The Project Gutenberg EBook of Der 9. November, by Bernhard Kellermann This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Der 9. November Author: Bernhard Kellermann Release Date: July 28, 2013 [EBook #43333] [Last updated: March 2, 2016] Language: German *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER 9. NOVEMBER *** Produced by Jens Sadowski Der 9. November Roman von Bernhard Kellermann 1922 S. Fischer / Verlag / Berlin 42. bis 51. Auflage Alle Rechte vorbehalten, besonders das der Übersetzung Copyright 1920 by S. Fischer, Verlag, Berlin Erster Teil Erstes Buch 1 Einige Ordonnanzen, die die Treppe emporeilten, blieben plötzlich wie angewurzelt stehen, ein junger ordenglitzernder Hauptmann mit rosigen Wangen, eben im Begriff sich zu schneuzen, verbarg in äußerster Hast das Taschentuch, und nur einem Drillichkittel gelang es noch im letzten Augenblick, in die Portierloge zu entkommen: oben auf der Treppe leuchtete der hellrote Mantelaufschlag eines Generals. Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen, die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung. Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm zurück. In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte dem General einen Brief. »Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!« Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches, giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich -- Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr -- er faltete den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche. »Wer hat den Brief --?« »Ein Herr, ein älterer Mann -- soeben --«, stammelte der Portier und schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen. Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt, daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange auf ihn eingeredet -- sein einziger Sohn -- eine Audienz, hm -- sogar eine Zigarre -- und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden. »Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.« »Öfter hier gewesen?« »Ja, schon einigemal -- und -- ah, ah: da ist er ja -- an der Türe!« rief der Portier plötzlich erleichtert aus. Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert, vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen. Der General drehte den Kopf -- aber sofort prallte das kleine blaue Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock verschwanden in der tiefblauen Dämmerung. »Da -- nun läuft er.« Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. »Und mir macht er Scherereien. So sind sie!« Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der Motor der grauen Limousine. Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen Bückling, und die Limousine flog dahin. * * * * * Der General vergrub das Kinn in den Pelz. »Dieser Schurke!« dachte er und das Steingesicht zitterte. »Aber es sieht ihm ähnlich!« Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf -- hier im dunkeln Wagen, wo aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen öffnen -- es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen. An der Ecke des großen roten Amtsgebäudes stand der kleine ältere Herr im Havelock und zog den steifen Hut, als der Wagen des Generals vorüberjagte. Sein Gesicht, blau wie Schnee, leuchtete, und auch seine Glatze leuchtete blau. Tiefblau und glänzend wie Stahl sank die Dämmerung des nassen Wintertags über Berlin. Die Scheiben des Autos glänzten, irgend etwas glitzerte hoheitsvoll im Innern --. Da verschlang eine stickige Rauchwolke den Wagen. Augenblicklich aber betrat der Mann im Havelock den Fahrdamm und folgte dem Auto des Generals mit kleinen eiligen Schritten, als ob er es einholen wolle. Die Limousine flog durch die dämmerigen Straßen und überspülte die Fußgänger mit einer Welle von Schneewasser und Schmutz. In dem Luftwirbel zwischen den hinterm Pneus tanzten schmutzige welke Blätter, die aus dem Tiergarten herübergeweht worden waren, und ein Zeitungsblatt, das ein Passant, in der Eile sein Leben in Sicherheit zu bringen, verlor, rollte rasend hinterher. Bei den Kurven pflügten die Hinterreifen breite Schlittenspuren in den klebrigen Schmutz. Die Hupe dröhnte, die Marspfeife trillerte. Achtung! Die flüchtenden Fußgänger erblickten nichts als einen Pelz, eine Mütze und, wenn sie Glück hatten, das leuchtende Rot des Mantelaufschlags. Ein General! Einer von jenen Auserwählten, die die Schlachten schlagen, von denen die Heeresberichte melden. Die Verwünschungen erstarben auf den Lippen. Eine Ehre, sozusagen eine Ehre, beinahe vom Auto eines Generals überfahren worden zu sein! Ecke Wilhelmstraße kroch ein Krüppel in Feldgrau durch den Straßenschmutz, und die Limousine hätte ihn beinahe in Stücke gerissen. Dieser Krüppel schleppte sich an zwei niedrigen Krücken dahin. Sein Rückgrat war bis zur Erde gekrümmt und das zwischen den Krücken hängende Gesicht streifte nahezu den Schmutz der Straße. Er bewegte sich nur langsam vorwärts, indem er Krückstock vor Krückstock setzte, er ging auf den Knien und schleifte die verstümmelten Fußstumpen hinter sich her. Wie ein Hund, dem man die Sehnen der Hinterbeine durchschnitten, schob er sich dahin. Während er aber vorwärts kroch, wurde sein ganzer Körper von einem ununterbrochen entsetzenerregenden Zittern geschüttelt. »Sieh dich vor!« schrie der Chauffeur und bog in der letzten Sekunde aus. Der Kopf des Krüppels schnellte zwischen die Schultern zurück, und die mit schweren Nägeln beschlagenen Pneus der Limousine überspülten ihn mit einer Woge von Schmutz. Er blieb auf schwankenden Krückstöcken mitten in der Wilhelmstraße zurück, und als es ihm gelungen war, das von ewigen Zuckungen geschüttelte Gesicht zu heben, bog die graue Limousine bereits in die Linden ein. Eine Flut von hüpfenden Regenschirmen, blendende Pfützen, zwei stahlblaue Omnibusschimmel, ein Schutzmann und wieder eine Flut von hüpfenden Regenschirmen. Eine Stockung. Der Wagen zitterte von den wütenden Schlägen des gedrosselten Motors. Die Augen des Generals glitten über die hüpfenden Regenschirme dahin, über die eilenden Schattenwesen mit blauen Gesichtern und blauen Händen -- gelangweilt, gleichgültig, ohne Anteilnahme. Obwohl nur getrennt von diesen Wesen durch eine Glasscheibe, waren sie für den General weltenweit entfernt, weltenweit -- diese Menschen mit Regenschirmen, Gummischuhen, Mänteln, Bärten, Brillen . . . Sie erschienen gewissermaßen unwirklich! Sie waren Chaos, Masse -- gärend von sonderbaren, eigenwilligen Gedanken und unnützen, gefährlichen Trieben. Sinnlos ihr Tun, unverständlich. Ohne Ideale, hohe Ziele, Hunger, Sinnendurst, Geld -- ohne Zweck und Sinn. Unverständlich. Nichts als rohe Masse, die die Berufenen willkürlich formten, das große Reservoir, aus dem die Erkorenen schöpften nach ihrem Gutdünken. Die Welt des Generals war bevölkert von Wesen, die in Uniformen gekleidet waren und mit einer Salve ins Grab gelegt wurden. Diese Wesen bewegten sich nach bestimmten unverrückbaren Gesetzen. Sie kamen in breiten langen Kolonnen einher wie die Brandung des Meeres, oder sie standen still in Reih und Glied, zu Tausenden gestaffelt, wie aus Stein. Ein Gebirge. Sie waren ohne eigenes Leben, ohne eigene Gedanken, ohne Namen, ohne Gesichter, ohne Seele, von wenigen Auserwählten in Bewegung gesetzt und mit Leben und Geist erfüllt. Sie waren mit einem Wort Soldaten, Werkzeug in der Hand der Starken dieser Erde, die das Rad der Weltgeschichte bewegten. Zuweilen fluteten unübersehbare Heerscharen, alle im gleichen Schritt, durch seinen Kopf. Armeekorps, die wie ein Bataillon in fehlerloser Geschlossenheit schwenkten, nach rechts, nach links, um zu erstarren, wenn die Gedanken des Generals es wollten. Zuweilen sah der General die ganze Erde davon erfüllt. Ungeheure Menschenwellen wälzten sich quer durch Europa und ergossen sich in der Breite des Urals in die endlosen Steppen Sibiriens. Eine Blutwelle in den Gehirnwindungen des Generals ließ sie auferstehen und versinken . . . Weiter! Die Gänge krachten, und wieder flog die Limousine dahin. Hagelkörner prasselten gegen die Scheiben. * * * * * Dieser Schurke! dachte der General und rückte sich in der Ecke des wiegenden Wagens zurecht. Durch einen Zufall -- übrigens einen merkwürdigen, fast lächerlichen Zufall -- hatte er heute erfahren, daß eine Vermutung, die er schon seit langer Zeit hegte, begründet war. Jener -- nun eben jener »Schurke«, wie er ihn in Gedanken nannte -- der in der Umgebung der höchsten Persönlichkeiten weilte, das Ohr der allerhöchsten Persönlichkeiten besaß, jener Schurke hatte ihn auf das »tote Geleise« geschoben. Höchst einfach! Und so erklärte sich alles, ja. Vor einem halben Jahr etwa hatte man dem Generalleutnant v. Hecht-Babenberg, achtundfünfzig Jahre alt, plötzlich, ohne jede Begründung, ohne jede Warnung, sein Frontkommando genommen und ihn zur Bureauarbeit nach Berlin abkommandiert -- während draußen, wie er zu sagen pflegte, die Kanonen Europa in Fetzen schossen und eine neue Welt aus dem Blutmeer emporstieg. Unerklärlich, unfaßbar. Jüngere als er machten nun -- auch das ist ein Ausdruck des Generals -- Weltgeschichte. Unbekannte, aus unbekannten Geschlechtern stiegen in die Höhe. Es war die Zeit, um nicht zu sagen, Konjunktur, in die Höhe zu steigen. Und wie viele unfähige Narren kannte er (der General liebte starke Ausdrücke), Narren, die nicht imstande waren, ein Regiment durch das Brandenburger Tor zu dirigieren, und die heute, gestützt auf ausgesuchte Stäbe, Armeekorps führten. Er konnte, wenn man es wünschte, ihre Namen nennen! Erst vor kurzem hatte einer seiner Bekannten, seiner früheren Bekannten, besser gesagt, dreihundert Kanonen verloren -- um daraufhin Gouverneur eines besetzten Landes zu werden. Es kam nur darauf an, gute Freunde zu haben. Das war das ganze Geheimnis, nichts sonst. Er hatte gegen die Russen eine Division geführt vor -- wie lange war es doch her? -- vor drei Jahren und sich das persönliche Lob seines Allerhöchsten Kriegsherrn erworben. Im Westen dagegen hatten seine Ansichten mit denen der Obersten Führung nicht immer übereingestimmt. Bei einem plötzlichen Angriff der Franzosen hatte er die Ansicht vertreten, zu halten, koste es, was es wolle, während man »hinten«, wo man alles besser wußte, der Meinung war, auszubiegen. Er hatte allerdings etwas liegenlassen -- aber schließlich, was kam es auf diese relativ geringfügigen Verluste und ein paar Minenwerfer an? Es war nichts -- man bedenke: im Vergleich zu dreihundert Geschützen! Nichts -- Er würde heute, denn er konnte nicht gegen seine Überzeugung handeln, er würde heute genau so verfahren, auf Ehre und Gewissen! In seinem Abschnitt befand sich eine Höhe, die Höhe von Quatre vents, und es war nur natürlich, daß er diese für den ganzen Abschnitt, ja für einen großen Frontsektor wichtige Höhe nicht ohne weiteres preisgab. Dreimal gab er Befehl, Quatre vents zu halten, koste es, was es wolle. Erst als die Höhe vom Gegner flankiert war, gab er den Befehl zum Rückzug. Die Loslösung glückte dann allerdings nicht ganz, zugestanden. Ein alltäglicher Vorfall -- ohne jede Bedeutung. Niemand würde -- Es war augenscheinlich: irgend jemand mußte die Hand im Spiel haben -- irgend jemand, der ihm übel wollte. Er -- der das Ohr der höchsten Persönlichkeiten hatte --, jener »Schurke«, mit einem Wort. Das Steingesicht geriet in Erschütterung: vor mehr als dreißig Jahren -- Aber plötzlich hielt das Auto. Es stand vor einem hellerleuchteten Blumengeschäft. Der General erwachte. Ein Verkäufer schleppte soeben ein Blumenarrangement, einen schweren Korb mit Maiglöckchen, an den Wagen. »Hierher!« rief der General und pochte an die Scheibe. Nässe und Kälte kamen mit herein. Augenblicklich begannen die Blumen Duft und Frische auszuatmen. »Lessingallee!« Die Limousine flog dem Westen Berlins zu. Die Federn knirschten. Bald hielt der Chauffeur warnend die Rechte, bald die Linke hinaus -- die Pfeife trillerte -- Schnelligkeit ist die Losung des Generals -- -- vor mehr als dreißig Jahren, hatte er, der General, ihm, eben jenem einflußreichen Würdenträger, einen Streich gespielt, und damit hatte die Animosität, um nicht Feindschaft zu sagen, ihren Anfang genommen. Es war auf einem Ball bei Baron Kreß. Eine junge Dame spielte eine Rolle dabei, und damals war er, der General, der beste Tänzer in Berlin. Damals wartete, gegen Morgen, ein Wagen vor der Treppe des Kreßschen Palais. Eine Dame springt die Treppe herunter. Sie hat den Pelz eilig um die Schultern geworfen. »Um Gottes willen,« ruft sie, »er hat mich beobachtet, schnell.« Schon rollt der Wagen davon. Der Pelz ist von den Schultern der schönen Dame gefallen, und er, der General, sagt: »Sie werden frieren, meine Gnädigste!« Und er hüllt sie wie ein Kind in den Mantel. Sie trägt eine ganz dünne Robe, und es kommt ihm vor, als ob sie völlig nackt im Pelz stäke. Deutlich erinnert er sich dessen. Und er erinnert sich, daß dieselbe Dame seinen Rivalen rachsüchtig genannt habe, hüten Sie sich, er ist rachsüchtig! Welcher Instinkt, diese Frauen! Und sie war fast noch ein Kind. Vor dreißig Jahren -- Hätte er damals ahnen können, daß sein Nebenbuhler sich einst bis zur höchsten Stellung emporschwingen sollte! Vielleicht wäre er immerhin etwas vorsichtiger gewesen, wer weiß es? Nicht ohne Grund hatte er seinen Söhnen immer eingeschärft: Freunde zu werben. Freunde, schon in der Kadettenanstalt. Denn Freunde waren im späteren Leben -- alles. Nicht die Begabung -- welche Albernheit -- die Beziehungen waren alles. Plötzlich sieht der General die junge Dame vor sich im Wagen, als sei es gestern gewesen. Jahrelang waren ihre Züge in ihm erloschen. Sie ist gepudert und trägt ein Schönheitspflästerchen am Kinn. Ihre Augen sind warm und leuchten eigentümlich aus der Tiefe. Diese junge Dame mit dem Schönheitspflästerchen, die er seinerzeit aus dem Ballsaal entführte, wurde seine Frau. Lange, lange Zeit -- Der General öffnet den Mund und ringt nach Luft. * * * * * Aus dem hellerleuchteten Entree der roten Backsteinvilla, ganz mit Efeu bewachsen, stürzt ein Diener in zebragestreiftem Kittel und öffnet den Wagenschlag. »Herr General!« »Herr General?« Der General erhebt sich. Mit steifen Gliedern, den Rücken etwas gebeugt, steigt er aus dem Wagen. »Frau v. Dönhoff empfängt?« »Gnädige Frau empfangen, obwohl gnädige Frau die Grippe hat.« »Wird es lange dauern, Petersen?« fragt der Chauffeur den Zebrakittel. »Was ist denn los bei euch?« »Geburtstag. Die Gnädige hat Geburtstag.« Und der Zebrakittel eilt, den Korb mit den Maiglöckchen auf den Armen, rasch in das hellerleuchtete Entree, um Exzellenz beim Ausziehen des Mantels behilflich zu sein. 2 Frau v. Dönhoff -- die Dame der roten, mit Efeu bewachsenen Backsteinvilla in der Lessingallee, dicht am Tiergarten, war eine Blondine, nicht mehr in der ersten Jugend, von ihren intimen Bekannten die schöne Dora genannt. Sie war mittelgroß, die schöne Dora, etwas üppig, kleine, zierliche Füße, kleine, zierliche Händchen mit spitzen Fingern, große strahlende Augen von herrlich leuchtendem, seltenem Blau -- der berühmte Schriftsteller, der in ihrem Hause verkehrte, hatte die Farbe mit dem Blau des Gebirgsenzians verglichen -- ein Paar reizender Grübchen, runde rote Lippen -- ah, und Zähne -- schneeweiß! Sie lachte immer und bei jeder Gelegenheit, das Lachen setzte ganz unvermittelt ein, sie lachte in Skalen und Trillern, ein Geklingel war ihr Lachen. Es riß mit fort. Und immer, schon im Bett am Morgen, hielt sie eine dicke Zigarette zwischen den spitzen Fingern und qualmte. Sie rauchte auch auf der Straße, während sie Butzi, einen belgischen Griffon, an die frische Luft brachte. Das war die schöne Dora. Etwas umschwebte sie. Ein Glanz, ein Abglanz. Der Abglanz einer Freundschaft, die sie vor ihrer Heirat mit einer Königlichen Hoheit verbunden hatte. Dieser Abglanz war immer gegenwärtig. Hatte die Königliche Hoheit wirklich diese schlanken ringgeschmückten Finger an die Lippen gedrückt? Diese Grübchen bewundert, sich an diesem Lachen erfrischt, diesen weichen, verschwenderisch reichen blonden Haarschopf liebkost? Ruhten die Augen der Königlichen Hoheit auf diesen Schultern? Immer, immer war Dora von diesem Abglanz umschwebt. Die Sonne war untergegangen -- aber der Glanz lag noch in der Luft. Nunmehr war die Königliche Hoheit längst verheiratet, hatte drei Kinder. Dora aber hatte -- danach -- einen Freund der Königlichen Hoheit geheiratet, den Hauptmann v. Dönhoff, einer der ersten Herrenreiter Deutschlands, professioneller Schürzenjäger und Spieler, der in kürzester Zeit zwei Vermögen durchbrachte, auch Doras Vermögen. Eines Tages stand sie ohne einen Pfennig da -- vis-à-vis de rien! Mit einem Wort: dieser Hauptmann Dönhoff entpuppte sich als ein Lump ersten Ranges, er betrog Dora schon am Hochzeitstage, so unglaublich es klingt, und sie gab ihm nach kurzer Zeit den Laufpaß. Schon vor dem Kriege trennte sie sich von ihm. Gegenwärtig lebte sie in Scheidung -- oder war sie schon geschieden? Niemand wußte es, der Krieg hatte das Interesse an den armseligen privaten Schicksalen in den Hintergrund gedrängt. Der Herrenreiter und Spieler war Artillerist und lebte gegenwärtig bei seiner Batterie im Westen -- irgendwo. Er ergraute bei seinen Kanonen, in den Waldschluchten des Argonner Waldes oder in den Kalkhügeln der Lausechampagne, sein Gesicht wurde gelb, pergamenten. Die Welt hatte ihn vergessen, seine Damen -- nur die Gegenwart hat Macht. Ein einziges Mal war er während des Krieges in Berlin aufgetaucht, ohne Dora zu besuchen, es gab sofort wieder Skandal, eine Dame, ein Offizier -- immer die gleiche Geschichte. Und er ergraute weiter bei seinen Kanonen. Seine Schläfen waren schon ganz weiß. Zuweilen schrieb Dora an ihn, zuweilen kam auch ein Brief aus dem Felde, und Petersen, der Diener, zeigte ihn Frida, der Zofe, und flüsterte: »Von ihm!« Also, das war Dora und ihre Lebensgeschichte, in flüchtigen Linien natürlich nur, und heute hatte sie die Grippe. Doras Haus war eine alte Villa, verbaut und immer wieder umgebaut, mit Sälen und Zimmern, Nischen, Erkern, Korridoren, großen und kleinen Treppen und Treppchen. Niemand, der nicht hier lange verkehrte, fand sich zurecht. Dora hatte das ganze Haus in ein Teppichmagazin verwandelt. Es gab keinen Quadratmeter, der nicht mit einem Teppich belegt war. Es gab im Dönhoffschen Hause sogar etwas, was es nur selten in Berlin gab, nämlich einen Raum, der ein vollkommenes Zelt war. Eine Art arabisches Zelt, ganz aus Teppichen ausgebaut. Infolge der vielen Teppiche roch es im Dönhoffschen Hause eigentümlich nach Staub. Dazu hatte Dora das ganze Haus mit antiken Möbeln vollgestopft, Möbeln aller Stilarten, mit Säulen aus Kirchen und grellbemalten oder vergoldeten Heiligenfiguren. Alle Tische, Kommoden und Gesimse waren mit kleinen Kostbarkeiten aller Art, mit Leuchtern, Schnitzereien, Waffen, Miniaturen, Dosen derartig übersät, daß es unmöglich war, auch nur ein Paar Handschuhe abzulegen, ohne irgendeine Kostbarkeit in Gefahr zu bringen. Es war unmöglich, alle diese Dosen, Schnitzereien, Waffen und Heiligen abzustauben. Und so sammelte sich immer mehr Staub an. An das arabische Zelt stieß das Speisezimmer, ein riesiger Raum mit einer Empore, zu der eine steile Rokokotreppe, gelb und rot bemalt, emporführte. Dieser Raum war zurzeit schwer heizbar und beständig strömte ein kalter Luftzug in das arabische Zelt hinein. Doras Haus hatte aber noch eine Eigentümlichkeit: das waren die Lampen. Es gab kein Haus in ganz Berlin, das so viele Beleuchtungskörper aufwies. Blaue, grüne, gelbe, rote Ampeln, alle von ganz besonders erlesener Färbung, Kronleuchter mit Dutzenden von Flammen, schwere Messingkronen mit halb heruntergebrannten dicken Wachskerzen. Das arabische Zelt selbst wurde durch eine polnische Synagogenampel beleuchtet. Es war ein opalisierendes, bläuliches Licht, der Farbe von Zigarettenrauch ähnlich. In der Ecke des arabischen Zeltes aber stand noch eine riesige purpurrote Lampe, die auf eine vergoldete Barocksäule aus irgendeiner Kirche montiert war. Neben dieser roten Lampe saß gewöhnlich Dora, sie strahlte dann wie glühender Alabaster, während die andern wie Leichen aussahen. Sie verstand ihre Sache. Zwischen diesen Teppichen und Lampen, sonderbaren Heiligen und tausenderlei Krimskrams bewegte sich Dora, mit ihrem blonden Haarschopf, ihren Grübchen und dem Glanz, der sie umschwebte. Niemand hatte Dora jemals in schlechter Laune gesehen. Ihr Benehmen war immer gleich. Jedermann fühlte sich wohl bei ihr. Nicht zu vergessen auch Doras Badezimmer, eine Sehenswürdigkeit -- ein richtiges Treibhaus. * * * * * Sobald der General die rote Backsteinvilla betrat, kam das Steingesicht in Erschütterung. Der General gehörte zu den Intimen des Hauses. Zweimal in der Woche, Dienstag und Freitag, pflegte er bei Dora zu Abend zu speisen. Ohne andere Gäste. Der Stein verwitterte im Lichte der Garderobenampel, er verwandelte sich in Haut, in die Haut eines Menschen, der ewig von Zimmerluft umgeben ist, und der -- vielleicht, nur eine Vermutung -- an beginnender Sklerose der Arterien leidet. Die starre Leblosigkeit des Gesichts löste sich. Es zeigte sich sogar, seht an, eine Spur von Farbe auf den breiten Wangen, ein rötliches Violett, von feinem Geäder herrührend. Die ernsten Gedanken, die den General einhüllten, zerflatterten, der etwas massige, schwerbewegliche Körper schien elastisch und verjüngt. Es scheint ja nicht so schlimm zu sein, mit der Grippe, dachte er, als Doras Lachen in die Garderobe drang. Die geschliffenen Linsen der Feldherrnaugen ruhten sogar einen Augenblick leutselig auf dem Diener. Etwas Außergewöhnliches, denn der General pflegte seine Mitmenschen nie anzusehen. -- Dann widmeten sie sich mit rein menschlichem Interesse dem Studium einiger Gummischuhe, die in der Garderobe standen. »Sind auch -- Damen hier, Petersen --?« »Frau Major Sterne-Dönhoff mit Töchtern.« Nichts haßte der General mehr als Ansammlungen von Menschen, mochten sie groß oder klein sein; nichts fürchtete er mehr als Überraschungen -- es war ja möglich, daß man ihm, ohne jede Vorbereitung, ixbeliebige Menschen präsentierte, wie es ihm schon passiert war. So neulich bei einem Militärattaché, wo unerwartet der Redakteur einer sehr linksstehenden liberalen Tageszeitung auftauchte, ganz zu schweigen von jenem Herrenabend bei Exzellenz v. Krämer, wo ein sehr orientalisch aussehender Chirurg anwesend war, eine Berühmtheit, getauft -- aber trotzdem. Er wünschte zu wissen, wer anwesend sein würde -- bei Dora allerdings, wo er zweimal in der Woche zu Abend speiste -- machte er eine Ausnahme. Er kannte Doras Kreis, nahezu wenigstens, und nur zuweilen traf er hier irgendeinen Maler oder Schriftsteller, auf deren Bekanntschaft er allerdings wenig Wert legte, um offen zu sein. Das war indessen nicht zu ändern: Dora selbst war eine Art Künstlernatur. Der General strich den grauen Scheitel mit der Bürste zurecht, glättete den dünnen grauen Schnurrbart, prüfte die Hände . . . Der General war das Bild der Akkuratesse selbst. Alles leuchtete und glänzte an ihm, die Stiefel, die roten Streifen der Hosen, die Ordensauszeichnungen, die langen polierten Fingernägel -- nur die Haut des Gesichts war, wie gesagt, stumpf, von der Zimmerluft beschlagen. So, genau so hatte er ausgesehen, als er sich in Polen mit den Russen schlug -- in Frankreich, wo er in einem Chateau wohnte, war es ja schließlich kein Kunststück. Er hatte sofort ein Bad einbauen lassen, das war das erste gewesen, die Wanne wurde mit dem Auto aus Frankfurt geholt. Ohne jede Übertreibung, der General war noch heute eine stattliche Erscheinung. Auch einige Offiziersmützen, drei im ganzen, hingen da. Er erkannte die Seidenmütze seines Sohnes Otto, die eine ganz besondere Form hatte. Offenbar machte er seinen Abschiedsbesuch; er mußte morgen wieder ins Feld. Falten erschienen auf der breiten Stirn des Generals, verschwanden aber sofort wieder. Er liebte es nicht, Otto oder Ruth, seine Tochter, in Gesellschaft zu treffen. Er kam sich beobachtet vor, sie störten, mit einem Wort. »Die Herrschaften sind im Zelt, Herr General.« »Schön« -- aber der General hielt den Schritt an und zog die Brauen in die Höhe -- »eine Bürste, Petersen.« Der General hatte tatsächlich ein Härchen auf seinem Ärmel entdeckt. »Es ist von Butzi, Herr General -- das ganze Haus ist voll von seinen Haaren --« »Wie soll es denn von Butzi sein? Dann müßte es ja seit Dienstag -- nein, das ist unmöglich, Petersen.« »Vielleicht war es im Mantel? Überall sind diese Haare --!« Petersen öffnete die Türe zu einem Vorzimmer. Hier brannte eine einsame, hohe Wachskerze, zu Füßen eines verlassenen steingrauen Heiligen mit zinnoberrotem Rock, der in Verzückung ein Buch schwang. Hierauf schlug Petersen den Teppich zurück. Der Rücken des Generals, etwas zusammengesunken während der Unterhaltung mit Petersen -- ob das Haar von Butzi stammte oder nicht -- straffte sich. »-- sollten sich aber wirklich schonen. Zum Beispiel, das Rauchen --« »-- es ist ja gar nicht die Grippe.« »-- täglich sterben Hunderte --« Dora lachte: »Sie wollen mir Mut machen, Otto!« Und Petersen schlug den zweiten, gelbseidenen Vorhang zurück. Augenblicklich stürzte der belgische Griffon kläffend heraus. (Er war mit Exzellenz verfeindet!) Die Offiziere schnellten von ihren Sesseln empor. * * * * * Dora trug die kleinen mattgelben Perlen in den Ohren, nicht die Boutons, die von früher stammten! Der General sah es auf den ersten Blick. Mit aufgehellter Miene, soweit sie sich aufhellen konnte, trat er ein. Selbst seine Augen verloren ihre Strenge, aber sie blieben trotzdem -- kalt. Dora glühte im Schein der großen Purpurlampe, ihre Arme und Hände leuchteten wie Korallen, und in ihrem durchsichtigen feinen Ohr schimmerten in der Tat kleine gelbe Perlen. Aus dem Halbdämmer des Zeltes hoben sich die drei schwarzgekleideten Damen Sterne-Dönhoff, schmal, steif, todernst. (Major Sterne-Dönhoff war vor einem halben Jahr gefallen.) Aus einem Spiegel funkelten bleiche Gesichter, fahl im Scheine der blauen Ampel. Diese Gesichter verwirrten den General, so daß er seine Gratulation etwas steifer und förmlicher vorbrachte, als er es wünschte. Erst jetzt bemerkte er, daß Hauptmann Wunderlich, einer der drei anwesenden Offiziere, ein Freund des Dönhoffschen Hauses, noch immer stand. Er hielt sich an den Lehnen des Sessels aufrecht, denn er war lahm geschossen und ging an Krücken. Erst jetzt bemerkte er die zarte, ätherische Dame mit dem langen Gesicht, die Kinn und Näschen in den Muff drückte, neben Dora saß sie auf dem Diwan -- ah, welche Überraschung, welch freudige und ungeahnte Überraschung! »Es ist in der Tat kein Scherz, gnädige Frau, mit dieser Grippe --« »Ich hörte es von einem Krankenhausarzt -- einhundertvierzig Tote gestern -- und wie gesagt, gar keine Grippe, sondern die Lungenpest --« »Man sagt es ja nur, man schwätzt --« »Derselbe Arzt versicherte es mir. Die Lungen sind völlig mit weißen Bläschen bedeckt und vereitert.« »Es sind einfache Streptokokken.« »Ja, nun, Sie sagen einfache --« »Und Pest? Auch Pest ist nur ein Wort.« Vorlaut, immer ist dieser Junge vorlaut, dachte der General. Otto, der Sohn des Generals, sprach mit lauter, heller Stimme, die stets etwas keck klang, selbst wenn er die harmlosesten Dinge sagte. Er sah seinem Vater auffallend ähnlich. Groß, das gebräunte Gesicht breit und brutal, die Augen hell und verwegen, aber voller Unruhe. An der Stirne, dicht neben den blonden, glänzenden Schläfenhaaren, hatte er eine Narbe, die von einem Kopfschuß herrührte, den er im Mai 1915 bei Ypern erhielt. Damals lag er ein halbes Jahr im Lazarett -- aber so gering war die Eile der internationalen Generalität, daß er sein Regiment im Herbst noch an genau derselben Stelle vorfand, wo man ihn im Frühjahr weggetragen hatte. Er saß mit einer gewissen Ungeniertheit (die dem General mißfiel) im Sessel, frei und selbstgefällig, die Brust voller Auszeichnungen -- im Gegensatz zum jungen Heinz Sterne-Dönhoff, der, ganz wie seine Schwestern in Schwarz, bescheiden und steif dasaß. Dieser Heinz war noch ein Knabe, schlank und zart, noch nicht neunzehn Jahre. Er trug Feldgrau und -- seit heute -- das Abzeichen des Flugzeugführers. Er war indessen noch nicht im Felde gewesen und lebte in der beständigen Angst, der Krieg könnte zu Ende gehen, bevor die Reihe an ihn käme. Er hatte den roten Mund eines Knaben, noch umschwebt vom Lächeln der Kindheit. Unausgesetzt waren seine blauen, strahlenden Knabenaugen voller Ehrfurcht auf den General gerichtet, auf seine Ordensschnalle, den gestickten Kragen und das weiße große Emaillekreuz, das er am Kragen trug. Was für ein Orden mochte es wohl sein? Seit dem Eintritt des Generals öffnete er den Mund nicht mehr, die Nähe eines so hohen Vorgesetzten bedrückte ihn. Er saß, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, dem General einen Dienst zu erweisen. Mit großen grauen, etwas düsteren Katzenaugen saß neben Dora Hauptmann Wunderlich. Blaß und mager, sah er aus wie ein achtzehnjähriger Gymnasiast, der über Nacht ergraut war. Er lächelte nie, und wenn er -- selten, ganz selten -- einmal lächelte, so war es das Gespenst von einem Lächeln, das niemand ertrug. Seine gleichmäßige Miene forderte indessen auf, sich nicht im geringsten durch ihn stören zu lassen. Der Blick seiner Augen glitt in die Ferne. Auch während er sprach, schien er zu Leuten irgendwo in der Ferne zu reden und nicht zu den Anwesenden. An seiner linken, mit einem goldenen Armband geschmückten Hand fehlten einige Finger. Hinter seinem Sessel lehnten die Krücken, womit er sich, nur mit einem Fuß den Boden berührend, wie eine Glocke dahinschwang. Hauptmann Wunderlich war schon in den ersten Wochen des Krieges durch einen schweren Brustschuß außer Gefecht gesetzt worden. Ein Jahr später wurden ihm in Rußland beide Beine zerschmettert. Hierauf ging er zur Fliegerwaffe über. Er war heute einer der bekanntesten Menschenjäger in der Luft. Er wurde in die Maschine gehoben. Frau v. Sterne-Dönhoff mit ihren Töchtern, aus dem Halbdämmer sich abhebend -- mit flachen Hüten, enganliegenden Kostümen, langen Gesichtern, steif, still, langweilig. Nur selten warfen sie ein Wort in die Unterhaltung. Sie trugen schwarze, sehr enge Glacéhandschuhe. Und jene andere Dame, die Ätherische, die Kinn und Nase in den Muff drückte und neben Dora auf dem breiten Diwan saß, die spitzen Knie hochgezogen? Jene Dame, über deren Besuch der General so erfreut und überrascht war? Es war eine Gräfin Heller, soeben aus der Schweiz zurückgekommen. Gräfin Heller war Spiritistin, Theosophin -- alles Dinge, die den General nicht im geringsten interessierten. Sie war darüber hinaus die Schwester jenes -- eben jenes »Schurken«, wie ihn der General in Gedanken nannte. Jener einflußreichen Persönlichkeit, deren Name in der Gesellschaft nur flüsternd ausgesprochen wurde. Seine Majestät hat ihm höchst eigenhändig -- wissen Sie . . . Der General hatte nicht ahnen können, sie hier zu treffen. Solche Zufälle gibt es! Aber vielleicht hatte Dora ihre Hand dabei im Spiel? Dora, die mit ihrem künstlerischen Naturell auf rätselhafte Weise die Gedanken ihrer Mitmenschen erriet und alles so wunderbar zu arrangieren verstand? Wie? »Ich hatte in der Tat nicht vermutet, Gräfin, Sie heute zu sehen!« wandte sich der General mit allen Zeichen der freudigen Überraschung, die bei jeder Anrede neu auflebte, an sie. »Sie waren lange weg. Wie gefällt es Ihnen wieder in Deutschland?« Gräfin Heller lächelte und schob Butzi ein Stückchen Torte zwischen die scharfen, schneeweißen Zähnchen. »Ich finde es ent--setz--lich!« »Ah, ah!« »Ein Friedhof!« Der General lächelte nachsichtig. Bei einer Dame des hohen Adels, des höchsten Adels, der Schwester einer solch hochgestellten Persönlichkeit, mußte man wohl einige Wunderlichkeiten in Kauf nehmen -- noch dazu bei einer Dame, die mit dem Geist Friedrichs des Großen in okkulter Verbindung stand. In diesem Augenblick überbrachte Petersen ein Telegramm. Dora errötete, als sie es öffnete. Es enthielt nur wenige Worte, wie man sehen konnte. Der General ahnte: es kommt aus dem Felde! Die Unterhaltung geriet ins Stocken. 3 In der Tat, das Telegramm -- das Dora lässig zusammenfaltete und in eine kleine japanische Lackschale legte -- kam aus dem Felde. Hauptmann Dönhoff hatte es heute morgen abgeschickt, und eben jetzt dachte er, ob das Telegramm wohl schon angekommen sei. Beinahe nämlich hätte er Doras Geburtstag vergessen. Erst in der Nacht, als er durch einen dumpfkrachenden Einschlag geweckt wurde, war es ihm eingefallen und er hatte sich sofort eine Notiz gemacht. Sein Gedächtnis war im Laufe der Kriegsjahre völlig geschwunden. Er saß mit seinem Adjutanten Kammerer in seinem Unterstand, zwei Meter unter der Erde, mitten in den Finsternissen des Argonner Waldes. Eine kleine Petroleumlampe, ein eiserner Ofen, der immer glühte, ein Telephon, zwei Pritschen und allerlei Gerümpel, das war die Ausstattung. Die Wände schwitzten von Nässe. Kammerer war eifrig damit beschäftigt, seine kurze Stummelpfeife zu reinigen. Er bediente sich einer Krähenfeder, die er -- da draußen -- gefunden hatte. Dönhoff, der Batteriechef, tat gar nichts, er gähnte zuweilen, gähnte. Er war nicht schläfrig, sondern nur müde, immerzu müde. In der Ferne brummte ein schweres Geschütz. Ganz deutlich war sein tiefes mächtiges Raubtierknurren aus dem Lärm, dem Knacken und Donnern der fernen und nahen Geschütze herauszuhören. Hauptmann Dönhoff hob horchend das gelbe Gesicht. »Hören Sie? Da ist er wieder!« Der junge Offizier blickte nicht auf, er war voller Andacht bei der Arbeit. »Er schießt jetzt wieder öfter mit dem schweren Geschütz«, erwiderte er leichthin. »Sie haben mehr Munition.« Die Erde zitterte, und ein lautes Krachen ertönte, Hauptmann Dönhoff lachte belustigt. »Da, da,« sagte er, »er streut jetzt unsere Kuppe ab.« Kammerer antwortete hierauf nichts mehr. Er blies voller Anstrengung in das verstopfte Pfeifenrohr. Der braune Tabaksaft quoll heraus, aber, der Teufel, immer noch mußte etwas im Rohr stecken. »Sie sollten einen Draht nehmen, Kammerer.« »Es muß auch so gehen --« Wieder gähnte Hauptmann Dönhoff. Seine Zähne waren gelb und schlecht gepflegt. Hier in diesem verfluchten Wald wurde man, mit Respekt zu sagen, langsam zu einem Schwein. Über ein Jahr lag er mit seiner Batterie an der gleichen Stelle. Neulich sah es so aus, als ob sie nach der Champagne kommen sollten -- aber es war wieder nichts daraus geworden. Auch die Champagne war kein Paradies, aber es gab wenigstens Licht dort -- hier war es immer düster. Tag und Nacht hallte dieser finstere Wald wider von einem unheimlichen Dröhnen und Rasseln, Lachen, Niesen und Husten. Tag und Nacht strichen winselnde und klagende Stahlvögel über ihn dahin, und das Rasseln der Maschinengewehre hämmerte hundertfach verstärkt in den Waldschluchten -- bis plötzlich alle Lärme von einem einzigen großen Lärm sekundenlang übertönt wurden. Gestern ist die Eiche vor dem Unterstand zersplittert, heute stürzte eine hohe Tanne zu Boden. Die Splitter leuchten in der Finsternis. Der Regen rauscht, Ströme von Lehm fließen die schmalen Knüppelwege hinab, die die Soldaten durch das Dickicht geschlagen haben. Zuweilen trifft man auch ein menschenähnliches Wesen, bis an die Augen mit Lehm beschmiert. Zuweilen schleppen sich auch Trüppchen von Gespenstern, mit blutigen Binden an Köpfen und Armen, die Knüppelwege hinunter -- nein, pfui, der Wald ist kein Platz für einen Gentleman! Hauptmann Dönhoff denkt an Sonne -- an eine Wüste, in der Sonne, flimmernd von Licht, zitternd, vibrierend vor Hitze. Es würde ihm direkt Vergnügen machen, einmal tüchtig in der Sonne zu schwitzen. Und plötzlich kommt ihm Dora in den Sinn. Das Telegramm mußte nun wohl da sein. Langsam kriechen die Gedanken. »Kannten Sie nicht General v. Hecht-Babenberg, Kammerer?« »Welchen Babenberg?« »Nun, den, wissen Sie -- man hat ihn nach Hause geschickt --« »Nie gesehen. Weshalb fragen Sie?« »Ich dachte gerade an ihn -- nur so --« Was will er? dachte Dönhoff und erinnerte sich an das, was man ihm berichtet hatte. Was beabsichtigt er? Dora? Erwachsene Kinder -- man kann nie wissen. Dora drang darauf, daß er bald nach Berlin käme -- es fehlte noch eine Unterschrift in der Urkunde -- gut, an ihm sollte es nicht liegen. Kammerer strahlte. Plötzlich pfiff die Luft durch das Pfeifenrohr. »So, das Kind hat Luft --« Das Telephon tutete. Die Beobachtung meldete, daß der Feind in der neuen Sappe unverschämt arbeite. Schon trillert Kammerers Pfeife draußen im Wald. Die Geschütze der Batterie Dönhoff sind über eine weite Strecke verteilt und erst zu erkennen, als die dunkeln Rohre sich plötzlich bewegen. Hier im Wald ist es schon ganz düster, aber draußen bei der Beobachtung sind im Scherenfernrohr noch deutlich die Nebelgestalten zu unterscheiden, die dicht am Waldrande bei Boureuille Erde aufwerfen. Da donnern auch schon die Geschütze. Wütend, mit kurzen harten Schlägen, und das Echo rollt breit und drohend dahin. Die Petroleumlampe schwankt, während Hauptmann Dönhoff müde die Augen schließt und gähnt. Nun rieselt es draußen im Wald wie Regen. Die welken Blätter, die noch an den Bäumen hängen, fallen, von den Luftwirbeln losgerissen, zu Boden. * * * * * »Und Ruth? Wo ist Ruth?« fragte Gräfin Heller. »Weshalb ist sie nicht gekommen?« »Sie hat immer mit ihrer Küche zu tun.« Ruth, die Tochter des Generals, arbeitete in einer Mittelstandsküche, ehrenamtlich natürlich, nicht gegen Bezahlung. »Ruth war heute vormittag bei mir«, warf Dora ein. Verführerisch war Doras Teetisch gedeckt, Blumen, Kuchen, Konfitüren. »Wann wird die Hochzeit sein?« Ruth war mit einem Baron Dietz, einem der reichsten pommerschen Grundbesitzer, verlobt. Er war zurzeit in Bukarest bei der Verwaltung. »Ich weiß es nicht«, erwiderte der General und schüttelte den Kopf. »Im Sommer wahrscheinlich. Ruth hat Lust, bis zum Frieden zu warten, wie mir scheint. Ich kümmere mich grundsätzlich nicht um die Angelegenheiten meiner Kinder --« Butzi, einem alternden übellaunigen Löwen lächerlichen Formats ähnlich, saß auf dem Schoß seiner Herrin und betrachtete aufmerksam, mit nachdenklich gekräuselter Stirn den General, seinen Feind, dessen blanken Stiefeln nahezukommen gefährlich war. Krieg, Nahrung, Politik -- in jeder Gesellschaft, sobald nur zwei Menschen zusammentrafen, versank man rettungslos augenblicklich in das gleiche Thema. Verzweifelte Anstrengungen, die Blicke glitten in die Ferne, ein Lächeln versuchte die Mienen zu verklären -- gewiß, es gab Himmel und Hölle im menschlichen Herzen, Engel und Teufel wandelten auf der Erde, bestechend durch ihre Liebe und ihre Kraft, ewig unergründliche Probleme bewegten unsichtbar die Jahrhunderte -- immer noch flog die Sonne, ein Ball überhitzter Gase, samt ihren winzigen Planeten mit der Geschwindigkeit von zwanzigtausend Sekundenmetern, unfaßbar, dem Sternbild der Leier zu -- immer noch war das Einfachste nicht ergründet, die Vergangenheit rätselhaft, die Zukunft undurchdringlich, die Gegenwart unbegreiflich, immer noch schaukelte der Mensch, ein Atom, nicht einmal ein Atom, über den Abgründen der Mysterien, voller Entsetzen, voller Hoffen -- immer noch war alles geheimnisvoll, unfaßbar. Noch immer versank der Mensch jede Nacht in einen erschreckenden Zustand der Bewußtlosigkeit. Noch immer war die Liebe, die mütterliche, unbegreifliche, offenbart im winzigen Insekt, in Doras Lachen und selbst in den ernsten Gesichtern der Damen Sterne-Dönhoff -- noch immer war sie allgegenwärtig -- gewiß! Aber doch -- gänzlich hoffnungslos. Es war wie die Verdammnis selbst! Das verklärende Lächeln erlosch, der Blick flüchtete erschrocken zurück -- nichts blieb: Politik, Krieg, Nahrung. Das politische Schicksal -- die Summe der menschlichen Schwächen und Irrtümer -- hatte die Gedanken versteinert. Die Staubschicht der Schlachtfelder, die bis an die Grenze der Atmosphäre hochstieg, lastete wie ein Gebirge auf den Gehirnen, vom Atlantik bis zum Pazifik -- die Gehirne bewegten sich nicht mehr. Butzi allein führte sein eigenes geistiges Leben weiter. Weshalb, zum Beispiel, durfte man den Hosen mit den roten Streifen nicht zu nahe kommen? Weshalb zuckte die Stiefelspitze, wenn man mit der Zunge den Glanz der Stiefel berühren wollte? Antworte, gerechter Himmel! Wonach roch er? Nach, um es kurz zu sagen, Gleichgültigkeit und Verachtung. Er liebte Hunde nicht. Und plötzlich, ohne es selbst zu wollen, knurrte Butzi, ohne zu wissen, was er tat und weshalb plötzlich der Zorn in seinem kleinen Stahlherzen klopfte. Butzi bekam sofort eine Ohrfeige. Aber das nahm er nicht übel. Denn es war ja seine Herrin, deren Lachen er liebte, deren Geruch er liebte -- sie, die Freundschaft fühlte für die Hunde, Liebe. Die Wohltäterin und Heilige -- obschon diese kläffenden Ungeheuer sie vielleicht für verworfen hielten -- für schamlos -- für . . . Nein, Butzi verstand die unartikulierten Laute dieser kläffenden Ungeheuer nicht. Er begriff ihren Eifer nicht, ihre Erregung. Offensive, die bevorstehende große Offensive -- der Entscheidungsschlag. Unbegreiflich! Der Herr mit den roten Streifen glaubte nicht an die Amerikaner, und die Damen lächelten. Wie beliebt? Bluff, mit einem Wort. Er gestand, daß er besorgt war -- besorgt, nicht mehr! Hätten sie sich auf Spezialwaffen beschränkt -- Fliegertruppen, Automobilkorps, Artillerie -- er hätte vor Angst gefiebert. Aber eine Armee? Unmöglich! Woher das Offizierkorps nehmen? Nun, die Rüstungen galten ja gar nicht uns! Nein! Der größte und geschickteste Bluff der Geschichte. Hier wollte Otto etwas einwerfen, aber der General wandte ihm den Blick zu, und er schwieg. Und die Transportfrage, ich bitte? Willkommene Beute für unsere U-Boote, so sagte der Minister. Die Damen hingen an den Lippen des Generals. Ihr Atem ging plötzlich leichter. Gräfin Heller beliebte die Zwischenfrage: ob das Volk -- so ganz im allgemeinen --? Der Herr mit den roten Streifen runzelte vorwurfsvoll die Stirn. Dann lösten sich seine Züge zu beschämender Zuversicht. »Ein kleines Beispiel nur, wenn die Damen gestatten wollen -- wie herrlich dieses Volk ist. Einer meiner Burschen, er begleitete mich durch den ganzen Feldzug, Jakob mit dem Familiennamen, ein Bauernsohn. Ich frage ihn, ob er nicht gerne wieder dabei wäre, da draußen, wenn es nun wieder losgeht? Natürlich möchte er das! Er strahlt über das ganze Gesicht! Sie sollten dieses Strahlen gesehen haben, Gräfin! Aber, sage ich, höre, wenn ich dich nun hier brauche? -- Langes, tiefes Sinnen. Das echt deutsche tiefe Sinnen! -- Dann bleibe ich bei Herrn General! -- Gräfin, zwei der augenfälligsten deutschen Charakterzüge mögen Sie in dieser kleinen Szene erkennen: die dem Deutschen angeborene Kampfesfreude und seine Mannestreue --« Die Gräfin blinzelte lächelnd mit den gepuderten Wimpern. Immer noch spricht der General. Jedes seiner Worte atmet Zuversicht. Heute abend wird Gräfin Heller jede Einzelheit des Gesprächs jener einflußreichen Persönlichkeit berichten. Jedermann weiß das. Der hohe Würdenträger ist vorzüglich informiert über die Meinungen aller Persönlichkeiten, die eine Rolle im öffentlichen Leben spielen. Sein Lächeln ist -- tödlich. Ein anerkennendes Wort seiner schmalen Lippen mehr wert als eine gewonnene Schlacht. Sehr wohl weiß der General, daß man _dort_ nur einen gesunden Optimismus liebt. Butzi ringelte sich resigniert auf dem warmen Schoß der Herrin zusammen. Reserven, ungeheure Reserven. Gestaffelt bis Frankfurt, Mainz, selbst Münster ist Etappe. Alles was in Rußland war -- die neuen Mannschaften -- eine Millionenarmee, furchtbar und stark wie am Anfang des Krieges. Wie eine unheimliche Flutwelle wird die Armee vorrollen, alles niederwerfend -- Eine andere, etwas hellere und weniger trockene Stimme sprach nunmehr. Es war der Mann mit den Krücken. Die Augen der Majorin Sterne-Dönhoff leuchteten. Die Gräfin schlürfte blinzelnd den Tee. Ja, das Gas! Das Gas wird der Armee den Weg bereiten! Das fürchterliche Gelbkreuz und Blaukreuz. Es zerfrißt die Gasmasken, selbst Leder, jede Berührung, auch die kleinste, ist tödlich. Die Gesichter strahlten, schon röteten sich die Wangen der Schwestern Sterne-Dönhoff und des jungen Heinz wie im Fieber. Der General blickte mißtrauisch zum gelbseidenen Vorhang. Ob nicht ein Lauscher in der Nähe sei, ein Dienstbote vielleicht. Er fand es im höchsten Grade unvorsichtig von Hauptmann Wunderlich, über diese geheimen Dinge so unumwunden zu sprechen -- obschon man ja, gewissermaßen, unter sich war. Butzi war endlich eingeschlafen. »Gebe Gott, daß es zu Ende geht«, sagte Gräfin Heller mit einem tiefen Seufzer. »Ich möchte reisen!« »Aber Sie können doch, Liebste? Sie reisen ja ununterbrochen!« »Ich möchte nach Paris reisen!« »Nach Paris!« Aber augenblicklich hatte der General seine Fassung wieder gefunden. Er beugte sich vor. »Sie werden nach Paris reisen, Gräfin!« versichert er mit Feierlichkeit in der Stimme. »Ich gebe Ihnen mein Wort!« »Ich werde -- Herr General?« »Ja«, fuhr der General mit derselben Feierlichkeit fort. »Paris und Calais werden fallen, Gräfin, die Trümmer der englischen Armee werden ins Meer geworfen -- im Sommer werden wir in Paris den Frieden diktieren. Dies ist meine heilige Überzeugung!« »Gott segne Sie, General!« Gräfin Heller zog die kleine Hand aus dem Muff und streckte sie lachend dem General entgegen. Diese kleine Unterbrechung -- während sich der graue Scheitel über die kleine Hand beugte -- benutzte Otto. Er erhob sich rasch, und auch Heinz schnellte in die Höhe. Die beiden jungen Offiziere verabschiedeten sich. Butzi erwachte, überzeugte sich, gegen den General schielend, daß er noch blieb, und ringelte sich, ergeben in sein Schicksal, wieder zusammen. * * * * * Otto beugte sich über Doras Hand, die wie eine Koralle blühte, und seine hellen verwegenen Augen -- doch Dora wehrte lächelnd seinen Blick ab. »Leben Sie wohl, Otto -- auf gesunde Wiederkehr!« sagte sie, und ihre Grübchen schimmerten. -- »Ich hatte noch gar nicht Gelegenheit, Gräfin -- mich nach dem Befinden Seiner Exzellenz zu erkundigen -- ich darf doch hoffen, daß Seine Exzellenz --« Die Stimme des Generals sank zu einem ehrfurchtsvollen Raunen herab. »Seine Exzellenz waren vor kurzem in ernster Lebensgefahr. Der Hofzug, wissen Sie -- und ein feindlicher Flieger -- eine Bombe -- aber Gott sei Dank passierte nichts. Die Bombe traf, leider, einen Lazarettzug -- die Armen --.« Die Gräfin aber hatte alles gefühlt. Zur selben Stunde erwachte sie, im Traum erschreckt durch einen Feuerschein. So geheimnisvoll innig war die Verbindung zwischen ihr und ihrem Bruder. Das Gesicht des Generals zeigte äußerste Bestürzung. »Ist es möglich -- eine Bombe -- und man erfährt es jetzt erst --? Wann?« »Vor etwa zehn Tagen.« »Vor zehn Tagen! Und man -- haben Sie gehört, Dora?« Der General konnte es gar nicht fassen. 4 Die beiden jungen Offiziere eilten mit raschen Schritten die nasse dunkele Straße entlang. Beide waren verabredet, mit den Schwestern Klara und Hedi Westphal, die zu Doras Kreis gehörten. Übrigens wußte keiner von des andern Rendezvous. Das ganz nebenbei. Otto schlug den Kragen des Mantels hoch und fluchte. »Furchtbar, entsetzlich!« »Wie beliebt?« »Einfach entsetzlich!« »Sie meinen, Otto?« »Dieses Geschwätz! Diese Teegesellschaft! -- Ich gehe übrigens links, Heinz. Ich muß zum Kaiserhof.« Otto machte erneut den Versuch, Heinz abzuschütteln, weil er allein sein wollte. Was ahnte dieser Knabe --? Aber Heinz verstand ihn nicht. »Es ist einerlei, wo ich einsteige. Das heißt natürlich, wenn ich lästig bin?« Heinz hatte Mühe mitzukommen, denn Otto machte rasende Fahrt. Mit Genuß atmete er die feuchte Luft ein, die aus dem Tiergarten in alle Straßen dieses Viertels strömte. Welcher Qualm bei Frau v. Dönhoff! Dora rauchte englische, etwas parfümierte Zigaretten, sie bekam sie jetzt noch -- woher, das war rätselhaft, aber sie bekam sie jedenfalls. Auch Heinz war glücklich, Doras Salon entronnen zu sein. Die Nähe des Generals hatte ihn bedrückt. Er hatte auch nicht den Mund aufgetan und war sich albern, kindisch und ungeheuer dumm vorgekommen. Die Ordenssterne des Generals und besonders der gestickte Kragen (war ein Komet darauf gestickt oder was sonst für eine sonderbare Sache?) hatten seine Phantasie verwirrt. Glücklicherweise, ja, es war in der Tat ein Glück, hatte ihn der General gar nicht beachtet. Nur bei der Begrüßung hatte er ihm flüchtig die Hand gereicht und ihn mit jenem raschen Blick gestreift, mit dem hohe Offiziere Untergebene in Gesellschaft begrüßen: kameradschaftlich, verstehst du, aber welche Distanz! Übrigens, diese Hand des Generals, sie war stählern und -- eisig kalt. Nie würde er diesen Händedruck vergessen. Schon aber kehrte seine alte Sorge zurück. »Glaubt Ihr Herr Vater wirklich, daß wir im Sommer in Paris sein werden?« wandte er sich hastig an Otto. Otto fuhr aus seinen Gedanken auf. Er war so zerstreut, daß er einen Augenblick stehenblieb. Dampfsäulen fuhren aus seinem Mund, so schnell atmete er, es war kalt geworden. Er blickte Heinz in die Augen, verstand erst jetzt und lachte plötzlich. »Natürlich glaubt er es. Er glaubt es schon seit über drei Jahren. Schon im August 1914 hat er mir Lehren mitgegeben, wie ich mich in Paris zu benehmen hätte. Er war übrigens nie in seinem Leben in Paris!« »Also, er glaubt es?« sagte Heinz nachdenklich. »Ja, ja, und er wird es glauben und wenn die Franzosen in Hannover stünden. Er würde es auch dann noch glauben. Er ist so.« »Aber glauben auch Sie es?« Wieder lachte Otto kurz auf. »Ich?« sagte er, knurrte er. »Ich bin doch kein Narr!« Nein, er, Otto glaubte nicht mehr an den Sieg der deutschen Waffen, wie viele Frontoffiziere. Kein Narr? »Aber Ihr Herr Vater, Otto, der General --?« Otto lachte nun laut und belustigt. »Die Generale haben ihre eigene Meinung, lieber Heinz! Sie können das ja noch nicht verstehen, es ist ein Kapitel für sich. Ich habe einmal bei Langemarck dreißig Prozent meiner Leute liegenlassen, und mein General sagte: Na, das ging ja noch gelinde ab. Wörtlich! Mein alter Herr, übrigens -- er will das Reich Karls des Großen wieder errichten.« »Sie glauben also nicht daran?« Heinz atmete erleichtert auf. »Es wäre ja auch zu fatal,« fügte er hinzu, »jetzt, da ich eben Feldpilot geworden bin.«, Fast vier Jahre Krieg und immer noch dieselbe Geschichte, dachte Otto. Da er aber schwieg, versuchte Heinz, ihm seinen Seelenzustand deutlicher zu machen. »Sie können mich nicht begreifen«, rief er aus. »Sie Glücklicher! Sie fahren ja morgen zurück zur Front!« Otto knöpfte den Mantel fester zu. Plötzlich fror er. Der Gedanke an die Front benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Die ganze Grausigkeit der Zone des Todes, in der es nur zerschossene Gräben, eingeäscherte Dörfer, zersplitterte Wälder gab, legte sich wie ein Alp auf seine Brust. Weshalb auch, zum Teufel, mußte er jede Minute daran erinnert werden, daß er morgen wieder zur Front zurück sollte? Jeder Mensch, der die Front _nicht_ kannte, tat so, als fahre er zu einer Hochzeit. Ja, tatsächlich man beglückwünschte ihn! Die Leute allerdings, die sie kannten -- nun, die sagten gar nichts -- höchstens ein verstehendes, etwas schadenfrohes Lächeln. Die Kälte in der halbdunkeln Straße kroch an ihm empor, in seine Uniform hinein. Er erinnerte sich voller Grauen an die Erdlöcher, in denen er, völlig unverständlich, Jahre seines Lebens verbracht hatte, an den eisigen Hauch, der von den Gräben ausging. Und plötzlich, ganz unvermutet, schnürte ihm eine sonderbare Empfindung die Brust zusammen -- Angst. Ja, Angst! Gleichzeitig sah er einen Feuerschein vor seinen Augen, der ihn erschreckte: den kurzen hellen Blitz des explodierenden Geschosses. Er erbleichte. Das Geräusch einer um die Ecke fahrenden elektrischen Bahn hatte ihm das schleifende Fauchen einer Granate vorgetäuscht. Immer noch war er schneeweiß im Gesicht und sein Herz zuckte -- genau wie draußen, wenn sie heranzischten. »Hören Sie, Heinz,« sagte er, »wie diese Elektrische um die Kurve fährt? Genau so kreischen und fauchen die Granaten. Sie werden noch bald genug hinauskommen.« Heinz beschleunigte unwillkürlich den Schritt. »Ich freue mich unbändig«, rief er aus, indem er die strahlenden Knabenaugen zu Otto hob. »Denken Sie, ich war fünfzehn, als der Krieg ausbrach, und ich konnte ja nicht hoffen, noch mitkämpfen zu dürfen.« »Auch wir, wir haben uns unbändig gefreut, als die ersten Granaten einschlugen«, entgegnete Otto und gab seiner Stimme einen leichteren und heiteren Klang. Immer noch pochte und zuckte sein Herz. Er wollte Heinz auch nicht ahnen lassen, was in ihm vorging. Dieser Junge! Sollte er ihm sagen, daß er in Angstschweiß gebadet -- betete? So unglaublich es klingt. Betete! Er! Übrigens -- das ging ihm durch den Kopf -- bei Souchez -- die Toten lagen mit ihren genagelten Stiefeln in Scharen draußen -- sie hatten schwere Verluste, ein abgeschlagener Angriff -- da kam ein bayrischer Priester. Der stieg auf den Graben -- im Feuer! -- das Kreuz erhoben und segnete die Gefallenen ein. Die Franzosen schossen -- aber er, _er stand_ -- mit dem Kreuz in der Hand. Friede sei mit Euch! Schrecklicher, herrlicher Augenblick! Er glaubte, glaubte! Die Kugeln waren Wind für ihn. Aber er, Otto, er betete -- ohne zu glauben, das ist etwas ganz anderes. Sollte er Heinz erzählen, wie sie liefen -- wie Ratten, auf die geschossen wird -- hin und her -- wie Ratten -- von Unterstand zu Unterstand -- und zwar jeden Abend? Hohoho! Es wurde Scheibe geschossen. »Ja, auch wir haben gelacht, als die ersten Granaten einschlugen. Ich erinnere mich deutlich. Es war beim Vormarsch. Plötzlich aber hing ein Bein auf einem Obstbaum --« »Wie? Ein Bein?« »Ja, ein Bein. Mit dem Stiefel. Es hing im Kniegelenk auf einem Ast.« »Brr!« »Ja, und in diesem Augenblick hörten wir auf zu lachen und Hurra zu schreien, denn wir hatten ja jeden Einschlag mit Hurra begrüßt. -- Übrigens ist es natürlich für Sie sehr interessant, da Sie die Scherze noch nicht kennen -- für Sie als Flieger ganz besonders.« »Sind Sie jemals im Felde geflogen? Nein? Ich stelle es mir wunderbar vor. Ich habe Tausende von Fliegeraufnahmen gesehen, und ich glaube, daß ich gleich vertraut sein werde mit allem. Nur das Warten ist schrecklich.« »Vergessen Sie nur nicht, wie gesagt, daß da draußen scharf geschossen wird.« Der junge Sterne-Dönhoff brach in ein heiteres Lachen aus. »Aber natürlich, das ist ja gerade das Interessante bei der ganzen Sache,« rief er aus, »im Feuer fliegen!« Plötzlich, ganz unvermittelt, blieb Otto stehen und streckte Heinz die Hand hin. »Ich muß jetzt -- Sie verzeihen, Heinz -- ich muß gehen!« Immer noch war er etwas bleich. »Auf Wiedersehen, Otto. Und hoffentlich im Felde!« »Hoffentlich!« Er hat auch seinen Knacks weg! dachte Heinz. Nein, wie nervös er ist! Und doch soll er zum Pour le mérite vorgeschlagen sein! * * * * * Wie ein Rasender stürzte Otto die halbdunkle Straße hinab. Heinz sah ihm verwundert nach. Gerechter Gott, sollte man es für möglich halten? Auf gesunde Wiederkehr! Er war gekommen, um ein paar Worte mit ihr zu sprechen. Ein Lächeln, eine gepuderte Hand. Alles? Und eine ganze Gesellschaft saß da, zu allem Unheil kam noch der Alte dazu --! Da droben gab es keinen Stern, kein Licht, keine Wolken, nichts. Nur eine dicke fettige Schicht von Ruß, aus der zuweilen flimmernde Tropfen fielen, lag auf den häßlichen dunkeln Häusern, die vor Feuchtigkeit schwitzten. Und schon war Otto in einem Blumengeschäft verschwunden. Tulpen, Flammen und Glut, hellrote Rosen. »Das Stück kostet --« »Ich möchte alle.« »Alle?« Sie kosteten ein Vermögen. »Einen letzten Gruß!« schrieb Otto. Der neugierige Blick der kleinen rothaarigen Verkäuferin, die ihn durch die Blumensträuße beobachtete, verwirrte ihn. Er wurde abwechselnd bleich und rot, während er die paar banalen Worte und die Adresse schrieb. Es mußte ja ganz unverfänglich sein, jeder Mensch, dieser Petersen und diese Frida, die herumspionierten, mußten die Karte lesen können. Ohne diese Rücksichtnahme hätte er wohl gewußt, was er schreiben sollte. Er hätte schreiben können: Ich werde Dich vor mir sehen -- und wieder erbleichte er. Die Liebe ist Gift, dachte der rothaarige Irrwisch und lächelte spöttisch hinter dem Offizier her. Ruhiger schritt Otto dahin. Plötzlich, sonderbar, hatte er Zeit! Morgen früh um sieben Uhr ging der Zug. Nun wohl, das waren immerhin noch gute zwölf Stunden. Der Abend lag vor ihm -- und die ganze Nacht. Unangenehm nur war die Verabredung mit jener Dame im Kaiserhof. Sehen wir zu, daß wir die Sache hinter uns bringen! Indessen -- keine Eile -- mochte sie getrost noch etwas warten. Er hatte es gewiß nicht an Deutlichkeit fehlen lassen, oder? Schluß, zu Ende, sei ein tapferes Mädchen usw. usw. Wie man in solchen Fällen zu schreiben pflegt. Nein, nach diesem Brief gab es ein Zurück nicht mehr. Und doch hatte sie ihn wieder beschwätzt. Sie begriff, sie war völlig einverstanden, zu Ende, natürlich, aber sie wollte ihn vor seiner Abreise noch einmal kurz sehen, wenn auch nur für einen Augenblick. Sie schrieb, daß sie von 5 bis 9 Uhr im Kaiserhof auf ihn warten werde. Er würde gewiß eine Minute finden. Von 5 bis 9 Uhr! Es war natürlich ganz unmöglich, eine junge Dame vier Stunden lang vergebens warten zu lassen, das sah er wohl ein. Aber sie soll wenigstens etwas zappeln, dachte er und zündete sich gemächlich eine Zigarette an. Er machte sogar noch einen unnötigen Umweg. »Diese Hedi!« Verächtlich stieß er die Luft durch die Nase. Wie der General verachtete auch Otto im Grunde seines Herzens die Frauen. Er kaufte eine Abendzeitung und durchflog sie unter einer Laterne. 5 Heinz war, so schnell ihn die Füße trugen, zur Station der Untergrundbahn geeilt. Er hatte ja Klara benachrichtigt, daß es etwas später werden könnte, trotzdem . . . Es war die Stunde des Geschäftsschlusses. Berlin war wie ein schmutziger Schwamm, der ausgedrückt wird. Ströme von Schmutz flossen aus dem finsteren Himmel, von den Dächern und den tausendfenstrigen Hauswänden. Der Schmutz wälzte sich über die Straßen und stieg in den durchlöcherten Stiefelsohlen bis an die Knöchel. Die Menschen in ihren abgeschabten, dünnen Kleidern, blau vor Kälte und Hunger, quollen aus den frostigen Häusern und stürzten hinab in die windigen Kamine, die zur Untergrundbahn führen. Sie stauten sich auf den Bahnhöfen, geballt zu einer Wolke von Bitterkeit und Wut. Die überfüllten Züge fegten, triefend von Dunst und Schmutz, mitten hinein in die Menschenknäuel, die sich rasend gegen Türen und Scheiben warfen, um nicht auf den finstern, feuchten Perrons zurückbleiben zu müssen. Die Schaffnerinnen -- ihre Männer waren im Feld, faulten längst in den Massengräbern, verbluteten in dieser Minute, die Kinder hungerten zu Hause in einer kalten Stube -- die Schaffnerinnen, gepeinigt bis aufs Blut von den jagenden Zügen, klirrenden Scheiben und kämpfenden Menschenmassen, schrien mit schrillen, gellenden Stimmen, als ob sie erdolcht würden. (Und ach, sie wurden erdolcht, jede Minute stieß ihnen unbarmherzig das Messer ins Herz.) Zu Blöcken zusammengepreßt, flogen die Menschen durch die dunkeln Tunnels voll stummer gegenseitiger Raserei. Sie schwiegen. Sie fürchteten Spione und Agenten. Sie fürchteten den Terror der Albernheit. Sie lächelten und lachten nicht mehr. Sie fühlten das Verhängnis dicht vor sich, um sich, über sich, wo am Dach des Wagens sich all die Dünste der zusammengedrängten Menschenmassen stauten. Dieses Verhängnis, dessen Widerschein in allen Augen glänzte, begleitete sie durch die finsteren Tunnels, über die klirrenden Brücken und flutete mit ihnen über die menschenwimmelnden Perrons. Flogen die Züge in die Stollen hinab, so war es für viele, als ginge es in die Hölle mit ihnen, und der kalte Schweiß trat auf ihre Stirn. Dunkelheit, Kälte und Hunger drohten aus den Straßenschluchten. Diese drei Gespenster ergriffen Besitz von Berlin, das sich drei Kriegswinter hindurch tapfer verteidigt hatte, um im vierten zu kapitulieren. Täglich breiteten sie sich mehr über die Stadt aus. Sie eroberten Häuserblock um Häuserblock, Straßenzüge um Straßenzüge, Stadtviertel um Stadtviertel, und drangen langsam zum Herzen der Stadt vor. Als ein viertes Gespenst war noch die Grippe dazugekommen. Dieses Gespenst war überall, wo sich Menschen ansammelten. Es machte alle Fahrten auf den überfüllten Untergrundzügen mit. Die Passagiere husteten sich gegenseitig den Tod ins Gesicht. Viele von ihnen machten heute ihre letzte Fahrt. Mit Vorliebe suchte dieses vierte Gespenst sich junge Exemplare aus, es liebte zartes Fleisch. Sie starben von der Berührung. Die Alten brachte es nur um eine gute Strecke der Grube näher, in die sie eines Tages, entkräftet vor Hunger und zermürbt von der Verzweiflung, ganz von selbst stürzen würden. Heinz mußte einen überfüllten Zug vorbei lassen. Ein Paar grober Fäuste schleuderte ihn zurück. Selbst beim nächsten Zug verdankte er es nur seinem freundlichen Knabengesicht und dem Lächeln auf den roten Lippen, daß man ihn mitnahm. Augenblicklich dachte er an die grüne Mütze. In wenigen Minuten würde er sie sehen! Eine grüne Wollmütze, flott nach hinten gerückt, grasgrün, mit einer ebensolchen grasgrünen Seidenquaste in der Mitte, gewiß ist sie nichts, aber sie kann im Herzen eines Menschen soviel sein wie der Christus in der Kirche. Zuweilen, wenn die Züge seiner Dame in seinem Gedächtnis verblaßten, sehr selten geschah es -- die grüne Wollmütze blieb zurück, keine Macht konnte sie ihm entreißen. Und allmählich, wie durch einen Zauber, fügten sich dann wieder Haar, Wangen, Ohr -- alles daran. Diese grüne Wollmütze leuchtete über den Wittenbergplatz, als er den Bahnhof verließ -- weithin, wie ein Scheinwerfer. Und doch war es nur ein handgroßer Fleck von Grün, nicht einmal sehr deutlich im Schein einer Laterne. Durch das Gewimmel von Menschen hindurch drang Heinzens Blick, als ob die Menschen transparent wären, er sah seine Dame von den Schuhen bis zur Wollmütze, in ihrer ganzen Figur, obschon sie mitten in einem Knäuel von Wartenden bei der Haltestelle der Elektrischen stand. Das war jedenfalls ganz wunderbar. Er erkannte die Linie ihres anliegenden Jacketts, er sah sogar, daß sie ein Päckchen am Finger trug. Plötzlich traf eine Stimme Klaras Ohr! Aber Heinz hatte gar nicht gerufen. Sie blickte im gleichen Augenblick auf ihn, ihre Blicke begegneten sich durch das Gewimmel. Sie lächelte, ihr Lächeln kam näher, es wurde leuchtender und strahlender, überblendete Menschenschatten, Finsternis und schmutzige Straße, und endlich glänzte es dicht vor ihm. Es hatte sich nun wiederum auf seine Quelle zurückgezogen. Es leuchtete aus ihren Augen, aus ihren Lippen, weißen Zähnen, aus ihren Wangen und selbst aus ihren blonden Haaren, auf denen einige Regentropfen wie Tau glitzerten. Beide erröteten und fingen gleichzeitig an zu reden. Es war völlig einerlei, was sie sagten. Sie freuten sich an dem Klang ihrer Stimmen, die durcheinander klangen. »Sie haben -- du hast --« »-- tausendmal Verzeihung jedenfalls -- meine Cousine wollte mich Hauptmann Wunderlich vorstellen, der eine Kampfstaffel führt --« Die grüne Wollmütze glitt die Straße hinab, die seidene grüne Quaste baumelte hin und her. Wie wunderbar frisch ihre Halskrause ist, dachte Heinz und wie fest ihr Jackett um die Hüfte schließt. Sie aber bewunderte den Schnitt seines Mantels, der nahezu bis zur Erde reichte und viel zu weit war, und seine seidene Mütze, die eine kecke Beule aufwies. »Du trägst ja nun das Abzeichen!« rief die junge Dame plötzlich überrascht aus. Mit einem raschen Blick hatte sie, als er nur einen Augenblick den Mantel aufknöpfte, sofort das Fliegerabzeichen entdeckt. »Ich habe es gestern bekommen.« »Ich gratuliere.« Das war wohl eine Gelegenheit, ihr die Hand zu geben. Heinz berührte die Spitzen ihrer zarten, ach so zarten und unbegreiflich dünnen Finger. »Gestern flog ich über Berlin«, erzählte er lebhaft. »Ich flog über den Wittenbergplatz und den Kurfürstendamm entlang. Bei der Gedächtniskirche drosselte ich den Motor und ging auf fünfhundert Meter herunter. Ich sah das Treiben der Menschen und dachte, vielleicht geht auch Klara Westphal da unten.« Nein, Klara Westphal war zu Hause. Klara streifte ihren jungen Helden mit einem bewundernden Blick. Sie konnte wohl beobachten, daß die Damen den schlanken Offizier anblickten, und manche drehten sich sogar um, so schön und frisch war er. Er ging sorglos und strahlend, die Mütze etwas keck aufs Ohr geschoben, und er hatte eine besonders flotte Art zu grüßen, als gebe es Vorgesetzte für ihn nicht. Sein Gruß hatte zuweilen sogar etwas Herablassendes und Gönnerhaftes. Jetzt, da er neben Klara ging, war er völlig frei von seiner kindischen Ehrfurcht vor allem, was Achselstücke mit Sternen trug. »Und dein Kommando?« »Leider ist es noch nichts damit. Nun aber hat Hauptmann Wunderlich mir versprochen, mich für seine Kampfstaffel anzufordern, sobald es möglich ist.« Nichts fürchtete Klara mehr als diesen schrecklichen Augenblick, wo das Kommando kam. Schon jetzt klopfte ihr das Herz. »Wohin wollen wir gehen?« »Es ist ganz gleichgültig.« Es war in der Tat völlig gleichgültig. Wenn sie nur nebeneinander hergehen durften, verstrickt durch das Unergründliche, unbegreiflich Süße, Geheimnisvolle -- Blicke, Gesten, Lachen, Worte, das war ja das allerwenigste. Die Menschen, die aus Elektrischen sprangen und in Restaurants eilten, die Unverschämten, die sie anblickten und Bemerkungen austauschten -- sie sahen sie gar nicht. Sie bogen in eine dunkele Straße ein, und sofort strahlten Klaras Augen wie Feuer, ihr blondes Haar flammte unter der grünen Mütze und ihre etwas vollen Wangen begannen geheimnisvoll zu schimmern. Ihr kleiner Mund aber glänzte naß und tiefrot. Wunderbar! Hier in der Dunkelheit sah Heinz, daß sie atmete, was er früher nie beobachtet hatte. Ihre Brust bewegte sich, ergreifend, unter dem enganliegenden Jackett gleichmäßig auf und ab. Zum ersten Male hörte er auch ihren Atem, den er nie gehört hatte. Klaras Lippen wurden durch ein Lächeln geöffnet, und im gleichen Augenblick rief sie jauchzend aus: »Es schneit, Heinz! Es schneit!« Und schon flog die grüne Mütze mit der baumelnden Quaste davon. »Komm, komm!« Sie streckte ihm die Hand hin. Nun liefen sie beide in den wirbelnden Schnee hinein. Unterdessen wartete Hedi Westphal in der Halle des »Kaiserhofs«. Und Otto las unter einer Laterne gemächlich die Abendzeitung. 6 Hedi hatte längst den Tee ausgetrunken. Sie hätte gern eine zweite Portion bestellt, aber sie mußte sparen. Ewig diese Geldmisere! Ihr Vater war Geheimer Rat im Auswärtigen Amt. Da schlich er täglich in Gamaschen und Seidenhut an den beiden Sphinxfiguren des Vestibüls vorüber, die immer so eigentümlich lächelten. Dann knackte er in seinem Bureau mit den Fingern, zupfte an seinem dünnen Chinesenbart und vertiefte sich in die Zeitungen. Diese Tätigkeit war nicht besonders aufreibend, aber sie war schlecht bezahlt und die Westphals ohne Vermögen. Trotz des lächerlich geringen Taschengeldes war Hedi ganz Lady -- von den tadellosen Stiefelchen an bis hinauf zu dem kleinen Reiher auf dem silbergrauen Seidenhütchen. Sie trug einen weißen Schleier mit silbergrauer Stickerei. Sie war noch blonder als Klara, nahezu weißblond. Den weißen Schleier mit den silbergrauen Ornamenten schob sie zuweilen über das Näschen und nippte, die Hand graziös geformt, an der leeren Teetasse. Würdevoll war ihre Haltung, etwas lässig. Die Umwelt existierte nicht für sie. In vollkommenem Gleichgewicht schwebend saß sie da. Die Musik wehte. Butterfly. Ein älterer Offizier mit einer mächtig funkelnden Glatze beobachtete sie in auffallender Weise. Hedi wandte das Gesicht mit einem gelangweilten Blinzeln in eine andere Richtung. Nun aber hatte sich ein junger Herr in einem Klubsessel am Mittelgang niedergelassen. Er trug einen weiten Mantel von auffallend heller Farbe, tadellose braune Stiefel, nagelneu, eine Sehenswürdigkeit in diesen Tagen. Eine Zigarette im Mundwinkel saß er da und stieß mit einem dünnen Stöckchen im Takte der Musik auf den Teppich. Zuweilen ließ er seinen Blick über Hedi gleiten, aber in gänzlich unauffälliger Weise, so daß sie ihn niemals dabei ertappen konnte. Im letzten Moment huschte der Blick stets über sie in die Höhe zur Decke. Vielleicht hatte sie ihn schon gesehen? Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Nun brachte ihm ein Kellner ein kleines Glas und goß eine rote Flüssigkeit ein. Der junge Mann nahm aus seiner Manteltasche einen Pack Papiergeld und reichte dem Kellner eine Note, um gleich darauf wegzublicken. Der Kellner verneigte sich tief. Hedi blickte auf die Armbanduhr, und ihre Miene sah enttäuscht aus. Es war einhalb sieben Uhr. Die Musik spielte einen Tango. Der Herr in dem weiten Mantel hatte die rote Flüssigkeit ausgetrunken, stand auf und ging. Aber nach wenigen Minuten kam er wieder zurück. Er trug einen Strauß weißer Rosen in der Hand, den er vor sich auf den Tisch legte. Er wartet, auch er! Wieder schwebte Hedi in vollkommenem Gleichgewicht. Dann saßen da noch einige Damen, mit Brillanten, Perlen, Pelzen, Puppen mit einem Wort -- Hedi sah sie überhaupt nicht. Schon begann der Saal sich zu leeren. Die Kellner räumten die Teetische ab. Im Speisesaal flammten Lichter auf, und die Kellner gingen hinter den Spiegelscheiben zwischen den weißgedeckten, mit Blumen geschmückten Tischen hin und her und legten die Kuverts auf. Der Herr im hellen weiten Mantel saß immer noch in seinem Klubsessel. Glattrasiert, blau ums Kinn, die gescheitelten Haare pechschwarz, sah er -- wie es Hedi schien -- wie ein Spanier aus. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und starrte sinnend zur Decke empor, während seine Fußspitze im Takte der Musik wippte. Nur zuweilen, wenn er die Asche von seiner Zigarette streifte, glitt sein Blick über Hedi hin. Unbeachtet lagen die weißen Rosen vor ihm auf dem Tisch. Hedi schob trotzig die Oberlippe in die Höhe gegen den Schleier -- sie wurde ungeduldig. Aber in diesem Augenblick sah sie Otto hereinkommen. Er trat schnell durch den Mittelgang. Das Blut stieg ihr in den Kopf, und plötzlich schlug ihr Herz im Halse. Sein braunes Gesicht glänzte von der frischen Luft, und aus diesem braunen, glänzenden Erzgesicht, das sie geliebt hatte, sprühten wild und verwegen die hellgrauen Augen der Hecht-Babenberg. Welche Träume starben dahin, welche Träume versanken! Während der Tango kollerte, gurrte, kleine wollüstige Schreie ausstieß. Sie krachten zusammen mit Donnergepolter wie Riesenschlösser, deren Fundament nachgibt, sie zersprangen wie Paläste aus Glas -- in nichts! Babenberg und Rothwasser, die Familiengüter der Hecht-Babenberg -- mit den hundertjährigen Bäumen, dem Sommergeruch auf den endlosen Kornfeldern, dem Ziegelwerk, den brüllenden Viehherden bei den Weihern -- die Erde verschlang sie! Der Besuch ihres kleinen Papas, den die Bureauluft zur Mumie ausgetrocknet hatte -- dahin! Die Berühmtheiten, Feldherrn und Minister, die ihren Hausball besuchten -- in Staub zerfielen sie. Ihre Audienz beim Kaiser, ihr Kniefall vor Seiner Majestät, wegen irgendeiner Sache -- ein Nebelfetzen! Und all die Phantasien, gesehen in den Augenblicken, da der Blick bricht in Verzückung -- nichts! Während der Tango unter ihren Schuhsohlen im Parkett klopfte. Er war entschlossen, an seinem Blick konnte sie es sehen -- Nichts blieb als die bescheidene Behausung in der Schaperstraße, wo Papa mit seiner dicken Mappe aus dem Amt kam und nicht gestört werden durfte. Wo man in Pfennigen dachte, wo Klara wie eine Närrin schwätzte -- Chaos umgab Hedi. Sie saß in der Staubwolke ihrer zusammengestürzten Paläste, auf dem Schutt ihrer Reichtümer, eine Bettlerin. Sie saß wie eine Lady, in idealem Gleichgewicht, und ihr Blick flog lächelnd Otto entgegen. * * * * * Der Herr im hellen Mantel, der Spanier, rief Otto an. »Ich darf Sie doch heute abend erwarten, Otto?« »Es kann allerdings etwas später werden.« »Sie wissen, mein Lokal ist die ganze Nacht offen!« Otto streifte die Handschuhe ab. »Es schneit wohl wieder?« »Ja, es schneit, ich bin etwas spät, verzeihe --« Hedi lachte. »Ich bin vor kaum zehn Minuten gekommen.« Schon kam der Kellner und brachte Tee. »Ich habe dem Kellner gesagt, sofort Tee zu bringen, wenn du kommst«, sagte Hedi. »Du hast es gewiß sehr eilig.« Schon errötete Otto und runzelte die Stirn. Etwas gefiel ihm nicht. Die Musiker packten ihre Instrumente ein und klappten den Flügel zu. »Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist,« fuhr Hedi fort, »wir sehen uns nun vielleicht lange nicht, vielleicht nie mehr. Und ich wollte gerne . . .« Sie sprach leichthin -- ganz Dame. Ottos blanke, graue Augen waren fragend auf sie gerichtet. »Ich reise wahrscheinlich.« »Du reisest?« »Ja. Nach Schweden. Es ist noch nicht ganz sicher. Man ist an Papa herangetreten.« (Welche Lüge, welch infame Lüge, aber sie war ihr plötzlich durch den Kopf geschossen!) »So?« Ottos Neugierde war wach, aber er wagte nicht zu fragen. »Ich werde der Mission attachiert. Wahrscheinlich muß ich nach Rußland. In besonderem Auftrag.« »Ah!« Der Herr im weiten hellen Mantel stand auf und grüßte. Er verneigte sich auch gegen Hedi, und während sie ihn kurz anblickte, lächelte sie unmerklich. Aber, sie konnte schwören, sie hätte nie, nimmermehr gelächelt, wäre ihr Herz in diesem Augenblick nicht so voller Bitterkeit gewesen. Der Spanier -- er war übrigens nicht hübsch, eher häßlich -- war ein Herr Ströbel oder ein Herr v. Ströbel, ein während des Krieges reich gewordener junger Mann. Sie erinnerte sich seines Namens. In seinem Hause, das wußte sie von Otto, fanden jene berüchtigten Spielabende statt, die die ganze Nacht hindurch dauerten. Verlassen lag der Strauß weißer Rosen auf dem Tisch. »Ich freue mich übrigens, Hedi --« begann Otto. »Ich meine -- du begreifst ja wohl meine Motive? Es ist mir ja --« »Bitte, Otto!« unterbrach ihn Hedi. »Ich bin doch keine kleine Verkäuferin« -- scherzte sie -- »wir wollen gute Kameraden bleiben. Kein Wort weiter. Hast du Zigaretten?« Der Kellner stürzte mit einem Streichholz herbei. Er störte. Nur um etwas zu sagen, warf Hedi hin, daß das letztemal, als er zur Front reiste, diese furchtbare Hitze in Berlin war. Es lag keinerlei Absicht darin, auf Ehre, allein der dumme Kellner war Schuld daran. Schon stieg ihr die Röte ins Gesicht, und auch Otto errötete plötzlich. Das letztemal -- da war Hedis berühmtes Abschiedssouper gewesen. Otto war ihr Gast! Das Auto fuhr und fuhr -- damals war Berlin ja noch nicht tot -- es fuhr bis zu einem gänzlich entlegenen Hotel am Schlesischen Bahnhof -- und Otto mußte sich fügen. Hedi aber hatte schon alles vorbereitet. Sie hatte dem Besitzer des Hotels mit einem Schwall von Worten erklärt, daß ihr Mann auf Urlaub, durchkäme, und daß sie aus der Provinz seien, kriegsgetraut, und daß er nur diese eine Nacht hier wäre, daß sie ihn am Bahnhof abholen und hierher bringen werde. Mit einem Schwall von Worten hatte sie, bebend vor Angst und Aufregung, die Zimmer ausgewählt und das Menü zusammengesetzt. Nichts war gut genug, und der Kellner bekam zwanzig Mark Trinkgeld im voraus, damit er wußte, mit wem er es zu tun hatte. Die gesamten Ersparnisse eines vollen Jahres gingen darauf. Es gab Kerzen anstatt des elektrischen Lichts, obwohl Kerzen schwer aufzutreiben waren, es gab Rotwein, obwohl Rotwein für die Lazarette beschlagnahmt war, es gab Sekt, obwohl er Unsummen kostete. Die kleine Tafel, die sie selbst deckte, war mit Blumen geschmückt. Er sollte sehen, daß es unsinnig war, den letzten Abend in irgendeinem langweiligen Weinrestaurant zu verbringen. Man mußte nur wissen, wie man es anpackte. Es ging alles in Berlin, aber man mußte etwas Unternehmungsgeist haben. Und Otto -- staunte! Über die Kerzen, den Wein, die ganze Aufmachung, wie er es nannte. Es war heiß, und die elektrischen Bahnen brausten drunten vorüber. Es war Juli. Ein Bataillon zog zum Bahnhof, singend. Die Musik schmetterte und die Leute schrien begeistert. Berlin, das Berlin des Hochsommers brauste -- drunten, tief drunten. Die Kerzen, der Wein. Er war ihr Gast! Sie entzog sich ihm nicht, weshalb denn? Sie legte das Kleid ab, sie öffnete ihr Haar. Sie schlüpfte in das dünne Seidenkimono, das sie für diesen Abend geschneidert hatte. Er sollte sehen, daß sie ihn liebte, und daß sie nicht ein albernes Gänschen war. Sie trug ihre kleinen himbeerfarbenen Pantöffelchen. Berlin, das Berlin des Hochsommers und des Lebens brauste drunten, tief da unten -- irgendwo. Dann kam die Nacht. Er sollte wissen, daß sie ihn liebte und Mut hatte. Ja, es gehörte Mut dazu, denn Papa würde sie auf die Straße werfen, wenn etwas passierte. Sie war völlig außer sich vor Raserei. Ja, und sie konnte schwören, daß sie nichts bereute, daß sie es niemals bereute -- trotz der fürchterlichen Angst, die sie ausgestanden hatte. Hunderte von Pferdehufen trappelten auf der Straße -- sie hörte sie immer noch -- jetzt in dieser Sekunde . . . Die Zigarette brannte. »Danke«, sagte sie, und der Kellner ging. »Wo liegt dein Regiment jetzt, Otto?« fragte sie, während die Röte ihrer Wangen langsam verflog. »Ich weiß es nicht genau. Wohl an derselben Stelle.« Einige Belanglosigkeiten -- und plötzlich sieht Hedi auf die Armbanduhr und springt auf. Mein Himmel! Sie reicht dem Kellner eine Note, zehn Mark, das macht drei Mark Trinkgeld, aber sie kann nicht warten bis er herausgibt. »Nun will ich dir gute Reise wünschen, Otto. Nein, bleibe sitzen. Ich will allein gehen. Ich habe es sehr eilig. Auf Wiedersehen!« Ihr Aufbruch kam so rasch, daß Otto völlig verblüfft war. Hedi ging, und sie sah die weißen Rosen, die verlassen auf dem Nachbartisch lagen, nicht an. Ganz Lady, schritt sie über die Teppiche. Ein Nicken, ein Lächeln an der Türe, der Groom verbeugte sich. Es ging gelinde ab, dachte Otto, der den Kellner ungeduldig herbeiwinkte und es plötzlich ebenfalls sehr eilig hatte. Da fiel ihm ein, daß sein General seinerzeit den gleichen Ausdruck ihm gegenüber gebraucht hatte -- damals, als er dreißig Prozent seiner Leute liegenließ. Er hatte die Geschichte erst vorhin Heinz erzählt. Nun, jedenfalls hatte sie sich wie eine Dame benommen. Er fürchtete nichts mehr als Szenen. Aber ein unangenehmes Empfinden blieb in ihm zurück. Was war es doch? Er haßte sie in diesem Augenblicke bitter. 7 »Schuft, Schuft!« Hedi lachte. Was für ein bodenloser Schuft war er doch! Mit schnellen Schritten eilte sie an den Häusern entlang in das Schneetreiben hinein, den Hut mit dem kleinen Reiher dicht in den Schirm gedrückt. Seine Motive -- seine Motive kannte sie ganz genau! Seine Familie, seine Karriere -- was für Ausflüchte! Hätte er doch den Mut gehabt ihr zu sagen, daß er sie nicht mehr liebte! Aber diese Männer sind Feiglinge, und wenn sie auch mitten in den Kugelregen hineingehen. Geld und Ordensauszeichnungen, das war alles, wonach diese Offiziere trachteten. Die Lampen eines Automobils blendeten durch die finstere Straße, und die Schneeflocken jagten gleißend durch den Lichtkegel. Plötzlich aber stockte Hedis Schritt, in dem gleißenden Lichtkegel flatterte ein weiter, heller Mantel. Er mußte ihr gefolgt sein, sie umgangen haben, um plötzlich vor ihr erscheinen zu können, oder war es ein Zufall? Ihre Füße waren wie gelähmt, denn der Mantel kam näher, und sie bemerkte, daß er die Richtung seiner Bewegung änderte. Sie bog rasch ab und stürmte die Treppe zur Untergrundbahn hinunter. Mein Gott, sie war falsch gegangen, sie wollte nach dem Leipziger Platz, und nun war sie an der Friedrichstraße angelangt. Der gelbe Mantel erschien auf der Treppe der Station. Er war nur einen Augenblick sichtbar, dann verschwand er, er kam nicht herunter. Hedi atmete erleichtert auf. Nein, sie brauchte Otto nicht, sie brauchte ja nur die Hand auszustrecken und soviel Finger sie hatte, soviel . . . Der Zug fuhr in die Station. -- Otto hatte gleich hinter Hedi das Hotel verlassen. Als er sie mit den Blicken suchte, war sie schon verschwunden. Übrigens fesselte gerade eine Dame seine Aufmerksamkeit, die aus einer Droschke stieg und duftend und glitzernd die lichte Hotelhalle betrat. Otto eilte rasch nach Hause. Er warf sich in Zivilkleidung, in ganz unglaublich kurzer Zeit hatte er sich umgezogen. Er knöpfte noch den Mantel zu, als er wieder die Treppe herabsprang. Er hatte nicht die geringste Lust, den Abend zu Hause zu verbringen und alle möglichen Dinge über Siedelungsgebiete, Kolonien und strategische Sicherungen zu hören. An der Türe des schmalen Vorgärtchens prallte er mit einem kleinen Herrn im Havelock zusammen. Aber der kleine Herr im Havelock war nicht im geringsten ungehalten. Im Gegenteil, er zog den Hut, stammelte Entschuldigungen. »Herr Oberleutnant --« Offenbar kannte er ihn. Irgendein Hausmeister der Nachbarvillen. Fort! Schon rauschte die Limousine des Generals heran. In einem Tempo, als habe er auch nicht eine Sekunde Zeit zu versäumen, eilte Otto der Friedrichstadt zu. 8 Kälte schlug dem General entgegen, als er seine Wohnung betrat. Er bewohnte das Parterre eines einstöckigen grauen Hauses an der Tiergartenstraße, dicht am Kemperplatz, nicht weit von Doras Backsteinvilla entfernt. Kälte und Stille -- die Wohnung war erfüllt von Winter, von Tod. Die Generalin war einige Jahre vor dem Krieg in Davos gestorben, nachdem . . . Die Ehe des Generals war in den späteren Jahren nicht glücklich gewesen, übrigens hatte die Generalin nie diese Wohnung in der Tiergartenstraße betreten, damals -- wieviel Jahre sind es her! -- wohnten sie in der Margaretenstraße. Auch sein Sohn Kurt, der älteste -- er war nicht mehr. Gefallen an der Somme. Ein eigentümlicher Hauch strich durch die Wohnung -- und augenblicklich versteinte das Gesicht des Generals wieder. Den Rest des Familienlebens hatte der Krieg vernichtet. Ruth und Otto gingen ihre eigenen Wege. Ruth arbeitete zurzeit in ihrer Küche, früher in einem Lazarett, und Otto, wenn er einmal auf Urlaub in Berlin war, war selten zu sehen -- ein Leichtfuß . . . Es gibt in dieser Hinsicht keine Kompromisse: entweder lebt eine Familie glücklich, oder sie zerfällt. Die Burschen rasselten in der Diele in die Höhe. Auch die Ordonnanz rasselte. Sie brachte die Mappe mit den Akten, die am Abend bearbeitet werden mußten. Nur Soldaten lebten im Hause des Generals -- und eine Wirtschafterin, Therese, die irgendwo hinten in den Zimmern hauste, und die man nie sah. Soldaten gingen ein und aus, solange der General lebte. Sein Vater war als Oberst gestorben. Es rasselte von Waffen, und sie brachten den Geruch aus den Kasernen mit. Der General ließ den Pelzmantel einfach fallen, irgend jemand stand schon da und fing ihn auf. Ja, Kälte -- trotzdem die Wohnung gut geheizt war. Durch einen dunkeln Spiegel sah er sein steinernes Gesicht gleiten. Alle Lampen schienen falsch oder ungeschickt angebracht. Anstatt Licht und Freundlichkeit zu verbreiten -- wie warm war es doch bei Dora! -- verbreiteten sie feindselige Grelle und haßerfüllte, pechschwarze Schatten. Dunkle Täfelungen, schwere Barockmöbel, Gold -- die Parkettböden schrien, wenn man sie betrat, es war ein altes Haus. In seinem Arbeitszimmer fiel der Frost von ihm. Hier allein war er zu Hause. Er atmete auf, seine Haltung wurde um etwas lässiger. Mit raschen Schritten näherte er sich einem Vogelbauer, in dem ein kleiner gelber Kanarienvogel hauste. »Nun, Niki -- Niki!« Er steckte den Finger durch die Stäbe -- er sprach mit dem Vogel genau so, wie er früher mit seinen Kindern gesprochen hatte, mit veränderter, komischer Stimme -- als sie noch ganz klein waren, klein, lieblich und voller Vertrauen. »Aber das Apfelschnitzchen -- es ist ja heruntergefallen, nun wollen wir aber das Apfelschnitzchen -- und das Wasserchen, wieder alles verspritzt -- du Schlingelchen --« Der Vogel piepte und sprang erregt von Stäbchen zu Stäbchen. »Ja, siehst du -- das Herrchen --« Es klopfte. Eine laute Stimme rief: »Es ist serviert, Herr General!« Das war Jakob, der Ulan, Bursche und Kammerzofe des Generals. Es gab auch noch einen Wangel, der aber war mehr für den Dienst außerhalb des Hauses. Die Uhren schlugen. Es war acht. Punkt acht -- Punkt, immer Punkt! Der General war für peinlichste Pünktlichkeit. Zuweilen, erschöpft vom Dienst, legte er sich zur Ruhe -- zehn Minuten, zwanzig Minuten -- mit der Sekunde mußte er geweckt werden. Die Burschen konnten den ganzen Tag faulenzen oder mit Köchinnen klatschen, aber ihre Uhren mußten genau gerichtet sein. Punkt ein halb acht Uhr morgens erhob sich der General, Punkt ein viertel nach acht nahm er sein Frühstück, Punkt ein Uhr fuhr er zum Mittagessen (er aß in der Stadt), Punkt acht Uhr erschien er zum Abendessen. Auch im Felde hatte er die gleiche Einteilung des Tages eingehalten und wenn die Welt unterging. Zuweilen ging sie auch unter, aber den Tagesplan des Generals vermochte sie nicht zu verrücken. Zeit, Zeit -- jede Minute war kostbar -- der Dienst -- Nun gut . . . Punkt acht Uhr begab sich der General ins Speisezimmer. * * * * * Ruth sagte »Guten Abend« und grüßte den Vater mit ihren hellbraunen Augen, die in der Tiefe warm und golden schimmerten. Sie war keine Hecht-Babenberg, sie war, heißt das, physisch nicht den Traditionen des Hecht-Babenbergschen Blutes gefolgt, das große, solide Knochen, breite Schädel mit etwas slawischen Backenknochen baute, sie war eine Sommerstorf, nach der Mutter geraten, die einer süddeutschen, fränkischen Familie entstammte. Sie war nicht groß, schmalschultrig, eher zierlich, ihr Haar dunkelblond, fast braun, und so weich, daß es sich schlecht frisierte und die Frisur häufig etwas nachlässig aussah. Zuweilen rügte der General diese Nachlässigkeit, mit einem raschen Blick. Ruth glättete dann verlegen mit den Händen die Haarwellen. Der General goß sich Fachinger ein. Neben seinem Gedeck lagen die Abendzeitungen, die er durchflog, während er die Suppe schlürfte. Wann sollte er Zeit haben, die Zeitungen zu lesen? Er wußte kaum, was in der Welt vorging. Aber das war auch Nebensache, die Hauptsache war, daß diese Burschen geschlagen wurden, und es war nicht nötig, daraufhin die Zeitungen zu studieren. Auf Tag und Stunde würde er es wissen, wenn es so weit war. Noch war es allerdings nicht ganz so weit, auch das wußte er ganz genau. »Na, da haben sie wieder mal --« murmelte der General. »Wie Papa?« Schweigen. Der General schlürft hastig und ungeniert die Suppe, die vom Löffel in den Teller tropft, und schielt in die Zeitung. »Jakob? -- Es zieht.« Jakob tritt aus dem Schatten neben dem Danziger Barockbüfett, wo er sich gewöhnlich verbirgt, und geht zu sämtlichen Fenstern und Türen, auf den Fußspitzen, obwohl er weiß, daß alle ordentlich geschlossen sind. Jakob bedient auch bei Tisch. Der General liebt es, von einem Mann in Uniform auch zu Hause bedient zu werden -- es ist wie im Felde. Er haßt weibliche Dienstboten. Die silbernen Bestecke blinken kalt, die Tischdecke ist wie Schnee -- und obgleich der Tisch nicht um vieles größer ist als ein gewöhnlicher Eßtisch, scheint dem General diese Tischdecke zuweilen ein endloses Schneefeld zu sein. Ganz am Rande dieses Schneefeldes weiß er seine Tochter, fern, klein -- zuweilen scheint es dem General, als ob die Menschen mehr und mehr in die Ferne glitten, mehr und mehr, täglich mehr. Oft klingen ihre Stimmen fern und dünn, wie aus großer Entfernung. Oft hört er sie gar nicht mehr, so dünn klingen sie. Es kommt daher, daß er überarbeitet ist. »Na, da haben sie wieder mal einige Tausend Tonnen heruntergeschossen.« Jakob wechselte die Teller, geräuschlos. Der General sah plötzlich auf. Jetzt erst bemerkte er, daß Otto bei Tisch fehlte. »Otto ist eingeladen, Papa.« »Am letzten Abend --?« Röte stieg in das Gesicht des Generals. Seine Wimpern hoben sich vorsichtig, und sein Blick tastete über Ruths Gesicht. Dieses Gesicht war zart, blaß und von einer ungewöhnlichen Reinheit des Teints. Es war voller Anmut, ohne irgendwie schön zu sein. Eine träumerische Zerstreutheit war über die weichen Züge gebreitet, und ein Lächeln lag auf den etwas zu vollen, tiefroten Lippen. Ruth fühlte den Blick, ihre Lider zitterten -- aber schon war der Blick des Generals wieder zu seinem Teller zurückgekehrt. Der General liebte es nicht, dem Blick seiner Tochter zu begegnen -- es hatte seinen Grund, seine Gründe, über die er niemand Aufklärung schuldig war. »Viel Arbeit in der Küche?« »Genug, Papa. Wir geben täglich achthundert Mahlzeiten aus.« »Sapperlot!« Der General wischte sich den grauen, dünnen Schnurrbart ab und rückte den Stuhl zurück. Er bot Ruth die Wange zum Kusse. Sie berührte sie mit den weichen Lippen (wobei die stachlichen Bartstoppeln sie stets kitzelten) und legte einen Augenblick die Hand sanft an den grauen Kopf des Vaters. Diese Art des Gutenachtkusses hatte sich aus ihrer Mädchenzeit erhalten. Der General fühlte den sanften Druck ihrer Hand im Herzen. Jeden Abend. Jeden Abend erwachte bei dieser Berührung die Liebe zu seiner Tochter, die während des Tages verblaßte, schlief, ohne jede Spur erlosch. Am Tage dachte er fast nie an Ruth, und wenn sie ihm in den Sinn kam, zufällig und selten, so geschah es ohne jedes Gefühl, fast mit Kälte. Aber abends fing die Liebe unter dieser Berührung zu glimmen an. Oft dauerte diese Empfindung an, und einmal kam es sogar vor, daß der General spät abends an Ruths Türe lauschte, um zu hören, wie sie atmete. Da stand er im dunkeln Korridor, wie ein Dieb, das Ohr gegen ihre Türe gedrückt. Sein Herz brannte vor Liebe. Am Tage aber -- Gleichgültigkeit, Kälte. Sonderbar! »Gute Nacht, Papa!« Weich und fein klang Ruths Stimme. »Gute Nacht.« Der General erhob sich geräuschvoll. Jakob klappte mit den Stiefeln. Plötzlich sagte der General im Befehlston: »Wenn mein Sohn nach Hause kommt, ich möchte ihn sprechen! Aber nach ein halb zwölf will ich nicht mehr gestört werden. Dann soll er früh in mein Zimmer kommen!« »Jawohl, Herr General!« Und Jakob stürzte zur Türe. Er wußte, daß der Herr Oberleutnant erst gegen Morgen zurückkehren würde wie jede Nacht. Er hatte ihm schon befohlen, rücksichtslos kaltes Wasser anzuwenden, wenn er nicht wach werden sollte. Ruth wünschte dem Burschen mit heiterer Stimme »Guten Abend« und schlüpfte in ihr Zimmer. * * * * * Ruths kleiner Salon war, ganz wie das anstoßende Schlafzimmer, immer etwas in Unordnung und -- sowohl am Tage wie am Abend -- in Dämmerung gehüllt. Kleidungsstücke, Bücher und Schreibpapier lagen verstreut umher. Der kleine Salon, der auf den Tiergarten hinausging, war in blauen und weißen Farben gehalten. Die niedrigen, mit einem Seidenbrokat von senkrechten blauen und weißen Streifen überzogenen Fauteuils, zeigten schon allenthalben feine Risse und waren gelblich geworden. In die Rücklehnen dieser Fauteuils war ein Medaillon mit dem Wappen der Sommerstorf eingestickt: eine Hand, die eine rote Rose hielt. (Diese rote Rose spielte bei den Sommerstorf überhaupt eine große Rolle.) Über dem kleinen Sofa, auf dem gewöhnlich Ruths Mantel und Hut lagen, hing in einem ovalen weißen Rahmen das Porträt einer jungen Dame: Margarete v. Sommerstorf, spätere Hecht-Babenberg. Das Aquarell, in der Manier Kaulbachs gehalten, stellte Ruths Mutter im Alter von etwa zwanzig Jahren dar, zur Zeit, da sie sich verheiratete: ein junges Mädchen, die schmalen Schultern in ein weißes Spitzentuch eingehüllt, einen Fächer in der Hand und eine brennendrote Rose im Haar. Das Haar hatte in den Reflexen den gleichen Schimmer wie Ruths Haar, das manchmal braun und manchmal blond erschien, je nachdem das Licht darauf fiel. Das Bild hatte eine besondere Eigentümlichkeit. Die großen hellbraunen Augen, die der Künstler besonders hervorgehoben hatte, verfolgten den Beschauer überallhin, wo immer im Zimmer er stehen mochte. Sie ließen ihn nicht aus den Augen und lächelten. Ruth hatte nur eine blasse Erinnerung an die Mutter bewahrt. Etwas Scheues, unendlich Warmes, Flüchtiges und Huschendes. Weiche Lippen, unendlich zart und unendlich warm -- die sie geküßt hatten, als sie ein kleines Mädchen war, und Therese hatte gerufen: »Grüße die Dame, es ist Mama.« Ruth erinnerte sich genau an diese Worte Thereses, aber zu ihrem Schmerz erinnerte sie sich nicht mehr an das, was diese blasse, scheue, unbekannte Dame sprach. Sie besaß übrigens das weiße Spitzentuch, in dem die Mutter porträtiert worden war. Zuweilen, sehr selten, legte sie es um die Schultern, sie steckte sich eine rote Rose von demselben prangenden Rot in das Haar: dann lächelten diese beiden Frauen, die ganz gleich aussahen, einander zu. Eilig schlüpfte Ruth in den Mantel und sang leise vor sich hin, während sie die Handschuhe suchte, die sie, wie gewöhnlich, verlegt hatte: Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne, die liebt ich einst alle in Liebeswonne. Ich lieb' sie nicht mehr, ich liebe alleine die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine. -- Ruth vergötterte Schumann. Aber da hatte sie auch schon die Handschuhe gefunden. Sie waren in eine leere Blumenvase geraten. 9 »He, Kutscher, sind Sie frei?« Otto sprang in den Wagen. »Paradies-Bar!« Es war eine alte, in allen Fugen klaffende Droschke. Das Pferd lahmte und schnellte in merkwürdigen Sprüngen vorwärts. Mein Himmel, was haben sie aus dieser Stadt gemacht, dachte Otto, mit einem Gefühl von Schadenfreude im Herzen. Er war zuletzt im vorigen Sommer einige Wochen hier gewesen, um sich von einer Gasvergiftung zu erholen -- damals erschien ihm der Verfall noch nicht so furchtbar. Einsam klapperten die Hufe des Pferdes in der finstern Straßenschlucht. Es hatte aufgehört zu schneien, Schmutz floß in den Rinnsteinen. Ohne Aufhören ging ein schwarzer Aschenregen nieder auf die tote, verkohlte Stadt. Und früher, ein wogendes Meer von Licht! Schimmernde Perlenketten, blitzende Diademe auf den Dächern, rasende Feuerräder am geröteten Himmel, geschmolzenes Blei quillt aus den Fugen der Häuser. Die Scheinwerfer der brüllenden Autoherden, die gleißenden Lichtblöcke der Schaufenster -- und fröhliche Menschen treiben im Licht, Damen, die Augen leuchten, und die Zähne blitzen. Lachen . . . Da hielt die Droschke plötzlich. Das Pferdeskelett stand in seinem abgeschabten Fell und zitterte. Erschauernd entfloh Otto diesen drohenden Finsternissen, wie alle Welt, die sich nach den Lichtinseln der verkohlten Stadt flüchtete, den Theatern und Konzertsälen, um vor den Schatten und Gespenstern der Dunkelheit zu fliehen. Wie Tiere bei einer Sintflut, die entsetzt dahinjagen . . . Schon in der magisch beleuchteten Tropfsteinhöhle, die als Garderobe diente, fühlte Otto sich geborgen. Die Luft, die er liebte, schlug ihm entgegen -- Parfüms, Lachen, Licht, Musik . . . Es war nicht das allerfeinste Parfüm, es war dick, legte sich mehlig auf den Gaumen, aber darauf kam es schließlich nicht an. Trotz der frühen Abendstunde war die Rotunde der Paradies-Bar schon überfüllt. Aber Otto hatte Glück, ein kleines Tischchen an der Balustrade zu erobern -- dicht neben dem giftgrünen und himbeerroten Jüngling, der die Gipsarme emporstreckte und von den farbigen Strahlen eines Springbrunnens umsprudelt wurde. Lackrot und Gold waren die Farben der Paradies-Bar. Bunte Blütenkelche hingen von der goldenen Decke herab und strahlten Begierde und Wollust aus. Giftgrüne Insekten schabten die Instrumente, hämmerten mit Klöppeln. Einer der Giftgrünen glitt zwischen den Tischen hindurch und spielte den Gästen ins Ohr. Otto klemmte die Scherbe vors Auge, damit alle Welt sehen konnte, daß er Offizier war -- und nicht etwa einer von den vielen hier, den vielen, die sich von den Kadavern auf den Schlachtfeldern nährten. Stimmen schwirrten ringsum. »Vor zwei Jahren lieh ich ihm fünfzig Mark, er kam zu mir -- seine Stiefel -- überhaupt -- Kellner!« »Heute hat er Millionen. Ich schätze ihn auf vier Millionen.« »Kaufen Sie Ware, Ware -- einerlei -- eine Pleite, nicht auszudenken. --« »Rudi ist immer gleich bekneipt.« Zwischen einer Glatze und einem Blumenstrauß hatte Otto ein schwarzes schlankes Dämchen mit entblößten, entzückend runden Schultern entdeckt, das seine Blicke erwiderte. Unter ihm, etwas tiefer, neben dem Springbrunnen, saßen zwei befrackte Herren, mit zwei wie Fürstinnen gekleideten Damen in kostbaren Roben, mit Brillanten und Blumen geschmückt. Er roch den Puder, der von ihren entblößten Büsten aufstieg und die Essenzen ihrer duftigen kunstvollen Frisuren. Wie rosig, dieses kleine Ohr -- Kokotten natürlich -- aber immerhin Fleisch, Atem, Leben. Am Nachbartisch hatten zwei Herren im Smoking Platz genommen. Ihre dicken, glattgeschorenen Schädel und schwammigen Trinkergesichter kamen Otto bekannt vor. Es waren zwei Rittmeister, die er immer in Stifters Diele Unter den Linden gesehen hatte, wenn er mit Papa dort zu Mittag speiste. Sie hatten sich zwei reizende kleine Damen mitgebracht, allerdings nicht erster Klasse, vielleicht Verkäuferinnen, die schon jetzt zu kreischen begannen. Bunte Papierschlangen zischten durch die Luft. Ja, hier war in der Tat das Paradies, und da draußen in der finsteren Straße nichts als die nackte Wirklichkeit. Ein paar blaugefrorene Kinder mit Streichhölzern, ein altes Weib mit nassen Zeitungen -- und der Portier der Bar steht wie ein Erzengel in seinem grünen Mantel! Berlin war im Aschenregen begraben, aber hier hatte sich, in einer Höhle, durch ein Wunder, ein letzter Tropfen seines geilen Blutes erhalten. Mit allen Sinnen sog Otto Gerüche, Stimmen, Fleisch in sich, er sammelte auf Vorrat, für die langen Monate, wo er nichts sehen würde als verrosteten Stacheldraht und Schrapnellwolken. »Reformen -- Sie glauben also nicht daran?« »Schwindel, alles Schwindel. Eher wird der Himmel einstürzen --« »Aber das wäre ja Betrug!« »Betrug? Was sonst? Wissen Sie, wie man den neuen Mann nennt, der uns regiert? Den Fünfminutenbrenner! Er kann nur fünf Minuten wachbleiben, dann schläft er wieder ein.« »Gott sei uns gnädig und barmherzig!« Die Damen mit den Brillanten lachten laut auf. Er sagte es auch zu drollig, ergeben in sein Schicksal, und dabei stieß er mit der Zunge an. Die schmachtende Geige des giftgrünen Primgeigers sang in Ottos Ohr. Was sah er? Was hörte er? Doras strahlende Augen? Hedis helles Haar hinter dem Schleier mit Silberstickerei? Hörte er Doras Lachen? Nicht im geringsten. Er sah: Nacht, Grausen, eine Kraterlandschaft, die Zone des Todes. Geschützfeuer geistert und die Granaten heulen. Durch die Dunkelheit schleppen keuchende Männer einen Verwundeten auf einer Zeltbahn. Beim Schein des Geschützfeuers erkennt er plötzlich -- ja, er, er, er selbst ist es, den die keuchenden Männer schleppen. Sein Gesicht ist überströmt von Blut, und deutlich hört er den keuchenden Atem der Männer, die ihn tragen . . . Sofort schlug Otto erbleichend die Augen auf. Seine Pupillen erweiterten sich, seine Augen wurden zu gähnenden Kratern voller Grauen -- das also war es, was er sah und hörte, während der giftgrüne Primgeiger ihm ins Ohr spielte. Die grausige Vision verblaßte, und augenblicklich kehrte er wieder in die Paradies-Bar zurück. Nur ein leiser Schrecken zitterte in ihm weiter. Mit bebender Hand füllte er das Glas und trank dem schwarzen, schlanken Dämchen mit den entblößten, entzückend runden Schultern zu. Seine Dame lächelte huldvoll -- und augenblicklich drehte sich die Glatze um. Die Schultern dieses schlanken Dämchens erinnerten ihn an Hedi. Und während er sein Glas auf das Wohl der Schlanken leerte, gedachte er Hedi, mit der nun, Gott sei Dank, alles zu Ende war. Er dachte an sie ohne Haß, aber mit leiser Verachtung. Eine Dame -- tut eine Dame so etwas -- damals im Sommer, das Abschiedssouper --? Und doch war er gerade in diesem Augenblick, wo sich eine rote Papierschlange, von der schwarzen Schlanken geworfen, um seinen Kopf ringelte, geneigt, großmütig zu vergeben. Jeder Mensch hatte schwache Stunden. »Nun also -- diese Hedi, sie würde wohl schlecht schlafen diese Nacht?« »Vielleicht weint sie auch?« »So ein bißchen? -- He, Kellner, Herr Ober --!« * * * * * Wie eitel diese Männer, wie töricht! Es fiel Hedi gar nicht ein zu weinen. Sie dachte nicht einmal an ihn. Sie dachte an den gelben Mantel! Ein Herr will einer Dame eine Huldigung darbringen. Nun wohl. Er kauft weiße Rosen, obschon sie ein Vermögen kosten, und läßt sie auf dem Tisch liegen. Kein Wort, kein Blick: ein Gentleman! Ihre Paläste waren in Schutt zerfallen, die Paläste mit dem Wappenschild der Hecht-Babenberg: das rote Pferd im blauen Feld. Dahin! Schon aber baute Hedi neue Paläste! Weitaus herrlichere, kühnere! Ach, sie hatte ihre Jugend vergeudet! Drei Jahre lang hatte sie auf Ottos Brief gewartet und selbst einige hundert Briefe ins Feld geschrieben. Und dieser Krieg endete ja nie, sie hätte alt werden können dabei. Wie töricht! Und diese Familie der Hecht-Babenberg, dieser hochmütige General, in dessen Augen ein Geheimer Rat ein Kanzlist war, nichts sonst. Er hätte sie stets als ein Geschöpf zweiter Klasse betrachtet, ohne Ahnenreihe wie die der Babenbergs, die bis auf die Kreuzzüge zurückging. Ja, morgen würde sie vielleicht wieder in den Kaiserhof gehen zum Tee. Erstens gefiel es ihr dort, die Musik, die Eleganz, die Sorglosigkeit -- und zweitens konnte es ja sein, daß dieser Herr Ströbel oder Herr v. Ströbel . . . Da richtete sich Klara leise in ihrem Bett auf. Die beiden Schwestern schliefen zusammen in einem kleinen Hofzimmer. »Schläfst du, Hedi?« flüsterte Klara. »Guck' doch mal den Mond an, wie er fliegt.« Hedi antwortete nicht, und Klara beugte sich über ihr Bett. »Ah, du schläfst ja doch nicht«, sagte sie lachend. Ganz unerwartet erhielt sie eine klatschende Ohrfeige, denn Hedi war gar nicht in Laune, auf Klaras Geschwätz einzugehen. Die Kleine ahnte ja nicht, daß sie, Hedi, soeben in einem fünfzigpferdigen Tourenwagen dahinraste, eine Staubbrille vor den Augen, Ströbel steuerte -- wenn ein Pneu platzte, konnte es eine Katastrophe geben. Klara saß still und sah dem Mond zu. Ihr Gesicht war in Licht getaucht und ihre Augen gleißten. Schneeweiß und leuchtend war sie wie ein Gespenst. Sie atmete das Licht ein, sie war angefüllt vom Licht, und gleißendes Licht floß durch ihre Adern. Das Paradies lag vor ihren Blicken ausgebreitet. 10 Otto wickelte sich fröstelnd in den Mantel. Es war schon das beste, sich mit den Tatsachen abzufinden, nicht wahr? Sein Zug würde fahren, das stand fest! Er würde fahren, einerlei, was passierte. Kühle Gesichter, steife Verbeugungen, laute Unterhaltungen mit erkünstelt ruhigen Stimmen. Dann aber kommt der Augenblick, wo man plötzlich ein fernes Brummen hört. Die Front! Irgendwo in der Einöde hält der Zug, nur noch Männer, nur noch Soldaten. Autos, Wagen, Kommandostimmen, Dunkelheit, Schmutz, Regen, der Geruch einer öden Gegend. Geschütze poltern, Granaten winseln, es ist ganz wie früher. Die Kameraden kriechen aus den Unterständen, Hände strecken sich einem entgegen, man ist laut, man ist fröhlich, aber alles ist -- Lüge. Er wußte nicht einmal, ob er sie noch in der alten Stellung finden würde. Diese Stellung lag Tag und Nacht unter schwerem Feuer, aber doch war sie angenehm im Vergleich zu den flachen Gräben seinerzeit in Flandern, wo sie bis an die Brust im eisigen Wasser hockten und völlig gelähmt, an zwei Stöcken einherhumpelten. Aber all das ist es nicht, nicht das Feuer, die Nässe, die Kälte, die Entbehrungen. Es ist das riesengroße Antlitz des Todes, das da draußen über den Trichterfeldern steht. Es ist nichts als die grauenhafte Furcht vor dem Tode, wenn man das Leben liebt, nichts sonst. Das allein ist die Wahrheit! -- Ein freudiger Schreck lähmte seinen Schritt. Stand nicht etwas Weißes am Fenster -- das weiße Buch? Nein, nichts, der Reflex einer Gaslaterne. Finster das Haus. Das eiserne Gartentürchen war verschlossen. Otto berührte den Drücker, er war eisig kalt. Die kahlen Zweige der Büsche peitschten auf und ab, und Otto sah durch die brodelnde Efeuwand hindurch in Gängen und Zimmern die Heiligenfiguren in ihren grotesken Verrenkungen. Sie schlief, fest und tief, aber ihr Blick glänzte über dem schwarzen Hause. Quer durch den brausenden, finstern Tiergarten führte Ottos Weg. Ströbel wohnte bei den Zelten. Die Fröhlichkeit mußte jetzt in dieser Stunde ihren Höhepunkt erreicht haben -- ja, schnell, schnell! Gierig erraffen von der Nacht, was noch zu erraffen ist. Fort! Immer rascher ging er dahin, gepeitscht von Begierde und Qual. Die Zeit wanderte unter den Sohlen seiner Stiefel. Mit jedem Schritt wanderte ein Stückchen Zeit rückwärts, ein zertretenes Staubkorn Zeit floh mit rasender Schnelligkeit zurück in Nichts. Ja, Sand war die Zeit, rinnender Sand, rasend rinnender Sand, nichts sonst. Ein Meer, ein Sandmeer rinnt -- und schon ist ein Jahrhundert vergangen -- schon ein Jahrtausend. Ein Riesenkrater rinnt, und Städte, Völker, Kontinente kommen ins Gleiten und rinnen hinunter -- ins Nichts. Zeit, welch entsetzlicher Begriff! Glücklich Tiere und Götter, die ihn nicht kennen. In diesem Moment trat der Mond aus dem dunkeln Gewölk. Auch er raste dahin -- wie alles auf dieser Welt, das vor dem sicheren Untergang floh -- raste, obgleich einige Jahrtausende bei ihm keine Rolle spielten. Aber eines Tages würde seine langweilige Visage bersten und er, zusammen mit dem Staub dieser Erde, den Schwanzzipfel eines Kometen bilden, der zum großen Staunen der Astronomen plötzlich vor der Linse der Teleskope erscheint -- irgendwo in undenkbarer Ferne. Noch sieben Stunden! Rasend stürzte Otto vorwärts. Die Zweige des brausenden Parkes griffen nach ihm. Und plötzlich schrie Otto -- wild, wie ein Tier. Er war jung und er liebte das Leben. 11 »Einen Augenblick nur!« Schon hatte der General die Mappe mit den Akten, die heute noch alle bearbeitet werden mußten, aufgeschlossen. Den einen Schlüssel besaß er, den andern hatte sein Bureauoffizier in Händen. Kein unbefugter Blick konnte in diese geheimen Aktenstücke dringen, es war alles bis ins Kleinste wohlorganisiert. Er lehnte sich im Sessel zurück. Die Teegesellschaft bei Dora hatte ihn ermüdet. Nichts strengte ihn in letzter Zeit so an wie die Gespräche durcheinanderschwirrender Stimmen. Anders die Sitzungen, die er mit einem Zucken der Brauen lenkte! Aber in einer Gesellschaft, wo jeder glaubte sprechen zu können, wann und wie lange und wie laut es ihm beliebte, ja: wie laut, das war es -- Einen Augenblick nur -- Reserven -- ungeheure Heere -- wie eine Sturmflut werden sie sich dahinwälzen . . . schon schlief der General. Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, kaum kam das erste tiefe Röcheln aus seiner Brust, da wurde er auch schon wieder geweckt. Etwas pickte am Fenster, wie ein Finger, ein Fingernagel. Er wandte den Kopf: durch die Scheibe starrte ein kleines, glänzendes, stahlblaues Gesicht. Eine faustgroße Larve von leuchtendem Blau -- in der Tat, ein intensives Blau, wie eine Spiritusflamme in einem dunkeln Raum -- und erloschene Fischaugen mit einem toten Glanz. Von diesem stahlblauen, aus sich selbst leuchtenden Gesicht ging Drohung und Hohn aus, obschon das Gesicht ohne jede Regung durch die Scheiben starrte. Der Schrecken, den das Gesicht durch die Scheiben strahlte, war so stark, daß der General nun wirklich erwachte. Er hatte, wie er sofort konstatierte, eine volle Stunde verschlafen. Unwillkürlich wandte er den Blick zum Fenster -- aber es war natürlich nichts zu sehen, die grünen Vorhänge waren dicht geschlossen. Er räusperte sich, laut und ungeniert, wie es seine Gewohnheit war, und warf einen Blick durch die Vorhänge hinaus auf die Straße. Nichts, natürlich. Regen, Dunkelheit, keine Seele weit und breit. Plötzlich aber stand dieses Gesicht, das ihn aufgeschreckt hatte, wieder vor ihm -- und zwar dicht vor ihm in der Luft des Zimmers -- auch die Augen mit dem toten Glanz. Es ist, ja ja, es ist jener -- von heute nachmittag, natürlich, dachte der General. Er hatte das Gesicht nachmittags kaum beachtet. Es ist jener kleine Alte, der den Brief überbracht hat. Ein übrigens völlig wirrer Brief, den er nur überflogen hatte -- wirres und törichtes Zeug, was dieser kleine Alte mit dem blauen Gesicht . . . Ja, wo steckte der Brief eigentlich. Hier, nun siehst du, schon dieser Umschlag -- Der General konnte aber nun nicht mehr widerstehen, obschon die Aktenmappe dickbäuchig dalag, eigentümlich. Er war neugierig geworden, mehr als das. Er entfaltete den Brief und las ihn -- langsam, immer langsamer, immer aufmerksamer. Wie heute abend unter der Lampe des Foyers, stieg Röte in sein Gesicht, aber nicht eine leichte Ziegelröte, sondern -- Feuer. Die Stirn legte sich in tiefe Falten -- Wie --? Nein, in der Tat, er hatte den Brief nicht gelesen. Aber --? Was wollte er -- gefallen, auf der Höhe der Vier Winde, auf Quatre vents -- nun, und -- wie? -- sogar von Ruth stand etwas hier, denn Ruth war wohl gemeint -- wie? Nein -- er hatte den Brief wirklich nur ganz flüchtig überflogen -- er erinnerte sich nur, daß von der Bitte um eine Audienz die Rede war. Wirr -- mehr noch, viel mehr als wirr: -- untertänigst bitte ich um eine Audienz. Mein einziger Sohn, Robert, hat unter dem Befehl des Herrn Generals gekämpft. Er ist am 5. August beim Sturm auf Quatre vents gefallen. Er war begeisterter Soldat, Jäger, die einzige Hoffnung und der Stolz seiner Eltern. Ich bitte, mir gnädigst mitzuteilen, wo sein Grab sich befindet, und besonders, _ob das Grab nicht den Granaten ausgesetzt ist!_ Dies beunruhigt mich sehr, so daß ich gänzlich schlaflos geworden bin -- Wie? Was meint er? Ob das Grab --? Der General ist in ungeheure Erregung geraten. Seine Augen starren. Die Höhe! Ja, der Brief hat die Erinnerung an die Höhe in seinem Blut geweckt. Das dunkle, mit Borsten bestandene Ungeheuer qualmt plötzlich wieder vor den Augen des Generals: Quatre vents! Der 4., 5. und 6. August -- am Abend des 6. war sie verloren! Am 4., 5. und 6. ratterten die Lastautos vorüber, der Schmutz spritzte -- behangen mit Schwärmen von Menschen. Rote Gesichter, schweißhelle Augen -- sie schwangen die Helme: hurra -- und der General, auf der Treppe seines Schlosses -- salutierte. Welches Feuer! Die Erde bebte -- jetzt hörte er es wieder! Die Hölle! Brennend stürzte ein französisches Flugzeug in den Schloßpark, mitten in den Rosengarten. »Herr General, die Jägerbataillone!« »Ich komme.« Und die Autos schaukelten, rollten, rasten: hurra! Die Höhe von Quatre vents war ein Friedhof von zwölf Stockwerken. Deutsche, Franzosen, Deutsche, Franzosen. Aber sie lagen nicht nach Nationen geschichtet, die Minen rissen ganze Stockwerke hoch und schleuderten die Toten durch die Luft. Der Spaten stieß auf den Schädel eines Franzosen, daneben traf er auf einen deutschen Infanteriestiefel. Auch auf Knochen stieß er, nicht auf frische, sondern auf alte gelbe Knochen und Skeletteile, denn auf der Höhe von Quatre vents hatte sich ein alter Friedhof befunden. Ein Dorf lag früher da oben -- wo war es hin? In Atome zermalmt. Die Minen hatten die Kuppe der Höhe abgetragen. Zentnerweise wurde Dynamit in die Stollen gestopft -- ganze Kompagnien und Bataillone flogen hoch -- hoch Deutschland! -- vive la France! Sie kehrten nicht wieder. Der General hatte die Höhe nur zweimal betreten. Einmal in einer sternenklaren Nacht (wie unvergeßlich funkelten die Gestirne!), als es ganz ruhig war. Die Laufgräben hauchten eine eisige Kälte und fauligen Geruch aus, man trat auf Körper und wußte nicht, ob sie lebten oder tot waren -- sonst hatte die Höhe, über die vereinzelte Kugeln zischten, nichts Furchtbares, und der General sagte sich im stillen, daß all die Geschichten von den Schrecken der Höhe von Quatre vents übertrieben wären. Das zweitemal zeigte die Höhe schon etwas mehr ihr wahres Gesicht. Der General kam am grauenden Morgen, und die Franzosen warfen schwere Flügelminen, die wie einstürzende Häuser krachten. Ganze Schwärme der langhälsigen, gierigen Raubvögel stießen auf die Kuppe herab. Zuweilen schob man ihn hastig in einen Unterstand oder einen Quergang, wenn der Schatten der Mine in der Nähe niederrauschte. Denn er, der General, hätte sich nicht von der Stelle gerührt. Angesichts seiner Offiziere und Leute, die aus den Stollen lugten, hätte er sich ohne Wimpernzucken in Stücke reißen lassen. Damals passierte ihm auch die -- offen zugestanden -- Albernheit mit jener ungeschickten Frage. Nun wohl, sein Gehirn hatte unter dem Eindruck der herabstoßenden Stahlvögel und des Lawinenkrachens einfach versagt. In einem eingeebneten Grabenstück lag ein blutgetränktes Tuch, etwas wie eine zerfetzte Unterhose, in einer Lache von Blut. Es war so viel Blut, daß der General keineswegs vermuten konnte -- kurz und gut, er fragte: »Na, ihr habt wohl geschlachtet?« Welche unbegreifliche Albernheit. -- Die Grabenoffiziere antworteten mit einem verlegenen Lächeln. Und plötzlich sah der General ein Stück von einem Menschen an der Grabenwand kleben, daneben ein Stück des Hinterkopfes mit kurzen Haaren. Wie peinlich war ihm die Frage! Noch heute erinnert er sich voller Scham deutlich des verlegenen Lächelns der übernächtigten, vom Grabendienst beschmutzten Offiziere. Um acht Uhr saß er schon wieder in seinem Quartier beim Frühstück. Ein drittes Mal betrat der General die Höhe nicht. Er sah sie das letztemal, als sie verlorenging, das heißt er sah nicht die Höhe, sondern Nacht und ein Büschel roter Notsignale, die ohne Unterbrechung in der Nacht aufglühten -- Hilfe! -- und hoffnungslos sanken. Das also war Quatre vents. Schwer atmend ging der General hin und her. Deutlich hörte er wieder die Stimme des Adjutanten. Die Jägerbataillone, Herr General! Also auf einem dieser Autos saß er -- unter hundert andern -- mit den roten Gesichtern und den schweißgleißenden Augen -- er, jener -- wie hieß er doch -- Robert! Am 5.! Ja, am 5., da hatte er noch Hoffnung -- am Mittag des 6. wurde er schwankend und befahl einen letzten Gegenangriff -- am Abend, da waren nur noch die roten Leuchtkugeln . . . Erst allmählich verflog die Erregung. Plötzlich lag die dickbäuchige Aktentasche wieder auf dem Schreibtisch. Sonderbare Menschen gab es! Sein Grab? Daß man es wagen durfte, ihm solch einen Brief zu senden! Und da -- was schrieb er am Schluß: -- sollten Exzellenz geneigt sein, mir diese Audienz zu bewilligen, so könnte ich Mitteilungen über das gnädige Fräulein machen, die Exzellenz gewiß interessieren würden. Ein Unglücklicher. -- Ja, sonderbare Menschen . . . Der General zerriß den Brief und warf die Fetzen in den Papierkorb. Schon war er in die Akten vertieft. Aber noch nach einer Stunde zitterte seine Hand: Hätte man ihm damals die verlangte Unterstützung geschickt -- noch heute wäre Quatre vents in seiner Hand! 12 »Sind Sie es, Otto?« »Ich dachte schon, die Polizei kommt. Sie machen wieder einen solch furchtbaren Lärm.« Ströbel öffnete seinen Gästen selbst. Er hatte nach zehn Uhr keine Dienstboten mehr im Hause, um gänzlich ungeniert sein zu können. Wüster Lärm drang aus der Wohnung. Das ganze Haus bebte. Dieser Herr Ströbel -- oder Herr v. Ströbel, niemand wußte es genau -- besaß vor dem Kriege nichts als ein paar gutsitzende Anzüge, darunter einen schwarzweiß karierten Sommeranzug, der so auffallend war, daß man sich heute noch an ihn erinnerte, einen Zylinder und einige Paar sehr elegante, etwas dandyhafte Schuhe. Das war alles, was er besaß -- dazu Beziehungen. Heute war er reich, er hatte eine Motorenfabrik, und seine Beziehungen waren noch besser geworden. Er war auch kurze Zeit im Felde -- aber das war eine Geschichte für sich . . . »Welch abscheuliches Wetter«, rief Otto aus und schüttelte sich. Seine Augen flackerten vor Unruhe. »Das Wetter ist nicht das Schlimmste«, erwiderte Ströbel, der sich in einen Sessel der Diele geworfen hatte und die Lackschuhe gegeneinander klappte. »Es ist die Finsternis! Eine nordische Stadt ohne Licht -- wie stellen Sie sich das vor? Es ist ein schlechter Scherz! Eine nordische Stadt ist der Finsternis abgerungen und das Produkt des Lichts. Das Licht gab ihr Inspiration, Energie, Laune. Im Süden -- Sie waren nie im Süden? -- da braucht man kein Licht -- Himmel, Sterne. -- Aber hier oben? Ohne Licht sinkt eine nordische Stadt wieder in Bedeutungslosigkeit zurück. Verdunkeln Sie London und es wird ein armseliger, kleiner Fischereihafen --.« »Nennen Sie Berlin eine nordische Stadt?« »Natürlich. Es fiel früher nur nicht auf. Jedenfalls aber -- schlimm, Otto, schlimm! -- geht diese Stadt vor die Hunde. Ja vielleicht ist es schon so weit -- wir wissen es nicht mehr --« Otto schrak zusammen: Drinnen fiel ein Schuß. Geschrei. Händeklatschen. »Wird bei Ihnen geschossen?« »Ja, die Feuerwalze ist hier, produziert sich als Kunstschütze. -- Sie kennen ihn doch? Hauptmann Falk.« Der Qualm, die Gesichter, der wilde Lärm -- von Otto wich augenblicklich alle Unruhe. Jene unvergeßliche Szene glitt ihm durch den Sinn: in der Nacht, bevor das Regiment ins Feld rückte, hatte einer der Kameraden, ein Hauptmann Below -- lange tot, und zwar als erster gefallen -- der sich vom Liebesmahl früher zurückziehen wollte, eine Droschke ans Kasino bestellt. Man kaufte dem Kutscher höchst einfach die Droschke ab! Diese Droschke wurde bei der Steintreppe aufgestellt, die fünfundzwanzig Stufen tief vom Kasino in den Park hinunterführte. Freiwillige vor! Augenblicklich war die Droschke überfüllt. Wie ein Schwarm hingen die Kameraden auf dem Gefährt. Ein kleiner Schwung, und die Fahrt in die Tiefe begann. Die Droschke zersprang in tausend Stücke, aber nichts passierte. Sie alle indessen -- von allen Offizieren des Regiments lebten nur noch sechs, zwei davon waren Krüppel. Mit strahlender Miene trat Otto ein, bereit, sich kopfüber in den Strudel der Fröhlichkeit zu stürzen und jede Ausgelassenheit mitzumachen. Wohltuend schlug ihm die Atmosphäre der Kameradschaftlichkeit entgegen. Hier kannte man ihn. Hier wußte man zum Beispiel, daß er 1915 einen französischen Offizier, der verwundet zwischen den Stellungen liegengeblieben war, trotz aller Knallerei in den Graben geschleppt hatte -- nicht aus Barmherzigkeit, nein, nur um zu zeigen, was für ein Bursche dieser Hecht-Babenberg war! Welche Gesellschaft! Fast alle ergraut, fahl und erschöpft. Hauptmann Wunderlichs helle Katzenaugen blinkten, die Krücken lehnten wie immer hinter seinem Sessel. Ein schwarzer Glacéhandschuh über der Holzhand. Ein junger, totenbleicher Leutnant mit schräggeneigtem, verbundenem Kopf, aus dem Lazarett entsprungen. Ein Herr im Smoking, blond und schön, den leeren Ärmel in die Tasche geschoben. Auch einige geschorene Billardkugelköpfe mit Knollen am Schädel waren da, Majore, Hauptleute. Aber sie waren in der Minorität. Ein grünes Gesicht, mit Monokel, selbst ein Blinder saß da, vergnügt ins Licht blinzelnd. Otto erblickte auch einige Offiziere seines Vaters: den Adjutanten Weißbach, den hünenhaften Major Wolff. Viele von ihnen waren dreimal, fünfmal verwundet gewesen, morgen konnte die Reihe wieder an sie kommen. Der Krieg zog sich hin. Alle aber waren in angeregter Stimmung, und auf ihren fahlen, zerfurchten, verwüsteten Gesichtern lag ein leichtsinniger, kindlicher Ausdruck. »Also hier ist er -- hier kommt er!« schrie Hauptmann Falk Otto entgegen. Dieser Hauptmann Falk, mit dem sonderbaren Spitznamen »Feuerwalze«, war ein kleiner, klapperdürrer Mensch, rothaarig, mit staubgrauem Gesicht -- nur um die Augen zogen kranke gelbe und olivgrüne Ringe. Er sprach hastig und mit einer hohen Kehlkopfstimme, die unangenehm und herausfordernd klang. Wie Hauptmann Wunderlich, der Menschenjäger, trug er den höchsten Kriegsorden. Er war ein verwegener Bursche, hatte die schlimmsten Tage an allen Fronten mitgemacht, und für die, die ihn kannten, war es unbegreiflich, daß er überhaupt noch lebte. Er selbst behauptete kugelsicher zu sein. Immer wieder tauchte er von Zeit zu Zeit in Berlin auf, um die wenigen Tage Urlaub zu durchschwärmen. Dann kam er drei, vier Tage nicht ins Bett, und erst auf der Rückreise zur Front schlief er sich aus. »Rasch, Hecht!« schrie er und fuchtelte mit einer Pistole. »Sie können die Saharet gewinnen!« Eben diese Saharet stürzte sich Otto mit einem kleinen Katzenschrei entgegen. »Sie werden sehen,« rief sie, »ich kenne Otto --!« Sie war ein kleiner schwarzhaariger Irrwisch mit runden Katzenaugen. Ihrer -- sehr entfernten -- Ähnlichkeit mit der Tänzerin Saharet verdankte sie ihren Namen. Früher hieß sie -- ja, wer sollte es wissen? Ströbel hielt sie als eine Art Hauskatze. Sie räkelte sich auf den Sesseln, telephonierte, das war ihre ganze Beschäftigung. Sie sprach geziert wie eine Ausländerin, eine Russin, eine russische Fürstin, und spielte die große Dame. Mit einem Wort, sie war ungeheuer lächerlich. Welchen Grund hätte auch Ströbel sonst gehabt, die Saharet zu halten? Ja, also die Sache war die: die Saharet sollte ausgeschossen werden, als Preis sozusagen. Sie wollte dem ein Schäferstündchen gewähren, mit oder ohne Publikum, der sich ein Glas vom Kopf schießen lassen würde. In irgendeinem Vorstadttheater hätte sie einmal Wilhelm Tell gesehen. »Abgemacht, gut, abgemacht!« Hauptmann Feuerwalze hatte soeben zwei Likörgläschen auf fünf Meter Entfernung freihändig vom Büfett geschossen, er war zu allem bereit -- ein Glas vom Kopf, schön -- bitte nur zu befehlen. Hier aber begannen die Schwierigkeiten. Niemand hatte Lust, seinen Kopf zu riskieren -- schon war die Saharet gekränkt, daß man ihre Schäferstündchen so niedrig einschätzte, sie ließ die Katzenaugen im Kreise gehen, schmollte, bettelte -- da kam Otto, und sie stürzte sich auf ihn. Otto, der Retter, der Lohengrin der Saharet! Die Augen der Kameraden, alle Blicke waren auf ihn gerichtet, das Gelächter, das flehende Schmeicheln der kleinen Saharet, Otto konnte nicht widerstehen. Ohne zu überlegen, beseelt vom Wunsche gleich in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu treten -- nein, was für ein toller Junge war doch dieser Otto! -- erklärte er sich augenblicklich bereit. Ein Glas Sekt, und die Vorstellung kann beginnen. »Wie? Sofort?« -- Bravo! Ungeheurer Beifall! Die Saharet tanzte vor Entzücken auf einem Bein und klatschte in die Händchen. »Ach, wie reizend, dieser Otto!« Höchst persönlich kredenzte sie das Glas Sekt. »Also los, fertigmachen«, schrie Hauptmann Falk mit wilden Augen. Unter Gelächter und Scherzen wurde Otto gegen eine Wand gestellt. Es zeigte sich indessen zur allgemeinen Verwunderung, daß ein Glas auf seinem Schädel nicht so ohne weiteres stand. Ein kleines Buch, bitte! Darauf also stellte der kleine aus dem Lazarett entsprungene Leutnant mit dem verbundenen Kopf ein Sektglas. Sofort aber protestierte die Saharet. Das Glas war zu groß. Was sollte das für ein Kunststück sein? Sie selbst suchte ein kleines Weinglas heraus, rückte einen Stuhl heran und stellte es eigenhändig auf Ottos Kopf. »Nein, wie reizend von Ihnen, Otto!« »Nun, fertig, los,« schrie die Feuerwalze, »macht Platz.« »Also -- ein Schäferstündchen?« »Wieso ein Schäferstündchen? Nein, nein --« »Was also --?« »Einen Kuß -- Otto! Einen Kuß!« »Schön -- auch für ein Küßchen mache ich es.« »Zurück! Sprechen Sie nicht, Hecht, sonst fällt das Glas herunter.« »Es ist ein völliger Wahnsinn!« protestierte Major Wolff, der Hüne, der noch einigermaßen nüchtern war. »Sie sollten es verbieten, Ströbel!« »Verbieten, wieso?« entgegnete Ströbel erstaunt. »Niemand hat weniger Rechte als der Wirt.« Hauptmann Falk stärkte sich mit einem Kognak. »Wenn Sie glauben, daß ich ewig hier stehenbleiben werde«, sagte Otto ungeduldig, und das Glas wackelte auf seinem Kopfe. »Sofort, bitte -- ich eröffne das Feuer«, schrie Hauptmann Falk. »Achtung, meine Herren!« Hauptmann Falk schwang die Pistole. Aber in diesem Augenblick warf ihn der Rausch einige Schritte zur Seite. Er wandte sich empört um. »Ich bitte gehorsamst, mich nicht an den Rockschößen zu zerren --« »Sie sollten lieber die Sache sein lassen«, sagte Major Wolff. »Weshalb denn?« schrie Hauptmann Falk mit wütender Miene. »Sobald ich abdrücke, stehe ich wie eine Statue. Sie können sich auf mich verlassen. Also los, ich eröffne das Feuer.« »Ruhe!« rief die Saharet und preßte die Hände auf das Herz. Wie spannend es doch war! Der Lauf der Pistole war auf Otto gerichtet. Langsam bewegte sich das runde Loch an ihm in die Höhe. »Daß mir jetzt niemand ein Wort redet,« schrie Hauptmann Falk, »sonst schieße ich Hecht die Kugel in den Kopf.« Alles war mäuschenstill. Die Saharet stand mit gefalteten Händen. Ströbel betrachtete voll Interesse Otto, der unmerklich mit den Augen zwinkerte, als die Mündung der Pistole zwischen seine Augen gerichtet war. Otto hatte eine ganz gleichmütige, etwas belustigte Miene aufgesetzt. Ich wünsche jetzt nur das eine, dachte er, daß mir die Kugel mitten in die Stirn fährt. Mitten in die Stirn und Schluß! So drücke doch ab! Er war ganz ruhig . . . Da wanderte das Loch der Mündung um einen Millimeter höher. Hauptmann Falk hatte die Zähne zusammengebissen, so daß die Backenknochen aus seinem grauen, mageren Gesicht vorstanden. Dann hielt er den Atem an, und im gleichen Augenblick zersplitterte das Glas. Welcher Beifall! Welche Ovationen! Augenblicklich aber ergriff die Saharet, aus Koketterie, die Flucht. Gläser zerschellten, Stühle krachten. Sie riß eine Tischdecke mit allem, was darauf war, herunter. Aus Höflichkeit, aus gar keinem andern Grund, hatte Otto die Verfolgung aufgenommen. Dieser schmale, armselige Mund reizte ihn nicht. Endlich hatte sich die Saharet in der Ecke der Bibliothek verrannt. Sie konnte weder vorwärts noch rückwärts und versuchte, an den Bücherregalen in die Höhe zu klettern. Aber als auch das nicht gelang, ergab sie sich, um Hilfe schreiend, in ihr Schicksal. Schon hatte Otto die Hände ausgestreckt -- plötzlich aber schwankte er und wurde weiß wie eine Wand. Erregt von der Jagd, berauscht, hatte ihn plötzlich Schwindel ergriffen. Das Gesicht der Saharet verschwamm, ihre Augen -- ein entsetzliches, halbverwestes Gesicht erschien, mit blinkenden Zähnen, ein Totenantlitz. »Ich werde fallen!« fuhr es ihm durch den Sinn, mit der Gewißheit einer Erleuchtung, die keinen Zweifel zuläßt. Und dies war der Augenblick, wo er bleich wie eine Wand wurde. Wieder erweiterten sich seine Pupillen, wieder wurden seine Augen zu Kratern voller Grauen. Ja, jetzt hatte er verstanden. * * * * * Schokolade knabbernd hockte die Saharet hoch oben auf dem Klubsessel, in dem der hünenhafte Major Wolff saß, der die Bank hielt. Die fahlen, verwüsteten Gesichter mit den grauen Schläfen drängten sich um den Tisch. Karten, Banknoten flatterten. Auch der Blinde spielte, er machte mit dem Einarmigen im Smoking ein Kompaniegeschäft. Nur Ströbel spielte nicht. Er füllte die Gläser. Otto gewann -- ganz im Gegensatz zu seinem sprichwörtlichen Pech beim Spiel. Im Augenblick hatte er, obschon er ohne jede Überlegung, völlig sinnlos spielte, dreitausend Mark gewonnen. Auch das war auffallend! Und wenn ich falle, dachte er, was ist dabei? Viele Hunderttausend sind gefallen, weshalb sollte ich, gerade ich, verschont bleiben? Es ist schließlich völlig egal! Noch einmal, einmal noch wollen wir das Schicksal befragen -- Die Bank war in eine Verlustserie geraten. Sie hatte sechsmal bezahlt, und es war völlig unwahrscheinlich, daß das Glück ein siebentes Mal gegen sie war. »Dreitausend Mark Einsatz, Herr Major?« fragte Otto. Gewann er, gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit, nun, so würde er es glauben, so war es sicher . . . Die Bank verlor ein siebentes Mal. »Ich werde fallen, gut!« -- Otto zählte die Scheine, die man ihm zuschob, und steckte sie in die Tasche. »_Und ich werde sie nie wiedersehen!_« Er stand auf. »Viertausenddreihundert -- erstes Geschütz --!« kommandierte Hauptmann Weißbach, der in einem Sessel eingeschlafen war und mit offenem Munde dalag, die bleiche Stirn in Falten zerknittert. 13 Nacht, der Regen rieselte, schwarzer Regen. Die Riesenstadt schlief, sie keuchte im Schlaf. Die Menschen schwitzten, in ihren Betten, trotz der eisigen Kälte der Wohnungen. Der kalte Schweiß stand auf ihren Stirnen, mit offenen Augen starrten sie in die Dunkelheit. Es war nicht mehr wie früher, da die Riesenstadt nachts aufschrie -- weißt du noch, am Anfang des Krieges? In jeder Nacht gellten entsetzliche Schreie aus Häusern und Höfen, furchtbares Jammern und verzweifeltes Schluchzen -- die Depeschen regneten herab auf die Riesenstadt: gefallen, gefallen, dein Sohn, dein Gatte, dein Geliebter, der Ernährer deiner Kinder, gefallen, gefallen -- und die Riesenstadt schrie! Das Geläute der Glocken, die die Siege feierten, summte noch in der Luft, mit Blumen geschmückte Jünglinge und bärtige Männer stürzten sich hinaus -- Nun schrien sie nicht mehr, sie lagen still, die verkrallten Finger in die Brust geschlagen, sie setzten sich in den Betten auf und flüsterten -- einen Namen. Still lag die große Stadt und dunkel. Erloschen die Feuersbrünste, die nächtlich aus den Bahnhöfen emporloderten und den Himmel röteten, früher, nur noch scheue Lichtnebel über der unendlichen Finsternis der verkohlten Stadt. Heulend und winselnd rollten die Züge zwischen den finstern Häusern. Es waren die Transporte, die des Nachts in die Stadt schlichen, in die halbdunkeln Bahnhöfe, und die blutenden Menschen von den Schlachtfeldern brachten. Dieselben, die mit Blumen geschmückt die Stadt verlassen hatten. Der Tag durfte sie nicht erblicken. Riesenschatten schwankten über die hohen, verstaubten Bahnhofsmauern, Tragbahren glitten hin und her, Automobile schlichen auf ihren Gummirädern verstohlen durch die Straßen, hin und zurück, hin und zurück. Dann erloschen die Bahnhöfe und versanken in die Dunkelheit, bis wieder ein Zug winselte und schrie: ich bringe sie . . . Und wieder schwankten die Riesenschatten über die verstaubten Backsteinwände, wieder glitten die Tragbahren hin und her, wieder schlichen die Automobile auf ihren Gummirädern verstohlen durch die Straßen, hin und zurück. Die ganze Nacht hindurch, jede Nacht. Schon winselt ein neuer Zug -- und viele sind noch unterwegs, weit draußen zwischen den Kartoffeläckern und Rübenfeldern, über die der Regen fegt. Viele, Abertausende -- In jeder Nacht schlägt die Flut des blutigen Ozeans bis ins Herz der Stadt. Im Grauen des Tages aber fahren die stillen Wagen von den Lazaretten durch die Vorstädte, immer weiter, bis zu den Friedhöfen. Mit Kisten beladen. Darin liegen sie, die mit Blumen geschmückt hinauszogen, ohne Kleider, ohne Stiefel, ohne Wäsche, nackt, aber sie frieren nicht mehr. Es ist Anfang Februar des Jahres 1918 -- Stumm fließen die Straßen dahin, ohne Ende. Höhnische Gespenster die Laternen an den Ecken. An den ausgebrannten Häusern hängen windschief die Firmenschilder. Riesenbuchstaben, kalt, bleich, Leichen. Die Namen sind nicht mehr, die Firmen sind erloschen, die Magazine sind leer. In der finstern Nacht kommen die Schatten zurück, sitzen an den Schreibtischen der Bureaus, schleichen durch die leeren Magazine. Schatten wimmeln die Treppen herab, Boten, Briefträger, gefallen. Straßenkehrer fegen die finstern Straßen, gefallen. Schatten von Omnibussen huschen zwischen den Fluten treibender Schatten dahin, die die Straßen überschwemmen, ein Meer. Die Kutscher der Omnibusse gefallen, die flinken Pferde gefallen. In jeder Nacht kehren die Toten in die tote Riesenstadt zurück. Ängstlich lugt der Wächter um die Ecke. Seine Zähne klappern vor Furcht, die leichenhaften Riesenbuchstaben an den Häuserwänden starren auf ihn, sie winken, sie lächeln so eigentümlich -- ach! Da erzittert die tote Straße! Ein Schritt dröhnt, rasch, eilig. Ein Sturmschritt, der Schritt eines Läufers, der dahinjagt. Eine Stimme ruft. Die schlaflosen Menschen in den kalten Betten richten sich auf: schauerlich hallt die Stimme durch die dunkle Stadt. Die schweißigen Haare sträuben sich -- was ruft er? Wieder? Wie in jeder Nacht . . . Ein weiter, feldgrauer Soldatenmantel flattert um die dunkle Ecke. Er jagt durch die Straßen! Hände, zum Fluch gestreckt, züngeln empor. Dröhnend rollt die Stimme über die schwarzen Häuser. »Wehe, wehe denen, die auf der Erde wohnen!« Sind es diese Worte? Die Menschen, die in den Betten horchen, verstehen die Worte nicht. Es sind uralte Worte, tausendjährige, sie fühlen es, es sind Worte des Fluchs und des Untergangs. Der Wächter entflieht. Ein Soldat! Flink sind sie heute mit dem Messer . . . In der Ferne schon schallt die Stimme. Sie rollt die endlosen Straßen entlang, hinaus in die Vorstädte, hinaus auf das flache Feld. Lange noch hängt ihr Hall zwischen den schlafenden Häusern. Die Hausecken sind finster. Aber sobald der weite Soldatenmantel an ihnen vorüberflattert, strahlt plötzlich Licht aus den dunkeln Wänden: die schwarzen Steine haben ein Auge aufgeschlagen. Ein Wort leuchtet aus der Dunkelheit: »_Alle Völker sind Brüder!_« Kalkweiß flattert der weite Soldatenmantel im Schein einer fernen Laterne -- schon ist er verschwunden. -- Wieder ist es still, wieder liegt die Riesenstadt tot wie eine Stadt aus Asche. Draußen aber, die Vorstädte gleißten. Um die Stadt aus Asche schwang ein Gürtel blendenden Lichts -- die gleißenden Feenpaläste der Fabriken schwammen in der Nacht. Der rote Dampf zischte, aus den Schloten quollen Schatten, dick und schwarz wie bei Kriegsschiffen in voller Fahrt. Die Räder schwangen, der Boden zitterte. Abertausende standen an den Drehbänken, das Öl spritzte -- Abertausende schleppten Granaten, schraubten, polierten. Abertausende von übernächtigen bleichen Arbeiterinnen saßen im grellen Licht der Bogenlampen an den Arbeitstischen, füllten, wogen, verschnürten. Und die schweren Züge keuchten dahin, hinaus. Das ganze Land arbeitete in dieser Nacht, in jeder Nacht, Millionen Hände -- der Tod war ihr Besteller. 14 Der Tiergarten brauste, in seiner Tiefe grollte es wie die Brandung des Meeres. Die Wipfel mahlten in der Finsternis, und zuweilen peitschte ein Zweig ohne jeden Grund rasend den Himmel. Ohne Aufhören floß der Regen herab. Finsternis, kein Licht weit und breit. Doch halt, im Hause des Generals wurde nun ein Fenster hell. Es war das Fenster gleich rechts vom Hauseingang, Ottos Zimmer. Der Morgen war nahe. Am Rande des Tiergartens stand ein Schutzmann in seinem Regenmantel. Er horchte. Ein Schuß --? Er schabte mit den schweren Stiefeln auf dem Pflaster und ging ein paar Schritte über die Straße. Er blickte hinüber zu den Gärten, hinter denen die Regierungsgebäude liegen. Vielleicht hat sich jemand in den Regierungsgebäuden erschossen? Ein Minister? Wie? Wie? Und doch ein Schuß, sagte der Schutzmann und zog sich tiefer in das Dunkel des Tiergartens zurück. Jede Nacht erschoß sich hier jemand -- ein Soldat, ein Bankrotteur, ein Verschmähter. Der Schutzmann bohrte seine Augen in den finstern Park und versuchte mit seinem Polizistenblick das Dunkel zu schrecken. Immer noch war Ottos Zimmer, gleich rechts vom Hauseingang, hell erleuchtet. Immer noch sang melancholisch der Regen. Nun aber dämmerte Licht auch in den Gemächern links vom Hauseingang. Die Türe zum Schlafzimmer des Generals wurde geöffnet, und ein Schleier von Licht drang durch die Gardinen. Da erschien die breite Gestalt des Generals in der lichten Türe. Der General war im Schlafrock und taumelte schlaftrunken. Er verlor immerzu die zinnoberroten Pantoffeln, während er sich in das Vorderzimmer tastete. Ein Schatten kroch vor ihm her. »Wie sagst du --?« Er räusperte sich, seine Mundhöhle war ausgetrocknet, denn der General schlief mit offenem Munde und schnarchte. »Verletzt, sagst du --?« Er bemühte sich, die Schnur des Schlafrocks zuzuziehen, um sich nicht zu erkälten. Schon wieder hatte er einen Pantoffel verloren und tastete mit dem nackten Fuße danach. »An der Hand -- der Herr Oberleutnant --« »Man sollte doch meinen, daß er mit Schußwaffen umzugehen versteht!« schrie der General den Burschen an. Eigentlich hätte er dies Otto sagen sollen, aber in derartigen Augenblicken wandte er sich mit Vorliebe an Untergebene. »Mache Licht!« Zornrot ragte der Kopf aus dem fleischfarbenen Schlafrock. Auch dieser Schlafrock zeigte karmesinrote Aufschläge, nicht so groß wie der Mantel, aber von der gleichen Farbe. »Beim Packen also --? Was soll das Gestotter!« »Der Herr Oberleutnant wollte den Revolver in die Kiste schieben, da ging er los -- ganz von selbst. Er ist schon einmal losgegangen.« Mit wütenden Schritten ging der General durch die Zimmer. Der fleischfarbene Schlafrock wehte. Plötzlich aber hielt er den Schritt an und tastete mit der Hand gegen einen Türrahmen. »Ein Glas Wasser, Jakob«, sagte er. »Und dann -- hörst du -- wecke meine Tochter, sofort -- aber nicht du sollst sie wecken -- sondern wecke Therese, und Therese soll meine Tochter wecken. Wangel soll sofort das Auto holen.« Das Blut war aus seinem Kopf gewichen, er war totenbleich geworden. Er taumelte ein paar kleine Schrittchen rückwärts, bis seine Hand eine Stütze an einem Sessel fand. Der Atem pfiff in kurzen Stößen aus seiner Brust. »Und nun also ein Glas Wasser!« Der General hatte nur einen flüchtigen Blick durch Ottos halboffene Tür geworfen. Otto stand gestiefelt und gespornt, rasiert und frisiert, fix und fertig zur Abreise. Auf dem Boden lag die gepackte kleine graue Offizierskiste. Er sah völlig nüchtern aus, gesammelt, ohne jede Spur von Betrunkenheit. Und dann ein Handtuch -- zusammengerollt, wie ein blutiger Klumpen . . . Es war eine Schwäche des Generals, daß er kein Blut sehen konnte. Es war ihm immer peinlich gewesen -- im Felde, wo es sich doch nicht vermeiden ließ -- aber es war eine Schwäche, die er schon in der Kadettenzeit gehabt hatte. Es war ganz hoffnungslos, dagegen anzukämpfen. Man hörte Therese an Ruths Türe pochen. Man hörte sie halblaut rufen. Dann ging die Türe. Therese verschwand in Ruths Zimmer und kam nicht wieder. Nun? Endlich -- nach langer Zeit kam Therese wieder zum Vorschein. Ihre Miene war verstört. Hilflos blieb sie an der offenen Türe stehen. Therese -- sie hieß gar nicht Therese, aber sie wurde, seit sie im Hause des Generals lebte, so genannt, sie hieß Ernestine -- Therese war, wie häufig, von ihrer Angst vor dem General gelähmt. Sie fürchtete ihn für gewöhnlich, sie ließ sich nicht gerne in ein Gespräch mit ihm ein, lebte für sich in den hinteren Räumen und kam nur selten nach vorn. Aber bei besonderen Ereignissen steigerte sich ihre Furcht zum Entsetzen. Und in diesem Augenblick erschien ihr der General wahrhaft erschreckend -- in seinem fleischfarbenen Schlafrock und den roten Pantoffeln. Ihre Augen zerrannen vor Ratlosigkeit, ganz wie seinerzeit, als sie vor dem Gericht aussagen sollte. Damals, als der General den Prozeß führte und man sie kreuz und quer über alles Mögliche ausforschte. Damals, als es keine Ruhe mehr im Hause des Generals gab, nur Tränen. Therese fühlte, daß wiederum etwas nicht in Ordnung war. Der General aber starrte sie an, er begriff nicht. Sein Schnurrbart zitterte, und Therese, die dieses Anzeichen sehr gut kannte, machte eine verzweifelte Anstrengung zu sprechen. Ihr altes Gesicht legte sich in tausend Runzeln und kleine Falten, als ob sie weinen wollte. Die Finger zupften an den rasch übergeworfenen Kleidern. »Ruth ist nicht hier.« Der General hatte nicht recht gehört. »Sie ist nicht in ihrem Zimmer.« »Nicht hier --?« Aber gerade in diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit auf ein Geräusch an der Türe gelenkt. In der Türe der Diele drehte sich ein Schlüssel, und er wartete voller Spannung, was nun geschehen würde. Zuerst erschien also eine kleine Hand, in grauen Handschuhen. Dann der braune Pelzbesatz eines Ärmels, und schließlich stand Ruth in voller Person mitten in der Türe. Auf ihrer kleinen, braunen Pelzmütze lagen Regentropfen. Ruth erschrak nicht. Ihre braunen Augen, die weichen, leuchtenden Augen der Sommerstorf, waren voller Erstaunen auf den General gerichtet. Dann aber begannen ihre Blicke sich langsam mit Unruhe zu füllen. Das Leuchten erlosch, sie wurden dunkel. Zweites Buch 1 Der Tag graute, und noch immer schwang der gleißende Lichtgürtel um Berlin. Vor wenigen Wochen, im Januar, lagen die blendenden Fabrikpaläste der Vorstädte plötzlich einige Nächte lang dunkel da. Die eisernen Tore blieben geschlossen, die Räder standen still, die Kesselfeuer waren erloschen. Hunderttausende von regsamen Händen, wo waren sie? Was war geschehen? Streik, mit einem Wort. Streik, jetzt, gerade in diesem Augenblick, wo man die Vorbereitungen traf für die letzte große Anstrengung, die den Sieg bringen sollte. Das englische Gold rollte -- der General behauptete es -- das englische Gold rollte durch die Straßen Berlins, Millionen und abermals Millionen. Scharen von Agenten waren von Albion ausgesandt worden, um die Front der Heimat zu unterminieren. Es wimmelte von Spitzeln und Spionen. Man klebte Zettel an die Häuser, Laufzettel gingen durch die Fabriken -- das englische Gold war allmächtig. Es kam zu Zusammenrottungen -- da draußen. Patrouillen streiften durch die Stadt, Schwärme von Berittenen mit Karabinern, Maschinengewehre waren auf den Dachböden aufgestellt, da und dort -- sollten sie nur kommen -- von da draußen! Halbwüchsige Burschen zogen über die Linden und pfiffen. Aber die Schutzleute stürzten aus den Häusern und ohrfeigten sie. Straßenbahnwagen wurden umgestürzt. Durch die Stadt fuhren reihenweise Wagen mit eingeworfenen Fensterscheiben. Das englische Gold hatte es weit gebracht. Die Streikenden sandten einen Ausschuß, um zu unterhandeln. Aber der Minister -- plötzlich machte er sein Rückgrat steif -- lehnte ab, weigerte sich -- bitte recht sehr. Er forderte gesetzlich zulässige Vertreter. Er witterte eine Ungebührlichkeit, etwas, was überhaupt noch nicht dagewesen war, das sich erkeckte, zu rütteln, an den Grundpfosten zu rütteln . . . Die Streikenden forderten Brot, und die Regierung versprach. Die Streikenden forderten -- sie deuteten es nur an, aber es ging aus ihrer ungesetzlichen, hochverräterischen Haltung deutlich hervor . . . Es schien ihnen an der Zeit, nachzudenken. Herzogshüte und Königskronen sollten vergeben werden, da und dort, an alle möglichen Vettern, nun gut, wenn es Vergnügen machte, aber es schien ihnen doch an der Zeit, mit dem Überlegen zu beginnen. Der letzte Kupferkessel war dahin, beschlagnahmt aus der Küche des armen Weibes, die Lokomotiven brachen auf der Strecke zusammen, in den Kasernen exerzierten Knaben und Krüppel. Schließlich war Amerika immerhin eine Macht, mit der man rechnen mußte, auch wenn es nicht imstande war, Flugzeuge zu bauen und, wie man schwarz auf weiß nachgewiesen hatte, unmöglich ein Heer über den Ozean schaffen konnte. Trotzdem. Die deutschen Truppen standen in Finnland, im Kaukasus, in -- Nein, sie sprachen es nicht in klaren Worten aus, aber sie wollten doch ganz bescheiden darauf hinweisen, daß es eigentlich an der Zeit sei -- Aber gerade das, hm, verletzte den Minister. Er witterte -- Endlich nahmen die Generale die Sache in die Hand, und im Handumdrehen war der Streik zu Ende. Man brauchte nur etwas zuzugreifen und sofort ging es. Die Generale waren für individuelle Behandlung. Wer ein Gewehr tragen konnte, wurde in die Schützengräben verbannt, andere wanderten ins Gefängnis und einige ins Irrenhaus. Die eingeschlagenen Fensterscheiben der Straßenbahnwagen wurden durch neue ersetzt -- nichts war geschehen. Nichts blieb zurück als ein leises, unterirdisches Grollen, unhörbar für Ohren, die aus Greisenschädeln wuchsen. Obwohl der Streik nur wenige Tage gedauert hatte, sprach der General die Möglichkeit aus, daß dadurch der Sieg gefährdet sein konnte -- konnte, nur eine Möglichkeit . . . Das war also im Januar gewesen. Nun aber regten sich wieder Tag und Nacht die ungezählten Hände, zerfressen von dem schlechten Öl, das von den Drehbänken spritzte und die Ölkrätze hervorrief. Die Feenpaläste schwammen wieder strahlend in den Nächten, der Lichtgürtel flammte wieder um die Riesenstadt. Und im grauen Morgen, zur Zeit des Schichtwechsels, rollten wie früher die Züge überfüllt mit Menschen, als sei nichts geschehen. Hunderte von gelben Gesichtern in jedem Abteil, Hunderte von gelben Gesichtern auf den Trittbrettern, auf den Dächern, überall. Und die bleichen, übernächtigen Mädchen, die die Patronen packten, kreischten und schrien. Auch an diesem grauen Morgen rollten ganz wie sonst zur Zeit des Schichtwechsels die Züge mit den gelben und todbleichen Gesichtern. Hustend und frierend hasteten Kleiderbündel durch die Straßen der Vorstädte, voller Angst, rechtzeitig die Kontrolle der eisernen Tore zu passieren. Der Westen der Stadt lag noch in tiefem Schlaf, die Wächter, die den Schlummer der Reichen bewachten, gähnten. Auch an diesem Morgen rollte mit der Minute der bekannte Zug nach der Westfront. Eine Leiche sah auf den Bahnsteig, suchte, pfiff sogar etwas -- die Leiche -- es war Hauptmann Falk. Wo bleibt denn dieser Knabe? Aber Otto kam nicht, und Hauptmann Falk zog das Fenster hinauf, hüllte sich in den Mantel und schlief augenblicklich ein, bevor der Zug die Station recht verlassen hatte. Die Feuerwalze war auf der Heimreise. -- Der Tag dampfte über den Kartoffeläckern und Rübenfeldern im Osten von Berlin, und graue Wolken schleppten sich über die Laubenkolonien zwischen den roten und gelben Backsteinmauern der Vorstädte, über die Halden mit Bauschutt, Papierfetzen und verbeulten Eimern. Hinter den grauen Wolken aber kam ein Funke! Der Funke leckte feurig einen Wolkenrand und ein Blitz blendete hervor. Da begannen die gelben und roten Backsteinmauern der Vorstädte zu blühen, die Fensterscheiben funkelten, das Millionenauge der Riesenstadt blitzte. Die Trompeten in den Kasernenhöfen schmetterten, und Tausende von Männern erhoben sich von den elenden Lagern. Ein Lichtbüschel züngelte mitten durch das Fenster einer Mietskaserne im Nordosten Berlins -- einer grauen, mürrischen Mietskaserne, über deren Fassade sich die Riesenaufschrift »Leihhaus« erstreckte -- und blendete in ein aufgeschlagenes Buch. Dieses Buch lag auf einem kleinen Tisch dicht am Fenster des armseligen Zimmers. Das Buch flammte, Feuer schlug heraus: es war die Bibel! Eine Hand hatte Verse angestrichen, und diese Verse brannten unter dem Lichtstrahl: »Und die Könige auf Erden, und die Obersten, und die Reichen, und die Hauptleute, und die Gewaltigen, und alle Knechte, und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen.« »Und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet auf uns, und verberget uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes.« »Denn es ist kommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?« Da glühte das ganze Buch, flammte auf und brannte. Neben dem Buch stand eine kleine Schreibmaschine veralteten Systems. An der Türe des kleinen Zimmers hing ein großer, weiter, grauer Soldatenmantel. Nun trat ein junger Mann ins Zimmer, und während er in den Mantel schlüpfte, fielen seine Blicke auf die aufgeschlagene Bibel, die im Lichtstrahl flammte. »Auch die Apokalypse gibt keine Deutung!« sagte der junge Mann kopfschüttelnd, mit rasenden Augen, und schloß das Buch. Sofort erlosch es, schwieg es, wurde es stumm. »Diese apokalyptischen Reiter -- sie sind Schemen. Das Blut stieg bis an die Zäume der Pferde -- er sollte es mit eigenen Augen sehen -- die Pferde versinken im Blut!« Da aber traf der Lichtstrahl ihn mitten ins Herz. Er fuhr zusammen, seine rasenden, dunkeln Augen richteten sich ins Licht und flammten in seinem bleichen Gesicht. Er sah nicht die Schutthaufen mit den Papierfetzen und rostigen Eimern, nicht die Lauben mit den schwarzen Lumpen auf den Dächern: er sah das Licht, das sich zwischen düsteren Wolkensäumen durchfraß und die Herrschaft über die Dunkelheit an sich riß. Seine Finger berührten das heilige Buch, zuckten. »_Ich glaube! Ich glaube!_« schrie er dem Licht entgegen. 2 Auch der alte Portier, der Veteran von 70, war schon wieder auf seinem Posten. Zuweilen trat er aus der Loge und spuckte aus. Und da -- ist es zu glauben? -- da war auch schon wieder jener Aufdringliche, jener kleine, ältere Herr. Er zog den steifen Hut. »Seht an -- Sie? Schon wieder?« begrüßte ihn der Portier unfreundlich. Und vorwurfsvoll fuhr er fort: »Sie haben mich in eine hübsche Lage gebracht, das muß ich sagen!« »Hübsche Lage --? Um Gottes willen --?« »Ja, eine hübsche Lage, Herr -- Herbst, nicht wahr?« »Jawohl, Herbst.« »Etwas war offenbar nicht in Ordnung mit Ihrem Brief, Herr Herbst!« »Nicht in Ordnung --?« »Nein. Seine Exzellenz -- Sie haben doch gutes Papier genommen? Jedenfalls haben Seine Exzellenz --« Der Portier in seinem im Laufe der Kriegsjahre etwas schäbig gewordenen Mantel brach ab, öffnete die Glastüre der Loge und verbeugte sich. »Guten Morgen, Herr Oberst!« Säbel rasselten, ordenglitzernde Brüste schwebten am Glasfenster vorüber, Lackstiefel, rote Streifen, Pelzkragen. Die Soldaten und Schreiber huschten die Granittreppen hinauf. Der Dienst begann wieder, dieselbe Sache, wie seit Jahren. »Jedenfalls war etwas mit Ihrem Brief nicht in Ordnung. Seine Exzellenz waren -- hm -- ungehalten.« »Sie selbst haben mich doch ermutigt.« »Höflich und richtig abgefaßt. Ich habe gesagt, versuchen Sie es. Reichen Sie ein Gesuch um eine Audienz ein. Haben Sie gehorsamst geschrieben?« »Ja, gehorsamst habe ich geschrieben.« »Der Umschlag, ich sagte Ihnen ja gleich, ein weißer wäre besser gewesen. Diese hohen Herren haben ihre Eigenheiten. Sie sehen auf Kleinigkeiten, wenn zum Beispiel auch nur ein ganz kleiner Schmutzfleck da ist -- Guten Morgen, Herr Major, Herr Rittmeister! -- Es ging ja noch gut ab, aber es hätte leicht ein Donnerwetter setzen können, schon fürchtete ich einen Blick zu bekommen, ja, wissen Sie, einen Blick --! Und nun ist heute nacht diese Sache passiert -- wissen Sie -- diese Sache --« »Welche Sache?« »Nun, der Sohn Seiner Exzellenz -- der Herr Oberleutnant,« die Stimme des Portiers sank zu einem Flüstern herab, »er hat Malheur gehabt mit dem Revolver, beim Packen. Der Revolver hat sich geklemmt, und schon ging also der Schuß los -- in die Hand.« »Ist es möglich?« »Nun können Sie sich vorstellen, was für eine Aufregung das hier im Hause ist! Der Adjutant war schon hier und gab mir einen Wink. Denn sehen Sie, wenn Exzellenz schlecht gelaunt sind, dann ist nicht zu spaßen mit Exzellenz. Für gewöhnlich sind Exzellenz ja ganz umgänglich -- freundlich sogar . . . Aber« -- plötzlich musterte der Portier seinen Besuch -- »hören Sie -- Sie sind ja ganz naß, völlig durchnäßt?« »Ich bin in den Regen gekommen.« »In den Regen? Und wie Sie aussehen, Herr! Als ob Sie auch nicht ein Auge zugetan hätten?« »Wie ich Ihnen schon sagte, ich bin zuweilen vollkommen schlaflos --« Der alte Portier, mit den weißen Haarsträhnen, den kleinen Medaillen aus Kupfer und Blech auf der Brust des zu weiten Mantels, schüttelte den Kopf -- kritisch, mißbilligend. Hier in seiner Loge -- Der Havelock, das heißt der Herr mit dem Havelock, Herr Herbst, machte allerdings einen jämmerlichen Eindruck. Sein rostbrauner Havelock, der viel zu lang war und bis an die schmutzigen Stiefel reichte, war zerknittert und dunkel vor Nässe. Der schwarze steife Hut, der bis an die abstehenden Ohren fiel, war glänzend schwarz vom Regen, das Band, das die Krempe säumte, einfach vollgesogen mit Wasser. Sein Gesicht war keineswegs stahlblau, sondern gelblich bleich, von ungesunder Färbung, mit merkwürdigen gelben Flecken, klein, hohlwangig und von tiefen Furchen zergraben. Öffnete er den kleinen, faltigen Mund mit dem weißgrauen Stoppelbärtchen, so wurden gelbe Zahnstumpen sichtbar -- und seine Glatze zog bis ins Genick, nur einige Härchen, grauweiß gekräuselt, deuteten noch den Haarkranz an -- und diese großen, abstehenden Ohren! Seine wasserhellen Augen waren entzündet und tränten, sie schwammen fortwährend in Wasser. Es war ein Mensch, der nichts auf sein Äußeres gab -- sich vernachlässigte, schlaflos, krank offenbar -- sein Sohn -- der alte Portier fühlte plötzlich Mitleid, obschon es ihm peinlich war, daß dieses durchnäßte Herrchen sich in seiner Loge befand. Wenn jemand hereinkäme, nicht ein Schreiber, vor ihnen hatte er keine Angst, aber, nehmen wir an, ein Offizier? »Und, sagen Sie -- lieber Herr -- was wollen Sie nur wieder, schon so früh --?« fragte er, plötzlich aufs äußerste erstaunt. »Ich wollte --« hier errötete Herr Herbst und wurde sehr unruhig -- »nun, ich wollte doch nachsehen, ob keine Antwort --?« »Antwort --?« »Der General sollte Ihnen Bescheid geben, wann die Audienz --?« Der Portier schlug erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen. »Also auch mich ziehen Sie mit hinein -- mich?« »Es schien mir das Einfachste --« »Das Einfachste -- und Exzellenz werden nun denken --!« Und wieder schlug der Portier außer sich die Hände über dem Kopf zusammen. Herr Herbst fühlte nur zu deutlich, daß seine Position hoffnungslos verloren war. Hastig fuhr er mit der kleinen, schmutzigen Hand in den zerknitterten Havelock und zog ein Zigarrenetui aus der Rocktasche, ein großes Etui aus Aluminium. »Ich bitte«, stotterte er. »Nun kommen Sie mir wieder mit Ihren Zigarren.« »Nehmen Sie ruhig, mein verehrter Herr!« »Ich will Sie nicht berauben. Heutigentags ist eine Zigarre eine Kostbarkeit. Danke. Also -- keine Adresse, Sie Unglückseliger --?« »Nein. Ich wußte auch nicht recht welche -- ja, wie sollte ich es machen -- ich habe -- zwei Wohnungen.« »Zwei Wohnungen haben Sie?« »Ja, zwei. Ich weiß nicht, wo ich eigentlich wohne.« »Zwei Wohnungen, und er weiß nicht -- ja, eigentümlich -- ein eigentümlicher Herr sind Sie --« »Es kommt alles _daher_ -- alles _daher_ --« stotterte Herr Herbst zu seiner Entschuldigung. In diesem Augenblick klappte draußen ein Wagenschlag. Es war fünf Minuten nach neun Uhr. Der Portier schrak zusammen und warf einen raschen Blick durch das Guckfenster. »Seine Exzellenz! Seine Exzellenz!« rief er in höchster Aufregung aus. »Exzellenz darf Sie hier nicht sehen. Um Gottes willen -- daß Sie mir nicht durch die Türe blicken!« Und schon stürzte der Portier zitternd hinaus, um dem General seinen Bückling zu machen. Der Mann im Havelock floh erschrocken in die Ecke der Loge. Sein Herz schlug vor unbeschreiblicher Angst. Er preßte das Zigarrenetui aus Aluminium vor die Brust. Er stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand -- dann aber zwang ihn eine Macht, gegen die es keinen Widerstand gab, langsam, ganz langsam den Kopf zu drehen und durch die Glastüre zu lugen. Soeben ging der General an der Loge vorüber. In Gedanken versunken, wie gewöhnlich, stieg er die Granittreppe hinauf. * * * * * »Gott sei Dank, Exzellenz hat Sie nicht bemerkt!« Aufatmend trat der Portier in die Loge zurück. »Und gar nicht schlecht gelaunt, ja, sonderbar. Wer soll sich bei diesen hohen Herren auskennen? Er sagte, sogar: >Guten Morgen, Heinecke<.« Der Havelock wagte sich wieder aus seiner Ecke hervor. Seine tränenden Augen forschten in dem alten Frauengesicht des Portiers. »Und --?« »Was meinen Sie -- und?« »Kein Bescheid?« Der Portier schlug verzweifelt die Hände zusammen. »Sie glauben also, mein lieber Herr, Exzellenz hat an nichts anderes zu denken als an Ihr Gesuch«, rief er ärgerlich. »Um fünf Uhr haben Sie das Gesuch abgegeben! Um acht Uhr waren Sie schon wieder da! Kaum beginnt der Tag, so kommen Sie -- ich bitte Sie, mein verehrter Herr --!« »Verzeihen Sie --« »Exzellenz hat natürlich den Kopf vollgestopft mit allen möglichen Dingen. Exzellenz hat dreihundert Leute unter sich, verstehen Sie, was das heißt? Offiziere und Beamte und Mannschaften -- dreihundert. Da gibt es Befehle und Schreibereien -- täglich kommen über hundert Telegramme -- jeden Augenblick ruft die Oberste Heeresleitung an -- na und so zu -- und da glauben Sie --! Ich muß offen mit Ihnen reden. Sie sind nie Soldat gewesen?« »Nein.« »Nun, da haben wir's. Dann können Sie freilich nicht wissen, wie es zugeht. Keine ruhige Minute. Seit vierzig Jahren mache ich das mit.« »Sie selbst haben doch --« »Ja, leider Gottes habe ich -- aber bedenken Sie doch, was Sie verlangen! Eine Audienz! Hunderte warten darauf -- wochenlang! Ich muß nun offen mit Ihnen reden. Gestern schreiben Sie und heute glauben Sie schon -- Ein General! Bedenken Sie -- und wer sind Sie? -- Ich will Ihnen nicht zu nahe treten -- aber wer sind Sie -- oder ich --? Vielleicht wird Exzellenz überhaupt nicht antworten.« »Überhaupt nicht --?!« rief der Mann im Havelock voller Schrecken aus und hob die Hände. »Möglich, weshalb nicht? Ich spreche nun ganz offen mit Ihnen.« »Aber mein Sohn -- es handelt sich ja --« »Möglich -- alles möglich -- Sie sind weltfremd, mein Herr, kennen das Leben nicht. Aus der Provinz --« Herr Herbst nahm den Hut. Niedergeschlagen wandte er sich zur Türe: »Nun, dann werde ich ein neues Gesuch schreiben!« sagte er entschlossen. »Um Gottes willen!« »Wenn er aber auch darauf nicht antwortet -- wissen Sie, was ich dann tue --?« Herr Herbst versank in Nachdenken. »Nun, nun -- wer sollte es für möglich halten --?« Offenbar fand der Havelock aber keine Lösung. »Nun jedenfalls ein neues Gesuch -- ja ja -- morgen schon! Ich kann doch wohl verlangen -- Als Vater habe ich doch ein Recht -- ein Recht --« Der Portier brach in ein heiseres Altmännerlachen aus und hustete. »Ein Recht! Ein Recht!« schrie er. »Weshalb nicht, als Vater?« fragte Herr Herbst, schon wieder ganz zaghaft und entmutigt. »Hahahaha -- ehek, ehek!« Der Mann mit dem Havelock war verschwunden. Als der Portier sich ausgespuckt hatte, war weit und breit von ihm keine Spur mehr zu sehen. 3 Langsam wandelte der General den endlosen Korridor entlang. Diesen Korridor liebte er, und so oft er ihn entlang ging, empfand er ein sonderbares Behagen, obschon dieser Korridor genau so häßlich, kahl und übelriechend war wie alle Korridore des riesigen Amtsgebäudes. Aber in etwas unterschied er sich von den andern Korridoren: er vibrierte unaufhörlich von den Maschinen, die im Erdgeschoß arbeiteten. Sie erfüllten den kahlen Gang mit ihrer Energie. Wie täglich, wie stündlich, blieben die Ordonnanzen und Schreiber gegen die Wand gedrückt stehen, sobald der General in ihre Nähe kam. Sie wandten den Blick nicht von seiner verschlossenen Miene, bis er vorüber war. Und selbst dann blickten sie ihm noch eine geraume Weile nach. Jetzt erst setzten sie sich, den Kopf ruckweise zurechtdrehend, wieder in Bewegung. Die Offiziere, die das Unglück hatten, zufällig über den Korridor zu gehen, blieben stehen und machten ihre respektvolle Verbeugung. Und der General hob den Finger an den Mützenrand, wie täglich, wie stündlich, ohne die Menschen, die vor ihm zurückwichen, anzusehen. Sein Blick war zu Boden gerichtet, auf die Steinfliesen, die abgeschliffen waren von den genagelten Soldatenstiefeln. Es sah aus, als ob die ganze Last der Kriegführung auf seinen Schultern ruhte. Unter den Steinfliesen arbeiteten die Druckereien. Tag und Nacht schleuderten die Rotationsmaschinen Stöße von Kartenblättern heraus, die, zu großen, nach Leim und frischer Farbe riechenden Stapeln gehäuft, nach und nach sämtliche Korridore des weiten Gebäudes überschwemmten. Es waren Karten von allen denkbaren und undenkbaren Ländern, vom Eismeer bis zum Äquator -- soweit die scharfen Augen der Generale blickten. Aus diesen Kartenstapeln strömten Inspirationen. So sah der General in diesem Augenblick, ohne jede bewußte Ideenverbindung, deutlich den Peipussee vor sich und die strategische Grenzlinie Deutschlands im Osten, die schon sein großer Lehrmeister Moltke gezogen hatte. -- Übrigens, kurios, der Portier, dieser alte Veteran, er sah dem alternden Moltke etwas ähnlich, natürlich nur ganz entfernt, soweit ein aus dem Unteroffizierstande hervorgegangener Beamter überhaupt einem Heerführer ähnlich sehen kann. -- Diese Linie, ja, und im Norden mußte ein erstarktes Finnland, fest an Deutschland geknüpft, der Verbündete werden: mit der Pistole an der Schläfe mußte Rußland in den Frieden hineingehen. Ein Glück nur, daß dieses elende Diplomatenmachwerk von Brest-Litowsk nur ein Provisorium war . . . Plötzlich wurde die strategische Ostlinie, die scharf wie der Schnitt eines Rasiermessers vom Peipussee südlich führte, durch irgendetwas gestört. Was war es doch? Ein weiter, grauer Soldatenmantel flatterte durch sie hindurch! Da war er also wieder, seht an . . . Seit Wochen schon war ihm dieser Mantel aufgefallen, und zwar nur, weil er so merkwürdig flatterte, wie kein Mantel sonst. Obschon er immer nur -- ein sonderbarer Zufall -- einen Zipfel dieses Mantels verschwinden sah, konnte er doch feststellen, daß es der Mantel eines gemeinen Soldaten war, der nachlässig, unsoldatisch, mit einem Wort vorschriftswidrig getragen wurde. In besonderen Stimmungen hatte er in dem Flattern dieses Mantels sogar etwas Herausforderndes erblickt -- eines jener Symptome des Abbröckelns der Disziplin, gegen das er in ungezählten Tagesbefehlen ankämpfte -- schon an der Front, was ihm von gewissen Seiten wieder übel vermerkt wurde. Diesmal aber lief ihm der Mantel direkt in die Hände, er konnte ihm nicht entgehen. Der Soldat kam näher, und nun, da er den Schritt verlangsamte, sah der General, daß er das eine Bein etwas nachschleppte. Der weite Mantel stand an der Wand still, wie alles, was sich hier bewegte, wenn der General in Sicht kam. Der General sah einen einfachen Soldaten von etwa fünfundzwanzig Jahren vor sich stehen, mittelgroß, breitschulterig, mit schlichten, für sein Alter auffallend ernsten Zügen. Was dem General aber besonders an dem Gesicht auffiel, das waren die Augen. Sie waren braun und außerordentlich sanft. Es waren die sanftesten Männeraugen, die der General jemals gesehen hatte. Und der ganze Bursche, bleich und schlecht genährt, wie die meisten Ordonnanzen und Schreiber, die sich im Amtsgebäude herumtrieben, der ganze Bursche machte einen ebenso sanften und versöhnlichen Eindruck. Nur seine schwarzen Haare waren etwas zu lang und standen unter der Mütze vor. Die Haltung dieses Mannes war ohne jeden Tadel. Indessen, es lag etwas in dem Ausdruck seines Gesichts -- ja, wie soll man sagen? In den warmen, braunen Augen schimmerte -- oder täuschte er sich -- ein unmerkliches Lächeln, und dieses unmerkliche Lächeln lag trotz dem Ernst auch auf dem etwas bleichen Gesicht. Der General betrachtete das Gesicht in aller Ruhe -- so wie man eine Schnitzerei betrachtet. Aber dieser Mann kam nicht in Verlegenheit, wurde nicht unsicher, der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht, seine Lider bewegten sich nicht rascher. Er blieb gleichmäßig ruhig und gleichgültig. Dieser Mann hatte offenbar keine Angst, von einem hohen Vorgesetzten gemustert zu werden, ruhig erwiderte sein Blick den des Generals -- keine Angst, nicht die geringste. Hm! Übrigens hatte der General dieses Gesicht schon irgendwo und irgendwann gesehen, obgleich er sicher war, ihm nie im Leben begegnet zu sein. Es war ein Gesicht, wie man es auf alten Bildern sah -- ein Gesicht aus vergangenen Epochen sozusagen. Auf alten Gemälden und Stichen, von Mönchen, Poeten und sonstigen Schwärmern. Nun stieg eine leichte Röte unter der blassen Haut des Gesichts empor. Rasch wie Hammerschläge fielen Fragen und Antworten: »Wie heißen Sie?« -- »Ackermann.« »Was sind Sie?« -- »Hilfsschreiber!« »Zivilberuf?« -- »Student!« »Wo verwundet?« -- »An der Somme!« Unvermittelt nahm die Stimme des Generals einen strengen Ton an. »Wenn Sie auch Student sind, so können Sie doch Ihren Mantel vorschriftsmäßig zuknöpfen!« Die Hände des Soldaten fuhren nach den Mantelknöpfen. »Nachher, mein Sohn«, sagte der General wieder milder und ging. Schon verschwand er in der grüngepolsterten Doppeltüre. * * * * * Etwas unsicher machte Hauptmann Weißbach, der Adjutant, seine Meldung. Ottos verletzte Hand war soeben geröntgt worden. In wenigen Wochen dürfte Otto wieder völlig hergestellt sein. »Also, der Arzt befürchtet nicht, daß seine Karriere dadurch beeinflußt werden könnte?« Weißbach erblickte seinen Gebieter durch eine Art Nebel in Überlebensgröße. Er hatte die Empfindung, Wolken von Alkohol auszuströmen. Wenn man ihm mit einem Streichholz zu nahe kam -- um Gottes willen, seien Sie vorsichtig! -- so würde er lichterloh in Flammen stehen, augenblicklich -- diese etwas peinliche Empfindung hatte der Adjutant. Ganz abgesehen davon konnte jeden Augenblick der Parkettboden unter seinen Füßen einbrechen und er im Keller landen, bei den Rotationsmaschinen, die Tag und Nacht Karten aller Herren Länder ausspien. Vor knapp einer halben Stunde war er von Ströbel gekommen. Ströbels Herrenabende -- die Saharet zählte gar nicht -- pflegten sich stets bis zum Morgen auszudehnen. Punkt acht Uhr wurde die letzte Bank abgezogen. Dann badete man, rasierte sich und frühstückte. Herrlichen Mokka gab es bei Ströbel, Brötchen mit Butter -- einfach alles. Zuletzt noch einen Kognak -- und dann los! Ottos Unfall war telephonisch gemeldet worden. Augenblicklich hatte Weißbach, so wie es sich für einen Adjutanten gehörte, seine »Maßnahmen ergriffen«. Alles telephonisch. Er wollte ins Lazarett fahren, sobald eine Minute Zeit war. Er wußte, was man von ihm forderte -- Der General befahl mit Ottos Regimentskommandeur im Felde verbunden zu werden -- und dann: wenn Anmeldungen vorliegen? »Der Herr von der Presse.« »Ich bitte!« Die Verblüffung warf Weißbach nahezu zu Boden. Seit einer Woche bereits antichambrierte dieser Herr von der Presse, und Weißbach wagte kaum noch, ihn zu melden. Der General verachtete alles, was mit diesem Gewerbe zu tun hatte -- all diese entgleisten Studenten, Gelehrten und Schriftsteller, die die Anmaßung besaßen, die öffentliche Meinung machen zu wollen. Die hohen Bogenfenster spiegelten sich im gewichsten Parkett, der breite Goldrahmen des großen Kaiserbildes an der Wand glänzte. Sonst war der Arbeitssaal Leere und Kahlheit, bewohnt einzig und allein von Seiner Majestät, mit dem Marschallstab und der von Orden, Kreuzen, Sternen, Tressen und Schnüren funkelnden Brust. Von tiefem, feierlichem Blau waren die langen, schmalen Vorhänge an den hohen Bogenfenstern, silbergrau die Wände -- zuweilen wichen sie zurück, wenn der General arbeitete -- in weite Fernen, und es schien ihm dann, als säße er in einem endlosen Nebel. Der General heftete den Blick auf das Kaiserbild -- täglich tauschte er Blicke mit seinem obersten Herrn. Aber die Augen des Soldaten im weiten Mantel erschienen vor seinen Blicken: sonderbare Augen, in der Tat -- genau wie auf den alten Ölgemälden -- Schon trat der Herr von der Presse ein -- mit einem feierlichen Bückling, bis zum Parkett. Ein warmer Unterton in der Stimme des Generals ermutigte ihn näher zu treten. Weißbach unterbrach die Unterhaltung. »Das Regiment«, meldete er. »Befehlen Herr General das Gespräch hier hereinzulegen?« »Ich bitte -- es wird wohl nicht stören?« Der Herr von der Presse wußte das außergewöhnliche Vertrauen zu schätzen. Und der General begann in das Telephon zu schreien: »-- schon unterrichtet -- jawohl -- eine Abschiedsfeier, Herr Oberst, die bis morgens um sechs Uhr dauerte --« Und nun lauschte der General und verbeugte sich am Telephon. Der Regimentskommandeur drückte die Hoffnung aus, seinen tapfersten Offizier bald wiederzusehen. Er sagte ausdrücklich: tapfersten -- hier verbeugte sich der General -- und wieder heulte der General in das Telephon. »Stimmung ausgezeichnet, sagen Sie -- prächtige Laune -- Zuversicht -- es wird ja wohl bald wieder vorwärtsgehen --« und wieder lachte der General in das Telephon. »Sie verzeihen die Unterbrechung. Meinem Sohn ist ein kleines Malheur zugestoßen. Beim Einpacken, er sollte heute zum Regiment zurück, klemmt sich der Revolver, und plötzlich geht er los --« Auf den Zügen des Pressevertreters malten sich äußerster Schrecken und tiefste Anteilnahme. Untadelig glänzte das Wappenschild der Hecht-Babenberg durch die Jahrhunderte. Gerade dieses Wappenschildes wegen deckte der General seinen Sohn mit dem eigenen Leibe. Wenn man auch voraussetzen sollte, daß vor dem Namen Hecht-Babenberg die Zungen unverantwortlicher Schwätzer verstummten, so wimmelte dieses Berlin doch von Neidern und Verleumdern -- er selbst konnte ja ein Lied davon singen -- denen selbst das fleckenlose Wappenschild der Hecht-Babenberg nicht heilig sein würde . . . Der Dienst verschlang die Zeit, und im Augenblick war es Mittag geworden. Punkt ein Uhr raste die graue Limousine davon, um erst vor Stifters Diele, Unter den Linden, anzuhalten. 4 Der General frühstückte jeden Tag in Stifters Diele. Ruth war zur Mittagszeit in ihrer Küche beschäftigt, und allein in dem kahlen Speisezimmer zu Hause sitzen --? Nein. Es war am Tage noch ungemütlicher als am Abend -- und totenstill. In Stifters Diele waren wenigstens Menschen und etwas Lärm, gerade so viel, wie Leute mit guter Kinderstube ihn beim Dinieren erzeugen, ein beruhigender, wohltuender Lärm. Silber klirrte. Hier, in seiner Nische hinter den Stechpalmen, fühlte der General sich geborgen vor den Zudringlichkeiten der Welt. Zuweilen nur drang irgendein neugieriger Blick durch die Stechpalmen, um sich sofort wieder ehrfurchtsvoll zurückzuziehen. Stifters Diele war nicht ein gewöhnliches Restaurant, sondern eine Speisekapelle: farbige Kirchenfenster, Dämmerung, gedämpfte Lichter und dicke Teppiche. Das Speisen hatte hier die Form eines religiösen Kults angenommen. Die Kellner murmelten feierlich wie Priester, die die Beichte abhören. Zwischen dem Etablissement und den Gästen bestand eine stillschweigende Verabredung: das Etablissement versprach, seine Gäste gesund und wohlgenährt durch den Krieg zu bringen, wogegen die Gäste sich verpflichteten, zu schweigen und zu zahlen. Es verkehrten fast ausschließlich Stammgäste in Stifters Diele. Zumeist hohe Würdenträger, die neue Energien für den anstrengenden Dienst zu gewinnen suchten, und Junker, die von ihren großen Gütern nach Berlin kamen und die Küche der Diele kannten. Manchmal verirrten sich auch zweifelhafte Elemente hier herein -- aber sofort kam der Oberkellner, leider alles bestellt, die Herrschaften -- Wie eine Orgel summte die tiefe Stimme des Oberkellners. Näher als irgendein anderer Sterblicher es hätte wagen dürfen, rückte er dem roten Ohr des Generals. »Bouillon mit Mark oder Klößchen, Exzellenz? -- Mit Klößchen, sehr wohl.« »Hühnerpastetchen, Exzellenz? Heute ist fleischloser Tag, aber -- nur für unsere Stammgäste natürlich -- Chateaubriand -- Es ist auch etwas Kaviar eingetroffen. Ich darf eine Portion servieren, ohne den Preis zu nennen?« Der General setzte den goldenen Kneifer auf und blickte den Befrackten an. »Sie sagten --?« »Ja, über Finnland. Der russische Friede macht sich schon geltend. Haben Exzellenz übrigens die Flagge auf der russischen Botschaft gesehen? Nein? Zum erstenmal heute aufgezogen. Etwas Pudding oder Camembert?« »Camembert!« »Sehr wohl, Exzellenz. -- Den Wein habe ich schon bereitgestellt. Sehr wohl.« Jeden Mittag pflegte der General eine halbe Flasche Sekt zum Frühstück zu trinken. Zuweilen aber nippte er nur am Glase, es hing ganz von seinem Befinden ab. Die Leberklößchen, die auf der Zunge zerschmolzen, die Geflügelpastete mit eingehackten Champignons und würzigen Kräutern, das Chateaubriand auf englische Art, der Kaviar -- ein Erlebnis sozusagen nach langen Jahren -- neue Kraft erfüllte die Nerven, die Unglücksgeschichte Ottos, die Plackereien des Dienstes versanken. Nichts blieb, gar nichts, es war ein herrlicher Zustand des Schwebens im Nichts. Nur das Gegenüber störte die vollkommene Harmonie. Vielleicht würde er doch noch den Platz wechseln? Gegenüber saßen zwei Rittmeister. Mit ihren glattgeschorenen, runden Schädeln, voller Höcker und Knollen, ihren gedunsenen Gesichtern, ihren rosigen Fettnacken, waren sie die typischen »Etappenschweine«, die nie eine Kugel pfeifen hörten. Nichts aber haßte der General mehr als alles, was Etappe hieß. Dabei trugen sie ellenlange Ordensschnallen auf der Brust. Sie schämten sich nicht einmal, den Halbmond zu tragen, obwohl sie nie die Türkei gesehen hatten, einen Orden, den selbst der General nicht besaß. Immer tuschelten sie, immer kicherten sie, immer gossen sie die Gläser voll -- und goldene Armreife wurden an ihren haarigen Handgelenken sichtbar. Sie pflegten dem General ihre Achtung auszudrücken, ohne irgendwelche Übertriebenheit: es waren Leute der gleichen Gesellschafts klasse. Der General verachtete sie aus tiefster Seele. Schon aber stand der Oberkellner mit einer strahlenden Kerze vor ihm: »Eine Zigarre, Exzellenz?« Gott sei Dank, die beiden Burschen gingen. Der General legte sich behaglich in den Sessel zurück. »Aber das Pferdematerial?« fragte eine skeptische Stimme in seinem Ohr. Tag und Nacht war er mit den Problemen des Krieges beschäftigt. »Ob die Pferde noch den Anstrengungen einer Offensive gewachsen sein werden --?« »Die Pferde sind ausgeruht -- gut gefüttert und gepflegt«, antwortete eine zweite, zuversichtliche Stimme. Wieder war Ruhe, wieder herrliches Schweben im Nichts. Der General verschwand im Rauch der Havanna. Heute abend würde er bei Dora speisen. Es war Freitag. Dienstags und Freitags pflegte der General, wie schon erwähnt, bei Frau v. Dönhoff zu Abend zu essen. Plötzlich aber erhellte ein Gedanke die Augen des Generals. Sie erweiterten sich, blinkten hell aus der Dämmerung der Speisekapelle. Kalt, wach, nachdenklich. Der Gedanke hatte sie ganz erfüllt. »_Wo war Ruth?_« fragte er, und die Augen wuchsen. Dann schlossen sie sich zur Hälfte, nur noch ein Spalt war sichtbar, ein Spalt funkelnden Eises. Und diese unverständliche Bemerkung in dem Brief des kleinen Mannes mit dem blaugefrorenen Gesicht --? Bekam sie nicht plötzlich eine merkwürdige Bedeutung? * * * * * »Wie? Wie? Was!« rief der General aus, als er den Fuß vor Stifters Diele setzte. Er wankte. »Wie? Wie!« »Ist es möglich?« »Sind die Leute denn wirklich verrückt geworden?« In der Tat, deutlich spürte er das Schwanken des Bodens unter den Füßen. »War so etwas möglich? In Berlin?« »Unter den Linden?« Die Röte flog in sein Gesicht. Gegenüber, auf dem Dache gegenüber, wehte im frischen Wind, lustig, wie die selbstverständlichste Sache der Welt, hoch oben -- eine blutrote, blutrot leuchtende Flagge! Alle Blicke zog sie auf sich. Man stelle sich vor: eine rote Flagge in einer Stadt, wo selbst eine rote Krawatte eine lebensgefährliche Herausforderung ist, wo die rote Farbe, wenn sie allein auftritt, einfach verpönt ist, wo die Säbel der Polizisten jeden automatisch zerfleischten, der es wagen würde, ein rotes Taschentuch zu schwingen, um sich damit die Nase zu putzen. Und hier -- ohne weiteres -- wie die natürlichste Sache der Welt -- eine rote Flagge, eine rotleuchtende Standarte, gehißt an einem richtigen Flaggenmast, auf einem Dache! Die Spaziergänger bogen die Hälse, versteinerten, trauten ihren Augen nicht, zwinkerten -- Weithin leuchtete die rote Flagge und verkündete den Sieg des russischen Volkes über den Herrn der Galgen, siebenschwänzigen Katzen und Bleibergwerke -- über das endlose Häusermeer von Berlin strahlte sie, funkelte sie. »Sind sie denn da drüben gänzlich verrückt geworden?« Er meinte die Wilhelmstraße. Und der General versank in düsteres Nachdenken, während der Wagen die Linden hinabschoß. Diese Flagge -- getränkt mit dem Blute gekrönter Häupter und hoher Würdenträger . . . Schamlos. Zuweilen war es ihm, als höre er über sich ein Knistern, ein Splittern -- 5 »Ich glaube!« »Ich glaube an den Menschen!« »Ich glaube an die Güte des Menschen und seine Reinheit! Ich glaube an seine heilige Bestimmung und seine göttliche Seele! Ich glaube an die Brüderlichkeit, die Kameradschaft, an die allerlösende Menschenliebe! Dies ist mein Bekenntnis, großer Gott über der Finsternis!« Mit der ganzen Inbrunst seiner fünfundzwanzig Jahre schrie Ackermann, der Soldat, dies Bekenntnis vor sich hin. Soeben flog die bekannte graue Limousine an ihm vorüber. »Ich glaube --!« Die Glocke eines elektrischen Wagens gellte, und er sprang mit einem Satz zur Seite. Um ein Haar wäre er überfahren worden. Sein weiter, grauer Mantel flatterte dem Brandenburger Tor zu. Mit großen, raschen Schritten, wie gewöhnlich, ging er dahin. Er gestikulierte heftig, und seine rasenden, dunkeln Augen glühten in dem fahlen, mageren Gesicht. »Ich glaube an die Brüderlichkeit zwischen den Völkern, die sich heute zerfleischen! Ich glaube an den Tag, da man die Kanonen und Schlachtschiffe zertrümmern, die Grenzpfähle umstürzen und die Flaggen zerreißen wird! Ich glaube an den Tag, da die Menschen nur eine Sprache sprechen werden, einerlei welche, denn nicht um die Sprache handelt es sich, allein um die Gedanken, die sie damit ausdrücken!« »Ich glaube an den Tag, da kein Mensch mehr den Menschen ausbeuten wird, an den Tag, da es weder weiße noch schwarze, noch gelbe, weder männliche noch weibliche Sklaven geben wird, an den Tag der gleichen Rechte bei gleichen Pflichten! Ja, ich, Ackermann, glaube daran! Ich glaube an den Sieg des Rechts über das Unrecht, der Wahrheit über die Lüge! Ich glaube, daß göttliche Ideen die Welt bewegen und nicht die Kanonen.« »Ja, ich, Armseligster unter den Armseligsten, ich glaube an das kommende Menschenreich auf Erden -- das Reich der Vernunft, Gerechtigkeit, Würde und Schönheit!« »Auch an dich glaube ich, mein Volk!« rief Ackermann mit rasenden, glühenden Augen aus, und durchschritt das Brandenburger Tor. Es ist gut, dachte er aufatmend, sich zuweilen sein Bekenntnis zu wiederholen -- in dieser entsetzlichen Verfinsterung -- so gut tut es. In diesem Augenblick wurde sein rascher Schritt urplötzlich gehemmt. Etwas Ungewöhnliches, Unerwartetes, ein Wunder! Feuer lohte durch seinen Körper, Glut flog über sein Gesicht, die Hände brannten. Der Himmel blendete, der Himmel jubelte. Rot flammte der Himmel über Berlin. Schon --? Schon --? Verheißung . . . Er blieb stehen, schob die Mütze zurück über die schwarzen Haare, und -- so erregt war er -- deutete auf die rote Flagge auf dem Dache. Seine Lippen bebten. Ohne jede Regung stand er, gläubiges Feuer die Augen. Dann nahm er die Mütze ab. »-- Licht aus dem Osten, Morgenröte --« 6 Während der General bei Stifter dinierte, löffelte der Havelock, der kleine Herr Herbst, in der Volksküche in der Dorotheenstraße seine Kartoffelsuppe. Er kam häufig hierher, aus bestimmten Gründen. »Also nicht?« flüsterte er aufgeregt vor sich hin. »Und ich wartete extra vor dem Restaurant und grüßte, aber er sah mich nicht. Er hätte sich gewiß daran erinnert. Nun, vielleicht -- wenn auch dieser Portier glaubt -- ein alter Mann, was weiß er?« Herr Herbst saß in seinem feuchten, dampfenden Mantel, den steifen Hut auf dem Kopf, neben einem Fenster, das auf den düsteren Hof hinausging. Auf dem Fensterbrett lag noch dieselbe tote Fliege -- wie lange lag sie schon da? Wieder stand im Hof das Auto mit den Papierballen. Dieser Hof gehörte zu jenem bekannten roten Gebäude in der Dorotheenstraße, wo die Verlustlisten auslagen. Jeden Tag kam das Lastauto mit den riesigen Ballen der neugedruckten Listen, täglich, seit dreieinhalb Jahren -- sie fielen da draußen wie das Laub der Bäume im Herbst. Wie das Laub -- nicht anders -- so dachte Herr Herbst, voller Gram. Auch er, sein Sohn -- Robert -- war gefallen -- nun -- wie ein Blatt -- das einfach fällt . . . ohne daß jemand es sieht . . . Er nickte vor sich hin. »Wie ein Blatt --« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, während er stöhnte. »Und niemand sah es!« Ach, ach, ach! Plötzlich schrie der Alte laut auf, ein kleiner, verzweifelter, quiekender Schrei. Die Gäste an den Nebentischen wandten sich um. Schon war er wieder still, nur keine Beunruhigung, und schlürfte seine Suppe. Der Schmerz hatte ihn überfallen, wie ein reißendes Tier, urplötzlich. Die Küche war zur Stunde in Hochbetrieb. Sie dampfte und klapperte. Sie roch nach Kohl, wie alle diese Küchen. Ohne Kohl und Rüben hätten sie sofort schließen müssen. Der Havelock aber fand sie elegant im Vergleich zu den Küchen am Halleschen Tor und Alexanderplatz. Hier gab es zum Beispiel Bestecke, wenn auch aus Blech, aber ohne Pfand, während man in jenen Küchen eine Mark als Pfand hinterlegen mußte. Diebe waren die Menschen geworden, nichts als Diebe, sie stahlen einfach alles, was sie mitnehmen konnten. Hier dagegen verkehrte nur gutes Publikum. Junge Kaufleute und Bureauangestellte, kleine wächserne Stenotypistinnen, düstere, vergrämte Beamte, bleiche, bebrillte Studenten, Mappen und Bücher unter dem Arm, einzelne Uniformen. Sie standen um die kahlen Holztische und warteten geduldig auf Platz. Unaufhörlich ging die Türe, und Nässe und Kälte strömten in das düstere Lokal. Bleich, gelb, mit wächsernen Ohren, die Schultern nach vorn gebogen, hustend, trüb die Augen, fiebernd -- sie alle waren schon gezeichnet. Die Grippe würde sie holen, heute, morgen, in einem Jahr -- spielt keine Rolle, sie entgingen ihr nicht mehr. Die Bretter lagen schon geschnitten für sie auf dem Stapel irgendeines Holzplatzes. Aber noch lachten sie, die kleinen wächsernen Stenotypistinnen, kicherten. Sollte man es für möglich halten -- während schon die Bretter zusammengenagelt wurden? Sie erregten sich, debattierten, das Blut stieg in die bleichen Gesichter. »Haben Sie gelesen -- haben Sie gehört -- nun behaupten sie, daß wir Fett aus Leichen herstellen.« »Fett aus -- wie sagen Sie? Wer --? Fett?« »Die Entente, natürlich!« »Diese Schurken, diese --!« »Ah, ah -- aber das ist doch --!« »Ist es nicht schlimmer als Mord? Sind wir Verbrecher, Auswurf der Erde? Darf man -- ich ertrage es nicht mehr, ich zittere an allen Gliedern -- die Grippe. -- Wie können Menschen so tief sinken? Ah, pfui, pfui --!« »Auch mich hat die Grippe gepackt. Sie sollten sich nicht so erregen, beim Essen besonders. Und die Regierung --?« »Die Regierung? Sie schläft. Sie liest keine Zeitungen, weiß es noch gar nicht. Sie läßt das Volk beschmutzen, schläft. Versteht nichts, hat Bedenken, unfähig, über alle Maßen.« Kohl und Rüben, Rüben und Kohl, jeden Tag. Erfrorene und angefaulte Kartoffeln, vielleicht etwas Erbsen und zuweilen, ganz selten, ein Stückchen Fleisch, sehr wenig, und meistens ein Knochen. Die Knochen wurden ja gesammelt und den Küchen zur Verfügung gestellt. Aber doch war es weitaus besser hier als am Alexanderplatz, dort roch es sauer und unangenehm, zum Erbrechen. Scheu und vorsichtig drehte der Havelock den Kopf -- und dort, dort stand _sie_ -- der Liebling! Selbst zart, selbst blaß, geduldig, immer lächelnd, immer etwas zerstreut, manchmal steckte sie sogar den Finger in den Mund, mitten in diesem Wirbel von Köpfen und den Wolken von Kohldampf stand sie, _seine_ Tochter -- die Tochter des Generals. Sie stand am Küchenfenster, aus dem die endlosen Reihen von dampfenden Tellern von roten Händen geschoben wurden, und kontrollierte. Zuweilen trat sie auch an einen Tisch, plauderte, besänftigte. So zart, so fein, ihre Augen schimmerten -- diese Händchen -- sollte man es für möglich halten -- mitten in diesem dicken Kohlgeruch, diesem Lärm -- ein gnädiges Fräulein, die Tochter eines hohen Offiziers? Sie war auch im Felde gewesen -- alles wußte der Havelock -- dort hatte sie gepflegt. Sie, die Zarte, hatte den furchtbaren Kanonendonner gehört, von dem Robert immer schrieb. Nur in ihrer Haltung, wenn sie rasch den Kopf wandte, hatte sie etwas Ähnlichkeit mit dem General -- sonst keine, nicht die geringste. Verstohlen blinzelte der Havelock zu ihr hin, und plötzlich errötete er wie ein Verliebter. Sein Herz war verwaist, einsam, er war aus der Provinz zugezogen, kannte niemand in Berlin, er trank auch, der Alkohol -- es war die Wahrheit: er liebte die Tochter des Generals! Ganz gegen seinen Willen, denn eigentlich wollte er sie hassen! Er kam nur hierher, um seinen Liebling zu sehen, wie er Ruth nannte. Ihr Anblick erwärmte sein Herz. Sie selbst hatte ihn ja hierher gebracht, in diese Küche. Auf diese Weise hatte er überhaupt erst diese Küche entdeckt. Nun aber kam Ruth näher, und er wandte rasch den Kopf ab und blickte auf den Hof hinaus, wo Soldaten die Papierballen von dem Lastauto abluden. Wieder dieser Alte mit der runden Hornbrille, wieder war er unzufrieden! Jeden Tag fast hatte er irgend etwas auszusetzen. »Wir tun, was in unseren Kräften steht«, suchte Ruth ihn zu beruhigen. Aber der Alte mit der Hornbrille schrie aufgeregt: »Ich bezahle ja, mein Geld ist so gut wie das Geld der andern. Und wo ist die Einlage, Fräulein --?« Verzweifelt rührte er mit der Gabel zwischen den Kohlblättern. »Ich habe für fünfundzwanzig Gramm Fleischmarke gegeben, Fräulein -- und wo ist das Fleisch, ich bitte Sie? Wo? Wo ist mein Fleisch -- ich habe Anspruch. -- Wo ist mein Fleisch -- mein Fleisch -- mein Fleisch --!?« »Ich werde sehen«, erwiderte Ruth und trug den Teller des Alten zur Küche. Der Havelock atmete auf. Da aber erschien der weite, graue, offene Soldatenmantel in der Türe -- und sofort rückte der Havelock den steifen Hut zurecht und ging. 7 Ja, die Tochter des Generals selbst hatte ihn in diese Küche geführt -- sehr einfach -- obwohl er nie ein Wort mit ihr gesprochen hatte . . . Hinab die Friedrichstraße segelte der Havelock mit dem steifen Hut. Es sah aus, als schwimme er, aufrecht stehend, so unmöglich das ist. Er trippelte und schlürfte, die Knie etwas eingebogen, die linke Schulter eine Kleinigkeit geneigt. Seit gestern morgen war er unterwegs, hatte nur auf einer Bank im Tiergarten ein kleines Nickerchen getan, im Regen -- nun fühlte er seine Beine und Füße nicht mehr. Ohne jede Anstrengung glitt er vorwärts, es ging von selbst. Er rollte auf einer kleinen Wolke dahin, nicht größer als ein gefüllter Kartoffelsack. Zuweilen spürte er sie wie Teig unter den Sohlen. Er konnte auf dieser kleinen Wolke auch ausbiegen, nach links, nach rechts, ohne jede Mühe -- Ja, sie selbst -- seine Tochter, das gnädige Fräulein. Er stand da bei einem Zigarrenladen, mitten in dem Zug von gierigen Rauchern, die warten, bis geöffnet wird, und die Zigarren steigen im Preise, während sie warten. Das ist Tatsache! Da stand er also und sprach mit einem Soldaten, Kraftfahrer. Dieser Kraftfahrer kannte nicht die Höhe von Quatre vents, er kannte nicht Roberts Bataillon, das am 5. August stürmte, aber er kannte den Chauffeur des Generals, Schwerdtfeger mit Namen, und der General war seit vier Wochen nach Berlin kommandiert! Wie? Hier? Welch ein Zufall! Wieviel hundert Soldaten hatte er angesprochen, und nun führte ihm Gott diesen Kraftfahrer in den Weg! Er war hier? Hier! Schlaflos die Nächte, ruhelos die Tage. Ja! Dieses Gesicht --! Dieses schweigende Gesicht, das nie sprach, diese Augen, die man nie sah! Dieser Gang -- und der tiefe Bückling des Portiers! -- ohne jeden Zweifel: er war es! Robert hatte ja ausführlich aus dem Felde geschrieben: Wir marschierten vorüber, und unser General stand auf der Treppe seines Schlosses und grüßte. Er und kein anderer! Wie aus einem Felsen gehauen . . . schrieb Robert. Das also war er, den die Soldaten -- nun, besser, das Wort nicht auszusprechen -- nannten! So sahen die aus, die befahlen: Nur über unsere Leichen führt der Weg zur Höhe! -- Die Briefe Roberts knisterten in seiner Tasche. Tagelang verfolgte ihn das Steingesicht durch das Labyrinth der Straßen. Sonderbares Gesicht aus Stein. Es zog an! Jeden Mittag schoß das graue Auto in die gleiche Richtung -- schon zwei Tage später stand der Havelock vor Stifters Diele. Und plötzlich grüßte er, und der General hob die Hand zur Mütze. Weshalb? Weshalb grüßte er, er hatte eine Sekunde vorher gar nicht daran gedacht, daß er den General grüßen könnte -- grüßen durfte. Es war gewiß anmaßend, unhöflich. Nach drei Tagen -- er hatte nichts zu tun, gar nichts, Rentier Herbst -- nach drei Tagen schon wußte er, wo der General wohnte. Dieses Haus -- Sie erlauben wohl -- kannte er ganz genau, jedes Fenster und die kleinsten Risse in der grauen Mauer. Das Haus erschien ihm im Traum -- als ein Gesicht aus grauem Stein. Er kannte auch das efeubewachsene Backsteinhaus mit dem Messingschild: Dönhoff. Er kannte den Zebrakittel, Petersen -- alles liebe Menschen, gesprächig -- * * * * * Der Havelock rollte auf seiner kleinen Wolke über den Belle-Alliance-Platz, unter der Hochbahn hindurch, die Blücherstraße hinab. Hier glitt er an einem schmalen, gelben Hause einigemal hin und her, blickte nach oben zur dritten Etage, wo die Rolläden herabgelassen waren. Dieses Haus, diese Etage schien ihn ungemein zu interessieren -- anzuziehen, abzustoßen . . . Seine Schultern krümmten sich zusammen, er ächzte, plötzlich fühlte er die Last wieder, die ihn zu Boden drückte, die er ewig mit sich schleppte durch die endlosen steinigen Straßen Berlins. Dann aber wandte er entschlossen um und rollte wieder die Blücherstraße hinauf. Da aber blieb die Wolke stehen und war nicht mehr vorwärts zu bewegen. Im nächsten Augenblick -- schon war er drinnen. Ein Gläschen, noch eines und ein drittes! Schon war er wieder auf der Straße. Aus dem grauen Hause des Generals, mit den Messingbeschlägen an der Türe, die unausgesetzt geputzt und poliert wurden von den beiden Burschen, war täglich eine junge Dame gekommen. Heute, morgen, jeden Tag. Seht an! Eine Zigarre gefällig, Herr Soldat. Ein Zigarrchen -- immer fleißig, ein schöner Wintertag . . . Nun kannte er Jakob und Wangel. Mit Jakob kam er öfter ins Gespräch. Außer Ruth war auch noch ein Sohn da, Otto, Oberleutnant, im Felde, und die Frau des Herrn Generals -- tot, ja, tot, seit Jahren. Jeden Tag aber ging das gnädige Fräulein in die Dorotheenstraße und verschwand in einem Torbogen. Schließlich wagte er es, ihr zu folgen. Auf diese Weise hatte er die Küche in der Dorotheenstraße entdeckt. Täglich konnte er nun seine Tochter, die Tochter des Generals, sehen! Da stand sie, dicht neben ihm -- Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blute. Der Haß kochte, die Gelüste nach Vergeltung fraßen . . . Er beschloß, sie zu beleidigen! Vor allen Gästen! Vielleicht würde er ihr einen Teller vor die Füße werfen, aber so, verstehen Sie, daß er in tausend Stücke zersprang. Weshalb eigentlich? Ja, unerklärlich -- hatte sie ihm etwas getan? Tagelang brütete er, schmiedete er Pläne. Vielleicht würde er einen Teller mit Kohlgemüse über ihre Schürze schütten? Eine herrliche Idee! Aber da ergab sich die Sache ganz von selbst. Der Havelock blieb stehen und verschnaufte. Ob er in jene Kneipe gegenüber gehen sollte? Ganz von selbst Eines Tages, ganz unerwartet, fügte es sich, daß sie dicht neben ihm an einem Tische plauderte. Nun aber kam das Schmachvolle -- Heute noch trat ihm der Schweiß auf die Stirn, wenn er an das Schmachvolle dachte, obgleich schon zwei Monate seitdem vergangen waren. Nicht einen Teller voll Kohlsuppe, nein, sondern nur einen Löffel voll -- er nahm ihn und ließ ihn über die Schürze Ruths fließen. Schon aber, Allmächtiger, packte ihn eine harte Hand am Arm, und eine Stimme schrie durchs ganze Lokal: »Wie können Sie es wagen --?« »Ich -- ich -- ich zittere mit der Hand --« »Nein, deutlich habe ich es gesehen, Sie!« Der Soldat mit dem weiten Mantel stand neben ihm, voller Zorn. Die Gäste sahen auf, es erregte Aufsehen, ringsum, alle Tische blickten her. Und der Soldat in dem weiten Mantel schrie ganz laut: »Sie sind mir ein netter Herr. Gießt der Dame einfach einen Löffel mit Suppe über die Schürze --« »Meine Hand zittert --« Da aber wandte sich Ruth um. Sie besah die Schürze, nahm ihr Taschentuch, und lachte -- lachte ihm freundlich ins Gesicht. »Vielleicht hat man den Herrn angestoßen. Es ist ja nicht schlimm.« »Ich zittere, meine Hand zittert --« »Es ist ja kein Unglück geschehen.« Schmachvoll, schmachvoll! Er hatte Tränen in den Augen. Wie kam er doch dazu, ganz einfach den Löffel voll Suppe über ihre Schürze zu gießen? An diesem Tage trank er so sehr, daß er schließlich die Treppe hinabstürzte und sich blutig schlug. Aber so geschah ihm gerade recht. Seit diesem Vorfall blickte er auf die Tochter des Generals mit andern Augen. Sein Herz pochte, sobald er sie erblickte. Er liebte sie, eigentümlich. Diese Gedanken erfüllten den kleinen alten Mann, während er durch das Labyrinth der Straßen eilte. Er überquerte wimmelnde Plätze, geriet in Strudel von Menschen, die aus der Erde quollen -- und plötzlich machte er Miene umzukehren, den ganzen Weg, den er gekommen war, zurückzugehen. Wie? Sollte er in die Lessingallee gehen, heute abend? Nein, nach Hause, ohne Widerspruch, verstanden? 8 »Oberleutnant v. Hecht-Babenberg?« »Dritte Station, meine Dame, den Gang entlang und dann links. Zimmer 233.« Man mußte nur höflich fragen, dann bekam man selbst hier in Berlin höfliche Auskunft. Hedi war stolz auf ihre Fähigkeit mit den Menschen umzugehen. Selbst jetzt, wo sie rasend wurden, wenn man sie nur anblickte, kam sie noch vorzüglich mit ihnen aus. Allerdings sah dieser Pförtner wohl auf den ersten Blick, daß er eine Dame vor sich hatte. Sie wollte natürlich einen guten Eindruck machen, wenn sie Otto besuchte, und hatte ihr himbeerfarbenes elegantes Hütchen aufgesetzt. Dazu trug sie den Biberkragen von Mama und helle Seidenstrümpfe. Aus der Papierhülle lugten drei weiße Rosen. Es roch nach Karbol, aber Hedi liebte Karbolgeruch. Alles war blitzblank und eigentlich weniger schrecklich, als sie es sich gedacht hatte. Sie liebte es nicht, derartige Orte zu besuchen, Friedhöfe, Krematorien, Krankenhäuser flößten ihr Schauder ein. Sie mied sie. Nur Mamas Grab besuchte sie zuweilen -- aber das war ja schon lange her. Nun aber wurde der breite Korridor belebter, und sie schritt schon etwas zaghafter vorwärts. Ein Soldat, dem der rechte Fuß abgetrennt war, humpelte an ihr mit bloßem Fußstumpen vorbei. In hellen Krankenkleidern saßen auf einer langen Bank Soldaten mit verbundenen Armen, Beinen und Köpfen. Sie erwarteten sie mit neugierigen Blicken, musterten sie von oben bis unten, und sie fühlte voller Unbehagen all die Blicke der verwundeten Männer auf ihrer Haut. Plötzlich wurde die Türe eines Saales geöffnet, und Hedi war so unvorsichtig, einen Blick in den Saal zu werfen. In diesem Saale wurde auf einem Holztisch gerade ein Soldat verbunden, dem ein Bein bis zum Knie amputiert war. Der nackte Schenkel endete nicht -- zu Hedis Entsetzen -- mit einem Fuße, sondern mit einer Art Pferdehuf, einem roten Lappen unterhalb des Knies. Ein Arzt betupfte den roten Pferdehuf mit Watte. In diesem Augenblick drehte der Verwundete seine Augen zur Türe, Augen voll größter Qual und äußersten Schmerzes. Schon wurde die Türe wieder geschlossen. Hedi war nahe daran zu taumeln. Hinter der Türe eines Operationssaales stöhnte ein Verwundeter, und die barsche Stimme eines Arztes gebot ihm Ruhe. An einer Kreuzung von Korridoren stieß sie auf eine Tragbahre, die von zwei Soldaten vorübergetragen wurde. Mit einem Laken zugedeckt lag darauf ein Soldat, dessen Gesicht bis zur Nase verhüllt war. Er hatte die glänzenden Augen zur Decke gerichtet und sah sie nicht an. Hedi war purpurrot geworden. Welcher Irrsinn, hierher mit einem himbeerfarbenen Hut und hellen Seidenstrümpfen zu kommen? Sollte sie umwenden -- entfliehen? Da aber schrak sie zusammen! Wildes Geschrei, als ob jemand lebendig in Stücke geschnitten würde. Mein Gott, was müssen diese Menschen Unsägliches erdulden! Wer ahnt es denn? Das Geschrei trieb sie rascher vorwärts. Da aber knallte eine Türe, und das Geschrei erscholl plötzlich in nächster Nähe. Ein schreiender Soldat, der den verbundenen rechten Arm hochhielt, stürzte über den Korridor, gefolgt von einer Schar von Ärzten und Krankenschwestern. Der Schreiende lief wie gehetzt den langen Korridor hinunter. In der weißlackierten Türe erschien das bebrillte, fahle Gesicht eines Arztes im weißen Kittel, der laut auflachte. Das Geschrei entfernte sich. Hedis Blick flatterte. Ihre Haut war von Hitze bedeckt wie von heißem Sand. Entsetzen hauchte aus diesen getünchten Mauern. Dieses Krankenhaus war ein endloses Labyrinth, durch graues und blaues Eis gehauen. In der Ferne tauchte die Dämmerung an den kahlen Korridorfenstern, Schatten humpelten, hinkten durch ferne Quergänge. Ein Labyrinth mit Tausenden von Kammern voller Qualen und Grauen. Tag und Nacht schnitten hier die Messer in Menschenfleisch, unaufhörlich füllten sich die Eimer mit Blut und Eiter. Die Wände schwangen von Schmerzen. Das ganze Haus war wie eine Riesenwunde, eine Schlucht von eiterndem Fleisch, in der die Ärzte mit ihren Messern kletterten. Da kam aus einem Quergang würdevoll ein hoher Offizier geschritten. Langsam trieb seine massige Gestalt mit den steilen Schultern -- wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt -- durch den Korridor. An den Umrissen schon erkannte Hedi den General. Zwei Krückenmänner stellten sich in Positur, einer mit Socken an den Füßen, dem andern fehlte ein Bein. Sie standen auf den Krücken gegen die Wand gelehnt und warfen das Kinn in die Höhe. Auf einem Stuhl kauerte ein Krüppel mit dickumwickeltem Bein. Er blieb sitzen, den Oberkörper steif aufgerichtet, und stellte die beiden Krücken vor sich hin, als präsentiere er wie mit dem Gewehr. Der General schritt vorüber, ohne Hedi anzusehen. Sie hatte ihn übrigens nur einmal bei Dora getroffen, er hätte sie schwerlich wiedererkannt. Eine Pflegerin, eine taktlose Person, gab Hedi mit malitiösem Lächeln den Bescheid, daß Otto heute keine Besuche mehr empfangen könne. Sie hatte ihre Karte ins Zimmer geschickt, er wußte also recht gut, daß sie es war. Deutlich hatte sie seine helle Stimme im Zimmer gehört. Natürlich war sie nur gekommen, um ihm ihre Teilnahme an seinem Unfall zu zeigen -- aus keinem andern Grunde. Er sollte sehen, daß sie erhaben war über gewisse Dinge. Diese taktlose Person aber musterte Hedis himbeerfarbenes Hütchen, ja sie erdreistete sich, den Blick an ihr hinab bis zu den hellen Seidenstrümpfen streifen zu lassen. Hedi warf einen kritischen Blick auf die etwas unordentliche Frisur der kleinen rothaarigen Pflegerin. Augenblicklich war zwischen den beiden Damen eine tödliche Feindschaft ausgebrochen. »Das allgemeine Befinden ist gut?« erkundigte sich Hedi mit liebenswürdigem Lächeln. »Man kann indessen nie wissen, ob nicht Komplikationen eintreten«, entgegnete die Schwester ausgesucht höflich. »Wie wahr!« Hedi lächelte spöttisch und grüßte mit vollendeter Liebenswürdigkeit. Die Rosen aber nahm sie wieder mit. »Hotel Kaiserhof!« rief sie dem Kutscher zu, als sie wieder in die Droschke stieg. Denn Hedi hatte sich einen Wagen geleistet. Es gab gewisse Stadtviertel Berlins, vor denen sie Furcht hatte. Plötzlich warf sie die Rosen mit einer zornigen Bewegung durch das Wagenfenster auf die schmutzige Straße. Zwanzig Mark für drei Blumen, welcher Wahnsinn! Otto hatte ihren Besuch sicher völlig falsch ausgelegt. Gewiß war es ihm unmöglich, an lautere und selbstlose Motive bei seinen Mitmenschen zu glauben. Nun aber lebe wohl, Otto! Sollte er ruhig mit dieser rothaarigen Person -- ja, ihretwegen . . . * * * * * Der Geiger schob ein violettes Seidenkissen zwischen Frack und Kinn, grüßte noch mit einem koketten Lächeln ins Publikum, dann schleuderte er den Bogen in die Luft, daß seine blendende Manschette aus dem Ärmel fuhr: Carmen. »Auch Kuchen?« »Auch etwas Kuchen, bitte.« Da saß sie nun wieder, Hedi. Erstens, dachte sie, erstens und zweitens und drittens -- man muß nun genau überlegen. Es wird höchste Zeit, so geht es nicht weiter. Erstens also stand fest, daß sie sich in ewiger Geldkalamität befand. Zweitens langweilte sie sich zu Hause zu Tode, und drittens: es mußte etwas geschehen. Sie hatte keine Lust, ihre ganze Jugend zu vertrauern, nur weil dieser Krieg kein Ende nahm. Aber nicht so rasch, bleiben wir bei erstens. Dieses bißchen Taschengeld, das ihr Papa an jedem Monatsersten mit strahlender Miene einhändigte -- lächerlich. Wie konnte Papa glauben -- nun, Papa verstand es eben nicht anders. Es blieb nichts anderes übrig, als Geld zu schaffen! Es lag ja zurzeit auf der Straße, die Leute sagten es wenigstens, die Millionen flogen durch die Luft. Sollte sie filmen? Schnurrige Idee, aber leider unausführbar. Man mußte -- wie herrlich war doch diese Musik, voller Mut! -- man mußte Verbindungen haben, und die Gesellschaft --? Nein. Übrigens, diese Gesellschaft, darauf gab sie nicht so -- viel! Immerhin -- der Kellner brachte den Tee, und Hedi war für eine Weile in Anspruch genommen. Wieder saß die Weizenblonde mit den Brillantohrringen da, und auch jene Dunkele, Tragische, mit den hellgelben Stiefelchen. Und jener alte Herr mit dem Schnauzbart und der Glatze nahm ebenfalls wieder hier seinen Tee. Hedi schloß plötzlich, um sich zu amüsieren, das eine Auge und blinzelte ihn über das Teeglas hinweg unvermutet an. Der Herr mit der Glatze prallte im Sessel zurück -- aber schon hatte Hedi ihr Batisttüchelchen aus der Tasche genommen und rieb sich das Auge, als sei etwas hineingeflogen. Nein, wie komisch diese Männer waren! Ja, Geld mußte jedenfalls geschafft werden. Sie besaß, zum Beispiel, drei Paar Seidenstrümpfe. Schon rannen die Maschen, obgleich die Strümpfe nur bei besonders feierlichen Anlässen getragen wurden. Aber wenn diese Strümpfe nun unbrauchbar wurden? Die Handschuhe, die Stiefel, wenn es sich darum handelte, ein neues Kleid zu beschaffen --? Und schon würde sie aus der Klasse der Tadellosen, der Ladies ausschalten. Schon, es ging rasch, die Gesellschaft duldete keine abgeschabten Knopflöcher, keine geflickten Stiefelchen. Und sie würde second class sein -- unerträglich! So unglaublich es klang, ihre Zukunft, ihr ganzes Leben hing an einem Paar Seidenstrümpfen. Fürchterlich war der Gedanke an den Sturz in die Tiefe. Sie erschrak, Schwindel ergriff sie. Es war aber hohe Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Bald würde sie sich, zum Beispiel, um nur ein Beispiel zu nennen, wieder ein Stück Seife im Schleichhandel kaufen müssen -- so ging es jeden Tag! Zu Hause war das Leben unerträglich geworden. Papa, lieb und gütig, aber immer müde, überarbeitet, immer beschäftigt. Und dabei wußte er gar nichts, trotzdem er im Auswärtigen Amt arbeitete! Häufig geschah es, daß sie bei Tisch etwas sagte, etwas Politisches, und Papa schüttelte tadelnd den Kopf. Man sagt so etwas nicht, mein Kind. -- Aber Papa, es stand ja schon vor drei Tagen in der Zeitung! -- Ah, schon vor drei Tagen --? -- So war Papa. Klara war ein Kind. In einer Minute tanzte sie wie eine Närrin, in der nächsten weinte sie. Sie kannte das Leben noch nicht. Sie war noch nicht in das Alter gekommen, wo jeder Tag ein Problem ist, ein fürchterlicher Kampf, wo man bei lebendigem Leibe täglich vor Sehnsucht verbrannte -- wo man wartete, wartete -- wo das Warten das schrecklichste Leiden ist. Oh, schrecklich! Schrecklich! Grau gingen die Tage. Sie lebten äußerst bescheiden, sie besaßen kein Vermögen. Dazu, hatte Papa ihnen verboten, die Gesetze für die Ernährung im geringsten zu verletzen. Wie lebten sie, was aßen sie -- trotzdem sie alles Mögliche auf den Tisch schmuggelten -- es war eine Schande und niemand durfte es wissen, wenn sie nicht für immer unmöglich sein sollten. Zum Beispiel Rüben, wie die Kühe sie bekommen, erfrorene Kartoffeln . . . Grau, kalt, finster gingen die Tage. Licht, Glanz, Wärme, Frohsinn, Tanz, Feste, die früher den Eintritt der jungen Mädchen in das Leben begleiteten -- wo waren sie? Sie hatte vor dem Kriege nur zwei Bälle mitgemacht, davon träumte sie noch heute. Was war diese Musik im Vergleich zu jener Musik auf den Bällen? Ein zaghaftes Echo. Diese Beleuchtung -- ein Abglanz. Das Lachen der Menschen von heute, ihre Mienen -- Schatten in einer Schattenwelt, nicht mehr, nicht mehr . . . Plötzlich aber beugte sich Hedi errötend über das Teeglas: dort stand er! Der Spanier war gekommen! Er wußte, daß sie wieder hierherkommen würde, daß er also, wenn er sie zu sehen wünsche -- sie hatten sich verstanden. In seinem gelben Mantel stand er im Mittelgang und polierte das Einglas. Er hatte sie sofort gesehen und überlegte nun. Ob er den Mut haben würde sie anzusprechen? In der Droschke hatte sie schon Träume gesponnen -- ein Wiedersehen beim Tee, zum Beispiel im Adlon oder Bristol -- vielleicht ein Theaterabend, in einer Loge -- ein Diner, wo man plauderte . . . Er kam. Hedi hatte ihre Verlegenheit vollständig überwunden und blickte ihm ruhig entgegen. Sie war wieder ganz Lady. Ströbel kam geradeswegs auf sie zu, die Brauen wie vor freudigem Erstaunen hochgezogen. Aber je näher er kam, desto häßlicher wurde er. Sein gelber Mantel war etwas zu weit, zu auffallend. Die ganze Kleidung zeigte eine etwas übertriebene Eleganz. Ah, und nicht die Spur von einem Spanier, er war eine -- Bulldogge. Seine blaurasierten Wangen waren etwas faltig, fahl und verlebt, nichts blieb von dem Spanier als das glänzende schwarze Haar, das um eine Kleinigkeit zu eng an den Kopf gebürstet war, das um eine Idee zu stark pomadisiert war -- nicht first class mit einem Wort. Aber er hatte die Nonchalance, die Manieren der großen Welt. Mit unübertrefflicher Zwanglosigkeit verbeugte er sich. »Unser gemeinsamer Freund hat einen Unfall erlitten --«, begann er, gänzlich unbefangen. Und er verlor seine Unbefangenheit auch nicht, als Hedi ihn anblickte -- gänzlich verständnislos. Obschon sie doch mit ihm das Theater besuchen, dinieren, plaudern wollte, bei einem Glas Sekt zum Beispiel -- gänzlich verständnislos. »Sie täuschen sich, mein Herr«, erwiderte Hedi mit einem liebenswürdigen, verstehenden, verzeihenden Lächeln, einem Lächeln, wie nur eine Dame von Welt es auf die Lippen zu zaubern vermag. War es nicht eine Unverfrorenheit ersten Ranges, sie hier im »Kaiserhof« einfach zu überfallen? »Sie saßen doch gestern --?« »Ich erinnere mich nicht.« Hedis Stimme wich in weite Fernen zurück. Fern und unwirklich wurde ihr Lächeln. »Wir wollen nur hoffen, daß Herr v. Hecht --« Hedis Augen wurden plötzlich kühl, das Leben erkaltete in ihnen. Mit einer tadellosen Verbeugung, völlig ungezwungen, völlig Herr der Situation, zog Ströbel sich zurück. Der Geiger in seinem schwarzen Frack schwang sich in den Hüften und blickte kokett lächelnd zum Tisch der Dunkeln, Tragischen, der das Mißgeschick passiert war, ein Glas Wasser umzustoßen. Hedi gab ihren Mienen einen träumerischen und harmlosen Ausdruck. Niemand sollte auf den Gedanken kommen können, daß ein Wildfremder es gewagt habe, sie anzusprechen. Die Weizenblonde mit den Brillanten in den Ohren hatte die Szene beobachtet. Hedi streifte sie mit einem Blick, und in dem kaum merklichen Aufatmen ihrer Brauen, mit dem sie über die Weizenblonde hinwegsah, lag ihre ganze Verachtung. Nein, nein, noch war sie lange nicht _so weit!_ Was bildete er sich doch ein --? 9 Zögernd bog der kleine Herr Herbst um die zugige Ecke und lenkte in seine Straße, die Fabriciusstraße, ein -- ganz weit da draußen. Eine plumpe Eisenbrücke spannte sich zwischen den Häusern, und soeben rollte donnernd ein Lastzug darüber. Der Qualm sank auf den Schmutz des Pflasters herab. Es half alles nichts, er mußte unter der Brücke hindurch, auch wenn sie zusammenbrechen sollte. Die Angst des Trinkers schnürte ihm die Brust zusammen. Die große Stadt machte hier einen düstern und verwahrlosten Eindruck. Die Straßen waren schnurgerade, überall die gleichen grauen Mietskasernen, die gleichen Aufschriften, die gleichen Scharen von bleichen, zerlumpten Kindern. Die gleichen hohlwangigen Weiber, die, mit einem kleinen Topf oder einer Tasche in der Hand, in Tücher gehüllt, an den Häusern entlangkrochen und husteten. Die gleichen mageren schwarzen Alleebäumchen, die in der sauren Luft erstickten. Der Mörtel fiel von den Hauswänden, schmutzige Papierfetzen trieben in den Rinnsteinen. Vor den Nahrungsmittelgeschäften, die die Wochenration an Fett, zwanzig Gramm, ausgaben, standen lange Reihen von blaugefrorenen Frauen und vertraten sich die kalten Füße, während sie schwätzten und keiften. Sonst waren Geschäfte und Läden leer, gähnende Särge. Bäckerläden ohne Brot, Fleischerläden ohne Fleisch, Schuhgeschäfte mit Holzschuhen und Blechdosen voller Stiefelwichse. Auch in dieser Gegend gab es jene Läden, in denen altes Metall gesammelt wurde, für die Kriegführung, Lampenfüße, Photographierahmen, Aschbecher, der Schutt aus den Wohnungen der Ärmsten. Dann gab es hier noch das Delikatessengeschäft von Alfred Schustermann, mit der Aufschrift: Mensch, was für 'ne Ware! Seemuscheln, Pfahlmuscheln, waggonweise eingeführt, zu Gelee, Aspik, Pasteten, Würsten verarbeitet. Die Professoren, die entdeckt hatten, daß Baumrinde nahrhaft war und man Pilzkulturen in den Dachrinnen anlegen konnte, erklärten, daß diese Muscheln selbst Ochsenfleisch an Nährkraft überträfen. Immer näher aber kam die graue Mietskaserne mit der riesigen Aufschrift: Leihhaus. Der Schritt des Havelocks verlangsamte sich mehr und mehr, seine tränenden, entzündeten Augen blinzelten unter dem steifen Hut. Er hatte fast jeden Mut verloren. Eine Weile holte er Atem vor der »Zoologischen Handlung«. Noch lebte er, der kleine muntere Zeisig, sein Freund, der das Problem gelöst hatte, das Körnerfutter bis zu fünfundneunzig Prozent auszumahlen. Die andern, die kleinen grünen Papageien, die beiden Kanarienvögel, die Drossel, sie waren an dem Problem nacheinander gescheitert und gestorben. Ja, gestorben. Auch die kleinen weißen Mäuse, die ewig im Kreise liefen, waren plötzlich bei ihrem spaßigen Rundlauf in Atemnot geraten. Der vierte Kriegswinter hatte auch sie vernichtet. Nur der Zeisig sprang noch munter in seinem kleinen Käfig hin und her. Zwischen der »Zoologischen Handlung« und dem Leihhaus führten drei ausgetretene Stufen zum »Löwen von Antwerpen« empor, und schon war der Havelock in der Gaststube. Keine Vorwürfe -- er mußte Mut sammeln für die Nacht. Denn die Nacht würde kommen, so gewiß wie etwas! Und mit ihr die furchtbaren Nachtgespenster, seine Peiniger, vor denen nur der tiefe Schlaf Schutz bot. Der Rausch, um offen zu sein, die bewußtlose Trunkenheit. Ja, hier war er zu Hause, man sah es sofort an der Grimasse, mit der ihn der Wirt, ein Buckliger, empfing. Dieser Wirt wurde von den Soldaten, die in der Kneipe verkehrten, der »Millionär« genannt. Ja, hoho, so ein Buckel hatte seinen Wert heutzutage, ohne Zweifel! An den Sonntagen kamen auch Munitionsarbeiterinnen hierher, und es ging lustig zu. Sie tranken -- sollte man es glauben, die Kleinen? -- sie tranken Schnaps wie die Männer -- ah, und sie trugen seidene Röckchen. Wenn sie ihn auch etwas hänselten, es schadete nichts. Sie lachten und hatten keine Sorgen. Vielleicht flogen sie morgen in die Luft, alles war möglich, deshalb lachten sie auch so ausgelassen. Endlich -- es war schon finster draußen -- kroch der Havelock die Treppe des Leihhauses empor. Längst war die kleine Wolke, auf der er stundenlang bequem dahingerollt war, verschwunden. Seine Beine zitterten vor Müdigkeit. Leise, leise schloß er die Flurtüre auf. Er liebte es nicht, daß man ihn kommen oder gehen hörte. Drei Parteien wohnten hier, jede hatte ein Zimmer, und die Küche gehörte ihnen gemeinsam. Aber er hatte diese Küche nie betreten. Schon war er in seiner kleinen finsteren Stube, schon hatte er die Schuhe abgelegt. Plötzlich zitterte er. Ah, wenn er nur nicht wieder von dieser Schaukel träumte! Alles, nur das nicht! Träumte er doch neulich, er säße auf einer Schaukel, die durch endlose schwarze Nacht dahinschoß. Angeklammert wie ein Affe saß er auf dem schmalen, schlüpfrigen Brett, er schrie vor Angst -- aber die Schaukel schoß dahin in endlosen Pendelschwingungen, jede eine Ewigkeit, ohne Gnade pfiff sie in rasender Schnelligkeit dahin. Rasch, rasch, ehe sie ihn packten . . . Schon schlief er. Ein leises Wimmern drang aus seinem kreisrund geöffneten Mund. Den Havelock hatte er anbehalten. * * * * * Da! Augenblicklich saß er wieder aufrecht im Bett. Seine dünnen Haare sträubten sich, der Schweiß stand auf seiner Stirn. Er dampfte vor Hitze und Kälte. Immer noch war sein Mantel feucht vom Regen der gestrigen Nacht. Hatte nicht jemand gerufen, ihm fürchterliche Worte ins Ohr geschleudert, wie Felsen? Und ein Krachen, als berste das ganze Haus in zwei Teile, hatte er es nicht deutlich gehört? Die Balken splitterten. So deutlich! Noch gellte das furchtbare Krachen in seinen Ohren, und erst nach geraumer Zeit fand er sich in die Wirklichkeit zurück. Zwischen einer unbekannten, ungeahnten Welt und der Wirklichkeit lebte er -- seit jenen Ereignissen . . . Oft hielt ihn das Unbekannte, Unverständliche tagelang in seinem Bann, oft überfiel es ihn urplötzlich am lichten Tage -- aber wiederum hatte er auch seine klaren Tage, wie er sie nannte. Da war alles so wie früher, und das andere erschien noch unverständlicher und schrecklicher. Dunkelheit, und nun erwachten Geräusche, Geräusche dieser Welt, Gott sei Lob und Dank. Hinter der Türe, dem schmalen Bett gegenüber, klapperte eine Schreibmaschine. Er arbeitete dort, der Student Ackermann, zurzeit Soldat. Er schrieb für Zeitungen, um Geld zu verdienen -- er schrieb auch noch ganz andere Dinge -- Herr Herbst wußte Bescheid, oh, oh! Er wußte mehr, als jener ahnen konnte. Hinter der Wand, an der das Bett stand, auf dem er lag, strich ein Schritt vorüber, immer auf und ab, wie ein Tier, das rastlos in seinem Käfig hin und her geht. Das war Hähnlein, der Tapezierer, zurzeit Soldat. Er wohnte in dem Zimmer nebenan mit seiner kranken Frau und seinen beiden Kindern. Vor kurzem hatte sie wieder geboren, aber das Kind war bald nach der Geburt gestorben. Es wog nur viereinhalb Pfund. Und welches Geschrei hatte es gegeben, trotzdem sie nichts zu nagen und zu beißen hatten! Hähnlein und Ackermann waren früher beim gleichen Regiment, und Hähnlein hatte Ackermann hierher in dieses Haus gebracht. Das alles hatte Herr Herbst Gesprächen entnommen. »Schlafe doch!« zischelte Frau Hähnlein. Die Bettstatt krachte, und sie hüstelte. »Schlafen? Schlafen? Ich kann nicht schlafen«, entgegnete die heisere Stimme Hähnleins, und wieder schabte sein Schritt hinter der Wand. Die Wand war dünn wie Papier, nun, eine Mietskaserne, er vernahm jeden Laut. Die Frau wimmerte. »Weine nicht, vielleicht kommt es bald, wie Ackermann sagt«, tröstete sie Hähnlein. Und deklamierend fügte er hinzu: »Die Völker der Erde werden sich erheben gegen ihre Peiniger!« Oft ging Hähnleins Schritt die ganze Nacht hin und her, bis der Tag graute. Herr Herbst hatte sich längst daran gewöhnt. In unruhigen Nächten beruhigte ihn dieser ruhelose Schritt sogar. Ein Mensch, ein Leidender, wie er, dicht nebenan. Es wurde still hinter der Wand, und nur die Schreibmaschine Ackermanns klapperte eifrig. Es konnte noch nicht spät sein, denn im Haus summten Stimmen. Türen wurden zugeschlagen, und zuweilen krachte die Haustüre ins Schloß, daß das ganze Haus zitterte. Die lange furchtbare Nacht lag vor ihm. Seine Beine waren vor Müdigkeit geschwollen. Sie waren Wolken, ins Endlose verströmend. So würde er nun sitzen müssen die ganze Nacht und lauschen auf jedes Geräusch -- auch auf jene Geräusche, die aus dem Unbekannten kamen. Seltsame Fügung, die ihn in dieses Zimmer geführt hatte! Der bucklige Wirt vom »Löwen von Antwerpen« hatte es ihm empfohlen, damals, als er den Entschluß gefaßt hatte, nicht mehr in die Blücherstraße zurückzukehren. Längst hatte er es aufgegeben, nach Erklärungen zu forschen, alles war Fügung. Jeder Schritt im menschlichen Leben wurde gelenkt von unbekannten Gewalten, guten und bösen. Sinnlos, sich dagegen zu sträuben. Nun, er sträubte sich nicht mehr, er forschte auch nicht mehr -- er war in der Hand des Allmächtigen, der die Haare auf seinem Haupte gezählt hatte. Sollte es so sein! Frau Hähnlein hinter der Wand begann zu wimmern, zu klagen, zu beschwören. Nun begann es wieder. Es half ihr nichts. Der Mensch ist ein Tier . . . obschon seine Frau leidend war -- ein Tier war dieser Hähnlein. Dann wurde es wieder still, die Geräusche im Hause erstarben mehr und mehr, und nur noch die Schreibmaschine hinter der Türe klapperte. Schreibe du nur! sagte Herr Herbst zu sich -- um sich zu beschäftigen, die Nacht war lang -- »Deine Zettel, deine Reden, deine . . .« Lange Wochen war ihm dieser Soldat im weiten Mantel ein Rätsel gewesen. Was trieb er, was tat er in den Nächten? Oft hielt er Reden, förmliche Reden. Erst vor kurzer Zeit, beim Januarstreik, hatte er ihn plötzlich erkannt! Mit eigenen Augen und Ohren sah und hörte er, wie er zu einem Haufen streikender Arbeiter sprach, nebenan, bei den Laubengärten -- und was er sagte, Grundgütiger! Es gab keinen Zweifel mehr, er war -- ein Spion, ein Agent . . . gehörte zu jenen, von denen die Zeitungen schrieben, daß sie Geld bekommen von den Feinden. Er stand auf einem Steinhaufen, redete, schrie und schwang die Soldatenmütze. Keine Granate mehr! Da aber kam die Polizei, und sie liefen -- und auch er lief. So schnell wie die andern -- hahaha! So schnell liefen sie, solche Angst hatten sie . . . Manchmal kamen auch Freunde zu ihm, meistens junge Leute, Kameraden, die laut schrien und alle wild durcheinander redeten. Unvernünftige, Unerfahrene. Was für Leute waren das? Nun . . . dieselbe Sorte, um kein Haar besser. Für sie gab es nichts Heiliges, nichts vor dem sie haltmachten. Die Minister, was waren sie? Nun -- höchst einfach -- Dummköpfe und Verbrecher! Und die Generale -- höchst einfach -- geputzte Narren! Und die Diplomaten -- selbstgefällige Gecken! Ja, sie, sie, diese jungen Leute, sie waren viel klüger als diese Minister und Diplomaten! Aber die höchsten Fürstlichkeiten, was waren sie -- nun, er würde sich schämen, die Worte zu wiederholen. Aber auch die feindlichen Staatsmänner, Präsidenten und Minister, was waren sie -- ganz das gleiche verbrecherische Gesindel. Nein, nichts gab es, was ihnen Respekt einflößte. Hat man es je gehört: Die deutsche Regierung bestand aus Anarchisten, die Tag und Nacht darüber nachdachten, wie sie das Deutsche Reich am schnellsten zugrunde richten könnten? Wie? War es denkbar? Aber, was waren diese Leute in Rußland, diese Räuber und Diebe? -- Heilige waren sie, nicht mehr und nicht weniger. Ja, völlig neu mußte die Welt aufgebaut werden, von Grund auf -- und sie, diese jungen Leute, die so laut schrien, sie allein wußten, wie alles gemacht werden mußte. Sie ganz allein. Manchmal flüsterten sie auch, tuschelten, raunten, geheimnisvoll -- In diesem Augenblick lachte Ackermann in seinem Zimmer laut auf und sagte: Man sollte es nicht für möglich halten -- Und wütend prasselte die Schreibmaschine. Nicht für möglich halten? Warte nur, du, du . . . he? Hast vergessen, daß Gott jeden deiner Schritte bewacht, daß die Haare auf deinem Haupte gezählt sind -- die Fügung hast du ganz vergessen. An den Sonntagen, da saßen sie oft bis in die späte Nacht und debattierten, schrien, sprachen durcheinander, daß man kein Wort verstand. Neu, völlig neu sollte die Welt erstehen! Und sein Mädchen saß dabei, an den Sonntagen! Es war ja selbstverständlich, daß dieser, dieser -- ein Mädchen hatte, aber, daß sie dabeisaß, während es nichts Heiliges für sie gab? Nein, nein, es störte sie gar nicht, nicht im geringsten. Im Gegenteil? Sie kochte Tee und sagte: Bitte, meine Herren -- bitte. Und so ging es den ganzen Sonntag bis nachts um zwei, drei Uhr. Bitte, meine Herren -- und sie qualmten, daß der Rauch durch die Türe quoll und er husten mußte, obschon er doch selbst ein starker Raucher war. Worte flogen, Worte, wilde, verwegene Worte. Und sein Mädchen saß mitten unter ihnen! Da schwieg die Schreibmaschine plötzlich. Ackermann verließ das Haus. Sein Schritt eilte die Treppe hinab, die Haustüre wurde ins Schloß geworfen. Bis zum grauenden Tag würde er nun fortbleiben. Wann schläft er eigentlich? dachte Herr Herbst in seinem Bett. Nun war es ganz still geworden. Es knackte in den Balken, rieselte in den Mauern, die Wände seufzten. Ja, ganz still und dunkel. Mitten in der unendlichen Dunkelheit und Stille saß der kleine alte Mann, und plötzlich begann er zu flüstern. Leise, oh, so leise -- nur er hörte es. »Robert -- mein Sohn -- Geliebter, Teurer -- mein Liebling --!« Zärtlich streckte er die kleinen Hände der Dunkelheit entgegen. 10 Mit der Minute kehrte der General abends aus dem Amt zurück. Er plauderte wie gewöhnlich etwas mit Niki, dem Kanarienvogel; plötzlich aber brach er die Unterhaltung ab und zeigte ein ganz unbegreifliches Interesse für den Papierkorb. Zuerst blickte er in den Papierkorb hinein, dann wühlte er darin mit der Hand, endlich stülpte er den Korb über den Arbeitstisch. Nichts. Es war sonderbar, jeder unbedeutende Zettel fand sich wieder -- zum Beispiel, sollte man es glauben, Schnitzel jenes Briefes, den er vor einer vollen Woche an den Chefredakteur einer großen, besonders im Ausland vielgelesenen Zeitung in einer Aufwallung geschrieben hatte, worin er diesem Chefredakteur -- -- auch dieser Prospekt -- alles, jede Kleinigkeit. »Sonderbar, höchst sonderbar!« Nicht ein Fetzen, nicht einmal ein Eckchen jenes grünen Briefumschlages, er würde die Farbe ja sofort wieder erkennen. Doch hier -- nein, ein Notizzettel zu seiner Denkschrift: Die Armee der Frauen -- worin er empfahl, diese brachliegende ungeheure Armee zum Wohle des Vaterlandes systematisch zu mobilisieren -- lächerlich, alles, jede Kleinigkeit, aber von diesem Briefe: nichts. Schon schlugen die Uhren. Der General hatte heute aus dienstlichen Rücksichten bei Frau v. Dönhoff abgesagt und sich erst nach Tisch angemeldet. Der Lüster im Speisezimmer brannte. Dieser Lüster war aus schneeigem Glas, Tulpen, Prismen, Perlen. Eine Grotte aus schimmerndem Schnee, die leuchtete ohne zu schmelzen. Das Zimmer war leer. Ruth war noch nicht da. Daß er auch gerade diesen Brief -- da trat Ruth ins Zimmer. Heiter und gut gelaunt, mit einer jungenhaften Verbeugung, wünschte sie »Guten Abend«. »Frau v. Dönhoff läßt grüßen, Papa«, sagte sie, indem sie Platz nahm. »Hast du Besuch gemacht?« »Nein, ich traf sie auf der Straße.« Jakob stürzte hinter seinem Schrank hervor, um die Serviette aufzuheben, die dem General entglitten war. »Otto geht es gut?« »Ja, nur zwei, drei Wochen«, erwiderte der General. Es hatte beinahe den Anschein, als wolle eine Unterhaltung in Gang kommen. So leicht gingen die Worte hin und her. Da aber runzelte der General die Stirn, irgendein Gedanke war ihm durch den Kopf gegangen. Schweigen. Jakob wechselte die Teller. Die Miene des Generals drückte deutlich den Wunsch aus, nicht mehr gestört zu werden. Plötzlich hob er das Gesicht vom Teller und richtete den Blick voll auf Ruth. Ohne Zweifel, sie sah verändert aus! Daß es ihm erst heute auffiel? Sie trug auch eine andere Frisur, einen einfachen Knoten, der ziemlich tief im Nacken lag. Es sah aus, als habe sie soeben die Haare gewaschen und die Frisur rasch aufgesteckt. Diese Frisur mißfiel dem General, sie verriet geringe Sorgfalt. Wie gewöhnlich war ein Lächeln über Ruths Gesicht gebreitet, und besonders die langen Brauen, die über den Wangen schwebten, lächelten. Oh, wie genau kannte der General dieses Gesicht und dieses Lächeln! Es war das Gesicht ihrer Mutter und das Lächeln ihrer Mutter. Dies war einer der Gründe, weshalb der General es vermied, in das Gesicht seiner Tochter zu blicken. Ruth hob den Blick, und für eine Sekunde waren ihre Augen auf ihn gerichtet. Auch diese Augen kannte er genau, zu genau: sanft, schimmernd, schwärmerisch -- aber, ein Nichts, und die Schwärmerei wandelte sich in Hysterie. »Jakob!« Der General deutete mit dem Messer auf die leere Fachinger Flasche. Der Bursche stürzte zur Türe hinaus. Röte ergoß sich in das Gesicht des Generals. _Wo war sie?_ Nun wäre der geeignetste Augenblick -- Es wäre ja das Natürlichste gewesen, Ruth ohne Umschweife zu fragen, wo sie in der vergangenen Nacht gewesen war. Vielleicht war sie bei Freunden und hatte dort übernachtet, weil sich kein Wagen auftreiben ließ? Möglich. Wahrscheinlich würde die Sache sich aufs Harmloseste aufklären. Aber diese Frage ließ die Tradition der Familie Hecht-Babenberg nicht zu, wo jeder eine kleine abgeschlossene Welt für sich bildete, die es vermied, die andere zu berühren. Eine Art luftleerer Raum trennte diese Welten, der die Worte verschlang und ihren Klang und Sinn entstellte. Die Augen der Sommerstorf würden sich voller Staunen auf ihn richten, als ob er etwas völlig Unmögliches und Undenkbares ausgesprochen habe. Etwas, das der Welt der Sommerstorf völlig fern lag, das die Welt der Sommerstorf nie begriff und nie begreifen konnte. Ruth würde lächeln und die Brauen in die Höhe ziehen. Ja, auch dieses Flattern der Brauen liebte der General nicht und die leise Überheblichkeit, die im Lächeln der Sommerstorf lag. Seine Gedanken verdichteten sich, ballten sich zusammen, die Stirn wurde düster. Behutsam schob Jakob mit seinen großen, in weißen Wollhandschuhen steckenden Händen die neue Flasche Fachinger auf den Tisch. »Der Wagen ist da?« »Jawohl, Herr General!« Und die Limousine zwitscherte die Tiergartenstraße hinunter zur Lessingallee. -- »Hoffentlich geben sie ihm bald ein Frontkommando!« dachte Ruth, die sofort hinter dem General das Haus verließ. Sie hatte sich am Kemperplatz, ganz in der Nähe, mit jemand verabredet. Beim Rolandbrunnen am Kemperplatz stand schon dieser Jemand und wartete. Er hob sich fast ebenso deutlich ab wie der Roland auf dem Brunnen selbst. Ruth lief wie ein junges Mädchen -- lief dem Jemand in die Arme. »Papa kam heute unvermutet zu Tisch«, sprudelte sie hervor. »Seine Laune wird immer schlechter. Wollte Gott, daß er bald wieder an die Front käme --« »Wollte Gott, daß es bald keine Front mehr gäbe --« »Ein herrlicher Abend, aber etwas kühl!« »Es ist immer herrlich, wenn Ruth da ist.« Und der Jemand hüllte Ruth in seinen Mantel. 11 Noch immer saß der kleine Herr Herbst inmitten der unendlichen Dunkelheit und flüsterte zärtlich den Namen seines Sohnes. Sein kleines, hohlwangiges Gesicht war in Tränen gebadet. Da -- nun wurde es lichter an der Türe -- nun kam er! Der Teuerste, Heißgeliebte kehrte aus dem Reiche der Schatten, wie die Menschen es nennen, zu seinem Vater zurück, wie in jeder stillen, dunkeln Nacht. Ein fahler Schein ging von der Türe aus -- und er erschauerte. Ja, ja, er war es, der Geliebte, Beste. Deutlich sah er ihn im fahlen Schein stehen: genau so sah er aus wie zu Hause auf dem Bilde. Ein Soldat im Helm, ein Jäger, jung, ein blutjunges Bürschchen, in der Rechten den Gewehrlauf, der mit Blumen geschmückt war, ganz wie an jenem furchtbaren Tage, da er ihn zum Bahnhof begleitete. Eisige Kälte brachte er mit aus dem Reiche der Schatten. Der alte Mann zittert. Die Kälte kroch über ihn, und er fühlte, wie sein kahler Schädel einschrumpfte. Die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, und doch war es süß -- erlösend. »Bist du es?« flüsterte er voller Verzückung. »Mein Sohn, mein Liebling!« Und er streckte seine eisigen, kleinen blauen Hände gegen die Türe aus. »Bist du wieder hier?« Niemals sprach die Erscheinung, und er wartete auch nicht auf Antwort. Sie stand, regungslos, und blickte unverwandt auf ihn. Manchmal sah er deutlich die Augen, nicht immer. Seines Sohnes Augen, deren Glanz und Färbung er nie vergaß -- glänzend und kristallen wie die Augen eines unschuldigen Tieres -- während die Züge des Gesichts zuweilen schon seinem Gedächtnis entglitten. »Bist du zurückgekehrt zu Papa --?« Aber, Entsetzen! Wieder begann der Teure zu bluten -- Von der Stirn floß plötzlich dunkles Gerinnsel, gewiß, dort hatte ihn das tödliche Geschoß getroffen. Das Blut floß, es strömte, es färbte die Uniform dunkel, lautlos strömte es auf den Boden, ohne Ende. Und der Teure stand, regungslos blutete er, ohne jeden Laut . . . »Wie schrecklich du heute wieder blutest, mein Einziger!« flüsterte der kleine alte Mann -- oh, so leise! -- und rang die Hände. Die Tränen stürzten über seine Wangen. »Immer noch findest du nicht Ruhe, du Teuerster? Warte, gedulde dich -- ich habe schon an ihn geschrieben, er wird antworten -- gewiß . . . Alles werde ich versuchen, nichts werde ich unversucht lassen -- ich gelobe es -- mein Liebling --« Und er flüsterte, versprach, rang die Hände, verhüllte das tränennasse Gesicht -- Da wurde es licht, der Schein einer Kerze, und augenblicklich zerfloß die Erscheinung. Nichts blieb als die hellgestrichene Füllung einer Türe mit einem schwarzen Schloß. Nicht eine Kerze, der Mond war über die Dächer gekommen. Ein Lichtkeil spaltete plötzlich die Dunkelheit des Zimmers. Erschrocken zog Herr Herbst die Hände aus dem Lichtstrahl zurück, als würden sie verbrannt. * * * * * Die Dunkelheit war zertrümmert, und nun kamen auch die Geräusche zurück. Stimmen murmelten, es hustete, alle Arten von Husten, vom pfeifenden Frauenhüsteln bis zum brüllenden Husten erkälteter Männer. Schlaflos war das ganze Haus, es brauchte nur der Mond über die Dächer zu kommen, aus Glas schien es zu sein. Die Lider standen im Schlummer geöffnet, wie bei den Toten, und die Strahlen des Mondes stachen wie Nadeln in die bloßgelegten Hirne. Nebenan wimmerte ein Kind, eine Bettstelle knarrte. »Bist du denn wieder aufgestanden?« zischelte es hinter der Wand. »Ja, ja«, entgegnete Hähnleins heisere Stimme. »Ich sehe mir den Mond an.« »Wie soll ein Mensch das ertragen?« »Beruhige dich, Mutter -- bald, ja bald --!« Ermattet saß Herr Herbst, bebend vor Erschöpfung. Das Gespräch mit dem Sohn hatte ihn völlig entkräftet. Der Teure sog alle Kraft aus ihm. Das Herz zuckte in seiner Brust. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne. Ach, wie entsetzlich er doch wieder geblutet hatte -- er litt -- rasch mußte er handeln, rasch! Er versank in tiefes Nachdenken. Langsam, wie betäubt bewegten sich die Gedanken in seinem kahlen Kopf, schlafschwer krochen sie dahin wie Schatten auf den Dächern. Das Geflüster und Gezischel hinter der Wand störte ihn nicht. Hähnleins alte Litanei -- die Litanei des Elends und des Hungers. Nein, das Elend fremder Menschen machte keinen Eindruck mehr auf ihn. Worte, Nichtigkeiten! Weshalb sollten nicht andere ebenfalls unglücklich sein, alle. Neulich hatte er mit angesehen, wie ein vornehmer Herr von einem Militärlastauto überfahren wurde -- gerade über das rechte Bein war das schwere Doppelrad gegangen. Er war in verzweifelter Stimmung, sofort aber besserte sich seine Laune! Die Unglücklichen weiden sich am Unglück, die Kranken an der Krankheit, die Armen an der Armut -- nur die Glücklichen, das ist etwas ganz anderes, sie weiden sich nicht am Glück. Sie sehen andere Menschen nicht mehr. Langsam -- aber schließlich fand er sich doch zurecht in all den Dunkelheiten. Nein, keine Antwort. Hunderte warten! »Der General antwortet nicht!« »Nein, nein!« Erregt setzte er sich auf. »Was aber dann? Was dann?« Im Nu hatte er die Füße auf den Boden gestellt. Er saß mitten im Mondlicht und blickte zum Fenster hinaus. Sein Schädel glänzte wie eine Quecksilberkugel, seine Augen schimmerten wie die Augen toter Fische, die schon lange liegen. Er lauschte in sich hinein, er grub in seinem Gehirn. Plötzlich begann sein gleißender Schädel zu dampfen, Rauch kräuselte aus seinen Augen. Eine Wolke glitt über den Mond. Wieder glänzte die Quecksilberkugel. Aber plötzlich saß er gänzlich ohne Kopf da. Der Mond glitt hinter einen Schornstein. Als er wieder ins Zimmer blendete, hatte Herr Herbst die Hälfte seines Volumens verloren. Er hatte den Havelock abgelegt. Rasch, rasch riß er den Kragen und die kleine schwarze Binde ab und steckte den Kopf in eiskaltes Wasser. Der Mond funkelte. Einen ungeheuren Gedanken hatte der Mond im Gehirn des kleinen Herrn Herbst wachgeblendet. Er konnte gar nicht genug eiskaltes Wasser über seinen Kopf gießen. Fieberhaft rieb er sich ab, zog Kragen und Binde an. »Ja, ja, weshalb nicht --?« Rasch schlüpfte er in den Havelock. »Ich werde --« »Ich werde --« »_Ich werde ihn besuchen!_« Schon rannte er zur Türe hinaus. Halt! wohin? es ist mitten in der Nacht! Aber nichts hielt ihn zurück. Mit raschen Schritten eilte er die leere und verödete Fabriciusstraße hinab. Ah, und wie eisig kalt es war! 12 Dora lachte belustigt auf. »Achttausend Mark, Ruth, ich bitte Sie! Für eine ganz einfache Gesellschaftstoilette! Und ein Hemd, ganz und gar nicht luxuriös, etwas billige Spitzen, ein paar Seidenschleifen -- fünfhundert Mark. Es ist wirklich eine Komödie. Ich wage es schon gar nicht mehr, ein Geschäft zu betreten.« »Wie wird es aber werden?« fragte Ruth und zog die Brauen hoch. »Die Hälfte der Bevölkerung hat schon keine Wäsche mehr. Die Kinder schlafen auf Papier.« Dora fand das sehr spaßig. »Wie es werden wird? Höchst einfach, im nächsten Jahr werden wir uns alle in Papier kleiden, Ruth, und das wird ungeheuer lustig werden! Sie erinnern sich an die Dame, die im vorigen Sommer ohne Strümpfe Unter den Linden ging? Wenn man hübsche Beine hat, ist das reizend. Aber denken Sie sich eine Gesellschaft, ganz in Papier gekleidet! Die Industrie wird die reizendsten Farbtöne erfinden --« Dora mußte vor Lachen abbrechen -- »Der General meint allerdings --« »Was meint Papa?« »Er sagt, die Industrie habe Ersatzstoffe erfunden, die viel besser sind als Wolle und Seide. Zum Beispiel, nun wie heißt sie, diese Patentfaser? Die ganze Lüneburger Heide soll mit Brennesseln bepflanzt werden, doch das wird wohl noch ein Weilchen dauern. Aber hören Sie, Ruth, welch blendende Idee! Ich werde bei meinem Hausball Papierkostüme vorschreiben!« Dora klatschte vor Vergnügen in die Hände, und wieder füllte ihr Lachen Ruths kleinen halbdunkeln Salon mit Heiterkeit und tausend Schelmereien. »Süß sehen Sie aus, mein Kind. Woher stammt diese Bluse? Lassen Sie fühlen, herrlich! Das ist noch Seide! Was man heute für schweres Geld bekommt, ist ja Schund, den früher unsere Neger getragen haben. Aber denken Sie doch Ruth, wenn wir erst in einer Papierserviette schlafen gehen werden --!« Es war Dora gänzlich unmöglich, diese drolligen Phantasien abzuschütteln. Ruth bereitete den Tee, während die schöne Dora schwatzte und lachte. Sie folgte mit zärtlichen Blicken jeder Bewegung Ruths, die sie liebte. Ja, aufrichtig liebte, obschon sie ganz anders war, vielleicht, weil sie ganz anders war. Und sie fand sie in vieler Beziehung so amüsant! Zum Beispiel, der Hut hing auf einer Blumenvase und -- bei Gott -- ein kleiner schwarzgelber Abendschuh lag verlassen auf dem Sofa. War das nicht süß? Und die Teemaschine stand auf dem Schreibtisch, natürlich floß das kochende Wasser auf die Platte. Nein, wie reizend! Früher war Ruth häufig bei ihr gewesen, sie hatten zusammen musiziert -- »Singen Sie noch, Ruth?« »Wenig nur, leider.« Aber nun sah man sie selten. Dora nahm es ihr nicht übel. Sie liebte sie trotzdem, wie sie alle Menschen, die ihr nichts zuleide taten, liebte, wenn sie guter Laune war. Hatte sie aber ihre bösen Stunden -- nun, da hätte sie ruhig sehen können, wie man die Menschen vor ihren Augen abschlachtete -- aber das war natürlich eine Übertreibung. Dora konnte grausam sein, sehr grausam, wenigstens dachte sie es. Butzi, der Griffon, ließ den schwarzgelben Abendschuh, der neben dem kleinen Sofa auf dem Boden lag, es war der zweite, plötzlich aus den Zähnen und schlich zur Türe. Er steckte die Nase in die Ritze zwischen Schwelle und Türe und blies. Dann aber schnellte er erschrocken auf allen vieren zurück . . . Die Türe öffnete sich -- behutsam -- leise -- und das breite steinfarbene Gesicht des Generals, nachdenklich gesammelt, wurde sichtbar. Aber schon in der nächsten Sekunde verschwand die nachdenkliche Sammlung und die Steinfarbe -- betreten und überrascht prallte das Gesicht zurück und färbte sich rot. Der General erschrak genau wie Butzi und wich genau wie Butzi zurück. Butzi erholte sich sogar zuerst und begann zu kläffen. »Herr General?« rief Dora überrascht aus. »Papa?« fragte Ruth leise und ungläubig. »Ich bitte zu verzeihen, wollen die Damen, bitte . . .« Dora lachte. »Kommen Sie doch, Herr General, wir sind eben bei den interessantesten Gesprächen.« »-- will nicht stören -- ich wollte nur -- ich hörte Stimmen -- guten Tag, meine Damen.« Und der General verschwand sofort wieder und schloß leise die Türe hinter sich. Butzi hatte gesiegt. Er kläffte wütend hinter dem abziehenden Gegner her. »Was wollte er denn?« Ruth schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er kommt sonst nie in mein Zimmer.« »Er ist argwöhnisch, Ruth«, sagte Dora. Ruth blickte auf und errötete. »Ja, ja, er glaubt, Sie haben einen Geliebten«, fuhr Dora fort und blinzelte mit dem rechten Auge. Die Röte wich aus Ruths Wangen. Sie wurde bleich. »Er glaubt --?« »Ja, er hat Sie doch neulich erwischt.« »Sie kamen erst am Morgen nach Hause. Er erzählte es mir. Gott, wie sie erschrocken ist, die Kleine. Ich habe es ihm natürlich ausgeredet. Sie können sich das wohl denken.« »Ich bin bei Platens im Grunewald gewesen, und es wurde sehr spät.« »Und Sie haben es ihm nicht gesagt?« »Ich? Wieso? Er fragte nicht. Schließlich ist es auch nicht seine Sache. Nehmen Sie Süßstoff, Dora? Ich habe keinen Zucker.« Ja, nun wurde also Tee getrunken, lange genug hatte es gedauert -- und draußen goß es in Strömen, welches Wetter, in diesem Berlin! Dora zündete eine ihrer dicken englischen Zigaretten an. »Aber vielleicht hat er doch recht, der General --?« sagte sie, und wieder blinzelte sie mit dem rechten Auge. »Wie meinen Sie das?« »Nun, ich meine nur -- so -- so . . .« Dora lachte. Es machte ihr Vergnügen, scheue Menschen in Verlegenheit zu bringen. Dann aber änderte sie den Ton. »Und Dietz geht es gut in Bukarest?« »Sehr gut, danke. Er bewohnt eine reizende Villa, reitet täglich spazieren, es fehlt ihm wirklich an nichts.« »Hören Sie Ruth -- aber Butzi, sehen Sie, er zerreißt Ihnen den ganzen Schuh --« Ruth nahm den Schuh und warf ihn zu dem andern auf dem Sofa. »Ich wollte sagen, Ruth, wenn Sie erst einmal auf Ferchow wohnen -- es ist der schönste Sitz in Pommern, und Sie haben da einen chinesischen Pavillon auf einer Insel im See, märchenhaft, die Armins haben ja ihr Gut nebenan -- wenn Sie erst auf Ferchow wohnen, versprechen Sie mir --« Ruth unterbrach sie. »Ich werde nie auf Ferchow wohnen, Dora!« sagte sie, jede Silbe betonend. »Wie? Aber --?« Ruth blickte Dora in die Augen. »Nein, niemals!« »So erklären Sie mir doch, meine Liebste --?« »Sprechen wir nicht mehr davon.« »Aber, ich bitte Sie, Ruth, wollen Sie mir nicht --?« Doppelt so groß wie gewöhnlich waren Doras blaue Augen vor Erstaunen. * * * * * Das nächstemal war der General vorsichtiger. Er erkundigte sich erst, ob seine Tochter ausgegangen sei, und klopfte zur doppelten Vorsicht vorher an. Zu peinlich war es ihm neulich gewesen -- Dora saß da, Ruth, nicht einmal angeklopft hatte er -- was mochten sie denken von ihm? Er hatte jahrelang Ruths Zimmer nicht betreten. Jahrelang hatte er sich überhaupt nicht im geringsten um Ruth gekümmert, ihr jegliche Freiheit gelassen, seinen Grundsätzen gemäß -- nun aber schien es ihm an der Zeit zu sein . . . Nicht ohne eine gewisse Scheu trat er ein. Sofort aber waren diese beiden Augen auf ihn gerichtet, obwohl er den Blick abgewendet hatte, denn er wußte genau, wo das Bild hing. Diese Augen leuchteten ihm entgegen, und der General fühlte ihren schimmernden Blick durch die Lider hindurch, ja selbst durch den Kopf, wenn er das Gesicht abwandte. Er räusperte sich und murmelte etwas vor sich hin, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Rügend schüttelte er den Kopf: Welche Unordnung! Auch diesen Mangel an Ordnungssinn hatte sie von der Sommerstorf geerbt, keineswegs von ihm. Augenblicklich schossen ihm in einer Sekunde tausend Erinnerungen durch den Kopf. Da war, zum Beispiel, die Naht am Handschuh geplatzt, und sie machten Besuch beim Regimentskommandeur. Es war äußerst peinlich. Der Regimentskommandeur sah sofort die geplatzte Naht des Handschuhs, es sah aus, als sähe er überhaupt nichts anderes. Und da kamen, zum Beispiel, Gäste, sie waren auf acht Uhr geladen. Sie kamen, und der Salon war völlig in Unordnung. Notenblätter waren überall umhergestreut, und die Tischdecke lag voll von Rosenblättern, die von einem welken Strauß abgefallen waren. Wie in aller Welt sollte er sich denn vor den Gästen entschuldigen? Aber die Sommerstorf lachte nur darüber. Gerade über solche Dinge konnte sie ausgelassen lachen. Es fehlte ihr jedes Organ dafür. So waren sie, die Sommerstorfs. Sie kamen nicht umsonst aus dem Süden. Ein Hut lag auf dem Tisch im Salon, daneben eine Schere und eine Rolle Zwirn. Die Nadel stak in der Tischdecke. Zeitungen waren über das Sofa verstreut, und in der Ecke lag sogar ein Abendschuh. Überall Schreibpapier, Bücher. Zerstreut nahm der General ein aufgeschlagenes Buch vom Schreibtisch. Marx. Karl Marx. Ein Sozialist! In dem Buche waren Stellen angestrichen. Sie arbeitete darin. Einen Augenblick war der General geneigt, diese Lektüre für eine junge adelige Dame unpassend zu finden. Schon wollte er den Kopf schütteln. Aber er überwand sich. Mochte sie -- weshalb nicht -- wenn sie Interesse dafür hatte? Auch ein Sozialist hatte ja wohl manches zu sagen, was interessieren konnte -- im übrigen, sie hatten ja in der Stunde der Gefahr das Vaterland über den Internationalismus gestellt, bewilligten die Kredite, was man wollte, gingen mit durch dick und dünn -- in der Tat, sie hatten sich als wahre und echte Patrioten erwiesen! Viele Bücher. Stöße von Büchern. Autoren und Titel waren ihm unbekannt. Er hatte keine Zeit, Bücher zu lesen -- der Dienst -- seit zwanzig Jahren hatte er eigentlich kein Buch mehr in die Hand genommen -- seit dreißig, von fachwissenschaftlichen Werken natürlich abgesehen. Im übrigen, diese modernen Autoren, soviel er von ihnen wußte, sie beliebten Konstruktionen, lebten in einer fiktiven Welt -- während seine Welt, die Welt des Generals, eine Welt der harten Tatsachen war, ohne Beschönigung, ohne Lüge und Poesie, einfach der harten Tatsachen. Aus einem Buch fiel ein Brief: »Geliebte Ruth« -- sofort schob ihn der General wieder in das Buch zurück. Wieder schüttelte er rügend den Kopf. Daß sie, zum Beispiel, nicht daran dachte, daß Unberufene, etwa Therese, den Brief lesen könnten! Erschreckend diese Ähnlichkeit in den kleinsten Charakterzügen. Auch ihre Mutter hatte die wichtigsten Briefe und Schriftstücke herumliegen lassen. So hatte es ja seinen Anfang genommen . . . Wiederum fühlte er den Blick der leuchtenden Augen so stark, daß die Hand matt wurde, die das Buch hielt. Deutlich, ganz deutlich hörte er eine Stimme in seinem Kopf, die irgendwo geschlafen hatte. Er verstand nicht die Worte, die diese Stimme aussprach, aber er hörte ihren Klang, ganz deutlich, und es war doch schon viele Jahre her, daß er diese Stimme zum letzten Male gehört hatte. Diese Stimme wurde lauter und lauter und nahm einen immer heitereren Klang an. Deutlich hörte er, wie diese Stimme in seinem Kopfe oder irgendwo -- sie schien irgendwo verborgen zu sein! -- zu lachen anfing, ein Lachen, heiter, spöttisch. Der General legte das Buch zurück. Traurigkeit stieg plötzlich in seinem Herzen auf. »Was will ich eigentlich hier?« sagte er. Nachdenklich verließ er das Zimmer, während die Augen des Bildes ihm bis zur Schwelle folgten -- Und Marx? Weshalb nicht Marx? Aber es war eigentümlich, dieser Name klang in ihm weiter. Als er wieder über den Korridor schritt, hatte er die Empfindung, aus einer fremden Welt und andern Zeit gekommen zu sein. Niki zwitscherte fröhlich sein Lied, und alle Dinge betonten plötzlich ihre Wirklichkeit und Vertrautheit. Übrigens war es auch frostig in Ruths Zimmer gewesen. 13 In der kahlen, verwahrlosten Fabriciusstraße erscheint -- ist es möglich, an einem Wochentage, in diesen Zeiten -- ein Zylinder! Der Zylinder kommt näher, immer näher, er verschwindet im »Löwen von Antwerpen«. Der bucklige Wirt blinzelt mit den düsteren Eulenaugen und bringt die Flasche Roten und das Schachbrett. »Meine Hochachtung«, flüstert er, wie es seine Art ist, leise -- er sprach jahrelang kein Wort, in einer gewissen Periode seines Lebens. »Sie treiben es nobel in diesen Tagen! Immer noch diese amtliche Sache?« »Gestern war es leider nichts. Ich hatte versäumt -- hatte ja keine Visitenkarten. Alles hat seine Formen. Plötzlich denke ich gestern: nun, und die Visitenkarten?« Herr Herbst hatte sich verändert. Das Rasiermesser hatte Kinn und Wangen geglättet, und der Haarkranz war etwas geschnitten. Im ganzen hatte das Volumen des Kopfes nur minimal abgenommen, aber es schien, als sei der Kopf um die Hälfte eingeschrumpft. Und hinten im Nacken, wo der Hinterkopf ansetzte, waren faustgroße Höhlen sichtbar geworden. Wie in den letzten Tagen, trug er auch heute einen etwas verknüllten, zu langen schwarzen Gehrock, und wieder empfand der bucklige Wirt Hochachtung vor ihm, als er den Gehrock erblickte. Dieser kleine alte Mann, der mit dem Gläschen in der Hand vor den Munitionsarbeiterinnen tanzte und sich zum Gespött der frechen Geschöpfe machte -- wer war er? Ein Heruntergekommener, ein Sonderling -- er behauptete, Lehrer an einem Gymnasium gewesen zu sein, aber was behaupteten die Leute heutzutage nicht alles? »Heute aber sollen die Karten fertig werden. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben«, fügte Herr Herbst hinzu, und seine kleinen, etwas schmutzigen Hände rasselten gierig mit den Schachfiguren. Dieses Rasseln der Schachfiguren, immer erinnerte es ihn an einen kleinen Marmortisch mit blankgeputzter Messingeinfassung -- sein Stammcafé in der Provinz, einst, lange war es her. »Sie haben den Anzug, Herr Herbst!« flüsterte der Bucklige und schob das spitze Kinn über das Schachbrett. Herr Herbst griff nach dem Glas. Seine Hand zitterte. Ja, schlimme Tage hatte er hinter sich. Er zerdrückte den Wein auf der Zunge zwischen den gelben Zahnstumpen. Plötzlich sah er deutlich -- sollte man es für möglich halten? -- das Gesicht des Generals im Glase! Er schloß rasch die Augen und ließ das ganze Glas durch die Kehle hinunterlaufen. Noch ein Glas -- und nun war er bereit. Kraft und Mut strömten aus dem Wein. Furcht? Nein, nein, er hatte keine Furcht. Er nahm das Aluminiumetui aus der Tasche, zündete sich eine Zigarre an und setzte sich zurecht. »Und nun wollen wir einmal etwas ganz Neues versuchen.« Er zog den Turmbauern. Noch weiter schob der Bucklige das spitze Kinn über das Brett. Eine Falle? Wie, was? Was wollte er mit dem Turmbauern? »Sie haben ja ein Feld zu weit gezogen.« »Zu weit? Nun, dann nehmen wir ihn eben um ein Feld zurück.« So hochgemut fühlte sich Herr Herbst in diesem Augenblick, daß er den Bauern gleich über drei Felder vorstoßen ließ. Die Partie begann. Beide waren leidenschaftliche Spieler. Herr Herbst lehnte sich im Stuhl zurück und blies den Rauch in die Luft. Furcht? Wieso? Vor wem? Vor ihm? Die Karten würden um vier Uhr fertig werden, nun und dann . . . Wieder trank er ein Gläschen. Alles war ja in seinem Kopfe zurechtgelegt. Jedes Wort, die Rede floß in Gedanken. Und, hm, auch die Verbeugungen und Anreden hatte er schon eingeübt, ganz genau. Weshalb sollte er Furcht haben? Schließlich war er doch nicht der Kaiser, wie? Kein Zweifel, er würde ihn zwingen, ihm Rede und Antwort zu stehen, jede Auskunft, die er wünschte, zu geben. Er hatte ja die Briefe in der Tasche, zum Beispiel, am 4. August griff ein Jägerbataillon an, kein Mann kehrte zurück. Weshalb also mußte am 5. August -- er würde natürlich in aller Höflichkeit, in aller Bescheidenheit . . . »Schach der Königin!« rief er laut und warnend. »Wahrhaftig! Nun, Sie erlauben, ich nehme den letzten Zug nochmals zurück -- es heißt überlegen. Sie gehen ja scharf vor, heute.« Die düsteren Eulenaugen des Buckligen begannen zu glühen. Herr Herbst griff in Wahrheit stürmisch an. Er fühlte sich seinem Gegner heute weit überlegen, und er hätte jede Summe gewettet, daß er gewann, obgleich der Bucklige für gewöhnlich stärker spielte -- unter den jetzigen Umständen, früher, da hätte er ihn ja nie schlagen können. Natürlich, der Kaiser war er ja am Ende nicht. Und schließlich -- er würde ihm ja ebenfalls gefällig sein! Nein, nein, es war ganz und gar kein kleiner Dienst -- bei rechtem Lichte betrachtet. Vielleicht würde er sagen: aber mein lieber Herr Herbst, weshalb sind Sie nicht früher gekommen? Wer weiß? Wer weiß? Ja, so würde er beginnen. Von diesen jungen Leuten nebenan würde er berichten -- von ihren Ideen, ihren Absichten, gefährlichen Absichten -- nun ja, rascher als irgendein anderer würde der General verstehen. Und dann würde er auf das Mädchen zu sprechen kommen -- »Vorsicht, Herr Herbst!« »Ich sehe schon -- eine richtige Falle. Ei, ei!« »Aber was tun Sie?« »Ich bin gezwungen, den letzten Zug zurückzunehmen.« »Aber, aber --« »Auch Sie haben ja einen Zug zurückgenommen.« Dieses Mädchen also, so würde er sagen, hatte er zuerst gar nicht beachtet. Wie sollte er auch? Alle diese Soldaten hatten ja ihre Mädchen, nicht wahr, es war einmal nicht anders. Nicht beachtet. An den Sonntagen kochte sie den Tee, bot Zigaretten an. Sie selbst sprach eigentlich wenig, nur hier und da warf sie ein Wort ein. Man hörte ihre Stimme kaum, so fein klang sie. An den Wochentagen kam sie zuweilen abends, und dann war sie mit ihm allein. Nun sie waren junge Leute, was sollte da besonderes dabei sein? Er hörte nicht zu, hatte seine eigenen Gedanken. Eines Abends aber, plötzlich sprechen sie über gewisse Dinge -- wie interessant! Was ist das? Offenbar kennt das Mädchen genau die Familienverhältnisse einer gewissen hochgestellten Persönlichkeit. Nun, es war jedenfalls sonderbar, daß sie so genau Bescheid wußte -- Tief in seine Gedanken versunken, legte sich Herr Herbst im Sessel zurück und blies den Rauch in die Luft. Sie plaudern also über gewisse Dinge, ganz harmlos. Sie denken wohl nicht, daß ich nebenan alles höre, denken wohl, ich sei ausgegangen. Oben an der Türe sehe ich Licht. Ich weiß wohl, was sich schickt und was unpassend ist -- aber, aber, ich kann nicht widerstehen. Das Licht reizt mich. Ich trage den Stuhl zur Türe, vorsichtig natürlich -- steige hinauf -- so, so -- strecke mich und blicke durch den Spalt. Ich drehe das Auge hin und her. Ah, da sitzt er also, der Soldat, und daneben -- auf dem Sofa . . . Plötzlich sehe ich ihr mitten ins Gesicht! Der Schreck -- glauben Sie mir -- die Überraschung -- ich wäre um ein Haar vom Stuhl gefallen! Denn wenn ich auch das und jenes dachte -- ich glaubte es ja nicht -- es schien mir unmöglich -- die Stimme, hm, das Gespräch, aber es war ja unmöglich -- und doch -- doch! Dieses Mädchen, Herr General, diese Dame -- »Schach und matt!« rief der Bucklige triumphierend, und Herr Herbst prallte zurück. Also geschlagen, abermals geschlagen! Herr Herbst zog die Uhr -- er besaß eine goldene Uhr, sonderbar! -- und wurde plötzlich von Unruhe ergriffen. »Ja, nun wird es aber Zeit für mich -- höchste Zeit!« sagte er und stülpte hastig den Zylinder über den Schädel. Ganz wie der steife schwarze Hut war auch der Zylinder um eine Nummer zu groß und sank auf die abstehenden grünlichen Ohren herab. In höchster Eile verließ er die Kneipe. * * * * * Schon dunkelte es. Lautlos und unaufhörlich sank der schwarze Aschenregen auf die sterbende Stadt. Eine Stunde später, und Berlin war völlig finster. Undurchdringliche Finsternis lag über den deutschen Landen, undurchdringliche schwarze Nacht lag über Europa, zuckend vor Schmerzen, gebadet in Blut und Tränen. Wann endlich? Horch! Hunderttausend Geschütze wiehern wollüstig durch Europas undurchdringliche schwarze Nacht. Ja, wann endlich? Eile, binde deine Schuhe, Erlöser, und eile, wenn du kommen willst! Schon sind Europas Augen blind vom Weinen, schon stockt der Schlag seines Herzens. Drittes Buch 1 Dampfwolken quollen aus der Halle, Rauchfetzen flatterten zwischen den Eisenträgern. Alles wehte. Die Vorortzüge liefen kreischend ein, keuchten kreischend hinaus. Mäntel, Hüte, Röcke wirbelten im Rauch und weißen Wasserdampf. Auch Klaras Kleider wirbelten. Sie fror an den dünnen Beinchen, aber sie liebte es, ganz leicht gekleidet zu gehen. Der nach der Westfront abgehende Frühzug hatte Verspätung. Mochte er! Wie gerne wartete sie! Schon seit einer Stunde ging sie hier am Charlottenburger Bahnhof auf und ab. Drüben am Bahnhof Zoologischer Garten standen sie nun, die Damen Sterne-Dönhoff, Mutter und Schwestern, und plauderten noch mit ihm. Der Wind pfiff von allen Seiten in die Halle, und blendende Helligkeiten fegten draußen über die Dächer. Plötzlich blieb Klaras Herz stehen: Um die Ecke schnob ein pechschwarzes Ungeheuer, qualmend aus Schlot und Zylindern. Blitzschnell kam es auf Rauch herangewirbelt. Der Fernzug . . . Der Kurfürstendamm, wimmelnde Menschen -- sie und Heinz. Der Tiergarten, brausende Bäume -- sie und Heinz. Die Stufen der Untergrundbahn, ein Menschenstrom, das kleine Café in der Kantstraße -- sie und Heinz. Wie durch ein scharfes Glas sah sie sich neben ihm, immer neben seinem weiten grauen Feldmantel -- nur die Szenerien änderten sich, blitzschnell, alle Straßen, Plätze, die sie zusammen besucht hatten. Der Tiergarten -- gestern nachmittag, als sie Abschied nahmen, es dämmerte schon -- sie gab ihm das Medaillon mit der Locke, das sie so oft und tausendfach küßte, bis sie einen Weinkrampf bekam -- als Talisman sollte er es tragen -- und plötzlich verschwindet alles in einem Wirbel, nichts ist mehr vorhanden als ein leerer Raum, durch den die schwarze Lokomotive dahinstürmt. Ihre Kleider flatterten, sie griff an die grasgrüne Mütze mit der grünen Seidenquaste, in der Rechten wehte das Taschentuch. Sie dachte an nichts, ihre Augen glitten erregt an dem fliegenden Zug entlang, und sie verging vor Angst, daß sie Heinz nicht mehr sehen würde. Da, da, da, da war er! Seine Hand, sie erkannte sie sofort, winkte ihr zu. Ein Lachen in seinem geröteten Gesicht, ein Blitzen der Zähne, und die blonden Haare leuchten. Auf seiner Brust aber glänzte -- wie ein heller Stern -- durch den Mantel hindurch -- das Medaillon aus Kristall: deutlich sah sie es. Groß und mächtig wie ein Stern, obgleich es ganz klein war. Hunderttausende und abermals Hunderttausende waren schon auf diesen zwei Schienen fortgefahren, und alle trugen einen Talisman auf der Brust. Fort war Heinz. Der Zug war rasend schnell gefahren, aber die letzten Wagen rollten ganz langsam an Klara vorüber. Der Wind riß ihre Kleider bis zu den schmalen Knien empor, aber sie bemerkte es nicht. Soldaten, die aus den letzten Wagen blickten, schnitten ihr Gesichter. Da aber fing sie an zu laufen, und weinend stürzte sie die Treppe hinab. Wie ein Messer zerschneidet das Lebewohl ein junges Herz. Alles war ja noch Geheimnis, niemand wußte etwas, niemand wußte von ihren Schwüren, ihren Versprechungen, ihren Plänen, ihren Träumen, niemand. * * * * * Schon war Klara zu Hause, und schon war die grüne Mütze mit der grünen Seidenquaste in ein Paketchen eingeschnürt, fertig zum Absenden. Er sollte sie haben. Ach, und sie weinte und bedeckte die alte grüne Mütze mit Küssen und Tränen. Schon aber hatte der Zug die nächste Station passiert, und Klara steckte die kleine Flagge auf der Karte um. Man muß wissen, daß Klara sich ein Kursbuch gekauft hatte, um den Zug verfolgen zu können. Und schon war Klara wieder auf der Straße und lachte in Sonne und Wind, während auf ihrem Herzen noch die Tränen brannten. Auf zierlichen, raschen Beinchen schritt sie, die schmale Hüfte wippend, die Joachimsthaler Straße hinab. Sie war glücklich. Klara ging einkaufen. Sie mußte ja nun an die Feldpaketchen denken, ganz wie Millionen andere Frauen. Kam sie zurück, so konnte sie die Flagge schon bis Hannover vorstecken. Schon dachte sie an die Zeit, da sie die Flagge zurückstecken würde -- wenn er zum ersten Male auf Urlaub kam. Zwischen der Kindheit und der Welt der Erwachsenen liegt die Zone des Paradieses. Blendend von Träumen, Plänen, Visionen, Ahnungen und Wünschen. Wunderbar und erhaben liegt das Leben vor den Blicken, und mutig geht ihm der Schritt entgegen. Durch dieses Paradies schritt Klara dahin, obschon sie nur die Joachimsthaler Straße hinabwanderte. 2 Schon wanderte die kleine Flagge auf der Karte wieder rückwärts. Es war der Zug, der den ersten Brief bringen konnte. Konnte! Aber er kam nicht. Nun kam der Zug an die Reihe, der den ersten Brief bringen sollte. Aber er kam nicht. Nun kam der Zug, der den ersten Brief bringen mußte. Aber er kam nicht. Die Stunden blieben stehen. Die Uhren tickten, das Herz schlug im Halse, und in der Nacht saß Klara mit offenen Augen im Bett. Endlich, am sechsten Tage, kam er. »Hier ist ein Brief, kleine Braut«, sagte Hedi, und Klara errötete. Hedi hatte ein überlegenes, aber gutmütiges Lächeln für die Schwester. Dieselbe Geschichte! dachte sie. Sie wird Briefe schreiben, jahrelang auf den Briefträger warten . . . Es ist immer das gleiche. »Gib, bitte!« sagte Klara, und ihr Atem stockte. »Du versprichst mir, auf Frau v. Dönhoffs Hausball mitzukommen?« (Allein würde der Geheime Rat Hedi nicht gehen lassen!) »Ich verspreche! Feierlich!« -- Welches Glück, beim Himmel! Und welche Enttäuschung, dieser Brief . . . »-- wir haben ein reizendes Quartier. Ein kleines Schlößchen. Daneben liegt unser Flugplatz. Mich haben sie in einer Dachkammer untergebracht. Wir haben eine Enten- und eine Hühnerzucht. Die Mannschaften besitzen sogar ein kleines Wildschwein.« Ja, was ging sie das an? Herrlich ist es hier, herrlich, liebe Klara! Tag und Nacht krachen die Kanonen, und fast in jeder Stunde knallen die Abwehrgeschütze ganz in unserer Nähe, Schwärme von feindlichen Fliegern kommen herüber. In der Nähe nämlich steht im Walde ein weittragendes Geschütz. Wenn es schießt, ist es wie ein Erdbeben. Ein balkendicker Feuerschein fährt dann aus dem Walde. Das Wetter ist stürmisch und trüb, und gestern habe ich mich mit dem kleinen frechen Meerheim -- Du kennst ihn ja -- etwas in der Nachbarschaft herumgetrieben. Er ist eine Art Zyniker, aber wir kommen trotzdem ganz gut miteinander aus. Wir waren mit dem Auto in Q. Schutt und Asche! Furchtbar anzusehen! Die Kathedrale wurde von französischen und englischen Geschützen in Trümmer geschossen und geriet zuletzt in Brand. Ein Symbol des Schreckens und des Krieges. Am Abend speisten wir in der Etappe, wo mich der kleine Meerheim bei Bekannten einführte. Sie führen ein herrliches Leben, essen und trinken und feiern ein Fest nach dem andern. Gerade als wir kamen, feierte ein Rittmeister sein Eisernes Erster. Es wurde furchtbar gekneipt, und zuletzt ging es böse her. Wie ekelhaft! Ich habe nicht einen Tropfen angerührt, denn ich halte das Versprechen, das ich Mama gab. Neben dem Kasino liegt das Lazarett, wo die armen Kerle von vorn hereingebracht werden. Auf dem Heimwege begegneten wir einem Wagen voller Kisten, nur notdürftig zugenagelt. Sie wurden zum Friedhof gebracht. All das ist schrecklich. Das sind die Schattenseiten des Krieges, der sonst herrlich ist, Klara, und alle wunderbaren Eigenschaften des Menschen weckt, Heldentum, Aufopferung, Kameradschaft! Die Kameraden sind alle reizende Leute, prachtvoll ist unser Chef, Hauptmann Wunderlich, geliebt und bewundert von Offizieren und Mannschaften. Es ist rührend zu sehen, wie sie Hauptmann Wunderlich alle behilflich sind, wenn er in die Maschine steigt. Er wird ja hineingehoben. Aber alle tun so, als ob sie ihm immer nur ein bißchen behilflich wären und er aus eigener Kraft hineinklettere. Das Wetter war sehr schlecht die ganze Zeit her, die Sicht gleich Null. Nur einmal machten wir einen Geschwaderflug, und das war wunderbar für mich, das erstemal gegen den Feind zu fliegen. Ich sang oben in der Luft. Schon hatte Klara Tränen in den Augen. Und ich? dachte sie, und ich? Er schreibt ja kein Wort -- keine Silbe . . . Die Schilderung des Geschwaderfluges, die zwei volle Seiten einnahm, überflog sie. Mit Tränen in den Augen las sie, daß Heinz den Spitznamen »Kücken« bekommen hatte. Den ganzen Tag heißt es nun: »Wo ist das Kücken? Kücken, kommen Sie mal her!« Und von ihr, von ihrer Liebe . . .? »Neulich war auch P. P. da, Du weißt schon, wen ich meine. Er besuchte uns. Er kam im Automobil angefahren, das er selbst lenkte. Er war sehr elegant gekleidet, und seine Offiziere trugen phantastische Mäntel aus wunderbarem weichen Leder, herrliche Stulphandschuhe, überhaupt waren sie tipptopp. P. P. hatte die Tasche voller Zigaretten, die er mit vollen Händen an die Mannschaften verteilte. Ich mußte vorfliegen, und ich machte fünfmal Looping in tausend Meter Höhe --« Das alles interessierte Klara nicht. Es interessierte sie auch nicht, was Heinz über den berühmten bayrischen Kampfflieger Seitz schrieb, der den ganzen Tag Geige spielte und seinen kleinen Dackel mit in die Maschine nahm. Dann war viel von Ordensauszeichnungen die Rede. Heinz wollte nicht eher auf Urlaub fahren, bevor er nicht die beiden Kreuze besaß. Und dann kam der Pour le mérite an die Reihe! Ach, du lieber Himmel, gewiß würde sie stolz auf ihn sein, aber . . . »Ich fiebere danach, mich auszuzeichnen und für mein Vaterland, das große und herrliche Deutschland, zu kämpfen, das ich über alles liebe, und dem ich meine ganze Kraft weihen will. Der schönste Moment meines Lebens wird es sein, wenn ich das erstemal mich mit meinem Gegner da oben messe! Ich werde nicht locker lassen, bis er hinunterrasselt. Über alles werde ich Dir dann schreiben, liebe Klara!« Dann, kamen noch ein paar Redensarten. »Wie geht es Dir? Hoffentlich gut. Hast Du meine Cousine, Frau v. Dönhoff, schon besucht? Was macht Berlin? Eben fängt dieser Bayer Seitz wieder an, Geige zu spielen. Er spielt sehr schön, aber oft übt er stundenlang, bis sie Gegenstände nach seiner Decke werfen. Nächstens werde ich Dir auch einiges über meine Maschine schreiben. Sie ist ein ganz neuer Typ, klettert wie ein Affe senkrecht in die Höhe. Hauptmann Wunderlich ist sehr zufrieden, und die Kameraden haben für meine Fliegerei sogar etwas wie Bewunderung übrig. Gute Nacht!« Klara weinte. Hedi ging durchs Zimmer, aber sie störte die Kleine nicht. Sie wußte genau, was in dem Brief stand, ohne ihn zu lesen. Hunderte solcher Feldbriefe hatte sie bekommen. Sie hätte Klara warnen sollen, sich mit einem Offizier einzulassen. Sie waren ja alle eitle Schwätzer, eitel und oberflächlich, nichts als Prahlereien über Kämpfe und Geschwätz über Ordensauszeichnungen. Sobald sie zur Front kamen, waren sie gänzlich wahnsinnig. Das war Hedis Ansicht. * * * * * Klara suchte Wolle, um damit ein Paar kleine Pulswärmer zu stricken. Sollte man es für möglich halten, in ganz Berlin gab es nicht einen Strang Wolle? Und früher quoll die Wolle aus allen Schaufenstern, alle Welt strickte Tag und Nacht, Deutschland war vollgestopft mit Wolle. Wie sollte man auf den Gedanken kommen, daß es einmal damit zu Ende gehen könne? Früher -- Klara erinnerte sich deutlich, damals trug sie noch Zöpfe -- als der Krieg begann, gab es herrliche Dinge zu kaufen. Jetzt gab es nichts mehr, gar nichts. Höchstens Bücher und schlechte Zigaretten. Rein ausgeplündert schien diese Stadt! Geschmackvoll und gut sollte alles sein, was sie für Heinz einkaufte -- und billig. Denn Klara erhielt nur dreißig Mark Taschengeld im Monat. Sie hatte allerdings schon seit langem gespart . . . Aber allein das Medaillon hatte eine große Summe verschlungen. »Es ist für meinen Mann, er ist im Felde«, sagte sie, wenn sie einkaufte und errötete bei der süßen Lüge. »So jung und schon verheiratet, gnädige Frau?« »Ja, wir sind kriegsgetraut.« Klaras Augen strahlten. Sie wandelte im Paradies. Häufig hielt sie sich in der Straße auf, wo Frau Sterne-Dönhoff wohnte. Nur um Heinzens Mutter und Schwestern gelegentlich zu sehen. Selten nur hatte sie Glück. Die Schwestern sahen Heinz ähnlich. Der Mund besonders! Die Damen Sterne-Dönhoff gingen immer in Schwarz. Sie trugen dicht anliegende Wollkleider, flache, schmucklose Hüte, spitze Schuhe. Die Mutter ging immer in der Mitte. Sie sprachen wenig, und sie lachten nie. * * * * * »Ich liebe Dich, Heinz, ich küsse Dich, ich drücke Dich an mein Herz. Dir gehöre ich, mit Leib und Seele! Mache nicht Looping und sei überhaupt vorsichtig. Ich werde stolz sein, wenn Du Auszeichnungen erhältst, aber ich liebe Dich auch so. Es ist ganz nebensächlich. Ich war in der Kirche und habe gebetet. Ich habe so schrecklich geweint, daß ich mich schämte. Ich bin ein dummes Mädchen. Ich schicke Dir hier eine neue Locke. Bitte, tue sie in das Medaillon. Ich habe sie in Weihwasser getaucht, bei der ersten hatte ich das vergessen. Verbrenne die erste, versprich es mir! Das mußt Du tun, und so wird der Talisman wirken! Ich habe so inbrünstig gebetet, und vor kurzem konnte ich überhaupt nicht mehr beten. In der Kirche waren sechs Frauen, sie beteten wie ich. Ich lege Dir hier eine ganze Menge Briefe bei, die ich geschrieben habe in diesen letzten Tagen, jeden Tag einen, um mein Herz auszuschütten. Ich lege sie bei, obwohl sie veraltet sind. Du sollst daraus sehen, daß ich immer an Dich gedacht habe. Von allen Deinen Kameraden ist mir der Bayer Seitz am sympathischsten. Er nimmt seinen kleinen Hund mit in die Maschine, wie rührend ist das! Berlin ist wie immer. Die Menschen sind mißmutig und niedergeschlagen. Man könnte glauben, sie hätten alle Hoffnung verloren, und doch steht es ja besser als je, wenn man die Zeitungen liest. Du hast mir nicht geschrieben, ob Du unseren Stern betrachtest. Zwischen zehn und elf Uhr, vergiß nicht. Gestern funkelte er herrlich, und ich mußte so schrecklich weinen. Ich bin so ein dummes Ding, denn ich bin so rasend glücklich. Hedi ist sehr launisch. Ich glaube, sie ist nicht glücklich. Es scheint, als ob es zwischen ihr und Otto zu Ende sei. Sie spricht geringschätzig von ihm, und das finde ich nicht schön. Wahrscheinlich liebt sie ihn nicht mehr. Aber das ist ja kein Grund Schlechtes über ihn zu sagen und zu sagen, er sei eitel und eingebildet. Wir zanken uns sehr viel. Hedi glaubt nicht, daß die Liebe zwischen zwei Menschen ewig dauert. Aber ich glaube es. Und so geht der Streit hin und her. Was glaubst Du, mein Geliebter? Du brauchst auf diese Frage nicht zu antworten. Ich weiß selbst, was Du glaubst. Ja, bei Frau v. Dönhoff habe ich Besuch gemacht. Deine Cousine ist eine originelle Frau. Ich traf sie in einem schwefelgelben seidenen Kimono, und sie kann so herrlich lachen. Es wird einem wohl ums Herz dabei! Sonst lebe ich ganz zurückgezogen, gehe auch nicht mehr ins Theater. Denn es scheint mir Sünde, daß die Menschen sich amüsieren, während andere draußen leiden. Wenn ich etwas zu sagen hätte, so würde ich alle Theater schließen. Übrigens hat sich eine schreckliche Unsitte bei uns eingebürgert. Die Leute bringen ihre Brötchen, ihr Abendessen, mit ins Theater, und sobald es dunkel wird, fangen sie an, mit dem Papier zu rascheln und zu kauen. Es ist unerträglich. Du weißt, Heinz, daß wir davon gesprochen haben, auf dem Lande zu wohnen und zu reisen. Davon träume ich. Fräulein v. Hecht, die ich bei Deiner Cousine traf, sagte, die Behörden erlauben mit Absicht Theater, Kinos und Konzerte. Das Volk solle gar nicht zum Bewußtsein kommen, es solle betäubt werden. Überhaupt -- sie hat Ansichten, daß man nicht glauben sollte, sie sei die Tochter eines Generals! Wenn sie diese Ansichten öffentlich äußert, so wird man sie einsperren und das mit Recht. Und doch ist sie anziehend. Sie plauderte sehr lieb mit mir, und wir gingen ein weites Stück zusammen. Ich glaube wohl, daß ich sie lieben könnte, wenn sie nur nicht diese schrecklichen Ansichten hätte. Otto ist noch immer im Lazarett, wird aber bald entlassen. Man sagt, daß er schrecklich niedergeschlagen sei, weil er nicht mehr zur Front zurück kann. Vielleicht sehe ich ihn aber nächstens, denn Fräulein v. Hecht hat mich gebeten, sie zu besuchen, und da treffe ich ihn vielleicht. Hedi lernt nun Schreibmaschine schreiben. Sie sagt, sie will sich nun unabhängig machen, und sobald sie Geld verdient, wird sie ihre Koffer packen. Ich traue es ihr zu, aber Papa wird ihr schon die Meinung sagen. Heute abend werde ich wieder beten, Heinz! Ich fühle, Gott hat Dich in seinen Schutz genommen. In den letzten Jahren war ich ja leider zu einem völligen Atheisten geworden, und zwar durch Hedi, die nicht an Gott glaubt und behauptet, wenn es einen Gott gäbe, so würde er solch einen Krieg nicht zulassen, wo Millionen Menschen zerfleischt werden. Lebe wohl, Heinz, und vergiß nicht unsern Stern. Möchtest Du bald wiederkehren, möchte der schreckliche Krieg bald zu Ende sein! Ich bete zu Gott! Mein Herz ist gequält. Ach, Heinz, ich liebe Dich! Hier, diesen kleinen Zettel schicke ich mit. Er sieht ganz unscheinbar aus, nicht wahr? Aber ich habe ihn mit tausend Küssen bedeckt, und die soll er Dir überbringen. Deine kleine Frau Klara. Nebenan ist jetzt ein kleiner weißer Terrier aufgetaucht. Ich habe mich mit ihm angefreundet. Er spielt im Vorgarten mit Papierstücken, die der Wind bewegt -- rührend! Auch Paketchen sind schon unterwegs.« 3 Ein Fingernagel pickte an das Fenster der Portierloge. Keine Antwort. Kein Laut. Totenstille. »Herr Portier! -- Herr Portier?« Der Portier, der dem alternden Moltke ähnlich sah -- natürlich nur eine flüchtige Ähnlichkeit und nur unter besonderer Beleuchtung, es war dem General ja nur so nebenher durch den Kopf gegangen -- der Portier schlief. Aber hartnäckig pochte der Fingernagel. Und nun wurde eine schneeweiße Visitenkarte durch das offene Fenster geschoben -- da erwachte der Portier. Er erwachte und hob sofort beschwörend die Hände, und auch, sonderbar genug, der kleine Herr mit dem zu tief sitzenden Zylinder hob sofort beschwörend die Hände. »Um, Gottes willen -- Sie -- wieder?« »Ich bitte um Verzeihung.« »Und heute dazu!« »Weshalb -- heute --?« »Exzellenz ist heute -- horchen Sie nur: das ganze Haus -- totenstill! Exzellenz sind heute schlecht gelaunt, mit einem Wort. Und Sie -- ich sagte Ihnen doch -- ach, ach!« »Gestatten Sie --« »Ach! Ach!« Das Aluminiumetui blinkte. »Nein, nein, danke. Sie bringen mich noch in Ungelegenheiten.« Plötzlich knallte es, als sei eine Bombe im Foyer explodiert. Aber es war nur der Zylinder des Herrn Herbst, der auf die Steinfliesen gefallen war, als er sich bemühte, den Kopf durch das Fenster zu stecken. »Ich bitte Sie -- ich fordere Sie hiermit ebenso höflich wie dringend auf --!« Geifer stand zwischen den Zähnen des alternden Moltke. »Sie mißverstehen mich --« Herr Herbst hatte den Zylinder wieder aufgesetzt. »Ich verstehe Sie recht wohl. Ungelegenheiten --« Das Fenster klappte zu. Wieder pickte der Fingernagel, hartnäckig. Der Portier setzte eine eisige Amtsmiene auf, öffnete das Fenster wieder und sagte in dienstlichem Tone: »Sie wünschen?« »Ich wollte nur fragen --«, stotterte Herr Herbst, den die Amtsmiene augenblicklich in Verwirrung brachte, -- »nur fragen -- es ist wichtig für mich, weil ich entschlossen bin --« »Entschlossen?« Ach, wie kalt die Stimme klang, ohne Teilnahme. »Ja, entschlossen.« »Bitte?« »Es liegt wohl keine Antwort für mich hier?« »Nein!« Das Fenster flog wütend zu. Herr Herbst lüftete den Zylinder, obwohl ihm der Portier die weißen Haarsträhnen zudrehte, und ging. Nach einer Weile kehrte er zurück und legte, ohne ein Wort zu sagen, eine Zigarre auf das Gesims des kleinen Fensters. -- In der Tat, das häßliche rote Amtsgebäude mit seinen öden Korridoren lag heute noch stiller als sonst, totenstill. Schweigen, Flüstern, halblaut geführte Telephongespräche. Die Türen waren Samt. Die Ordonnanzen und Drillichkittel schlichen auf den Zehenspitzen über die Korridore, jemand nieste, und sofort fuhr ein Kopf drohend aus der Türe. Die Offiziere, die zusammengedrängt an ihren Schreibtischen arbeiteten, wagten nicht aufzublicken. Jeden Augenblick konnte das graue Steingesicht im Türrahmen erscheinen. Major Wolff paffte eine dicke Zigarre und vergrub den Kopf in die Akten. Es war Windstärke 12, ohne jede Übertreibung. »Hat er den Abschied bekommen, Weißbach?« »Meine Herren --!« »Oder die schöne Dora --?« »Ich bitte doch dringend!« Der Adjutant war vom Chef zurückgekommen und hatte nur beschwörend die Hand gehoben. »Windstärke 12.« Damit pflegte er einen bestimmten Zustand zu bezeichnen. Weiß Gott, wie er als Artillerist zu diesem Ausdruck kam. »Aber erklären Sie doch!« »Pst!« Zuweilen legte Weißbach lauschend das Ohr an die gepolsterte Doppeltüre. Ein lautes, herausforderndes Räuspern, das Räuspern eines Menschen, der keine Rücksichten zu nehmen braucht und auch keine Rücksichten nimmt, drang aus dem Saal, der von dem Ölgemälde Seiner Majestät bewohnt war. Plötzlich aber begann es in diesem Saal zu donnern, einmal, ein schwächeres Donnerrollen, zweimal -- wiederum Stille. Der Adjutant wechselte die Farbe. War jemand in das Zimmer des Generals gekommen? Unmöglich! An der gepolsterten Doppeltüre im Korridor hing das Schild »Vortrag«. Und daneben das Schild: »Kein Zutritt! Anmeldung Zimmer 6!« Ganz unmöglich. Aber trotzdem: es klang, als spräche er mit jemand --? * * * * * Halt, Unglückseliger! Es war zu spät . . . An der gepolsterten Doppeltüre, die zum Korridor führte, knackte es plötzlich höchst eigentümlich, und der goldene Kneifer glitt von der Nase des Generals. Es geschah etwas geradezu Unfaßbares . . . Der General hatte, so alt er war, das heißt solange er einen höheren Rang bekleidete, so etwas nicht erlebt. Er hätte es, offen gesagt, für unmöglich gehalten. In der Doppeltüre erschien -- unter Umgehung des Schreibzimmers, der Anmeldung, unter Umgehung des Adjutanten, trotz der Aufschriften »Vortrag« und »Kein Zutritt! Anmeldung Zimmer 6!« -- erschien, ganz als ob es eine selbstverständliche Sache sei, hier einzutreten, ein gewöhnlicher Soldat! Wie von einer höllischen Versenkung emporgehoben, tauchte er plötzlich auf. Ein Drillichkittel, eine Ordonnanz mit einem großen gelben Brief in der Hand. Dieser Mann -- ein Schneider von Beruf, klein, etwas krummbeinig, namens Hanuschke, den man hierher kommandiert hatte, so wie man ihn im Laufe der Kriegsjahre an Dutzend Stellen kommandierte -- hatte sich einfach in der Türe getäuscht. Er wollte gar nicht nach Nummer 7, er wollte nach Nummer 6. Dieser Schneider Hanuschke hatte, um nur etwas zu nennen, bei der Lorettohöhe gekämpft, er war einer der wenigen, die noch in der berühmten Zuckerfabrik bei Souchez waren, von der seinerzeit soviel die Rede war. Bei Souchez hatte eine schwere französische Mörsergranate dicht neben ihm den Kompanieführer und drei Kameraden mit in die Höhe genommen, gewiß kein geringer Schreck -- er hatte sich am Roten-Turm-Paß und in Polen geschlagen, also manches erlebt -- nun aber stand er wie vom Schrecken gelähmt: Vor seinen Augen schwebte urplötzlich in einer lichtgesättigten, hellblauen Rauchwolke ein General. Im ersten Moment glaubte er sich einer überirdischen, verwirrend funkelnden Erscheinung gegenüber, die zwei weiße Stichflammen auf ihn richtete. Als alter Feldsoldat handelte Hanuschke augenblicklich. Er hatte ja auch gehandelt, als die schwere Mörsergranate bei Souchez dicht neben ihm einschlug. Wie der Blitz hatte er sich zu Boden geworfen und fortgerollt, mit solcher Eile, daß die herabkommenden Gliedmaßen ihn nicht mehr erreichten. Nur der Feldstecher seines Kompanieführers klatschte neben ihm in den Boden. Also handelte er auch hier. Automatisch und blitzschnell führte er alle die Akte der hohen Dressur aus, die man ihm beigebracht hatte. Soweit sein schwindendes Bewußtsein es zuließ, schätzte er die Schritte ab, und in der vorgeschriebenen Entfernung begann er sich vor der in einer Wolke schwebenden Erscheinung aufzubauen. Er schlug die Absätze seiner schweren Kommißstiefel zusammen, schwang die Ellbogen nach außen, führte die Hände an die Hosennaht und fing an, so klein und krummbeinig er auch war, zu wachsen. Seine Gelenke streckten sich, die krummen Beine bogen sich gerade, der Oberkörper hob sich aus den Hüften, der Brustkorb wölbte sich, der Kopf stieg zwischen den schmächtigen Schultern empor, und endlich erstarrte er, den Blick in die weißen Stichflammen gerichtet. Zweiundzwanzig Sturmangriffe hatte er mitgemacht, zweiundzwanzigmal war er mit dem Trillern der Pfeife dem Tod in den Rachen gesprungen -- aber er fühlte deutlich, daß er sich diesmal in eine geradezu schreckliche Gefahr begeben hatte. Die weißen Stichflammen sengten an ihm entlang. Der Schneider Hanuschke wuchs abermals. Seine viel zu weiten Hosen waren geflickt und hundertmal von Schmutz und Blut gereinigt, seine Halsbinde war unordentlich gebunden und fettig. Und dieser Drillichkittel! Aber in der armseligen, der Kleidung eines Zuchthäuslers ähnlichen Uniform, die man des Königs Rock nannte, stand der kleine Schneider wie eine Statue. Donner schlug an sein Ohr. Donner trieb ihn zurück zur Türe und wieder zurück zur Erscheinung. (Das war das Donnern, das der Adjutant Weißbach nebenan hörte.) Zweiundzwanzig Sturmangriffe -- lieber die französische Mörsergranate -- meinetwegen . . . Wieder wuchs er. Seine Rippen drückten sich durch den dünnen Drillichkittel hindurch ab. Seine vorgestreckte aufgepumpte Brust bot sich irgendeinem unsichtbaren Messer dar. Alles, was die Schlachtfelder und Lazarette von ihm übriggelassen hatten, stellte er möglichst vorteilhaft zur Schau. Sein winzig kleines und unendliches Ich war konzentriert im Blick der ängstlichen Mausaugen, deren Pupillen der Schreck weitete. Kreidig grün war sein Gesicht, und zwischen den Augen glänzte violett eine fingerlange Narbe, die von einem Querschläger herrührte, der ihm in Rumänien die Stirn zerschmettert hatte. Abermals donnerte es, diesmal weniger drohend. Er war entlassen. Sein geflickter Hosenboden schaukelte durch die Doppeltüre. Auf dem Gang wischte er sich aufatmend mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, der plötzlich aus allen Poren hervorbrach. Genau so wie damals, als der Feldstecher des Kompanieführers neben ihm herunterkam. 4 Ohne Laut, fast ohne jede Bewegung, arbeitete der General, vergraben in den Berg von Akten, den man auf dem Schreibtisch aufgehäuft hatte. Die eisige Stille, die von ihm ausging, drang durch die Poren der Steine und Fasern der Türen, verbreitete sich durch Zimmer und Korridore und erfüllte zuletzt das ganze Gebäude. Mit rascher Hand warf der General Bemerkungen an den Rand der Akten, um sie hierauf in einen Korb zur rechten Hand zu legen. Der Berg der Schriftstücke zur Linken schmolz zusammen, auf der andern Seite wuchs er in die Höhe. Umfangreiche Schriftsätze maß der General mit einem rügenden Blick und warf sie -- je nach ihrem Umfang mit größerem oder kleinerem Schwung -- in einen besonderen Korb, der die Aufschrift trug: Wolff, Vortrag! Wolff, der Major, der Hüne, hatte Zeit für alles. Er war eines jener beklagenswerten bürgerlichen Arbeitstiere, wie sie in allen Ressorts saßen, die sich im Schweiße ihres Angesichts, ohne jede andere Empfehlung als die Qualifikation ihrer Vorgesetzten, in der Karriere vorwärtskämpften. Wolff arbeitete oft die ganze Nacht hindurch. Es schien dem General, als ob seine Hände, deren erdiges Aussehen ihn seit geraumer Zeit ängstigte, nunmehr lebhafter gefärbt seien. Offenbar, die Erregung vorhin hatte ihm gutgetan! Das Blut, das sich in seinem Kopfe gestaut hatte -- wie immer nach großen seelischen Erregungen -- war durch die Adern gepreßt worden und hatte die Gefäße wohltuend erweitert. Eine gleichmäßige Hitze überzog seinen Körper, und die Hände schwitzten plötzlich etwas. Ein Symptom, daß die Krisis überwunden war. Bewegung fehlte ihm! Wenn er wenigstens hätte ausreiten können! Aber der Dienst -- und dann, welch jämmerliche Pferde hatten sie doch gegenwärtig in Berlin! Er würde sich schämen, sich auf solch einer Schindmähre sehen zu lassen. Wie wunderbar war es dagegen an der Front gewesen! Wenn er in der Morgenfrische, täglich zwei Stunden, spazieren ritt, begleitet von seinem Adjutanten. Und die Geschütze brummten nah und fern. Herrliche Morgen, unvergeßlich! Der Blick des Generals verlor sich in die Weite. Aber er sah nicht die Lindenallee, durch die er zu reiten pflegte, die Rauchsäulen, die aus den Erdwohnungen der Soldaten stiegen, die Kolonnen, die über den Hügel krochen, nein, er erblickte: Ruth! Ruth und den Frühstückstisch von heute morgen. »-- also gelöst?« »Ja, Papa« »Und er, Dietz -- also mit seinem Einverständnis? Hm -- so, so . . .« Er schlürfte den heißen Kaffee. »Hier ist sein Brief, Papa, lies ihn.« »Danke, wozu? Du bist ja kein Kind mehr und kannst schließlich tun und lassen, was du willst. Na -- schön!« Ruth küßte ihm die Hand. Weshalb eigentlich? Jakob kam in diesem Augenblick ins Zimmer -- wie peinlich! Er brachte geröstetes Brot, denn das Kriegsbrot war nachgerade nicht mehr zu genießen. »Soso, hm.« Aber weshalb küßte sie ihm die Hand? Es war völlig unnötig. Nichts haßte er ja mehr als irgendwelche Sentimentalitäten. So warm und bebend, Nachsicht erflehend, hatte er ihre Lippen auf seiner kalten Hand gefühlt -- er konnte ihr nicht zürnen in diesem Augenblick. Ruth hatte also das Verlöbnis mit Dietz gelöst. Eine glänzendere Zukunft hätte ihr niemand bieten können. Natürlich war es eine Überraschung für ihn, keine angenehme Überraschung, unnötig es zu sagen. Der Blick des Generals kehrte wieder zum Schreibtisch zurück. Eine Stunde verging, zwei Stunden. Ohne jede Unterbrechung arbeitete er. Nur ein einziges Mal legte er sich in den Sessel zurück: dieser Schriftsatz war mit Randbemerkungen von Allerhöchster Hand versehen -- frisch, lapidar, ganz im Geiste des Großen Friedrich. Behutsam, mit dem Ausdruck der Ehrerbietung legte er den Schriftsatz zur Seite. Lautlos ging die gepolsterte Doppeltüre, und lautlos, bis auf ein leises Singen der Sporen, trat Weißbach ein. Es war Zeit für die Unterschriften, genau ein Viertel vor ein Uhr. Noch immer diese leise, nicht mißzuverstehende Ziegelröte -- Weißbach näherte sich dem großen, ehrfurchtgebietenden Schreibtisch im Bogen und zögernden Schritts, um nicht zu plötzlich die Netzhaut des hohen Chefs zu treffen. Er verbeugte sich leicht bei jeder Unterschrift des Generals, während er die Tinte mit dem Löscher trocknete. Dann erhob sich der General und ging zu seinem Mantel. Jeden Tag, seit Monaten, spielte sich bei dieser Gelegenheit, zweimal am Tage, vormittags und nachmittags, die gleiche Szene ab. Der Adjutant näherte sich dem General. »Herr General gestatten?« »Danke, es geht noch allein, Gott sei Dank.« Lächeln des Hauptmanns, Verbeugung, stärkeres Klirren der Sporen. Der General ist in den rechten Ärmel geschlüpft und gerade dabei, den linken Ärmel zu suchen. Rascher Sprung des Adjutanten. »Herr General gestatten doch?« Und nun gestattet der General. Der Adjutant streicht den Mantel zurecht. Und der General dankt mit einem Blick, gerade so lange, als seine hohe Stellung es zuläßt. Wenn der General in die Handschuhe schlüpft, so erteilt er gewöhnlich noch kleine Aufträge, wie sie ihm gerade in den Kopf kommen. »Es treibt sich hier eine Ordonnanz herum, ein kleiner Bursche mit einer Narbe zwischen den Augen. Ich lege keinen Wert auf ihn.« Schon schwoll die Stimme des Generals wieder drohend an. Weißbach erbleichte. Eine unzuverlässige Ordonnanz, das ging ihn an! Augenblicklich wollte er nachforschen -- Behutsam schloß der Hauptmann die gepolsterte Flügeltüre hinter dem hohen Chef -- bis auf einen schmalen Spalt. Dann stand er noch eine Weile, leicht gebeugt, bereit zum Sprung, und lauschte, denn es war möglich, daß dem General draußen auf dem Korridor plötzlich noch ein Auftrag in den Sinn kam. Der Schritt seines Herrn hallte über den Gang, ferner und ferner. Nun erst schloß der Hauptmann mit einer leichten Verbeugung die Türe vollständig. »Donnerwetter!« flüsterte er aufatmend. Und was diese Ordonnanz mit der Narbe zwischen den Augen betraf, so wollte er sofort die Angelegenheit in Ordnung bringen. Hinaus mit diesem Burschen! Vierundzwanzig Stunden später war der Schneider Hanuschke schon wieder beim Regiment und achtundvierzig Stunden später schon wieder auf der Fahrt zur Front. Er hatte Pech, es ging gerade ein Transport hinaus. Von einem Kommando zurück zum Regiment geschickt zu werden -- etwas Schlimmeres konnte wahrhaftig nicht passieren. * * * * * Selbst in der leise murmelnden Dämmerung von Stifters Diele fand der General sein seelisches Gleichgewicht nicht völlig zurück. Mockturtlesuppe, westfälischer Schinken in Weintunke, gebackene Flundern und Aprikosenpudding, eine der Spezialitäten des Hauses, das Menü schien ihm heute mäßig. Jede Erregung legte sich bei ihm auf den Magen, sonderbar. Eine rätselhafte Einrichtung ist der menschliche Organismus. Und diese Ignoranten von Ärzten sagten immer das gleiche . . . Ja, Bewegung, wenn der Dienst jede Minute bei Tag und bei Nacht in Anspruch nahm -- diese Ärzte sind Narren! Sie trinken sich, zum Beispiel, zu Tod, buchstäblich, und predigen: keinen Alkohol, Gift, hundertprozentiges Gift für den Organismus, für Sie besonders -- und trinken sich unter die Erde, ohne zu erröten. Und diese beiden Rittmeister gegenüber, heute in voller Gala, sie konnten ihm, ganz gelinde gesagt, es gab ja treffendere Ausdrücke, vollends den Appetit verderben. Zahlen, Lawinen von Zahlen, wälzten sich auf den General herab, dessen Erscheinung vor kurzem den Schneider Hanuschke so erschreckt hatte. Nur selten, ein- bis zweimal im Jahre, beschäftigte er sich eingehender mit Zahlen. Es war nur gut, daß er gestern an die pommersche Hypotheken- und Wechselbank um hundert Mille geschrieben hatte. Sie würden den Kredit gewiß anstandslos gewähren, und für einige Zeit würde es wohl wieder genügen. Alles kostete heutzutage Unsummen! Er hatte nur ein ganz verschwommenes Bild seiner Vermögenslage im Kopfe. Das Konto war ein Kaleidoskop, unaufhörlich wechselnd, verwirrend, unübersichtlich. Aber er fühlte, daß es bergab ging. Ja, bergab -- Eines Tages, als sein hochverehrter Herr Vater, der als Oberst abgegangen war, auf Babenberg die Augen schloß, hatte er sich im Besitze von einigen Millionen und zwölftausend Morgen Land befunden. Aber einige Millionen, was war das, wenn das Kapital sich nicht automatisch vermehrt? Jeder Augenblick des Lebens verschlang Summen, Unsummen! Seine verstorbene Frau, er nahm es ihr nicht übel, im Gegenteil, diesen Zug liebte er an ihr, auch sie war kein, wie sagt man doch, wirtschaftliches Genie. Das Organ dafür fehlte ihr. Bergab -- nur gefühlsmäßig erfaßte er es. Babenberg war Fideikommiß, unantastbar -- Rothwasser, fünftausend Morgen, immerhin außerordentlich stark belastet. Und jeder Atemzug verschlang auf dieser Welt Summen, Unsummen! Es war letzten Endes ganz unerklärlich, wie die Menschen lebten. Der Haushalt hier -- Unsummen, Diners, Gesellschaften -- Unsummen, seine Privatangelegenheiten, die niemand etwas angingen -- Unsummen. Ein Paar bescheidene Ohrringe, zum Beispiel, ein paar Perlen in Platinfassung, die früher keine dreitausend Mark gekostet hatten, kosteten heute, sage und schreibe, fünfundzwanzigtausend Mark. Seine Bezüge während des Krieges, obgleich nicht unbeträchtlich, was waren sie schließlich? Ein Tropfen auf einem heißen Stein. Sein Kredit aber würde keineswegs gekräftigt werden, nun, weshalb sollte man nicht den Tatsachen ins Auge sehen, wenn man erst in Pommern erfuhr, daß diese Verlobung zurückgegangen war. Zahlen, Lawinen von Zahlen. Die Ziegelröte des breiten Gesichts steigerte sich allmählich zur tiefen Glut. »Eine kleine Schwarze oder eine lange Braune, Exzellenz?« raunte der Oberkellner und präsentierte die Zigarrenkisten. »Die Zigarren werden immer schlechter, mein Freund.« »Leider, Exzellenz. Es wird immer schwerer . . .« Er hatte die Heirat mit Dietz freudig begrüßt, natürlich, er hatte die Annäherung begünstigt, offen zugestanden -- schließlich war er ja der Vater -- und es kam ja auch einmal der Moment, da er die Augen schloß, und seine Kinder sehen mußten, wie sie allein vorwärtskamen. Wehmut erfüllte den General, als er sich in diesen Gedanken vertiefte. Einmal würde ja der Augenblick kommen, da er, den Helm in der Hand, vor seinen Herrgott treten mußte. Furchtbarer Augenblick, furchtbar der Gedanke, diese Welt der Tatsachen verlassen zu müssen -- ins Ungewisse hinein . . . Aber der Oberkellner rief ihn zur heitern Erde zurück. Er brachte die Liköre. Wieder umwölkte sich das tiefrote Gesicht Seiner Exzellenz. Es war eine Tatsache: während der Adel auf den Schlachtfeldern verblutete, Blut und Gut opferte, füllten sich zweifelhafte Elemente die Taschen. Und diese zweifelhaften Elemente kauften Land! Eine ganze Reihe bekannter Familien war schon gezwungen gewesen, uralten Familienbesitz abzustoßen. Was aber würde aus dem Adel werden, der seit Jahrhunderten Kraft aus der Scholle sog, wenn er erst einmal entwurzelt war? Trotz alledem -- es würde ja jedenfalls Babenberg bleiben, wenn es so weit kommen sollte, daß er Rothwasser verkaufen mußte. Aber, ganz abgesehen von materiellen Gesichtspunkten: Dietz war ja ein prachtvoller Mensch, eine stattliche Erscheinung, gebildet, von seltener Noblesse und Großzügigkeit -- unverständlich . . . Immer mehr wurde ihm Ruth zum Rätsel. 5 Den ganzen Nachmittag schon wanderte der kleine Herr Herbst in seinem Zylinder in der Tiergartenstraße auf und ab. Immer wieder zog er die Uhr, immer wieder klopfte er die Schmutzflecke mit dem Taschentuch von den Stiefeln. Es war eigentlich nicht mehr kalt. Die Luft des Tiergartens war von roten Sonnenkeilen getigert, es roch schon nach Frühling, und zuweilen hauchte es feucht und warm, aber Herr Herbst hüllte sich fest in den rostfarbenen Havelock. Er fror. In der verflossenen Nacht hatte er nicht geschlafen. Er hatte getrunken, in einer kleinen Spelunke, mit richtigen Spitzbuben, die Einbrecherwerkzeuge bei sich hatten -- richtigen Spitzbuben, seht an. Deshalb also fror er. Auch war dieser Zylinder kalt. Er schmiegte sich nicht wie sein anderer Hut dicht an den Schädel, es gab Spalten, durch die die Kälte wie durch Schornsteine an seinem geschorenen Schädel in die Höhe stieg. »Ja, so ist es, so ist es!« flüsterte Herr Herbst und träumte vor sich hin. »Er würde, zum Beispiel, meinen Gang haben. Er war mir ja so ähnlich! Er würde sogar die gleiche Art zu sprechen haben. Bei manchen Worten fällt es mit ja etwas schwer, wenn viele L und R zusammenkommen, zum Beispiel: Sell -- nun: Sellerie. Auch er hatte ja denselben kleinen Sprachfehler, schon in der Schule. Er würde mit einem Wort ganz wie ich sein. Wenn ich nun einmal unter der Erde liege, so würde er leben und gehen und sprechen -- und eigentlich wäre ich es! Eigentlich, bei rechtem Licht besehen, ja. Ich würde weiterleben, obschon ich tot bin. Auch er würde Kinder gehabt haben -- und so würde ich immer weiter leben.« »Aber so?« »Wie ist es so?« »Nichts, nichts. Gar nichts. Ich sterbe, man begräbt mich, und alles ist zu Ende. Wir sind tot, die ganze Familie ist von der Erde verschwunden.« Wie klar er heute zu denken vermochte! Seit langer Zeit fügten sich die Gedanken nicht so spielend aneinander. Ausgezeichnet war das! Herrlich! Es gab ja so viele Tage, da er nur stottern konnte, seine Gedanken sich fortwährend verwirrten, und das hätte einen schlechten Eindruck gemacht. Wieder befand er sich dem grauen Hause gegenüber. Jakob, der immer noch den Messingknopf der Haustüre polierte, machte ihm ein Zeichen. Also noch nicht! Jakob war ja eingeweiht, hatte zehn Zigarren erhalten -- und zehn weitere Zigarren sollte er bekommen -- danach! Ja, das also ist die Wahrheit: von der Erde verschwunden! Der Zylinder verlor sich in der Tiefe des Parkes. Schon war Herr Herbst wieder in seine alten Gedanken versunken. »Eigentlich, ja, wäre alles ganz genau, als ob ich noch lebte. Ich liege unter der Erde, und doch lebe ich weiter. Denn er ist eigentlich ich -- oder ich eigentlich er -- --! So aber -- bin ich wie eine Pflanze, die man ausgerissen hat und auf den Weg warf. Und dann ist es zu Ende -- zu Ende für immer . . .« Herr Herbst blieb mitten auf dem Wege stehen. Er zitterte. »Ja -- trotz allem -- unfaßbar!« »Ich lebe, obschon ich alt bin, und er, jung, kaum neunzehn -- ist tot. Ich gehe hier -- und er, liegt unter der Erde. In unbekanntem Land, vielleicht nicht einmal eingesegnet, vielleicht nicht einmal ordentlich begraben. Ohne Ruhe --!« »Ohne Ruhe --« Plötzlich aber schrak Herr Herbst zusammen. Sein Herz blieb stehen. Voller Schrecken, voller Verwirrung schlug er die Hände vors Gesicht. Die Marspfeife der Limousine trillerte. Er kannte sie ganz genau. 6 Das Antlitz noch immer umwölkt, stieg der General aus dem Wagen. Noch immer war die Ziegelröte nicht völlig verflogen. -- Auch dieser Brief -- er lag noch in demselben grüngebundenen Buch -- auch dieser Brief gab keinen Aufschluß. Er bestärkte wohl gewisse Vermutungen, lüftete aber nicht den Schleier. Dieser Brief lautete: »Geliebte Ruth! Frevelhaft erscheint es, in dieser entsetzlichen Verfinsterung an das persönliche Glück zu denken. Immerhin, ich unterliege der Versuchung. Das Gebäude der menschlichen Glückseligkeit, Werk und Vermächtnis der Edelsten, Kühnsten, Reinsten aller Völker, der Seher und Weisen, es scheint in seinen Grundmauern erschüttert. Verzweiflung erfaßt uns, Dich, mich, alle, die wir an die Sendung der Menschen glauben. Unzahlen leichtfertiger Gedanken, anscheinend völlig belanglos, Unzahlen leichtfertiger Worte, unscheinbar, leichtfertiger Wünsche, leichtfertiger Handlungen, nebensächlich im einzelnen betrachtet -- sie haben diese entsetzliche Verfinsterung herbeigeführt. Ich glaube -- glaube unbedingt an einen Schatz des Guten auf Erden, die Summe aller guten Handlungen, guten Gedanken und guten Worte. Ich glaube, daß dieser Schatz, einzig wahrhafter Besitz der Menschheit, sich unaufhörlich mehren muß -- sollen nicht Verfinsterungen wie diese eintreten. Die letzten Generationen und vor allem jene Völker, die sich zivilisiert nennen, haben aber diesen Schatz nicht vermehrt. Sie haben ihn verschleudert, vermindert. Die Schale sank und -- wie immer, wenn sie sank -- kam die Katastrophe. Welch ein Irrtum: die Menschheit für den einzelnen! _Wahr ist: der einzelne für die Menschheit!_ Jeder einzelne sei Mehrer jenes Schatzes des Guten, Gerechten und Schönen, oder er ist ein -- Dieb! Hüten wir uns, die Mörder der kommenden Generation zu werden, wie die vergangene unser Mörder wurde . . .« Hier brach der flüchtig mit Bleistift hingeworfene Brief ab. Seine Fortsetzung fand sich nicht im Buche. Keine Aufklärung also -- In diesem Augenblick schrillte die Klingel der Haustüre. Der General erschrak. So heftig, daß er einen Stich in der Brust fühlte. Wenn er es auch als seine väterliche Pflicht erachtete -- es wäre ihm peinlich . . . Wieder schrillte die Klingel. Sie klang eigentümlich, hier in Ruths Zimmer -- wie ein Signal. Hastig legte er den Brief in das grüngebundene Buch zurück -- ein Werk Lassalles -- und rasch, scheu, als habe man ihn auf verbotenen Wegen ertappt, eilte er über den Gang. Es war indessen, Gott sei Dank, nur ein blinder Alarm. Jakob übergab eine Karte. »In dringender Angelegenheit. Herr General sind unterrichtet --« Ein völlig unbekannter Name -- Rentier. Unterrichtet? Wahrscheinlich der Hausverwalter; das Badezimmer sollte neu gerichtet werden. Immer noch etwas verwirrt, ließ der General bitten -- zu Jakobs maßlosem Erstaunen. * * * * * Der General wartete, aber nichts regte sich. Schon in dieser Verzögerung witterte er etwas Ungewöhnliches. Jeder Mann von Erziehung mußte längst eingetreten sein. (Diese Verzögerung entstand dadurch, daß Herr Herbst sich im letzten Augenblick umständlich die Nase putzte.) Übrigens -- hieß dieser Hausverwalter nicht anders? Plötzlich aber verdunkelte ein Schatten die Türe -- und im gleichen Moment erbleichte der General . . . Augenblicklich hatte er dieses Gesicht wiedererkannt! Jenes Gesicht, das an Doras Geburtstag durch die Scheibe des Foyers spähte -- nein, nicht jenes, sondern das andere, das er erblickt hatte, als er am Schreibtisch eingenickt war, als es so eigentümlich an die Scheiben pickte -- das Drohung und Kälte ausstrahlte . . . Augenblicklich erinnerte er sich an alles. Es war ja erst vor wenigen Tagen. Scheu und blaß stand das Gesicht in der Türe, und ganz langsam und zögernd kam es näher. Nicht Drohung, nicht Kälte -- Angst, Hilflosigkeit, Verwirrung. Das Blut kehrte in das Gesicht des Generals zurück. Die leichte Lähmung wich aus seinen Händen. Unsicher trat Herr Herbst in seinem verknüllten schwarzen Gehrock ins Zimmer, den Zylinder in der Hand. Er verbeugte sich tief, voller Ehrerbietung. In dieser Verbeugung verharrte er ungewöhnlich lange. Er erwartete irgendein Wort. Dann richtete er sich verlegen auf und blickte dem General mit seinen entzündeten tränenden Augen ins Gesicht, ohne irgend etwas zu sehen. Der General räusperte sich, und Herr Herbst beantwortete dieses Räuspern mit einer neuen, wenn auch weniger tiefen Verbeugung. »Bitte«, sagte der General, etwas unsicher und mürrisch und deutete auf einen Sessel. Rot funkelte die Sonne ins Zimmer. Herr Herbst nahm auf der Kante des Sessels Platz, hielt den Zylinder in der Hand und begann zu zittern . . . Ja, er zitterte. Seine Zähne schlugen aufeinander. Der Sessel schwankte, er fürchtete auf den Boden zu stürzen. Feuer blies aus der Wand. Rot wie ein Gebirge bei Sonnenuntergang leuchtete das breite Gesicht des Generals im Schein der sinkenden Sonne. Riesenhaft wie ein Gebirge erschien der General Herrn Herbst in diesen Sekunden schrecklichster Angst. Der -- »Blut-Hecht!« Wie? Ja, er -- so nannten ihn seine Soldaten . . . Erst jetzt, da es zu spät war, begriff er, was er gewagt hatte, _wem_ er sich gegenüber befand. Der . . . Was hätte er gegeben, alles, alles, wenn er nur wieder auf der Straße wäre. Der General schnitt behutsam die Spitze einer Zigarre mit dem Federmesser ab. »Ich bitte --?« sagte er leichthin, während er die Zigarre zwischen den Fingern rollte. »Was wünschen Sie?« Er hatte das Gleichgewicht völlig wiedergefunden. Sein Blick glitt flüchtig über das zitternde Häufchen Hilflosigkeit in dem abgetragenen schwarzen Rock. Ohne sich dessen bewußt zu werden, genoß er die Angst, die er seinem Besuche einflößte, denn kein Mensch, er sei denn von seltener Güte, kann einen andern zittern sehen, ohne sich augenblicklich erhoben zu fühlen. Oben und Unten, Herren und Knechte, nie hatte der General eine andere Gesellschaftsordnung auch nur in Gedanken erwogen. Es waren Gesetze, von Gott gegeben, die man hinnahm, ohne darüber weiter nachzudenken. Bis zum jüngsten Tage wird es Oben und Unten, Herren und Knechte geben. Andere als dieser hatten vor ihm gezittert -- Soldaten und Offiziere -- und sie hatten gezittert wenige Minuten, bevor sie in den Tod gingen. Herr Herbst bewegte die Lippen -- aber in diesem Augenblick zwitscherte ein Vogel irgendwo, und erschrocken wartete er. Wieder bewegte er die Lippen. Er mußte sprechen, Worte, irgendein Wort, es war höchste Zeit. Wie lange noch sollte dieser andere -- dieser hier -- schon sank die Sonne, dämmerte es im Zimmer -- nur dieses breite starre Gesicht leuchtete noch. Und plötzlich flüsterte er. Aber er erschrak bis ins Mark über die Worte, die von seinen Lippen kamen -- keineswegs die Worte, die er sich zurecht legte und einübte, in den Nächten, auf der Straße, wenn er so dahinging. Seine Lippen flüsterten, kaum vernehmbar: »_Geben Sie mir meinen Sohn wieder!_« Und schon hob er erschrocken die Hand, um die Worte zurückzuhalten. Aber der General konnte sie gar nicht gehört haben, kaum, daß sie bis in seine eigenen Ohren drangen. Das Gesicht des Generals wurde fahl und erdig. Die Sonne war fort. Starr stand er vor ihm, unerbittlich, schweigend, und die Augen forschten -- kalt, ohne Erbarmen. Hastig bewegte er von neuem die Lippen. Aber obschon er diesmal eine bestimmte Redewendung, die mit »Bitte gehorsamst« begann, auf den Lippen formte, flüsterten seine Lippen, ganz gegen seinen Willen, die gleichen furchtbaren Worte wie vorher: »Geben Sie mir meinen Sohn wieder!« Diesmal schon etwas vernehmbarer. Er fuhr zusammen, erschauerte, suchte nach dem Taschentuch. Da erklang die Stimme des Generals. Ruhig und beherrscht -- mit jener doppelten Ruhe und Überlegenheit, die sich ganz von selbst bei allen Menschen von nicht seltener Güte einem zitternden Menschen gegenüber einstellt. »Sie haben mir neulich geschrieben?« sagte die ruhige und überlegene Stimme. »Bitte gehorsamst, Exzellenz!« »Sie haben mir geschrieben -- Ihr Sohn, wenn ich mich recht erinnere --?« »Mein Sohn Robert, Euer Exzellenz!« Prächtig ging es nun. Röte huschte über das bleiche, kleine Gesicht. Der Sessel hörte auf zu schwanken, die Gestalt des Generals nahm natürliche Maße an. »Er ist --?« »Gefallen. Am 5. August.« »Fünften, sagten Sie?« »Fünften, Euer Exzellenz. Beim Sturmangriff auf Quatre vents. Am vierten hatte bereits ein Jägerbataillon gestürmt, vergeblich, am fünften . . . da fiel er.« Der General ließ den Blick rügend auf Herrn Herbst ruhen. Dieses leicht kritische »vergeblich«, wahrscheinlich ohne besondere Absicht geäußert, mißfiel ihm. »Er fiel für Kaiser und Reich!« sagte er mit etwas salbungsvoller, tieftönender Stimme. Die kleinen entzündeten Augen blinkten. Herr Herbst leckte sich die schmalen Lippen, und ein paar gelbe Zahnstumpen wurden sichtbar. Einen Augenblick schien es, als ob sein Gesicht sich zu einer Grimasse von satanischem Hohn verzerren wolle. »Wie Tausende und Hunderttausende, wie Millionen --!« fuhr der General fort, und seine Stimme hob sich. Wieder verzerrte sich das kleine fahle Gesicht, dann aber zog er das Taschentuch heraus und preßte es an die Augen. Der Schmerz überfiel ihn. Er wimmerte leise. Plötzlich aber knallte es -- ganz wie heute vormittag im Foyer, als er mit dem Portier sprach -- der Zylinder war auf den Boden gefallen. »Bitte gehorsamst --« stammelte Herr Herbst erschrocken und hob den Zylinder auf. Schwindel ergriff ihn, als er sich wieder setzte und die Tränen abwischte. Das Zimmer drehte sich im Kreise, eine Faust preßte seinen Magen zusammen. Ah, wenn es ihm nun übel würde! Das wäre eine Sache! Er hatte ja die ganze Nacht hindurch getrunken, und plötzlich fühlte er die Betrunkenheit. Beschütze mich Gott! Mit Spitzbuben hatte er getrunken, richtigen Spitzbuben, die Werkzeuge in einem Brotbeutel bei sich führten -- in einer Kneipe, im Hof, die die ganze Nacht offen war. Wenn der General nun bemerkte -- Aber der General war zum Schreibtisch gegangen und hatte ein Schubfach aufgezogen. Er drehte das Licht an. »Verstehen Sie Karten zu lesen -- Herr --?« »Herbst.« »Herr Herbst? Nun, ich hätte Ihnen sonst erklären können, was ich beabsichtigte. Wir haben am 4., 5. und 6. August gekämpft und die Höhe leider räumen müssen, weil man uns die Reserven versagte . . .« Versöhnlich klang plötzlich die Stimme des Generals. Auch er hatte ja einen Sohn im Kriege verloren. Auch er war ein Vater, der trauerte. Der Krieg hatte alle gesellschaftlichen Bande gelockert. Über manches mußte man in dieser Zeit hinwegsehen. »Hier ist die Höhe,« fügte er hinzu, »wo Ihr Sohn für die Größe und Ehre des Vaterlandes . . .« Taumelnd erhob sich Herr Herbst. Ja, der Rausch kam, ohne Zweifel. »Sie sind nicht von hier?« »Aus der Provinz, Euer Exzellenz!« »Beruf?« »Früher Lehrer an einem Gymnasium.« »Bitte, treten Sie ruhig näher.« Auf der großen und ausgezeichnet scharfen Photographie sah Herr Herbst zunächst nichts. Ein Meer, wie, was war das? Wellen, Wogen. Ein Ozean in Aufruhr! Dann aber unterschied er Baumstrunke, die kreuz und quer aus diesen furchterweckenden Wogenbergen hervorstanden, und einen schmalen Erdgang der mitten in die Wogenberge aus erstarrtem Schmutz hineinführte -- es war die Kuppe der Höhe selbst, von den Minen zerrissen. Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit pflegte der General diese erschreckend realistische Aufnahme Besuchern zu zeigen. »Das also ist Quatre vents!« sagte er. Herr Herbst atmete schwer. 7 Die Geschichte wird entscheiden, dachte der General, wie immer, wenn er die Kämpfe um Quatre vents in seinem Geiste vorüberziehen ließ. Aber er täuschte sich. Die Geschichte wird nicht entscheiden, sie hat etwas Besseres zu tun. Die Geschichte wird diese Höhe ganz einfach vergessen. Die Höhe von Quatre vents war strategisch gänzlich belanglos. Drei Kilometer rückwärts lag eine zweite, viel stärkere Höhe, durch einen Flußlauf vor der Unterminierung geschützt. Die Lage von Quatre vents war sogar ungünstig. Sie konnte jederzeit abgeschnürt werden, wie es später auch geschah, sie lag offen vor den feindlichen Geschützen, und ihre Zugänge wurden vom feindlichen Feuer bestrichen. Der General aber hielt Quatre vents für einen Angelpunkt der Westfront. Sonderbarerweise aber, auch der französische General gegenüber, ein französischer Hecht-Babenberg, auch er hielt die Höhe für einen Angelpunkt der Westfront! Unaufhörlich schickte er seine Schwarzen vor. Tausende und Abertausende von dunkelhäutigen Kadavern verpesteten monatelang die Luft, bis die gütige Erde, die keinen Unterschied macht zwischen Schwarz und Weiß, sie in sich schluckte. Trotz ungeheurer Verluste sappte sich der Franzose eigensinnig heran, und endlich lag man sich an einzelnen Stellen kaum fünf Meter entfernt gegenüber. Ein Räuspern bedeutete den Tod. Nun erst begann der eigentliche Kampf um die Kuppe. Man unterminierte gegenseitig die Stellungen und sprengte die Gräben einfach in die Luft. Als der General eines Tages gerade badete, meldete man ihm, daß eine ganze Kompanie in die Luft geflogen sei. Furchtbarer Morgen! Zuweilen kämpfte man sogar mit Messern und Handgranaten in den finsteren Stollen unter der Erde. Wie die Rasenden bekämpften einander die beiden Generale, die fünfzehn bis zwanzig Kilometer hinter dem Teufelsberg, umgeben von Stabsoffizieren, Telephonapparaten, Ordonnanzen, Köchen und bombensicheren Unterständen in ihren Schlössern hausten. Frankreich erwartet, daß ihr die Trikolore auf der Höhe aufpflanzt! Die Höhe ist und bleibt in deutscher Hand! Nur über unsere Leichen, Kameraden . . . Ja, Kameraden pflegte der General seine Soldaten in derartigen Befehlen zu nennen. Von Zeit zu Zeit verteilte er mit feierlichen Ansprachen Eiserne Kreuze. Schließlich glaubten die Soldaten auf beiden Seiten tatsächlich, daß sie um den Angelpunkt der Westfront rangen. Auf diese Weise entstand der zwölfstöckige Friedhof von Quatre vents. -- Herr Herbst keuchte. Seine entzündeten Augen füllten sich mit Tränen. Zuerst verschwand der kleine Erdgang, dann die Baumstrunke, dann die wilden erstarrten Schmutzwogen -- aber das schreckliche Bild hatte sich für immer in seine Seele eingegraben. Um ein Haar wäre eine Träne auf die kostbare Aufnahme, die der General sich einrahmen lassen wollte -- er kam bis jetzt nur noch nicht dazu -- eine Träne getropft, aber der General hatte das Bild noch rechtzeitig fortgenommen. Hier also -- vielleicht war er durch diesen schmalen Erdgang geschritten --? War es möglich, daß er zwischen diesen fürchterlichen Erdwogen um sein Leben kämpfte? War es möglich, daß zwischen diesen Erdwogen, diesen schrecklichen, sein Todesschrei verhallte? Wie? Wie? Wie? War es möglich, daß ein Mensch geboren wurde, um hier zu enden? Herr Herbst zitterte vor Entsetzen. Allein das Bild dieser Höhe erfüllte ihn mit schrecklichem Grauen. Er taumelte und rang nach Luft. »Hier also --?« stammelte er. »Es waren sehr schwere Kämpfe!« sagte der General beruhigend. »Und -- sein Grab, hier --?« Die Augen Herbsts waren plötzlich starr und entgeistert auf den General gerichtet. »Wie beliebt?« »Aber -- vielleicht -- ist er gar nicht begraben worden?« schrie er mit schriller Stimme und rang verzweifelt die Hände. Ja, nun verstand er alles . . . Alles! Wie sollte ein Toter Ruhe finden zwischen diesen entsetzlichen Wogenbergen? Wie sollte --! Der General runzelte die Stirn. Aus purem Mitleid hatte er sich mit diesem alten Mann abgegeben. Nur um überhaupt ein Gesprächsthema zu schaffen, hatte er ihm die Photographie gezeigt. Die Stätte, wo sein Sohn gekämpft hatte, konnte wohl sein Interesse finden. So unerhört es war, daß ein ixbeliebiger Beamter aus der Provinz, ohne viele Umstände seine Karte bei ihm abgab, zu ungewöhnlicher Stunde, in einem geradezu skandalösen Anzug, hatte er doch den Umständen eine Konzession gemacht und Nachsicht geübt. Nun aber sah er sich veranlaßt, sich wegen seines allzu großen Entgegenkommens Vorwürfe zu machen. Der Gesichtsausdruck des kleinen alten Mannes erschreckte ihn. Es war ja nicht unmöglich, daß dieser merkwürdige, völlig unberechenbare alte Mann -- Erschreckend ähnlich war sein Gesicht dem Traumgesicht geworden, das durch die Scheiben starrte, als es pickte . . . »Es waren außerordentlich schwere Kämpfe -- es ist natürlich gänzlich unmöglich für einen Laien, sich ein Bild zu machen. Zumal, da Sie ja die Verhältnisse an der Front nicht kennen.« Einen letzten Versuch machte der General, den kleinen alten Mann zu beruhigen. Verstört, entgeistert schwankte Herr Herbst auf seinen dünnen Beinen. »Sie haben also den Befehl gegeben? Und dann mußte er -- da hinauf --?« fragte er mit pfeifender Stimme. Betreten richtete sich der General auf. Drohung ging plötzlich von diesem verzerrten, kalkweißen Gesicht aus. »Was soll diese Frage?« rief er, und schon funkelten seine Augen. Seine Geduld war zu Ende. Genug mit diesem Burschen! Aber plötzlich funkelten auch die Augen des kleinen Herrn Herbst, schneeweiß glitzerten sie. Haß glitzerte aus ihnen, Haß, unergründlich. Er warf die Hände in die Luft, mit einer wilden, erschreckenden Bewegung, und schleuderte dem General ein fürchterliches Wort entgegen. »Mörder!« Der General wich zurück und erbleichte. Aber der kleine alte Mann schwang wieder die Hände, und abermals schrie er: »Mörder! Mörder!« Schon aber trat ihm der General mit breiter Brust entgegen. »Hinaus!« rief er. »Hinaus -- augenblicklich -- oder --!« Plötzlich, ganz unvermutet, war der kleine alte Mann in die Knie gesunken und hatte die Hand des Generals ergriffen, alles in einer Sekunde. »Verzeihung, Exzellenz!« stammelte er. »Verzeihung -- ich -- ich bin --« »Ich bin -- betrunken . . .« Ja, in dieser Sekunde fühlte er, daß er betrunken war. Sonst empfand er nichts mehr. Es war ihm klar, der Rausch war zum Durchbruch gekommen, plötzlich, der Alkohol, sein Teufel, hatte ihm ein Bein gestellt. Er wollte all das gar nicht sagen, wollte -- ja, was wollte er eigentlich -- aber er hatte nie und nimmer beabsichtigt, so etwas zu sagen. Wie konnte er, er machte Besuch -- Der General aber begriff in diesem Augenblick etwas ganz anderes. Dieser alte Mann war vielleicht betrunken, möglich, aber er war etwas ganz anderes -- er war geistesgestört. Einen Geistesgestörten hatte er vor sich! Alles erklärte sich nun, der Brief, der ungewöhnliche Besuch, sein Gebaren. Ein bedauerlicher Geistesgestörter, das war dieser alte Mann. Es würde sich nunmehr darum handeln, ihn möglichst rasch und, ohne Aufsehen zu erregen, loszuwerden. »Sie sind erregt -- begreiflicherweise -- stehen Sie auf --« sagte er, um seinen unheimlichen Gast zu besänftigen. »Erst wenn Sie verzeihen«, rief Herr Herbst, während die Tränen aus seinen Augen sprangen. »Ich verzeihe Ihnen, natürlich --« Sofort erhob sich der alte Mann. »Es ist ja begreiflich, daß Sie erregt sind«, fuhr der General fort. »Wir haben alle in diesen Jahren Schreckliches erlebt. Aber ich muß jetzt bitten, ich habe dringend zu arbeiten . . .« »Bitte zu entschuldigen . . .« Anscheinend völlig beruhigt nahm Herr Herbst den Zylinder in die Hand. »Ich bitte zu entschuldigen, Euer Exzellenz -- die Störung.« Aber er blieb an der Türe stehen, hob das noch von Tränen glänzende Gesicht, und wieder nahmen seine entzündeten Augen einen eigentümlichen Ausdruck an. Wieder begannen sie zu glitzern. Jedenfalls -- -- er blieb stehen -- obschon ihn der General mit einer kleinen stummen Verbeugung entlassen hatte. Der Ausdruck seiner Augen war unerklärlich. Spott lag darin -- oder -- war es nicht Spott? Er wartete auf irgend etwas. * * * * * Der General, der schon die Absicht ausdrückte, sich am Schreibtisch niederzulassen, wandte den Kopf. Offenbar, dieser Mann hatte noch etwas auf dem Herzen, und er würde nicht gehen, bevor er von dieser Last befreit war. Plötzlich erriet der General. Diese geheimnisvollen Andeutungen in seinem Brief! Diese anfangs völlig unverständliche Anspielung, die plötzlich einen gewissen Sinn zu bekommen schien. Es war ja sogar möglich, daß dieser Geisteskranke tatsächlich im Besitz eines Geheimnisses war. »Sie wollten mir --« begann der General erneut, etwas betreten, indem er sich voll gegen Herrn Herbst wandte -- »Sie schrieben seinerzeit etwas von meiner Tochter -- irgend etwas, ich erinnere mich nicht mehr --?« Der General stockte. »Das gnädige Fräulein --?« Es war der gleiche Ausdruck, den er in seinem Brief anwandte. Der General hatte richtig geraten. Herr Herbst hatte tatsächlich auf diese Frage gewartet -- aber nicht um sie zu beantworten! Der Ausdruck in seinen Augen, dieser Schimmer von Spott steigerte sich zum Hohn. Er legte den Kopf auf die Schulter, lächelte . . . höhnisch, triumphierend, wieder wurden die gelben Zahnstumpen sichtbar. Er fing sogar an, leise zu lachen. »Ich wüßte nicht, Exzellenz . . .« »Guten Abend!« sagte der General kurz. Und mit einer spöttischen Verbeugung verabschiedete sich Herr Herbst. Kaum hatte er das Haus verlassen, so fegte ein Donnerwetter durch die Diele. 8 Wie ein blutiges Nordlicht flammte die sinkende Sonne zwischen finsteren Wolken. Durch die Torbogen des Brandenburger Tors schleuderte sie rote Glutkegel, die die Linden überfunkelten. Häuser und Menschen brannten düster, und düster brannte das Schloß am Ende der Linden. In den Schaufenstern der Luxusgeschäfte flammten die Brillanten, Perlen, Diademe, Orchideen, goldenen Schalen und Prunkgefäße. In seinem weiten abgenutzten Soldatenmantel strich Ackermann, der Student, die Linden entlang, dicht an den Läden vorüber mit den Orchideen, Perlen und Prunkgefäßen. Er sah sie nicht. Sein Mund zuckte. Dies ist die Stunde, dachte er -- ja, dies ist die Stunde, da die Sterbenden noch einmal die Augen aufschlagen, um den hohen Himmel zu grüßen. Erinnerst du dich -- dieser Blick aus schlafschweren Augen? Dies ist die Stunde, da die Verwundeten gierig das scheidende Licht mit ihren fiebernden Augen trinken, denn einen Augenblick später kommt schon die Nacht mit ihren Ungewißheiten, dem Gewimmer, Stöhnen und Miauen im Krankensaal. Dies ist die Stunde, da die Gefangenen in all den hundert Lagern, von _Menschen_ errichtet, um _Menschen_ gefangenzuhalten, noch einmal an den Stacheldrähten entlangstreichen wie Tiere, bevor man sie in ihre Höhlen zurückjagt, da die Hände von Hunderttausenden von gefangenen Menschentieren sich verkrampfen um den kalten Draht. Ja, dies ist die Stunde des schrecklichen Sterbens -- in Flandern und Frankreich, in Italien, Mazedonien und der Türkei, überall in dieser ganzen verfluchten Welt. Dies ist die Stunde, da das Elend der ganzen Welt sich vertausendfacht -- da das Gespenst des menschlichen Elends sich riesengroß über der Erde erhebt . . . Ackermann watete durch die gespenstisch rote Lichtflut des sinkenden Gestirns. Blut, nicht Schein der Sonne, Blut, das von den Schlachtfeldern hereinströmt in diese Stadt und täglich steigt wie ein Meer. Er roch das Blut, er fühlte seine dampfende Wärme, genau wie damals in Flandern, als ihn dieser dicke Blutstrahl traf, der aus der Halsschlagader eines getroffenen Kameraden spritzte -- und dann, ja, als sein eigenes Blut über ihn strömte. Es rann über die Scheiben der Schaufenster, es quoll aus den Haustüren, überschwemmte die Straßen, das Schloß -- dort unten -- schon feuchteten sich die dicken Steinmauern -- Blutige Gespenster stürzten an ihm vorbei. Schon wateten die Menschen in der roten Flut bis an die Brust, sie fühlten es nicht. Bald wird sie bis an ihre Lippen steigen. An ihren Wimpern hing das Blut, ihre Hände färbte es rot. Erst Lügner, dann Räuber, dann Mörder -- das sind die Völker Europas geworden! Dunkel rauscht die Menschheit dahin, ein Strom in der Finsternis, der nicht sein Ziel kennt . . . »Und du, Herr, über den Finsternissen?« »Weshalb zögerst du?« Verzweiflung zerbrach ihn, Qual und Schmerz zerrissen sein Herz. Sein Hirn blutete, sein Hirn zersprang. »Ja, weshalb?« Plötzlich tastete er nach der Hauswand. Deutlich hatte er gespürt, wie er zu sinken begann, wie der wirbelnde Blutstrom ihn mit sich forttrug . . . »Bringe Erlösung dieser Erde! Führe sie zurück auf deinen Weg!« »Wann wirst du das Signal geben?« »Sprich!« »Wer wird es rufen -- das erste Wort?« »Mut! Mut!« Plötzlich hob ihn der weite Mantel in die Höhe, und er schwebte dahin. Durch unendliche gleißende Helle brauste er, über blendende Ebenen, hingegeben einer unbekannten Wollust . . . Da faßte jemand seinen Arm und schüttelte ihn. »Sie werden doch nicht fallen?« sagte die Stimme eines Mannes. Nun saß er, noch etwas betäubt, auf einer Treppe, ganz in der Nähe des Schloßplatzes. Rasch kam er wieder zu sich. Seit seiner letzten Verwundung litt er an Schwindelanfällen. Zuweilen war er auch schon bewußtlos zu Boden gestürzt. Die Sonne verglühte und zog ihre Glutkegel zurück. Bleich und fahl trieb die Viktoria auf dem Brandenburger Tor ihr Triumphgespann vorwärts. Schon schob sich die schwarze drohende Finsternis herauf über die Riesenstadt, um sie zu vernichten. Die Nacht war nahe. Düster lag das Schloß, kalt, leblos. Tod und Nacht strömten von ihm aus, Kälte und Haß. Ringsum die Denkmäler, die finstern Reiter aus Erz mit ihren Marschallstäben standen wie Schatten. Wo immer sie ihre Hufe hinsetzen auf Erden, diese Rosse aus Erz mit ihren finstern Reitern, entweichen die freundlichen Geister! Aber auch sie werden dahinschmelzen im Blicke seines Zorns. -- Ackermann erhob sich. Es wurde kalt. Die Schatten wurden dichter und krochen näher. Er überquerte den Schloßplatz, überschritt die Brücke und wanderte der finstern Vorstadt zu. 1914 hatten sie gestürmt, bei Langemark, mit dem Liede: »Deutschland, Deutschland über alles.« Man hatte sie in die englischen Maschinengewehre gejagt. Wie viele waren zurückgekommen? Einer der wenigen war er. Wieviel war seitdem geschehen! Wie Hunderttausende war er zu den Fahnen geeilt -- wie Hunderttausende in dem Wahn, sein überfallenes Vaterland zu schützen. Wie Hunderttausende hatte er sich dem Tode entgegengestürzt, wie Hunderttausende hatte er gemordet. Wie Hunderttausende war er der Verzweiflung nahe gewesen und hatte er den Tod herbeigesehnt. Wie Hunderttausende der armen Teufel aller Nationen hatte er in dem Wahne gelebt, einer heiligen Sache zu dienen. Im Laufe der Zeit aber war er zur Erkenntnis gekommen, daß Deutschland nicht überfallen worden war, sondern eine Handvoll eitler Scharlatane den Krieg provozierte. Aber auch das war ja nicht richtig. Ein Jahr später hatte er sich zur Erkenntnis durchgerungen, daß alle Völker, die sich heute zerfleischten, gleichermaßen schuldig waren. Plötzlich, in einer Nacht im Bahnhofslazarett von Sedan -- er erinnerte sich noch deutlich dieser entsetzlichen Nacht voller Stöhnen und Gejammer -- sah er Europas wahres Gesicht! Es war das Haupt der Medusa! Bis ins Mark entsetzt, starrte er in diese furchtbare Maske -- Lüge, Lüge, Lüge! Jede Linie Lüge! Verbrechen, Habgierde, Heuchelei, Schamlosigkeit, das war Europa, nichts sonst. Die europäischen Großstaaten hatten das Raubritterwesen ins Gigantische gesteigert. Gestützt auf ihre Heere und Flotten plünderten sie die Erde, versklavten sie alle Völker des Erdballs, gelbe, braune, schwarze -- um sich endlich, argwöhnisch und gierig, gegenseitig selbst zu zerfleischen. Diese weiße Rasse war die verruchteste aller Rassen, die den Planeten bewohnte. Ganze Rassen hatten sie ausgerottet -- aber in ihren zoologischen Gärten pflegten sie seltene Gazellenarten. Mehr als das: sie versklavten die eigenen Völker! In Schulen, Kasernen, Kirchen, Fabriken erzogen sie den willigen Söldling! In Schulen, Kasernen, Kirchen, Fabriken vernichteten sie den europäischen Menschen, täglich, stündlich, seit Hunderten von Jahren. Ihre Priester standen auf den Kanzeln und predigten: Was nützte es dir, wenn du die ganze Welt gewännest und nähmest Schaden an deiner Seele? War es möglich? Ihr ganzes Tun ging ja darauf hinaus, die Welt zu gewinnen, und die Seele mochte zur Hölle fahren. Entsetzliche Verwirrung der Geister! Wer förderte sie? Wer zog Nutzen aus ihr? Die herrschenden und die besitzenden Klassen. Die Völker selbst, sie waren nur Verführte, verführt durch kunstvolle teuflische Systeme. 1914, im Spätherbst -- deutlich erinnerte er sich dessen -- begannen die Fronten zu fraternisieren. Man kam zusammen -- plauderte, tauschte Kleinigkeiten, diese armseligen Kleinigkeiten des europäischen Sklaven -- ganz von selbst keimte in den Herzen der einfachen Soldaten die Kameradschaft und Liebe empor. Eine Versammlung einfacher Feldsoldaten hätte in drei Tagen Frieden geschlossen. Die Gewaltigen duldeten es -- aber sobald Nachschub und Munition wieder gesichert waren, befahlen sie den europäischen Sklaven, sich wieder gegenseitig zu zerfleischen. Schwarzweißrot, blauweißrot, der Union Jack -- frech wehten die Standarten der Raubritter, und die weißen Sklaven beteten sie an. Dunkelheit -- Verfinsterung, kein Ausweg . . . Menschen zitterten vor Menschen. War es möglich? Ackermann hatte Gefangene gesehen, die auf den Knien um ihr Leben flehten -- wohin war es gekommen? Er verhüllte vor Scham sein Gesicht. Schreckliche Jahre, schreckliche Tage -- ein Tag fürchterlicher als der andere! Und kein Ausweg! Nein! Weiter rollt die Lawine, in Bewegung gesetzt von Gehirnen, die längst in der Erde modern. Weiter rollt sie, zerschmettert Länder, Städte, Generationen. Europa war ein eiterndes Geschwür, das die Erde vergiftete. Oft schien es Ackermann, als habe Gott sein Antlitz abgewandt: das einzige, was euch gebührt, vollzieht es: schlachtet euch gegenseitig. Haubitzen, Mörser, Gase, Fliegerbomben -- geht unter -- rasch, rasch, verschwindet . . . Da begann -- unerwartet -- aus dem Osten ein Licht zu strahlen . . . Seit den Somme-Schlachten war Ackermann nicht mehr für den Felddienst geeignet. Er hinkte und litt an Ohnmachtsanfällen. Er wurde in ein Gefangenenlager zur Bewachung von Menschen kommandiert. Hier schloß er Freundschaften mit Gefangenen, er versuchte seine Kameraden aufzuklären. Er wurde wegen »pazifistischer Umtriebe« angeklagt und entging mit knapper Not dem Gefängnis. Und zwar nur aus dem Grunde, weil die Gefängnisse zu dieser Zeit schon überfüllt waren. Man schob ihn kurzerhand zum Regiment ab, und das Regiment kommandierte ihn nach Berlin, wo man Schreiber und Ordonnanzen zu Tausenden in den unzähligen Kriegsämtern brauchte. Hier traf er in einer Speiseanstalt -- -- Ruth! Wie? Wer war es? Wo hatte er sie schon gesehen? Wann? Da erinnerte er sich: es war in einem Lazarett in Cambrai. Man hatte ihn abends dahin gebracht, und in der Nacht erwachte er -- zu seinem großen Erstaunen -- in einem Krankensaal. Er hatte an diesem Tage den Tod gesucht -- besser getötet zu werden als zu töten. Da hatte ihn eine Handgranate zu Boden geworfen. Da lag er nun in einem halbdunkeln Saal. Franzosen, Engländer, Kanadier, Farbige, hier waren sie nun alle vereint. Neben ihm saß ein Schwarzer im Bett, dem der Unterkiefer weggerissen war, und keuchte aus einem blutigen Watteklumpen. Stöhnen, Winseln, Fauchen, halblautes Lallen. Wie über alle Lazarette, war auch über diesen Saal jene unbegreifliche Ergebenheit gebreitet. Sie alle, die hier lagen, fühlten, daß es ihr Schicksal war, gegen das es keine Auflehnung gab. Die Schlacht war gekommen, weil es so sein mußte, sie waren verwundet worden, weil es so sein mußte, und sie würden sterben, wenn es beschlossen -- war. Auch über ihn war diese gleiche rätselhafte Ergebenheit gekommen, die jeder Verwundete kennt, der im Lazarett aufwachte. Da -- plötzlich -- sah er eine Gestalt, eine kleine Gestalt, eine Schwester. Sie stand mit dem Gesicht gegen die Wand, der Lichtschein streifte sie -- sie preßte das Taschentuch gegen das Gesicht, ihre Schultern bebten -- sie weinte. Lange beobachtete er sie. Sie weinte . . . Auch Ruth erkannte ihn wieder. Ruth sagte: »Sie schrien im Fieber immerzu -- füsiliert mich! Die einzige Ehrung, die Europa bieten kann, ist füsiliert zu werden!« »Sagte ich das?« »Ja, Sie sagten noch ganz andere Dinge. Sie sagten viele Dinge, die schon lange in mir schlummerten.« »Sie --?? Aber Sie sind doch die Tochter eines Generals?« »Ja! -- Was hat das zu sagen?« So wurden sie Freunde. 9 Seht, ein Mensch! Er steht gegen ein Haus gelehnt und weint! Plötzlich aber weicht das Haus zurück -- sollte man es für möglich halten -- ein vierstöckiges Haus weicht dem Druck eines schmalen Rückens? Es weicht zurück, und der Mensch stürzt der Länge nach zu Boden. Sein Zylinder rollt, rollt in unendliche Fernen. Schon kommen die Kinder. Ein Zylinder! Sie spielen Fußball damit. Welches Gelächter! Aber die Kinder, selbst sie, haben Mitleid, nicht mit dem kleinen alten Mann, sondern mit dem Zylinder. Ein Junge bringt ihn zurück. Der kleine alte Mann kramt in der Tasche, sucht einen Groschen -- aber plötzlich läuft er in einer unverständlichen Kurve über den Fahrdamm und rennt gegen das Pferd einer Droschke, das selbst Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Die Peitsche flitzt durch die Luft. Und die Kinder kreischen vor Vergnügen. Herr Herbst lag in seinem Bett und röchelte im Halbschlaf. Nacht, Finsternis, er hatte keine Lust zu erwachen. Wie lange war er unterwegs gewesen, wo hatte er getrunken, wie lange hatte er geschlafen? Er wußte es nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Nur schlafen. Schmach, Schmach, nichts als Schmach, sobald er erwachte. Stimmen raunten hinter der Wand, zischelten, flüsterten. Wie in jeder Nacht wanderte Hähnleins Schritt ruhelos hin und her. Wie lange werden sie es noch ertragen? dachte Herr Herbst in seinem Bett. Nicht mehr lange! Er lauschte auf die raunenden und zischelnden Stimmen, labte sich an dem fremden Elend, um nicht an seine eigene Verzweiflung denken zu müssen. Hähnlein rief Gott zum Zeugen an, daß dieses Leben selbst ein Hund nicht länger ertragen würde. Er hatte Dienst, Dienst, immer Dienst, seit drei Jahren, zweimal verwundet, und seine Frau nähte sich die Augen blind. Und seine Frau hustete nachts die ganze Wand voll Blut. Und während er Dienst machte, verhungerte seine Familie zu Hause. Seine Frau hatte auf Zeitungen entbunden, verlassen, hilflos, wie ein Tier in einem Winkel. Nicht einen Tropfen Milch, nicht einen Teller Suppe, nichts. War das Gerechtigkeit? War das möglich überhaupt? Ja, eine Milchkarte hatte sie gehabt, aber keine Milch, so war es! Und die Kinder, drei und vier Jahre alt, sie konnten noch nicht einmal gehen, die Knochen waren krumm gebogen, die Schädel ganz weich. Was für eine Welt war das? Aber die kleine Zinnkanne, die hatten sie abliefern müssen, sonst hätte man sie eingesperrt. Und die Kinder schliefen auf Papier und Lumpen. Wo war man? War man noch auf der Erde oder schon in der Hölle? Nein, nicht mehr lange! Hähnleins heisere Stimme glitt in die Ferne, tiefer röchelte Herr Herbst, gleichmäßiger, der Schlaf wollte wieder zurückkehren. Da sah er -- in verschwommenen Umrissen -- die entsetzlichen Wogenberge aus erstarrtem Schmutz wieder, mit den zersplitterten Baumstrunken und dem schmalen Laufgraben, der sich zwischen den Wogenbergen verlor. Er ächzte und drehte sich auf die andere Seite. Aber auch hier waren sie, diese entsetzlichen Wogenberge. Nur -- siehe da! -- sie waren nicht mehr starr, sie regten sich, bewegten sich. Erdschollen schoben sich in die Höhe -- Rücken, Arme, Hände, Beine wurden sichtbar -- in verschwommenen Umrissen -- was war das? Sieh nur schärfer hin, und du wirst es erkennen. Ja, es waren Menschen! Deutlich zu sehen, lehmbeschmierte Menschen, Soldaten, die von den Lehmbergen verschüttet waren und sich stumm und verzweifelt abmühten, sich aus der Erde zu wühlen. Er ächzte und setzte sich im Bett aufrecht. Da sah er Robert vor sich, und Robert trug einen solchen zerfetzten Lehmberg auf dem Rücken, und der Lehmberg preßte ihn zu Boden. »Ich ertrage es nicht mehr!« schrie in diesem Augenblick Hähnlein. »Um Christi willen!« wimmerte die Frau und hustete. Robert war verschwunden. Dunkelheit, Nacht, dort das Fenster, das Zimmer war leer. Herr Herbst wischte sich den Schweiß von der Stirne. »Schmach, nichts als Schmach . . .« Er kroch unter die Decke, und nun kam der tiefe Schlaf über ihn. -- -- Spät an diesem Abend, es war nahe an Mitternacht, kehrte der General von Dora zurück. Er brummte gutgelaunt vor sich hin. Wie gewöhnlich hatte Doras Frohsinn ihn aufgeheitert. Auch der Spaziergang durch die Nacht hatte ihm gutgetan. Wie ein Bad wirkte die Heiterkeit dieser Frau auf ihn. Wie ein erfrischendes Bad! Wunderbar -- ihr Lachen -- nichts nimmt sie tragisch, eine Künstlernatur, eine Philosophin! Wir Männer dagegen . . . Ja, Dora, sie allein verstand es, das Leben zu nehmen, man konnte lernen von ihr -- obschon sie nur eine Frau war, ja -- Kaum aber flammte das Licht in seinem Arbeitszimmer auf, so erinnerte er sich wieder an die peinliche Szene von heute nachmittag, und augenblicklich war seine gute Laune wieder verschwunden. Das höhnische Lächeln, der höhnische Blick des kleinen geistesgestörten Mannes schwebten noch irgendwo in der Luft des Zimmers. Ich weiß, sagte das höhnische Lächeln auf den dünnen Lippen, weiß, aber ich spreche nicht. Wie heute nachmittag legte sich das fahle kleine Gesicht zur Seite, das eine Auge wurde größer als das andere, das Lid zog sich in die Höhe, und dieses größere Auge blinkte von Spott und Hohn. Unruhe erfüllte den General. Nein, kein Zweifel, dieser kleine Geistesgestörte war im Besitze eines Geheimnisses, das Ruth betraf. Der Ausdruck seiner Augen war nicht mißzuverstehen. Vielleicht eines Geheimnisses, das Ruth, das die Familie kompromittierte? Unverständlich war ihm in diesem Augenblick seine Tochter, rätselhaft, fremder als der fremdeste Mensch, den er nie in seinem Leben gesehen. Morgen würde er mit Ruth ein ernstes Wort sprechen! Ihre Eigenwilligkeit verriet einen bedauerlichen Mangel an Pflichtgefühl ihrer Familie, dem Geschlechte der Hecht-Babenberg, gegenüber. Es gab schwerlich eine Verbindung, die das Ansehen der Familie mehr gehoben hätte, gesellschaftlich und materiell, als die Heirat mit Baron Dietz, der eine blendende Laufbahn vor sich hatte. War es nicht auffallend, der Krieg schien die Grundpfeiler des Gesellschaftsgebäudes zu erschüttern? -- Allenthalben ähnliche Symptome -- Mißheiraten, Eheirrungen, Scheidungen -- der Oberst Schulendorf, zum Beispiel, kommt nach Hause und findet -- Skandal! Bredows Sohn hat sich im geheimen trauen lassen, er fällt, plötzlich meldet sich die Witwe -- eine völlig unbekannte Person, frühere Schauspielerin, stellt Forderungen. Allein im Rheinsbergschen Familienverband zwei Scheidungen in kurzer Zeit. Ja, auffallend, Hunderte von Beispielen fielen ihm plötzlich ein -- allein aus dem Kreise seiner Bekannten. Erschreckende Symptome der Zersetzung. War die Generation der Größe der Zeit nicht gewachsen? Keine Nachsicht mehr, nein, nein, morgen, sobald sich die Gelegenheit bietet, werde ich mit ihr sprechen. Und dieser alte Mann? Lassen wir ihm seine Freude. Nichts wird ja leichter sein, als Aufklärung zu erhalten, jede gewünschte Aufklärung. Schon einmal hatte er -- früher . . . Der General machte Toilette für die Nacht. Nachdenklich musterte er Hände und Gesicht, jede Falte. Mehr Bewegung -- und alles war in Ordnung! Schon schlief er. * * * * * »Schwere Kämpfe! Außerordentlich schwere Kämpfe!« Mitten in der Nacht setzte sich Herr Herbst plötzlich im Bett auf und knarrte mit breiter, selbstgefälliger Stimme: Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe! Warte nur, du Hoffärtiger! Warte nur. Hüte dich -- ein alter Mann -- aber hüte dich --! Dann sank er wieder in Nacht und Bewußtlosigkeit, zusammengerollt zu einem kleinen Kleiderbündel. Am Nachmittag schien die Sonne ins Zimmer, aber immer noch lag das kleine Kleiderbündel regungslos auf dem Bett. Erst gegen Abend fing es an, sich unruhig zu bewegen. Die Hände zerrten an der Decke, zogen sie dicht um den Körper. Der Schläfer fror. Kälte, schreckliche Kälte hauchte von dem Gebirge aus, das er erblickte. Ein Strom von Eis. Nacht, Winter, wie? Und er kniete vor dem Gebirge und erstarrte, während er die Hände ausstreckte. Nun schien es heller zu werden, es tagte, die Sonne schien aufzugehen. Das Gebirge begann allmählich zu erglühen, es glühte rot, nur Stein, zerrissen, verwittert. Plötzlich aber verschoben sich Felsen, Riesenblöcke zitterten -- das Steingebirge wandelte sich zu einem Gesicht. Der Schläfer erbebte. Deutlich fühlte er, daß er bald aus der Bewußtlosigkeit auftauchen würde. Nur noch eine Idee brauchte er höher zu tauchen, und schon würde er an die schwarze, schwere Schicht von Schmach stoßen, die auf ihm lastete. Zu spät! Sie sank herab zu ihm, die schwere Schicht von Schmach, berührte ihn, drückte ihn zu Boden. Da! Er war wach. Der barmherzige Rausch war verflogen. Und da war sie wieder . . . Betäubt saß er da. Es dunkelte schon. Schmach, nichts als Schmach! Er war gedemütigt worden, zertreten, zu Boden geworfen und mit den Füßen getreten. Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe -- Tausende, Hunderttausende -- -- ja, man hatte ihm einen Sessel angeboten, ihm ein Bild gezeigt -- trotzdem! Worin aber bestand die Schmach eigentlich, wie? Nein, nicht das war es, daß er gerufen hatte: Hinaus mit Ihnen, oder ich lasse Sie abführen. Das nicht, nein. Schlecht hatte er sich ja benommen. Trotzdem: zu Boden geworfen und mit Füßen getreten. Horch! Stimmen. Sie sind da, die jungen Leute -- bei ihm! Und da, da -- hörst du? Laut und erregt schwirrten die kecken, jungen Stimmen nebenan. Aufrecht saß er im Bett und hielt den Atem an. Ja, auch sie war da! Hoffärtiger -- nichts als ein alter Mann -- vielleicht bereust du noch, wer weiß es? -- Und du -- Sanfte, Bleiche -- deine sanften Augen werden weinen müssen -- es muß sein -- Plötzlich erstarrte er vor Entsetzen. Eine laute verzweifelte Stimme gellte durch das Haus. Hilfe! Hilfe! Es war Frau Hähnlein. Sofort schwiegen die schwirrenden Stimmen nebenan. Eine Türe schlug, Schritte eilten. Eine Faust pochte gegen Hähnleins Türe, und Ackermanns Stimme fragte: »Was gibt es?« »Nichts, nichts, Ackermann!« antwortete Hähnlein mit einem keuchenden, verlegenen Auflachen. »Meine Frau ist erschrocken. Sie dachte -- nichts, nichts --« Viertes Buch 1 Ali Baba und die vierzig Räuber! Endlich war Doras berühmter Abend gekommen. Dumpf lockte die Trommel -- Mit einem kleinen Aufschrei wich Hedi zurück. Ein fetter Neger, mit dem Gesichtsausdruck eines Orang-Utans, schlug den Vorhang auseinander und fletschte ihr die Zähne entgegen: »Ali Baba heißt dich willkommen!« »Er tut dir doch nichts«, lachte Klara und schob Hedi vorwärts. Die mächtigen, nackten Arme und Beine des Negers funkelten. Hellrot waren seine wulstigen Lippen gemalt. Dora selbst hatte ihn hergerichtet. Ein zweiter Neger half aus den Mänteln. Er war jung und schlank, heller von Farbe, sein Gesicht drollig und hübsch. Auch er ging barfuß und trug nur ein kurzes, rot und gelb gestreiftes Röckchen. Hinter Vorhängen, irgendwo, schrillten Pfeifen. Wieder ertönte der Schrei einer Dame im Entree. Ein zottiger Bär schob sich an Hedi vorüber, und daraus schälte sich eine zierliche, halbnackte, nilgrüne Türkin. Gräfin Heller. Abendmäntel aus kostbaren alten Brokaten, antiken Samten, japanischen Stickereien, ehemaligen Kirchengewändern -- und Fabelwesen entstiegen ihnen: Prinzessinnen, Haremsdamen, Odalisken in Seide, Tüll, Schleiern, mit goldenen, roten, grünen Schuhen, Schuhen mit langen Silberschnäbeln und blitzenden Steinen. Wohlgerüche und der Duft gepflegter Frauenkörper gingen von ihnen aus. Hedi zitterte vor Erregung. In fieberhafter Hast verhüllte sie das Gesicht mit dem Schleier, wie Doras Vorschrift es verlangte. Doppelt begierig blitzten nun ihre Augen. Hedi war ganz in durchsichtige Silberschleier gehüllt. Ihre jungen Brüste lagen nahezu völlig frei. Zwischen dem silbernen Jäckchen und den faltigen Pluderhosen aber war sozusagen gar nichts. Ein Hauch von Tüll. Das war Hedis höchsteigene Erfindung. Wegen dieses etwas kühnen Kostüms war es heute nachmittag -- schon am Nachmittag begannen die Damen mit der Toilette -- zwischen den beiden Schwestern nahezu zu Tätlichkeiten gekommen. Plötzlich erklärte Klara rund heraus, daß sie _so_ nicht mit Hedi gehe! Wie? »Ja, so! Du bist ja völlig nackt! Es ist skandalös einfach!« Wie? Ein Kostüm, das das Taschengeld eines halben Jahres verschlang! Hedi war tödlich verletzt. »Das ist ja gerade das Orientalische«, schrie sie aufgebracht. »Was versteht ein Kind von solchen Dingen? Und du -- was soll das werden, du meine Güte?« Ein sehr einfaches Kostüm aus hellgrauer Seide hatte Klara sich zurechtgemacht. Dazu sollte noch ein schwarzes Spitzentuch kommen, das ihr Gesicht bis zu den Augen verbarg. »Ich bin eine türkische Witwe!« »Eine Witwe?« »Ja!« »Du bist lächerlich, Klara, und wirst auch mich noch lächerlich machen! Zum ersten Male höre ich, daß man als Witwe auf einen Ball geht.« »Aber ich gehe so!« »Blamiere dich ruhig!« Empörend war Hedis Lachen. »Dann gehe ich überhaupt nicht, ich habe sowieso nicht die geringste Lust!« schrie Klara und begann sich wieder auszukleiden. Sie warf die Schuhe wütend unter das Bett. Hedi erbleichte. »Nun gut, mein Liebling. Papa wird außer sich sein, wenn er dich nicht dort findet. Ich werde ihm aber dann die Geschichte erzählen, die du mit dem kleinen Fliegerleutnant hast, warte nur!« Sie hatte Klara ins Herz getroffen. »Und du?« schrie Klara und funkelte die Schwester mit drohenden Augen an. »Und ich? Was soll mit mir sein?« »Sage nur ein Wort, und ich werde es Papa erzählen. Ich weiß mehr, als du glaubst.« »Was weißt du, nichts weißt du.« »Nun, ich werde Papa erzählen, daß du einen Brillantring bekommen hast. Woher hast du diesen Brillantring? Und weshalb gehst du immer in den Kaiserhof?« Jetzt war die Reihe an Hedi, außer sich zu sein. »Das ist doch unerhört!« schrie sie rasend. »Du weißt so gut wie ich, daß man mir den Ring anonym mit der Post geschickt hat. Ich schwöre --« Hier also wäre es nahezu zwischen den Schwestern zu Tätlichkeiten gekommen. Nun aber waren sie doch hier. Dumpf lockte die Trommel, und Hedis Herz pochte. Unaufhörlich stürzte Petersen mit dem Schirm die Treppe hinab. Es regnete etwas. Droschke um Droschke klapperte die stockfinstere Lessingallee herauf zur roten Backsteinvilla. Dazwischen kam auch ein Gespenst von einem Auto, das auf eisernen Rädern wie ein Tank rasselte und die ganze Straße mit Qualm und Gestank erfüllte. Schließlich, etwas spät am Abend, rauschte auch eine elegante feldgraue Limousine heran, mit wunderbaren Lampen, die alle Villen der Lessingallee magisch beleuchteten. Und -- viel später noch -- fuhr eine zweite Limousine vor, ein schwarzlackiertes Auto mit einem Chauffeur in Livree, das gänzlich lautlos dahinglitt und selbst die Limousine des Generals weit in den Schatten stellte. »Ali Baba heißt dich willkommen!« Der General prallte zurück. Seit seiner Kindheit hatte ihn niemand mehr geduzt. Und nie in seinem Leben hatte ein Schwarzer es gewagt, ihn anzusprechen. Drollige Einfälle hatte diese Dora! 2 Hedis Herz pochte vor wilder Erregung. »Die Liebe, meine süßeste Prinzessin --.« Dumpfe Trommeln und schrille Pfeifen. Rote, grüne, gelbe Riesenlampen, Zelte, Diwane. Die Musiker trugen scharlachrote Turbane und grünspanfarbene Gesichtslarven mit langen Fransen. Sie hockten auf einem Diwan in der Ecke. Schon jetzt herrschte in Ali Babas Räuberhöhle Gedränge. Ein sonderbares Holzinstrument dudelte, und aus einem bronzenen Dreifuß stieg eine betäubende Wolke von Wohlgerüchen empor. Die beiden halbnackten Schwarzen kredenzten Erfrischungen. »Die Liebe, meine Prinzessin -- so banal es klingt, ist eine Bauernfängerei der Natur, eine Illusion zweier Narren --« »Ah!« »Genau wie die Ehe eine Bauernfängerei der Gesellschaft ist, eine Illusion einer Masse von Narren.« »Also du glaubst nicht an die Liebe?« »Nein, nein, ich glaube nur . . .« »Nun?« »Darf ich es dir ins Ohr sagen?« Diese geistvolle Unterhaltung führten Hedi, die Prinzessin in Silber, und ein wild aussehender Räuber mit vermummtem Gesicht, in billardgrünem, durchlöchertem Burnus. Sie kauerten dicht nebeneinander mit angezogenen Beinen auf einem Diwan. Die Prinzessin näherte nun dem Räuber ihr Ohr, sprang aber sofort auf, als der Räuber ihr sein Glaubensbekenntnis ins Ohr flüsterte. »Pfui, wie häßlich!« »Auch du nicht stark genug für die Wahrheit?« Enttäuscht schüttelte sich das vermummte Gesicht. Da verbeugte sich ein zerlumpter Bettelmönch vor Hedi und hielt ihr eine Schale hin, eine ausgehöhlte Kokosnußschale, die er an einer dünnen Kette am Handgelenk trug. Der Bettelmönch war völlig in Tuchlappen von einem eigentümlichen, unangenehmen, schmutzigen Gelb eingehüllt, wie eine Mumie. Sogar die Arme. Er trug einen orangeroten Turban, mit dicken grünen Schnüren umwickelt. Seine Augen blendeten. »Wer bist du?« fragte Hedi und warf eine Zigarette in die Schale. Ihr Herz stockte. Der Bettelmönch hob die Schale zur Stirn und verneigte sich. Wieder blendeten seine Augen. »Wer ist es?« »Ich kenne ihn nicht. Gottlob sind alle Gesichter vermummt. Welch eine herrliche Idee! Um wieviel gewänne dadurch das Leben!« Hedi blickte in die kleinen, raschen Augen des Räubers, blitzende Pechtropfen. Wer war es, der sich an ihre Fersen heftete und sie nicht mehr losließ? Seine Keckheit gefiel ihr, auch der Unsinn, den er sagte. Ein großer Diamant gelblichen Feuers sprühte an seiner kurzfingrigen, gepflegten Hand. Schon jetzt glühte Hedi am ganzen Körper. Ja, heute, heute, in dieser Nacht, mußte es geschehen, in dieser Nacht mußte es sein! Was mußte geschehen, was mußte sein? Das wußte sie selbst nicht. Betörend dudelte das sonderbare Holzinstrument in Hedis kleines Ohr. * * * * * »Halt, einen Augenblick, Verehrtester!« Professor Salomon zwängte sich blitzschnell zwischen zwei nackten Rücken hindurch, einem heißen, rosafarbenen, mit großen Poren, und einem kühlen, glatten, kantiggeschnittenen, elfenbeingelben, mit verwirrenden, rabenschwarzen Kräuselhärchen im Nacken, blitzschnell und vorsichtig, um seinen Frack nicht mit Puder einzufetten. Der Professor war trotz Doras Verbot im Frack. Er fand es entwürdigend, sich mit bunten Lappen zu behängen. Aber er trug die Rosette des Eisernen Kreuzes im Knopfloch. Soeben hatte er einen Bekannten erspäht, der sich gerade das Auge mit dem Taschentuchzipfel auswischte. Die Feder eines Kopfputzes war ihm ins Auge gefahren. Es war ein ganz besonderer Glücksfall, denn der Bekannte war ein gewaltiger Schürzenjäger, so aber war er gezwungen stillzuhalten. Das fette Kürbisgesicht des Professors strahlte. Es muß leider gesagt werden, daß der Schädel des Professors einem halbausgewachsenen, etwas gelblichen Kürbis mit großen, abstehenden Ohren glich. Professor Salomon, Gründungsmitglied des Vereins zur raschen Zerschmetterung der englischen Welttyrannei, Vorstand des Bundes Barbarossa, vorher fast unbekannt, hatte es während des Krieges zu einer Art von Berühmtheit gebracht. In diesem Kürbisschädel waren die wirtschaftlichen Gutachten entstanden, die die Marine als Unterlage für den unbeschränkten U-Boot-Krieg benötigte. Professor Salomon hatte seine Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit der Admiralität gelöst. Nunmehr bekleidete er einen einflußreichen Posten im Auswärtigen Amt. »Wichtige Neuigkeiten«, rief der glänzende Kürbis. »Die Wissenschaft triumphiert -- trotz aller Zweifel unserer Anglomanen.« Der mit Diamanten übersäte Perser, in Ali Babas Gefangenschaft geraten, schielte ihn hilflos mit seinem tränenden Auge an. Er war ihm vollkommen ausgeliefert. »Wir haben Meldungen, daß in ganz Schottland schon kein Pfund Mehl mehr aufzutreiben ist, und in Südwales gab es eine Hungerrevolte«, zischelte der Kürbis. »So?« Der impertinente Ton wandelte den gelblichen Teint des Kürbis augenblicklich in tiefes Scharlachrot. »Und Sie haben immer gezweifelt, gerade Sie waren immer derjenige! Auf Grund genauester wissenschaftlicher Unterlagen, völlig einwandfreier Statistiken --« Der Perser wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich pfeife auf Statistiken, mein Lieber. Das Konversationslexikon genügt mir. Völlig abgesehen davon --« »Völlig abgesehen?« Der Professor verfolgte den fliehenden Perser. »Völlig abgesehen davon --« »Hören Sie --« Der Professor versuchte den fliehenden Bekannten festzuhalten. »Die Engländer haben kein Grubenholz mehr. Die englischen Bergwerke versacken -- Sie entfliehen --?« Der Perser stürzte sich verzweifelt mitten in den Malstrom der Tänzer. »Ah, ah, so sind sie, so sind sie alle«, murmelte verzweifelt der Kürbis. Schon hatte er einen neuen Bekannten erspäht. Aber gerade, als er sich ihm nähern wollte, geriet er in einen Wirbel von Foxtrottänzern. In demütiger Haltung, sich ohne Aufhören verbeugend, ging der zerlumpte Bettelmönch von Raum zu Raum und rasselte mit der Schale. Seine Brust keuchte erregt, und seine Augen blinkten in jedes Frauengesicht. Wer bist du? Er ging weiter. Seine Augen drangen hinter die Schleier, glitten über Hände, Ohren, Hüften, Füße. Wer bist du? Plötzlich zuckte er zusammen. Eine Hüfte -- nichts als das Wiegen einer Hüfte beim Tanze . . . Ohne jede Rücksicht stürzte er sich zwischen die Tänzer. Laut rasselte er mit der Schale vor einer etwas üppigen Haremsdame, die wie ein Kolibri in allen Farben schillerte. Die Haremsdame blieb -- unwillkürlich -- stehen und sah ihm in die Augen. »Wer bist du?« Aber stumm verbeugte sich der Bettelmönch. Bis zur Erde. Seine breite Brust wogte unter den Lumpen. Die Haremsdame lachte -- nur Dora konnte eine derartige Fontäne von Gelächter hervorsprudeln. »Du bist wohl stumm?« Der Bettelmönch nickte. Aber so oft Dora vorüberkam, verbeugte er sich und rasselte mit der Schale, seine blinkenden Augen folgten ihr überall hin. Schon war es ihm gelungen, Doras Neugierde zu wecken. 3 Über dem Dunst des Räucherwerks, den wirbelnden Turbanen, Federn und Schleiern, auf der kleinen Empore, gerade über den Musikanten mit ihren grünspanfarbenen Gesichtsmasken, bewegte sich plötzlich ein massiger, breiter Schatten, der sich düster über die Decke reckte. Dann schrumpfte der Schatten zusammen, und über der Brüstung erschien ein breites, erdfarbenes, glanzloses Gesicht und blickte herab. Alle Blicke wandten sich nach oben. Der General war gekommen. Der Räuber im durchlöcherten, billardgrünen Burnus deutete mit dem vermummten Gesicht zur Empore und raunte Hedi eine Bemerkung ins Ohr, die bei seiner Dame unbändige Heiterkeit auslöste. Sie fand ihren Kavalier schnurrig über alle Maßen. Und so etwas Keckes und Unverschämtes hatte sie überhaupt noch nicht erlebt! »Fort, fort, er sieht her! Wie herrlich du doch lachen kannst!« In der Tat, das erdfarbene Gesicht auf der Empore hatte die Brauen hochgezogen. Der Räuber hielt die linke Hand mit dem gelblichen Brillanten wie zum Schwure in die Höhe, seine Rechte berührte Hedis Schulterblatt, schon tanzten sie. Obschon er sie kaum berührte, hielt er sie fest wie ein Schraubstock, unentrinnbar. Und bei gewissen Figuren zog er sie unvermittelt dicht an sich -- wie nur Räuber es vermögen. Unterdessen irrte Klara mutterseelenallein und tief unglücklich in der labyrinthischen, farbenlohenden Höhle Ali Babas umher. Jeder Schlag der dumpfen Trommel traf ihr Herz, die Pfeifen schrillten Verzweiflung. Sobald aber das sonderbare Holzinstrument zu dudeln anfing, hielt sie sich die Ohren zu und entfloh in die fernsten Winkel. Aber überall waren diese verrückten Vermummten, in den entlegensten Winkeln. Aus allen Ecken und Dunkelheiten winkten weiße Arme und Hände, blendeten heiße Augen. In einem rotglühenden niedern Raum -- Ali Babas Opiumhöhle -- kauerten sie in Scharen auf dem Teppich. Das Herz der kleinen türkischen Witwe pochte gegen den Brief, den sie im Mieder trug -- heute morgen war er gekommen. Plötzlich sah sie aus einer Nische ein Paar Augen auf sich gerichtet, unendlich sanfte Augen voller Trauer, und sie versank angezogen in ihre Betrachtung. Sie hob die Hände, auch die Erscheinung in der Nische hob die Hände. Sie berührte Glas. »Du bist es -- Klara?« fragte sie, und die Erscheinung stellte die gleiche Frage. Da aber griff plötzlich eine gespenstische, grüne Hand nach dem Spiegelbild, und sie schrak zusammen. Doch niemand war da. Eine Heiligenfigur, die ein Buch schwang, stand dem Spiegel gegenüber, und durch den wehenden Vorhang war ein Lichtstrahl auf die grüne Hand des Heiligen gefallen. Wunderbar . . . Heinz hatte oben in der Luft ihr Gesicht im Äther dahinfliegen sehen. Es flog neben ihm her, genau so schnell wie die »Schwalbe«. So hieß seine Maschine. Der Brief brannte auf ihrem Herzen. »Wir sind ja jung! Vor uns liegt das Leben, vor uns liegt die Zukunft. Ich liebe dich, du Teuerster!« Und der Brief glühte. Schon taumelte sie wieder erschrocken zurück. Durch die Luft kam kopfüber ein Mensch geflogen, ein Mensch, merkwürdigerweise in Uniform, mit staubgrauem Gesicht und fiebrisch glänzenden Augen. »Feuerwalze, Feuerwalze!« schrie erschrocken ein Chor von Stimmen. »Er hat sich das Genick gebrochen!« Die fiebrischen Augen wandten sich der kleinen, grauen Witwe zu. »Du weinst ja --« sagte der Uniformierte verwundert, und schon zuckte eine Hand nach ihr. Aber schon floh Klara. Zwischen Vermummten hindurch, eine kleine Treppe hinauf. Plötzlich hielt sie inne: in einem Sessel saß der General. Auch für ihn gab es weder Tanz noch Musik. Zusammengesunken saß er, den Blick in sich zurückgezogen. Düster brannten seine Augen. Er hatte sich früher auf Festen gelangweilt, heute bedrückten sie ihn. Musik weckte Melancholien, fröhliches Gelächter Trauer. Er war ja nur hierhergekommen, um Dora nicht zu kränken -- und um womöglich einige Worte mit einer hochstehenden Persönlichkeit zu wechseln, die ihr Erscheinen zugesagt hatte. Voller Verachtung blickte er auf diese Narren herab, die sich in bunte Lappen hüllten. Die Frauen begriff er noch zur Not -- es war ihre Natur -- aber die Männer --? Während das Brüllen der Kanonen eine neue Epoche der Geschichte verkündete? Durch eine schmale Tapetentür schlüpfte Klara ins Treppenhaus. Hier, zwischen alten Truhen und Schränken, atmete sie auf. Fern klangen Trommeln und Pfeifen. Plötzlich lächelte sie wieder. Glücklicher war sie ja, als alle! Als alle! Und plötzlich tanzte die kleine graue Witwe mit stillen, kleinen Schritten, für sich allein, zwischen den alten Truhen und Schränken. Sie hatte noch nicht das Meer gesehen und noch nicht das Hochgebirge. Zierlich hob sie die Füßchen: all das würde sie sehen -- mit ihm! Venedig und Paris, London und eine Stadt in Indien -- zierlich wiegte sie die Hüfte -- alles mit dir, mein Geliebter . . . * * * * * »Weißbach? Sind Sie es, Weißbach? Retten Sie mich!« rief Hauptmann Falk und wischte sich den Schweiß vom grauen Gesicht. »Helfen Sie mir -- Sie sehen mich in einem schrecklichen Zustand!« Weißbach lachte. »Ich bin behext, ein Weib hat mich total behext. Da -- da -- da -- das ist sie! Sehen Sie diese Schwefelgelbe. Diese Hüfte -- grundgütiger Himmel!« »Aber, das ist ja Dora!« rief Weißbach aus. »Dora? Wer ist Dora?« »Das wissen Sie nicht? Die Baronin Dönhoff selbst!« »Ah, ah -- gut, einerlei, wer es ist. Jedenfalls, sie sehen mich in der fürchterlichsten Aufregung. Dieses --Weib hat mich vollkommen verrückt gemacht. Sie kam zu mir und blinzelte mich an und berührte nur ein wenig meinen Arm, aber ich sage Ihnen -- ein Strom! Jedenfalls -- es muß etwas geschehen, und es wird etwas geschehen.« »Halt, halt -- Feuerwalze! Einen Augenblick! Nehmen Sie sich etwas in acht.« »In acht, vor wem, vor ihr?« »Nein, vor ihm.« »Vor ihm? Er ist doch im Felde? In der Champagne!« »Nein, er ist keineswegs im Felde. Er ist hier.« »Hier? Hier --?« Weißbach flüsterte Falk etwas ins Ohr -- und Falk taumelte vor Verblüffung zurück. »Wie sagen Sie --?« »Pst!« »Unmöglich!« »Nun, Sie werden schweigen!« »Ah, ah -- aber hören Sie?« »Sie sprechen nicht darüber? Ihr Wort!« »Ich spreche nicht darüber. Nein, was Sie sagen? -- Ich dachte, ich hörte -- eine Königliche Hoheit?« »Das war ja früher. Vor der Heirat.« »Ah, ah! Ich verstehe! -- Aber hier kommt sie wieder! Sehen Sie doch, diese Hüfte, diese Bewegung! Leben Sie wohl, Weißbach --« »Vorsicht!« Schon tauchte Falk zwischen den Vermummten unter. -- Der junge, schlanke Neger, der nur ein kurzes, rotgelbes Röckchen anhatte, glitt mit Erfrischungen in das Zelt. Wohlgefällig folgten die Augen der Prinzessinnen, Haremsdamen und Odalisken dem hübschen Sklaven. Hedi kühlte das fiebernde Gesicht, der süßliche Duft des Räucherwerks betäubte sie. Ihre Wangen glühten durch den Schleier, ihre Augen blinkten wie geschmolzenes Blei. Sie fühlte, wie eine Schweißperle über ihre Hüfte rann, gerade wo der dünne Schleier sie bedeckte. Dieser rinnende Schweißtropfen war wie eine wollüstige Berührung. Da hörte sie zu ihrem Erstaunen Klaras Stimme. Ihr Kavalier, ein steifer Beduine, in einer Kadettenschule erzogen, sagte mit gelangweilter, selbstgefälliger Stimme: »In sechs, acht Reihen griffen die Russen an, und wir warteten, bis sie ganz nahe heran waren, dann erst eröffneten wir das Feuer.« »Wie schrecklich!« rief Klara aus. »Fünfmal griffen die Russen auf diese Weise an, immer in dichten Haufen, und wir schossen sie zusammen. Sie schrien und stöhnten vor unseren Verhauen. In der Nacht aber sank die Temperatur plötzlich auf minus 10 Grad, da wurden sie still.« »Oh, wie entsetzlich!« Und Klaras Stimme verklang. »Also kein Freund von Generalen?« fragte Hedi. Hier in dem kleinen, leeren Zeltzimmer war es Gott sei Dank etwas kühler. »Nein.« Der billardgrüne Räuber lachte, ein freches Räuberlachen. »Das kann ich wirklich nicht sagen! Mit ihren Federbüschen, Ordenssternen und Ritterschwertern wirken sie lächerlich auf mich, wie Gespenster aus dem Mittelalter. Leider aber sind sie alles andere denn komisch. Ich behaupte sogar, solange es Generale gibt, wird es Kriege geben.« »Solange es Kriege gibt, meinst du --?« »Keineswegs. Ich meine, was ich sagte. Solange man Leute zu dem einzigen Berufe anstellt, Kriege vorzubereiten und zu führen, solange werden Kriege unausbleiblich sein.« Der Räuber ringelte sich behaglich auf dem Diwan zusammen und sog mit einem Strohhalm Eiswasser aus dem Glase. Er schwatzte gern, tat gerne geistreich, Hedi hatte das längst herausgefunden. Aber er gefiel ihr, und selbst sein Geschwätz über alle möglichen Dinge hörte sie nicht ungern. Es wäre gänzlich falsch, anzunehmen, daß Hedi nur für Flirt, Tanz und fünfzigpferdige, dahinrasende Automobile Sinn hatte. Sie hatte auch Sinn für Gespräche -- nur für Langeweile hatte sie nicht die geringste Verwendung. »Ja, unbedingt!« fuhr der Räuber eifrig fort. »Während die Welt nichts Arges denkt, sitzen überall diese Generale und denken darüber nach, wie sie ihre Kanonen verbessern könnten. Oh nein, sie verbessern sie nicht selbst! Man kann in der ganzen Geschichte nachforschen, nie haben diese Generale etwas erfunden, dafür haben sie ihre Spezialisten. Aber sobald sie nun glauben, die besseren Geschütze zu haben, wird ihre Sprache schon etwas kühner. Sie sammeln die große internationale Gemeinde der Kanonenanbeter um sich, bestechen die Presse, stürzen Minister, die nicht an ihre Kanonen glauben -- und schon ist das Unglück fertig. Nun aber treten die Generale, die sich bisher im Hintergrund hielten, zum großen Erstaunen der Mitwelt plötzlich in den Vordergrund. Keine Macht der Welt ist von diesem Augenblick an mehr imstande --« »Ich höre, du bist nicht Soldat?« Wieder strich die kleine graue Witwe mit ihrem Kavalier an dem Diwan vorüber. Der steife Beduine sagte: »-- stehe also auf der Sturmleiter, die Uhr in der Hand. Mit der Sekunde springe ich aus dem Graben.« »Was für ein entsetzlicher Augenblick muß das sein«, sagte Klara. »Alles ist Gewohnheit. Der Mensch gewöhnt sich an alles, mein gnädiges Fräulein.« Die glänzenden Pechaugen des Räubers lachten aus dem vermummten Gesicht. »Soldat? Auch ich war Soldat«, erwiderte er. »War?« »Ja. Jetzt bin ich es nicht mehr. Ich bin tot.« Hedi brach in lautes Gelächter aus. »Ja, ich bin tot, meine schöne Maske,« fuhr der Räuber fort, »ich bin gestorben im Lazarett zu Warschau. Meine Bestattung kostete mich tausend Mark. Der Feldwebel hat mich aus der Stammrolle des Regiments gestrichen, ich existiere nicht mehr. Neben meinem Namen steht: Gestorben am Typhus --« Nein, wie Hedi doch lachen konnte! »Wie herrlich -- wie wunderbar!« Sie konnte sich gar nicht beruhigen. »Welch wunderbarer Einfall. Er ist tot! Wer bist du eigentlich? Kenne ich dich?« »Wir sahen uns zuweilen im Kaiserhof.« Ah! Daß er sie solange täuschen konnte? Es war Ströbel. 4 Plötzlich erhob sich der General. Seine Hände griffen nach dem Geländer der niedrigen Balustrade. Hatte nicht eben die Empore geschwankt wie bei einem Erdbeben? Die Musik versank, der Ballsaal war leer, brodelndes Nichts. -- Ein unerklärliches Gefühl der Verlassenheit schnürte ihm die Brust zusammen. Eine fremde Welt, unverständlich! Aber plötzlich trieb ihn ein Verlangen, sich unter diese fremden, unverständlichen Menschen zu mischen, die sich in bunte Lappen hüllten und lachten. Ein paar Worte, Dora, ein paar Worte mit ihr sprechen! Vorsichtig und tastend stieg er die wurmstichige Rokokotreppe hinab, die unter dem Gewicht seines schweren Körpers krachte. Nunmehr war es ja auch sehr unwahrscheinlich geworden, daß jene hochgestellte Persönlichkeit, mit der er gerne ein paar Worte gewechselt hätte, das Fest noch mit ihrem Besuche beehren würde. Der General bedauerte es aufrichtig. Jene hochgestellte Persönlichkeit war niemand anderes, als der Bruder der Gräfin Heller, dessen Name man nur ehrfürchtig zu flüstern wagte. Der General hatte die Gelegenheit begrüßt, in den Gesichtskreis einer Persönlichkeit treten zu können, die das Ohr des Allerhöchsten Herrn hatte und über Schicksale entschied. Denn, nunmehr war es offenbar: man hatte ihn vergessen, vollkommen vergessen. Am Fuße der Treppe stand der General still. Der Blick seiner hellen, grauen Augen glitt über den Saal. Das breite, erdfarbene Gesicht zuckte bei der Bemühung, die Starrheit der Miene zu lösen. Es mißlang. Diese sorglosen, heiteren Menschen vermochten keine Teilnahme in seiner Brust zu wecken, kaum daß Doras Lächeln, das ihn traf, so oft sie vorbeitanzte, eine flüchtige Wärme in seinem Herzen anfachte. Nein, fremd, unverständlich! Er begab sich in das Speisezimmer, trank ein Glas Sekt und zerkaute gelangweilt ein belegtes Brötchen. Der Erfrischungsraum war fast völlig leer. Ein Vermummter lehrte mit feierlichem Ernst einer Verschleierten einige schwierige Tangoschritte. Andächtig schob sich am Büfett ein befrackter Rücken entlang, von Schüssel zu Schüssel. Dieser andächtige, befrackte Rücken war der Geheime Rat Westphal, den der Anblick der aufgestapelten Herrlichkeiten völlig hypnotisiert hatte. All die Kriegsjahre hindurch hatte er sämtliche Vorschriften und Gesetze, die die Ernährung betrafen, peinlich genau befolgt. Schon wurde es ihm beschwerlich, eine Treppe zu steigen, sein Gedächtnis schwand, er schlief vor Schwäche die Hälfte der Zeit in seinem Bureau im Auswärtigen Amt, schlief, schlief, aber befolgte die Vorschriften, denn schließlich gehörte er ja zur Regierung, die sie erließ. Und hier, war es möglich, hier gab es ganze Schinken, man denke sich! Es gab hier ganze Puten, ganze Gänse, man denke! Es gab hier ellenlange Braten, man denke! Das Fett troff von den Schüsseln, es gab hier Sardinen, woher denn, beim allmächtigen Gott, sogar Früchte, obgleich sie beschlagnahmt waren. Es gab hier Torten und Kuchen wie in einer Konditorei vor dem Kriege. Es gab hier Butter, und es gab sechs verschiedene Sorten von Käse. Der Geheime Rat hatte sich der Wollust des Kauens hingegeben. Er kaute, er nahm hier ein Stückchen Lachs, dort einen Putenschenkel, dann ein Stückchen gesülztes Fleisch, dann wiederum ein Schnittchen rohen Schinken. Auch ein Scheibchen Gänsebraten, von der Brust, eine Pfaffenschnitte dazu, so! Seit zwei Jahren hatte er nicht mehr ordentlich gegessen. Er knabberte ein Radieschen, und, wie gesagt, die ganze Reihe der Käse und der Kuchen lag noch vor ihm. Andächtig schob er sich an den langen Tischen entlang, den Blick durch die Brille gleichzeitig auf alle Herrlichkeiten gerichtet. Plötzlich aber blitzten in seinen Gläsern Ordensauszeichnungen, Stickereien, das Rot des Generalstabes funkelte. Er prallte zurück. »Herr General«, sagte er, sich verbeugend, und balancierte den Teller geschickt auf der Hand. Der General machte eine kühle Bewegung mit dem Kopfe und knarrte irgend etwas in der Kehle. Nichts haßte er mehr als Aufdringlichkeit. »Geheimer Rat Westphal. Ich hatte bereits die Ehre, Herr General.« Eine kleine Pause der Verlegenheit entstand, die immer eintrat, wenn Vertreter der hohen Generalität und Angehörige des Auswärtigen Amtes sich begegneten. Der General hatte einen unüberwindlichen Argwohn allen Beamten des Auswärtigen Amts gegenüber, und der Geheime Rat seinerseits gebrauchte allen Militärs gegenüber -- äußerste Vorsicht! Er hatte Angst vor ihnen, er fürchtete sie, offengestanden. »Ich bin allerdings etwas mager geworden«, sagte der Geheime Rat mit nachsichtigem Lächeln und schob den Finger zwischen Kragen und Hals. »Ich trug vor dem Kriege Kragen 42, aber nun könnte ich 38 tragen.« »Es geht uns allen nicht besser«, antwortete der General. »Wie beurteilen Sie diese Sache?« Und der General langte nach einem Lachsbrötchen. Der Geheime Rat griff nervös nach dem dünnen Chinesenbart. »Ich bin,« begann er, »ich bin hoffnungsvoll. Es ist natürlich schwer zu sagen, aber ich halte die Lage, jetzt in Anbetracht der militärischen Situation für, ich möchte sagen, ganz vorzüglich, obgleich zu bedenken ist -- England --« »Wie, bitte?« Der General beugte sein knorpeliges, rotes Ohr mit den kleinen Haarpinseln zu dem Chinesenbart herab. Der Geheime Rat knackte verwirrt mit den Fingern und wich etwas zurück. »Ich spreche natürlich nur meine Private Ansicht aus. Ich kenne keineswegs -- ich weiß keineswegs, wie der Minister die Situation beurteilt. Ich habe den Minister seit einem Jahre nicht gesprochen.« »Sie sprechen von der politischen Lage?« »Ich meinte, Herrn General so verstanden zu haben.« »Ich meinte nur, wie Sie diese Sache heute abend finden.« »Oh -- Verzeihung! Ich finde, es ist wie ein Delikatessenladen vor dem Kriege, genau so, eine Art, möchte man sagen, Schlaraffenland, ha ha ha!« »Après nous le déluge!« sagte in diesem Augenblick ein heftig schwitzender Beduine zu einer zierlichen Schleierfee. Rügend wandte sich das Auge des Generals auf den Beduinen. Gerade dieser Geist war es, der am Mark des Volkes zehrte. Mit einer Art von Bewunderung mußte er in diesem Moment an den französischen Ministerpräsidenten denken, der all diese Schwätzer und Kleinmütigen ohne viel Umstände -- an die Wand stellte! Wo aber war hier, hier in Deutschland das hypnotische Auge, das diese Hypnose des Schreckens, die unter allen Umständen nötig war, auf das Volk ausübte? Wo hier --? In diesem Moment verbeugte sich ein Befrackter vor dem General, als wolle er ihn zum Tanz engagieren. Es war indessen nur Petersen, der meldete, daß Seine Exzellenz gekommen waren. Eine flüchtige Röte huschte über das erdfarbene Gesicht. Schon hatte der hohe Würdenträger den Saal betreten. Am Arme Doras trippelte er dahin, ein greisenhaftes, zerstreutes Gewohnheitslächeln auf dem langgezogenen, völlig glatten Wachsgesicht, das wächserne schmale Ohr aufmerksam gegen Doras gemalte Lippen geneigt. Ein Ordensstern blitzte auf seinem Frackhemd. Augenblicklich dämpfte sich der Lärm des Festes. »Wer ist es?« Leises Wispern. »Ah --?« Ganz deutlich war plötzlich für alle der Abglanz der Allerhöchsten Gnadensonne, in deren Schein der hohe Würdenträger nach Fügung des Himmels seine Tage verlebte, auf dem wächsernen, glatten Gesicht zu sehen. »Und was für einen Orden trägt er?« »Wie alt er geworden ist! Nur seine Augen sind noch die gleichen!« dachte Dora, während sie sich an ihn schmiegte, als sei sie seine Tochter. Sie durfte diese Vertrautheit wagen, denn er hatte in ihrem Hause verkehrt -- damals! Er wußte alles. Aber damals war er noch nicht Exzellenz, damals wurde er von seinen Freunden noch Franz der Erste genannt, und die intim befreundeten Damen nannten ihn einfach Franzl. Auch sie nannte ihn so. »Was ist nun aus ihm geworden? Eine Ruine!« Aber Dora strahlte. Der hohe Besuch rief Erinnerungen wach in ihr an jene Zeit -- an damals -- da sie bewundert und auf den Händen getragen wurde, von aller Welt, da alle Welt wetteiferte, ihr gefällig zu sein, da täglich Geisterhände sämtliche Vasen und Schalen ihres Hauses mit den wunderbarsten Blumen füllten. Und das heutige Fest erschien ihr plötzlich als eine Fortsetzung jener blendenden Feste dieser Zeit. Wieder trug sie in einer Nacht ein Dutzend verschiedener Kostüme, wieder wurde sie stets neu entdeckt und stets neu bewundert. Wieder war sie von einem Schwarm von Anbetern umgeben. Da war dieser Hauptmann, mit dem drolligen Namen Feuerwalze -- hoffnungslos verliebt in sie! Da war dieser Sonderbare, Unbekannte mit der rasselnden Schale, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte -- und da waren noch andere, die ihr Worte ins Ohr flüsterten, die beim Tanzen plötzlich -- und ein eifersüchtiges Auge wachte über ihr -- ganz wie damals. »Hier ist er!« rief Dora mit heller Stimme und übergab den hohen Würdenträger auf der Empore dem General. 5 Mit allen Anzeichen mühsam zurückgehaltener, freudigster Überraschung erhob sich der General. Wie alt er geworden ist, dachte auch er. Und die eine Augbraue ist schon ganz verzerrt. Eine Wachsfigur! Er verbeugte sich. Der Orden, der auf dem Frackhemd der Exzellenz funkelte, wog allein mehrfach alle Auszeichnungen auf, die der General auf der Brust trug. »Ich bitte«, flüsterte der Träger des hohen Ordens und streckte dem General beide Hände entgegen, »aber ich bitte Sie herzlich, mein lieber, alter Freund, freue mich, Sie wiederzusehen, freue mich ganz außerordentlich, wieder einmal Gelegenheit zu haben.« Schon stand ein Sessel bereit, und der General beachtete genau, bis der hohe Würdenträger sich gesetzt hatte, bis er richtig saß. Erst dann wagte er, neben ihm Platz zu nehmen. »Erfreut, außerordentlich erfreut. Ich bin etwas verspätet, ein Diner.« Petersen trat hinter den Sessel der Exzellenz. »Ich danke -- doch, einen Augenblick, mein Freund. Ein Glas Wasser, wenn ich bitten darf.« »Ich sehe mit aufrichtiger Freude, daß Euer Exzellenz sich sehr wohlbefinden«, rief der General. »Bis auf mein altes Darmleiden, mein Freund --« Die Unterhaltung wurde in lautem Tone geführt, denn der hohe Würdenträger war schwerhörig, und es war bekannt, daß er es niemals zugestand und niemals fragte. Man behauptete sogar, daß er die wichtigsten Verhandlungen führe, ohne ein einziges Wort zu verstehen, und völlig freie Erfindungen weitergäbe. Die Stimme des Generals klang kräftig, er wünschte, daß der hohe Würdenträger kein Wort verliere. Wie geschickt Dora diese Begegnung arrangiert hatte! Vielleicht würde diese Gelegenheit, sich in Erinnerung zu bringen, nie wiederkehren. »Zwischen den Schlachten«, sagte die Exzellenz lächelnd, und deutete auf Turbane, Federbüsche und die Woge von nacktem Fleisch da unten. »Exzellenz bemerken sehr treffend. Es sind zumeist Offiziere, die auf Urlaub hier sind, Atem schöpfen, um morgen zur Front zurückzukehren.« »Ja, ja, ja.« »Exzellenz --.« Der Einflußreiche legte seine weichen, kleinen Hände auf den Schenkel des Generals. »Lieber Freund,« sagte er, »ich darf wohl bitten, alles Zeremoniell zu lassen. Wir sind doch alte Freunde. Ja, wie lange kennen wir uns schon?« »Es sind,« der General dachte nach, »es dürften wohl dreißig Jahre sein.« »Dreißig Jahre!« Der hohe Herr rückte auf dem Sessel hin und her, wiegte den wächsernen Kopf und lachte beunruhigt. »Ein Menschenalter! Ich erinnere mich noch sehr deutlich, daß wir ebenfalls in Berlin einmal auf einem Ball waren. Es war, wo war es denn nur gleich?« Der General errötete. Nun wird er sich gewiß an diese Affäre erinnern, an diese Entführung, und alles wird vergeblich sein. »Ich erinnere mich nicht«, sagte er. Aber mit dem Eigensinn eines Greises forschte der hohe Würdenträger in seinem Gedächtnis nach. »Es war bei Baron Kreß«, rief er aus. »Ja, nun habe ich es, und es war eine entzückende Dame da, eine reizende kleine Person! Ah, ah, ah, wie hieß sie doch?« Der General schwieg beharrlich, außerordentlich peinlich war die Situation. Scham erfüllte ihn, daß er nicht den Mut hatte, zu bekennen, daß diese reizende kleine Person, wie Exzellenz sie zu nennen geruhten, später -- »War es nicht eine kleine Baronesse Bassewitz? Nein, nein, es war -- nun, es ist lange her. Ich bin nicht für die Ehe geboren gewesen, mein lieber Freund. Und wie fühlen Sie sich in Berlin?« Der General rückte auf seinem Sessel. »Wo mich mein König hinstellt,« heulte er in das Ohr Seiner Exzellenz, »da --«, er stockte. Aber der Greis verstand vollkommen. »Ja, ja, ja,« nickte er. Ach, er hatte diese Phrase tausendmal in seinem Leben gehört. Er klopfte sich auf den Mund, um ein Gähnen zu verbergen. »Ich höre aber, daß Sie sich bei der Truppe wohler fühlten, lieber Freund? Meine Schwester --« »Ich erfülle meine Pflicht und beklage mich nicht!« beteuerte der General. »Indessen ist es ja selbstverständlich für einen Frontsoldaten --« »Ja, ja, ja -- natürlich, selbstverständlich.« Der Würdenträger versank in Nachdenken, schloß die großen Greisenaugen zur Hälfte, und es sah eine Weile aus, als ob er einschlafen wolle. Er erinnerte sich plötzlich, daß man, vor gar nicht langer Zeit, bei der Frühstückstafel von diesem Hecht-Babenberg gesprochen hatte. Irgend etwas war ihm mißlungen oder besser gesagt, nicht gelungen -- irgend etwas an der Front, und man sprach von einer Untersuchung, die schwebte. Natürlich nur schwebte, alle diese Untersuchungen schwebten, und das war ganz in Ordnung. Das Ansehen der Armee würde anders leiden. Daran dachte er, und er quälte seinen alten, spitzen Kopf, um sich zu erinnern, welches Mißgeschick dem General eigentlich passiert war. Es hatte sich um eine Höhe gehandelt -- um irgendeine von diesen vielen Höhen, von denen immer die Rede war. Er war kein Militär, und er kannte die Front nur als eine ungefähre blaue Linie, die er überall in den Beratungssälen auf den Karten sah. Er las die Heeresberichte nicht mehr, seit langem, seit einigen Jahren -- es waren ja immer die gleichen Orte. Ganz offen gestanden, interessierte ihn die Front auch nicht, in militärischen Fragen war er Laie, sie gehörten nicht in sein Ressort. Aber es hatte sich damals um eine Höhe gehandelt, eine Höhe, na, es war ja schließlich vollkommen einerlei. Hm, es würde wohl -- im Hinblick auf dieses Mißgeschick -- nicht ganz leicht sein . . . Plötzlich verklärte ein Lächeln sein Gesicht. Da unten -- wie scharmant -- hatte sich soeben ein Pärchen ganz sans géne während des Tanzens geküßt! Diese Jugend -- wieder rückte er unruhig auf dem Sessel. Der General aber erlaubte sich zu erwähnen, daß auch hier in Berlin wichtige Arbeit zu leisten wäre. Es waren gewisse Einflüsse am Werk, pazifistische, jüdisch-liberale, radikalsozialistische Einflüsse, die zu bekämpfen waren. Der Wille des gesamten Volkes mußte zusammengeballt und in eine Richtung gelenkt werden, zu einer letzten gewaltigen Anstrengung. »Gewaltigen, gewaltigen!« schrie er in das wächserne Ohr der mit schrägem Kopf lauschenden Exzellenz. »Ja, ja -- sehr richtig -- sehr schön --« Der General aber benutzte die Gelegenheit, dieser hohen Stelle seine militärisch-politischen Ansichten im allgemeinen darzulegen. Der Peipussee, der Weg nach Indien über den Kaukasus, die Zerschmetterung Englands vom Orient aus, der Korridor über die Türkei und Ägypten nach einem mächtigen deutschen Zentralafrika, Rohstoffreservoire, Siedlungsgebiete, maritime Stützpunkte . . . »Sehr interessant -- sehr wohl --« Fließend trug der General seine Gedanken vor, sie bildeten das Thema eines fertig ausgearbeiteten Vortrags, den er in den nächsten Tagen im Bund Barbarossa halten wollte. Der hohe Würdenträger nickte und blinzelte durch das geschnitzte Geländer der Empore hinunter in den kleinen Saal. Viel angenehmer wäre es ihm gewesen, wenn der General über diese Beinchen, Hüften und Gesichtchen gesprochen hätte -- diese modernen Tänze waren sehr reizvoll, wenn auch etwas gewagt. All das, was der General sagte, hörte er täglich von Militärs. Nur diese Sache mit dem Korridor über Ägypten war eine neue Variante. »Sehr wohl -- sehr richtig --«, sagte er und nickte. Und dieser Hauptmann, der eben mit Dora tanzte, sah es nicht ganz so aus, als sei er -- etwas bekneipt? Bewundernswürdig diese überschäumende Lebenskraft . . . Dora gab es auf, mit Hauptmann Falk zu tanzen. »Ich bin durstig, Feuerwalze!« Gab es eine Bitte in der weiten Welt, die der Hauptmann mit größerem Entzücken erfüllt hätte? Nein, keine. Er wollte Dora die gesamte Weinernte von drei Jahrgängen zu Füßen legen, er schwor, die Weinkeller der Millionäre in der Nachbarschaft zu plündern, wenn es sein müsse. »Gib Wein, schwarzer Halunke!« schrie er dem fetten Neger zu. Er leerte sein Glas auf das Wohl seiner Dame und warf es -- nun höchst einfach -- mitten in das Orchester. Das gehörte zu seinem Stil. »Spielt, ihr Schweine!« schrie er, und als die Musiker sich entsetzt umblickten, fügte er mit einer tiefen Verbeugung, auf Dora weisend, hinzu: »Für meine Dame!« Dann nahm er einen blauen Lappen aus der Tasche, rollte ihn zu einer Kugel zusammen, spuckte darauf und warf ihn den Musikern zu. Auch das gehörte zu seinem Stil. Nun verbeugten sich die Musiker. Vor knapp fünf Stunden war der Hauptmann in Berlin angekommen und bei Ströbel, wie gewöhnlich, abgestiegen. Gestern früh, um sieben Uhr, hatte er noch an der flandrischen Küste einen Graben gestürmt, mit dem Messer hatte er gearbeitet, heute tanzte er hier -- es war ein Krieg mit Komfort, wie er sagte -- morgen abend, um zehn Uhr, ging sein Zug -- vielleicht mußte er übermorgen wieder mit dem Messer arbeiten -- einerlei. »Und noch ein Glas auf das Gedeihen dieser kleinen Härchen im Nacken da --!« Ja, durch ein Sektglas gesehen hat die Welt ein ganz anderes Gesicht. Dora fand ihn ungeheuer drollig. »Weshalb aber trinken Sie so schrecklich, Feuerwalze?« Der Hauptmann versicherte, daß er ein Vulkan sei, sozusagen, ein Vulkan, der sich bemühe, seine Temperatur zu halten. Dazu hätten ihn heute diese kleinen Nackenhärchen rasend gemacht -- und dieses Ohrläppchen und noch andere Sachen. Und er sei nichts als ein armes Frontschwein, bedauernswert, kaum vierundzwanzig Stunden Zeit -- Plötzlich umschlang er Dora. Sie entfloh. Schon aber rasselte die Schale, und ein bleicher Arm streckte sich dem Hauptmann entgegen. »Huh, hier ist er wieder. Ein unheimlicher Geselle.« »Befehlen Sie, Gnädigste, und wir werden ihn töten. Hinweg mit dir, Sklave!« schrie der Hauptmann mit gutmütigem Lachen. Aber da begann der Bettelmönch plötzlich zu wachsen -- er wuchs, und seine Augen blitzten . . . »Bist du es?« Hedi zupfte den Bettelmönch am Arm. Ihr Herz schlug. Die blinkenden Augen zwischen den Tuchlappen zogen sich zusammen zu Schlitzen, wie bei einer Eule. Der Bettelmönch wich zurück und verbeugte sich, während er mit der Schale rasselte. »Bist du es, sprich?« Schweigen. »Kennst du meine Stimme?« Der Bettelmönch schüttelte stumm den Kopf. »Zeige deine linke Hand!« Der Bettelmönch zog beide Hände unter die Vermummung zurück und verneigte sich noch demütiger, bis zur Erde. Es war ihm nicht beizukommen. Eine Dame flüsterte Hedi ins Ohr: »Es ist eine Königliche Hoheit.« »Wer???« »Man sagt es.« Scheu wich Hedi zurück. * * * * * »Ich bin der Ansicht,« schrie der General in das schmale wächserne Ohr, »nur noch eine einzige, gewaltige Kraftentfaltung des deutschen Volkes, und wir werden den Frieden diktieren.« Der hohe Würdenträger wiegte den spitzen Kopf. »Es ist möglich,« unterbrach er den General, »daß diese Anstrengung nicht mehr nötig sein wird. Dies, bitte, ganz unter uns! Ja es ist möglich, daß sie genug haben!« Plötzlich tat der hohe Würdenträger geheimnisvoll. Aber immerhin -- er verbrachte seine Tage in allernächster Nähe der allerhöchsten Persönlichkeiten. »Wie belieben?« »Möglich, immerhin möglich! Es sind Anzeichen dafür vorhanden. England . . . Aber bitte, ganz unter uns!« Völlig unvermittelt erhob er sich. »Außerordentlich gefreut, mein lieber Freund -- ganz außerordentlich. Sehr interessant -- Ihre Ausführungen, sehr interessant. Bitte herzlich, sich ja nicht zu bemühen --.« Er war ja nur auf einige Minuten hierhergekommen, erstens, um dieser prächtigen Dora die Freude zu machen, zweitens, um seiner Schwester gefällig zu sein, und drittens -- nun drittens gab es nicht. Vorsichtig stieg die steile, kantige Glatze die schmale Treppe hinunter, die noch heute nach Weihrauch roch. Der hohe Würdenträger kroch in seine schwarzlackierte Limousine und zog eine Pelzmütze über den kahlen Schädel. »Große Fähigkeiten, ohne Zweifel«, sagte er vor sich hin, indem er sich im Polster zurechtrückte. »Aber weshalb schreien diese Militärs alle so? Er hat mich fast taub geschrien.« Und er schlief augenblicklich ein, während die Limousine lautlos durch die Finsternis schlich. 6 Kaum hatte der hohe Würdenträger die rote Backsteinvilla verlassen, so brauste der Lärm erneut auf. Die hochstehende Persönlichkeit da oben, mit dem General zur Seite, hatte die Ausgelassenheit etwas beeinflußt. Es war peinlich für viele, zu denken, daß ein so hoher Würdenträger sie bei ihren Albernheiten belausche. Schon der General störte, er störte, ohne es zu wissen, und man wünschte, daß er möglichst bald verschwinde. Es kam auch die neue Kapelle. Zigeuner, die bis dahin in einer Bar gespielt hatten. Es war die beste Kapelle von Berlin, und augenblicklich fühlten es alle Tänzer. Plötzlich aber ertönte laut und dröhnend ein Gong, und gleich darauf wurde es, bis auf wenige Kerzen, dunkel. Eine kleine, helle Bühne mit einem phosphorgrünen, dunstigen Vorhang im Hintergrund leuchtete. Der Vorhang teilte sich. Eine Hand erschien, ein nackter Arm, eine elfenbeinerne, glänzende Schulter. Eine schlanke Tänzerin trat aus dem Vorhang. Alle Turbane, Perlenschnüre und Federbüsche sanken plötzlich zur Erde nieder. Die Tänzerin war ein wunderbares Geschöpf mit einem herrlichen Körper und jungen, kleinen Brüsten. Sie war vollkommen nackt, nur um die Hüften trug sie eine Kette aus blauen Steinen und einen kleinen Schleier, eine Hand breit. Mit jedem Schritt löste sie sich mehr vom Dunkel los, ganz allmählich tauchte ihr Körper in das Licht. Zuerst nur eine Ahnung von Fleisch und Herrlichkeit, wurde er langsam verwirrende Wirklichkeit. Wie eine Somnambule schritt die Tänzerin vorwärts, die Augen visionär in die Ferne gerichtet. Sie hatte die Hände, zierliche, transparente Finger, an ihre beiden jungen Brüste gelegt. Nun stand sie still, ohne jede Regung. Dann -- bei einer bestimmten musikalischen Phrase -- hob sie langsam den linken Fuß und begann sich in der Hüfte zu drehen. In diesem Augenblick aber hub eine Uhr an zu schlagen. Es war ganz still, so daß das dumpfe, rasselnde Schlagen der Uhr deutlich zu hören war. »Diese dumme Uhr!« sagte Dora halblaut und ärgerlich. Die Musik brach ab, die Tänzerin stand, die zierlichen Finger an den Brüsten, regungslos, mit leicht geneigtem Haupte, um das Schlagen der Uhr abzuwarten. * * * * * Genau zur gleichen Stunde, an diesem Abend, meldete man Hauptmann v. Dönhoff in dem halbzertrümmerten Keller des Champagne-Dorfes, wo er zurzeit hauste, daß der befohlene Wagen zur Stelle sei. Dieser Wagen sollte den Leichnam seines Adjutanten Kammerer, gefallen auf der Beobachtung, nach rückwärts bringen. Dönhoff hatte den Wagen auf Mitternacht bestellt, weil zu dieser Zeit das feindliche Feuer weniger heftig auf seinem Dorfe lag, das heißt auf dem Schutthaufen, der von dem Dorfe übriggeblieben war. Die Nacht hatte indessen keine Ruhe gebracht. Die Geschütze tobten, und auch die Batterie Dönhoff feuerte, was die Rohre hergaben. Die schweren Schläge der Haubitzen erschütterten unaufhörlich den Keller, in dem die Batterieoffiziere um den Sarg des gefallenen Kameraden versammelt waren. Einschläge knatterten. Eine zusammengestürzte Scheune nebenan hatte einen Treffer bekommen, und der Schutt qualmte, ätzender Rauch drang in das Kellerloch. Punkt zwölf Uhr wurde der Sarg von einigen Batterieleuten hinausgetragen und auf den Krümperwagen gelegt. Darauf verließen die Offiziere den Keller, um dem gefallenen Kameraden das letzte Geleit zu geben. Die Luft war lau, erfüllt vom ätzenden Rauch der qualmenden Scheune. Der Himmel wetterleuchtete ohne Pause von dem Gespinst von Blitzen, das von Horizont zu Horizont geisterte. Deutlich waren die umstehenden Kameraden zu erkennen -- sogar die Tränen in ihren Augen. Furchtbar tobten die Geschütze, und die Abschüsse der Batterie, die feindliche Zufahrtstraßen unter Sperrfeuer hielt, knallten wie Explosionen. Die Granaten sägten und gurgelten über die Köpfe hinweg in die Nacht hinein. Gegen Süden zu, hinter der feindlichen Linie, stand ein feuerspeiender Berg. Ein blutroter Glutkegel stieg in den schwarzen Himmel, unheimlich und düster: irgendein Lager war da drüben bei ihnen in Brand geraten. Nur wenn die Haubitzen in der Nähe ihre Feuergarben in die Nacht schleuderten, so glomm der Vulkan für Augenblicke fahler. Ohne Pause zuckten aus der Frontlinie gespenstige Lichtsignale in allen Farben empor. Sie krochen bald niedrig über dem Boden, bald erhoben sie sich wie Raketen und sprühten in der Höhe. Wie die höllischen Leuchtfeuer der Unterwelt sahen sie aus, der die Totenschiffe zusteuern. Eine Laterne wanderte um den Krümperwagen, die Hinterteile der schweren Batteriepferde glänzten, der Sarg dehnte sich fahl im Wetterleuchten der Abschüsse. Auf dem Bock kauerte ein Schatten, dessem Maul Funken entstoben. Die wütenden, raschen Schläge seiner Batterie erfüllten Hauptmann Dönhoff mit Genugtuung. Gebt es ihnen tüchtig! Rache für Kammerer! Auch der rotglühende Vulkan im Süden befriedigte ihn. Erregt suchte der Gegner die Dönhoffsche Batterie zu packen. Ringsum flammten die Einschläge. »Sie haben Kammerer eine ordentliche Totenfackel angezündet«, sagte er, und seine Stimme war von einem grausamen Triumph erfüllt. Die Schatten der Offiziere drehten sich gegen Süden. »Ein Depot brennt«, sagte eine Stimme. Unruhig wieherte ein Pferd. »Kameraden«, schrie plötzlich Dönhoff mit übermäßig lauter und scharfer Stimme. Er wollte möglichst rasch über die Szene hinwegkommen, er wollte seinen Schmerz über den Verlust Kammerers verbergen, mit dem er drei Jahre zusammengelebt hatte. »Kameraden, Kammerer verläßt uns. Er war ein tüchtiger und prachtvoller Junge. Fahre los! Lebe wohl, Kammerer!« Dönhoff legte die Hand an die Mütze, und die Offiziere taten das gleiche. Die kleine Laterne kroch über die Räder empor neben den Kutschersitz und beleuchtete den langen, gelben Sarg. In dieser Sekunde aber -- In diesem Augenblick begann es in der Luft zu sausen, ein hohles, saugendes Rauschen war plötzlich nahe, und im nächsten Augenblick schlug eine blendende Lohe bis zum schwarzen Himmel empor. Dönhoff stürzte, den Arm vor die Augen geschlagen, rückwärts in den Keller hinab. Er hörte den Knall der Explosion nicht mehr. Verschwunden war der Wagen, der Kutscher, die Pferde und der Sarg. Verschwunden waren die Offiziere, nichts blieb als der kräuselnde, stinkende Qualm über dem Schutthaufen, den die schwere Granate hinterließ. Aber die Haubitzen feuerten noch. * * * * * Die Uhr hatte ausgeschlagen. Die Tänzerin erwachte aus der hypnotischen Starre, in die das Rasseln der Uhr sie versenkt zu haben schien, die Lider hoben sich, und gelbe Funken fuhren aus den Augen. Sie atmete wieder. Ihre zierlichen Finger lösten sich von den jungen Brüsten, sie drehte sich in der Hüfte, hob das linke Bein, knickte plötzlich zusammen, so daß sie mit dem Kinn das Knie des linken Beines berührte -- lächelte verzückt -- und ihr Elfenbeinkörper blitzte. Dichtgedrängt glänzten die Augen der Vermummten im Halbdunkel. Eine Schattenkugel mit zwei großen Ohren hob sich für einen Augenblick auf dem hellen Hintergrund gespenstisch ab. Aber rasch duckte Professor Salomon sich wieder auf den Boden. Der General auf seiner Empore hatte den goldenen Kneifer aufgesetzt. »Du bist noch schöner!« flüsterte Ströbel in Hedis Ohr, und seine Lippen berührten ihren Nacken. Sie saßen dicht nebeneinander auf dem Boden. »Es ist nicht Liebe -- ich belüge dich nicht, wie die andern Männer, aber es ist -- Sympathie.« 7 Die kleine türkische Witwe in Grau hatte ihre ganze Kundschaft eingebüßt. Alle fanden, daß sie reizend sei -- aber tödlich langweilig. Zuletzt hatte sie das Glück gehabt, einen Offizier zu treffen, der die Kampfstaffel Wunderlich kannte -- er lag ganz in der Nähe -- und ihr versprochen hatte, Heinz Grüße zu bestellen. Das war der einzige Lichtpunkt des Festes. Sonst fand sie es entsetzlich. Entsetzlich diese Frauen, die halbnackt von Arm zu Arm wanderten, entsetzlich diese Männer. Auch Hedi -- nun, du bist durchschaut, Hedi, gib dir keine Mühe mehr. Nun saß die kleine türkische Witwe mutterseelenallein auf dem Diwan im Zeltzimmer, das Gesicht nachdenklich und gelangweilt in die Hände gestützt. Alles würde sie Heinz schreiben, ja, schon begann sie in Gedanken den Brief. Sie hatte darauf verzichtet -- rundweg verzichtet -- diese schamlose Person tanzen zu sehen. Sollte man so etwas für möglich halten? Und man sagte, daß sie dreihundert Mark für den Abend bekäme und überall tanze, wo man sie engagiere. Nicht für eine Million würde die kleine graue Witwe, nicht für eine Million würde sie -- pfui. Verlassen stand im Vorzimmer der Heilige, der mit wilder Gebärde das Buch schwang, allein, wie sie. Sie fühlte Mitleid mit ihm und küßte ihm die kalte, grüne Hand. Das Haus war völlig leer. Selbst die Dienerschaft drängte sich unter den Türen zusammen. Auch Papa -- ja, selbst ihr Papa -- seht an! Da stand er, mit einem Sektglas in der Hand. Klara stieg die Treppe empor -- aber sofort kehrte sie wieder um. Da oben, bei den Truhen und Schränken stand der Bettelmönch mit seiner Schale, und sie fürchtete sich, ihm allein zu begegnen. Obwohl man sagte, daß es eine Königliche Hoheit sei. Auch er fand gewiß diese Nackttänzerin schamlos. Drinnen raste der Beifall. Die Musik setzte von neuem ein. Dora eilte an ihr vorbei die Treppe hinauf. Es war Zeit, wieder das Kostüm zu wechseln, nicht wahr? Es war auch die beste Gelegenheit, gerade jetzt, wo der Tanz wieder begann. Rasch rauschte Dora an den Truhen und Schränken vorüber. Da reckte sich ihr aus einer dunkeln Nische die rasselnde Schale entgegen -- wieder stand er da und verneigte sich. Sie schrak zurück. Aber gewiß wollte der demütige Bettelmönch nichts Böses. Sie waren ganz allein, unten lärmte das Fest. »Wer bist du?« fragte Dora. Der Bettelmönch schüttelte den roten Turban. Dora trat dicht an ihn heran und blickte in seine Augen, die zwischen Vermummung und Turban blendeten. Einen Augenblick lang hatte sie, erschreckend, gedacht, vorhin, er könnte es sein -- er, das Gerücht, das kursierte! War es nicht möglich, daß er hierhergekommen war, auf eine Stunde, unerkannt von allen Gästen, unerkannt selbst von ihr, um wiederum unerkannt zu verschwinden. Es war unmöglich -- und doch, wunderbar war dieser Gedanke. Aber die Farbe der Augen stimmte nicht. Dieser Bettelmönch hatte helle Augen. Plötzlich sagte der Bettelmönch: »Dora.« Und augenblicklich erkannte ihn Dora an der Stimme. »Du --?!« Der Bettelmönch, der den ganzen Abend stumm geblieben war, brach in lautes, heiteres Lachen aus. »Ja, ich bin es.« »Und ich habe dich nicht erkannt! Du hast geschrieben -- noch heute --« »Ich wollte dich überraschen!« Dora zog ihn einige Schritte mit sich, bis zur Türe. »Geliebter --« flüsterte sie. Die Lappen fielen vom Gesicht des Bettelmönchs, und seine Zähne blitzten. Plötzlich umschlang er sie mit ungestümer Gewalt. »Nein, nein --« sagte sie, bat sie. »Sei vorsichtig -- der General -- er blickt heraus --!« In der Tat war plötzlich für eine Sekunde das Gesicht des Generals an der kleinen Tapetentür aufgetaucht, die auf die Diele führte. Allerdings nur für eine Sekunde. Er hatte sie wahrscheinlich gar nicht gesehen. »Laß ihn ruhig!« Eine Perlenkette zerriß, und die Perlen prasselten auf den Boden. Mit dünnem Knallen sprangen sie die Treppe hinab, eine hinter der anderen. * * * * * »Beunruhigung?« Der General zog die Brauen in die Höhe. »Ja, ich meine, das Volk --« »Das Volk?« Der General wiegte geringschätzig den Kopf. »Verzeihung,« antwortete der kleine, elegante Rittmeister mit dem schweißüberströmten Gesicht, »ich meine die Öffentlichkeit. -- Ist es gestattet, Euer Exzellenz?« Der kleine Rittmeister öffnete etwas die Tapetentür, die von der Empore auf die Diele hinausführte. Es war heiß hier oben auf der Empore. Unbegreiflich, daß der General es auszuhalten vermochte. Er mußte Gletscherwasser in den Adern haben. Der kleine Rittmeister -- ja, wie hieß er doch gleich? -- er gehörte einer der ersten Adelsfamilien des Landes an, hatte die ganze Erde bereist, zurzeit in hervorragender Stellung, mit den höchsten Auszeichnungen und einer blendenden Karriere vor sich -- an all das erinnerte sich der General ganz genau, aber der Name, dieser bekannte Name fiel ihm nicht ein -- der kleine Rittmeister wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Er war als Beduine gekleidet, hatte jedoch die Kopfbedeckung in den Nacken zurückgeschlagen. Schon wieder brach ihm der Schweiß aus allen Poren. »Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben« -- fuhr er fort -- »es ist nicht zu leugnen, daß in der breiten Öffentlichkeit eine gewisse Beunruhigung Platz gegriffen hat. In der feierlichen Osterbotschaft wurde von Allerhöchster Stelle --« »Bitte mich nicht mißverstehen zu wollen. Ich wage selbstverständlich nicht, diesen hochherzigen Gnadenakt Seiner Majestät -- Sie belieben?« »Ich bin ganz Ohr, Euer Exzellenz!« »Ich selbst trete ja für eine Reform des Wahlrechts ein. Und zwar schlage ich ein gestaffeltes Wahlrecht vor. Bis zu dreißig Stimmen --« »Dreißig Stimmen?« fragte der schweißglänzende Beduine, bemüht, sein Erstaunen zu verbergen. »Je nach Besitz, Fähigkeit, Verdienst, Rang, Titel, Bildung.« »Jawohl.« »Kinderzahl, Alter, Stand, Religion.« »Jawohl, ich verstehe vollkommen. Zu begrüßen wäre es nur, wenn bald etwas geschähe. In unserer Zentrale laufen ja alle Berichte zusammen. Es bilden sich Gruppen von Unzufriedenen.« »Unzufriedenen?« »Mehr als das, es bilden sich Gruppen, die umstürzlerische Tendenzen verfolgen. Erst vor kurzer Zeit ist unser Augenmerk wiederum auf konspiratorische Elemente gelenkt worden.« Plötzlich unterbrach der General das Gespräch. Sein Blick glitt unruhig durch die Türspalte. Sein Auge wanderte. Soeben hatte er Dora erblickt. Sie glitt an der Türspalte vorüber -- kam aber im Augenblick wieder zurück. Und plötzlich trat in der verlassenen Diele jemand zu ihr. Seht an! Eben er, dieser -- nun was stellte er vor? -- diese Mumie, dieser Unbekannte, den er schon den ganzen Abend beobachtet hatte. »Natürlich sind es nur einige wirre Köpfe?« »Natürlich. Aber immerhin, die Erscheinung ist symptomatisch --« Ohne jedes Wort der Entschuldigung erhob sich hier der General und streckte den Kopf in die Diele hinaus. Dies war der Moment, da Dora den Bettelmönch warnte. Der Kopf des Generals zog sich augenblicklich zurück, als Dora ihn bemerkte. Er schloß die Tapetentüre. »Symptomatisch«, wiederholte der schweißglänzende Beduine. »Auffallend ist, daß selbst Angehörige der besten Gesellschaft --« Zerstreut hörte der General zu. Sein Blick wanderte unruhig durch den Saal. »Bei dem neuen Fall, auf den ich anspielte,« fuhr der kleine Rittmeister fort, »ist sogar die Tochter eines hohen Offiziers beteiligt. Ihr Vater bekleidet Generalsrang. Es ist mir natürlich nicht möglich, mehr . . .« Aber der General schien jegliches Interesse an dem Gespräch mit dem Rittmeister verloren zu haben. Er tupfte sich mit dem Taschentuch Schweißperlen von der Stirn. Dann stand er rasch auf. »In der Tat,« sagte er stockend, »es ist unerträglich heiß geworden hier oben. Vielleicht belieben Sie mitzukommen?« Und beide verließen die Empore. Auf der Treppe aber blieben sie plötzlich erschrocken stehen. Der General taumelte sogar etwas zurück. Feuerschein blendete sie! Der ganze Tanzsaal schien plötzlich in hellen Flammen zu stehen. Ein dünner Vorhang war in Brand geraten und brannte lichterloh. Auch einige Schleier fingen Feuer, und die Funken flogen. Die Damen schrien auf und stoben auseinander. Der Feuerschein währte indessen nur einige Sekunden. Inmitten der Flammen erschienen plötzlich ein Hauptmann in Uniform und ein dicker, pechschwarzer Neger, die die flammenden Fetzen auf den Boden rissen und zertraten. Kaum daß die Musik eine Minute gestockt hatte. Das Fest ging weiter. Nur ein dünner Brandgeruch blieb zurück. Der schweißtriefende Beduine hatte diesen Vorfall benutzt, sich unsichtbar zu machen. Als der General sich suchend nach ihm umblickte, war er verschwunden. Es war dem General nur angenehm. Mit schlechtverhehlter Unruhe schritt er durch die Räume. Seine Augen forschten. Man nahm in dieser späten Stunde des Festes keinerlei Rücksicht mehr auf ihn. Die Tänzer drängten ihn gegen die Wand. Einmal wurde er dicht neben der Negertrommel festgehalten, die Hauptmann Falk mit aller Kraft bearbeitete. Professor Salomon stürzte ihm entgegen und berichtete wichtigtuerisch von den Hungerkrawallen in England und dem katastrophalen Mangel an Grubenholz über dem Kanal. Schon weigern sich die Bergleute einzufahren! Nur mit Mühe und Not vermochte er den Kürbis abzuschütteln. Im Erfrischungsraum traf er die Gräfin Heller, und es war nicht zu umgehen, daß er sich mit ihr in ein längeres Gespräch einließ. Wieder und wieder äußerte er seine Freude über das prächtige Aussehen Seiner Exzellenz! Auch im Erfrischungsraume war von Dora nichts zu sehen. Auch im Zelt nicht. Hier traf er nur eine Anzahl still kosender Paare, die, dicht aneinander geschmiegt, den großen Diwan belagerten, und sich durch ihn nicht im geringsten stören ließen. Angewidert und halb betäubt von der schwülen Luft, die im Zelt herrschte, zog er sich sofort wieder zurück. Endlich betrat er das bengalisch rotglühende Musikzimmer, Ali Babas Opiumhöhle. Hier saßen die Vermummten im Kreise auf dem Teppich und klatschten im Takt in die Hände, während sie geheimnisvoll summten und die Köpfe wiegten. In der Mitte des roten Nebels tanzte ein weizenblondes, schlankes Geschöpf, in flimmernde Silberschleier gehüllt, die Brüste völlig frei und die Hüfte zwischen Jäckchen und Pluderhosen gänzlich nackt. Sie tanzte eine Art Bauchtanz, rasend und hingerissen. Und ah -- da war auch Dora! Wieder trug sie ein anderes Kostüm: schwefelgelbe Seide, über die zinnoberrote, schreckliche chinesische Drachen wie Flammen züngelten. Wo aber war dieser andere hingekommen -- diese Mumie mit dem orangeroten Turban? Weit und breit war von ihm nichts mehr zu sehen. Unter tosendem Beifallsklatschen sank die weizenblonde Tänzerin, taumelnd vor Erschöpfung, mit einem wilden Schrei zu Boden. 8 Rastlos wanderte Dora durch die verlassenen Räume, rastlos hin und her. Zuweilen warf sie sich in einen Sessel -- aber schon wieder wanderte sie. Ihr schwefelgelbes Kostüm mit den grellrotzüngelnden Drachen flatterte. Es war über die linke Schulter herabgeglitten. Die blonde Haarfülle, die schmerzte, hatte sie halb gelöst. Die Fata Morgana war zerflossen -- Sand, Sand, Wüste. Durch die Vorhänge graute trüb der Tag. Zertretene Blumen, abgerissene Schleier, halbgeleerte Gläser, Scherben. Scherben von Worten, Gelächter, Scherben von Musik. Ein paar vereinzelte Lampen brannten noch. Petersen hatte seinen Frack abgelegt und kletterte in seinem Zebrakittel auf eine Leiter, um ein Fenster zu öffnen. Es zog. Zuletzt erschienen die beiden Neger unter der Türe, in Ulstern, Stehkragen, und verneigten sich. »Hoffentlich war es nicht zu beschwerlich für Sie«, sagte Dora und begleitete die beiden schwarzen Gentlemen in ihrer Zerstreutheit zur Diele. »Vielen Dank!« Und sie drückte ihnen die Hand. Sie empfand tiefe Sympathie für die beiden schwarzen Gentlemen, aufrichtige -- auch sie waren fremd hier, auch sie gehörten in ein Land mit Papageien, Wärme, blauem Himmel und Orchideen -- ganz wie sie. Alle drei waren sie Fremde hier. Ach, wie unglücklich sie war, Dora! Sie sank auf einen Stuhl, wanderte wieder -- das Kleid glitt immer mehr über die Schulter. Damals -- Reisen, Feste, Paris, Nizza, Italien -- und immer Fröhlichkeit, jeder Tag ein Paradies für sich. Aber es mußte sein, man riß sie los von ihm. Nein, sie liebte auch ihn nicht, um die Wahrheit zu sagen, sie liebte einen andern, früher noch, der das schönste Lächeln der Welt hatte. So -- mit diesem Lächeln stand er in ihrer Erinnerung. Aber es war unmöglich. Er war arm, er hatte gar nichts. Unmöglich. Dann hatte sie diesen Lumpen geheiratet -- weshalb eigentlich? Weil die Frauen sich um ihn rissen -- er betrog sie am ersten Tage schon. Ja, weshalb? Nur um diese Leere zu vergessen, die zurückgeblieben war, als man sie losgerissen hatte. Dann, eines Tages -- welch entsetzlicher Tag -- wo sie vis-à-vis de rien stand -- buchstäblich -- das heißt noch Schulden. Aber es gab Freunde, Gott sei Dank gab es -- einen hochherzigen -- ja, in Wahrheit hochherzigen Freund, der nicht zögerte, ein Vermögen hinzugeben. Und -- nun -- und nun? Oh -- entsetzlich! Dora wanderte. Sie rauchte eine dicke Zigarette und wanderte. Die Jahre flogen, die Sommer wirbelten rückwärts, Sommer um Sommer, Frühling um Frühling. Und diese Welt, diese entsetzliche Welt, die schrecklicher, oder, düsterer und kälter wurde mit jedem Jahr! Nicht die Welt hatte sich geändert, Dora vergaß es. Sie war seit jener Zeit, da jeder Tag ein Paradies war, um zehn Jahre älter geworden. Aber sie begriff es nicht. Und trüb graute der Tag. * * * * * Auch da draußen graute der Tag, und immer noch kläfften rasend die Haubitzen der Batterie Dönhoff. Die Kanoniere schossen Vergeltung und sollten sie dabei alle in Fetzen gehen! Grausam und rachsüchtig wühlten sich die Granaten hinein in den Dunst des Morgens. Schon hatte eine Haubitze eine schwere Granate vor das Rohr bekommen, und die Stücke flogen. Nun erwachte das Feuer an der ganzen Front und rollte mächtig von Horizont zu Horizont. Zweiter Teil Erstes Buch 1 Es soll sich entscheiden, die Stunde ist gekommen. Das Schicksal hat seine fürchterliche Frage gestellt und fordert Antwort. Das Rad der Weltgeschichte kracht. Wagen fahren vor, und Automobile fliegen heran. Die Sonne funkelt. Ein Morgen von ungeahnter Herrlichkeit. Umstellt von einer Meute von Staatsmännern und Generalen in Erz liegt das Reichstagsgebäude und leuchtet in der funkelnden Sonne. Am Westgiebel schimmern die goldenen Lettern: Dem deutschen Volke! Erst vor kurzem wurde diese Inschrift angebracht, als Ausdruck der Allerhöchsten Anerkennung und Huld, nachdem eineinhalb Millionen auf den Schlachtfeldern gefallen waren. Uniformen und Roben, ordenglitzernde Brüste und gestickte Kragen quellen aus den Wagen und Automobilen, Lackstiefel, kleine, reizende Damenschuhe, Gamaschen, Monokel und Aktentaschen. Wehende Bärte eilen die Steintreppe zum Eingang der Volksvertreter empor, Fettnacken, Brillen und Professorenmähnen, geschäftig, wichtigtuerisch, und jene Raschen, die über die Treppen huschen, die Mappe unter dem Arm, das sind die Rechtsanwälte. Donnernd dröhnt die fürchterliche Frage des Schicksals, ohne Pause, immerfort. Von Zeit zu Zeit hebt der Portier die breite Brust und wirft einen gebieterischen Blick über die Straße. Aufgeregt fliegt der Polizeileutnant auf seinem Rad heran. Eine Mauer von Blauen baut sich auf, die Berittenen sitzen wie Statuen, die Unterführer stürzen zur Berichterstattung herbei. Der Polizeileutnant betupft die schweißige Stirn mit dem Taschentuch und läßt den raschen Blick über die Menschenmenge gleiten, gegen deren Zudringlichkeiten -- oder noch Schlimmeres? -- er unter Umständen die ordenglitzernden Brüste und glänzenden Seidenhüte verteidigen wird. Vorläufig allerdings ist die Menschenmenge noch nicht zu sehen. Vorläufig steht sie noch in der Ferne, stumm, den Blick zu Boden geschlagen. Doch der Augenblick wird kommen, da sie sich in Marsch setzen wird -- bald vielleicht . . . Ein paar Neugierige nur, an Zahl dem Aufgebot von Polizisten weit unterlegen, stehen bescheiden gegen die Gebüsche des Tiergartens gedrängt und bewundern Uniformen und Roben, Feldgraue, Verwundete an Stöcken und Krücken unter ihnen. Irgendwo in ihrem Kopfe flackert unbewußt der Gedanke, daß das Schicksal seine fürchterliche Frage gestellt hat und Antwort fordert, heute, jetzt, in dieser Stunde. Aber schon hat der Blick des Leutnants sie erfaßt, er runzelt die Stirn, und die Neugierigen beginnen zu wandern. An ihren Krücken und Stöcken humpeln sie in den Tiergarten hinein. Was aber ist das? Aus den Gebüschen des Parkes kriecht, wie ein Tier, das aus dem Dickicht kommt, an seinen kurzen Krückstöcken der Zitterer, jener Soldat, dessen Gesicht dicht über den Schmutz des Bodens schleift, und dessen gekrümmter, verstümmelter Körper von einem unaufhörlichen Zittern geschüttelt wird. Unbekümmert um die Kette von Schutzleuten kriecht er über den Fahrdamm -- sieht es nicht so aus, als ob er sich geradeswegs in den Reichstag begeben wolle? Gesetzt den Fall, der Wagen Seiner Exzellenz fahre in diesem Augenblick vor? Würde der hohe Herr durch den Anblick des Krüppels nicht unangenehm berührt werden, gestört in seinen Gedanken -- schon setzt sich ein Berittener in Bewegung. Plötzlich aber rücken sich die Berittenen im Sattel zurecht: lautlos rauscht eine vornehme Limousine heran. Ein kleiner, zierlicher Greis entsteigt der vornehmen Limousine, feierlich und säuberlich gekleidet, wie für den Katafalk. Er blinzelt in das grelle Sonnenlicht, als sei er eben seiner Gruft entstiegen, und trippelt hastig und geschäftig die Treppen empor, ein gütiges Lächeln auf seinem wächsernen Greisenantlitz. Weit öffnen sich die Türen. Kaum war der schmale, gebeugte Rücken des Greises in der Tür verschwunden, so fuhr die Limousine des Generals im Renntempo vor. Im Augenblick kletterte Schwerdtfeger auch schon von seinem Sitz, während der Motor noch donnerte. Voller Würde entstieg der General dem Wagen. Er sah frisch und verjüngt aus, das breite Gesicht leicht getötet, obwohl er in dieser Nacht nur einige Stunden geschlafen hatte, und nicht einmal ruhig geschlafen. Erst gegen drei Uhr war er von Doras Fest zurückgekehrt. Nachdenklich stieg er die Treppe empor. Die roten Aufschläge des offenen Mantels leuchteten, die Brust glitzerte von Ordenssternen. Er hatte keine Eile. Er wußte, daß diese ganze Reichstagssitzung nichts als eine Zeremonie war, die vor der Öffentlichkeit die nicht zu leugnende Tatsache der konstitutionellen Regierungsform betonen sollte. Er wußte auch, daß die Armeen da draußen schon bereitstanden, bereit zum Sprung, und nur auf das Signal des Telegraphen warteten. Morgen -- morgen . . . Vergebens suchte der Polizeileutnant einen Blick des hohen Offiziers zu erhaschen. »Vielleicht ist es die beste Lösung!« dachte der General, als er die dicken Läufer der Wandelhalle entlangschritt -- aber er dachte in diesem Augenblick nicht an die Armeen, die sich wie die Sturmflut vorwärts wälzen würden, sondern an die Nachricht, die man ihm kurz vor der Abfahrt telephonisch übermittelt hatte. Eine betrübliche Nachricht allerdings -- aber -- letzten Endes -- es ist Krieg, das darf man nicht vergessen. Tausende, Hunderttausende . . . Er hielt es für seine Pflicht, augenblicklich -- wenn auch in aller Kürze -- Dora schonend davon Mitteilung zu machen. Noch bestand ja Hoffnung, wenn auch geringe -- aber man bedenke: ein ganzer Stab von Offizieren, durch einen einzigen Volltreffer! Welch ungeheurer Verlust für das Regiment. Die Unterschrift, die noch ausstand, würde nun wohl überflüssig werden . . . Die Tribünen waren schon überfüllt, Kopf an Kopf. Ordenssterne, Uniformen aller Art. Das Rot des Generalstabes, die goldenen Tressen der Marine. Lächeln und Zuversicht auf den frischrasierten Gesichtern. Bekannte ringsum. Ein fettes Gesicht mit Elefantenohren grüßte. Es war, ja, richtig, dieser Professor Salomon -- der die Berechnungen für die Marine machte -- ja, also am Mangel an Grubenholz konnte das stolze England scheitern! Unbedeutende, kaum beachtete Dinge entschieden in der Geschichte über das Schicksal von Völkern und Jahrhunderten. Eine einstürzende Brücke, zum Beispiel, plötzlich aufkommender Sturm. Napoleon ging zugrunde, weil der russische Winter um vierzehn Tage zu früh einsetzte. Die bedeutungslose Zeremonie hatte bereits ihren Anfang genommen. Die Sozialisten hatten ein paar kurze, höchst unnötige Anfragen eingebracht, sie waren mit zwei Worten erledigt. »Und Dora?« dachte der General, bemüht, den Professor Salomon nicht zu sehen. »Wie wird sie die betrübliche Nachricht aufnehmen?« Langsam erinnerte er sich an die Begebenheiten dieser Nacht. Sie erschienen unwirklich, wie Fragmente von Träumen, die sich erst allmählich und widerstrebend zusammenfügen. Exzellenz schien seinen Ausführungen mit Interesse zu folgen. Es war bedauerlich, daß er in der Eile vergaß, über Belgien zu sprechen. Dann brannte es plötzlich -- wie? -- ein Vorhang. Wie leicht hätte ein Unglück geschehen können! In Doras Haus, wo es nichts als Vorhänge und Teppiche gab. Und dann -- dieser Unbekannte und Dora -- auf der Diele? Wer mochte dieser Unbekannte -- diese Mumie gewesen sein? Und dieser kleine Rittmeister, dieser Beduine, der so heftig schwitzte -- wie hieß er doch? -- was für merkwürdige Dinge hatte er ihm doch erzählt? Und weshalb? Der General forschte in seinem Gedächtnis . . . Plötzlich rieselte eine kalte Welle über seinen Körper. Irgendein Blick ruhte auf ihm. Er änderte die Haltung, strich mit den Fingern über den Schnurrbart, und ließ den Blick kalt und abwehrend über Tribünen und Köpfe streichen. Sonderbar, deutlich fühlte er, daß ihn jemand anstarrte . . . Die Minister saßen auf ihren Plätzen, gleichmütig, als seien sie an dieser Zeremonie die am wenigsten Beteiligten. Sie kritzelten mit den Bleistiften, tauschten scherzhafte Bemerkungen, betrachteten ihre Fingernägel. Der gütige Greis -- peinlich säuberlich gekleidet, wie für die Aufbahrung -- schien zu schlummern, ein friedevolles Lächeln auf dem Antlitz. Plötzlich aber hüstelte er in die durchsichtigen Kinderhände und erhob sich. Augenblicklich wurde es totenstill im Hause. Laut donnerte die furchtbare Frage des Schicksals . . . 2 Dora schlief zu dieser Stunde noch immer, Freude auf den heißen Wangen. Ein ganz wunderbarer Traum entzückte sie; sie befand sich mitten in einer Blumenschlacht in Monte Carlo oder Nizza, jedenfalls war es bezaubernd. Blumengeschmückte Wagen zogen aneinander vorüber, Blumen der herrlichsten Farben wirbelten gegen den tiefblauen Himmel und regneten in ihr Coupé herab. Sie saß neben einem alten, würdevollen Herrn, mit einem langen, weißen Spitzbart, den sie nie in ihrem Leben gesehen hatte. Merkwürdigerweise trug er eine orangefarbene Schärpe quer über der Brust, und alle Welt schien ihn mit Neugierde und Respekt zu betrachten. In einem kleinen, von zwei schneeweißen Ponys gezogenen Wagen saß ein Bekannter, der sie heftig mit Blumen bombardierte. Plötzlich erkannte sie ihn, es war Otto, sie sprang auf, rief: heute abend -- aber schon waren die Wagen aneinander vorüber. Otto verschwand in einem Regen von Blüten. »Aber Helene«, sagte der Herr mit dem weißen Spitzbart. So erfuhr sie, daß sie Helene hieß, es war höchst merkwürdig, und sie begann laut zu lachen. Das eigene Lachen weckte sie, und als sie die Augen aufschlug, regneten gerade noch die letzten Blumen und Blüten über sie herab. Sie war in köstlicher Laune, vergessen die Melancholie des grauenden Morgens. Sie klingelte. »Ich werde im Bad frühstücken.« Dora schlüpfte in die kleinen, seidenen Pantöffelchen, ließ sich den himmelblauen Bademantel um die Schultern legen, und begab sich pfeifend und trällernd, Butzi auf dem Arm, in das Badezimmer. Dieses Badezimmer war, wie schon erwähnt, ein kleines Treibhaus -- Blüten, Wärme, Düfte -- weich und schneeig fiel das Licht durch die Glasdecke. Neben dem Bassin stand ein kleiner Tisch mit dem Frühstück, den Zeitungen und der Post. Und Blumen, Billetts, eine Menge Aufmerksamkeiten -- das Tischchen war völlig bedeckt davon. Dora lachte vor Vergnügen. Wieder kam ihr die Blütenschlacht in den Sinn. Was für ein drolliger, alter Herr das war! Seine orangefarbene Schärpe, wie unendlich komisch! Gelungen war das Fest! Ganz Berlin würde darüber sprechen -- über die Tänzerin, etwas kühn, nicht wahr, und die beiden Neger -- ja, es kam nur darauf an, Einfälle zu haben! Eine Oase in dem grauen, schrecklichen Winter. Dank für das Fest! Alle dankten, alle waren glücklich gewesen -- ein paar Stunden. Eine drollige Liebeserklärung von Hauptmann Feuerwalze. Endlich hatte sie nach langer Zeit wieder fröhliche Menschen um sich gesehen, und so war es nun einmal: Dora konnte nicht leben ohne Freude. Aber -- sie schrak zusammen, indessen voll spitzbübischen Vergnügens -- wie leichtsinnig war sie doch gewesen! Der Sekt -- sollte es der Sekt gewesen sein --? Wie leicht hätte jemand sie beobachten können! Nichts aber liebte sie mehr als Abenteuer, aus einer Laune geboren -- eine Minute vorher wußte man noch nichts von ihnen, und oft eine Minute nachher nichts mehr davon. Und Doras Gedanken huschten blitzschnell über eine Reihe ähnlicher Abenteuer dahin, die sie nicht missen möchte in ihrer Erinnerung. Wunderbar -- und niemand, niemand . . . Nur einer, oder ein paar Vertraute -- Plötzlich aber griff Dora wieder zur Post. Es ging nicht an, allzu lange bei diesen Abenteuern zu verweilen. Ein Brief des Generals! Seht an! Doras Lippen kräuselten sich. Sie legte den Brief langsam zur Seite. Diese Schriftzüge jetzt, nein -- sie langweilten sie momentan, steif und anmaßend kamen sie ihr vor, später. Sie griff nach einem rosafarbenen Briefchen, das an einem Fliederstrauß befestigt war. Zu ihrer großen Überraschung war es ein drolliges Gedicht, die Huldigung einer lustigen Gesellschaft, die das Fest bei Ströbel beschlossen hatte. Dora lachte, daß das Treibhaus zu klingen begann. Ach, wie bezecht müssen sie gewesen sein --! Zu dieser Gesellschaft, die das komische Gedicht bei Ströbel verfaßt hatte, gehörte auch Hedi. Sie kam etwas nach zehn Uhr nach Hause, und gerade, als sie das silbergraue Schleierkostüm, das ganz in Stücke gegangen war, leider, abstreifte, erwachte Klara. Grelle Lichtzacken stachen durch die zusammengezogenen Vorhänge. »Ah, da bist du ja!« sagte Klara. Aber welche Betonung! Sie hatte die Schwester zuletzt in einem Kreis von händeklatschenden Vermummten gesehen, wo sie einen schamlosen Tanz aufführte, und es gab keine Worte, die ihre Verachtung ausdrücken konnten. »Ja, hier bin ich!« erwiderte Hedi mit einem sonderbaren, leisen Auflachen. Sie war sehr blaß, und ihre Augen flackerten unstet. »Wo warst du eigentlich?« fragte Klara, während sie neugierig und überrascht die Schwester beobachtete. »Ich?« Wieder lachte Hedi leise und heiter. »Du hast ja nicht gewartet. Bei Ströbel. Alle haben wir bei Ströbel Kaffee getrunken. Herrlichen Kaffee, Weißbrot, sogar Sahne!« »Ströbel? Wer ist Ströbel?« »Er besitzt eine Motorenfabrik und hat im Kriege Millionen verdient.« »So, und da also --?« »Und weißt du, wer den Kaffee gekocht hat?« fragte Hedi lachend. »Ich, zusammen mit Ströbel. Denn Ströbel hat keine Dienstboten im Hause, obschon er so reich ist -- um ungestört zu sein. Ja, also wir zwei haben den Kaffee gebraut -- und das Wasser wollte gar nicht kochen, hahaha! -- aber niemand fiel es auf.« »Was fiel niemand auf?« Hier brach Hedi in lautes Gelächter aus. »Was sagte ich? Nun -- niemand fiel es auf, daß es so lange dauerte, bis der Kaffee fertig wurde. Es war einfach schnurrig! Die ganze Gesellschaft trank Kognak aus Kaffeetassen. Wir haben alle Bruderschaft getrunken!« Hedi lachte, erzählte, summte, tänzelte, während sie abwechselnd durch Dämmerung und grelles Licht glitt. Bald flammte ihr Auge auf, bald ihr weizengelbes Haar, bald ihre bleiche Haut. Plötzlich stieß sie ein Glas vom Tisch, aber auch darüber mußte sie nur lachen. Voller Verachtung drehte Klara sich gegen die Wand. »Nun,« sagte Hedi triumphierend, »dieser Herr Ströbel ist nicht nur reich, sondern auch ein Gentleman. Und er ist verliebt in mich! Dich aber würde er wahrscheinlich gar nicht ansehen, kleine Braut.« Dies fügte Hedi ein, um Klara zu reizen. Aber Klara schwieg. »Ah, seht an, sie spielt die Hochmütige!« fuhr Hedi fort. »Nun, mein Liebling, es ist mir höchst einerlei, was du denkst. Du bist ja noch ein Kind, und was solltest du vom Leben wissen? Auch was Papa denkt, ja, siehst du, auch das ist mir höchst einerlei. Ich habe dir ja schon oft gesagt, daß ich dieses Leben hier satt habe, diese ewige Langeweile, und eure Rüben und Kartoffeln. Und dazu die ewige Kontrolle! Nein, mein Herz, nun mache ich Schluß. Hörst du mich, kleine Braut? Ja, natürlich hörst du mich, du tust ja nur so . . . ich werde euch verlassen . . .« »Ja, verlassen, man hat mir eine Sekretärsstelle angeboten, tausend Mark im Monat, bei völliger Bewegungsfreiheit -- ein kleines Bureau werde ich haben, und einen kleinen Empfangssalon -- du staunst, wie? -- und bei Ströbel selbst. Ich werde mir nun mein Leben so einrichten, wie es mir gefällt. Ich bin jung, ja Gott sei Dank, noch bin ich jung. Und du darfst mich besuchen, kleine Braut, und vielleicht schenke ich dir ein Paar seidene Strümpfe --« Ganz plötzlich schlief Hedi ein. Aber ihr Schlaf war unruhig, und immerfort lief ein Zittern über ihren Körper. Klara beobachtete sie. Was war geschehen? Labyrinthisch und voller Dunkelheiten erschien Klara plötzlich das Leben. -- -- Dora aber freute sich immer noch über das Gedicht, während sie das warme Bad genoß. Ihre Augen, ihre Zähne, Grübchen, ihre Schultern und Brüste, die ganze Dora strahlte vor Entzücken. Es war so leicht, ihr eine Freude zu machen. Sie wartete nur darauf. Behutsam legte sie das Gedicht zur Seite, um es aufzubewahren, in dem Schubfach, das angefüllt war mit ähnlichen Huldigungen. Ein Billett von Otto. Sie strich das volle Haar in den Nacken, las -- nur zwei Zeilen -- und zerriß es, in winzige Stückchen, die sie in die Aschenschale warf. Eine feine Röte flog über ihre Wangen. Dann trank sie ein Täßchen Kakao. Und dann griff sie nach dem Briefe des Generals. Seine Schrift begann zu zittern. Es war nicht mehr die frühere, starke Hand. Er begann langsam, ganz langsam zu altern, ja . . . Was sollte er ihr zu sagen haben? Nichts, gar nichts. Plötzlich aber saß Dora ganz still. Ihre glänzenden, roten Lippen standen offen, die Hand zitterte -- ihr schwindelte. Heute nacht . . . Heute nacht also . . . Heute nacht, während sie tanzte, während sie scherzte, während sie lachte. Vielleicht gerade in jenem Augenblick . . . Heute nacht -- die Tänzerin, die Neger, die Vermummten -- alles wirbelte vor ihren Augen. Und vielleicht gerade in jenem Augenblick . . . Sie schauerte zusammen. Wie betäubt hüllte sie sich in das Laken, den leeren Blick zu Boden gerichtet. Vielleicht war er schon tot -- Ihre glänzenden Augen, von dem seltenen intensiven Blau, füllten sich langsam mit Tränen. Aber trotz allem haßte sie ihn, auch jetzt! Sie konnte es ihm nie verzeihen, daß er sie schon am ersten Tage betrogen hatte, alles andere. Immerhin, ein Mann, der ihr einmal nahestand. Der einzige Mann, der nie sentimental war und nie eifersüchtig wurde. Der einzige, der nicht flehte und nach ihr bettelte. Nein, bei Gott, das tat er nicht. Der spöttische Blick seiner kalten, scharfen Augen stand vor ihr. Hoffentlich litt er nicht, nein, nein, was auch geschehen war, diesen Gedanken konnte sie nicht ertragen. Trotzdem sie ihn gerade in diesem Augenblick bitter haßte -- leiden sollte er nicht! Und doch, ein abscheuliches, verruchtes Gefühl triumphierte in ihr, ganz wider ihren Willen: also auch dich hat es gepackt! Auch dich hat die Granate zerrissen! Ja, diesen furchtbaren Gedanken dachte Dora. Sie stieß das Fenster auf: ein Morgen von ungeahnter Herrlichkeit strahlte. Dann klingelte sie eilig der Zofe. 3 »Und nun los, Heinz!« Hauptmann Wunderlich schwang sich an den Krücken über den Flugplatz. Gerötete Gesichter und rote Hände im Sonnenschein. Augenblicklich verschlang das Dröhnen des Motors den Lärm der Geschütze, und schon eilte die Maschine über den Rasen, dem herrlichen Morgen entgegen. Der Flugplatz mit den Hangars schwang in weitem Pendelschlag unter der linken Flügelspitze, eine Idee schräg lag die kleine Maschine, kaum zu merken, ganz wie gestern. Meerheims Maschine, der einige Minuten früher abflog, blitzt zuweilen wie ein Funke im Süden. Schon hat der Motor die volle Tourenzahl erreicht, unmerklich drückt der Boden des Flugzeugs gegen die Fußsohlen. Die kleine, kugelrunde Wolke des rasenden Autos da unten auf der schneeweißen Landstraße wird langsamer und langsamer, nun steht sie still, und nun scheint sie sich plötzlich rückwärts zu bewegen. Heinz zog die Mütze tiefer über die Stirn. Er berührte mit den Fingern den Talisman auf seiner Brust. Nun war er unterwegs. Die Farben der Erde fließen ineinander. Geschliffene Achate, Felder und Wälder, der Weiher eine winzige Muschel aus Perlmutter, die zuweilen ein Gefunkel aussendet. Samtweich schlingen sich helle Bänder zwischen den Achatflächen, Wege und Straßen. Die Landschaft aber, dieser zarte Teppich da unten, ist vulkanisch. Allerorts steigen ununterbrochen kleine, verwehende Dampfwolken empor, wie aus Geisern, oft vereinzelt, oft in Gruppen, milchigweiß, graugelb und schwarz. An einer Kurve drängen sie sich dicht zusammen, wie schnellwachsende Dampfpilze paffen sie ohne Pause auf -- das sind die Gräben. Merkt er etwas? Morgen, morgen, geht das Gerücht! Heinz jauchzt vor Freude. Es wird zu tun geben! Da und dort stehen in der Bläue des Himmels Gruppen dichtgedrängter Lämmerwölkchen, aus denen Messer blitzen, Schwärme von Schrapnells, die den Flugzeugen gelten. Von unendlicher Schwärze, blitzend von Myriaden feinster Silberfunken, wölbt sich hoch oben der Äther. In dreitausend Meter Höhe flog Heinz seinen Abschnitt auf und ab. Meerheim patrouillierte im Nachbarabschnitt. Zuweilen sah Heinz seine Maschine, wenn sie sich der gegenseitigen Grenze näherten. Hier oben war die Front kaum noch zu sehen, leichter Dunst lag auf der Erde, nur zuweilen warf der Gürtel der Geiser eine Gruppe schwarzer Rauchwolken aus. Am Horizont ringsum blitzten die Messer der feindlichen und deutschen Batterien. In der großen Weite war kein Flugzeug zu sehen, nur nach Westen zu entdeckte Heinz eine Gruppe von Maschinen, die aber bald verschwand. Dort schienen feindliche Flieger zu sein, und er wünschte nichts sehnlicher, als daß sie hierher in seinen Abschnitt kämen. Er glühte vor Kampfbegierde! Aber nichts ließ sich sehen, so sehr er auch ausspähte, keine Seele. Mächtige weiße Wolkenmassen zogen unter ihm dahin. Zuweilen ließ er die Maschine sinken, und dann wuchs ein schimmerndes Schneegebirge rasch zu ihm empor. Türme von Schnee brodelten ihm entgegen, Kuppen von Schnee wölbten sich, und der Schatten seiner Maschine jagte über glitzernde Gletscher. Heinz begann zu singen. Wie eine Lerche trillerte er im Äther. Er mußte sein Glück hinausrufen. Laut und inbrünstig hingegeben sang er: »Deutschland, Deutschland über alles.« Er sang sämtliche Strophen des Liedes, das ihn schon in der Schule berauscht hatte. Deutlich hörte er zuweilen aus dem Röhren und Brausen des Motors seinen hellen Tenor. Dann sang er die »Vöglein im Walde«. Nie hatte er eine seligere Stunde erlebt. Wie häufig, erschien plötzlich deutlich und scharf Klaras Bild vor seinen Augen. Seligkeit wäre es, könnte er nur einmal mit ihr durch den Äther dahinjagen! Nie würde er imstande sein, ihr dieses Glück zu schildern. Ja, heute, heute -- vielleicht würde es ihm endlich heute gelingen, einen Gegner zu stellen! Oh nein, er zweifelte nicht eine Sekunde daran, als Sieger aus diesem Zweikampf hervorzugehen. Er war entschlossen, er war kühn, er fürchtete keine Gefahr, und er war beseligt von heißester Liebe für sein Vaterland. Wie sollte er da nicht der Überlegene sein? Dort? Dort? Schon jagte er hin -- Oft rückten die Schrapnellwolken der Abwehrgeschütze ganz nahe, aber zu seinem Schmerz entfernten sie sich stets wieder. Es war sein persönliches Pech, daß niemand seinen Abschnitt aufsuchte. Allzu schnell war seine Zeit abgelaufen. Wieder vergebens! Mit der Sekunde wandte Heinz die Maschine nach Hause. Er stürzte sich mitten in eine der schimmernden Wolken hinein, glitt für Sekunden durch Düsternis und kalten Nebel, um gleich darauf wiederum von Helligkeit geblendet zu werden. Wieder lag da unten der schimmernde, bunte, freundliche Teppich, und Heinz nahm den Kurs auf eine weiße Kirchturmspitze am Horizont. Was aber gibt es? Was ist geschehen? Plötzlich schwankt die Maschine, sie flattert hin und her. Mächtig pendeln die Flügel. Heinz hat sich in namenlosem Erstaunen aufgerichtet. Die Maschine stürzt . . . Aber hinter der stürzenden Maschine her jagt wie ein riesiger Raubvogel ein Flugzeug mit Farbringen auf den Tragdecken. Senkrecht stürzt es sich in die Tiefe, dem Opfer nach. Der Pilot, in seiner Vermummung anzusehen wie ein furchtbarer Dämon, beugt sich über Bord, um die stürzende Maschine des Gegners auf die Platte seines photographischen Apparates zu bringen. Wie eine Motte flattert der deutsche Eindecker da unten, und plötzlich löst sich etwas wie ein Gegenstand, ein Körper -- verschwindet rasch, wie ein Punkt in der Tiefe. Schon blitzen Messer auf am Waldrand, und der Raubvogel rauscht in die Wolke zurück. -- Als Hauptmann Wunderlich die Nachricht hörte, zerriß er sich mit den Nägeln das Gesicht und schrie: »Ich ertrage es nicht mehr, ich kann nicht mehr!« 4 Immer noch sprach der freundliche Greis -- mit leiser, feierlicher Stimme. Und immer noch verharrte das Haus in Totenstille. Der kleine gütige Greis sagte Ja, und er sagte Nein. Er sagte Sofort und sagte Niemals. Vorsichtig und sorgfältig fügte er Wort an Wort zu kunstvollen Sätzen. Zuweilen huschte sogar etwas wie rethorischer Glanz über seine Rede, ein Glanz wie er über Reliquien in den Kathedralen liegt. Die Erregung hat seine Greisenbäckchen gerötet wie die Bäckchen eines Kindes. Er war nicht abgeneigt, Zugeständnisse zu machen, das heißt nicht eigentliche Zugeständnisse, es wäre ihm natürlich unmöglich, irgendwie und in irgendeiner Form auch nur das geringste . . . Er versicherte heilig seine Friedensgeneigtheit, ja, jeden Tag würde er Frieden schließen, aber natürlich, er bittet, nicht mißverstanden zu werden -- er war entschlossen, fürchterlich entschlossen . . . Und er schwingt die kleine hilflose Greisenfaust durch die Luft. So entschlossen war er. Ja, entschlossen . . . Der General setzte den Kneifer auf und warf den Kopf in die Höhe. Vor ihm glänzte die bedeutsame Glatze eines Admirals, neben ihm schimmerte nichtssagend das dünne gebürstete Haar eines Diplomaten. Die Tribünen gegenüber lagen im Halbschatten. Kopf an Kopf, eine gesichtähnliche Nichtigkeit neben der anderen. Und doch . . . Er fühlte sich unbehaglich -- früher war er ähnlichen Einflüssen überhaupt nicht zugänglich gewesen, indessen der Krieg -- die Überarbeitung . . . Da! Ein glänzendes, bleiches Gesicht unter all den matten Nichtigkeiten, und ein paar Augen voller Schrecken und Entsetzen auf ihn gerichtet. Vielleicht nicht auf ihn, eigentlich mehr auf den kleinen Greis, dessen Kinnlade sich ruckartig bewegte. Der General hatte das Gesicht schon irgendwo gesehen, vermochte sich indessen im Moment nicht zu entsinnen. Es war nicht Schrecken, es war Grauen, das von dem glänzenden, bleichen Gesicht mit den schwarzen rasenden Augen ausging. Dieses Grauen lähmte die Zunge des sprechenden Greises, lähmte seine Bewegungen. Sein erhobener Arm sank plötzlich herab, er schöpfte Atem, hastig, seine schmalen Schultern schoben sich in die Höhe -- er beugte sich tiefer über das Manuskript und stotterte. Das bleiche phosphoreszierende Gesicht aber wuchs in die Höhe -- schon fiel es allenthalben auf. Der Diplomat mit den dünnen, säuberlich gebürsteten Haaren blinzelte beunruhigt und runzelte die Stirn. Die dünne feierliche Stimme des Greises erschallte wieder. Die kleine eigensinnige Greisenfaust schlägt auf den Tisch, und eigensinnig wiederholt die tonlose und feine Stimme Ja und Nein, Niemals und Sofort. Nun sind es keine Worte mehr, nun sind es nur noch Laute, nur noch Luftwellen . . . Nein, nein, nicht ein Greis sprach -- Deutlich sah Ackermann, daß dieser Greis eine Leiche war, die redete! Die Tribünen standen voller Leichen in den Uniformen von Generalen und Admiralen, mit Orden und Tand behängt, die Abgeordneten waren Leichen, die still dasaßen, die Stenographen, der greise Präsident, der den Kopf in die Hand stützte. Leichen, ein Parlament von Leichen. Und die Sonne umspielte sie. Die lebendige Stimme Gottes rief und donnerte, aber sie hörten sie nicht. Da aber begannen die Leichen zu erbeben wie Schilf im Wind. Ein Sturmwind brauste durch das Haus. Die Leichen sanken zusammen, vermodert sanken Uniformen und glitzernde Ordenssterne dahin. Gesang . . . In der Ferne ertönte ein Schritt, der dröhnende Schritt von Hunderttausenden, Millionen -- Gesang fliegt vor ihnen her. Und dieser Gesang ist der Sturmwind -- Da berührte jemand seinen Arm, eine knöcherne harte Hand, und eine trockene Stimme sagte: »Sie dürfen sich nicht so über die Brüstung legen.« Ackermann befand sich wieder auf der kleinen Tribüne, wo zusammengedrängt das Volk sitzt, das keine reservierten Plätze vorfindet. Er war nahe daran gewesen, eine seiner Ohnmachten zu bekommen. Im selben Augenblick wurde applaudiert. Die Ordenssterne und Uniformen rauschten durcheinander. Der freundliche Greis setzte sich und träumte wieder von seinem Sarg, aus dem man ihn aufgescheucht hatte. Die Abgeordneten betraten nacheinander die Rednertribüne. Worte und Gesten. Schon ist die Zeremonie zu Ende. Die Tribünen beginnen sich zu leeren. Aber halt! Hier ist noch einer, der etwas zu sagen hat. Er hat die furchtbare Frage des Schicksals vernommen, das Antwort fordert. Er will zur Tribüne stürmen. Aber die Fettnacken und wehenden Bärte halten ihn zurück, die Rechtsanwälte und selbst die vom Hunger Ausgemergelten. Selbst sie! Die Journalisten auf ihrer Tribüne schütten sich vor Lachen. Flammend steht er, der einzige, zornrot, mit weißen Haaren. Seine rasende Stimme erstirbt im Lärm. Schon sind die Tribünen leer. -- -- Die Pulse fliegen. Die Lider peitschen die Augen, das Blut donnert in den Ohren, und die Glieder schwingen. Die Erde hebt sich, bald wird sie zerreißen -- Rauch, Feuer! Genug, genug! »Genug und vorbei!« Das blaue Himmelsgewölbe splittert, Finsternis. Das Rad der Geschichte vollendet krachend seine Umdrehung, es wälzt sich heran, zermalmend -- Staub, Rauch . . . * * * * * Uniformen und Roben fluten die Treppe hinab in den herrlichen Tag. Ganz wie nach einem Pferderennen von den Tribünen. Die Rechtsanwälte schießen hindurch, mit ihren Mappen, sie haben es immer eilig. Eingläser funkeln, das Lächeln blitzt auf den Lippen einer schönen Dame. Sporen klirren und Säbel rasseln. Wagen fahren heran, die Automobile qualmen. Lautlos huscht die Limousine des kleinen freundlichen Greises am Wall der Schutzleute vorbei. Schwerdtfeger hat seinen hohen Chef oben auf der Treppe erspäht und den Wagen herangebracht, ohne die geringste Rücksicht zu nehmen. Er kennt nichts als seinen Dienst. Der General braucht nur irgendwo aus einem Hause zu treten und über den Bürgersteig zu gehen, immer steht Schwerdtfeger bereit. Der General muß nur den Fuß heben, das ist alles. Aber er hat sich nie Gedanken darüber gemacht. Oben auf der Treppe sprach der General einen Bekannten mit hohen Orden. Er drückte seine Befriedigung über den Verlauf der Zeremonie aus -- die Rede, prachtvoll -- und der Bekannte seinerseits versicherte, daß die Rede in der Tat eine staatsmännische Leistung ersten Ranges war. Nun stieg der General die Treppe hinab. Die Lackstiefel eines Husaren blitzten vor ihm. Ein schmaler, eleganter Rücken, ein vornehmes Profil, ein rascher, kühner Blick aus schönen, klaren Augen -- der Husar weicht zur Seite und grüßt. »Ah -- gut bekommen?« Ja, wie hieß er doch nur? Leutselig schüttelt der General dem Husaren die Hand. »Danke, Euer Exzellenz!« »Ein netter Abend -- hm, etwas spät . . . wir haben ja -- Sie haben mir ja von interessanten Dingen erzählt --?« Der Husar blieb indessen völlig kühl und korrekt. Erstens war er kein Beduine mehr, sondern Husar, zweitens war er, mit Respekt zu melden, heute nacht völlig bekneipt, und als er aufwachte, fiel ihm (als erstes) voller Schrecken ein, daß er Dummheiten geschwätzt und sich beinahe auf Gott weiß welche Geschichten eingelassen hätte -- drittens war man nicht mehr auf einem Ball, sondern im Dienst, und es wimmelte ringsum von Würdenträgern und Exzellenzen. Er blieb also kühl, korrekt, entschlossen, sich auch durch nichts bewegen zu lassen. Seine schönen klaren Augen strahlten Offenheit. »Leider vermochte ich nicht mit ganzer Aufmerksamkeit zu folgen -- es war plötzlich so heiß geworden -- und dann brannte noch dieser Vorhang.« Aber der Husar blieb zurückhaltend, entgegnete ein paar nichtssagende Redensarten. Er errötete sogar. Schwerdtfeger warf den Wagenschlag ins Schloß, und der General erwachte erst aus seinen tiefen Gedanken, als die grelle Sonne in seinem Arbeitssaal ihn blendete. Er zog die blauen Vorhänge zu, das Licht schmerzte seine Augen, jetzt erst machte sich der kurze Schlaf bemerkbar. »Trotzdem -- trotzdem --« murmelte der General vor sich hin. Mehr und mehr verfiel er der Gewohnheit, seine Gedanken laut zu äußern. »Trotzdem -- ja, er wich aus -- nun, gewiß er ist ein Mann von größter Selbstkontrolle, ohne Zweifel. Aber er errötete etwas. Weshalb?« »Oder errötete er nicht?« »Vielleicht habe ich mich getäuscht, aber es sah tatsächlich aus, als ob er errötete.« »Aber was, was hat er mir erzählt? Ja, wie ärgerlich, daß gerade diese Sache mit Dora -- --« »Aber weshalb erzählte er es mir?« »Wie? Wie? Sogar Angehörige der besten Gesellschaft -- und . . .« »Deutlich erinnere ich mich -- trotzdem . . .« Der General starrte vor sich hin -- das Blut wich langsam aus seinem breiten Gesicht. Plötzlich schüttelte er den Kopf. Welch absurder Gedanke! Er berührte die Klingel. Weißbach erschien, und der General berichtete kurz über die Reichstagssitzung -- ein Zeichen des größten Vertrauens und Wohlwollens, das Weißbach, trotzdem er noch in Alkohol kochte, er war bis neun Uhr bei Ströbel gewesen, zu würdigen wußte. »Sollten Sie Näheres über Hauptmann v. Dönhoff erfahren --?« »Jawohl, Herr General!« Weißbach zog sich zurück. Der General war ihm grün erschienen, leichengrün -- die Beleuchtung natürlich, oder auch sein Zustand. Er trank wenig, aber er konnte nichts mehr vertragen, seit er in Rußland seinen Nervenchok erlitt. Damals waren sie alle verbrannt, durch einen Volltreffer, der den Unterstand in Flammen setzte -- nur durch einen Zufall war er gerettet worden. Er wußte selbst nicht wie, er hatte es auch nie begriffen. Sobald Weißbach den Saal verlassen hatte, ging der General zum Telephon und verlangte eine bestimmte Verbindung. Erst nach geraumer Zeit ließ sich jemand hören. »Ich hatte doch gebeten« -- begann der General ungnädig -- »mich umgehend informieren zu wollen -- bereits acht Tage -- wie, bitte --?« 5 Ackermanns Blick fieberte durch die wimmelnden Uniformen und abrollenden Wagen. Verzweiflung schüttelte ihn. »Dieses Parlament, welche Schmach! Der Fluch des Volkes wird die Schmachbedeckten treffen -- einst, einst --!« Er sah die hohen Offiziere nicht, nicht die Generale mit ihren roten Aufschlägen, nicht die Admirale mit den goldenen Tressen. Und niemand beachtete ihn in seinem abgeschabten weiten Mantel, von Entbehrungen und Qualen erschöpft -- ein einfacher Soldat, einer von den Millionen, die niemand sieht. Auf dem Straßendamm stand mitten im Qualm der Autos ein Berittener, regungslos wie eine Statue. Mit furchtbarem Ernst saß er im Sattel, quittengelb, mit spitzer Nase, eingefallenen Wangen und violetten Augenhöhlen. Eine berittene Leiche hielt vor dem Parlamentsgebäude Wache, im Sattel verhungert, aber sie tat ihre Pflicht. Plötzlich drehten sich die starren Metallkugeln in den violetten Höhlen, die Haut des quittengelben Gesichts straffte sich, der rostrote Schnurrbart zuckte. Er hatte Ackermann entdeckt, und eine argwöhnische, drohende Falte spaltete die armselige Stirn. Das Gesicht dieses gemeinen Soldaten war das Gesicht eines Mannes, der geheime Gedanken hegte, Gedanken ganz besonderer Art, unzufriedene Gedanken. Er kannte diese Gesichter vom Kasernenhof her und hatte sie vernichtet, wo er sie fand, bis sie aussahen wie andere. Schon drängte er sein Pferd näher, und sein Blick wurde messerscharf und unbarmherzig. Er war aus der kaiserlichen Schule, auf den Mann dressiert. In diesem Augenblick aber ging Ackermann wie ein Schlafwandler mitten durch die Uniformen und Wagen hindurch, schnurgerade über den Fahrdamm -- ohne angestoßen, berührt, überfahren zu werden, sonderbar. »Es ist Zeit!« flüsterte er. »Es ist Zeit!« »Es ist höchste Zeit!« Er eilte. Ihr Jungen, Wollenden, Wagemutigen, die Stunde schlägt! Ihr Sehnsüchtigen, Verzweifelten, Zielerfüllten, ihr Hassenden, Liebenden, Gesegneten, Boten und Verkünder des Menschenreiches -- auf, auf, die Stunde ist da! Zögert nicht länger, ihr Gesandten mit den menschlichen Antlitzen! Böse folgte der Blick des Berittenen dem grauen Soldatenmantel, der rasch zwischen den Bäumen verschwand. * * * * * Und schon -- ja schon rüsten sie sich zum Aufbruch, die Läufer, die ihrer Zeit vorauseilen! Schon baden sie das Antlitz im Lichte einer neuen Sonne, die heraufsteigt. Schon erheben sie sich von den elenden Pritschen der Gefängnisse -- sie werden durch hundertfach geschlossene Tore gehen wie durch Luft, keine Angst. Schon hebt sich ihre leuchtende Wimper in den Kasernenhöfen Europas -- und sie werden das triumphierende Wort aussprechen, und die Kugeln werden von ihnen abprallen, keine Angst. Schon beten sie ihr Morgengebet bei den Kanonen, in den Erdlöchern der europäischen Schlachtfelder -- sie werden die Kanonen zerbrechen, als ob sie Schilf wären, keine Angst. Schon wird ihr Schlaf in den Massengräbern Europas unruhig, schon hebt sich ihr Auge, sie werden auferstehen, stärker als der Tod, keine Angst. Schon kommen sie, schon sammeln sie sich, in ganz Europa, sie, die Brüder sind und sich erkennen am Glanz des Antlitzes. Schon ertönen ihre Stimmen, da und dort, in ganz Europa, in der ganzen Welt! Sie kommen! Kommen sie? Kommen sie wirklich? Ja, sie kommen! Horch! Schon wandert ihr Schritt im Tagesgrauen. Und die Finsternis wird ein Ende haben? Die Finsternis, die schreckliche, wird ein Ende haben. Schon rötet sich der Himmel im Osten. Sie bringen das Licht. Sie kommen, und sie werden dahinschreiten, und das Paradies wird unter ihren Schritten erblühen. Ihr Feldzeichen aber ist nicht rot, nicht blau, ihr Feldzeichen ist die Liebe. 6 »Unbegreiflich!'« rief Herr Herbst aus und warf die kleinen Hände voller Erstaunen in die Luft. »Was ein Mensch doch träumen kann! Also, Berlin nichts als -- Schutt, nur Schutt, sagen Sie?« Eingehüllt in den langen rostfarbenen Havelock, den steifen Hut auf den Ohren, saß Herr Herbst im halbdunkeln Gastzimmer des »Löwen von Antwerpen«. Eine große, sofort in die Augen springende Veränderung war mit ihm vorgegangen: er trug keinen Kragen mehr! Denn früher hatte er ja einen niedrigen, wenn auch nie ganz reinen Kragen und eine kleine schwarze Binde getragen. Wer sie kennt, die Trinker, weiß, was es zu bedeuten hat -- keinen Kragen mehr! Ihm gegenüber saß der scheue, stille, bucklige Wirt, Herr Glienicke, zwischen ihnen stand die Flasche. Herr Glienicke räusperte sich krächzend, dann erwiderte er scheu flüsternd: »Ja, nichts als Schutt, ein Haufen Schutt, das ganze Berlin. Wie soll ich sagen -- eine Ruine. Und Raben --« »Raben?« Schauer jagten über den Rücken des kleinen Herrn Herbst. »Der Himmel war schwarz von ihnen. Sie flogen auf, wohin man kam -- wie Wolken. Hm, und auch Leichen lagen da und dort, streckten die Hände aus dem Schutt, blaue Hände.« »Was für ein entsetzlicher Traum! Und keine Menschen mehr, sagen Sie?« »Keine Menschen, nein. Nur Raben, alles war schwarz von ihnen. In ganz Berlin keine lebende Seele mehr. Nur Schutt und verkohlte Balken. Da und dort stand zwischen den Schutthaufen noch ein verlassenes Geschütz. Aber keine Menschen.« »Ah, ah -- entsetzlich!« »Und dann begann es zu schneien --« »Guten Tag!« sagte in diesem Augenblick eine helle, nüchterne, aber bescheidene Stimme, und die beiden fuhren auf. Ein schmächtiger, junger Mann war ins Zimmer getreten. Der schmächtige, junge Mann näherte sich, den Hut in der Hand, dem Tisch und verbeugte sich leicht und steif. »Ich bitte um Verzeihung! Herr Herbst?« Zitternd erhob sich der Havelock. Ja, weshalb in aller Welt zitterte er? Es war nicht nur diese helle, nüchterne Stimme, nein -- jemand kannte ihn, ihn, seinen Namen . . . »Ich habe mit Ihnen zu sprechen«, sagte die gleiche Stimme, aber um eine Schattierung weniger bescheiden. »Sprechen? Gewiß --« »Nicht hier, bitte -- in besonderer Angelegenheit --« Und die beiden verließen das Gastzimmer. Die Eulenaugen des Buckligen sahen ihnen nach. Herr Glienicke hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Diese Stimme, unverkennbar: die Polizei! »Bitte!« sagte der schmächtige junge Mann und lenkte den Schritt die Fabriciusstraße hinab. Mit etwas eingeknickten Knien schlürfte Herr Herbst neben ihm her. Er verging vor Angst, erfüllt von den schlimmsten Ahnungen. Wie immer spielten die Kinder auf der staubigen, zugigen Straße, aber heute wagten sie sich nicht an ihn heran, da er in Begleitung war. Mit hohem Singsang schritten sie im Reigen um ein Mädchen, das auf dem Pflaster kauerte und einen Lumpen über den Kopf gezogen hatte. Ein schwarzer Hund mit kurzem Schwanzstumpen trippelte mit den Kindern ebenfalls im Kreise. Nur seiner erschreckenden Magerkeit verdankte er es, daß er noch lebte. Denn hier außen gab es weit und breit weder Hunde noch Katzen mehr, alles verzehrt, längst eine Beute der Professionells. Hohläugig und wächsern erschienen die Kinder wie tanzende, in Lumpen gehüllte Leichen, die aus den Gräbern eines Kinderfriedhofs gestiegen waren, um hier zu spielen. Ihre Mütter arbeiteten irgendwo in den Munitionsfabriken, die Väter faulten längst in den Massengräbern. Und da war auch schon wieder jener Wagen mit dem schmutzigen Schimmel, den ein bleiches abgezehrtes zwölfjähriges Mädchen kutschierte. Jeden Tag kam er hierher in diese Straße, und kam er nicht gerade in die Fabriciusstraße, so sah man ihn sicher dort an der Ecke warten. Heute lagen nur zwei Kindersärge darauf, aber soeben brachte ein Mann einen neuen Kindersarg aus dem Hause und warf ihn wie eine Kiste mit Flaschen auf den Wagen. Jeden Tag, und doch gab es noch immer Kinder hier! Die tanzenden kleinen Toten aber beachteten den vorüberfahrenden Wagen mit den Särgen nicht. Sie schoben den Reigen nur etwas zur Seite und sangen weiter. Endlich brach der schmächtige junge Mann das Schweigen. Mit einem nicht unfreundlichen Lächeln wandte er sich an Herrn Herbst. »Sie wissen wohl, daß die große Offensive heute begonnen hat?« sagte er im Tone eines Menschen, der ein Gespräch beginnen will. »Tausende von Gefangenen --« »Tausende -- so, so --« stammelte Herr Herbst verwirrt. »Ja, am ersten Tage!« Aber das Gespräch kam nicht in Gang. So also ging es nicht. Der schmächtige junge Mann polierte den Kneifer, lächelte Herrn Herbst mit kurzsichtigen Augen an, und begann von neuem in etwas kühlerem, geschäftlichem Tone: »Sie kennen mich nicht, Herr Herbst?« »Wirklich nicht? Und Sie haben mich auch nie gesehen? Trotzdem gingen Sie sofort mit mir, seht an. Ein neuer Beweis, daß es unleugbare Kräfte gibt, die Macht über die Menschen verleihen, magnetische und hypnotische Kräfte. Seit acht Tagen, seit vollen acht Tagen folge ich Ihnen wie ein Schatten, mein verehrter Herr Herbst. Sie staunen? Sie sehen, man muß es nur geschickt anstellen. Vor einigen Tagen aß ich sogar mit Ihnen am gleichen Tisch in der Dorotheenstraße. Und am Schluß der Reichstagssitzung stand ich dicht neben Ihnen, als Sie den hohen Offizier grüßten --« Herr Herbst zuckte zusammen. Ah, ah -- er hatte es ja augenblicklich gefühlt! Seine Ahnungen! Die Polizei war ihm auf den Fersen, die Geheimpolizei. Der General hatte sie auf seine Spur gesetzt, und nun war er -- verloren! Ja, dieser General, natürlich, er wollte seine Macht zeigen, er hatte ihm jenes furchtbare Wort entgegengeschleudert, belästigte ihn . . . »Ich hatte, mit einem Wort, den Auftrag, mich mit Ihrer Persönlichkeit zu beschäftigen.« »Ich weiß es.« »Sie wissen es?« »Ich dachte es mir! Einen Augenblick.« Herr Herbst wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ja, also den Auftrag«, fuhr der junge Mann geschwätzig fort. »Ich kenne nunmehr all Ihre Gewohnheiten, Ihre etwas sonderbaren und keineswegs alltäglichen Gewohnheiten. Es bedurfte eines psychologisch geschulten Blickes, um nicht verwirrt zu werden, ich gestehe es offen zu. Nunmehr sind meine -- Sie verzeihen -- Beobachtungen abgeschlossen, bis auf einen großen dunkeln Punkt. Aber auch das wird sich finden. Ich hielt die Zeit für gekommen, in persönliche Verbindung zu Ihnen zu treten. Sie gestatten, mein Name ist Kunze.« Der junge schmächtige Mann nahm den grasgrünen Plüschhut ab und machte eine gemessene, steife Verbeugung. »Angenehm!« schlürfte Herr Herbst und erwiderte mit einem Kratzfuß. Ängstlich und mißtrauisch hefteten sich seine entzündeten Augen auf den blinkenden Kneifer. Nichts Gutes, jedenfalls nichts Gutes! Der schmächtige junge Mann, der sich Kunze nannte, war ärmlich, aber peinlich sauber gekleidet. Sein dünner Überzieher, bis oben zugeknöpft, war abgewetzt, aber man sah noch die Striche der Bürste. Seine geflickten Stiefel waren glänzend gewichst. Er trug dünne Zwirnhandschuhe, nur seine Manschetten, sie waren etwas grau geworden. Er war semmelblond, das semmelblonde Schnurrbärtchen haarscharf zugespitzt. Die Augen hinter den Gläsern erschienen matt, ausdruckslos und sogar dumm. Unter dem Arm trug er eine dünne lederne Aktenmappe. Wie alle Menschen sah er schlecht genährt aus, und sein Teint hatte eine unreine, grünlich fahle Färbung. »Hoffen wir es, daß meine Bekanntschaft für Sie angenehm sein wird«, nahm Kunze nach dem beendeten Zeremoniell der Vorstellung wieder das Wort, und er lachte leise dabei. »Für manch einen, für viele war meine Bekanntschaft -- meine Bekanntschaft wenig angenehm, ähä, ähä! Ja, wenig angenehm! Nun, nun, Sie haben nicht die geringste Ursache, sich zu beunruhigen, ich betonte schon, daß ich mich durch Ihre sonderbaren Gewohnheiten nicht verwirren ließ. -- Einen Augenblick, lassen wir diese Elektrische vorbei -- so. Sie haben sich also vor geraumer Zeit an unsere Organisation gewandt --« »Ich nenne unsere Dienststelle so. Ihr Eingang wurde, wie alle derartigen Eingänge, unserer Organisation automatisch zugeleitet. Sie haben, unter anderem, schwere Verdächtigungen erhoben gegen hochgestellte Persönlichkeiten, oder besser gesagt, gegen Angehörige hochgestellter Persönlichkeiten, so daß eine ganz besonders sorgfältige Bearbeitung der Angelegenheit notwendig wurde. Aus diesem Grunde hat mein Chef mich beauftragt.« Herr Herbst atmete auf. Also nicht der General -- es war diese andere Sache --! Aber schon überzog wieder kalter Schweiß seine Stirn. Welch gefährlicher Lage hatte er sich doch ausgesetzt! Und weshalb? Unerklärlich alles. Im Rausch, in völliger Bezechtheit, hatte er diese zwei Briefbogen vollgeschrieben. Zu spät. Seine Beine zitterten. Er hatte Mühe mitzukommen. »Wohin --?« stammelte er. Kunze hielt den Schritt an und lächelte. Er hatte kleine, schlecht gepflegte Zähne. »Sie können es sich nicht denken?« fragte er mit schräg geneigtem Kopf. »Wie sollte ich --?« »In Ihre zweite Wohnung!« »Wie --??« »In Ihre zweite Wohnung!« »Wie --?!« Herr Herbst griff mit beiden Händen nach dem steifen Hut -- taumelte zurück und entfloh . . . »Aber so warten Sie doch! Wie sieht das aus, wenn wir hier einander nachlaufen. Warten Sie doch! Aber ich muß doch bitten . . .« Mit ein paar langen Sätzen lief Kunze hinter dem davoneilenden Havelock her. Im Nu hatte er ihn wieder eingeholt. Er klemmte den Kneifer auf die Nase, keuchte -- seine Lunge war nicht ganz in Ordnung -- und lachte belustigt und nachsichtig. »Nun, sehen Sie, es hat keinen Sinn. Aber weshalb erschraken Sie nur so?« »Ich -- ich . . .« »Sie sind ja jetzt noch kreidebleich! Nun, nun, Ihre Nerven sind in einem heillosen Zustand, Herr Herbst, einem bösen, bösen Zustand, ei, ei! Und doch wollen wir nur in Ihre Wohnung in der Blücherstraße gehen. Ich sagte Ihnen ja -- nur noch ein einziger großer dunkler Punkt -- he, Kutscher!« Kunze winkte geschäftig eine Droschke heran. »Blücherstraße!« Herr Herbst hob abwehrend die Hände. »Nein, nein -- unmöglich, ganz unmöglich!« stotterte er hilflos. Aber der schmächtige junge Mann stampfte plötzlich ärgerlich auf den Boden und sagte mit scharfer Stimme: »Sie werden gehen! -- Bitte, bitte recht sehr, Herr Herbst«, fügte er wieder ruhig und höflich hinzu, und schob den vor Erregung zappelnden Havelock in die wackelnde Droschke. »Wir können den weiten Weg unmöglich zu Fuß gehen. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Mein Chef ist schon ungeduldig, er erhielt eine Rüge von einer höheren Stelle. Machen Sie es sich ruhig bequem. Es wird ja alles bezahlt. Das sind die Spesen. Sehen Sie hier, in diesem Notizbuch, hier unter H., das sind die Spesen. Ich hätte ebensogut ein Auto nehmen können.« Voller Verzweiflung starrte Herr Herbst vor sich hin. Kunze zog vorsichtig die Beinkleider über das Knie herauf. »Mein Chef, er ist Major, ermahnte mich ausdrücklich, keine Kosten zu scheuen«, fuhr er zu schwatzen fort. »Mein Chef strahlt! Sie haben uns ja, mein lieber Herr Herbst, auf eine eminent wichtige Spur gebracht -- ein selten glücklicher Zufall! Ach, wie langsam doch dieser elende Wagen fährt! Das Material wächst, der Ring schließt sich -- wir arbeiten Tag und Nacht -- mein Chef wird einen hohen Orden bekommen -- und auch ich vielleicht, vielleicht sogar das Eiserne Kreuz, er machte Andeutungen, mein Chef . . .« Plötzlich brach Kunze ab und zog rasch den Kopf zurück. »Pst, pst« -- machte er, und deutete mit dem langen, dünnen Finger auf die Straße. »Aber sehen Sie doch, wer da eben aus der Elektrischen steigt! Sehen Sie doch! Wie? Wie? Unglaublich -- Fräulein v. Hecht!« Es war in der Tat Ruth. Sie sprang rasch aus dem Wagen und suchte ihren Weg durch die Menge. Schon war sie verschwunden. »Haben Sie sie gesehen? Berlin ist eine so große Stadt, aber man sieht immer wieder die gleichen Leute. Machen Sie einmal den Versuch, fassen Sie eine bestimmte Person ins Auge -- wo Sie auch hinkommen, da ist sie, ich wette mit Ihnen, was Sie wollen. Was hat nun, frage ich Sie, eine solch feine Dame hier in diesem Stadtviertel zu tun? Wie, wie? Wenn man es nicht wüßte! Bald wird sie wohl nicht mehr hierherkommen, oder? Mein Chef ist in bezug auf diese Dame etwas unruhig -- nun, verstehen Sie, die Tochter eines hohen Vorgesetzten -- aber auch das wird sich ja alles finden. He, Kutscher, fahren Sie doch etwas rascher!« 7 Mit einem kleinen Paket unter dem Arm kam Ackermann durch den Tiergarten. Es war noch hell, Sonne, Tag. Wie gewöhnlich suchte er verlassene Wege auf. Er kam vom Dienst und war auf dem Wege nach Hause, wo man ihn erwartete. Ja, schon sammelten sie sich, ohne Zweifel! In England, Amerika, Italien, Frankreich, Deutschland, Osterreich, Ungarn -- überall in der Welt -- die Brüder! Nur ein Blinder sah die Zeichen nicht, nur ein Tauber hörte nicht die Stimmen! Nur ein Tauber . . . In den Zeitungen, zwischen den Zeilen -- in Broschüren, Aufsätzen, Büchern, überall Zeichen, die darauf hinwiesen. Überall diese Stimmen! Trotz der Scharen von Zensoren und Agenten, die ausgesandt waren, die Wahrheit zu erwürgen, so wie Herodes die Kinder von Bethlehem erwürgen ließ, nur aus Furcht, weil er vernommen hatte . . . ah, ah -- sein Morden war vergebens. Die Gefängnisse sind überfüllt, hier und überall. Arme, betörte Sklaven bewachen ihre eigenen Befreier! Zu Hunderten werden sie füsiliert, hier und überall. Arme Verführte ermorden ihre Brüder. Aber -- _der Gedanke lebt!_ Die Mauern werden fallen -- in der ganzen Welt -- der Gedanke wird sie stürzen, der Gedanke, der war, bevor die Menschen waren. Der Gedanke, den man ans Kreuz schlug, folterte, mit Steinen beschwert ins Meer versenkte, mit geschmolzenem Blei übergoß, den die Gesandten des Satans zu töten versuchten auf hunderttausend Arten -- und der immer wieder auferstand. Weltreiche stürzten, aber er lebt. Und die Brüder werden einherschreiten -- sie, die Heißen, die Sehnsüchtigen, die Wollenden. Und auch ich, auch ich, Ackermann, werde bemüht sein, mich ihrer würdig zu zeigen. Zu Ende der Dienst, zu Ende! Er hatte Schluß gemacht. Sie würden ihn nicht mehr sehen. Monatelang hatte er gerungen, in den letzten Wochen mit Schweiß auf der Stirn -- der Gedanke siegte. Er war entschlossen . . . Unter dem Arm trug er, in eine alte Zeitung eingewickelt, seinen Drillichkittel, wie ihn die Schreiber in den militärischen Amtsstuben anhaben. Er nahm ihn heute mit nach Hause. Zum Zeichen, daß er nicht zurückkehrte. Die Kameraden hatten die Frage an ihn gerichtet, weshalb er den Kittel einpacke. »Ich mache Schluß!« antwortete er. Aber sie lachten, wie sollten sie es verstehen? Nun, wohl: sollte man mit ihm machen, was man wollte. -- Ja, dahinschreiten werden die Brüder, und auf dem blutigen Schutt dieser armen Erde werden sie eine neue Welt errichten! Schleift die Kasernen, werden sie rufen, zerbrecht sie, schleift sie! Ihr Gestank verpestet Europa und die Erde. Schleift sie und steckt sie in Brand! Sie, die Brutstätten der Sklaven und Sklavenvögte. Täglich schänden sie millionenfach die menschliche Würde, Millionen von Sklaven, Hunderttausende von Sklavenvögten, die die Peitsche schwingen, brüten die Verruchten jährlich in Europa aus. In die fernsten Dörfer, Steppen und Wälder senden sie versklavte und geschändete Gehirne, in denen der unschuldige und reine Gedanke des Göttlichen vernichtet wurde. Ämter, Schulen, Kirchen, Fabriken, Werkstätten und das weite Land überschwemmen sie mit Sklavenvögten, verdorben und blind vom Dünkel, so daß sie den Bruder in ihrem Nächsten nicht mehr zu erkennen vermögen! Schleift sie, verbrennt sie! Zerbrecht die Kriegsschiffe der Piraten, deren Kanonen den Erdball in Schrecken halten, zerbrecht sie! Schleift sie -- werden sie rufen! -- die Zeitungspaläste, errichtet von den Mächtigen und Reichen der Erde zur Verbreitung von Lüge und Betrug, zur Vergiftung und Verführung der Nationen. Schleift sie und verbrennt sie! Reinigt Schulen und Kirchen, wo unschuldige Kinder und reine Seelen betrogen werden. Reinigt die Tempel, hinaus mit den falschen Priestern, die den Namen des Erlösers auf den Lippen führen und den Mord der Nationen predigen. Hinaus, hinaus! Hinaus, hinaus mit den eitlen Advokaten, den hartherzigen Greifen, den selbstgefälligen Narren, die mit den Schicksalen der Völker spielen, hinaus mit ihnen! Es wird Zeit, ihr Brüder, daß die Welt genese! Zerbrecht und schleift die Zwingburgen des Goldes, Tempel der Habgier, Kerker der Freiheit und des Glückes aller Völker des Erdballs. Zerbrecht die Mauern aus Stahl und Eisenbeton, wo die Plünderer ihre Schätze gegen die Diebe verwahren! Zerbrecht sie! Ihre Stimme wird erschallen wie der Donner -- und nicht mehr untergehen! Ach, in dieser Stunde, schwärzeste Mitternacht der Völker, wird sie noch verschlungen vom Lärm der Kanonen . . . Plötzlich aber stockte Ackermanns Schritt. Mit offenem Munde stand er still. Aus der Stille des Parkes war er, versunken in seinen Gedanken, unvermutet in das blendende Sonnenlicht und das Gewimmel der Menge getreten. Die Menschen schrien, schwangen die Hüte, eilten -- Flaggen wehten über den Linden, Flaggen in allen Farben, allen Größen, flatterten lustig und heiter im herrlichen, seidigen Blau des Himmels. * * * * * Die Stadt hatte geflaggt. Siege, Siege! Wie die Sturmflut war das Heer vorgebrochen, wenn die Dämme gerissen sind -- ganz wie der General es prophezeit hatte. Hunderte von Geschützen, Tausende, Zehntausende von Gefangenen -- eine Batterie trabte über die Linden. Der Kaiser hatte befohlen, »Viktoria zu schießen«. Die Stimmen schwirrten, Jubel fuhr dahin über die Millionenstadt. Unaufhörlich mahlten die Drehtüren der großen Hotels fröhliche Gesichter hinein und heraus. Die Foyers der Hotels waren überfüllt, schon sah man Frühlingskleider der Damen, während andere noch Pelze trugen. Die Kellner schleppten die silbernen Tabletten, die Kapellen musizierten. Freude erhellte die Mienen. Ja, wunderbar war diese herrliche Armee, prachtvoll diese Burschen, die kämpften und starben, wie in den ersten Tagen des Krieges, als sei der Tod ein Scherz. Und diese Führung: unübertrefflich! Zehntausende von Gefangenen -- immer mehr, mit jeder Stunde -- die Beute unübersehbar -- unübersehbar . . . Oben auf dem Brandenburger Tor trieb die Viktoria ihr Viergespann mit siegesgewissem Lächeln vorwärts. Fontänen von Extrablättern stiegen über den Linden in die Höhe. Die Menschen ballten sich zu Knäueln, sie setzten ihr Leben ein, nur um ein Zeitungsblatt zu erhaschen, ganz wie die prachtvollen Burschen an der Front, die durch zischende Eisenstücke sprangen. Schirme wurden zerbrochen, die Damen verloren die Absätze von ihren Schuhen, und die Taschendiebe griffen ohne jede Rücksicht einfach in die Taschen. Und die Batterie, vier alte Kanonen aus dem Siebziger Kriege, trabte vorbei -- Viktoria . . . Das Hauptquartier schwimmt in Wonne -- die englische Armee vernichtet . . . Furchtbar war dieser Winter gewesen, über alle Maßen furchtbar! Unerträglich das Sterben ringsum, draußen und in der Heimat. Das Sterben, das sich sonst in gesitteten Formen vollzog, es war in Panik ausgeartet. Die Freunde starben, die Dienstboten, die Kutscher fielen von den Kutschböcken, auf der Straße starben die Unglücklichen, man sagte einem Gesunden »Gute Nacht«, und am Morgen hustete er ein paarmal, und schon war er tot. Unerträglich, unerträglich, Tag für Tag zwischen diesen wandelnden gelben und grünen Leichen einherzugehen, diesen Gezeichneten, mit dem Kuß der Verwesung auf der Stirn, selbst solch eine wandelnde grüne und gelbe Leiche, selbst ein Gezeichneter! Unerträglich! Und die Kinder! Nein, sprechen wir nicht von ihnen, diesen kleinen Gekreuzigten. Haben wir Mitleid! Geboren als Krüppel, mit weichen Knochen, gummiweichen Schädeln, ohne Nägel -- und sie starben, siechten dahin an den welken Brüsten verzweifelt weinender Mütter, auch aus den Häusern der wohlhabenden Bürger wurden die kleinen, rührenden Särge getragen. Zu Tausenden und Hunderttausenden gingen sie dahin, ein Strom, Tag und Nacht. Ja, so weit war es gekommen, ohne Übertreibung, wenn auch die Zeitungen nichts darüber schreiben durften, es war England gelungen, zugestanden. Die Sache mit dem Burenkrieg seinerzeit war nur ein harmloses Vorspiel gewesen. Gelungen, zugestanden. Hütet euch, ihr Völker der Erde, seid gewarnt! Fordert nicht Englands Zorn heraus, sein Blick tötet die Frucht eurer Weiber im Mutterleibe. Unerträglich, völlig unerträglich war das ganze Dasein geworden -- und jetzt, war es nicht wie ein Schimmer von Hoffnung? Vielleicht, vielleicht doch! Vielleicht würde es zu Ende gehen? Vielleicht . . . Alles war zum Einsatz hingegeben: Väter und Söhne, Ernährer, Stützen des Alters, Hoffnung, Glück und Sinn des Lebens, Ehre, die Zukunft des ganzen Volkes, Gesundheit, Vermögen, Vieh, Pferde, die Glocken aus den Kirchen, die Kochtöpfe aus den Küchen -- und ein Geschlecht von Neugeborenen -- alles, auch das Gehirn unter der Schädeldecke -- vielleicht, vielleicht . . . Die Generale hatten den Wurf getan, die Kugel hüpfte über die glücklichen Nummern -- vielleicht . . . Wie gefangene Tiere hinter den Gitterstäben tigerten die Millionen an den Eisenstäben ihres Käfigs entlang und witterten hinaus. Es roch nach Befreiung -- nicht wahr? Einst hatten ihre Nerven die Erde umspannt, sie waren durchgeschnitten worden und wimmerten. Einst waren sie Menschen, hoffärtig und voller Fehler, aber doch Menschen, jetzt waren sie gefangene Tiere geworden, Verworfene, Verbrecher, Parias, bespien und beschmutzt, Tag und Nacht, vier Jahre lang. Die Luft selbst, die sie in ihrem Käfig atmeten, war vergiftet. Hatte man nicht behauptet, daß sie Fett aus Leichen kochten -- hatte man nicht . . . Aufs Rad geflochten und über langsamem Feuer geröstet. Unbeschützt von einer Rotte von Unfähigen, die in ihren Ämtern schlummerten, die Fingernägel polierten und erhaben waren, erhaben -- einfach erhaben. Die Gewaltigen, die Angebeteten und Vergötterten, sie würden gewiß alles bis ins Kleinste berechnet und beachtet haben, bevor sie sich entschlossen, alles hinzuwerfen -- auch das Gehirn unter der Schädeldecke -- und die letzte halbe Million zur Schlachtbank führten. Vielleicht, vielleicht -- Komme, gebenedeiter Tag! Die Zeitungsfrauen entflohen, die alten Männer, die Zeitungen feilhielten -- sie entflohen -- sie jagten die Linden hinunter -- verfolgt von der Meute. An der Ecke Linden-Friedrichstraße weinte eine Zeitungsfrau, man hatte sie gänzlich ausgeplündert, ohne ans Bezahlen zu denken. Siebzig Millionen strichen wie Irrsinnige an den Gitterstäben entlang -- und die Armee hatte einen Ausfall gewagt, einen glückverheißenden Ausfall. Verheißungsvoll flatterten die Flaggen im seidigen Blau des Himmels. Hell funkelte die goldene Göttin auf der Siegessäule. Die Riesenstadt erbebte bis in die entlegensten Vororte. Überall flatterten die Zeitungsblätter. Die Kolonnen der gelben Gesichter selbst belebte die Hoffnung. Die Bewegungen der Erschöpften und Ermüdeten in den Werkstätten wurden rascher. Verheißungsvoll zischte der Dampf, blitzten die Räder. Selbst in den Augen jener, über die bereits die Agonie ihre Schatten breitete, in den Augen der Verzweifelten, Hungernden, Verhungernden, Sterbenden ersprühte eine leise Hoffnung, der letzte Funke. Ja, komme, du gebenedeiter Tag! Aber horch! Was ist das? Ein Geschrei wie von tausend gemarterten Kindern, ein Geheul wie von tausend gemarterten Hunden -- nichts, nein, nichts, es ist nur eine Regimentskapelle, die in die Linden einbiegt. Sie spielt nicht erstklassig, Bucklige, Lahme, Greise -- was willst du? -- und eben feuert auch die Batterie aus dem Siebziger Krieg Viktoria. Über den Linden brummt ein Riesenflugzeug, zehn Menschen sind an Bord. Wer sollte es ahnen? Es ist immerhin noch einiges im Lande, nicht viel, aber noch einiges: zum Beispiel die Haare der Frauen für Seile und Webwaren, das Gold in den Gebissen. Die Generale und Gamaschenträger werden nicht zögern. 8 Plötzlich leuchtet ein helles Rot durch die Menge, das weithin blendende Rot eines Mantelaufschlages. Ein Gesicht, rosig angehaucht wie ein Steingebirge beim Ausgang der Sonne, wandelt die Linden einher. Die Spaziergänger bleiben neugierig stehen. Einer von jenen, die Gut und Blut der Nation in den Händen halten! Ehrfürchtig lüften sich die Hüte, die Augen glänzen. Es hätte nicht viel gefehlt, und man hätte dem General, der mit Otto die Linden entlangging, eine Ovation dargebracht, obgleich er an den Zehntausenden von Gefangenen gänzlich unschuldig war. Der General hob die Hand zum Gruße. Er nahm diese Äußerung der Begeisterung mit Würde und Bescheidenheit entgegen. Sie galt selbstverständlich nicht ihm, sie galt der unvergleichlichen Armee, sie galt den Begnadeten, Angebeteten und Vergötterten, die jetzt, in diesem Augenblick, das hohe Spiel spielten -- da draußen . . . Die Miene des Generals war verschlossen und gesammelt wie immer. Trotzdem ein großer, ja ein auffallender Unterschied! Während sich sonst der Blick in die grauen Augenhöhlen verkroch -- selten nur, höchst selten bot der General seine Augen den neugierigen, zudringlichen Blicken der Mitmenschen dar -- standen heute die Augen offen und blendeten. Ihr Blick war erwärmt, wie wenn die Sonne das Eis leckt. Zufriedenheit leuchtete in der Tiefe und Triumph, ein stiller, zurückgedämmter Triumph. Und zudem ging der General zu Fuß, was nur in äußerst seltenen Fällen vorkam. Zuweilen ließ er sich von Schwerdtfeger in eine entlegene Allee des Tiergartens fahren, um einige Minuten spazierenzugehen, immer hin und her, die Hände auf dem Rücken, höchstens eine Viertelstunde. Manchmal legte er auch den Weg von Dora nach Hause zu Fuß zurück, wenn es spät wurde. Aber das waren, wie gesagt, Ausnahmen. Er hatte Schwerdtfeger vor dem Brandenburger Tore halten lassen und beschlossen, den Weg bis zu Stifters Diele zu Fuß zurückzulegen. Zur großen Genugtuung Ottos, der, seit acht Tagen aus dem Lazarett entlassen und den ganzen Tag in einem Kriegsamt tätig, das Gewimmel der Menschen liebte. »Diese Menschen!« sagte der General. Und erst an jenem Tage, wie da die Linden von Menschen wimmeln würden -- an jenem Tage! Kopf an Kopf, an den Fenstern und auf den Balkonen, schwarz die Dächer, die Luft erfüllt von Fliegern und Luftkreuzern. Triumphpforten, die ganzen Linden entlang, Musik -- und der Schritt der siegreichen Armee, die in die Heimat zurückkehrte, dröhnend vom Morgengrauen bis zum Sinken der Sonne -- jenes Dröhnen, unter dem die Welt erbebt war. Die Fahnen geschmückt mit Lorbeer . . . Niemals konnte der General das Brandenburger Tor passieren, ohne daß die Vision des heimkehrenden Heeres vor ihm aufstieg. Heute aber hörte er in der Tat das Dröhnen der Schritte, heute sah er die bekränzten Kanonen zwischen den schwarzen Menschenmauern rollen. Diese wunderbaren, schweigenden Rohre, die so herrlich ihre Pflicht getan hatten! Das Geschrei der jubelnden Menge, Tücherwinken auf den Tribünen -- gab es etwas Ergreifendes für ihn, etwas wirklich Ergreifendes, so war es dieser Gedanke. Ohne Zweifel, es würde der glücklichste Tag seines Lebens werden! Unverkennbar, die Ähnlichkeit der beiden! Dieselben breiten Gesichter, beim Alten grau im Unterton, mit einem dünnen Anflug von Rot darüber, beim Jungen bleich, mit dem satteren Rot der Jugend auf den Lippen. Dieselben Augen, kühn und nachdenklich beim Alten, verwegen und leichtsinnig beim Jungen. Der Alte mit einem sonderbaren Kreuz zwischen den roten Aufschlägen, der Junge die Brust mit Auszeichnungen übersät, eine Narbe an der Stirn, und die linke Hand steif in einem schwarzen Handschuh, verwundet, offenbar. Beide groß, massig. Otto versuchte, mit dem Vater Schritt zu halten. Das war nicht so einfach. Denn die Schritte des Generals waren unregelmäßig, und zuweilen schwankte er auch, unmerklich. Er war das Gehen nicht gewöhnt, von Gedanken erfüllt, die seinen Gang beeinflußten. Der Blick des Generals war voller Ruhe in die Weite gerichtet -- Ottos Blick dagegen flog blitzschnell hin und her. Die langen Wochen im Lazarett, vergessen und vorbei. Das letztemal, Gott sei Dank! Er hatte es ausgerechnet, ein volles Jahr, zwölf volle Monate lag er während des Krieges im Lazarett. Vier volle Monate mit diesem verdammten Kopfschuß, einen Monat mit der Ruhr, zwei Monate mit einer niedlichen Gasvergiftung und so weiter -- und schließlich diese Kleinigkeit mit der Hand. Die nette Schwester hatte ihm ja den Aufenthalt im Lazarett so angenehm wie möglich gemacht, trotzdem, sein Bedarf war reichlich gedeckt. Nein, Otto sah keine bekränzten Kanonen, fiel ihm gar nicht ein, er sah nur -- Frauen! Drei Jahre Front, nur Männer, pfui! -- ein Jahr Lazarett -- ja also nichts anderes. Über jede gutgekleidete, junge Frau, mit anderen beschäftigte er sich überhaupt nicht, zuckte sein verwegenes Auge. Kein Knöchel, kein Schuh, keine Hüfte, keine Locke entging ihm. Jene Kleine, zum Beispiel, Dutzendware! Jene Kleine aber, unscheinbar, voller Geheimnisse. Jene dunkle, die das Auge sofort unter dem Blick erweiterte -- lüstern! Aber jene Schüchterne, Blasse, die dem Blick augenblicklich auswich -- gepeinigt von entsetzlichen Wünschen. Sie verstand augenblicklich. Die Augen der Frauen sprühten auf, zuckten zusammen, verbargen sich. Manche umschmeichelte Otto weich und schwärmerisch, anderen fuhr sein Blick wie ein Dolch in die Augen, brutal und unzweideutig. Er behandelte sie individuell, ganz wie er sie einschätzte. Viele erröteten unter dem frechen Blick des unverschämten Offiziers. Aber Ottos Eitelkeit deutete die Schamröte völlig falsch. Dieser Nacken, dieses Schenkelpaar und jenes herrliche, volle Wiegen der Hüfte -- drei Jahre Front und ein Jahr Lazarett hatten den Sohn des Generals völlig zerstört. Ja, das war das Leben, und er gedachte seine Zähne in dieses Leben zu schlagen, wie ein Tiger sein Gebiß in die Gazelle schlägt, er gedachte mit beiden Händen darin zu wühlen, wie in blutigem Fleisch. Sein Gehirn war angefüllt mit weiblichen Körpern, weiblichen Linien, Schwellungen, Frauenlippen, Frauenhaaren, gestammelten Worten, Schreien. Ja, Tag und Nacht wollte er dieses Leben an sich reißen, jede Minute, die der Dienst frei ließ. Er wollte sie nachholen, diese vier elend vergeudeten Jahre. Tag um Tag -- Keine zehn Pferde würden mehr imstande sein, ihn wieder zur Front, ins Feuer zurückzubringen. Alles, die Hölle, wenn du willst, nur nicht ein Ort, wo scharf geschossen wurde! Schon der Gedanke -- und doch, früher hatte er sich oft danach gesehnt, die Sprengstücke pfeifen zu hören. Oft hatte er sich dem Feuer absichtlich ausgesetzt, unverständliche, perverse Laune -- und die Geschosse peitschten dicht an seinem Ohr vorbei! -- unbegreiflich! Und seine Eitelkeiten -- wie lächerlich waren sie doch! Wie unverständlich. Um in der Heimat von ein paar Gänsen bewundert zu werden! Was galten ihm jetzt die Ordensauszeichnungen? Nein, um offen zu sein, auf den Heldentod legte er keinen Wert mehr! Welch erbärmlicher Schwindel war es doch: süß ist es und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben! Nur noch Gymnasiasten glaubten es, oder Leute, die nie den schrecklichen Tod da draußen erblickt hatten. Heute wußte er, daß es nichts als verlogene Phrasen waren, mit denen nationalistische Redner und Redakteure, die sich selbst in Sicherheit befanden, andere ins Gemetzel hetzten. Überlassen wir das Heldentum den Stierkämpfern, die dafür bezahlt werden, hatte Ströbel einmal zu ihm gesagt -- und er hatte ihn deswegen verachtet. Jetzt aber begriff er ihn. Ja, er hatte sich sehr geändert, Otto! Er begriff kaum mehr sein Denken und Tun, das nur ein Jahr zurücklag. War er es wirklich gewesen? Zum Beispiel, als er seinerzeit bei Langemarck den schwerverwundeten französischen Offizier in den Graben holte! Holte, ganz einfach holte, und auf alle Metallstücke pfiff, die sich mit fünfhundert oder tausend Metern in der Sekunde vorwärts bewegten. Nein, heute würde er, Otto, bei Gott niemand mehr hereinholen -- nicht einmal seinen Vater -- höchstens ein schönes, junges Mädchen, und sie nur unter bestimmten Bedingungen. Der Sohn des Generals war heute nichts anderes mehr als ein Schamloser, offen gesagt. Keck und herausfordernd schritt er neben dem General einher, jeden einzelnen der bewundernden Blicke genießend, die sich auf seine glitzernden Sterne und Auszeichnungen hefteten. Der Mensch spiegelt sich im Menschen. Wie alle Armeen, spekulierte auch die deutsche auf den armseligsten Instinkt des Menschen, die Eitelkeit. Otto hatte absichtlich den Mantel zu Hause gelassen, obschon es noch keineswegs warm war. »Ha!« lachte der General vor sich hin. »Wie, bitte, Papa?« »Diese Menschen, sie sind närrisch!« Plötzlich errötete Otto. Sein Blick zuckte unruhig, die Narbe an seiner Schläfe, die von dem Kopfschuß geblieben war, färbte sich rasch und flüchtig tiefrot. Ein schnelles, vornehmes, offenes Auto rauschte vorbei und darin saß -- Hedi! Hedi -- in einem pompösen Pelz, wehende Federn auf dem Hute -- einen wollhaarigen, fetten, kleinen Hund auf dem Schoß. Sie sah ihn nicht, sie sah überhaupt nicht auf die Straße. Sie saß wie eine Dame, die es gewöhnt ist, in ihrem Wagen durch die Menge zu gleiten und nichts mehr dabei findet. Es war keine Überraschung mehr für Otto. Vor ein paar Tagen traf er in einer Teestube Unter den Linden, wo viel Halbwelt verkehrte, die kleine Saharet, und sie hatte ihm erzählt, daß Hedi Ströbels »Privatsekretärin« geworden war. Ströbel hatte die Saharet vor die Türe gesetzt, höchst einfach, ein paar braune Lappen -- und dann war die andere, wie die Saharet sagte, gekommen. Also Hedi Westphal die Nachfolgerin der Saharet! War es nicht zum Schießen komisch? Immerhin, Hedi erhob sich weit über den Durchschnitt all dieser schnatternden Gänse -- aber sie war kalt, kalt und berechnend, nichts als eine Egoistin. Und nichts war Otto mehr zuwider als Egoisten. Aber als Privatsekretärin hätte er Hedi schließlich auch engagiert. Ja, dieser Ströbel! Einen einzigen großen Nachteil hatte diese Angelegenheit: er würde leider gezwungen sein, den Verkehr in Ströbels »Hotel« einzustellen -- schade, sehr schade. 9 Sogar bis in Stifters Diele war die Welle der Begeisterung gedrungen. Man vernahm heute sogar Lachen, das helle Lachen einer Dame, ein sonst ganz unerhörter Vorgang in Stifters Etablissement. Knall! Schon knallte es, ganz wie an der Front, wenn die Flieger kamen. Drei, vier Tische tranken Sekt. Man feierte den Sieg, wollte nicht kleinlich sein heute, ein Glas auf das Wohl der herrlichen Burschen da draußen leeren. Die beiden Rittmeister, die den General zuweilen irritierten, hatten einen ganzen Kreis von Freunden geladen, und der raunende Oberkellner schleppte Flaschen unter beiden Armen. Ein Toast -- und dreimal, gedämpft, aber begeistert, hurra! Die Kelche klirrten. Mit Neid beobachtete Otto die Ausgelassenheit nebenan. Wie gerne wäre er bei ihnen unten gewesen. Ja, man mußte es ihnen lassen, sie legten ein ordentliches Tempo vor! Papas Gesellschaft dagegen -- nun Gott sei Dank war es nur dieser eine Abend. Er hatte es Papa heute nicht abschlagen können. Schließlich war er ja um zehn Uhr, elf Uhr spätestens frei. Von elf Uhr an wurde er erwartet. Schweigend nahm der General die ersten Gänge ein. Seine Augen waren geweitet, und der Blick ging in die Ferne. Er dachte an den 4., 5. und 6. August -- damals, Quatre vents! Er hörte deutlich das Feuer, das furchtbare Feuer, das damals rings um ihn tobte -- so, genau so, würde es heute da draußen toben, rollen wie die Brandung eines höllischen Meeres -- von Horizont zu Horizont. Krachen, Stampfen, der Himmel stürzt ein, und die Erde klafft in Spalten. Ja, sie sollen es jetzt nur schmecken, das Gelbkreuz und Blaukreuz -- diese Unbelehrbaren! Ein Lächeln ohne Erbarmen, voll grausamen Triumphs, umspielte die blauen Lippen des Generals. Deutlich sah der General das rauchende Schlachtfeld vor sich. Aber, was er nicht sah, das war der kleine, krummbeinige Schneider Hanuschke -- der seinerzeit, als Ordonnanz, versehentlich in sein Arbeitszimmer rannte, und den Unwillen Seiner Exzellenz erregte -- dieser Schneider Hanuschke, mit dem Querschläger zwischen den Mausaugen, der in dieser Minute, da der General einen Spargel durch die Zähne zog, um sein Leben lief. Nein, ihn sah er nicht. Wie ein Blitz fegte der kleine, krummbeinige Hanuschke über einen zerwühlten Acker und verschwand in derselben Sekunde in einer Erdspalte, da der General die ausgesogene Spargelstange auf den Teller legte. Man hatte ihn zu den Strippenflickern kommandiert, das heißt sie mußten die zerstörten Telephonleitungen ausbessern. Eine böse Sache. Im gleichen Augenblick knallte es auch schon, und Hanuschke zog den Kopf ein. Dann wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht -- ganz wie damals, als er das Arbeitszimmer des Generals hinter sich hatte, mit der gleichen Bewegung -- und schon flitzte er wieder wie das Wetter selbst über den Acker, und schon stürzte er sich wieder in ein Loch hinein, diesmal in einen Granattrichter. Dieser Teufel, dieser verfluchte Teufel, keuchte er und horchte -- (der General goß eben Fachinger in sein Glas) -- niemals in seinem Leben hatte der Schneider etwas Derartiges erlebt. Er, er ganz persönlich, wurde von einem englischen Flieger verfolgt, der ihn für einen Meldeläufer oder Gott weiß was hielt. Dieser Teufel ging bis auf zehn Meter herunter, erspähte ihn immer wieder und warf kleine Bomben herab. Er sah deutlich sein Gesicht, die kleine Bombe in der Hand, selbst den gestutzten kleinen Schnurrbart über den Zähnen -- dieses Granatloch bot keine genügende Deckung, und wieder schoß der kleine Schneider dahin -- jenem Wäldchen zu: erreichte er es, so war er gerettet. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Solch ein Teufel, ein verfluchter! -- Der General zog eine neue Spargelstange durch die Zähne. »Und du?« fragte er, ohne Otto anzusehen, nach seiner Gewohnheit. »Wie beliebt, Papa?« »Und du?« »Was soll ich?« Der General, in Gedanken, schwieg eine Weile, dann begann er wieder: »Ich meine -- für dich muß es doch unerträglich sein, nicht an der Front zu sein -- gerade jetzt?« Otto errötete. »Jetzt, wo für ein Jahrhundert oder länger der Lauf der Geschichte bestimmt wird. In vier Wochen vielleicht, sagt der Arzt?« »Vier Wochen ist der früheste Termin.« »Der früheste --?« der General wiegte bedauernd den Kopf. »Weiß Gott, wie die Lage in vier Wochen sein wird, wenn es so weitergeht.« Nun, Gott mochte es wissen und seine Freude daran haben, ihm, Otto, war es höchst einerlei. Er glaubte nicht recht daran, diese ganze Sache kam ihm abenteuerlich im höchsten Maße vor. Er ergriff die Gelegenheit und brachte dem Vater schonend bei, daß er sich im Westen, in der Nähe seines neuen Amtes, ein Zimmer gemietet hatte, weil der Dienst schon morgens um sieben Uhr begann. Die Wahrheit war, daß er sich der väterlichen Kontrolle entziehen wollte. »Der Dienst in erster Linie«, erwiderte der General. Er hielt inne. Am Nebentisch wurde ein neuer Toast ausgebracht. Drei kurze Hurras, schon etwas lauter: der Kaiser! Der Takt gebot, während des Toastes zu schweigen. -- Aber Hanuschke, der Schneider Hanuschke? Was ist mit ihm? Der kleine, krummbeinige Schneider fegte immer noch über das Feld, dem rettenden Wäldchen entgegen. Sein Hemd, soweit man von einem Hemd reden konnte, klebte naß an seinem Körper. Hatte man je während dieses ganzen Weltkrieges davon gehört, daß man einzelne Leute mit Flugzeugen jagte? Über diesem Wäldchen zerplatzten Schrapnelle, gelbe und graue Spinnen, aber das war schließlich das Paradies gegen diesen englischen Doppeldecker. Seine zerfetzten Hosen klebten an den Schenkeln. Er setzte über einen gefallenen deutschen Artilleristen, der mit aufgeschlitztem Hals dalag, hinweg -- schon brauste das Brummen wieder hinter ihm her. Da aber schrie Hanuschke vor Entsetzen auf. Der Engländer mit seinem gestutzten, kleinen Schnurrbart schien jetzt aufs Ganze zu gehen. Er flog dicht über dem Boden, und schien es darauf anzulegen, ihn zu überfahren. Er hatte neulich gesehen, wie ein deutscher Beobachter mit dem Fallschirm aus einem Fesselballon absprang, den ein feindlicher Flieger in Brand schoß. Sollte man es für möglich halten: der feindliche Flieger kam zurück und schoß auf den mit dem Fallschirm abstürzenden Beobachter, der verzweifelt mit den Beinen ruderte. Das sah komisch aus, wie er in der Luft ruderte, und er, mit anderen Kameraden, hatte laut aufgelacht -- aber diese Sache war nicht zum Lachen. Im Gegenteil, dem Schneider passierte etwas, was ihm seit dem ersten Gefecht nicht passiert war. Im letzten Augenblick warf er sich zu Boden, und die Maschine rauschte über ihn hinweg. In voller Geschwindigkeit stießen die Räder auf den Boden, daß der Staub aufwirbelte, und die Maschine wie ein Ball geworfen wurde. Sollte er verrecken, der Teufel! Aber der Teufel kletterte in die Höhe und drehte wieder um. In seiner Verzweiflung lief der kleine Schneider ihm entgegen, durch, krach, aber durch, Glück mußte man haben. Wirbelnd wie eine Windmühle, mit Beinen und Armen fegte er dem Wäldchen zu. Plötzlich aber versank buchstäblich der Boden vor seinen Füßen. Er stürzte und wurde von einer Welle von Erde zugedeckt. Er rang nach Luft, übergab sich und machte sich bleich und völlig kraftlos von der Erde frei. Etwas ganz Unerwartetes war geschehen, etwas, womit er gar nicht gerechnet hatte: eine Granate hatte eingeschlagen. Zitternd taumelte er vorwärts, keine Kraft mehr. Sein Gesicht blutete. Zwanzig Schritte noch, zehn Schritte -- da war er. Dampfend warf er sich unter die Bäume und weinte. Es war kein geringer Schreck gewesen. Und er dachte an den Volltreffer seinerzeit -- bei Souchez -- wie der Feldstecher neben ihm herunterkam -- und er dachte, daß er einmal anstatt ins Zimmer Nummer 6, ins Zimmer Nummer 7 lief und plötzlich einem General gegenüberstand. Hätte er diese Dummheit nicht begangen, damals, wer weiß, ob er nicht heute noch gemütlich in Berlin säße? Ja, er weinte, aus nervöser Erschöpfung, aus keinem anderen Grunde, denn die platzenden Schrapnelle, die Batterien suchten, störten ihn nicht im geringsten. -- Gerade als der General bei dem gefüllten Pfannkuchen angekommen war, war Hanuschke in seinem Wäldchen verschwunden. Der General handhabte einen Zahnstocher. Sein Blick ging, etwas düster, über die Tischgesellschaft der beiden Rittmeister hinweg. »Ruth macht mir Sorge!« sagte er. »Ruth?« »Ja. Sie macht mir Sorge!« »Aber dieser Dietz war ja auch nichts für sie, Papa. Ein oberflächlicher Mensch.« »Oberflächlicher Mensch?« Voller Erstaunen blickte der General Otto an. »Ja, gewiß. Herzlich oberflächlich, Papa.« Der General schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht . . .« Und er versank in Nachdenken. Nun, Otto konnte sich wohl denken, was es war! Ruth war wahrscheinlich unvorsichtig genug gewesen, es sah ihr ähnlich, vor Papa ihre Anschauungen auszupacken. Otto hatte sich nie viel um Ruth bekümmert, wie es in ihrer Familie von jeher üblich war, jeder lebte für sich. Aber in letzter Zeit sprach er häufig mit ihr. Er trank sogar einmal Tee in ihrem kleinen Salon, immerhin eine Leistung für einen Bruder. Seit er aber mit Ruth über Tod und Teufel, wie er es nannte, gesprochen hatte, hielt er Ruth für einen der vernünftigsten Menschen seines ganzen Bekanntenkreises, von der Verwandtschaft gar nicht zu sprechen. Sie hatte sich ihr Urteil über die verschiedensten Dinge gebildet -- er wollte nur so viel sagen -- noch vor einem halben Jahr hätte er sie für völlig verrückt gehalten. In mancher Beziehung allerdings schien es sogar ihm, daß ihre Ansichten -- besonders für eine Dame, eine Dame -- kein Wunder -- der arme Papa! Er forschte nicht weiter, und der General schwieg. Eine blaue Flamme hypnotisierte Otto, sie tanzte mitten auf dem Tisch der Gesellschaft nebenan. Es war eine »Feuerzange«, eine hochprozentige Bowle. Ja, wie gerne wäre Otto hinabgestiegen. Ganz ohne jeden Übergang begann der General plötzlich über die Regierung zu sprechen, deren Unfähigkeit klar zutage trat, wohin sollte es führen? Und der Kaiser? Nur sie allein, jene Männer, die die Armee von Sieg zu Sieg führten, waren imstande, den Frieden zu machen. Es entging dem General völlig, daß die Gäste des stillen Restaurants in diesem Augenblick von einer eigentümlichen Erregung ergriffen wurden. Erst als alle Köpfe sich nach einer bestimmten Richtung drehten, wurde auch Otto aufmerksam. Irgend etwas wie ein großer Hund schien über die Teppiche des Restaurants zu schleichen, und die Gäste mit Unbehagen, ja Grauen zu erfüllen. Einige runzelten die Stirne, die Brauen der Damen waren entsetzt hochgezogen. Am Tisch der Rittmeister stockte plötzlich die Unterhaltung. Es war indessen kein Hund, der über die dicken Perserteppiche von Stifters Diele kroch, sondern ein Mensch, ein Soldat in Feldgrau, der sich auf zwei kurzen Krückstöcken dahinschleppte und seine gelähmten Beine hinter sich herschleifte, während schreckliche Zuckungen seinen Körper schüttelten. Auf seinem Kopf saß eine kleine graue Feldmütze, und erst an der Mütze erkannte Otto, daß der Krüppel ein Soldat war. Unerhört, dachte er, einen solchen Menschen auf die Öffentlichkeit loszulassen! Die Gewandtheit des Oberkellners half den Gästen über die peinliche Szene rasch hinweg. Es gelang ihm, das menschliche Gespenst, das direkt aus den Schützengräben in Stifters Diele gekrochen kam, mit seinem raunenden Gebrummel zum Umkehren zu bewegen. Die Gäste atmeten auf. Sofort setzte am Tisch der Rittmeister wieder die fröhliche Unterhaltung ein. Der General hatte in seiner Nische von dem ganzen Vorfall nicht das geringste bemerkt. Während aber der Oberkellner die Türe öffnete, um den Unglücklichen hinauszulassen, drang das feierliche Läuten der Glocken herein, die den Sieg einläuteten. Da ergriff der General das Glas und erhob sich. »Unser Vaterland, Otto!« sagte er. Und Otto sah, zu seiner größten Überraschung, daß die Augen des Generals feucht schimmerten. Nie in seinem Leben hätte er das für möglich gehalten. Auch sie wird nicht wenig staunen, wenn ich es ihr erzähle, dachte er. 10 Schrecklich fiel das Geläute der Glocken in Ackermanns Herz. Die Luft, schimmernd über der Riesenstadt, heulte und stöhnte. Die Todesschreie von Tausenden, Jammern und Röcheln, Klagen der Witwen und Gewinsel der kleinen Waisen, die nicht wissen, weshalb sie schrein . . . Wie riesige Mäuler voll Blut schwangen die ehernen Glocken über der Stadt und erbrachen Entsetzen über die Dächer. Wenn du noch an Gott glaubst, so knie nieder . . . Er hatte sie gesehen -- nicht sie -- die die Hüte schwangen! -- hatte sie gesehen -- die Felder, über die der Sturm ging. Allmächtiger! Gnade, Gnade in deinem Zorn! Da liegt er -- Ebenbild Gottes, Sohn einer Mutter, in Schmerzen geboren, in Sorgen großgezogen -- er ist tot -- er wird sterben -- er stirbt -- Da liegt er wieder -- -- und hier, hier, Stücke, Fetzen -- er ist dahin . . . Grau war Ackermanns Gesicht. Grüppchen von Verwundeten, Zerschossenen, die sich gegenseitig stützen, immer wieder fallen, und die furchtbare Bahn der Granate heult über sie hinweg -- Unglückliche, die verkommen, wenn der Zufall ihnen nicht gnädig ist. Und die Verbandplätze, wo die Ärzte mit schweißigen, stieren Augen arbeiten -- und die furchtbare Bahn der Granate heult über sie weg . . . Sonderbarerweise fiel ihm in diesem Augenblick ein längst vergessenes Erlebnis ein. Das Regiment hatte gestürmt. Über einem zerschossenen englischen Graben lag, das Haupt zurückgebogen, ein toter Inder. Schön und edel, den Adel seiner tausendfach geschändeten und vergewaltigten Rasse in den Zügen. Und -- was denkst du? -- die schweißnassen, blutnassen, rauhen Hände der Kameraden, die rauhen Hände von Arbeitern und Bauern streichelten das Gesicht des toten Inders, während sie vorübergingen. Streichelten es, einer um den andern. Schön bist du! -- Hast es gut jetzt, keine Sorgen mehr. -- Nun, mein Junge, dich hat es gepackt! -- Liebkosten ihn -- den _Bruder!_ Den Bruder, den Bruder! Wie Keulenschläge trieben die Glocken Ackermann vorwärts. Sein flatternder Mantel flog dahin. Ja, ja, dreimal heiliges Ja! Gott weiß es! Einer mußte den Anfang machen! Einer mußte sich den im Wahnsinn dahinjagenden Völkermassen entgegenwerfen -- einer mußte das Signal geben, selbst Signal sein -- einer, einerlei, ob man ihn niederschlug, in Stücke zerriß. Einer, andere würden folgen, mehr, immer mehr! Einer, ja, einer -- Der flatternde Mantel blieb stehen, Verzückung lag auf Ackermanns Antlitz. »Nun wohl, ich bin bereit!« rief er. Bereit, bereit? Wozu bereit? »Nun bereit, einfach bereit!« Es war beschlossen. Seit heute, seit gestern, seit Monaten, seit Jahren. Es war beschlossen, seit er 1914 bei Langemarck stürmte, und die Reihen der Kameraden auf rätselhafte Weise dahinsanken. Nun wußte er es. Gott hatte ihn geprüft und auserwählt. Alles war vorbereitet. Die Broschüre war fertig. Richard, sein jüngerer Bruder, würde sie wie anderes früher in der Provinz drucken lassen -- die Freunde würden sie vertreiben. Die Mutter? Sie mußte begreifen. Und Ruth? Ruth war tapfer. Es war alles in allem nicht die Zeit, an diese Dinge zu denken. »Vorwärts! Vorwärts!« Die Glocken heulten es, die Todesschreie in der Luft, das Röcheln der Sterbenden, das Jammern der Witwen und Winseln der armen Waisen -- die Kameraden riefen es ihm zu, über die jetzt, in dieser Minute, die furchtbare Bahn der Granate hinwegheulte, die Kameraden, die jetzt mit starren Augen lagen, Freund wie Feind, die jetzt verbluteten, Freund wie Feind -- alle, alle: vorwärts! »Ackermann! Ackermann!« riefen warnende Stimmen in der Luft. Er blieb stehen und warf die Blicke empor zu den unbekannten Stimmen in der Luft. »Ackermann! Ackermann!« »Bereit -- bereit!« rief Ackermann und eilte weiter. 11 Im Augenblick hatte der schmächtige junge Mann die Fenster geöffnet und die Rolladen hochgezogen. Es sah aus, als sei Kunze soeben von der Reise zurückgekehrt und nehme seine Wohnung in der Blücherstraße wieder in Besitz. Eine Schicht von Staub und Sonne lag über den Dächern draußen, und feierlich brodelte darin das Läuten der Glocken. »So, so -- immer hereinspaziert!« Zögernd schob sich der kleine Herr Herbst über die Schwelle. Es mußte ja sein, es gab kein Entrinnen mehr vor dem jungen Mann mit dem Kneifer. -- Ein Block von Licht brach in die dunkle Wohnung, und er schloß, wie versengt, die Augen -- aber was half es denn? Nichts. Er hatte ihn ja doch gesehen, trotzdem, ja ohne hinzublicken: den Haken über der Türe zum Schlafzimmer. Nur ihn sah er -- nichts sonst -- diesen Haken. Ah, ah, ah! Ächzend sank er in einen Sessel und krümmte sich zusammen. »Nun, sofort, mein verehrter Herr!« rief Kunze etwas keuchend aus. Eine Schweißperle lief über seine Stirn. Jede körperliche Tätigkeit, auch die geringste, erschöpfte ihn augenblicklich. »Die Lunge, wissen Sie. Sofort, sofort zu Ihrer Verfügung.« Fieberhaft kletterten seine raschen Augen über Möbel und Wände. Er verbarg sein Erstaunen nicht, nein, wozu denn, vor wem denn? Er staunte -- staunte, mit offenem Munde! Die rote Plüschgarnitur des Wohnzimmers, heute allein ein Vermögen wert! Die Gaskrone mit Glasprismen, der rote Teppich, überall Vasen, Nippes, goldene Bilderrahmen -- eine kleine Palme in der Ecke, daneben ein Grammophon. Die Vorhänge und Gardinen kunstvoll drapiert über den Stangen. Das Schlafzimmer schneeweiß! Und peinliche Ordnung und Sauberkeit, bis auf den Staub, der sich da und dort angesammelt hatte. Alles in allem: ein behagliches Bürgerheim, die Wohnung eines Bürgers in guten Verhältnissen -- aber _verlassen!_ »Und da hausen Sie nun in diesem Loch, in dieser Mietkaserne -- und hier haben Sie eine prächtige Wohnung!« rief Kunze in äußerstem Erstaunen aus. Herbst entgegnete nichts. Er hatte den steifen Hut aufbehalten und saß zusammengekrümmt, so daß sein Gesicht nicht zu sehen war. Die schmalen Schultern in dem abgeschabten, rostfarbenen Havelock zitterten. »Ist es zu glauben? Ja eine prächtige Wohnung! Und Sie haben keine Angst vor Einbrechern? Mein Himmel! Tag und Nacht wird ja jetzt gestohlen in Berlin. Die Stadt wimmelt von Dieben und Einbrechern. Bataillone, Armeen von Dieben und Spitzbuben sind an der Arbeit!« »Niemand« -- krächzte hier der Havelock -- »kein Einbrecher würde es wagen. Auf der Schwelle würde er umkehren! Niemand!« Kunze lachte laut und belustigt. Er warf den dünnen Überzieher und das grüne Hütchen auf einen Sessel und schnüffelte von neuem durch die Wohnung. Er war ganz in seinem Element. Seine kleinen Augen, die stumpf und dumm hinter den Gläsern aussahen, glänzten vor Begierde. In Schränke, Schubfächer, Nachttische, sogar hinter Vorhänge steckte er die spitze Nase. Jedenfalls, das stand fest, jedenfalls würde er sich in den Besitz dieser Wohnung setzen -- er würde sie einfach für Dienstzwecke anfordern, ein Federstrich, und hier war er. Man konnte hier die verwöhntesten Damen empfangen -- und in welch elendem Loch hauste er doch zurzeit! In der Küche streckte er vor Überraschung die Zunge aus dem Munde. Ahnungslos, ja, ohne überhaupt etwas zu denken, hatte er dieses Spind geöffnet, und siehe da: Wein, Wein, Flasche an Flasche! Bordeaux, Burgunder, Mosel, drei, vier Dutzend, und alles Friedensware! Nicht zu bezahlen heute. Wein, seine Wonne, seine --! Im Nu, völlig automatisch, hatte er eine Flasche entkorkt. Und das Geheimnis dieses kleinen Alten, der dunkle Punkt? Es war ihm nicht bange. »Welche Reichtümer, Herr Herbst!« lachte Kunze, als er mit der Flasche aus der Küche zurückkam. »Ein sonderbarer Heiliger sind Sie! Nun wollen wir aber Ihre Heimkehr in Ihre Wohnung feiern. Ich darf eingießen? Nun, ein Gläschen werden Sie nicht ausschlagen, wie? Ja, herrlich ist es hier, direkt anheimelnd, als ob ich zu Hause wäre.« Ohne Umstände machte er es sich auf dem Plüschsofa bequem. »Auf Ihre Gesundheit, Herr Herbst!« Herr Herbst hatte den Hut abgenommen -- aufgeschreckt durch das laute Freudengeschrei in der Küche und das Knallen des Korkes -- und sein kleiner, gelber, verrunzelter Kopf erschien Kunze wie eine Rübe, eine wirkliche Rübe, die da und dort schon etwas Schimmel angesetzt hat. »Ja, direkt anheimelnd. Ganz wie bei uns zu Hause. Mein Vater -- sagte ich Ihnen das schon? -- ist Prediger in einem Kirchspiel. Liebt sein Weinchen, seine Zigarren und lobt den Herrn! Ja, so ist er nun einmal, sehen Sie. Sobald er aber in seinen Talar schlüpft, versteht er keinen Scherz mehr, nein, ich bitte Sie -- um Gottes willen, ernst, würdevoll, der Hirte seiner Schäfchen. Als nun der Krieg ausbrach, da sagte er zu mir: >Melde dich sofort, eile zu den Fahnen, es ist deine sittliche Pflicht, ziehe hinaus. Kämpfe<, so redete er -- der kategorische Imperativ -- Kant -- er ist Philosoph, mein Vater -- ah, ah, was für ein Weinchen!« Auf der Kommode, dem roten Plüschsofa gegenüber, stand in einem breiten Rahmen die vergrößerte Photographie eines jungen Soldaten mit frischem, keckem Jungengesicht. Ein Jäger, feldmarschmäßig ausgerüstet, den Gewehrlauf mit Blumen geschmückt. Der Rahmen des Bildes war mit Trauerflor umhüllt, ein Paar Leuchter mit herabgebrannten Kerzen, standen davor. Das war er wohl, sein Sohn, der gefallen war. Wie hieß er doch -- Robert. An der Wand, über dem Jäger mit dem frischen Jungengesicht, aber hingen zwei Bildnisse in ovalen Rahmen: eine etwas korpulente Dame mit voller Büste, vollen Wangen, einem kleinen Fettkinn und auffallend großen runden Augen. Die Dame lächelte freundlich, gutmütig, ein bißchen verlegen. Eine Kette mit einem großen Kreuz trug sie um den Hals. Daneben: ein Herr, etwas hochmütig, voller Würde, das volle dunkle Haar peinlich gescheitelt, die Augen zuversichtlich in die Ferne gerichtet. Im Gehrock, schmaler schwarzer Binde -- ein Beamter, der bei seinem Vorgesetzten Besuch macht. Sah man die korpulente, freundlich lächelnde Dame an, so schien sie augenblicklich den kleinen Mund zu öffnen und zu plappern, zu sprudeln -- der Herr aber, würdevoll, blieb stumm, schweigsam. Die Hand hatte er etwas steif und gravitätisch zur Hälfte in den schwarzen Gehrock geschoben -- eine kleine Hand . . . ». . . schlage sie aufs Haupt --« sagte also mein Vater, er ist glühender Patriot -- »diese vom Teufel Besessenen, die aus Neid und Rachsucht über unser geliebtes Vaterland herfallen -- schlage ihnen die Schädel ein, zerreiße sie in Stücke -- der Herr will es! Sofort packst du deine Sachen! Nun, mit dem Felde war es ja leider, leider nichts. Ich sagte Ihnen ja schon, meine Lunge. Aber jeder nach seinen Kräften, nicht wahr? Das war nun nicht ganz nach dem Geschmack --« Plötzlich stockte Kunze. Er war in das Studium dieser kleinen Hand des Beamten im schwarzen Gehrock versunken. Er stutzte, rückte den Kneifer zurecht -- schlürfte am Glas. Hm! War es denkbar? Wie, wie, wie, sollte er, dieser Würdevolle, Gemessene, Schweigsame, mit dem zuversichtlich in die Ferne gerichteten Blick --? Und diese fahlgelbe -- Rübe, etwas angeschimmelt, mit Erlaubnis zu sagen -- sollte sie --? Ja, unmöglich, ganz unmöglich! Und doch, diese Hand, das kleine Näschen und selbst das kurze Schnurrbärtchen, jetzt zwar grauer und schäbig -- so unglaublich es erschien, dieser Ernste, Würdevolle in seinem Gehrock, und der Kleine, Glatzköpfige, Vertrocknete, Verkommene, mit den entzündeten, vergilbten Augen, sie waren in der Tat ein und dieselbe Person! Kunze verlor vor Erstaunen völlig den Faden seines Geschwätzes. Er erhob sich und tupfte das Gesicht mit dem Taschentuch. Hm. Er polierte den Kneifer, ging auf und ab und verschwand schließlich in der Küche, um eine neue Flasche zu holen. Seine Miene hatte sich verändert, als er zurückkehrte. Sachlich und kühl betrachtete er den kleinen Herrn Herbst. Er goß die Gläser voll, räusperte sich und begann: »Aber genug mit dem Schwatzen jetzt« -- ruhig und geschäftsmäßig klang seine Stimme -- »Wir haben, wie ich mir schon zu bemerken erlaubte, keine Zeit zu verlieren, der Major drängt, nun, er wird wieder von dem Oberst gedrängt, Sie wissen ja, wie es beim Militär zugeht. Seitdem sich nun diese hohe Persönlichkeit in die Sache gemischt hat --« »Eine hohe Persönlichkeit?« Herr Herbst horchte plötzlich auf. »Ja, ja. Ich kann Ihnen nicht _mehr_ sagen. Es ist einer der sonderbarsten Fälle, die die Abteilung seit langer Zeit zu bearbeiten hatte.« »Eine hohe Persönlichkeit?« »Ein sonderbarer Fall. Nicht Sie allein erstatteten in dankenswerter Weise Bericht -- nein, auch von anderer Seite werden gleichzeitig, hören Sie, _gleichzeitig_, Informationen verlangt -- aber, erlauben Sie, daß ich abbreche . . . Ich bin zu meinem Bedauern genötigt, zur Abrundung meiner Nachforschungen über Ihre werte Persönlichkeit, eine Frage an Sie zu richten, dienstlich. Ein einziger Punkt noch, wie gesagt. Bevor ich aber diese Frage an Sie richte, bitte ich ergebenst, dieses Schriftstück lesen zu wollen.« Mit einer gemessenen Feierlichkeit überreichte der Schmächtige einen auf Leinwand aufgezogenen Ausweis. Der kleine Herr Herbst las ihn mit seinen entzündeten Augen, las, verstand und zitterte. Schwarz auf Weiß war hier zu lesen, daß Herr Gottlieb Kunze berechtigt war, Verhaftungen vorzunehmen . . . »Sie haben Kenntnis genommen --?« »Ja, ja -- Kenntnis --« »Nun, und so richte ich also die Frage an Sie --« Der Havelock erhob sich erbleichend. Zwei scharfe, messerscharfe Augen richteten sich auf ihn. Der Kneifer funkelte. »Herr Herbst -- ich scherze jetzt nicht mehr!« »Nein, nein!« stotterte der alte Mann. Die messerscharfen Augen kamen näher. Kunze hatte jetzt den Kneifer abgenommen. »Weshalb haben Sie --?« »Nein, nein -- ah, Gott im Himmel!« »Weshalb haben Sie Ihre Wohnung verlassen?« Augenblicklich brach der kleine alte Mann zusammen. Er bedeckte das Gesicht mit den kleinen Händen und sank in den Sessel. »Herr Herbst!« Sofort fuhr der kleine alte Mann wieder auf und wich zurück. »Ich kann nicht -- ich kann nicht -- so wahr Gott lebt --« rief er und richtete die Augen flehend auf Kunze. »Herr Herbst!« Eine Hand erhob sich. Der kleine alte Mann wich zum Fenster zurück und faßte nach dem Fensterkreuz. Die Hand griff nach den Rockschößen. »Aber, Sie werden doch nicht --? Kommen Sie!« Ohne jeden Widerstand ließ sich der kleine alte Mann von Kunze zum Sessel zurückführen. »Beruhigen Sie sich«, sagte die kalte, dienstliche Stimme. »Haben Sie Vertrauen. Berichten Sie. Ich selbst werde Ihr Anwalt sein, die Sache so darstellen . . . einerlei, was es auch sei -- bitte, trinken Sie, so, so! Auch ich bin ja ein Mensch. Aber die Pflicht, Sie verstehen --« Der kleine alte Mann nickte. Kunze selbst war totenbleich geworden vor Erregung. Sein Spitzelgehirn arbeitete -- sensationelle Enthüllungen, ein Staatsverbrechen, Vorgesetzte, Beförderung, das Eiserne Kreuz . . . »Sie waren ja selbst Beamter und wissen, was es bedeutet, dienstlich --« Der kleine alte Mann rang die Hände und schluchzte. Dann setzte er sich aufrecht, gab sich Haltung -- ganz wie auf dem Bilde an der Wand, ein Schatten der früheren Erscheinung. »Ich weiß, weiß, auch ich war Beamter. Nun gut, da Sie dienstlich Auskunft verlangen -- ich werde versuchen, Ihnen eine Erklärung zu geben. Es fällt mir schwer, meine Gedanken, meine Worte -- alles ist nicht mehr wie früher -- Gott im Himmel, es ist ja unmöglich, es zu sagen --« »Beruhigen Sie sich. Wir haben ja Zeit, können den Abend in aller Ruhe zusammen verbringen.« »Wir hatten also einen Kanarienvogel --« begann der kleine alte Mann stammelnd. »Kanarienvogel? Fahren Sie getrost fort.« »Einen Kanarienvogel -- namens Hansi. Dieses Tierchen flog immer in der Stube umher, in allen Stuben, machte etwas Schmutz, aber wir liebten das Tierchen -- und meine Frau liebte Hansi ganz besonders . . .« »Ich verstehe, die Damen --« »Ja, aber was wollte ich eigentlich? Hansi? Was hat Hansi damit zu tun? Sie können noch den Käfig in der Küche finden. Ja, aber was sollte er --?« »Überstürzen Sie nichts -- eines um das andere.« »Hm. Sie wurde immer merkwürdiger, ja, das war es. Sie sprach eigentlich nur noch mit dem Vögelchen.« »Ihre Frau?« »Ja, sie. Immer stiller und merkwürdiger. Ich selbst, ich ging ja aus, ging in eine Kneipe, trank -- Sie verstehen, es ist nicht nötig zu sagen, weshalb ich trank.« »Unser Junge war ja unser ganzer Lebensinhalt geworden. Ich war in Pension gegangen, und wir waren seiner Studien halber nach Berlin gezogen. Da kam der Krieg, er wurde Soldat, Jäger, und schließlich kam er ins Feld. Eines Tages aber, da kam die furchtbare Nachricht -- eines Tages . . .« »Er war gefallen.« »Gefallen?« »Ja, natürlich, Sie sagten --« Der kleine alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht gefallen, Herr,« flüsterte er, »in den Tod gehetzt -- ich habe Unterlagen, Briefe -- geschlachtet, nutzlos --« »Sie sollten nicht derartig schwere Anschuldigungen erheben gegen gewisse Persönlichkeiten«, warf Kunze nicht ohne Strenge ein. »Nun gut, gefallen, ganz wie Sie wollen. Es wurde immer stiller hier, immer stiller -- meine Frau verließ nicht mehr die Wohnung, keinen Schritt tat sie über die Schwelle. Sie saß immer hier. Aber plötzlich saß sie nicht mehr, sondern sie stand -- hören Sie -- zuerst mitten im Zimmer, dann nur noch in den Ecken.« »Sie war wohl schwermütig geworden?« »Ja, schwermütig. Sie ertrug es nicht, nein, es war zuviel für sie! Zuviel, zuviel! Und nun, eines Abends komme ich spät nach Hause. Es war Mondschein. Ich sah also ziemlich gut. Und da steht sie also hier -- unter der Türe. Hier, sehen Sie.« »Ja!« »Aber sehen Sie -- sie stand so _hoch!_ Nun, denke ich -- da ist wieder mal Hansi auf den Schrank geflogen, wie häufig, und sie will ihn einfangen -- aber plötzlich, da sehe ich . . . Da kommt es mir eigentümlich vor, ei . . ., ei . . . sie antwortet nicht. Aber sie antwortete häufig nicht mehr in dieser Zeit. Nun aber, da denke ich -- da sehe ich -- worauf stand sie eigentlich? Sie stand auf nichts! Ihre Füße waren abwärts gerichtet -- und darunter war nichts -- nur Mondlicht -- nichts sonst -- ich sah es ganz klar und deutlich . . . sie schwebte in der Luft . . . und da begriff ich es . . . dieser Augenblick -- --« Enttäuschung in den Zügen des schmächtigen jungen Mannes! Er hatte etwas ganz Besonderes erwartet -- und nun eine alltägliche Geschichte, wie sie sich während des Krieges hundertmal in Berlin ereignete. Der kleine alte Mann röchelte. Er sprang auf und schleuderte die kurzen dünnen Arme wild durch die Luft. Er ballte die kleinen gelben Fäuste und schüttelte sie in Raserei. Sein Gesicht verzerrte sich, die gelben Zahnstumpen blinkten, Schaum trat vor seine Lippen. »Und alles daher --« schrie er außer sich, und sein Gesicht wurde plötzlich blau, so daß Kunze erschrocken zurückwich -- »alles daher, daher! Deshalb hasse ich ihn -- hasse ihn, den Hoffärtigen, hasse ihn . . . mit diesen Händen werde ich -- so wahr mir Gott helfe . . . hasse ihn --« »Hasse -- hasse . . .« Seine Hände zuckten. Und plötzlich stürzte der kleine alte Mann zu Boden. Er war ohnmächtig geworden. * * * * * Das Grammophon neben der kleinen Palme in der Ecke grölte: Die Vöglein im Walde, Die singen ja so wunderwunderschön, In der Heimat, in der Heimat, Da gibt's ein -- ha! ha! ha! Ja, die Platte war verdorben, und immer am Schluß -- beim Wiedersehn -- lachte der Apparat. Und immer mußte Kunze aufspringen und die Kurbel neu andrehen. Kunze lag auf dem Sofa und schlug mit den geflickten, glänzend gewichsten Stiefeln den Takt auf dem Armpolster. Zuweilen unterbrach er sein Geschwätz und sang eine Strophe des Soldatenliedes mit, zuweilen auch rülpste er, mit Respekt zu vermelden. Eine Reihe leerer Flaschen stand auf dem Tisch mit der gestickten, lachsroten Decke -- dem Stolz der Freundlichen, Korpulenten an der Wand. Herr Herbst saß mit roten Bäckchen, die Äuglein glänzend vom Wein, und paffte eine kleine schwarze Zigarre. Er trank nicht aus dem Glas, o nein, Kunze hatte so etwas noch nie gesehen, er setzte einfach die Flasche an den Mund und ließ den Wein in die Kehle hineinlaufen. Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte er Kunze zu. »-- und auf diese Weise, sehen Sie, Verehrtester, kam ich also zu G III.« »G III?« »Ja, G III. So heißen wir. Nur eine Chiffre. So geheim sind wir, ganz geheim -- pst, pst! Ja, nicht einmal einen Namen haben wir.« »Viele Beamte?« »Viele?« Kunze lachte und richtete sich zur Hälfte auf. Das Gesicht des kleinen Herrn Herbst erschien ihm nun langgezogen, mit turmhoher Stirn, wie in einem Lachkabinett. »Viele, sagen Sie?« wiederholte er geheimnisvoll und wichtigtuerisch. »Viele? -- Wir sind _Legion!_« »Legion?« Die turmhohe Stirn sank in sich zusammen, und eine runde Rauchwolke erschien an ihrer Stelle. Herr Herbst war vor diesem Wort zurückgeprallt und hatte erschrocken den Rauch ausgestoßen. »Ja, Legion, überall und allgegenwärtig. Selbst da, wo uns niemand vermutet. Ja ja, mein Verehrtester -- überall. In allen Städten Deutschlands -- bei allen Generalkommandos -- bei allen Behörden -- bei der Post, Eisenbahn -- in den Ministerien -- G III ist einfach überall.« In der Heimat, in der Heimat, Da gibt's ein -- ha! ha! ha! Kunze schnellte in die Höhe, und augenblicklich begann der Trichter von neuem zu heulen: Ich hatt' einen Kameraden . . . »Ja, überall. Niemand weiß, ob das Auge von G III nicht auf ihn gerichtet ist. Selbst ich weiß es nicht, ob ich nicht selbst wieder beobachtet werde! Ja, so ist es, bei Gott! Alle Kulturstaaten haben diese Einrichtung, geben Millionen dafür aus -- unsere Organisation ist sogar noch klein im Vergleich zu der anderer Großmächte. Klein, im Verhältnis, aber sie arbeitet zuverlässig. Sie können mir ruhig glauben.« »Wir öffnen Koffer unterwegs, so daß der Eigentümer es nicht merkt, besonders das Öffnen von Briefen ist unsere Spezialität. Wir überwachen die Korrespondenz von Tausenden!« »Wir nehmen ganz einfach Abschriften, und wenn es besonders interessante Fälle sind, photographische Kopien. Wir wissen alles, wir kennen die Geheimnisse der höchsten Persönlichkeiten. Wir erscheinen als Kellner in den Restaurants, wo irgendeine besondere Sitzung veranstaltet wird, da sind wir dabei. Selbst bei den hohen Würdenträgern unserer Verbündeten haben wir unsere Agenten. Wir bohren Löcher durch Türen und öffnen Schreibtische. Fürsten, Minister, Abgeordnete -- wir kennen ihre geheimsten Gedanken.« »Ja, wir machen alles! Ihr junger Schützling, Verehrtester -- er ist in guten Händen. Und auch jene hochgestellte Persönlichkeit, die sich für den Lebenswandel ihres Töchterchens interessiert -- auch sie wird zufriedengestellt werden. Ja, wir machen alles. Und Sie und ich -- was glauben Sie? -- wir werden einen Orden erhalten -- auch Sie, hören Sie! Ich werde dafür sorgen, ich! --« Aber da der Havelock selbst bei dieser blendenden Eröffnung still blieb, hob der Semmelblonde wiederum den Kopf über die Tischplatte. Das Gesicht des kleinen Herrn Herbst hatte sich abermals völlig verändert, es war ohne Augen, ohne Nase und ohne Mund, dagegen umgeben von einem dünnen, grauen Backenbart. Es war die Glatze des kleinen Herrn Herbst, der eingeschlafen war. In diesem Augenblick geriet der Havelock ins Gleiten, und ohne Laut sank er auf den Boden. »Und noch eine Mosel -- und noch eine Mosel -- dreimal hoch!« sang Kunze mit hellem Tenor und begab sich im Foxtrott hinaus in die Küche. Fürchterlich schlingerte das Haus. »Gloria -- Viktoria --« heulte das Grammophon ganz allein für sich. 12 Vor dem grauen Hause in der Tiergartenstraße hielt Ackermann den Schritt an. Unendlich zart umschlang ihn ein Arm. »Ich werde mir Mühe geben«, flüsterte eine weiche, unendlich geliebte Stimme. »Ich weiß es!« »Ich werde versuchen, stark zu sein, obschon ich wenig Mut habe.« »Du bist tapfer.« »Wann?« »Bald!« »Du wirst mir Nachricht geben?« »Du wirst es fühlen.« »Ja, ich werde es fühlen!« »Lebe wohl!« Eine Weile wartete Ackermann noch, bis die Haustüre ins Schloß fiel. Zweites Buch 1 Der Leichnam des jungen Heinz war nach Berlin gebracht worden. An einem hellen Frühlingstag wurde er in die Erde gebettet. Die Kampfstaffel hatte den jungen Meerheim mit einem Kranz geschickt. Der Trauerzug war nur klein. Ohne eine Träne im Auge folgte die Majorin Sterne-Dönhoff dem Sarge ihres Sohnes, die Schwestern weinten leise und schüchtern. Etwas hinter dem kurzen Trauerzug, dicht verschleiert und schwarzgekleidet wie eine Witwe, ging Klara, deren schmale Schultern von einem ununterbrochenen Schluchzen geschüttelt wurden. Heinzens Freunde, Schüler, Knaben, sangen des Gefallenen Lieblingslied: Deutschland, Deutschland über alles. Die Majorin hatte es gewünscht. Sie selbst stimmte in das Lied ein, während sie mit verklärtem Lächeln in die Weite des Frühlingshimmels blickte. Der junge Meerheim sprach einen kurzen Nachruf, mit unbewegter, soldatisch scharfer Stimme; acht Tage später wurde er selbst im Luftkampf getötet. Noch nicht neunzehn Jahre alt, war Heinz gefallen. Klara preßte das zusammengerollte Taschentuch zwischen die Zähne. Sonderbar, und nicht die leiseste Ahnung! Am Abend vorher hatte noch ihr Stern so herrlich und verheißungsvoll gefunkelt. Es war an dem Morgen nach Doras Fest geschehen -- gerade in der Stunde, da sie einschlief. Meerheim sah die Maschine stürzen. Einige Tage vorher -- sie erinnerte sich dessen -- hatte sie von Heinz geträumt. Er stand auf dem Flugplatz, die grüne Wollmütze auf dem Kopf, und auf seiner Brust glitzerte in der Sonne das Medaillon. Er spielte mit einem kleinen Dachshund, und Schwärme von furchtbar anzusehenden Flugzeugen, mit barbarischen Farben bemalt, rasten über ihn hin. Aber er sah sie gar nicht, spielte mit dem Hunde -- man konnte diesen Traum wohl nicht eine Ahnung nennen? Ohne jede Sorge, ja, mehr, mit dem Gefühl der Sicherheit, war sie nach Doras Fest schlafen gegangen, glücklich und voller Hoffnungen. Vor wenigen Tagen aber fuhr sie in die Stadt. Nach ihrer Gewohnheit kaufte sie in einem Kiosk der Untergrundbahn wahllos einen Stoß Zeitungen. Wie viele Menschen, war sie zu einer fanatischen Zeitungsleserin geworden, es war eine förmliche Krankheit bei ihr. Plötzlich war es ihr, als ob sie seinen Namen gelesen habe! Unglaublich zwar -- aber hatte er ihr nicht oft gesagt: gib acht, eines Tages wirst du plötzlich meinen Namen in den Zeitungen lesen, und wie überrascht wirst du sein! Sie blätterte, und richtig -- da stand sein Name: Heinz Sterne-Dönhoff. Sie las, und sie begriff zuerst nicht. Nachdem vor knapp einem Jahre sein Vater, der Major Sterne-Dönhoff, den Heldentod . . . Sie las die Unterschriften, und plötzlich begriff sie. Sie warf ihre Zeitungen auf den Sitz, daß sie umherflatterten, und rannte durch den Wagen. »Er ist tot,« schrie sie, »ich will hinaus!« »Aber Sie sehen doch, daß der Zug fährt, Sie können doch nicht aussteigen«, sagten die Herren, die die Türe verbarrikadierten. »Sie zerschmettern sich den Kopf, liebes Fräulein.« Da fuhr der Zug in einen Bahnhof ein, und Klara stürzte hinaus. »Es ist schrecklich, jeden Tag erlebt man jetzt derartige Szenen. Gestern sprang eine Frau auf dem Bahnhof Spittelmarkt vor den Zug und ließ sich überfahren. Ich sage Ihnen, es war entsetzlich -- dieser Schrei!« »Hören Sie auf, ich kann von solchen Dingen schon gar nichts mehr hören --« Arme, kleine Klara, sie begriff es noch heute nicht. -- Ja, nun wollte sie es wagen. In Gottes Namen! Sie drückte auf die Klingel und gab ihre Karte ab. Diese Karte war schwarz umrändert. Klara war so tief und dicht verschleiert, daß man kaum noch einen Schimmer des Gesichts sah. Das Mädchen kam nach auffallend langer Zeit zurück und forderte sie auf, einzutreten. Die Majorin Sterne-Dönhoff und die beiden Schwestern waren im Zimmer. Ach, ihre Gesichter, überall Heinz, in allen Linien. -- »Was verschafft uns die Ehre?« fragte die Majorin Dönhoff mit einem prüfenden Blick aus ihrem gelblichen, langen Gesicht. »Ich bin --« stammelte Klara, »ich wollte gern --« »Ich verstehe Sie nicht!« sagte Frau v. Sterne-Dönhoff leise. »Wollen Sie bitte Platz nehmen!« Die Schwestern starrten verlegen. »Ich wollte nur,« begann Klara wieder, »Sie besuchen«, und plötzlich fing sie an zu schluchzen. »Was haben Sie nur, mein liebes Fräulein?« Stille. »Ich bin seine Verlobte!« stammelte Klara. Wiederum Stille. Da niemand etwas sagte, fuhr Klara fort: »Ich war seine Geliebte.« Die Majorin fiel ihr ins Wort. Kühl und förmlich sagte sie: »Mein Sohn hatte keinerlei Geheimnisse vor mir. -- Geht hinaus!« herrschte sie die beiden Schwestern an, und sie verließen sofort gehorsam das Zimmer. »Wie sagten Sie? Seine Geliebte?« Die Majorin dämpfte die Stimme. »Ja. Ich bin seine Geliebte.« »Aber wissen Sie auch, was Sie sagen?« »Vollkommen.« »Sie wollen also sagen« -- die Majorin stockte -- »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie mit Heinz in Gemeinschaft gelebt haben?« Klara zuckte zusammen und hob den hilflosen, wunden Blick zu den graublauen Augen empor. Sie errötete. »Nein, nicht das --« stotterte sie. »Das wollte ich nicht sagen.« Auch über das gelbe, lange Gesicht der Majorin huschte ein dünnes Rot. Erleichtert und etwas freundlicher sagte sie: »Nun, dann danke ich Ihnen herzlich für Ihren Besuch, mein liebes Fräulein!« Sie versuchte, ihrer Stimme sogar einen warmen und aufrichtigen Klang zu geben. Aber als Klara sie mit fassungslosen Augen ansah, fügte sie flüsternd hinzu: »Sollten Sie vielleicht irgendwelche Ansprüche zu stellen haben?« Fassungslos waren die wunden Mädchenaugen auf sie gerichtet. Da lächelte die Majorin und streckte Klara die Hand hin. »Herzlichen Dank, mein Kind. Wie heißen Sie?« Aber Klara antwortete nicht, ihr Blick glühte. Sie berührte diese lange, gelbe, entsetzliche Hand nicht. Sie wich zurück, verbeugte sich tief, sehr tief, und ging hinaus. Die beiden Schwestern lugten durch die Türspalte. »Von ihr ist die Locke, die er in dem Medaillon trug«, flüsterte die eine, und die Stimme der Majorin rief: »Emma, Bertha.« Klara befand sich wieder auf der Treppe. Ach, und die kleine, törichte Klara hatte sich zu Hause ausgedacht, daß sie vor der Majorin und den Schwestern in die Knie fallen werde, um ihnen zu sagen, daß sie gekommen sei, den Schmerz mit ihnen zu teilen. Sie wollte ihnen die Hände küssen und mit ihnen weinen. Sie war ein Kind und wußte nichts um die Eifersucht einer Mutter. Betäubt und völlig fassungslos stieg sie die Treppe hinab. Es war die Treppe, über die sein Schritt eilte. Sie berührte sie liebkosend mit den Fingerspitzen. Sie wollte diese Treppe auch küssen -- aber in diesem Moment wurde ein Kinderwagen aus einer Türe geschoben, und sie entfloh. Aber sie kam wieder, als die Damen Sterne-Dönhoff ausgegangen waren, und sie küßte die Treppenstufen und kniete auf ihnen. Dreimal kam sie im Laufe der nächsten Wochen und schlich wie ein Dieb durch das Treppenhaus. Einmal war es schon ganz finster. Dann kam sie nicht mehr. * * * * * Das Paradies war versunken, nichts blieb als Finsternis, unendlich -- und inmitten dieser finsteren Unendlichkeit stand sie, Klara, die Hände auf ihr zuckendes Herz gepreßt. Solange Papa zu Hause war, mußte sie die Trauerkleider ablegen. Sie wollte Papas Fragen vermeiden. Zuweilen schon streifte sie bei Tische sein Blick -- ihre Augen waren gerötet, ohne Glanz, ihre Wangen ohne Farbe. Papa, ihr armer Papa, der ohnehin in den letzten Tagen so auffallend erregt, ja verstört war. Mehr, als er es sich merken ließ, schien ihm Hedis Rücksichtslosigkeit nahe zu gehen. Ja, diese Hedi hatte es tatsächlich übers Herz gebracht, das Haus zu verlassen. Anfangs war sie nur selten und sehr unregelmäßig gekommen, sandte immer Boten mit Briefen -- Arbeit, unerwartete Vorkommnisse. Schließlich kam sie gar nicht mehr. Ganz unmöglich, dieser Weg -- und Arbeit, Tag und Nacht mußte man zur Stelle sein. Der Geheime Rat -- nie hätte es Klara für denkbar gehalten, fügte sich, ohne den Versuch eines Widerstandes. Er ging wohl etwas erregt hin und her und knackte mit den Fingern, zupfte an seinen dünnen Barthaaren. Er hatte Bedenken ohne Zweifel, schwere Bedenken! Ein Herr Ströbel oder Herr v. Ströbel -- ein während des Krieges reich gewordener Mann -- hm! Aber schließlich: er besaß kein Vermögen, und da er kein Vermögen besaß, so war auch seine Karriere so gut wie abgeschlossen -- derselbe Schreibtisch, derselbe Aktenständer, derselbe Spucknapf -- bis zur Pensionierung. Ja, was war da zu tun? Wieder knackte er mit den Fingern. Bei dem heutigen Geldwert konnte er seinen Töchtern nichts mehr bieten, gar nichts mehr. Sie mußten selbst sehen -- Es war gar nichts zu tun, mit einem Wort. Und übrigens hatte er gerade jetzt, gerade in diesen Tagen, ganz andere Sorgen! Schlaflos verbrachte er die Nächte. Ein ungeheures Mißgeschick, wenn man so sagen darf, war ihm widerfahren: es gehörte zu seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt, die deutschen Interessen in drei fernen exotischen Ländern zu vertreten. Zu diesem Behufe veröffentlichte er mit Unterstützung eines Universitätslehrers jeden Monat ein Korrespondenzblatt, dessen sich die Presse allerdings nur wenig, ja, man kann getrost sagen, gar nicht bediente, leider. Nun aber hatte eines der exotischen Länder an Deutschland den Krieg erklärt -- und ihm, ihm war es völlig entgangen! Das letzte Korrespondenzblatt hatte sogar noch einen lobenden, beruhigenden Aufsatz aus der Feder seines geschätzten Mitarbeiters enthalten, und doch lebte man mit jenem Lande schon seit drei Wochen im Krieg! Welches Mißgeschick! Wenn der Minister es, bemerken sollte --? Allerdings waren ja schon drei Wochen vergangen, und niemand hatte bis jetzt etwas bemerkt, vielleicht ging der Kelch noch einmal an ihm vorüber! Das waren die Sorgen des Geheimen Rats, und es war ihm natürlich zurzeit gänzlich unmöglich, sich viel um seine Töchter zu bekümmern. Es war ja schließlich keine Schande, wenn Hedi Schreibmaschine schrieb und Briefe abfaßte -- und sie bekam mehr Gehalt sogar als er. -- Es schien ihr gut zu gehen, hatte sie doch kürzlich sogar eine Gänsekeule in Gelee geschickt. Im übrigen war ihm der Charakter Hedis Bürgschaft genug . . . Der wilde Schmerz trieb Klara in diesen Tagen sogar zu Hedi, obschon sie sich vorgenommen hatte, die Schwester in Zukunft zu ignorieren. Aber Hedi hatte wenig Verständnis für ihr Leid. Sie war gerade mit dem Einrichten ihrer Wohnung beschäftigt. Im Salon sollte eine Decke eingezogen werden -- mit goldenen Kassetten zwischen ultramarinblauen Balken -- nein, Hedi hatte gar kein Verständnis. Sie wollte ihr einen Frühlingshut schenken. Sie heuchelte ja Teilnahme, aber Klara fühlte nur zu deutlich -- Sie kam auf den Gedanken, Ruth zu besuchen. Ruth? Weshalb Ruth? Sie hatte sie nur einigemal gesprochen -- kannte sie kaum, aber instinktiv suchte sie bei ihr Zuflucht. Indessen Ruth war nicht da! Der General trat zufällig in die Diele. »Meine Tochter ist nie zu Hause!« sagte er -- wie es Klara schien -- mit Bitterkeit in der Stimme. Feierlich und prunkend -- diese Diele. Dunkle Gemälde in breiten Rahmen, ein riesiger Spiegel und davor zwei Neger aus Bronze oder Eisenguß, die hohe Kerzen trugen. Voller Mißtrauen schien der General sie zu betrachten, sein Blick war prüfend und unbehaglich, ganz wie der Blick von Frau v. Sterne-Dönhoff. Die sie haßte und verachtete. Ja, wohin? Schließlich kam sie auf den Gedanken, Dora aufzusuchen. Sie beichtete Dora alles! Aber Dora hatte ebenfalls kein Verständnis für ihren Schmerz. Sie küßte sie, nahm sie in die Arme und drückte sie an ihr Herz. Sie versuchte sie zu trösten -- sagte, es sei ein Verbrechen, Kinder, wie Heinz, in diese Metzelei zu schicken -- aber sie hatte gerade die Schneiderin im Hause, und ihr Kopf war erfüllt von Frühjahrs- und Sommertoiletten, man mußte ja jetzt schon an den Sommer denken. Schließlich kam Otto dazu, und Otto betrachtete sie mit neugierigen Blicken, die Klara unangenehm waren. Sie ging. Allein, ganz allein mußte die kleine Witwe ihren Schmerz tragen. Sie wußte noch nicht, daß der Mensch in seinem Schmerz immer allein steht. Wie eine Verzweifelte irrte sie Tag für Tag, bis in die späte Nacht hinein, durch die Straßen. Für ihn die Flaggen -- mein Geliebter, mein Held! -- für ihn das feierliche Geläute der Glocken! Niemals würde sie auch nur die Hand eines andern Mannes berühren! Sie war seine Witwe. Sie war freundlich zu den Menschen gewesen und selbst freundlich zu den Hunden auf der Straße. Nun ging sie dahin, ohne den Blick zu erheben. Zeitungen, Extrablätter, die Menschen rannten, stürmten, rissen gierig die Blätter in Stücke -- was kümmerte es sie? Selbst die Wagen der Untergrundbahn waren überschwemmt mit Zeitungen. Man hatte den Faustkampf um den Platz in diesen Tagen etwas gemildert -- es war ja nicht unmöglich, daß bald alles wieder anders würde. Siege, Siege! Jeden Tag! In der Ecke des Wagens starb eine kleine Stenotypistin -- still, ohne einen Laut von sich zu geben. Von der Station Kaiserhof an wurde sie bleicher und bleicher, als der Zug am Spittelmarkt einlief, war sie schon tot. Man trug sie hinaus. Tot? Ja, vielleicht war es das beste? Klara wurde nicht müde in diesen schrecklichen Tagen, obschon sie nachts kein Auge zutat. Denn nachts flossen die Tränen ganz von selbst und brachten Linderung. Kreuz und quer irrte sie durch die dunkeln Straßen. Schatten taumelten gegen sie, Schatten krochen vor ihr, Schatten stürzten hinter ihr her. Plötzlich erschrak Klara: ein alter, haariger Schimmel stand mitten auf dem Trottoir. Sie stand an einem stillen Kanal, in einer ihr völlig fremden Gegend. Aus dem schwarzen Wasser blinzelte winkend ein Licht, tief unten. Die dunkeln Häuser hinter ihr begannen allmählich zu rücken und zu wandern. Leichen von Firmenschildern, Leichen von Riesenbuchstaben wanderten langsam, unendlich langsam vorüber. Kein Mensch weit und breit. Verlassene Wagen, verlassene Bretterhaufen, verlassene Kähne, die Pest hatte die Menschen mitten aus der Arbeit weggeholt. Da erscholl über dem schweigenden, schwarzen Wasser ein fürchterliches Gelächter -- ein unheimliches Lachen, das Lachen des Wahnwitzes -- Klara erschauerte. Sie befand sich hinter dem alten Schloß, und es schien ihr, als käme das Gelächter aus der finstern Burg. Ein Eishauch ging von dem stillen, toten Schloß aus. Es schien verlassen, bewohnt einzig von einem Gespenst, das diese fürchterliche Kälte aushauchte. Starrte es nicht durch die schwarzen Fenster auf sie? Und da -- seine eisige Hand griff durch die Mauern und berührte ihr Herz. Klara entfloh. Das wahnwitzige Gelächter scholl hinter ihr her. Endlich Licht. Ein Kino. Eine dicke Zeitungsfrau rannte an den grellen Plakaten vorüber und krächzte heiser und ununterbrochen: »Zwanzigtausend Gefangene -- die Schlacht geht weiter --« 2 Nebel. Sonderbar, den ganzen Tag über Regen, gegen Abend etwas Sonne und ein feuchter Wind und nun, in der Nacht, Nebel. Herr Herbst bog um die Ecke und nieste. Er war erkältet. In dieser Straße stand der Nebel noch dichter. Ein unheimlicher Riese kam ihm entgegengestampft, in einige Lagen von Pelzen eingehüllt, eine hohe Pelzmütze auf dem dicken Schädel, aber er schrumpfte mehr und mehr zusammen, und schließlich ging nur ein kleiner harmloser Mann an ihm vorüber. Ein qualmendes Feuer mitten in der Straße und tanzende Kannibalen um das Feuer: keine Angst, es sind Straßenbahnarbeiter, die das Geleise ausbessern. Wie ein lehmiges Meer wälzte sich der Nebel dahin und schob Geröll vor sich her -- Häuser, Straßen, Häuserviertel, Stadtviertel, Vorstädte, immer weiter, bis hinaus zum flachen Land, wo es nichts gibt als Kartoffeläcker und Telegraphenstangen. Auch ihn schob das lehmige Meer willenlos vor sich her, ganz wie die Häuser und Stadtviertel mit all ihren Bewohnern. Seine Nase tropfte, er ging rasch, die Knie etwas eingeknickt, die Arme herabhängend. Müde war er, todmüde. Den ganzen Tag war er unterwegs. Er hatte einen neuen Plan ausgedacht -- teuflisch! Ja, teuflisch! Wo er ging und fuhr, sollte er ihn sehen -- immer, zu jeder Stunde des Tages sollte er erinnert werden -- _daran_! Als er aber wieder niesen mußte, zerflatterte die dichte schmutzige Nebelwolke, und -- wer hätte das gedacht? -- er erblickte einen kleinen üppigen Garten in praller Sonne! Er selbst ging in diesem Garten spazieren, in einem weißen Kittel, die goldene Uhrkette auf der Weste, einen breiten sonnenverbrannten Panama auf dem Kopfe. So deutlich! Es roch nach Kaffee, es war Sonntag, er roch sogar die Frische des Stärkhemdes, das er trug. Bald würde Muttchen -- dasselbe Muttchen, das später, viel später, wer hätte es ahnen können --? -- bald würde Muttchen kommen mit dem Kaffeekuchen, die Fingerspitzen etwas fett, die Lippen etwas glänzend von Fett . . . In diesem Augenblick stieß Herr Herbst mit jemand zusammen, der unwillig »Achtung!« rief. Der Garten verschwand, und der Nebel brodelte wieder. Der Zusammenstoß war so heftig, daß ihm der steife Hut über die Ohren getrieben wurde und er ins Taumeln geriet. Aber dieses ärgerliche schroffe »Achtung!« -- diese trockene Stimme, wie? Scheu wandte er sich um: sofort fiel ihm das grüne Plüschhütchen auf und der enge, zugeknöpfte Überzieher! Im gelben Dunst einer Laterne stand der schmächtige junge Mann im Gespräch mit zwei Männern mit Knotenstöcken. Das Plüschhütchen wackelte hin und her, die dünnen Arme gestikulierten aufgeregt -- aber da verschwanden sie schon aus dem Lichtschein der Laterne, der Nebel verschlang sie. Herbsts Herz pochte. Also schon waren sie bis hierher gekommen, bis hierher? Er zitterte und duckte sich zusammen. Düster lag das graue Haus, umbrodelt vom Nebel, und wie in jeder Nacht war nur das eine gleiche Fenster erleuchtet. Leise wie immer stahl sich Herr Herbst in sein Zimmer. Gottlob, daß er hier war! So müde --! Frau Hähnlein in ihrer Kammer betete. Mit schluchzender, verzweifelter Stimme -- aber leise, um die Kinder nicht zu wecken, flehte sie um Gottes Beistand, rief sie den Himmel um Hilfe an, ja, um Hilfe -- Grundlos wie das tiefe Meer war das Elend dieser Stadt, in allen Straßen, allen Häusern. Überall Unglückliche, Verzweifelte, Weinende, Schlaflose. Aus allen Häusern glühten die Augen von Wahnsinnigen in den Nebel. Der bucklige Wirt hatte recht: die Zeit der großen Heimsuchung war über die Welt gekommen. Die Menschen waren Sünder. Sünde! Sünde! Bodenlos wie das tiefe Meer! Und auch er, ja, auch er hatte Sünde auf Sünde gehäuft in seinem Leben! Er büßte -- schon büßte er, hatte er den steinigen Pfad der Sühne betreten. Daran dachte der kleine Herr Herbst, als er geschüttelt vom Frost in sein Bett kroch. Sein Gesicht brannte wie Feuer, und funkensprühend kreiste die Dunkelheit um ihn. Wieder quälte ihn der Husten, und er steckte den Kopf unter die Decke, um keinen Lärm zu machen. Als er wieder Atem schöpfte, hörte er Stimmen in Ackermanns Zimmer. * * * * * Diese Stimmen brodelten, ganz wie der Nebel an seinem Fenster, auf und ab, eine heisere, keuchende und eine tiefe klare, die zu beruhigen suchte. Dazwischen ein belustigtes, ein etwas angeheitertes Lachen. Die klare beruhigende Stimme, das war Ackermann, aber die heisere, keuchende, die zuweilen so sonderbar belustigt lachte? Es war Hähnlein! Ja, niemand sonst -- lachte also, während seine Frau Gott um Hilfe anflehte, um Erbarmen für ihre armen Kinderchen wenigstens. »Morgen schon?« fragte Ackermann. »Ja, morgen um zehn Uhr!« Und wieder das angeheiterte Lachen. Ohne Unterbrechung brodelten die Stimmen. Der kleine Herr Herbst dampfte vor Hitze. Sein Kopf rauchte, seine Hände, ja, wie gesagt, er war erkältet. Mit geneigtem Kopf saß er im Bett, wie betäubt, ohne jeden Gedanken. Er mußte dem Brodeln der Stimmen lauschen, das ihn wie ein Zauber bannte, obwohl ihn nicht im geringsten interessierte, was die beiden zu besprechen hatten. »Wie ist es nur denkbar?« rief Ackermann aus. Und mit einem heiseren Auflachen erwiderte Hähnlein: »Ja, wie ist es nur denkbar, hahaha!« Trotzdem das Blut in seinem Kopfe wie Dampf zischte, begriff er bald, was Hähnlein so erregt hatte. Man hatte ihn wieder gemustert, und morgen ging der Transport zur Front. Die »Mordkommission« war in der Kaserne gewesen. Zurück, zur Front, abermals -- ja, der Granatsplitter, der ihm die Schädeldecke zertrümmert hatte, so daß er keine Treppe steigen konnte, ohne sich am Geländer festzuhalten -- er zählte gar nicht. Und der Brustschuß, den er in Serbien erhielt -- auch er zählte nicht. Und dreimal in Frankreich, zweimal in Rußland, in Serbien -- all das zählte überhaupt nicht. Seine Frau -- seine Kinder --?! Nichts zählte! Man würde ihn wieder in einen Viehwagen packen, er mußte wieder hinaus. Ackermann versuchte zu beruhigen. »Hahaha!« lachte Hähnlein. Seine Ratschläge machten wenig Eindruck auf ihn. »Ja, vor die Füße, vor die Füße, wirf es ihnen vor die Füße!« schrie Ackermann laut und wütend. »Aber, was dann, Ackermann, hörst du?« fragt Hähnlein. »Gefängnis -- frage Kamerad Schmitt, der dem Gefreiten eine Ohrfeige gab. Lieber den Heldentod als das Gefängnis! Hunger und Prügel.« »Die Verruchten!« schrie Ackermann. Hähnlein lachte wieder laut und heiter. Und obwohl Herbst vom Fieber glühte, erschauerte er bei diesem sonderbaren Lachen. Aber, ob er, Ackermann, die Strafkompanie vergessen habe? Teufel von Vorgesetzten -- Verbrecher -- Zuchthäuslerkleidung -- die ehrlichen Kameraden spucken dich an -- Sträflingsarbeit im Feuer, Hunger, Prügel, Läuse, Krankheiten -- Also fort mußt du? dachte Herr Herbst. Gut, gut, daß du fort kommst! Er fürchtete sich vor Hähnlein in der letzten Zeit. Gestern traf er ihn auf der Treppe: ohne Regung stand er, erstarrt, den Kopf gesenkt, einen Fuß in der Luft, die stechenden, glitzernden Augen auf den Boden gerichtet. Er hatte es nicht gewagt, an ihm vorbeizugehen und war umgekehrt. So, ja, genau so hatte auch sie gestanden -- seinerzeit -- immer in den Ecken, zuerst mitten in den Zimmern, endlich nur noch in den Ecken und unter den Türrahmen -- bevor sie, hm, bevor sie . . . Gut, daß du aus dem Hause kommst -- Nun aber hätte er beinahe laut herausgelacht! Hähnlein sprach von der Musterung, den Skeletten, Krüppeln, Krummen und Lahmen, und er, in seinem Bett, sah alles deutlich und wunderbar klar vor sich. Wie sie humpelten, wie sie krochen, wie die Knochen spitz durch ihre Haut stachen! Nur einer aber war frei gekommen, er fiel in Krämpfe und wurde hinausgetragen. Nun kam also jener, ein Riese von Gestalt, der Blut in die offene Hand spuckte und es dem Arzt zeigte. Aber der Arzt, o nein, er war nicht um eine Antwort verlegen. Er sagte, der Arzt: Die Luft im Felde ist besser als in Berlin, solange einer nicht den Kopf unter dem Arm trägt, muß er hinaus. Fertig! Und da kam dieser andere, der eine offene Wunde am Rücken hatte, man konnte den ganzen Finger hineinstecken -- aber auch das half nichts. Immer vorwärts, sagt der Arzt, bei so jungen Leuten heilt das rasch. Nein, er war nie um eine Antwort verlegen, man muß es ihm lassen. -- Nun aber, nun also kam Hähnlein, unser Hähnlein an die Reihe. Es half ihm alles nichts, was er vorbrachte. Sein Lungenschuß, seine Atemnot -- prächtig geheilt, sagte der Arzt, die Bureauluft ist nicht gut für Sie. Aber auch die Schwindelanfälle, die von dem Granatsplitter im Kopf herrührten, das Zittern -- auch das half Hähnlein nichts. Sollen denn nur gesunde Leute totgeschossen werden? fragte der Arzt. Hahaha! Richtig, weshalb nur gesunde? Ja, also Hähnlein saß in der Patsche und konnte es noch immer nicht begreifen. Und wieder brodelten die Stimmen. Lange Zeit. Kein Wort zu verstehen. Dann aber lachte Hähnlein wieder laut heraus, und die Stimmen verloren sich auf dem Korridor. »Mut, Kamerad!« rief Ackermanns Stimme. Hähnlein lachte und sagte irgend etwas. Er schlich draußen an der Türe vorüber und pfiff leise vor sich hin. Augenblicklich hörte Frau Hähnlein auf zu beten. Sie stellte sich schlafend, schnarchte sogar ein wenig. Nach einer Weile fragte sie: »Was tust du?« »Ich rauche eine Zigarre«, antwortete Hähnlein mit ruhiger Stimme. Und nun wurde es still, ganz still. Nun war die Zeit gekommen für ihn, Herrn Herbst, seinen Triumph auszukosten! Sanft glitt sein Bett dahin, eine angenehme Hitze kochte in seinem Körper, heiß fuhr der Atem aus seinem Munde. Prachtvoll, berauschend, rot funkelte die Finsternis. Am Fenster wallte der Nebel, auf und ab, drückte sich gegen die Scheiben. Und drunten: horch! Ja, deutlich hörte er ihren Schritt, dumpf wie der Schlag seines Herzens in der Brust. Da gingen sie auf und ab, die Männer mit den Knotenstöcken, das grüne Hütchen eilte durch den Nebel die Straße herauf, nachzusehen, zu kontrollieren. Und er, nebenan, ahnte nichts! Raschelte mit Papieren, zerriß sie, klapperte auf seiner Schreibmaschine, ahnungslos. Sah er nicht das grüne Hütchen eilen? Nein, nein, blind war er, taub war er. Nun rasselte er mit dem Ofen, es roch nach verbranntem Papier. Und schon gingen die Schritte auf und ab, lauter, immer lauter . . . . Sollte er an die Türe pochen und ihm zurufen: Horch, horch! Öffne das Fenster und sieh es eilen --! Aber nein, nun war ja die Stunde gekommen, die wonnige, seinen Triumph auszukosten! Heute -- hoho -- heute hatte er es gewagt! Den Hut gezogen, ganz dicht vor ihm, ganz dicht! Vor dem Hause in der Lessingallee hatte er gewartet, bis die graue Limousine kam. Und dann -- den Hut gezogen, wie gesagt. Mitten in den Lichtschein der Automobillampen war er getreten, in den blendenden Lichtkegel der Lampen! Und der General? Er war erschrocken -- erschrocken, sollte man es glauben, vor ihm, einem alten ohnmächtigen Mann, ohne Rang und Würde, einem Trinker, mit dem es bergab ging, täglich mehr und mehr bergab, erschrak er -- der Gewaltige! Fuhr zurück, und seine Augen waren voller Schrecken . . . Ja, keine Nachsicht mehr, nicht die geringste! Tag und Nacht wollte er vor ihm auftauchen, keinen Schritt sollte er künftig tun -- er war da! Und wie er erschrak! Wie er zurückfuhr! Deutlich sah er es vor sich. Das breite starre Gesicht wankte, nicht Schrecken, nein Entsetzen spiegelte sich in den Zügen. Der General taumelte einen Schritt zurück -- zwei -- er lief! Und er, den Hut in der Hand, lief hinter ihm her. Wie schnell er doch lief! In seinem Mantel mit den roten Aufschlägen. In seinen Hosen mit den roten Streifen! Wie das Entsetzen ihn vorwärts peitschte -- und doch war es spielend leicht, ihm zu folgen. Rascher, immer rascher rannten sie beide in die rotfunkelnde Finsternis hinein. Und der Nebel donnerte! Ballen von Qualm warf die schwarze Stadt aus, wie ein Vulkan, Ballen um Ballen, himmelhoch donnerten die Wolken von Qualm. 3 Der Nebel brodelte über Berlin. Über dem Nebel funkelten die ewigen Sterne, aber die Stadt, versunken im gelben Meer von Lehm, sah sie nicht. Schrill heulten die Züge, in düstere Glutwolken gehüllt, tasteten sie sich langsam vorwärts. Die Bogenlampen fieberten in den dunstigen Bahnhöfen, Schattenriesen stießen mit den Köpfen gegen die Glasdächer der Hallen. Die Krankenwagen krochen in das gelbe Nebelmeer hinaus, und zuweilen stutzten die Chauffeure: klaffende Abgründe schienen plötzlich die Straßen zu spalten. Schlaff und schmutzig hingen Flaggen aus den Nebelwolken herab. In nebligen Höfen wurden die Wagen entladen, und voller Erlösung starrten die Fieberaugen der Verwundeten in das Licht der Korridore, durch deren Karboldunst die Bahren schwankten. Und die Züge heulten und winselten, wie seit mehr als tausend Nächten. Aber in dieser Zeit der großen Offensive kamen sie ohne jede Unterbrechung. Die Ärzte wechselten Blicke. -- -- Zur gleichen Stunde saß der General, den der kleine Herr Herbst im Fieberwahn verfolgte, mit zufriedener Miene in dem bequemen Arbeitssessel vor seinem Schreibtisch und beugte sich über eine große Generalstabskarte. Er hatte neben sich ein Näpfchen mit blauer Farbe und ein Glas Wasser stehen und malte auf die Generalstabskarte blaue Linien. Hin und wieder suchte er mit der Lupe eine Ortschaft, die der letzte telephonische Bericht genannt hatte. Unfaßbar! Flogen sie? War es nicht ganz wie seinerzeit beim Vormarsch 1914? Schon wurde das strategische Bild klarer -- kristallklar. Der General beugte sich! Seine Ansichten hatten nicht immer mit jenen dieser hohen Stelle harmoniert, zugegeben, es war ihm unmöglich gewesen, den bedingungslosen Glauben der Allgemeinheit zu teilen, er vermißte kühne, strategische Gedanken, vermißte den genialen Blick, nun aber beugte er sich. Ja! Ohne Vorbehalt. Und der General starrte in die weiße Karte, während draußen der Nebel zog. Bald beugte er sich dicht darüber, den Kneifer auf der Nase, bald lehnte er sich nachdenklich in den Sessel zurück, und wieder starrte er regungslos in die weiße Karte. Was sah er? Er sah Brigaden, Divisionen, Armeekorps, den Gürtel der Artillerie. Er sah wie Brigaden, Divisionen, Armeekorps sich vorwärts fraßen, die Kolonnen auf den Straßen, die schwere Artillerie wird nachgezogen, die Fliegerschwärme in der Luft, die Stäbe, all das sah er auf der weißen Karte. Seine Hand schob die blaue Linie vorwärts -- ja, schon erblickte er in der rechten Flanke das Meer -- den Kanal, in der linken Flanke aber wurde die fadendünne Silhouette des Eiffelturms am Horizont sichtbar. Heute schon fielen die Granaten auf die französische Hauptstadt, furchtbare Mahner, furchtbar pochte die Geschichte an die Tore von Paris -- und London, bald würde die Geschichte auch an die Tore Londons pochen! Das Reich des großen Alexander, wo war es hin? Die Stunde schlug, und es sank in Trümmer. Das Weltreich der Römer und Spanier? Schutt! Unaufhörlich brauste der Strom der Geschichte, und neue Reiche stiegen aus der Flut empor. Der General versank in Träumereien. Seine strengen Züge hatten sich gelöst. Schon heute stand fest, daß die feindlichen Reservearmeen aufgerieben waren. Sie hatten nichts mehr, fürchterliche Perspektive . . . Nur durch einen Korridor vom General getrennt, durch ein paar dünne Mauern, saß Ruth über ihren geliebten Büchern, die das Evangelium für sie bedeuteten, und las mit fiebernden Wangen, während an den Fenstern sich der Nebel ballte. Es war schon tief in der Nacht, sie schrieb, machte Notizen, ihre Augen glänzten. Ja, diese Bücher, diese Broschüren, sie sprachen die Wahrheit! Sie allein zeigten den rechten Weg. Untergehen mußte diese heute herrschende Gesellschaft, die sich nur durch Sklaverei, Plünderung und Tyrannei aufrechterhielt. Dieser Krieg war der fürchterlich logische Abschluß ihres Werkes -- welch ein Abschluß! Heraufsteigen würde eine neue Gesellschaft, besser, reiner, edler. Schon waren ihre Boten unterwegs. Hier aber erschauerte Ruth. Ja, schon! Ihr Blick glitt zum Fenster, das der Nebel verhüllte, ihr Blick füllte sich mit Unruhe und Qual. Ungewiß lag die Zukunft. Lange würde sie ihn nicht sehen, vielleicht Jahre! Aber es mußte sein, es mußte Mutige geben, die alles einsetzten für Idee und Glauben! Sie liebte ihn, sie bewunderte ihn! Auch sie würde ihm nachfolgen. Auf alles würde sie verzichten, auf Geld, Bequemlichkeit, gesellschaftliche Stellung. Nichts wollte sie. Wie Millionen von Frauen, die ihr Brot verdienten, wollte sie sein, nicht anders. Langsam hatte sie sich zu diesem Entschluß durchgerungen. Tausend beglückende Gespräche gaben Helligkeit, Klarheit und Ziel! Wenn sie Papa kränkte, sie konnte nicht anders, Otto, ihre Verwandtschaft -- nein, es stand unabänderlich fest! Welche Albernheit, Oberflächlichkeit, welcher Dünkel, welcher Wahn -- nein, fort fort. Und doch, das Herz schmerzte. Sie erhob sich und begann auf und ab zu wandern, die Hände an den Hüften, immer hin und her, den Blick voller Qual -- immer hin und her, die ganze Nacht. -- Und Dora, was tat Dora in dieser undurchdringlichen Nebelnacht? Sie schlief und lächelte im Schlaf. Auch Klara, die kleine unglückliche Klara, schlief, aber sie weinte im Schlaf, ihre Wangen waren ganz naß. Hedi aber war noch wach in dieser Nebelnacht, sie war heiter und guter Dinge. Sie tanzte Tango mit Weißbach, in der Bibliothek, nebenan saß eine kleine Gesellschaft beim Spiel. Der Phonograph war kaum zu hören, da sie ihn geschlossen hatte, aber so fand Hedi es am stimmungsvollsten. Ströbel hatte ihr eben gesagt, er sei einer der wenigen Männer in Europa, die alles vertragen könnten -- und so tanzte sie Tango mit Weißbach, ganz allein, und Weißbach, der heute wenig trank, hatte ihr erklärt, daß er sie liebe und sie auf der Stelle heiraten würde. Das belustigte Hedi, und zuweilen erlaubte sie seinem Blicke, in ihre Augen einzudringen, ganz tief. Sie hatte sich vorgenommen, den kleinen schwarzen Artilleriehauptmann völlig rasend zu machen. Und dann? Nun, wer weiß --? Und Otto? In seinem Zimmer im Westen saß er, eine kleine anmutige Verkäuferin, die er auf der Straße kennengelernt hatte, auf den Knien, eine Flasche Wein neben sich. Er küßte den vollen, bläulichweißen Nacken der Kleinen, und sie fragte ihn, wie das knallt, wenn eine Granate einschlägt. Ihr Bräutigam war ebenfalls im Felde. Otto lachte -- herrlich diese Naivität. Er unterhielt sich ausgezeichnet. Was kümmerte es ihn, daß der Nebel um das Haus wallte? 4 Immer noch rannte der kleine Herr Herbst hinter dem Mantel mit den roten Aufschlägen einher, immer noch durch purpurne Finsternis. Allmählich aber ging die Dunkelheit in Zwielicht über, er rannte nicht mehr, er ging langsam -- und der General? Es war gar nicht der General, es war sein Zimmernachbar Hähnlein. An seinem abgenutzten Soldatenmantel, seinen abstehenden weißen Ohren, dem dünnen Hals erkannte er ihn. Er ging langsam, immer einige Schritte voraus, kreuz und quer durch die Straßen. Offenbar suchte er etwas. Endlich aber -- ah, nun hatte er es gefunden. Vor einem Laden mit Messern machte er halt. Messer, nichts als Messer, funkelnd und blitzend, ein Gebiß. Dieses Geschäft umkreiste Hähnlein, er las die Aufschrift, runzelte die Stirn. Dann trat er zurück an den Rinnstein, einen Fuß auf dem Fahrdamm, einen auf dem Bürgersteig, zog den Geldbeutel heraus und blickte aufmerksam hinein. Entschlossen betrat er den Laden. Aber bevor er die Türe schloß, warf er noch einen Blick auf die Straße, einen suchenden, kranken und traurigen Blick. Wonach sah er sich um? Nach Hilfe? Wie, hier, zwischen den eilenden Menschen, die alle vor dem eigenen Elend dahinjagten, hier, wie? Nun, er sah es ja auch ein, daß es sinnlos war, gerade hier nach Hilfe auszuspähen und schloß die Türe hinter sich. (Herbst spähte durch die Scheibe!) Er wählte ein langes solides Bratenmesser, lang, spitzig und scharf und verließ den Laden, ein schmales, langes Paketchen unter dem Arm. Rasch strebte er nun seinem Hause zu, zuweilen lief er sogar eine Strecke, rasch eilte er die Treppe hinauf. Aber was nun? Es war wieder dunkel im Zimmer nebenan, wieder war es plötzlich Nacht geworden, und nur Hähnleins Schatten war zu sehen, seine weißen abstehenden Ohren und seine böse glitzernden Augen. Er, Herbst, lag nun wieder in seinem Bett, schlief, hatte die Augen geschlossen, trotzdem sah er durch die Mauer hindurch alles, was Hähnlein nebenan tat. Nun beugte sich Hähnleins Schatten über die schlafenden Kinder, lange Zeit, dann über die schlafende Frau. Da blitzte plötzlich das lange Messer. Furchtbar blitzte es in der Dunkelheit. Die Frau regte sich, und Hähnlein versteckte hastig die Klinge unter seinem Rock. Lange stand er ohne jede Bewegung. Dann aber, dann beugte er sich wieder über die schlafenden Kinder, das Messer funkelte -- nun zeigte die Klinge dunkle Flecken. Lautlos stand er und atmete. Dann beugte er sich über die Frau, und abermals funkelte das Messer. Endlich richtete er sich auf. Kein Laut. Plötzlich aber beschäftigte ihn etwas. Er heftete seine glitzernden tückischen Augen auf ihn, Herbst, der nebenan in seinem Bett lag und schlief. Sah er ihn? Es war ja unmöglich, die Wand war dazwischen. Aber doch schien er ihn zu sehen. Er tastete mit der Hand gegen die Wand -- runzelte enttäuscht und zornig die Stirn. Da begann Herbst (weshalb eigentlich?) spöttisch zu kichern. Hähnlein lächelte verächtlich, wollüstig -- und tastete sich an der Wand entlang zur Türe. Herbst setzte sich plötzlich aufrecht, und sein Herz stand still vor Entsetzen. Wild schrie er auf. Er kam! Er sah ihn kommen, das Messer zwischen den Lippen. Schon öffnete sich langsam die Türe, seine Hand wurde sichtbar -- wieder schrie Herbst auf -- und er trat ein. Aber er trug kein Messer, sondern eine Kerze. Und es war gar nicht Hähnlein, sondern -- Ackermann. »Sind Sie krank? Weshalb schreien Sie?« fragte Ackermann und kam näher, den Leuchter mit einer kleinen Kerze in der Hand. Herbst versuchte zu sprechen, doch die Zunge klebte am Gaumen. Ackermann ging und kam mit einem Glas Wasser zurück. »Trinken Sie. Sie fiebern ja. Sie glühen!« »Ich friere«, entgegnete Herbst, und seine Zähne klapperten. »Ich fühle mich eiskalt. Gewiß bin ich schneeweiß.« »Sie glühen. Trinken Sie! Weshalb schrien Sie so?« »Ich habe von Toten geträumt.« Ackermann lächelte. »Vor Toten brauchen Sie keine Angst zu haben.« Herbst zitterte und heftete die fiebernden Augen auf Ackermann. »Und die Schritte,« flüsterte er, »die ganze Nacht. Vor dem Hause. Haben Sie das grüne Hütchen nicht gesehen?« »Trinken Sie noch etwas!« »Fliehen Sie! Sie sind da!« Frisch und jung erschien ihm Ackermann, eine Erscheinung aus einer andern Welt. Die finsteren Mächte, die diese Erde bevölkern, konnten ihm nichts anhaben. Seine Augen glänzten, sein Mund blühte tiefrot, er schien weder müde noch schläfrig, obschon es tief in der Nacht war. Er lächelte heiter, als er von den Schritten vor dem Hause hörte, nein, auch sie konnten ihm nichts anhaben. Er schwebte auf Wolken wie ein Engel. Er war ein Gesandter Gottes, der zu ihm gekommen war, um ihm zu trinken zu geben. Die Kerze verschwand. Schon war es wieder dunkel. Ja, ein Traum hatte ihn gefoltert, ein Traum voller Unheil und Schrecken. Hatte er von den verschütteten Soldaten geträumt, die sich aus den Lehmbergen auswühlen, oder von Robert, aus dessen Wunden das Blut in Strömen floß? Noch jetzt schüttelte ihn das Entsetzen. Ohne Zweifel, dieses Haus war ein Haus des Unglücks, ein verfluchtes Haus. Seine Mauern waren zermorscht von Jammer und Tränen. Selbst die Toten fanden hier keine Ruhe. Jede Nacht glitt der tote Briefträger durch das Treppenhaus und verbreitete seinen häßlichen Geruch. Er war gestorben, dieser alte Briefträger, ein Veteran mit den Denkmünzen des glorreichen Siebziger Krieges, ohne daß jemand es wußte. Erst als ein scharfer, süßlicher Geruch das Haus erfüllte, hatte man ihn aufgefunden, ausgestreckt auf dem Boden. Jede Nacht kroch er nun durch das Stiegenhaus, und zuweilen zog er die Klingeln, dann schrien die Frauen. Ja, ein verfluchtes Haus. Aber, gottlob, die entsetzliche Kälte hatte aufgehört. Schon begann er sich zu erwärmen, schon begann er wieder wohlig zu glühen. Ruhig atmete das Haus, deutlich hörte er hinter der Wand die Familie Hähnlein im Schlafe atmen. Feuer stieg in seine Augen. Sie wurden größer und größer, und mit feurigen Augen, so groß wie Wagenräder, saß er in der rauschenden Finsternis. Plötzlich hörte er deutlich eine Orgel brausen, feierlich und tief. Und durch das volle Orgelbrausen rief eine Stimme: »Heilig ist der Mensch! Sinn der Erde, unantastbar!« »Heilig ist das Menschenleben, unantastbar!« Und wieder brauste die Orgel. Dann schrie die gleiche Stimme, laut und hell: »Die Menschenwürde ist das oberste Gesetz!« »Unantastbar ist die Würde des Menschen!« »Heilig sein Gedanke, heilig sein Leib!« »Liebet einander!« Die Orgeltöne verbrausten in der Ferne. 5 Und der Nebel brodelte über den Dächern der Stadt. Immer noch ertönte gedämpft der Phonograph in Ströbels Bibliothek. Aber Hedi tanzte nicht mehr. Sie saß am Spieltisch und setzte eifrig. Rote Flecken fieberten auf ihren Wangen, ihre Augen sprühten. Sie gewann. Zuweilen liebkoste Ströbel sie mit einem Blick, sie liebte ihn in diesem Augenblick. Weißbach, der nach ihren Blicken tastete, hatte sie ganz vergessen. Ottos Mädchen war eingeschlafen. Zwei Tränen glänzten wie Tau unter ihren langen hellen Wimpern. Otto saß beim letzten Glas Wein und rauchte voller Behagen eine Zigarre. Er brauchte keinen Schlaf, obgleich er von früh bis abends im Bureau arbeitete. Immer noch ging Ruth ruhelos auf und ab, den Blick voller Qual. Sie schwankte, so müde war sie, aber sie konnte sich nicht entschließen, zu Bett zu gehen. Der General aber schlief. Er schnarchte und murmelte zuweilen unverständliche Worte im Traum. Wangel und Jakob packten in aller Eile die Koffer, und er gab ihnen Befehle. Soeben hatte ihn das Telegramm erreicht, in vierzig Minuten ging der Zug zur Front . . . Und der Nebel wallte draußen. Über ganz Deutschland dampfte der Nebel, undurchdringlich. Oben funkelten die ewigen Sterne, aber Deutschland sah sie nicht. Die Züge winselten durch die Nebelnacht, durch ganz Deutschland liefen die Transporte mit den zerschossenen Menschen, durch Wälder, Felder, über Brücken und Flüsse, ohne Zahl, ohne Pause. Über Europa dampfte der Nebel, undurchdringlich. Oben funkelten die ewigen Sterne, aber Europa sah sie nicht. Blutrot wallte das Nebelmeer, Europas Ströme wälzten Blut. Die Greise, die die Geschicke der Völker lenkten, schlummerten in ihren Betten. Schon aber wurde der Nebel lichter. Der Tag war nahe. -- Ackermann hatte seine Papiere in dieser Nacht in Ordnung gebracht und verbrannt, was verschwinden mußte. Der Ofen qualmte, und Rauch erfüllte das kleine Zimmer. Er öffnete das Fenster. Da wälzte sich der Nebel herein, deutlich sah man ihn um die kleine Kerze kreisen. Schon aber begannen die Dunstballen sich aufzuhellen, es tagte. Stille, kein Schritt, kein Laut. Die Stadt war völlig tot. Ackermann blies die Kerze aus und legte sich zur Ruhe. Aber der Nebel folgte ihm in seine Träume: Da sah er einen Feldgrauen, so wie er ihn hunderttausendfach gesehen hatte. Der Feldgraue, in einen weiten Soldatenmantel gehüllt, eine kleine verknüllte Grabenmütze auf dem Kopf, arbeitete still für sich, inmitten eines weiten, rauchenden Ackers. Es war so düster, daß zuweilen kaum die Umrisse des Feldgrauen zu erkennen waren. Er war groß, sein knochiges Gesicht von einem kurzen Stoppelbart eingerahmt. Ohne Unterbrechung, ohne aufzublicken hob er mit einem Spaten die Erde aus. Ein riesiger, in der Erde vergrabener Stein kam zum Vorschein, und allmählich bekam man eine Vorstellung von der Größe des Steins. Er war etwa so groß wie die Drehscheiben, auf denen man Lokomotiven bewegt. Manchmal schien er auch etwas kleiner, manchmal größer zu sein. Jedenfalls war er ungeheuer groß, und man wußte ja auch nicht, wie tief er in der Erde stak. Der Feldgraue nahm nunmehr ein Stemmeisen zur Hand, eine schwere Deichsel mit einem Eisenschuh, rammte sie unter den Stein und warf sich mit aller Wucht dagegen. Der Stein rührte sich nicht. Unverdrossen nahm der Feldgraue wiederum Pike und Spaten in die Hand und grub das Loch um den Stein herum tiefer. Ein ganzes Gebirge von Erde warf er aus, und es war wunderbar zu sehen, wie gleichmäßig, ruhig und hingegeben er arbeitete. Wiederum setzte er das schwere Stemmeisen an, und siehst du, nun bewegte sich der Stein eine Idee! Am Rande des Steins zeigte sich ein feiner Riß im Boden. Es war also kein Zweifel, der riesige Stein hatte sich bewegt! Abermals warf sich der Feldgraue mit voller Wucht gegen das Stemmeisen. Zum ersten Male wandte er Ackermann voll das Gesicht zu. Deutlich war zu sehen, daß es in Schweiß gebadet war, in den Augen hatte sich der Schweiß angesammelt, so daß sie schneeweiß erschienen. Mit einer ungeheuren Anstrengung drückte der Feldgraue das Stemmeisen nieder, die Adern an seinen Schläfen schwollen an -- ah, schon bewegte sich der Stein deutlicher. Unmerklich war er auf der einen Seite eingesunken und auf der andern Seite in die Höhe gestiegen. Der Feldgraue wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, und mutig nahm er die scheinbar aussichtslose Arbeit wieder auf. Doch was ist das? Er hält im Schaufeln inne und berührt seine Backe. Eine blutige Schramme ist entstanden, und das Blut rieselt in einem dünnen Faden herab über seinen Hals. Verwundert schüttelt der Feldgraue den Kopf. Es ist ganz merkwürdig, was geht vor? Plötzlich wird ein Stück von dem grauen Mantel abgerissen: ah, er ist im Feuer, er arbeitet im Feuer, dachte Ackermann, er wird beschossen. Deutlich sieht er, wie einen Augenblick später auf seiner Stirn eine klaffende Wunde entsteht. Das Blut stürzt heraus, und rasch ist die eine Hälfte des ganzen Gesichts vom Blut überzogen. Der Feldgraue aber arbeitet ruhig weiter. Er legt sich mit ganzer Gewalt gegen das Stemmeisen, und nur zuweilen fährt er mit dem Ärmel übers Gesicht, wenn das Blut ihn stört. Es geschieht das Unglaubliche: es ist ihm gelungen, den riesigen Stein in eine schräge Lage zu bringen. Voller Raserei wirft er sich nun mit dem Rücken dagegen und versucht, den Steinriesen vollends in die Höhe zu heben. Es geht -- ein wenig -- aber da fällt der Stein wieder in die frühere Lage zurück. Erneut beginnt der Feldgraue sein Werk, unverdrossen. Seine Hände und sein Gesicht sind von Blut und Schweiß überzogen, aber er kümmert sich nicht darum. Plötzlich zerreißt sein Waffenrock an der Brust, er hält einen Augenblick inne, legt die große Hand auf die Brust, und schon stürzt ihm das Blut aus dem Mund. Aber gleich darauf nimmt er wieder die Arbeit auf. Wiederum stemmt er sich mit dem Rücken gegen den Stein, und siehe da, er hebt ihn hoch, so unmöglich es auch erschien. Nun steht er schräg wie ein Dach, aber alle weiteren Anstrengungen sind umsonst. Der Feldgraue streicht um den Stein herum, schüttelt den Kopf, wischt sich das Blut aus dem Gesicht und vom blutigen Mantel, schaufelt und macht von neuem verzweifelte Versuche, aber der Stein bewegt sich nicht mehr. Aber nun, was geschieht? Jemand kommt, jemand ist hinzugetreten. Es ist ein kleiner Mann, ebenfalls ein Soldat, mit raschen, herrischen Bewegungen. Offenbar ein Vorgesetzter. Er gestikuliert heftig, treibt den Feldgrauen zur Arbeit an. Und plötzlich erinnert sich Ackermann, daß dieser kleine Mann mit den herrischen Bewegungen schon vorher einmal im Nebel sichtbar geworden war. Nur für einen Augenblick. Wiederum stemmt sich der Feldgraue mit aller Gewalt gegen den riesigen Stein, aber es geht nicht. Wieder wendet er Ackermann das Gesicht zu. Es ist von Blut übergossen, ebenso wie seine Brust, die Augen sind blutunterlaufen, und bei der ungeheuren Anstrengung quillt das Blut zwischen seinen Lippen hervor. Plötzlich -- plötzlich springt der kleine Mann mit den herrischen Bewegungen zornig hinzu, schwingt eine kurze Riemenpeitsche und -- ah -- schlägt damit den Feldgrauen übers Gesicht. Er schlägt wieder und wieder und gerät in förmliche Raserei. Der Feldgraue aber verdoppelt, verdreifacht seine Anstrengungen. Er schwankt, taumelt ein paar Schritte und fällt zu Boden. Ohne Bewegung, ohne Zeichen von Leben liegt er da. Ist er ohnmächtig geworden? Ist er tot? Der kleine Mann mit den herrischen Bewegungen geht näher an den Feldgrauen heran. Er stößt mit dem Stiefel gegen die Schulter des Regungslosen. Er ist nun plötzlich um vieles kleiner geworden, und der Feldgraue um vieles größer. Wie ein Zwerg zu einem Riesen verhält der kleine Herrische sich zu dem Feldgrauen. Er klettert auf den Regungslosen hinauf, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Er steht auf seiner Brust, schwingt die Peitsche und schreit . . . Aber der Regungslose, Blutüberströmte, antwortet nicht. Seine Zähne blinken im Nebel. Da ist sein Spaten, sein Hebebaum, dort der Stein, der halb aufgerichtet in den Nebel ragt. Aber er regt sich nicht mehr, er antwortet auch nicht. Sein Stillschweigen versetzt den Kleinen mit den raschen, herrischen Bewegungen abermals in rasenden Zorn. Er klettert höher auf der Brust des Riesen, hält sich an seinem Mantelkragen fest und hebt den Stiefel, um damit nach dem regungslosen, blutüberströmten Gesicht mit den blinkenden Zähnen zu stoßen . . . Da erwachte Ackermann. * * * * * Es wurde nun in der Tat deutlich lichter. Gelb wie Lehmwasser floß das Morgenlicht am Fenster. Schon ratterte ein Wagen auf der Straße. Der kleine Herr Herbst hatte, seit ihn Ackermann verließ, die Nacht zwischen Schlaf und Wachen verbracht. Vielleicht hatte er auch geschlafen, er wußte es nicht. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt, aber das Fieber schien gebrochen zu sein. Still lag das Haus. Diese kurze Stille vor dem Morgen liebte er. Wie oft hatte er in dieser Stille in seinem Bette gesessen, und die Hände gerungen und das befreiende Weinen geweint, das ihn beruhigte. Deutlich hörte er, wie Ackermann sich in seiner Bettstelle hin und her wälzte, aber nun war es still bei ihm. Auch bei Hähnlein war es still, ganz still. Der tote Briefträger, der Veteran von Siebzig, mußte in sein Reich zurückweichen vor dem Licht, alle Nachtgespenster mußten weichen. Lieblich war der sanfte Morgen. Schon aber begann das mit Menschen vollgestopfte Haus zu erwachen. Die Haustüre ächzte und krachte, und der Hausmeister streckte seinen graugelben Pudelkopf in den Morgennebel. Türen schlugen, und Tritte eilten die Treppe hinab. Es wurde geklopft, gerufen, Wasser plätscherte. Bei Hähnlein -- Stille! Noch vor kurzem hatte er das Atmen hinter der Wand gehört, aber nun war es ganz still geworden. Kein Laut! Herbst erhob sich und machte in aller Eile Toilette, es dauerte nicht lange bei ihm. Aber während er sich wusch, nieste er mehrmals und hob die kleine Nase in die Luft. Gas, wie? Ja, es roch nach Gas. Deutlich, deutlich spürte er den Gasgeruch. Auf dem Korridor war der Geruch noch stärker. Ängstlich schlich er sich zur Türe. In diesem Augenblick öffnete Ackermann die Türe und streckte den Kopf heraus. Auch er zog die Luft ein. »Es riecht so stark nach Gas hier?« sagte er. »Ja, stark nach Gas!« Hm. Ackermann trat halb angekleidet auf den Korridor heraus. »Haben Sie den Gashahn offen gelassen?« »Ich? Nein, nein«, erwiderte Herbst, die Hand schon am Drücker der Türe. »Vielleicht Hähnlein --?« fragte Ackermann leise, stockend, und sein erschrockener Blick wandte sich auf Herbst. »Ja, vielleicht --?« »Wir wollen nachsehen --« Aber Herr Herbst hatte keine Lust nachzusehen, nein, nicht die mindeste -- diese Stille -- er rannte die Treppe hinab. Schon polterten Ackermanns Fäuste gegen Hähnleins Türe. Furchtsam eilte er die neblige Fabriciusstraße entlang. Deutlich entsann er sich nun, daß er von Hähnlein geträumt hatte. Deutlich! Ganz deutlich! Hähnlein war mit einem Messer in der Hand die Treppe hinabgestürzt, ja deutlich erinnerte er sich jetzt daran -- er hatte sich gegen die Wand geworfen, um ihm aus dem Wege zu gehen. Schon verlor sich der Havelock im Labyrinth der Straßen wie jeden Tag. 6 Siehe, deine Welt, Langmütiger! Hunderte und Tausende flüchten täglich voller Verzweiflung aus diesem Leben. Öffne die Augen und sieh: Jammer! Öffne die Augen und sieh: Schande! Lausche! Das Geschrei der Folterknechte, das Geschrei der Gemarterten, das Jammern der Witwen und Waisen. Ströme von Tränen rauschen dahin, Flüche verfinstern das Licht. Siehe deine Völker: Mörder! Die Heere der betörten Sklaven, vorwärtsgepeitscht von ihren Verführern, zerfleischen sich noch immer. Noch immer gibt es Granaten, Torpedos, Gas, Flammenwerfer, noch immer werden Männer und Frauen füsiliert, noch immer werden täglich Gefangene -- welches Wort! -- zu Tausenden wie Sklaven verschleppt. Schiffe sinken in die Tiefe, Kathedralen gehen in Flammen auf, Tausende von unschuldigen Kindern verhungern an jedem Tag. Aber auf den Kirchen Europas funkeln golden die Kreuze! Und wie lange willst du noch zögern? Die Nebelfetzen zerflatterten, schon glänzte ein rotes Dach. Riesige Firmenschilder blinkten oben an den Nebelburgen, Fensterreihen blitzten. Die Häuser wurden farbig, rote Gesichter erschienen in den Türen. Plötzlich strahlte die Sonne. Und die bunten Flaggen flatterten wieder heiter im Morgenwind. Dampfend und glitzernd stieg die Stadt aus dem Nebel empor. Tau lag auf den Straßen, tropfte von den Bäumen, die Dächer glänzten naß. Die Brillen der Straßenbahnführer waren beschlagen, Tau hing an ihren Schnurrbärten. Die Tritte hinterließen Spuren auf den feuchten Bürgersteigen. Langsam wanderte Ackermann durch die Straßen, bald dahin, bald dorthin ließ er sich treiben -- nicht mehr sein ungeduldiger, stürmischer Schritt. Wozu Eile? Er war am Ziel. Heute abend würde er nicht mehr in sein Zimmer zurückkehren -- Gott allein wußte es, was mit ihm geschah . . . Beglückt sog er die frische Morgenluft ein, wie Dampf kam der Atem aus seinem Munde. Tau hing an seinen Wimpern. In der letzten Zeit hatte er sein Äußeres vernachlässigt, aber heute morgen hatte er sich rasieren und die etwas langgewordenen Haare stutzen lassen. Schwach ging der Pulsschlag der sterbenden Stadt. Nicht mehr das Brausen und Donnern des Friedens, wenn sie erwachte. Frauen, Kinder und Greise besorgten die Geschäfte, kutschierten die Gespanne, zogen Karren und Wagen. Vor den Geschäften standen, wie jeden Morgen, die langen Reihen der Weiber mit Töpfen und Markttaschen. Hin und wieder rollten Heeresautomobile, schwer beladen, polternd vorüber. Bald war Ackermann wieder in seine Gedanken versunken. Ja, so wird es sein! Sie, die Reinen, Gläubigen, Hoffenden, werden eine Gemeinschaft bilden, wie die Apostel, die das Christentum in allen Ländern verbreiteten. Es wird genau sein wie seinerzeit. In die Schulen werden sie gehen, die Apostel, und predigen: Die Würde des Menschen ist das oberste Gesetz! Heilig das Menschenleben und unantastbar! Alle Völker sind Brüder, und die Vernunft ist das Vaterland aller Menschen. Sie werden die Lüge aus den Schulbüchern verbannen, sie werden auf die Tugenden der Nachbarvölker hinweisen und nicht auf ihre Schwächen. Dies und hundert anderes werden sie lehren, werden es in die Seelen der Jungen, der Keuschen und Unverdorbenen pflanzen. Bei ihnen werden sie beginnen. Fluchbeladen sinkt die alternde Generation dahin, erwürgt von Gram und Schande. In die Kirchen werden sie gehen, die Apostel, und den Gläubigen die neue alte Lehre predigen -- in die Fabriken, Kasernen, Gefängnisse, Dörfer -- überall werden sie sein. Keine Landesgrenzen wird es für sie geben, sie gehen hin und her, wie sie wollen. Sie sprechen alle Sprachen, in allen Ländern, allen Kontinenten werden sie morgen die Arbeit beginnen. Arm werden sie sein, verachtet, die Liebeglühenden, arm wie Bettelmönche, geächtet und verfolgt. Sie bereiten das Reich vor, das kommen wird! Glückliche, gütige Menschen, ohne Mißtrauen, ohne Neid, ohne Hochmut werden es bewohnen. Kein Mensch wird fortan der Unterdrücker eines andern sein, kein Volk der Unterdrücker eines andern Volkes, für immer ist die Zeit der Sklaverei dahin. Freiheit, Freundschaft, Freude wird der Gruß des neuen Menschen lauten. Und die Erde wird ein Garten sein! Alle Kräfte, dienstbar heute der Bewaffnung und dem Kriege, werden dem Frieden und der Wohlfahrt dienen. Die Wüsten werden blühen, der Sand selbst wird Früchte tragen. Ja, ein Garten die Erde. Haubitzen, Bombenflugzeuge, Panzerkreuzer, Unterseeboote, wo sind sie hin? Wie ein Spuk werden sie sein, ein Spuk aus einer finstern, unbegreiflichen Zeit. Deinen Glanz sehe ich, den Glanz deines Friedens und deines Glückes, ich sehe ihn schimmern -- Reich der Zukunft, Reich der Freude, Reich des Menschen, ich betrete dich . . . Da hielt Ackermann den Schritt an. Eine Stimme rief in seinem Innern und mahnte. Erschrocken fuhr er aus seinen Träumereien auf, bereit, der Stimme zu gehorchen, die aus seinem Innern drang. Schritte kamen, trappelten. Er wandte den Kopf. Um die Straßenecke bog ein Trupp von Männern in abgetragenen, zum Teil zerlumpten Zivilkleidern, die von einem Unteroffizier geführt wurden. Nicht viel waren es, kaum hundert. Sie trugen Pappschachteln, es war Ersatz für die Kasernen. Nein, nicht das Reich des kommenden Menschen, nicht sein Schimmer, sein Glanz, armselige, trostlose Gegenwart. Stumpf trotteten die Männer dahin, teilnahmslos, geduckt unter ihr Schicksal, bereit zu sterben, wenn man es forderte, bereit zu töten, wenn man es verlangte, bereit zu allem. Alte Männer, eisgrau, einige plattfüßige aufgeschwemmte Dickbäuche, ein paar spindeldürre Bebrillte, schwindsüchtige Kaufleute und Studenten, freche Burschen mit Diebesgesichtern, ein Zwerg in großen Stiefeln, ein Kranker mit zerfressener Nase, ein Buckliger, ein Hagerer mit nur einem Auge. Und ein Bleicher, ganz Bleicher, der den Blick voller Scham zu Boden richtete, bildete den Schluß. Die Stiefel schlürften, schallten, die Knie bewegten sich automatisch, die Pappschachteln schaukelten hin und her. Die in Lumpen gehüllten Weiber, die die Straße reinigten, lachten und schrien. »Ihr werdet es schaffen! Immer rasch!« Eines der Weiber sprang auf den Kehrichthaufen und tanzte mit dem Besen, daß die schmutzigen Röcke flogen. »Hahaha! Die Garde kommt!« »Hohoho!« Teilnahmslose Blicke, Gelächter, Grimassen. Eine Reihe von Elektrischen hielt den Zug der Ausgemusterten auf. Menschen sammelten sich an, Fuhrwerke stauten sich. Blitzschnell trat Ackermann einige Schritte vor. Sein glühender Blick flog über die Menschen, die Wagen, den Zug der Armseligen mit den Pappschachteln. Jetzt? Jetzt? Gesetzt den Fall -- jetzt! Die Hände in die Luft werfen, schreien, diesen Menschen, die sich hier angesammelt hatten, es zuschreien, diesen armen Krüppeln und Kranken mit ihren Pappschachteln, laut, über den ganzen Platz, so laut, daß Hunderte es hören, Tausende und Zehntausende es am Abend wußten --? Er erbleichte. Angst schnürte seine Kehle zusammen, nicht eine Silbe hätte er hervorbringen können. Er schwankte -- schon bei dem Gedanken. Jetzt würden sie über ihn herfallen, der Unteroffizier, wahrscheinlich sogar die Männer mit den Pappschachteln und der Schutzmann dort, er würde herbeieilen und ihn zu Boden schlagen. Aus einem Straßenbahnwagen starrten ihn erschrocken ein Paar große Augen an, eine alte, zitronengelbe Frau. Er hatte in der Erregung eine unwillkürliche Bewegung mit den Armen gemacht, und diese Bewegung hatte den Blick der Frau auf ihn gelenkt. Die Straßenbahnwagen klingelten und rollten weiter. Wieder bewegten sich die Knie der Männer mit den Pappschachteln, ihre Rücken drängten sich zusammen. Die Menschenknäuel lösten sich, zerrannen. Die Wagen fuhren. Der Schutzmann betrachtete interessiert eine geschminkte Dame, die ihm zulächelte. Ackermann stand allein auf dem Trottoir, müde plötzlich, ein leises Beben in den Gliedern. Allmählich erst kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Langsam, die Pupillen geweitet, ging er weiter. Hier? Wie unsinnig wäre es gewesen! Sinnlos, ohne jeden Widerhall. Menschenmassen mußten es sein, wimmelnde Menschen, aufhorchend, in deren Ohren sein Schrei weitergellte, so daß ihr Herz erbebte. Die seinen Schrei durch Berlin trugen in alle Häuser: über die ganze Stadt mußte sein Schrei hingellen. Nein, nicht einen Augenblick hatte er ernsthaft daran gedacht. Aber wie war es möglich, daß ihn der Gedanke allein schon so tief erschreckte, daß sein Herz stehenblieb? Neben einem Pumpbrunnen, wo ein Droschkenkutscher sein Pferd tränkte, stand eine Bank. Darauf setzte sich Ackermann. Er streckte die Beine aus, die noch ein leises Zittern schwächte. Die Sonne blendete in sein Gesicht. Es war weiß, durchsichtig, und Spuren von Sommersprossen waren im grellen Licht zu erkennen. Schrecken erfüllte ihn. Entsetzen! War er das? Nach allem --? Mit geweiteten Augen sah er zu, wie die grauhaarige Pferdeschnauze gierig ins Wasser tauchte. Was für einen Sinn sollte es haben, daß einer sich vor die dahinrasende Maschine warf und sich von ihr zerfleischen ließ? Und weshalb gerade er? Vielleicht hatte ihn die innere Stimme nur genarrt, ihn bis zu diesem Punkte geführt, damit er seine Schwäche und Ohnmacht erkenne. Wie? Vielleicht, vielleicht. Er saß wie gelähmt. Das alte Pferd bleckte die gelben Zähne nach ihm. 7 Leise schloß Ruth die Türe ihres Zimmers hinter sich. Sie war voller Unruhe. Abermals hatte sie den großen, beobachtenden Blick Papas auf sich gefühlt. Wie schon seit Tagen. Gestern abend sah sie ihn im Spiegel: groß, hell, lauernd und drohend. War er argwöhnisch geworden, Papa? Vielleicht hatte die Zigarrenspitze, die sie neulich in ihrem Zimmer fand, doch etwas zu bedeuten? Plötzlich errötete sie. Und der Brief? In einem Buch lag ja ein Brief von Karl! Schnell, wo ist er? Am Ende war er fort? Am Ende hatte Papa diesen Brief gefunden, gelesen. War er nicht einmal ganz plötzlich in ihr Zimmer gekommen, als Dora bei ihr Tee trank? Sie hatte diesem Vorfall ja nicht die geringste Bedeutung beigelegt, gar nicht weiter darüber nachgedacht. Ach, sie haßte Papa! Ja, wahrlich, sie haßte ihn! Man kannte nie seine Gedanken. Sein Blick prüfte, tadelte, sein Blick entmutigte, sein Blick erstickte jede harmlose Freude. Nein, sie haßte Papa natürlich nicht, er hatte gewiß seine guten Eigenschaften, er war charaktervoll, wie wenige Menschen, pflichtgetreu, stolz, verschlossen, ehrenhaft vom Scheitel bis zur Sohle, nein, nein, sie wollte gar nichts sagen. Er war verbittert, unglücklich vielleicht, trug sein Leben ohne zu klagen. Nie hatte sie eine Klage von ihm gehört. Er schwieg. Aber wie gerne hätte sie doch Zutrauen zu ihm gehabt, volles Vertrauen, wie zu einem erfahrenen, erprobten Freund. Ja, so sollte es sein! Aber es war gerade umgekehrt: anstatt sich ihm anvertrauen zu können, mußte sie sich vor ihm verbergen. Es war natürlich auch sein Verhalten Mama gegenüber, das sie gegen ihn einnahm. Nie konnte sie ihm verzeihen, daß er jahrelang mit solcher Erbitterung gegen die Arme prozessierte. Aber sie war ja jetzt reifer, sie verstand das Leben jetzt besser und wußte, daß es viele unglückliche Ehen gab, und doch beide Teile ehrenhafte und gütige Menschen sein konnten. Nicht das war es, es war -- undefinierbar. Seine Nähe bedrückte, sie verwandelte, das Leben erschien plötzlich so schwer und ernst. Sie fand es überaus häßlich, daß er in ihr Zimmer gekommen war, seinerzeit. Und die Zigarrenspitze? Papa rauchte die Zigarren in Papierspitzen mit Gänsekielen. Eines Tages hatte sie eine solche Papierspitze auf ihrem Schreibtisch gefunden. Sie hatte sie achtlos zum Fenster hinausgeworfen. Vielleicht war sie auch von einem der Burschen hereingebracht worden? Aber hier war ja Karls Brief. Gottlob, sie atmete auf. Er lag noch an derselben Stelle, zwischen denselben Seiten des Buches, unberührt. Sie las den Brief, sie drückte ihn an die Lippen. Ja, Karl war einer von den Kommenden, nicht einer der Vergehenden. Er hatte Wille und Ziel. Und was er wollte, war gut. Alle Welt liebte ihn, seine Freunde beteten ihn an, er hatte keinen einzigen Feind. Sie, die sie selbst schwankte, klammerte sich an ihn, er gab ihr Halt. Glücklich würde sie mit ihm sein. Aber weshalb war Papa in letzter Zeit so aufmerksam -- fast zärtlich? Weshalb sagte er ihr so oft, daß sie bleich und nervös sei und nach Babenberg gehen solle? Einmal legte er sogar die Hand um ihre Taille -- seit Jahren war es nicht mehr der Fall, oh, sie erinnerte sich deutlich dieser ihr (damals!) so schrecklich unangenehmen Liebkosung, sie lebte ganz dem Andenken Mamas. Er fragte, ob sie keine Wünsche habe, ob sie nicht etwa Lust zu einer Reise habe, vielleicht nach der Schweiz? Er habe eine gewisse Summe für sie bereitgelegt. Nein, sie brauchte nichts, gar nichts, hatte gar keine Wünsche. Ach, wie häßlich sie doch war! Kümmerte Papa sich nicht um sie, so nannte sie ihn kalt und herzlos -- kümmerte er sich um sie, so war sie sogleich argwöhnisch. Ja, ganz unmöglich, den großen prüfenden Blick des Generals zu ergründen! Er atmete Haß in diesen Wochen, er atmete Liebe. Ja, er haßte Ruth zuweilen mit einem furchtbaren und grundlosen Haß, der ihm unerklärlich war, und den er bereute. Ihre Mutter, ganz ihre Mutter! Die gleichen hysterischen Augen, wie sie voller Geheimnisse, in die niemand eindringen durfte, wie sie eingesponnen in eine sonderbare, unerforschliche Welt. Wie sie rasch und ohne Überlegung Impulsen folgend. Wie sollte sie anders sein? Man bedenke, eine Dame, die sich von einem Offizier, den sie erst wenige Tage kannte, von einem Ball entführen ließ, die sich soweit vergessen konnte -- nun, gewiß, ein häßlicher und unwürdiger Gedanke, aber trotzdem . . . Es war das Blut der Sommerstorf, und unergründlich waren die Rätsel eines Tropfen Blutes. Beziehungen zu einem schwärmerisch veranlagten jungen Manne -- gebildet, zugegeben, aber jedenfalls ohne Rang, ohne Familie, arm -- mochten diese Beziehungen noch so unschuldig sein, wie man ihm versicherte -- noch so unschuldig -- In Dunkelheiten, voller Schrecken, unklare, verworrene, drohende Dunkelheiten verloren sich seine Gefühle -- und dann haßte er Ruth. Reue, Reue! Er war kein Unhold. Ja, schon bereute er seine Heftigkeit. Sie war jung, sie dachte selbständig, und das war immerhin anerkennenswert, sie lebte ihr eigenes Leben, war nicht eines jener törichten oberflächlichen Geschöpfe, die nur an Putz und Vergnügen denken. Es war natürlich übertrieben, töricht und im höchsten Maße ungerecht, sie hysterisch zu nennen. Eine Bekanntschaft aus dem Lazarett, etwas Romantik, weshalb urteilte er so streng? Nun liebte er sie plötzlich wieder, und er grübelte darüber nach, wie er ihr Vertrauen gewinnen könnte. Leider, leider hatte ihm der Dienst zu wenig Muße gelassen, sich mit seinen Kindern beschäftigen zu können. Das rächte sich jetzt. Etwas Vertrauen, und alles wäre in Ordnung! Heute abend wollte er mit ihr nochmals über die Reise nach der Schweiz sprechen. Es war ja eine Leichtigkeit, den Paß zu besorgen . . . Nein, unmöglich den prüfenden großen Blick Papas zu ergründen! Ruth versank in die Betrachtung des Bildes der Mutter an der Wand: auch sie hatte diesen Blick gewiß nie ergründen können, nein. Da klopfte es, und man meldete ihr ein Fräulein Westphal. Ruth warf das Kinn in die Höhe. »Ich bedaure.« Seht an! Trotzdem sie ganz die Mutter war, wie der General dachte, wenn er Ruth haßte, trotzdem die Linie der Hecht-Babenberg bei Ruth nicht im mindesten zum Ausdruck kam -- die gleiche Stimme in diesem Augenblick, die gleiche, etwas hochmütige Bewegung des Kinns. Trotz allem, trotz allem. Ach, sie bebte vor Unruhe und Erregung heute. Aber da ging schon die Türe, und eine ihr unbekannte dichtverschleierte Dame, ein schmächtiges, zartes Persönchen trat ein. »Ich bitte tausendmal --« flüsterte diese tiefverschleierte Dame. War so etwas überhaupt möglich? Sie hatte, Ruth, deutlich genug bestellen lassen, daß sie heute nicht zu sprechen sei. »Sie wünschen?« fragte sie, kühl, ohne jede Anteilnahme, abweisend, herzlos. Aber die dichtverschleierte Dame streckte ihre dünnen Arme aus. »Nicht Sie! Nicht auch Sie!« Und schon fiel sie in die Knie. Sofort aber fand Ruth sich selbst zurück. »Um Gottes willen!« rief sie aus und hob diese kleine weinende zuckende Person auf, die sie gar nicht kannte. »Was tun Sie? Um Gottes willen! Ich bin sehr beunruhigt heute -- ja, wer sind Sie eigentlich?« Und Ruth hob den Schleier der Dame hoch, sah ein blasses verweintes Kindergesicht mit hilflosen Augen -- sie kannte es nicht -- aber sie küßte es sofort. »Mein Liebling -- mein Kleines -- aber ich bitte Sie herzlich.« Ja, nun begriff sie, wer der Besuch war, sie erinnerte sich. Und Heinz? Sie hatte gehört davon. Ein lieber, frischer Junge. »Herr v. Meerheim -- sie flogen Sperre -- er sah die Maschine taumeln -- und dachte sich noch, was ist das? Und da stürzte die Maschine schon --« Ruth preßte Klara an sich. »Bleiben Sie hier bei mir! Erzählen Sie mir alles, alles. Wir sind Freundinnen. Geben Sie mir Ihre Hand.« Und Ruth führte diese kleine dünne Hand an die Lippen. »Ja, Freundinnen! Auch ich habe Sorgen, hören Sie! Gerade heute bin ich in schrecklicher Unruhe. Ich ertrage diese Stadt nicht mehr und gehe bald aufs Land. Haben Sie Lust mitzukommen, Sie sind eingeladen? Ja, in schrecklicher Unruhe bin ich, ich kann es Ihnen nicht sagen. Deshalb war ich auch so unhöflich! Verzeihen Sie -- und nun plaudern Sie, plaudern Sie!« 8 Berlin -- wer kennt es nicht? -- ist die häßlichste Großstadt der Welt, ganz offen gestanden. Paris, London, Rom, Neuyork, Kioto, Moskau -- sind sie von ihren Bewohnern ganz allmählich erbaut worden, Berlin wurde von Unternehmern errichtet, in aller Eile. Von ganz wenigen Gebäuden, einzelnen Straßen und Plätzen abgesehen, ist es als Stadt architektonisch ohne jeden Reiz, ohne Zauber -- ein Steinhaufen ohne Grenzen, nichts sonst. Trotzdem besitzt es mehr Badewannen als zum Beispiel Paris, nicht zu unterschätzen, vor dem Kriege genoß es auch den Ruf, die reinlichste Großstadt zu sein. Also die häßlichste der großen Kokotten der Erde, aber am sorgfältigsten gewaschen, immerhin etwas. Die Theater haben ohne Zweifel die besten Spielpläne der Welt, die besten Konzerte -- aber sonst, häßlich, nüchtern, ein steinernes Meer. Früher verschwand die Häßlichkeit im Gewimmel der Menschen, im Donner des Verkehrs, im Gegleiße und Geglitzer von hunderttausend Volt, aber heute? Nackt und schmutzig lag die häßlichste aller großen Kokotten vor allen Augen da. Als die schönste Straße Berlins gelten die Linden. Sie beginnen mit dem Brandenburger Tor und enden mit dem Schloß. Eine Enttäuschung für jeden. Aber vom strategischen Standpunkt aus sind sie ganz ausgezeichnet. Das Schloß liegt auf einer Halbinsel, die Verteidigung gegen das Wasser zu ist ein Kinderspiel, die Linden selbst aber sind wie ein Lineal, breit und gerade -- eine Salve Kartätschen, und schon sind alle Schwierigkeiten beseitigt. Im Jahre 1848 wurde hier gekämpft. Barrikaden -- aber, wie gesagt, einige Kartätschen genügten. Nein, die Linden sind auch nicht die Hauptsache von Berlin, sie sind nichts als ein geschickt kaschierter Festungswall, mit Linden bepflanzt, mit Reitwegen versehen, mit Cafés und Hotels besiedelt -- wenig anheimelnd. Eine einzige Kanone, die vor dem Schloß auffährt, und sämtliche Café- und Hotelgäste müssen sofort das Trottoir räumen. Überall, wo Könige hausen oder hausten, finden sich derartig angelegte Straßen, man braucht nur darauf zu achten. Die Könige lieben einen freien Blick. In den kalten Schluchten dieser endlosen versteinerten Häßlichkeit treiben die Menschen dahin, Geschäftige und Spaziergänger, und dazwischen lauern die Augen der Verbrecher und Diebe, dazwischen lächeln die Augen der geschminkten Damen, dazwischen funkelt zuweilen ein Auge, das Auge eines Wahnsinnigen oder eines Dichters. Wie in allen Großstädten stehen die Schutzleute und blasen auf ihrer Flöte und bestimmen Ebbe und Flut des Verkehrs. Heute allerdings, die Straßengewaltigen -- sie gähnten vor Langeweile und hatten nur noch das eine Bestreben, nicht vor Erschöpfung auf das Pflaster zu stürzen. In den Steinschluchten dieses endlosen Meeres wanderte Ackermann seit dem frühen Morgen dahin. Er überquerte den windigen Alexanderplatz, den staubigen Spittelmarkt, und schlenderte langsam durch die Schlucht der endlosen Leipziger Straße, die ihre Größe dem Fleiße der Bürger verdankt. Er suchte nur noch belebte Stadtteile auf. Selbst diese Straße, in der der schwache Verkehr der sterbenden Stadt zusammenfloß, früher glattgeschliffen von den Nägeln der Pneus und Tag und Nacht blank gehalten wie ein Matschbillard, selbst sie war heute voller Schmutz. Voller Schmutz waren die verwahrlosten Häuser, die schief hängenden Firmenschilder, die elektrischen Wagen, die verbeult und abgekämpft aussahen wie Tanks, die aus der Schlacht kamen. Obwohl es erst anfing, warm zu werden, strömte die Stadt schon einen übeln Geruch aus. Was für ein Geruch war es doch? Wenn du ihn nicht kennst, besser für dich -- es war der Geruch der Verwesung. Genau wie die verlassenen Schlachtfelder roch Berlin. Hierauf überquerte Ackermann den Potsdamer Platz und bog in die Königgrätzer Straße ein, wo die Bahnhöfe liegen. Er suchte Menschen, Menschen, Massen von Menschen, und in dieser aussterbenden Stadt würden sie wohl noch am ehesten auf den Plätzen der Bahnhöfe zu finden sein. Langsam schlenderte er dahin. Die Sonne blendete ihm ins Gesicht. Auf dem Spittelmarkt hatte er einen Teller Suppe zu sich genommen, in aller Ruhe, denn Gewißheit erfüllte ihn, daß alles vollendet sein würde, bevor die Sonne sank. Er hatte sogar geschwankt, ob er nicht in die Dorotheenstraße gehen solle, um Ruth noch einmal zu sehen. Aber er war doch nicht gegangen. Nein, nun war er unterwegs . . . Da! Horch! Schon? Trommeln, beim Anhalter Bahnhof -- Augenblicklich beflügelte sich sein Schritt. Von plötzlicher Erregung erfaßt, ging er dahin. Deutlich, dumpf noch, aber ganz deutlich. Trommeln, ohne Zweifel. Sonderbar wirkt der dumpfe Laut der Trommel auf den Menschen. Er wirft ihn ohne jede Übertreibung um einige Jahrtausende zurück, in Zeiten, wo die Menschen noch mit den Tieren der Wildnis kämpften, zu den Negern am Kongo. Augenblicklich stürmten die Menschen wie in Hypnose über den Anhalter Platz, dem Laut der Trommeln entgegen. Plötzlich schwiegen die Trommeln, und die Blechinstrumente setzten mit barbarischem Lärm ein. Ein Menschenhaufe quoll aus der Straße auf den Platz. Waffen blitzten, gleichmäßig schwankende Reihen wurden im Strom der Köpfe sichtbar. Offenbar wurde ein Bataillon zur Bahn gebracht. Ohne zu überlegen, bebend vor Erregung, nahm Ackermann augenblicklich Aufstellung. Ein alter mürrischer Mann lud an der Straße Pflastersteine ab, und auf eine Reihe solcher Steine stellte er sich. Der Strom von Köpfen wälzte sich heran, umbrandet vom Tosen der Blechinstrumente, die in der Sonne funkelten. Scharen von Neugierigen drängten hinzu. Dicht neben Ackermann nahmen sie auf der Schicht von Pflastersteinen Platz und reckten sich auf den Zehen. Sogar der alte Mann, der die Steine ablud, hob das mürrische Gesicht. Im Takt der Musikkapelle zog der Menschenhaufe dem Bataillon voran. Zerlumpte Weiber und verwahrloste Kinder, alte Männer, frühreife Mädchen, bleich, verhungert, das Mal des letzten Elends auf der Stirn -- -- und doch: Freude glänzte auf allen Gesichtern! Ackermanns Blick wurde dunkel. Wirst du bereit sein? Wird dich die Stunde bereit finden? Volk, mein Volk, meine Liebe, meine Sehnsucht? Wie wird dich die große Stunde finden? Ausgehöhlt vom Hunger, ausgeblutet von den Schlachten, ausgefront -- wirst du die Kraft haben? Betäubt von Lüge, krank von dumpfer Sehnsucht -- wirst du? Die Völker der Erde blicken auf dich! Du bist geächtet, bespien, die Dornenkrone ist auf dein Haupt gedrückt, dein Weg führt durch Tränen, führt durch Hunger und Wahnsinn -- zitterst du? Wirst du straucheln? Wanken? Dahinsinken zu den Unwürdigen? Wirst du auserwählt und berufen sein unter den Völkern, das Reich zu bereiten, das Reich des neuen Menschen? Grell blitzten die Trompeten, grell schmetterten sie, die roten Backen barsten. Vorwärts, fort, fort, beeile dich! Meine Liebe und Sehnsucht fliegen vor dir her! Der Ruf erschallt! Lüge, Hoffart, Wahn -- wirf ab, wirf ab! Tauche nieder in deine reinen Quellen. Sieh, wie sie funkeln, am Firmament des Gedankens, deine großen Geister! Sie blicken auf dich. Fort, fort, beeile dich! Die Stunde ist nahe! Laß dein Herz wieder leuchten, das immer aufglühte, wenn die Dunkelheit am tiefsten war. Mehre den Schatz der Völker! Ich sehe dich auferstehen, ich sehe dich erblühen, sehe dich umringt von brüderlichen Nationen . . . Schon wälzte sich der Haufe dicht heran. Die Musikanten setzten mit einem Ruck die Instrumente ab. Im Zickzack fuhr der Stock des Musikmeisters durch die Luft, und die Trommeln wirbelten wieder. Reihen von Gewehren, Reihen von Helmen schwankten heran, vorwärts getrieben von einer unverständlichen Kraft, von einem unverständlichen Willen zusammengeballt. Das Bataillon Hähnleins, des Unglücklichen -- Junge Männer, rosige, arglose Kindergesichter, die noch nicht ahnten, daß morgen schon der Tod ringsum war. Wie oft hatte er, Ackermann, den Marsch zum Bahnhof erlebt! Alte Feldsoldaten, mit Auszeichnungen auf der Brust -- nein, sie gaben sich keinerlei Illusionen mehr hin -- stumpf marschierten sie, genau wie er früher marschierte: stumpf, schweißtriefend, bepackt, zitternd unter dem Blick der Vorgesetzten. Hundertmal mochten sie ihr Leben in die Schanze geschlagen haben, sie blieben trotzdem Tiere, hier wie bei allen kriegführenden Völkern war der gemeine Mann ein Tier, nicht mehr. Einige Frauen marschierten in den Reihen der Soldaten, Bräute, Mütter, Gattinnen, bleich, schwankend, weinend. So zogen sie dahin. Plötzlich aber -- Plötzlich erscholl eine Stimme! Woher kam sie? Niemand wußte es. Eine Stimme -- hell, metallen, durchdringend -- sie dröhnte über das marschierende Bataillon, übertönte die Trommeln, den Schritt der Arglosen und Erfahrenen -- scholl über den weiten Platz und wurde als Echo von den hohen Häusern zurückgeworfen -- die Stimme eines Riesen, eines -- ja, bei Gott, was für eine Stimme war es doch? Und diese Stimme rief, gellend, dröhnend, sie scholl über das summende, brausende Berlin -- in alle Ohren gellte diese Stimme. Diese Stimme rief: »Es lebe die Kameradschaft zwischen den Völkern!« -- Pause, der Platz gellte, Widerhall, Trommeln -- »Nieder mit dem Krieg!« -- Stille, Gellen, Trommeln -- »Alle Menschen sind Brüder . . .« Auf einem Haufen von Pflastersteinen stand ein Mensch, ein Soldat in einem weiten grauen Mantel, der flatterte, die Arme wild emporgeworfen, totenbleich, mit rasenden, fanatisch glühenden Augen -- seine Hände zuckten -- seine Stimme gellte, gellte. Plötzlich aber brach diese rasende gellende Stimme ab. Der Soldat war verschwunden. * * * * * Er lag auf dem Pflaster, ein Knäuel Menschen um ihn herum. Ein grüner Plüschhut rollte über den Bürgersteig. Eine Sekunde später wurde dieser Mensch im weiten grauen Mantel über das Pflaster geschleift. Das Bataillon zog weiter. Wieder setzte die Kapelle ein. Die meisten hatten gar nichts gesehen -- aber gehört -- ja, eine Stimme aus der Luft! Diese Stimme krallte sich in ihr Herz, zerriß es, daß es zu bluten begann vor Qual und Sehnsucht. Eine Stimme . . . Was für eine Stimme --? Die Stimme des Menschen hatten sie vernommen . . . Die letzten des Bataillons sahen noch einen Menschenhaufen, der sich den Bürgersteig hinabwälzte. Der grüne Plüschhut hörte auf zu rollen. Ein schmächtiger junger Mann ergriff ihn, überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß der Mensch im grauen Mantel in sicheren Händen war, bürstete den Hut eilig ab -- ja, und nun -- der Kneifer -- er war verlorengegangen. Und der schmächtige junge Mann suchte eilig den Kneifer. Da hob der alte Mann, man erinnert sich, er lud Pflastersteine ab, dieser Mürrische, den Kopf und sagte: »Wartet nur noch eine Weile -- ihr Halunken!« Und er spie aus. Der junge Mann geriet sofort in äußerste Erregung, sein Blick glitt suchend über das Pflaster, sein Blick bohrte sich messerscharf in die Augen des Mürrischen. Aber der alte Mann hob einen Pflasterstein in die Höhe, er lächelte -- aber wie! -- und der junge Mann wich zurück, und nun lief er rasch, rasch, ohne den Kneifer, zu dem Militärauto, um das der Menschenknäuel sich ballte. In dieses Militärauto hatte man den Menschen im grauen Mantel gezerrt. Er blutete im Gesicht, aber er wehrte sich nicht. Jede seiner Bewegungen, das Lächeln auf seinen fahlen Lippen, sagte deutlich, daß er nicht gesonnen sei, irgendwelchen Widerstand zu leisten. Aber unerklärlich -- plötzlich, ohne jeden Grund, schlug einer der beiden schnauzbärtigen Männer, die ihn ins Auto schleiften, sinnlos, völlig sinnlos, vielleicht um sich für die Anstrengung zu rächen, mit dem Knotenstock auf den Menschen im grauen Mantel ein. »Halt, halt!« schrie der schmächtige junge Mann mit dem grünen Plüschhut, der herangeeilt kam. Aber es war zu spät. Der Mensch im grauen Mantel -- jede Bewegung, ihr seht, ich leiste keinen Widerstand -- schlug mit einem furchtbaren Hieb nach dem roten Gesicht des Schnauzbärtigen, stieß noch einigemal in die Luft und sprang aus dem Auto. Der Schnauzbärtige blutete aus der Nase und war für einige Sekunden benommen, aber der andere Schnauzbärtige zog rasch entschlossen einen Revolver und schoß -- sofort schrie eine Mädchenstimme auf, er hatte ein kleines Mädchen getroffen. Der Mensch mit dem grauen Mantel aber war im Torbogen eines Hotels verschwunden. Zuerst stürzte der grüne Plüschhut nach, dann der Schnauzbärtige, der geschossen hatte, dann der andere Schnauzbärtige, dessen Nase blutete. Ein kleiner feister Herr telephonierte in bester Laune im Foyer des Hotels, behaglich das dicke Schenkelchen über das Knie geschlagen. »Höre, mein Kind -- ja also nicht später als acht Uhr. Und vergiß nicht, süßes Puppchen --« In diesem Augenblick erhielt er einen Stoß vor die Brust, und ein junger Mann entriß ihm ohne viele Umstände den Hörer. Militärpolizei. Vor dem Hotel sammelten sich Scharen von Menschen an. Eine Verhaftung! Und man hatte ein junges Mädchen in das Bein geschossen, das ganz harmlos spazierenging. Heitere Zustände, das mußte man schon sagen. Nun, die Verwundung war ja nicht schlimm, ein Streifschuß, aber bedenken Sie doch -- man geht über den Anhalter Platz und riskiert totgeschossen zu werden. Ganz als ob man an der Front sei. Aber da gab es schon wieder eine neue Sensation. Die Menschen traten plötzlich vom Bürgersteig auf den Platz zurück. Sie starrten in die Höhe. Unglaublich -- dort, dort -- aber, bitte, wo? Ja, dort, dort! Sehen Sie denn nicht? Ein Mensch! Ein Mensch auf den Dächern! Unglaublich! Ja, in der Tat, zwischen den Schornsteinen und Ventilationsröhren erschien da oben ein Mensch. Ein Mensch in einem weiten Soldatenmantel, ein Soldat. Die Häuser in der Gegend des Anhalter Bahnhofs sind unansehnlich und häßlich wie in andern Vierteln der Stadt, die Dächer mit Schiefer gedeckt, abgeflacht, dazwischen ein steileres Ziegeldach. Über die abgeflachten Ziegeldächer glitt der Mann da oben rasch dahin, über die steilen Satteldächer dagegen balancierte er vorsichtig von Kamin zu Kamin. Stellenweise schritt er, die Arme wagrecht haltend, wie ein Seiltänzer über den Dachfirst. Blitzschnell kletterte er von einem niedrigen Dach auf ein höheres am Giebel der Brandmauer empor. Wieder balancierte er wie ein Seiltänzer -- hoch oben, im stechenden Sonnenlicht, kreidig Gesicht und Hände, der flatternde Mantel bestaubt. Diesmal schwankte er, die Leute auf dem Platz schrien auf, aber schon hatte er Halt an einer Tonröhre gefunden. Er holte Atem, gegen die Tonröhre gelehnt, blickte mit seinem kreidigen Gesicht, das blutete, auf den Platz herunter, schrie etwas mit gellender Stimme, aber unverständlich hier unten, dann eilte er zum nächsten Kamin. Deutlich sah man, daß er hinkte. Unten auf der Straße hatte er sich ruhig festnehmen lassen, aber nun, seitdem man mit einem Knotenstock völlig sinnlos auf ihn eingeschlagen hatte, schien er entschlossen zu sein, zu flüchten. Nun glitt er zur Hälfte über ein Ziegeldach und kroch in eine Dachluke. Die Zuschauer atmeten auf. »Er ist verschwunden!« Aber schon nach einigen Sekunden erschien er wieder in der Dachluke. Er glitt bis zur Dachrinne herab und lief, wie eine Katze, buchstäblich, auf der Dachrinne dahin. Die Ausrufe erstarben auf den Lippen, die kleinen Verkäuferinnen preßten die Hand aufs Herz. Gleich darauf tauchte in der Dachluke die Mütze eines Schutzmannes auf, begrüßt vom Gelächter der Zuschauer. Der Mann im grauen Mantel kletterte abermals den Giebel der Brandmauer empor und lief über das Dach des Eckhauses. Tausende von Neugierigen hatten sich angesammelt. Es waren Züge angekommen, und die Reisenden standen gaffend und blinzelnd auf dem Platze. Das war Berlin, siehst du! Kaum kam man an, so gab es schon etwas zu sehen. Man hatte ja gelesen, daß zurzeit in Berlin häufig Deserteure auf dem Transport entflohen, sogar Passanten waren bei diesen Vorfällen schon erschossen worden. Brich das Genick, du Spitzbube! Ja, das war Berlin, man konnte wenigstens etwas erzählen. Ein Haar, und er wäre abgestürzt. Rote Gesichter reckten sich aus den Wagen der Straßenbahn, aus allen Fenstern der umliegenden Häuser. Die Kutscher verdrehten den Hals, Kellner, Friseure, Verkäuferinnen stürzten aus Läden und Türen. Messinggelb blendeten die Häuser in der Sonne. Schutzleute, Soldaten. Schon stockte der Verkehr. Nur langsam konnten sich die elektrischen Wagen durch die Menschenmenge schieben. Scharen von Kindern rannten dahin, deuteten zu den Dächern empor und schrien wie besessen: »Dort läuft er! Dort!« Das ganze Stadtviertel war auf den Beinen. Von der Bahnhofshalle her drang der schmetternde Marsch der Regimentskapelle. Nun gellte auch noch die Glocke der Feuerwehr -- ein Löschzug! Hedis Auto war mitten in die Menschenmenge geraten und konnte sich nur schrittweise, ohne Pause tutend, mit seinen Pneus den Weg bahnen. Der Chauffeur wagte die Vertraulichkeit, sie durch eine Kopfbewegung auf die Ursache der Menschenansammlung aufmerksam zu machen. Da sah sie zu ihrem Schrecken hoch oben -- in einer Dunstwolke von rostbraunem Staub -- einen Menschen, staubig und kalkweiß, über den Dachfirst laufen. Hedi kam vom Einkauf: Gardinen, Stoffe, Antiquitäten, es war schwer, etwas Ordentliches zu finden. In allen Geschäften und Magazinen jagte sie umher. Ihr Wagen lag voller Pakete, und neben dem Chauffeur blitzte aus dem Papier ein silberner Spiegel -- spanischer Barock, etwas beschädigt, aber, nach ihrer Ansicht, zauberhaft, ein Traum! Hedis Herz pochte. Bei Gott, es war die gleiche Querstraße, wo sie einst, im Sommer, Otto das Abschiedssouper gegeben hatte. »Fahren Sie!« Eine schweißtriefende Zeitungsfrau drängte sich in diesem Moment, einen Pack noch nasser Zeitungen unter dem Arm, am Auto vorüber und schrie mit gellender Stimme dicht an Hedis Ohr: »Die Marne abermals überschritten!« »Die Marne abermals überschritten!« Hundert gierige Hände streckten sich ihr gleichzeitig entgegen. Sie drehte sich im Kreise, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn. »Hier, bitte, geben Sie!« »Die Marne -- sofort, junge Frau -- abermals überschritten.« Ihre gellende Stimme übertönte den Marsch der Kapelle auf dem Bahnhof. Das Auto rückte an. Hedi konnte gerade noch das Blatt ergreifen. Sie warf noch einen flüchtigen Blick in die Höhe -- da sah sie gerade, wie der Mann auf dem Dachfirst plötzlich schwankte -- hatte man geschossen? -- schwankte -- mit den Händen in die Luft griff und über das steile Dach herabstürzte. Eine Sekunde wurde der Körper von der Dachrinne aufgehalten, dann fiel er . . . Hedi bedeckte die Augen mit der Hand. Die schweißtriefende Zeitungsfrau raste dem Bahnhof zu und schrie gellend: »Die Marne abermals überschritten! Die Marne abermals -- --« 9 Vorgestern nicht, gestern nicht -- aber jetzt, jetzt kam sie die Fabriciusstraße herauf. Sie hielt zuweilen inne, als zögere sie, blickte sich um, aber sie kam doch immer näher. Herr Herbst kletterte die Treppe empor, bis zur Türe. Er wohnte nicht mehr hier, hatte das Quartier in diesem Unglückshause geräumt. Er wohnte jetzt in einer kleinen Kammer im »Löwen von Antwerpen«. In einem ganz winzigen Raum, aber doch zog er ihn diesem Zimmer vor. Schon hörte er ihren Schritt, das leichte Keuchen ihres Atems. Sie ging ganz anders als alle Frauen, die diese Treppe auf und ab stiegen. Die Sohlen ihrer Schuhe waren dünner, sie vermied jeden Lärm und hielt sich nie am Geländer fest. Herr Herbst trat vor, beugte sich über das Geländer. Sie sah ihn an, hielt inne, leise keuchte ihr Atem. Herr Herbst lüftete den steifen Hut: »Sie suchen gewiß Herrn Ackermann?« fragte er. »Ja«, hauchte sie. »Er wurde verhaftet --« »Vorgestern verhaftet --« Nun berührte sie plötzlich mit den Fingerspitzen das schmutzige Stiegengeländer, und das Blut wich aus ihren Wangen. Ganz langsam. Zuerst wurde sie fahl, dann weiß wie Mehl. Dann verloren ihre Augen die Farbe, auch sie wurden weiß. Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe! Fleisch von seinem Fleisch. Blut von seinem Blut . . . Herr Herbst beugte sich über das Geländer und sah ihr tief in die Augen. Immer noch wurde sie weißer -- ihre Hand griff zu. Und bald, bald würde man auch sie -- der Magere, Schmächtige hatte es ihm zugesagt. Und diese Schande für die Familie . . . Heute abend, es war Sonnabend, würde er den Munitionsarbeiterinnen im »Löwen von Antwerpen« etwas zum besten geben. Und auch er würde ein Fläschchen trinken. Er besaß ja immer noch Geld, Gott sei Dank, zwei Brieftaschen, eine kleine für die laufenden Ausgaben und eine große, in der sich die blauen Scheine befanden, noch immer eine ganze Anzahl. Heute abend sollte ihm nichts zuviel sein. Dabei hielt er den Hut gelüftet, und sein Blick versank in diese Augen, die die Farbe verloren, den Blick. »Hier?« hauchte eine zitternde Stimme. »In der Stadt. Beim Anhalter Bahnhof.« »Haben Sie es gesehen?« »Ein Bekannter hat es mir erzählt.« »So? -- -- Danke.« Sie wandte sich ab, ging, Schritt für Schritt, und immer noch ganz leise und lautlos. Er beugte sich weit über das Geländer und sah ihren kleinen braunen Hut um die Ecke biegen. Plötzlich lief er mit den Bewegungen eines Hampelmannes hinter ihr her. »Hören Sie, noch etwas.« Sie wandte ihm ihr mehlig weißes Gesicht zu. Herr Herbst beugte sich über das Geländer. Und nun stieß er ihr das Messer ins Herz! »Er ist tot!« flüsterte er, ganz leise, aber so deutlich. Das mehlige, weiße Gesicht verschwand -- und plötzlich eilte ein lauter, harter Schritt, blitzschnell die Treppe hinab. Immer rings um das Treppengeländer. Aber dies war zuviel für Herrn Herbst. Dieses rasende Klappern der Schuhe vertrug er nicht. Im Nu stürzte ihm das Wasser aus den Augen. Was ging hier vor? Er wollte ja gar nicht -- Rasch, so rasch seine zitternden Beine es zuließen -- immer war es ihm beim Hinabsteigen der Treppe, als stürze er in einen Abgrund -- folgte er den harten, raschen Schritten, die im Stiegenhaus herumgingen. »Halt, halt -- hören Sie --« »Hören Sie -- es war ein unglückseliger Zufall --« »Hören Sie, pst -- einen Augenblick -- fliehen Sie aus Berlin -- auch Sie will man --« Aber er vermochte sie nicht mehr einzuholen. Wie ein Hampelmann eilte er. »Ich warne Sie -- wünsche Ihnen nichts Böses --« Vergebens. Die Haustüre fiel ins Schloß, und als er sie wieder geöffnet hatte, da war sie schon, unglaublich, unfaßbar, mindestens sechs Häuser weit entfernt. Keine Möglichkeit, nicht die geringste Möglichkeit. Drittes Buch 1 Von Horizont zu Horizont rollt das Feuer. Staub und Qualm -- brennende Menschen stürzen aus dem Himmel, ein Hagelsturm von zerfetzten Menschenleibern fegt über die Erde. Die Luft wettert von rasenden Donnerschlägen, die glühenden Geschütze taumeln voll Wut, ferne grollt das böse Raubtierknurren der schwersten Kaliber. Die Erde schwankt, das Gebäude der Atmosphäre gerät ins Wanken. Lawinen, Bergstürze, der Vulkan speit. Seit Wochen, seit Monaten. Horch! Horch -- horch! Schreie, damit ich dich verstehe --! Was sagst du? Es ist die Stimme Europas -- sehr wohl! Es ist die Stimme der Habgier, des Geldes -- noch besser . . . Schiefergrau und rostbraun, in jeder Sekunde neu genährt von Qualm, wogt von Horizont zu Horizont, unendlich, die fürchterliche Wolke über der Walstatt. Die Landschaft selbst runzelt die Stirn, gealtert, zermürbt, zerknittert und vergrämt. »Ungemütlich, lieber Otto« -- schrieb Hauptmann Falk, genannt die Feuerwalze -- »es beginnt ungemütlich zu werden hier außen! Heute morgen einige tausend Granaten auf unsern Abschnitt, die nicht von schlechten Eltern waren. Ringsum Leichen, auch die Lebenden, der Divisionär, vierzig Stufen unter der Erde, ebenfalls eine Leiche! Er stammelt nur noch, schwere Sprachstörung. Ich schreibe dir, um die Nerven zu behalten. Was ist los? Wir liegen hier in Granatlöchern, keine Gräben mehr und Drahtverhaue, die gemütlichen Zeiten sind vorüber -- alle fünfzig Schritt ein Mann, schwere Maschinengewehre, leichte Maschinengewehre. Im Hintergelände weit und breit keine Menschenseele -- nur Feldküchen und Verbandplätze -- kein Mensch, was soll das bedeuten? . . .« Die schiefergraue und rostbraune Wolke flimmert, endlos, bis in den schwarzen Äther empor. Schwingen von aufgescheuchten Vogelschwärmen blitzen darin -- das sind die Flieger. Qualm faucht auf, da oben in der flimmernden Wolke, Qualm schießt finster durch die Luft, stürzt zur Erde: ein Mensch, lichterloh brennend eilt über das Feld, taumelt, brennt, qualmt, kohlt --. Horch, horch! Ja, schreie, sonst höre ich dich nicht! Stimme des Geldes, sehr wohl -- die Mark, die Francs, die Pfunde, Dollars, sie brüllen -- es sind auch die Millionenvölker Europas, die nach Nahrung brüllen, vergiß es nicht -- und das trockene Schießpulver, der Aberwitz, er lacht aus den Feldgeschützen. »Die gute alte Zeit, lieber Otto« -- schrieb Hauptmann Falk in seinem Erdloch -- »sie ist endgültig vorbei. Schade! Ringsum schreien Menschen, aber ich kann ihnen nicht helfen, bevor es Nacht wird. Ich sitze mitten im Rauch. Mein Leutnant übergibt sich, er hat Gas geschluckt, Gott helfe ihm, ich kann gar nichts für ihn tun. Ich schwitze entsetzlich in meiner Gasmaske. Gestern sollten wir fünfhundert Flaschen Sodawasser bekommen, aber ein Volltreffer hat sie auf der Chaussee vernichtet. Die Zungen hängen uns heraus. Was für ein Staub! Dank, alter Junge, für den Kognak! Es war eine Freude. Wir hatten zwei gefangene Engländer in unserem Granatloch, auch sie bekamen einen Schluck aus der Flasche, mußte schwören, sie nach dem Kriege in England zu besuchen. Hoffe in einigen Tagen in Berlin zu sein. Seit einer Woche sollen wir abgelöst werden, aber niemand zeigt sich, obwohl es uns feierlich versprochen wurde. Die Sache gefällt mir nicht, alter Junge. Stelle die Flaschen kalt, du erhältst Telegramm. Grüße Bussi! Hoffentlich kommt der Brief durch. Man braucht hier zwei Stunden für einen Kilometer.« Bussi? Bussi? Wer ist Bussi? Niemand weiß es, offenbar eine Dame, aber es tut schließlich nichts zur Sache. Wie ein blutüberströmtes Antlitz sank die Sonne hinter der endlosen flimmernden Staubwolke. Rasch kam die Nacht. Aber die Geschütze wüteten weiter. Schweiß badete die Gesichter der Kanoniere. Die Brandung aus Eisen und Blut rollte fürchterlich in der Dunkelheit. Schon stiegen die Leuchtkugeln, da, dort, überall, glühend in allen Farben. Ein Netz von Blitzen geisterte. -- -- * * * * * Die Raketen zischten in die Höhe und zerplatzten mit einem leichten Knall am Himmel. Trauben von silbernen, violetten, lichtblauen und bengalisch roten Christbaumkugeln sanken mild durch das tiefe Blau der Nacht. »Ein Feuerwerk!« Die Kapelle spielte. Vor dem Kurhaus zerschmolzen die hellen Kleider und grellen Mäntel und Jacken im gleißenden Licht der Bogenlampen. Hier außen am Strand aber war es ganz still, dämmerig, nur der Mond und das glitzernde Meer. Der Geruch von Tang und Salz in der lauen Luft. Ohne Pause glitten lautlos die silberschäumenden Wellen über den Sand und breiteten ihr gleißendes Schleiergespinst aus. Klein und hoch der Mond, und schaukelnde Scherben von Silber sein Spiegelbild. Plötzlich zischte es, eine Rakete fuhr zu den Sternen empor. Eine Gruppe von sprühenden Funken erschien am blauen Nachthimmel, trieb, heller als die Gestirne, im leichten Wind sanft dahin und erlosch allmählich. Aus einem Strandkorb fuhr eine silberne Larve, eine Hand, blitzend von Steinen, erschien. »Brillant!« Es war Herr Olsen aus Kopenhagen, zurzeit in einem deutschen Ostseebad, der den Zauber des fliegenden Sternhaufens bewunderte. Er streckte den blonden Kopf heraus, strampelte mit den weißen Hosen und erschien persönlich im Mondlicht. Er war nahezu zwei Meter hoch, und sein Schatten ging vollkommen über die Sandburg »Lüttich« hinweg. Er war ein hübscher, junger Mann, frisch, kindlich und gutmütig. Mit strahlender Miene und blinkenden Zähnen verfolgte er die bunten Kugeln am Himmel. Herr Olsen lebte noch in der Welt des Friedens. Er sprach nie vom Krieg, erzählte nichts von Schützengräben, las keine Berichte und quälte sich nicht mit Kombinationen -- er studierte höchstens die Börsenberichte und kaufte deutsches Geld, wenn es Vorteil versprach. Wer den Krieg gewann, das war ihm höchst einerlei, zu welchem Zwecke er geführt wurde, berührte seine Seele nicht im mindesten. Herr Olsen war -- nun, dies ist der etwas triviale Ausdruck seiner Begleiterin -- durch und durch Friedensware. Seine soliden Schuhe, seine sechs verschiedenen Mäntel, der Ausdruck seines Gesichts, Augen, Sprache, Lächeln, Gedanken -- alles Friedensware, selbst Farbe und Glanz seiner Haut und seiner Haare, unwiederbringlich dahin bei den deutschen Männern. Er war mit einem Wort eine Sehenswürdigkeit. Seine Begleiterin, im Schatten des Strandkorbes gegenüber, lachte. Ihre Augen sprühten im Mondlicht. Dieses Lachen? Dieses Lachen! Dora --? Ja, Dora! Und nun streckte sie ihr Silberlärvchen in das Mondlicht, und ihre etwas runde Hand tauchte in die gleißende Helligkeit. Ihr heller Haarschopf flimmerte. Sie lachte über Olsens kindliche Freude an den bunten Christbaumkugeln da oben. In seiner Nähe atmete sie leichter, er hatte eine ganz andere Atmosphäre um sich wie andere Männer. So zum Beispiel Otto, der einige Tage hier gewesen war. Herr Olsen streifte seine Dame mit einem fragenden Blick. Weshalb mochte sie nur lachen? Selbst die Strahlen des Mondes, die nach Doras Augen zielten, vermochten nicht ihr tiefes, seltenes Blau zu dämpfen. Herr Olsen kroch wieder in den Schatten des Strandkorbes zurück und begann sogleich voller Eifer die unterbrochene Unterhaltung fortzusetzen. Es handelte sich darum, ob Dora ihm, Herrn Olsen riet, sich ein Gut in Deutschland zu kaufen. Das deutsche Geld war ja jetzt so lächerlich billig. Herr Olsen sprach nur von seinen eigenen Angelegenheiten, fremde Schicksale, das Schicksal des deutschen Volkes, das Schicksal Europas, das Schicksal des Planeten, das war ihm alles höchst einerlei. Herr Olsen war der Mittelpunkt der Erde. »Aber Sie müssen mir versprechen, mich dann zu besuchen? Ach, es wird ja so schrecklich langweilig sein.« »Wenn Sie artig sind?« »Artig? Ich will wie ein kleines Hündchen sein, so artig!« beteuerte Herr Olsen, und wieder fuhr sein Silberkopf aus dem Strandkorb. Ja, nun war es also Herr Olsen, der sich, Dank der Gnade des Himmels, seine Friedensseele bewahrt hatte. * * * * * Feuerbalken schossen über den Horizont, und das fürchterliche Wetterleuchten setzte nicht eine Sekunde aus. Hauptmann Falk konnte ganz gut dabei schreiben. Die Leuchtkugeln sprühten wie Leuchtfeuer, die plötzlich über dem Meer erglühen. Aus der Höhe beim Nachbarregiment fuhren Bündel von roten Signalen, und die Artillerie wirbelte. Ein Feuerloch glühte auf, das waren die Einschläge. Ein Gespenst kroch über das Feld, versank, kroch, huschte. Es war Hauptmann Falk. Obschon gefeit -- er glaubte es -- nahm er sich doch in acht, denn es konnte ja durch einen Zufall ein Unglück geschehen. Er glitt die Schützenlinie entlang. Hier schüttelte er Schlafende -- aber sie erwachten nicht mehr. Aber er traf auch Gruppen, deren Augen hell wie Sterne im Schein des Geschützfeuers sprühten. Es waren wunderbare Menschen! Ohne einen Tropfen Wasser seit drei Tagen! Da duckte er sich zusammen. Pechschwarz, von roter Lohe durchglüht, stieg der Einschlag in die Höhe. Ja, ungemütlich, höchst ungemütlich. Die Blitze geisterten. Auf allen Straßen knarrten jetzt die Wagen. Hier und drüben bei ihm. Munition, Verpflegung, Verwundete, die ganze Nacht hindurch. Hunderttausende von Wagen knarrten durch die Dunkelheit. Der Himmel erdröhnte, die Bombengeschwader waren unterwegs. Die Mützen über die geschorenen Schädel gezogen, die Nase im Wind, jagen die Befehlsempfänger die Straße hinab. Klein und hoch geht der Mond, Blitze wehen, Feuer sprüht im Walde. 2 Der Tiergarten fröstelte. Unerträglich heiß war es am Tage gewesen, und nun war es plötzlich kühl geworden. Irgendwo in der Nähe von Berlin mußten schwere Gewitter niedergegangen sein, aber man hatte nur zuweilen das tiefe Donnerknurren gehört. Vor der roten Backsteinvilla in der Lessingallee, mit Efeu überwuchert, hielt eine Droschke. Händeklatschen. »Petersen! Petersen!« Eine helle Stimme. Schon öffnete sich die Türe, und Petersen in seinem Zebrakittel eilte auf die Straße. Ein Offizier stand bei der Droschke, mit einer schwarzen Brille, eine kleine Reisetasche in der Hand. »Nun, Petersen, alter Knabe, Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Eine hohe, fremde Stimme. »Herr Hauptmann?« rief Petersen erstaunt und erschrocken aus. Was tat er hier, was wollte er hier? Schon vor dem Kriege hatte er ja nicht mehr hier gewohnt. »Welche Überraschung, Herr Hauptmann!« »Ja ja, Petersen -- so geht es -- wenn man sich lange nicht sieht. Meine Frau --?« »Im Bade, Herr Hauptmann. Kommt morgen!« »So? Nun, ich werde nicht stören. Nur ein paar Tage, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Na, und es geht immer gut, alter Petersen?« »Danke, Herr Hauptmann, sehr gut, danke!« Petersen nahm die Reisetasche, und Hauptmann v. Dönhoff stolperte die Treppe hinauf. »Ah, wie dunkel! Ihr habt wohl eine Kleinigkeit zu essen für mich? Den ganzen Tag im Zuge --« Wie leer diese Stadt, wie ausgestorben! Hauptmann Dönhoff _roch_ die Stille und Ausgestorbenheit. Berlin war tot, ohne Zweifel. Hier und da ein Schritt, ein zögernder, nachdenklicher, mutloser Schritt. Ja, mutlos gingen alle diese Schritte in den dunkeln Straßen dahin, mutlos und bestrebt, keinen Lärm zu machen. Und früher, früher! Auch dieses Haus, sein früheres Haus -- totenstill. Welche Feste hatten sie hier gefeiert. Er hörte sein früheres Lachen! Zweihundert schöne Frauen hatte er besessen, siebzig Rennen gewonnen, zwei Elefanten und ein Nashorn geschossen, als einer der ersten war er in Deutschland geflogen, einer der Entdecker des deutschen Himmels -- ja, es hatte sich manches geändert. Aber den Geruch des Hauses erkannte er sofort wieder. Doras Parfüm und eine gewisse Schwüle. »Hoppla, Petersen --« Er stieß gegen ein Tischchen in der Garderobe. »Ich sehe etwas schlecht, bis man sich wieder eingewöhnt.« Immer sprach er mit einer hohen, fremden Stimme, hastig, unsicher, wie ein Mensch, der sich _schämt_. Petersen eilte in die Küche und machte Zeichen mit den Fingern vor der Stirn. »Er ist -- so wahr mir Gott helfe, nein, was wird die Gnädige sagen? Was will er hier? Sie sind doch getrennt. Aber sehen Sie doch selbst. Er ist, mein Himmel, wie merkwürdig --« Mina also, neugierig wie sie war, mußte sich ihn selbst ansehen. Sie fand Hauptmann v. Dönhoff auf einem Sofa, eine Zigarette rauchend. Er richtete, als sie eintrat, die dunkle Brille auf sie, lächelte, und sie konnte vor Schreck keinen Ton hervorbringen. Der Gruß blieb ihr im Halse stecken. Sie hätte ihn -- bei Gott -- nicht wieder erkannt: grau, völlig grau, fast weiß, gelb, alt, um zwanzig Jahre älter mindestens! Und dieses Lächeln des welken Gesichts, diese Falten um den Mund -- nur solche Leute konnten so lächeln, nur solche -- Petersen hatte recht. Mein Gott, welche Angst sie hatte! Weshalb mußte sie auch gleich hereinlaufen. Hauptmann v. Dönhoff gähnte. Er blickte sie durch die dunkle Brille an, verfolgte jede ihrer Bewegungen. Dann sagte er lächelnd: »Na, also, Petersen, alter Knabe, erzählen Sie doch, was es Neues gibt in Berlin?« Petersen! Er hielt sie für Petersen! Vor Schrecken hätte Mina beinahe einen Teller fallen lassen. * * * * * Und das Feuer rollte. Wie ein blutüberströmtes Antlitz stieg die Sonne aus der endlosen Staubwolke empor. Die in der Nacht fielen, waren jetzt schon kalt. Auf den Chausseen lagen in Stücke zerrissene Pferde und Männer, zertrümmerte Wagen und zerschmetterte Bäume; ihr grünes Laub rauschte im Morgenwind. Die Mütze über die geschorenen Schädel gezogen, kamen die Befehlsüberbringer im Auto angefegt und setzten über die rauschenden grünen Aste, die quer über der Straße lagen, hinweg. Der Himmel stand voller Schrapnellwolken, Schwärme von Fliegern brausten im Frühlicht. Die Geschütze stampften, pochten, knackten -- die rasende Erde beschoß aus ihren Kratern das aufgehende Gestirn der Sonne. Wie gestern, wie vorgestern, wie alle Tage stürzten brennende Menschen aus dem Himmel. Ein Hagelsturm von zerfetzten Leibern fegte über die Erde. Millionen Herzen verkrampften sich in Todesangst. Und die Wolke, die rostbraune, schiefergraue Wolke stand unendlich über der Walstatt. 3 Ganz in der Nähe der Hofjägerallee im Tiergarten läuft ein gekrümmter, schmaler Reitweg durch tiefes Dickicht. Auf diesem schmalen, gekrümmten Reitweg ging der General hin und her, die Hände auf dem Rücken, die Augen auf die eigenen Fußspuren geheftet, die noch von gestern, von vorgestern, hier zu sehen waren, trotz dem Regen, der in der Nacht fiel. Hier ging nie ein Mensch, und Reiter -- das Geschlecht der Reiter war völlig ausgestorben in Berlin. Dora --? Es war drückend schwül, schon um neun Uhr morgens, der General hatte seinen Kragen etwas gelockert, hier sah ihn ja niemand. Bewegungslos standen Büsche und Bäume, und zuweilen sang ein Vogel, irgendwo in weiter Ferne. Es klang wenigstens so in seinen Ohren, möglich, daß er sich täuschte. War es nicht eigentümlich, in letzter Zeit schienen alle Geräusche und Laute in weite Fernen zu rücken, auch die Stimmen der Menschen, die dicht vor ihm standen und sprachen? Nichts von Bedeutung eigentlich -- Der General blieb stehen und heftete den Blick auf die staubige, schwarze Erde des Reitwegs. Es war ihm schwer, einen Gedanken bis zu Ende zu verfolgen. Nein, gewiß, das war es nicht. Es wäre unvernünftig, Kombinationen daran zu knüpfen. Vorgestern hatte er zufällig einen Blick in Ottos Zimmer geworfen, im Vorbeigehen. Das Zimmer wurde gereinigt, und das Unterste war zu oberst gekehrt: da sah er -- nein, zuerst nahm er kaum davon Notiz, aber er kehrte zurück, irgend etwas war ihm aufgefallen. Da sah er also auf einem Sessel ein sonderbares Kostüm: eine Art Kaftan oder Kimono von einem eigentümlichen, unangenehmen, schmutzigen Gelb, einen Turban, orangerot, mit dicken grünen Schnüren umwickelt. Dieses Kostüm -- sofort fiel es ihm ein: jener Vermummte, jener Unbekannte auf Doras Hausball, jener Stumme, der immer mit einer merkwürdigen Schale rasselte! Es ging das Gerücht, eine hohe Persönlichkeit verberge sich in dieser etwas phantasielosen Maske. Also er -- Otto --? Ein Maskenscherz, natürlich, nichts anderes. Otto war ja damals noch im Lazarett, offenbar ausgerückt für diese Nacht, er konnte sich nicht gut zu erkennen geben. Aus diesem Grunde die Geheimtuerei, und sicherlich hatte er absichtlich das Gerücht von der Hoheit verbreiten lassen. Gewiß, ohne jede Bedeutung. Wie kam er doch wieder darauf? Herrlich ruhig war es hier, und nur zuweilen war das ferne Klingeln der Straßenbahn zu hören. Wohltuend und beruhigend das Grün der hohen Wipfel, und da droben, da draußen flammte heiß die Sonne, wie ein grelles Feuer. Hier aber, Schatten, Kühle sogar, und der Schritt unhörbar. Es ging sich angenehm auf der losen Erde, die Füße ruhten aus. Der General hielt sich etwas gebückter. Er war im Gesicht magerer geworden, die Backen hingen schlaff herab, seine Gesichtsfarbe war fahler, trocken, mit kalkigen Flecken. Zuweilen zuckte sein rechtes Augenlid, und ein Nerv klopfte oft unangenehm an der Nase, dicht beim rechten Auge. Den ganzen Sommer, hatte er in dem stickigen, heißen Berlin verbracht. Er hatte die Absicht, im August in Urlaub zu gehen, nach Babenberg, nun aber waren Ereignisse eingetreten, die ihn hier festhielten. Gewisse Schwierigkeiten an der Front, die bald behoben sein würden. Jedenfalls aber war es ganz undenkbar für ihn, jetzt, gerade jetzt seinen Posten zu verlassen, selbst nicht auf einige Tage, so nötig er auch Erholung brauchte. Sitzungen, Konferenzen, nun gut, die da draußen hatten ebenfalls keinen Urlaub. Man mußte sehen, wie man durchkam. Diese halbe Stunde jeden Morgen -- eine volle halbe Stunde, ja, es ging nicht anders, wollte er nicht zusammenbrechen -- diese halbe Stunde morgens von einhalb neun bis neun Uhr war sein Urlaub. Um neun Uhr erfaßte ihn dann die Maschine, und er kam bis Mitternacht nicht mehr zu sich. Er schlief nur noch mit Hilfe von starken Schlafmitteln. In diesen dreißig Minuten am Vormittag allein konnte er in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen und sich mit seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigen. Gott sei Dank war er vernünftig genug gewesen, sich diese störenden Geldgeschichten vom Halse zu schaffen, wirklich ein Entschluß, zu dem er sich jetzt beglückwünschte! Er hatte das Gut Rothwasser verkauft. An einen Dänen, namens Olsen, aus Kopenhagen -- ja, schon kamen sie jetzt, die Neutralen, die am Kriege verdient hatten, und kauften deutsches Land. Er bereute den Schritt nicht. Was geschehen ist, ist geschehen -- das Notwendige tue rasch, ohne dich umzusehen. Otto würde ja Babenberg behalten, genug und übergenug für ihn, und Ruth -- nun es würde auch für Ruth gesorgt sein. Er machte kehrt, nie ging er weiter bis zu jenem grellen Sonnenflecken mitten auf dem Reitweg. Zerstreut blickte er, stehenbleibend, in das Dickicht -- auch hier Staub auf den Blättern, selbst hier. Rothwasser? Wie kam er darauf? Nun ja, er hatte sich durch den Verkauf diese störenden, quälenden Kalamitäten vom Halse geschafft -- wie schwer es ihm doch wurde, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren! Fünf anstrengende Konferenzen waren allein für diesen Vormittag angesetzt. Schon disponierte er wieder. Dora --? In diesem Augenblick dröhnten von der Hofjägerallee drei langgezogene Hupensignale. Dieser Schwerdtfeger, dieser Esel! Mußte er ihn gerade in diesem Moment unterbrechen. Ärgerlich setzte der General seine Promenade fort. Er ging etwas rascher, sollte er warten! Ja, diese Wochen, da sie im Bade war, waren eine Art Probe gewesen. Er hatte diese Probe nicht bestanden, um ehrlich zu sein! Ja, das war es, nicht bestanden. Er hatte sie vermißt, kam sich verwaist und verlassen vor, niemand in Berlin, das Haus leer, auch Ruth auf dem Lande -- die Stimmen rückten mehr und mehr in die Ferne, wurden unwirklich, nur Doras Stimme klang noch nah. Es schien auch, als ob die Menschen selbst mehr und mehr verblaßten -- sie riefen unverständliche Worte, machten unverständliche Gesten. Er beachtete sie kaum, sie interessierten ihn nicht mehr, seine Mitmenschen, nein, sollten sie ruhig tun, was sie wollten. Und fünf Konferenzen -- nun saßen sie schon und warteten, Weißbach schielte auf die Uhr. Ja, es war die Wahrheit, leugnen wir sie nicht, er fühlte sich einsam ohne sie. Einsam? Welch ein furchtbares Wort, bei rechtem Lichte betrachtet! Nie in seinem Leben hatte er die Bedeutung dieses Wortes begriffen. Es war die Abspannung, die Nerven, natürlich. In ihrer Nähe fühlte er sich augenblicklich beruhigt, ausgeglichen. Etwas von ihrer Sorglosigkeit und Lebenskunst schien auf ihn überzuströmen. Wie sie sich gefreut hatte über die kleine Uhr, die er ihr am ersten Abend brachte! Ein Kind, wahrhaftig, nichts als ein großes, lebenslustiges, immer heiteres Kind war diese ganze Dora, ein Quell der Verjüngung, sozusagen. Vielleicht beruhte die belebende Wirkung, die sie auf ihre Umgebung ausübte, gerade auf ihrer großen und seltenen Naivität und oft komischen Lebensunkenntnis. Wer weiß es? Es galt zu überlegen, jedenfalls -- ein bedeutungsvoller Schritt! Ein Schritt, der wohl erwogen sein wollte, obgleich er sich ja schon Jahre mit diesem Gedanken beschäftigte. Wohl erwogen. Otto? Nun, Ottos Meinung war ihm schließlich gleichgültig, Otto fragte ja auch ihn nicht um seine Ansicht, wochenlang bekam man ihn nicht zu Gesicht. Sein Sohn war ihm fast ein Fremder geworden. Und Ruth? Nun Ruth würde sich damit abfinden. Sie zuallererst. Erst jetzt war ihm zum Bewußtsein gekommen, wie vernünftig diese Ruth in Wahrheit war. Ja, möglich, möglich, daß er ihr ganzes Naturell falsch eingeschätzt hatte. Sie war in ruhigem und ausgeglichenem Gemütszustand von Babenberg zurückgekommen. Ihre sentimentale Laune schien weniger tief gegangen zu sein, als er befürchtet hatte. Obgleich dieser jugendliche Schwarmgeist, wie man ihm berichtete, noch hinter Schloß und Riegel saß und seiner Bestrafung kaum entgehen dürfte. Offenbar hatte Ruth die Beschaulichkeit auf dem Lande dazu benutzt, nachzudenken. Der rasche Schnitt mit dem Messer hatte sich wieder als die beste Heilmethode erwiesen. Gewiß, auch Ruth würde sich damit abfinden -- vielleicht war gerade sie es, die ihn am ehesten verstand. Aber sie selbst -- Dora? Das heißt nicht, daß er zweifelte! Natürlich nicht, er konnte auch aus früheren Äußerungen Doras schließen -- es würde für sie immerhin einiges bedeuten, gesellschaftliche Stellung, nun, und manches andere. Sie war ja aus guter Familie, ein Bruder sogar Major, aber immerhin, kleiner, unbedeutender Landadel. Und nicht zuletzt würde sie gewiß aufatmen, aus diesem Zustand finanzieller Unsicherheit herauszukommen. Nein, nicht das. Aber es gab da das und jenes, was ihn in der letzten Zeit stutzig -- ist stutzig das richtige Wort? -- nun sagen wir ruhig: stutzig gemacht hatte . . . Einiges, unbedeutende Dinge, Kleinigkeiten sozusagen, Imponderabilien -- aber vielleicht tat er ihr bitter unrecht? Wie? Nicht unmöglich . . . Wieder dröhnte das Hupensignal. Der General hakte ärgerlich den Kragen zu. »Es ist ganz unmöglich, auch nur fünf Minuten lang seine Gedanken zu sammeln«, sagte er laut und begab sich zum Auto zurück. Die graue Limousine fegte in das heiße Berlin hinein: Sitzungen, Konferenzen, Vorträge. Schon warteten sie dichtgedrängt im Vorzimmer, und Weißbach schielte tatsächlich ununterbrochen nach der Uhr. 4 Nein, gewiß, der General kannte seine Tochter nicht. Wäre er ein Beobachter, so würde er auf den ersten Blick gesehen haben, daß Ruth sich im Laufe des Sommers auffallend geändert hatte. Aber er war kein Beobachter: Sitzungen, Konferenzen, strategische Erwägungen -- wie sollte er da ein Beobachter sein? Ja, auffallend geändert! Nicht mehr die schüchterne, scheue Ruth. Ihre Augen waren flammend und kühn, ihr Blick wich nicht mehr zurück. Fragend und forschend ruhte ihr Auge bei Tisch auf dem Vater, und häufiger als früher begegneten sich auf Sekunden ihre Blicke. Etwas war hier nicht in Ordnung! Nein! Als Papa sie bei ihrer Rückkehr begrüßte, war etwas Auffallendes geschehen -- noch heute zitterte die Betroffenheit in ihr nach. Papa war errötet! Noch mehr, Papa hatte die Augen niedergeschlagen. Aber man bedenke doch: _Papa schlägt die Augen nieder!_ Weshalb? Weshalb nur? Sie kannte Papa ja so genau. Irgendein Geheimnis war zwischen ihm und ihr. Weshalb Papa, so sprich doch! Aber der General war tief in seine Gedanken versunken und blickte nicht mehr auf. Ruth hatte völlig ihr träumerisches, zerstreutes Wesen verloren. Sie sprach sogar etwas rascher als früher und nicht mehr so unsicher. Sie sang nicht mehr, trällerte nicht mehr vor sich hin, wie sie es früher zu tun pflegte -- um erschrocken abzubrechen, sobald sie sich belauscht wußte. Ihre Lippen waren bestimmter geformt und klarer geschwungen. Das unsichtbare Lächeln, das früher über ihnen schwebte -- fort war es. Wie eine Fremde bewegte sie sich im Hause, die gesonnen ist, nicht lange zu bleiben. Sie lächelte über diese ewig dienstbereiten Ordonnanzen, über dieses Exzellenz hin und Exzellenz her, bald würde sie es nicht mehr hören. Ach, dieser Papa, der sich so ungeheuer wichtig nahm, dieser Otto, diese Dora, diese ganze Gesellschaft, die in den Tag hineinlebte und glaubte, es müsse so sein -- nun, bald würde sie sie nicht mehr sehen. Schon wagte es niemand mehr, sich mit ihr in ein Gespräch einzulassen, weil sie unumwunden ihre Meinung äußerte. Vorläufig, bis _dahin_, verrichtete sie wie früher ihre Arbeit in der Küche. Die Gäste hatte sie nach diesen heißen, stickigen Sommerwochen noch bleicher und elender angetroffen. Sie waren alle müde, sanken erschöpft auf den Stuhl, stützten den Kopf, während sie aßen. Alle Augenblicke gab es Differenzen, ihre Nerven flatterten. Die kleinen Schreibdamen flüsterten nur noch. Zuweilen kicherten sie leise, um sich rasch erschrocken umzusehen. Die Küche war auffallend still geworden. Ruth war eifrig bei der Arbeit -- aber so oft ein neuer Gast eintrat, blickte sie rasch nach der Türe. Offenbar, sie erwartete jemand, sie suchte jemand! Sie suchte, um die Wahrheit zu sagen, jenen kleinen, alten Herrn im Havelock, ihn, der ihr auf der Treppe die schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte. Tag für Tag erwartete sie ihn, sie hatte Geduld. Aber er kam nicht. Augenscheinlich besuchte er diese Küche nicht mehr. Vielleicht war er auch tot? Schnell starben die Menschen in diesen Tagen. Die Erde verschluckte sie nur so. Endlich ging sie in die Fabriciusstraße. Sie besaß sogar den Mut, das Leihhaus zu betreten. Mit welchen Gefühlen! Wie sie die Türe anstarrte! Aber sie weinte nicht. Allein, hier wußte man nichts von dem Havelock. Er war ausgezogen, verschwunden. Und doch, er war vielleicht der einzige, der ihr über jene Dinge Ausschluß geben konnte, die sie unbedingt wissen mußte. Klara, die mit ihr in Babenberg war, hatte ihr Hedis Erlebnis am Anhalter Platz erzählt -- das war alles, was sie erfahren konnte. Seine Freunde, sein jüngerer Bruder, wie vom Erdboden verschwunden, niemand zu sehen; keine Nachricht mehr, man hatte offenbar alle verhaftet -- nur sie ließ man in Ruhe. Nach vielen Tagen, die sie durch das verwahrloste, übelriechende Stadtviertel streifte -- ja, plötzlich sah sie ihn. Das, das mußte er sein! Sie fühlte es augenblicklich. Ein Rudel lachender und kreischender Kinder -- und mitten darin ein Mensch. In diesem Augenblick geschah es, daß sie wie eine Seherin fühlte, er! Ja, er war es. Er tanzte wie ein Hampelmann, und sobald die Kinder ihm zu nahe kamen, schlug er nach ihnen mit seinem steifen Hut. Plötzlich fühlte er Ruths Blick. Es war dicht bei der Eisenbahnbrücke, die sich über die staubige Fabriciusstraße spannt. Er hielt inne -- gerade wollte er wieder mit dem Hut nach den Kindern schlagen -- und suchte seinen Blick zu sammeln. »Geht weg!« rief Ruth. Die Kinder drängten sich abseits zusammen. Eine Dame und der Betrunkene! Ungeheuer interessierte es sie. In der abenteuerlichen Vorstadt aufgewachsen, waren sie an die sonderbarsten Vorfälle gewöhnt. »Ich möchte Sie einiges fragen!« begann Ruth. »Gerne -- stets bereit!« Herr Herbst schwang den Hut und schwankte erschrocken rückwärts. Er hatte Ruth sofort erkannt, und obschon er betrunken war, war ihm doch ihr verändertes Wesen aufgefallen. Ihre Stimme klang nicht mehr sanft und freundlich wie früher -- hart, unbarmherzig. Ja, nun war sie also gekommen . . . »Nein, nicht gesehen -- nur gehört«, stammelte er erbleichend, während sein Blick flatterte. »Geschossen? Ja, geschossen! Ich hörte es. Weshalb, weiß ich nicht.« Ja, weshalb hatte man wohl geschossen? Der Soldat schoß, weil man auf ihn schoß, wenn er nicht schoß. Vom Höchsten bis zum Niedrigsten drohte hinter jedermann in dieser Zeit ein Gewehrlauf. »Und Sie können mir nicht sagen --?« Die Gruppe der Kinder stand immer noch neugierig abseits. Die Dame und der Betrunkene, der hin und her schwankte und wahrscheinlich bald einige Backpfeifen erhalten würde -- es war ungeheuer interessant. »Sie meinen?« Der Havelock hob die kleinen, schmutzigen Hände gegen die Hutkrempe, einer Ohnmacht nahe. »Es muß doch jemand die Polizei aufmerksam gemacht haben, nicht wahr?« Ruth schrie ganz laut. Welch eine deutliche, furchtbare Frage! Der Havelock taumelte. Er kratzte die grauen Bartstoppeln, sein kleines, bleiches Gesicht zuckt. Dann hob er den steifen Hut in die Höhe und machte eine Bewegung, als wolle er zu tanzen beginnen, und plötzlich -- plötzlich fiel er in die Knie. »Ich, ich!« rief er, krächzte er, den Hut in der Hand und nickte. »Ich!« »Sie --?« »Ja, ich! Ich!« Er rutschte auf den Knien näher und senkte voller Zerknirschung den kleinen, bleichen Kahlkopf. Die Kinder lachten. »Ja, ich, Gott sei mir gnädig!« »Sie --!? Weshalb nur --?« »Weshalb? Ja, ja --« »Was hatte er Ihnen getan? Er?« »Weshalb? Unerklärlich -- wie alles in dieser Welt. Wie alles -- völlig unerklärlich -- ich liebe Sie ja, meine Dame, wie meine Tochter --« »Hüten Sie sich!« Nun wird sie ihn an den Ohren packen, dachten die Kinder erwartungsvoll. »Wie meine Tochter -- unerklärlich!« schluchzte Herr Herbst, und der Hut entfiel ihm. »Ich bin ein Verkommener.« Die Kinder kreischten und klatschten in die Hände. »Stehen Sie doch auf!« schrie Ruth. »Stehen Sie doch auf!« Und sie schrie so laut, daß Herr Herbst sich tatsächlich taumelnd aufrichtete. »Was Sie sind, das sehe ich ja. Ein Verkommener, sehr wahr, völlig verkommen --« »Ja, ja, ja!« Herr Herbst hob beschwörend die Hände. »Aber ich war nicht immer wie heute, meine Dame. Mein Sohn ist gefallen, seine Mutter . . .« »Aber wissen Sie denn, was Sie getan haben?« unterbrach ihn Ruth außer sich. »Wissen Sie es denn? Wissen Sie denn, wen Sie verraten haben? Sie Judas Ischarioth?« Bei dieser Schmähung prallte Herbst zurück. »Wissen Sie es denn? Er war Jesus Christus, der wiedergekommen war, um die Menschheit zu erlösen! Ja, das war er! Sie wußten es nicht!« »Jesus Christus!« »Und Sie -- ein Säufer --!« Namenloser Schreck spiegelte sich in den kleinen, halbblinden Trinkeraugen. Er glaubte, was Ruth, bleich und rasend, schrie -- und auch Ruth glaubte es im Paroxysmus des Schmerzes. Rasch wandte sie sich ab und eilte fort. Eingeschüchtert sah das Häuflein der zerlumpten Kinder ihr nach. Sie waren verstummt, weil sie sahen, daß die Dame, die mit diesem komischen Betrunkenen zankte, plötzlich weinte. »Sie haben ihn getötet -- aber er ist unsterblich! Ein Prophet, ein Seher, ein Heiliger war er!« »Sie haben ihn getötet -- aber er ist unsterblich!« rief Ruth vor sich hin, und die Tränen stürzten über ihr bleiches, verklärtes Gesicht. Selbst als sie in belebtere Straßen kam, rief sie ganz laut und unaufhörlich die gleichen Worte. Aber niemand beachtete sie sonderlich: man war es nachgerade gewöhnt, daß Menschen vor sich hin sprachen und weinten. 5 Horch! Das Feuer rollte. Sie zerrissen die Eingeweide der Erde. Tag und Nacht wühlten schweißüberströmte Leiber in den finstern Stollen der Tiefe, ohne Pause klirrten die Förderkörbe in allen Erdteilen auf und ab. Die Hochöfen spien Feuer über den Kontinenten, Ströme von flüssigem Metall flossen in die Formen: Geschütze, Granaten. Sie zerrissen ihre Gehirne. Die Ingenieure und Chemiker schliefen nicht mehr, neue Maschinen, neue Sprengstoffe und Gase, immer fürchterlicher. Hunderte von Millionen sannen nur Vernichtung, brüteten nur Tod: die Völker der Erde waren Mördervölker geworden. Tag und Nacht peitschten die Schrauben der Schiffe das Meer -- vorwärts! Tag und Nacht flogen die Züge durch Europa, vorwärts. Das Meer zittert und die Erde erbebt. Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde, die Schätze der Welt. Sie hatten alle das gleiche Ziel. Die Wolke! Dort, dort, wo Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde, die Schätze der Welt, zu Staub zermalmt werden -- dort . . . Schon färben sich die Flüsse rot, und auf den Meeren treiben Inseln von Leichen. Frankreich verwandelt sich in eine Wüste, Deutschland in einen Friedhof, die Welt in ein Lazarett. Vorwärts, Soldaten! es soll sich entscheiden -- die Kanonen sollen die Probleme lösen. Die graue Limousine raste durch die glühenden Straßen Berlins. Konferenzen, Besprechungen. Schwerdtfeger wischte sich den Schweiß vom schmutzigen Gesicht. Auch er war um seinen Urlaub gekommen, aber schließlich war er nichts als ein Chauffeur und konnte Gott auf den Knien danken, daß er nicht da draußen fahren mußte, wo die Landstraßen sich öffnen und Feuer speien. Die graue Limousine raste über die Linden. Müde und abgespannt blickte der General mit halbgeschlossenen Augen auf die Straße und gähnte. Plötzlich galoppierte ein Berittener über den Reitweg, die Fußgänger blieben wie auf Kommando stehen und gafften. Der General setzte sich mit einem Ruck aufrecht. Unerhört! Am hellichten Tage! Unter den Linden! Niemals hätte man so etwas für möglich gehalten. Ein paar Dutzend junger Burschen und Mädchen, hundert vielleicht, nicht mehr, eilten die Linden entlang und schrien. Eine Spritzwelle von Menschen, die über die Linden fegte, nichts sonst. War es nicht unerhört, daß jemand Unter den Linden schrie und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenkte? Der General rückte unruhig auf dem Sitz und blickte voller Empörung zum Fenster hinaus. Aber in diesem Augenblick hoben sich die Fäuste der jungen Burschen und Mädchen gegen ihn und schüttelten sich. Fassungslos zog er den Kopf zurück. Ja, was geschah, was ging hier vor? Sie schrien ein Wort, immer das gleiche Wort -- er verstand es nicht. Er wagte nicht zu glauben, daß sie jenes Wort riefen -- es ist unmöglich! Oben beim Schloß aber wurde er plötzlich ernst. Ah, seht an! Eine Kette von Schutzleuten sperrte den Weg. Ein junger Bursche machte den Versuch -- schon blitzte ein Säbel durch die Luft. Da lag er. »Schlagt sie nieder!« schrie der General, purpurrot das Gesicht. Und die Regierung? Wütend lachte der General, wütend gegen Schwerdtfegers gekrümmten Rücken. Die Regierung? Sie schläft. Die Gaffer auf den Bürgersteigen bewegen sich wieder. Die Spritzwelle hat sich verlaufen. Nichts ist geschehen. Die graue Limousine raste weiter: Konferenzen, Besprechungen. Reserven! Nachschub! Verpflegung! Munition! Pferde! Sitzung über Sitzung -- -- Vorwärts, Soldaten! Die Schlacht brüllt, die Geschütze stampfen, kämpft, sterbt! Schon runzelt der Divisionär am Telephon die Stirn, der Kommandeur erbleicht am Scherenfernrohr: der Angriff am rechten Flügel stockt! Vorwärts, Artillerie, wenn es sein muß, die eigene Artillerie soll euch vorwärts treiben, wartet! Kämpft, sterbt! Die Augen der ganzen Welt sind auf euch gerichtet. Schon zittert die Börse, die Papiere fallen. Ihr werdet doch nicht, ihr geliebten Helden? Ja, Helden! Drei Mark, drei Franken, drei Schillinge und drei Dollar am Tage, Auszeichnungen, Triumphbögen, künstliche Gliedmaßen -- ihr kennt doch unsere Tarife? Ihr werdet doch nicht --? Kali, Kohlen, Kolonien . . . Der Börsentelegraph tickt, Tag und Nacht, schon ist er erregt worden, es bröckelt irgendwo ab, es knistert, er tickt, ah, dieses entsetzlich erregte Ticken, ihr könnt es leider nicht hören im Kanonendonner, die Börsen von Berlin, London, Paris, Rom, Neuyork -- schon hat sich ein Bankrotteur eine Kugel in den Kopf geschossen -- und ihr zögert? Die Kaiser und Könige träumen vom Einzug in die jubelnde Hauptstadt, die Präsidenten träumen von dem Moment, da sie den glänzenden Seidenhut hochheben, umbraust vom Beifallsklatschen. Die Landesfürstin, höchsteigenhändig, die Gemahlin des Herrn Präsidenten, höchsteigenhändig, wird euch die kleine Blechmünze auf die zerschossene Brust heften -- Vorwärts, ihr Geliebten, ihr Herrlichen, Unvergleichlichen! Die Greise, die die Geschicke dieser Welt lenken, hüsteln hinter den gepolsterten Türen in ihre kalten wächsernen Hände. Sie sitzen an langen polierten Tischen, mit rosaroten Kinderbäckchen, trommeln mit den Fingernägeln, ungeduldig -- die Sekretäre, ohne Tadel, schleichen auf den Zehenspitzen über das glänzende Parkett. Die Greise kritzeln mit der Feder, werfen gebieterische Blicke. Jedes Wort, das sie sprechen, bedeutet Tod, jeder Federstrich, jedes Lächeln -- Tod, Tod -- sie aber leben. Seit Monaten, seit Jahren, flimmert himmelhoch die Staubwolke über der Walstatt, es regnet schwarzes Blut -- die apokalyptischen Reiter ziehen über den Wolken dahin und gießen ihre Schalen aus über Europa. Gewogen, gewogen und zu leicht befunden! Die Feuerschrift der Geschütze flammt am verfinsterten Firmament. Soeben ist das Kabinett der Greise zu einer neuen feierlichen Konferenz zusammengetreten. * * * * * Reserven! Die Hände des Generals zittern. Erregt wirft er die Telegramme auf den Schreibtisch zurück. Fieberröte flammt über sein Gesicht. Schon vor zwei Jahren hatte er eine Denkschrift eingereicht, und erst kürzlich war er wieder darauf zurückgekommen. Er hatte den Vorschlag einer Patriotin aufgegriffen, zwei Millionen Frauen in die Armee einzustellen, für Wachtdienst, Etappe, Bureau. Zwei Millionen, zehn Millionen, wenn man wollte! Aus den kräftigsten Frauen hätten sich auch Kampfbataillone aufstellen lassen, ohne Frage. Die Frauen hätten vorzügliches Material abgegeben. (Der General war gewohnt »Material« zu sagen, wie alle Militärs.) Auch die Frauen, ohne jeden Zweifel, hätten ihre Leiber voller Begeisterung den Kanonen entgegengeworfen! Seine Denkschrift -- sie verstaubte irgendwo, mit abfälligen Randbemerkungen versehen. Man hatte seinen Rat nicht beachtet -- wie man Ratschläge überhaupt nicht zu beachten beliebte. Man wußte alles selbst, wußte alles besser. »Ich klingle bereits das zweitemal und Sie kommen nicht!« sagte der General mit gerunzelter Stirn zu Weißbach. »Es hat nur das einemal geklingelt, Herr General«, versicherte der Adjutant. Der General erhob sich -- sein Auge wuchs. »Ach, nun fangen auch Sie an zu widersprechen.« Der Adjutant schwieg und stand still. Seine Miene war bleich. Der General streifte ihn mit einem Blick. »Nun sind auch Sie beleidigt, Weißbach«, sagte er einlenkend. »Es fehlte noch, daß auch Sie beleidigt sind.« Der Blick des Adjutanten strahlte Vergebung. Mit zitternden Händen ging der General hin und her. Dann blieb er vor Weißbach stehen und sagte ruhig: »Rufen Sie sofort alle Herren telegraphisch aus dem Urlaub zurück! -- Wir müssen unsere Anstrengungen _verdoppeln_!« fügte er schreiend hinzu. Reserven? Als ob nicht alles Grenzen hätte. Und welchen Ton sie neuerdings beliebten? Man hatte alles, was nicht umfiel, eingezogen, hatte die Lazarette ausgefegt, Fiebernde aus den Betten gerissen, vom Operationstisch hatte man die Leute fortgenommen, ohne jede Rücksicht. Und Reserven? Ja, es gab einfach keine Reserven mehr, das allein war die Wahrheit! Das Telephon schrillte . . . Im gleichen Augenblick wurde es draußen stockfinster, und ein knatternder Donner sprang mit teuflischem Gelächter über das Dächermeer von Berlin dahin. Gott sei Dank; die Hitze war unerträglich geworden. 6 Über den Potsdamer Platz schwang sich an Krücken ein Krüppel. Er berührte nur mit der rechten Fußspitze den Boden. Ein kleiner fahler Schatten schwang unter ihm. Alle Passanten, wenige, sehr wenige, zertraten unter ihren Füßen einen ebenso fahlen, zusammengeballten Schatten. Es war Mittagszeit, der Himmel war mit einem Dunstschleier bedeckt, durch den die Sonne blendete. Welche Hitze? Der Krüppel schwang sich die Leipziger Straße hinauf. Auch diese Straße war leer! Wenige Menschen, leere Straßenbahnen. Berlin war wie ein Friedhof, den nur dann und wann ein Grüppchen von Hinterbliebenen besucht. »Ja, ein richtiger Friedhof!« sagte der Krüppel. Die wenigen Menschen schlichen, den Blick zu Boden gesenkt, dahin, scheu, ängstlich. Mit zitternden Händen griffen sie nach den Mittagszeitungen, warfen einen Blick hinein, falteten sie mutlos zusammen. Krieg, Hunger, Tod -- Tod, Hunger, Krieg . . . Vor wenigen Wochen noch hatte die Hoffnung die Stadt neu belebt. Die feindlichen Reserven waren aufgerieben, England stand vor dem Abgrund. Ja, was blieb also noch viel zu tun übrig? Die Zeitungen schrieben es, ein Minister sogar verkündete es -- nun schien aber doch nicht alles in Ordnung zu sein. Wie Berlin vor Wochen gejubelt hatte, Tausende von Gefangenen, Hunderte von Geschützen, so jubelten jetzt Paris, London, Neuyork. Berlin aber war still geworden. Ein Friedhof bei Tag, ein Friedhof bei Nacht. In den Nächten war häufig ein Donnern in der Stadt zu hören, ein Grollen, und die Schläfer fuhren erschrocken in die Höhe -- horch! Der Krüppel schwang sich an seinen Krücken die Wilhelmstraße hinauf. Hier, bei den Regierungsgebäuden, war es noch stiller. Kein Mensch. Nur ein Hund ging, mit Verlaub zu sagen, von Eckstein zu Eckstein. Der Krüppel bog in die Linden ein und näherte sich der grauen Limousine, die vor Stifters Diele stand. Er strich neugierig um den Wagen herum. Schwerdtfeger saß im Schatten des Autos auf dem Bürgersteig und nahm wie gewöhnlich sein Mittagessen ein, ein Stück Brot mit etwas Käse, weiter reichte es nicht. Wie alle Soldaten erhielt er zwei Mark dreiunddreißig Pfennige am Tage und zwei Mark Verpflegungsgelder dazu. Augenblicklich sprang Schwerdtfeger auf und nahm Haltung an. Der Krüppel war Offizier, Schwerdtfeger hatte ihn früher schon einmal gesehen. Ja, wie ein Gymnasiast, mit schneeweißen Haaren, großen, fiebernden Augen und kreidigem Gesicht, das unaufhörlich zuckte. Der Krüppel schwang sich in Stifters Diele. Hier, in einer halbdüstern Nische des vornehmen Restaurants, sah er ein erdiges Gesicht mit schwarzen Augenhöhlen und einem Blick, der brannte, ohne etwas zu sehen. Auch Stifters Diele war fast leer. »Ist es erlaubt?« fragte der Krüppel. Das erdige Gesicht mit den schwarzen Augenhöhlen kam in Erschütterung, aufs tiefste erschrocken, die brennenden Augen, die nichts sahen, glitten prüfend über das Gesicht, das ohne Pause zuckte, über das schneeweiße Haar dieses Gymnasiastenkopfes. »Ich hatte die Ehre --« Das zuckende Gesicht versuchte zu lächeln. Da sah der General, daß es Hauptmann Wunderlich war. »Ist es möglich? Es ist so dunkel hier. Bitte Platz zu nehmen -- bitte mir die Freude zu machen, mein Gast zu sein, Hauptmann Wunderlich.« Hauptmann Wunderlich lehnte die Krückstöcke an die Wand und zog sich an den Armlehnen des Sessels in die Höhe. Nie hatte der General die Krücken Wunderlichs erblicken können, ohne ihn ganz im geheimen um sie zu beneiden. »Also in Berlin?« »Ja. -- Ich bin fertig!« »Fertig?« Wunderlichs Gesicht zuckte. Der Blick seiner großen Knabenaugen fieberte. »Die Nerven«, sagte er. »Fertig! Leider, aber nicht zu ändern. Zusammengebrochen!« -- Aber, seht an, auch die Hände des Generals zitterten, und es schien, als ob es dem General Schwierigkeit bereitete, zu sprechen, er stammelte, stotterte, suchte nach Worten. Wo war die wunderbare Ruhe und Sicherheit des Generals hingekommen? »Also nicht zufrieden mit den Nerven? Auf Urlaub?« Der General füllte mit zitternder Hand Wunderlichs Glas. »Auch hier in Berlin sind wir -- überarbeitet, dazu die Hitze. Und an der Front?« Flüstern. »Scharen von Fliegern! Kämpfe in drei Etagen -- in zwei-, drei- und viertausend Meter Höhe -- für eine abgeschossene Maschine zehn neue -- Kämpfe auch in der Nacht --« »Auch in der Nacht?« »Und Bombengeschwader -- in jeder Stunde der Nacht -- keine Ruhe mehr in den Quartieren und Lagern -- kein Schlaf . . .« »Hm.« Der Kellner servierte. Mit verzerrtem Gesicht berichtete Wunderlich. Er murmelte, damit niemand in der Diele ihn hören konnte. »-- allein fünfzigtausend Mann durch Gefangennahme verloren in drei Tagen, fünfhundert schwere Geschütze --« »Ich weiß, weiß.« Flüstern. »-- die Lazarette ohne Leinen, die armen Kerle in ihren schmutzigen Uniformen -- Papierverbände, nackt begraben . . . Pferdefleisch --« »Pferdefleisch?« »-- erst die Zunge, jeder ein Stück, mit dem Messer -- in einer Minute liegt nur noch das Skelett des Pferdes da --« »Hm.« »-- und die Pferde fallen zu Hunderten, Tausenden. Ohne jede Kraft --« »-- und Gelbkreuz, Blaukreuz?« »Keine besonderen feindlichen Verluste. Man findet die Batterien verlassen. Aber dahinter stehen neue.« »Und der -- Geist der Truppe?« »Herrlich -- wunderbar, wie immer. Kämpfen bis zur Erschöpfung. Ohne ordentliche Verpflegung, seit Wochen ohne Ablösung . . .« »Einzelne Divisionen nur noch Stäbe -- Feldküchen, Kraftfahrer . . .« Flüstern. Raunen. Der General setzt den Kneifer auf und blickt argwöhnisch aus der Nische. Überall Lauscher. Wenn der Feind _das_ erführe --! »Eineinhalb Millionen amerikanischer Truppen --« Plötzlich zieht der General die Uhr und erhebt sich rasch. Seine Hände sind eisig kalt. Er schwankt beim Hinausgehen. Und die graue Limousine rast durch die glühenden Straßen: Sitzungen, Konferenzen . . . * * * * * Geschrei . . . Geschrei in den Wolken. Verflucht die Welt, verflucht die Erde! Verflucht Könige, Präsidenten und Minister. Verflucht! Betrogen um unser Leben, geopfert dem Wahnsinn! Die Millionen der Gefallenen, Geschlachteten, Millionen und abermals Millionen, fahren über Europa dahin, in ihren armseligen Lumpen, zerfetzt ihre Leiber und schreien. Sie verdunkeln den Himmel. Betrogen, betrogen! Fluch auf euch! Aber die Front donnert, und unendlich steht die Staubwolke über der Walstatt. Nun fällt der Tau, die Nacht sinkt herab. Der Horizont funkelt, Feuer loht über das Gewölk, die Geschütze brüllen. Riesengroß steht Ackermanns Geist über dem Schlachtfeld, und lauter als die Geschütze schallt seine Stimme. »Völker der Erde -- Söhne von Müttern -- Brüder . . .« Furchtbar fauchen die Granaten um ihn. In seinem weiten grauen Mantel steht er, die Hände erhoben, seine Augen sind sprühende Sterne. Stahl, Feuer, Gase? Was wollen sie noch von ihm? Lauter als die krachenden Granaten tönt sein Ruf. »Brüder!« Und die schweißbedeckten Soldaten in den Laufgräben, Erdlöchern, Batteriestellungen lauschen. Welche Stimme? Ackermanns Geist trägt die Verwundeten über das Schlachtfeld, fällt den Rasenden in den Arm, die den hilflosen Gegner niederschlagen wollen, führt die Hand des Arztes, der den blutenden Feind verbindet. Ackermanns Geist berührt die Toten, die mit offenen Augen liegen, Deutsche, Franzosen, Inder, Amerikaner, Engländer, Neger, Kanadier, Australier, und spricht: ihr alle werdet auferstehen am Tag der Versöhnung, ihr Heiligen und Märtyrer! Ackermanns Geist erfüllt die finstere Wolke, die über der Walstatt bis zu den Sternen lodert, und schon -- schon dämpft sich der Lärm der Geschütze. Schon schweigen sie . . . Aber die Greise, die einen leisen Schlaf haben, fahren erschrocken auf in ihren Betten, lauschen und drücken auf die Klingel. Wiederum beginnen die Geschütze fürchterlich zu toben. Die Menschen lieben Macht und Glanz, wie Kinder. Leicht sind die Völker zu verführen -- aber wehe denen, die sie verführen! 7 Nein, es ging nicht mehr! An einem Sonntagnachmittag schickte der General den Wagen wieder fort. Es geschah zum ersten Male seit Monaten. Vor Erschöpfung sank er um. Augenblicklich fiel er in Schlaf, und er schlief, röchelnd und stöhnend, den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein. Als er wieder erwachte, war das Zimmer voll schwerer Dunkelheit. Verstört fuhr er auf. Sein Kopf war dumpf, glühendheiß. Der Schweiß rann über sein Gesicht. Zehn Uhr! Sollte man es für möglich halten? Sieben volle Stunden hatte er geschlafen! Ein Unbehagen war aus dem Schlaf in ihm zurückgeblieben -- etwas Schweres, Bleischweres -- was war es doch? Hatte er geträumt? Das Haus war heiß wie ein Backofen, unerträglich. Er machte sich rasch zum Ausgehen fertig. Auf der Treppe stockte plötzlich sein Schritt. Die Stiefelspitze zuckte zurück, als habe er auf der Stufe irgendein ekelhaftes Insekt bemerkt. Ja, ein häßlicher Traum, in der Tat, widerwärtig! Das Siegesgespann auf dem Brandenburger Tor -- es war herabgestürzt, und sein Auto war von dem Trümmerhaufen, den Gaffer umstanden, aufgehalten worden. Welch ein Chaos und diese aus den Trümmern vorstehenden Pferdebeine! Und der Trümmerhaufe hatte sonderbarerweise fast den ganzen Pariser Platz bedeckt, ein förmlicher Berg -- Auf der Straße war die Luft herrlich und erfrischend -- schon etwas herbstlich. Es mußte kurz vorher geregnet haben, das Pflaster war noch feucht. Über den Tiergarten flog rasch der Mond dahin, umwirbelt von kleinen Wolken, wie in einem Schneegestöber. Eine Droschke, ein paar Spaziergänger, tiefe Ruhe. Der General ging langsam dahin und atmete die Frische des Abends ein. Bald hatte er auch das Unbehagen überwunden, das aus dem widerwärtigen Traume zurückgeblieben war. Er fühlte sich durch den langen Schlaf erfrischt, die abgehetzten Nerven waren ruhiger geworden. Die Gedanken gehorchten. Er nickte vor sich hin. Klar stand es vor seinen Blicken, unheimlich klar, erschreckend klar. Es war gar nicht erst nötig, daß dieser Wunderlich kam und ihm noch diese fürchterlichen Fingerzeige gab. Nein. Er blieb stehen. »Napoleon hatte wenigstens den Winter als Entschuldigung für sich«, raunte er vor sich hin, voller Verachtung. Nun ging er wieder einige Schritte und nickte: »Sie lassen sich schlagen -- regelrecht schlagen!« Ja, das war es. Hatte er nicht immer gewarnt? Diese ganze Offensive -- glatter Wahnwitz! Unvermeidlich große Verluste, eine unsinnige Verlängerung der Front -- keines der strategischen Ziele erreicht, der Angriff immer mehr nach Süden abgeglitten. Der Durchstoß zum Meer, die Abdrosselung der englischen Armee -- alles mißglückt. Und was hatten sie, die Frage war wohl erlaubt, abermals an der Marne zu suchen gehabt? Eine Riesenausbuchtung der Front, gespeist von einer einzigen schwachen Bahnlinie. Wie? Weshalb? Unverständlich! Aber selbst wenn diese verfehlte Offensive gelungen wäre, angenommen -- was dann? Sie hatten ja nichts mehr in der Hand -- nichts mehr, um den Erfolg auszuwerten. Die andern dagegen: Amerikas unerschöpfliches Reservoir an lebendem und totem Material, kaum angebrochen -- »Ja, schlagen, diese Gottähnlichen --!« Würde man ihm heute ein Frontkommando anbieten -- danke, danke ergebenst . . . War er nicht immer dafür eingetreten, zurückzugehen auf befestigte Stellungen, zur Maas, zum Rhein, wenn es sein mußte, und den Feind anlaufen zu lassen? Millionen hätten sie noch opfern müssen! Jahrelang konnte man sich halten, und eine ungeheure Manövrierarmee war frei für politisch-militärische Aktionen in Italien, Mazedonien, der Türkei. Plötzlich aber blieb der General verwundert stehen: Licht? Bei Dora Licht? In seine Gedanken versunken, war er bis zur roten Backsteinvilla gegangen, ohne jede Absicht. Er sollte den heutigen Abend eigentlich bei Dora verbringen, aber sie hatte ihm gestern abgeschrieben, da sie aufs Land reisen wollte. Erfreut, Dora zu Hause zu wissen, trat er ein. Seine Sorgen, die Gedanken, die ihn folterten, das Gefühl der Einsamkeit, das ihn marterte in letzter Zeit -- Die Haustüre stand offen. Niemand war in der Diele, das Licht brannte. »Petersen!« Aber niemand kam. Stille. Aus der oberen Etage, die dunkel lag, klang ein sonderbarer Ton. Wie das Klagen eines Vogels, der immer den gleichen hilflosen, wehmütigen Schrei ausstößt, ein gefangener Vogel, der den Tod fühlt und nur noch einen Klagelaut hervorbringen kann. Eine Geige. Es war Hauptmann v. Dönhoff, der zurzeit hier Wohnung genommen hatte -- bis er etwas Geeignetes fand. Zweihundert schöne Frauen, zwei Elefanten und ein Nashorn -- und jetzt trug er also eine schwarze Brille und fing an, die Geige zu lernen. Er übte von früh bis nachts. Der General legte ab und öffnete die Türe, die zum Zeltzimmer führte. Auch in dem kleinen Vorraum brannte Licht. Der verzückte Heilige in seinem zinnoberroten Rock schwang mit rasender Gebärde sein Buch -- ein blinder Spiegel -- der General schlug den Vorhang zur Seite -- auch im Zeltzimmer war Licht, die blaue Deckenampel brannte. Aber niemand war zu sehen. Da hörte er Doras Lachen und eine Männerstimme. Er schrak zusammen. Hatte sie Gäste? Wer war hier? Es war wohl besser, wieder hinauszugehen und Petersen zu suchen. Vielleicht war er im Garten? Ja, wo war er eigentlich, dieser Petersen, das Haus offen, jeder Einbrecher konnte hereinkommen. Fern, ganz fern klang das monotone Klagen des unglücklichen, gemarterten Vogels, der seinen Schmerz in dem ewig gleichen Ton ausdrückte. Der General war verwirrt. Es fiel ihm schwer, einen Entschluß zu fassen. Schließlich -- hatte Dora Geheimnisse vor ihm? Plötzlich erinnerte er sich all der kleinen Widersprüche, der unbedeutenden, gänzlich unbedeutenden Begebenheiten, die ihn zuweilen, besonders in letzter Zeit beunruhigt hatten. Sie war also nicht auf dem Lande, und doch schrieb sie -- Ja, schwer einen Entschluß zu fassen. Wie viele Gäste mochten es sein? Er roch den Duft von brennendem Reisig. Dora liebte es, mit Feuer zu tändeln und Reisig und Tannenwedel im Kamin zu verbrennen. Schweigen da drinnen. Das Feuer knisterte -- der Feuerschein flackerte über den Boden, und der Vogel klagte in der Ferne. Der General wandte sich zum Gehen -- aber da, gerade in dem Augenblicke, da er den Fuß rückte, um hinauszugehen und Petersen zu suchen -- gerade in diesem Augenblick fesselte etwas seine Aufmerksamkeit im höchsten Maße: in der lichten Spalte des Vorhangs, neben dem bauschigen schwarzen Kissen, das auf dem Teppich drinnen lag -- erschien ein himbeerfarbener kleiner Seidenpantoffel. Er hypnotisierte den General. Dieser kleine Seidenpantoffel bewegte sich, als sei er lebendig -- ein Fuß wurde sichtbar, ein Knöchel . . . trug sie fleischfarbene Seidenstrümpfe, oder was war es? Nun erschien eine Hand, eine volle, gepflegte Hand, Doras Hand, und diese Hand warf mit einem kleinen Schwung eine angerauchte Zigarette in die Richtung des Kamins. Wieder bewegte sich der kleine himbeerfarbene Seidenpantoffel. Der Saum eines hellroten durchsichtigen Gewandes wurde sichtbar -- »Das ist ganz unmöglich!« sagte Dora laut und offenbar etwas ärgerlich. »Ich bitte dich, gewisse Rücksichten --« »Rücksichten?« lachte eine Männerstimme. »Es ist töricht, ewig Rücksichten zu nehmen, Dora!« Diese Stimme! Der General erbleichte. Da knurrte ein Hündchen. Butzi, der Griffon, war erwacht und knurrte. »Schweig!« sagte Dora. Aber Butzi schwieg nicht. Im Gegenteil, er begann plötzlich mit heller Stimme wütend zu kläffen. Der himbeerrote Seidenschuh verschwand. »Ist jemand da? Komm, Butzi, Liebling.« »Wer soll da sein?« Der General wich zurück. Er war wie gelähmt. Aber trotzdem wich er zurück. Doch schon war es zu spät. Jemand stand auf, ein Schritt näherte sich, lautlos -- * * * * * Ja, es war zu spät! Der lautlose Schritt war nun ganz nahe. Und eine Hand raffte den Vorhang auf. Der General wich noch einen Schritt rückwärts, soweit ihn seine gelähmten Glieder trugen. Er rang nach Luft, die Uniform schnürte seine Brust ein -- plötzlich hörte die Geige in der Ferne auf zu klagen. Im Vorhang erschien -- Ja, was erschien da? Es erschien eine, hochaufgerichtet, eine im ersten Moment übersinnliche Erscheinung, gleißend wie Luzifer. Ein orientalischer Priester, wenn man will, in einem gleißenden, feuergelben Gewand, über das grellrote Drachen züngelten. Mit bleichen Armen und einem bleichen bläulichen Gesicht mit schneeweißen Augen. Hochaufgerichtet. Otto. Luft -- der General faßte sich. Er hatte die Stimme ja sofort erkannt. Auch er richtete sich auf, wuchs in die Höhe und blickte in diese schneeweißen Augen. Es waren die Augen seines Sohnes, mehr noch, es waren die hellen Augen der Hecht-Babenberg. Diese Augen waren im ersten Augenblick erschrocken, sofort aber sammelte sich der Blick in ihnen. Sie wuchsen, und ein kalter Glanz stieg aus ihrer Tiefe. Diese Augen sprachen, und er verstand ganz deutlich, was sie sagten! Sie glänzten verächtlich. Du? Du hier? Seht an! Du lauschst? Du spionierst? Ei, seht an! Sehr interessant. Soll ich dich bei Dora anmelden? Nun aber wurde der Glanz härter, kälter, eisig. Gut! Nun weißt du es! Was willst du noch? Gehe! Ja, gehe! sagten sie, diese Augen. Und nun blendeten sie plötzlich. Du kennst meine Gefühle für dich, oder? -- Du weißt es -- lange, lange! Ich ziehe die Konsequenzen, wenn du willst -- ich stehe zur Verfügung -- jederzeit . . . Ja, das sagten also Ottos Augen -- oder täuschte er sich? Der Vorhang floß über einem nackten Arm zusammen: die Erscheinung war verschwunden. »Niemand ist hier!« sagte Otto in gleichmütigem Ton, hinter dem Vorhang, und Dora rief das Hündchen, das immer noch kläffte, abermals zur Ruhe. Eine -- zwei -- drei Sekunden lang hatten die beiden Hecht-Babenberg die Blicke gekreuzt. Nicht länger. Mit rasender Gebärde schwingt der Heilige im roten Rock sein Buch. Durch den blinden Spiegel gleitet ein Gesicht, wie aus Kreide geschnitten. Jemand tastet sich durch die Diele, eine schwarze Hornbrille auf der Nase -- richtet einige Sekunden die schwarzen Gläser auf ihn -- oder war es ein Gespenst? 8 Zur gleichen Stunde ging Ruth die Tiergartenstraße entlang, ihrem Hause zu. Im Augenblick, da sie in das kleine verstaubte und verwahrloste Vorgärtchen eintreten wollte -- sie hatte schon die Gittertüre in der Hand -- rief eine leise Stimme ihren Namen. Sie hielt inne. Im Schatten der Bäume gegenüber gestikulierte ein Schatten. Da sie zögerte, trat der Schatten einen Augenblick in den Lichtschein und winkte. Ruth erkannte ihn. Zögernd überschritt sie den Fahrdamm. Der Mond flog dahin, hoch oben, von feinen Schleierwolken umtanzt. »Sie? Was wünschen Sie von mir?« »Schon seit Tagen versuche ich, Sie zu treffen. Bitte zu verzeihen. Ich habe neulich etwas zu sagen vergessen. Bitte, in den Schatten zu treten. Ich darf mich nicht sehen lassen --« »Ich verstehe Sie nicht!« »Vieles ist unverständlich -- aber man hat mich gewarnt -- ein hoher Herr ist ungehalten über mich. Man hat mir gedroht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, wenn ich mich noch einmal sehen lasse.« »Ich kann Sie wirklich nicht verstehen!« »Tut auch nichts zur Sache. Nicht das wollte ich Ihnen sagen. Können wir ein bißchen weiter -- so, danke -- fürchten Sie nichts. Ich bin ein alter Mann, habe auch nichts getrunken heute. Mit Absicht. All diese Tage nicht. Ja, neulich -- ich habe mich geschämt -- aber gerade weil ich in diesem Zustand war, habe ich etwas zu sagen vergessen -- etwas sehr Wichtiges.« »Bitte --!« »Nicht ich allein also, das wollte ich sagen --« »Nicht Sie allein --?« »Nein, nicht ich allein bin der Schuldige.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Warten Sie. Es kommt jemand. Gehen wir ein paar Schritte. So.« Flüstern im Dunkeln. »Nicht ich allein also, sondern gleichzeitig -- vielleicht sogar früher, ich weiß es nicht -- aber es galt gar nicht ihm, sondern Ihnen.« Flüstern. Plötzlich ein Schrei. Es ist Ruth, die schreit. »Unmöglich! Unmöglich! Unmöglich!« »Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein -- gehen wir -- gerade kommt -- so, ein paar Schritte --« »Ganz unmöglich!« »Ich schwöre! Der Agent sagte es mir.« Flüstern. Raunen. Wieder bewegen sich die Schatten im Dunkel der Bäume vorwärts. Plötzlich bleibt Ruth stehen. »Schwören Sie mir --!« »Ich schwöre!« »Schwören Sie mir -- bei Ihrem Sohn, der gefallen ist --« »Ich schwöre!« »Beim Andenken Ihrer Frau -- schwören Sie --« »Ich schwöre!« »Hören Sie: Sie sollen ewig verflucht sein, wenn Sie lügen --« »Ewig verflucht soll ich sein --« Ruth schlägt die Hände vors Gesicht und läuft in die Finsternis des Parkes hinein. -- * * * * * Der Mond flog über den finstern Himmel, durch brodelnde Wolken hindurch. Aber schließlich kam er nicht mehr von der Stelle. Er blieb in einer pechschwarzen Wolke stecken, und endlich verschwand er vollkommen. Die Bäume des Tiergartens neigten die Wipfel -- ein Windstoß pfiff über sie dahin. In völliger Dunkelheit lag plötzlich die Stadt, schwarz und leblos, wie der Kadaver eines stachligen Riesentieres, das auf dem Marsch durch die Rübenfelder und Kartoffeläcker verendet war und faulte. So lag sie zwei, drei, fünf Minuten, dann aber verschwand sie in einer ungeheuren Staubwolke, die aus den Straßenschluchten emporschlug. Ein Gewirr von Blitzen griff nach ihr, umklammerte sie, um sie zu vernichten. Der Donner knatterte. Plötzlich begannen die verspäteten Passanten erschrocken dahinzueilen! Nein, nicht das Wetter war es! Etwas ganz anderes -- Durch die dunkeln Straßenschluchten flatterte -- in unheimlicher Eile -- ein weiter, heller Soldatenmantel. Glänzende Hände, glänzend im Schein der Blitze, pochten donnernd an die Türen der Häuser: Auf, auf, ihr Schläfer, die Stunde ist gekommen! Die glänzenden Hände berührten die Schultern der Dahineilenden, daß sie erbleichten: Zögert nicht länger! An den schwarzen Scheiben der finstern Häuser fuhr ein glänzendes Antlitz vorbei: Schon sind sie unterwegs die Boten des neuen Reichs. Seid bereit! Da trug der Wirbelwind den flatternden Soldatenmantel in die Höhe, und die glänzenden Hände, das glänzende Antlitz flogen mit rasender Schnelligkeit über die Dächer der Stadt dahin. Was war es? Was für Dinge geschahen in dieser Stadt --? Nun rauschte der Regen. Die Schutzleute flüchteten, die Diebe und Einbrecher huschten in Torbogen -- sonst war niemand mehr auf der Straße. Ein herrlicher, wunderbarer Regen, kalt, klar, rücksichtslos stürzte aus dem schwarzen Himmel. * * * * * Hauptmann v. Dönhoff stand unter einer Haustüre am Ende der Lessingallee. Weiter war er nicht gekommen, das Wetter hatte ihn überrascht. Hier stand er nun und lauschte glückselig auf das Rauschen des Regens und das Krachen der Donnerschläge. Ja, ganz wunderbar! Da -- eine Droschke klapperte dahin. »He, Kutscher -- hundert Mark für die Fahrt!« »Heda, Droschke! Droschke, halt!« Es war wieder nichts. Die Pferdehufe klappten weiter. »Heda, Droschke! Hundert Mark!« Ah, endlich hatte er Glück. Die Droschke hielt. Hauptmann v. Dönhoff, mit der schwarzen Brille auf der Nase, tastete sich durch den Regen. »Wo sind Sie denn? Ich sehe etwas schlecht.« »Hier stehe ich!« Langsam schaukelte die Droschke durch die Sintflut. Dönhoff streckte die Nase durch das Fenster und schnupperte. Herrlich diese Luft, herrlich dieser Regen und geradezu berauschend das Knattern des Donners. Endlich etwas Lärm! Die Straßen waren wie reingefegt. Nur dann und wann das Klatschen von Pferdehufen und das Rasseln eines eisernen Ungeheuers, das Dönhoff als ein Auto feststellte. Endlos war diese Reise in das Bayrische Viertel, aber ein Hochgenuß. Zum ersten Male verließ er sein Zimmer in der roten Backsteinvilla, wo keine Seele sich um ihn kümmerte. Frei! Frei! Er zündete sich eine Zigarette an, verbrannte sich etwas die Nasenspitze, aber das schadete nichts. Wie eine Reise erschien ihm diese Droschkenfahrt durch das dunkle, regenrauschende Berlin. Da hielt die Droschke, und Dönhoff kroch heraus. »Und nun, mein Freund, eine große Gefälligkeit, da ich schlecht sehe -- klingeln Sie den Portier heraus. Ich möchte zu Fräulein Alexa Alexandra.« Alexa Alexandra? Eine Tänzerin, das heißt weniger eine Tänzerin als eine Dame. Früher war er befreundet mit ihr, er hatte sie gewissermaßen entdeckt, kreiert. Petersen hatte ihm im Telephonbuch ihre jetzige Adresse aufgesucht. Der Kutscher steckte sein Benzinfeuerzeug in Brand, überzeugte sich, daß die Banknote echt war, und begann den Portier herauszuklingeln. »Er bekommt ein schweres Trinkgeld -- sagen Sie --« Und dieser Portier brachte ihn im Lift zu Alexa Alexandra hinauf. »Bitte, klingeln Sie -- ich sehe schlecht!« Offenbar hatte Alexa Gesellschaft -- Lachen, Händeklatschen, ein sehr lauter Phonograph, Stampfen -- das traf sich ausgezeichnet. Die Türe öffnete sich, und Dönhoff bat der Dame des Hauses zu sagen, daß »Rinaldo« vor der Tür stände und sie erwarte. »Rinaldo! Sonst nichts! Sie kennen doch den berühmten Räuberhauptmann? Ich bin es!« Ah! Dönhoffs Herz pochte -- es hatte nicht so laut gepocht, als die Granaten einschlugen -- ein Ausruf, ein Schrei! »Rinaldo! Wirklich?« Und zwei Arme umschlangen Dönhoffs Hals, zwei weiche, gepuderte, duftende Arme. »Rinaldo, Lieber, Liebster! Welche Überraschung!« Aber sofort hatte Alexa herausgefunden, daß diese Sache mit den schlechten Augen auffallend war, diese entsetzliche schwarze Brille! Sie schob diese Brille mißtrauisch in die Höhe -- und da waren also, wo sonst die Augen sind, wo sonst diese Augen waren, sie kannte diese frechen Augen -- zwei rote Nähte, keine Augen mehr. Alexa stieß entsetzte Schreie aus. »Mein Gott, was haben sie mit dir gemacht?« Sie weinte und stampfte mit den Füßen. »Ah, diese Schurken!« schrie sie -- und der laute Phonograph spielte einen Two-step -- »Sie haben ihn blind geschossen!« Und sie drückte ein paar rasche Küsse auf diese roten Nähte, wo die Augen früher saßen. »Meine Herrschaften!« -- der Phonograph schwieg -- »Ich stelle Ihnen hier meinen Freund vor, meinen lieben alten Freund, Baron Dönhoff -- ein lieber Junge! Er ist blind -- diese Schurken von Franzosen haben ihn blind geschossen! Er ist der berühmte Herrenreiter Dönhoff. Sie erinnern sich, meine Herren -- er gewann so viele Rennen -- Kitty, gehe weg -- nun ist er also wieder in Berlin -- ja, hier bist du zu Hause, du lieber Junge!« Dönhoff lächelte verlegen. Er schämte sich. Die Alexa küßte ihn, und er fühlte, wie ihre Tränen seine Wangen näßten. »Noch etwas -- ladies and gentlemen -- er wünscht nicht, daß man auf ihn die geringste Rücksicht nimmt. Also weiter!« Der Phonograph ertönte wieder -- die Füße, die Schuhe schlürften. Die Alexa führte ihn in eine Ecke zu einer Ottomane. Parfüm, allerlei Essenzen, der Geruch eines scharfen Punsches, Musik und dicht an ihm vorbei flatterten die Röcke. »Ganz ungestört sollst du hier sein, du lieber Junge. Du bist zu Hause und kannst es dir ruhig bequem machen. Siehst du denn gar nichts mehr? Nein! Oh, diese elenden Schurken! Hören Sie, Doktor, geben Sie ein Glas Sekt für Baron Dönhoff -- vielleicht haben Sie Geld gewonnen, als Sie seinerzeit auf ihn setzten? Er gewann fast immer, ach, das waren Zeiten! Im ganzen sind fünfzehn Menschen hier, Rinaldo, sechs, sieben Damen. Ich werde sie dir vorführen. Lola!« »Hier also, das ist die kleine Lola. Sie ist eine Ungarin eigentlich. Sie ist ganz schwarz, und ihre Brauen wachsen zusammen. Aber sie ist eine ganz kühle Person, ganz und gar nicht sinnlich -- oder, Lola? Ja, so komm doch dicht an ihn heran. Verstehst du mich, er sieht ja nichts, er ist blind. Sei lieb zu ihm, sei nett -- er ist nett zu mir gewesen, vor zehn Jahren, als ich noch Verkäuferin war und am Sonnabend in Halensee tanzte -- ja, fühle nur, die Brauen wachsen tatsächlich zusammen -- fühle nur -- küsse ihn, Lola, du mußt nett zu ihm sein.« Und Lola küßte Dönhoff und streichelte ihn. »Das hier ist Fiffi -- wie nett, sie kniet vor dir. Küsse sie, so! Sie ist die Freundin dieses kleinen Schwarzen dort, der mit dem Monokel, die beste Tangotänzerin in Berlin. Sie ist blond, aber ihre Haare sind gefärbt -- Fiffi -- er sieht doch nicht, er ist blind, ich muß ihm also alles beschreiben. Sie tanzt wunderbar und hat zwei erste Preise gewonnen.« »Und hier, das ist Thea -- sie ist etwas üppig -- aber Thea, er sieht doch nicht! -- sie hat ganz große blaue Augen und filmt. Du würdest dich in sie verliebt haben, weil sie so drollig ist. Küsse ihn, Thea, er ist ein so lieber Junge!« »Und das hier -- Rolli -- come along! -- Rolli -- ein kleiner Teufel! Siehst du, sie bringt dir gleich Punsch mit! Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber schon völlig verdorben. Pfui, Rolli -- beherrsche dich doch! Aber sie ist sehr süß. Sie hat, nun dir darf ich es ja sagen, eine kleine Schwäche für Frauen und kennt die Damen der höchsten Gesellschaft. Ihr Freund ist ein Dichter. Siehst du, sie trinkt an derselben Stelle des Glases, wo du getrunken hast. Sie will dir zeigen, wie lieb sie dich hat. Ja, das also ist der berühmte Rinaldo -- nun entstellt ihn ja diese häßliche Brille etwas, aber man gewöhnt sich ja rasch!« »Und das hier -- Reh -- sie heißt Rebekka -- Reh, komm hierher. Siehst du, sie ist ein Kind. Sie hat Tränen in den Augen. Aber sie ist auch ein bißchen angetrunken. Reh! Was tust du? Ach, siehst du, sie weint. Küsse ihn, so, so, küsse ihn. Er sieht ja nicht, man muß nett zu ihm sein.« »Du siehst, wie sie dich hier verwöhnen. Das ist Blanche, und sie bringt dir ein Pralinee. Stecke es ihm doch in den Mund! Blanche heiratet übermorgen, und dann werden wir Tag und Nacht bei ihr tanzen. Sie heiratet einen Sattler, der im Kriege sieben Millionen verdient hat. Ja, reizend wird es bei ihr werden. Fühle nur ihre Ringe. Fühle doch. Alles echte Steine, aber er ist so verschossen in sie. Fühle doch ihre Wangen. Hast du je so etwas Sanftes gefühlt? Ihr Teint ist herrlich. Fühle ihre Hüften -- was sagst du? -- Ah, siehst du, Rinaldo --« 9 Allmählich wurden die Donnerschläge schwächer, das Gewitter zog langsam ab. Erst nachdem der General ungeduldig wurde und seinen Titel nannte, erhielt er telephonischen Anschluß. Augenblicklich meldete sich Major Wolff, der Nachtdienst hatte. Der General ließ sich Vortrag halten. Wolff las die wichtigsten Telegramme vor, die wichtigsten Eingänge -- eine volle Stunde sprach der General am Telephon. Das Gewitter sog an den Drähten, zuweilen klang die Stimme Wolffs ganz fern und klein. Um jede Kleinigkeit kümmerte sich der General. Er gab mit kühler, klarer Stimme Anordnungen -- schließlich aber war alles erledigt. Bitte morgen um einhalb acht um telephonischen Anruf. Schluß und gute Nacht! Augenblicklich vertiefte sich der General wieder in die Aktenstücke, ohne aufzublicken. Ja, nun waren sie alle erledigt. Nochmals breitete er die große Karte über den Schreibtisch. Staubecken, Überschwemmungsgelände, natürliche Hindernisse -- es mußte schließlich noch in letzter Stunde gelingen, den Riesenkörper der Armee rückwärts zu leiten. Vielleicht verführte ihn der gegenwärtige Zustand seiner Nerven zu einer allzu pessimistischen Beurteilung der Lage. Der General war noch in voller Uniform, er hatte sich nicht umgekleidet. Und immer noch rauschte draußen der Regen. Auch die strategische Betrachtung war nun abgeschlossen. Er warf noch eine Anzahl Notizen auf den Block, für morgen. Ja, nun war alles Dienstliche erledigt. Ohne jede Unterbrechung, voller Hast, begann der General plötzlich einen Brief aufs Papier zu werfen. Während des einstündigen Telephongespräches, während er die strategische Lage analysierte -- immer hatte er nur an diesen Brief gedacht, um die Wahrheit zu sagen. Er hatte ihn völlig im Kopfe entworfen, und nun rasch, rasch, um die Sache zu Ende zu bringen. Ein Vermögen . . . Nun -- das war ja schließlich das wenigste! Aber schon fühlte er Unruhe. Gemurmel in den Ohren, Stimmen, die von innen heraus kamen, nicht von außen her, und absurde Worte raunten. Sein Herz schlug, es pochte in der Brust, im Kopf, in den Armen, im Schenkel. Die Wände klafften, das starre Auge blickte durch die Spalten in die schwarze Finsternis, leer, tot, kalt und unendlich wie der Raum zwischen den Sternen. Erschauernd schob er den Schreibtisch weit von sich und sprang auf. Licht! Lauten Schrittes, absichtlich ging er ganz laut, wanderte er durch die Zimmer. Er sprach abgerissene Worte vor sich hin, lachte mit geschlossenen Zähnen. »Wie? Wie? Freundschaft -- Treue -- Glauben -- wie?« Grau sein Gesicht. Er vermied es, in die Spiegel zu blicken -- aber doch, ohne es zu wollen, sah er immer wieder ein graues Gesicht durch die Spiegel wandern. Er schlich dahin, gebeugt, scheu, verfolgt. Geflüster kroch über die Wände, die toten Dinge begannen sich zu winden, das Licht blinzelte. Im Salon hing sein Porträt, gemalt kurz vor dem Kriege. Von einem Schützling von -- ihr! Aus Gefälligkeit hatte er sich malen lassen, er gab sonst nichts auf moderne Malerei. Früher war er jahrelang Mitglied eines Kunstvereins gewesen, dem hoher Adel und Grundbesitz angehörte, man zahlte zwanzig Mark Jahresbeitrag und erhielt dafür jedes Jahr irgendein Kunstblatt. Längst war er ausgetreten, aber da sie es gewünscht hatte -- Die Hände auf das Schwert gestützt, hatte ihn der Künstler dargestellt. Das Gesicht war kantig, hart, entschlossen. Trotz der angegrauten Schläfen blühend von Gesundheit und Kraft. Der Blick voller Festigkeit und Ziel. Vielleicht ein bißchen geschmeichelt das ganze Bild. Trotzdem, diese letzten vier Jahre waren wie ein Jahrzehnt. Grau und erdig sah er sein Gesicht durch die Spiegel gleiten, obgleich er es vermied, hinzusehen. Auch sein Rücken, die Linie seines Rückens -- sie schien ihm gebogen zu sein, obgleich er nicht hinsah, sondern den Blick abwandte. Dieselben Hände, die in kraftbewußter Lässigkeit auf dem Schwertknauf ruhten, sie waren heute die Hände eines alten Mannes. Die Haut hatte eine fahle Färbung, die Adern auf den Handrücken waren geschwollen. Ja, kaum war er den Hauptmannsjahren entwachsen -- und schon war er alt! Und doch sah er sich noch als Leutnant vor sich! Seine für damalige Verhältnisse etwas stutzerhafte Uniform. Und doch sah er sich noch als Kadett vor sich, ganz deutlich, mit dem kleinen Seitengewehr und der altmodischen hohen Mütze. Seit seinem zehnten Lebensjahre trug der General das farbige Tuch. Zivilkleidung hatte er nur höchst selten getragen, vielleicht einmal einen Jagdanzug auf dem Lande. Mit zehn Jahren war er Kadett, mit achtzehn Leutnant, dann Hauptmann, dann Major, Oberstleutnant, Oberst, Regimentskommandeur. Im Sturmschritt hatte er alle Ränge durchlaufen -- aber es schien ihm, als sei er eigentlich immer der gleiche gewesen, nur mit verschiedenen Rangabzeichen versehen. Seine Welt, seine Weltanschauung, seine Auffassung von Dienst, Vorgesetzten, Pflicht, Religion, Vaterland -- sie hatten sich nicht geändert. Der Leutnant der gleiche wie der General. Er war eigentlich nie jung gewesen, auch als Kadett nicht, nein. Nie jung, und schon wurde er alt! Er drehte im Salon das Licht aus, um nicht mehr das zuversichtliche kraftstrotzende Gesicht des Offiziers mit den Ordenssternen sehen zu müssen -- jugendlich trotz der angegrauten Schläfen. Ja, ja, ja -- keine Beschönigung, Mut! Otto, sein Sohn -- ein Ehrloser! Er hatte ja seinerzeit im Frühjahr, als diese Geschichte mit der Hand passierte, sofort gewußt, ja, gewußt, augenblicklich und instinktiv, worum es sich in Wahrheit handelte! Aber er hatte nicht gewagt, es zu glauben. Offizier -- ein Hecht-Babenberg -- und doch! Ja, nun wußte er alles . . . Der General kehrte wieder zum Schreibtisch zurück. Ja, ein Vermögen, diese Frau -- in der Tat, Rothwasser . . . Ihre Augen strahlten Reinheit, Treue, Unschuld. Es gab niemand, dessen Lachen und Stimme allein ein solches Maß von Vertrauen erweckte! Ihre Offenheit, ihre kindliche Naivität, ihre Unbefangenheit und Harmlosigkeit, unmöglich, gänzlich unmöglich -- er hätte die Hand für sie ins Feuer gelegt. Daß ihn seine Menschenkenntnis so trügen konnte! Nein! Er legte die Feder weg. Schweigen, Schweigen -- nichts sonst . . . Plötzlich horchte er betroffen auf. Eine Stimme! Diese Stimme? Langsam und heiß stieg ihm das Blut in den Kopf. Die Adern an den Schläfen zuckten. Ottos Stimme! Er rief nach dem Burschen. Wollte er ihn herausfordern, der -- Infame? Der General sprang auf. Mit zuckenden Schläfen stürzte er zur Türe . . . In der Tat, Otto war gekommen, wie er zuweilen kam, seitdem er im Westen wohnte, um irgend etwas abzuholen, Bücher, Wäsche. Er kam zu jeder Tages- und Nachtzeit, wann es ihm gerade beliebte, und knallte ohne Rücksicht mit den Türen. Jetzt war er gekommen, um einen Gummimantel zu holen. Er brauchte ihn, da es noch immer in Strömen regnete. Dies war der eigentliche Grund seines Besuches. Der zweite Grund aber war, ganz offen gestanden, daß er dem General seine Furchtlosigkeit beweisen wollte. Nein, er hatte keine Furcht vor einer Begegnung, nicht die geringste. Aus diesem zweiten Grunde schrie er auch etwas lauter, als es eigentlich nötig war. Sein Zimmer hatte er absichtlich offen gelassen. Jeden Augenblick konnte die Türe gegenüber aufspringen -- nun, er war gewappnet. Seine hellen verwegenen Augen waren auf eben diese Türe geheftet, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Er war bereit, die Konsequenzen zu ziehen -- zu allem war er bereit. Papa sollte nie und nimmer auf den Gedanken kommen, daß er sich feige in eine Ecke verkrieche. Aber nichts regte sich hinter dieser Türe, die zu den Zimmern Papas führte. Wahrscheinlich hatte er sein Kommen gar nicht wahrgenommen. Der General -- er war nicht weiter als bis zu eben dieser Türe gekommen. Sein Herz pochte so stark, daß er sich festhalten mußte. Keuchend und bebend stand er im dunkeln Zimmer, seine Beine zitterten. Ein Schritt noch -- und etwas ganz Furchtbares, etwas unsäglich Grauenhaftes würde geschehen . . . Sein eigenes Blut hatte sich gegen ihn erhoben! Die Türe öffnen -- und schon, schon würde es geschehen, das Gräßliche -- Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater -- bis zur Vernichtung -- das Grauen noch der Ururenkel, ewige Schändung des Namens, Schändung des Geschlechtes, Schändung der Schöpfung. Schon begann die Finsternis des Zimmers zu flammen. »Wo sind meine Handschuhe, Jakob?« rief Otto. Dann pochte er an Ruths Türe, und der General hörte die beiden plaudern, ohne zu verstehen, was sie sagten. Fünf Schritte waren zwischen ihnen, zwischen ihm und seinen Kindern, der Korridor. Aber dieser Korridor war ein Abgrund, unergründlich wie die Mysterien des Blutes. »Dann gute Reise, Ruth!« rief Otto und schloß Ruths Türe. Ja, in der Tat, ein Abgrund, schauerlich und bodenlos wie das tausendfach unergründliche Schicksal selbst. Die Haustüre krachte ins Schloß. Otto war gegangen. Dank dem Himmel! dachte der General, während er heftig zitterte. Immer noch stand er, die Dunkelheit lohte, immer noch keuchte er, und das Zittern seiner Beine wurde stärker mit jeder Minute. Ja, nur ein Schritt, ein kleiner Schritt und es wäre geschehen. Das unsagbar Gräßliche. Das keine Macht der Welt hätte wieder auslöschen können, selbst die Allmacht Gottes nicht. Es _war_ geschehen, das unsagbar Grauenhafte! Der General sah seinen Sohn erwürgt auf der Diele liegen. Zitternd am ganzen Körper sank er in einen Sessel; der Schweiß brach aus seiner Stirn. * * * * * Otto aber eilte im strömenden Regen quer durch den stockfinstern Tiergarten. Zu Ströbel! Lustige Kumpane, ein Fest heute, Wein, Spiel. Wie albern, diese kleinlichen Bedenken, die ihn bisher von Ströbels Haus ferngehalten hatten! In förmlichen Wasserhosen verschwand die Straße, wo Ströbels Haus lag, aber ein wohlbekannter Lichtschein, wie der Schein eines Leuchtfeuers, zeigte den Weg. Otto pfiff, den vereinbarten Pfiff, er klatschte in die Hände. Das erleuchtete Fenster öffnete sich, und ein Schatten neigte sich heraus. »Wer ist da?« Es war Hedis Stimme. »Ich bin es«, antwortete Otto mit heller und lauter Stimme. »Ihr habt doch Gesellschaft heute?« Der Schatten trat zurück. Erst nach einer Weile wurde Hedis Stimme wieder hörbar. »Sie sind es?« sagte sie stockend. »Nein, die Gesellschaft wurde abgesagt, Ströbel ist verreist!« »Sie? Seit wann sagen wir Sie zueinander?« sagte Otto lachend. Er konnte Hedi nur undeutlich erkennen, durch Büsche hindurch, an denen das Wasser herabrann. Das erleuchtete Fenster ging auf einen kleinen, dichtbewachsenen Garten hinaus. Wieder zögerte Hedis Stimme. »Es ist völlig nebensächlich,« sagte sie, »aber lassen wir es dabei. Er mußte unerwartet in Geschäften fort, und der Abend wurde verschoben.« »Schade! Sehr fatal!« Der Regen prasselte auf Ottos Mantel, Ströme von Wasser wirbelten um seine Füße. Selbst aus dem Boden sprangen Bäche. »Ja, leider«, sagte Hedi und schickte sich an, das Fenster zu schließen. »Gute Nacht.« Der Regen verschluckte ihre Stimme. »Einen Augenblick --« beeilte sich Otto, und die Fensterflügel blieben halb offen stehen. »Ich bin durch diese Sintflut gewatet, in der Erwartung, fröhliche Menschen zu finden --« »Das ist sehr bedauerlich«, sagte Hedi spöttisch. Otto lachte belustigt auf. »Sehr bedauerlich? Hören Sie, Hedi -- oder höre, Hedi -- ich finde es töricht, Sie zu dir zu sagen -- halte du es ganz wie du willst -- ich hatte gerade heute das Bedürfnis, Freunde zu sehen -- sei nett und lieb, öffne und koche etwas Kaffee. Ich bin völlig durchnäßt.« »Ich bin ganz allein.« »Ist das ein Grund --?« Eigentümlich war der Tonfall dieser Frage. Hedi antwortete nicht sogleich. Er fühlte ihren Blick. »Gehe doch zu ihr!« sagte sie dann. Aber sie schloß das Fenster nicht. Otto stockte. »Ich komme soeben von ihr!« sagte er hierauf. Diese Antwort war sehr kühn, und er wußte genau, daß er alles aufs Spiel setzte. Aber er hatte seiner Stimme einen gleichgültigen und gelangweilten Klang gegeben. Schweigen. Der Regen rauschte. »Lebst du glücklich mit Ströbel?« begann Otto von neuem, in völlig geändertem, vertraulichem Tone. »Was für eine Frage? Was kümmert es dich?« »So öffne doch, Hedi, und wir werden etwas plaudern.« Hedi schwieg. Nach einer Weile sagte sie, leise und bebend: »-- Ich öffne!« Kaum aber hatte Hedi die Türe aufgeschlossen, so riß Otto sie an sich und vergrub seine Lippen in ihren Hals. Sie stammelte. 10 Mehre den Schatz! Mehre den Schatz des Guten und Schönen! Lege nicht Hand an die Geschlechter, die nach dir kommen -- -- Friedlich säuselt der Morgenwind. * * * * * »Lieber Junge,« -- schrieb Hauptmann Falk an Otto -- »mit dem Urlaub war es diesmal nichts. Und ein Flieger hatte mir schon versprochen, mich in seinem Kahn mit nach Berlin zu nehmen. Drei Tage hinten, immer in Alarmbereitschaft, kein Schlaf, Schwärme von feindlichen Fliegern, in jeder Nacht Verluste. Die Sache hat sich anmutig ausgewachsen! Heute abend wieder in Stellung. Wollte Dir gerne mehr schreiben -- aber ich kann nicht. Es gibt gewisse Dinge. Nun, wir kämpfen, tun unsere Pflicht. Herrliche Leute! Das Feuer wächst von Tag zu Tag --« Ja, von Tag zu Tag wuchs das Feuer! Bis nach London, nach der Schweiz war der Lärm der Kanonen zu hören. Es stand sogar in den Zeitungen. Tausende sanken täglich dahin, Zehntausende -- »Trinke, Kamerad!« »Erlöser!« »Trinke! Stütze dich auf mich!« »Erlöser!« »Komm, komm, ich trage dich!« »Erlöser! Erlöser!« Auf Hunderte von Kilometern standen die Geschütze in einer Breite von zehn bis fünfzig Kilometern, Rohr an Rohr, gestaffelt, auf Kähnen, Flößen, Eisenbahnwagen und spien Feuer und Tod. Die Geschosse wurden von keuchenden Zügen herbeigeschleppt, von Dampferflotten, Schleppkähnen, endlosen Reihen von Lastautomobilen. Die ganze Welt arbeitete im Schweiße ihres Angesichts, um die Mäuler aus Stahl zu speisen. Die Geschosse, mannshoch, wurden auf besonders konstruierten Karren zu den Geschützen gefahren, durch Krane in die Rohre gehoben. Sie wurden zur Reklame in Zeitschriften abgebildet, einzeln und zu Tausenden aufgestapelt. Die Astronomen, die sonst der Bahn der ewigen Gestirne folgten, berechneten die Flugbahnen der Ungeheuer, die sich in den blauen Äther hineinstürzten. Tausende, Zehntausende von Geschützen spien Tod Tag und Nacht. Und die Wolke wälzte sich, unendlich, über der Walstatt. Staub -- die zermalmte Fruchterde, der zermalmte Fels, der zermalmte Baum, der zermalmte Mensch flimmerten in der Luft. Der Staub zog über ganz Europa, die Staubteilchen zermalmter Menschenleiber regneten auf ganz Europa, auf die ganze Erde nieder. Endlich war es dem Menschen gelungen, den höchsten Gipfel des Wahnsinns zu erklimmen. Die Erde selbst war nichts als eine gasgefüllte Bombe, die durch den Weltraum raste. Hunderttausende von Kilometern waren durch die Erde gewühlt, Menschen und Tiere keuchten -- mit dem gleichen Aufwand an Energie hätten die Wüsten sich in Gärten verwandeln lassen -- noch aber wurde um das Weltmonopol des Plünderns gekämpft. Erlöser! -- »Lieber Junge,« -- schrieb Hauptmann Falk an Otto -- »ich weiß nicht, ob diese Zeile Dich noch erreichen wird. Der Kommandeur ist schwer verwundet worden und einige Leute wollen es unternehmen, ihn in der Nacht durch das Feuer zu tragen. Sie wollen diese Zeilen mitnehmen. Sage allen, daß wir unsere Pflicht tun! Zweiundsiebzig Stunden haben wir nicht geschlafen und kaum gegessen. Wir können nicht mehr. Bald werde ich wohl hinter Stacheldrähten spazierengehen. Aber sage allen, daß wir kämpfen und sie uns nicht umsonst haben sollen! Ich werde Nachricht geben, wenn ich kann. Alles Bisherige war Kinderspiel --« Dies aber war der letzte Brief, den Otto erhielt. Wie durch ein Wunder kam er durch, obgleich der Kommandeur und seine Träger auf dem Rückwege getötet wurden. Man fand den Brief bei einem Mann ohne Beine, der verblutet war. Ein Offizier, dessen Name unleserlich war, hatte es auf die Rückseite des Briefes geschrieben. Hauptmann Falk, genannt die Feuerwalze und wenn es hoch herging, die glorreiche Feuerwalze, konnte keine Briefe mehr schreiben . . . Ein Erdloch. Und aus diesem Erdloch sieht eine Leiche mit entblößten Zähnen. Die Leiche wendet langsam den Kopf und späht aus. Staub treibt, Staub flimmert. Wenig zu sehen. Die Wimpern der Leiche sind voller Staub und auch ihre rotweißen Haare sind gepudert, die weißen Lippen haben den Staub zu einem weißen Brei zerrieben. Ruckweise atmet diese Leiche und stößt dabei mit dem Kopf in die Luft. Die Uniform ist beschmutzt, eben hat die Leiche gebrochen. Fünfzig Schritte feldein, im Staub, kohlt ein Flugzeug. Er war der letzte, der kam, er warf Nahrungsmittel ab, aber er kehrte nicht zurück. Fünf Schritte zur Linken aber liegt ein gekreuzigter Mensch auf der Erde, mit gebrochenen Gelenken, Arme und Beine von sich gestreckt, vom Luftzug fast völlig entkleidet, die Fetzen angesengt, flachgedrückt, das Gesicht ins Genick verdreht. Und noch schwelt das versengte Gras von den giftigen Dämpfen der Granate, die ihn kreuzigte. Es riecht nach verbranntem Fleisch und verbrannten Haaren. Zehn Schritte zur Rechten aber kauert eine Gruppe von Leichen um ein Maschinengewehr, und sobald die Leiche im Erdloch die Hand hebt und die Zähne bleckt, so feuert sie. Schatten taumeln im Sandsturm. Schatten kommen, nähern sich, versinken. Aber weshalb geht die Leiche im Erdloch nicht zu dem Maschinengewehr? Das ist es eben. Sie kann nicht. Durch einen Balken sind ihre Beine festgeklemmt. Und so kann sie nur die Arme heben, die Zähne blecken und schreien -- aber man hört nichts. Tanks kriechen im Sandsturm. Dort die Höhe, schwarzer Qualm. Durch den Sandregen ist zu sehen, wie Menschenleiber in die Luft fliegen -- und Hauptmann Falk sieht deutlich die Sturmhauben, deutsche Sturmhauben, wirbeln. Dort im Nebel -- Nebelwesen mit erhobenen Händen, fern, klein. Und die deutschen Batterien, sie, die stets bereiten, wo sind sie? Nichts, nichts, kaum zuweilen ein Einschlag drüben -- völlig außer Gefecht, vergast. Schatten im Sandsturm, im Qualm. Und wieder schreit er und bleckt die Zähne. Obschon er seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hat, muß er sich wieder erbrechen. Die flachen Chinesenhüte verschwinden, versinken. Zwanzig Kilometer hinter der Feuerlinie fährt ein schweres Eisenbahngeschütz aus dem Wald, von gutgelaunten, schwitzenden Kanadiern in Hemdärmeln bedient. Das Langrohr steigt in die Höhe, wird abgerissen. Die Mannschaft stürzt zurück, die Hände gegen die Ohren gepreßt. Die Granate war unterwegs. Es war jene Granate -- -- Ein Tank faucht durch den Sandsturm, hinweg über das Erdloch. Flache Eisenhüte. Amerikaner. Sie haben die Gewehre umgehängt und trotten durch den Sandsturm dahin. Nichts stört sie, sie haben keine Eile. Vor den flachen Eisenhüten einher schreitet ein junger amerikanischer Offizier. Ein Deutscher, namens Martin. Man hat ihm gesagt, daß die deutschen Soldaten den Kindern die Hände abschneiden. Er hat es in den Zeitungen gelesen, er hat sogar Abbildungen gesehen mit eigenen Augen. Und nun ist er gekommen, diese Kinderschänder vom Erdboden zu vertilgen. 11 Pünktlich auf die Minute erhob sich der General am nächsten Morgen. Er hatte fast nicht geschlafen in dieser Nacht. Funken sprühten vor seinen Augen, er sah schlecht. Wieder zuckte sein rechtes Augenlid. Seine Haut war trocken und heiß, er hatte Fieber. Nicht einmal Niki, der in seinem Bauer zwitscherte, gönnte er heute einen Blick. Teilnahmslos, schwerfällig, automatisch bewegte er sich, wie im Halbschlaf. Punkt einhalb acht klingelte das Telephon, das Amt, wie befohlen. Der General taumelte am Apparat. Der Hörer zitterte in seiner Hand. Er war genötigt einen Stuhl heranzuziehen und lallte, als er sprechen wollte. Schlechte Nachrichten, offenbar. Ja, schlechte, sehr schlechte! Und niemand, dachte der General, niemand -- das Reich wankt -- und niemand, nichts als Unfähigkeit, Dünkel und Verblendung! Schlimmer noch -- schlimmer! Ein Verbrechen . . . Das Haus war leer, tot, das Speisezimmer düster und verlassen. Ein Brief? Seht an! Man schrieb Briefe! Schon von weitem, obschon schwere und düstere Gedanken ihn niederdrückten, sprang der weiße Umschlag in seine Augen. Auf dem Frühstückstisch lag dieser Brief. »An Papa!« An Papa! Man schreibt Briefe! Er hatte nicht den Mut, diesen Brief zu öffnen. Was sollte Ruth zu schreiben haben? Er ließ den Brief in die Tasche gleiten. Seine Wangen zuckten. Nun, es mochte recht gut sein, daß sie etwas mißverstanden hatte, seine Fürsorge falsch deutete -- sie war jung und konnte nicht begreifen, daß ein Vater sich sorgte, daß er nur aus Liebe für sein Kind, nur aus Liebe, wohlgemerkt -- Plötzlich erhob sich der General. Er war erbleicht. »Therese?« Etwas Unglaubliches war geschehen! Der General war in die hinteren Räumlichkeiten gekommen, die er nie zuvor betreten hatte. »Meine Tochter ist verreist?« »Ja. Ruth ist abgereist.« »Wohin? Sie wissen es nicht?« »Nein -- aber ein Brief --« »Ich weiß --« Der General schwankte durch den Korridor. Mühsam kletterte er in den Wagen. »Ah! Ah!« stöhnte er, als die Limousine dahinschoß, und bedeckte die Augen. Ungeöffnet stak der Brief noch in seiner Tasche. * * * * * Ein deutsches Feldgeschütz fuhr plötzlich mitten im Sandsturm auf. Was wollten sie? Waren sie wahnsinnig? Verschwunden ist das Feldgeschütz -- Furchtbar rollt die Brandung aus Eisen und Blut. Die Kanonen knackten, als würden Knochen in der Luft zerbrochen. Die Front wankte, kein Zweifel, keine Beschönigung mehr. Schon klafften breite Risse. Die Mauer aus Menschenleibern, hundertfach aufgefüllt, hundertfach in Stücke geschossen, in jede Bresche stürzten sich neue Menschenleiber, ja, nun wankte sie. Diese Mauer aus Blut, aus menschlichen Gehirnen, aus menschlichen Herzen, die vor Liebe glühten und sich verzehrten -- sie _stürzte_. Die Karte war ausgespielt, die letzte Karte, ausgespielt gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Sie hatte verloren. Hunderte, Tausende von Granaten in der Sekunde, Einschlag neben Einschlag. Die Hochöfen der Welt sind gegen dich im Kampf. Die erschöpften, verbluteten Truppen sahen sich nach Unterstützung um. Die Kameraden, wo sind sie? In Finnland, Livland, Polen, Rumänien, Mazedonien, Syrien, in der Ukraine, im Kaukasus -- weit, weit, sie können nicht helfen. Und jeden Tag entsteigen zehntausend frische, mutige, wohlgenährte Männer dem Ozean. Der Hagelsturm von Eisen rast. Explosionen, Explosionen . . . Pulvermagazine fliegen in die Luft, Gaskessel explodieren, Städte verschlingt die krachende Erde -- das Trommelfell birst, Blut sickert aus den Ohren . . . Über die ganze Erde ist das furchtbare Krachen der zusammenbrechenden Mauer zu hören. Viertes Buch 1 Von heute auf morgen . . . Innerhalb von vierundzwanzig Stunden . . . Die Depeschen fliegen, es ticken die Fernschreiber. Fahle Gesichter, flatternde Hände, erbleichende Augen. Wie?! Ist es möglich?! Ein Keulenschlag! Der General ringt nach Luft und preßt beide Hände gegen den Brustkorb. Er befürchtet, sich übergeben zu müssen. Ein Jeu -- hm -- Poker? Aber wir sind schließlich ja nicht in Monte Carlo? Letzten Endes ist ein Weltkrieg doch kein Manöver, wo der steigende Fesselballon das Signal zum Halten gibt? Der General ist krank, die Grippe hat ihn gepackt, ja, auch ihn, ganz zuletzt -- es gelingt ihm gerade noch im letzten Moment ein Glas Wasser zu ergreifen, sonst wäre ein Unglück geschehen. Der Schweiß bricht ihm nun aus der Stirn. Schon aber knattern die Lichtbogen und aus den Antennen schwingen die Wellen durch den Äther. Es wanken die Empfangsstationen, die Beamten, die Hörmuschel am Ohr, erbleichen. Wer spricht? Eine Verhöhnung, eine Finte, ein schlechter Scherz? Die Station Nauen hat gesprochen. Schon fliegen die Türen in den Ministerien, und in den Augen entzündet sich ein Leuchten -- Der General kriecht durch die Zimmer, in den Schlafrock mit den roten Aufschlägen eingewickelt, hustet, keucht. Nun, also -- nicht! Nicht diesmal! Rollen wir die Fahnen zusammen -- das nächstemal! Blutiger noch und furchtbarer als dieser Krieg . . . Schon wieder nimmt er Aspirin und hustet. Er sinkt in einen Sessel und starrt, starrt -- er sieht nichts, die Gedanken sind stehengeblieben, vor dem Abgrund haben sie haltgemacht. Krachend stürzt die Front, die Erde hört es -- und noch immer kämpft die Armee, heute, morgen, übermorgen, Wochen! Längst ist es entschieden, daß alles verloren ist. Alles verloren: Blut und Gut, Millionen von Söhnen und Ernährern, Hoffnung und Sinn des Lebens, die Fruchtbarkeit des Ackers, die Viehherden, Schätze der Erde und Wälder, Schweiß und Fleiß von drei Generationen, Schweiß und Fleiß von drei kommenden Geschlechtern -- alles verloren! Die Fruchtbarkeit des weiblichen Schoßes -- dahin, Millionen von Säuglingen -- eine Beute des Hungers. Alles -- dahin! Das Gehirn unter der Schädeldecke, der Schlaf der Nächte -- dahin! Ausgespielt die hohe Karte, gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit -- und noch immer kämpft die Armee. Die Angebeteten und Vergötterten -- bis zum letzten Einsatz! -- und dann, ja, dann beugten sie das Knie und boten den Degen an. Auf Gnade und Ungnade. Der Historiker, noch in tausend Jahren, wird hier eine Pause machen, Atem schöpfen, und noch einmal alle Dokumente prüfen. Ob ihm nicht doch etwas entgangen ist, nicht doch eine wichtige, überaus wichtige Urkunde. Er wird in den Archiven und Bibliotheken wühlen -- nein, es ist Ihnen nichts entgangen, fahren Sie ruhig fort. -- 2 In diesen Tagen traf plötzlich in Berlin jene hohe Persönlichkeit ein, die seinerzeit die Zierde von Doras Hausball bildete. Ali Baba und die vierzig Räuber -- ja, wer hätte auch vermutet, daß es einmal so kommen könnte! Ohne jede Anmeldung kam der einflußreiche Herr an, dessen hoher Orden das ganze Metall auf der Brust des Generals aufwog. Mitten in der Nacht, gegen drei Uhr, der Zug von Köln hatte drei Stunden Verspätung gehabt. Die Lokomotiven blieben nunmehr reihenweise auf der Strecke liegen, man hatte die kupfernen Feuerbüchsen aus den Maschinen gerissen und sie durch eiserne ersetzt. Gräfin Heller hatte noch Licht, Gesellschaft, und der hohe Herr, der dem längst vermoderten Franz I. ähnlich sah, ließ seine Schwester herausbitten. »In großer Eile, Adele!« sagte der hohe Herr -- auf englisch, die Geschwister sprachen nur englisch zusammen -- »Ich komme, um zu gehen. Ich habe die ganze Nacht hindurch dringend zu arbeiten, Frühstück um zehn Uhr, bitte. Für jetzt Tee und etwas Feuer im Kamin, ich bin erkältet, und einen kleinen Imbiß. Und dann, keine Störung, bitte, nicht die geringste -- sehr wichtige Geschäfte -- fahre mit dem Mittagszug wieder zurück . . .« Trocken und hastig klang seine Stimme. Gräfin Heller befand sich in großer Erregung. Sie hatte ihren Kreis von Vertrauten versammelt, eine spiritistische Sitzung. Zuerst war ein ungebärdiger Geist erschienen, ein italienischer Mönch aus Ravenna, 1512 geboren, gestorben 1553, begraben in Bologna -- ungebärdig, er hatte das Tischchen in Stücke gerissen. Zurzeit aber -- größtes Ereignis aller Sitzungen des Jahres! -- hatten sie Verbindung mit dem Geiste eines erhabenen Verblichenen, dem Geiste Bismarcks. Ungeheure Offenbarungen, Prophezeiungen der größten Tragweite . . . vielleicht interessiert dich das Protokoll? Der hohe Herr aber schien nicht die geringste Neigung zu haben, die Prophezeiungen Bismarcks kennenzulernen -- ganz im Gegenteil. So schnell ihn die müden, dünnen Beine tragen konnten, stieg er die Treppe zu seinen Gemächern empor. Gräfin Heller öffnete leise die Türe, und man hörte auf einen Augenblick deutlich eine weiche, schmelzende Damenstimme: »Ich bitte Durchlaucht, unsere Frage wiederholen zu dürfen . . .« Als der Diener Tee und Imbiß brachte, fand er den hohen Herrn eingeschlafen in einem Sessel vor dem Kamin. Augenblicklich aber erwachte er. »Die Koffer?« »In der Bibliothek, Exzellenz, wie befohlen.« »Nun, danke, gute Nacht, keine Störung, zehn Uhr Frühstück« -- und er verschloß alle Türen und prüfte, ob die Vorhänge dicht geschlossen waren. Die Flucht der Gemächer war tageshell erleuchtet: Gemälde, Bronzen, Skulpturen, herrliche alte Möbel -- die Wohnung war ein Museum! Selbst in dem geheimnisvollen Alkoven des Ankleidezimmers brannte Licht. Der hohe Herr lächelte, unmerklich, soweit es die mit einer dicken Wachsschicht überzogene, gelbe Gesichtsmaske zuließ. Die Lider bewegten sich rasch über den großen starren Augen Franz des Ersten. Er rieb die kleinen wächsernen Hände vor dem Kaminfeuer und trippelte mit hastigen, steifen Schrittchen ratlos über das gleißende Parkett des Museums, immer hin und her. Er schlürfte eine Tasse Tee, dann flüsterte er: »Und nun wollen wir anfangen!« Und seine steile Glatze verschwand zwischen den Portieren des Arbeitszimmers. Hier also fing er an. Zuerst öffnete er mit einem winzigen Schlüssel, den er bei sich trug, eine schwere, pechschwarze, italienische Renaissance-Truhe. Ihr entnahm er einen Schlüsselbund. Dann schloß er einen Mahagonisekretär auf, ein herrliches Stück, Empire, französisch, schwarze Ebenholzsäulen, von goldenen Schwänen gekrönt. Fächer sprangen auf, Schubladen öffneten sich. Nun standen alle Schränke, Truhen, Kommoden, Vitrinen des Museums offen. »Anfangen, ja anfangen --!« Aber wie, wo? »Richelieu sagt einmal --« Aber der hohe Herr verschwieg, was Richelieu sagte. Es war ihm im letzten Moment entfallen, es interessierte ihn nicht mehr. Die Sammlung von Tabatieren, eine der kostbarsten in Europa -- in den Koffer. Ein paar kleine alte Bändchen, in Schweinsleder gebunden, gänzlich unscheinbar -- in den Koffer. Die Miniaturen auf Elfenbein, in den Koffer. Eine Schatulle, fränkischer Herkunft, eingelegt die Zerstörung Jerusalems, mit Schmuckstücken, Ringen, Uhren, Steinen, einem Kruzifix, Gold und Email -- in den Koffer. Ein rotes Lederkästchen, bis zum Rand gefüllt mit Ordenssternen -- in den Koffer. Die Mappe mit Handzeichnungen, drei kleine Niederländer -- herrlich eigneten sich die alten Brokate zum Einhüllen -- wieder ein Schluck Tee. Eine Börse voller Goldmünzen, vergessen, von Reisen zurückgeblieben -- weshalb nicht? Sie nahmen ja fast keinen Platz ein. Nun aber kam das Prunkstück an die Reihe, das Kostbarste: ein vergoldeter, kleiner Hausaltar, spanisch -- außerordentlich wertvoll! Vorsichtig auseinandergenommen, eingehüllt, in den Koffer. Aber die kleinen römischen Bronzen -- wie? Immer erregter glitt die Wachsmaske durch die Spiegel, sie tanzte zwischen Brokaten, Bronzen, Stichen, Bildern. Nunmehr glänzte sie fettig, aber das war der Schweiß infolge der Anstrengung. Jetzt verschwand sie in das Ankleidezimmer -- kam zurück, entstellt, fast doppelt so lang, die Wangen eingefallen, die Lippen faltig -- das Gebiß hatte geschmerzt. Wieder ein Schluck Tee. Schon tagte es. Beim Anblick eines Päckchens von vergilbten Briefen wurde der hohe Herr erregt. Er lief zuerst zum Kamin, als ob er die Briefe verbrennen wolle, dann lief er zu dem Empiresekretär. Aber, nachdem er das Päckchen schon in ein Geheimfach eingeschlossen hatte, nahm er es wieder heraus -- in den kleinen Koffer. Briefe, Schriftstücke -- das Feuer im Kamin lohte stundenlang. Und, wie gesagt, der Donatello: aus dem Rahmen zu nehmen, in Leinwand einzuschlagen, zu umschnüren -- prächtig! Die kleine Wachsfigur glänzte im Feuerschein, als schmelze sie, selbst die langen, dünnen Hände . . . Als der Diener das Frühstück brachte, war die kleine Exzellenz schon fix und fertig angekleidet, bereit zur Abreise. Schränke, Truhen, Vitrinen geschlossen -- nichts zu sehen, auch nicht eine Spur! Bitte eine lange starke Schnur und einige große Packbogen! So. Nur der eine Koffer, oben mit Anzügen gefüllt, wollte nicht schließen. Die kleine Exzellenz schwang sich auf den Koffer, stieß ein paarmal mit dem Gesäß gegen den Deckel -- so, siehst du, alles geht. Der Mittagszug nach Köln verließ die Halle, eine Wachsmaske, einer Leiche in grünem Wasser ähnlich, blickte aus dem reservierten Abteil -- mit einem unmerklichen, etwas hämischen Lächeln. Aber das mochte auch von der Beleuchtung in der düstern Halle herrühren. Sofort aber schloß die Wachsmaske in dem Abteil voller Koffer -- das solid verschnürte, große, flache Paket in gelbem Packpapier nicht zu vergessen -- die Augen und schlief ein . . . Nach langer Zeit, nach langem, gesundem Schlafe, erwachte der vornehme Reisende plötzlich: eine gewisse Aufregung auf dem Korridor des Waggons! Der Zug stand, in irgendeiner ärmlichen Vorstadt. Dämmerung und rauchender Nebel. Da! Ei, ei -- was ist das? Schüsse? Ja, ein lustiges Gewehrfeuer knatterte -- oder? Der vornehme Reisende kroch zwischen seinen Koffern hervor und öffnete die Türe des reservierten Abteils. »Ich bitte -- Schaffner?« Aber es gab keinen Schaffner, nur eine aufgeregte Schaffnerin in Pumphosen. »Ich bitte sehr -- wir halten?« »Ja, der Bahnhof ist besetzt.« »Besetzt --?« »Ja, besetzt.« »Aber -- von wem besetzt?« »Von den Aufständigen.« »-- von den Aufständigen?« »Soeben ist wieder ein Regiment übergegangen.« »-- übergegangen, so, so.« »Ein Soldatenrat ist im Zuge und nimmt die Waffen ab.« »-- Waffen ab.« »In Köln arbeiten sie mit schweren Geschützen.« »Danke, liebe Frau -- ich bitte!« Und der vornehme Reisende drückt der Schaffnerin ein Goldstück in die Hand -- ohne Übertreibung, ein Goldstück! -- und zieht sich wieder in das reservierte Abteil zurück. »So, so!« Nun beginnt die Wachsmaske tatsächlich zu schmelzen. Ein paar große Wachsperlen rinnen über die Stirn, ein flatterndes Batisttaschentuch tastet nach ihnen. * * * * * Der General und Hauptmann Wunderlich speisten zusammen unter dem schneeigen Glaslüster an dem runden, großen Speisetisch. Speisten? Sie berührten die Gerichte kaum. Jakob brachte weiße Teller, trug weiße Teller fort. »Aber diese vierzehn Punkte --?« fragte der General mit einem mißtrauischen Knarren in der müden, heiseren Stimme. Sein Hals war von einem dicken Umschlag umwickelt. Wunderlichs Gesicht zuckte. »Der Präsident ist ein Mann von Ehre!« »Hm. -- Aber ich darf doch bitten, Hauptmann Wunderlich, sich bedienen zu wollen.«, »Wir haben das Wort von hundert Millionen amerikanischen Bürgern!« »Hm. -- Bitte, sich doch eingießen zu wollen, mir selbst ist es ja verboten.« »Und Sie sagen, Hauptmann Wunderlich: die Waffenstillstandsbedingungen sollen unter allen Umständen angenommen werden -- unter allen Umständen?« »Man will versuchen, einige Zugeständnisse zu erhalten. Sollte dieses Ansuchen aber zurückgewiesen werden: unter allen Umständen!« »Also bedingungslose Kapitulation?« »Bedingungslose!« »Hm.« Der General kämpfte gegen einen Hustenanfall. »Hm, aber --.« Unmöglich, dachte er, mit eingesunkenen, düsteren Augen, das Volk muß sich erheben! Erhebung der Massen! Kampf bis zum letzten Hauch -- Aber er sprach seine Gedanken nicht aus. Eben legte Jakob wiederum neue weiße Teller auf. Quittengelb ist der General geworden. Seine Backen sind eingefallen und schlaff. Die Grippe hat sich auf die Nieren geschlagen. 3 Nacht. Riesengroß steht Ackermanns Geist über der dunkeln, schweigenden Stadt. Sein Leib sind die Sterne, sein Haupt sind die Sterne, seine Augen sind die Sterne. Seine Hände sind die Sterne. Schon kommt ein kaltes Gefunkel aus dem Osten. Die Riesenstadt schläft, bedeckt mit dünnen Nebelschleiern ihre Dächer und Türme. »Auf, auf, der Tag ist gekommen!« Die Stimme schallt und die schlafende Stadt erbebt. »Auf, auf, mein Volk! Die Sterne funkeln! Erhebe dich unter den Völkern der Erde und gehe voran auf dem Weg der Läuterung!« Die Sterne erblassen. Aus dem Osten bläst kaltes Licht, die Nebel senken sich dicht auf Dächer und Türme. Lieblich säuselt der Morgenwind. Und schon erheben sich die Schläfer! In Trupps, in Scharen. Der gleißende Lichtgürtel, der die Riesenstadt umspannt, erlischt. Schatten, geballt, beginnen zu wandern. In den dunkeln Vorstädten erhellen sich die Fenster. Schritte schlürfen, sammeln sich, Schatten, geballt, beginnen zu wandern. Vom Süden, vom Norden, von überall her beginnen die Schatten, geballt zu wandern. Hunderttausende von Schritten sind unterwegs. Die Morgenröte funkelt. Da beginnt die Schattenstadt zu glühen. * * * * * Endlich -- ja, Gott sei Dank! -- trillerte die Marspfeife wieder und die graue Limousine fegt durch die kühle, sonnige Herbstluft dahin. Die Fußgänger entfliehen, rechtzeitig bringen sich die Straßenkehrer in Sicherheit. In einer wunderbaren Kurve, unübertrefflich, wirft Schwerdtfeger die Limousine um eine auf der Straße stehengebliebene Karre voll Straßenschmutz herum. Die Augen des Generals sind wieder nachdenklich und konzentriert auf den gekrümmten Rücken Schwerdtfegers geheftet. Immer noch etwas gelb, etwas müde, die Backen etwas zittrig und schlaff, die Tränensäcke etwas geschwollen, aber man kann zurzeit nicht allzu große Rücksicht auf sich nehmen. Es bereiten sich Dinge vor, jeder an seinem Posten! Die Marspfeife schrillt -- vor Schreck fällt ein altes Droschkenpferd in Galopp. Plötzlich aber: Fußbremse, Handbremse, die Limousine schleift -- halt! Musik. Ein Jägerbataillon zieht mit klingendem Spiel vorbei, den Linden zu -- rot die jungen Gesichter in der Morgensonne, Stahlhelme, die Haltung wundervoll. Der General beachtet jede Kleinigkeit. Nicht _ein_ Tadel! Er fühlt sich beruhigt. Gerüchte schwirren in der Stadt -- aber welche Narren! Ein Blick auf die Karte Berlins genügt ja: einige Brücken, Kanäle, Straßen besetzt -- und mit zwei Dutzend Maschinengewehren war die Stadt gegen Hunderttausende zu halten. Nur Laien . . . Herrlich Offiziere und Mannschaften -- junge Burschen, kaum den Knabenjahren entwachsen -- ja, obschon er die Gerüchte nicht eben tragisch genommen hatte, fühlte er sich durch den Anblick dieses Jägerbataillons beruhigt. An den Straßenkreuzungen standen Doppelposten, den Gürtel mit Handgranaten gespickt. Eine Batterie fuhr dahin, langsam und gemächlich, als käme sie von einer Schießübung zurück. Die Offiziere waren durch Befehl zusammengerufen. Im übrigen hatte der Oberbefehlshaber in den Marken ungesetzliche Zusammenschlüsse, die die öffentliche Sicherheit gefährdeten, auf Grund des Paragraphen 9b in feierlicher Proklamation strengstens verboten. Auch das rote Amtsgebäude des Generals war in Verteidigungszustand gesetzt. Stahlhelme wimmelten in allen Stockwerken. Offiziere standen an den Fenstern. Ein schweres Maschinengewehr war im Foyer postiert. Nun, es war selbstverständlich Pflicht des Kommandanten, keine Vorsichtsmaßregel außer acht zu lassen. Der alte Portier mit den weißen Haarsträhnen und den Blechmünzen auf dem Mantel trat absichtlich einen Schritt weiter vor, er verbeugte sich tiefer als sonst. Sein altes Frauengesicht war von Freude erhellt. Seine tiefe Verbeugung drückte -- soweit die Stellung des Untergebenen es zuließ -- die Genugtuung aus, Seine Exzellenz wiederhergestellt zu sehen, sie beglückwünschte zur Genesung. »Exzellenz!« schlürfte er, und der Speichel rann über sein Kinn. Aber der General sah den alten Portier gar nicht. Doppelt ernst, doppelt gesammelt durchschritt er das Foyer. Er bemerkte auch nicht die immerhin auffallenden Verteidigungsmaßregeln. Er sah nicht die Stahlhelme, die Offiziere, die zu Statuen erstarrten, das schwere Maschinengewehr -- wie früher, in den alten Tagen, stieg er die Treppe empor. Nur etwas langsamer. Stahlhelme in den Korridoren, Offiziere, Gewehrpyramiden -- aber der General sah sie nicht. Nachdenklich verschwand er hinter der gepolsterten Doppeltüre mit den Aufschriften: »Vortrag. Kein Zutritt. Anmeldung Zimmer 6.« Aber schon dicht hinter der gepolsterten Türe war er gezwungen, stehenzubleiben, seine Knie zitterten -- solche Anstrengung hatten ihm die paar Treppen und Korridore bereitet. Das alte Herz erwärmt, vollkommen beruhigt, kehrte der Portier in seine Loge zurück. »Ganz wie Anno Siebzig!« dachte er. »Als wir alle Angst hatten, gefangengenommen zu werden -- und unser General sagte nur: Junge Hunde! Ja, nichts sonst. So ist es auch heute. Man braucht nur in _sein_ Gesicht zu sehen. Keine Besorgnis, nicht die geringste -- ehek, ehek!« * * * * * Horch! Schritte. Horch! Rufe. Fäuste pochen an die Tore der düstern Kasernen. Öffnet Kameraden! Öffnet -- wir sind es . . . Jubel! Und die Tore der Kasernen öffnen sich: der böse Geist der düstern Gebäude entweicht. Ein Toter liegt still auf dem Bürgersteig, mit einem Mantel zugedeckt. Die Morgensonne blendet durch die Straßen. Funkelnd steigt die Sonne des 9. November über Berlin empor. Horch! Die Stadt erbebt unter dem Tritt von Hunderttausenden. Über den tausend Köpfen schwankt ein Plakat: Nicht schießen, Kameraden! * * * * * Immer noch etwas zitternd von der Anstrengung des Treppensteigens saß der General an seinem riesigen Schreibtisch, in die Arbeit vertieft. Akten, Schriftstücke, er sah nicht auf. Die Fenster waren geschlossen, die blauen Vorhänge dicht zugezogen, es war nahezu dunkel. Unfaßbar, welche Unmenge von Arbeit sich angehäuft hatte! Ganz wie früher, vor seiner Erkrankung, als sei alles noch wie ehedem, arbeitete der General. Er versuchte es sogar mit einer Zigarre, ließ sie aber bald wieder ausgehen. Die Schriftstücke flatterten in seinen Händen. Weißbach trat ein und erstattete Vortrag. In der Stadt bis jetzt alles ruhig. Nach ihm erschien der hünenhafte Major Wolff in der Türe, mit einer dicken Mappe: Entscheidungen, die der Vertreter des Generals nicht zu treffen gewagt hatte. Auf jeden einzelnen Fall ging der General ausführlich ein, er verlor sich in Einzelheiten. Hier mußte nochmals erinnert werden, hier empfahl es sich, dringlich zu werden, hier war telegraphisch die Entscheidung der höchsten Stelle zu erbitten. Major Wolff notierte. Diese Angelegenheit aber wollte der General persönlich erledigen. Das Befinden? Ja, danke -- um vieles besser, man kann wieder anfangen! Wieder war der General allein, in seine Arbeit vertieft. Die Schriftstücke wehten in seinen Händen. Kein Laut, nicht ein einziger Laut! Auf den Korridoren die Truppen, an allen Fenstern Stahlhelme, an den Eingängen schwere Maschinengewehre mit Munitionskästen. Das Amt eine Festung, die nur mit Geschützen genommen werden konnte. Fröhlichkeit und Gelächter bei den Drillichkitteln in den Schreibstuben. Laßt sie klingeln, mögen sie ruhig klingeln! Das Telephon. »Ruhe, Kameraden!« »Die Maikäfer haben soeben Rot gehißt!« »Hurra!« Laßt sie klingeln, ruhig klingeln. Gelächter, Lärm. Aber in dem großen Arbeitssaal des Generals, hinter den Doppeltüren, den Doppelfenstern, den zugezogenen Vorhängen -- kein Laut. Die Feder, das leichte Keuchen und Rasseln beim Atemholen, nichts sonst. Wieder tritt Weißbach ein. Seine Sporen klingen, der General sieht auf. Er erschrickt: ein Gesicht aus Kreide, mit blauen Lippen. Der Fernspruch flattert in Weißbachs Hand. Und der General erhebt sich. Sein gelbes Gesicht wird fleckig, seine schlaffen Backen zittern. Das breite Gesicht wird langsam grau, grau wie der Staub der Landstraße. Er neigt den Kopf. »Danke.« Die Sporen singen, lautlos schließt sich die Türe. Immer noch steht der General, den Blick auf das Parkett geheftet. Auch seine Hände sind grau geworden. »Entflohen --« Ja, er sieht -- plötzlich, merkwürdig genug! -- Tribünen, schwarz von Menschen, elegante Wagen fahren heran, Damen, Orden glitzern, Federbüsche wehen. Fremdländische Uniformen, Glanz, Pracht -- und die Truppen ziehen vorbei -- endlos. Die Musikkapellen schwenken ein und, gleichmäßig wie die Wellen der Brandung, rauschen die Regimenter in tadelloser Haltung vorbei. Und hinten, weit hinten stehen sie auf dem Feld, unübersehbar, anzusehen wie farbige Beete eines unendlichen Blumengartens -- und alle Augen sind auf den Mann zu Pferd gerichtet -- _alle_. Eine Frühjahrsparade. »Entflohen --« »Desertiert --!« Da beginnt das Parkett zu kreisen, die Wände schwingen. Die Vorhänge flattern und verschwinden. Nebel kreist, in endlosem, kreisendem Nebel steht das graue Steingesicht und zittert. Die grauen Finger klammern sich an den Schreibtisch. Stille. Er steht allein, inmitten der Unendlichkeit, ein Punkt im Nichts, ein Pünktchen, das immer kleiner wird, schrumpft. Aber da -- hörst du: Lärm, Brausen, Schritte wie von Hunderttausenden, Rufe, Gesang -- Allmählich, ganz allmählich kehrt das Bewußtsein des Generals aus dem schauerlichen Sturz in das unendliche Nichts zurück. Er lauscht. Ein Schritt mahlt, drunten, tausendfältig. Brausen umtost das stille, rote Gebäude, hunderttausendfältig. Er vermeidet es ans Fenster zu treten, es wäre seiner unwürdig. Aber sein Herz pocht in höchster Erregung. Jeden Augenblick können die Maschinengewehre hämmern -- jede Sekunde -- da! Rufe, Tosen, ein unerklärliches Splittern, als ob dünne Balken, Bretter zerbrächen. Was ist das? Nichts. Die Rufe entfernen sich, der Tritt der Hunderttausend, unter dem das rote Backsteingebäude erzitterte, entfernt sich. Wieder Stille. Gott sei Dank, ohne Blutvergießen. Die Masse war vernünftig. Aber diese Luft erstickt. Sie ist Blei, Eisen, sie lastet auf den Händen wie Gewichte. Da erschien wiederum Weißbach in der Türe. Noch weißer sein Gesicht. Der General richtete sich auf. Breitbeinig stand er mitten im Zimmer, die Füße auf das Parkett gepreßt, um nicht zu fallen. Mit einem Blick übersah er _alles_! Die Türen standen offen -- alles leer. Leer die Flucht der Arbeitszimmer der Offiziere -- keine Seele mehr. Uniformröcke auf Stühlen und Schreibtischen. Weißbachs kreidiges Gesicht -- und Weißbach trug Zivil . . . Die Wände biegen sich, wölben sich, schon stürzen sie über ihn -- »Es ist Zeit, Herr General!« 4 Unübersehbar die Menschenmenge vor dem Reichstagsgebäude, Kopf an Kopf. Kopf an Kopf zwischen den hohen Säulen. Da tritt eine Gestalt vor, schwingt den Hut -- Brausen! Brausen, die Riesenstadt jubelt. Das rote Gebäude aber liegt tot! Verödet die Korridore. Die Türen stehen alle offen, leer die Zimmer. Verschwunden die Stahlhelme, Gewehrpyramiden und Maschinengewehre. Alles leer, ausgestorben. Nur die großen Ballen sind geblieben, die alle Gänge des weiten Gebäudes überschwemmten. Die Ballen mit den Karten ferner Länder, ferner Provinzen -- der Peipussee, der Kongo . . . Langsam steigt der General die Treppe ins Foyer hinab. Er berührt mit der Hand das Steingeländer, zum erstenmal. Soeben fährt Schwerdtfeger die graue Limousine aus dem Hof auf die Straße. »Schnell!« ruft er, mit einer ungeduldigen, respektlosen Kopfbewegung. Die Augen des Generals erweitern sich. Wie? Er hat noch immer nicht begriffen. Da! Da! Aber was ist das? Der General taumelt zurück. Ein Auto, ein grauer, offener Wagen, rast, fliegt -- kein Wort -- er schnellt in langen Sätzen über den Asphalt, wie eine startende Flugmaschine hebt er sich in die Höhe, die Funken stieben aus den Pneus. Matrosen! Und es flattert, weht -- eine rote Flagge! Verschwunden. Noch immer taumelt der massige Körper des Generals. Ja, jetzt hat er begriffen. Die zerbrochenen Gewehre auf dem Pflaster -- die Truppen haben sie aus den Fenstern auf die Straße geworfen -- das war das unerklärliche Splittern, das er gehört hatte, als zerbrächen dünne Balken. Und der tobende Lärm in der Stadt -- jetzt begriff er. Der greise Portier schloß den Wagenschlag. Seine weißen Haarsträhnen flatterten im Wind, als die Limousine abfuhr. Er hatte die Mütze abgenommen. Nein, nicht wie der alternde Moltke sah er heute aus, mit seinem Frauengesicht. In seinem abgeschabten Mantel, mit seinem dünnen Hals, seinen weißen, flatternden Haarsträhnen, seinem hohlen Blick erschien er in diesem Augenblick wie ein alter Lämmergeier, wie man sie in den zoologischen Gärten sieht. Aber weiter, weiter! Schwerdtfeger biegt ab. Eine Mauer von Menschen. Der Motor dröhnt. Die Limousine jagt durch den Tiergarten, weiter, immer weiter. Schwerdtfeger versucht die Tiergartenstraße zu erreichen -- unmöglich. Wiederum Züge von Menschen. Rote Flaggen. * * * * * Schon knattert es in den Straßen! Hauptmann Wunderlich lehnt sich mit dem Rücken gegen die Hauswand, auf seine beiden Krückstöcke gestützt. Der Rest von Farbe weicht aus seinem zuckenden Gesicht, er stammelt. Verwegen aussehende Matrosen umstehen ihn. Schüsse knallen in nächster Nähe. Mit schwerem Klatschen stürzt ein Körper zu Boden. »Schon gut, wir sehen ja! Aber Sie könnten doch Unannehmlichkeiten haben, Herr Hauptmann!« Und ein Matrose schneidet Hauptmann Wunderlich mit einem langen Messer die Achselstücke ab. Dies geschah Ecke Linden und Wilhelmstraße. Die Wilhelmstraße lag, wie immer, ruhig. Ruhig und unbeteiligt vor dem Kriege, ruhig und unbeteiligt während des Krieges und auch jetzt -- ganz still! Nur zuweilen öffnete sich eine Türe, vorsichtig, vorsichtig, ein Kopf spähte -- und dann eilte jemand mit einer Mappe unter dem Arm rasch die Wilhelmstraße hinab. Gamaschen, Lackschuhe, die Monokel waren in den Westentaschen verschwunden. Manche gingen so rasch, daß sie über die eigenen Füße stolperten. Auch einige Seidenhüte glitten rasch aus den Toren, pomadisierte Scheitel, bis in den Nacken durchgezogen. Ein hagerer Elegant stelzte eilig über die Straße, Perücke, mikroskopisches Schnurrbärtchen unter der Hakennase, ganz kurzes Überzieherchen, er schlenkerte höchst eigentümlich mit dem rechten Knie: vor dem Kriege Botschafter . . . Auch der Geheime Rat Westphal eilte mit seiner Mappe aus einer Türspalte. Er wagte es nicht einmal, einen Blick in die Richtung der Linden zu werfen. Sein dünner Chinesenbart wehte. Schon war er um die Ecke verschwunden. Hinter ihm her eilte Professor Salomon -- mit dem Kürbiskopf und den abstehenden Ohren. Er hatte den steifen Hut tief über die Glatze gezogen und den Mantelkragen hinaufgestülpt. Er pfiff vor sich hin, tat unbekümmert. Aber fortgesetzt drehte er sich um, dann wagte er sogar ein paar Sprünge . . . »Kommen Sie, Herr Geheimrat --« »Ah, Sie sind es! Sie haben mich tödlich erschreckt!« »Ja, keine Kleinigkeit -- wie?« »Gewiß, keine Kleinigkeit, großer Gott im Himmel!« »Und ganz überraschend!« »Ein Blitz aus heiterem Himmel, fürwahr!« »Trotz mancher Symptome -- -- da, da! -- haben Sie gehört?« »Ja, ganz in der Nähe! Rasch, rasch! Nichtsahnend komme ich heute morgen ins Amt -- wir besprachen gerade in aller Ruhe die politische Lage -- England soll geneigt sein, eine wohlwollende Haltung gegen uns -- -- da -- schon wieder!« »Wir werden versuchen, die Leipziger Straße zu überqueren -- kommen Sie. Ob wohl noch Züge fahren?« »Sie reisen?« »Ja, aufs Land, auf mein Landgut . . .« »Ah, wie schnell Sie gehen!« »Man muß eilen. Jede Minute ist unter Umständen entscheidend für Tod und Leben. Lesen Sie die Geschichte der Revolutionen . . .« Kreuz und quer jagt Schwerdtfeger. Endlich hält er und reißt die Türe auf: »Rasch, rasch!« Willenlos gehorcht der General -- und schon fährt Schwerdtfeger davon. Ein Zebrakittel! »Bitte Exzellenz!« Petersen! Schwerdtfeger hatte ihn vor der roten Backsteinvilla in der Lessingallee abgesetzt, weil er nicht weiter konnte. Der General zögerte. Aber auch in der Lessingallee Trupps von Menschen, die im Sturmschritt dahineilten. Er trat ein -- beschämt. Taumelnd tastete er sich vorwärts. Petersen mußte an den Hauptmann denken, der immerfort sagte: Ach, wie dunkel es ist -- ich sehe etwas schlecht . . . »Ich werde nicht lange stören, Petersen«, stammelte der General. »Nur einen Augenblick -- wir kamen nicht weiter.« »Gnädige Frau werden sehr bedauern --« Immerhin, ein Glücksfall an diesem Tage! Dora war nicht hier. Der General atmete auf. »Gnädige Frau reiste gestern ab -- nach Pommern, aufs Land, zu einer Familie Olsen. Bitte Exzellenz Platz zu nehmen, ich werde sofort ein Glas Wasser bringen.« »Olsen, sagten Sie?« »Ja, Olsen. Darf ich nun bitten -- eine Sekunde -- Exzellenz sind ganz blaß geworden . . .« »Und Hauptmann v. Dönhoff?« Petersen tat erstaunt. »Er wohnt schon seit einiger Zeit nicht mehr hier. Er verließ uns, mitten in der Nacht. Aber gnädige Frau werden sehr bedauern --« Am Nachmittag verließ ein Gutsbesitzer die rote Backsteinvilla in der Lessingallee. Oder auch ein Jäger, wie man will, dem Äußern nach jedenfalls eine Persönlichkeit aus der Provinz, die in Berlin von der Revolution überrascht worden war. Dieser Gutsbesitzer trug einen nach Kampfer riechenden, kurzen, altmodischen Jagdrock aus braunem Tuch, mit großen Taschen, schweren Lederknöpfen, und einem schmalen, schon etwas abgeschabten Pelzkragen. Ferner einen weichen, olivgrünen Hut, mit einer krummen Hahnenfeder hinten, wie Jäger ihn tragen. Kaum hatte der Gutsbesitzer die Villa verlassen, so verschloß Petersen die Haustüre und ließ sämtliche Rolläden herab. Immer noch blendete und funkelte die Sonne am wolkenlosen Himmel. Der Himmel selbst strahlte Verheißung. 5 »Platz gemacht!« »Platz!« Die Autos rasen. Weite graue Mäntel, Soldatenmäntel, flattern eilig durch die Straßen. Hier, dort, überall. Es sind Hunderte, Tausende. Voller Lehm, voller Staub, der Kalk der Champagne, der Schlamm von Flandern, mit Blut befleckt, versengt von den Granaten, von den Gasen gebleicht, durchlöchert -- die weiten flatternden Mäntel haben die Stadt überflutet. Und die Autos rasen dahin, mit Trauben von schweißtriefenden Menschen behangen. Auf den Trittbrettern kauern sie, auf den Motorhauben, den Schmutzflügeln, mit Gewehren und Handgranaten. Die roten Fahnen knattern -- so rasen sie dahin. »Platz gemacht!« Es sind die Jungen, die gekommen sind, die neuen Gesichter, die Kühnen und Wollenden. »Gegrüßt Ihr Kühnen, Wollenden, gegrüßt!« »Vorboten des kommenden Menschen, gegrüßt! Ihr Läufer, die dem neuen Reiche vorauseilen, ihr Hoffenden, Starken, Liebeglühenden, gegrüßt . . .« Ackermanns weiter Mantel flattert zwischen den roten Flaggen, die die Linden hinabrasen. Schüsse knattern. Staub fährt aus der Stadt. Feuer speit der Vulkan und die Erde bebt -- -- Verloren -- alles, in einer einzigen Stunde . . . Und die Armee auf dem Rückmarsch! Regimenter, Divisionen, Korps -- Hunderttausende, ja Hunderttausende. Hunderttausende -- Millionen! Hunderttausende von Pferden und Wagen, Zehntausende von Geschützen -- die Straßen überschwemmt, Schulter an Schulter, keuchend, Rad an Rad, krachend, Pferdeflanke an Pferdeflanke, mit Schaum bedeckt -- Tag und Nacht, Nacht und Tag -- jetzt in dieser Minute -- Der General findet keinen Schlaf mehr. Er _sieht_ die Riesenarmee auf ihrer Wanderung, Schauspiel, unerhört in der Geschichte, er _hört_ sie! Er sieht die Flugzeuge, die über den Landstraßen kreuzen und die Marschbefehle abwerfen. Eine Stockung, und Hunderttausende sind dem Hungertode verfallen! Eine Stockung, und Hunderttausende fallen in die Hände des nachdrängenden Feindes -- seine Vortrupps heben sich am Horizont ab! Eine Stockung, und Panik erfaßt Hunderttausende, die Riesenarmee zersplittert in tausend Stücke und Banden von Verzweifelten wälzen sich durch die deutschen Lande! Ein Wunder . . . ein Wunder an Manneszucht und Ausdauer allein -- Europas Schicksal hing an einem Faden! Nein, kein Schlaf kommt mehr in die Augen des Generals! Er _sieht_ die Riesenarmee auf ihrer beispiellosen Wanderung -- beispiellos und unerhört -- aber er sieht auch, daß sie rückwärts wandert. _Rückwärts!_ In Eilmärschen, vom Gegner diktiert! Niemals, niemals -- unfaßbar! Irgendwo brennt eine elektrische Lampe, und zuweilen kriecht das graue Antlitz durch einen dunkeln Spiegel. Unfaßbar, ganz unfaßbar! Der General stottert, er findet die Worte nicht mehr -- seine fahlen Lippen bewegen sich, ohne einen Laut hervorzubringen . . . Und hinter den dunkeln Vorhängen, hinter den herabgelassenen Rolläden, horch! Ja, wieder! Da ist er wieder! Er mahlt. Der Schritt! Hunderttausendfältig, ohne großen Lärm, wie ein Volk, das aufgebrochen ist und seinem Ziele zuwandert -- ohne sonderliche Eile, denn es weiß, daß es sein Ziel erreichen wird. Dieser Schritt verfolgt ihn. Tag und Nacht wandert der Schritt der Hunderttausend an seinem Fenster vorbei. Eine Armee ist aufgestanden und wandert. Eine Armee, die irgendwo verborgen lebte. Wo waren sie bis heute? Er hatte sie nie gesehen. Lebten sie in der gleichen Zeit, in der gleichen Stadt? Ja, weshalb sah er sie nie? Die Vielen, die Unbekannten -- mit diesen Augen, die nicht Augen von Menschen waren, von Wölfen, Füchsen, Adlern und Geiern. Mit diesen Gesichtern, die er früher nur in Träumen sah. Wo hatten sie gelebt bisher, wo hatten sie sich verborgen gehalten? Horch! Woher? Wohin? Endlos, ohne Aufhören wandert der Schritt der Hunderttausend. Selbst im kurzen Schlaf der Erschöpfung hörte er ihn. Der General nimmt den weichen Hut, und das graue Steingesicht -- grau wie der Staub der Landstraße -- erscheint in dem kleinen, kahlen Vorgärtchen. Die Augen der Wölfe und Füchse, die stechenden Augen der Geier gleiten prüfend über das breite graue Gesicht, und ihr Blick dringt in die Dunkelheit der schwarzen Augenhöhlen. Da aber beginnt es in den Dunkelheiten dieser finsteren Augenhöhlen zu glühen und zu sprühen -- noch ist es nicht _so weit_! Ein neues Geschlecht, ein verborgenes, unbekanntes, ungeahntes, nie gesehenes, war aus der Erde gestiegen. Rufe, Schreie branden über den mahlenden Strom der Neuen, Niegesehenen dahin. Der General versteht sie nicht. Fahnen, Plakate, Inschriften, unverständlich. Lieder, Gesang -- unverständlich. Still steht er -- ja, wie ein Baum, die Blätter sind gefallen, ein kahler Baum, und ringsum ist nichts, nichts, Nebel, soweit das Auge blicken kann. Und der Baum fröstelt, krümmt sich im Wind. Endlos, in Wahrheit! Die Erde hat sich geöffnet und die Lava strömt -- langsam und ohne jedes Ende. Schon wandert er neben dem endlosen Strom dahin und verliert sich in den Straßen. Die Hände in den weiten Manteltaschen des altmodischen Jagdrocks, den weichen Hut in die Stirn gezogen -- und den Schnurrbart hat er etwas gestutzt, nicht viel, einen, zwei Daumen breit. Straßen ohne Ende wandert er hinab. Er überquert Plätze, blickt in Seitengassen. Sein düsterer Blick zuckt über die Züge der Demonstranten. Nicht einmal die Autos mit den roten Fahnen läßt er vorüberfahren, ohne die Gesichter zu prüfen. Aber er läßt sich nicht entmutigen, weiter, hinab die Straße, hinauf -- er _sucht_. Ja, er sucht! Die Straßen sind überschwemmt von Menschen. Die Dämme sind gerissen, die Flut spült durch die Stadt. Aus den Vorstädten, aus den Fabriken, die in den Nächten -- in wie vielen endlosen Nächten! -- gleißten, waren sie gekommen, die gelben Gesichter, die Arme vom schlechten Öl zerfressen, die Augen entzündet von der stechenden Flamme der Bogenlampen. Auch die Bleichen und Fahlen, die den Tag seit Jahren nicht sahen, waren gekommen. Auch sie waren gekommen, die sich von Rüben und faulen Kartoffeln nährten, während der Kellner in Stifters Diele Geheimnisse in das Ohr der Gäste raunte. Auch sie waren gekommen, die noch die Lügen glaubten, während die Eingeweihten schon lange die Wahrheit kannten. Auch sie waren gekommen, die ihren dünnen, abgescheuerten Ehering opferten, während in den Schlössern die Leuchter aus schwerem Gold und Silber auf den Tafeln standen. Auch sie waren gekommen, die Elenden, die nicht einmal mehr ein Hemd auf dem Leibe trugen. Von da draußen -- da draußen -- --! Die Hohläugigen, die Vergessenen, die Ausgespieenen, die lebendig Begrabenen, die Verfehmten, die Gemarterten, die Gekreuzigten -- ja, von ihren Kreuzen waren sie gekommen. Auch die Frauen waren gekommen, die die Frucht ihres Schoßes, ohne zu feilschen dem General hingegeben hatten. Auch sie waren gekommen, die Frauen, deren Männer längst in den Massengräbern moderten, auch die Mütter waren gekommen, die ihre Säuglinge an der versiegten Brust sterben sahen. Auch sie waren gekommen, die Wahnsinnigen, die Krieg und Not um den Verstand gebracht hatte, auch sie, die Sterbenden, erschöpft zu Tode von Gram und Mühsal, auch sie schlichen auf zitternden Beinen dahin. Auch die Verzweifelten, die das Leben nur noch nach Stunden maßen, auch sie waren gekommen. Auch die Tapferen waren gekommen, die Mutigen, die selbst in den furchtbaren Jahren nicht den Glauben an den Sieg ihrer Sache verloren hatten. Gepriesen sei ihr Name! Geboren von Müttern? Gezeugt in Betten? fragte der General. Ja, natürlich, was für eine Frage, geboren von Müttern. Gezeugt in Betten und überall, hinter Zäunen, auf den Bänken der öffentlichen Gärten -- was für eine Frage, als ob es darauf ankäme? Die Erde war geborsten, und sie kamen heraus. Die Formlosen, Ungeformten, selbst noch Erde. Die Verschütteten waren ans Licht gekommen, die Explosion hatte sie befreit. Die Kasernen und Zuchthäuser waren geborsten. Auch die Schutzhäftlinge -- Tausende und aber Tausende, die im Wege waren -- sie waren frei. Auch jener Inder, den ein Geheimer Rat drei Jahre in Schutzhaft hielt, er war frei, und sein Peiniger bestellte ihm ein Hotelzimmer, um selbst rasch ins Ausland zu entfliehen. Verschwunden die auf den Mann dressierten Berittenen und die Blauen, die gleich mit dem scharfen Säbel einschlugen. Verschwunden auch jenes Polizeigehirn, das eine Bibel von Verordnungen verfaßt hatte, die jeden Schritt von der Geburt bis zum Grab regelte. Fort mit ihm! Fahrdämme und Bürgersteige sind überschwemmt. Redner überall. Auf Autos, Wagen, Karren, Bänken. Der _Stumme_, Jahrzehnte, Jahrhunderte stumm gehalten, nun spricht er! Soldaten überall, einzeln, in Trupps, in Scharen, in ihren armseligen, geflickten Uniformen. Durch das Blutmeer sind sie geschritten, dem Blutmeer sind sie entstiegen, noch sind sie betäubt vom Geruch des Menschenbluts, schon aber glänzt neue Hoffnung in ihren Augen. Düster gleitet der Blick des Generals über sie hin, seine Lippen zucken: die deutsche Armee -- Er fröstelt. Kriegsgefangene, auch sie sind frei. In Rudeln schieben sie sich durch das Gedränge: Franzosen und Russen, Italiener und Engländer, Schotten und Irländer, Kanadier, Neger, Australier, Inder, in allen denkbaren Uniformen. Sie rauchen, kratzen sich die stachligen Backen, spucken aus, schnattern. Einer humpelt auf seinem Holzstumpen dahin, aber er lacht. Ja, weshalb nicht? Der Krieg ist gewonnen, der Präsident wird ihn auf die Wange küssen und ihm eine Blechmünze auf die Brust heften. Sein Vaterland wird ihm eine Rente aussetzen, zwanzig, dreißig, vielleicht hundert Franken den Monat, eine Drehorgel wird er gratis erhalten, er hat keine Sorge mehr. Schon aber wandeln sie stolz und unnahbar durch die kochenden Straßen, die Brust voller Ordenssterne, mit roten Streifen an den Hosen, Litzen und Tressen glitzernd und funkelnd: die Sieger! Ein Geruch von Lorbeer bleibt hinter ihnen zurück. Von weitem schon erspäht sie das Auge des Generals. Rasch begibt er sich auf die andere Seite der Straße und sieht sie dahinwandeln. _Sie_ also! Die Würfel fielen. Auch in seinen düstersten Träumen -- Ja, oft hatten ihn düstere Träume gequält, oft schien es ihm, in müden Stunden, als ob es zuviel sei, ja, trotz der wunderbaren Armee und der herrlichen Organisation, zuviel -- aber selbst in seinen düstersten Träumen hatte er es nicht für möglich gehalten, daß einst die Uniformen der feindlichen Generalstäbe unter den Linden zu sehen sein würden. * * * * * Hell gegen den funkelnd blauen Himmel, hell und leuchtend flattert die rote Fahne über dem Schloß. Versprechungen -- Lügen, freie Meinung -- Gefängnis, Freiheit -- Kartätschen; ja, nun also flattert die rote Fahne auf dem Schloß. Im Gebäude des Reichstags tagt das Parlament der Novembermänner, im Abgeordnetenhaus und im Herrenhaus, wo die Greise noch gestern um Nichtigkeiten feilschten, beraten sie. Wo man nur flüsterte, tobt der Lärm, wo Diener die Stiefel des Unbekannten musterten, kauern die Posten bei ihren Maschinengewehren. Fort die Gehröcke und Gamaschen, die Flüsterer, die wehenden Greisenbärte und funkelnden Glatzen, die krummen Rücken! Hüte dich! Wie eine Stichflamme brennt die neue Sonne am Himmel. Sie stieg empor aus dem weiten Rußland, benetzt von Blut und Tränen. Sie hat die Weichsel überschritten. Sie wird den Rhein überschreiten. Sie wird den Kanal überschreiten -- benetzt von Blut und Tränen. Jenseits des Atlantiks wird sie aus dem Meer steigen, und die Stahlkammern der Wolkenkratzer werden in der Stichflamme dahinschmelzen -- auch die Pyramiden der ägyptischen Könige sind heute nicht mehr als Steinhaufen ohne jeden Sinn. Auch aus den Fluten des Stillen Ozeans wird sie eines Tages auferstehen, wo die gelben Völker wohnen. Die Greise, die Grausamen, die Vermessenen, die die Geschicke der Völker lenken, wird sie verzehren, die neue Sonne; ehe sie es gewahr werden -- ehe sie lallen können, werden sie nicht mehr sein. Die Geschichte wird ihre Namen verzeichnen, wie sie den Namen Neros verzeichnete, der Menschen als Fackeln brannte. Aber vor ihren Namen wird Neros Name verblassen. 6 Zuweilen glitt ein kecker Soldatenblick über das graue Gesicht, und ein keckes Auge versuchte in das Düster unter den grauen Brauen einzudringen. Ein paar Unverfrorene gingen sogar eine Weile neben ihm her und musterten ihn von oben bis unten. Das Düster unter den grauen Brauen erhellte sich, und die Unverschämten entfernten sich schwatzend und lachend. Das Gesicht des Generals flammte. Diese Verworfenen! Und doch -- sonderbar: Furcht hatte ihn beschlichen, als sie ihn musterten. Wieder war ein Blick auf ihn geheftet. Dieser Blick flog einem dahinfegenden Auto voraus. Er kam aus einem lachenden, heiteren Gesicht, ein neugierig forschender, gutherziger Blick, und trotzdem fühlte er ihn. Dieser neugierig forschende Blick ging aus von einem kleinen Feldgrauen mit einer winzigen Mütze auf dem Ohr. Er saß, den Gürtel gespickt mit Handgranaten, auf dem Kühler des dahinjagenden Autos, das bis zum Rande gefüllt war mit Soldaten und Matrosen. Es war Hanuschke, in der Tat -- man erinnert sich, der um sein Leben lief, während der General in Stifters Diele Spargel aß -- auch er jagte, der krummbeinige, kleine Hanuschke, mit der roten Narbe zwischen den Augen, auf diesen Donnerwagen durch die Straßen. Er war guter Dinge. Er lebte und konnte es noch nicht fassen. Und weil er lebte, lachte er. Niemand wünschte er etwas Böses -- und dieses graue Gesicht, es war ihm nur so aufgefallen. Aber er erkannte es nicht wieder, es schien ihm nur, als habe er es irgendwo gesehen. Und der General, er hatte diesen kleinen Feldgrauen mit der Narbe zwischen den Augen überhaupt nie erblickt. Doch, was ist das? Fahnen, Plakate, und die Fußgänger treten zurück. Durch die Linden gleitet und schwankt eine Prozession, die alle Blicke auf sich lenkt. Seht! Auf Krücken, auf Stelzfüßen schwingen sie sich daher, Dutzende ohne das rechte Bein, Dutzende ohne das linke Bein, Dutzende ohne Beine. Eine Anzahl wird von Kameraden auf Karren geschoben, sie sind gelähmt. Scharen werden von Hunden geführt, sie sind blind. Sie haben keine Hände, keine Arme, leere Ärmel in die Taschen geschoben. Ihre armseligen Uniformen verbergen gräßliche Verstümmelungen. Seht, seht, ihr Menschen! Sie kriechen wie Insekten dahin, sie kriechen wie Krabben, seitlich, sie humpeln. Ihre Gesichter sind zerschmettert. Sie haben keine Nase, kein Kinn, ein roter Spalt ist der Mund. Ihre Gesichter sind schwarz- und blaugebrannt, sie haben keine Ohren, die Hälse sind verdreht, die Köpfe stehen zur Seite. Seht, seht, ihr Menschen! Fallt in die Knie! Ihre Augenhöhlen sind Löcher, die Lider darüber genäht, weiße Kugeln im roten Fleisch. Treu und achtsam trippeln die Hunde, die sie führen. Seht ihr Menschen, es sind nur Tiere. Auch sie sind auf die Straße gekommen. Was hat man ihnen nicht alles versprochen, in feierlichen Ansprachen, Proklamationen, Erlassen? Hier also sind sie! Die Fußgänger weichen gegen die Häuser zurück und erbleichen. Nur die Feisten, die im Kriege dick wurden, sie empfinden nichts. Der General steht mit dem Hute in der Hand. Wieder kochten die Straßen von Menschen und roten Fahnen. Wieder gerannen sie zuweilen, und es bildeten sich eine Menge Inseln von debattierenden Menschen. Die Novembermänner jagten auf ihren Wagen dahin. Lastautos schoben sich durch das brodelnde Meer der Köpfe, mit Maschinengewehren, roten Flaggen und Rednern, die zur Menge sprachen. Drehorgeln, Feldgraue, die Geige spielten auf einer Zigarrenkiste, blinde Soldaten, die sangen, Soldaten, die tanzten, auf den Händen liefen, wie Akrobaten Stühle in den Zähnen trugen -- und Scharen von Verkäufern in grauen Soldatenmänteln, mit Waren aller Art. Plötzlich aber stoben die Menschen auseinander. Beine eilten, Arme ruderten durch die Luft, Hüte rollten über den Asphalt. Gewehrfeuer knatterte. Ein Maschinengewehr feuerte -- und schon waren die Straßen reingefegt. Nur ein paar verwegene Feldgraue sprangen noch an den Häusern entlang, von Torweg zu Torweg. Lautlos glitt ein graues Panzerauto über den Asphalt. Es huschte die Straßen entlang und verschwand. Und schon wimmelten die Straßen wieder von Menschen, die Drehorgeln leierten wieder, die Verkäufer waren wieder mit ihren Kästen und Schachteln zur Stelle, und die Akrobaten begannen von neuem mit den Stühlen zu arbeiten. Schon bog ein neuer, unübersehbarer Zug von Menschen, Kopf an Kopf, brodelnd von Flaggen und Inschriften, in die Straße ein. * * * * * Aus diesem unübersehbaren Zug löste sich plötzlich ein rostfarbener Havelock, ein steifer Hut. Jemand rief, winkte. »Herr Herbst!« »Ah, Sie sind es?« »Ja, ich! Um Gottes willen --!« »Um Gottes willen? Und Sie rufen, schreien meinen Namen -- als ob wir alte Freunde wären --? Und wie Sie aussehen, du meine Güte!« »Ja, wie ich aussehe!« Herr Herbst schob den steifen Hut aus der Stirn, denn er schwitzte vor Erregung. Sein Gesicht war gerötet, die Bäckchen gedunsen. Eine rote Schleife leuchtete an seinem Havelock. Augenblicklich zerrte ihn Herr Kunze, der schmächtige, semmelblonde junge Mann eifrig abseits. »Helfen Sie mir, um Christi willen!« »Ihnen?« Herr Herbst trat zurück. Kunze nahm den Kneifer ab, putzte ihn aufgeregt und sah sich furchtsam um. Sein Überzieher, sonst säuberlich gebürstet, war bestaubt und verknittert, der grüne Plüschhut voller Schmutz. »Ja, mir! Seien Sie barmherzig! Nichts zu essen seit Tagen, kein Geld, kein Obdach, immer auf der Flucht. Wir sind ja gleich am ersten Tage geplatzt.« »Geplatzt?« »Ja, unsere Dienststelle. Die Fenster zertrümmert, die Schränke zerschlagen, alles verwüstet, die Akten auf die Straße geworfen. Wohin sollen wir uns wenden. Niemand wagt es, sich mit uns einzulassen. Sehen Sie, hier!« »Eine Schramme!« »Ein Schlag über den Kopf! Sie haben mich erkannt, die Gefängnisse sind ja geöffnet worden -- und da haben sie mich erkannt. Sie haben mich mißhandelt und in den Kanal geworfen.« »In den Kanal, hahaha!« »Sie lachen? Ja, über die Brücke, aber ich konnte mich an einem Kahn festhalten -- so saß ich im Wasser, bis sie fort waren. Und gestern, da haben sie mich wieder erkannt, andere, die Stadt wimmelt von ihnen, und verfolgt -- durch ganz Berlin. Ich bin gelaufen, schrecklich, um mein Leben bin ich gelaufen. Ich flehe Sie an, auf den Knien. Helfen Sie mir.« »Ihnen? Hahaha! Die Zeiten haben sich geändert. Die Gerechtigkeit ist wieder in die Welt gekommen. Ein jeder nach seinen Verdiensten.« »Ach, auch Sie hartherzig! Und ich hoffte, Hoffnung erfüllte mich, als ich Sie sah. Ich habe keine Wohnung, kann nirgends bleiben. Ach, Sie ahnen es ja nicht! Wissen Sie, wo ich schon in diesen Nächten geschlafen habe?« Kunze zerrte Herrn Herbst in ein Haustor und flüsterte. »Ist es zu glauben, daß ein Mensch da schläft? Eine barmherzige, alte Frau. Erst morgens konnte ich wieder heraus. Gewöhnlich schlafe ich zwischen Bretterhaufen, klettere über Zäune. Dann kommen plötzlich Hunde -- entsetzlich!« Wieder glitt Kunzes Blick furchtsam über die beiden Soldaten, die hinter dem kleinen Herrn Herbst aufgetaucht waren und ihm überallhin folgten. »Schlimm, sehr schlimm!« sagte Herr Herbst mit einem spöttischen Zwinkern der kleinen entzündeten Augen. »Und _ihn_? Haben Sie _ihn_ schon gesehen?« »Ihn? Wen?« »Nun ihn, den ihr vom Dache -- da, am Anhalter Bahnhof --?« »Wie? Wie? Was --?« »Ja, ich habe ihn gesehen!« »Wie? -- Sie machen mich irrsinnig!« »Ja, gesehen. Nicht er ist es, natürlich nicht. Ihr habt ihn ja getötet. Aber sein Bruder. Ein Jäger! Sieht genau so aus wie er -- ich dachte es im ersten Augenblick. Nur etwas jünger. Und die Dame -- Sie erinnern sich -- _jene_ Dame?« »Natürlich. Wir hatten wenig solch interessante Fälle.« »Ja, auch sie habe ich gesehen. Hier, sehen Sie, dieser Zettel. Hier.« Kunzes Spitzelaugen funkelten. »Sie fuhren zusammen auf einem Auto -- auf einem Auto mit roten Flaggen -- und warfen diese Zettel auf die Straße.« »Gott stehe mir bei --« »_Ihm_ dürfen Sie nicht in die Hände fallen! Auch _ihr_ nicht!« »Helfen Sie mir um Christi willen. Retten Sie mich!« »Hahaha!« »Geben Sie mir Geld, damit ich entfliehen kann.« »Und einmal wollten Sie mich verhaften!« »Ich weiß es!« »Meine Wohnung haben Sie an sich gerissen und entweiht. In eine Irrenanstalt wollten Sie mich bringen lassen -- drohten mir, verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Sagten, ich sei geistesgestört.« Kunze wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Alles Befehl«, stammelte er, und hielt Herrn Herbst am Mantel fest. »Es wurde befohlen, und ich mußte gehorchen. Man hätte Sie ja sofort in ein Irrenhaus gebracht, weil Sie diesem hohen Offizier lästig wurden -- ich aber bürgte für Sie, setzte mich für Sie ein, aus Mitleid . . .« »Und in die Zwangsjacke wollten Sie mich stecken lassen! Ja, jedem wird gemessen werden nach seinen Verdiensten, Gerechtigkeit herrscht wieder in diesem Lande. Ich darf wohl bitten!« »Auf den Knien, Herr Herbst, verehrtester --!« Kunze klammerte sich an den Havelock. Da aber wandte Herbst den Blick auf die beiden Soldaten, die nicht von seiner Seite gewichen waren. Ein Blick nur, aber er genügt! Augenblicklich trat einer der beiden Trabanten vor. »Was will er denn?« fragte eine tiefe, rauhe Stimme. Kunze preßte den Kneifer auf die Nase, lüpfte den grünen Plüschhut, und schnell, schnell verschwand sein dünner Überzieher in der Menge. Schon schwang Herr Herbst wieder den steifen, verschwitzten Hut und schrie, rot vor Erregung: »Hoch! Hoch! -- Nieder! Nieder!« Schon waren er und seine zwei Trabanten wieder mit dem endlosen Zuge verschmolzen, der sich breit durch die Straße wälzte. »Hoch! Hoch! -- Nieder! Nieder!« schrien seine Trabanten. Tag für Tag trotteten sie schwitzend und aufgeregt durch die Straßen. Jedem Zug, einerlei welcher politischen Partei, schlossen sie sich an. Seine beiden Trabanten waren: ein kleiner, stämmiger, etwas ausgewachsener Infanterist, eine Grabentype mit weitem Mantel, Transportarbeiter von Beruf, der einen Konzertflügel auf den breiten Schultern trug, und ein hagerer Artillerist mit schwarzem Schnurrbart, schwarzen Brauen, schwarzen, wirren Haaren und schwarzen Augen, einer kleinen, runden Mütze und einem braunen, gestrickten Wollkittel mit Perlmutterknöpfen. Herbst hatte die beiden auf der Straße gefunden und sie adoptiert, mit einem Wort. Sie waren seine Gäste im »Löwen von Antwerpen«, er ernährte sie, sie tranken, und er bezahlte. Dafür waren sie ihm aber auch blind ergeben. Sie lasen die vergilbten Briefe, die er in seiner Tasche trug -- lasen -- verstanden -- sofort! Sie kannten ja das alles, kamen selbst von da draußen und wußten wie es zuging. Aufmerksam hörten sie zu, wenn er von Robert erzählte -- von dem Sturmangriff am 5. August, und schon am 4. war kein einziger zurückgekommen. Stundenlang hörten sie zu und immer wieder. Die Augen quollen aus ihren Schädeln. Der schwarze Artillerist erhob sich, ergriff die Flasche und schlug damit auf den Tisch. »Sage ein Wort -- ein Wort genügt! Du brauchst nur zu sprechen!« Und er warf lässig ein feststehendes Messer mit Hirschhorngriff auf den Tisch. Auch der stämmige Infanterist erhob sich und schob den breiten Nacken vor. »Du kannst dich verlassen auf uns. Soll es morgen sein?« »Ich werde schon -- wartet nur, Geduld.« Und der hagere, schwarze Artillerist tanzte auf seinen langen Beinen, schwang das Glas und sang mit rauher, tiefer Stimme seinen Trinkspruch: »Licht aus, Messer raus! Haut ihn!« Und nun tranken sie alle drei die Gläser leer. Ja, blind ergeben. Vorläufig aber trotteten sie geduldig in diesem endlosen Zug unbekannter Menschen. »Hoch! Hoch!« schrie Herbst und hob den steifen Hut. »Hoch! Hoch!« schrien die Trabanten und schwangen die Mützen. 7 Schon wird es Nacht. Der Wind pfeift durch die Linden, die Fenster klirren. Qualm schlägt aus den Häusern, die Stadt raucht. Der Wind braust um das düstere Schloß, die Säulen wanken. Die Rosselenker am Portal knicken zusammen unter den Hufen der Rosse. Aber plötzlich wird es still, ganz still, der Wind schweigt, und ein eisiger Luftstrom schiebt sich über die Linden dahin, ein wandernder Block von Eis. Dunkle Wolken fliegen über die Stadt, schwarz, eine hinter der andern -- wie sie jagen! Gespenstisch! Ja, gespenstisch, es sind die Toten, die Gefallenen, die über die Stadt dahinjagen und auf den Wolken stehen. Die Kälte des Grabes fällt aus ihren grauen, vereisten Soldatenmänteln. Denn sie lagen lange in der kalten Erde. Der General erschauert, er zieht frierend den Mantel mit dem blutroten Aufschlag über der Brust zusammen. Er sieht die Toten nicht da oben auf den schwarzen Wolken, aber er fühlt die entsetzliche Kälte, die sie mitbringen. Feuer spritzt vor seinen Füßen, ein Insekt schwirrt zischend an seinem Ohr vorbei. Schüsse knallen. Nein, nicht der Mantel mit den blutroten Aufschlägen, er ist in Zivil, aber er hatte es für Augenblicke -- wie lange? -- vergessen. Aus den finstern Straßenschluchten blasen Feuerfunken, aber der General fürchtet die Kugeln nicht. Er wendet ihnen die Stirn zu, er öffnet die Augen und blickt ihnen entgegen, er bietet ihnen die Brust dar und bleibt sogar stehen. Unbeirrt verfolgt er seinen Weg. Nur die entsetzliche Kälte, die aus den jagenden schwarzen Wolken fällt, erfüllt ihn mit Schaudern. Licht in einer dunkeln Straßenschlucht. Ein totes Pferd liegt auf dem Pflaster. Schatten umdrängen den Kadaver, Soldaten und Weiber mit Messern. Sie zerlegen das Pferd und wickeln blutige Fleischstücke in Zeitungsfetzen und Schürzen. Dort an der Ecke ein Auto mit dem Zeichen des Roten Kreuzes. Eine helle Bahre gleitet durch den Lichtschein. Und wiederum Finsternis, ohne Ende. Die Straßen sind dunkle Katakomben, Riesenschatten tanzen über die verlassenen Plätze, Schrecken lauert in den finstern Haustoren. Manche Straßen sind wie mit Schnee bedeckt. Das sind die Massen von Zetteln und Aufrufen, die täglich auf die Stadt niedergehen. Der Fuß des Generals raschelt in ihnen. Da! Der Schrei eines getroffenen Menschen. War es eine Frau? Ja, eine helle Stimme. Und das Feuer prasselt. Der Widerhall klopft an den Häuserwänden. Der Widerhall klopft im Herzen des Generals. Jede einzelne Kugel trifft ihn ins Herz. Zu Ende! Alles zu Ende! Schon töten sie sich gegenseitig. An den Straßenecken ist ein Plakat angeschlagen: Berlin, halt ein, Dein Tänzer ist der Tod! Ja, zu Ende -- Der Schritt des Generals stockt. Mitten auf dem Trottoir liegt, Arme und Beine von sich gestreckt, in einer Lache von Blut, ein toter Matrose. Rasch geht der General auf die andere Seite. Aber schon wieder erschauert er. Etwas weht feuerrot in der Dunkelheit, etwas fließt schimmernd weiß dahin, blitzschnell. Sein Herz bleibt vor Schrecken stehen. Gespenster? Gespenster in Berlin? Nein, es sind Masken, Vermummte, die eilig die Straße entlang huschen. Tanzmusik und der Lärm eines Balles hinter herabgelassenen Rolläden. Und wiederum Finsternis, Leere, Stille, die Stadt ist tot. Nur dann und wann klatscht ein Schuß. Das Gewehrfeuer prasselt in der Ferne. Plötzlich empfindet der General deutlich, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Er fühlt die Nähe eines Menschen. Ein Schritt wandert hinter ihm! Immer hinter ihm her. Und auch drüben, auf der andern Seite der Straße -- ist es nicht auffallend? -- schlürfen plötzlich Schritte. Zuweilen, wenn die Dunkelheit durch einen Lichtschein erhellt wird, sieht er drüben zwei kleine Gestalten dahinkriechen, die mit den Händen winken. Und der Schritt knirscht hinter seinen Fersen her. Er überquert die Straße, der Schritt folgt ihm, er biegt um die Ecke, auch der Schritt biegt um die Ecke. Da -- nun spürt er den Atem seines Begleiters im Nacken. Eine tiefe, rauhe Stimme raunt dicht an seinem Ohre: »Ich kenne dich!« Der General zuckt zusammen. Er eilt weiter, er wagt nicht zur Seite zu blicken. Und abermals raunt die Stimme: »General Hecht-Babenberg!« Drüben, auf der andern Seite, winken die Arme, winken zwei kleine, bleiche Hände. Der General eilt, aber sein Begleiter eilt mit großen Schritten neben ihm her. Es macht ihm nicht die geringste Mühe mitzukommen. Schon beginnen die zwei Kleinen auf der andern Seite zu laufen. Lauter beginnt die Stimme des Unbekannten zu raunen, und plötzlich zuckt der General zusammen. Die Stimme hat ein furchtbares Wort ausgesprochen, ein schreckliches Wort -- unsägliche Beschimpfung. Nun rufen die auf der andern Seite. Sie winken und schreien: »Komm doch, komm doch!« Da bleibt der Schritt plötzlich hinter ihm zurück. Ein Lachen klingt durch die finstere, menschenleere Straße. Eine rauhe, häßliche Stimme schreit: »Licht aus, Messer raus!« * * * * * Der General hatte keine Angst vor der Kugel, nein. Aber während der Unbekannte ihm folgte, hatte er in der furchtbaren Angst gelebt, daß plötzlich eine Faust nach ihm schlagen könnte. Unausdenkbare Schmach! Nur aus diesem Grunde war er entflohen, aus keinem andern. Wer war es, was wollten sie? Und weshalb dieser furchtbare Schimpfname? Nie, auf Ehre und Gewissen, niemals hatte er von seiner Truppe mehr verlangt, als das Interesse des Vaterlandes unbedingt erforderte! In Schweiß gebadet, völlig außer Atem, kam er wieder in belebtere Gegenden. Ein Eishauch entströmte dem dunkeln Tiergarten. Kein Licht, keine Laterne, nichts. Die Fensterläden der Häuser geschlossen, die Fensterscheiben schwarz. Und schwarze Wolken jagten über die kahlen Wipfeln des Parkes dahin. Ein Auto, besetzt von Schatten, flog die finstere Straße entlang. Unaufhörlich erscholl der warnende Ruf: »Straße frei! Straße frei!« Die dumpfen Detonationen von Handgranaten ertönten drinnen in der Stadt, irgendwo. Nacht ohne Ende, Nacht der Schrecken! Auf der Treppe seines Hauses fuhr der General erschrocken zurück: Beinahe wäre er auf einen Menschen getreten! Wer war hier? Zitternd stand der General. Etwas wie ein großer, massiger Tierkörper schob sich schleifend die Treppe empor. Ein unerklärliches Geräusch, eine Vibration ging von der dunkeln Masse aus, wie wenn jemand vor Kälte zittert. Der General lauschte, dann rieb er zögernd ein Streichholz an. Auf der dunkeln Treppe kauerte ein Soldat mit zwei kurzen Krückstöcken unter den hochgezogenen Schultern. Der Körper des Krüppels wurde unaufhörlich von einem schrecklichen Zittern geschüttelt. Schmutz klebte an seinen Kleidern, seine Beinstumpen waren vollkommen vom Straßenkot durchweicht. Ausdruckslos verschwamm der Blick seiner halbgeschlossenen Augen im erlöschenden Licht des Streichholzes. Der General beugte sich zu dem Krüppel herab. »Was haben Sie -- sind Sie krank?« fragte er. Er fragte nur, um dem zitternden Haufen Fleisch einen Laut, eine Äußerung seines menschlichen Wesens, zu entlocken. Hastig kramte er in seinem Überrock nach Geld, der Gedanke fuhr ihm sogar durch den Kopf, den Soldaten mit sich ins Haus zu nehmen. Der Krüppel stieß Laute aus wie ein Taubstummer, ein Röcheln entstieg seinem krampfhaft geöffneten Mund. »Wo sind Sie verwundet worden, mein Sohn?« fragte der General und beugte sich noch tiefer herab. Auch er, der Krüppel, strömte Kälte aus. »Wo? Sprechen Sie doch. Wo?« Mühsam schüttelte der Krüppel Silben aus dem Mund. »Wo? Ich verstehe nicht.« Aber plötzlich taumelte der General in die Höhe. Er hatte verstanden! Nun zitterte er genau wie der Soldat. Hastig, ohne zu denken, ließ er ein paar Geldscheine fallen und stieß in aller Eile die Türe auf. Aber als er ins Haus treten wollte, fühlte er plötzlich, wie sein rechter Fuß von einer Hand umklammert wurde, die ihn festzuhalten suchte. War der Krüppel gefallen, suchte er Halt, suchte er seinen Dank auszudrücken? Der General stieß die Hand von sich und trat keuchend in die dunkle Diele. »Therese!« Oder, was er sonst rief. Jedenfalls rief er etwas, und seine Stimme klang schrill, wie ein Hilferuf. »Drehen Sie das Licht an, Therese, ich kann den Schalter nicht finden.« Aber augenblicklich wankte der General aus dem Lichtschein. Quatre vents! Quatre vents! Von der Höhe kam er, der da draußen -- Lange Zeit saß der General regungslos in irgendeinem dunkeln Zimmer. Dann klingelte er dreimal. Das bedeutete: so schnell wie möglich servieren. Er hatte seit dem Morgen nichts genossen. Therese beeilte sich. Jakob? Wangel? Wohin? In der ersten Stunde waren sie von ihm gegangen, ebenso wie Schwerdtfeger. Ja, selbst Jakob, dieser biedere Bauernbursche, dessen Augen aufleuchteten, so oft er ihn ansprach. Trotzdem -- in der ersten Stunde, mit einem völlig ungültigen Urlaubsschein, ausgestellt von irgendeinem Soldatenrat. Als Therese eintrat, saß der General an dem großen, runden Speisetisch, in seinem weiten grauen Feldmantel, der bis zur Erde reichte, den Kragen hinaufgestülpt. Er war in sich zusammengesunken. Aber wie sah er aus? Nicht mehr grau -- schneeweiß. Seine Augen starrten. Einer von der Höhe! Quatre vents! Seine starrenden Augen sahen Bündel von roten Leuchtkugeln in die Nacht steigen -- wie damals, in jener Nacht, als er die Höhe verlor. Einer von jenen! Wie war er hierher gekommen? Seine Zähne schlugen aufeinander. »Sehen Sie nach, Therese,« flüsterte der General, und seine Stimme nahm bei jedem Wort eine andere Lage an, »vor der Türe ist ein Soldat. Bringen Sie ihn herein.« Und wieder klapperten die Zähne des Generals. Aber Therese kam zurück. Niemand war auf der Treppe. »Niemand?« Ja, vielleicht hatte er sich getäuscht. Wie? Vielleicht war tatsächlich niemand da draußen gewesen? Also wirklich niemand? -- »Haben Sie geheizt, Therese?« »Ich werde den Arzt rufen, Exzellenz sind krank«, sagte Therese. Der General schwieg und brütete vor sich hin. Erst nach geraumer Weile verstand er, was Therese gesagt hatte. Er drückte auf die Klingel. »Keinen Arzt, Therese. Ich bin vollkommen wohl. Nur müde.« Aber die Gabel entfiel seiner Hand: er schlief am Tische ein. Seine kreidige Wange lag auf dem Kragen des weiten Feldmantels. 8 Die schwarzen Wolken jagten über die finstere Stadt dahin. Ohne Ende, ohne Zahl. Die Toten in ihren vereisten grauen Soldatenmänteln standen darauf. Die Toten und Gefallenen aus den Massengräbern von Verdun und Ypern, von Polen und von Rußland, Serbien, Rumänien, von Mesopotamien, aus den einsamen Friedhöfen der Vogesen und der Champagne, die Toten aus den Argonnen, die Toten von der Somme und die Toten, die aus dem Meere gestiegen waren. Sie jagten dahin, zu Hunderttausenden zusammengedrängt auf den schwarzen Wolken, die in dieser Nacht ganz Deutschland überzogen. Denn in dieser Nacht kehrten die Toten zurück. Horch, sie singen! Hörst du? Ihr Gesang braust! Was singen sie? Unverständlich für die Lebenden ist ihr Gesang. Die Vorhut der heimkehrenden Armee der Toten hat Berlin erreicht, ohne Ende ist ihr Zug, noch haben nicht alle den Rhein überflogen. Es sind Millionen. * * * * * Dahinfegte die Limousine. Sie schnellte über eine Brücke und jagte in eine endlose schnurgerade Straße hinein. Sie bog um eine Ecke -- und ja, dies war nun die Lessingallee. Plötzlich pochte der General wild mit den Knöcheln an die Scheiben und augenblicklich zog Schwerdtfeger die Bremse. Bevor das Auto noch stand, war der General schon aus dem Wagen gesprungen und lief rasch in die Straße hinein. Aber auch der kleine Mann in seinem Havelock eilte, so schnell er konnte, dahin. Zwei, drei Sätze und die wütende Faust des Generals hatte den Havelock erfaßt. »Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie!« Der kleine alte Mann krümmte sich zusammen. »Was wissen Sie von meiner Tochter. Sprechen sie jetzt -- oder, oder --!« Da zerfloß der kleine alte Mann, wie Nebel. Eine Sekunde noch das bläulich-weiße Gesicht, grüne Funken, wo die Augen waren -- fort. So heftig war die Erregung, daß der General auffuhr. Er saß bei Tisch. Allein. Ohne zu denken, griff er wieder nach Messer und Gabel und bemühte sich, kleine Stückchen von dem kalten Fleisch auf seinem Teller abzuschneiden. Er griff nach dem Glas -- aber schon erlahmte wieder die Hand. Kalt, kalt, die Kälte! Es war eisig kalt in diesem Zimmer. Und doch, der Ofen glühte. Er näherte die Hände -- deutlich sah er das Eisen glühen -- aber, wie merkwürdig, keine Wärme. Nun erst, da er mit den langen Nägeln das rote Eisen berührte, spürte er einen Hauch von Erwärmung. Ein eisiger Luftstrom blies ihn an. Sonderbar -- seit jenem Tage hatte es begonnen! Deutlich erinnerte er sich noch, wie das schneeblaue Gesicht durch die Scheiben ins Foyer starrte, an den Briefumschlag sogar, der von häßlicher, unangenehmer grüner Färbung war. Seit jenem Tage war die Unruhe über ihn gekommen. Überall hatte er diesen kleinen geistesgestörten alten Mann gesehen -- vor dem Hause, vor dem Restaurant, ja selbst wenn er einen Blick aus seinem Arbeitszimmer warf, da stand er auf dem Platze. Sogar in der Nacht begegnete er ihm häufig. Ja, er, dieser Unbekannte, hatte den Argwohn in ihm geweckt -- alles war daher gekommen, allein daher! Noch heute, noch heute würde sie, Ruth -- Der Schmerz fraß. In seinem weiten Feldmantel, der nahezu den Boden berührte, schritt er durch die Zimmer. Auf seinem Schreibtisch lag Ruths letzter Brief: -- die dich geliebt hat, Papa, und noch immer liebt . . . Sie hatte ihm unrecht getan. Alles entsprang doch nur der Sorge um sie, der Fürsorge eines Vaters, dessen Pflicht es erheischte -- Kannst du es denn nicht verstehen, mein Mädchen? Verhängnis über Verhängnis. Er, ihn getötet? Wie? Wie? Ihn, den sie liebte? Er? Aber, wie kannst du nur so etwas sagen? Die Stille lauerte. Lauernd und feindselig umstrich ihn die eisige Luft. Der Brief flatterte plötzlich in seiner Hand. Ohne jeden Zweifel, er war nicht allein. Nein, nicht allein! Wieder glitt der lange graue Mantel durch die Zimmer. Er drehte das Licht an. Niemand, natürlich. Aber er fühlte einen Blick auf sich gerichtet und dieser Blick folgte ihm überall hin. Vorsichtig, mit zitternden Fingern, schob er den Vorhang zur Seite, er öffnete das Fenster, leise, und spähte durch einen Spalt der Jalousien hinaus auf die finstere Straße. Da, da -- sein Herz stockte! Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Da stand er -- der kleine Geistesgestörte, in der Tat! Deutlich sah er sein faustgroßes bleiches Gesicht. Die Augen waren auf dieses Fenster, genau auf dieses Fenster, auf ihn gerichtet. Er stand mit zwei Gestalten, zwei Männern, einem großen und einem untersetzten. Nun näherte sich der Große der Haustüre, aber der alte Mann rief ihn zurück. Sie sprachen: berieten, deuteten auf das Fenster, auf ihn! Dann gingen sie, zögernd, und die Dunkelheit verschlang sie augenblicklich. Leise, vorsichtig schloß der General wieder Fenster und Vorhänge. Noch eisiger war die Luft geworden. Kalter Nebel war durch das Fenster ins Zimmer gekrochen. Ja, ohne Zweifel, die ganze Wohnung war nunmehr von Nebel erfüllt. Die Wände rauchten. Sie waren grüne geschliffene Eisblöcke, die dampften. Der Brief Ruths war auf den Boden gefallen und keuchend hob der General ihn auf. Er war geneigt, über die politischen Verirrungen eines jungen und urteilslosen Mädchens hinwegzusehen. Er war geneigt, gewisse Vorfälle zu vergessen -- Irrungen eines jungen und leidenschaftlichen Herzens. Er war geneigt, Zugeständnisse zu machen, völlige Freiheit zuzusichern. Forderte sie es, so war er zu jeder Genugtuung bereit. Zu jeder! Aber sie sollte zurückkommen! Ja, zurückkommen. Weshalb kam sie nicht? Er war alt, sein Leben vernichtet, zermürbt, untergraben, zerstört, ohne Sinn, ohne Hoffnung, ohne jede Hoffnung! Er besaß nur noch sie, sie allein -- sonst nichts mehr. Und er liebte sie! Ja, Ruth, es ist die Wahrheit, ich liebe dich! Das alles wollte er ihr sagen, sobald er sie traf. Und er würde sie finden, ohne jeden Zweifel! Morgen, in aller Frühe schon, würde er sich wieder auf den Weg machen. Sie war ja hier, hier in der Stadt, Wunderlich hatte sie schon zweimal gesehen. Ja, all das, all das. Und er würde sie _bitten_ -- nie in seinem Leben hatte er einen Menschen um etwas gebeten . . . Forderte sie es, von ihrem alten Vater -- bestand sie darauf -- nun wohl, so war er bereit, sich zu -- _demütigen_ . . . Plötzlich taumelte der General, so stark, daß er in einen Sessel fiel. Er griff nach der Brust. Sein Herz --? Was war es --? In diesem Augenblick aber schrillte die Klingel, zweimal, dreimal, lang, herausfordernd -- die Haustürklingel. Schritte kamen durch den Korridor. Aber schon stand der General unter der Türe. »Öffnen Sie nicht!« rief er, zitternd in seinem weiten Mantel. Dumpf grollte es in der Ferne -- ein Geschütz hatte in der Stadt gefeuert. »Ich werde selbst -- gehen Sie ruhig schlafen«, stammelte der General und Therese schlich wieder in ihre Küche zurück. Immer noch schmerzte das Herz in der Brust. Allmählich erst hörte es auf zu zucken. Nun erst ging der General zur Haustüre und bot seine breite Brust der Finsternis dar. Niemand. Aber dort drüben, im Park, schlichen da nicht Gestalten? Schüsse klatschten, und wieder feuerte ein Geschütz in der Stadt. »Sie zerfleischen sich -- wie Wölfe«, dachte der General. Und laut rief er in die Dunkelheit hinein: »Ist jemand da?« »Hahaha!« lachte es aus der Finsternis. »_Hier bin ich! Was wollt ihr von mir?_« »Hahaha!« Ganz fern. Niemand. Er verschloß die Türe. * * * * * Ein Schritt raste die dunkle Straße entlang. Nein, nicht ein Schritt, ein Rudel von Schritten. Hinter dem einen rasenden Schritt her jagte eine Meute klappender Schritte. Geschrei. Da setzte der Schatten eines schmächtigen Menschen über die Straße und verschwand im Gebüsch des Parkes. Ein Rudel von Schatten setzte hinter ihm her. »Haltet ihn, haltet ihn, den Spitzel!« Die Stimmen verloren sich. Kunze keuchte. Eine Sekunde noch und er wäre zusammengestürzt. Meilenweit hatten sie ihn gejagt und alle Wachtposten hatten auf ihn geschossen. In Schweiß gebadet warf er sich auf den Boden. Da begann der ganze Park wie ein Hammerwerk zu pochen. Lob und Dank dem Herrn, sie hatten seine Spur verloren -- ihre Stimmen klangen ferner und ferner. Ein Schrei -- vielleicht hatten sie einen andern niedergeschlagen? Noch keuchte die Brust, und schon begann Kunze wieder zu laufen. Durch den ganzen finstern Tiergarten eilte er. Furchtsam mied er Wege, ob sie breit oder schmal waren. Endlich kam er in eine Gegend des Parkes, die Sicherheit verbürgte. Es war dicht hinter dem Zoologischen Garten. Eifrig spähte er in die dunkeln Baumwipfel empor -- ja, hier, dieser war der richtige. Ein einladender Ast, nicht allzu hoch über der Erde, aber doch hoch genug, gerade was er suchte. Hinauf, schon war der Strick festgemacht, die Schlinge gebunden. So. Und nun rasch! Keine Stunde länger war dieses Leben zu ertragen -- ja, schade, er hatte nicht einige Autos zur Verfügung, um über die Grenze fahren zu können -- Nur noch eine Sekunde, bitte, bis er Atem geschöpft hatte -- und dann: hinab! In der letzten Nacht hatte er in einer Kanalisationsröhre geschlafen; in der Lindenstraße, vorgestern in einer Sandkiste beim Halleschen Tor. Einmal hatten sie ihn schon gefangengenommen -- nein, nein. Schluß! Eine Sekunde nur -- und dann: hinab! Die Schlinge um den Hals saß er da, dampfte und keuchte -- zu seinem Schrecken gewahrte er jetzt, daß er sich ganz in der Nahe eines Weges befand. Dunkel und schweigend lag der Tiergarten. Eigentlich, bei rechtem Licht besehen, ein Park für Selbstmörder, nicht wahr? Eine rührende Vorsorge der Stadtverwaltung! Jede Nacht erschoß sich hier jemand, erhängte sich irgendeiner -- fast gab es keinen unbesetzten Baum mehr. In der Ferne, aus der dunkeln Stadt prasselte Gewehrfeuer, und dann und wann dröhnte ein Kanonenschuß. Sie kämpften. Es war nicht gut, ihnen gerade jetzt in die Hände zu fallen . . . Schwarze, gespenstische Wolken jagten über den kahlen Baumwipfeln dahin. Das welke Laub raschelte. Zuweilen hörte er auf seinem Ast auch Stimmen und Gelächter bald näher, bald ferner -- und Gesang. Gesang. Dann wiederum Schüsse. Und sonderbare Laute, Miauen und Bellen, drangen aus dem Zoologischen Garten. So also sollte er enden! Was würde sein Vater, der Pastor sagen? Ein _Selbstmörder_ in der Familie! Schande, Schmach -- Heimsuchung des allmächtigen Vaters im Himmel! -- Luxus, schöne Frauen -- und der Ruhm? Es war nichts damit geworden, nein. Gerade als der Krieg ausbrach wollte er zur Bühne gehen. Hamlet! Den ganzen Hamlet kannte er auswendig. »Sein oder Nichtsein --« flüsterte er und hob die Arme. Beinahe wäre er von seinem Ast gefallen. Dahinwandeln im Licht der Rampe, bewundert, umrauscht vom Beifall -- Briefe schöner Mädchen und Frauen -- alles nichts. Und nun -- das Seitenstechen hatte aufgehört -- und nun . . . Da aber hörte er Schritte knirschen. Er erstarrte vor Entsetzen. Kamen sie wieder? Weshalb hatte er auch solange gezögert? Zwei Schatten wanderten über den Weg nebenan. Plötzlich bogen sie in die Büsche ein. Sie schlichen näher, immer näher. Ja, sie kamen zu ihm, beim Himmel. Seine Haare sträubten sich. Er wagte nicht mehr zu atmen. Ein Mann und eine Frau, sie lagerten sich unter seinem Baum. Etwas Weißes schimmerte, Flüstern, Küsse, Lachen, Geplauder -- leise Schreie -- eine volle Stunde mußte er ohne jede Bewegung sitzen. Endlich gingen sie wieder. Nun aber wollte er keine Minute mehr versäumen! Die Dunkelheit begann zu sprühen. Augen öffneten sich in der Finsternis, erschrockene, entsetzte Augen -- ja zumeist entsetzte -- wenn die Hand des Gesetzes ausholte! Auch die Augen jenes jungen Mannes, der auf dem Straßenpflaster lag, noch etwas atmete und rief: Alle Völker sind Brüder! Ja, auch diese Augen . . . Kunze weinte. Und plötzlich sprang er, ohne Überlegung, -- ein scharfer Schmerz schnitt in seinen Hals: zu Ende, vorbei -- Aber einen Augenblick später saß Kunze im feuchten Gras. Er konnte es nicht fassen, anfangs -- der Strick war gerissen. Weinend lief er durch den dunkeln Park, den Strick um den Hals. 9 Der General steht über die Karte gebeugt, entschlossen und eisig seine Miene. Lautlos tritt der Chef des Stabes ins Zimmer. Schon beginnen die Autos und Motorräder der Befehlsüberbringer zu dröhnen und zu rasseln. Der Boden zittert vom Feuer, dicht nebenan schlagen die Geschütze, als würden Türen aus Erz ins Schloß geschleudert. Alles ging gut! Der Gegner, sein Gegner da drüben, dieser Halunke mit dem Käppi und dem weißen Spitzbart, hatte ihm die Höhe durch Überraschung genommen, mitten in der Nacht. Aber er hatte sich verrechnet! Schon taumelten die Soldaten von ihren feuchten Strohlagern, schon rollten die Autobusse, die Hölle wollte er ihm bereiten. Bevor die Sonne aufging, war die Höhe wieder in seiner Hand. Es ging vorzüglich, schon hatten die Jäger das Labyrinth -- das Hauptfort der Höhe -- wieder seinen Zähnen entrissen. Aber irgend etwas war doch auffallend -- plötzlich schienen es weniger Offiziere zu sein. Im Vorzimmer war überhaupt niemand. In der Schreibstube arbeiteten im ganzen zwei Leute. Doch auffallend! Wo ist der Chef des Stabes? Der General klingelte. Niemand kam. Er stieß ungehalten die Tür auf: niemand! Wieder ging er in das Schreibzimmer, der Telegraph tickte -- aber niemand! Die Kanonen schlugen weniger laut. Wo waren sie hin, das Gewimmel von Offizieren, Adjutanten, Schreibern, Ordonnanzen? Das ganze Schloß mit seinen hundert Sälen war leer und finster. Im Schein des. Geschützfeuers suchte er seinen Weg. Bilder, Möbel, Spiegel, die rot aufglühten. Kein Mensch! Er war allein. Bestürzt eilte er vor das Portal. Kälte, Nacht. Der Boden gefroren, ein eisiger Wind, die Bäume kahl und spitz. Ringsum, der ganze Horizont ein Feuermeer. Aber kein Lärm! Über die Parkmauer fuhr von Zeit zu Zeit ein Feuerbalken. Die Haubitzen standen dahinter, richtig. Der General eilte. Eben schwankte in der Dunkelheit ein Rohr, Glut blies in die Nacht -- aber kein Mensch und kein Laut! Der General strich entsetzt um das Geschütz -- keine Seele -- was war das --? Wieder taumelte das Rohr, und im Schein des Abschusses sah der General das große dunkle Schloß zusammenstürzen, das Dach stürzte, die Säulen, das Portal -- aber kein Laut. Entsetzen schüttelte ihn. Er schrie auf. Da erwachte er. Seine Augen wanderten über die Wände. Erst nach geraumer Zeit fand er sich zurecht. Er saß in seinem Arbeitszimmer, in seinem Sessel, genau wie vor wenigen Minuten. Sonderbar, die Uhren gingen, die Pendel schwangen, aber er hörte sie nicht mehr ticken. Seine Lider waren schwer wie Blei, die Glieder wie gelähmt. Was geschah mit ihm? Müde, müde. »Ich bin müde«, sagte er mit schwerer Zunge. »Ich bin sehr, sehr müde!« Er wollte aufstehen, aber er blieb dennoch sitzen. Vor seinen Füßen lag ein Schreibheft, ein dünnes beschmutztes Notizheft. Ach, ja, es waren die letzten Aufzeichnungen Kurts, seines ältesten Sohnes -- gefallen bei Comble in der Sommeschlacht, ruhmvoller Verteidiger der Riegelstellung. Nun erinnert er sich: er hatte es aus dem Geheimfach genommen und wieder gelesen -- wie in vielen, vielen einsamen Nächten. Feuer, Entbehrungen, Schrecken, Tod . . . »Und alles umsonst?« flüsterte der General und schüttelte fassungslos den Kopf. »Alles umsonst!« »Wie, wie, wie?« »Ein Volk von Bettlern!?« »Ein Volk von Sklaven!?« »Ausgelöscht von der Erde, in den Schmutz getreten!« »Alles, alles umsonst!« »Ach!« Der General stöhnte. Er schlug die weißen Hände vor das weiße Gesicht. Er erhob sich. Aber die Beine trugen den schweren Körper nicht mehr. Er sank wieder in den Sessel zurück. Die bleischweren Lider fielen herab -- Bilder zogen vor seinen Augen. Und doch war er wach, träumte er nicht. Deutlich erinnerte er sich, daß er soeben die Aufzeichnungen Kurts gelesen hatte. Das Schreibheft lag vor ihm auf dem Boden. Nun also stieg er mit dem kleinen alten Mann, dem zudringlichen, der sich nicht abweisen ließ, die Höhe hinan. Er hatte seine Hand ergriffen, und sie gingen beide bergan -- und doch wußte er, daß er in seinem Arbeitszimmer saß! »Sie wollen also durchaus hinauf, haben keine Furcht?« »Nein, keine Furcht.« Aber die Höhe war nicht dunkel, obschon es mitten in der Nacht war, sie war matt erhellt. Nicht leblos und starr war sie -- sie wimmelte von Menschen. Scharen standen hier, Mann an Mann, in ihren grauen Mänteln, die ganze Kuppe war besetzt von ihnen. Ein Wall von grauen Mänteln links und rechts. Tausende und aber Tausende, alle bleich, fahl, leichenfarben. »Herbst, nicht wahr?« »Ja, Herbst.« »Und wie war doch der Vorname?« Und laut schrie er: »Der Jäger Robert Herbst vortreten!« »Hier!« »Hier! -- Hier! -- Hier --!« Ringsum, überall schrien die rauhen Soldatenstimmen: Hier, hier! Alle --! Ja, sonderbar -- so deutlich hörte er die Feldgrauen rufen, und doch wußte er genau, daß er in seinem Sessel saß. Das weiße Gesicht des Generals ist auf die eisige Hand herabgesunken. Seine Augen sind ohne Blick. Ja, eigentümliche Bilder ziehen vor seinen blicklosen Augen, fließen, unaufhörlich, ohne Ende -- eigentümliche Bilder . . . Plötzlich greifen die weißen Hände des Generals wild in die Luft, und schon steht er aufrecht mitten im Zimmer. Ein Gesicht ist erschienen: _das Gesicht einer weinenden Frau_ . . . Seine hellen, großen Augen blenden. Deutlich unterscheidet er wieder die Gegenstände im Zimmer. Deutlich sieht er wieder die dunkeln Gemälde an der Wand -- jedes einzelne. Offiziere alle, Militärs, in Uniformen, mit Ordenssternen geschmückt, den Degen an der Seite, alle die gleichen breiten Gesichter, soliden Brustkörbe: alle Hecht-Babenbergs. Und jener Einarmige, über der Türe, das ist Jochen Friedrich Wilhelm Ernst Hecht-Babenberg, der nach dem Dreißigjährigen Kriege das Stammgut erwarb und den Wahlspruch des Geschlechts prägte: Lorbeer und Land! Verschwunden ist plötzlich alle Müdigkeit! Der General wankt in seinem weiten Feldmantel durch die Räume, wankt, schwankt, taumelt, aber er fühlt es nicht. Sein Mantel weht. Oft muß er sich mit den Händen an der Wand stützen. Aber er fühlt es nicht. Für ihn gibt es keine Wände mehr. Die Wände sind verschwunden, er blickt, weit, weit, unendlich weit! Er sieht -- oh, ungeheures Schauspiel: die Welt in Flammen! Ja, die Welt in Flammen! Europa, Asien, die Reiche der Mongolen, Afrika, die Reiche der schwarzen Völker, Amerika, alles in Flammen! Und durch Rauch und Flammen kriechen sie: sieh! Ja, sie sind es! Nun sind sie Wirklichkeit geworden! Riesenhaft, Städte aus Stahl, Riesenkreuzer kriechen durch den Rauch der brennenden Welt. Sie starren vor Geschützen, sie werfen Flammen, bis hinter den Horizont schleudern die Pumpen das brennende Öl. Ihre Schuppenräder zermalmen Städte und zertreten Ströme. Ringsum funkelt der Horizont wie schwarze Kohle. Ein brennender Kontinent schmilzt ins Meer. So! So! So! Ja, das waren sie! Aber nun kam sie selbst, die Armee, unendlich wie die Wellen des Meeres. Regiment an Regiment, die Waffen klirren, so ziehen sie an ihm vorüber. Fester hüllt er sich in den Mantel. Eisig pfeift der Wind! Die Luft ist gefroren, Eis, schon klafften Spalten in der Luft, wie in Gletschern, aber die Armee marschiert. Ihr Schritt donnert. Da, da -- dort! Die Stadt! Dunkel, finster, qualmend. Und deutlich sind die roten Flaggen zu sehen, die über der finsteren, qualmenden Stadt wehen. Ganz deutlich! Frech flattern die Fahnen der Rebellen. Der General hebt die Hand -- Angriff! -- und die Armee, unendlich, unübersehbar, wälzt sich der qualmenden Stadt entgegen. Eisig aber, entsetzlich eisig, scharf wie Gift bläst der Wind, und dichter, immer dichter, hüllt der General sich in den Mantel. Schon zerfrißt die Kälte den Stoff, Stücke lösen sich. Schon zerfrißt die Kälte die Haut, die sich aufrollt, schon zerfrißt die Kälte die Lungen . . . 10 Niki sang sein Morgenlied, aber der General erhob sich nicht. Eingehüllt in seinen grauen Feldmantel lag er da. Seine Augen standen offen -- was sahen sie? * * * * * Endlos bewegt sich der schwarze Strom des Volkes dahin, langsam, die roten Fahnen wogen. Die Musikkapellen spielen Trauerweisen, Bataillone von Soldaten, Bataillone von Matrosen. Berge von Blumen. Unter diesen Bergen von Blumen liegen die Opfer der Freiheitskämpfe. Zur gleichen Stunde setzte sich der mit schwarzen Tüchern behangene Trauerwagen mit dem Sarge des Generals in Bewegung. Hauptmann Wunderlich, in einem einfachen Soldatenmantel, an seinen Krücken humpelnd, gab ihm das Geleite zum Bahnhof. Niemand sonst. Nein, niemand. Mitten in der Stadt gab es einen Aufenthalt. Der Wagen mit dem Sarge des Generals war dem großen Trauerzug des Volkes begegnet, der die Stadt überschwemmte. Unaufhörlich wälzt sich der dunkle Trauerzug dahin. Kaum ist eine der ungezählten Kapellen außer Hörweite, so wird schon die folgende vernehmbar. Stunden vergehen. Wunderlich setzt sich mit seinen Krücken auf die Straße. Ja, endlos, endlos, in Wahrheit! Ein Meer von Menschen wälzt sich vorüber. Wogen von Blumen über dem wallenden Menschenmeer. Gleichmäßig, ohne jede Eile, wandert der Schritt der Hunderttausend dahin, die Stadt beginnt zu dröhnen, zu donnern -- Hoch über dem Strom der Köpfe aber zieht Ackermanns Geist dahin! »Mein Volk, meine Liebe und meine Sehnsucht fliegen vor dir her! Wirst du auserwählt und berufen sein unter den Völkern der Erde? Sieh, wie sie funkeln am Firmament des Gedankens, deine großen Geister, sie blicken auf dich! Auf, auf! Auf den Weg . . .« Endlich wurde die Straße frei. Der mit schwarzen Tüchern behangene Wagen mit dem Sarge des Generals setzte sich wieder in Bewegung, und Wunderlich nahm seine Krücken und humpelte hinter ihm her. Schon dunkelte es, schon sanken die finstern Nebel über die Straßen. Schon begann das Gewehrfeuer wieder zu knattern in der von Finsternis erfüllten Stadt. Werke von Bernhard Kellermann Yester und Li Roman / 142. Auflage Ingeborg Roman / 100. Auflage Der Tor Roman / 46. Auflage Das Meer Roman / 76. Auflage Der Tunnel Roman / 217. Auflage Der Krieg im Westen Kriegsberichte / 20. Auflage Buchdruckerei Julius Klinkhardt in Leipzig Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher): [S. 19]: ... Tages stand sie ohne einen Pfennig da -- vis-a-vis de rien! ... ... Tages stand sie ohne einen Pfennig da -- vis-à-vis de rien! ... [S. 38]: ... das Reich Karls des Großen wieder errichten. ... ... das Reich Karls des Großen wieder errichten.« ... [S. 50]: ... Während der Tango kollerte, gurrte, kleine wolllüstige ... ... Während der Tango kollerte, gurrte, kleine wollüstige ... [S. 65]: ... auszudenken. -- ... ... auszudenken. --« ... [S. 95]: ... »Ja, eine hübsche Lage, Herr -- Herbst, nicht wahr? ... ... »Ja, eine hübsche Lage, Herr -- Herbst, nicht wahr?« ... [S. 143]: ... nicht. Hähnleins alte Litanei -- die Litanei des Elend ... ... nicht. Hähnleins alte Litanei -- die Litanei des Elends ... [S. 179]: ... der Hand, vor seinem Herrgott treten mußte. ... ... der Hand, vor seinen Herrgott treten mußte. ... [S. 188]: ... diese erschreckend realistische Aufnahme Besuchen zu zeigen. ... ... diese erschreckend realistische Aufnahme Besuchern zu zeigen. ... [S. 208]: ... Haremsdamen, Odolisken in Seide, Tüll, Schleiern, ... ... Haremsdamen, Odalisken in Seide, Tüll, Schleiern, ... [S. 328]: ... es war ihm unmöglich gewesen, den bedingslosen Glauben ... ... es war ihm unmöglich gewesen, den bedingungslosen Glauben ... [S. 366]: ... für den Kognak! Es war ein Freude. Wir hatten zwei ... ... für den Kognak! Es war eine Freude. Wir hatten zwei ... [S. 427]: ... schmilzen. Ein paar große Wachsperlen rinnen über die ... ... schmelzen. Ein paar große Wachsperlen rinnen über die ... [S. 434]: ... sich, der Tritt der Hunterttausend, unter dem das ... ... sich, der Tritt der Hunderttausend, unter dem das ... [S. 448]: ... Ihre armselige Uniformen verbergen gräßliche ... ... Ihre armseligen Uniformen verbergen gräßliche ... [S. 460]: ... Sie jagten dahin, zu Hunderttausenden zusammengegedrängt ... ... Sie jagten dahin, zu Hunderttausenden zusammengedrängt ... [S. 472]: ... spielen Trauerweisen, Bataillone von Soldaten, Battaillone ... ... spielen Trauerweisen, Bataillone von Soldaten, Bataillone ... End of the Project Gutenberg EBook of Der 9. November, by Bernhard Kellermann *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER 9. NOVEMBER *** ***** This file should be named 43333-8.txt or 43333-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/3/3/3/43333/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. 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Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director [email protected] Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.