den Kopf. Nein, sagte ich. Ich
sah sie an und nun schien es mir, als ob ich sie schon gesehen hätte, alles
verwirrte sich in mir; dann aber wußte ich, daß ich sie noch nie gesehen
hatte. Ich sagte es. Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf die silberne
Kette, die sie am Halse trug, und sagte: Kennst du auch die Kette nicht? --
Nein. -- Aber sie ist von dir! -- Nein! -- Ja, sie ist von dir, wir haben
uns lange, lange Jahre gekannt und nun erkennst du mich nicht wieder. Nein,
sagte ich. Sie sah mich trauernd an und schüttelte den Kopf. -- Komm! sagte
sie, und plötzlich gingen wir auf einer Heide, es war in grauer Nacht und
ganz still --«

Im Saale bliesen die Trompeten Tusch und die Menge schrie rasend Hoch.
Adele hielt sich die Ohren zu. »Wie schade!« sagte sie, indem sie aufstand.
»Nun kommen sie alle hierher. Wie merkwürdig ist doch der Traum?«

»Ja.«

Sie sahen einander an und fühlten beide eine auffallende Beklommenheit im
Herzen, obgleich keiner sie dem andern verriet. Graus Augen leuchteten und
seine Wangen röteten sich.

Die Gesellschaft strömte wieder in den Tanzsaal. Das Orchester begann.
Sofort fingen die Paare an zu wirbeln und zu schleifen. Herren in Fräcken
und Kostümen schossen hin und her nach der Tänzerin, Eisenhut kam aus der
Türe und ging geradeswegs auf Adele zu und bat sie mit verstellter Stimme
um einen Tanz. Er trug noch immer die Maske, obgleich jedermann sie schon
längst abgenommen hatte. Adele gab ihm einen Korb und Eisenhut zog sich
zurück. Er blickte noch einigemal um und dreht sich bald darauf am Arm
einer roten Chinesin im Kreise. Nun näherte sich der Bezirksamtmann
Häberlein mit tänzelnden Schritten und sicherer Miene, aber Adele forderte
gleichzeitig Grau auf mit ihr zu tanzen.

»In dem Gewühle ist es ja ganz unmöglich zu erzählen,« sagte sie. »Es
kommen nun gewiß recht merkwürdige Dinge?«

»Ja, merkwürdige Dinge kommen nun.«

Adele lächelte. »Herrlich! Wie spannend das ist! Und nun, bitte!«

Grau tanzte leicht und sicher und Adele lobte ihn mit einem Blicke. »Halten
Sie mich fester!« sagte sie.

Es war eine Masurka. Die Pauken wirbelten, die Geigen wehten, es erschien
Grau als spielten sie etwas vom Frühling und als die Flöten bliesen sah er
förmlich die Blumen aus dem Rasen steigen.

Sie sahen einander an. Aber sie hatten noch keine Runde getanzt, als Adele
inne hielt und erblaßte. Sie stand still. »Ich kann nicht mehr!« sagte sie
leise und heftete die Blicke auf Grau. Sie sah ihn erschrocken, scheu und
erstaunt an, während sie sich mit einem Lächeln entschuldigte.

»Aber was ist Ihnen?« fragte Grau.

»Ich kann nicht tanzen mit Ihnen, es macht mich schwindlig,« sagte Adele.
»Nichts, einen Augenblick nur.« Sie sammelte sich rasch.

»Wie leid es mir tut, Fräulein von Hennenbach.«

Adele schüttelte den Kopf. »Es ist nichts,« sagte sie, »es ist nur so
merkwürdig --« Sie sah Grau an. Sie schwieg lange Zeit und während sie
schwieg, schien sie sich zu verwandeln. Ihre Lippen wurden schmal. Sie
schien zerstreut zu sein.

»Kommen Sie!« sagte sie und ging voran. Grau folgte ihr.

In der Türe kamen sie ins Gedränge und Adele blickte in Graus Augen und
sagte unvermutet: »Sagen Sie mir eines, lieben Sie Susanna wirklich?«

Grau errötete leicht. »Wie?« Dann blickte er Adele erstaunt an. »Gewiß
liebe ich Susanna aufrichtig,« erwiderte er.

Adele lächelte; sie schwieg. Sie streifte Grau wieder mit einem Blicke,
dann raffte sie den Fächer auf und bewegte ihn in der glitzernden Hand. Sie
blickte stolz über alle Köpfe hinweg. Ihr Blick, ihr Gang, ihr Lächeln,
alles hatte sich verändert.

»Wollen Sie nun den Traum zu Ende hören?« fragte Grau.

»Nein, nicht jetzt,« erwiderte Adele höflich. Aber sie sah Grau nicht an.
»Meine Mutter würde sich so sehr freuen, Sie kennen zu lernen,« fügte sie
hinzu, »darf ich Sie bemühen?« Auch ihre Stimme hatte sich verändert.

Grau folgte ihr und dachte darüber nach, was der Anlaß zu ihrer Verstimmung
sein könnte.




Drittes Kapitel


Adele wurde von den Herren, die die Sektbude belagerten, mit lautem Hurra
begrüßt und mit schmeichelhaften Vorwürfen über ihr langes Wegbleiben
überhäuft.

»Hoch, hoch, hurra!« schrieen die Herren und schwenkten die Kelche. Adele
hatte Mühe sich den Weg in den Kiosk zu bahnen.

Im Kiosk bedienten die feinsten Damen der Stadt. Die Frau des
Bezirksamtmannes, Frau Häberlein mit dem porzellanartigen Teint, eine hohe
Blondine, die etwas schielte und eine dicke Jüdin mit weißem mächtigen
Busen. Die Damen hatten alle Hände voll zu tun, Flaschen zu entkorken, die
Kelche zu füllen, zu trinken. Hier herrschte eine ausgelassene, fast wilde
Stimmung und die Herren waren alle angeheitert.

Die Mutter Adeles saß in einem Stuhl, in Spitzen und Seide gehüllt, fein,
durchsichtig, fast selbst nichts andres als Spitzen und Seide, sie hatte
Adeles Augen; der Freiherr von Hennenbach stand in einem Kreise von jungen,
fröhlichen Herren -- es waren die Offiziere von Weinberg -- er war größer
als alle, grau und würdevoll, er rauchte eine große Zigarre und trug einen
mächtigen Siegelring am Zeigefinger. Er hatte Augen wie ein Falke und
änderte nie den Ausdruck des Gesichtes, ob er nun lachte, plauderte oder
zuhörte. Seine Haare waren bis in den Nacken hinab sorgfältig gescheitelt
und sahen aus wie eine schmale, graue Straußenfeder, die kokett über seinen
hohen Schädel gelegt war.

Baron Kirchgang -- Adeles Bräutigam -- war ein schweigsamer, etwas
ärgerlich aussehender Herr, dessen Schläfen ergraut waren. Sein Gesicht war
rot, von verschwommenen Formen, als sei es mit kochendem Wasser verbrüht
worden. Er wechselte einige nichtssagende Worte mit Grau. Als er an den
Schenktisch trat, bemerkte Grau, daß sein linker Arm verkrüppelt war, er
war kürzer als der rechte und lahm.

Grau sah sich unter all den Herren aufmerksam um.

»Ihr Herr Bruder ist nicht da?« fragte er Adele.

»Er ist dagewesen,« antwortete sie ihm, »er sitzt mit seinen Freunden im
ersten Stock irgendwo und spielt. Wollten Sie ihn sprechen?«

»Ich dachte nur,« sagte Grau. »Danke!«

Adele füllte ein Glas und reichte es Grau. Sie stieß mit ihm an und sagte
lächelnd: »Auf das Wohl Ihrer Braut!«

Grau dankte. »Auf Susannas Wohl!«

Adele leerte das Glas und sah Grau einen Augenblick lang tief an. Er
verstand ihren Blick nicht. Adele lachte und wandte sich den Gästen zu. Sie
begann zu lachen und zu plaudern, aber ihre Stimme klang kühl und ihre
Augen blitzten hart. Sie blickte nicht mehr auf Grau, ja sie sah stets an
ihm vorbei, wenn sie dahin blickte, wo er stand. Sie lachte und schien
heiter zu sein, aber ein unruhiger Glanz war in ihren Augen. Nur wenn sie
auf ihre Mutter blickte, die nur Augen für die Tochter hatte, so änderte
sich ihr Blick jedesmal. Mit tiefen, schwärmerischen Augen sah sie die
Mutter an. Dieser Blick verriet alle ihre Liebe.

Gerade in diesem Augenblick näherte sich Eisenhut dem Kiosk. Er bahnte sich
langsam und hartnäckig den Weg. Er zwängte sich zwischen zwei lachenden
Mandarinen hindurch, puffte einen Herrn im Frack in die Seite, dann ging er
um einen dicken Herrn herum, der sich nicht zur Seite drängen ließ. Endlich
stand er am Schanktisch und man konnte seinem Munde ansehen, daß er
zufrieden lächelte. Eine Weile stand er wartend da, die Damen waren alle
beschäftigt. Er reckte den Hals aus dem hohen Stehkragen, bewegte die
Lippen und seine kleinen lebendigen Mausaugen verfolgten durch die Schlitze
der Maske jede Bewegung Adeles. Er räusperte sich, er hustete um sich
bemerkbar zu machen, aber in all dem Getöse hörte man ihn gar nicht,
niemand beachtete ihn.

Nun klopfte Eisenhut auf den Tisch.

Die schwarze Jüdin mit dem vollen weißen Busen wandte sich ihm zu. »Sofort,
sofort, mein schöner Herr!« rief sie. »Willst du eine Flasche, eine ganze
Flasche? Nur zwanzig Mark!«

Eisenhut starrte auf ihren weißen Busen, er lächelte, dann sah er auf Adele
und rief: »Eine ganze Flasche, jawohl. Zwanzig Mark, einerlei.« Er sprach
immerzu mit verstellter, quiekender Stimme.

Da drehte sich Adele rasch um und sagte: »Es ist Herr Eisenhut! Für ihn
geben wir es nicht so billig. Er soll etwas besonderes tun!«

Eisenhut legte den Kopf auf die Seite und lächelte. Aber dann machte er
sich ganz steif und quiekte mit verstellter Stimme: »Sind Sie auch sicher,
daß es Herr Eisenhut ist?«

Adele lachte laut auf. Und alle Umstehenden lachten. Das könne ein Blinder
sehen. Er könne ruhig die Maske abnehmen.

»Maske ab! Maske ab!« schrieen die Herren.

Eisenhut meckerte und nahm langsam die Maske ab. Sein gelbes verlebtes
Gesicht kam zum Vorschein, er lachte, strich sich den Spitzbart und gab
dann allen ringsum schüchtern die Hand. Er verneigte sich auch gegen die
Herren, die um den alten Freiherrn von Hennenbach herum standen. Man schrie
und schüttelte ausgelassen seine Hand. Er ließ die Blicke herumwandern,
zuletzt heftete er seine kleinen entzündeten Augen auf Adele.

»Wie merkwürdig, daß Sie mich sofort erkannt haben!« sagte er. »Guten
Abend, Fräulein von Hennenbach!« Er machte auch einen schüchternen Versuch,
ihr die Hand zu reichen.

Aber Adele sah die Hand nicht. Sie lachte. »Nun will ich Ihnen einschenken,
ich werde es selbst tun, aber Sie müssen ein übriges tun, verstehen Sie, es
gehört für die Armen, das wissen Sie ja. Sie werden für jedes Glas hundert
Mark bezahlen, nicht wahr?«

»Bravo! Bravo!« riefen die Herren.

Eisenhut sah Adele an. Seine Augen wurden glänzend, gleichsam als ob sie
erwachten. Dann lächelte er und zeigte seine schlechten, zerfressenen
Zähne.

»Sie scherzen?« sagte er.

»Scherzen? Nein, ich bin gar nicht in der Laune zu scherzen!«

Er betrachtete Adele, die mit dem Füllen des Glases beschäftigt war. Seine
Augen glänzten, er blickte auf Adeles Haar, ihre glitzernden Hände, ihre
Arme, er lächelte und für einen Augenblick erschien sein Gesicht friedevoll
und schön, seine Wangen färbten sich. Adele füllte sorgfältig das Glas.
Aber je mehr der Wein in dem schlanken Kelche stieg, desto mehr veränderte
sich Eisenhuts Gesicht. Das Lächeln verschwand, der Friede und die
momentane Schönheit, sie verschwanden, die vielen tiefen Linien und Falten
erschienen wieder, die Stirn wurde niedrig, der Mund zog sich zusammen, die
Farbe wurde gelb und alt. Dann wurde sein Gesicht fahl. Adele reichte ihm
das Glas und er sah ihren Augen an, daß sie nicht scherzte.

»Fräulein von Hennenbach?« stotterte er.

Über Adeles weiße Hand floß der Wein, über all die Ringe, die Steine. »Herr
Eisenhut?«

»Hundert Mark? Hundert M--?« fragte Eisenhut leise. »Hundert Mark -- aber
ganz unmöglich?« Er lächelte beklommen.

Alle lachten über den Ausdruck seines Gesichtes, auch Adele.

Eisenhut raffte sich zusammen.

Er knöpfte das unglückliche gelbe Kostüm auf und fuhr hastig in die
Rocktasche. Wie andere Leute eine alte Zeitung herausziehen, so zog er
einen ganzen Pack von Banknoten aus der Tasche.

Gelächter! Ja, da sehe man, daß man es mit einem Millionär zu tun habe,
hoho! Selbst die Offiziere von Weinberg wurden aufmerksam.

»Bitte, Herr Eisenhut!« sagte Adele, da Eisenhut zögerte. »Ich werde sogar
nippen an dem Kelche, aber legen Sie nur das Geld auf den Tisch!« Sie
lachte und nippte am Glase.

Eisenhut fühlte sich unbehaglich. Er blinzelte rasch hintereinander,
lächelte, machte eine wegwerfende Handbewegung und legte einen
Hundertmarkschein auf den Tisch.

»Bravo! Ja, bravo und hoch Eisenhut!«

Eisenhut lächelte. Er nahm das Glas, erhob es gegen Adele und trank es
leer. Er fühlte sich von allen Seiten beobachtet und wurde mehr und mehr
unsicher.

Adele füllte abermals Eisenhuts Glas. Sie lachte und sagte, daß sie wieder
daran nippen werde und er werde wieder hundert Mark dafür bezahlen.

»Wieder?« fragte Eisenhut mit zitternder Stimme.

»Sie werden sich wohl nicht erst lange besinnen, oder? Eine Kleinigkeit wie
hundert Mark! Und noch dazu, wenn ich am Glase nippen werde.«

»Noch mehr?« fragte Eisenhut in ungläubigem Tone. »Hundert Mark für die
Flasche, wie? Man hat sie mir um zwanzig Mark angeboten, vorhin.« Er
deutete auf die Jüdin mit dem hohen Busen.

Haha! Ja, zwanzig Mark für gewöhnliche Menschen, aber für Millionäre da
hätten sie ganz besondere Preise.

Eisenhut blinzelte. Er legte das Gesicht in Falten, drehte den Kopf hin und
her. »Sie scherzt -- Fräulein von Hennenbach scherzt!« sagte er zu der
lachenden Gesellschaft von Herren.

»Ich sagte schon, daß ich nicht scherze. Sehen Sie nicht, daß man sich
schon über Sie lustig macht. Ich verkaufe Ihnen jedes Glas für hundert
Mark, fülle es selbst, nippe daran, ich meine, da sollten Sie sich nicht
lange besinnen.«

Es sei wirklich ein Skandal, es sei eine Schmach und eine Schande! Vorwärts
Eisenhut -- hahaha -- schmeißen Sie den Bettel hin! Die Herren schrien und
lachten und stießen sich gegenseitig an.

Eisenhut kämpfte mit sich. Er sah Adele an, die ihm das Glas kredenzte, ein
Zittern lief durch sein Gesicht, er öffnete den Mund, blinzelte und fuhr
wieder in die Rocktasche.

»Bravo! Hurra!«

Aber Eisenhut zögerte. Warum gerade er solch horrende Summen bezahlen
sollte?

»Weil Sie der reichste Mann der Stadt sind!« antwortete Adele. »Sie nennen
sich ja selbst so bei jeder Gelegenheit und Sie sind es auch.«

»O -- hoho!« versetzte Eisenhut geschmeichelt.

»Wenn man zwölf Steinbrüche hat und den Schrank vollgestopft mit
Wertpapieren, dann kann man doch ruhig solch eine Bagatelle bezahlen!«

Eisenhut streckte den Kopf vor. »Haben Sie denn -- haben Sie denn diesen
Schrank voller Wertpapiere gesehen? frage ich.« Er lächelte eigentümlich
und blickte Adele an.

Adele lachte laut und unnatürlich. »Selbstverständlich habe ich ihn
gesehen. Sie haben mir ihn ja selbst gezeigt. Erinnern Sie sich, als ich in
der Nacht zu Ihnen kam und zehntausend Mark bei Ihnen entlieh?«

Gelächter. Eisenhut starrte mit offenem Munde auf Adele.

»Aber genug nun! Ich habe an dem Glase genippt und sehen Sie her, ich nippe
nochmals daran. Nun, nehmen Sie?«

Eisenhut nahm zögernd das Glas in die Hand. Bravo Eisenhut, hoch, hurra!
Eisenhut, Eisenhut!

Aber Eisenhut trank nicht. Er schnitt Grimassen, er drehte den Hals als sei
ihm der Kragen zu eng, er schwankte hin und her und blickte die
Umstehenden, die lachten, plötzlich mit scharfen, bösen Blicken an.
Gelächter.

»Bitte!« sagte Adele und lachte. »Weshalb zögern Sie denn?«

Hier näherte sich Grau. Er sagte: »Fräulein von Hennenbach?«

Adele wandte ihm den Blick zu. Sie zog die Augen zusammen und sagte:
»Bitte?«

In diesem Augenblick brach eine ungeheure Lachsalve auf Eisenhut ein. Er
hatte die Scheine wieder in die Tasche gesteckt. Ja, er müsse doch ein Narr
sein, ein vollständiger Narr müsse er sein! Hundert Mark für jedes Glas,
die Herren bezahlen eine Mark dafür. Er verlor die Fassung und stellte das
Glas so heftig auf den Tisch zurück, daß es zerbrach und der Wein über das
Tischtuch floß. Eisenhut erschrak, einen Augenblick lang war seine
Nasenspitze schneeweiß. Er bewegte die Lippen um etwas zu sagen, er blickte
verwirrt auf Adele. Adele lachte und alle, alle lachten und stampften mit
den Füßen und schrieen, was sie konnten.

Eisenhut bewegte heftig die Hände. »Bezahlt ihr!« schrie er. »Bezahlt ihr!
Ich bin kein solcher Narr! Ich habe bezahlt, hundert Mark. Bezahlt ihr,
bezahlt ihr!« wiederholte er lauter und wilder, um das Gelächter zu
überschreien. Er beugte sich mit einer verzweifelten Gebärde über den
Tisch, deutete auf das zerbrochene Glas, stotterte, aber er sagte nichts.

Er wandte sich rasch um und entfloh in seinem gelben Kostüm und mit seiner
gelben Mütze, gefolgt von lautem, wildem Gelächter. Er verschwand in der
treibenden Menge.

»Haha! Ein Prachtexemplar, dieser Eisenhut! Haha! Hoch Eisenhut, hurra!«

Im gleichen Augenblick war auch Grau verschwunden, und als Adele zu Baron
Kirchgang blickte, mit dem er zuletzt geplaudert hatte, sah sie seinen
Platz leer. Baron Kirchgang unterdrückte ein Gähnen.

Adele zog die Brauen zusammen und begann mit erneuter Ausgelassenheit zu
scherzen, zu lachen und Sektgläser zu füllen.




Viertes Kapitel


Eisenhut eilte dem Ausgang zu und war plötzlich spurlos verschwunden.
Gleichzeitig wurde Grau von Dr. Nürnberger aufgehalten.

Dr. Nürnberger war ein junger Mann mit schwarzem Scheitel, niedriger Stirn,
goldenem Kneifer; er war im Frack. Seine Manieren waren gewandt, seine
Höflichkeit stets von leichtem Spott begleitet, seine geheuchelte
Unterwürfigkeit abstoßend.

Er nahm den Kneifer ab und verbeugte sich vor Grau.

»Welches Vergnügen, Sie zu sehen!« rief er mit etwas näselnder Stimme aus.

Grau erkundigte sich nach dem Kinde im Waisenhaus. Es gedieh prächtig. »Wie
haben Sie Susanna bei Ihrem letzten Besuche angetroffen, Herr Doktor?«
fragte er dann.

Der Arzt verfolgte ein schönes Mädchen mit den Blicken und erwiderte: »Ja,
was soll ich sagen? Ich habe leider keine Besserung beobachten können. Ich
möchte fast sagen, im Gegenteil, der Zustand der Patientin hat sich
verschlimmert. Der Körper leistet leider gar keinen Widerstand.«

Ob man nicht jetzt daran denken könne, die Kranke nach dem Süden zu
bringen?

»Nein!« Der Arzt schüttelte den Kopf und sandte dem schönen Mädchen, das
zurückkehrte, ein Lächeln zu. »Man hätte es vor einem, zwei Jahren tun
sollen -- jetzt ist nicht daran zu denken. Sie würde die Reise nicht
vertragen. Ich spreche offen, ich könnte die Verantwortung, die Dame jetzt
reisen zu lassen, nicht übernehmen. Später vielleicht, sobald es Frühling
sein wird.« Doktor Nürnberger reichte Grau die Hand. Er lächelte und legte
die niedrige fliehende Stirne in tiefe Falten. Er möchte ihm nicht
leichtfertigerweise Hoffnungen erwecken -- immerhin, im Frühjahr, ja, da
könne man ja Entscheidungen treffen. »Guten Abend. Herzlich gefreut.« Im
Begriffe sich zu entfernen, wandte sich der Arzt, gleichsam überrascht von
einem Einfall, zu Grau zurück und sagte in verändertem Tone: »Vielleicht
darf ich Herrn Grau einladen, mit mir in eine Herrengesellschaft im ersten
Stock zu kommen? Es geht sehr animiert dort zu -- das heißt, vielleicht
ziehen der Herr vor --«

»Sehr liebenswürdig!« sagte Grau. Er sagte sofort zu und zwar mit einem
Eifer, der den Arzt in Verwunderung versetzte. »Gewiß werde ich mich
freuen, ich danke herzlichst, Herr Doktor!«

Sie verließen den Saal und stiegen eine Treppe empor. Grau werde hier die
Intelligenz der Stadt kennen lernen, das heißt, präzis ausgedrückt, alle
Elemente, die auf eine relative Intelligenz Anspruch erheben könnten;
angenehme und gesellige Leute. Nur sei er außerstande, irgendwelche
Verantwortung zu übernehmen, im Falle der Ton nicht gerade jenem eines
Salons entspräche. »Aber, bitte, ich liebe Ungezwungenheit,« sagte Grau. --
»Sie werden gewiß auf Ihre Kosten kommen, wenn Sie Ungezwungenheit lieben.«
-- Sie gingen hin und her in breiten Gängen, die vom Tanzen im Saale
drunten zitterten. Durch ein kleines Fenster konnte Grau hinab in die
chinesische Straße blicken, es war ein hübsches Bild: Die wimmelnde Menge,
die Lampione, der Rauch. Er sah einen Augenblick lang Adele, die gerade ihr
Haar zurechtrückte. Sie wandte merkwürdigerweise im selben Moment den Blick
zu dem kleinen Fenster, sie konnte ihn natürlich nicht sehen.

Sie weiß nicht alles, dachte Grau und ein leiser Schmerz griff an sein
Herz. Er folgte dem Arzte, treppauf, treppab; dieses alte Haus war ein
Labyrinth.

Endlich hörten sie den wüsten Lärm einer Herrengesellschaft und Dr.
Nürnberger verbeugte sich und öffnete eine kleine Türe. Augenblicklich
drang ihnen heiße Luft, Zigarrenrauch, der Geruch von Punsch, Lachen, Rufen
entgegen und ein halbes Dutzend verschwimmender Gesichter wandte sich ihnen
zu.

Grau machte die Augen scharf. Er entdeckte zuerst Eisenhuts Gesicht,
daneben das bleiche schmale Antlitz des jungen Herrn von Hennenbach, auf
dessen Knien die puppenschöne Wirtin saß.

Grau war erstaunt Eisenhut heiter und guter Dinge zu sehen.

Da saß er, eine Zigarre in der einen Hand, in der andern ein Glas, lächelte
und plauderte.

»-- die Stühle sind aus Leder, aus gepreßtem Leder. Ein Löwe in Gold ist
auf die Lehne gepreßt.«

»Ja, aber der Minister, Eisenhut,« unterbrach ihn jemand, »du wolltest doch
von ihm reden?«

»Das Zimmer ist überhaupt ein Saal!« fuhr Eisenhut fort und blinzelte. »Der
Minister rauchte eine Zigarette.«

»Aber was sagte er denn?«

»Er sagte, >Herr Eisenhut, Sie haben also die Steine für die Brücke
geliefert, schön. Ich werde an Sie denken.< Er klopfte mir auf die
Schulter.«

»Also sollst du wohl einen Orden bekommen?«

Eisenhut lächelte. »Was ich bekomme, das weiß ich nicht. Aber er sagte: Ich
werde an dich denken, Eisenhut.«

Haha! »Er duzte dich?« Gelächter.

»Vielleicht hat er auch Sie gesagt, was weiß ich -- seht an!« Er hatte Grau
bemerkt.

Die Herren waren in bunten Kostümen, einige im Frack und einer, Postadjunkt
Kaiser, saß in weißen Hemdärmeln da. Sie spielten Karten. Sie erhoben sich
mit vielem Tumult und warfen einander Blicke zu. Man war nicht sonderlich
erfreut über den Gast, das konnte jeder sehen. Aber die Herren verbeugten
sich höflich.

Grau sah sie mit freundlichen, leuchtenden Augen an. »Ich bedaure unendlich
im Falle ich stören sollte,« jagte er leise und verlegen, »Herr Dr.
Nürnberger hatte die Liebenswürdigkeit mich einzuladen.«

Plötzlich schlug ein dicker Chinese mit einem großen gelben Schirm auf dem
Rücken ein lautes Gelächter auf und einige fielen ein.

»Willkommen, Pfirsichblüte, im Reiche der Mitte!« schrie der dicke Chinese
und machte eine tiefe Verbeugung. Er drückte Grau die Hand und setzte
hinzu: »Im bürgerlichen Leben heiße ich Richter, Professor Richter, Doktor
der Naturwissenschaften.«

Der Arzt schob ihn beiseite. »Erlauben Sie doch, Professor,« sagte er, »und
geben Sie den Herren Gelegenheit ihrer gesellschaftlichen Pflicht zu
genügen. Sie gestatten, die Herren, Herr Grau --«

Er machte Grau mit den Herren bekannt. Da waren Amtsrichter Leutlein, ein
gutmütig aussehender Herr mit blaurasiertem Gesichte und spärlichem
flaumigen Haar auf dem runden Schädel, Rechtspraktikant Schmidt mit
scharfen stechenden Augen, vielen Schmissen, hohem Stehkragen, peinlich
gestriegelt und gebügelt, Redakteur Heinrich, vom »Gauboten«, ein kleiner
Mann mit struppigen schwarzen Haaren, der die Angewohnheit hatte, immer die
Zungenspitze herauszustrecken und heiter auf seinen Bauch herabzulächeln,
Assistent Pechmann, ein langer Mensch mit hellblauen träumerischen Augen,
der junge Freiherr von Hennenbach, ein junger bartloser Lehrer, der so
betrunken war, daß er leichenblaß aussah und die Augen weit aufreißen mußte
um zu sehen.

Die Herren hatten alle ein wenig über den Durst getrunken. Sie lachten
sonderbar, sie verbeugten sich zu tief oder schief, dem Rechtspraktikanten
fiel der Kneifer von der Nase, Redakteur Heinrich setzte sich beinahe neben
den Stuhl, als er sich niederließ. Ihre Augen waren scharf oder
ausdruckslos, die Vorhemden zerknittert, fast jeder hatte irgend etwas
Lächerliches an sich, einen Schmutzflecken, einen emporstehenden
Haarbüschel, die Krawatte war in Unordnung oder das Kostüm so zugeknöpft,
daß oben ein Knopf übrig blieb. Sie rauchten alle und es war solch ein
Rauch im Zimmer, daß man kaum die Wände sah. Sie saßen um einen ovalen
Tisch herum, über dem eine Hängelampe brannte. Auf dem Tisch herrschte ein
wüstes Durcheinander und eine Manschette rollte darauf herum.

»-- Herr Redakteur Heinrich, die Herren kennen sich, Pardon -- auch Herr
Eisenhut wird Ihnen schon persönlich bekannt sein --«

Eisenhut beachtete Grau nicht; er rief: »Spielen, weiter spielen, ich habe
zwei Mark von der Bank gut! Keine unnötigen Pausen, meine Herren!« Er
trommelte auf den Tisch und lachte.

»Er ist in etwas ungenießbarer Stimmung heute, unser Herr Eisenhut,«
entschuldigte ihn der Arzt. »Herr von Hennenbach!«

Die Blicke der beiden tauchten ineinander. Grau lächelte nicht. Er
verbeugte sich zurückhaltend, ja kühl, und Herr von Hennenbach blickte ihn
verblüfft mit seinen grauen Augen an und zuckte mit den Mundwinkeln. Die
schöne Wirtin raffte eilig einige Gläser auf und machte sich aus dem
Zimmer.

»Spielen, weiter spielen! Keine unnötigen Pausen!« wiederholte Eisenhut und
goß Punsch in sein Glas. Seine Hand zitterte und er verschüttete das halbe
Glas, als er es an den Mund führte. »Tante! Du besorgst jetzt die
Sektbowle, auf meine Rechnung! Alles auf meine Rechnung!«

»Ruhe!« rief ihm der dicke Chinese zu. »Einen Augenblick noch, ich nehme
das Spiel sofort wieder auf -- unser verehrter Gast -- geben Sie ein Glas
herüber, Doktor! -- ich darf doch einschenken? -- oder sollten Sie etwa
Abstinenzler sein?«

Grau lächelte. »Nein.« Er nahm Eisenhut gegenüber Platz.

Der dicke Chinese ließ sich an seiner Seite schwer in den Sessel fallen und
mischte die Karten; er hielt den Schirm mit dem runden Schädel, rauchte
eine Zigarre in einer langen Spitze, die er beim Sprechen von einem
Mundwinkel in den andern schob. Sein Gesicht glänzte vor Vergnügen und
Behagen. Er hatte kurzgeschorenes rotes Haar und seine feisten Backen waren
mit goldenschimmernden Bartstoppeln bedeckt. »Fertig!« rief er, und die
Karten schlüpften blitzschnell aus seiner Hand. »Die Bank ist bereit. Herr
Adjunkt Kaiser! Was setzen Sie? Bei allen Teufeln, mehr Aufmerksamkeit,
meine Herren! Einsatz auf den Tisch! Endlich! Herr Großkapitalist Eisenhut?
Sie spielen hoch, das läßt sich sehen, nur keine Knickerei, nur das nicht.
Herr von Hennenbach -- Herr -- von -- Sie wünschen noch eine Karte? Gut.
Die Bank hat acht, acht! Hurra! Alle Gewehre aufs Rathaus -- hahaha!«

Der feiste Chinese stieß ein rasselndes fettes Lachen aus und strich den
Gewinst ein. Alle, außer dem Arzte, hatten verloren und schrien und
fluchten.

Eisenhut lachte und warf dem Chinesen ein Zehnmarkstück zu. »Es ist alles
einerlei!« rief er und trommelte mit den Knöcheln auf den Tisch und
blinzelte.

Der Chinese mischte, während das fette Lachen noch leise in seinem Halse
rasselte und seinen ganzen Körper erschütterte, so daß der Schirm auf
seinem Kopfe tanzte. »Sehen Sie, welch ein Geschäft, verehrter Herr!«
wandte er sich an Grau. »Dreiundzwanzig Mark bei einem einzigen Gang.
Hurra! Darf ich Ihnen vielleicht eine Karte geben? Es ist ein sehr
einfaches und höchst anregendes Spiel, absolut, ich betone, absolut
unschuldig. Bakkarat, ist es Ihnen nicht bekannt? Könige und Damen gleich
Null -- übrigens durch die Praxis lernen Sie am schnellsten. Wollen Sie ein
Spielchen wagen? Höchster Einsatz zwanzig Mark, niederster fünfzig Pfennig
-- staatlich konzessioniertes Spiel -- Gewinn und Verlust gleichen sich
stets aus. Nun?«

Grau lehnte ab. »Ich danke, ich habe kein Geld!« sagte er. »Übrigens macht
es mir großes Vergnügen, zuzusehen, lassen sich die Herren, bitte, gar
nicht stören.«

Er könne auch auf Borg spielen. Nicht?

»Spione vor die Tür!« sagte Eisenhut leise und räusperte sich! »Nicht wahr?
Spione vor die Tür!« wiederholte er und klopfte dem leichenblassen Lehrer
auf den Arm. Der riß die Augen auf und sah ihn verständnislos an.

Das Spiel machte einige Runden. Der Chinese schrie und brüllte und trieb
zur Eile. Am eifrigsten spielte Eisenhut. Er saß da, lächelnd, blinzelnd,
er schrie, fluchte und trank mehr als alle andern. Er war erstaunt, das
Glas immer leer zu finden, goß immerzu ein, schrie nach der Sektbowle! Ja,
Himmel und Hölle: Die Sektbowle! Lustig sein, fröhlich sein! Hier und da
wandte er den Blick auf Grau, der ruhig und heiter dasaß und mit seinen
hellen Augen das Spiel verfolgte. Ihre Blicke begegneten sich dann und
wann, und Eisenhut grub seinen Blick stets messerscharf in Graus Augen,
verzog das Gesicht und wandte sich mit einem leisen inneren Lachen ab. Es
schien, als ob ihn zuweilen ein Schwindelgefühl zu übermannen drohe, er
heftete die Augen auf die Karten und zählte die Points unsicher und falsch.

»Sie werden doch wohl nicht betrügen, Eisenhut!« schrie der Chinese. »Das
ist ja eine Sieben! Oder sind Sie betrunken?«

»Noch nicht, noch nicht!« kicherte Eisenhut. Da fiel ihm die Bank zu und er
begann fieberhaft zu spielen. Nun schien nichts mehr für ihn vorhanden zu
sein als dieser Tisch, der von verschüttetem Punsche tropfte und mit Asche
und Zigarrenresten bedeckt war. Er beugte das Gesicht bis auf die
Tischdecke herab, gab die Karten, mischte und ließ seine kleinen
glitzernden Augen im Kreise wandern. Er lachte, wenn er gewann, und er
lachte, wenn er verlor. Ja, er schien es darauf anzulegen zu verlieren. Er
sah nichts mehr als die Hände, die nach den Karten griffen, Geld hin und
her schoben, alle diese verknitterten, beschmutzten Manschetten, die Haare
auf den Händen des Amtsrichters und den silbernen Armreif, den Herr von
Hennenbach trug.

Nur zuweilen atmete er tief auf, schüttelte den Kopf, starrte vor sich hin,
um sofort wieder das fieberhafte Wesen anzunehmen.

Herr von Hennenbach verlor. Grau sah, wie die Röte aus seinen Wangen wich
und verstärkt wiederkehrte, als ihm plötzlich ein hoher Gewinn zufiel, um
wieder langsam zu verschwinden, da zwei, drei erfolglose Einsätze den
Gewinn zerstreuten. Er legte sich in den Stuhl zurück und suchte hastig in
allen Westentaschen. Dann beugte er sich zu Eisenhut und flüsterte ihm ins
Ohr. Aber Eisenhut meckerte, sah ihn mit einem schnellen haßerfüllten
Blicke an und schrie: »Ich gebe nichts mehr!« Darauf erhob sich Herr von
Hennenbach und sagte: »Ich habe dich leise gefragt, du hast mir leise zu
antworten!«

»Ich tue, was ich will!« erwiderte blinzelnd Eisenhut und mischte rasend
die Karten.

Herr von Hennenbach schnalzte mit der Zunge. »Ich bin bankerott!« sagte er
und verließ das Zimmer.

»Auf das Wohl Bismarcks, des Deutschen Reiches großen Baumeister!« lallte
Redakteur Heinrich und lud mit einem Schmunzeln das Glas auf dem Tische
ein, ihm in die Hand zu laufen. Er gab sich einen Ruck und ergriff das
Glas. »Auf das Wohl des Alten aus dem deutschen Eichenwalde, Ritter ohne
Furcht und Tadel, des Deutschen Reiches eiserner Kanzler, Barbarossas
Erwecker -- alles hoch, hoch!«

Der Adjunkt in Hemdärmeln lachte. »Schreibe den Festbericht für dein
Käsblatt und halte das Maul!« sagte er.

»Hoch das Deutsche Reich, das Vaterland, hoch der deutsche Dichterwald und
die Armee, die den Franzmann schlug! Alles hoch!« fuhr der Redakteur
schmunzelnd fort und plötzlich stand er auf und stand mit der Zungenspitze
zwischen den Zähnen, das Glas in der Hand, da. »Hochverehrte
Festversammlung, meine Herren und Damen, Festgäste --«

»Keine Reden! Um Gottes willen!«

»-- der einzige Mann, sage ich, der die Lage überblickt hat, fahre ich
fort, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind, ein einig Volk, die erste
Nation der Erde, bei deren Namen Klange die Erde erzittert -- meine Herren!
-- Wir Deutschen fürchten Gott und sonst niemand in der Welt --« er sank
auf den Stuhl zurück.

»Was setzen Sie?« schrie Eisenhut und schlug auf den Tisch, daß das Geld in
die Höhe sprang.

»Meine Damen und Herren -- fünfzig Pfennig -- hoch die Fahne, sage ich,
hoch! zum Kampfe gegen die rote und schwarze Gefahr, die des Reiches
Wappenschild --«

»Schließen Sie endlich gefälligst die Klappe!« sagte der dicke Chinese und
lachte rasselnd. »Ihr Geschwätz versteht ja kein Teufel und gehen Sie in
die Hölle mit Ihrer Politik, Verehrter -- noch eine Karte Eisenhut, neun!
-- Doktor, vergessen Sie nicht unserm Gast einzuschenken --«

Der Redakteur fuhr flüsternd fort: »Laut statistischer Ziffern sind wir die
stärkste Heeresmacht in Europa -- ich fordere die Herren auf --«

»Sie langweilen unsern Gast!«

»Er ist unser!« schrie der Redakteur und erhob das Glas gegen Grau. »Er ist
unser, eine Stütze, ein Kämpe! Ja, wir müssen Brüderschaft trinken,
unbedingt, eine Seele und ein Geist, der in uns lodert -- wir sind im
herrlichsten Fahrwasser mit unserer Politik. Die letzten Ergebnisse -- was
meinen Sie? Nicht, daß schon alles getan wäre -- aber das Fahrwasser, das
Fahrwasser, wie?«

»Ich bin leider nicht imstande, die gegenwärtige Lage zu überblicken,«
sagte Grau.

»Oh! Sofort --«

»Gehen Sie in die Hölle! sage ich, mit Ihrer Politik!« schrie Professor
Richter und schlug auf den Tisch. »Politisch Lied, ein garstig Lied! Es ist
uns ja alles einerlei, der ganze Mumpitz ist uns schnuppe -- schließen Sie
ab! Lassen Sie sich, Herr Grau, um Gottes willen in kein Gespräch mit ihm
ein, er tötet Sie, er tötet Sie buchstäblich.«

Aber der Redakteur mit den wilden Dichterhaaren gab sich nicht zufrieden.
»Es ist die Begeisterung, die aus mir spricht!« rief er aus. »Echte
deutsche Mannesbegeisterung. Man muß die Turn- und Kriegervereine
unterstützen. Ein starkes Volk, ein Volk von Helden -- nieder mit den
Sozialdemokraten, mit diesen schmutzigen Kerlen!«

»Warum nennen Sie sie schmutzig?« fragte Grau leise lächelnd.

»Warum?« Ob er schon einen von diesen Dreckhammeln mit sauberen Händen und
einem reinen Kragen gesehen habe? »Sie sind dreckig und unzufrieden und
faul und trinken Schnaps und sie wollen, daß wir Jauche pumpen und die
Straßen kehren! Ja, warum lachen Sie da, Sie lachen doch, Herr Grau, oder
täusche ich mich?«

»Ja, ich mußte lachen, entschuldigen Sie,« sagte Grau.

»Sie stimmen mir also nicht bei?«

Grau lächelte. »Sie sprechen ja nicht im Ernste.«

»Im Ernste? Ich? Redakteur Heinrich?«

»Dann sind Sie nicht gerecht!« sagte Grau.

»Gerecht? Ich? Der Herr behaupten -- eiei!« Der Redakteur lachte belustigt.

»Nun ja,« begann Grau, »diese Sozialdemokraten sind doch zumeist Arbeiter.
Sie arbeiten für uns, sie bringen Geld ins Land --«

Der Redakteur steckte die Zungenspitze heraus. »Aber dafür bezahlt man ja
diese Kerle!« schrie er, Grau ins Wort fallend.

»Dann gebe ich mich zufrieden,« sagte Grau. »Wenn man sie nur bezahlt und
auch sonst menschlich behandelt --«

Redakteur Heinrich rückte näher. »Also sind wir einig, nicht wahr, wir sind
einig, haben uns wiederum gefunden! Hoch! Prosit! Sie sagen, Sie sind nicht
imstande die Situation zu überblicken? Ich werde mir erlauben -- Nummer
eins, Nummer zwei und drei -- nieder mit der Sozialdemokratie, die mit
schmutzigen Händen die heiligsten Güter der Nation betastet -- Nummer eins
-- man bezahlt sie und fertig damit, fort mit dem Gesindel -- Nummer eins,
sage ich, Nummer zwei -- nieder mit den Juden, die das germanische Blut
saugen -- Sie lächeln, ja bitte, darf ich bitten -- Sie lächeln -- nun, ich
denke Sie sind ja doch kein Jude, nicht wahr -- oder? -- hier, Herr Doktor
Nürnberger, er ist Jude -- aber er ist Antisemit -- wie jeder gebildete
anständige Jude, den der deutsche Geist bestrahlt hat -- kurz und gut --
ich spreche wie ein echter deutscher Mann spricht -- Nummer drei, vier und
fünf -- nieder mit den Ultramontanen, die deutsches Geld nach Rom schleppen
und die Tugend unserer Frauen und Töchter gefährden -- Sie lächeln? Ist es
etwa nicht wahr? Ja, mein Gott, ich wage es ja nicht, die Kirche, welche es
auch sei -- denn ich bin ja tolerant -- mit meinem kleinen Finger
anzutasten -- Kirche und Thron -- prosit! -- hoch! -- aber der Ultramon --
Ultramon --«

Er quälte sich ab, das Wort auszusprechen, aber zur großen Heiterkeit aller
brachte er es nicht fertig.

»Ultramon --«

Der Chinese lachte laut heraus. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt, lassen Sie
sich in kein Gespräch mit ihm ein. Er ist ein prächtiger Mensch, unser
Redakteur Heinrich, aber sobald er ins Reden kommt wird er ungenießbar. Nun
ist ihm Gott sei Dank ein Wort im Halse stecken geblieben. Er hat sich auf
Sie geworfen, weil er mit uns kein Geschäft mit seinen Phrasen machen kann.
Wir sind gar nicht für Politik, wir kümmern uns um nichts. Was liegt uns
daran, was sie mit dem ganzen heiligen Bierstaat machen? Frage ich Sie? Hol
mich der Teufel, nichts! Wir bezahlen unsere Steuern, weil wir müssen,
fertig damit. Mögen sie da droben wirtschaften, wie sie wollen, das geht
uns ja nichts an. Wie beliebt? Sagten Sie etwas? Nun, haben Sie keine
Angst, welcher Partei Sie angehören, das weiß ich nicht, ich bekümmere mich
auch nicht darum. Frei sind wir, frei, keine Parteifanatiker, wir tun
unsere Arbeit, man bezahlt uns, fertig. Wir leben, wir sind Menschen.
Partei ist Unsinn -- wir alle hier sind Individualitäten -- Aristokraten,
basta! Ich setzte drei Mark, Eisenhut. Habe fünf!«

»Wie sagten Sie?« fragte Grau, als ob er nicht gehört hätte.

»Ultramontanismus! Ultramontanismus!« schrie laut triumphierend der
Redakteur. Er hatte das Wort vor sich auf den Tisch geschrieben.

Der Chinese beugte sich zu Grau. »Individualitäten, Aristokraten, sagte
ich, sind wir. Gehören zu keiner Partei. Wir alle, wie Sie uns hier sehen,
und auch Sie, Herr Grau -- wenn ich Sie recht kenne, nach all dem, was ich
von Ihnen gehört habe -- auch Sie sind Aristokrat und Individualität! Auf
Ihre Gesundheit!«

Grau lächelte und schüttelte den Kopf. »Auf Ihr Wohlsein!« sagte er. »Ich
danke Ihnen für Ihre gute Meinung, aber Sie überschätzen mich ganz
ungeheuer. Ich bin kein Aristokrat, bei Gott, nein, noch lange nicht! Ich
würde es auch nicht wagen, mich eine Individualität zu nennen. Ich bin noch
weit entfernt davon, zu jung, zu wenig reif; ich danke Ihnen vielmals, aber
eine Individualität -- sehr schmeichelhaft, allein --«

»Ha!« schrie der Redakteur. »Prosit, Herr Grau! Ultramontanismus,
Ultramontanismus, Prosit!«

»Aber?« sagte der fette glänzende Chinese gedehnt und sah Grau mit den
kleinen Augen an, die schimmernd in den fetten Backen schwammen. »Ich
dachte --«

»Keine Gespräche, Professor,« unterbrach ihn Dr. Nürnberger. »Keine
Gespräche. Es nimmt kein Ende und kommt nichts dabei heraus zum Schlusse.
Spielen Sie!«

»Ich spiele ja! Sehen Sie denn nicht, daß ich ganz verzweifelt spiele. Ah!
wo bleibt denn deine Bowle, Eisenhut, machst immer ein großes Geschrei! --
Sie sind ja zu bescheiden, verehrtester Herr,« wandte er sich an Grau.
»Nun, Sie können sich nennen wie Sie wollen, aber wir hier sind alle
Individualitäten und Aristokraten.«

Er beschrieb mit der Hand einen Bogen, der die ganze Gesellschaft
einschloß. Dann erhob er das Glas und fügte hinzu: »Und nun lassen Sie uns
ein Glas auf unsere Zeit leeren, die Zeit der Aufklärung!«

Redakteur Heinrich schrieb eifrig an seinem Festbericht für den »Gauboten«,
er kritzelte mit dem Bleistift einige Briefbogen voll, spielte dabei und
horchte noch dazu immer mit einem Ohre auf das Gespräch an seiner Seite.
Sobald jemand prosit sagte, schrie er ebenfalls prosit, und als er etwas
von Aufklärung hörte, sprang er auf und schwenkte das Glas. »Aufklärung in
Stadt und Land, prosit!« schrie er.

»Nun?« sagte der dicke Chinese zu Grau. »Sie trinken nicht, Sie scheinen
nicht einverstanden zu sein mit mir?«

»Gewiß, ich trinke,« sagte Grau. »Mein Glas ist leer -- danke, Herr
Doktor!«

Ob er nicht selbst sagen müsse, daß es eine Freude sei, in dieser, gerade
in dieser Zeit zu leben: Eine Zeit der Entdeckungen, der horrendesten
Entdeckungen, Erfindungen, eine Zeit der Ideen, ja zum Teufel, -- einer
gesegneten Zeit der Aufklärung, Abklärung und Erklärung, einer Zeit der
Befreiung des Menschengeistes, einer neuen Zeit.

»Gewiß eine hochinteressante Epoche!« warf Dr. Nürnberger ein. »Das
Mittelalter liegt weit hinter uns!«

Eine Zeit der Wissenschaft, der Sieg der Naturwissenschaften über den
Aberglauben, Chemie, Physik hoch! Wie beliebt?

Grau lächelte. »Gewiß, eine hochinteressante Epoche!« sagte er.

Der Chinese sah ihn an. »Aber?«

»Wieso denn: Aber?«

»Sie akzeptieren also unsere Zeit ohne jeglichen Widerspruch, Herr Grau?«
sagte Dr. Nürnberger mit feinem ironischem Lächeln.

Die Herren verbargen ihm nicht, daß er sich in grellem Kontrast zu seinen
öffentlichen Äußerungen befände.

Grau lächelte fein. »Ich akzeptiere unsere Zeit als eine hochinteressante
Epoche, meine Herren,« erwiderte er, »ohne ihr jedoch in allem zuzustimmen
--«

»Ah -- haha! Nun lassen Sie, bitte, hören!« fiel ihm der Chinese ins Wort.

Grau sah ihn an, dann fuhr er fort: »Auf jeden Fall ist es mir unmöglich,
Ihre kritiklose Begeisterung zu teilen, meine Herren. Ich wiederhole
nochmals, die Epoche ist hochinteressant, trotzdem kann ich nicht in
Entzücken geraten über unsere Zeit. Vielleicht verstehe ich die Zeit nicht
recht, aber ich darf wohl meine Meinung sagen, nicht wahr? Sie sagen, wir
hätten das Mittelalter hinter uns, ich glaube das nicht, ich glaube es
nicht ganz.«

»Wie? Aber --«

»Lassen Sie Herrn Grau reden, Herr Professor!«

»Nein, ich glaube es nicht ganz. Sondern ich glaube, daß wir in vieler
Beziehung tief im Mittelalter stecken. Die Welt ist etwas reinlicher
geworden, ja, das ist gut, wir haben Bahnen und Schnelldampfer, auch das
ist ganz hübsch, wir haben eine Menge neuer Dinge, aber sind es
wesentliche, wertvolle Dinge? Ich sage nein. Entschuldigen Sie, es ist
meine bescheidene Ansicht. Sie erlauben doch, nicht wahr? Es kommt mir so
vor, wenn ich es sagen darf, ich blicke auf unsere Justiz, auf unsere
sozialen Verhältnisse, die Stellung der Frau, auf eine Menge Dinge. Das
Beil hängt noch über ganz Europa, ach, ich brauche mich ja nicht auf
Einzelheiten einzulassen, es gibt keine Leibeigenen mehr, nein, auf dem
Papier existieren sie nicht mehr, aber es gibt Millionen Sklaven des
Kapitalismus, wir haben das alte Kastenwesen, privilegierte Stände -- und
selbst die aufgeklärten und vornehmen Menschen, die meisten wenigstens, die
ich kenne -- treten die Privilegien des Standes an, in dem sie geboren
sind, ohne weiter darüber nachzudenken. Die gleichen, nahezu die gleichen
Ideen regieren -- mit dem einen Unterschied, daß sie jetzt hohle Formen
geworden sind, während sie früher wirkliche Kräfte waren. Kurz und gut, ich
könnte Ihnen hunderte von Dingen aufzählen, die um kein Haar anders sind
als sie im Mittelalter waren -- vielleicht sehen sie etwas anders aus und
vielleicht sehen wir sie anders, weil wir dicht vor ihnen stehen. Aber --
und nun hören Sie -- ich glaube, es ist ja nur meine Ansicht -- eines haben
wir verloren: Die Überzeugung, die das Mittelalter besaß, die Tiefe, den
ganzen Mystizismus, die wilde und schöne Atmosphäre. Ja, Sie lachen, Gott,
wie gesund und gut Sie lachen können, das freut mich, Sie sind ein guter
Mensch, lachen Sie ruhig, es ist ja nur meine Ansicht. Sie sprechen von
unserer Zeit, nicht wahr, vor hundert oder achtzig Jahren sah es viel
besser in der Welt aus glaube ich, besonders in Deutschland.«

»Halten Sie ein!« unterbrach ihn der Chinese. »Entschuldigen Sie, daß ich
Sie unterbreche: Nehmen Sie mir auch mein Lachen nicht übel. Ich lache und
wir alle sind ja in guter Stimmung, hurra, hoch! Ja, wir sind alle gut
aufgelegt. Eisenhut könnte die Bank nach und nach abgeben, er wird
langweilig mit der Zeit! Wir brauchen -- ja, was sagen Sie doch -- tiefe
Überzeugung, Mystizismus -- ja, gehen Sie doch in die Hölle damit -- Sie
verzeihen meine starken Ausdrücke, es ist die Stimmung --«

»Bitte, bitte!« sagte Grau lächelnd. »Ich verstehe sehr wohl --«

»Wir sind ja gerade froh, daß wir all das los haben, Hochwürden! Es macht
mir Freude, Ihnen zuzuhören, mit Ihnen zu sprechen, aber was sagten Sie
doch alles? Es scheint mir doch, daß Sie den modernen Zeitgeist wenig
spüren und ein bißchen altmodisch sind, Herr Grau, hahaha!«

Grau lächelte. Er könne recht haben, vielleicht sei er ein wenig
altmodisch. Mindestens sei er sehr langsam, sehr schwerfällig. Aber wenn
Herr Professor sich etwas Mühe gäbe.

Professor Richter räusperte sich und nahm einen tiefen Schluck. »Wir sind
moderne Menschen, mein Freund,« sagte er. »Modern bis auf die Knochen. Ein
moderner Mensch, haben Sie eine Vorstellung von einem modernen Menschen?
Ich will es Ihnen sagen. Ein moderner Mensch, das ist ein Mensch dieser
Zeit der Aufklärung, ein freidenkender, toleranter Mensch, dem es ganz
einerlei ist, was der andere tut, er kann tun und lassen, was er will und
soll schauen, daß er zurecht kommt, ein Mensch ohne Aberglaube und
utopistische Träume und schwächliche Ideale, ein Mensch mit einem gesunden
Egoismus und einer gesunden Sinnlichkeit, ein Mensch, der sich nicht schämt
ein Mensch zu sein -- bei allen Teufeln in der Hölle -- eben ein Mensch mit
gesunden Sinnen und kein Phantast, kein Mönch, kein Spießbürger -- sondern
ein Einzelwesen, ein Individuum -- ja, zum Henker -- das ist der moderne
Mensch. Ich habe mich wohl deutlich genug ausgedrückt, wie?«

»Danke, ja!« Grau sah den Chinesen an. »Lassen Sie mir etwas Zeit, ich muß
all das überlegen. Ich denke sehr langsam, das ist es. Als ich jung war,
fiel mir einmal eine Leiter auf den Kopf und seitdem muß ich langsam
denken.«

»Die Leiter hat Ihnen doch weiter nicht geschadet, wie?«

»Nein, ich glaube nicht.« Grau lächelte.

»Sie kennen Lombroso, nicht? So ein Anstoß von außen her kann zuweilen ein
ganz gutes Resultat haben. Übrigens auf Ihr Wohlsein! Ich habe Sie vorhin
unterbrochen.«

Grau lächelte und stieß mit dem Chinesen und Dr. Nürnberger an. »Es ist
sehr angenehm in dieser Gesellschaft!« sagte er. »Ich danke Ihnen nochmals,
Herr Doktor, daß Sie die Freundlichkeit besaßen mich einzuführen. Sie haben
mir erklärt was der moderne Mensch ist, Herr Professor. Erlauben Sie mir
nun eine Frage, ich verstehe manches nicht. Zum Beispiel: Gesunder Egoismus
und gesunde Sinnlichkeit, das sind ebenfalls solche Worte, die ich überall
höre, ohne mir viel darunter vorstellen zu können. Ja, bei Gott, ich muß in
Wirklichkeit ein altmodischer Mensch sein -- haha -- Sie haben am Ende doch
recht -- denn ich wünsche mir den Menschen gerade mit recht viel Träumen
und Idealen -- sie brauchen ja nicht schwächlich zu sein, da haben Sie
recht, wenn sie nur hoch sind! -- mit recht vielen Träumen und Idealen
sagte ich, auch Phantast kann er sein, weshalb nicht? Welche Rechte hat Ihr
moderner Mensch?«

»Er tut, was er will!«

»Was er will?« sagte Grau leise und erstaunt. »Nun, aber er hat doch wohl
Pflichten, Verantwortung --«

Der Chinese lachte. »Faule Fische! Er tut, was er will und jeder tut, was
er will. Pflichten und Verantwortung, das sind ganz ekelhaft abgestandene
Begriffe --«

Hm. Grau dachte nach. Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Sie mögen recht
haben, daß ich ein altmodischer Mensch bin, aber ich glaube nicht, daß der
moderne Mensch so ist, wie Sie ihn beschreiben. Der moderne Mensch fühlt
sich im Gegenteil mehr durchdrungen vom Gefühle der Verantwortung als der
Mensch irgend einer andern Epoche. Oft scheint es als ob in ihm erst jenes
Gefühl richtig erwacht sei.«

Der Arzt unterbrach ihn.

Man müsse ja nur den Mut und die Ehrlichkeit haben die Wahrheit zu sehen
und zu sagen, warf er ein. Ein Blick in die Natur genüge, um jeden zu
überzeugen, daß das Prinzip des Egoismus überall regiere. Ebenso im
Menschen. Man fange an, das zu erkennen und --

»Erlauben Sie,« sagte Grau, »das hat man schon vor Tausenden von Jahren
erkannt. Es springt ja in die Augen und ist das Natürlichste. Aber seit
Tausenden von Jahren haben sich nun die Weisen mit diesen Problemen
beschäftigt, über Recht und Pflicht, den Einzelnen und die Gesamtheit, über
Tugend und Laster -- sie haben darüber nachgedacht, haben sich die Köpfe
zerbrochen -- die Allerweisesten der Menschen -- ich bin ja ein Nichts im
Verhältnis zu diesen Köpfen -- aber mir erscheint nichts lächerlicher und
kleinlicher als der Egoismus.«

In diesem Augenblick wurde die Sektbowle von der schönen Wirtin
hereingetragen und mit lautem Hallo begrüßt. Der Redakteur ließ seinen
Festbericht im Stiche und führte einen indianischen Tanz auf. Eisenhut
pfiff auf einem Schlüssel und der Adjunkt segnete die Bowle mit feierlichen
Gebärden. Herr von Hennenbach kam mit der schönen Wirtin herein und faßte
sie um die Hüfte. Der leichenblasse Lehrer schlief in der Sofaecke, er
erwachte bei dem Geschrei, blickte auf die Bowle, machte eine abwehrende
Handbewegung und schlief weiter.

Die Bowle brachte neues Leben in die Gesellschaft. Man sang einen
Rundgesang und stürzte sich dann mit neuem Eifer auf das Spiel. Eisenhut
hielt noch immer die Bank. Er sah bleicher und erregter aus, schrie und
lachte mehr als alle. Zuweilen lauschte er gegen die Türe, wenn die Musik
hereindrang, dann bellte er, trommelte und sprach sinnloses Zeug.

»Ich werde jetzt mein Kostüm ausziehen!« schrie er.

»Du bist ein Chinese auch ohne Kostüm!« sagte der Adjunkt und der Witz fand
großen Beifall.

»Vorsicht!« sagte Eisenhut böse und deutete mit dem Zeigefinger auf den
Adjunkten, aber augenblicklich lachte er wieder heiter.

Herr von Hennenbach nahm wieder am Spiele teil. Es schien als ob das Glück
sich ihm zuwende. Er strich sich aufgeregt das schwarze, glänzende Haar aus
der bleichen hohen Stirne und lachte.

»Es beginnt!« rief er. »Nur los, Eisenhut! Ich brauche Geld! Noch eine
Karte, wenn ich bitten darf. Ich setze zehn Mark!«

Aber er verlor, und obgleich Eisenhut unvorsichtig spielte, verlor der
Freiherr fortwährend. Er wurde noch aufgeregter und erbleichte mehr und
mehr. Er setzte nun stets zwanzig Mark.

»Zum Teufel!« schrie er und lachte nervös.

Dann aber gewann er. Er gewann fünf-, sechsmal nacheinander und gebärdete
sich laut vor Freude. »Endlich wendet sich das Blatt! Prosit, prosit
allerseits!«

»Die Bank hat acht!« rief Eisenhut.

»Neun!« schrie Herr von Hennenbach und schlug auf den Tisch.

Eisenhut sah ihn an und lächelte hämisch. »Sehen lassen!« sagte er.

Es waren nur sechs Points.

Freiherr von Hennenbach stand auf und stieß den Stuhl zurück und
erbleichte. »Ich habe doch gezählt und gezählt!« rief er. »Sehe ich nicht
recht? Das ist ja eine Figur -- aber das ist ja zum Teufelholen -- bin ich
denn bezecht?«

Eisenhut meckerte. »Du hast dich getäuscht, Kurt -- setze dich -- getäuscht
hast du dich, das kann vorkommen.«

Rechtspraktikant Schmidt aber sagte scharf: »Man muß eben acht geben!«

»Wie beliebt, Herr Grau? Wir haben die Telegraphie, das Telephon,
Bogenlampen, Blitzzüge, die Röntgenstrahlen -- all das hat unsere Zeit
geschaffen. Imponiert Ihnen das nicht ein wenig? Kinematograph, Phonograph,
ja, was haben wir doch alles. Die eminente Entwickelung der
Naturwissenschaften.«

Herr Grau möge sich auch an die Errungenschaften der modernen Physiologie,
Bakteriologie, Chirurgie erinnern, bemerkte der Arzt.

Grau lächelte. »Ich sagte schon, daß das alles ganz groß ist,« sagte er,
»all diese Erfindungen, von denen Sie sprechen, wunderbar! Ich lege Ihnen
sogar noch einen tieferen Sinn bei -- sie sind in gewissem Sinne
Offenbarungen -- Verzeihung, ich spreche im vollen Ernste, meine Herren --
aber --«

»Aber?«

»-- trotz ihrer Größe und Wichtigkeit und Tiefe sind sie alle zusammen noch
nicht imstande eine Kultur zu bilden. So groß sie sind, sind sie doch kein
wesentlicher kultureller Faktor. Ich nehme an, ja, zum Beispiel, ein
einziger Psalm von Salomo ist weitaus mehr wert als alle Fernsprechapparate
und Dynamomaschinen zusammen --«

»Allen schuldigen Respekt vor Ihrem Salomo, aber --«

»Wir können ja auch sagen: Ein Gedicht von Heine, eine Kantate von Bach,
ein Beethovenscher Akkord, ein Gedanke von Plato oder Goethe, wie Sie
wollen.«

»Pardon,« unterbrach ihn der Arzt, »glauben Herr Grau vielleicht, daß ein
Goethescher Gedanke, um nur eines herauszugreifen, kulturell höher zu
werten ist als zum Beispiel die Erfindung des Serums gegen die Tollwut oder
die Entdeckung des Cholerabazillus?«

Grau sah ihn erstaunt an. »Aber natürlich!« sagte er lächelnd. »Wir
sprechen ja von Kulturwerten, nicht wahr?«

Hm!

Aber mit einem Serum könne man doch Tausende von Menschen heilen und ihr
Leben retten?

Grau lächelte. »Haben Sie damit schon etwas zur Kultur beigetragen, Herr
Doktor?«

»Hahaha!« lachte der dicke Chinese und zog seine Karten auf.

Hier geschah es, daß Herr von Hennenbach auf Grau blickte. Wiederum ruhten
die Blicke der beiden eine Weile merkwürdig fragend und suchend ineinander.
Grau blickte den Freiherrn lange an. Und es war eigentümlich, der junge
Mann erbleichte unter Graus Blick. Er erbleichte ganz langsam. Er wandte
die Augen ab, um Grau sofort wieder anzusehen. Er legte die Karten auf den
Tisch, starrte Grau an und drehte mechanisch den silbernen Reif um das
Handgelenk. Dann gab er sich einen Ruck, verzog den Mund und griff nach
seinem Glase und erhob es gegen Grau.

»Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!« sagte er und lächelte.

Grau rührte sich nicht. Es war ein solcher Lärm, daß der Freiherr annahm
Grau habe nicht gehört. Er wiederholte: »Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!«

Sah Grau nicht? Hörte er nicht? Er blickte ruhig und ohne eine Miene zu
bewegen auf den jungen Mann.

»Auf Ihre Gesundheit, Herr!«

Grau sah und hörte nicht.

»Das ist doch unerhört!« stammelte der Freiherr und erbleichte.

Niemand hatte dem Vorfall Beachtung geschenkt.

Professor Richter rückte näher an Grau heran, so daß jetzt Grau ebenfalls
unter den gelben chinesischen Schirm zu sitzen kam.

»Also unsere Zeit findet keine Gnade vor Ihren Augen? Seht an, seht an!«
begann er von neuem.

Grau antwortete nicht zugleich. Er war müde von dem ewigen Geschwätz,
übrigens beschäftigten ihn auch andere Gedanken, gerade jetzt.

»Bitte?« sagte er. Er lächelte. »Gerade vor meinen Augen? Ich bin ja nicht
befugt, zu urteilen und zu richten. Aber wenn Sie mich fragen, so kann ich
wohl antworten, daß ich nicht ganz zufrieden bin. Man arbeitet, man sucht,
ja, gut, ich müßte ein Tor sein, wollte ich das leugnen, unsere Zeit
bereitet gewiß eine andere vor, die einen höheren Wert besitzt. Wie es
gegenwärtig aussieht -- nein, ich kann nicht zufrieden sein. Ganz und gar
nicht. Vielleicht hat es noch nie eine Kultur gegeben, die so tief stand
wie die Kultur unserer Zeit. Sie lächeln? Ja, erlauben Sie mir, so scheint
es mir. Andere Zeiten und Völker hatten ja nicht die grandiosen
Kulturvorbilder wie wir sie haben. Trotzdem. Eine gewaltige Bewegung, ein
Rausch, eine Begeisterung, Ideale? Nun? Wo sind sie? In Europa? Der Träger
der Kultur ist meines Erachtens in unserer Zeit nicht Europa. Auch das
belustigt Sie? Ich äußere meine Ansicht selbst auf die Gefahr hin, daß ich
mich vor den Herren lächerlich mache und immer mehr und mehr altmodisch
erscheine. Es ist doch ein Gespräch, nicht wahr? Was weiter? Ja, so scheint
es mir. Europa ist sicherlich das reinlichste und zivilisierteste Stück
Erde, natürlich. Große Gefühlsströmungen -- wir haben das Mittelalter
gehabt, mit einem großen Rausch, Sehnsucht nach Erlösung, Befreiung, wie
haben doch die Menschen damals gefühlt? Ich weiß, daß Sie den Mönchen
gegenüber nicht freundschaftlich gesinnt sind -- aber der Gedanke des
Mönchtums war doch tief. Oder? Ich weiß, daß man allgemein den Gedanken
kurzerhand abtut -- aber wenn man nachdenkt? Er ist doch tief. Die Märtyrer
-- die Fakire und Derwische -- zu welchen Taten sind sie fähig gewesen, und
die Fakire vollbringen heute noch die unglaublichsten Dinge. Was ist
Gefühl, was ist Mysterium, Wunder, Tiefe? Freundschaft, Liebe? Religiöses
Empfinden? Sehen Sie sich um? Nun, gewiß, ich erscheine Ihnen vielleicht
altmodisch, weil ich mich danach umsehe. Übrigens weiß ich wohl, daß all
das noch existiert, aber nicht als Bewegung, als allgemeine Empfindung. Wir
haben viel Anerkennungswertes in unseren Tagen, aber wissen Sie, woran es
uns vor allem fehlt?«

»Bitte?«

»An seltenen Tugenden, großen Gefühlen und außerordentlichen
Eigenschaften.«

»Hahaha. Fahren Sie fort! Auf das Wohl der Fakire und heulenden Derwische!«

Grau erhob das Glas. »Auf ihr Wohl!« sagte er. Und er fuhr fort: »Wir haben
in unserer Zeit eine Art von Bequemlichkeit, die mir bedenklich erscheint.
Wenn ich richtig beobachte, so ist man im allgemeinen geneigt sich ohne
jegliches tiefere Nachdenken den ärmlichsten und trivialsten
Lebensanschauungen anzuschließen -- zum Beispiel dem Materialismus,
Atheismus und so weiter. Und wissen Sie warum? Weil es so einfach, so
nüchtern ist, weil man nicht zu denken braucht und weil diese Anschauungen
so gar keine Anforderungen stellen. Das erscheint mir so ärmlich und
trivial und das ganze Leben ist so geworden, selbst die Literatur, sehen
Sie sich die Literatur an, wie trivial ist sie doch zum größten Teil
geworden, die Feste, jede Lebens- und Gesellschaftsform beinahe! Trotzdem,«
fügte er hinzu, »ist unsere Zeit wertvoll, weil sie mit ungeheurer, wenn
auch verborgener Kraft, eine neue, grandiose Kultur vorbereitet!«

Hier aber brach ein lautes Geschrei aus. Der Lehrer nämlich war langsam vom
Sofa geglitten und unter den Tisch gefallen. Er schlief und man hörte ihn
laut schnarchen.

Auch Adjunkt Kaiser war eingeschlafen. Sein Kopf lag mit dem Kinn auf der
Brust und die Oberlippe stand läppisch vor. Aber er hielt seine Karten
tapfer in der Hand und öffnete immer ein Auge, sobald die Runde an ihn kam.
Das erriet er stets. Die Stimmen der Spieler wurden leidenschaftlicher,
rauh und betrunken. Zuweilen trat eine Pause ein, da alle anfingen müde zu
werden. Dann hörte man das Wiegen der Musik im Saale, die Geigen, die
Klarinetten, die Pauken. Manchmal kam die Musik bis dicht an die Türe,
kicherte durch die Spalten, verschwand in der Ferne und wiegte sich heiter.

Dann sah Eisenhut auf und starrte zur Türe.

Da erhob sich Grau plötzlich und sagte: »Meine Herren, ich bitte um eine
Minute Gehör. Ich finde Sie alle bei guter Laune und ich möchte die gute
Stimmung benutzen, um Sie zu einem wohltätigen Werke zu animieren.« Er zog
den silbernen Ring mit dem winzigen blauen Stein aus der Westentasche. »Ich
habe hier einen Ring,« fuhr er fort, »den ich zu Geld machen möchte. Er
gehört einer armen alten Frau. Vielleicht findet sich hier ein Liebhaber?«

Er lächelte und zeigte den Ring. Seine weißen hübschen Zähne blitzten.

Der dicke Chinese lachte zuerst und alle fielen in sein Lachen ein.

»Nein, Sie sind schon ein wenig sehr altmodisch -- hahaha -- alles was
recht ist --«

»Der Ring ist freilich einfach und schlicht,« sagte Grau, der leicht
errötete, und zeigte den Ring im Kreise umher, »er gehörte Fräulein
Margarete Sammet, die sich das Leben nahm -- Sie erinnern sich gewiß alle
-- für die Mutter möchte ich ihn zu Geld machen. Natürlich gebe ich ihn
nicht billig her, nicht allzu billig. Findet sich kein Liebhaber? Herr
Redakteur Heinrich -- oder vielleicht Sie, Herr Assistent Pechmann? Sie
lachen, meine Herren, aber die Frau ist ja arm und hat Geld nötig. Herr
Amtsrichter Leutlein, Herr Eisenhut?«

Eisenhut blickte auf den Ring und blinzelte, dann sah er Grau ins Gesicht.
Er wurde totenblaß und hörte auf zu blinzeln. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, danke!« sagte er leise.

Grau verbeugte sich und lächelte. »Nicht? Wie schade! Aber vielleicht Sie,
Herr von Hennenbach? Ich habe die Angelegenheit in die Hand genommen und
möchte sie auch zu Ende bringen, deshalb. Vielleicht Sie, Herr von
Hennenbach? Wollen Sie sich den Ring nicht ansehen?« Grau beugte sich über
den Tisch und zeigte den Ring. »Sie sind ja ein Liebhaber solcher Dinge,
wollten Sie mir nicht einmal meinen Reisesack abkaufen? Sie erinnern sich,
es war hier im Elefanten am Tage vor der Beerdigung des Dienstmädchens. --
Ich habe Sie vorhin beleidigt, ich war unhöflich gegen Sie. Tragen Sie mir
das nicht nach. Sie waren ja an jenem Abend ebenfalls nicht gerade
freundlich gegen mich -- vergessen wir es, wir sind quitt. Wollen Sie sich
den Ring nicht ansehen?«

Grau spielte eine lächerliche Rolle. Alles belustigte sich über ihn.

Herr von Hennenbach begann augenblicklich laut aufzulachen. Er lachte, daß
sich sein Gesicht rötete und hustete. »Danke, danke!« rief er aus.

»Oh, aber ich denke, Sie verstehen sich auf die Schätzung eines solchen
Ringes --«

Der Freiherr lachte immer noch.

»Für den Ring habe ich leider keine Verwendung,« sagte er und lachte
immerfort.

»Bitte sehr!« Grau lächelte sonderbar. »Selbst Sie also nicht!« sagte er
und sah dem lachenden jungen Mann in die Augen.

Plötzlich jubelten alle und blickten zur Türe. An der Türe hörte man das
Lachen von Mädchen, Adele und die Schwestern Sinding traten ein.

»Hurra! Hoch die Damen!«




Fünftes Kapitel


»Ah!« schrien die Herren und fuhren in die Höhe. Der dicke Chinese schwang
den Schirm wie eine Fahne und der Redakteur verneigte sich tief und
ruckweise, daß sein wirres Haar über die Stirne flog. Hurra! Hoch die
Damen! Hoch! Ein Stuhl klapperte auf dem Boden und ein Weinglas fiel auf
geisterhafte Weise ganz langsam von selbst um und zerbrach. Adjunkt Kaiser
schlief friedlich in seinen Hemdärmeln; da keine Karte mehr gekommen war,
war er eingeschlafen.

Der Rauch wirbelte zur Türe hinaus, so sah es aus als kämen die Mädchen aus
einer Wolke. Sie standen alle drei zögernd beisammen und hatten Furcht der
Gesellschaft nahe zu kommen, die lärmend auf sie eindrang.

»Wir wollten einmal sehen, wie die Herren sich amüsieren!« sagte Adele und
blickte umher. Sie bewegte den Fächer in der Hand und der Ärmel ihres
Kostüms fiel herab, so daß man ihren weißen vollen Arm sah. In dem roten
Kostüm, mit den schwarzen Haaren, den hellen Augen sah sie imponierend und
fremdartig schön aus. Rosen schmückten das Haar, die Schulter, den Gürtel.
Sie lachte. Ihre Zähne waren so weiß, ihre Lippen waren so rot. Aber ihre
Augen waren ohne Erbarmen, stechend und hart.

Sie blickte auf Grau, sah aber sofort weg, sie streifte Eisenhut mit einem
raschen Blicke.

Eisenhut hatte sich langsam erhoben als Adele sichtbar wurde. Er reckte den
Spitzbart vor, hörte auf zu blinzeln und machte die Augen scharf, um sich
zu überzeugen, daß sie wirklich im Zimmer stand. Er wurde fahl, richtete
sein Kostüm, strich sich die Haare zurecht und starrte unausgesetzt auf
Adele. Auf seinen Lippen erschien ein verzweifeltes Lächeln. Er ließ sich
auf das Sofa nieder, langsam, um kein Geräusch zu machen, und versteckte
sich hinter dem jungen Hennenbach, der mit Klara Sinding plauderte.

Plötzlich lachten alle. Der junge Lehrer nämlich, der unter dem Tische
schlief, erwachte und machte sich auf allen Vieren aus dem Staube. Er kroch
zur Türe, stieß sie mit dem Kopfe auf und verschwand.

»Ja, was ist denn das?« schrien die Mädchen.

»Das ist unser Hund!« sagte Herr von Hennenbach, der seine Trunkenheit
geschickt hinter seinen sicheren gesellschaftlichen Formen verbarg. »Er
geht um für die Damen zu bestellen!«

»Hahaha!« lachten die Schwestern Sinding und Klara blickte Herrn von
Hennenbach mit schwärmerischen, glänzenden Augen an; sie verriet sich mit
einem Blicke.

Professor Richter ordnete geschickt wie ein Kellner die Gesellschaft.
Gläser! Die Damen sollten sich zu Hause fühlen, höhö! Gläser für die Damen.

»Nein, keinen Wein, um Gottes willen!« rief Adele. »Vielleicht könnte man
ein Glas Selters haben.«

»Selters! Selters!«

Auch die Schwestern Sinding wollten nichts mehr trinken. »Selters, ja.« Sie
saßen mit glühenden Wangen da.

Adele lachte laut auf. »Hier ist er ja, unser Herr Eisenhut!« rief sie und
zeigte auf Eisenhut. »Bedenken Sie nur, meine Herrschaften, hundert Mark
war ihm zuviel für ein Glas Sekt, an dem ich nippte!«

»Ah, oh -- oho!« riefen die Herren rings im Kreise.

Eisenhut bewegte die Lippen. Er blinzelte. »Ich habe ja -- habe ich nicht
hundert Mark bezahlt -- ich wollte Ihnen die Hand geben --«

Aber Adele war grausam. Sie hörte ihn nicht, sie erzählte die Geschichte
von den hundert Mark, die ganze Szene und ahmte Eisenhuts Erstaunen,
Schrecken und Schwanken nach. Sie sprach sehr rasch und fächelte sich
unaufhörlich Luft zu. Oh, wie entsetzlich heiß es sei! Ob man die Fenster
nicht --

»Die Fenster auf -- zum Donnerwetter! Für die Damen --«

Der Redakteur stand schon eine ganze Weile da, das Glas in der Hand und
klappte mit den Lidern wie eine mechanische Figur. Offenbar hielt er eine
Rede, aber niemand nahm Notiz von ihm.

»-- des Lebens heitere Zierde -- ehret die Frauen, sie flechten und weben
-- hoch die Damen! --« murmelte er -- »hoch! Ein Kranz schöner Jungfrauen,
der des Festes Tafel schmückt -- könnte ich jeder ein Kränzchen von
Maienblumen auf das holde Haupt legen --« Plötzlich liefen dicke Tränen
über sein Gesicht. »Hoch die Damen, hoch!«

Die Herren fielen stürmisch ein.

Spielen? Ja, natürlich wollten sie spielen. Alle! Man stürzte sich kopfüber
ins Spiel, schrie und lachte. Die Damen würden es sofort können, eine
Kinderei! Der Adjunkt schlief immer noch. Amtsrichter Leutlein, der seine
schläfrige Miene abgelegt hatte, tropfte ihm Wein auf die Glatze, und er
erwachte. Er starrte lange Zeit geistesabwesend auf die Mädchen, dann sagte
er feierlich: »Guten Abend!«

»Es ist ganz herrlich hier!« rief Adele. »Kann ich dem Klub beitreten? Ein
Glas Bowle nun, Herr Doktor, bitte.«

»Bowle, ein Glas Bowle, rasch!« kommandierte der dicke Chinese.

»Ja, also, verehrter Herr Grau --« Er müsse doch zugeben -- selbst wenn er
mit allem und allem unzufrieden sei -- er müsse doch gestehen, daß die
Wissenschaft in verschiedene Dinge Klarheit gebracht habe, eine ganz
unglaubliche Anzahl von Vorurteilen, den schwärzesten Vorurteilen, habe sie
zerstört, Aberglaube und naive Vorstellungen habe sie in Grund und Boden
hineingeritten --

»Natürlich gebe ich das zu. Ich habe den allergrößten Respekt vor der
Wissenschaft und ziehe den Hut vor ihren großen Männern. Wo habe ich denn
behauptet, daß ich, ein kleiner und einfacher Mensch -- das wäre ja
geradezu kühn --«

»Gut, gut! Der ganze Wunderglaube, zum Beispiel, zum Teufel ist er! Pardon!
Aber er ist zum Teufel, einfach wie weggeblasen. Kein Kind kann heutzutage
mehr glauben, daß jemand Wasser in Wein verwandelt oder fünftausend
Halunken mit einem Groschenkipf speist. He?«

»Natürlich, das ist Fabel!«

»Bravo, bravo! Also endlich --«

»Im übrigen,« fügte Grau hinzu, »wer weiß, ob es nicht doch ein wahres
Geschehnis ist? Wie schön ist aber jenes große Gefühl, jenes Verlangen nach
dem Außerordentlichen, jene Sehnsucht nach dem Wunderbaren? Nicht wahr?
Ergreifend ist das! Und oft glaube ich es auch, ich glaube es. Ich bin
geneigt, das Unglaublichste zu glauben, gerade weil ich es nicht begreifen
kann --«

»Nun aber, Verehrter, der gesunde Menschenverstand -- wo bleibt da der
gesunde Menschenverstand? Ich bitte, Ehrwürdiger, der gesunde
Menschenverstand muß doch auch auf seine Rechnung kommen?«

Grau lächelte. »Der gesunde Menschenverstand?« sagte er. »Was ist es
eigentlich damit? Ich muß Ihnen gestehen, Herr Professor, daß mein
Verstand, obwohl ich annehme, daß er vollständig gesund ist, mich sehr
häufig im Stiche läßt. Derselbe gesunde Menschenverstand hat schon ganze
Völker und Zeitalter betrogen. Legen Sie mir einen Kirschkern her und
behaupten Sie, es wird ein Baum daraus werden mit Blättern, Blüten,
Kirschen, verzeihen Sie, mein gesunder Verstand wird es nicht für möglich
halten. Sagen Sie mir, die Erde fliegt mit einer ungeheuren Geschwindigkeit
von so und soviel Meilen um die Sonne, ich werde sagen, entschuldigen Sie,
mein gesunder Menschenverstand begreift das nicht. Ich werfe einen Stein,
der Stein fliegt, ich begreife das nicht, nicht einmal das. Ich muß Ihnen
leider gestehen, daß ich mich auf meinen gesunden Verstand nicht einmal bei
den einfachsten Dingen verlassen kann, von komplizierteren gar nicht zu
sprechen.«

Hm, hm.

»Aber Verehrter, Sie geben trotzdem zu, daß Ihr gesunder Menschenverstand
den Wunderglauben abweist, nicht wahr? Man soll nur die Wissenschaft
arbeiten lassen -- Hölle und Tod! -- sie wird ihr Werk der Aufklärung schon
vollbringen. Auch die Schöpfung, wie die Bibel sie darstellt, das ist wohl
eine Fabel oder nicht?«

»Natürlich ist das eine Fabel, aber --«

Redakteur Heinrich stand auf und drückte Grau die Hand. »Redefreiheit für
jedermann! Wir sind unter uns!« sagte er mit einem gönnerhaften Schmunzeln.
»Sie können sich nach Belieben und ganz frei äußern, niemand wird ein Wort
erfahren. Ein Wort, ein Mann!«

»Aha, die Damen haben Glück! Ich habe diesmal nicht gesetzt, Eisenhut,
schreie nicht so! Ich erlaube mir die Behauptung auszusprechen, daß, wenn
die Aufklärung, die Wissenschaft in alle Schichten und Poren des Volkes
gedrungen ist -- all der Zauber, Aberglaube und Irrtum werden wie Wachs
schmelzen -- ja was dann? -- Ich erlaube mir zu behaupten, daß die Religion
dann bankerott ist, einfach. Sie kann ruhig die Bude schließen, ruhig! Ich
bitte wegen des starken Ausdrucks um Entschuldigung, aber es ist so, bei
allen Teufeln, um kein Haar anders ist es.«

»Bitte,« sagte Grau, »es ist ja nur eine Formsache, die nichts zu sagen
hat. Also, das glauben Sie? Aber ich glaube, je mehr die Wissenschaft
erkennen wird, desto mehr wird sich das religiöse Gefühl steigern, es wird
nicht verschwinden, es wird im Gegenteil wachsen, ungeheuer anwachsen. Denn
die Wissenschaft wird Wunder um Wunder aufdecken, es wird alles
verwirrender und verwirrender, unfaßbarer werden. Der Gottesbegriff
verliert natürlich die einfache naive Form, er wird sich mehr und mehr
verfeinern, vergeistigen; je wissender und größer der Mensch wird, desto
erhabener und größer und unfaßbarer wird sein Gott. Das Mysterium wird
gewaltiger, je mehr man in dasselbe hineinsieht --«

»Ich glaube, es bereitet sich eine Zeit vor mit einem so tiefen religiösen
Gefühl, daß es dem Wahnsinn gleich kommt.«

»Glauben Sie, Herr Grau! Wenn man aber einem Menschen begreiflich macht,
daß vor etlichen Millionen Jahren der Mensch noch gar nicht existierte?
Wie? Was denn, was denn? Gott?«

Grau sah ihn erstaunt an. »Wenn es jetzt keinen Menschen gäbe,« versetzte
er lächelnd, »so gäbe es allerdings kein menschliches religiöses Gefühl.
Aber es handelt sich ja bei dieser Frage weniger um die Existenz des
Menschen als um das Dasein Gottes. Ob der Mensch existiert und seit wann,
das ist ja nebensächlicher Natur.« Grau lächelte. »Es ist merkwürdig wie
sehr Sie an die Naturwissenschaften glauben,« fuhr er fort, »ich verehre
die modernen Naturwissenschaften und verdanke ihnen zum größten Teil meiner
Erziehung -- allein so unumstößlich wahr sind ihre Thesen nicht, glaube
ich. Vielleicht lacht man in einigen hundert Jahren über einen Anhänger der
jetzigen Entwickelungslehre ebenso, wie man in unseren Tagen über jemand
lacht, der noch glaubt, der Mensch sei von Gott aus Erde geformt worden.
Bitte, erschrecken Sie nicht, ich selbst bin nicht dieser Meinung, sondern
ich finde die Behauptungen der modernen Wissenschaft für höchst annehmbar.
Aber was soll das sagen, nicht wahr?«

»Wie!« Der dicke Chinese lachte und schrie. »Alles, alles mein Herr, alles!
Ich bitte Sie, die Konsequenzen -- die Konsequenzen! Fassen Sie die
Konsequenzen ins Auge!« heulte er triumphierend.

Erstens also sei -- und zweitens --

Adele lachte. Sie hielt die Bank und gewann fortwährend.

»Nun auf das Wohl der Herren!« rief sie und erhob das Glas. Sie sah
wiederum Grau einen Augenblick lang eigentümlich an. Dann lächelte sie.
»Auf das Wohl Susannas!« sagte sie. »Auf gute Freundschaft!« setzte sie
hinzu und lächelte wieder.

»Auf gute Freundschaft!«

Eisenhut hatte keinen Wein im Glase und bis er es füllte, war es zu spät.
Er sagte höflich: »Auf die Gesundheit der Damen!« und stürzte das volle
Glas hinunter. Dann lachte er. Nur Maria Sinding sagte: »Zum Wohlsein!«

»Es ist sehr unterhaltend hier!« sagte Adele. »Alles Ernstes, ich will
Mitglied des Klubs werden. Ja! ich will die kurzen Monate noch genießen.«

Wann denn die Hochzeit sei?

»Im Mai!« antwortete Adele lachend. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wer weiß
es?« fügte sie hinzu. »Niemand weiß es. Seht her, wieviel ich gewonnen
habe! Ich habe Glück im Spiel! Faites vos jeux, messieurs!«

Professor Richter verlor endlich die Geduld. Ja, ein merkwürdiger Herr war
dieser Herr Grau. Wie eine Katze fiel er stets auf die Füße. Nun er
zugegeben hatte, daß der Mensch vielleicht nichts sei als das letzte Glied
einer langen Entwickelungsreihe -- ein Produkt der Auslese und Zuchtwahl --
nun war alles noch viel wunderbarer für ihn. Er bewunderte den feinen
Geschmack und Instinkt der Wesen, immer das Schönere und Zweckmäßigere
auszuwählen, er bewunderte das Resultat. Nein! Man könne nicht mit ihm
diskutieren.

Aber nach einer Weile begann Professor Richter von neuem die Diskussion. Er
bearbeitete Grau nach allen Regeln und von allen Seiten. Die ganze moderne
Wissenschaft ließ er aufmarschieren. Endlich -- ach, endlich!

»Nun, verehrter Herr,« murmelte er und rieb bedächtig die großen fetten
Hände aneinander, »die Schlußfolgerungen sind höchst einfach. Ja, das ist
ja erstaunlich, was Sie nun alles zugegeben haben, haha! Sie sind ja gar
kein solch altmodischer Mensch, Donner und Doria -- nein, Sie sind ja ganz
modern. Und beschlagen sind Sie ebenfalls, nicht wahr, Doktor, wie er doch
die Literatur kennt, unser Herr Grau! Aber nun erlauben Sie, daß ich
zusammenfasse! Wenn Sie mir all das zugeben und behaupten all das ändere ja
an der Sache nichts -- wenn Sie mir zugeben, daß die Seele des Menschen aus
der Tierseele entstanden ist, ein Komplex von Gehirnfunktionen -- wenn Sie
mir das zugeben, wenn Sie mir zugeben, daß jedes Empfinden von einem
physiologischen Vorgange begleitet sein muß -- so erlischt also die Seele
-- sie hört auf, sie ist fort und verschwunden, in die Binsen ist sie
gegangen -- in dem Augenblicke, da die Blutzirkulation im Gehirn stockt!
Das ist doch logisch, nicht wahr? Ja, zum Henker, jeder Idiot begreift das.
Aber dann leugnen Sie ja die Unsterblichkeit der Seele, haha! Vollständig,
mein Verehrter, jawohl -- Sie lachen -- aber Sie taten es, gerade vor zwei
Minuten. Prosit! Ja, prosit, Sie sind ein moderner Mensch, durch und durch,
einen Orden sollen Sie haben!«

»Haben Sie gesehen, daß alle herblickten, als Sie das kleine Wort
Unsterblichkeit aussprachen?« entgegnete Grau. »Es fiel mir auf. Ja, das
nur nebenbei. Was sagten Sie? Was habe ich doch getan? Aber auf Ihre
Gesundheit, auf die Gesundheit der Damen -- gewiß werde ich heute einen
Rausch bekommen, so oft schenkt mir der liebenswürdige Herr Doktor ein! Ja,
was habe ich doch nur getan, daß Sie so triumphieren, Herr Professor?
Triumphieren Sie, bitte, nicht zu früh. Ja trotzdem, trotz alledem glaube
ich an die Unsterblichkeit der Seele. Ich werde Ihnen nicht mit Gründen
kommen, denn so unzulänglich meine Worte wären, so unwürdig wären Worte
diesem Gegenstande. Auch finde ich es häßlich, jedes Geheimnis mit einem
Worte zu vernageln. Wie würde es sich doch ausnehmen, wollte ich sagen, all
die Millionen Schwingungen, Strahlen, die in jeder Stunde von Ihnen
ausgehen und ja gewiß fortdauern müssen, sie zusammen -- oder die Seele
könnte sich irgend eines unbekannten Mediums bedienen -- wie häßlich würde
das doch klingen und nichts sagen obendrein. Nein, meine Herren, ich fühle
es und ich denke auch, nie hätte ein Mensch diesen Gedanken fassen können,
niemals, wenn es nicht etwas Wahres mit ihm wäre!«

Grau lächelte und einen Augenblick lang leuchteten seine Augen wie dunkles
Gold.

»Ja,« wiederholte er, »wie hätte doch solch ein Gedanke in den menschlichen
Kopf kommen können, wenn er nicht wahr wäre!«

Aber da höre jede Diskussion auf. Herr Grau sei ein ganz modern denkender
Mensch, aber sobald man gewisse Dinge berühre -- haha!

»Diese Dinge lassen sich eben nicht diskutieren!« erklärte Grau lächelnd.

Dr. Nürnberger rollte sich eine Zigarette und sagte: »Aber der Mensch hat
ja auch den Gedanken der Sterblichkeit der Seele fassen können, also muß es
auch damit eine gewisse Richtigkeit haben.«

»Gewiß,« erwiderte Grau, »der Irrtum ist verzeihlich, denn wir sehen den
Tod stets ringsum und es ist auch möglich, daß ein Teil -- jener Teil, Herr
Doktor -- der Seele stirbt -- -- -- -- Aber sehen Sie doch, was ist mit
Herrn Eisenhut?«

Eisenhut nämlich deutete mit dem Zeigefinger auf den Tisch und schrie
unaufhörlich: »Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Ich lasse mir das
nicht bieten!«

»Er läßt sich das nicht bieten!« ahmte der Adjunkt Eisenhuts heulende und
pfeifende Stimme nach.

»Bitte, bitte!« sagte Adele und lachte gereizt. »Herr Eisenhut weiß es
besser, natürlich!«

Jemand hatte Adele grausam genannt, weil sie Eisenhut soviel Geld abnähme.
Sie hatte ganze Rollen von Geld vor sich liegen. Man könne doch sehen, daß
Eisenhut es aufs Verlieren anlege.

»Er mag spielen, wie er will!« antwortete Adele lachend. »Wenn es ihm
Freude macht zu verlieren, so mag er ruhig verlieren. Ich für meine Person
freue mich, wenn ich gewinne, und ich freue mich, wenn jemand verliert. Wer
hat mich doch grausam genannt? Sie, Herr Assistent Pechmann? Danke! -- Ja,«
fügte sie in scherzendem Tone hinzu, »gewissermaßen haben Sie recht, ich
bin vielleicht grausam. Zum Beispiel, ich hasse die Kranken und die
Krüppel, ob sie nun bucklig sind oder hinken, einerlei, und oft denke ich,
man sollte sie eigentlich vergiften, das beste wäre es! Ist das nicht
grausam? Und dann, schon als Kind war ich recht unangenehm, ich habe meine
Amme in die Nase gebissen und später liebte ich es, den Mücken den Kopf
abzureißen --«

Sie sagte es in scherzendem Tone und gab dabei die Karten; niemand
beachtete es weiter, aber Eisenhut begann plötzlich sich ganz unsinnig zu
gebärden.

»Das ist nicht wahr.« schrie er und pochte auf den Tisch. Gelächter.

»Wie beliebt?« fragte Adele und richtete die hellen Augen auf ihn.

Eisenhut schrie: »Niemals haben Sie Mücken die Köpfe abgerissen, das ist
eine Lüge. Ich habe es in einem Buche gelesen!«

Jemand fragte, ob er denn überhaupt je ein Buch gelesen habe?

Der Redakteur streckte beide Hände gegen Eisenhut aus: »Friede sei mit
dir!« Aber der dicke Chinese schob ihn zur Seite und faßte Eisenhut an der
Schulter. »Eisenhut!« rief er. »Ruhig, oder du fliegst hinaus! Du brauchst
Damen lügen zu strafen! Eine Dame lügt nie! Verstanden, du Erzlügner!« Ja,
die Damen müßten den unangenehmen Zwischenfall entschuldigen.

Eisenhut machte sich frei und erhob sich. Er war weiß wie eine getünchte
Wand. Er atmete tief und versuchte zu lächeln. Seine Lippen zitterten, das
Haar klebte an seiner Stirn. Er ließ die Augen im Kreise umherirren, von
einem zum andern, und seine Lippen bebten stärker: Feinde, lauter Feinde!

»Wie sagen Sie?« sagte er, stotterte er. »Ich stehe -- ja, was soll das
heißen -- was soll das heißen! frage ich?« Er rang die Hände und alle sahen
ihm zu, wie zu einem Schauspiel. »Was soll das heißen,« fuhr er zitternd
und bleich fort. »Ich bin wohl kein Mensch? Alles was recht ist -- es ist
zuviel! Erzlügner? Wie -- alles was recht ist -- Sie -- Sie haben -- dieser
Doktor dort, Herr Dr. Nürnberger -- er hat Herrn Grau heraufgelockt. Dr.
Nürnberger ist gegangen um Herrn Grau heraufzuholen, wir wollen ihm die
Würmer aus der Nase ziehen, er sagte es, Professor Richter -- es wäre ein
Vergnügen, zum Scherz ein Gespräch mit ihm anzufangen -- er hat es gesagt.
Alles lügt hier, alles macht sich lustig hier, so ist es. Eine Dame lügt
nie? Er sagt es, hier, Herr Professor Richter, aber vorhin hat er gesagt,
jede Frau wäre ein Sack voll Lügen und die Frauen lügen so, daß sie sogar
manchmal die Wahrheit sagen. Ich habe es gehört, alle haben es gehört --«

Alle Teufel! Ruhe!

Aber Eisenhut schrie nur um so lauter. »Das lasse ich mir nicht bieten.
Erzlügner? Muß ich mir denn --«

»Hören Sie mal! Eisenhut!« sagte Professor Richter und faßte Eisenhuts Arm.
Aber Eisenhut stieß ihn zurück, er stieg auf das Sofa.

»Es hat gar keinen Sinn!« sagte er. »Gar keinen Sinn -- Fräulein von
Hennenbach hat mich verhöhnt -- vor allen Leuten -- ich habe aber hundert
Mark bezahlt für ein Glas Sekt -- sie hat mir nicht einmal die Hand gegeben
-- dann zerbrach ich ein Glas -- Ja, ich kam hierher und freute mich. Ich
freute mich so sehr. Ich war allen dankbar, euch allen -- aber wie begann
es. Es begann mit den hundert Mark! Ich hasse euch alle, alle! Ich hasse
euch, ihr Hunde und Lügner! Und auch Sie hasse ich, Fräulein von Hennenbach
-- mehr als alle! Bin ich geizig, bin ich schmutzig, ich? Wie? Ihr alle
seid mir Geld schuldig, sechzehntausend Mark seid ihr mir alle zusammen
schuldig -- bin ich geizig? Ihr lacht?!« Er fuhr rasch in die Tasche und
zog den Pack Banknoten heraus. »Es ist mir alles einerlei -- hier, ich
zerreiße das Geld -- alles, alles -- nehmt es, ihr Bettler! -- ich hasse
euch!«

Man schrie, lachte und stieß Eisenhut vom Sofa herunter.

Adele sagte: »Lassen Sie ihn doch! Er klebt die Stücke ja morgen doch
wieder zusammen.«

Eisenhut richtete die Blicke auf sie. Er schloß einen Augenblick lang die
Augen und hatte das Aussehen eines Menschen, der das Gefühl hat, in die
Tiefe zu stürzen. Er legte auch die Hände auf den Tisch um sich zu stützen.

»Sie sagen das!« sagte er mit böse funkelnden Augen. »Sie! Nach all dem was
vorgefallen ist!«

Adele stand auf. »Herr Eisenhut!« sagte sie und erbleichte.

Eisenhut machte eine verzweifelte Gebärde. Er blickte Adele an und
plötzlich änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes vollständig. Er
errötete und wurde wieder bleich. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er
rang die Hände und schrie: »Ich bin schlecht, schlecht, ich bin -- seht
alle her, wie schlecht ich bin! Ja, bei Gott, bei allen Göttern, verzeihen
Sie mir, Fräulein von Hennenbach! Ha! Oh, was habe ich gesagt! Was habe ich
gesagt? Was sollte denn vorgefallen sein? Daß Sie freundlich zu mir waren
und mich einluden zum Tennis? Jeder weiß, daß nichts vorgefallen ist. Ich
beleidigte Sie -- ich wollte Sie beleidigen, das ist es! Sie müssen es
vergessen. Sie haben recht, ich habe ja schon öfters Banknoten zerrissen
und wieder zusammengeklebt. Sie sagten die Wahrheit -- ja, bei Gott --«

»Eisenhut!« sagte Grau.

Eisenhut blickte ihn an und suchte mit seinen glitzernden verzweifelten
Blicken in Graus Augen. Dann lächelte er spöttisch. »Herr Eisenhut -- ich
bitte recht sehr!« sagte er und deutete auf den Tisch. »Euch allen sage ich
--«

Man lachte wiederum und schrie ihm zu doch endlich ruhig zu sein.

»Ich will nicht!« keuchte Eisenhut.

Der dicke Chinese umklammerte Eisenhuts Arm und sagte: »Jetzt bist du
ruhig, du bist ja vollständig betrunken!«

Eisenhut spie ihm ins Gesicht.

»Lassen Sie mich in Ruhe!« rief er. »Wer gibt Ihnen das Recht mich zu
duzen, he? Ich fordere Sie zum Duell. Auf Pistolen fordere ich Sie, Sie
Schuft!«

Alle Wetter! Ruhe!

Der Chinese sprang zurück und besann sich einen Augenblick. Er blickte auf
die Mädchen, dann lachte er wütend.

Eisenhut aber schrie: »Haben Sie gehört, Sie Schuft und Heuchler! Haben Sie
es gehört? Oder sind Sie zu feige, wie, wie, wie?«

»Ich nehme die Forderung mit Vergnügen an!« sagte der Chinese und verbeugte
sich vor Eisenhut. »Auf Kanonen oder Pistolen, wie Sie wünschen!«

Man nötigte Eisenhut sich zu setzen. »Er nimmt sie ja an, schreie nicht
so!«

»Gewiß nehme ich die Forderung eines jeden Gentleman an!« sagte Professor
Richter mit ruhiger Stimme. »Aber Sie erlauben mir eine Frage, wo haben Sie
Ihre Papiere?«

»Papiere?« Eisenhut stotterte und tastete an seine Taschen.

»Als Offizier der Reserve und ehemaliger Korpsstudent bin ich dem
Ehrenkodex unterworfen. Ich bitte Herrn Eisenhut um sein
Universitätsmatrikel.«

Eisenhut öffnete den Mund und starrte dem Chinesen ins Gesicht.

Man lächelte und lachte ringsum.

»Ich sehe, Sie haben die Matrikel nicht in der Tasche, wer sollte sie auch
immer mit sich herumschleppen,« fuhr der dicke Chinese in aller Ruhe fort.
»Natürlich bin ich kein Pedant. Ich will Ihnen nur eine einzige Frage
vorlegen, eine kleine Prüfung gewissermaßen. Wir kennen einander und können
auf schriftliche Ausweise verzichten. Übersetzen Sie mir den bekannten
Satz: Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat, quae ferrum non sanat,
ignis sanat. Bitte!« Er stand mit den Fäusten in den Hüften und schnarrte
die Sentenz herunter, daß es rasselte.

Eisenhuts Blick flackerte. Er errötete, er erblaßte, er blickte scheu auf
Adele, ohne den Mut zu haben, sie anzusehen.

»Quae medica --« stotterte er.

»Ein bekanntes Sprüchlein von Hippokrates,« schnarrte der Chinese. »Das ist
nicht zuviel verlangt.«

»Quae --«

Eisenhut sank auf das Sofa zurück.

Es war ganz still und plötzlich hörte man Grau lachen; er lachte heiter,
belustigt, und noch niemals hatte man dieses Lachen von ihm gehört.

Er faßte Eisenhut am Arm und sagte: »Herr Eisenhut! Fallen Sie doch auf den
albernen Scherz dieses Herrn hier nicht herein!«

»Fort!« sagte Eisenhut. »Fort! Hinweg!« Er stieß ihn zurück.

»Guten Abend!« Grau verließ das Zimmer.

Eisenhut sprang auf. »Leben Sie wohl!« sagte er zu allen. »Ich sage nicht
mehr als leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl!« wiederholte trocken der Adjunkt.

Eisenhut fixierte ihn und der dicke Chinese brach in lautes Gelächter aus.

Eisenhut schwankte zur Türe. Die Tanzmusik drang herein; man tanzte
Française und Bezirksamtmann Häberlein rief mit lauter Stimme französische
Kommandos. Er wandte den Blick auf Adele und sagte, indem er den Kopf
senkte: »Leben auch Sie wohl, Fräulein von Hennenbach! Leben Sie wohl für
immer!«

Adeles Lippen zuckten. Das sei das beste, was er tun könne.

Eisenhut lachte verzweifelt und verließ das Zimmer. Er taumelte, immerzu
verzweifelt lachend, den Korridor entlang, er ging die Treppen hinab und
lachte immerzu dasselbe verzweifelte Lachen.

Grau verließ vor ihm, dicht vor ihm, das Hotel und verschwand in der
Richtung nach seinem Hause.




Sechstes Kapitel


Eisenhut lief so schnell ihn die Füße trugen über den Marktplatz, und sein
gelbes chinesisches Kostüm flatterte die Straße hinunter, die zum Flusse
führte.

Es schneite fein; kleine Flocken, einzelne Kristalle gleichsam, fielen
langsam und flimmernd herab und bedeckten den Boden mit einer sanften
dünnen Schicht weißen Schnees.

Eisenhut überschritt mit großen flüchtigen Schritten die Steinbrücke und wo
die Felder anfingen, begann er wieder zu laufen. Hier außen war die Nacht
kalt und schwarz und der Wind hauchte über die Ebene. Eisenhuts dunkle
Gestalt erschien auf einer Anhöhe, verschwand wieder, tauchte als Schatten
auf dem nächsten Hügel auf und wurde kleiner und kleiner mit jeder
Bodenwelle. Er lief wahnsinnig rasch und bald erschien es als ob ein Hund
oder ein Fuchs sich rasch über die öde nächtige Ebene bewege und endlich im
Düster verschwände. Seine Spuren schrieben eine ungeheure Kurve in den
beschneiten Grund. Endlich wurden sie schnurgerade, sie liefen wie mit dem
Lineal gezogen ferner und ferner in die Ebene hinein.

Eisenhut lief und lief, bis er erschöpft in den Schnee fiel und sich nicht
wieder erhob.

Der Wind blies dicht über die Erde und feiner Schneestaub bereifte seine
Kleider, seine Haare, seinen Bart. Er füllte die Falten seiner Kleider, die
Vertiefungen zwischen Armen und Körper und errichtete einen kleinen Wall
auf der einen Seite, der Wind blies und drehte sich im Kreise und begann
die Arbeit auf der andern Seite. Bald lag er halb zugeweht in der öden
lautlosen Ebene . . .

Als Eisenhut wieder die Augen öffnete, wußte er nicht sofort, was
vorgefallen war. Er zwinkerte und der Schnee fiel von seinen Lidern, er
schüttelte den Kopf und der Schnee fiel aus seinen Haaren. Ein Mann kniete
bei ihm, schüttelte ihn, rieb, klopfte.

Eisenhut starrte ihn mit blöden Augen an. Er erkannte Grau.




Siebentes Kapitel


Eisenhut und Grau kamen rasch über die Brücke gegangen. Eisenhut war in
Graus Mantel eingehüllt und hatte Graus Hut auf dem Kopfe, er gab sich Mühe
Grau zu folgen, der zur Eile trieb. Er zitterte und die Kälte schüttelte
ihn am ganzen Körper. Zuweilen weinte er leise vor Erschöpfung.

»Eines begreife ich nicht,« begann Eisenhut zitternd, es war das erste
Wort, das er sprach, »wie konnten Sie mich finden, wie soll das ein Mensch
begreifen?«

Grau lächelte. »Das ist sehr einfach, Herr Eisenhut. Ich habe gesehen, was
vorfiel. Sie waren sehr erregt und deshalb folgte ich Ihnen. Das war kein
Kunststück, ich konnte ja Ihre Spuren im Schnee sehen. So einfach ist das.
Nur vorwärts!«

Eisenhut nickte, er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe von einem
großen Feuer geträumt,« sagte er, »daran wärmte ich mich -- ein helles,
großes Feuer. Ich streckte die Hände hinein. Nun fällt mir alles ein -- oh,
wie schrecklich, ich hatte so furchtbar getrunken! Das große Feuer schrie
meinen Namen. Eisenhut, schrie es, tanze, tanze! Ich tanzte und das Feuer
lachte -- hahaha -- Eisenhut tanze! -- da waren Sie es, der mich
schüttelte! Nun fällt mir alles ein, ich bin nicht mehr betrunken -- ich
lief im Schnee, durch den Schnee -- haha -- ich wollte sterben, ja, aber
nun lebe ich noch. Ich wollte sterben, als ich zur Brücke hinabrannte.
Stürze dich ins Wasser, kopfüber -- kopfüber, genau so dachte ich, kopfüber
-- aber das Wasser in der Mitte des Flusses glitzerte so kalt -- all das
Eis -- vielleicht unter dem Eise schwimmen -- niemals -- ich lief weiter.
Ich lief und warf mich in den Schnee, auf einer Anhöhe, da lag ich und es
wurde kalt und ich fühlte wie ich einschlief. Nein! Ich sprang auf. Ich
hatte alle Lust zum Sterben verloren. Sterben, warum? Aber ich konnte ja
doch nicht mehr zurückgehen, konnte ich mich denn wieder sehen lassen? Ich
hatte ja Abschied genommen -- hatte ein großes Geschrei gemacht -- also
mußte ich wohl oder übel sterben. Das ist kein Vergnügen, das ist ein
schauderhaftes Gefühl, sterben zu müssen und nicht zu wollen. Ich lief in
die Nacht hinein, vorwärts, fort und schrie: Du bist zum Tode verurteilt,
Eisenhut -- es geschieht dir recht -- zum Tode bist du verurteilt. Dieser
Professor mit seinem Duell -- ich hatte mich verabschiedet -- von allen --
lebewohl für immer -- also vorwärts, vorwärts! Wie ich doch gefroren habe
-- eine fürchterliche Kälte -- ich lief um warm zu werden. Ich wollte auch
nicht mehr denken. Du bist zum Tode verurteilt, sagte ich und hatte
wahnsinnige Angst. Ich wurde müde und setzte mich in den Schnee -- nur ein
bißchen ausruhen, ein klein wenig -- aber ich hatte furchtbare Angst. Ich
wurde schläfrig und alles wurde mir gleichgültig. Einerlei, einerlei, sagte
ich, es geht dahin mit dir, Eisenhut, in die Hölle hinein. Ich lachte. Ich
hatte eine Menge von Gedanken -- wie ich im Schnee liegen würde, lang und
steif -- man wird dich finden, dachte ich. Alle würden es erfahren -- man
hat ihn gefunden -- alle, aber nein, jetzt war nichts mehr zu ändern -- es
konnte ihnen leid tun -- es war nichts mehr zu ändern, haha! Dann würde ich
beerdigt werden und Sie -- Sie werden die Rede halten. Ich dachte an alles
und auch daran, daß die jungen Damen vom Tennisklub kämen. Aber da kam die
Angst zurück. Nein! Ich werde nicht sterben. Ich hatte Angst! Wie dumm
nicht zu wissen, was morgen ist. Nicht zu wissen, wie das und jenes enden
wird -- schon aus Neugierde konnte ich ja nicht sterben. Nein, nein --
hihihi! Du gehst nach Hause, stellst dich ans Fenster und lachst, ja! Alles
ist einerlei! Also ging ich nach Hause, ich rannte -- im Nu war ich zu
Hause -- ah, ich war ja gar nicht weit gegangen gewesen -- in meinem Zimmer
saß eine Katze. Ich machte ein großes Feuer und setzte mich davor und
wärmte mich -- und ich vergaß alles, fühlte mich so wohl -- aber plötzlich
erwachte ich, ich richtete mich auf: Da lag ich ja im Schnee! Ich war gar
nicht zu Hause? Das ist ja schrecklich, sagte ich mir, und zitterte und
konnte nicht denken. Du bist ja gar nicht zu Hause. Bei allen Teufeln in
der Hölle! Das ist toll, sagte ich, das ist -- ich kroch ein wenig
vorwärts, ich stand auf -- ich laufe wieder -- ich glaube immerzu zu
laufen, ich sehe die Brückenlampe -- ich erwache wieder und finde mich
wieder im Schnee. Das ist entsetzlich! sage ich und schreie.« -- Hier
begann Eisenhut wieder vor Erschöpfung leise zu weinen. -- »Ich laufe und
glaube ich laufe nach Hause und immer, immer finde ich mich wieder im
Schnee. Da verzweifelte ich, ich schrie, ich schrie -- aber ich hörte nicht
mehr, ich hörte mich nicht schreien -- ich lief, lief, lief -- oh, wie
schrecklich lief ich doch --«

Eisenhut lachte und weinte in einem und Grau hörte wie seine Zähne
klapperten.

»Ich habe Sie beleidigt, Herr Grau, neulich, heute abend, ich wollte --«

»Lassen wir die alten Geschichten ruhen!«

Der »weiße Elefant« war noch immer hell beleuchtet, die Musik wiegte sich
in der Ferne, Lachen und Singen drang aus dem Torweg. Eisenhut hielt sich
die Ohren zu.

»Ich darf doch ein wenig mit Ihnen eintreten?« sagte Grau. »Nur, bis Sie
ganz in Ordnung sind, Herr Eisenhut.« Er sah Eisenhut lächelnd ins Gesicht.




Achtes Kapitel


Eisenhut nahm eine demütige Haltung an. Er nickte und schloß die fleckige
Tür mit dem kleinen Guckfensterchen auf. Er verneigte sich und sagte mit
demütigen Augen und einer linkischen, rührenden Handbewegung: »Treten Sie
ein in mein Haus!«

Im Hause war es ganz dunkel und es roch dumpf und feucht wie in einem
Keller. Etwas raschelte und sprang über Graus Füße. »Es gibt Ratten hier,
deshalb bewohne ich den ersten Stock,« sagte Eisenhut und zündete eine
kleine Talgkerze an.

Grau blickte sich gespannt um: In der Ecke stand eine alte Holzfigur, ein
Heiliger, dessen Arme abgeschlagen waren.

Grau nickte. Ich bin aber noch nie in diesem Hause gewesen, dachte er und
starrte die Figur an. Er war wie betäubt.

Eisenhut öffnete unterdessen ein hohes eisernes Gitter, das das Treppenhaus
abschloß. »Eine alte Figur, die ich auf dem Speicher fand. Bitte!«

»Ja!«

Kaum hatte Grau einen Fuß auf die Stufen gesetzt, als es im ganzen Hause
schrill zu läuten begann. »Das sind Alarmglocken. Ich wohne ganz allein im
Hause.«

Vor Eisenhuts Zimmern im ersten Stock stand ein kleines braunes Hündchen
mit einem Backenbart wie ein Oberkellner, und wedelte vergnügt mit dem
Schweife und streckte die Zunge heraus.

»Sehen Sie her!« sagte Eisenhut und schüttelte den Kopf. »Solch ein Hund!«
Er stampfte mit dem Fuße und rief: »Warum bellst du nicht, wenn ein Fremder
kommt!« Das Hündchen rannte entsetzt davon und kroch unter einen Diwan.

Eisenhut stellte die Kerze auf den Tisch und sank erschöpft auf den alten
Lederdiwan. Er schloß die Augen und sah aus wie ein Greis. Er zitterte am
ganzen Körper.

Das Zimmer war eine Art Halle und hatte eine gewölbte Decke und zwei breite
Fenster in tiefen Nischen, der Boden war krumm und knarrte bei jedem
Schritte; ein mächtiger hellbrauner Ofen in der Form eines Würfels, der auf
vier Kugeln stand, der alte Lederdiwan, ein hoher zerrissener Sessel mit
geschnitzter Lehne, ein großer schwarzer Schrank, einige Stühle, der Tisch,
das war alles, was im Zimmer stand. Die Wände waren vollständig nackt, nur
an dem Pfeiler zwischen den Fenstern hing ein Bild, jedoch bis zur
Unkenntlichkeit vom Rauch geschwärzt. Die Fenster waren ohne Gardinen, das
Zimmer kahl und unordentlich, man konnte glauben in einem Gefängnis zu
sein.

Es war eisig kalt hier.

Plötzlich sah Grau Eisenhuts Augen auf sich gerichtet, Eisenhut verfolgte
ihn mit den Blicken. Er lächelte spöttisch. Dann begann er zu sprechen,
aber die Stimme versagte ihm, er räusperte sich und begann von neuem.
»Weshalb gehen Sie denn nicht?« fragte er heiser. Er zitterte.

»Davon ist nun gar nicht die Rede. Vor allen Dingen will ich Feuer
anschüren,« versetzte Grau. »Wo kann ich Holz finden? Sie müssen trachten
ins Bett zu kommen, Herr Eisenhut.«

Eisenhut schloß wieder die Augen; er wiegte den Kopf hin und her und
murmelte, daß er gewohnt sei, in den Kleidern zu schlafen.

Grau ging hinaus und suchte die Küche. Hier fand er einen großen Haufen von
Tannenzapfen, Ästen, Stücken von Latten und Splittern von Bauholz. Das
zerbrochene Rad eines Kinderkärrchens lag dabei, ein Peitschenstiel, ein
unbrauchbarer Kochlöffel und viele Dinge, wie man sie auf der Straße finden
kann. Auf ein Bord waren Kohlenbrocken gelegt, geordnet zu einem langen
Zuge, Stückchen um Stückchen, einige Reihen. Ebenso entdeckte Grau auf
einem Gesimse eine Sammlung alter Eisenteile, Schrauben, Nägel, Hufeisen,
das Stück einer Eisenbahnschiene und einen Türdrücker.

Grau füllte den gelben Ofen mit Holz und machte Feuer. Dann kam er wieder
aus der Küche zurück mit einem Kochtopf voll Wasser, mit Tellern, Messern,
Brot und einem riesigen Stück Speck, das er in der Küche entdeckt hatte. Er
stellte den Topf auf den Ofen, schnitt Brot und Speck und hantierte
lautlos, während Eisenhut auf dem Diwan saß und zu schlafen schien.
Zeitweise öffnete er ein Auge und lächelte spöttisch. Das kleine Hündchen
streckte die Schnauze unter dem Diwan vor und verfolgte jede Bewegung
Graus.

Der dicke Ofen begann zu prasseln und zu fauchen, manchmal knallte es wie
Schüsse in seinem Innern und weißlicher dicker Rauch quoll aus den Fugen.

Es war lange still. Dann ging Grau hinaus und holte Gläser aus der Küche.

Eisenhut blinzelte. »Sie bemühen sich!« sagte er leise. »Sie bemühen sich!«
Er lächelte spöttisch.

Grau lächelte und antwortete freundlich: »Die Mühe ist sehr gering, Herr
Eisenhut. Wenn Sie mir einen Dienst erweisen wollen, so sagen Sie mir,
bitte, ob ich nicht etwas Kognak finden kann.«

Eisenhut lächelte und deutete auf den alten schwarzen Schrank.

Dieser Schrank sah im Innern aus wie das Schaufenster eines
Branntweinfabrikanten, er war angefüllt mit Flaschen von allen Größen und
Farben und Formen, zierlichen Flakons, dicken Bocksbeuteln; Eisenhut schien
auch Liebhaber von Phantasieflaschen zu sein, da stand eine Flasche aus
zwei Kugeln, ein pechschwarzer Neger in rot-weiß-gestreifter Badehose und
mit weißen lachenden Zähnen, und andere Sehenswürdigkeiten. Eine Menge von
Kerzenstumpfen und Zigarrenresten, ein Revolver und ein Fernglas lagen in
dem obersten Fach, das mit staubigen Weinflaschen vollgestopft war.

»Ah, das ist ja ganz prächtig,« sagte Grau. »Hier haben wir alles was wir
brauchen.«

Er bereitete Grog und stellte ein Glas vor Eisenhut. »Bitte,« sagte er. Er
blickte im Zimmer umher, schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Wie häßlich
Sie doch wohnen, Herr Eisenhut! Ein Mann wie Sie, Gott stehe mir bei! Wie
schön könnten Sie es hier haben, eine freundliche Farbe an den Wänden,
Vorhänge, ein hübscher Teppich. Ein paar Bilder, die Sie erfreuen, so oft
Sie sie ansehen, eine Uhr mit einem langen Pendel, die Ihnen die Zeit
vormißt und etwas Lärm macht. Sie könnten es schön haben, daß es eine
Freude wäre, zu Ihnen zu kommen.«

»Sie haben auch keine Bücher hier. Ein Bord mit schönen Büchern. Wenn Sie
allein sind oder müde, dann könnten Sie sich in den Sessel setzen und lesen
bei der Lampe. Ich liebe das sehr, ich für meine Person. Es gibt so
herrliche Bücher. Die ganze Welt ist darin, alles was die Menschen gedacht
und gefühlt haben. Sie können in der Gesellschaft von wirklich großen und
außerordentlichen Menschen leben, die alle wie Freunde zu Ihnen sind. Sie
finden Friede, Ruhe und Halt, Freude, Schönheit und Rat. Sehen Sie, hier an
dieser Wand, da könnten die Bücher stehen. Ich werde mit Ihnen in den
nächsten Tagen zum Buchhändler gehen. -- Wollen Sie nicht den Grog trinken?
Der wird Ihnen gut tun. Vielleicht wünschen Sie ihn ein wenig stärker?«

Eisenhut schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen.

»Seien Sie kein Narr! Ich will Ihnen die Schuhe ausziehen, es wird warm
hier, alle Wetter! Das ist gut für uns beide.« Grau zog ihm die Stiefel
aus. Eisenhut richtete sich auf und blickte sich nach dem Hündchen um. Das
kleine braune Hündchen verschwand blitzschnell unter dem Diwan und zerrte
ein Paar alte Pantoffeln hervor.

»Was für ein hübsches und kluges Hündchen!« sagte Grau. »Ich darf ihm doch
etwas Speck geben? Du hast deine Sache ganz außerordentlich gut gemacht!«

Wä! Wä! Wäwä!

»Schon gut, schon gut! Siehst du, das hat mir gefallen, schleppst die
Pantoffeln für deinen Herrn herbei und bist selbst so klein. Nun auf Ihre
Gesundheit, Herr Eisenhut, auf unsere Gesundheit, raffen Sie sich auf,
stärken Sie sich!«

Eisenhut schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin. Sein Auge war trübe
und hoffnungslos. »Es ist alles vorbei!« murmelte er leise und nickte. Er
schlürfte langsam den heißen Grog, er zitterte immer noch. Grau machte ihm
ein zweites Glas zurecht. »Nein, nein!« sagte Eisenhut, aber er schlürfte
auch dieses Glas. Es wurde warm und er hörte auf zu zittern.

Plötzlich stand Grau auf und legte seine Hand auf Eisenhuts Schulter und
dann umarmte er ihn. »Ich bin als Freund zu Ihnen gekommen!« flüsterte er.

Eisenhuts Schultern bebten.

Es war stille und die lange Ofenröhre ließ einen hohlen surrenden Ton
hören. Vom Marktplatze herauf drang der fröhliche Lärm einer Gesellschaft,
die sich verabschiedete. Gute Nacht, gute Nacht -- huhu!

»Glauben Sie an die Hölle?« fragte Eisenhut leise nach einer Weile.

»Nein.«

»Sie glauben nicht daran?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht daran glaube, ich fühle nicht so.«

»Gut. Aber Sie täuschen sich. Es gibt eine Hölle. Ja! Hören Sie wohl, es
gibt eine Hölle, sage ich Ihnen! Die Erde ist die Hölle, das Leben ist die
Hölle, ich bin die Hölle, sehen Sie her, hier, hier ist die Hölle. Meine
Gedanken und meine Gefühle sind meine Hölle, meine Träume! Ich kann einen
Hund vor mein Haus legen, daß niemand herein kommt, aber -- frage ich Sie
-- kann ich einen Hund vor meinen Kopf und mein Herz legen? Wenn ich wache,
da kann ich mich betäuben, ich kann Karten spielen, ich bringe vielleicht
meine Gedanken los, aber wenn ich schlafe --? Sie träumen, daß ihr Körper
mit Aussatz bedeckt ist, mit Geschwüren, mit einer Kruste aus Linsen, was
ist das? Ist das ein Leben? Das ist die Hölle. Oder eine Spinne sitzt auf
ihren Augen und saugt sie aus. Das ist entsetzlich!«

»Warum kann ich nicht sein wie andre Menschen, die fröhlich und guter Dinge
sind? Warum kann ich nicht sagen: Ach, guten Tag, wie geht's? und dabei
lächeln? Ich fühle mich unbehaglich in Gesellschaft -- ich hasse die
Menschen! Aber warum hasse ich sie doch? Warum, warum? Habe ich mich selbst
so geschaffen? Ich hasse die Menschen, das ist ebenfalls die Hölle. Ich
sehe die Menschen lachen und fröhlich sein, es gibt mir einen Stich, ich
höre, daß man einen Menschen lobt, daß man gut und bewundernd von ihm
spricht, das kann ich nicht ertragen -- ich schimpfe über ihn. Ich mache
ihn schlecht. Ich glaube nicht an das Gute. Die guten Menschen, denke ich,
sind alle Heuchler, sie hassen sich ja doch, alle zusammen, sie hassen
einander wie Teufel. Ich glaube nicht an Gott, an nichts glaube ich. Ich
freue mich, wenn es einem Menschen schlecht geht. Er bricht das Bein, ich
lache und sage: Recht so, recht so, nur frisch darauf los Beine gebrochen,
ich freue mich. Ich lese die Zeitung. Ein Eisenbahnunglück. Selbst das
macht mir eine geheime Freude, obwohl die Leute mir ja ganz fremd sind.
Haha -- so bin ich, bei Gott. So kann ich nicht mehr leben, sterben kann
ich auch nicht, denn ich liebe das Leben, schrecklich liebe ich es,
obgleich es die Hölle ist. Wie soll ich es doch anpacken?« Er schüttelte
den Kopf. »Und ich bin so weit, daß es mir ein Vergnügen ist, Ihnen meinen
Bankerott zu erklären, es macht mir Freude, Sie sehen zu lassen, wie gemein
ich bin. Hören Sie zu, hören Sie geduldig zu. Ich liebe das Geld, offen und
ehrlich gestanden. Das ist das einzige, sage ich zu mir, was du hast. Und
sie beneiden dich darum, die andern. Sie kommen zu mir und wollen Geld.
Nichts als Geld, keiner hat noch etwas andres von mir verlangt. Ich liebe
das Geld und wenn ich es hergebe, so ist es nur, um mir den Menschen zu
kaufen, er wird freundlich gegen mich, er lächelt, wenn er mich sieht. So
ist es und um kein Haar anders. Ich will, daß die Menschen vor mir auf dem
Bauch liegen. Wenn ein Mensch mir schmeichelt -- nimm! nimm! er kann alles
haben -- ich glaube ihm ja nicht, aber es ist doch schön all die hübschen
Worte zu hören -- Herr Eisenhut hin und Herr Eisenhut her, vorwärts und
rückwärts -- wie geht es Ihnen, Herr Eisenhut, Sie sehen krank aus! Dieser
Herr Eisenhut, was für ein nobler und feiner Mann ist er doch! Ja, wenn ich
es glauben könnte, aber ich kann es ja nicht glauben. Ich glaube nichts.
Sobald man mir etwas sagt, so verzieht einer in mir -- hier, in meiner
Brust, das Gesicht und grinst. Er spricht ja nicht die Wahrheit, denke ich.
Ein nobler und feiner Mann! Aber weshalb könnte er es denn nicht wirklich
meinen? ich habe ihm ja gar nichts getan. Sprechen Sie?«

»Weil er Sie wahrscheinlich nicht dafür hält, Herr Eisenhut!«

»Aber es gibt ja viele Lumpen und Hunde ringsumher -- wie spricht man von
ihnen? Man ist freundlich, Ja, man liebt sie. Man liebt sie, obgleich sie
Lumpen und Hunde sind! Warum das? Warum liebt mich keiner?«

»Weil Sie die Menschen nicht lieben, Eisenhut!«

Eisenhut lächelte und seine Züge verzerrten sich. Er nickte. »Ich hasse die
Menschen, es ist wahr! Aber ich gebe mir doch Mühe, das nicht sehen zu
lassen.«

Grau lächelte und legte die Hand auf Eisenhuts Schulter. »Das hilft Ihnen
nichts.« sagte er. »Die Menschen fühlen es, obgleich Sie Liebe und
Freundschaft heucheln.«

Eisenhut sah ihn an, er blinzelte nicht. »Sie fühlen es?« Er blickte mit
hilflosen Augen vor sich hin und gab dem kleinen Hunde einen Stoß auf die
Schnauze, als er sich ihm zu Füßen setzte. Der Hund sah ihn erschrocken und
erstaunt an und blickte auch auf Grau, was er davon halte? »Wenn ich daran
denke, an alles denke, so ist mein Leben eine fortgesetzte Blamage
gewesen,« fuhr Eisenhut fort und stützte das verzehrte Gesicht in die
Hände. »Ja, ja, dreimal ja! Eine einzige Blamage. Ich will gar nicht daran
denken, wie die Bauern mich durchgeprügelt haben -- das ist ja eine
Kleinigkeit -- aber ich mache den Mund auf -- ich sage etwas, ich tue etwas
-- alles ist nichts als Blamage. Ich bin auch so unwissend -- ich schäme
mich -- so unwissend -- ich kann nicht richtig schreiben, einmal wollte ich
einen Brief an eine Dame schreiben, ich konnte nicht, diese Sätze, Komma,
Punkt, diese Wörter, man schreibt sie hin, sie haben keinen Sinn mehr, es
ist zum wahnsinnig werden. Haha, wie haben sie gelacht, dieser Professor
Richter und die ganze Bande -- -- ich spreche -- alle lachen, die Herren
und die Damen. Sie sprechen von einer Stadt und ich denke, sie liegt in
Deutschland, aber die Stadt liegt in China. Alles lacht, alles! Ich lache
mit und sage, ja, man kann sich täuschen. Aber ich liebe es, gebildet zu
erscheinen, trotzdem ich nichts weiß, ich sage ein Wort französisch, ich
streue ein lateinisches Wort ein -- damit man glaubt, dieser Eisenhut kennt
eine Menge Sprachen -- aber ich wende ein fremdes Wort an und wieder lacht
man. Das ist doch kein Vergnügen, oder?«

Aber das sei ja weiter nicht schlimm. Wenn er fühle, daß er unwissend sei,
und darunter leide, weshalb lasse er sich nicht belehren.

»Glauben Sie? Glauben Sie, daß es nicht zu spät ist?«

»Wie alt sind Sie denn, um Gottes willen?«

»Dreiunddreißig.«

Grau lachte.

Eisenhut flüsterte: »Niemand weiß es. Ich habe gar keinen Unterricht
genossen. Meine Mutter sagte, was brauchst du den Kram, du hast Geld. Lenz
hat mich unterrichtet -- aber was war es doch? Er spielte Karten mit meinem
Vater -- sie tranken und spielten -- Ah, sagte Lenz, dein Sohn braucht
nichts zu lernen, er saugt die Weisheit aus dem Leben und aus der Natur!
Auf diese Weise habe ich gar nichts gelernt, könnte ich dem Lehrer den
Schädel einschlagen! Ich habe nie den Mut gehabt, Unterricht zu nehmen,
denn der Lehrer hätte ja gesehen, wie unwissend ich bin.«

»Das ist ja nebensächlich, das läßt sich leicht nachholen,« warf Grau ein.
»Mit einigem guten Willen.«

»Ja?« sagte Eisenhut und nickte. »Das ist es ja nicht, es ist auch nur ein
Stückchen. Aber alles zusammen, alles, alles. Ich könnte nicht einmal alles
sagen, selbst wenn ich wollte. Solch schreckliche Dinge! Aber was sagen Sie
dazu, wenn einem Menschen mit der Zeit alles gleichgültig wird? Hören Sie,
ist es möglich, daß es einem Menschen gleichgültig ist, ob es Tag oder
Nacht ist? Ich liege im Bett und wage nicht aufzustehen, nicht aufzuwachen,
denn ich fürchte mich vor dem Tag, vor der Langeweile und dem Nichts. Was
wird vorgehen, frage ich mich? Nichts, nichts! Weshalb soll ich aufstehen?
Nun, ich stehe nicht auf, ich möchte im Bette liegen und schlafen, immerzu,
bis ich sterbe. Aber auch das ist sinnlos. Ich stehe auf, und ich denke,
warum bist du aufgestanden, hast ja nichts zu tun. Ich gehe auf die Straße
und die Sonne scheint. Mein Gott, wie gut es ist, daß die Sonne scheint,
denke ich. Ich freue mich, ich grüße die Leute. Das ist das Leben, denke
ich, wenn die Sonne scheint und der Mensch fröhlich ist. Ich gehe ein wenig
in der Sonne und freue mich nicht mehr. Es ist ja so einerlei, ganz
einerlei, ob die Sonne scheint oder nicht. So gehe ich in das nächste
Wirtshaus, setze mich hin, trinke Bier, esse Käse, sitze da, stundenlang
und trinke -- es ist mir ja alles einerlei. Ich kann ruhig hier sitzen,
warum nicht? Mein Kopf ist leer, ich kann nichts denken. Aber ich kann
träumen. Ich denke, ich gehe, gehe auf der Straße, da kommen sechs junge
Mädchen daher, Arm in Arm und lachen mich an. Ich träume, ich gehe durch
den Wald und eine Dame kommt daher und begrüßt mich und plaudert mit mir,
ganz wie mit andern Herrn, ja, was will ich sonst? Nichts andres will ich
sonst! Aber wenn ich der Dame in Wirklichkeit begegne, so grüßt sie kaum
und läßt mich stehen. Haha, denke ich, so sind sie, und ich trinke. Oh,
wenn sie doch zum Teufel ginge, sie und alle Mädchen, die immer lachen und
vergnügt sind, alle, alle, mit ihr in die Hölle! Ich wünsche, daß sie krank
wird und ihr die Haare ausfallen und ich freue mich -- ja, wie häßlich wird
sie doch aussehen? Niemand wird sie mehr ansehen -- auch ich -- nein, ich
nicht, ich werde alles für sie tun, was sie will. Alles, alles, sie mag
häßlich sein wie sie will. Aber das alles wird ja nie sein. Sie wird leben
und fröhlich sein, alle, alle Menschen. Ich fluche den Menschen, auch
meinen Freunden! Habe ich welche? -- Mögen sie dahinfahren! Brauche ich
Freunde, nein? Ich lache, alles ist ja gleichgültig und ich brüte vor mich
hin -- ja, nun ist mir wieder alles einerlei -- alles -- aber das ist noch
schrecklicher, lieber noch Haß, noch Qual -- Das ist das schrecklichste
meiner Hölle, daß mir alles einerlei geworden ist!« Er stand mit einer
Gebärde des Ekels auf. -- Seine Züge waren bleich und verfallen. Die Linien
um seinen Mund waren tief und gaben dem Gesichte den Ausdruck eines
trostlosen Lächelns, obgleich er keine Miene bewegte. Ein verzweifeltes
stummes Lachen war für immer in sein Gesicht eingegraben. Seine Augen waren
scharf und brannten in kranker Glut, wie die eines Irren. Er ergriff das
Glas mit Grog, das Grau für ihn gerichtet hatte und stürzte es hinunter.
Seine Hand zitterte.

»Ja!« sagte er heiser wie ein Mensch, der lange geweint hat. »Laßt uns
trinken! Geben Sie mir noch ein Glas, es ist so nicht auszuhalten. Alles
peinigt mich! Dieses Zimmer, ich brauche es nur anzusehen! Dieses Sofa,
dieser Stuhl, alles quält mich! In meinem Kopfe geht etwas herum, immer das
gleiche! Haben Sie das schon erlebt, daß in Ihrem Kopfe immer das gleiche
herumgeht, etwas das Sie foltert, wachen Sie auf, es ist da, gehen Sie zu
Bett, es ist da. Es ist immer da, es weicht nicht mehr. Jemand lacht, es
ist in seinem Lachen, sie trinken eine Flasche Schnaps, es ist in der
Flasche. Es ist immer da! Sie werden ohnmächtig, aber je ohnmächtiger Sie
werden, desto mehr ist es da! Sie werden wahnsinnig, aber dann ist es für
immer da. Es quält mich, weil es immer da ist. Hier -- hier -- der Boden,
der Stuhl, auf dem Sie sitzen, die Türschwelle -- da ist es! Hören Sie! Es
ist das Tollste, was Sie je gehört haben. Hören Sie?«

»Ich höre, sprechen Sie, Eisenhut!« sagte Grau.

Eisenhut atmete tief und begann: »Eines Nachts da klopft es an meine Türe
-- ich muß es Ihnen sagen, ich muß! -- es klopft, ich horche, es klopft an
der Türe, die zum Garten führt. Ha! denke ich, wer, bei allen Teufeln, soll
denn mitten in der Nacht an der Türe, der hintern Türe klopfen? Bum, bum!
Die Haare stehen mir zu Berg, ich bekomme Angst und es siedet in meinem
Kopfe. Ich sitze hier an meinem Tische wie aus Stein. Vielleicht sind es
Diebe oder Mörder, die dich hinauslocken wollen? Nero beginnt zu kläffen.
Pack, pack! sage ich, pack Nero, und öffne die Türe und er kollert die
Treppe hinunter und bellt. Bum, bum! Ich gehe ins Schlafzimmer, nehme das
Gewehr und öffne vorsichtig ein Fenster. Wer ist da! schreie ich laut, aus
Angst schreie ich so laut. Jemand lacht leise im Garten. Ja, zur Hölle mit
dir, wer kann denn im Garten lachen, das ist doch unerhört! Wer ist da? Es
ist eine Dame, deren Stimme ich kenne.« Hier hielt Eisenhut inne und
blickte auf Grau. Ein Schatten fiel über sein Gesicht, nur das Kinn war
beleuchtet und Grau sah, daß sein Mund lächelte, so wie der eines Menschen,
der horcht und lächelt zu gleicher Zeit. »Es sind weder Diebe noch Mörder,«
fuhr er fort »es ist ja eine Dame, die du kennst. Sie hat mit mir zu
sprechen. Was um alles in der Welt -- es ist ja Nacht -- tiefe Nacht! --
Ich öffne. Sie tritt ein und lacht. Was ist das eigentlich mit den Hunden,
vor denen gewarnt wird, und mit den Fußangeln und Selbstschüssen in Ihrem
Garten, sagt sie und lacht als ob es heller Tag wäre. Bitte? Ja, das sei
eine Finte, um das Gesindel abzuschrecken. Nichts ist wahr daran! Nun also,
bitte? Sie habe mit mir zu sprechen. Bitte, sage ich, bitte, hier ist es
finster ich bringe Licht, Licht, sofort, sofort, bitte, gnädiges Fräulein.
Hier sitzt sie also, hier, mein lieber Herr, hier, wo Sie jetzt sitzen. Es
ist zwei Uhr nachts, es ist Sommer. Geben Sie mir noch ein Glas Grog, ich
muß trinken, ich freue mich. Sie sitzt hier, sie hat dringend mit mir zu
sprechen. Es war am dritten Juni, nachts zwei Uhr. Sie kommt mit einer
großen Bitte, sie weiß nicht, ob ich sie ihr erfüllen werde. Bitte, bitte,
sage ich, mein gnädiges Fräulein -- nein, sie will nichts trinken, sie hat
es auch sehr eilig, es tut ihr leid, daß sie nicht immer liebenswürdig mit
mir umging. Ich muß verzeihen, Launen, sie ist sehr launisch. So sprach
sie, so freundlich und blickte mir in die Augen. Sie sagte einfach
Eisenhut, nicht Herr Eisenhut, nein, gibt's nicht, Eisenhut bin ich. Bitte,
sage ich, wenn es in meiner Macht steht? Ja, es steht in Ihrer Macht, es
ist so leicht für Sie, Eisenhut. -- Eisenhut, einfach Eisenhut! -- Sie hat
ein hellrotes Tuch um die Schultern geschlungen und blickt mich an. Es
hätten sich zu Hause Dinge ereignet, die unangenehmsten Dinge --. Geld!
Auch sie wollte Geld von mir! Sie sind ja doch kein Geizhals, Eisenhut,
sagte sie. Eine plötzliche Forderung -- hm -- ihre Mutter sei
sterbenskrank, das ganze Haus, nun käme sie zu mir, sie habe Vertrauen zu
meiner Güte. Güte? denke ich. Sie lügt, sie will Geld. Da sitzt sie nun,
sie blickt mich an, sie tut ganz gleichgültig, spricht als ob sie vom
Wetter spreche, aber sie bebt, sie bebt! Warum soll ich nicht helfen, denke
ich, warum nicht? Die Familie ist verschuldet, das Geld ist verloren, ich
kann es ebensogut einem Hunde zum Fressen geben -- niemals wirst du auch
einen Pfennig wieder sehen! -- aber da sitzt sie ja, ich sehe wie sie
innerlich zittert. Das freut mich -- unsäglich! Da sitzt sie, früher, da
sah sie mich nicht an, sie reckte die Nase in die Luft, sie ging wie eine
Königin durch die Straßen und wir andern alle waren Hanswurste und Luft für
sie. Aber da sitzt sie nun -- weshalb soll ich nicht -- wie? Wieviel
ungefähr? Sie atmet zweimal tief, pickt mit dem Finger Brotkörnchen vom
Tisch, sie lächelt, und sagt: zwanzigtausend Mark. Zwan--zig--tausend --
sie hatte wohl den Verstand -- nein, nein, nein. Ah, was die Leute doch
denken. Esse ich Gansbraten und eingemachte Birnen? Ich esse nur einmal im
Tage -- nein! Da steht sie auf, sie legt mir die Hand auf die Schulter. Es
ist so leicht für Sie, in einigen Monaten bekommen Sie es zurück. Ich
stelle Ihnen einen Wechsel aus, einen Schuldschein, wie Sie wollen. Es wird
alles geschäftsmäßig geregelt werden -- nun spricht sie wie ein Bankier.
Aber sie bebt ja doch! Sie sieht, daß ich zögere, sie fährt mir mit der
Hand übers Haar, sie legt ihre Hand auf die meine. Hören Sie, sage ich zu
ihr, hören Sie, gnädiges Fräulein, Sie wissen, daß ich Sie liebe, werden
Sie meine Frau. Ich liebe Sie, Sie können tun was Sie wollen, nur daß ich
Sie täglich sehen kann -- denn ich will ja lieber Ihr Lakai sein, als der
Mann einer der geschwollenen Krämerstöchter von hier. So sage ich und sie
hört aufmerksam zu. Ich sage, Sie werden dann so viel Geld haben wie Sie
nur wünschen. Alles wird Ihnen gehören, alles, eine Million und mehr! Haben
Sie soviel? fragt sie und lächelt. Ja, sage ich, ich lüge nicht. Ich öffne
die Türe und zeige ihr den Schrank, öffne ihn: Sehen Sie! Alles sollen Sie
haben. Hören Sie, Eisenhut, sagte sie, es kann doch nicht so rasch gehen,
ich muß es mir doch überlegen und wenn ich Ihre Frau werde, so werde ich es
doch nicht Ihres Geldes halber. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter und
lächelt. Ich möchte sie an mich ziehen, aber sie macht eine kleine Bewegung
und ich tue es nicht. Ich sage zu ihr, daß ich ordentlich und gut werden
würde -- ich schwöre ihr, nicht mehr zu trinken. Sie soll befehlen und ich
gehorche, blindlings. Ihr Lakai werde ich sein. Ja, sie wolle nachdenken.
So schnell kann es ja nicht gehen, mein Freund -- sagt sie -- mein Freund,
das ist ja ausgeschlossen. Sie müßten bei meinen Eltern um meine Hand
anhalten, aber so -- ich bringe Ihnen ja gewiß Freundschaft und Sympathie
entgegen, obgleich ich immer launisch gegen Sie war -- ob ich Sie aber
heiraten kann, das muß ich mir doch überlegen. -- Wann werden Sie mir
Antwort sagen? -- Morgen oder in den allernächsten Tagen. Gut, sage ich,
dann will ich Ihnen das Geld mitbringen. Sie besinnt sich und setzt sich
langsam nieder. -- Das geht ja nicht, mein Freund, sagt sie! Morgen gibt es
zu Hause eine Katastrophe, wenn die Forderung nicht eingelöst werden kann.
Es ist ein Wechsel. Könnte es Ihnen nicht einerlei sein -- ich komme morgen
wieder zu Ihnen, ich verspreche es Ihnen. -- Gut, ich zähle ihr die Scheine
hin. Danke, sagt sie, und zählt das Geld sorgfältig nach -- aber ich sehe,
wie ihre Hand bebt. Sie geht. Über diese Schwelle hier ist sie gegangen.
Sie geht wieder durch den Garten. Also morgen! sage ich. Ja, antwortet sie,
wenn es mir möglich ist, sicherlich. -- Am andern Tage gehe ich zum
Schneider und lasse mir einen Frack anmessen. Sie heiraten wohl? Ja,
vielleicht. Ich warte. Der Tag vergeht, sie kommt nicht. Ich warte einige
Tage. Der Frack ist fertig. Ich probiere ihn an und der Gedanke kommt mir
in den Kopf um ihre Hand anzuhalten. Ja? Sofort -- vorwärts, -- haha --
vielleicht ist sie krank. Gut. Der Vater empfängt mich. Wie? sagt er. Ich
spreche und er lacht. Na, sagt er, Herr Eisenhut, was fällt Ihnen doch ein
-- hahaha -- er lacht -- er lacht und sagt: Entschuldigen Sie, ich lache ja
nicht -- es ist ja höchst ehrenvoll -- aber ich glaube, daß meine Tochter
-- hahaha! -- daß meine Tochter, na, daß die Wünsche und Absichten meiner
Tochter -- übrigens, wer kennt die Frauen? Sie wird es Ihnen ja sagen.
Konrad -- meine Tochter soll kommen. -- Sie kommt. Ich sehe sie nicht, aber
ich höre ihren Schritt, obwohl Teppiche gelegt sind, höre ich ihn. Sie ist
da. -- Herr Eisenhut gibt uns die Ehre, gibt dir die Ehre -- Sie ist
totenbleich -- sie sieht mich an und auch ihre Lippen werden blaß -- sie
hat Angst, ich werde sprechen -- nein, Sie brauchen keine Angst zu haben,
nein, so bin ich ja nun doch nicht -- ich werde Sie nicht verraten. Sie
lächelt, gibt mir freundliche und höfliche Worte. Sie sagt nicht Ja, sie
sagt nicht Nein, sie sagt hmhm. Ich gehe. Der Diener lächelt ebenfalls.
Soll ich dich aufs Maul hauen, du Affe? -- Ich warte, ich denke, wie dumm,
wie voreilig. Endlich treffe ich die Dame und sage: Nun? Wie steht es mit
der Antwort? -- Sie lächelt und sagt: Ja, was für Einfälle Sie doch haben,
Sie kommen ins Haus -- ich bin ja nicht wiedergekommen, war Ihnen das nicht
klar genug? -- Ich sage: Haha, was ist das! Sie haben aber versprochen zu
kommen. Ja, sagt sie gleichgültig. Ich möchte Sie bitten weniger laut zu
sprechen und sich weniger auffallend zu gebärden, Herr Eisenhut, wenn uns
jemand beobachtet! -- Nun sprechen Sie ja ganz anders, seht an, sage ich,
neulich da konnten Sie viel freundlicher sein. Sie haben von Freundschaft
und Sympathie gesprochen -- was weiß ich -- es war aber nur eine Falle, so
ist es. Sie haben wohl auch nie im entferntesten daran gedacht, mich zu
heiraten -- wie? -- Sie sieht mich an und lächelt verächtlich. Wenn Sie es
wissen wollen: Nein! Ich bitte Sie nun -- Was bitten Sie! schreie ich. Dann
haben Sie mich einfach betrogen! -- Sie stampft mit den Füßen und wird
blaß. Bitte! sagt sie und sieht mich an als ob ich ein Lakai wäre. Ich
hätte nicht gedacht, daß Sie ein solch ungebildeter Mann wären! Außerdem
wäre es mir nie in den Sinn gekommen Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.
Sie geht. -- Ja, wie konnte ich auch so ungebildet schreien, denke ich, wie
konnte ich mich so vergessen. -- Ich kam mir vor wie ein Hund. Ich trank,
schrecklich trank ich in dieser Zeit, ich wollte gar nicht mehr zur
Besinnung kommen. Ich habe eine Dame beleidigt und liebe sie doch, ja zum
Teufel mit mir! Ich trinke hier in dem gleichen Zimmer, wo sie mir das Haar
streichelte. Ich bin ein ungebildeter Mann, jawohl, ganz richtig. Das ist
wahr, sie hat es gesagt. Ich könnte mir die Haare ausreißen! Sie hätte mich
ja nie um eine Gefälligkeit gebeten, wenn sie gewußt hätte, was für ein
ungebildeter Mann ich eigentlich bin. Ja, es ist wahr, sie heuchelte mir
etwas vor, sie machte mir Versprechungen -- soll ein Mensch in der Welt
aufstehen und das Gegenteil behaupten! -- sie schmeichelte mir, sie nahm
die Gefälligkeit von zwanzigtausend Mark mit sich, das tat sie -- aber
trotzdem! Und ich fluchte und trank, weil sie mich angelogen hatte, ich
trank weil ich ein Narr war und ihr glaubte, ich trank, weil ich sie
kränkte und am meisten trank ich, weil sie mich nun verachtete wegen meines
ungebildeten Benehmens. Ich mag schon gar nicht daran denken -- wie ich den
Freiersmann spielte und mir einen Korb holte -- Wie sollte ich je mit der
Sache fertig werden, je ins Klare kommen? Ich sitze hier und trinke und
deute auf den Tisch -- hier hast du also auf der einen Seite eine Dame, die
kommt, dich streichelt und heuchelt und verspricht und -- ich deute auf den
Tisch -- hier hast du also einen Mann, der sich die Freiheit nimmt zu
fragen, was denn eigentlich -- hier hast du also -- und hier -- nein! Mein
Kopf faßt das nicht. Wie ist es doch? Wer hat recht und wer hat unrecht.
Wie ist es doch? Nein, ich bin zu dumm, um das je herauszubekommen. Aber
Zorn kommt über mich, Wut, daß ich schreie! Hier hast du also, hier -- und
hier -- ja, ich bitte einen vernünftigen Menschen mir zu erklären -- wie?
Ist es vielleicht ein Vergnügen -- ich frage den Teufel! -- ist es ein
Vergnügen -- einen Frack anzuziehen -- wie -- und ein alter Habenichts
lacht -- ist das ein Vergnügen -- ich bitte weniger laut zu sprechen --
wenn uns jemand beobachtet -- wie? Gott im Himmel, wie soll ich das
verstehen! -- Ich hasse die Menschen! Was für eine Behandlung ist das? Ich
hasse die Frauen! Ja, ich liebte jene Dame, es ist die Wahrheit, ich liebte
sie. Aber nun hasse ich sie. Ich begegne ihr auf der Straße, ich grüße
nicht, ich blicke sie nur durchdringend an. Ich gehe an ihr vorüber und
ziehe einen Brief heraus, auf den ich mit haushohen Buchstaben Schuldschein
schrieb -- ich mache es so, daß sie es sieht. Ich hasse sie, sie könnte es
Schwarz auf Weiß haben -- ich treffe sie in der Buchhandlung und lasse den
Brief fallen. Sie soll nur etwas Angst vor mir haben, jetzt, da ich sie
hasse. Ich habe sie geliebt, was ist geschehen, daß ich sie jetzt hasse?
Habe ich zu mir gesagt: Hasse sie, hasse sie! Nein! -- Ich begegne ihr mit
den Freundinnen, sie spricht das erste Wort, sie reicht mir die Hand. Sie
spricht mit mir: Sie hat Angst. Gott im Himmel! denke ich, weshalb hat sie
doch nur Angst? Nun spricht sie freundlich mit mir, sagt, ob ich nicht zum
Tennis kommen wolle -- nur weil sie Angst hat. Ja, weshalb sollte sie denn
Angst haben? Vor mir? Ach, bei Gott, nein, sie braucht gar keine Angst zu
haben, ich tue ihr nichts, nein. Es ist ja schrecklich, zu sehen, daß sie
Angst hat. Denn ich liebe sie ja, ich hasse sie ja gar nicht, ich liebe
sie! Ich blicke auf ihr Haus und weine. -- Wie lächerlich, Angst zu haben,
ich werde es ihr sagen, von einem Skandal kann ja gar keine Rede sein. --
Ich laure auf den Wegen, bei ihrem Haus, endlich treffe ich sie. Ich nehme
den Brief aus der Tasche, um ihr den Schuldschein zurückzugeben -- sie
sieht mich an und sagt: Man wird Sie bezahlen, haben Sie keine Angst, Herr
Eisenhut. Aber ich bitte Sie mich gefälligst ungeschoren zu lassen, ich
kann ja keinen Fuß mehr aus dem Hause setzen, ohne daß Sie dastehen. --
Glauben Sie nun, ein Mensch wie ich, lächelt, gibt den Brief zurück, sagt
ihr, daß sie unbesorgt sein möge? Glauben Sie das? Dann sind Sie auf
falschem Wege. Ich bin nicht so. Nein. Was hat mich doch so wütend gemacht?
Ich stehe da mit dem Briefe und also muß sie denken -- deshalb spricht sie
ja so -- aber daß sie so spricht, ihre Haltung, ihr Blick -- alles -- was
hat mich doch wütend gemacht, daß ich schreie: Nehmen Sie sich in acht vor
dem Skandal! Ich schreie das, ich lache ganz gemütlich und gehe.

Ist das nicht um verrückt zu werden, wie? Nichts ist geblieben als Haß. Aus
allem, was man tut, nichts bleibt als Blamage, Ekel und Haß! Ach, wie ich
doch die Frauen hasse. Sie sind Schlangen, schön, wärmen sich in der Sonne
und glitzern, denken böse und sind giftig! Man sollte sie alle einsperren,
gehen daher und blähen sich auf. Nun, ich hasse sie! Ich hasse auch die
Männer, aber die Frauen hasse ich auf eine ganz andere Weise! Ich sitze
hier, bewerfe sie mit Schmutz und hasse sie. In manchen Stunden, da liebe
ich sie ja. Sie sind schön, Gott im Himmel, sie sind ja schön, sage ich,
schön und rührend sind sie. Ich bitte euch um Verzeihung, ihr Frauen auf
der ganzen Erde, ich! Aber der Haß kommt zurück. Auch die Menschen liebe
ich zuweilen, aber der Haß kommt zurück und zerfrißt mich wie Gift. Ist das
ein Dasein? frage ich Sie, was für ein Leben soll das sein! Es ist ein
Hundedasein, nichts als ein Hundedasein!«

Er lachte verzweifelt auf und schrie.

»Das ist das, hören Sir, Herr Grau, das ist das, nun habe ich es Ihnen
erzählt, das, was mich quält -- was nicht mehr von mir weicht, ich denke
daran, fresse daran über ein halbes Jahr -- immer wieder ziehe ich den
Frack an -- immer wieder -- geht die Dame über diese Schwelle -- immer
wieder spricht sie mit mir oben im Walde -- immer, immer, immer wieder --
ah!« Er vergrub den Kopf in den Händen.

»Halt!« schrie er. »Sagen Sie nichts! Es ist noch nicht alles! Ich muß
alles sagen, es muß heraus, ich muß es tun, Sie sollen wissen, wie es um
mich steht. Glauben Sie denn, es sei eine Wonne so zu leben -- mit all dem
im Kopfe? Wie ist das alles gekommen? Weiß ich es? Wie ist es gekommen, daß
alles sich in meinen Gedanken in Schmutz verwandelt? Jedes harmlose Wort --
ich höre es, man spricht es -- aber in meinem Kopfe verwandelt es sich zu
einer Niedrigkeit. Was für Gedanken habe ich doch früh und spät --
abscheuliche Gedanken, die kein Mensch ertragen kann, ich möchte weit fort
von ihnen, aber es geht nicht. Nichts ist schrecklicher als eine verdorbene
Phantasie -- sie ist ein Gespenst, das alles häßlich und stinkend macht.«
Er schauderte zusammen und schüttelte sich wie gepackt vom Grausen. »Auch
meine Phantasie ist eine Hölle!«

»Ich will nicht mehr!« fuhr er fort und wiegte den Kopf auf den Schultern
hin und her. »Ich will nicht -- aber ich muß -- ich muß Ihnen alles sagen.
Warum? Haben Sie mich etwas gefragt? Haben Sie zu mir gesagt: Nun,
Eisenhut, wie steht es mit dir? Was macht dir Qual? Nein! Nichts haben Sie
gesagt. Aber ich sage Ihnen alles, ich reiße vor Ihnen das ganze Haus ein,
damit Sie sehen, was darin ist. Ich verkaufe mich auf Abbruch vor Ihnen.
Warum? Vielleicht, weil Sie mir helfen sollen? Oder? Warum denn? Ich habe
Sie gesehen, ich habe gehört, was Sie sagten, damals bei der Beerdigung --
ich habe an Sie gedacht. Ich konnte meine Gedanken nicht mehr von Ihnen
losreißen. Warum? Kenne ich nicht hundert Leute, an die ich nicht denken
muß? Was ist das? Ich habe gedacht, wie schön und jung er ist und wie
freundlich und gleichmäßig liebenswürdig gegen jedermann. Vielleicht ist er
glücklich, vielleicht ist er gut und vielleicht hat er keine Hölle in der
Brust, keine häßlichen Gedanken, schöne Gedanken vielleicht! Nein, er ist
ein Dummkopf und ein Schwätzer, habe ich gedacht, er ist eine Art Idiot,
ein Narr -- so wie Professor Richter sagt. Aber trotzdem mußte ich an Sie
denken. Ich träumte von Ihnen, ich sah in Ihre Fenster, ich mußte Ihnen
immer begegnen, Sie immer ansehen. Ich ging um Sie herum, im Kreise, und
kam nicht mehr los von Ihnen. Was ist das? Am ersten Tage, da begegnete ich
Ihnen -- ich richtete es so ein -- ich tat, als ob ich grüßen wolle, ich
grüßte nicht. Aber Sie grüßten und sagten: Ein schöner Tag oder was Sie
doch sagten. Freundlich sahen Sie mich an. Ich aber lachte über Sie. Ich
lachte und ich weiß nicht, warum ich lachte. Sie läuteten an meiner Glocke,
am gleichen Tage, ich öffnete nicht. Ich dachte, aha, er hat eine Liste bei
sich, er will Geld! Aber nicht deshalb allein öffnete ich nicht, nein --
ich hatte Angst vor Ihnen, ganz plötzlich -- eine eigentümliche unsagbare
Angst. Seitdem mußte ich immer an Sie denken.«

»Ich träumte auch von Ihnen, ja! Ich träumte, einige Schurken hätten mich
angeschossen. Ich lag da und stöhnte und mein Gaumen brannte. Ich preßte
die Hand auf die Brust, das Blut schoß heraus, ich stand Todesängste aus --
da ging die Türe auf und Sie kamen herein. Ich wurde sofort ruhig. Sie
legten mir die Hand auf die Brust, da floß das Blut nicht mehr. Sie
feuchteten den Finger an den Augen an, da war die Wunde geheilt. Das
träumte ich von Ihnen und oft träumte ich von Ihnen.«

»Warum, warum? Seitdem ich Sie sah -- weshalb doch? Ich verstehe ja das
ganze Leben nicht mehr. Ich mußte an Sie denken und je mehr ich an Sie
denken mußte, desto mehr haßte ich Sie, je mehr ich Sie haßte, desto mehr
mußte ich an Sie denken. Wenn ich Sie nur sah, konnte ich wütend werden.
Sie gehen dahin, so leicht -- Ihre Augen sind so klar -- alles zusammen --
ich haßte Sie aber! Nun sitzen Sie da, ich erzähle Ihnen alles. Ich muß.
Ich muß fortfahren, ich weiß nicht warum.«

»Sie sollen von diesen Schuften hören, diesem Professor Richter, dem
Adjunkten, von Dr. Nürnberger -- von mir und ihnen -- alles sollen Sie
hören. Weshalb verkehre ich mit diesen Leuten? Weil sie gebildet sind, weil
sie angesehen sind! Oh, hätte ich sie nie kennen gelernt, diese Hunde, die
alle so sind -- so niedrig wie ich -- die nichts glauben, nur lachen,
nichts wollen, alles in den Schmutz ziehen -- diese -- nein, nein, nein,
genug -- einmal hat mich Dr. Nürnberger zum Duell herausgefordert, ich
glaubte es sei ihm Ernst -- ich -- nein, nein, nein -- genug -- nichts mehr
--«

Er schwieg und schloß die Augen und es sah aus als ob er ohnmächtig werden
würde. Grau wollte ihm eben beispringen, aber da sah er, daß Eisenhut
lächelte.

Er lächelte und ohne die Augen zu öffnen sagte er: »Es ist zu toll, es
waren ja gar keine zwanzigtausend Mark, die die Dame holte. Es waren nur
zehntausend!« Er schüttelte den Kopf, blinzelte und begann zu Graus
Erstaunen heiter zu lachen. »Ja,« rief er aus, »wie toll! Es waren ja nur
zehntausend Mark! Ich bildete mir ein, es seien zwanzigtausend gewesen, all
die Zeit lang und endlich glaubte ich es selbst. Ha! Ha! Ha! Ja, bei Gott,
so ist es mit mir! Ich lüge und manche Lügen wiederhole ich so oft, daß ich
sie selbst glaube. Warum muß ich denn immerzu lügen? Das ist sonderbar! Ich
komme in eine Wirtschaft und erzähle, daß ich soeben einen weißen Hirsch
gesehen habe. Weshalb, warum, wozu? Hat mich jemand gefragt, wie? Können
Sie mir das erklären?«

Grau antwortete: »Ich denke, Sie wollen sich interessant machen, Herr
Eisenhut.«

Eisenhut nickte, gleichsam befriedigt über Graus Antwort. »Ja, das ist es.
Ich habe mich schon wahnsinnig gestellt, ja sogar tot habe ich mich
gestellt -- sogar tot! Um Aufsehen zu erregen, um mich interessant zu
machen. Deshalb lüge ich auch immerzu. Ich habe auch Sie einmal angelogen,
als wir zu Mütterchen hinaus gingen. Daß Lenz mit den Mädchen im Sommer
spazieren ging und sagte: Alle auskleiden. Das war eine Lüge. Ha! Ha! Ha!
Wie kam ich doch darauf. Warum tat ich es doch! Ha! Ha! Ha!«

Grau unterbrach ihn, denn er sah, daß Eisenhut den äußersten Grad von
Erregung erreicht hatte. »Ruhen Sie sich aus, Eisenhut, sprechen Sie nicht
mehr!« sagte er und führte ihn zum Sofa.

»Ja, ja!« sagte Eisenhut. »Ha! Ha! Ha!«

Eisenhut schwieg. Dann lachte er wieder, sah Grau an und wurde plötzlich
ernst. »Sie sind gewissermaßen der allerschrecklichste Mensch!« flüsterte
er. »Mir graut vor Ihnen, denn man kann Sie nie kennen, nie, nie!«

»Aber lieber Freund!« sagte Grau. »Ruhen Sie doch ein wenig.«

Eisenhut nickte und schwieg.

Aber er begann von neuem und er sprach und flüsterte die ganze Nacht
hindurch. Das Licht der Kerze erlosch und sie saßen im Dunkeln. Durch die
Risse des Ofens flackerte der Schein des Feuers, das langsam erstarb. Er
sprach aus der Dunkelheit, lachte, schrie, schluchzte, flüsterte. All die
Qual, die in den Menschenherzen haust --

Grau zitterte, so daß er die Hände auf die Knie pressen mußte, um sich
nicht zu verraten. Warum zitterst du? fragte eine Stimme in ihm. »Es ist so
schrecklich, so schrecklich all das zu hören!«

Grau unterbrach ihn nicht; er sollte sich aussprechen. Die Scheiben der
Fenster wurden blau und begannen zu glitzern. Lautlos kam der Tag. Nichts
regte sich auf der Straße. Dann begann eine feine bimmelnde Glocke im
Kloster zu läuten und der Gesang der Mönche hallte aus der Ferne.

Eisenhut saß zusammengekrümmt im Sessel und schwieg.

Grau saß still und blickte zu ihm hin. Die Fenster wurden hellblau und die
Häuser gegenüber tauchten wie aus einem dicken Nebel auf.

Dann sagte Grau: »Sie haben viel gelitten, Eisenhut!«

»Ich bin verloren und schlecht, schlecht und verloren.«

Grau schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er, »aber Sie haben zu viel
gelitten! Sie sind nicht schlecht, nur schrecklich unglücklich sind Sie!«

Aber Eisenhut saß bleich, mit verzweifelten lechzenden Augen. »Kann ich
denn so leben?« fragte er und wollte aufstehen. Aber Grau drängte ihn
sitzen zu bleiben. Er sah ihn an, reichte ihm die Hand und drückte sie. Er
nickte und saß lange Zeit, die hellen freundlichen Augen auf ihn gerichtet.

»Geduld, Geduld!« sagte er endlich. »Nun wird es ja schon Tag; die Sonne
muß bald aufgehen. Sehen Sie doch, wie blau der Himmel wird, es wird ein
schöner klarer Tag werden. Was soll ich Ihnen doch sagen, Eisenhut? Da
sitze ich nun und beginne vom Wetter zu sprechen, weil ich nicht weiß, wie
ich beginnen soll. Ich bin ja so unerfahren und jung, Sie müssen Nachsicht
haben, ich bin ja sogar jünger als Sie, Eisenhut -- wie anmaßend wäre es
doch, wollte ich Ihnen Ratschläge geben. Sie haben Vertrauen zu mir gehabt
und wie schön ist es doch, daß Sie ein solch unbedingtes Vertrauen zu einem
Menschen haben konnten! Schön war es für mich, daß Sie mich damit
auszeichneten und ich werde Ihnen das nicht mehr vergessen. Ich habe mich
so gefreut darüber und ich danke Ihnen. Ich bin Ihr Freund, wenn Sie nur
wollten. Ja, ich gehöre Ihnen ganz! Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken,
es wird Sie stärken. Sind Sie müde? Nein? Ich denke mir, wie unglücklich
und arm Sie doch sind. Aus all dem was Sie mir erzählten, konnte ich ja
entnehmen, daß Sie niemals, aber auch niemals einen Freund gehabt haben.«

»Wir alle aber können nicht ohne Freunde leben!«

»Hören Sie, was Susanna einmal zu mir sagte. Sie sagte, wenn sie in den
Büchern liest, so fühlt sie, daß sie von all den Gestalten, die in den
Büchern vorkommen, etwas hat, ob sie nun schlecht oder gut sind. So empfand
auch ich, als ich Ihnen zuhörte. Ich bin Ihnen so sehr ähnlich; von all
Ihren Wünschen, Kämpfen, Schmerzen habe auch ich einen großen Teil. Ich
will ja nicht sagen, daß ich genau so bin wie Sie, nein, jeder Mensch ist
ja doch anders, aber so im allgemeinen? Mehr oder weniger sind alle
Menschen wie Sie, Eisenhut. Ach, schütteln Sie doch nicht den Kopf, es
scheint mir so, soweit ich die Menschen kenne Sie sind Ihnen alle verwandt.
Sie sind allein oder fühlen sich allein, ganz wie Sie. Sie leiden unter
dieser Einsamkeit, wie Sie. Sie haben Sehnsucht nach Liebe und
Freundschaft. Sie haben schlechte und häßliche und haßerfüllte Gedanken,
jeder Mensch hat sie zuweilen. Sie lügen und posieren, um gesehen, gehört,
beachtet zu werden, um interessant zu erscheinen. Ja, das tun fast alle.
Fast alle sind so empfindlich wie Sie und wir alle fühlen einen Tropfen
Essig stärker auf der Zunge als ein Pfund Honig. Alle sind so ehrgeizig,
alle legen so großen Wert auf die Liebe und die Achtung der Menschen wie
Sie -- und das ist ja nur gut! Wir alle möchten nicht nur geliebt, wir
möchten bewundert sein. Und das ist ja nur gut!«

»Das Leben ist gegen Sie unfreundlicher und nachsichtsloser gewesen als
gegen andere, Eisenhut. Das hat Sie bitter gemacht und Sie sind nicht stark
genug gewesen. Dann haben Sie in Ihrer Seele gewütet, wie haben Sie in
Ihrer Seele gewütet, Eisenhut, wie ein Mörder! Ja, das haben Sie getan,
verzeihen Sie mir, aber ich muß es sagen! Nun aber frage ich Sie, hat Ihre
Seele sich das gefallen lassen? Nein, nein! Sie hat sich gewehrt dagegen
und hat Sie gefoltert dafür und gepeinigt. Denn sie sagte sich: Genug,
genug, wie geht er doch mit mir um? Ihre Seele ist ja gut, Eisenhut. Sie
sind ja ein guter, wahrhaft guter Mensch! Das glauben Sie nicht? Seht an!
Ich habe ja schon früher von Ihnen gehört und es ist wahr, ich habe viel,
viel an Sie gedacht! Weshalb sehen Sie mich so an? Ja, das habe ich getan.
Ich habe mich in Gedanken viel mit Ihnen beschäftigt. Sie taten es ja auch
mit mir, nicht wahr? Ich habe gedacht, Eisenhut ist ein guter Mensch, den
man viel quälte. Ein guter, aber einsamer Mensch ist er, ich schwöre Ihnen,
ich habe das gedacht! Sie sind gut, sagen Sie, was Sie wollen. Sie hassen
die Menschen, weil sie Ihnen zuvor so große Liebe entgegen brachten. Wie
können Sie doch lieben! Haben Sie nicht gesagt -- als Sie von jener Frau
sprachen -- ich blicke auf ihr Haus und weine? Sie vergeben mir wohl, daß
ich es wage, Ihre intimsten Gefühle zu berühren. Ich will Ihnen ja nur
beweisen, wie gut Sie in Wirklichkeit sind und wie wenig Sie sich selbst
kennen. Das ist auch ein Fluch, eine Strafe für diejenigen, die in ihrer
Seele wüten, daß sie sich selbst nicht mehr kennen. Sie haben gesagt: Die
Sonne scheint, ich gehe auf die Straße, ich grüße die Leute -- kurz und
gut, ich könnte Ihnen ja an vielen, vielen Dingen zeigen, daß ich im Recht
bin. Haben Sie nicht auch jener Dame, die in der Not zu Ihnen kam,
geholfen?«

»Ich will Ihnen sagen, welchen Fehler Sie begangen haben. Sie haben jenen
Fehler begangen, den die meisten Menschen begehen: Sie suchten Glück und
Erlösung durch andere, durch Freunde und Freundinnen. Und Sie haben jenen
Fehler begangen, den die meisten Männer begehen, sie suchten Glück und
Friede durch die Frau. Ja, fragen Sie sich doch, sollten die Frauen
vielleicht dazu da sein, daß wir uns bei ihnen ausruhen, erholen, daß wir
von ihnen das Glück und die Freude entgegennehmen? Nein, wie unsinnig wäre
das doch! Sie wollten, daß die Menschen Sie lieben, daß die Frauen Sie
lieben, daß Sie sie lieben dürfen, nicht wahr? Dann wäre Ihnen geholfen.
Aber wenn Sie zu einem Menschen kommen, so sieht er Sie an und fragt sich:
Was wird er mir geben? Ich frage Sie, sind Sie reich, können Sie geben? Ja,
Liebe, nicht wahr, wollten Sie denn nicht Liebe geben? Richtig, aber jene
Liebe, die aus Ihrer eigenen Ohnmacht hervorgeht, Verzweiflung, weil Sie
mit sich allein nicht leben können, weil Sie arm im Innern sind, Anlehnung
wollten Sie, Halt! Wenn Sie in ein Wirtshaus gehen, essen, trinken und
nicht bezahlen können, so wirft Sie der Wirt vor die Türe, Sie sind ein
Zechpreller. Er hat keine Nachsicht mit Ihnen. Die meisten Menschen sind
solche Wirte, die den vor die Türe werfen, der nicht bezahlen kann und den
nicht hinein lassen, der arm aussieht. So sind die Menschen, sie müssen
vielleicht so sein, denn sie sind ja selbst arme Wirte, keine reichen
Herren, die Bettler speisen können.«

»Sie fragen mich nun -- ja, sagen Sie, ich sehe doch, man liebt den oder
jenen und was ist er im Grunde genommen, aber man nimmt ihn auf, man liebt
ihn. Lieber Eisenhut, ich weiß das wohl. Man nimmt ihn auf, man liebt ihn
um einer einzigen schätzenswerten Eigenschaft willen! Vielleicht kann er
singen, oder Geschichten erzählen, oder er ist freigebig, er ist witzig, er
ist drollig, er ist gütig oder er ist mutig. Wenn er nur eine einzige
Eigenschaft hat, die ihn vor andern auszeichnet. Haben Sie eine solche
Eigenschaft? Fragen Sie sich? Sie sind begütert, Sie sind ein reicher Mann
und diese Eigenschaft hat Ihnen Einlaß gewährt. Aber das ist ja eigentlich
keine Eigenschaft, nicht wahr.«

»Das sind harte Worte, verzeihen Sie mir. Sie wissen ja selbst, Sie leben
nicht im Frieden mit sich. Ja, Sie sind so unzufrieden wie einer nur sein
kann und haben ja selbst Ihren Bankerott erklärt. Aber Sie wollen, daß man
Sie liebt! Freunde sind der Preis unserer Tugenden, Eisenhut.«

»Sie sagen, Sie hassen die Menschen, Sie glauben nicht an ihre Liebe und
Güte und an das Edele in ihnen. Aber Sie wollen, daß man Sie liebt. Du
guter Gott, was denken Sie denn, die Menschen fühlen ja Ihre geheimen
Gedanken. Sie achten die Frauen nicht sehr, aber Sie wollen, daß die Frauen
Sie lieben. Da kommen Sie nun zu den Frauen, Sie sprechen, Sie sind
liebenswürdig, Sie sind freundlich -- aber die Frauen? Die Frauen fühlen ja
deutlich, wie Sie sonst über sie denken. Sie bleiben kühl. Ein anderer
spricht dieselben Worte, lächelt das gleiche Lächeln, sehen Sie, wie die
Augen der Frauen leuchten, wie freundlich sie ihn anblicken? Warum? Ja, die
Frauen fühlen, er denkt immer so von uns. Das Gefühl eines Mannes können
Sie am Ende täuschen, aber niemals das Gefühl einer Frau, denn sie sind
alle Hellseherinnen.«

»Nun, Eisenhut? Eisenhut, Eisenhut, Eisenhut -- ich bin ja Ihr Freund und
mir müssen Sie alle diese grausamen Worte verzeihen. Weshalb bin ich Ihr
Freund, Eisenhut? Weil ich Sie am besten kenne. Nun? sage ich. Sie fanden
keine freundliche Miene bei den Menschen. Was taten Sie aber? Gingen Sie
nach Hause und sagten Sie zu sich selbst: Ich bin ja wenig wert, ich habe
den Menschen zu wenig zu geben. Ich bin nicht einmal ein guter
Gesellschafter, denn ich weiß ja wenig und habe meine Kenntnisse nicht
bereichert. Taten Sie das? Nein, ach, Sie taten es nicht. Sie klagten die
Menschen der Härte und Lieblosigkeit und Schlechtigkeit an und begannen zu
trinken. Sie suchten also Erlösung, Glück und Friede im Rausch. Das tun
ebenfalls alle Menschen, die meisten, sie betäuben sich alle auf irgend
eine Art. Aber der Rausch verfliegt, die Betäubung verfliegt und Ihre Seele
schreit hungriger und durstiger als zuvor. Ihre Seele will Wahrheit, keine
Lüge und Betäubung. Im Rausch, da können Sie einherschreiten wie ein König,
aber der Rausch vergeht und Sie sind ein Bettler. Denn Sie sind ja kein
wirklicher König gewesen im Rausche, nur als König verkleidet waren Sie.
Ich weiß das alles, Eisenhut, ich, Ihr Freund, denn -- all das habe ich an
mir selbst erlebt.«

»Sie leben viel in der Nacht, Eisenhut. Wer erträgt das? Wissen Sie denn,
wie gefährlich es ist mit den Geistern der Nacht zu leben, für den
Menschen, der ja geschaffen ist zum Verkehr mit den freundlichen Wesen des
Tages und des Lichtes?«

»Sie leben immer mit sich allein. Auch das ist gefährlich. Nur wenige
Menschen können es ungestraft tun, denn der Mensch ist ja geschaffen zum
Umgange mit seinen Brüdern.«

»Ihre Seele hat nach Eindrücken gehungert, Ihr Geist nach Erkenntnis? Haben
Sie Ihre Seele gesättigt, Ihren Geist? Nein. Sie sind nicht der Mann, der
zufrieden ist, seine Geschäfte zu verrichten, Geld einzukassieren und in
Kneipen zu sitzen. Es ist gut, daß Sie das nicht befriedigt. Ihre hungernde
Seele soll Sie quälen, das ist gut. Aber was tun Sie, Ihre Seele zu
sättigen? Nichts, Eisenhut, da sitzen Sie in diesem Gefängnis, in diesen
Fuhrmannskneipen, in dieser kleinen Stadt, wo das Leben still steht. Was
würden all die andern Millionen Menschen tun, die so allein sind wie Sie,
wenn sie nicht Spiel und Gesang, Musik und Poesie hätten? Es ist ja nicht
genug, daß der Mensch ißt und trinkt und schläft, nein, er braucht ja viel
mehr. Warum reisen Sie nicht, Eisenhut, hinaus in die Welt? Warum nicht? Wo
täglich tausend neue Eindrücke Ihre Seele erquicken und ermutigen? Warum
taten Sie das nie?«

»Da draußen kennt mich ja kein Mensch,« antwortete Eisenhut.

Grau lächelte. »Lieber Freund,« sagte er, »daran müssen Sie sich ja
gewöhnen, nicht mehr gekannt zu sein. Sie müssen es lernen Ihr Leben zu
leben, ohne daß Sie ein Schauspieler sind, der sich von andern bewundern
läßt. Wenn Sie einen Ring am Finger tragen, so müssen Sie ihn nicht tragen
für die andern, sondern weil es Sie freut Ihre Hand geschmückt zu sehen.
Und wenn Sie glücklich sind und heiter und tanzen und singen, so müssen Sie
nicht tanzen und singen, weil andere es sehen und hören und denken werden:
Er tanzt, er singt, er ist guter Dinge. Sie müssen es tun für sich allein.«

Eisenhut schüttelte den Kopf. Er ging herum, er schüttelte den Kopf. Worte,
Worte, was sollten ihm all diese Worte nützen, frage er? Diese Hölle von
Leben --. Aber er war schon hoffnungsvoller gestimmt.

»Ja,« sagte Grau, »es ist wahr, Sie haben die Hölle in sich und Sie sind
sehr unglücklich. Ich weiß es und ich würde Ihnen gerne etwas abnehmen,
könnte ich nur. Aber haben Sie nichts anderes als diese Hölle in sich,
nichts anderes sonst?«

Grau griff sich an die Wangen. Er fühlte plötzlich, daß er Fieber hatte.

Eisenhut schlich an den Wänden entlang und schüttelte den Kopf. Hinter ihm
ging das Hündchen; doch da Eisenhut sehr langsam dahin schlürfte, hatte es
immer Zeit, sich nach jedem dritten Schritte seines Herrn zu setzen. Dann
blickte es auf Grau und spitzte die Ohren. Eisenhut schüttelte den Kopf.

»Nein!«

Grau lachte leise. »Das ist ja nicht wahr!« sagte er, »Sie haben ja selbst
-- ach, haben Sie nicht gesagt, Sie freuen sich, wenn die Sonne scheint,
Sie freuen sich, wenn Sie jene Dame im Walde treffen? Sie haben schöne
Träume, wie das Leben sein könnte, Sie haben gewiß nicht nur häßliche
Träume.«

Eisenhut lachte. Er träume oft, er fliege, es gehe dahin über die Lande --
haha!

»Sehen Sie! Und auch wenn Sie wachen, haben Sie schöne Träume. Es gibt doch
noch so viel Schönes für Sie!«

»Nein, nichts mehr.«

»Heute sehen Sie ja alles schwarz, Eisenhut. Aber Sie freuen sich doch über
viele Dinge -- wenn Sie zum Beispiel ein schönes Pferd sehen oder eine
dicke hohe Eiche im Walde --«

»Ja, ja.«

»Sehen Sie! Ich könnte wohl stundenlang -- stundenlang Dinge nennen, die
Sie lieben. Es ist ja lange nicht so schlimm wie Sie es heute sehen, mein
Freund, lange nicht so schlimm. Haben Sie denn keine Sehnsucht mehr? Kein
Verlangen nach Glück, Freude, Friede? Wie?«

»Ja, doch!«

»Aber wer dieses Verlangen noch hat, der wünscht ja noch zu leben und das
Leben ist ihm noch kostbar. Die Menschen, mein Freund, die mit dem Leben
fertig sind, wünschen sich nichts mehr. Und nun muß ich Ihnen doch
Ratschläge geben, obschon es mir anmaßend erscheint. Ich meine, vielleicht
könnte ich Ihnen sagen, wie Sie es zu beginnen hätten -- für den Anfang
wenigstens -- was meines Erachtens gut für Sie wäre. Sie brauchen das ja
nicht zu befolgen -- es ist ja nur meine Ansicht, die Ansicht eines jungen
und unerfahrenen Menschen --«

»Ich befolge alles, alles!« sagte Eisenhut. Er öffnete die Tischschublade
und nahm eine Handvoll Zigarren heraus, die er Grau reichte.

»Danke, danke!« sagte Grau. »Als ob Sie wüßten, wie leidenschaftlich ich
rauche. Nun hören Sie --«

Grau entwickelte ihm seinen Plan. Vorerst müsse er seine Nerven kurieren,
seine Gesundheit kräftigen. »Sehen Sie mich an, Eisenhut,« sagte Grau und
fuhr erst fort als Eisenhut stehen blieb und ihn ansah. »Hören Sie wohl!
Sie müssen ein neues Leben beginnen, und jeder Mensch muß das von Zeit zu
Zeit. Von Grund auf neu! In jeder Beziehung! Jeden Tag um sechs Uhr heraus,
von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends harte körperliche Arbeit in den
Steinbrüchen, wie ein Taglöhner -- einen Monat lang. -- Wie? -- Ja, das
müssen Sie! Einen Monat lang! Punktum, darüber wird nicht mehr gesprochen.
Sie müssen sich den Schlaf erarbeiten. Danach, zwei Monate lang jeden
Vormittag von sechs Uhr bis zwölf Uhr harte Taglöhnerarbeit in den
Steinbrüchen, nachmittags frei. Ich will Ihnen Bücher geben, Bücher
empfehlen. Ich will Ihnen gern etwas behilflich sein. Wenn Sie wollen, gebe
ich Ihnen regelrechte Stunden, natürlich kann ich es nicht ganz umsonst
tun. Ich verlange für die Stunde eine Mark. Das ist Ihnen nicht zuviel?
Schön! Sobald Sie etwas sicherer sind, fort auf Reisen.«

»Wohin?«

»Das alles wird sich finden. Wir werden alles noch genau besprechen. Ich
deute Ihnen vorläufig alles nur an.« Grau lächelte, während er Eisenhut
immerzu ansah.

»Ich werde alles tun -- tun -- tun -- alles!« sagte Eisenhut.

»Gut. Wir werden auch zu besprechen haben, wie Sie sich einzurichten haben.
Wir werden Ihre Wohnung hübsch herrichten und ich werde häufig zu Ihnen
kommen. Wir werden uns gut unterhalten. Am besten wird es sein, wenn Sie
vorläufig nicht mehr mit Professor Richter und Konsorten verkehren. Die
passen nicht zu Ihnen. Ah, sehen Sie doch, jetzt funkelt die Sonne auf den
Dächern. Bist du müde?«

»Nein, nicht im geringsten.«

»Gut, dann lasse deinen Schlitten einspannen und wir fahren hinaus in
irgend ein Dorf und frühstücken da. Bist du einverstanden damit?«

»Wie Sie wünschen, ich bin dabei.«

Grau lachte. »Hörst du nicht, daß ich Du sage, wie? Freilich, es ist
unverschämt, denn ich bin ja der Jüngere. Aber was kümmern wir uns um
solche Höflichkeitsregeln, haha, jetzt, da wir so gute Freunde geworden
sind. Wenn du aber nicht willst --«

Eisenhut lächelte und blinzelte. »Zigarren? Zigarren haben wir. Wir können
gehen und den Kutscher wecken.«

Vielleicht ist nie in seinem Leben jemand gut gegen ihn gewesen, dachte
Grau.

Sie fuhren hinaus in den Winter, der aufsteigenden Sonne entgegen, die
Schellen klingelten am Schlitten --

                   *       *       *       *       *

Von diesem Ausflug kehrte Grau krank zurück. Er hatte sich in der Nacht
vorher erkältet und fiel in ein heftiges Fieber, das mehrere Wochen lang
anhielt. Eisenhut pflegte ihn wie ein Bruder.




Dritter Teil





Erstes Kapitel


Grau lag in leichtem Fieber und dachte über die Menschen nach. Diese
Zwietracht in vielen Familien! Daran dachte er. Ein geistiges Band fehlte.
Man sollte in den Abenden ein gutes Buch vorlesen. Geld? Nein. Es gibt
Bücher zu lächerlichen Preisen. Der Sohn oder die Tochter liest vor, die
andern arbeiten nebenbei -- es ist ein Genuß! Gewiß, er mußte eine
Broschüre schreiben: Wegweiser --

Grau erwachte.

Da standen die Fenster offen und die Luft war lau und würzig. Die Bäume
grünten. Es war Frühling geworden.

Plötzlich erschien Adeles schönes Bild in seinem Geiste. Er lächelte und
stand auf.

Die Stadt hatte sich vollständig verändert, grüne Wipfel und blühende Bäume
ragten über Häuser und Mauern. Man blickte in eine Gasse hinein und sah
einen kleinen blühenden Kirschbaum leuchten, man blickte durch einen Torweg
und sah zu seiner Überraschung ein ganzes Beet von Tulpen brennen. An den
Häusern und Erkern kletterte allerlei Rankenwerk empor, als wolle der
Frühling die kleine alte Stadt in ein grünes Netz einspinnen.

Der Fluß strömte rasch und jung dahin und die Schiffe und Fähren zogen an
der Stadt vorüber. Ein kleiner Kettendampfer heulte und schleppte eine
Reihe flacher Frachtschiffe hinter sich her. Am letzten Schiffe schaukelte
ein kleines Boot und darin saß ein Mann mit einer Pfeife im Munde. Im
Schaukeln des Bootes war der Frühling und auch in der Art, wie der Mann im
Nachen saß und auch im lustigen Rauche der Pfeife war der Frühling.

Die Ebene glänzte in der Sonne, die Dächer ferner Dörfer leuchteten; Burgen
auf den Höhen und weite grüne Wälder.

Grau saß in seinem Garten, noch geschwächt und müde von dem langen
Krankenlager und lächelte. Seine Seele in diesen Wochen der Genesung war
empfänglicher, fröhlicher noch als sonst und voller Dankbarkeit.

Er lauschte, blickte umher und wunderte sich. Sein Herz klopfte. Zuweilen
kam das Fieber zurück, ein leises, fast angenehmes Fieber, dann empfand er
alles wie einen Traum. Eine wunderbare Frische stieg aus dem jungen Rasen
und wehte von Adeles Park her, alles war so frisch und neu. Die Vögel
zwitscherten in allen Wipfeln und zuweilen vereinigte sich das Klingeln all
dieser kleinen Vogelstimmen zu einem einzigen schwingenden Ton: Der
Frühling stand auf grüner Wiese und blies auf seiner Flöte einen betörenden
Schmeichelsang.

Graus Blick glitt über die Stadt hinweg bis zu den kleinen Dörfern, die in
der Ferne lagen. Da standen Häuser, vor den Häusern lagen Gärten. In den
Gärten wuchsen Blumen, unter den Hecken Veilchen, auf den Hängen
Schlüsselblumen. Die blauen Höhenzüge am Himmelsrande waren grün, hinter
ihnen dehnte sich grünes Land. Grün, grün -- die ganze Erde war nichts als
eine grüne Insel, die im Äthermeere schwamm.

Im Tale arbeiteten Leute auf den Feldern, die Erde zu bestellen. Bei der
großen Steinbrücke wimmelte es von Arbeitern, die einen neuen Bahndamm
aufwarfen. Schaufeln und Picken blitzten in der Sonne. Auf einem Neubau
kletterten die Zimmerleute im Dachstuhl und hämmerten, auf der Landstraße
knarrten Wagen mit Steinen, die zum Ausbessern der Wege bestimmt waren.

War es nicht schön hier zu sitzen und zu sehen, wie der Mensch sich seine
Wohnstätte bereitete?

Und Grau dachte daran wie klein die Erde vordem war. Eine flache Insel von
einem Meere umbraust, über ihr der Himmel als Decke. So klein war die Erde
und so klein war die Welt. Aber die Erde sprach: Entdecke mich! Und der
Mensch spähte aus und die Erde wuchs. Die Erde ruhte nicht, und flüsterte
und flüsterte und plötzlich stand ein Mensch auf, einer von den
Schlaflosen, und sagte: Nach Ost und West, Nord und Süd kannst du wandern,
die Erde hat kein Ende, sie ist ein Ball, um den Sonne, Mond und Sterne
kreisen. Aber die Erde ruhte nicht, sie flüsterte und flüsterte und ein
Mann erwachte in der Nacht und erschrak und sagte: Die Erde steht nicht
still, sie bewegt sich! Und fand keinen Schlaf mehr. Die Erde wuchs und die
Welt wuchs. Die Gestirne rückten auseinander, in erschreckende Fernen
rückten sie, aber sie hörten nicht auf, den Menschen anzustarren und er
ersann Mittel ihnen bis in die fernste Ferne zu folgen. Und mit jedem Tage
wächst die Welt. Der Astronom schreibt die unfaßbare Ziffer nieder, in
jeder Nacht starren hundert Rohre in den Raum, spähen und suchen -- und
morgen wird eine Depesche über die Länder fliegen: Die Welt ist gewachsen,
abermals ist sie größer geworden!

Und mit jedem Tage wächst die Erde. Die Pioniere sind an der Arbeit. Wenn
jener Mann zurückkehrt, der jetzt den Nachen durch den fernen Schilfwald
stößt, wenn das Schiff im Norden nicht vom Eise zerdrückt wird: Sieg! Die
Erde ist gewachsen, sie ist größer geworden! Erobere mich, spricht die
Erde, ich bin dein!

Grau lächelte. Wahrhaftig, dachte er ergriffen, ich liebe den Menschen, den
Entdecker, den Eroberer, den Pionier, den Rastlosen!

Und er sah zu, wie die Menschen im Tale arbeiteten und Schaufeln und Picken
triumphierend in der Sonne blitzten.

Niemals hatte sich Grau reicher gefühlt als in diesem Frühling, niemals
empfand er stärker die Wunder der Welt und verwebte er sich inniger mit
ihnen. Unausgesetzt durchschauerte ihn das Gefühl lebendig zu sein, selbst
in den Nächten. Er erwachte oft und hörte sein Herz pochen und Freude
erfüllte ihn und er dachte: Und morgen und übermorgen und jeden Morgen
beginnt ein neuer Tag.

Jedes kleinste Ding bekam Sinn und Beziehung. Das Leben war wie das Buch
des Meisters, wo man es öffnet, Wahrheit, Schönheit, tiefes Gleichnis und
tiefes Geheimnis -- aber was ist das Buch des Meisters anders denn ein
Gleichnis des Lebens?

Die Sonne ging unter und ein leiser Wind trug Duft und Wärme über die Stadt
und berührte Graus Wangen. Grau errötete und wußte nicht warum. Er blickt
sich um, ob niemand seine sonderbare Erregung beobachtet habe. Dann ging er
zurück in sein Haus.

Selbst der Wind, dachte er, wie kostbar ist er? Ohne ihn wäre das Leben
nicht das Leben und nicht so reich wie es ist. Der Wind und der Sturm, die
Morgensonne und die Nachtfrische, die warmen Regentropfen und der
Hagelschauer -- sie alle erwecken ein geheimnisvolles Leben in uns, wir
atmen, es rieselt in uns, es erfüllt uns, wir erschrecken, erschauern: Das
ist das Leben.




Zweites Kapitel


Die Wiese um Susannas Häuschen wurde grün, im Vorgärtchen platzten die
Knospen. In all der Sonne sah das Haus freundlich und hübsch aus. Am
Fenster sah man vom Morgen bis zum Abend ein kleines gelbes Gesicht.

Susanna saß den ganzen Tag am Fenster und lächelte.

Sie lächelte, als das erste Trüppchen Vögel über den Himmel steuerte und
der Tauwind die Pappeln auf der Brücke schüttelte. Der Schnee sank in den
Boden und das Eis zerging, sie lächelte. Es grünte, über Nacht regnete es
grüne Flocken über die Pappeln auf der Brücke, an der Landstraße stellte
der Frühling eine ganze Postenkette blühender Bäume auf. Susanna lächelte.

Nun konnte man die Fenster öffnen und Susanna trank die Luft, erschauerte
und wurde bleich. Fühlst du? sagte sie und griff mit der Hand in die Luft,
als greife sie etwas: Das ist die Luft!

Dann sah sie zu wie das Gras wuchs und die Blumen und sie bebte, wie wenn
all die Gräser, all die Blumen aus ihrem eigenen Herzen wüchsen. -- Aber
doch war ihr Herz nicht so wie sie es wünschte:

»Geliebter, mein Geliebter und Freund, du Gütigster und Schönster von
allen, ich liebe dich. Mein Geliebter und Freund, Glück in dein Herz, höre
mich, du Gütiger mit den goldenen Augen, höre mich und sprich. Wie ist mein
Herz? Ich weiß es nicht. Ich habe in den Büchern gelesen und mir mein Herz
aus den Büchern gesucht, aber so ist es nicht, nein. Es ist nicht, wie ich
will, es ist anders. Ich liebe dich! Es ist schön, es ist Frühling, das
Gras wächst, die Blumen leuchten. Die Sonne liegt in meinem Gärtchen und
ich danke ihr, daß sie auch an mein Gärtchen denkt, und ich sage mir,
wollten sich doch die Schollen lockern und die Sonne hineinlassen, denn da
unten will es auch Wärme haben. Ich danke der Luft, so süß ist sie. Ich
lache, wenn ein Vogel vorüberfliegt.«

»Aber doch, mein Herz ist nicht so, wie ich es will, es ist anders.«

»Ich habe geweint, ich weine so oft! Ich habe geträumt, ich ginge in einer
Wiese, schlank und schön und gesund und ich sang, ich erwachte und mußte
weinen. Soll ich es nicht sagen? Soll man dem, den man liebt, seine
Schwächen verhüllen, oder ist es ein Recht der Liebe, alles zu gestehen?
Sprich! Würdest du nicht du sein, ich würde schweigen, ich könnte dich ja
trotzdem lieben, aber ich würde es nicht wagen, dir alles zu gestehen. Aber
du verstehst mein Herz und es nennt dich Freund. Ich bin glücklich, so
sehr! Ich habe dich, ich bin froh. Ja, das Große ist gekommen, das Seltene
ist gekommen, auf das ich so viele Jahre wartete, nun ist es ja doch
gekommen, ich bin das glücklichste Mädchen der grünen Erde. Es ist ja
gekommen das Seltene, da ich es nicht mehr glaubte und nicht mehr hoffte.
Wie wunderlich ist das Leben! Nun ist es da. Ich habe gewünscht, noch
einmal das Gras zu sehen und die Blumen. Da ist das Gras und da sind die
Blumen. Ich bin glücklich, sehr! Ich sage zu meinem Herzen: Hast du nicht
ihn? Und hast du nicht auch den Frühling? Ja, sagt mein Herz, ich bin ja
froh. Es ist ja froh, es ist ja voller Freude -- aber es ist nicht so, wie
ich es will. Es ist traurig zur gleichen Zeit, traurig, traurig und weint
in mir. Gibt es solch ein Herz wieder auf der Welt? Es jauchzt und es weint
in derselben Stunde. Gütiger Freund, sprich! Es ist ja nicht so, mein Herz,
wie ich es gerne möchte --«

»Eines weiß ich nun. Wenn du zu deinem Herzen sagst: Sei so, so, so! -- es
tut doch was es will, du kannst ihm nicht befehlen.«

»Kannst du zu deinem Herzen sagen: Sei nicht bange! Wenn es aber doch vor
Angst zittert? Habe keine Furcht! Wenn es voller Angst ist? Denn die Angst
quält mich, die Angst. Hörst du, es pocht, es pocht überall, mein Blut
pocht, es pocht in meinen Fingern, es pocht in der Wand, der Decke. Dann
schweigt es plötzlich und ich denke: Wollte es doch lieber wieder pochen!
Das ist in den Nächten. Ich sage zu meinem Herzen: Sieh die Sterne, sieh
den Himmel, fühle die Nacht des Frühlings. Es gibt ja nichts, was ich mehr
liebe als die Frühlingsnacht, sagt mein Herz -- und vergeht vor Angst.
Fühle wie die Erde schläft, sage ich, ein Kind, so tief und schön -- aber
die Angst quält mich. Ist mein Leben vorüber, vorbei, vorbei, gegangen,
gegangen? Sage nein! Denn wie könnte mein Leben vorüber sein, da es eben
erst begann? Nein, nein, nein! Sage nein! mein Geliebter.«

»Gibt es Menschen, die die Sprache der Vögel verstehen? Vielleicht
verstehst du die Sprache der Vögel und es ist eines deiner vielen
Geheimnisse, die dir das Lächeln geben, das man nie auf andern
Menschenlippen sieht! Ich liege hier und die Stare sitzen auf dem Kobel,
den du mit Herrn Eisenhut gezimmert hast, sie sitzen da, blicken zu mir her
und unterhalten sich über mich. Sieh doch die Stare, wie sie glänzen! sage
ich zu meinem Herzen, höre sie, wie sie pfeifen -- aber mein Herz lauscht
starr vor Angst. Ist es denn möglich, daß die Stare wissen, wie schlimm es
um mich steht? Ist es denn möglich, daß sie wissen, was in den nächsten
Wochen sein wird? Nein, nein, bei Gott, all das ist ja unmöglich! Und doch?
Es muß, es muß unmöglich sein, denn es ist schrecklich, was die Stare
sagen!«

»Es ist nicht das allein! Wäre es nur das allein. Auch der Wind spricht,
auch die Luft spricht. Der Wind flüstert und ich verstehe wohl, was er
sagt. Er sagt dasselbe wie die Stare. Ich sage zu meinem Herzen: Fühle, wie
fein der Wind schmeichelt, aber mein Herz glaubt es nicht: Höre was er
spricht, sagt mein Herz. Ach, alles, alles sagt das gleiche, es ist ja
immer das gleiche, selbst die Uhr sagt es, wenn sie ticktackt. Und der Wind
sagt es in jeder Nacht. Hast du den Wind schon gesehen? Nicht laufen, nicht
im Laub, im Getreide. So, eine Person, eine Gestalt. Ich habe ihn gesehen
wie er am Fenster stand, ein graues dürres Männchen in weitem Mantel,
voller Buckel und Höcker. Er hat einen Höcker auf der Brust, auf dem
Rücken, seine Nase, seine Stirn, sein Ellbogen, alles ist ausgezogen zu
Höckern.«

»Wärest du hier! Wenn du hier bist, so hat die Angst keine Macht über
mich.«

»Ich sehe Gestalten. Oft stehen viele Gestalten in meinem Zimmer und sie
blicken mich alle mit ihren fahlen Augen an, ohne Gefühl, ohne Interesse,
gleichgültig. Sie regen sich nicht, sie sagen nichts, sie sagen auch nichts
zu einander. Sie stehen und warten. Niemals könnte ich sagen, wo sie
beginnen und wo sie aufhören, aber sie sind da. Merkwürdig -- ich fürchte
mich nicht vor ihnen. Es ist als müßten sie dastehen. Ja, ich habe zu ihnen
gesprochen. Ich habe allen Mut zusammengenommen und habe gesagt: Was wollt
ihr von mir? Seid ihr dahingeschiedene Seelen, wollt ihr mich begleiten,
wenn ich von der Erde fortgehe? Aber sie regten sich nicht, sie standen wie
zuvor und sahen mich an. Ich weinte. Denn ich kam mir so verlassen vor.«

»Zuweilen geht auch ein Schritt ums Haus und es ist mir, als ob jemand am
Fenster stehen bliebe. Einmal erwachte ich mitten in der Nacht, ich hörte
wie der Schritt anhielt und eine Stimme am Fenster hauchte: Bald --«

»Ich habe nachgedacht und ich fand es fürchterlich. All die Knaben, die am
Morgen über die Brücke zur Schule gehen, all die Bauern, die Freundinnen,
Klara und Maria und auch Adele -- ja, auch sie! -- und auch Mütterchen und
auch du, mein Liebling -- alle, alle! All die Menschen, die jetzt schlafen
oder wachen, in einem Zuge fahren oder auf Schiffen segeln -- alle werden
eines Tages still liegen und sich nicht mehr regen. Auch du. Auch
Mütterchen. Auch Adele. Und plötzlich stellte ich mir alle gestorben vor.
Auch Adele. Sie sah so schön aus.«

»So sind meine Nächte und auch meine Tage sind so.«

»Es ist das Fieber, es ist die Angst --«

»So klein bin ich, so schwach. Ich bin glücklich! Glaube es mir. Adele
sagte zu mir: Es muß dich glücklich machen, daß er dich liebt. Ja, ja, ja!
sagte ich und es ist wahr. Aber mein Herz ist ja nicht so, wie ich will.
Ich hatte mir vorgenommen mutig zu sterben, denn es muß ja sein, ich hatte
mir vorgenommen zu lächeln und zu sprechen: Es ist leicht und süß zu
sterben -- aber nun -- die Angst -- die Angst!«

»Du aber sollst kommen und mir die Hand auf die Stirn legen, daß ich Ruhe
habe!«

»Du kommst und mein Herz ist wie früher, da ich ein Kind und ohne Angst
war. Ich höre die Vögel, ich sehe die Wiesen, ich lache. Sage nein, nein,
nein! Du sagst es ja immer, du bist die Hoffnung und du bringst Mut. Die
Ärzte wissen nichts, sagst du, ich glaube dir. Aber weshalb lächelt der
Arzt, wenn er mit mir spricht? Brauchte er denn zu lächeln? Aber ich glaube
dir, solange du bei mir bist, glaubt es mein Herz: Das macht mich ja
gesund, wenn es mein Herz glaubt --«

»Süß ist es, an dich zu schreiben und ein Glück. Ich denke, ich darf ihm
schreiben. Es gehen viele in der Straße und sehen sich nach ihm um. Liebt
er Maria, liebt er Klara, liebt er Adele? Er liebt mich. Ich kenne dich
nicht. Du klagst nie, wie sollte ich dich also kennen. Es fiel mir erst
jetzt auf, daß du nie mit einem Worte geklagt hast, du sprichst nie von
dir. Die Leute sagen, du seist ein Tor, ich aber weiß wohl, daß Sie Leute
töricht sind. Oft erschrecke ich, denn ich kann dein Bild nicht festhalten,
ich weiß nicht, wer du bist. Nur wenn du mir nahe bist, da weiß ich es, da
frage ich nicht danach, da frage ich nichts, denn du bist gut: Komm und
nimm die Angst von meinem Herzen -- Susanna --«




Drittes Kapitel


Wie erstaunt war doch Susanna, als sich die Türe immer wieder und wieder
öffnete und immer mehr junge Mädchen eintraten. Es wollte gar kein Ende
nehmen. Noch mehr erstaunt war Mütterchen, die sich fein hergerichtet
hatte. Ihre Augen standen immer voller Tränen und sie verlegte zum Unglück
fortwährend die Brille. »Welche Freude -- daß sie uns die Ehre schenken --
an Susannas Ehrentage.« -- Vor der Türe hing ein Willkomm-Kranz -- anders
hatte es Mütterchen nicht getan. »Willkommen« stand darauf und Mütterchen
hatte darunter geschrieben: Zum Verlobungsfeste von Susanna Lenz. Sie war
immer unterwegs, konnte sich keinen Augenblick niedersetzen, dazu hatte sie
keine Zeit, immer flatterte ihre weiße Schürze aus und ein.

Aber es nahm ja kein Ende. Auf der Brücke gingen wiederum drei Mädchen.
Grau hatte es gut verstanden, die jungen Mädchen an ihr Versprechen, zu
einem kleinen Feste bei Susanna zu kommen, zu erinnern. Auch Fräulein
Sperling kam, die »ewige Braut«. Grau hatte sie ganz besonders eingeladen.
Sie kam mit Tränen in den Augen und lächelnden Lippen und nickte immerzu
gerührt mit dem Kopfe.

Die Mädchen kamen in hellen Frühlingskleidern und glänzenden Augen und
roten Wangen, und alle waren guter Laune. Sie zwitscherten und kicherten
soviel wie ein ganzer Wald voller Vögel, wenn die Sonne aufgeht. Sie
brachten alle Blumen mit, ganz als ob sie es ausgemacht hätten, und füllten
das Zimmer damit an. Susanna saß in einem Garten. Auch Adele brachte
Blumen, sie brachte einen großen Strauß von weißen Rosen. Die Schwestern
Sinding hatten einen Kranz aus Veilchen geflochten, den sie Susanna auf den
Kopf setzten und alle Mädchen klatschten in die Hände.

Außer Eisenhut waren noch ein Onkel und eine Tante gekommen, aus Weinberg.
Die Tante war klein und rund, eine Schwester Mütterchens, sie sprach
kreischend und hielt sich den dicken Leib beim Lachen. Sie hatte ein
kleines und ein großes glotzendes Auge, das alle vergnügt anstarrte. Der
Onkel kam im schwarzen Rock, mit einem hohen Zylinder. Er war
Aushilfsbriefbote in Weinberg. Er war mürrisch und sah ärgerlich aus. Er
sprach kein Wort und bewegte auch keine Miene, aber die Mädchen kümmerten
sich nicht um ihn.

Das Zimmer war zu klein und Grau und Eisenhut zerlegten Mütterchens Bett
und schafften es in die Küche. Aber als immer mehr Gäste kamen, mußte auch
Susannas Bett hinausgeschafft werden. Die Gesellschaft nahm um den Tisch
herum Platz auf Stühlen, Bänken, Hockern, Koffern. Endlich war alles in
Ordnung und das Fest konnte beginnen.

Es begann. Es begann mit Kaffee und Kuchen, Lachen und Gesang. Hin und her
gingen die Worte und das Lachen ging rings im Kreise. Was man sprach, das
hätte niemand später sagen können, aber man unterhielt sich gut und ohne
jede Pause.

Wie Susanna fühlte! Sie saß da mit strahlenden schwarzen Augen, inmitten
all der Blumen, den Kranz auf den Haaren, inmitten all der jungen lachenden
Mädchen. Sie blickte ringsum im Kreise, von einem Gesichte zum andern,
lauschte, lächelte. Sie blickte Grau strahlend an und legte den Kopf an
seine Schulter.

Er drückte ihr die Hand.

Als man die Weinflaschen entkorkte, stieß Mütterchen plötzlich einen Schrei
aus: Ein bärtiger, wilder Kopf erschien am Fenster und eine tiefe Baßstimme
sagte: »Guten Tag, allerseits!« Es war der Lehrer.

Mütterchen rannte zur Türe hinaus und hing an seinem Halse.

Wie kam er doch hierher? »Ja, das ist ein Geheimnis, sozusagen! Ich habe
eben ein Engagement von einem Theater gehabt -- als König Lear zu gastieren
-- habe aber die Lumperei im Stiche gelassen, als ich von dem Feste hörte!«
Es war ihm glänzend gegangen auf seiner Wanderschaft, glänzend und
fürstlich wie immer hatte er gelebt. Auf einem Herrensitz, bei einem Baron
hatte er förmliche Festtage gehabt, eine Stadt, besser gesagt eine Art
Marktflecken, wollte ihn zum Bürgermeister haben. Als ob das so einfach
wäre --!

Ja, trotzdem er in zerrissenen Kleidern daher kam und eine bedenkliche
Schramme an der Stirne hatte, war es ihm nie so gut gegangen, niemals
hatten ihn seine Freunde so fürstlich aufgenommen. Hahaha!

Nun gab es leider einen kleinen Zwischenfall. Der Aushilfsbriefbote nämlich
tat, als sehe er nicht, als Lenz ihm die Hand zum Gruße hinstreckte.

»Mein Name ist Pracht!« sagte er. »Ich habe nie das Vergnügen gehabt, Sie
zu kennen.«

»Oho! Du kennst mich nicht! Seht an! Mein Schwager! Seht an. Hier ist meine
Hand!«

Aber Herr Pracht kannte ihn nicht.

Lenz streckte ihm die Hand hin.

»Genug, genug!« sagte er und lachte herzlich. »Hier ist meine Hand! Frieden
wollen wir schließen.«

Nein, Herr Pracht kannte Leute seines Schlages nicht. Hätte er gewußt --

»Unsinn!« sagte Lenz und lachte. »Ich stelle mich also vor, Lenz ist mein
Name, Herr Pracht!«

Herr Pracht lehnte ab. Er bedaure.

»Gut!« sagte Lenz und lachte. »Die Herrschaften haben gesehen, daß ich
diesen Herrn Pracht hier, diesen prächtigen Herrn ein Dutzendmal meine Hand
hinstreckte und meine Gastfreundschaft anbot. Herr Pracht zieht es vor ins
Freie zu gehen. Darf ich bitten, Herr Pracht!«

Lenz nahm den Aushilfsbriefträger am Genick, führte ihn hinaus durch den
Garten, er öffnete ihm höflich die Türe und gab ihm einen Schwung, daß Herr
Pracht in die Wiese flog und sein hoher Zylinder in das Gras kollerte.

Dann kam Lenz herein, lachte, rieb sich die Hände und bat die Gesellschaft
wegen der kleinen Störung um Entschuldigung.

Er sprach und sprach, stand auf und sang, das Glas in der Hand, mit
herrlicher Baßstimme ein Lied: Im tiefen Keller sitz' ich hier. -- Niemand
konnte wie er im tiefen Keller sitzen, da war der Modergeruch des Kellers,
der Widerhall riesiger Fässer -- alles. Niemand konnte wie er den Wein im
Glase anlächeln, mit einem verliebten gönnerhaften Lächeln, niemand konnte
wie er mit solch königlicher Geste das Glas erheben.

Hierauf erzählte er eine absolut unglaubliche Geschichte von zehn
Schwestern mit eisernen Nasen -- sie machten dem Vater Stiefel aus Eisen
und sandten ihn nach Freiern aus -- eine Hexe vollständig aus Eisen --
niemand könnte diese Geschichte wiedererzählen. Die Gesellschaft lachte
herzlich und der unangenehme Zwischenfall war vollständig vergessen. Die
Mädchen tranken und ihre Wangen wurden röter, ihre Augen glänzender. Sie
sangen. Sie sangen alle Lieder, die sie kannten: Am Brunnen vor dem Tore --
Als ich noch im Flügelkleide -- Der Mai ist gekommen -- Mütterchen hörte
andächtig zu. Als die Fröhlichkeit den Höhepunkt erreicht hatte, sangen
sie: Ich weiß nicht was soll es bedeuten --

Auch die »ewige Braut« fühlte sich zu Hause unter den jungen Mädchen, sie
sang indem sie den blondweißen Kopf hin und her auf den Schultern wiegte
und man hörte sie stets noch die letzte Silbe hinausziehen, wenn alle schon
zu Ende waren.

Dann lachte sie.

Eisenhut sang nicht, aber er lächelte.

»Singen Sie doch mit, Herr Eisenhut!« rief Adele und sah ihn an. Eisenhut
kam in Verlegenheit. »Ich habe Ihnen seinerzeit auf dem Balle so sehr
unrecht getan,« fuhr Adele laut fort, daß alle es hören mußten, »vergeben
Sie mir!«

Eisenhut sagte: »Ach, das ist ja -- haha -- schon -- so lange her -- wie?«
Später erbot er sich ganz von selbst, die Kosten von Susannas Aufenthalt im
Süden zu bezahlen, im Falle sie reisen sollte. Er flüsterte es Grau ins
Ohr.

Es ging fröhlich in dem kleinen Häuschen her und als die Sonne unterging
blendete sie all den jungen Mädchen ins Gesicht. All die singenden Lippen
und strahlenden Augen glänzten und die Zähne der jungen Mädchen blitzten.

Susanna lächelte und während sie lächelte, schlief sie ein.

Die Gesellschaft schlich sich davon. Mütterchen steckte Grau ein kleines
Paketchen in die Tasche. »Nimm!« sagte sie geheimnisvoll. »Wie soll ich dir
doch danken? Ein solch herrlicher Tag! Für mich und Susanna! Wie glücklich
sie war!«




Viertes Kapitel


In den Häusern zündete man die Lampen an und die Glocken läuteten den Abend
ein, als die Gesellschaft in die Stadt eintrat. In den Straßen war es schon
auffallend dunkel und merkwürdig warm. Kinder lärmten und die Leute standen
vor den Häusern um die erfrischende duftende Luft zu genießen. Man hörte
Stimmen in den noch dunkeln Zimmern, Worte, die gerufen wurden, die Familie
des Schlächtermeisters Keim war um eine Talgkerze versammelt und nahm das
Abendessen ein.

Am Marktplatze ging die Gesellschaft unter vielem Lärm und fröhlichem
Lachen auseinander.

Grau und Adele gingen miteinander. Sie hatten den gleichen Weg.

»Wir haben ja den gleichen Weg!« sagte Adele und sie sahen einander an und
nickten. Sie waren beide beklommen und stiegen schweigend die Stufen
hinauf. Über die Mauer des Friedhofes und aus Eisenhuts Garten hingen
Zweige und Blüten, so daß sie durch eine Gasse von Blüten und Duft gingen.
Es war schwül hier und dämmerig. Adele stand still und sog den Duft ein.
»Es ist Jasmin.«

»Ja, es ist Jasmin!« sagte Grau und wieder begegneten sich ihre Blicke.

Oben war es kühler. Sie atmeten auf.

Adeles Blicke gingen über die Stadt hin, in der es mehr blühende Bäume als
Häuser gab. Aus dem Dunst der Dämmerung blinzelten Lichter und auf einem
Dache lag ein fahler goldener Ton. Eisenhuts Garten war eine einzige lange
Woge von Blüten, die gegen die Höhe anschäumte. Adele schüttelte den Kopf
und deutete auf Eisenhuts Gartenmauer.

»Die Tafeln,« sagte sie, »die Tafeln sind verschwunden. Vor den Hunden wird
gewarnt, Vorsicht Selbstschüsse -- Sie erinnern sich? Was ist doch mit
Herrn Eisenhut vorgegangen? So artig und nett, wie er heute war! Was mußten
Sie sich doch denken, als ich ihn auf dem Liederkranzball so schlecht
behandelte?«

»Es ist wahr, Sie waren grausam gegen ihn.«

»Aber warum doch? Warum quälte ich ihn denn? Ich hatte zu viel Sekt
getrunken und plötzlich kam es über mich. So häßlich war ich an jenem
Abend. Und Eisenhut quälte ich, weil ich mich ihm gegenüber schuldig
fühlte. Freilich, er erinnerte mich auch zu oft daran. Ich habe einmal
schlecht gegen ihn gehandelt und er hat mir doch einen großen Dienst
erwiesen -- er lieh mir zehntausend Mark und wollte nicht einmal einen
Schuldschein haben -- aber ich will gar nicht davon sprechen. Ich habe auch
noch andre häßliche Bemerkungen gemacht.« Sie sah Grau prüfend an.

»Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was an jenem Abend gesprochen
wurde,« sagte Grau.

»Das ist gut,« fuhr Adele fort, sie stockte. »Haben Sie denn Besuch, Herr
Grau? Es sitzt jemand auf Ihrer Treppe,« fragte sie.

Vor dem kleinen Hause Graus saß eine dunkle Gestalt und rauchte Pfeife. Es
war ein kleiner alter Mann. Er erhob sich und machte eine Verbeugung.

»Ich rauche Ihre Pfeife, Herr Grau, mit Ihrer Erlaubnis,« sagte er.

»Es ist ein alter Handwerksbursche,« sagte Grau, »der vorläufig hier wohnt.
Er saß eines Tages auf meiner Treppe, abends, als ich heim kam, fand ich
ihn da. Er war krank und hatte Fieber. Man hatte ihm die Aufnahme in der
Herberge verweigert, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich konnte
ihm doch nicht gut ein Obdach verweigern, zumal er Fieber hatte, nicht
wahr? Übrigens stört er mich nicht, ich habe ja so viel Raum.«

»Wie lange wohnt er schon hier?«

»Drei Wochen. Warum?«

»Ich meine nur. Ich habe gehört, Sie haben Ihr Bett verschenkt und behelfen
sich selbst mit einem Strohsack?«

Grau lächelte. »Eine merkwürdige Stadt!« sagte er. Sonst nichts.

»Eine Dame hat es erzählt. Das Bett gehört ja zum Pfarrhause, es gehört
nicht Ihnen?«

»Ich werde ein neues Bett kaufen,« sagte Grau. »Sagen Sie der Dame, sie
könne ganz unbesorgt sein. Ich habe das Bett hergeliehen, einer armen
Wöchnerin. Ja, mein Gott, ich kann doch da nicht erst lange fragen, wem das
Bett gehört? Eine ganz merkwürdige Stadt!« -- Adele lachte leise.

Sie gingen schweigend an der Parkmauer entlang bis zum Gitter. Adele
blickte hinein. Im Hause war ein Flügel beleuchtet und man hörte ein
Klavier.

»Wir haben Gesellschaft,« sagte sie, »die Offiziere von Weinberg.« Sie sah
zu den hellen Fenstern hinauf und lauschte. »Es ist Mama, die spielt.« Sie
blickte in den weiten Park hinein, dahin wo er ganz dunkel lag, und
schüttelte den Kopf. Sie fröstelte. Sie blickte Grau lange an. Dann sagte
sie mit einem Blick auf die hellen Fenster: »Ich habe keine Lust. Kommen
Sie!«

Sie gingen weiter, den Weg entlang, der in den Wald führte. Es war ein
Kiesweg und man sah ihn weit hinein in den Wald fließen, obgleich es hier
ganz dunkel war. Zu ihren Häupten schlängelte sich eine schmale blaue
Straße des Himmels und ein früher Stern wanderte darauf. Bald versank jeder
Laut hinter ihnen und sie waren allein.

Zuerst hörten sie ihre Schritte auf dem Kies, aber das Ohr gewöhnte sich
daran und lauschte auf die tiefe Ruhe des Waldes.

»Welcher Friede, fühlen Sie!« sagte Grau leise.

»Ja, hier ist Friede!« sagte Adele, deren Gesicht in der Dunkelheit zu
leuchten anfing. Sie stand still und wandte die Augen auf Grau. Er sah ihre
Augen, so hell waren sie. »Horchen Sie! Hören Sie das Klavier nicht mehr?«

»Nein.«

»Es ist Mama, die spielt. Ich höre es jetzt auch nicht mehr. Da sitzt sie
nun, meine kleine Mama und spielt und wartet auf mich. Denn sie tut ja
nichts andres. Sie wartet und die Herren lachen und plaudern. Sie sagt zu
Konrad: Konrad, wenn meine Tochter kommt, melden Sie es mir sofort. Sie
wartet und wird immer nervöser. Ich aber komme nicht.«

»Sollten Sie nicht umkehren?« fragte Grau.

Adele schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte sie, »ich habe keine Lust. Ja,
fühlen Sie doch den Frieden hier, Sie haben recht, wir wollen den Frieden
hier fühlen. Wie es riecht! Als ob Sie Rinde abschälten. Haben Sie viel
Frieden in sich? Ich nicht, nein, ich würde lügen, würde ich es behaupten.
-- Das heißt, es ist ja nicht so schlimm,« fuhr sie mit freierer Stimme
fort, »es ist nur der Frühling, weil alles so schön ist und die jungen
Mädchen heute lachten so viel.«

Der Kiesweg war zu Ende. Sie gingen in einem Walde hoher Fichten. Der Boden
war glatt von Nadeln und Moos und es roch hier nach Harz und Wurzeln.

Grau lächelte, und als ob Adele sein Lächeln gefühlt habe, blickte sie zu
ihm her. Er sagte: »Wir gehen wie im Werke einer großen Orgel, zwischen all
den schlanken Pfeifen. Als der Geist der Orgel gehen wir hier.«

Er sah, daß Adele lächelte; ihre hellen Augen glänzten.

»Warum sprechen Sie so eigentümlich?« fragte sie.

»Sprach ich denn eigentümlich?«

»Ja, Ihre Stimme klang ganz verändert.«

Adele blickte zu den schwarzen phantastischen Wipfeln empor, die regungslos
dastanden, wie aus Erz gegossen, und einen fahlen grauen Himmel sehen
ließen, als beginne es zu tagen. Sie lächelte und sagte: »Aus unseren
Orgelstunden ist leider nichts geworden. Sie erinnern sich, daß ich neulich
bei Ihnen anfragte?«

Er stehe jederzeit zur Verfügung.

»Ich danke Ihnen aufrichtig,« sagte Adele, »aber der Baron sieht es nicht
gerne, mein Bräutigam. Ich weiß nicht warum, aber er hat solche Angst, die
Leute könnten über mich sprechen. Und dann hat er es noch nie gehört, daß
eine Dame Orgel spielte. Wüßte er, daß ich mit Ihnen hier gehe, so hätte er
nichts dagegen, nein, aber er hätte Angst, jemand könnte es sehen. Er hält
viel auf Etikette. Er denkt in jeder Beziehung frei und vornehm, aber er
will nicht, daß die Leute über mich sprechen. Sie haben ihn doch kennen
gelernt? Sind Sie in ein Gespräch mit ihm gekommen?«

»Wir haben nur ein paar nichtssagende Worte gewechselt.«

»Schade!« sagte Adele. »Ich wünschte, Sie hätten mit ihm gesprochen, er ist
sehr gebildet und klug. Freilich ist er ja meist zu müde zum Sprechen, er
liebt es auch nicht, er ist schweigsam. Sie würden vielleicht den Eindruck
bekommen, daß er etwas konventionell ist in seinen Anschauungen. Er könnte
zum Beispiel nie einen Handwerksburschen beherbergen, niemals in seinem
Leben -- aber er ist --. Vor allem liebt er mich sehr, er liest mir jeden
Wunsch von den Augen ab.«

»Sie werden ja nun bald heiraten?«

»Ja.« Adele blickte auf den Weg. »Er, der Baron, drängt sehr. Auch fühlt
sich Mama jetzt besser. Mir eilt es ja nicht so sehr -- obgleich ich den
Baron von ganzem Herzen liebe. Er besitzt eine Menge großer Eigenschaften,
Sie würden das bald herausfinden -- nun hört der Wald auf -- lassen Sie uns
nicht von diesen Dingen sprechen. Weshalb sehen Sie mich an?

Es ist ja langweilig für Sie, nur von meinen Angelegenheiten zu hören, Herr
Grau. Deshalb. Wollen Sie mir nicht jenen Traum zu Ende erzählen, den Sie
auf dem Ball begannen?«

»Gerne.«

Sie traten aus dem Walde und der Rücken der Höhe lag im Dämmerlichte vor
ihnen. Im Tale zogen Nebel und die Stadt war in Dunst gehüllt. Einige
Lichter flimmerten, und wo der Bahnhof lag, blinzelte eine Reihe von
Laternen wie der Leichenzug eines armen Mannes. Der Himmel war fahl und
einige matte Sterne schwebten darin. Sie gingen am Rande des Waldes entlang
und kamen an eine Bank. Adele macht Miene sich niederzusetzen, aber sie
ging weiter.

»Jene Frau und ich,« begann Grau, »gingen über die Heide, es war graue
Nacht und ganz still. Es war fahl wie jetzt, nur daß es dem Morgen zuging,
es war aber stiller als jetzt, obgleich hier kein Laut zu hören ist.
Trotzdem war es stiller. Die Luft war kühl, so wie sie ist, wenn der Morgen
nahe ist, sie war gewürzt von all den Kräutern und Blumen, die in der Heide
blühten. Wir gingen schweigend dahin, jene Frau, mit der Sie eine leichte
Ähnlichkeit haben, und ich. Alles war wie ein Schatten und wir selbst
schienen Schatten zu sein, die in der grauen Nacht dahingingen. Es standen
viele Sterne am Himmel, aber sie leuchteten nicht. Plötzlich begann es zu
sausen über unseren Häuptern und ein Heer von Sternschnuppen, ein
ungeheurer Regen von Sternschnuppen jagte blitzschnell über den Himmel und
verschwand hinter dem Horizonte. Es waren Milliarden von Sternschnuppen,
der ganze Himmel war fegendes Feuer. Ich erschrak, denn ich hatte niemals
so etwas Schönes gesehen. Warte, sagte die Frau an meiner Seite -- und
wieder fegten Milliarden von Sternschnuppen über den Himmel. Diesmal
dauerte es lange Zeit, endlos schien der goldene Regen zu sein. Endlich
hörte er auf und die letzten Funken versprühten am Horizonte. Mein Herz
schlug heftig, ja, es schlägt jetzt sogar bei der Erinnerung an dieses
schöne Schauspiel, das schöner war, als alles was ich im Wachen und im
Traum gesehen habe.«

»Es wurde wieder fahl wie zuvor und die Frau sah mich lange an. Wie gefiel
es dir? sprach sie. Ich nickte, ich sagte nichts.«

»Und weiter?« fragte Adele.

»Wir wanderten zusammen,« fuhr Grau fort, »und es schien als wanderten wir
eine endlose Zeit in der grauen Nacht, aber ich wanderte dahin und fühlte
mich glücklich an der Seite der schönen Frau. Die Frau sprach sehr gütig zu
mir, aber ich weiß nicht mehr, was sie sagte, doch ich erinnere mich, daß
sie sehr gütig zu mir sprach. Ich habe niemals im Leben diese Güte in der
Stimme einer Frau gehört, aber im Traume hörte ich sie, niemals hatte ich
die sanfte Hand einer Frau auf meinem Arm gefühlt, aber im Traume, da
fühlte ich es. So sanft war sie! Wir wanderten über die Heide und mein Herz
war fröhlich. Wir unterhielten uns in einer fremden Sprache, aber ich hatte
keine Schwierigkeiten damit, ich verstand, ich sprach --«

»So ist es im Traume.«

»Ja. Der Boden war sanft unter unsern Füßen und wir konnten unsere Schritte
nicht hören -- wie jetzt, da wir über die Wiesen gehen. In der Heide
blühten Blumen. Es war eigentümlich, ich sah sie erst jetzt, die ganze
Heide war voll davon. Sie waren klein und niedrig und hatten Traumfarben.
Sie waren Tulpen ähnlich, durchsichtige mattfarbene Kelche hatten sie. Aber
in jedem dieser Kelche lebte -- so schien es -- ein Lichtgeisterchen, die
Lichtgeisterchen umschwebten die Blumen, sie saßen auf dem Blütenrande, sie
wirbelten hin und her. Plötzlich sah ich die ganze Luft von solchen
Geisterchen erfüllt, die auf und nieder schwebten. Sieh, sagte ich zur
Frau, sieh, und ergriff den Arm der Frau und deutete in die Luft --« Grau
erzählte so eifrig, daß er die Hand auf Adeles Arm legte und in die Luft
deutete, als sei sie erfüllt von Wesen, Adele sah ihn lächelnd an -- »sieh
doch, sagte ich, sieh doch! Sie lachte leise. Ich habe vergessen, daß du
ein Mensch bist, sagte sie, ein Blinder und Unwissender. Weißt du denn
nicht, daß jeder Hauch der Luft erfüllt ist von Wesen? -- Wir mußten einen
schmalen Bach überschreiten und ich war sehr erstaunt zu sehen, daß sich
über den Wellen des Baches Tausende von Quellengeisterchen tummelten, sie
schwebten hin und her in der Bewegung der Wellen und über einem kleinen
Strudel kreisten sie im Reigen, sie tanzten und lachten leise. Wie
merkwürdig, dachte ich, deshalb ist es so eigentümlich berückend auf das
Rieseln eines Baches zu lauschen? Ich beugte mich herab und beobachtete die
Geisterchen, sie sahen mich alle mit kleinen lichtgrünen Augen an. Sie
kamen mir so nahe, daß ich glaubte sie fühlen zu müssen, ein Geisterchen
streifte meine Wange, ein anderes saß einen Augenblick lang auf meiner
Lippe.«

»Plötzlich erschrak ich. Ein hohler, tiefer Ton, der stark tremulierte,
erschütterte die Luft. Ich begann zu zittern, denn der Ton klang
unheimlich, er klang bald in der Ferne, bald schrecklich nahe und ich
zitterte, denn ich fühlte mich allein inmitten der Nacht und inmitten einer
Welt, in der ich ein Fremder war. Warum zitterst du denn? sagte die Frau an
meiner Seite, aber sie sprach gütig. Oh, ihr Menschen seid solch feige
zitternde Gespenster, nichts wollt ihr verlieren, nicht einmal euer Leben.
Wie lächerlich erscheint ihr doch den andern Wesen.«

»Wir gingen und sprachen und die Frau an meiner Seite sagte mir, daß ich
einen schwachen Kopf habe und nie denken gelernt hätte, wie alle Menschen
sähe ich nur die Oberfläche der Dinge. Ihr gebärdet euch alle überaus klug
und wichtig, sagte sie, und euer Gehirn ist doch so schwach, daß es bei
jedem kleinen Gedanken explodiert und der Gedanke ist noch dazu falsch.
Weshalb lebst du, weißt du es? -- Welche Angst hatte ich doch zu antworten!
Ich lebe um meine Seele zur Harmonie und Schönheit zu entfalten, sagte ich.
Die Frau lächelte. Wie oberflächlich ist das doch! sagte sie. So lebe ich
vielleicht, um meine Seele zur Güte, zur Liebe und Wahrheit und
Gerechtigkeit zu erziehen? Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Das ist ja
alles so nebensächlich, sagte sie. Nun, sagte ich, ich lebe vielleicht um
mich zu wundern? -- Da faßte sie meinen Arm und sagte: Verhülle dein
Gesicht! Ich tat es, ich sah wie sie rasch die Hände auf das Gesicht legte
und verging, als sterbe sie. Ein Hauch fuhr über die Heide und der leise
Gesang der Geisterchen ringsum vereinigte sich zu einem einzigen Ton, der
wie ein leises Seufzen klang. Ich versank in eine Art Schlaf und als ich
erwachte, ging ich wieder neben der Frau in der grauen Nacht.«

»Ich sah keine Blumen mehr, die Heide war eine gewöhnliche Heide und ich
erkannte die Kühle und den Geruch vom Anfange unserer Wanderung wieder. Es
ist Zeit, daß ich gehe, sagte die Frau, der Sternschnuppenregen ist
vorüber. Leben Sie wohl. -- Sie sprach wie eine Fremde.

Leben Sie wohl! sagte ich und zog den Hut.

Sie sah mich an und lächelte eigentümlich, sie stand ganz nahe.

Leben Sie wohl, wiederholte sie, Sie haben mich heute nicht wiedererkannt.
Leben Sie wohl.

Leben Sie wohl.

Sie gab mir die Fingerspitzen der beiden Hände und sah mich an. Leben Sie
wohl, flüsterte sie, bis wir uns wiedersehen!

Leben Sie wohl.

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Sie wissen nicht, was ich denke?
Nein? Leben Sie wohl. -- Sie ging und wandte sich noch einmal zu mir um und
bewegte die Lippen. Sie verschwand, ich weiß nicht wohin. Ich stand in der
Heide und blickte ringsum. -- Das ist der ganze Traum,« schloß Grau.

Adele blickte auf den Boden und lächelte. Wie seltsam! Welch ein schöner
Traum! »Vielleicht haben Sie im Traume viele wahre Dinge erblickt, die wir
in Wirklichkeit nicht sehen können? Wie seltsam!« Sie standen am Gitter des
Parkes.

Nach einer Weile sagte sie: »Was hat jene Frau doch gemeint, als sie sagte:
Sie wissen nicht, was ich denke?«

Grau lächelte. »Wie kann ich es wissen?«

Adele schüttelte den Kopf und öffnete das Gitter, indem sie rückwärts ging.
»Sie wissen es nicht? Vielleicht wollte sie, daß Sie fragen, wer sie sei,
ob sie nicht mit Ihnen gehen solle? Irgend etwas. Oder vielleicht wollte
sie, daß Sie sie zum Abschied küßten?« Adele lächelte.

»Welch ein Gedanke!« sagt Grau erstaunt und verwirrt.

Vielleicht habe sie das gedacht, vielleicht, man wisse es ja nicht, aber
eine Frau war sie ja doch! Nicht wahr? »Ich muß jetzt ebenfalls gehen, Herr
Grau. Leben Sie wohl!« Adele nickte.

Grau zog den Hut: »Leben Sie wohl, Fräulein von Hennenbach.«

Adele ging immer mehr rückwärts, an das Gitter gelehnt.

»Leben Sie wohl,« wiederholte sie und sie sahen einander lange an.

Grau schwindelte. »Gute Nacht und Dank für den Abend!« sagte er mechanisch.

Adele wandte sich um und blickte über die Schulter zurück. »Leben Sie wohl
-- bis wir uns wiedersehen!« sagte sie und Grau sah ihre schmalen Zähne
schimmern. Sie ging hinein in den dunkeln Park. -- -- -- --

Grau sah sie gehen und ihr helles Kleid im Dunkel untertauchen. Unter der
Lampe des Eingangs leuchtete es wieder auf und verschwand.

Er schloß langsam das Gitter. Es konnte doch nicht die ganze Nacht hindurch
offen stehen. Er blickte auf den Weg, wo sie gegangen war und schüttelte
den Kopf: Sie wußte ja nicht alles, ja, beim Himmel, sie wußte ja nicht
alles!

Wußte sie denn, daß er wach lag und nur an sie dachte? In ihrem Garten
stand ein blühender Apfelbaum und ihn liebte er am meisten von allen
blühenden Bäumen im Lande.

Wußte sie denn das?

Er sah sich immer wieder um und sah dieses Eisengitter an. Leben Sie wohl
-- bis wir uns wiedersehen! Hatte sie nicht die gleichen Worte gesprochen
wie jene Frau im Traum?

Es rieselte im Laube, das Rieseln ging ringsum im Walde und die Gräser
flüsterten. Wie ein Schauer rann es über die Erde und dieser Schauer des
Frühlings durchrieselte auch ihn. Plötzlich war alles von fahlem Lichte
erfüllt und der Wald zitterte im bleichen Scheine des Mondes, der über die
Höhen heraufstieg. Grau ging langsam dem Monde entgegen und das Licht
durchflutete ihn wie einen Baum. Ist alles Traum, ist alles Wunder? dachte
er. Ich selbst ein Traum im Traume der Welt? Etwas wie Betäubung befiel
ihn, er hatte das Gefühl, als ob er an einem Abgrund stände. Plötzlich roch
er die Kräuter wie in jenem Traume, derselbe Geruch war es und vor seinem
innern Auge erschien jene seltsame Frau und fragte, wie damals in mildem
Vorwurf: Hast du mich heute nicht wiedererkannt! Er schloß die Augen, da
sah er Adeles schmales Gesicht vor sich. Eine Stimme begann in ihm zu
flüstern. Sie flüsterte Worte, die er nicht verstehen wollte. Lehne deinen
Kopf an meine Schulter, flüsterte sie. Küsse mich, küsse mich tausendmal.

Grau wandte sich um und blickte auf Adeles Park.

»Ich werde ja schweigen,« sagte er laut. Aber die Stimme ihn ihm fuhr fort
zu flüstern: Küsse mich, küsse mich tausendmal --

Er lauschte und lächelte. »Ja, ja!« sagte er.

Er stand und wartete bis alle Lichter in Adeles Haus erloschen. Die Luft
war feuchtwarm, duftend und so stark, daß ihm die Brust bei jedem Atemzuge
weh tat. Er dachte an Adele und der Gedanke an ihre Schönheit schmerzte
ihn. Das letzte Licht erlosch und er ging weiter. Erst gegen Morgen kam
Grau nach Hause. Das Herz war ihm schwer von schönen Träumen. Als er sich
auskleidete fiel jenes Paketchen aus seiner Tasche, das Mütterchen ihm
zugesteckt hatte.

Er öffnete es. Kleine gelbe Kinderschuhe waren darin.




Fünftes Kapitel


Der Himmel wurde höher und blauer, die Wolken weißer und schwebender, im
Garten schrien die jungen Stare.

Susanna lag geduldig, ohne sich zu regen, denn sie sollte Kräfte zur Reise
sammeln. Ihre Augen glänzten in tiefer Schwärze. Sie wurde schöner. Ihre
Wangen füllten sich, die gelbe Farbe ihres Gesichtes verschwand, sie sah
blaß aus und niemals erschienen ihre Haare so schwarz und ihre Augen so
groß. Sie wurde schöner, alle waren überrascht, die sie sahen.

Aber ihre Stimme verfiel. Sie konnte nicht mehr in ihrer hohen singenden
Stimme sprechen. Sie sprach leise und heiser und war kaum zu verstehen.

Sie lag ruhig da und horchte auf das Gezwitscher und Pfeifen der Stare. Sie
lächelte, wenn die Starenmutter geflogen kam, eine Fliege im Schnabel, und
all die kleinen gelben Schnäbelchen der jungen Stare in dem runden Loch des
Kobels erschienen und ein kreischendes ungeduldiges Geschrei erhoben.

»Hörst du?« sagte sie leise und heiser. »Wie glücklich diese Vögelchen
sind! Hätte ich es mir denn träumen lassen, daß ich noch einmal das Pfeifen
der Stare hören werde? Ach, oft weine ich vor Freude, am Morgen, wenn das
erste Zwitschern irgendwo fern zu hören ist. Ich liege hier und denke, wie
herrlich, wie rührend ist es doch! Die Lerchen trillern, da ist es noch
ganz grau auf den Feldern und die Stare kreischen und pfeifen. Dann färbt
sich der Himmel und ich rieche das Gras und die Bäche. Und ich kann es kaum
erwarten bis es licht wird und ich das Gras sehen kann. Hast du die Knospen
gesehen an meinen Rosenstöcken, ja? In ein paar Wochen, da wird alles
blühen. Auch der Flieder. Wie ist doch sein Duft? Wie eine süße und
traurige Geschichte. Könnte ich doch noch den Flieder blühen sehen und
diese Luft einatmen, die dann sein wird! Diese Luft, die so schwer von Duft
ist, daß sie sich kaum bewegen kann!«

Ihre Augen leuchteten und sie lächelte.

Geduld, Geduld! süße Susanna.

Es kamen Regentage und Susanna lag still. Sie hatte die Augen halb
geöffnet, aber es schien als ob sie schlafe. Sie regte sich nicht, sie
sprach kein Wort, lautlos und hastig arbeitete ihre kleine schmale Brust.
Sie fieberte leicht und das Fieber legte einen Schleier um ihren Geist.

Aber sobald die Sonne die Wolken zerteilte, erwachte sie, sie öffnete die
Augen und ihr Geist war frei. Verdunkelte sich der Himmel wieder, so
verdunkelte sich auch ihr Antlitz, ihre Augen erloschen, sie lag ohne
Bewegung und ohne Wunsch.

Grau saß immerfort an ihrem Bette. In der Küche sprach Lenz, fast ohne
Pause. Es war ihm ganz einerlei mit wem er sprach und wovon, wenn er nur
sprechen konnte. War er allein, so sprach er mit sich selbst: Da wären wir
glücklich, alter Knabe, da wären wir glücklich, um Kohlen einzunehmen und
den alten Kutter frisch zu lackieren. Noch ein paar Tage und wir stechen in
das hohe Meer des Lebens hinaus -- prosit! Ein schwarzer Panther in einer
Küche -- haha -- bei Hühnern -- hole mich der Teufel! Er erzählte sich
selbst Geschichten, schmiedete Pläne und baute Luftschlösser. Er kam selten
ins Zimmer und immer nur auf einige Minuten, lachte, plauderte und streifte
Susanna mit scheuen Blicken. Häufig besuchte ihn Eisenhut, der gegenwärtig
einen kleinen Rückfall hatte und schrecklich trank. Neulich waren ihm schon
wieder die Kinder nachgelaufen. Er wich Grau aus.

Eines Tages verlangte Susanna Eisenhut zu sprechen. Eisenhut kam aus der
Küche, mit gerötetem unrasierten Gesichte, blinzelnd und in guter Laune,
ein wenig unsicher in seinen Bewegungen. »Nun, wie geht es? Vorzüglich,
natürlich, hähä -- wie zwei Turteltäubchen, ja --«

»Nein,« sagte Susanna leise und heiser, »es geht nicht gut.« Sie gab sich
alle Mühe zu sprechen, aber man hörte kaum was sie sagte. »Setzen Sie sich
hierher ans Bett, Herr Eisenhut. Ich möchte mit Ihnen sprechen. Ganz nahe,
ganz nahe. So, nun sind Sie nahe. Ach, Richard, mein Freund, du sollst dich
einstweilen auf den Stuhl neben mich setzen. So, nun ist es gut. Ich wollte
Ihnen danken, Herr Eisenhut!«

Eisenhut ertrug ihren Blick nicht. Er blinzelte, stammelte etwas; es sei
doch nicht der Rede wert.

»Nein, viel, viel haben Sie getan, Herr Eisenhut!« sagte Susanna und faßte
Eisenhuts Hand. »Viel Gutes haben Sie Mütterchen und mir erwiesen. Was wäre
wohl aus uns geworden, wenn Sie nicht gewesen wären?«

Eisenhut legte das Gesicht in Falten, so daß es aussah, als beginne er zu
weinen, aber er lächelte. »Was habe ich denn getan? Alles in allem, nichts,
gleich Null, das ist es, was ich getan habe. Also bitte recht sehr,
behalten Sie den Dank für sich. Nein, lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe
gedacht, dieses Mütterchen kann ich gut brauchen. Diese arme Frau hat
nichts zu nagen und zu beißen und wird alles für billiges Geld tun. So habe
ich gerechnet, genau so. Ich habe Mütterchen dreißig Mark gegeben und dafür
sollte sie meine Mutter pflegen und ernähren. Das ist alles, was ich getan
habe. Und dann habe ich zuletzt monatlich fünfunddreißig Mark gegeben. Hier
haben sie alles zusammen, fertig!«

Susanna lächelte. »Aber die Wohnung? Sie vergessen ja ganz die Wohnung.
Nun? Nein, Herr Eisenhut, Sie waren ja stets so gütig. Es ist wahr,
Mütterchen reichte nicht immer, dann mußte sie Schulden machen, beim
Krämer, beim Fleischer und beim Bäcker. Und die Schulden wuchsen und
wuchsen und Mütterchen verging vor Angst. Sagte ich zu Mütterchen: Sprich
doch mit Herrn Eisenhut, er ist ja so gut. Ja, er ist so gut, das ist wahr,
sagte Mütterchen und nahm all ihren Mut zusammen und sprach mit Ihnen. Ja,
Sie wetterten und donnerten, aber eines Tages da lagen eben doch die
zwanzig Mark auf dem Küchentisch und Sie haben kein Wort weiter gesagt, so
sind Sie! So unendlich viel Gutes haben Sie uns erwiesen, Sie lieber Freund
-- ja, so nenne ich Sie -- und Mütterchen spricht so oft von Ihnen und
dankt Ihnen jeden Tag. Sie spricht nichts zu Ihnen, nein, das tut sie
nicht, aber ihr ganzes Herz ist voll von Dank und sie geht hinaus um die
Türklinke abzureiben, wenn Sie kommen, damit Sie sich nicht die Hände
staubig machen.«

»Eisenhut!« sagte die Baßstimme des Lehrers an der Küchentüre; er klopfte
ungeduldig und schob den bärtigen Kopf herein. Die Gläser seien gewärmt.
Alles sei bereit, um das Fest zu feiern. Eben sei ihm auch ein Gedanke wie
ein Blitz durch den Hirnschädel gefahren, eine geniale Idee, die das
Weltenbild total umforme --

»Sofort,« sagte Eisenhut, »ich habe einige Worte mit Susanna zu sprechen.«

»Ja, wenn du mit Susanna sprichst, so kann ich warten, drei Tage und drei
Nächte, ohne zu murren,« sagte Lenz und zog sich zurück. Er begann
einstweilen ein Lied zu brummen.

»Haben Sie mir alles gesagt, Susanna?«

Nein, es sei erst die Einleitung. »Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges.
Das Allerwichtigste, das es für mich gibt, Herr Eisenhut. Sie können es
nicht erraten?«

Eisenhut versank in tiefes Nachdenken und lauschte auf das Lied, das der
Lehrer in der Küche brummte: Es war einmal ein König, der hatt' einen
großen Floh --

»Ich habe in meinem ganzen Leben nichts erraten können,« antwortete
Eisenhut, der mühsam seine Ungeduld verbarg.

»Es ist so schwer, es zu sagen!« flüsterte Susanna und streichelte
Eisenhuts Hand. Sie streichelte die ganze Hand und dann jeden einzelnen
Finger. »Nun?« fragte sie und blickte ihn mit feuchten, pechschwarzen Augen
an.

Nein, niemals könne er es erraten.

»Wir knicken und ersticken -- doch gleich, wenn einer sticht --« brummte
Lenz in der Küche. »Bravo, bravo, das war schön! -- So soll es jedem Floh
ergehn!«

Susanna nahm Eisenhuts Hand in beide Hände und liebkoste sie auf beiden
Seiten. Es handele sich um Mütterchen. »Seien Sie gut zu Mütterchen,«
flüsterte sie.

Eisenhut nickte.

Und Susanna fuhr flüsternd fort: »Mütterchen darf es nie erfahren, daß ich
Sie darum gebeten habe, und auch Sie müssen verzeihen, daß ich es tat,
lieber, guter Herr Eisenhut. Aber Sie wissen ja, Mütterchen kann nicht
sprechen, sie kann nicht bitten. Sie kann nur hungern, leiden und in ihre
Schürze weinen. Und Sie, ach, auch Sie, Herr Eisenhut, Sie sind ja gut,
aber Sie wissen gar nie, wo es einem fehlt und wie Sie ihm helfen könnten.
Was soll aus Mütterchen werden, wenn Sie ihr nicht etwas helfen?«

Grau sagte leise: »Mütterchen soll es gut haben. Dafür werden wir beide
sorgen. Und du, sobald es besser geht --«

Das wisse sie, das beruhige sie. »Aber nun, wenn Herrn Eisenhuts Mutter
stirbt -- wir setzen den Fall, wolle sie noch recht lange leben, -- ja --
aber wir setzen den Fall -- was dann?« Sie habe nun gedacht, Herr Eisenhut
habe ja doch ihre Reise nach dem Süden bezahlen wollen -- das sei ja so
fraglich, ob sie reise -- ob er nicht das Geld vielleicht --

In der Küche brummte der Lehrer -- ha! sie pfeift auf dem letzten Loch, als
hätte sie Lieb' im Leibe. -- Als hätte sie Lieb' im Leibe, wiederholte er
im tiefsten Baß.

Eisenhut versprach, Mütterchen eine Rente fürs ganze Leben auszusetzen.
»Hier, er ist Zeuge, Grau, ich habe es gesagt, morgen gehen wir zum Notar.«

Susanna nickte, sie zog Eisenhuts Hand an die Lippen und küßte sie
inbrünstig, wobei sie die Augen schloß.

»Ja, nun ist alles gut!« sagte sie und nickte und lächelte. --

Die Freundinnen kamen und brachten große Sträuße von Blumen mit, süße Weine
und Kuchen. Sie kamen herein, jung und frisch und duftend, mit roten Lippen
und den Schein der Sonne in den Augen. Sie lächelten, sprachen mit
gedämpfter Stimme, aber sobald sie ein paar Minuten da waren, sprachen sie
laut und lachten und erzählten wie schön es heute sei, Spaziergänge,
Tennis, Radpartien, eine Leiterwagenpartie sollte gemacht werden --

»Ja?« Susanna lachte und hustete. »Viel Vergnügen,« sagte sie und lachte
wieder und hustete mehr. »Recht viel Vergnügen!«

»Oh, ich liebe euch, viel Vergnügen, ja!«

Adele und Grau sahen einander an und sie erröteten beide.

»Komme zu mir, Adele,« sagte Susanna. »Laß mich dein Kleid befühlen. Wie
fein ist der Stoff, so zart und dünn. Laß mich deine Haut befühlen. Wie
fein ist deine Hand, Adele. Aber wenn ich in deine Hand blicke -- siehst
du, Adele, warum ist Unfriede in deiner Hand? Ich blicke in Richards Hand.
So viel Friede ist darin. Nun, was bedeutet es schließlich und was schadet
es? Nicht wahr? Großer Unfriede, das ist das Leben und großer Friede, das
ist das Leben. Aber was dazwischen liegt, das ist nicht des Lebens wert.
Aber vielleicht -- wer weiß es denn! -- vielleicht ist es auch schön, im
Grase zu liegen, zufrieden zu sein und nur eine Kuh zu sein, etwa. Oder es
ist auch schön, in einem Gefängnis zu sitzen und zu leben. Nur zu leben.
Oh, wie du duftest! Oh, wie du duftest! Es ist die Luft, es ist der
Frühling und so jung bist du, das ist es auch!«

»Liebe Freundinnen, meine lieben Freundinnen, ihr guten Herzen! Wißt ihr
was schön ist? Es ist schön euch anzusehen. Es wäre schön, mit euch Arm in
Arm zu gehen. Nun kommt der Sommer, dann der Herbst, und sie singen in den
Weinbergen, dann kommt der Winter und sie spielen in hellen Zimmern und
tanzen, dann kommt wieder der Frühling, der Sommer, der Herbst, der Winter,
der Frühling wieder, und wieder singen sie in den Weinbergen: Und ihr
werdet leben! Euer Leben wird schön sein, deines Maria und deines Klara und
deines Adele! Ach, Adele, wenn ich dich so ansehe, dir wird es ja nicht so
leicht werden, ich fühle es, aber euch allen wird es ja nicht so leicht
werden, vielleicht wird euch einmal ein Kind sterben und ihr werdet euch in
Schwarz kleiden und man wird nichts von euerm Kopfe sehen als schwarze
Schleier. Schmerzen werdet ihr haben, ja, aber auch das ist ja das Leben,
nicht? Nur wenn nichts geschieht, auch kein Schmerz mehr -- das ist der
Tod. Ja, euer Leben wird schön sein und ich wünsche es so. Und wenn ich es
verhindern kann, daß euer Kindchen stirbt -- wenn ich da etwas vermag --
nichts soll mir zuviel sein -- oh, ihr Guten -- so schön wird es sein, wenn
ein Mann euch liebt -- ich weiß es ja wohl und auch Adele weiß es -- seht,
sie wird rot, seht es, nein sei nicht böse. Adele -- schön wird es sein,
all die Geheimnisse, wie schön -- und euere Kinder! Denn sicher werdet ihr
Kinder haben, werdet sie waschen, baden, küssen, werdet sie kleiden und
schlafen legen, all das. Es wird regnen und das wird euch gefallen, die
Sonne wird scheinen und ihr werdet froh sein im Herzen. Ihr werdet
fortgehen, hinaus und viele neue Menschen sehen und neue Länder, Blumen und
Sitten, Tiere. Ich hätte so gerne einmal einen Löwen gesehen, hatte nie
Gelegenheit, einen Löwen! Alles werdet ihr sehen. Da wird ein großer,
heller Saal sein und alle kommen in Festtagskleidern, auch ihr seid dabei.
Ich wünsche es. Konzerte werdet ihr hören und Theaterstücke werdet ihr
sehen, Bücher werdet ihr lesen, schöne und kluge Bücher -- ja, möge es so
sein, möge es so sein. Es geschehen so viele herrliche Dinge in der Welt,
heldenhafte und poetische Dinge, ihr werdet davon hören. Ich wünsche es!
Ich wünsche es! Möge es so sein!«

»Nun Susanna, bald wirst du reisen und ebenfalls viel Schönes erleben.«

Susanna lächelte und sah mit eigentümlichen Augen auf die Freundinnen.

»Ja,« sagte sie, »wie recht sie doch hat! Bald werde ich reisen, aber ich
weiß nicht wohin. Du nimmst ein Billet nach Genf, du setzt dich in den Zug
und steigst aus und bist in Genf. Aber ich werde nicht wissen, wo ich
aussteige.«

Niemand wagte zu sprechen, so eigentümlich klang das, was Susanna sagte.

»Drum adieu!« fuhr Susanna fort und im Augenblick hatte sie sich im Bette
aufgerichtet. »Drum adieu, adieu!«

Sie winkte mit beiden Händen den Freundinnen zu, die Hände bewegten sich
matt in den Gelenken.

»Drum adieu, adieu!« sagte Susanna und lächelte und ihre Stimme klang, als
sänge sie. »Drum adieu, adieu?« wiederholte sie und winkte hinaus zum
Fenster und hinauf zum blauen Himmel.

»Sagt allen Leuten, die ich kenne, adieu!«

Klara und Maria hatten Tränen in den Augen, Adele zog die Brauen zusammen
und lächelte voller Pein.

»Aber Susanna --« begann Klara.

Susanna lächelte und winkte mit der Hand ab.

»Ich weiß es nun,« sagte sie und lächelte, »ich weiß es nun ganz bestimmt.
Mit der Reise nach dem Süden ist es nichts, ich habe auch nie recht daran
geglaubt, es ist zu spät. Seit heute nacht weiß ich es. Ja, da erwachte ich
und siehe da, wie schön waren doch die Sterne! Wie schön und ich mußte
weinen, denn ich sah drei Sterne, die mir besonders gefielen, weil sie so
friedlich zusammen da droben wandelten. Ich öffnete das Fenster und sah ein
Kind im Garten stehen. Wie kommt das Kind hierher? dachte ich und wunderte
mich nur, denn vor Kindern fürchtet man sich ja nie. Das Kind hatte lange
Beine, dünne hübsche Beine, es war ein Mädchen von acht, neun Jahren. Das
Kind hatte gekräuseltes Haar, lauter winzige Löckchen, silberblond. Es
stand bei dem Rosenstock dort und hauchte auf die Knospen. Ich sah ihm zu
und dachte, was tut es? Ich sog die Luft ein, da roch ich Erde, Tau,
Pfefferminzkraut und den Flieder. Denkt euch, ich roch ihn so deutlich und
freute mich so sehr, bald wird er blühen. Nun, das Kind stand und hauchte
auf die Rosenknospe, auf die oberste des Stockes in der Ecke, dann kam es
auf mich zu und ich sah, daß es wirklich silberblonde Löckchen hatte. Es
sah mich an mit hellen Augen, lächelte und grüßte mich, indem es den Kopf
neigte, so langsam und stolz wie ein Mädchen von acht Jahren es tut. Dann
verschwand es und ich blickte hinauf zu den drei Sternen. Heute morgen
sagte mir Mütterchen, daß eine Rose aufgeblüht sei. Ja, sagte ich, ohne
hinzusehen, die oberste Rose des Stocks in der Ecke. Ja, sagte Mütterchen
und sie wunderte sich gar nicht, woher ich es wußte.«

Susanna schwieg und lächelte.

»Wie sonderbar der Traum ist!« sagte Maria zu Adele.

Susanna schüttelte den Kopf. »Es ist ja gar kein Traum, es ist ja
Wirklichkeit,« sagte sie, sonst nichts.

»Wir müssen jetzt gehen.«

»Adieu, adieu! lebt wohl, alles Herrliche wünsche ich euch, ihr lieben
Menschen. Ja, so viel Glück sollt ihr haben! Und vergebt mir, wenn ich
ungerecht und launisch war und gelogen habe. Vergib besonders du mir,
Adele!«

»Ach, Susanna --«

»Doch, doch, ich beneidete euch, besonders Adele beneidete ich, weil sie
reich und vornehm und schön ist. Ich wünschte in meinem Herzen, es möge
euch recht schlecht gehen, eine Woche nur, einen Tag nur, damit ihr fühlt
wie es ist. Oft, oft! Aber nun wünsche ich euch ja Glück! Hört ihr es denn
nicht?«

Sie sah Adele tief an. »Du bist mir so fremd!« sagte sie zögernd. »Und erst
seit einigen Tagen verstehe ich dich besser, ich fühle es, du bist nicht
glücklich. Du bist zu stolz, um glücklich zu sein. Dein Leben freut dich
nicht, nein. Du gehst wie betäubt und mit geschlossenen Augen deiner
Zukunft entgegen. Glück, Glück sollst du haben! Ich danke dir, daß du nicht
zu stolz warst, zu mir armem kranken Mädchen zu kommen. Glück! Glück!«

Adele küßte Susannas Hände.

»O, wie gut du bist!« seufzte Susanna. »Ja, denkt alle nicht mehr an das
Böse, das ich euch zufügte.«

Niemals habe sie ihnen Böses zugefügt.

»In Gedanken! In Gedanken fügen wir einander ja alle Böses zu. Und auch ich
tat es. Gerade in den letzten Tagen habe ich einen bösen Gedanken gehabt.
Ich habe gedacht, ja, auch sie werden einmal sterben müssen, auch sie. Nun
sind sie jung und schön, aber einmal wird es auch an sie kommen. Das habe
ich gedacht und es tat so gut das zu denken. Ich freute mich darüber --
haha -- ich habe gelacht dabei -- auch sie, auch sie, alle, alle, alle
werden sterben müssen! Vergebt mir! Lebt wohl, Lebt wohl!«

Die Freundinnen küßten ihr die Hand, Maria weinte in das Taschentuch.

»Wie lieb sie mich haben, die guten Geschöpfe, sieh nur!« sagte Susanna zu
Mütterchen, die mit einem Glase aus der Küche kam. Und sie drückte die
Fingerspitzen in die Wangen und ihre Augen wurden noch größer und
strahlender.

»Da gehen sie dahin!« sagte sie und blickte den Freundinnen nach, die in
hellen Kleidern durch die sonnige Wiese gingen.

»Lebt wohl!«




Sechstes Kapitel


Lebe wohl, mein Geliebter!

Lebe wohl, Mütterchen, kleines, hilfloses Mütterchen, lebe wohl! Die
Blätter, die Halme, die Blumen, lebet wohl. Lebe wohl, Himmelsblau, ihr
Wolken am Himmel, lebet wohl!

Susanna lag in den Kissen und ihre Augen wanderten hin und her, sie konnte
nicht mehr sprechen, ihre Stimme war erloschen, aber ihre Augen sprachen.

So sommerlich still war es. Mütterchen schlich herum und selbst Lenz
dämpfte die Stimme. Die Vögel zwitscherten und in der Ferne schlug ein
Fink, immerzu, vom Morgen bis zum Abend. Nachts herrschte tiefes Schweigen,
oft war es als schüttele sich ein Busch im Garten oder als zittere eine
Wand, das war alles. Die Güterzüge schleppten sich in der Ferne vorbei und
ein hohles dumpfes Echo rollte lange im Tal.

Grau saß am Bette. Er sah krank und übernächtig aus, in den letzten Wochen
hatte er nicht mehr regelmäßig geschlafen. Seine Wangen waren hohl und sein
Blick fieberte wie Susannas Augen, aber seine Lippen waren rot.

Susanna konnte nicht mehr sprechen, aber wenn man das Ohr an ihren Mund
hielt, verstand man mühsam, was sie sagte. Sie hatte nur selten etwas zu
sagen.

Sie sagte: »Heute nacht habe ich geträumt, ich ging im Walde, wie herrlich
dunkel war es da! Grüne Dämmerung! Und alle Bäume waren so alt und standen
regungslos da. Ich mußte denken, wie regungslos sie dastehen und ich
fühlte, wie ich selbst steif wurde und anwurzelte am Boden wie ein Baum.
Ich konnte kaum mehr atmen. Es war schön!«

Das war alles was sie an einem Tage sagte.

Sie sagte: »Wenn ich auf der Bank auf der Höhe saß und von dem Großen und
Seltenen träumte, das kommen sollte, so dachte ich, es wird wohl ein Mann
sein, der dich liebt. Wie du das erraten hast? Du sagtest: Haben Sie nicht
auch von Liebe geträumt? Aber wie hätte ich denn das sagen können! Nicht?
Und ich habe gedacht, er wird sagen, daß meine Hände schön sind -- denn sie
sind ja schön, nicht wahr? Du hast es gesagt und zu Adele sagtest du, ich
habe Hände wie eine Japanerin. Das hat mich so glücklich gemacht!« Sie
lächelte, aber es schien, als ob ein allzu großer Schmerz sie überwältige,
denn ihre Lippen zuckten und ihre Schläfen begannen zu zittern. Sie fuhr
fort: »Denn was ein Mensch Schönes an sich hat, das möchte er entdeckt und
bewundert haben von dem, den er liebt, und selbst das, was nicht schön und
gut an ihm ist, das möchte er doch ein wenig schön und gut gefunden haben.
Ist es nicht so? Das würde ihn glücklich machen. Und gewiß, er würde sich
Mühe geben, daß es schön und gut werde. Wie wunderlich ist doch der Mensch!
Je mehr ich über des Menschen Herz nachdenke, desto wunderlicher erscheint
es mir. Wer könnte es je verstehen? Es ist wie ein Zauber, wenn man es
betrachtet, verändert es sich und betrachtet man es nun, so hat es sich
schon wieder verändert. Es lebt in uns wie ein fremder Gast in einem Hause,
den man nie zu sehen bekommt.«

Sie lag still und lauschte. »Vater spricht!« sagte sie mit den Lippen ohne
Laut.

»So empfindlich bist du geworden, Eisenhut!« sagte Lenz mit gedämpftem Baß
in der Küche draußen. »Wie du aussiehst! Wie ein Fex. Er kann nicht in
Heuschobern und im Walde schlafen, hast du es gehört, kleines Mütterchen --
haha! Wie eine Prinzessin ist er. Aber wir können ja auch in Gasthäusern
schlafen, in seidenen Betten. Trinke, sage ich dir, trinke. Ob du trinkst
oder nicht, das hindert ja nichts an der Welt, die Welt bewegt sich so und
so -- aber wenn du trinkst, hast du vielleicht einen guten Einfall, einen
Gedanken, der dich erleuchtet, deshalb trinke. Morgen lichten wir die
Anker, Eisenhut, mitzunehmen brauchst du nichts, nur kein Gepäck schleppen.
Heute da, morgen dort. So ist es angenehm zu leben. Die Menschen sind schön
für einen Tag, zwei Tage, deshalb immerzu vorwärts, am dritten Tage werden
sie ja doch schon häßlich. Habe ich etwa den Bürgermeisterposten
angenommen, obgleich sie eine Deputation in die Scheune schickten, wo ich
schlief, wie? Nicht um eine Million Jahresgehalt, mein Freund!«

»Hähä -- für tausend Mark, für fünfhundert, für zweihundert,« sagte
Eisenhut kichernd.

»Nicht für eine Milliarde!« entgegnete Lenz und schlug auf den Tisch.

»Pst, pst --« sagte Mütterchen.

»Piepse ich nicht wie eine Maus? Nun -- die Gegend war ja schön -- Wein,
Obst, schöne Mädchen -- aber nicht für eine Milliarde --«

Susanna begann am ganzen Körper zu zittern und ihre Augen füllten sich mit
Angst.

»Sieh mich an,« sagte Grau und sie wandte ihm den Blick zu.

Grau lächelte. »Du hast recht, Susanna, wunderlich ist des Menschen Herz,
ich will dir eine Geschichte erzählen -- laß mich nur besinnen auf den
Anfang und sieh mich nur an, es ist schön in deine tiefen schwarzen Augen
zu sehen, süße Susanna, und zu plaudern -- ja, eine Geschichte von einer
alten Frau, ein Mann hat sie mir erzählt, der viel auf Reisen war. Aber
sieh mich doch an und gib mir auch die Hand, so -- es ist die Geschichte
von einer Frau, einer Mutter von zweiundzwanzig Kindern. Haha, du lächelst,
Susanna! Es ist aber so. Eine Frau in Persien, ich weiß nicht wo. Der Mann,
der mir die Geschichte erzählte, wohnte bei dieser Frau, da sie siebzig
Jahre alt war, er kannte die Schicksale von all den zweiundzwanzig Kindern.
Es waren recht wunderliche und romanhafte Schicksale, das muß man sagen;
und der Mann kannte sie alle, denn diese alte Frau sprach immerzu, vom
Morgen bis zum Abend von ihren zweiundzwanzig Kindern. Am meisten aber
sprach die Frau von ihrem Sohne -- wie hieß er doch -- Haffis, es ist ja
nebensächlich, also Haffis -- denn Haffis war ihr Lieblingssohn. Sie
erzählte von Haffis und es war anzuhören wie ein Gesang. Was für ein Knabe
dieser Haffis doch war! -- Wie schön, wie stark, wie kräftig und kühn er
doch war! Doch all das, diese Schönheit, Kühnheit, Stärke des Knaben, wer
hätte annehmen können, daß sich das verhundertfachen würde als der Knabe
zum Jüngling heranwuchs? Seine Mutter, jene siebzigjährige Greisin, sprach
mit Feuer in den Augen von ihm, sie sprach von ihm wie von einem Gott, der
auf die Erde herabgestiegen war. Man konnte mit einem schnellen Pferde drei
Menschenleben lang in der Welt herumreiten, ohne wieder solch einen
Jüngling wie Haffis zu finden. So schön, so stark, so kühn! Sie, die
Mutter, hörte es mit eigenen Ohren, wie die Mädchen, die aus den Dörfern
ringsum herbei kamen, vor dem Fenster Haffis wehklagten und seufzten vor
unsinniger Liebe.«

»Es gab nur einen Haffis! Wie er ging, wie er zu Pferde saß!«

»Nun, wie ging er denn?« fragte der Fremde, dem die Greisin von ihrem Sohne
vorschwärmte, »ging er so, ging er so?« Und der Fremde ging so stolz und
herrisch wie nur möglich.

»Aber die Mutter lachte und schüttelte den weißen Kopf.«

»Niemals wirst du es fertig bringen zu gehen wie Haffis ging. Haffis ging
wie der Hengst des Scheichs.«

»Nun, er, der Fremde, versuchte zu gehen wie der Hengst des Scheichs, aber
es war doch nicht das richtige. Die Mutter lachte ganz einfach. Dem Hengst
fehlen ja Nacken und Mähne! Niemals konnte der Fremde so gehen wie Haffis
ging, das war ja selbstverständlich.«

»Es ist ganz natürlich, daß sich das Leben eines solchen Jünglings
besonders glänzend gestaltete, nicht wahr? Haffis Leben gestaltete sich
ganz wunderbar. Nämlich, das Auge des Scheichs fiel auf Haffis und er nahm
ihn an den Hof. Haffis schlug Schlachten und warf die Feinde nieder. In der
Heimat aber weinten sich die Mädchen die Augen blind und viele -- das ist
Tatsache, Susanna -- viele sind aus Kummer und Sehnsucht gestorben. Die
Mutter hörte in Gesängen die Taten des Sohnes preisen. Einmal sprengte ein
Bote vor ihre Hütte, brachte Grüße und Geschenke und jagte wieder von
dannen. Er durfte ja keine Minute versäumen, wenn er nicht seinen Kopf
verlieren wollte. Am vierten Vollmond zieht dein Sohn hier vorbei, sagte
der Bote, und am vierten Vollmond zog Haffis, der Gefürchtete, der
Herrliche, der Göttliche, vorüber. Endlos war die Zahl seiner Kamele und
Pferde und Frauen und Diener und seiner Lasten von Seide und Gold und
Geschmeide. Das kann ich ja gar nicht schildern, Susanna, kein Mensch kann
es, du mußt dir das selbst ausmalen. Der Zug reichte gerade von dem Punkte,
wo die Sonne aus der Steppe steigt, bis zu dem Punkte, wo die Sonne in die
Erde sinkt. An der Spitze ritt Haffis in Seide und Edelsteinen, er funkelte
wie die Sonne. Haffis war ein dankbarer Sohn. Er sprang vom Pferde, küßte
den Boden vor den Füßen der Mutter und sprang wieder in den Sattel und
schon war er verschwunden.«

»Die greise Mutter konnte tagelang erzählen von der Pracht der Tiere und
Geschmeide und Waffen, von der Schönheit der Frauen, die sich auf den
Kamelen schaukelten. Sie berauschte sich noch in der Erinnerung an dem
Anblick der Karawane.«

»Nun sollte man glauben, daß das genug sei? Aber nein. Haffis wuchs und
wuchs und der Scheich gab ihm zuletzt die Tochter zur Frau. Sänger zogen
umher und feierten ihn in Liedern. Er würde Scheich werden.«

»Wochen und Monate hindurch hat die Mutter dem Fremden von Haffis erzählt
und die Zahl seiner Frauen und Diener wuchs ins Unglaubliche.«

»Aber nun ist die Geschichte bald zu Ende. Denn die alte Mutter sollte
sterben.«

»Sie lag da und der Fremde wußte, daß es für sie keine Rettung mehr gab.
Wie merkwürdig aber war es doch: Die alte Mutter, die sterbende alte
Mutter, sie sprach mit keiner Silbe mehr von all den andern einundzwanzig
Kindern -- wieder lächelst du, Susanna! -- sie sprach nur noch von Haffis,
dem Lieblingssohne, seiner Schönheit, seiner Kraft, seinem Reichtum und
seinem Ruhme. Wieder und wieder!«

»Dann kam der Tod und machte die Mutter fahl. Aber sie hatte noch etwas zu
sagen, bevor sie starb. Der Fremde beugte das Ohr herab und sie flüsterte:
Haffis war acht Jahre alt, da ertrank er im Fluß. -- Und sie verfluchte den
Fluß und starb.«

»So wunderlich ist des Menschen Herz, Susanna!«

Susanna lag still und blickte auf ein Stückchen Sonne, das auf dem
Fensterbrett lag. Die jungen Stare schrien und sie erschrak. Wieder begann
sie am ganzen Körper zu zittern und die Angst erfüllte wiederum ihre Augen.

Grau lächelte und nahm ihre Hand. »Willst du mich nicht anblicken, Susanna?
Nun geht die Sonne unter und deine Augen bekommen einen kupfernen Glanz.
Ja, wie wunderlich ist des Menschen Herz, Susanna. Unerklärlich tief und
wundersam ist es in uns verborgen. Schlummern nicht unendliche Schönheiten
darin? Träume, Gefühle, Liebe, Ergriffenheit, Schauer, deren Ursache wir
nicht kennen, Ahnungen, deren Ziel uns unbekannt ist? Zuweilen ist das
Menschenherz wie eine Orgel, es braust und singt in uns, zuweilen wie ein
Dichter, es dichtet in uns, zuweilen wie ein erzürnter gütiger Prediger, es
ruft, ruft. So tief und wundervoll ist es. -- Nun will ich dir die
Geschichte von einem Trinker erzählen, er trank schrecklich und machte alle
unglücklich, seine Familie, aber was für ein Herz hatte er doch! Du sollst
es hören!«

Eisenhut klopfte draußen auf den Tisch und fand irgend etwas ganz
unmöglich, unfaßbar und unbegreiflich!

»Wir schneiden mit dieser Maschine deine Steine wie Butter!« sagte Lenz und
lachte. »Wie Butter! Ich habe diese Maschine extra für dich erfunden,
Eisenhut. Ja, es war mir eine Freude, sie für dich zu erfinden. Ich tue das
gern. Der Frau eines Gärtners -- eines Freundes von mir, ich habe Freunde
in allen Berufsklassen -- habe ich einen Kinderwagen erfunden, der eine
Gummibadewanne enthält -- Kinderwagen, Badewanne, fahrbare Badewanne in
einem Stück also. Ich liebe das und bin auch meinen Freunden gerne
nützlich. Für dich habe ich diese Maschine erfunden, Eisenhut, wir stecken
die Hände in die Hosentaschen und unsere Maschine arbeitet. Deine Arbeiter
können Karten spielen oder sich die Schädel einschlagen zur Unterhaltung
--«

»Ja, zum Teufel -- eine Maschine -- wer sollte das verstehen --
unbegreiflich ist das!« Eisenhut meckerte belustigt.

»Verstehen. Gut. Hier. Das ist eine eiserne Brücke. Hier hast du eine
Kreissäge -- Hebel auf! -- Der Dampf fährt hinein und die Kreissäge -- vier
Meter Durchmesser -- schneidet den Stein. Die Brücke steigt in die Höhe,
sie schneidet Streifen, wir stellen die Kreissäge wagerecht -- auf diese
Weise schneiden wir deine zwölf Steinbrüche wie Butter -- wie Butter --«

»Ausgezeichnet -- unglaublich, aber ausgezeichnet!«

Eisenhut meckerte und Lenz lachte entzückt über seine Maschine.

»Wie schön!« sagte Susanna, als Grau die Geschichte von dem Trinker erzählt
hatte.

Sie lächelte und drückte Grau die Hand.

»Beuge dein Ohr -- so -- sage mir und verzeihe die Frage, ich weiß ja
nicht, ob ich alles fragen darf?«

»Alles, alles, Susanna!«

»Wirklich alles, alles?«

»Ja!«

Susanna blickte Grau lange an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich sage es
nicht -- doch ich frage es -- ich frage nur -- du sollst nicht antworten,
hörst du! Würdest du mir versprechen -- du sollst es ja nicht tun -- ich
frage bloß -- würdest du mir versprechen, kein Mädchen nach mir zu küssen?
Würdest du? Ich frage bloß, du versprichst ja nichts.«

»Ich würde es dir versprechen, Susanna, meine Freundin!«

»Wenn ich -- es nun sagte?«

»Sage es, meine Geliebte!«

»Willst du mir versprechen -- nein, nein, nein, laß es mich nicht sagen --
nein, es macht mich glücklich, zu denken -- nein. Vielleicht werde ich es
ja doch tun? Aber nein, nicht dies. Ich wollte ja gar nicht dies fragen.
Ich darf doch fragen was ich will, du hast es gesagt. Hast du?«

»Ja, Susanna!«

»So sage mir -- wieviele Mädchen hast du schon geküßt? Nun?«

Grau lächelte.

Susanna lächelte und küßte flüchtig seine Hand. »Auf den Mund, wieviele?
Fünf, sechs?«

Grau schüttelte den Kopf. Mehr? »Nein,« sagte Grau lächelnd.

»Dann waren es wohl vier? Nicht? Dann waren es wohl drei? Ist auch das noch
zuviel?«

Grau lächelte und Susanna wartete lange.

»Zwei?«

Grau schüttelte den Kopf.

»Eine!«

»Du hättest nicht fragen sollen,« sagte Grau.

»Außer mir noch eine?«

Grau schüttelte den Kopf. Er errötete. »Warum hast du doch gefragt? Ich
habe ja nie Gelegenheit gehabt, ein Mädchen näher kennen zu lernen. Ich
sage ja nicht, daß ich nicht gewünscht habe, das oder jenes Mädchen zu
küssen. Aber ich bin ihnen ja nicht näher gekommen -- warum hast du doch
nur gefragt!« Susanna blickte ihn mit strahlenden und erstaunten Augen an.
Ihr Blick veränderte sich seitdem nicht mehr, so oft sie ihn ansah.
Häufiger als sonst zog sie Graus Hand an die Lippen.

Und plötzlich richtete sich Susanna auf und sagte: »Ich liebe dich. Du bist
mein, bist du?«

»Ja,« antwortete Grau.

Susanna hustete ein wenig, sie errötete und ihre Augen flammten.

»So versprich mir, zu keiner Frau mehr von Liebe zu reden!«

Grau zögerte nicht. Er versprach.

»Oh, oh!« rief Susanna aus und warf sich in die Kissen und weinte.

Grau verstand sie nicht.

Lenz und Eisenhut lachten draußen in der Küche.

Mütterchen kam ins Zimmer und sagte: »Höre, wie sie lachen! Nun will er
Klatschbase schlachten, für heute abend!«

Lenz wurde in den nächsten Tagen schweigsam. Er streckte sich, trieb sich
herum, er blickte den ziehenden Wolken nach. Er reiste ab. Mütterchen hatte
ihm den Rock zurecht geflickt und ein kleines Ränzchen gepackt.

»Nun denn, adieu!« sagte Lenz laut und fröhlich zu Susanna. »Adieu, meine
prächtige Susanna, meine Freunde erwarten mich! Ich bin diesmal lange
dageblieben. Adieu und sieh, daß du bald ganz gesund wirst, mein schönes,
herrliches Mädchen!«

Er ging. Mütterchen weinte den ganzen Tag. --

Grau hatte eine Unterredung mit Adele. Sie saß in der Laube an der Mauer
und stickte. Sie sprachen von Susanna. Ja, es gehe zu Ende jetzt.

Adele sagte: »Ich gehe zuweilen des Abends oben auf der Höhe, die Abende
sind so schön.«

»Ja,« sagte Grau.

»Sie sind ja gegenwärtig so sehr in Anspruch genommen, nicht wahr. Aber ich
würde gerne wieder mit Ihnen sprechen. Heute abend?«

Sie gingen zusammen auf der Höhe, bis der Mond aufging. Sie sprachen fast
nichts. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Aber als sie sich trennten, sahen sie einander in die Augen.

Plötzlich fiel Grau das Versprechen ein, das er Susanna gegeben hatte, und
er erbleichte so sehr, daß Adele es gewahrte.

»Weshalb sind Sie plötzlich so bleich geworden?« fragte sie.

»Es ist nichts. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Herr Grau.« --

Am andern Tage starb Susanna.




Siebentes Kapitel


Grau schlief, da kam ein kleines Mädchen zu ihm ins Zimmer, es blieb an der
Türe stehen und winkte schüchtern mit dem Zeigefinger. Aber er regte sich
nicht, er war todmüde. Das Mädchen hatte hohe, schlanke Beine und einen
silberblonden Lockenkopf. Es näherte sich und berührte mit geheimnisvoller
wichtiger Gebärde seinen Arm: Grau erwachte.

Seine Brust war beklommen, er vermochte kaum zu atmen und konnte keinen
klaren Gedanken fassen.

Im Zimmer war es dunkel, aber durch den Spalt der Fensterladen konnte er
hinaus in den Mittag blicken. Alles schlief in der roten Sonne, kein Zweig
schwankte. Der Garten sah verändert aus und auch er schien ein Geheimnis zu
wissen. Graus Beklommenheit wuchs zur Angst. Susanna! dachte er und verließ
rasch das Haus.

Er ging so rasch, daß die Leute ihm erstaunt nachblickten. Die Kinder
spielten vor den Häusern, sie schrien und lachten und eilten auf Grau zu.
Aber er hatte heute keine Zeit. Er lächelte und winkte ihnen ab. Nun liefen
sie rasch neben ihm her, tanzten vor seinen Füßen, lachten; es wurden ihrer
immer mehr. Überall öffnete man die Fenster, um zu sehen, was es eigentlich
gäbe. Aus allen Häusern kamen die Kinder heraus und aus allen Gassen.

Grau ging sehr schnell, aber die Kinder tanzten um ihn herum, es war ihnen
ein leichtes zu tanzen und doch mit zu kommen. Sie schrien ihm zu, was sie
spielten, was sie gegessen hatten, wohin sie gehen wollten und eine Menge
Neuigkeiten.

Erst beim Tore blieben sie zurück und nur einzelne folgten ihm noch. Grau
beschleunigte den Schritt noch mehr, der Schweiß stand ihm auf der Stirne.
So oft ihn der Gedanke durchfuhr, daß er Susanna nicht mehr lebend anträfe,
lief er ein Stück des Weges.

Von der Brücke aus sah man Susannas Haus in der Sonne liegen. Je weiter der
Sommer fortschritt, desto tiefer schien das Häuschen in die Wiese zu
sinken. Es war von Sonnendunst eingehüllt. Wer aber war das, der im Garten
stand und mit einem leuchtenden Tuche winkte? Grau erschrak. Es war
Susanna, so unmöglich es ihm auch schien.

Sie stand im Garten, weiß gekleidet, Eisenhut war bei ihr und Mütterchen
mit der Brille lehnte am Pfosten der Türe. Susanna winkte und öffnete das
Gartentürchen.

»Nun?« rief sie mit hoher, feiner Stimme. »Was sagst du dazu? Ich habe so
sehr gewünscht, daß du kämest, und nun bist du da!«

Sie war klein und niemals hätte er sich denken können, daß sie so klein
war. Ihre schmalen Wangen waren von einer gleichmäßigen Fieberröte
überzogen und ihre großen Augen leuchteten gespenstisch.

Eisenhut lachte. »Ich hätte gestern keinen Pfennig mehr für sie gegeben!«
rief er. »Sie sah aus als ob man sie sofort in den Sarg legen könnte, heute
steht sie auf, zieht das weiße Kleid an und geht herum. So verrückt, wie?«

»Ich kann auch wieder sprechen!« sagte Susanna und atmete tief. »Ich habe
die ganze Nacht hindurch geschlafen und in meiner Brust ist etwas vor sich
gegangen. So leicht und frei. Wie ich atmen kann, so tief! Oh, wie schön
ist es doch zu gehen. Ich bin so müde in den Knien und das ist so schön!«

Grau drückte sie an die Brust. »Ja,« hauchte er. Er fand keine Worte.

Susanna ging langsam in ihrem Gärtchen umher, besah die Rosen, den Mohn,
die Nelken, die Halme und liebkoste die Blätter. Sie legte die Hände in das
Gras und sagte, wie kühl doch das Gras sei. Wärme und Duft standen wie eine
Mauer im Garten. Sie ging zu dem kleinen Fliederbusch, steckte das Gesicht
hinein und ließ sich die Wangen von den Blütentrauben liebkosen.

Am Himmel türmten sich mächtige Wolken gleich phantastischen Ballen von
feuerfarbener Seide, die an der Oberfläche rote Glut versengt hatte. Der
Wind erwachte.

»Sieh, wie der Wind läuft!« rief Susanna und deutete über die Felder. »Wie
hurtig!«

Man sah ihn laufen. Er kam über den Hügel herab, strich über die Felder,
wühlte sich ins Korn und schmiegte sich auf den Wiesen ins Gras wie ein
Hund. Er kam rasch näher, die Blätter eines Haselstrauches begrüßten ihn,
die Blumen am Wege verneigten sich: Er war da, warm, duftend, schwül und
Susanna hustete als er zu ihr kam und ihr goldenes Brusttuch in die Höhe
hob, gleichsam um zu fühlen, wie fein es war. Einen Augenblick und schon
war er verschwunden.

Dann kam er von neuem über die Wiesen.

»Sieh doch, wie rasch er läuft! Vielleicht kommt ein Gewitter.«

Ein Zitronenfalter segelte über die Wiese und Susanna ließ ihn nicht aus
den Augen, fieberhaft rückte sie den Blick hin und her. »Pst?« sagte sie.
»Sicherlich wird er den Flieder riechen und hierher kommen. Locke, locke!«
sagte sie zum Fliederbusch mit beschwörenden Blicken. Der Zitronenfalter
gaukelte zuerst um eine Kleeblüte, dann kam er in den Garten herein und
Susanna, ganz atemlos, streckte behutsam die Hand aus. Sie zitterte am
ganzen Körper vor Erregung. Ihre Lippen zitterten, ihre Blicke sogar. Es
war, als wolle sie die Natur fragen, ob sie ihre Liebe erwidere. Da setzte
sich der Falter auf ihren Finger.

Ohne Regung stand Susanna und blickte lächelnd auf den Schmetterling, der
seinen Rüssel auf ihren Finger setzte und mit den gelben Flügeln wippte.
Sie streifte Grau mit einem triumphierenden Blick.

»Er sieht mich an!« sagte sie leise. Der Falter flatterte in die Höhe und
flog über das Dach, Susanna sah ihm nach bis er verschwand. Dann atmete sie
tief auf.

»Das war schön!« sagte sie leise. »Das war schön!« Sie blickte mit einem
langen Blick in die Weite. Die phantastischen Ballen feuerfarbener Seide
wurden dunkel und da wo die Glut sie versengt hatte flatterten aschgraue
unheimliche Schleier. Susanna lächelte und seufzte und ging ganz von selbst
hinein ins Haus.

Mütterchen war verwirrt vor Freude. Ja, nun könne Susanna wieder aufstehen,
oh, du guter Gott!

Grau sagte: »Es ist kein gutes Zeichen, Mütterchen!« und legte ihr die Hand
auf den Scheitel und sah sie an. Mütterchen erblaßte und zitterte.

Grau gab Eisenhut ein Zeichen mit den Augen und ging hinein zu Susanna.

Susanna lag mit geschlossenen Augen. Er setzte sich auf den Rand des Bettes
und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie schlug sofort die schwarzen Augen
auf, in denen der Glanz verglühte. Sie lächelte müde. »Ach, so müde, so
köstlich müde, aber meine Brust ist so leicht und frei. Das ist der
Frühling, ja. Du hast es gesagt. Du und der Frühling, ihr zwei habt mich
gesund gemacht. Wende deinen Kopf und sieh ins Licht! Ja, sie sind golden,
deine Augen sind golden! Bald werde ich in den Wald gehen können. Ich höre
Gesang, Lieder höre ich, wie ist das doch?« Ihre Stimme klang fein und
ferne; die Kräfte erloschen rasch.

»Wir werden zusammen in den Wald gehen, Susanna, du und ich!« sagte Grau.
Er sprach nun unausgesetzt. Davon wie es im Walde sein werde, wie alles
sein werde, alles. Denn bald würden sie ja zusammenleben.

»Ja!« Und Susannas Augen leuchteten nochmals auf, während ihre Wangen
erblaßten, mehr und mehr. »Wie wird es sein?«

»Nun höre zu,« fuhr Grau fort, »höre zu und sieh mich an. Ich will dir
sagen wie es sein wird. Du wirst die Herrin im Hause sein und ich werde
warten bis du mich rufst. Sage nichts und höre zu. Wenn wir drei Zimmer
haben, so werden zwei davon dir gehören. Da wirst du wohnen. Du wirst eine
Bibliothek haben, ganze Regale voll der schönsten und neuesten Bücher. Du
wirst auch einen Schreibtisch am Fenster haben mit einem Stoß von weißem
Papier darauf, damit du all deine klugen Gedanken aufschreiben kannst, wenn
du Lust dazu hast. Ich werde an der Türe lauschen, wenn du schläfst, ich
werde stehen und auf deine Atemzüge lauschen, und ich werde denken: Susanna
schläft da drinnen. Ich werde hören, wenn du dich rührst. Ich werde nicht
schlafen. Ich werde denken, es ist nicht die Zeit zu schlafen, ich muß
hören, wie Susanna schläft, ich muß ihrem Atmen lauschen.«

»Oh! sprich, wie wird es sein!« Tränen traten in ihre Augen.

»Dann werde ich hinausgehen und große Sträuße für dich pflücken, Susanna,
aus all den Blumen, die du besonders liebst. Der Tau soll an den Blumen
sein und ich werde die Sträuße auf deine Schwelle legen und der Tau wird
daran sein. Dann werde ich warten und endlich werde ich dich sehen. Ich
werde dir in die Augen blicken -- wie ich es jetzt tue -- und ich werde
fragen, ob du gut geschlafen hast.«

»Sprich, sprich! Aber in den Nächten, wie wird es in den Nächten sein? Hast
du daran gedacht?« In Susannas Augen kam ein fremder Glanz und ihre Wangen
wurden fahler und fahler.

»Ja, auch daran habe ich natürlich gedacht, Susanna. Laß uns das nicht
sagen, die Nächte werden kommen. Es wird sehr stille sein in unserem Hause
und im Garten wird ein Vogel singen und du und ich und ich und du und
niemand sonst wird da sein.«

»Ja, wie oft, du Geliebter, habe ich daran gedacht, wie die Nächte sein
werden! Hast du schon an Leidenschaft gedacht und die Küsse in stiller
Nacht?« flüsterte sie und die Tränen liefen über ihre Wangen.

»Ja, Susanna, meine süße Freundin. Oft habe ich an Leidenschaft gedacht und
viele lange Nächte lag ich wach.«

»Wie ich, wie ich! Oft hat mein Blut getobt in den Adern und ich habe
geträumt und geträumt -- keine verrät es, aber alle, alle graben sie die
Nägel in die Brust --.«

Grau blickte Susanna an und hielt sie in den Armen. Ihr Kopf lag an seiner
Brust. Und er erzählte wie es sein werde. Plötzlich wurde es dunkel im
Zimmer, der Wind pfiff und es donnerte in der Ferne. Es regnete, dann
kieselte und schneite es. Im Nu waren die Felder weiß und das Gärtchen
eingeschneit. Aber Susanna sah und hörte nichts, sie lauschte und Grau gab
ihren Blick nicht mehr frei.

»-- die Hände werde ich dir küssen, die werden so kühl und frisch wie der
Morgen sein. Ich werde dir die Lippen küssen, die noch heiß vom Schlafe
sind, die Rosen auf deinen Wangen werde ich küssen, die noch aus den
Träumen darauf blühen. Susanna, Susanna! Ja, du hörst wohl, was ich sage?
So wird es sein. Dann werde ich die Türe öffnen und sagen, siehe, Susanna,
die Sonne will dich begrüßen. Und ich werde dich in den Garten führen:
Siehe, Susanna, die Blumen wollen ihre Herrin grüßen. Alle Blumen werden
sich verneigen und die Bäume werden rauschen. Ich aber werde nur dich
ansehen, so wie ich es jetzt tue, Susanna, Susanna, nur dich! Ich werde
deinen Namen nennen auch wenn du nicht bei mir bist. Vielleicht hast du
einen kleinen Hund, den du liebst, und mit ihm werde ich mich unterhalten,
solange du fort bist.«

Grau küßte Susannas Stirn.

»Ich liebe dich, werde ich sagen,« fuhr er fort, »so wie ich es jetzt sage.
Susanna, Susanna! Die Sonne wird aufgehen und ich werde es sagen, die Sonne
wird sinken und ich werde es sagen. Der Frühling wird kommen -- ich liebe
dich, Susanna -- der Sommer wird kommen ich liebe dich, Susanna -- der
Herbst, der Winter wird kommen: Ich liebe dich Susanna!«

Susanna seufzte glücklich und lächelte und schloß halb die Augen.

»Ich werde niederknien und sagen, ich liebe dich Susanna!« flüsterte Grau.
»Ich werde dich ansehen, mein Blick, mein Schritt, alles wird dir dasselbe
sagen. Ich werde alt werden und meine Haare werden weiß werden -- ich liebe
dich Susanna, werde ich sagen -- ich liebe dich, du Süßeste von allen --«

Susannas Lächeln erstarrte. Sie öffnete den Mund und ihr Kopf sank in den
Nacken zurück. Sie regte sich nicht mehr. Grau blieb lange ruhig, dann ließ
er Susanna langsam in die Kissen nieder. Sie lag und lächelte friedlich und
schön. Sie schlief. Die Tränen trockneten auf ihren fahlen Wangen.

Grau saß lange Zeit regungslos und sah sie an. Seine Hände zitterten von
der Erregung der letzten Stunde, es war über seine Kräfte gegangen. Dann
wuchs die Trauer in seinem Herzen, eine schwere dumpfe Traurigkeit, die ihn
niederbeugte. Er küßte Susannas kleine Hände.

Er hatte sie ja so sehr geliebt.

Es wurde blendend hell im Zimmer. Das Wetter war vorübergegangen und die
Sonne schmolz rasch den Schnee, die ganze Welt glänzte und die kleine
stolze Rose in Susannas Garten glitzerte im Tau, als ob sie vor Freude
geweint hätte.

Mütterchen war ruhig, ja förmlich gleichgültig. Die Natur ist gütig und
versenkt ein Herz, das der plötzliche Schmerz vernichten würde, in eine Art
von Betäubung. Sie schien allein durch den Gedanken vollkommen beruhigt zu
sein, daß Susanna gestorben war ohne es selbst zu fühlen.

Aber als die Dämmerung kam und Susanna noch immer so still und gleichmäßig
lächelnd lag, begann sie leise zu weinen. Sie nahm Graus Hand, sah ihn
bittend an und sagte: »Mache sie mir wieder lebendig!«

Grau schüttelte den Kopf. »Laß sie ruhen, Mütterchen, sie ist ja lebendiger
und glücklicher als wir.«

Mütterchen war wieder ganz ruhig.




Achtes Kapitel


An einem schönen wolkenlosen Sonntage wurde Susanna begraben. Die Sonne
funkelte, die Luft zitterte vom Lärm der spielenden Kinder, alles trug
Festtagskleider und die jungen Mädchen gingen alle in Weiß und wiegten sich
und kicherten. Vor dem »weißen Elefanten« konzertierte die Stadtkapelle.

Grau hielt eine schlichte Rede, er machte nicht im entferntesten solch
schöne Worte wie seinerzeit bei der Beerdigung der Margarete Sammet. Die
Freundinnen waren zur Bestattung gekommen, Adele und die Schwestern Sinding
und einzelne von den Mädchen, die das Fest mitgemacht hatten. Auch Lenz
kam. Er war bestaubt und erhitzt und kam gerade, als sie den Sarg
hinabließen. Er trug einen hellen alten Sommerrock, war ohne Kragen und
Binde, und hatte einen knotigen Stock in der Hand. Als ihn die Leute
ansahen, räusperte er sich herausfordernd.

Er ging mit Grau ins Haus und drückte ihm die Hand. »Schön,« sagte er,
»schön hast du deine Sache gemacht, einfach. Kein Wort zu viel. Bei einer
Susanna Lenz, der Tochter eines freien Mannes, braucht es keine großen
Worte.«

»Wie hast du es denn erfahren?« fragte Grau.

Lenz sah sich im Zimmer um und lächelte, als er den Heiligen an der Wand
sah, jene Reproduktion eines alten Meisters. »Vorbei,« sagte er, »vorbei
ist es mit diesen Heiligen, in Frankreich schleift man die Kirchen. -- Hast
du ein Glas Wein oder Kognak, ich bin ganz ausgetrocknet? Nein? Es ist ja
nicht gerade nötig. Ich habe es erfahren in Hirschhorn, einem kleinen Nest.
Der Wirt sagte, ist deine Tochter gestorben? Nein, sage ich, meine Tochter
stirbt nicht so schnell. Es ist eine Lehrerstochter gestorben, Susanna
Lenz. Es gibt nur eine Susanna Lenz, also mußte sie es sein. Ich machte
mich auf den Weg und hatte Tag und Nacht zu gehen um zur rechten Zeit
einzutreffen. Als ich nachts durch den Wald ging, erschien mir Susanna --
nein, es war natürlich nur eine Sinnestäuschung. Ich bin nicht traurig,
nein, ich bin nur erstaunt, daß sie so schnell starb, an diesem bißchen
Brustleiden. Ja, sie war prächtig, meine Tochter, eine Art Heldin, treu wie
Gold, voll salomonischer Weisheit! Aber ich bin nicht traurig. Eine
Schwalbe fliegt in der Luft, fällt herab und ist tot. Warum sollte es mit
den Menschen anders sein? -- Hier lief übrigens eben eine Maus über den
Boden --«

»Sie lebt hier,« sagte Grau.

»So?« Lenz lächelte und stand auf. Er trat auf Grau zu und faßte ihn bei
der Schulter. »Sieh mir in die Augen!« sagte er in befehlendem Tone.
»Antworte auf meine Fragen! Du hast Susanna immer gut behandelt? Hast ihr
nie böse Worte gegeben?«

»Nein, ich glaube nicht!« sagte Grau und sah Lenz an.

»Du hast sie nie gekränkt? Sprich die Wahrheit! Du hast sie nie beleidigt,
bist ihr stets mit schuldigem Respekte entgegengetreten?«

»Ich glaube, ja!«

Der Lehrer drückte ihn an die Brust. »Dank!« sagte er. »Dank! Ich liebte
Susanna sehr!« Er pfiff durch die Zähne und nahm Hut und Stock. »Fahre
wohl, mein Sohn! Ich ziehe wieder hinaus und immer vorwärts, daß die
Erscheinungen hinter mir zerrinnen. Die Welt ist weit, wir werden uns nicht
wiedersehen. Aber was schadet es, wir werden trotzdem inniger verbunden
sein, als Leute, die sich jahrelang gegenseitig die Kniescheiben einrennen,
denn wir gehören ja zum internationalen Orden der Edelleute. Diesmal werde
ich eine weite, weite Reise antreten! Zuvor aber will ich einen kleinen
Spaziergang in den Straßen dieses Pfahldorfes machen -- siehst du diesen
Stock hier? -- die Eingeborenen hier hassen mich und fürchten mich wie
einen tollen Hund. Es ist ja Ironie, aber sie haben mich ausgewiesen aus
ihrem Negerkral. -- Ich werde hin- und hergehen und mich sehen lassen. Weh
dem, der es wagt mir in den Weg zu treten, heute! Ich prügele ihn durch,
wie es sich gehört! Dann werden sie sagen: Lenz ist ein Lump, er rauft am
Beerdigungstage seiner Tochter! Ha! ha!«

Er lachte, warf den Kopf in den Nacken und ging.

Grau dachte mit Wehmut an Susanna, aber er war nicht traurig: Sie war ja
nicht tot, sie war ja lebendiger als er.

Der Mensch ist wie ein Bote, dachte er, der eine Botschaft zu tragen hat;
er weiß nicht was in der Botschaft steht, aber er trägt sie ans Ziel und
sein Zweck ist erfüllt. Die Geburt ist nicht der Anfang der menschlichen
Existenz, der Tod nicht ihr Ende. Ein Stück der unendlichen Bahn, die die
Seele zu durchmessen hat, der Bahn der Weltkörper vergleichbar, ist das
irdische Dasein. Ewig wechselt das Leben die Form und das Gegenwärtige ist
nichtig klein im Verhältnis zum Unvergänglichen. Die Blumen von diesem
Sommer, wo werden sie sein, die Völker, deren Könige sich heute brüsten, wo
werden sie sein? Das große Gebirge, Sturm und Wetter werden es zerreiben,
wo wird es sein, die Erde, wird sie nicht einst als eine winzige Wolke von
Staub durch den Weltenraum ziehen, das Planetensystem, wo wird es sein?
Vergangen, verweht, aber irgendwo am großen Werke des Lebens tätig, das
ewig saust und braust.

Die nächsten Tage glitten still dahin und er fühlte an seiner Ruhe, daß
Susanna jetzt glücklicher war. Zuweilen kam sie auf unerklärliche Weise in
all seine Gedanken; nicht nur aus Menschen und Tieren, selbst aus den
Bäumen, dem Grase, toten Dingen schien ihm etwas von Susannas Wesen
entgegen zu dringen.

Sie schien stets um ihn zu sein, und seine Empfindung wurde so lebhaft, daß
er sie einmal in der Dunkelheit des Zimmers stehen sah. Sie war schön und
schlank. Ich bin es, sagte sie, ich bin immer bei dir. -- Bist du es denn
wirklich? fragte er. Sie antwortete: Weshalb zweifelst du?

Er sah sie lange an, sie verschwand und er blieb allein. Es war als ob er
rings in Abgründe starrte, er erschauerte und stand auf. Wie lebhaft ich
doch empfinde, dachte er und öffnete das Fenster: Sterne, Sterne und Friede
in sanfter Nacht. Das war die Welt, der er angehörte.

Er lächelte und blickte auf Adeles Park. Die Bäume standen im Schlafe, aber
sie bebten leise. Ein unbestimmtes Licht rieselte an ihnen herab und die
höchsten Blätter wendeten sich langsam hin und her, als ob jede Blattseite
dem Lichte der Sterne ausgesetzt werden sollte. Die weiße schmale Mauer
glich einem Streifen von Linnen, das zum Trocknen aufgehängt war und sich
im verblichenen Schatten einzelner Zweige leise zu bewegen schien.

Eine unwiderstehliche Macht trieb Grau hinaus. Aber in dem erhabenen
Frieden der Nacht kam er sich wie ein Eindringling vor, wie einer, der das
Gesetz der Natur, die die Nacht zum Schlafe bestimmt hatte, übertrat. Er
dämpfte unwillkürlich seinen Schritt. Er ging bis an das Parktor und hier
blieb er lange stehen.

Plötzlich erinnerte er sich an das Versprechen, das er Susanna gegeben
hatte. Er neigte den Kopf. Ich werde halten, was ich versprochen habe!
sagte er und ging langsam nach Hause.

Aber gerade als er einschlafen wollte, begann ein Vogel in Adeles Park zu
singen und es klang, als sei es Adeles eigene Seele, die lockte. Er
lauschte mit verhaltenem Atem. Schmerz erfaßte ihn. Er preßte die Hände auf
die Augen und wiegte den Kopf hin und her. Singe nur, du kleiner Vogel!
Singe nur! Endlich schwieg der Vogel still, aber Grau hörte ihn wieder im
Traume zwitschern. Er träumte, er gehe mit Adele auf der Höhe und Adele sah
ihn an mit traurigen Augen. Sprich doch! Sprich doch! sagte sie. Er aber
schüttelte den Kopf. Ich kann nicht, antwortete er. Adele faßte seine Hand
und bot ihm die Lippen. Er aber wandte sich ab und rief: Nein, nein! Und er
entfloh in aller Hast, Adele rief hinter ihm. Da erwachte er wieder. Sein
Herz brannte vor Sehnsucht, überall winkte und lockte es, es leuchtete wie
Feuer vor seinen Augen.

Er stand auf und machte Licht und schickte sich an zu arbeiten, während die
Stille der Nacht tiefer und tiefer wurde und der Tag langsam graute. Aber
während er arbeitete, hatte er das Gefühl, daß sein Herz blute und nimmer
aufhörte zu bluten.

Das Versprechen war gegeben, Susanna konnte es nicht mehr lösen, das
Versprechen wird gehalten werden. Niemand hatte je erlebt, daß er ein
Versprechen brach.

Aber seine Augen wurden brennend und seine Wangen hohl.

Er betäubte sich in rastloser Tätigkeit.

In jeder freien Stunde suchte er Mütterchen auf.

Verlassen lag Susannas Häuschen in der Wiese und obschon es im Dampfe der
Sonne lag, so sah es doch elend aus. Mütterchen wohnte darin und eine blöde
alte Frau, Eisenhuts Mutter. Alle Knospen brachen auf und die Blumen
wuchsen in Susannas Garten bis zu den Fenstern empor. Aber das kleine Haus
sah elend und öde aus. Verlassen war es. Die Luft im Zimmer war eine
andere, das Zimmer selbst sah ganz verändert aus. Dieses leere Bett, die
verwelkten Sträuße in den Krügen, ein paar bestaubte Bücher auf dem Tisch.
Selbst die Farbe der Wände und Möbel schien sich verändert zu haben, auch
der Schritt klang anders, wenn man durch das Zimmer ging.

All die schönen Träume Susannas waren aus dem Häuschen ausgewandert, all
die freundlichen Wesen, die sie im Leben umgeben hatten, sie hatten das
Haus verlassen.

Mütterchen saß still mit der Hornbrille auf der großen Nase in einer
dämmerigen Ecke des Zimmers und besserte Susannas Strümpfe und Wäsche aus.
Sie weinte nicht, sie saß da und stopfte und sprach mit Susanna. »Es wird
Zeit sein dein Essen zu richten, Kindchen,« sagte sie. »Huste nicht so
viel, Susanna, es schadet dir ja.«

Zweimal kam sie am Abend zu Grau geschlichen und pickte an seine Türe: Ob
er die Schuhe noch habe? Ja, dann sei es gut. Sie kam, setzte sich auf
einen Stuhl und weinte. Diesem Schmerze gegenüber war Grau machtlos. Er war
so tief und edel, daß Grau auch nicht den Versuch wagte, Mütterchen zu
trösten, die durch die Nacht geschlichen kam, nur um bei ihm zu weinen.
Erst jetzt schien es ihr bewußt zu werden, daß Susanna tot war.

Grau erfüllte seine Pflichten wie ehedem, abends kam Eisenhut zu ihm zur
Stunde. Nach der Stunde plauderten sie eine Weile; sie stellten die
Reiseroute zusammen, denn Eisenhut sollte nun bald reisen. Er hatte sich
schon sechs große Lederkoffer angeschafft.

Zwischen den beiden hatte sich ein aufrichtiges Freundschaftsverhältnis
gebildet. Das lange Krankenlager Graus hatte einen ganz ungezwungenen
Verkehr zwischen ihnen herbeigeführt und Grau brauchte nicht mehr zu
befürchten, Eisenhut scheu oder argwöhnisch zu machen oder ihn durch seine
Bevormundung zu beschämen.

Er hatte Eisenhut vollständig in seine Macht bekommen und war imstande ihn
mit einem einzigen Blicke zu beherrschen. Bis auf unscheinbare Dinge selbst
dehnte er seinen Einfluß aus. Eisenhut mußte anders gehen, anders sprechen,
den Leuten ins Gesicht sehen, er durfte nie Müdigkeit verraten oder
unordentlich gekleidet sein.

Eisenhut gab sich alle Mühe. Die Arbeit in den Steinbrüchen hatte seine
Gesundheit gestärkt und schon das Bewußtsein körperlicher Kraft machte ihn
den Menschen gegenüber kühner und sicherer. Er kleidete sich ganz neu und
selbst sein Haus war frisch gestrichen, die Wohnung eingerichtet. Er bekam
Freude an Tätigkeit und zeigte den Eifer eines Schulknaben für alle Zweige
des menschlichen Wissens. Er lachte fröhlich und fast kindisch, wenn sie in
den Bildwerken blätterten und Grau erklärte.

An jedem Ersten erhielt Grau zwanzig Mark von ihm, die er für wohltätige
Zwecke nach Gutdünken verwenden konnte. Dafür war ihm Grau sehr dankbar.
Denn mit zwanzig Mark -- wieviel konnte er doch damit ausrichten! Wenn er
in eine Familie kam, wo es am Nötigsten fehlte und sprach und sprach und
fünf Mark auf dem Tischrande liegen ließ!

Bald hoffte er Eisenhut für eine große Lebensaufgabe erzogen zu haben.

Wie? Ja, natürlich. Eisenhut wandelte sich nur allmählich um. Es war noch
der alte Eisenhut mit dem gelben Gesicht, dem Spitzbart, den kleinen
neugierigen Mausaugen, dem Geiz, dem Argwohn und kleinlichen Gedanken.
Zuweilen hatte er auch Rückfälle. Er trank, verwahrloste und mied Grau.
Aber immer kam er nach einigen Tagen zu Grau zurück und Grau fühlte zu
seiner Freude, daß er ihn mehr und mehr in seine Gewalt bekam. --

Einmal hatte Grau in diesen Tagen auch eine Begegnung mit dem jungen Herrn
von Hennenbach.

Es war in der Dämmerung und sie begegneten einander auf den Stufen, die zum
Marktplatz hinabführten. Herr von Hennenbach grüßte höflich, auch Grau
grüßte. Er blieb stehen und sah den jungen Mann an. Eine Weile standen sie
so.

»Bitte?« sagte Herr von Hennenbach und lächelte.

Grau sah ihn an.

»Sie verstehen mich nicht?« flüsterte er.

Der Freiherr lächelte und zuckte die Achseln.

»Nein, Pardon -- ich verstehe nicht, wirklich --«

Grau sah ihn an und näherte sich ihm noch mehr. »Ich will Ihnen noch einige
Tage Zeit lassen!« flüsterte er. »Aber nicht mehr viele!«

»Bitte? Ich kann nicht verstehen?« stammelte Herr von Hennenbach -- aber
Grau war schon gegangen. --

Der Sommer war auffallend warm und Grau liebte es, seine freien Stunden in
seinem Gärtchen zuzubringen, das eingekeilt zwischen den Nachbarsgärten mit
den hohen schattigen Bäumen besonders sonnig aussah. Er pflegte ihn mit
aller Sorgfalt. Er kannte hier jede einzelne Blume, ja fast jeden einzelnen
Halm. Da konnte er stehen und stehen und sich umsehen und es kam ihm vor,
als ob er im Kreise von Geschwistern weile.

Dieses kleine Stück Land erfüllte ihn mit Andacht.

Das waren ja seine Blumen und Halme, des großen Gottes Blumen und Halme,
ersonnen von ihm, geliebt von ihm und auf dem kleinsten ruhte der Blick
seiner tausend funkelnden Augen. Für ihn, den Unfaßbaren, war dieser Garten
so viel wie der Lustpark einer Königin und sein gütiges Lächeln hatte auch
ihn gesegnet, daß er ein einziges Wunder war. Es wimmelte von Leben, jeder
Zoll des Bodens war bewohnt, belebt, lebendig, jede Scholle eine wimmelnde
Stadt, jedes Krümchen ein Haus, jede Furche eine Straße.

Grau stand und schüttelte den Kopf. Er begriff es nicht. Nicht die kleinste
Fliege konnte er verstehen. Seht sie an, sie hat Augen, Organe, Flügel, sie
weiß sich zu bewegen, sie fliegt. Seht den kleinen Käfer an, er hat es
eilig, geht seinen Bedürfnissen nach, er hat zu tun, Tag und Nacht,
Wünsche, Verlangen, Geschäfte, so klein er auch ist -- er ist ein Kind des
großen Gottes und der Unbegreifliche hat nicht vergessen, daß er lebt.

Grau stand und blickte in den Sommerhimmel empor. Er betete. Er betete ohne
Worte und ohne Gedanken. Er sandte seine Seele der Heimat zu.

Diese Stunden in seinem Garten waren herrlich und reich. Die Luft schien
erfüllt mit Geheimnissen und Liebe und er atmete Geheimnisse und Liebe mit
jedem Atemzuge ein. Alle Dinge ringsumher sahen ihn an und sein Gedanke
flüsterte immerzu. Er selbst dachte ja nicht, der Gedanke in ihm flüsterte
und ruhte nicht. Siehst du den Baum? flüsterte der Gedanke: Äste,
Verästelungen, Nerven, ganz wie du. Siehst du den Vogel fliegen? wisperte
der Gedanke: Bist du nicht selbst ein Vogel? Hast du gesehen, wie junge
Mädchen einen Abhang hinablaufen und die Arme bewegen gleich Flügeln, die
Lebenslust auszudrücken? Wie ein Mensch dem andern Willkommen winkt? Siehst
du die Katze? sprach leise der Gedanke: Was zieht dich zu ihr? Was zieht
sie zu dir? Ihr seid ja alle das Gleiche, du und die Katze und der Baum --
eine verschieden gestaltete, verschieden gefärbte Blume auf Gottes Acker
nur ist der Mensch. Fühlst du die Lebenswelle? flüsterte der Gedanke: Sie
kommt aus dem Unendlichen, da wo die Gestirne funkeln, sie umspült in jeder
Sekunde die Erde, Millionen Leben erzittern, erblühen, sie jagt dahin,
durch dich hindurch, durch die Wälder, das Meer, zur Sonne, zu den Sternen,
zum fernsten Sterne, und ist hier und dort, jagt, jagt und hat keine Eile.

Und der Gedanke flüstert in ihm, flüsterte, lachte, sang --

Die Sonne ging unter und Grau ging hinein ins Haus und arbeitete. Die
Arbeit ging vorwärts, Ungeduld und Jubel erfüllten ihn. Diese >Reden