Der 9. November: Roman

By Bernhard Kellermann

The Project Gutenberg EBook of Der 9. November, by Bernhard Kellermann

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Title: Der 9. November

Author: Bernhard Kellermann

Release Date: July 28, 2013 [EBook #43333]
[Last updated: March 2, 2016]

Language: German


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Produced by Jens Sadowski








                               Der 9. November


                                    Roman
                                     von
                              Bernhard Kellermann







                                   1922
                         S. Fischer / Verlag / Berlin




                            42. bis 51. Auflage
          Alle Rechte vorbehalten, besonders das der Übersetzung
              Copyright 1920 by S. Fischer, Verlag, Berlin






Erster Teil




Erstes Buch


1

Einige Ordonnanzen, die die Treppe emporeilten, blieben plötzlich wie
angewurzelt stehen, ein junger ordenglitzernder Hauptmann mit rosigen
Wangen, eben im Begriff sich zu schneuzen, verbarg in äußerster Hast das
Taschentuch, und nur einem Drillichkittel gelang es noch im letzten
Augenblick, in die Portierloge zu entkommen: oben auf der Treppe
leuchtete der hellrote Mantelaufschlag eines Generals.

Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen,
die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General
v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe
zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten
ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit
den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung.

Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz
Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine
Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm
zurück.

In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte
dem General einen Brief.

»Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!«

Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des
Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches,
giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch
zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine
Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief
von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn
zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich --

Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten
Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte
überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem
gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr -- er faltete
den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche.

»Wer hat den Brief --?«

»Ein Herr, ein älterer Mann -- soeben --«, stammelte der Portier und
schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen.

Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und
Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie
Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt,
daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange
auf ihn eingeredet -- sein einziger Sohn -- eine Audienz, hm -- sogar
eine Zigarre -- und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig
adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden.

»Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er
ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.«

»Öfter hier gewesen?«

»Ja, schon einigemal -- und -- ah, ah: da ist er ja -- an der Türe!«
rief der Portier plötzlich erleichtert aus.

Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer
Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert,
vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine
faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen.

Der General drehte den Kopf -- aber sofort prallte das kleine blaue
Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock
verschwanden in der tiefblauen Dämmerung.

»Da -- nun läuft er.« Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und
warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. »Und mir
macht er Scherereien. So sind sie!«

Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen
hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der
Motor der grauen Limousine.

Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen
Bückling, und die Limousine flog dahin.

                   *       *       *       *       *

Der General vergrub das Kinn in den Pelz.

»Dieser Schurke!« dachte er und das Steingesicht zitterte. »Aber es
sieht ihm ähnlich!«

Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf -- hier im dunkeln Wagen, wo
aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen
öffnen -- es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen.

An der Ecke des großen roten Amtsgebäudes stand der kleine ältere Herr
im Havelock und zog den steifen Hut, als der Wagen des Generals
vorüberjagte. Sein Gesicht, blau wie Schnee, leuchtete, und auch seine
Glatze leuchtete blau.

Tiefblau und glänzend wie Stahl sank die Dämmerung des nassen Wintertags
über Berlin. Die Scheiben des Autos glänzten, irgend etwas glitzerte
hoheitsvoll im Innern --. Da verschlang eine stickige Rauchwolke den
Wagen. Augenblicklich aber betrat der Mann im Havelock den Fahrdamm und
folgte dem Auto des Generals mit kleinen eiligen Schritten, als ob er es
einholen wolle.

Die Limousine flog durch die dämmerigen Straßen und überspülte die
Fußgänger mit einer Welle von Schneewasser und Schmutz. In dem
Luftwirbel zwischen den hinterm Pneus tanzten schmutzige welke Blätter,
die aus dem Tiergarten herübergeweht worden waren, und ein
Zeitungsblatt, das ein Passant, in der Eile sein Leben in Sicherheit zu
bringen, verlor, rollte rasend hinterher. Bei den Kurven pflügten die
Hinterreifen breite Schlittenspuren in den klebrigen Schmutz. Die Hupe
dröhnte, die Marspfeife trillerte. Achtung!

Die flüchtenden Fußgänger erblickten nichts als einen Pelz, eine Mütze
und, wenn sie Glück hatten, das leuchtende Rot des Mantelaufschlags. Ein
General! Einer von jenen Auserwählten, die die Schlachten schlagen, von
denen die Heeresberichte melden. Die Verwünschungen erstarben auf den
Lippen. Eine Ehre, sozusagen eine Ehre, beinahe vom Auto eines Generals
überfahren worden zu sein!

Ecke Wilhelmstraße kroch ein Krüppel in Feldgrau durch den
Straßenschmutz, und die Limousine hätte ihn beinahe in Stücke gerissen.
Dieser Krüppel schleppte sich an zwei niedrigen Krücken dahin. Sein
Rückgrat war bis zur Erde gekrümmt und das zwischen den Krücken hängende
Gesicht streifte nahezu den Schmutz der Straße. Er bewegte sich nur
langsam vorwärts, indem er Krückstock vor Krückstock setzte, er ging auf
den Knien und schleifte die verstümmelten Fußstumpen hinter sich her.
Wie ein Hund, dem man die Sehnen der Hinterbeine durchschnitten, schob
er sich dahin. Während er aber vorwärts kroch, wurde sein ganzer Körper
von einem ununterbrochen entsetzenerregenden Zittern geschüttelt.

»Sieh dich vor!« schrie der Chauffeur und bog in der letzten Sekunde
aus.

Der Kopf des Krüppels schnellte zwischen die Schultern zurück, und die
mit schweren Nägeln beschlagenen Pneus der Limousine überspülten ihn mit
einer Woge von Schmutz. Er blieb auf schwankenden Krückstöcken mitten in
der Wilhelmstraße zurück, und als es ihm gelungen war, das von ewigen
Zuckungen geschüttelte Gesicht zu heben, bog die graue Limousine bereits
in die Linden ein.

Eine Flut von hüpfenden Regenschirmen, blendende Pfützen, zwei
stahlblaue Omnibusschimmel, ein Schutzmann und wieder eine Flut von
hüpfenden Regenschirmen. Eine Stockung. Der Wagen zitterte von den
wütenden Schlägen des gedrosselten Motors.

Die Augen des Generals glitten über die hüpfenden Regenschirme dahin,
über die eilenden Schattenwesen mit blauen Gesichtern und blauen Händen
-- gelangweilt, gleichgültig, ohne Anteilnahme. Obwohl nur getrennt von
diesen Wesen durch eine Glasscheibe, waren sie für den General
weltenweit entfernt, weltenweit -- diese Menschen mit Regenschirmen,
Gummischuhen, Mänteln, Bärten, Brillen . . . Sie erschienen
gewissermaßen unwirklich! Sie waren Chaos, Masse -- gärend von
sonderbaren, eigenwilligen Gedanken und unnützen, gefährlichen Trieben.
Sinnlos ihr Tun, unverständlich. Ohne Ideale, hohe Ziele, Hunger,
Sinnendurst, Geld -- ohne Zweck und Sinn. Unverständlich. Nichts als
rohe Masse, die die Berufenen willkürlich formten, das große Reservoir,
aus dem die Erkorenen schöpften nach ihrem Gutdünken.

Die Welt des Generals war bevölkert von Wesen, die in Uniformen
gekleidet waren und mit einer Salve ins Grab gelegt wurden. Diese Wesen
bewegten sich nach bestimmten unverrückbaren Gesetzen. Sie kamen in
breiten langen Kolonnen einher wie die Brandung des Meeres, oder sie
standen still in Reih und Glied, zu Tausenden gestaffelt, wie aus Stein.
Ein Gebirge. Sie waren ohne eigenes Leben, ohne eigene Gedanken, ohne
Namen, ohne Gesichter, ohne Seele, von wenigen Auserwählten in Bewegung
gesetzt und mit Leben und Geist erfüllt. Sie waren mit einem Wort
Soldaten, Werkzeug in der Hand der Starken dieser Erde, die das Rad der
Weltgeschichte bewegten. Zuweilen fluteten unübersehbare Heerscharen,
alle im gleichen Schritt, durch seinen Kopf. Armeekorps, die wie ein
Bataillon in fehlerloser Geschlossenheit schwenkten, nach rechts, nach
links, um zu erstarren, wenn die Gedanken des Generals es wollten.
Zuweilen sah der General die ganze Erde davon erfüllt. Ungeheure
Menschenwellen wälzten sich quer durch Europa und ergossen sich in der
Breite des Urals in die endlosen Steppen Sibiriens. Eine Blutwelle in
den Gehirnwindungen des Generals ließ sie auferstehen und versinken
. . .

Weiter! Die Gänge krachten, und wieder flog die Limousine dahin.
Hagelkörner prasselten gegen die Scheiben.

                   *       *       *       *       *

Dieser Schurke! dachte der General und rückte sich in der Ecke des
wiegenden Wagens zurecht.

Durch einen Zufall -- übrigens einen merkwürdigen, fast lächerlichen
Zufall -- hatte er heute erfahren, daß eine Vermutung, die er schon seit
langer Zeit hegte, begründet war. Jener -- nun eben jener »Schurke«, wie
er ihn in Gedanken nannte -- der in der Umgebung der höchsten
Persönlichkeiten weilte, das Ohr der allerhöchsten Persönlichkeiten
besaß, jener Schurke hatte ihn auf das »tote Geleise« geschoben. Höchst
einfach! Und so erklärte sich alles, ja.

Vor einem halben Jahr etwa hatte man dem Generalleutnant v.
Hecht-Babenberg, achtundfünfzig Jahre alt, plötzlich, ohne jede
Begründung, ohne jede Warnung, sein Frontkommando genommen und ihn zur
Bureauarbeit nach Berlin abkommandiert -- während draußen, wie er zu
sagen pflegte, die Kanonen Europa in Fetzen schossen und eine neue Welt
aus dem Blutmeer emporstieg.

Unerklärlich, unfaßbar.

Jüngere als er machten nun -- auch das ist ein Ausdruck des Generals --
Weltgeschichte. Unbekannte, aus unbekannten Geschlechtern stiegen in die
Höhe. Es war die Zeit, um nicht zu sagen, Konjunktur, in die Höhe zu
steigen. Und wie viele unfähige Narren kannte er (der General liebte
starke Ausdrücke), Narren, die nicht imstande waren, ein Regiment durch
das Brandenburger Tor zu dirigieren, und die heute, gestützt auf
ausgesuchte Stäbe, Armeekorps führten. Er konnte, wenn man es wünschte,
ihre Namen nennen! Erst vor kurzem hatte einer seiner Bekannten, seiner
früheren Bekannten, besser gesagt, dreihundert Kanonen verloren -- um
daraufhin Gouverneur eines besetzten Landes zu werden. Es kam nur darauf
an, gute Freunde zu haben. Das war das ganze Geheimnis, nichts sonst. Er
hatte gegen die Russen eine Division geführt vor -- wie lange war es
doch her? -- vor drei Jahren und sich das persönliche Lob seines
Allerhöchsten Kriegsherrn erworben. Im Westen dagegen hatten seine
Ansichten mit denen der Obersten Führung nicht immer übereingestimmt.
Bei einem plötzlichen Angriff der Franzosen hatte er die Ansicht
vertreten, zu halten, koste es, was es wolle, während man »hinten«, wo
man alles besser wußte, der Meinung war, auszubiegen. Er hatte
allerdings etwas liegenlassen -- aber schließlich, was kam es auf diese
relativ geringfügigen Verluste und ein paar Minenwerfer an?

Es war nichts -- man bedenke: im Vergleich zu dreihundert Geschützen!
Nichts --

Er würde heute, denn er konnte nicht gegen seine Überzeugung handeln, er
würde heute genau so verfahren, auf Ehre und Gewissen! In seinem
Abschnitt befand sich eine Höhe, die Höhe von Quatre vents, und es war
nur natürlich, daß er diese für den ganzen Abschnitt, ja für einen
großen Frontsektor wichtige Höhe nicht ohne weiteres preisgab. Dreimal
gab er Befehl, Quatre vents zu halten, koste es, was es wolle. Erst als
die Höhe vom Gegner flankiert war, gab er den Befehl zum Rückzug. Die
Loslösung glückte dann allerdings nicht ganz, zugestanden.

Ein alltäglicher Vorfall -- ohne jede Bedeutung.

Niemand würde --

Es war augenscheinlich: irgend jemand mußte die Hand im Spiel haben --
irgend jemand, der ihm übel wollte.

Er -- der das Ohr der höchsten Persönlichkeiten hatte --, jener
»Schurke«, mit einem Wort.

Das Steingesicht geriet in Erschütterung: vor mehr als dreißig Jahren --

Aber plötzlich hielt das Auto. Es stand vor einem hellerleuchteten
Blumengeschäft. Der General erwachte. Ein Verkäufer schleppte soeben ein
Blumenarrangement, einen schweren Korb mit Maiglöckchen, an den Wagen.

»Hierher!« rief der General und pochte an die Scheibe. Nässe und Kälte
kamen mit herein. Augenblicklich begannen die Blumen Duft und Frische
auszuatmen.

»Lessingallee!«

Die Limousine flog dem Westen Berlins zu. Die Federn knirschten. Bald
hielt der Chauffeur warnend die Rechte, bald die Linke hinaus -- die
Pfeife trillerte -- Schnelligkeit ist die Losung des Generals --

-- vor mehr als dreißig Jahren, hatte er, der General, ihm, eben jenem
einflußreichen Würdenträger, einen Streich gespielt, und damit hatte die
Animosität, um nicht Feindschaft zu sagen, ihren Anfang genommen.

Es war auf einem Ball bei Baron Kreß. Eine junge Dame spielte eine Rolle
dabei, und damals war er, der General, der beste Tänzer in Berlin.
Damals wartete, gegen Morgen, ein Wagen vor der Treppe des Kreßschen
Palais. Eine Dame springt die Treppe herunter. Sie hat den Pelz eilig um
die Schultern geworfen. »Um Gottes willen,« ruft sie, »er hat mich
beobachtet, schnell.« Schon rollt der Wagen davon. Der Pelz ist von den
Schultern der schönen Dame gefallen, und er, der General, sagt: »Sie
werden frieren, meine Gnädigste!« Und er hüllt sie wie ein Kind in den
Mantel. Sie trägt eine ganz dünne Robe, und es kommt ihm vor, als ob sie
völlig nackt im Pelz stäke. Deutlich erinnert er sich dessen. Und er
erinnert sich, daß dieselbe Dame seinen Rivalen rachsüchtig genannt
habe, hüten Sie sich, er ist rachsüchtig! Welcher Instinkt, diese
Frauen! Und sie war fast noch ein Kind.

Vor dreißig Jahren --

Hätte er damals ahnen können, daß sein Nebenbuhler sich einst bis zur
höchsten Stellung emporschwingen sollte! Vielleicht wäre er immerhin
etwas vorsichtiger gewesen, wer weiß es? Nicht ohne Grund hatte er
seinen Söhnen immer eingeschärft: Freunde zu werben. Freunde, schon in
der Kadettenanstalt. Denn Freunde waren im späteren Leben -- alles.
Nicht die Begabung -- welche Albernheit -- die Beziehungen waren alles.

Plötzlich sieht der General die junge Dame vor sich im Wagen, als sei es
gestern gewesen. Jahrelang waren ihre Züge in ihm erloschen. Sie ist
gepudert und trägt ein Schönheitspflästerchen am Kinn. Ihre Augen sind
warm und leuchten eigentümlich aus der Tiefe.

Diese junge Dame mit dem Schönheitspflästerchen, die er seinerzeit aus
dem Ballsaal entführte, wurde seine Frau.

Lange, lange Zeit --

Der General öffnet den Mund und ringt nach Luft.

                   *       *       *       *       *

Aus dem hellerleuchteten Entree der roten Backsteinvilla, ganz mit Efeu
bewachsen, stürzt ein Diener in zebragestreiftem Kittel und öffnet den
Wagenschlag.

»Herr General!«

»Herr General?«

Der General erhebt sich. Mit steifen Gliedern, den Rücken etwas gebeugt,
steigt er aus dem Wagen.

»Frau v. Dönhoff empfängt?«

»Gnädige Frau empfangen, obwohl gnädige Frau die Grippe hat.«

»Wird es lange dauern, Petersen?« fragt der Chauffeur den Zebrakittel.
»Was ist denn los bei euch?«

»Geburtstag. Die Gnädige hat Geburtstag.« Und der Zebrakittel eilt, den
Korb mit den Maiglöckchen auf den Armen, rasch in das hellerleuchtete
Entree, um Exzellenz beim Ausziehen des Mantels behilflich zu sein.


2

Frau v. Dönhoff -- die Dame der roten, mit Efeu bewachsenen
Backsteinvilla in der Lessingallee, dicht am Tiergarten, war eine
Blondine, nicht mehr in der ersten Jugend, von ihren intimen Bekannten
die schöne Dora genannt.

Sie war mittelgroß, die schöne Dora, etwas üppig, kleine, zierliche
Füße, kleine, zierliche Händchen mit spitzen Fingern, große strahlende
Augen von herrlich leuchtendem, seltenem Blau -- der berühmte
Schriftsteller, der in ihrem Hause verkehrte, hatte die Farbe mit dem
Blau des Gebirgsenzians verglichen -- ein Paar reizender Grübchen, runde
rote Lippen -- ah, und Zähne -- schneeweiß! Sie lachte immer und bei
jeder Gelegenheit, das Lachen setzte ganz unvermittelt ein, sie lachte
in Skalen und Trillern, ein Geklingel war ihr Lachen. Es riß mit fort.
Und immer, schon im Bett am Morgen, hielt sie eine dicke Zigarette
zwischen den spitzen Fingern und qualmte. Sie rauchte auch auf der
Straße, während sie Butzi, einen belgischen Griffon, an die frische Luft
brachte. Das war die schöne Dora.

Etwas umschwebte sie. Ein Glanz, ein Abglanz. Der Abglanz einer
Freundschaft, die sie vor ihrer Heirat mit einer Königlichen Hoheit
verbunden hatte. Dieser Abglanz war immer gegenwärtig. Hatte die
Königliche Hoheit wirklich diese schlanken ringgeschmückten Finger an
die Lippen gedrückt? Diese Grübchen bewundert, sich an diesem Lachen
erfrischt, diesen weichen, verschwenderisch reichen blonden Haarschopf
liebkost? Ruhten die Augen der Königlichen Hoheit auf diesen Schultern?
Immer, immer war Dora von diesem Abglanz umschwebt. Die Sonne war
untergegangen -- aber der Glanz lag noch in der Luft.

Nunmehr war die Königliche Hoheit längst verheiratet, hatte drei Kinder.

Dora aber hatte -- danach -- einen Freund der Königlichen Hoheit
geheiratet, den Hauptmann v. Dönhoff, einer der ersten Herrenreiter
Deutschlands, professioneller Schürzenjäger und Spieler, der in
kürzester Zeit zwei Vermögen durchbrachte, auch Doras Vermögen. Eines
Tages stand sie ohne einen Pfennig da -- vis-à-vis de rien!

Mit einem Wort: dieser Hauptmann Dönhoff entpuppte sich als ein Lump
ersten Ranges, er betrog Dora schon am Hochzeitstage, so unglaublich es
klingt, und sie gab ihm nach kurzer Zeit den Laufpaß. Schon vor dem
Kriege trennte sie sich von ihm. Gegenwärtig lebte sie in Scheidung --
oder war sie schon geschieden? Niemand wußte es, der Krieg hatte das
Interesse an den armseligen privaten Schicksalen in den Hintergrund
gedrängt.

Der Herrenreiter und Spieler war Artillerist und lebte gegenwärtig bei
seiner Batterie im Westen -- irgendwo. Er ergraute bei seinen Kanonen,
in den Waldschluchten des Argonner Waldes oder in den Kalkhügeln der
Lausechampagne, sein Gesicht wurde gelb, pergamenten. Die Welt hatte ihn
vergessen, seine Damen -- nur die Gegenwart hat Macht. Ein einziges Mal
war er während des Krieges in Berlin aufgetaucht, ohne Dora zu besuchen,
es gab sofort wieder Skandal, eine Dame, ein Offizier -- immer die
gleiche Geschichte. Und er ergraute weiter bei seinen Kanonen. Seine
Schläfen waren schon ganz weiß. Zuweilen schrieb Dora an ihn, zuweilen
kam auch ein Brief aus dem Felde, und Petersen, der Diener, zeigte ihn
Frida, der Zofe, und flüsterte: »Von ihm!«

Also, das war Dora und ihre Lebensgeschichte, in flüchtigen Linien
natürlich nur, und heute hatte sie die Grippe.

Doras Haus war eine alte Villa, verbaut und immer wieder umgebaut, mit
Sälen und Zimmern, Nischen, Erkern, Korridoren, großen und kleinen
Treppen und Treppchen. Niemand, der nicht hier lange verkehrte, fand
sich zurecht. Dora hatte das ganze Haus in ein Teppichmagazin
verwandelt. Es gab keinen Quadratmeter, der nicht mit einem Teppich
belegt war. Es gab im Dönhoffschen Hause sogar etwas, was es nur selten
in Berlin gab, nämlich einen Raum, der ein vollkommenes Zelt war. Eine
Art arabisches Zelt, ganz aus Teppichen ausgebaut. Infolge der vielen
Teppiche roch es im Dönhoffschen Hause eigentümlich nach Staub. Dazu
hatte Dora das ganze Haus mit antiken Möbeln vollgestopft, Möbeln aller
Stilarten, mit Säulen aus Kirchen und grellbemalten oder vergoldeten
Heiligenfiguren. Alle Tische, Kommoden und Gesimse waren mit kleinen
Kostbarkeiten aller Art, mit Leuchtern, Schnitzereien, Waffen,
Miniaturen, Dosen derartig übersät, daß es unmöglich war, auch nur ein
Paar Handschuhe abzulegen, ohne irgendeine Kostbarkeit in Gefahr zu
bringen. Es war unmöglich, alle diese Dosen, Schnitzereien, Waffen und
Heiligen abzustauben. Und so sammelte sich immer mehr Staub an. An das
arabische Zelt stieß das Speisezimmer, ein riesiger Raum mit einer
Empore, zu der eine steile Rokokotreppe, gelb und rot bemalt,
emporführte. Dieser Raum war zurzeit schwer heizbar und beständig
strömte ein kalter Luftzug in das arabische Zelt hinein. Doras Haus
hatte aber noch eine Eigentümlichkeit: das waren die Lampen. Es gab kein
Haus in ganz Berlin, das so viele Beleuchtungskörper aufwies. Blaue,
grüne, gelbe, rote Ampeln, alle von ganz besonders erlesener Färbung,
Kronleuchter mit Dutzenden von Flammen, schwere Messingkronen mit halb
heruntergebrannten dicken Wachskerzen. Das arabische Zelt selbst wurde
durch eine polnische Synagogenampel beleuchtet. Es war ein
opalisierendes, bläuliches Licht, der Farbe von Zigarettenrauch ähnlich.
In der Ecke des arabischen Zeltes aber stand noch eine riesige
purpurrote Lampe, die auf eine vergoldete Barocksäule aus irgendeiner
Kirche montiert war. Neben dieser roten Lampe saß gewöhnlich Dora, sie
strahlte dann wie glühender Alabaster, während die andern wie Leichen
aussahen. Sie verstand ihre Sache.

Zwischen diesen Teppichen und Lampen, sonderbaren Heiligen und
tausenderlei Krimskrams bewegte sich Dora, mit ihrem blonden Haarschopf,
ihren Grübchen und dem Glanz, der sie umschwebte. Niemand hatte Dora
jemals in schlechter Laune gesehen. Ihr Benehmen war immer gleich.
Jedermann fühlte sich wohl bei ihr.

Nicht zu vergessen auch Doras Badezimmer, eine Sehenswürdigkeit -- ein
richtiges Treibhaus.

                   *       *       *       *       *

Sobald der General die rote Backsteinvilla betrat, kam das Steingesicht
in Erschütterung.

Der General gehörte zu den Intimen des Hauses. Zweimal in der Woche,
Dienstag und Freitag, pflegte er bei Dora zu Abend zu speisen. Ohne
andere Gäste.

Der Stein verwitterte im Lichte der Garderobenampel, er verwandelte sich
in Haut, in die Haut eines Menschen, der ewig von Zimmerluft umgeben
ist, und der -- vielleicht, nur eine Vermutung -- an beginnender
Sklerose der Arterien leidet. Die starre Leblosigkeit des Gesichts löste
sich. Es zeigte sich sogar, seht an, eine Spur von Farbe auf den breiten
Wangen, ein rötliches Violett, von feinem Geäder herrührend. Die ernsten
Gedanken, die den General einhüllten, zerflatterten, der etwas massige,
schwerbewegliche Körper schien elastisch und verjüngt.

Es scheint ja nicht so schlimm zu sein, mit der Grippe, dachte er, als
Doras Lachen in die Garderobe drang.

Die geschliffenen Linsen der Feldherrnaugen ruhten sogar einen
Augenblick leutselig auf dem Diener. Etwas Außergewöhnliches, denn der
General pflegte seine Mitmenschen nie anzusehen. -- Dann widmeten sie
sich mit rein menschlichem Interesse dem Studium einiger Gummischuhe,
die in der Garderobe standen.

»Sind auch -- Damen hier, Petersen --?«

»Frau Major Sterne-Dönhoff mit Töchtern.«

Nichts haßte der General mehr als Ansammlungen von Menschen, mochten sie
groß oder klein sein; nichts fürchtete er mehr als Überraschungen -- es
war ja möglich, daß man ihm, ohne jede Vorbereitung, ixbeliebige
Menschen präsentierte, wie es ihm schon passiert war. So neulich bei
einem Militärattaché, wo unerwartet der Redakteur einer sehr
linksstehenden liberalen Tageszeitung auftauchte, ganz zu schweigen von
jenem Herrenabend bei Exzellenz v. Krämer, wo ein sehr orientalisch
aussehender Chirurg anwesend war, eine Berühmtheit, getauft -- aber
trotzdem. Er wünschte zu wissen, wer anwesend sein würde -- bei Dora
allerdings, wo er zweimal in der Woche zu Abend speiste -- machte er
eine Ausnahme. Er kannte Doras Kreis, nahezu wenigstens, und nur
zuweilen traf er hier irgendeinen Maler oder Schriftsteller, auf deren
Bekanntschaft er allerdings wenig Wert legte, um offen zu sein. Das war
indessen nicht zu ändern: Dora selbst war eine Art Künstlernatur.

Der General strich den grauen Scheitel mit der Bürste zurecht, glättete
den dünnen grauen Schnurrbart, prüfte die Hände . . .

Der General war das Bild der Akkuratesse selbst. Alles leuchtete und
glänzte an ihm, die Stiefel, die roten Streifen der Hosen, die
Ordensauszeichnungen, die langen polierten Fingernägel -- nur die Haut
des Gesichts war, wie gesagt, stumpf, von der Zimmerluft beschlagen. So,
genau so hatte er ausgesehen, als er sich in Polen mit den Russen schlug
-- in Frankreich, wo er in einem Chateau wohnte, war es ja schließlich
kein Kunststück. Er hatte sofort ein Bad einbauen lassen, das war das
erste gewesen, die Wanne wurde mit dem Auto aus Frankfurt geholt.

Ohne jede Übertreibung, der General war noch heute eine stattliche
Erscheinung.

Auch einige Offiziersmützen, drei im ganzen, hingen da. Er erkannte die
Seidenmütze seines Sohnes Otto, die eine ganz besondere Form hatte.
Offenbar machte er seinen Abschiedsbesuch; er mußte morgen wieder ins
Feld. Falten erschienen auf der breiten Stirn des Generals, verschwanden
aber sofort wieder. Er liebte es nicht, Otto oder Ruth, seine Tochter,
in Gesellschaft zu treffen. Er kam sich beobachtet vor, sie störten, mit
einem Wort.

»Die Herrschaften sind im Zelt, Herr General.«

»Schön« -- aber der General hielt den Schritt an und zog die Brauen in
die Höhe -- »eine Bürste, Petersen.« Der General hatte tatsächlich ein
Härchen auf seinem Ärmel entdeckt.

»Es ist von Butzi, Herr General -- das ganze Haus ist voll von seinen
Haaren --«

»Wie soll es denn von Butzi sein? Dann müßte es ja seit Dienstag --
nein, das ist unmöglich, Petersen.«

»Vielleicht war es im Mantel? Überall sind diese Haare --!«

Petersen öffnete die Türe zu einem Vorzimmer. Hier brannte eine einsame,
hohe Wachskerze, zu Füßen eines verlassenen steingrauen Heiligen mit
zinnoberrotem Rock, der in Verzückung ein Buch schwang. Hierauf schlug
Petersen den Teppich zurück.

Der Rücken des Generals, etwas zusammengesunken während der Unterhaltung
mit Petersen -- ob das Haar von Butzi stammte oder nicht -- straffte
sich.

»-- sollten sich aber wirklich schonen. Zum Beispiel, das Rauchen --«

»-- es ist ja gar nicht die Grippe.«

»-- täglich sterben Hunderte --«

Dora lachte: »Sie wollen mir Mut machen, Otto!«

Und Petersen schlug den zweiten, gelbseidenen Vorhang zurück.

Augenblicklich stürzte der belgische Griffon kläffend heraus. (Er war
mit Exzellenz verfeindet!)

Die Offiziere schnellten von ihren Sesseln empor.

                   *       *       *       *       *

Dora trug die kleinen mattgelben Perlen in den Ohren, nicht die Boutons,
die von früher stammten! Der General sah es auf den ersten Blick.

Mit aufgehellter Miene, soweit sie sich aufhellen konnte, trat er ein.
Selbst seine Augen verloren ihre Strenge, aber sie blieben trotzdem --
kalt.

Dora glühte im Schein der großen Purpurlampe, ihre Arme und Hände
leuchteten wie Korallen, und in ihrem durchsichtigen feinen Ohr
schimmerten in der Tat kleine gelbe Perlen. Aus dem Halbdämmer des
Zeltes hoben sich die drei schwarzgekleideten Damen Sterne-Dönhoff,
schmal, steif, todernst. (Major Sterne-Dönhoff war vor einem halben Jahr
gefallen.) Aus einem Spiegel funkelten bleiche Gesichter, fahl im
Scheine der blauen Ampel. Diese Gesichter verwirrten den General, so daß
er seine Gratulation etwas steifer und förmlicher vorbrachte, als er es
wünschte.

Erst jetzt bemerkte er, daß Hauptmann Wunderlich, einer der drei
anwesenden Offiziere, ein Freund des Dönhoffschen Hauses, noch immer
stand. Er hielt sich an den Lehnen des Sessels aufrecht, denn er war
lahm geschossen und ging an Krücken.

Erst jetzt bemerkte er die zarte, ätherische Dame mit dem langen
Gesicht, die Kinn und Näschen in den Muff drückte, neben Dora saß sie
auf dem Diwan -- ah, welche Überraschung, welch freudige und ungeahnte
Überraschung!

»Es ist in der Tat kein Scherz, gnädige Frau, mit dieser Grippe --«

»Ich hörte es von einem Krankenhausarzt -- einhundertvierzig Tote
gestern -- und wie gesagt, gar keine Grippe, sondern die Lungenpest --«

»Man sagt es ja nur, man schwätzt --«

»Derselbe Arzt versicherte es mir. Die Lungen sind völlig mit weißen
Bläschen bedeckt und vereitert.«

»Es sind einfache Streptokokken.«

»Ja, nun, Sie sagen einfache --«

»Und Pest? Auch Pest ist nur ein Wort.«

Vorlaut, immer ist dieser Junge vorlaut, dachte der General.

Otto, der Sohn des Generals, sprach mit lauter, heller Stimme, die stets
etwas keck klang, selbst wenn er die harmlosesten Dinge sagte. Er sah
seinem Vater auffallend ähnlich. Groß, das gebräunte Gesicht breit und
brutal, die Augen hell und verwegen, aber voller Unruhe. An der Stirne,
dicht neben den blonden, glänzenden Schläfenhaaren, hatte er eine Narbe,
die von einem Kopfschuß herrührte, den er im Mai 1915 bei Ypern erhielt.
Damals lag er ein halbes Jahr im Lazarett -- aber so gering war die Eile
der internationalen Generalität, daß er sein Regiment im Herbst noch an
genau derselben Stelle vorfand, wo man ihn im Frühjahr weggetragen
hatte. Er saß mit einer gewissen Ungeniertheit (die dem General mißfiel)
im Sessel, frei und selbstgefällig, die Brust voller Auszeichnungen --
im Gegensatz zum jungen Heinz Sterne-Dönhoff, der, ganz wie seine
Schwestern in Schwarz, bescheiden und steif dasaß. Dieser Heinz war noch
ein Knabe, schlank und zart, noch nicht neunzehn Jahre. Er trug Feldgrau
und -- seit heute -- das Abzeichen des Flugzeugführers. Er war indessen
noch nicht im Felde gewesen und lebte in der beständigen Angst, der
Krieg könnte zu Ende gehen, bevor die Reihe an ihn käme. Er hatte den
roten Mund eines Knaben, noch umschwebt vom Lächeln der Kindheit.
Unausgesetzt waren seine blauen, strahlenden Knabenaugen voller
Ehrfurcht auf den General gerichtet, auf seine Ordensschnalle, den
gestickten Kragen und das weiße große Emaillekreuz, das er am Kragen
trug. Was für ein Orden mochte es wohl sein? Seit dem Eintritt des
Generals öffnete er den Mund nicht mehr, die Nähe eines so hohen
Vorgesetzten bedrückte ihn. Er saß, bereit, jeden Augenblick
aufzuspringen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, dem General
einen Dienst zu erweisen.

Mit großen grauen, etwas düsteren Katzenaugen saß neben Dora Hauptmann
Wunderlich. Blaß und mager, sah er aus wie ein achtzehnjähriger
Gymnasiast, der über Nacht ergraut war. Er lächelte nie, und wenn er --
selten, ganz selten -- einmal lächelte, so war es das Gespenst von einem
Lächeln, das niemand ertrug. Seine gleichmäßige Miene forderte indessen
auf, sich nicht im geringsten durch ihn stören zu lassen. Der Blick
seiner Augen glitt in die Ferne. Auch während er sprach, schien er zu
Leuten irgendwo in der Ferne zu reden und nicht zu den Anwesenden. An
seiner linken, mit einem goldenen Armband geschmückten Hand fehlten
einige Finger.

Hinter seinem Sessel lehnten die Krücken, womit er sich, nur mit einem
Fuß den Boden berührend, wie eine Glocke dahinschwang. Hauptmann
Wunderlich war schon in den ersten Wochen des Krieges durch einen
schweren Brustschuß außer Gefecht gesetzt worden. Ein Jahr später wurden
ihm in Rußland beide Beine zerschmettert. Hierauf ging er zur
Fliegerwaffe über. Er war heute einer der bekanntesten Menschenjäger in
der Luft. Er wurde in die Maschine gehoben.

Frau v. Sterne-Dönhoff mit ihren Töchtern, aus dem Halbdämmer sich
abhebend -- mit flachen Hüten, enganliegenden Kostümen, langen
Gesichtern, steif, still, langweilig. Nur selten warfen sie ein Wort in
die Unterhaltung. Sie trugen schwarze, sehr enge Glacéhandschuhe.

Und jene andere Dame, die Ätherische, die Kinn und Nase in den Muff
drückte und neben Dora auf dem breiten Diwan saß, die spitzen Knie
hochgezogen? Jene Dame, über deren Besuch der General so erfreut und
überrascht war?

Es war eine Gräfin Heller, soeben aus der Schweiz zurückgekommen. Gräfin
Heller war Spiritistin, Theosophin -- alles Dinge, die den General nicht
im geringsten interessierten. Sie war darüber hinaus die Schwester jenes
-- eben jenes »Schurken«, wie ihn der General in Gedanken nannte. Jener
einflußreichen Persönlichkeit, deren Name in der Gesellschaft nur
flüsternd ausgesprochen wurde. Seine Majestät hat ihm höchst eigenhändig
-- wissen Sie . . . Der General hatte nicht ahnen können, sie hier zu
treffen. Solche Zufälle gibt es! Aber vielleicht hatte Dora ihre Hand
dabei im Spiel? Dora, die mit ihrem künstlerischen Naturell auf
rätselhafte Weise die Gedanken ihrer Mitmenschen erriet und alles so
wunderbar zu arrangieren verstand? Wie?

»Ich hatte in der Tat nicht vermutet, Gräfin, Sie heute zu sehen!«
wandte sich der General mit allen Zeichen der freudigen Überraschung,
die bei jeder Anrede neu auflebte, an sie. »Sie waren lange weg. Wie
gefällt es Ihnen wieder in Deutschland?«

Gräfin Heller lächelte und schob Butzi ein Stückchen Torte zwischen die
scharfen, schneeweißen Zähnchen. »Ich finde es ent--setz--lich!«

»Ah, ah!«

»Ein Friedhof!«

Der General lächelte nachsichtig. Bei einer Dame des hohen Adels, des
höchsten Adels, der Schwester einer solch hochgestellten Persönlichkeit,
mußte man wohl einige Wunderlichkeiten in Kauf nehmen -- noch dazu bei
einer Dame, die mit dem Geist Friedrichs des Großen in okkulter
Verbindung stand.

In diesem Augenblick überbrachte Petersen ein Telegramm. Dora errötete,
als sie es öffnete. Es enthielt nur wenige Worte, wie man sehen konnte.

Der General ahnte: es kommt aus dem Felde!

Die Unterhaltung geriet ins Stocken.


3

In der Tat, das Telegramm -- das Dora lässig zusammenfaltete und in eine
kleine japanische Lackschale legte -- kam aus dem Felde. Hauptmann
Dönhoff hatte es heute morgen abgeschickt, und eben jetzt dachte er, ob
das Telegramm wohl schon angekommen sei. Beinahe nämlich hätte er Doras
Geburtstag vergessen. Erst in der Nacht, als er durch einen
dumpfkrachenden Einschlag geweckt wurde, war es ihm eingefallen und er
hatte sich sofort eine Notiz gemacht. Sein Gedächtnis war im Laufe der
Kriegsjahre völlig geschwunden.

Er saß mit seinem Adjutanten Kammerer in seinem Unterstand, zwei Meter
unter der Erde, mitten in den Finsternissen des Argonner Waldes. Eine
kleine Petroleumlampe, ein eiserner Ofen, der immer glühte, ein
Telephon, zwei Pritschen und allerlei Gerümpel, das war die Ausstattung.
Die Wände schwitzten von Nässe. Kammerer war eifrig damit beschäftigt,
seine kurze Stummelpfeife zu reinigen. Er bediente sich einer
Krähenfeder, die er -- da draußen -- gefunden hatte. Dönhoff, der
Batteriechef, tat gar nichts, er gähnte zuweilen, gähnte. Er war nicht
schläfrig, sondern nur müde, immerzu müde.

In der Ferne brummte ein schweres Geschütz. Ganz deutlich war sein
tiefes mächtiges Raubtierknurren aus dem Lärm, dem Knacken und Donnern
der fernen und nahen Geschütze herauszuhören.

Hauptmann Dönhoff hob horchend das gelbe Gesicht.

»Hören Sie? Da ist er wieder!«

Der junge Offizier blickte nicht auf, er war voller Andacht bei der
Arbeit.

»Er schießt jetzt wieder öfter mit dem schweren Geschütz«, erwiderte er
leichthin. »Sie haben mehr Munition.«

Die Erde zitterte, und ein lautes Krachen ertönte, Hauptmann Dönhoff
lachte belustigt. »Da, da,« sagte er, »er streut jetzt unsere Kuppe ab.«

Kammerer antwortete hierauf nichts mehr. Er blies voller Anstrengung in
das verstopfte Pfeifenrohr. Der braune Tabaksaft quoll heraus, aber, der
Teufel, immer noch mußte etwas im Rohr stecken.

»Sie sollten einen Draht nehmen, Kammerer.«

»Es muß auch so gehen --«

Wieder gähnte Hauptmann Dönhoff. Seine Zähne waren gelb und schlecht
gepflegt.

Hier in diesem verfluchten Wald wurde man, mit Respekt zu sagen, langsam
zu einem Schwein. Über ein Jahr lag er mit seiner Batterie an der
gleichen Stelle. Neulich sah es so aus, als ob sie nach der Champagne
kommen sollten -- aber es war wieder nichts daraus geworden. Auch die
Champagne war kein Paradies, aber es gab wenigstens Licht dort -- hier
war es immer düster.

Tag und Nacht hallte dieser finstere Wald wider von einem unheimlichen
Dröhnen und Rasseln, Lachen, Niesen und Husten. Tag und Nacht strichen
winselnde und klagende Stahlvögel über ihn dahin, und das Rasseln der
Maschinengewehre hämmerte hundertfach verstärkt in den Waldschluchten --
bis plötzlich alle Lärme von einem einzigen großen Lärm sekundenlang
übertönt wurden. Gestern ist die Eiche vor dem Unterstand zersplittert,
heute stürzte eine hohe Tanne zu Boden. Die Splitter leuchten in der
Finsternis. Der Regen rauscht, Ströme von Lehm fließen die schmalen
Knüppelwege hinab, die die Soldaten durch das Dickicht geschlagen haben.
Zuweilen trifft man auch ein menschenähnliches Wesen, bis an die Augen
mit Lehm beschmiert. Zuweilen schleppen sich auch Trüppchen von
Gespenstern, mit blutigen Binden an Köpfen und Armen, die Knüppelwege
hinunter -- nein, pfui, der Wald ist kein Platz für einen Gentleman!

Hauptmann Dönhoff denkt an Sonne -- an eine Wüste, in der Sonne,
flimmernd von Licht, zitternd, vibrierend vor Hitze. Es würde ihm direkt
Vergnügen machen, einmal tüchtig in der Sonne zu schwitzen. Und
plötzlich kommt ihm Dora in den Sinn. Das Telegramm mußte nun wohl da
sein. Langsam kriechen die Gedanken.

»Kannten Sie nicht General v. Hecht-Babenberg, Kammerer?«

»Welchen Babenberg?«

»Nun, den, wissen Sie -- man hat ihn nach Hause geschickt --«

»Nie gesehen. Weshalb fragen Sie?«

»Ich dachte gerade an ihn -- nur so --«

Was will er? dachte Dönhoff und erinnerte sich an das, was man ihm
berichtet hatte. Was beabsichtigt er? Dora? Erwachsene Kinder -- man
kann nie wissen. Dora drang darauf, daß er bald nach Berlin käme -- es
fehlte noch eine Unterschrift in der Urkunde -- gut, an ihm sollte es
nicht liegen.

Kammerer strahlte. Plötzlich pfiff die Luft durch das Pfeifenrohr. »So,
das Kind hat Luft --«

Das Telephon tutete. Die Beobachtung meldete, daß der Feind in der neuen
Sappe unverschämt arbeite.

Schon trillert Kammerers Pfeife draußen im Wald. Die Geschütze der
Batterie Dönhoff sind über eine weite Strecke verteilt und erst zu
erkennen, als die dunkeln Rohre sich plötzlich bewegen. Hier im Wald ist
es schon ganz düster, aber draußen bei der Beobachtung sind im
Scherenfernrohr noch deutlich die Nebelgestalten zu unterscheiden, die
dicht am Waldrande bei Boureuille Erde aufwerfen.

Da donnern auch schon die Geschütze. Wütend, mit kurzen harten Schlägen,
und das Echo rollt breit und drohend dahin. Die Petroleumlampe schwankt,
während Hauptmann Dönhoff müde die Augen schließt und gähnt.

Nun rieselt es draußen im Wald wie Regen. Die welken Blätter, die noch
an den Bäumen hängen, fallen, von den Luftwirbeln losgerissen, zu Boden.

                   *       *       *       *       *

»Und Ruth? Wo ist Ruth?« fragte Gräfin Heller. »Weshalb ist sie nicht
gekommen?«

»Sie hat immer mit ihrer Küche zu tun.« Ruth, die Tochter des Generals,
arbeitete in einer Mittelstandsküche, ehrenamtlich natürlich, nicht
gegen Bezahlung.

»Ruth war heute vormittag bei mir«, warf Dora ein.

Verführerisch war Doras Teetisch gedeckt, Blumen, Kuchen, Konfitüren.

»Wann wird die Hochzeit sein?« Ruth war mit einem Baron Dietz, einem der
reichsten pommerschen Grundbesitzer, verlobt. Er war zurzeit in Bukarest
bei der Verwaltung.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der General und schüttelte den Kopf. »Im
Sommer wahrscheinlich. Ruth hat Lust, bis zum Frieden zu warten, wie mir
scheint. Ich kümmere mich grundsätzlich nicht um die Angelegenheiten
meiner Kinder --«

Butzi, einem alternden übellaunigen Löwen lächerlichen Formats ähnlich,
saß auf dem Schoß seiner Herrin und betrachtete aufmerksam, mit
nachdenklich gekräuselter Stirn den General, seinen Feind, dessen
blanken Stiefeln nahezukommen gefährlich war.

Krieg, Nahrung, Politik -- in jeder Gesellschaft, sobald nur zwei
Menschen zusammentrafen, versank man rettungslos augenblicklich in das
gleiche Thema. Verzweifelte Anstrengungen, die Blicke glitten in die
Ferne, ein Lächeln versuchte die Mienen zu verklären -- gewiß, es gab
Himmel und Hölle im menschlichen Herzen, Engel und Teufel wandelten auf
der Erde, bestechend durch ihre Liebe und ihre Kraft, ewig
unergründliche Probleme bewegten unsichtbar die Jahrhunderte -- immer
noch flog die Sonne, ein Ball überhitzter Gase, samt ihren winzigen
Planeten mit der Geschwindigkeit von zwanzigtausend Sekundenmetern,
unfaßbar, dem Sternbild der Leier zu -- immer noch war das Einfachste
nicht ergründet, die Vergangenheit rätselhaft, die Zukunft
undurchdringlich, die Gegenwart unbegreiflich, immer noch schaukelte der
Mensch, ein Atom, nicht einmal ein Atom, über den Abgründen der
Mysterien, voller Entsetzen, voller Hoffen -- immer noch war alles
geheimnisvoll, unfaßbar. Noch immer versank der Mensch jede Nacht in
einen erschreckenden Zustand der Bewußtlosigkeit. Noch immer war die
Liebe, die mütterliche, unbegreifliche, offenbart im winzigen Insekt, in
Doras Lachen und selbst in den ernsten Gesichtern der Damen
Sterne-Dönhoff -- noch immer war sie allgegenwärtig -- gewiß! Aber doch
-- gänzlich hoffnungslos. Es war wie die Verdammnis selbst! Das
verklärende Lächeln erlosch, der Blick flüchtete erschrocken zurück --
nichts blieb: Politik, Krieg, Nahrung.

Das politische Schicksal -- die Summe der menschlichen Schwächen und
Irrtümer -- hatte die Gedanken versteinert. Die Staubschicht der
Schlachtfelder, die bis an die Grenze der Atmosphäre hochstieg, lastete
wie ein Gebirge auf den Gehirnen, vom Atlantik bis zum Pazifik -- die
Gehirne bewegten sich nicht mehr. Butzi allein führte sein eigenes
geistiges Leben weiter. Weshalb, zum Beispiel, durfte man den Hosen mit
den roten Streifen nicht zu nahe kommen? Weshalb zuckte die
Stiefelspitze, wenn man mit der Zunge den Glanz der Stiefel berühren
wollte? Antworte, gerechter Himmel! Wonach roch er? Nach, um es kurz zu
sagen, Gleichgültigkeit und Verachtung. Er liebte Hunde nicht. Und
plötzlich, ohne es selbst zu wollen, knurrte Butzi, ohne zu wissen, was
er tat und weshalb plötzlich der Zorn in seinem kleinen Stahlherzen
klopfte.

Butzi bekam sofort eine Ohrfeige. Aber das nahm er nicht übel. Denn es
war ja seine Herrin, deren Lachen er liebte, deren Geruch er liebte --
sie, die Freundschaft fühlte für die Hunde, Liebe. Die Wohltäterin und
Heilige -- obschon diese kläffenden Ungeheuer sie vielleicht für
verworfen hielten -- für schamlos -- für . . .

Nein, Butzi verstand die unartikulierten Laute dieser kläffenden
Ungeheuer nicht. Er begriff ihren Eifer nicht, ihre Erregung. Offensive,
die bevorstehende große Offensive -- der Entscheidungsschlag.
Unbegreiflich! Der Herr mit den roten Streifen glaubte nicht an die
Amerikaner, und die Damen lächelten. Wie beliebt? Bluff, mit einem Wort.
Er gestand, daß er besorgt war -- besorgt, nicht mehr! Hätten sie sich
auf Spezialwaffen beschränkt -- Fliegertruppen, Automobilkorps,
Artillerie -- er hätte vor Angst gefiebert. Aber eine Armee? Unmöglich!
Woher das Offizierkorps nehmen? Nun, die Rüstungen galten ja gar nicht
uns! Nein! Der größte und geschickteste Bluff der Geschichte.

Hier wollte Otto etwas einwerfen, aber der General wandte ihm den Blick
zu, und er schwieg.

Und die Transportfrage, ich bitte? Willkommene Beute für unsere U-Boote,
so sagte der Minister.

Die Damen hingen an den Lippen des Generals. Ihr Atem ging plötzlich
leichter. Gräfin Heller beliebte die Zwischenfrage: ob das Volk -- so
ganz im allgemeinen --?

Der Herr mit den roten Streifen runzelte vorwurfsvoll die Stirn. Dann
lösten sich seine Züge zu beschämender Zuversicht.

»Ein kleines Beispiel nur, wenn die Damen gestatten wollen -- wie
herrlich dieses Volk ist. Einer meiner Burschen, er begleitete mich
durch den ganzen Feldzug, Jakob mit dem Familiennamen, ein Bauernsohn.
Ich frage ihn, ob er nicht gerne wieder dabei wäre, da draußen, wenn es
nun wieder losgeht? Natürlich möchte er das! Er strahlt über das ganze
Gesicht! Sie sollten dieses Strahlen gesehen haben, Gräfin! Aber, sage
ich, höre, wenn ich dich nun hier brauche? -- Langes, tiefes Sinnen. Das
echt deutsche tiefe Sinnen! -- Dann bleibe ich bei Herrn General! --
Gräfin, zwei der augenfälligsten deutschen Charakterzüge mögen Sie in
dieser kleinen Szene erkennen: die dem Deutschen angeborene
Kampfesfreude und seine Mannestreue --«

Die Gräfin blinzelte lächelnd mit den gepuderten Wimpern. Immer noch
spricht der General. Jedes seiner Worte atmet Zuversicht. Heute abend
wird Gräfin Heller jede Einzelheit des Gesprächs jener einflußreichen
Persönlichkeit berichten. Jedermann weiß das. Der hohe Würdenträger ist
vorzüglich informiert über die Meinungen aller Persönlichkeiten, die
eine Rolle im öffentlichen Leben spielen. Sein Lächeln ist -- tödlich.
Ein anerkennendes Wort seiner schmalen Lippen mehr wert als eine
gewonnene Schlacht. Sehr wohl weiß der General, daß man _dort_ nur einen
gesunden Optimismus liebt.

Butzi ringelte sich resigniert auf dem warmen Schoß der Herrin zusammen.

Reserven, ungeheure Reserven. Gestaffelt bis Frankfurt, Mainz, selbst
Münster ist Etappe. Alles was in Rußland war -- die neuen Mannschaften
-- eine Millionenarmee, furchtbar und stark wie am Anfang des Krieges.
Wie eine unheimliche Flutwelle wird die Armee vorrollen, alles
niederwerfend --

Eine andere, etwas hellere und weniger trockene Stimme sprach nunmehr.
Es war der Mann mit den Krücken. Die Augen der Majorin Sterne-Dönhoff
leuchteten. Die Gräfin schlürfte blinzelnd den Tee.

Ja, das Gas! Das Gas wird der Armee den Weg bereiten! Das fürchterliche
Gelbkreuz und Blaukreuz. Es zerfrißt die Gasmasken, selbst Leder, jede
Berührung, auch die kleinste, ist tödlich.

Die Gesichter strahlten, schon röteten sich die Wangen der Schwestern
Sterne-Dönhoff und des jungen Heinz wie im Fieber. Der General blickte
mißtrauisch zum gelbseidenen Vorhang. Ob nicht ein Lauscher in der Nähe
sei, ein Dienstbote vielleicht. Er fand es im höchsten Grade
unvorsichtig von Hauptmann Wunderlich, über diese geheimen Dinge so
unumwunden zu sprechen -- obschon man ja, gewissermaßen, unter sich war.

Butzi war endlich eingeschlafen.

»Gebe Gott, daß es zu Ende geht«, sagte Gräfin Heller mit einem tiefen
Seufzer. »Ich möchte reisen!«

»Aber Sie können doch, Liebste? Sie reisen ja ununterbrochen!«

»Ich möchte nach Paris reisen!«

»Nach Paris!«

Aber augenblicklich hatte der General seine Fassung wieder gefunden. Er
beugte sich vor. »Sie werden nach Paris reisen, Gräfin!« versichert er
mit Feierlichkeit in der Stimme. »Ich gebe Ihnen mein Wort!«

»Ich werde -- Herr General?«

»Ja«, fuhr der General mit derselben Feierlichkeit fort. »Paris und
Calais werden fallen, Gräfin, die Trümmer der englischen Armee werden
ins Meer geworfen -- im Sommer werden wir in Paris den Frieden
diktieren. Dies ist meine heilige Überzeugung!«

»Gott segne Sie, General!« Gräfin Heller zog die kleine Hand aus dem
Muff und streckte sie lachend dem General entgegen.

Diese kleine Unterbrechung -- während sich der graue Scheitel über die
kleine Hand beugte -- benutzte Otto. Er erhob sich rasch, und auch Heinz
schnellte in die Höhe. Die beiden jungen Offiziere verabschiedeten sich.

Butzi erwachte, überzeugte sich, gegen den General schielend, daß er
noch blieb, und ringelte sich, ergeben in sein Schicksal, wieder
zusammen.

                   *       *       *       *       *

Otto beugte sich über Doras Hand, die wie eine Koralle blühte, und seine
hellen verwegenen Augen -- doch Dora wehrte lächelnd seinen Blick ab.

»Leben Sie wohl, Otto -- auf gesunde Wiederkehr!« sagte sie, und ihre
Grübchen schimmerten. --

»Ich hatte noch gar nicht Gelegenheit, Gräfin -- mich nach dem Befinden
Seiner Exzellenz zu erkundigen -- ich darf doch hoffen, daß Seine
Exzellenz --« Die Stimme des Generals sank zu einem ehrfurchtsvollen
Raunen herab.

»Seine Exzellenz waren vor kurzem in ernster Lebensgefahr. Der Hofzug,
wissen Sie -- und ein feindlicher Flieger -- eine Bombe -- aber Gott sei
Dank passierte nichts. Die Bombe traf, leider, einen Lazarettzug -- die
Armen --.« Die Gräfin aber hatte alles gefühlt. Zur selben Stunde
erwachte sie, im Traum erschreckt durch einen Feuerschein. So
geheimnisvoll innig war die Verbindung zwischen ihr und ihrem Bruder.

Das Gesicht des Generals zeigte äußerste Bestürzung.

»Ist es möglich -- eine Bombe -- und man erfährt es jetzt erst --?
Wann?«

»Vor etwa zehn Tagen.«

»Vor zehn Tagen! Und man -- haben Sie gehört, Dora?«

Der General konnte es gar nicht fassen.


4

Die beiden jungen Offiziere eilten mit raschen Schritten die nasse
dunkele Straße entlang. Beide waren verabredet, mit den Schwestern Klara
und Hedi Westphal, die zu Doras Kreis gehörten. Übrigens wußte keiner
von des andern Rendezvous. Das ganz nebenbei.

Otto schlug den Kragen des Mantels hoch und fluchte.

»Furchtbar, entsetzlich!«

»Wie beliebt?«

»Einfach entsetzlich!«

»Sie meinen, Otto?«

»Dieses Geschwätz! Diese Teegesellschaft! -- Ich gehe übrigens links,
Heinz. Ich muß zum Kaiserhof.« Otto machte erneut den Versuch, Heinz
abzuschütteln, weil er allein sein wollte. Was ahnte dieser Knabe --?

Aber Heinz verstand ihn nicht. »Es ist einerlei, wo ich einsteige. Das
heißt natürlich, wenn ich lästig bin?«

Heinz hatte Mühe mitzukommen, denn Otto machte rasende Fahrt. Mit Genuß
atmete er die feuchte Luft ein, die aus dem Tiergarten in alle Straßen
dieses Viertels strömte. Welcher Qualm bei Frau v. Dönhoff! Dora rauchte
englische, etwas parfümierte Zigaretten, sie bekam sie jetzt noch --
woher, das war rätselhaft, aber sie bekam sie jedenfalls. Auch Heinz war
glücklich, Doras Salon entronnen zu sein. Die Nähe des Generals hatte
ihn bedrückt. Er hatte auch nicht den Mund aufgetan und war sich albern,
kindisch und ungeheuer dumm vorgekommen. Die Ordenssterne des Generals
und besonders der gestickte Kragen (war ein Komet darauf gestickt oder
was sonst für eine sonderbare Sache?) hatten seine Phantasie verwirrt.
Glücklicherweise, ja, es war in der Tat ein Glück, hatte ihn der General
gar nicht beachtet. Nur bei der Begrüßung hatte er ihm flüchtig die Hand
gereicht und ihn mit jenem raschen Blick gestreift, mit dem hohe
Offiziere Untergebene in Gesellschaft begrüßen: kameradschaftlich,
verstehst du, aber welche Distanz! Übrigens, diese Hand des Generals,
sie war stählern und -- eisig kalt. Nie würde er diesen Händedruck
vergessen. Schon aber kehrte seine alte Sorge zurück.

»Glaubt Ihr Herr Vater wirklich, daß wir im Sommer in Paris sein
werden?« wandte er sich hastig an Otto.

Otto fuhr aus seinen Gedanken auf. Er war so zerstreut, daß er einen
Augenblick stehenblieb. Dampfsäulen fuhren aus seinem Mund, so schnell
atmete er, es war kalt geworden. Er blickte Heinz in die Augen, verstand
erst jetzt und lachte plötzlich.

»Natürlich glaubt er es. Er glaubt es schon seit über drei Jahren. Schon
im August 1914 hat er mir Lehren mitgegeben, wie ich mich in Paris zu
benehmen hätte. Er war übrigens nie in seinem Leben in Paris!«

»Also, er glaubt es?« sagte Heinz nachdenklich.

»Ja, ja, und er wird es glauben und wenn die Franzosen in Hannover
stünden. Er würde es auch dann noch glauben. Er ist so.«

»Aber glauben auch Sie es?«

Wieder lachte Otto kurz auf. »Ich?« sagte er, knurrte er. »Ich bin doch
kein Narr!« Nein, er, Otto glaubte nicht mehr an den Sieg der deutschen
Waffen, wie viele Frontoffiziere.

Kein Narr?

»Aber Ihr Herr Vater, Otto, der General --?«

Otto lachte nun laut und belustigt. »Die Generale haben ihre eigene
Meinung, lieber Heinz! Sie können das ja noch nicht verstehen, es ist
ein Kapitel für sich. Ich habe einmal bei Langemarck dreißig Prozent
meiner Leute liegenlassen, und mein General sagte: Na, das ging ja noch
gelinde ab. Wörtlich! Mein alter Herr, übrigens -- er will das Reich
Karls des Großen wieder errichten.«

»Sie glauben also nicht daran?« Heinz atmete erleichtert auf. »Es wäre
ja auch zu fatal,« fügte er hinzu, »jetzt, da ich eben Feldpilot
geworden bin.«,

Fast vier Jahre Krieg und immer noch dieselbe Geschichte, dachte Otto.
Da er aber schwieg, versuchte Heinz, ihm seinen Seelenzustand deutlicher
zu machen.

»Sie können mich nicht begreifen«, rief er aus. »Sie Glücklicher! Sie
fahren ja morgen zurück zur Front!«

Otto knöpfte den Mantel fester zu. Plötzlich fror er. Der Gedanke an die
Front benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Die ganze Grausigkeit
der Zone des Todes, in der es nur zerschossene Gräben, eingeäscherte
Dörfer, zersplitterte Wälder gab, legte sich wie ein Alp auf seine
Brust. Weshalb auch, zum Teufel, mußte er jede Minute daran erinnert
werden, daß er morgen wieder zur Front zurück sollte? Jeder Mensch, der
die Front _nicht_ kannte, tat so, als fahre er zu einer Hochzeit. Ja,
tatsächlich man beglückwünschte ihn! Die Leute allerdings, die sie
kannten -- nun, die sagten gar nichts -- höchstens ein verstehendes,
etwas schadenfrohes Lächeln.

Die Kälte in der halbdunkeln Straße kroch an ihm empor, in seine Uniform
hinein. Er erinnerte sich voller Grauen an die Erdlöcher, in denen er,
völlig unverständlich, Jahre seines Lebens verbracht hatte, an den
eisigen Hauch, der von den Gräben ausging. Und plötzlich, ganz
unvermutet, schnürte ihm eine sonderbare Empfindung die Brust zusammen
-- Angst. Ja, Angst! Gleichzeitig sah er einen Feuerschein vor seinen
Augen, der ihn erschreckte: den kurzen hellen Blitz des explodierenden
Geschosses. Er erbleichte. Das Geräusch einer um die Ecke fahrenden
elektrischen Bahn hatte ihm das schleifende Fauchen einer Granate
vorgetäuscht.

Immer noch war er schneeweiß im Gesicht und sein Herz zuckte -- genau
wie draußen, wenn sie heranzischten.

»Hören Sie, Heinz,« sagte er, »wie diese Elektrische um die Kurve fährt?
Genau so kreischen und fauchen die Granaten. Sie werden noch bald genug
hinauskommen.«

Heinz beschleunigte unwillkürlich den Schritt. »Ich freue mich
unbändig«, rief er aus, indem er die strahlenden Knabenaugen zu Otto
hob. »Denken Sie, ich war fünfzehn, als der Krieg ausbrach, und ich
konnte ja nicht hoffen, noch mitkämpfen zu dürfen.«

»Auch wir, wir haben uns unbändig gefreut, als die ersten Granaten
einschlugen«, entgegnete Otto und gab seiner Stimme einen leichteren und
heiteren Klang. Immer noch pochte und zuckte sein Herz. Er wollte Heinz
auch nicht ahnen lassen, was in ihm vorging. Dieser Junge! Sollte er ihm
sagen, daß er in Angstschweiß gebadet -- betete? So unglaublich es
klingt. Betete! Er! Übrigens -- das ging ihm durch den Kopf -- bei
Souchez -- die Toten lagen mit ihren genagelten Stiefeln in Scharen
draußen -- sie hatten schwere Verluste, ein abgeschlagener Angriff -- da
kam ein bayrischer Priester. Der stieg auf den Graben -- im Feuer! --
das Kreuz erhoben und segnete die Gefallenen ein. Die Franzosen schossen
-- aber er, _er stand_ -- mit dem Kreuz in der Hand. Friede sei mit
Euch! Schrecklicher, herrlicher Augenblick! Er glaubte, glaubte! Die
Kugeln waren Wind für ihn. Aber er, Otto, er betete -- ohne zu glauben,
das ist etwas ganz anderes. Sollte er Heinz erzählen, wie sie liefen --
wie Ratten, auf die geschossen wird -- hin und her -- wie Ratten -- von
Unterstand zu Unterstand -- und zwar jeden Abend? Hohoho! Es wurde
Scheibe geschossen.

»Ja, auch wir haben gelacht, als die ersten Granaten einschlugen. Ich
erinnere mich deutlich. Es war beim Vormarsch. Plötzlich aber hing ein
Bein auf einem Obstbaum --«

»Wie? Ein Bein?«

»Ja, ein Bein. Mit dem Stiefel. Es hing im Kniegelenk auf einem Ast.«

»Brr!«

»Ja, und in diesem Augenblick hörten wir auf zu lachen und Hurra zu
schreien, denn wir hatten ja jeden Einschlag mit Hurra begrüßt. --
Übrigens ist es natürlich für Sie sehr interessant, da Sie die Scherze
noch nicht kennen -- für Sie als Flieger ganz besonders.«

»Sind Sie jemals im Felde geflogen? Nein? Ich stelle es mir wunderbar
vor. Ich habe Tausende von Fliegeraufnahmen gesehen, und ich glaube, daß
ich gleich vertraut sein werde mit allem. Nur das Warten ist
schrecklich.«

»Vergessen Sie nur nicht, wie gesagt, daß da draußen scharf geschossen
wird.«

Der junge Sterne-Dönhoff brach in ein heiteres Lachen aus. »Aber
natürlich, das ist ja gerade das Interessante bei der ganzen Sache,«
rief er aus, »im Feuer fliegen!«

Plötzlich, ganz unvermittelt, blieb Otto stehen und streckte Heinz die
Hand hin. »Ich muß jetzt -- Sie verzeihen, Heinz -- ich muß gehen!«
Immer noch war er etwas bleich.

»Auf Wiedersehen, Otto. Und hoffentlich im Felde!«

»Hoffentlich!«

Er hat auch seinen Knacks weg! dachte Heinz. Nein, wie nervös er ist!
Und doch soll er zum Pour le mérite vorgeschlagen sein!

                   *       *       *       *       *

Wie ein Rasender stürzte Otto die halbdunkle Straße hinab. Heinz sah ihm
verwundert nach.

Gerechter Gott, sollte man es für möglich halten? Auf gesunde
Wiederkehr! Er war gekommen, um ein paar Worte mit ihr zu sprechen. Ein
Lächeln, eine gepuderte Hand. Alles? Und eine ganze Gesellschaft saß da,
zu allem Unheil kam noch der Alte dazu --!

Da droben gab es keinen Stern, kein Licht, keine Wolken, nichts. Nur
eine dicke fettige Schicht von Ruß, aus der zuweilen flimmernde Tropfen
fielen, lag auf den häßlichen dunkeln Häusern, die vor Feuchtigkeit
schwitzten. Und schon war Otto in einem Blumengeschäft verschwunden.

Tulpen, Flammen und Glut, hellrote Rosen.

»Das Stück kostet --«

»Ich möchte alle.«

»Alle?« Sie kosteten ein Vermögen.

»Einen letzten Gruß!« schrieb Otto. Der neugierige Blick der kleinen
rothaarigen Verkäuferin, die ihn durch die Blumensträuße beobachtete,
verwirrte ihn. Er wurde abwechselnd bleich und rot, während er die paar
banalen Worte und die Adresse schrieb. Es mußte ja ganz unverfänglich
sein, jeder Mensch, dieser Petersen und diese Frida, die
herumspionierten, mußten die Karte lesen können. Ohne diese
Rücksichtnahme hätte er wohl gewußt, was er schreiben sollte.

Er hätte schreiben können: Ich werde Dich vor mir sehen -- und wieder
erbleichte er.

Die Liebe ist Gift, dachte der rothaarige Irrwisch und lächelte
spöttisch hinter dem Offizier her.

Ruhiger schritt Otto dahin. Plötzlich, sonderbar, hatte er Zeit! Morgen
früh um sieben Uhr ging der Zug. Nun wohl, das waren immerhin noch gute
zwölf Stunden. Der Abend lag vor ihm -- und die ganze Nacht.

Unangenehm nur war die Verabredung mit jener Dame im Kaiserhof. Sehen
wir zu, daß wir die Sache hinter uns bringen! Indessen -- keine Eile --
mochte sie getrost noch etwas warten. Er hatte es gewiß nicht an
Deutlichkeit fehlen lassen, oder? Schluß, zu Ende, sei ein tapferes
Mädchen usw. usw. Wie man in solchen Fällen zu schreiben pflegt. Nein,
nach diesem Brief gab es ein Zurück nicht mehr. Und doch hatte sie ihn
wieder beschwätzt. Sie begriff, sie war völlig einverstanden, zu Ende,
natürlich, aber sie wollte ihn vor seiner Abreise noch einmal kurz
sehen, wenn auch nur für einen Augenblick. Sie schrieb, daß sie von 5
bis 9 Uhr im Kaiserhof auf ihn warten werde. Er würde gewiß eine Minute
finden. Von 5 bis 9 Uhr! Es war natürlich ganz unmöglich, eine junge
Dame vier Stunden lang vergebens warten zu lassen, das sah er wohl ein.

Aber sie soll wenigstens etwas zappeln, dachte er und zündete sich
gemächlich eine Zigarette an. Er machte sogar noch einen unnötigen
Umweg.

»Diese Hedi!« Verächtlich stieß er die Luft durch die Nase.

Wie der General verachtete auch Otto im Grunde seines Herzens die
Frauen.

Er kaufte eine Abendzeitung und durchflog sie unter einer Laterne.


5

Heinz war, so schnell ihn die Füße trugen, zur Station der
Untergrundbahn geeilt. Er hatte ja Klara benachrichtigt, daß es etwas
später werden könnte, trotzdem . . .

Es war die Stunde des Geschäftsschlusses.

Berlin war wie ein schmutziger Schwamm, der ausgedrückt wird. Ströme von
Schmutz flossen aus dem finsteren Himmel, von den Dächern und den
tausendfenstrigen Hauswänden. Der Schmutz wälzte sich über die Straßen
und stieg in den durchlöcherten Stiefelsohlen bis an die Knöchel. Die
Menschen in ihren abgeschabten, dünnen Kleidern, blau vor Kälte und
Hunger, quollen aus den frostigen Häusern und stürzten hinab in die
windigen Kamine, die zur Untergrundbahn führen. Sie stauten sich auf den
Bahnhöfen, geballt zu einer Wolke von Bitterkeit und Wut. Die
überfüllten Züge fegten, triefend von Dunst und Schmutz, mitten hinein
in die Menschenknäuel, die sich rasend gegen Türen und Scheiben warfen,
um nicht auf den finstern, feuchten Perrons zurückbleiben zu müssen.

Die Schaffnerinnen -- ihre Männer waren im Feld, faulten längst in den
Massengräbern, verbluteten in dieser Minute, die Kinder hungerten zu
Hause in einer kalten Stube -- die Schaffnerinnen, gepeinigt bis aufs
Blut von den jagenden Zügen, klirrenden Scheiben und kämpfenden
Menschenmassen, schrien mit schrillen, gellenden Stimmen, als ob sie
erdolcht würden. (Und ach, sie wurden erdolcht, jede Minute stieß ihnen
unbarmherzig das Messer ins Herz.)

Zu Blöcken zusammengepreßt, flogen die Menschen durch die dunkeln
Tunnels voll stummer gegenseitiger Raserei. Sie schwiegen. Sie
fürchteten Spione und Agenten. Sie fürchteten den Terror der Albernheit.
Sie lächelten und lachten nicht mehr. Sie fühlten das Verhängnis dicht
vor sich, um sich, über sich, wo am Dach des Wagens sich all die Dünste
der zusammengedrängten Menschenmassen stauten. Dieses Verhängnis, dessen
Widerschein in allen Augen glänzte, begleitete sie durch die finsteren
Tunnels, über die klirrenden Brücken und flutete mit ihnen über die
menschenwimmelnden Perrons. Flogen die Züge in die Stollen hinab, so war
es für viele, als ginge es in die Hölle mit ihnen, und der kalte Schweiß
trat auf ihre Stirn.

Dunkelheit, Kälte und Hunger drohten aus den Straßenschluchten. Diese
drei Gespenster ergriffen Besitz von Berlin, das sich drei Kriegswinter
hindurch tapfer verteidigt hatte, um im vierten zu kapitulieren. Täglich
breiteten sie sich mehr über die Stadt aus. Sie eroberten Häuserblock um
Häuserblock, Straßenzüge um Straßenzüge, Stadtviertel um Stadtviertel,
und drangen langsam zum Herzen der Stadt vor. Als ein viertes Gespenst
war noch die Grippe dazugekommen. Dieses Gespenst war überall, wo sich
Menschen ansammelten. Es machte alle Fahrten auf den überfüllten
Untergrundzügen mit. Die Passagiere husteten sich gegenseitig den Tod
ins Gesicht. Viele von ihnen machten heute ihre letzte Fahrt. Mit
Vorliebe suchte dieses vierte Gespenst sich junge Exemplare aus, es
liebte zartes Fleisch. Sie starben von der Berührung. Die Alten brachte
es nur um eine gute Strecke der Grube näher, in die sie eines Tages,
entkräftet vor Hunger und zermürbt von der Verzweiflung, ganz von selbst
stürzen würden.

Heinz mußte einen überfüllten Zug vorbei lassen. Ein Paar grober Fäuste
schleuderte ihn zurück. Selbst beim nächsten Zug verdankte er es nur
seinem freundlichen Knabengesicht und dem Lächeln auf den roten Lippen,
daß man ihn mitnahm.

Augenblicklich dachte er an die grüne Mütze. In wenigen Minuten würde er
sie sehen!

Eine grüne Wollmütze, flott nach hinten gerückt, grasgrün, mit einer
ebensolchen grasgrünen Seidenquaste in der Mitte, gewiß ist sie nichts,
aber sie kann im Herzen eines Menschen soviel sein wie der Christus in
der Kirche. Zuweilen, wenn die Züge seiner Dame in seinem Gedächtnis
verblaßten, sehr selten geschah es -- die grüne Wollmütze blieb zurück,
keine Macht konnte sie ihm entreißen. Und allmählich, wie durch einen
Zauber, fügten sich dann wieder Haar, Wangen, Ohr -- alles daran.

Diese grüne Wollmütze leuchtete über den Wittenbergplatz, als er den
Bahnhof verließ -- weithin, wie ein Scheinwerfer. Und doch war es nur
ein handgroßer Fleck von Grün, nicht einmal sehr deutlich im Schein
einer Laterne. Durch das Gewimmel von Menschen hindurch drang Heinzens
Blick, als ob die Menschen transparent wären, er sah seine Dame von den
Schuhen bis zur Wollmütze, in ihrer ganzen Figur, obschon sie mitten in
einem Knäuel von Wartenden bei der Haltestelle der Elektrischen stand.
Das war jedenfalls ganz wunderbar. Er erkannte die Linie ihres
anliegenden Jacketts, er sah sogar, daß sie ein Päckchen am Finger trug.

Plötzlich traf eine Stimme Klaras Ohr! Aber Heinz hatte gar nicht
gerufen. Sie blickte im gleichen Augenblick auf ihn, ihre Blicke
begegneten sich durch das Gewimmel. Sie lächelte, ihr Lächeln kam näher,
es wurde leuchtender und strahlender, überblendete Menschenschatten,
Finsternis und schmutzige Straße, und endlich glänzte es dicht vor ihm.
Es hatte sich nun wiederum auf seine Quelle zurückgezogen. Es leuchtete
aus ihren Augen, aus ihren Lippen, weißen Zähnen, aus ihren Wangen und
selbst aus ihren blonden Haaren, auf denen einige Regentropfen wie Tau
glitzerten.

Beide erröteten und fingen gleichzeitig an zu reden. Es war völlig
einerlei, was sie sagten. Sie freuten sich an dem Klang ihrer Stimmen,
die durcheinander klangen.

»Sie haben -- du hast --«

»-- tausendmal Verzeihung jedenfalls -- meine Cousine wollte mich
Hauptmann Wunderlich vorstellen, der eine Kampfstaffel führt --«

Die grüne Wollmütze glitt die Straße hinab, die seidene grüne Quaste
baumelte hin und her.

Wie wunderbar frisch ihre Halskrause ist, dachte Heinz und wie fest ihr
Jackett um die Hüfte schließt. Sie aber bewunderte den Schnitt seines
Mantels, der nahezu bis zur Erde reichte und viel zu weit war, und seine
seidene Mütze, die eine kecke Beule aufwies.

»Du trägst ja nun das Abzeichen!« rief die junge Dame plötzlich
überrascht aus. Mit einem raschen Blick hatte sie, als er nur einen
Augenblick den Mantel aufknöpfte, sofort das Fliegerabzeichen entdeckt.

»Ich habe es gestern bekommen.«

»Ich gratuliere.« Das war wohl eine Gelegenheit, ihr die Hand zu geben.
Heinz berührte die Spitzen ihrer zarten, ach so zarten und unbegreiflich
dünnen Finger.

»Gestern flog ich über Berlin«, erzählte er lebhaft. »Ich flog über den
Wittenbergplatz und den Kurfürstendamm entlang. Bei der Gedächtniskirche
drosselte ich den Motor und ging auf fünfhundert Meter herunter. Ich sah
das Treiben der Menschen und dachte, vielleicht geht auch Klara Westphal
da unten.«

Nein, Klara Westphal war zu Hause.

Klara streifte ihren jungen Helden mit einem bewundernden Blick. Sie
konnte wohl beobachten, daß die Damen den schlanken Offizier anblickten,
und manche drehten sich sogar um, so schön und frisch war er. Er ging
sorglos und strahlend, die Mütze etwas keck aufs Ohr geschoben, und er
hatte eine besonders flotte Art zu grüßen, als gebe es Vorgesetzte für
ihn nicht. Sein Gruß hatte zuweilen sogar etwas Herablassendes und
Gönnerhaftes. Jetzt, da er neben Klara ging, war er völlig frei von
seiner kindischen Ehrfurcht vor allem, was Achselstücke mit Sternen
trug.

»Und dein Kommando?«

»Leider ist es noch nichts damit. Nun aber hat Hauptmann Wunderlich mir
versprochen, mich für seine Kampfstaffel anzufordern, sobald es möglich
ist.«

Nichts fürchtete Klara mehr als diesen schrecklichen Augenblick, wo das
Kommando kam. Schon jetzt klopfte ihr das Herz.

»Wohin wollen wir gehen?«

»Es ist ganz gleichgültig.«

Es war in der Tat völlig gleichgültig. Wenn sie nur nebeneinander
hergehen durften, verstrickt durch das Unergründliche, unbegreiflich
Süße, Geheimnisvolle -- Blicke, Gesten, Lachen, Worte, das war ja das
allerwenigste.

Die Menschen, die aus Elektrischen sprangen und in Restaurants eilten,
die Unverschämten, die sie anblickten und Bemerkungen austauschten --
sie sahen sie gar nicht.

Sie bogen in eine dunkele Straße ein, und sofort strahlten Klaras Augen
wie Feuer, ihr blondes Haar flammte unter der grünen Mütze und ihre
etwas vollen Wangen begannen geheimnisvoll zu schimmern. Ihr kleiner
Mund aber glänzte naß und tiefrot.

Wunderbar! Hier in der Dunkelheit sah Heinz, daß sie atmete, was er
früher nie beobachtet hatte. Ihre Brust bewegte sich, ergreifend, unter
dem enganliegenden Jackett gleichmäßig auf und ab. Zum ersten Male hörte
er auch ihren Atem, den er nie gehört hatte.

Klaras Lippen wurden durch ein Lächeln geöffnet, und im gleichen
Augenblick rief sie jauchzend aus: »Es schneit, Heinz! Es schneit!« Und
schon flog die grüne Mütze mit der baumelnden Quaste davon.

»Komm, komm!« Sie streckte ihm die Hand hin.

Nun liefen sie beide in den wirbelnden Schnee hinein.

Unterdessen wartete Hedi Westphal in der Halle des »Kaiserhofs«. Und
Otto las unter einer Laterne gemächlich die Abendzeitung.


6

Hedi hatte längst den Tee ausgetrunken. Sie hätte gern eine zweite
Portion bestellt, aber sie mußte sparen. Ewig diese Geldmisere!

Ihr Vater war Geheimer Rat im Auswärtigen Amt. Da schlich er täglich in
Gamaschen und Seidenhut an den beiden Sphinxfiguren des Vestibüls
vorüber, die immer so eigentümlich lächelten. Dann knackte er in seinem
Bureau mit den Fingern, zupfte an seinem dünnen Chinesenbart und
vertiefte sich in die Zeitungen. Diese Tätigkeit war nicht besonders
aufreibend, aber sie war schlecht bezahlt und die Westphals ohne
Vermögen.

Trotz des lächerlich geringen Taschengeldes war Hedi ganz Lady -- von
den tadellosen Stiefelchen an bis hinauf zu dem kleinen Reiher auf dem
silbergrauen Seidenhütchen. Sie trug einen weißen Schleier mit
silbergrauer Stickerei. Sie war noch blonder als Klara, nahezu
weißblond.

Den weißen Schleier mit den silbergrauen Ornamenten schob sie zuweilen
über das Näschen und nippte, die Hand graziös geformt, an der leeren
Teetasse.

Würdevoll war ihre Haltung, etwas lässig. Die Umwelt existierte nicht
für sie. In vollkommenem Gleichgewicht schwebend saß sie da.

Die Musik wehte. Butterfly.

Ein älterer Offizier mit einer mächtig funkelnden Glatze beobachtete sie
in auffallender Weise. Hedi wandte das Gesicht mit einem gelangweilten
Blinzeln in eine andere Richtung. Nun aber hatte sich ein junger Herr in
einem Klubsessel am Mittelgang niedergelassen. Er trug einen weiten
Mantel von auffallend heller Farbe, tadellose braune Stiefel, nagelneu,
eine Sehenswürdigkeit in diesen Tagen. Eine Zigarette im Mundwinkel saß
er da und stieß mit einem dünnen Stöckchen im Takte der Musik auf den
Teppich. Zuweilen ließ er seinen Blick über Hedi gleiten, aber in
gänzlich unauffälliger Weise, so daß sie ihn niemals dabei ertappen
konnte. Im letzten Moment huschte der Blick stets über sie in die Höhe
zur Decke. Vielleicht hatte sie ihn schon gesehen? Er kam ihr irgendwie
bekannt vor. Nun brachte ihm ein Kellner ein kleines Glas und goß eine
rote Flüssigkeit ein. Der junge Mann nahm aus seiner Manteltasche einen
Pack Papiergeld und reichte dem Kellner eine Note, um gleich darauf
wegzublicken. Der Kellner verneigte sich tief. Hedi blickte auf die
Armbanduhr, und ihre Miene sah enttäuscht aus. Es war einhalb sieben
Uhr. Die Musik spielte einen Tango. Der Herr in dem weiten Mantel hatte
die rote Flüssigkeit ausgetrunken, stand auf und ging. Aber nach wenigen
Minuten kam er wieder zurück. Er trug einen Strauß weißer Rosen in der
Hand, den er vor sich auf den Tisch legte. Er wartet, auch er! Wieder
schwebte Hedi in vollkommenem Gleichgewicht.

Dann saßen da noch einige Damen, mit Brillanten, Perlen, Pelzen, Puppen
mit einem Wort -- Hedi sah sie überhaupt nicht.

Schon begann der Saal sich zu leeren. Die Kellner räumten die Teetische
ab. Im Speisesaal flammten Lichter auf, und die Kellner gingen hinter
den Spiegelscheiben zwischen den weißgedeckten, mit Blumen geschmückten
Tischen hin und her und legten die Kuverts auf. Der Herr im hellen
weiten Mantel saß immer noch in seinem Klubsessel. Glattrasiert, blau
ums Kinn, die gescheitelten Haare pechschwarz, sah er -- wie es Hedi
schien -- wie ein Spanier aus. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und
starrte sinnend zur Decke empor, während seine Fußspitze im Takte der
Musik wippte. Nur zuweilen, wenn er die Asche von seiner Zigarette
streifte, glitt sein Blick über Hedi hin. Unbeachtet lagen die weißen
Rosen vor ihm auf dem Tisch.

Hedi schob trotzig die Oberlippe in die Höhe gegen den Schleier -- sie
wurde ungeduldig. Aber in diesem Augenblick sah sie Otto hereinkommen.
Er trat schnell durch den Mittelgang. Das Blut stieg ihr in den Kopf,
und plötzlich schlug ihr Herz im Halse. Sein braunes Gesicht glänzte von
der frischen Luft, und aus diesem braunen, glänzenden Erzgesicht, das
sie geliebt hatte, sprühten wild und verwegen die hellgrauen Augen der
Hecht-Babenberg.

Welche Träume starben dahin, welche Träume versanken! Während der Tango
kollerte, gurrte, kleine wollüstige Schreie ausstieß.

Sie krachten zusammen mit Donnergepolter wie Riesenschlösser, deren
Fundament nachgibt, sie zersprangen wie Paläste aus Glas -- in nichts!

Babenberg und Rothwasser, die Familiengüter der Hecht-Babenberg -- mit
den hundertjährigen Bäumen, dem Sommergeruch auf den endlosen
Kornfeldern, dem Ziegelwerk, den brüllenden Viehherden bei den Weihern
-- die Erde verschlang sie! Der Besuch ihres kleinen Papas, den die
Bureauluft zur Mumie ausgetrocknet hatte -- dahin! Die Berühmtheiten,
Feldherrn und Minister, die ihren Hausball besuchten -- in Staub
zerfielen sie. Ihre Audienz beim Kaiser, ihr Kniefall vor Seiner
Majestät, wegen irgendeiner Sache -- ein Nebelfetzen! Und all die
Phantasien, gesehen in den Augenblicken, da der Blick bricht in
Verzückung -- nichts!

Während der Tango unter ihren Schuhsohlen im Parkett klopfte.

Er war entschlossen, an seinem Blick konnte sie es sehen --

Nichts blieb als die bescheidene Behausung in der Schaperstraße, wo Papa
mit seiner dicken Mappe aus dem Amt kam und nicht gestört werden durfte.
Wo man in Pfennigen dachte, wo Klara wie eine Närrin schwätzte --

Chaos umgab Hedi. Sie saß in der Staubwolke ihrer zusammengestürzten
Paläste, auf dem Schutt ihrer Reichtümer, eine Bettlerin. Sie saß wie
eine Lady, in idealem Gleichgewicht, und ihr Blick flog lächelnd Otto
entgegen.

                   *       *       *       *       *

Der Herr im hellen Mantel, der Spanier, rief Otto an.

»Ich darf Sie doch heute abend erwarten, Otto?«

»Es kann allerdings etwas später werden.«

»Sie wissen, mein Lokal ist die ganze Nacht offen!«

Otto streifte die Handschuhe ab.

»Es schneit wohl wieder?«

»Ja, es schneit, ich bin etwas spät, verzeihe --«

Hedi lachte. »Ich bin vor kaum zehn Minuten gekommen.«

Schon kam der Kellner und brachte Tee.

»Ich habe dem Kellner gesagt, sofort Tee zu bringen, wenn du kommst«,
sagte Hedi. »Du hast es gewiß sehr eilig.« Schon errötete Otto und
runzelte die Stirn. Etwas gefiel ihm nicht.

Die Musiker packten ihre Instrumente ein und klappten den Flügel zu.

»Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist,« fuhr Hedi fort, »wir sehen
uns nun vielleicht lange nicht, vielleicht nie mehr. Und ich wollte
gerne . . .« Sie sprach leichthin -- ganz Dame.

Ottos blanke, graue Augen waren fragend auf sie gerichtet.

»Ich reise wahrscheinlich.«

»Du reisest?«

»Ja. Nach Schweden. Es ist noch nicht ganz sicher. Man ist an Papa
herangetreten.« (Welche Lüge, welch infame Lüge, aber sie war ihr
plötzlich durch den Kopf geschossen!)

»So?« Ottos Neugierde war wach, aber er wagte nicht zu fragen.

»Ich werde der Mission attachiert. Wahrscheinlich muß ich nach Rußland.
In besonderem Auftrag.«

»Ah!«

Der Herr im weiten hellen Mantel stand auf und grüßte. Er verneigte sich
auch gegen Hedi, und während sie ihn kurz anblickte, lächelte sie
unmerklich. Aber, sie konnte schwören, sie hätte nie, nimmermehr
gelächelt, wäre ihr Herz in diesem Augenblick nicht so voller Bitterkeit
gewesen. Der Spanier -- er war übrigens nicht hübsch, eher häßlich --
war ein Herr Ströbel oder ein Herr v. Ströbel, ein während des Krieges
reich gewordener junger Mann. Sie erinnerte sich seines Namens. In
seinem Hause, das wußte sie von Otto, fanden jene berüchtigten
Spielabende statt, die die ganze Nacht hindurch dauerten.

Verlassen lag der Strauß weißer Rosen auf dem Tisch.

»Ich freue mich übrigens, Hedi --« begann Otto.

»Ich meine -- du begreifst ja wohl meine Motive? Es ist mir ja --«

»Bitte, Otto!« unterbrach ihn Hedi. »Ich bin doch keine kleine
Verkäuferin« -- scherzte sie -- »wir wollen gute Kameraden bleiben. Kein
Wort weiter. Hast du Zigaretten?«

Der Kellner stürzte mit einem Streichholz herbei. Er störte. Nur um
etwas zu sagen, warf Hedi hin, daß das letztemal, als er zur Front
reiste, diese furchtbare Hitze in Berlin war. Es lag keinerlei Absicht
darin, auf Ehre, allein der dumme Kellner war Schuld daran. Schon stieg
ihr die Röte ins Gesicht, und auch Otto errötete plötzlich.

Das letztemal -- da war Hedis berühmtes Abschiedssouper gewesen.

Otto war ihr Gast!

Das Auto fuhr und fuhr -- damals war Berlin ja noch nicht tot -- es fuhr
bis zu einem gänzlich entlegenen Hotel am Schlesischen Bahnhof -- und
Otto mußte sich fügen.

Hedi aber hatte schon alles vorbereitet. Sie hatte dem Besitzer des
Hotels mit einem Schwall von Worten erklärt, daß ihr Mann auf Urlaub,
durchkäme, und daß sie aus der Provinz seien, kriegsgetraut, und daß er
nur diese eine Nacht hier wäre, daß sie ihn am Bahnhof abholen und
hierher bringen werde. Mit einem Schwall von Worten hatte sie, bebend
vor Angst und Aufregung, die Zimmer ausgewählt und das Menü
zusammengesetzt. Nichts war gut genug, und der Kellner bekam zwanzig
Mark Trinkgeld im voraus, damit er wußte, mit wem er es zu tun hatte.

Die gesamten Ersparnisse eines vollen Jahres gingen darauf. Es gab
Kerzen anstatt des elektrischen Lichts, obwohl Kerzen schwer
aufzutreiben waren, es gab Rotwein, obwohl Rotwein für die Lazarette
beschlagnahmt war, es gab Sekt, obwohl er Unsummen kostete. Die kleine
Tafel, die sie selbst deckte, war mit Blumen geschmückt. Er sollte
sehen, daß es unsinnig war, den letzten Abend in irgendeinem
langweiligen Weinrestaurant zu verbringen. Man mußte nur wissen, wie man
es anpackte. Es ging alles in Berlin, aber man mußte etwas
Unternehmungsgeist haben.

Und Otto -- staunte! Über die Kerzen, den Wein, die ganze Aufmachung,
wie er es nannte.

Es war heiß, und die elektrischen Bahnen brausten drunten vorüber. Es
war Juli. Ein Bataillon zog zum Bahnhof, singend. Die Musik schmetterte
und die Leute schrien begeistert. Berlin, das Berlin des Hochsommers
brauste -- drunten, tief drunten.

Die Kerzen, der Wein. Er war ihr Gast!

Sie entzog sich ihm nicht, weshalb denn? Sie legte das Kleid ab, sie
öffnete ihr Haar. Sie schlüpfte in das dünne Seidenkimono, das sie für
diesen Abend geschneidert hatte. Er sollte sehen, daß sie ihn liebte,
und daß sie nicht ein albernes Gänschen war. Sie trug ihre kleinen
himbeerfarbenen Pantöffelchen.

Berlin, das Berlin des Hochsommers und des Lebens brauste drunten, tief
da unten -- irgendwo.

Dann kam die Nacht.

Er sollte wissen, daß sie ihn liebte und Mut hatte. Ja, es gehörte Mut
dazu, denn Papa würde sie auf die Straße werfen, wenn etwas passierte.

Sie war völlig außer sich vor Raserei. Ja, und sie konnte schwören, daß
sie nichts bereute, daß sie es niemals bereute -- trotz der
fürchterlichen Angst, die sie ausgestanden hatte.

Hunderte von Pferdehufen trappelten auf der Straße -- sie hörte sie
immer noch -- jetzt in dieser Sekunde . . .

Die Zigarette brannte. »Danke«, sagte sie, und der Kellner ging.

»Wo liegt dein Regiment jetzt, Otto?« fragte sie, während die Röte ihrer
Wangen langsam verflog.

»Ich weiß es nicht genau. Wohl an derselben Stelle.«

Einige Belanglosigkeiten -- und plötzlich sieht Hedi auf die Armbanduhr
und springt auf. Mein Himmel! Sie reicht dem Kellner eine Note, zehn
Mark, das macht drei Mark Trinkgeld, aber sie kann nicht warten bis er
herausgibt.

»Nun will ich dir gute Reise wünschen, Otto. Nein, bleibe sitzen. Ich
will allein gehen. Ich habe es sehr eilig. Auf Wiedersehen!«

Ihr Aufbruch kam so rasch, daß Otto völlig verblüfft war. Hedi ging, und
sie sah die weißen Rosen, die verlassen auf dem Nachbartisch lagen,
nicht an. Ganz Lady, schritt sie über die Teppiche.

Ein Nicken, ein Lächeln an der Türe, der Groom verbeugte sich.

Es ging gelinde ab, dachte Otto, der den Kellner ungeduldig herbeiwinkte
und es plötzlich ebenfalls sehr eilig hatte. Da fiel ihm ein, daß sein
General seinerzeit den gleichen Ausdruck ihm gegenüber gebraucht hatte
-- damals, als er dreißig Prozent seiner Leute liegenließ. Er hatte die
Geschichte erst vorhin Heinz erzählt. Nun, jedenfalls hatte sie sich wie
eine Dame benommen. Er fürchtete nichts mehr als Szenen.

Aber ein unangenehmes Empfinden blieb in ihm zurück. Was war es doch?

Er haßte sie in diesem Augenblicke bitter.


7

»Schuft, Schuft!« Hedi lachte. Was für ein bodenloser Schuft war er
doch!

Mit schnellen Schritten eilte sie an den Häusern entlang in das
Schneetreiben hinein, den Hut mit dem kleinen Reiher dicht in den Schirm
gedrückt.

Seine Motive -- seine Motive kannte sie ganz genau! Seine Familie, seine
Karriere -- was für Ausflüchte! Hätte er doch den Mut gehabt ihr zu
sagen, daß er sie nicht mehr liebte! Aber diese Männer sind Feiglinge,
und wenn sie auch mitten in den Kugelregen hineingehen. Geld und
Ordensauszeichnungen, das war alles, wonach diese Offiziere trachteten.

Die Lampen eines Automobils blendeten durch die finstere Straße, und die
Schneeflocken jagten gleißend durch den Lichtkegel. Plötzlich aber
stockte Hedis Schritt, in dem gleißenden Lichtkegel flatterte ein
weiter, heller Mantel. Er mußte ihr gefolgt sein, sie umgangen haben, um
plötzlich vor ihr erscheinen zu können, oder war es ein Zufall? Ihre
Füße waren wie gelähmt, denn der Mantel kam näher, und sie bemerkte, daß
er die Richtung seiner Bewegung änderte. Sie bog rasch ab und stürmte
die Treppe zur Untergrundbahn hinunter. Mein Gott, sie war falsch
gegangen, sie wollte nach dem Leipziger Platz, und nun war sie an der
Friedrichstraße angelangt.

Der gelbe Mantel erschien auf der Treppe der Station. Er war nur einen
Augenblick sichtbar, dann verschwand er, er kam nicht herunter.

Hedi atmete erleichtert auf.

Nein, sie brauchte Otto nicht, sie brauchte ja nur die Hand
auszustrecken und soviel Finger sie hatte, soviel . . .

Der Zug fuhr in die Station. --

Otto hatte gleich hinter Hedi das Hotel verlassen. Als er sie mit den
Blicken suchte, war sie schon verschwunden. Übrigens fesselte gerade
eine Dame seine Aufmerksamkeit, die aus einer Droschke stieg und duftend
und glitzernd die lichte Hotelhalle betrat. Otto eilte rasch nach Hause.
Er warf sich in Zivilkleidung, in ganz unglaublich kurzer Zeit hatte er
sich umgezogen. Er knöpfte noch den Mantel zu, als er wieder die Treppe
herabsprang. Er hatte nicht die geringste Lust, den Abend zu Hause zu
verbringen und alle möglichen Dinge über Siedelungsgebiete, Kolonien und
strategische Sicherungen zu hören.

An der Türe des schmalen Vorgärtchens prallte er mit einem kleinen Herrn
im Havelock zusammen. Aber der kleine Herr im Havelock war nicht im
geringsten ungehalten. Im Gegenteil, er zog den Hut, stammelte
Entschuldigungen.

»Herr Oberleutnant --« Offenbar kannte er ihn. Irgendein Hausmeister der
Nachbarvillen.

Fort! Schon rauschte die Limousine des Generals heran.

In einem Tempo, als habe er auch nicht eine Sekunde Zeit zu versäumen,
eilte Otto der Friedrichstadt zu.


8

Kälte schlug dem General entgegen, als er seine Wohnung betrat. Er
bewohnte das Parterre eines einstöckigen grauen Hauses an der
Tiergartenstraße, dicht am Kemperplatz, nicht weit von Doras
Backsteinvilla entfernt. Kälte und Stille -- die Wohnung war erfüllt von
Winter, von Tod.

Die Generalin war einige Jahre vor dem Krieg in Davos gestorben, nachdem
. . . Die Ehe des Generals war in den späteren Jahren nicht glücklich
gewesen, übrigens hatte die Generalin nie diese Wohnung in der
Tiergartenstraße betreten, damals -- wieviel Jahre sind es her! --
wohnten sie in der Margaretenstraße.

Auch sein Sohn Kurt, der älteste -- er war nicht mehr. Gefallen an der
Somme.

Ein eigentümlicher Hauch strich durch die Wohnung -- und augenblicklich
versteinte das Gesicht des Generals wieder. Den Rest des Familienlebens
hatte der Krieg vernichtet. Ruth und Otto gingen ihre eigenen Wege. Ruth
arbeitete zurzeit in ihrer Küche, früher in einem Lazarett, und Otto,
wenn er einmal auf Urlaub in Berlin war, war selten zu sehen -- ein
Leichtfuß . . . Es gibt in dieser Hinsicht keine Kompromisse: entweder
lebt eine Familie glücklich, oder sie zerfällt.

Die Burschen rasselten in der Diele in die Höhe. Auch die Ordonnanz
rasselte. Sie brachte die Mappe mit den Akten, die am Abend bearbeitet
werden mußten. Nur Soldaten lebten im Hause des Generals -- und eine
Wirtschafterin, Therese, die irgendwo hinten in den Zimmern hauste, und
die man nie sah. Soldaten gingen ein und aus, solange der General lebte.
Sein Vater war als Oberst gestorben. Es rasselte von Waffen, und sie
brachten den Geruch aus den Kasernen mit.

Der General ließ den Pelzmantel einfach fallen, irgend jemand stand
schon da und fing ihn auf.

Ja, Kälte -- trotzdem die Wohnung gut geheizt war. Durch einen dunkeln
Spiegel sah er sein steinernes Gesicht gleiten. Alle Lampen schienen
falsch oder ungeschickt angebracht. Anstatt Licht und Freundlichkeit zu
verbreiten -- wie warm war es doch bei Dora! -- verbreiteten sie
feindselige Grelle und haßerfüllte, pechschwarze Schatten. Dunkle
Täfelungen, schwere Barockmöbel, Gold -- die Parkettböden schrien, wenn
man sie betrat, es war ein altes Haus.

In seinem Arbeitszimmer fiel der Frost von ihm. Hier allein war er zu
Hause. Er atmete auf, seine Haltung wurde um etwas lässiger.

Mit raschen Schritten näherte er sich einem Vogelbauer, in dem ein
kleiner gelber Kanarienvogel hauste.

»Nun, Niki -- Niki!« Er steckte den Finger durch die Stäbe -- er sprach
mit dem Vogel genau so, wie er früher mit seinen Kindern gesprochen
hatte, mit veränderter, komischer Stimme -- als sie noch ganz klein
waren, klein, lieblich und voller Vertrauen.

»Aber das Apfelschnitzchen -- es ist ja heruntergefallen, nun wollen wir
aber das Apfelschnitzchen -- und das Wasserchen, wieder alles verspritzt
-- du Schlingelchen --«

Der Vogel piepte und sprang erregt von Stäbchen zu Stäbchen.

»Ja, siehst du -- das Herrchen --«

Es klopfte. Eine laute Stimme rief: »Es ist serviert, Herr General!« Das
war Jakob, der Ulan, Bursche und Kammerzofe des Generals. Es gab auch
noch einen Wangel, der aber war mehr für den Dienst außerhalb des
Hauses. Die Uhren schlugen. Es war acht.

Punkt acht -- Punkt, immer Punkt! Der General war für peinlichste
Pünktlichkeit. Zuweilen, erschöpft vom Dienst, legte er sich zur Ruhe --
zehn Minuten, zwanzig Minuten -- mit der Sekunde mußte er geweckt
werden. Die Burschen konnten den ganzen Tag faulenzen oder mit Köchinnen
klatschen, aber ihre Uhren mußten genau gerichtet sein. Punkt ein halb
acht Uhr morgens erhob sich der General, Punkt ein viertel nach acht
nahm er sein Frühstück, Punkt ein Uhr fuhr er zum Mittagessen (er aß in
der Stadt), Punkt acht Uhr erschien er zum Abendessen. Auch im Felde
hatte er die gleiche Einteilung des Tages eingehalten und wenn die Welt
unterging. Zuweilen ging sie auch unter, aber den Tagesplan des Generals
vermochte sie nicht zu verrücken.

Zeit, Zeit -- jede Minute war kostbar -- der Dienst --

Nun gut . . . Punkt acht Uhr begab sich der General ins Speisezimmer.

                   *       *       *       *       *

Ruth sagte »Guten Abend« und grüßte den Vater mit ihren hellbraunen
Augen, die in der Tiefe warm und golden schimmerten. Sie war keine
Hecht-Babenberg, sie war, heißt das, physisch nicht den Traditionen des
Hecht-Babenbergschen Blutes gefolgt, das große, solide Knochen, breite
Schädel mit etwas slawischen Backenknochen baute, sie war eine
Sommerstorf, nach der Mutter geraten, die einer süddeutschen,
fränkischen Familie entstammte. Sie war nicht groß, schmalschultrig,
eher zierlich, ihr Haar dunkelblond, fast braun, und so weich, daß es
sich schlecht frisierte und die Frisur häufig etwas nachlässig aussah.
Zuweilen rügte der General diese Nachlässigkeit, mit einem raschen
Blick. Ruth glättete dann verlegen mit den Händen die Haarwellen.

Der General goß sich Fachinger ein. Neben seinem Gedeck lagen die
Abendzeitungen, die er durchflog, während er die Suppe schlürfte. Wann
sollte er Zeit haben, die Zeitungen zu lesen? Er wußte kaum, was in der
Welt vorging. Aber das war auch Nebensache, die Hauptsache war, daß
diese Burschen geschlagen wurden, und es war nicht nötig, daraufhin die
Zeitungen zu studieren. Auf Tag und Stunde würde er es wissen, wenn es
so weit war. Noch war es allerdings nicht ganz so weit, auch das wußte
er ganz genau.

»Na, da haben sie wieder mal --« murmelte der General.

»Wie Papa?«

Schweigen. Der General schlürft hastig und ungeniert die Suppe, die vom
Löffel in den Teller tropft, und schielt in die Zeitung.

»Jakob? -- Es zieht.«

Jakob tritt aus dem Schatten neben dem Danziger Barockbüfett, wo er sich
gewöhnlich verbirgt, und geht zu sämtlichen Fenstern und Türen, auf den
Fußspitzen, obwohl er weiß, daß alle ordentlich geschlossen sind. Jakob
bedient auch bei Tisch. Der General liebt es, von einem Mann in Uniform
auch zu Hause bedient zu werden -- es ist wie im Felde. Er haßt
weibliche Dienstboten.

Die silbernen Bestecke blinken kalt, die Tischdecke ist wie Schnee --
und obgleich der Tisch nicht um vieles größer ist als ein gewöhnlicher
Eßtisch, scheint dem General diese Tischdecke zuweilen ein endloses
Schneefeld zu sein. Ganz am Rande dieses Schneefeldes weiß er seine
Tochter, fern, klein -- zuweilen scheint es dem General, als ob die
Menschen mehr und mehr in die Ferne glitten, mehr und mehr, täglich
mehr. Oft klingen ihre Stimmen fern und dünn, wie aus großer Entfernung.
Oft hört er sie gar nicht mehr, so dünn klingen sie. Es kommt daher, daß
er überarbeitet ist.

»Na, da haben sie wieder mal einige Tausend Tonnen heruntergeschossen.«

Jakob wechselte die Teller, geräuschlos.

Der General sah plötzlich auf. Jetzt erst bemerkte er, daß Otto bei
Tisch fehlte.

»Otto ist eingeladen, Papa.«

»Am letzten Abend --?« Röte stieg in das Gesicht des Generals. Seine
Wimpern hoben sich vorsichtig, und sein Blick tastete über Ruths
Gesicht. Dieses Gesicht war zart, blaß und von einer ungewöhnlichen
Reinheit des Teints. Es war voller Anmut, ohne irgendwie schön zu sein.
Eine träumerische Zerstreutheit war über die weichen Züge gebreitet, und
ein Lächeln lag auf den etwas zu vollen, tiefroten Lippen. Ruth fühlte
den Blick, ihre Lider zitterten -- aber schon war der Blick des Generals
wieder zu seinem Teller zurückgekehrt. Der General liebte es nicht, dem
Blick seiner Tochter zu begegnen -- es hatte seinen Grund, seine Gründe,
über die er niemand Aufklärung schuldig war.

»Viel Arbeit in der Küche?«

»Genug, Papa. Wir geben täglich achthundert Mahlzeiten aus.«

»Sapperlot!« Der General wischte sich den grauen, dünnen Schnurrbart ab
und rückte den Stuhl zurück. Er bot Ruth die Wange zum Kusse. Sie
berührte sie mit den weichen Lippen (wobei die stachlichen Bartstoppeln
sie stets kitzelten) und legte einen Augenblick die Hand sanft an den
grauen Kopf des Vaters. Diese Art des Gutenachtkusses hatte sich aus
ihrer Mädchenzeit erhalten. Der General fühlte den sanften Druck ihrer
Hand im Herzen. Jeden Abend. Jeden Abend erwachte bei dieser Berührung
die Liebe zu seiner Tochter, die während des Tages verblaßte, schlief,
ohne jede Spur erlosch. Am Tage dachte er fast nie an Ruth, und wenn sie
ihm in den Sinn kam, zufällig und selten, so geschah es ohne jedes
Gefühl, fast mit Kälte. Aber abends fing die Liebe unter dieser
Berührung zu glimmen an. Oft dauerte diese Empfindung an, und einmal kam
es sogar vor, daß der General spät abends an Ruths Türe lauschte, um zu
hören, wie sie atmete. Da stand er im dunkeln Korridor, wie ein Dieb,
das Ohr gegen ihre Türe gedrückt. Sein Herz brannte vor Liebe.

Am Tage aber -- Gleichgültigkeit, Kälte. Sonderbar!

»Gute Nacht, Papa!« Weich und fein klang Ruths Stimme.

»Gute Nacht.«

Der General erhob sich geräuschvoll. Jakob klappte mit den Stiefeln.
Plötzlich sagte der General im Befehlston: »Wenn mein Sohn nach Hause
kommt, ich möchte ihn sprechen! Aber nach ein halb zwölf will ich nicht
mehr gestört werden. Dann soll er früh in mein Zimmer kommen!«

»Jawohl, Herr General!« Und Jakob stürzte zur Türe. Er wußte, daß der
Herr Oberleutnant erst gegen Morgen zurückkehren würde wie jede Nacht.
Er hatte ihm schon befohlen, rücksichtslos kaltes Wasser anzuwenden,
wenn er nicht wach werden sollte.

Ruth wünschte dem Burschen mit heiterer Stimme »Guten Abend« und
schlüpfte in ihr Zimmer.

                   *       *       *       *       *

Ruths kleiner Salon war, ganz wie das anstoßende Schlafzimmer, immer
etwas in Unordnung und -- sowohl am Tage wie am Abend -- in Dämmerung
gehüllt. Kleidungsstücke, Bücher und Schreibpapier lagen verstreut
umher. Der kleine Salon, der auf den Tiergarten hinausging, war in
blauen und weißen Farben gehalten. Die niedrigen, mit einem Seidenbrokat
von senkrechten blauen und weißen Streifen überzogenen Fauteuils,
zeigten schon allenthalben feine Risse und waren gelblich geworden. In
die Rücklehnen dieser Fauteuils war ein Medaillon mit dem Wappen der
Sommerstorf eingestickt: eine Hand, die eine rote Rose hielt. (Diese
rote Rose spielte bei den Sommerstorf überhaupt eine große Rolle.)

Über dem kleinen Sofa, auf dem gewöhnlich Ruths Mantel und Hut lagen,
hing in einem ovalen weißen Rahmen das Porträt einer jungen Dame:
Margarete v. Sommerstorf, spätere Hecht-Babenberg. Das Aquarell, in der
Manier Kaulbachs gehalten, stellte Ruths Mutter im Alter von etwa
zwanzig Jahren dar, zur Zeit, da sie sich verheiratete: ein junges
Mädchen, die schmalen Schultern in ein weißes Spitzentuch eingehüllt,
einen Fächer in der Hand und eine brennendrote Rose im Haar. Das Haar
hatte in den Reflexen den gleichen Schimmer wie Ruths Haar, das manchmal
braun und manchmal blond erschien, je nachdem das Licht darauf fiel. Das
Bild hatte eine besondere Eigentümlichkeit. Die großen hellbraunen
Augen, die der Künstler besonders hervorgehoben hatte, verfolgten den
Beschauer überallhin, wo immer im Zimmer er stehen mochte. Sie ließen
ihn nicht aus den Augen und lächelten.

Ruth hatte nur eine blasse Erinnerung an die Mutter bewahrt. Etwas
Scheues, unendlich Warmes, Flüchtiges und Huschendes. Weiche Lippen,
unendlich zart und unendlich warm -- die sie geküßt hatten, als sie ein
kleines Mädchen war, und Therese hatte gerufen: »Grüße die Dame, es ist
Mama.« Ruth erinnerte sich genau an diese Worte Thereses, aber zu ihrem
Schmerz erinnerte sie sich nicht mehr an das, was diese blasse, scheue,
unbekannte Dame sprach.

Sie besaß übrigens das weiße Spitzentuch, in dem die Mutter porträtiert
worden war. Zuweilen, sehr selten, legte sie es um die Schultern, sie
steckte sich eine rote Rose von demselben prangenden Rot in das Haar:
dann lächelten diese beiden Frauen, die ganz gleich aussahen, einander
zu.

Eilig schlüpfte Ruth in den Mantel und sang leise vor sich hin, während
sie die Handschuhe suchte, die sie, wie gewöhnlich, verlegt hatte:

   Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne,
   die liebt ich einst alle in Liebeswonne.
   Ich lieb' sie nicht mehr, ich liebe alleine
   die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine. --

Ruth vergötterte Schumann.

Aber da hatte sie auch schon die Handschuhe gefunden. Sie waren in eine
leere Blumenvase geraten.


9

»He, Kutscher, sind Sie frei?«

Otto sprang in den Wagen. »Paradies-Bar!« Es war eine alte, in allen
Fugen klaffende Droschke. Das Pferd lahmte und schnellte in merkwürdigen
Sprüngen vorwärts. Mein Himmel, was haben sie aus dieser Stadt gemacht,
dachte Otto, mit einem Gefühl von Schadenfreude im Herzen. Er war
zuletzt im vorigen Sommer einige Wochen hier gewesen, um sich von einer
Gasvergiftung zu erholen -- damals erschien ihm der Verfall noch nicht
so furchtbar.

Einsam klapperten die Hufe des Pferdes in der finstern Straßenschlucht.
Es hatte aufgehört zu schneien, Schmutz floß in den Rinnsteinen. Ohne
Aufhören ging ein schwarzer Aschenregen nieder auf die tote, verkohlte
Stadt.

Und früher, ein wogendes Meer von Licht! Schimmernde Perlenketten,
blitzende Diademe auf den Dächern, rasende Feuerräder am geröteten
Himmel, geschmolzenes Blei quillt aus den Fugen der Häuser. Die
Scheinwerfer der brüllenden Autoherden, die gleißenden Lichtblöcke der
Schaufenster -- und fröhliche Menschen treiben im Licht, Damen, die
Augen leuchten, und die Zähne blitzen. Lachen . . .

Da hielt die Droschke plötzlich. Das Pferdeskelett stand in seinem
abgeschabten Fell und zitterte.

Erschauernd entfloh Otto diesen drohenden Finsternissen, wie alle Welt,
die sich nach den Lichtinseln der verkohlten Stadt flüchtete, den
Theatern und Konzertsälen, um vor den Schatten und Gespenstern der
Dunkelheit zu fliehen. Wie Tiere bei einer Sintflut, die entsetzt
dahinjagen . . .

Schon in der magisch beleuchteten Tropfsteinhöhle, die als Garderobe
diente, fühlte Otto sich geborgen. Die Luft, die er liebte, schlug ihm
entgegen -- Parfüms, Lachen, Licht, Musik . . . Es war nicht das
allerfeinste Parfüm, es war dick, legte sich mehlig auf den Gaumen, aber
darauf kam es schließlich nicht an.

Trotz der frühen Abendstunde war die Rotunde der Paradies-Bar schon
überfüllt. Aber Otto hatte Glück, ein kleines Tischchen an der
Balustrade zu erobern -- dicht neben dem giftgrünen und himbeerroten
Jüngling, der die Gipsarme emporstreckte und von den farbigen Strahlen
eines Springbrunnens umsprudelt wurde. Lackrot und Gold waren die Farben
der Paradies-Bar. Bunte Blütenkelche hingen von der goldenen Decke herab
und strahlten Begierde und Wollust aus. Giftgrüne Insekten schabten die
Instrumente, hämmerten mit Klöppeln. Einer der Giftgrünen glitt zwischen
den Tischen hindurch und spielte den Gästen ins Ohr.

Otto klemmte die Scherbe vors Auge, damit alle Welt sehen konnte, daß er
Offizier war -- und nicht etwa einer von den vielen hier, den vielen,
die sich von den Kadavern auf den Schlachtfeldern nährten. Stimmen
schwirrten ringsum.

»Vor zwei Jahren lieh ich ihm fünfzig Mark, er kam zu mir -- seine
Stiefel -- überhaupt -- Kellner!«

»Heute hat er Millionen. Ich schätze ihn auf vier Millionen.«

»Kaufen Sie Ware, Ware -- einerlei -- eine Pleite, nicht auszudenken.
--«

»Rudi ist immer gleich bekneipt.«

Zwischen einer Glatze und einem Blumenstrauß hatte Otto ein schwarzes
schlankes Dämchen mit entblößten, entzückend runden Schultern entdeckt,
das seine Blicke erwiderte. Unter ihm, etwas tiefer, neben dem
Springbrunnen, saßen zwei befrackte Herren, mit zwei wie Fürstinnen
gekleideten Damen in kostbaren Roben, mit Brillanten und Blumen
geschmückt. Er roch den Puder, der von ihren entblößten Büsten aufstieg
und die Essenzen ihrer duftigen kunstvollen Frisuren. Wie rosig, dieses
kleine Ohr -- Kokotten natürlich -- aber immerhin Fleisch, Atem, Leben.

Am Nachbartisch hatten zwei Herren im Smoking Platz genommen. Ihre
dicken, glattgeschorenen Schädel und schwammigen Trinkergesichter kamen
Otto bekannt vor. Es waren zwei Rittmeister, die er immer in Stifters
Diele Unter den Linden gesehen hatte, wenn er mit Papa dort zu Mittag
speiste. Sie hatten sich zwei reizende kleine Damen mitgebracht,
allerdings nicht erster Klasse, vielleicht Verkäuferinnen, die schon
jetzt zu kreischen begannen.

Bunte Papierschlangen zischten durch die Luft.

Ja, hier war in der Tat das Paradies, und da draußen in der finsteren
Straße nichts als die nackte Wirklichkeit. Ein paar blaugefrorene Kinder
mit Streichhölzern, ein altes Weib mit nassen Zeitungen -- und der
Portier der Bar steht wie ein Erzengel in seinem grünen Mantel! Berlin
war im Aschenregen begraben, aber hier hatte sich, in einer Höhle, durch
ein Wunder, ein letzter Tropfen seines geilen Blutes erhalten. Mit allen
Sinnen sog Otto Gerüche, Stimmen, Fleisch in sich, er sammelte auf
Vorrat, für die langen Monate, wo er nichts sehen würde als verrosteten
Stacheldraht und Schrapnellwolken.

»Reformen -- Sie glauben also nicht daran?«

»Schwindel, alles Schwindel. Eher wird der Himmel einstürzen --«

»Aber das wäre ja Betrug!«

»Betrug? Was sonst? Wissen Sie, wie man den neuen Mann nennt, der uns
regiert? Den Fünfminutenbrenner! Er kann nur fünf Minuten wachbleiben,
dann schläft er wieder ein.«

»Gott sei uns gnädig und barmherzig!«

Die Damen mit den Brillanten lachten laut auf. Er sagte es auch zu
drollig, ergeben in sein Schicksal, und dabei stieß er mit der Zunge an.

Die schmachtende Geige des giftgrünen Primgeigers sang in Ottos Ohr.

Was sah er? Was hörte er?

Doras strahlende Augen? Hedis helles Haar hinter dem Schleier mit
Silberstickerei? Hörte er Doras Lachen? Nicht im geringsten.

Er sah: Nacht, Grausen, eine Kraterlandschaft, die Zone des Todes.
Geschützfeuer geistert und die Granaten heulen. Durch die Dunkelheit
schleppen keuchende Männer einen Verwundeten auf einer Zeltbahn. Beim
Schein des Geschützfeuers erkennt er plötzlich -- ja, er, er, er selbst
ist es, den die keuchenden Männer schleppen. Sein Gesicht ist überströmt
von Blut, und deutlich hört er den keuchenden Atem der Männer, die ihn
tragen . . .

Sofort schlug Otto erbleichend die Augen auf. Seine Pupillen erweiterten
sich, seine Augen wurden zu gähnenden Kratern voller Grauen -- das also
war es, was er sah und hörte, während der giftgrüne Primgeiger ihm ins
Ohr spielte. Die grausige Vision verblaßte, und augenblicklich kehrte er
wieder in die Paradies-Bar zurück. Nur ein leiser Schrecken zitterte in
ihm weiter.

Mit bebender Hand füllte er das Glas und trank dem schwarzen, schlanken
Dämchen mit den entblößten, entzückend runden Schultern zu. Seine Dame
lächelte huldvoll -- und augenblicklich drehte sich die Glatze um.

Die Schultern dieses schlanken Dämchens erinnerten ihn an Hedi. Und
während er sein Glas auf das Wohl der Schlanken leerte, gedachte er
Hedi, mit der nun, Gott sei Dank, alles zu Ende war. Er dachte an sie
ohne Haß, aber mit leiser Verachtung. Eine Dame -- tut eine Dame so
etwas -- damals im Sommer, das Abschiedssouper --? Und doch war er
gerade in diesem Augenblick, wo sich eine rote Papierschlange, von der
schwarzen Schlanken geworfen, um seinen Kopf ringelte, geneigt,
großmütig zu vergeben. Jeder Mensch hatte schwache Stunden.

»Nun also -- diese Hedi, sie würde wohl schlecht schlafen diese Nacht?«

»Vielleicht weint sie auch?«

»So ein bißchen? -- He, Kellner, Herr Ober --!«

                   *       *       *       *       *

Wie eitel diese Männer, wie töricht!

Es fiel Hedi gar nicht ein zu weinen. Sie dachte nicht einmal an ihn.

Sie dachte an den gelben Mantel! Ein Herr will einer Dame eine Huldigung
darbringen. Nun wohl. Er kauft weiße Rosen, obschon sie ein Vermögen
kosten, und läßt sie auf dem Tisch liegen. Kein Wort, kein Blick: ein
Gentleman!

Ihre Paläste waren in Schutt zerfallen, die Paläste mit dem Wappenschild
der Hecht-Babenberg: das rote Pferd im blauen Feld. Dahin! Schon aber
baute Hedi neue Paläste! Weitaus herrlichere, kühnere!

Ach, sie hatte ihre Jugend vergeudet! Drei Jahre lang hatte sie auf
Ottos Brief gewartet und selbst einige hundert Briefe ins Feld
geschrieben. Und dieser Krieg endete ja nie, sie hätte alt werden können
dabei. Wie töricht! Und diese Familie der Hecht-Babenberg, dieser
hochmütige General, in dessen Augen ein Geheimer Rat ein Kanzlist war,
nichts sonst. Er hätte sie stets als ein Geschöpf zweiter Klasse
betrachtet, ohne Ahnenreihe wie die der Babenbergs, die bis auf die
Kreuzzüge zurückging.

Ja, morgen würde sie vielleicht wieder in den Kaiserhof gehen zum Tee.
Erstens gefiel es ihr dort, die Musik, die Eleganz, die Sorglosigkeit --
und zweitens konnte es ja sein, daß dieser Herr Ströbel oder Herr v.
Ströbel . . .

Da richtete sich Klara leise in ihrem Bett auf. Die beiden Schwestern
schliefen zusammen in einem kleinen Hofzimmer. »Schläfst du, Hedi?«
flüsterte Klara. »Guck' doch mal den Mond an, wie er fliegt.« Hedi
antwortete nicht, und Klara beugte sich über ihr Bett. »Ah, du schläfst
ja doch nicht«, sagte sie lachend. Ganz unerwartet erhielt sie eine
klatschende Ohrfeige, denn Hedi war gar nicht in Laune, auf Klaras
Geschwätz einzugehen. Die Kleine ahnte ja nicht, daß sie, Hedi, soeben
in einem fünfzigpferdigen Tourenwagen dahinraste, eine Staubbrille vor
den Augen, Ströbel steuerte -- wenn ein Pneu platzte, konnte es eine
Katastrophe geben.

Klara saß still und sah dem Mond zu. Ihr Gesicht war in Licht getaucht
und ihre Augen gleißten. Schneeweiß und leuchtend war sie wie ein
Gespenst. Sie atmete das Licht ein, sie war angefüllt vom Licht, und
gleißendes Licht floß durch ihre Adern.

Das Paradies lag vor ihren Blicken ausgebreitet.


10

Otto wickelte sich fröstelnd in den Mantel.

Es war schon das beste, sich mit den Tatsachen abzufinden, nicht wahr?
Sein Zug würde fahren, das stand fest! Er würde fahren, einerlei, was
passierte. Kühle Gesichter, steife Verbeugungen, laute Unterhaltungen
mit erkünstelt ruhigen Stimmen. Dann aber kommt der Augenblick, wo man
plötzlich ein fernes Brummen hört. Die Front! Irgendwo in der Einöde
hält der Zug, nur noch Männer, nur noch Soldaten. Autos, Wagen,
Kommandostimmen, Dunkelheit, Schmutz, Regen, der Geruch einer öden
Gegend. Geschütze poltern, Granaten winseln, es ist ganz wie früher. Die
Kameraden kriechen aus den Unterständen, Hände strecken sich einem
entgegen, man ist laut, man ist fröhlich, aber alles ist -- Lüge.

Er wußte nicht einmal, ob er sie noch in der alten Stellung finden
würde. Diese Stellung lag Tag und Nacht unter schwerem Feuer, aber doch
war sie angenehm im Vergleich zu den flachen Gräben seinerzeit in
Flandern, wo sie bis an die Brust im eisigen Wasser hockten und völlig
gelähmt, an zwei Stöcken einherhumpelten.

Aber all das ist es nicht, nicht das Feuer, die Nässe, die Kälte, die
Entbehrungen. Es ist das riesengroße Antlitz des Todes, das da draußen
über den Trichterfeldern steht. Es ist nichts als die grauenhafte Furcht
vor dem Tode, wenn man das Leben liebt, nichts sonst.

Das allein ist die Wahrheit! --

Ein freudiger Schreck lähmte seinen Schritt.

Stand nicht etwas Weißes am Fenster -- das weiße Buch? Nein, nichts, der
Reflex einer Gaslaterne. Finster das Haus. Das eiserne Gartentürchen war
verschlossen. Otto berührte den Drücker, er war eisig kalt. Die kahlen
Zweige der Büsche peitschten auf und ab, und Otto sah durch die
brodelnde Efeuwand hindurch in Gängen und Zimmern die Heiligenfiguren in
ihren grotesken Verrenkungen.

Sie schlief, fest und tief, aber ihr Blick glänzte über dem schwarzen
Hause.

Quer durch den brausenden, finstern Tiergarten führte Ottos Weg. Ströbel
wohnte bei den Zelten. Die Fröhlichkeit mußte jetzt in dieser Stunde
ihren Höhepunkt erreicht haben -- ja, schnell, schnell! Gierig erraffen
von der Nacht, was noch zu erraffen ist. Fort!

Immer rascher ging er dahin, gepeitscht von Begierde und Qual. Die Zeit
wanderte unter den Sohlen seiner Stiefel. Mit jedem Schritt wanderte ein
Stückchen Zeit rückwärts, ein zertretenes Staubkorn Zeit floh mit
rasender Schnelligkeit zurück in Nichts. Ja, Sand war die Zeit,
rinnender Sand, rasend rinnender Sand, nichts sonst. Ein Meer, ein
Sandmeer rinnt -- und schon ist ein Jahrhundert vergangen -- schon ein
Jahrtausend. Ein Riesenkrater rinnt, und Städte, Völker, Kontinente
kommen ins Gleiten und rinnen hinunter -- ins Nichts. Zeit, welch
entsetzlicher Begriff! Glücklich Tiere und Götter, die ihn nicht kennen.

In diesem Moment trat der Mond aus dem dunkeln Gewölk. Auch er raste
dahin -- wie alles auf dieser Welt, das vor dem sicheren Untergang floh
-- raste, obgleich einige Jahrtausende bei ihm keine Rolle spielten.
Aber eines Tages würde seine langweilige Visage bersten und er, zusammen
mit dem Staub dieser Erde, den Schwanzzipfel eines Kometen bilden, der
zum großen Staunen der Astronomen plötzlich vor der Linse der Teleskope
erscheint -- irgendwo in undenkbarer Ferne.

Noch sieben Stunden! Rasend stürzte Otto vorwärts. Die Zweige des
brausenden Parkes griffen nach ihm. Und plötzlich schrie Otto -- wild,
wie ein Tier. Er war jung und er liebte das Leben.


11

»Einen Augenblick nur!« Schon hatte der General die Mappe mit den Akten,
die heute noch alle bearbeitet werden mußten, aufgeschlossen. Den einen
Schlüssel besaß er, den andern hatte sein Bureauoffizier in Händen. Kein
unbefugter Blick konnte in diese geheimen Aktenstücke dringen, es war
alles bis ins Kleinste wohlorganisiert.

Er lehnte sich im Sessel zurück. Die Teegesellschaft bei Dora hatte ihn
ermüdet. Nichts strengte ihn in letzter Zeit so an wie die Gespräche
durcheinanderschwirrender Stimmen. Anders die Sitzungen, die er mit
einem Zucken der Brauen lenkte! Aber in einer Gesellschaft, wo jeder
glaubte sprechen zu können, wann und wie lange und wie laut es ihm
beliebte, ja: wie laut, das war es -- Einen Augenblick nur --

Reserven -- ungeheure Heere -- wie eine Sturmflut werden sie sich
dahinwälzen . . . schon schlief der General.

Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, kaum kam das erste tiefe
Röcheln aus seiner Brust, da wurde er auch schon wieder geweckt. Etwas
pickte am Fenster, wie ein Finger, ein Fingernagel. Er wandte den Kopf:
durch die Scheibe starrte ein kleines, glänzendes, stahlblaues Gesicht.
Eine faustgroße Larve von leuchtendem Blau -- in der Tat, ein intensives
Blau, wie eine Spiritusflamme in einem dunkeln Raum -- und erloschene
Fischaugen mit einem toten Glanz. Von diesem stahlblauen, aus sich
selbst leuchtenden Gesicht ging Drohung und Hohn aus, obschon das
Gesicht ohne jede Regung durch die Scheiben starrte.

Der Schrecken, den das Gesicht durch die Scheiben strahlte, war so
stark, daß der General nun wirklich erwachte. Er hatte, wie er sofort
konstatierte, eine volle Stunde verschlafen. Unwillkürlich wandte er den
Blick zum Fenster -- aber es war natürlich nichts zu sehen, die grünen
Vorhänge waren dicht geschlossen. Er räusperte sich, laut und ungeniert,
wie es seine Gewohnheit war, und warf einen Blick durch die Vorhänge
hinaus auf die Straße. Nichts, natürlich. Regen, Dunkelheit, keine Seele
weit und breit.

Plötzlich aber stand dieses Gesicht, das ihn aufgeschreckt hatte, wieder
vor ihm -- und zwar dicht vor ihm in der Luft des Zimmers -- auch die
Augen mit dem toten Glanz. Es ist, ja ja, es ist jener -- von heute
nachmittag, natürlich, dachte der General. Er hatte das Gesicht
nachmittags kaum beachtet. Es ist jener kleine Alte, der den Brief
überbracht hat.

Ein übrigens völlig wirrer Brief, den er nur überflogen hatte -- wirres
und törichtes Zeug, was dieser kleine Alte mit dem blauen Gesicht
. . . Ja, wo steckte der Brief eigentlich. Hier, nun siehst du, schon
dieser Umschlag --

Der General konnte aber nun nicht mehr widerstehen, obschon die
Aktenmappe dickbäuchig dalag, eigentümlich. Er war neugierig geworden,
mehr als das. Er entfaltete den Brief und las ihn -- langsam, immer
langsamer, immer aufmerksamer.

Wie heute abend unter der Lampe des Foyers, stieg Röte in sein Gesicht,
aber nicht eine leichte Ziegelröte, sondern -- Feuer. Die Stirn legte
sich in tiefe Falten --

Wie --? Nein, in der Tat, er hatte den Brief nicht gelesen.

Aber --? Was wollte er -- gefallen, auf der Höhe der Vier Winde, auf
Quatre vents -- nun, und -- wie? -- sogar von Ruth stand etwas hier,
denn Ruth war wohl gemeint -- wie? Nein -- er hatte den Brief wirklich
nur ganz flüchtig überflogen -- er erinnerte sich nur, daß von der Bitte
um eine Audienz die Rede war.

Wirr -- mehr noch, viel mehr als wirr:

-- untertänigst bitte ich um eine Audienz. Mein einziger Sohn, Robert,
hat unter dem Befehl des Herrn Generals gekämpft. Er ist am 5. August
beim Sturm auf Quatre vents gefallen. Er war begeisterter Soldat, Jäger,
die einzige Hoffnung und der Stolz seiner Eltern. Ich bitte, mir
gnädigst mitzuteilen, wo sein Grab sich befindet, und besonders, _ob das
Grab nicht den Granaten ausgesetzt ist!_ Dies beunruhigt mich sehr, so
daß ich gänzlich schlaflos geworden bin --

Wie? Was meint er? Ob das Grab --?

Der General ist in ungeheure Erregung geraten. Seine Augen starren.

Die Höhe! Ja, der Brief hat die Erinnerung an die Höhe in seinem Blut
geweckt.

Das dunkle, mit Borsten bestandene Ungeheuer qualmt plötzlich wieder vor
den Augen des Generals: Quatre vents! Der 4., 5. und 6. August -- am
Abend des 6. war sie verloren!

Am 4., 5. und 6. ratterten die Lastautos vorüber, der Schmutz spritzte
-- behangen mit Schwärmen von Menschen. Rote Gesichter, schweißhelle
Augen -- sie schwangen die Helme: hurra -- und der General, auf der
Treppe seines Schlosses -- salutierte. Welches Feuer! Die Erde bebte --
jetzt hörte er es wieder! Die Hölle! Brennend stürzte ein französisches
Flugzeug in den Schloßpark, mitten in den Rosengarten.

»Herr General, die Jägerbataillone!«

»Ich komme.«

Und die Autos schaukelten, rollten, rasten: hurra!

Die Höhe von Quatre vents war ein Friedhof von zwölf Stockwerken.
Deutsche, Franzosen, Deutsche, Franzosen. Aber sie lagen nicht nach
Nationen geschichtet, die Minen rissen ganze Stockwerke hoch und
schleuderten die Toten durch die Luft. Der Spaten stieß auf den Schädel
eines Franzosen, daneben traf er auf einen deutschen Infanteriestiefel.
Auch auf Knochen stieß er, nicht auf frische, sondern auf alte gelbe
Knochen und Skeletteile, denn auf der Höhe von Quatre vents hatte sich
ein alter Friedhof befunden. Ein Dorf lag früher da oben -- wo war es
hin? In Atome zermalmt. Die Minen hatten die Kuppe der Höhe abgetragen.
Zentnerweise wurde Dynamit in die Stollen gestopft -- ganze Kompagnien
und Bataillone flogen hoch -- hoch Deutschland! -- vive la France! Sie
kehrten nicht wieder.

Der General hatte die Höhe nur zweimal betreten. Einmal in einer
sternenklaren Nacht (wie unvergeßlich funkelten die Gestirne!), als es
ganz ruhig war. Die Laufgräben hauchten eine eisige Kälte und fauligen
Geruch aus, man trat auf Körper und wußte nicht, ob sie lebten oder tot
waren -- sonst hatte die Höhe, über die vereinzelte Kugeln zischten,
nichts Furchtbares, und der General sagte sich im stillen, daß all die
Geschichten von den Schrecken der Höhe von Quatre vents übertrieben
wären. Das zweitemal zeigte die Höhe schon etwas mehr ihr wahres
Gesicht. Der General kam am grauenden Morgen, und die Franzosen warfen
schwere Flügelminen, die wie einstürzende Häuser krachten. Ganze
Schwärme der langhälsigen, gierigen Raubvögel stießen auf die Kuppe
herab. Zuweilen schob man ihn hastig in einen Unterstand oder einen
Quergang, wenn der Schatten der Mine in der Nähe niederrauschte. Denn
er, der General, hätte sich nicht von der Stelle gerührt. Angesichts
seiner Offiziere und Leute, die aus den Stollen lugten, hätte er sich
ohne Wimpernzucken in Stücke reißen lassen. Damals passierte ihm auch
die -- offen zugestanden -- Albernheit mit jener ungeschickten Frage.
Nun wohl, sein Gehirn hatte unter dem Eindruck der herabstoßenden
Stahlvögel und des Lawinenkrachens einfach versagt. In einem
eingeebneten Grabenstück lag ein blutgetränktes Tuch, etwas wie eine
zerfetzte Unterhose, in einer Lache von Blut. Es war so viel Blut, daß
der General keineswegs vermuten konnte -- kurz und gut, er fragte: »Na,
ihr habt wohl geschlachtet?« Welche unbegreifliche Albernheit. -- Die
Grabenoffiziere antworteten mit einem verlegenen Lächeln. Und plötzlich
sah der General ein Stück von einem Menschen an der Grabenwand kleben,
daneben ein Stück des Hinterkopfes mit kurzen Haaren. Wie peinlich war
ihm die Frage! Noch heute erinnert er sich voller Scham deutlich des
verlegenen Lächelns der übernächtigten, vom Grabendienst beschmutzten
Offiziere.

Um acht Uhr saß er schon wieder in seinem Quartier beim Frühstück.

Ein drittes Mal betrat der General die Höhe nicht.

Er sah sie das letztemal, als sie verlorenging, das heißt er sah nicht
die Höhe, sondern Nacht und ein Büschel roter Notsignale, die ohne
Unterbrechung in der Nacht aufglühten -- Hilfe! -- und hoffnungslos
sanken.

Das also war Quatre vents.

Schwer atmend ging der General hin und her.

Deutlich hörte er wieder die Stimme des Adjutanten. Die Jägerbataillone,
Herr General! Also auf einem dieser Autos saß er -- unter hundert andern
-- mit den roten Gesichtern und den schweißgleißenden Augen -- er, jener
-- wie hieß er doch -- Robert! Am 5.! Ja, am 5., da hatte er noch
Hoffnung -- am Mittag des 6. wurde er schwankend und befahl einen
letzten Gegenangriff -- am Abend, da waren nur noch die roten
Leuchtkugeln . . .

Erst allmählich verflog die Erregung. Plötzlich lag die dickbäuchige
Aktentasche wieder auf dem Schreibtisch.

Sonderbare Menschen gab es! Sein Grab? Daß man es wagen durfte, ihm
solch einen Brief zu senden!

Und da -- was schrieb er am Schluß:

-- sollten Exzellenz geneigt sein, mir diese Audienz zu bewilligen, so
könnte ich Mitteilungen über das gnädige Fräulein machen, die Exzellenz
gewiß interessieren würden. Ein Unglücklicher. --

Ja, sonderbare Menschen . . .

Der General zerriß den Brief und warf die Fetzen in den Papierkorb.
Schon war er in die Akten vertieft.

Aber noch nach einer Stunde zitterte seine Hand: Hätte man ihm damals
die verlangte Unterstützung geschickt -- noch heute wäre Quatre vents in
seiner Hand!


12

»Sind Sie es, Otto?«

»Ich dachte schon, die Polizei kommt. Sie machen wieder einen solch
furchtbaren Lärm.«

Ströbel öffnete seinen Gästen selbst. Er hatte nach zehn Uhr keine
Dienstboten mehr im Hause, um gänzlich ungeniert sein zu können.

Wüster Lärm drang aus der Wohnung. Das ganze Haus bebte. Dieser Herr
Ströbel -- oder Herr v. Ströbel, niemand wußte es genau -- besaß vor dem
Kriege nichts als ein paar gutsitzende Anzüge, darunter einen
schwarzweiß karierten Sommeranzug, der so auffallend war, daß man sich
heute noch an ihn erinnerte, einen Zylinder und einige Paar sehr
elegante, etwas dandyhafte Schuhe. Das war alles, was er besaß -- dazu
Beziehungen.

Heute war er reich, er hatte eine Motorenfabrik, und seine Beziehungen
waren noch besser geworden.

Er war auch kurze Zeit im Felde -- aber das war eine Geschichte für sich
. . .

»Welch abscheuliches Wetter«, rief Otto aus und schüttelte sich. Seine
Augen flackerten vor Unruhe.

»Das Wetter ist nicht das Schlimmste«, erwiderte Ströbel, der sich in
einen Sessel der Diele geworfen hatte und die Lackschuhe gegeneinander
klappte. »Es ist die Finsternis! Eine nordische Stadt ohne Licht -- wie
stellen Sie sich das vor? Es ist ein schlechter Scherz! Eine nordische
Stadt ist der Finsternis abgerungen und das Produkt des Lichts. Das
Licht gab ihr Inspiration, Energie, Laune. Im Süden -- Sie waren nie im
Süden? -- da braucht man kein Licht -- Himmel, Sterne. -- Aber
hier oben? Ohne Licht sinkt eine nordische Stadt wieder in
Bedeutungslosigkeit zurück. Verdunkeln Sie London und es wird ein
armseliger, kleiner Fischereihafen --.«

»Nennen Sie Berlin eine nordische Stadt?«

»Natürlich. Es fiel früher nur nicht auf. Jedenfalls aber -- schlimm,
Otto, schlimm! -- geht diese Stadt vor die Hunde. Ja vielleicht ist es
schon so weit -- wir wissen es nicht mehr --«

Otto schrak zusammen: Drinnen fiel ein Schuß. Geschrei. Händeklatschen.

»Wird bei Ihnen geschossen?«

»Ja, die Feuerwalze ist hier, produziert sich als Kunstschütze. -- Sie
kennen ihn doch? Hauptmann Falk.«

Der Qualm, die Gesichter, der wilde Lärm -- von Otto wich augenblicklich
alle Unruhe. Jene unvergeßliche Szene glitt ihm durch den Sinn: in der
Nacht, bevor das Regiment ins Feld rückte, hatte einer der Kameraden,
ein Hauptmann Below -- lange tot, und zwar als erster gefallen -- der
sich vom Liebesmahl früher zurückziehen wollte, eine Droschke ans Kasino
bestellt. Man kaufte dem Kutscher höchst einfach die Droschke ab! Diese
Droschke wurde bei der Steintreppe aufgestellt, die fünfundzwanzig
Stufen tief vom Kasino in den Park hinunterführte. Freiwillige vor!
Augenblicklich war die Droschke überfüllt. Wie ein Schwarm hingen die
Kameraden auf dem Gefährt. Ein kleiner Schwung, und die Fahrt in die
Tiefe begann. Die Droschke zersprang in tausend Stücke, aber nichts
passierte.

Sie alle indessen -- von allen Offizieren des Regiments lebten nur noch
sechs, zwei davon waren Krüppel.

Mit strahlender Miene trat Otto ein, bereit, sich kopfüber in den
Strudel der Fröhlichkeit zu stürzen und jede Ausgelassenheit
mitzumachen. Wohltuend schlug ihm die Atmosphäre der
Kameradschaftlichkeit entgegen. Hier kannte man ihn. Hier wußte man zum
Beispiel, daß er 1915 einen französischen Offizier, der verwundet
zwischen den Stellungen liegengeblieben war, trotz aller Knallerei in
den Graben geschleppt hatte -- nicht aus Barmherzigkeit, nein, nur um zu
zeigen, was für ein Bursche dieser Hecht-Babenberg war!

Welche Gesellschaft! Fast alle ergraut, fahl und erschöpft. Hauptmann
Wunderlichs helle Katzenaugen blinkten, die Krücken lehnten wie immer
hinter seinem Sessel. Ein schwarzer Glacéhandschuh über der Holzhand.
Ein junger, totenbleicher Leutnant mit schräggeneigtem, verbundenem
Kopf, aus dem Lazarett entsprungen. Ein Herr im Smoking, blond und
schön, den leeren Ärmel in die Tasche geschoben. Auch einige geschorene
Billardkugelköpfe mit Knollen am Schädel waren da, Majore, Hauptleute.
Aber sie waren in der Minorität. Ein grünes Gesicht, mit Monokel, selbst
ein Blinder saß da, vergnügt ins Licht blinzelnd. Otto erblickte auch
einige Offiziere seines Vaters: den Adjutanten Weißbach, den hünenhaften
Major Wolff. Viele von ihnen waren dreimal, fünfmal verwundet gewesen,
morgen konnte die Reihe wieder an sie kommen. Der Krieg zog sich hin.

Alle aber waren in angeregter Stimmung, und auf ihren fahlen,
zerfurchten, verwüsteten Gesichtern lag ein leichtsinniger, kindlicher
Ausdruck.

»Also hier ist er -- hier kommt er!« schrie Hauptmann Falk Otto
entgegen. Dieser Hauptmann Falk, mit dem sonderbaren Spitznamen
»Feuerwalze«, war ein kleiner, klapperdürrer Mensch, rothaarig, mit
staubgrauem Gesicht -- nur um die Augen zogen kranke gelbe und olivgrüne
Ringe. Er sprach hastig und mit einer hohen Kehlkopfstimme, die
unangenehm und herausfordernd klang. Wie Hauptmann Wunderlich, der
Menschenjäger, trug er den höchsten Kriegsorden. Er war ein verwegener
Bursche, hatte die schlimmsten Tage an allen Fronten mitgemacht, und für
die, die ihn kannten, war es unbegreiflich, daß er überhaupt noch lebte.
Er selbst behauptete kugelsicher zu sein. Immer wieder tauchte er von
Zeit zu Zeit in Berlin auf, um die wenigen Tage Urlaub zu
durchschwärmen. Dann kam er drei, vier Tage nicht ins Bett, und erst auf
der Rückreise zur Front schlief er sich aus.

»Rasch, Hecht!« schrie er und fuchtelte mit einer Pistole. »Sie können
die Saharet gewinnen!«

Eben diese Saharet stürzte sich Otto mit einem kleinen Katzenschrei
entgegen.

»Sie werden sehen,« rief sie, »ich kenne Otto --!«

Sie war ein kleiner schwarzhaariger Irrwisch mit runden Katzenaugen.
Ihrer -- sehr entfernten -- Ähnlichkeit mit der Tänzerin Saharet
verdankte sie ihren Namen. Früher hieß sie -- ja, wer sollte es wissen?
Ströbel hielt sie als eine Art Hauskatze. Sie räkelte sich auf den
Sesseln, telephonierte, das war ihre ganze Beschäftigung. Sie sprach
geziert wie eine Ausländerin, eine Russin, eine russische Fürstin, und
spielte die große Dame. Mit einem Wort, sie war ungeheuer lächerlich.
Welchen Grund hätte auch Ströbel sonst gehabt, die Saharet zu halten?

Ja, also die Sache war die: die Saharet sollte ausgeschossen werden, als
Preis sozusagen. Sie wollte dem ein Schäferstündchen gewähren, mit oder
ohne Publikum, der sich ein Glas vom Kopf schießen lassen würde. In
irgendeinem Vorstadttheater hätte sie einmal Wilhelm Tell gesehen.

»Abgemacht, gut, abgemacht!« Hauptmann Feuerwalze hatte soeben zwei
Likörgläschen auf fünf Meter Entfernung freihändig vom Büfett
geschossen, er war zu allem bereit -- ein Glas vom Kopf, schön -- bitte
nur zu befehlen.

Hier aber begannen die Schwierigkeiten. Niemand hatte Lust, seinen Kopf
zu riskieren -- schon war die Saharet gekränkt, daß man ihre
Schäferstündchen so niedrig einschätzte, sie ließ die Katzenaugen im
Kreise gehen, schmollte, bettelte -- da kam Otto, und sie stürzte sich
auf ihn.

Otto, der Retter, der Lohengrin der Saharet!

Die Augen der Kameraden, alle Blicke waren auf ihn gerichtet, das
Gelächter, das flehende Schmeicheln der kleinen Saharet, Otto konnte
nicht widerstehen. Ohne zu überlegen, beseelt vom Wunsche gleich in den
Mittelpunkt der Gesellschaft zu treten -- nein, was für ein toller Junge
war doch dieser Otto! -- erklärte er sich augenblicklich bereit. Ein
Glas Sekt, und die Vorstellung kann beginnen.

»Wie? Sofort?« -- Bravo! Ungeheurer Beifall!

Die Saharet tanzte vor Entzücken auf einem Bein und klatschte in die
Händchen. »Ach, wie reizend, dieser Otto!« Höchst persönlich kredenzte
sie das Glas Sekt.

»Also los, fertigmachen«, schrie Hauptmann Falk mit wilden Augen.

Unter Gelächter und Scherzen wurde Otto gegen eine Wand gestellt. Es
zeigte sich indessen zur allgemeinen Verwunderung, daß ein Glas auf
seinem Schädel nicht so ohne weiteres stand. Ein kleines Buch, bitte!
Darauf also stellte der kleine aus dem Lazarett entsprungene Leutnant
mit dem verbundenen Kopf ein Sektglas. Sofort aber protestierte die
Saharet. Das Glas war zu groß. Was sollte das für ein Kunststück sein?
Sie selbst suchte ein kleines Weinglas heraus, rückte einen Stuhl heran
und stellte es eigenhändig auf Ottos Kopf. »Nein, wie reizend von Ihnen,
Otto!«

»Nun, fertig, los,« schrie die Feuerwalze, »macht Platz.«

»Also -- ein Schäferstündchen?«

»Wieso ein Schäferstündchen? Nein, nein --«

»Was also --?«

»Einen Kuß -- Otto! Einen Kuß!«

»Schön -- auch für ein Küßchen mache ich es.«

»Zurück! Sprechen Sie nicht, Hecht, sonst fällt das Glas herunter.«

»Es ist ein völliger Wahnsinn!« protestierte Major Wolff, der Hüne, der
noch einigermaßen nüchtern war. »Sie sollten es verbieten, Ströbel!«

»Verbieten, wieso?« entgegnete Ströbel erstaunt. »Niemand hat weniger
Rechte als der Wirt.«

Hauptmann Falk stärkte sich mit einem Kognak.

»Wenn Sie glauben, daß ich ewig hier stehenbleiben werde«, sagte Otto
ungeduldig, und das Glas wackelte auf seinem Kopfe.

»Sofort, bitte -- ich eröffne das Feuer«, schrie Hauptmann Falk.

»Achtung, meine Herren!« Hauptmann Falk schwang die Pistole. Aber in
diesem Augenblick warf ihn der Rausch einige Schritte zur Seite. Er
wandte sich empört um. »Ich bitte gehorsamst, mich nicht an den
Rockschößen zu zerren --«

»Sie sollten lieber die Sache sein lassen«, sagte Major Wolff.

»Weshalb denn?« schrie Hauptmann Falk mit wütender Miene. »Sobald ich
abdrücke, stehe ich wie eine Statue. Sie können sich auf mich verlassen.
Also los, ich eröffne das Feuer.«

»Ruhe!« rief die Saharet und preßte die Hände auf das Herz. Wie spannend
es doch war!

Der Lauf der Pistole war auf Otto gerichtet. Langsam bewegte sich das
runde Loch an ihm in die Höhe. »Daß mir jetzt niemand ein Wort redet,«
schrie Hauptmann Falk, »sonst schieße ich Hecht die Kugel in den Kopf.«
Alles war mäuschenstill. Die Saharet stand mit gefalteten Händen.
Ströbel betrachtete voll Interesse Otto, der unmerklich mit den Augen
zwinkerte, als die Mündung der Pistole zwischen seine Augen gerichtet
war.

Otto hatte eine ganz gleichmütige, etwas belustigte Miene aufgesetzt.
Ich wünsche jetzt nur das eine, dachte er, daß mir die Kugel mitten in
die Stirn fährt. Mitten in die Stirn und Schluß! So drücke doch ab! Er
war ganz ruhig . . .

Da wanderte das Loch der Mündung um einen Millimeter höher. Hauptmann
Falk hatte die Zähne zusammengebissen, so daß die Backenknochen aus
seinem grauen, mageren Gesicht vorstanden. Dann hielt er den Atem an,
und im gleichen Augenblick zersplitterte das Glas.

Welcher Beifall! Welche Ovationen!

Augenblicklich aber ergriff die Saharet, aus Koketterie, die Flucht.
Gläser zerschellten, Stühle krachten. Sie riß eine Tischdecke mit allem,
was darauf war, herunter. Aus Höflichkeit, aus gar keinem andern Grund,
hatte Otto die Verfolgung aufgenommen. Dieser schmale, armselige Mund
reizte ihn nicht. Endlich hatte sich die Saharet in der Ecke der
Bibliothek verrannt. Sie konnte weder vorwärts noch rückwärts und
versuchte, an den Bücherregalen in die Höhe zu klettern. Aber als auch
das nicht gelang, ergab sie sich, um Hilfe schreiend, in ihr Schicksal.

Schon hatte Otto die Hände ausgestreckt -- plötzlich aber schwankte er
und wurde weiß wie eine Wand. Erregt von der Jagd, berauscht, hatte ihn
plötzlich Schwindel ergriffen. Das Gesicht der Saharet verschwamm, ihre
Augen -- ein entsetzliches, halbverwestes Gesicht erschien, mit
blinkenden Zähnen, ein Totenantlitz.

»Ich werde fallen!« fuhr es ihm durch den Sinn, mit der Gewißheit einer
Erleuchtung, die keinen Zweifel zuläßt. Und dies war der Augenblick, wo
er bleich wie eine Wand wurde.

Wieder erweiterten sich seine Pupillen, wieder wurden seine Augen zu
Kratern voller Grauen. Ja, jetzt hatte er verstanden.

                   *       *       *       *       *

Schokolade knabbernd hockte die Saharet hoch oben auf dem Klubsessel, in
dem der hünenhafte Major Wolff saß, der die Bank hielt. Die fahlen,
verwüsteten Gesichter mit den grauen Schläfen drängten sich um den
Tisch. Karten, Banknoten flatterten. Auch der Blinde spielte, er machte
mit dem Einarmigen im Smoking ein Kompaniegeschäft. Nur Ströbel spielte
nicht. Er füllte die Gläser.

Otto gewann -- ganz im Gegensatz zu seinem sprichwörtlichen Pech beim
Spiel. Im Augenblick hatte er, obschon er ohne jede Überlegung, völlig
sinnlos spielte, dreitausend Mark gewonnen. Auch das war auffallend!

Und wenn ich falle, dachte er, was ist dabei? Viele Hunderttausend sind
gefallen, weshalb sollte ich, gerade ich, verschont bleiben? Es ist
schließlich völlig egal!

Noch einmal, einmal noch wollen wir das Schicksal befragen --

Die Bank war in eine Verlustserie geraten. Sie hatte sechsmal bezahlt,
und es war völlig unwahrscheinlich, daß das Glück ein siebentes Mal
gegen sie war.

»Dreitausend Mark Einsatz, Herr Major?« fragte Otto. Gewann er, gegen
alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit, nun, so würde er es glauben, so war
es sicher . . .

Die Bank verlor ein siebentes Mal.

»Ich werde fallen, gut!« -- Otto zählte die Scheine, die man ihm
zuschob, und steckte sie in die Tasche.

»_Und ich werde sie nie wiedersehen!_«

Er stand auf.

»Viertausenddreihundert -- erstes Geschütz --!« kommandierte Hauptmann
Weißbach, der in einem Sessel eingeschlafen war und mit offenem Munde
dalag, die bleiche Stirn in Falten zerknittert.


13

Nacht, der Regen rieselte, schwarzer Regen.

Die Riesenstadt schlief, sie keuchte im Schlaf. Die Menschen schwitzten,
in ihren Betten, trotz der eisigen Kälte der Wohnungen. Der kalte
Schweiß stand auf ihren Stirnen, mit offenen Augen starrten sie in die
Dunkelheit. Es war nicht mehr wie früher, da die Riesenstadt nachts
aufschrie -- weißt du noch, am Anfang des Krieges? In jeder Nacht
gellten entsetzliche Schreie aus Häusern und Höfen, furchtbares Jammern
und verzweifeltes Schluchzen -- die Depeschen regneten herab auf die
Riesenstadt: gefallen, gefallen, dein Sohn, dein Gatte, dein Geliebter,
der Ernährer deiner Kinder, gefallen, gefallen -- und die Riesenstadt
schrie! Das Geläute der Glocken, die die Siege feierten, summte noch in
der Luft, mit Blumen geschmückte Jünglinge und bärtige Männer stürzten
sich hinaus --

Nun schrien sie nicht mehr, sie lagen still, die verkrallten Finger in
die Brust geschlagen, sie setzten sich in den Betten auf und flüsterten
-- einen Namen.

Still lag die große Stadt und dunkel.

Erloschen die Feuersbrünste, die nächtlich aus den Bahnhöfen
emporloderten und den Himmel röteten, früher, nur noch scheue Lichtnebel
über der unendlichen Finsternis der verkohlten Stadt. Heulend und
winselnd rollten die Züge zwischen den finstern Häusern. Es waren die
Transporte, die des Nachts in die Stadt schlichen, in die halbdunkeln
Bahnhöfe, und die blutenden Menschen von den Schlachtfeldern brachten.
Dieselben, die mit Blumen geschmückt die Stadt verlassen hatten. Der Tag
durfte sie nicht erblicken. Riesenschatten schwankten über die hohen,
verstaubten Bahnhofsmauern, Tragbahren glitten hin und her, Automobile
schlichen auf ihren Gummirädern verstohlen durch die Straßen, hin und
zurück, hin und zurück. Dann erloschen die Bahnhöfe und versanken in die
Dunkelheit, bis wieder ein Zug winselte und schrie: ich bringe sie
. . . Und wieder schwankten die Riesenschatten über die verstaubten
Backsteinwände, wieder glitten die Tragbahren hin und her, wieder
schlichen die Automobile auf ihren Gummirädern verstohlen durch die
Straßen, hin und zurück. Die ganze Nacht hindurch, jede Nacht.

Schon winselt ein neuer Zug -- und viele sind noch unterwegs, weit
draußen zwischen den Kartoffeläckern und Rübenfeldern, über die der
Regen fegt. Viele, Abertausende --

In jeder Nacht schlägt die Flut des blutigen Ozeans bis ins Herz der
Stadt.

Im Grauen des Tages aber fahren die stillen Wagen von den Lazaretten
durch die Vorstädte, immer weiter, bis zu den Friedhöfen. Mit Kisten
beladen. Darin liegen sie, die mit Blumen geschmückt hinauszogen, ohne
Kleider, ohne Stiefel, ohne Wäsche, nackt, aber sie frieren nicht mehr.
Es ist Anfang Februar des Jahres 1918 --

Stumm fließen die Straßen dahin, ohne Ende. Höhnische Gespenster die
Laternen an den Ecken. An den ausgebrannten Häusern hängen windschief
die Firmenschilder. Riesenbuchstaben, kalt, bleich, Leichen. Die Namen
sind nicht mehr, die Firmen sind erloschen, die Magazine sind leer. In
der finstern Nacht kommen die Schatten zurück, sitzen an den
Schreibtischen der Bureaus, schleichen durch die leeren Magazine.
Schatten wimmeln die Treppen herab, Boten, Briefträger, gefallen.
Straßenkehrer fegen die finstern Straßen, gefallen. Schatten von
Omnibussen huschen zwischen den Fluten treibender Schatten dahin, die
die Straßen überschwemmen, ein Meer. Die Kutscher der Omnibusse
gefallen, die flinken Pferde gefallen. In jeder Nacht kehren die Toten
in die tote Riesenstadt zurück.

Ängstlich lugt der Wächter um die Ecke. Seine Zähne klappern vor Furcht,
die leichenhaften Riesenbuchstaben an den Häuserwänden starren auf ihn,
sie winken, sie lächeln so eigentümlich -- ach!

Da erzittert die tote Straße! Ein Schritt dröhnt, rasch, eilig. Ein
Sturmschritt, der Schritt eines Läufers, der dahinjagt. Eine Stimme
ruft. Die schlaflosen Menschen in den kalten Betten richten sich auf:
schauerlich hallt die Stimme durch die dunkle Stadt. Die schweißigen
Haare sträuben sich -- was ruft er? Wieder? Wie in jeder Nacht . . .

Ein weiter, feldgrauer Soldatenmantel flattert um die dunkle Ecke. Er
jagt durch die Straßen! Hände, zum Fluch gestreckt, züngeln empor.
Dröhnend rollt die Stimme über die schwarzen Häuser.

»Wehe, wehe denen, die auf der Erde wohnen!«

Sind es diese Worte?

Die Menschen, die in den Betten horchen, verstehen die Worte nicht. Es
sind uralte Worte, tausendjährige, sie fühlen es, es sind Worte des
Fluchs und des Untergangs.

Der Wächter entflieht. Ein Soldat! Flink sind sie heute mit dem Messer
. . .

In der Ferne schon schallt die Stimme. Sie rollt die endlosen Straßen
entlang, hinaus in die Vorstädte, hinaus auf das flache Feld. Lange noch
hängt ihr Hall zwischen den schlafenden Häusern.

Die Hausecken sind finster. Aber sobald der weite Soldatenmantel an
ihnen vorüberflattert, strahlt plötzlich Licht aus den dunkeln Wänden:
die schwarzen Steine haben ein Auge aufgeschlagen. Ein Wort leuchtet aus
der Dunkelheit:

   »_Alle Völker sind Brüder!_«

Kalkweiß flattert der weite Soldatenmantel im Schein einer fernen
Laterne -- schon ist er verschwunden. --

Wieder ist es still, wieder liegt die Riesenstadt tot wie eine Stadt aus
Asche.

Draußen aber, die Vorstädte gleißten. Um die Stadt aus Asche schwang ein
Gürtel blendenden Lichts -- die gleißenden Feenpaläste der Fabriken
schwammen in der Nacht. Der rote Dampf zischte, aus den Schloten quollen
Schatten, dick und schwarz wie bei Kriegsschiffen in voller Fahrt. Die
Räder schwangen, der Boden zitterte. Abertausende standen an den
Drehbänken, das Öl spritzte -- Abertausende schleppten Granaten,
schraubten, polierten. Abertausende von übernächtigen bleichen
Arbeiterinnen saßen im grellen Licht der Bogenlampen an den
Arbeitstischen, füllten, wogen, verschnürten.

Und die schweren Züge keuchten dahin, hinaus.

Das ganze Land arbeitete in dieser Nacht, in jeder Nacht, Millionen
Hände -- der Tod war ihr Besteller.


14

Der Tiergarten brauste, in seiner Tiefe grollte es wie die Brandung des
Meeres. Die Wipfel mahlten in der Finsternis, und zuweilen peitschte ein
Zweig ohne jeden Grund rasend den Himmel. Ohne Aufhören floß der Regen
herab.

Finsternis, kein Licht weit und breit. Doch halt, im Hause des Generals
wurde nun ein Fenster hell. Es war das Fenster gleich rechts vom
Hauseingang, Ottos Zimmer.

Der Morgen war nahe.

Am Rande des Tiergartens stand ein Schutzmann in seinem Regenmantel. Er
horchte. Ein Schuß --? Er schabte mit den schweren Stiefeln auf dem
Pflaster und ging ein paar Schritte über die Straße. Er blickte hinüber
zu den Gärten, hinter denen die Regierungsgebäude liegen. Vielleicht hat
sich jemand in den Regierungsgebäuden erschossen? Ein Minister? Wie?
Wie? Und doch ein Schuß, sagte der Schutzmann und zog sich tiefer in das
Dunkel des Tiergartens zurück. Jede Nacht erschoß sich hier jemand --
ein Soldat, ein Bankrotteur, ein Verschmähter. Der Schutzmann bohrte
seine Augen in den finstern Park und versuchte mit seinem
Polizistenblick das Dunkel zu schrecken.

Immer noch war Ottos Zimmer, gleich rechts vom Hauseingang, hell
erleuchtet. Immer noch sang melancholisch der Regen.

Nun aber dämmerte Licht auch in den Gemächern links vom Hauseingang. Die
Türe zum Schlafzimmer des Generals wurde geöffnet, und ein Schleier von
Licht drang durch die Gardinen.

Da erschien die breite Gestalt des Generals in der lichten Türe. Der
General war im Schlafrock und taumelte schlaftrunken. Er verlor immerzu
die zinnoberroten Pantoffeln, während er sich in das Vorderzimmer
tastete. Ein Schatten kroch vor ihm her.

»Wie sagst du --?« Er räusperte sich, seine Mundhöhle war ausgetrocknet,
denn der General schlief mit offenem Munde und schnarchte. »Verletzt,
sagst du --?« Er bemühte sich, die Schnur des Schlafrocks zuzuziehen, um
sich nicht zu erkälten. Schon wieder hatte er einen Pantoffel verloren
und tastete mit dem nackten Fuße danach.

»An der Hand -- der Herr Oberleutnant --«

»Man sollte doch meinen, daß er mit Schußwaffen umzugehen versteht!«
schrie der General den Burschen an. Eigentlich hätte er dies Otto sagen
sollen, aber in derartigen Augenblicken wandte er sich mit Vorliebe an
Untergebene.

»Mache Licht!«

Zornrot ragte der Kopf aus dem fleischfarbenen Schlafrock. Auch dieser
Schlafrock zeigte karmesinrote Aufschläge, nicht so groß wie der Mantel,
aber von der gleichen Farbe.

»Beim Packen also --? Was soll das Gestotter!«

»Der Herr Oberleutnant wollte den Revolver in die Kiste schieben, da
ging er los -- ganz von selbst. Er ist schon einmal losgegangen.«

Mit wütenden Schritten ging der General durch die Zimmer. Der
fleischfarbene Schlafrock wehte. Plötzlich aber hielt er den Schritt an
und tastete mit der Hand gegen einen Türrahmen. »Ein Glas Wasser,
Jakob«, sagte er. »Und dann -- hörst du -- wecke meine Tochter, sofort
-- aber nicht du sollst sie wecken -- sondern wecke Therese, und Therese
soll meine Tochter wecken. Wangel soll sofort das Auto holen.«

Das Blut war aus seinem Kopf gewichen, er war totenbleich geworden. Er
taumelte ein paar kleine Schrittchen rückwärts, bis seine Hand eine
Stütze an einem Sessel fand. Der Atem pfiff in kurzen Stößen aus seiner
Brust.

»Und nun also ein Glas Wasser!«

Der General hatte nur einen flüchtigen Blick durch Ottos halboffene Tür
geworfen. Otto stand gestiefelt und gespornt, rasiert und frisiert, fix
und fertig zur Abreise. Auf dem Boden lag die gepackte kleine graue
Offizierskiste. Er sah völlig nüchtern aus, gesammelt, ohne jede Spur
von Betrunkenheit.

Und dann ein Handtuch -- zusammengerollt, wie ein blutiger Klumpen
. . . Es war eine Schwäche des Generals, daß er kein Blut sehen konnte.
Es war ihm immer peinlich gewesen -- im Felde, wo es sich doch nicht
vermeiden ließ -- aber es war eine Schwäche, die er schon in der
Kadettenzeit gehabt hatte. Es war ganz hoffnungslos, dagegen
anzukämpfen.

Man hörte Therese an Ruths Türe pochen. Man hörte sie halblaut rufen.
Dann ging die Türe. Therese verschwand in Ruths Zimmer und kam nicht
wieder.

Nun?

Endlich -- nach langer Zeit kam Therese wieder zum Vorschein. Ihre Miene
war verstört. Hilflos blieb sie an der offenen Türe stehen. Therese --
sie hieß gar nicht Therese, aber sie wurde, seit sie im Hause des
Generals lebte, so genannt, sie hieß Ernestine -- Therese war, wie
häufig, von ihrer Angst vor dem General gelähmt. Sie fürchtete ihn für
gewöhnlich, sie ließ sich nicht gerne in ein Gespräch mit ihm ein, lebte
für sich in den hinteren Räumen und kam nur selten nach vorn. Aber bei
besonderen Ereignissen steigerte sich ihre Furcht zum Entsetzen. Und in
diesem Augenblick erschien ihr der General wahrhaft erschreckend -- in
seinem fleischfarbenen Schlafrock und den roten Pantoffeln. Ihre Augen
zerrannen vor Ratlosigkeit, ganz wie seinerzeit, als sie vor dem Gericht
aussagen sollte. Damals, als der General den Prozeß führte und man sie
kreuz und quer über alles Mögliche ausforschte. Damals, als es keine
Ruhe mehr im Hause des Generals gab, nur Tränen. Therese fühlte, daß
wiederum etwas nicht in Ordnung war.

Der General aber starrte sie an, er begriff nicht. Sein Schnurrbart
zitterte, und Therese, die dieses Anzeichen sehr gut kannte, machte eine
verzweifelte Anstrengung zu sprechen. Ihr altes Gesicht legte sich in
tausend Runzeln und kleine Falten, als ob sie weinen wollte. Die Finger
zupften an den rasch übergeworfenen Kleidern.

»Ruth ist nicht hier.«

Der General hatte nicht recht gehört.

»Sie ist nicht in ihrem Zimmer.«

»Nicht hier --?«

Aber gerade in diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit auf ein
Geräusch an der Türe gelenkt. In der Türe der Diele drehte sich ein
Schlüssel, und er wartete voller Spannung, was nun geschehen würde.
Zuerst erschien also eine kleine Hand, in grauen Handschuhen. Dann der
braune Pelzbesatz eines Ärmels, und schließlich stand Ruth in voller
Person mitten in der Türe. Auf ihrer kleinen, braunen Pelzmütze lagen
Regentropfen. Ruth erschrak nicht. Ihre braunen Augen, die weichen,
leuchtenden Augen der Sommerstorf, waren voller Erstaunen auf den
General gerichtet.

Dann aber begannen ihre Blicke sich langsam mit Unruhe zu füllen. Das
Leuchten erlosch, sie wurden dunkel.




Zweites Buch


1

Der Tag graute, und noch immer schwang der gleißende Lichtgürtel um
Berlin.

Vor wenigen Wochen, im Januar, lagen die blendenden Fabrikpaläste der
Vorstädte plötzlich einige Nächte lang dunkel da. Die eisernen Tore
blieben geschlossen, die Räder standen still, die Kesselfeuer waren
erloschen. Hunderttausende von regsamen Händen, wo waren sie? Was war
geschehen?

Streik, mit einem Wort. Streik, jetzt, gerade in diesem Augenblick, wo
man die Vorbereitungen traf für die letzte große Anstrengung, die den
Sieg bringen sollte. Das englische Gold rollte -- der General behauptete
es -- das englische Gold rollte durch die Straßen Berlins, Millionen und
abermals Millionen. Scharen von Agenten waren von Albion ausgesandt
worden, um die Front der Heimat zu unterminieren. Es wimmelte von
Spitzeln und Spionen. Man klebte Zettel an die Häuser, Laufzettel gingen
durch die Fabriken -- das englische Gold war allmächtig.

Es kam zu Zusammenrottungen -- da draußen. Patrouillen streiften durch
die Stadt, Schwärme von Berittenen mit Karabinern, Maschinengewehre
waren auf den Dachböden aufgestellt, da und dort -- sollten sie nur
kommen -- von da draußen! Halbwüchsige Burschen zogen über die Linden
und pfiffen. Aber die Schutzleute stürzten aus den Häusern und
ohrfeigten sie.

Straßenbahnwagen wurden umgestürzt. Durch die Stadt fuhren reihenweise
Wagen mit eingeworfenen Fensterscheiben. Das englische Gold hatte es
weit gebracht.

Die Streikenden sandten einen Ausschuß, um zu unterhandeln. Aber der
Minister -- plötzlich machte er sein Rückgrat steif -- lehnte ab,
weigerte sich -- bitte recht sehr. Er forderte gesetzlich zulässige
Vertreter. Er witterte eine Ungebührlichkeit, etwas, was überhaupt noch
nicht dagewesen war, das sich erkeckte, zu rütteln, an den Grundpfosten
zu rütteln . . .

Die Streikenden forderten Brot, und die Regierung versprach.

Die Streikenden forderten -- sie deuteten es nur an, aber es ging aus
ihrer ungesetzlichen, hochverräterischen Haltung deutlich hervor . . .
Es schien ihnen an der Zeit, nachzudenken. Herzogshüte und Königskronen
sollten vergeben werden, da und dort, an alle möglichen Vettern, nun
gut, wenn es Vergnügen machte, aber es schien ihnen doch an der Zeit,
mit dem Überlegen zu beginnen. Der letzte Kupferkessel war dahin,
beschlagnahmt aus der Küche des armen Weibes, die Lokomotiven brachen
auf der Strecke zusammen, in den Kasernen exerzierten Knaben und
Krüppel. Schließlich war Amerika immerhin eine Macht, mit der man
rechnen mußte, auch wenn es nicht imstande war, Flugzeuge zu bauen und,
wie man schwarz auf weiß nachgewiesen hatte, unmöglich ein Heer über den
Ozean schaffen konnte. Trotzdem. Die deutschen Truppen standen in
Finnland, im Kaukasus, in --

Nein, sie sprachen es nicht in klaren Worten aus, aber sie wollten doch
ganz bescheiden darauf hinweisen, daß es eigentlich an der Zeit sei --

Aber gerade das, hm, verletzte den Minister. Er witterte --

Endlich nahmen die Generale die Sache in die Hand, und im Handumdrehen
war der Streik zu Ende. Man brauchte nur etwas zuzugreifen und sofort
ging es. Die Generale waren für individuelle Behandlung. Wer ein Gewehr
tragen konnte, wurde in die Schützengräben verbannt, andere wanderten
ins Gefängnis und einige ins Irrenhaus. Die eingeschlagenen
Fensterscheiben der Straßenbahnwagen wurden durch neue ersetzt -- nichts
war geschehen. Nichts blieb zurück als ein leises, unterirdisches
Grollen, unhörbar für Ohren, die aus Greisenschädeln wuchsen.

Obwohl der Streik nur wenige Tage gedauert hatte, sprach der General die
Möglichkeit aus, daß dadurch der Sieg gefährdet sein konnte -- konnte,
nur eine Möglichkeit . . .

Das war also im Januar gewesen. Nun aber regten sich wieder Tag und
Nacht die ungezählten Hände, zerfressen von dem schlechten Öl, das von
den Drehbänken spritzte und die Ölkrätze hervorrief. Die Feenpaläste
schwammen wieder strahlend in den Nächten, der Lichtgürtel flammte
wieder um die Riesenstadt. Und im grauen Morgen, zur Zeit des
Schichtwechsels, rollten wie früher die Züge überfüllt mit Menschen, als
sei nichts geschehen. Hunderte von gelben Gesichtern in jedem Abteil,
Hunderte von gelben Gesichtern auf den Trittbrettern, auf den Dächern,
überall. Und die bleichen, übernächtigen Mädchen, die die Patronen
packten, kreischten und schrien.

Auch an diesem grauen Morgen rollten ganz wie sonst zur Zeit des
Schichtwechsels die Züge mit den gelben und todbleichen Gesichtern.
Hustend und frierend hasteten Kleiderbündel durch die Straßen der
Vorstädte, voller Angst, rechtzeitig die Kontrolle der eisernen Tore zu
passieren. Der Westen der Stadt lag noch in tiefem Schlaf, die Wächter,
die den Schlummer der Reichen bewachten, gähnten.

Auch an diesem Morgen rollte mit der Minute der bekannte Zug nach der
Westfront. Eine Leiche sah auf den Bahnsteig, suchte, pfiff sogar etwas
-- die Leiche -- es war Hauptmann Falk.

Wo bleibt denn dieser Knabe? Aber Otto kam nicht, und Hauptmann Falk zog
das Fenster hinauf, hüllte sich in den Mantel und schlief augenblicklich
ein, bevor der Zug die Station recht verlassen hatte.

Die Feuerwalze war auf der Heimreise. --

Der Tag dampfte über den Kartoffeläckern und Rübenfeldern im Osten von
Berlin, und graue Wolken schleppten sich über die Laubenkolonien
zwischen den roten und gelben Backsteinmauern der Vorstädte, über die
Halden mit Bauschutt, Papierfetzen und verbeulten Eimern. Hinter den
grauen Wolken aber kam ein Funke! Der Funke leckte feurig einen
Wolkenrand und ein Blitz blendete hervor. Da begannen die gelben und
roten Backsteinmauern der Vorstädte zu blühen, die Fensterscheiben
funkelten, das Millionenauge der Riesenstadt blitzte. Die Trompeten in
den Kasernenhöfen schmetterten, und Tausende von Männern erhoben sich
von den elenden Lagern.

Ein Lichtbüschel züngelte mitten durch das Fenster einer Mietskaserne im
Nordosten Berlins -- einer grauen, mürrischen Mietskaserne, über deren
Fassade sich die Riesenaufschrift »Leihhaus« erstreckte -- und blendete
in ein aufgeschlagenes Buch. Dieses Buch lag auf einem kleinen Tisch
dicht am Fenster des armseligen Zimmers. Das Buch flammte, Feuer schlug
heraus: es war die Bibel!

Eine Hand hatte Verse angestrichen, und diese Verse brannten unter dem
Lichtstrahl:

»Und die Könige auf Erden, und die Obersten, und die Reichen, und die
Hauptleute, und die Gewaltigen, und alle Knechte, und alle Freien
verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen.«

»Und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet auf uns, und verberget
uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn
des Lammes.«

»Denn es ist kommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?«

Da glühte das ganze Buch, flammte auf und brannte.

Neben dem Buch stand eine kleine Schreibmaschine veralteten Systems. An
der Türe des kleinen Zimmers hing ein großer, weiter, grauer
Soldatenmantel.

Nun trat ein junger Mann ins Zimmer, und während er in den Mantel
schlüpfte, fielen seine Blicke auf die aufgeschlagene Bibel, die im
Lichtstrahl flammte.

»Auch die Apokalypse gibt keine Deutung!« sagte der junge Mann
kopfschüttelnd, mit rasenden Augen, und schloß das Buch. Sofort erlosch
es, schwieg es, wurde es stumm.

»Diese apokalyptischen Reiter -- sie sind Schemen. Das Blut stieg bis an
die Zäume der Pferde -- er sollte es mit eigenen Augen sehen -- die
Pferde versinken im Blut!«

Da aber traf der Lichtstrahl ihn mitten ins Herz. Er fuhr zusammen,
seine rasenden, dunkeln Augen richteten sich ins Licht und flammten in
seinem bleichen Gesicht.

Er sah nicht die Schutthaufen mit den Papierfetzen und rostigen Eimern,
nicht die Lauben mit den schwarzen Lumpen auf den Dächern: er sah das
Licht, das sich zwischen düsteren Wolkensäumen durchfraß und die
Herrschaft über die Dunkelheit an sich riß.

Seine Finger berührten das heilige Buch, zuckten.

»_Ich glaube! Ich glaube!_« schrie er dem Licht entgegen.


2

Auch der alte Portier, der Veteran von 70, war schon wieder auf seinem
Posten. Zuweilen trat er aus der Loge und spuckte aus. Und da -- ist es
zu glauben? -- da war auch schon wieder jener Aufdringliche, jener
kleine, ältere Herr. Er zog den steifen Hut.

»Seht an -- Sie? Schon wieder?« begrüßte ihn der Portier unfreundlich.
Und vorwurfsvoll fuhr er fort: »Sie haben mich in eine hübsche Lage
gebracht, das muß ich sagen!«

»Hübsche Lage --? Um Gottes willen --?«

»Ja, eine hübsche Lage, Herr -- Herbst, nicht wahr?«

»Jawohl, Herbst.«

»Etwas war offenbar nicht in Ordnung mit Ihrem Brief, Herr Herbst!«

»Nicht in Ordnung --?«

»Nein. Seine Exzellenz -- Sie haben doch gutes Papier genommen?
Jedenfalls haben Seine Exzellenz --« Der Portier in seinem im Laufe der
Kriegsjahre etwas schäbig gewordenen Mantel brach ab, öffnete die
Glastüre der Loge und verbeugte sich. »Guten Morgen, Herr Oberst!« Säbel
rasselten, ordenglitzernde Brüste schwebten am Glasfenster vorüber,
Lackstiefel, rote Streifen, Pelzkragen. Die Soldaten und Schreiber
huschten die Granittreppen hinauf. Der Dienst begann wieder, dieselbe
Sache, wie seit Jahren.

»Jedenfalls war etwas mit Ihrem Brief nicht in Ordnung. Seine Exzellenz
waren -- hm -- ungehalten.«

»Sie selbst haben mich doch ermutigt.«

»Höflich und richtig abgefaßt. Ich habe gesagt, versuchen Sie es.
Reichen Sie ein Gesuch um eine Audienz ein. Haben Sie gehorsamst
geschrieben?«

»Ja, gehorsamst habe ich geschrieben.«

»Der Umschlag, ich sagte Ihnen ja gleich, ein weißer wäre besser
gewesen. Diese hohen Herren haben ihre Eigenheiten. Sie sehen auf
Kleinigkeiten, wenn zum Beispiel auch nur ein ganz kleiner Schmutzfleck
da ist -- Guten Morgen, Herr Major, Herr Rittmeister! -- Es ging ja noch
gut ab, aber es hätte leicht ein Donnerwetter setzen können, schon
fürchtete ich einen Blick zu bekommen, ja, wissen Sie, einen Blick --!
Und nun ist heute nacht diese Sache passiert -- wissen Sie -- diese
Sache --«

»Welche Sache?«

»Nun, der Sohn Seiner Exzellenz -- der Herr Oberleutnant,« die Stimme
des Portiers sank zu einem Flüstern herab, »er hat Malheur gehabt mit
dem Revolver, beim Packen. Der Revolver hat sich geklemmt, und schon
ging also der Schuß los -- in die Hand.«

»Ist es möglich?«

»Nun können Sie sich vorstellen, was für eine Aufregung das hier im
Hause ist! Der Adjutant war schon hier und gab mir einen Wink. Denn
sehen Sie, wenn Exzellenz schlecht gelaunt sind, dann ist nicht zu
spaßen mit Exzellenz. Für gewöhnlich sind Exzellenz ja ganz umgänglich
-- freundlich sogar . . . Aber« -- plötzlich musterte der Portier seinen
Besuch -- »hören Sie -- Sie sind ja ganz naß, völlig durchnäßt?«

»Ich bin in den Regen gekommen.«

»In den Regen? Und wie Sie aussehen, Herr! Als ob Sie auch nicht ein
Auge zugetan hätten?«

»Wie ich Ihnen schon sagte, ich bin zuweilen vollkommen schlaflos --«

Der alte Portier, mit den weißen Haarsträhnen, den kleinen Medaillen aus
Kupfer und Blech auf der Brust des zu weiten Mantels, schüttelte den
Kopf -- kritisch, mißbilligend. Hier in seiner Loge --

Der Havelock, das heißt der Herr mit dem Havelock, Herr Herbst, machte
allerdings einen jämmerlichen Eindruck. Sein rostbrauner Havelock, der
viel zu lang war und bis an die schmutzigen Stiefel reichte, war
zerknittert und dunkel vor Nässe. Der schwarze steife Hut, der bis an
die abstehenden Ohren fiel, war glänzend schwarz vom Regen, das Band,
das die Krempe säumte, einfach vollgesogen mit Wasser. Sein Gesicht war
keineswegs stahlblau, sondern gelblich bleich, von ungesunder Färbung,
mit merkwürdigen gelben Flecken, klein, hohlwangig und von tiefen
Furchen zergraben. Öffnete er den kleinen, faltigen Mund mit dem
weißgrauen Stoppelbärtchen, so wurden gelbe Zahnstumpen sichtbar -- und
seine Glatze zog bis ins Genick, nur einige Härchen, grauweiß
gekräuselt, deuteten noch den Haarkranz an -- und diese großen,
abstehenden Ohren! Seine wasserhellen Augen waren entzündet und tränten,
sie schwammen fortwährend in Wasser. Es war ein Mensch, der nichts auf
sein Äußeres gab -- sich vernachlässigte, schlaflos, krank offenbar --
sein Sohn -- der alte Portier fühlte plötzlich Mitleid, obschon es ihm
peinlich war, daß dieses durchnäßte Herrchen sich in seiner Loge befand.
Wenn jemand hereinkäme, nicht ein Schreiber, vor ihnen hatte er keine
Angst, aber, nehmen wir an, ein Offizier?

»Und, sagen Sie -- lieber Herr -- was wollen Sie nur wieder, schon so
früh --?« fragte er, plötzlich aufs äußerste erstaunt.

»Ich wollte --« hier errötete Herr Herbst und wurde sehr unruhig --
»nun, ich wollte doch nachsehen, ob keine Antwort --?«

»Antwort --?«

»Der General sollte Ihnen Bescheid geben, wann die Audienz --?«

Der Portier schlug erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen. »Also
auch mich ziehen Sie mit hinein -- mich?«

»Es schien mir das Einfachste --«

»Das Einfachste -- und Exzellenz werden nun denken --!« Und wieder
schlug der Portier außer sich die Hände über dem Kopf zusammen.

Herr Herbst fühlte nur zu deutlich, daß seine Position hoffnungslos
verloren war. Hastig fuhr er mit der kleinen, schmutzigen Hand in den
zerknitterten Havelock und zog ein Zigarrenetui aus der Rocktasche, ein
großes Etui aus Aluminium.

»Ich bitte«, stotterte er.

»Nun kommen Sie mir wieder mit Ihren Zigarren.«

»Nehmen Sie ruhig, mein verehrter Herr!«

»Ich will Sie nicht berauben. Heutigentags ist eine Zigarre eine
Kostbarkeit. Danke. Also -- keine Adresse, Sie Unglückseliger --?«

»Nein. Ich wußte auch nicht recht welche -- ja, wie sollte ich es machen
-- ich habe -- zwei Wohnungen.«

»Zwei Wohnungen haben Sie?«

»Ja, zwei. Ich weiß nicht, wo ich eigentlich wohne.«

»Zwei Wohnungen, und er weiß nicht -- ja, eigentümlich -- ein
eigentümlicher Herr sind Sie --«

»Es kommt alles _daher_ -- alles _daher_ --« stotterte Herr Herbst zu
seiner Entschuldigung.

In diesem Augenblick klappte draußen ein Wagenschlag. Es war fünf
Minuten nach neun Uhr. Der Portier schrak zusammen und warf einen
raschen Blick durch das Guckfenster.

»Seine Exzellenz! Seine Exzellenz!« rief er in höchster Aufregung aus.
»Exzellenz darf Sie hier nicht sehen. Um Gottes willen -- daß Sie mir
nicht durch die Türe blicken!«

Und schon stürzte der Portier zitternd hinaus, um dem General seinen
Bückling zu machen.

Der Mann im Havelock floh erschrocken in die Ecke der Loge. Sein Herz
schlug vor unbeschreiblicher Angst. Er preßte das Zigarrenetui aus
Aluminium vor die Brust. Er stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand
-- dann aber zwang ihn eine Macht, gegen die es keinen Widerstand gab,
langsam, ganz langsam den Kopf zu drehen und durch die Glastüre zu
lugen.

Soeben ging der General an der Loge vorüber. In Gedanken versunken, wie
gewöhnlich, stieg er die Granittreppe hinauf.

                   *       *       *       *       *

»Gott sei Dank, Exzellenz hat Sie nicht bemerkt!«

Aufatmend trat der Portier in die Loge zurück. »Und gar nicht schlecht
gelaunt, ja, sonderbar. Wer soll sich bei diesen hohen Herren auskennen?
Er sagte, sogar: >Guten Morgen, Heinecke<.«

Der Havelock wagte sich wieder aus seiner Ecke hervor. Seine tränenden
Augen forschten in dem alten Frauengesicht des Portiers. »Und --?«

»Was meinen Sie -- und?«

»Kein Bescheid?«

Der Portier schlug verzweifelt die Hände zusammen.

»Sie glauben also, mein lieber Herr, Exzellenz hat an nichts anderes zu
denken als an Ihr Gesuch«, rief er ärgerlich. »Um fünf Uhr haben Sie das
Gesuch abgegeben! Um acht Uhr waren Sie schon wieder da! Kaum beginnt
der Tag, so kommen Sie -- ich bitte Sie, mein verehrter Herr --!«

»Verzeihen Sie --«

»Exzellenz hat natürlich den Kopf vollgestopft mit allen möglichen
Dingen. Exzellenz hat dreihundert Leute unter sich, verstehen Sie, was
das heißt? Offiziere und Beamte und Mannschaften -- dreihundert. Da gibt
es Befehle und Schreibereien -- täglich kommen über hundert Telegramme
-- jeden Augenblick ruft die Oberste Heeresleitung an -- na und so zu --
und da glauben Sie --! Ich muß offen mit Ihnen reden. Sie sind nie
Soldat gewesen?«

»Nein.«

»Nun, da haben wir's. Dann können Sie freilich nicht wissen, wie es
zugeht. Keine ruhige Minute. Seit vierzig Jahren mache ich das mit.«

»Sie selbst haben doch --«

»Ja, leider Gottes habe ich -- aber bedenken Sie doch, was Sie
verlangen! Eine Audienz! Hunderte warten darauf -- wochenlang! Ich muß
nun offen mit Ihnen reden. Gestern schreiben Sie und heute glauben Sie
schon -- Ein General! Bedenken Sie -- und wer sind Sie? -- Ich will
Ihnen nicht zu nahe treten -- aber wer sind Sie -- oder ich --?
Vielleicht wird Exzellenz überhaupt nicht antworten.«

»Überhaupt nicht --?!« rief der Mann im Havelock voller Schrecken aus
und hob die Hände.

»Möglich, weshalb nicht? Ich spreche nun ganz offen mit Ihnen.«

»Aber mein Sohn -- es handelt sich ja --«

»Möglich -- alles möglich -- Sie sind weltfremd, mein Herr, kennen das
Leben nicht. Aus der Provinz --«

Herr Herbst nahm den Hut. Niedergeschlagen wandte er sich zur Türe:
»Nun, dann werde ich ein neues Gesuch schreiben!« sagte er entschlossen.

»Um Gottes willen!«

»Wenn er aber auch darauf nicht antwortet -- wissen Sie, was ich dann
tue --?« Herr Herbst versank in Nachdenken.

»Nun, nun -- wer sollte es für möglich halten --?«

Offenbar fand der Havelock aber keine Lösung.

»Nun jedenfalls ein neues Gesuch -- ja ja -- morgen schon! Ich kann doch
wohl verlangen -- Als Vater habe ich doch ein Recht -- ein Recht --«

Der Portier brach in ein heiseres Altmännerlachen aus und hustete. »Ein
Recht! Ein Recht!« schrie er.

»Weshalb nicht, als Vater?« fragte Herr Herbst, schon wieder ganz
zaghaft und entmutigt.

»Hahahaha -- ehek, ehek!«

Der Mann mit dem Havelock war verschwunden. Als der Portier sich
ausgespuckt hatte, war weit und breit von ihm keine Spur mehr zu sehen.


3

Langsam wandelte der General den endlosen Korridor entlang. Diesen
Korridor liebte er, und so oft er ihn entlang ging, empfand er ein
sonderbares Behagen, obschon dieser Korridor genau so häßlich, kahl und
übelriechend war wie alle Korridore des riesigen Amtsgebäudes. Aber in
etwas unterschied er sich von den andern Korridoren: er vibrierte
unaufhörlich von den Maschinen, die im Erdgeschoß arbeiteten. Sie
erfüllten den kahlen Gang mit ihrer Energie.

Wie täglich, wie stündlich, blieben die Ordonnanzen und Schreiber gegen
die Wand gedrückt stehen, sobald der General in ihre Nähe kam. Sie
wandten den Blick nicht von seiner verschlossenen Miene, bis er vorüber
war. Und selbst dann blickten sie ihm noch eine geraume Weile nach.
Jetzt erst setzten sie sich, den Kopf ruckweise zurechtdrehend, wieder
in Bewegung. Die Offiziere, die das Unglück hatten, zufällig über den
Korridor zu gehen, blieben stehen und machten ihre respektvolle
Verbeugung. Und der General hob den Finger an den Mützenrand, wie
täglich, wie stündlich, ohne die Menschen, die vor ihm zurückwichen,
anzusehen. Sein Blick war zu Boden gerichtet, auf die Steinfliesen, die
abgeschliffen waren von den genagelten Soldatenstiefeln. Es sah aus, als
ob die ganze Last der Kriegführung auf seinen Schultern ruhte.

Unter den Steinfliesen arbeiteten die Druckereien. Tag und Nacht
schleuderten die Rotationsmaschinen Stöße von Kartenblättern heraus,
die, zu großen, nach Leim und frischer Farbe riechenden Stapeln gehäuft,
nach und nach sämtliche Korridore des weiten Gebäudes überschwemmten. Es
waren Karten von allen denkbaren und undenkbaren Ländern, vom Eismeer
bis zum Äquator -- soweit die scharfen Augen der Generale blickten.

Aus diesen Kartenstapeln strömten Inspirationen. So sah der General in
diesem Augenblick, ohne jede bewußte Ideenverbindung, deutlich den
Peipussee vor sich und die strategische Grenzlinie Deutschlands im
Osten, die schon sein großer Lehrmeister Moltke gezogen hatte. --
Übrigens, kurios, der Portier, dieser alte Veteran, er sah dem alternden
Moltke etwas ähnlich, natürlich nur ganz entfernt, soweit ein aus dem
Unteroffizierstande hervorgegangener Beamter überhaupt einem Heerführer
ähnlich sehen kann. -- Diese Linie, ja, und im Norden mußte ein
erstarktes Finnland, fest an Deutschland geknüpft, der Verbündete
werden: mit der Pistole an der Schläfe mußte Rußland in den Frieden
hineingehen.

Ein Glück nur, daß dieses elende Diplomatenmachwerk von Brest-Litowsk
nur ein Provisorium war . . .

Plötzlich wurde die strategische Ostlinie, die scharf wie der Schnitt
eines Rasiermessers vom Peipussee südlich führte, durch irgendetwas
gestört. Was war es doch? Ein weiter, grauer Soldatenmantel flatterte
durch sie hindurch!

Da war er also wieder, seht an . . .

Seit Wochen schon war ihm dieser Mantel aufgefallen, und zwar nur, weil
er so merkwürdig flatterte, wie kein Mantel sonst. Obschon er immer nur
-- ein sonderbarer Zufall -- einen Zipfel dieses Mantels verschwinden
sah, konnte er doch feststellen, daß es der Mantel eines gemeinen
Soldaten war, der nachlässig, unsoldatisch, mit einem Wort
vorschriftswidrig getragen wurde. In besonderen Stimmungen hatte er in
dem Flattern dieses Mantels sogar etwas Herausforderndes erblickt --
eines jener Symptome des Abbröckelns der Disziplin, gegen das er in
ungezählten Tagesbefehlen ankämpfte -- schon an der Front, was ihm von
gewissen Seiten wieder übel vermerkt wurde.

Diesmal aber lief ihm der Mantel direkt in die Hände, er konnte ihm
nicht entgehen.

Der Soldat kam näher, und nun, da er den Schritt verlangsamte, sah der
General, daß er das eine Bein etwas nachschleppte. Der weite Mantel
stand an der Wand still, wie alles, was sich hier bewegte, wenn der
General in Sicht kam.

Der General sah einen einfachen Soldaten von etwa fünfundzwanzig Jahren
vor sich stehen, mittelgroß, breitschulterig, mit schlichten, für sein
Alter auffallend ernsten Zügen. Was dem General aber besonders an dem
Gesicht auffiel, das waren die Augen. Sie waren braun und
außerordentlich sanft. Es waren die sanftesten Männeraugen, die der
General jemals gesehen hatte. Und der ganze Bursche, bleich und schlecht
genährt, wie die meisten Ordonnanzen und Schreiber, die sich im
Amtsgebäude herumtrieben, der ganze Bursche machte einen ebenso sanften
und versöhnlichen Eindruck. Nur seine schwarzen Haare waren etwas zu
lang und standen unter der Mütze vor. Die Haltung dieses Mannes war ohne
jeden Tadel. Indessen, es lag etwas in dem Ausdruck seines Gesichts --
ja, wie soll man sagen? In den warmen, braunen Augen schimmerte -- oder
täuschte er sich -- ein unmerkliches Lächeln, und dieses unmerkliche
Lächeln lag trotz dem Ernst auch auf dem etwas bleichen Gesicht.

Der General betrachtete das Gesicht in aller Ruhe -- so wie man eine
Schnitzerei betrachtet. Aber dieser Mann kam nicht in Verlegenheit,
wurde nicht unsicher, der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht,
seine Lider bewegten sich nicht rascher. Er blieb gleichmäßig ruhig und
gleichgültig.

Dieser Mann hatte offenbar keine Angst, von einem hohen Vorgesetzten
gemustert zu werden, ruhig erwiderte sein Blick den des Generals --
keine Angst, nicht die geringste.

Hm!

Übrigens hatte der General dieses Gesicht schon irgendwo und irgendwann
gesehen, obgleich er sicher war, ihm nie im Leben begegnet zu sein. Es
war ein Gesicht, wie man es auf alten Bildern sah -- ein Gesicht aus
vergangenen Epochen sozusagen. Auf alten Gemälden und Stichen, von
Mönchen, Poeten und sonstigen Schwärmern.

Nun stieg eine leichte Röte unter der blassen Haut des Gesichts empor.

Rasch wie Hammerschläge fielen Fragen und Antworten:

»Wie heißen Sie?« -- »Ackermann.«

»Was sind Sie?« -- »Hilfsschreiber!«

»Zivilberuf?« -- »Student!«

»Wo verwundet?« -- »An der Somme!«

Unvermittelt nahm die Stimme des Generals einen strengen Ton an.

»Wenn Sie auch Student sind, so können Sie doch Ihren Mantel
vorschriftsmäßig zuknöpfen!«

Die Hände des Soldaten fuhren nach den Mantelknöpfen.

»Nachher, mein Sohn«, sagte der General wieder milder und ging.

Schon verschwand er in der grüngepolsterten Doppeltüre.

                   *       *       *       *       *

Etwas unsicher machte Hauptmann Weißbach, der Adjutant, seine Meldung.
Ottos verletzte Hand war soeben geröntgt worden. In wenigen Wochen
dürfte Otto wieder völlig hergestellt sein.

»Also, der Arzt befürchtet nicht, daß seine Karriere dadurch beeinflußt
werden könnte?«

Weißbach erblickte seinen Gebieter durch eine Art Nebel in
Überlebensgröße. Er hatte die Empfindung, Wolken von Alkohol
auszuströmen. Wenn man ihm mit einem Streichholz zu nahe kam -- um
Gottes willen, seien Sie vorsichtig! -- so würde er lichterloh in
Flammen stehen, augenblicklich -- diese etwas peinliche Empfindung hatte
der Adjutant. Ganz abgesehen davon konnte jeden Augenblick der
Parkettboden unter seinen Füßen einbrechen und er im Keller landen, bei
den Rotationsmaschinen, die Tag und Nacht Karten aller Herren Länder
ausspien.

Vor knapp einer halben Stunde war er von Ströbel gekommen. Ströbels
Herrenabende -- die Saharet zählte gar nicht -- pflegten sich stets bis
zum Morgen auszudehnen. Punkt acht Uhr wurde die letzte Bank abgezogen.
Dann badete man, rasierte sich und frühstückte. Herrlichen Mokka gab es
bei Ströbel, Brötchen mit Butter -- einfach alles. Zuletzt noch einen
Kognak -- und dann los! Ottos Unfall war telephonisch gemeldet worden.
Augenblicklich hatte Weißbach, so wie es sich für einen Adjutanten
gehörte, seine »Maßnahmen ergriffen«. Alles telephonisch. Er wollte ins
Lazarett fahren, sobald eine Minute Zeit war. Er wußte, was man von ihm
forderte --

Der General befahl mit Ottos Regimentskommandeur im Felde verbunden zu
werden -- und dann: wenn Anmeldungen vorliegen?

»Der Herr von der Presse.«

»Ich bitte!« Die Verblüffung warf Weißbach nahezu zu Boden.

Seit einer Woche bereits antichambrierte dieser Herr von der Presse, und
Weißbach wagte kaum noch, ihn zu melden. Der General verachtete alles,
was mit diesem Gewerbe zu tun hatte -- all diese entgleisten Studenten,
Gelehrten und Schriftsteller, die die Anmaßung besaßen, die öffentliche
Meinung machen zu wollen.

Die hohen Bogenfenster spiegelten sich im gewichsten Parkett, der breite
Goldrahmen des großen Kaiserbildes an der Wand glänzte. Sonst war der
Arbeitssaal Leere und Kahlheit, bewohnt einzig und allein von Seiner
Majestät, mit dem Marschallstab und der von Orden, Kreuzen, Sternen,
Tressen und Schnüren funkelnden Brust.

Von tiefem, feierlichem Blau waren die langen, schmalen Vorhänge an den
hohen Bogenfenstern, silbergrau die Wände -- zuweilen wichen sie zurück,
wenn der General arbeitete -- in weite Fernen, und es schien ihm dann,
als säße er in einem endlosen Nebel.

Der General heftete den Blick auf das Kaiserbild -- täglich tauschte er
Blicke mit seinem obersten Herrn. Aber die Augen des Soldaten im weiten
Mantel erschienen vor seinen Blicken: sonderbare Augen, in der Tat --
genau wie auf den alten Ölgemälden --

Schon trat der Herr von der Presse ein -- mit einem feierlichen
Bückling, bis zum Parkett. Ein warmer Unterton in der Stimme des
Generals ermutigte ihn näher zu treten.

Weißbach unterbrach die Unterhaltung.

»Das Regiment«, meldete er. »Befehlen Herr General das Gespräch hier
hereinzulegen?«

»Ich bitte -- es wird wohl nicht stören?« Der Herr von der Presse wußte
das außergewöhnliche Vertrauen zu schätzen.

Und der General begann in das Telephon zu schreien: »-- schon
unterrichtet -- jawohl -- eine Abschiedsfeier, Herr Oberst, die bis
morgens um sechs Uhr dauerte --« Und nun lauschte der General und
verbeugte sich am Telephon. Der Regimentskommandeur drückte die Hoffnung
aus, seinen tapfersten Offizier bald wiederzusehen. Er sagte
ausdrücklich: tapfersten -- hier verbeugte sich der General -- und
wieder heulte der General in das Telephon. »Stimmung ausgezeichnet,
sagen Sie -- prächtige Laune -- Zuversicht -- es wird ja wohl bald
wieder vorwärtsgehen --« und wieder lachte der General in das Telephon.

»Sie verzeihen die Unterbrechung. Meinem Sohn ist ein kleines Malheur
zugestoßen. Beim Einpacken, er sollte heute zum Regiment zurück, klemmt
sich der Revolver, und plötzlich geht er los --«

Auf den Zügen des Pressevertreters malten sich äußerster Schrecken und
tiefste Anteilnahme.

Untadelig glänzte das Wappenschild der Hecht-Babenberg durch die
Jahrhunderte. Gerade dieses Wappenschildes wegen deckte der General
seinen Sohn mit dem eigenen Leibe. Wenn man auch voraussetzen sollte,
daß vor dem Namen Hecht-Babenberg die Zungen unverantwortlicher
Schwätzer verstummten, so wimmelte dieses Berlin doch von Neidern und
Verleumdern -- er selbst konnte ja ein Lied davon singen -- denen selbst
das fleckenlose Wappenschild der Hecht-Babenberg nicht heilig sein würde
. . .

Der Dienst verschlang die Zeit, und im Augenblick war es Mittag
geworden. Punkt ein Uhr raste die graue Limousine davon, um erst vor
Stifters Diele, Unter den Linden, anzuhalten.


4

Der General frühstückte jeden Tag in Stifters Diele. Ruth war zur
Mittagszeit in ihrer Küche beschäftigt, und allein in dem kahlen
Speisezimmer zu Hause sitzen --? Nein. Es war am Tage noch ungemütlicher
als am Abend -- und totenstill.

In Stifters Diele waren wenigstens Menschen und etwas Lärm, gerade so
viel, wie Leute mit guter Kinderstube ihn beim Dinieren erzeugen, ein
beruhigender, wohltuender Lärm. Silber klirrte.

Hier, in seiner Nische hinter den Stechpalmen, fühlte der General sich
geborgen vor den Zudringlichkeiten der Welt. Zuweilen nur drang
irgendein neugieriger Blick durch die Stechpalmen, um sich sofort wieder
ehrfurchtsvoll zurückzuziehen.

Stifters Diele war nicht ein gewöhnliches Restaurant, sondern eine
Speisekapelle: farbige Kirchenfenster, Dämmerung, gedämpfte Lichter und
dicke Teppiche. Das Speisen hatte hier die Form eines religiösen Kults
angenommen. Die Kellner murmelten feierlich wie Priester, die die
Beichte abhören.

Zwischen dem Etablissement und den Gästen bestand eine stillschweigende
Verabredung: das Etablissement versprach, seine Gäste gesund und
wohlgenährt durch den Krieg zu bringen, wogegen die Gäste sich
verpflichteten, zu schweigen und zu zahlen. Es verkehrten fast
ausschließlich Stammgäste in Stifters Diele. Zumeist hohe Würdenträger,
die neue Energien für den anstrengenden Dienst zu gewinnen suchten, und
Junker, die von ihren großen Gütern nach Berlin kamen und die Küche der
Diele kannten. Manchmal verirrten sich auch zweifelhafte Elemente hier
herein -- aber sofort kam der Oberkellner, leider alles bestellt, die
Herrschaften --

Wie eine Orgel summte die tiefe Stimme des Oberkellners. Näher als
irgendein anderer Sterblicher es hätte wagen dürfen, rückte er dem roten
Ohr des Generals.

»Bouillon mit Mark oder Klößchen, Exzellenz? -- Mit Klößchen, sehr
wohl.«

»Hühnerpastetchen, Exzellenz? Heute ist fleischloser Tag, aber -- nur
für unsere Stammgäste natürlich -- Chateaubriand -- Es ist auch etwas
Kaviar eingetroffen. Ich darf eine Portion servieren, ohne den Preis zu
nennen?«

Der General setzte den goldenen Kneifer auf und blickte den Befrackten
an. »Sie sagten --?«

»Ja, über Finnland. Der russische Friede macht sich schon geltend. Haben
Exzellenz übrigens die Flagge auf der russischen Botschaft gesehen?
Nein? Zum erstenmal heute aufgezogen. Etwas Pudding oder Camembert?«

»Camembert!«

»Sehr wohl, Exzellenz. -- Den Wein habe ich schon bereitgestellt. Sehr
wohl.«

Jeden Mittag pflegte der General eine halbe Flasche Sekt zum Frühstück
zu trinken. Zuweilen aber nippte er nur am Glase, es hing ganz von
seinem Befinden ab.

Die Leberklößchen, die auf der Zunge zerschmolzen, die Geflügelpastete
mit eingehackten Champignons und würzigen Kräutern, das Chateaubriand
auf englische Art, der Kaviar -- ein Erlebnis sozusagen nach langen
Jahren -- neue Kraft erfüllte die Nerven, die Unglücksgeschichte Ottos,
die Plackereien des Dienstes versanken. Nichts blieb, gar nichts, es war
ein herrlicher Zustand des Schwebens im Nichts. Nur das Gegenüber störte
die vollkommene Harmonie. Vielleicht würde er doch noch den Platz
wechseln?

Gegenüber saßen zwei Rittmeister. Mit ihren glattgeschorenen, runden
Schädeln, voller Höcker und Knollen, ihren gedunsenen Gesichtern, ihren
rosigen Fettnacken, waren sie die typischen »Etappenschweine«, die nie
eine Kugel pfeifen hörten. Nichts aber haßte der General mehr als alles,
was Etappe hieß. Dabei trugen sie ellenlange Ordensschnallen auf der
Brust. Sie schämten sich nicht einmal, den Halbmond zu tragen, obwohl
sie nie die Türkei gesehen hatten, einen Orden, den selbst der General
nicht besaß. Immer tuschelten sie, immer kicherten sie, immer gossen sie
die Gläser voll -- und goldene Armreife wurden an ihren haarigen
Handgelenken sichtbar. Sie pflegten dem General ihre Achtung
auszudrücken, ohne irgendwelche Übertriebenheit: es waren Leute der
gleichen Gesellschafts klasse. Der General verachtete sie aus tiefster
Seele.

Schon aber stand der Oberkellner mit einer strahlenden Kerze vor ihm:
»Eine Zigarre, Exzellenz?«

Gott sei Dank, die beiden Burschen gingen.

Der General legte sich behaglich in den Sessel zurück.

»Aber das Pferdematerial?« fragte eine skeptische Stimme in seinem Ohr.
Tag und Nacht war er mit den Problemen des Krieges beschäftigt. »Ob die
Pferde noch den Anstrengungen einer Offensive gewachsen sein werden --?«

»Die Pferde sind ausgeruht -- gut gefüttert und gepflegt«, antwortete
eine zweite, zuversichtliche Stimme.

Wieder war Ruhe, wieder herrliches Schweben im Nichts. Der General
verschwand im Rauch der Havanna.

Heute abend würde er bei Dora speisen. Es war Freitag. Dienstags und
Freitags pflegte der General, wie schon erwähnt, bei Frau v. Dönhoff zu
Abend zu essen.

Plötzlich aber erhellte ein Gedanke die Augen des Generals. Sie
erweiterten sich, blinkten hell aus der Dämmerung der Speisekapelle.
Kalt, wach, nachdenklich. Der Gedanke hatte sie ganz erfüllt.

»_Wo war Ruth?_« fragte er, und die Augen wuchsen.

Dann schlossen sie sich zur Hälfte, nur noch ein Spalt war sichtbar, ein
Spalt funkelnden Eises.

Und diese unverständliche Bemerkung in dem Brief des kleinen Mannes mit
dem blaugefrorenen Gesicht --?

Bekam sie nicht plötzlich eine merkwürdige Bedeutung?

                   *       *       *       *       *

»Wie? Wie? Was!« rief der General aus, als er den Fuß vor Stifters Diele
setzte. Er wankte.

»Wie? Wie!«

»Ist es möglich?«

»Sind die Leute denn wirklich verrückt geworden?«

In der Tat, deutlich spürte er das Schwanken des Bodens unter den Füßen.

»War so etwas möglich? In Berlin?«

»Unter den Linden?«

Die Röte flog in sein Gesicht.

Gegenüber, auf dem Dache gegenüber, wehte im frischen Wind, lustig, wie
die selbstverständlichste Sache der Welt, hoch oben -- eine blutrote,
blutrot leuchtende Flagge!

Alle Blicke zog sie auf sich. Man stelle sich vor: eine rote Flagge in
einer Stadt, wo selbst eine rote Krawatte eine lebensgefährliche
Herausforderung ist, wo die rote Farbe, wenn sie allein auftritt,
einfach verpönt ist, wo die Säbel der Polizisten jeden automatisch
zerfleischten, der es wagen würde, ein rotes Taschentuch zu schwingen,
um sich damit die Nase zu putzen. Und hier -- ohne weiteres -- wie die
natürlichste Sache der Welt -- eine rote Flagge, eine rotleuchtende
Standarte, gehißt an einem richtigen Flaggenmast, auf einem Dache! Die
Spaziergänger bogen die Hälse, versteinerten, trauten ihren Augen nicht,
zwinkerten --

Weithin leuchtete die rote Flagge und verkündete den Sieg des russischen
Volkes über den Herrn der Galgen, siebenschwänzigen Katzen und
Bleibergwerke -- über das endlose Häusermeer von Berlin strahlte sie,
funkelte sie.

»Sind sie denn da drüben gänzlich verrückt geworden?« Er meinte die
Wilhelmstraße.

Und der General versank in düsteres Nachdenken, während der Wagen die
Linden hinabschoß.

Diese Flagge -- getränkt mit dem Blute gekrönter Häupter und hoher
Würdenträger . . .

Schamlos.

Zuweilen war es ihm, als höre er über sich ein Knistern, ein Splittern
--


5

»Ich glaube!«

»Ich glaube an den Menschen!«

»Ich glaube an die Güte des Menschen und seine Reinheit! Ich glaube an
seine heilige Bestimmung und seine göttliche Seele! Ich glaube an die
Brüderlichkeit, die Kameradschaft, an die allerlösende Menschenliebe!
Dies ist mein Bekenntnis, großer Gott über der Finsternis!«

Mit der ganzen Inbrunst seiner fünfundzwanzig Jahre schrie Ackermann,
der Soldat, dies Bekenntnis vor sich hin. Soeben flog die bekannte graue
Limousine an ihm vorüber.

»Ich glaube --!« Die Glocke eines elektrischen Wagens gellte, und er
sprang mit einem Satz zur Seite. Um ein Haar wäre er überfahren worden.
Sein weiter, grauer Mantel flatterte dem Brandenburger Tor zu. Mit
großen, raschen Schritten, wie gewöhnlich, ging er dahin. Er
gestikulierte heftig, und seine rasenden, dunkeln Augen glühten in dem
fahlen, mageren Gesicht.

»Ich glaube an die Brüderlichkeit zwischen den Völkern, die sich heute
zerfleischen! Ich glaube an den Tag, da man die Kanonen und
Schlachtschiffe zertrümmern, die Grenzpfähle umstürzen und die Flaggen
zerreißen wird! Ich glaube an den Tag, da die Menschen nur eine Sprache
sprechen werden, einerlei welche, denn nicht um die Sprache handelt es
sich, allein um die Gedanken, die sie damit ausdrücken!«

»Ich glaube an den Tag, da kein Mensch mehr den Menschen ausbeuten wird,
an den Tag, da es weder weiße noch schwarze, noch gelbe, weder männliche
noch weibliche Sklaven geben wird, an den Tag der gleichen Rechte bei
gleichen Pflichten! Ja, ich, Ackermann, glaube daran! Ich glaube an den
Sieg des Rechts über das Unrecht, der Wahrheit über die Lüge! Ich
glaube, daß göttliche Ideen die Welt bewegen und nicht die Kanonen.«

»Ja, ich, Armseligster unter den Armseligsten, ich glaube an das
kommende Menschenreich auf Erden -- das Reich der Vernunft,
Gerechtigkeit, Würde und Schönheit!«

»Auch an dich glaube ich, mein Volk!« rief Ackermann mit rasenden,
glühenden Augen aus, und durchschritt das Brandenburger Tor. Es ist gut,
dachte er aufatmend, sich zuweilen sein Bekenntnis zu wiederholen -- in
dieser entsetzlichen Verfinsterung -- so gut tut es.

In diesem Augenblick wurde sein rascher Schritt urplötzlich gehemmt.
Etwas Ungewöhnliches, Unerwartetes, ein Wunder! Feuer lohte durch seinen
Körper, Glut flog über sein Gesicht, die Hände brannten. Der Himmel
blendete, der Himmel jubelte. Rot flammte der Himmel über Berlin.

Schon --? Schon --? Verheißung . . .

Er blieb stehen, schob die Mütze zurück über die schwarzen Haare, und --
so erregt war er -- deutete auf die rote Flagge auf dem Dache. Seine
Lippen bebten. Ohne jede Regung stand er, gläubiges Feuer die Augen.

Dann nahm er die Mütze ab.

»-- Licht aus dem Osten, Morgenröte --«


6

Während der General bei Stifter dinierte, löffelte der Havelock, der
kleine Herr Herbst, in der Volksküche in der Dorotheenstraße seine
Kartoffelsuppe. Er kam häufig hierher, aus bestimmten Gründen.

»Also nicht?« flüsterte er aufgeregt vor sich hin. »Und ich wartete
extra vor dem Restaurant und grüßte, aber er sah mich nicht. Er hätte
sich gewiß daran erinnert. Nun, vielleicht -- wenn auch dieser Portier
glaubt -- ein alter Mann, was weiß er?«

Herr Herbst saß in seinem feuchten, dampfenden Mantel, den steifen Hut
auf dem Kopf, neben einem Fenster, das auf den düsteren Hof hinausging.
Auf dem Fensterbrett lag noch dieselbe tote Fliege -- wie lange lag sie
schon da? Wieder stand im Hof das Auto mit den Papierballen. Dieser Hof
gehörte zu jenem bekannten roten Gebäude in der Dorotheenstraße, wo die
Verlustlisten auslagen. Jeden Tag kam das Lastauto mit den riesigen
Ballen der neugedruckten Listen, täglich, seit dreieinhalb Jahren -- sie
fielen da draußen wie das Laub der Bäume im Herbst.

Wie das Laub -- nicht anders -- so dachte Herr Herbst, voller Gram.

Auch er, sein Sohn -- Robert -- war gefallen -- nun -- wie ein Blatt --
das einfach fällt . . . ohne daß jemand es sieht . . .

Er nickte vor sich hin.

»Wie ein Blatt --«

Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, während er stöhnte.

»Und niemand sah es!«

Ach, ach, ach!

Plötzlich schrie der Alte laut auf, ein kleiner, verzweifelter,
quiekender Schrei. Die Gäste an den Nebentischen wandten sich um.

Schon war er wieder still, nur keine Beunruhigung, und schlürfte seine
Suppe. Der Schmerz hatte ihn überfallen, wie ein reißendes Tier,
urplötzlich.

Die Küche war zur Stunde in Hochbetrieb. Sie dampfte und klapperte.

Sie roch nach Kohl, wie alle diese Küchen. Ohne Kohl und Rüben hätten
sie sofort schließen müssen.

Der Havelock aber fand sie elegant im Vergleich zu den Küchen am
Halleschen Tor und Alexanderplatz. Hier gab es zum Beispiel Bestecke,
wenn auch aus Blech, aber ohne Pfand, während man in jenen Küchen eine
Mark als Pfand hinterlegen mußte. Diebe waren die Menschen geworden,
nichts als Diebe, sie stahlen einfach alles, was sie mitnehmen konnten.
Hier dagegen verkehrte nur gutes Publikum.

Junge Kaufleute und Bureauangestellte, kleine wächserne
Stenotypistinnen, düstere, vergrämte Beamte, bleiche, bebrillte
Studenten, Mappen und Bücher unter dem Arm, einzelne Uniformen. Sie
standen um die kahlen Holztische und warteten geduldig auf Platz.
Unaufhörlich ging die Türe, und Nässe und Kälte strömten in das düstere
Lokal.

Bleich, gelb, mit wächsernen Ohren, die Schultern nach vorn gebogen,
hustend, trüb die Augen, fiebernd -- sie alle waren schon gezeichnet.
Die Grippe würde sie holen, heute, morgen, in einem Jahr -- spielt keine
Rolle, sie entgingen ihr nicht mehr. Die Bretter lagen schon geschnitten
für sie auf dem Stapel irgendeines Holzplatzes. Aber noch lachten sie,
die kleinen wächsernen Stenotypistinnen, kicherten. Sollte man es für
möglich halten -- während schon die Bretter zusammengenagelt wurden? Sie
erregten sich, debattierten, das Blut stieg in die bleichen Gesichter.

»Haben Sie gelesen -- haben Sie gehört -- nun behaupten sie, daß wir
Fett aus Leichen herstellen.«

»Fett aus -- wie sagen Sie? Wer --? Fett?«

»Die Entente, natürlich!«

»Diese Schurken, diese --!«

»Ah, ah -- aber das ist doch --!«

»Ist es nicht schlimmer als Mord? Sind wir Verbrecher, Auswurf der Erde?
Darf man -- ich ertrage es nicht mehr, ich zittere an allen Gliedern --
die Grippe. -- Wie können Menschen so tief sinken? Ah, pfui, pfui --!«

»Auch mich hat die Grippe gepackt. Sie sollten sich nicht so erregen,
beim Essen besonders. Und die Regierung --?«

»Die Regierung? Sie schläft. Sie liest keine Zeitungen, weiß es noch gar
nicht. Sie läßt das Volk beschmutzen, schläft. Versteht nichts, hat
Bedenken, unfähig, über alle Maßen.«

Kohl und Rüben, Rüben und Kohl, jeden Tag. Erfrorene und angefaulte
Kartoffeln, vielleicht etwas Erbsen und zuweilen, ganz selten, ein
Stückchen Fleisch, sehr wenig, und meistens ein Knochen. Die Knochen
wurden ja gesammelt und den Küchen zur Verfügung gestellt. Aber doch war
es weitaus besser hier als am Alexanderplatz, dort roch es sauer und
unangenehm, zum Erbrechen.

Scheu und vorsichtig drehte der Havelock den Kopf -- und dort, dort
stand _sie_ -- der Liebling!

Selbst zart, selbst blaß, geduldig, immer lächelnd, immer etwas
zerstreut, manchmal steckte sie sogar den Finger in den Mund, mitten in
diesem Wirbel von Köpfen und den Wolken von Kohldampf stand sie, _seine_
Tochter -- die Tochter des Generals. Sie stand am Küchenfenster, aus dem
die endlosen Reihen von dampfenden Tellern von roten Händen geschoben
wurden, und kontrollierte. Zuweilen trat sie auch an einen Tisch,
plauderte, besänftigte.

So zart, so fein, ihre Augen schimmerten -- diese Händchen -- sollte man
es für möglich halten -- mitten in diesem dicken Kohlgeruch, diesem Lärm
-- ein gnädiges Fräulein, die Tochter eines hohen Offiziers? Sie war
auch im Felde gewesen -- alles wußte der Havelock -- dort hatte sie
gepflegt. Sie, die Zarte, hatte den furchtbaren Kanonendonner gehört,
von dem Robert immer schrieb. Nur in ihrer Haltung, wenn sie rasch den
Kopf wandte, hatte sie etwas Ähnlichkeit mit dem General -- sonst keine,
nicht die geringste.

Verstohlen blinzelte der Havelock zu ihr hin, und plötzlich errötete er
wie ein Verliebter.

Sein Herz war verwaist, einsam, er war aus der Provinz zugezogen, kannte
niemand in Berlin, er trank auch, der Alkohol -- es war die Wahrheit: er
liebte die Tochter des Generals! Ganz gegen seinen Willen, denn
eigentlich wollte er sie hassen! Er kam nur hierher, um seinen Liebling
zu sehen, wie er Ruth nannte. Ihr Anblick erwärmte sein Herz. Sie selbst
hatte ihn ja hierher gebracht, in diese Küche. Auf diese Weise hatte er
überhaupt erst diese Küche entdeckt.

Nun aber kam Ruth näher, und er wandte rasch den Kopf ab und blickte auf
den Hof hinaus, wo Soldaten die Papierballen von dem Lastauto abluden.

Wieder dieser Alte mit der runden Hornbrille, wieder war er unzufrieden!
Jeden Tag fast hatte er irgend etwas auszusetzen.

»Wir tun, was in unseren Kräften steht«, suchte Ruth ihn zu beruhigen.

Aber der Alte mit der Hornbrille schrie aufgeregt: »Ich bezahle ja, mein
Geld ist so gut wie das Geld der andern. Und wo ist die Einlage,
Fräulein --?« Verzweifelt rührte er mit der Gabel zwischen den
Kohlblättern. »Ich habe für fünfundzwanzig Gramm Fleischmarke gegeben,
Fräulein -- und wo ist das Fleisch, ich bitte Sie? Wo? Wo ist mein
Fleisch -- ich habe Anspruch. -- Wo ist mein Fleisch -- mein Fleisch --
mein Fleisch --!?«

»Ich werde sehen«, erwiderte Ruth und trug den Teller des Alten zur
Küche.

Der Havelock atmete auf.

Da aber erschien der weite, graue, offene Soldatenmantel in der Türe --
und sofort rückte der Havelock den steifen Hut zurecht und ging.


7

Ja, die Tochter des Generals selbst hatte ihn in diese Küche geführt --
sehr einfach -- obwohl er nie ein Wort mit ihr gesprochen hatte . . .

Hinab die Friedrichstraße segelte der Havelock mit dem steifen Hut. Es
sah aus, als schwimme er, aufrecht stehend, so unmöglich das ist. Er
trippelte und schlürfte, die Knie etwas eingebogen, die linke Schulter
eine Kleinigkeit geneigt. Seit gestern morgen war er unterwegs, hatte
nur auf einer Bank im Tiergarten ein kleines Nickerchen getan, im Regen
-- nun fühlte er seine Beine und Füße nicht mehr.

Ohne jede Anstrengung glitt er vorwärts, es ging von selbst. Er rollte
auf einer kleinen Wolke dahin, nicht größer als ein gefüllter
Kartoffelsack. Zuweilen spürte er sie wie Teig unter den Sohlen. Er
konnte auf dieser kleinen Wolke auch ausbiegen, nach links, nach rechts,
ohne jede Mühe --

Ja, sie selbst -- seine Tochter, das gnädige Fräulein.

Er stand da bei einem Zigarrenladen, mitten in dem Zug von gierigen
Rauchern, die warten, bis geöffnet wird, und die Zigarren steigen im
Preise, während sie warten. Das ist Tatsache! Da stand er also und
sprach mit einem Soldaten, Kraftfahrer. Dieser Kraftfahrer kannte nicht
die Höhe von Quatre vents, er kannte nicht Roberts Bataillon, das am 5.
August stürmte, aber er kannte den Chauffeur des Generals, Schwerdtfeger
mit Namen, und der General war seit vier Wochen nach Berlin kommandiert!
Wie? Hier? Welch ein Zufall! Wieviel hundert Soldaten hatte er
angesprochen, und nun führte ihm Gott diesen Kraftfahrer in den Weg!

Er war hier? Hier! Schlaflos die Nächte, ruhelos die Tage.

Ja! Dieses Gesicht --!

Dieses schweigende Gesicht, das nie sprach, diese Augen, die man nie
sah! Dieser Gang -- und der tiefe Bückling des Portiers! -- ohne jeden
Zweifel: er war es! Robert hatte ja ausführlich aus dem Felde
geschrieben: Wir marschierten vorüber, und unser General stand auf der
Treppe seines Schlosses und grüßte. Er und kein anderer! Wie aus einem
Felsen gehauen . . . schrieb Robert. Das also war er, den die Soldaten
-- nun, besser, das Wort nicht auszusprechen -- nannten! So sahen die
aus, die befahlen: Nur über unsere Leichen führt der Weg zur Höhe! --
Die Briefe Roberts knisterten in seiner Tasche.

Tagelang verfolgte ihn das Steingesicht durch das Labyrinth der Straßen.

Sonderbares Gesicht aus Stein. Es zog an!

Jeden Mittag schoß das graue Auto in die gleiche Richtung -- schon zwei
Tage später stand der Havelock vor Stifters Diele. Und plötzlich grüßte
er, und der General hob die Hand zur Mütze. Weshalb? Weshalb grüßte er,
er hatte eine Sekunde vorher gar nicht daran gedacht, daß er den General
grüßen könnte -- grüßen durfte. Es war gewiß anmaßend, unhöflich. Nach
drei Tagen -- er hatte nichts zu tun, gar nichts, Rentier Herbst -- nach
drei Tagen schon wußte er, wo der General wohnte.

Dieses Haus -- Sie erlauben wohl -- kannte er ganz genau, jedes Fenster
und die kleinsten Risse in der grauen Mauer. Das Haus erschien ihm im
Traum -- als ein Gesicht aus grauem Stein. Er kannte auch das
efeubewachsene Backsteinhaus mit dem Messingschild: Dönhoff. Er kannte
den Zebrakittel, Petersen -- alles liebe Menschen, gesprächig --

                   *       *       *       *       *

Der Havelock rollte auf seiner kleinen Wolke über den
Belle-Alliance-Platz, unter der Hochbahn hindurch, die Blücherstraße
hinab.

Hier glitt er an einem schmalen, gelben Hause einigemal hin und her,
blickte nach oben zur dritten Etage, wo die Rolläden herabgelassen
waren. Dieses Haus, diese Etage schien ihn ungemein zu interessieren --
anzuziehen, abzustoßen . . .

Seine Schultern krümmten sich zusammen, er ächzte, plötzlich fühlte er
die Last wieder, die ihn zu Boden drückte, die er ewig mit sich
schleppte durch die endlosen steinigen Straßen Berlins.

Dann aber wandte er entschlossen um und rollte wieder die Blücherstraße
hinauf.

Da aber blieb die Wolke stehen und war nicht mehr vorwärts zu bewegen.
Im nächsten Augenblick -- schon war er drinnen. Ein Gläschen, noch eines
und ein drittes! Schon war er wieder auf der Straße.

Aus dem grauen Hause des Generals, mit den Messingbeschlägen an der
Türe, die unausgesetzt geputzt und poliert wurden von den beiden
Burschen, war täglich eine junge Dame gekommen. Heute, morgen, jeden
Tag. Seht an!

Eine Zigarre gefällig, Herr Soldat. Ein Zigarrchen -- immer fleißig, ein
schöner Wintertag . . .

Nun kannte er Jakob und Wangel. Mit Jakob kam er öfter ins Gespräch.
Außer Ruth war auch noch ein Sohn da, Otto, Oberleutnant, im Felde, und
die Frau des Herrn Generals -- tot, ja, tot, seit Jahren.

Jeden Tag aber ging das gnädige Fräulein in die Dorotheenstraße und
verschwand in einem Torbogen. Schließlich wagte er es, ihr zu folgen.
Auf diese Weise hatte er die Küche in der Dorotheenstraße entdeckt.

Täglich konnte er nun seine Tochter, die Tochter des Generals, sehen! Da
stand sie, dicht neben ihm -- Fleisch von seinem Fleisch, Blut von
seinem Blute. Der Haß kochte, die Gelüste nach Vergeltung fraßen . . .

Er beschloß, sie zu beleidigen! Vor allen Gästen! Vielleicht würde er
ihr einen Teller vor die Füße werfen, aber so, verstehen Sie, daß er in
tausend Stücke zersprang. Weshalb eigentlich? Ja, unerklärlich -- hatte
sie ihm etwas getan?

Tagelang brütete er, schmiedete er Pläne. Vielleicht würde er einen
Teller mit Kohlgemüse über ihre Schürze schütten? Eine herrliche Idee!
Aber da ergab sich die Sache ganz von selbst.

Der Havelock blieb stehen und verschnaufte. Ob er in jene Kneipe
gegenüber gehen sollte?

Ganz von selbst Eines Tages, ganz unerwartet, fügte es sich, daß sie
dicht neben ihm an einem Tische plauderte. Nun aber kam das Schmachvolle
--

Heute noch trat ihm der Schweiß auf die Stirn, wenn er an das
Schmachvolle dachte, obgleich schon zwei Monate seitdem vergangen waren.

Nicht einen Teller voll Kohlsuppe, nein, sondern nur einen Löffel voll
-- er nahm ihn und ließ ihn über die Schürze Ruths fließen. Schon aber,
Allmächtiger, packte ihn eine harte Hand am Arm, und eine Stimme schrie
durchs ganze Lokal: »Wie können Sie es wagen --?«

»Ich -- ich -- ich zittere mit der Hand --«

»Nein, deutlich habe ich es gesehen, Sie!«

Der Soldat mit dem weiten Mantel stand neben ihm, voller Zorn. Die Gäste
sahen auf, es erregte Aufsehen, ringsum, alle Tische blickten her.

Und der Soldat in dem weiten Mantel schrie ganz laut: »Sie sind mir ein
netter Herr. Gießt der Dame einfach einen Löffel mit Suppe über die
Schürze --«

»Meine Hand zittert --«

Da aber wandte sich Ruth um. Sie besah die Schürze, nahm ihr
Taschentuch, und lachte -- lachte ihm freundlich ins Gesicht.

»Vielleicht hat man den Herrn angestoßen. Es ist ja nicht schlimm.«

»Ich zittere, meine Hand zittert --«

»Es ist ja kein Unglück geschehen.«

Schmachvoll, schmachvoll! Er hatte Tränen in den Augen. Wie kam er doch
dazu, ganz einfach den Löffel voll Suppe über ihre Schürze zu gießen? An
diesem Tage trank er so sehr, daß er schließlich die Treppe hinabstürzte
und sich blutig schlug. Aber so geschah ihm gerade recht.

Seit diesem Vorfall blickte er auf die Tochter des Generals mit andern
Augen. Sein Herz pochte, sobald er sie erblickte.

Er liebte sie, eigentümlich.

Diese Gedanken erfüllten den kleinen alten Mann, während er durch das
Labyrinth der Straßen eilte. Er überquerte wimmelnde Plätze, geriet in
Strudel von Menschen, die aus der Erde quollen -- und plötzlich machte
er Miene umzukehren, den ganzen Weg, den er gekommen war, zurückzugehen.
Wie? Sollte er in die Lessingallee gehen, heute abend? Nein, nach Hause,
ohne Widerspruch, verstanden?


8

»Oberleutnant v. Hecht-Babenberg?«

»Dritte Station, meine Dame, den Gang entlang und dann links. Zimmer
233.«

Man mußte nur höflich fragen, dann bekam man selbst hier in Berlin
höfliche Auskunft. Hedi war stolz auf ihre Fähigkeit mit den Menschen
umzugehen. Selbst jetzt, wo sie rasend wurden, wenn man sie nur
anblickte, kam sie noch vorzüglich mit ihnen aus. Allerdings sah dieser
Pförtner wohl auf den ersten Blick, daß er eine Dame vor sich hatte. Sie
wollte natürlich einen guten Eindruck machen, wenn sie Otto besuchte,
und hatte ihr himbeerfarbenes elegantes Hütchen aufgesetzt. Dazu trug
sie den Biberkragen von Mama und helle Seidenstrümpfe.

Aus der Papierhülle lugten drei weiße Rosen.

Es roch nach Karbol, aber Hedi liebte Karbolgeruch. Alles war blitzblank
und eigentlich weniger schrecklich, als sie es sich gedacht hatte. Sie
liebte es nicht, derartige Orte zu besuchen, Friedhöfe, Krematorien,
Krankenhäuser flößten ihr Schauder ein. Sie mied sie. Nur Mamas Grab
besuchte sie zuweilen -- aber das war ja schon lange her.

Nun aber wurde der breite Korridor belebter, und sie schritt schon etwas
zaghafter vorwärts.

Ein Soldat, dem der rechte Fuß abgetrennt war, humpelte an ihr mit
bloßem Fußstumpen vorbei. In hellen Krankenkleidern saßen auf einer
langen Bank Soldaten mit verbundenen Armen, Beinen und Köpfen. Sie
erwarteten sie mit neugierigen Blicken, musterten sie von oben bis
unten, und sie fühlte voller Unbehagen all die Blicke der verwundeten
Männer auf ihrer Haut. Plötzlich wurde die Türe eines Saales geöffnet,
und Hedi war so unvorsichtig, einen Blick in den Saal zu werfen. In
diesem Saale wurde auf einem Holztisch gerade ein Soldat verbunden, dem
ein Bein bis zum Knie amputiert war. Der nackte Schenkel endete nicht --
zu Hedis Entsetzen -- mit einem Fuße, sondern mit einer Art Pferdehuf,
einem roten Lappen unterhalb des Knies. Ein Arzt betupfte den roten
Pferdehuf mit Watte. In diesem Augenblick drehte der Verwundete seine
Augen zur Türe, Augen voll größter Qual und äußersten Schmerzes. Schon
wurde die Türe wieder geschlossen. Hedi war nahe daran zu taumeln.
Hinter der Türe eines Operationssaales stöhnte ein Verwundeter, und die
barsche Stimme eines Arztes gebot ihm Ruhe. An einer Kreuzung von
Korridoren stieß sie auf eine Tragbahre, die von zwei Soldaten
vorübergetragen wurde. Mit einem Laken zugedeckt lag darauf ein Soldat,
dessen Gesicht bis zur Nase verhüllt war. Er hatte die glänzenden Augen
zur Decke gerichtet und sah sie nicht an.

Hedi war purpurrot geworden. Welcher Irrsinn, hierher mit einem
himbeerfarbenen Hut und hellen Seidenstrümpfen zu kommen? Sollte sie
umwenden -- entfliehen?

Da aber schrak sie zusammen!

Wildes Geschrei, als ob jemand lebendig in Stücke geschnitten würde.

Mein Gott, was müssen diese Menschen Unsägliches erdulden! Wer ahnt es
denn? Das Geschrei trieb sie rascher vorwärts. Da aber knallte eine
Türe, und das Geschrei erscholl plötzlich in nächster Nähe. Ein
schreiender Soldat, der den verbundenen rechten Arm hochhielt, stürzte
über den Korridor, gefolgt von einer Schar von Ärzten und
Krankenschwestern. Der Schreiende lief wie gehetzt den langen Korridor
hinunter. In der weißlackierten Türe erschien das bebrillte, fahle
Gesicht eines Arztes im weißen Kittel, der laut auflachte.

Das Geschrei entfernte sich.

Hedis Blick flatterte. Ihre Haut war von Hitze bedeckt wie von heißem
Sand. Entsetzen hauchte aus diesen getünchten Mauern. Dieses Krankenhaus
war ein endloses Labyrinth, durch graues und blaues Eis gehauen. In der
Ferne tauchte die Dämmerung an den kahlen Korridorfenstern, Schatten
humpelten, hinkten durch ferne Quergänge. Ein Labyrinth mit Tausenden
von Kammern voller Qualen und Grauen. Tag und Nacht schnitten hier die
Messer in Menschenfleisch, unaufhörlich füllten sich die Eimer mit Blut
und Eiter. Die Wände schwangen von Schmerzen. Das ganze Haus war wie
eine Riesenwunde, eine Schlucht von eiterndem Fleisch, in der die Ärzte
mit ihren Messern kletterten.

Da kam aus einem Quergang würdevoll ein hoher Offizier geschritten.
Langsam trieb seine massige Gestalt mit den steilen Schultern -- wie
eine Erscheinung aus einer anderen Welt -- durch den Korridor. An den
Umrissen schon erkannte Hedi den General. Zwei Krückenmänner stellten
sich in Positur, einer mit Socken an den Füßen, dem andern fehlte ein
Bein. Sie standen auf den Krücken gegen die Wand gelehnt und warfen das
Kinn in die Höhe. Auf einem Stuhl kauerte ein Krüppel mit
dickumwickeltem Bein. Er blieb sitzen, den Oberkörper steif
aufgerichtet, und stellte die beiden Krücken vor sich hin, als
präsentiere er wie mit dem Gewehr.

Der General schritt vorüber, ohne Hedi anzusehen. Sie hatte ihn übrigens
nur einmal bei Dora getroffen, er hätte sie schwerlich wiedererkannt.

Eine Pflegerin, eine taktlose Person, gab Hedi mit malitiösem Lächeln
den Bescheid, daß Otto heute keine Besuche mehr empfangen könne. Sie
hatte ihre Karte ins Zimmer geschickt, er wußte also recht gut, daß sie
es war. Deutlich hatte sie seine helle Stimme im Zimmer gehört.
Natürlich war sie nur gekommen, um ihm ihre Teilnahme an seinem Unfall
zu zeigen -- aus keinem andern Grunde. Er sollte sehen, daß sie erhaben
war über gewisse Dinge. Diese taktlose Person aber musterte Hedis
himbeerfarbenes Hütchen, ja sie erdreistete sich, den Blick an ihr hinab
bis zu den hellen Seidenstrümpfen streifen zu lassen. Hedi warf einen
kritischen Blick auf die etwas unordentliche Frisur der kleinen
rothaarigen Pflegerin. Augenblicklich war zwischen den beiden Damen eine
tödliche Feindschaft ausgebrochen.

»Das allgemeine Befinden ist gut?« erkundigte sich Hedi mit
liebenswürdigem Lächeln.

»Man kann indessen nie wissen, ob nicht Komplikationen eintreten«,
entgegnete die Schwester ausgesucht höflich.

»Wie wahr!« Hedi lächelte spöttisch und grüßte mit vollendeter
Liebenswürdigkeit.

Die Rosen aber nahm sie wieder mit.

»Hotel Kaiserhof!« rief sie dem Kutscher zu, als sie wieder in die
Droschke stieg. Denn Hedi hatte sich einen Wagen geleistet. Es gab
gewisse Stadtviertel Berlins, vor denen sie Furcht hatte.

Plötzlich warf sie die Rosen mit einer zornigen Bewegung durch das
Wagenfenster auf die schmutzige Straße. Zwanzig Mark für drei Blumen,
welcher Wahnsinn!

Otto hatte ihren Besuch sicher völlig falsch ausgelegt. Gewiß war es ihm
unmöglich, an lautere und selbstlose Motive bei seinen Mitmenschen zu
glauben. Nun aber lebe wohl, Otto! Sollte er ruhig mit dieser
rothaarigen Person -- ja, ihretwegen . . .

                   *       *       *       *       *

Der Geiger schob ein violettes Seidenkissen zwischen Frack und Kinn,
grüßte noch mit einem koketten Lächeln ins Publikum, dann schleuderte er
den Bogen in die Luft, daß seine blendende Manschette aus dem Ärmel
fuhr: Carmen.

»Auch Kuchen?«

»Auch etwas Kuchen, bitte.«

Da saß sie nun wieder, Hedi. Erstens, dachte sie, erstens und zweitens
und drittens -- man muß nun genau überlegen. Es wird höchste Zeit, so
geht es nicht weiter.

Erstens also stand fest, daß sie sich in ewiger Geldkalamität befand.
Zweitens langweilte sie sich zu Hause zu Tode, und drittens: es mußte
etwas geschehen. Sie hatte keine Lust, ihre ganze Jugend zu vertrauern,
nur weil dieser Krieg kein Ende nahm.

Aber nicht so rasch, bleiben wir bei erstens. Dieses bißchen
Taschengeld, das ihr Papa an jedem Monatsersten mit strahlender Miene
einhändigte -- lächerlich. Wie konnte Papa glauben -- nun, Papa verstand
es eben nicht anders. Es blieb nichts anderes übrig, als Geld zu
schaffen! Es lag ja zurzeit auf der Straße, die Leute sagten es
wenigstens, die Millionen flogen durch die Luft. Sollte sie filmen?
Schnurrige Idee, aber leider unausführbar. Man mußte -- wie herrlich war
doch diese Musik, voller Mut! -- man mußte Verbindungen haben, und die
Gesellschaft --? Nein. Übrigens, diese Gesellschaft, darauf gab sie
nicht so -- viel!

Immerhin -- der Kellner brachte den Tee, und Hedi war für eine Weile in
Anspruch genommen. Wieder saß die Weizenblonde mit den Brillantohrringen
da, und auch jene Dunkele, Tragische, mit den hellgelben Stiefelchen.
Und jener alte Herr mit dem Schnauzbart und der Glatze nahm ebenfalls
wieder hier seinen Tee. Hedi schloß plötzlich, um sich zu amüsieren, das
eine Auge und blinzelte ihn über das Teeglas hinweg unvermutet an. Der
Herr mit der Glatze prallte im Sessel zurück -- aber schon hatte Hedi
ihr Batisttüchelchen aus der Tasche genommen und rieb sich das Auge, als
sei etwas hineingeflogen. Nein, wie komisch diese Männer waren!

Ja, Geld mußte jedenfalls geschafft werden. Sie besaß, zum Beispiel,
drei Paar Seidenstrümpfe. Schon rannen die Maschen, obgleich die
Strümpfe nur bei besonders feierlichen Anlässen getragen wurden. Aber
wenn diese Strümpfe nun unbrauchbar wurden? Die Handschuhe, die Stiefel,
wenn es sich darum handelte, ein neues Kleid zu beschaffen --? Und schon
würde sie aus der Klasse der Tadellosen, der Ladies ausschalten. Schon,
es ging rasch, die Gesellschaft duldete keine abgeschabten Knopflöcher,
keine geflickten Stiefelchen. Und sie würde second class sein --
unerträglich! So unglaublich es klang, ihre Zukunft, ihr ganzes Leben
hing an einem Paar Seidenstrümpfen.

Fürchterlich war der Gedanke an den Sturz in die Tiefe. Sie erschrak,
Schwindel ergriff sie. Es war aber hohe Zeit, den Tatsachen ins Gesicht
zu sehen.

Bald würde sie sich, zum Beispiel, um nur ein Beispiel zu nennen, wieder
ein Stück Seife im Schleichhandel kaufen müssen -- so ging es jeden Tag!

Zu Hause war das Leben unerträglich geworden. Papa, lieb und gütig, aber
immer müde, überarbeitet, immer beschäftigt. Und dabei wußte er gar
nichts, trotzdem er im Auswärtigen Amt arbeitete! Häufig geschah es, daß
sie bei Tisch etwas sagte, etwas Politisches, und Papa schüttelte
tadelnd den Kopf. Man sagt so etwas nicht, mein Kind. -- Aber Papa, es
stand ja schon vor drei Tagen in der Zeitung! -- Ah, schon vor drei
Tagen --? -- So war Papa. Klara war ein Kind. In einer Minute tanzte sie
wie eine Närrin, in der nächsten weinte sie. Sie kannte das Leben noch
nicht. Sie war noch nicht in das Alter gekommen, wo jeder Tag ein
Problem ist, ein fürchterlicher Kampf, wo man bei lebendigem Leibe
täglich vor Sehnsucht verbrannte -- wo man wartete, wartete -- wo das
Warten das schrecklichste Leiden ist. Oh, schrecklich! Schrecklich!

Grau gingen die Tage. Sie lebten äußerst bescheiden, sie besaßen kein
Vermögen. Dazu, hatte Papa ihnen verboten, die Gesetze für die Ernährung
im geringsten zu verletzen. Wie lebten sie, was aßen sie -- trotzdem sie
alles Mögliche auf den Tisch schmuggelten -- es war eine Schande und
niemand durfte es wissen, wenn sie nicht für immer unmöglich sein
sollten. Zum Beispiel Rüben, wie die Kühe sie bekommen, erfrorene
Kartoffeln . . .

Grau, kalt, finster gingen die Tage.

Licht, Glanz, Wärme, Frohsinn, Tanz, Feste, die früher den Eintritt der
jungen Mädchen in das Leben begleiteten -- wo waren sie? Sie hatte vor
dem Kriege nur zwei Bälle mitgemacht, davon träumte sie noch heute.

Was war diese Musik im Vergleich zu jener Musik auf den Bällen? Ein
zaghaftes Echo. Diese Beleuchtung -- ein Abglanz. Das Lachen der
Menschen von heute, ihre Mienen -- Schatten in einer Schattenwelt, nicht
mehr, nicht mehr . . .

Plötzlich aber beugte sich Hedi errötend über das Teeglas: dort stand
er! Der Spanier war gekommen! Er wußte, daß sie wieder hierherkommen
würde, daß er also, wenn er sie zu sehen wünsche -- sie hatten sich
verstanden.

In seinem gelben Mantel stand er im Mittelgang und polierte das Einglas.
Er hatte sie sofort gesehen und überlegte nun. Ob er den Mut haben würde
sie anzusprechen? In der Droschke hatte sie schon Träume gesponnen --
ein Wiedersehen beim Tee, zum Beispiel im Adlon oder Bristol --
vielleicht ein Theaterabend, in einer Loge -- ein Diner, wo man
plauderte . . .

Er kam. Hedi hatte ihre Verlegenheit vollständig überwunden und blickte
ihm ruhig entgegen. Sie war wieder ganz Lady. Ströbel kam geradeswegs
auf sie zu, die Brauen wie vor freudigem Erstaunen hochgezogen. Aber je
näher er kam, desto häßlicher wurde er. Sein gelber Mantel war etwas zu
weit, zu auffallend. Die ganze Kleidung zeigte eine etwas übertriebene
Eleganz. Ah, und nicht die Spur von einem Spanier, er war eine --
Bulldogge. Seine blaurasierten Wangen waren etwas faltig, fahl und
verlebt, nichts blieb von dem Spanier als das glänzende schwarze Haar,
das um eine Kleinigkeit zu eng an den Kopf gebürstet war, das um eine
Idee zu stark pomadisiert war -- nicht first class mit einem Wort.

Aber er hatte die Nonchalance, die Manieren der großen Welt.

Mit unübertrefflicher Zwanglosigkeit verbeugte er sich. »Unser
gemeinsamer Freund hat einen Unfall erlitten --«, begann er, gänzlich
unbefangen. Und er verlor seine Unbefangenheit auch nicht, als Hedi ihn
anblickte -- gänzlich verständnislos. Obschon sie doch mit ihm das
Theater besuchen, dinieren, plaudern wollte, bei einem Glas Sekt zum
Beispiel -- gänzlich verständnislos.

»Sie täuschen sich, mein Herr«, erwiderte Hedi mit einem
liebenswürdigen, verstehenden, verzeihenden Lächeln, einem Lächeln, wie
nur eine Dame von Welt es auf die Lippen zu zaubern vermag.

War es nicht eine Unverfrorenheit ersten Ranges, sie hier im »Kaiserhof«
einfach zu überfallen?

»Sie saßen doch gestern --?«

»Ich erinnere mich nicht.« Hedis Stimme wich in weite Fernen zurück.
Fern und unwirklich wurde ihr Lächeln.

»Wir wollen nur hoffen, daß Herr v. Hecht --«

Hedis Augen wurden plötzlich kühl, das Leben erkaltete in ihnen.

Mit einer tadellosen Verbeugung, völlig ungezwungen, völlig Herr der
Situation, zog Ströbel sich zurück.

Der Geiger in seinem schwarzen Frack schwang sich in den Hüften und
blickte kokett lächelnd zum Tisch der Dunkeln, Tragischen, der das
Mißgeschick passiert war, ein Glas Wasser umzustoßen.

Hedi gab ihren Mienen einen träumerischen und harmlosen Ausdruck.
Niemand sollte auf den Gedanken kommen können, daß ein Wildfremder es
gewagt habe, sie anzusprechen. Die Weizenblonde mit den Brillanten in
den Ohren hatte die Szene beobachtet. Hedi streifte sie mit einem Blick,
und in dem kaum merklichen Aufatmen ihrer Brauen, mit dem sie über die
Weizenblonde hinwegsah, lag ihre ganze Verachtung.

Nein, nein, noch war sie lange nicht _so weit!_ Was bildete er sich doch
ein --?


9

Zögernd bog der kleine Herr Herbst um die zugige Ecke und lenkte in
seine Straße, die Fabriciusstraße, ein -- ganz weit da draußen.

Eine plumpe Eisenbrücke spannte sich zwischen den Häusern, und soeben
rollte donnernd ein Lastzug darüber. Der Qualm sank auf den Schmutz des
Pflasters herab.

Es half alles nichts, er mußte unter der Brücke hindurch, auch wenn sie
zusammenbrechen sollte. Die Angst des Trinkers schnürte ihm die Brust
zusammen.

Die große Stadt machte hier einen düstern und verwahrlosten Eindruck.
Die Straßen waren schnurgerade, überall die gleichen grauen
Mietskasernen, die gleichen Aufschriften, die gleichen Scharen von
bleichen, zerlumpten Kindern. Die gleichen hohlwangigen Weiber, die, mit
einem kleinen Topf oder einer Tasche in der Hand, in Tücher gehüllt, an
den Häusern entlangkrochen und husteten. Die gleichen mageren schwarzen
Alleebäumchen, die in der sauren Luft erstickten. Der Mörtel fiel von
den Hauswänden, schmutzige Papierfetzen trieben in den Rinnsteinen. Vor
den Nahrungsmittelgeschäften, die die Wochenration an Fett, zwanzig
Gramm, ausgaben, standen lange Reihen von blaugefrorenen Frauen und
vertraten sich die kalten Füße, während sie schwätzten und keiften.

Sonst waren Geschäfte und Läden leer, gähnende Särge. Bäckerläden ohne
Brot, Fleischerläden ohne Fleisch, Schuhgeschäfte mit Holzschuhen und
Blechdosen voller Stiefelwichse. Auch in dieser Gegend gab es jene
Läden, in denen altes Metall gesammelt wurde, für die Kriegführung,
Lampenfüße, Photographierahmen, Aschbecher, der Schutt aus den Wohnungen
der Ärmsten.

Dann gab es hier noch das Delikatessengeschäft von Alfred Schustermann,
mit der Aufschrift: Mensch, was für 'ne Ware! Seemuscheln,
Pfahlmuscheln, waggonweise eingeführt, zu Gelee, Aspik, Pasteten,
Würsten verarbeitet. Die Professoren, die entdeckt hatten, daß Baumrinde
nahrhaft war und man Pilzkulturen in den Dachrinnen anlegen konnte,
erklärten, daß diese Muscheln selbst Ochsenfleisch an Nährkraft
überträfen.

Immer näher aber kam die graue Mietskaserne mit der riesigen Aufschrift:
Leihhaus.

Der Schritt des Havelocks verlangsamte sich mehr und mehr, seine
tränenden, entzündeten Augen blinzelten unter dem steifen Hut. Er hatte
fast jeden Mut verloren.

Eine Weile holte er Atem vor der »Zoologischen Handlung«. Noch lebte er,
der kleine muntere Zeisig, sein Freund, der das Problem gelöst hatte,
das Körnerfutter bis zu fünfundneunzig Prozent auszumahlen. Die andern,
die kleinen grünen Papageien, die beiden Kanarienvögel, die Drossel, sie
waren an dem Problem nacheinander gescheitert und gestorben. Ja,
gestorben. Auch die kleinen weißen Mäuse, die ewig im Kreise liefen,
waren plötzlich bei ihrem spaßigen Rundlauf in Atemnot geraten. Der
vierte Kriegswinter hatte auch sie vernichtet. Nur der Zeisig sprang
noch munter in seinem kleinen Käfig hin und her.

Zwischen der »Zoologischen Handlung« und dem Leihhaus führten drei
ausgetretene Stufen zum »Löwen von Antwerpen« empor, und schon war der
Havelock in der Gaststube.

Keine Vorwürfe -- er mußte Mut sammeln für die Nacht. Denn die Nacht
würde kommen, so gewiß wie etwas! Und mit ihr die furchtbaren
Nachtgespenster, seine Peiniger, vor denen nur der tiefe Schlaf Schutz
bot. Der Rausch, um offen zu sein, die bewußtlose Trunkenheit.

Ja, hier war er zu Hause, man sah es sofort an der Grimasse, mit der ihn
der Wirt, ein Buckliger, empfing. Dieser Wirt wurde von den Soldaten,
die in der Kneipe verkehrten, der »Millionär« genannt. Ja, hoho, so ein
Buckel hatte seinen Wert heutzutage, ohne Zweifel! An den Sonntagen
kamen auch Munitionsarbeiterinnen hierher, und es ging lustig zu. Sie
tranken -- sollte man es glauben, die Kleinen? -- sie tranken Schnaps
wie die Männer -- ah, und sie trugen seidene Röckchen. Wenn sie ihn auch
etwas hänselten, es schadete nichts. Sie lachten und hatten keine
Sorgen. Vielleicht flogen sie morgen in die Luft, alles war möglich,
deshalb lachten sie auch so ausgelassen.

Endlich -- es war schon finster draußen -- kroch der Havelock die Treppe
des Leihhauses empor. Längst war die kleine Wolke, auf der er
stundenlang bequem dahingerollt war, verschwunden. Seine Beine zitterten
vor Müdigkeit.

Leise, leise schloß er die Flurtüre auf. Er liebte es nicht, daß man ihn
kommen oder gehen hörte. Drei Parteien wohnten hier, jede hatte ein
Zimmer, und die Küche gehörte ihnen gemeinsam. Aber er hatte diese Küche
nie betreten. Schon war er in seiner kleinen finsteren Stube, schon
hatte er die Schuhe abgelegt. Plötzlich zitterte er. Ah, wenn er nur
nicht wieder von dieser Schaukel träumte! Alles, nur das nicht! Träumte
er doch neulich, er säße auf einer Schaukel, die durch endlose schwarze
Nacht dahinschoß. Angeklammert wie ein Affe saß er auf dem schmalen,
schlüpfrigen Brett, er schrie vor Angst -- aber die Schaukel schoß dahin
in endlosen Pendelschwingungen, jede eine Ewigkeit, ohne Gnade pfiff sie
in rasender Schnelligkeit dahin.

Rasch, rasch, ehe sie ihn packten . . .

Schon schlief er. Ein leises Wimmern drang aus seinem kreisrund
geöffneten Mund. Den Havelock hatte er anbehalten.

                   *       *       *       *       *

Da! Augenblicklich saß er wieder aufrecht im Bett. Seine dünnen Haare
sträubten sich, der Schweiß stand auf seiner Stirn. Er dampfte vor Hitze
und Kälte. Immer noch war sein Mantel feucht vom Regen der gestrigen
Nacht.

Hatte nicht jemand gerufen, ihm fürchterliche Worte ins Ohr
geschleudert, wie Felsen? Und ein Krachen, als berste das ganze Haus in
zwei Teile, hatte er es nicht deutlich gehört? Die Balken splitterten.
So deutlich!

Noch gellte das furchtbare Krachen in seinen Ohren, und erst nach
geraumer Zeit fand er sich in die Wirklichkeit zurück. Zwischen einer
unbekannten, ungeahnten Welt und der Wirklichkeit lebte er -- seit jenen
Ereignissen . . . Oft hielt ihn das Unbekannte, Unverständliche tagelang
in seinem Bann, oft überfiel es ihn urplötzlich am lichten Tage -- aber
wiederum hatte er auch seine klaren Tage, wie er sie nannte. Da war
alles so wie früher, und das andere erschien noch unverständlicher und
schrecklicher.

Dunkelheit, und nun erwachten Geräusche, Geräusche dieser Welt, Gott sei
Lob und Dank.

Hinter der Türe, dem schmalen Bett gegenüber, klapperte eine
Schreibmaschine. Er arbeitete dort, der Student Ackermann, zurzeit
Soldat. Er schrieb für Zeitungen, um Geld zu verdienen -- er schrieb
auch noch ganz andere Dinge -- Herr Herbst wußte Bescheid, oh, oh! Er
wußte mehr, als jener ahnen konnte.

Hinter der Wand, an der das Bett stand, auf dem er lag, strich ein
Schritt vorüber, immer auf und ab, wie ein Tier, das rastlos in seinem
Käfig hin und her geht. Das war Hähnlein, der Tapezierer, zurzeit
Soldat. Er wohnte in dem Zimmer nebenan mit seiner kranken Frau und
seinen beiden Kindern. Vor kurzem hatte sie wieder geboren, aber das
Kind war bald nach der Geburt gestorben. Es wog nur viereinhalb Pfund.
Und welches Geschrei hatte es gegeben, trotzdem sie nichts zu nagen und
zu beißen hatten! Hähnlein und Ackermann waren früher beim gleichen
Regiment, und Hähnlein hatte Ackermann hierher in dieses Haus gebracht.
Das alles hatte Herr Herbst Gesprächen entnommen.

»Schlafe doch!« zischelte Frau Hähnlein. Die Bettstatt krachte, und sie
hüstelte.

»Schlafen? Schlafen? Ich kann nicht schlafen«, entgegnete die heisere
Stimme Hähnleins, und wieder schabte sein Schritt hinter der Wand.

Die Wand war dünn wie Papier, nun, eine Mietskaserne, er vernahm jeden
Laut.

Die Frau wimmerte.

»Weine nicht, vielleicht kommt es bald, wie Ackermann sagt«, tröstete
sie Hähnlein. Und deklamierend fügte er hinzu: »Die Völker der Erde
werden sich erheben gegen ihre Peiniger!«

Oft ging Hähnleins Schritt die ganze Nacht hin und her, bis der Tag
graute. Herr Herbst hatte sich längst daran gewöhnt. In unruhigen
Nächten beruhigte ihn dieser ruhelose Schritt sogar. Ein Mensch, ein
Leidender, wie er, dicht nebenan.

Es wurde still hinter der Wand, und nur die Schreibmaschine Ackermanns
klapperte eifrig. Es konnte noch nicht spät sein, denn im Haus summten
Stimmen. Türen wurden zugeschlagen, und zuweilen krachte die Haustüre
ins Schloß, daß das ganze Haus zitterte.

Die lange furchtbare Nacht lag vor ihm.

Seine Beine waren vor Müdigkeit geschwollen. Sie waren Wolken, ins
Endlose verströmend. So würde er nun sitzen müssen die ganze Nacht und
lauschen auf jedes Geräusch -- auch auf jene Geräusche, die aus dem
Unbekannten kamen.

Seltsame Fügung, die ihn in dieses Zimmer geführt hatte! Der bucklige
Wirt vom »Löwen von Antwerpen« hatte es ihm empfohlen, damals, als er
den Entschluß gefaßt hatte, nicht mehr in die Blücherstraße
zurückzukehren. Längst hatte er es aufgegeben, nach Erklärungen zu
forschen, alles war Fügung. Jeder Schritt im menschlichen Leben wurde
gelenkt von unbekannten Gewalten, guten und bösen. Sinnlos, sich dagegen
zu sträuben. Nun, er sträubte sich nicht mehr, er forschte auch nicht
mehr -- er war in der Hand des Allmächtigen, der die Haare auf seinem
Haupte gezählt hatte. Sollte es so sein!

Frau Hähnlein hinter der Wand begann zu wimmern, zu klagen, zu
beschwören. Nun begann es wieder. Es half ihr nichts. Der Mensch ist ein
Tier . . . obschon seine Frau leidend war -- ein Tier war dieser
Hähnlein.

Dann wurde es wieder still, die Geräusche im Hause erstarben mehr und
mehr, und nur noch die Schreibmaschine hinter der Türe klapperte.

Schreibe du nur! sagte Herr Herbst zu sich -- um sich zu beschäftigen,
die Nacht war lang -- »Deine Zettel, deine Reden, deine . . .« Lange
Wochen war ihm dieser Soldat im weiten Mantel ein Rätsel gewesen. Was
trieb er, was tat er in den Nächten? Oft hielt er Reden, förmliche
Reden. Erst vor kurzer Zeit, beim Januarstreik, hatte er ihn plötzlich
erkannt! Mit eigenen Augen und Ohren sah und hörte er, wie er zu einem
Haufen streikender Arbeiter sprach, nebenan, bei den Laubengärten -- und
was er sagte, Grundgütiger! Es gab keinen Zweifel mehr, er war -- ein
Spion, ein Agent . . . gehörte zu jenen, von denen die Zeitungen
schrieben, daß sie Geld bekommen von den Feinden. Er stand auf einem
Steinhaufen, redete, schrie und schwang die Soldatenmütze. Keine Granate
mehr! Da aber kam die Polizei, und sie liefen -- und auch er lief. So
schnell wie die andern -- hahaha! So schnell liefen sie, solche Angst
hatten sie . . .

Manchmal kamen auch Freunde zu ihm, meistens junge Leute, Kameraden, die
laut schrien und alle wild durcheinander redeten. Unvernünftige,
Unerfahrene. Was für Leute waren das? Nun . . . dieselbe Sorte, um kein
Haar besser. Für sie gab es nichts Heiliges, nichts vor dem sie
haltmachten. Die Minister, was waren sie? Nun -- höchst einfach --
Dummköpfe und Verbrecher! Und die Generale -- höchst einfach -- geputzte
Narren! Und die Diplomaten -- selbstgefällige Gecken! Ja, sie, sie,
diese jungen Leute, sie waren viel klüger als diese Minister und
Diplomaten! Aber die höchsten Fürstlichkeiten, was waren sie -- nun, er
würde sich schämen, die Worte zu wiederholen. Aber auch die feindlichen
Staatsmänner, Präsidenten und Minister, was waren sie -- ganz das
gleiche verbrecherische Gesindel. Nein, nichts gab es, was ihnen Respekt
einflößte. Hat man es je gehört: Die deutsche Regierung bestand aus
Anarchisten, die Tag und Nacht darüber nachdachten, wie sie das Deutsche
Reich am schnellsten zugrunde richten könnten? Wie? War es denkbar?

Aber, was waren diese Leute in Rußland, diese Räuber und Diebe? --
Heilige waren sie, nicht mehr und nicht weniger.

Ja, völlig neu mußte die Welt aufgebaut werden, von Grund auf -- und
sie, diese jungen Leute, die so laut schrien, sie allein wußten, wie
alles gemacht werden mußte. Sie ganz allein.

Manchmal flüsterten sie auch, tuschelten, raunten, geheimnisvoll --

In diesem Augenblick lachte Ackermann in seinem Zimmer laut auf und
sagte: Man sollte es nicht für möglich halten --

Und wütend prasselte die Schreibmaschine.

Nicht für möglich halten?

Warte nur, du, du . . . he?

Hast vergessen, daß Gott jeden deiner Schritte bewacht, daß die Haare
auf deinem Haupte gezählt sind -- die Fügung hast du ganz vergessen.

An den Sonntagen, da saßen sie oft bis in die späte Nacht und
debattierten, schrien, sprachen durcheinander, daß man kein Wort
verstand. Neu, völlig neu sollte die Welt erstehen!

Und sein Mädchen saß dabei, an den Sonntagen! Es war ja
selbstverständlich, daß dieser, dieser -- ein Mädchen hatte, aber, daß
sie dabeisaß, während es nichts Heiliges für sie gab? Nein, nein, es
störte sie gar nicht, nicht im geringsten. Im Gegenteil? Sie kochte Tee
und sagte: Bitte, meine Herren -- bitte. Und so ging es den ganzen
Sonntag bis nachts um zwei, drei Uhr. Bitte, meine Herren -- und sie
qualmten, daß der Rauch durch die Türe quoll und er husten mußte,
obschon er doch selbst ein starker Raucher war. Worte flogen, Worte,
wilde, verwegene Worte.

Und sein Mädchen saß mitten unter ihnen!

Da schwieg die Schreibmaschine plötzlich. Ackermann verließ das Haus.
Sein Schritt eilte die Treppe hinab, die Haustüre wurde ins Schloß
geworfen. Bis zum grauenden Tag würde er nun fortbleiben.

Wann schläft er eigentlich? dachte Herr Herbst in seinem Bett.

Nun war es ganz still geworden. Es knackte in den Balken, rieselte in
den Mauern, die Wände seufzten.

Ja, ganz still und dunkel.

Mitten in der unendlichen Dunkelheit und Stille saß der kleine alte
Mann, und plötzlich begann er zu flüstern. Leise, oh, so leise -- nur er
hörte es.

»Robert -- mein Sohn -- Geliebter, Teurer -- mein Liebling --!«

Zärtlich streckte er die kleinen Hände der Dunkelheit entgegen.


10

Mit der Minute kehrte der General abends aus dem Amt zurück. Er
plauderte wie gewöhnlich etwas mit Niki, dem Kanarienvogel; plötzlich
aber brach er die Unterhaltung ab und zeigte ein ganz unbegreifliches
Interesse für den Papierkorb. Zuerst blickte er in den Papierkorb
hinein, dann wühlte er darin mit der Hand, endlich stülpte er den Korb
über den Arbeitstisch. Nichts. Es war sonderbar, jeder unbedeutende
Zettel fand sich wieder -- zum Beispiel, sollte man es glauben,
Schnitzel jenes Briefes, den er vor einer vollen Woche an den
Chefredakteur einer großen, besonders im Ausland vielgelesenen Zeitung
in einer Aufwallung geschrieben hatte, worin er diesem Chefredakteur --
-- auch dieser Prospekt -- alles, jede Kleinigkeit.

»Sonderbar, höchst sonderbar!«

Nicht ein Fetzen, nicht einmal ein Eckchen jenes grünen Briefumschlages,
er würde die Farbe ja sofort wieder erkennen. Doch hier -- nein, ein
Notizzettel zu seiner Denkschrift: Die Armee der Frauen -- worin er
empfahl, diese brachliegende ungeheure Armee zum Wohle des Vaterlandes
systematisch zu mobilisieren -- lächerlich, alles, jede Kleinigkeit,
aber von diesem Briefe: nichts.

Schon schlugen die Uhren.

Der General hatte heute aus dienstlichen Rücksichten bei Frau v. Dönhoff
abgesagt und sich erst nach Tisch angemeldet.

Der Lüster im Speisezimmer brannte.

Dieser Lüster war aus schneeigem Glas, Tulpen, Prismen, Perlen. Eine
Grotte aus schimmerndem Schnee, die leuchtete ohne zu schmelzen.

Das Zimmer war leer. Ruth war noch nicht da.

Daß er auch gerade diesen Brief -- da trat Ruth ins Zimmer. Heiter und
gut gelaunt, mit einer jungenhaften Verbeugung, wünschte sie »Guten
Abend«.

»Frau v. Dönhoff läßt grüßen, Papa«, sagte sie, indem sie Platz nahm.

»Hast du Besuch gemacht?«

»Nein, ich traf sie auf der Straße.«

Jakob stürzte hinter seinem Schrank hervor, um die Serviette aufzuheben,
die dem General entglitten war.

»Otto geht es gut?«

»Ja, nur zwei, drei Wochen«, erwiderte der General.

Es hatte beinahe den Anschein, als wolle eine Unterhaltung in Gang
kommen. So leicht gingen die Worte hin und her. Da aber runzelte der
General die Stirn, irgendein Gedanke war ihm durch den Kopf gegangen.

Schweigen. Jakob wechselte die Teller. Die Miene des Generals drückte
deutlich den Wunsch aus, nicht mehr gestört zu werden.

Plötzlich hob er das Gesicht vom Teller und richtete den Blick voll auf
Ruth. Ohne Zweifel, sie sah verändert aus! Daß es ihm erst heute
auffiel? Sie trug auch eine andere Frisur, einen einfachen Knoten, der
ziemlich tief im Nacken lag. Es sah aus, als habe sie soeben die Haare
gewaschen und die Frisur rasch aufgesteckt. Diese Frisur mißfiel dem
General, sie verriet geringe Sorgfalt. Wie gewöhnlich war ein Lächeln
über Ruths Gesicht gebreitet, und besonders die langen Brauen, die über
den Wangen schwebten, lächelten. Oh, wie genau kannte der General dieses
Gesicht und dieses Lächeln!

Es war das Gesicht ihrer Mutter und das Lächeln ihrer Mutter. Dies war
einer der Gründe, weshalb der General es vermied, in das Gesicht seiner
Tochter zu blicken.

Ruth hob den Blick, und für eine Sekunde waren ihre Augen auf ihn
gerichtet. Auch diese Augen kannte er genau, zu genau: sanft,
schimmernd, schwärmerisch -- aber, ein Nichts, und die Schwärmerei
wandelte sich in Hysterie.

»Jakob!« Der General deutete mit dem Messer auf die leere Fachinger
Flasche. Der Bursche stürzte zur Türe hinaus. Röte ergoß sich in das
Gesicht des Generals.

_Wo war sie?_

Nun wäre der geeignetste Augenblick --

Es wäre ja das Natürlichste gewesen, Ruth ohne Umschweife zu fragen, wo
sie in der vergangenen Nacht gewesen war. Vielleicht war sie bei
Freunden und hatte dort übernachtet, weil sich kein Wagen auftreiben
ließ? Möglich. Wahrscheinlich würde die Sache sich aufs Harmloseste
aufklären. Aber diese Frage ließ die Tradition der Familie
Hecht-Babenberg nicht zu, wo jeder eine kleine abgeschlossene Welt für
sich bildete, die es vermied, die andere zu berühren. Eine Art
luftleerer Raum trennte diese Welten, der die Worte verschlang und ihren
Klang und Sinn entstellte.

Die Augen der Sommerstorf würden sich voller Staunen auf ihn richten,
als ob er etwas völlig Unmögliches und Undenkbares ausgesprochen habe.
Etwas, das der Welt der Sommerstorf völlig fern lag, das die Welt der
Sommerstorf nie begriff und nie begreifen konnte. Ruth würde lächeln und
die Brauen in die Höhe ziehen. Ja, auch dieses Flattern der Brauen
liebte der General nicht und die leise Überheblichkeit, die im Lächeln
der Sommerstorf lag.

Seine Gedanken verdichteten sich, ballten sich zusammen, die Stirn wurde
düster.

Behutsam schob Jakob mit seinen großen, in weißen Wollhandschuhen
steckenden Händen die neue Flasche Fachinger auf den Tisch.

»Der Wagen ist da?«

»Jawohl, Herr General!«

Und die Limousine zwitscherte die Tiergartenstraße hinunter zur
Lessingallee. --

»Hoffentlich geben sie ihm bald ein Frontkommando!« dachte Ruth, die
sofort hinter dem General das Haus verließ. Sie hatte sich am
Kemperplatz, ganz in der Nähe, mit jemand verabredet.

Beim Rolandbrunnen am Kemperplatz stand schon dieser Jemand und wartete.
Er hob sich fast ebenso deutlich ab wie der Roland auf dem Brunnen
selbst. Ruth lief wie ein junges Mädchen -- lief dem Jemand in die Arme.

»Papa kam heute unvermutet zu Tisch«, sprudelte sie hervor. »Seine Laune
wird immer schlechter. Wollte Gott, daß er bald wieder an die Front käme
--«

»Wollte Gott, daß es bald keine Front mehr gäbe --«

»Ein herrlicher Abend, aber etwas kühl!«

»Es ist immer herrlich, wenn Ruth da ist.« Und der Jemand hüllte Ruth in
seinen Mantel.


11

Noch immer saß der kleine Herr Herbst inmitten der unendlichen
Dunkelheit und flüsterte zärtlich den Namen seines Sohnes. Sein kleines,
hohlwangiges Gesicht war in Tränen gebadet.

Da -- nun wurde es lichter an der Türe -- nun kam er! Der Teuerste,
Heißgeliebte kehrte aus dem Reiche der Schatten, wie die Menschen es
nennen, zu seinem Vater zurück, wie in jeder stillen, dunkeln Nacht.

Ein fahler Schein ging von der Türe aus -- und er erschauerte. Ja, ja,
er war es, der Geliebte, Beste. Deutlich sah er ihn im fahlen Schein
stehen: genau so sah er aus wie zu Hause auf dem Bilde. Ein Soldat im
Helm, ein Jäger, jung, ein blutjunges Bürschchen, in der Rechten den
Gewehrlauf, der mit Blumen geschmückt war, ganz wie an jenem furchtbaren
Tage, da er ihn zum Bahnhof begleitete.

Eisige Kälte brachte er mit aus dem Reiche der Schatten. Der alte Mann
zittert. Die Kälte kroch über ihn, und er fühlte, wie sein kahler
Schädel einschrumpfte. Die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, und
doch war es süß -- erlösend.

»Bist du es?« flüsterte er voller Verzückung.

»Mein Sohn, mein Liebling!« Und er streckte seine eisigen, kleinen
blauen Hände gegen die Türe aus.

»Bist du wieder hier?« Niemals sprach die Erscheinung, und er wartete
auch nicht auf Antwort. Sie stand, regungslos, und blickte unverwandt
auf ihn. Manchmal sah er deutlich die Augen, nicht immer. Seines Sohnes
Augen, deren Glanz und Färbung er nie vergaß -- glänzend und kristallen
wie die Augen eines unschuldigen Tieres -- während die Züge des Gesichts
zuweilen schon seinem Gedächtnis entglitten.

»Bist du zurückgekehrt zu Papa --?«

Aber, Entsetzen! Wieder begann der Teure zu bluten --

Von der Stirn floß plötzlich dunkles Gerinnsel, gewiß, dort hatte ihn
das tödliche Geschoß getroffen. Das Blut floß, es strömte, es färbte die
Uniform dunkel, lautlos strömte es auf den Boden, ohne Ende. Und der
Teure stand, regungslos blutete er, ohne jeden Laut . . .

»Wie schrecklich du heute wieder blutest, mein Einziger!« flüsterte der
kleine alte Mann -- oh, so leise! -- und rang die Hände. Die Tränen
stürzten über seine Wangen. »Immer noch findest du nicht Ruhe, du
Teuerster? Warte, gedulde dich -- ich habe schon an ihn geschrieben, er
wird antworten -- gewiß . . . Alles werde ich versuchen, nichts werde
ich unversucht lassen -- ich gelobe es -- mein Liebling --«

Und er flüsterte, versprach, rang die Hände, verhüllte das tränennasse
Gesicht --

Da wurde es licht, der Schein einer Kerze, und augenblicklich zerfloß
die Erscheinung. Nichts blieb als die hellgestrichene Füllung einer Türe
mit einem schwarzen Schloß.

Nicht eine Kerze, der Mond war über die Dächer gekommen. Ein Lichtkeil
spaltete plötzlich die Dunkelheit des Zimmers. Erschrocken zog Herr
Herbst die Hände aus dem Lichtstrahl zurück, als würden sie verbrannt.

                   *       *       *       *       *

Die Dunkelheit war zertrümmert, und nun kamen auch die Geräusche zurück.
Stimmen murmelten, es hustete, alle Arten von Husten, vom pfeifenden
Frauenhüsteln bis zum brüllenden Husten erkälteter Männer. Schlaflos war
das ganze Haus, es brauchte nur der Mond über die Dächer zu kommen, aus
Glas schien es zu sein. Die Lider standen im Schlummer geöffnet, wie bei
den Toten, und die Strahlen des Mondes stachen wie Nadeln in die
bloßgelegten Hirne.

Nebenan wimmerte ein Kind, eine Bettstelle knarrte.

»Bist du denn wieder aufgestanden?« zischelte es hinter der Wand.

»Ja, ja«, entgegnete Hähnleins heisere Stimme. »Ich sehe mir den Mond
an.«

»Wie soll ein Mensch das ertragen?«

»Beruhige dich, Mutter -- bald, ja bald --!«

Ermattet saß Herr Herbst, bebend vor Erschöpfung. Das Gespräch mit dem
Sohn hatte ihn völlig entkräftet. Der Teure sog alle Kraft aus ihm. Das
Herz zuckte in seiner Brust. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne.

Ach, wie entsetzlich er doch wieder geblutet hatte -- er litt -- rasch
mußte er handeln, rasch!

Er versank in tiefes Nachdenken. Langsam, wie betäubt bewegten sich die
Gedanken in seinem kahlen Kopf, schlafschwer krochen sie dahin wie
Schatten auf den Dächern. Das Geflüster und Gezischel hinter der Wand
störte ihn nicht. Hähnleins alte Litanei -- die Litanei des Elends und
des Hungers. Nein, das Elend fremder Menschen machte keinen Eindruck
mehr auf ihn. Worte, Nichtigkeiten! Weshalb sollten nicht andere
ebenfalls unglücklich sein, alle. Neulich hatte er mit angesehen, wie
ein vornehmer Herr von einem Militärlastauto überfahren wurde -- gerade
über das rechte Bein war das schwere Doppelrad gegangen. Er war in
verzweifelter Stimmung, sofort aber besserte sich seine Laune! Die
Unglücklichen weiden sich am Unglück, die Kranken an der Krankheit, die
Armen an der Armut -- nur die Glücklichen, das ist etwas ganz anderes,
sie weiden sich nicht am Glück. Sie sehen andere Menschen nicht mehr.

Langsam -- aber schließlich fand er sich doch zurecht in all den
Dunkelheiten.

Nein, keine Antwort. Hunderte warten!

»Der General antwortet nicht!«

»Nein, nein!«

Erregt setzte er sich auf.

»Was aber dann? Was dann?«

Im Nu hatte er die Füße auf den Boden gestellt. Er saß mitten im
Mondlicht und blickte zum Fenster hinaus. Sein Schädel glänzte wie eine
Quecksilberkugel, seine Augen schimmerten wie die Augen toter Fische,
die schon lange liegen. Er lauschte in sich hinein, er grub in seinem
Gehirn. Plötzlich begann sein gleißender Schädel zu dampfen, Rauch
kräuselte aus seinen Augen. Eine Wolke glitt über den Mond. Wieder
glänzte die Quecksilberkugel. Aber plötzlich saß er gänzlich ohne Kopf
da. Der Mond glitt hinter einen Schornstein. Als er wieder ins Zimmer
blendete, hatte Herr Herbst die Hälfte seines Volumens verloren. Er
hatte den Havelock abgelegt.

Rasch, rasch riß er den Kragen und die kleine schwarze Binde ab und
steckte den Kopf in eiskaltes Wasser. Der Mond funkelte.

Einen ungeheuren Gedanken hatte der Mond im Gehirn des kleinen Herrn
Herbst wachgeblendet.

Er konnte gar nicht genug eiskaltes Wasser über seinen Kopf gießen.
Fieberhaft rieb er sich ab, zog Kragen und Binde an.

»Ja, ja, weshalb nicht --?« Rasch schlüpfte er in den Havelock.

»Ich werde --«

»Ich werde --«

»_Ich werde ihn besuchen!_«

Schon rannte er zur Türe hinaus. Halt! wohin? es ist mitten in der
Nacht! Aber nichts hielt ihn zurück. Mit raschen Schritten eilte er die
leere und verödete Fabriciusstraße hinab.

Ah, und wie eisig kalt es war!


12

Dora lachte belustigt auf.

»Achttausend Mark, Ruth, ich bitte Sie! Für eine ganz einfache
Gesellschaftstoilette! Und ein Hemd, ganz und gar nicht luxuriös, etwas
billige Spitzen, ein paar Seidenschleifen -- fünfhundert Mark. Es ist
wirklich eine Komödie. Ich wage es schon gar nicht mehr, ein Geschäft zu
betreten.«

»Wie wird es aber werden?« fragte Ruth und zog die Brauen hoch. »Die
Hälfte der Bevölkerung hat schon keine Wäsche mehr. Die Kinder schlafen
auf Papier.«

Dora fand das sehr spaßig.

»Wie es werden wird? Höchst einfach, im nächsten Jahr werden wir uns
alle in Papier kleiden, Ruth, und das wird ungeheuer lustig werden! Sie
erinnern sich an die Dame, die im vorigen Sommer ohne Strümpfe Unter den
Linden ging? Wenn man hübsche Beine hat, ist das reizend. Aber denken
Sie sich eine Gesellschaft, ganz in Papier gekleidet! Die Industrie wird
die reizendsten Farbtöne erfinden --« Dora mußte vor Lachen abbrechen --
»Der General meint allerdings --«

»Was meint Papa?«

»Er sagt, die Industrie habe Ersatzstoffe erfunden, die viel besser sind
als Wolle und Seide. Zum Beispiel, nun wie heißt sie, diese Patentfaser?
Die ganze Lüneburger Heide soll mit Brennesseln bepflanzt werden, doch
das wird wohl noch ein Weilchen dauern. Aber hören Sie, Ruth, welch
blendende Idee! Ich werde bei meinem Hausball Papierkostüme
vorschreiben!« Dora klatschte vor Vergnügen in die Hände, und wieder
füllte ihr Lachen Ruths kleinen halbdunkeln Salon mit Heiterkeit und
tausend Schelmereien. »Süß sehen Sie aus, mein Kind. Woher stammt diese
Bluse? Lassen Sie fühlen, herrlich! Das ist noch Seide! Was man heute
für schweres Geld bekommt, ist ja Schund, den früher unsere Neger
getragen haben. Aber denken Sie doch Ruth, wenn wir erst in einer
Papierserviette schlafen gehen werden --!« Es war Dora gänzlich
unmöglich, diese drolligen Phantasien abzuschütteln.

Ruth bereitete den Tee, während die schöne Dora schwatzte und lachte.
Sie folgte mit zärtlichen Blicken jeder Bewegung Ruths, die sie liebte.
Ja, aufrichtig liebte, obschon sie ganz anders war, vielleicht, weil sie
ganz anders war. Und sie fand sie in vieler Beziehung so amüsant! Zum
Beispiel, der Hut hing auf einer Blumenvase und -- bei Gott -- ein
kleiner schwarzgelber Abendschuh lag verlassen auf dem Sofa. War das
nicht süß? Und die Teemaschine stand auf dem Schreibtisch, natürlich
floß das kochende Wasser auf die Platte. Nein, wie reizend! Früher war
Ruth häufig bei ihr gewesen, sie hatten zusammen musiziert --

»Singen Sie noch, Ruth?«

»Wenig nur, leider.«

Aber nun sah man sie selten. Dora nahm es ihr nicht übel. Sie liebte sie
trotzdem, wie sie alle Menschen, die ihr nichts zuleide taten, liebte,
wenn sie guter Laune war. Hatte sie aber ihre bösen Stunden -- nun, da
hätte sie ruhig sehen können, wie man die Menschen vor ihren Augen
abschlachtete -- aber das war natürlich eine Übertreibung. Dora konnte
grausam sein, sehr grausam, wenigstens dachte sie es.

Butzi, der Griffon, ließ den schwarzgelben Abendschuh, der neben dem
kleinen Sofa auf dem Boden lag, es war der zweite, plötzlich aus den
Zähnen und schlich zur Türe.

Er steckte die Nase in die Ritze zwischen Schwelle und Türe und blies.

Dann aber schnellte er erschrocken auf allen vieren zurück . . .

Die Türe öffnete sich -- behutsam -- leise -- und das breite
steinfarbene Gesicht des Generals, nachdenklich gesammelt, wurde
sichtbar. Aber schon in der nächsten Sekunde verschwand die
nachdenkliche Sammlung und die Steinfarbe -- betreten und überrascht
prallte das Gesicht zurück und färbte sich rot.

Der General erschrak genau wie Butzi und wich genau wie Butzi zurück.
Butzi erholte sich sogar zuerst und begann zu kläffen.

»Herr General?« rief Dora überrascht aus.

»Papa?« fragte Ruth leise und ungläubig.

»Ich bitte zu verzeihen, wollen die Damen, bitte . . .«

Dora lachte. »Kommen Sie doch, Herr General, wir sind eben bei den
interessantesten Gesprächen.«

»-- will nicht stören -- ich wollte nur -- ich hörte Stimmen -- guten
Tag, meine Damen.« Und der General verschwand sofort wieder und schloß
leise die Türe hinter sich.

Butzi hatte gesiegt. Er kläffte wütend hinter dem abziehenden Gegner
her.

»Was wollte er denn?«

Ruth schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er kommt
sonst nie in mein Zimmer.«

»Er ist argwöhnisch, Ruth«, sagte Dora.

Ruth blickte auf und errötete.

»Ja, ja, er glaubt, Sie haben einen Geliebten«, fuhr Dora fort und
blinzelte mit dem rechten Auge.

Die Röte wich aus Ruths Wangen. Sie wurde bleich.

»Er glaubt --?«

»Ja, er hat Sie doch neulich erwischt.«

»Sie kamen erst am Morgen nach Hause. Er erzählte es mir. Gott, wie sie
erschrocken ist, die Kleine. Ich habe es ihm natürlich ausgeredet. Sie
können sich das wohl denken.«

»Ich bin bei Platens im Grunewald gewesen, und es wurde sehr spät.«

»Und Sie haben es ihm nicht gesagt?«

»Ich? Wieso? Er fragte nicht. Schließlich ist es auch nicht seine Sache.
Nehmen Sie Süßstoff, Dora? Ich habe keinen Zucker.«

Ja, nun wurde also Tee getrunken, lange genug hatte es gedauert -- und
draußen goß es in Strömen, welches Wetter, in diesem Berlin! Dora
zündete eine ihrer dicken englischen Zigaretten an.

»Aber vielleicht hat er doch recht, der General --?« sagte sie, und
wieder blinzelte sie mit dem rechten Auge.

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, ich meine nur -- so -- so . . .«

Dora lachte. Es machte ihr Vergnügen, scheue Menschen in Verlegenheit zu
bringen. Dann aber änderte sie den Ton.

»Und Dietz geht es gut in Bukarest?«

»Sehr gut, danke. Er bewohnt eine reizende Villa, reitet täglich
spazieren, es fehlt ihm wirklich an nichts.«

»Hören Sie Ruth -- aber Butzi, sehen Sie, er zerreißt Ihnen den ganzen
Schuh --«

Ruth nahm den Schuh und warf ihn zu dem andern auf dem Sofa.

»Ich wollte sagen, Ruth, wenn Sie erst einmal auf Ferchow wohnen -- es
ist der schönste Sitz in Pommern, und Sie haben da einen chinesischen
Pavillon auf einer Insel im See, märchenhaft, die Armins haben ja ihr
Gut nebenan -- wenn Sie erst auf Ferchow wohnen, versprechen Sie mir --«

Ruth unterbrach sie.

»Ich werde nie auf Ferchow wohnen, Dora!« sagte sie, jede Silbe
betonend.

»Wie? Aber --?«

Ruth blickte Dora in die Augen.

»Nein, niemals!«

»So erklären Sie mir doch, meine Liebste --?«

»Sprechen wir nicht mehr davon.«

»Aber, ich bitte Sie, Ruth, wollen Sie mir nicht --?«

Doppelt so groß wie gewöhnlich waren Doras blaue Augen vor Erstaunen.

                   *       *       *       *       *

Das nächstemal war der General vorsichtiger. Er erkundigte sich erst, ob
seine Tochter ausgegangen sei, und klopfte zur doppelten Vorsicht vorher
an. Zu peinlich war es ihm neulich gewesen -- Dora saß da, Ruth, nicht
einmal angeklopft hatte er -- was mochten sie denken von ihm?

Er hatte jahrelang Ruths Zimmer nicht betreten. Jahrelang hatte er sich
überhaupt nicht im geringsten um Ruth gekümmert, ihr jegliche Freiheit
gelassen, seinen Grundsätzen gemäß -- nun aber schien es ihm an der Zeit
zu sein . . .

Nicht ohne eine gewisse Scheu trat er ein.

Sofort aber waren diese beiden Augen auf ihn gerichtet, obwohl er den
Blick abgewendet hatte, denn er wußte genau, wo das Bild hing. Diese
Augen leuchteten ihm entgegen, und der General fühlte ihren schimmernden
Blick durch die Lider hindurch, ja selbst durch den Kopf, wenn er das
Gesicht abwandte. Er räusperte sich und murmelte etwas vor sich hin, um
sein Gleichgewicht wieder zu finden.

Rügend schüttelte er den Kopf: Welche Unordnung!

Auch diesen Mangel an Ordnungssinn hatte sie von der Sommerstorf geerbt,
keineswegs von ihm. Augenblicklich schossen ihm in einer Sekunde tausend
Erinnerungen durch den Kopf. Da war, zum Beispiel, die Naht am Handschuh
geplatzt, und sie machten Besuch beim Regimentskommandeur. Es war
äußerst peinlich. Der Regimentskommandeur sah sofort die geplatzte Naht
des Handschuhs, es sah aus, als sähe er überhaupt nichts anderes. Und da
kamen, zum Beispiel, Gäste, sie waren auf acht Uhr geladen. Sie kamen,
und der Salon war völlig in Unordnung. Notenblätter waren überall
umhergestreut, und die Tischdecke lag voll von Rosenblättern, die von
einem welken Strauß abgefallen waren. Wie in aller Welt sollte er sich
denn vor den Gästen entschuldigen? Aber die Sommerstorf lachte nur
darüber. Gerade über solche Dinge konnte sie ausgelassen lachen. Es
fehlte ihr jedes Organ dafür. So waren sie, die Sommerstorfs. Sie kamen
nicht umsonst aus dem Süden.

Ein Hut lag auf dem Tisch im Salon, daneben eine Schere und eine Rolle
Zwirn. Die Nadel stak in der Tischdecke. Zeitungen waren über das Sofa
verstreut, und in der Ecke lag sogar ein Abendschuh. Überall
Schreibpapier, Bücher.

Zerstreut nahm der General ein aufgeschlagenes Buch vom Schreibtisch.
Marx.

Karl Marx.

Ein Sozialist!

In dem Buche waren Stellen angestrichen. Sie arbeitete darin.

Einen Augenblick war der General geneigt, diese Lektüre für eine junge
adelige Dame unpassend zu finden. Schon wollte er den Kopf schütteln.
Aber er überwand sich. Mochte sie -- weshalb nicht -- wenn sie Interesse
dafür hatte? Auch ein Sozialist hatte ja wohl manches zu sagen, was
interessieren konnte -- im übrigen, sie hatten ja in der Stunde der
Gefahr das Vaterland über den Internationalismus gestellt, bewilligten
die Kredite, was man wollte, gingen mit durch dick und dünn -- in der
Tat, sie hatten sich als wahre und echte Patrioten erwiesen!

Viele Bücher. Stöße von Büchern. Autoren und Titel waren ihm unbekannt.
Er hatte keine Zeit, Bücher zu lesen -- der Dienst -- seit zwanzig
Jahren hatte er eigentlich kein Buch mehr in die Hand genommen -- seit
dreißig, von fachwissenschaftlichen Werken natürlich abgesehen.

Im übrigen, diese modernen Autoren, soviel er von ihnen wußte, sie
beliebten Konstruktionen, lebten in einer fiktiven Welt -- während seine
Welt, die Welt des Generals, eine Welt der harten Tatsachen war, ohne
Beschönigung, ohne Lüge und Poesie, einfach der harten Tatsachen.

Aus einem Buch fiel ein Brief: »Geliebte Ruth« -- sofort schob ihn der
General wieder in das Buch zurück. Wieder schüttelte er rügend den Kopf.
Daß sie, zum Beispiel, nicht daran dachte, daß Unberufene, etwa Therese,
den Brief lesen könnten! Erschreckend diese Ähnlichkeit in den kleinsten
Charakterzügen. Auch ihre Mutter hatte die wichtigsten Briefe und
Schriftstücke herumliegen lassen. So hatte es ja seinen Anfang genommen
. . .

Wiederum fühlte er den Blick der leuchtenden Augen so stark, daß die
Hand matt wurde, die das Buch hielt. Deutlich, ganz deutlich hörte er
eine Stimme in seinem Kopf, die irgendwo geschlafen hatte. Er verstand
nicht die Worte, die diese Stimme aussprach, aber er hörte ihren Klang,
ganz deutlich, und es war doch schon viele Jahre her, daß er diese
Stimme zum letzten Male gehört hatte.

Diese Stimme wurde lauter und lauter und nahm einen immer heitereren
Klang an. Deutlich hörte er, wie diese Stimme in seinem Kopfe oder
irgendwo -- sie schien irgendwo verborgen zu sein! -- zu lachen anfing,
ein Lachen, heiter, spöttisch. Der General legte das Buch zurück.

Traurigkeit stieg plötzlich in seinem Herzen auf.

»Was will ich eigentlich hier?« sagte er. Nachdenklich verließ er das
Zimmer, während die Augen des Bildes ihm bis zur Schwelle folgten --

Und Marx? Weshalb nicht Marx? Aber es war eigentümlich, dieser Name
klang in ihm weiter.

Als er wieder über den Korridor schritt, hatte er die Empfindung, aus
einer fremden Welt und andern Zeit gekommen zu sein. Niki zwitscherte
fröhlich sein Lied, und alle Dinge betonten plötzlich ihre Wirklichkeit
und Vertrautheit.

Übrigens war es auch frostig in Ruths Zimmer gewesen.


13

In der kahlen, verwahrlosten Fabriciusstraße erscheint -- ist es
möglich, an einem Wochentage, in diesen Zeiten -- ein Zylinder! Der
Zylinder kommt näher, immer näher, er verschwindet im »Löwen von
Antwerpen«.

Der bucklige Wirt blinzelt mit den düsteren Eulenaugen und bringt die
Flasche Roten und das Schachbrett.

»Meine Hochachtung«, flüstert er, wie es seine Art ist, leise -- er
sprach jahrelang kein Wort, in einer gewissen Periode seines Lebens.
»Sie treiben es nobel in diesen Tagen! Immer noch diese amtliche Sache?«

»Gestern war es leider nichts. Ich hatte versäumt -- hatte ja keine
Visitenkarten. Alles hat seine Formen. Plötzlich denke ich gestern: nun,
und die Visitenkarten?«

Herr Herbst hatte sich verändert. Das Rasiermesser hatte Kinn und Wangen
geglättet, und der Haarkranz war etwas geschnitten. Im ganzen hatte das
Volumen des Kopfes nur minimal abgenommen, aber es schien, als sei der
Kopf um die Hälfte eingeschrumpft. Und hinten im Nacken, wo der
Hinterkopf ansetzte, waren faustgroße Höhlen sichtbar geworden. Wie in
den letzten Tagen, trug er auch heute einen etwas verknüllten, zu langen
schwarzen Gehrock, und wieder empfand der bucklige Wirt Hochachtung vor
ihm, als er den Gehrock erblickte. Dieser kleine alte Mann, der mit dem
Gläschen in der Hand vor den Munitionsarbeiterinnen tanzte und sich zum
Gespött der frechen Geschöpfe machte -- wer war er? Ein
Heruntergekommener, ein Sonderling -- er behauptete, Lehrer an einem
Gymnasium gewesen zu sein, aber was behaupteten die Leute heutzutage
nicht alles?

»Heute aber sollen die Karten fertig werden. Er hat mir sein Ehrenwort
gegeben«, fügte Herr Herbst hinzu, und seine kleinen, etwas schmutzigen
Hände rasselten gierig mit den Schachfiguren. Dieses Rasseln der
Schachfiguren, immer erinnerte es ihn an einen kleinen Marmortisch mit
blankgeputzter Messingeinfassung -- sein Stammcafé in der Provinz,
einst, lange war es her.

»Sie haben den Anzug, Herr Herbst!« flüsterte der Bucklige und schob das
spitze Kinn über das Schachbrett.

Herr Herbst griff nach dem Glas. Seine Hand zitterte. Ja, schlimme Tage
hatte er hinter sich. Er zerdrückte den Wein auf der Zunge zwischen den
gelben Zahnstumpen. Plötzlich sah er deutlich -- sollte man es für
möglich halten? -- das Gesicht des Generals im Glase! Er schloß rasch
die Augen und ließ das ganze Glas durch die Kehle hinunterlaufen. Noch
ein Glas -- und nun war er bereit.

Kraft und Mut strömten aus dem Wein.

Furcht? Nein, nein, er hatte keine Furcht.

Er nahm das Aluminiumetui aus der Tasche, zündete sich eine Zigarre an
und setzte sich zurecht.

»Und nun wollen wir einmal etwas ganz Neues versuchen.« Er zog den
Turmbauern.

Noch weiter schob der Bucklige das spitze Kinn über das Brett.

Eine Falle? Wie, was? Was wollte er mit dem Turmbauern?

»Sie haben ja ein Feld zu weit gezogen.«

»Zu weit? Nun, dann nehmen wir ihn eben um ein Feld zurück.« So
hochgemut fühlte sich Herr Herbst in diesem Augenblick, daß er den
Bauern gleich über drei Felder vorstoßen ließ.

Die Partie begann. Beide waren leidenschaftliche Spieler.

Herr Herbst lehnte sich im Stuhl zurück und blies den Rauch in die Luft.

Furcht? Wieso? Vor wem? Vor ihm?

Die Karten würden um vier Uhr fertig werden, nun und dann . . .

Wieder trank er ein Gläschen.

Alles war ja in seinem Kopfe zurechtgelegt. Jedes Wort, die Rede floß in
Gedanken. Und, hm, auch die Verbeugungen und Anreden hatte er schon
eingeübt, ganz genau. Weshalb sollte er Furcht haben? Schließlich war er
doch nicht der Kaiser, wie?

Kein Zweifel, er würde ihn zwingen, ihm Rede und Antwort zu stehen, jede
Auskunft, die er wünschte, zu geben.

Er hatte ja die Briefe in der Tasche, zum Beispiel, am 4. August griff
ein Jägerbataillon an, kein Mann kehrte zurück. Weshalb also mußte am 5.
August -- er würde natürlich in aller Höflichkeit, in aller
Bescheidenheit . . .

»Schach der Königin!« rief er laut und warnend.

»Wahrhaftig! Nun, Sie erlauben, ich nehme den letzten Zug nochmals
zurück -- es heißt überlegen. Sie gehen ja scharf vor, heute.« Die
düsteren Eulenaugen des Buckligen begannen zu glühen.

Herr Herbst griff in Wahrheit stürmisch an. Er fühlte sich seinem Gegner
heute weit überlegen, und er hätte jede Summe gewettet, daß er gewann,
obgleich der Bucklige für gewöhnlich stärker spielte -- unter den
jetzigen Umständen, früher, da hätte er ihn ja nie schlagen können.

Natürlich, der Kaiser war er ja am Ende nicht. Und schließlich -- er
würde ihm ja ebenfalls gefällig sein! Nein, nein, es war ganz und gar
kein kleiner Dienst -- bei rechtem Lichte betrachtet. Vielleicht würde
er sagen: aber mein lieber Herr Herbst, weshalb sind Sie nicht früher
gekommen? Wer weiß? Wer weiß?

Ja, so würde er beginnen. Von diesen jungen Leuten nebenan würde er
berichten -- von ihren Ideen, ihren Absichten, gefährlichen Absichten --
nun ja, rascher als irgendein anderer würde der General verstehen.

Und dann würde er auf das Mädchen zu sprechen kommen --

»Vorsicht, Herr Herbst!«

»Ich sehe schon -- eine richtige Falle. Ei, ei!«

»Aber was tun Sie?«

»Ich bin gezwungen, den letzten Zug zurückzunehmen.«

»Aber, aber --«

»Auch Sie haben ja einen Zug zurückgenommen.«

Dieses Mädchen also, so würde er sagen, hatte er zuerst gar nicht
beachtet. Wie sollte er auch? Alle diese Soldaten hatten ja ihre
Mädchen, nicht wahr, es war einmal nicht anders. Nicht beachtet. An den
Sonntagen kochte sie den Tee, bot Zigaretten an. Sie selbst sprach
eigentlich wenig, nur hier und da warf sie ein Wort ein. Man hörte ihre
Stimme kaum, so fein klang sie.

An den Wochentagen kam sie zuweilen abends, und dann war sie mit ihm
allein. Nun sie waren junge Leute, was sollte da besonderes dabei sein?
Er hörte nicht zu, hatte seine eigenen Gedanken. Eines Abends aber,
plötzlich sprechen sie über gewisse Dinge -- wie interessant! Was ist
das? Offenbar kennt das Mädchen genau die Familienverhältnisse einer
gewissen hochgestellten Persönlichkeit. Nun, es war jedenfalls
sonderbar, daß sie so genau Bescheid wußte --

Tief in seine Gedanken versunken, legte sich Herr Herbst im Sessel
zurück und blies den Rauch in die Luft.

Sie plaudern also über gewisse Dinge, ganz harmlos. Sie denken wohl
nicht, daß ich nebenan alles höre, denken wohl, ich sei ausgegangen.

Oben an der Türe sehe ich Licht.

Ich weiß wohl, was sich schickt und was unpassend ist -- aber, aber, ich
kann nicht widerstehen. Das Licht reizt mich. Ich trage den Stuhl zur
Türe, vorsichtig natürlich -- steige hinauf -- so, so -- strecke mich
und blicke durch den Spalt. Ich drehe das Auge hin und her. Ah, da sitzt
er also, der Soldat, und daneben -- auf dem Sofa . . .

Plötzlich sehe ich ihr mitten ins Gesicht!

Der Schreck -- glauben Sie mir -- die Überraschung -- ich wäre um ein
Haar vom Stuhl gefallen! Denn wenn ich auch das und jenes dachte -- ich
glaubte es ja nicht -- es schien mir unmöglich -- die Stimme, hm, das
Gespräch, aber es war ja unmöglich -- und doch -- doch!

Dieses Mädchen, Herr General, diese Dame --

»Schach und matt!« rief der Bucklige triumphierend, und Herr Herbst
prallte zurück.

Also geschlagen, abermals geschlagen!

Herr Herbst zog die Uhr -- er besaß eine goldene Uhr, sonderbar! -- und
wurde plötzlich von Unruhe ergriffen.

»Ja, nun wird es aber Zeit für mich -- höchste Zeit!« sagte er und
stülpte hastig den Zylinder über den Schädel. Ganz wie der steife
schwarze Hut war auch der Zylinder um eine Nummer zu groß und sank auf
die abstehenden grünlichen Ohren herab.

In höchster Eile verließ er die Kneipe.

                   *       *       *       *       *

Schon dunkelte es. Lautlos und unaufhörlich sank der schwarze
Aschenregen auf die sterbende Stadt.

Eine Stunde später, und Berlin war völlig finster. Undurchdringliche
Finsternis lag über den deutschen Landen, undurchdringliche schwarze
Nacht lag über Europa, zuckend vor Schmerzen, gebadet in Blut und
Tränen.

Wann endlich?

Horch! Hunderttausend Geschütze wiehern wollüstig durch Europas
undurchdringliche schwarze Nacht.

Ja, wann endlich? Eile, binde deine Schuhe, Erlöser, und eile, wenn du
kommen willst!

Schon sind Europas Augen blind vom Weinen, schon stockt der Schlag
seines Herzens.




Drittes Buch


1

Dampfwolken quollen aus der Halle, Rauchfetzen flatterten zwischen den
Eisenträgern. Alles wehte. Die Vorortzüge liefen kreischend ein,
keuchten kreischend hinaus. Mäntel, Hüte, Röcke wirbelten im Rauch und
weißen Wasserdampf. Auch Klaras Kleider wirbelten. Sie fror an den
dünnen Beinchen, aber sie liebte es, ganz leicht gekleidet zu gehen.

Der nach der Westfront abgehende Frühzug hatte Verspätung. Mochte er!
Wie gerne wartete sie! Schon seit einer Stunde ging sie hier am
Charlottenburger Bahnhof auf und ab. Drüben am Bahnhof Zoologischer
Garten standen sie nun, die Damen Sterne-Dönhoff, Mutter und Schwestern,
und plauderten noch mit ihm. Der Wind pfiff von allen Seiten in die
Halle, und blendende Helligkeiten fegten draußen über die Dächer.

Plötzlich blieb Klaras Herz stehen:

Um die Ecke schnob ein pechschwarzes Ungeheuer, qualmend aus Schlot und
Zylindern. Blitzschnell kam es auf Rauch herangewirbelt. Der Fernzug
. . .

Der Kurfürstendamm, wimmelnde Menschen -- sie und Heinz. Der Tiergarten,
brausende Bäume -- sie und Heinz. Die Stufen der Untergrundbahn, ein
Menschenstrom, das kleine Café in der Kantstraße -- sie und Heinz. Wie
durch ein scharfes Glas sah sie sich neben ihm, immer neben seinem
weiten grauen Feldmantel -- nur die Szenerien änderten sich,
blitzschnell, alle Straßen, Plätze, die sie zusammen besucht hatten. Der
Tiergarten -- gestern nachmittag, als sie Abschied nahmen, es dämmerte
schon -- sie gab ihm das Medaillon mit der Locke, das sie so oft und
tausendfach küßte, bis sie einen Weinkrampf bekam -- als Talisman sollte
er es tragen -- und plötzlich verschwindet alles in einem Wirbel, nichts
ist mehr vorhanden als ein leerer Raum, durch den die schwarze
Lokomotive dahinstürmt.

Ihre Kleider flatterten, sie griff an die grasgrüne Mütze mit der grünen
Seidenquaste, in der Rechten wehte das Taschentuch. Sie dachte an
nichts, ihre Augen glitten erregt an dem fliegenden Zug entlang, und sie
verging vor Angst, daß sie Heinz nicht mehr sehen würde.

Da, da, da, da war er! Seine Hand, sie erkannte sie sofort, winkte ihr
zu. Ein Lachen in seinem geröteten Gesicht, ein Blitzen der Zähne, und
die blonden Haare leuchten. Auf seiner Brust aber glänzte -- wie ein
heller Stern -- durch den Mantel hindurch -- das Medaillon aus Kristall:
deutlich sah sie es. Groß und mächtig wie ein Stern, obgleich es ganz
klein war.

Hunderttausende und abermals Hunderttausende waren schon auf diesen zwei
Schienen fortgefahren, und alle trugen einen Talisman auf der Brust.

Fort war Heinz.

Der Zug war rasend schnell gefahren, aber die letzten Wagen rollten ganz
langsam an Klara vorüber.

Der Wind riß ihre Kleider bis zu den schmalen Knien empor, aber sie
bemerkte es nicht. Soldaten, die aus den letzten Wagen blickten,
schnitten ihr Gesichter.

Da aber fing sie an zu laufen, und weinend stürzte sie die Treppe hinab.
Wie ein Messer zerschneidet das Lebewohl ein junges Herz.

Alles war ja noch Geheimnis, niemand wußte etwas, niemand wußte von
ihren Schwüren, ihren Versprechungen, ihren Plänen, ihren Träumen,
niemand.

                   *       *       *       *       *

Schon war Klara zu Hause, und schon war die grüne Mütze mit der grünen
Seidenquaste in ein Paketchen eingeschnürt, fertig zum Absenden. Er
sollte sie haben. Ach, und sie weinte und bedeckte die alte grüne Mütze
mit Küssen und Tränen.

Schon aber hatte der Zug die nächste Station passiert, und Klara steckte
die kleine Flagge auf der Karte um. Man muß wissen, daß Klara sich ein
Kursbuch gekauft hatte, um den Zug verfolgen zu können.

Und schon war Klara wieder auf der Straße und lachte in Sonne und Wind,
während auf ihrem Herzen noch die Tränen brannten. Auf zierlichen,
raschen Beinchen schritt sie, die schmale Hüfte wippend, die
Joachimsthaler Straße hinab. Sie war glücklich.

Klara ging einkaufen. Sie mußte ja nun an die Feldpaketchen denken, ganz
wie Millionen andere Frauen. Kam sie zurück, so konnte sie die Flagge
schon bis Hannover vorstecken.

Schon dachte sie an die Zeit, da sie die Flagge zurückstecken würde --
wenn er zum ersten Male auf Urlaub kam.

Zwischen der Kindheit und der Welt der Erwachsenen liegt die Zone des
Paradieses. Blendend von Träumen, Plänen, Visionen, Ahnungen und
Wünschen. Wunderbar und erhaben liegt das Leben vor den Blicken, und
mutig geht ihm der Schritt entgegen.

Durch dieses Paradies schritt Klara dahin, obschon sie nur die
Joachimsthaler Straße hinabwanderte.


2

Schon wanderte die kleine Flagge auf der Karte wieder rückwärts. Es war
der Zug, der den ersten Brief bringen konnte. Konnte! Aber er kam nicht.
Nun kam der Zug an die Reihe, der den ersten Brief bringen sollte. Aber
er kam nicht. Nun kam der Zug, der den ersten Brief bringen mußte. Aber
er kam nicht. Die Stunden blieben stehen. Die Uhren tickten, das Herz
schlug im Halse, und in der Nacht saß Klara mit offenen Augen im Bett.

Endlich, am sechsten Tage, kam er.

»Hier ist ein Brief, kleine Braut«, sagte Hedi, und Klara errötete. Hedi
hatte ein überlegenes, aber gutmütiges Lächeln für die Schwester.
Dieselbe Geschichte! dachte sie. Sie wird Briefe schreiben, jahrelang
auf den Briefträger warten . . . Es ist immer das gleiche.

»Gib, bitte!« sagte Klara, und ihr Atem stockte.

»Du versprichst mir, auf Frau v. Dönhoffs Hausball mitzukommen?« (Allein
würde der Geheime Rat Hedi nicht gehen lassen!)

»Ich verspreche! Feierlich!« --

Welches Glück, beim Himmel! Und welche Enttäuschung, dieser Brief
. . .

»-- wir haben ein reizendes Quartier. Ein kleines Schlößchen. Daneben
liegt unser Flugplatz. Mich haben sie in einer Dachkammer untergebracht.
Wir haben eine Enten- und eine Hühnerzucht. Die Mannschaften besitzen
sogar ein kleines Wildschwein.« Ja, was ging sie das an?

Herrlich ist es hier, herrlich, liebe Klara!

Tag und Nacht krachen die Kanonen, und fast in jeder Stunde knallen die
Abwehrgeschütze ganz in unserer Nähe, Schwärme von feindlichen Fliegern
kommen herüber. In der Nähe nämlich steht im Walde ein weittragendes
Geschütz. Wenn es schießt, ist es wie ein Erdbeben. Ein balkendicker
Feuerschein fährt dann aus dem Walde.

Das Wetter ist stürmisch und trüb, und gestern habe ich mich mit dem
kleinen frechen Meerheim -- Du kennst ihn ja -- etwas in der
Nachbarschaft herumgetrieben. Er ist eine Art Zyniker, aber wir kommen
trotzdem ganz gut miteinander aus. Wir waren mit dem Auto in Q. Schutt
und Asche! Furchtbar anzusehen! Die Kathedrale wurde von französischen
und englischen Geschützen in Trümmer geschossen und geriet zuletzt in
Brand. Ein Symbol des Schreckens und des Krieges. Am Abend speisten wir
in der Etappe, wo mich der kleine Meerheim bei Bekannten einführte. Sie
führen ein herrliches Leben, essen und trinken und feiern ein Fest nach
dem andern. Gerade als wir kamen, feierte ein Rittmeister sein Eisernes
Erster. Es wurde furchtbar gekneipt, und zuletzt ging es böse her. Wie
ekelhaft! Ich habe nicht einen Tropfen angerührt, denn ich halte das
Versprechen, das ich Mama gab. Neben dem Kasino liegt das Lazarett, wo
die armen Kerle von vorn hereingebracht werden. Auf dem Heimwege
begegneten wir einem Wagen voller Kisten, nur notdürftig zugenagelt. Sie
wurden zum Friedhof gebracht. All das ist schrecklich. Das sind die
Schattenseiten des Krieges, der sonst herrlich ist, Klara, und alle
wunderbaren Eigenschaften des Menschen weckt, Heldentum, Aufopferung,
Kameradschaft!

Die Kameraden sind alle reizende Leute, prachtvoll ist unser Chef,
Hauptmann Wunderlich, geliebt und bewundert von Offizieren und
Mannschaften. Es ist rührend zu sehen, wie sie Hauptmann Wunderlich alle
behilflich sind, wenn er in die Maschine steigt. Er wird ja
hineingehoben. Aber alle tun so, als ob sie ihm immer nur ein bißchen
behilflich wären und er aus eigener Kraft hineinklettere.

Das Wetter war sehr schlecht die ganze Zeit her, die Sicht gleich Null.
Nur einmal machten wir einen Geschwaderflug, und das war wunderbar für
mich, das erstemal gegen den Feind zu fliegen. Ich sang oben in der
Luft.

Schon hatte Klara Tränen in den Augen. Und ich? dachte sie, und ich? Er
schreibt ja kein Wort -- keine Silbe . . .

Die Schilderung des Geschwaderfluges, die zwei volle Seiten einnahm,
überflog sie. Mit Tränen in den Augen las sie, daß Heinz den Spitznamen
»Kücken« bekommen hatte. Den ganzen Tag heißt es nun: »Wo ist das
Kücken? Kücken, kommen Sie mal her!«

Und von ihr, von ihrer Liebe . . .?

»Neulich war auch P. P. da, Du weißt schon, wen ich meine. Er besuchte
uns. Er kam im Automobil angefahren, das er selbst lenkte. Er war sehr
elegant gekleidet, und seine Offiziere trugen phantastische Mäntel aus
wunderbarem weichen Leder, herrliche Stulphandschuhe, überhaupt waren
sie tipptopp. P. P. hatte die Tasche voller Zigaretten, die er mit
vollen Händen an die Mannschaften verteilte. Ich mußte vorfliegen, und
ich machte fünfmal Looping in tausend Meter Höhe --«

Das alles interessierte Klara nicht.

Es interessierte sie auch nicht, was Heinz über den berühmten bayrischen
Kampfflieger Seitz schrieb, der den ganzen Tag Geige spielte und seinen
kleinen Dackel mit in die Maschine nahm. Dann war viel von
Ordensauszeichnungen die Rede. Heinz wollte nicht eher auf Urlaub
fahren, bevor er nicht die beiden Kreuze besaß. Und dann kam der Pour le
mérite an die Reihe! Ach, du lieber Himmel, gewiß würde sie stolz auf
ihn sein, aber . . .

»Ich fiebere danach, mich auszuzeichnen und für mein Vaterland, das
große und herrliche Deutschland, zu kämpfen, das ich über alles liebe,
und dem ich meine ganze Kraft weihen will. Der schönste Moment meines
Lebens wird es sein, wenn ich das erstemal mich mit meinem Gegner da
oben messe! Ich werde nicht locker lassen, bis er hinunterrasselt. Über
alles werde ich Dir dann schreiben, liebe Klara!«

Dann, kamen noch ein paar Redensarten. »Wie geht es Dir? Hoffentlich
gut. Hast Du meine Cousine, Frau v. Dönhoff, schon besucht? Was macht
Berlin? Eben fängt dieser Bayer Seitz wieder an, Geige zu spielen. Er
spielt sehr schön, aber oft übt er stundenlang, bis sie Gegenstände nach
seiner Decke werfen.

Nächstens werde ich Dir auch einiges über meine Maschine schreiben. Sie
ist ein ganz neuer Typ, klettert wie ein Affe senkrecht in die Höhe.
Hauptmann Wunderlich ist sehr zufrieden, und die Kameraden haben für
meine Fliegerei sogar etwas wie Bewunderung übrig. Gute Nacht!«

Klara weinte.

Hedi ging durchs Zimmer, aber sie störte die Kleine nicht. Sie wußte
genau, was in dem Brief stand, ohne ihn zu lesen. Hunderte solcher
Feldbriefe hatte sie bekommen. Sie hätte Klara warnen sollen, sich mit
einem Offizier einzulassen. Sie waren ja alle eitle Schwätzer, eitel und
oberflächlich, nichts als Prahlereien über Kämpfe und Geschwätz über
Ordensauszeichnungen. Sobald sie zur Front kamen, waren sie gänzlich
wahnsinnig. Das war Hedis Ansicht.

                   *       *       *       *       *

Klara suchte Wolle, um damit ein Paar kleine Pulswärmer zu stricken.
Sollte man es für möglich halten, in ganz Berlin gab es nicht einen
Strang Wolle? Und früher quoll die Wolle aus allen Schaufenstern, alle
Welt strickte Tag und Nacht, Deutschland war vollgestopft mit Wolle. Wie
sollte man auf den Gedanken kommen, daß es einmal damit zu Ende gehen
könne?

Früher -- Klara erinnerte sich deutlich, damals trug sie noch Zöpfe --
als der Krieg begann, gab es herrliche Dinge zu kaufen. Jetzt gab es
nichts mehr, gar nichts. Höchstens Bücher und schlechte Zigaretten. Rein
ausgeplündert schien diese Stadt!

Geschmackvoll und gut sollte alles sein, was sie für Heinz einkaufte --
und billig. Denn Klara erhielt nur dreißig Mark Taschengeld im Monat.
Sie hatte allerdings schon seit langem gespart . . . Aber allein das
Medaillon hatte eine große Summe verschlungen.

»Es ist für meinen Mann, er ist im Felde«, sagte sie, wenn sie einkaufte
und errötete bei der süßen Lüge.

»So jung und schon verheiratet, gnädige Frau?«

»Ja, wir sind kriegsgetraut.«

Klaras Augen strahlten. Sie wandelte im Paradies.

Häufig hielt sie sich in der Straße auf, wo Frau Sterne-Dönhoff wohnte.
Nur um Heinzens Mutter und Schwestern gelegentlich zu sehen. Selten nur
hatte sie Glück. Die Schwestern sahen Heinz ähnlich. Der Mund besonders!
Die Damen Sterne-Dönhoff gingen immer in Schwarz. Sie trugen dicht
anliegende Wollkleider, flache, schmucklose Hüte, spitze Schuhe. Die
Mutter ging immer in der Mitte. Sie sprachen wenig, und sie lachten nie.

                   *       *       *       *       *

»Ich liebe Dich, Heinz, ich küsse Dich, ich drücke Dich an mein Herz.
Dir gehöre ich, mit Leib und Seele! Mache nicht Looping und sei
überhaupt vorsichtig. Ich werde stolz sein, wenn Du Auszeichnungen
erhältst, aber ich liebe Dich auch so. Es ist ganz nebensächlich. Ich
war in der Kirche und habe gebetet. Ich habe so schrecklich geweint, daß
ich mich schämte. Ich bin ein dummes Mädchen. Ich schicke Dir hier eine
neue Locke. Bitte, tue sie in das Medaillon. Ich habe sie in Weihwasser
getaucht, bei der ersten hatte ich das vergessen. Verbrenne die erste,
versprich es mir! Das mußt Du tun, und so wird der Talisman wirken! Ich
habe so inbrünstig gebetet, und vor kurzem konnte ich überhaupt nicht
mehr beten. In der Kirche waren sechs Frauen, sie beteten wie ich.

Ich lege Dir hier eine ganze Menge Briefe bei, die ich geschrieben habe
in diesen letzten Tagen, jeden Tag einen, um mein Herz auszuschütten.
Ich lege sie bei, obwohl sie veraltet sind. Du sollst daraus sehen, daß
ich immer an Dich gedacht habe.

Von allen Deinen Kameraden ist mir der Bayer Seitz am sympathischsten.
Er nimmt seinen kleinen Hund mit in die Maschine, wie rührend ist das!

Berlin ist wie immer. Die Menschen sind mißmutig und niedergeschlagen.
Man könnte glauben, sie hätten alle Hoffnung verloren, und doch steht es
ja besser als je, wenn man die Zeitungen liest.

Du hast mir nicht geschrieben, ob Du unseren Stern betrachtest. Zwischen
zehn und elf Uhr, vergiß nicht. Gestern funkelte er herrlich, und ich
mußte so schrecklich weinen. Ich bin so ein dummes Ding, denn ich bin so
rasend glücklich.

Hedi ist sehr launisch. Ich glaube, sie ist nicht glücklich. Es scheint,
als ob es zwischen ihr und Otto zu Ende sei. Sie spricht geringschätzig
von ihm, und das finde ich nicht schön. Wahrscheinlich liebt sie ihn
nicht mehr. Aber das ist ja kein Grund Schlechtes über ihn zu sagen und
zu sagen, er sei eitel und eingebildet. Wir zanken uns sehr viel. Hedi
glaubt nicht, daß die Liebe zwischen zwei Menschen ewig dauert. Aber ich
glaube es. Und so geht der Streit hin und her. Was glaubst Du, mein
Geliebter? Du brauchst auf diese Frage nicht zu antworten. Ich weiß
selbst, was Du glaubst.

Ja, bei Frau v. Dönhoff habe ich Besuch gemacht. Deine Cousine ist eine
originelle Frau. Ich traf sie in einem schwefelgelben seidenen Kimono,
und sie kann so herrlich lachen. Es wird einem wohl ums Herz dabei!
Sonst lebe ich ganz zurückgezogen, gehe auch nicht mehr ins Theater.
Denn es scheint mir Sünde, daß die Menschen sich amüsieren, während
andere draußen leiden. Wenn ich etwas zu sagen hätte, so würde ich alle
Theater schließen. Übrigens hat sich eine schreckliche Unsitte bei uns
eingebürgert. Die Leute bringen ihre Brötchen, ihr Abendessen, mit ins
Theater, und sobald es dunkel wird, fangen sie an, mit dem Papier zu
rascheln und zu kauen. Es ist unerträglich. Du weißt, Heinz, daß wir
davon gesprochen haben, auf dem Lande zu wohnen und zu reisen. Davon
träume ich. Fräulein v. Hecht, die ich bei Deiner Cousine traf, sagte,
die Behörden erlauben mit Absicht Theater, Kinos und Konzerte. Das Volk
solle gar nicht zum Bewußtsein kommen, es solle betäubt werden.
Überhaupt -- sie hat Ansichten, daß man nicht glauben sollte, sie sei
die Tochter eines Generals! Wenn sie diese Ansichten öffentlich äußert,
so wird man sie einsperren und das mit Recht. Und doch ist sie
anziehend. Sie plauderte sehr lieb mit mir, und wir gingen ein weites
Stück zusammen. Ich glaube wohl, daß ich sie lieben könnte, wenn sie nur
nicht diese schrecklichen Ansichten hätte.

Otto ist noch immer im Lazarett, wird aber bald entlassen. Man sagt, daß
er schrecklich niedergeschlagen sei, weil er nicht mehr zur Front zurück
kann. Vielleicht sehe ich ihn aber nächstens, denn Fräulein v. Hecht hat
mich gebeten, sie zu besuchen, und da treffe ich ihn vielleicht. Hedi
lernt nun Schreibmaschine schreiben. Sie sagt, sie will sich nun
unabhängig machen, und sobald sie Geld verdient, wird sie ihre Koffer
packen. Ich traue es ihr zu, aber Papa wird ihr schon die Meinung sagen.

Heute abend werde ich wieder beten, Heinz! Ich fühle, Gott hat Dich in
seinen Schutz genommen. In den letzten Jahren war ich ja leider zu einem
völligen Atheisten geworden, und zwar durch Hedi, die nicht an Gott
glaubt und behauptet, wenn es einen Gott gäbe, so würde er solch einen
Krieg nicht zulassen, wo Millionen Menschen zerfleischt werden.

Lebe wohl, Heinz, und vergiß nicht unsern Stern. Möchtest Du bald
wiederkehren, möchte der schreckliche Krieg bald zu Ende sein! Ich bete
zu Gott! Mein Herz ist gequält.

Ach, Heinz, ich liebe Dich! Hier, diesen kleinen Zettel schicke ich mit.
Er sieht ganz unscheinbar aus, nicht wahr? Aber ich habe ihn mit tausend
Küssen bedeckt, und die soll er Dir überbringen.

Deine kleine Frau Klara.

Nebenan ist jetzt ein kleiner weißer Terrier aufgetaucht. Ich habe mich
mit ihm angefreundet. Er spielt im Vorgarten mit Papierstücken, die der
Wind bewegt -- rührend! Auch Paketchen sind schon unterwegs.«


3

Ein Fingernagel pickte an das Fenster der Portierloge.

Keine Antwort. Kein Laut. Totenstille.

»Herr Portier! -- Herr Portier?«

Der Portier, der dem alternden Moltke ähnlich sah -- natürlich nur eine
flüchtige Ähnlichkeit und nur unter besonderer Beleuchtung, es war dem
General ja nur so nebenher durch den Kopf gegangen -- der Portier
schlief.

Aber hartnäckig pochte der Fingernagel. Und nun wurde eine schneeweiße
Visitenkarte durch das offene Fenster geschoben -- da erwachte der
Portier.

Er erwachte und hob sofort beschwörend die Hände, und auch, sonderbar
genug, der kleine Herr mit dem zu tief sitzenden Zylinder hob sofort
beschwörend die Hände.

»Um, Gottes willen -- Sie -- wieder?«

»Ich bitte um Verzeihung.«

»Und heute dazu!«

»Weshalb -- heute --?«

»Exzellenz ist heute -- horchen Sie nur: das ganze Haus -- totenstill!
Exzellenz sind heute schlecht gelaunt, mit einem Wort. Und Sie -- ich
sagte Ihnen doch -- ach, ach!«

»Gestatten Sie --«

»Ach! Ach!«

Das Aluminiumetui blinkte.

»Nein, nein, danke. Sie bringen mich noch in Ungelegenheiten.«

Plötzlich knallte es, als sei eine Bombe im Foyer explodiert. Aber es
war nur der Zylinder des Herrn Herbst, der auf die Steinfliesen gefallen
war, als er sich bemühte, den Kopf durch das Fenster zu stecken.

»Ich bitte Sie -- ich fordere Sie hiermit ebenso höflich wie dringend
auf --!« Geifer stand zwischen den Zähnen des alternden Moltke.

»Sie mißverstehen mich --« Herr Herbst hatte den Zylinder wieder
aufgesetzt.

»Ich verstehe Sie recht wohl. Ungelegenheiten --« Das Fenster klappte
zu.

Wieder pickte der Fingernagel, hartnäckig.

Der Portier setzte eine eisige Amtsmiene auf, öffnete das Fenster wieder
und sagte in dienstlichem Tone: »Sie wünschen?«

»Ich wollte nur fragen --«, stotterte Herr Herbst, den die Amtsmiene
augenblicklich in Verwirrung brachte, -- »nur fragen -- es ist wichtig
für mich, weil ich entschlossen bin --«

»Entschlossen?« Ach, wie kalt die Stimme klang, ohne Teilnahme.

»Ja, entschlossen.«

»Bitte?«

»Es liegt wohl keine Antwort für mich hier?«

»Nein!« Das Fenster flog wütend zu.

Herr Herbst lüftete den Zylinder, obwohl ihm der Portier die weißen
Haarsträhnen zudrehte, und ging. Nach einer Weile kehrte er zurück und
legte, ohne ein Wort zu sagen, eine Zigarre auf das Gesims des kleinen
Fensters. --

In der Tat, das häßliche rote Amtsgebäude mit seinen öden Korridoren lag
heute noch stiller als sonst, totenstill.

Schweigen, Flüstern, halblaut geführte Telephongespräche. Die Türen
waren Samt. Die Ordonnanzen und Drillichkittel schlichen auf den
Zehenspitzen über die Korridore, jemand nieste, und sofort fuhr ein Kopf
drohend aus der Türe. Die Offiziere, die zusammengedrängt an ihren
Schreibtischen arbeiteten, wagten nicht aufzublicken. Jeden Augenblick
konnte das graue Steingesicht im Türrahmen erscheinen. Major Wolff
paffte eine dicke Zigarre und vergrub den Kopf in die Akten. Es war
Windstärke 12, ohne jede Übertreibung.

»Hat er den Abschied bekommen, Weißbach?«

»Meine Herren --!«

»Oder die schöne Dora --?«

»Ich bitte doch dringend!«

Der Adjutant war vom Chef zurückgekommen und hatte nur beschwörend die
Hand gehoben. »Windstärke 12.« Damit pflegte er einen bestimmten Zustand
zu bezeichnen. Weiß Gott, wie er als Artillerist zu diesem Ausdruck kam.

»Aber erklären Sie doch!«

»Pst!« Zuweilen legte Weißbach lauschend das Ohr an die gepolsterte
Doppeltüre.

Ein lautes, herausforderndes Räuspern, das Räuspern eines Menschen, der
keine Rücksichten zu nehmen braucht und auch keine Rücksichten nimmt,
drang aus dem Saal, der von dem Ölgemälde Seiner Majestät bewohnt war.

Plötzlich aber begann es in diesem Saal zu donnern, einmal, ein
schwächeres Donnerrollen, zweimal -- wiederum Stille. Der Adjutant
wechselte die Farbe. War jemand in das Zimmer des Generals gekommen?
Unmöglich! An der gepolsterten Doppeltüre im Korridor hing das Schild
»Vortrag«. Und daneben das Schild: »Kein Zutritt! Anmeldung Zimmer 6!«
Ganz unmöglich. Aber trotzdem: es klang, als spräche er mit jemand --?

                   *       *       *       *       *

Halt, Unglückseliger! Es war zu spät . . .

An der gepolsterten Doppeltüre, die zum Korridor führte, knackte es
plötzlich höchst eigentümlich, und der goldene Kneifer glitt von der
Nase des Generals.

Es geschah etwas geradezu Unfaßbares . . .

Der General hatte, so alt er war, das heißt solange er einen höheren
Rang bekleidete, so etwas nicht erlebt. Er hätte es, offen gesagt, für
unmöglich gehalten.

In der Doppeltüre erschien -- unter Umgehung des Schreibzimmers, der
Anmeldung, unter Umgehung des Adjutanten, trotz der Aufschriften
»Vortrag« und »Kein Zutritt! Anmeldung Zimmer 6!« -- erschien, ganz als
ob es eine selbstverständliche Sache sei, hier einzutreten, ein
gewöhnlicher Soldat! Wie von einer höllischen Versenkung emporgehoben,
tauchte er plötzlich auf.

Ein Drillichkittel, eine Ordonnanz mit einem großen gelben Brief in der
Hand. Dieser Mann -- ein Schneider von Beruf, klein, etwas krummbeinig,
namens Hanuschke, den man hierher kommandiert hatte, so wie man ihn im
Laufe der Kriegsjahre an Dutzend Stellen kommandierte -- hatte sich
einfach in der Türe getäuscht. Er wollte gar nicht nach Nummer 7, er
wollte nach Nummer 6.

Dieser Schneider Hanuschke hatte, um nur etwas zu nennen, bei der
Lorettohöhe gekämpft, er war einer der wenigen, die noch in der
berühmten Zuckerfabrik bei Souchez waren, von der seinerzeit soviel die
Rede war. Bei Souchez hatte eine schwere französische Mörsergranate
dicht neben ihm den Kompanieführer und drei Kameraden mit in die Höhe
genommen, gewiß kein geringer Schreck -- er hatte sich am Roten-Turm-Paß
und in Polen geschlagen, also manches erlebt -- nun aber stand er wie
vom Schrecken gelähmt: Vor seinen Augen schwebte urplötzlich in einer
lichtgesättigten, hellblauen Rauchwolke ein General. Im ersten Moment
glaubte er sich einer überirdischen, verwirrend funkelnden Erscheinung
gegenüber, die zwei weiße Stichflammen auf ihn richtete.

Als alter Feldsoldat handelte Hanuschke augenblicklich. Er hatte ja auch
gehandelt, als die schwere Mörsergranate bei Souchez dicht neben ihm
einschlug. Wie der Blitz hatte er sich zu Boden geworfen und
fortgerollt, mit solcher Eile, daß die herabkommenden Gliedmaßen ihn
nicht mehr erreichten. Nur der Feldstecher seines Kompanieführers
klatschte neben ihm in den Boden.

Also handelte er auch hier.

Automatisch und blitzschnell führte er alle die Akte der hohen Dressur
aus, die man ihm beigebracht hatte. Soweit sein schwindendes Bewußtsein
es zuließ, schätzte er die Schritte ab, und in der vorgeschriebenen
Entfernung begann er sich vor der in einer Wolke schwebenden Erscheinung
aufzubauen. Er schlug die Absätze seiner schweren Kommißstiefel
zusammen, schwang die Ellbogen nach außen, führte die Hände an die
Hosennaht und fing an, so klein und krummbeinig er auch war, zu wachsen.
Seine Gelenke streckten sich, die krummen Beine bogen sich gerade, der
Oberkörper hob sich aus den Hüften, der Brustkorb wölbte sich, der Kopf
stieg zwischen den schmächtigen Schultern empor, und endlich erstarrte
er, den Blick in die weißen Stichflammen gerichtet.

Zweiundzwanzig Sturmangriffe hatte er mitgemacht, zweiundzwanzigmal war
er mit dem Trillern der Pfeife dem Tod in den Rachen gesprungen -- aber
er fühlte deutlich, daß er sich diesmal in eine geradezu schreckliche
Gefahr begeben hatte.

Die weißen Stichflammen sengten an ihm entlang.

Der Schneider Hanuschke wuchs abermals.

Seine viel zu weiten Hosen waren geflickt und hundertmal von Schmutz und
Blut gereinigt, seine Halsbinde war unordentlich gebunden und fettig.
Und dieser Drillichkittel! Aber in der armseligen, der Kleidung eines
Zuchthäuslers ähnlichen Uniform, die man des Königs Rock nannte, stand
der kleine Schneider wie eine Statue.

Donner schlug an sein Ohr. Donner trieb ihn zurück zur Türe und wieder
zurück zur Erscheinung. (Das war das Donnern, das der Adjutant Weißbach
nebenan hörte.)

Zweiundzwanzig Sturmangriffe -- lieber die französische Mörsergranate --
meinetwegen . . .

Wieder wuchs er. Seine Rippen drückten sich durch den dünnen
Drillichkittel hindurch ab. Seine vorgestreckte aufgepumpte Brust bot
sich irgendeinem unsichtbaren Messer dar. Alles, was die Schlachtfelder
und Lazarette von ihm übriggelassen hatten, stellte er möglichst
vorteilhaft zur Schau. Sein winzig kleines und unendliches Ich war
konzentriert im Blick der ängstlichen Mausaugen, deren Pupillen der
Schreck weitete. Kreidig grün war sein Gesicht, und zwischen den Augen
glänzte violett eine fingerlange Narbe, die von einem Querschläger
herrührte, der ihm in Rumänien die Stirn zerschmettert hatte.

Abermals donnerte es, diesmal weniger drohend. Er war entlassen. Sein
geflickter Hosenboden schaukelte durch die Doppeltüre. Auf dem Gang
wischte er sich aufatmend mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, der
plötzlich aus allen Poren hervorbrach. Genau so wie damals, als der
Feldstecher des Kompanieführers neben ihm herunterkam.


4

Ohne Laut, fast ohne jede Bewegung, arbeitete der General, vergraben in
den Berg von Akten, den man auf dem Schreibtisch aufgehäuft hatte.

Die eisige Stille, die von ihm ausging, drang durch die Poren der Steine
und Fasern der Türen, verbreitete sich durch Zimmer und Korridore und
erfüllte zuletzt das ganze Gebäude.

Mit rascher Hand warf der General Bemerkungen an den Rand der Akten, um
sie hierauf in einen Korb zur rechten Hand zu legen. Der Berg der
Schriftstücke zur Linken schmolz zusammen, auf der andern Seite wuchs er
in die Höhe. Umfangreiche Schriftsätze maß der General mit einem
rügenden Blick und warf sie -- je nach ihrem Umfang mit größerem oder
kleinerem Schwung -- in einen besonderen Korb, der die Aufschrift trug:
Wolff, Vortrag! Wolff, der Major, der Hüne, hatte Zeit für alles. Er war
eines jener beklagenswerten bürgerlichen Arbeitstiere, wie sie in allen
Ressorts saßen, die sich im Schweiße ihres Angesichts, ohne jede andere
Empfehlung als die Qualifikation ihrer Vorgesetzten, in der Karriere
vorwärtskämpften. Wolff arbeitete oft die ganze Nacht hindurch.

Es schien dem General, als ob seine Hände, deren erdiges Aussehen ihn
seit geraumer Zeit ängstigte, nunmehr lebhafter gefärbt seien. Offenbar,
die Erregung vorhin hatte ihm gutgetan! Das Blut, das sich in seinem
Kopfe gestaut hatte -- wie immer nach großen seelischen Erregungen --
war durch die Adern gepreßt worden und hatte die Gefäße wohltuend
erweitert. Eine gleichmäßige Hitze überzog seinen Körper, und die Hände
schwitzten plötzlich etwas. Ein Symptom, daß die Krisis überwunden war.

Bewegung fehlte ihm!

Wenn er wenigstens hätte ausreiten können!

Aber der Dienst -- und dann, welch jämmerliche Pferde hatten sie doch
gegenwärtig in Berlin! Er würde sich schämen, sich auf solch einer
Schindmähre sehen zu lassen. Wie wunderbar war es dagegen an der Front
gewesen! Wenn er in der Morgenfrische, täglich zwei Stunden, spazieren
ritt, begleitet von seinem Adjutanten. Und die Geschütze brummten nah
und fern. Herrliche Morgen, unvergeßlich!

Der Blick des Generals verlor sich in die Weite.

Aber er sah nicht die Lindenallee, durch die er zu reiten pflegte, die
Rauchsäulen, die aus den Erdwohnungen der Soldaten stiegen, die
Kolonnen, die über den Hügel krochen, nein, er erblickte: Ruth! Ruth und
den Frühstückstisch von heute morgen.

»-- also gelöst?«

»Ja, Papa«

»Und er, Dietz -- also mit seinem Einverständnis? Hm -- so, so . . .« Er
schlürfte den heißen Kaffee.

»Hier ist sein Brief, Papa, lies ihn.«

»Danke, wozu? Du bist ja kein Kind mehr und kannst schließlich tun und
lassen, was du willst. Na -- schön!«

Ruth küßte ihm die Hand. Weshalb eigentlich?

Jakob kam in diesem Augenblick ins Zimmer -- wie peinlich! Er brachte
geröstetes Brot, denn das Kriegsbrot war nachgerade nicht mehr zu
genießen.

»Soso, hm.« Aber weshalb küßte sie ihm die Hand? Es war völlig unnötig.
Nichts haßte er ja mehr als irgendwelche Sentimentalitäten.

So warm und bebend, Nachsicht erflehend, hatte er ihre Lippen auf seiner
kalten Hand gefühlt -- er konnte ihr nicht zürnen in diesem Augenblick.
Ruth hatte also das Verlöbnis mit Dietz gelöst. Eine glänzendere Zukunft
hätte ihr niemand bieten können. Natürlich war es eine Überraschung für
ihn, keine angenehme Überraschung, unnötig es zu sagen.

Der Blick des Generals kehrte wieder zum Schreibtisch zurück. Eine
Stunde verging, zwei Stunden. Ohne jede Unterbrechung arbeitete er. Nur
ein einziges Mal legte er sich in den Sessel zurück: dieser Schriftsatz
war mit Randbemerkungen von Allerhöchster Hand versehen -- frisch,
lapidar, ganz im Geiste des Großen Friedrich. Behutsam, mit dem Ausdruck
der Ehrerbietung legte er den Schriftsatz zur Seite.

Lautlos ging die gepolsterte Doppeltüre, und lautlos, bis auf ein leises
Singen der Sporen, trat Weißbach ein. Es war Zeit für die
Unterschriften, genau ein Viertel vor ein Uhr.

Noch immer diese leise, nicht mißzuverstehende Ziegelröte --

Weißbach näherte sich dem großen, ehrfurchtgebietenden Schreibtisch im
Bogen und zögernden Schritts, um nicht zu plötzlich die Netzhaut des
hohen Chefs zu treffen. Er verbeugte sich leicht bei jeder Unterschrift
des Generals, während er die Tinte mit dem Löscher trocknete.

Dann erhob sich der General und ging zu seinem Mantel.

Jeden Tag, seit Monaten, spielte sich bei dieser Gelegenheit, zweimal am
Tage, vormittags und nachmittags, die gleiche Szene ab.

Der Adjutant näherte sich dem General.

»Herr General gestatten?«

»Danke, es geht noch allein, Gott sei Dank.«

Lächeln des Hauptmanns, Verbeugung, stärkeres Klirren der Sporen.

Der General ist in den rechten Ärmel geschlüpft und gerade dabei, den
linken Ärmel zu suchen. Rascher Sprung des Adjutanten.

»Herr General gestatten doch?«

Und nun gestattet der General. Der Adjutant streicht den Mantel zurecht.
Und der General dankt mit einem Blick, gerade so lange, als seine hohe
Stellung es zuläßt.

Wenn der General in die Handschuhe schlüpft, so erteilt er gewöhnlich
noch kleine Aufträge, wie sie ihm gerade in den Kopf kommen.

»Es treibt sich hier eine Ordonnanz herum, ein kleiner Bursche mit einer
Narbe zwischen den Augen. Ich lege keinen Wert auf ihn.« Schon schwoll
die Stimme des Generals wieder drohend an.

Weißbach erbleichte. Eine unzuverlässige Ordonnanz, das ging ihn an!
Augenblicklich wollte er nachforschen --

Behutsam schloß der Hauptmann die gepolsterte Flügeltüre hinter dem
hohen Chef -- bis auf einen schmalen Spalt. Dann stand er noch eine
Weile, leicht gebeugt, bereit zum Sprung, und lauschte, denn es war
möglich, daß dem General draußen auf dem Korridor plötzlich noch ein
Auftrag in den Sinn kam. Der Schritt seines Herrn hallte über den Gang,
ferner und ferner. Nun erst schloß der Hauptmann mit einer leichten
Verbeugung die Türe vollständig.

»Donnerwetter!« flüsterte er aufatmend. Und was diese Ordonnanz mit der
Narbe zwischen den Augen betraf, so wollte er sofort die Angelegenheit
in Ordnung bringen. Hinaus mit diesem Burschen!

Vierundzwanzig Stunden später war der Schneider Hanuschke schon wieder
beim Regiment und achtundvierzig Stunden später schon wieder auf der
Fahrt zur Front. Er hatte Pech, es ging gerade ein Transport hinaus. Von
einem Kommando zurück zum Regiment geschickt zu werden -- etwas
Schlimmeres konnte wahrhaftig nicht passieren.

                   *       *       *       *       *

Selbst in der leise murmelnden Dämmerung von Stifters Diele fand der
General sein seelisches Gleichgewicht nicht völlig zurück.

Mockturtlesuppe, westfälischer Schinken in Weintunke, gebackene Flundern
und Aprikosenpudding, eine der Spezialitäten des Hauses, das Menü schien
ihm heute mäßig. Jede Erregung legte sich bei ihm auf den Magen,
sonderbar. Eine rätselhafte Einrichtung ist der menschliche Organismus.

Und diese Ignoranten von Ärzten sagten immer das gleiche . . .

Ja, Bewegung, wenn der Dienst jede Minute bei Tag und bei Nacht in
Anspruch nahm -- diese Ärzte sind Narren! Sie trinken sich, zum
Beispiel, zu Tod, buchstäblich, und predigen: keinen Alkohol, Gift,
hundertprozentiges Gift für den Organismus, für Sie besonders -- und
trinken sich unter die Erde, ohne zu erröten.

Und diese beiden Rittmeister gegenüber, heute in voller Gala, sie
konnten ihm, ganz gelinde gesagt, es gab ja treffendere Ausdrücke,
vollends den Appetit verderben.

Zahlen, Lawinen von Zahlen, wälzten sich auf den General herab, dessen
Erscheinung vor kurzem den Schneider Hanuschke so erschreckt hatte. Nur
selten, ein- bis zweimal im Jahre, beschäftigte er sich eingehender mit
Zahlen.

Es war nur gut, daß er gestern an die pommersche Hypotheken- und
Wechselbank um hundert Mille geschrieben hatte. Sie würden den Kredit
gewiß anstandslos gewähren, und für einige Zeit würde es wohl wieder
genügen.

Alles kostete heutzutage Unsummen!

Er hatte nur ein ganz verschwommenes Bild seiner Vermögenslage im Kopfe.
Das Konto war ein Kaleidoskop, unaufhörlich wechselnd, verwirrend,
unübersichtlich. Aber er fühlte, daß es bergab ging. Ja, bergab --

Eines Tages, als sein hochverehrter Herr Vater, der als Oberst
abgegangen war, auf Babenberg die Augen schloß, hatte er sich im Besitze
von einigen Millionen und zwölftausend Morgen Land befunden. Aber einige
Millionen, was war das, wenn das Kapital sich nicht automatisch
vermehrt? Jeder Augenblick des Lebens verschlang Summen, Unsummen! Seine
verstorbene Frau, er nahm es ihr nicht übel, im Gegenteil, diesen Zug
liebte er an ihr, auch sie war kein, wie sagt man doch, wirtschaftliches
Genie. Das Organ dafür fehlte ihr.

Bergab -- nur gefühlsmäßig erfaßte er es. Babenberg war Fideikommiß,
unantastbar -- Rothwasser, fünftausend Morgen, immerhin außerordentlich
stark belastet.

Und jeder Atemzug verschlang auf dieser Welt Summen, Unsummen! Es war
letzten Endes ganz unerklärlich, wie die Menschen lebten. Der Haushalt
hier -- Unsummen, Diners, Gesellschaften -- Unsummen, seine
Privatangelegenheiten, die niemand etwas angingen -- Unsummen. Ein Paar
bescheidene Ohrringe, zum Beispiel, ein paar Perlen in Platinfassung,
die früher keine dreitausend Mark gekostet hatten, kosteten heute, sage
und schreibe, fünfundzwanzigtausend Mark. Seine Bezüge während des
Krieges, obgleich nicht unbeträchtlich, was waren sie schließlich? Ein
Tropfen auf einem heißen Stein.

Sein Kredit aber würde keineswegs gekräftigt werden, nun, weshalb sollte
man nicht den Tatsachen ins Auge sehen, wenn man erst in Pommern erfuhr,
daß diese Verlobung zurückgegangen war.

Zahlen, Lawinen von Zahlen.

Die Ziegelröte des breiten Gesichts steigerte sich allmählich zur tiefen
Glut.

»Eine kleine Schwarze oder eine lange Braune, Exzellenz?« raunte der
Oberkellner und präsentierte die Zigarrenkisten.

»Die Zigarren werden immer schlechter, mein Freund.«

»Leider, Exzellenz. Es wird immer schwerer . . .«

Er hatte die Heirat mit Dietz freudig begrüßt, natürlich, er hatte die
Annäherung begünstigt, offen zugestanden -- schließlich war er ja der
Vater -- und es kam ja auch einmal der Moment, da er die Augen schloß,
und seine Kinder sehen mußten, wie sie allein vorwärtskamen. Wehmut
erfüllte den General, als er sich in diesen Gedanken vertiefte. Einmal
würde ja der Augenblick kommen, da er, den Helm in der Hand, vor seinen
Herrgott treten mußte.

Furchtbarer Augenblick, furchtbar der Gedanke, diese Welt der Tatsachen
verlassen zu müssen -- ins Ungewisse hinein . . .

Aber der Oberkellner rief ihn zur heitern Erde zurück. Er brachte die
Liköre.

Wieder umwölkte sich das tiefrote Gesicht Seiner Exzellenz. Es war eine
Tatsache: während der Adel auf den Schlachtfeldern verblutete, Blut und
Gut opferte, füllten sich zweifelhafte Elemente die Taschen. Und diese
zweifelhaften Elemente kauften Land! Eine ganze Reihe bekannter Familien
war schon gezwungen gewesen, uralten Familienbesitz abzustoßen. Was aber
würde aus dem Adel werden, der seit Jahrhunderten Kraft aus der Scholle
sog, wenn er erst einmal entwurzelt war?

Trotz alledem -- es würde ja jedenfalls Babenberg bleiben, wenn es so
weit kommen sollte, daß er Rothwasser verkaufen mußte.

Aber, ganz abgesehen von materiellen Gesichtspunkten: Dietz war ja ein
prachtvoller Mensch, eine stattliche Erscheinung, gebildet, von seltener
Noblesse und Großzügigkeit -- unverständlich . . .

Immer mehr wurde ihm Ruth zum Rätsel.


5

Den ganzen Nachmittag schon wanderte der kleine Herr Herbst in seinem
Zylinder in der Tiergartenstraße auf und ab. Immer wieder zog er die
Uhr, immer wieder klopfte er die Schmutzflecke mit dem Taschentuch von
den Stiefeln.

Es war eigentlich nicht mehr kalt. Die Luft des Tiergartens war von
roten Sonnenkeilen getigert, es roch schon nach Frühling, und zuweilen
hauchte es feucht und warm, aber Herr Herbst hüllte sich fest in den
rostfarbenen Havelock.

Er fror.

In der verflossenen Nacht hatte er nicht geschlafen. Er hatte getrunken,
in einer kleinen Spelunke, mit richtigen Spitzbuben, die
Einbrecherwerkzeuge bei sich hatten -- richtigen Spitzbuben, seht an.
Deshalb also fror er. Auch war dieser Zylinder kalt. Er schmiegte sich
nicht wie sein anderer Hut dicht an den Schädel, es gab Spalten, durch
die die Kälte wie durch Schornsteine an seinem geschorenen Schädel in
die Höhe stieg.

»Ja, so ist es, so ist es!« flüsterte Herr Herbst und träumte vor sich
hin. »Er würde, zum Beispiel, meinen Gang haben. Er war mir ja so
ähnlich! Er würde sogar die gleiche Art zu sprechen haben. Bei manchen
Worten fällt es mit ja etwas schwer, wenn viele L und R zusammenkommen,
zum Beispiel: Sell -- nun: Sellerie. Auch er hatte ja denselben kleinen
Sprachfehler, schon in der Schule. Er würde mit einem Wort ganz wie ich
sein. Wenn ich nun einmal unter der Erde liege, so würde er leben und
gehen und sprechen -- und eigentlich wäre ich es! Eigentlich, bei
rechtem Licht besehen, ja. Ich würde weiterleben, obschon ich tot bin.
Auch er würde Kinder gehabt haben -- und so würde ich immer weiter
leben.«

»Aber so?«

»Wie ist es so?«

»Nichts, nichts. Gar nichts. Ich sterbe, man begräbt mich, und alles ist
zu Ende. Wir sind tot, die ganze Familie ist von der Erde verschwunden.«

Wie klar er heute zu denken vermochte! Seit langer Zeit fügten sich die
Gedanken nicht so spielend aneinander. Ausgezeichnet war das! Herrlich!
Es gab ja so viele Tage, da er nur stottern konnte, seine Gedanken sich
fortwährend verwirrten, und das hätte einen schlechten Eindruck gemacht.

Wieder befand er sich dem grauen Hause gegenüber. Jakob, der immer noch
den Messingknopf der Haustüre polierte, machte ihm ein Zeichen. Also
noch nicht! Jakob war ja eingeweiht, hatte zehn Zigarren erhalten -- und
zehn weitere Zigarren sollte er bekommen -- danach!

Ja, das also ist die Wahrheit: von der Erde verschwunden!

Der Zylinder verlor sich in der Tiefe des Parkes. Schon war Herr Herbst
wieder in seine alten Gedanken versunken.

»Eigentlich, ja, wäre alles ganz genau, als ob ich noch lebte. Ich liege
unter der Erde, und doch lebe ich weiter. Denn er ist eigentlich ich --
oder ich eigentlich er -- --! So aber -- bin ich wie eine Pflanze, die
man ausgerissen hat und auf den Weg warf. Und dann ist es zu Ende -- zu
Ende für immer . . .«

Herr Herbst blieb mitten auf dem Wege stehen. Er zitterte.

»Ja -- trotz allem -- unfaßbar!«

»Ich lebe, obschon ich alt bin, und er, jung, kaum neunzehn -- ist tot.
Ich gehe hier -- und er, liegt unter der Erde. In unbekanntem Land,
vielleicht nicht einmal eingesegnet, vielleicht nicht einmal ordentlich
begraben. Ohne Ruhe --!«

»Ohne Ruhe --«

Plötzlich aber schrak Herr Herbst zusammen. Sein Herz blieb stehen.
Voller Schrecken, voller Verwirrung schlug er die Hände vors Gesicht.

Die Marspfeife der Limousine trillerte. Er kannte sie ganz genau.


6

Das Antlitz noch immer umwölkt, stieg der General aus dem Wagen. Noch
immer war die Ziegelröte nicht völlig verflogen. --

Auch dieser Brief -- er lag noch in demselben grüngebundenen Buch --
auch dieser Brief gab keinen Aufschluß. Er bestärkte wohl gewisse
Vermutungen, lüftete aber nicht den Schleier. Dieser Brief lautete:

»Geliebte Ruth! Frevelhaft erscheint es, in dieser entsetzlichen
Verfinsterung an das persönliche Glück zu denken. Immerhin, ich
unterliege der Versuchung.

Das Gebäude der menschlichen Glückseligkeit, Werk und Vermächtnis der
Edelsten, Kühnsten, Reinsten aller Völker, der Seher und Weisen, es
scheint in seinen Grundmauern erschüttert.

Verzweiflung erfaßt uns, Dich, mich, alle, die wir an die Sendung der
Menschen glauben.

Unzahlen leichtfertiger Gedanken, anscheinend völlig belanglos, Unzahlen
leichtfertiger Worte, unscheinbar, leichtfertiger Wünsche,
leichtfertiger Handlungen, nebensächlich im einzelnen betrachtet -- sie
haben diese entsetzliche Verfinsterung herbeigeführt.

Ich glaube -- glaube unbedingt an einen Schatz des Guten auf Erden, die
Summe aller guten Handlungen, guten Gedanken und guten Worte. Ich
glaube, daß dieser Schatz, einzig wahrhafter Besitz der Menschheit, sich
unaufhörlich mehren muß -- sollen nicht Verfinsterungen wie diese
eintreten. Die letzten Generationen und vor allem jene Völker, die sich
zivilisiert nennen, haben aber diesen Schatz nicht vermehrt. Sie haben
ihn verschleudert, vermindert. Die Schale sank und -- wie immer, wenn
sie sank -- kam die Katastrophe.

Welch ein Irrtum: die Menschheit für den einzelnen!

_Wahr ist: der einzelne für die Menschheit!_

Jeder einzelne sei Mehrer jenes Schatzes des Guten, Gerechten und
Schönen, oder er ist ein -- Dieb! Hüten wir uns, die Mörder der
kommenden Generation zu werden, wie die vergangene unser Mörder wurde
. . .«

Hier brach der flüchtig mit Bleistift hingeworfene Brief ab. Seine
Fortsetzung fand sich nicht im Buche. Keine Aufklärung also --

In diesem Augenblick schrillte die Klingel der Haustüre.

Der General erschrak. So heftig, daß er einen Stich in der Brust fühlte.
Wenn er es auch als seine väterliche Pflicht erachtete -- es wäre ihm
peinlich . . .

Wieder schrillte die Klingel. Sie klang eigentümlich, hier in Ruths
Zimmer -- wie ein Signal. Hastig legte er den Brief in das grüngebundene
Buch zurück -- ein Werk Lassalles -- und rasch, scheu, als habe man ihn
auf verbotenen Wegen ertappt, eilte er über den Gang.

Es war indessen, Gott sei Dank, nur ein blinder Alarm.

Jakob übergab eine Karte.

»In dringender Angelegenheit. Herr General sind unterrichtet --«

Ein völlig unbekannter Name -- Rentier. Unterrichtet? Wahrscheinlich der
Hausverwalter; das Badezimmer sollte neu gerichtet werden.

Immer noch etwas verwirrt, ließ der General bitten -- zu Jakobs maßlosem
Erstaunen.

                   *       *       *       *       *

Der General wartete, aber nichts regte sich. Schon in dieser Verzögerung
witterte er etwas Ungewöhnliches. Jeder Mann von Erziehung mußte längst
eingetreten sein. (Diese Verzögerung entstand dadurch, daß Herr Herbst
sich im letzten Augenblick umständlich die Nase putzte.) Übrigens --
hieß dieser Hausverwalter nicht anders?

Plötzlich aber verdunkelte ein Schatten die Türe -- und im gleichen
Moment erbleichte der General . . .

Augenblicklich hatte er dieses Gesicht wiedererkannt!

Jenes Gesicht, das an Doras Geburtstag durch die Scheibe des Foyers
spähte -- nein, nicht jenes, sondern das andere, das er erblickt hatte,
als er am Schreibtisch eingenickt war, als es so eigentümlich an die
Scheiben pickte -- das Drohung und Kälte ausstrahlte . . .
Augenblicklich erinnerte er sich an alles. Es war ja erst vor wenigen
Tagen.

Scheu und blaß stand das Gesicht in der Türe, und ganz langsam und
zögernd kam es näher. Nicht Drohung, nicht Kälte -- Angst,
Hilflosigkeit, Verwirrung.

Das Blut kehrte in das Gesicht des Generals zurück. Die leichte Lähmung
wich aus seinen Händen.

Unsicher trat Herr Herbst in seinem verknüllten schwarzen Gehrock ins
Zimmer, den Zylinder in der Hand. Er verbeugte sich tief, voller
Ehrerbietung.

In dieser Verbeugung verharrte er ungewöhnlich lange. Er erwartete
irgendein Wort. Dann richtete er sich verlegen auf und blickte dem
General mit seinen entzündeten tränenden Augen ins Gesicht, ohne irgend
etwas zu sehen.

Der General räusperte sich, und Herr Herbst beantwortete dieses Räuspern
mit einer neuen, wenn auch weniger tiefen Verbeugung.

»Bitte«, sagte der General, etwas unsicher und mürrisch und deutete auf
einen Sessel. Rot funkelte die Sonne ins Zimmer.

Herr Herbst nahm auf der Kante des Sessels Platz, hielt den Zylinder in
der Hand und begann zu zittern . . .

Ja, er zitterte. Seine Zähne schlugen aufeinander. Der Sessel schwankte,
er fürchtete auf den Boden zu stürzen. Feuer blies aus der Wand.

Rot wie ein Gebirge bei Sonnenuntergang leuchtete das breite Gesicht des
Generals im Schein der sinkenden Sonne. Riesenhaft wie ein Gebirge
erschien der General Herrn Herbst in diesen Sekunden schrecklichster
Angst.

Der -- »Blut-Hecht!« Wie? Ja, er -- so nannten ihn seine Soldaten
. . .

Erst jetzt, da es zu spät war, begriff er, was er gewagt hatte, _wem_ er
sich gegenüber befand.

Der . . .

Was hätte er gegeben, alles, alles, wenn er nur wieder auf der Straße
wäre.

Der General schnitt behutsam die Spitze einer Zigarre mit dem
Federmesser ab.

»Ich bitte --?« sagte er leichthin, während er die Zigarre zwischen den
Fingern rollte. »Was wünschen Sie?« Er hatte das Gleichgewicht völlig
wiedergefunden.

Sein Blick glitt flüchtig über das zitternde Häufchen Hilflosigkeit in
dem abgetragenen schwarzen Rock. Ohne sich dessen bewußt zu werden,
genoß er die Angst, die er seinem Besuche einflößte, denn kein Mensch,
er sei denn von seltener Güte, kann einen andern zittern sehen, ohne
sich augenblicklich erhoben zu fühlen. Oben und Unten, Herren und
Knechte, nie hatte der General eine andere Gesellschaftsordnung auch nur
in Gedanken erwogen. Es waren Gesetze, von Gott gegeben, die man
hinnahm, ohne darüber weiter nachzudenken. Bis zum jüngsten Tage wird es
Oben und Unten, Herren und Knechte geben. Andere als dieser hatten vor
ihm gezittert -- Soldaten und Offiziere -- und sie hatten gezittert
wenige Minuten, bevor sie in den Tod gingen.

Herr Herbst bewegte die Lippen -- aber in diesem Augenblick zwitscherte
ein Vogel irgendwo, und erschrocken wartete er.

Wieder bewegte er die Lippen. Er mußte sprechen, Worte, irgendein Wort,
es war höchste Zeit. Wie lange noch sollte dieser andere -- dieser hier
-- schon sank die Sonne, dämmerte es im Zimmer -- nur dieses breite
starre Gesicht leuchtete noch.

Und plötzlich flüsterte er. Aber er erschrak bis ins Mark über die
Worte, die von seinen Lippen kamen -- keineswegs die Worte, die er sich
zurecht legte und einübte, in den Nächten, auf der Straße, wenn er so
dahinging.

Seine Lippen flüsterten, kaum vernehmbar:

»_Geben Sie mir meinen Sohn wieder!_«

Und schon hob er erschrocken die Hand, um die Worte zurückzuhalten.

Aber der General konnte sie gar nicht gehört haben, kaum, daß sie bis in
seine eigenen Ohren drangen.

Das Gesicht des Generals wurde fahl und erdig. Die Sonne war fort. Starr
stand er vor ihm, unerbittlich, schweigend, und die Augen forschten --
kalt, ohne Erbarmen.

Hastig bewegte er von neuem die Lippen. Aber obschon er diesmal eine
bestimmte Redewendung, die mit »Bitte gehorsamst« begann, auf den Lippen
formte, flüsterten seine Lippen, ganz gegen seinen Willen, die gleichen
furchtbaren Worte wie vorher:

»Geben Sie mir meinen Sohn wieder!«

Diesmal schon etwas vernehmbarer.

Er fuhr zusammen, erschauerte, suchte nach dem Taschentuch.

Da erklang die Stimme des Generals. Ruhig und beherrscht -- mit jener
doppelten Ruhe und Überlegenheit, die sich ganz von selbst bei allen
Menschen von nicht seltener Güte einem zitternden Menschen gegenüber
einstellt.

»Sie haben mir neulich geschrieben?« sagte die ruhige und überlegene
Stimme.

»Bitte gehorsamst, Exzellenz!«

»Sie haben mir geschrieben -- Ihr Sohn, wenn ich mich recht erinnere
--?«

»Mein Sohn Robert, Euer Exzellenz!« Prächtig ging es nun. Röte huschte
über das bleiche, kleine Gesicht. Der Sessel hörte auf zu schwanken, die
Gestalt des Generals nahm natürliche Maße an.

»Er ist --?«

»Gefallen. Am 5. August.«

»Fünften, sagten Sie?«

»Fünften, Euer Exzellenz. Beim Sturmangriff auf Quatre vents. Am vierten
hatte bereits ein Jägerbataillon gestürmt, vergeblich, am fünften
. . . da fiel er.«

Der General ließ den Blick rügend auf Herrn Herbst ruhen. Dieses leicht
kritische »vergeblich«, wahrscheinlich ohne besondere Absicht geäußert,
mißfiel ihm.

»Er fiel für Kaiser und Reich!« sagte er mit etwas salbungsvoller,
tieftönender Stimme.

Die kleinen entzündeten Augen blinkten. Herr Herbst leckte sich die
schmalen Lippen, und ein paar gelbe Zahnstumpen wurden sichtbar. Einen
Augenblick schien es, als ob sein Gesicht sich zu einer Grimasse von
satanischem Hohn verzerren wolle.

»Wie Tausende und Hunderttausende, wie Millionen --!« fuhr der General
fort, und seine Stimme hob sich.

Wieder verzerrte sich das kleine fahle Gesicht, dann aber zog er das
Taschentuch heraus und preßte es an die Augen. Der Schmerz überfiel ihn.
Er wimmerte leise.

Plötzlich aber knallte es -- ganz wie heute vormittag im Foyer, als er
mit dem Portier sprach -- der Zylinder war auf den Boden gefallen.

»Bitte gehorsamst --« stammelte Herr Herbst erschrocken und hob den
Zylinder auf. Schwindel ergriff ihn, als er sich wieder setzte und die
Tränen abwischte. Das Zimmer drehte sich im Kreise, eine Faust preßte
seinen Magen zusammen. Ah, wenn es ihm nun übel würde! Das wäre eine
Sache! Er hatte ja die ganze Nacht hindurch getrunken, und plötzlich
fühlte er die Betrunkenheit. Beschütze mich Gott! Mit Spitzbuben hatte
er getrunken, richtigen Spitzbuben, die Werkzeuge in einem Brotbeutel
bei sich führten -- in einer Kneipe, im Hof, die die ganze Nacht offen
war. Wenn der General nun bemerkte --

Aber der General war zum Schreibtisch gegangen und hatte ein Schubfach
aufgezogen. Er drehte das Licht an.

»Verstehen Sie Karten zu lesen -- Herr --?«

»Herbst.«

»Herr Herbst? Nun, ich hätte Ihnen sonst erklären können, was ich
beabsichtigte. Wir haben am 4., 5. und 6. August gekämpft und die Höhe
leider räumen müssen, weil man uns die Reserven versagte . . .«
Versöhnlich klang plötzlich die Stimme des Generals. Auch er hatte ja
einen Sohn im Kriege verloren. Auch er war ein Vater, der trauerte. Der
Krieg hatte alle gesellschaftlichen Bande gelockert. Über manches mußte
man in dieser Zeit hinwegsehen. »Hier ist die Höhe,« fügte er hinzu, »wo
Ihr Sohn für die Größe und Ehre des Vaterlandes . . .«

Taumelnd erhob sich Herr Herbst. Ja, der Rausch kam, ohne Zweifel.

»Sie sind nicht von hier?«

»Aus der Provinz, Euer Exzellenz!«

»Beruf?«

»Früher Lehrer an einem Gymnasium.«

»Bitte, treten Sie ruhig näher.«

Auf der großen und ausgezeichnet scharfen Photographie sah Herr Herbst
zunächst nichts. Ein Meer, wie, was war das? Wellen, Wogen. Ein Ozean in
Aufruhr! Dann aber unterschied er Baumstrunke, die kreuz und quer aus
diesen furchterweckenden Wogenbergen hervorstanden, und einen schmalen
Erdgang der mitten in die Wogenberge aus erstarrtem Schmutz hineinführte
-- es war die Kuppe der Höhe selbst, von den Minen zerrissen.

Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit pflegte der General diese erschreckend
realistische Aufnahme Besuchern zu zeigen.

»Das also ist Quatre vents!« sagte er.

Herr Herbst atmete schwer.


7

Die Geschichte wird entscheiden, dachte der General, wie immer, wenn er
die Kämpfe um Quatre vents in seinem Geiste vorüberziehen ließ. Aber er
täuschte sich. Die Geschichte wird nicht entscheiden, sie hat etwas
Besseres zu tun. Die Geschichte wird diese Höhe ganz einfach vergessen.
Die Höhe von Quatre vents war strategisch gänzlich belanglos. Drei
Kilometer rückwärts lag eine zweite, viel stärkere Höhe, durch einen
Flußlauf vor der Unterminierung geschützt. Die Lage von Quatre vents war
sogar ungünstig. Sie konnte jederzeit abgeschnürt werden, wie es später
auch geschah, sie lag offen vor den feindlichen Geschützen, und ihre
Zugänge wurden vom feindlichen Feuer bestrichen. Der General aber hielt
Quatre vents für einen Angelpunkt der Westfront.

Sonderbarerweise aber, auch der französische General gegenüber, ein
französischer Hecht-Babenberg, auch er hielt die Höhe für einen
Angelpunkt der Westfront! Unaufhörlich schickte er seine Schwarzen vor.
Tausende und Abertausende von dunkelhäutigen Kadavern verpesteten
monatelang die Luft, bis die gütige Erde, die keinen Unterschied macht
zwischen Schwarz und Weiß, sie in sich schluckte. Trotz ungeheurer
Verluste sappte sich der Franzose eigensinnig heran, und endlich lag man
sich an einzelnen Stellen kaum fünf Meter entfernt gegenüber. Ein
Räuspern bedeutete den Tod. Nun erst begann der eigentliche Kampf um die
Kuppe.

Man unterminierte gegenseitig die Stellungen und sprengte die Gräben
einfach in die Luft. Als der General eines Tages gerade badete, meldete
man ihm, daß eine ganze Kompanie in die Luft geflogen sei. Furchtbarer
Morgen! Zuweilen kämpfte man sogar mit Messern und Handgranaten in den
finsteren Stollen unter der Erde.

Wie die Rasenden bekämpften einander die beiden Generale, die fünfzehn
bis zwanzig Kilometer hinter dem Teufelsberg, umgeben von
Stabsoffizieren, Telephonapparaten, Ordonnanzen, Köchen und
bombensicheren Unterständen in ihren Schlössern hausten.

Frankreich erwartet, daß ihr die Trikolore auf der Höhe aufpflanzt!

Die Höhe ist und bleibt in deutscher Hand! Nur über unsere Leichen,
Kameraden . . . Ja, Kameraden pflegte der General seine Soldaten in
derartigen Befehlen zu nennen. Von Zeit zu Zeit verteilte er mit
feierlichen Ansprachen Eiserne Kreuze.

Schließlich glaubten die Soldaten auf beiden Seiten tatsächlich, daß sie
um den Angelpunkt der Westfront rangen.

Auf diese Weise entstand der zwölfstöckige Friedhof von Quatre vents. --

Herr Herbst keuchte. Seine entzündeten Augen füllten sich mit Tränen.
Zuerst verschwand der kleine Erdgang, dann die Baumstrunke, dann die
wilden erstarrten Schmutzwogen -- aber das schreckliche Bild hatte sich
für immer in seine Seele eingegraben. Um ein Haar wäre eine Träne auf
die kostbare Aufnahme, die der General sich einrahmen lassen wollte --
er kam bis jetzt nur noch nicht dazu -- eine Träne getropft, aber der
General hatte das Bild noch rechtzeitig fortgenommen.

Hier also -- vielleicht war er durch diesen schmalen Erdgang geschritten
--? War es möglich, daß er zwischen diesen fürchterlichen Erdwogen um
sein Leben kämpfte? War es möglich, daß zwischen diesen Erdwogen, diesen
schrecklichen, sein Todesschrei verhallte? Wie? Wie? Wie?

War es möglich, daß ein Mensch geboren wurde, um hier zu enden?

Herr Herbst zitterte vor Entsetzen. Allein das Bild dieser Höhe erfüllte
ihn mit schrecklichem Grauen.

Er taumelte und rang nach Luft.

»Hier also --?« stammelte er.

»Es waren sehr schwere Kämpfe!« sagte der General beruhigend.

»Und -- sein Grab, hier --?« Die Augen Herbsts waren plötzlich starr und
entgeistert auf den General gerichtet.

»Wie beliebt?«

»Aber -- vielleicht -- ist er gar nicht begraben worden?« schrie er mit
schriller Stimme und rang verzweifelt die Hände. Ja, nun verstand er
alles . . .

Alles!

Wie sollte ein Toter Ruhe finden zwischen diesen entsetzlichen
Wogenbergen? Wie sollte --!

Der General runzelte die Stirn. Aus purem Mitleid hatte er sich mit
diesem alten Mann abgegeben. Nur um überhaupt ein Gesprächsthema zu
schaffen, hatte er ihm die Photographie gezeigt. Die Stätte, wo sein
Sohn gekämpft hatte, konnte wohl sein Interesse finden. So unerhört es
war, daß ein ixbeliebiger Beamter aus der Provinz, ohne viele Umstände
seine Karte bei ihm abgab, zu ungewöhnlicher Stunde, in einem geradezu
skandalösen Anzug, hatte er doch den Umständen eine Konzession gemacht
und Nachsicht geübt. Nun aber sah er sich veranlaßt, sich wegen seines
allzu großen Entgegenkommens Vorwürfe zu machen.

Der Gesichtsausdruck des kleinen alten Mannes erschreckte ihn. Es war ja
nicht unmöglich, daß dieser merkwürdige, völlig unberechenbare alte Mann
--

Erschreckend ähnlich war sein Gesicht dem Traumgesicht geworden, das
durch die Scheiben starrte, als es pickte . . .

»Es waren außerordentlich schwere Kämpfe -- es ist natürlich gänzlich
unmöglich für einen Laien, sich ein Bild zu machen. Zumal, da Sie ja die
Verhältnisse an der Front nicht kennen.« Einen letzten Versuch machte
der General, den kleinen alten Mann zu beruhigen.

Verstört, entgeistert schwankte Herr Herbst auf seinen dünnen Beinen.

»Sie haben also den Befehl gegeben? Und dann mußte er -- da hinauf --?«
fragte er mit pfeifender Stimme.

Betreten richtete sich der General auf. Drohung ging plötzlich von
diesem verzerrten, kalkweißen Gesicht aus.

»Was soll diese Frage?« rief er, und schon funkelten seine Augen. Seine
Geduld war zu Ende. Genug mit diesem Burschen!

Aber plötzlich funkelten auch die Augen des kleinen Herrn Herbst,
schneeweiß glitzerten sie. Haß glitzerte aus ihnen, Haß, unergründlich.

Er warf die Hände in die Luft, mit einer wilden, erschreckenden
Bewegung, und schleuderte dem General ein fürchterliches Wort entgegen.

»Mörder!«

Der General wich zurück und erbleichte.

Aber der kleine alte Mann schwang wieder die Hände, und abermals schrie
er: »Mörder! Mörder!«

Schon aber trat ihm der General mit breiter Brust entgegen. »Hinaus!«
rief er. »Hinaus -- augenblicklich -- oder --!«

Plötzlich, ganz unvermutet, war der kleine alte Mann in die Knie
gesunken und hatte die Hand des Generals ergriffen, alles in einer
Sekunde.

»Verzeihung, Exzellenz!« stammelte er. »Verzeihung -- ich -- ich bin --«

»Ich bin -- betrunken . . .«

Ja, in dieser Sekunde fühlte er, daß er betrunken war. Sonst empfand er
nichts mehr. Es war ihm klar, der Rausch war zum Durchbruch gekommen,
plötzlich, der Alkohol, sein Teufel, hatte ihm ein Bein gestellt. Er
wollte all das gar nicht sagen, wollte -- ja, was wollte er eigentlich
-- aber er hatte nie und nimmer beabsichtigt, so etwas zu sagen. Wie
konnte er, er machte Besuch --

Der General aber begriff in diesem Augenblick etwas ganz anderes. Dieser
alte Mann war vielleicht betrunken, möglich, aber er war etwas ganz
anderes -- er war geistesgestört. Einen Geistesgestörten hatte er vor
sich! Alles erklärte sich nun, der Brief, der ungewöhnliche Besuch, sein
Gebaren. Ein bedauerlicher Geistesgestörter, das war dieser alte Mann.
Es würde sich nunmehr darum handeln, ihn möglichst rasch und, ohne
Aufsehen zu erregen, loszuwerden.

»Sie sind erregt -- begreiflicherweise -- stehen Sie auf --« sagte er,
um seinen unheimlichen Gast zu besänftigen.

»Erst wenn Sie verzeihen«, rief Herr Herbst, während die Tränen aus
seinen Augen sprangen.

»Ich verzeihe Ihnen, natürlich --«

Sofort erhob sich der alte Mann.

»Es ist ja begreiflich, daß Sie erregt sind«, fuhr der General fort.
»Wir haben alle in diesen Jahren Schreckliches erlebt. Aber ich muß
jetzt bitten, ich habe dringend zu arbeiten . . .«

»Bitte zu entschuldigen . . .«

Anscheinend völlig beruhigt nahm Herr Herbst den Zylinder in die Hand.
»Ich bitte zu entschuldigen, Euer Exzellenz -- die Störung.«

Aber er blieb an der Türe stehen, hob das noch von Tränen glänzende
Gesicht, und wieder nahmen seine entzündeten Augen einen eigentümlichen
Ausdruck an. Wieder begannen sie zu glitzern.

Jedenfalls -- -- er blieb stehen -- obschon ihn der General mit einer
kleinen stummen Verbeugung entlassen hatte. Der Ausdruck seiner Augen
war unerklärlich. Spott lag darin -- oder -- war es nicht Spott?

Er wartete auf irgend etwas.

                   *       *       *       *       *

Der General, der schon die Absicht ausdrückte, sich am Schreibtisch
niederzulassen, wandte den Kopf. Offenbar, dieser Mann hatte noch etwas
auf dem Herzen, und er würde nicht gehen, bevor er von dieser Last
befreit war.

Plötzlich erriet der General. Diese geheimnisvollen Andeutungen in
seinem Brief! Diese anfangs völlig unverständliche Anspielung, die
plötzlich einen gewissen Sinn zu bekommen schien. Es war ja sogar
möglich, daß dieser Geisteskranke tatsächlich im Besitz eines
Geheimnisses war.

»Sie wollten mir --« begann der General erneut, etwas betreten, indem er
sich voll gegen Herrn Herbst wandte -- »Sie schrieben seinerzeit etwas
von meiner Tochter -- irgend etwas, ich erinnere mich nicht mehr --?«
Der General stockte.

»Das gnädige Fräulein --?« Es war der gleiche Ausdruck, den er in seinem
Brief anwandte.

Der General hatte richtig geraten. Herr Herbst hatte tatsächlich auf
diese Frage gewartet -- aber nicht um sie zu beantworten!

Der Ausdruck in seinen Augen, dieser Schimmer von Spott steigerte sich
zum Hohn. Er legte den Kopf auf die Schulter, lächelte . . . höhnisch,
triumphierend, wieder wurden die gelben Zahnstumpen sichtbar. Er fing
sogar an, leise zu lachen.

»Ich wüßte nicht, Exzellenz . . .«

»Guten Abend!« sagte der General kurz. Und mit einer spöttischen
Verbeugung verabschiedete sich Herr Herbst.

Kaum hatte er das Haus verlassen, so fegte ein Donnerwetter durch die
Diele.


8

Wie ein blutiges Nordlicht flammte die sinkende Sonne zwischen finsteren
Wolken. Durch die Torbogen des Brandenburger Tors schleuderte sie rote
Glutkegel, die die Linden überfunkelten. Häuser und Menschen brannten
düster, und düster brannte das Schloß am Ende der Linden. In den
Schaufenstern der Luxusgeschäfte flammten die Brillanten, Perlen,
Diademe, Orchideen, goldenen Schalen und Prunkgefäße.

In seinem weiten abgenutzten Soldatenmantel strich Ackermann, der
Student, die Linden entlang, dicht an den Läden vorüber mit den
Orchideen, Perlen und Prunkgefäßen. Er sah sie nicht.

Sein Mund zuckte.

Dies ist die Stunde, dachte er -- ja, dies ist die Stunde, da die
Sterbenden noch einmal die Augen aufschlagen, um den hohen Himmel zu
grüßen. Erinnerst du dich -- dieser Blick aus schlafschweren Augen? Dies
ist die Stunde, da die Verwundeten gierig das scheidende Licht mit ihren
fiebernden Augen trinken, denn einen Augenblick später kommt schon die
Nacht mit ihren Ungewißheiten, dem Gewimmer, Stöhnen und Miauen im
Krankensaal.

Dies ist die Stunde, da die Gefangenen in all den hundert Lagern, von
_Menschen_ errichtet, um _Menschen_ gefangenzuhalten, noch einmal an den
Stacheldrähten entlangstreichen wie Tiere, bevor man sie in ihre Höhlen
zurückjagt, da die Hände von Hunderttausenden von gefangenen
Menschentieren sich verkrampfen um den kalten Draht. Ja, dies ist die
Stunde des schrecklichen Sterbens -- in Flandern und Frankreich, in
Italien, Mazedonien und der Türkei, überall in dieser ganzen verfluchten
Welt.

Dies ist die Stunde, da das Elend der ganzen Welt sich vertausendfacht
-- da das Gespenst des menschlichen Elends sich riesengroß über der Erde
erhebt . . .

Ackermann watete durch die gespenstisch rote Lichtflut des sinkenden
Gestirns. Blut, nicht Schein der Sonne, Blut, das von den
Schlachtfeldern hereinströmt in diese Stadt und täglich steigt wie ein
Meer. Er roch das Blut, er fühlte seine dampfende Wärme, genau wie
damals in Flandern, als ihn dieser dicke Blutstrahl traf, der aus der
Halsschlagader eines getroffenen Kameraden spritzte -- und dann, ja, als
sein eigenes Blut über ihn strömte. Es rann über die Scheiben der
Schaufenster, es quoll aus den Haustüren, überschwemmte die Straßen, das
Schloß -- dort unten -- schon feuchteten sich die dicken Steinmauern --

Blutige Gespenster stürzten an ihm vorbei. Schon wateten die Menschen in
der roten Flut bis an die Brust, sie fühlten es nicht. Bald wird sie bis
an ihre Lippen steigen. An ihren Wimpern hing das Blut, ihre Hände
färbte es rot.

Erst Lügner, dann Räuber, dann Mörder -- das sind die Völker Europas
geworden! Dunkel rauscht die Menschheit dahin, ein Strom in der
Finsternis, der nicht sein Ziel kennt . . .

»Und du, Herr, über den Finsternissen?«

»Weshalb zögerst du?«

Verzweiflung zerbrach ihn, Qual und Schmerz zerrissen sein Herz. Sein
Hirn blutete, sein Hirn zersprang.

»Ja, weshalb?«

Plötzlich tastete er nach der Hauswand. Deutlich hatte er gespürt, wie
er zu sinken begann, wie der wirbelnde Blutstrom ihn mit sich forttrug
. . .

»Bringe Erlösung dieser Erde! Führe sie zurück auf deinen Weg!«

»Wann wirst du das Signal geben?«

»Sprich!«

»Wer wird es rufen -- das erste Wort?«

»Mut! Mut!«

Plötzlich hob ihn der weite Mantel in die Höhe, und er schwebte dahin.
Durch unendliche gleißende Helle brauste er, über blendende Ebenen,
hingegeben einer unbekannten Wollust . . .

Da faßte jemand seinen Arm und schüttelte ihn.

»Sie werden doch nicht fallen?« sagte die Stimme eines Mannes.

Nun saß er, noch etwas betäubt, auf einer Treppe, ganz in der Nähe des
Schloßplatzes.

Rasch kam er wieder zu sich. Seit seiner letzten Verwundung litt er an
Schwindelanfällen. Zuweilen war er auch schon bewußtlos zu Boden
gestürzt.

Die Sonne verglühte und zog ihre Glutkegel zurück. Bleich und fahl trieb
die Viktoria auf dem Brandenburger Tor ihr Triumphgespann vorwärts.
Schon schob sich die schwarze drohende Finsternis herauf über die
Riesenstadt, um sie zu vernichten. Die Nacht war nahe.

Düster lag das Schloß, kalt, leblos. Tod und Nacht strömten von ihm aus,
Kälte und Haß. Ringsum die Denkmäler, die finstern Reiter aus Erz mit
ihren Marschallstäben standen wie Schatten.

Wo immer sie ihre Hufe hinsetzen auf Erden, diese Rosse aus Erz mit
ihren finstern Reitern, entweichen die freundlichen Geister!

Aber auch sie werden dahinschmelzen im Blicke seines Zorns. --

Ackermann erhob sich. Es wurde kalt. Die Schatten wurden dichter und
krochen näher.

Er überquerte den Schloßplatz, überschritt die Brücke und wanderte der
finstern Vorstadt zu.

1914 hatten sie gestürmt, bei Langemark, mit dem Liede: »Deutschland,
Deutschland über alles.« Man hatte sie in die englischen
Maschinengewehre gejagt. Wie viele waren zurückgekommen? Einer der
wenigen war er. Wieviel war seitdem geschehen!

Wie Hunderttausende war er zu den Fahnen geeilt -- wie Hunderttausende
in dem Wahn, sein überfallenes Vaterland zu schützen.

Wie Hunderttausende hatte er sich dem Tode entgegengestürzt, wie
Hunderttausende hatte er gemordet. Wie Hunderttausende war er der
Verzweiflung nahe gewesen und hatte er den Tod herbeigesehnt. Wie
Hunderttausende der armen Teufel aller Nationen hatte er in dem Wahne
gelebt, einer heiligen Sache zu dienen.

Im Laufe der Zeit aber war er zur Erkenntnis gekommen, daß Deutschland
nicht überfallen worden war, sondern eine Handvoll eitler Scharlatane
den Krieg provozierte. Aber auch das war ja nicht richtig. Ein Jahr
später hatte er sich zur Erkenntnis durchgerungen, daß alle Völker, die
sich heute zerfleischten, gleichermaßen schuldig waren.

Plötzlich, in einer Nacht im Bahnhofslazarett von Sedan -- er erinnerte
sich noch deutlich dieser entsetzlichen Nacht voller Stöhnen und
Gejammer -- sah er Europas wahres Gesicht! Es war das Haupt der Medusa!

Bis ins Mark entsetzt, starrte er in diese furchtbare Maske -- Lüge,
Lüge, Lüge! Jede Linie Lüge!

Verbrechen, Habgierde, Heuchelei, Schamlosigkeit, das war Europa, nichts
sonst. Die europäischen Großstaaten hatten das Raubritterwesen ins
Gigantische gesteigert. Gestützt auf ihre Heere und Flotten plünderten
sie die Erde, versklavten sie alle Völker des Erdballs, gelbe, braune,
schwarze -- um sich endlich, argwöhnisch und gierig, gegenseitig selbst
zu zerfleischen. Diese weiße Rasse war die verruchteste aller Rassen,
die den Planeten bewohnte. Ganze Rassen hatten sie ausgerottet -- aber
in ihren zoologischen Gärten pflegten sie seltene Gazellenarten. Mehr
als das: sie versklavten die eigenen Völker! In Schulen, Kasernen,
Kirchen, Fabriken erzogen sie den willigen Söldling! In Schulen,
Kasernen, Kirchen, Fabriken vernichteten sie den europäischen Menschen,
täglich, stündlich, seit Hunderten von Jahren.

Ihre Priester standen auf den Kanzeln und predigten: Was nützte es dir,
wenn du die ganze Welt gewännest und nähmest Schaden an deiner Seele?
War es möglich? Ihr ganzes Tun ging ja darauf hinaus, die Welt zu
gewinnen, und die Seele mochte zur Hölle fahren.

Entsetzliche Verwirrung der Geister! Wer förderte sie? Wer zog Nutzen
aus ihr? Die herrschenden und die besitzenden Klassen.

Die Völker selbst, sie waren nur Verführte, verführt durch kunstvolle
teuflische Systeme.

1914, im Spätherbst -- deutlich erinnerte er sich dessen -- begannen die
Fronten zu fraternisieren. Man kam zusammen -- plauderte, tauschte
Kleinigkeiten, diese armseligen Kleinigkeiten des europäischen Sklaven
-- ganz von selbst keimte in den Herzen der einfachen Soldaten die
Kameradschaft und Liebe empor. Eine Versammlung einfacher Feldsoldaten
hätte in drei Tagen Frieden geschlossen. Die Gewaltigen duldeten es --
aber sobald Nachschub und Munition wieder gesichert waren, befahlen sie
den europäischen Sklaven, sich wieder gegenseitig zu zerfleischen.

Schwarzweißrot, blauweißrot, der Union Jack -- frech wehten die
Standarten der Raubritter, und die weißen Sklaven beteten sie an.

Dunkelheit -- Verfinsterung, kein Ausweg . . .

Menschen zitterten vor Menschen. War es möglich? Ackermann hatte
Gefangene gesehen, die auf den Knien um ihr Leben flehten -- wohin war
es gekommen?

Er verhüllte vor Scham sein Gesicht.

Schreckliche Jahre, schreckliche Tage -- ein Tag fürchterlicher als der
andere!

Und kein Ausweg! Nein!

Weiter rollt die Lawine, in Bewegung gesetzt von Gehirnen, die längst in
der Erde modern. Weiter rollt sie, zerschmettert Länder, Städte,
Generationen.

Europa war ein eiterndes Geschwür, das die Erde vergiftete. Oft schien
es Ackermann, als habe Gott sein Antlitz abgewandt: das einzige, was
euch gebührt, vollzieht es: schlachtet euch gegenseitig. Haubitzen,
Mörser, Gase, Fliegerbomben -- geht unter -- rasch, rasch, verschwindet
. . .

Da begann -- unerwartet -- aus dem Osten ein Licht zu strahlen . . .

Seit den Somme-Schlachten war Ackermann nicht mehr für den Felddienst
geeignet. Er hinkte und litt an Ohnmachtsanfällen. Er wurde in ein
Gefangenenlager zur Bewachung von Menschen kommandiert. Hier schloß er
Freundschaften mit Gefangenen, er versuchte seine Kameraden aufzuklären.
Er wurde wegen »pazifistischer Umtriebe« angeklagt und entging mit
knapper Not dem Gefängnis. Und zwar nur aus dem Grunde, weil die
Gefängnisse zu dieser Zeit schon überfüllt waren. Man schob ihn
kurzerhand zum Regiment ab, und das Regiment kommandierte ihn nach
Berlin, wo man Schreiber und Ordonnanzen zu Tausenden in den unzähligen
Kriegsämtern brauchte.

Hier traf er in einer Speiseanstalt -- -- Ruth!

Wie? Wer war es? Wo hatte er sie schon gesehen? Wann?

Da erinnerte er sich: es war in einem Lazarett in Cambrai. Man hatte ihn
abends dahin gebracht, und in der Nacht erwachte er -- zu seinem großen
Erstaunen -- in einem Krankensaal. Er hatte an diesem Tage den Tod
gesucht -- besser getötet zu werden als zu töten. Da hatte ihn eine
Handgranate zu Boden geworfen.

Da lag er nun in einem halbdunkeln Saal. Franzosen, Engländer, Kanadier,
Farbige, hier waren sie nun alle vereint. Neben ihm saß ein Schwarzer im
Bett, dem der Unterkiefer weggerissen war, und keuchte aus einem
blutigen Watteklumpen. Stöhnen, Winseln, Fauchen, halblautes Lallen. Wie
über alle Lazarette, war auch über diesen Saal jene unbegreifliche
Ergebenheit gebreitet. Sie alle, die hier lagen, fühlten, daß es ihr
Schicksal war, gegen das es keine Auflehnung gab. Die Schlacht war
gekommen, weil es so sein mußte, sie waren verwundet worden, weil es so
sein mußte, und sie würden sterben, wenn es beschlossen -- war.

Auch über ihn war diese gleiche rätselhafte Ergebenheit gekommen, die
jeder Verwundete kennt, der im Lazarett aufwachte.

Da -- plötzlich -- sah er eine Gestalt, eine kleine Gestalt, eine
Schwester. Sie stand mit dem Gesicht gegen die Wand, der Lichtschein
streifte sie -- sie preßte das Taschentuch gegen das Gesicht, ihre
Schultern bebten -- sie weinte. Lange beobachtete er sie. Sie weinte
. . .

Auch Ruth erkannte ihn wieder.

Ruth sagte: »Sie schrien im Fieber immerzu -- füsiliert mich! Die
einzige Ehrung, die Europa bieten kann, ist füsiliert zu werden!«

»Sagte ich das?«

»Ja, Sie sagten noch ganz andere Dinge. Sie sagten viele Dinge, die
schon lange in mir schlummerten.«

»Sie --?? Aber Sie sind doch die Tochter eines Generals?«

»Ja! -- Was hat das zu sagen?«

So wurden sie Freunde.


9

Seht, ein Mensch! Er steht gegen ein Haus gelehnt und weint!

Plötzlich aber weicht das Haus zurück -- sollte man es für möglich
halten -- ein vierstöckiges Haus weicht dem Druck eines schmalen
Rückens? Es weicht zurück, und der Mensch stürzt der Länge nach zu
Boden. Sein Zylinder rollt, rollt in unendliche Fernen.

Schon kommen die Kinder. Ein Zylinder! Sie spielen Fußball damit.
Welches Gelächter! Aber die Kinder, selbst sie, haben Mitleid, nicht mit
dem kleinen alten Mann, sondern mit dem Zylinder.

Ein Junge bringt ihn zurück. Der kleine alte Mann kramt in der Tasche,
sucht einen Groschen -- aber plötzlich läuft er in einer
unverständlichen Kurve über den Fahrdamm und rennt gegen das Pferd einer
Droschke, das selbst Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Die
Peitsche flitzt durch die Luft. Und die Kinder kreischen vor Vergnügen.

Herr Herbst lag in seinem Bett und röchelte im Halbschlaf. Nacht,
Finsternis, er hatte keine Lust zu erwachen. Wie lange war er unterwegs
gewesen, wo hatte er getrunken, wie lange hatte er geschlafen? Er wußte
es nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Nur schlafen. Schmach,
Schmach, nichts als Schmach, sobald er erwachte.

Stimmen raunten hinter der Wand, zischelten, flüsterten. Wie in jeder
Nacht wanderte Hähnleins Schritt ruhelos hin und her. Wie lange werden
sie es noch ertragen? dachte Herr Herbst in seinem Bett. Nicht mehr
lange! Er lauschte auf die raunenden und zischelnden Stimmen, labte sich
an dem fremden Elend, um nicht an seine eigene Verzweiflung denken zu
müssen.

Hähnlein rief Gott zum Zeugen an, daß dieses Leben selbst ein Hund nicht
länger ertragen würde. Er hatte Dienst, Dienst, immer Dienst, seit drei
Jahren, zweimal verwundet, und seine Frau nähte sich die Augen blind.
Und seine Frau hustete nachts die ganze Wand voll Blut. Und während er
Dienst machte, verhungerte seine Familie zu Hause. Seine Frau hatte auf
Zeitungen entbunden, verlassen, hilflos, wie ein Tier in einem Winkel.
Nicht einen Tropfen Milch, nicht einen Teller Suppe, nichts. War das
Gerechtigkeit? War das möglich überhaupt? Ja, eine Milchkarte hatte sie
gehabt, aber keine Milch, so war es! Und die Kinder, drei und vier Jahre
alt, sie konnten noch nicht einmal gehen, die Knochen waren krumm
gebogen, die Schädel ganz weich. Was für eine Welt war das? Aber die
kleine Zinnkanne, die hatten sie abliefern müssen, sonst hätte man sie
eingesperrt. Und die Kinder schliefen auf Papier und Lumpen. Wo war man?
War man noch auf der Erde oder schon in der Hölle?

Nein, nicht mehr lange!

Hähnleins heisere Stimme glitt in die Ferne, tiefer röchelte Herr
Herbst, gleichmäßiger, der Schlaf wollte wieder zurückkehren.

Da sah er -- in verschwommenen Umrissen -- die entsetzlichen Wogenberge
aus erstarrtem Schmutz wieder, mit den zersplitterten Baumstrunken und
dem schmalen Laufgraben, der sich zwischen den Wogenbergen verlor.

Er ächzte und drehte sich auf die andere Seite.

Aber auch hier waren sie, diese entsetzlichen Wogenberge. Nur -- siehe
da! -- sie waren nicht mehr starr, sie regten sich, bewegten sich.
Erdschollen schoben sich in die Höhe -- Rücken, Arme, Hände, Beine
wurden sichtbar -- in verschwommenen Umrissen -- was war das? Sieh nur
schärfer hin, und du wirst es erkennen. Ja, es waren Menschen! Deutlich
zu sehen, lehmbeschmierte Menschen, Soldaten, die von den Lehmbergen
verschüttet waren und sich stumm und verzweifelt abmühten, sich aus der
Erde zu wühlen.

Er ächzte und setzte sich im Bett aufrecht. Da sah er Robert vor sich,
und Robert trug einen solchen zerfetzten Lehmberg auf dem Rücken, und
der Lehmberg preßte ihn zu Boden.

»Ich ertrage es nicht mehr!« schrie in diesem Augenblick Hähnlein. »Um
Christi willen!« wimmerte die Frau und hustete.

Robert war verschwunden. Dunkelheit, Nacht, dort das Fenster, das Zimmer
war leer.

Herr Herbst wischte sich den Schweiß von der Stirne.

»Schmach, nichts als Schmach . . .«

Er kroch unter die Decke, und nun kam der tiefe Schlaf über ihn. -- --

Spät an diesem Abend, es war nahe an Mitternacht, kehrte der General von
Dora zurück. Er brummte gutgelaunt vor sich hin. Wie gewöhnlich hatte
Doras Frohsinn ihn aufgeheitert. Auch der Spaziergang durch die Nacht
hatte ihm gutgetan.

Wie ein Bad wirkte die Heiterkeit dieser Frau auf ihn. Wie ein
erfrischendes Bad! Wunderbar -- ihr Lachen -- nichts nimmt sie tragisch,
eine Künstlernatur, eine Philosophin! Wir Männer dagegen . . .

Ja, Dora, sie allein verstand es, das Leben zu nehmen, man konnte lernen
von ihr -- obschon sie nur eine Frau war, ja --

Kaum aber flammte das Licht in seinem Arbeitszimmer auf, so erinnerte er
sich wieder an die peinliche Szene von heute nachmittag, und
augenblicklich war seine gute Laune wieder verschwunden.

Das höhnische Lächeln, der höhnische Blick des kleinen geistesgestörten
Mannes schwebten noch irgendwo in der Luft des Zimmers. Ich weiß, sagte
das höhnische Lächeln auf den dünnen Lippen, weiß, aber ich spreche
nicht. Wie heute nachmittag legte sich das fahle kleine Gesicht zur
Seite, das eine Auge wurde größer als das andere, das Lid zog sich in
die Höhe, und dieses größere Auge blinkte von Spott und Hohn.

Unruhe erfüllte den General.

Nein, kein Zweifel, dieser kleine Geistesgestörte war im Besitze eines
Geheimnisses, das Ruth betraf. Der Ausdruck seiner Augen war nicht
mißzuverstehen. Vielleicht eines Geheimnisses, das Ruth, das die Familie
kompromittierte? Unverständlich war ihm in diesem Augenblick seine
Tochter, rätselhaft, fremder als der fremdeste Mensch, den er nie in
seinem Leben gesehen.

Morgen würde er mit Ruth ein ernstes Wort sprechen! Ihre Eigenwilligkeit
verriet einen bedauerlichen Mangel an Pflichtgefühl ihrer Familie, dem
Geschlechte der Hecht-Babenberg, gegenüber. Es gab schwerlich eine
Verbindung, die das Ansehen der Familie mehr gehoben hätte,
gesellschaftlich und materiell, als die Heirat mit Baron Dietz, der eine
blendende Laufbahn vor sich hatte. War es nicht auffallend, der Krieg
schien die Grundpfeiler des Gesellschaftsgebäudes zu erschüttern? --
Allenthalben ähnliche Symptome -- Mißheiraten, Eheirrungen, Scheidungen
-- der Oberst Schulendorf, zum Beispiel, kommt nach Hause und findet --
Skandal! Bredows Sohn hat sich im geheimen trauen lassen, er fällt,
plötzlich meldet sich die Witwe -- eine völlig unbekannte Person,
frühere Schauspielerin, stellt Forderungen. Allein im Rheinsbergschen
Familienverband zwei Scheidungen in kurzer Zeit.

Ja, auffallend, Hunderte von Beispielen fielen ihm plötzlich ein --
allein aus dem Kreise seiner Bekannten. Erschreckende Symptome der
Zersetzung. War die Generation der Größe der Zeit nicht gewachsen?

Keine Nachsicht mehr, nein, nein, morgen, sobald sich die Gelegenheit
bietet, werde ich mit ihr sprechen.

Und dieser alte Mann? Lassen wir ihm seine Freude. Nichts wird ja
leichter sein, als Aufklärung zu erhalten, jede gewünschte Aufklärung.

Schon einmal hatte er -- früher . . .

Der General machte Toilette für die Nacht. Nachdenklich musterte er
Hände und Gesicht, jede Falte.

Mehr Bewegung -- und alles war in Ordnung!

Schon schlief er.

                   *       *       *       *       *

»Schwere Kämpfe! Außerordentlich schwere Kämpfe!« Mitten in der Nacht
setzte sich Herr Herbst plötzlich im Bett auf und knarrte mit breiter,
selbstgefälliger Stimme: Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe!

Warte nur, du Hoffärtiger! Warte nur. Hüte dich -- ein alter Mann --
aber hüte dich --!

Dann sank er wieder in Nacht und Bewußtlosigkeit, zusammengerollt zu
einem kleinen Kleiderbündel.

Am Nachmittag schien die Sonne ins Zimmer, aber immer noch lag das
kleine Kleiderbündel regungslos auf dem Bett. Erst gegen Abend fing es
an, sich unruhig zu bewegen. Die Hände zerrten an der Decke, zogen sie
dicht um den Körper. Der Schläfer fror. Kälte, schreckliche Kälte
hauchte von dem Gebirge aus, das er erblickte. Ein Strom von Eis. Nacht,
Winter, wie? Und er kniete vor dem Gebirge und erstarrte, während er die
Hände ausstreckte. Nun schien es heller zu werden, es tagte, die Sonne
schien aufzugehen. Das Gebirge begann allmählich zu erglühen, es glühte
rot, nur Stein, zerrissen, verwittert.

Plötzlich aber verschoben sich Felsen, Riesenblöcke zitterten -- das
Steingebirge wandelte sich zu einem Gesicht.

Der Schläfer erbebte. Deutlich fühlte er, daß er bald aus der
Bewußtlosigkeit auftauchen würde. Nur noch eine Idee brauchte er höher
zu tauchen, und schon würde er an die schwarze, schwere Schicht von
Schmach stoßen, die auf ihm lastete. Zu spät! Sie sank herab zu ihm, die
schwere Schicht von Schmach, berührte ihn, drückte ihn zu Boden.

Da! Er war wach. Der barmherzige Rausch war verflogen. Und da war sie
wieder . . .

Betäubt saß er da. Es dunkelte schon.

Schmach, nichts als Schmach!

Er war gedemütigt worden, zertreten, zu Boden geworfen und mit den Füßen
getreten. Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe -- Tausende,
Hunderttausende -- -- ja, man hatte ihm einen Sessel angeboten, ihm ein
Bild gezeigt -- trotzdem! Worin aber bestand die Schmach eigentlich,
wie?

Nein, nicht das war es, daß er gerufen hatte: Hinaus mit Ihnen, oder ich
lasse Sie abführen.

Das nicht, nein. Schlecht hatte er sich ja benommen.

Trotzdem: zu Boden geworfen und mit Füßen getreten.

Horch! Stimmen. Sie sind da, die jungen Leute -- bei ihm! Und da, da --
hörst du? Laut und erregt schwirrten die kecken, jungen Stimmen nebenan.

Aufrecht saß er im Bett und hielt den Atem an.

Ja, auch sie war da!

Hoffärtiger -- nichts als ein alter Mann -- vielleicht bereust du noch,
wer weiß es? -- Und du -- Sanfte, Bleiche -- deine sanften Augen werden
weinen müssen -- es muß sein --

Plötzlich erstarrte er vor Entsetzen. Eine laute verzweifelte Stimme
gellte durch das Haus. Hilfe! Hilfe! Es war Frau Hähnlein.

Sofort schwiegen die schwirrenden Stimmen nebenan. Eine Türe schlug,
Schritte eilten. Eine Faust pochte gegen Hähnleins Türe, und Ackermanns
Stimme fragte: »Was gibt es?«

»Nichts, nichts, Ackermann!« antwortete Hähnlein mit einem keuchenden,
verlegenen Auflachen. »Meine Frau ist erschrocken. Sie dachte -- nichts,
nichts --«




Viertes Buch


1

Ali Baba und die vierzig Räuber!

Endlich war Doras berühmter Abend gekommen. Dumpf lockte die Trommel --

Mit einem kleinen Aufschrei wich Hedi zurück. Ein fetter Neger, mit dem
Gesichtsausdruck eines Orang-Utans, schlug den Vorhang auseinander und
fletschte ihr die Zähne entgegen: »Ali Baba heißt dich willkommen!«

»Er tut dir doch nichts«, lachte Klara und schob Hedi vorwärts.

Die mächtigen, nackten Arme und Beine des Negers funkelten. Hellrot
waren seine wulstigen Lippen gemalt. Dora selbst hatte ihn hergerichtet.
Ein zweiter Neger half aus den Mänteln. Er war jung und schlank, heller
von Farbe, sein Gesicht drollig und hübsch. Auch er ging barfuß und trug
nur ein kurzes, rot und gelb gestreiftes Röckchen.

Hinter Vorhängen, irgendwo, schrillten Pfeifen.

Wieder ertönte der Schrei einer Dame im Entree. Ein zottiger Bär schob
sich an Hedi vorüber, und daraus schälte sich eine zierliche,
halbnackte, nilgrüne Türkin. Gräfin Heller. Abendmäntel aus kostbaren
alten Brokaten, antiken Samten, japanischen Stickereien, ehemaligen
Kirchengewändern -- und Fabelwesen entstiegen ihnen: Prinzessinnen,
Haremsdamen, Odalisken in Seide, Tüll, Schleiern, mit goldenen, roten,
grünen Schuhen, Schuhen mit langen Silberschnäbeln und blitzenden
Steinen. Wohlgerüche und der Duft gepflegter Frauenkörper gingen von
ihnen aus.

Hedi zitterte vor Erregung. In fieberhafter Hast verhüllte sie das
Gesicht mit dem Schleier, wie Doras Vorschrift es verlangte. Doppelt
begierig blitzten nun ihre Augen.

Hedi war ganz in durchsichtige Silberschleier gehüllt. Ihre jungen
Brüste lagen nahezu völlig frei. Zwischen dem silbernen Jäckchen und den
faltigen Pluderhosen aber war sozusagen gar nichts. Ein Hauch von Tüll.
Das war Hedis höchsteigene Erfindung.

Wegen dieses etwas kühnen Kostüms war es heute nachmittag -- schon am
Nachmittag begannen die Damen mit der Toilette -- zwischen den beiden
Schwestern nahezu zu Tätlichkeiten gekommen.

Plötzlich erklärte Klara rund heraus, daß sie _so_ nicht mit Hedi gehe!
Wie?

»Ja, so! Du bist ja völlig nackt! Es ist skandalös einfach!«

Wie? Ein Kostüm, das das Taschengeld eines halben Jahres verschlang!
Hedi war tödlich verletzt.

»Das ist ja gerade das Orientalische«, schrie sie aufgebracht. »Was
versteht ein Kind von solchen Dingen? Und du -- was soll das werden, du
meine Güte?«

Ein sehr einfaches Kostüm aus hellgrauer Seide hatte Klara sich
zurechtgemacht. Dazu sollte noch ein schwarzes Spitzentuch kommen, das
ihr Gesicht bis zu den Augen verbarg.

»Ich bin eine türkische Witwe!«

»Eine Witwe?«

»Ja!«

»Du bist lächerlich, Klara, und wirst auch mich noch lächerlich machen!
Zum ersten Male höre ich, daß man als Witwe auf einen Ball geht.«

»Aber ich gehe so!«

»Blamiere dich ruhig!« Empörend war Hedis Lachen.

»Dann gehe ich überhaupt nicht, ich habe sowieso nicht die geringste
Lust!« schrie Klara und begann sich wieder auszukleiden. Sie warf die
Schuhe wütend unter das Bett.

Hedi erbleichte. »Nun gut, mein Liebling. Papa wird außer sich sein,
wenn er dich nicht dort findet. Ich werde ihm aber dann die Geschichte
erzählen, die du mit dem kleinen Fliegerleutnant hast, warte nur!«

Sie hatte Klara ins Herz getroffen. »Und du?« schrie Klara und funkelte
die Schwester mit drohenden Augen an.

»Und ich? Was soll mit mir sein?«

»Sage nur ein Wort, und ich werde es Papa erzählen. Ich weiß mehr, als
du glaubst.«

»Was weißt du, nichts weißt du.«

»Nun, ich werde Papa erzählen, daß du einen Brillantring bekommen hast.
Woher hast du diesen Brillantring? Und weshalb gehst du immer in den
Kaiserhof?«

Jetzt war die Reihe an Hedi, außer sich zu sein.

»Das ist doch unerhört!« schrie sie rasend. »Du weißt so gut wie ich,
daß man mir den Ring anonym mit der Post geschickt hat. Ich schwöre --«

Hier also wäre es nahezu zwischen den Schwestern zu Tätlichkeiten
gekommen.

Nun aber waren sie doch hier. Dumpf lockte die Trommel, und Hedis Herz
pochte.

Unaufhörlich stürzte Petersen mit dem Schirm die Treppe hinab. Es
regnete etwas.

Droschke um Droschke klapperte die stockfinstere Lessingallee herauf zur
roten Backsteinvilla. Dazwischen kam auch ein Gespenst von einem Auto,
das auf eisernen Rädern wie ein Tank rasselte und die ganze Straße mit
Qualm und Gestank erfüllte.

Schließlich, etwas spät am Abend, rauschte auch eine elegante feldgraue
Limousine heran, mit wunderbaren Lampen, die alle Villen der
Lessingallee magisch beleuchteten. Und -- viel später noch -- fuhr eine
zweite Limousine vor, ein schwarzlackiertes Auto mit einem Chauffeur in
Livree, das gänzlich lautlos dahinglitt und selbst die Limousine des
Generals weit in den Schatten stellte.

»Ali Baba heißt dich willkommen!«

Der General prallte zurück. Seit seiner Kindheit hatte ihn niemand mehr
geduzt. Und nie in seinem Leben hatte ein Schwarzer es gewagt, ihn
anzusprechen.

Drollige Einfälle hatte diese Dora!


2

Hedis Herz pochte vor wilder Erregung.

»Die Liebe, meine süßeste Prinzessin --.«

Dumpfe Trommeln und schrille Pfeifen. Rote, grüne, gelbe Riesenlampen,
Zelte, Diwane. Die Musiker trugen scharlachrote Turbane und
grünspanfarbene Gesichtslarven mit langen Fransen. Sie hockten auf einem
Diwan in der Ecke.

Schon jetzt herrschte in Ali Babas Räuberhöhle Gedränge.

Ein sonderbares Holzinstrument dudelte, und aus einem bronzenen Dreifuß
stieg eine betäubende Wolke von Wohlgerüchen empor. Die beiden
halbnackten Schwarzen kredenzten Erfrischungen.

»Die Liebe, meine Prinzessin -- so banal es klingt, ist eine
Bauernfängerei der Natur, eine Illusion zweier Narren --«

»Ah!«

»Genau wie die Ehe eine Bauernfängerei der Gesellschaft ist, eine
Illusion einer Masse von Narren.«

»Also du glaubst nicht an die Liebe?«

»Nein, nein, ich glaube nur . . .«

»Nun?«

»Darf ich es dir ins Ohr sagen?«

Diese geistvolle Unterhaltung führten Hedi, die Prinzessin in Silber,
und ein wild aussehender Räuber mit vermummtem Gesicht, in
billardgrünem, durchlöchertem Burnus. Sie kauerten dicht nebeneinander
mit angezogenen Beinen auf einem Diwan. Die Prinzessin näherte nun dem
Räuber ihr Ohr, sprang aber sofort auf, als der Räuber ihr sein
Glaubensbekenntnis ins Ohr flüsterte.

»Pfui, wie häßlich!«

»Auch du nicht stark genug für die Wahrheit?« Enttäuscht schüttelte sich
das vermummte Gesicht.

Da verbeugte sich ein zerlumpter Bettelmönch vor Hedi und hielt ihr eine
Schale hin, eine ausgehöhlte Kokosnußschale, die er an einer dünnen
Kette am Handgelenk trug. Der Bettelmönch war völlig in Tuchlappen von
einem eigentümlichen, unangenehmen, schmutzigen Gelb eingehüllt, wie
eine Mumie. Sogar die Arme. Er trug einen orangeroten Turban, mit dicken
grünen Schnüren umwickelt. Seine Augen blendeten.

»Wer bist du?« fragte Hedi und warf eine Zigarette in die Schale. Ihr
Herz stockte.

Der Bettelmönch hob die Schale zur Stirn und verneigte sich. Wieder
blendeten seine Augen.

»Wer ist es?«

»Ich kenne ihn nicht. Gottlob sind alle Gesichter vermummt. Welch eine
herrliche Idee! Um wieviel gewänne dadurch das Leben!«

Hedi blickte in die kleinen, raschen Augen des Räubers, blitzende
Pechtropfen. Wer war es, der sich an ihre Fersen heftete und sie nicht
mehr losließ? Seine Keckheit gefiel ihr, auch der Unsinn, den er sagte.
Ein großer Diamant gelblichen Feuers sprühte an seiner kurzfingrigen,
gepflegten Hand.

Schon jetzt glühte Hedi am ganzen Körper. Ja, heute, heute, in dieser
Nacht, mußte es geschehen, in dieser Nacht mußte es sein! Was mußte
geschehen, was mußte sein? Das wußte sie selbst nicht.

Betörend dudelte das sonderbare Holzinstrument in Hedis kleines Ohr.

                   *       *       *       *       *

»Halt, einen Augenblick, Verehrtester!«

Professor Salomon zwängte sich blitzschnell zwischen zwei nackten Rücken
hindurch, einem heißen, rosafarbenen, mit großen Poren, und einem
kühlen, glatten, kantiggeschnittenen, elfenbeingelben, mit verwirrenden,
rabenschwarzen Kräuselhärchen im Nacken, blitzschnell und vorsichtig, um
seinen Frack nicht mit Puder einzufetten. Der Professor war trotz Doras
Verbot im Frack. Er fand es entwürdigend, sich mit bunten Lappen zu
behängen. Aber er trug die Rosette des Eisernen Kreuzes im Knopfloch.

Soeben hatte er einen Bekannten erspäht, der sich gerade das Auge mit
dem Taschentuchzipfel auswischte. Die Feder eines Kopfputzes war ihm ins
Auge gefahren. Es war ein ganz besonderer Glücksfall, denn der Bekannte
war ein gewaltiger Schürzenjäger, so aber war er gezwungen
stillzuhalten.

Das fette Kürbisgesicht des Professors strahlte. Es muß leider gesagt
werden, daß der Schädel des Professors einem halbausgewachsenen, etwas
gelblichen Kürbis mit großen, abstehenden Ohren glich. Professor
Salomon, Gründungsmitglied des Vereins zur raschen Zerschmetterung der
englischen Welttyrannei, Vorstand des Bundes Barbarossa, vorher fast
unbekannt, hatte es während des Krieges zu einer Art von Berühmtheit
gebracht. In diesem Kürbisschädel waren die wirtschaftlichen Gutachten
entstanden, die die Marine als Unterlage für den unbeschränkten
U-Boot-Krieg benötigte. Professor Salomon hatte seine Aufgabe zur
vollsten Zufriedenheit der Admiralität gelöst. Nunmehr bekleidete er
einen einflußreichen Posten im Auswärtigen Amt.

»Wichtige Neuigkeiten«, rief der glänzende Kürbis. »Die Wissenschaft
triumphiert -- trotz aller Zweifel unserer Anglomanen.«

Der mit Diamanten übersäte Perser, in Ali Babas Gefangenschaft geraten,
schielte ihn hilflos mit seinem tränenden Auge an. Er war ihm vollkommen
ausgeliefert.

»Wir haben Meldungen, daß in ganz Schottland schon kein Pfund Mehl mehr
aufzutreiben ist, und in Südwales gab es eine Hungerrevolte«, zischelte
der Kürbis.

»So?« Der impertinente Ton wandelte den gelblichen Teint des Kürbis
augenblicklich in tiefes Scharlachrot.

»Und Sie haben immer gezweifelt, gerade Sie waren immer derjenige! Auf
Grund genauester wissenschaftlicher Unterlagen, völlig einwandfreier
Statistiken --«

Der Perser wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich pfeife auf
Statistiken, mein Lieber. Das Konversationslexikon genügt mir. Völlig
abgesehen davon --«

»Völlig abgesehen?«

Der Professor verfolgte den fliehenden Perser.

»Völlig abgesehen davon --«

»Hören Sie --« Der Professor versuchte den fliehenden Bekannten
festzuhalten. »Die Engländer haben kein Grubenholz mehr. Die englischen
Bergwerke versacken -- Sie entfliehen --?«

Der Perser stürzte sich verzweifelt mitten in den Malstrom der Tänzer.

»Ah, ah, so sind sie, so sind sie alle«, murmelte verzweifelt der
Kürbis.

Schon hatte er einen neuen Bekannten erspäht. Aber gerade, als er sich
ihm nähern wollte, geriet er in einen Wirbel von Foxtrottänzern.

In demütiger Haltung, sich ohne Aufhören verbeugend, ging der zerlumpte
Bettelmönch von Raum zu Raum und rasselte mit der Schale. Seine Brust
keuchte erregt, und seine Augen blinkten in jedes Frauengesicht.

Wer bist du?

Er ging weiter. Seine Augen drangen hinter die Schleier, glitten über
Hände, Ohren, Hüften, Füße.

Wer bist du?

Plötzlich zuckte er zusammen. Eine Hüfte -- nichts als das Wiegen einer
Hüfte beim Tanze . . . Ohne jede Rücksicht stürzte er sich zwischen die
Tänzer. Laut rasselte er mit der Schale vor einer etwas üppigen
Haremsdame, die wie ein Kolibri in allen Farben schillerte.

Die Haremsdame blieb -- unwillkürlich -- stehen und sah ihm in die
Augen.

»Wer bist du?«

Aber stumm verbeugte sich der Bettelmönch. Bis zur Erde. Seine breite
Brust wogte unter den Lumpen.

Die Haremsdame lachte -- nur Dora konnte eine derartige Fontäne von
Gelächter hervorsprudeln.

»Du bist wohl stumm?«

Der Bettelmönch nickte. Aber so oft Dora vorüberkam, verbeugte er sich
und rasselte mit der Schale, seine blinkenden Augen folgten ihr überall
hin.

Schon war es ihm gelungen, Doras Neugierde zu wecken.


3

Über dem Dunst des Räucherwerks, den wirbelnden Turbanen, Federn und
Schleiern, auf der kleinen Empore, gerade über den Musikanten mit ihren
grünspanfarbenen Gesichtsmasken, bewegte sich plötzlich ein massiger,
breiter Schatten, der sich düster über die Decke reckte. Dann schrumpfte
der Schatten zusammen, und über der Brüstung erschien ein breites,
erdfarbenes, glanzloses Gesicht und blickte herab. Alle Blicke wandten
sich nach oben. Der General war gekommen.

Der Räuber im durchlöcherten, billardgrünen Burnus deutete mit dem
vermummten Gesicht zur Empore und raunte Hedi eine Bemerkung ins Ohr,
die bei seiner Dame unbändige Heiterkeit auslöste. Sie fand ihren
Kavalier schnurrig über alle Maßen. Und so etwas Keckes und
Unverschämtes hatte sie überhaupt noch nicht erlebt!

»Fort, fort, er sieht her! Wie herrlich du doch lachen kannst!«

In der Tat, das erdfarbene Gesicht auf der Empore hatte die Brauen
hochgezogen.

Der Räuber hielt die linke Hand mit dem gelblichen Brillanten wie zum
Schwure in die Höhe, seine Rechte berührte Hedis Schulterblatt, schon
tanzten sie. Obschon er sie kaum berührte, hielt er sie fest wie ein
Schraubstock, unentrinnbar. Und bei gewissen Figuren zog er sie
unvermittelt dicht an sich -- wie nur Räuber es vermögen.

Unterdessen irrte Klara mutterseelenallein und tief unglücklich in der
labyrinthischen, farbenlohenden Höhle Ali Babas umher. Jeder Schlag der
dumpfen Trommel traf ihr Herz, die Pfeifen schrillten Verzweiflung.
Sobald aber das sonderbare Holzinstrument zu dudeln anfing, hielt sie
sich die Ohren zu und entfloh in die fernsten Winkel. Aber überall waren
diese verrückten Vermummten, in den entlegensten Winkeln. Aus allen
Ecken und Dunkelheiten winkten weiße Arme und Hände, blendeten heiße
Augen. In einem rotglühenden niedern Raum -- Ali Babas Opiumhöhle --
kauerten sie in Scharen auf dem Teppich. Das Herz der kleinen türkischen
Witwe pochte gegen den Brief, den sie im Mieder trug -- heute morgen war
er gekommen.

Plötzlich sah sie aus einer Nische ein Paar Augen auf sich gerichtet,
unendlich sanfte Augen voller Trauer, und sie versank angezogen in ihre
Betrachtung. Sie hob die Hände, auch die Erscheinung in der Nische hob
die Hände. Sie berührte Glas.

»Du bist es -- Klara?« fragte sie, und die Erscheinung stellte die
gleiche Frage.

Da aber griff plötzlich eine gespenstische, grüne Hand nach dem
Spiegelbild, und sie schrak zusammen. Doch niemand war da. Eine
Heiligenfigur, die ein Buch schwang, stand dem Spiegel gegenüber, und
durch den wehenden Vorhang war ein Lichtstrahl auf die grüne Hand des
Heiligen gefallen.

Wunderbar . . . Heinz hatte oben in der Luft ihr Gesicht im Äther
dahinfliegen sehen. Es flog neben ihm her, genau so schnell wie die
»Schwalbe«. So hieß seine Maschine.

Der Brief brannte auf ihrem Herzen.

»Wir sind ja jung! Vor uns liegt das Leben, vor uns liegt die Zukunft.
Ich liebe dich, du Teuerster!«

Und der Brief glühte.

Schon taumelte sie wieder erschrocken zurück. Durch die Luft kam
kopfüber ein Mensch geflogen, ein Mensch, merkwürdigerweise in Uniform,
mit staubgrauem Gesicht und fiebrisch glänzenden Augen. »Feuerwalze,
Feuerwalze!« schrie erschrocken ein Chor von Stimmen. »Er hat sich das
Genick gebrochen!«

Die fiebrischen Augen wandten sich der kleinen, grauen Witwe zu. »Du
weinst ja --« sagte der Uniformierte verwundert, und schon zuckte eine
Hand nach ihr.

Aber schon floh Klara. Zwischen Vermummten hindurch, eine kleine Treppe
hinauf. Plötzlich hielt sie inne: in einem Sessel saß der General. Auch
für ihn gab es weder Tanz noch Musik. Zusammengesunken saß er, den Blick
in sich zurückgezogen.

Düster brannten seine Augen.

Er hatte sich früher auf Festen gelangweilt, heute bedrückten sie ihn.
Musik weckte Melancholien, fröhliches Gelächter Trauer. Er war ja nur
hierhergekommen, um Dora nicht zu kränken -- und um womöglich einige
Worte mit einer hochstehenden Persönlichkeit zu wechseln, die ihr
Erscheinen zugesagt hatte. Voller Verachtung blickte er auf diese Narren
herab, die sich in bunte Lappen hüllten. Die Frauen begriff er noch zur
Not -- es war ihre Natur -- aber die Männer --? Während das Brüllen der
Kanonen eine neue Epoche der Geschichte verkündete?

Durch eine schmale Tapetentür schlüpfte Klara ins Treppenhaus. Hier,
zwischen alten Truhen und Schränken, atmete sie auf. Fern klangen
Trommeln und Pfeifen. Plötzlich lächelte sie wieder.

Glücklicher war sie ja, als alle! Als alle!

Und plötzlich tanzte die kleine graue Witwe mit stillen, kleinen
Schritten, für sich allein, zwischen den alten Truhen und Schränken. Sie
hatte noch nicht das Meer gesehen und noch nicht das Hochgebirge.
Zierlich hob sie die Füßchen: all das würde sie sehen -- mit ihm!
Venedig und Paris, London und eine Stadt in Indien -- zierlich wiegte
sie die Hüfte -- alles mit dir, mein Geliebter . . .

                   *       *       *       *       *

»Weißbach? Sind Sie es, Weißbach? Retten Sie mich!« rief Hauptmann Falk
und wischte sich den Schweiß vom grauen Gesicht. »Helfen Sie mir -- Sie
sehen mich in einem schrecklichen Zustand!«

Weißbach lachte.

»Ich bin behext, ein Weib hat mich total behext. Da -- da -- da -- das
ist sie! Sehen Sie diese Schwefelgelbe. Diese Hüfte -- grundgütiger
Himmel!«

»Aber, das ist ja Dora!« rief Weißbach aus.

»Dora? Wer ist Dora?«

»Das wissen Sie nicht? Die Baronin Dönhoff selbst!«

»Ah, ah -- gut, einerlei, wer es ist. Jedenfalls, sie sehen mich in der
fürchterlichsten Aufregung. Dieses --Weib hat mich vollkommen verrückt
gemacht. Sie kam zu mir und blinzelte mich an und berührte nur ein wenig
meinen Arm, aber ich sage Ihnen -- ein Strom! Jedenfalls -- es muß etwas
geschehen, und es wird etwas geschehen.«

»Halt, halt -- Feuerwalze! Einen Augenblick! Nehmen Sie sich etwas in
acht.«

»In acht, vor wem, vor ihr?«

»Nein, vor ihm.«

»Vor ihm? Er ist doch im Felde? In der Champagne!«

»Nein, er ist keineswegs im Felde. Er ist hier.«

»Hier? Hier --?«

Weißbach flüsterte Falk etwas ins Ohr -- und Falk taumelte vor
Verblüffung zurück.

»Wie sagen Sie --?«

»Pst!«

»Unmöglich!«

»Nun, Sie werden schweigen!«

»Ah, ah -- aber hören Sie?«

»Sie sprechen nicht darüber? Ihr Wort!«

»Ich spreche nicht darüber. Nein, was Sie sagen? -- Ich dachte, ich
hörte -- eine Königliche Hoheit?«

»Das war ja früher. Vor der Heirat.«

»Ah, ah! Ich verstehe! -- Aber hier kommt sie wieder! Sehen Sie doch,
diese Hüfte, diese Bewegung! Leben Sie wohl, Weißbach --«

»Vorsicht!«

Schon tauchte Falk zwischen den Vermummten unter. --

Der junge, schlanke Neger, der nur ein kurzes, rotgelbes Röckchen
anhatte, glitt mit Erfrischungen in das Zelt. Wohlgefällig folgten die
Augen der Prinzessinnen, Haremsdamen und Odalisken dem hübschen Sklaven.

Hedi kühlte das fiebernde Gesicht, der süßliche Duft des Räucherwerks
betäubte sie. Ihre Wangen glühten durch den Schleier, ihre Augen
blinkten wie geschmolzenes Blei. Sie fühlte, wie eine Schweißperle über
ihre Hüfte rann, gerade wo der dünne Schleier sie bedeckte. Dieser
rinnende Schweißtropfen war wie eine wollüstige Berührung.

Da hörte sie zu ihrem Erstaunen Klaras Stimme.

Ihr Kavalier, ein steifer Beduine, in einer Kadettenschule erzogen,
sagte mit gelangweilter, selbstgefälliger Stimme: »In sechs, acht Reihen
griffen die Russen an, und wir warteten, bis sie ganz nahe heran waren,
dann erst eröffneten wir das Feuer.«

»Wie schrecklich!« rief Klara aus.

»Fünfmal griffen die Russen auf diese Weise an, immer in dichten Haufen,
und wir schossen sie zusammen. Sie schrien und stöhnten vor unseren
Verhauen. In der Nacht aber sank die Temperatur plötzlich auf minus 10
Grad, da wurden sie still.«

»Oh, wie entsetzlich!« Und Klaras Stimme verklang.

»Also kein Freund von Generalen?« fragte Hedi. Hier in dem kleinen,
leeren Zeltzimmer war es Gott sei Dank etwas kühler.

»Nein.« Der billardgrüne Räuber lachte, ein freches Räuberlachen. »Das
kann ich wirklich nicht sagen! Mit ihren Federbüschen, Ordenssternen und
Ritterschwertern wirken sie lächerlich auf mich, wie Gespenster aus dem
Mittelalter. Leider aber sind sie alles andere denn komisch. Ich
behaupte sogar, solange es Generale gibt, wird es Kriege geben.«

»Solange es Kriege gibt, meinst du --?«

»Keineswegs. Ich meine, was ich sagte. Solange man Leute zu dem einzigen
Berufe anstellt, Kriege vorzubereiten und zu führen, solange werden
Kriege unausbleiblich sein.« Der Räuber ringelte sich behaglich auf dem
Diwan zusammen und sog mit einem Strohhalm Eiswasser aus dem Glase. Er
schwatzte gern, tat gerne geistreich, Hedi hatte das längst
herausgefunden. Aber er gefiel ihr, und selbst sein Geschwätz über alle
möglichen Dinge hörte sie nicht ungern. Es wäre gänzlich falsch,
anzunehmen, daß Hedi nur für Flirt, Tanz und fünfzigpferdige,
dahinrasende Automobile Sinn hatte. Sie hatte auch Sinn für Gespräche --
nur für Langeweile hatte sie nicht die geringste Verwendung.

»Ja, unbedingt!« fuhr der Räuber eifrig fort. »Während die Welt nichts
Arges denkt, sitzen überall diese Generale und denken darüber nach, wie
sie ihre Kanonen verbessern könnten. Oh nein, sie verbessern sie nicht
selbst! Man kann in der ganzen Geschichte nachforschen, nie haben diese
Generale etwas erfunden, dafür haben sie ihre Spezialisten. Aber sobald
sie nun glauben, die besseren Geschütze zu haben, wird ihre Sprache
schon etwas kühner. Sie sammeln die große internationale Gemeinde der
Kanonenanbeter um sich, bestechen die Presse, stürzen Minister, die
nicht an ihre Kanonen glauben -- und schon ist das Unglück fertig. Nun
aber treten die Generale, die sich bisher im Hintergrund hielten, zum
großen Erstaunen der Mitwelt plötzlich in den Vordergrund. Keine Macht
der Welt ist von diesem Augenblick an mehr imstande --«

»Ich höre, du bist nicht Soldat?«

Wieder strich die kleine graue Witwe mit ihrem Kavalier an dem Diwan
vorüber. Der steife Beduine sagte: »-- stehe also auf der Sturmleiter,
die Uhr in der Hand. Mit der Sekunde springe ich aus dem Graben.«

»Was für ein entsetzlicher Augenblick muß das sein«, sagte Klara.

»Alles ist Gewohnheit. Der Mensch gewöhnt sich an alles, mein gnädiges
Fräulein.«

Die glänzenden Pechaugen des Räubers lachten aus dem vermummten Gesicht.
»Soldat? Auch ich war Soldat«, erwiderte er.

»War?«

»Ja. Jetzt bin ich es nicht mehr. Ich bin tot.«

Hedi brach in lautes Gelächter aus.

»Ja, ich bin tot, meine schöne Maske,« fuhr der Räuber fort, »ich bin
gestorben im Lazarett zu Warschau. Meine Bestattung kostete mich tausend
Mark. Der Feldwebel hat mich aus der Stammrolle des Regiments
gestrichen, ich existiere nicht mehr. Neben meinem Namen steht:
Gestorben am Typhus --«

Nein, wie Hedi doch lachen konnte!

»Wie herrlich -- wie wunderbar!« Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

»Welch wunderbarer Einfall. Er ist tot! Wer bist du eigentlich? Kenne
ich dich?«

»Wir sahen uns zuweilen im Kaiserhof.«

Ah! Daß er sie solange täuschen konnte? Es war Ströbel.


4

Plötzlich erhob sich der General. Seine Hände griffen nach dem Geländer
der niedrigen Balustrade. Hatte nicht eben die Empore geschwankt wie bei
einem Erdbeben? Die Musik versank, der Ballsaal war leer, brodelndes
Nichts. --

Ein unerklärliches Gefühl der Verlassenheit schnürte ihm die Brust
zusammen. Eine fremde Welt, unverständlich! Aber plötzlich trieb ihn ein
Verlangen, sich unter diese fremden, unverständlichen Menschen zu
mischen, die sich in bunte Lappen hüllten und lachten. Ein paar Worte,
Dora, ein paar Worte mit ihr sprechen!

Vorsichtig und tastend stieg er die wurmstichige Rokokotreppe hinab, die
unter dem Gewicht seines schweren Körpers krachte. Nunmehr war es ja
auch sehr unwahrscheinlich geworden, daß jene hochgestellte
Persönlichkeit, mit der er gerne ein paar Worte gewechselt hätte, das
Fest noch mit ihrem Besuche beehren würde. Der General bedauerte es
aufrichtig. Jene hochgestellte Persönlichkeit war niemand anderes, als
der Bruder der Gräfin Heller, dessen Name man nur ehrfürchtig zu
flüstern wagte. Der General hatte die Gelegenheit begrüßt, in den
Gesichtskreis einer Persönlichkeit treten zu können, die das Ohr des
Allerhöchsten Herrn hatte und über Schicksale entschied. Denn, nunmehr
war es offenbar: man hatte ihn vergessen, vollkommen vergessen.

Am Fuße der Treppe stand der General still. Der Blick seiner hellen,
grauen Augen glitt über den Saal. Das breite, erdfarbene Gesicht zuckte
bei der Bemühung, die Starrheit der Miene zu lösen. Es mißlang. Diese
sorglosen, heiteren Menschen vermochten keine Teilnahme in seiner Brust
zu wecken, kaum daß Doras Lächeln, das ihn traf, so oft sie
vorbeitanzte, eine flüchtige Wärme in seinem Herzen anfachte.

Nein, fremd, unverständlich!

Er begab sich in das Speisezimmer, trank ein Glas Sekt und zerkaute
gelangweilt ein belegtes Brötchen.

Der Erfrischungsraum war fast völlig leer. Ein Vermummter lehrte mit
feierlichem Ernst einer Verschleierten einige schwierige Tangoschritte.
Andächtig schob sich am Büfett ein befrackter Rücken entlang, von
Schüssel zu Schüssel.

Dieser andächtige, befrackte Rücken war der Geheime Rat Westphal, den
der Anblick der aufgestapelten Herrlichkeiten völlig hypnotisiert hatte.
All die Kriegsjahre hindurch hatte er sämtliche Vorschriften und
Gesetze, die die Ernährung betrafen, peinlich genau befolgt. Schon wurde
es ihm beschwerlich, eine Treppe zu steigen, sein Gedächtnis schwand, er
schlief vor Schwäche die Hälfte der Zeit in seinem Bureau im Auswärtigen
Amt, schlief, schlief, aber befolgte die Vorschriften, denn schließlich
gehörte er ja zur Regierung, die sie erließ. Und hier, war es möglich,
hier gab es ganze Schinken, man denke sich! Es gab hier ganze Puten,
ganze Gänse, man denke! Es gab hier ellenlange Braten, man denke! Das
Fett troff von den Schüsseln, es gab hier Sardinen, woher denn, beim
allmächtigen Gott, sogar Früchte, obgleich sie beschlagnahmt waren. Es
gab hier Torten und Kuchen wie in einer Konditorei vor dem Kriege. Es
gab hier Butter, und es gab sechs verschiedene Sorten von Käse. Der
Geheime Rat hatte sich der Wollust des Kauens hingegeben. Er kaute, er
nahm hier ein Stückchen Lachs, dort einen Putenschenkel, dann ein
Stückchen gesülztes Fleisch, dann wiederum ein Schnittchen rohen
Schinken. Auch ein Scheibchen Gänsebraten, von der Brust, eine
Pfaffenschnitte dazu, so! Seit zwei Jahren hatte er nicht mehr
ordentlich gegessen. Er knabberte ein Radieschen, und, wie gesagt, die
ganze Reihe der Käse und der Kuchen lag noch vor ihm. Andächtig schob er
sich an den langen Tischen entlang, den Blick durch die Brille
gleichzeitig auf alle Herrlichkeiten gerichtet.

Plötzlich aber blitzten in seinen Gläsern Ordensauszeichnungen,
Stickereien, das Rot des Generalstabes funkelte. Er prallte zurück.

»Herr General«, sagte er, sich verbeugend, und balancierte den Teller
geschickt auf der Hand.

Der General machte eine kühle Bewegung mit dem Kopfe und knarrte irgend
etwas in der Kehle. Nichts haßte er mehr als Aufdringlichkeit.

»Geheimer Rat Westphal. Ich hatte bereits die Ehre, Herr General.«

Eine kleine Pause der Verlegenheit entstand, die immer eintrat, wenn
Vertreter der hohen Generalität und Angehörige des Auswärtigen Amtes
sich begegneten.

Der General hatte einen unüberwindlichen Argwohn allen Beamten des
Auswärtigen Amts gegenüber, und der Geheime Rat seinerseits gebrauchte
allen Militärs gegenüber -- äußerste Vorsicht! Er hatte Angst vor ihnen,
er fürchtete sie, offengestanden.

»Ich bin allerdings etwas mager geworden«, sagte der Geheime Rat mit
nachsichtigem Lächeln und schob den Finger zwischen Kragen und Hals.
»Ich trug vor dem Kriege Kragen 42, aber nun könnte ich 38 tragen.«

»Es geht uns allen nicht besser«, antwortete der General. »Wie
beurteilen Sie diese Sache?« Und der General langte nach einem
Lachsbrötchen.

Der Geheime Rat griff nervös nach dem dünnen Chinesenbart.

»Ich bin,« begann er, »ich bin hoffnungsvoll. Es ist natürlich schwer zu
sagen, aber ich halte die Lage, jetzt in Anbetracht der militärischen
Situation für, ich möchte sagen, ganz vorzüglich, obgleich zu bedenken
ist -- England --«

»Wie, bitte?« Der General beugte sein knorpeliges, rotes Ohr mit den
kleinen Haarpinseln zu dem Chinesenbart herab.

Der Geheime Rat knackte verwirrt mit den Fingern und wich etwas zurück.
»Ich spreche natürlich nur meine Private Ansicht aus. Ich kenne
keineswegs -- ich weiß keineswegs, wie der Minister die Situation
beurteilt. Ich habe den Minister seit einem Jahre nicht gesprochen.«

»Sie sprechen von der politischen Lage?«

»Ich meinte, Herrn General so verstanden zu haben.«

»Ich meinte nur, wie Sie diese Sache heute abend finden.«

»Oh -- Verzeihung! Ich finde, es ist wie ein Delikatessenladen vor dem
Kriege, genau so, eine Art, möchte man sagen, Schlaraffenland, ha ha
ha!«

»Après nous le déluge!« sagte in diesem Augenblick ein heftig
schwitzender Beduine zu einer zierlichen Schleierfee.

Rügend wandte sich das Auge des Generals auf den Beduinen. Gerade dieser
Geist war es, der am Mark des Volkes zehrte. Mit einer Art von
Bewunderung mußte er in diesem Moment an den französischen
Ministerpräsidenten denken, der all diese Schwätzer und Kleinmütigen
ohne viel Umstände -- an die Wand stellte!

Wo aber war hier, hier in Deutschland das hypnotische Auge, das diese
Hypnose des Schreckens, die unter allen Umständen nötig war, auf das
Volk ausübte? Wo hier --?

In diesem Moment verbeugte sich ein Befrackter vor dem General, als
wolle er ihn zum Tanz engagieren. Es war indessen nur Petersen, der
meldete, daß Seine Exzellenz gekommen waren.

Eine flüchtige Röte huschte über das erdfarbene Gesicht.

Schon hatte der hohe Würdenträger den Saal betreten. Am Arme Doras
trippelte er dahin, ein greisenhaftes, zerstreutes Gewohnheitslächeln
auf dem langgezogenen, völlig glatten Wachsgesicht, das wächserne
schmale Ohr aufmerksam gegen Doras gemalte Lippen geneigt. Ein
Ordensstern blitzte auf seinem Frackhemd.

Augenblicklich dämpfte sich der Lärm des Festes.

»Wer ist es?«

Leises Wispern.

»Ah --?«

Ganz deutlich war plötzlich für alle der Abglanz der Allerhöchsten
Gnadensonne, in deren Schein der hohe Würdenträger nach Fügung des
Himmels seine Tage verlebte, auf dem wächsernen, glatten Gesicht zu
sehen.

»Und was für einen Orden trägt er?«

»Wie alt er geworden ist! Nur seine Augen sind noch die gleichen!«
dachte Dora, während sie sich an ihn schmiegte, als sei sie seine
Tochter. Sie durfte diese Vertrautheit wagen, denn er hatte in ihrem
Hause verkehrt -- damals! Er wußte alles. Aber damals war er noch nicht
Exzellenz, damals wurde er von seinen Freunden noch Franz der Erste
genannt, und die intim befreundeten Damen nannten ihn einfach Franzl.
Auch sie nannte ihn so. »Was ist nun aus ihm geworden? Eine Ruine!«

Aber Dora strahlte.

Der hohe Besuch rief Erinnerungen wach in ihr an jene Zeit -- an damals
-- da sie bewundert und auf den Händen getragen wurde, von aller Welt,
da alle Welt wetteiferte, ihr gefällig zu sein, da täglich Geisterhände
sämtliche Vasen und Schalen ihres Hauses mit den wunderbarsten Blumen
füllten. Und das heutige Fest erschien ihr plötzlich als eine
Fortsetzung jener blendenden Feste dieser Zeit. Wieder trug sie in einer
Nacht ein Dutzend verschiedener Kostüme, wieder wurde sie stets neu
entdeckt und stets neu bewundert. Wieder war sie von einem Schwarm von
Anbetern umgeben. Da war dieser Hauptmann, mit dem drolligen Namen
Feuerwalze -- hoffnungslos verliebt in sie! Da war dieser Sonderbare,
Unbekannte mit der rasselnden Schale, der sie auf Schritt und Tritt
verfolgte -- und da waren noch andere, die ihr Worte ins Ohr flüsterten,
die beim Tanzen plötzlich -- und ein eifersüchtiges Auge wachte über ihr
-- ganz wie damals.

»Hier ist er!« rief Dora mit heller Stimme und übergab den hohen
Würdenträger auf der Empore dem General.


5

Mit allen Anzeichen mühsam zurückgehaltener, freudigster Überraschung
erhob sich der General.

Wie alt er geworden ist, dachte auch er. Und die eine Augbraue ist schon
ganz verzerrt. Eine Wachsfigur! Er verbeugte sich. Der Orden, der auf
dem Frackhemd der Exzellenz funkelte, wog allein mehrfach alle
Auszeichnungen auf, die der General auf der Brust trug.

»Ich bitte«, flüsterte der Träger des hohen Ordens und streckte dem
General beide Hände entgegen, »aber ich bitte Sie herzlich, mein lieber,
alter Freund, freue mich, Sie wiederzusehen, freue mich ganz
außerordentlich, wieder einmal Gelegenheit zu haben.«

Schon stand ein Sessel bereit, und der General beachtete genau, bis der
hohe Würdenträger sich gesetzt hatte, bis er richtig saß. Erst dann
wagte er, neben ihm Platz zu nehmen.

»Erfreut, außerordentlich erfreut. Ich bin etwas verspätet, ein Diner.«

Petersen trat hinter den Sessel der Exzellenz.

»Ich danke -- doch, einen Augenblick, mein Freund. Ein Glas Wasser, wenn
ich bitten darf.«

»Ich sehe mit aufrichtiger Freude, daß Euer Exzellenz sich sehr
wohlbefinden«, rief der General.

»Bis auf mein altes Darmleiden, mein Freund --«

Die Unterhaltung wurde in lautem Tone geführt, denn der hohe
Würdenträger war schwerhörig, und es war bekannt, daß er es niemals
zugestand und niemals fragte. Man behauptete sogar, daß er die
wichtigsten Verhandlungen führe, ohne ein einziges Wort zu verstehen,
und völlig freie Erfindungen weitergäbe. Die Stimme des Generals klang
kräftig, er wünschte, daß der hohe Würdenträger kein Wort verliere. Wie
geschickt Dora diese Begegnung arrangiert hatte! Vielleicht würde diese
Gelegenheit, sich in Erinnerung zu bringen, nie wiederkehren.

»Zwischen den Schlachten«, sagte die Exzellenz lächelnd, und deutete auf
Turbane, Federbüsche und die Woge von nacktem Fleisch da unten.

»Exzellenz bemerken sehr treffend. Es sind zumeist Offiziere, die auf
Urlaub hier sind, Atem schöpfen, um morgen zur Front zurückzukehren.«

»Ja, ja, ja.«

»Exzellenz --.«

Der Einflußreiche legte seine weichen, kleinen Hände auf den Schenkel
des Generals. »Lieber Freund,« sagte er, »ich darf wohl bitten, alles
Zeremoniell zu lassen. Wir sind doch alte Freunde. Ja, wie lange kennen
wir uns schon?«

»Es sind,« der General dachte nach, »es dürften wohl dreißig Jahre
sein.«

»Dreißig Jahre!« Der hohe Herr rückte auf dem Sessel hin und her, wiegte
den wächsernen Kopf und lachte beunruhigt. »Ein Menschenalter! Ich
erinnere mich noch sehr deutlich, daß wir ebenfalls in Berlin einmal auf
einem Ball waren. Es war, wo war es denn nur gleich?«

Der General errötete. Nun wird er sich gewiß an diese Affäre erinnern,
an diese Entführung, und alles wird vergeblich sein.

»Ich erinnere mich nicht«, sagte er.

Aber mit dem Eigensinn eines Greises forschte der hohe Würdenträger in
seinem Gedächtnis nach.

»Es war bei Baron Kreß«, rief er aus. »Ja, nun habe ich es, und es war
eine entzückende Dame da, eine reizende kleine Person! Ah, ah, ah, wie
hieß sie doch?«

Der General schwieg beharrlich, außerordentlich peinlich war die
Situation. Scham erfüllte ihn, daß er nicht den Mut hatte, zu bekennen,
daß diese reizende kleine Person, wie Exzellenz sie zu nennen geruhten,
später --

»War es nicht eine kleine Baronesse Bassewitz? Nein, nein, es war --
nun, es ist lange her. Ich bin nicht für die Ehe geboren gewesen, mein
lieber Freund. Und wie fühlen Sie sich in Berlin?«

Der General rückte auf seinem Sessel. »Wo mich mein König hinstellt,«
heulte er in das Ohr Seiner Exzellenz, »da --«, er stockte.

Aber der Greis verstand vollkommen.

»Ja, ja, ja,« nickte er. Ach, er hatte diese Phrase tausendmal in seinem
Leben gehört. Er klopfte sich auf den Mund, um ein Gähnen zu verbergen.

»Ich höre aber, daß Sie sich bei der Truppe wohler fühlten, lieber
Freund? Meine Schwester --«

»Ich erfülle meine Pflicht und beklage mich nicht!« beteuerte der
General. »Indessen ist es ja selbstverständlich für einen Frontsoldaten
--«

»Ja, ja, ja -- natürlich, selbstverständlich.«

Der Würdenträger versank in Nachdenken, schloß die großen Greisenaugen
zur Hälfte, und es sah eine Weile aus, als ob er einschlafen wolle. Er
erinnerte sich plötzlich, daß man, vor gar nicht langer Zeit, bei der
Frühstückstafel von diesem Hecht-Babenberg gesprochen hatte. Irgend
etwas war ihm mißlungen oder besser gesagt, nicht gelungen -- irgend
etwas an der Front, und man sprach von einer Untersuchung, die schwebte.
Natürlich nur schwebte, alle diese Untersuchungen schwebten, und das war
ganz in Ordnung. Das Ansehen der Armee würde anders leiden. Daran dachte
er, und er quälte seinen alten, spitzen Kopf, um sich zu erinnern,
welches Mißgeschick dem General eigentlich passiert war. Es hatte sich
um eine Höhe gehandelt -- um irgendeine von diesen vielen Höhen, von
denen immer die Rede war. Er war kein Militär, und er kannte die Front
nur als eine ungefähre blaue Linie, die er überall in den Beratungssälen
auf den Karten sah.

Er las die Heeresberichte nicht mehr, seit langem, seit einigen Jahren
-- es waren ja immer die gleichen Orte. Ganz offen gestanden,
interessierte ihn die Front auch nicht, in militärischen Fragen war er
Laie, sie gehörten nicht in sein Ressort. Aber es hatte sich damals um
eine Höhe gehandelt, eine Höhe, na, es war ja schließlich vollkommen
einerlei. Hm, es würde wohl -- im Hinblick auf dieses Mißgeschick --
nicht ganz leicht sein . . .

Plötzlich verklärte ein Lächeln sein Gesicht. Da unten -- wie scharmant
-- hatte sich soeben ein Pärchen ganz sans géne während des Tanzens
geküßt! Diese Jugend -- wieder rückte er unruhig auf dem Sessel.

Der General aber erlaubte sich zu erwähnen, daß auch hier in Berlin
wichtige Arbeit zu leisten wäre. Es waren gewisse Einflüsse am Werk,
pazifistische, jüdisch-liberale, radikalsozialistische Einflüsse, die zu
bekämpfen waren. Der Wille des gesamten Volkes mußte zusammengeballt und
in eine Richtung gelenkt werden, zu einer letzten gewaltigen
Anstrengung. »Gewaltigen, gewaltigen!« schrie er in das wächserne Ohr
der mit schrägem Kopf lauschenden Exzellenz.

»Ja, ja -- sehr richtig -- sehr schön --«

Der General aber benutzte die Gelegenheit, dieser hohen Stelle seine
militärisch-politischen Ansichten im allgemeinen darzulegen. Der
Peipussee, der Weg nach Indien über den Kaukasus, die Zerschmetterung
Englands vom Orient aus, der Korridor über die Türkei und Ägypten nach
einem mächtigen deutschen Zentralafrika, Rohstoffreservoire,
Siedlungsgebiete, maritime Stützpunkte . . .

»Sehr interessant -- sehr wohl --«

Fließend trug der General seine Gedanken vor, sie bildeten das Thema
eines fertig ausgearbeiteten Vortrags, den er in den nächsten Tagen im
Bund Barbarossa halten wollte.

Der hohe Würdenträger nickte und blinzelte durch das geschnitzte
Geländer der Empore hinunter in den kleinen Saal. Viel angenehmer wäre
es ihm gewesen, wenn der General über diese Beinchen, Hüften und
Gesichtchen gesprochen hätte -- diese modernen Tänze waren sehr
reizvoll, wenn auch etwas gewagt. All das, was der General sagte, hörte
er täglich von Militärs. Nur diese Sache mit dem Korridor über Ägypten
war eine neue Variante.

»Sehr wohl -- sehr richtig --«, sagte er und nickte.

Und dieser Hauptmann, der eben mit Dora tanzte, sah es nicht ganz so
aus, als sei er -- etwas bekneipt? Bewundernswürdig diese überschäumende
Lebenskraft . . .

Dora gab es auf, mit Hauptmann Falk zu tanzen.

»Ich bin durstig, Feuerwalze!«

Gab es eine Bitte in der weiten Welt, die der Hauptmann mit größerem
Entzücken erfüllt hätte? Nein, keine. Er wollte Dora die gesamte
Weinernte von drei Jahrgängen zu Füßen legen, er schwor, die Weinkeller
der Millionäre in der Nachbarschaft zu plündern, wenn es sein müsse.

»Gib Wein, schwarzer Halunke!« schrie er dem fetten Neger zu.

Er leerte sein Glas auf das Wohl seiner Dame und warf es -- nun höchst
einfach -- mitten in das Orchester. Das gehörte zu seinem Stil.

»Spielt, ihr Schweine!« schrie er, und als die Musiker sich entsetzt
umblickten, fügte er mit einer tiefen Verbeugung, auf Dora weisend,
hinzu: »Für meine Dame!«

Dann nahm er einen blauen Lappen aus der Tasche, rollte ihn zu einer
Kugel zusammen, spuckte darauf und warf ihn den Musikern zu. Auch das
gehörte zu seinem Stil. Nun verbeugten sich die Musiker.

Vor knapp fünf Stunden war der Hauptmann in Berlin angekommen und bei
Ströbel, wie gewöhnlich, abgestiegen. Gestern früh, um sieben Uhr, hatte
er noch an der flandrischen Küste einen Graben gestürmt, mit dem Messer
hatte er gearbeitet, heute tanzte er hier -- es war ein Krieg mit
Komfort, wie er sagte -- morgen abend, um zehn Uhr, ging sein Zug --
vielleicht mußte er übermorgen wieder mit dem Messer arbeiten --
einerlei.

»Und noch ein Glas auf das Gedeihen dieser kleinen Härchen im Nacken da
--!« Ja, durch ein Sektglas gesehen hat die Welt ein ganz anderes
Gesicht.

Dora fand ihn ungeheuer drollig. »Weshalb aber trinken Sie so
schrecklich, Feuerwalze?«

Der Hauptmann versicherte, daß er ein Vulkan sei, sozusagen, ein Vulkan,
der sich bemühe, seine Temperatur zu halten. Dazu hätten ihn heute diese
kleinen Nackenhärchen rasend gemacht -- und dieses Ohrläppchen und noch
andere Sachen. Und er sei nichts als ein armes Frontschwein,
bedauernswert, kaum vierundzwanzig Stunden Zeit --

Plötzlich umschlang er Dora. Sie entfloh.

Schon aber rasselte die Schale, und ein bleicher Arm streckte sich dem
Hauptmann entgegen.

»Huh, hier ist er wieder. Ein unheimlicher Geselle.«

»Befehlen Sie, Gnädigste, und wir werden ihn töten. Hinweg mit dir,
Sklave!« schrie der Hauptmann mit gutmütigem Lachen.

Aber da begann der Bettelmönch plötzlich zu wachsen -- er wuchs, und
seine Augen blitzten . . .

»Bist du es?«

Hedi zupfte den Bettelmönch am Arm. Ihr Herz schlug.

Die blinkenden Augen zwischen den Tuchlappen zogen sich zusammen zu
Schlitzen, wie bei einer Eule. Der Bettelmönch wich zurück und verbeugte
sich, während er mit der Schale rasselte.

»Bist du es, sprich?«

Schweigen.

»Kennst du meine Stimme?«

Der Bettelmönch schüttelte stumm den Kopf.

»Zeige deine linke Hand!«

Der Bettelmönch zog beide Hände unter die Vermummung zurück und
verneigte sich noch demütiger, bis zur Erde. Es war ihm nicht
beizukommen.

Eine Dame flüsterte Hedi ins Ohr: »Es ist eine Königliche Hoheit.«

»Wer???«

»Man sagt es.« Scheu wich Hedi zurück.

                   *       *       *       *       *

»Ich bin der Ansicht,« schrie der General in das schmale wächserne Ohr,
»nur noch eine einzige, gewaltige Kraftentfaltung des deutschen Volkes,
und wir werden den Frieden diktieren.«

Der hohe Würdenträger wiegte den spitzen Kopf.

»Es ist möglich,« unterbrach er den General, »daß diese Anstrengung
nicht mehr nötig sein wird. Dies, bitte, ganz unter uns! Ja es ist
möglich, daß sie genug haben!« Plötzlich tat der hohe Würdenträger
geheimnisvoll. Aber immerhin -- er verbrachte seine Tage in
allernächster Nähe der allerhöchsten Persönlichkeiten.

»Wie belieben?«

»Möglich, immerhin möglich! Es sind Anzeichen dafür vorhanden. England
. . . Aber bitte, ganz unter uns!« Völlig unvermittelt erhob er sich.
»Außerordentlich gefreut, mein lieber Freund -- ganz außerordentlich.
Sehr interessant -- Ihre Ausführungen, sehr interessant. Bitte herzlich,
sich ja nicht zu bemühen --.«

Er war ja nur auf einige Minuten hierhergekommen, erstens, um dieser
prächtigen Dora die Freude zu machen, zweitens, um seiner Schwester
gefällig zu sein, und drittens -- nun drittens gab es nicht.

Vorsichtig stieg die steile, kantige Glatze die schmale Treppe hinunter,
die noch heute nach Weihrauch roch.

Der hohe Würdenträger kroch in seine schwarzlackierte Limousine und zog
eine Pelzmütze über den kahlen Schädel.

»Große Fähigkeiten, ohne Zweifel«, sagte er vor sich hin, indem er sich
im Polster zurechtrückte. »Aber weshalb schreien diese Militärs alle so?
Er hat mich fast taub geschrien.«

Und er schlief augenblicklich ein, während die Limousine lautlos durch
die Finsternis schlich.


6

Kaum hatte der hohe Würdenträger die rote Backsteinvilla verlassen, so
brauste der Lärm erneut auf. Die hochstehende Persönlichkeit da oben,
mit dem General zur Seite, hatte die Ausgelassenheit etwas beeinflußt.
Es war peinlich für viele, zu denken, daß ein so hoher Würdenträger sie
bei ihren Albernheiten belausche. Schon der General störte, er störte,
ohne es zu wissen, und man wünschte, daß er möglichst bald verschwinde.

Es kam auch die neue Kapelle. Zigeuner, die bis dahin in einer Bar
gespielt hatten. Es war die beste Kapelle von Berlin, und augenblicklich
fühlten es alle Tänzer.

Plötzlich aber ertönte laut und dröhnend ein Gong, und gleich darauf
wurde es, bis auf wenige Kerzen, dunkel. Eine kleine, helle Bühne mit
einem phosphorgrünen, dunstigen Vorhang im Hintergrund leuchtete. Der
Vorhang teilte sich. Eine Hand erschien, ein nackter Arm, eine
elfenbeinerne, glänzende Schulter. Eine schlanke Tänzerin trat aus dem
Vorhang.

Alle Turbane, Perlenschnüre und Federbüsche sanken plötzlich zur Erde
nieder.

Die Tänzerin war ein wunderbares Geschöpf mit einem herrlichen Körper
und jungen, kleinen Brüsten. Sie war vollkommen nackt, nur um die Hüften
trug sie eine Kette aus blauen Steinen und einen kleinen Schleier, eine
Hand breit.

Mit jedem Schritt löste sie sich mehr vom Dunkel los, ganz allmählich
tauchte ihr Körper in das Licht. Zuerst nur eine Ahnung von Fleisch und
Herrlichkeit, wurde er langsam verwirrende Wirklichkeit.

Wie eine Somnambule schritt die Tänzerin vorwärts, die Augen visionär in
die Ferne gerichtet. Sie hatte die Hände, zierliche, transparente
Finger, an ihre beiden jungen Brüste gelegt. Nun stand sie still, ohne
jede Regung. Dann -- bei einer bestimmten musikalischen Phrase -- hob
sie langsam den linken Fuß und begann sich in der Hüfte zu drehen.

In diesem Augenblick aber hub eine Uhr an zu schlagen. Es war ganz
still, so daß das dumpfe, rasselnde Schlagen der Uhr deutlich zu hören
war.

»Diese dumme Uhr!« sagte Dora halblaut und ärgerlich.

Die Musik brach ab, die Tänzerin stand, die zierlichen Finger an den
Brüsten, regungslos, mit leicht geneigtem Haupte, um das Schlagen der
Uhr abzuwarten.

                   *       *       *       *       *

Genau zur gleichen Stunde, an diesem Abend, meldete man Hauptmann v.
Dönhoff in dem halbzertrümmerten Keller des Champagne-Dorfes, wo er
zurzeit hauste, daß der befohlene Wagen zur Stelle sei. Dieser Wagen
sollte den Leichnam seines Adjutanten Kammerer, gefallen auf der
Beobachtung, nach rückwärts bringen. Dönhoff hatte den Wagen auf
Mitternacht bestellt, weil zu dieser Zeit das feindliche Feuer weniger
heftig auf seinem Dorfe lag, das heißt auf dem Schutthaufen, der von dem
Dorfe übriggeblieben war. Die Nacht hatte indessen keine Ruhe gebracht.
Die Geschütze tobten, und auch die Batterie Dönhoff feuerte, was die
Rohre hergaben. Die schweren Schläge der Haubitzen erschütterten
unaufhörlich den Keller, in dem die Batterieoffiziere um den Sarg des
gefallenen Kameraden versammelt waren. Einschläge knatterten. Eine
zusammengestürzte Scheune nebenan hatte einen Treffer bekommen, und der
Schutt qualmte, ätzender Rauch drang in das Kellerloch.

Punkt zwölf Uhr wurde der Sarg von einigen Batterieleuten hinausgetragen
und auf den Krümperwagen gelegt. Darauf verließen die Offiziere den
Keller, um dem gefallenen Kameraden das letzte Geleit zu geben.

Die Luft war lau, erfüllt vom ätzenden Rauch der qualmenden Scheune. Der
Himmel wetterleuchtete ohne Pause von dem Gespinst von Blitzen, das von
Horizont zu Horizont geisterte. Deutlich waren die umstehenden Kameraden
zu erkennen -- sogar die Tränen in ihren Augen. Furchtbar tobten die
Geschütze, und die Abschüsse der Batterie, die feindliche Zufahrtstraßen
unter Sperrfeuer hielt, knallten wie Explosionen. Die Granaten sägten
und gurgelten über die Köpfe hinweg in die Nacht hinein.

Gegen Süden zu, hinter der feindlichen Linie, stand ein feuerspeiender
Berg. Ein blutroter Glutkegel stieg in den schwarzen Himmel, unheimlich
und düster: irgendein Lager war da drüben bei ihnen in Brand geraten.
Nur wenn die Haubitzen in der Nähe ihre Feuergarben in die Nacht
schleuderten, so glomm der Vulkan für Augenblicke fahler. Ohne Pause
zuckten aus der Frontlinie gespenstige Lichtsignale in allen Farben
empor. Sie krochen bald niedrig über dem Boden, bald erhoben sie sich
wie Raketen und sprühten in der Höhe. Wie die höllischen Leuchtfeuer der
Unterwelt sahen sie aus, der die Totenschiffe zusteuern.

Eine Laterne wanderte um den Krümperwagen, die Hinterteile der schweren
Batteriepferde glänzten, der Sarg dehnte sich fahl im Wetterleuchten der
Abschüsse. Auf dem Bock kauerte ein Schatten, dessem Maul Funken
entstoben.

Die wütenden, raschen Schläge seiner Batterie erfüllten Hauptmann
Dönhoff mit Genugtuung. Gebt es ihnen tüchtig! Rache für Kammerer! Auch
der rotglühende Vulkan im Süden befriedigte ihn.

Erregt suchte der Gegner die Dönhoffsche Batterie zu packen. Ringsum
flammten die Einschläge.

»Sie haben Kammerer eine ordentliche Totenfackel angezündet«, sagte er,
und seine Stimme war von einem grausamen Triumph erfüllt.

Die Schatten der Offiziere drehten sich gegen Süden. »Ein Depot brennt«,
sagte eine Stimme. Unruhig wieherte ein Pferd.

»Kameraden«, schrie plötzlich Dönhoff mit übermäßig lauter und scharfer
Stimme. Er wollte möglichst rasch über die Szene hinwegkommen, er wollte
seinen Schmerz über den Verlust Kammerers verbergen, mit dem er drei
Jahre zusammengelebt hatte.

»Kameraden, Kammerer verläßt uns. Er war ein tüchtiger und prachtvoller
Junge. Fahre los! Lebe wohl, Kammerer!«

Dönhoff legte die Hand an die Mütze, und die Offiziere taten das
gleiche. Die kleine Laterne kroch über die Räder empor neben den
Kutschersitz und beleuchtete den langen, gelben Sarg.

In dieser Sekunde aber --

In diesem Augenblick begann es in der Luft zu sausen, ein hohles,
saugendes Rauschen war plötzlich nahe, und im nächsten Augenblick schlug
eine blendende Lohe bis zum schwarzen Himmel empor. Dönhoff stürzte, den
Arm vor die Augen geschlagen, rückwärts in den Keller hinab. Er hörte
den Knall der Explosion nicht mehr.

Verschwunden war der Wagen, der Kutscher, die Pferde und der Sarg.
Verschwunden waren die Offiziere, nichts blieb als der kräuselnde,
stinkende Qualm über dem Schutthaufen, den die schwere Granate
hinterließ. Aber die Haubitzen feuerten noch.

                   *       *       *       *       *

Die Uhr hatte ausgeschlagen.

Die Tänzerin erwachte aus der hypnotischen Starre, in die das Rasseln
der Uhr sie versenkt zu haben schien, die Lider hoben sich, und gelbe
Funken fuhren aus den Augen. Sie atmete wieder. Ihre zierlichen Finger
lösten sich von den jungen Brüsten, sie drehte sich in der Hüfte, hob
das linke Bein, knickte plötzlich zusammen, so daß sie mit dem Kinn das
Knie des linken Beines berührte -- lächelte verzückt -- und ihr
Elfenbeinkörper blitzte.

Dichtgedrängt glänzten die Augen der Vermummten im Halbdunkel. Eine
Schattenkugel mit zwei großen Ohren hob sich für einen Augenblick auf
dem hellen Hintergrund gespenstisch ab. Aber rasch duckte Professor
Salomon sich wieder auf den Boden.

Der General auf seiner Empore hatte den goldenen Kneifer aufgesetzt.

»Du bist noch schöner!« flüsterte Ströbel in Hedis Ohr, und seine Lippen
berührten ihren Nacken. Sie saßen dicht nebeneinander auf dem Boden. »Es
ist nicht Liebe -- ich belüge dich nicht, wie die andern Männer, aber es
ist -- Sympathie.«


7

Die kleine türkische Witwe in Grau hatte ihre ganze Kundschaft
eingebüßt. Alle fanden, daß sie reizend sei -- aber tödlich langweilig.
Zuletzt hatte sie das Glück gehabt, einen Offizier zu treffen, der die
Kampfstaffel Wunderlich kannte -- er lag ganz in der Nähe -- und ihr
versprochen hatte, Heinz Grüße zu bestellen. Das war der einzige
Lichtpunkt des Festes. Sonst fand sie es entsetzlich. Entsetzlich diese
Frauen, die halbnackt von Arm zu Arm wanderten, entsetzlich diese
Männer. Auch Hedi -- nun, du bist durchschaut, Hedi, gib dir keine Mühe
mehr.

Nun saß die kleine türkische Witwe mutterseelenallein auf dem Diwan im
Zeltzimmer, das Gesicht nachdenklich und gelangweilt in die Hände
gestützt. Alles würde sie Heinz schreiben, ja, schon begann sie in
Gedanken den Brief.

Sie hatte darauf verzichtet -- rundweg verzichtet -- diese schamlose
Person tanzen zu sehen. Sollte man so etwas für möglich halten? Und man
sagte, daß sie dreihundert Mark für den Abend bekäme und überall tanze,
wo man sie engagiere. Nicht für eine Million würde die kleine graue
Witwe, nicht für eine Million würde sie -- pfui.

Verlassen stand im Vorzimmer der Heilige, der mit wilder Gebärde das
Buch schwang, allein, wie sie. Sie fühlte Mitleid mit ihm und küßte ihm
die kalte, grüne Hand.

Das Haus war völlig leer. Selbst die Dienerschaft drängte sich unter den
Türen zusammen. Auch Papa -- ja, selbst ihr Papa -- seht an! Da stand
er, mit einem Sektglas in der Hand.

Klara stieg die Treppe empor -- aber sofort kehrte sie wieder um. Da
oben, bei den Truhen und Schränken stand der Bettelmönch mit seiner
Schale, und sie fürchtete sich, ihm allein zu begegnen. Obwohl man
sagte, daß es eine Königliche Hoheit sei. Auch er fand gewiß diese
Nackttänzerin schamlos.

Drinnen raste der Beifall. Die Musik setzte von neuem ein.

Dora eilte an ihr vorbei die Treppe hinauf.

Es war Zeit, wieder das Kostüm zu wechseln, nicht wahr? Es war auch die
beste Gelegenheit, gerade jetzt, wo der Tanz wieder begann.

Rasch rauschte Dora an den Truhen und Schränken vorüber. Da reckte sich
ihr aus einer dunkeln Nische die rasselnde Schale entgegen -- wieder
stand er da und verneigte sich.

Sie schrak zurück. Aber gewiß wollte der demütige Bettelmönch nichts
Böses.

Sie waren ganz allein, unten lärmte das Fest.

»Wer bist du?« fragte Dora.

Der Bettelmönch schüttelte den roten Turban.

Dora trat dicht an ihn heran und blickte in seine Augen, die zwischen
Vermummung und Turban blendeten. Einen Augenblick lang hatte sie,
erschreckend, gedacht, vorhin, er könnte es sein -- er, das Gerücht, das
kursierte! War es nicht möglich, daß er hierhergekommen war, auf eine
Stunde, unerkannt von allen Gästen, unerkannt selbst von ihr, um
wiederum unerkannt zu verschwinden. Es war unmöglich -- und doch,
wunderbar war dieser Gedanke.

Aber die Farbe der Augen stimmte nicht. Dieser Bettelmönch hatte helle
Augen.

Plötzlich sagte der Bettelmönch: »Dora.«

Und augenblicklich erkannte ihn Dora an der Stimme.

»Du --?!«

Der Bettelmönch, der den ganzen Abend stumm geblieben war, brach in
lautes, heiteres Lachen aus.

»Ja, ich bin es.«

»Und ich habe dich nicht erkannt! Du hast geschrieben -- noch heute --«

»Ich wollte dich überraschen!«

Dora zog ihn einige Schritte mit sich, bis zur Türe. »Geliebter --«
flüsterte sie.

Die Lappen fielen vom Gesicht des Bettelmönchs, und seine Zähne
blitzten.

Plötzlich umschlang er sie mit ungestümer Gewalt.

»Nein, nein --« sagte sie, bat sie. »Sei vorsichtig -- der General -- er
blickt heraus --!«

In der Tat war plötzlich für eine Sekunde das Gesicht des Generals an
der kleinen Tapetentür aufgetaucht, die auf die Diele führte. Allerdings
nur für eine Sekunde. Er hatte sie wahrscheinlich gar nicht gesehen.

»Laß ihn ruhig!«

Eine Perlenkette zerriß, und die Perlen prasselten auf den Boden. Mit
dünnem Knallen sprangen sie die Treppe hinab, eine hinter der anderen.

                   *       *       *       *       *

»Beunruhigung?« Der General zog die Brauen in die Höhe.

»Ja, ich meine, das Volk --«

»Das Volk?« Der General wiegte geringschätzig den Kopf.

»Verzeihung,« antwortete der kleine, elegante Rittmeister mit dem
schweißüberströmten Gesicht, »ich meine die Öffentlichkeit. -- Ist es
gestattet, Euer Exzellenz?«

Der kleine Rittmeister öffnete etwas die Tapetentür, die von der Empore
auf die Diele hinausführte. Es war heiß hier oben auf der Empore.
Unbegreiflich, daß der General es auszuhalten vermochte. Er mußte
Gletscherwasser in den Adern haben. Der kleine Rittmeister -- ja, wie
hieß er doch gleich? -- er gehörte einer der ersten Adelsfamilien des
Landes an, hatte die ganze Erde bereist, zurzeit in hervorragender
Stellung, mit den höchsten Auszeichnungen und einer blendenden Karriere
vor sich -- an all das erinnerte sich der General ganz genau, aber der
Name, dieser bekannte Name fiel ihm nicht ein -- der kleine Rittmeister
wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Er war als
Beduine gekleidet, hatte jedoch die Kopfbedeckung in den Nacken
zurückgeschlagen. Schon wieder brach ihm der Schweiß aus allen Poren.

»Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben« -- fuhr er fort -- »es ist
nicht zu leugnen, daß in der breiten Öffentlichkeit eine gewisse
Beunruhigung Platz gegriffen hat. In der feierlichen Osterbotschaft
wurde von Allerhöchster Stelle --«

»Bitte mich nicht mißverstehen zu wollen. Ich wage selbstverständlich
nicht, diesen hochherzigen Gnadenakt Seiner Majestät -- Sie belieben?«

»Ich bin ganz Ohr, Euer Exzellenz!«

»Ich selbst trete ja für eine Reform des Wahlrechts ein. Und zwar
schlage ich ein gestaffeltes Wahlrecht vor. Bis zu dreißig Stimmen --«

»Dreißig Stimmen?« fragte der schweißglänzende Beduine, bemüht, sein
Erstaunen zu verbergen.

»Je nach Besitz, Fähigkeit, Verdienst, Rang, Titel, Bildung.«

»Jawohl.«

»Kinderzahl, Alter, Stand, Religion.«

»Jawohl, ich verstehe vollkommen. Zu begrüßen wäre es nur, wenn bald
etwas geschähe. In unserer Zentrale laufen ja alle Berichte zusammen. Es
bilden sich Gruppen von Unzufriedenen.«

»Unzufriedenen?«

»Mehr als das, es bilden sich Gruppen, die umstürzlerische Tendenzen
verfolgen. Erst vor kurzer Zeit ist unser Augenmerk wiederum auf
konspiratorische Elemente gelenkt worden.«

Plötzlich unterbrach der General das Gespräch. Sein Blick glitt unruhig
durch die Türspalte. Sein Auge wanderte. Soeben hatte er Dora erblickt.
Sie glitt an der Türspalte vorüber -- kam aber im Augenblick wieder
zurück. Und plötzlich trat in der verlassenen Diele jemand zu ihr. Seht
an! Eben er, dieser -- nun was stellte er vor? -- diese Mumie, dieser
Unbekannte, den er schon den ganzen Abend beobachtet hatte.

»Natürlich sind es nur einige wirre Köpfe?«

»Natürlich. Aber immerhin, die Erscheinung ist symptomatisch --«

Ohne jedes Wort der Entschuldigung erhob sich hier der General und
streckte den Kopf in die Diele hinaus. Dies war der Moment, da Dora den
Bettelmönch warnte.

Der Kopf des Generals zog sich augenblicklich zurück, als Dora ihn
bemerkte. Er schloß die Tapetentüre.

»Symptomatisch«, wiederholte der schweißglänzende Beduine. »Auffallend
ist, daß selbst Angehörige der besten Gesellschaft --«

Zerstreut hörte der General zu. Sein Blick wanderte unruhig durch den
Saal.

»Bei dem neuen Fall, auf den ich anspielte,« fuhr der kleine Rittmeister
fort, »ist sogar die Tochter eines hohen Offiziers beteiligt. Ihr Vater
bekleidet Generalsrang. Es ist mir natürlich nicht möglich, mehr . . .«

Aber der General schien jegliches Interesse an dem Gespräch mit dem
Rittmeister verloren zu haben. Er tupfte sich mit dem Taschentuch
Schweißperlen von der Stirn. Dann stand er rasch auf.

»In der Tat,« sagte er stockend, »es ist unerträglich heiß geworden hier
oben. Vielleicht belieben Sie mitzukommen?«

Und beide verließen die Empore.

Auf der Treppe aber blieben sie plötzlich erschrocken stehen. Der
General taumelte sogar etwas zurück. Feuerschein blendete sie! Der ganze
Tanzsaal schien plötzlich in hellen Flammen zu stehen.

Ein dünner Vorhang war in Brand geraten und brannte lichterloh. Auch
einige Schleier fingen Feuer, und die Funken flogen. Die Damen schrien
auf und stoben auseinander. Der Feuerschein währte indessen nur einige
Sekunden. Inmitten der Flammen erschienen plötzlich ein Hauptmann in
Uniform und ein dicker, pechschwarzer Neger, die die flammenden Fetzen
auf den Boden rissen und zertraten.

Kaum daß die Musik eine Minute gestockt hatte. Das Fest ging weiter. Nur
ein dünner Brandgeruch blieb zurück.

Der schweißtriefende Beduine hatte diesen Vorfall benutzt, sich
unsichtbar zu machen. Als der General sich suchend nach ihm umblickte,
war er verschwunden. Es war dem General nur angenehm.

Mit schlechtverhehlter Unruhe schritt er durch die Räume. Seine Augen
forschten. Man nahm in dieser späten Stunde des Festes keinerlei
Rücksicht mehr auf ihn. Die Tänzer drängten ihn gegen die Wand. Einmal
wurde er dicht neben der Negertrommel festgehalten, die Hauptmann Falk
mit aller Kraft bearbeitete.

Professor Salomon stürzte ihm entgegen und berichtete wichtigtuerisch
von den Hungerkrawallen in England und dem katastrophalen Mangel an
Grubenholz über dem Kanal. Schon weigern sich die Bergleute einzufahren!
Nur mit Mühe und Not vermochte er den Kürbis abzuschütteln. Im
Erfrischungsraum traf er die Gräfin Heller, und es war nicht zu umgehen,
daß er sich mit ihr in ein längeres Gespräch einließ. Wieder und wieder
äußerte er seine Freude über das prächtige Aussehen Seiner Exzellenz!
Auch im Erfrischungsraume war von Dora nichts zu sehen.

Auch im Zelt nicht. Hier traf er nur eine Anzahl still kosender Paare,
die, dicht aneinander geschmiegt, den großen Diwan belagerten, und sich
durch ihn nicht im geringsten stören ließen. Angewidert und halb betäubt
von der schwülen Luft, die im Zelt herrschte, zog er sich sofort wieder
zurück.

Endlich betrat er das bengalisch rotglühende Musikzimmer, Ali Babas
Opiumhöhle.

Hier saßen die Vermummten im Kreise auf dem Teppich und klatschten im
Takt in die Hände, während sie geheimnisvoll summten und die Köpfe
wiegten. In der Mitte des roten Nebels tanzte ein weizenblondes,
schlankes Geschöpf, in flimmernde Silberschleier gehüllt, die Brüste
völlig frei und die Hüfte zwischen Jäckchen und Pluderhosen gänzlich
nackt. Sie tanzte eine Art Bauchtanz, rasend und hingerissen.

Und ah -- da war auch Dora! Wieder trug sie ein anderes Kostüm:
schwefelgelbe Seide, über die zinnoberrote, schreckliche chinesische
Drachen wie Flammen züngelten.

Wo aber war dieser andere hingekommen -- diese Mumie mit dem orangeroten
Turban?

Weit und breit war von ihm nichts mehr zu sehen.

Unter tosendem Beifallsklatschen sank die weizenblonde Tänzerin,
taumelnd vor Erschöpfung, mit einem wilden Schrei zu Boden.


8

Rastlos wanderte Dora durch die verlassenen Räume, rastlos hin und her.
Zuweilen warf sie sich in einen Sessel -- aber schon wieder wanderte
sie. Ihr schwefelgelbes Kostüm mit den grellrotzüngelnden Drachen
flatterte. Es war über die linke Schulter herabgeglitten. Die blonde
Haarfülle, die schmerzte, hatte sie halb gelöst.

Die Fata Morgana war zerflossen -- Sand, Sand, Wüste. Durch die Vorhänge
graute trüb der Tag.

Zertretene Blumen, abgerissene Schleier, halbgeleerte Gläser, Scherben.
Scherben von Worten, Gelächter, Scherben von Musik. Ein paar vereinzelte
Lampen brannten noch. Petersen hatte seinen Frack abgelegt und kletterte
in seinem Zebrakittel auf eine Leiter, um ein Fenster zu öffnen. Es zog.
Zuletzt erschienen die beiden Neger unter der Türe, in Ulstern,
Stehkragen, und verneigten sich.

»Hoffentlich war es nicht zu beschwerlich für Sie«, sagte Dora und
begleitete die beiden schwarzen Gentlemen in ihrer Zerstreutheit zur
Diele. »Vielen Dank!« Und sie drückte ihnen die Hand.

Sie empfand tiefe Sympathie für die beiden schwarzen Gentlemen,
aufrichtige -- auch sie waren fremd hier, auch sie gehörten in ein Land
mit Papageien, Wärme, blauem Himmel und Orchideen -- ganz wie sie. Alle
drei waren sie Fremde hier.

Ach, wie unglücklich sie war, Dora!

Sie sank auf einen Stuhl, wanderte wieder -- das Kleid glitt immer mehr
über die Schulter. Damals -- Reisen, Feste, Paris, Nizza, Italien -- und
immer Fröhlichkeit, jeder Tag ein Paradies für sich. Aber es mußte sein,
man riß sie los von ihm. Nein, sie liebte auch ihn nicht, um die
Wahrheit zu sagen, sie liebte einen andern, früher noch, der das
schönste Lächeln der Welt hatte. So -- mit diesem Lächeln stand er in
ihrer Erinnerung. Aber es war unmöglich. Er war arm, er hatte gar
nichts. Unmöglich. Dann hatte sie diesen Lumpen geheiratet -- weshalb
eigentlich? Weil die Frauen sich um ihn rissen -- er betrog sie am
ersten Tage schon. Ja, weshalb? Nur um diese Leere zu vergessen, die
zurückgeblieben war, als man sie losgerissen hatte.

Dann, eines Tages -- welch entsetzlicher Tag -- wo sie vis-à-vis de rien
stand -- buchstäblich -- das heißt noch Schulden. Aber es gab Freunde,
Gott sei Dank gab es -- einen hochherzigen -- ja, in Wahrheit
hochherzigen Freund, der nicht zögerte, ein Vermögen hinzugeben.

Und -- nun -- und nun? Oh -- entsetzlich!

Dora wanderte. Sie rauchte eine dicke Zigarette und wanderte. Die Jahre
flogen, die Sommer wirbelten rückwärts, Sommer um Sommer, Frühling um
Frühling. Und diese Welt, diese entsetzliche Welt, die schrecklicher,
oder, düsterer und kälter wurde mit jedem Jahr!

Nicht die Welt hatte sich geändert, Dora vergaß es. Sie war seit jener
Zeit, da jeder Tag ein Paradies war, um zehn Jahre älter geworden.

Aber sie begriff es nicht.

Und trüb graute der Tag.

                   *       *       *       *       *

Auch da draußen graute der Tag, und immer noch kläfften rasend die
Haubitzen der Batterie Dönhoff. Die Kanoniere schossen Vergeltung und
sollten sie dabei alle in Fetzen gehen! Grausam und rachsüchtig wühlten
sich die Granaten hinein in den Dunst des Morgens. Schon hatte eine
Haubitze eine schwere Granate vor das Rohr bekommen, und die Stücke
flogen.

Nun erwachte das Feuer an der ganzen Front und rollte mächtig von
Horizont zu Horizont.




Zweiter Teil




Erstes Buch


1

Es soll sich entscheiden, die Stunde ist gekommen. Das Schicksal hat
seine fürchterliche Frage gestellt und fordert Antwort. Das Rad der
Weltgeschichte kracht.

Wagen fahren vor, und Automobile fliegen heran.

Die Sonne funkelt. Ein Morgen von ungeahnter Herrlichkeit.

Umstellt von einer Meute von Staatsmännern und Generalen in Erz liegt
das Reichstagsgebäude und leuchtet in der funkelnden Sonne. Am
Westgiebel schimmern die goldenen Lettern: Dem deutschen Volke! Erst vor
kurzem wurde diese Inschrift angebracht, als Ausdruck der Allerhöchsten
Anerkennung und Huld, nachdem eineinhalb Millionen auf den
Schlachtfeldern gefallen waren.

Uniformen und Roben, ordenglitzernde Brüste und gestickte Kragen quellen
aus den Wagen und Automobilen, Lackstiefel, kleine, reizende
Damenschuhe, Gamaschen, Monokel und Aktentaschen. Wehende Bärte eilen
die Steintreppe zum Eingang der Volksvertreter empor, Fettnacken,
Brillen und Professorenmähnen, geschäftig, wichtigtuerisch, und jene
Raschen, die über die Treppen huschen, die Mappe unter dem Arm, das sind
die Rechtsanwälte.

Donnernd dröhnt die fürchterliche Frage des Schicksals, ohne Pause,
immerfort.

Von Zeit zu Zeit hebt der Portier die breite Brust und wirft einen
gebieterischen Blick über die Straße.

Aufgeregt fliegt der Polizeileutnant auf seinem Rad heran. Eine Mauer
von Blauen baut sich auf, die Berittenen sitzen wie Statuen, die
Unterführer stürzen zur Berichterstattung herbei. Der Polizeileutnant
betupft die schweißige Stirn mit dem Taschentuch und läßt den raschen
Blick über die Menschenmenge gleiten, gegen deren Zudringlichkeiten --
oder noch Schlimmeres? -- er unter Umständen die ordenglitzernden Brüste
und glänzenden Seidenhüte verteidigen wird.

Vorläufig allerdings ist die Menschenmenge noch nicht zu sehen.
Vorläufig steht sie noch in der Ferne, stumm, den Blick zu Boden
geschlagen. Doch der Augenblick wird kommen, da sie sich in Marsch
setzen wird -- bald vielleicht . . .

Ein paar Neugierige nur, an Zahl dem Aufgebot von Polizisten weit
unterlegen, stehen bescheiden gegen die Gebüsche des Tiergartens
gedrängt und bewundern Uniformen und Roben, Feldgraue, Verwundete an
Stöcken und Krücken unter ihnen. Irgendwo in ihrem Kopfe flackert
unbewußt der Gedanke, daß das Schicksal seine fürchterliche Frage
gestellt hat und Antwort fordert, heute, jetzt, in dieser Stunde. Aber
schon hat der Blick des Leutnants sie erfaßt, er runzelt die Stirn, und
die Neugierigen beginnen zu wandern. An ihren Krücken und Stöcken
humpeln sie in den Tiergarten hinein.

Was aber ist das? Aus den Gebüschen des Parkes kriecht, wie ein Tier,
das aus dem Dickicht kommt, an seinen kurzen Krückstöcken der Zitterer,
jener Soldat, dessen Gesicht dicht über den Schmutz des Bodens schleift,
und dessen gekrümmter, verstümmelter Körper von einem unaufhörlichen
Zittern geschüttelt wird. Unbekümmert um die Kette von Schutzleuten
kriecht er über den Fahrdamm -- sieht es nicht so aus, als ob er sich
geradeswegs in den Reichstag begeben wolle?

Gesetzt den Fall, der Wagen Seiner Exzellenz fahre in diesem Augenblick
vor? Würde der hohe Herr durch den Anblick des Krüppels nicht unangenehm
berührt werden, gestört in seinen Gedanken -- schon setzt sich ein
Berittener in Bewegung.

Plötzlich aber rücken sich die Berittenen im Sattel zurecht: lautlos
rauscht eine vornehme Limousine heran.

Ein kleiner, zierlicher Greis entsteigt der vornehmen Limousine,
feierlich und säuberlich gekleidet, wie für den Katafalk. Er blinzelt in
das grelle Sonnenlicht, als sei er eben seiner Gruft entstiegen, und
trippelt hastig und geschäftig die Treppen empor, ein gütiges Lächeln
auf seinem wächsernen Greisenantlitz. Weit öffnen sich die Türen.

Kaum war der schmale, gebeugte Rücken des Greises in der Tür
verschwunden, so fuhr die Limousine des Generals im Renntempo vor. Im
Augenblick kletterte Schwerdtfeger auch schon von seinem Sitz, während
der Motor noch donnerte.

Voller Würde entstieg der General dem Wagen. Er sah frisch und verjüngt
aus, das breite Gesicht leicht getötet, obwohl er in dieser Nacht nur
einige Stunden geschlafen hatte, und nicht einmal ruhig geschlafen. Erst
gegen drei Uhr war er von Doras Fest zurückgekehrt. Nachdenklich stieg
er die Treppe empor. Die roten Aufschläge des offenen Mantels
leuchteten, die Brust glitzerte von Ordenssternen. Er hatte keine Eile.
Er wußte, daß diese ganze Reichstagssitzung nichts als eine Zeremonie
war, die vor der Öffentlichkeit die nicht zu leugnende Tatsache der
konstitutionellen Regierungsform betonen sollte. Er wußte auch, daß die
Armeen da draußen schon bereitstanden, bereit zum Sprung, und nur auf
das Signal des Telegraphen warteten.

Morgen -- morgen . . .

Vergebens suchte der Polizeileutnant einen Blick des hohen Offiziers zu
erhaschen.

»Vielleicht ist es die beste Lösung!« dachte der General, als er die
dicken Läufer der Wandelhalle entlangschritt -- aber er dachte in diesem
Augenblick nicht an die Armeen, die sich wie die Sturmflut vorwärts
wälzen würden, sondern an die Nachricht, die man ihm kurz vor der
Abfahrt telephonisch übermittelt hatte. Eine betrübliche Nachricht
allerdings -- aber -- letzten Endes -- es ist Krieg, das darf man nicht
vergessen. Tausende, Hunderttausende . . . Er hielt es für seine
Pflicht, augenblicklich -- wenn auch in aller Kürze -- Dora schonend
davon Mitteilung zu machen. Noch bestand ja Hoffnung, wenn auch geringe
-- aber man bedenke: ein ganzer Stab von Offizieren, durch einen
einzigen Volltreffer! Welch ungeheurer Verlust für das Regiment. Die
Unterschrift, die noch ausstand, würde nun wohl überflüssig werden
. . .

Die Tribünen waren schon überfüllt, Kopf an Kopf. Ordenssterne,
Uniformen aller Art. Das Rot des Generalstabes, die goldenen Tressen der
Marine. Lächeln und Zuversicht auf den frischrasierten Gesichtern.
Bekannte ringsum. Ein fettes Gesicht mit Elefantenohren grüßte. Es war,
ja, richtig, dieser Professor Salomon -- der die Berechnungen für die
Marine machte -- ja, also am Mangel an Grubenholz konnte das stolze
England scheitern! Unbedeutende, kaum beachtete Dinge entschieden in der
Geschichte über das Schicksal von Völkern und Jahrhunderten. Eine
einstürzende Brücke, zum Beispiel, plötzlich aufkommender Sturm.
Napoleon ging zugrunde, weil der russische Winter um vierzehn Tage zu
früh einsetzte.

Die bedeutungslose Zeremonie hatte bereits ihren Anfang genommen. Die
Sozialisten hatten ein paar kurze, höchst unnötige Anfragen eingebracht,
sie waren mit zwei Worten erledigt.

»Und Dora?« dachte der General, bemüht, den Professor Salomon nicht zu
sehen. »Wie wird sie die betrübliche Nachricht aufnehmen?«

Langsam erinnerte er sich an die Begebenheiten dieser Nacht. Sie
erschienen unwirklich, wie Fragmente von Träumen, die sich erst
allmählich und widerstrebend zusammenfügen. Exzellenz schien seinen
Ausführungen mit Interesse zu folgen. Es war bedauerlich, daß er in der
Eile vergaß, über Belgien zu sprechen. Dann brannte es plötzlich -- wie?
-- ein Vorhang. Wie leicht hätte ein Unglück geschehen können! In Doras
Haus, wo es nichts als Vorhänge und Teppiche gab. Und dann -- dieser
Unbekannte und Dora -- auf der Diele? Wer mochte dieser Unbekannte --
diese Mumie gewesen sein? Und dieser kleine Rittmeister, dieser Beduine,
der so heftig schwitzte -- wie hieß er doch? -- was für merkwürdige
Dinge hatte er ihm doch erzählt? Und weshalb? Der General forschte in
seinem Gedächtnis . . .

Plötzlich rieselte eine kalte Welle über seinen Körper. Irgendein Blick
ruhte auf ihm. Er änderte die Haltung, strich mit den Fingern über den
Schnurrbart, und ließ den Blick kalt und abwehrend über Tribünen und
Köpfe streichen.

Sonderbar, deutlich fühlte er, daß ihn jemand anstarrte . . .

Die Minister saßen auf ihren Plätzen, gleichmütig, als seien sie an
dieser Zeremonie die am wenigsten Beteiligten. Sie kritzelten mit den
Bleistiften, tauschten scherzhafte Bemerkungen, betrachteten ihre
Fingernägel. Der gütige Greis -- peinlich säuberlich gekleidet, wie für
die Aufbahrung -- schien zu schlummern, ein friedevolles Lächeln auf dem
Antlitz. Plötzlich aber hüstelte er in die durchsichtigen Kinderhände
und erhob sich.

Augenblicklich wurde es totenstill im Hause.

Laut donnerte die furchtbare Frage des Schicksals . . .


2

Dora schlief zu dieser Stunde noch immer, Freude auf den heißen Wangen.

Ein ganz wunderbarer Traum entzückte sie; sie befand sich mitten in
einer Blumenschlacht in Monte Carlo oder Nizza, jedenfalls war es
bezaubernd. Blumengeschmückte Wagen zogen aneinander vorüber, Blumen der
herrlichsten Farben wirbelten gegen den tiefblauen Himmel und regneten
in ihr Coupé herab. Sie saß neben einem alten, würdevollen Herrn, mit
einem langen, weißen Spitzbart, den sie nie in ihrem Leben gesehen
hatte. Merkwürdigerweise trug er eine orangefarbene Schärpe quer über
der Brust, und alle Welt schien ihn mit Neugierde und Respekt zu
betrachten. In einem kleinen, von zwei schneeweißen Ponys gezogenen
Wagen saß ein Bekannter, der sie heftig mit Blumen bombardierte.
Plötzlich erkannte sie ihn, es war Otto, sie sprang auf, rief: heute
abend -- aber schon waren die Wagen aneinander vorüber. Otto verschwand
in einem Regen von Blüten. »Aber Helene«, sagte der Herr mit dem weißen
Spitzbart. So erfuhr sie, daß sie Helene hieß, es war höchst merkwürdig,
und sie begann laut zu lachen.

Das eigene Lachen weckte sie, und als sie die Augen aufschlug, regneten
gerade noch die letzten Blumen und Blüten über sie herab. Sie war in
köstlicher Laune, vergessen die Melancholie des grauenden Morgens.

Sie klingelte. »Ich werde im Bad frühstücken.«

Dora schlüpfte in die kleinen, seidenen Pantöffelchen, ließ sich den
himmelblauen Bademantel um die Schultern legen, und begab sich pfeifend
und trällernd, Butzi auf dem Arm, in das Badezimmer. Dieses Badezimmer
war, wie schon erwähnt, ein kleines Treibhaus -- Blüten, Wärme, Düfte --
weich und schneeig fiel das Licht durch die Glasdecke. Neben dem Bassin
stand ein kleiner Tisch mit dem Frühstück, den Zeitungen und der Post.
Und Blumen, Billetts, eine Menge Aufmerksamkeiten -- das Tischchen war
völlig bedeckt davon.

Dora lachte vor Vergnügen. Wieder kam ihr die Blütenschlacht in den
Sinn. Was für ein drolliger, alter Herr das war! Seine orangefarbene
Schärpe, wie unendlich komisch!

Gelungen war das Fest! Ganz Berlin würde darüber sprechen -- über die
Tänzerin, etwas kühn, nicht wahr, und die beiden Neger -- ja, es kam nur
darauf an, Einfälle zu haben! Eine Oase in dem grauen, schrecklichen
Winter. Dank für das Fest! Alle dankten, alle waren glücklich gewesen --
ein paar Stunden. Eine drollige Liebeserklärung von Hauptmann
Feuerwalze. Endlich hatte sie nach langer Zeit wieder fröhliche Menschen
um sich gesehen, und so war es nun einmal: Dora konnte nicht leben ohne
Freude. Aber -- sie schrak zusammen, indessen voll spitzbübischen
Vergnügens -- wie leichtsinnig war sie doch gewesen! Der Sekt -- sollte
es der Sekt gewesen sein --? Wie leicht hätte jemand sie beobachten
können!

Nichts aber liebte sie mehr als Abenteuer, aus einer Laune geboren --
eine Minute vorher wußte man noch nichts von ihnen, und oft eine Minute
nachher nichts mehr davon. Und Doras Gedanken huschten blitzschnell über
eine Reihe ähnlicher Abenteuer dahin, die sie nicht missen möchte in
ihrer Erinnerung.

Wunderbar -- und niemand, niemand . . .

Nur einer, oder ein paar Vertraute --

Plötzlich aber griff Dora wieder zur Post. Es ging nicht an, allzu lange
bei diesen Abenteuern zu verweilen.

Ein Brief des Generals! Seht an! Doras Lippen kräuselten sich. Sie legte
den Brief langsam zur Seite. Diese Schriftzüge jetzt, nein -- sie
langweilten sie momentan, steif und anmaßend kamen sie ihr vor, später.

Sie griff nach einem rosafarbenen Briefchen, das an einem Fliederstrauß
befestigt war. Zu ihrer großen Überraschung war es ein drolliges
Gedicht, die Huldigung einer lustigen Gesellschaft, die das Fest bei
Ströbel beschlossen hatte. Dora lachte, daß das Treibhaus zu klingen
begann. Ach, wie bezecht müssen sie gewesen sein --!

Zu dieser Gesellschaft, die das komische Gedicht bei Ströbel verfaßt
hatte, gehörte auch Hedi. Sie kam etwas nach zehn Uhr nach Hause, und
gerade, als sie das silbergraue Schleierkostüm, das ganz in Stücke
gegangen war, leider, abstreifte, erwachte Klara. Grelle Lichtzacken
stachen durch die zusammengezogenen Vorhänge.

»Ah, da bist du ja!« sagte Klara. Aber welche Betonung! Sie hatte die
Schwester zuletzt in einem Kreis von händeklatschenden Vermummten
gesehen, wo sie einen schamlosen Tanz aufführte, und es gab keine Worte,
die ihre Verachtung ausdrücken konnten.

»Ja, hier bin ich!« erwiderte Hedi mit einem sonderbaren, leisen
Auflachen. Sie war sehr blaß, und ihre Augen flackerten unstet.

»Wo warst du eigentlich?« fragte Klara, während sie neugierig und
überrascht die Schwester beobachtete.

»Ich?« Wieder lachte Hedi leise und heiter. »Du hast ja nicht gewartet.
Bei Ströbel. Alle haben wir bei Ströbel Kaffee getrunken. Herrlichen
Kaffee, Weißbrot, sogar Sahne!«

»Ströbel? Wer ist Ströbel?«

»Er besitzt eine Motorenfabrik und hat im Kriege Millionen verdient.«

»So, und da also --?«

»Und weißt du, wer den Kaffee gekocht hat?« fragte Hedi lachend. »Ich,
zusammen mit Ströbel. Denn Ströbel hat keine Dienstboten im Hause,
obschon er so reich ist -- um ungestört zu sein. Ja, also wir zwei haben
den Kaffee gebraut -- und das Wasser wollte gar nicht kochen, hahaha! --
aber niemand fiel es auf.«

»Was fiel niemand auf?«

Hier brach Hedi in lautes Gelächter aus. »Was sagte ich? Nun -- niemand
fiel es auf, daß es so lange dauerte, bis der Kaffee fertig wurde. Es
war einfach schnurrig! Die ganze Gesellschaft trank Kognak aus
Kaffeetassen. Wir haben alle Bruderschaft getrunken!«

Hedi lachte, erzählte, summte, tänzelte, während sie abwechselnd durch
Dämmerung und grelles Licht glitt. Bald flammte ihr Auge auf, bald ihr
weizengelbes Haar, bald ihre bleiche Haut. Plötzlich stieß sie ein Glas
vom Tisch, aber auch darüber mußte sie nur lachen.

Voller Verachtung drehte Klara sich gegen die Wand.

»Nun,« sagte Hedi triumphierend, »dieser Herr Ströbel ist nicht nur
reich, sondern auch ein Gentleman. Und er ist verliebt in mich! Dich
aber würde er wahrscheinlich gar nicht ansehen, kleine Braut.« Dies
fügte Hedi ein, um Klara zu reizen.

Aber Klara schwieg.

»Ah, seht an, sie spielt die Hochmütige!« fuhr Hedi fort. »Nun, mein
Liebling, es ist mir höchst einerlei, was du denkst. Du bist ja noch ein
Kind, und was solltest du vom Leben wissen? Auch was Papa denkt, ja,
siehst du, auch das ist mir höchst einerlei. Ich habe dir ja schon oft
gesagt, daß ich dieses Leben hier satt habe, diese ewige Langeweile, und
eure Rüben und Kartoffeln. Und dazu die ewige Kontrolle! Nein, mein
Herz, nun mache ich Schluß. Hörst du mich, kleine Braut? Ja, natürlich
hörst du mich, du tust ja nur so . . . ich werde euch verlassen . . .«

»Ja, verlassen, man hat mir eine Sekretärsstelle angeboten, tausend Mark
im Monat, bei völliger Bewegungsfreiheit -- ein kleines Bureau werde ich
haben, und einen kleinen Empfangssalon -- du staunst, wie? -- und bei
Ströbel selbst. Ich werde mir nun mein Leben so einrichten, wie es mir
gefällt. Ich bin jung, ja Gott sei Dank, noch bin ich jung. Und du
darfst mich besuchen, kleine Braut, und vielleicht schenke ich dir ein
Paar seidene Strümpfe --«

Ganz plötzlich schlief Hedi ein.

Aber ihr Schlaf war unruhig, und immerfort lief ein Zittern über ihren
Körper. Klara beobachtete sie.

Was war geschehen?

Labyrinthisch und voller Dunkelheiten erschien Klara plötzlich das
Leben. -- --

Dora aber freute sich immer noch über das Gedicht, während sie das warme
Bad genoß. Ihre Augen, ihre Zähne, Grübchen, ihre Schultern und Brüste,
die ganze Dora strahlte vor Entzücken. Es war so leicht, ihr eine Freude
zu machen. Sie wartete nur darauf.

Behutsam legte sie das Gedicht zur Seite, um es aufzubewahren, in dem
Schubfach, das angefüllt war mit ähnlichen Huldigungen.

Ein Billett von Otto. Sie strich das volle Haar in den Nacken, las --
nur zwei Zeilen -- und zerriß es, in winzige Stückchen, die sie in die
Aschenschale warf. Eine feine Röte flog über ihre Wangen.

Dann trank sie ein Täßchen Kakao.

Und dann griff sie nach dem Briefe des Generals. Seine Schrift begann zu
zittern. Es war nicht mehr die frühere, starke Hand. Er begann langsam,
ganz langsam zu altern, ja . . . Was sollte er ihr zu sagen haben?
Nichts, gar nichts.

Plötzlich aber saß Dora ganz still.

Ihre glänzenden, roten Lippen standen offen, die Hand zitterte -- ihr
schwindelte.

Heute nacht . . .

Heute nacht also . . .

Heute nacht, während sie tanzte, während sie scherzte, während sie
lachte. Vielleicht gerade in jenem Augenblick . . .

Heute nacht -- die Tänzerin, die Neger, die Vermummten -- alles wirbelte
vor ihren Augen.

Und vielleicht gerade in jenem Augenblick . . . Sie schauerte zusammen.

Wie betäubt hüllte sie sich in das Laken, den leeren Blick zu Boden
gerichtet. Vielleicht war er schon tot --

Ihre glänzenden Augen, von dem seltenen intensiven Blau, füllten sich
langsam mit Tränen.

Aber trotz allem haßte sie ihn, auch jetzt! Sie konnte es ihm nie
verzeihen, daß er sie schon am ersten Tage betrogen hatte, alles andere.
Immerhin, ein Mann, der ihr einmal nahestand. Der einzige Mann, der nie
sentimental war und nie eifersüchtig wurde. Der einzige, der nicht
flehte und nach ihr bettelte. Nein, bei Gott, das tat er nicht. Der
spöttische Blick seiner kalten, scharfen Augen stand vor ihr.

Hoffentlich litt er nicht, nein, nein, was auch geschehen war, diesen
Gedanken konnte sie nicht ertragen. Trotzdem sie ihn gerade in diesem
Augenblick bitter haßte -- leiden sollte er nicht! Und doch, ein
abscheuliches, verruchtes Gefühl triumphierte in ihr, ganz wider ihren
Willen: also auch dich hat es gepackt! Auch dich hat die Granate
zerrissen!

Ja, diesen furchtbaren Gedanken dachte Dora.

Sie stieß das Fenster auf: ein Morgen von ungeahnter Herrlichkeit
strahlte.

Dann klingelte sie eilig der Zofe.


3

»Und nun los, Heinz!«

Hauptmann Wunderlich schwang sich an den Krücken über den Flugplatz.
Gerötete Gesichter und rote Hände im Sonnenschein.

Augenblicklich verschlang das Dröhnen des Motors den Lärm der Geschütze,
und schon eilte die Maschine über den Rasen, dem herrlichen Morgen
entgegen. Der Flugplatz mit den Hangars schwang in weitem Pendelschlag
unter der linken Flügelspitze, eine Idee schräg lag die kleine Maschine,
kaum zu merken, ganz wie gestern. Meerheims Maschine, der einige Minuten
früher abflog, blitzt zuweilen wie ein Funke im Süden.

Schon hat der Motor die volle Tourenzahl erreicht, unmerklich drückt der
Boden des Flugzeugs gegen die Fußsohlen. Die kleine, kugelrunde Wolke
des rasenden Autos da unten auf der schneeweißen Landstraße wird
langsamer und langsamer, nun steht sie still, und nun scheint sie sich
plötzlich rückwärts zu bewegen.

Heinz zog die Mütze tiefer über die Stirn. Er berührte mit den Fingern
den Talisman auf seiner Brust. Nun war er unterwegs.

Die Farben der Erde fließen ineinander. Geschliffene Achate, Felder und
Wälder, der Weiher eine winzige Muschel aus Perlmutter, die zuweilen ein
Gefunkel aussendet. Samtweich schlingen sich helle Bänder zwischen den
Achatflächen, Wege und Straßen. Die Landschaft aber, dieser zarte
Teppich da unten, ist vulkanisch. Allerorts steigen ununterbrochen
kleine, verwehende Dampfwolken empor, wie aus Geisern, oft vereinzelt,
oft in Gruppen, milchigweiß, graugelb und schwarz. An einer Kurve
drängen sie sich dicht zusammen, wie schnellwachsende Dampfpilze paffen
sie ohne Pause auf -- das sind die Gräben.

Merkt er etwas?

Morgen, morgen, geht das Gerücht!

Heinz jauchzt vor Freude. Es wird zu tun geben!

Da und dort stehen in der Bläue des Himmels Gruppen dichtgedrängter
Lämmerwölkchen, aus denen Messer blitzen, Schwärme von Schrapnells, die
den Flugzeugen gelten. Von unendlicher Schwärze, blitzend von Myriaden
feinster Silberfunken, wölbt sich hoch oben der Äther.

In dreitausend Meter Höhe flog Heinz seinen Abschnitt auf und ab.
Meerheim patrouillierte im Nachbarabschnitt. Zuweilen sah Heinz seine
Maschine, wenn sie sich der gegenseitigen Grenze näherten. Hier oben war
die Front kaum noch zu sehen, leichter Dunst lag auf der Erde, nur
zuweilen warf der Gürtel der Geiser eine Gruppe schwarzer Rauchwolken
aus. Am Horizont ringsum blitzten die Messer der feindlichen und
deutschen Batterien. In der großen Weite war kein Flugzeug zu sehen, nur
nach Westen zu entdeckte Heinz eine Gruppe von Maschinen, die aber bald
verschwand. Dort schienen feindliche Flieger zu sein, und er wünschte
nichts sehnlicher, als daß sie hierher in seinen Abschnitt kämen. Er
glühte vor Kampfbegierde! Aber nichts ließ sich sehen, so sehr er auch
ausspähte, keine Seele. Mächtige weiße Wolkenmassen zogen unter ihm
dahin. Zuweilen ließ er die Maschine sinken, und dann wuchs ein
schimmerndes Schneegebirge rasch zu ihm empor. Türme von Schnee
brodelten ihm entgegen, Kuppen von Schnee wölbten sich, und der Schatten
seiner Maschine jagte über glitzernde Gletscher.

Heinz begann zu singen.

Wie eine Lerche trillerte er im Äther. Er mußte sein Glück hinausrufen.
Laut und inbrünstig hingegeben sang er: »Deutschland, Deutschland über
alles.« Er sang sämtliche Strophen des Liedes, das ihn schon in der
Schule berauscht hatte. Deutlich hörte er zuweilen aus dem Röhren und
Brausen des Motors seinen hellen Tenor.

Dann sang er die »Vöglein im Walde«.

Nie hatte er eine seligere Stunde erlebt.

Wie häufig, erschien plötzlich deutlich und scharf Klaras Bild vor
seinen Augen. Seligkeit wäre es, könnte er nur einmal mit ihr durch den
Äther dahinjagen! Nie würde er imstande sein, ihr dieses Glück zu
schildern.

Ja, heute, heute -- vielleicht würde es ihm endlich heute gelingen,
einen Gegner zu stellen! Oh nein, er zweifelte nicht eine Sekunde daran,
als Sieger aus diesem Zweikampf hervorzugehen. Er war entschlossen, er
war kühn, er fürchtete keine Gefahr, und er war beseligt von heißester
Liebe für sein Vaterland. Wie sollte er da nicht der Überlegene sein?

Dort? Dort? Schon jagte er hin --

Oft rückten die Schrapnellwolken der Abwehrgeschütze ganz nahe, aber zu
seinem Schmerz entfernten sie sich stets wieder. Es war sein
persönliches Pech, daß niemand seinen Abschnitt aufsuchte.

Allzu schnell war seine Zeit abgelaufen. Wieder vergebens! Mit der
Sekunde wandte Heinz die Maschine nach Hause. Er stürzte sich mitten in
eine der schimmernden Wolken hinein, glitt für Sekunden durch Düsternis
und kalten Nebel, um gleich darauf wiederum von Helligkeit geblendet zu
werden. Wieder lag da unten der schimmernde, bunte, freundliche Teppich,
und Heinz nahm den Kurs auf eine weiße Kirchturmspitze am Horizont.

Was aber gibt es? Was ist geschehen?

Plötzlich schwankt die Maschine, sie flattert hin und her. Mächtig
pendeln die Flügel. Heinz hat sich in namenlosem Erstaunen aufgerichtet.
Die Maschine stürzt . . .

Aber hinter der stürzenden Maschine her jagt wie ein riesiger Raubvogel
ein Flugzeug mit Farbringen auf den Tragdecken. Senkrecht stürzt es sich
in die Tiefe, dem Opfer nach. Der Pilot, in seiner Vermummung anzusehen
wie ein furchtbarer Dämon, beugt sich über Bord, um die stürzende
Maschine des Gegners auf die Platte seines photographischen Apparates zu
bringen.

Wie eine Motte flattert der deutsche Eindecker da unten, und plötzlich
löst sich etwas wie ein Gegenstand, ein Körper -- verschwindet rasch,
wie ein Punkt in der Tiefe.

Schon blitzen Messer auf am Waldrand, und der Raubvogel rauscht in die
Wolke zurück. --

Als Hauptmann Wunderlich die Nachricht hörte, zerriß er sich mit den
Nägeln das Gesicht und schrie: »Ich ertrage es nicht mehr, ich kann
nicht mehr!«


4

Immer noch sprach der freundliche Greis -- mit leiser, feierlicher
Stimme. Und immer noch verharrte das Haus in Totenstille.

Der kleine gütige Greis sagte Ja, und er sagte Nein. Er sagte Sofort und
sagte Niemals. Vorsichtig und sorgfältig fügte er Wort an Wort zu
kunstvollen Sätzen. Zuweilen huschte sogar etwas wie rethorischer Glanz
über seine Rede, ein Glanz wie er über Reliquien in den Kathedralen
liegt.

Die Erregung hat seine Greisenbäckchen gerötet wie die Bäckchen eines
Kindes.

Er war nicht abgeneigt, Zugeständnisse zu machen, das heißt nicht
eigentliche Zugeständnisse, es wäre ihm natürlich unmöglich, irgendwie
und in irgendeiner Form auch nur das geringste . . .

Er versicherte heilig seine Friedensgeneigtheit, ja, jeden Tag würde er
Frieden schließen, aber natürlich, er bittet, nicht mißverstanden zu
werden -- er war entschlossen, fürchterlich entschlossen . . .

Und er schwingt die kleine hilflose Greisenfaust durch die Luft. So
entschlossen war er.

Ja, entschlossen . . .

Der General setzte den Kneifer auf und warf den Kopf in die Höhe. Vor
ihm glänzte die bedeutsame Glatze eines Admirals, neben ihm schimmerte
nichtssagend das dünne gebürstete Haar eines Diplomaten.

Die Tribünen gegenüber lagen im Halbschatten. Kopf an Kopf, eine
gesichtähnliche Nichtigkeit neben der anderen. Und doch . . . Er fühlte
sich unbehaglich -- früher war er ähnlichen Einflüssen überhaupt nicht
zugänglich gewesen, indessen der Krieg -- die Überarbeitung . . .

Da!

Ein glänzendes, bleiches Gesicht unter all den matten Nichtigkeiten, und
ein paar Augen voller Schrecken und Entsetzen auf ihn gerichtet.
Vielleicht nicht auf ihn, eigentlich mehr auf den kleinen Greis, dessen
Kinnlade sich ruckartig bewegte. Der General hatte das Gesicht schon
irgendwo gesehen, vermochte sich indessen im Moment nicht zu entsinnen.
Es war nicht Schrecken, es war Grauen, das von dem glänzenden, bleichen
Gesicht mit den schwarzen rasenden Augen ausging. Dieses Grauen lähmte
die Zunge des sprechenden Greises, lähmte seine Bewegungen. Sein
erhobener Arm sank plötzlich herab, er schöpfte Atem, hastig, seine
schmalen Schultern schoben sich in die Höhe -- er beugte sich tiefer
über das Manuskript und stotterte.

Das bleiche phosphoreszierende Gesicht aber wuchs in die Höhe -- schon
fiel es allenthalben auf. Der Diplomat mit den dünnen, säuberlich
gebürsteten Haaren blinzelte beunruhigt und runzelte die Stirn.

Die dünne feierliche Stimme des Greises erschallte wieder.

Die kleine eigensinnige Greisenfaust schlägt auf den Tisch, und
eigensinnig wiederholt die tonlose und feine Stimme Ja und Nein, Niemals
und Sofort. Nun sind es keine Worte mehr, nun sind es nur noch Laute,
nur noch Luftwellen . . .

Nein, nein, nicht ein Greis sprach --

Deutlich sah Ackermann, daß dieser Greis eine Leiche war, die redete!
Die Tribünen standen voller Leichen in den Uniformen von Generalen und
Admiralen, mit Orden und Tand behängt, die Abgeordneten waren Leichen,
die still dasaßen, die Stenographen, der greise Präsident, der den Kopf
in die Hand stützte.

Leichen, ein Parlament von Leichen.

Und die Sonne umspielte sie. Die lebendige Stimme Gottes rief und
donnerte, aber sie hörten sie nicht.

Da aber begannen die Leichen zu erbeben wie Schilf im Wind. Ein
Sturmwind brauste durch das Haus. Die Leichen sanken zusammen, vermodert
sanken Uniformen und glitzernde Ordenssterne dahin.

Gesang . . .

In der Ferne ertönte ein Schritt, der dröhnende Schritt von
Hunderttausenden, Millionen -- Gesang fliegt vor ihnen her. Und dieser
Gesang ist der Sturmwind --

Da berührte jemand seinen Arm, eine knöcherne harte Hand, und eine
trockene Stimme sagte: »Sie dürfen sich nicht so über die Brüstung
legen.« Ackermann befand sich wieder auf der kleinen Tribüne, wo
zusammengedrängt das Volk sitzt, das keine reservierten Plätze
vorfindet. Er war nahe daran gewesen, eine seiner Ohnmachten zu
bekommen. Im selben Augenblick wurde applaudiert. Die Ordenssterne und
Uniformen rauschten durcheinander. Der freundliche Greis setzte sich und
träumte wieder von seinem Sarg, aus dem man ihn aufgescheucht hatte.

Die Abgeordneten betraten nacheinander die Rednertribüne. Worte und
Gesten. Schon ist die Zeremonie zu Ende. Die Tribünen beginnen sich zu
leeren.

Aber halt! Hier ist noch einer, der etwas zu sagen hat. Er hat die
furchtbare Frage des Schicksals vernommen, das Antwort fordert. Er will
zur Tribüne stürmen. Aber die Fettnacken und wehenden Bärte halten ihn
zurück, die Rechtsanwälte und selbst die vom Hunger Ausgemergelten.
Selbst sie! Die Journalisten auf ihrer Tribüne schütten sich vor Lachen.

Flammend steht er, der einzige, zornrot, mit weißen Haaren. Seine
rasende Stimme erstirbt im Lärm.

Schon sind die Tribünen leer. -- --

Die Pulse fliegen. Die Lider peitschen die Augen, das Blut donnert in
den Ohren, und die Glieder schwingen. Die Erde hebt sich, bald wird sie
zerreißen -- Rauch, Feuer! Genug, genug!

»Genug und vorbei!«

Das blaue Himmelsgewölbe splittert, Finsternis. Das Rad der Geschichte
vollendet krachend seine Umdrehung, es wälzt sich heran, zermalmend --
Staub, Rauch . . .

                   *       *       *       *       *

Uniformen und Roben fluten die Treppe hinab in den herrlichen Tag. Ganz
wie nach einem Pferderennen von den Tribünen. Die Rechtsanwälte schießen
hindurch, mit ihren Mappen, sie haben es immer eilig. Eingläser funkeln,
das Lächeln blitzt auf den Lippen einer schönen Dame. Sporen klirren und
Säbel rasseln.

Wagen fahren heran, die Automobile qualmen.

Lautlos huscht die Limousine des kleinen freundlichen Greises am Wall
der Schutzleute vorbei.

Schwerdtfeger hat seinen hohen Chef oben auf der Treppe erspäht und den
Wagen herangebracht, ohne die geringste Rücksicht zu nehmen. Er kennt
nichts als seinen Dienst.

Der General braucht nur irgendwo aus einem Hause zu treten und über den
Bürgersteig zu gehen, immer steht Schwerdtfeger bereit. Der General muß
nur den Fuß heben, das ist alles. Aber er hat sich nie Gedanken darüber
gemacht.

Oben auf der Treppe sprach der General einen Bekannten mit hohen Orden.
Er drückte seine Befriedigung über den Verlauf der Zeremonie aus -- die
Rede, prachtvoll -- und der Bekannte seinerseits versicherte, daß die
Rede in der Tat eine staatsmännische Leistung ersten Ranges war.

Nun stieg der General die Treppe hinab.

Die Lackstiefel eines Husaren blitzten vor ihm. Ein schmaler, eleganter
Rücken, ein vornehmes Profil, ein rascher, kühner Blick aus schönen,
klaren Augen -- der Husar weicht zur Seite und grüßt.

»Ah -- gut bekommen?« Ja, wie hieß er doch nur?

Leutselig schüttelt der General dem Husaren die Hand.

»Danke, Euer Exzellenz!«

»Ein netter Abend -- hm, etwas spät . . . wir haben ja -- Sie haben mir
ja von interessanten Dingen erzählt --?«

Der Husar blieb indessen völlig kühl und korrekt. Erstens war er kein
Beduine mehr, sondern Husar, zweitens war er, mit Respekt zu melden,
heute nacht völlig bekneipt, und als er aufwachte, fiel ihm (als erstes)
voller Schrecken ein, daß er Dummheiten geschwätzt und sich beinahe auf
Gott weiß welche Geschichten eingelassen hätte -- drittens war man nicht
mehr auf einem Ball, sondern im Dienst, und es wimmelte ringsum von
Würdenträgern und Exzellenzen.

Er blieb also kühl, korrekt, entschlossen, sich auch durch nichts
bewegen zu lassen. Seine schönen klaren Augen strahlten Offenheit.

»Leider vermochte ich nicht mit ganzer Aufmerksamkeit zu folgen -- es
war plötzlich so heiß geworden -- und dann brannte noch dieser Vorhang.«

Aber der Husar blieb zurückhaltend, entgegnete ein paar nichtssagende
Redensarten. Er errötete sogar.

Schwerdtfeger warf den Wagenschlag ins Schloß, und der General erwachte
erst aus seinen tiefen Gedanken, als die grelle Sonne in seinem
Arbeitssaal ihn blendete.

Er zog die blauen Vorhänge zu, das Licht schmerzte seine Augen, jetzt
erst machte sich der kurze Schlaf bemerkbar.

»Trotzdem -- trotzdem --« murmelte der General vor sich hin. Mehr und
mehr verfiel er der Gewohnheit, seine Gedanken laut zu äußern.

»Trotzdem -- ja, er wich aus -- nun, gewiß er ist ein Mann von größter
Selbstkontrolle, ohne Zweifel. Aber er errötete etwas. Weshalb?«

»Oder errötete er nicht?«

»Vielleicht habe ich mich getäuscht, aber es sah tatsächlich aus, als ob
er errötete.«

»Aber was, was hat er mir erzählt? Ja, wie ärgerlich, daß gerade diese
Sache mit Dora -- --«

»Aber weshalb erzählte er es mir?«

»Wie? Wie? Sogar Angehörige der besten Gesellschaft -- und . . .«

»Deutlich erinnere ich mich -- trotzdem . . .«

Der General starrte vor sich hin -- das Blut wich langsam aus seinem
breiten Gesicht. Plötzlich schüttelte er den Kopf. Welch absurder
Gedanke!

Er berührte die Klingel.

Weißbach erschien, und der General berichtete kurz über die
Reichstagssitzung -- ein Zeichen des größten Vertrauens und Wohlwollens,
das Weißbach, trotzdem er noch in Alkohol kochte, er war bis neun Uhr
bei Ströbel gewesen, zu würdigen wußte.

»Sollten Sie Näheres über Hauptmann v. Dönhoff erfahren --?«

»Jawohl, Herr General!«

Weißbach zog sich zurück. Der General war ihm grün erschienen,
leichengrün -- die Beleuchtung natürlich, oder auch sein Zustand. Er
trank wenig, aber er konnte nichts mehr vertragen, seit er in Rußland
seinen Nervenchok erlitt. Damals waren sie alle verbrannt, durch einen
Volltreffer, der den Unterstand in Flammen setzte -- nur durch einen
Zufall war er gerettet worden. Er wußte selbst nicht wie, er hatte es
auch nie begriffen.

Sobald Weißbach den Saal verlassen hatte, ging der General zum Telephon
und verlangte eine bestimmte Verbindung.

Erst nach geraumer Zeit ließ sich jemand hören.

»Ich hatte doch gebeten« -- begann der General ungnädig -- »mich
umgehend informieren zu wollen -- bereits acht Tage -- wie, bitte --?«


5

Ackermanns Blick fieberte durch die wimmelnden Uniformen und abrollenden
Wagen. Verzweiflung schüttelte ihn.

»Dieses Parlament, welche Schmach! Der Fluch des Volkes wird die
Schmachbedeckten treffen -- einst, einst --!«

Er sah die hohen Offiziere nicht, nicht die Generale mit ihren roten
Aufschlägen, nicht die Admirale mit den goldenen Tressen. Und niemand
beachtete ihn in seinem abgeschabten weiten Mantel, von Entbehrungen und
Qualen erschöpft -- ein einfacher Soldat, einer von den Millionen, die
niemand sieht.

Auf dem Straßendamm stand mitten im Qualm der Autos ein Berittener,
regungslos wie eine Statue. Mit furchtbarem Ernst saß er im Sattel,
quittengelb, mit spitzer Nase, eingefallenen Wangen und violetten
Augenhöhlen. Eine berittene Leiche hielt vor dem Parlamentsgebäude
Wache, im Sattel verhungert, aber sie tat ihre Pflicht.

Plötzlich drehten sich die starren Metallkugeln in den violetten Höhlen,
die Haut des quittengelben Gesichts straffte sich, der rostrote
Schnurrbart zuckte.

Er hatte Ackermann entdeckt, und eine argwöhnische, drohende Falte
spaltete die armselige Stirn.

Das Gesicht dieses gemeinen Soldaten war das Gesicht eines Mannes, der
geheime Gedanken hegte, Gedanken ganz besonderer Art, unzufriedene
Gedanken. Er kannte diese Gesichter vom Kasernenhof her und hatte sie
vernichtet, wo er sie fand, bis sie aussahen wie andere.

Schon drängte er sein Pferd näher, und sein Blick wurde messerscharf und
unbarmherzig. Er war aus der kaiserlichen Schule, auf den Mann
dressiert.

In diesem Augenblick aber ging Ackermann wie ein Schlafwandler mitten
durch die Uniformen und Wagen hindurch, schnurgerade über den Fahrdamm
-- ohne angestoßen, berührt, überfahren zu werden, sonderbar.

»Es ist Zeit!« flüsterte er. »Es ist Zeit!«

»Es ist höchste Zeit!« Er eilte.

Ihr Jungen, Wollenden, Wagemutigen, die Stunde schlägt! Ihr
Sehnsüchtigen, Verzweifelten, Zielerfüllten, ihr Hassenden, Liebenden,
Gesegneten, Boten und Verkünder des Menschenreiches -- auf, auf, die
Stunde ist da! Zögert nicht länger, ihr Gesandten mit den menschlichen
Antlitzen!

Böse folgte der Blick des Berittenen dem grauen Soldatenmantel, der
rasch zwischen den Bäumen verschwand.

                   *       *       *       *       *

Und schon -- ja schon rüsten sie sich zum Aufbruch, die Läufer, die
ihrer Zeit vorauseilen! Schon baden sie das Antlitz im Lichte einer
neuen Sonne, die heraufsteigt.

Schon erheben sie sich von den elenden Pritschen der Gefängnisse -- sie
werden durch hundertfach geschlossene Tore gehen wie durch Luft, keine
Angst. Schon hebt sich ihre leuchtende Wimper in den Kasernenhöfen
Europas -- und sie werden das triumphierende Wort aussprechen, und die
Kugeln werden von ihnen abprallen, keine Angst. Schon beten sie ihr
Morgengebet bei den Kanonen, in den Erdlöchern der europäischen
Schlachtfelder -- sie werden die Kanonen zerbrechen, als ob sie Schilf
wären, keine Angst. Schon wird ihr Schlaf in den Massengräbern Europas
unruhig, schon hebt sich ihr Auge, sie werden auferstehen, stärker als
der Tod, keine Angst.

Schon kommen sie, schon sammeln sie sich, in ganz Europa, sie, die
Brüder sind und sich erkennen am Glanz des Antlitzes. Schon ertönen ihre
Stimmen, da und dort, in ganz Europa, in der ganzen Welt!

Sie kommen!

Kommen sie? Kommen sie wirklich?

Ja, sie kommen! Horch! Schon wandert ihr Schritt im Tagesgrauen.

Und die Finsternis wird ein Ende haben?

Die Finsternis, die schreckliche, wird ein Ende haben.

Schon rötet sich der Himmel im Osten. Sie bringen das Licht. Sie kommen,
und sie werden dahinschreiten, und das Paradies wird unter ihren
Schritten erblühen.

Ihr Feldzeichen aber ist nicht rot, nicht blau, ihr Feldzeichen ist die
Liebe.


6

»Unbegreiflich!'« rief Herr Herbst aus und warf die kleinen Hände voller
Erstaunen in die Luft. »Was ein Mensch doch träumen kann! Also, Berlin
nichts als -- Schutt, nur Schutt, sagen Sie?«

Eingehüllt in den langen rostfarbenen Havelock, den steifen Hut auf den
Ohren, saß Herr Herbst im halbdunkeln Gastzimmer des »Löwen von
Antwerpen«. Eine große, sofort in die Augen springende Veränderung war
mit ihm vorgegangen: er trug keinen Kragen mehr! Denn früher hatte er ja
einen niedrigen, wenn auch nie ganz reinen Kragen und eine kleine
schwarze Binde getragen. Wer sie kennt, die Trinker, weiß, was es zu
bedeuten hat -- keinen Kragen mehr!

Ihm gegenüber saß der scheue, stille, bucklige Wirt, Herr Glienicke,
zwischen ihnen stand die Flasche.

Herr Glienicke räusperte sich krächzend, dann erwiderte er scheu
flüsternd: »Ja, nichts als Schutt, ein Haufen Schutt, das ganze Berlin.
Wie soll ich sagen -- eine Ruine. Und Raben --«

»Raben?« Schauer jagten über den Rücken des kleinen Herrn Herbst.

»Der Himmel war schwarz von ihnen. Sie flogen auf, wohin man kam -- wie
Wolken. Hm, und auch Leichen lagen da und dort, streckten die Hände aus
dem Schutt, blaue Hände.«

»Was für ein entsetzlicher Traum! Und keine Menschen mehr, sagen Sie?«

»Keine Menschen, nein. Nur Raben, alles war schwarz von ihnen. In ganz
Berlin keine lebende Seele mehr. Nur Schutt und verkohlte Balken. Da und
dort stand zwischen den Schutthaufen noch ein verlassenes Geschütz. Aber
keine Menschen.«

»Ah, ah -- entsetzlich!«

»Und dann begann es zu schneien --«

»Guten Tag!« sagte in diesem Augenblick eine helle, nüchterne, aber
bescheidene Stimme, und die beiden fuhren auf.

Ein schmächtiger, junger Mann war ins Zimmer getreten.

Der schmächtige, junge Mann näherte sich, den Hut in der Hand, dem Tisch
und verbeugte sich leicht und steif.

»Ich bitte um Verzeihung! Herr Herbst?«

Zitternd erhob sich der Havelock. Ja, weshalb in aller Welt zitterte er?
Es war nicht nur diese helle, nüchterne Stimme, nein -- jemand kannte
ihn, ihn, seinen Namen . . .

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen«, sagte die gleiche Stimme, aber um eine
Schattierung weniger bescheiden.

»Sprechen? Gewiß --«

»Nicht hier, bitte -- in besonderer Angelegenheit --«

Und die beiden verließen das Gastzimmer. Die Eulenaugen des Buckligen
sahen ihnen nach. Herr Glienicke hatte sich nicht von der Stelle
gerührt. Diese Stimme, unverkennbar: die Polizei!

»Bitte!« sagte der schmächtige junge Mann und lenkte den Schritt die
Fabriciusstraße hinab.

Mit etwas eingeknickten Knien schlürfte Herr Herbst neben ihm her. Er
verging vor Angst, erfüllt von den schlimmsten Ahnungen.

Wie immer spielten die Kinder auf der staubigen, zugigen Straße, aber
heute wagten sie sich nicht an ihn heran, da er in Begleitung war.

Mit hohem Singsang schritten sie im Reigen um ein Mädchen, das auf dem
Pflaster kauerte und einen Lumpen über den Kopf gezogen hatte. Ein
schwarzer Hund mit kurzem Schwanzstumpen trippelte mit den Kindern
ebenfalls im Kreise. Nur seiner erschreckenden Magerkeit verdankte er
es, daß er noch lebte. Denn hier außen gab es weit und breit weder Hunde
noch Katzen mehr, alles verzehrt, längst eine Beute der Professionells.
Hohläugig und wächsern erschienen die Kinder wie tanzende, in Lumpen
gehüllte Leichen, die aus den Gräbern eines Kinderfriedhofs gestiegen
waren, um hier zu spielen. Ihre Mütter arbeiteten irgendwo in den
Munitionsfabriken, die Väter faulten längst in den Massengräbern.

Und da war auch schon wieder jener Wagen mit dem schmutzigen Schimmel,
den ein bleiches abgezehrtes zwölfjähriges Mädchen kutschierte. Jeden
Tag kam er hierher in diese Straße, und kam er nicht gerade in die
Fabriciusstraße, so sah man ihn sicher dort an der Ecke warten. Heute
lagen nur zwei Kindersärge darauf, aber soeben brachte ein Mann einen
neuen Kindersarg aus dem Hause und warf ihn wie eine Kiste mit Flaschen
auf den Wagen. Jeden Tag, und doch gab es noch immer Kinder hier!

Die tanzenden kleinen Toten aber beachteten den vorüberfahrenden Wagen
mit den Särgen nicht. Sie schoben den Reigen nur etwas zur Seite und
sangen weiter.

Endlich brach der schmächtige junge Mann das Schweigen. Mit einem nicht
unfreundlichen Lächeln wandte er sich an Herrn Herbst.

»Sie wissen wohl, daß die große Offensive heute begonnen hat?« sagte er
im Tone eines Menschen, der ein Gespräch beginnen will. »Tausende von
Gefangenen --«

»Tausende -- so, so --« stammelte Herr Herbst verwirrt.

»Ja, am ersten Tage!« Aber das Gespräch kam nicht in Gang. So also ging
es nicht. Der schmächtige junge Mann polierte den Kneifer, lächelte
Herrn Herbst mit kurzsichtigen Augen an, und begann von neuem in etwas
kühlerem, geschäftlichem Tone: »Sie kennen mich nicht, Herr Herbst?«

»Wirklich nicht? Und Sie haben mich auch nie gesehen? Trotzdem gingen
Sie sofort mit mir, seht an. Ein neuer Beweis, daß es unleugbare Kräfte
gibt, die Macht über die Menschen verleihen, magnetische und hypnotische
Kräfte. Seit acht Tagen, seit vollen acht Tagen folge ich Ihnen wie ein
Schatten, mein verehrter Herr Herbst. Sie staunen? Sie sehen, man muß es
nur geschickt anstellen. Vor einigen Tagen aß ich sogar mit Ihnen am
gleichen Tisch in der Dorotheenstraße. Und am Schluß der
Reichstagssitzung stand ich dicht neben Ihnen, als Sie den hohen
Offizier grüßten --«

Herr Herbst zuckte zusammen. Ah, ah -- er hatte es ja augenblicklich
gefühlt! Seine Ahnungen! Die Polizei war ihm auf den Fersen, die
Geheimpolizei. Der General hatte sie auf seine Spur gesetzt, und nun war
er -- verloren! Ja, dieser General, natürlich, er wollte seine Macht
zeigen, er hatte ihm jenes furchtbare Wort entgegengeschleudert,
belästigte ihn . . .

»Ich hatte, mit einem Wort, den Auftrag, mich mit Ihrer Persönlichkeit
zu beschäftigen.«

»Ich weiß es.«

»Sie wissen es?«

»Ich dachte es mir! Einen Augenblick.« Herr Herbst wischte sich den
Schweiß von der Stirn.

»Ja, also den Auftrag«, fuhr der junge Mann geschwätzig fort. »Ich kenne
nunmehr all Ihre Gewohnheiten, Ihre etwas sonderbaren und keineswegs
alltäglichen Gewohnheiten. Es bedurfte eines psychologisch geschulten
Blickes, um nicht verwirrt zu werden, ich gestehe es offen zu. Nunmehr
sind meine -- Sie verzeihen -- Beobachtungen abgeschlossen, bis auf
einen großen dunkeln Punkt. Aber auch das wird sich finden. Ich hielt
die Zeit für gekommen, in persönliche Verbindung zu Ihnen zu treten. Sie
gestatten, mein Name ist Kunze.«

Der junge schmächtige Mann nahm den grasgrünen Plüschhut ab und machte
eine gemessene, steife Verbeugung.

»Angenehm!« schlürfte Herr Herbst und erwiderte mit einem Kratzfuß.
Ängstlich und mißtrauisch hefteten sich seine entzündeten Augen auf den
blinkenden Kneifer. Nichts Gutes, jedenfalls nichts Gutes!

Der schmächtige junge Mann, der sich Kunze nannte, war ärmlich, aber
peinlich sauber gekleidet. Sein dünner Überzieher, bis oben zugeknöpft,
war abgewetzt, aber man sah noch die Striche der Bürste. Seine
geflickten Stiefel waren glänzend gewichst. Er trug dünne
Zwirnhandschuhe, nur seine Manschetten, sie waren etwas grau geworden.
Er war semmelblond, das semmelblonde Schnurrbärtchen haarscharf
zugespitzt. Die Augen hinter den Gläsern erschienen matt, ausdruckslos
und sogar dumm. Unter dem Arm trug er eine dünne lederne Aktenmappe. Wie
alle Menschen sah er schlecht genährt aus, und sein Teint hatte eine
unreine, grünlich fahle Färbung.

»Hoffen wir es, daß meine Bekanntschaft für Sie angenehm sein wird«,
nahm Kunze nach dem beendeten Zeremoniell der Vorstellung wieder das
Wort, und er lachte leise dabei. »Für manch einen, für viele war meine
Bekanntschaft -- meine Bekanntschaft wenig angenehm, ähä, ähä! Ja, wenig
angenehm! Nun, nun, Sie haben nicht die geringste Ursache, sich zu
beunruhigen, ich betonte schon, daß ich mich durch Ihre sonderbaren
Gewohnheiten nicht verwirren ließ. -- Einen Augenblick, lassen wir diese
Elektrische vorbei -- so. Sie haben sich also vor geraumer Zeit an
unsere Organisation gewandt --«

»Ich nenne unsere Dienststelle so. Ihr Eingang wurde, wie alle
derartigen Eingänge, unserer Organisation automatisch zugeleitet. Sie
haben, unter anderem, schwere Verdächtigungen erhoben gegen
hochgestellte Persönlichkeiten, oder besser gesagt, gegen Angehörige
hochgestellter Persönlichkeiten, so daß eine ganz besonders sorgfältige
Bearbeitung der Angelegenheit notwendig wurde. Aus diesem Grunde hat
mein Chef mich beauftragt.«

Herr Herbst atmete auf. Also nicht der General -- es war diese andere
Sache --! Aber schon überzog wieder kalter Schweiß seine Stirn. Welch
gefährlicher Lage hatte er sich doch ausgesetzt! Und weshalb?
Unerklärlich alles. Im Rausch, in völliger Bezechtheit, hatte er diese
zwei Briefbogen vollgeschrieben. Zu spät. Seine Beine zitterten. Er
hatte Mühe mitzukommen.

»Wohin --?« stammelte er.

Kunze hielt den Schritt an und lächelte. Er hatte kleine, schlecht
gepflegte Zähne. »Sie können es sich nicht denken?« fragte er mit schräg
geneigtem Kopf.

»Wie sollte ich --?«

»In Ihre zweite Wohnung!«

»Wie --??«

»In Ihre zweite Wohnung!«

»Wie --?!«

Herr Herbst griff mit beiden Händen nach dem steifen Hut -- taumelte
zurück und entfloh . . .

»Aber so warten Sie doch! Wie sieht das aus, wenn wir hier einander
nachlaufen. Warten Sie doch! Aber ich muß doch bitten . . .«

Mit ein paar langen Sätzen lief Kunze hinter dem davoneilenden Havelock
her. Im Nu hatte er ihn wieder eingeholt. Er klemmte den Kneifer auf die
Nase, keuchte -- seine Lunge war nicht ganz in Ordnung -- und lachte
belustigt und nachsichtig.

»Nun, sehen Sie, es hat keinen Sinn. Aber weshalb erschraken Sie nur
so?«

»Ich -- ich . . .«

»Sie sind ja jetzt noch kreidebleich! Nun, nun, Ihre Nerven sind in
einem heillosen Zustand, Herr Herbst, einem bösen, bösen Zustand, ei,
ei! Und doch wollen wir nur in Ihre Wohnung in der Blücherstraße gehen.
Ich sagte Ihnen ja -- nur noch ein einziger großer dunkler Punkt -- he,
Kutscher!«

Kunze winkte geschäftig eine Droschke heran. »Blücherstraße!«

Herr Herbst hob abwehrend die Hände.

»Nein, nein -- unmöglich, ganz unmöglich!« stotterte er hilflos.

Aber der schmächtige junge Mann stampfte plötzlich ärgerlich auf den
Boden und sagte mit scharfer Stimme: »Sie werden gehen! -- Bitte, bitte
recht sehr, Herr Herbst«, fügte er wieder ruhig und höflich hinzu, und
schob den vor Erregung zappelnden Havelock in die wackelnde Droschke.

»Wir können den weiten Weg unmöglich zu Fuß gehen. Wir haben keine Zeit
mehr zu verlieren. Mein Chef ist schon ungeduldig, er erhielt eine Rüge
von einer höheren Stelle. Machen Sie es sich ruhig bequem. Es wird ja
alles bezahlt. Das sind die Spesen. Sehen Sie hier, in diesem Notizbuch,
hier unter H., das sind die Spesen. Ich hätte ebensogut ein Auto nehmen
können.«

Voller Verzweiflung starrte Herr Herbst vor sich hin.

Kunze zog vorsichtig die Beinkleider über das Knie herauf. »Mein Chef,
er ist Major, ermahnte mich ausdrücklich, keine Kosten zu scheuen«, fuhr
er zu schwatzen fort. »Mein Chef strahlt! Sie haben uns ja, mein lieber
Herr Herbst, auf eine eminent wichtige Spur gebracht -- ein selten
glücklicher Zufall! Ach, wie langsam doch dieser elende Wagen fährt! Das
Material wächst, der Ring schließt sich -- wir arbeiten Tag und Nacht --
mein Chef wird einen hohen Orden bekommen -- und auch ich vielleicht,
vielleicht sogar das Eiserne Kreuz, er machte Andeutungen, mein Chef
. . .«

Plötzlich brach Kunze ab und zog rasch den Kopf zurück.

»Pst, pst« -- machte er, und deutete mit dem langen, dünnen Finger auf
die Straße. »Aber sehen Sie doch, wer da eben aus der Elektrischen
steigt! Sehen Sie doch! Wie? Wie? Unglaublich -- Fräulein v. Hecht!«

Es war in der Tat Ruth. Sie sprang rasch aus dem Wagen und suchte ihren
Weg durch die Menge. Schon war sie verschwunden.

»Haben Sie sie gesehen? Berlin ist eine so große Stadt, aber man sieht
immer wieder die gleichen Leute. Machen Sie einmal den Versuch, fassen
Sie eine bestimmte Person ins Auge -- wo Sie auch hinkommen, da ist sie,
ich wette mit Ihnen, was Sie wollen. Was hat nun, frage ich Sie, eine
solch feine Dame hier in diesem Stadtviertel zu tun? Wie, wie? Wenn man
es nicht wüßte! Bald wird sie wohl nicht mehr hierherkommen, oder? Mein
Chef ist in bezug auf diese Dame etwas unruhig -- nun, verstehen Sie,
die Tochter eines hohen Vorgesetzten -- aber auch das wird sich ja alles
finden. He, Kutscher, fahren Sie doch etwas rascher!«


7

Mit einem kleinen Paket unter dem Arm kam Ackermann durch den
Tiergarten. Es war noch hell, Sonne, Tag. Wie gewöhnlich suchte er
verlassene Wege auf. Er kam vom Dienst und war auf dem Wege nach Hause,
wo man ihn erwartete.

Ja, schon sammelten sie sich, ohne Zweifel! In England, Amerika,
Italien, Frankreich, Deutschland, Osterreich, Ungarn -- überall in der
Welt -- die Brüder! Nur ein Blinder sah die Zeichen nicht, nur ein
Tauber hörte nicht die Stimmen! Nur ein Tauber . . .

In den Zeitungen, zwischen den Zeilen -- in Broschüren, Aufsätzen,
Büchern, überall Zeichen, die darauf hinwiesen. Überall diese Stimmen!
Trotz der Scharen von Zensoren und Agenten, die ausgesandt waren, die
Wahrheit zu erwürgen, so wie Herodes die Kinder von Bethlehem erwürgen
ließ, nur aus Furcht, weil er vernommen hatte . . . ah, ah -- sein
Morden war vergebens.

Die Gefängnisse sind überfüllt, hier und überall. Arme, betörte Sklaven
bewachen ihre eigenen Befreier! Zu Hunderten werden sie füsiliert, hier
und überall. Arme Verführte ermorden ihre Brüder. Aber -- _der Gedanke
lebt!_ Die Mauern werden fallen -- in der ganzen Welt -- der Gedanke
wird sie stürzen, der Gedanke, der war, bevor die Menschen waren. Der
Gedanke, den man ans Kreuz schlug, folterte, mit Steinen beschwert ins
Meer versenkte, mit geschmolzenem Blei übergoß, den die Gesandten des
Satans zu töten versuchten auf hunderttausend Arten -- und der immer
wieder auferstand. Weltreiche stürzten, aber er lebt.

Und die Brüder werden einherschreiten -- sie, die Heißen, die
Sehnsüchtigen, die Wollenden.

Und auch ich, auch ich, Ackermann, werde bemüht sein, mich ihrer würdig
zu zeigen.

Zu Ende der Dienst, zu Ende! Er hatte Schluß gemacht.

Sie würden ihn nicht mehr sehen.

Monatelang hatte er gerungen, in den letzten Wochen mit Schweiß auf der
Stirn -- der Gedanke siegte. Er war entschlossen . . .

Unter dem Arm trug er, in eine alte Zeitung eingewickelt, seinen
Drillichkittel, wie ihn die Schreiber in den militärischen Amtsstuben
anhaben. Er nahm ihn heute mit nach Hause. Zum Zeichen, daß er nicht
zurückkehrte. Die Kameraden hatten die Frage an ihn gerichtet, weshalb
er den Kittel einpacke. »Ich mache Schluß!« antwortete er. Aber sie
lachten, wie sollten sie es verstehen?

Nun, wohl: sollte man mit ihm machen, was man wollte. --

Ja, dahinschreiten werden die Brüder, und auf dem blutigen Schutt dieser
armen Erde werden sie eine neue Welt errichten! Schleift die Kasernen,
werden sie rufen, zerbrecht sie, schleift sie! Ihr Gestank verpestet
Europa und die Erde. Schleift sie und steckt sie in Brand! Sie, die
Brutstätten der Sklaven und Sklavenvögte. Täglich schänden sie
millionenfach die menschliche Würde, Millionen von Sklaven,
Hunderttausende von Sklavenvögten, die die Peitsche schwingen, brüten
die Verruchten jährlich in Europa aus. In die fernsten Dörfer, Steppen
und Wälder senden sie versklavte und geschändete Gehirne, in denen der
unschuldige und reine Gedanke des Göttlichen vernichtet wurde. Ämter,
Schulen, Kirchen, Fabriken, Werkstätten und das weite Land überschwemmen
sie mit Sklavenvögten, verdorben und blind vom Dünkel, so daß sie den
Bruder in ihrem Nächsten nicht mehr zu erkennen vermögen!

Schleift sie, verbrennt sie!

Zerbrecht die Kriegsschiffe der Piraten, deren Kanonen den Erdball in
Schrecken halten, zerbrecht sie!

Schleift sie -- werden sie rufen! -- die Zeitungspaläste, errichtet von
den Mächtigen und Reichen der Erde zur Verbreitung von Lüge und Betrug,
zur Vergiftung und Verführung der Nationen.

Schleift sie und verbrennt sie!

Reinigt Schulen und Kirchen, wo unschuldige Kinder und reine Seelen
betrogen werden. Reinigt die Tempel, hinaus mit den falschen Priestern,
die den Namen des Erlösers auf den Lippen führen und den Mord der
Nationen predigen. Hinaus, hinaus!

Hinaus, hinaus mit den eitlen Advokaten, den hartherzigen Greifen, den
selbstgefälligen Narren, die mit den Schicksalen der Völker spielen,
hinaus mit ihnen!

Es wird Zeit, ihr Brüder, daß die Welt genese!

Zerbrecht und schleift die Zwingburgen des Goldes, Tempel der Habgier,
Kerker der Freiheit und des Glückes aller Völker des Erdballs. Zerbrecht
die Mauern aus Stahl und Eisenbeton, wo die Plünderer ihre Schätze gegen
die Diebe verwahren! Zerbrecht sie!

Ihre Stimme wird erschallen wie der Donner -- und nicht mehr untergehen!

Ach, in dieser Stunde, schwärzeste Mitternacht der Völker, wird sie noch
verschlungen vom Lärm der Kanonen . . .

Plötzlich aber stockte Ackermanns Schritt. Mit offenem Munde stand er
still.

Aus der Stille des Parkes war er, versunken in seinen Gedanken,
unvermutet in das blendende Sonnenlicht und das Gewimmel der Menge
getreten.

Die Menschen schrien, schwangen die Hüte, eilten -- Flaggen wehten über
den Linden, Flaggen in allen Farben, allen Größen, flatterten lustig und
heiter im herrlichen, seidigen Blau des Himmels.

                   *       *       *       *       *

Die Stadt hatte geflaggt. Siege, Siege!

Wie die Sturmflut war das Heer vorgebrochen, wenn die Dämme gerissen
sind -- ganz wie der General es prophezeit hatte. Hunderte von
Geschützen, Tausende, Zehntausende von Gefangenen -- eine Batterie
trabte über die Linden. Der Kaiser hatte befohlen, »Viktoria zu
schießen«.

Die Stimmen schwirrten, Jubel fuhr dahin über die Millionenstadt.
Unaufhörlich mahlten die Drehtüren der großen Hotels fröhliche Gesichter
hinein und heraus. Die Foyers der Hotels waren überfüllt, schon sah man
Frühlingskleider der Damen, während andere noch Pelze trugen. Die
Kellner schleppten die silbernen Tabletten, die Kapellen musizierten.
Freude erhellte die Mienen.

Ja, wunderbar war diese herrliche Armee, prachtvoll diese Burschen, die
kämpften und starben, wie in den ersten Tagen des Krieges, als sei der
Tod ein Scherz.

Und diese Führung: unübertrefflich!

Zehntausende von Gefangenen -- immer mehr, mit jeder Stunde -- die Beute
unübersehbar -- unübersehbar . . .

Oben auf dem Brandenburger Tor trieb die Viktoria ihr Viergespann mit
siegesgewissem Lächeln vorwärts.

Fontänen von Extrablättern stiegen über den Linden in die Höhe. Die
Menschen ballten sich zu Knäueln, sie setzten ihr Leben ein, nur um ein
Zeitungsblatt zu erhaschen, ganz wie die prachtvollen Burschen an der
Front, die durch zischende Eisenstücke sprangen. Schirme wurden
zerbrochen, die Damen verloren die Absätze von ihren Schuhen, und die
Taschendiebe griffen ohne jede Rücksicht einfach in die Taschen.

Und die Batterie, vier alte Kanonen aus dem Siebziger Kriege, trabte
vorbei -- Viktoria . . .

Das Hauptquartier schwimmt in Wonne -- die englische Armee vernichtet
. . .

Furchtbar war dieser Winter gewesen, über alle Maßen furchtbar!
Unerträglich das Sterben ringsum, draußen und in der Heimat. Das
Sterben, das sich sonst in gesitteten Formen vollzog, es war in Panik
ausgeartet. Die Freunde starben, die Dienstboten, die Kutscher fielen
von den Kutschböcken, auf der Straße starben die Unglücklichen, man
sagte einem Gesunden »Gute Nacht«, und am Morgen hustete er ein paarmal,
und schon war er tot. Unerträglich, unerträglich, Tag für Tag zwischen
diesen wandelnden gelben und grünen Leichen einherzugehen, diesen
Gezeichneten, mit dem Kuß der Verwesung auf der Stirn, selbst solch eine
wandelnde grüne und gelbe Leiche, selbst ein Gezeichneter! Unerträglich!

Und die Kinder! Nein, sprechen wir nicht von ihnen, diesen kleinen
Gekreuzigten. Haben wir Mitleid! Geboren als Krüppel, mit weichen
Knochen, gummiweichen Schädeln, ohne Nägel -- und sie starben, siechten
dahin an den welken Brüsten verzweifelt weinender Mütter, auch aus den
Häusern der wohlhabenden Bürger wurden die kleinen, rührenden Särge
getragen. Zu Tausenden und Hunderttausenden gingen sie dahin, ein Strom,
Tag und Nacht. Ja, so weit war es gekommen, ohne Übertreibung, wenn auch
die Zeitungen nichts darüber schreiben durften, es war England gelungen,
zugestanden. Die Sache mit dem Burenkrieg seinerzeit war nur ein
harmloses Vorspiel gewesen. Gelungen, zugestanden. Hütet euch, ihr
Völker der Erde, seid gewarnt! Fordert nicht Englands Zorn heraus, sein
Blick tötet die Frucht eurer Weiber im Mutterleibe.

Unerträglich, völlig unerträglich war das ganze Dasein geworden -- und
jetzt, war es nicht wie ein Schimmer von Hoffnung?

Vielleicht, vielleicht doch!

Vielleicht würde es zu Ende gehen? Vielleicht . . .

Alles war zum Einsatz hingegeben: Väter und Söhne, Ernährer, Stützen des
Alters, Hoffnung, Glück und Sinn des Lebens, Ehre, die Zukunft des
ganzen Volkes, Gesundheit, Vermögen, Vieh, Pferde, die Glocken aus den
Kirchen, die Kochtöpfe aus den Küchen -- und ein Geschlecht von
Neugeborenen -- alles, auch das Gehirn unter der Schädeldecke --
vielleicht, vielleicht . . . Die Generale hatten den Wurf getan, die
Kugel hüpfte über die glücklichen Nummern -- vielleicht . . .

Wie gefangene Tiere hinter den Gitterstäben tigerten die Millionen an
den Eisenstäben ihres Käfigs entlang und witterten hinaus. Es roch nach
Befreiung -- nicht wahr? Einst hatten ihre Nerven die Erde umspannt, sie
waren durchgeschnitten worden und wimmerten. Einst waren sie Menschen,
hoffärtig und voller Fehler, aber doch Menschen, jetzt waren sie
gefangene Tiere geworden, Verworfene, Verbrecher, Parias, bespien und
beschmutzt, Tag und Nacht, vier Jahre lang. Die Luft selbst, die sie in
ihrem Käfig atmeten, war vergiftet. Hatte man nicht behauptet, daß sie
Fett aus Leichen kochten -- hatte man nicht . . . Aufs Rad geflochten
und über langsamem Feuer geröstet. Unbeschützt von einer Rotte von
Unfähigen, die in ihren Ämtern schlummerten, die Fingernägel polierten
und erhaben waren, erhaben -- einfach erhaben.

Die Gewaltigen, die Angebeteten und Vergötterten, sie würden gewiß alles
bis ins Kleinste berechnet und beachtet haben, bevor sie sich
entschlossen, alles hinzuwerfen -- auch das Gehirn unter der
Schädeldecke -- und die letzte halbe Million zur Schlachtbank führten.

Vielleicht, vielleicht --

Komme, gebenedeiter Tag!

Die Zeitungsfrauen entflohen, die alten Männer, die Zeitungen
feilhielten -- sie entflohen -- sie jagten die Linden hinunter --
verfolgt von der Meute. An der Ecke Linden-Friedrichstraße weinte eine
Zeitungsfrau, man hatte sie gänzlich ausgeplündert, ohne ans Bezahlen zu
denken.

Siebzig Millionen strichen wie Irrsinnige an den Gitterstäben entlang --
und die Armee hatte einen Ausfall gewagt, einen glückverheißenden
Ausfall.

Verheißungsvoll flatterten die Flaggen im seidigen Blau des Himmels.
Hell funkelte die goldene Göttin auf der Siegessäule.

Die Riesenstadt erbebte bis in die entlegensten Vororte. Überall
flatterten die Zeitungsblätter. Die Kolonnen der gelben Gesichter selbst
belebte die Hoffnung. Die Bewegungen der Erschöpften und Ermüdeten in
den Werkstätten wurden rascher. Verheißungsvoll zischte der Dampf,
blitzten die Räder.

Selbst in den Augen jener, über die bereits die Agonie ihre Schatten
breitete, in den Augen der Verzweifelten, Hungernden, Verhungernden,
Sterbenden ersprühte eine leise Hoffnung, der letzte Funke.

Ja, komme, du gebenedeiter Tag!

Aber horch! Was ist das?

Ein Geschrei wie von tausend gemarterten Kindern, ein Geheul wie von
tausend gemarterten Hunden -- nichts, nein, nichts, es ist nur eine
Regimentskapelle, die in die Linden einbiegt. Sie spielt nicht
erstklassig, Bucklige, Lahme, Greise -- was willst du? -- und eben
feuert auch die Batterie aus dem Siebziger Krieg Viktoria.

Über den Linden brummt ein Riesenflugzeug, zehn Menschen sind an Bord.
Wer sollte es ahnen? Es ist immerhin noch einiges im Lande, nicht viel,
aber noch einiges: zum Beispiel die Haare der Frauen für Seile und
Webwaren, das Gold in den Gebissen. Die Generale und Gamaschenträger
werden nicht zögern.


8

Plötzlich leuchtet ein helles Rot durch die Menge, das weithin blendende
Rot eines Mantelaufschlages.

Ein Gesicht, rosig angehaucht wie ein Steingebirge beim Ausgang der
Sonne, wandelt die Linden einher.

Die Spaziergänger bleiben neugierig stehen. Einer von jenen, die Gut und
Blut der Nation in den Händen halten! Ehrfürchtig lüften sich die Hüte,
die Augen glänzen.

Es hätte nicht viel gefehlt, und man hätte dem General, der mit Otto die
Linden entlangging, eine Ovation dargebracht, obgleich er an den
Zehntausenden von Gefangenen gänzlich unschuldig war. Der General hob
die Hand zum Gruße. Er nahm diese Äußerung der Begeisterung mit Würde
und Bescheidenheit entgegen. Sie galt selbstverständlich nicht ihm, sie
galt der unvergleichlichen Armee, sie galt den Begnadeten, Angebeteten
und Vergötterten, die jetzt, in diesem Augenblick, das hohe Spiel
spielten -- da draußen . . .

Die Miene des Generals war verschlossen und gesammelt wie immer.
Trotzdem ein großer, ja ein auffallender Unterschied! Während sich sonst
der Blick in die grauen Augenhöhlen verkroch -- selten nur, höchst
selten bot der General seine Augen den neugierigen, zudringlichen
Blicken der Mitmenschen dar -- standen heute die Augen offen und
blendeten. Ihr Blick war erwärmt, wie wenn die Sonne das Eis leckt.
Zufriedenheit leuchtete in der Tiefe und Triumph, ein stiller,
zurückgedämmter Triumph. Und zudem ging der General zu Fuß, was nur in
äußerst seltenen Fällen vorkam. Zuweilen ließ er sich von Schwerdtfeger
in eine entlegene Allee des Tiergartens fahren, um einige Minuten
spazierenzugehen, immer hin und her, die Hände auf dem Rücken, höchstens
eine Viertelstunde. Manchmal legte er auch den Weg von Dora nach Hause
zu Fuß zurück, wenn es spät wurde. Aber das waren, wie gesagt,
Ausnahmen.

Er hatte Schwerdtfeger vor dem Brandenburger Tore halten lassen und
beschlossen, den Weg bis zu Stifters Diele zu Fuß zurückzulegen. Zur
großen Genugtuung Ottos, der, seit acht Tagen aus dem Lazarett entlassen
und den ganzen Tag in einem Kriegsamt tätig, das Gewimmel der Menschen
liebte.

»Diese Menschen!« sagte der General.

Und erst an jenem Tage, wie da die Linden von Menschen wimmeln würden --
an jenem Tage! Kopf an Kopf, an den Fenstern und auf den Balkonen,
schwarz die Dächer, die Luft erfüllt von Fliegern und Luftkreuzern.
Triumphpforten, die ganzen Linden entlang, Musik -- und der Schritt der
siegreichen Armee, die in die Heimat zurückkehrte, dröhnend vom
Morgengrauen bis zum Sinken der Sonne -- jenes Dröhnen, unter dem die
Welt erbebt war. Die Fahnen geschmückt mit Lorbeer . . .

Niemals konnte der General das Brandenburger Tor passieren, ohne daß die
Vision des heimkehrenden Heeres vor ihm aufstieg. Heute aber hörte er in
der Tat das Dröhnen der Schritte, heute sah er die bekränzten Kanonen
zwischen den schwarzen Menschenmauern rollen. Diese wunderbaren,
schweigenden Rohre, die so herrlich ihre Pflicht getan hatten! Das
Geschrei der jubelnden Menge, Tücherwinken auf den Tribünen -- gab es
etwas Ergreifendes für ihn, etwas wirklich Ergreifendes, so war es
dieser Gedanke. Ohne Zweifel, es würde der glücklichste Tag seines
Lebens werden!

Unverkennbar, die Ähnlichkeit der beiden! Dieselben breiten Gesichter,
beim Alten grau im Unterton, mit einem dünnen Anflug von Rot darüber,
beim Jungen bleich, mit dem satteren Rot der Jugend auf den Lippen.
Dieselben Augen, kühn und nachdenklich beim Alten, verwegen und
leichtsinnig beim Jungen.

Der Alte mit einem sonderbaren Kreuz zwischen den roten Aufschlägen, der
Junge die Brust mit Auszeichnungen übersät, eine Narbe an der Stirn, und
die linke Hand steif in einem schwarzen Handschuh, verwundet, offenbar.
Beide groß, massig.

Otto versuchte, mit dem Vater Schritt zu halten. Das war nicht so
einfach. Denn die Schritte des Generals waren unregelmäßig, und zuweilen
schwankte er auch, unmerklich. Er war das Gehen nicht gewöhnt, von
Gedanken erfüllt, die seinen Gang beeinflußten.

Der Blick des Generals war voller Ruhe in die Weite gerichtet -- Ottos
Blick dagegen flog blitzschnell hin und her. Die langen Wochen im
Lazarett, vergessen und vorbei. Das letztemal, Gott sei Dank! Er hatte
es ausgerechnet, ein volles Jahr, zwölf volle Monate lag er während des
Krieges im Lazarett. Vier volle Monate mit diesem verdammten Kopfschuß,
einen Monat mit der Ruhr, zwei Monate mit einer niedlichen Gasvergiftung
und so weiter -- und schließlich diese Kleinigkeit mit der Hand. Die
nette Schwester hatte ihm ja den Aufenthalt im Lazarett so angenehm wie
möglich gemacht, trotzdem, sein Bedarf war reichlich gedeckt.

Nein, Otto sah keine bekränzten Kanonen, fiel ihm gar nicht ein, er sah
nur -- Frauen! Drei Jahre Front, nur Männer, pfui! -- ein Jahr Lazarett
-- ja also nichts anderes. Über jede gutgekleidete, junge Frau, mit
anderen beschäftigte er sich überhaupt nicht, zuckte sein verwegenes
Auge. Kein Knöchel, kein Schuh, keine Hüfte, keine Locke entging ihm.
Jene Kleine, zum Beispiel, Dutzendware! Jene Kleine aber, unscheinbar,
voller Geheimnisse. Jene dunkle, die das Auge sofort unter dem Blick
erweiterte -- lüstern! Aber jene Schüchterne, Blasse, die dem Blick
augenblicklich auswich -- gepeinigt von entsetzlichen Wünschen. Sie
verstand augenblicklich.

Die Augen der Frauen sprühten auf, zuckten zusammen, verbargen sich.
Manche umschmeichelte Otto weich und schwärmerisch, anderen fuhr sein
Blick wie ein Dolch in die Augen, brutal und unzweideutig. Er behandelte
sie individuell, ganz wie er sie einschätzte. Viele erröteten unter dem
frechen Blick des unverschämten Offiziers. Aber Ottos Eitelkeit deutete
die Schamröte völlig falsch.

Dieser Nacken, dieses Schenkelpaar und jenes herrliche, volle Wiegen der
Hüfte -- drei Jahre Front und ein Jahr Lazarett hatten den Sohn des
Generals völlig zerstört.

Ja, das war das Leben, und er gedachte seine Zähne in dieses Leben zu
schlagen, wie ein Tiger sein Gebiß in die Gazelle schlägt, er gedachte
mit beiden Händen darin zu wühlen, wie in blutigem Fleisch. Sein Gehirn
war angefüllt mit weiblichen Körpern, weiblichen Linien, Schwellungen,
Frauenlippen, Frauenhaaren, gestammelten Worten, Schreien. Ja, Tag und
Nacht wollte er dieses Leben an sich reißen, jede Minute, die der Dienst
frei ließ. Er wollte sie nachholen, diese vier elend vergeudeten Jahre.
Tag um Tag --

Keine zehn Pferde würden mehr imstande sein, ihn wieder zur Front, ins
Feuer zurückzubringen. Alles, die Hölle, wenn du willst, nur nicht ein
Ort, wo scharf geschossen wurde! Schon der Gedanke -- und doch, früher
hatte er sich oft danach gesehnt, die Sprengstücke pfeifen zu hören. Oft
hatte er sich dem Feuer absichtlich ausgesetzt, unverständliche,
perverse Laune -- und die Geschosse peitschten dicht an seinem Ohr
vorbei! -- unbegreiflich!

Und seine Eitelkeiten -- wie lächerlich waren sie doch! Wie
unverständlich. Um in der Heimat von ein paar Gänsen bewundert zu
werden! Was galten ihm jetzt die Ordensauszeichnungen?

Nein, um offen zu sein, auf den Heldentod legte er keinen Wert mehr!
Welch erbärmlicher Schwindel war es doch: süß ist es und ehrenvoll für
das Vaterland zu sterben! Nur noch Gymnasiasten glaubten es, oder Leute,
die nie den schrecklichen Tod da draußen erblickt hatten. Heute wußte
er, daß es nichts als verlogene Phrasen waren, mit denen
nationalistische Redner und Redakteure, die sich selbst in Sicherheit
befanden, andere ins Gemetzel hetzten. Überlassen wir das Heldentum den
Stierkämpfern, die dafür bezahlt werden, hatte Ströbel einmal zu ihm
gesagt -- und er hatte ihn deswegen verachtet. Jetzt aber begriff er
ihn.

Ja, er hatte sich sehr geändert, Otto!

Er begriff kaum mehr sein Denken und Tun, das nur ein Jahr zurücklag.
War er es wirklich gewesen?

Zum Beispiel, als er seinerzeit bei Langemarck den schwerverwundeten
französischen Offizier in den Graben holte! Holte, ganz einfach holte,
und auf alle Metallstücke pfiff, die sich mit fünfhundert oder tausend
Metern in der Sekunde vorwärts bewegten. Nein, heute würde er, Otto, bei
Gott niemand mehr hereinholen -- nicht einmal seinen Vater -- höchstens
ein schönes, junges Mädchen, und sie nur unter bestimmten Bedingungen.

Der Sohn des Generals war heute nichts anderes mehr als ein Schamloser,
offen gesagt. Keck und herausfordernd schritt er neben dem General
einher, jeden einzelnen der bewundernden Blicke genießend, die sich auf
seine glitzernden Sterne und Auszeichnungen hefteten. Der Mensch
spiegelt sich im Menschen. Wie alle Armeen, spekulierte auch die
deutsche auf den armseligsten Instinkt des Menschen, die Eitelkeit. Otto
hatte absichtlich den Mantel zu Hause gelassen, obschon es noch
keineswegs warm war.

»Ha!« lachte der General vor sich hin.

»Wie, bitte, Papa?«

»Diese Menschen, sie sind närrisch!«

Plötzlich errötete Otto. Sein Blick zuckte unruhig, die Narbe an seiner
Schläfe, die von dem Kopfschuß geblieben war, färbte sich rasch und
flüchtig tiefrot. Ein schnelles, vornehmes, offenes Auto rauschte vorbei
und darin saß -- Hedi!

Hedi -- in einem pompösen Pelz, wehende Federn auf dem Hute -- einen
wollhaarigen, fetten, kleinen Hund auf dem Schoß.

Sie sah ihn nicht, sie sah überhaupt nicht auf die Straße. Sie saß wie
eine Dame, die es gewöhnt ist, in ihrem Wagen durch die Menge zu gleiten
und nichts mehr dabei findet.

Es war keine Überraschung mehr für Otto. Vor ein paar Tagen traf er in
einer Teestube Unter den Linden, wo viel Halbwelt verkehrte, die kleine
Saharet, und sie hatte ihm erzählt, daß Hedi Ströbels »Privatsekretärin«
geworden war. Ströbel hatte die Saharet vor die Türe gesetzt, höchst
einfach, ein paar braune Lappen -- und dann war die andere, wie die
Saharet sagte, gekommen. Also Hedi Westphal die Nachfolgerin der
Saharet! War es nicht zum Schießen komisch? Immerhin, Hedi erhob sich
weit über den Durchschnitt all dieser schnatternden Gänse -- aber sie
war kalt, kalt und berechnend, nichts als eine Egoistin. Und nichts war
Otto mehr zuwider als Egoisten. Aber als Privatsekretärin hätte er Hedi
schließlich auch engagiert. Ja, dieser Ströbel!

Einen einzigen großen Nachteil hatte diese Angelegenheit: er würde
leider gezwungen sein, den Verkehr in Ströbels »Hotel« einzustellen --
schade, sehr schade.


9

Sogar bis in Stifters Diele war die Welle der Begeisterung gedrungen.
Man vernahm heute sogar Lachen, das helle Lachen einer Dame, ein sonst
ganz unerhörter Vorgang in Stifters Etablissement. Knall! Schon knallte
es, ganz wie an der Front, wenn die Flieger kamen. Drei, vier Tische
tranken Sekt.

Man feierte den Sieg, wollte nicht kleinlich sein heute, ein Glas auf
das Wohl der herrlichen Burschen da draußen leeren. Die beiden
Rittmeister, die den General zuweilen irritierten, hatten einen ganzen
Kreis von Freunden geladen, und der raunende Oberkellner schleppte
Flaschen unter beiden Armen. Ein Toast -- und dreimal, gedämpft, aber
begeistert, hurra! Die Kelche klirrten.

Mit Neid beobachtete Otto die Ausgelassenheit nebenan. Wie gerne wäre er
bei ihnen unten gewesen. Ja, man mußte es ihnen lassen, sie legten ein
ordentliches Tempo vor! Papas Gesellschaft dagegen -- nun Gott sei Dank
war es nur dieser eine Abend. Er hatte es Papa heute nicht abschlagen
können. Schließlich war er ja um zehn Uhr, elf Uhr spätestens frei. Von
elf Uhr an wurde er erwartet.

Schweigend nahm der General die ersten Gänge ein. Seine Augen waren
geweitet, und der Blick ging in die Ferne. Er dachte an den 4., 5. und
6. August -- damals, Quatre vents!

Er hörte deutlich das Feuer, das furchtbare Feuer, das damals rings um
ihn tobte -- so, genau so, würde es heute da draußen toben, rollen wie
die Brandung eines höllischen Meeres -- von Horizont zu Horizont.
Krachen, Stampfen, der Himmel stürzt ein, und die Erde klafft in
Spalten. Ja, sie sollen es jetzt nur schmecken, das Gelbkreuz und
Blaukreuz -- diese Unbelehrbaren! Ein Lächeln ohne Erbarmen, voll
grausamen Triumphs, umspielte die blauen Lippen des Generals.

Deutlich sah der General das rauchende Schlachtfeld vor sich. Aber, was
er nicht sah, das war der kleine, krummbeinige Schneider Hanuschke --
der seinerzeit, als Ordonnanz, versehentlich in sein Arbeitszimmer
rannte, und den Unwillen Seiner Exzellenz erregte -- dieser Schneider
Hanuschke, mit dem Querschläger zwischen den Mausaugen, der in dieser
Minute, da der General einen Spargel durch die Zähne zog, um sein Leben
lief. Nein, ihn sah er nicht.

Wie ein Blitz fegte der kleine, krummbeinige Hanuschke über einen
zerwühlten Acker und verschwand in derselben Sekunde in einer Erdspalte,
da der General die ausgesogene Spargelstange auf den Teller legte.

Man hatte ihn zu den Strippenflickern kommandiert, das heißt sie mußten
die zerstörten Telephonleitungen ausbessern. Eine böse Sache.

Im gleichen Augenblick knallte es auch schon, und Hanuschke zog den Kopf
ein. Dann wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht -- ganz
wie damals, als er das Arbeitszimmer des Generals hinter sich hatte, mit
der gleichen Bewegung -- und schon flitzte er wieder wie das Wetter
selbst über den Acker, und schon stürzte er sich wieder in ein Loch
hinein, diesmal in einen Granattrichter. Dieser Teufel, dieser
verfluchte Teufel, keuchte er und horchte -- (der General goß eben
Fachinger in sein Glas) -- niemals in seinem Leben hatte der Schneider
etwas Derartiges erlebt. Er, er ganz persönlich, wurde von einem
englischen Flieger verfolgt, der ihn für einen Meldeläufer oder Gott
weiß was hielt. Dieser Teufel ging bis auf zehn Meter herunter, erspähte
ihn immer wieder und warf kleine Bomben herab. Er sah deutlich sein
Gesicht, die kleine Bombe in der Hand, selbst den gestutzten kleinen
Schnurrbart über den Zähnen -- dieses Granatloch bot keine genügende
Deckung, und wieder schoß der kleine Schneider dahin -- jenem Wäldchen
zu: erreichte er es, so war er gerettet. Der Schweiß rann ihm in Strömen
übers Gesicht. Solch ein Teufel, ein verfluchter! --

Der General zog eine neue Spargelstange durch die Zähne.

»Und du?« fragte er, ohne Otto anzusehen, nach seiner Gewohnheit.

»Wie beliebt, Papa?«

»Und du?«

»Was soll ich?«

Der General, in Gedanken, schwieg eine Weile, dann begann er wieder:
»Ich meine -- für dich muß es doch unerträglich sein, nicht an der Front
zu sein -- gerade jetzt?«

Otto errötete.

»Jetzt, wo für ein Jahrhundert oder länger der Lauf der Geschichte
bestimmt wird. In vier Wochen vielleicht, sagt der Arzt?«

»Vier Wochen ist der früheste Termin.«

»Der früheste --?« der General wiegte bedauernd den Kopf. »Weiß Gott,
wie die Lage in vier Wochen sein wird, wenn es so weitergeht.«

Nun, Gott mochte es wissen und seine Freude daran haben, ihm, Otto, war
es höchst einerlei. Er glaubte nicht recht daran, diese ganze Sache kam
ihm abenteuerlich im höchsten Maße vor. Er ergriff die Gelegenheit und
brachte dem Vater schonend bei, daß er sich im Westen, in der Nähe
seines neuen Amtes, ein Zimmer gemietet hatte, weil der Dienst schon
morgens um sieben Uhr begann. Die Wahrheit war, daß er sich der
väterlichen Kontrolle entziehen wollte.

»Der Dienst in erster Linie«, erwiderte der General. Er hielt inne.

Am Nebentisch wurde ein neuer Toast ausgebracht. Drei kurze Hurras,
schon etwas lauter: der Kaiser!

Der Takt gebot, während des Toastes zu schweigen. --

Aber Hanuschke, der Schneider Hanuschke? Was ist mit ihm?

Der kleine, krummbeinige Schneider fegte immer noch über das Feld, dem
rettenden Wäldchen entgegen. Sein Hemd, soweit man von einem Hemd reden
konnte, klebte naß an seinem Körper. Hatte man je während dieses ganzen
Weltkrieges davon gehört, daß man einzelne Leute mit Flugzeugen jagte?
Über diesem Wäldchen zerplatzten Schrapnelle, gelbe und graue Spinnen,
aber das war schließlich das Paradies gegen diesen englischen
Doppeldecker. Seine zerfetzten Hosen klebten an den Schenkeln. Er setzte
über einen gefallenen deutschen Artilleristen, der mit aufgeschlitztem
Hals dalag, hinweg -- schon brauste das Brummen wieder hinter ihm her.
Da aber schrie Hanuschke vor Entsetzen auf. Der Engländer mit seinem
gestutzten, kleinen Schnurrbart schien jetzt aufs Ganze zu gehen. Er
flog dicht über dem Boden, und schien es darauf anzulegen, ihn zu
überfahren. Er hatte neulich gesehen, wie ein deutscher Beobachter mit
dem Fallschirm aus einem Fesselballon absprang, den ein feindlicher
Flieger in Brand schoß. Sollte man es für möglich halten: der feindliche
Flieger kam zurück und schoß auf den mit dem Fallschirm abstürzenden
Beobachter, der verzweifelt mit den Beinen ruderte. Das sah komisch aus,
wie er in der Luft ruderte, und er, mit anderen Kameraden, hatte laut
aufgelacht -- aber diese Sache war nicht zum Lachen. Im Gegenteil, dem
Schneider passierte etwas, was ihm seit dem ersten Gefecht nicht
passiert war. Im letzten Augenblick warf er sich zu Boden, und die
Maschine rauschte über ihn hinweg. In voller Geschwindigkeit stießen die
Räder auf den Boden, daß der Staub aufwirbelte, und die Maschine wie ein
Ball geworfen wurde. Sollte er verrecken, der Teufel! Aber der Teufel
kletterte in die Höhe und drehte wieder um. In seiner Verzweiflung lief
der kleine Schneider ihm entgegen, durch, krach, aber durch, Glück mußte
man haben. Wirbelnd wie eine Windmühle, mit Beinen und Armen fegte er
dem Wäldchen zu. Plötzlich aber versank buchstäblich der Boden vor
seinen Füßen. Er stürzte und wurde von einer Welle von Erde zugedeckt.
Er rang nach Luft, übergab sich und machte sich bleich und völlig
kraftlos von der Erde frei. Etwas ganz Unerwartetes war geschehen,
etwas, womit er gar nicht gerechnet hatte: eine Granate hatte
eingeschlagen.

Zitternd taumelte er vorwärts, keine Kraft mehr. Sein Gesicht blutete.

Zwanzig Schritte noch, zehn Schritte -- da war er.

Dampfend warf er sich unter die Bäume und weinte. Es war kein geringer
Schreck gewesen. Und er dachte an den Volltreffer seinerzeit -- bei
Souchez -- wie der Feldstecher neben ihm herunterkam -- und er dachte,
daß er einmal anstatt ins Zimmer Nummer 6, ins Zimmer Nummer 7 lief und
plötzlich einem General gegenüberstand. Hätte er diese Dummheit nicht
begangen, damals, wer weiß, ob er nicht heute noch gemütlich in Berlin
säße?

Ja, er weinte, aus nervöser Erschöpfung, aus keinem anderen Grunde, denn
die platzenden Schrapnelle, die Batterien suchten, störten ihn nicht im
geringsten. --

Gerade als der General bei dem gefüllten Pfannkuchen angekommen war, war
Hanuschke in seinem Wäldchen verschwunden.

Der General handhabte einen Zahnstocher.

Sein Blick ging, etwas düster, über die Tischgesellschaft der beiden
Rittmeister hinweg.

»Ruth macht mir Sorge!« sagte er.

»Ruth?«

»Ja. Sie macht mir Sorge!«

»Aber dieser Dietz war ja auch nichts für sie, Papa. Ein oberflächlicher
Mensch.«

»Oberflächlicher Mensch?« Voller Erstaunen blickte der General Otto an.

»Ja, gewiß. Herzlich oberflächlich, Papa.«

Der General schüttelte den Kopf.

»Das ist es nicht . . .« Und er versank in Nachdenken. Nun, Otto konnte
sich wohl denken, was es war! Ruth war wahrscheinlich unvorsichtig genug
gewesen, es sah ihr ähnlich, vor Papa ihre Anschauungen auszupacken.
Otto hatte sich nie viel um Ruth bekümmert, wie es in ihrer Familie von
jeher üblich war, jeder lebte für sich. Aber in letzter Zeit sprach er
häufig mit ihr. Er trank sogar einmal Tee in ihrem kleinen Salon,
immerhin eine Leistung für einen Bruder. Seit er aber mit Ruth über Tod
und Teufel, wie er es nannte, gesprochen hatte, hielt er Ruth für einen
der vernünftigsten Menschen seines ganzen Bekanntenkreises, von der
Verwandtschaft gar nicht zu sprechen. Sie hatte sich ihr Urteil über die
verschiedensten Dinge gebildet -- er wollte nur so viel sagen -- noch
vor einem halben Jahr hätte er sie für völlig verrückt gehalten. In
mancher Beziehung allerdings schien es sogar ihm, daß ihre Ansichten --
besonders für eine Dame, eine Dame -- kein Wunder -- der arme Papa!

Er forschte nicht weiter, und der General schwieg.

Eine blaue Flamme hypnotisierte Otto, sie tanzte mitten auf dem Tisch
der Gesellschaft nebenan. Es war eine »Feuerzange«, eine hochprozentige
Bowle. Ja, wie gerne wäre Otto hinabgestiegen.

Ganz ohne jeden Übergang begann der General plötzlich über die Regierung
zu sprechen, deren Unfähigkeit klar zutage trat, wohin sollte es führen?
Und der Kaiser? Nur sie allein, jene Männer, die die Armee von Sieg zu
Sieg führten, waren imstande, den Frieden zu machen.

Es entging dem General völlig, daß die Gäste des stillen Restaurants in
diesem Augenblick von einer eigentümlichen Erregung ergriffen wurden.
Erst als alle Köpfe sich nach einer bestimmten Richtung drehten, wurde
auch Otto aufmerksam. Irgend etwas wie ein großer Hund schien über die
Teppiche des Restaurants zu schleichen, und die Gäste mit Unbehagen, ja
Grauen zu erfüllen. Einige runzelten die Stirne, die Brauen der Damen
waren entsetzt hochgezogen. Am Tisch der Rittmeister stockte plötzlich
die Unterhaltung.

Es war indessen kein Hund, der über die dicken Perserteppiche von
Stifters Diele kroch, sondern ein Mensch, ein Soldat in Feldgrau, der
sich auf zwei kurzen Krückstöcken dahinschleppte und seine gelähmten
Beine hinter sich herschleifte, während schreckliche Zuckungen seinen
Körper schüttelten. Auf seinem Kopf saß eine kleine graue Feldmütze, und
erst an der Mütze erkannte Otto, daß der Krüppel ein Soldat war.
Unerhört, dachte er, einen solchen Menschen auf die Öffentlichkeit
loszulassen!

Die Gewandtheit des Oberkellners half den Gästen über die peinliche
Szene rasch hinweg. Es gelang ihm, das menschliche Gespenst, das direkt
aus den Schützengräben in Stifters Diele gekrochen kam, mit seinem
raunenden Gebrummel zum Umkehren zu bewegen.

Die Gäste atmeten auf. Sofort setzte am Tisch der Rittmeister wieder die
fröhliche Unterhaltung ein.

Der General hatte in seiner Nische von dem ganzen Vorfall nicht das
geringste bemerkt. Während aber der Oberkellner die Türe öffnete, um den
Unglücklichen hinauszulassen, drang das feierliche Läuten der Glocken
herein, die den Sieg einläuteten.

Da ergriff der General das Glas und erhob sich.

»Unser Vaterland, Otto!« sagte er.

Und Otto sah, zu seiner größten Überraschung, daß die Augen des Generals
feucht schimmerten. Nie in seinem Leben hätte er das für möglich
gehalten.

Auch sie wird nicht wenig staunen, wenn ich es ihr erzähle, dachte er.


10

Schrecklich fiel das Geläute der Glocken in Ackermanns Herz.

Die Luft, schimmernd über der Riesenstadt, heulte und stöhnte. Die
Todesschreie von Tausenden, Jammern und Röcheln, Klagen der Witwen und
Gewinsel der kleinen Waisen, die nicht wissen, weshalb sie schrein
. . . Wie riesige Mäuler voll Blut schwangen die ehernen Glocken über
der Stadt und erbrachen Entsetzen über die Dächer.

Wenn du noch an Gott glaubst, so knie nieder . . .

Er hatte sie gesehen -- nicht sie -- die die Hüte schwangen! -- hatte
sie gesehen -- die Felder, über die der Sturm ging. Allmächtiger! Gnade,
Gnade in deinem Zorn! Da liegt er -- Ebenbild Gottes, Sohn einer Mutter,
in Schmerzen geboren, in Sorgen großgezogen -- er ist tot -- er wird
sterben -- er stirbt -- Da liegt er wieder -- -- und hier, hier, Stücke,
Fetzen -- er ist dahin . . .

Grau war Ackermanns Gesicht.

Grüppchen von Verwundeten, Zerschossenen, die sich gegenseitig stützen,
immer wieder fallen, und die furchtbare Bahn der Granate heult über sie
hinweg -- Unglückliche, die verkommen, wenn der Zufall ihnen nicht
gnädig ist. Und die Verbandplätze, wo die Ärzte mit schweißigen, stieren
Augen arbeiten -- und die furchtbare Bahn der Granate heult über sie weg
. . .

Sonderbarerweise fiel ihm in diesem Augenblick ein längst vergessenes
Erlebnis ein. Das Regiment hatte gestürmt. Über einem zerschossenen
englischen Graben lag, das Haupt zurückgebogen, ein toter Inder. Schön
und edel, den Adel seiner tausendfach geschändeten und vergewaltigten
Rasse in den Zügen. Und -- was denkst du? -- die schweißnassen,
blutnassen, rauhen Hände der Kameraden, die rauhen Hände von Arbeitern
und Bauern streichelten das Gesicht des toten Inders, während sie
vorübergingen. Streichelten es, einer um den andern. Schön bist du! --
Hast es gut jetzt, keine Sorgen mehr. -- Nun, mein Junge, dich hat es
gepackt! -- Liebkosten ihn -- den _Bruder!_

Den Bruder, den Bruder!

Wie Keulenschläge trieben die Glocken Ackermann vorwärts. Sein
flatternder Mantel flog dahin.

Ja, ja, dreimal heiliges Ja! Gott weiß es!

Einer mußte den Anfang machen! Einer mußte sich den im Wahnsinn
dahinjagenden Völkermassen entgegenwerfen -- einer mußte das Signal
geben, selbst Signal sein -- einer, einerlei, ob man ihn niederschlug,
in Stücke zerriß. Einer, andere würden folgen, mehr, immer mehr!

Einer, ja, einer --

Der flatternde Mantel blieb stehen, Verzückung lag auf Ackermanns
Antlitz.

»Nun wohl, ich bin bereit!« rief er.

Bereit, bereit? Wozu bereit?

»Nun bereit, einfach bereit!«

Es war beschlossen. Seit heute, seit gestern, seit Monaten, seit Jahren.
Es war beschlossen, seit er 1914 bei Langemarck stürmte, und die Reihen
der Kameraden auf rätselhafte Weise dahinsanken. Nun wußte er es. Gott
hatte ihn geprüft und auserwählt.

Alles war vorbereitet. Die Broschüre war fertig. Richard, sein jüngerer
Bruder, würde sie wie anderes früher in der Provinz drucken lassen --
die Freunde würden sie vertreiben. Die Mutter? Sie mußte begreifen. Und
Ruth? Ruth war tapfer. Es war alles in allem nicht die Zeit, an diese
Dinge zu denken.

»Vorwärts! Vorwärts!« Die Glocken heulten es, die Todesschreie in der
Luft, das Röcheln der Sterbenden, das Jammern der Witwen und Winseln der
armen Waisen -- die Kameraden riefen es ihm zu, über die jetzt, in
dieser Minute, die furchtbare Bahn der Granate hinwegheulte, die
Kameraden, die jetzt mit starren Augen lagen, Freund wie Feind, die
jetzt verbluteten, Freund wie Feind -- alle, alle: vorwärts!

»Ackermann! Ackermann!« riefen warnende Stimmen in der Luft.

Er blieb stehen und warf die Blicke empor zu den unbekannten Stimmen in
der Luft.

»Ackermann! Ackermann!«

»Bereit -- bereit!« rief Ackermann und eilte weiter.


11

Im Augenblick hatte der schmächtige junge Mann die Fenster geöffnet und
die Rolladen hochgezogen. Es sah aus, als sei Kunze soeben von der Reise
zurückgekehrt und nehme seine Wohnung in der Blücherstraße wieder in
Besitz. Eine Schicht von Staub und Sonne lag über den Dächern draußen,
und feierlich brodelte darin das Läuten der Glocken.

»So, so -- immer hereinspaziert!«

Zögernd schob sich der kleine Herr Herbst über die Schwelle. Es mußte ja
sein, es gab kein Entrinnen mehr vor dem jungen Mann mit dem Kneifer. --
Ein Block von Licht brach in die dunkle Wohnung, und er schloß, wie
versengt, die Augen -- aber was half es denn? Nichts. Er hatte ihn ja
doch gesehen, trotzdem, ja ohne hinzublicken: den Haken über der Türe
zum Schlafzimmer. Nur ihn sah er -- nichts sonst -- diesen Haken.

Ah, ah, ah!

Ächzend sank er in einen Sessel und krümmte sich zusammen.

»Nun, sofort, mein verehrter Herr!« rief Kunze etwas keuchend aus. Eine
Schweißperle lief über seine Stirn. Jede körperliche Tätigkeit, auch die
geringste, erschöpfte ihn augenblicklich. »Die Lunge, wissen Sie.
Sofort, sofort zu Ihrer Verfügung.« Fieberhaft kletterten seine raschen
Augen über Möbel und Wände. Er verbarg sein Erstaunen nicht, nein, wozu
denn, vor wem denn? Er staunte -- staunte, mit offenem Munde!

Die rote Plüschgarnitur des Wohnzimmers, heute allein ein Vermögen wert!
Die Gaskrone mit Glasprismen, der rote Teppich, überall Vasen, Nippes,
goldene Bilderrahmen -- eine kleine Palme in der Ecke, daneben ein
Grammophon. Die Vorhänge und Gardinen kunstvoll drapiert über den
Stangen. Das Schlafzimmer schneeweiß! Und peinliche Ordnung und
Sauberkeit, bis auf den Staub, der sich da und dort angesammelt hatte.

Alles in allem: ein behagliches Bürgerheim, die Wohnung eines Bürgers in
guten Verhältnissen -- aber _verlassen!_

»Und da hausen Sie nun in diesem Loch, in dieser Mietkaserne -- und hier
haben Sie eine prächtige Wohnung!« rief Kunze in äußerstem Erstaunen
aus.

Herbst entgegnete nichts. Er hatte den steifen Hut aufbehalten und saß
zusammengekrümmt, so daß sein Gesicht nicht zu sehen war. Die schmalen
Schultern in dem abgeschabten, rostfarbenen Havelock zitterten.

»Ist es zu glauben? Ja eine prächtige Wohnung! Und Sie haben keine Angst
vor Einbrechern? Mein Himmel! Tag und Nacht wird ja jetzt gestohlen in
Berlin. Die Stadt wimmelt von Dieben und Einbrechern. Bataillone, Armeen
von Dieben und Spitzbuben sind an der Arbeit!«

»Niemand« -- krächzte hier der Havelock -- »kein Einbrecher würde es
wagen. Auf der Schwelle würde er umkehren! Niemand!«

Kunze lachte laut und belustigt. Er warf den dünnen Überzieher und das
grüne Hütchen auf einen Sessel und schnüffelte von neuem durch die
Wohnung. Er war ganz in seinem Element. Seine kleinen Augen, die stumpf
und dumm hinter den Gläsern aussahen, glänzten vor Begierde. In
Schränke, Schubfächer, Nachttische, sogar hinter Vorhänge steckte er die
spitze Nase. Jedenfalls, das stand fest, jedenfalls würde er sich in den
Besitz dieser Wohnung setzen -- er würde sie einfach für Dienstzwecke
anfordern, ein Federstrich, und hier war er. Man konnte hier die
verwöhntesten Damen empfangen -- und in welch elendem Loch hauste er
doch zurzeit!

In der Küche streckte er vor Überraschung die Zunge aus dem Munde.
Ahnungslos, ja, ohne überhaupt etwas zu denken, hatte er dieses Spind
geöffnet, und siehe da: Wein, Wein, Flasche an Flasche! Bordeaux,
Burgunder, Mosel, drei, vier Dutzend, und alles Friedensware! Nicht zu
bezahlen heute. Wein, seine Wonne, seine --! Im Nu, völlig automatisch,
hatte er eine Flasche entkorkt.

Und das Geheimnis dieses kleinen Alten, der dunkle Punkt? Es war ihm
nicht bange.

»Welche Reichtümer, Herr Herbst!« lachte Kunze, als er mit der Flasche
aus der Küche zurückkam. »Ein sonderbarer Heiliger sind Sie! Nun wollen
wir aber Ihre Heimkehr in Ihre Wohnung feiern. Ich darf eingießen? Nun,
ein Gläschen werden Sie nicht ausschlagen, wie? Ja, herrlich ist es
hier, direkt anheimelnd, als ob ich zu Hause wäre.«

Ohne Umstände machte er es sich auf dem Plüschsofa bequem.

»Auf Ihre Gesundheit, Herr Herbst!«

Herr Herbst hatte den Hut abgenommen -- aufgeschreckt durch das laute
Freudengeschrei in der Küche und das Knallen des Korkes -- und sein
kleiner, gelber, verrunzelter Kopf erschien Kunze wie eine Rübe, eine
wirkliche Rübe, die da und dort schon etwas Schimmel angesetzt hat.

»Ja, direkt anheimelnd. Ganz wie bei uns zu Hause. Mein Vater -- sagte
ich Ihnen das schon? -- ist Prediger in einem Kirchspiel. Liebt sein
Weinchen, seine Zigarren und lobt den Herrn! Ja, so ist er nun einmal,
sehen Sie. Sobald er aber in seinen Talar schlüpft, versteht er keinen
Scherz mehr, nein, ich bitte Sie -- um Gottes willen, ernst, würdevoll,
der Hirte seiner Schäfchen. Als nun der Krieg ausbrach, da sagte er zu
mir: >Melde dich sofort, eile zu den Fahnen, es ist deine sittliche
Pflicht, ziehe hinaus. Kämpfe<, so redete er -- der kategorische
Imperativ -- Kant -- er ist Philosoph, mein Vater -- ah, ah, was für ein
Weinchen!«

Auf der Kommode, dem roten Plüschsofa gegenüber, stand in einem breiten
Rahmen die vergrößerte Photographie eines jungen Soldaten mit frischem,
keckem Jungengesicht. Ein Jäger, feldmarschmäßig ausgerüstet, den
Gewehrlauf mit Blumen geschmückt. Der Rahmen des Bildes war mit
Trauerflor umhüllt, ein Paar Leuchter mit herabgebrannten Kerzen,
standen davor. Das war er wohl, sein Sohn, der gefallen war. Wie hieß er
doch -- Robert.

An der Wand, über dem Jäger mit dem frischen Jungengesicht, aber hingen
zwei Bildnisse in ovalen Rahmen: eine etwas korpulente Dame mit voller
Büste, vollen Wangen, einem kleinen Fettkinn und auffallend großen
runden Augen. Die Dame lächelte freundlich, gutmütig, ein bißchen
verlegen. Eine Kette mit einem großen Kreuz trug sie um den Hals.
Daneben: ein Herr, etwas hochmütig, voller Würde, das volle dunkle Haar
peinlich gescheitelt, die Augen zuversichtlich in die Ferne gerichtet.
Im Gehrock, schmaler schwarzer Binde -- ein Beamter, der bei seinem
Vorgesetzten Besuch macht. Sah man die korpulente, freundlich lächelnde
Dame an, so schien sie augenblicklich den kleinen Mund zu öffnen und zu
plappern, zu sprudeln -- der Herr aber, würdevoll, blieb stumm,
schweigsam. Die Hand hatte er etwas steif und gravitätisch zur Hälfte in
den schwarzen Gehrock geschoben -- eine kleine Hand . . .

». . . schlage sie aufs Haupt --« sagte also mein Vater, er ist
glühender Patriot -- »diese vom Teufel Besessenen, die aus Neid und
Rachsucht über unser geliebtes Vaterland herfallen -- schlage ihnen die
Schädel ein, zerreiße sie in Stücke -- der Herr will es! Sofort packst
du deine Sachen! Nun, mit dem Felde war es ja leider, leider nichts. Ich
sagte Ihnen ja schon, meine Lunge. Aber jeder nach seinen Kräften, nicht
wahr? Das war nun nicht ganz nach dem Geschmack --«

Plötzlich stockte Kunze. Er war in das Studium dieser kleinen Hand des
Beamten im schwarzen Gehrock versunken. Er stutzte, rückte den Kneifer
zurecht -- schlürfte am Glas. Hm!

War es denkbar?

Wie, wie, wie, sollte er, dieser Würdevolle, Gemessene, Schweigsame, mit
dem zuversichtlich in die Ferne gerichteten Blick --?

Und diese fahlgelbe -- Rübe, etwas angeschimmelt, mit Erlaubnis zu sagen
-- sollte sie --?

Ja, unmöglich, ganz unmöglich! Und doch, diese Hand, das kleine Näschen
und selbst das kurze Schnurrbärtchen, jetzt zwar grauer und schäbig --
so unglaublich es erschien, dieser Ernste, Würdevolle in seinem Gehrock,
und der Kleine, Glatzköpfige, Vertrocknete, Verkommene, mit den
entzündeten, vergilbten Augen, sie waren in der Tat ein und dieselbe
Person!

Kunze verlor vor Erstaunen völlig den Faden seines Geschwätzes. Er erhob
sich und tupfte das Gesicht mit dem Taschentuch.

Hm. Er polierte den Kneifer, ging auf und ab und verschwand schließlich
in der Küche, um eine neue Flasche zu holen. Seine Miene hatte sich
verändert, als er zurückkehrte. Sachlich und kühl betrachtete er den
kleinen Herrn Herbst. Er goß die Gläser voll, räusperte sich und begann:

»Aber genug mit dem Schwatzen jetzt« -- ruhig und geschäftsmäßig klang
seine Stimme -- »Wir haben, wie ich mir schon zu bemerken erlaubte,
keine Zeit zu verlieren, der Major drängt, nun, er wird wieder von dem
Oberst gedrängt, Sie wissen ja, wie es beim Militär zugeht. Seitdem sich
nun diese hohe Persönlichkeit in die Sache gemischt hat --«

»Eine hohe Persönlichkeit?« Herr Herbst horchte plötzlich auf.

»Ja, ja. Ich kann Ihnen nicht _mehr_ sagen. Es ist einer der
sonderbarsten Fälle, die die Abteilung seit langer Zeit zu bearbeiten
hatte.«

»Eine hohe Persönlichkeit?«

»Ein sonderbarer Fall. Nicht Sie allein erstatteten in dankenswerter
Weise Bericht -- nein, auch von anderer Seite werden gleichzeitig, hören
Sie, _gleichzeitig_, Informationen verlangt -- aber, erlauben Sie, daß
ich abbreche . . . Ich bin zu meinem Bedauern genötigt, zur Abrundung
meiner Nachforschungen über Ihre werte Persönlichkeit, eine Frage an Sie
zu richten, dienstlich. Ein einziger Punkt noch, wie gesagt. Bevor ich
aber diese Frage an Sie richte, bitte ich ergebenst, dieses Schriftstück
lesen zu wollen.«

Mit einer gemessenen Feierlichkeit überreichte der Schmächtige einen auf
Leinwand aufgezogenen Ausweis.

Der kleine Herr Herbst las ihn mit seinen entzündeten Augen, las,
verstand und zitterte. Schwarz auf Weiß war hier zu lesen, daß Herr
Gottlieb Kunze berechtigt war, Verhaftungen vorzunehmen . . .

»Sie haben Kenntnis genommen --?«

»Ja, ja -- Kenntnis --«

»Nun, und so richte ich also die Frage an Sie --«

Der Havelock erhob sich erbleichend.

Zwei scharfe, messerscharfe Augen richteten sich auf ihn. Der Kneifer
funkelte.

»Herr Herbst -- ich scherze jetzt nicht mehr!«

»Nein, nein!« stotterte der alte Mann.

Die messerscharfen Augen kamen näher. Kunze hatte jetzt den Kneifer
abgenommen.

»Weshalb haben Sie --?«

»Nein, nein -- ah, Gott im Himmel!«

»Weshalb haben Sie Ihre Wohnung verlassen?«

Augenblicklich brach der kleine alte Mann zusammen. Er bedeckte das
Gesicht mit den kleinen Händen und sank in den Sessel.

»Herr Herbst!«

Sofort fuhr der kleine alte Mann wieder auf und wich zurück. »Ich kann
nicht -- ich kann nicht -- so wahr Gott lebt --« rief er und richtete
die Augen flehend auf Kunze.

»Herr Herbst!« Eine Hand erhob sich.

Der kleine alte Mann wich zum Fenster zurück und faßte nach dem
Fensterkreuz.

Die Hand griff nach den Rockschößen.

»Aber, Sie werden doch nicht --? Kommen Sie!«

Ohne jeden Widerstand ließ sich der kleine alte Mann von Kunze zum
Sessel zurückführen.

»Beruhigen Sie sich«, sagte die kalte, dienstliche Stimme. »Haben Sie
Vertrauen. Berichten Sie. Ich selbst werde Ihr Anwalt sein, die Sache so
darstellen . . . einerlei, was es auch sei -- bitte, trinken Sie, so,
so! Auch ich bin ja ein Mensch. Aber die Pflicht, Sie verstehen --«

Der kleine alte Mann nickte.

Kunze selbst war totenbleich geworden vor Erregung. Sein Spitzelgehirn
arbeitete -- sensationelle Enthüllungen, ein Staatsverbrechen,
Vorgesetzte, Beförderung, das Eiserne Kreuz . . .

»Sie waren ja selbst Beamter und wissen, was es bedeutet, dienstlich --«

Der kleine alte Mann rang die Hände und schluchzte. Dann setzte er sich
aufrecht, gab sich Haltung -- ganz wie auf dem Bilde an der Wand, ein
Schatten der früheren Erscheinung.

»Ich weiß, weiß, auch ich war Beamter. Nun gut, da Sie dienstlich
Auskunft verlangen -- ich werde versuchen, Ihnen eine Erklärung zu
geben. Es fällt mir schwer, meine Gedanken, meine Worte -- alles ist
nicht mehr wie früher -- Gott im Himmel, es ist ja unmöglich, es zu
sagen --«

»Beruhigen Sie sich. Wir haben ja Zeit, können den Abend in aller Ruhe
zusammen verbringen.«

»Wir hatten also einen Kanarienvogel --« begann der kleine alte Mann
stammelnd.

»Kanarienvogel? Fahren Sie getrost fort.«

»Einen Kanarienvogel -- namens Hansi. Dieses Tierchen flog immer in der
Stube umher, in allen Stuben, machte etwas Schmutz, aber wir liebten das
Tierchen -- und meine Frau liebte Hansi ganz besonders . . .«

»Ich verstehe, die Damen --«

»Ja, aber was wollte ich eigentlich? Hansi? Was hat Hansi damit zu tun?
Sie können noch den Käfig in der Küche finden. Ja, aber was sollte er
--?«

»Überstürzen Sie nichts -- eines um das andere.«

»Hm. Sie wurde immer merkwürdiger, ja, das war es. Sie sprach eigentlich
nur noch mit dem Vögelchen.«

»Ihre Frau?«

»Ja, sie. Immer stiller und merkwürdiger. Ich selbst, ich ging ja aus,
ging in eine Kneipe, trank -- Sie verstehen, es ist nicht nötig zu
sagen, weshalb ich trank.«

»Unser Junge war ja unser ganzer Lebensinhalt geworden. Ich war in
Pension gegangen, und wir waren seiner Studien halber nach Berlin
gezogen. Da kam der Krieg, er wurde Soldat, Jäger, und schließlich kam
er ins Feld. Eines Tages aber, da kam die furchtbare Nachricht -- eines
Tages . . .«

»Er war gefallen.«

»Gefallen?«

»Ja, natürlich, Sie sagten --«

Der kleine alte Mann schüttelte den Kopf.

»Nicht gefallen, Herr,« flüsterte er, »in den Tod gehetzt -- ich habe
Unterlagen, Briefe -- geschlachtet, nutzlos --«

»Sie sollten nicht derartig schwere Anschuldigungen erheben gegen
gewisse Persönlichkeiten«, warf Kunze nicht ohne Strenge ein.

»Nun gut, gefallen, ganz wie Sie wollen. Es wurde immer stiller hier,
immer stiller -- meine Frau verließ nicht mehr die Wohnung, keinen
Schritt tat sie über die Schwelle. Sie saß immer hier. Aber plötzlich
saß sie nicht mehr, sondern sie stand -- hören Sie -- zuerst mitten im
Zimmer, dann nur noch in den Ecken.«

»Sie war wohl schwermütig geworden?«

»Ja, schwermütig. Sie ertrug es nicht, nein, es war zuviel für sie!
Zuviel, zuviel! Und nun, eines Abends komme ich spät nach Hause. Es war
Mondschein. Ich sah also ziemlich gut. Und da steht sie also hier --
unter der Türe. Hier, sehen Sie.«

»Ja!«

»Aber sehen Sie -- sie stand so _hoch!_ Nun, denke ich -- da ist wieder
mal Hansi auf den Schrank geflogen, wie häufig, und sie will ihn
einfangen -- aber plötzlich, da sehe ich . . . Da kommt es mir
eigentümlich vor, ei . . ., ei . . . sie antwortet nicht. Aber sie
antwortete häufig nicht mehr in dieser Zeit. Nun aber, da denke ich --
da sehe ich -- worauf stand sie eigentlich? Sie stand auf nichts! Ihre
Füße waren abwärts gerichtet -- und darunter war nichts -- nur Mondlicht
-- nichts sonst -- ich sah es ganz klar und deutlich . . . sie schwebte
in der Luft . . . und da begriff ich es . . . dieser Augenblick -- --«

Enttäuschung in den Zügen des schmächtigen jungen Mannes! Er hatte etwas
ganz Besonderes erwartet -- und nun eine alltägliche Geschichte, wie sie
sich während des Krieges hundertmal in Berlin ereignete.

Der kleine alte Mann röchelte. Er sprang auf und schleuderte die kurzen
dünnen Arme wild durch die Luft. Er ballte die kleinen gelben Fäuste und
schüttelte sie in Raserei. Sein Gesicht verzerrte sich, die gelben
Zahnstumpen blinkten, Schaum trat vor seine Lippen.

»Und alles daher --« schrie er außer sich, und sein Gesicht wurde
plötzlich blau, so daß Kunze erschrocken zurückwich -- »alles daher,
daher! Deshalb hasse ich ihn -- hasse ihn, den Hoffärtigen, hasse ihn
. . . mit diesen Händen werde ich -- so wahr mir Gott helfe . . . hasse
ihn --«

»Hasse -- hasse . . .« Seine Hände zuckten.

Und plötzlich stürzte der kleine alte Mann zu Boden. Er war ohnmächtig
geworden.

                   *       *       *       *       *

Das Grammophon neben der kleinen Palme in der Ecke grölte:

   Die Vöglein im Walde,
   Die singen ja so wunderwunderschön,
   In der Heimat, in der Heimat,
   Da gibt's ein -- ha! ha! ha!

Ja, die Platte war verdorben, und immer am Schluß -- beim Wiedersehn --
lachte der Apparat. Und immer mußte Kunze aufspringen und die Kurbel neu
andrehen.

Kunze lag auf dem Sofa und schlug mit den geflickten, glänzend
gewichsten Stiefeln den Takt auf dem Armpolster. Zuweilen unterbrach er
sein Geschwätz und sang eine Strophe des Soldatenliedes mit, zuweilen
auch rülpste er, mit Respekt zu vermelden. Eine Reihe leerer Flaschen
stand auf dem Tisch mit der gestickten, lachsroten Decke -- dem Stolz
der Freundlichen, Korpulenten an der Wand.

Herr Herbst saß mit roten Bäckchen, die Äuglein glänzend vom Wein, und
paffte eine kleine schwarze Zigarre. Er trank nicht aus dem Glas, o
nein, Kunze hatte so etwas noch nie gesehen, er setzte einfach die
Flasche an den Mund und ließ den Wein in die Kehle hineinlaufen. Mit
gespannter Aufmerksamkeit hörte er Kunze zu.

»-- und auf diese Weise, sehen Sie, Verehrtester, kam ich also zu G
III.«

»G III?«

»Ja, G III. So heißen wir. Nur eine Chiffre. So geheim sind wir, ganz
geheim -- pst, pst! Ja, nicht einmal einen Namen haben wir.«

»Viele Beamte?«

»Viele?«

Kunze lachte und richtete sich zur Hälfte auf. Das Gesicht des kleinen
Herrn Herbst erschien ihm nun langgezogen, mit turmhoher Stirn, wie in
einem Lachkabinett. »Viele, sagen Sie?« wiederholte er geheimnisvoll und
wichtigtuerisch. »Viele? -- Wir sind _Legion!_«

»Legion?«

Die turmhohe Stirn sank in sich zusammen, und eine runde Rauchwolke
erschien an ihrer Stelle. Herr Herbst war vor diesem Wort zurückgeprallt
und hatte erschrocken den Rauch ausgestoßen.

»Ja, Legion, überall und allgegenwärtig. Selbst da, wo uns niemand
vermutet. Ja ja, mein Verehrtester -- überall. In allen Städten
Deutschlands -- bei allen Generalkommandos -- bei allen Behörden -- bei
der Post, Eisenbahn -- in den Ministerien -- G III ist einfach überall.«

   In der Heimat, in der Heimat,
   Da gibt's ein -- ha! ha! ha!

Kunze schnellte in die Höhe, und augenblicklich begann der Trichter von
neuem zu heulen:

   Ich hatt' einen Kameraden . . .

»Ja, überall. Niemand weiß, ob das Auge von G III nicht auf ihn
gerichtet ist. Selbst ich weiß es nicht, ob ich nicht selbst wieder
beobachtet werde! Ja, so ist es, bei Gott! Alle Kulturstaaten haben
diese Einrichtung, geben Millionen dafür aus -- unsere Organisation ist
sogar noch klein im Vergleich zu der anderer Großmächte. Klein, im
Verhältnis, aber sie arbeitet zuverlässig. Sie können mir ruhig
glauben.«

»Wir öffnen Koffer unterwegs, so daß der Eigentümer es nicht merkt,
besonders das Öffnen von Briefen ist unsere Spezialität. Wir überwachen
die Korrespondenz von Tausenden!«

»Wir nehmen ganz einfach Abschriften, und wenn es besonders interessante
Fälle sind, photographische Kopien. Wir wissen alles, wir kennen die
Geheimnisse der höchsten Persönlichkeiten. Wir erscheinen als Kellner in
den Restaurants, wo irgendeine besondere Sitzung veranstaltet wird, da
sind wir dabei. Selbst bei den hohen Würdenträgern unserer Verbündeten
haben wir unsere Agenten. Wir bohren Löcher durch Türen und öffnen
Schreibtische. Fürsten, Minister, Abgeordnete -- wir kennen ihre
geheimsten Gedanken.«

»Ja, wir machen alles! Ihr junger Schützling, Verehrtester -- er ist in
guten Händen. Und auch jene hochgestellte Persönlichkeit, die sich für
den Lebenswandel ihres Töchterchens interessiert -- auch sie wird
zufriedengestellt werden. Ja, wir machen alles. Und Sie und ich -- was
glauben Sie? -- wir werden einen Orden erhalten -- auch Sie, hören Sie!
Ich werde dafür sorgen, ich! --«

Aber da der Havelock selbst bei dieser blendenden Eröffnung still blieb,
hob der Semmelblonde wiederum den Kopf über die Tischplatte. Das Gesicht
des kleinen Herrn Herbst hatte sich abermals völlig verändert, es war
ohne Augen, ohne Nase und ohne Mund, dagegen umgeben von einem dünnen,
grauen Backenbart. Es war die Glatze des kleinen Herrn Herbst, der
eingeschlafen war. In diesem Augenblick geriet der Havelock ins Gleiten,
und ohne Laut sank er auf den Boden.

»Und noch eine Mosel -- und noch eine Mosel -- dreimal hoch!« sang Kunze
mit hellem Tenor und begab sich im Foxtrott hinaus in die Küche.
Fürchterlich schlingerte das Haus.

»Gloria -- Viktoria --« heulte das Grammophon ganz allein für sich.


12

Vor dem grauen Hause in der Tiergartenstraße hielt Ackermann den Schritt
an.

Unendlich zart umschlang ihn ein Arm.

»Ich werde mir Mühe geben«, flüsterte eine weiche, unendlich geliebte
Stimme.

»Ich weiß es!«

»Ich werde versuchen, stark zu sein, obschon ich wenig Mut habe.«

»Du bist tapfer.«

»Wann?«

»Bald!«

»Du wirst mir Nachricht geben?«

»Du wirst es fühlen.«

»Ja, ich werde es fühlen!«

»Lebe wohl!«

Eine Weile wartete Ackermann noch, bis die Haustüre ins Schloß fiel.




Zweites Buch


1

Der Leichnam des jungen Heinz war nach Berlin gebracht worden. An einem
hellen Frühlingstag wurde er in die Erde gebettet. Die Kampfstaffel
hatte den jungen Meerheim mit einem Kranz geschickt. Der Trauerzug war
nur klein. Ohne eine Träne im Auge folgte die Majorin Sterne-Dönhoff dem
Sarge ihres Sohnes, die Schwestern weinten leise und schüchtern. Etwas
hinter dem kurzen Trauerzug, dicht verschleiert und schwarzgekleidet wie
eine Witwe, ging Klara, deren schmale Schultern von einem
ununterbrochenen Schluchzen geschüttelt wurden. Heinzens Freunde,
Schüler, Knaben, sangen des Gefallenen Lieblingslied: Deutschland,
Deutschland über alles. Die Majorin hatte es gewünscht. Sie selbst
stimmte in das Lied ein, während sie mit verklärtem Lächeln in die Weite
des Frühlingshimmels blickte.

Der junge Meerheim sprach einen kurzen Nachruf, mit unbewegter,
soldatisch scharfer Stimme; acht Tage später wurde er selbst im
Luftkampf getötet.

Noch nicht neunzehn Jahre alt, war Heinz gefallen.

Klara preßte das zusammengerollte Taschentuch zwischen die Zähne.

Sonderbar, und nicht die leiseste Ahnung! Am Abend vorher hatte noch ihr
Stern so herrlich und verheißungsvoll gefunkelt.

Es war an dem Morgen nach Doras Fest geschehen -- gerade in der Stunde,
da sie einschlief. Meerheim sah die Maschine stürzen.

Einige Tage vorher -- sie erinnerte sich dessen -- hatte sie von Heinz
geträumt. Er stand auf dem Flugplatz, die grüne Wollmütze auf dem Kopf,
und auf seiner Brust glitzerte in der Sonne das Medaillon. Er spielte
mit einem kleinen Dachshund, und Schwärme von furchtbar anzusehenden
Flugzeugen, mit barbarischen Farben bemalt, rasten über ihn hin. Aber er
sah sie gar nicht, spielte mit dem Hunde -- man konnte diesen Traum wohl
nicht eine Ahnung nennen?

Ohne jede Sorge, ja, mehr, mit dem Gefühl der Sicherheit, war sie nach
Doras Fest schlafen gegangen, glücklich und voller Hoffnungen.

Vor wenigen Tagen aber fuhr sie in die Stadt. Nach ihrer Gewohnheit
kaufte sie in einem Kiosk der Untergrundbahn wahllos einen Stoß
Zeitungen. Wie viele Menschen, war sie zu einer fanatischen
Zeitungsleserin geworden, es war eine förmliche Krankheit bei ihr.
Plötzlich war es ihr, als ob sie seinen Namen gelesen habe! Unglaublich
zwar -- aber hatte er ihr nicht oft gesagt: gib acht, eines Tages wirst
du plötzlich meinen Namen in den Zeitungen lesen, und wie überrascht
wirst du sein! Sie blätterte, und richtig -- da stand sein Name: Heinz
Sterne-Dönhoff. Sie las, und sie begriff zuerst nicht. Nachdem vor knapp
einem Jahre sein Vater, der Major Sterne-Dönhoff, den Heldentod . . .
Sie las die Unterschriften, und plötzlich begriff sie.

Sie warf ihre Zeitungen auf den Sitz, daß sie umherflatterten, und
rannte durch den Wagen.

»Er ist tot,« schrie sie, »ich will hinaus!«

»Aber Sie sehen doch, daß der Zug fährt, Sie können doch nicht
aussteigen«, sagten die Herren, die die Türe verbarrikadierten. »Sie
zerschmettern sich den Kopf, liebes Fräulein.«

Da fuhr der Zug in einen Bahnhof ein, und Klara stürzte hinaus.

»Es ist schrecklich, jeden Tag erlebt man jetzt derartige Szenen.
Gestern sprang eine Frau auf dem Bahnhof Spittelmarkt vor den Zug und
ließ sich überfahren. Ich sage Ihnen, es war entsetzlich -- dieser
Schrei!«

»Hören Sie auf, ich kann von solchen Dingen schon gar nichts mehr hören
--«

Arme, kleine Klara, sie begriff es noch heute nicht. --

Ja, nun wollte sie es wagen. In Gottes Namen!

Sie drückte auf die Klingel und gab ihre Karte ab. Diese Karte war
schwarz umrändert. Klara war so tief und dicht verschleiert, daß man
kaum noch einen Schimmer des Gesichts sah.

Das Mädchen kam nach auffallend langer Zeit zurück und forderte sie auf,
einzutreten. Die Majorin Sterne-Dönhoff und die beiden Schwestern waren
im Zimmer. Ach, ihre Gesichter, überall Heinz, in allen Linien. --

»Was verschafft uns die Ehre?« fragte die Majorin Dönhoff mit einem
prüfenden Blick aus ihrem gelblichen, langen Gesicht.

»Ich bin --« stammelte Klara, »ich wollte gern --«

»Ich verstehe Sie nicht!« sagte Frau v. Sterne-Dönhoff leise. »Wollen
Sie bitte Platz nehmen!«

Die Schwestern starrten verlegen.

»Ich wollte nur,« begann Klara wieder, »Sie besuchen«, und plötzlich
fing sie an zu schluchzen.

»Was haben Sie nur, mein liebes Fräulein?«

Stille.

»Ich bin seine Verlobte!« stammelte Klara.

Wiederum Stille.

Da niemand etwas sagte, fuhr Klara fort: »Ich war seine Geliebte.«

Die Majorin fiel ihr ins Wort. Kühl und förmlich sagte sie: »Mein Sohn
hatte keinerlei Geheimnisse vor mir. -- Geht hinaus!« herrschte sie die
beiden Schwestern an, und sie verließen sofort gehorsam das Zimmer.

»Wie sagten Sie? Seine Geliebte?« Die Majorin dämpfte die Stimme.

»Ja. Ich bin seine Geliebte.«

»Aber wissen Sie auch, was Sie sagen?«

»Vollkommen.«

»Sie wollen also sagen« -- die Majorin stockte -- »Sie wollen doch nicht
sagen, daß Sie mit Heinz in Gemeinschaft gelebt haben?«

Klara zuckte zusammen und hob den hilflosen, wunden Blick zu den
graublauen Augen empor. Sie errötete. »Nein, nicht das --« stotterte
sie. »Das wollte ich nicht sagen.«

Auch über das gelbe, lange Gesicht der Majorin huschte ein dünnes Rot.
Erleichtert und etwas freundlicher sagte sie: »Nun, dann danke ich Ihnen
herzlich für Ihren Besuch, mein liebes Fräulein!« Sie versuchte, ihrer
Stimme sogar einen warmen und aufrichtigen Klang zu geben. Aber als
Klara sie mit fassungslosen Augen ansah, fügte sie flüsternd hinzu:
»Sollten Sie vielleicht irgendwelche Ansprüche zu stellen haben?«

Fassungslos waren die wunden Mädchenaugen auf sie gerichtet.

Da lächelte die Majorin und streckte Klara die Hand hin. »Herzlichen
Dank, mein Kind. Wie heißen Sie?«

Aber Klara antwortete nicht, ihr Blick glühte. Sie berührte diese lange,
gelbe, entsetzliche Hand nicht. Sie wich zurück, verbeugte sich tief,
sehr tief, und ging hinaus. Die beiden Schwestern lugten durch die
Türspalte. »Von ihr ist die Locke, die er in dem Medaillon trug«,
flüsterte die eine, und die Stimme der Majorin rief: »Emma, Bertha.«
Klara befand sich wieder auf der Treppe.

Ach, und die kleine, törichte Klara hatte sich zu Hause ausgedacht, daß
sie vor der Majorin und den Schwestern in die Knie fallen werde, um
ihnen zu sagen, daß sie gekommen sei, den Schmerz mit ihnen zu teilen.
Sie wollte ihnen die Hände küssen und mit ihnen weinen.

Sie war ein Kind und wußte nichts um die Eifersucht einer Mutter.

Betäubt und völlig fassungslos stieg sie die Treppe hinab. Es war die
Treppe, über die sein Schritt eilte. Sie berührte sie liebkosend mit den
Fingerspitzen. Sie wollte diese Treppe auch küssen -- aber in diesem
Moment wurde ein Kinderwagen aus einer Türe geschoben, und sie entfloh.

Aber sie kam wieder, als die Damen Sterne-Dönhoff ausgegangen waren, und
sie küßte die Treppenstufen und kniete auf ihnen. Dreimal kam sie im
Laufe der nächsten Wochen und schlich wie ein Dieb durch das
Treppenhaus. Einmal war es schon ganz finster. Dann kam sie nicht mehr.

                   *       *       *       *       *

Das Paradies war versunken, nichts blieb als Finsternis, unendlich --
und inmitten dieser finsteren Unendlichkeit stand sie, Klara, die Hände
auf ihr zuckendes Herz gepreßt.

Solange Papa zu Hause war, mußte sie die Trauerkleider ablegen. Sie
wollte Papas Fragen vermeiden. Zuweilen schon streifte sie bei Tische
sein Blick -- ihre Augen waren gerötet, ohne Glanz, ihre Wangen ohne
Farbe. Papa, ihr armer Papa, der ohnehin in den letzten Tagen so
auffallend erregt, ja verstört war. Mehr, als er es sich merken ließ,
schien ihm Hedis Rücksichtslosigkeit nahe zu gehen.

Ja, diese Hedi hatte es tatsächlich übers Herz gebracht, das Haus zu
verlassen. Anfangs war sie nur selten und sehr unregelmäßig gekommen,
sandte immer Boten mit Briefen -- Arbeit, unerwartete Vorkommnisse.
Schließlich kam sie gar nicht mehr. Ganz unmöglich, dieser Weg -- und
Arbeit, Tag und Nacht mußte man zur Stelle sein.

Der Geheime Rat -- nie hätte es Klara für denkbar gehalten, fügte sich,
ohne den Versuch eines Widerstandes.

Er ging wohl etwas erregt hin und her und knackte mit den Fingern,
zupfte an seinen dünnen Barthaaren. Er hatte Bedenken ohne Zweifel,
schwere Bedenken! Ein Herr Ströbel oder Herr v. Ströbel -- ein während
des Krieges reich gewordener Mann -- hm! Aber schließlich: er besaß kein
Vermögen, und da er kein Vermögen besaß, so war auch seine Karriere so
gut wie abgeschlossen -- derselbe Schreibtisch, derselbe Aktenständer,
derselbe Spucknapf -- bis zur Pensionierung.

Ja, was war da zu tun? Wieder knackte er mit den Fingern.

Bei dem heutigen Geldwert konnte er seinen Töchtern nichts mehr bieten,
gar nichts mehr. Sie mußten selbst sehen --

Es war gar nichts zu tun, mit einem Wort.

Und übrigens hatte er gerade jetzt, gerade in diesen Tagen, ganz andere
Sorgen! Schlaflos verbrachte er die Nächte. Ein ungeheures Mißgeschick,
wenn man so sagen darf, war ihm widerfahren: es gehörte zu seiner
Tätigkeit im Auswärtigen Amt, die deutschen Interessen in drei fernen
exotischen Ländern zu vertreten. Zu diesem Behufe veröffentlichte er mit
Unterstützung eines Universitätslehrers jeden Monat ein
Korrespondenzblatt, dessen sich die Presse allerdings nur wenig, ja, man
kann getrost sagen, gar nicht bediente, leider. Nun aber hatte eines der
exotischen Länder an Deutschland den Krieg erklärt -- und ihm, ihm war
es völlig entgangen! Das letzte Korrespondenzblatt hatte sogar noch
einen lobenden, beruhigenden Aufsatz aus der Feder seines geschätzten
Mitarbeiters enthalten, und doch lebte man mit jenem Lande schon seit
drei Wochen im Krieg! Welches Mißgeschick! Wenn der Minister es,
bemerken sollte --? Allerdings waren ja schon drei Wochen vergangen, und
niemand hatte bis jetzt etwas bemerkt, vielleicht ging der Kelch noch
einmal an ihm vorüber!

Das waren die Sorgen des Geheimen Rats, und es war ihm natürlich zurzeit
gänzlich unmöglich, sich viel um seine Töchter zu bekümmern. Es war ja
schließlich keine Schande, wenn Hedi Schreibmaschine schrieb und Briefe
abfaßte -- und sie bekam mehr Gehalt sogar als er. -- Es schien ihr gut
zu gehen, hatte sie doch kürzlich sogar eine Gänsekeule in Gelee
geschickt. Im übrigen war ihm der Charakter Hedis Bürgschaft genug
. . .

Der wilde Schmerz trieb Klara in diesen Tagen sogar zu Hedi, obschon sie
sich vorgenommen hatte, die Schwester in Zukunft zu ignorieren.

Aber Hedi hatte wenig Verständnis für ihr Leid. Sie war gerade mit dem
Einrichten ihrer Wohnung beschäftigt. Im Salon sollte eine Decke
eingezogen werden -- mit goldenen Kassetten zwischen ultramarinblauen
Balken -- nein, Hedi hatte gar kein Verständnis. Sie wollte ihr einen
Frühlingshut schenken. Sie heuchelte ja Teilnahme, aber Klara fühlte nur
zu deutlich --

Sie kam auf den Gedanken, Ruth zu besuchen. Ruth? Weshalb Ruth? Sie
hatte sie nur einigemal gesprochen -- kannte sie kaum, aber instinktiv
suchte sie bei ihr Zuflucht.

Indessen Ruth war nicht da! Der General trat zufällig in die Diele.
»Meine Tochter ist nie zu Hause!« sagte er -- wie es Klara schien -- mit
Bitterkeit in der Stimme. Feierlich und prunkend -- diese Diele. Dunkle
Gemälde in breiten Rahmen, ein riesiger Spiegel und davor zwei Neger aus
Bronze oder Eisenguß, die hohe Kerzen trugen. Voller Mißtrauen schien
der General sie zu betrachten, sein Blick war prüfend und unbehaglich,
ganz wie der Blick von Frau v. Sterne-Dönhoff. Die sie haßte und
verachtete.

Ja, wohin?

Schließlich kam sie auf den Gedanken, Dora aufzusuchen. Sie beichtete
Dora alles! Aber Dora hatte ebenfalls kein Verständnis für ihren
Schmerz. Sie küßte sie, nahm sie in die Arme und drückte sie an ihr
Herz. Sie versuchte sie zu trösten -- sagte, es sei ein Verbrechen,
Kinder, wie Heinz, in diese Metzelei zu schicken -- aber sie hatte
gerade die Schneiderin im Hause, und ihr Kopf war erfüllt von Frühjahrs-
und Sommertoiletten, man mußte ja jetzt schon an den Sommer denken.
Schließlich kam Otto dazu, und Otto betrachtete sie mit neugierigen
Blicken, die Klara unangenehm waren.

Sie ging.

Allein, ganz allein mußte die kleine Witwe ihren Schmerz tragen. Sie
wußte noch nicht, daß der Mensch in seinem Schmerz immer allein steht.

Wie eine Verzweifelte irrte sie Tag für Tag, bis in die späte Nacht
hinein, durch die Straßen. Für ihn die Flaggen -- mein Geliebter, mein
Held! -- für ihn das feierliche Geläute der Glocken! Niemals würde sie
auch nur die Hand eines andern Mannes berühren! Sie war seine Witwe.

Sie war freundlich zu den Menschen gewesen und selbst freundlich zu den
Hunden auf der Straße. Nun ging sie dahin, ohne den Blick zu erheben.

Zeitungen, Extrablätter, die Menschen rannten, stürmten, rissen gierig
die Blätter in Stücke -- was kümmerte es sie? Selbst die Wagen der
Untergrundbahn waren überschwemmt mit Zeitungen. Man hatte den
Faustkampf um den Platz in diesen Tagen etwas gemildert -- es war ja
nicht unmöglich, daß bald alles wieder anders würde. Siege, Siege! Jeden
Tag! In der Ecke des Wagens starb eine kleine Stenotypistin -- still,
ohne einen Laut von sich zu geben. Von der Station Kaiserhof an wurde
sie bleicher und bleicher, als der Zug am Spittelmarkt einlief, war sie
schon tot. Man trug sie hinaus.

Tot? Ja, vielleicht war es das beste?

Klara wurde nicht müde in diesen schrecklichen Tagen, obschon sie nachts
kein Auge zutat. Denn nachts flossen die Tränen ganz von selbst und
brachten Linderung. Kreuz und quer irrte sie durch die dunkeln Straßen.
Schatten taumelten gegen sie, Schatten krochen vor ihr, Schatten
stürzten hinter ihr her. Plötzlich erschrak Klara: ein alter, haariger
Schimmel stand mitten auf dem Trottoir.

Sie stand an einem stillen Kanal, in einer ihr völlig fremden Gegend.
Aus dem schwarzen Wasser blinzelte winkend ein Licht, tief unten. Die
dunkeln Häuser hinter ihr begannen allmählich zu rücken und zu wandern.
Leichen von Firmenschildern, Leichen von Riesenbuchstaben wanderten
langsam, unendlich langsam vorüber. Kein Mensch weit und breit.
Verlassene Wagen, verlassene Bretterhaufen, verlassene Kähne, die Pest
hatte die Menschen mitten aus der Arbeit weggeholt.

Da erscholl über dem schweigenden, schwarzen Wasser ein fürchterliches
Gelächter -- ein unheimliches Lachen, das Lachen des Wahnwitzes -- Klara
erschauerte. Sie befand sich hinter dem alten Schloß, und es schien ihr,
als käme das Gelächter aus der finstern Burg. Ein Eishauch ging von dem
stillen, toten Schloß aus. Es schien verlassen, bewohnt einzig von einem
Gespenst, das diese fürchterliche Kälte aushauchte. Starrte es nicht
durch die schwarzen Fenster auf sie? Und da -- seine eisige Hand griff
durch die Mauern und berührte ihr Herz.

Klara entfloh. Das wahnwitzige Gelächter scholl hinter ihr her.

Endlich Licht. Ein Kino. Eine dicke Zeitungsfrau rannte an den grellen
Plakaten vorüber und krächzte heiser und ununterbrochen: »Zwanzigtausend
Gefangene -- die Schlacht geht weiter --«


2

Nebel.

Sonderbar, den ganzen Tag über Regen, gegen Abend etwas Sonne und ein
feuchter Wind und nun, in der Nacht, Nebel.

Herr Herbst bog um die Ecke und nieste. Er war erkältet. In dieser
Straße stand der Nebel noch dichter. Ein unheimlicher Riese kam ihm
entgegengestampft, in einige Lagen von Pelzen eingehüllt, eine hohe
Pelzmütze auf dem dicken Schädel, aber er schrumpfte mehr und mehr
zusammen, und schließlich ging nur ein kleiner harmloser Mann an ihm
vorüber. Ein qualmendes Feuer mitten in der Straße und tanzende
Kannibalen um das Feuer: keine Angst, es sind Straßenbahnarbeiter, die
das Geleise ausbessern.

Wie ein lehmiges Meer wälzte sich der Nebel dahin und schob Geröll vor
sich her -- Häuser, Straßen, Häuserviertel, Stadtviertel, Vorstädte,
immer weiter, bis hinaus zum flachen Land, wo es nichts gibt als
Kartoffeläcker und Telegraphenstangen.

Auch ihn schob das lehmige Meer willenlos vor sich her, ganz wie die
Häuser und Stadtviertel mit all ihren Bewohnern. Seine Nase tropfte, er
ging rasch, die Knie etwas eingeknickt, die Arme herabhängend. Müde war
er, todmüde. Den ganzen Tag war er unterwegs.

Er hatte einen neuen Plan ausgedacht -- teuflisch!

Ja, teuflisch!

Wo er ging und fuhr, sollte er ihn sehen -- immer, zu jeder Stunde des
Tages sollte er erinnert werden -- _daran_!

Als er aber wieder niesen mußte, zerflatterte die dichte schmutzige
Nebelwolke, und -- wer hätte das gedacht? -- er erblickte einen kleinen
üppigen Garten in praller Sonne! Er selbst ging in diesem Garten
spazieren, in einem weißen Kittel, die goldene Uhrkette auf der Weste,
einen breiten sonnenverbrannten Panama auf dem Kopfe. So deutlich! Es
roch nach Kaffee, es war Sonntag, er roch sogar die Frische des
Stärkhemdes, das er trug. Bald würde Muttchen -- dasselbe Muttchen, das
später, viel später, wer hätte es ahnen können --? -- bald würde
Muttchen kommen mit dem Kaffeekuchen, die Fingerspitzen etwas fett, die
Lippen etwas glänzend von Fett . . .

In diesem Augenblick stieß Herr Herbst mit jemand zusammen, der unwillig
»Achtung!« rief. Der Garten verschwand, und der Nebel brodelte wieder.
Der Zusammenstoß war so heftig, daß ihm der steife Hut über die Ohren
getrieben wurde und er ins Taumeln geriet. Aber dieses ärgerliche
schroffe »Achtung!« -- diese trockene Stimme, wie?

Scheu wandte er sich um: sofort fiel ihm das grüne Plüschhütchen auf und
der enge, zugeknöpfte Überzieher! Im gelben Dunst einer Laterne stand
der schmächtige junge Mann im Gespräch mit zwei Männern mit
Knotenstöcken. Das Plüschhütchen wackelte hin und her, die dünnen Arme
gestikulierten aufgeregt -- aber da verschwanden sie schon aus dem
Lichtschein der Laterne, der Nebel verschlang sie.

Herbsts Herz pochte.

Also schon waren sie bis hierher gekommen, bis hierher?

Er zitterte und duckte sich zusammen.

Düster lag das graue Haus, umbrodelt vom Nebel, und wie in jeder Nacht
war nur das eine gleiche Fenster erleuchtet.

Leise wie immer stahl sich Herr Herbst in sein Zimmer.

Gottlob, daß er hier war! So müde --!

Frau Hähnlein in ihrer Kammer betete. Mit schluchzender, verzweifelter
Stimme -- aber leise, um die Kinder nicht zu wecken, flehte sie um
Gottes Beistand, rief sie den Himmel um Hilfe an, ja, um Hilfe --

Grundlos wie das tiefe Meer war das Elend dieser Stadt, in allen
Straßen, allen Häusern. Überall Unglückliche, Verzweifelte, Weinende,
Schlaflose. Aus allen Häusern glühten die Augen von Wahnsinnigen in den
Nebel.

Der bucklige Wirt hatte recht: die Zeit der großen Heimsuchung war über
die Welt gekommen. Die Menschen waren Sünder. Sünde! Sünde! Bodenlos wie
das tiefe Meer! Und auch er, ja, auch er hatte Sünde auf Sünde gehäuft
in seinem Leben! Er büßte -- schon büßte er, hatte er den steinigen Pfad
der Sühne betreten.

Daran dachte der kleine Herr Herbst, als er geschüttelt vom Frost in
sein Bett kroch. Sein Gesicht brannte wie Feuer, und funkensprühend
kreiste die Dunkelheit um ihn. Wieder quälte ihn der Husten, und er
steckte den Kopf unter die Decke, um keinen Lärm zu machen. Als er
wieder Atem schöpfte, hörte er Stimmen in Ackermanns Zimmer.

                   *       *       *       *       *

Diese Stimmen brodelten, ganz wie der Nebel an seinem Fenster, auf und
ab, eine heisere, keuchende und eine tiefe klare, die zu beruhigen
suchte. Dazwischen ein belustigtes, ein etwas angeheitertes Lachen.

Die klare beruhigende Stimme, das war Ackermann, aber die heisere,
keuchende, die zuweilen so sonderbar belustigt lachte? Es war Hähnlein!
Ja, niemand sonst -- lachte also, während seine Frau Gott um Hilfe
anflehte, um Erbarmen für ihre armen Kinderchen wenigstens.

»Morgen schon?« fragte Ackermann.

»Ja, morgen um zehn Uhr!« Und wieder das angeheiterte Lachen.

Ohne Unterbrechung brodelten die Stimmen.

Der kleine Herr Herbst dampfte vor Hitze. Sein Kopf rauchte, seine
Hände, ja, wie gesagt, er war erkältet. Mit geneigtem Kopf saß er im
Bett, wie betäubt, ohne jeden Gedanken. Er mußte dem Brodeln der Stimmen
lauschen, das ihn wie ein Zauber bannte, obwohl ihn nicht im geringsten
interessierte, was die beiden zu besprechen hatten.

»Wie ist es nur denkbar?« rief Ackermann aus.

Und mit einem heiseren Auflachen erwiderte Hähnlein: »Ja, wie ist es nur
denkbar, hahaha!«

Trotzdem das Blut in seinem Kopfe wie Dampf zischte, begriff er bald,
was Hähnlein so erregt hatte. Man hatte ihn wieder gemustert, und morgen
ging der Transport zur Front. Die »Mordkommission« war in der Kaserne
gewesen. Zurück, zur Front, abermals -- ja, der Granatsplitter, der ihm
die Schädeldecke zertrümmert hatte, so daß er keine Treppe steigen
konnte, ohne sich am Geländer festzuhalten -- er zählte gar nicht. Und
der Brustschuß, den er in Serbien erhielt -- auch er zählte nicht. Und
dreimal in Frankreich, zweimal in Rußland, in Serbien -- all das zählte
überhaupt nicht. Seine Frau -- seine Kinder --?! Nichts zählte!

Man würde ihn wieder in einen Viehwagen packen, er mußte wieder hinaus.

Ackermann versuchte zu beruhigen.

»Hahaha!« lachte Hähnlein. Seine Ratschläge machten wenig Eindruck auf
ihn.

»Ja, vor die Füße, vor die Füße, wirf es ihnen vor die Füße!« schrie
Ackermann laut und wütend.

»Aber, was dann, Ackermann, hörst du?« fragt Hähnlein. »Gefängnis --
frage Kamerad Schmitt, der dem Gefreiten eine Ohrfeige gab. Lieber den
Heldentod als das Gefängnis! Hunger und Prügel.«

»Die Verruchten!« schrie Ackermann.

Hähnlein lachte wieder laut und heiter. Und obwohl Herbst vom Fieber
glühte, erschauerte er bei diesem sonderbaren Lachen.

Aber, ob er, Ackermann, die Strafkompanie vergessen habe? Teufel von
Vorgesetzten -- Verbrecher -- Zuchthäuslerkleidung -- die ehrlichen
Kameraden spucken dich an -- Sträflingsarbeit im Feuer, Hunger, Prügel,
Läuse, Krankheiten --

Also fort mußt du? dachte Herr Herbst. Gut, gut, daß du fort kommst!

Er fürchtete sich vor Hähnlein in der letzten Zeit. Gestern traf er ihn
auf der Treppe: ohne Regung stand er, erstarrt, den Kopf gesenkt, einen
Fuß in der Luft, die stechenden, glitzernden Augen auf den Boden
gerichtet. Er hatte es nicht gewagt, an ihm vorbeizugehen und war
umgekehrt.

So, ja, genau so hatte auch sie gestanden -- seinerzeit -- immer in den
Ecken, zuerst mitten in den Zimmern, endlich nur noch in den Ecken und
unter den Türrahmen -- bevor sie, hm, bevor sie . . .

Gut, daß du aus dem Hause kommst --

Nun aber hätte er beinahe laut herausgelacht! Hähnlein sprach von der
Musterung, den Skeletten, Krüppeln, Krummen und Lahmen, und er, in
seinem Bett, sah alles deutlich und wunderbar klar vor sich. Wie sie
humpelten, wie sie krochen, wie die Knochen spitz durch ihre Haut
stachen! Nur einer aber war frei gekommen, er fiel in Krämpfe und wurde
hinausgetragen.

Nun kam also jener, ein Riese von Gestalt, der Blut in die offene Hand
spuckte und es dem Arzt zeigte. Aber der Arzt, o nein, er war nicht um
eine Antwort verlegen. Er sagte, der Arzt: Die Luft im Felde ist besser
als in Berlin, solange einer nicht den Kopf unter dem Arm trägt, muß er
hinaus. Fertig! Und da kam dieser andere, der eine offene Wunde am
Rücken hatte, man konnte den ganzen Finger hineinstecken -- aber auch
das half nichts. Immer vorwärts, sagt der Arzt, bei so jungen Leuten
heilt das rasch. Nein, er war nie um eine Antwort verlegen, man muß es
ihm lassen. -- Nun aber, nun also kam Hähnlein, unser Hähnlein an die
Reihe. Es half ihm alles nichts, was er vorbrachte. Sein Lungenschuß,
seine Atemnot -- prächtig geheilt, sagte der Arzt, die Bureauluft ist
nicht gut für Sie. Aber auch die Schwindelanfälle, die von dem
Granatsplitter im Kopf herrührten, das Zittern -- auch das half Hähnlein
nichts. Sollen denn nur gesunde Leute totgeschossen werden? fragte der
Arzt. Hahaha! Richtig, weshalb nur gesunde?

Ja, also Hähnlein saß in der Patsche und konnte es noch immer nicht
begreifen.

Und wieder brodelten die Stimmen. Lange Zeit. Kein Wort zu verstehen.
Dann aber lachte Hähnlein wieder laut heraus, und die Stimmen verloren
sich auf dem Korridor.

»Mut, Kamerad!« rief Ackermanns Stimme.

Hähnlein lachte und sagte irgend etwas. Er schlich draußen an der Türe
vorüber und pfiff leise vor sich hin.

Augenblicklich hörte Frau Hähnlein auf zu beten. Sie stellte sich
schlafend, schnarchte sogar ein wenig. Nach einer Weile fragte sie: »Was
tust du?«

»Ich rauche eine Zigarre«, antwortete Hähnlein mit ruhiger Stimme.

Und nun wurde es still, ganz still. Nun war die Zeit gekommen für ihn,
Herrn Herbst, seinen Triumph auszukosten!

Sanft glitt sein Bett dahin, eine angenehme Hitze kochte in seinem
Körper, heiß fuhr der Atem aus seinem Munde. Prachtvoll, berauschend,
rot funkelte die Finsternis. Am Fenster wallte der Nebel, auf und ab,
drückte sich gegen die Scheiben. Und drunten: horch! Ja, deutlich hörte
er ihren Schritt, dumpf wie der Schlag seines Herzens in der Brust. Da
gingen sie auf und ab, die Männer mit den Knotenstöcken, das grüne
Hütchen eilte durch den Nebel die Straße herauf, nachzusehen, zu
kontrollieren.

Und er, nebenan, ahnte nichts! Raschelte mit Papieren, zerriß sie,
klapperte auf seiner Schreibmaschine, ahnungslos. Sah er nicht das grüne
Hütchen eilen? Nein, nein, blind war er, taub war er.

Nun rasselte er mit dem Ofen, es roch nach verbranntem Papier. Und schon
gingen die Schritte auf und ab, lauter, immer lauter . . . .

Sollte er an die Türe pochen und ihm zurufen: Horch, horch! Öffne das
Fenster und sieh es eilen --!

Aber nein, nun war ja die Stunde gekommen, die wonnige, seinen Triumph
auszukosten!

Heute -- hoho -- heute hatte er es gewagt! Den Hut gezogen, ganz dicht
vor ihm, ganz dicht! Vor dem Hause in der Lessingallee hatte er
gewartet, bis die graue Limousine kam. Und dann -- den Hut gezogen, wie
gesagt. Mitten in den Lichtschein der Automobillampen war er getreten,
in den blendenden Lichtkegel der Lampen!

Und der General? Er war erschrocken -- erschrocken, sollte man es
glauben, vor ihm, einem alten ohnmächtigen Mann, ohne Rang und Würde,
einem Trinker, mit dem es bergab ging, täglich mehr und mehr bergab,
erschrak er -- der Gewaltige! Fuhr zurück, und seine Augen waren voller
Schrecken . . .

Ja, keine Nachsicht mehr, nicht die geringste! Tag und Nacht wollte er
vor ihm auftauchen, keinen Schritt sollte er künftig tun -- er war da!

Und wie er erschrak! Wie er zurückfuhr! Deutlich sah er es vor sich. Das
breite starre Gesicht wankte, nicht Schrecken, nein Entsetzen spiegelte
sich in den Zügen. Der General taumelte einen Schritt zurück -- zwei --
er lief! Und er, den Hut in der Hand, lief hinter ihm her. Wie schnell
er doch lief! In seinem Mantel mit den roten Aufschlägen. In seinen
Hosen mit den roten Streifen! Wie das Entsetzen ihn vorwärts peitschte
-- und doch war es spielend leicht, ihm zu folgen. Rascher, immer
rascher rannten sie beide in die rotfunkelnde Finsternis hinein. Und der
Nebel donnerte! Ballen von Qualm warf die schwarze Stadt aus, wie ein
Vulkan, Ballen um Ballen, himmelhoch donnerten die Wolken von Qualm.


3

Der Nebel brodelte über Berlin. Über dem Nebel funkelten die ewigen
Sterne, aber die Stadt, versunken im gelben Meer von Lehm, sah sie
nicht.

Schrill heulten die Züge, in düstere Glutwolken gehüllt, tasteten sie
sich langsam vorwärts. Die Bogenlampen fieberten in den dunstigen
Bahnhöfen, Schattenriesen stießen mit den Köpfen gegen die Glasdächer
der Hallen. Die Krankenwagen krochen in das gelbe Nebelmeer hinaus, und
zuweilen stutzten die Chauffeure: klaffende Abgründe schienen plötzlich
die Straßen zu spalten. Schlaff und schmutzig hingen Flaggen aus den
Nebelwolken herab.

In nebligen Höfen wurden die Wagen entladen, und voller Erlösung
starrten die Fieberaugen der Verwundeten in das Licht der Korridore,
durch deren Karboldunst die Bahren schwankten.

Und die Züge heulten und winselten, wie seit mehr als tausend Nächten.
Aber in dieser Zeit der großen Offensive kamen sie ohne jede
Unterbrechung. Die Ärzte wechselten Blicke. -- --

Zur gleichen Stunde saß der General, den der kleine Herr Herbst im
Fieberwahn verfolgte, mit zufriedener Miene in dem bequemen
Arbeitssessel vor seinem Schreibtisch und beugte sich über eine große
Generalstabskarte.

Er hatte neben sich ein Näpfchen mit blauer Farbe und ein Glas Wasser
stehen und malte auf die Generalstabskarte blaue Linien. Hin und wieder
suchte er mit der Lupe eine Ortschaft, die der letzte telephonische
Bericht genannt hatte.

Unfaßbar! Flogen sie? War es nicht ganz wie seinerzeit beim Vormarsch
1914?

Schon wurde das strategische Bild klarer -- kristallklar. Der General
beugte sich! Seine Ansichten hatten nicht immer mit jenen dieser hohen
Stelle harmoniert, zugegeben, es war ihm unmöglich gewesen, den
bedingungslosen Glauben der Allgemeinheit zu teilen, er vermißte kühne,
strategische Gedanken, vermißte den genialen Blick, nun aber beugte er
sich. Ja! Ohne Vorbehalt.

Und der General starrte in die weiße Karte, während draußen der Nebel
zog. Bald beugte er sich dicht darüber, den Kneifer auf der Nase, bald
lehnte er sich nachdenklich in den Sessel zurück, und wieder starrte er
regungslos in die weiße Karte. Was sah er? Er sah Brigaden, Divisionen,
Armeekorps, den Gürtel der Artillerie. Er sah wie Brigaden, Divisionen,
Armeekorps sich vorwärts fraßen, die Kolonnen auf den Straßen, die
schwere Artillerie wird nachgezogen, die Fliegerschwärme in der Luft,
die Stäbe, all das sah er auf der weißen Karte.

Seine Hand schob die blaue Linie vorwärts -- ja, schon erblickte er in
der rechten Flanke das Meer -- den Kanal, in der linken Flanke aber
wurde die fadendünne Silhouette des Eiffelturms am Horizont sichtbar.

Heute schon fielen die Granaten auf die französische Hauptstadt,
furchtbare Mahner, furchtbar pochte die Geschichte an die Tore von Paris
-- und London, bald würde die Geschichte auch an die Tore Londons
pochen! Das Reich des großen Alexander, wo war es hin? Die Stunde
schlug, und es sank in Trümmer. Das Weltreich der Römer und Spanier?
Schutt! Unaufhörlich brauste der Strom der Geschichte, und neue Reiche
stiegen aus der Flut empor.

Der General versank in Träumereien. Seine strengen Züge hatten sich
gelöst. Schon heute stand fest, daß die feindlichen Reservearmeen
aufgerieben waren. Sie hatten nichts mehr, fürchterliche Perspektive
. . .

Nur durch einen Korridor vom General getrennt, durch ein paar dünne
Mauern, saß Ruth über ihren geliebten Büchern, die das Evangelium für
sie bedeuteten, und las mit fiebernden Wangen, während an den Fenstern
sich der Nebel ballte. Es war schon tief in der Nacht, sie schrieb,
machte Notizen, ihre Augen glänzten. Ja, diese Bücher, diese Broschüren,
sie sprachen die Wahrheit! Sie allein zeigten den rechten Weg.
Untergehen mußte diese heute herrschende Gesellschaft, die sich nur
durch Sklaverei, Plünderung und Tyrannei aufrechterhielt. Dieser Krieg
war der fürchterlich logische Abschluß ihres Werkes -- welch ein
Abschluß! Heraufsteigen würde eine neue Gesellschaft, besser, reiner,
edler. Schon waren ihre Boten unterwegs. Hier aber erschauerte Ruth.

Ja, schon! Ihr Blick glitt zum Fenster, das der Nebel verhüllte, ihr
Blick füllte sich mit Unruhe und Qual. Ungewiß lag die Zukunft. Lange
würde sie ihn nicht sehen, vielleicht Jahre! Aber es mußte sein, es
mußte Mutige geben, die alles einsetzten für Idee und Glauben! Sie
liebte ihn, sie bewunderte ihn! Auch sie würde ihm nachfolgen. Auf alles
würde sie verzichten, auf Geld, Bequemlichkeit, gesellschaftliche
Stellung. Nichts wollte sie. Wie Millionen von Frauen, die ihr Brot
verdienten, wollte sie sein, nicht anders. Langsam hatte sie sich zu
diesem Entschluß durchgerungen. Tausend beglückende Gespräche gaben
Helligkeit, Klarheit und Ziel!

Wenn sie Papa kränkte, sie konnte nicht anders, Otto, ihre
Verwandtschaft -- nein, es stand unabänderlich fest! Welche Albernheit,
Oberflächlichkeit, welcher Dünkel, welcher Wahn -- nein, fort fort.

Und doch, das Herz schmerzte. Sie erhob sich und begann auf und ab zu
wandern, die Hände an den Hüften, immer hin und her, den Blick voller
Qual -- immer hin und her, die ganze Nacht. --

Und Dora, was tat Dora in dieser undurchdringlichen Nebelnacht? Sie
schlief und lächelte im Schlaf. Auch Klara, die kleine unglückliche
Klara, schlief, aber sie weinte im Schlaf, ihre Wangen waren ganz naß.

Hedi aber war noch wach in dieser Nebelnacht, sie war heiter und guter
Dinge. Sie tanzte Tango mit Weißbach, in der Bibliothek, nebenan saß
eine kleine Gesellschaft beim Spiel. Der Phonograph war kaum zu hören,
da sie ihn geschlossen hatte, aber so fand Hedi es am stimmungsvollsten.
Ströbel hatte ihr eben gesagt, er sei einer der wenigen Männer in
Europa, die alles vertragen könnten -- und so tanzte sie Tango mit
Weißbach, ganz allein, und Weißbach, der heute wenig trank, hatte ihr
erklärt, daß er sie liebe und sie auf der Stelle heiraten würde. Das
belustigte Hedi, und zuweilen erlaubte sie seinem Blicke, in ihre Augen
einzudringen, ganz tief. Sie hatte sich vorgenommen, den kleinen
schwarzen Artilleriehauptmann völlig rasend zu machen. Und dann? Nun,
wer weiß --?

Und Otto? In seinem Zimmer im Westen saß er, eine kleine anmutige
Verkäuferin, die er auf der Straße kennengelernt hatte, auf den Knien,
eine Flasche Wein neben sich. Er küßte den vollen, bläulichweißen Nacken
der Kleinen, und sie fragte ihn, wie das knallt, wenn eine Granate
einschlägt. Ihr Bräutigam war ebenfalls im Felde. Otto lachte --
herrlich diese Naivität. Er unterhielt sich ausgezeichnet. Was kümmerte
es ihn, daß der Nebel um das Haus wallte?


4

Immer noch rannte der kleine Herr Herbst hinter dem Mantel mit den roten
Aufschlägen einher, immer noch durch purpurne Finsternis.

Allmählich aber ging die Dunkelheit in Zwielicht über, er rannte nicht
mehr, er ging langsam -- und der General? Es war gar nicht der General,
es war sein Zimmernachbar Hähnlein. An seinem abgenutzten
Soldatenmantel, seinen abstehenden weißen Ohren, dem dünnen Hals
erkannte er ihn. Er ging langsam, immer einige Schritte voraus, kreuz
und quer durch die Straßen. Offenbar suchte er etwas. Endlich aber --
ah, nun hatte er es gefunden.

Vor einem Laden mit Messern machte er halt. Messer, nichts als Messer,
funkelnd und blitzend, ein Gebiß. Dieses Geschäft umkreiste Hähnlein, er
las die Aufschrift, runzelte die Stirn. Dann trat er zurück an den
Rinnstein, einen Fuß auf dem Fahrdamm, einen auf dem Bürgersteig, zog
den Geldbeutel heraus und blickte aufmerksam hinein. Entschlossen betrat
er den Laden. Aber bevor er die Türe schloß, warf er noch einen Blick
auf die Straße, einen suchenden, kranken und traurigen Blick. Wonach sah
er sich um? Nach Hilfe?

Wie, hier, zwischen den eilenden Menschen, die alle vor dem eigenen
Elend dahinjagten, hier, wie? Nun, er sah es ja auch ein, daß es sinnlos
war, gerade hier nach Hilfe auszuspähen und schloß die Türe hinter sich.
(Herbst spähte durch die Scheibe!) Er wählte ein langes solides
Bratenmesser, lang, spitzig und scharf und verließ den Laden, ein
schmales, langes Paketchen unter dem Arm. Rasch strebte er nun seinem
Hause zu, zuweilen lief er sogar eine Strecke, rasch eilte er die Treppe
hinauf.

Aber was nun? Es war wieder dunkel im Zimmer nebenan, wieder war es
plötzlich Nacht geworden, und nur Hähnleins Schatten war zu sehen, seine
weißen abstehenden Ohren und seine böse glitzernden Augen. Er, Herbst,
lag nun wieder in seinem Bett, schlief, hatte die Augen geschlossen,
trotzdem sah er durch die Mauer hindurch alles, was Hähnlein nebenan
tat. Nun beugte sich Hähnleins Schatten über die schlafenden Kinder,
lange Zeit, dann über die schlafende Frau. Da blitzte plötzlich das
lange Messer. Furchtbar blitzte es in der Dunkelheit. Die Frau regte
sich, und Hähnlein versteckte hastig die Klinge unter seinem Rock. Lange
stand er ohne jede Bewegung.

Dann aber, dann beugte er sich wieder über die schlafenden Kinder, das
Messer funkelte -- nun zeigte die Klinge dunkle Flecken. Lautlos stand
er und atmete. Dann beugte er sich über die Frau, und abermals funkelte
das Messer. Endlich richtete er sich auf. Kein Laut.

Plötzlich aber beschäftigte ihn etwas. Er heftete seine glitzernden
tückischen Augen auf ihn, Herbst, der nebenan in seinem Bett lag und
schlief. Sah er ihn? Es war ja unmöglich, die Wand war dazwischen. Aber
doch schien er ihn zu sehen. Er tastete mit der Hand gegen die Wand --
runzelte enttäuscht und zornig die Stirn. Da begann Herbst (weshalb
eigentlich?) spöttisch zu kichern. Hähnlein lächelte verächtlich,
wollüstig -- und tastete sich an der Wand entlang zur Türe.

Herbst setzte sich plötzlich aufrecht, und sein Herz stand still vor
Entsetzen. Wild schrie er auf.

Er kam! Er sah ihn kommen, das Messer zwischen den Lippen.

Schon öffnete sich langsam die Türe, seine Hand wurde sichtbar -- wieder
schrie Herbst auf -- und er trat ein.

Aber er trug kein Messer, sondern eine Kerze. Und es war gar nicht
Hähnlein, sondern -- Ackermann.

»Sind Sie krank? Weshalb schreien Sie?« fragte Ackermann und kam näher,
den Leuchter mit einer kleinen Kerze in der Hand.

Herbst versuchte zu sprechen, doch die Zunge klebte am Gaumen.

Ackermann ging und kam mit einem Glas Wasser zurück.

»Trinken Sie. Sie fiebern ja. Sie glühen!«

»Ich friere«, entgegnete Herbst, und seine Zähne klapperten. »Ich fühle
mich eiskalt. Gewiß bin ich schneeweiß.«

»Sie glühen. Trinken Sie! Weshalb schrien Sie so?«

»Ich habe von Toten geträumt.«

Ackermann lächelte. »Vor Toten brauchen Sie keine Angst zu haben.«

Herbst zitterte und heftete die fiebernden Augen auf Ackermann.

»Und die Schritte,« flüsterte er, »die ganze Nacht. Vor dem Hause. Haben
Sie das grüne Hütchen nicht gesehen?«

»Trinken Sie noch etwas!«

»Fliehen Sie! Sie sind da!«

Frisch und jung erschien ihm Ackermann, eine Erscheinung aus einer
andern Welt. Die finsteren Mächte, die diese Erde bevölkern, konnten ihm
nichts anhaben. Seine Augen glänzten, sein Mund blühte tiefrot, er
schien weder müde noch schläfrig, obschon es tief in der Nacht war. Er
lächelte heiter, als er von den Schritten vor dem Hause hörte, nein,
auch sie konnten ihm nichts anhaben. Er schwebte auf Wolken wie ein
Engel. Er war ein Gesandter Gottes, der zu ihm gekommen war, um ihm zu
trinken zu geben.

Die Kerze verschwand. Schon war es wieder dunkel.

Ja, ein Traum hatte ihn gefoltert, ein Traum voller Unheil und
Schrecken. Hatte er von den verschütteten Soldaten geträumt, die sich
aus den Lehmbergen auswühlen, oder von Robert, aus dessen Wunden das
Blut in Strömen floß? Noch jetzt schüttelte ihn das Entsetzen.

Ohne Zweifel, dieses Haus war ein Haus des Unglücks, ein verfluchtes
Haus. Seine Mauern waren zermorscht von Jammer und Tränen. Selbst die
Toten fanden hier keine Ruhe. Jede Nacht glitt der tote Briefträger
durch das Treppenhaus und verbreitete seinen häßlichen Geruch. Er war
gestorben, dieser alte Briefträger, ein Veteran mit den Denkmünzen des
glorreichen Siebziger Krieges, ohne daß jemand es wußte. Erst als ein
scharfer, süßlicher Geruch das Haus erfüllte, hatte man ihn aufgefunden,
ausgestreckt auf dem Boden. Jede Nacht kroch er nun durch das
Stiegenhaus, und zuweilen zog er die Klingeln, dann schrien die Frauen.

Ja, ein verfluchtes Haus.

Aber, gottlob, die entsetzliche Kälte hatte aufgehört. Schon begann er
sich zu erwärmen, schon begann er wieder wohlig zu glühen. Ruhig atmete
das Haus, deutlich hörte er hinter der Wand die Familie Hähnlein im
Schlafe atmen. Feuer stieg in seine Augen. Sie wurden größer und größer,
und mit feurigen Augen, so groß wie Wagenräder, saß er in der
rauschenden Finsternis.

Plötzlich hörte er deutlich eine Orgel brausen, feierlich und tief. Und
durch das volle Orgelbrausen rief eine Stimme:

»Heilig ist der Mensch! Sinn der Erde, unantastbar!«

»Heilig ist das Menschenleben, unantastbar!«

Und wieder brauste die Orgel.

Dann schrie die gleiche Stimme, laut und hell:

»Die Menschenwürde ist das oberste Gesetz!«

»Unantastbar ist die Würde des Menschen!«

»Heilig sein Gedanke, heilig sein Leib!«

»Liebet einander!«

Die Orgeltöne verbrausten in der Ferne.


5

Und der Nebel brodelte über den Dächern der Stadt.

Immer noch ertönte gedämpft der Phonograph in Ströbels Bibliothek. Aber
Hedi tanzte nicht mehr. Sie saß am Spieltisch und setzte eifrig. Rote
Flecken fieberten auf ihren Wangen, ihre Augen sprühten. Sie gewann.
Zuweilen liebkoste Ströbel sie mit einem Blick, sie liebte ihn in diesem
Augenblick. Weißbach, der nach ihren Blicken tastete, hatte sie ganz
vergessen.

Ottos Mädchen war eingeschlafen. Zwei Tränen glänzten wie Tau unter
ihren langen hellen Wimpern. Otto saß beim letzten Glas Wein und rauchte
voller Behagen eine Zigarre. Er brauchte keinen Schlaf, obgleich er von
früh bis abends im Bureau arbeitete.

Immer noch ging Ruth ruhelos auf und ab, den Blick voller Qual. Sie
schwankte, so müde war sie, aber sie konnte sich nicht entschließen, zu
Bett zu gehen.

Der General aber schlief. Er schnarchte und murmelte zuweilen
unverständliche Worte im Traum. Wangel und Jakob packten in aller Eile
die Koffer, und er gab ihnen Befehle. Soeben hatte ihn das Telegramm
erreicht, in vierzig Minuten ging der Zug zur Front . . .

Und der Nebel wallte draußen. Über ganz Deutschland dampfte der Nebel,
undurchdringlich. Oben funkelten die ewigen Sterne, aber Deutschland sah
sie nicht. Die Züge winselten durch die Nebelnacht, durch ganz
Deutschland liefen die Transporte mit den zerschossenen Menschen, durch
Wälder, Felder, über Brücken und Flüsse, ohne Zahl, ohne Pause.

Über Europa dampfte der Nebel, undurchdringlich. Oben funkelten die
ewigen Sterne, aber Europa sah sie nicht. Blutrot wallte das Nebelmeer,
Europas Ströme wälzten Blut.

Die Greise, die die Geschicke der Völker lenkten, schlummerten in ihren
Betten.

Schon aber wurde der Nebel lichter. Der Tag war nahe. --

Ackermann hatte seine Papiere in dieser Nacht in Ordnung gebracht und
verbrannt, was verschwinden mußte. Der Ofen qualmte, und Rauch erfüllte
das kleine Zimmer.

Er öffnete das Fenster. Da wälzte sich der Nebel herein, deutlich sah
man ihn um die kleine Kerze kreisen. Schon aber begannen die Dunstballen
sich aufzuhellen, es tagte. Stille, kein Schritt, kein Laut. Die Stadt
war völlig tot.

Ackermann blies die Kerze aus und legte sich zur Ruhe.

Aber der Nebel folgte ihm in seine Träume: Da sah er einen Feldgrauen,
so wie er ihn hunderttausendfach gesehen hatte. Der Feldgraue, in einen
weiten Soldatenmantel gehüllt, eine kleine verknüllte Grabenmütze auf
dem Kopf, arbeitete still für sich, inmitten eines weiten, rauchenden
Ackers.

Es war so düster, daß zuweilen kaum die Umrisse des Feldgrauen zu
erkennen waren. Er war groß, sein knochiges Gesicht von einem kurzen
Stoppelbart eingerahmt. Ohne Unterbrechung, ohne aufzublicken hob er mit
einem Spaten die Erde aus. Ein riesiger, in der Erde vergrabener Stein
kam zum Vorschein, und allmählich bekam man eine Vorstellung von der
Größe des Steins. Er war etwa so groß wie die Drehscheiben, auf denen
man Lokomotiven bewegt. Manchmal schien er auch etwas kleiner, manchmal
größer zu sein. Jedenfalls war er ungeheuer groß, und man wußte ja auch
nicht, wie tief er in der Erde stak.

Der Feldgraue nahm nunmehr ein Stemmeisen zur Hand, eine schwere
Deichsel mit einem Eisenschuh, rammte sie unter den Stein und warf sich
mit aller Wucht dagegen. Der Stein rührte sich nicht. Unverdrossen nahm
der Feldgraue wiederum Pike und Spaten in die Hand und grub das Loch um
den Stein herum tiefer. Ein ganzes Gebirge von Erde warf er aus, und es
war wunderbar zu sehen, wie gleichmäßig, ruhig und hingegeben er
arbeitete. Wiederum setzte er das schwere Stemmeisen an, und siehst du,
nun bewegte sich der Stein eine Idee! Am Rande des Steins zeigte sich
ein feiner Riß im Boden. Es war also kein Zweifel, der riesige Stein
hatte sich bewegt! Abermals warf sich der Feldgraue mit voller Wucht
gegen das Stemmeisen. Zum ersten Male wandte er Ackermann voll das
Gesicht zu. Deutlich war zu sehen, daß es in Schweiß gebadet war, in den
Augen hatte sich der Schweiß angesammelt, so daß sie schneeweiß
erschienen. Mit einer ungeheuren Anstrengung drückte der Feldgraue das
Stemmeisen nieder, die Adern an seinen Schläfen schwollen an -- ah,
schon bewegte sich der Stein deutlicher. Unmerklich war er auf der einen
Seite eingesunken und auf der andern Seite in die Höhe gestiegen.

Der Feldgraue wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, und
mutig nahm er die scheinbar aussichtslose Arbeit wieder auf.

Doch was ist das? Er hält im Schaufeln inne und berührt seine Backe.
Eine blutige Schramme ist entstanden, und das Blut rieselt in einem
dünnen Faden herab über seinen Hals. Verwundert schüttelt der Feldgraue
den Kopf. Es ist ganz merkwürdig, was geht vor? Plötzlich wird ein Stück
von dem grauen Mantel abgerissen: ah, er ist im Feuer, er arbeitet im
Feuer, dachte Ackermann, er wird beschossen. Deutlich sieht er, wie
einen Augenblick später auf seiner Stirn eine klaffende Wunde entsteht.
Das Blut stürzt heraus, und rasch ist die eine Hälfte des ganzen
Gesichts vom Blut überzogen. Der Feldgraue aber arbeitet ruhig weiter.
Er legt sich mit ganzer Gewalt gegen das Stemmeisen, und nur zuweilen
fährt er mit dem Ärmel übers Gesicht, wenn das Blut ihn stört.

Es geschieht das Unglaubliche: es ist ihm gelungen, den riesigen Stein
in eine schräge Lage zu bringen. Voller Raserei wirft er sich nun mit
dem Rücken dagegen und versucht, den Steinriesen vollends in die Höhe zu
heben. Es geht -- ein wenig -- aber da fällt der Stein wieder in die
frühere Lage zurück.

Erneut beginnt der Feldgraue sein Werk, unverdrossen. Seine Hände und
sein Gesicht sind von Blut und Schweiß überzogen, aber er kümmert sich
nicht darum. Plötzlich zerreißt sein Waffenrock an der Brust, er hält
einen Augenblick inne, legt die große Hand auf die Brust, und schon
stürzt ihm das Blut aus dem Mund. Aber gleich darauf nimmt er wieder die
Arbeit auf. Wiederum stemmt er sich mit dem Rücken gegen den Stein, und
siehe da, er hebt ihn hoch, so unmöglich es auch erschien. Nun steht er
schräg wie ein Dach, aber alle weiteren Anstrengungen sind umsonst. Der
Feldgraue streicht um den Stein herum, schüttelt den Kopf, wischt sich
das Blut aus dem Gesicht und vom blutigen Mantel, schaufelt und macht
von neuem verzweifelte Versuche, aber der Stein bewegt sich nicht mehr.

Aber nun, was geschieht? Jemand kommt, jemand ist hinzugetreten. Es ist
ein kleiner Mann, ebenfalls ein Soldat, mit raschen, herrischen
Bewegungen. Offenbar ein Vorgesetzter. Er gestikuliert heftig, treibt
den Feldgrauen zur Arbeit an. Und plötzlich erinnert sich Ackermann, daß
dieser kleine Mann mit den herrischen Bewegungen schon vorher einmal im
Nebel sichtbar geworden war. Nur für einen Augenblick.

Wiederum stemmt sich der Feldgraue mit aller Gewalt gegen den riesigen
Stein, aber es geht nicht. Wieder wendet er Ackermann das Gesicht zu. Es
ist von Blut übergossen, ebenso wie seine Brust, die Augen sind
blutunterlaufen, und bei der ungeheuren Anstrengung quillt das Blut
zwischen seinen Lippen hervor. Plötzlich -- plötzlich springt der kleine
Mann mit den herrischen Bewegungen zornig hinzu, schwingt eine kurze
Riemenpeitsche und -- ah -- schlägt damit den Feldgrauen übers Gesicht.
Er schlägt wieder und wieder und gerät in förmliche Raserei. Der
Feldgraue aber verdoppelt, verdreifacht seine Anstrengungen. Er
schwankt, taumelt ein paar Schritte und fällt zu Boden. Ohne Bewegung,
ohne Zeichen von Leben liegt er da.

Ist er ohnmächtig geworden? Ist er tot?

Der kleine Mann mit den herrischen Bewegungen geht näher an den
Feldgrauen heran. Er stößt mit dem Stiefel gegen die Schulter des
Regungslosen. Er ist nun plötzlich um vieles kleiner geworden, und der
Feldgraue um vieles größer. Wie ein Zwerg zu einem Riesen verhält der
kleine Herrische sich zu dem Feldgrauen. Er klettert auf den
Regungslosen hinauf, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Er steht auf
seiner Brust, schwingt die Peitsche und schreit . . .

Aber der Regungslose, Blutüberströmte, antwortet nicht. Seine Zähne
blinken im Nebel. Da ist sein Spaten, sein Hebebaum, dort der Stein, der
halb aufgerichtet in den Nebel ragt. Aber er regt sich nicht mehr, er
antwortet auch nicht.

Sein Stillschweigen versetzt den Kleinen mit den raschen, herrischen
Bewegungen abermals in rasenden Zorn. Er klettert höher auf der Brust
des Riesen, hält sich an seinem Mantelkragen fest und hebt den Stiefel,
um damit nach dem regungslosen, blutüberströmten Gesicht mit den
blinkenden Zähnen zu stoßen . . .

Da erwachte Ackermann.

                   *       *       *       *       *

Es wurde nun in der Tat deutlich lichter. Gelb wie Lehmwasser floß das
Morgenlicht am Fenster.

Schon ratterte ein Wagen auf der Straße.

Der kleine Herr Herbst hatte, seit ihn Ackermann verließ, die Nacht
zwischen Schlaf und Wachen verbracht. Vielleicht hatte er auch
geschlafen, er wußte es nicht. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt, aber
das Fieber schien gebrochen zu sein.

Still lag das Haus.

Diese kurze Stille vor dem Morgen liebte er. Wie oft hatte er in dieser
Stille in seinem Bette gesessen, und die Hände gerungen und das
befreiende Weinen geweint, das ihn beruhigte.

Deutlich hörte er, wie Ackermann sich in seiner Bettstelle hin und her
wälzte, aber nun war es still bei ihm. Auch bei Hähnlein war es still,
ganz still.

Der tote Briefträger, der Veteran von Siebzig, mußte in sein Reich
zurückweichen vor dem Licht, alle Nachtgespenster mußten weichen.
Lieblich war der sanfte Morgen.

Schon aber begann das mit Menschen vollgestopfte Haus zu erwachen. Die
Haustüre ächzte und krachte, und der Hausmeister streckte seinen
graugelben Pudelkopf in den Morgennebel. Türen schlugen, und Tritte
eilten die Treppe hinab. Es wurde geklopft, gerufen, Wasser plätscherte.

Bei Hähnlein -- Stille!

Noch vor kurzem hatte er das Atmen hinter der Wand gehört, aber nun war
es ganz still geworden.

Kein Laut!

Herbst erhob sich und machte in aller Eile Toilette, es dauerte nicht
lange bei ihm. Aber während er sich wusch, nieste er mehrmals und hob
die kleine Nase in die Luft. Gas, wie? Ja, es roch nach Gas.

Deutlich, deutlich spürte er den Gasgeruch.

Auf dem Korridor war der Geruch noch stärker. Ängstlich schlich er sich
zur Türe.

In diesem Augenblick öffnete Ackermann die Türe und streckte den Kopf
heraus. Auch er zog die Luft ein.

»Es riecht so stark nach Gas hier?« sagte er.

»Ja, stark nach Gas!«

Hm. Ackermann trat halb angekleidet auf den Korridor heraus.

»Haben Sie den Gashahn offen gelassen?«

»Ich? Nein, nein«, erwiderte Herbst, die Hand schon am Drücker der Türe.

»Vielleicht Hähnlein --?« fragte Ackermann leise, stockend, und sein
erschrockener Blick wandte sich auf Herbst.

»Ja, vielleicht --?«

»Wir wollen nachsehen --«

Aber Herr Herbst hatte keine Lust nachzusehen, nein, nicht die mindeste
-- diese Stille -- er rannte die Treppe hinab. Schon polterten
Ackermanns Fäuste gegen Hähnleins Türe.

Furchtsam eilte er die neblige Fabriciusstraße entlang. Deutlich entsann
er sich nun, daß er von Hähnlein geträumt hatte. Deutlich! Ganz
deutlich! Hähnlein war mit einem Messer in der Hand die Treppe
hinabgestürzt, ja deutlich erinnerte er sich jetzt daran -- er hatte
sich gegen die Wand geworfen, um ihm aus dem Wege zu gehen.

Schon verlor sich der Havelock im Labyrinth der Straßen wie jeden Tag.


6

Siehe, deine Welt, Langmütiger!

Hunderte und Tausende flüchten täglich voller Verzweiflung aus diesem
Leben.

Öffne die Augen und sieh: Jammer!

Öffne die Augen und sieh: Schande!

Lausche! Das Geschrei der Folterknechte, das Geschrei der Gemarterten,
das Jammern der Witwen und Waisen. Ströme von Tränen rauschen dahin,
Flüche verfinstern das Licht.

Siehe deine Völker: Mörder!

Die Heere der betörten Sklaven, vorwärtsgepeitscht von ihren Verführern,
zerfleischen sich noch immer. Noch immer gibt es Granaten, Torpedos,
Gas, Flammenwerfer, noch immer werden Männer und Frauen füsiliert, noch
immer werden täglich Gefangene -- welches Wort! -- zu Tausenden wie
Sklaven verschleppt. Schiffe sinken in die Tiefe, Kathedralen gehen in
Flammen auf, Tausende von unschuldigen Kindern verhungern an jedem Tag.
Aber auf den Kirchen Europas funkeln golden die Kreuze! Und wie lange
willst du noch zögern?

Die Nebelfetzen zerflatterten, schon glänzte ein rotes Dach. Riesige
Firmenschilder blinkten oben an den Nebelburgen, Fensterreihen blitzten.
Die Häuser wurden farbig, rote Gesichter erschienen in den Türen.
Plötzlich strahlte die Sonne. Und die bunten Flaggen flatterten wieder
heiter im Morgenwind.

Dampfend und glitzernd stieg die Stadt aus dem Nebel empor. Tau lag auf
den Straßen, tropfte von den Bäumen, die Dächer glänzten naß. Die
Brillen der Straßenbahnführer waren beschlagen, Tau hing an ihren
Schnurrbärten. Die Tritte hinterließen Spuren auf den feuchten
Bürgersteigen.

Langsam wanderte Ackermann durch die Straßen, bald dahin, bald dorthin
ließ er sich treiben -- nicht mehr sein ungeduldiger, stürmischer
Schritt. Wozu Eile? Er war am Ziel.

Heute abend würde er nicht mehr in sein Zimmer zurückkehren -- Gott
allein wußte es, was mit ihm geschah . . .

Beglückt sog er die frische Morgenluft ein, wie Dampf kam der Atem aus
seinem Munde. Tau hing an seinen Wimpern. In der letzten Zeit hatte er
sein Äußeres vernachlässigt, aber heute morgen hatte er sich rasieren
und die etwas langgewordenen Haare stutzen lassen.

Schwach ging der Pulsschlag der sterbenden Stadt. Nicht mehr das Brausen
und Donnern des Friedens, wenn sie erwachte. Frauen, Kinder und Greise
besorgten die Geschäfte, kutschierten die Gespanne, zogen Karren und
Wagen. Vor den Geschäften standen, wie jeden Morgen, die langen Reihen
der Weiber mit Töpfen und Markttaschen. Hin und wieder rollten
Heeresautomobile, schwer beladen, polternd vorüber.

Bald war Ackermann wieder in seine Gedanken versunken. Ja, so wird es
sein! Sie, die Reinen, Gläubigen, Hoffenden, werden eine Gemeinschaft
bilden, wie die Apostel, die das Christentum in allen Ländern
verbreiteten. Es wird genau sein wie seinerzeit.

In die Schulen werden sie gehen, die Apostel, und predigen: Die Würde
des Menschen ist das oberste Gesetz! Heilig das Menschenleben und
unantastbar! Alle Völker sind Brüder, und die Vernunft ist das Vaterland
aller Menschen. Sie werden die Lüge aus den Schulbüchern verbannen, sie
werden auf die Tugenden der Nachbarvölker hinweisen und nicht auf ihre
Schwächen.

Dies und hundert anderes werden sie lehren, werden es in die Seelen der
Jungen, der Keuschen und Unverdorbenen pflanzen. Bei ihnen werden sie
beginnen. Fluchbeladen sinkt die alternde Generation dahin, erwürgt von
Gram und Schande.

In die Kirchen werden sie gehen, die Apostel, und den Gläubigen die neue
alte Lehre predigen -- in die Fabriken, Kasernen, Gefängnisse, Dörfer --
überall werden sie sein. Keine Landesgrenzen wird es für sie geben, sie
gehen hin und her, wie sie wollen. Sie sprechen alle Sprachen, in allen
Ländern, allen Kontinenten werden sie morgen die Arbeit beginnen. Arm
werden sie sein, verachtet, die Liebeglühenden, arm wie Bettelmönche,
geächtet und verfolgt.

Sie bereiten das Reich vor, das kommen wird! Glückliche, gütige
Menschen, ohne Mißtrauen, ohne Neid, ohne Hochmut werden es bewohnen.
Kein Mensch wird fortan der Unterdrücker eines andern sein, kein Volk
der Unterdrücker eines andern Volkes, für immer ist die Zeit der
Sklaverei dahin.

Freiheit, Freundschaft, Freude wird der Gruß des neuen Menschen lauten.

Und die Erde wird ein Garten sein! Alle Kräfte, dienstbar heute der
Bewaffnung und dem Kriege, werden dem Frieden und der Wohlfahrt dienen.
Die Wüsten werden blühen, der Sand selbst wird Früchte tragen. Ja, ein
Garten die Erde.

Haubitzen, Bombenflugzeuge, Panzerkreuzer, Unterseeboote, wo sind sie
hin? Wie ein Spuk werden sie sein, ein Spuk aus einer finstern,
unbegreiflichen Zeit.

Deinen Glanz sehe ich, den Glanz deines Friedens und deines Glückes, ich
sehe ihn schimmern -- Reich der Zukunft, Reich der Freude, Reich des
Menschen, ich betrete dich . . .

Da hielt Ackermann den Schritt an. Eine Stimme rief in seinem Innern und
mahnte. Erschrocken fuhr er aus seinen Träumereien auf, bereit, der
Stimme zu gehorchen, die aus seinem Innern drang.

Schritte kamen, trappelten. Er wandte den Kopf. Um die Straßenecke bog
ein Trupp von Männern in abgetragenen, zum Teil zerlumpten
Zivilkleidern, die von einem Unteroffizier geführt wurden. Nicht viel
waren es, kaum hundert. Sie trugen Pappschachteln, es war Ersatz für die
Kasernen. Nein, nicht das Reich des kommenden Menschen, nicht sein
Schimmer, sein Glanz, armselige, trostlose Gegenwart.

Stumpf trotteten die Männer dahin, teilnahmslos, geduckt unter ihr
Schicksal, bereit zu sterben, wenn man es forderte, bereit zu töten,
wenn man es verlangte, bereit zu allem. Alte Männer, eisgrau, einige
plattfüßige aufgeschwemmte Dickbäuche, ein paar spindeldürre Bebrillte,
schwindsüchtige Kaufleute und Studenten, freche Burschen mit
Diebesgesichtern, ein Zwerg in großen Stiefeln, ein Kranker mit
zerfressener Nase, ein Buckliger, ein Hagerer mit nur einem Auge. Und
ein Bleicher, ganz Bleicher, der den Blick voller Scham zu Boden
richtete, bildete den Schluß. Die Stiefel schlürften, schallten, die
Knie bewegten sich automatisch, die Pappschachteln schaukelten hin und
her.

Die in Lumpen gehüllten Weiber, die die Straße reinigten, lachten und
schrien.

»Ihr werdet es schaffen! Immer rasch!«

Eines der Weiber sprang auf den Kehrichthaufen und tanzte mit dem Besen,
daß die schmutzigen Röcke flogen.

»Hahaha! Die Garde kommt!«

»Hohoho!«

Teilnahmslose Blicke, Gelächter, Grimassen. Eine Reihe von Elektrischen
hielt den Zug der Ausgemusterten auf. Menschen sammelten sich an,
Fuhrwerke stauten sich.

Blitzschnell trat Ackermann einige Schritte vor. Sein glühender Blick
flog über die Menschen, die Wagen, den Zug der Armseligen mit den
Pappschachteln.

Jetzt? Jetzt?

Gesetzt den Fall -- jetzt!

Die Hände in die Luft werfen, schreien, diesen Menschen, die sich hier
angesammelt hatten, es zuschreien, diesen armen Krüppeln und Kranken mit
ihren Pappschachteln, laut, über den ganzen Platz, so laut, daß Hunderte
es hören, Tausende und Zehntausende es am Abend wußten --?

Er erbleichte. Angst schnürte seine Kehle zusammen, nicht eine Silbe
hätte er hervorbringen können. Er schwankte -- schon bei dem Gedanken.
Jetzt würden sie über ihn herfallen, der Unteroffizier, wahrscheinlich
sogar die Männer mit den Pappschachteln und der Schutzmann dort, er
würde herbeieilen und ihn zu Boden schlagen.

Aus einem Straßenbahnwagen starrten ihn erschrocken ein Paar große Augen
an, eine alte, zitronengelbe Frau.

Er hatte in der Erregung eine unwillkürliche Bewegung mit den Armen
gemacht, und diese Bewegung hatte den Blick der Frau auf ihn gelenkt.

Die Straßenbahnwagen klingelten und rollten weiter. Wieder bewegten sich
die Knie der Männer mit den Pappschachteln, ihre Rücken drängten sich
zusammen. Die Menschenknäuel lösten sich, zerrannen. Die Wagen fuhren.
Der Schutzmann betrachtete interessiert eine geschminkte Dame, die ihm
zulächelte.

Ackermann stand allein auf dem Trottoir, müde plötzlich, ein leises
Beben in den Gliedern. Allmählich erst kehrte die Farbe in sein Gesicht
zurück. Langsam, die Pupillen geweitet, ging er weiter.

Hier? Wie unsinnig wäre es gewesen! Sinnlos, ohne jeden Widerhall.
Menschenmassen mußten es sein, wimmelnde Menschen, aufhorchend, in deren
Ohren sein Schrei weitergellte, so daß ihr Herz erbebte. Die seinen
Schrei durch Berlin trugen in alle Häuser: über die ganze Stadt mußte
sein Schrei hingellen.

Nein, nicht einen Augenblick hatte er ernsthaft daran gedacht. Aber wie
war es möglich, daß ihn der Gedanke allein schon so tief erschreckte,
daß sein Herz stehenblieb?

Neben einem Pumpbrunnen, wo ein Droschkenkutscher sein Pferd tränkte,
stand eine Bank. Darauf setzte sich Ackermann. Er streckte die Beine
aus, die noch ein leises Zittern schwächte. Die Sonne blendete in sein
Gesicht. Es war weiß, durchsichtig, und Spuren von Sommersprossen waren
im grellen Licht zu erkennen.

Schrecken erfüllte ihn.

Entsetzen!

War er das? Nach allem --?

Mit geweiteten Augen sah er zu, wie die grauhaarige Pferdeschnauze
gierig ins Wasser tauchte.

Was für einen Sinn sollte es haben, daß einer sich vor die dahinrasende
Maschine warf und sich von ihr zerfleischen ließ? Und weshalb gerade er?
Vielleicht hatte ihn die innere Stimme nur genarrt, ihn bis zu diesem
Punkte geführt, damit er seine Schwäche und Ohnmacht erkenne.

Wie?

Vielleicht, vielleicht.

Er saß wie gelähmt. Das alte Pferd bleckte die gelben Zähne nach ihm.


7

Leise schloß Ruth die Türe ihres Zimmers hinter sich.

Sie war voller Unruhe.

Abermals hatte sie den großen, beobachtenden Blick Papas auf sich
gefühlt. Wie schon seit Tagen. Gestern abend sah sie ihn im Spiegel:
groß, hell, lauernd und drohend.

War er argwöhnisch geworden, Papa?

Vielleicht hatte die Zigarrenspitze, die sie neulich in ihrem Zimmer
fand, doch etwas zu bedeuten?

Plötzlich errötete sie. Und der Brief? In einem Buch lag ja ein Brief
von Karl! Schnell, wo ist er? Am Ende war er fort? Am Ende hatte Papa
diesen Brief gefunden, gelesen. War er nicht einmal ganz plötzlich in
ihr Zimmer gekommen, als Dora bei ihr Tee trank? Sie hatte diesem
Vorfall ja nicht die geringste Bedeutung beigelegt, gar nicht weiter
darüber nachgedacht. Ach, sie haßte Papa! Ja, wahrlich, sie haßte ihn!
Man kannte nie seine Gedanken. Sein Blick prüfte, tadelte, sein Blick
entmutigte, sein Blick erstickte jede harmlose Freude.

Nein, sie haßte Papa natürlich nicht, er hatte gewiß seine guten
Eigenschaften, er war charaktervoll, wie wenige Menschen, pflichtgetreu,
stolz, verschlossen, ehrenhaft vom Scheitel bis zur Sohle, nein, nein,
sie wollte gar nichts sagen. Er war verbittert, unglücklich vielleicht,
trug sein Leben ohne zu klagen. Nie hatte sie eine Klage von ihm gehört.
Er schwieg. Aber wie gerne hätte sie doch Zutrauen zu ihm gehabt, volles
Vertrauen, wie zu einem erfahrenen, erprobten Freund. Ja, so sollte es
sein! Aber es war gerade umgekehrt: anstatt sich ihm anvertrauen zu
können, mußte sie sich vor ihm verbergen. Es war natürlich auch sein
Verhalten Mama gegenüber, das sie gegen ihn einnahm. Nie konnte sie ihm
verzeihen, daß er jahrelang mit solcher Erbitterung gegen die Arme
prozessierte. Aber sie war ja jetzt reifer, sie verstand das Leben jetzt
besser und wußte, daß es viele unglückliche Ehen gab, und doch beide
Teile ehrenhafte und gütige Menschen sein konnten. Nicht das war es, es
war -- undefinierbar. Seine Nähe bedrückte, sie verwandelte, das Leben
erschien plötzlich so schwer und ernst.

Sie fand es überaus häßlich, daß er in ihr Zimmer gekommen war,
seinerzeit. Und die Zigarrenspitze? Papa rauchte die Zigarren in
Papierspitzen mit Gänsekielen. Eines Tages hatte sie eine solche
Papierspitze auf ihrem Schreibtisch gefunden. Sie hatte sie achtlos zum
Fenster hinausgeworfen. Vielleicht war sie auch von einem der Burschen
hereingebracht worden?

Aber hier war ja Karls Brief. Gottlob, sie atmete auf.

Er lag noch an derselben Stelle, zwischen denselben Seiten des Buches,
unberührt. Sie las den Brief, sie drückte ihn an die Lippen.

Ja, Karl war einer von den Kommenden, nicht einer der Vergehenden. Er
hatte Wille und Ziel. Und was er wollte, war gut. Alle Welt liebte ihn,
seine Freunde beteten ihn an, er hatte keinen einzigen Feind. Sie, die
sie selbst schwankte, klammerte sich an ihn, er gab ihr Halt. Glücklich
würde sie mit ihm sein.

Aber weshalb war Papa in letzter Zeit so aufmerksam -- fast zärtlich?
Weshalb sagte er ihr so oft, daß sie bleich und nervös sei und nach
Babenberg gehen solle? Einmal legte er sogar die Hand um ihre Taille --
seit Jahren war es nicht mehr der Fall, oh, sie erinnerte sich deutlich
dieser ihr (damals!) so schrecklich unangenehmen Liebkosung, sie lebte
ganz dem Andenken Mamas. Er fragte, ob sie keine Wünsche habe, ob sie
nicht etwa Lust zu einer Reise habe, vielleicht nach der Schweiz? Er
habe eine gewisse Summe für sie bereitgelegt. Nein, sie brauchte nichts,
gar nichts, hatte gar keine Wünsche.

Ach, wie häßlich sie doch war! Kümmerte Papa sich nicht um sie, so
nannte sie ihn kalt und herzlos -- kümmerte er sich um sie, so war sie
sogleich argwöhnisch.

Ja, ganz unmöglich, den großen prüfenden Blick des Generals zu
ergründen!

Er atmete Haß in diesen Wochen, er atmete Liebe.

Ja, er haßte Ruth zuweilen mit einem furchtbaren und grundlosen Haß, der
ihm unerklärlich war, und den er bereute. Ihre Mutter, ganz ihre Mutter!
Die gleichen hysterischen Augen, wie sie voller Geheimnisse, in die
niemand eindringen durfte, wie sie eingesponnen in eine sonderbare,
unerforschliche Welt. Wie sie rasch und ohne Überlegung Impulsen
folgend. Wie sollte sie anders sein? Man bedenke, eine Dame, die sich
von einem Offizier, den sie erst wenige Tage kannte, von einem Ball
entführen ließ, die sich soweit vergessen konnte -- nun, gewiß, ein
häßlicher und unwürdiger Gedanke, aber trotzdem . . .

Es war das Blut der Sommerstorf, und unergründlich waren die Rätsel
eines Tropfen Blutes.

Beziehungen zu einem schwärmerisch veranlagten jungen Manne -- gebildet,
zugegeben, aber jedenfalls ohne Rang, ohne Familie, arm -- mochten diese
Beziehungen noch so unschuldig sein, wie man ihm versicherte -- noch so
unschuldig --

In Dunkelheiten, voller Schrecken, unklare, verworrene, drohende
Dunkelheiten verloren sich seine Gefühle -- und dann haßte er Ruth.

Reue, Reue! Er war kein Unhold. Ja, schon bereute er seine Heftigkeit.

Sie war jung, sie dachte selbständig, und das war immerhin
anerkennenswert, sie lebte ihr eigenes Leben, war nicht eines jener
törichten oberflächlichen Geschöpfe, die nur an Putz und Vergnügen
denken. Es war natürlich übertrieben, töricht und im höchsten Maße
ungerecht, sie hysterisch zu nennen. Eine Bekanntschaft aus dem
Lazarett, etwas Romantik, weshalb urteilte er so streng?

Nun liebte er sie plötzlich wieder, und er grübelte darüber nach, wie er
ihr Vertrauen gewinnen könnte. Leider, leider hatte ihm der Dienst zu
wenig Muße gelassen, sich mit seinen Kindern beschäftigen zu können. Das
rächte sich jetzt. Etwas Vertrauen, und alles wäre in Ordnung! Heute
abend wollte er mit ihr nochmals über die Reise nach der Schweiz
sprechen. Es war ja eine Leichtigkeit, den Paß zu besorgen . . .

Nein, unmöglich den prüfenden großen Blick Papas zu ergründen! Ruth
versank in die Betrachtung des Bildes der Mutter an der Wand: auch sie
hatte diesen Blick gewiß nie ergründen können, nein.

Da klopfte es, und man meldete ihr ein Fräulein Westphal.

Ruth warf das Kinn in die Höhe. »Ich bedaure.«

Seht an! Trotzdem sie ganz die Mutter war, wie der General dachte, wenn
er Ruth haßte, trotzdem die Linie der Hecht-Babenberg bei Ruth nicht im
mindesten zum Ausdruck kam -- die gleiche Stimme in diesem Augenblick,
die gleiche, etwas hochmütige Bewegung des Kinns. Trotz allem, trotz
allem. Ach, sie bebte vor Unruhe und Erregung heute.

Aber da ging schon die Türe, und eine ihr unbekannte dichtverschleierte
Dame, ein schmächtiges, zartes Persönchen trat ein.

»Ich bitte tausendmal --« flüsterte diese tiefverschleierte Dame.

War so etwas überhaupt möglich? Sie hatte, Ruth, deutlich genug
bestellen lassen, daß sie heute nicht zu sprechen sei. »Sie wünschen?«
fragte sie, kühl, ohne jede Anteilnahme, abweisend, herzlos.

Aber die dichtverschleierte Dame streckte ihre dünnen Arme aus. »Nicht
Sie! Nicht auch Sie!« Und schon fiel sie in die Knie.

Sofort aber fand Ruth sich selbst zurück.

»Um Gottes willen!« rief sie aus und hob diese kleine weinende zuckende
Person auf, die sie gar nicht kannte. »Was tun Sie? Um Gottes willen!
Ich bin sehr beunruhigt heute -- ja, wer sind Sie eigentlich?« Und Ruth
hob den Schleier der Dame hoch, sah ein blasses verweintes Kindergesicht
mit hilflosen Augen -- sie kannte es nicht -- aber sie küßte es sofort.
»Mein Liebling -- mein Kleines -- aber ich bitte Sie herzlich.«

Ja, nun begriff sie, wer der Besuch war, sie erinnerte sich.

Und Heinz? Sie hatte gehört davon. Ein lieber, frischer Junge.

»Herr v. Meerheim -- sie flogen Sperre -- er sah die Maschine taumeln --
und dachte sich noch, was ist das? Und da stürzte die Maschine schon --«

Ruth preßte Klara an sich.

»Bleiben Sie hier bei mir! Erzählen Sie mir alles, alles. Wir sind
Freundinnen. Geben Sie mir Ihre Hand.« Und Ruth führte diese kleine
dünne Hand an die Lippen. »Ja, Freundinnen! Auch ich habe Sorgen, hören
Sie! Gerade heute bin ich in schrecklicher Unruhe. Ich ertrage diese
Stadt nicht mehr und gehe bald aufs Land. Haben Sie Lust mitzukommen,
Sie sind eingeladen? Ja, in schrecklicher Unruhe bin ich, ich kann es
Ihnen nicht sagen. Deshalb war ich auch so unhöflich! Verzeihen Sie --
und nun plaudern Sie, plaudern Sie!«


8

Berlin -- wer kennt es nicht? -- ist die häßlichste Großstadt der Welt,
ganz offen gestanden. Paris, London, Rom, Neuyork, Kioto, Moskau -- sind
sie von ihren Bewohnern ganz allmählich erbaut worden, Berlin wurde von
Unternehmern errichtet, in aller Eile. Von ganz wenigen Gebäuden,
einzelnen Straßen und Plätzen abgesehen, ist es als Stadt
architektonisch ohne jeden Reiz, ohne Zauber -- ein Steinhaufen ohne
Grenzen, nichts sonst. Trotzdem besitzt es mehr Badewannen als zum
Beispiel Paris, nicht zu unterschätzen, vor dem Kriege genoß es auch den
Ruf, die reinlichste Großstadt zu sein. Also die häßlichste der großen
Kokotten der Erde, aber am sorgfältigsten gewaschen, immerhin etwas. Die
Theater haben ohne Zweifel die besten Spielpläne der Welt, die besten
Konzerte -- aber sonst, häßlich, nüchtern, ein steinernes Meer. Früher
verschwand die Häßlichkeit im Gewimmel der Menschen, im Donner des
Verkehrs, im Gegleiße und Geglitzer von hunderttausend Volt, aber heute?
Nackt und schmutzig lag die häßlichste aller großen Kokotten vor allen
Augen da.

Als die schönste Straße Berlins gelten die Linden. Sie beginnen mit dem
Brandenburger Tor und enden mit dem Schloß. Eine Enttäuschung für jeden.
Aber vom strategischen Standpunkt aus sind sie ganz ausgezeichnet. Das
Schloß liegt auf einer Halbinsel, die Verteidigung gegen das Wasser zu
ist ein Kinderspiel, die Linden selbst aber sind wie ein Lineal, breit
und gerade -- eine Salve Kartätschen, und schon sind alle
Schwierigkeiten beseitigt.

Im Jahre 1848 wurde hier gekämpft. Barrikaden -- aber, wie gesagt,
einige Kartätschen genügten.

Nein, die Linden sind auch nicht die Hauptsache von Berlin, sie sind
nichts als ein geschickt kaschierter Festungswall, mit Linden bepflanzt,
mit Reitwegen versehen, mit Cafés und Hotels besiedelt -- wenig
anheimelnd. Eine einzige Kanone, die vor dem Schloß auffährt, und
sämtliche Café- und Hotelgäste müssen sofort das Trottoir räumen.

Überall, wo Könige hausen oder hausten, finden sich derartig angelegte
Straßen, man braucht nur darauf zu achten. Die Könige lieben einen
freien Blick.

In den kalten Schluchten dieser endlosen versteinerten Häßlichkeit
treiben die Menschen dahin, Geschäftige und Spaziergänger, und
dazwischen lauern die Augen der Verbrecher und Diebe, dazwischen lächeln
die Augen der geschminkten Damen, dazwischen funkelt zuweilen ein Auge,
das Auge eines Wahnsinnigen oder eines Dichters. Wie in allen
Großstädten stehen die Schutzleute und blasen auf ihrer Flöte und
bestimmen Ebbe und Flut des Verkehrs. Heute allerdings, die
Straßengewaltigen -- sie gähnten vor Langeweile und hatten nur noch das
eine Bestreben, nicht vor Erschöpfung auf das Pflaster zu stürzen.

In den Steinschluchten dieses endlosen Meeres wanderte Ackermann seit
dem frühen Morgen dahin. Er überquerte den windigen Alexanderplatz, den
staubigen Spittelmarkt, und schlenderte langsam durch die Schlucht der
endlosen Leipziger Straße, die ihre Größe dem Fleiße der Bürger
verdankt. Er suchte nur noch belebte Stadtteile auf. Selbst diese
Straße, in der der schwache Verkehr der sterbenden Stadt zusammenfloß,
früher glattgeschliffen von den Nägeln der Pneus und Tag und Nacht blank
gehalten wie ein Matschbillard, selbst sie war heute voller Schmutz.
Voller Schmutz waren die verwahrlosten Häuser, die schief hängenden
Firmenschilder, die elektrischen Wagen, die verbeult und abgekämpft
aussahen wie Tanks, die aus der Schlacht kamen. Obwohl es erst anfing,
warm zu werden, strömte die Stadt schon einen übeln Geruch aus. Was für
ein Geruch war es doch? Wenn du ihn nicht kennst, besser für dich -- es
war der Geruch der Verwesung. Genau wie die verlassenen Schlachtfelder
roch Berlin.

Hierauf überquerte Ackermann den Potsdamer Platz und bog in die
Königgrätzer Straße ein, wo die Bahnhöfe liegen.

Er suchte Menschen, Menschen, Massen von Menschen, und in dieser
aussterbenden Stadt würden sie wohl noch am ehesten auf den Plätzen der
Bahnhöfe zu finden sein.

Langsam schlenderte er dahin. Die Sonne blendete ihm ins Gesicht. Auf
dem Spittelmarkt hatte er einen Teller Suppe zu sich genommen, in aller
Ruhe, denn Gewißheit erfüllte ihn, daß alles vollendet sein würde, bevor
die Sonne sank. Er hatte sogar geschwankt, ob er nicht in die
Dorotheenstraße gehen solle, um Ruth noch einmal zu sehen. Aber er war
doch nicht gegangen. Nein, nun war er unterwegs . . .

Da! Horch!

Schon?

Trommeln, beim Anhalter Bahnhof -- Augenblicklich beflügelte sich sein
Schritt. Von plötzlicher Erregung erfaßt, ging er dahin. Deutlich, dumpf
noch, aber ganz deutlich.

Trommeln, ohne Zweifel.

Sonderbar wirkt der dumpfe Laut der Trommel auf den Menschen. Er wirft
ihn ohne jede Übertreibung um einige Jahrtausende zurück, in Zeiten, wo
die Menschen noch mit den Tieren der Wildnis kämpften, zu den Negern am
Kongo. Augenblicklich stürmten die Menschen wie in Hypnose über den
Anhalter Platz, dem Laut der Trommeln entgegen.

Plötzlich schwiegen die Trommeln, und die Blechinstrumente setzten mit
barbarischem Lärm ein.

Ein Menschenhaufe quoll aus der Straße auf den Platz. Waffen blitzten,
gleichmäßig schwankende Reihen wurden im Strom der Köpfe sichtbar.
Offenbar wurde ein Bataillon zur Bahn gebracht.

Ohne zu überlegen, bebend vor Erregung, nahm Ackermann augenblicklich
Aufstellung. Ein alter mürrischer Mann lud an der Straße Pflastersteine
ab, und auf eine Reihe solcher Steine stellte er sich.

Der Strom von Köpfen wälzte sich heran, umbrandet vom Tosen der
Blechinstrumente, die in der Sonne funkelten. Scharen von Neugierigen
drängten hinzu. Dicht neben Ackermann nahmen sie auf der Schicht von
Pflastersteinen Platz und reckten sich auf den Zehen. Sogar der alte
Mann, der die Steine ablud, hob das mürrische Gesicht.

Im Takt der Musikkapelle zog der Menschenhaufe dem Bataillon voran.
Zerlumpte Weiber und verwahrloste Kinder, alte Männer, frühreife
Mädchen, bleich, verhungert, das Mal des letzten Elends auf der Stirn --
-- und doch: Freude glänzte auf allen Gesichtern!

Ackermanns Blick wurde dunkel.

Wirst du bereit sein?

Wird dich die Stunde bereit finden?

Volk, mein Volk, meine Liebe, meine Sehnsucht?

Wie wird dich die große Stunde finden? Ausgehöhlt vom Hunger,
ausgeblutet von den Schlachten, ausgefront -- wirst du die Kraft haben?
Betäubt von Lüge, krank von dumpfer Sehnsucht -- wirst du? Die Völker
der Erde blicken auf dich! Du bist geächtet, bespien, die Dornenkrone
ist auf dein Haupt gedrückt, dein Weg führt durch Tränen, führt durch
Hunger und Wahnsinn -- zitterst du?

Wirst du straucheln? Wanken? Dahinsinken zu den Unwürdigen? Wirst du
auserwählt und berufen sein unter den Völkern, das Reich zu bereiten,
das Reich des neuen Menschen?

Grell blitzten die Trompeten, grell schmetterten sie, die roten Backen
barsten.

Vorwärts, fort, fort, beeile dich! Meine Liebe und Sehnsucht fliegen vor
dir her! Der Ruf erschallt! Lüge, Hoffart, Wahn -- wirf ab, wirf ab!
Tauche nieder in deine reinen Quellen. Sieh, wie sie funkeln, am
Firmament des Gedankens, deine großen Geister! Sie blicken auf dich.

Fort, fort, beeile dich! Die Stunde ist nahe! Laß dein Herz wieder
leuchten, das immer aufglühte, wenn die Dunkelheit am tiefsten war.
Mehre den Schatz der Völker!

Ich sehe dich auferstehen, ich sehe dich erblühen, sehe dich umringt von
brüderlichen Nationen . . .

Schon wälzte sich der Haufe dicht heran.

Die Musikanten setzten mit einem Ruck die Instrumente ab. Im Zickzack
fuhr der Stock des Musikmeisters durch die Luft, und die Trommeln
wirbelten wieder.

Reihen von Gewehren, Reihen von Helmen schwankten heran, vorwärts
getrieben von einer unverständlichen Kraft, von einem unverständlichen
Willen zusammengeballt. Das Bataillon Hähnleins, des Unglücklichen --

Junge Männer, rosige, arglose Kindergesichter, die noch nicht ahnten,
daß morgen schon der Tod ringsum war. Wie oft hatte er, Ackermann, den
Marsch zum Bahnhof erlebt! Alte Feldsoldaten, mit Auszeichnungen auf der
Brust -- nein, sie gaben sich keinerlei Illusionen mehr hin -- stumpf
marschierten sie, genau wie er früher marschierte: stumpf,
schweißtriefend, bepackt, zitternd unter dem Blick der Vorgesetzten.
Hundertmal mochten sie ihr Leben in die Schanze geschlagen haben, sie
blieben trotzdem Tiere, hier wie bei allen kriegführenden Völkern war
der gemeine Mann ein Tier, nicht mehr. Einige Frauen marschierten in den
Reihen der Soldaten, Bräute, Mütter, Gattinnen, bleich, schwankend,
weinend. So zogen sie dahin.

Plötzlich aber --

Plötzlich erscholl eine Stimme!

Woher kam sie?

Niemand wußte es.

Eine Stimme -- hell, metallen, durchdringend -- sie dröhnte über das
marschierende Bataillon, übertönte die Trommeln, den Schritt der
Arglosen und Erfahrenen -- scholl über den weiten Platz und wurde als
Echo von den hohen Häusern zurückgeworfen -- die Stimme eines Riesen,
eines -- ja, bei Gott, was für eine Stimme war es doch?

Und diese Stimme rief, gellend, dröhnend, sie scholl über das summende,
brausende Berlin -- in alle Ohren gellte diese Stimme.

Diese Stimme rief:

»Es lebe die Kameradschaft zwischen den Völkern!« -- Pause, der Platz
gellte, Widerhall, Trommeln -- »Nieder mit dem Krieg!« -- Stille,
Gellen, Trommeln -- »Alle Menschen sind Brüder . . .«

Auf einem Haufen von Pflastersteinen stand ein Mensch, ein Soldat in
einem weiten grauen Mantel, der flatterte, die Arme wild emporgeworfen,
totenbleich, mit rasenden, fanatisch glühenden Augen -- seine Hände
zuckten -- seine Stimme gellte, gellte. Plötzlich aber brach diese
rasende gellende Stimme ab.

Der Soldat war verschwunden.

                   *       *       *       *       *

Er lag auf dem Pflaster, ein Knäuel Menschen um ihn herum. Ein grüner
Plüschhut rollte über den Bürgersteig.

Eine Sekunde später wurde dieser Mensch im weiten grauen Mantel über das
Pflaster geschleift.

Das Bataillon zog weiter. Wieder setzte die Kapelle ein. Die meisten
hatten gar nichts gesehen -- aber gehört -- ja, eine Stimme aus der
Luft!

Diese Stimme krallte sich in ihr Herz, zerriß es, daß es zu bluten
begann vor Qual und Sehnsucht.

Eine Stimme . . . Was für eine Stimme --?

Die Stimme des Menschen hatten sie vernommen . . . Die letzten des
Bataillons sahen noch einen Menschenhaufen, der sich den Bürgersteig
hinabwälzte.

Der grüne Plüschhut hörte auf zu rollen. Ein schmächtiger junger Mann
ergriff ihn, überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß der Mensch im
grauen Mantel in sicheren Händen war, bürstete den Hut eilig ab -- ja,
und nun -- der Kneifer -- er war verlorengegangen. Und der schmächtige
junge Mann suchte eilig den Kneifer.

Da hob der alte Mann, man erinnert sich, er lud Pflastersteine ab,
dieser Mürrische, den Kopf und sagte:

»Wartet nur noch eine Weile -- ihr Halunken!« Und er spie aus.

Der junge Mann geriet sofort in äußerste Erregung, sein Blick glitt
suchend über das Pflaster, sein Blick bohrte sich messerscharf in die
Augen des Mürrischen.

Aber der alte Mann hob einen Pflasterstein in die Höhe, er lächelte --
aber wie! -- und der junge Mann wich zurück, und nun lief er rasch,
rasch, ohne den Kneifer, zu dem Militärauto, um das der Menschenknäuel
sich ballte.

In dieses Militärauto hatte man den Menschen im grauen Mantel gezerrt.
Er blutete im Gesicht, aber er wehrte sich nicht. Jede seiner
Bewegungen, das Lächeln auf seinen fahlen Lippen, sagte deutlich, daß er
nicht gesonnen sei, irgendwelchen Widerstand zu leisten.

Aber unerklärlich -- plötzlich, ohne jeden Grund, schlug einer der
beiden schnauzbärtigen Männer, die ihn ins Auto schleiften, sinnlos,
völlig sinnlos, vielleicht um sich für die Anstrengung zu rächen, mit
dem Knotenstock auf den Menschen im grauen Mantel ein.

»Halt, halt!« schrie der schmächtige junge Mann mit dem grünen
Plüschhut, der herangeeilt kam.

Aber es war zu spät.

Der Mensch im grauen Mantel -- jede Bewegung, ihr seht, ich leiste
keinen Widerstand -- schlug mit einem furchtbaren Hieb nach dem roten
Gesicht des Schnauzbärtigen, stieß noch einigemal in die Luft und sprang
aus dem Auto.

Der Schnauzbärtige blutete aus der Nase und war für einige Sekunden
benommen, aber der andere Schnauzbärtige zog rasch entschlossen einen
Revolver und schoß -- sofort schrie eine Mädchenstimme auf, er hatte ein
kleines Mädchen getroffen.

Der Mensch mit dem grauen Mantel aber war im Torbogen eines Hotels
verschwunden.

Zuerst stürzte der grüne Plüschhut nach, dann der Schnauzbärtige, der
geschossen hatte, dann der andere Schnauzbärtige, dessen Nase blutete.

Ein kleiner feister Herr telephonierte in bester Laune im Foyer des
Hotels, behaglich das dicke Schenkelchen über das Knie geschlagen.
»Höre, mein Kind -- ja also nicht später als acht Uhr. Und vergiß nicht,
süßes Puppchen --«

In diesem Augenblick erhielt er einen Stoß vor die Brust, und ein junger
Mann entriß ihm ohne viele Umstände den Hörer. Militärpolizei.

Vor dem Hotel sammelten sich Scharen von Menschen an. Eine Verhaftung!
Und man hatte ein junges Mädchen in das Bein geschossen, das ganz
harmlos spazierenging. Heitere Zustände, das mußte man schon sagen. Nun,
die Verwundung war ja nicht schlimm, ein Streifschuß, aber bedenken Sie
doch -- man geht über den Anhalter Platz und riskiert totgeschossen zu
werden. Ganz als ob man an der Front sei.

Aber da gab es schon wieder eine neue Sensation. Die Menschen traten
plötzlich vom Bürgersteig auf den Platz zurück. Sie starrten in die
Höhe.

Unglaublich -- dort, dort -- aber, bitte, wo?

Ja, dort, dort! Sehen Sie denn nicht?

Ein Mensch!

Ein Mensch auf den Dächern!

Unglaublich!

Ja, in der Tat, zwischen den Schornsteinen und Ventilationsröhren
erschien da oben ein Mensch. Ein Mensch in einem weiten Soldatenmantel,
ein Soldat.

Die Häuser in der Gegend des Anhalter Bahnhofs sind unansehnlich und
häßlich wie in andern Vierteln der Stadt, die Dächer mit Schiefer
gedeckt, abgeflacht, dazwischen ein steileres Ziegeldach. Über die
abgeflachten Ziegeldächer glitt der Mann da oben rasch dahin, über die
steilen Satteldächer dagegen balancierte er vorsichtig von Kamin zu
Kamin. Stellenweise schritt er, die Arme wagrecht haltend, wie ein
Seiltänzer über den Dachfirst. Blitzschnell kletterte er von einem
niedrigen Dach auf ein höheres am Giebel der Brandmauer empor.

Wieder balancierte er wie ein Seiltänzer -- hoch oben, im stechenden
Sonnenlicht, kreidig Gesicht und Hände, der flatternde Mantel bestaubt.
Diesmal schwankte er, die Leute auf dem Platz schrien auf, aber schon
hatte er Halt an einer Tonröhre gefunden. Er holte Atem, gegen die
Tonröhre gelehnt, blickte mit seinem kreidigen Gesicht, das blutete, auf
den Platz herunter, schrie etwas mit gellender Stimme, aber
unverständlich hier unten, dann eilte er zum nächsten Kamin. Deutlich
sah man, daß er hinkte.

Unten auf der Straße hatte er sich ruhig festnehmen lassen, aber nun,
seitdem man mit einem Knotenstock völlig sinnlos auf ihn eingeschlagen
hatte, schien er entschlossen zu sein, zu flüchten.

Nun glitt er zur Hälfte über ein Ziegeldach und kroch in eine Dachluke.

Die Zuschauer atmeten auf. »Er ist verschwunden!«

Aber schon nach einigen Sekunden erschien er wieder in der Dachluke. Er
glitt bis zur Dachrinne herab und lief, wie eine Katze, buchstäblich,
auf der Dachrinne dahin. Die Ausrufe erstarben auf den Lippen, die
kleinen Verkäuferinnen preßten die Hand aufs Herz.

Gleich darauf tauchte in der Dachluke die Mütze eines Schutzmannes auf,
begrüßt vom Gelächter der Zuschauer. Der Mann im grauen Mantel kletterte
abermals den Giebel der Brandmauer empor und lief über das Dach des
Eckhauses.

Tausende von Neugierigen hatten sich angesammelt. Es waren Züge
angekommen, und die Reisenden standen gaffend und blinzelnd auf dem
Platze. Das war Berlin, siehst du! Kaum kam man an, so gab es schon
etwas zu sehen. Man hatte ja gelesen, daß zurzeit in Berlin häufig
Deserteure auf dem Transport entflohen, sogar Passanten waren bei diesen
Vorfällen schon erschossen worden. Brich das Genick, du Spitzbube! Ja,
das war Berlin, man konnte wenigstens etwas erzählen. Ein Haar, und er
wäre abgestürzt.

Rote Gesichter reckten sich aus den Wagen der Straßenbahn, aus allen
Fenstern der umliegenden Häuser. Die Kutscher verdrehten den Hals,
Kellner, Friseure, Verkäuferinnen stürzten aus Läden und Türen.
Messinggelb blendeten die Häuser in der Sonne.

Schutzleute, Soldaten.

Schon stockte der Verkehr. Nur langsam konnten sich die elektrischen
Wagen durch die Menschenmenge schieben.

Scharen von Kindern rannten dahin, deuteten zu den Dächern empor und
schrien wie besessen: »Dort läuft er! Dort!« Das ganze Stadtviertel war
auf den Beinen.

Von der Bahnhofshalle her drang der schmetternde Marsch der
Regimentskapelle. Nun gellte auch noch die Glocke der Feuerwehr -- ein
Löschzug!

Hedis Auto war mitten in die Menschenmenge geraten und konnte sich nur
schrittweise, ohne Pause tutend, mit seinen Pneus den Weg bahnen.

Der Chauffeur wagte die Vertraulichkeit, sie durch eine Kopfbewegung auf
die Ursache der Menschenansammlung aufmerksam zu machen. Da sah sie zu
ihrem Schrecken hoch oben -- in einer Dunstwolke von rostbraunem Staub
-- einen Menschen, staubig und kalkweiß, über den Dachfirst laufen.

Hedi kam vom Einkauf: Gardinen, Stoffe, Antiquitäten, es war schwer,
etwas Ordentliches zu finden. In allen Geschäften und Magazinen jagte
sie umher. Ihr Wagen lag voller Pakete, und neben dem Chauffeur blitzte
aus dem Papier ein silberner Spiegel -- spanischer Barock, etwas
beschädigt, aber, nach ihrer Ansicht, zauberhaft, ein Traum!

Hedis Herz pochte. Bei Gott, es war die gleiche Querstraße, wo sie
einst, im Sommer, Otto das Abschiedssouper gegeben hatte.

»Fahren Sie!«

Eine schweißtriefende Zeitungsfrau drängte sich in diesem Moment, einen
Pack noch nasser Zeitungen unter dem Arm, am Auto vorüber und schrie mit
gellender Stimme dicht an Hedis Ohr:

»Die Marne abermals überschritten!«

»Die Marne abermals überschritten!«

Hundert gierige Hände streckten sich ihr gleichzeitig entgegen. Sie
drehte sich im Kreise, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der
Stirn.

»Hier, bitte, geben Sie!«

»Die Marne -- sofort, junge Frau -- abermals überschritten.« Ihre
gellende Stimme übertönte den Marsch der Kapelle auf dem Bahnhof.

Das Auto rückte an. Hedi konnte gerade noch das Blatt ergreifen.

Sie warf noch einen flüchtigen Blick in die Höhe -- da sah sie gerade,
wie der Mann auf dem Dachfirst plötzlich schwankte -- hatte man
geschossen? -- schwankte -- mit den Händen in die Luft griff und über
das steile Dach herabstürzte. Eine Sekunde wurde der Körper von der
Dachrinne aufgehalten, dann fiel er . . . Hedi bedeckte die Augen mit
der Hand.

Die schweißtriefende Zeitungsfrau raste dem Bahnhof zu und schrie
gellend:

»Die Marne abermals überschritten! Die Marne abermals -- --«


9

Vorgestern nicht, gestern nicht -- aber jetzt, jetzt kam sie die
Fabriciusstraße herauf.

Sie hielt zuweilen inne, als zögere sie, blickte sich um, aber sie kam
doch immer näher.

Herr Herbst kletterte die Treppe empor, bis zur Türe. Er wohnte nicht
mehr hier, hatte das Quartier in diesem Unglückshause geräumt. Er wohnte
jetzt in einer kleinen Kammer im »Löwen von Antwerpen«. In einem ganz
winzigen Raum, aber doch zog er ihn diesem Zimmer vor.

Schon hörte er ihren Schritt, das leichte Keuchen ihres Atems. Sie ging
ganz anders als alle Frauen, die diese Treppe auf und ab stiegen. Die
Sohlen ihrer Schuhe waren dünner, sie vermied jeden Lärm und hielt sich
nie am Geländer fest.

Herr Herbst trat vor, beugte sich über das Geländer. Sie sah ihn an,
hielt inne, leise keuchte ihr Atem.

Herr Herbst lüftete den steifen Hut: »Sie suchen gewiß Herrn Ackermann?«
fragte er.

»Ja«, hauchte sie.

»Er wurde verhaftet --«

»Vorgestern verhaftet --«

Nun berührte sie plötzlich mit den Fingerspitzen das schmutzige
Stiegengeländer, und das Blut wich aus ihren Wangen. Ganz langsam.
Zuerst wurde sie fahl, dann weiß wie Mehl. Dann verloren ihre Augen die
Farbe, auch sie wurden weiß.

Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe!

Fleisch von seinem Fleisch. Blut von seinem Blut . . .

Herr Herbst beugte sich über das Geländer und sah ihr tief in die Augen.
Immer noch wurde sie weißer -- ihre Hand griff zu.

Und bald, bald würde man auch sie -- der Magere, Schmächtige hatte es
ihm zugesagt. Und diese Schande für die Familie . . .

Heute abend, es war Sonnabend, würde er den Munitionsarbeiterinnen im
»Löwen von Antwerpen« etwas zum besten geben. Und auch er würde ein
Fläschchen trinken. Er besaß ja immer noch Geld, Gott sei Dank, zwei
Brieftaschen, eine kleine für die laufenden Ausgaben und eine große, in
der sich die blauen Scheine befanden, noch immer eine ganze Anzahl.
Heute abend sollte ihm nichts zuviel sein.

Dabei hielt er den Hut gelüftet, und sein Blick versank in diese Augen,
die die Farbe verloren, den Blick.

»Hier?« hauchte eine zitternde Stimme.

»In der Stadt. Beim Anhalter Bahnhof.«

»Haben Sie es gesehen?«

»Ein Bekannter hat es mir erzählt.«

»So? -- -- Danke.«

Sie wandte sich ab, ging, Schritt für Schritt, und immer noch ganz leise
und lautlos.

Er beugte sich weit über das Geländer und sah ihren kleinen braunen Hut
um die Ecke biegen.

Plötzlich lief er mit den Bewegungen eines Hampelmannes hinter ihr her.

»Hören Sie, noch etwas.«

Sie wandte ihm ihr mehlig weißes Gesicht zu.

Herr Herbst beugte sich über das Geländer. Und nun stieß er ihr das
Messer ins Herz!

»Er ist tot!« flüsterte er, ganz leise, aber so deutlich.

Das mehlige, weiße Gesicht verschwand -- und plötzlich eilte ein lauter,
harter Schritt, blitzschnell die Treppe hinab. Immer rings um das
Treppengeländer.

Aber dies war zuviel für Herrn Herbst. Dieses rasende Klappern der
Schuhe vertrug er nicht. Im Nu stürzte ihm das Wasser aus den Augen.

Was ging hier vor? Er wollte ja gar nicht --

Rasch, so rasch seine zitternden Beine es zuließen -- immer war es ihm
beim Hinabsteigen der Treppe, als stürze er in einen Abgrund -- folgte
er den harten, raschen Schritten, die im Stiegenhaus herumgingen.

»Halt, halt -- hören Sie --«

»Hören Sie -- es war ein unglückseliger Zufall --«

»Hören Sie, pst -- einen Augenblick -- fliehen Sie aus Berlin -- auch
Sie will man --«

Aber er vermochte sie nicht mehr einzuholen.

Wie ein Hampelmann eilte er.

»Ich warne Sie -- wünsche Ihnen nichts Böses --«

Vergebens.

Die Haustüre fiel ins Schloß, und als er sie wieder geöffnet hatte, da
war sie schon, unglaublich, unfaßbar, mindestens sechs Häuser weit
entfernt.

Keine Möglichkeit, nicht die geringste Möglichkeit.




Drittes Buch


1

Von Horizont zu Horizont rollt das Feuer.

Staub und Qualm -- brennende Menschen stürzen aus dem Himmel, ein
Hagelsturm von zerfetzten Menschenleibern fegt über die Erde.

Die Luft wettert von rasenden Donnerschlägen, die glühenden Geschütze
taumeln voll Wut, ferne grollt das böse Raubtierknurren der schwersten
Kaliber. Die Erde schwankt, das Gebäude der Atmosphäre gerät ins Wanken.
Lawinen, Bergstürze, der Vulkan speit. Seit Wochen, seit Monaten.

Horch! Horch -- horch! Schreie, damit ich dich verstehe --! Was sagst
du? Es ist die Stimme Europas -- sehr wohl! Es ist die Stimme der
Habgier, des Geldes -- noch besser . . .

Schiefergrau und rostbraun, in jeder Sekunde neu genährt von Qualm, wogt
von Horizont zu Horizont, unendlich, die fürchterliche Wolke über der
Walstatt. Die Landschaft selbst runzelt die Stirn, gealtert, zermürbt,
zerknittert und vergrämt.

»Ungemütlich, lieber Otto« -- schrieb Hauptmann Falk, genannt die
Feuerwalze -- »es beginnt ungemütlich zu werden hier außen! Heute morgen
einige tausend Granaten auf unsern Abschnitt, die nicht von schlechten
Eltern waren. Ringsum Leichen, auch die Lebenden, der Divisionär,
vierzig Stufen unter der Erde, ebenfalls eine Leiche! Er stammelt nur
noch, schwere Sprachstörung. Ich schreibe dir, um die Nerven zu
behalten. Was ist los? Wir liegen hier in Granatlöchern, keine Gräben
mehr und Drahtverhaue, die gemütlichen Zeiten sind vorüber -- alle
fünfzig Schritt ein Mann, schwere Maschinengewehre, leichte
Maschinengewehre. Im Hintergelände weit und breit keine Menschenseele --
nur Feldküchen und Verbandplätze -- kein Mensch, was soll das bedeuten?
. . .«

Die schiefergraue und rostbraune Wolke flimmert, endlos, bis in den
schwarzen Äther empor. Schwingen von aufgescheuchten Vogelschwärmen
blitzen darin -- das sind die Flieger. Qualm faucht auf, da oben in der
flimmernden Wolke, Qualm schießt finster durch die Luft, stürzt zur
Erde: ein Mensch, lichterloh brennend eilt über das Feld, taumelt,
brennt, qualmt, kohlt --.

Horch, horch! Ja, schreie, sonst höre ich dich nicht! Stimme des Geldes,
sehr wohl -- die Mark, die Francs, die Pfunde, Dollars, sie brüllen --
es sind auch die Millionenvölker Europas, die nach Nahrung brüllen,
vergiß es nicht -- und das trockene Schießpulver, der Aberwitz, er lacht
aus den Feldgeschützen.

»Die gute alte Zeit, lieber Otto« -- schrieb Hauptmann Falk in seinem
Erdloch -- »sie ist endgültig vorbei. Schade! Ringsum schreien Menschen,
aber ich kann ihnen nicht helfen, bevor es Nacht wird. Ich sitze mitten
im Rauch. Mein Leutnant übergibt sich, er hat Gas geschluckt, Gott helfe
ihm, ich kann gar nichts für ihn tun. Ich schwitze entsetzlich in meiner
Gasmaske. Gestern sollten wir fünfhundert Flaschen Sodawasser bekommen,
aber ein Volltreffer hat sie auf der Chaussee vernichtet. Die Zungen
hängen uns heraus. Was für ein Staub! Dank, alter Junge, für den Kognak!
Es war eine Freude. Wir hatten zwei gefangene Engländer in unserem
Granatloch, auch sie bekamen einen Schluck aus der Flasche, mußte
schwören, sie nach dem Kriege in England zu besuchen. Hoffe in einigen
Tagen in Berlin zu sein. Seit einer Woche sollen wir abgelöst werden,
aber niemand zeigt sich, obwohl es uns feierlich versprochen wurde. Die
Sache gefällt mir nicht, alter Junge. Stelle die Flaschen kalt, du
erhältst Telegramm. Grüße Bussi! Hoffentlich kommt der Brief durch. Man
braucht hier zwei Stunden für einen Kilometer.«

Bussi? Bussi? Wer ist Bussi? Niemand weiß es, offenbar eine Dame, aber
es tut schließlich nichts zur Sache.

Wie ein blutüberströmtes Antlitz sank die Sonne hinter der endlosen
flimmernden Staubwolke. Rasch kam die Nacht. Aber die Geschütze wüteten
weiter. Schweiß badete die Gesichter der Kanoniere. Die Brandung aus
Eisen und Blut rollte fürchterlich in der Dunkelheit.

Schon stiegen die Leuchtkugeln, da, dort, überall, glühend in allen
Farben. Ein Netz von Blitzen geisterte. -- --

                   *       *       *       *       *

Die Raketen zischten in die Höhe und zerplatzten mit einem leichten
Knall am Himmel. Trauben von silbernen, violetten, lichtblauen und
bengalisch roten Christbaumkugeln sanken mild durch das tiefe Blau der
Nacht.

»Ein Feuerwerk!«

Die Kapelle spielte. Vor dem Kurhaus zerschmolzen die hellen Kleider und
grellen Mäntel und Jacken im gleißenden Licht der Bogenlampen. Hier
außen am Strand aber war es ganz still, dämmerig, nur der Mond und das
glitzernde Meer. Der Geruch von Tang und Salz in der lauen Luft. Ohne
Pause glitten lautlos die silberschäumenden Wellen über den Sand und
breiteten ihr gleißendes Schleiergespinst aus. Klein und hoch der Mond,
und schaukelnde Scherben von Silber sein Spiegelbild.

Plötzlich zischte es, eine Rakete fuhr zu den Sternen empor. Eine Gruppe
von sprühenden Funken erschien am blauen Nachthimmel, trieb, heller als
die Gestirne, im leichten Wind sanft dahin und erlosch allmählich.

Aus einem Strandkorb fuhr eine silberne Larve, eine Hand, blitzend von
Steinen, erschien. »Brillant!«

Es war Herr Olsen aus Kopenhagen, zurzeit in einem deutschen Ostseebad,
der den Zauber des fliegenden Sternhaufens bewunderte. Er streckte den
blonden Kopf heraus, strampelte mit den weißen Hosen und erschien
persönlich im Mondlicht. Er war nahezu zwei Meter hoch, und sein
Schatten ging vollkommen über die Sandburg »Lüttich« hinweg. Er war ein
hübscher, junger Mann, frisch, kindlich und gutmütig. Mit strahlender
Miene und blinkenden Zähnen verfolgte er die bunten Kugeln am Himmel.

Herr Olsen lebte noch in der Welt des Friedens. Er sprach nie vom Krieg,
erzählte nichts von Schützengräben, las keine Berichte und quälte sich
nicht mit Kombinationen -- er studierte höchstens die Börsenberichte und
kaufte deutsches Geld, wenn es Vorteil versprach. Wer den Krieg gewann,
das war ihm höchst einerlei, zu welchem Zwecke er geführt wurde,
berührte seine Seele nicht im mindesten. Herr Olsen war -- nun, dies ist
der etwas triviale Ausdruck seiner Begleiterin -- durch und durch
Friedensware. Seine soliden Schuhe, seine sechs verschiedenen Mäntel,
der Ausdruck seines Gesichts, Augen, Sprache, Lächeln, Gedanken -- alles
Friedensware, selbst Farbe und Glanz seiner Haut und seiner Haare,
unwiederbringlich dahin bei den deutschen Männern. Er war mit einem Wort
eine Sehenswürdigkeit.

Seine Begleiterin, im Schatten des Strandkorbes gegenüber, lachte. Ihre
Augen sprühten im Mondlicht.

Dieses Lachen?

Dieses Lachen! Dora --?

Ja, Dora! Und nun streckte sie ihr Silberlärvchen in das Mondlicht, und
ihre etwas runde Hand tauchte in die gleißende Helligkeit. Ihr heller
Haarschopf flimmerte.

Sie lachte über Olsens kindliche Freude an den bunten Christbaumkugeln
da oben. In seiner Nähe atmete sie leichter, er hatte eine ganz andere
Atmosphäre um sich wie andere Männer. So zum Beispiel Otto, der einige
Tage hier gewesen war.

Herr Olsen streifte seine Dame mit einem fragenden Blick. Weshalb mochte
sie nur lachen? Selbst die Strahlen des Mondes, die nach Doras Augen
zielten, vermochten nicht ihr tiefes, seltenes Blau zu dämpfen.

Herr Olsen kroch wieder in den Schatten des Strandkorbes zurück und
begann sogleich voller Eifer die unterbrochene Unterhaltung
fortzusetzen. Es handelte sich darum, ob Dora ihm, Herrn Olsen riet,
sich ein Gut in Deutschland zu kaufen. Das deutsche Geld war ja jetzt so
lächerlich billig. Herr Olsen sprach nur von seinen eigenen
Angelegenheiten, fremde Schicksale, das Schicksal des deutschen Volkes,
das Schicksal Europas, das Schicksal des Planeten, das war ihm alles
höchst einerlei. Herr Olsen war der Mittelpunkt der Erde.

»Aber Sie müssen mir versprechen, mich dann zu besuchen? Ach, es wird ja
so schrecklich langweilig sein.«

»Wenn Sie artig sind?«

»Artig? Ich will wie ein kleines Hündchen sein, so artig!« beteuerte
Herr Olsen, und wieder fuhr sein Silberkopf aus dem Strandkorb.

Ja, nun war es also Herr Olsen, der sich, Dank der Gnade des Himmels,
seine Friedensseele bewahrt hatte.

                   *       *       *       *       *

Feuerbalken schossen über den Horizont, und das fürchterliche
Wetterleuchten setzte nicht eine Sekunde aus. Hauptmann Falk konnte ganz
gut dabei schreiben. Die Leuchtkugeln sprühten wie Leuchtfeuer, die
plötzlich über dem Meer erglühen. Aus der Höhe beim Nachbarregiment
fuhren Bündel von roten Signalen, und die Artillerie wirbelte. Ein
Feuerloch glühte auf, das waren die Einschläge.

Ein Gespenst kroch über das Feld, versank, kroch, huschte. Es war
Hauptmann Falk. Obschon gefeit -- er glaubte es -- nahm er sich doch in
acht, denn es konnte ja durch einen Zufall ein Unglück geschehen. Er
glitt die Schützenlinie entlang. Hier schüttelte er Schlafende -- aber
sie erwachten nicht mehr. Aber er traf auch Gruppen, deren Augen hell
wie Sterne im Schein des Geschützfeuers sprühten. Es waren wunderbare
Menschen! Ohne einen Tropfen Wasser seit drei Tagen!

Da duckte er sich zusammen. Pechschwarz, von roter Lohe durchglüht,
stieg der Einschlag in die Höhe. Ja, ungemütlich, höchst ungemütlich.

Die Blitze geisterten.

Auf allen Straßen knarrten jetzt die Wagen. Hier und drüben bei ihm.
Munition, Verpflegung, Verwundete, die ganze Nacht hindurch.
Hunderttausende von Wagen knarrten durch die Dunkelheit. Der Himmel
erdröhnte, die Bombengeschwader waren unterwegs. Die Mützen über die
geschorenen Schädel gezogen, die Nase im Wind, jagen die
Befehlsempfänger die Straße hinab. Klein und hoch geht der Mond, Blitze
wehen, Feuer sprüht im Walde.


2

Der Tiergarten fröstelte. Unerträglich heiß war es am Tage gewesen, und
nun war es plötzlich kühl geworden. Irgendwo in der Nähe von Berlin
mußten schwere Gewitter niedergegangen sein, aber man hatte nur zuweilen
das tiefe Donnerknurren gehört.

Vor der roten Backsteinvilla in der Lessingallee, mit Efeu überwuchert,
hielt eine Droschke.

Händeklatschen. »Petersen! Petersen!« Eine helle Stimme.

Schon öffnete sich die Türe, und Petersen in seinem Zebrakittel eilte
auf die Straße.

Ein Offizier stand bei der Droschke, mit einer schwarzen Brille, eine
kleine Reisetasche in der Hand.

»Nun, Petersen, alter Knabe, Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Eine
hohe, fremde Stimme.

»Herr Hauptmann?« rief Petersen erstaunt und erschrocken aus. Was tat er
hier, was wollte er hier? Schon vor dem Kriege hatte er ja nicht mehr
hier gewohnt.

»Welche Überraschung, Herr Hauptmann!«

»Ja ja, Petersen -- so geht es -- wenn man sich lange nicht sieht. Meine
Frau --?«

»Im Bade, Herr Hauptmann. Kommt morgen!«

»So? Nun, ich werde nicht stören. Nur ein paar Tage, bis ich eine
Wohnung gefunden habe. Na, und es geht immer gut, alter Petersen?«

»Danke, Herr Hauptmann, sehr gut, danke!«

Petersen nahm die Reisetasche, und Hauptmann v. Dönhoff stolperte die
Treppe hinauf.

»Ah, wie dunkel! Ihr habt wohl eine Kleinigkeit zu essen für mich? Den
ganzen Tag im Zuge --«

Wie leer diese Stadt, wie ausgestorben! Hauptmann Dönhoff _roch_ die
Stille und Ausgestorbenheit. Berlin war tot, ohne Zweifel. Hier und da
ein Schritt, ein zögernder, nachdenklicher, mutloser Schritt. Ja, mutlos
gingen alle diese Schritte in den dunkeln Straßen dahin, mutlos und
bestrebt, keinen Lärm zu machen.

Und früher, früher!

Auch dieses Haus, sein früheres Haus -- totenstill. Welche Feste hatten
sie hier gefeiert. Er hörte sein früheres Lachen! Zweihundert schöne
Frauen hatte er besessen, siebzig Rennen gewonnen, zwei Elefanten und
ein Nashorn geschossen, als einer der ersten war er in Deutschland
geflogen, einer der Entdecker des deutschen Himmels -- ja, es hatte sich
manches geändert.

Aber den Geruch des Hauses erkannte er sofort wieder. Doras Parfüm und
eine gewisse Schwüle.

»Hoppla, Petersen --« Er stieß gegen ein Tischchen in der Garderobe.
»Ich sehe etwas schlecht, bis man sich wieder eingewöhnt.« Immer sprach
er mit einer hohen, fremden Stimme, hastig, unsicher, wie ein Mensch,
der sich _schämt_.

Petersen eilte in die Küche und machte Zeichen mit den Fingern vor der
Stirn.

»Er ist -- so wahr mir Gott helfe, nein, was wird die Gnädige sagen? Was
will er hier? Sie sind doch getrennt. Aber sehen Sie doch selbst. Er
ist, mein Himmel, wie merkwürdig --«

Mina also, neugierig wie sie war, mußte sich ihn selbst ansehen.

Sie fand Hauptmann v. Dönhoff auf einem Sofa, eine Zigarette rauchend.
Er richtete, als sie eintrat, die dunkle Brille auf sie, lächelte, und
sie konnte vor Schreck keinen Ton hervorbringen. Der Gruß blieb ihr im
Halse stecken. Sie hätte ihn -- bei Gott -- nicht wieder erkannt: grau,
völlig grau, fast weiß, gelb, alt, um zwanzig Jahre älter mindestens!
Und dieses Lächeln des welken Gesichts, diese Falten um den Mund -- nur
solche Leute konnten so lächeln, nur solche -- Petersen hatte recht.

Mein Gott, welche Angst sie hatte! Weshalb mußte sie auch gleich
hereinlaufen.

Hauptmann v. Dönhoff gähnte. Er blickte sie durch die dunkle Brille an,
verfolgte jede ihrer Bewegungen. Dann sagte er lächelnd: »Na, also,
Petersen, alter Knabe, erzählen Sie doch, was es Neues gibt in Berlin?«

Petersen! Er hielt sie für Petersen!

Vor Schrecken hätte Mina beinahe einen Teller fallen lassen.

                   *       *       *       *       *

Und das Feuer rollte.

Wie ein blutüberströmtes Antlitz stieg die Sonne aus der endlosen
Staubwolke empor. Die in der Nacht fielen, waren jetzt schon kalt. Auf
den Chausseen lagen in Stücke zerrissene Pferde und Männer, zertrümmerte
Wagen und zerschmetterte Bäume; ihr grünes Laub rauschte im Morgenwind.
Die Mütze über die geschorenen Schädel gezogen, kamen die
Befehlsüberbringer im Auto angefegt und setzten über die rauschenden
grünen Aste, die quer über der Straße lagen, hinweg.

Der Himmel stand voller Schrapnellwolken, Schwärme von Fliegern brausten
im Frühlicht. Die Geschütze stampften, pochten, knackten -- die rasende
Erde beschoß aus ihren Kratern das aufgehende Gestirn der Sonne.

Wie gestern, wie vorgestern, wie alle Tage stürzten brennende Menschen
aus dem Himmel. Ein Hagelsturm von zerfetzten Leibern fegte über die
Erde. Millionen Herzen verkrampften sich in Todesangst.

Und die Wolke, die rostbraune, schiefergraue Wolke stand unendlich über
der Walstatt.


3

Ganz in der Nähe der Hofjägerallee im Tiergarten läuft ein gekrümmter,
schmaler Reitweg durch tiefes Dickicht.

Auf diesem schmalen, gekrümmten Reitweg ging der General hin und her,
die Hände auf dem Rücken, die Augen auf die eigenen Fußspuren geheftet,
die noch von gestern, von vorgestern, hier zu sehen waren, trotz dem
Regen, der in der Nacht fiel. Hier ging nie ein Mensch, und Reiter --
das Geschlecht der Reiter war völlig ausgestorben in Berlin.

Dora --?

Es war drückend schwül, schon um neun Uhr morgens, der General hatte
seinen Kragen etwas gelockert, hier sah ihn ja niemand. Bewegungslos
standen Büsche und Bäume, und zuweilen sang ein Vogel, irgendwo in
weiter Ferne. Es klang wenigstens so in seinen Ohren, möglich, daß er
sich täuschte. War es nicht eigentümlich, in letzter Zeit schienen alle
Geräusche und Laute in weite Fernen zu rücken, auch die Stimmen der
Menschen, die dicht vor ihm standen und sprachen?

Nichts von Bedeutung eigentlich --

Der General blieb stehen und heftete den Blick auf die staubige,
schwarze Erde des Reitwegs. Es war ihm schwer, einen Gedanken bis zu
Ende zu verfolgen.

Nein, gewiß, das war es nicht. Es wäre unvernünftig, Kombinationen daran
zu knüpfen.

Vorgestern hatte er zufällig einen Blick in Ottos Zimmer geworfen, im
Vorbeigehen. Das Zimmer wurde gereinigt, und das Unterste war zu oberst
gekehrt: da sah er -- nein, zuerst nahm er kaum davon Notiz, aber er
kehrte zurück, irgend etwas war ihm aufgefallen. Da sah er also auf
einem Sessel ein sonderbares Kostüm: eine Art Kaftan oder Kimono von
einem eigentümlichen, unangenehmen, schmutzigen Gelb, einen Turban,
orangerot, mit dicken grünen Schnüren umwickelt. Dieses Kostüm -- sofort
fiel es ihm ein: jener Vermummte, jener Unbekannte auf Doras Hausball,
jener Stumme, der immer mit einer merkwürdigen Schale rasselte! Es ging
das Gerücht, eine hohe Persönlichkeit verberge sich in dieser etwas
phantasielosen Maske.

Also er -- Otto --?

Ein Maskenscherz, natürlich, nichts anderes. Otto war ja damals noch im
Lazarett, offenbar ausgerückt für diese Nacht, er konnte sich nicht gut
zu erkennen geben. Aus diesem Grunde die Geheimtuerei, und sicherlich
hatte er absichtlich das Gerücht von der Hoheit verbreiten lassen.

Gewiß, ohne jede Bedeutung. Wie kam er doch wieder darauf?

Herrlich ruhig war es hier, und nur zuweilen war das ferne Klingeln der
Straßenbahn zu hören. Wohltuend und beruhigend das Grün der hohen
Wipfel, und da droben, da draußen flammte heiß die Sonne, wie ein
grelles Feuer. Hier aber, Schatten, Kühle sogar, und der Schritt
unhörbar. Es ging sich angenehm auf der losen Erde, die Füße ruhten aus.

Der General hielt sich etwas gebückter. Er war im Gesicht magerer
geworden, die Backen hingen schlaff herab, seine Gesichtsfarbe war
fahler, trocken, mit kalkigen Flecken. Zuweilen zuckte sein rechtes
Augenlid, und ein Nerv klopfte oft unangenehm an der Nase, dicht beim
rechten Auge.

Den ganzen Sommer, hatte er in dem stickigen, heißen Berlin verbracht.
Er hatte die Absicht, im August in Urlaub zu gehen, nach Babenberg, nun
aber waren Ereignisse eingetreten, die ihn hier festhielten. Gewisse
Schwierigkeiten an der Front, die bald behoben sein würden. Jedenfalls
aber war es ganz undenkbar für ihn, jetzt, gerade jetzt seinen Posten zu
verlassen, selbst nicht auf einige Tage, so nötig er auch Erholung
brauchte. Sitzungen, Konferenzen, nun gut, die da draußen hatten
ebenfalls keinen Urlaub. Man mußte sehen, wie man durchkam.

Diese halbe Stunde jeden Morgen -- eine volle halbe Stunde, ja, es ging
nicht anders, wollte er nicht zusammenbrechen -- diese halbe Stunde
morgens von einhalb neun bis neun Uhr war sein Urlaub. Um neun Uhr
erfaßte ihn dann die Maschine, und er kam bis Mitternacht nicht mehr zu
sich. Er schlief nur noch mit Hilfe von starken Schlafmitteln.

In diesen dreißig Minuten am Vormittag allein konnte er in aller Ruhe
seinen Gedanken nachhängen und sich mit seinen persönlichen
Angelegenheiten beschäftigen.

Gott sei Dank war er vernünftig genug gewesen, sich diese störenden
Geldgeschichten vom Halse zu schaffen, wirklich ein Entschluß, zu dem er
sich jetzt beglückwünschte! Er hatte das Gut Rothwasser verkauft. An
einen Dänen, namens Olsen, aus Kopenhagen -- ja, schon kamen sie jetzt,
die Neutralen, die am Kriege verdient hatten, und kauften deutsches
Land. Er bereute den Schritt nicht. Was geschehen ist, ist geschehen --
das Notwendige tue rasch, ohne dich umzusehen. Otto würde ja Babenberg
behalten, genug und übergenug für ihn, und Ruth -- nun es würde auch für
Ruth gesorgt sein.

Er machte kehrt, nie ging er weiter bis zu jenem grellen Sonnenflecken
mitten auf dem Reitweg. Zerstreut blickte er, stehenbleibend, in das
Dickicht -- auch hier Staub auf den Blättern, selbst hier.

Rothwasser? Wie kam er darauf? Nun ja, er hatte sich durch den Verkauf
diese störenden, quälenden Kalamitäten vom Halse geschafft -- wie schwer
es ihm doch wurde, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren! Fünf
anstrengende Konferenzen waren allein für diesen Vormittag angesetzt.
Schon disponierte er wieder.

Dora --?

In diesem Augenblick dröhnten von der Hofjägerallee drei langgezogene
Hupensignale.

Dieser Schwerdtfeger, dieser Esel! Mußte er ihn gerade in diesem Moment
unterbrechen.

Ärgerlich setzte der General seine Promenade fort. Er ging etwas
rascher, sollte er warten! Ja, diese Wochen, da sie im Bade war, waren
eine Art Probe gewesen. Er hatte diese Probe nicht bestanden, um ehrlich
zu sein! Ja, das war es, nicht bestanden. Er hatte sie vermißt, kam sich
verwaist und verlassen vor, niemand in Berlin, das Haus leer, auch Ruth
auf dem Lande -- die Stimmen rückten mehr und mehr in die Ferne, wurden
unwirklich, nur Doras Stimme klang noch nah. Es schien auch, als ob die
Menschen selbst mehr und mehr verblaßten -- sie riefen unverständliche
Worte, machten unverständliche Gesten. Er beachtete sie kaum, sie
interessierten ihn nicht mehr, seine Mitmenschen, nein, sollten sie
ruhig tun, was sie wollten. Und fünf Konferenzen -- nun saßen sie schon
und warteten, Weißbach schielte auf die Uhr.

Ja, es war die Wahrheit, leugnen wir sie nicht, er fühlte sich einsam
ohne sie.

Einsam?

Welch ein furchtbares Wort, bei rechtem Lichte betrachtet! Nie in seinem
Leben hatte er die Bedeutung dieses Wortes begriffen. Es war die
Abspannung, die Nerven, natürlich. In ihrer Nähe fühlte er sich
augenblicklich beruhigt, ausgeglichen. Etwas von ihrer Sorglosigkeit und
Lebenskunst schien auf ihn überzuströmen.

Wie sie sich gefreut hatte über die kleine Uhr, die er ihr am ersten
Abend brachte! Ein Kind, wahrhaftig, nichts als ein großes,
lebenslustiges, immer heiteres Kind war diese ganze Dora, ein Quell der
Verjüngung, sozusagen. Vielleicht beruhte die belebende Wirkung, die sie
auf ihre Umgebung ausübte, gerade auf ihrer großen und seltenen Naivität
und oft komischen Lebensunkenntnis. Wer weiß es?

Es galt zu überlegen, jedenfalls -- ein bedeutungsvoller Schritt!

Ein Schritt, der wohl erwogen sein wollte, obgleich er sich ja schon
Jahre mit diesem Gedanken beschäftigte. Wohl erwogen. Otto? Nun, Ottos
Meinung war ihm schließlich gleichgültig, Otto fragte ja auch ihn nicht
um seine Ansicht, wochenlang bekam man ihn nicht zu Gesicht. Sein Sohn
war ihm fast ein Fremder geworden. Und Ruth? Nun Ruth würde sich damit
abfinden. Sie zuallererst. Erst jetzt war ihm zum Bewußtsein gekommen,
wie vernünftig diese Ruth in Wahrheit war. Ja, möglich, möglich, daß er
ihr ganzes Naturell falsch eingeschätzt hatte. Sie war in ruhigem und
ausgeglichenem Gemütszustand von Babenberg zurückgekommen. Ihre
sentimentale Laune schien weniger tief gegangen zu sein, als er
befürchtet hatte. Obgleich dieser jugendliche Schwarmgeist, wie man ihm
berichtete, noch hinter Schloß und Riegel saß und seiner Bestrafung kaum
entgehen dürfte. Offenbar hatte Ruth die Beschaulichkeit auf dem Lande
dazu benutzt, nachzudenken. Der rasche Schnitt mit dem Messer hatte sich
wieder als die beste Heilmethode erwiesen.

Gewiß, auch Ruth würde sich damit abfinden -- vielleicht war gerade sie
es, die ihn am ehesten verstand.

Aber sie selbst -- Dora?

Das heißt nicht, daß er zweifelte!

Natürlich nicht, er konnte auch aus früheren Äußerungen Doras schließen
-- es würde für sie immerhin einiges bedeuten, gesellschaftliche
Stellung, nun, und manches andere. Sie war ja aus guter Familie, ein
Bruder sogar Major, aber immerhin, kleiner, unbedeutender Landadel. Und
nicht zuletzt würde sie gewiß aufatmen, aus diesem Zustand finanzieller
Unsicherheit herauszukommen.

Nein, nicht das.

Aber es gab da das und jenes, was ihn in der letzten Zeit stutzig -- ist
stutzig das richtige Wort? -- nun sagen wir ruhig: stutzig gemacht hatte
. . .

Einiges, unbedeutende Dinge, Kleinigkeiten sozusagen, Imponderabilien --
aber vielleicht tat er ihr bitter unrecht? Wie? Nicht unmöglich . . .

Wieder dröhnte das Hupensignal.

Der General hakte ärgerlich den Kragen zu.

»Es ist ganz unmöglich, auch nur fünf Minuten lang seine Gedanken zu
sammeln«, sagte er laut und begab sich zum Auto zurück.

Die graue Limousine fegte in das heiße Berlin hinein: Sitzungen,
Konferenzen, Vorträge. Schon warteten sie dichtgedrängt im Vorzimmer,
und Weißbach schielte tatsächlich ununterbrochen nach der Uhr.


4

Nein, gewiß, der General kannte seine Tochter nicht.

Wäre er ein Beobachter, so würde er auf den ersten Blick gesehen haben,
daß Ruth sich im Laufe des Sommers auffallend geändert hatte. Aber er
war kein Beobachter: Sitzungen, Konferenzen, strategische Erwägungen --
wie sollte er da ein Beobachter sein?

Ja, auffallend geändert!

Nicht mehr die schüchterne, scheue Ruth. Ihre Augen waren flammend und
kühn, ihr Blick wich nicht mehr zurück. Fragend und forschend ruhte ihr
Auge bei Tisch auf dem Vater, und häufiger als früher begegneten sich
auf Sekunden ihre Blicke.

Etwas war hier nicht in Ordnung! Nein! Als Papa sie bei ihrer Rückkehr
begrüßte, war etwas Auffallendes geschehen -- noch heute zitterte die
Betroffenheit in ihr nach. Papa war errötet! Noch mehr, Papa hatte die
Augen niedergeschlagen. Aber man bedenke doch: _Papa schlägt die Augen
nieder!_

Weshalb? Weshalb nur? Sie kannte Papa ja so genau. Irgendein Geheimnis
war zwischen ihm und ihr.

Weshalb Papa, so sprich doch!

Aber der General war tief in seine Gedanken versunken und blickte nicht
mehr auf.

Ruth hatte völlig ihr träumerisches, zerstreutes Wesen verloren. Sie
sprach sogar etwas rascher als früher und nicht mehr so unsicher. Sie
sang nicht mehr, trällerte nicht mehr vor sich hin, wie sie es früher zu
tun pflegte -- um erschrocken abzubrechen, sobald sie sich belauscht
wußte. Ihre Lippen waren bestimmter geformt und klarer geschwungen. Das
unsichtbare Lächeln, das früher über ihnen schwebte -- fort war es.

Wie eine Fremde bewegte sie sich im Hause, die gesonnen ist, nicht lange
zu bleiben. Sie lächelte über diese ewig dienstbereiten Ordonnanzen,
über dieses Exzellenz hin und Exzellenz her, bald würde sie es nicht
mehr hören. Ach, dieser Papa, der sich so ungeheuer wichtig nahm, dieser
Otto, diese Dora, diese ganze Gesellschaft, die in den Tag hineinlebte
und glaubte, es müsse so sein -- nun, bald würde sie sie nicht mehr
sehen. Schon wagte es niemand mehr, sich mit ihr in ein Gespräch
einzulassen, weil sie unumwunden ihre Meinung äußerte.

Vorläufig, bis _dahin_, verrichtete sie wie früher ihre Arbeit in der
Küche. Die Gäste hatte sie nach diesen heißen, stickigen Sommerwochen
noch bleicher und elender angetroffen. Sie waren alle müde, sanken
erschöpft auf den Stuhl, stützten den Kopf, während sie aßen. Alle
Augenblicke gab es Differenzen, ihre Nerven flatterten. Die kleinen
Schreibdamen flüsterten nur noch. Zuweilen kicherten sie leise, um sich
rasch erschrocken umzusehen. Die Küche war auffallend still geworden.

Ruth war eifrig bei der Arbeit -- aber so oft ein neuer Gast eintrat,
blickte sie rasch nach der Türe. Offenbar, sie erwartete jemand, sie
suchte jemand!

Sie suchte, um die Wahrheit zu sagen, jenen kleinen, alten Herrn im
Havelock, ihn, der ihr auf der Treppe die schreckliche Nachricht
mitgeteilt hatte. Tag für Tag erwartete sie ihn, sie hatte Geduld.

Aber er kam nicht. Augenscheinlich besuchte er diese Küche nicht mehr.
Vielleicht war er auch tot? Schnell starben die Menschen in diesen
Tagen. Die Erde verschluckte sie nur so.

Endlich ging sie in die Fabriciusstraße. Sie besaß sogar den Mut, das
Leihhaus zu betreten. Mit welchen Gefühlen! Wie sie die Türe anstarrte!
Aber sie weinte nicht.

Allein, hier wußte man nichts von dem Havelock. Er war ausgezogen,
verschwunden.

Und doch, er war vielleicht der einzige, der ihr über jene Dinge
Ausschluß geben konnte, die sie unbedingt wissen mußte. Klara, die mit
ihr in Babenberg war, hatte ihr Hedis Erlebnis am Anhalter Platz erzählt
-- das war alles, was sie erfahren konnte. Seine Freunde, sein jüngerer
Bruder, wie vom Erdboden verschwunden, niemand zu sehen; keine Nachricht
mehr, man hatte offenbar alle verhaftet -- nur sie ließ man in Ruhe.

Nach vielen Tagen, die sie durch das verwahrloste, übelriechende
Stadtviertel streifte -- ja, plötzlich sah sie ihn.

Das, das mußte er sein! Sie fühlte es augenblicklich.

Ein Rudel lachender und kreischender Kinder -- und mitten darin ein
Mensch. In diesem Augenblick geschah es, daß sie wie eine Seherin
fühlte, er! Ja, er war es.

Er tanzte wie ein Hampelmann, und sobald die Kinder ihm zu nahe kamen,
schlug er nach ihnen mit seinem steifen Hut.

Plötzlich fühlte er Ruths Blick. Es war dicht bei der Eisenbahnbrücke,
die sich über die staubige Fabriciusstraße spannt.

Er hielt inne -- gerade wollte er wieder mit dem Hut nach den Kindern
schlagen -- und suchte seinen Blick zu sammeln.

»Geht weg!« rief Ruth. Die Kinder drängten sich abseits zusammen. Eine
Dame und der Betrunkene! Ungeheuer interessierte es sie. In der
abenteuerlichen Vorstadt aufgewachsen, waren sie an die sonderbarsten
Vorfälle gewöhnt.

»Ich möchte Sie einiges fragen!« begann Ruth.

»Gerne -- stets bereit!« Herr Herbst schwang den Hut und schwankte
erschrocken rückwärts. Er hatte Ruth sofort erkannt, und obschon er
betrunken war, war ihm doch ihr verändertes Wesen aufgefallen. Ihre
Stimme klang nicht mehr sanft und freundlich wie früher -- hart,
unbarmherzig. Ja, nun war sie also gekommen . . .

»Nein, nicht gesehen -- nur gehört«, stammelte er erbleichend, während
sein Blick flatterte. »Geschossen? Ja, geschossen! Ich hörte es.
Weshalb, weiß ich nicht.«

Ja, weshalb hatte man wohl geschossen? Der Soldat schoß, weil man auf
ihn schoß, wenn er nicht schoß. Vom Höchsten bis zum Niedrigsten drohte
hinter jedermann in dieser Zeit ein Gewehrlauf.

»Und Sie können mir nicht sagen --?«

Die Gruppe der Kinder stand immer noch neugierig abseits. Die Dame und
der Betrunkene, der hin und her schwankte und wahrscheinlich bald einige
Backpfeifen erhalten würde -- es war ungeheuer interessant.

»Sie meinen?«

Der Havelock hob die kleinen, schmutzigen Hände gegen die Hutkrempe,
einer Ohnmacht nahe.

»Es muß doch jemand die Polizei aufmerksam gemacht haben, nicht wahr?«
Ruth schrie ganz laut.

Welch eine deutliche, furchtbare Frage!

Der Havelock taumelte. Er kratzte die grauen Bartstoppeln, sein kleines,
bleiches Gesicht zuckt. Dann hob er den steifen Hut in die Höhe und
machte eine Bewegung, als wolle er zu tanzen beginnen, und plötzlich --
plötzlich fiel er in die Knie.

»Ich, ich!« rief er, krächzte er, den Hut in der Hand und nickte. »Ich!«

»Sie --?«

»Ja, ich! Ich!« Er rutschte auf den Knien näher und senkte voller
Zerknirschung den kleinen, bleichen Kahlkopf. Die Kinder lachten.

»Ja, ich, Gott sei mir gnädig!«

»Sie --!? Weshalb nur --?«

»Weshalb? Ja, ja --«

»Was hatte er Ihnen getan? Er?«

»Weshalb? Unerklärlich -- wie alles in dieser Welt. Wie alles -- völlig
unerklärlich -- ich liebe Sie ja, meine Dame, wie meine Tochter --«

»Hüten Sie sich!« Nun wird sie ihn an den Ohren packen, dachten die
Kinder erwartungsvoll.

»Wie meine Tochter -- unerklärlich!« schluchzte Herr Herbst, und der Hut
entfiel ihm. »Ich bin ein Verkommener.«

Die Kinder kreischten und klatschten in die Hände.

»Stehen Sie doch auf!« schrie Ruth. »Stehen Sie doch auf!« Und sie
schrie so laut, daß Herr Herbst sich tatsächlich taumelnd aufrichtete.
»Was Sie sind, das sehe ich ja. Ein Verkommener, sehr wahr, völlig
verkommen --«

»Ja, ja, ja!« Herr Herbst hob beschwörend die Hände. »Aber ich war nicht
immer wie heute, meine Dame. Mein Sohn ist gefallen, seine Mutter
. . .«

»Aber wissen Sie denn, was Sie getan haben?« unterbrach ihn Ruth außer
sich. »Wissen Sie es denn? Wissen Sie denn, wen Sie verraten haben? Sie
Judas Ischarioth?«

Bei dieser Schmähung prallte Herbst zurück.

»Wissen Sie es denn? Er war Jesus Christus, der wiedergekommen war, um
die Menschheit zu erlösen! Ja, das war er! Sie wußten es nicht!«

»Jesus Christus!«

»Und Sie -- ein Säufer --!«

Namenloser Schreck spiegelte sich in den kleinen, halbblinden
Trinkeraugen. Er glaubte, was Ruth, bleich und rasend, schrie -- und
auch Ruth glaubte es im Paroxysmus des Schmerzes.

Rasch wandte sie sich ab und eilte fort. Eingeschüchtert sah das
Häuflein der zerlumpten Kinder ihr nach. Sie waren verstummt, weil sie
sahen, daß die Dame, die mit diesem komischen Betrunkenen zankte,
plötzlich weinte.

»Sie haben ihn getötet -- aber er ist unsterblich! Ein Prophet, ein
Seher, ein Heiliger war er!«

»Sie haben ihn getötet -- aber er ist unsterblich!« rief Ruth vor sich
hin, und die Tränen stürzten über ihr bleiches, verklärtes Gesicht.

Selbst als sie in belebtere Straßen kam, rief sie ganz laut und
unaufhörlich die gleichen Worte.

Aber niemand beachtete sie sonderlich: man war es nachgerade gewöhnt,
daß Menschen vor sich hin sprachen und weinten.


5

Horch!

Das Feuer rollte.

Sie zerrissen die Eingeweide der Erde. Tag und Nacht wühlten
schweißüberströmte Leiber in den finstern Stollen der Tiefe, ohne Pause
klirrten die Förderkörbe in allen Erdteilen auf und ab. Die Hochöfen
spien Feuer über den Kontinenten, Ströme von flüssigem Metall flossen in
die Formen: Geschütze, Granaten.

Sie zerrissen ihre Gehirne. Die Ingenieure und Chemiker schliefen nicht
mehr, neue Maschinen, neue Sprengstoffe und Gase, immer fürchterlicher.
Hunderte von Millionen sannen nur Vernichtung, brüteten nur Tod: die
Völker der Erde waren Mördervölker geworden.

Tag und Nacht peitschten die Schrauben der Schiffe das Meer -- vorwärts!
Tag und Nacht flogen die Züge durch Europa, vorwärts. Das Meer zittert
und die Erde erbebt. Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde,
die Schätze der Welt. Sie hatten alle das gleiche Ziel.

Die Wolke!

Dort, dort, wo Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde, die
Schätze der Welt, zu Staub zermalmt werden -- dort . . .

Schon färben sich die Flüsse rot, und auf den Meeren treiben Inseln von
Leichen. Frankreich verwandelt sich in eine Wüste, Deutschland in einen
Friedhof, die Welt in ein Lazarett.

Vorwärts, Soldaten! es soll sich entscheiden -- die Kanonen sollen die
Probleme lösen.

Die graue Limousine raste durch die glühenden Straßen Berlins.
Konferenzen, Besprechungen. Schwerdtfeger wischte sich den Schweiß vom
schmutzigen Gesicht. Auch er war um seinen Urlaub gekommen, aber
schließlich war er nichts als ein Chauffeur und konnte Gott auf den
Knien danken, daß er nicht da draußen fahren mußte, wo die Landstraßen
sich öffnen und Feuer speien.

Die graue Limousine raste über die Linden. Müde und abgespannt blickte
der General mit halbgeschlossenen Augen auf die Straße und gähnte.

Plötzlich galoppierte ein Berittener über den Reitweg, die Fußgänger
blieben wie auf Kommando stehen und gafften.

Der General setzte sich mit einem Ruck aufrecht.

Unerhört!

Am hellichten Tage! Unter den Linden!

Niemals hätte man so etwas für möglich gehalten.

Ein paar Dutzend junger Burschen und Mädchen, hundert vielleicht, nicht
mehr, eilten die Linden entlang und schrien. Eine Spritzwelle von
Menschen, die über die Linden fegte, nichts sonst. War es nicht
unerhört, daß jemand Unter den Linden schrie und die öffentliche
Aufmerksamkeit auf sich lenkte?

Der General rückte unruhig auf dem Sitz und blickte voller Empörung zum
Fenster hinaus. Aber in diesem Augenblick hoben sich die Fäuste der
jungen Burschen und Mädchen gegen ihn und schüttelten sich. Fassungslos
zog er den Kopf zurück. Ja, was geschah, was ging hier vor? Sie schrien
ein Wort, immer das gleiche Wort -- er verstand es nicht. Er wagte nicht
zu glauben, daß sie jenes Wort riefen -- es ist unmöglich!

Oben beim Schloß aber wurde er plötzlich ernst. Ah, seht an! Eine Kette
von Schutzleuten sperrte den Weg. Ein junger Bursche machte den Versuch
-- schon blitzte ein Säbel durch die Luft. Da lag er.

»Schlagt sie nieder!« schrie der General, purpurrot das Gesicht.

Und die Regierung?

Wütend lachte der General, wütend gegen Schwerdtfegers gekrümmten
Rücken.

Die Regierung?

Sie schläft.

Die Gaffer auf den Bürgersteigen bewegen sich wieder. Die Spritzwelle
hat sich verlaufen. Nichts ist geschehen.

Die graue Limousine raste weiter: Konferenzen, Besprechungen. Reserven!
Nachschub! Verpflegung! Munition! Pferde! Sitzung über Sitzung -- --

Vorwärts, Soldaten!

Die Schlacht brüllt, die Geschütze stampfen, kämpft, sterbt!

Schon runzelt der Divisionär am Telephon die Stirn, der Kommandeur
erbleicht am Scherenfernrohr: der Angriff am rechten Flügel stockt!
Vorwärts, Artillerie, wenn es sein muß, die eigene Artillerie soll euch
vorwärts treiben, wartet!

Kämpft, sterbt! Die Augen der ganzen Welt sind auf euch gerichtet.

Schon zittert die Börse, die Papiere fallen. Ihr werdet doch nicht, ihr
geliebten Helden? Ja, Helden! Drei Mark, drei Franken, drei Schillinge
und drei Dollar am Tage, Auszeichnungen, Triumphbögen, künstliche
Gliedmaßen -- ihr kennt doch unsere Tarife? Ihr werdet doch nicht --?
Kali, Kohlen, Kolonien . . .

Der Börsentelegraph tickt, Tag und Nacht, schon ist er erregt worden, es
bröckelt irgendwo ab, es knistert, er tickt, ah, dieses entsetzlich
erregte Ticken, ihr könnt es leider nicht hören im Kanonendonner, die
Börsen von Berlin, London, Paris, Rom, Neuyork -- schon hat sich ein
Bankrotteur eine Kugel in den Kopf geschossen -- und ihr zögert?

Die Kaiser und Könige träumen vom Einzug in die jubelnde Hauptstadt, die
Präsidenten träumen von dem Moment, da sie den glänzenden Seidenhut
hochheben, umbraust vom Beifallsklatschen.

Die Landesfürstin, höchsteigenhändig, die Gemahlin des Herrn
Präsidenten, höchsteigenhändig, wird euch die kleine Blechmünze auf die
zerschossene Brust heften --

Vorwärts, ihr Geliebten, ihr Herrlichen, Unvergleichlichen!

Die Greise, die die Geschicke dieser Welt lenken, hüsteln hinter den
gepolsterten Türen in ihre kalten wächsernen Hände. Sie sitzen an langen
polierten Tischen, mit rosaroten Kinderbäckchen, trommeln mit den
Fingernägeln, ungeduldig -- die Sekretäre, ohne Tadel, schleichen auf
den Zehenspitzen über das glänzende Parkett. Die Greise kritzeln mit der
Feder, werfen gebieterische Blicke.

Jedes Wort, das sie sprechen, bedeutet Tod, jeder Federstrich, jedes
Lächeln -- Tod, Tod -- sie aber leben.

Seit Monaten, seit Jahren, flimmert himmelhoch die Staubwolke über der
Walstatt, es regnet schwarzes Blut -- die apokalyptischen Reiter ziehen
über den Wolken dahin und gießen ihre Schalen aus über Europa. Gewogen,
gewogen und zu leicht befunden! Die Feuerschrift der Geschütze flammt am
verfinsterten Firmament.

Soeben ist das Kabinett der Greise zu einer neuen feierlichen Konferenz
zusammengetreten.

                   *       *       *       *       *

Reserven!

Die Hände des Generals zittern. Erregt wirft er die Telegramme auf den
Schreibtisch zurück. Fieberröte flammt über sein Gesicht.

Schon vor zwei Jahren hatte er eine Denkschrift eingereicht, und erst
kürzlich war er wieder darauf zurückgekommen. Er hatte den Vorschlag
einer Patriotin aufgegriffen, zwei Millionen Frauen in die Armee
einzustellen, für Wachtdienst, Etappe, Bureau. Zwei Millionen, zehn
Millionen, wenn man wollte! Aus den kräftigsten Frauen hätten sich auch
Kampfbataillone aufstellen lassen, ohne Frage. Die Frauen hätten
vorzügliches Material abgegeben. (Der General war gewohnt »Material« zu
sagen, wie alle Militärs.) Auch die Frauen, ohne jeden Zweifel, hätten
ihre Leiber voller Begeisterung den Kanonen entgegengeworfen!

Seine Denkschrift -- sie verstaubte irgendwo, mit abfälligen
Randbemerkungen versehen. Man hatte seinen Rat nicht beachtet -- wie man
Ratschläge überhaupt nicht zu beachten beliebte. Man wußte alles selbst,
wußte alles besser.

»Ich klingle bereits das zweitemal und Sie kommen nicht!« sagte der
General mit gerunzelter Stirn zu Weißbach.

»Es hat nur das einemal geklingelt, Herr General«, versicherte der
Adjutant.

Der General erhob sich -- sein Auge wuchs.

»Ach, nun fangen auch Sie an zu widersprechen.«

Der Adjutant schwieg und stand still. Seine Miene war bleich. Der
General streifte ihn mit einem Blick. »Nun sind auch Sie beleidigt,
Weißbach«, sagte er einlenkend. »Es fehlte noch, daß auch Sie beleidigt
sind.« Der Blick des Adjutanten strahlte Vergebung.

Mit zitternden Händen ging der General hin und her. Dann blieb er vor
Weißbach stehen und sagte ruhig: »Rufen Sie sofort alle Herren
telegraphisch aus dem Urlaub zurück! -- Wir müssen unsere Anstrengungen
_verdoppeln_!« fügte er schreiend hinzu.

Reserven? Als ob nicht alles Grenzen hätte. Und welchen Ton sie
neuerdings beliebten? Man hatte alles, was nicht umfiel, eingezogen,
hatte die Lazarette ausgefegt, Fiebernde aus den Betten gerissen, vom
Operationstisch hatte man die Leute fortgenommen, ohne jede Rücksicht.

Und Reserven?

Ja, es gab einfach keine Reserven mehr, das allein war die Wahrheit!

Das Telephon schrillte . . .

Im gleichen Augenblick wurde es draußen stockfinster, und ein
knatternder Donner sprang mit teuflischem Gelächter über das Dächermeer
von Berlin dahin. Gott sei Dank; die Hitze war unerträglich geworden.


6

Über den Potsdamer Platz schwang sich an Krücken ein Krüppel. Er
berührte nur mit der rechten Fußspitze den Boden. Ein kleiner fahler
Schatten schwang unter ihm.

Alle Passanten, wenige, sehr wenige, zertraten unter ihren Füßen einen
ebenso fahlen, zusammengeballten Schatten. Es war Mittagszeit, der
Himmel war mit einem Dunstschleier bedeckt, durch den die Sonne
blendete. Welche Hitze?

Der Krüppel schwang sich die Leipziger Straße hinauf.

Auch diese Straße war leer! Wenige Menschen, leere Straßenbahnen. Berlin
war wie ein Friedhof, den nur dann und wann ein Grüppchen von
Hinterbliebenen besucht.

»Ja, ein richtiger Friedhof!« sagte der Krüppel.

Die wenigen Menschen schlichen, den Blick zu Boden gesenkt, dahin,
scheu, ängstlich. Mit zitternden Händen griffen sie nach den
Mittagszeitungen, warfen einen Blick hinein, falteten sie mutlos
zusammen.

Krieg, Hunger, Tod -- Tod, Hunger, Krieg . . .

Vor wenigen Wochen noch hatte die Hoffnung die Stadt neu belebt. Die
feindlichen Reserven waren aufgerieben, England stand vor dem Abgrund.
Ja, was blieb also noch viel zu tun übrig? Die Zeitungen schrieben es,
ein Minister sogar verkündete es -- nun schien aber doch nicht alles in
Ordnung zu sein.

Wie Berlin vor Wochen gejubelt hatte, Tausende von Gefangenen, Hunderte
von Geschützen, so jubelten jetzt Paris, London, Neuyork. Berlin aber
war still geworden.

Ein Friedhof bei Tag, ein Friedhof bei Nacht. In den Nächten war häufig
ein Donnern in der Stadt zu hören, ein Grollen, und die Schläfer fuhren
erschrocken in die Höhe -- horch!

Der Krüppel schwang sich an seinen Krücken die Wilhelmstraße hinauf.
Hier, bei den Regierungsgebäuden, war es noch stiller. Kein Mensch. Nur
ein Hund ging, mit Verlaub zu sagen, von Eckstein zu Eckstein.

Der Krüppel bog in die Linden ein und näherte sich der grauen Limousine,
die vor Stifters Diele stand. Er strich neugierig um den Wagen herum.
Schwerdtfeger saß im Schatten des Autos auf dem Bürgersteig und nahm wie
gewöhnlich sein Mittagessen ein, ein Stück Brot mit etwas Käse, weiter
reichte es nicht. Wie alle Soldaten erhielt er zwei Mark dreiunddreißig
Pfennige am Tage und zwei Mark Verpflegungsgelder dazu.

Augenblicklich sprang Schwerdtfeger auf und nahm Haltung an. Der Krüppel
war Offizier, Schwerdtfeger hatte ihn früher schon einmal gesehen. Ja,
wie ein Gymnasiast, mit schneeweißen Haaren, großen, fiebernden Augen
und kreidigem Gesicht, das unaufhörlich zuckte.

Der Krüppel schwang sich in Stifters Diele.

Hier, in einer halbdüstern Nische des vornehmen Restaurants, sah er ein
erdiges Gesicht mit schwarzen Augenhöhlen und einem Blick, der brannte,
ohne etwas zu sehen.

Auch Stifters Diele war fast leer.

»Ist es erlaubt?« fragte der Krüppel.

Das erdige Gesicht mit den schwarzen Augenhöhlen kam in Erschütterung,
aufs tiefste erschrocken, die brennenden Augen, die nichts sahen,
glitten prüfend über das Gesicht, das ohne Pause zuckte, über das
schneeweiße Haar dieses Gymnasiastenkopfes.

»Ich hatte die Ehre --« Das zuckende Gesicht versuchte zu lächeln.

Da sah der General, daß es Hauptmann Wunderlich war.

»Ist es möglich? Es ist so dunkel hier. Bitte Platz zu nehmen -- bitte
mir die Freude zu machen, mein Gast zu sein, Hauptmann Wunderlich.«

Hauptmann Wunderlich lehnte die Krückstöcke an die Wand und zog sich an
den Armlehnen des Sessels in die Höhe. Nie hatte der General die Krücken
Wunderlichs erblicken können, ohne ihn ganz im geheimen um sie zu
beneiden.

»Also in Berlin?«

»Ja. -- Ich bin fertig!«

»Fertig?«

Wunderlichs Gesicht zuckte. Der Blick seiner großen Knabenaugen
fieberte.

»Die Nerven«, sagte er. »Fertig! Leider, aber nicht zu ändern.
Zusammengebrochen!« --

Aber, seht an, auch die Hände des Generals zitterten, und es schien, als
ob es dem General Schwierigkeit bereitete, zu sprechen, er stammelte,
stotterte, suchte nach Worten. Wo war die wunderbare Ruhe und Sicherheit
des Generals hingekommen?

»Also nicht zufrieden mit den Nerven? Auf Urlaub?« Der General füllte
mit zitternder Hand Wunderlichs Glas. »Auch hier in Berlin sind wir --
überarbeitet, dazu die Hitze. Und an der Front?«

Flüstern.

»Scharen von Fliegern! Kämpfe in drei Etagen -- in zwei-, drei- und
viertausend Meter Höhe -- für eine abgeschossene Maschine zehn neue --
Kämpfe auch in der Nacht --«

»Auch in der Nacht?«

»Und Bombengeschwader -- in jeder Stunde der Nacht -- keine Ruhe mehr in
den Quartieren und Lagern -- kein Schlaf . . .«

»Hm.«

Der Kellner servierte.

Mit verzerrtem Gesicht berichtete Wunderlich. Er murmelte, damit niemand
in der Diele ihn hören konnte.

»-- allein fünfzigtausend Mann durch Gefangennahme verloren in drei
Tagen, fünfhundert schwere Geschütze --«

»Ich weiß, weiß.«

Flüstern.

»-- die Lazarette ohne Leinen, die armen Kerle in ihren schmutzigen
Uniformen -- Papierverbände, nackt begraben . . . Pferdefleisch --«

»Pferdefleisch?«

»-- erst die Zunge, jeder ein Stück, mit dem Messer -- in einer Minute
liegt nur noch das Skelett des Pferdes da --«

»Hm.«

»-- und die Pferde fallen zu Hunderten, Tausenden. Ohne jede Kraft --«

»-- und Gelbkreuz, Blaukreuz?«

»Keine besonderen feindlichen Verluste. Man findet die Batterien
verlassen. Aber dahinter stehen neue.«

»Und der -- Geist der Truppe?«

»Herrlich -- wunderbar, wie immer. Kämpfen bis zur Erschöpfung. Ohne
ordentliche Verpflegung, seit Wochen ohne Ablösung . . .«

»Einzelne Divisionen nur noch Stäbe -- Feldküchen, Kraftfahrer . . .«

Flüstern. Raunen. Der General setzt den Kneifer auf und blickt
argwöhnisch aus der Nische. Überall Lauscher. Wenn der Feind _das_
erführe --!

»Eineinhalb Millionen amerikanischer Truppen --«

Plötzlich zieht der General die Uhr und erhebt sich rasch. Seine Hände
sind eisig kalt. Er schwankt beim Hinausgehen.

Und die graue Limousine rast durch die glühenden Straßen: Sitzungen,
Konferenzen . . .

                   *       *       *       *       *

Geschrei . . .

Geschrei in den Wolken. Verflucht die Welt, verflucht die Erde!
Verflucht Könige, Präsidenten und Minister. Verflucht!

Betrogen um unser Leben, geopfert dem Wahnsinn!

Die Millionen der Gefallenen, Geschlachteten, Millionen und abermals
Millionen, fahren über Europa dahin, in ihren armseligen Lumpen,
zerfetzt ihre Leiber und schreien. Sie verdunkeln den Himmel.

Betrogen, betrogen!

Fluch auf euch!

Aber die Front donnert, und unendlich steht die Staubwolke über der
Walstatt.

Nun fällt der Tau, die Nacht sinkt herab. Der Horizont funkelt, Feuer
loht über das Gewölk, die Geschütze brüllen. Riesengroß steht Ackermanns
Geist über dem Schlachtfeld, und lauter als die Geschütze schallt seine
Stimme.

»Völker der Erde -- Söhne von Müttern -- Brüder . . .«

Furchtbar fauchen die Granaten um ihn. In seinem weiten grauen Mantel
steht er, die Hände erhoben, seine Augen sind sprühende Sterne. Stahl,
Feuer, Gase? Was wollen sie noch von ihm? Lauter als die krachenden
Granaten tönt sein Ruf.

»Brüder!«

Und die schweißbedeckten Soldaten in den Laufgräben, Erdlöchern,
Batteriestellungen lauschen. Welche Stimme?

Ackermanns Geist trägt die Verwundeten über das Schlachtfeld, fällt den
Rasenden in den Arm, die den hilflosen Gegner niederschlagen wollen,
führt die Hand des Arztes, der den blutenden Feind verbindet. Ackermanns
Geist berührt die Toten, die mit offenen Augen liegen, Deutsche,
Franzosen, Inder, Amerikaner, Engländer, Neger, Kanadier, Australier,
und spricht: ihr alle werdet auferstehen am Tag der Versöhnung, ihr
Heiligen und Märtyrer!

Ackermanns Geist erfüllt die finstere Wolke, die über der Walstatt bis
zu den Sternen lodert, und schon -- schon dämpft sich der Lärm der
Geschütze. Schon schweigen sie . . .

Aber die Greise, die einen leisen Schlaf haben, fahren erschrocken auf
in ihren Betten, lauschen und drücken auf die Klingel.

Wiederum beginnen die Geschütze fürchterlich zu toben.

Die Menschen lieben Macht und Glanz, wie Kinder. Leicht sind die Völker
zu verführen -- aber wehe denen, die sie verführen!


7

Nein, es ging nicht mehr! An einem Sonntagnachmittag schickte der
General den Wagen wieder fort. Es geschah zum ersten Male seit Monaten.
Vor Erschöpfung sank er um. Augenblicklich fiel er in Schlaf, und er
schlief, röchelnd und stöhnend, den ganzen Nachmittag bis in den Abend
hinein.

Als er wieder erwachte, war das Zimmer voll schwerer Dunkelheit.
Verstört fuhr er auf. Sein Kopf war dumpf, glühendheiß. Der Schweiß rann
über sein Gesicht.

Zehn Uhr! Sollte man es für möglich halten? Sieben volle Stunden hatte
er geschlafen! Ein Unbehagen war aus dem Schlaf in ihm zurückgeblieben
-- etwas Schweres, Bleischweres -- was war es doch? Hatte er geträumt?
Das Haus war heiß wie ein Backofen, unerträglich. Er machte sich rasch
zum Ausgehen fertig.

Auf der Treppe stockte plötzlich sein Schritt. Die Stiefelspitze zuckte
zurück, als habe er auf der Stufe irgendein ekelhaftes Insekt bemerkt.
Ja, ein häßlicher Traum, in der Tat, widerwärtig! Das Siegesgespann auf
dem Brandenburger Tor -- es war herabgestürzt, und sein Auto war von dem
Trümmerhaufen, den Gaffer umstanden, aufgehalten worden. Welch ein Chaos
und diese aus den Trümmern vorstehenden Pferdebeine! Und der
Trümmerhaufe hatte sonderbarerweise fast den ganzen Pariser Platz
bedeckt, ein förmlicher Berg --

Auf der Straße war die Luft herrlich und erfrischend -- schon etwas
herbstlich. Es mußte kurz vorher geregnet haben, das Pflaster war noch
feucht. Über den Tiergarten flog rasch der Mond dahin, umwirbelt von
kleinen Wolken, wie in einem Schneegestöber. Eine Droschke, ein paar
Spaziergänger, tiefe Ruhe.

Der General ging langsam dahin und atmete die Frische des Abends ein.
Bald hatte er auch das Unbehagen überwunden, das aus dem widerwärtigen
Traume zurückgeblieben war. Er fühlte sich durch den langen Schlaf
erfrischt, die abgehetzten Nerven waren ruhiger geworden. Die Gedanken
gehorchten.

Er nickte vor sich hin. Klar stand es vor seinen Blicken, unheimlich
klar, erschreckend klar. Es war gar nicht erst nötig, daß dieser
Wunderlich kam und ihm noch diese fürchterlichen Fingerzeige gab. Nein.
Er blieb stehen.

»Napoleon hatte wenigstens den Winter als Entschuldigung für sich«,
raunte er vor sich hin, voller Verachtung.

Nun ging er wieder einige Schritte und nickte: »Sie lassen sich schlagen
-- regelrecht schlagen!« Ja, das war es.

Hatte er nicht immer gewarnt?

Diese ganze Offensive -- glatter Wahnwitz! Unvermeidlich große Verluste,
eine unsinnige Verlängerung der Front -- keines der strategischen Ziele
erreicht, der Angriff immer mehr nach Süden abgeglitten. Der Durchstoß
zum Meer, die Abdrosselung der englischen Armee -- alles mißglückt. Und
was hatten sie, die Frage war wohl erlaubt, abermals an der Marne zu
suchen gehabt? Eine Riesenausbuchtung der Front, gespeist von einer
einzigen schwachen Bahnlinie. Wie? Weshalb? Unverständlich!

Aber selbst wenn diese verfehlte Offensive gelungen wäre, angenommen --
was dann? Sie hatten ja nichts mehr in der Hand -- nichts mehr, um den
Erfolg auszuwerten. Die andern dagegen: Amerikas unerschöpfliches
Reservoir an lebendem und totem Material, kaum angebrochen --

»Ja, schlagen, diese Gottähnlichen --!«

Würde man ihm heute ein Frontkommando anbieten -- danke, danke ergebenst
. . .

War er nicht immer dafür eingetreten, zurückzugehen auf befestigte
Stellungen, zur Maas, zum Rhein, wenn es sein mußte, und den Feind
anlaufen zu lassen? Millionen hätten sie noch opfern müssen! Jahrelang
konnte man sich halten, und eine ungeheure Manövrierarmee war frei für
politisch-militärische Aktionen in Italien, Mazedonien, der Türkei.

Plötzlich aber blieb der General verwundert stehen:

Licht? Bei Dora Licht?

In seine Gedanken versunken, war er bis zur roten Backsteinvilla
gegangen, ohne jede Absicht.

Er sollte den heutigen Abend eigentlich bei Dora verbringen, aber sie
hatte ihm gestern abgeschrieben, da sie aufs Land reisen wollte.

Erfreut, Dora zu Hause zu wissen, trat er ein. Seine Sorgen, die
Gedanken, die ihn folterten, das Gefühl der Einsamkeit, das ihn marterte
in letzter Zeit --

Die Haustüre stand offen. Niemand war in der Diele, das Licht brannte.

»Petersen!«

Aber niemand kam. Stille.

Aus der oberen Etage, die dunkel lag, klang ein sonderbarer Ton. Wie das
Klagen eines Vogels, der immer den gleichen hilflosen, wehmütigen Schrei
ausstößt, ein gefangener Vogel, der den Tod fühlt und nur noch einen
Klagelaut hervorbringen kann. Eine Geige. Es war Hauptmann v. Dönhoff,
der zurzeit hier Wohnung genommen hatte -- bis er etwas Geeignetes fand.
Zweihundert schöne Frauen, zwei Elefanten und ein Nashorn -- und jetzt
trug er also eine schwarze Brille und fing an, die Geige zu lernen. Er
übte von früh bis nachts.

Der General legte ab und öffnete die Türe, die zum Zeltzimmer führte.

Auch in dem kleinen Vorraum brannte Licht. Der verzückte Heilige in
seinem zinnoberroten Rock schwang mit rasender Gebärde sein Buch -- ein
blinder Spiegel -- der General schlug den Vorhang zur Seite -- auch im
Zeltzimmer war Licht, die blaue Deckenampel brannte. Aber niemand war zu
sehen.

Da hörte er Doras Lachen und eine Männerstimme.

Er schrak zusammen. Hatte sie Gäste? Wer war hier? Es war wohl besser,
wieder hinauszugehen und Petersen zu suchen. Vielleicht war er im
Garten? Ja, wo war er eigentlich, dieser Petersen, das Haus offen, jeder
Einbrecher konnte hereinkommen.

Fern, ganz fern klang das monotone Klagen des unglücklichen, gemarterten
Vogels, der seinen Schmerz in dem ewig gleichen Ton ausdrückte.

Der General war verwirrt. Es fiel ihm schwer, einen Entschluß zu fassen.
Schließlich -- hatte Dora Geheimnisse vor ihm? Plötzlich erinnerte er
sich all der kleinen Widersprüche, der unbedeutenden, gänzlich
unbedeutenden Begebenheiten, die ihn zuweilen, besonders in letzter Zeit
beunruhigt hatten. Sie war also nicht auf dem Lande, und doch schrieb
sie --

Ja, schwer einen Entschluß zu fassen. Wie viele Gäste mochten es sein?

Er roch den Duft von brennendem Reisig. Dora liebte es, mit Feuer zu
tändeln und Reisig und Tannenwedel im Kamin zu verbrennen.

Schweigen da drinnen. Das Feuer knisterte -- der Feuerschein flackerte
über den Boden, und der Vogel klagte in der Ferne.

Der General wandte sich zum Gehen -- aber da, gerade in dem Augenblicke,
da er den Fuß rückte, um hinauszugehen und Petersen zu suchen -- gerade
in diesem Augenblick fesselte etwas seine Aufmerksamkeit im höchsten
Maße: in der lichten Spalte des Vorhangs, neben dem bauschigen schwarzen
Kissen, das auf dem Teppich drinnen lag -- erschien ein himbeerfarbener
kleiner Seidenpantoffel.

Er hypnotisierte den General. Dieser kleine Seidenpantoffel bewegte
sich, als sei er lebendig -- ein Fuß wurde sichtbar, ein Knöchel . . .
trug sie fleischfarbene Seidenstrümpfe, oder was war es?

Nun erschien eine Hand, eine volle, gepflegte Hand, Doras Hand, und
diese Hand warf mit einem kleinen Schwung eine angerauchte Zigarette in
die Richtung des Kamins. Wieder bewegte sich der kleine himbeerfarbene
Seidenpantoffel. Der Saum eines hellroten durchsichtigen Gewandes wurde
sichtbar --

»Das ist ganz unmöglich!« sagte Dora laut und offenbar etwas ärgerlich.
»Ich bitte dich, gewisse Rücksichten --«

»Rücksichten?« lachte eine Männerstimme. »Es ist töricht, ewig
Rücksichten zu nehmen, Dora!«

Diese Stimme! Der General erbleichte.

Da knurrte ein Hündchen. Butzi, der Griffon, war erwacht und knurrte.

»Schweig!« sagte Dora.

Aber Butzi schwieg nicht. Im Gegenteil, er begann plötzlich mit heller
Stimme wütend zu kläffen.

Der himbeerrote Seidenschuh verschwand.

»Ist jemand da? Komm, Butzi, Liebling.«

»Wer soll da sein?«

Der General wich zurück. Er war wie gelähmt. Aber trotzdem wich er
zurück. Doch schon war es zu spät. Jemand stand auf, ein Schritt näherte
sich, lautlos --

                   *       *       *       *       *

Ja, es war zu spät! Der lautlose Schritt war nun ganz nahe. Und eine
Hand raffte den Vorhang auf.

Der General wich noch einen Schritt rückwärts, soweit ihn seine
gelähmten Glieder trugen. Er rang nach Luft, die Uniform schnürte seine
Brust ein -- plötzlich hörte die Geige in der Ferne auf zu klagen.

Im Vorhang erschien --

Ja, was erschien da?

Es erschien eine, hochaufgerichtet, eine im ersten Moment übersinnliche
Erscheinung, gleißend wie Luzifer. Ein orientalischer Priester, wenn man
will, in einem gleißenden, feuergelben Gewand, über das grellrote
Drachen züngelten. Mit bleichen Armen und einem bleichen bläulichen
Gesicht mit schneeweißen Augen. Hochaufgerichtet. Otto.

Luft -- der General faßte sich. Er hatte die Stimme ja sofort erkannt.
Auch er richtete sich auf, wuchs in die Höhe und blickte in diese
schneeweißen Augen.

Es waren die Augen seines Sohnes, mehr noch, es waren die hellen Augen
der Hecht-Babenberg.

Diese Augen waren im ersten Augenblick erschrocken, sofort aber sammelte
sich der Blick in ihnen. Sie wuchsen, und ein kalter Glanz stieg aus
ihrer Tiefe.

Diese Augen sprachen, und er verstand ganz deutlich, was sie sagten! Sie
glänzten verächtlich.

Du?

Du hier? Seht an! Du lauschst? Du spionierst? Ei, seht an!

Sehr interessant. Soll ich dich bei Dora anmelden?

Nun aber wurde der Glanz härter, kälter, eisig.

Gut! Nun weißt du es! Was willst du noch? Gehe!

Ja, gehe! sagten sie, diese Augen.

Und nun blendeten sie plötzlich.

Du kennst meine Gefühle für dich, oder? -- Du weißt es -- lange, lange!
Ich ziehe die Konsequenzen, wenn du willst -- ich stehe zur Verfügung --
jederzeit . . .

Ja, das sagten also Ottos Augen -- oder täuschte er sich?

Der Vorhang floß über einem nackten Arm zusammen: die Erscheinung war
verschwunden.

»Niemand ist hier!« sagte Otto in gleichmütigem Ton, hinter dem Vorhang,
und Dora rief das Hündchen, das immer noch kläffte, abermals zur Ruhe.

Eine -- zwei -- drei Sekunden lang hatten die beiden Hecht-Babenberg die
Blicke gekreuzt. Nicht länger.

Mit rasender Gebärde schwingt der Heilige im roten Rock sein Buch. Durch
den blinden Spiegel gleitet ein Gesicht, wie aus Kreide geschnitten.
Jemand tastet sich durch die Diele, eine schwarze Hornbrille auf der
Nase -- richtet einige Sekunden die schwarzen Gläser auf ihn -- oder war
es ein Gespenst?


8

Zur gleichen Stunde ging Ruth die Tiergartenstraße entlang, ihrem Hause
zu. Im Augenblick, da sie in das kleine verstaubte und verwahrloste
Vorgärtchen eintreten wollte -- sie hatte schon die Gittertüre in der
Hand -- rief eine leise Stimme ihren Namen.

Sie hielt inne. Im Schatten der Bäume gegenüber gestikulierte ein
Schatten. Da sie zögerte, trat der Schatten einen Augenblick in den
Lichtschein und winkte.

Ruth erkannte ihn. Zögernd überschritt sie den Fahrdamm. Der Mond flog
dahin, hoch oben, von feinen Schleierwolken umtanzt.

»Sie? Was wünschen Sie von mir?«

»Schon seit Tagen versuche ich, Sie zu treffen. Bitte zu verzeihen. Ich
habe neulich etwas zu sagen vergessen. Bitte, in den Schatten zu treten.
Ich darf mich nicht sehen lassen --«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Vieles ist unverständlich -- aber man hat mich gewarnt -- ein hoher
Herr ist ungehalten über mich. Man hat mir gedroht, mich in ein
Irrenhaus zu sperren, wenn ich mich noch einmal sehen lasse.«

»Ich kann Sie wirklich nicht verstehen!«

»Tut auch nichts zur Sache. Nicht das wollte ich Ihnen sagen. Können wir
ein bißchen weiter -- so, danke -- fürchten Sie nichts. Ich bin ein
alter Mann, habe auch nichts getrunken heute. Mit Absicht. All diese
Tage nicht. Ja, neulich -- ich habe mich geschämt -- aber gerade weil
ich in diesem Zustand war, habe ich etwas zu sagen vergessen -- etwas
sehr Wichtiges.«

»Bitte --!«

»Nicht ich allein also, das wollte ich sagen --«

»Nicht Sie allein --?«

»Nein, nicht ich allein bin der Schuldige.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Warten Sie. Es kommt jemand. Gehen wir ein paar Schritte. So.«

Flüstern im Dunkeln.

»Nicht ich allein also, sondern gleichzeitig -- vielleicht sogar früher,
ich weiß es nicht -- aber es galt gar nicht ihm, sondern Ihnen.«

Flüstern. Plötzlich ein Schrei. Es ist Ruth, die schreit.

»Unmöglich! Unmöglich! Unmöglich!«

»Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein -- gehen wir -- gerade kommt -- so,
ein paar Schritte --«

»Ganz unmöglich!«

»Ich schwöre! Der Agent sagte es mir.«

Flüstern. Raunen. Wieder bewegen sich die Schatten im Dunkel der Bäume
vorwärts.

Plötzlich bleibt Ruth stehen.

»Schwören Sie mir --!«

»Ich schwöre!«

»Schwören Sie mir -- bei Ihrem Sohn, der gefallen ist --«

»Ich schwöre!«

»Beim Andenken Ihrer Frau -- schwören Sie --«

»Ich schwöre!«

»Hören Sie: Sie sollen ewig verflucht sein, wenn Sie lügen --«

»Ewig verflucht soll ich sein --«

Ruth schlägt die Hände vors Gesicht und läuft in die Finsternis des
Parkes hinein. --

                   *       *       *       *       *

Der Mond flog über den finstern Himmel, durch brodelnde Wolken hindurch.
Aber schließlich kam er nicht mehr von der Stelle. Er blieb in einer
pechschwarzen Wolke stecken, und endlich verschwand er vollkommen. Die
Bäume des Tiergartens neigten die Wipfel -- ein Windstoß pfiff über sie
dahin.

In völliger Dunkelheit lag plötzlich die Stadt, schwarz und leblos, wie
der Kadaver eines stachligen Riesentieres, das auf dem Marsch durch die
Rübenfelder und Kartoffeläcker verendet war und faulte. So lag sie zwei,
drei, fünf Minuten, dann aber verschwand sie in einer ungeheuren
Staubwolke, die aus den Straßenschluchten emporschlug. Ein Gewirr von
Blitzen griff nach ihr, umklammerte sie, um sie zu vernichten. Der
Donner knatterte.

Plötzlich begannen die verspäteten Passanten erschrocken dahinzueilen!
Nein, nicht das Wetter war es! Etwas ganz anderes --

Durch die dunkeln Straßenschluchten flatterte -- in unheimlicher Eile --
ein weiter, heller Soldatenmantel. Glänzende Hände, glänzend im Schein
der Blitze, pochten donnernd an die Türen der Häuser: Auf, auf, ihr
Schläfer, die Stunde ist gekommen! Die glänzenden Hände berührten die
Schultern der Dahineilenden, daß sie erbleichten: Zögert nicht länger!
An den schwarzen Scheiben der finstern Häuser fuhr ein glänzendes
Antlitz vorbei: Schon sind sie unterwegs die Boten des neuen Reichs.
Seid bereit!

Da trug der Wirbelwind den flatternden Soldatenmantel in die Höhe, und
die glänzenden Hände, das glänzende Antlitz flogen mit rasender
Schnelligkeit über die Dächer der Stadt dahin.

Was war es? Was für Dinge geschahen in dieser Stadt --?

Nun rauschte der Regen.

Die Schutzleute flüchteten, die Diebe und Einbrecher huschten in
Torbogen -- sonst war niemand mehr auf der Straße.

Ein herrlicher, wunderbarer Regen, kalt, klar, rücksichtslos stürzte aus
dem schwarzen Himmel.

                   *       *       *       *       *

Hauptmann v. Dönhoff stand unter einer Haustüre am Ende der
Lessingallee. Weiter war er nicht gekommen, das Wetter hatte ihn
überrascht.

Hier stand er nun und lauschte glückselig auf das Rauschen des Regens
und das Krachen der Donnerschläge. Ja, ganz wunderbar!

Da -- eine Droschke klapperte dahin.

»He, Kutscher -- hundert Mark für die Fahrt!«

»Heda, Droschke! Droschke, halt!«

Es war wieder nichts. Die Pferdehufe klappten weiter.

»Heda, Droschke! Hundert Mark!«

Ah, endlich hatte er Glück. Die Droschke hielt.

Hauptmann v. Dönhoff, mit der schwarzen Brille auf der Nase, tastete
sich durch den Regen. »Wo sind Sie denn? Ich sehe etwas schlecht.«

»Hier stehe ich!«

Langsam schaukelte die Droschke durch die Sintflut. Dönhoff streckte die
Nase durch das Fenster und schnupperte. Herrlich diese Luft, herrlich
dieser Regen und geradezu berauschend das Knattern des Donners. Endlich
etwas Lärm! Die Straßen waren wie reingefegt. Nur dann und wann das
Klatschen von Pferdehufen und das Rasseln eines eisernen Ungeheuers, das
Dönhoff als ein Auto feststellte.

Endlos war diese Reise in das Bayrische Viertel, aber ein Hochgenuß. Zum
ersten Male verließ er sein Zimmer in der roten Backsteinvilla, wo keine
Seele sich um ihn kümmerte. Frei! Frei! Er zündete sich eine Zigarette
an, verbrannte sich etwas die Nasenspitze, aber das schadete nichts. Wie
eine Reise erschien ihm diese Droschkenfahrt durch das dunkle,
regenrauschende Berlin.

Da hielt die Droschke, und Dönhoff kroch heraus.

»Und nun, mein Freund, eine große Gefälligkeit, da ich schlecht sehe --
klingeln Sie den Portier heraus. Ich möchte zu Fräulein Alexa
Alexandra.«

Alexa Alexandra? Eine Tänzerin, das heißt weniger eine Tänzerin als eine
Dame. Früher war er befreundet mit ihr, er hatte sie gewissermaßen
entdeckt, kreiert. Petersen hatte ihm im Telephonbuch ihre jetzige
Adresse aufgesucht.

Der Kutscher steckte sein Benzinfeuerzeug in Brand, überzeugte sich, daß
die Banknote echt war, und begann den Portier herauszuklingeln.

»Er bekommt ein schweres Trinkgeld -- sagen Sie --«

Und dieser Portier brachte ihn im Lift zu Alexa Alexandra hinauf.

»Bitte, klingeln Sie -- ich sehe schlecht!«

Offenbar hatte Alexa Gesellschaft -- Lachen, Händeklatschen, ein sehr
lauter Phonograph, Stampfen -- das traf sich ausgezeichnet.

Die Türe öffnete sich, und Dönhoff bat der Dame des Hauses zu sagen, daß
»Rinaldo« vor der Tür stände und sie erwarte. »Rinaldo! Sonst nichts!
Sie kennen doch den berühmten Räuberhauptmann? Ich bin es!«

Ah! Dönhoffs Herz pochte -- es hatte nicht so laut gepocht, als die
Granaten einschlugen -- ein Ausruf, ein Schrei! »Rinaldo! Wirklich?« Und
zwei Arme umschlangen Dönhoffs Hals, zwei weiche, gepuderte, duftende
Arme.

»Rinaldo, Lieber, Liebster! Welche Überraschung!«

Aber sofort hatte Alexa herausgefunden, daß diese Sache mit den
schlechten Augen auffallend war, diese entsetzliche schwarze Brille!

Sie schob diese Brille mißtrauisch in die Höhe -- und da waren also, wo
sonst die Augen sind, wo sonst diese Augen waren, sie kannte diese
frechen Augen -- zwei rote Nähte, keine Augen mehr.

Alexa stieß entsetzte Schreie aus. »Mein Gott, was haben sie mit dir
gemacht?«

Sie weinte und stampfte mit den Füßen.

»Ah, diese Schurken!« schrie sie -- und der laute Phonograph spielte
einen Two-step -- »Sie haben ihn blind geschossen!« Und sie drückte ein
paar rasche Küsse auf diese roten Nähte, wo die Augen früher saßen.

»Meine Herrschaften!« -- der Phonograph schwieg -- »Ich stelle Ihnen
hier meinen Freund vor, meinen lieben alten Freund, Baron Dönhoff -- ein
lieber Junge! Er ist blind -- diese Schurken von Franzosen haben ihn
blind geschossen! Er ist der berühmte Herrenreiter Dönhoff. Sie erinnern
sich, meine Herren -- er gewann so viele Rennen -- Kitty, gehe weg --
nun ist er also wieder in Berlin -- ja, hier bist du zu Hause, du lieber
Junge!«

Dönhoff lächelte verlegen. Er schämte sich.

Die Alexa küßte ihn, und er fühlte, wie ihre Tränen seine Wangen näßten.
»Noch etwas -- ladies and gentlemen -- er wünscht nicht, daß man auf ihn
die geringste Rücksicht nimmt. Also weiter!«

Der Phonograph ertönte wieder -- die Füße, die Schuhe schlürften.

Die Alexa führte ihn in eine Ecke zu einer Ottomane. Parfüm, allerlei
Essenzen, der Geruch eines scharfen Punsches, Musik und dicht an ihm
vorbei flatterten die Röcke.

»Ganz ungestört sollst du hier sein, du lieber Junge. Du bist zu Hause
und kannst es dir ruhig bequem machen. Siehst du denn gar nichts mehr?
Nein! Oh, diese elenden Schurken! Hören Sie, Doktor, geben Sie ein Glas
Sekt für Baron Dönhoff -- vielleicht haben Sie Geld gewonnen, als Sie
seinerzeit auf ihn setzten? Er gewann fast immer, ach, das waren Zeiten!
Im ganzen sind fünfzehn Menschen hier, Rinaldo, sechs, sieben Damen. Ich
werde sie dir vorführen. Lola!«

»Hier also, das ist die kleine Lola. Sie ist eine Ungarin eigentlich.
Sie ist ganz schwarz, und ihre Brauen wachsen zusammen. Aber sie ist
eine ganz kühle Person, ganz und gar nicht sinnlich -- oder, Lola? Ja,
so komm doch dicht an ihn heran. Verstehst du mich, er sieht ja nichts,
er ist blind. Sei lieb zu ihm, sei nett -- er ist nett zu mir gewesen,
vor zehn Jahren, als ich noch Verkäuferin war und am Sonnabend in
Halensee tanzte -- ja, fühle nur, die Brauen wachsen tatsächlich
zusammen -- fühle nur -- küsse ihn, Lola, du mußt nett zu ihm sein.«

Und Lola küßte Dönhoff und streichelte ihn.

»Das hier ist Fiffi -- wie nett, sie kniet vor dir. Küsse sie, so! Sie
ist die Freundin dieses kleinen Schwarzen dort, der mit dem Monokel, die
beste Tangotänzerin in Berlin. Sie ist blond, aber ihre Haare sind
gefärbt -- Fiffi -- er sieht doch nicht, er ist blind, ich muß ihm also
alles beschreiben. Sie tanzt wunderbar und hat zwei erste Preise
gewonnen.«

»Und hier, das ist Thea -- sie ist etwas üppig -- aber Thea, er sieht
doch nicht! -- sie hat ganz große blaue Augen und filmt. Du würdest dich
in sie verliebt haben, weil sie so drollig ist. Küsse ihn, Thea, er ist
ein so lieber Junge!«

»Und das hier -- Rolli -- come along! -- Rolli -- ein kleiner Teufel!
Siehst du, sie bringt dir gleich Punsch mit! Sie ist erst achtzehn Jahre
alt, aber schon völlig verdorben. Pfui, Rolli -- beherrsche dich doch!
Aber sie ist sehr süß. Sie hat, nun dir darf ich es ja sagen, eine
kleine Schwäche für Frauen und kennt die Damen der höchsten
Gesellschaft. Ihr Freund ist ein Dichter. Siehst du, sie trinkt an
derselben Stelle des Glases, wo du getrunken hast. Sie will dir zeigen,
wie lieb sie dich hat. Ja, das also ist der berühmte Rinaldo -- nun
entstellt ihn ja diese häßliche Brille etwas, aber man gewöhnt sich ja
rasch!«

»Und das hier -- Reh -- sie heißt Rebekka -- Reh, komm hierher. Siehst
du, sie ist ein Kind. Sie hat Tränen in den Augen. Aber sie ist auch ein
bißchen angetrunken. Reh! Was tust du? Ach, siehst du, sie weint. Küsse
ihn, so, so, küsse ihn. Er sieht ja nicht, man muß nett zu ihm sein.«

»Du siehst, wie sie dich hier verwöhnen. Das ist Blanche, und sie bringt
dir ein Pralinee. Stecke es ihm doch in den Mund! Blanche heiratet
übermorgen, und dann werden wir Tag und Nacht bei ihr tanzen. Sie
heiratet einen Sattler, der im Kriege sieben Millionen verdient hat. Ja,
reizend wird es bei ihr werden. Fühle nur ihre Ringe. Fühle doch. Alles
echte Steine, aber er ist so verschossen in sie. Fühle doch ihre Wangen.
Hast du je so etwas Sanftes gefühlt? Ihr Teint ist herrlich. Fühle ihre
Hüften -- was sagst du? -- Ah, siehst du, Rinaldo --«


9

Allmählich wurden die Donnerschläge schwächer, das Gewitter zog langsam
ab.

Erst nachdem der General ungeduldig wurde und seinen Titel nannte,
erhielt er telephonischen Anschluß. Augenblicklich meldete sich Major
Wolff, der Nachtdienst hatte.

Der General ließ sich Vortrag halten. Wolff las die wichtigsten
Telegramme vor, die wichtigsten Eingänge -- eine volle Stunde sprach der
General am Telephon. Das Gewitter sog an den Drähten, zuweilen klang die
Stimme Wolffs ganz fern und klein. Um jede Kleinigkeit kümmerte sich der
General. Er gab mit kühler, klarer Stimme Anordnungen -- schließlich
aber war alles erledigt. Bitte morgen um einhalb acht um telephonischen
Anruf. Schluß und gute Nacht!

Augenblicklich vertiefte sich der General wieder in die Aktenstücke,
ohne aufzublicken. Ja, nun waren sie alle erledigt. Nochmals
breitete er die große Karte über den Schreibtisch. Staubecken,
Überschwemmungsgelände, natürliche Hindernisse -- es mußte schließlich
noch in letzter Stunde gelingen, den Riesenkörper der Armee rückwärts zu
leiten. Vielleicht verführte ihn der gegenwärtige Zustand seiner Nerven
zu einer allzu pessimistischen Beurteilung der Lage.

Der General war noch in voller Uniform, er hatte sich nicht umgekleidet.
Und immer noch rauschte draußen der Regen.

Auch die strategische Betrachtung war nun abgeschlossen. Er warf noch
eine Anzahl Notizen auf den Block, für morgen. Ja, nun war alles
Dienstliche erledigt.

Ohne jede Unterbrechung, voller Hast, begann der General plötzlich einen
Brief aufs Papier zu werfen.

Während des einstündigen Telephongespräches, während er die strategische
Lage analysierte -- immer hatte er nur an diesen Brief gedacht, um die
Wahrheit zu sagen. Er hatte ihn völlig im Kopfe entworfen, und nun
rasch, rasch, um die Sache zu Ende zu bringen.

Ein Vermögen . . .

Nun -- das war ja schließlich das wenigste!

Aber schon fühlte er Unruhe. Gemurmel in den Ohren, Stimmen, die von
innen heraus kamen, nicht von außen her, und absurde Worte raunten. Sein
Herz schlug, es pochte in der Brust, im Kopf, in den Armen, im Schenkel.
Die Wände klafften, das starre Auge blickte durch die Spalten in die
schwarze Finsternis, leer, tot, kalt und unendlich wie der Raum zwischen
den Sternen. Erschauernd schob er den Schreibtisch weit von sich und
sprang auf.

Licht!

Lauten Schrittes, absichtlich ging er ganz laut, wanderte er durch die
Zimmer. Er sprach abgerissene Worte vor sich hin, lachte mit
geschlossenen Zähnen.

»Wie? Wie? Freundschaft -- Treue -- Glauben -- wie?«

Grau sein Gesicht. Er vermied es, in die Spiegel zu blicken -- aber
doch, ohne es zu wollen, sah er immer wieder ein graues Gesicht durch
die Spiegel wandern. Er schlich dahin, gebeugt, scheu, verfolgt.
Geflüster kroch über die Wände, die toten Dinge begannen sich zu winden,
das Licht blinzelte.

Im Salon hing sein Porträt, gemalt kurz vor dem Kriege. Von einem
Schützling von -- ihr! Aus Gefälligkeit hatte er sich malen lassen, er
gab sonst nichts auf moderne Malerei. Früher war er jahrelang Mitglied
eines Kunstvereins gewesen, dem hoher Adel und Grundbesitz angehörte,
man zahlte zwanzig Mark Jahresbeitrag und erhielt dafür jedes Jahr
irgendein Kunstblatt. Längst war er ausgetreten, aber da sie es
gewünscht hatte --

Die Hände auf das Schwert gestützt, hatte ihn der Künstler dargestellt.
Das Gesicht war kantig, hart, entschlossen. Trotz der angegrauten
Schläfen blühend von Gesundheit und Kraft. Der Blick voller Festigkeit
und Ziel. Vielleicht ein bißchen geschmeichelt das ganze Bild.

Trotzdem, diese letzten vier Jahre waren wie ein Jahrzehnt.

Grau und erdig sah er sein Gesicht durch die Spiegel gleiten, obgleich
er es vermied, hinzusehen. Auch sein Rücken, die Linie seines Rückens --
sie schien ihm gebogen zu sein, obgleich er nicht hinsah, sondern den
Blick abwandte.

Dieselben Hände, die in kraftbewußter Lässigkeit auf dem Schwertknauf
ruhten, sie waren heute die Hände eines alten Mannes. Die Haut hatte
eine fahle Färbung, die Adern auf den Handrücken waren geschwollen.

Ja, kaum war er den Hauptmannsjahren entwachsen -- und schon war er alt!
Und doch sah er sich noch als Leutnant vor sich! Seine für damalige
Verhältnisse etwas stutzerhafte Uniform. Und doch sah er sich noch als
Kadett vor sich, ganz deutlich, mit dem kleinen Seitengewehr und der
altmodischen hohen Mütze.

Seit seinem zehnten Lebensjahre trug der General das farbige Tuch.
Zivilkleidung hatte er nur höchst selten getragen, vielleicht einmal
einen Jagdanzug auf dem Lande.

Mit zehn Jahren war er Kadett, mit achtzehn Leutnant, dann Hauptmann,
dann Major, Oberstleutnant, Oberst, Regimentskommandeur. Im Sturmschritt
hatte er alle Ränge durchlaufen -- aber es schien ihm, als sei er
eigentlich immer der gleiche gewesen, nur mit verschiedenen
Rangabzeichen versehen. Seine Welt, seine Weltanschauung, seine
Auffassung von Dienst, Vorgesetzten, Pflicht, Religion, Vaterland -- sie
hatten sich nicht geändert. Der Leutnant der gleiche wie der General.

Er war eigentlich nie jung gewesen, auch als Kadett nicht, nein. Nie
jung, und schon wurde er alt!

Er drehte im Salon das Licht aus, um nicht mehr das zuversichtliche
kraftstrotzende Gesicht des Offiziers mit den Ordenssternen sehen zu
müssen -- jugendlich trotz der angegrauten Schläfen.

Ja, ja, ja -- keine Beschönigung, Mut! Otto, sein Sohn -- ein Ehrloser!
Er hatte ja seinerzeit im Frühjahr, als diese Geschichte mit der Hand
passierte, sofort gewußt, ja, gewußt, augenblicklich und instinktiv,
worum es sich in Wahrheit handelte! Aber er hatte nicht gewagt, es zu
glauben. Offizier -- ein Hecht-Babenberg -- und doch! Ja, nun wußte er
alles . . .

Der General kehrte wieder zum Schreibtisch zurück.

Ja, ein Vermögen, diese Frau -- in der Tat, Rothwasser . . . Ihre Augen
strahlten Reinheit, Treue, Unschuld. Es gab niemand, dessen Lachen und
Stimme allein ein solches Maß von Vertrauen erweckte! Ihre Offenheit,
ihre kindliche Naivität, ihre Unbefangenheit und Harmlosigkeit,
unmöglich, gänzlich unmöglich -- er hätte die Hand für sie ins Feuer
gelegt.

Daß ihn seine Menschenkenntnis so trügen konnte!

Nein! Er legte die Feder weg. Schweigen, Schweigen -- nichts sonst
. . .

Plötzlich horchte er betroffen auf. Eine Stimme!

Diese Stimme?

Langsam und heiß stieg ihm das Blut in den Kopf. Die Adern an den
Schläfen zuckten.

Ottos Stimme! Er rief nach dem Burschen.

Wollte er ihn herausfordern, der -- Infame? Der General sprang auf. Mit
zuckenden Schläfen stürzte er zur Türe . . .

In der Tat, Otto war gekommen, wie er zuweilen kam, seitdem er im Westen
wohnte, um irgend etwas abzuholen, Bücher, Wäsche. Er kam zu jeder
Tages- und Nachtzeit, wann es ihm gerade beliebte, und knallte ohne
Rücksicht mit den Türen. Jetzt war er gekommen, um einen Gummimantel zu
holen. Er brauchte ihn, da es noch immer in Strömen regnete.

Dies war der eigentliche Grund seines Besuches. Der zweite Grund aber
war, ganz offen gestanden, daß er dem General seine Furchtlosigkeit
beweisen wollte. Nein, er hatte keine Furcht vor einer Begegnung, nicht
die geringste. Aus diesem zweiten Grunde schrie er auch etwas lauter,
als es eigentlich nötig war. Sein Zimmer hatte er absichtlich offen
gelassen. Jeden Augenblick konnte die Türe gegenüber aufspringen -- nun,
er war gewappnet. Seine hellen verwegenen Augen waren auf eben diese
Türe geheftet, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Er war bereit,
die Konsequenzen zu ziehen -- zu allem war er bereit. Papa sollte nie
und nimmer auf den Gedanken kommen, daß er sich feige in eine Ecke
verkrieche.

Aber nichts regte sich hinter dieser Türe, die zu den Zimmern Papas
führte. Wahrscheinlich hatte er sein Kommen gar nicht wahrgenommen.

Der General -- er war nicht weiter als bis zu eben dieser Türe gekommen.
Sein Herz pochte so stark, daß er sich festhalten mußte. Keuchend und
bebend stand er im dunkeln Zimmer, seine Beine zitterten.

Ein Schritt noch -- und etwas ganz Furchtbares, etwas unsäglich
Grauenhaftes würde geschehen . . .

Sein eigenes Blut hatte sich gegen ihn erhoben!

Die Türe öffnen -- und schon, schon würde es geschehen, das Gräßliche --
Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater -- bis zur Vernichtung -- das Grauen
noch der Ururenkel, ewige Schändung des Namens, Schändung des
Geschlechtes, Schändung der Schöpfung. Schon begann die Finsternis des
Zimmers zu flammen.

»Wo sind meine Handschuhe, Jakob?« rief Otto.

Dann pochte er an Ruths Türe, und der General hörte die beiden plaudern,
ohne zu verstehen, was sie sagten.

Fünf Schritte waren zwischen ihnen, zwischen ihm und seinen Kindern, der
Korridor. Aber dieser Korridor war ein Abgrund, unergründlich wie die
Mysterien des Blutes.

»Dann gute Reise, Ruth!« rief Otto und schloß Ruths Türe.

Ja, in der Tat, ein Abgrund, schauerlich und bodenlos wie das
tausendfach unergründliche Schicksal selbst.

Die Haustüre krachte ins Schloß. Otto war gegangen.

Dank dem Himmel! dachte der General, während er heftig zitterte.

Immer noch stand er, die Dunkelheit lohte, immer noch keuchte er, und
das Zittern seiner Beine wurde stärker mit jeder Minute.

Ja, nur ein Schritt, ein kleiner Schritt und es wäre geschehen. Das
unsagbar Gräßliche. Das keine Macht der Welt hätte wieder auslöschen
können, selbst die Allmacht Gottes nicht.

Es _war_ geschehen, das unsagbar Grauenhafte!

Der General sah seinen Sohn erwürgt auf der Diele liegen.

Zitternd am ganzen Körper sank er in einen Sessel; der Schweiß brach aus
seiner Stirn.

                   *       *       *       *       *

Otto aber eilte im strömenden Regen quer durch den stockfinstern
Tiergarten. Zu Ströbel!

Lustige Kumpane, ein Fest heute, Wein, Spiel. Wie albern, diese
kleinlichen Bedenken, die ihn bisher von Ströbels Haus ferngehalten
hatten!

In förmlichen Wasserhosen verschwand die Straße, wo Ströbels Haus lag,
aber ein wohlbekannter Lichtschein, wie der Schein eines Leuchtfeuers,
zeigte den Weg.

Otto pfiff, den vereinbarten Pfiff, er klatschte in die Hände. Das
erleuchtete Fenster öffnete sich, und ein Schatten neigte sich heraus.

»Wer ist da?« Es war Hedis Stimme.

»Ich bin es«, antwortete Otto mit heller und lauter Stimme. »Ihr habt
doch Gesellschaft heute?«

Der Schatten trat zurück. Erst nach einer Weile wurde Hedis Stimme
wieder hörbar.

»Sie sind es?« sagte sie stockend. »Nein, die Gesellschaft wurde
abgesagt, Ströbel ist verreist!«

»Sie? Seit wann sagen wir Sie zueinander?« sagte Otto lachend. Er konnte
Hedi nur undeutlich erkennen, durch Büsche hindurch, an denen das Wasser
herabrann. Das erleuchtete Fenster ging auf einen kleinen,
dichtbewachsenen Garten hinaus.

Wieder zögerte Hedis Stimme. »Es ist völlig nebensächlich,« sagte sie,
»aber lassen wir es dabei. Er mußte unerwartet in Geschäften fort, und
der Abend wurde verschoben.«

»Schade! Sehr fatal!«

Der Regen prasselte auf Ottos Mantel, Ströme von Wasser wirbelten um
seine Füße. Selbst aus dem Boden sprangen Bäche.

»Ja, leider«, sagte Hedi und schickte sich an, das Fenster zu schließen.
»Gute Nacht.« Der Regen verschluckte ihre Stimme.

»Einen Augenblick --« beeilte sich Otto, und die Fensterflügel blieben
halb offen stehen. »Ich bin durch diese Sintflut gewatet, in der
Erwartung, fröhliche Menschen zu finden --«

»Das ist sehr bedauerlich«, sagte Hedi spöttisch.

Otto lachte belustigt auf. »Sehr bedauerlich? Hören Sie, Hedi -- oder
höre, Hedi -- ich finde es töricht, Sie zu dir zu sagen -- halte du es
ganz wie du willst -- ich hatte gerade heute das Bedürfnis, Freunde zu
sehen -- sei nett und lieb, öffne und koche etwas Kaffee. Ich bin völlig
durchnäßt.«

»Ich bin ganz allein.«

»Ist das ein Grund --?« Eigentümlich war der Tonfall dieser Frage.

Hedi antwortete nicht sogleich. Er fühlte ihren Blick.

»Gehe doch zu ihr!« sagte sie dann. Aber sie schloß das Fenster nicht.

Otto stockte.

»Ich komme soeben von ihr!« sagte er hierauf. Diese Antwort war sehr
kühn, und er wußte genau, daß er alles aufs Spiel setzte. Aber er hatte
seiner Stimme einen gleichgültigen und gelangweilten Klang gegeben.

Schweigen. Der Regen rauschte.

»Lebst du glücklich mit Ströbel?« begann Otto von neuem, in völlig
geändertem, vertraulichem Tone.

»Was für eine Frage? Was kümmert es dich?«

»So öffne doch, Hedi, und wir werden etwas plaudern.«

Hedi schwieg. Nach einer Weile sagte sie, leise und bebend: »-- Ich
öffne!«

Kaum aber hatte Hedi die Türe aufgeschlossen, so riß Otto sie an sich
und vergrub seine Lippen in ihren Hals.

Sie stammelte.


10

Mehre den Schatz!

Mehre den Schatz des Guten und Schönen! Lege nicht Hand an die
Geschlechter, die nach dir kommen -- --

Friedlich säuselt der Morgenwind.

                   *       *       *       *       *

»Lieber Junge,« -- schrieb Hauptmann Falk an Otto -- »mit dem Urlaub war
es diesmal nichts. Und ein Flieger hatte mir schon versprochen, mich in
seinem Kahn mit nach Berlin zu nehmen. Drei Tage hinten, immer in
Alarmbereitschaft, kein Schlaf, Schwärme von feindlichen Fliegern, in
jeder Nacht Verluste. Die Sache hat sich anmutig ausgewachsen! Heute
abend wieder in Stellung. Wollte Dir gerne mehr schreiben -- aber ich
kann nicht. Es gibt gewisse Dinge. Nun, wir kämpfen, tun unsere Pflicht.
Herrliche Leute! Das Feuer wächst von Tag zu Tag --«

Ja, von Tag zu Tag wuchs das Feuer!

Bis nach London, nach der Schweiz war der Lärm der Kanonen zu hören. Es
stand sogar in den Zeitungen.

Tausende sanken täglich dahin, Zehntausende --

»Trinke, Kamerad!«

»Erlöser!«

»Trinke! Stütze dich auf mich!«

»Erlöser!«

»Komm, komm, ich trage dich!«

»Erlöser! Erlöser!«

Auf Hunderte von Kilometern standen die Geschütze in einer Breite von
zehn bis fünfzig Kilometern, Rohr an Rohr, gestaffelt, auf Kähnen,
Flößen, Eisenbahnwagen und spien Feuer und Tod. Die Geschosse wurden von
keuchenden Zügen herbeigeschleppt, von Dampferflotten, Schleppkähnen,
endlosen Reihen von Lastautomobilen. Die ganze Welt arbeitete im
Schweiße ihres Angesichts, um die Mäuler aus Stahl zu speisen. Die
Geschosse, mannshoch, wurden auf besonders konstruierten Karren zu den
Geschützen gefahren, durch Krane in die Rohre gehoben. Sie wurden zur
Reklame in Zeitschriften abgebildet, einzeln und zu Tausenden
aufgestapelt. Die Astronomen, die sonst der Bahn der ewigen Gestirne
folgten, berechneten die Flugbahnen der Ungeheuer, die sich in den
blauen Äther hineinstürzten. Tausende, Zehntausende von Geschützen spien
Tod Tag und Nacht.

Und die Wolke wälzte sich, unendlich, über der Walstatt. Staub -- die
zermalmte Fruchterde, der zermalmte Fels, der zermalmte Baum, der
zermalmte Mensch flimmerten in der Luft. Der Staub zog über ganz Europa,
die Staubteilchen zermalmter Menschenleiber regneten auf ganz Europa,
auf die ganze Erde nieder.

Endlich war es dem Menschen gelungen, den höchsten Gipfel des Wahnsinns
zu erklimmen. Die Erde selbst war nichts als eine gasgefüllte Bombe, die
durch den Weltraum raste.

Hunderttausende von Kilometern waren durch die Erde gewühlt, Menschen
und Tiere keuchten -- mit dem gleichen Aufwand an Energie hätten die
Wüsten sich in Gärten verwandeln lassen -- noch aber wurde um das
Weltmonopol des Plünderns gekämpft.

Erlöser! --

»Lieber Junge,« -- schrieb Hauptmann Falk an Otto -- »ich weiß nicht, ob
diese Zeile Dich noch erreichen wird. Der Kommandeur ist schwer
verwundet worden und einige Leute wollen es unternehmen, ihn in der
Nacht durch das Feuer zu tragen. Sie wollen diese Zeilen mitnehmen. Sage
allen, daß wir unsere Pflicht tun! Zweiundsiebzig Stunden haben wir
nicht geschlafen und kaum gegessen. Wir können nicht mehr. Bald werde
ich wohl hinter Stacheldrähten spazierengehen. Aber sage allen, daß wir
kämpfen und sie uns nicht umsonst haben sollen! Ich werde Nachricht
geben, wenn ich kann. Alles Bisherige war Kinderspiel --«

Dies aber war der letzte Brief, den Otto erhielt. Wie durch ein Wunder
kam er durch, obgleich der Kommandeur und seine Träger auf dem Rückwege
getötet wurden. Man fand den Brief bei einem Mann ohne Beine, der
verblutet war. Ein Offizier, dessen Name unleserlich war, hatte es auf
die Rückseite des Briefes geschrieben.

Hauptmann Falk, genannt die Feuerwalze und wenn es hoch herging, die
glorreiche Feuerwalze, konnte keine Briefe mehr schreiben . . .

Ein Erdloch. Und aus diesem Erdloch sieht eine Leiche mit entblößten
Zähnen. Die Leiche wendet langsam den Kopf und späht aus. Staub treibt,
Staub flimmert. Wenig zu sehen. Die Wimpern der Leiche sind voller Staub
und auch ihre rotweißen Haare sind gepudert, die weißen Lippen haben den
Staub zu einem weißen Brei zerrieben. Ruckweise atmet diese Leiche und
stößt dabei mit dem Kopf in die Luft. Die Uniform ist beschmutzt, eben
hat die Leiche gebrochen.

Fünfzig Schritte feldein, im Staub, kohlt ein Flugzeug. Er war der
letzte, der kam, er warf Nahrungsmittel ab, aber er kehrte nicht zurück.
Fünf Schritte zur Linken aber liegt ein gekreuzigter Mensch auf der
Erde, mit gebrochenen Gelenken, Arme und Beine von sich gestreckt, vom
Luftzug fast völlig entkleidet, die Fetzen angesengt, flachgedrückt, das
Gesicht ins Genick verdreht. Und noch schwelt das versengte Gras von den
giftigen Dämpfen der Granate, die ihn kreuzigte. Es riecht nach
verbranntem Fleisch und verbrannten Haaren.

Zehn Schritte zur Rechten aber kauert eine Gruppe von Leichen um ein
Maschinengewehr, und sobald die Leiche im Erdloch die Hand hebt und die
Zähne bleckt, so feuert sie. Schatten taumeln im Sandsturm. Schatten
kommen, nähern sich, versinken. Aber weshalb geht die Leiche im Erdloch
nicht zu dem Maschinengewehr? Das ist es eben. Sie kann nicht. Durch
einen Balken sind ihre Beine festgeklemmt.

Und so kann sie nur die Arme heben, die Zähne blecken und schreien --
aber man hört nichts.

Tanks kriechen im Sandsturm. Dort die Höhe, schwarzer Qualm. Durch den
Sandregen ist zu sehen, wie Menschenleiber in die Luft fliegen -- und
Hauptmann Falk sieht deutlich die Sturmhauben, deutsche Sturmhauben,
wirbeln. Dort im Nebel -- Nebelwesen mit erhobenen Händen, fern, klein.
Und die deutschen Batterien, sie, die stets bereiten, wo sind sie?
Nichts, nichts, kaum zuweilen ein Einschlag drüben -- völlig außer
Gefecht, vergast.

Schatten im Sandsturm, im Qualm. Und wieder schreit er und bleckt die
Zähne. Obschon er seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hat, muß
er sich wieder erbrechen. Die flachen Chinesenhüte verschwinden,
versinken.

Zwanzig Kilometer hinter der Feuerlinie fährt ein schweres
Eisenbahngeschütz aus dem Wald, von gutgelaunten, schwitzenden Kanadiern
in Hemdärmeln bedient. Das Langrohr steigt in die Höhe, wird abgerissen.
Die Mannschaft stürzt zurück, die Hände gegen die Ohren gepreßt.

Die Granate war unterwegs. Es war jene Granate -- --

Ein Tank faucht durch den Sandsturm, hinweg über das Erdloch. Flache
Eisenhüte. Amerikaner. Sie haben die Gewehre umgehängt und trotten durch
den Sandsturm dahin. Nichts stört sie, sie haben keine Eile.

Vor den flachen Eisenhüten einher schreitet ein junger amerikanischer
Offizier. Ein Deutscher, namens Martin. Man hat ihm gesagt, daß die
deutschen Soldaten den Kindern die Hände abschneiden. Er hat es in den
Zeitungen gelesen, er hat sogar Abbildungen gesehen mit eigenen Augen.
Und nun ist er gekommen, diese Kinderschänder vom Erdboden zu vertilgen.


11

Pünktlich auf die Minute erhob sich der General am nächsten Morgen. Er
hatte fast nicht geschlafen in dieser Nacht. Funken sprühten vor seinen
Augen, er sah schlecht. Wieder zuckte sein rechtes Augenlid. Seine Haut
war trocken und heiß, er hatte Fieber.

Nicht einmal Niki, der in seinem Bauer zwitscherte, gönnte er heute
einen Blick. Teilnahmslos, schwerfällig, automatisch bewegte er sich,
wie im Halbschlaf.

Punkt einhalb acht klingelte das Telephon, das Amt, wie befohlen.

Der General taumelte am Apparat. Der Hörer zitterte in seiner Hand. Er
war genötigt einen Stuhl heranzuziehen und lallte, als er sprechen
wollte.

Schlechte Nachrichten, offenbar. Ja, schlechte, sehr schlechte!

Und niemand, dachte der General, niemand -- das Reich wankt -- und
niemand, nichts als Unfähigkeit, Dünkel und Verblendung!

Schlimmer noch -- schlimmer! Ein Verbrechen . . .

Das Haus war leer, tot, das Speisezimmer düster und verlassen.

Ein Brief?

Seht an!

Man schrieb Briefe!

Schon von weitem, obschon schwere und düstere Gedanken ihn
niederdrückten, sprang der weiße Umschlag in seine Augen. Auf dem
Frühstückstisch lag dieser Brief. »An Papa!«

An Papa! Man schreibt Briefe!

Er hatte nicht den Mut, diesen Brief zu öffnen. Was sollte Ruth zu
schreiben haben? Er ließ den Brief in die Tasche gleiten. Seine Wangen
zuckten. Nun, es mochte recht gut sein, daß sie etwas mißverstanden
hatte, seine Fürsorge falsch deutete -- sie war jung und konnte nicht
begreifen, daß ein Vater sich sorgte, daß er nur aus Liebe für sein
Kind, nur aus Liebe, wohlgemerkt --

Plötzlich erhob sich der General.

Er war erbleicht.

»Therese?«

Etwas Unglaubliches war geschehen! Der General war in die hinteren
Räumlichkeiten gekommen, die er nie zuvor betreten hatte.

»Meine Tochter ist verreist?«

»Ja. Ruth ist abgereist.«

»Wohin? Sie wissen es nicht?«

»Nein -- aber ein Brief --«

»Ich weiß --«

Der General schwankte durch den Korridor. Mühsam kletterte er in den
Wagen.

»Ah! Ah!« stöhnte er, als die Limousine dahinschoß, und bedeckte die
Augen.

Ungeöffnet stak der Brief noch in seiner Tasche.

                   *       *       *       *       *

Ein deutsches Feldgeschütz fuhr plötzlich mitten im Sandsturm auf. Was
wollten sie? Waren sie wahnsinnig? Verschwunden ist das Feldgeschütz --

Furchtbar rollt die Brandung aus Eisen und Blut. Die Kanonen knackten,
als würden Knochen in der Luft zerbrochen.

Die Front wankte, kein Zweifel, keine Beschönigung mehr. Schon klafften
breite Risse.

Die Mauer aus Menschenleibern, hundertfach aufgefüllt, hundertfach in
Stücke geschossen, in jede Bresche stürzten sich neue Menschenleiber,
ja, nun wankte sie. Diese Mauer aus Blut, aus menschlichen Gehirnen, aus
menschlichen Herzen, die vor Liebe glühten und sich verzehrten -- sie
_stürzte_.

Die Karte war ausgespielt, die letzte Karte, ausgespielt gegen alle
Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Sie hatte verloren.

Hunderte, Tausende von Granaten in der Sekunde, Einschlag neben
Einschlag. Die Hochöfen der Welt sind gegen dich im Kampf. Die
erschöpften, verbluteten Truppen sahen sich nach Unterstützung um. Die
Kameraden, wo sind sie? In Finnland, Livland, Polen, Rumänien,
Mazedonien, Syrien, in der Ukraine, im Kaukasus -- weit, weit, sie
können nicht helfen.

Und jeden Tag entsteigen zehntausend frische, mutige, wohlgenährte
Männer dem Ozean.

Der Hagelsturm von Eisen rast. Explosionen, Explosionen . . .

Pulvermagazine fliegen in die Luft, Gaskessel explodieren, Städte
verschlingt die krachende Erde -- das Trommelfell birst, Blut sickert
aus den Ohren . . .

Über die ganze Erde ist das furchtbare Krachen der zusammenbrechenden
Mauer zu hören.




Viertes Buch


1

Von heute auf morgen . . .

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden . . .

Die Depeschen fliegen, es ticken die Fernschreiber. Fahle Gesichter,
flatternde Hände, erbleichende Augen.

Wie?!

Ist es möglich?!

Ein Keulenschlag! Der General ringt nach Luft und preßt beide Hände
gegen den Brustkorb. Er befürchtet, sich übergeben zu müssen.

Ein Jeu -- hm -- Poker? Aber wir sind schließlich ja nicht in Monte
Carlo? Letzten Endes ist ein Weltkrieg doch kein Manöver, wo der
steigende Fesselballon das Signal zum Halten gibt?

Der General ist krank, die Grippe hat ihn gepackt, ja, auch ihn, ganz
zuletzt -- es gelingt ihm gerade noch im letzten Moment ein Glas Wasser
zu ergreifen, sonst wäre ein Unglück geschehen. Der Schweiß bricht ihm
nun aus der Stirn.

Schon aber knattern die Lichtbogen und aus den Antennen schwingen die
Wellen durch den Äther. Es wanken die Empfangsstationen, die Beamten,
die Hörmuschel am Ohr, erbleichen. Wer spricht? Eine Verhöhnung, eine
Finte, ein schlechter Scherz? Die Station Nauen hat gesprochen.

Schon fliegen die Türen in den Ministerien, und in den Augen entzündet
sich ein Leuchten --

Der General kriecht durch die Zimmer, in den Schlafrock mit den roten
Aufschlägen eingewickelt, hustet, keucht. Nun, also -- nicht! Nicht
diesmal! Rollen wir die Fahnen zusammen -- das nächstemal! Blutiger noch
und furchtbarer als dieser Krieg . . . Schon wieder nimmt er Aspirin und
hustet. Er sinkt in einen Sessel und starrt, starrt -- er sieht nichts,
die Gedanken sind stehengeblieben, vor dem Abgrund haben sie
haltgemacht.

Krachend stürzt die Front, die Erde hört es -- und noch immer kämpft die
Armee, heute, morgen, übermorgen, Wochen! Längst ist es entschieden, daß
alles verloren ist. Alles verloren: Blut und Gut, Millionen von Söhnen
und Ernährern, Hoffnung und Sinn des Lebens, die Fruchtbarkeit des
Ackers, die Viehherden, Schätze der Erde und Wälder, Schweiß und Fleiß
von drei Generationen, Schweiß und Fleiß von drei kommenden
Geschlechtern -- alles verloren! Die Fruchtbarkeit des weiblichen
Schoßes -- dahin, Millionen von Säuglingen -- eine Beute des Hungers.
Alles -- dahin! Das Gehirn unter der Schädeldecke, der Schlaf der Nächte
-- dahin! Ausgespielt die hohe Karte, gegen alle Gesetze der
Wahrscheinlichkeit -- und noch immer kämpft die Armee.

Die Angebeteten und Vergötterten -- bis zum letzten Einsatz! -- und
dann, ja, dann beugten sie das Knie und boten den Degen an.

Auf Gnade und Ungnade.

Der Historiker, noch in tausend Jahren, wird hier eine Pause machen,
Atem schöpfen, und noch einmal alle Dokumente prüfen. Ob ihm nicht doch
etwas entgangen ist, nicht doch eine wichtige, überaus wichtige Urkunde.
Er wird in den Archiven und Bibliotheken wühlen -- nein, es ist Ihnen
nichts entgangen, fahren Sie ruhig fort. --


2

In diesen Tagen traf plötzlich in Berlin jene hohe Persönlichkeit ein,
die seinerzeit die Zierde von Doras Hausball bildete. Ali Baba und die
vierzig Räuber -- ja, wer hätte auch vermutet, daß es einmal so kommen
könnte! Ohne jede Anmeldung kam der einflußreiche Herr an, dessen hoher
Orden das ganze Metall auf der Brust des Generals aufwog. Mitten in der
Nacht, gegen drei Uhr, der Zug von Köln hatte drei Stunden Verspätung
gehabt. Die Lokomotiven blieben nunmehr reihenweise auf der Strecke
liegen, man hatte die kupfernen Feuerbüchsen aus den Maschinen gerissen
und sie durch eiserne ersetzt.

Gräfin Heller hatte noch Licht, Gesellschaft, und der hohe Herr, der dem
längst vermoderten Franz I. ähnlich sah, ließ seine Schwester
herausbitten.

»In großer Eile, Adele!« sagte der hohe Herr -- auf englisch, die
Geschwister sprachen nur englisch zusammen -- »Ich komme, um zu gehen.
Ich habe die ganze Nacht hindurch dringend zu arbeiten, Frühstück um
zehn Uhr, bitte. Für jetzt Tee und etwas Feuer im Kamin, ich bin
erkältet, und einen kleinen Imbiß. Und dann, keine Störung, bitte, nicht
die geringste -- sehr wichtige Geschäfte -- fahre mit dem Mittagszug
wieder zurück . . .« Trocken und hastig klang seine Stimme.

Gräfin Heller befand sich in großer Erregung. Sie hatte ihren Kreis von
Vertrauten versammelt, eine spiritistische Sitzung. Zuerst war ein
ungebärdiger Geist erschienen, ein italienischer Mönch aus Ravenna, 1512
geboren, gestorben 1553, begraben in Bologna -- ungebärdig, er hatte das
Tischchen in Stücke gerissen. Zurzeit aber -- größtes Ereignis aller
Sitzungen des Jahres! -- hatten sie Verbindung mit dem Geiste eines
erhabenen Verblichenen, dem Geiste Bismarcks. Ungeheure Offenbarungen,
Prophezeiungen der größten Tragweite . . . vielleicht interessiert dich
das Protokoll?

Der hohe Herr aber schien nicht die geringste Neigung zu haben, die
Prophezeiungen Bismarcks kennenzulernen -- ganz im Gegenteil. So schnell
ihn die müden, dünnen Beine tragen konnten, stieg er die Treppe zu
seinen Gemächern empor.

Gräfin Heller öffnete leise die Türe, und man hörte auf einen Augenblick
deutlich eine weiche, schmelzende Damenstimme: »Ich bitte Durchlaucht,
unsere Frage wiederholen zu dürfen . . .«

Als der Diener Tee und Imbiß brachte, fand er den hohen Herrn
eingeschlafen in einem Sessel vor dem Kamin. Augenblicklich aber
erwachte er. »Die Koffer?«

»In der Bibliothek, Exzellenz, wie befohlen.«

»Nun, danke, gute Nacht, keine Störung, zehn Uhr Frühstück« -- und er
verschloß alle Türen und prüfte, ob die Vorhänge dicht geschlossen
waren.

Die Flucht der Gemächer war tageshell erleuchtet: Gemälde, Bronzen,
Skulpturen, herrliche alte Möbel -- die Wohnung war ein Museum! Selbst
in dem geheimnisvollen Alkoven des Ankleidezimmers brannte Licht. Der
hohe Herr lächelte, unmerklich, soweit es die mit einer dicken
Wachsschicht überzogene, gelbe Gesichtsmaske zuließ. Die Lider bewegten
sich rasch über den großen starren Augen Franz des Ersten. Er rieb die
kleinen wächsernen Hände vor dem Kaminfeuer und trippelte mit hastigen,
steifen Schrittchen ratlos über das gleißende Parkett des Museums, immer
hin und her. Er schlürfte eine Tasse Tee, dann flüsterte er: »Und nun
wollen wir anfangen!« Und seine steile Glatze verschwand zwischen den
Portieren des Arbeitszimmers.

Hier also fing er an. Zuerst öffnete er mit einem winzigen Schlüssel,
den er bei sich trug, eine schwere, pechschwarze, italienische
Renaissance-Truhe. Ihr entnahm er einen Schlüsselbund. Dann schloß er
einen Mahagonisekretär auf, ein herrliches Stück, Empire, französisch,
schwarze Ebenholzsäulen, von goldenen Schwänen gekrönt. Fächer sprangen
auf, Schubladen öffneten sich.

Nun standen alle Schränke, Truhen, Kommoden, Vitrinen des Museums offen.

»Anfangen, ja anfangen --!« Aber wie, wo? »Richelieu sagt einmal --«

Aber der hohe Herr verschwieg, was Richelieu sagte. Es war ihm im
letzten Moment entfallen, es interessierte ihn nicht mehr.

Die Sammlung von Tabatieren, eine der kostbarsten in Europa -- in den
Koffer. Ein paar kleine alte Bändchen, in Schweinsleder gebunden,
gänzlich unscheinbar -- in den Koffer. Die Miniaturen auf Elfenbein, in
den Koffer. Eine Schatulle, fränkischer Herkunft, eingelegt die
Zerstörung Jerusalems, mit Schmuckstücken, Ringen, Uhren, Steinen, einem
Kruzifix, Gold und Email -- in den Koffer. Ein rotes Lederkästchen, bis
zum Rand gefüllt mit Ordenssternen -- in den Koffer. Die Mappe mit
Handzeichnungen, drei kleine Niederländer -- herrlich eigneten sich die
alten Brokate zum Einhüllen -- wieder ein Schluck Tee. Eine Börse voller
Goldmünzen, vergessen, von Reisen zurückgeblieben -- weshalb nicht? Sie
nahmen ja fast keinen Platz ein. Nun aber kam das Prunkstück an die
Reihe, das Kostbarste: ein vergoldeter, kleiner Hausaltar, spanisch --
außerordentlich wertvoll! Vorsichtig auseinandergenommen, eingehüllt, in
den Koffer. Aber die kleinen römischen Bronzen -- wie?

Immer erregter glitt die Wachsmaske durch die Spiegel, sie tanzte
zwischen Brokaten, Bronzen, Stichen, Bildern. Nunmehr glänzte sie
fettig, aber das war der Schweiß infolge der Anstrengung. Jetzt
verschwand sie in das Ankleidezimmer -- kam zurück, entstellt, fast
doppelt so lang, die Wangen eingefallen, die Lippen faltig -- das Gebiß
hatte geschmerzt.

Wieder ein Schluck Tee. Schon tagte es. Beim Anblick eines Päckchens von
vergilbten Briefen wurde der hohe Herr erregt. Er lief zuerst zum Kamin,
als ob er die Briefe verbrennen wolle, dann lief er zu dem
Empiresekretär. Aber, nachdem er das Päckchen schon in ein Geheimfach
eingeschlossen hatte, nahm er es wieder heraus -- in den kleinen Koffer.

Briefe, Schriftstücke -- das Feuer im Kamin lohte stundenlang. Und, wie
gesagt, der Donatello: aus dem Rahmen zu nehmen, in Leinwand
einzuschlagen, zu umschnüren -- prächtig! Die kleine Wachsfigur glänzte
im Feuerschein, als schmelze sie, selbst die langen, dünnen Hände
. . .

Als der Diener das Frühstück brachte, war die kleine Exzellenz schon fix
und fertig angekleidet, bereit zur Abreise. Schränke, Truhen, Vitrinen
geschlossen -- nichts zu sehen, auch nicht eine Spur!

Bitte eine lange starke Schnur und einige große Packbogen! So. Nur der
eine Koffer, oben mit Anzügen gefüllt, wollte nicht schließen. Die
kleine Exzellenz schwang sich auf den Koffer, stieß ein paarmal mit dem
Gesäß gegen den Deckel -- so, siehst du, alles geht.

Der Mittagszug nach Köln verließ die Halle, eine Wachsmaske, einer
Leiche in grünem Wasser ähnlich, blickte aus dem reservierten Abteil --
mit einem unmerklichen, etwas hämischen Lächeln. Aber das mochte auch
von der Beleuchtung in der düstern Halle herrühren. Sofort aber schloß
die Wachsmaske in dem Abteil voller Koffer -- das solid verschnürte,
große, flache Paket in gelbem Packpapier nicht zu vergessen -- die Augen
und schlief ein . . .

Nach langer Zeit, nach langem, gesundem Schlafe, erwachte der vornehme
Reisende plötzlich: eine gewisse Aufregung auf dem Korridor des Waggons!
Der Zug stand, in irgendeiner ärmlichen Vorstadt. Dämmerung und
rauchender Nebel.

Da! Ei, ei -- was ist das?

Schüsse?

Ja, ein lustiges Gewehrfeuer knatterte -- oder?

Der vornehme Reisende kroch zwischen seinen Koffern hervor und öffnete
die Türe des reservierten Abteils.

»Ich bitte -- Schaffner?«

Aber es gab keinen Schaffner, nur eine aufgeregte Schaffnerin in
Pumphosen.

»Ich bitte sehr -- wir halten?«

»Ja, der Bahnhof ist besetzt.«

»Besetzt --?«

»Ja, besetzt.«

»Aber -- von wem besetzt?«

»Von den Aufständigen.«

»-- von den Aufständigen?«

»Soeben ist wieder ein Regiment übergegangen.«

»-- übergegangen, so, so.«

»Ein Soldatenrat ist im Zuge und nimmt die Waffen ab.«

»-- Waffen ab.«

»In Köln arbeiten sie mit schweren Geschützen.«

»Danke, liebe Frau -- ich bitte!« Und der vornehme Reisende drückt der
Schaffnerin ein Goldstück in die Hand -- ohne Übertreibung, ein
Goldstück! -- und zieht sich wieder in das reservierte Abteil zurück.

»So, so!« Nun beginnt die Wachsmaske tatsächlich zu schmelzen. Ein paar
große Wachsperlen rinnen über die Stirn, ein flatterndes
Batisttaschentuch tastet nach ihnen.

                   *       *       *       *       *

Der General und Hauptmann Wunderlich speisten zusammen unter dem
schneeigen Glaslüster an dem runden, großen Speisetisch. Speisten? Sie
berührten die Gerichte kaum. Jakob brachte weiße Teller, trug weiße
Teller fort.

»Aber diese vierzehn Punkte --?« fragte der General mit einem
mißtrauischen Knarren in der müden, heiseren Stimme. Sein Hals war von
einem dicken Umschlag umwickelt.

Wunderlichs Gesicht zuckte.

»Der Präsident ist ein Mann von Ehre!«

»Hm. -- Aber ich darf doch bitten, Hauptmann Wunderlich, sich bedienen
zu wollen.«,

»Wir haben das Wort von hundert Millionen amerikanischen Bürgern!«

»Hm. -- Bitte, sich doch eingießen zu wollen, mir selbst ist es ja
verboten.«

»Und Sie sagen, Hauptmann Wunderlich: die Waffenstillstandsbedingungen
sollen unter allen Umständen angenommen werden -- unter allen
Umständen?«

»Man will versuchen, einige Zugeständnisse zu erhalten. Sollte dieses
Ansuchen aber zurückgewiesen werden: unter allen Umständen!«

»Also bedingungslose Kapitulation?«

»Bedingungslose!«

»Hm.« Der General kämpfte gegen einen Hustenanfall. »Hm, aber --.«
Unmöglich, dachte er, mit eingesunkenen, düsteren Augen, das Volk muß
sich erheben! Erhebung der Massen! Kampf bis zum letzten Hauch --

Aber er sprach seine Gedanken nicht aus. Eben legte Jakob wiederum neue
weiße Teller auf. Quittengelb ist der General geworden. Seine Backen
sind eingefallen und schlaff. Die Grippe hat sich auf die Nieren
geschlagen.


3

Nacht.

Riesengroß steht Ackermanns Geist über der dunkeln, schweigenden Stadt.
Sein Leib sind die Sterne, sein Haupt sind die Sterne, seine Augen sind
die Sterne. Seine Hände sind die Sterne. Schon kommt ein kaltes Gefunkel
aus dem Osten.

Die Riesenstadt schläft, bedeckt mit dünnen Nebelschleiern ihre Dächer
und Türme.

»Auf, auf, der Tag ist gekommen!« Die Stimme schallt und die schlafende
Stadt erbebt. »Auf, auf, mein Volk! Die Sterne funkeln! Erhebe dich
unter den Völkern der Erde und gehe voran auf dem Weg der Läuterung!«

Die Sterne erblassen. Aus dem Osten bläst kaltes Licht, die Nebel senken
sich dicht auf Dächer und Türme. Lieblich säuselt der Morgenwind.

Und schon erheben sich die Schläfer! In Trupps, in Scharen. Der
gleißende Lichtgürtel, der die Riesenstadt umspannt, erlischt. Schatten,
geballt, beginnen zu wandern. In den dunkeln Vorstädten erhellen sich
die Fenster. Schritte schlürfen, sammeln sich, Schatten, geballt,
beginnen zu wandern. Vom Süden, vom Norden, von überall her beginnen die
Schatten, geballt zu wandern. Hunderttausende von Schritten sind
unterwegs.

Die Morgenröte funkelt. Da beginnt die Schattenstadt zu glühen.

                   *       *       *       *       *

Endlich -- ja, Gott sei Dank! -- trillerte die Marspfeife wieder und die
graue Limousine fegt durch die kühle, sonnige Herbstluft dahin. Die
Fußgänger entfliehen, rechtzeitig bringen sich die Straßenkehrer in
Sicherheit. In einer wunderbaren Kurve, unübertrefflich, wirft
Schwerdtfeger die Limousine um eine auf der Straße stehengebliebene
Karre voll Straßenschmutz herum.

Die Augen des Generals sind wieder nachdenklich und konzentriert auf den
gekrümmten Rücken Schwerdtfegers geheftet. Immer noch etwas gelb, etwas
müde, die Backen etwas zittrig und schlaff, die Tränensäcke etwas
geschwollen, aber man kann zurzeit nicht allzu große Rücksicht auf sich
nehmen. Es bereiten sich Dinge vor, jeder an seinem Posten!

Die Marspfeife schrillt -- vor Schreck fällt ein altes Droschkenpferd in
Galopp. Plötzlich aber: Fußbremse, Handbremse, die Limousine schleift --
halt!

Musik. Ein Jägerbataillon zieht mit klingendem Spiel vorbei, den Linden
zu -- rot die jungen Gesichter in der Morgensonne, Stahlhelme, die
Haltung wundervoll. Der General beachtet jede Kleinigkeit. Nicht _ein_
Tadel! Er fühlt sich beruhigt. Gerüchte schwirren in der Stadt -- aber
welche Narren! Ein Blick auf die Karte Berlins genügt ja: einige
Brücken, Kanäle, Straßen besetzt -- und mit zwei Dutzend
Maschinengewehren war die Stadt gegen Hunderttausende zu halten. Nur
Laien . . . Herrlich Offiziere und Mannschaften -- junge Burschen, kaum
den Knabenjahren entwachsen -- ja, obschon er die Gerüchte nicht eben
tragisch genommen hatte, fühlte er sich durch den Anblick dieses
Jägerbataillons beruhigt.

An den Straßenkreuzungen standen Doppelposten, den Gürtel mit
Handgranaten gespickt. Eine Batterie fuhr dahin, langsam und gemächlich,
als käme sie von einer Schießübung zurück. Die Offiziere waren durch
Befehl zusammengerufen. Im übrigen hatte der Oberbefehlshaber in den
Marken ungesetzliche Zusammenschlüsse, die die öffentliche Sicherheit
gefährdeten, auf Grund des Paragraphen 9b in feierlicher Proklamation
strengstens verboten.

Auch das rote Amtsgebäude des Generals war in Verteidigungszustand
gesetzt. Stahlhelme wimmelten in allen Stockwerken. Offiziere standen an
den Fenstern. Ein schweres Maschinengewehr war im Foyer postiert. Nun,
es war selbstverständlich Pflicht des Kommandanten, keine
Vorsichtsmaßregel außer acht zu lassen.

Der alte Portier mit den weißen Haarsträhnen und den Blechmünzen auf dem
Mantel trat absichtlich einen Schritt weiter vor, er verbeugte sich
tiefer als sonst. Sein altes Frauengesicht war von Freude erhellt. Seine
tiefe Verbeugung drückte -- soweit die Stellung des Untergebenen es
zuließ -- die Genugtuung aus, Seine Exzellenz wiederhergestellt zu
sehen, sie beglückwünschte zur Genesung.

»Exzellenz!« schlürfte er, und der Speichel rann über sein Kinn.

Aber der General sah den alten Portier gar nicht. Doppelt ernst, doppelt
gesammelt durchschritt er das Foyer. Er bemerkte auch nicht die immerhin
auffallenden Verteidigungsmaßregeln. Er sah nicht die Stahlhelme, die
Offiziere, die zu Statuen erstarrten, das schwere Maschinengewehr -- wie
früher, in den alten Tagen, stieg er die Treppe empor. Nur etwas
langsamer.

Stahlhelme in den Korridoren, Offiziere, Gewehrpyramiden -- aber der
General sah sie nicht. Nachdenklich verschwand er hinter der
gepolsterten Doppeltüre mit den Aufschriften: »Vortrag. Kein Zutritt.
Anmeldung Zimmer 6.«

Aber schon dicht hinter der gepolsterten Türe war er gezwungen,
stehenzubleiben, seine Knie zitterten -- solche Anstrengung hatten ihm
die paar Treppen und Korridore bereitet.

Das alte Herz erwärmt, vollkommen beruhigt, kehrte der Portier in seine
Loge zurück.

»Ganz wie Anno Siebzig!« dachte er. »Als wir alle Angst hatten,
gefangengenommen zu werden -- und unser General sagte nur: Junge Hunde!
Ja, nichts sonst. So ist es auch heute. Man braucht nur in _sein_
Gesicht zu sehen. Keine Besorgnis, nicht die geringste -- ehek, ehek!«

                   *       *       *       *       *

Horch! Schritte.

Horch! Rufe.

Fäuste pochen an die Tore der düstern Kasernen.

Öffnet Kameraden!

Öffnet -- wir sind es . . .

Jubel!

Und die Tore der Kasernen öffnen sich: der böse Geist der düstern
Gebäude entweicht. Ein Toter liegt still auf dem Bürgersteig, mit einem
Mantel zugedeckt.

Die Morgensonne blendet durch die Straßen. Funkelnd steigt die Sonne des
9. November über Berlin empor.

Horch! Die Stadt erbebt unter dem Tritt von Hunderttausenden. Über den
tausend Köpfen schwankt ein Plakat: Nicht schießen, Kameraden!

                   *       *       *       *       *

Immer noch etwas zitternd von der Anstrengung des Treppensteigens saß
der General an seinem riesigen Schreibtisch, in die Arbeit vertieft.
Akten, Schriftstücke, er sah nicht auf. Die Fenster waren geschlossen,
die blauen Vorhänge dicht zugezogen, es war nahezu dunkel. Unfaßbar,
welche Unmenge von Arbeit sich angehäuft hatte! Ganz wie früher, vor
seiner Erkrankung, als sei alles noch wie ehedem, arbeitete der General.
Er versuchte es sogar mit einer Zigarre, ließ sie aber bald wieder
ausgehen. Die Schriftstücke flatterten in seinen Händen.

Weißbach trat ein und erstattete Vortrag. In der Stadt bis jetzt alles
ruhig. Nach ihm erschien der hünenhafte Major Wolff in der Türe, mit
einer dicken Mappe: Entscheidungen, die der Vertreter des Generals nicht
zu treffen gewagt hatte.

Auf jeden einzelnen Fall ging der General ausführlich ein, er verlor
sich in Einzelheiten. Hier mußte nochmals erinnert werden, hier empfahl
es sich, dringlich zu werden, hier war telegraphisch die Entscheidung
der höchsten Stelle zu erbitten. Major Wolff notierte. Diese
Angelegenheit aber wollte der General persönlich erledigen. Das
Befinden? Ja, danke -- um vieles besser, man kann wieder anfangen!

Wieder war der General allein, in seine Arbeit vertieft. Die
Schriftstücke wehten in seinen Händen. Kein Laut, nicht ein einziger
Laut!

Auf den Korridoren die Truppen, an allen Fenstern Stahlhelme, an den
Eingängen schwere Maschinengewehre mit Munitionskästen. Das Amt eine
Festung, die nur mit Geschützen genommen werden konnte.

Fröhlichkeit und Gelächter bei den Drillichkitteln in den Schreibstuben.
Laßt sie klingeln, mögen sie ruhig klingeln!

Das Telephon.

»Ruhe, Kameraden!«

»Die Maikäfer haben soeben Rot gehißt!«

»Hurra!«

Laßt sie klingeln, ruhig klingeln. Gelächter, Lärm.

Aber in dem großen Arbeitssaal des Generals, hinter den Doppeltüren, den
Doppelfenstern, den zugezogenen Vorhängen -- kein Laut. Die Feder, das
leichte Keuchen und Rasseln beim Atemholen, nichts sonst.

Wieder tritt Weißbach ein. Seine Sporen klingen, der General sieht auf.
Er erschrickt: ein Gesicht aus Kreide, mit blauen Lippen. Der Fernspruch
flattert in Weißbachs Hand.

Und der General erhebt sich.

Sein gelbes Gesicht wird fleckig, seine schlaffen Backen zittern. Das
breite Gesicht wird langsam grau, grau wie der Staub der Landstraße.

Er neigt den Kopf. »Danke.«

Die Sporen singen, lautlos schließt sich die Türe.

Immer noch steht der General, den Blick auf das Parkett geheftet. Auch
seine Hände sind grau geworden.

»Entflohen --«

Ja, er sieht -- plötzlich, merkwürdig genug! -- Tribünen, schwarz von
Menschen, elegante Wagen fahren heran, Damen, Orden glitzern,
Federbüsche wehen. Fremdländische Uniformen, Glanz, Pracht -- und die
Truppen ziehen vorbei -- endlos. Die Musikkapellen schwenken ein und,
gleichmäßig wie die Wellen der Brandung, rauschen die Regimenter in
tadelloser Haltung vorbei. Und hinten, weit hinten stehen sie auf dem
Feld, unübersehbar, anzusehen wie farbige Beete eines unendlichen
Blumengartens -- und alle Augen sind auf den Mann zu Pferd gerichtet --
_alle_. Eine Frühjahrsparade.

»Entflohen --«

»Desertiert --!«

Da beginnt das Parkett zu kreisen, die Wände schwingen. Die Vorhänge
flattern und verschwinden. Nebel kreist, in endlosem, kreisendem Nebel
steht das graue Steingesicht und zittert. Die grauen Finger klammern
sich an den Schreibtisch.

Stille. Er steht allein, inmitten der Unendlichkeit, ein Punkt im
Nichts, ein Pünktchen, das immer kleiner wird, schrumpft.

Aber da -- hörst du: Lärm, Brausen, Schritte wie von Hunderttausenden,
Rufe, Gesang --

Allmählich, ganz allmählich kehrt das Bewußtsein des Generals aus dem
schauerlichen Sturz in das unendliche Nichts zurück. Er lauscht. Ein
Schritt mahlt, drunten, tausendfältig. Brausen umtost das stille, rote
Gebäude, hunderttausendfältig. Er vermeidet es ans Fenster zu treten, es
wäre seiner unwürdig. Aber sein Herz pocht in höchster Erregung. Jeden
Augenblick können die Maschinengewehre hämmern -- jede Sekunde -- da!
Rufe, Tosen, ein unerklärliches Splittern, als ob dünne Balken, Bretter
zerbrächen. Was ist das? Nichts. Die Rufe entfernen sich, der Tritt der
Hunderttausend, unter dem das rote Backsteingebäude erzitterte, entfernt
sich. Wieder Stille. Gott sei Dank, ohne Blutvergießen. Die Masse war
vernünftig.

Aber diese Luft erstickt. Sie ist Blei, Eisen, sie lastet auf den Händen
wie Gewichte.

Da erschien wiederum Weißbach in der Türe. Noch weißer sein Gesicht.

Der General richtete sich auf. Breitbeinig stand er mitten im Zimmer,
die Füße auf das Parkett gepreßt, um nicht zu fallen.

Mit einem Blick übersah er _alles_!

Die Türen standen offen -- alles leer. Leer die Flucht der Arbeitszimmer
der Offiziere -- keine Seele mehr. Uniformröcke auf Stühlen und
Schreibtischen. Weißbachs kreidiges Gesicht -- und Weißbach trug Zivil
. . .

Die Wände biegen sich, wölben sich, schon stürzen sie über ihn --

»Es ist Zeit, Herr General!«


4

Unübersehbar die Menschenmenge vor dem Reichstagsgebäude, Kopf an Kopf.
Kopf an Kopf zwischen den hohen Säulen. Da tritt eine Gestalt vor,
schwingt den Hut -- Brausen! Brausen, die Riesenstadt jubelt.

Das rote Gebäude aber liegt tot! Verödet die Korridore. Die Türen stehen
alle offen, leer die Zimmer. Verschwunden die Stahlhelme,
Gewehrpyramiden und Maschinengewehre. Alles leer, ausgestorben. Nur die
großen Ballen sind geblieben, die alle Gänge des weiten Gebäudes
überschwemmten. Die Ballen mit den Karten ferner Länder, ferner
Provinzen -- der Peipussee, der Kongo . . .

Langsam steigt der General die Treppe ins Foyer hinab. Er berührt mit
der Hand das Steingeländer, zum erstenmal.

Soeben fährt Schwerdtfeger die graue Limousine aus dem Hof auf die
Straße.

»Schnell!« ruft er, mit einer ungeduldigen, respektlosen Kopfbewegung.
Die Augen des Generals erweitern sich. Wie? Er hat noch immer nicht
begriffen.

Da! Da!

Aber was ist das?

Der General taumelt zurück.

Ein Auto, ein grauer, offener Wagen, rast, fliegt -- kein Wort -- er
schnellt in langen Sätzen über den Asphalt, wie eine startende
Flugmaschine hebt er sich in die Höhe, die Funken stieben aus den Pneus.
Matrosen! Und es flattert, weht -- eine rote Flagge! Verschwunden.

Noch immer taumelt der massige Körper des Generals.

Ja, jetzt hat er begriffen. Die zerbrochenen Gewehre auf dem Pflaster --
die Truppen haben sie aus den Fenstern auf die Straße geworfen -- das
war das unerklärliche Splittern, das er gehört hatte, als zerbrächen
dünne Balken. Und der tobende Lärm in der Stadt -- jetzt begriff er.

Der greise Portier schloß den Wagenschlag.

Seine weißen Haarsträhnen flatterten im Wind, als die Limousine abfuhr.
Er hatte die Mütze abgenommen. Nein, nicht wie der alternde Moltke sah
er heute aus, mit seinem Frauengesicht. In seinem abgeschabten Mantel,
mit seinem dünnen Hals, seinen weißen, flatternden Haarsträhnen, seinem
hohlen Blick erschien er in diesem Augenblick wie ein alter Lämmergeier,
wie man sie in den zoologischen Gärten sieht.

Aber weiter, weiter! Schwerdtfeger biegt ab. Eine Mauer von Menschen.
Der Motor dröhnt. Die Limousine jagt durch den Tiergarten, weiter, immer
weiter. Schwerdtfeger versucht die Tiergartenstraße zu erreichen --
unmöglich. Wiederum Züge von Menschen. Rote Flaggen.

                   *       *       *       *       *

Schon knattert es in den Straßen!

Hauptmann Wunderlich lehnt sich mit dem Rücken gegen die Hauswand, auf
seine beiden Krückstöcke gestützt. Der Rest von Farbe weicht aus seinem
zuckenden Gesicht, er stammelt. Verwegen aussehende Matrosen umstehen
ihn.

Schüsse knallen in nächster Nähe. Mit schwerem Klatschen stürzt ein
Körper zu Boden.

»Schon gut, wir sehen ja! Aber Sie könnten doch Unannehmlichkeiten
haben, Herr Hauptmann!«

Und ein Matrose schneidet Hauptmann Wunderlich mit einem langen Messer
die Achselstücke ab.

Dies geschah Ecke Linden und Wilhelmstraße.

Die Wilhelmstraße lag, wie immer, ruhig. Ruhig und unbeteiligt vor dem
Kriege, ruhig und unbeteiligt während des Krieges und auch jetzt -- ganz
still!

Nur zuweilen öffnete sich eine Türe, vorsichtig, vorsichtig, ein Kopf
spähte -- und dann eilte jemand mit einer Mappe unter dem Arm rasch die
Wilhelmstraße hinab. Gamaschen, Lackschuhe, die Monokel waren in den
Westentaschen verschwunden. Manche gingen so rasch, daß sie über die
eigenen Füße stolperten. Auch einige Seidenhüte glitten rasch aus den
Toren, pomadisierte Scheitel, bis in den Nacken durchgezogen. Ein
hagerer Elegant stelzte eilig über die Straße, Perücke, mikroskopisches
Schnurrbärtchen unter der Hakennase, ganz kurzes Überzieherchen, er
schlenkerte höchst eigentümlich mit dem rechten Knie: vor dem Kriege
Botschafter . . .

Auch der Geheime Rat Westphal eilte mit seiner Mappe aus einer
Türspalte. Er wagte es nicht einmal, einen Blick in die Richtung der
Linden zu werfen. Sein dünner Chinesenbart wehte. Schon war er um die
Ecke verschwunden.

Hinter ihm her eilte Professor Salomon -- mit dem Kürbiskopf und den
abstehenden Ohren. Er hatte den steifen Hut tief über die Glatze gezogen
und den Mantelkragen hinaufgestülpt. Er pfiff vor sich hin, tat
unbekümmert. Aber fortgesetzt drehte er sich um, dann wagte er sogar ein
paar Sprünge . . .

»Kommen Sie, Herr Geheimrat --«

»Ah, Sie sind es! Sie haben mich tödlich erschreckt!«

»Ja, keine Kleinigkeit -- wie?«

»Gewiß, keine Kleinigkeit, großer Gott im Himmel!«

»Und ganz überraschend!«

»Ein Blitz aus heiterem Himmel, fürwahr!«

»Trotz mancher Symptome -- -- da, da! -- haben Sie gehört?«

»Ja, ganz in der Nähe! Rasch, rasch! Nichtsahnend komme ich heute morgen
ins Amt -- wir besprachen gerade in aller Ruhe die politische Lage --
England soll geneigt sein, eine wohlwollende Haltung gegen uns -- -- da
-- schon wieder!«

»Wir werden versuchen, die Leipziger Straße zu überqueren -- kommen Sie.
Ob wohl noch Züge fahren?«

»Sie reisen?«

»Ja, aufs Land, auf mein Landgut . . .«

»Ah, wie schnell Sie gehen!«

»Man muß eilen. Jede Minute ist unter Umständen entscheidend für Tod und
Leben. Lesen Sie die Geschichte der Revolutionen . . .«

Kreuz und quer jagt Schwerdtfeger. Endlich hält er und reißt die Türe
auf: »Rasch, rasch!« Willenlos gehorcht der General -- und schon fährt
Schwerdtfeger davon.

Ein Zebrakittel! »Bitte Exzellenz!«

Petersen! Schwerdtfeger hatte ihn vor der roten Backsteinvilla in der
Lessingallee abgesetzt, weil er nicht weiter konnte.

Der General zögerte. Aber auch in der Lessingallee Trupps von Menschen,
die im Sturmschritt dahineilten.

Er trat ein -- beschämt. Taumelnd tastete er sich vorwärts. Petersen
mußte an den Hauptmann denken, der immerfort sagte: Ach, wie dunkel es
ist -- ich sehe etwas schlecht . . .

»Ich werde nicht lange stören, Petersen«, stammelte der General. »Nur
einen Augenblick -- wir kamen nicht weiter.«

»Gnädige Frau werden sehr bedauern --«

Immerhin, ein Glücksfall an diesem Tage! Dora war nicht hier. Der
General atmete auf.

»Gnädige Frau reiste gestern ab -- nach Pommern, aufs Land, zu einer
Familie Olsen. Bitte Exzellenz Platz zu nehmen, ich werde sofort ein
Glas Wasser bringen.«

»Olsen, sagten Sie?«

»Ja, Olsen. Darf ich nun bitten -- eine Sekunde -- Exzellenz sind ganz
blaß geworden . . .«

»Und Hauptmann v. Dönhoff?«

Petersen tat erstaunt.

»Er wohnt schon seit einiger Zeit nicht mehr hier. Er verließ uns,
mitten in der Nacht. Aber gnädige Frau werden sehr bedauern --«

Am Nachmittag verließ ein Gutsbesitzer die rote Backsteinvilla in der
Lessingallee. Oder auch ein Jäger, wie man will, dem Äußern nach
jedenfalls eine Persönlichkeit aus der Provinz, die in Berlin von der
Revolution überrascht worden war. Dieser Gutsbesitzer trug einen nach
Kampfer riechenden, kurzen, altmodischen Jagdrock aus braunem Tuch, mit
großen Taschen, schweren Lederknöpfen, und einem schmalen, schon etwas
abgeschabten Pelzkragen. Ferner einen weichen, olivgrünen Hut, mit einer
krummen Hahnenfeder hinten, wie Jäger ihn tragen.

Kaum hatte der Gutsbesitzer die Villa verlassen, so verschloß Petersen
die Haustüre und ließ sämtliche Rolläden herab.

Immer noch blendete und funkelte die Sonne am wolkenlosen Himmel. Der
Himmel selbst strahlte Verheißung.


5

»Platz gemacht!«

»Platz!«

Die Autos rasen.

Weite graue Mäntel, Soldatenmäntel, flattern eilig durch die Straßen.
Hier, dort, überall. Es sind Hunderte, Tausende. Voller Lehm, voller
Staub, der Kalk der Champagne, der Schlamm von Flandern, mit Blut
befleckt, versengt von den Granaten, von den Gasen gebleicht,
durchlöchert -- die weiten flatternden Mäntel haben die Stadt
überflutet.

Und die Autos rasen dahin, mit Trauben von schweißtriefenden Menschen
behangen. Auf den Trittbrettern kauern sie, auf den Motorhauben, den
Schmutzflügeln, mit Gewehren und Handgranaten. Die roten Fahnen knattern
-- so rasen sie dahin.

»Platz gemacht!«

Es sind die Jungen, die gekommen sind, die neuen Gesichter, die Kühnen
und Wollenden.

»Gegrüßt Ihr Kühnen, Wollenden, gegrüßt!«

»Vorboten des kommenden Menschen, gegrüßt! Ihr Läufer, die dem neuen
Reiche vorauseilen, ihr Hoffenden, Starken, Liebeglühenden, gegrüßt
. . .«

Ackermanns weiter Mantel flattert zwischen den roten Flaggen, die die
Linden hinabrasen. Schüsse knattern. Staub fährt aus der Stadt.

Feuer speit der Vulkan und die Erde bebt -- --

Verloren -- alles, in einer einzigen Stunde . . .

Und die Armee auf dem Rückmarsch! Regimenter, Divisionen, Korps --
Hunderttausende, ja Hunderttausende. Hunderttausende -- Millionen!
Hunderttausende von Pferden und Wagen, Zehntausende von Geschützen --
die Straßen überschwemmt, Schulter an Schulter, keuchend, Rad an Rad,
krachend, Pferdeflanke an Pferdeflanke, mit Schaum bedeckt -- Tag und
Nacht, Nacht und Tag -- jetzt in dieser Minute --

Der General findet keinen Schlaf mehr.

Er _sieht_ die Riesenarmee auf ihrer Wanderung, Schauspiel, unerhört in
der Geschichte, er _hört_ sie! Er sieht die Flugzeuge, die über den
Landstraßen kreuzen und die Marschbefehle abwerfen.

Eine Stockung, und Hunderttausende sind dem Hungertode verfallen!

Eine Stockung, und Hunderttausende fallen in die Hände des
nachdrängenden Feindes -- seine Vortrupps heben sich am Horizont ab!

Eine Stockung, und Panik erfaßt Hunderttausende, die Riesenarmee
zersplittert in tausend Stücke und Banden von Verzweifelten wälzen sich
durch die deutschen Lande!

Ein Wunder . . . ein Wunder an Manneszucht und Ausdauer allein --
Europas Schicksal hing an einem Faden!

Nein, kein Schlaf kommt mehr in die Augen des Generals!

Er _sieht_ die Riesenarmee auf ihrer beispiellosen Wanderung --
beispiellos und unerhört -- aber er sieht auch, daß sie rückwärts
wandert.

_Rückwärts!_

In Eilmärschen, vom Gegner diktiert!

Niemals, niemals -- unfaßbar!

Irgendwo brennt eine elektrische Lampe, und zuweilen kriecht das graue
Antlitz durch einen dunkeln Spiegel.

Unfaßbar, ganz unfaßbar!

Der General stottert, er findet die Worte nicht mehr -- seine fahlen
Lippen bewegen sich, ohne einen Laut hervorzubringen . . .

Und hinter den dunkeln Vorhängen, hinter den herabgelassenen Rolläden,
horch! Ja, wieder!

Da ist er wieder! Er mahlt.

Der Schritt! Hunderttausendfältig, ohne großen Lärm, wie ein Volk, das
aufgebrochen ist und seinem Ziele zuwandert -- ohne sonderliche Eile,
denn es weiß, daß es sein Ziel erreichen wird. Dieser Schritt verfolgt
ihn. Tag und Nacht wandert der Schritt der Hunderttausend an seinem
Fenster vorbei. Eine Armee ist aufgestanden und wandert. Eine Armee, die
irgendwo verborgen lebte. Wo waren sie bis heute? Er hatte sie nie
gesehen. Lebten sie in der gleichen Zeit, in der gleichen Stadt? Ja,
weshalb sah er sie nie? Die Vielen, die Unbekannten -- mit diesen Augen,
die nicht Augen von Menschen waren, von Wölfen, Füchsen, Adlern und
Geiern. Mit diesen Gesichtern, die er früher nur in Träumen sah. Wo
hatten sie gelebt bisher, wo hatten sie sich verborgen gehalten?

Horch! Woher? Wohin?

Endlos, ohne Aufhören wandert der Schritt der Hunderttausend. Selbst im
kurzen Schlaf der Erschöpfung hörte er ihn.

Der General nimmt den weichen Hut, und das graue Steingesicht -- grau
wie der Staub der Landstraße -- erscheint in dem kleinen, kahlen
Vorgärtchen.

Die Augen der Wölfe und Füchse, die stechenden Augen der Geier gleiten
prüfend über das breite graue Gesicht, und ihr Blick dringt in die
Dunkelheit der schwarzen Augenhöhlen. Da aber beginnt es in den
Dunkelheiten dieser finsteren Augenhöhlen zu glühen und zu sprühen --
noch ist es nicht _so weit_!

Ein neues Geschlecht, ein verborgenes, unbekanntes, ungeahntes, nie
gesehenes, war aus der Erde gestiegen.

Rufe, Schreie branden über den mahlenden Strom der Neuen, Niegesehenen
dahin. Der General versteht sie nicht. Fahnen, Plakate, Inschriften,
unverständlich. Lieder, Gesang -- unverständlich.

Still steht er -- ja, wie ein Baum, die Blätter sind gefallen, ein
kahler Baum, und ringsum ist nichts, nichts, Nebel, soweit das Auge
blicken kann. Und der Baum fröstelt, krümmt sich im Wind.

Endlos, in Wahrheit! Die Erde hat sich geöffnet und die Lava strömt --
langsam und ohne jedes Ende.

Schon wandert er neben dem endlosen Strom dahin und verliert sich in den
Straßen. Die Hände in den weiten Manteltaschen des altmodischen
Jagdrocks, den weichen Hut in die Stirn gezogen -- und den Schnurrbart
hat er etwas gestutzt, nicht viel, einen, zwei Daumen breit.

Straßen ohne Ende wandert er hinab. Er überquert Plätze, blickt in
Seitengassen. Sein düsterer Blick zuckt über die Züge der Demonstranten.
Nicht einmal die Autos mit den roten Fahnen läßt er vorüberfahren, ohne
die Gesichter zu prüfen. Aber er läßt sich nicht entmutigen, weiter,
hinab die Straße, hinauf -- er _sucht_.

Ja, er sucht!

Die Straßen sind überschwemmt von Menschen. Die Dämme sind gerissen, die
Flut spült durch die Stadt. Aus den Vorstädten, aus den Fabriken, die in
den Nächten -- in wie vielen endlosen Nächten! -- gleißten, waren sie
gekommen, die gelben Gesichter, die Arme vom schlechten Öl zerfressen,
die Augen entzündet von der stechenden Flamme der Bogenlampen. Auch die
Bleichen und Fahlen, die den Tag seit Jahren nicht sahen, waren
gekommen. Auch sie waren gekommen, die sich von Rüben und faulen
Kartoffeln nährten, während der Kellner in Stifters Diele Geheimnisse in
das Ohr der Gäste raunte. Auch sie waren gekommen, die noch die Lügen
glaubten, während die Eingeweihten schon lange die Wahrheit kannten.
Auch sie waren gekommen, die ihren dünnen, abgescheuerten Ehering
opferten, während in den Schlössern die Leuchter aus schwerem Gold und
Silber auf den Tafeln standen. Auch sie waren gekommen, die Elenden, die
nicht einmal mehr ein Hemd auf dem Leibe trugen.

Von da draußen -- da draußen -- --!

Die Hohläugigen, die Vergessenen, die Ausgespieenen, die lebendig
Begrabenen, die Verfehmten, die Gemarterten, die Gekreuzigten -- ja, von
ihren Kreuzen waren sie gekommen.

Auch die Frauen waren gekommen, die die Frucht ihres Schoßes, ohne zu
feilschen dem General hingegeben hatten.

Auch sie waren gekommen, die Frauen, deren Männer längst in den
Massengräbern moderten, auch die Mütter waren gekommen, die ihre
Säuglinge an der versiegten Brust sterben sahen.

Auch sie waren gekommen, die Wahnsinnigen, die Krieg und Not um den
Verstand gebracht hatte, auch sie, die Sterbenden, erschöpft zu Tode von
Gram und Mühsal, auch sie schlichen auf zitternden Beinen dahin. Auch
die Verzweifelten, die das Leben nur noch nach Stunden maßen, auch sie
waren gekommen.

Auch die Tapferen waren gekommen, die Mutigen, die selbst in den
furchtbaren Jahren nicht den Glauben an den Sieg ihrer Sache verloren
hatten. Gepriesen sei ihr Name!

Geboren von Müttern? Gezeugt in Betten? fragte der General.

Ja, natürlich, was für eine Frage, geboren von Müttern. Gezeugt in
Betten und überall, hinter Zäunen, auf den Bänken der öffentlichen
Gärten -- was für eine Frage, als ob es darauf ankäme?

Die Erde war geborsten, und sie kamen heraus. Die Formlosen,
Ungeformten, selbst noch Erde. Die Verschütteten waren ans Licht
gekommen, die Explosion hatte sie befreit. Die Kasernen und Zuchthäuser
waren geborsten. Auch die Schutzhäftlinge -- Tausende und aber Tausende,
die im Wege waren -- sie waren frei. Auch jener Inder, den ein Geheimer
Rat drei Jahre in Schutzhaft hielt, er war frei, und sein Peiniger
bestellte ihm ein Hotelzimmer, um selbst rasch ins Ausland zu
entfliehen.

Verschwunden die auf den Mann dressierten Berittenen und die Blauen, die
gleich mit dem scharfen Säbel einschlugen. Verschwunden auch jenes
Polizeigehirn, das eine Bibel von Verordnungen verfaßt hatte, die jeden
Schritt von der Geburt bis zum Grab regelte. Fort mit ihm!

Fahrdämme und Bürgersteige sind überschwemmt. Redner überall. Auf Autos,
Wagen, Karren, Bänken. Der _Stumme_, Jahrzehnte, Jahrhunderte stumm
gehalten, nun spricht er!

Soldaten überall, einzeln, in Trupps, in Scharen, in ihren armseligen,
geflickten Uniformen. Durch das Blutmeer sind sie geschritten, dem
Blutmeer sind sie entstiegen, noch sind sie betäubt vom Geruch des
Menschenbluts, schon aber glänzt neue Hoffnung in ihren Augen.

Düster gleitet der Blick des Generals über sie hin, seine Lippen zucken:
die deutsche Armee --

Er fröstelt.

Kriegsgefangene, auch sie sind frei. In Rudeln schieben sie sich durch
das Gedränge: Franzosen und Russen, Italiener und Engländer, Schotten
und Irländer, Kanadier, Neger, Australier, Inder, in allen denkbaren
Uniformen. Sie rauchen, kratzen sich die stachligen Backen, spucken aus,
schnattern. Einer humpelt auf seinem Holzstumpen dahin, aber er lacht.
Ja, weshalb nicht? Der Krieg ist gewonnen, der Präsident wird ihn auf
die Wange küssen und ihm eine Blechmünze auf die Brust heften. Sein
Vaterland wird ihm eine Rente aussetzen, zwanzig, dreißig, vielleicht
hundert Franken den Monat, eine Drehorgel wird er gratis erhalten, er
hat keine Sorge mehr.

Schon aber wandeln sie stolz und unnahbar durch die kochenden Straßen,
die Brust voller Ordenssterne, mit roten Streifen an den Hosen, Litzen
und Tressen glitzernd und funkelnd: die Sieger! Ein Geruch von Lorbeer
bleibt hinter ihnen zurück.

Von weitem schon erspäht sie das Auge des Generals. Rasch begibt er sich
auf die andere Seite der Straße und sieht sie dahinwandeln. _Sie_ also!
Die Würfel fielen.

Auch in seinen düstersten Träumen -- Ja, oft hatten ihn düstere Träume
gequält, oft schien es ihm, in müden Stunden, als ob es zuviel sei, ja,
trotz der wunderbaren Armee und der herrlichen Organisation, zuviel --
aber selbst in seinen düstersten Träumen hatte er es nicht für möglich
gehalten, daß einst die Uniformen der feindlichen Generalstäbe unter den
Linden zu sehen sein würden.

                   *       *       *       *       *

Hell gegen den funkelnd blauen Himmel, hell und leuchtend flattert die
rote Fahne über dem Schloß.

Versprechungen -- Lügen, freie Meinung -- Gefängnis, Freiheit --
Kartätschen; ja, nun also flattert die rote Fahne auf dem Schloß.

Im Gebäude des Reichstags tagt das Parlament der Novembermänner, im
Abgeordnetenhaus und im Herrenhaus, wo die Greise noch gestern um
Nichtigkeiten feilschten, beraten sie. Wo man nur flüsterte, tobt der
Lärm, wo Diener die Stiefel des Unbekannten musterten, kauern die Posten
bei ihren Maschinengewehren. Fort die Gehröcke und Gamaschen, die
Flüsterer, die wehenden Greisenbärte und funkelnden Glatzen, die krummen
Rücken!

Hüte dich! Wie eine Stichflamme brennt die neue Sonne am Himmel. Sie
stieg empor aus dem weiten Rußland, benetzt von Blut und Tränen. Sie hat
die Weichsel überschritten. Sie wird den Rhein überschreiten. Sie wird
den Kanal überschreiten -- benetzt von Blut und Tränen. Jenseits des
Atlantiks wird sie aus dem Meer steigen, und die Stahlkammern der
Wolkenkratzer werden in der Stichflamme dahinschmelzen -- auch die
Pyramiden der ägyptischen Könige sind heute nicht mehr als Steinhaufen
ohne jeden Sinn.

Auch aus den Fluten des Stillen Ozeans wird sie eines Tages auferstehen,
wo die gelben Völker wohnen.

Die Greise, die Grausamen, die Vermessenen, die die Geschicke der Völker
lenken, wird sie verzehren, die neue Sonne; ehe sie es gewahr werden --
ehe sie lallen können, werden sie nicht mehr sein.

Die Geschichte wird ihre Namen verzeichnen, wie sie den Namen Neros
verzeichnete, der Menschen als Fackeln brannte. Aber vor ihren Namen
wird Neros Name verblassen.


6

Zuweilen glitt ein kecker Soldatenblick über das graue Gesicht, und ein
keckes Auge versuchte in das Düster unter den grauen Brauen
einzudringen. Ein paar Unverfrorene gingen sogar eine Weile neben ihm
her und musterten ihn von oben bis unten. Das Düster unter den grauen
Brauen erhellte sich, und die Unverschämten entfernten sich schwatzend
und lachend.

Das Gesicht des Generals flammte. Diese Verworfenen! Und doch --
sonderbar: Furcht hatte ihn beschlichen, als sie ihn musterten.

Wieder war ein Blick auf ihn geheftet. Dieser Blick flog einem
dahinfegenden Auto voraus. Er kam aus einem lachenden, heiteren Gesicht,
ein neugierig forschender, gutherziger Blick, und trotzdem fühlte er
ihn.

Dieser neugierig forschende Blick ging aus von einem kleinen Feldgrauen
mit einer winzigen Mütze auf dem Ohr. Er saß, den Gürtel gespickt mit
Handgranaten, auf dem Kühler des dahinjagenden Autos, das bis zum Rande
gefüllt war mit Soldaten und Matrosen.

Es war Hanuschke, in der Tat -- man erinnert sich, der um sein Leben
lief, während der General in Stifters Diele Spargel aß -- auch er jagte,
der krummbeinige, kleine Hanuschke, mit der roten Narbe zwischen den
Augen, auf diesen Donnerwagen durch die Straßen. Er war guter Dinge. Er
lebte und konnte es noch nicht fassen. Und weil er lebte, lachte er.
Niemand wünschte er etwas Böses -- und dieses graue Gesicht, es war ihm
nur so aufgefallen.

Aber er erkannte es nicht wieder, es schien ihm nur, als habe er es
irgendwo gesehen. Und der General, er hatte diesen kleinen Feldgrauen
mit der Narbe zwischen den Augen überhaupt nie erblickt.

Doch, was ist das?

Fahnen, Plakate, und die Fußgänger treten zurück. Durch die Linden
gleitet und schwankt eine Prozession, die alle Blicke auf sich lenkt.

Seht!

Auf Krücken, auf Stelzfüßen schwingen sie sich daher, Dutzende ohne das
rechte Bein, Dutzende ohne das linke Bein, Dutzende ohne Beine. Eine
Anzahl wird von Kameraden auf Karren geschoben, sie sind gelähmt.
Scharen werden von Hunden geführt, sie sind blind. Sie haben keine
Hände, keine Arme, leere Ärmel in die Taschen geschoben. Ihre armseligen
Uniformen verbergen gräßliche Verstümmelungen.

Seht, seht, ihr Menschen!

Sie kriechen wie Insekten dahin, sie kriechen wie Krabben, seitlich, sie
humpeln. Ihre Gesichter sind zerschmettert. Sie haben keine Nase, kein
Kinn, ein roter Spalt ist der Mund. Ihre Gesichter sind schwarz- und
blaugebrannt, sie haben keine Ohren, die Hälse sind verdreht, die Köpfe
stehen zur Seite.

Seht, seht, ihr Menschen! Fallt in die Knie!

Ihre Augenhöhlen sind Löcher, die Lider darüber genäht, weiße Kugeln im
roten Fleisch. Treu und achtsam trippeln die Hunde, die sie führen. Seht
ihr Menschen, es sind nur Tiere.

Auch sie sind auf die Straße gekommen. Was hat man ihnen nicht alles
versprochen, in feierlichen Ansprachen, Proklamationen, Erlassen?

Hier also sind sie!

Die Fußgänger weichen gegen die Häuser zurück und erbleichen. Nur die
Feisten, die im Kriege dick wurden, sie empfinden nichts.

Der General steht mit dem Hute in der Hand.

Wieder kochten die Straßen von Menschen und roten Fahnen. Wieder
gerannen sie zuweilen, und es bildeten sich eine Menge Inseln von
debattierenden Menschen.

Die Novembermänner jagten auf ihren Wagen dahin. Lastautos schoben sich
durch das brodelnde Meer der Köpfe, mit Maschinengewehren, roten Flaggen
und Rednern, die zur Menge sprachen.

Drehorgeln, Feldgraue, die Geige spielten auf einer Zigarrenkiste,
blinde Soldaten, die sangen, Soldaten, die tanzten, auf den Händen
liefen, wie Akrobaten Stühle in den Zähnen trugen -- und Scharen von
Verkäufern in grauen Soldatenmänteln, mit Waren aller Art.

Plötzlich aber stoben die Menschen auseinander. Beine eilten, Arme
ruderten durch die Luft, Hüte rollten über den Asphalt. Gewehrfeuer
knatterte. Ein Maschinengewehr feuerte -- und schon waren die Straßen
reingefegt. Nur ein paar verwegene Feldgraue sprangen noch an den
Häusern entlang, von Torweg zu Torweg.

Lautlos glitt ein graues Panzerauto über den Asphalt.

Es huschte die Straßen entlang und verschwand.

Und schon wimmelten die Straßen wieder von Menschen, die Drehorgeln
leierten wieder, die Verkäufer waren wieder mit ihren Kästen und
Schachteln zur Stelle, und die Akrobaten begannen von neuem mit den
Stühlen zu arbeiten.

Schon bog ein neuer, unübersehbarer Zug von Menschen, Kopf an Kopf,
brodelnd von Flaggen und Inschriften, in die Straße ein.

                   *       *       *       *       *

Aus diesem unübersehbaren Zug löste sich plötzlich ein rostfarbener
Havelock, ein steifer Hut. Jemand rief, winkte.

»Herr Herbst!«

»Ah, Sie sind es?«

»Ja, ich! Um Gottes willen --!«

»Um Gottes willen? Und Sie rufen, schreien meinen Namen -- als ob wir
alte Freunde wären --? Und wie Sie aussehen, du meine Güte!«

»Ja, wie ich aussehe!«

Herr Herbst schob den steifen Hut aus der Stirn, denn er schwitzte vor
Erregung. Sein Gesicht war gerötet, die Bäckchen gedunsen. Eine rote
Schleife leuchtete an seinem Havelock.

Augenblicklich zerrte ihn Herr Kunze, der schmächtige, semmelblonde
junge Mann eifrig abseits.

»Helfen Sie mir, um Christi willen!«

»Ihnen?« Herr Herbst trat zurück.

Kunze nahm den Kneifer ab, putzte ihn aufgeregt und sah sich furchtsam
um. Sein Überzieher, sonst säuberlich gebürstet, war bestaubt und
verknittert, der grüne Plüschhut voller Schmutz.

»Ja, mir! Seien Sie barmherzig! Nichts zu essen seit Tagen, kein Geld,
kein Obdach, immer auf der Flucht. Wir sind ja gleich am ersten Tage
geplatzt.«

»Geplatzt?«

»Ja, unsere Dienststelle. Die Fenster zertrümmert, die Schränke
zerschlagen, alles verwüstet, die Akten auf die Straße geworfen. Wohin
sollen wir uns wenden. Niemand wagt es, sich mit uns einzulassen. Sehen
Sie, hier!«

»Eine Schramme!«

»Ein Schlag über den Kopf! Sie haben mich erkannt, die Gefängnisse sind
ja geöffnet worden -- und da haben sie mich erkannt. Sie haben mich
mißhandelt und in den Kanal geworfen.«

»In den Kanal, hahaha!«

»Sie lachen? Ja, über die Brücke, aber ich konnte mich an einem Kahn
festhalten -- so saß ich im Wasser, bis sie fort waren. Und gestern, da
haben sie mich wieder erkannt, andere, die Stadt wimmelt von ihnen, und
verfolgt -- durch ganz Berlin. Ich bin gelaufen, schrecklich, um mein
Leben bin ich gelaufen. Ich flehe Sie an, auf den Knien. Helfen Sie
mir.«

»Ihnen? Hahaha! Die Zeiten haben sich geändert. Die Gerechtigkeit ist
wieder in die Welt gekommen. Ein jeder nach seinen Verdiensten.«

»Ach, auch Sie hartherzig! Und ich hoffte, Hoffnung erfüllte mich, als
ich Sie sah. Ich habe keine Wohnung, kann nirgends bleiben. Ach, Sie
ahnen es ja nicht! Wissen Sie, wo ich schon in diesen Nächten geschlafen
habe?«

Kunze zerrte Herrn Herbst in ein Haustor und flüsterte.

»Ist es zu glauben, daß ein Mensch da schläft? Eine barmherzige, alte
Frau. Erst morgens konnte ich wieder heraus. Gewöhnlich schlafe ich
zwischen Bretterhaufen, klettere über Zäune. Dann kommen plötzlich Hunde
-- entsetzlich!« Wieder glitt Kunzes Blick furchtsam über die beiden
Soldaten, die hinter dem kleinen Herrn Herbst aufgetaucht waren und ihm
überallhin folgten.

»Schlimm, sehr schlimm!« sagte Herr Herbst mit einem spöttischen
Zwinkern der kleinen entzündeten Augen. »Und _ihn_? Haben Sie _ihn_
schon gesehen?«

»Ihn? Wen?«

»Nun ihn, den ihr vom Dache -- da, am Anhalter Bahnhof --?«

»Wie? Wie? Was --?«

»Ja, ich habe ihn gesehen!«

»Wie? -- Sie machen mich irrsinnig!«

»Ja, gesehen. Nicht er ist es, natürlich nicht. Ihr habt ihn ja getötet.
Aber sein Bruder. Ein Jäger! Sieht genau so aus wie er -- ich dachte es
im ersten Augenblick. Nur etwas jünger. Und die Dame -- Sie erinnern
sich -- _jene_ Dame?«

»Natürlich. Wir hatten wenig solch interessante Fälle.«

»Ja, auch sie habe ich gesehen. Hier, sehen Sie, dieser Zettel. Hier.«
Kunzes Spitzelaugen funkelten. »Sie fuhren zusammen auf einem Auto --
auf einem Auto mit roten Flaggen -- und warfen diese Zettel auf die
Straße.«

»Gott stehe mir bei --«

»_Ihm_ dürfen Sie nicht in die Hände fallen! Auch _ihr_ nicht!«

»Helfen Sie mir um Christi willen. Retten Sie mich!«

»Hahaha!«

»Geben Sie mir Geld, damit ich entfliehen kann.«

»Und einmal wollten Sie mich verhaften!«

»Ich weiß es!«

»Meine Wohnung haben Sie an sich gerissen und entweiht. In eine
Irrenanstalt wollten Sie mich bringen lassen -- drohten mir, verfolgten
mich auf Schritt und Tritt. Sagten, ich sei geistesgestört.«

Kunze wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Alles Befehl«, stammelte er, und hielt Herrn Herbst am Mantel fest. »Es
wurde befohlen, und ich mußte gehorchen. Man hätte Sie ja sofort in ein
Irrenhaus gebracht, weil Sie diesem hohen Offizier lästig wurden -- ich
aber bürgte für Sie, setzte mich für Sie ein, aus Mitleid . . .«

»Und in die Zwangsjacke wollten Sie mich stecken lassen! Ja, jedem wird
gemessen werden nach seinen Verdiensten, Gerechtigkeit herrscht wieder
in diesem Lande. Ich darf wohl bitten!«

»Auf den Knien, Herr Herbst, verehrtester --!« Kunze klammerte sich an
den Havelock.

Da aber wandte Herbst den Blick auf die beiden Soldaten, die nicht von
seiner Seite gewichen waren. Ein Blick nur, aber er genügt!

Augenblicklich trat einer der beiden Trabanten vor.

»Was will er denn?« fragte eine tiefe, rauhe Stimme.

Kunze preßte den Kneifer auf die Nase, lüpfte den grünen Plüschhut, und
schnell, schnell verschwand sein dünner Überzieher in der Menge.

Schon schwang Herr Herbst wieder den steifen, verschwitzten Hut und
schrie, rot vor Erregung: »Hoch! Hoch! -- Nieder! Nieder!«

Schon waren er und seine zwei Trabanten wieder mit dem endlosen Zuge
verschmolzen, der sich breit durch die Straße wälzte.

»Hoch! Hoch! -- Nieder! Nieder!« schrien seine Trabanten. Tag für Tag
trotteten sie schwitzend und aufgeregt durch die Straßen. Jedem Zug,
einerlei welcher politischen Partei, schlossen sie sich an.

Seine beiden Trabanten waren: ein kleiner, stämmiger, etwas
ausgewachsener Infanterist, eine Grabentype mit weitem Mantel,
Transportarbeiter von Beruf, der einen Konzertflügel auf den breiten
Schultern trug, und ein hagerer Artillerist mit schwarzem Schnurrbart,
schwarzen Brauen, schwarzen, wirren Haaren und schwarzen Augen, einer
kleinen, runden Mütze und einem braunen, gestrickten Wollkittel mit
Perlmutterknöpfen. Herbst hatte die beiden auf der Straße gefunden und
sie adoptiert, mit einem Wort. Sie waren seine Gäste im »Löwen von
Antwerpen«, er ernährte sie, sie tranken, und er bezahlte.

Dafür waren sie ihm aber auch blind ergeben. Sie lasen die vergilbten
Briefe, die er in seiner Tasche trug -- lasen -- verstanden -- sofort!
Sie kannten ja das alles, kamen selbst von da draußen und wußten wie es
zuging. Aufmerksam hörten sie zu, wenn er von Robert erzählte -- von dem
Sturmangriff am 5. August, und schon am 4. war kein einziger
zurückgekommen. Stundenlang hörten sie zu und immer wieder. Die Augen
quollen aus ihren Schädeln.

Der schwarze Artillerist erhob sich, ergriff die Flasche und schlug
damit auf den Tisch.

»Sage ein Wort -- ein Wort genügt! Du brauchst nur zu sprechen!« Und er
warf lässig ein feststehendes Messer mit Hirschhorngriff auf den Tisch.

Auch der stämmige Infanterist erhob sich und schob den breiten Nacken
vor.

»Du kannst dich verlassen auf uns. Soll es morgen sein?«

»Ich werde schon -- wartet nur, Geduld.«

Und der hagere, schwarze Artillerist tanzte auf seinen langen Beinen,
schwang das Glas und sang mit rauher, tiefer Stimme seinen Trinkspruch:
»Licht aus, Messer raus! Haut ihn!«

Und nun tranken sie alle drei die Gläser leer.

Ja, blind ergeben.

Vorläufig aber trotteten sie geduldig in diesem endlosen Zug unbekannter
Menschen.

»Hoch! Hoch!« schrie Herbst und hob den steifen Hut.

»Hoch! Hoch!« schrien die Trabanten und schwangen die Mützen.


7

Schon wird es Nacht.

Der Wind pfeift durch die Linden, die Fenster klirren. Qualm schlägt aus
den Häusern, die Stadt raucht. Der Wind braust um das düstere Schloß,
die Säulen wanken. Die Rosselenker am Portal knicken zusammen unter den
Hufen der Rosse. Aber plötzlich wird es still, ganz still, der Wind
schweigt, und ein eisiger Luftstrom schiebt sich über die Linden dahin,
ein wandernder Block von Eis.

Dunkle Wolken fliegen über die Stadt, schwarz, eine hinter der andern --
wie sie jagen! Gespenstisch!

Ja, gespenstisch, es sind die Toten, die Gefallenen, die über die Stadt
dahinjagen und auf den Wolken stehen. Die Kälte des Grabes fällt aus
ihren grauen, vereisten Soldatenmänteln. Denn sie lagen lange in der
kalten Erde.

Der General erschauert, er zieht frierend den Mantel mit dem blutroten
Aufschlag über der Brust zusammen. Er sieht die Toten nicht da oben auf
den schwarzen Wolken, aber er fühlt die entsetzliche Kälte, die sie
mitbringen.

Feuer spritzt vor seinen Füßen, ein Insekt schwirrt zischend an seinem
Ohr vorbei. Schüsse knallen.

Nein, nicht der Mantel mit den blutroten Aufschlägen, er ist in Zivil,
aber er hatte es für Augenblicke -- wie lange? -- vergessen.

Aus den finstern Straßenschluchten blasen Feuerfunken, aber der General
fürchtet die Kugeln nicht. Er wendet ihnen die Stirn zu, er öffnet die
Augen und blickt ihnen entgegen, er bietet ihnen die Brust dar und
bleibt sogar stehen. Unbeirrt verfolgt er seinen Weg. Nur die
entsetzliche Kälte, die aus den jagenden schwarzen Wolken fällt, erfüllt
ihn mit Schaudern.

Licht in einer dunkeln Straßenschlucht. Ein totes Pferd liegt auf dem
Pflaster. Schatten umdrängen den Kadaver, Soldaten und Weiber mit
Messern. Sie zerlegen das Pferd und wickeln blutige Fleischstücke in
Zeitungsfetzen und Schürzen. Dort an der Ecke ein Auto mit dem Zeichen
des Roten Kreuzes. Eine helle Bahre gleitet durch den Lichtschein.

Und wiederum Finsternis, ohne Ende. Die Straßen sind dunkle Katakomben,
Riesenschatten tanzen über die verlassenen Plätze, Schrecken lauert in
den finstern Haustoren. Manche Straßen sind wie mit Schnee bedeckt. Das
sind die Massen von Zetteln und Aufrufen, die täglich auf die Stadt
niedergehen. Der Fuß des Generals raschelt in ihnen. Da! Der Schrei
eines getroffenen Menschen. War es eine Frau? Ja, eine helle Stimme. Und
das Feuer prasselt. Der Widerhall klopft an den Häuserwänden. Der
Widerhall klopft im Herzen des Generals. Jede einzelne Kugel trifft ihn
ins Herz. Zu Ende! Alles zu Ende! Schon töten sie sich gegenseitig.

An den Straßenecken ist ein Plakat angeschlagen: Berlin, halt ein, Dein
Tänzer ist der Tod!

Ja, zu Ende --

Der Schritt des Generals stockt. Mitten auf dem Trottoir liegt, Arme und
Beine von sich gestreckt, in einer Lache von Blut, ein toter Matrose.
Rasch geht der General auf die andere Seite. Aber schon wieder
erschauert er. Etwas weht feuerrot in der Dunkelheit, etwas fließt
schimmernd weiß dahin, blitzschnell. Sein Herz bleibt vor Schrecken
stehen. Gespenster? Gespenster in Berlin? Nein, es sind Masken,
Vermummte, die eilig die Straße entlang huschen.

Tanzmusik und der Lärm eines Balles hinter herabgelassenen Rolläden.

Und wiederum Finsternis, Leere, Stille, die Stadt ist tot. Nur dann und
wann klatscht ein Schuß. Das Gewehrfeuer prasselt in der Ferne.

Plötzlich empfindet der General deutlich, daß irgend etwas nicht in
Ordnung ist. Er fühlt die Nähe eines Menschen.

Ein Schritt wandert hinter ihm! Immer hinter ihm her.

Und auch drüben, auf der andern Seite der Straße -- ist es nicht
auffallend? -- schlürfen plötzlich Schritte. Zuweilen, wenn die
Dunkelheit durch einen Lichtschein erhellt wird, sieht er drüben zwei
kleine Gestalten dahinkriechen, die mit den Händen winken.

Und der Schritt knirscht hinter seinen Fersen her. Er überquert die
Straße, der Schritt folgt ihm, er biegt um die Ecke, auch der Schritt
biegt um die Ecke.

Da -- nun spürt er den Atem seines Begleiters im Nacken. Eine tiefe,
rauhe Stimme raunt dicht an seinem Ohre:

»Ich kenne dich!«

Der General zuckt zusammen. Er eilt weiter, er wagt nicht zur Seite zu
blicken.

Und abermals raunt die Stimme:

»General Hecht-Babenberg!«

Drüben, auf der andern Seite, winken die Arme, winken zwei kleine,
bleiche Hände.

Der General eilt, aber sein Begleiter eilt mit großen Schritten neben
ihm her. Es macht ihm nicht die geringste Mühe mitzukommen. Schon
beginnen die zwei Kleinen auf der andern Seite zu laufen.

Lauter beginnt die Stimme des Unbekannten zu raunen, und plötzlich zuckt
der General zusammen. Die Stimme hat ein furchtbares Wort ausgesprochen,
ein schreckliches Wort -- unsägliche Beschimpfung.

Nun rufen die auf der andern Seite. Sie winken und schreien: »Komm doch,
komm doch!«

Da bleibt der Schritt plötzlich hinter ihm zurück. Ein Lachen klingt
durch die finstere, menschenleere Straße. Eine rauhe, häßliche Stimme
schreit: »Licht aus, Messer raus!«

                   *       *       *       *       *

Der General hatte keine Angst vor der Kugel, nein. Aber während der
Unbekannte ihm folgte, hatte er in der furchtbaren Angst gelebt, daß
plötzlich eine Faust nach ihm schlagen könnte. Unausdenkbare Schmach!
Nur aus diesem Grunde war er entflohen, aus keinem andern.

Wer war es, was wollten sie? Und weshalb dieser furchtbare Schimpfname?
Nie, auf Ehre und Gewissen, niemals hatte er von seiner Truppe mehr
verlangt, als das Interesse des Vaterlandes unbedingt erforderte!

In Schweiß gebadet, völlig außer Atem, kam er wieder in belebtere
Gegenden.

Ein Eishauch entströmte dem dunkeln Tiergarten. Kein Licht, keine
Laterne, nichts. Die Fensterläden der Häuser geschlossen, die
Fensterscheiben schwarz. Und schwarze Wolken jagten über die kahlen
Wipfeln des Parkes dahin. Ein Auto, besetzt von Schatten, flog die
finstere Straße entlang. Unaufhörlich erscholl der warnende Ruf: »Straße
frei! Straße frei!«

Die dumpfen Detonationen von Handgranaten ertönten drinnen in der Stadt,
irgendwo.

Nacht ohne Ende, Nacht der Schrecken!

Auf der Treppe seines Hauses fuhr der General erschrocken zurück:
Beinahe wäre er auf einen Menschen getreten!

Wer war hier? Zitternd stand der General.

Etwas wie ein großer, massiger Tierkörper schob sich schleifend die
Treppe empor. Ein unerklärliches Geräusch, eine Vibration ging von der
dunkeln Masse aus, wie wenn jemand vor Kälte zittert.

Der General lauschte, dann rieb er zögernd ein Streichholz an.

Auf der dunkeln Treppe kauerte ein Soldat mit zwei kurzen Krückstöcken
unter den hochgezogenen Schultern. Der Körper des Krüppels wurde
unaufhörlich von einem schrecklichen Zittern geschüttelt. Schmutz klebte
an seinen Kleidern, seine Beinstumpen waren vollkommen vom Straßenkot
durchweicht. Ausdruckslos verschwamm der Blick seiner halbgeschlossenen
Augen im erlöschenden Licht des Streichholzes.

Der General beugte sich zu dem Krüppel herab.

»Was haben Sie -- sind Sie krank?« fragte er. Er fragte nur, um dem
zitternden Haufen Fleisch einen Laut, eine Äußerung seines menschlichen
Wesens, zu entlocken. Hastig kramte er in seinem Überrock nach Geld, der
Gedanke fuhr ihm sogar durch den Kopf, den Soldaten mit sich ins Haus zu
nehmen.

Der Krüppel stieß Laute aus wie ein Taubstummer, ein Röcheln entstieg
seinem krampfhaft geöffneten Mund.

»Wo sind Sie verwundet worden, mein Sohn?« fragte der General und beugte
sich noch tiefer herab. Auch er, der Krüppel, strömte Kälte aus.

»Wo? Sprechen Sie doch. Wo?«

Mühsam schüttelte der Krüppel Silben aus dem Mund.

»Wo? Ich verstehe nicht.«

Aber plötzlich taumelte der General in die Höhe.

Er hatte verstanden!

Nun zitterte er genau wie der Soldat.

Hastig, ohne zu denken, ließ er ein paar Geldscheine fallen und stieß in
aller Eile die Türe auf. Aber als er ins Haus treten wollte, fühlte er
plötzlich, wie sein rechter Fuß von einer Hand umklammert wurde, die ihn
festzuhalten suchte. War der Krüppel gefallen, suchte er Halt, suchte er
seinen Dank auszudrücken? Der General stieß die Hand von sich und trat
keuchend in die dunkle Diele.

»Therese!« Oder, was er sonst rief. Jedenfalls rief er etwas, und seine
Stimme klang schrill, wie ein Hilferuf.

»Drehen Sie das Licht an, Therese, ich kann den Schalter nicht finden.«

Aber augenblicklich wankte der General aus dem Lichtschein.

Quatre vents! Quatre vents!

Von der Höhe kam er, der da draußen --

Lange Zeit saß der General regungslos in irgendeinem dunkeln Zimmer.

Dann klingelte er dreimal. Das bedeutete: so schnell wie möglich
servieren. Er hatte seit dem Morgen nichts genossen. Therese beeilte
sich. Jakob? Wangel? Wohin? In der ersten Stunde waren sie von ihm
gegangen, ebenso wie Schwerdtfeger. Ja, selbst Jakob, dieser biedere
Bauernbursche, dessen Augen aufleuchteten, so oft er ihn ansprach.
Trotzdem -- in der ersten Stunde, mit einem völlig ungültigen
Urlaubsschein, ausgestellt von irgendeinem Soldatenrat.

Als Therese eintrat, saß der General an dem großen, runden Speisetisch,
in seinem weiten grauen Feldmantel, der bis zur Erde reichte, den Kragen
hinaufgestülpt. Er war in sich zusammengesunken. Aber wie sah er aus?
Nicht mehr grau -- schneeweiß.

Seine Augen starrten.

Einer von der Höhe!

Quatre vents!

Seine starrenden Augen sahen Bündel von roten Leuchtkugeln in die Nacht
steigen -- wie damals, in jener Nacht, als er die Höhe verlor.

Einer von jenen! Wie war er hierher gekommen? Seine Zähne schlugen
aufeinander.

»Sehen Sie nach, Therese,« flüsterte der General, und seine Stimme nahm
bei jedem Wort eine andere Lage an, »vor der Türe ist ein Soldat.
Bringen Sie ihn herein.«

Und wieder klapperten die Zähne des Generals. Aber Therese kam zurück.
Niemand war auf der Treppe.

»Niemand?«

Ja, vielleicht hatte er sich getäuscht. Wie? Vielleicht war tatsächlich
niemand da draußen gewesen?

Also wirklich niemand? -- »Haben Sie geheizt, Therese?«

»Ich werde den Arzt rufen, Exzellenz sind krank«, sagte Therese.

Der General schwieg und brütete vor sich hin.

Erst nach geraumer Weile verstand er, was Therese gesagt hatte. Er
drückte auf die Klingel. »Keinen Arzt, Therese. Ich bin vollkommen wohl.
Nur müde.«

Aber die Gabel entfiel seiner Hand: er schlief am Tische ein. Seine
kreidige Wange lag auf dem Kragen des weiten Feldmantels.


8

Die schwarzen Wolken jagten über die finstere Stadt dahin. Ohne Ende,
ohne Zahl. Die Toten in ihren vereisten grauen Soldatenmänteln standen
darauf. Die Toten und Gefallenen aus den Massengräbern von Verdun und
Ypern, von Polen und von Rußland, Serbien, Rumänien, von Mesopotamien,
aus den einsamen Friedhöfen der Vogesen und der Champagne, die Toten aus
den Argonnen, die Toten von der Somme und die Toten, die aus dem Meere
gestiegen waren.

Sie jagten dahin, zu Hunderttausenden zusammengedrängt auf den schwarzen
Wolken, die in dieser Nacht ganz Deutschland überzogen. Denn in dieser
Nacht kehrten die Toten zurück.

Horch, sie singen! Hörst du? Ihr Gesang braust! Was singen sie?
Unverständlich für die Lebenden ist ihr Gesang.

Die Vorhut der heimkehrenden Armee der Toten hat Berlin erreicht, ohne
Ende ist ihr Zug, noch haben nicht alle den Rhein überflogen. Es sind
Millionen.

                   *       *       *       *       *

Dahinfegte die Limousine. Sie schnellte über eine Brücke und jagte in
eine endlose schnurgerade Straße hinein. Sie bog um eine Ecke -- und ja,
dies war nun die Lessingallee.

Plötzlich pochte der General wild mit den Knöcheln an die Scheiben und
augenblicklich zog Schwerdtfeger die Bremse. Bevor das Auto noch stand,
war der General schon aus dem Wagen gesprungen und lief rasch in die
Straße hinein. Aber auch der kleine Mann in seinem Havelock eilte, so
schnell er konnte, dahin.

Zwei, drei Sätze und die wütende Faust des Generals hatte den Havelock
erfaßt.

»Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie!«

Der kleine alte Mann krümmte sich zusammen.

»Was wissen Sie von meiner Tochter. Sprechen sie jetzt -- oder, oder
--!«

Da zerfloß der kleine alte Mann, wie Nebel. Eine Sekunde noch das
bläulich-weiße Gesicht, grüne Funken, wo die Augen waren -- fort.

So heftig war die Erregung, daß der General auffuhr. Er saß bei Tisch.
Allein.

Ohne zu denken, griff er wieder nach Messer und Gabel und bemühte sich,
kleine Stückchen von dem kalten Fleisch auf seinem Teller abzuschneiden.
Er griff nach dem Glas -- aber schon erlahmte wieder die Hand.

Kalt, kalt, die Kälte! Es war eisig kalt in diesem Zimmer.

Und doch, der Ofen glühte. Er näherte die Hände -- deutlich sah er das
Eisen glühen -- aber, wie merkwürdig, keine Wärme. Nun erst, da er mit
den langen Nägeln das rote Eisen berührte, spürte er einen Hauch von
Erwärmung. Ein eisiger Luftstrom blies ihn an.

Sonderbar -- seit jenem Tage hatte es begonnen! Deutlich erinnerte er
sich noch, wie das schneeblaue Gesicht durch die Scheiben ins Foyer
starrte, an den Briefumschlag sogar, der von häßlicher, unangenehmer
grüner Färbung war. Seit jenem Tage war die Unruhe über ihn gekommen.
Überall hatte er diesen kleinen geistesgestörten alten Mann gesehen --
vor dem Hause, vor dem Restaurant, ja selbst wenn er einen Blick aus
seinem Arbeitszimmer warf, da stand er auf dem Platze. Sogar in der
Nacht begegnete er ihm häufig.

Ja, er, dieser Unbekannte, hatte den Argwohn in ihm geweckt -- alles war
daher gekommen, allein daher!

Noch heute, noch heute würde sie, Ruth --

Der Schmerz fraß. In seinem weiten Feldmantel, der nahezu den Boden
berührte, schritt er durch die Zimmer. Auf seinem Schreibtisch lag Ruths
letzter Brief: -- die dich geliebt hat, Papa, und noch immer liebt
. . .

Sie hatte ihm unrecht getan. Alles entsprang doch nur der Sorge um sie,
der Fürsorge eines Vaters, dessen Pflicht es erheischte -- Kannst du es
denn nicht verstehen, mein Mädchen? Verhängnis über Verhängnis. Er, ihn
getötet? Wie? Wie? Ihn, den sie liebte? Er? Aber, wie kannst du nur so
etwas sagen?

Die Stille lauerte. Lauernd und feindselig umstrich ihn die eisige Luft.
Der Brief flatterte plötzlich in seiner Hand.

Ohne jeden Zweifel, er war nicht allein.

Nein, nicht allein!

Wieder glitt der lange graue Mantel durch die Zimmer. Er drehte das
Licht an. Niemand, natürlich. Aber er fühlte einen Blick auf sich
gerichtet und dieser Blick folgte ihm überall hin.

Vorsichtig, mit zitternden Fingern, schob er den Vorhang zur Seite, er
öffnete das Fenster, leise, und spähte durch einen Spalt der Jalousien
hinaus auf die finstere Straße.

Da, da -- sein Herz stockte!

Nein, er hatte sich nicht getäuscht.

Da stand er -- der kleine Geistesgestörte, in der Tat! Deutlich sah er
sein faustgroßes bleiches Gesicht. Die Augen waren auf dieses Fenster,
genau auf dieses Fenster, auf ihn gerichtet. Er stand mit zwei
Gestalten, zwei Männern, einem großen und einem untersetzten. Nun
näherte sich der Große der Haustüre, aber der alte Mann rief ihn zurück.
Sie sprachen: berieten, deuteten auf das Fenster, auf ihn! Dann gingen
sie, zögernd, und die Dunkelheit verschlang sie augenblicklich.

Leise, vorsichtig schloß der General wieder Fenster und Vorhänge. Noch
eisiger war die Luft geworden. Kalter Nebel war durch das Fenster ins
Zimmer gekrochen. Ja, ohne Zweifel, die ganze Wohnung war nunmehr von
Nebel erfüllt. Die Wände rauchten. Sie waren grüne geschliffene
Eisblöcke, die dampften.

Der Brief Ruths war auf den Boden gefallen und keuchend hob der General
ihn auf. Er war geneigt, über die politischen Verirrungen eines jungen
und urteilslosen Mädchens hinwegzusehen. Er war geneigt, gewisse
Vorfälle zu vergessen -- Irrungen eines jungen und leidenschaftlichen
Herzens. Er war geneigt, Zugeständnisse zu machen, völlige Freiheit
zuzusichern. Forderte sie es, so war er zu jeder Genugtuung bereit. Zu
jeder!

Aber sie sollte zurückkommen!

Ja, zurückkommen. Weshalb kam sie nicht?

Er war alt, sein Leben vernichtet, zermürbt, untergraben, zerstört, ohne
Sinn, ohne Hoffnung, ohne jede Hoffnung! Er besaß nur noch sie, sie
allein -- sonst nichts mehr.

Und er liebte sie! Ja, Ruth, es ist die Wahrheit, ich liebe dich!

Das alles wollte er ihr sagen, sobald er sie traf. Und er würde sie
finden, ohne jeden Zweifel! Morgen, in aller Frühe schon, würde er sich
wieder auf den Weg machen. Sie war ja hier, hier in der Stadt,
Wunderlich hatte sie schon zweimal gesehen.

Ja, all das, all das. Und er würde sie _bitten_ -- nie in seinem Leben
hatte er einen Menschen um etwas gebeten . . . Forderte sie es, von
ihrem alten Vater -- bestand sie darauf -- nun wohl, so war er bereit,
sich zu -- _demütigen_ . . .

Plötzlich taumelte der General, so stark, daß er in einen Sessel fiel.
Er griff nach der Brust. Sein Herz --? Was war es --?

In diesem Augenblick aber schrillte die Klingel, zweimal, dreimal, lang,
herausfordernd -- die Haustürklingel.

Schritte kamen durch den Korridor.

Aber schon stand der General unter der Türe. »Öffnen Sie nicht!« rief
er, zitternd in seinem weiten Mantel.

Dumpf grollte es in der Ferne -- ein Geschütz hatte in der Stadt
gefeuert.

»Ich werde selbst -- gehen Sie ruhig schlafen«, stammelte der General
und Therese schlich wieder in ihre Küche zurück. Immer noch schmerzte
das Herz in der Brust. Allmählich erst hörte es auf zu zucken. Nun erst
ging der General zur Haustüre und bot seine breite Brust der Finsternis
dar. Niemand. Aber dort drüben, im Park, schlichen da nicht Gestalten?

Schüsse klatschten, und wieder feuerte ein Geschütz in der Stadt.

»Sie zerfleischen sich -- wie Wölfe«, dachte der General. Und laut rief
er in die Dunkelheit hinein: »Ist jemand da?«

»Hahaha!« lachte es aus der Finsternis.

»_Hier bin ich! Was wollt ihr von mir?_«

»Hahaha!« Ganz fern.

Niemand. Er verschloß die Türe.

                   *       *       *       *       *

Ein Schritt raste die dunkle Straße entlang. Nein, nicht ein Schritt,
ein Rudel von Schritten. Hinter dem einen rasenden Schritt her jagte
eine Meute klappender Schritte. Geschrei.

Da setzte der Schatten eines schmächtigen Menschen über die Straße und
verschwand im Gebüsch des Parkes. Ein Rudel von Schatten setzte hinter
ihm her. »Haltet ihn, haltet ihn, den Spitzel!«

Die Stimmen verloren sich.

Kunze keuchte. Eine Sekunde noch und er wäre zusammengestürzt.
Meilenweit hatten sie ihn gejagt und alle Wachtposten hatten auf ihn
geschossen.

In Schweiß gebadet warf er sich auf den Boden. Da begann der ganze Park
wie ein Hammerwerk zu pochen. Lob und Dank dem Herrn, sie hatten seine
Spur verloren -- ihre Stimmen klangen ferner und ferner. Ein Schrei --
vielleicht hatten sie einen andern niedergeschlagen?

Noch keuchte die Brust, und schon begann Kunze wieder zu laufen. Durch
den ganzen finstern Tiergarten eilte er. Furchtsam mied er Wege, ob sie
breit oder schmal waren. Endlich kam er in eine Gegend des Parkes, die
Sicherheit verbürgte. Es war dicht hinter dem Zoologischen Garten.

Eifrig spähte er in die dunkeln Baumwipfel empor -- ja, hier, dieser war
der richtige. Ein einladender Ast, nicht allzu hoch über der Erde, aber
doch hoch genug, gerade was er suchte. Hinauf, schon war der Strick
festgemacht, die Schlinge gebunden. So. Und nun rasch! Keine Stunde
länger war dieses Leben zu ertragen -- ja, schade, er hatte nicht einige
Autos zur Verfügung, um über die Grenze fahren zu können --

Nur noch eine Sekunde, bitte, bis er Atem geschöpft hatte -- und dann:
hinab!

In der letzten Nacht hatte er in einer Kanalisationsröhre geschlafen; in
der Lindenstraße, vorgestern in einer Sandkiste beim Halleschen Tor.
Einmal hatten sie ihn schon gefangengenommen -- nein, nein. Schluß! Eine
Sekunde nur -- und dann: hinab!

Die Schlinge um den Hals saß er da, dampfte und keuchte -- zu seinem
Schrecken gewahrte er jetzt, daß er sich ganz in der Nahe eines Weges
befand.

Dunkel und schweigend lag der Tiergarten. Eigentlich, bei rechtem Licht
besehen, ein Park für Selbstmörder, nicht wahr? Eine rührende Vorsorge
der Stadtverwaltung! Jede Nacht erschoß sich hier jemand, erhängte sich
irgendeiner -- fast gab es keinen unbesetzten Baum mehr. In der Ferne,
aus der dunkeln Stadt prasselte Gewehrfeuer, und dann und wann dröhnte
ein Kanonenschuß. Sie kämpften. Es war nicht gut, ihnen gerade jetzt in
die Hände zu fallen . . .

Schwarze, gespenstische Wolken jagten über den kahlen Baumwipfeln dahin.
Das welke Laub raschelte. Zuweilen hörte er auf seinem Ast auch Stimmen
und Gelächter bald näher, bald ferner -- und Gesang. Gesang. Dann
wiederum Schüsse. Und sonderbare Laute, Miauen und Bellen, drangen aus
dem Zoologischen Garten.

So also sollte er enden! Was würde sein Vater, der Pastor sagen? Ein
_Selbstmörder_ in der Familie! Schande, Schmach -- Heimsuchung des
allmächtigen Vaters im Himmel! -- Luxus, schöne Frauen -- und der Ruhm?
Es war nichts damit geworden, nein. Gerade als der Krieg ausbrach wollte
er zur Bühne gehen. Hamlet! Den ganzen Hamlet kannte er auswendig.

»Sein oder Nichtsein --« flüsterte er und hob die Arme.

Beinahe wäre er von seinem Ast gefallen.

Dahinwandeln im Licht der Rampe, bewundert, umrauscht vom Beifall --
Briefe schöner Mädchen und Frauen -- alles nichts.

Und nun -- das Seitenstechen hatte aufgehört -- und nun . . .

Da aber hörte er Schritte knirschen. Er erstarrte vor Entsetzen. Kamen
sie wieder? Weshalb hatte er auch solange gezögert?

Zwei Schatten wanderten über den Weg nebenan. Plötzlich bogen sie in die
Büsche ein. Sie schlichen näher, immer näher. Ja, sie kamen zu ihm, beim
Himmel. Seine Haare sträubten sich. Er wagte nicht mehr zu atmen.

Ein Mann und eine Frau, sie lagerten sich unter seinem Baum. Etwas
Weißes schimmerte, Flüstern, Küsse, Lachen, Geplauder -- leise Schreie
-- eine volle Stunde mußte er ohne jede Bewegung sitzen. Endlich gingen
sie wieder.

Nun aber wollte er keine Minute mehr versäumen!

Die Dunkelheit begann zu sprühen. Augen öffneten sich in der Finsternis,
erschrockene, entsetzte Augen -- ja zumeist entsetzte -- wenn die Hand
des Gesetzes ausholte! Auch die Augen jenes jungen Mannes, der auf dem
Straßenpflaster lag, noch etwas atmete und rief: Alle Völker sind
Brüder!

Ja, auch diese Augen . . .

Kunze weinte. Und plötzlich sprang er, ohne Überlegung, -- ein scharfer
Schmerz schnitt in seinen Hals: zu Ende, vorbei --

Aber einen Augenblick später saß Kunze im feuchten Gras. Er konnte es
nicht fassen, anfangs -- der Strick war gerissen.

Weinend lief er durch den dunkeln Park, den Strick um den Hals.


9

Der General steht über die Karte gebeugt, entschlossen und eisig seine
Miene. Lautlos tritt der Chef des Stabes ins Zimmer. Schon beginnen die
Autos und Motorräder der Befehlsüberbringer zu dröhnen und zu rasseln.
Der Boden zittert vom Feuer, dicht nebenan schlagen die Geschütze, als
würden Türen aus Erz ins Schloß geschleudert.

Alles ging gut!

Der Gegner, sein Gegner da drüben, dieser Halunke mit dem Käppi und dem
weißen Spitzbart, hatte ihm die Höhe durch Überraschung genommen, mitten
in der Nacht. Aber er hatte sich verrechnet! Schon taumelten die
Soldaten von ihren feuchten Strohlagern, schon rollten die Autobusse,
die Hölle wollte er ihm bereiten. Bevor die Sonne aufging, war die Höhe
wieder in seiner Hand.

Es ging vorzüglich, schon hatten die Jäger das Labyrinth -- das
Hauptfort der Höhe -- wieder seinen Zähnen entrissen. Aber irgend etwas
war doch auffallend -- plötzlich schienen es weniger Offiziere zu sein.
Im Vorzimmer war überhaupt niemand. In der Schreibstube arbeiteten im
ganzen zwei Leute.

Doch auffallend! Wo ist der Chef des Stabes? Der General klingelte.
Niemand kam. Er stieß ungehalten die Tür auf: niemand! Wieder ging er in
das Schreibzimmer, der Telegraph tickte -- aber niemand! Die Kanonen
schlugen weniger laut.

Wo waren sie hin, das Gewimmel von Offizieren, Adjutanten, Schreibern,
Ordonnanzen? Das ganze Schloß mit seinen hundert Sälen war leer und
finster. Im Schein des. Geschützfeuers suchte er seinen Weg. Bilder,
Möbel, Spiegel, die rot aufglühten.

Kein Mensch!

Er war allein.

Bestürzt eilte er vor das Portal. Kälte, Nacht. Der Boden gefroren, ein
eisiger Wind, die Bäume kahl und spitz. Ringsum, der ganze Horizont ein
Feuermeer.

Aber kein Lärm!

Über die Parkmauer fuhr von Zeit zu Zeit ein Feuerbalken. Die Haubitzen
standen dahinter, richtig. Der General eilte. Eben schwankte in der
Dunkelheit ein Rohr, Glut blies in die Nacht -- aber kein Mensch und
kein Laut! Der General strich entsetzt um das Geschütz -- keine Seele --
was war das --?

Wieder taumelte das Rohr, und im Schein des Abschusses sah der General
das große dunkle Schloß zusammenstürzen, das Dach stürzte, die Säulen,
das Portal -- aber kein Laut.

Entsetzen schüttelte ihn. Er schrie auf.

Da erwachte er. Seine Augen wanderten über die Wände.

Erst nach geraumer Zeit fand er sich zurecht. Er saß in seinem
Arbeitszimmer, in seinem Sessel, genau wie vor wenigen Minuten.
Sonderbar, die Uhren gingen, die Pendel schwangen, aber er hörte sie
nicht mehr ticken.

Seine Lider waren schwer wie Blei, die Glieder wie gelähmt. Was geschah
mit ihm? Müde, müde.

»Ich bin müde«, sagte er mit schwerer Zunge.

»Ich bin sehr, sehr müde!«

Er wollte aufstehen, aber er blieb dennoch sitzen. Vor seinen Füßen lag
ein Schreibheft, ein dünnes beschmutztes Notizheft. Ach, ja, es waren
die letzten Aufzeichnungen Kurts, seines ältesten Sohnes -- gefallen bei
Comble in der Sommeschlacht, ruhmvoller Verteidiger der Riegelstellung.
Nun erinnert er sich: er hatte es aus dem Geheimfach genommen und wieder
gelesen -- wie in vielen, vielen einsamen Nächten. Feuer, Entbehrungen,
Schrecken, Tod . . .

»Und alles umsonst?« flüsterte der General und schüttelte fassungslos
den Kopf.

»Alles umsonst!«

»Wie, wie, wie?«

»Ein Volk von Bettlern!?«

»Ein Volk von Sklaven!?«

»Ausgelöscht von der Erde, in den Schmutz getreten!«

»Alles, alles umsonst!«

»Ach!«

Der General stöhnte. Er schlug die weißen Hände vor das weiße Gesicht.

Er erhob sich. Aber die Beine trugen den schweren Körper nicht mehr. Er
sank wieder in den Sessel zurück. Die bleischweren Lider fielen herab --
Bilder zogen vor seinen Augen. Und doch war er wach, träumte er nicht.
Deutlich erinnerte er sich, daß er soeben die Aufzeichnungen Kurts
gelesen hatte. Das Schreibheft lag vor ihm auf dem Boden.

Nun also stieg er mit dem kleinen alten Mann, dem zudringlichen, der
sich nicht abweisen ließ, die Höhe hinan. Er hatte seine Hand ergriffen,
und sie gingen beide bergan -- und doch wußte er, daß er in seinem
Arbeitszimmer saß!

»Sie wollen also durchaus hinauf, haben keine Furcht?«

»Nein, keine Furcht.«

Aber die Höhe war nicht dunkel, obschon es mitten in der Nacht war, sie
war matt erhellt. Nicht leblos und starr war sie -- sie wimmelte von
Menschen. Scharen standen hier, Mann an Mann, in ihren grauen Mänteln,
die ganze Kuppe war besetzt von ihnen. Ein Wall von grauen Mänteln links
und rechts. Tausende und aber Tausende, alle bleich, fahl,
leichenfarben.

»Herbst, nicht wahr?«

»Ja, Herbst.«

»Und wie war doch der Vorname?«

Und laut schrie er: »Der Jäger Robert Herbst vortreten!«

»Hier!«

»Hier! -- Hier! -- Hier --!«

Ringsum, überall schrien die rauhen Soldatenstimmen: Hier, hier! Alle
--!

Ja, sonderbar -- so deutlich hörte er die Feldgrauen rufen, und doch
wußte er genau, daß er in seinem Sessel saß.

Das weiße Gesicht des Generals ist auf die eisige Hand herabgesunken.
Seine Augen sind ohne Blick. Ja, eigentümliche Bilder ziehen vor seinen
blicklosen Augen, fließen, unaufhörlich, ohne Ende -- eigentümliche
Bilder . . .

Plötzlich greifen die weißen Hände des Generals wild in die Luft, und
schon steht er aufrecht mitten im Zimmer.

Ein Gesicht ist erschienen: _das Gesicht einer weinenden Frau_ . . .

Seine hellen, großen Augen blenden. Deutlich unterscheidet er wieder die
Gegenstände im Zimmer. Deutlich sieht er wieder die dunkeln Gemälde an
der Wand -- jedes einzelne. Offiziere alle, Militärs, in Uniformen, mit
Ordenssternen geschmückt, den Degen an der Seite, alle die gleichen
breiten Gesichter, soliden Brustkörbe: alle Hecht-Babenbergs. Und jener
Einarmige, über der Türe, das ist Jochen Friedrich Wilhelm Ernst
Hecht-Babenberg, der nach dem Dreißigjährigen Kriege das Stammgut erwarb
und den Wahlspruch des Geschlechts prägte: Lorbeer und Land!

Verschwunden ist plötzlich alle Müdigkeit!

Der General wankt in seinem weiten Feldmantel durch die Räume, wankt,
schwankt, taumelt, aber er fühlt es nicht. Sein Mantel weht. Oft muß er
sich mit den Händen an der Wand stützen. Aber er fühlt es nicht. Für ihn
gibt es keine Wände mehr.

Die Wände sind verschwunden, er blickt, weit, weit, unendlich weit!

Er sieht -- oh, ungeheures Schauspiel: die Welt in Flammen!

Ja, die Welt in Flammen! Europa, Asien, die Reiche der Mongolen, Afrika,
die Reiche der schwarzen Völker, Amerika, alles in Flammen! Und durch
Rauch und Flammen kriechen sie: sieh! Ja, sie sind es! Nun sind sie
Wirklichkeit geworden! Riesenhaft, Städte aus Stahl, Riesenkreuzer
kriechen durch den Rauch der brennenden Welt. Sie starren vor
Geschützen, sie werfen Flammen, bis hinter den Horizont schleudern die
Pumpen das brennende Öl. Ihre Schuppenräder zermalmen Städte und
zertreten Ströme. Ringsum funkelt der Horizont wie schwarze Kohle. Ein
brennender Kontinent schmilzt ins Meer.

So! So! So! Ja, das waren sie!

Aber nun kam sie selbst, die Armee, unendlich wie die Wellen des Meeres.
Regiment an Regiment, die Waffen klirren, so ziehen sie an ihm vorüber.

Fester hüllt er sich in den Mantel. Eisig pfeift der Wind! Die Luft ist
gefroren, Eis, schon klafften Spalten in der Luft, wie in Gletschern,
aber die Armee marschiert. Ihr Schritt donnert.

Da, da -- dort!

Die Stadt! Dunkel, finster, qualmend. Und deutlich sind die roten
Flaggen zu sehen, die über der finsteren, qualmenden Stadt wehen. Ganz
deutlich! Frech flattern die Fahnen der Rebellen.

Der General hebt die Hand -- Angriff! -- und die Armee, unendlich,
unübersehbar, wälzt sich der qualmenden Stadt entgegen.

Eisig aber, entsetzlich eisig, scharf wie Gift bläst der Wind, und
dichter, immer dichter, hüllt der General sich in den Mantel. Schon
zerfrißt die Kälte den Stoff, Stücke lösen sich. Schon zerfrißt die
Kälte die Haut, die sich aufrollt, schon zerfrißt die Kälte die Lungen
. . .


10

Niki sang sein Morgenlied, aber der General erhob sich nicht.

Eingehüllt in seinen grauen Feldmantel lag er da. Seine Augen standen
offen -- was sahen sie?

                   *       *       *       *       *

Endlos bewegt sich der schwarze Strom des Volkes dahin, langsam, die
roten Fahnen wogen. Die Musikkapellen spielen Trauerweisen, Bataillone
von Soldaten, Bataillone von Matrosen. Berge von Blumen. Unter diesen
Bergen von Blumen liegen die Opfer der Freiheitskämpfe.

Zur gleichen Stunde setzte sich der mit schwarzen Tüchern behangene
Trauerwagen mit dem Sarge des Generals in Bewegung. Hauptmann
Wunderlich, in einem einfachen Soldatenmantel, an seinen Krücken
humpelnd, gab ihm das Geleite zum Bahnhof. Niemand sonst. Nein, niemand.

Mitten in der Stadt gab es einen Aufenthalt. Der Wagen mit dem Sarge des
Generals war dem großen Trauerzug des Volkes begegnet, der die Stadt
überschwemmte.

Unaufhörlich wälzt sich der dunkle Trauerzug dahin. Kaum ist eine der
ungezählten Kapellen außer Hörweite, so wird schon die folgende
vernehmbar. Stunden vergehen.

Wunderlich setzt sich mit seinen Krücken auf die Straße.

Ja, endlos, endlos, in Wahrheit! Ein Meer von Menschen wälzt sich
vorüber. Wogen von Blumen über dem wallenden Menschenmeer. Gleichmäßig,
ohne jede Eile, wandert der Schritt der Hunderttausend dahin, die Stadt
beginnt zu dröhnen, zu donnern --

Hoch über dem Strom der Köpfe aber zieht Ackermanns Geist dahin!

»Mein Volk, meine Liebe und meine Sehnsucht fliegen vor dir her! Wirst
du auserwählt und berufen sein unter den Völkern der Erde? Sieh, wie sie
funkeln am Firmament des Gedankens, deine großen Geister, sie blicken
auf dich! Auf, auf! Auf den Weg . . .«

Endlich wurde die Straße frei. Der mit schwarzen Tüchern behangene Wagen
mit dem Sarge des Generals setzte sich wieder in Bewegung, und
Wunderlich nahm seine Krücken und humpelte hinter ihm her.

Schon dunkelte es, schon sanken die finstern Nebel über die Straßen.
Schon begann das Gewehrfeuer wieder zu knattern in der von Finsternis
erfüllten Stadt.

   Werke von Bernhard Kellermann

   Yester und Li
   Roman / 142. Auflage

   Ingeborg
   Roman / 100. Auflage

   Der Tor
   Roman / 46. Auflage

   Das Meer
   Roman / 76. Auflage

   Der Tunnel
   Roman / 217. Auflage

   Der Krieg im Westen
   Kriegsberichte / 20. Auflage

Buchdruckerei Julius Klinkhardt in Leipzig




Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 19]: 
   ... Tages stand sie ohne einen Pfennig da -- vis-a-vis de rien! ...
   ... Tages stand sie ohne einen Pfennig da -- vis-à-vis de rien! ...

   [S. 38]: 
   ... das Reich Karls des Großen wieder errichten. ...
   ... das Reich Karls des Großen wieder errichten.« ...

   [S. 50]: 
   ... Während der Tango kollerte, gurrte, kleine wolllüstige ...
   ... Während der Tango kollerte, gurrte, kleine wollüstige ...

   [S. 65]: 
   ... auszudenken. -- ...
   ... auszudenken. --« ...

   [S. 95]: 
   ... »Ja, eine hübsche Lage, Herr -- Herbst, nicht wahr? ...
   ... »Ja, eine hübsche Lage, Herr -- Herbst, nicht wahr?« ...

   [S. 143]: 
   ... nicht. Hähnleins alte Litanei -- die Litanei des Elend ...
   ... nicht. Hähnleins alte Litanei -- die Litanei des Elends ...

   [S. 179]: 
   ... der Hand, vor seinem Herrgott treten mußte. ...
   ... der Hand, vor seinen Herrgott treten mußte. ...

   [S. 188]: 
   ... diese erschreckend realistische Aufnahme Besuchen zu zeigen. ...
   ... diese erschreckend realistische Aufnahme Besuchern zu zeigen. ...

   [S. 208]: 
   ... Haremsdamen, Odolisken in Seide, Tüll, Schleiern, ...
   ... Haremsdamen, Odalisken in Seide, Tüll, Schleiern, ...

   [S. 328]: 
   ... es war ihm unmöglich gewesen, den bedingslosen Glauben ...
   ... es war ihm unmöglich gewesen, den bedingungslosen Glauben ...

   [S. 366]: 
   ... für den Kognak! Es war ein Freude. Wir hatten zwei ...
   ... für den Kognak! Es war eine Freude. Wir hatten zwei ...

   [S. 427]: 
   ... schmilzen. Ein paar große Wachsperlen rinnen über die ...
   ... schmelzen. Ein paar große Wachsperlen rinnen über die ...

   [S. 434]: 
   ... sich, der Tritt der Hunterttausend, unter dem das ...
   ... sich, der Tritt der Hunderttausend, unter dem das ...

   [S. 448]: 
   ... Ihre armselige Uniformen verbergen gräßliche ...
   ... Ihre armseligen Uniformen verbergen gräßliche ...

   [S. 460]: 
   ... Sie jagten dahin, zu Hunderttausenden zusammengegedrängt ...
   ... Sie jagten dahin, zu Hunderttausenden zusammengedrängt ...

   [S. 472]: 
   ... spielen Trauerweisen, Bataillone von Soldaten, Battaillone ...
   ... spielen Trauerweisen, Bataillone von Soldaten, Bataillone ...







End of the Project Gutenberg EBook of Der 9. November, by Bernhard Kellermann

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