Im tropischen Busch

By B. Traven

The Project Gutenberg eBook of Im tropischen Busch, by B. Traven

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Title: Im tropischen Busch

Author: B. Traven

Release Date: January 30, 2022 [eBook #67286]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK IM TROPISCHEN BUSCH ***





                          Im tropischen Busch


                   Von B. Traven (Tamaulipas, Mexiko)

   In: Westermanns Monatshefte. Braunschweig, 1926, H. 839, S. 525-536.

Undurchdringlicher Dschungel bedeckt die weiten Ebenen der Flußgebiete
des Panuco und des Tamesi. Zwei Bahnlinien nur durchziehen diesen
neunzigtausend Quadratkilometer großen Teil der Tierra Caliente. Wo sich
Ansiedelungen befinden, haben sie sich dicht und ängstlich an die
wenigen Eisenbahnstationen gedrängt. Europäer wohnen hier nur ganz
vereinzelt und wie verloren. Die ermüdende Gleichförmigkeit des
Dschungels wird von einigen sich langhinstreckenden Höhenzügen
unterbrochen, die mit tropischem Urbusch bewachsen sind, der ebenso
undurchdringlich ist wie der Dschungel und in dessen Tiefen, wo immer
Dämmerung herrscht, alle Mysterien und Grauen der Welt zu lauern
scheinen. An einigen günstigen Stellen, wo Wasser ist, sind kleine
Indianerdörfer über die Höhen verstreut; Wohnplätze, die schon dort
waren, ehe der erste Weiße das Land betrat. Sie liegen fernab der
Eisenbahn. Auf Eselkarawanen werden die Waren, die hier gebraucht
werden, hauptsächlich Salz, Tabak, billige Baumwollhemden, Zwirnhosen,
Musselinkleider, spitze Strohhüte für die Männer und schwarze
Baumwolltücher für die Frauen herbeigebracht. Als Tausch werden Hühner,
Eier, Eselsfüllen, Ziegen, Papageien und wilde Truthähne gegeben.

Dort wohnte ich, tief im tropischen Busch, allein, in einer primitiven
Hütte, die ich mir selbst gebaut hatte, nach Indianerart, ohne einen
Nagel zu brauchen.

Siebzig Minuten Ritt brachten mich zu meinem nächsten Nachbar, einem
amerikanischen Arzt aus Arkansas, namens Wilshed. Alle übrigen Menschen
meiner Nachbarschaft, von denen keiner näher wohnte als vierzig Minuten,
waren Vollblut-Indianer. Das nächste Dorf war elf Meilen entfernt, die
nächste Eisenbahnstation, wo zwei weiße Familien wohnten, siebzig
Meilen.

Doktor Wilshed wohnte in einem Bungalow, einem einfachen Bretterhaus,
das zwei Räume hatte. Er lebte dort mutterseelenallein, betrieb ein
wenig Landwirtschaft, hatte zwei Kühe, fünfzig Hühner, zwanzig
Bienenstöcke, zwei Pferde und drei Maultiere. Zwei Indianerfamilien, die
etwa eine Meile entfernt wohnten, auf dem Abhange des Höhenzuges, waren
seine nächsten Nachbarn. Die Männer jener beiden Familien waren bei ihm
als Farmarbeiter beschäftigt.

Den größten Teil seiner Zeit verbrachte der Doktor mit Lesen. Wenn er
nicht las, dann saß er auf der Veranda seines Bungalows und schaute
unverwandt hinunter auf die unermeßlich weite Ebene, die sich vom Fuß
des Höhenzugs an bis fern hinter den Horizont hinzog. Dschungel,
Dschungel, nichts als Dschungel.

Zuweilen fiel mir die Einsamkeit des Busches heftig auf die Nerven; denn
es kam vor, daß ich zwei volle Wochen kein menschliches Antlitz sah.
Wenn es gar zu unerträglich wurde, wanderte ich hinauf zum Doktor, nur
um einen Menschen zu sehen, eine menschliche Stimme zu hören, nur zu
fühlen, daß ich nicht allein war auf der großen Welt. Aber der Doktor
war schweigsam. Der tropische Busch macht schweigsam und denkend, und
der Doktor lebte hier ein Menschenalter, hatte sich hierher verkrochen,
wahrscheinlich weil er die Menschen nicht ertragen konnte oder weil er
eine Enttäuschung erlebt hatte, aus der seine Seele zu retten eine
Flucht in den tropischen Busch die einzige Lösung gewesen war.

Wir konnten oftmals Stunden nebeneinander auf der Holzbank seiner
Veranda sitzen, ohne daß wir ein Wort sprachen. Über uns selbst hatten
wir nichts zu reden, über andre wollten wir nicht reden; und da auch
keiner von uns so närrisch war, dem andern seine Ansichten über Welt und
Geschehen aufzudrängen, wußten wir in der Tat nicht, was und worüber wir
hätten reden sollen. Aber die Schweigsamkeit des Doktors war doch
oftmals beängstigend. Es kam vor, daß er einen Satz begann, um ein
Erlebnis, das er hier in den Tropen gehabt hatte, zu erzählen. Aber wenn
der Satz kaum zur Hälfte gesprochen war, zündete er sich seine Pfeife an
und vergaß darüber, den Satz zu beenden. Entweder es reute ihn
plötzlich, irgendeins seiner zahlreichen Abenteuer mitzuteilen und es
dadurch aus seinem Privatbesitz fortzugeben, oder aber er hatte seinen
Satz im stillen zu Ende gedacht, während er glaubte, er habe ihn
gesprochen. Er konnte häufig nicht entscheiden, ob er etwas gesagt oder
nur gedacht hatte.

„Haben Sie jemals ein Buch geschrieben?“ fragte ich ihn eines Tags.

„Ein Buch?“ gab er zur Antwort. „Ein Buch? Viele!“

„Worüber, Doktor?“

„Über – was ich hier gesehen habe, was ich hier in den Jahren gedacht
habe, was Tiere taten, was Tiere gedacht und gesagt haben, was der Busch
mir erzählte und die Musik, die ich hier gehört habe.“

„Veröffentlicht?“

„Niemals. Jedesmal, wenn ich ein Buch vollendet hatte, las ich es, fand
es gut und zerriß es. Warum sollte ich denn meine Bücher
veröffentlichen? Ich hatte meine Freude und meinen Genuß, wenn ich sie
schrieb. Für die Leute? Ich möchte wissen, warum? Die haben so viele
gute Bücher, die sie nicht lesen. Warum sollte ich ihnen noch mehr
geben? Zudem würden die Leute meine Bücher gar nicht glauben. Sie würden
mich für verrückt erklären, und ich müßte mich vielleicht gar noch mit
ihnen herumstreiten, um sie zu überzeugen, daß ich recht habe und daß
ich die Wahrheit sprach. Immerhin, es ist mir ganz gleichgültig. Ich bin
auch der Meinung, daß die besten Bücher, die jemals geschrieben wurden,
entweder auf Papier oder im Geist, niemals veröffentlicht worden sind.
Hinter jedem veröffentlichten Buch liegt etwas auf der Lauer, das nicht
zugunsten des Werkes spricht, und das den Menschen hindert, das Beste zu
schaffen, dessen er fähig ist.“

Ich hatte manchmal das Empfinden, daß der Doktor vor langer Zeit schon
gestorben sei, daß er es selbst nicht wisse, daß er tot sei, und daß er
darum hier noch sitze, weil niemand da sei, der sehen könne, daß er tot
sei, und niemand komme, ihn zu begraben. Wenn man sorgfältig um sich
schaut, wird man leicht finden, daß eigentlich nur die Menschen sterben
und begraben werden, die Erben haben oder für die jemand zu sorgen hat.

Wenn der Doktor mir erzählt hätte, er säße hier bereits vierhundert
Jahre und sei mit den ersten Weißen hier angekommen, ich würde es ihm
ohne weiteres geglaubt haben, weil ich gar keinen Grund hatte, es ihm
nicht zu glauben.




                         Des Doktors Bibliothek


Eines Morgens kam ich zum Doktor, und er empfing mich so: „Hören Sie
einmal, Gale! Sie wissen, ich habe für die States nicht viel übrig. Das
Land hat aufgehört, jenes freie Land der Vorkriegszeit zu sein. Der
Krieg für die Freiheit andrer Völker hat es völlig verdorben. Da ist zu
viel Regieren, zu viel Kommandieren, zu viel Verbieten, zu viel Gesetze,
und es wimmelt von Beamten. Es ist eine große Kinderbewahranstalt
geworden. Ein Grund mehr unter vielen, warum ich nie zurückkehre. Aber
jetzt habe ich eine wichtige Reise dorthin zu unternehmen, ich habe
etwas zu kaufen, ein paar Bücher, hinter denen ich seit Jahren herjage.
Seien Sie doch so gut, und ziehen Sie während meiner Abwesenheit in
meine Höhle. Wenn ich die Bude unbewohnt lasse, finde ich weder ein Dach
noch eine Kaffeetasse wieder, wenn ich heimkomme.“

„Gar keine Frage, Doktor, natürlich ziehe ich rüber,“ sagte ich.

„Das ist recht. Nehmen Sie mein Pferd und holen Sie Ihr bißchen Gelumpe
her. Bei Ihnen bricht man nicht ein, da ist nicht viel zu holen.“ Er
lächelte. Mein Haus hatte er zwar nie gesehen, aber ein Indianer hatte
ihm offenbar erzählt, daß es nur eine Grashütte sei.

Nachdem ich meine Brocken herübergebracht hatte, setzte er sich aufs
Pferd und trabte zur Station, wo er das Pferd bei einem Farmer
unterstellen konnte. Als er etwa fünfzig Schritte geritten war, drehte
er sich um und rief: „Vergessen Sie nicht, die Eier aus den Nistkörben
zu nehmen, und melken Sie die Kühe. Sie können nicht verhungern. Sie
finden alles, was Sie benötigen, in den Kisten.“

Ein paar Stunden lungerte ich um das Haus herum, um mich zurechtzufinden
für alle Fälle. Im Laufe des Spätnachmittags kam ich an seine
Bibliothek, die sich in einem roh gearbeiteten Schrank befand.

Die Mehrzahl der Bücher handelte von den alten mexikanischen Völkern,
deren Geschichte, Zivilisation und Religion. Viele der Bücher waren mit
Bildern und Karten ausgestattet. Da waren Bücher und unveröffentlichte
Handschriften, die bis zum 16. und 17. Jahrhundert zurückreichten. Diese
Bibliothek war ein Vermögen wert, und der Doktor ließ sie in meiner
Obhut, ohne sie auch nur zu erwähnen, als ob es sich um Werke handle,
die man in jedem Laden kaufen könne.

Ich lebte nun in diesem Wunderlande seit vielen Jahren. Ich hatte mit
Indianern gelebt, die nicht wußten, was eine Geldmünze bedeutet, die mir
zwei große schwarze Diamanten anboten für meinen Jagdrevolver, den ich
aber nicht entbehren konnte, weshalb ich ihnen statt dessen zweihundert
Pesos in blankem Golde bot. Das lehnten sie aber ab und erklärten das
Geld für wertlos. Viel hatte ich in jenen Jahren gelernt über das Land,
seine Reichtümer, seine weißen und kupferfarbenen Bewohner, deren
Zukunftsaussichten und Entwicklungsmöglichkeiten.

Doch von der Vergangenheit des Landes und seiner Bewohner wußte ich
nichts.




                       Eine neue Welt steigt auf


Ich stürzte über jene Bücher her, wie man nur kann, wenn man Monate und
Monate kein Buch gesehen und plötzlich Bücher zur unbeschränkten
Verfügung hat, die zu lesen man seit Jahren ersehnte.

In kürzerer Zeit, als ich je gedacht hatte, lag ich in festen Banden
jener Bücher. Sie hielten mich so gefesselt, daß ich vergaß, mir mein
Essen zu kochen. Ich trank die Milch, wie ich sie molk, und schluckte
die Eier roh, um nur keine Zeit für meine Bücher zu verlieren. Den
ganzen Tag, während die Sonne herunterglühte und man sich wie in einem
Backofen fühlte, und mehr als die halbe Nacht saß ich über den Bänden,
von der Furcht gejagt, der Doktor könnte zurückkommen, ehe ich die
Bücher zu Ende gelesen hätte.

War es möglich, daß Menschen und Völker dieser Art hier auf dieser Erde,
wo ich jetzt stand, gelebt, geliebt und gelitten hatten? Konnte es
wirklich wahr sein, daß auf diesem Kontinent Menschen und Völker von
hoher Kultur gelebt hatten sechstausend Jahre vor jener dunklen
Fabelzeit, die wir als den Anfang der menschlichen Geschichte
bezeichnen?

Von nun an betrachtete ich das Land mit andern Augen als vorher. Wenn
ein Indianer zufällig vorüberkam oder vor dem Hause um einen Trunk
Wasser bat, dann forschte ich sorgfältig in seinem Antlitz nach einer
Ähnlichkeit mit jenen alten Königen, Fürsten und Häuptlingen, deren
Bilder ich in den Büchern gesehen hatte. Und in der Tat, ich fand
überraschende Ähnlichkeiten. Jedoch nicht zufrieden damit, ihre
Gesichter, ihre Gesten, die Art ihres Ganges, den Tonfall ihrer Stimme
zu studieren, begann ich, die Leute gelegentlich auszufragen. Ich war
nicht wenig erstaunt, als ich vernahm, daß diese Leute die Vergangenheit
ihres Volkes gut kannten, daß sie die Geschichte ihres Volkes, ihre
Balladen, die Taten großer Männer, ihre Religionslegenden durch
mündliche Überlieferung von Generation zu Generation erhalten hatten.
Viele jener Indianer beteten noch ihre alten Götter an, während alle
übrigen die Hunderte von Heiligen, die ihnen ganz unbegreiflich
erscheinende unbefleckte Empfängnis, sowie die ihnen ebenso
unverständliche Dreieinigkeit derart mit ihrer alten Religion verwirrt
hatten, daß sie in ihren Herzen und ihren Vorstellungen die alten Götter
hatten, während sie auf den Lippen die Namen der unzähligen Heiligen
trugen.




                         Die Begegnung im Busch


Um mich ein wenig wieder in dieser Welt zurechtzufinden, mein Hirn ein
wenig zu entlasten und meine Beine nicht steif werden zu lassen, machte
ich mich eines Morgens auf den Weg, um eine lange Wanderung durch den
Busch zu unternehmen.

In weiter Tiefe des Busches, in einer Umgebung, die wegen der Entfernung
von jeglicher menschlichen Behausung und wegen der Abgelegenheit selbst
von den primitiven Buschpfaden beklemmend unheimlich wirkte, traf ich
einen Indianer an, der dort Holzkohle brannte. Ich würde nie an jene
Stelle gekommen sein, wenn ich nicht Rauch hätte aufsteigen sehen,
dessen Ursache ich finden wollte.

Es war gewiß ein hartes Leben, das dieser Mann führte. Wochenlang in der
Tiefe des Busches lebend, ganz allein, unzähligen Gefahren ausgesetzt,
um einige Ladungen Holzkohle abliefern zu können, die er auf seinem Esel
zu den weitverstreuten Siedlungen schleppte.

Der Indianer saß vor dem rauchenden Erdhügel und starrte bewegungslos
den ruhig aufsteigenden Rauchfähnchen nach. Er war ein schmächtiger
Mann, dem man aber achtunggebietende Kräfte zugestehen durfte; denn die
Ebenholzbäume zu fällen und sie für den Verkohlungshügel zuzuhacken,
verlangt alles an Kraft, was ein Mensch hergeben kann, und diese harte
Arbeit in tropischer Sonnenglut zu verrichten, setzt eine Zähigkeit des
Körpers voraus, die eine schwächliche oder untergehende Rasse nicht
aufbringen könnte.

Was mir an diesem Manne eigentümlicherweise sofort auffiel, war der
merkwürdig traurige Ausdruck seiner Augen und die feine Gliederung
seiner schönen, schmalen Hände, deren rassiger Bau so ehern
unverwüstlich war, daß die harte Arbeit des Holzfällens ihre edle Form
nicht beeinflussen konnte. Er trug einen dünnen Schnurrbart und am Kinn
dünne Flusen, die er wahrscheinlich für einen Vollbart hielt.

Ich setzte mich zu ihm nieder, gab ihm Tabak, und wir kamen nach und
nach ins Erzählen.

„Sie haben richtig geraten, Señor, meine Vorfahren sind einst stolze
Fürsten unter den Panukesen gewesen, angesehen weit über die Grenzen der
benachbarten Stämme hinaus. Der letzte jener Edlen wurde von den
Spaniern gehängt wegen Rebellion gegen die Fremdherrschaft. Wäre es
seiner Frau und seinen Kindern nicht rechtzeitig geglückt, in die Berge
zu flüchten, wohin zu folgen die Spanier sich fürchteten, säße ich nicht
hier. Das war in jener Woche, in der die Spanier ein Blutbad unter
meinem Volke anrichteten mit dem Hängen von fünfhundert Häuptlingen,
unter denen mein Vorfahr sich befand.“

„Glauben Sie, daß dieses Land jemals wieder zu solcher Macht gelangen
wird, als es besaß, ehe die Spanier kamen?“

Ich weiß, daß dies in nicht ferner Zeit der Fall sein wird, aber ich
wollte es doch von einem Indianer bestätigt hören.

„Der Schicksalsweg unsers Volkes ist langsam. Wir haben Zeit. Die weißen
Männer haben keine Zeit. Aber können Sie nicht hören, Señor, wie alle
nichtweißen Völker der Erde ihre Glieder regen und strecken, daß man das
Knacken der Gelenke über die ganze Welt vernehmen kann?“

Etwas unsicher sagte ich: „Dagegen werden wir uns zu wehren wissen.“

„Womit?“ fragte er ruhig und ohne jede Ironie. „Womit? Mit Ihrer
Zivilisation? Die ist nicht stark genug, Señor. Sie hat ja keine
tragende Idee. Ihre Zivilisation wird nur von einem einzigen Gedanken
geleitet, und der heißt: Geld. Mit Geld kann man Geschäfte machen, aber
keine Seelen erwerben.“

Ich jagte heim und stürzte wieder über die Bücher her. Neue Fragen
hatten sich mir aufgedrängt, und ich suchte nach Lösungen, suchte nach
einer Andeutung dessen, was uns bevorstand. Wenn irgendwo, dann war in
diesen Büchern der Schlüssel zu finden zu jenem großen Tor, dessen
Öffnung mich die Zukunft unsrer Rasse sehen ließ.

Wie im Fieber las ich und las, fiel nach Mitternacht wie mit Blei
ausgefüllt in mein Bett und stand auf bei den ersten Strahlen der Sonne
mit dumpfen Gliedern. Doch als meine Schläfen zu hämmern begannen, mein
Blut durch die Adern raste, als wolle es jeden Augenblick überkochen,
zwang ich mich gewaltsam zur Ruhe und zu mehr gleichmäßigem Studium. Auf
diese Weise zog ich einen erheblich größeren Gewinn aus meinem Lesen.
Ich fing an, ernsthaft zu studieren, anstatt nur zu lesen.

Nichtsdestoweniger aber lebte ich in einem andern Zeitalter. Ohne
Gelegenheit, zu einem Menschen zu sprechen oder eine menschliche Stimme
zu hören, vergaß ich Zeit und Ort und meine eigne Person. Ich konnte
sprechen wie jene Personen, die in den Büchern erschienen, oder glaubte
wenigstens, es zu können; ich konnte deren Gedanken denken, ich konnte
in meiner Vorstellung deren Ideen über Welt und Leben wachrufen, ohne
daß mir der Vorgang selbst zum Bewußtsein kam.

Diese Gefühle waren besonders stark am Abend und in den frühen
Nachtstunden, wenn alle Türen des Bungalows weit offen standen und der
ewig singende Busch mir im Ohr summte.




                            Der Nachtbesuch


Es war eines Abends zwischen zehn und elf etwa, als ich meine Augen
erhob von einem Buche über die Zivilisation der Tezkuken. Nein, um genau
zu sein, ich war gezwungen, meine Augen zu erheben, denn ich hatte das
Empfinden, daß jemand im selben Zimmer war mit mir, und daß ich seit
einiger Zeit aufmerksam beobachtet wurde.

Ich wendete den Kopf. In der Mitte des Raumes stand ein Indianer. Kein
Zweifel, er stand dort seit einer geraumen Weile. Sein Blick ruhte auf
meinem Gesicht, und geduldig wartete er darauf, daß ich ihn anreden
möchte.

In diesem Augenblick war ich fähig, genau die Zeile, ja das Wort zu
zeigen, das ich in dem Augenblick las, in dem der Mann das Zimmer
betreten hatte. Es waren wenigstens zehn Minuten seitdem verflossen.

Augenscheinlich war der Mann die Holztreppe, die zur Veranda führte,
heraufgekommen und geräuschlos eingetreten.

Es ist hier nicht Sitte, irgendein Haus, und sei es noch so primitiv, zu
betreten, ehe man sich nicht durch einen Gruß oder ein Rufen bemerkbar
gemacht und der Inwohner gesagt hat: „Pase!“ Die Mehrzahl der Häuser,
die der Indianer alle, haben keine Türen, und wenn sie welche haben,
werden sie mit Bast oder einem Bindfaden geschlossen. Ginge man auch nur
bis vor die offene Tür, ohne daß man sich durch ein Geräusch ankündigte,
würde man die Hausbewohner oftmals in die allerpeinlichste Verlegenheit
bringen, weil die Hütten ja nur einen Raum haben.

Dieser Mann hatte sicherlich verschiedene Male gerufen, um meine
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Da ich aber so versunken in mein
Studium war, hatte ich es nicht gehört, und er, mich am offenen Fenster
lesen sehend, war dann zögernd ins Haus gekommen, weil er mich aus
irgendeinem Grunde sprechen mußte und keine andre Möglichkeit sah, sich
bemerkbar zu machen.

Da stand er, bewegungslos wie eine Säule. Als ich ihn ansah, beugte er
ein Knie, berührte mit der flachen Hand den Fußboden, erhob dann die
Hand bis zu seinem Scheitel, das Innere der Hand mir zugekehrt, und mit
dieser Geste stand er gleichzeitig auf.

Eine seltsame Form der Begrüßung, dachte ich, eine Art des Grußes, wie
ich sie bisher von einem Eingeborenen nicht gesehen hatte.

„Guten Abend,“ sagte ich zu ihm auf spanisch.

„Nacht ist kalt und lang,“ begann er zu reden. „Schweine stören mich.
Entsetzlich ist es, o Herr, sich nicht verteidigen zu können. Gebaut mit
heiliger Sorgfalt, sicher zu sein für die Ewigkeit. Doch es zerfällt und
bricht. Lang ist die Nacht, dunkel und kalt. Denken Sie, o Herr, der
Schweine. Schweine sind das Grauen.“ Er erhob seinen Arm und deutete
nach einer bestimmten Richtung.

Nicht wissend, was für eine Antwort ich ihm geben sollte, da ich nicht
verstand, wovon er überhaupt redete, beugte ich mich über mein Buch, um
einen Augenblick Zeit zu gewinnen, meine Gedanken, die offenbar in
Verwirrung geraten waren, zu ordnen. Es war in der Tat für mich nicht
ganz klar, ob mein Geist sich in einem Zustand fieberischer Erregung
befand als eine Folge des unaufhörlichen Lesens, oder ob ich ein
wirkliches Geschehen erlebte. Die Gedanken fingen an, in meinem Hirn so
durcheinanderzuwirbeln, daß ich nicht in der Lage war, zu entscheiden,
wo die Wirklichkeit aufhörte und die Einbildung begann.

Nur um etwas zu reden, sagte ich: „Was meinen Sie eigentlich? Um die
Wahrheit zu sagen, ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen. Reden
Sie im Zusammenhang, lieber Mann.“

Er aber war bereits gegangen, ebenso geräuschlos, wie er gekommen war.

Mit einem Satze war ich an der Tür. Ich wollte gewiß sein, ob meine
Sinne bereits so weit herunter waren, daß sie mir Erscheinungen
vorgaukeln konnten, oder ob ich wirklich soeben einen Menschen gesehen
und gesprochen hatte.

Dank den Göttern, ich war gesund, mein Geist war klar: dort, im bleichen
Licht des zunehmenden Mondes sah ich ihn dahinschreiten, schattengleich.
Groß war er nicht, mehr von knabenhafter Gestalt, schlank gebaut,
reines, unvermischtes Indianerblut.

Ich kehrte zurück zu meinem Tisch und versuchte, mich seiner Worte zu
erinnern. Seltsam genug, ich konnte seine Worte nicht wiederfinden. Und
es kam mir zu Sinn, daß er nicht Spanisch gesprochen hatte, daß er keine
Sprache gebraucht hatte, die ich kannte: aber dennoch hatte ich ihn
vollständig verstanden, der Inhalt seiner Sätze war mir deutlich, nur
der Zusammenhang fehlte mir.

War sein Gruß nicht der gleiche gewesen, wie er bei den alten
indianischen Völkern im Gebrauch war? Aber das war ja offenkundiger
Unsinn. Meine Bücher hatten meine Gedanken verwirrt und mich Dinge sehen
lassen, die gar nicht da waren.

Aber wenn ich nun seine Erscheinung in mein Gedächtnis zurückrief: er
war in Lumpen gekleidet. Das wieder war nichts Auffallendes, denn die
meisten Indianer laufen in zerfetzten Hosen und Hemden herum. Hosen?
Hemden? Nein, er hatte weder eine richtige Hose noch ein richtiges Hemd
angehabt. Die Lumpen, mit denen er behangen war, hatten ausgesehen wie
die verrotteten Überreste eines sehr kostbaren, uralten Stoffes; ein
merkwürdiges phantastisches Gewebe, wie ich mich kaum erinnerte,
irgendwo gesehen zu haben, es wäre denn in einem Museum.

Jedoch kein Zweifel bestand darüber, daß seine Oberarme, die Enkel
seiner Füße mit Goldreifen geschmückt gewesen waren, daß er eine
Halskette trug, die ein Goldschmied verfertigt hatte, der ein großer
Künstler war.

Und dennoch, je deutlicher alle die Einzelheiten in mein Gedächtnis
zurückkehrten, desto klarer wurde mir, daß ich nichts von alledem
gesehen hatte, was ich glaubte bemerkt zu haben. Ich hatte den armen
Indianer lediglich mit all jenen Äußerlichkeiten ausgestattet, die ein
Merkmal jener Völker waren, über die ich gerade las. Die höchste Zeit,
sagte ich zu mir selbst, mit diesen Dingen nun ernsthaft Schluß zu
machen und den Weg zu meinem Jahrhundert und zur nüchternen
Wirklichkeit, in der die Postsäcke ratternd einige tausend Meilen weit
durch die Lüfte geworfen werden, zurückzukehren.

Ich klappte mein Buch zu und ging zu Bett.




                           Die drei Schweine


Am nächsten Morgen bemerkte ich drei Schweine, zwei schwarze und ein
gelbes, die sich um das Haus herumtrieben. Ich hatte sie bereits bei
zwei, drei andern Gelegenheiten gesehen. Jetzt aber betrachtete ich sie
mit Interesse, denn sie erinnerten mich an meinen Besucher in der
vergangenen Nacht, der von Schweinen gesprochen hatte. Was diese
Schweine jedoch mit ihm zu tun hatten, konnte ich nicht herausfinden.

Sicher waren sie das Eigentum einer der Indianerfamilien, die weiter
unten am Abhang des Höhenzuges wohnten. Die Schweine werden hier kaum
gefüttert, haben auch keinen Stall, deshalb müssen sie herumlaufen und
sich ihr Futter selbst suchen. Ihren Besitzer erkennen sie nur daran,
daß er ihnen Wasser gibt, sie ab und zu an einen Baum bindet und sie
endlich, nachdem er ihnen zwei Wochen lang täglich einen Sack voll
Maiskolben vorgeworfen hat, dem Zweck ihrer Bestimmung zuführt. Aber es
kommt nicht vor, daß Schweine sich so weit von ihrem Besitzer entfernt
herumtreiben, weil in seiner Nähe schon immer einmal ein Löffel voll
gekochter Bohnen vor die Tür fallen könnte, die ein Schwein nicht gern
missen möchte.

Jedenfalls konnte ich keinen Zusammenhang mit diesen sehr natürlich
aussehenden Schweinen und meinem Besucher erkennen. Wenn es seine
Schweine waren und er nicht wünschte, daß sie sich hier oben
herumtrieben, so war es sein Geschäft und nicht meins, sich um sein
Viehzeug zu kümmern. Überdies, wenn ich es recht bedachte, war es höchst
eigentümlich, daß mich der Mann mitten in der Nacht seiner Schweine
wegen belästigte.

Etwas konnte ich immerhin für den Mann tun. Ich warf mehrere Steine nach
den Schweinen, und sie verließen den Vorplatz vor dem Bungalow. Sie
gingen aber nicht den Pfad hinunter, der zu ihren Eigentümern führen
mußte, sondern bogen nach einer Weile von dem Pfad ab und trotteten auf
einen Hügel zu, der sich in etwa dreihundert Schritt Entfernung vom
Hause befand und völlig mit dichtem Buschwerk bewachsen war.

Es schien, daß sie dort in der Nähe reichlich Futter fanden, denn ich
bemerkte, daß sie durch das Gebüsch hin und her krochen für eine Weile,
bis ich jegliches Interesse an ihnen verlor und die Hühnernester
absuchen ging, weil ich Hunger bekam.




                           Der zweite Besuch


Drei Tage später, wie gewöhnlich über meinem Buche sitzend, gegen elf
Uhr nachts, hatte ich plötzlich dasselbe seltsame Gefühl, das mich in
jener Nacht aufgescheucht hatte, als der Indianer in mein Haus gekommen
war.

Ein Frösteln lief mir über den Nacken, als ich, zur Seite blickend,
meinen indianischen Besucher im Zimmer stehend fand, mich schweigend
aber unverwandt beobachtend.

Dieses Gefühl des Unbehagens aber verflog sofort, weil mich die Wut
packte, die zu verbergen ich mich keineswegs bemühte, als ich den Mann
fragte: „Wie sind Sie denn hier hereingekommen? Was denken Sie sich denn
eigentlich, daß Sie sich solche Freiheiten erlauben? Das ist doch hier
kein öffentliches Gebäude. Das ist ein Privathaus, verstehen Sie? Und
ich wünsche, daß Sie es als ein Privathaus respektieren. Was, zum
Teufel, wollen Sie denn eigentlich? Wenn Sie einen Schweinehirten
suchen, dann schauen Sie sich doch woanders um.“

Ich polterte die Sätze heraus, mehr um mein Sicherheitsgefühl
wiederzugewinnen, und jenes Frösteln loszuwerden, als um dem Mann wehe
zu tun.

Er starrte mich an mit weit geöffneten Augen und mit einem Ausdruck des
Gesichts, als müsse er vorsichtig den Sinn meiner Sätze erst ergründen,
ehe er darauf antworten könne. Dann sagte er: „Auch ich fürchte
Schweine. Sie sind so grauenhaft! Oh, so sehr grauenhaft!“

Kurz angebunden erklärte ich: „Das geht mich nichts an. Schlagen Sie die
Biester tot und kochen Sie Fett daraus, wenn sie Ihnen unbequem sind.
Aber lassen Sie mich nun endlich damit in Ruhe.“ Ich sah ihm ins
Angesicht. Seine Augen blickten so traurig, daß ich plötzlich heißes
Mitgefühl mit ihm empfand.

„Sehen Sie her, o Herr!“ Er deutete auf seine Wade.

Gräßlich! Einige Zoll über dem Knöchel befand sich eine furchtbar
aussehende Wunde.

„Das haben die Schweine getan.“ Durch seine Stimme klang jetzt ein Ton,
der mich fast zum Weinen gezwungen hätte. Mein übermüdetes Gehirn begann
sich zu rächen.

„O, grauenhaft! O, grauenhaft! Und gleichzeitig zu wissen, daß man ganz
hilflos ist, daß man sich nicht einmal gegen solch wüstes Getier
schützen kann. Flehen Sie alle Schicksalsmächte an, daß Ihnen nicht ein
gleiches Los beschieden werde. Es wird nicht lange währen, und diese
entsetzlichen Tiere werden an meinem Herzen nagen, und sie werden mir
die Augen ausfressen, bis jener Tag des Grausens kommen wird, wo sie
mein Hirn schlürfen werden. Oh, Herr und Freund, bei allem, was Ihnen
heilig ist, helfen Sie mir, erretten Sie mich aus meiner namenlosen
Pein. Ich leide mehr, als ein Mensch ertragen kann. Was mehr noch kann
ich sagen, um Sie von meinen Qualen zu überzeugen?“

Nun endlich wußte ich, was der Zweck seines Besuches war. Der Mann
glaubte, ich sei der Doktor. Es war allgemein bekannt, daß der Doktor
nicht praktizierte; da aber der nächste Arzt etwa fünfundachtzig Meilen
entfernt wohnte, leistete Doktor Wilshed auf Verlangen in sehr
dringenden Fällen erste Hilfe. Augenscheinlich litt der Mann
entsetzliche Schmerzen.

Nach langem Suchen fand ich in einer Kiste die Medikamente. Ich nahm
eine Binde heraus, Baumwolle und Salbe.

Als ich mich nun dem Manne näherte, ihm die Binde anzulegen, trat er
zwei Schritte zurück und sagte: „Das ist nutzlos. Es sind die Schweine,
die ich fürchte und die mir Qualen bereiten, nicht die Wunde, die ich
kaum beachte. Diese Wunde ist für mich nur das Zeichen dessen, was noch
folgen wird.“

Auf seine Weigerung nicht achtend, langte ich energisch nach seinem
Bein. Aber ich tappte in die leere Luft. Etwas verwirrt schaute ich auf,
und ich nahm wahr, daß der Mann noch einen Schritt weiter zurückgegangen
war. Lächerlich, wie leicht man sich täuschen läßt; ich konnte schwören,
daß meine zupackende Hand an derselben Stelle gewesen war, wo sein Bein
stand.

Ich gab meinen ärztlichen Beistand auf und ging zum Tisch, wo ich
stehenblieb und ihn beobachtete.

„Das sind ganz wundervolle Schmucksachen, die Sie da tragen,“ sagte ich.
„Wo haben Sie die erhalten?“

„Mein Neffe hängte sie über mich, als ich ihn verlassen mußte.“

„Scheinen sehr alt zu sein. Antike Arbeit.“

„Sind sehr alt,“ bestätigte er. „Sie gehören zum Schatze meiner
königlichen Familie.“

Ich konnte es nicht vermeiden, ein wenig zu lächeln, was er aber nicht
zu bemerken schien, oder er war zu höflich, es zu sehen. Spaßhafte
Leutchen, diese Indianer. In Lumpen gekleidet, wohnend in elenden
Palmhütten, selten im Besitz der paar notdürftigen Münzen, um sich rohes
Leder für Sandalen zu kaufen, tragen sie dennoch Diamantringe an den
Fingern.

Wieder begann ich nüchterne Wirklichkeit und den Inhalt der Bücher, die
mich in Atem hielten, miteinander zu verwirren. „Mein Neffe gab sie
mir.“ Aber das war ja ein Brauch bei den Azteken, bei den Panukesen, bei
vielen andern indianischen Völkern, wo nie der Sohn, sondern der Bruder
oder der Neffe der Thronerbe war. So ging das nicht weiter. Ich mußte
unter Menschen gehen; die Einsamkeit des tropischen Busches bekam mir
nicht, ganz besonders nicht, wenn ich nichts tat als derartige Bücher zu
lesen.

„Nun muß ich gehen!“ Er unterbrach meine wandernden Gedanken. „Vergessen
Sie nicht, daß es die Schweine sind, mein Herr. Einige große schwere
Steine werden genügen. Es ist so hart, um Hilfe bitten zu müssen, aber
ich kann mich nicht verteidigen. Ich bin ja so sehr hilflos.“

Aus seinen traurigen Augen rollten Tränen langsam an seinem Gesicht
herunter, obgleich er sich bemühte, ihnen Einhalt zu gebieten.

Dann erhob er seine Hand, führte sie an seine Lippen, hob sie hoch über
sein Haupt und hielt die innere Handfläche eine kleine Weile gegen mich
gekehrt. Und ich erkannte, daß seine Hand von einer edlen Form war, die
ich irgendwo gesehen hatte. Wo aber, konnte ich mich nicht erinnern.
Auch bemerkte ich zum ersten Male, daß er einen Vollbart trug, der zwar
Kinn und Backen hinreichend umrahmte, aber doch dünn erschien. Und
obgleich einen solchen Vollbart gesehen zu haben ich mich nicht
erinnerte, rief er doch etwas, das mit merkwürdig gesprochenen Sätzen
verknüpft war, in mir wach, über das ich nachzugrübeln begann, ohne es
finden zu können.

Ich riß mich von dieser verwirrenden Gedankenkette los, um den Mann nach
seiner Wohnung zu fragen, was zu wissen mir plötzlich und ganz ohne
Grund ungemein wichtig schien.

Aber er war bereits gegangen.

Ich sprang zur Tür. Wahrlich, er schreitet wie ein König! sagte ich zu
mir selbst, als ich ihn den Pfad dahingehen sah.

Wie wunderschön war die Nacht! Sie war gekleidet in den magischen
Silberschimmer des Vollmonds, der steil über meinem Scheitel stand. Die
zauberhafte Sonne der Tropennacht. Die Dinge standen in diesem Lichte da
in einer so unheimlichen Schärfe, als müsse sich in jeder Minute etwas
Unerhörtes ereignen. Es lag ein Warten in diesem Licht, als würden diese
grellbeleuchteten, schreckhaft lebendig erscheinenden Dinge mit dem
nächsten Atemzuge einen grellen Schrei ausstoßen, um den Schatten
aufzujagen, der schwer und schwarz und wuchtig auf ihren Füßen lastete.

Und der in der Luft hängende Schrei fiel auf mein Herz und machte es
stocken, als der Indianer stehenblieb, sich umwandte und mir sein
Gesicht zukehrte, in dem ich jede Linie, ja selbst jede Pore deutlich
sehen konnte, obgleich er dreihundert Schritt beinahe entfernt war. Nun
erhob er den Arm und deutete nach jenem Hügel, wohin sich die drei
Schweine verzogen hatten, nachdem ich sie mit Steinen fortgejagt hatte.

Dann verließ er den Pfad und ging auf den Hügel zu. Das Gebüsch reichte
ihm zur Schulter. Langsam stieg er den Hügel hinauf, bis er die Höhe
erreicht hatte, wo das dichte Gebüsch so hoch stand, daß es ihm weit
über den Kopf reichte und es auf mich den Eindruck machte, als habe ihn
das Gestrüpp verschluckt, denn ich sah ihn nicht mehr.




                            Eine Entdeckung


Sobald die Sonne am nächsten Morgen aufgegangen war, nahm ich mein
Buschmesser und schlug mir einen Pfad zu jenem Hügel. So sorgfältig ich
aber auch das Gebüsch untersuchte, ich konnte den Weg nicht finden, den
der Indianer in der verflossenen Nacht gegangen war. Nichts war
niedergetreten, kein Zweig abgebrochen. Es war eine harte Aufgabe, ihm
auf seinem Wege zu folgen. Ich hatte mir vorgenommen, ihn in seiner
Hütte aufzusuchen. Vielleicht konnte ich eins seiner einzigartigen
Schmuckstücke gegen ein Paar Stiefel oder ein Hemd oder Sattelzeug
eintauschen.

Als ich endlich den Hügel erreichte, machte ich eine merkwürdige
Entdeckung: der Hügel war nicht ein natürlicher Haufen Erde oder ein
Felsblock, wie ich geglaubt hatte, sondern er war künstlich aus
gehauenen Steinen und Mörtel aufgebaut. Dem Anschein nach zu urteilen,
war er einige hundert Jahre alt. Das dornige, dichte Gebüsch hatte ihn
völlig bedeckt und sich in das Mauerwerk festgewurzelt und eingefressen.
Diese unerwartete Entdeckung ließ mich ganz vergessen, dem Indianer
nachzulaufen.

Ich hieb das Gebüsch nieder und machte eine weitere Entdeckung:
Steinstufen führten in östlicher Richtung auf die Oberfläche des Hügels.
Der Hügel selbst war etwa fünf Meter hoch. Oben hatte er eine viereckige
ebene Fläche, die wohl drei Meter im Geviert war.

Eine Seite des Hügels war durchwühlt, und da hier das Buschwerk
niedergetrampelt war, schien diese Wühlerei ganz kürzlich getan worden
zu sein. Kein Zweifel, die Schweine hatten das neulich verübt, als sie
hier herumlungerten. Als ich dieser Wühlerei nachging, fand ich, daß die
Schweine sich durch das Mauerwerk gearbeitet hatten, das an dieser
Stelle zu zerfallen begann und bloßlag.

Wenn irgendwo, dann lag hier das Geheimnis verborgen, das mich
beschäftigte. Hier war die Erklärung zu suchen für alles, was in den
letzten Tagen geschehen war.

Ich eilte zurück zum Hause und holte mir Pickhacke und Schaufel. Stein
um Stein, Brocken um Brocken brach ich heraus, bis das Loch groß genug
war, um meinen Oberkörper hindurchzuzwängen. Ich zündete ein Streichholz
an. Doch kaum flammte es auf, als ich es mit einem unartikulierten
Schrei fallen ließ und mich so rasch hinausquetschte, daß sich
Schultern, Brust und Rücken mit blutenden Schrammen bedeckten. Dann, im
hellen Sonnenlichte vor dem Loche sitzend und meinen Atem wiederfindend,
dachte ich, daß Augen doch recht unzuverlässig sein können.

Ursprünglich hatte ich die Absicht gehabt, den Hügel unberührt in jener
Form zu lassen, in der ich ihn gefunden hatte. Doch nun blieb mir keine
andre Wahl. Ich hatte den Kopf des Hügels aufzubrechen, um das blendende
Tageslicht hineinfluten zu lassen und dem Innern der Höhle die
unerträgliche Geisterhaftigkeit zu rauben.

Harmlosere Dinge als das, was in dieser Höhle verborgen war, können
einem im Dschungel oder im tropischen Busch ein tiefes Grauen einjagen.
Eine zwanzig Zentimeter große behaarte Spinne, die einem über das
Gesicht läuft, oder ein fünfunddreißig Zentimeter großer schwarzer
Skorpion, der sich ins Zelt oder in die Hütte geschlichen hat, erfüllen
einen häufig genug mit größerem Entsetzen als das Begegnen mit einem
Tiger, wenn man nichts weiter in der Hand hat als einen Stock.

Ich beschloß, sofort an die Arbeit zu gehen. Das Unbestimmte mochte sich
in meiner Einsamkeit, besonders zur Nachtzeit, vielleicht schwerer auf
die Nerven legen als das klare, festumgrenzte Wissen, wenn es auch noch
so Grauenhaftes aufweisen sollte.




                          Der Panukese ist tot


Gegen Mittag war ich trotz der Gluthitze so weit mit meinem Ausgraben
gekommen, daß der Inhalt der Höhle offen im hellen Licht des Tages lag.

Es ist ganz gewißlich wahr, ich war weder geistesgestört, noch träumte
ich. Wäre ich im Zweifel gewesen, die Blasen an meinen Händen und die
Müdigkeit meines Körpers hätten mich eines Besseren belehrt.

Da, in jener Höhle, deren Mauerwerk so fest gefügt war, als wäre es
beste Betonarbeit, war mein Besucher, jener Indianer, der mich zweimal
des Nachts in meinem Hause gesprochen hatte. Er saß auf dem Boden der
Höhle in hockender Stellung. Sein niedergebeugtes Antlitz war verborgen
in seinen Händen.

Er war tot. Tot seit vier-, fünfhundert Jahren, vielleicht viel länger,
und er war begraben worden mit unnennbarer Sorgfalt, aus der Liebe
sprach und Ehrfurcht zugleich. Die Höhle war durchaus luftdicht
abgeschlossen gewesen bis vor wenigen Tagen, wo die Schweine angefangen
hatten, dort herumzuwühlen.

Sein Aussehen war nicht das einer ägyptischen Mumie. Vielmehr sah er
ganz so aus, als wäre er vor drei Tagen erst gestorben.

Die Lumpen, in die er gekleidet war, erschienen im hellen Tageslicht
noch bei weitem kostbarer und reicher in ihrer ursprünglichen Herkunft
als in der Nacht gesehen.

Die Schmucksachen, die er trug, waren Meisterstücke hochentwickelter
Goldschmiedekunst, und ich hatte nie zuvor irgendwo Arbeiten von solcher
Vollendung gesehen.

Plötzlich bemerkte ich, daß seine Wade angefressen war, und gerade an
jener Stelle, die er mir in der vergangenen Nacht gezeigt hatte. Kein
Blut war zu sehen, trotzdem die Schweine bereits bis auf den Knochen
gekommen waren. Das Fleisch seiner Brust, seines Gesichts und das seiner
Waden war hart und fühlte sich an wie Holz. Ich konnte mir nicht
erklären, welche Anziehungskraft dieses holzartige Fleisch, das
augenscheinlich auch nicht den allergeringsten Nährwert enthielt, auf
Schweine ausüben konnte. Aber es war ja immerhin möglich, daß Schweine
hinsichtlich dessen, was gut schmeckt, eine andre Meinung haben, als wir
gemeinhin annehmen.

Warum sich der Körper so frisch erhalten hatte, war leicht zu erklären:
Die Höhle war luftdicht abgeschlossen, und die Erde rundherum enthielt
chemische Substanzen, die auf den Körper konservierend einwirkten,
nachdem sie in feinen Partikelchen das Mauerwerk durchsetzt hatten.
Wahrscheinlich war auch das Konservierungsmittel, das beim
Einbalsamieren des Körpers gebraucht worden war, von andrer
Beschaffenheit und Wirkung als jenes, das die Ägypter verwandten.

Immer wieder und wieder betrachtete ich meinen Fund. So lebensfrisch
hockte er da, daß ich jeden Augenblick erwartete, er würde den Kopf
heben, aufstehen und mit mir zu sprechen anfangen.




                        Von Erde bist du gemacht


Mitleidlos schleuderte die Sonne ihre feurigen Speere hinunter, und es
kam mir der Gedanke, daß diese Gluthitze meinem kostbaren Funde von
Nachteil sein könne, wenn er zu lange dem grellen Sonnenlicht ausgesetzt
sei.

Ich holte aus dem Hause eine große Kiste, um den Körper hineinzulegen
und ihn dann in Sicherheit zu bringen. Ehrlich gesagt, es war mir nicht
ganz klar, warum ich das alles tat, weshalb ich nicht den Körper da
lassen wollte, wo er seit vielen hundert Jahren geruht hatte. Aber diese
Krankheit, die schon so viel Unheil angerichtet, so viel Seelenlosigkeit
in unsre Kultur gebracht hat, die Museumswut, packte mich. Ich sah
meinen Namen in wissenschaftlichen Zeitschriften gedruckt, sah mich am
Rednertisch stehen, zur Seite eine weiße Leinwand, sah die Briefe von
Redaktionen großer Zeitungen auf mich einregnen, die mich um Aufsätze
anflehten und mir die Freiheit ließen, das Honorar zu bestimmen, sah die
Museumsdirektoren mit fabelhaften Summen um meinen Fund kämpfen und sah
die Dollarmillionäre bescheiden vor meiner Tür stehen und mir
Blankoschecks anbieten, um ihre Privatsammlungen auf den ersten Seiten
der Neuyorker Blätter erwähnt zu sehen.

Und doch wieder ließen mich diese materiellen Aussichten ganz kühl und
verflogen so rasch aus meinem Geist, wie sie, kaum eine Spur
zurücklassend, gekommen waren. Noch jetzt weiß ich ganz genau, daß mein
Handeln, ohne einen bestimmten Gedanken über das Warum zu haben, sich so
mechanisch abwickelte, als hätte es gar nicht anders sein können.

Mit Sorgfalt ging ich ans Werk. Da die Höhle nicht weit genug war, um
die Kiste neben den Körper in die Vertiefung zu setzen, sprang ich
hinunter, um den Körper auf den Rand der Höhle zu heben.

Doch kaum hatte ich zugepackt, als meine Hände auch schon
zusammenklatschten, als hätten sie Luft umarmen wollen, denn zwischen
meinen Händen fiel der Körper zusammen, und übrig blieb nichts weiter
von ihm als ein kleines, ganz kleines Häuflein Staub, das, wenn ich es
zusammenscharrte, nicht größer war als eine Faust.

Es waren nicht mehr als zwanzig Minuten vergangen, seit ich den Körper
abgetastet und gefunden hatte, daß er hart war und sich anfühlte wie
Holz. Alles, selbst die kostbaren Gewebe, das schwarze Haar des Kopfes
und des Bartes, die Fingernägel hatten sich so überraschend in zarte
Flugasche verwandelt, als habe ein gewaltiges Feuer mit der Raschheit
und der Konzentriertheit des Blitzes einen Strohhalm aufgebrannt.

Ich starrte auf das winzige Häuflein Asche, das noch während meines
Hinsehens der Erde, die beim Ausgraben auf den Boden der Höhle gefallen
war, immer ähnlicher wurde, und ich hätte schon nicht mehr mit Gewißheit
sagen können, was Sand und was Asche war.

Es war zwecklos, noch länger da in der Mittagssonne zu stehen. Ein Traum
äffte mich; ich begann aufzuwachen und bemühte mich, klar und ruhig auf
ein Mittel zu denken, das mich von diesen Wahnbildern, die mich
herumjagten, befreien könnte. Ich fühlte deutlich, daß ich anfing, krank
zu werden. Der Busch stand unheimlich drohend um mich herum, ebenso
drohend stand über mir die glühende Sonne, einer erbarmungslosen Feindin
gleich, sich in mein Hirn bohrend, fressend und sengend. Die Menschen
hatten seit hundert Jahren die Erde verlassen, mich hatten sie vergessen
zu rufen und mitzunehmen, weil ich zu tief im Busch war, weil sie mich
tot geglaubt hatten.




                                Aber ...


Oh, Sonne, Mond und alle Sterne, erlöst mich von meinen Qualen! Was, um
aller Lebenden und Toten willen, ist Wahrheit? Dort, vor meinen Füßen
funkelt und glitzert es so lustig im Sonnenlicht, so verheißungsvoll und
so beruhigend: die Schmuckstücke des Indianers. Sie zerfielen nicht zu
Asche, und wenn sie da sind – und sie sind wirklich und wahrhaftig da,
denn ich fühle sie in meinen Händen –, dann ist auch der Indianer
dagewesen, und ich bin durchaus gesund und weiß, was ich tue.

Ich eile zum Hause.

Mit der Freude im Herzen über das neugeschenkte Leben betrachtete und
studierte ich die kleinen Kunstwerke. Dieses Studium erfüllte mich mit
Andacht und mit Ehrfurcht gegenüber den Künstlern, die so Wundervolles
schaffen konnten und die ihre Namen nicht zurückließen.

Endlich wickelte ich die Sachen in Papier, machte ein kleines Paketchen,
das ich verschnürte, und legte es in eine leere Blechbüchse, die ich
oben auf das Bücherbrett stellte.

Noch vor Sonnenuntergang ging ich abermals zur Höhle und füllte sie mit
Erde und Steinen aus. Ich tat es, um zu verhindern, daß vorüberwandernde
Indianer oder sich herumtreibende Pferde und Maultiere hineinstürzten,
die Glieder brachen und hilflos darin liegenblieben.

Den ganzen Abend verbrachte ich damit, mir alle Geschehnisse der letzten
Tage und besonders des heutigen ins Gedächtnis zurückzurufen und sie zu
ordnen, damit es ihnen nicht gelänge, mich zu verwirren. Denn da ich
niemand hatte, mit dem ich hätte sprechen, auf den ich einen Teil meiner
Erregung hätte abladen können, war ich genötigt, alle Widersprüche,
Einwendungen, Erklärungen und Vermutungen gegen mich allein zu führen,
um eine Unterhaltung in Fluß zu bringen.

Mitternacht war längst vorüber, als ich zu Bett ging, erregt wie ein
Kind am Weihnachtsabend. Erschöpft und übermüdet von der harten
Tagesarbeit und den seelischen Aufregungen der letzten zwanzig Stunden,
fiel ich sofort in Schlaf.




                                 Träume


Mein Schlaf war alles andre, nur nicht sanft und ruhig. Aus einem
schweren und wüsten Traum wurde ich in einen andern gejagt. Jeder hatte
seinen Höhepunkt, und wenn dieser Punkt erreicht war, schoß ich auf, nur
um sofort wieder in Schlaf zu fallen, mit keinem andern Sinn, als
sogleich einen neuen Traum herunterzuhetzen. Es war ganz natürlich, daß
jeder Traum mit den Dingen, die mich in den letzten Tagen so
außerordentlich beschäftigt hatten, in naher Verbindung stand.

Ich fand mich über die lebhaften Märkte der alten indianischen Städte
wandern, aber es war mir nicht möglich, das zu finden, was ich so bitter
notwendig haben mußte. Und immer, wenn ich glaubte, es nun gefunden zu
haben, machte ich die Entdeckung, daß ich vergessen hatte, was es war.
Nun begann mein Geist angestrengt zu arbeiten, um das, was ich brauchte,
in mein Gedächtnis zurückzurufen. Dann ging ich an einen Verkaufsstand
und kaufte etwas. Wenn ich es aber in der Hand hatte, kam es mir zum
Bewußtsein, daß ich ganz etwas andres hatte kaufen wollen. Ich steckte
den Gegenstand, den ich plötzlich gar nicht kannte, in die Tasche, aber
ich fand, daß ich keine Tasche an meinen Kleidern besaß. Nun sollte ich
bezahlen, und so sehr ich auch suchte, ich konnte die Kakaobohnen nicht
finden, die das Geld waren, mit dem ich zu zahlen hatte. Denn was immer
ich in die Hand nahm, waren Pfefferkörner oder Ameisen oder Fingernägel.
Und dann wurde ich von halbnackten Marktpolizisten gejagt und als
Marktbetrüger verfolgt. Ich raste durch den Busch, wo mich die
Schlingpflanzen und Kaktusstauden festzuhalten suchten, meine Haut mir
in Fetzen vom Leibe gerissen wurde durch die Dornen und Stacheln, die
sich mir überall in den Weg drängten. Und wohin ich trat, waren
Schlangen, Riesenspinnen, gigantische Skorpione, große Eidechsen, deren
Maul halb so weit offen war, wie ihr Körper lang war, während hinter mir
die nackten Polizisten wie Wölfe heulten und brüllten und Polizeitiger
auf meine Fährte setzten. Nun hatte ich einen hohen Felsen zu erklimmen,
und als ich oben war und eine Meute von Berglöwen und Geiern mich gerade
packen wollte, fiel ich in eine tiefe Schlucht hinunter. Der Fall
dauerte viele Stunden, und während des Falles sah ich, wie die
Polizisten, die in Papageienfedern gekleidet waren, die Possums, die
ihnen als Polizeihunde gedient hatten, herbeipfiffen, dann mit Musik
heimmarschierten, den Kaufmann, dem ich dreiundeinehalbe Kakaobohne
schuldete, verhafteten und am Nebenstand als Sklaven verkauften.
Inzwischen kam ich unten in der Schlucht an. Ich schlug so heftig auf,
daß ich erwachte und die Schlucht hell erleuchtet fand. Es war aber der
Mond, der in mein Zimmer schien. Und darüber beruhigt, schlief ich
sofort wieder ein.

Nun kämpfte ich auf seiten der spanischen Eroberer, und die Azteken
nahmen mich gefangen. Ich wurde in den Tempel gebracht, um geopfert zu
werden. Priester legten mich auf den Opferstein und hielten mich fest.
Der Hohepriester kam heran, um mir das Herz aus der Brust zu reißen und
es dem fürchterlich aussehenden Gott vor die goldenen Füße zu werfen.
Ich sah, wie der Gott mich angrinste und mit den Augen blinkte, obgleich
er von Stein war. Dann streifte der Hohepriester den Ärmel seines Rocks
zurück, packte mich mit der linken Hand brutal ans Kinn und riß mir den
Kopf zurück, während er mit der rechten Hand mir das Messer in die Brust
schlug, wobei ich aufwachte.

Aber gleich fiel ich wieder in Schlaf und kämpfte nun auf seiten der
Tabaskaner. Ich fiel in Gefangenschaft der Spanier, kam vor ihr
Kriegsgericht und wurde zum Verlust beider Hände verurteilt, die mit
einem stumpfen Taschenmesser abgeschnitten wurden. Die Arme fühlten sich
darauf ganz dumpf an, ich erwachte, und meine Hände, die seitlich aus
dem Bett hingen, waren eingeschlafen.

Nun besaß ich ein Atelier für Kunstgewerbe in Tenochtitlan, und ich
hatte den Befehl bekommen, den Krönungsmantel für den neugewählten
Monarchen aus den schönsten Federn tropischer Vögel anzufertigen. Aber
die Federn flogen mir alle fort, und ich hatte hinter jeder einzelnen
herzujagen, während nur eine knappe Viertelstunde noch fehlte, bis die
Krönung beginnen sollte. Alle Fürsten und die Gesandten fremder
Herrscher waren schon versammelt, und die Volksmengen summten vor dem
Krönungspalast und in den Straßen, die zum Tempel führten. Ganze Scharen
von Dienern und hohen Beamten kamen angejagt, um den Mantel zu holen;
aber wenn ich eine Feder angenäht hatte und die nächste danebenheftete,
flog die vorher angenähte schon wieder fort. Ich hörte die Trompeten
schmettern und die großen Pauken dröhnen, die gigantischen Bronzeplatten
von den Tempeln klingen und die Priester ihre schrillen Gesänge
anstimmen, während mein Haus von Tausenden von wütenden Dienern und
Hofmarschällen umstellt war, die schrien: „Den Krönungsmantel! Den
Federmantel! Wir müssen alle sterben! Zum Tode verurteilt! Zum Tode
geflogen!“ In meiner Hast, den Mantel doch noch fertigzustellen,
schlüpfte er mir aus den Fingern, und alle Federn, die ich in
wochenlanger mühseliger Arbeit angenäht hatte, flogen zwitschernd zum
Fenster hinaus. Ich erwachte und hörte die Millionen Grillen und
Graspferdchen im Busch zirpen.

Und wieder schlief ich gleich darauf ein mit dem sicheren und
beruhigenden Bewußtsein, daß ich im Bett liege und mir die Krönung des
Kaisers von Anahuac ganz gleichgültig sei, noch gleichgültiger sein
Mantel. Da öffnete sich die Tür zu meinem Zimmer. Ich wunderte mich
darüber, wie das geschehen könne; denn ich wußte genau, daß ich vor dem
Zubettgehen, wie es immer meine Gewohnheit war, den schweren
Vorlegebalken sorgfältig in die Hintschen geschoben hatte. Aber die Tür
öffnete sich trotzdem, und herein kam mein indianischer Besucher,
derselbe, den ich, wie ich genau wußte, am Tage vorher hatte zu Staub
zerfallen sehen. Das Zimmer war durch ein merkwürdig bleiches und
flutendes Licht erhellt, dessen Quelle ich nicht ergründen konnte. Es
war weder Sonne noch Mond, es war vielmehr ein weißer, in sich
leuchtender, flimmernder Nebel, der aber nicht dicht genug war, daß er
irgend etwas verbergen oder auch nur verschleiern konnte.

Der Indianer kam nahe an mein Bett. Dort stand er ruhig und sah mich
lange an. Ich hatte meine Augen weit geöffnet, konnte mich aber nicht
bewegen. Besser gesagt, es kam mir von nirgendwoher der Wille, mich zu
bewegen, und ich fühlte, daß ich mich nicht bewegen könne, wenn ich
nicht irgendwo den Willen fände, der mir fortgelaufen war. Doch ich
fühlte keinerlei Furcht, dagegen war in mir ein wohltuendes Gefühl
brüderlicher Liebe oder Freundschaft. Mein Besucher hob mit ruhigen
Bewegungen den Moskitoschleier und schlug die Seite, an der er stand,
oben über die Bandleiste. Dann grüßte er mich in seiner feierlichen
Weise. Wieder betrachtete er mich eine Weile mit tiefem Ernst, und dann
begann er zu reden.

Er sprach sehr langsam, jedem einzelnen Wort das volle Gewicht der
auszudrückenden Meinung gebend: „Ich frage Sie, mein Freund, was Sie
fühlen würden, wenn man Sie in einem Zustand völliger Hilflosigkeit
jener kleinen Gaben beraubte, die Ihnen mitgegeben wurden als Begleiter
auf jene lange Reise durch das Land der Schatten? Wer gab sie mir, jene
kleinen Geschenke? Sie wurden mir gegeben von jenen, die mich liebten
und die ich liebte, von jenen, die heiße Tränen weinten, als ich sie
verließ. Nichts sonst als diese geringfügigen Gaben sind es, die meinen
Weg erleuchten durch die Nacht. Für Liebe allein ist es, daß Menschen
geboren wurden, und nur der Liebe wegen ist es, daß sie leben. Was man
auch immer an Würden, Ehren, Verdiensten, Ruhm und Reichtümern erworben
haben mag –, verglichen mit der Liebe zählen sie für nichts. Vor dem
großen Tor, durch das wir alle zu gehen haben, werden selbst die
innigsten Gebete, die zum Himmel hinaufgesandt wurden, nur als
Bestechungsgelder angesehen, nicht mehr wert als eine kleine
Kupfermünze. Im Angesicht der Ewigkeit zählt nur die Liebe, die wir
gaben, die Liebe, die wir empfingen, und vergolten wird uns nur in dem
Maße, wie wir liebten. Darum, Freund, geben Sie mir zurück, was Sie mir
nahmen, so daß, wenn am Ende meiner langen Wanderung vor dem Tore
stehend ich gefragt werde: Wo sind deine Beglaubigungen?, ich sagen
kann: Siehe hier, o mein Schöpfer, in meinen Händen halte ich meine
Beglaubigungen. Klein sind die Gaben nur und unscheinbar, aber daß ich
sie tragen durfte auf meiner Wanderung, ist das Zeichen, daß auch ich
einst geliebt wurde, und also bin ich nicht ganz ohne Wert.“

Die Stimme des Indianers verhauchte in ein Schweigen.

Es war nicht seine wogende Beredsamkeit, es war vielmehr sein Schweigen,
in eherner Urgewalt den Raum anfüllend, Dingen, Worten und Taten wortlos
befehlend, das mein Handeln bestimmte. Ich stand auf, kleidete mich
notdürftig an, zog die Stiefel über die Füße und eilte zum Bücherbrett.
Ich öffnete das Paketchen, hängte dem Indianer die goldene Kette über
den Hals, schob den schweren Ring an seinen Finger und kniete endlich
vor ihm nieder, um ihm die Reifen um die Knöchel der Beine zu legen. Als
ich mich von den Knien erhob, hatte er den Raum verlassen. Die Tür war
verschlossen und der Balken vorgeschoben.

Ich kehrte zu meinem Bett zurück und fiel sofort in einen Schlaf, der so
tief, so gesund, so traumlos war, wie ich seit Wochen keinen gehabt
hatte. Er war der erste erfrischende, wohltätige Schlaf nach einer
schweren Krankheit.




                              Das Erwachen


Spät am folgenden Morgen wachte ich auf, wundervoll ausgeruht und mich
so kräftig fühlend, wie seit langer Zeit nicht mehr.

Als ich auf dem Bettrand saß und mich lässig ankleidete, fiel mir der
letzte Traum ein, und ich mußte gestehen, daß ich mich keines Traumes
erinnern konnte, der so klar und so logisch sich abgewickelt hatte wie
dieser.

Ich langte nach meinen Stiefeln und fand es höchst merkwürdig, daß sie
nicht auf dem Stuhl standen und mit Papier ausgestopft waren. Durch
Erfahrung gewitzigt, hatte ich mir angewöhnt, wenn ich im Busch oder im
Dschungel lebte und die Stiefel des Abends ausziehen konnte, sie
auszustopfen und hoch zu stellen, um zu verhindern, daß Skorpione darin
versteckt waren, wenn ich mich des Morgens eilig anzukleiden hatte.

Aber die Stiefel standen nicht auf dem Stuhl, sondern unter dem Bett,
und als ich das bemerkte, fiel mir ein, daß ich sie dorthin hatte fallen
lassen, als ich wieder ins Bett zurückkehrte, nachdem der Indianer
gegangen war und ich mich so müde fühlte, daß ich nicht die Kraft mehr
aufbringen konnte, die Stiefel auszustopfen, als ich halb schon wieder
schlafend ins Bett rollte.

Nun sprang ich sofort zum Bücherbrett. Die Blechbüchse stand nicht mehr
dort. Ich sah mich um und fand, daß sie auf dem Tische stand. Leer. Das
Papier, in das die Schmuckstücke gewickelt waren, lag zerrissen auf dem
Fußboden. Kein Anzeichen war zu entdecken, wo die Sachen sein mochten
und auf welche Weise sie verschwunden sein konnten. Die Tür war noch
immer sorgfältig verschlossen, von innen, mit dem schweren Querbalken
davor, genau so, wie ich sie gestern abend und alle Abende vorher
gesichert hatte.

Ich stürmte hinüber zum Hügel. In fieberhafter Eile räumte ich die
zugeschüttete Höhle aus, fand es aber völlig aussichtslos, zwischen den
Steinen, der Erde, dem Gebüsch, womit ich gestern nachmittag die Höhle
aufgefüllt hatte, irgend etwas zu entdecken, das mich auf die Spur
meiner verlorenen Schätze bringen mochte.

Wo, um aller törichten Träume willen, hatte ich nur in meiner
Schlaftrunkenheit dieses Zeug hingeschleppt?

Vergeblich marterte ich mein Hirn und hämmerte in meinem Gedächtnis
herum. Nicht eine einzige Idee kam mir, der nachzugehen sich hätte
lohnen können.

Vielleicht die Schweine? Es war zwar lächerlich, das in Erwägung zu
ziehen, aber versuchen konnte ich es ja, ich brauchte ja niemand etwas
von diesem Aberglauben zu erzählen.

Jedoch die Schweine habe ich niemals wieder gesehen.




                        Der Doktor kehrt zurück


Zehn Tage später kam der Doktor zurück. Meine erste Frage an ihn war:
„Sagen Sie, Doktor, haben Sie jemals, zu irgendeiner Zeit drei Hogs
(Schweine) hier in der Nähe des Bungalows oder in der Nachbarschaft
gesehen? Zwei schwarze und ein gelbes?“

„Hogs?“ fragte er, mich dabei scharf beobachtend. „Hogs?“ wiederholte er
nach einer Weile noch einmal, und ich hatte das Empfinden, als ob er in
seine Stimme und in seinen mich festhaltenden Blick eine Färbung legte,
die ganz gut eine unauffällige Prüfung meines Geisteszustandes sein
konnte. „Hogs? Nein! Sie meinen ganz bestimmt Dogs (Hunde), Sie
verwechseln nur die Worte. Ich habe hier allerdings zu verschiedenen
Malen drei Hunde herumlaufen sehen, zwei schwarze und einen gelben, die
sich etwas sonderbar benahmen. Ich habe herumgefragt, aber niemand
kannte die Hunde. Schließlich, was habe ich mich um herumstrolchende
Indianerhunde zu kümmern.“

Nun erzählte ich ihm meine Geschichte. Ich glaubte, er würde in Ekstase
geraten, denn seine Bibliothek bewies mir doch gut, womit er sich
beschäftigte.

„Einen toten Indianer, sagen Sie? Einer, der Sie besuchte in zwei
Nächten?“ Er löste meine lange ausführliche und begeistert vorgetragene
Erzählung in so trockene Worte auf, preßte meine Ausrufe des Entzückens
in so winzige und klapperdürre Fragezeichen zusammen, daß es mir leid
tat, zu diesem zynischen Skeptiker überhaupt von meinem Erlebnis
gesprochen zu haben.

Wie mit einer Sonde in einer Wunde, so bohrte er mit seinen Augen in
meinem Gesicht herum und sagte: „Schmucksachen? Antike aztekische
Arbeit? In der Hand gehabt? Verschwunden? Wissen nicht, wo und wie?“

Seine Ironie empörte mich, und ich sagte lauter und rascher, als nötig
war: „Wenn Sie es nicht glauben, ich kann Ihnen den Hügel zeigen mit den
Steinstufen, und die Höhle, die ich gegraben habe.“

Immer noch die Augen auf mich geheftet, als ob er einem
Krankheitsbericht zuhöre, dann die Stirne hochziehend, nahm er endlich
ruhig seine Pfeife aus der Tasche, griente mich unverschämt an und sagte
knochentrocken: „Ich kann Ihnen auch eine Höhle zeigen, die ich gegraben
habe im Busch, vor – achtundzwanzig Jahren. Passiert mir heute nicht
mehr. Ich lasse die toten Indianer und ihre Könige ruhig schlafen in
ihren Gräbern. Mich besuchen sie nicht mehr.“ Er reichte mir ein großes
Paket Tabak über den Tisch: „Habe ich Ihnen von der Reise mitgebracht.“

Dann tat er zwei Züge aus seiner kleinen Pfeife und sagte: „Ja, was ich
Ihnen raten möchte: Nehmen Sie sich ein nettes, nicht zu dreckiges
Indianermädel in Ihre Strohbude. Als Köchin. Wenn Sie das nicht mögen,
würde ich an Ihrer Stelle den Busch und den Dschungel für eine gute
Weile verlassen. Es gibt ja auch Städte, wo man wohnen kann.“




                     Anmerkungen zur Transkription


Quelle: _Westermanns Monatshefte. Braunschweig, 1926, H. 839, S.
525-536._ Dies ist die Erstveröffentlichung dieser Erzählung. Sie wurde
später unter dem Titel _Der Nachtbesuch im Busch_ in den Erzählungsband
_Im Busch_ aufgenommen.

Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 528]:
   ... mich am offenen Fenster lesend sehend, war dann ...
   ... mich am offenen Fenster lesen sehend, war dann ...


*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK IM TROPISCHEN BUSCH ***

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START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
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Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation's website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without
widespread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
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States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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