Das Totenschiff : Die Geschichte eine amerikanischen Seemanns

By B. Traven

The Project Gutenberg eBook of Das Totenschiff
    
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Title: Das Totenschiff
        Die Geschichte eine amerikanischen Seemanns

Author: B. Traven

Release date: April 19, 2025 [eBook #75907]

Language: German

Original publication: Berlin: Buchmeister, 1926

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS TOTENSCHIFF ***


                                  BUCH
                                MEISTER
                                 VERLAG
                              G. M. B. H.
                             BERLIN LEIPZIG
                                  1926




                                  DAS
                                 TOTEN
                                 SCHIFF


                             DIE GESCHICHTE
                                 EINES
                             AMERIKANISCHEN
                                SEEMANNS

                                  VON
                               B. TRAVEN


   ENTWURF, SATZ UND DRUCK DER BUCHDRUCKWERKSTÄTTE, G. M. B. H.
   BERLIN / BUCHBINDEARBEITEN DER LEIPZIGER BUCHBINDEREI A.-G. VORM.
   GUSTAV FRITZSCHE / NACHDRUCK VERBOTEN / ALLE RECHTE, INSBESONDERE
                    DAS DER ÜBERSETZUNG VORBEHALTEN

                      COPYRIGHT 1926 BY B. TRAVEN




                              ERSTES BUCH


                       SONG OF AN AMERICAN SAILOR

   NOW STOP THAT CRYING, HONEY DEAR,
   THE JACKSON SQUARE REMAINS STILL HERE
   IN SUNNY NEW ORLEANS
   IN LOVELY LOUISIANA

   SHE THINKS ME BURIED IN THE SEA,
   NO LONGER DOES SHE WAIT FOR ME
   IN SUNNY NEW ORLEANS
   IN LOVELY LOUISIANA

   THE DEATH-SHIP IS IT I AM IN,
   ALL HAVE I LOST, NOTHING TO WIN
   SO FAR OFF SUNNY NEW ORLEANS
   SO FAR OFF LOVELY LOUISIANA


                   LIED EINES AMERIKANISCHEN SEEMANNS

   MÄDEL, HEUL DOCH NICHT SO SEHR,
   WART’ AUF MICH AM JACKSON SQUARE
   IM SONN’GEN NEW ORLEANS
   IM LIEBEN LOUISIANA

   MEIN MÄDEL GLAUBT, ICH LIEG IM MEER,
   SIE STEHT NICHT MEHR AM JACKSON SQUARE
   IM SONN’GEN NEW ORLEANS
   IM LIEBEN LOUISIANA

   DOCH ICH LIEG NICHT AN EINEM RIFF,
   ICH FAHRE AUF DEM TOTENSCHIFF
   SO FERN VOM SONN’GEN NEW ORLEANS
   SO FERN VOM LIEBEN LOUISIANA


                                   1

Wir hatten eine volle Schiffsladung Baumwolle von New Orleans
’rübergebracht nach Antwerpen mit der S. S. Tuscaloosa.

Sie war ein feines Schiff. Verflucht nochmal, das ist wahr. First rate
steamer, made in U. S. A. Heimatshafen New Orleans. Oh, du sonniges,
lachendes New Orleans, so ungleich den nüchternen Städten der vereisten
Puritaner und verkalkten Kattunhändler des Nordens! Und was für
herrliche Quartiere für die Mannschaft. Endlich einmal ein Schiffbauer,
der den revolutionären Gedanken gehabt hatte, daß die Mannschaft auch
Menschen seien und nicht nur Hände. Alles sauber und nett. Bad und viel
saubere Wäsche und alles moskitodicht. Die Kost war gut und reichlich.
Und es gab immer saubere Teller und geputzte Messer, Gabeln und Löffel.
Da waren Niggerboys, die nichts andres zu tun hatten, als die Quartiere
sauberzuhalten, damit die Mannschaft gesund bliebe und bei guter Laune.
Die Kompanie hatte endlich entdeckt, daß sich eine gutgelaunte
Mannschaft besser bezahlt macht als eine verlotterte.

Zweiter Offizier? No, Sir. Ich war nicht Zweiter Offizier auf diesem
Eimer. Ich war einfacher Deckarbeiter, ganz schlichter Arbeiter. Sehen
Sie, Herr, Matrosen gibt es ja kaum noch, werden auch gar nicht mehr
verlangt. So ein modernes Frachtschiff ist gar kein eigentliches Schiff
mehr. Es ist eine schwimmende Maschine. Und daß eine Maschine Matrosen
zur Bedienung braucht, glauben Sie ja gewiß selbst nicht, auch wenn Sie
sonst nichts von Schiffen verstehen sollten. Arbeiter braucht diese
Maschine und Ingenieure. Sogar der Skipper, der Kapitän, ist heute nur
noch ein Ingenieur. Und selbst der A. B., der am Ruder steht und noch am
längsten als Matrose angesehen werden konnte, ist heute nur noch ein
Maschinist, nichts weiter. Er hat nur die Hebel auszulösen, die der
Rudermaschine die Drehungsrichtung angeben. Die Romantik der
Seegeschichten ist längst vorbei. Ich bin auch der Meinung, daß solche
Romantik nie bestanden hat. Nicht auf den Segelschiffen und nicht auf
der See. Diese Romantik hat immer nur in der Phantasie der Schreiber
jener Seegeschichten bestanden. Jene verlogenen Seegeschichten haben
manchen braven Jungen hinweggelockt zu einem Leben und zu einer
Umgebung, wo er körperlich und seelisch zugrunde gehen mußte, weil er
nichts sonst dafür mitbrachte als seinen Kinderglauben an die
Ehrlichkeit und an die Wahrheitsliebe jener Geschichtenschreiber.
Möglich, daß für Kapitäne und Steuerleute eine Romantik einmal bestanden
hat, für die Mannschaft nie. Die Romantik der Mannschaft ist immer nur
gewesen: Unmenschlich harte Arbeit und eine tierische Behandlung.
Kapitäne und Steuerleute erscheinen in Opern, Romanen und Balladen. Das
Hohelied des Helden, der die Arbeit tat, ist nie gesungen worden. Dieses
Hohelied wäre auch zu brutal gewesen, um das Entzücken derer
wachzurufen, die das Lied gesungen haben wollten. Yes, Sir.

Ich war nur eben gerade schlichter Deckarbeiter, das war alles. Hatte
alle Arbeit zu machen, die vorkam. Richtig gesagt, war ich nur ein
Anstreicher. Die Maschine läuft von selbst. Und da die Arbeiter
beschäftigt werden müssen und andre Arbeit nur in Ausnahmefällen ist,
wenn nicht Laderäume gereinigt werden sollen oder etwas repariert werden
muß, so wird immer angestrichen. Von morgens bis abends, und das hört
nie auf. Da ist immer etwas, das angestrichen werden muß. Eines Tages
wundert man sich dann ganz ernsthaft über dieses ewigwährende
Anstreichen, und man kommt ganz nüchtern zu der Auffassung, daß alle
übrigen Menschen, die nicht zur See fahren, nichts andres tun, als Farbe
anfertigen. Dann empfindet man eine tiefe Dankbarkeit gegen diese
Menschen, weil, wenn sie sich eines Tages weigerten, noch weiter Farbe
zu machen, der Deckarbeiter nicht wüßte, was er tun soll, und der Erste
Offizier, unter dessen Kommando die Deckarbeiter stehen, in Verzweiflung
geriete, weil er nicht wüßte, was er nun den Deckhands kommandieren
soll. Sie können doch ihr Geld nicht umsonst bekommen. No, Sir.

Der Lohn war ja nicht gerade hoch. Das könnte ich nicht behaupten. Aber
wenn ich fünfundzwanzig Jahre lang keinen Cent ausgäbe, jede Monatsheuer
sorgfältig auf die andre legte, nie ohne Arbeit wäre während der ganzen
Zeit, dann könnte ich nach Ablauf jener fünfundzwanzig Jahre
unermüdlichen Arbeitens und Sparens mich zwar nicht zur Ruhe setzen,
könnte aber nach weiteren fünfundzwanzig Jahren Arbeitens und Sparens
mich mit einigem Stolz zur untersten Schicht der Mittelklasse zählen. Zu
jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt, ich habe einen kleinen
Notpfennig auf die Seite gelegt für Regentage. Und da diese Volksschicht
jene gepriesene Schicht ist, die den Staat in seinen Fundamenten erhält,
so würde ich dann ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft
genannt werden können. Dieses Ziel erreichen zu können, ist fünfzig
Jahre Sparens und Arbeitens wert. Das Jenseits hat man sich dann
gesichert und das Diesseits für andre.

Ich machte mir nichts daraus, mir die Stadt anzusehen. Ich mag Antwerpen
nicht leiden. Da treiben sich so viele schlechte Seeleute und ähnliche
Elemente herum. Yes, Sir.

Aber die Dinge im Leben spielen sich nicht so einfach ab. Sie nehmen nur
selten Rücksicht auf das, was man leiden mag und was nicht. Es sind
nicht die Felsen, die den Lauf und den Charakter der Welt bestimmen,
sondern die kleinen Steinchen und Körnchen.

Wir hatten keine Ladung bekommen, und wir sollten in Ballast heimgehen.
Die ganze Mannschaft war in die Stadt gegangen am letzten Abend vor der
Heimfahrt. Ich war ganz allein im Forecastle. Des Lesens war ich müde,
des Schlafens war ich müde, und ich wußte nicht, was ich mit mir
anfangen sollte. Wir hatten um zwölf heute schon Feierabend gemacht,
weil dann bereits die Wachen für die Fahrt verteilt wurden. Das war auch
der Grund, warum alle in die Stadt gegangen waren, um noch einen Kleinen
mitzunehmen, den wir zu Hause nicht haben konnten wegen der gesegneten
Prohibition.

Bald lief ich zur Reeling, um ins Wasser zu spucken, bald wieder lief
ich in die Quartiere. Von dem ewigen Anstarren der leeren Quartiere und
dem ewigen Herunterglotzen auf die langweiligen Hafenanlagen, Speicher,
Stapelhäuser, auf die öden Kontorlöcher mit ihren trüben Fenstern,
hinter denen man nichts sah als Briefordner und Haufen von beschriebenen
Geschäftspapieren und Frachtbriefen, wurde mir ganz erbärmlich zumute.
Es war so unsagbar trostlos. Es ging auf den Abend zu, und es war kaum
eine Menschenseele in diesem Teil des Hafens zu sehen.

Es überkam mich eine ganz dumme Sehnsucht nach dem Gefühl, festen Boden,
Erde unter meinen Füßen zu haben, eine Sehnsucht nach einer Straße und
nach Menschen, die schwatzend durch die Straße schlendern. Das war es:
Ich wollte eine Straße sehen, just eine Straße, nichts weiter. Eine
Straße, die nicht von Wasser umgeben ist, eine Straße, die nicht
schwankt, die ganz fest steht. Ich wollte meinen Augen ein kleines
Geschenk machen, ihnen den Anblick einer Straße gönnen.

„Da hätten Sie früher kommen sollen,“ sagte der Offizier, „ich gebe
jetzt kein Geld.“

„Ich brauche aber unbedingt zwanzig Dollar Vorschuß.“

„Fünf können Sie haben, nicht einen Cent mehr.“

„Mit einem Fünfer kann ich gar nichts anfangen. Ich muß zwanzig haben,
sonst bin ich morgen krank. Wer soll denn dann vielleicht die Galley
anstreichen? Vielleicht wissen Sie das? Ich muß zwanzig haben.“

„Zehn. Aber das ist nun mein letztes Wort. Zehn oder überhaupt nichts.
Ich bin gar nicht verpflichtet, Ihnen auch nur einen Nickel zu geben.“

„Gut, geben Sie zehn. Das ist zwar ein ganz gemeiner Geiz, der hier an
mir verübt wird, aber wir müssen uns ja alles gefallen lassen, das ist
man nun schon gewöhnt.“

„Unterschreiben Sie die Quittung. Wir werden es morgen in die Listen
übertragen. Dazu habe ich jetzt keine Lust.“

Da hatte ich meinen Zehner. Ich wollte ja überhaupt nur zehn haben.
Hätte ich aber gesagt zehn, so würde er auf keinen Fall mehr als fünf
gegeben haben, und mehr als zehn konnte ich nicht gebrauchen, weil ich
nicht mehr ausgeben wollte; denn was man einmal in der Tasche hat, kehrt
nicht mehr heim, wenn man erst in die Stadt geht.

„Betrinken Sie sich nicht. Das ist hier ein ganz böser Platz“, sagte der
Offizier, als er die Quittung an sich nahm.

Das war eine unerhörte Beleidigung. Der Skipper, die Offiziere und die
Ingenieure betranken sich zweimal des Tages, solange wir nun schon hier
lagen, aber mir wird gepredigt, mich nicht zu betrinken. Ich dachte gar
nicht daran. Warum auch? Es ist so dumm und so unvernünftig.

„Nein,“ gab ich zur Antwort, „ich nehme niemals einen Tropfen von diesem
Gift. Ich weiß, was ich meinem Lande selbst in der Fremde schuldig bin.
Yes, Sir. Ich bin Abstinenzler, knochentrocken. Können sich drauf
verlassen, das bin ich. Ich glaube an die heilige Prohibition.“ Raus war
ich und runter vom Eimer.


                                   2

Es war eine lange schöne Sommerdämmerung. Ich schlurkste zufrieden mit
der Welt durch die Straßen und konnte mir nicht denken, daß irgendjemand
auf der Welt sei, dem diese Welt nicht gefallen möchte. Ich sah mir die
Schaufenster an, und ich sah mir die Leute an, denen ich begegnete.
Hübsche Mädels, verflucht nochmal, alles, was recht ist. Manche freilich
beachteten mich gar nicht; die aber, die mich anlachten, waren gerade
die hübschesten. Und wie nett sie lachen konnten! Dann kam ich zu einem
Hause, dessen Front schön vergoldet war. Es sah so lustig aus, das ganze
Haus und die Vergoldung. Die Türen waren weit offen und sagten: „Komm
nur rein, Freund, just für eine kleine Weile, setz’ dich, mach dir’s
bequem und vergiß deine Sorgen.“

Ich hatte überhaupt keine Sorgen, aber es war doch drollig, daß jemand
zu einem sagte, man möge die Sorgen vergessen. Das war so lieb. Und
drinnen, in dem Hause, da waren schon eine ganze Menge Leute, und die
waren alle so lustig, hatten ihre Sorgen vergessen, sangen und lachten,
und da war so eine vergnügte Musik. Nur um zu sehen, ob das Haus drinnen
ebenso vergoldet sei wie draußen, ging ich hinein und setzte mich auf
einen Stuhl. Sofort kam ein Bursche, lachte mich an und setzte mir eine
Flasche und ein Glas gerade vor die Nase. Man mußte es mir wohl an der
Nasenspitze ansehen, denn er sagte sofort in Englisch:

„Bedienen Sie sich, mon ami, und seien Sie vergnügt wie alle die übrigen
hier.“

Nur fröhliche Gesichter rundherum, und wochenlang hat man nichts weiter
vor Augen gehabt als Wasser und stinkende Farbe. Und so war ich halt
vergnügt, und von jenem Augenblick an konnte ich mich auf nichts
Bestimmtes mehr besinnen. Ich tadele nicht jenen freundlichen Burschen,
wohl aber die Prohibition, die uns so schwach gegenüber Versuchungen
macht. Gesetze machen immer schwach, weil es einem in der Natur liegt,
Gesetze zu übertreten, die andre gemacht haben.

Die ganze Zeit hindurch war ein ganz drolliger Nebel immer um mich
herum, und spät in der Nacht fand ich mich in dem Zimmer eines hübschen
lachenden Mädchens. Endlich sagte ich zu ihr: „Well, Mademoiselly, wie
spät haben wir es denn?“

„Oh,“ sagte sie mit ihrem hübschen Lachen, „du hübscher Junge –“ Yes,
Gentlemen, ganz gewiß, das sagte die Mademoiselly zu mir, „hübscher
Junge, o du hübscher Junge,“ sagte sie, „nun sei kein Spaßverderber, sei
ein Kavalier, laß eine zarte junge Dame nicht allein um Mitternacht. Da
können vielleicht Einbrecher in der Nähe sein, und ich bin so
schrecklich furchtsam, die Einbrecher könnten mich vielleicht gar
ermorden.“

Na, ich kenne doch die Pflicht eines rotblütigen amerikanischen Jungen
unter solchen Umständen, wenn er ersucht wird, einer hilflosen schwachen
Dame beizustehen. Von meinem ersten Atemzuge an ist mir gepredigt
worden: Benimm dich anständig in Gegenwart von Damen, und wenn dich eine
Dame um etwas bittet, dann hast du zu flitzen und es zu tun, und wenn es
dich das Leben kosten sollte.

Gut, am Morgen, sehr früh, sauste ich raus zum Hafen. Aber da war keine
Tuscaloosa zu sehen. Der Platz, wo sie gelegen hatte, war leer. Sie war
heimgegangen nach dem sonnigen New Orleans, heimgegangen, ohne mich
mitzunehmen.

Ich habe Kinder gesehen, die sich verlaufen hatten, und denen die Mutter
abhanden gekommen war; ich habe Leute gesehen, denen ihr Häuschen
abgebrannt oder von Wasserfluten fortgeschwemmt war, und ich habe Tiere
gesehen, denen ihr Gefährte abgeschossen oder weggefangen war. Das alles
war sehr traurig. Aber das traurigste aller Dinge ist ein Seemann in
fremdem Lande, dem soeben sein Schiff fortgefahren ist, ohne ihn
mitzunehmen. Der Seemann, der zurückgeblieben ist. Der Seemann, der
übriggeblieben ist.

Es ist nicht das fremde Land, das seine Seele bedrückt, und das ihn
weinen macht wie ein kleines Kind. Er ist fremde Länder gewöhnt. Er ist
oft freiwillig zurückgeblieben und hat oft abgezeichnet, abgemustert aus
Gründen irgendwelcher Art. Da fühlt er sich nicht traurig oder bedrückt.
Aber wenn das Schiff, das seine Heimat ist, wegfährt, ohne ihn
mitzunehmen, dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende
Gefühl des Überflüssigseins. Das Schiff hat nicht auf ihn gewartet, es
kann ohne ihn fertig werden, es braucht ihn nicht. Ein alter Nagel, der
irgendwo herausfällt und zurückbleibt, kann dem Schiff zum Verhängnis
werden, der Seemann, der sich gestern noch so wichtig dünkte für das
Wohl und für das Wandern des Schiffes, ist heute weniger wert als jener
alte Nagel. Der Nagel könnte nicht entbehrt werden, der Seemann, der
übriggebliebene, wird nicht vermißt, die Kompanie spart seinen Lohn. Ein
Seemann ohne Schiff, ein Seemann, der nicht zu einem Schiff gehört, ist
weniger als der Dreck auf der Gasse. Er gehört nirgends hin, niemand
will etwas mit ihm zu tun haben. Wenn er jetzt da ins Meer springt und
ersäuft wie eine Katze, niemand vermißt ihn, niemand wird nach ihm
suchen. „Ein Unbekannter, offenbar ein Seemann“, das ist alles, was von
ihm gesagt wird.

Das ist ja recht lieblich, dachte ich, und jener Welle des Verzagtseins
gab ich rasch ordentlich eins auf den Kamm, so daß sie sich davonmachte.
Mache das Beste aus dem Schlechten, und das Schlechte verschwindet im
Augenblick.

Gosh, schiet den ollen Eimer, da sind andre Schiffe in der Welt, die
Ozeane sind ja so groß und so weit. Kommt ein andres, ein besseres.
Wieviel Schiffe gibt es auf der Welt? Sicher eine halbe Million. Davon
wird doch eines einmal einen Deckarbeiter gebrauchen können. Und
Antwerpen ist ein großer Hafen, da kommen sicher alle diese halbe
Million Schiffe einmal her, irgendwann und irgendeinmal sicher. Muß man
nur Geduld haben. Ich kann doch nicht erwarten, daß gleich da drüben
schon so ein Kasten liegt und der Kapitän in Todesangst schreit:

„Herr Deckarbeiter, kommen Sie schnell rauf zu mir, ich brauche einen
Deckarbeiter, gehen Sie nicht zum Nachbar, ich flehe Sie an.“

So sehr kümmerte ich mich auch wahrhaftig nicht um die treulose
Tuscaloosa. Wer hätte das von diesem schönen Weibsbild gedacht? Aber so
sind sie, alle, alle. Und sie hatte so saubere Quartiere und ein so
gutes Essen. Jetzt haben sie gerade Breakfast, diese verfluchten
Halunken, und essen meine Portion Ham and Eggs mit. Wenn sie wenigstens
nicht der Slim kriegen wollte, denn diesem Hund von einem Bob gönne ich
sie nicht. Aber der wird ja gleich der erste sein, der meine Sachen
durchstöbert und sich das Beste heraussucht, ehe sie abgeschlossen
werden. Diese Banditen werden die Sachen überhaupt nicht abschließen
lassen, sie werden sie glatt unter sich verteilen und sagen, ich hätte
nichts gehabt, diese Banditen, diese niederträchtigen. Dem Slim ist ja
auch nicht zu trauen, er hat mir so schon immer die Toilettenseife
gestohlen, weil er sich mit der Kernseife nicht waschen wollte, dieser
geschniegelte Broadwayhengst. Yes, Sir, das machte der Slim, Sie hätten
das nicht von ihm geglaubt, wenn Sie ihn gesehen hätten.

Wahrhaftig nicht, so sehr kümmerte ich mich nicht um den davongelaufenen
Kasten. Aber was mich ernsthaft bekümmerte, war, ich hatte nicht einen
roten Cent in meiner Tasche. Jenes hübsche Mädchen hatte mir in der
Nacht erzählt, daß ihre so herzinnig geliebte Mutter schwerkrank sei,
und sie hätte kein Geld, um Arznei und kräftiges Essen zu kaufen. Ich
wollte für den Tod der Mutter nicht verantwortlich sein, deshalb gab ich
dem hübschen Mädchen alles Geld, das ich bei mir hatte. Ich wurde
reichlich belohnt durch die tausend beglückten Danksagungen des
Mädchens. Gibt es irgendetwas in der Welt, das beglückender wäre als die
tausend Danksagungen eines hübschen Mädchens, dessen geliebte Mutter man
soeben vom Tode errettet hat? No, Sir.


                                   3

Ich setzte mich auf eine große Kiste, die da lag, und folgte der
Tuscaloosa auf ihrem Wege über das Meer. Ich hoffte und wünschte, daß
sie auf einen Felsen aufbrennen möchte und so gezwungen wäre,
zurückzukommen oder wenigstens die Mannschaft auszubooten und
zurückzuschicken. Aber sie ging den Felsenriffen schön aus dem Wege,
denn ich sah sie nicht zurückkommen. Jedenfalls wünschte ich ihr von
Herzen alle Unglücksfälle und Schiffbrüche, die einem Schiffe nur
begegnen können. Was ich mir aber am deutlichsten ausmalte, das war, daß
sie Seeräubern in die Hände fiele, die das ganze Schiff von oben bis
unten ausplündern und dem Biest Bob die ganzen Sachen wieder abnehmen
würden, die er sich ja nun inzwischen wohl angeeignet haben wird, und
daß sie ihm eins so mächtig auf seine grinsende Fratze hauten, daß ihm
sein Grinsen und Sticheln für sein ganzes Leben verginge.

Gerade als ich mich anschickte, ein wenig einzudröseln und von jenem
hübschen Mädchen zu träumen, klopfte mir jemand auf die Schulter und
weckte mich auf. Er begann sofort so rasend schnell auf mich einzureden,
daß mir ganz schwindlig wurde.

Ich wurde wütend und sagte ärgerlich: „Oh rats, lassen Sie mich in Ruh;
ich mag Ihr Gequassel nicht. Außerdem verstehe ich nicht ein einziges
Wort von Ihrem Geklatter. Scheren Sie sich zum Teufel.“

„Sie sind Engländer, nicht wahr?“ fragte er nun in Englisch.

„No, Yank.“

„Aha, also Amerikaner.“

„Yes, und nun lassen Sie mich ungeschoren und machen Sie, daß Sie
fortkommen. Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.“

„Aber ich mit Ihnen, ich bin von der Polizei.“

„Da haben Sie aber Glück, lieber Freund, guter Posten“, sagte ich
darauf. „Was ist denn los? Geht es Ihnen dreckig oder was haben Sie
sonst für Sorgen?“

„Seemann?“ fragte er weiter.

„Yes, old man. Haben Sie vielleicht einen Posten für mich?“

„Von welchem Schiff?“

„Tuscaloosa von New Orleans.“

„Ist rausgegangen um drei Uhr morgens.“

„Ich brauche Sie nicht, damit mir das erzählt wird. Haben Sie keinen
besseren Witz auf Lager? Der ist schon sehr alt und stinkt.“

„Wo haben Sie Ihre Papiere?“ – „Was für Papiere?“

„Ihre Seemannskarte.“

Ei, Schokoladencreme mit Appelsauce! Meine Seemannskarte? Die steckte in
meiner Jacke, und die Jacke war in meinem Kleidersack und mein
Kleidersack lag mollig unter meiner Bunk in der Tuscaloosa, und die
Tuscaloosa war – ja, wo konnte sie jetzt sein? Wenn ich nur wüßte, was
sie heute für Breakfast bekommen haben! Den Speck hat der Nigger sicher
wieder anbrennen lassen, na, ich will ihm mal etwas erzählen, wenn ich
die Galley streichen komme.

„Na, Ihre Seemannskarte. Verstehen doch, was ich meine.“

„Meine Seemannskarte. Wenn Sie die meinen sollten, nämlich meine
Seemannskarte. Da muß ich Ihnen doch die Wahrheit gestehen. Ich habe
keine Seemannskarte.“

„Keine Seemannskarte?“ Das hätte man hören müssen, in welch einem
entgeisterten Ton er das sagte. Ungefähr so, als ob er sagen wollte:
„Was, Sie glauben nicht, daß es Meerwasser gibt?“

Ihm war das unfaßbar, daß ich keine Seemannskarte hatte, und er fragte
es zum dritten Male. Aber während er es diesmal fragte, offenbar rein
mechanisch, hatte er sich von seinem Erstaunen erholt und fügte hinzu:
„Keine andern Papiere? Paß oder Identitätskarte oder etwas Ähnliches?“

„Nein.“ Ich durchsuchte meine Taschen emsig, obgleich ich genau wußte,
daß ich nicht einmal einen leeren Briefumschlag mit meinem Namen bei mir
hatte.

„Kommen Sie mit mir!“ sagte darauf der Mann.

„Wohin kommen?“ fragte ich, denn ich wollte doch wissen, was der Mann
vorhat und auf welches Schiff er mich verschleppen will. Auf ein Rumboot
gehe ich nicht, das kann ich ihm schon jetzt vorher erzählen. Da kriegen
mich keine zehn Pferde mehr rauf.

„Wohin? Das werden Sie gleich sehen.“ Daß der Mann besonders freundlich
gewesen wäre, hätte ich nicht behaupten können, aber die Heuerbase sind
nur dann schietfreundlich, wenn sie für einen Kasten durchaus niemand
kriegen können. Das also schien hier ein ganz wackeres Bötchen zu sein,
auf das er mich bringen wollte. Ich hätte nicht gedacht, daß ich so
schnell wieder auf einen Eimer kommen würde. Glück muß man haben und nur
nicht immer gleich verzagen.

Endlich landeten wir. Wo? Richtig geraten, Sir, in der Polizeistation.
Da wurde ich nun gleich gründlich durchsucht. Als sie mich durch und
durch gesucht hatten und ihnen keine Naht mehr ein Geheimnis war, fragte
mich der Mann ganz trocken: „Keine Waffe? Keine Werkzeuge?“

Na, da hätte ich ihm aber doch so schlankweg eine brennen können. Als ob
ich ein Maschinengewehr in der oberen Hälfte des Nasenloches und eine
Brechstange unter dem Augenlid hätte verstecken können! Aber so sind die
Leute. Wenn sie nichts finden, behaupten sie, man habe es versteckt;
denn daß man das nicht besitze, wonach sie suchen, das können sie nicht
begreifen und lernen sie auch nie begreifen. Damals wußte ich das noch
nicht.

Dann hatte ich mich vor einem Schreibpulte aufzustellen, an dem ein Mann
saß, der mich immer so ansah, als hätte ich seinen Überzieher gestohlen.
Er öffnete ein dickes Buch, in dem viele Photographien waren. Der Mann,
der mich hierher gebracht hatte, spielte den Übersetzer, weil wir uns
sonst nicht hätten verständigen können. Als sie unsre Jungens brauchten,
im Kriege, da haben sie uns verstanden; jetzt ist das längst vorbei, und
da brauchen sie nichts mehr zu wissen.

Der Hohepriester, denn so sah er aus hinter seinem Schreibpult, sah
immer auf die Photographien und dann auf mich, oder genauer, auf mein
Gesicht. Das tat er mehr als hundertmal, und seine Halsmuskeln wurden
nicht müde, so gewohnt war er diese Arbeit. Er hatte viel Zeit, und die
nahm er sich auch ganz unbekümmert. Andre hatten es ja zu bezahlen,
warum sollte er sich da beeilen.

Endlich schüttelte er den Kopf und klappte das Buch zu. Offenbar hatte
er meine Photographie nicht gefunden. Ich konnte mich auch nicht
erinnern, daß ich mich jemals in Antwerpen hätte photographieren lassen.
Schließlich wurde ich hundemüde von diesem langweiligen Geschäft, und
ich sagte: „Jetzt habe ich aber Hunger. Ich habe heute noch kein
Frühstück gehabt.“

„Das ist recht“, sagte der Dolmetscher und führte mich in einen schmalen
Raum. Viel Möbel waren nicht drin, und die, die drin waren, die waren
nicht in einer Kunstwerkstätte angefertigt worden.

Aber was ist denn das mit dem Fenster? Merkwürdig, das Zimmer hier
scheint für gewöhnlich dazu zu dienen, den belgischen Staatsschatz
aufzubewahren. Der Staatsschatz liegt hier sicher, denn es kann ganz
bestimmt niemand von draußen hier herein, durchs Fenster einmal sicher
nicht, no, Sir.

Ich möchte wissen, ob die Leute hier das wirklich Frühstück nennen.
Kaffee mit Brot und Margarine. Sie haben sich von dem Kriege noch nicht
erholt. Oder wurde der Krieg nur darum gemacht, um sich größere
Frühstücke zu verschaffen? Dann haben sie ihn sicherlich nicht gewonnen,
was immer auch die Zeitungen schreiben mögen, denn ein solches Krümchen
müssen sie schon vor dem Kriege Frühstück genannt haben, weil es das
Minimum an Qualität und Quantität ist, das man gerade noch Frühstück
nennen kann, weil man das Stück früh bekommt.

Gegen Mittag wurde ich wieder vor den Hohenpriester gebracht.

„Wünschen Sie nach Frankreich zu gehen?“ Das wurde ich gefragt.

„Nein, ich mag Frankreich nicht, die Franzosen müssen immer setzen und
können nie sitzen. In Europa müssen sie immer besetzen und in Afrika
immer entsetzen. Und dieses Setzen macht mich nervös, sie können
vielleicht sehr schnell Soldaten brauchen und mich, da ich ja keine
Seemannskarte habe, unabsichtlich verwechseln und mich für einen ihrer
Setzer halten. Nein, nach Frankreich gehe ich auf keinen Fall.“

„Wie denken Sie über Deutschland?“

Was die Leute alles von mir wissen wollen!

„Nach Deutschland mag ich auch nicht gehen.“

„Warum? Deutschland ist doch ein recht hübsches Land, da können Sie auch
wieder leicht ein Schiff bekommen.“

„Nein, ich mag die Deutschen nicht. Wenn ihnen die Rechnungen vorgelegt
werden, dann sind sie die Entsetzten, und wenn sie die Rechnungen nicht
bezahlen können, dann sind sie die Besetzten. Und weil ich doch keine
Seemannskarte habe, könnte man mich dort vielleicht auch verwechseln,
und ich müßte mit bezahlen. Soviel kann ich ja als Deckarbeiter nie
verdienen. Da könnte ich nie die unterste Schicht der Mittelklasse
erklimmen und ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft
werden.“

„Was reden Sie soviel herum? Sagen Sie einfach, ob Sie dahin wollen oder
nicht.“

Ob sie das verstehen, was ich da sage, weiß ich nicht. Aber es scheint,
daß sie viel Zeit haben und froh sind, daß eine Unterhaltung im Gange
ist.

„Also, dann kurz und bündig und abgemacht, Sie gehen nach Holland“, sagt
der Hohepriester und der Dolmetscher erzählt es mir wieder.

„Ich mag aber die Holländer nicht“, erwiderte ich, und ich will nun auch
gleich erzählen warum, als mir gesagt wird: „Ob Sie die Holländer mögen
oder nicht, das geht uns gar nichts an. Machen Sie das mit den
Holländern ab. In Frankreich wären Sie am besten aufgehoben gewesen.
Aber da wollen Sie ja nicht hin. Nach Deutschland wollen Sie auch nicht,
das ist Ihnen auch nicht gut genug, und jetzt gehen Sie einfach nach
Holland. Fertig und Schluß. Eine andre Grenze haben wir nicht.
Ihretwegen können wir uns auch keinen andern Nachbar aussuchen, der
vielleicht Ihre Wertschätzung erwerben könnte, und ins Wasser wollen wir
Sie vorläufig noch nicht schmeißen, das ist die einzige Grenze, die uns
noch bleibt als letzte. Also es geht nach Holland und nun Schluß. Seien
Sie froh, daß Sie so billig davonkommen.“

„Aber meine Herren, Sie sind im Irrtum, ich will gar nicht nach Holland.
Die Holländer sitzen –“

„Ruhig nun. Die Frage ist entschieden. Wieviel Geld haben Sie?“

„Sie haben doch meine Taschen und Nähte alle durchsucht. Wieviel Geld
haben Sie denn gefunden?“ Da soll man nun nicht wütend werden. Sie
durchsuchen einen stundenlang mit Vergrößerungsgläsern, und dann fragen
sie noch ganz scheinheilig, wieviel Geld man habe.

„Wenn Sie nichts gefunden haben, dann habe ich kein Geld“, sage ich.

„Das ist gut. Das ist jetzt alles. Nehmen Sie ihn wieder in die Zelle.“
Der Hohepriester hatte seine Zeremonien beendet.


                                   4

Am späten Nachmittag wurde ich zum Bahnhof gebracht. Zwei Mann, darunter
der Dolmetscher, begleiteten mich. Offenbar dachten sie, ich sei noch
nie in meinem Leben mit der Bahn gefahren, denn ich durfte nichts allein
tun. Einer löste die Fahrkarten, während der andre dicht bei mir stehen
blieb und aufpaßte, damit nicht etwa ein Taschendieb sich die
vergebliche Arbeit machen sollte, noch einmal meine Taschen
durchzusuchen, denn wo einmal die Polizei Taschen durchsucht hat, findet
auch der geschickteste Taschendieb keinen Cooper mehr.

Der Mann, der die Karten gelöst hatte, gab mir aber meine Karte nicht.
Wahrscheinlich dachte er, ich würde sie sofort wieder verkaufen. Sie
begleiteten mich dann sehr höflich auf den Bahnsteig und brachten mich
zu meinem Abteil. Ich glaubte, sie würden sich hier von mir
verabschieden. Aber das taten sie nicht. Sie setzten sich zu mir in das
Abteil, und um mich vor dem Hinausfallen zu bewahren, nahmen sie mich in
ihre Mitte. Ob belgische Polizeibeamte immer so höflich mit Leuten sind,
weiß ich nicht. Ich jedenfalls konnte mich über sie nicht beklagen. Sie
gaben mir dann Zigaretten. Wir rauchten, und der Zug dampfte los. Nach
einer kurzen Fahrt verließen wir den Zug und kamen in ein kleines
Städtchen. Wieder wurde ich zu einer Polizeistation gebracht. Ich hatte
mich auf eine Bank zu setzen in jenem Raum, wo sich alle die
Polizeibeamten aufhielten, die in Reserve waren. Die beiden Leute, mit
denen ich gekommen war, erzählten eine große Geschichte über mich. Die
übrigen Cops, ich meine die übrigen Polizeibeamten, glotzten mich alle
der Reihe nach an, manche interessiert, als ob sie noch nie einen
solchen Mann gesehen hätten, und andre wieder, als hätte ich irgendwo
einen Doppelraubselbstmord verübt.

Gerade diejenigen, die mich in so verhängnisvoller Weise anstarrten, die
mich der Verübung der gräßlichsten Verbrechen, deren Täter man noch
nicht erwischt hatte, fähig hielten, und die mir noch viel schwerere
Verbrechen in Zukunft zutrauten als ich, ihrer untrüglichen Meinung
zufolge, schon verübt habe, flößten mir plötzlich den Gedanken ein, daß
ich hier auf den Henker zu warten habe, der augenscheinlich nicht zu
Hause war und erst gesucht werden mußte.

Da war nichts zu lachen, no, Sir. Es war eine sehr ernste Sache. Man
braucht nur ein wenig darüber nachzudenken. Ich hatte keine
Seemannskarte, ich hatte keinen Paß, ich hatte keinen Identitätsausweis,
ich hatte kein sonstiges Papier, und meine Photographie hatte der
Hohepriester in seinem dicken Buche auch nicht gefunden. Wenn da
wenigstens noch meine Photographie gewesen wäre, dann hätte er doch
gleich gewußt, wer ich bin. Von der Tuscaloosa achtern abgeblieben zu
sein, das konnte jeder erzählen, der sich da herumtrieb. Eine Wohnung
hatte ich nirgendwo auf der Welt. Entweder ein Eimer oder eine
Seemannsherberge. Mitglied irgendeiner Handelskammer war ich auch nicht.
Ich war eben ein Niemand. Na, nun frage ich, warum sollten die armen
Belgier einen Niemand durchfüttern, wo sie doch schon so viele
Niemandskinder durchzufüttern haben, die wenigstens immer noch zur
Hälfte hierher gehören. Ich aber gehörte mit keiner Hälfte hierhin. Ich
war nur eine weitere Ursache, daß sie in Amerika wieder Geld pumpen
mußten. Mich zu hängen, war der kürzeste und einfachste Weg, um mich los
zu werden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Kein Mensch
kümmerte sich um mich, kein Mensch würde nach mir fragen, meinen Namen
brauchten sie gar nicht einmal in ihre dicken Bücher zu schreiben. Und
hängen würden sie mich, ganz sicher. Sie warteten nur noch auf den
Henker, der das Geschäft versteht, sonst wäre es ja ungesetzlich und ein
Mord.

Wie recht ich hatte. Da war der Beweis. Einer der Cops kam auf mich zu
und gab mir zwei dicke Pakete mit Zigaretten, die letzte Gabe an den
armen Sünder. Dann gab er mir auch noch Zündhölzer, setzte sich zu mir
und radebrechte mit mir, lachte und war freundlich, klopfte mir auf die
Schulter und sagte: „Ist nicht so schlimm, Junge, nehmen Sie es nicht zu
tragisch. Rauchen Sie, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird. Wir müssen
warten, bis es finster ist, sonst können wir es nicht gut machen.“ Nicht
tragisch nehmen, wenn man gehängt werden soll. Ist nicht so schlimm. Ich
möchte wissen, ob es mit ihm schon mal versucht worden ist, daß er so
bestimmt sagen kann: Ist nicht so schlimm. Warten, bis es finster ist.
Freilich, bei Tage trauen sie sich nicht so recht, es könnte uns ja
vielleicht jemand begegnen, der mich kennt, und dann wäre der Spaß
verdorben. Aber es hat ja keinen Zweck, den Kopf hängen zu lassen, er
wird bald genug von selber hängen. Und ich rauche erst einmal wie ein
Fabrikschlot, damit sie nicht am Ende gar noch die Zigaretten sparen.

Die Zigaretten schmecken nach gar nichts. Das reine Stroh. Verflucht
nochmal, ich will nicht hängen. Wenn ich nur wüßte, wie ich hier heraus
komme. Aber die sind ja immerfort um mich herum. Und jeder neue, der
abgelöst ist und hereinkommt, glubscht mich an und will von den andern
wissen, wer ich bin, warum ich hier sei, und wann ich gehängt werde. Und
dann grient er übers ganze Gesicht. Ein widerliches Volk. Ich möchte
wissen, warum wir denen geholfen haben.

Später bekam ich mein letztes Essen. Aber solche Geizhälse gibt es auf
der ganzen Erde nicht mehr. Das nennen sie nun eine Henkersmahlzeit:
Kartoffelsalat mit einer Scheibe Leberwurst und ein paar Schnitten Brot
mit Margarine. Zum Heulen ist es. Nein, die Belgier sind keine Guten,
und es fehlte nicht viel, und ich wäre beinahe verwundet worden, als wir
sie aus der Suppe ziehen mußten und unser Geld los wurden. Einer, der
mir die Zigaretten gegeben hatte und mir einzureden versuchte, es sei
nicht so schlimm, gehenkt zu werden, sagte nun: „Sie sind doch ein guter
Americain, sie trinken doch keinen Wein, nicht wahr?“ Und dabei lachte
er mich an. Teufel nochmal, wenn er nicht ein solcher Heuchler wäre mit
seinem Nicht-so-schlimm, man könnte beinahe glauben, daß es auch feine
und nette Belgier gibt.

„Guter Amerikaner? Schiet auf Amerika. Ich trinke Wein, aber feste.“

„Das habe ich mir doch gleich gedacht,“ sagte der Cop schmunzelnd. „Sie
sind echt. Das ist ja alles Alterweiberhumbug mit eurer sogenannten
Prohibition. Laßt euch von Tanten und Betschwestern kommandieren. Mich
geht es ja nichts an. Aber hier bei uns, da haben wir Männer noch die
Hosen an.“

Gosh, da ist endlich einer, der den Pfahl im Fleische sieht. Der Mann
kann nicht verlorengehen, er kann durch dickes Wasser bis auf den Grund
sehen. Schade um den Mann, daß er Cop ist. Aber wenn er nicht Cop wäre,
würde ich wahrscheinlich dieses Riesenglas voll guten Weines, das er
jetzt vor mich hinstellte, nie gesehen haben. Prohibition ist eine
Schande und eine Sünde, Gott sei’s geklagt. Ich bin sicher, daß wir
irgendwann und irgendwo etwas Furchtbares verbrochen haben müssen, weil
uns diese köstliche Gottesgabe genommen wurde.

Gegen zehn Uhr abends sagte der Weinspender zu mir: „So, nun ist es Zeit
für uns, Seemann, kommen Sie mit mir.“

Was hätte es für Sinn, zu schreien: „Ich will nicht gehenkt werden!“
wenn da vierzehn Mann um einen herum sind, und alle vierzehn vertreten
das Gesetz. Das ist eben Schicksal. Zwei Stunden hätte die Tuscaloosa
nur zu warten brauchen. Aber zwei Stunden bin ich nicht wert, hier bin
ich noch viel weniger wert.

Der Gedanke an diese Wertlosigkeit empörte mich aber doch, und ich
sagte: „Ich geh nicht mit. Ich bin Amerikaner, ich werde mich
beschweren.“

„Ha!“ schrie einer höhnisch herüber, „Sie sind kein Amerikaner. Beweisen
Sie es doch. Haben Sie eine Seemannskarte? Haben Sie einen Paß? Nichts
haben Sie. Und wer keinen Paß hat, ist niemand. Mit Ihnen können wir
machen, was uns beliebt. Und das werden wir jetzt, und Sie werden nicht
gefragt. Raus mit dem Burschen.“

Es war nicht nötig, daß ich mir vielleicht erst noch einen Hieb über den
Schädel holte, am Ende war ich ja nur der Dumme. So mußte ich halt
lostrotten.

An meiner linken Seite ging der lustige Mann, der radebrechen konnte,
und an meiner rechten Seite ging ein andrer. Wir verließen das kleine
Städtchen und befanden uns bald auf offnen Feldern.

Es war entsetzlich finster. Der Weg, auf dem wir gingen, war nur ein
holpriger, zerfahrener Landweg, wo man schlecht laufen konnte. Ich hätte
nur gern gewußt, wie lange wir so wandern wollten, bis das traurige Ziel
erreicht war.

Nun verließen wir auch noch diese elende Straße und bogen in einen
Wiesenpfad ein. Eine gute Weile ging es über Wiesen.

Jetzt war es Zeit, abzuhäuten. Aber diese Burschen waren augenscheinlich
Gedankenleser. Gerade als ich einen ausschwingen will, um zuerst einmal
dem einen Nachbar einen sanften Bläser an die Kinnbacken zu haken, packt
mich der Mann am Arm und sagt: „Nun sind wir da. Jetzt haben wir
einander Lebewohl zu sagen.“

Ein entsetzliches Gefühl, wenn man die letzte Minute so klar und trocken
heranschleichen sieht. Nicht einmal schleichen. Sie stand gleich ganz
nüchtern vor mir. Es war mir sehr trocken in der Kehle. Ich hätte gern
einen Schluck Wasser gehabt. Aber nun war ja wohl an Wasser nicht mehr
zu denken. Die paar Augenblicke würde es auch noch ohne Wasser gehen,
das hätten sie mir sicher geantwortet. Ich hätte den Weinspender nicht
für einen solchen Heuchler gehalten. Einen Henker hatte ich mir anders
vorgestellt. Es ist doch ein dreckiges, ein schäbiges Geschäft; als ob
es nicht andre Berufe gäbe. Nein, gerade Henker, Bestie sein, und das
sogar noch als Beruf.

Nie vorher im Leben hatte ich so stark gefühlt, wie wunderschön das
Leben ist. Wunderschön und über alle Maßen köstlich ist sogar das Leben,
wenn man müde und hungrig zum Hafen kommt und erkennt, daß einem das
Schiff weggefahren ist und man zurückgelassen ist ohne Seemannskarte.
Leben ist immer schön, wenn es auch noch so trübe aussieht. Und in einer
so finstern Nacht auf freiem Felde einfach so fortgewischt zu werden,
als wäre man nur gerade ein Wurm –! Hätte ich von den Belgiern nicht
gedacht. Aber schuld daran ist die Prohibition, die einen so schwach
macht gegen Versuchungen. Wenn ich jetzt, gerade jetzt, diesen Mr.
Volstead hier zwischen meinen Fingern hätte! Was muß der Mann für eine
böse Frau gehabt haben, daß er so etwas ausdenken und ausstinken konnte!
Froh bin ich aber doch, daß auf mich diese Millionen Flüche nicht
herabgedonnert werden, die das Leben dieses Mannes belasten.

„Oui, Mister, wir haben Lebewohl zu sagen. Sie mögen ja ein ganz netter
Mensch sein. Augenblicklich haben wir aber gar keine Verwendung für
Sie.“

Deshalb brauchen Sie einen doch aber nicht gleich zu henken.

Er hob seinen Arm. Offenbar, um mir die Schlinge über den Kopf zu werfen
und mich zu erdrosseln; denn die Mühe, einen Galgen aufzubauen, hatten
sie sich nicht gemacht. Das hätte zuviel Ausgaben verursacht.

„Da drüben,“ sagte er nun und zeigte mit ausgestrecktem Arme in die
Richtung, „da drüben, geradenwegs, wo ich hinweise, da ist Holland.
Netherland. Haben Sie doch sicher schon davon gehört?“

„Ja.“

„Jetzt gehen Sie geradenwegs in jene Richtung, die ich Ihnen hier mit
meinem Arme andeute. Ich glaube nicht, daß Sie da jetzt einen
Kontrollbeamten treffen werden. Wir haben uns erkundigt. Sollten Sie
aber jemand sehen, dann gehen Sie ihm sorgfältig aus dem Wege. Nach
einer Stunde Gehens immer in dieser Richtung kommen Sie an die
Eisenbahnlinie. Folgen Sie der Linie noch eine kurze Strecke in
derselben Richtung, dann kommen Sie zur Station. Halten Sie sich da in
der Nähe auf, aber lassen Sie sich nicht sehen. Gegen vier Uhr morgens
kommen dann eine Menge Arbeiter, und dann gehen Sie zum Schalter und
sagen nur ‚Rotterdam derde klasse‘, aber sagen Sie kein einziges Wort
mehr. Hier haben Sie fünf Gulden.“

Er gab mir fünf Geldscheine.

„Und da ist noch ein Happen zu essen für die Nacht. Kaufen Sie nichts
auf der Station. Sie sind bald in Rotterdam. So lange halten Sie es dann
schon aus.“

Nun gab er mir ein kleines Paketchen, in dem allem Anschein nach
Butterbrote waren. Dann bekam ich noch ein Paket Zigaretten und eine
Schachtel Zündhölzer.

Was soll man von diesen Leuten sagen? Sie sind hinausgeschickt, um mich
zu henken, und geben mir noch Geld und Butterbrote, damit ich mich aus
dem Staube machen kann. Sie haben ein zu gutes Herz, mich so kalt
umzubringen. Da soll man nun die Menschen nicht lieben, wenn man so gute
Kerle selbst unter den Polizisten findet, deren Herz durch das ewige
Menschenjagen durch und durch verhärtet ist. Ich schüttelte den beiden
so sehr die Hände, daß sie Angst bekamen, ich wollte die Hände
mitnehmen.

„Machen Sie nicht solchen Spektakel, einer von drüben kann Sie
vielleicht gar hören, und dann ist alles im Dreck. Und das wäre nicht
gut, dann könnten wir wieder von vorn anfangen.“ Der Mann hatte recht.
„Und nun hören Sie gut zu, was ich Ihnen jetzt sage.“ Er sprach
halblaut, bemühte sich aber, mir alles deutlich zu machen dadurch, daß
er das Gesagte mehrfach wiederholte. „Kommen Sie ja nicht nochmal nach
Belgien zurück, das kann ich Ihnen nur sagen. Wenn wir Sie nochmal
innerhalb unsrer Grenzen finden, Sie können sich darauf verlassen, wir
sperren Sie ein auf Lebenszeit. Auf Lebenszeit im Gefängnis. Lieber
Freund, das ist allerlei. Also ich warne Sie ausdrücklich. Wir wissen ja
nicht, wohin mit Ihnen. Sie haben ja keine Seemannskarte.“

„Aber vielleicht hätte ich zum Konsul –“

„Gehen Sie mir mit Ihrem Konsul. Haben Sie eine Seemannskarte? Nein. Na
also. Da pfeffert Sie Ihr Konsul raus, vierkant, und wir haben Sie auf
dem Halse. Sie wissen jetzt Bescheid. Auf Lebenszeit Gefängnis.“

„Ganz bestimmt, meine Herren, ich verspreche es Ihnen. Ich werde nicht
mehr Ihr Land betreten.“ Warum sollte ich auch? Ich hatte ja in Belgien
nichts verloren. Ich war eigentlich froh, daß ich raus kam. Holland ist
viel besser. Die versteht man schon zur Hälfte, während man hier kein
Wort versteht, was die Leute reden, und was sie wollen.

„Gut also. Sie sind nun verwarnt. Nun hüpfen Sie los und seien Sie
vorsichtig. Wenn Sie Tritte hören, legen Sie sich hin bis die Schritte
vorübergegangen sind. Lassen Sie sich nur nicht kriegen, sonst kriegen
wir Sie, und dann geht es Ihnen schlecht. Viel Glück auf die Reise.“

Die schoben ab und ließen mich allein.

Dann, kreuzvergnügt, wanderte ich los. Immer in jener Richtung, die mir
gezeigt worden war.


                                   5

Rotterdam ist eine hübsche Stadt. Wenn man Geld hat. Ich hatte keins,
nicht einmal eine Börse, wo ich es hätte hineinstecken können, wenn ich
welches gehabt hätte.

Da war auch nicht ein einziges Schiff im Hafen, das einen Deckarbeiter
oder einen Ersten Ingenieur gebraucht hätte. Zu jener Zeit war mir das
ganz gleich. Wenn auf einem Schiff ein Erster Ingenieur verlangt worden
wäre, ich hätte den Posten angenommen. Glatt. Ohne mit der Wimper zu
zucken. Der Krach kommt ja erst, wenn das Schiff draußen ist, auf hoher
Fahrt. Und dann können sie einen doch nicht so einfach über Bord feuern.
Anzustreichen gibt es immer etwas, da findet sich dann also schon die
rechte Arbeit. Man ist ja schließlich auch nicht so, daß man nun mit
Mord und Tod auf das Gehalt des Ersten Ingenieurs pocht. Man kann ja
etwas nachlassen. Gosh, in welchem Laden wird nicht auch einmal vom
Preise heruntergehandelt, wenn das Plakat „Feste Preise“ auch noch so
groß gemalt ist?

Krach hätte es sicher gegeben; denn damals konnte ich eine Kurbel nicht
von einem Ventil und eine Bleuelstange nicht von einer Welle
unterscheiden. Das wäre ja beim ersten Signal herausgekommen, wenn der
Skipper hinuntergeklingelt hätte „Totlangsam“, und gleich darauf wäre
der Eimer losgeschossen, als ob er auf Tod und Leben verpflichtet sei,
das „Blue Ribbon“, das Blaue Band, zu gewinnen. Ein Spaß wäre es ja
doch. Aber es lag nicht an mir, daß ich den Spaß nicht ausprobieren
konnte, denn niemand suchte einen Ersten Ingenieur. Es wurde überhaupt
niemand gesucht, auf keinem Schiff. Ich hätte alles angenommen, was
zwischen Kapitän und Küchenjunge ist. Aber nicht einmal ein Kapitän
wurde vermißt.

Nun trieben sich auch schon so viele Seeleute dort herum, die alle auf
ein Schiff warteten. Und nun gar noch eins erwischen, das ’rüber geht
nach den States, das ist schon ganz hoffnungslos. Alle wollen sie auf
einen Kasten, der rüber geht, weil sie dort alle absacken wollen,
achtern raussegeln. Denn alle denken, drüben werden die Leute mit
Rosinen gefüttert, sie brauchen den Schnabel nur hinzuhalten. Schiet.
Und dann liegen sie dort zu Zehntausenden in den Häfen rum und warten
auf ein Schiff, das sie wieder heimbringt, weil eben alles ganz anders
ist, als sie sich gedacht haben. Die goldnen Zeiten sind vorüber, sonst
würde mich niemand als Deckarbeiter auf der Tuscaloosa gefunden haben.

Aber die beiden netten belgischen Cops haben mir einen Tip gegeben: Mein
Konsul. Mein! Die beiden Cops schienen meinen Konsul besser zu kennen
als ich. Merkwürdig. Es ist doch meine Pflicht, ihn besser zu kennen,
denn er ist doch meiner. Er ist ja meinetwegen in der Welt. Er wird ja
meinetwegen bezahlt.

Der Konsul klariert Dutzende von Schiffen aus, da wird er ja auch etwas
wissen über verlangte Deckarbeiter, besonders wenn ich kein Geld habe.

„Wo haben Sie Ihre Seemannskarte?“

„Die habe ich verloren.“

„Haben Sie einen Paß?“

„Nein.“

„Bürgerpapier?“

„Nie gehabt.“

„Ja, was wollen Sie denn dann hier?“

„Ich habe gedacht, daß Sie mein Konsul seien, daß Sie mir helfen
würden.“

Er griente. Sonderbar, daß die Menschen immer grienen, wenn sie einen
den Hieb versetzen wollen.

Und mit diesem Grienen auf den Lippen sagte er: „Ihr Konsul? Das müssen
Sie mir beweisen, lieber Mann, daß ich Ihr Konsul bin.“

„Ich bin doch aber Amerikaner, und Sie sind amerikanischer Konsul.“ Das
war doch ganz richtig.

Aber es schien nicht richtig zu sein, denn er sagte: „Amerikanischer
Konsul, wenn auch augenblicklich noch nicht Erster, bin ich allerdings.
Aber ob Sie Amerikaner sind, das müssen Sie mir erst beweisen. Wo haben
Sie denn Ihre Papiere?“

„Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, die habe ich verloren.“

„Verloren. Wie kann man seine Papiere verlieren? Die trägt man doch
stets bei sich, besonders wenn man in einem fremden Lande ist. Sie
können ja nicht einmal beweisen, ob Sie überhaupt auf der Tuscaloosa
waren. Können Sie das beweisen?“

„Nein.“

„Also. Was wollen Sie da hier? Wenn Sie auch auf der Tuscaloosa waren,
selbst wenn es bewiesen werden könnte, daß Sie wirklich drauf waren, so
wäre das noch nicht der geringste Beweis, daß Sie Bürger sind. Auf einem
amerikanischen Schiffe können auch Hottentotten arbeiten. Also, was
wollen Sie hier? Wie kommen Sie überhaupt von Antwerpen ohne Papiere
hierher nach Rotterdam? Das ist doch merkwürdig.“

„Die Polizei hat mich doch –“

„Kommen Sie mir gefälligst nicht noch mal mit einer solchen Erzählung.
Wo ist denn das erhört, daß Staatsbeamte jemand auf diesem
ungesetzlichen Wege über die Grenze in ein fremdes Land schicken? Ohne
Papiere. Sie können mich nicht damit aufziehen, lieber Mann.“

Und das alles sagte er grienend und ewig lächelnd; denn der
amerikanische Beamte hat immer zu lächeln, selbst wenn er ein
Todesurteil verkündet. Das ist seine republikanische Pflicht. Was mich
aber am meisten ärgerte, war, daß er während seiner Rede immer mit dem
Bleistift spielte. Bald kritzelte er damit auf der Tischplatte herum,
bald kratzte er sich damit im Haar, bald trommelte er damit „My Old
Kentucky Home“, und bald tippte er mit dem Bleistift so auf den Tisch,
als ob er mit jedem Tippen ein Wort festnageln wollte.

Ich hätte ihm am liebsten das Tintenfaß ins Gesicht geworfen. Aber ich
mußte Geduld üben, und so sagte ich: „Vielleicht können Sie mir wieder
ein Schiff verschaffen, damit ich heimkomme. Es kann ja sein, daß ein
Skipper um einen Mann zu kurz ist, oder daß einer erkrankt.“

„Ein Schiff? Ohne Papiere ein Schiff? Von mir nicht, da brauchen Sie gar
nicht erst wiederzukommen.“

„Aber wo soll ich denn Papiere herbekommen, wenn Sie mir keine geben?“
fragte ich.

„Was geht mich denn das an, wo Sie Ihre Papiere herkriegen. Ich habe sie
Ihnen doch nicht abgenommen. Oder? Da könnte ja jeder Herumtreiber, der
auf seine Papiere nicht besser acht gibt, kommen und von mir Papiere
verlangen.“

„Well, Sir,“ sagte ich darauf, „ich glaube, es haben auch schon andre
Leute, die nicht Arbeiter sind, ihre Papiere verloren.“

„Richtig. Aber diese Leute haben Geld.“

„Ach so!“ schrie ich laut, „jetzt verstehe ich.“

„Nichts verstehen Sie,“ griente er, „ich meine, dann sind das Leute, die
noch andre Ausweise haben, Leute, bei denen kein Zweifel zulässig ist,
Leute, die ein Zuhause haben, die eine Adresse haben.“

„Was kann ich denn dafür, daß ich keine Villa habe, kein Zuhause und
keine andre Adresse als meinen Arbeitsplatz.“

„Das geht mich nichts an. Sie haben die Papiere verloren. Sehen Sie zu,
wo Sie andre herbekommen. Ich habe mich an meine Bestimmungen zu halten.
Nicht meine Schuld. Haben Sie schon gegessen?“

„Ich habe doch kein Geld, und gebettelt habe ich noch nicht.“

„Warten Sie einen Augenblick.“

Er stand auf und ging in ein andres Zimmer. Nach einigen Minuten kam er
zurück und brachte mir eine Karte.

„Hier haben Sie eine Verpflegungskarte für drei volle Tage im
Seemannshause. Wenn sie abgelaufen ist, können Sie ruhig nochmal
wiederkommen. Versuchen Sie nochmal, vielleicht bekommen Sie ein andres
Schiff, von einer andern Nationalität. Manche nehmen es nicht so genau.
Ich darf Ihnen keine Andeutungen machen. Sie müssen das selbst
herausfinden. Ich bin hier ganz machtlos. Ich bin lediglich ein Diener
des Staates. ’m sorry, old fellow, can’t help it. Good-bye and g’d
luck!“ Möglich, der Mann hat recht. Vielleicht ist er gar nicht so ein
Biest. Warum sollen Menschen denn Biester sein? Ich glaube beinahe, der
Staat ist das Biest. Der Staat, der den Müttern die Söhne nimmt, um sie
den Götzen vorzuwerfen. Dieser Mann ist der Diener des Biestes, wie der
Henker der Diener des Biestes ist. Alles, was der Mann sagte, war
auswendig gelernt. Das hatte er jedenfalls lernen müssen, als er seine
Prüfung ablegte, um Konsul zu werden. Das ging klipp-klapp. Auf jede
meiner Aussagen hatte er eine passende Antwort, die mir sofort das Maul
stopfte. Aber als er fragte: „Haben Sie Hunger? Haben Sie schon
gegessen?“ da wurde er plötzlich Mensch und hörte auf, Biestdiener zu
sein. Hunger haben ist etwas Menschliches. Papiere haben ist etwas
Unmenschliches, etwas Unnatürliches. Darum der Unterschied. Und das ist
die Ursache, warum Menschen immer mehr aufhören, Menschen zu sein, und
anfangen, Figuren aus Papiermaché zu werden. Das Biest kann keine
Menschen brauchen; die machen zu viel Arbeit. Figuren aus Papiermaché
lassen sich besser in Reih’ und Glied stellen und uniformieren, damit
die Diener des Biestes ein bequemeres Leben führen können. Yesser, yes,
Sir.


                                   6

Drei Tage sind nicht immer drei Tage. Es gibt sehr lange drei Tage und
es gibt sehr kurze. Daß drei Tage so kurz sein könnten, wie die drei
Tage, wo ich gut zu essen hatte und ein Bett, würde ich nicht geglaubt
haben. Ich wollte mich gerade das erstemal zum Frühstück hinsetzen, da
waren die drei Tage schon um. Aber selbst wenn sie zehnmal länger
gedauert hätten, zum Konsul gehe ich nicht mehr. Sollte ich mir
vielleicht wieder seine auswendig gelernten Prüfungsantworten anhören?
Etwas Besseres würde er jetzt auch nicht wissen. Ein Schiff konnte er
mir nicht besorgen. Also was hätte es für Zweck gehabt, seine Reden über
mich ergehen zu lassen? Möglich, daß er mir wieder eine Karte gegeben
hätte. Diesmal aber sicher schon mit einer Geste und einer Miene, die
mir das Essen in der Kehle hätte festwürgen lassen, ehe ich überhaupt
den Löffel in die Suppe steckte. Die drei Tage wären noch viel kürzer
geworden als die vorigen.

Der wichtigste Grund war, ich wollte die Kleinigkeit Mensch, die er bei
meinem ersten Besuche gewesen war in dem Augenblick, als er sich um mein
Wohlergehen kümmerte, nicht aus meiner Erinnerung verlieren. Bestimmt
hätte er mir nun die Karte in seiner vollen Überlegenheit als
Biestdiener verabreicht und mit moralverbrämten Reden, daß es diesmal
das letzte Mal sein müsse, daß zu viele kämen, und daß man sich nicht
darauf ausruhen könne, sondern daß man auch selbst etwas dazu tun müsse,
um weiterzukommen. Lieber verrecken, als nochmal dahin gehen.

Oh, du geliebte Schneiderseele, was war ich hungrig! So gottserbärmlich
hungrig. Und so müde durch das Schlafen in Torwegen und Winkeln, immer
gejagt im Halbschlaf von der Nachtpolizei, die in die Torwege und Winkel
hineinleuchtete mit den Taschenlampen. Immer auf der Hut sein, im
Schlafe die Patrouille auf fünfzig Schritte hören müssen, um sich noch
rechtzeitig aus dem Staube zu machen. Denn wenn sie einen erwischen, das
heißt Arbeitshaus.

Und kein Schiff im Hafen, das jemand brauchen könnte. Da sind soviele
hundert Seeleute des eignen Landes auf den Beinen, die ein Schiff
suchen, und die gute Papiere haben. Und keine Arbeit in den Fabriken,
keine Arbeit in irgendeinem Geschäft. Selbst wenn da Arbeit wäre, der
Mann dürfte sie einem gar nicht geben. Haben Sie Papiere? Nein? Schade,
dürfen wir Sie nicht einstellen. Sie sind Ausländer.

Gegen wen sind die Pässe und die Einreisevisen gerichtet? Gegen die
Arbeiter. Gegen wen ist die Beschränkung der Einwanderung in Amerika und
in andern Ländern gerichtet? Gegen die Arbeiter. Und auf wessen
Veranlassung und mit wessen machtvoller Unterstützung sind oft diese
Gesetze, die die Freiheit des Menschen vernichten, ihn zwingen, dort zu
leben, wo er nicht leben will, ihn verhindern, nach jenem Teil der Erde
zu gehen, wo er gern leben möchte, geschaffen worden? Auf Veranlassung
und mit Unterstützung der Arbeiterverbände. Ein Biest im Bieste: Ich
schütze meine Sippe; wer nicht zu meiner Sippe gehört, der mag zugrunde
gehen; geht er zugrunde, um so besser, dann bin ich einen Konkurrenten
los. Yes, Sir.

So hungrig und so müde! Dann kommt die Zeit, wo man nicht mehr darüber
nachdenkt, ob es einen Unterschied macht, die Börse eines andern, der
nicht hungert, mit der eignen Börse, die man nicht hat, zu verwechseln.
Man braucht sie nicht verwechseln, man fängt damit an, ohne es zu
wollen, an die Börse eines Nichthungernden zu denken.

Ein Herr und eine Dame standen vor einem Schaufenster, als ich
vorüberging.

Die Dame sagte: „Sag’ doch bloß mal, Fibby, sind denn diese hübschen
Handtäschchen nicht wirklich ganz reizend?“

Fibby nuschelte etwas, das ebensogut eine Zustimmung wie eine
gegenteilige Meinung sein konnte, es konnte aber auch ganz gut bedeuten:
Laß mich doch in Ruh’ mit deinem Quark!

Die Dame: „Nein, wirklich, die sind zu entzückend, echte altholländische
Kleinkunst.“

„Stimmt,“ sagte Fibby nun trocken, „echt altholländisch, copyright
neunzehnhundertsechsundzwanzig.“

Das war Sphärenmusik für mich. Jetzt war ich überzeugt.

Ich war nun sehr rasch und verlor keine Sekunde weiter. Da lag ja das
blanke Gold vor mir mitten auf der Straße.

Es schien mir, daß Fibby sich über das, was ich ihm erzählte, viel mehr
amüsierte, als was ihm seine Frau oder seine Freundin oder seine – well,
Sir, das geht mich nichts an, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die
beiden zueinander standen – ja, jedenfalls amüsierte er sich köstlich
über meine Geschichte. Er lächelte, dann lachte er, und endlich brüllte
er, daß die Leute stehenblieben. Wenn ich es nicht an seinem „Zat so!“
gleich beim ersten Tonfall gehört hätte, wo er herkam, dann hätte es mir
sein unbändiges Lachen verraten. So kann eben nur ein Amerikaner lachen,
jawoll, die können lachen.

„Also, Boy, Sie haben Ihre Geschichte großartig erzählt.“ Da lachte er
auch schon wieder. Ich hatte gedacht, er würde zu weinen anfangen über
meine traurige Geschichte. Na ja, er steckte ja nicht in meiner Haut. Er
sah das alles von der komischen Seite.

„Nun sag’ doch, Flory,“ wandte er sich an seine Begleiterin, „hat denn
das Vöglein, das da aus dem Nest gefallen ist, seine Geschichte nicht
ganz großartig erzählt?“

„Wirklich sehr nett. Wo sind Sie her? Von New Orleans? Das ist ja ganz
entzückend. Da habe ich sogar noch eine Tante wohnen, Fibby. Habe ich
dir nicht von Tante Kitty aus New Orleans schon erzählt, Fibby? Ich
glaube doch. Du weißt doch, die immer jeden Satz anfängt: Als Gra’pa
noch in South Carolina wohnte ...“

Fibby hörte gar nicht hin, was seine Flory sagte; er ließ sie reden, als
ob sie ein Wasserfall sei, an den er sich gewöhnt hatte. Er kramte in
seinen Taschen herum und brachte einen Dollarschein hervor: „Es ist
nicht für Ihre Geschichte selbst, Freundchen, sondern es ist dafür, daß
Sie die Geschichte so meisterhaft erzählt haben. Eine Geschichte, die
nicht wahr ist, gut erzählen zu können, ist eine Gabe, mein Junge. Sie
sind ein Künstler, wissen Sie das? Es ist eigentlich schade um Sie, daß
Sie sich so in der Welt herumtreiben. Sie könnten viel Geld machen,
lieber Freund. Wissen Sie das? Ist er nicht in der Tat ein Künstler,
Flory?“ wandte er sich nun wieder an seine – na, meinetwegen Frau, was
geht’s mich an, die werden ihren Paß schon so haben, wie sie ihn
brauchen. „Aber ja, freilich, Fibby,“ antwortete Flory in Ekstase,
„freilich ist er ein großer Künstler. Weißt du, Fibby, frage ihn doch
gleich mal, ob wir ihn nicht für unsern Gesellschaftsabend haben
könnten. Sicher, da könnten wir die Penningtons übertrumpfen, diese
schäbige Bande.“

Also es ist doch seine Frau.

Fibby zeigte dem Wasserfall nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er
lächelte und lachte weiter. Kramte wieder in seinen Taschen herum und
brachte abermals einen Dollarschein ans Tageslicht.

Nun gab er mir beide Scheine und sagte: „Y’see, der eine ist dafür, weil
Sie Ihre Geschichte so meisterhaft erzählt haben, der andre ist dafür,
weil Sie mir eine glänzende Idee für mein Blatt gegeben haben. Ist
fünftausend wert, in meinen Händen; in Ihren nicht einen Nickel. Aber
ich bezahle Ihnen hier einen Nickel mit Gewinnanteil. Vielen Dank für
Ihre Mühe, good-bye und viel Glück.“

Das war das erste Geld, das ich je für das Erzählen einer Geschichte
bekommen hatte. Yes, Sir.

Ich klatterte los zu einer Wechselbank. Für den Dollar ungefähr
zweiundeinenhalben Gulden, für die beiden Dollarnoten also rund fünf
Gulden. Ganz hübsches Sümmchen. Als ich die Noten dort hingegeben hatte,
häufte der Wechsler so ungefähr fünfzig Gulden vor mich hin. Das war
eine Überraschung. Fibby hatte mir zwei Zehner gegeben, und ich hatte –
weil ich ja in seiner Gegenwart die zusammengeknitterten Scheine nicht
neugierig aufmachen wollte – die Scheine für Eindollarnoten gehalten.
Fibby ist eine noble Seele. Wall-Street möge ihn segnen. Es ist ganz
natürlich, daß zwanzig Dollar sehr viel Geld sind. Wenn man sie besitzt.
Wenn man genötigt ist, sie auszugeben, dann lernt man plötzlich, daß
zwanzig Dollar gar nichts sind. Besonders noch, wenn man eine Reihe von
hungrigen Tagen und bettlosen Nächten hinter sich hat. Ehe ich dazu kam,
den Wert des Geldes zu schätzen, war es schon alle. Nur die Leute, die
recht viel Geld haben, kennen den Wert des Geldes, weil sie Zeit haben,
den Wert abzuschätzen. Wie kann man den Wert eines Dinges erkennen
lernen, wenn es einem immer gleich wieder abgenommen wird? Gepredigt
aber wird, daß nur der, der nichts hat, weiß, was ein Cent wert ist.
Daher die Klassengegensätze.


                                   7

Früher als ich geglaubt hatte, kam ein Morgen, der allem Anschein nach
zu urteilen vorläufig der letzte Morgen sein würde, der mich in einem
Bett sah. Ich suchte meine Taschen durch und fand, daß ich gerade noch
genügend Cents hatte, um ein kurzgehaltenes Frühstück möglich zu machen.
Kurzgehaltene Frühstücke finden nicht meinen Beifall. Sie sind immer das
Vorspiel von Mittagessen und Abendmahlzeiten, die nicht erscheinen
werden. Einen Fibby findet man auch nicht jeden Tag. Sollte ich aber
wieder einen antreffen, dann erzähle ich diesmal meine Geschichte so
komisch wie nur möglich, vielleicht weint er dann herzzerbrechend und
bekommt die Gegenidee zu Fibbys Fünftausend-Dollar-Idee. Aus einer Idee
läßt sich immer Geld herausquetschen, ob sie nun zum Weinen ist oder zum
Lachen. Es gibt ebenso viele Menschen, die gern weinen und für die
Möglichkeit, weinen zu können, ein paar Dollar bezahlen, wie es Menschen
gibt, die lieber ihren Lachmuskeln ein Vergnügen gönnen.

– – ein Vergnügen gönn–. Na, was ist denn das nun wieder? Kann man denn
für seinen letzten Gulden Schlafgeld, den man bezahlt hat, nicht einmal
in Ruhe im Bett noch ein wenig dösen, ehe man es für längere Zeit
aufzugeben hat?

„Lassen Sie mich schlafen, verflucht nochmal. Ich habe bezahlt, gestern
abend, ehe ich ’raufging.“ Da soll man nicht wütend werden. In einem
fort wird an die Tür gebumst.

Und gleich klopft es wieder.

„Kreuzdonnerwetter nochmal, haben Sie nicht gehört, wegscheren sollen
Sie sich! Ich will schlafen.“ Wenn die nur die Tür aufmachen möchten,
ich würde ihnen den Stiefel mitten in die Fratze feuern. So ein
nichtswürdiges und impertinentes Gesindel.

„Machen Sie auf. Polizei ist hier. Wir möchten Sie für einen Augenblick
sprechen.“

Ich zweifle ganz ernsthaft daran, daß es überhaupt auf der Welt noch
Menschen gibt, die nicht Polizei sind. Die Polizei ist dafür da, um für
Ruhe zu sorgen, und niemand macht mehr Ruhestörung, niemand belästigt
die Menschen mehr, niemand bringt mehr Leute zum Wahnsinn als die
Polizei. Ganz sicher, niemand hat mehr Unheil auf der Welt angestiftet
als die Polizei, denn die Soldaten sind ja auch nur Polizisten.

„Was wollen Sie denn von mir?“

„Wir möchten Sie nur einmal sprechen.“

„Das könnten Sie auch durch die Tür tun.“

„Wir möchten Sie persönlich sehen. Machen Sie auf, oder wir brechen die
Tür auf.“

Brechen die Tür auf! Und die sollen gegen Einbrecher schützen.

Gut, ich mache auf. Aber kaum habe ich die Tür auch nur einen Ritz auf,
da preßt der eine Bursche schon seinen Fuß dazwischen. Der alte Trick,
auf den sie sich immer wieder etwas einbilden. Das scheint der erste
Trick zu sein, den sie zu lernen haben.

Sie kommen rein. Zwei Mann in Zivilkleidung. Ich sitze auf dem Bettrand
und fange an, mich anzuziehen.

Mit Holländisch werde ich ganz gut fertig. Ich bin auf holländischen
Schiffen gefahren und habe hier nun wieder etwas dazu gelernt. Die
beiden Vögel können aber auch etwas Englisch.

„Sie sind Amerikaner?“

„Ja, ich denke.“

„Zeigen Sie Ihre Seemannskarte.“

Die Seemannskarte scheint der Mittelpunkt des Universums zu sein. Ich
bin sicher, der Krieg ist nur geführt worden, damit man in jedem Lande
nach seiner Seemannskarte oder nach seinem Paß gefragt werden kann. Vor
dem Kriege fragte niemand nach der Seemannskarte oder nach dem Paß, und
die Menschen waren recht glücklich. Aber Kriege, die für die Freiheit,
für die Unabhängigkeit und für die Demokratie geführt werden, sind immer
verdächtig. Verdächtig seit jenem Tage, wo die Preußen ihre
Freiheitskriege gegen Napoleon führten. Wenn Freiheitskriege gewonnen
werden, dann sind die Menschen nach dem Kriege alle Freiheit los, weil
der Krieg die Freiheit gewonnen hat. Yes, Sir.

„Ich habe keine Seemannskarte.“

„Sie ha–a–a–a–ben keine Seemannskarte?“

Diesen entgeisterten Ton habe ich schon einmal gehört, und auch gerade
zu einer Zeit, als ich so hübsch an einem frühen Morgen einduseln
wollte.

„Nein, ich ha–a–a–a–a–be keine, keine, keine Seemannskarte.“

„Dann zeigen Sie Ihren Paß.“

„Ich habe keinen Paß.“

„Keinen Paß?“

„Nein, keinen Paß.“

„Auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde?“

„Nein, auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde.“

„Sie wissen doch, daß Sie sich hier in Holland ohne Papiere, die von
unsern Behörden visiert sein müssen, nicht aufhalten dürfen?“

„Das weiß ich nicht.“

„So? Das wissen Sie nicht? Sie haben wohl die letzten Monate und Jahre
auf dem Monde gelebt?“

Die beiden Vögel halten das für einen so guten Witz, daß sie laut
auflachen.

„Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit!“

Wissen möchte ich, ob man hier auch gehenkt wird, wenn man keine
Seemannskarte vorzeigen kann.

„Hat jemand von den Herren nicht vielleicht eine Zigarette?“ frage ich.

„Eine Zigarre können Sie haben, eine Zigarette habe ich nicht. Wir
können unterwegs welche kaufen. Wollen Sie die Zigarre haben?“

„Die Zigarre nehme ich lieber als die Zigarette.“

Während ich mich ankleide und wasche, rauche ich an der Zigarre. Die
beiden setzen sich hin, aber dicht an die Tür. Ich beeile mich nicht
sehr. Aber wenn man auch noch so langsam macht, einmal ist man dann
schließlich doch angekleidet.

Wir zogen ab und landeten wo? Richtig geraten. In einer Polizeistation.
Nun wurde ich erst wieder einmal gründlich durchsucht. Diesmal hatten
sie mehr Glück als ihre Brüder in Antwerpen gehabt hatten. Sie fanden
fünfundvierzig holländische Cents in meinen Taschen. Das Frühstücksgeld.
Das konnte ich ja nun sparen.

„Was? Mehr Geld haben Sie nicht?“

„Nein, mehr Geld habe ich nicht.“

„Wovon haben Sie denn die ganzen Tage hier gelebt?“

„Von dem, was ich jetzt nicht mehr habe.“

„Da hatten Sie also Geld, als Sie hier nach Antwerpen kamen?“

„Ja.“

„Wieviel?“

„Das weiß ich so genau nicht mehr. Hundert Dollar oder so, es können
auch zweihundert gewesen sein.“

„Wo hatten Sie denn das Geld her?“

„Das Geld hatte ich einfach gespart.“

Das war offenbar wieder ein guter Witz; denn die ganze Bande, die da im
Vernehmungszimmer um mich herum versammelt war, platzte heraus vor
Lachen. Aber alle paßten auf, ob der Hohepriester auch lachte. Und als
der anfing, da fingen sie auch an zu lachen, und als der aufhörte, da
hörten sie so plötzlich auf, als wären sie vom Schlage getroffen worden.

„Wie sind Sie denn überhaupt nach Holland gekommen? So ganz ohne Paß. Wo
sind Sie denn da durchgekommen?“

„Ich bin halt so ’reingekommen.“

„Wie, ’reingekommen?“

Der Konsul hat es mir nicht geglaubt, wie ich hereingekommen bin. Die
würden es mir erst recht nicht glauben. Ich kann auch diesen netten
Burschen da aus Belgien nicht den Spaß verderben.

Also da sage ich: „Mit einem Schiff bin ich gekommen.“

„Mit welchem Schiff?“

„Mit – mit – mit der George Washington.“

„Wann?“

„Das weiß ich so genau nicht mehr.“

„So? Also mit der George Washington sind Sie gekommen. Das ist eine
recht mysteriöse George Washington. Die ist unsers Wissens nie in
Rotterdam gewesen.“

„Dafür kann ich nichts. Ich bin für das Schiff nicht verantwortlich.“

„Sie haben also gar kein Papier, gar keinen Ausweis. Nichts. Rein gar
nichts, womit Sie beweisen können, daß Sie Amerikaner sind?“

„Nein. Aber mein Konsul ...“

Ich schien gute Witze zu machen. Wieder setzte ein Höllengelächter ein.

„I–h–r Konsul.“

Das Ihr zog er so lang, als ob es für ein halbes Jahr reichen sollte.

„Sie haben doch keine Papiere. Was soll denn da I–h–r Konsul mit Ihnen
anfangen?“

„Er wird mir doch Papiere geben!“

„Ihr Konsul? Der amerikanische Konsul? Ein amerikanischer Konsul? In
unserm Jahrhundert nicht. Nicht ohne Papiere. Nicht ohne, daß Sie, sagen
wir mal, in guten Verhältnissen leben. Nicht so einem ’rumtreiber.“

„Aber ich bin doch Amerikaner.“

„Möglich. Aber das müssen Sie I–h–rem Konsul beweisen. Und ohne Papiere
glaubt er es Ihnen nicht. Ohne Papiere glaubt er Ihnen nicht, daß Sie
überhaupt geboren sind. Ich will Ihnen etwas sagen, zu Ihrer Belehrung,
Beamte sind immer Bureaukraten. Auch wir sind Bureaukraten. Die
schlimmsten Bureaukraten aber sind die Bureaukraten, die es erst seit
gestern sind. Und die allerschlimmsten Bureaukraten sind die, die den
Bureaukratismus von den Preußen geerbt haben. Haben Sie verstanden, was
ich meine?“

„Ich glaube ja, mein Herr.“

„Und wenn wir Sie nun dahin bringen, nämlich zu Ihrem Konsul, und Sie
haben keine Papiere, dann übergibt er Sie uns offiziell, und wir werden
Sie nie wieder los. Haben Sie das auch verstanden?“

„Ich denke ja, mein Herr.“

„Was sollen wir denn mit Ihnen machen? Wer ohne Paß aufgegriffen wird,
bekommt sechs Monate Gefängnis und Deportation nach seinem Heimatlande.
Ihr Heimatland wird bestritten, und wir müssen Sie in das
Internierungslager schicken. Wir können Sie doch nicht totschlagen wie
einen Hund. Aber vielleicht kommen solche Gesetze noch heraus. Warum
sollen wir Sie durchfüttern? Wollen Sie nach Deutschland?“

„Ich mag nicht nach Deutschland. Wenn den Deutschen die Rechnung
vorgelegt ...“

„Also nicht nach Deutschland. Das kann ich begreifen. Gut für jetzt.“

Das war ein Beamter, der offenbar viel gedacht oder viel gute Sachen
gelesen hatte.

Er rief jetzt einen Cop herbei und sagte: „Bringen Sie ihn in die Zelle,
geben Sie ihm Frühstück, und gehen Sie eine englische Zeitung und eine
Zeitschrift für ihn kaufen, damit er sich nicht langweilt. Auch ein paar
Zigarren.“


                                   8

Am Spätnachmittag wurde ich wieder vorgeführt, und mir wurde gesagt, ich
möge den beiden Beamten in Zivil folgen. Wir gingen auf den Bahnhof und
fuhren ab. Auf der Station einer kleinen Stadt stiegen wir aus und
gingen in die Polizeiwache der Stadt. Dort saß ich auf der Bank und
wurde von allen Cops, die von Ablösung kamen, betrachtet wie ein Tier im
Zoologischen Garten. Ab und zu sprach man auch mit mir. Als es gegen
zehn Uhr war, sagten zwei Männer zu mir: „Es ist jetzt Zeit. Wir wollen
gehen.“

Wir gingen über Felder und gingen auf Wiesenpfaden. Endlich blieben die
beiden stehen und einer sprach mit verhaltener Stimme: „Gehen Sie dort
in jener Richtung, die ich Ihnen zeige, immer gerade aus. Sie werden
niemand treffen. Wenn Sie aber jemand sehen sollten, so gehen Sie ihm
aus dem Wege oder legen Sie sich hin, bis er vorüber ist. Wenn Sie eine
Zeit gegangen sind, dann kommen Sie zu einer Bahnlinie. Folgen Sie der
Bahnlinie, bis Sie zu der Station kommen. Halten Sie sich dort in der
Nähe auf bis gegen Morgen. Sobald Sie sehen, daß ein Zug zur Abfahrt
fertiggemacht wird, gehen Sie zum Schalter und sagen: ‚Un troisième à
Anvers.‘ Können Sie das behalten?“

„Ja, das kann ich. Es ist sehr leicht.“

„Aber reden Sie sonst kein Wort weiter. Sie bekommen dann Ihre Fahrkarte
und fahren nach Antwerpen. Dort kriegen Sie leicht wieder ein Schiff, wo
man immer Seeleute braucht. Hier haben Sie etwas zum Beißen und auch
noch etwas zum Rauchen. Kaufen Sie nichts, bevor Sie in Antwerpen sind.
Hier sind dreißig belgische Franken.“

Er händigte mir ein Paket Butterbrote ein, einen Papierbeutel mit
Zigarren und eine Schachtel Zündhölzer, damit ich niemand um Feuer
anbetteln brauchte.

„Kommen Sie nie wieder zurück nach Holland. Sie bekommen sechs Monate
Gefängnis und Internierungskamp. Sie sind also hiermit ausdrücklich
verwarnt, vor einem Zeugen. Good-bye und viel Glück.“

Da stand ich in der Nacht auf offnem Felde. Viel Glück!

Eine Strecke ging ich nun in jener Richtung, bis ich überzeugt war, daß
die beiden mich nicht mehr sehen konnten, oder daß sie nun fort waren.
Dann blieb ich stehen und begann zu überlegen.

Nach Belgien? Da gab es lebenslänglich Gefängnis. Zurück nach Holland?
Da gab es nur sechs Monate Gefängnis. Das war schon billiger. Dann kam
noch das Internierungskamp für Paßlose. Hätte ich doch nur gefragt, wie
lange das Internierungskamp dauert. Wahrscheinlich war das
lebenslänglich. Denn aus welchem Grunde sollte es Holland billiger
machen als Belgien?

Ich kam zu dem Entschluß, daß Holland auf alle Fälle billiger war. Es
war auch darum besser, weil ich dort mit der Sprache zurechtkommen
konnte, während ich in Belgien gar nichts reden konnte und noch viel
weniger verstehen.

Nun ging ich erst einmal eine Strecke seitlich fort, ungefähr eine halbe
Stunde lang. Und dann querfeldein zurück nach Holland. Das
Lebenslänglich war doch zu bitter.

Es ging ganz gut. Nur immer tapfer drauf los.

„Halt! Stehen bleiben! Oder es wird geschossen!“ Recht angenehm, wenn
plötzlich aus der Finsternis heraus gerufen wird: „Es wird geschossen.“

Zielen kann der Mann ja nicht und sehen kann er mich auch nicht. Aber
eine nichtgezielte Kugel kann auch treffen. Und das ist schließlich doch
noch schlimmer als lebenslänglich.

„Was machen Sie denn hier?“ Zwei Männer kamen aus der Dunkelheit heraus
und auf mich zu. Einer fragte mich das.

„Ich gehe ein wenig spazieren. Ich kann nicht schlafen.“

„Warum gehen Sie denn gerade hier auf der Grenze spazieren?“

„Die Grenze habe ich nicht gesehen, es ist ja kein Zaun da.“

Zwei grelle Taschenlampen waren auf mich gerichtet, und ich wurde
durchsucht. Was die Menschen nur immer zu durchsuchen haben. Ich glaube,
die suchen überall nach den verlorengegangenen vierzehn Punkten Wilsons.
Ich habe sie jedenfalls nicht in der Tasche.

Als sie nun nichts weiter fanden als die Butterbrote, die dreißig
Franken und die Zigarren, blieb einer bei mir stehen, während der andre
ein Stück des Weges, auf dem ich gekommen war, ableuchten ging.
Wahrscheinlich hoffte er, dort den Weltfrieden zu finden, der in der
ganzen Welt gesucht wird, seitdem unsre Jungens dafür gekämpft und
geblutet haben, daß dieser Krieg der letzte Krieg sei.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Ich will zurück nach Rotterdam.“

„Jetzt? Warum denn gerade um Mitternacht und gerade hier über die Wiese?
Warum gehen Sie denn nicht auf der Straße?“

Als ob man nicht nachts über eine Wiese gehen könnte! Die Leute haben
merkwürdige Ansichten. Und immer haben sie gleich einen Verdacht, daß
man irgendein Verbrechen begangen haben könnte. Ich erzählte nun, daß
ich von Rotterdam käme, und wie ich hierher gekommen sei. Da wurden sie
aber wütend und sagten, ich solle sie nicht zum Narren halten, es sei
ganz klar, daß ich von Belgien käme und mich nach Holland reinschleichen
wolle. Als ich ihnen nun sagte, aber die dreißig Franken bewiesen doch,
daß ich die Wahrheit gesagt hätte, wurden sie noch wütender und sagten,
das sei eben gerade ein Beweis, daß ich sie anlügen wollte. Die Franken
seien ein Beweis, daß ich von Belgien komme, denn in Holland habe man
keine Franken. Nun gar noch zu sagen, daß mir holländische Beamte dieses
Geld gegeben hätten und mich mitten in der Nacht auf ungesetzlichem Wege
abgeschoben hätten, das zwänge sie, mich zu arretieren und mich unter
Anklage der Beamtenbeschimpfung zu stellen. Sie wollten aber noch einmal
Gnade mit mir haben, weil ich offenbar ein armer Schlucker sei, der
nicht die Absicht gehabt habe, zu schmuggeln, und würden mich auf den
richtigen Weg führen, auf den ich wieder zurück nach Antwerpen kommen
könne.

So gut waren diese Leute zu mir.

Jetzt mußte ich doch nach Belgien gehen, da half nichts. Wenn nur das
Lebenslänglich nicht wäre.

Eine Stunde wanderte ich nun in der Richtung nach Belgien.

Ich wurde müde und stolperte vor mich hin. Am liebsten hätte ich mich
hier hingelegt und geschlafen. Ich hielt es aber doch für besser,
weiterzugehen, um aus dem gefährlichen Bereich, wo geschossen werden
darf auf den, der nicht schießen darf, herauszukommen.

Da plötzlich packt mich etwas am Bein. Ich denke, es ist ein Hund. Als
ich aber zufasse, ist es eine Hand. Und da flammt auch schon eine
Taschenlaterne auf. Dieses Ding ist auch eine Erfindung des Satans, man
sieht sie immer erst, wenn sie einem dicht vor Augen ist.

Zwei Mann stehen jetzt auf. Sie haben da in der Wiese gelegen, und ich
bin ihnen so schön richtig mitten in die Arme gelaufen.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Nach Antwerpen.“

Sie sprechen Holländisch oder mehr Flämisch.

„Nach Antwerpen wollen Sie? Jetzt zur Nachtzeit? Warum gehen Sie denn
nicht auf der ordentlichen Straße, wie es anständigen Menschen gebührt?“

Ich erzähle ihnen nun, daß ich nicht aus freiem Willen käme, und sage
ihnen, wie es zugegangen sei, daß ich mich hier herumzudrücken habe.

„Solchen Schwindel können Sie andern erzählen. Nicht uns. So etwas tun
Beamte nicht. Sie haben da in Holland etwas ausgefressen und wollen nun
hier ’rüber. Aber das gibt es nicht. Wollen wir erst einmal die Taschen
durchsuchen, um zu erfahren, warum Sie hier mitten in der Nacht über die
Wiesen gehen und immer auf der Grenze.“

Sie fanden in meinen Taschen und zwischen den Nähten meiner Sachen
nicht, was sie suchten. Ich wollte gern wissen, was die Leute eigentlich
immer suchen und warum sie einem immer die Taschen durchwühlen müssen.
Eine üble Angewohnheit dieser Leute.

„Wir wissen schon, was wir suchen. Da brauchen Sie sich gar keine Sorge
machen.“

Nun bin ich auch nicht klüger. Aber finden tun sie nichts. Ich bin
überzeugt, daß es bis an das Weltende eine Hälfte Menschen geben wird,
die immer die Taschen durchsuchen muß und eine andre Hälfte, die sich
das Durchsuchen der Taschen gefallen lassen muß. Vielleicht geht der
ganze Streit der Menschheit nur darum, wer das Recht hat, die Taschen zu
durchsuchen, und wer die Pflicht hat, sich das gefallen zu lassen und
noch dafür zu bezahlen.

Nachdem das Amtsgeschäft vorüber ist, sagt der eine zu mir: „So, da
drüben ist die Richtung nach Rotterdam, da gehen Sie jetzt immer drauf
los und lassen Sie sich hier ja nicht wieder sehen. Und wenn Sie wieder
einmal Grenzpolizei treffen, dann halten Sie sie nicht für so dumm, wie
Sie uns gehalten haben. Habt ihr denn da drüben in eurem blödsinnigen
Amerika nichts mehr zu essen, daß ihr alle hier herüber kommen müßt, um
uns das bißchen Essen, das wir für unsre Leute brauchen, auch noch
wegzufressen?“

„Ich bin doch aber gar nicht freiwillig hier“, widerspreche ich, und ich
weiß am besten, wie recht ich habe.

„Merkwürdig, das sagt jeder von euch, den wir hier aufgreifen.“

Das ist ja ganz etwas Neues. Da bin ich vielleicht noch nicht einmal der
einzige, der sich hier auf einem fremden Erdteil herumtreiben muß.

„Nun ziehen Sie ab. Und machen Sie keine überflüssigen Umwege mehr. Es
wird bald hell, und dann werden wir Sie gut beobachten. Rotterdam ist
ein guter Platz. Da sind viele Schiffe, die immer jemand brauchen.“ Wie
oft mir das nun schon erzählt worden ist. Es müßte eigentlich durch das
häufige Erzählen nun schon eine wissenschaftliche Wahrheit geworden
sein.

Mit den dreißig Franken konnte ich hier in dem kleinen Städtchen nichts
anfangen, das wäre sicher gleich aufgefallen.

Aber da kam ein Milchwagen, und der nahm mich eine Strecke mit. Und dann
kam ein Lastauto, und das nahm mich eine Strecke mit. Dann kam wieder
ein Bauer, der Schweine zu einer Stadt brachte. So kam ich Meile um
Meile näher nach Rotterdam. Sobald die Menschen nicht zur Polizei
gehören, und sobald sie nicht zur Polizei gerechnet werden wollen,
fangen sie an, sehr liebe Geschöpfe zu werden, die ganz vernünftig
denken und ganz normal fühlen können. Ich erzählte den Leuten ganz treu,
wie es mir ergangen sei, und daß ich keine Papiere hätte. Und sie waren
alle so nett, gaben mir zu essen, gaben mir einen warmen, trockenen
Winkel, um zu schlafen, und gaben mir gute Ratschläge, wie ich der
Polizei am besten aus dem Wege gehen könnte.

Es ist recht sonderbar. Keiner liebt die Polizei. Und man ruft bei einem
Einbruch die Polizei auch nur darum, weil einem nicht erlaubt ist, dem
Einbrecher das Leder selbst zu versohlen und ihm den Raub wieder
abzunehmen.


                                   9

Die dreißig Franken umgewechselt in holländische Gulden gaben nicht viel
her. Aber auf Geld kann man sich ja überhaupt nicht verlassen, wenn man
sonst nichts nebenbei hat.

Das Nebenbei kam an einem Nachmittag, gleich darauf.

Ich strollte am Hafen entlang, und da sah ich zwei Mann daherkommen. Als
sie nahe bei mir waren, schnappte ich etwas von ihrem Geschwätz auf. Es
ist ja so urkomisch, wenn man einen Engländer reden hört. Die Engländer
behaupten immer, wir könnten nicht richtig Englisch sprechen; aber was
die Leute reden, das ist sicher kein Englisch. Das ist überhaupt keine
Sprache. Na, ganz egal. Ich kann sie ja nicht riechen, die Rotköppe.
Aber uns können sie ja auch nicht verdauen. Da gleicht sich das wieder
aus. Das geht nun schon so seit hundertfünfzig und ich weiß nicht
wieviel Jahren.

Nun ist natürlich die ganze Suppe erst recht wieder übergekocht, seit
die große Schweinerei im Gange war.

Da kommt man nun in einen Hafen, wo sie dicke sitzen wie die Brombeeren.
In Australien, oder vielleicht in China oder Japan. Wie es gerade
trifft. Man will einen heben gehen und rutscht in eine Hafenschenke. Da
sitzen sie und stehen sie nun, und kaum hat man ein Wort ’raus, gleich
geht das Vergnügen los: „Eh, Yank.“

Man kümmert sich gar nicht um die Bullköppe, man trinkt seinen Kleinen
und will gehen.

Mit einem Male rasselt es aus einer Ecke: „Who won the war? Wer hat den
Krieg gewonnen, Yank?“

Möchte wissen, was mich das angeht. Ich habe ihn nicht gewonnen, das
weiß ich einmal ganz genau. Und die ihn wirklich gewonnen zu haben
meinen, die haben auch nichts zu lachen und wären froh, wenn niemand
davon überhaupt sprechen möchte.

„He, Yank, who won the war?“

Was soll man nun sagen, wenn man ganz allein ist, und da sind zwei
Dutzend Rotköppe drin? Sagt man: „Wir!“, dann gibt es Senge. Sagt man:
„Die Franzosen!“, dann gibt es Senge. Sagt man: „Ich!“, dann lachen sie,
aber Senge gibt es trotzdem. Sagt man: „The Dominians, Kanada,
Australien, Neuseeland, Südafrika!“ dann gibt es Senge. Sagt man gar
nichts, so heißt das: „Wir Amerikaner!“, und es gibt Senge. Zu sagen:
„Ihr habt ihn gewonnen!“, das wäre eine unverschämte Lüge, und lügen
möchte man nicht. Also gibt es Senge, und da kann man nicht dran vorbei.
So sind die Bullen, und dann heißt es immer noch: die „Vettern von
drüben“. Meine nicht. Da wundern sie sich noch, wenn man sie nicht
riechen kann.

Aber was wollte ich denn machen?

„Auf welchem Eimer seid ihr denn?“ frage ich.

„Na, Yankchen, was machst du denn hier? Wir haben doch gar keinen Yank
hier gesehen.“ Sie fühlen sich, weil sie schon Zimt riechen.

„Ich bin achtern abgekantet und kann jetzt nicht Anker hieven.“

„Keine Versicherungspolice, hä?“

„Erraten.“

„Willst du jetzt wegstauen?“

„Muß. Kiel sitzt auf. Brennt.“

„Wir sind auf einem Schotten.“

„Wo geht ihr denn ’raus jetzt?“ fragte ich.

„Boulogne. Bis dahin können wir dich stauen. Weiter geht’s aber nicht.
Der Bos’n, der Bootsmann, ist ein Hund.“

„Gut, dann mache ich nach Boulogne. Wann ebbt ihr ab?“

„Am besten, du kommst ’rauf um acht. Da ist der Bos’n saufen. Wir stehen
an der Schanze. Wenn ich die Mütze in den Nacken schiebe, ist alles
klar; wenn ich nichts mache, wartest du noch eine Weile. Lauf nicht
soviel gerade vor der Nase herum. Wenn du aber gewischt wirst, läßt du
dir eher das Maul breitschlagen, ehe du sagst, wer dich gelotst hat.
Ehrensache, verstanden?“

Um acht war ich da. Die Mütze wurde in den Nacken geschoben. Der Bos’n
war besoffen und wurde vor Boulogne nicht nüchtern, und da stieg ich aus
und war in Frankreich.

Ich wechselte mein Geld in französische Franken um. Dann ging ich zum
Bahnhof, und da stand der Expreß für Paris. Ich nahm eine Karte für die
erste Station und setzte mich in den Zug.

Die Franzosen sind zu höflich, als daß sie einen während der Fahrt
belästigen würden.

Und da war ich mit einem Male in Paris. Aber da wurden die Karten
kontrolliert, und ich hatte keine für Paris.

Wieder Polizei. Natürlich, wie könnte es auch ohne Polizei gehen? Es
wurde ein grausames Radebrechen. Ich ein paar Brocken Französisch, die
Leute jeder einen Brocken Englisch. Das meiste hatte ich zu erraten. Wo
ich herkäme? Von Boulogne. Wie ich nach Boulogne gekommen sei? Mit einem
Schiff. Wo meine Seemannskarte sei? Habe keine.

„Was, Sie haben keine Seemannskarte?“

Diese Frage würde ich jetzt sogar verstehen, wenn man sie zu mir
Hindostanisch sagte. Denn die Geste und der Tonfall sind so genau die
gleichen, daß man sich nie irren könnte.

„Paß habe ich auch nicht. Ich habe auch keine Identitätskarte. Ich habe
überhaupt keine Papiere. Nie Papiere gehabt.“

Das sage ich gleich in einem Atemzuge. Nun können sie wenigstens diese
Fragen nicht stellen und sich damit die Zeit vertreiben. In der Tat
werden Sie ein wenig verblüfft, weil sie nun ganz aus der Reihe gekommen
sind. Für eine Weile weiß keiner, was er fragen oder sagen soll.
Glücklicherweise bleibt ihnen ja die Fahrkarte, die ich nicht hatte. Und
am nächsten Tage ist wieder ein Verhör. Ich lasse sie ruhig verhören und
reden und fragen. Ich verstehe nichts. Am Schluß wird mir aber klar, daß
ich zehn Tage Gefängnis weghabe wegen Eisenbahnbetrugs oder so etwas
Ähnlichen. Was weiß ich. Es ist mir auch gleichgültig. Aber das war
meine Ankunft in Paris.

Diese Gefängnislaufbahn war recht drollig.

Erster Tag: Einlieferung, Baden, Untersuchung, Wäscheausteilung,
Zellenverteilung. Der erste Tag war vorbei.

Zweiter Tag: Quittieren kommen beim Kassenverwalter über die Summe,
die ich bei meiner Verhaftung im Besitz hatte. Abermalige
Personenfeststellung und Eintragung in dicke Bücher. Nachmittag: Empfang
beim Gefängnisgeistlichen. Er sprach gut Englisch. Behauptete er. Das
muß aber das Englisch gewesen sein, als William der Eroberer noch nicht
in England gelandet war, denn ich verstand von diesem guten Englisch
nicht ein einziges Wort, ließ es mir aber nicht anmerken. Wenn er von
Gott sprach, sagte er immer „Goat“, und ich war der Meinung, er rede von
einer Ziege. Damit ging auch der zweite Tag herum.

Dritter Tag: Vormittags werde ich gefragt, ob ich schon mal
Schürzenbänder angenäht hätte. Ich sagte nein. Nachmittags wurde mir
mitgeteilt, daß ich in die Schürzenabteilung eingereiht würde. Damit
ging der dritte Tag zu Ende.

Vierter Tag: Vormittags wurde mir Schere, Nadel, eine ganze Nähnadel,
Zwirn und ein Fingerhut gegeben. Der Fingerhut paßte nicht. Aber mir
wurde gesagt, einen andern hätten sie nicht. Nachmittags wurde mir
gezeigt, wie ich die Schere, die Nähnadel und den Fingerhut immer
sichtbar auf den Schemel zu legen und den Schemel in die Mitte der Zelle
zu stellen habe, wenn ich die Zelle für den Rundgang verlasse. Außen
neben der Tür wurde ein Plakat angeschlagen mit der Aufschrift: „Besitzt
eine Schere, eine Nähnadel und einen Fingerhut.“ Damit war der vierte
Tag herum.

Fünfter Tag: Sonntag.

Sechster Tag: Vormittags werde ich in die Arbeitshalle geführt.
Nachmittags wird mir ein Platz in der Arbeitshalle angewiesen. Der
sechste Tag ist ’rum.

Siebenter Tag: Vormittags wird mir der Gefangene gezeigt, der mich
lehren soll, wie Schürzenbänder angenäht werden sollen. Nachmittags sagt
mir der Gefangene, ich solle meine Nähnadel schon mal einfädeln. Der
siebente Tag ist ’rum.

Achter Tag: Der Lehrmeister zeigt mir, wie er die Schürzenbänder annäht.
Nachmittags ist Baden und Wiegen. Der achte Tag ist rum.

Neunter Tag: Vormittags muß ich zum Direktor kommen. Mir wird
mitgeteilt, daß morgen meine Zeit um sei, und ich werde gefragt, ob ich
Beschwerden vorzubringen hätte. Dann muß ich meinen Namen ins
Fremdenbuch schreiben. Nachmittags wird mir gezeigt, wie ich ein
Schürzenband anzunähen habe. Der neunte Tag ist ’rum.

Zehnter Tag: Vormittags nähe ich ein Schürzenband an. Mein Lehrmeister
betrachtet sich das angenähte Band einundeinehalbe Stunde und sagt dann,
es sei nicht gut angenäht, er müsse es wieder abtrennen. Nachmittags
nähe ich wieder ein Schürzenband an. Als ich das eine Ende gerade
angenäht habe, werde ich zur Abfertigung gerufen. Ich werde gewogen,
untersucht, bekomme meine Zivilsachen, die ich anziehen darf, und kann
dann im Hof spazierengehen. Der zehnte Tag ist ’rum.

Am nächsten Morgen um sechs werde ich gefragt, ob ich noch Frühstück
haben wolle. Ich sage nein, werde zum Kassenverwalter geführt, wo ich
eine Weile warten muß, weil er noch nicht da ist. Dann kriege ich doch
Frühstück, und endlich kommt der Kassenverwalter, der mir mein Geld
zurückgibt, was ich wieder zu quittieren habe. Dann erhalte ich fünfzehn
Centimes für Arbeitsleistung, war entlassen und konnte gehen. Verdient
hat der französische Staat nicht viel an mir, und ob die Eisenbahn sich
nun einbilden darf, bezahlt zu sein, ist auch noch die Frage. Draußen
wurde ich aber gleich wieder von der Polizei in Empfang genommen.

Ich wurde verwarnt. Innerhalb fünfzehn Tagen hätte ich das Land zu
verlassen, auf demselben Wege, auf dem ich hereingekommen sei. Würde ich
nach Ablauf von fünfzehn Tagen noch innerhalb der Landesgrenzen
gefunden, so würde nach Maßgabe der Gesetze mit mir verfahren werden.
Also mit mir verfahren werden. Was das bedeutete, war mir nicht klar.
Vielleicht hängen oder auf dem Scheiterhaufen schmoren. Warum nicht. In
dieser Zeit der vollendeten Demokratien ist ein Paßloser und damit also
auch ein Nichtwahlberechtigter ein Ketzer. Jede Zeit hat ihre Ketzer,
und jede Zeit hat ihre Inquisition. Heute sind der Paß, das Visum, der
Einwanderungsbann die Dogmen, auf die sich die Unfehlbarkeit des Papstes
stützt, an die man zu glauben hat, oder man muß die verschiedenen Grade
der Folterungen über sich ergehen lassen. Früher waren die Fürsten die
Tyrannen, heute ist der Staat der Tyrann. Das Ende der Tyrannen ist
immer Entthronung und Revolution, ganz gleich, wer der Tyrann ist. Die
Freiheit des Menschen ist zu urwüchsig mit seinem ganzen Dasein und
Wollen verknüpft, als daß der Mensch irgendeine Tyrannei lange ertragen
könnte, selbst wenn die Tyrannei in dem sammetweichen Lügenmantel des
Mitbestimmungsrechtes erscheinen sollte.

„Sie müssen doch aber irgendein Papier haben, lieber Freund“, sagte der
Offizier, der mich verwarnte. „Ohne Papier können Sie gewiß nicht immer
herumlaufen.“

„Ich könnte vielleicht einmal zu meinem Konsul gehen.“

„Zu Ihrem Konsul?“

Der Ton war mir bekannt. Es scheint, daß mein Konsul in der ganzen Welt
bekannt ist.

„Was wollen Sie denn bei Ihrem Konsul? Sie haben doch keine Papiere. Der
glaubt Ihnen keine Silbe, wenn Sie keine Papiere haben. Er gibt nur auf
Papiere etwas. Besser, Sie gehen gar nicht hin, sonst werden wir Sie nie
wieder los und haben Sie für das ganze Leben auf dem Halse.“

Wie sagten die Römer? Die Konsuln sollen darauf bedacht sein, daß der
Republik nichts Übles widerfahre. Und es könnte der Republik sicher sehr
viel Übles widerfahren, wenn die Konsuln nicht verhindern würden, daß
jemand, der keine Papiere hat, sein Heimatland wiedersieht.

„Aber irgendein Papier müßten Sie doch haben. Sie können doch nicht gut
den Rest Ihres Lebens ohne Papiere herumlaufen.“

„Ja, das glaube ich auch, daß ich ein Papier haben müßte.“

„Ich kann Ihnen kein Papier geben. Worauf denn? Alles, was ich Ihnen
geben kann, ist ein Entlassungsschein aus dem Gefängnis. Mit dem Schein
ist nicht viel los. Dann schon besser gar nichts. Und bei jedem andern
Papier kann ich nur einsetzen, der Vorzeiger behauptet, der und der zu
sein und von da und da herzukommen. Ein solches Papier ist aber wertlos,
denn es ist kein Beweis; es sagt nur das aus, was Sie aussagen. Und Sie
können natürlich erzählen, was Sie wollen, ob es wahr ist oder nicht.
Selbst wenn es wahr ist, es muß bewiesen werden können. Es tut mir sehr
leid, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe Sie amtlich verwarnt, und
Sie müssen das Land verlassen. Gehen Sie doch nach Deutschland. Das ist
auch ein sehr schönes Land.“

Warum sie mich alle nach Deutschland schicken, das möchte ich wissen.


                                   10

Nun blieb ich erst einmal einige Tage in Paris, um abzuwarten, was
geschehen würde. Geschehnisse können einem manchmal besser voranhelfen
als die schönsten Pläne. Ich hatte ja jetzt ein gutes Recht, mir Paris
anzusehen. Meine Fahrkarte war bezahlt, meine Verpflegung im Gefängnis
hatte ich abverdient, so war ich dem französischen Staat nichts mehr
schuldig, und ich durfte sein Pflaster ablaufen.

Wenn man nun so gar nichts zu tun hat, kommt man auf allerlei
überflüssige Gedanken. Einen so überflüssigen Gedanken bekam ich eines
guten Tages, und er führte mich zu meinem Konsul. Daß es ganz
hoffnungslos war, wußte ich im voraus. Aber ich dachte, es schadet doch
nie etwas, wenn man Erfahrungen über Menschen sammelt. Alle Konsuln sind
in dieselbe Form gegossen wie fast alle Beamten. Sie gebrauchen wörtlich
denselben Redeschatz, den sie bei ihren Prüfungen vorweisen mußten, sie
werden würdevoll, ernst, befehlshaberisch, devot, gleichgültig,
gelangweilt, interessiert und tieftraurig bei denselben Gelegenheiten,
und sie werden heiter, lustig, freundlich und geschwätzig bei denselben
Gelegenheiten, ob sie im Dienste Amerikas, Frankreichs, Englands oder
Argentiniens stehen. Zu wissen, genau zu wissen, wann sie eine dieser
Gefühlsäußerungen zu zeigen haben, ist die ganze Weisheit, die ein
solcher Beamter benötigt. Ab und zu vergißt aber jeder Beamte einmal
seine Weisheit und wird für eine halbe Minute Mensch. Dann kennt man ihn
gar nicht wieder, dann fängt er an, die innere Haut nach außen zu
kehren. Der interessanteste Moment aber ist, wenn er plötzlich
empfindet, daß die innere Haut bloßliegt und er sie rasch wieder
verkrustet. Um diesen Moment zu erleben, und um eine Erfahrung reicher
zu werden, ging ich zum Konsul. Die Gefahr bestand, daß er mich
verleugnete, mich der französischen Polizei offiziell übergab und mir
dann die Möglichkeit genommen wurde, frei meiner Wege zu gehen, weil ich
dann unter Polizeiaufsicht geriet und ich über jeden meiner Schritte,
den ich tat oder zu tun gedachte, Rechenschaft abzulegen hatte.

Zuerst konnte ich einmal den ganzen Vormittag warten. Dann wurde
geschlossen. Am Nachmittag kam ich auch nicht an die Reihe. Unsereiner
muß ja immer warten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld besitzt,
von dem nimmt man an, daß er wenigstens unermeßlich viel Zeit hat. Wer
Geld besitzt, kann es mit Geld abmachen; wer kein Geld zum Hinlegen hat,
muß mit seiner Zeit bezahlen und mit seiner Geduld. Denn wird man gar
aufsässig oder äußert man seine Ungeduld in einer Weise, die unbeliebt
ist, so weiß der Beamte so viele Wege zu gehen, daß man viermal mehr an
Zeit bezahlen muß. So beläßt man es bei der Zeitstrafe, die einem
auferlegt wird.

Es saßen da eine ganze Reihe solcher, die ihre Zeit zu opfern hatten.
Einige saßen schon Tage. Andre waren bereits sechsmal hin und her
geschickt worden, weil dies fehlte und jenes nicht die vorschriftsmäßige
Form oder richtiger Uniform trug.

Da kam eine kleine, unglaublich dicke Dame hereingeschossen. So
unglaublich fett. Es war nicht auszudenken, wie fett sie war. In diesem
Raume, wo die dürren Gestalten wartend auf den Bänken saßen, mit ihren
Hinterköpfen beinahe das an die Wand geheftete Sternenbanner berührend,
dessen Dimension so riesenhaft war, daß es die ganze Wand ausfüllte, in
diesem Raume, wo unschuldige, willige und arbeitsgewohnte Menschen
wartend saßen mit einem Ausdruck auf den Gesichtern, als würden hinter
jenen zahlreichen Türen in diesem Augenblick ihre Todesurteile
unterschrieben, wirkte die fette Dame wie eine niederträchtige
Beleidigung. Sie hatte pechschwarze, ölige, lockige Haare, eine
auffallend krumme Nase und sehr krumme Beine. Ihre braunen Augen standen
so glotzend in dem fetten Teiggesicht, als ob sie im selben Augenblick
aus den Höhlen quellen wollten. Sie war gekleidet in dem Besten, was
Reichtum nur kaufen kann. Sie keuchte und schwitzte, und unter der Last
ihrer Perlenketten, Goldbehänge und Brillantvorstecknadeln schien sie
beinahe zusammenzubrechen. Wenn sie nicht so viele schwere
Platinringe an den Fingern gehabt hätte, wären die Finger sicher
auseinandergeplatzt.

Kaum hatte sie die Tür aufgemacht, da schrie sie schon: „Ich habe meinen
Paß verloren. Wo ist der Mister Konsul? Ich muß gleich einen neuen Paß
haben.“

Ei, sieh da, auch andre Leute können ihren Paß verlieren. Wer hätte das
gedacht? Ich hatte geglaubt, das kann nur einem Seemann zustoßen. Well,
Fanny, du kannst dich freuen, der Mister Konsul wird dir gleich was
erzählen, von wegen neuen Paß. Vielleicht nähst du das andre Ende des
Schürzenbandes an. So unangenehm mir die Dame war, ihres aufdringlichen
Wesens wegen, ich empfand für sie Sympathie, die Sympathie derer, die in
derselben Galeere angeschmiedet sind.

Der Empfangssekretär sprang gleich auf: „Aber gewiß, M’me, nur einen
Augenblick. Bitte!“

Er nahm einen Stuhl und bat unter Verbeugung die Dame, sie möge Platz
nehmen. Er brachte drei Formulare, sprach leise mit der Dame und schrieb
in den Formularen. Die dürren Gestalten hatten die Formulare alle selbst
ausfüllen müssen, manche vier- oder fünfmal, weil sie nicht gut
ausgefüllt waren. Aber die Dame konnte offenbar nicht schreiben, und so
war es nur ein Zeichen von Hilfsbereitschaft, daß der Sekretär ihr diese
kleine Mühe abnahm.

Als die Formulare ausgefüllt waren, sprang er auf und trug sie durch
eine der Türen, hinter denen die Todesurteile unterzeichnet werden.

Er kam sehr rasch zurück und sagte halblaut und sehr höflich zu der
Fetten: „Mr. Grgrgrgs wünscht Sie zu sehen, M’me. Haben Sie drei
Photographien zur Hand?“

Die fette Schwarzhaarige hatte die Photographien zur Hand und gab sie
dem hilfsbereiten Sekretär. Dann verschwand sie hinter der Tür, wo die
Schicksale der Welt entschieden werden.

Nur ganz altmodische Leute glauben heute noch daran, daß die Schicksale
der Menschen im Himmel entschieden werden. Das ist ein beklagenswerter
Irrtum. Die Schicksale der Menschen, die Schicksale von Millionen von
Menschen werden von den amerikanischen Konsuln entschieden, die Sorge
dafür zu tragen haben, daß der Republik kein Schaden widerfahre. Yes,
Sir.

Die Dame war nicht lange in jenem Zimmer der Geheimnisse. Als sie
herauskam, schloß sie ihr Handtäschchen. Sie schloß es mit einem starken
energischen Knipsen. Und das Knipsen schrie gellend: „Gott, wir haben’s
ja dazu, leben und leben lassen.“

Der Sekretär stand sofort auf, kam halb hinter seinem Tisch hervor und
rückte an jenem Stuhl, auf dem die Dame gesessen hatte. Die Dame setzte
sich nur mit einer Kante auf den Stuhl, öffnete ihre Handtasche, kramte
eine Weile herum, nahm ein Puderdöschen hervor und ließ die geöffnete
Tasche auf dem Tisch liegen, während sie sich puderte. Warum sie sich
schon wieder pudern mußte, obgleich sie sich eine Minute vorher gepudert
haben mußte, war nicht ganz klar.

Der Sekretär tastete nun mit seinen Händen auf dem ganzen Tisch herum,
um irgendein Blatt Papier zu suchen, das er weit verlegt haben mußte.
Endlich hatte er das Blatt gefunden, und da die Dame inzwischen auch
wieder aufgepudert war, nahm sie die Tasche an sich, steckte das
Puderdöschen hinein und knipste die Tasche abermals so zu, daß die
Tasche denselben gellenden Schrei ausstieß wie kurz vorher.

Die Dürren auf den Bänken hatten den gellenden Schrei nicht gehört. Sie
alle schienen Auswanderungslustige zu sein, die die Weltsprache des
Knipsens noch nicht verstanden, weil sie nichts zum Knipsen hatten.
Deshalb mußten sie ja auch auf den Bänken sitzen. Deshalb wurde ihnen ja
auch kein Stuhl angeboten unter Verbeugungen. Deshalb mußten sie ja auch
warten, bis sie an die Reihe kamen, genau nach der Nummerfolge.

„Können Sie in einer halben Stunde noch mal hier vorsprechen, M’me oder
sollen wir den Paß zu Ihrem Hotel schicken?“

Höflich ist man auf einem amerikanischen Konsulat.

„Ich komme vorgefahren in einer Stunde. Unterschrieben habe ich den Paß
ja schon drin.“

Die Dame stand auf. Als sie nach einer Stunde wiederkam, saß ich immer
noch da. Aber die fette Dame hatte ihren Paß.

Hier endlich bekam ich meinen Paß. Das wußte ich. Der Sekretär brauchte
ihn mir nicht in mein Hotel schicken, ich würde ihn gleich selber
mitnehmen. Und hatte ich erst wieder einen Paß, so bekam ich auch wieder
ein Schiff, wenn kein heimatliches Schiff, dann sicher ein englisches
oder holländisches oder dänisches. Wenigstens bekam ich wieder Arbeit
und hatte die Aussicht, doch mal ein heimatliches Schiff in irgendeinem
Hafen anzutreffen, wo ein Deckarbeiter gebraucht wurde. Ich konnte ja
nicht nur anstreichen, ich verstand auch Messing zu putzen; denn wenn
man nichts anstreichen kann, dann wird immer Messing geputzt.

Ich war wirklich zu voreilig in meinem Urteil. Die amerikanischen
Konsuln sind besser als ihr Ruf, und was mir die belgische, die
holländische und die französische Polizei über die Konsuln gesagt hatte,
war nichts als nationale Eifersucht.

Endlich kam dann doch der Tag und die Minute, wo meine Nummer fällig war
und ich gerufen wurde. Meine dürren Bankgenossen hatten alle durch eine
andre Tür zu gehen, um den Todesstreich zu empfangen. Ich machte eine
Ausnahme. Ich wurde zu Mr. Grgrgrgs oder wie der Mann heißen mochte,
gerufen. Das war der Mann, den ich in meinem Herzen zu sehen gewünscht
hatte; denn er war der, der die Nöte eines Menschen, dessen Paß
verlorenging, zu würdigen weiß. Wenn mir niemand auf der ganzen weiten
Welt helfen würde, er wird es tun. Er hat der Goldbehangenen geholfen,
um wieviel mehr und rascher wird er mir helfen. Es war ein guter
Gedanke, der mich verleitet hatte, mein Glück doch noch einmal zu
versuchen.


                                   11

Der Konsul ist ein kleiner, hagerer Mann, ausgetrocknet im Dienst.

„Setzen Sie sich“, sagt er und deutet auf einen Stuhl vor seinem
Schreibtisch. „Womit kann ich dienen?“

„Ich möchte einen Paß haben.“

„Haben Sie Ihren Paß verloren?“

„Nicht meinen Paß, aber meine Seemannskarte.“

„Ah so, Sie sind ein Seemann?“

Mit diesem Satz hat er seinen Ton geändert. Und dieser neue Ton, der mit
einem so merkwürdigen Mißtrauen gemischt ist, hält nun eine Weile an und
bestimmt den Charakter unsrer Unterhaltung.

„Ich habe mein Schiff verloren.“

„Wohl betrunken gewesen?“

„Nein. Ich trinke nie einen Tropfen von diesem Gift. Ich bin
knochentrocken.“

„Sie sagten doch, Sie seien Seemann?“

„Das bin ich auch. Mein Schiff ist drei Stunden früher abgefahren als
angesagt war. Sie sollte mit der Flut rausgehen, aber weil sie keine
Ladung hatte, so brauchte sie auf die Flut keine Rücksicht nehmen.“

„Nun sind Ihre Papiere also an Bord geblieben?“

„Ja.“

„Das konnte ich mir denken. Welche Nummer hatte Ihre Karte?“

„Das weiß ich nicht.“

„Wo war sie denn ausgestellt?“

„Das kann ich so genau nicht sagen. Ich habe Küstenschiffe gefahren,
Bostoner, N’Yorker, Balter, Philier, Golfer und sogar Wester. Ich kann
mich nicht mehr erinnern, wo die Karte ausgestellt war.“

„Das konnte ich mir denken.“

„Man guckt sich doch seine Karte nicht jeden Tag an. Ich habe sie nie
angeguckt, solange ich sie hatte.“

„Ja.“

„Sie hat immer in meiner Tasche gesteckt.“

„Naturalisiert?“

„Nein. Im Lande geboren.“

„Registriert worden, die Geburt?“

„Weiß ich nicht, da war ich noch zu klein, als ich geboren wurde.“

„Also nicht registriert.“

„Das weiß ich nicht, habe ich gesagt.“

„Aber ich weiß es.“

„Dann brauchen Sie mich doch nicht fragen, wenn Sie alles wissen.“

„Will ich vielleicht einen Paß haben?“ fragt er darauf.

„Das weiß ich nicht, Sir, ob Sie einen Paß haben wollen.“

„Sie wollen doch einen haben, nicht ich. Und wenn ich Ihnen einen geben
soll, so werden Sie mir doch wohl erlauben müssen, daß ich Fragen an Sie
stelle. Nicht wahr?“

Der Mann hat recht. Die Leute haben immer recht. Das ist auch ganz
leicht für sie. Zuerst machen sie die Gesetze, und dann werden sie
hingestellt, um den Gesetzen das Leben einzuflößen.

„Haben Sie eine feste Adresse drüben?“

„Nein. Ich wohne auf meinen Schiffen oder, wenn ich keine habe, wohne
ich in den Seemannsheimen und Herbergen.“

„Also keine feste Wohnung. Mitglied eines eingetragenen Klubs?“

„Wer, ich? Nein.“

„Eltern?“

„Nein. Gestorben.“

„Verwandte?“

„Dank dem Himmel, nein. Wenn ich welche hätte, würde ich sie
abschwören.“

„Haben Sie gewählt?“

„Nein. Nie.“

„Stehen Sie also auch nicht in den Wähler-Registern.“

„Sicher nicht. Ich würde auch nicht wählen, wenn ich an Land wäre.“

Er sieht mich nun eine ganze Weile an, ziemlich dumm und sehr
ausdruckslos. Die ganze Zeit hat er gelächelt und, wie sein Kollege in
Rotterdam, mit einem Bleistift gespielt. Was würden die Leute nur
machen, wenn es keine Bleistifte mehr gäbe? Aber dann gibt es sicher ein
Lineal, oder einen Löscher, oder die Telephonstrippe, oder die Brille,
oder ein paar Blätter Papier oder Formulare, die man auf- und zufaltet.
Eine Amtsstube hat ja so gut vorgesorgt, daß der Insasse sich nie
langweilt. Gedanken, mit denen er sich beschäftigen kann, hat er nicht;
und wenn er welche bekommt, hört er für gewöhnlich auf, Beamter zu sein
und wird ein umgänglicher Mensch. Könnten die Finger eines Tages nicht
mehr mit den Utensilien spielen, die auf der Inventarliste stehen,
würden sie vielleicht an den Fundamenten spielen und bohren und das
möchte den Fundamenten nicht bekommen.

„Also ich kann Ihnen keinen Paß geben.“

„Warum nicht?“

„Auf was denn? Auf Ihre bloßen Aussagen hin? Das kann ich nicht. Das
darf ich nicht einmal. Ich muß doch Unterlagen vorweisen können. Ich muß
doch Rechenschaft ablegen, auf Grund welcher Beweise ich den Paß
ausgestellt habe. Wie können Sie denn beweisen, daß Sie Amerikaner sind,
daß ich überhaupt verpflichtet bin, mich mit Ihnen hier zu befassen?“

„Aber das können Sie doch hören?“

„Woran? An der Sprache?“

„Natürlich.“

„Das ist kein Beweis. Nehmen Sie hier den Fall Frankreich. Hier leben
Tausende, die Französisch sprechen und keine Franzosen sind. Hier gibt
es Russen, Rumänen, Deutsche, die ein besseres und reineres Französisch
sprechen als der Franzose selbst. Hier sind Tausende, die hier geboren
sind und keine Staatsbürger sind. Anderseits sind drüben
Hunderttausende, die kaum Englisch sprechen können und über deren
amerikanische Staatsbürgerschaft auch nicht der geringste Zweifel
besteht.“

„Aber ich bin doch im Lande geboren.“

„Dann freilich können Sie Bürger sein. Aber auch dann müßten Sie erst
noch beweisen, ob nicht Ihr Vater für Sie eine andre Staatsbürgerschaft
vorbehalten hat, die Sie nicht abgeändert haben, als Sie volljährig
wurden.“

„Meine Urgroßeltern waren schon Amerikaner und deren Eltern auch schon.“

„Beweisen Sie mir das, und ich bin verpflichtet, Ihnen einen Paß
auszustellen, ob ich will oder nicht. Bringen Sie die Urgroßeltern oder
nur die Eltern her. Ich will aber viel näher kommen, beweisen Sie mir,
daß Sie drüben geboren sind.“

„Wie soll ich denn das beweisen, wenn die Geburt nicht registriert
worden ist.“

„Das ist sicher nicht meine Schuld.“

„Vielleicht bestreiten Sie mir gar, daß ich überhaupt geboren bin?“

„Richtig. Das bestreite ich. Die Tatsache, daß Sie hier vor mir stehen,
ist kein Beweis für mich, daß Sie geboren sind. Ich habe es zu glauben.
Wie ich zu glauben habe, daß Sie Amerikaner sind, daß Sie Bürger sind.“

„Also Sie glauben nicht einmal, daß ich geboren bin? Das ist aber doch
die Grenze alles Möglichen.“

Der Konsul lächelte sein schönstes Amtslächeln: „Daß Sie geboren sind,
muß ich ja wohl glauben; denn ich sehe Sie hier mit meinen Augen. Wenn
ich Ihnen nun einen Paß ausstelle und ihn der Regierung daheim damit
rechtfertige, daß ich in meinen Bericht schreibe: Ich habe den Mann
gesehen und glaube, daß er Bürger ist! so kann es leicht geschehen, daß
ich gesackt werde. Denn was ich glaube, will die Regierung daheim nicht
wissen. Sie will nur wissen, was ich bestimmt weiß. Und was ich bestimmt
weiß, muß ich immer beweisen können. Ihre Staatsbürgerschaft und Ihre
Geburt kann ich nicht beweisen.“

Man möchte manchmal bedauern, daß wir noch nicht aus Papiermaché gemacht
sind; denn dann könnte man an dem Stempel sehen, ob man in der Fabrik U.
S. A. oder in der Fabrik Frankreich oder in der Fabrik Spanien
angefertigt worden ist, und den Konsuln wäre die Mühe erspart, ihre
wertvolle Zeit mit so törichten Dingen zu vertrödeln.

Der Konsul hat den Bleistift hingeworfen, ist aufgestanden, geht zur Tür
und ruft einen Namen hinaus. Ein Sekretär kommt herein, und der Konsul
sagt zu ihm: „Sehen Sie mal nach. Wie ist der Name?“ Er wendet sich mir
zu. „Ach ja, es fällt mir schon wieder ein, Gale, richtig. Ja, sehen Sie
also nach, sofort.“

Der Mann läßt die Tür halb offen, und ich sehe, daß er an einem
Schranke, wo Tausende von gelben Karten aufgestapelt sind, das G
heraussucht und nach meinem Namen forscht. Die Karten der Deportierten,
der Unerwünschten, der Pazifisten und der bekannten Anarchisten.

Der Sekretär kommt wieder zurück. Der Konsul, der während der Zeit am
Fenster gestanden hat und hinuntergesehen hat, dreht sich um:

„Na?“

„Ist nicht drin.“

Das wußte ich vorher. Jetzt kriege ich meinen Paß. So schnell nicht. Der
Sekretär ist wieder gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht. Der
Konsul sagt nichts, setzt sich wieder an seinen Schreibtisch, sieht mich
eine Weile an und weiß nicht mehr, was er fragen soll. Seine
Prüfungsaufgaben scheinen nur bis hierher gereicht zu haben. Nun steht
er auf und verläßt das Zimmer. Jedenfalls holt er sich Rat aus einem der
andern heiligen Räume.

Ich habe nichts weiter zu tun und sehe mir die Bilder an der Wand an.
Alles bekannte Gesichter, mein eigner Vater ist mir nicht so vertraut in
seinem Gesicht als diese Gesichter. Washington, Franklin, Grant,
Lincoln. Männer, denen Bureaukratismus so verhaßt war wie einem Hunde
die Katzen. „Das Land soll für immer sein das Land der Freiheit, wo der
Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet, sofern er guten Willens
ist.“ „Dieses Land soll gehören denen, die es bewohnen.“

Aber freilich, das kann ja nicht so fort gehen bis in alle Ewigkeit.
„Das Land soll gehören denen, die es bewohnen.“ Das puritanische
Gewissen ließ nicht zu, daß kurz und bündig gesagt wurde: „Das Land
gehört uns, den Amerikanern.“ Denn da waren die Indianer, denen das Land
von Gott gegeben war, und Gottes Gesetz hat der Puritaner zu beachten.
„Wo der Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet.“ Ganz gut, wenn
alle, die da wohnen, Verfolgte und Gehetzte sind aus allen möglichen
Ländern. Und die Nachfahren jener Verfolgten und Gehetzten sperren das
Land ab, das allen Menschen gegeben wurde. Und um die Absperrung ganz
vollkommen zu machen, damit auch nicht eine Maus durchschlüpfen kann,
sperren sie die eignen Söhne ab. Denn es könnte ja unter der Verkleidung
des eignen Sohnes sich der Sohn eines Nachbars einschleichen.

Der Konsul kommt zurück und setzt sich wieder. Er hat eine neue Frage
gefunden.

„Sie können ja vielleicht ein entwichener Sträfling sein oder jemand,
der eines schweren Verbrechens wegen gesucht wird. Und ich würde Ihnen
einen Paß ausstellen auf den von Ihnen genannten Namen und würde Sie
durch den Paß vor der gerechten Verfolgung schützen.“

„Ja, das würden Sie. Ich sehe nun ein, daß mein Kommen ganz und gar
zwecklos war.“

„Es tut mir wirklich leid, Ihnen nicht helfen zu können. Meine
Machtbefugnisse sind nicht weitreichend genug, um Ihnen den Paß oder
irgendein Papier, das Ihnen zur Legitimation dienen könnte,
auszustellen. Sie hätten mit Ihrer Seemannskarte vorsichtiger sein
müssen. Solche Dinge verliert man nicht in dieser Zeit, wo der Paß
notwendiger ist als sonst irgend etwas.“

„Nun möchte ich aber doch gern eins wissen.“

„Ja?“

„Da war hier eine sehr dicke Dame mit vielen Brillantringen, die sie
kaum noch schleppen konnte, die hatte ihren Paß doch auch verloren und
Sie haben ihr sofort einen gegeben. Das hat nur eine halbe Stunde
gedauert.“

„Aber das war doch die Frau Sally Marcus aus New York, werden Sie doch
schon gehört haben den Namen. Das große Bankgeschäft,“ sagte er mit
einer Geste und einer Betonung, als ob er gesagt hätte: Das war doch der
Prince of Wales und nicht ein Seemann, dem das Schiff fortgefahren ist.

Er mußte wohl an meinem Gesichtsausdruck erkennen, daß ich das nicht so
schnell fassen konnte, denn er fügte hinzu: „Sie werden den Namen doch
schon gehört haben? Das große Bankgeschäft in New York?“

Ich zweifelte noch immer und sagte: „Ich glaube aber kaum, daß die Dame
Amerikanerin ist, ich würde viel eher glauben, daß sie in Bukarest
geboren ist.“

„Woher wissen Sie das? Die Frau Marcus ist allerdings in Bukarest
geboren worden. Aber sie ist amerikanischer Bürger.“

„Hatte sie denn ihren Bürgerbrief bei sich?“

„Natürlich nicht. Warum?“

„Woher haben Sie denn dann gewußt, daß sie Bürger ist? Richtig sprechen
hat sie noch nicht gelernt.“

„Da brauche ich keinen Beweis. Der Bankier Marcus ist doch bekannt. Sie
ist doch Luxuskabine auf der Majestic herübergekommen.“

„Jetzt endlich verstehe ich. Ich bin nur in einer Forecastle-Bunk, auf
einem Frachteimer herübergekommen als Deckarbeiter. Und das beweist gar
nichts. Großes Bankgeschäft und Luxuskabine beweist alles.“

„Der Fall liegt eben ganz anders, Mr. Gale. Ich habe Ihnen gesagt, ich
kann nichts für Sie tun. Ich darf nicht einmal etwas für Sie tun.
Papiere darf ich Ihnen nicht geben. Ich persönlich glaube Ihnen, was Sie
mir gesagt haben. Aber wenn die Polizei Sie hierher bringen sollte,
damit wir Sie anerkennen und aufnehmen sollen, leugne ich Sie glatt ab
und bestreite Ihre Staatsangehörigkeit. Ich kann nichts andres tun.“

„Dann kann ich hier einfach untergehen in fremdem Lande.“

„Ich habe nicht die Machtvollkommenheit, Ihnen beizustehen, selbst wenn
ich persönlich gern möchte. Ich werde Ihnen eine Karte für ein Hotel
geben für drei Tage mit voller Verpflegung. Sie dürfen sich nach Ablauf
eine zweite und auch eine dritte holen.“

„Nein, ich danke sehr. Bemühen Sie sich nicht.“

„Vielleicht ist Ihnen besser gedient mit einer Fahrkarte nach der
nächsten größeren Hafenstadt, wo Sie vielleicht ein Schiff bekommen
können, das unter andrer Flagge fährt.“

„Nein, danke. Ich hoffe, meinen Weg allein zu finden.“

„Ja dann –. Good-bye und viel Glück!“

Aber da sind wieder die großen Gegensätze zwischen den amerikanischen
Beamten und den Beamten andrer Länder. Als ich auf der Straße war und
nach einer Uhr blickte, sah ich, daß es fünf Uhr vorbei war. Die
Geschäftsstunden des Konsuls waren um vier Uhr zu Ende; jedoch er hatte
nicht ein einziges Mal irgendein Zeichen von Ungeduld geäußert oder
fühlen lassen, daß seine Zeit längst vorüber war.

Nun erst hatte ich mein Schiff wirklich verloren.

Ade, mein sonniges New Orleans. Good-bye and good luck to ye!

Mädel, mein liebes Mädel in New Orleans, jetzt kannst du warten auf
deinen Jungen; auf dem Jackson Square kannst du sitzen und heulen. Dein
Junge kommt nicht mehr heim. Das Meer hat ihn verschluckt. Gegen Sturm
und Wellen konnte ich kämpfen, mit Farbe und mit harten Fäusten; gegen
Paragraphen, Bleistifte und Papier nicht. Nimm dir beizeiten einen
andern, Liebchen. Verplempere deine rosige Jugend nicht mit Warten auf
den Vaterlandslosen und Nichtgeborenen. Leb’ wohl! Süß waren deine Küsse
und glühend, weil wir keine Heiratslizenz geholt hatten.

Schiet das Mädel. Hoiho! Wind kommt auf. Boys, get all the canvas set.
Alles, was Leinwandfetzen heißt, raus damit und hoch.


                                   12

Express Paris-Limoges. Ich sitze drin und habe keine Karte. Diesmal
wurde kontrolliert. Aber ich verschwand spurlos. Limoges-Toulouse. Ich
sitze drin und habe auch keine Karte.

Was die nur immerfort zu kontrollieren haben. Es muß doch in der Tat zu
viele Eisenbahnschwindler geben, daß so oft kontrolliert wird. Aber die
haben ganz recht, wenn jeder ohne Karte fahren wollte, wer sollte denn
dann die Dividenden bezahlen. Das geht doch nicht. Ich verschwinde
spurlos. Als die Kontrolle vorbei ist, setze ich mich wieder auf meinen
Platz. Plötzlich kommt der Kontrolleur zurück, geht entlang und sieht
mich an. Ich sehe ihn auch an. Ganz dreist. Er geht weiter. Man muß nur
wissen, wie man Kontrolleure anzusehen hat, dann hat man auch schon
gewonnen. Er dreht sich um und kommt auf mich zu.

„Bitte, wo wollten Sie umsteigen?“

Ein ganz gerissener Bursche, dieser Kontrolleur.

Ich verstehe nur das Umsteigen in diesem Augenblick, weil ich die
übrigen Worte erst in Gedanken übersetzen muß. Aber dazu komme ich gar
nicht, denn er sagt gleich darauf: „Bitte, lassen Sie doch mal Ihre
Karte sehen, wenn ich sehr bitten darf.“

Na, Freund, wenn du noch so höflich bist und noch so höflich bittest, es
tut mir sehr leid, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen.

„Ich habe es gewußt“, sagt er ganz ruhig und unauffällig. Ich bin
überzeugt, die übrigen Fahrgäste haben gar nicht beachtet, was für eine
Tragödie sich hier abspielt.

Der Mann nimmt sein Notizbuch, schreibt etwas und geht dann weiter.
Vielleicht hat er ein gutes Herz und vergißt mich. Aber in Toulouse auf
dem Bahnhof werde ich schon erwartet. Ohne Blechmusik, aber mit einem
Auto.

Es ist ein sehr gutes Automobil, feuer- und einbruchsicher, und ich kann
während der Fahrt nicht hinausfallen und sehe von meinem Fenster nur
einen Teil der obersten Stockwerke der Häuser, an denen wir
vorübersausen. Es ist ein Spezialauto für Gäste, die man hier
bewillkommnen möchte, denn aller Verkehr hat meinem Auto Platz zu
machen, so daß es unbehindert durchfahren kann. Auf jeden Fall sind die
Autos in Toulouse eine Marke, die ich noch nicht kenne. Weder Ford noch
Dodge Brothers werden hier auf Absatz rechnen können, oder sie müßten
sich den hiesigen Ansprüchen besser anpassen.

Aber ich weiß schon, wo ich landen werde. Wenn mir irgendetwas
merkwürdig vorkommt an den Sitten und Gebräuchen in europäischen
Ländern, dann bin ich immer auf dem Wege zu einer Polizeistation oder
unter den Fittichen von Cops. Ich habe daheim nie in meinem Leben je
etwas mit der Polizei oder mit dem Gericht zu tun gehabt. Hier kann ich
ruhig auf einer Kiste sitzen oder unschuldig im Bett liegen oder über
eine Wiese spazierengehen oder in einem Eisenbahnzuge fahren, immer
lande ich auf einer Polizeistation. Kein Wunder, daß Europa vor die
Hunde geht. Die Leute haben ja gar keine Zeit zu arbeiten, sieben Achtel
ihres Lebens haben sie auf Polizeistationen oder mit Polizisten zu
vergeuden. Darum sind die Leute auch immer so gereizt und machen so gern
Krieg, weil sie sich ewig mit der Polizei herumzanken müssen und die
Polizei sich mit ihnen herumzankt. Wir sollten den europäischen Ländern
keinen Nickel mehr pumpen, sie geben es ja doch bloß aus, um ihre
Polizei noch weiter zu vermehren. Keinen Nickel mehr, no, Sir.

„Von wo kommen Sie?“

Der Hohepriester sitzt wieder vor mir. Sie sind alle gleich. In Belgien,
in Holland, in Paris, in Toulouse. Immer müssen sie fragen, und immer
wollen sie alles wissen. Und selber begeht man immer wieder den großen
Fehler, daß man überhaupt antwortet. Man sollte ganz still sein, gar
nichts sagen und die raten lassen. Dann kämen sie alle bald ins
Irrenhaus, oder sie würden die Folter wieder einführen. Aber würde man
nie antworten, dann würden die Cops ja noch dümmer werden, als sie schon
sind.

Das soll man aber auch erst aushalten, da zu sitzen oder zu stehen und
immerfort gefragt werden und nichts antworten. Das verfluchte Maul redet
ganz von selbst, sobald einem eine Frage entgegengeschleudert wird. Das
macht die lange Gewohnheit. Es ist unerträglich, einen Fragesatz
schwebend in der Luft hängen zu lassen, ohne ihn durch eine Antwort
wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Eine unbeantwortete Frage läßt
einem keine Ruhe, läuft immer hinter einem her, drängt sich in die
Träume und raubt einem die Ruhe zum Arbeiten und zum Denken. Das eine
Wort „Warum?“ mit einem Fragezeichen dahinter ist der Zentralpunkt aller
Kultur, Zivilisation und Entwicklung. Ohne dieses eine Wort sind die
Menschen nichts weiter als Affen, und wenn man den Affen dieses
Zauberwort gibt, werden sie sofort Menschen. Yes, Sir.

„Von wo Sie kommen, will ich wissen!“

Da habe ich nun mal den Versuch gemacht, nicht zu antworten, aber jetzt
halte ich es schon nicht mehr aus. Ich muß ihm etwas erzählen. Soll ich
nun sagen, daß ich von Paris käme? Oder soll ich lieber sagen, ich käme
von Limoges. Wenn ich Limoges sage, machen sie es vielleicht acht Tage
billiger, weil Limoges ja nicht so weit ist wie Paris.

„Ich bin in Limoges eingestiegen.“

„Das ist nicht richtig, Mann, Sie sind in Paris eingestiegen.“

Sieh mal an, wie gut die raten können.

„Nein, ich bin nicht in Paris eingestiegen, sondern nur in Limoges.“

„Aber Sie haben doch hier eine Bahnsteigkarte von Paris in der Tasche.“

Da haben sie also schon wieder meine Taschen durchsucht. Ich habe das
gar nicht gemerkt, weil ich schon so daran gewöhnt bin, daß es mir gar
nicht mehr auffällt.

„Oh, die Bahnsteigkarte habe ich schon lange.“

„Wie lange?“

„Sechs Wochen wenigstens.“

„Das ist aber merkwürdig. Die Karte hat das Datum von gestern
vormittag.“

„Dann ist sie irrtümlicherweise vordatiert worden“, sage ich.

„Offenbar. Also Sie sind in Paris eingestiegen.“

„Aber von Paris bis Limoges habe ich bezahlt.“

„Jedenfalls. Und Sie sind ein so guter Bezahler, daß Sie außer Ihrer
Fahrkarte auch noch die Bahnsteigkarte gekauft haben, die Sie gar nicht
brauchten, wenn Sie eine Fahrkarte hatten. Wenn Sie aber eine Karte bis
Limoges hatten, wo ist dann diese Karte.“

„Die habe ich in Limoges abgegeben,“ antworte ich.

„Dann hätten Sie aber doch eine Bahnsteigkarte von Limoges haben müssen.
Aber lassen wir das. Wollen wir erst einmal die Personalien festhalten.“

Gut, wenn sie nur die Personalien festhalten, das ist mir lieber, als
wenn sie mich mit festhalten.

„Nationalität?“

Eine heikle Frage jetzt. Ich habe so ein Ding nicht mehr, seitdem ich
nicht beweisen kann, daß ich geboren bin. Ich könnte es eigentlich mit
Franzose versuchen. Der Konsul hat mir ja erzählt, daß es Tausende von
Franzosen gäbe, die nicht französisch sprechen können und doch Franzosen
sind, soweit ihre Staatsangehörigkeit in Frage kommt. Glauben wird er es
mir ja sicher nicht. Er wird ja auch Beweise sehen wollen. Wissen möchte
ich nur, für wen es billiger ist, ohne Fahrkarte auf der Eisenbahn zu
fahren, für Franzosen oder für Ausländer? Aber der Ausländer kann ja
denken, in Frankreich brauche man keine Fahrkarten und er habe in gutem
Glauben gehandelt. Geld haben sie in meinen Taschen aber nicht gefunden,
und das ist dann schon verdächtig.

„Ich bin ein Deutscher“, platze ich nun raus; denn mir kam ganz
plötzlich die Idee, daß ich doch mal sehen möchte, was sie mit einem
Boche machen, wenn sie ihn ohne Paß und ohne Fahrkarte in ihrem Lande
finden.

„Also ein Deutscher. Sieh an. Wohl auch noch von Potsdam?“

„Nein, nur von Wien.“

„Das ist Österreich. Aber das ist ja alles dasselbe. Also Deutscher.
Warum haben Sie denn keinen Paß?“

„Den habe ich verloren.“

Nun ging die ganze Reihe wieder herunter. In jedem Lande haben sie genau
dieselben Fragen. Hat einer vom andern abgeschrieben. Erfunden wurden
sie wahrscheinlich in Preußen oder in Rußland, denn alles, was sich um
Einmischung in die Privatverhältnisse eines Menschen handelt, kommt aus
einem der beiden Länder. Da sind die Leute am geduldigsten und lassen
sich alles gefallen, und vor einem blanken Knopf nehmen sie die Mütze
ab. Denn in jenen Ländern ist der blanke Knopf der böse Gott, den man
verehren und anbeten muß, damit er sich nicht rächt.

Zwei Tage später bekam ich vierzehn Tage Gefängnis wegen
Eisenbahnbetrugs. Hätte ich gesagt Amerikaner, so würden sie vielleicht
herausgekriegt haben, daß ich bereits vorbestraft war wegen
Eisenbahnbetrugs, und dann wäre es teurer geworden. Aber meinen Namen
erzählte ich ihnen ja auch nicht. Es hat seine Vorteile, wenn man keinen
Paß und keine Seemannskarte hat, die jemand in den Taschen finden
könnte.

Als die Tage der Vorbereitungen abgelaufen waren, wurde ich der
Arbeitskolonne zugewiesen. Da waren kleine merkwürdige Dinger, die aus
Weißblech gestanzt waren. Wozu die gebraucht wurden, wußte kein Mensch,
nicht einmal die Aufsichtsbeamten wußten es. Manche behaupteten, es sei
ein Teil eines Kinderspielzeugs, andre sagten, es sei ein Teil eines
Panzerschiffes, wieder andre waren überzeugt, daß es zu einem Auto
gehöre, und einige schworen und verwetteten hereingeschmuggelten Tabak,
daß dieser Blechschnipsel ein wichtiges Stück von einem lenkbaren
Luftschiff sei. Ich war der festen Meinung, daß es zu einer
Taucherausrüstung gehören müsse. Wie ich zu dieser Auffassung kam, weiß
ich nicht. Aber die Idee hatte sich in mir festgesetzt, und ich hatte
auch irgendwo einmal gelesen, daß an Taucherausrüstungen eine ganze
Anzahl von Dingen gebraucht würde, die man sonst nirgends gebrauchen
könne.

Von diesen merkwürdigen Blechschnipseln hatte ich immer
hundertvierundvierzig abzuzählen und auf einen Haufen zu legen. Wenn ich
einen Haufen fertig abgezählt und neben mir liegen hatte und einen
andern Haufen anfangen wollte, kam der Aufsichtsbeamte und fragte mich,
ob ich auch ganz genau wüßte, daß dies hundertvierundvierzig
Schnipselchen seien, und ob ich mich auch ja nicht etwa verzählt hätte.

„Ich habe ganz genau gezählt, es sind genau hundertvierundvierzig.“

„Ist das auch ganz bestimmt, kann ich mich ganz bestimmt darauf
verlassen?“

Er sah mich so sorgenvoll an, als er diese Frage an mich stellte, daß
ich aufrichtig zu zweifeln begann, ob das auch wirklich und wahrhaftig
hundertvierundvierzig Schnipselchen seien, und ich sagte, es sei
vielleicht doch besser, ich zähle sie nochmal nach. Darauf sagte der
Beamte, das sollte ich nur tun, es sei auf jeden Fall besser, damit auch
ja kein Irrtum vorkomme; denn wenn sie nicht ganz genau gezählt seien,
so gäbe das eine Mordsschweinerei, und er könnte vielleicht gar seinen
Posten hier verlieren, was ihm sehr unangenehm wäre, weil er drei Kinder
und eine alte Mutter zu versorgen hätte.

Als ich nun das Häufchen das zweite Mal durchgezählt hatte und gefunden
hatte, daß die Summe stimmte, kam gerade wieder der Beamte heran. Ich
sah, daß er sein Gesicht wieder in besorgte Falten legte, und um ihm den
Kummer zu sparen und ihm zu zeigen, wie sehr ich an seinen Sorgen
teilnahm, sagte ich, ehe er Zeit hatte, den Mund aufzutun: „Ich glaube,
ich zähle lieber noch mal nach; ich könnte mich vielleicht doch um einen
oder gar zwei verzählt haben.“

Über sein sorgenvolles Gesicht huschte da ein so verklärtes Lächeln, als
ob ihm jemand erzählt hätte, er bekäme in vier Wochen eine Erbschaft von
fünfzigtausend Franken ausgezahlt.

„Ja, tun Sie das nur, um Gottes willen, zählen Sie lieber nochmal genau
nach. Denn wenn da ein Schnipsel zu viel wäre oder eines zu wenig und
der Herr Direktor würde mich zum Rapport kommandieren, ich weiß nicht,
was ich da täte. Ich würde ganz sicher meinen Posten verlieren, und da
sind die armen Würmer, und meine Frau ist auch nicht ganz wohlauf, und
da ist noch meine alte Mutter. Oh, zählen Sie nur ganz genau
hundertvierundvierzig, genau zwölf Dutzend. Vielleicht zählen Sie die
Schnipselchen überhaupt Dutzendweise, da können Sie sich nicht so leicht
verzählen.“

An dem Tage, als ich entlassen wurde und meine Zeit abgedient hatte,
hatte ich alles in allem drei Häufchen Schnipselchen gezählt. Ich weiß
heute noch nicht, ob ich mich nicht doch vielleicht bei einem verzählt
haben mag. Aber ich hege die stille Hoffnung, daß der treue Beamte und
brave Versorger seiner Familie die drei Häufchen noch einmal zwei Wochen
lang hat nachzählen lassen, so daß ich also nicht die Verantwortung zu
tragen habe, wenn der Mann vielleicht doch zum Rapport kommandiert wird.

Ich bekam vierzig Centimes Arbeitslohn ausbezahlt. Eins ist sicher, wenn
ich noch zweimal ohne Fahrkarte auf einer französischen Bahn fahre und
erwischt werde, muß der französische Staat unweigerlich bankrott machen.
Das hält kein Staat aus, auch wenn er viel günstiger dastände als
Frankreich.

Das möchte ich diesem Staate auch nicht antun, und ich möchte mir auch
nicht nachsagen lassen, daß ich vielleicht gar schuld sei, wenn der
französische Staat seine gepumpten Gelder nicht verzinsen kann.

Darum mußte ich raus aus diesem Lande.

Das heißt, ich will nicht verschweigen, daß es nicht nur meine Sorge um
das Wohlergehen und das geregelte Zinsenbezahlen des französischen
Staates war, was mich veranlaßte, an eine beschleunigte Abreise zu
denken. Bei meiner Entlassung war ich wieder einmal verwarnt worden.
Diesmal sehr ernsthaft. Wäre ich innerhalb vierzehn Tagen nicht raus aus
dem Lande, dann bekäme ich ein Jahr und Deportation nach Deutschland.
Das hätte den armen Staat wieder allerlei gekostet, und ich bekam
aufrichtiges Mitleid mit diesem geplagten Lande.


                                   13

Ich wanderte südlich, auf Pfaden, die so alt sind wie die Geschichte der
europäischen Völker. Ich blieb nun bei meiner neuen Nationalität. Und
wenn mich jemand fragte, sagte ich ganz trocken: „Boche.“ Es nahm mir
niemand übel, ich bekam überall zu essen und überall ein gutes
Nachtquartier, bei jedem Bauern. Es schien, daß ich instinktiv das
Richtige getroffen hatte. Niemand konnte die Amerikaner leiden. Jeder
schimpfte und fluchte auf sie. Sie seien die Räuber, die aus dem Blute
französischer Söhne ihre Dollar gemünzt hätten, und sie seien die
Halsabschneider und Wucherer, die nun aus den Sorgen und Tränen der
übriggebliebenen Väter und Mütter abermals Dollar herausmünzen wollen,
weil sie nie den Rachen vollkriegen könnten, obgleich sie im Golde schon
erstickten. Wenn wir nur einen hier hätten, einen von diesen
amerikanischen Wucherern, wir schlügen ihn mit dem Dreschflegel tot wie
einen alten Hund, weil er wahrhaftig nichts Besseres verdient.

Verflucht nochmal, da habe ich aber Glück gehabt.

„Dagegen die Boches. Gut, wir haben Krieg mit ihnen gehabt, einen
ehrlichen und richtigen Krieg. Wir haben ihnen Elsaß wieder abgenommen.
Da sind sie auch ganz damit einverstanden, das haben sie eingesehen. Nun
aber geht es den armen Teufeln genau so dreckig wie uns. Auch die hat
der amerikanische Hund am Schlafittchen und holt noch den letzten
abgenagten Knochen heraus. Die verhungern ja alle, die armen Boches. Wir
würden ihnen so gern etwas abgeben, aber wir haben ja selber nur noch
das nackte Leben, weil der Teufel von Amerikaner uns schon das Hemd vom
Leibe gezogen hat. Warum ist er überhaupt rübergekommen nach Europa? Uns
zu helfen? Prost Mahlzeit! Um uns den letzten Faden noch vom Leibe zu
ziehen. Denn wir müssen ja alles bezahlen. Wir und die armen Boches.“

„Sieht man ja an Ihnen, wie dreckig es den armen Boches geht. Ganz
verhungert sehen Sie aus. Essen Sie nur tüchtig, langen Sie zu. Nehmen
Sie sich das beste Stück. Wenn es Ihnen nur schmeckt. Wenn sie drüben
alle so verhungert sind wie Sie, dann gute Nacht. Aber wir haben ja
selber nicht viel. Wo wollen Sie denn nun hin? Nach Spanien? Das ist
recht. Das ist vernünftig. Die haben noch etwas mehr als wir. Die haben
keinen Krieg gehabt. Aber die hat ja der Amerikaner auch so reingelegt
mit Kuba und mit den Philippinen. Da sehen Sie es ja schon wieder. Immer
stiehlt er uns arme Europäer aus. Als ob er drüben nicht genug hätte.
Nein, er muß hier stehlen und wuchern kommen. Langen Sie nur tüchtig zu.
Lassen Sie sich durch uns nicht stören, daß wir schon aufhören. Wir
haben ja noch ein bißchen was und können uns wenigstens hin und wieder
mal satt essen. Aber, ihr armen Boches da drüben, euch verhungern ja die
kleinen Würmchen in der Wiege.“

„Und wenn nun gar hier ein armer Teufel sich das Geld zusammengespart
hat und will rüber zu den Amerikanern, um sich ein paar Dollar zu
verdienen, die er seinen Eltern schicken will, da machen sie die Türe
zu, diese Banditen. Erst stehlen sie das Land von den armen Indianern,
und wenn sie es haben, dann lassen sie keinen mehr rein, nur damit sie
ja ganz im Fett ersticken können, die verfluchten Hunde. Als ob sie dem,
der überfährt, was schenken würden. Arbeiten muß er, aber feste. Die
schlechteste Arbeit, die kein Amerikaner anfassen will, die können dann
unsre Jungens machen.“

„Wissen Sie was, Sie könnten eigentlich hier ein paar Wochen ganz gut
arbeiten. Da können Sie sich ordentlich herausfüttern, daß Sie wieder zu
Kräften kommen, denn Spanien ist noch weit. Mon dieu, viel bezahlen
können wir ja nicht, dreißig Franken den Monat, acht Franken die Woche
und die Kost und das Schlafen. Vor dem Kriege war der Lohn nur drei
Franken die Woche, aber es ist ja jetzt alles so sündhaft teuer. Wir
haben auch während des Krieges einen Boche hier gehabt. Einen
Kriegsgefangenen. Er war ein so fleißiger Mann, wir waren alle recht
traurig, als er wieder heim mußte. Sag, Antoine, der Wil’em, der Boche,
der war doch ein sehr fleißiger Mann. Der hat tüchtig gearbeitet. Wir
haben ihn auch alle sehr gern gehabt, und die andern Leute haben auch
immer geredet, daß wir ihn zu gut behandeln, aber wir haben ihm doch
alles gegeben, was wir konnten. Er hat dasselbe Essen gehabt wie wir, da
haben wir keinen Unterschied gemacht ...“

Da arbeitete ich also nun, und ich lernte bald erfahren, daß der Wil’em
wirklich ein tüchtiger Arbeiter gewesen sein muß. Denn ich hörte jeden
Tag ein halbes dutzendmal: „Ich weiß nicht, der Wil’em muß aus einer
ganz andern Gegend gewesen sein als Sie. So können Sie nicht arbeiten
wie der Wil’em. Habe ich nicht recht, Antoine?“

Und Antoine bestätigte: „Ja, er ist sicher aus einer ganz andern Gegend,
denn so kann er nicht arbeiten, wie der Wil’em es konnte. Aber es gibt
wohl auch unter den Boches Unterschiede, genau so wie bei uns.“

Der ewige Vergleich mit dem tüchtigen Wil’em, der sicher mehr von der
Landwirtschaft verstand als ich, und der gewiß auch darum so „tüchtig“
arbeitete, weil er lieber hier bei den Bauersleuten blieb als in das
Internierungslager zurückgeschickt werden oder in Algier Straßen
pflastern wollte, fiel mir bald auf die Nerven. Selbst wenn ich nur halb
soviel gearbeitet hätte, wäre es noch um das Dreifache zuviel gewesen.
So billig bekam der Bauer nie wieder einen Arbeiter. Acht Franken in der
Woche. Andre Bauern hatten zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Franken die
Woche zu zahlen. Ich bekam acht. Ich war ja auch der verhungerte Boche,
der herausgefüttert werden sollte.

Als ich dann abzog, weil ich erklärte, ich müßte nun unbedingt nach
Spanien, ich könne auf keinen Fall mehr länger warten, und vielleicht
käme gar noch die Polizei, die es mir verbieten würde, hier zu arbeiten,
da bekam ich für meine Arbeit von sechs Wochen im ganzen zehn Franken.
Der Bauer sagte mir, daß er nicht mehr Geld habe. Wenn ich vielleicht
nach Neujahr zurückkommen wolle, dann könne er mir den Rest zahlen, weil
er dann das Geld bekäme für die Ernte, aber jetzt habe er weiter kein
Geld. Ich sähe jetzt auch wieder ganz gesund aus, es habe mir doch gut
getan, dieses kräftige Essen, das ich hier bekommen habe, und
totgearbeitet hätte ich mich ja auch nicht, der Wil’em –.

„Ja,“ sagte ich darauf, „der Wil’em war auch aus Westfalen, ich bin aber
aus Südfalen und da braucht man nicht so hart arbeiten, weil alles von
selbst wächst, da ist man so schwere Arbeit nicht gewöhnt.“

„Das ist ja dann ganz verständlich“, sagte der Bauer. „Von Südfalen habe
ich auch schon viel gehört. Das ist doch das Großherzogtum, wo die
vielen Bernsteinbergwerke sind?“

„Richtig,“ sagte ich, „das ist der Landesteil, wo die vielen Hochöfen
sind, in denen der Königsberger Klops geschmolzen wird.“

„Was? Der Königsberger Klops wird aus Eisen gemacht? Ich habe immer
geglaubt, der wird aus gemahlener Steinkohle hergestellt.“

„Das ist der gefälschte. Der wird allerdings aus gemahlener Steinkohle
gemacht“, erwiderte ich. „Da haben Sie durchaus recht, aus gemahlener
Steinkohle mit eingedicktem Schwefelteer. Aber der richtige, der echte
Königsberger Klops, der wird in Hochöfen geschmolzen, der ist viel
härter als der härteste Stahl. Damit haben ja unsre Generale die
Torpedos gefüllt, mit denen sie die Panzerschiffe versenkten. Ich habe
selbst an einem solchen Hochofen gearbeitet.“

„Ihr seid doch schlaue Leute, das muß ich schon sagen“, erwiderte der
Bauer. „Wir haben ja nun den Krieg gewonnen, und das nehmen wir euch
nicht übel. Und der Krieg ist ja jetzt auch vorbei. Warum sollen wir da
noch böse miteinander sein. Dann lassen Sie es sich nur recht gut gehen
in Spanien.“

Gelegentlich will ich doch einen Deutschen fragen, was eigentlich
Königsberger Klops ist. Jeder, den ich gefragt habe, hat mir immer etwas
andres erzählt, aber freilich keiner war ein Deutscher.


                                   14

Die Gegend wurde ziemlich einsam, alles Gebirgsland. Klettern und
Klettern. Die Bauern wurden immer geringer und die Hütten immer
ärmlicher. Wasser reichlich und das Essen knapp und dürftig. Nachts
recht hübsch kalt und selten eine Decke und oft nicht einmal einen Sack.
Der Einmarsch in Sonnenländer ist immer mühselig, das haben nicht nur
einzelne Menschen, sondern ganze Völker erfahren. „Die Grenze ist jetzt
nicht mehr weit“, war mir am Morgen gesagt worden, als ich den Hirten
verließ, in dessen elender Hütte ich geschlafen hatte, und der sein
bißchen Käse, Zwiebeln, Brot und dünnen Wein mit mir geteilt hatte.

Dann war ich auf einer Straße, die an den Bergen hochklomm und wieder
hinunterging in die Täler, nur um abermals hochzuklimmen und wieder
hinunterzuführen.

Und auf dieser Straße kam ich endlich an ein großes hochgewölbtes Tor,
das sehr altertümlich aussah. Zu beiden Seiten des Tores zog sich eine
Mauer hin, die ebenso graugelb und alt aussah wie das Tor. Es schien,
daß diese Mauer ein großes Gut einschlösse. Die Straße führte direkt
unter dem Torbogen her.

Um auf der Straße weiterzukommen, gab es gar keinen andern Weg, als
durch das Tor zu gehen. Ich hoffte, daß die Straße über den Gutshof
führe, an der gegenüberliegenden Seite ein ähnliches Tor sein werde,
durch das man dann wieder auf die Straße komme.

Ich ging drauf los, ging durch das Tor und wanderte geradeaus weiter,
ohne jemand zu sehen.

Plötzlich aber kommen zwei französische Soldaten mit Gewehr und
aufgepflanztem Bajonett aus irgendeinem Winkel hervor, kommen auf mich
zu und fragen mich nach einem Paß. Hier scheinen also sogar die Soldaten
nach der Seemannskarte zu fragen.

Ich erkläre ihnen, daß ich keinen Paß hätte. Dann sagen sie aber, daß
sie nicht meinen Reisepaß sehen wollten, der kümmere sie nicht, sie
möchten lediglich meinen Paß sehen, der vom französischen
Kriegsministerium in Paris ausgefertigt sei und mir das Recht gebe, hier
in den Festungswerken ohne Begleitung herumzulaufen.

„Das habe ich nicht gewußt, daß dies hier Festungswerke sind“, sage ich,
„ich bin immer auf der Straße geblieben und habe geglaubt, das sei der
Weg zur Grenze.“

„Die Straße zur Grenze biegt eine Stunde vorher rechts ab. Da war ein
Schild. Haben Sie das nicht gesehen?“

„Nein. Das Schild habe ich nicht gesehen.“

Ich erinnere mich jetzt, daß ich eine Straße rechts abbiegen sah. Ich
erinnere mich aber auch, daß ich eine ganze Anzahl von Straßen in den
letzten Tagen rechts und links abbiegen sah. Aber ich hielt es für
besser, immer in der geraden Richtung fortzugehen, die nach Süden führt.
Das war für mich die Zielrichtung. Ich habe so viele Schilder gesehen.
Aber was gingen mich denn die Schilder alle an? Wenn sie die Namen eines
Ortes nannten, so wußte ich ja nicht, ob der Ort näher zur Grenze lag
oder weiter. Am Ende wäre ich immer im Kreise herumgelaufen und nie nach
Spanien gekommen, wenn ich allen Schildern nachgelaufen wäre. Eine
Karte, auf der ich die Ortsnamen hätte ablesen können, besaß ich ja
nicht.

„Wir müssen Sie zum wachthabenden Offizier bringen.“ Die beiden Soldaten
nahmen mich in ihre Mitte und führten mich ab.

Der wachthabende Offizier war ein noch junger Mann. Er wurde sehr ernst,
als er hörte, was los sei.

Dann sagte er: „Sie müssen erschossen werden. Innerhalb vierundzwanzig
Stunden. Laut Kriegsgrenzgesetz. Artikel –“, hier nannte er eine Nummer,
die mich nicht interessierte.

Als der junge Offizier das sagte, wurde er ganz bleich und konnte kaum
die Worte hervorbringen. Er mußte sie hervorwürgen.

Ich durfte mich setzen, aber die beiden Soldaten mit aufgepflanztem
Bajonett blieben neben mir stehen. Der junge Offizier nahm einen Bogen
Papier her und versuchte zu schreiben. Aber er war zu aufgeregt und
mußte es sein lassen. Endlich nahm er sich aus seinem silbernen Etui
eine Zigarette. Er wollte sie in den Mund stecken, aber sie fiel ihm
herunter, und ich sah, wie seine Hände zitterten. Um es zu verbergen,
nahm er abermals eine Zigarette heraus und brachte sie nun mit einer
ganz steifen langsamen Armbewegung in den Mund. Das Zündholz ging ihm
dreimal aus. Ehe er das vierte anstrich, fragte er mich: „Rauchen Sie?“
Dann drückte er auf einen Knopf, und es kam eine Ordonnanz, der er den
Befehl gab, zwei Pakete Zigaretten aus der Kantine zu holen, auf seinen
Namen. Ich bekam dann die Zigaretten und durfte rauchen, während die
beiden Soldaten neben mir standen wie Götzenbilder und sich nicht
rührten.

Als sich der Offizier beruhigt hatte, nahm er ein Buch, suchte darin
herum und las einzelne Stellen. Dann nahm er wieder ein andres Buch und
las auch in diesem, verschiedene Stellen aufsuchend und sie mit andern
vergleichend.

Es war merkwürdig. Ich, der ich doch das Opfer war, empfand nicht eine
Spur von Aufregung. Als der Offizier mir sagte, daß ich innerhalb
vierundzwanzig Stunden erschossen werden müsse, machte das auf mich
keinen tieferen Eindruck, als ob er gesagt hätte: „Machen Sie, daß Sie
hier herauskommen, aber schleunigst.“

Es ließ mich kalt wie Pflasterstein.

Im Grunde und ganz ohne Scherz gesprochen, war ich ja schon lange tot.
Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie im Leben
einen Paß bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn
ich war ja niemand, war offiziell überhaupt gar nicht auf der Welt,
konnte infolgedessen auch nicht vermißt werden. Wenn mich jemand
erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte nirgends. Ein
Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht ermordet.

Das freilich sind konstruierte Einbildungen, die gar nicht möglich, ja
sogar ein Zeichen von Wahnsinn wären, wenn es keinen Bureaukratismus,
keine Grenzen, keine Pässe gäbe. Im Zeitalter des Staates sind noch ganz
andre Dinge möglich und können noch ganz andre Dinge aus dem Universum
ausgewischt werden als ein paar Menschen. Die intimsten, die
ursprünglichsten Gesetze der Natur können ausgewischt und abgeleugnet
werden, wenn der Staat seine innere Macht vergrößern und vertiefen will
auf Kosten des einen, des einzelnen, der das Fundament des Universums
ist. Denn das Universum ist aufgebaut aus Individuen, nicht aus Herden.
Es besteht durch das Gegeneinanderwirken von Individuen. Und es bricht
zusammen, wenn die freie Beweglichkeit der einzelnen Individuen
beschränkt wird. Die Individuen sind die Atome des Menschengeschlechts.

Vielleicht auch blieb die angekündigte Erschießung darum ohne jeden
Eindruck auf mich, weil ich das schon einmal durchgekostet hatte und
damals mit allen Grauen, die damit verknüpft sind. Aber Wiederholungen
schwächen ab, selbst wenn es sich um wiederholte Todesurteile handelt.
Einmal davongekommen, kommst du immer davon.

Was auch das Motiv meiner schwachen Empfindung gegenüber der angedrohten
Todesstrafe sein mochte, jedenfalls war es mir ganz ausgelaugter
Kaffeesatz.

„Haben Sie Hunger?“ fragte jetzt der Offizier.

„Aber tüchtig, das können Sie mir glauben“, sagte ich.

Der Offizier wurde über und über rot und fing laut an zu lachen.

„Sie haben Nerven!“ sagte er unter Lachen. „Haben Sie geglaubt, ich
scherze?“

„Womit?“ fragte ich. „Doch nicht etwa mit dem angebotenen Essen? Das
wäre mir gar nicht lieb.“

„Nein,“ antwortete der Leutnant, und er wurde ein wenig ernster, „mit
dem Erschießen.“

„Das habe ich so ernst genommen, wie Sie es meinten. Wortwörtlich. Wenn
das in Ihrem Gesetz steht, dann müssen Sie das auch tun. Aber Sie haben
doch auch gesagt, laut Gesetz innerhalb vierundzwanzig Stunden. Jetzt
ist doch erst eine Viertelstunde um, und Sie denken doch nicht etwa, daß
ich die übrigen dreiundzwanzig und dreiviertel Stunden hungere, nur des
Erschießens wegen. Wenn Sie mich erschießen wollen, können Sie mir auch
etwas Gutes zu essen geben. Das will ich Ihrem Staat denn doch nicht
schenken.“

„Sie sollen was Gutes zu essen haben. Werde ich anordnen. Sonntagsessen
für Offiziere, Doppelportion.“

Da will ich doch sehen, was französische Offiziere Sonntags essen. Mich
zu vernehmen oder mich nach meiner Seemannskarte zu fragen, hielt der
Offizier für nicht nötig. Endlich hatte ich einmal einen Menschen
getroffen, der nichts über meine Privatverhältnisse wissen wollte. Nicht
einmal meine Taschen wurden durchsucht. Aber der Leutnant hatte recht,
wenn das Erschießen feststand, so lohnte es nicht die Mühe, Vernehmungen
zu machen und Taschen durchzuwühlen. Das Resultat war ja immer dasselbe.

Es dauerte eine gute Weile, ehe ich mein Essen bekam. Dann wurde ich in
einen andern Raum geführt, wo ein Tisch stand, der mit einer Tischdecke
bedeckt war, auf der die Gerätschaften in verlockender Weise aufgestellt
waren, die mir das Essen erleichtern und verschönern sollten. Es war nur
für eine Person gedeckt, aber Teller, Gläser, Messer, Gabeln und Löffel
waren in einer solchen Menge vorhanden, daß sie gut für sechs Personen
reichen konnten.

Meine Wachtposten waren inzwischen abgelöst worden; ich hatte zwei neue
bekommen. Einer stand jetzt an der Tür und einer hinter meinem Stuhl.
Beide mit aufgepflanztem Bajonett, Gewehr bei Fuß. Draußen vor den
Fenstern sah ich aber auch noch zwei auf und ab patrouillieren mit
geschultertem Gewehr. Ehrenwachen.

Sie brauchten keine Angst zu haben, sie hätten ruhig Karten spielen
gehen können in die Kantine; denn solange ich nicht das Sonntagsessen
für Offiziere, Doppelportion, innerhalb meines Leders hatte, wäre ich
nicht einen Schritt fortgegangen.

Nach den vielen verschiedenen Messern, Gabeln, Löffelchen, großen
Tellern, kleinen Tellern, Glastellerchen und großen und kleinen Wein-
und Likörgläsern zu urteilen, die vor mir standen, mußte ich ja etwas
erwarten, wovon mich auch eine dreifache Todesstrafe nicht hätte
verscheuchen können. Verglichen mit jenem Napf, in dem ich meine
belgische Henkersmahlzeit vorgesetzt bekommen hatte, stand mir hier kein
Kartoffelsalat mit Leberwurst bevor. Ich hatte nur eine einzige Sorge,
und das war die, ob ich auch alles werde essen können, ob ich nicht etwa
werde irgend etwas liegen lassen müssen, das mir die letzte Stunde
meines Daseins mit den Folterqualen bitterer Reue anfüllen könnte, weil
ich unausgesetzt daran denken müßte, wie es nur möglich war, daß ich
gerade das liegen ließ.

Endlich wurde es ein Uhr und endlich auch einundeinhalb Uhr. Und da tat
sich die Tür auf und das Fest begann.

Zum ersten Male in meinem Leben lernte ich erfahren, was für Barbaren
wir sind, und was für kultivierte Leute die Franzosen sind, und ich
lernte ferner erfahren, daß die Nahrungsmittel des Menschen nicht
gekocht, gebraten, geschmort, geröstet oder gebacken werden dürfen,
sondern daß sie zubereitet werden müssen, und daß dieses Zubereiten eine
Kunst ist, ach nein, keine Kunst, es ist eine Gabe, die einem Begnadeten
und Auserlesenen in die Wiege gelegt wird, wodurch er Genie wird.

Auf der Tuscaloosa war das Essen gut, vorzüglich. Aber nach dem Essen
konnte ich immer sagen, was es gegeben hatte. Das konnte ich hier nicht.
Was es hier gab, und wie es schmeckte, das war wie ein Gedicht, bei dem
man träumt, und bei dem man in Seligkeiten versinkt, und wenn man später
gefragt wird: „Wovon handelte es denn?“ man zu seinem größten Erstaunen
bekennen muß, daß man darauf nicht geachtet habe.

Der Künstler, der dieses Gedicht geschaffen hatte, war fürwahr ein
großer Künstler. Er ließ kein Gefühl der Reue übriggebliebener
Verszeilen wegen in mir zurück. Jedes Gericht war so sorgfältig
abgewogen und abgeschätzt in allen seinen Nähr- und Genußwerten, daß man
kein Gabelspitzchen voll übrigließ, den nächsten Gang mit erhöhtem Genuß
erwartete, und wenn er kam, mit Fanfaren zu begrüßen gedachte. Dieses
Fest dauerte etwa einundeineviertel Stunde oder mehr, es hätte dauern
können vier Stunden lang, und ich hätte nichts übriggelassen. Immer
wieder kam noch ein solcher Bissen, dann noch ein solcher Happen, dann
wieder eine solche kandierte Frucht, dann wieder eine Creme, und nach
jedem Gang wollte man einen weiteren sehen. Als aber dann endlich alles
vorüber war – Schönes geht ja viel schneller zu Ende als Trübes – als
auch alle die Liköre, Weine, Weinchen und Tröpfchen den Weg aller guten
Tropfen gegangen waren, als endlich der Kaffee, süß wie ein Mädel am
ersten Abend, heiß wie sie am siebenten und schwarz wie die Flüche der
Mutter, wenn sie es erfährt, vorüber war, fühlte ich mich aufgefüllt wie
ein Sack, aber ich fühlte mich wohlig und paradiesisch satt mit einer
leisen, zart angedeuteten Sehnsucht auf das Abendessen. Meine Herren!
Das war ein Essen, das nenne ich Kunstwerk. Dafür lasse ich mich jeden
Tag zweimal mit Freuden erschießen.

Ich rauchte eine Importe, aus der ich alle Düfte und Sonnentänze
Westindiens sog. Dann legte ich mich auf das Feldbett, das in dem Raume
stand, und sah den blauen Wolken nach.

Oh, was ist das Leben schön! Wunderschön! So schön, daß man sich mit
einem dankbaren Lächeln auf den Lippen erschießen läßt, ohne durch
Murren oder Wimmern die Harmonie des Lebens zu stören.


                                   15

Einige Stunden waren vergangen, als der Leutnant hereinkam. Ich stand
auf, aber er sagte mir, daß ich nur ruhig liegen bleiben möge, er wolle
mir nur mitteilen, daß der Kommandant nicht erst morgen abend
zurückkommen werde, wie er angesagt hätte, sondern schon morgen früh,
also vor Ablauf meiner vierundzwanzig Stunden. Er habe dadurch die
Möglichkeit, die Angelegenheit dem Kommandeur selbst zu übertragen. –
„Freilich“, fügte er hinzu, „an Ihrem Schicksal ändert das nichts. Das
Kriegsgesetz ist hier sehr eindeutig und läßt keine Lücke offen.“

„Der Krieg ist doch aber vorbei, Mr. Leutnant“, sagte ich.

„Gewiß. Aber wir befinden uns noch im Kriegszustande, und wahrscheinlich
solange, bis alle Verträge endgültig geregelt sind. Unsre Grenzforts
haben ihre Reglements noch nicht um einen Punkt geändert, sie sind zur
Stunde genau noch so, wie sie während der Dauer des Krieges waren. Die
spanische Grenze wird wegen der bedrohlichen Verhältnisse in unsrer
nordafrikanischen Kolonie augenblicklich vom Kriegsministerium als
größere Gefahrzone bezeichnet als unsre östliche Grenze.“

Mich interessierte das sehr wenig, was er mir über Gefahrzonen und
Reglements erzählte. Was kümmerte mich denn die französische Politik.
Mich interessierte nach meinem gesunden Mittagsschlaf ganz etwas andres,
und das wollte ich ihn auch gleich wissen lassen.

Er wollte gehen, sah mich aber noch an und fragte dann lächelnd: „Ich
hoffe, Sie fühlen sich den Umständen angemessen entsprechend wohl. Ist
Ihnen das Essen bekommen?“

„Ja, danke.“

Nein, ich konnte es nicht ungesagt lassen:

„Verzeihen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich auch wieder Abendessen?“

„Natürlich. Glauben Sie denn, wir lassen Sie verhungern. Selbst wenn Sie
auch ein Boche sind, verhungern lassen wir Sie doch nicht. In wenigen
Minuten bekommen Sie Ihren Kaffee.“

Ich druckste ein wenig, man möchte doch gegen seinen Gastgeber nicht
unhöflich sein. Aber schiet, was braucht ein zum Tode Verurteilter noch
länger höflich sein.

„Entschuldigen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich wieder Offiziersessen.
Doppelportion?“

„Selbstverständlich. Was dachten Sie denn? Das ist in der Verordnung. Es
ist Ihr letzter Tag. Wir werden Sie doch nicht mit einem schlechten
Andenken an unser Fort zu – zum – also hinwegschicken.“

„Seien Sie unbesorgt, Herr Leutnant, ich behalte das Fort in gutem
Andenken. Sie können mich ruhig erschießen. Nur nicht gerade in dem
Augenblick, wo das Offiziersessen, Doppelportion, auf dem Tisch steht.
Das wäre eine barbarische Handlung, die ich Ihnen nie vergessen würde,
und die ich oben auch gleich bei meiner Ankunft melden müßte.“

Eine Weile sah mich der Offizier an, als hätte er mich nicht richtig
verstanden. Es war ja auch nicht so leicht, sich aus meinen Brocken
klarzumachen, was ich meinte. Aber plötzlich begriff er und verstand er.
Und da lachte er so, daß er zum Tisch kommen mußte, um sich
festzuhalten. Die beiden Soldaten hatten wohl etwas verstanden, jedoch
den wahren Sinn nicht begriffen. Sie standen ganz starr da wie Puppen.
Aber von dem Lachen ihres Leutnants wurden sie schließlich doch
angesteckt und lachten mit, ohne zu wissen, worum es ging, und wer die
Kosten dieses Lachens trug. –

Der Kommandeur war sehr früh zurückgekommen, und um sieben Uhr morgens
wurde ich ihm vorgeführt.

„Haben Sie denn die Schilder nicht gesehen?“

„Was für Schilder?“

„Nun, jene Schilder, auf denen geschrieben steht, daß dies hier
militärisches Gebiet ist, und daß, wer innerhalb dieses Gebietes
angetroffen wird, nach Kriegsrecht behandelt wird. Das bedeutet, daß Sie
ohne Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt sind und erschossen
werden.“

„Das weißt ich bereits.“

„Also die Schilder haben Sie nicht gesehen?“

„Nein. Und wenn ich sie gesehen habe, so habe ich nicht darauf geachtet.
Ich kann auch gar nicht lesen, was darauf steht. Lesen kann ich es zwar,
aber nicht verstehen.“

„Sie sind Holländer, nicht wahr?“

„Nein, ich bin ein Boche.“

Wenn ich gesagt hätte, ich bin der Teufel und komme soeben auf direktem
Wege aus der Hölle, um den Kommandanten persönlich abzuholen, er hätte
kein erstaunteres Gesicht machen können.

„Ich habe geglaubt, Sie seien Holländer. Sie sind Offizier in der
deutschen Armee oder sind es wenigstens gewesen, nicht wahr?“

„Nein, ich war nie Soldat in der deutschen Armee.“

„Warum nicht?“

„Ich bin ein C. O., ein Mann, der die ganze Zeit, während der Krieg
dauerte, im Gefängnis saß.“

„Wegen Spionage?“

„Nein, weil die Deutschen glaubten, ich würde den Krieg nicht erlauben.
Und da hatten sie solche Angst, daß sie mich und noch ein halbes Dutzend
Leute, die den Krieg auch nicht erlauben wollten, ins Gefängnis
steckten.“

„Da hätten Sie und das halbe Dutzend Ihrer Mitgefangenen den Krieg also
verhindern können?“

„Wenigstens die Boches glaubten das von mir. Vorher hatte ich nicht
gewußt, daß ich ein so starker Mann bin. Aber dann erfuhr ich es, weil
sie mich ja sonst nicht hätten einsperren brauchen.“

„In welchem Festungsgefängnis haben Sie denn da gesessen?“

„In – in – in Südfalen.“

„In welcher Stadt?“

„In Deutschenburg.“

„Den Ort habe ich nie gehört.“

„Ja, da wird nur wenig davon gesprochen. Das ist eine ganz geheime
Festung, die sogar die Boches selber nicht kennen.“

Der Kommandant wandte sich nun an den Leutnant: „Wußten Sie, daß der
Mann ein Deutscher ist?“

„Jawohl, er hat es mir sofort gesagt.“

„Sofort gesagt, ohne erst Ausflüchte zu machen?“

„Jawohl.“

„Hat er einen photographischen Apparat gehabt, Karten, Bilder,
Zeichnungen, Pläne oder etwas derart?“

„Nein, offen nicht. Ich habe ihn nicht durchsuchen lassen, er war immer
unter Aufsicht und konnte nichts verbergen.“

„Das war richtig. Wir werden sehen, was er hat.“

Nun kamen zwei Korporale, und die durchsuchten mich. Aber sie hatten
kein Glück. Alles, was sie fanden, waren ein paar Franken, ein
zerrissenes Taschentuch, ein kleines Kämmchen und ein Stück Seife. Die
Seife trug ich bei mir als Legitimation, daß ich einer zivilisierten
Rasse angehöre, denn an meinem Äußern hätte man das nicht immer erkennen
können. Und eine Legitimation mußte ich ja schließlich doch wohl haben.

„Schneiden Sie die Seife auf,“ wurde dem Korporal angeordnet. Aber auch
inwendig war nichts andres als Seife. Der Kommandant hatte offenbar
geglaubt, daß innen Schokolade wäre.

Dann mußte ich Stiefel und Strümpfe ausziehen, und die Sohlen meiner
Stiefel wurden durchsucht.

Aber wenn schon alle die vielen Polizisten das nicht gefunden hatten,
was die Leute alle gern von mir haben wollten, und die hatten doch auch
gut verstanden, wie durchsucht werden muß, so fanden es die Korporale
noch viel weniger. Wenn die Leute doch nur sagen wollten, was sie immer
suchen, dann würde ich ihnen ja gern sagen, ob ich es habe oder nicht.
Dann könnten sie sich die Mühe sparen. Freilich dann hätten sie wieder
keine Arbeit.

Es muß ein sehr wertvolles Ding sein, was die in allen Ländern in meinen
Taschen suchen. Vielleicht die Pläne einer verschütteten Goldmine oder
eines versandeten Diamantenfeldes. Der Kommandant hätte sich beinahe
verraten, denn er sprach schon von Plänen; aber rasch fiel ihm ein, daß
er das große tiefe Geheimnis, das nur Cops und Soldaten wissen dürfen,
nicht verraten darf.

„Ich verstehe nur eins nicht,“ wandte sich der Kommandant wieder an den
Leutnant, „wie es möglich war, daß er die Posten an den Außenwerken
passieren konnte, ohne gesehen zu werden und ohne aufgehalten zu
werden?“

„Um diese Stunde ist nur wenig Verkehr auf den zuführenden Straßen. Ich
hatte, dem Befehl des Herrn Kommandanten Folge leistend, für die Zeit
Exerzieren in einem gegenüberliegenden Werk angeordnet, und es blieben
hier nur Patrouillen zurück, die an den Straßen die Zugänge zu
beobachten haben. Er ist dann sicher zwischen zwei Patrouillen
durchgeschlüpft. Wenn ich mir erlauben darf, möchte ich aus dieser
Erfahrung heraus dem Herrn Kommandanten den Vorschlag unterbreiten, die
Übungen nur in drittel Formationsstärke abzuhalten, um die Wachen nicht
zu schwächen.“

„Wir hatten geglaubt, es sei keine Annäherung möglich. Ich hatte mich an
die gegebenen Vorschriften zu halten, deren Lücken ich, wie Sie sich
wohl erinnern, rapportiert habe. Ich habe nun eine starke Stellung,
unsern Entwurf durchzudrücken. Das ist etwas wert. Meinen Sie nicht?“

Was mich das eigentlich anging, welchen Entwurf sie für besser hielten.
Warum sie nur das alles in meiner Gegenwart ausmachten? Aber warum
sollten sie auch ein Blatt vor den Mund nehmen, vor einem Toten?

„Wo kommen Sie denn her?“ fragte mich nun der Kommandant.

„Von Limoges.“

„Wo sind Sie denn über die Grenze gegangen?“

„In Straßburg.“

„In Straßburg? Das liegt doch gar nicht an der Grenze.“

„Ich meine da, wo die amerikanischen Truppen liegen.“

„Sie meinen im Moselgebiet? Dann sind Sie also im Saargebiet
herübergekommen?“

„Ja, das wollte ich sagen. Ich habe Straßburg mit Saarsburg
verwechselt.“

„Was haben Sie denn hier die ganze Zeit in Frankreich gemacht?
Herumgebettelt?“

„Nein. Ich habe gearbeitet. Bei Bauern. Und wenn ich wieder ein wenig
Geld hatte, habe ich mir eine Fahrkarte gekauft und bin wieder ein Stück
weitergefahren, bis ich wieder bei einem Bauern gearbeitet habe und
wieder eine Fahrkarte kaufen konnte.“

„Wo wollten Sie denn jetzt hin?“

„Nach Spanien.“

„Was wollen Sie denn in Spanien?“

„Sehen Sie, Herr Kommandeur, nun kommt bald der Winter, und ich habe
kein Feuerungsmaterial angespart. Da habe ich denn gedacht, ich gehe
besser beizeiten nach Spanien, da ist es auch im Winter schön warm, und
da braucht man kein Feuerungsmaterial, da kann man sich ruhig in die
Sonne setzen und den ganzen Tag Apfelsinen und Weintrauben essen. Die
wachsen da ja wild im Chausseegraben, man braucht sie nur abzupflücken,
und die Leute sind froh, wenn man sie abpflückt, weil das für die
Spanier nur Unkraut ist, das sie nicht haben wollen.“

„Also nach Spanien wollen Sie?“

„Wollte ich. Jetzt geht es ja nicht mehr.“

„Warum?“

„Weil ich doch erschossen werde.“

„Wenn ich Sie jetzt nicht erschießen lasse und Ihnen sage, Sie gehen auf
dem schnellsten Wege zurück nach Deutschland, und Sie können frei gehen
unter der Bedingung, daß Sie sofort nach Deutschland zurückkehren,
würden Sie mir das versprechen?“

„Nein.“

„Nein?“ Er sah den Leutnant merkwürdig an.

„Lieber erschießen. Nach Deutschland gehe ich nicht. Ich bezahle keine
Schulden mit. Aber davon abgesehen. Ich habe mir vorgenommen, daß ich
nach Spanien gehen will, und ich gehe nach Spanien und nirgendwo anders
hin. Wenn ich wohin gehen will, gehe ich da hin. Wenn ich erschossen
werde, kann ich nicht hingehen. Spanien oder den Tod. Nun können Sie mit
mir machen, was Sie wollen.“

Nun lachte der Kommandant, und auch der Leutnant lachte. Und der
Kommandant sagte lachend: „Lieber Junge, das hat Sie gerettet. Ich will
Ihnen nicht sagen, warum, damit es nicht mißbraucht wird. Aber Sie haben
mich davon überzeugt, daß ich Sie frei gehen lassen darf, ohne daß ich
meine Pflicht verletze. Was sagen Sie, Leutnant?“

„Ich halte die Auffassung des Herrn Kommandanten für die allein
richtige, und ich finde nichts, was mein Gewissen oder meine Ehre
belasten könnte.“

Der Kommandant sagte nun: „Sie werden jetzt sofort unter Bedeckung zur
Grenze gebracht und der spanischen Grenzwache übergeben. Ich brauche Sie
wohl nicht noch ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn Sie
je wieder hier in der Nähe, auch wenn es nicht auf rein militärischem
Gebiete ist, gesehen werden sollten, daß dann keine Frage mehr besteht,
in welcher Form sich Ihr Schicksal innerhalb der nächsten zwei Stunden
nach dem Ergreifen gestaltet. Haben Sie genau verstanden, was ich damit
meine?“

„Jawohl, Herr Kommandant.“

„Gut, das ist alles. Sie gehen sofort.“

Ich blieb aber stehen und trat von einem Fuß auf den andern.

„Noch was?“ fragte der Kommandant.

„Darf ich eine Frage an den Herrn Leutnant richten?“

Nicht nur der Kommandant schien zu erstarren, sondern erst recht der
Leutnant. Der Kommandant warf einen Blick auf den Leutnant, als ob er
ihn schon vor dem Kriegsgericht sähe. Er vermutete richtig: der Leutnant
war in der Tat im Bunde mit mir.

„Bitte, richten Sie Ihre Frage an den Herrn Leutnant.“

„Verzeihen der Herr Leutnant, ich habe noch nicht gefrühstückt.“

Der Kommandant und der Leutnant platzten in ein schallendes Gelächter
aus, und der Kommandant brüllte rüber zum Leutnant: „Nun ist wohl kein
Zweifel mehr, daß der Mann unverdächtig ist.“

„Der Zweifel war mir gestern schon geschwunden,“ sagte der Leutnant,
„als ich ihn fragte, ob er Hunger habe.“

„Gut, Sie sollen auch ein Frühstück haben“, sagte der Kommandant noch
immer lachend.

Aber ich hatte noch etwas auf dem Herzen.

„Herr Leutnant, da es doch schon mein letztes Essen, mein Abschiedsessen
ist, darf ich um Offiziersfrühstück, Doppelportion, bitten? Ich möchte
doch das Fort so gern in einem recht guten Andenken behalten.“

Der Kommandant und der Leutnant brüllten vor Lachen, daß das ganze Fort
zu erzittern schien.

Und unter seinem bärenhaften Lachen schrie der Kommandant die Worte
hervor, die er nur mühselig in Reihe halten konnte, weil sie immer
wieder von seinem schreienden, brüllenden Lachen abgehackt wurde: „Das
ist der echte verhungerte Boche, wenn er schon am Ersaufen ist, wenn ihm
schon der Strick um den Hals gelegt ist, will er erst noch essen und
essen und nochmal essen. Diese verfressene Teufelsbrut kriegen wir nie
unter.“

Ich hoffe, daß die Boches für diese gute Meinung, die ich zwei
französischen Offizieren über sie eingeflößt habe, mir ein anständiges
Denkmal errichten werden. Nur nicht in der Siegesallee, dann lieber
nicht. Da würde ich den schlechten Geschmack im Munde nie los, und
unzulängliche Revolutionen würden mir als Gespenster erscheinen.


                                   16

Zwei Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr begleiteten mich. So wanderte
ich in das sonnige Spanien ein. Mit allen militärischen Ehren. Die
Soldaten brachten mich zur Grenzwache, und dort wurde ich den spanischen
Grenzbeamten übergeben.

„Papiere hat er keine“, sagte der mich begleitende Korporal. – „Es
aleman?“ fragte der Spanier.

„Si, Senjor,“ sagte ich. „Seien Sie willkommen!“ antwortete darauf der
Spanier, und zu dem Korporal sagte er, es sei gut, er würde mich
hierbehalten. Der Korporal sah nach seiner Uhr und schrieb dann etwas
auf einen Rapportzettel. Dann machten die beiden Soldaten kehrt und
zogen ab. – „Good-bye, France!“

Die Grenze Frankreichs entschwand meinen Blicken.

Der spanische Beamte schleifte mich nun gleich in die Wachtstube, wo ich
von allen Beamten sofort umringt wurde, die mir alle die Hand
schüttelten und mich umarmten. Einer wollte mich sogar auf die Backen
küssen. „Mach Krieg mit dem Amerikaner, und du findest keinen bessern
Freund auf der ganzen Erde als den Spanier!“ Hätten sie gewußt, wer ich
bin, daß ich ihnen Kuba und die Philippinen abgenommen und manches andre
zugefügt habe, würden sie mich zwar nicht erschlagen, und sie würden
mich auch nicht zurückgeschickt haben in jenes Fleckchen, wo ich mich
nie wieder sehen lassen durfte, aber sie wären kühl gewesen wie nasse
Jacken und gleichgültig wie altes Bettstroh.

Erst kriegte ich einmal Wein eingeschenkt, dann gab es Eier und feinen
Käse. Dann gab es zu rauchen und wieder Wein zu trinken und wieder Eier
und feinen Käse, und dann wurde mir gesagt, nun gäbe es bald
Mittagessen. Die Beamten, die draußen im Dienst waren, kamen nach und
nach herein. Und nun ging keiner mehr hinaus. Ganze Schmugglerzüge
hätten jetzt kommen können, das wäre ihnen ganz gleichgültig gewesen.
Hier war ein Deutscher, und dem hatte man zu zeigen, was man von
Deutschland und den Deutschen dachte. Und um das auch ganz genau zu
zeigen, wurde ihm zu Ehren aller Dienst eingestellt.

Äußerlich betrachtet, war ich kein glorreiches Beispiel des so sauberen
und adretten deutschen Landes und seiner so frischgewaschenen und
adretten Bewohner. Seit meine Tuscaloosa abgesegelt war, hatte ich weder
meinen Anzug, noch meine Stiefel, noch meinen Hut gewechselt, und meine
Wäsche sah so aus, wie sie eben aussehen kann, wenn man sie an Bächen
und Flüssen, an denen man vorüberkommt, mit mehr oder weniger Seife mehr
oder weniger sorgfältig wäscht, dann auf einen Strauch hängt, selbst ein
Bad nimmt und endlich so lange wartet, bis die Wäsche wieder trocken
ist, oder bis man sie noch naß anziehen muß, weil es zu regnen anfängt.

Mein Aussehen schien aber der beste Beweis für sie zu sein, daß ich
direkt ohne Aufenthalt von Deutschland kam. So hatten sie sich
vorgestellt, wie ein Deutscher, der den Krieg verloren hat, den die
Amerikaner bis aufs Hemd ausgeplündert und die Engländer ausgehungert
haben, aussehen müsse. Und meine Erscheinung deckte sich mit ihren
Vorstellungen so vollkommen, daß, wenn ich gesagt hätte, ich bin
Amerikaner, sie mich für einen unverschämten Lügner angesehen hätten,
der sie zum Narren halten wolle.

Daß jemand, der direkt ohne Aufenthalt aus Deutschland kommt, einen
entsetzlichen Hunger haben muß, der sich nicht innerhalb fünf Jahre
stillen läßt, war ihnen klar. Beim Mittagessen bekam ich so viel
aufgehäuft, daß ich die fünf Jahre Hungerns ohne Mühe einholen konnte.

Dann brachte einer ein Hemd, einer Stiefel, einer einen Hut, einer ein
halbes Dutzend Strümpfe, einer Taschentücher, einer Kragen, einer
seidene Schlipse, einer eine Hose, einer eine Jacke, und so ging das in
einem fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt
besessen hatte, fortwerfen.

Nachmittags wurden Karten gespielt. Diese Karten kannte ich nicht, aber
sie lehrten es mich, und ich spielte bald so gut, daß ich ihnen ein
hübsches Sümmchen abgewann, was sie sehr erfreute und sie veranlaßte,
immer weiterzuspielen.

Durch diese Station war noch nie ein Deutscher gekommen, und deshalb
wurde ich als der Vertreter, als der erste echte Vertreter jenes hier so
sehr beliebten Volkes entsprechend gefeiert.

O sonniges Spanien! Das erste Land, das ich traf, wo man nicht nach
meiner Seemannskarte fragte, wo man nicht meinen Namen, mein Alter,
meine Körperlänge, meine Fingerabdrücke wissen wollte. Wo man nicht
meine Taschen durchsuchte, wo man mich nicht bei Nacht zu einer Grenze
schleppte und mich hinausjagte wie einen ausgedienten Hund, wo man nicht
wissen wollte, wieviel Geld ich habe, und wovon ich die letzten Monate
gelebt hätte.

Nein, sie steckten mir die Taschen noch voll, damit endlich einmal
jemand in meinen Taschen etwas finden möge. Den ersten Tag war ich in
der Wache, die erste Nacht mußte ich im Hause des einen Beamten
schlafen, den darauffolgenden Tag wurde ich in seinem Hause verpflegt.
Am Abend wurde ich von einem andern abgeholt. Und nie wollte mich einer
herausgeben, bei jedem sollte ich eine Woche bleiben. Das gab aber der,
der jetzt an der Reihe war, nicht zu. Und als die Reihe herum war und
wieder von vorn anfangen sollte, kamen die Bewohner des ganzen
Grenzörtchens der Reihe nach an und erhoben Anspruch auf mich, und ich
hatte jeden Tag bei einem andern Bürger zuzubringen. Die Konkurrenz, daß
ich von jedem fortgehen sollte mit dem Gefühl, er habe mich bei weitem
besser bewirtet als der Nachbar, zwang mich, eines Nachts die Flucht zu
ergreifen. Ich bin fest davon überzeugt, die Leute alle behaupten heute,
eine solche Undankbarkeit hätten sie nicht von mir erwartet. Aber der
Tod durch Erschießen oder Erhängen war ja ein Lustspiel gegenüber dem
qualvollen Tode, der mich hier erwartete, und dem ich durch nichts
andres als durch eine nächtliche Flucht entgehen konnte. Durch solche
Mißverständnisse werden Menschen verdorben. Ich lebe in ihrer Erinnerung
als jemand, der sicher ein entlaufener Zuchthaussträfling gewesen sein
müsse, weil er sich so heimlich zur Nachtzeit aus dem Staube machte. Es
ist durchaus möglich, wenn wieder ein fremder Mann dorthin kommt,
diesmal vielleicht ein echter Deutscher, daß ihm kaum eine warme Suppe
vorgesetzt wird, oder wenn sie ihm gegeben wird, dann mit hochgezogenen
Augenbrauen und mit einer Miene, die deutlich sagt: Verhungern lassen
wir keinen, und wenn es der Satan selber wäre. Aus Liebe kann nicht nur
Haß werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei
werden. Hier war sie Sklaverei mit Totschlag. Nicht einmal auf den Hof
konnte ich gehen, ohne daß mir sofort ein Familienmitglied nachgelaufen
kam mit der besorgten Frage, ob ich auch weiches Papier hätte. Yes, Sir.

Das kann kein Mensch ertragen oder nur ein Paralytiker. Hätte ich eine
Andeutung gemacht, daß ich abreisen wolle, die Leute hätten mich in
Ketten gelegt. Ich denke, daß ein Vernünftiger unter jenen Leuten lebt,
der meine Untat in einem milderen Lichte sehen wird.


                                   17

Sobald es mir in Sevilla zu langweilig wurde, zog ich ab nach Cadiz, und
sobald mir in Cadiz die Luft nicht mehr bekam, wanderte ich wieder nach
Sevilla, und wenn mir in Sevilla die Nächte wieder nicht gefielen,
machte ich mich auf nach Cadiz. Dabei verging der Winter, und meine
Sehnsucht nach New Orleans konnte ich glatt für einen Quarter verkaufen,
ohne daß ich Gewissensbisse empfunden hätte. Warum muß es denn gerade
New Orleans sein?

Ich hatte auch nicht ein winziges Papier mehr in der Tasche als an jenem
weit zurückliegenden Tage, an dem ich in dieses Land eingezogen kam. Und
nie interessierte sich jemals ein Cop um meine Papiere oder um mein
Woher, Wohin oder Wozu. Die hatten andre Sorgen. Paßlose arme Teufel
waren ihre geringste Sorge. Wenn ich kein Schlafgeld für die Herberge
hatte und mich in irgendeine Ecke legte, so lag ich am andern Morgen
genau noch so ruhig und unschuldig da, wie ich mich am Abend hingelegt
hatte. Und hundertmal war der Cop vorbeigewandert, und hundertmal hatte
er gut aufgepaßt, daß mich auch niemand etwa aus Versehen stehlen
möchte. Ich wage gar nicht daran zu denken, was aus andern Ländern wohl
werden würde, wenn ein armer Bursche oder gar eine ganze Familie in
einem Torweg schliefe oder auf einer Bank die Nacht verbrächte, ohne
verhaftet zu werden und wegen Herumtreibens und Obdachlosigkeit im
Gefängnis oder im Arbeitshaus zu verschwinden. Deutschland würde sicher
sofort von einem Erdbeben und England von einer Sintflut vernichtet
werden, wenn der Mann, der es wagt, obdachlos zu sein, nicht verhaftet
und ordentlich verknackst wird. Denn es gibt eine ganze Anzahl von
Ländern, wo obdachlos und mittellos zu sein ein Verbrechen ist; und es
sind zufällig dieselben Länder, wo ein tüchtiger Raubzug, bei dem man
nicht erwischt wird, kein Verbrechen ist, sondern die erste Stufe, um
ein geachteter Bürger zu werden.

Es kam vor, daß ich auf einer Bank lag und ein Cop mich aufweckte, um
mir zu sagen, daß es gleich regnen würde, und daß ich besser täte, unter
jenen Torweg da drüben zu gehen oder in den Schuppen am andern Ende der
Straße, wo Stroh sei, wo ich besser schlafen könnte, und wo es nicht
hineinregne.

Wenn ich hungrig war, ging ich in einen Bäckerladen und sagte dem Manne
oder der Frau, daß ich kein Geld hätte, dafür aber um so mehr Hunger,
und ich bekam Brot. Niemand verekelte mir das Dasein mit der
langweiligen Frage: „Warum arbeiten Sie nicht, Sie sind doch ein starker
gesunder Bursche!“

Das hätten sie als grobe Unhöflichkeit angesehen. Denn wenn ich nicht
arbeitete, so mußte ich wohl meine guten Gründe dafür haben; und diese
Gründe aus mir herauszuforschen, hielten sie für unanständig.

Was gingen da für Schiffe raus! Manchen Tag gleich ein halbes Dutzend.
Sicher war da Arbeit auf dem einen oder dem andern. Aber ich sorgte mich
nicht darum. Ich lief der Arbeit nicht nach. Warum auch? Der spanische
Frühling war da.

Um Arbeit sollte ich mich sorgen? Ich war auf der Welt, ich lebte, ich
war lebendig, ich atmete die Luft. Das Leben war so wundervoll schön,
die Sonne war so golden und so warm, das Land so märchenhaft lieblich,
alle Menschen so freundlich, auch wenn sie in Lumpen gingen, alle Leute
so höflich, und über alles das war so viel echte Freiheit. Kein Wunder,
das Land hatte ja an dem Kriege für die Freiheit und die Demokratie der
Welt nicht teilgenommen. Deshalb hatte der Krieg hier die Freiheit nicht
gewonnen und die Menschen hatten sie nicht verloren.

Es ist so unerhört lächerlich, daß alle die Länder, die von sich
behaupten, sie seien die freisten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern
die geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter
Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo so viel von Freiheit
geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden sei. Und
wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes eine
Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, was
hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind ein
Volk von freien Menschen! da will man nur die Tatsache verdecken, daß
die Freiheit vor die Hunde gegangen ist, oder daß sie von
Hunderttausenden von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen,
Reglungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch das
Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen
übriggeblieben sind. In Spanien spricht kein Mensch von Freiheit, und in
einem andern Lande, wo man auch nicht von Freiheit spricht, habe ich
einmal das Wort Unfreiheit erwähnen hören. Dieses Wort fiel bei einer
Riesendemonstration. Die Demonstration, an der die ganze Bevölkerung
teilnahm, wo ehrsame Bürger sich nicht fürchteten, hinter den Flaggen
der Kommunisten und Anarchisten zu gehen, und die Kommunisten sich nicht
für zu vornehm hielten, hinter den Flaggen des Heimatlandes zu
marschieren, war ein Protest gegen die Polizei, die versuchte, nach
preußischem Muster eine Art Meldepflicht der Bewohner einzuführen. Das
heißt, sie hatte nur vorgeschlagen, daß jeder Bürger einmal im Jahre
seine Adresse auf der Polizei angeben sollte, seinen Namen, sein Alter
und seinen Beruf. Aber die Bevölkerung witterte sofort den Pferdefuß und
wußte beim ersten Wort, daß dies nur der Anfang der Meldepflicht sei.

Es gibt heute keinen Menschen auf der Erde, der nicht wüßte, was
Deutschland bedeutet. Der Krieg mit England und Amerika war die beste
Reklame für Deutschland und für deutsche Arbeit. Daß Preußen ein Land
ist, wissen nur wenige Menschen auf Erden. Wenn man in Amerika und in
vielen andern Ländern das Wort „Preußen“ hört, ist es nie mit dem Lande
Preußen oder mit seinen Bewohnern verknüpft, sondern es ist ein Synonym
für eine Abwürgung der Freiheit und für polizeiliche Bevormundung.

Als ich in Barcelona war, kam ich eines Tages an einem großen Gebäude
vorbei, und ich hörte Schreien, Heulen und Wimmern von Menschen aus
jenem Gebäude dringen.

„Was ist denn da los?“ fragte ich einen Mann, der gerade vorüberging.

„Das ist das Militärgefängnis“, sagte er mir.

„Aber warum schreien denn die Leute da so herzzerreißend?“

„Die Leute? Aber das sind doch die Kommunisten.“

„Die brauchen doch nicht zu schreien, wenn sie Kommunisten sind.“

„Ja, verstehen Sie denn nicht? Die werden jetzt geprügelt und
gefoltert.“

„Warum denn aber?“

„Das sind doch Kommunisten.“

„Das haben Sie mir nun schon dreimal erzählt.“

„Darum werden sie doch totgeschlagen. Abends werden sie dann
rausgeschafft und vergraben.“

„Sind denn das Verbrecher?“

„Nein, aber Kommunisten.“

„Darum werden sie gefoltert und totgeschlagen?“

„Ja, die wollen alles anders machen. Denen ist das alles nicht gut
genug. Die wollen uns zu Sklaven machen, daß wir nicht mehr tun dürfen,
was wir wollen. Der Staat soll alles allein machen, und wir sollen nur
noch alle Arbeiter des Staates sein. Das wollen wir aber nicht. Wir
wollen arbeiten, wann wir wollen, wie wir wollen, wo wir wollen, und was
wir wollen. Und wenn wir nicht arbeiten, sondern verhungern wollen, so
wollen wir auch nicht, daß sich da jemand hereinmischt. Aber die
Kommunisten wollen sich in unser ganzes Leben hineinmischen, und der
Staat soll alles kommandieren. Ganz recht, daß man sie totschlägt.“

Soll ich darum Spanien verdammen? Ich denke nicht daran. Jedes Zeitalter
und jedes Land, mag es noch so zivilisiert sein, hat seine
Christenverfolgungen, seine Ketzerverbrennungen und Hexenfolterungen. In
Amerika werden die Ketzer nicht besser behandelt als in Spanien. Das
Traurige, das Beklagenswerte, aber echt Menschliche ist, daß diejenigen,
die gestern noch selber die Verfolgten waren, heute die bestialischsten
Verfolger sind. Und unter den bestialischen Verfolgern sind heute auch
schon die Kommunisten. Die Nachdränger, die Weiterdränger werden immer
verfolgt. Der Mann, der vor fünf Jahren in Amerika eingewandert ist und
gestern sein zweites Bürgerpapier erhalten hat, ist heute der Mann, der
am wildesten schreit: „Macht die Grenzen fest zu, laßt niemand mehr
herein.“ Und doch sind sie alle nur Einwanderer und Söhne von
Einwanderern, der Präsident nicht ausgeschlossen ...

Warum soll ich der Arbeit nachlaufen? Da steht man vor dem, der die
Arbeit zu vergeben hat, und wird behandelt wie ein zudringlicher
Bettler. „Ich habe jetzt keine Zeit, kommen Sie später wieder.“ Wenn der
Arbeiter aber einmal sagt: „Ich habe jetzt keine Zeit oder keine Lust,
für Sie zu arbeiten“, dann ist es Revolution, Streik, Rüttelung an den
Fundamenten des Gemeinwohls, und die Polizei kommt und ganze Regimenter
von Miliz rücken an und stellen die Maschinengewehre auf. Fürwahr, es
ist manchmal weniger beschämend, um Brot zu betteln als um Arbeit zu
fragen. Aber kann der Skipper seinen Eimer allein fahren, ohne den
Arbeiter? Kann der Ingenieur seine Lokomotiven allein bauen, ohne den
Arbeiter? Aber der Arbeiter hat mit dem Hute in der Hand um Arbeit zu
betteln, muß dastehen wie ein Hund, der geprügelt werden soll, muß auf
den blöden Witz, den der Arbeitvergebende macht, lachen, obgleich ihm
gar nicht zum Lachen zumute ist, nur um den Skipper oder den Ingenieur,
oder den Meister, oder den Vorarbeiter oder wer immer das Machtwort „Sie
werden eingestellt!“ zu sagen die Befugnis hat, bei guter Laune zu
halten.

Wenn ich so untertänig um Arbeit betteln muß, um sie zu erhalten, kann
ich auch um übriggebliebenes Mittagessen in einem Gasthof betteln. Der
Hotelkoch behandelt mich nicht so wegwerfend, wie mich schon Leute
behandelt haben, bei denen ich um Arbeit nachfragte.

Also wozu der Arbeit nachrennen, wenn die Sonne so golden scheint,
überall ein Platz zum Schlafen ist und alle Menschen freundlich und
höflich sind, kein Polizist etwas von mir erfahren will, und kein Cop
meine Taschen durchsucht nach dem verlorengegangenen Rezept, wie man
biegsames Glas machen könne.

Ich bekam Appetit auf Fisch, und ich dachte, die einfachste Art, Fisch
zu essen, ist, ihn zu haben; und um ihn zu haben, mußte ich ihn fangen.
Brot, Suppe und ein Hemd konnte man sich schon leicht verschaffen; aber
um Angelgerätschaften betteln zu gehen, das schien mir doch zu modern zu
sein. Ich paßte deshalb auf, als ein Passagierschiff ankam und die
Reisenden das Zollhaus verließen. Da bekam ich einen Koffer in die Hand
gedrückt, und als ich diesen Koffer seinem Besitzer im Hotel wieder
ablieferte, bekam ich drei Peseta in die Hand ausbezahlt.

Mit diesem Geld ging ich in einen Laden und kaufte eine Angelschnur und
Haken. Das machte so ziemlich einen Peseta aus. So nebenbei erzählte ich
dem Verkäufer, daß ich ein Seemann sei, der sein Schiff verloren habe.
Da lachte der Verkäufer, wickelte meine Sachen recht sorgfältig in
Papier und überreichte sie mir mit einem „Favor!“ Ich wollte nach meinem
Zahlzettel greifen, aber der Verkäufer lächelte, zerriß mit einer
eleganten Geste den Zettel, warf ihn mit einer andern eleganten Geste
über seine Schulter hinweg, verbeugte sich höflich und sagte: „Ist
bezahlt, danke sehr! Viel Vergnügen beim Fischen, mein Herr.“

Und in diesem Lande sollte ich hinter der Arbeit herlaufen? Dieses Land
sollte ich verlassen? Ich wäre ja nicht wert, daß mich die spanische
Sonne bescheint.


                                   18

Ich saß auf der Kaimauer und hielt meine Schnur ins Wasser. Kein Fisch
biß an, obgleich ich sie so gut mit Blutwurst fütterte, die ich von
einem holländischen Schiff mitgebracht hatte, wo ich zum Abkochen, zum
Essen mit der Mannschaft, gewesen war. Dieses „Abkochen gehen“ auf die
Schiffe, das Mitessen mit der Mannschaft eines Schiffes, das im Hafen
liegt, ist auch nicht immer eine sehr würdige Sache. Der Arbeiter, der
gute Arbeit hat oder wenigstens glaubt, in guter Stellung zu sein, fühlt
sich gegenüber dem Arbeiter, der keine Arbeit hat, zuweilen sehr
überlegen. Und diese Überlegenheit läßt er den Arbeitslosen auch fühlen.
Der Arbeiter ist des Arbeiters größter Teufel.

„Na, ihr Beachcombers, ihr Herumtreiber, habt ihr wieder nischt zu
fressen? Da wollt ihr wohl wieder hier raufkommen auf unsern Kasten, und
da sollen wir euch wohl wieder was zu fressen geben, hä? Aber bloß zwei
dürfen rauf. Ihr macht uns zu viel Schweinerei.“

Da durften wir dann nicht in das Quartier kommen, oft genug. Nein, wir
mußten vor der Tür stehenbleiben. Dann schütteten die Mitproletarier
alles, was sie auf den Tellern übrighatten, und was sie manchmal schon
im Munde gehabt hatten, in die große Blechschüssel, in der die Suppe
geholt worden war, dann schoben sie uns die Schüssel raus, und wir
mußten auf dem Verdeck essen, wo wir auf dem Boden zu hocken hatten.
Wenn wir dann um einen Löffel bitten mußten – ich hatte, durch lange
Erfahrung gewitzigt, immer meinen eignen in der Tasche –, dann sagten
sie, Löffel bekämen wir nicht. Wir fischten dann mit den Fingern in dem
Brei herum. Oder aber sie warfen uns ein paar Löffel zu und warfen sie
so geschickt, daß sie in den Brei fielen, so daß wir sie mit unsern
dreckigen Fingern herausfischen mußten, was den Leuten ein höllisches
Vergnügen zu bereiten schien.

Und diese Mannschaften waren noch nicht die schlimmsten. Da waren
welche, die uns hinunterjagten vom Schiff, weil wir Spitzbubengesindel
seien. Oder andre, die vor unsern Augen die schönsten Schüsseln voll
Fleisch, Gemüse und Kartoffeln ins Meer schütteten und ganze Brote
hinterher warfen, nur um uns zu ärgern. Es war dann zuweilen ganz
lieblich zu erleben, wenn einer oder der andre durch irgendeinen Umstand
entweder entlassen wurde oder achtern abgekantet war, dann mit uns an
der Beach, am Ufer lag, mit uns dann zum Abkochen gehen mußte und dabei
lernte, wie gut es tut, in der Weise von seinen eignen Klassengenossen
behandelt zu werden.

Nicht alle waren so. Ich habe manchen Peseta freiwillig von
Schiffsproleten bekommen, habe ganze Büchsen voll Corned Beef oder
Leberwurst oder Blutwurst bekommen, Büchsen voll Gemüse, ganze Kilo
Kaffee von den Köchen, ganze Brote, Kuchen und Puddings. Einmal zwölf,
sage und wiederhole zwölf gebratene Hühnchen, von denen ich zehn selber
wegwerfen mußte, weil ich sie nicht essen und nicht verwahren konnte,
denn ich hatte ja keinen Eisschrank in meiner Hosentasche. Alles, was
man besitzt auf der Welt, hat man bei sich und hat man an sich.

Wenn man in spanischen, afrikanischen, ägyptischen, indischen,
chinesischen, australischen und südamerikanischen Häfen an der Beach
liegt, lernt man allerlei Menschen kennen und allerlei Methoden, mit
deren Hilfe man sich am Leben erhält. Aber niemand läßt einen mit
solcher Kaltblütigkeit verhungern wie in vielen Fällen der Arbeiter. Und
der Arbeiter der eignen Nationalität ist der schlimmste aller Teufel.
Während ich als Amerikaner von den amerikanischen Schiffen
heruntergejagt wurde von der Mannschaft, habe ich als Deutscher auf
französischen Schiffen wie ein Fürst gelebt. Die Mannschaft lud mich
ausdrücklich ein, zu jedem Frühstück, zu jedem Mittagessen und zu jedem
Abendessen auf dem Schiff zu erscheinen, solange es im Hafen, es war in
Barcelona, läge. Und ich bekam das Beste, was nur ins Quartier kam,
während mir auf deutschen Schiffen Mannschaften gleich auf der
Falltreppe mit einem großen Schild entgegensprangen „Zutritt verboten!“
Die deutschen Schiffe sind die einzigen Schiffe, die ich kenne, die
zuweilen ein großes Schild im Hafen aushängen mit der Inschrift „Zutritt
verboten!“ in deutscher Sprache und in der Sprache des Landes, in dessen
Hafen sie liegen. Yes, Sir.

Als ich in Barcelona lag, wurde mir erzählt, in Marseille lägen viele
amerikanische Schiffe, die keine Mannschaft bekommen könnten, weil zu
viele ausgerückt seien. Die Mannschaft eines Kohlendampfers nahm mich
mit nach Marseille. Aber es war falscher Alarm. Es lag auch nicht ein
einziges amerikanisches Schiff im Hafen, und auf den paar andern, die
dort lagen, war auch nichts zu machen.

Ganz verzweifelt schlich ich durch die Gassen im Hafenviertel. Ich ging
in eine Hafenkneipe, wo viele Seeleute verkehren, um zu sehen, ob ich
nicht vielleicht einen Bekannten treffen möchte, der mir aushelfen
könnte; denn ich hatte keinen Copper in meiner Tasche.

Als ich hineinkam und mich umsah nach einem Stuhl, näherte sich mir die
Kellnerin, ein nettes junges Mädchen, und fragte, was ich trinken wolle.
Ich sagte ihr, ich hätte kein Geld und wolle nur sehen, ob nicht ein
Bekannter drin sei, von dem ich vielleicht etwas bekommen könne. Sie
fragte mich, was ich sei. Ich sagte: „Deutscher Seemann.“

Da sagte sie: „Setzen Sie sich, ich bringe Ihnen zu essen!“

Ich erwiderte: „Ich habe aber doch kein Geld.“

„Das macht nichts“, sagte sie. „Sie werden gleich genug Geld haben.“

Ich verstand das nicht und wollte mich aus dem Staube machen, weil ich
glaubte, es sei irgendeine Falle.

Nachdem ich gegessen und eine Flasche Wein vor mir stehen hatte, rief
das Mädchen plötzlich ganz laut durch die Schenke: „Meine Herren, hier
ist ein armer deutscher Seemann, der kein Schiff hat. Möchten Sie ihm
denn nicht etwas geben?“

Ich fühlte, daß ich totenbleich wurde, denn ich dachte jetzt, das sei
die Falle, und man wolle einen Spaß haben dadurch, daß man mir hier eine
Abreibung geben würde, die nicht von schlechten Eltern sei. Aber nichts
dieser Art geschah. Die Leute hörten nur alle auf zu reden und drehten
sich nach mir um. Einer stand auf, kam mit seinem Glas und stieß mit mir
an: „Auf Ihr Wohl, Deutscher!“ Er sagte nicht einmal „Boche“ dabei. Dann
nahm das Mädchen einen Teller und ging rund, und als sie den Teller dann
vor mir ausschüttete, zählte ich siebzehn Franken und einige sechzig
Centimes. Nun konnte ich mein Essen und meinen Wein gut bezahlen, und
als ich mit dem Kohler zwei Tage später wieder nach Barcelona fuhr,
hatte ich sogar noch etwas übrig von den Franken.

Ich glaube nicht daran, daß es irgendeine Feindschaft zwischen Völkern
gäbe, wenn sie nicht künstlich erzeugt und dann tüchtig geschürt würde.
Man sollte eigentlich meinen, daß Menschen vernünftiger seien als Hunde.
Hunde lassen sich manchmal gegen ihresgleichen hetzen, manchmal aber
auch nicht. Menschen dagegen lassen sich immer aufeinander hetzen und
das „Ksch-ksch“ braucht gar nicht einmal geschickt gemacht zu werden. Es
braucht nur überhaupt gemacht zu werden, da gehen sie auch schon
aufeinander los wie blödsinnig geworden ...

Verflucht nochmal, es beißt auch nicht ein einziges Luder an und die
Büchse Blutwurst ist gleich alle. Das kommt davon, wenn man döst und
seine Gedanken woanders hat, statt auf das Geschäft zu achten. Sobald
ich eine Portion beieinander habe, gehe ich raus, mache mir ein Feuer an
und brate die Fische an einem Stock. Es ist einmal etwas andres als die
immer in Öl gebackenen Fische.

Wieder nichts dran und die Wurst abgebissen. Wie lange sitze ich hier?
Sicher schon drei Stunden. Aber Fischen beruhigt die Nerven. Man hat
nicht das Gefühl, daß man seine Zeit verplempert. Es ist nützliche
Arbeit, die man verrichtet: man trägt seinen Teil zur Volksernährung
bei, denn wenn ich die Fische esse, die ich hier jetzt fange, brauche
ich nicht woanders die Nudelsuppe aufessen. Die kann dann gespart
werden, und am Ende des Jahres findet man die gesparte Nudelsuppe in
irgendeiner Statistik wieder, wo die Zeile, in der die gesparte
Nudelsuppe erwähnt ist, mehr kostet als alle weggeschütteten Suppen des
ganzen Landes zusammengenommen.

Ich könnte die Fische aber auch verkaufen gehen. Vielleicht kriege ich
soviel zusammen, daß ich zwei Peseta machen kann. Dann könnte ich wieder
einmal zwei Nächte in einem Bett schlafen.

Siehst du, mein Freundchen, da habe ich dich doch endlich erwischt. Du
bist es, der mir die ganze Blutwurst abgefressen hat. Schwer ist er ja
nicht. Ein halbes Kilo. Ich glaube, nicht ganz. Dreihundertfünfzig
Gramm. Da zappelst du aber schön. Ich kann das nachfühlen. Ich habe auch
schon verschiedene Male so gezappelt, wenn mich ein Cop am Kragen hatte.
Aber es hilft nichts, ich habe Appetit auf Fische.

Ja, das Wasser ist so schön kühl und die Sonne so schön warm. Hier hat
mich auch noch kein Cop am Kragen gehabt. Und ich weiß, wie es tut. Die
dreihundertfünfzig Gramm tun es auch nicht. Wenn du wenigstens ein Kilo
hättest. Und weil du doch angebissen hast und mir die Freude machtest,
mich hier nicht so vergeblich sitzen zu lassen, und weil ich liebe, frei
zu sein, viel mehr liebe, als satt zu essen zu haben, und weil die Sonne
lacht und das Wasser blaut, und weil du ein spanisches Fischlein bist:
Hoppla, wirst nicht erschossen, schwimm wieder lustig los und freue dich
deines munteren Lebens. Lauf nicht gleich einem andern ins Netz. Zieh ab
und grüß dein Mädel.

Da plätschert er und schwimmt er und lacht, daß ich es bis auf die Mauer
höre. Grüß’ dein Mädel! ... Ach schiet ...

„Sie sind mir aber auch ein Fischersmann“, sagt da jemand hinter mir.
Ich drehe mich um und sehe einen Zollbeamten stehen, der mir die ganze
Zeit zugesehen hat und jetzt laut lacht.

„Aber da sind doch mehr Fische drin, das Wasser ist ja nicht so klein“,
sage ich, während ich wieder Blutwurst an den Haken spieße.

„Sicher sind da mehr drin. Das war doch aber ein ganz guter dicker
Fisch.“

„Sicher war er das, er hatte ja meine ganze Büchse Blutwurst im Magen,
da soll er nicht dick sein.“

„Warum fischen Sie denn da überhaupt, wenn Sie so gute Fische wieder
hineinwerfen?“

„Damit, wenn mich heute abend jemand fragen sollte, was ich den ganzen
Tag getan habe, ich sagen kann, ich hätte gefischt.“

„Dann fischen Sie nur weiter“, sagt der Zollbeamte und geht.

Daß Fischen betätigte Philosophie ist, verstehen die wenigsten Menschen.
Es ist doch nicht des Habens wegen, daß man lebt, sondern des Wünschens,
des Wagens, des Spielens wegen, daß man lebt.

Da schon wieder einer. Hätte ich nur den vorigen nicht gehen lassen,
dann wäre nun schon bald eine Portion zusammen. Aber ich werde doch
keine Klassenunterschiede einführen. Den andern habe ich frei gelassen,
nun kann ich doch diesen nicht seiner Dummheit wegen zum Tode
verurteilen. Das heißt, Dummheit verdient eigentlich immer und überall
die Todesstrafe, vorläufig wird sie nur mit Sklaverei bestraft. Wenn ich
wüßte, ich bekäme noch drei solche wie du einer bist, dann müßtest du
hier dran glauben. Ich habe Appetit auf Fische. Aber du bist ein
köstliches kleines lebendiges Wunder, na, gehe schon wieder rein in das
weite Meer. Hoppla, Freiheit ist doch das Größte und Beste am Leben. Ja,
Teufel nochmal, soll ich euch denn allen hier die Hand geben? Schon habe
ich abermals einen in der Hand. Ich weiß genau, wenn ich dich jetzt hier
behalte, beißt kein einziger mehr an, weil sie dann alle wissen, sie
können sich auf mich nicht verlassen. Und mit dir allein kann ich nichts
anfangen. Es würde sich gar nicht lohnen, rauszugehen und ein Feuer
deinetwegen anzuzünden. Wie lange hat das liebe Leben an dir gebaut, um
dich zu dieser unwichtigen Größe zu bringen? Sechs Jahre, vielleicht
sieben. Nun soll ich dich in einer Sekunde mit einem Hieb töten und dein
Leben beenden? Zieh ab, freue dich des blauen Meeres und deiner
Gefährten. Da schwänzelt er lustig vondannen. Gelt, Bürschchen, du
weißt, was Freiheit wert ist, freue dich ihrer, schätze sie und sei
glücklich.

Das ist aber ein recht merkwürdiger Eimer, der da angeschwommen kommt
... Sie macht gerade los und kommt nicht gut ab. Sie schleppt und
schlittert und kratzt am Kai entlang. Offenbar will sie nicht raus, sie
ist wasserscheu. Aber ganz gewiß, man kann sich drauf verlassen, es gibt
auch wasserscheue Schiffe, yes, Sir. Das ist überhaupt der Fehler, der
so oft gemacht wird, daß man den Schiffen die Persönlichkeit abstreitet.
Die haben ihre Persönlichkeit, ihre Launen genau so gut wie ein Mensch.
Diese alte Tante hier hatte eine Persönlichkeit. Das sah ich auf den
ersten Hieb. Mit der war nicht gut Salz lecken.


                                   19

Manches Schiff habe ich gefahren, das wissen die Götter. Und tausend
Schiffe habe ich gesehen, das glaubt mir Thomas. Aber nie vorher habe
ich ein Schiff gesehen, das diesem gleich gewesen wäre. Der ganze
Rahmen, um damit gleich zu beginnen, war nicht nur ein guter Spaß, nein,
der war eine Unmöglichkeit. Wenn man diesen Eimer ansah, zweifelte man,
daß sie je auf dem Wasser schwimmen könnte. Viel eher schon glaubte man,
daß sie ein gutes Transportmittel durch die Wüste Sahara sein müsse und
mit Leichtigkeit die besten Kamele schlagen könnte. Ihre Form war weder
modern noch mittelalterlich. Es wäre ein ganz vergebliches Bemühen
gewesen, sie in irgendeine Periode der Schiffsbaukunst einzureihen. Am
Bug trug sie den Namen „Yorikke“. Aber der Name war so dünn und so
verwaschen, als ob sie sich schämte, so zu heißen. Achtern sollte der
Seevorschrift gemäß ihr Heimatsort zu lesen sein. Aber wo sie her war,
das wollte sie niemand verraten, wahrscheinlich schämte sie sich auch
ihres Wohnortes. Auch ihre Nationalität hielt sie streng geheim,
offenbar war ihr Paß nicht ganz in Ordnung. Jedenfalls war die
Nationalitätsflagge, die auf dem Flaggenstock am Stern auswehte, so
bleich, daß sie für jede Farbe aufnahmefähig war. Außerdem war die
Flagge ganz ausgefranst, als ob sie in allen Seeschlachten der letzten
viertausend Jahre den kämpfenden Flotten vorangeweht hätte.

Welche Farbe ihr Kleid hatte, konnte ich nicht ergründen, obgleich das
ja in mein Spezialfach schlug. Allem Anschein nach zu urteilen, war das
Röckchen einmal, in einer fern zurückliegenden Zeit, schneeweiß gewesen,
weiß wie die Unschuld eines neugeborenen Kindleins. Aber das muß sehr
lange her sein, das muß gewesen sein in dem Jahr, als sich Abraham mit
der Sarah verlobte in Ur in Chaldäa. Die Kanten der Reeling waren einmal
grün gewesen. Auch das war lange, lange her. Seit jenen fernen Tagen
hatte die Yorikke einige hundert neue Anstriche erlebt, wie es ja dem
Laufe der Zeiten entsprach. Aber die Deckarbeiter hatten sich nie die
Mühe gemacht, die alte Farbe abzuklopfen. Wahrscheinlich war ihnen das
untersagt worden. Jedenfalls war der neue Anstrich immer wieder auf den
alten gekommen, dadurch hatte die Yorikke nun einen Umfang erhalten, der
sie doppelt so groß erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Hätte
man sich die Arbeit gemacht, die einzelnen Anstriche sorgfältig
abzupellen, dann hätte man genau feststellen können, welche Art von
Farbe jedes einzelne Jahrhundert verwandte.

Selbstverständlich, um nicht der Übertreibung angeschuldigt zu werden,
hätte man die Farbe nicht nur an dem Außenkleid abpellen dürfen, wo die
Yorikke verhältnismäßig noch am jüngsten war, weil man sie ab und zu in
ein Verschönerungsinstitut geschickt hatte. Nein, man hätte die Farbe an
allen Teilen des Schiffes, insbesondere also an den Inneneinrichtungen
abziehen müssen, um zu erfahren, in welchen Farben die große Festhalle
Nebukadnezars gehalten war, worüber wir ja heute noch im unklaren sind,
was uns sehr viele Sorgen bereitet.

Das Kleid sah zum Höllenerbarmen niederträchtig aus. Da waren große
Flächen, wo die Deckarbeiter es mit einem schönen saftigen
Bolschewistenrot versucht hatten. Dann aber schien der Eigentümer oder
der Kapitän diese Farbe nicht zu lieben, und man malte weiter mit
Adelsblau. Das Rot hatte Geld gekostet, und man ließ es ruhig stehen,
Anstrich war Anstrich, und dem fressenden Salzwasser ist es
gleichgültig, ob es Bolschewistenrot oder Freiheitsgrün zu fressen hat,
die Hauptsache ist, daß Wind und Wogen etwas zu fressen kriegen, sonst
fressen sie das Schiff. Der nächste Besitzer wieder dachte, daß ein
schwarzes Schiff schöner sei und ein fettes Schwarz die mißtrauischen
Augen der Versicherungsgesellschaften besser verkleistern möchte als
irgendeine andre Farbe. Aber nie wagte jemand sich so hoch in die Kosten
zu versteigen, daß er das, was einmal gestrichen war, mit der neuen
Farbe überstrichen hätte, um dem ganzen Kleid eine einheitliche Nuance
zu geben. Nur keine überflüssigen Ausgaben, es war ja ein – halt, das
will ich noch nicht sagen, denn ich weiß es noch nicht. Aber ein alter
Salzwasserfisch riecht frühzeitig, und ich bin ein alter
Salzwasserfisch, wenn es aufs Riechen ankommt.

Wenn nun Yorikke auf Fahrt war oder in einem Hafen lag, reichte die
Farbe nicht mehr, und es wurde mit den Farben weitergemalt, die gerade
noch da waren. Der Skipper schrieb nur immer an: „Farbe gekauft. Farbe
gekauft. Farbe gekauft.“ Niemand kann von seinem Lohn allein leben. Aber
die Farbe wurde nicht gekauft, sondern alles, was da war, wurde
aufgebraucht, ob es braun, grün, violett, zinnober, gelb oder orange
war.

Also so sah die Yorikke von draußen aus. Mir wäre vor Schreck bald die
Angelschnur aus der Hand geflitscht, als ich dieses Meerungeheuer zum
ersten Male sah.

Das kommt aber davon, wenn man den Deckarbeitern im Hafen keinen
Tagesurlaub gibt, aus lauter Geiz. Der Erste Offizier weiß nicht, was er
mit ihnen machen soll, und dann müssen sie anstreichen von morgens um
sieben bis nachmittags um fünf, streichen, streichen, streichen, solange
noch ein Pinselstiel auf der Welt ist und noch eine alte Blechbüchse an
den Rändern eine Schicht verdickter und verkrusteter Farbe hat.

Nun müssen die Deckarbeiter beim Streichen draußen an der Bordwand
hängen an Tauen, oder sie sitzen auf schmalen Brettern, die an Tauen
heruntergelassen werden. Kommt es nun vor, daß der ganze Kasten
plötzlich einen gehörigen Schubs kriegt, sei es durch eine unerwartete
große Welle oder durch das Aufrühren eines großen vorbeifahrenden
Rieseneimers, oder weil beim Gezeitwechsel den Fangtauen nicht richtig
nachgegeben wurde, dann fliegt der Anstreicher mit seiner Todesschaukel
los von der Bordwand. Weil er nun lieber sein Leben retten will als den
Farbeimer, so geht natürlich der Farbeimer über Stag und die bunte Tunke
läuft an der Bordwand herunter. Der Eimer ist zwar gerettet und der Mann
auch, der Eimer hing an einem Tau und der Mann angelte noch rechtzeitig
ein Tau. Aber die Farbe! Aber die Farbe! An der Yorikke konnte man außer
den verschiedenen Farbversuchen noch ganz genau alle Püffe nachzählen,
die das gute Schifflein während des Anstreichens in den letzten zehn
Jahren erlebt hatte. Diese Farbenergüsse zu überstreichen, wäre
Verschwendung gewesen. Es war Farbe, und der Zweck, mit Farbe die
mancherlei Schönheitsfehler der Yorikke zartfühlend zu verdecken, war ja
durch den Puff erfüllt worden. An und für sich war es schon teuer genug,
weil ja nicht alle Farbe bei dieser Gelegenheit auf der Yorikke blieb,
sondern ein Teil im Meer verschwand und der andre Teil auf den Hosen des
Deckarbeiters hängen blieb, wo er ganz überflüssig war. Mit diesen
angestrichenen Hosen, die man jetzt hinstellen kann, ohne daß sie
umfallen, ist das Ereignis keineswegs beendet. Nun kommt erst noch die
Auseinandersetzung mit dem Ersten Offizier, der die Meinung vertritt,
daß die Farbe wertvoller sei als der Mann, und statt an sein unwichtiges
Leben zu denken, hätte er zuerst an die wertvolle Farbe denken sollen.
Deckarbeiter kann er auf dem Straßenpflaster auflesen oder unter dem
Galgen wegholen, aber Farbe kostet Geld, und der Skipper wird ihm einen
Mordsspektakel machen, weil er nun wieder nicht mit dem Farbenbuch und
mit der Rubrik „Farbe gekauft“ zurechtkommt. Häufig endet dieses
Gespräch, nachdem die üblichen Fluchkanonaden alle Munition verschossen
haben, damit, daß der gerettete Deckarbeiter sich seinen Lohn geben
läßt, den Sack vollpfropft, über die Planke geht und dem Schiff
Großfeuer in den Kohlenbunkern wünscht, wenn es fünfzehnhundert Meilen
„off the coast“ ist. Einen verrückten Menschen erkennt man oft schon am
Äußern, am Aussehen seines Gesichts, an der Zusammenstellung seiner
Kleidung. Je verrückter er ist, um so auffallender wird sein Aussehen
sein. Man konnte nicht gut sagen, daß die Yorikke einem vernünftigen
Schiffe, einem geistig normalen Schiffe gleich oder auch nur ähnlich
gesehen hätte. Das wäre eine Beleidigung für alle andern Schiffe der
sieben Meere gewesen. Ihr Aussehen stimmte so vortrefflich mit ihrem
Geist, mit ihrer Seele, mit ihrem Wesen und mit ihrem Betragen überein,
daß man an der geistigen Gesundheit der Yorikke mit Recht zweifeln
mußte. Es war ja nicht nur das äußere Kleid, nicht nur die Farbe. Alles,
was man von dem Boote sehen konnte, stand in vollem, ungetrübtem
Gleichklang mit der Haut und dem Gesicht. Die Lademasten standen wie
dürre Äste fuchtelnd in der Luft. Wenn durch den Schornstein der Länge
nach eine Kugel geschossen worden wäre, auch wenn es nur eine
Revolverkugel gewesen wäre, sie wäre nie am andern Ende herausgekommen.
Aber Rauch geht je auch um Ecken, andernfalls hätte die Yorikke nie
rauchen können. Aus dem Schornstein jedenfalls nicht. Wie die Brücke mit
dem übrigen Schiff in Verbindung stand, konnte ich nicht herausfinden.
Es sah so aus, daß, wenn das Schiff abfuhr, es nach einer Stunde wieder
umkehren mußte, um die Kommandobrücke abzuholen, die im Hafen
zurückgeblieben war; denn der Skipper hätte es von seinem Standort aus
nicht bemerken können, daß das Schiff schon eine Stunde unterwegs war,
und nur wenn der Steward auf die Brücke gegangen wäre, um dem Skipper zu
sagen, daß sein Essen in der Messe sei, hätte man herausgefunden, daß
die Brücke mit dem Skipper drauf nicht mitgekommen war, sondern irgendwo
im letzten Hafen schwebte oder festgeklemmt war.

Als ich nun da auf der Mauer saß, so emsig mit Fischefangen beschäftigt,
und ich sah die Yorikke, da lachte ich, da lachte ich so laut und so
ungeheuerlich, daß die gute Yorikke einen Schreck bekam und um eine
halbe Schiffslänge zurückglitt. Sie wollte nicht raus ins Wasser und
wollte nicht. Sie kratzte und schrammte am Kai, daß es einen Hund
jammern konnte und man Mitleid bekam mit dem beklagenswerten Tantchen,
das da wieder hinausgetrieben werden sollte in die grausame Welt wilder
Mächte und Elemente.

Aber niemand empfand Mitleid mit ihr.

Ich hörte das Knarren und Quietschen der Wintschen und das Hin- und
Herlaufen und wußte, die werden jetzt das Tantchen gründlich vermöbeln
und bös einheizen, und dann muß sie eben doch hopsen. Was kann
schließlich ein alleinstehendes Mädchen gegen so viele rauhe Fäuste auf
die Dauer machen? Sie kann kratzen und beißen, aber sie muß hervor
hinter dem Zaun und muß mit zum Tanz gehen, ob ihr danach zumute ist
oder nicht. Wenn so ein sprödes Dämchen erst einmal die Musik hört, dann
ist sie die Tollste von allen. So war es sicher auch mit der Yorikke.
Erst mal glücklich drin im Wasser, dann würde sie rennen wie ein junger
Teufel, um nur schnell wieder in einem andern Hafen zu sein, wo sie sich
ausruhen kann und von vergangenen Zeiten träumen, als man sie nicht so
herumjagte wie in diesen hastigen Tagen. Sie ist doch schließlich keine
Junge mehr und schon ein wenig schwer auf den Beinen. Wäre sie nicht so
dick angezogen, würde sie sicher auch noch frieren in dem kalten Wasser,
denn das Blut rennt nicht mehr so frisch durch die Adern wie damals als
sie den Begrüßungsfestlichkeiten zusah, die von Cleopatra zu Ehren
Antonius’ veranstaltet wurden.


                                   20

Nach dem Aussehen eines Schiffes kann man genau die Beköstigung und die
Behandlung der Mannschaft beurteilen, sobald man erst einmal eine Weile
Salzwasser gerochen hat. Da bildet sich manch einer ernsthaft ein, daß
er vom Meere, von Schiffen und Seeleuten etwas verstünde, wenn er ein
dutzendmal auf einem Passagierschiff, vielleicht sogar Staatskabine,
über Ozeane gefahren ist. Aber ein Fahrgast lernt weder etwas vom Meer,
noch etwas von einem Schiff und noch viel weniger etwas vom Leben der
Mannschaft. Die Stewards sind keine Mannschaft, und die Offiziere sind
auch keine Mannschaft. Die einen sind nur Kellner und Hausdiener, und
die andern sind nur Beamte mit Pensionsberechtigung.

Der Skipper kommandiert das Schiff, aber er kennt es nicht. Wer auf dem
Kamel reitet und den Ort angibt, wo er hinreiten will, weiß nichts von
dem Kamel. Der Kameltreiber allein kennt das Kamel, zu ihm spricht das
Kamel, und er spricht zu dem Kamel. Er allein kennt seine Sorgen und
seine Schwächen und seine Wünsche.

So ist es auch mit einem Schiff. Der Skipper ist der Kommandant, der
Vorgesetzte, der immer anders will, als das Schiff will. Ihn haßt das
Schiff, wie alle Vorgesetzte und Kommandanten gehaßt werden. Wenn
Kommandanten wirklich einmal geliebt werden, oder es wird gesagt, daß
sie geliebt seien, so werden sie nur darum geliebt, weil man so am
besten mit ihnen und mit ihren Schrullen zurechtkommt.

Aber die Mannschaft ist es, die das Schiff liebt. Die Mannschaft sind
die echten und wahren Kameraden des Schiffes. Sie putzen an dem Schiff
herum, sie streicheln es, sie kosen es, sie küssen es. Die Mannschaft
hat häufig kein andres Heim als das Schiff; der Kommandant hat ein
schönes Haus irgendwo auf dem Lande, er hat seine Frau, er hat seine
Kinder. Es haben auch manche Seeleute eine Frau oder Kinder, aber ihre
Arbeit mit dem Schiff und auf dem Schiff ist so hart und ermüdend, daß
sie nur an das Schiff denken können und die Familie daheim ganz
vergessen, weil sie keine Zeit haben, an Hause zu denken. Denn wenn sie
anfangen wollen, an das Zuhause zu denken, dann beginnen sie gleich zu
schlafen, weil sie zu müde sind.

Das Schiff weiß ganz genau, daß es keinen Schritt gehen könnte, wenn die
Mannschaft nicht wäre. Ohne Skipper kann ein Schiff laufen, ohne
Mannschaft nicht. Der Skipper könnte nicht mal dem Schiff etwas zu essen
geben, weil er nicht versteht, wie er aufschmeißen muß, damit die Feuer
nicht ausgehen und doch die meiste Hitze geben, ohne Verdauungsstörungen
zu erzeugen.

Mit der Mannschaft spricht das Schiff, mit dem Skipper und den
Offizieren nie. Der Mannschaft erzählt das Schiff Märchen und
wunderschöne Geschichten. Alle meine Seegeschichten haben mir die
Schiffe erzählt und keine Menschen. Das Schiff läßt sich auch gern etwas
erzählen von der Mannschaft. Ich habe gehört, daß Schiffe lachten und
kicherten, wenn die Mannschaft Sonntag nachmittags auf Deck saß und sich
Witze erzählte. Ich habe Schiffe weinen sehen, wenn traurige Geschichten
erzählt wurden. Und ich habe ein Schiff bitterlich schluchzen hören,
weil es wußte, daß es auf der nächsten Fahrt untergehen würde. Es kam
auch nie wieder und stand später bei Lloyds auf der Liste „Verschollen“.

Das Schiff ist immer auf seiten der Mannschaft, nie auf seiten des
Skippers. Der Skipper arbeitet nicht für das Schiff, er arbeitet für die
Kompanie. Die Mannschaft weiß häufig gar nicht, zu welcher Kompanie das
Schiff gehört; sie macht sich keine Gedanken darüber. Sie kümmert sich
nur darum, was das Schiff selbst angeht. Wenn die Mannschaft unzufrieden
ist oder rebelliert, rebelliert das Schiff sofort mit. Streikbrecher
haßt das Schiff mehr als den Boden des Meeres; und ich habe ein Schiff
gekannt, das mit einer ganzen Horde von Streikbrechern auf der ersten
Ausfahrt, beinahe noch in Sicht der Küste, glatt auf den Boden ging.
Keiner kam mehr zurück. Es ging lieber selber unter, als von
Streikbrechern begrapscht zu werden. Yes, Sir.

Wird die Mannschaft schlecht beköstigt oder schlecht behandelt, das
Schiff nimmt sofort Partei für die Mannschaft und schreit in jedem Hafen
die Wahrheit so laut hinaus, daß sich der Skipper die Ohren zuhalten muß
und oft genug eine Hafenkommission aus dem Schlafe gescheucht wird und
nicht eher Ruhe findet, bis sie eine Untersuchung angestellt hat. Ich
glaube sicher, daß man mich für ein ganz verfressenes Subjekt hält. Aber
für den Seemann ist ja das einzige, womit er sich außer seiner
Beschäftigung mit dem Schiff befassen kann, das Essen. Andre Freuden hat
er nicht, und hart arbeiten verursacht einen gesunden Hunger. Das Essen
ist ein wichtiger Bestandteil seines Lohnes.

Auf der Yorikke aber, wie sie auch laut genug hinausschrie, wurde der
elendeste Fraß für die Mannschaft gegeben, den eine geizige Kompanie und
ein Skipper, der auf Nebenverdienste sehen mußte, nur herstellen konnte,
um die Mannschaft eben gerade noch am Leben zu erhalten. Wie der Skipper
selbst beschaffen war, verriet Yorikke jedem, der die Sprache eines
Schiffes verstand. Er trank gern, aber nur gute Tropfen; er aß gern,
aber nur gute Dinge; er stahl, wo er nur stehlen konnte; er machte
Nebengeschäfte, mit wem er nur konnte und auf wessen Kosten er nur
konnte. Im übrigen war ihm alles sehr gleichgültig, und er belästigte
die Mannschaft persönlich nur wenig. Er belästigte sie auf dem Umwege
über die Offiziere und die Ingenieure. Die Ingenieure hätten auf
Schiffen, die nicht verrückt waren, sondern normal, nicht einmal als
Öler arbeiten können.

Wie war es nur möglich, daß Yorikke eine Mannschaft bekam und eine
Mannschaft halten konnte? Wie war es möglich, daß sie aus einem
spanischen Hafen, aus diesem gesegneten Lande des Sonnenscheins und der
Freiheit, ausfahren konnte mit voller Mannschaft? Da war ein Geheimnis
verborgen. Sie war doch nicht etwa gar ein –?

Aber vielleicht doch. Vielleicht war sie doch ein Totenschiff. Da! Da
ist es endlich heraus. Ein Totenschiff. Verflucht nochmal, o
Sperlingsschwänze und Fischflossen! Jawohl, sie ist ein Totenschiff.

Aber daß ich das nicht gleich auf den ersten Hieb gemerkt habe. Ich habe
eben gedöst.

Richtig, da ist kein Zweifel mehr.

Aber da war wieder etwas andres herum, daß sie es auch nicht sein
mochte. Da ist ein Geheimnis dahinter. Mich soll doch gleich ein Eisbär
am Hintern kratzen, wenn ich das nicht rauskriege, was mit dem Eimer los
ist.

Sie hatte sich nun doch endlich entschlossen zu gehen, freiwillig und
gutwillig zu gehen. Ich hatte sie unterschätzt. Sie war wasserscheu aus
guten Gründen. Der Skipper war ein Esel, yes, Sir. Yorikke war viel
klüger als ihr Kapitän. Sie brauchte überhaupt keinen Kapitän, das sah
ich jetzt. Sie war wie ein gutes altes Rassepferd, das man allein gehen
lassen muß, wenn es den richtigen Weg gehen soll. Ein Kapitän braucht
nur ein unterstempeltes und unterschriebenes Zeugnis vorzulegen, daß er
ein Examen bestanden hat, und gleich wird ihm ein Eimer anvertraut und
noch dazu ein so delikater wie die Yorikke einer ist. Gebt einem
erfahrenen Deckarbeiter den Lohn, den der Skipper bekommt, und er wird
einen Eimer wie die Yorikke besser über den Froschteich bringen als ein
konzessionierter Kapitän, der nichts weiter tut, als den ganzen Tag
herumzulaufen und darüber nachzudenken, wie und wo er die Kost für die
Mannschaft noch etwas mehr beschneiden könnte, um für die Kompanie und
für seine Tasche noch einen Nickel mehr herauszuschinden.

Strömung und Wind waren gegen Yorikke auf dem Wege, den zu gehen der
Skipper sie zu zwingen suchte. Ein so delikates Weibchen darf man nicht
zwingen, wie und wohin sie gehen soll, dabei kann sie nur auf Abwege
geraten. Der Lotse war nicht zu tadeln. Der Lotse kennt seinen Hafen
gut, aber er kennt nicht das Schiff. Dieser Skipper aber kannte das
Schiff noch viel weniger.

Sie kroch quietschend an dem Kai entlang, und ich mußte jetzt die Beine
hochziehen, sonst hätte sie die mitgenommen. Und so sehr versessen
darauf, meine Beine nach Marokko zu schicken, während ich in Cadiz
blieb, war ich denn doch nicht.

Achtern strampelte sie mit der Quirlflosse, und hier an den Seiten
spuckte und pißte sie wie besessen, als ob sie wer weiß wieviel gesoffen
hätte, und als ob sie es wer weiß wie schwer hätte, auf den Weg zu
kommen, ohne die Laternenpfähle mitzunehmen.

Endlich glückte es dem Skipper, vom Kai klarzukommen. Aber ich war
überzeugt, daß es Yorikke war, die einsah, daß sie sich nun um sich
selber zu bekümmern habe, wenn sie mit heiler Haut davonkommen wollte.
Vielleicht auch wollte sie ihrem Eigentümer ein paar Eimer Farbe sparen.

Je näher sie kam, desto unerträglicher wurde ihr Aussehen. Und es kam
mir der Gedanke, wenn jetzt der Henker hinter mir her wäre mit der
offnen Schlinge, und ich könnte ihm entwischen allein nur dadurch, daß
ich auf der Yorikke anmustere, ich würde die Schlinge vorziehen und zu
dem Henker sagen: „Lieber Freund, nehmen Sie mich und machen Sie ja
recht rasch, damit ich vor dieser Nagelkiste bewahrt bleibe.“ Denn jetzt
sah ich etwas, das schlimmer war als alles, was ich je in dieser
Hinsicht erblickt habe.


                                   21

Auf dem Vordeck standen die Mannschaften, die auf Freiwache waren, und
guckten über die Reeling hinunter auf den Kai, um ja noch mit ihren
Augen alles an fester Erde auf die lange Fahrt mitzunehmen, was sie in
diesen letzten Momenten erhaschen konnten. Ich habe verlumpte,
abgerissene, verkommene, verdreckte, verlauste und verschwärte Seeleute
genug in meinem Leben und in asiatischen und südamerikanischen Häfen in
überreicher Vollkommenheit gesehen, aber solche Mannschaft und noch dazu
eine, die nicht von einem Schiffbruch nach tagelangem Herumirren auf
eine Küste geworfen wird, sondern die sich auf einem hinausfahrenden
Dampfer befindet, je gesehen zu haben, konnte ich mich nicht erinnern.
Daß so etwas denkbar wäre, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich sah
gewiß nicht elegant aus, und wenn ich ehrlich sein soll, ich war dem
Abgerissensein viel näher als dem Nichtzerlumptsein. Doch dieser
Mannschaft gegenüber sah ich aus wie der Scheik eines Chormädchens der
Ziegfeld-Follies in New York. Das war kein Totenschiff. Gott mag mir die
Sünde vergeben. Das waren ja Seeräuber vor ihrer ersten Beute; Piraten,
die seit sechs Monaten von den Kriegsschiffen aller Nationen verfolgt
werden; Buccaneers, die so tief gesunken sind, daß sie keinen andern
Ausweg mehr sehen, als chinesische Gemüse-Dschunken auf dem Meer zu
überfallen und auszurauben.

Heilige Seeschlange, waren die zerlumpt, waren die dreckig! Einer hatte
keine Mütze auf, weil er weder Hut noch Mütze besaß, sondern hatte ein
Stück von einem grünen Unterrock wie einen Turban um den Kopf gewickelt.
Ein andrer hatte, meine Herren! nein, Sie werden es nicht glauben, aber
ich will doch gleich auf einem Auslegerboot als Kesselheizer angemustert
werden, wenn es nicht wahr ist, einer hatte sogar einen Zylinderhut auf.
Stellen Sie sich das vor, ein Seemann mit einem Zylinderhut. Hat die
Welt so etwas je erlebt? Vielleicht war er die letzte halbe Stunde vor
der Ausfahrt noch Schornsteinfeger gewesen. Oder er hatte hier auf dem
Eimer den Schornstein gefegt. Vielleicht war das eine besondere
Anordnung auf der Yorikke, daß der Schornstein nur im Zylinderhut gefegt
werden darf. Ähnliche merkwürdige Anordnungen habe ich auf Schiffen
erlebt. Aber die Yorikke gehörte nicht zu jenen Schiffen, wo man
merkwürdige Anordnungen einführte; die Yorikke war ein Schiff, wo man
mit den Anordnungen, die tausend Jahre alt sind, genug zu tun hat, um
den Eimer in Gang zu halten. Nein, dieser Zylinder war nur darum im
Gebrauch, weil der Mann keine andre Kopfbedeckung hatte, und wenn er sie
gehabt hätte, offenbar Geschmack genug besaß, daß er zu der Frackweste,
die er auf dem Leibe trug, nicht gut eine Tellermütze aufsetzen konnte.
Es schien gar nicht so unmöglich zu sein, daß er von seiner eignen
Hochzeit entsprungen war in jenem verhängnisvollen Augenblick, als es
anfing, ernst zu werden. Und weil er keinen andern Zufluchtsort vor den
Megären fand, er in seiner letzten Not die Yorikke erwischte, wo man ihn
mit offnen Armen willkommen hieß. Hier suchte ihn keine der Megären,
sicher nicht einen, der in Frack und Zylinder der Braut die Hacken
zeigte.

Hätte ich gewußt, daß sie wirklich Seeräuber wären, ich hätte sie
angefleht, mich mitzunehmen zu Ruhm und Gold. Aber wenn man kein
Unterseeboot hat, ist Seeräuberei heute nicht mehr lohnend genug.

Nein, da es keine Seeräuber sind, dann schon lieber den Henker, als hier
gezwungen sein, die Yorikke zu fahren. Das Schiff, das mich von dem
sonnigen Spanien fortlocken kann, das muß schon eins sein, doppelt so
gut wie die Tuscaloosa. Ach, wie lang ist das her. Ob sie noch in New
Orleans zu Hause ist? New Orleans, Jackson Square, Levee und ach – na,
wollen wir mal wieder Blutwurst aufspießen; sobald der bunte Eimer
vorüber ist, werden wir ja vielleicht noch einen Zweipfünder machen.
Wenn nicht, ist es auch gut; dann wollen wir mal sehen, was die
Nudelsuppe macht, oder was es drüben auf dem Holländer zum Abendessen
gibt.

Wie eine Schnecke, die sich überfressen hat, sich aber gleichzeitig
trainieren muß für das nächste Schneckenwettlaufen, so zog Yorikke
vorüber.

Als die Köpfe der Buschräuber gerade über mir waren, rief einer von
ihnen herunter zu mir: „Hey, ain’t ye sailor?“

„Yesser.“

„Want a dschop?“ Auf sein Englisch braucht er sich nichts einzubilden,
aber für enge Familienverhältnisse reicht es aus.

Ob ich Arbeit haben will.

Ei, orgelspielender Grizzlybär, der wird das doch nicht etwa ernst
meinen?

Ob ich Arbeit haben will?

Nun bin ich verloren. Da ist diese Frage, die ich mehr gefürchtet hatte
als die Posaune des Erzengels Michael am Auferstehungstage. Es ist doch
üblich, daß man selbst um Arbeit nachfragen gehen muß. Das ist doch
ewiges unveränderliches Gesetz, solange es nun schon Arbeiter gibt. Und
ich bin nie fragen gegangen, immer aus Angst, es hätte einmal jemand ja
sagen können.

Wie alle Seeleute bin ich abergläubisch. Auf dem Schiff und auf dem Meer
ist man auf Zufälle und also auch auf Aberglauben angewiesen, sonst
hielte man es nicht aus und würde verrückt. Und dieser Aberglaube ist
es, der mich zwingt, ja zu sagen, wenn mich jemand fragt, ob ich Arbeit
haben will. Denn würde ich nein sagen, so würde ich mein Glück
verschwören, würde nie wieder im Leben ein Schiff bekommen und am
allerwenigsten bekommen, wenn ich es so bitter notwendig brauchte.
Manchmal glückt das Erzählen einer Geschichte, aber manchmal glückt es
nicht, und der Mann brüllt „Polizei! Betrüger!“ Wenn man dann nicht
schnell ein Schiff zur Hand hat, glaubt die Polizei jenem Manne, der
keinen Spaß versteht und keine Ideen hat.

Dieser Aberglaube hat mir schon manchen bösen Streich gespielt und mir
Beschäftigungen auf den Hals gebracht, von denen ich nie geglaubt hätte,
daß solche überhaupt in der Welt vorhanden seien. Er war die Ursache,
daß ich Totengräbergehilfe in Guayaquil in Ecuador wurde, und daß ich
auf einem Jahrmarkte in Irland mit meinen eignen Händen helfen mußte,
das Kreuz, an dem unser Herr und Heiland Jesus Christus seinen letzten
irdischen Seufzer aushauchte, splitterweise zu verkaufen. Jeder Splitter
kostete eine halbe Krone, und das Vergrößerungsglas, das die Leute dazu
kaufen mußten, um den Splitter auch zu sehen, kostete eine andre halbe
Krone. Zu solcher Beschäftigung, die mir zweifellos nicht gut
angeschrieben werden wird, kommt man aber, wenn man abergläubisch ist.
Seitdem mir das in Irland zugestoßen ist, habe ich auch nichts mehr drum
gegeben, ein braver und guter Mensch zu bleiben, denn ich wußte, daß ich
nun alles Zukünftige verspielt hatte. Es war ja nicht, daß ich die
Splitter hatte verkaufen helfen. Nein, das war nicht so schlimm, das
wäre mir vielleicht gar als ein Verdienst angerechnet worden. Viel
schlimmer war, daß ich auch geholfen hatte, mit dem Geschäftsinhaber in
einem Hotelzimmer die Splitter aus einem alten Kistendeckel
anzufertigen. Aber auch das wäre noch nicht so unverzeihlich gewesen,
wenn ich nur nicht vor den Leuten meine Seele verschworen hätte, daß ich
die Splitter selbst aus Palästina mitgebracht hätte, wo sie mir ein
alter, zum Christentum bekehrter Araber, in dessen Familienbesitz die
Splitter seit achtzehnhundert Jahren gewesen waren, anvertraut hätte mit
der feierlichen Versicherung, daß ihm Gott im Traume erschienen sei und
ihm anbefohlen habe, diese Splitter nur nach Irland und sonst nirgend
woanders hin gelangen zu lassen. Die in arabischen Zeichen geschriebenen
Dokumente konnten wir vorweisen und auch eine Übersetzung in Englisch,
aus der hervorging, daß in dem Dokumente wirklich das drin stünde, was
wir auf dem Jahrmarkte erzählten. Solche Streiche kann einem der
Aberglaube spielen, yes, Sir.

Hätten wir das eingenommene Geld wenigstens an ein Kloster oder an den
Papst abgeschickt, dann wäre es ja auch nicht so schlimm gewesen und ich
hätte Hoffnung, daß mir vergeben würde. Aber wir verbrauchten das Geld
für uns, und ich war sehr bedacht darauf, daß ich auch meine richtigen
Prozente und Tantiemen bekam. Aber ich war keineswegs ein Betrüger, ich
war nur ein Opfer des Aberglaubens, meines Aberglaubens. Denn die guten
Leute glaubten mir, die waren nicht abergläubisch.


                                   22

So war es ganz natürlich, daß, als ich gefragt wurde, ob ich Arbeit
haben wollte, ich ja sagte. Ich war innerlich gezwungen, ja zu sagen,
und ich konnte diesem Zwange nicht entweichen. Ich bin sicher, daß ich
bleich wurde vor Todesangst, auf diesen Eimer zu müssen.

„A. B.?“ fragte der Mann.

Glück zu, da war die Rettung. Die brauchten einen A. B., und ich war
kein A. B. Ich hütete mich weislich, nun zu sagen: „Plain“, denn im
Notfalle kann ein Deckarbeiter auch am Rade stehen, besonders wenn das
Wetter ruhig ist und keine großen Kursveränderungen sind.

Deshalb antwortete ich: „Nosser, no A. B. Black gang. Schwarze Bande.“

„Fein!“ schrie der Mann herunter. „Das ist ja, was wir brauchen. Mach
hurtig voran. Hopp auf.“

Nun wurde mir alles klar. Sie nahmen, was sie kriegten, und woher sie es
kriegten, weil sie um soundsoviele Mann zu kurz waren. Ich hätte sagen
können: Koch, oder ich hätte rufen können: Zimmermann oder Boss’n, sie
würden immer gerufen haben: „Hopp auf!“ Da war etwas nicht in Ordnung.
Verflucht, sollte sie doch ein –, nein, trotz aller verdächtigen
Begleitumstände, die Yorikke schien doch kein Totenschiff zu sein.

Ich mußte die letzten Karten spielen.

„Where ’re ye bound? Wohin geht ihr raus?“

„Wo wollen Sie hin?“

Die sind geeicht. Da ist kein Entrinnen. Ich kann rufen Südpol, ja, ich
kann rufen Genf, sie werden mir, ohne zu zucken, entgegenrufen: „Da
gehen wir hin.“

Aber ich wußte ein Land, wo der Eimer nicht wagen dürfte, hinzugehen,
das war England. Deshalb sagte ich: „England.“

„Mann, was für ein Glück haben Sie!“ schrie die Stimme. „Wir haben
Ladung, Stückgut für Liverpool. Sie können da abmustern.“

Da hatten sie sich verraten. Das einzige Land, wo ich nicht abmustern
konnte und auch kein andrer Seemann, der nicht auf einem englischen Boot
fuhr, das war England. Aber dieser Antwort Liverpool konnte ich nicht
ausweichen. Ich konnte ihnen doch nicht beweisen, daß sie schwindeln.

Es scheint so lächerlich zu sein. Es konnte mich natürlich niemand
zwingen, anzuzeichnen für irgendein Boot, auf keinen Fall, solange ich
hier auf festem Boden stand und nicht unter der Gerichtsbarkeit und
Gesetzesgewalt des Skippers. Aber das ist ja immer so: wenn man sich zu
wohl und zu glücklich fühlt, dann möchte man es noch besser haben, läge
dieses Besser-haben-Wollen auch nur darin versteckt, daß man sich nach
einem Landschaftswechsel sehnt und eine stille ewige Hoffnung pflegt und
nährt, daß jeder Wechsel zu Besserem führen müsse. Ich glaube, seit Adam
sich im Paradiese langweilte, ist es der Fluch der Menschen, sich nie
vollkommen glücklich zu fühlen und immer auf der Jagd nach einem größern
Glück zu sein. Wenn ich an England denke mit seinem ewigen Nebel, seiner
ewigen naßkalten Witterung, seiner Fremdenhetzerei, seines ewig stupid
lächelnden Kronprinzen, dem die Maske angefroren ist, und es vergleiche
mit diesem freien, sonnigen Lande und seinen freundlichen Bewohnern und
mir nun vorstelle, daß ich alles dies zurücklassen soll, so ist mir aber
doch in der Tat zum Sterben zumute.

Aber da war das Schicksal. Ich hatte ja gesagt, ich hatte nun als guter
Seemann, der zu seinem Wort steht, anzuzeichnen für den Eimer, und wenn
er direkt auf den Meeresboden führe; mit diesem Boot, das ich
ausgelacht, laut und heulend ausgelacht hatte, als ich es zum ersten
Male gesehen, und das zu fahren ich nicht gedacht hatte, auch wenn ich
den letzten Atemzug dadurch hätte aufhalten können. Nicht mit diesem
Schiff und nicht mit dieser Mannschaft. Yorikke rächte sich dafür, daß
ich sie ausgelacht hatte. Aber es geschah mir im Grunde ganz recht,
warum war ich hier hinuntergegangen und hatte mich von ausfahrenden
Schiffen sehen lassen. Da soll man mit der Nase wegbleiben, ausfahrende
Eimer gehen einen gar nichts an, wenn es nicht der eigne ist, man soll
sie in Ruhe lassen und nicht hinter ihnen herspucken wollen. Das ist
immer Pech. Das können die nicht vertragen.

Ein Seemann soll nicht von Fischen träumen, und er soll nicht an Fische
denken, das ist nicht gut. Und ich war hierhergegangen und wollte sogar
welche fangen. Jeder Fisch oder seine Mutter hat schon an einem
ertrunkenen Seemann genascht, darum soll sich ein Seemann vor Fischen
hüten. Wenn ein Seemann Fische essen will, soll er sie sich von einem
ordentlichen Fischersmann kaufen. Fische fangen ist dessen Geschäft, dem
tun sie nichts; wenn der von Fischen träumt, bedeutet es Geld.

Ich schoß die letzte Frage, die möglich war: „Was wird gezahlt?“

„Englisch Geld.“

„Wie ist das Essen?“

„Reichlich.“

Nun war ich umzingelt. Nicht eine schmale Ritze blieb offen. Es gab für
mein Gewissen auch nicht eine einzige Entschuldigung, mein Yes
zurückzunehmen.

Sie warfen ein Tau rüber, ich fing das Tau auf, schwang mich mit voran
gestreckten Füßen gegen die Bordwand, und während sie von Deck aus das
Tau einholten, stieg ich an der Wand empor und sprang oben über die
Verschanzung.

Als ich nun auf dem Deck stand, kam Yorikke merkwürdig rasch in volle
Fahrt, und während ich das versinkende Spanien mit meinen Augen
liebkoste, hatte ich das Gefühl, daß ich jetzt durch jenes große Tor
geschritten war, über dem die schicksalsschweren Worte stehen:

                           Wer hier eingeht,
                  Dess’ Nam’ und Sein ist ausgelöscht,
                            Er ist verweht!




                              ZWEITES BUCH


        INSCHRIFT ÜBER DEM MANNSCHAFTSQUARTIER DES TOTENSCHIFFES

                           WER HIER EINGEHT,
                  DESS’ NAM’ UND SEIN IST AUSGELÖSCHT.
                             ER IST VERWEHT
                  VON IHM IST NICHT EIN HAUCH ERHALTEN
                      IN DER WEITEN, WEITEN WELT.
                       ER KANN ZURÜCK NICHT GEHN,
                        NICHT VORWÄRTSSCHREITEN,
                    DA, WO ER STEHT, IST ER GEBANNT.
                 IHN KENNT NICHT GOTT UND KEINE HÖLLE.
                 ER IST NICHT TAG, ER IST NICHT NACHT.
                ER IST DAS NICHTS, DAS NIE, DAS NIMMER.
                 ER IST ZU GROSS FÜR DIE UNENDLICHKEIT
                UND IST ZU WINZIG FÜR DAS SANDKÖRNLEIN,
                   DAS SEINE ZIELE HAT IM WELTENALL.
                         ER IST DAS NIEGEWESEN
                          UND DAS NIEGEDACHT!


                                   23

Nun betrachtete ich mir die Haifischjäger in der Nähe. Der Eindruck, den
ich von draußen gewonnen hatte, wurde keineswegs besser. Er wurde nicht
einmal schlimmer, sondern er wurde einfach vernichtend. Ich hatte
ursprünglich geglaubt, daß einige der Leute Neger und einige Araber
wären. Aber jetzt erkannte ich, daß sie nur unter Kohlenstaub und Dreck
so aussahen. Der Deckarbeiter steht ja nun auf keinem Schiff, die
russischen Bolschewistenschiffe vielleicht ausgenommen, in der gleichen
menschlichen Rangstufe mit dem Skipper. Wo sollte das aber auch
hinführen? Man könnte die beiden ja eines schönen Tages miteinander
verwechseln und herausfinden, daß der Deckarbeiter ein ebenso
intelligenter Mensch ist wie der Skipper. Zuweilen wäre das sogar noch
nicht einmal ein Beweis, daß der Deckarbeiter überhaupt Intelligenz
besitzt.

Hier gab es zweifellos sogar noch unter den Deckarbeitern Rangstufen. Da
waren Deckarbeiter ersten Grades, Deckarbeiter zweiter, dritter und
vierter Ordnung. Jene beiden Taschendiebe, die da standen, schienen
Deckarbeiter fünften Grades zu sein. Ich weiß nicht, welches
augenblicklich die unzivilisierteste Menschenrasse ist. Das wechselt ja
mit jedem Jahre, je nachdem, wie wertvoll oder wie wertlos, für andre,
das Land ist, wo diese Menschenrasse lebt. Aber diese beiden
Deckarbeiter würden bei jener unzivilisierten Rasse wohl noch nicht
einmal gebraucht werden können, um Kokosnüsse aufzuschlagen. So viele
Deckarbeiter, daß jeder Grad seinen rechtmäßigen Vertreter hier haben
konnte, hatte man für die Yorikke nicht auftreiben können. Infolgedessen
waren die Deckarbeiter des ersten, des zweiten, des dritten und des
vierten Grades nicht vertreten, nur zwei des fünften und drei des
sechsten Grades. Die Vertreter des fünften Grades habe ich geschildert,
die des sechsten kann ich nicht beschreiben, da ich sie mit nichts
vergleichen kann, was sich sonst auf Erden findet. Sie waren durchaus
Original, und ich muß mich damit begnügen, zu sagen, sie waren würdig
vertreten, und man glaubte es ihnen ohne Legitimation, daß sie der
sechsten Ordnung angehörten.

„Gauten Tahk!“ Der Anführer der Taschendiebe und der Jahrmarktsbetrüger
– halt, ich wollte sagen: der Anführer der Taschendiebe und der
Roßtäuscher kam auf mich zu. „Ich bing da zwiehte Inkscheneer. Disser
hier, was miehn Nachtbur ist, disser iehst da Dunkymänn.“ Das war ein
Englisch! – Ich muß es wohl zukünftig mehr in eine besser lesbare
Sprache übersetzen, um es verständlich zu machen. Er wollte mir
mitteilen, daß er der Zweite Ingenieur und damit mein direkter
Vorgesetzter sei, seit ich zur Schwarzen Bande gehörte, und daß sein
Nachbar, der an seiner Seite stand, der Donkeyman sei, also mein
Unteroffizier.

„Und ich,“ stellte ich mich nun selbst vor, „ich bin der Generaldirektor
der Kompanie, die diesen Eimer besitzt, und ich bin an Bord gekommen, um
euch Burschen ordentlich Beine zu machen.“

Denn wenn die beiden glaubten, sie könnten mich aufziehen, dann müssen
sie sich schon einen andern suchen, nicht gerade einen, der schon als
Küchenjunge fuhr, als seine Altersgenossen noch das Abc lernten. Mit
solcher Vanille müßt ihr mir nun nicht kommen, dann haben wir den
rechten Ton gleich von der ersten Wache an und werden nicht viel
gewürzte Schokolade miteinander trinken.

Aber er hatte nicht begriffen, was ich gesagt hatte; denn er sprach
weiter: „Gehen Sie zum Quartier und suchen Sie sich Ihre Bunk.“

Ja, da fallen mir aber doch die Holzschindeln vom Dach, der wird doch
nicht etwa im Ernst geredet haben und ist tatsächlich der Zweite
Ingenieur und mein Vorgesetzter, dieser ausgebrochene Galeerensträfling?
Als hätte mich jemand mit einer Keule über den Schädel gehauen, so
torkelte ich nun zum Forecastle, zum Quartier.

Ein paar Mann lagen faul in ihrer Bunk. Als ich hereinkam, sahen sie
mich schläfrig an, ohne irgendein Interesse oder irgendein Erstaunen zu
zeigen. Solche unerwarteten Auffrischungen der Mannschaft schienen zu
oft vorzukommen, als daß sie wert gewesen wären, sie zu beachten. Ich
habe später einmal gehört, daß in einem Dutzend Häfen, die Yorikke
gelegentlich anzulaufen pflegte, immer zwei oder drei Mann am Ufer
lagen, die aus diesem oder jenem Grunde kein andres Schiff kriegen
konnten oder unbedingt fort mußten, weil die Kaie zu heiß wurden, und
nun täglich beteten: „O Herr der Schiffe und Heerscharen, laß’ die gute
alte Yorikke hereinkommen!“ Denn auf der Yorikke fehlten immer zwei oder
drei Mann, und ich bin sicher, daß die Yorikke noch nie in ihrem
urlangen Leben jemals mit voller Mannschaft gefahren ist. Man sagte der
Yorikke auch sonst noch etwas Häßliches nach. Es wurde behauptet, ihr
Skipper sei schon viele, viele Male zu den Galgen gegangen und habe die
Gehenkten untersucht, ob nicht noch ein Fünkchen Leben in ihnen
zurückgeblieben sei und sie noch so viel Atem hätten, um ein Ja zu
flüstern und angemustert zu werden für die Yorikke. Diese Nachrede ist
häßlich, das weiß ich, aber sie ist nicht aus der Luft gegriffen und
keiner Katze aus dem Ohrläppchen gesaugt. Ich fragte nach einer leeren
Bunk. Einer der Leute deutete mit dem Kopfe nach einer oberen Schachtel.
Ich fragte, ob auch niemand drin verreckt sei. Der Mann nickte und sagte
dann: „Die untere Kommode ist auch frei.“

So nahm ich die untere. Der Mann verlor jegliches Interesse an mir und
meinem Tun.

In der Bunk war keine Matratze, kein Strohsack, kein Kissen, keine
Decke, kein Bettuch. Nichts. Nur das nackte wurmstichige Holz. Und sogar
an dem Holze hatte man jeden Millimeter gespart, der nur gerade noch
abzusparen war, damit man den Koffer für menschliche Gebeine noch Bunk
nennen könne und nicht etwa einen Schirmkoffer. In jedem der beiden
Bunks, die meinem gegenüber lagen, der eine oben der andre unten, lagen
Lumpen und zerrissene alte Säcke. Das waren die Matratzen für die
Mannschaften, die jetzt auf Wache waren oder auf dem Deck
herumlungerten. Als Kissen hatten sie altes Tauwerk. Daß man auf altem
Tauwerk schlafen könnte, mußte also doch keine Sage aus fernen Zeiten
sein. In der Bunk, die über der meinen lag, in der also einer kürzlich
verreckt war, vielleicht gestern erst, lagen keine Lumpen. Wenn ich auf
meiner Bunk saß, so konnte ich die gegenüberliegende Bunk erreichen,
ohne daß ich die Beine hätte lang ausstrecken brauchen. Ich stieß
bereits mit den Knien an, während ich hier saß. Der Schiffsbauer war ein
guter Rechner gewesen. Er hatte ausgerechnet, daß auf einem Schiff immer
ein Drittel oder manchmal gar die Hälfte der Mannschaft auf Wache ist in
der Zeit, wo die Bunks im Gebrauch sind. Aber es traf sich, daß wir drei
Mann, die wir in diesem Abteil wohnten, alle dieselbe Wache hatten, so
daß wir alle zu gleicher Zeit uns hier in diesem Raum, der zwischen den
Bunks kaum einen halben Meter breit war, aus- und ankleiden mußten.
Dieses Gewimmel von sich bewegenden Armen, Beinen, Köpfen und Schultern
wurde noch unübersichtlicher, als in einem Nachbarquartier ein Mann mit
seiner Bunk herunterbrach und die gebrauchen mußte, wo der eine verreckt
war. Wie sich das ja immer so fügt, so war es auch hier; der neue
Quartierbewohner gehörte mit zu unsrer Wache, und nun waren die
Einzelheiten des Gewimmels beim An- und Auskleiden überhaupt nicht mehr
zu unterscheiden. Wenn es gar zu arg durcheinanderging, so daß die
Schiffsglocke schon die Wache ausrief, dann schrie der eine oder der
andre plötzlich ein brüllendes Halt! aus, bei dem nach stillem
Übereinkommen jeder von uns still hielt für die Dauer einer Sekunde.
Dieses Halt! durfte nicht unnützlich geführt werden, sondern nur dann,
wenn einer in höchster Not war, daß er seinen linken Arm verloren hatte
oder sein rechtes Bein sich mit dem linken Bein eines der andern
Insassen so vertauscht hatte, daß man ohne dieses Halt! nie
herausgefunden hätte, daß der Martin mit dem rechten Bein des Bertrand
auf Wache ging, während Bertrand erst bei Tagesanbruch merkte, daß er
die ganze Wache hindurch mit der rechten Hand des Martin und mit der
linken des Henrik das Ruderrad gequirlt hatte, während ich die Hände
Bertrands verdreckte und überhaupt nicht wußte, wer meine abnutzt.

Ernstere Folgen hatte es schon, wenn im trüben Halbschlummer der
rußenden Quartierlampe Bertrand mit seinem rechten Bein in das linke
Bein seiner eignen Hose stieg, während er mit seinem linken Bein voll
angezogen im rechten Bein der Hose Henriks steckte. Manchmal kostete es
zwei halbe Hosen, manchmal kostete es nach allen Seiten herumfliegende
Püffe, manchmal eine eingebrochene Bunk oder eine durchstoßene Tür.
Immer aber kostete es eine ganze Freiwache Streitens und Zankens, um
festzustellen, wer zuerst in das falsche Hosenbein gestiegen sei,
wodurch der Unschuldige gezwungen wurde, sich rasch nach einem freien
Hosenbein umzusehen, damit er nicht etwa mit einem unbekleideten Beine
auf die Wache zu gehen gezwungen war. Es ist in der Tat zweimal
vorgekommen, daß ein Hosenbein im Quartier zurückblieb, das beidemal von
seinem rechtmäßigen Besitzer erst vermißt wurde als der Morgen aufkam.
Es wäre ja vielleicht gegangen, wenn man sich geeinigt hätte. Aber wer
sollte denn der Ausgestoßene sein, der eine Minute früher aufzustehen
verdammt wurde? Beim Aufstehen begann ja gleich der wütende Streit
darüber, daß eine halbe Stunde zu früh geweckt worden sei, wodurch
gleich alle in die nötige Stimmung versetzt wurden, um jede
Einigungsverhandlung auszuschließen und im Keime zu ersticken. Dieses
Streiten und Wüten und Androhen, daß man der Wache das Zufrühwecken
schon anstreichen wolle, erreichte seinen Höhepunkt gerade immer dann,
wenn die Schiffsglocke die Wache aufrief. Dann paarte sich die Wut mit
Nervosität, daß man nicht fertig würde, und gleich mit einem Anranzer
die Wache beginnen müsse, weil der Hund wieder einmal zu spät geweckt
habe, was er aus reinem Schabernack täte, wenn man an und für sich schon
mit dem Zweiten nicht gut steht.


                                   24

Elektrisches Licht hatte die Yorikke nicht; sie wußte offenbar in ihrer
Unschuld auch gar nicht einmal, daß es so etwas gäbe. Das Quartier war
erleuchtet von einer Petroleumlampe. Man muß diesen Leuchtapparat schon
so nennen. Es war ein verbeulter Blechbehälter mit einer
Kranzverschraubung, die aus Eisenblech war, die man aber durch
betrügerische Mittel so behandelt hatte, daß man glauben sollte, sie sei
aus reinem Messing. Vielleicht hat es eine Zeit gegeben, wo dieser
Betrug aufrechterhalten werden konnte. Aber weil jedes Kind weiß, daß
Messing nicht rostet und von jenem Messingkranz nur noch Rost
übriggeblieben war, der durch eine lange Gewohnheit in der Form eines
Zylinderkranzes zusammenhielt, so war der Betrug herausgekommen,
freilich zu einer Zeit, als die Lampe nicht mehr umgetauscht werden
konnte, weil die Garantie abgelaufen war. Die Lampe hatte auch einmal
einen Zylinder gehabt. Der winzige Rest dieses Zylinders konnte allein
nur dadurch als Überbleibsel eines brauchbaren Lampenzylinders
zweifelsfrei festgestellt werden, weil zuweilen die Frage durch das
Quartier schwirrte: „Wer ist denn heute dran, den Zylinder zu putzen?“
Es war nie jemand dran, und es ging auch nie jemand dran. Diese Frage
wurde auch nur aus alter Gewohnheit gestellt, um uns in dem Glauben zu
lassen, wir besäßen einen Lampenzylinder. Ich habe nie jemand gesehen,
der so viel Mut besessen hätte, „dran“ zu gehen. Er wäre nicht mehr
davongekommen. Eine leise direkte Berührung des Zylinders hätte ihn in
Staub zerfallen lassen, der Missetäter wäre dafür verantwortlich
gewesen, man hätte ihm den Zylinder von der Heuer abgezogen, und auf
diesem Wege hätte die Kompanie einen neuen Zylinder bekommen. Das Schiff
noch lange nicht. Irgendwo hätte sich schon ein Glasscherben gefunden,
der durch die Frage: „Wer ist denn heute dran?“ die Form eines Zylinders
bekommen hätte. Die Lampe selbst war eine der Lampen, die jene sieben
Jungfrauen getragen hatten, als sie auf der Hut waren. Unter solchen
Umständen durfte man nicht gut erwarten, daß sie ein Seemannsquartier
auch nur notdürftig erleuchten konnte. Der Docht war auch noch derselbe,
den eine Jungfrau aus ihrem wollenen Unterrock geschnitten hatte. Das
Öl, das wir für die Lampe faßten, und das aus betrügerischen Gründen
Petroleum, manchmal sogar Diamantöl genannt wurde, war schon ranzig, als
die Jungfrauen Öl auf ihre Lampen gossen. In der Zwischenzeit war es
nicht besser geworden. Bei dem traulichen, zu traulichen Schein dieser
Lampe, die laut Vorschrift die ganze Nacht hindurch im Quartier zu
brennen hatte und die erstickend schlechte Luft noch mehr verdickte,
weil sie nie brannte, sondern stets nur schmökte, sich an- und
auszukleiden, entweder müde zum Zusammenbrechen oder völlig
schlaftrunken durch ein handfestes Aufgerissenwerden, hätte in diesem
engen Raum zu größeren Katastrophen geführt als ich zu erzählen für gut
befunden habe, wenn nicht in den meisten Fällen abschwächende Umstände
vorhanden gewesen wären. Es werden ja selten Dinge auf die äußerste
Spitze getrieben. Um die Wahrheit zu gestehen, in den meisten Fällen
wurde weder ausgekleidet, noch angekleidet. Nicht etwa, daß wir nichts
zum An- und Auskleiden gehabt hätten. Das war es nicht. Etwas war schon
immer noch vorhanden, daß wir wenigstens den guten Willen zeigen
konnten. Aber was dann, wenn man weder eine Matratze, noch eine Decke,
noch sonst etwa etwas Ähnliches hat?

Als ich ankam, hatte ich in der Erinnerung an normale Boote gefragt:

„Wo ist denn die Matratze für meine Bunk?“

„Wird hier nicht geliefert.“

„Kissen?“

„Wird hier nicht geliefert.“

„Decke?“

„Wird hier nicht geliefert.“

Mich wunderte nur, daß die Kompanie überhaupt das Schiff lieferte, das
wir zu fahren hatten; und ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn man mir
gesagt hätte, das Schiff muß jeder selber mitbringen. Ich war an Bord
gekommen mit einem Hut, einer Jacke, einer Hose, einem Hemd und einem
Paar – als sie noch neu waren, hatten sie Stiefel geheißen. Heute konnte
man sie nicht gut so nennen, man würde es mir nicht geglaubt haben. Da
waren aber andre an Bord, die nicht so reich waren. Einer hatte
überhaupt keine Jacke, ein andrer überhaupt kein Hemd und ein Dritter
hatte keine Schuhe, sondern eine Art Mokassins, die er sich aus alten
Säcken, Kistendeckeln und Tauwerk gemacht hatte. Später erfuhr ich, daß
die, die am wenigsten hatten, beim Skipper am höchsten angesehen wurden.
Sonst ist es gewöhnlich andersherum. Aber hier, je weniger jemand hatte,
desto weniger unternahm er das Wagnis, auszusteigen und die gute Yorikke
ihrem Schicksal zu überlassen.

Meine Bunk war an der Korridorwand befestigt. Die gegenüberliegenden
Bunks waren an einer Holzwand befestigt, die das Quartier in zwei
Kammern teilte. An der andern Seite dieser Holzwand waren gleichfalls
zwei Bunks und diesen beiden Bunks gegenüber an der äußeren Bordwand
waren abermals zwei Bunks. Dadurch war es möglich gemacht worden, daß
dieses Quartier, das für vier ausgewachsene Menschen schon reichlich
knapp war, nun acht Leuten zum ständigen Wohnaufenthalt zu dienen hatte.
Jene Holzwand, die das Quartier in zwei Kammern teilte, war aber nicht
durch das ganze Quartier gezogen, weil sonst die Leute, die in der
äußeren, der Bordwandkammer lagen, zur Seitenluke hätten herauskriechen
müssen, die aber auch nicht groß genug war, daß sich jemand hätte
hindurchzwängen können. Diese Wand war also nur in zwei Drittel Länge
mitten durch den Raum gezogen, und da, wo diese Wand aufhörte, begann
der Meßraum, der Speisesalon. Laut Vorschrift muß der Meßraum von den
Schlafkammern getrennt sein. Das war hier vollkommen geglückt. Alle drei
Räume waren derselbe Raum, durch die Wand aber war dieser Raum in drei
Räume geteilt, wo eben nur die Türen immer offen waren. So hatte man
sich das zu denken, denn die Kammern hatten keine besondere Tür, das
Quartier hatte eine gemeinschaftliche Tür, die in den Korridor führte.
In jenem Meßraum stand der rohe Eßtisch, und an jeder Längsseite des
Tisches war eine rohe Bank. In einer Ecke, neben dem Eßtisch, stand ein
alter verbeulter Blecheimer, der immer leckte. Er war Wascheimer,
Badewanne, Scheuereimer alles in einer Gestalt. Außerdem diente er noch
andern Zwecken, darunter auch solchen, um schwerbesoffene Seeleute um
einige Kilo zu erleichtern, in den Fällen, wo der Eimer rechtzeitig
erreicht wurde. Wurde er zu spät erreicht, wachte gewöhnlich ein
Unbeteiligter in seiner Bunk auf, weil er von einem Wolkenbruch
heimgesucht worden war, der alles mögliche in die Bunk gebracht hatte,
das auf und unter der Erde erzeugt wird, mit der einzigen Ausnahme:
Wasser. Wasser war nicht dabei, bei diesem Wolkenbruch, no, Sir.

Da waren vier Kleiderspinde in diesem Quartier. Wäre es nicht der
verrotteten Lumpen und alten Säcke wegen gewesen, die darin hingen, so
hätte man die Spinde leer nennen können. Acht Mann lagen in diesem
Quartier, aber es waren nur vier Spinde drin. Vier Spinde zuviel, denn
wenn man nichts zum Reinhängen hat, braucht man auch kein Spind. Das war
ja auch der Grund, weshalb nur vier vorhanden waren. Es war von
vornherein ausgemacht, daß fünfzig Prozent der Mannschaft, die auf der
Yorikke fahren, nichts haben, das sich lohnen möchte, in einem Spinde
aufbewahrt zu werden. Türen hatten die vier Spinde nicht mehr, woraus zu
schließen war, daß hundert Prozent der Mannschaft keine Spinde
benötigten.

Die Bullaugen waren auffallend klein und trübe. Die Frage, wer sie zu
putzen hatte, tauchte zuweilen auf, aber niemand beantwortete sie mit
„ich“, und wenn sie einer mit „Sie“ oder mit „du“ beantwortete, so wurde
das unter Wutausbrüchen bestritten, bis man sich auf „er“ einigte. Wer
immer auch dieser Er sein mochte: wenn er genannt wurde, war er auf
Wache, konnte also an der Abstimmung dieser Frage nicht teilnehmen und
hätte jetzt übrigens auch gar keine Zeit gehabt, sich um ungeputzte
Bullaugen zu kümmern. Das Putzen des einen kam ja sowieso nicht in
Frage, weil das Glas ausgebrochen und die leere Stelle mit
Zeitungspapier verklebt worden war.

Das war der Grund, weshalb selbst bei hellem Sonnenschein das Quartier
in mysteriöse Dämmerung gehüllt war. Die beiden Bullaugen, die zum Deck
hinausführten, durften bei Nacht nicht geöffnet werden, weil das
Lampenlicht des Quartiers die Wache auf der Brücke störte. Deshalb stand
in dem Quartier die Luft still wie festgerammt, weil kein Durchzug war.

Jeden Tag wurde das Quartier gefegt von einem, der im Dreck stecken
blieb und seine Füße nicht mehr herausziehen konnte oder eine Nähnadel
oder einen Knopf verloren hatte. Einmal in der Woche wurde das Quartier
mit Salzwasser überflutet, was wir scheuern und schrubben nannten. Es
gab weder Seife, noch Soda, noch Bürsten. Wer sollte sie liefern? Die
Kompanie nicht. Und die Mannschaft hatte nicht einmal Seife, um sich ein
Hemd zu waschen. Man war schon selig, wenn man eine Krume Seife in der
Tasche trug, um sich das Gesicht zuweilen waschen zu können. Liegen
lassen durfte man die Krume nicht. Wenn sie wie ein Stecknadelknopf groß
gewesen wäre, irgend jemand hätte sie gefunden, behalten und nie
zurückgegeben.

Der Dreck war so dick und so hübsch festgetrocknet, daß man eine Axt
gebraucht hätte, ihn loszukriegen. Hätte ich je die Kraft gefunden, das
zu tun, ich würde mich darüber hergemacht haben. Nicht aus übertriebenen
Reinlichkeitsgefühlen, die gingen auf der Yorikke bald verloren, sondern
aus wissenschaftlichen Gründen. Ich trug in mir die feste Überzeugung,
und diese Überzeugung habe ich heute noch, daß, wenn ich nicht zu müde
gewesen wäre und den Dreck schichtweise abgemeißelt hätte, dann hätte
ich in den tieferen Schichten Geldmünzen der Phönizier gefunden. Was für
Schätze ich gefunden hätte, wenn ich noch einige Schichten tiefer
gedrungen wäre, wage ich gar nicht auszudenken. Vielleicht lagen da die
abgeschnittenen Fingernägel des Urgroßvaters des Neandertalmenschen, die
solange schon und so vergebens gesucht werden, und die so ungemein
wichtig sind, um festzustellen, ob der Höhlenmensch schon etwas von Mr.
Henry Ford aus Detroit gehört hätte, oder ob er imstande gewesen wäre,
auszurechnen, wieviel Dollar Mr. Rockefeller jede Sekunde verdient, wenn
er seine blaue Brille putzt, denn die Universitäten können nur dann auf
einen Privatzuschuß rechnen, wenn sie einen Teil der Reklame zu
übernehmen gewillt sind. Wenn man das Quartier verlassen wollte, so
hatte man einen dunklen lächerlich schmalen Korridor zu durchwandern. An
der gegenüberliegenden Seite unsers Quartiers lag ein ähnliches
Quartier, nicht genau so, nur ähnlich, weil es noch verdreckter, noch
muffiger und noch dunkler war als unsres. Das eine Ende des Korridors
führte auf das Deck, das andre zu einer Fallgrube. Ehe man diese
Fallgrube erreichte, waren zu beiden Seiten noch je eine winzig kleine
Kammer, die für den Zimmermann, den Bootsmann, den Donkeyman und noch
einen -mann bestimmt waren, die alle im Unteroffiziersrange standen, und
die deshalb ihre eignen Quartiere hatten, damit sie nicht dieselbe Luft
wie die gewöhnliche Mannschaft zu atmen verpflichtet waren, was der
Autorität hätte schaden können.

Die Fallgrube führte zu zwei Kammern, die eine war die Ketten- und
Rüstkammer, während die andre die Schreckenskammer genannt wurde. Es war
niemand auf der Yorikke, der behaupten konnte, er sei je in der
Schreckenskammer gewesen oder habe je einen Blick hineingeworfen. Sie
war immer fest verschlossen. Als einmal aus irgendeinem Grunde, ich weiß
nicht mehr zu sagen, welches dieser unerhörte Grund war, nach dem
Schlüssel für die Schreckenskammer gefragt wurde, stellte es sich
heraus, daß niemand wußte, wo der Schlüssel sei, und daß die Offiziere
behaupteten, der Skipper habe den Schlüssel. Der Skipper aber verschwor
seine Seele und seine noch ungeborenen Kinder, daß er den Schlüssel
nicht habe, und daß er strengstens verbiete, daß jemand die Kammer öffne
oder gar hineingehe. Jeder Skipper hat seine Schrullen. Er hatte viele,
unter andern jene, nie die Quartiere der Mannschaft zu inspizieren, was
er jede Woche einmal zu tun, laut Vorschrift, verpflichtet war. Er
begründete die Schrulle damit, daß er es nächste Woche ja tun könne, daß
er sich gerade heute nicht den Appetit verderben wolle und auch das
Besteck noch nicht gesetzt habe, was er jetzt zuerst einmal tun müsse.


                                   25

Es waren aber doch einmal Leute in jener Schreckenskammer gewesen und
hatten sich alles angesehen, was drin war. Diese Leute waren jetzt nicht
mehr auf der Yorikke, sie waren sofort runtergefeuert worden, als es
herauskam, daß sie es gewagt hatten, in jene Kammer einzudringen. Aber
ihre Erzählung hatte sich doch auf der Yorikke erhalten. Solche
Erzählungen erhalten sich immer, auch wenn die gesamte Mannschaft
entlassen wird auf einen Ruck, besonders in jenen Fällen, wenn der Eimer
auf einige Monate ins Trockendock muß.

Die Mannschaft mag das Schiff verlassen. Die Erzählungen verlassen ein
Schiff nie. Wenn das Schiff die Erzählung gehört hat, bleibt die
Erzählung auch drauf. Sie dringt in das Eisen, in das Holz, in die
Bunks, in die Ladeschächte, in die Kohlenbunker, in den Kesselraum. Und
dort erzählt das Schiff in den Nachtstunden seinen Kameraden, den
Mannschaften, die Geschichten wieder, Wort für Wort, genauer als wenn
die Geschichten gedruckt wären.

Auch diese Geschichten über die Schreckenskammer waren erhalten
geblieben. In der Kammer hatten die beiden Eindringlinge mehrere
menschliche Skelette gesehen. Wieviele es waren, hatten sie in ihrem
grausigen Schreck nicht zählen können. Es wäre auch nur schwer
möglich gewesen, weil die Skelette auseinandergefallen und
durcheinandergeschüttelt worden waren. Es war aber eine ganze Anzahl. Es
wurde auch bald festgestellt, wer die Skelette waren, oder richtiger,
wem sie ursprünglich gehörten. Die Skelette waren die Überreste
ehemaliger Mitglieder der Yorikke-Mannschaft, die von Ratten
aufgefressen worden waren, die die Größe sehr großer Katzen hatten.
Diese überlebensgroßen Ratten waren wiederholt gesehen worden, wenn sie
aus irgendwelchen Löchern der Schreckenskammer herauswischten.

Warum diese bedauernswerten Opfer den Ratten zum Fraße vorgeworfen
worden waren, stand zuerst nicht zweifelsfrei fest. Es kamen Gerüchte in
Umlauf, die sich schließlich aber auf eines kristallisierten. Diese
armen Männer waren geopfert worden, um die Fahrtkosten für die Yorikke
niedrigzuhalten und die Dividenden der Kompanie oder des Einzelbesitzers
der Yorikke hochzuhalten. Wenn nämlich in einem Hafen ein Mann
abmusterte und er wagte es, die Bezahlung der Überstunden zu verlangen,
wie es laut Vereinbarung getan werden soll, so wurde er kurzerhand in
die Schreckenskammer gebracht.

Dem Skipper blieb ja kein andrer Ausweg. Die Bezahlung der Heuer und die
Abmusterung wurden im Hafen vorgenommen. Dort konnte der Skipper den
Mann, der seine Überstunden bezahlt haben wollte, nicht gut über Bord
werfen; denn das hätten die Hafenbehörden sehen können und den Skipper
wegen Hafenverunreinigung mit Geldstrafe belegt. Was er mit seinem Manne
tat, darum hatten sich die Behörden nicht zu kümmern, nur was er mit dem
Hafen und dem Hafenwasser tat. Hätte der Skipper nun den Mann einfach
vom Boot gehen lassen, so wäre der Mann zur Polizei gegangen oder zum
Konsul oder zu einer Seemannsgewerkschaft, und der Skipper hätte die
Überstunden bezahlen müssen. Um das zu vermeiden, wurde der Mann kurz
entschlossen in die Schreckenskammer eingeschlossen.

Wenn das Schiff nun auf hoher See war, so ging der Skipper runter, um
den Mann wieder rauszulassen, denn nun war er ja nicht mehr gefährlich.
Aber die Ratten wollten den Mann jetzt nicht mehr hergeben, sie hatten
schon angefangen, an ihm zu essen, und eine Anzahl von Paaren wartete
bereits mit Heiratslizenzen, weil die Gelegenheit so günstig war, ein
ganz ausgezeichnetes Hochzeitsessen geben zu können. Der Skipper
brauchte den Mann bitter notwendig zum Arbeiten, und er mußte sich in
einen Kampf mit den Ratten einlassen. Bei diesem Kampfe aber zog der
Skipper jedesmal den Kürzeren und mußte endlich, um sein eignes Leben zu
retten, die Kammer verlassen, ohne den Mann mitzukriegen. Hilfe konnte
der Skipper ja nicht herbeirufen, dann wäre das alles herausgekommen,
und er hätte von nun an die Überstunden bezahlen müssen.

Seitdem ich auf der Yorikke gewesen bin und sie gefahren habe, glaube
ich nicht mehr an die herzzerreißenden Geschichten der Sklaven und der
Sklavenschiffe. So dicht, wie wir gepackt waren, sind Sklaven nie
gepackt worden. So hart, wie wir arbeiten mußten, haben Sklaven nie
arbeiten brauchen. So müde und so hungrig, wie wir immer waren, sind
Sklaven nie gewesen. Sklaven waren Handelsware, für die bezahlt worden
war, und für die man hohe Bezahlung erwartete. Diese Ware mußte
sorgfältig behandelt werden. Für abgerackerte, ausgehungerte und
übermüdete Sklaven bezahlte niemand auch nur die Transportkosten,
geschweige denn einen Preis, daß der Händler noch tüchtig daran
verdienen konnte.

Aber Seeleute sind keine Sklaven, für die bezahlt worden ist, und die
als kostbare Handelsware hoch versichert sind. Seeleute sind freie
Menschen. Sie sind frei, verhungert, verlumpt, übermüdet, arbeitslos und
darum gezwungen zu tun, was von ihnen verlangt wird, und zu arbeiten,
bis sie zusammenfallen. Dann werden sie über Bord geworfen, weil sie das
Futter nicht mehr wert sind. Da gibt es zu dieser Stunde noch Schiffe
zivilisierter Völker, auf denen die Seeleute gepeitscht werden dürfen,
wenn sie sich weigern, die Arbeit von zwei Wachen dauernd zu übernehmen
und von der dritten Wache noch die Hälfte, weil der Schiffsbesitzer so
schlechte Löhne zahlt, daß die Mannschaft immer um ein Drittel zu kurz
ist.

Und der Seemann hat zu essen, was ihm vorgesetzt wird, ob der Koch
gestern noch Schneider war, weil ein richtiger Koch für die Heuer nicht
zu haben war, oder ob der Skipper an der Mannschaftskost so viel zu
ersparen trachtet, daß die Mannschaft nie satt wird.

Die Seegeschichten erzählen viel über Schiffe und über Matrosen. Wenn
man diese Schiffe aber ein wenig aufmerksam betrachtet, dann sieht man,
daß es Sonntag-Nachmittags-Schiffe sind, und die Matrosen in jenen
Seegeschichten sind immer lustige Operettensänger, die sich die Hände
maniküren und ihren Liebeskummer hätscheln.


                                   26

Mit den schläfrigen Leuten im Quartier hatte ich alles in allem kaum
zehn Worte gewechselt. Als ich meine Bunk hatte und mir gesagt war, daß
es hier weder Decken noch Matratzen gäbe, war der Gesprächsstoff
erschöpft.

Über mir hörte ich das übliche Rattern und Knattern der Ketten, das
dröhnende Hämmern des Ankers, der gegen die Bordwand schlug, ehe er zur
Ruhe kam, das Rasseln der Wintschen, das Herumlaufen, Herumtrampeln, das
Kommandieren, das Fluchen, das alles notwendig ist, damit ein Schiff
rausgehen kann. Dasselbe Geräusch hört man, wenn das Schiff reinkommt.

Mich ärgert dieses Geräusch immer und macht mich mißmutig. Ich fühle
mich nur wohl, wenn der Eimer draußen auf hoher See schwimmt. Ganz
gleich, ob er heim geht oder raus. Aber ich will draußen sein mit dem
Schiff. Ein Schiff im Hafen ist kein Schiff, sondern eine Kiste, die
gepackt wird, in die eingepackt oder aus der ausgepackt wird. Im Hafen
ist man auch gar kein Seemann auf dem Schiff; man ist eben gerade
Tagelöhner. Die dreckigste Arbeit wird im Hafen gemacht, und man
arbeitet, als ob man in einer Fabrik wäre, aber nicht auf einem Schiff.
Solange ich das Rasseln und Kommandieren hörte, verließ ich das Quartier
nicht. Wo gearbeitet wird, da soll man nicht nahe gehen. Denn steht man
erst einmal in der Nähe, dann kann leicht etwas für einen dabei
abfallen: „He, langen Sie doch da rasch mal zu.“ Ich denke ja gar nicht
daran. Wozu denn? Ich kriege es ja nicht bezahlt. Da hängen sie in jedes
Bureau und in jeden Fabriksaal ein Plakat mit der Aufforderung: „Do
more!“ oder „Tu mehr!“ Die Erklärung wird einem kostenfrei gegeben auf
einem Handzettel, der einem auf den Arbeitsplatz gelegt wird: „Tu mehr!
Denn wenn du heute mehr tust, als man von dir fordert, wenn du heute
mehr arbeitest, als wofür du bezahlt wirst, dann wird man dir auch eines
Tages das bezahlen, was du mehr tust.“

Mich hat noch nie jemand damit fangen können, darum bin ich ja auch
nicht Generaldirektor der Pacific Railway and Steamship Co. Inc.
geworden. Man kann es immer wieder in den Sonntagsblättern lesen und in
den Zeitschriften und in den Bekenntnissen erfolgreicher Männer, daß
allein durch dieses freiwillige Mehrarbeiten, das Ehrgeiz, Strebsamkeit
und den Wunsch, kommandieren zu dürfen, verrät, schon manch einfacher
schlichter Arbeitsmann Generaldirektor oder Milliardär geworden sei, und
daß jedem, der diesen Spruch gewissenhaft befolgt, der gleiche Weg zum
Generaldirektorposten offenstehe. Aber soviel Generaldirektorstellen und
soviel Milliardärposten sind in ganz Amerika nicht frei. Da kann ich
erst mal dreißig Jahre lang immer mehr und immer noch mehr arbeiten,
ohne mehr bezahlt zu bekommen, weil ich ja doch Generaldirektor werden
soll. Wenn ich dann gelegentlich einmal nachfrage: „Na, wie ist es denn
nun mit dem Generaldirektorposten, ist noch nichts frei?“ so wird mir
gesagt: „Bedaure sehr, momentan noch nicht, wir haben Sie aber
vorgemerkt, arbeiten Sie noch eine Weile tüchtig so weiter, wir werden
Sie nicht aus dem Auge verlieren.“ Früher hieß es: „Jeder meiner
Soldaten trägt den Marschallstab in seinem Tornister“, heute heißt es:
„Jeder unsrer Arbeiter und Angestellten kann Generaldirektor werden.“
Ich habe als Junge ja auch Zeitungen ausgeschrien und Stiefel geputzt
und mir mit elf Jahren schon meinen Lebensunterhalt verdienen müssen,
aber ich bin bis heute weder Generaldirektor noch Milliardär geworden.
Die Zeitungen, die jene Milliardäre als Jungen ausgerufen haben, und die
Stiefel, die sie geputzt haben, müssen ganz andre Zeitungen und Stiefel
gewesen sein, als die, mit denen ich in Berührung gekommen bin.

Wenn man des Nachts so auf dem Ausguck steht, und es ist alles ruhig,
kommen einem allerlei schnurrige Gedanken. So habe ich mir schon
ausgemalt, was geschehen wäre, wenn die Soldaten Napoleons plötzlich
alle ihren Marschallstab aus ihren Tornistern genommen hätten. Wer macht
denn dann die Nieten warm in der Kesselschmiede? Die frischgeadelten
Generaldirektoren natürlich. Wer sonst? Es ist ja niemand sonst
übriggeblieben, der es machen könnte, und der Kessel soll doch fertig
werden, und die Schlacht soll geschlagen werden, weil man sonst weder
Generaldirektoren noch Marschälle braucht. Der Glaube füllt leere Säcke
mit Gold, macht Zimmermannssöhne zu Göttern und Artillerieleutnants zu
Kaisern, deren Namen Jahrtausende überstrahlt. Mach’ die Menschen
gläubig, und sie prügeln ihren lieben Gott zum Himmel hinaus und setzen
dich auf seinen Thron. Der Glaube versetzt Berge, aber der Unglaube
zerbricht alle Sklavenketten.

Als das Gerassel endlich einschlief und ich bereits Deckarbeiter müßig
herumstehen sah, verließ ich das Quartier und ging hinaus aufs Deck.
Gleich hoppte der Taschendieb, der sich mir als Zweiten Ingenieur
vorgestellt hatte, auf mich zu und sagte in seinem unsagbar komischen
Englisch zu mir: „Der Skipper will mit Ihnen sprechen, kommen Sie mit.“

Die Redewendung „Kommen Sie mit“ bereitet in neunzehn von zwanzig Fällen
nur den Satz vor: „Wir werden Sie für eine gute Weile hierbehalten.“

Auch wenn in diesem Ausnahmefalle der zweite Satz nicht gesprochen
worden wäre, so war seine Folge doch schon entschieden. Yorikke lief
bereits wie das leibhaftige Donnerwetter auf hoher See. Der Lotse hatte
das Boot verlassen, und der Erste Offizier hatte die Wache übernommen.

Der Skipper war ein noch junger Mann, sehr gut genährt, mit einem
gesunden, roten und glattrasierten Gesicht. Er hatte wässerig blaue
Augen, und in seinem gelbbraunen Haar waren brandrote Farbtöne. Er war
außerordentlich gut gekleidet, beinahe überelegant. Die Zusammenstellung
der Farben des Anzuges, der Krawatte, der Strümpfe und der eleganten
Halbschuhe waren gut gewählt. Nach seinem Aussehen würde man ihn nicht
für den Kapitän eines kleinen Frachtdampfers, nicht einmal für den eines
großen Passagierschiffes gehalten haben. Er sah nicht aus, als ob er
einen Eimer auch nur von einer offnen Reede zu einer andern offnen Reede
bringen könnte, ohne dabei auf der andern Seite der Erdoberfläche zu
landen. Er sprach ein gutes reines Englisch, wie man es in einer sehr
guten Schule in einem nicht englisch sprechenden Lande lernen mag. Die
Worte wählte er sehr sorgfältig aus, es machte den Eindruck, als ob er
sehr geschickt, aber sehr rasch während des Sprechens nur solche Worte
auswählte, die er fehlerfrei aussprechen konnte. Um dies mit Erfolg tun
zu können, machte er im Sprechen Pausen, wodurch er die Vorstellung
erweckte, daß er ein Denker sei. Der Kontrast zwischen dem Skipper und
dem Zweiten Ingenieur, der ja ebenfalls Offizier war, hatte nichts
Komisches an sich, sondern war so erschütternd, daß, wenn ich je im
Zweifel gewesen wäre, wo ich war, ich es aus diesem Kontrast sofort
gewußt hätte.

„So, Sie sind der neue Kohlenzieher?“ grüßte er mich, als ich in seine
Kabine trat.

„Ich? Kohlenzieher? No, Sir, I am fireman, ich bin Heizer.“ Mir kam
schon der Leuchtturm in Sicht.

„Von Heizer habe ich nichts gesagt“, mischte sich jetzt der Taschendieb
ein. „Ich habe gefragt Heizpersonal, nicht wahr, das habe ich doch
gefragt?“

„Das ist richtig,“ erwiderte ich, „das haben Sie gefragt, und das habe
ich mit ja beantwortet. Aber nie in meinem Leben habe ich dabei an
Kohlenzieher gedacht.“

Der Skipper machte ein gelangweiltes Gesicht und sagte zu dem
Roßtäuscher: „Das ist nun Ihre Sache, Mr. Dils. Ich habe geglaubt, das
sei in Ordnung.“

„Ich will sofort das Boot verlassen, Skipper. Ich denke mit keiner Idee
daran, als Kohlenzieher zu zeichnen. Sofort ausbooten. Ich protestiere,
und ich werde mich beim Hafenamt beschweren wegen versuchten
Shanghaiing.“

„Wer hat Sie shanghaied?“ fuhr jetzt der Roßtäuscher auf. „Ich? Das ist
eine unverschämte Lüge.“

„Dils,“ sagte der Kapitän jetzt sehr ernst, „damit will ich nichts zu
tun haben. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Das haben Sie auszubaden,
das erkläre ich gleich hier. Machen Sie das draußen miteinander ab.“

Der Taschendieb ließ sich aber nicht verwirren. „Was habe ich gefragt?
Habe ich nicht gefragt: Kesselgang?“

„Richtig, das haben Sie gefragt, aber Sie haben nicht gesagt –“

„Gehört der Kohlenzieher zur Schwarzen Bande oder nicht?“ fragte der
Ingenieur nun lauernd.

„Allerdings gehört der Kohlenzieher dazu,“ bestätigte ich der Wahrheit
gemäß, „aber ich habe –“

„Dann ist es ganz in Ordnung“, sagte nun der Skipper. „Wenn Sie Heizer
meinten, so hätten Sie das ausdrücklich sagen müssen, dann hätte Mr.
Dils Ihnen schon gesagt, daß wir keinen Heizer zu kurz sind. Also gut,
dann können wir ja nun schreiben.“

Er nahm die Mannschaftslisten und fragte nach meinem Namen.

Unter meinem guten Seemannsnamen auf einem Totenschiff? Niemals. So tief
bin ich noch nicht gesunken. Ich kriege ja nie wieder in meinem Leben
einen ehrenhaften Eimer. Lieber das Entlassungszeugnis aus einem
anständigen Gefängnis, das ist besser als das Quittungsbuch eines
Totenschiffes.

So gab ich meinen guten Namen auf und sagte mich von meinen
Familienbanden los. Ich hatte keinen Namen mehr.

„Geboren in und wann?“

Der Name war weg, aber ich hatte meine Heimat noch.

„Geboren in und wann?“

„In – in –“

„In wo?“

„Alexandria.“

„In U. S.?“

„Nein in Ägypten.“

Nun war auch die Heimat weg; denn von nun hatte ich das Quittungsbuch
der Yorikke als einzigen Ausweis für den Rest meines Lebens.

„Nationalität? Britisch?“

„No. Ohne Nationalität.“

Ich sollte meinen Namen und meine Nationalität in den Listen der Yorikke
für ewige Zeiten registriert wissen? Ein gutgewaschener Amerikaner,
zivilisiert, ausgerüstet mit dem Evangelium der Zahnbürste und der
Wissenschaft des täglichen Füßewaschens, sollte je eine Yorikke
gefahren, je eine Yorikke bedient, gescheuert, angestrichen haben? Meine
Heimat, nein, nicht meine Heimat, aber die Vertreter meiner Heimat
hatten mich zwar ausgestoßen und verleugnet. Aber kann ich die Erde
verleugnen, deren Hauch ich mit meinem ersten Atemzuge trank? Nicht der
Vertreter wegen und nicht seiner Flagge wegen, aber der Liebe zur Heimat
wegen, ihr zuliebe, ihr zu Ehren, habe ich sie abzuschwören. Auf der
Yorikke fährt kein ehrlicher amerikanischer Junge, selbst wenn er dem
Henker entlaufen sein sollte.

„No, Sir, keine Nationalität.“

Nach Seemannskarte, Heuerbuch, Paß oder sonst etwas Ähnlichem fragte er
nicht. Er wußte, daß Leute, die zur Yorikke kommen, nicht nach solchen
Dingen gefragt werden dürfen. Sie könnten ja sagen: „Ich habe keine
Papiere.“ Was dann? Dann dürfte er sie nicht zeichnen lassen, und
Yorikke würde keine Mannschaft haben. Beim nächsten Konsul mußte die
Liste ja amtlich bestätigt werden. Aber dann war nichts mehr zu ändern,
der Mann war bereits angemustert, hatte bereits gefahren, da war es
nicht mehr möglich, ihm die konsulare Bestätigung zu verweigern. Der
Konsul kennt amtlich keine Totenschiffe und nichtamtlich glaubt er nicht
daran. Konsul zu sein, erfordert Talente. Die Konsuln glauben auch nicht
an das Geborensein von Menschen, wenn der Geburtsschein das Geborensein
nicht schwarz auf weiß beurkundet.

Was blieb von mir noch übrig, nachdem Name und Heimat verspielt waren?
Die Arbeitskraft. Das allein war es, das zählte. Das allein wurde
bezahlt. Nicht zum vollen Werte. Aber etwas, damit nicht die
Erschlaffung den Spaß verdirbt.

„Die Heuer für die Kohlenzieher ist siebzig Peseta“, sagte der Skipper
so wie nebenbei, während er in die Liste schreibt.

„Wa–a–a–s?“ schreie ich. „Siebzig Peseta?“

„Ja, haben Sie das nicht gewußt?“ fragt er mit einer müden Geste.

„Ich habe angemustert für englische Heuer“, verteidige ich nun meinen
Lohn.

„Mr. Dils?“ fragt der Skipper. „Was ist das, Mr. Dils?“

„Habe ich Ihnen englische Heuer versprochen?“ sagt der Roßtäuscher
grinsend zu mir.

Ich könnte diesem Hund gleich so eine in die Fresse hauen, aber hier
will ich doch nicht in Eisen liegen. Nicht auf der Yorikke, wo mich die
Ratten lebendig anfressen würden, wenn man sich nicht wehren kann.
„Jawohl, Sie haben mir englische Heuer versprochen“, schrie ich nun in
Wut auf den Gauner ein. Es ist ja das Letzte, was ich zu verteidigen
habe, meinen Arbeitslohn. Den Hundelohn. Je schwerer die Arbeit, desto
geringer der Lohn. Der Kohlenzieher hat die schwerste und teuflischste
Arbeit auf dem Eimer und meist den schäbigsten Lohn. Englische Heuer ist
ja auch nicht berühmt, aber wo in der Welt bekommt denn der Arbeiter
seinen vollen Lohn? Wer den Arbeiter seinen Lohn nicht zahlt, ist ein
Bluthund. Aber man braucht den Lohn mit dem Arbeiter, der die Arbeit so
bitter benötigt, nur vorher ausmachen, dann ist es sein Lohn. Sein Lohn,
und man ist kein Bluthund mehr. Gäbe es keine Gesetze, dann würde es
auch keine Milliardäre geben. Worte kann man kneten, darum werden
Gesetze in Worten niedergeschrieben. Dem Hungernden ist das Kneten bei
Todesstrafe verboten; bei etwa mildernden Umständen ist Freiheitsstrafe
vorgesehen, um Gnade üben zu können und die Menschlichkeit der Gesetze
zu beweisen.

„Jawohl, das haben Sie, Sie haben mir englische Heuer zugesagt“, schreie
ich noch einmal.

„Schreien Sie nicht so“, sagt der Kapitän und sieht von der Liste auf.
„Wie ist das nun, Dils? Ich bin das endlich leid. Wenn Sie Leute
annehmen, will ich doch, daß alles in Ordnung ist.“

Der Skipper spielt fein. Yorikke darf stolz sein auf ihren Meister.

„Von englischer Heuer habe ich gar nicht gesprochen“, sagt der
Roßtäuscher.

„Doch haben Sie das. Das kann ich beschwören.“ Das winzige Eckchen
Recht, das mir noch geblieben ist, will ich verteidigen bis zum
Äußersten.

„Beschwören? Begehen Sie nur ja keinen Meineid, Mann. Ich weiß genau,
was ich alles zu Ihnen gesagt habe, und ich weiß ganz genau, was Sie
geantwortet haben. Ich habe hier genug Zeugen an Bord, die bei mir
standen, als ich Sie anmusterte. Ich habe gesagt ‚englisches Geld‘, aber
von englischer Heuer habe ich kein Wort gesagt.“

Der Hund hat recht. Er hat in der Tat englisches Geld gesagt und das
Wort Heuer gar nicht erwähnt. Ich hatte natürlich darunter englische
Heuer verstanden.

„Dann ist das ja wohl nun auch in Ordnung“, sagte der Skipper ruhig.
„Sie bekommen natürlich ihre Heuer in englischen Pfunden und Schillings
ausgezahlt. Für Überstunden werden fünf Pence bezahlt. Und wo wollen Sie
abmustern?“

„Im nächsten Hafen, den wir anlaufen.“

„Das können Sie nicht“, sagt der Roßtäuscher grienend.

„Jawohl, das kann ich.“

„Können Sie nicht“, wiederholte er. „Sie haben gemustert für Liverpool.“

„Das meine ich ja auch“, sage ich. „Liverpool ist ja der nächste Hafen,
den wir anlaufen.“

„Nein,“ antwortet der Skipper, „wir haben deklariert Griechenland, aber
ich habe meine Absichten geändert und mache Nordafrika.“

Deklariert und während der Fahrt Kurswechsel. Ei, lieber Freund, du bist
deutlich. Marokko und Syrien bezahlen gute Preise für – –. Und wenn du
das Geld noch schnell glücklich drin hast, dann wird angemustert auf
große lange Fahrt. He? Einen Salzwasserfisch, der in so vielen Meeren
geschwommen ist, dem kannst du nichts verstecken. Das wäre nicht der
erste Blender, den ich fahre.

„Sie haben mir gesagt Liverpool, und Sie haben ausdrücklich erwähnt, daß
ich in Liverpool abmustern darf“, rufe ich erregt dem Taschendieb zu.

„Kein Wort wahr, Skipper“, sagt der gerissene Bursche. „Ich habe gesagt,
wir haben Stückgut für Liverpool, und er könne dort abmustern, wenn wir
Liverpool machen.“

„Das ist ja dann alles in Ordnung“, bestätigt nun der Kapitän. „Wir
haben acht Kisten Ölsardinen für Liverpool, Stückgut, weit unter
Frachtsatz. Lieferungsgrenze achtzehn Monate. Ich werde doch nicht
dieser acht Kisten wegen, die als Nebengut gehen, Liverpool machen. Die
sind Gelegenheitsgut, die keine Fracht kosten sollen. Wenn ich mehr
aufnehme, daß es sich lohnt, gehe ich natürlich schon innerhalb der
nächsten sechs Monate rauf.“

„Das konnten Sie doch aber gleich sagen, daß es nicht Stückgut sei,
sondern Schnappgut, das Sie für Liverpool haben.“

„Das haben Sie ja nicht gefragt“, widerspricht der Roßtäuscher.

Eine feine Gesellschaft. Schmuggeln, Deklarierungen fälschen, Häfen
täuschen, Kurse schwindeln und Totenschiffe fahren. Denen gegenüber ist
ein zünftiger Seeräuber ein Edelmann. Einen Seeräuber fahren, ist keine
Schande, da würde ich weder Namen noch Nationalität abschwören.
Seeräuber fahren, ist Ehrensache. Diesen Eimer fahren, ist eine Schmach,
an der ich lange zu würgen haben werde, bis sie geschluckt und verdaut
sein wird.

„Wollen Sie hier Ihren Namen untersetzen.“

Der Skipper reicht mir einen Federhalter.

„Darunter? Nie! nie!“ Ich rufe es in Empörung.

„Wie Sie wollen. Mr. Dils, bitte, schreiben Sie hier als Zeuge hin.“

Dieser Taschendieb, dieser Roßtäuscher, dieser Gauner, dieser Betrüger,
dieser Shanghaier, dieser Mann, für den der Strick, mit dem zwei Dutzend
Raubmörder gehenkt worden sind, zu anständig und zu ehrenhaft wäre, soll
da für mich unterschreiben. Dieses Aas soll nicht einmal unter meinem
ausgedachten Namen seine aussätzige Hand hinlegen dürfen.

„Geben Sie her, Skipper, ich unterschreibe selbst, es ist ja nun doch
alles schon Schiet mit Rotz.“

„Helmont Rigbay, Alexandria (Ägypten).“

Da steht es. Fest und sicher. Nun, Yorikke, hoiho! Geh’ zur Hölle
meinetwegen. Jetzt ist alles, alles egal. Ausgelöscht aus den Lebenden.
Verweht. Kein Hauch von mir ist mehr in der Welt.

   Holla–he! Holla–he! Hoiho!
   Ich liege nicht an einem Riff,
   Ich fahre auf dem Totenschiff
     So fern vom sonn’gen New Orleans,
     So fern vom lieben Louisiana.

Holla–he! Morituri salutant! Die modernen Gladiatoren grüßen dich, o
Cäsar Augustus Capitalismus. Morituri salutant! Die Totgeweihten grüßen
dich, o Cäsar Augustus Imperator, wir sind bereit zu sterben für dich,
für die heilige und glorreiche Versicherung.

O Zeiten, o Sitten! Die Gladiatoren zogen in glänzenden Rüstungen in die
Arena. Fanfaren schmetterten und Zimbeln klangen. Schöne Frauen winkten
ihnen zu von den Brüstungen und ließen ihre goldgestickten Tüchelchen
fallen; die Gladiatoren hoben sie auf, preßten sie an ihre Lippen,
atmeten den berückenden Hauch, und ein süßes Lächeln dankte ihnen und
grüßte sie. Unter dem begeisterten Beifallsgeschrei einer erregten
Menge, unter den Klängen rauschender Kriegsmusik, hauchten sie ihren
letzten Atem aus.

Wir aber, die Gladiatoren von heute, wir verkommen im Dreck. Wir sind zu
müde, um uns zu waschen. Wozu auch waschen? Wir verhungern, weil wir vor
der Schüssel einschlafen. Wir verhungern, weil die Kompanie sparen muß,
um die Konkurrenz auszuhalten. Wir sterben in Lumpen, schweigend, auf
einem gesuchten Riff, tief im Kesselraum. Wir sehen das Wasser kommen,
und wir können nicht mehr rauf. Wir hoffen, daß der Kessel explodiert,
um es kurz zu machen, weil die Hände eingeklemmt sind, die Feuertüren
aufgerissen sind und die glühende Kohle an unsern Füßen und Schenkeln
langsam frißt. Der Kesselbums? Der ist dran gewöhnt. Dem macht das
Verbrennen und Verbrühen nichts aus.

Wir sterben ohne Fanfarenmusik, ohne das Lächeln schöner Frauen, ohne
das Beifallsrauschen einer erregten, festlich gestimmten Menge. Wir
sterben schweigend und in Lumpen, für dich, o Cäsar Augustus! Heil dir,
Imperator, wir haben keinen Namen, wir haben keine Nationalität. Wir
sind niemand, wir sind nichts.

Heil dir, Cäsar Augustus Imperator, du hast keinen Witwen und Waisen
Pension zu zahlen. Wir, o Cäsar, sind die getreuesten deiner Diener. Die
Totgeweihten grüßen dich!


                                   27

Es war halb sechs, als ein Neger das Abendbrot in das Quartier brachte.
Das Abendbrot war in zwei verbeulten und fettigen Blechkumpen. Eine
dünne Erbsensuppe, Pellkartoffeln und heißes braunes Wasser in einer
zerhämmerten Emaillekanne. Das braune Wasser hieß: Der Tee.

„Wo ist denn das Fleisch?“ fragte ich den Neger.

„Nichts von Fleisch heute“, sagte er.

Ich sah ihn an und bemerkte, daß er kein Nigger war, sondern ein Weißer.
Er war der Kohlenzieher einer andern Wache.

„Abendessen holen ist deine Sache“, wandte sich der Mann mir zu.

„Ich bin hier nicht als Meßboy, als Moses, damit du das nur gleich
weißt“, sagte ich darauf.

„Hier gibt es keine Meßboy.“

„Na?“

„Das müssen hier die Kohlenzieher machen.“

Die Hiebe setzen schon. Das kann ja nett werden. Ich sehe schon, warum
und wozu. Das Schicksal will seinen Lauf haben.

„Abendessen holt der Kohlenzieher der Rattenwache.“

Der zweite Hieb. Jetzt zähle ich nicht mehr die Hiebe. Laß sie kommen
und fallen. Mach das Fell dick.

Also Rattenwache. Das war ja vorauszusehen. Wache von zwölf bis vier,
die niederträchtigste Wache, die erfunden wurde, um Seeleute zu martern.
Um vier kommt man von Wache. Man wäscht sich. Dann holt man Abendessen
für die ganze Bande. Dann wäscht man das Geschirr für die ganze Bande,
weil ja kein Meßboy da ist und die Kohlenzieher alles mitzumachen haben.
Dann legt man sich in die Bunk. Da es bis zum nächsten Morgen um acht
nichts mehr zu essen gibt, man aber in der Nacht auf Wache zu gehen hat
und nicht nur zu gehen, sondern zu arbeiten und wie, so muß man tüchtig
Abendbrot reinhauen, weil man sonst in der Nacht klappt. Mit dem vollen
Magen kann man aber nicht schlafen. Bis um zehn manchmal sitzen auch
noch die Freiwachen auf und spielen Karten oder erzählen sich etwas. Da
sie keinen andern Raum haben, wo sie hingehen können, so sitzen sie
hier. Man kann ihnen das Geplauder doch nicht verbieten, sie verlernen
ja sonst die Sprache, und sie reden doch schon leise, um den schlafenden
Mitarbeiter nicht zu stören. Aber das leise Reden stört noch mehr als
das laute. Um elf fängt man an, einzuschlafen. Zwanzig vor zwölf kommt
die Wecke. Raus und runter. Um vier kommt man von Wache. Wäscht sich.
Vielleicht. Man fällt in die Bunk. Um halb sechs geht der Tageslärm auf
dem Boot schon los. Um acht wird man aus dem Schlaf gerissen: „Frühstück
ist da!“ Den ganzen Vormittag wird auf dem Boot gehämmert, genagelt,
gesägt, kommandiert. Um zwanzig vor zwölf kommt keine Wecke, weil ja
nicht angenommen wird, daß jemand um diese Zeit schlafen könne. Man ist
schon auf und fällt in seine Wache. Und so fort, um vier – ja und immer
so weiter.

„Wer wäscht denn das Geschirr, wenn kein Meßboy da ist?“

„Die Kohlenzieher.“

„Wer scheuert denn die Aborte?“

„Der Kohlenzieher.“

Das ist ja eine durchaus ehrenwerte Beschäftigung, wenn man sonst nichts
weiter zu tun hat. In diesem Falle ist es Schweinerei. Und wer die
Aborte gesehen hätte, der würde gesagt haben: „Das ist die größte
Schweinerei, die ich je in meinem Leben oder in einem Schützengraben
gesehen habe.“ Aber ich habe erfahren gelernt, daß die Schweine saubere
Tiere sind, die dem Pferde an Sauberkeit nichts nachgeben. Wenn ich den
Bauer oder den Schweinezüchter in einen finstern Stall stecke, der zwei
Schritte lang und zwei Schritte breit ist, ihn überfüttere, nie
hinauslasse, nur ab und zu ein paar Hälmchen Stroh hinwerfe und die
alten vermanschten nicht oder nur selten herausnehme, weil er sich ja in
dem Mist so wohl fühlt, dann möchte ich einmal sehen, wie der Bauer in
diesem Stall nach zwei Wochen aussieht, und wer das größere Dreckschwein
ist, der Bauer oder sein Dickerchen. Unbesorgt, alles wird an den
Menschen heimgezahlt werden, alles, was er Pferden, Hunden, Schweinen,
Fröschen und Vögeln angetan hat. Dafür wird er einmal mehr büßen müssen,
als was er seinen eignen Mitmenschen tat. Man kann keinen Abort
scheuern, wenn man zu müde ist, um den Löffel mit Reis in den Mund zu
bringen, no, Sir.

Sonniges Spanien, das ist die Strafe, weil ich dich, du freundliche
Wirtin, verließ!

Auf einem guten Schifflein ist ein Nauke; ein Tagarbeiter, der so als
Knochenbeilage mitgenommen wird, sich nie überarbeitet, immer überall da
sein soll, um zuzufassen, seinen Deckarbeiterlohn bekommt und im großen
und ganzen ein ganz angenehmes Leben führt. Nauke ist der Mann für
alles. Und alles, was verkehrt geht, wird stets auf Nauke zurückgeführt.
Er ist an allem schuld. Wenn in den Bunkern Feuer ausbricht, Nauke ist
schuld, obgleich er nie in die Bunker darf, aber er hat die Luken nicht
regelmäßig gehoben. Wenn dem Koch das Essen anbrennt, Nauke kriegt den
Krach, obgleich er nie in die Küche darf, aber er hat an den
Wasserkränen geschraubt, als er sie putzte. Wenn das Schiff untergeht,
Nauke ist schuld, weil er, weil er – nun ja, weil er Nauke ist.

Auf der Yorikke waren die Kohlenzieher die Nauken, und der Nauke der
Nauken war – richtig geraten: der Kohlenzieher der Rattenwache. Wenn
irgend etwas Dreckiges, Unangenehmes, Lebensgefährliches zu tun war,
sagte es der Erste Ingenieur dem Zweiten, daß er es tun solle. Der sagte
es dem Donkeyman, der dem Putzer und Öler, der dem Heizer und der Heizer
sagte: „Das ist keine Heizerarbeit, das ist Kohlenziehers Sache.“ Und
der Kohlenzieher der Rattenwache tat es, weil er es tun mußte.

Kam der Kohlenzieher dann heraus mit blutenden und aufgeschlagenen und
zerschrammten Knochen und mit zwanzig Brandwunden bedeckt, und hatte er
an den Beinen hervorgezogen werden müssen, weil er sonst verbrüht worden
wäre, dann ging der Heizer zum Öler und sagte: „Ich habe es getan.“ Der
Öler zum Donkeyman: „Ich.“ Der Donkeyman zum Zweiten Ingenieur: „Ich.“
Und der Zweite zum Ersten, und der Erste Ingenieur ging zum Alten und
sagte: „Ich möchte das im Journal rapportiert haben: ‚Der Erste
Ingenieur hat, während die Kessel über vollen Feuern lagen, um die Fahrt
nicht nachzubüßen, unter Lebensgefahr einen Rohrbruch ersten Grades
ausgeheilt. Schiff konnte ungeschwächte Fahrt beibehalten‘.“ Die
Kompanie liest das Journal, und der Direktor sagt: „Wir müssen dem
Ersten Ingenieur der Yorikke ein größeres Schiff geben, der Mann ist
Besseres wert.“ Der Kohlenzieher hat die Narben, die er nie wieder los
wird, und ist gekrüppelt. Aber warum mußte es denn der Kohlenzieher tun?
Er konnte doch auch sagen wie die andern: „Das tu ich nicht, da komme
ich nicht mehr lebendig heraus.“ Aber das konnte er eben nicht sagen. Er
mußte, mußte es tun. „Ja, Mann, wollen Sie denn das ganze Schiff
untergehen lassen und alle Ihre Kameraden dabei ertrinken lassen? Können
Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten?“ Die Deckarbeiter konnten es ja
nicht tun, die verstanden ja nichts von Kesseln. Der Kohlenzieher
verstand auch nichts von Kesseln, er verstand nur Kohle zu schleppen.
Der Ingenieur verstand etwas von den Kesseln, er wurde dafür ja als
Erster Ingenieur bezahlt, weil er etwas von Kesseln verstand und bei
seinen Prüfungen solche Dinge machen mußte. Aber der Kohlenzieher
arbeitete vor den Kesseln und neben den Kesseln und hinter den Kesseln,
und er war der Kohlenzieher, und er war der Mann, der die Verantwortung
für den Tod so vieler Menschen nicht tragen wollte, auch wenn sein Leben
dabei in die Kehrichttonne ging. Das Leben eines dreckigen Kohlenziehers
ist kein Leben, niemand zählt es. Es ist weg und Schluß, reden wir nicht
mehr davon. Eine Fliege kann man ja schließlich aus der Milch fischen
und ihr das kleine Leben schenken, aber ein Kohlenzieher ist nicht einer
Fliege gleich. Der Kohlenzieher ist Dreck, Staub, Scheuerlappen; er ist
eben gerade gut genug, die Kohle zu ziehen.

„Kohlenzieher, he!“ ruft der Erste Ingenieur, „wollen Sie einen Rum
trinken?“

„Ja, Chef.“

Aber das Schnapsglas fällt ihm aus der Hand, der Rum ist weg. Die Hand
ist verbrüht, yes, Sir.

Das Abendessen stand auf dem Tisch. Hungrig war ich inzwischen auch
geworden, und ich dachte, daß ich ganz gut etwas essen könnte. Das war
meine Absicht. Aber die Absicht haben und die Absicht ausführen, sind
zwei Dinge. Ich sah mich nach einem Teller und nach einem Löffel um.

„Laß den Teller stehen, das ist meiner.“

„Ja, wo kriege ich denn da einen Teller her?“

„Wenn du dir keinen mitgebracht hast, dann wirst du wohl ohne Teller
hier leben müssen.“

„Wird denn hier kein Geschirr geliefert?“

„Nur was du selber hast, das kannst du dir liefern.“

„Wie soll ich denn da essen, ohne Teller, ohne Gabel und Löffel?“

„Deine Sache.“

„Höre, du Neuer,“ rief einer aus seiner Bunk heraus, „du kannst meinen
Teller, meine Tasse und mein Geschirr haben. Hast es aber immer zu
putzen dafür.“

Da war einer, der hatte nur einen zerbrochenen Teller, aber keine Tasse;
ein andrer eine Gabel, aber keinen Löffel. Wenn nun das Essen ins
Quartier kam, entstand zuerst immer ein Streit darüber, wer zuerst den
Löffel oder die Tasse oder den Teller gebrauchen dürfe; denn wer zuerst
in den Besitz des Tellers oder des Löffels gelangte, fischte sich
natürlich das Beste heraus. Niemand kann es ihm übelnehmen.

Das, was Tee genannt wurde, war heißes braunes Wasser. Oft war es nicht
heiß, sondern lauwarm. Das, was Kaffee genannt wurde, gab es zum
Frühstück und um drei Uhr. Diesen Drei-Uhr-Kaffee habe ich nie gesehen.
Grund: Rattenwache. Von zwölf bis vier war ich auf Wache. Um drei gab es
den Kaffee. Um vier, wenn ich abgelöst wurde, war auch nicht ein Tropfen
mehr von diesem Kaffee vorhanden. Manchmal war noch heißes Wasser in der
Galley, aber wenn man keine eignen Kaffeebohnen hatte, so konnte man
sich keinen Kaffee bereiten.

Je weiter Kaffee oder Tee von wahrem Kaffee oder Tee entfernt sind,
desto mehr hat man das Bedürfnis, ihn mit Zucker und Milch zu
verschönern, um die Phantasie anzuregen. Alle drei Wochen erhielt jeder
Mann eine kleine Büchse kondensierte und gezuckerte Milch und jede Woche
ein halbes Kilo Zucker; denn Kaffee und Tee wurden von der Galley
schlicht geliefert, also ohne Milch und Zucker.

Hatte man die Milch gefaßt, so öffnete man die Büchse und nahm als
sparsamer Mensch ein Löffelchen voll heraus, um dem Tee ein Wölkchen zu
geben. Dann stellte man seine Büchse sorgfältig fort, um sie erst wieder
beim nächsten Kaffee zu gebrauchen. Aber während man sich auf Wache
befand, wurde die Büchse nicht gestohlen, aber von andern aufgebraucht
bis auf den letzten Rest. Da die sichersten Verstecke am leichtesten
gefunden werden, passierte mir das nur beim erstenmal, daß meine Milch
verschwand. Als ich das zweitemal Milch faßte, löffelte ich sie auf
einem Sitz völlig aus, das einzige Mittel, meine Ration zu retten, ein
Mittel, das alle anwandten.

Mit dem halben Kilo Zucker machte man es genau ebenso, er wurde sofort
nach dem Fassen auf einen Ruck aufgegessen. Wir kamen einmal zu einer
Einigung. Der Zucker des ganzen Quartiers wurde in eine gemeinsame
Büchse geschüttet, und jeder sollte sich einen Löffel herausnehmen, wenn
der Kaffee oder Tee kam. Die Folge dieser Einigung war, daß der ganze
Zucker am zweiten Tage verschwunden war und mich nur die leere Büchse
angähnte.

Frisches Brot gab es jeden Tag. Und jede Woche bekam das Quartier eine
Büchse Margarine, die gut reichen konnte. Aber niemand konnte sie essen,
weil Schmierseife besser schmeckte.

An Tagen, wo wir das Maul zu halten und die Augen zuzumachen hatten, gab
es für jeden Mann zwei Glas Rum und eine halbe Tasse Marmelade. Das
waren die Tage, an denen geblendet wurde.

Zum Frühstück gab es Graupen mit Pflaumen oder Reis mit Blutwurst oder
Kartoffeln und Hering oder schwarze Bohnen und Salzfisch. Alle vier Tage
fing das wieder mit Graupen und Pflaumen an.

Sonntag gab es zum Mittag Rindfleisch mit Mostrichsoße oder Cornedbeef
mit Wasserbrühe, Montag Salzfleisch, das nie jemand aß, weil es nur Salz
und Schwarte war, Dienstag getrockneten Salzfisch, Mittwoch
Trockengemüse und Backpflaumen in einer blauwäßrigen Schleimerei aus
Kartoffelstärke. Die Schleimerei hieß: Der Pudding. Donnerstag begann es
wieder mit Salzfleisch, das nie jemand aß.

Das Abendessen war eines der genannten Frühstücke oder Mittagessen. Zu
jeder Mahlzeit gab es Pellkartoffeln, von denen nur die Hälfte gebraucht
werden konnten. Der Skipper kaufte nie Kartoffeln. Sie wurden aus der
Ladung genommen, wenn wir Südkartoffeln fuhren. Solange sie neu und jung
waren, machten diese Kartoffeln einem Spaß und waren Leckerbissen, aber
wenn wir lange keine Kartoffeln gefahren hatten, dann kamen die an die
Reihe, von denen ich sprach.

Als Blendladung fuhren wir manchmal nicht nur Kartoffeln, sondern auch
Tomaten, Bananen, Ananas, Datteln, Kokosnüsse. Diese Ladungen allein
machten es möglich, daß wir bei dem Essen bestehen konnten und nicht an
Eßekel verreckten. Wer einen Weltkrieg mitgemacht hat, der hat
vielleicht gelernt, was ein Mensch ertragen kann, ohne zu krepieren, wer
aber auf einem echten Totenschiff oder auf einer echten Blendlaterne
gefahren ist, der weiß es ganz sicher, wieviel ein Mensch aushalten
kann. Das Ekeln gewöhnt man sich bald ganz ab.

Das Geschirr, das mir so opferwillig zum Gebrauch angeboten wurde, war
nicht ganz komplett, es bestand nur aus einem Teller. Als ich das
notwendige Geschirr beisammen hatte, gebrauchte ich die Gabel von
Stanislaw, die Tasse von Fernando, das Messer von Ruben, und den Löffel
hätte ich von Hermann haben können, aber einen Löffel besaß ich selbst.
Für diese Opferwilligkeit hatte ich das Geschirr aller hübsch sauber zu
putzen, zweimal für jede Mahlzeit. Zuerst, wenn ich es übernahm, und
dann, nachdem ich es gebraucht hatte.

Als das Abendessen vorüber war, hatte ich die Kumpen zu waschen, also
die verbeulten Blechwaschbecken, in denen das Essen aus der Galley
geholt wurde. Zu diesem Waschen brauchte weder ich noch sonst jemand
Seife, Soda oder Bürste, weil solche Dinge nicht vorhanden waren. Wie
die Kumpen dann aussahen, wenn wieder das frische Essen hineingeschüttet
wurde, braucht nicht erzählt zu werden.

In diesem Dreck konnte ich nicht leben. Ich ging daran, das Quartier zu
scheuern. Die Burschen waren nach dem Essen sofort in ihre Bunks
gefallen wie tot. Während des Essens war kaum gesprochen worden. Es ging
zu, als ob Schweine an einem Trog stehen. Drei Tage später erkannte ich
diesen Vergleich nicht mehr. Die Fähigkeit, Vergleiche zu ziehen oder
deutliche Erinnerungen aus einem früheren Leben zu erwecken, war
erloschen.

„Seife wird nicht geliefert“, wurde mir brummend aus einer Bunk
zugerufen. „Schrubber oder Bürsten auch nicht. Und nun halte Ruhe mit
deinem Herumwirtschaften, wir wollen schlafen.“

Ich sofort mittschiffs und zur Ingenieurskabine, wo ich anklopfte.

„Ich will das Quartier scheuern und verlange Seife und eine kräftige
Schrubberbürste.“

„Was denken Sie denn von mir? Sie wollen doch nicht damit sagen, daß ich
Ihnen Seife oder Bürsten zu kaufen habe? Nichts zu machen.“

„Ja, aber nun ich selbst. Ich habe keine Seife für mich selbst. Und ich
soll doch vor den Kesseln arbeiten.“ Das wollte ich doch sehen, ob ich
keine Seife bekäme.

„Das ist Ihre eigne Sache, wenn Sie sich waschen wollen, müssen Sie auch
Seife haben. Seife gehört zu einer anständigen Seemannsausrüstung.“

„Kann sein, mir ist das neu. Toiletteseife ja, aber nicht Arbeitsseife,
und für Kesselbande hat der Ingenieur die Seife zu stellen oder der
Skipper oder die Kompanie. Das ist mir gleichgültig, wer die Seife zu
stellen hat. Ich will aber Seife haben. Was ist das überhaupt für eine
Sauerei? Auf jedem anständigen Eimer wird alles gestellt, Matratze,
Kissen, Bettuch, Decke, Handtuch, Arbeitsseife und vor allem Eßgeschirr.
Das gehört zur Ausrüstung des Schiffes und nicht zur Ausrüstung des
Mannes.“

„Nicht bei uns. Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, können Sie ja gehen.“

„Sie unverschämter Patron, Sie.“

„Raus aus meiner Kabine oder ich rapportiere zum Skipper und laß Sie
festlegen.“

„Das wäre mir ganz recht.“

„Nicht wie Sie denken, Mann. So besoffen sind wir nicht. Ich brauche den
Kohlenschlepper. Nein, ich lasse Sie festlegen mit einer vollen
Monatsheuer, wenn Sie mir noch mal so kommen.“

„Feine Leute, das muß ich sagen. Auch noch die paar Groschen abtricken.“

Der Gauner saß da und grinste. Bei Klopperei kommt nie etwas heraus, und
er trickt mir zwei Monatsheuern ab.

„Erzählen Sie doch das alles Ihrer Urgroßmutter“, sagte er. „Sie wird
sich das ruhig mit anhören. Aber ich nicht. Raus jetzt, aber flott.
Vorwärts ins Bett, um elf haben Sie auf Wache zu gehen.“

„Meine Wache fängt um zwölf an. Zwölf bis vier.“

„Nicht bei uns und nicht mit den Kohlschleppern. Die Kohlschlepper
fangen um elf an und ziehen von elf bis zwölf Asche, und um zwölf fängt
die Arbeitswache an.“

„So. Von elf bis zwölf ist wohl keine Arbeitswache?“

„Asche ziehen, das haben die Kohlschlepper bei uns nebenbei zu machen.“

„Aber Überstunden werden angeschrieben.“

„Nicht bei uns. Und nicht für Ascheheben.“

In welchem Jahrhundert lebte ich denn? Unter welche Menschenrasse war
ich geraten? Halb im Dusel torkelte ich zum Quartier.

Da war das Meer, das blaue herrliche Meer, das ich so sehr liebte, und
in dem als anständiger Seemann zu versinken ich nie mit Grauen angesehen
hatte. War es doch die große festliche Vermählung mit dem Weibe, das so
launenhaft war, das so wütend rasen konnte, so viel herrliches
Temperament hatte, das so berückend lächeln, so bezaubernde Schlaflieder
singen konnte und so wunderschön, ach, so über alle Maßen schön war.

Es war dasselbe Meer, auf dem tausende und tausende ehrlicher, gesunder
Schiffe fuhren. Und nun hatte mich das Schicksal ausersehen, mich ein
Schiff fahren zu lassen, das an Lepra erkrankt war, und das nur noch
fuhr mit der Hoffnung, daß das Meer Erbarmen mit ihm haben möge. Aber es
sah ganz so aus, ich hatte es im Gefühl, daß die See das mit Lepra
behaftete Schiff nicht aufnehmen wollte, um sich nicht verpesten zu
lassen. Noch nicht. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Noch wartete das
Meer, noch hoffte es, daß es diese Pest nicht zu erdulden haben werde,
das dieses Meeresgeschwür irgendwo auf dem Lande oder in einem
verschmierten Winkelhafen zerplatzen und vergehen würde. Noch war
Yorikkes Zeit nicht gekommen. Ich hatte noch kein Todesahnen, an meine
Bunk hatte der Gast noch nicht geklopft. Denn als ich jetzt an der
Reeling stand, über mir den sternenblinkenden Himmel und vor mir das
grünlich flickernde Meer, an mein verlorenes New Orleans und an mein
sonniges Spanien dachte, da überkam es mich: Hopp drüber Junge, schiet
sie an mit dem Kohlschlepper und mach ein flottes sauberes Ende, damit
du nicht deinen Rest verlierst. Aber dann war ja nur ein andrer armer
müder, verlumpter, verhungerter, verdreckter und gehetzter
Kohlschlepper, der Doppelwache bekam und mir die letzte Reise so schwer
machte und ich immer wieder hoch kommen mußte.

Ei zum Teufel nochmal, beiß zu und schiet. Die Yorikke kann dich, mein
Junge, nicht unterkriegen. Nicht die Konsuln. Nicht die Yorikke. Nicht
der Taschendieb. Bist ja von New Orleans, Junge. Rin in die Schiet und
durchgeschwommen. Es gibt auch wieder mal Wasser und Seife. Der Gestank
ist nur äußerlich. Patsch rin, daß es spritzt. Weg von der Reeling, und
dem Biest, das dich unterkriegen will, eins in die Zähne gehauen! Spuck
noch mal runter und nun weg in die Bunk!

Als ich weg war von der Reeling, wußte ich, daß ich zwar auf einem
Totenschiff und auf einer Blendkaroline war, aber daß es nicht mehr mein
Totenschiff war. Mit der Yorikke half ich keine Versicherung fahren. Auf
ihr wurde ich kein Gladiator. Ich spucke dir ins Gesicht, Cäsar Augustus
Imperator. Spare deine Seife und fresse sie, ich brauche sie nicht mehr.
Aber du sollst mich nicht mehr winseln sehen. Ich spucke dir ins
Angesicht, dir und deinem Gezücht.


                                   28

Einschlafen konnte ich nicht. Ich lag auf den blanken Brettern meiner
Bunk wie ein eingelieferter Spitzbube auf der nackten Pritsche in einer
Polizeiwache. Die schmökende Petroleumlampe füllte den Raum mit einem
Dunst, daß Atmen eine Qual wurde. Da ich ja keine Decke hatte, fröstelte
ich, denn die Nächte auf dem Meere können ganz verteufelt kalt werden.
Gerade war ich in einen dämmernden Halbschlaf gefallen, als ich
plötzlich mit kräftigen und ungeduldigen Händen so gerüttelt und
gestoßen wurde, als sollte ich durch die Wand geworfen werden.

„Raus du. Ist halb elf.“

„Halb erst? Warum kommst du nicht um dreiviertel?“

„Ich bin gerade oben, weil ich für den Heizer Trinkwasser hole. Ich kann
nicht nochmal raufkommen. Mußt raus. Zehn vor zwölf weckst du deinen
Heizer und holst ihm Kaffee.“

„Kenn ihn nicht. Weiß seine Bunk nicht.“

„Komm raus. Ich zeig dir.“

Ich stand auf, und mir wurde die Bunk des Heizers gezeigt, der zu meiner
Wache gehörte.

„Mach voran. Rasch. Geh gleich zu der Aschenwintsche. Wir haben
verflucht viel Asche.“ Der Mann verschwand wie ein Geist.

Es war fast finster in dem Quartier, weil die Lampe kein Licht gab.

Beim Licht einer zerbrochenen kleinen verräucherten Laterne zeigte mir
der Kohlenzieher der Vorwache, es war Stanislaw, wie die Wintsche
gehandhabt werden muß.

„Höre mal, Stanislaw, das verstehe ich nicht“, sagte ich. „Ich kenne
doch nun auch etwas von Salzkrusten, aber das habe ich noch nicht
erlebt, daß die Kohlschlepper Wache aufzubüßen haben. Warum?“

„Weiß ich gut. Ich bin auch nicht gerade aus den Windeln gerutscht.
Woanders hat der Heizer beim Aschehieven zu helfen. Aber hier wird ja
der Heizer allein nicht fertig, und wenn ihm der Schlepp nicht manchmal
hilft, fällt er runter auf hundertzwanzig, daß es nur so rasselt, und
der Eimer sackt und steht wie eine Böckchenpinne. Auf andern Eierkisten,
auch wenn es Särge sind, hat die Wache zwei Heizer oder wenigstens
einundeinenhalben. Aber ich denke doch, du weißt jetzt schon, wo du
bist, mein Seemannsengelchen.“

„Ich engele nicht. Da kannst du Zinnober drauf schlucken.“

„Willst du achtern kanten? Glückt nicht. Wirst du schon noch lernen.
Setz dich nur lieber gleich richtig in die Wolle und such dir das Boot
aus, mit dem du klippen willst. Der Koch hier ist der Großvater. Der
erzählt dir was, wenn du mit ihm angewärmt bist. Der Hund hat zwei
Westen in seiner Bunk liegen.“

„Haben wir denn keine Westen?“ fragte ich erstaunt.

„Nicht mal ein Ring ist da. Vier Dekorationsringe mit Goldbronze. Aber
ich rate dir, nimm keinen davon. Wenn du da den Kopf durchsteckst, nimm
lieber einen Mühlstein. Mit dem Mühlstein hast du vielleicht noch
Hoffnung, mit den Dekorationswürsten nicht.“

„Wie kann der Hund denn das machen? Da muß doch in jeder Bunk eine Weste
sein. Ich bin das so gewöhnt, daß ich das gar nicht beachtet habe, daß
keine da ist.“

Stanislaw lachte und sagte: „Du hast so eine Kanne noch nicht gefahren.
Darum. Yorikke ist meine vierte Leichenkanne. Die sind ja jetzt zum
Aussuchen.“

„He–ho, Lawski!“ schrie sein Heizer den Aschenschacht hinauf.

„Was ist los, Heizer?“ fragte Stanislaw runter.

„Zieht ihr denn heute keine Asche, oder was ist los?“ blökte der Heizer
rauf. Es war Martin.

„Natürlich ziehen wir. Aber ich muß doch den Neuen anlernen. Der kennt
doch die Wintsche nicht.“

„Dann mach zu und komm runter. Mir ist ein Rost raus.“ Der Heizer schrie
es rauf.

„Erst muß die Asche gezogen werden. Der Rost hat Zeit. Ich muß den Neuen
anlernen“, schrie Stanislaw wieder runter.

„Nein, was Leichenkannen anbetrifft – wie heißt du denn eigentlich,
Neuer?“

„Ich? Pippip.“

„Hübscher Name. Bist du Türke?“

„Ägypter.“

„Das ist gut. Ägypter hat gefehlt. Wir haben hier alle Nationen auf der
Kanne.“

„Alle? Auch Yanks?“

„Ich glaube, du schläfst noch. Die beiden einzigen, die nie auf einer
Leichenkanne fahren, das sind Yanks und Kommse.“

„Kommse?“

„Ach tu doch nicht so unschuldig, du Schaf. Bolsches. Kommunisten. Yanks
kommen nicht, weil die in dem Dreck den ersten Tag verrecken würden, und
weil denen auch immer von ihren Konsuln geholfen wird. Der winkt ihnen
schon die Weisheit über die Eimer.“

„Und die Komms?“

„Die sind zu schlau, die riechen, was los ist, wenn sie nur den
Mastknopf sehen. Kannst dich drauf verlassen. Die sind gekocht. Wo ein
richtiger Komms drauf ist, kann keine Versicherung fahren. Die beerdigen
dir jede Versicherungspolice, und wenn sie noch so fein gezuckert ist.
Die haben dir Riecher, da können wir alle nicht mit. Und die haben auch
immer gleich die schönste Sauerei mit der Inspektion. Aber nun kann ich
dir auch erzählen, wenn da ein gesunder Eimer ist, wo nicht nur Yanks
drauf sind, sondern Yanks, die Komms sind, Mann, das ist Honig. Das ist
–. Ich kann es dir ja sagen, ich fahre überhaupt nur, um mal auf einen
solchen Eimer zu kommen. Da gehe ich nie wieder runter. Da mache ich
sogar den Nauke. Mir ganz egal. Wenn du mal einen Eimer sehen solltest,
der von New Orleans ist oder da herum. Das ist eine Sache.“

„So ein Schiff habe ich noch nicht gesehen“, sagte ich.

„Kommst du auch nicht drauf, und wenn du hundert Jahre alt wirst und
alles ausgestiegen ist. Du nicht. Ein Ägypter überhaupt nicht, und wenn
er einen Paß hat wie Zucker. Jetzt ist es für mich auch vorbei. Wer die
Yorikke gefahren hat, kommt nie wieder auf einen gesunden Eimer. Jetzt
wollen wir mal dran gehen.“

„Hängt er drin?“ schrie Stanislaw in den Schacht.

„Hiev up!“

Stanislaw schaltete den Hebel ein, und die Aschkanne rasselte rauf. Als
sie in Reichhöhe war, warf er den Hebel wieder herum. Die Kanne ruckte
noch mal rauf und noch mal runter und hing dann in der Schachtluke.

„Nun hängst du die Kanne aus und trägst sie zur Schanze und schüttest
sie aus. Da gib aber gut Achtung, daß dir die Kanne nicht mit über Stag
geht. Dann sitzt du da. Dann können wir mit einer arbeiten, und wir
können zwei Stunden früher aufstehen. Daß du’s weißt.“

Die Kanne war glühend heiß, und obenauf lagen die rotglühenden
Schlacken. Ich konnte sie kaum anfassen, aber es mußte sein. Und schwer
war die Kanne. Sicher ihre fünfzig Kilo. Nun hatte ich die Kanne vor der
Brust quer über das vier Meter breite Gangdeck zu schleppen und in den
Holzschacht zu schütten, durch den die Asche ins Meer fiel und dort
zischend verschwand. Dann trug ich die Kanne zurück, und ich hängte sie
wieder in die Hievketten.

„Das ist doch ganz klar, warum die Westen gegangen sind. Ich bin sicher,
der Skipper hat sie verkauft, um nebenbei was zu machen“, sagte
Stanislaw. „Aber des Verkaufens wegen war es nicht. Siehst du, wenn
keine Westen da sind, kommen auch keine Zeugen vor das Seemannsgericht.
Verstehst du jetzt den Zimt? Auf Zeugen kann man sich schlecht
verlassen. Manchmal haben sie doch was gesehen oder gemerkt, und die
Versicherung ist ja auch immer gleich dahinterher und schnappt sich die
Leute. Die Boote mußt du dir mal bei Tage betrachten – wie war doch
gleich dein Name? Ja, also die Boote mußt du dir mal bei Tage
betrachten, Pippip. Da kannst du deine Stiefel durchschmeißen. Aber
glatt. Noch weniger Zeugen.“

„Na rede keinen Seetang, hä?“ sagte ich zur Antwort. „Der Skipper will
doch auch runter.“

„Sorge dich nur nicht um den Skipper. Denk zuerst an deine Haut. Der
Skipper kommt schon runter. Wenn du alles so gut weißt, wie das, dann
fehlt dir nichts mehr.“

„Du bist doch aber auch schon von drei Leichenkannen runtergekommen oder
etwa nicht?“

„Auf zweien bin ich richtig ausgestiegen und habe den letzten Hafen
nicht im Stich gelassen. Und beim dritten – aber du Esel, Glück mußt du
eben auch haben. Wenn du kein Glück hast, dann bleibe nur überhaupt vom
Wasser weg, sonst fällst du in die Waschschüssel und kommst nicht mehr
hoch.“

„Lawski! Mensch! Was ist denn los da oben?“ schrie nun wieder der Heizer
rauf.

„Die Ketten haben sich ausgehakt, verflucht nochmal“, blökte Stanislaw
runter.

„Das gibt heute eine lange Asche, wenn ihr so weiter macht“, kam wieder
die Stimme aus der Tiefe.

„So, nun probiere mal die Wintsche, aber sei vorsichtig, die haut wie
das Donnerwetter. Die haut dir glatt den Schädel ab, wenn du nicht alle
Gedanken beieinander hast.“

Die schwere Kanne kam rauf und sauste oben gegen den Deckel, daß ich
glaubte, sie würde den ganzen Schacht in Trümmer schlagen, aber ehe ich
den Hebel herum hatte, setzte die Wintsche von selbst mit der
Konterwirkung ein, und der Eimer raste wieder den Schacht hinunter. Er
schlug unten mit einem fürchterlichen Getöse auf, die Schlacken
spritzten herum, der Heizer schrie wie verrückt, und im selben
Augenblick setzte abermals die Konterwirkung ein, und die Kanne, jetzt
halb leer, raste wie wahnsinnig ein zweitesmal gegen die Deckung des
Schachtes, schlug herum mit donnerndem Krachen, und mit einem
entsetzlichen Geprassel fielen die Schlacken den Schacht hinunter, beim
Fallen gegen die Eisenwände des Schachtes schlagend und das Getöse und
Geratter so vermehrend, daß man glauben konnte, das ganze Schiff
splittert auseinander. Die Kanne war schon wieder am Heruntersausen, als
Stanislaw jetzt eingriff und den Hebel packte. Sofort stand die Kanne so
brav da, als ob sie ein totes Geschöpf sei.

„Ja,“ sagte Stanislaw, „so einfach ist das nicht. Das muß gelernt sein.
Da brauchst du zwei Wochen, bis du den Dreh heraus hast. Geh besser
runter und schippe ein, dann werde ich die Wintsche bedienen. Ich zeige
es dir morgen mittag, bei Tage, da kriegst du das dann schon besser.
Wenn die Wintsche in die Wicken gehauen wird, dann können wir die Asche
mit der Hand hieven. Und das wünsche ich dir nicht und uns nicht. Dann
laufen wir nicht mehr, dann kriechen wir nicht mehr, dann rollen wir nur
noch von einem Platz zum andern.“

„Laß es mich noch mal versuchen, Lawski. Ich will mal gnädige Frau zu
ihr sagen. Vielleicht tut sie es dann.“

Dann rief ich runter: „Hopp an.“

„Hiev up!“ kam der Schrei.

„Na, Frau Gräfin, wollen wir jetzt?“

Der Prophet weiß, sie tat es, sie tat es so sanft, so zart. Sie stand
auf den Millimeter. Ich glaube, daß ich Yorikke besser kannte als ihr
Skipper oder der Großvater. Die Wintsche gehörte zu jenen Teilen des
Schiffes, die schon in der Arche Noah mitgewirkt hatten und noch aus der
Zeit vor der Sintflut stammten. In dieser Dampfwintsche waren alle
Geister und Geisterchen zusammen, die in den übrigen Ecken und Winkeln
der Yorikke nicht mehr Platz fanden, weil ihre Zahl zu groß war. Darum
auch hatte die Wintsche ihre Persönlichkeit, die respektiert werden
wollte. Stanislaw erwarb sich den Respekt durch eine langgeübte Hand,
ich mußte es durch Worte machen.

„Euer königliche Gnaden, noch mal, bitte.“

Sieh da, abermals glitt die Aschkanne wie mit Sammetpfötchen
gestreichelt. Aber freilich, oft genug noch, spielte sie toll und machte
Splittereffekte, jedoch nur, wenn ich vergaß, sie mit Höflichkeit zu
behandeln. Es waren manchmal recht ergötzliche Fangversuche, die ich
anzustellen hatte, um den rauf- und runterrasenden Behälter zu
schnappen. Bald sauste er oben durch, bald raste er runter und gleich
wieder hoch. Wenn der Hebel nicht genau, aber haargenau gehalten wurde,
schlug der Konterhub ein.

Stanislaw war runtergegangen und schippte und rief die „Hiev-ups“ aus.
Und ich hängte meine Kannen aus und ein, schleppte sie glühend heiß, wie
sie waren, über das Gangdeck und schüttete sie in den Aschenschacht.

Als fünfzig Kannen gehievt waren, schrie Stanislaw, daß wir den Rest
lassen wollten für die nächste Wache, weil es zu spät sei. Ich dachte,
daß ich nun zusammenbrechen würde, von diesem atemlosen Schleppen der
unglaublich schweren Kannen. Aber ehe ich Zeit hatte, umzuklappen,
schrie Stanislaw herauf: „He, mach voran, zwanzig vor zwölf.“

Ich schleppte mich zum Quartier. Das Deck war nicht erleuchtet, um das
Petroleum zu sparen; und ich schlug mir viermal die Schienenbeine auf,
ehe ich bis zum Forecastle kam. Was da alles auf dem Deck herumlag, läßt
sich nur dadurch näher beschreiben, daß ich sage: „Da lag alles auf dem
Deck herum.“ Alles, was die Erde hervorbringt, je hervorgebracht hat.
Unter diesem alles lag sogar ein schwerbesoffener Schiffszimmermann, der
der Zimmermann der Yorikke war; sich in jedem Hafen sinnlos besoff und
den ersten Tag auf Fahrt nicht einmal als Besenstiel gebraucht werden
konnte. Der Skipper war nur froh, wenn ihm nicht jedesmal die A. B.s
dabei Gesellschaft leisteten und wenigstens einer der A. B.s noch genug
Leben zurückbehalten hatte, um am Ruder zu stehen. Der Zimmermann, die
drei A. B.s und noch ein paar andre hätten ruhig Westen bekommen dürfen.
Sie hätten keine Versicherung vermanscht, anders, sie hätten die
wackligste Versicherung gerettet, ohne zu wissen, was man von ihnen
wollte. Sie hatten auch die meiste Aussicht, mit in Boot eins zu kommen,
das der Skipper brauchte, um das wohlgepflegte Journal zu retten und die
Lizenz zu behalten mit Auszeichnung für Pflichteifer trotz Lebensgefahr.

Ich hatte jetzt die Kaffeekanne zu nehmen, damit zur Galley zu gehen, wo
der Kaffee auf dem Kochherd stand, und sie zu füllen. Dann hatte ich den
Weg zum drittenmal zu machen, über das Verdeck, wo kein Licht brannte.
Meine Schienbeine bluteten fürchterlich. Aber da war keine Handapotheke
an Bord, und wenn wirklich der Erste Offizier irgendwo etwas versteckt
hielt für erste Hilfe, wegen solcher Kleinigkeiten durfte man ihm nicht
kommen.

Jetzt bearbeitete ich meinen Heizer, um ihn hochzukriegen. Er wollte
mich ermorden, daß ich es wagte, ihn schon zu wecken. Und als die Glocke
ausrief und er den heißen Kaffee noch nicht hatte schlucken können,
wollte er mich ein zweites Mal ermorden, weil ich ihn zu spät geweckt
hatte. Sich zu streiten, ist Kraftvergeudung. Nur Narren streiten sich.
Sag’ deine Meinung, wenn du überhaupt eine hast, was selten genug der
Fall ist, und dann halt’s Maul und laß den andern reden, bis ihm das
Maul aus den Angeln fällt. Sage immer ja zu der Meinung des andern, und
wenn er dann fertig ist und nicht mehr japsen kann und dich fragt: „Na,
habe ich nicht recht?“ dann erinnere ihn so nebenbei daran, daß du ihm
deine Meinung ja schon längst gesagt hättest, daß er aber im übrigen
durchaus recht habe. Eine Woche lang Heizer der Rattenwache wecken,
macht jemand auf Jahre hinaus unfähig, Politik zu begreifen.

Der Kaffee war heiß, schwarz und bitter. Kein Zucker, keine Milch. Brot
war vorhanden, aber man mußte es trocken essen, weil die Margarine
stank. Der Heizer kam zum Tisch, fiel auf die Bank, richtete sich hoch,
und während er die Kaffeetasse an den Mund führen wollte, fiel sein Kopf
herunter und schlug auf die Tasse, daß sie umkippte. Er schlief schon
wieder und tastete träumerisch nach dem Brot, um sich ein Stück
abzureißen, weil er das Messer nicht halten konnte vor Müdigkeit. Jede
seiner Bewegungen wurde vom ganzen Körper ausgeführt, nicht nur mit den
Händen, den Armen, den Fingern, den Lippen oder dem Kopfe. Die Glocke
rief aus, er bekam einen Wutanfall, des Kaffees wegen, und sagte: „Geh’
runter, ich komme gleich. Kümmere dich um Schlackenwasser.“

Als ich an der Galley vorbeikam, sah ich Stanislaw im Dunkeln da
herumwirtschaften. Er versuchte, Seife zu stehlen, die der Koch
vielleicht irgendwie versteckt haben mochte. Der Koch stahl die Seife
vom Steward, und der Steward stahl die Seife aus dem Koffer des
Skippers.

„Zeig mir doch mal den Weg runter in die Stokehold, in den Kesselraum,
Lawski“, sagte ich zu ihm.

Er kam raus, und wir hatten auf eine höhere Etage zu klimmen, die das
Halbdeck vom Mittschiff war. Er zeigte mir einen schwarzen Schacht. „Da
gehen die Leitern runter. Du kannst nicht fehlgehen“, sagte er und ging
wieder zurück zur Galley.

Aus der tiefschwarzen und doch so glänzend klaren Meeresnacht blickte
ich hinunter in den Schacht. In einer unendlich erscheinenden Tiefe sah
ich eine flackernde, dunstige, rauchige Helle. Diese Helle war rötlich
von dem Widerschein der Kesselfeuer. Mir war, als sähe ich in die
Unterwelt. In diesen rötlichen, dunstigen Schein trat jetzt eine nackte
menschliche Gestalt, verrußt und mit glitzernden Streifen rieselnden
Schweißes. Die Gestalt stand da, die Arme verschränkt und starrte
bewegungslos auf die Quelle des rötlichen Scheines. Dann bewegte sich
die Gestalt, ergriff ein langes schweres Schüreisen und stellte es an
die Rückwand, nachdem sie unschlüssig damit herumgewirtschaftet hatte.
Die Gestalt ging jetzt vor, bückte sich, und einen Augenblick darauf war
es, als sei sie von Flammen umlodert. Dann reckte sich die Gestalt hoch,
die Flammen waren verlöscht und übrig blieb nur der gespenstische
rötliche Schein.

Ich wollte die Leiter hinuntergehen. Als ich aber einen Fuß auf die
oberste Sprosse gesetzt hatte, schlug mir eine entsetzliche Säule von
Hitze, erstickendem Ölgestank, Kohlenstaub, Flugasche, dickem
Petroleumqualm und Wasserdampf entgegen. Ich fiel zurück, und mit einem
lauten Japser schnappte ich nach frischer Luft, weil ich glaubte, meine
Lungen könnten nicht mehr arbeiten.

Aber es half nichts. Ich mußte da hinunter. Da war ein Mann unten. Ein
lebender Mensch, der sich bewegen kann. Und wo ein andrer Mensch sein
kann, da kann auch ich sein. Ich kletterte rasch fünf oder sechs
Sprossen, dann aber ging es nicht mehr. Mit einem Rasen sauste ich
wieder hoch, um Luft zu bekommen.

Die Leiter war aus Eisen, die Sprossen aus fingerdickem Rundeisen. Nur
an der einen Seite war ein Geländer, die andre Seite, die äußere Seite,
war ohne Geländer, also just die Seite war offen, wo man in den Schacht
abstürzen konnte, während die Seite, die an der Wand der Maschinenhalle
war, mit einem Geländer gesichert war.

Als ich meine Lungen wieder aufgefüllt hatte, machte ich den dritten
Versuch, und ich kam auf eine Plattform. Drei Schritte über die
Plattform, die nur einen halben Schritt breit war, führten zum Ende der
Platte, wo eine zweite Leiter tiefer in den Schacht ging. Diese drei
Schritte konnte ich aber nicht machen. In Gesichtshöhe war hier die
Aschenhievwintsche, und das Dampfrohr der Wintsche hatte einen langen,
aber ganz dünnen Riß. Durch diesen Riß zischte ein brühend heißer
Wasserdampf, scharf und schneidend wie eine Stichflamme. Der Riß lag so,
daß selbst, wenn man sich bückte, man diesem schneidenden Dampfstrahl
nicht ausweichen konnte. Ich versuchte, mich hochzurecken, aber dann
wurden die Arme und die Brust angefressen und verbrüht. Inzwischen mußte
ich hoch, um Luft zu schöpfen.

Ich war auf falschem Wege. Das war nicht der meine. Ich ging wieder zur
Galley, wo Stanislaw immer noch nach Seife suchte.

„Ich gehe mit dir runter, komm los“, sagte er bereitwillig.

Als wir auf dem Wege waren, sagte er: „Du bist doch nie Kesselbums
gewesen, nicht wahr? Habe ich doch gleich gesehen. Zu einer Wintsche
sagt man doch nicht guten Tag, der haut man eins auf den Schädel und
fertig.“

Ich war nicht in der Laune, ihm jetzt zu erzählen, wie man mit Dingen
umzugehen hat, die eine Seele haben.

„Recht hast du, Lawski, bin nie beim Kessel gewesen, habe noch nie da
überhaupt reingeguckt. War Deckarbeiter, Steward, Kabinenjunge, seit ich
meinen ersten Eimer gesehen habe. Nie schwarzen Gang gerochen, war mir
immer zu stickig. Sag’, willst du mir nicht für die erste Wache eine
Krume zur Hand gehen?“

„Rede nicht lange. Freilich. Komm nur voran. Wir werden die Kohlsuppe
schon kochen. Kenne deine Sorgen. Dein erster Leichenwagen. Ich kenne
die Särge, kannst mir glauben. Aber manchmal dankst du Himmel und Hölle,
daß dir eine Yorikke quer vor’n Bug kommt, und du hoppst drauf mit einem
Wonnegefühl, als ob – ja, hab’ nur keine Bange. Wenn was krumm geht, ruf
mich nur. Ich zieh dich schon raus aus dem Dreck. Wenn wir auch alle
miteinander Tote sind, nur nicht verzagen. Schlimmer kann es nicht
kommen.“

Es kam aber schlimmer. Man kann ein Totenschiff fahren. Man kann ein
Toter sein, ein Toter zwischen Toten. Ausgelöscht kann man sein aus der
Reihe der Lebenden, hinweggeweht von der Oberfläche der Welt, und kann
dennoch gezwungen sein, entsetzliche Qualen zu erdulden, denen man nicht
entgehen kann, weil man schon tot ist, weil einem kein weiterer Weg zur
Flucht offen gelassen ist.


                                   29

Ich sah Stanislaw zu dem Schacht gehen, den ich soeben verlassen hatte,
weil ich glaubte, ich hätte mich im Wege geirrt. Er kletterte die Leiter
ohne zu zögern hinunter, und ich folgte ihm. Als wir am Ende der ersten
Leiter waren und auf die Platte kamen, die unter dem heißen Dampfstrahl
lag, sagte ich: „Da können wir nicht durch. Da wird uns die Haut bis auf
die Knochen abgeledert.“

„Meist gibt es was ab. Ich kann dir morgen meine Arme zeigen. Aber wir
müssen durch“, sagte Stanislaw. „Hilft uns nichts. Kein andrer Weg zu
den Kesseln für uns. Die Ingenieure lassen uns nicht durch die
Maschinenhalle gehen, wir sind zu dreckig, und es ist gegen die
Vorschrift.“

Während er das noch sagte, sah ich, wie er plötzlich seine Arme um den
Kopf schlug, sich so Gesicht, Ohren und Nacken schützend. Nun drehte,
quetschte und reckte er sich zwischen die glühend heißen Dampfrohre, wo
die Schutzpackungen längst abgefault und abgerissen waren, und der
glühend heißen Kesselwand hindurch wie eine geölte Zitterschnecke. Das
konnte ihm kein Schlangenmensch nachmachen, dachte ich, als ich das sah.
Aber ich erfuhr nun, daß der ganze Kesselbums das so zu machen hatte,
und ich verstand auch mit einemmal, warum es auf der Yorikke so viele
Dinge zu essen gab, die kein Mensch essen konnte und die über Bord
flankiert wurden. Das Flankieren durfte der Koch nicht sehen, dann gab
es einen Mordskrach, weil alle Salzschwarten und alles Ungenießbare, das
nicht in den Magen hineinwollte, weil der Magen sich sträubte, in die
Küche zurückgebracht werden mußte, damit daraus Irish Stew,
Frikandellen, Gulasch, Haschee und ähnliche Delikatessen gemacht werden
konnten.

„Hast du nun gesehen, Sohn, wie das gemacht wird? Besinne dich nicht
lange. Wenn du dich erst besinnst und dir das anguckst und darüber
nachdenkst, daß du an der einen Seite verbrüht werden magst und an der
andern Seite hinuntersausen kannst in den Schacht, dann geht’s gar
nicht. Arme um den Kopf, sieh so – und dann Schlange gemacht. Kann dir
eines Tages von Nutzen sein, wenn du andern Leuten zu tief in die
Taschen gelinst hast und man dir eiserne Vorhänge an die Fenster gehängt
hat. Bin ich auch schon durchgekommen. Immer gut, wenn man in der Übung
bleibt, du weißt nie, wie du es gebrauchen kannst. Hopp an.“

Schwupp! da war ich durch. Ich fühlte Heißes an meinen Armen, aber das
war sicher nur Einbildung.

Am andern Ende der Platte ging eine lange eiserne Leiter weiter
hinunter, zu den Grundmauern der Unterwelt. Diese zweite Leiter war so
heiß, daß mein Taschentuch, das ich bisher benutzt hatte, wertlos wurde.
Ich mußte mich mit den gebogenen Ellbogen in das Geländer hängen, um
Halt an der Leiter zu greifen. Je tiefer ich kam, desto dicker wurde die
Luft, desto heißer, qualmiger, öliger und unerträglicher. Die Hölle, die
ich nun endlich nach meinem Tode erreicht hatte, konnte das nicht sein.
In der Hölle hatten ja auch die Teufel zu leben, hier aber konnten keine
Teufel leben, das war undenkbar.

Doch da stand ein Mensch, ein nackter, schwitzender Mensch, der Heizer
der Vorwache. Menschen konnten hier auch nicht leben. Aber sie mußten.
Sie waren Tote. Ausgelöschte. Landlose. Paßlose. Heimatlose. Die mußten,
ob sie konnten oder nicht. Teufel konnten hier nicht leben, denn ein
Rest von Kultur ist selbst den Teufeln gelassen, das weiß Goethe. Aber
Menschen mußten hier nicht nur leben, sie mußten hier arbeiten, und sie
mußten hier so schwer arbeiten, daß sie alles vergaßen, zuletzt sogar,
nachdem sie lange vorher sich selbst vergessen hatten, sogar vergaßen,
daß hier zu arbeiten unmöglich sei.

Mir ist oft, ehe ich gestorben wurde, und ehe ich zu den Toten kam,
unverständlich gewesen, wie Sklaverei möglich sein kann, wie
Militärdienst möglich sein kann, wie es möglich ist, daß Menschen,
gesunde und vernünftige Menschen, sich ohne Protest vor Kanonen und
Kartätschen jagen lassen, daß Menschen nicht tausendmal lieber
Selbstmord begehen, als Sklaverei, Militärdienst, Galeerenketten und
Peitschenhiebe zu ertragen. Seit ich bei den Toten war, seit ich selbst
ein Toter bin, seit ich ein Totenschiff fuhr, ist auch dieses Geheimnis
für mich gelöst, wie sich ja alle Geheimnisse erst nach dem Tode
offenbaren. So tief kann kein Mensch sinken, als daß er nicht immer noch
tiefer sinken könnte, so Schweres kann kein Mensch erdulden, als daß er
nicht noch Schwereres ertragen könnte. Hier ist es, wo der Geist des
Menschen, der ihn über das Tier erhebt, ihn tief unter das Tier
erniedrigt. Ich habe Packzüge von Kamelen, von Lamas, von Eseln und von
Maultieren getrieben. Ich habe Dutzende unter diesen Tieren gesehen, die
sich hinlegten, wenn sie nur mit einem Kilogramm überladen waren, die
sich hinlegten, wenn sie sich schlecht behandelt glaubten, und die sich
klaglos hätten zu Tode peitschen lassen – und auch das habe ich gesehen
– als aufzustehen, die Last zu übernehmen oder die schlechte Behandlung
weiter zu erdulden. Ich habe Esel gesehen, die zu Leuten verkauft worden
waren, die Tiere schändlich peinigten, und die Esel hörten auf zu
fressen und starben weg. Nicht einmal Mais vermochte ihren Entschluß zu
ändern. Aber der Mensch? Der Herr der Schöpfung? Er liebt es, Sklave zu
sein, er ist stolz, Soldat sein zu dürfen und niederkartätscht zu
werden, er liebt es, gepeitscht und gemartert zu werden. Warum? Weil er
denken kann. Weil er sich Hoffnung denken kann. Weil er hofft, daß es
auch wieder besser gehen wird. Das ist sein Fluch und nie sein Segen.
Mitleid mit Sklaven? Mitleid mit Soldaten und mit Soldatenkrüppeln? Haß
gegen Tyrannen? Nein! Nein! Nein!

Wäre ich über die Reeling gesprungen, dann würde ich jetzt nicht in
einer Hölle sein, wo es selbst die Teufel nicht aushalten können. Aber
ich sprang nicht und habe nun kein Recht, mich zu beklagen oder gar
andre anzuklagen. Laß den Bettler verhungern, wenn du den Menschen in
ihm achtest. Ich habe kein Recht, mein trauriges Schicksal zu beklagen.
Warum sprang ich nicht? Warum springe ich jetzt nicht? Warum lasse ich
mich peitschen und martern? Weil ich hoffe, ins Leben zurückkehren zu
können. Weil ich hoffe, New Orleans wiederzusehen. Weil ich hoffe, und
weil ich lieber durch die Schiet schwimme, als meine gehätschelte und
getätschelte Hoffnung in die Schiet zu werfen.

Imperator, du wirst niemals um Gladiatoren verlegen sein; die schönsten
und stolzesten Männer werden dich anflehen: „O angebeteter, o
bewunderungswürdiger Imperator, laß mich dein Gladiator sein!“


                                   30

Natürlich kann ich hier arbeiten. Da arbeiten ja auch andre. Das sehe
ich ja mit eignen Augen. Was ein andrer kann, das kann ich auch. Der
Nachahmungstrieb des Menschen macht Helden und macht Sklaven. Wenn der
nicht an den Peitschenhieben stirbt, dann werde ich sie wohl auch
überleben können. „Siehst du, der da, der geht direkt drauf los auf das
Maschinengewehrfeuer, Donnerwetter nochmal, das ist ein Kerl, verflucht
nochmal, vor dem muß man Achtung haben, das ist ein Kerl, der hat Mumm
in den Knochen.“ Natürlich kann ich das auch. So geht der Krieg voran,
und so fahren die Totenschiffe, alles nach demselben Rezept. Die
Menschen haben nur eine Schablone, nach der sie alles machen; das geht
so glatt, daß sie ihr Hirn gar nicht anstrengen brauchen, um ein andres
Rezept auszudenken. Man geht nichts lieber als ausgetretene Pfade. Da
fühlt man sich so schön sicher. Der Nachahmungstrieb ist schuld daran,
daß die Menschheit innerhalb der letzten sechstausend Jahre keine
Fortschritte gemacht hat, sondern trotz Radio und Fliegerei in derselben
Barbarei lebt wie am Anfang der europäischen Periode. So hat es der
Vater gemacht, und so hat es der Sohn nachzumachen. Schluß. Was für
mich, den Vater, gut genug war, wird für dich, du Rotznase, wohl erst
recht gut genug sein. Die heilige Konstitution, die für George
Washington und die Revolutionskämpfer gut genug war, ist erst recht gut
genug für uns. Und die Konstitution ist gut, denn sie hat hundertfünfzig
Jahre schon ausgehalten. Aber auch Konstitutionen, die einmal junges
feuriges Blut in den Adern hatten, bekommen mit der Zeit
Adernverkalkung. Die beste Religion ist eines Tages heidnischer
Aberglaube, und keine Religion macht hiervon eine Ausnahme. Allein das,
was anders gemacht wurde, als bisher, allein das, was unter Protest der
Väter und Heiligen und Verantwortlichen anders gedacht wurde, hat der
Menschheit neue Ausblicke verschafft und ihr den Glauben gegeben, daß
eines fernen Tages doch ein Fortschreiten wird beobachtet werden können.
Dieser ferne Tag wird in Sicht sein, wenn die Menschen nicht mehr an
Institutionen glauben und nicht an Autoritäten ...

„Was stehst du denn rum? Wie heißt du überhaupt, Schlepp?“

Mein Heizer war runter gekommen und brummte übelgelaunt herum.

„Pippip ist mein Name.“

Das schien seine Laune ein wenig zu verbessern.

„Dann bist du wohl ein Perser?“

„Nein, ich bin Abessinier. Meine Mutter war Parse. Die werfen ihre
Leichen den Geiern vor.“

„Wir den Fischen. Da scheint deine Mutter eine ganz anständige Frau
gewesen zu sein. Meine war eine alte verfluchte Hure. Aber wenn du
Hurensohn zu mir sagst, dann gibt es eins in die Fresse.“

Also er war Spanier. Wenn die drei Worte sprechen, dann sind zwei davon
„Hurensohn“. Es kommt auf den Grad der Freundschaft an, ob man zu jemand
sagen darf, daß seine Mutter eine Groschenhure war. Je näher man dabei
der Wahrheit kommt, desto mehr Aussicht hat man, sich plötzlich ein
Messer aus den Rippen ziehen zu können. Je weiter man von der Wahrheit
entfernt ist, desto früher hört man die Antwort: „Muchas gracias,
Senjor, vielen Dank, bitte, genieren Sie sich nicht, stets zu Ihren
Diensten.“ Niemand hat ein so zartes und so albernes Ehrgefühl wie der
dreckigste Prolet. Und wenn die dreckigen Proleten eines Tages das
Ehrgefühl dort haben werden, wo es wirklich hingehört, dann sind sie die
Lacher. Heute haben sie ihr Ehrgefühl da, wo es die andern bei ihnen
gerne sehen, weil sich dann so gut damit spielen läßt, zum Vorteil der
andern. Was brauchst du Ehre, Prolet? Lohn brauchst du, guten Lohn, dann
kommt die Ehre von selbst. Und wenn du auch noch die Fabrik hast, dann
kannst du die Ehre ruhig den andern dauernd überlassen; dann erst wirst
du erfahren, wie wenig sich die draus machen ...

Der Heizer der Vorwache zog jetzt einen glühenden dicken Bolzen aus dem
Feuer und steckte ihn in einen Eimer mit Frischwasser. In Seewasser kann
man sich ja nicht waschen, das ist kaum gut genug zum Schlackenkühlen.
Dann begann er sich zu waschen mit Sand und Asche, weil er ja keine
Seife hatte.

Der Kesselraum war durch zwei Lampen erhellt. Eine dieser beiden Lampen
hing vor dem Dampfmeter, damit der Dampfdruck gelesen und von dem Heizer
geregelt werden konnte. Die andre Lampe hing in einer Ecke und wartete
auf den Schlepp. In dieser Welt der Toten wußte man nichts von einer
Erde, wußte man nichts davon, daß es Azetylenlampen, Kunstgaslampen,
Gasolinlaternen, Spirituslaternen gab, gar nicht zu reden von
Elektrizität, die sich durch Ankoppelung einer Dynamo leicht hätte
erzeugen lassen. Aber jeder Cent, ausgegeben für die Yorikke, war
verschwendetes Geld. Die Fische mit Geld zu füttern, wäre närrisch, sie
sollen zufrieden sein mit der Mannschaft. Diese Lampen hier waren bei
den Ausgrabungen des alten Karthago gefunden worden.

Wer die Form dieser Lampen kennen lernen will, gehe in ein Museum, sehe
sich die römische Abteilung an, wo er unter den Töpferwaren auch diese
Lampen, die wir hatten, finden wird. Es war ein Gefäß mit einer Tülle.
In der Tülle steckte ein Ballen Putzwolle. Das Gefäß wurde gefüllt mit
jener Flüssigkeit, die auch für die Jungfrauenlampe im Quartier zu
dienen hatte, und die den auf Irrwege führenden Namen Petroleum trug.
Viermal in einer Stunde mußte die Putzwolle weiter herausgezerrt werden,
weil sie kohlte und den Kesselraum mit einem undurchsichtigen dicken
schwarzen Rauch erfüllte, in dem die Rußflocken so dicht flogen wie
Heuschrecken in Argentinien während einer Plage. Die Putzwolle mußte man
mit den bloßen Fingerspitzen herauspulen, deshalb hatte man nach der
ersten Wache abgeschmorte Fingernägel und angeschmorte Fingerspitzen.
Wenn man mit seiner Lampe in den Kohlenbunkern saß, konnte man nicht die
Lampe erst ausmachen, weil man ja sonst in den Kesselraum runter gemußt
hätte, um sie wieder anzustecken.

Stanislaw hatte heute bereits eine Doppelwache gerissen. Was das
bedeutet, wird noch klar werden. Trotzdem er kaum noch kriechen konnte,
blieb er doch mit mir noch eine volle Stunde im Kesselraum, um mir
beizustehen.

Neun Feuer mußten von dem Heizer bedient werden. Und um diese neun Feuer
zu füttern, hatte der Schlepp die Kohle heranzuschaffen. Ehe aber mit
dem Heranschaffen der Kohle begonnen werden konnte, waren andre Arbeiten
zu verrichten. Da die Feuer selbst auf diese Arbeiten keine Rücksicht
nahmen und sie jede Vernachlässigung sofort am Meter herausbrüllten oder
gar auf der Brücke herausheulten, so mußte ein erheblicher Vorrat von
Kohle im Kesselraum angeschichtet sein, der für diese Zeit der
Nebenarbeiten langte. Diesen großen Vorrat mußte die abzulösende Wache
für die neuantretende Wache hinterlassen, und diese neue Wache hatte,
wenn sie abgelöst wurde, einen gleichen Vorrat der nächsten zu
übergeben. Dieser Vorrat konnte nur geschaffen werden durch eine
unmenschlich erscheinende Kraftanstrengung in der Zeit der beiden
mittleren Stunden einer Wache, also bei meiner Wache von eins bis drei.
Von zwölf bis eins kamen die Vorarbeiten und um drei begann das
Aschehieven mit dem Schlepp der neuen Wache. In zwei Stunden also mußte
alle die Kohle herbeigeschafft werden, die neun Feuer eines in voller
Fahrt befindlichen Dampfers in vier Stunden verschlingen. Liegt die
Kohle in den Bunkern in Front der Feuer, so ist das Heranschaffen der
Kohle die kräftige Arbeitsleistung eines gesunden, starken und
gutgenährten Arbeiters. Liegt die Kohle aber da, wo sie meist auf der
Yorikke lag, so ist es die Arbeit von drei oder vier starken Männern.
Hier hatte diese Arbeit einer zu tun. Und er tut sie. Er ist ja ein
Toter. Der kann alles. Und niemand versteht besser anzutreiben, niemand
versteht höhnischer zu sagen: „Schlapper Hund! Solltest mich mal sehen!“
als der Mit-Tote, als der Mit-Prolet, als der Mit-Hungernde, als der
Mit-Gepeitschte. Auch die Galeerensklaven haben ihren Stolz und ihr
Ehrgefühl, sie haben den Stolz, gute Galeerensklaven zu sein und „nun
einmal zu zeigen“, was sie können. Wenn das Auge des Auspeitschers, der
mit der Peitsche die Reihen entlanggeht, wohlgefällig auf ihm ruht, so
ist er beglückt, als hätte ihm ein Kaiser persönlich einen Orden an die
Brust geheftet.

Der Heizer warf drei Feuer auf, immer zwei überschlagend. Dann brach er
drei andre Feuer auf, die dazwischen lagen. Über jedem Feuer stand eine
Nummer mit Kreide geschrieben, die Nummern von eins bis neun. Als das
Aufwerfen und das Aufbrechen vorüber war, kam das Feuer drei an die
Reihe. Es war ziemlich niedergebrannt, und er brach mit einer schweren
langen Eisenstange die Schlacken von den Rosten. Die Schlacken saßen
fest. Und von dem Feuer strömte eine brüllende Hitze heraus. Mit jeder
Schlacke mehr, die herausgebrochen und vor das Feuer gezerrt war, wurde
die Hitze mächtiger. Denn nun lagen die glühenden Schlacken vor den
Feuertüren im Kesselraum und erhitzten ihn wie einen Glutofen. Der
Heizer und auch ich, wir hatten nur die Hosen an, nichts weiter. Der
Heizer hatte an den bloßen Füßen zerlumpte Tuchpantinen, während ich
Stiefel hatte. Ab und zu sprang der Heizer hoch und trampelte die
glühenden Schlackenkörner von den Füßen, auf die sie gesprungen waren.
Die Schürstange konnte nur gehalten werden, weil der Heizer seine Hände
mit Sacklumpen umwickelt hatte und Leder von einem alten Koffer zwischen
Hand und Eisen hielt. Endlich wurde die Hitze, die von den Schlacken
ausströmte, so gewaltig, daß der Heizer fort mußte vom Feuer. Jetzt
wurden die Schlacken mit Wasser, das ich aus einem Bottich nahm,
gelöscht. Der explosionsartig hochgehende Wasserdampf ließ uns beide
zurück an die Wand springen. Die Schlacken gleich einzeln zu kühlen,
wenn sie herauskommen, geht nicht, weil während des Kühlens der Heizer
nicht arbeiten kann. Dann dauert das Ausschlacken zu lange, das Feuer
fehlt und der Dampf geht so weit zurück, daß eine halbe Stunde wie
wahnsinnig gearbeitet werden muß, um den Dampf wieder hochzukriegen.
Runter geht er wie nichts, rauf nur langsam und mit mühseliger Arbeit.

Alles, was auf der Yorikke war, diente dazu, der Mannschaft Leben und
Arbeit zu erschweren. Der Kesselraum war viel zu schmal. Er war viel
schmäler als die Feuerungskanäle lang waren. Wenn die Schürstange also
in die Feuerung gestoßen oder herausgezogen werden sollte, so mußte der
Mann mit der Stange alle möglichen Wendungen und Drehungen verüben, um
die Stange zu handhaben, weil sie immer gegen die Rückwand stieß. Durch
diese Tänze, die der Heizer zu machen hatte, kam es nicht selten vor,
daß er bald dort stolperte und in einen Kohlenhaufen fiel, bald hier.
Bald stieß er sich an der Wand die Knöchel der Finger auf, bald an der
Feuertür. Wenn er fiel und instinktiv nach einem Halt griff, so griff er
in glühende Schlacken oder er packte die glühende Schürstange an. Es kam
auch vor, besonders wenn das Schiff rollte, daß er mit dem Gesicht in
die Schlacken oder auf die rotglühende Schürstange oder auf die Feuertür
fiel oder mit den bloßen Füßen auf einen herausgenommenen heißen Rost
oder auf heiße Schlacke trat. Mein Heizer glitschte einmal bei einem
unerwartet schweren Roller des Bootes aus und fiel mit dem nackten
Rücken in die weißglühende Schlacke, die vor dem Feuer lag. Totenschiff,
yes, Sir. Totenschiffe gibt es, die Leichen drin machen, und
Totenschiffe gibt es, die Leichen draußen machen, und Totenschiffe gibt
es, die Leichen überall machen. Yorikke machte alles und alle, sie war
ein gutes Totenschiff.

War die Schlacke heraus und gelöscht, so wurde frische Nußkohle
aufgeworfen. Diese Kohle mußte der Schlepp inzwischen aus der
Haufenkohle herausgelesen haben, es mußte gute, nicht zu große
Stückkohle sein, damit sie leicht anbrannte und damit das Feuer schnell
wieder in Gang kam. Denn die Kohle, die auf der Yorikke verfeuert wurde,
war die billigste und schlechteste Kohle, die es nur gab, sie erzeugte
nur wenig Hitze; und das war die weitere Ursache, warum der Schlepp
unglaubliche Riesenmengen von Kohle herbeischaffen mußte, um den Dampf
hochzuhalten. Nun wurden die andern Feuer wieder nachgesehen, während
ich die Schlacke nach der Mitte der Kesselwand zu schaufelte, wo sie
nicht im Wege lag.

Der andre Heizer hatte sich inzwischen fertig gewaschen, war aber die
ganze Zeit über immer in Gefahr gewesen, von dem glühenden Schüreisen
gestoßen und angeschmort zu werden oder von einer springenden Schlacke
verbrannt zu werden. Aber das kümmerte ihn nicht sehr, er war tot. Man
konnte es jetzt auch sehen. Gesicht und Körper waren von dem Waschen mit
Sand und Asche ziemlich rein geworden. In die Augen konnte er aber nicht
gut mit Sand und Asche gehen, darum hatten die Augen breite schwarze
Ringe. Das gab dem Gesicht das Aussehen eines Totenschädels, um so mehr,
als die Backen vor schlechter Ernährung und vor übermäßiger Arbeit tief
eingefallen waren. Er zog sich seine Hose an und sein durchlöchertes
Hemd und kletterte die Leiter hoch. Ich hatte gerade Zeit genug, einmal
einen Blick nach oben zu werfen, als ich ihn die Schlange machen sah.

Stanislaw schaffte indessen Kohle heran, damit ich wenigstens den Vorrat
bekam. Es kamen dann die Feuer sechs und neun an die Reihe. Als sechs
ausgeschlackt und aufgeschüttet war und die übrigen Feuer soweit
vorbereitet waren, um auch neun ausschlacken zu können, kam Stanislaw
und sagte zu mir: „Nun bin ich fertig. Ich kann nicht mehr. Es ist eins.
Ich habe fünfzehn Stunden jetzt ununterbrochen gewürgt. Um fünf muß ich
schon wieder Asche hieven. Es ist ja gut, daß du da bist, wir hätten das
nicht mehr länger machen können. Ich will dir nur jetzt gestehen, wir
sind nur zwei Schlepps, wenn du eingerechnet bist. Wir haben also nicht
zwei Wachen jeder, sondern drei, und dazu kommt zu jeder Wache eine
Stunde Aschehieven extra. Und morgen haben wir, auch noch extra, die
Berge von Asche, die auf Deck liegen, weil im Hafen ja keine Asche
ausgeworfen werden darf, abzuschaufeln. Wird für jeden vier Stunden
extra machen.“

„Das sind doch dann alles Überstunden, die Doppelwachen, das Abschaufeln
der Deckasche und das Aschehieven“, sagte ich.

„Ja, das sind alles Überstunden. Wenn es dir Vergnügen macht und du
gerne schreibst, kannst du dir die ganzen Überstunden anschreiben. Aber
bezahlen tut sie dir keiner.“

„Das ist mir aber bei der Heuer ausgemacht worden“, antwortete ich.

„Was ausgemacht wird, hat keine Geltung bei uns. Nur was du in der
Tasche hast, das hat Geltung. Und in die Tasche kriegst du immer nur
Vorschuß, Vorschuß, Vorschuß. Immer soviel, daß es zum Besaufen gerade
langt und vielleicht für ein Paar Pantinen oder ein Hemd, aber nicht
mehr. Denn wenn du anständig aussiehst und ruhig durch die Straße gehen
kannst, könntest du ja vielleicht wieder lebendig werden. Verstehst du
jetzt den Dreh? Kannst nicht fort. Mußt Geld haben, mußt eine ganze
Hose, eine ganze Jacke, ganze Stiefel und Papiere haben. Kriegst du
nicht. Kannst nicht lebendig werden. Wenn du aussteigst, läßt er dich
einfangen, wegen Desertion. Die haben dich gleich mit deinen Lumpen und
keinen Papieren. Dann zieht er dir zwei oder drei Monatsheuern ab wegen
Desertion. Kann er. Tut er. Dann bettelst du wegen eines Schillings auf
den Knien für Schnaps. Schnaps mußt du haben. Tot sein tut manchmal doch
weh, auch wenn man sich schon lange daran gewöhnt hat. Gute Nacht.
Waschen tu ich mich nicht, ich kann nicht mehr die Hand heben. Laß dir
keine Roste durchfallen, das kostet Blut, Pippip. Gute Nacht.“

„Heilige Maria, genotzüchtigter Gabriel, Joseph und Arimathia,
Eberklöten und Bockpinnen, Himmelkreuzdonnerwetter – –“

Der Heizer schrie wie besessen und nahm einen gewaltigen Anlauf, um eine
neue Serie von Flüchen und Verwünschungen loszulassen, daß die Bewohner
aller Höllen schamrot werden mußten. Von der Erhabenheit seines Gottes,
von der jungfräulichen Reinheit der Himmelskönigin, von der Würde der
Heiligen blieb nichts mehr bestehen. Sie sanken in den Kot der Straße
und wurden durch die Jauche der Gosse geschleift. Die Hölle hatte ihre
Schrecken für ihn verloren, ihn konnte kein noch so fürchterlicher
Bannstrahl des Himmels mehr treffen, denn als ich fragte:

„Heizer, was ist denn los?“ da heulte er wie eine blutdürstige Bestie:

„Sechs Roste sind rausgefallen. Heilige verhur – –“


                                   31

Stanislaw hatte beim Raufgehen gesagt, daß das Herausfallen der Roste
Blut kostet. Damit meinte er, wenn einer rausfällt. Jetzt waren sechs
raus. Sie einzusetzen kostete nicht nur Blut und nicht nur abgestoßene
Fleischstücken und abgeschmorte Hautfetzen, das kostete blutendes
Sperma, herausgezerrte Sehnen, das Mark floß einem wie wäßrige Lava aus
den Knochenröhren, die Gelenke krachten wie Holz, das gebrochen wird.
Und während wir arbeiteten wie verblödete Maden, fiel der Dampf und fiel
und fiel. Und wir sahen die Arbeit, die uns bevorstand, den Dampf wieder
hochzubringen. Sie kroch und würgte sich in unsre Kadaver, während wir
mit den Rosten würgten. Seit jener Nacht stehe ich über den Göttern. Ich
kann nicht mehr verdammt werden. Ich bin frei, darf unbekümmert tun und
lassen, was ich will. Ich darf Götter verfluchen, darf mich verwünschen,
darf handeln, wie es mir gefällt. Kein menschliches Gesetz, kein
göttliches Gebot mehr kann meine Handlungen beeinflussen, denn ich kann
nicht mehr verdammt werden. Die Hölle ist ein Paradies. Keine
menschliche Bestie kann Höllenqualen ausdenken, die mich erschrecken
könnten. Wie immer auch die Hölle beschaffen sein mag, sie ist Erlösung.
Erlösung vom Einsetzen rausgefallener Roste auf der Yorikke.

Der Skipper ist nie im Kesselraum gewesen und keiner der beiden
Offiziere. Freiwillig ging niemand in diese Hölle. Sie machten sogar
einen Umweg, wenn sie am Einsteigschacht vorbei mußten. Die Ingenieure
wagten sich in den Kesselraum nur, wenn die Yorikke sanft im Hafen lag
und der Kesselbums Reinigungsarbeiten machte, Rohre ziehen,
Maschinenhalle putzen und ähnliche dreckige Tagesarbeiten. Selbst dann
hatten die Ingenieure diplomatisch mit den Schwarzen Banditen umzugehen.
Denn die waren immer und immer in einem Zustande, dem Ingenieur einen
Hammer an den Schädel zu pfeffern. Was bedeutete dem Kesselbums
Gefängnis, Zuchthaus oder der Henker? Nicht einen Pfifferling machten
die sich daraus.

Von der Maschinenhalle aus führte ein schmaler niedriger Gang zwischen
dem Steuerbordkessel und der Steuerbordwand zu dem Kesselraum. Dieser
Gang war von der Maschinenhalle durch eine schwere eiserne kleine Tür,
die wasserdicht war – was auf der Yorikke wasserdicht genannt werden
konnte – abgetrennt. Kam jemand von der Maschinenhalle, und hatte er die
Luke passiert, so mußte er mehrere Stufen hinuntergehen, um den Gang zu
erreichen. Dieser Gang war drei Fuß nur breit und so niedrig, daß man
ganz gebückt gehen mußte, um sich nicht den Kopf an den eisernen,
scharfkantigen Querstreben einzurennen. Der Gang war, wie alles auf der
Yorikke und wie auch der Kesselraum, stockdunkel bei Tage und bei Nacht.
Zudem war der Gang heiß wie ein Hochofen. Wir, die Schlepps, fanden uns
in dem Gange mit verbundenen Augen zurecht, denn er gehörte mit zu den
Spezialmarterwegen. Durch diesen Gang hatten wir einige hundert Tonnen
Kohle nach den Kesseln zu schaufeln und zu quetschen, von den Bunkern,
die neben der Maschinenhalle lagen. Wir kannten diesen Martergang und
seine labyrinthischen Rätsel. Andre Leute kannten ihn nicht so gut.

Fiel nun der Dampf erheblich, weit unter hundertdreißig, dann mußte der
wachhabende Ingenieur etwas tun. Dafür wurde er ja bezahlt. Der Erste
kam auch nicht in den Kesselraum. Auf Fahrt nie. Ein zerschlagenes
Schulterblatt hatte ihn gelehrt, daß man den Kesselbums auf Fahrt nicht
belästigen darf. Er rief nur von oben, vom Deck aus, den Schacht
hinunter: „Der Dampf fällt!“ Dann war er aber auch schon weg. Denn von
unten kam das Gebrüll: „Du gottverfluchter Hurenhund, das wissen wir
selber. Komm runter, du Schwein, wenn du was willst.“ Dabei flogen aber
auch schon Kohlenstücken gegen die Einsteigluke.

Man rede dem Arbeiter nichts von Anstand, Höflichkeit und guten Sitten,
wenn man ihm nicht gleichzeitig die Bedingungen geben will, daß er
anständig und höflich bleiben kann. Dreck und Schweiß färben ab, nach
innen mehr als nach außen.

Der Zweite Ingenieur war noch verhältnismäßig jung, vielleicht
sechsunddreißig. Er war ein großer Streber und wollte gern Erster
werden. Er glaubte, seine Strebsamkeit am besten beweisen zu können
dadurch, daß er den Kesselbums herumjagte, besonders wenn Yorikke im
Hafen lag, denn dann hatte er das Maschinenkommando. Er war kein guter
Lerner und lernte schwer, eigentlich nie, mit dem Kesselbums der Yorikke
umzugehen. Es gibt Ingenieure, die vom Kesselbums angebetet werden. Ich
habe einmal einen Skipper gekannt, der vom Kesselbums wie ein Gott
verehrt wurde. Der Skipper ging jeden Tag persönlich in die Galley:
„Koch, ich will das Essen sehen, das meine Heizer und Kohlschlepps heute
kriegen. Will ich kosten. Das ist Dreck. Das geht über Bord. Die Heizer
und Kohlschlepps fahren einen Dampfer, niemand sonst.“ Und wenn er einen
Schlepp oder einen Heizer auf dem Deck traf: „Schlepp, wie war das Essen
heute; genug Fleisch? Wie kommt ihr mit der Milch zurecht? Abends kriegt
ihr eine Extraration an Eiern und Speck. Bringt euch der Junge auch
regelmäßig den kalten Tee runter, der angeordnet ist?“ Und merkwürdig,
die Heizer und Schlepps auf jenem Eimer hatten ein Benehmen, daß sie zum
Gesandtschaftsball hätten eingeladen werden können.

Als beim Einsetzen der Roste der Dampf fiel und fiel, kam der Zweite,
der die Wache hatte, durch den Gang, lugte um die Kesselecke und sagte:

„Was ist mit dem Dampf los? Der Kasten wird gleich stehenbleiben.“ Der
Heizer hatte in dem Augenblick gerade die rotglühende Schürstange in der
Hand, mit der er einen Rost vom Aschenzug aus einzustützen versucht
hatte. Mit einem fürchterlichen Geheul, mit blutunterlaufenen Augen und
schäumendem Munde richtete er sich auf und raste wie ein Irrsinniger mit
der glühenden Stange auf den Ingenieur los, um ihm die Stange durch den
Leib zu rennen. Aber wie ein Funke war der Ingenieur hinter der Ecke
verschwunden und sauste den Gang zurück. In der Schnelligkeit, mit der
er floh, maß er die Höhe des Ganges nicht genügend und schlug sich den
Schädel an einer der Querstreben auf. Der Heizer hatte die Stelle, wo
der Ingenieur gestanden hatte, getroffen. Der Stoß war so gewaltig, daß
ein Fladen von dem Mauerwerk, das den Kessel gegen Hitzeverlust
schützte, absprang und die Stange sich oben verbog. Doch der Mann gab
die Verfolgung nicht auf. Er raste hinter dem Zweiten her mit der
Stange, und er hätte ihn mitleidlos erschlagen und zermanscht, wenn der
Ingenieur nicht rechtzeitig, blutüberströmt von dem Gegenrennen an den
Eisenstreben, die Stufen erreicht und die Luke hinter sich zugeschlagen
und verrammelt hätte.

Der Ingenieur rapportierte den Fall nicht, wie kein Unteroffizier oder
Offizier, der von einem gemeinen Soldaten unter vier Augen gebackpfeift
wurde, die Backpfeifen rapportieren würde, um nicht zugeben zu müssen,
daß ihm das geschehen konnte. Hätte der Ingenieur den Fall rapportiert,
so hätte ich als Zeuge geschworen, daß der Ingenieur hereingekommen sei
und den Heizer mit einem Schraubenschlüssel habe erschlagen wollen, weil
angeblich nicht genügend Dampf gewesen sei und der Heizer ihm gesagt
habe, er möge machen, daß er rauskäme, er sei ja besoffen, und da ist er
in seiner Trunkenheit rausgetorkelt und hat sich den Kopf aufgeschlagen.
Das ist nicht gelogen. Abgesehen von allem andern, der Heizer ist mein
Leidensgefährte. Und wenn die andern blöken: „Right or wrong, my
country! Recht oder Unrecht, mein Vaterland!“, so habe ich, verflucht
nochmal, Recht und Schuldigkeit, zu rufen: „Right or wrong, my
fellow-worker! Recht oder Unrecht, meine Mitproleten!“

Am nächsten Tage fragte der Erste den Zweiten, wie er zu dem Loch im
Schädel gekommen sei. Der Gefragte erzählte die Wahrheit. Aber der
Erste, ein schlauer Bursche, rapportierte nichts, sondern sagte zum
Zweiten: „Da haben Sie verteufelt Glück gehabt, Mensch. Machen Sie das
nicht nochmal. Wenn Roste raus sind, lassen Sie sich nicht sehen, gucken
Sie zum Einsteigeschacht rein, aber melden Sie sich mit keinem Atemzuge,
daß Sie da sind. Lassen Sie den Dampf runtergehen, soviel er will, und
wenn der Kasten stehenbleibt. Wenn Sie runtergehen, solange Roste raus
sind und die nächste halbe Stunde danach, werden sie mitleidlos
totgeschlagen und in den Feuerungskanal geschoben. Kein Mensch erfährt
je, wo Sie geblieben sind. Ich warne Sie.“

So ein Streber war der Zweite doch nicht, daß er sich diese Warnung
nicht zu Herzen genommen hätte. Er ist nie wieder in den Kesselraum
gekommen, wenn Roste gefallen waren, und wenn er sonst kam, weil der
Dampf büßte und nicht hochkommen wollte, dann kam er wohl rein, sagte
keine Silbe, sah nach dem Dampfmeter, stand eine Weile, bot dem Heizer
und dem Schlepp eine Zigarette an und sagte dann: „Wir haben ludermäßige
Kohle, da kann ein Heizer von Gold gemacht sein und er kann keinen Dampf
halten.“

Heizer sind ja keine Idioten und verstehen natürlich sofort, was der
Ingenieur will, und tun das Beste, was sie können, um den Dampf
hochzukriegen. Denn nicht nur andre Leute, sondern auch Proleten haben
Sportgefühl. Aber es soll sich kein Arbeiter über seine Vorgesetzten
beschweren, er hat immer die, die er verdient, und die er sich macht.
Ein gutgezielter und gutsitzender Hieb zur rechten Zeit ist besser als
ein langer Streik oder ein langes Herumärgern. Ob man die Arbeiter als
„Rohlinge“ bezeichnet, kann ihnen gleichgültig sein. Respektieren soll
man sie, das ist die Hauptsache. Nur nicht schüchtern sein, Prolet. Was
Übles man der Yorikke auch immer sonst nachreden konnte, in einem Dinge
verdiente sie, mit Lorbeer gekrönt zu werden: Sie war ein vortrefflicher
Lehrmeister. Ein halbes Jahr Yorikke, und man hatte keine Götzen mehr.
Hilf dir selbst und verlaß dich nicht soviel auf andre. Gefallene Roste
einsetzen, ist selbst auf einem gesunden Eimer kein Vergnügen, wie ich
später erfuhr. Es ist immer eine sehr ärgerliche Sache. Doch nicht mehr
als das. Auf der Yorikke aber war es Blutarbeit.

Jeder Rostbarren wog etwa vierzig bis fünfzig Kilo. Diese Barren lagen
mit ihren Nocken auf einer Querleiste vorn und auf einer Querleiste am
Ende des Feuerungskanals. Die Querleisten waren einmal gut und neu
gewesen, zu der Zeit, als der große Streik ausbrach beim Bau des Turms
von Babel und jene Sprachverwirrung eintrat, die auf der Yorikke ihren
Höhepunkt erreicht hatte.

Kein Wunder, daß in der langen Zwischenzeit jene Querleisten ihre
stützende Wirkung verloren hatten. Die Leisten waren verschmort. Die
Roste lagen mit ihren Nocken nur auf winzigen Narben jener abgeschmorten
Querbalken. Beim Aufbrechen der Schlacke brauchte man nur einen
Millimeter zu unvorsichtig sein, oder die Schlacke brauchte nur sehr
fest sitzen, dann rutschte ein Rostbarren ab und fiel hinunter in den
Aschfall. Der Rostbarren war glühend und mußte aus dem Aschfall
herausgefischt werden mit einem merkwürdigen Instrument, das Rostzange
hieß und etwa zwanzig Kilo wog. Hatte man den Barren gefischt, so mußte
er in den Feuerungskanal gehoben und in seine alte Lage gebracht werden.
Da die Querbalken abgeschmort waren im Laufe der Jahrtausende, so waren
die verschrumpelten und verbrannten Narben, auf denen der Barren ruhen
sollte, weniger als einen halben Zoll breit. Hatte man den Barren vorn
glücklich drin, rutschte er hinten ab und fiel wieder in den Aschfall
zurück, wo er abermals herausgefischt werden mußte, um das Einsetzen ein
zweitesmal zu versuchen. Diesmal lag er hinten glücklich in der Narbe,
aber er erreichte vorn nicht den Rest des Balkens und fiel nun vorn in
den Aschfall. Fiel der Barren an einem Ende in den Aschfall, so gab auch
das andre Ende nach, und der ganze Barren fiel runter. Dieses
Herausfischen und Wiedereinheben mußte so lange versucht werden, bis der
Barren durch ein glückliches Zusammentreffen mehrerer glücklicher
Umstände an beiden Enden diesen knappen halben Zoll von Auflagefläche
gewonnen hatte.

Handelte es sich nur um einen Barren, so war das schon das Schlimmste,
was man sich nur an Arbeit vorstellen kann. Aber durch das Fischen und
durch das Einlegen stieß man zuweilen einen Nachbar-Barren an und der
folgte dem Rufe und fiel gehorsam auch nach in den Aschfall, dabei
seinen nächsten Nachbar mit sich reißend. Beim Einlegen des letzten
Nachbars fiel ein weiterer Nachbar herunter, der an und für sich schon
nur noch einen Millimeter auflag und schon eine Stunde sehnsüchtig
darauf gewartet hatte, daß ihn doch jemand berühren möge, damit er
endlich einen Grund habe, auch in den Aschfall rutschen zu können und
den Tanz mitzumachen.

Während dieser Fischzeit und Einlegezeit brannte das Feuer in dem Kanal
natürlich lustig weiter, die Barren waren glühend, die Zange war
glühend, das Schüreisen, mit dem die Barren während des Einlegens von
unten aus gestützt wurden, war glühend und die Barren hatten ein
Gewicht, daß sie selbst dann eine ansehnliche Last darstellten, wenn sie
eiskalt waren und man sie in den Armen vor sich tragen konnte.
Ununterbrochen durfte man nicht an den Barren arbeiten, weil die übrigen
Feuer bedient werden mußten, damit sie nicht verlöschten. Alles, was an
vorrätiger Kohle im Kesselraum lag, wurde in der Zeit aufgefressen und
mußte nachgeschleppt werden.

Als wir endlich die sechs Roste drin hatten und keiner es wagte, in der
Nähe der Feurungstür fest aufzutreten, um die Barren nicht zu
erschüttern und sie von ihren Millimeterstütznarben abzuwerfen, fielen
wir beide leblos in einen Kohlenhaufen. Leblos ist die richtige
Bezeichnung; denn jegliches Leben in uns war für eine halbe Stunde
erloschen. Wir bluteten, aber wir fühlten es nicht, unsre Haut war in
Streifen und großen Flecken von Armen, Händen, Brust und Rücken
abgeschmort, aber wir fühlten es nicht. Wir hatten nicht mehr die Kraft,
zu atmen.

Ein Hauch des Lebens kam endlich zurück, und wir hatten den Dampf wieder
hochzubringen. Aus den fernsten Winkeln des Schiffes mußte die Kohle
geschleppt werden, denn die Kohlenbunker lagen da, wo sie am wenigsten
Laderaum wegnehmen konnten. Die Laderäume waren die Hauptsache.
Ihretwegen fuhr die Yorikke, ihretwegen fährt jedes Schiff. Die Kohle,
das Essen für das Schiff, war Nebensache, wie das Essen für die
Mannschaft Nebensache war. Wo ein Winkel frei war, der als Laderaum
nicht verwendet werden konnte, da wurde Kohle verbunkert, und da mußte
sie weggeschleppt werden. In einer Wache von vier Stunden verbrauchten
die neun Feuer der Yorikke mehr als vierzehnhundertfünfzig volle schwere
Schaufeln Kohle. Diese vierzehnhundertfünfzig Schaufeln mußten
herbeigeschleppt werden. Und das mußte getan werden neben dem
Ausschlacken, neben dem Aschfallziehen, neben dem Aschehieven und, in
gebenedeiten Wachen, neben dem Rosteeinsetzen.

Das mußte getan werden von nur einem Kohlenschlepp, dem dreckigsten Mann
der Mannschaft, dem verachtetsten, der weder Matratze hatte, noch eine
Decke, noch ein Kissen, noch einen Teller, noch eine Gabel, noch eine
Tasse, mußte getan werden von einem Manne, dem satt zu essen zu geben
nicht durchführbar war, weil die Kompanie behauptete, sonst nicht
konkurrenzfähig zu sein. Und daß Kompanien konkurrenzfähig sein müssen,
darauf achtet sogar der Staat. Dafür achtet er um so weniger darauf, daß
die Menschen konkurrenzfähig bleiben. Beide, Kompanien und Arbeiter,
können nicht gleichzeitig konkurrenzfähig gemacht werden.

Um vier wurde mein Heizer abgelöst. Ich nicht. Ich ging meine Ablösung,
den Stanislaw, um zwanzig vor fünf wecken, zum Aschehieven. Ich mußte
ihn aus der Bunk ziehen. Er war wie ein Klotz.

Er war schon lange auf der Yorikke. Er war daran gewöhnt. Wenn jemand,
vielleicht der Passagier einer Luxuskabine, durch Neugier getrieben, an
dem Kesselschacht vorbeikommt, so ist sein erster Gedanke:

„Wie ist es möglich, daß da Menschen arbeiten können?“

Aber da flüstert ihm sofort der, der immer zur Hand ist und ihm das
Leben erträglich macht, ins Ohr: „Das sind die gewöhnt, die merken davon
nichts.“

Damit kann man alles entschuldigen, und damit entschuldigt man alles. So
wenig wie sich ein Mensch an Lungentuberkulose gewöhnt, so wenig wie er
sich daran gewöhnt, dauernd zu hungern, so wenig kann sich ein Mensch
daran gewöhnen, etwas zu ertragen, was am ersten Tage körperliche und
seelische Qualen bereitet, die man niemand gönnen mag, der
Menschenantlitz trägt. Mit der nichtswürdigen Ausrede: „Die sind daran
gewöhnt!“ entschuldigt man auch das Auspeitschen der Sklaven.

Stanislaw, ein robuster Bursche, hatte sich nie daran gewöhnt, ich habe
mich nie daran gewöhnen können, und ich habe nie einen Menschen gesehen,
der sich an Qualen je gewöhnt hätte. Weder Tiere noch Menschen können
sich an Qualen gewöhnen, nicht an körperliche, nicht an seelische. Sie
werden nur abgestumpft, und das nennt man Gewöhnung. Doch ich glaube
nicht, daß je ein Mensch so abgestumpft werden kann, daß er sich nicht
nach Erlösung sehnt, daß er nicht in seinem Herzen den ewigen Schrei
trägt: „Ich hoffe, daß mein Befreier kommt!“ Nur der allein hat sich
gewöhnt, der nicht mehr hofft. Die Hoffnung der Sklaven ist die Macht
der Herren.

„Ist das schon fünf?“ sagte Stanislaw. „Ich habe mich doch soeben erst
hingelegt.“ Er war noch so dreckig wie er raufgegangen war. Auch jetzt
konnte er sich nicht waschen. Er war zu müde.

„Ich will dir sagen, Stanislaw, ich halte es nicht aus. Ich kann um elf
nicht Asche hieven und um zwölf ablösen. Ich gehe über die Reeling.“
Stanislaw saß auf der Bunk, guckte mich verschlafen an, gähnte und
sagte: „Tu das nicht. Ich kann nicht deine Wache auch noch machen. Ich
mache auch über die Reeling. Gleich hinterher. Nein. Mache ich nicht.
Dann schon lieber Pflaumenmus unter den Kessel. Dann geht alles mit und
die können keinen mehr fangen. Das ist eigentlich ein Spaß. Das mit
Pflaumenmus.“

Der arme Stanislaw war noch ganz im Dusel. Dachte ich.


                                   32

Um sechs Uhr morgens war meine Wache zu Ende. Ich hatte dem Stanislaw
keinen Kohlenvorrat hinterlassen können. Ich konnte die Schaufel nicht
mehr halten. Ich brauchte keine Matratze, keine Decke, kein Kissen,
keine Seife. Ich fiel in meine Bunk, dreckig, ölig, fettig, verschwitzt
wie ich war. Meine Hosen waren für dauernd verdorben, auch mein Hemd und
meine Stiefel. Dick verschmiert mit Öl, Kohlenstaub und Petroleum.
Löcher reingebrannt, versengt, zerrissen. Wenn ich nun an der Reeling
der Yorikke stand im nächsten Hafen, in Reih und Glied der übrigen
Taschendiebe, Einbrecher und entlaufenen Sträflinge, dann war ich nicht
mehr zu unterscheiden. Ich hatte nun auch meine Sträflingskleidung, in
der ich nicht mehr aussteigen konnte, ohne sofort gefaßt und
zurückgeliefert zu werden. Ich war jetzt ein Teil der Yorikke geworden,
mußte mit ihr gehen auf Tod und Verderben. Es gab kein Entrinnen mehr.

Jemand riß mich auf und schrie mir ins Ohr: „Frühstück ist da.“ Es kann
kein Frühstück auf der Welt bereitet werden, das imstande gewesen wäre,
mich aus der Bunk zu bringen. Was war mir Frühstück, was war mir Essen?
Ein schwarzes, dickes, dunstiges, schwerwuchtendes Etwas. Manch einer
sagt: „Ich bin so müde, daß ich keinen Finger mehr rühren könnte.“ Der
das sagen kann, weiß nicht, was Müdesein bedeutet. Fingerrühren? Nicht
einmal die Augendeckel schlossen ganz, vor Müdigkeit. Meine Augen waren
halb geöffnet, und ich empfand das trübe Tageslicht wie einen lastenden
Schmerz, aber ich konnte und konnte die Augenlider nicht schließen. Sie
schlossen nicht selbsttätig und sie schlossen nicht auf meinen Willen.
Denn den Willen konnte ich nicht aufbringen. Ich hatte nicht den Wunsch,
sondern nur ein lastendes Unbehagen: „Möchte doch das Tageslicht
weggehen.“

Und als ich nicht dachte, sondern widerstandslos empfand: „Was kümmert
dich das Tageslicht?“, da riß mich der schwere eiserne Haken eines
Ladekrans hoch, dem Kranführer flitschte der Hebel aus der Hand, ich
sauste aus dreißig Meter Höhe hinunter, klatschte flach auf den Ladekai
und ein dicker Schwarm von Leuten stürmte auf mich los und schrie:

„Raus, zwanzig vor elf, Asche hieven.“

Nachdem die Asche gehievt war, holte ich das Mittagessen aus der Galley,
hatte mit meinen Kumpen die Leiter Mittschiffs raufzugehen und die
Leiter zum Vordeck wieder runterzuklimmen. Ich aß ein paar Pflaumen, die
„Der Pudding“ hießen, und die in einem blauen Stärkeschleim steckten.
Etwas andres und mehr zu essen war ich zu müde. Ich wusch mich nicht,
sondern trat so meine Wache an. Als ich um Sechs abends wieder abgelöst
wurde, war ich zu müde, um mich zu waschen. Das Abendessen war kalt und
steif. Das rührte mich nicht. Ich schlug in meine Bunk.

Das ging drei Tage und drei Nächte. Ich hatte keinen andern Gedanken als
nur: Elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs. In
diesem Begriff sammelte sich für mich der Weltbegriff und das
Persönlichkeitsbewußtsein. Ich war ausgelöscht. An Stelle des Ichs stand
nichts andres als elf bis sechs. Zwei unsagbar wehe Schreie schnitten
sich mir mit Grausamkeit in das, was Hirn, Fleisch, Seele, Herz gewesen
war. Sie bereiteten einen Schmerz, der gellend scharf war. Mag sein, daß
man einen ähnlichen kreischenden Schmerz empfindet, wenn einem das
nackte Gehirn mit einer Stahlfeder gekitzelt wird. Die Schreie kamen
immer von weit her, waren immer dieselben, immer gleich grausam und
schmerzhaft: „Raus, zwanzig vor elf!“ – – „Heilige genotzüchti – Roste
durchgefallen!“

Als vier Tage und fünf Nächte um waren, bekam ich Hunger, aß und begann,
mich daran zu gewöhnen.

„So schlimm ist das eigentlich gar nicht, Stanislaw“, sagte ich, als ich
ihn ablösen kam. „Die Frikandellen schmecken ganz gut. Wenn man nur
etwas mehr Milch bekäme. Na, der Vorrat, den du mir hinterläßt, ist auch
nicht gerade berühmt. Das stochern wir in einen hohlen Zahn vom Feuer
eins. Wie kann man denn beim Ersten einen Rum rausschinden?“

„Spielend, Pippip. Siehst ja klapprig genug aus. Glaubt er dir. Gehst
jetzt gleich rauf und sagst, hast dir den Magen verdorben und mußt
immerfort kotzen. Sagst, kannst nicht auf Wache gehen, kotzt grün.
Gleich hast du ein Weinglas weg. Zweimal die Woche kannst du drauf
reiten auf das Rezept. Wenn du mehr kommst, zieht es nicht mehr. Dann
gießt er dir unversehens halb Rizinus mit ein, merkste erst, wenn du
geschluckt hast. Und kannst ihm doch nicht gut in die Kabine spucken,
mußte dann aufscheuern. Also schluckste. Gib das Rezept nicht weiter.
Ist bloß für uns beide. Die Heizer haben ein separates. Pfeifens aber
nicht, die Gauner.“

Ich gewöhnte mich immer mehr.

Dann kam die Zeit, wo ich schon wieder Nebengedanken bekam, wo ich nicht
in einem ermüdeten Dämmerzustande, sondern ganz trocken dem Zweiten
zuschrie, wenn er nicht sofort den Kesselraum verließe, er nicht nur
einen Hammer, sondern auch noch einen Knebelbolzen an den Schädel
kriegen würde, und daß er mich wehrlos über Bord schmeißen dürfe, wenn
ich ihm nicht ganz gewiß mit dem Hammer die Vorderfront und mit dem
Bolzen die Hinterpartie seines Idiotenschädels einschlüge, und daß er
uns diesmal nicht durch den Gang entkommen würde.

Er hätte in der Tat nicht entkommen können. Er hatte wohl auch das
Gefühl. Wir hatten in dem Gange eine Stange aus Eisen so angebracht, daß
sie in der Schwebe hing. Von der Rückwand des Kesselraumes aus führte
eine Schnur zu jener Eisenstange. Wollte er entfliehen, so sprang einer
sofort zu der Schnur und zog sie an. Dadurch wurde die Stange aus der
Schwebe ausgelöst und fiel so in seinen Weg, daß er in der Falle war. Ob
er lebend herausgekommen wäre oder mit kurz und klein geschlagenen
Gliedmaßen nur, hing lediglich von der Anzahl der rausgefallenen Roste
ab.

Es vergingen manchmal fünf Wachen, ohne daß auch nur ein Rost
herausfiel. Aber die Roste brannten ja auch durch und mußten durch neue
ersetzt werden, weil sonst die Feuer durchbrachen. Zuweilen hatte man so
viel Glück, daß bei dem Neueinsetzen nur ein Nachbar mitging, und daß
man die beiden mit Geduld und Blut so andächtig behandeln konnte, daß es
bei den beiden blieb. Dafür aber kamen dann auch die Prüfungen um so
schärfer, daß nicht nur sechs fielen, sondern acht, und nicht nur in
einem Feuerzug, sondern in zwei oder drei in derselben Wache. Fürwahr,
es wurde einem nichts geschenkt.

Als wir Goldküste machten, kamen wir in Wetter, und was für ein Wetter!
Ehre sei Gott in der Höhe, und blas’ mir die Trompeten! Das war ein
Lüftchen. Da bring mal die Kumpen mit Suppe und Schneidergulasch heil
über Mittschiff zum Quartier. Fleckenseife und Benzin nochmal! Das will
gelernt sein.

Nun das Aschehieven. Da hat man die schwere Aschkanne ausgehängt und
trägt sie warm im Ärmchen rüber über das Gangdeck zum Ascheschacht. Aber
ehe man mit seiner geliebten Kanne dort ankommt, hat Yorikke übergerollt
und man saust mit seiner holden gefüllten Kanne das ganze Gangdeck
entlang und sauber zur Gangstieg. Kachelt Yorikke achtern aus, landet
man mit seiner Aschkanne immer noch fest im Arm unten auf dem Vordeck,
läßt Yorikke vorn die blanken Oberschenkel sehen, rasselt man mit der
Kanne nach achtern und rollt das ganze Achterdeck rauf und runter und
der Erste Offizier schreit von der Brücke herunter: „He, Schlepp, wenn
Sie über Stag gehen wollen, man immer los, es hält Sie niemand, aber die
Aschkanne lassen Sie gefälligst hier. Die können Sie beim Fischen nicht
gebrauchen.“

Unten vor den Kesseln ist es dann auch viel gemütlicher als sonst. Wenn
der Heizer gerade mit einem schön einstudierten Schwung eine volle
Schaufel aufschmeißen will, dreht er sich plötzlich und schmeißt einem
die Schaufel voll Kohlen klatschend ins Gesicht oder zwischen die
Eingeweide. Beim nächsten Überholer kommt er gar nicht zum Schwunge,
sondern fliegt mit seiner Schaufel in einen Kohlenhaufen, in dem er
verschwindet und aus dem er erst hervorkraucht, wenn Yorikke wieder hier
überlegt.

In den Bunkern, wenn es Oberbunker sind, die auch mit Gut beladen werden
können, ist der Spaß noch größer, weil man mehr Spielraum hat. Man hat
glücklich am Steuerbordschacht zweihundert Schaufeln aufgeschichtet und
beginnt gerade damit, sie nach dem Kesselschacht abzuwerfen.

Ratsch! legt Yorikke über nach Backbord. Und Schlepp, seine Schaufel und
seine schönen zweihundert Würfe Feuergut rutschen in einem wilden
Gemengsel über nach Backbord und steigen an der Backbordwand hoch.
Yorikke macht nun einen Längser, man kommt ins Gleichgewicht und
beschließt die zweihundert Würfe am Backbordschacht abzuwerfen. Eine
Schaufel hat man gerade unten, da legt sich Yorikke zur Abwechslung nach
Steuerbord über und das Gemengsel, mit dem Schlepp in der Mitte, rasselt
nach Steuerbord, wo es ursprünglich herkam. Jetzt aber überlistet man
die gute Yorikke. Man überlegt nicht lange, prasselt gleich zehn,
fünfzehn Schaufeln runter in den Steuerbordschacht, dann rennt man noch
rechtzeitig rüber nach Backbord, und wenn die Lawine dort nachkommt,
gleich wieder fünfzehn Würfe den Backbordschacht runter, und wie der
Satan rüber nach Steuerbord, schon ist die Lawine hinterher, fünfzehn
Würfe hier in den Schacht und so kriegt man seine Kohle vor die Kessel,
wenn sie in den Oberbunkern lagern.

Ein Kohlschlepp muß ebensoviel von Navigation verstehen wie der Skipper,
sonst würde er zu manchen Zeiten nicht ein Kilo Kohle vor die Kessel
kriegen. Natürlich ist der Schlepp am ganzen Körper braun und blau, die
Nase zerschunden, die Schienbeine aufgeschlagen, die Hände und Arme
abgeschunden. Lustig ist das Seemannsleben, hoiho!

Und lustiger noch ist es, daß Hunderte von Yorikken, Hunderte von
Totenschiffen auf den sieben Meeren fahren. Alle Nationen haben ihre
Totenschiffe. Die stolzesten Kompanien, die die schönsten Flaggen
protzig wehen lassen, schämen sich nicht, Totenschiffe zu fahren. Wozu
zahlt man denn Versicherungsprämien. Nicht zum Vergnügen. Alles muß
seinen Profit abwerfen.

Es fahren viele Totenschiffe auf den sieben Meeren, weil es viele Tote
gibt. Nie gab es so viel Tote, als seit der große Krieg für die Freiheit
gewonnen wurde. Für jene Freiheit, die Pässe und Nationalitätsnachweise
der Menschheit aufzwang, um ihr die Allmacht des Staates zu offenbaren.
Das Zeitalter der Tyrannen, das Zeitalter der Despoten, der absoluten
Herrscher, der Könige, Kaiser und deren Lakaien und Maitressen ist
besiegt worden, und der Sieger ist das Zeitalter eines größeren
Tyrannen, das Zeitalter der Landesflagge, das Zeitalter des Staates und
seiner Lakaien.

Erhebe die Freiheit zu einem religiösen Symbol, und sie wird leicht die
blutigsten Religionskriege entfesseln. Wahre Freiheit ist relativ. Keine
Religion ist relativ. Am wenigsten relativ ist die Profitgier. Sie ist
die älteste Religion, hat die besten Pfaffen und die schönsten Kirchen.
Yes, Sir.


                                   33

Wird man so zuschanden gearbeitet, daß man nicht einmal mehr „pip“ sagen
kann, so kümmert man sich um nichts, was um einen herum vor sich geht.
Laß geschehen was da will, nur in die Bunk und geschlafen. Man kann so
müde gearbeitet werden, daß man aufhört, an Widerstand zu denken, daß
man aufhört, an Flucht zu denken, daß man aufhört, an Müdigkeit zu
denken. Man wird Maschine, man wird Automat. Um einen herum darf nun
geraubt oder gemordet werden, man sieht nicht hin, man hört nicht hin,
nur schlafen, schlafen, nichts weiter.

Dösig stand ich an der Reeling und schlief im Stehen. Eine gute Anzahl
von Feluken mit ihren merkwürdigen spitzen Segeln waren in der Nähe.
Aber das fiel nicht auf. Die waren immer herum. Fischer und Schmuggler,
und was sie sonst für Geschäfte haben mochten, Geschäfte, an die man zu
denken nicht wagen würde.

Ich ruckte zusammen und wurde völlig wach. Ich konnte nicht begreifen,
was es war, das mich so aufriß. Es schien ein mächtiges Getöse zu sein.
Aber als ich mich auf das Getöse eingestellt hatte, kam mir zum
Bewußtsein, daß es kein Getöse war, das mich so überwach gemacht hatte,
sondern daß es eine schwere Ruhe war. Die Maschine hatte aufgehört zu
arbeiten, und das verursacht merkwürdige Gefühle. Tag und Nacht hört man
das Stampfen und Dröhnen der Maschine, es dröhnt im Kesselraum wie ein
rollendes Donnern, in den Bunkern wie ein dumpfes schweres Hämmern, im
Quartier wie ein drehendes, ratterndes Keuchen und Pumpen. Es kriecht
einem in Fleisch und Hirn. Man hat es in allen Fibern seines Körpers.
Der ganze Körper wird ein holpriges Stampfen. Der ganze Mensch fällt in
den Rhythmus der Maschine ein. Er spricht, er speist, er liest, er
arbeitet, er hört, er sieht, er schläft, er wacht, er denkt, er fühlt
und lebt in diesem Rhythmus. Und plötzlich hört das Stampfen der
Maschine auf. Man empfindet einen eigentümlichen Schmerz. Man wird leer
in sich, als ob man in rasender Geschwindigkeit in einem Aufzuge
hinuntersause. Die Erde versinkt einem unter den Füßen, und man
empfindet, daß der Boden des Schiffes herausgefallen ist, und daß man
auf den Boden des Meeres sinkt.

Yorikke stand und wogte leicht auf dem glatten ruhigen Meer. Die Ketten
rasselten und der Anker fiel.

Stanislaw kam in dem Augenblick vorbei mit der Kaffeekanne.

„Pippip,“ rief er mich an und sagte halblaut, „jetzt haben wir unten
aber zu hopsen, ei verflucht nochmal. Müssen den Dampf hochpfeifen auf
hundertfünfundneunzig.“

„Du bist wohl verrückt, Stanislawski,“ sagte ich, „da fliegen wir ja
gleich ohne Aufenthalt durch bis auf den Sirius. Bei hundertsiebzig
klappern uns ja schon die Eingeweide.“

„Deshalb drücke ich mich ja hier oben rum, so viel ich kann“, griente
Stanislaw, „da rennt man mit dem Schädel nicht erst lange gegen die
Platte. Man geht dann gleich wie ein Gummiball ab, und ehe die Brocken
nachkommen, schwimmt man schon. Als ich die Feluken so verdächtig in der
Nähe sah, habe ich wie ein Wahnsinniger Vorrat gemacht, um nur recht
viel Gelegenheit zu haben, raufzukommen. Dem Heizer habe ich gesagt, ich
habe Durchfall. Das nächstemal mußt du dir was andres aussuchen, man
kann nicht immer den gleichen Hanfsamen erzählen, sonst will er selber
raufgehen und schmeckt die Pomeranzen.“

„Was ist denn los?“

„Na, du bist mir ein Schaf. Es wird geblendet. Skipper zieht die
Prozente ein für die Versicherung. So einen Esel, wie du bist, habe ich
in meinem Leben nicht gesehen. Was denkst du denn, wo du drauf bist?“

„Leichenwagen.“

„Das hast du ja wenigstens schon klar. Aber die rennen doch so einen
Eimer nicht runter ohne Musik. Das bilde dir nur ja nicht ein. Die
Yorikke ist geliefert. Der Totenschein liegt schon bei der Kompanie, die
brauchen bloß noch das Datum reinschreiben. Na, und siehst du, Mensch,
wenn man schon auf der letzten Violinsaite spielt, dann ist doch alles
Kick und Kaktus. Die Yorikke kann alles machen, was sie will, sie ist
verzweifelt, sie steht auf der Totenliste. Die kann alles riskieren,
verstehst du? Guck mal da rauf, auf den Laternenkorb. Da hängt der
Boss’n mit der Prismatüte und guckt raus, ob die Luft dicht ist. Dann
kannst du aber mal die Yorikke loskartoffeln sehen, Mensch, die olle
ausgeleierte Schachtel macht dir in der ersten Viertelstunde einen Satz,
daß dir himmelangst wird, bei dem Dampfdruck. Entweder ruff in den Mond
oder raus mit fünfunddreißig Meilen. Da sollst du mal die Yorikke sehen.
Nach einer halben Stunde pfeift und keucht sie aus allen Knopplöchern
und hat für vier Wochen Asthma. Aber sie ist raus. Und das ist die
Hauptsache. Jetzt muß ich aber runter. Ich komme gleich wieder, wenn ich
ein paar geschippt habe. Dann muß ich wieder abknöppen gehen.“

Wir fuhren gewöhnlich hundertfünfzig, auch hundertfünfundfünfzig Druck,
wenn die Yorikke gegen schweres Wetter zu kämpfen hatte. Hundertsechzig
war ihre „Achtung!“, hundertfünfundsechzig „Warnung!“, hundertsiebzig
„Gefahr!“. Hier blies sie ab mit markdurchdringendem Geheule. Um ihr das
Heulen auszutreiben, waren jetzt die Tränendrüsen zugeschraubt. Wenn sie
Lust hatte, konnte sie nach innen in sich hineinweinen, ihr grausames
Schicksal beweinen und mit Trauer zurückdenken an jene Zeit, wo auch sie
ein ehrliches rotbäckiges Jungferlein war. Sie hatte alle Stadien eines
abenteuerlichen Weibes durchgemacht in ihrem langen, reichen Leben. Sie
war auf glänzenden Bällen gewesen, wo sie die Königin des Festes war und
umworben wurde von den schönsten Herren. Sie hatte sich mehrfach
verheiratet, war ihren Männern durchgebrannt, war in üblen Hotels
gefunden worden, war dreißigmal geschieden worden, hatte von neuem Glück
gehabt und war in die Gesellschaft wieder aufgenommen worden, hatte
wieder Dummheiten gemacht, sich eine Zeitlang dem Suff ergeben und
schottischen Whisky nach Norwegen und nach den Krabbenlöchern an der
Küste des States Maine geschmuggelt, und nun war sie endlich
Kuppelmutter, Testamentsschleicherin, Giftmischerin und Engelmacherin
geworden. So tief kann eine Frau sinken, die aus bester Familie kam und,
versehen mit ausgezeichneter Erziehung und mit seidenen Röckchen und
Fähnchen ins Leben zog. Aber das Unglück vieler schöner Frauen ist, daß
sie nicht zur rechten Zeit zu sterben verstehen ...

Die Ladeluken wurden geöffnet und es wurde in den Eingeweiden der
Yorikke emsig herumgewühlt.

Die Feluken waren nahe gekommen, und zwei machten längsseit fest. Sie
waren von marokkanischen Fischern bemannt. Die kamen wie die Katzen an
Bord. Die Lademasten wurden ausgeholt und fingen kreischend an zu
arbeiten. Drei Marokkaner, die wie Fischer gekleidet waren, jedoch sonst
den Fischern nicht glichen, klug und intelligent aussahen, gingen mit
dem Zweiten Offizier zur Kabine des Skippers. Der Offizier kam wieder
heraus und überwachte das Verladen. Der Erste stand auf der Brücke und
hatte die Augen überall, am Horizont, auf dem Wasser, auf dem Schiff.
Vorn in seinem Gurt hatte er einen schweren Browning stecken.

„Alles dicht, Boss’n?“ schrie er rauf zum Mast.

„Alles dicht, aye, aye, Sir.“

„All right! Keep on!“

Die Kisten schwangen lustig durch die Luft und runter in die Feluken.
Dort waren andre Marokkaner mit flinken Händen tätig, die Kisten unter
den Ladungen von Fischen und Früchten zu verstauen. War eine Feluke
geladen, so machte sie los und stieß ab. Sofort kam eine andre
herbeigerudert, machte fest und nahm die Ladung ein.

Jede Feluke, die ihre Ladung hatte, stieß ab, heißte die Segel und flog
davon. Jede segelte in eine andre Richtung. Einzelne in die Richtung, wo
auf keinen Fall Land liegen konnte, es wäre denn, daß sie nach Amerika
hätten segeln wollen.

Der Zweite Offizier hatte einen Block mit eingeschobenem Kohlenpapier
und einen Bleistift. Er zählte die Kisten. Dann rief ihm einer der
Marokkaner, der als Lademeister zu arbeiten schien, eine Zahl zu, der
Offizier antwortete die gleiche Zahl zurück und schrieb sie dann auf.
Auch der Lademeister schrieb auf einem Stück Papier mit. Die Zahlen
wurden in Englisch gerufen.

Endlich wurden keine Kisten mehr heraufgezogen und die Luken
geschlossen. Die letzte Feluke, die Ladung genommen hatte, war schon
weit fort. Die ersten konnte man nicht mehr sehen. Sie waren hinter dem
Horizont verschwunden oder vom Dunst verschluckt. Die andern sah man in
verschiedenen Richtungen wie kleine Stückchen weißen Papiers
herumschwimmen.

Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte
festgemacht. Sie hatte keine Ladung eingenommen. Sie hatte nur ihre
Fischladung.

Die drei Marokkaner, die mit dem Skipper in der Kabine gewesen waren,
kamen jetzt mit ihm heraus. Sie lachten und schwätzten miteinander. Dann
verabschiedeten sich die drei mit großen schönen Gesten ihrer Arme und
Hände, kletterten am Fallstieg hinunter, stiegen in ihr Schifflein,
stießen ab, heißten die Segel, der Fallstieg wurde hochgezogen, die
Ankerkette rasselte, und Yorikke war auf voller Fahrt.

Nach zehn Minuten etwa kam der Skipper raus und rauf zum Deck:

„Wo steht sie?“

„Sechs ab von der Küste.“

„Bravo. Dann sind wir ja raus?“

„Yes, Sir!“

„Kommen Sie frühstücken. Wir wollen einen heben. Geben Sie dem Ruder den
Kurs und kommen Sie.“

Damit war der Spuk vorbei.

Aber der Spuk hatte etwas zurückgelassen. Wir alle bekamen großes
Nach-Sturm-Frühstück. Bratwürste, Schinken, Kakao, Bratkartoffeln und
pro Kehle ein Wasserglas Rum, der uns in unsre Blechtassen gefüllt
wurde. Dieses Nach-Sturm-Frühstück war das Maulpflaster für uns. Das
Maulpflaster für den Skipper sah anders aus. Das konnte man nicht essen,
man mußte es in die Brieftasche stecken.

Aber wir waren ja so zufrieden. Wir wären mit dem Skipper in die Hölle
gefahren, wenn er gesagt hätte: „Los, Jungens!“ Und keine
Daumenschrauben hätten aus uns herausquetschen können, was wir gesehen
hatten.

Wir hatten nur gesehen, daß an der Maschine ein Lager heiß gelaufen war,
daß wir uns vor Anker legen mußten, bis der Schaden wieder repariert
war, und daß, während wir vor Anker lagen, Feluken ankamen, die uns
Fische und Früchte hatten verkaufen wollen. Der Koch hat für zwei
Mahlzeiten Fische gekauft, und die Offiziere haben sich Ananas und
frische Datteln und Orangen gekauft.

Das können wir beschwören, weil es die Wahrheit ist, yes, Sir.

Einen so guten Kapitän läßt man nicht im Stich, no, Sir.


                                   34

Sobald man nicht überarbeitet wird, gleich kümmert man sich um andre
Dinge und steckt seine Nase in Sachen, die einen gar nichts angehen, die
einen nur auf Ideen und Gedanken bringen, die verderblich sein müssen,
wenn man sie pflegt und hätschelt. Seemann, bleib bei deinem Ruder und
bei deinem Farbenpott; dann bist du auch immer ein braver Seemann und
ein anständiger Kerl.

Der Ingenieur hatte einen Kohlenbunker aufschrauben lassen, der nahe den
Kesseln lag, weil der Bunker für Ladung gebraucht werden sollte. Jetzt
konnte man die Kohlenschächte des Kesselraumes so schön und mollig
auffüllen. Und als die Schächte aufgefüllt waren, der Bunker leer war
und Yorikke die Ladung übernommen hatte, begann eine wollüstige Zeit.
Sie dauerte nur drei Tage, dann waren die Schächte wieder leer, aber es
waren doch schöne Tage, ganz unvergeßlich.

Es waren die Tage der Galeerensklaven, wenn die Segel voll sitzen und
nur tote Kreuzerfahrten gemacht werden. Sie bleiben angeschmiedet, damit
sie die Gewohnheit nicht verlieren; sie werden weiter gepeitscht, damit
sie das Gefühl nicht verlieren und nicht an Aufruhr denken; sie müssen
weiter arbeiten, damit die Muskeln nicht zu schlapp werden. Aber sie
dürfen sich hin und wieder ausruhen und den Kopf auf die Riemenstangen
fallen lassen, weil unter den vollen Segeln die auslegenden Riemen
bremsen und nicht in Richtung wirken.

Auch die vollen Kesselschächte konnten bremsend wirken, wenn man nicht
ruhte, und sie hätten den Kesselraum so verstopfen können, daß der
Heizer nicht arbeiten konnte, vielleicht gar Feuer ausbrach.

Die Ladung wurde ebenfalls auf offner See eingenommen. Irgendwo an der
Küste Portugals mußte es sein; denn die Bootsleute sprachen
portugiesisch. Es ging ähnlich zu wie weiter südlich an den Küsten
Afrikas das Ausladen.

Auch hier kamen drei Mann zuerst an Bord, die wie Fischer aussahen,
jedoch keine Marokkaner waren. Auch sie gingen mit dem Skipper in dessen
Kabine. Es wurde geladen, es wurden Zahlen in Englisch gerufen und in
Arabisch geschrieben. Dann zogen die Boote mit ihren Fisch- und
Apfelsinenladungen wieder ab, in alle Richtungen hinaus. Zuletzt stiegen
auch die drei in ihr Boot und setzten ab.

Diesmal gab es kein großes Nach-Sturm-Frühstück, sondern nur Kakao und
Stollenkuchen mit Rosinen. Es gab ja auch nichts zu schwören.

„Denn was soll man schwören?“ sagte Stanislaw. „Wenn da einer kommt und
hebt die Luke auf und guckt rein und sieht die Kisten, was willst du da
schwören? Kannst doch nicht gut schwören, es ist keine Kiste da, wenn
der Mann sie in der Hand hat. Aber da kommst du auch gar nicht zum
Schwören. Da sind die Kisten und fertig. Kann nur der Skipper schwören,
wo er mit den Kisten hin will. Und der wird ihnen schon was schwören, da
kannst du Schlacke drauf fressen.“

Jetzt hatte ich und natürlich auch Stanislaw feine Wachen. Wenn
ausgeschlackt war, wurden die Aschenfälle gezogen, dann hob ich dem
Kohlefall das Schürzchen hoch, und der Kesselraum lag voll, Vorrat mit
eingeschlossen.

Da kroch ich in einer Wache in der Nacht mal so rum in den Eingeweiden.
Manchmal findet man ganz angenehme Dinge. Nüsse, Apfelsinen,
Tabakblätter, Zigaretten und andres. Manchmal muß man die Kisten
aufmachen und sehen, ob neue Hemden drin sind oder Stiefel oder Seife.
Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die alles haben, alles
behalten können und das übrige noch dazu kriegen. Moral ist die Butter
für die, denen das Brot fehlt.

Man muß die Kisten nur wieder gut zumachen und darf das Hemd und die
Stiefel nicht gleich anziehen. Wenn es rauchig wird, verkauft man es
besser im nächsten Hafen. Nimmt jeder ab. Der Seemann ist billig. Er
spart ja die Ladenmiete und kann deshalb unter Fabrikpreisen verkaufen.

Seine Ausgaben hat man auch. So leicht ist es nicht, an die Kisten zu
kommen. Man muß Schlangenmensch sein. Das hatte ich ja gelernt. Jeden
Tag ein paarmal Training; wenn man nachließ, spürte man es sofort an den
verbrühten Armen und den verschmorten Stellen auf dem Rücken. Es hat
auch seine Schwierigkeiten, in den Laderäumen rumzuwirtschaften und
seine Ware zu suchen und in Empfang zu nehmen. Da rutscht so eine Kiste,
ein paar andre rutschen nach und man ist gefangen in der Falle oder zu
Brei zerquetscht. Licht hat man ja keins, sondern Wachszündhölzchen,
damit man den Waren heimleuchten kann.

Die Yorikke fuhr keine echten Werte, sie fuhr Totenwerte. Alte
Schrauben, versichert als Corned Beef. Aber diese Einladungen und
Ausladungen ließen meinen Geschäftssinn nicht ruhen. Das waren keine
alten Schrauben und das waren auch keine Zementfüllungen. Ich kenne die
Marokkaner, die machen sich nichts aus Schrauben und gebackenem Zement.
Außerdem hatte ich gesehen, daß nur ein Rettungsboot dicht war und daß
die Offiziere mit dem Skipper auf Wertschätzung standen.

Die beiden Offiziere beanspruchten Boot zwei; sie durften nicht mit in
Boot eins, dann wären Skipper und Offiziere erschlagen worden, weil man
wußte, was los war. Ein zweites Boot mußten sie schon klarmachen. Die
beiden andern Boote waren ja für den Bootsmann und die A. B.s, den
Kesselbums und einen Ingenieur. Wenn der zweite Offizier mit zum Skipper
in Boot eins stieg, das fiel niemand auf, aber beide Offiziere durften
nicht rein. Solange also nicht Boot zwei überholt war, konnte der
Yorikke nichts geschehen. Geschah ihr trotzdem etwas, dann lag der Fall
treu und alles konnte in Boot eins steigen, und wer nicht Platz hatte,
wurde rausgepfeffert. Da packen alle Hände zu. Dann ist es auch nicht
nötig, Zeugen zu verheiligen, weil alles, was heimkommt, bester Zeuge
ist, denn es war eine treue Beerdigung, an der Versicherung kann keine
Maus knabbern.

Boot zwei also war für mich das Signal für die Beerdigung. Es war noch
knistertrocken, also hatte auch die Yorikke noch andre, treue Werte an
Bord und nicht nur reine Totenwerte. Wenn es auch Blender waren, so
wollte ich doch wissen, was die Blender im Magen hatten. Wissenschaft
macht sich manchmal bezahlt.

Da war ich drin im Laderaum und betrachtete mir die Kisten.

              „Garantiert echtes schwäbisches Pflaumenmus“
                 „Garantiert reine Früchte und Zucker“
                          „Kein Farbenzusatz“
              „Erste schwäbische Pflaumenmusfabrik A.-G.“
                           „Oberndorf a. N.“

Wir sind schöne Esel. Da fressen wir die Schmierseife rein, die
Margarine heißt, und hier liegt das schönste schwäbische Pflaumenmus
stapelweise aufgeschichtet. „O Stanislaw, ich habe dich für einen so
intelligenten Burschen gehalten, aber du bist das größte Rindvieh auf
Erden.“

Das war mein erster Gedanke. Stanislaw hatte immer so einen großen Mund,
er tat immer so klug, er wußte immer alles, wußte immer, wohin die
Yorikke ging und wohin sie nicht ging. Aber das Pflaumenmus hatte er
doch nicht entdeckt.

Kisten aufmachen ist Spielerei, wenn man Übung hat. Feine große Büchsen.
Das gibt ein Fressen morgen, dick drauf geschmiert auf das warme Brot.
Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Garantiert reine Früchte und
Zucker. Kein Ersatz aus deutscher Rübenzeit. Reine Früchte und Zucker.
Die Marokkaner wissen schon, was gut ist. Das ist besser als Datteln und
Rosinen, schwäbisches Pflaumenmus aus der Ersten Pflaumenmusfabrik. Mit
dem Meißel, den ich zum Aufmachen der Kiste gebraucht hatte, öffnete ich
jetzt gleich eine Büchse. Ich war mit zwei Büchsen zum Bunker gekrochen,
wo ich ja meine Lampe unbekümmert brennen durfte. Es konnte mir schon
keiner raufkommen, weil ich das Brett, das über zwei Streben lag und das
zur Bunkerluke führte, weggezogen hatte. Von den Ingenieuren wäre
sowieso keiner über das Brett gegangen; denn das erforderte Mut.
Besonders stark war das Brett nicht, und es war auch nicht mehr neu. Es
war nicht ausgemacht, ob es heute oder morgen brach. Und wenn es brach,
oder wenn man beim Drübergehen infolge eines unerwarteten Stampfers der
Yorikke das Gleichgewicht verlor, so sauste man zwanzig Fuß tief runter
in den Kesselraum und schlug sich auf dem Wege dahin einen Schädelbruch,
wenn man Glück hatte. Wenn man Pech hatte, so war es schon ganz egal, ob
man einen oder zehn Schädelbrüche hatte. Aber besser ist besser, dachte
ich, und darum hatte ich das Brett weggezogen. Die Büchse war auf. Es
war keine Blendung, verflucht noch mal. Es war tatsächlich garantiert
reines Pflaumenmus. Offenbar hatte ich Goldstaub erwartet, weil ich so
erstaunt war. Das hätte ich von der Yorikke nicht gedacht. Sie fährt
treues, echtes Gut. Und ich habe das arme Weib unter Verdacht gehalten,
daß sie Deklarierungen kleistert und Blender fährt. Man soll doch nie
voreilig urteilen, wenn man es mit Weibern zu tun hat.

Man soll nicht voreilig urteilen, wenn man es mit –.

Schmeckt das Zeug? Schmeckt ganz gut. Schmeckt – na – na – warte mal –
schmeckt etwas ranzig. Nein, schmeckt nach – nach – nach was denn zum
Donnerwetter nochmal? Die haben Coppers reingetan, die Säue. Die haben
Kupfermünzen rein getan, damit die Pflaumen Farbe behalten sollen.
Garantiert kein Farbzusatz. Ist keine Farbe, aber schmeckt danach.
Wollen doch noch mal kosten. Ja, Teufel, schmeckt nach Grünspan, direkt
nach Messing. Kann ich nicht essen auf Brot. Ich werde den Geschmack
nicht los. Frißt sich auf der Zunge ein und klietscht gegen den Gaumen.

Vielleicht nur oben so schlimm. Gehen wir mal tiefer mit dem Finger in
die Marmelade! Was ist denn das? Da sind ja noch die ganzen
Pflaumenkerne drin geblieben. Das ist ja eine Marmelade. Scheint echt
schwäbisch zu sein, die Kerne alle drin zu lassen.

Na? Was ist denn das? Das sind aber merkwürdige Pflaumen, die echt
schwäbischen Pflaumen. Die haben sehr mysteriöse Kerne. Die Kerne sind
ja aus Blei, tatsächlich aus Blei. Und damit das Blei nicht beschädigt
wird, hat es einen weißen Stahlpanzer. Und jeder Kern steckt auf einer
Messinghülse. Daher der Messinggeschmack. Und in den Hülsen? Was ist
denn da drin? Zucker. Feiner Zucker. Schwäbischer Zucker muß das sein.
Ist schwarz und schmeckt ganz salzig. Garantiert reine Früchte und
Zucker. Feine Blender. Man soll nicht voreilig urteilen, Yorikke ...

Dann ging ich auf die zweite Reise. Mausefallen. Daß die Marokkaner so
wild auf Mausefallen sein sollten, glaubte ich nicht. Es waren wirklich
Mausefallen in den Kisten. Als ich aber nach den Kernen suchte, fand ich
Mausefallen ohne Fallen, mit einem R am Ende. Mauser.

Da waren Kisten mit Kinderspielzeug. „Blechautos mit aufziehbarem
Federwerk.“ Ich suchte nicht nach den Kernen und sparte mir die Mühe,
weil die Blechautos mit aufziehbarem Federwerk aus der „Ältesten Suhler
Spielwarenfabrik“ kamen. Aber England war viel besser und viel
gründlicher vertreten als Belgien und benachbarte Gebiete. Belgien hatte
Zuckerwaren beigesteuert und England Kasserollen aus Weißblech. Die
Marokkaner haben ganz recht. Spanien den Spaniern, Frankreich den
Franzosen und China den Chinesen. Wir lassen keine Chinesen
rein. Aber wenn die uns nicht reinlassen, dann ist unser
Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra! befleckt, bedreckt, beschiet und muß
mit Blutfleckseife ausgewaschen werden, yes, Sir.

He, Skipper, auf mich kannst du zählen. Du machst das Geschäft, und ich
habe das Wohlgefallen.


                                   35

„Stanislaw, nun sag mal, warum frißt du denn die Margarine immer so in
dich hinein? Hast du denn gar kein Schamgefühl?“

„Was willst du machen, Pippip. Erstens habe ich Hunger, und zweitens
kann ich doch nicht meine Lumpen auskochen, den Saft eindicken und dann
als Marmelade aufs Brot schmieren. Hab doch weiter nichts aufs Brot. Und
immer das trockene Brot hinterwürgen, Mensch, du wirst ja ganz dusselig
davon. Kriegst ja Betonfundamente in den Bauch.“

„Du bist schön dumm,“ sagte ich nun, „weißt du, daß wir Marmelade
geladen haben?“

„Natürlich weiß ich“, sagte Stanislaw, ruhig weiter kauend.

„Warum machst du denn nicht eine Kiste dicht?“ fragte ich.

„Das ist doch keine Marmelade für uns.“

„Warum denn nicht?“

„Die ist bloß gut für Marokkaner, Spanier und Franzosen und natürlich
für die Lieferanten. Aber für uns, für dich und für mich, ist das keine
Marmelade. Die kannst du nicht verdauen. Die kannst du nur verdauen,
wenn man sie dir in die Rippen pfeffert. Aber dann kriegst du die
Lauferei, da läufst du gleich so sehr, daß du deinen Urgroßvater noch
einholen und mit ihm zusammen gehen kannst.“

Der wird doch nicht etwa?

Ich platzte gleich raus: „Weißt du denn etwa schon, was da drin ist. Du
hast doch nicht etwa –?“

„Nachgesehen? Für was für ein großes Kamel hältst du mich denn
eigentlich? Die drei Edlen waren noch beim Skipper in der Kabine und
oben wurde noch die Luke dicht gemacht, damit auch ja niemand dran kann,
da hatte ich schon eine Kiste auf. Ich brauche doch nur lesen
Pflaumenmus oder Marmelade oder Dänische Butter oder Corned Beef oder
Ölsardinen oder Schokolade, da bin ich doch auch schon dahinter.“

„Da ist aber tatsächlich Pflaumenmus drin“, erwiderte ich.

„Es ist immer was drin. Aber das kannst du nicht essen. Das schmeckt zu
sehr nach Grünspan. Stirbst an Blutvergiftung. Auf der letzten Reise,
ehe du raufkamst, da hatten wir Corned Beef. Natürlich auch Blender,
aber ich habe gründlich abgehäutet, das kann ich dir sagen. Das war
fein. Da war nichts dran. Das war in Pergament gefettet. Manchmal hat
man eben Glück. War gute amerikanische Ware. Ging nach Damaskus oder da
herum.“

„Wie waren denn die Knochen?“

„Die Knochen? In Corned –? Ach so, die Knochen meinst du. Das waren
K’rabben. K–rabben. Karabiner. Made in U. S. A. Feines Modell. Da hat
der Skipper schwer Draht gezogen. Da gab es Kognak, Rinderbraten, Huhn
und frisches Gemüse. Da mußte nicht nur das Maul, da mußten auch die
Glotzen und die Riecher gepflastert werden. Ein französischer Jäger
kriegte uns auf, ehe wir raus waren. Die haben geschnüffelt, mit
Zigaretten und mit Franken rumgeschmissen. Aber mußten wieder abziehen
und dem Skipper Verbeugungen machen.“

„Hat denn keiner für die gewinkten Franken gepfiffen?“

„Bei uns? Auf der Yorikke? Wir sind alle Dreck und haben nichts mehr zu
melden. Wir sind tot. Du auch. Na, und sieh mal, jemand anders ins
Portemonnaie sehen oder in den Glasschrank gucken oder Kisten aufmachen
in einem Schuppen oder auf der Yorikke, dem Zweiten und dem Ersten noch
dazu den Hammer an den Schädel feuern, das ist alles Ehrensache.
Behältst du immer den Kopf hoch, behältst du immer deinen Murr, deinen
Stolz. Aber pfeifen bei der Polizei oder der auch nur mit einem
Fingernagel helfen, das ist schäbig. Da kannst du dir nicht mehr in die
Augen gucken. Wenn die was wollen, laß sie doch machen. Aber du bist
doch ein anständiger Kerl, da putzt man den Burschen nicht die
Brillengläser. Ich will lieber auf der Yorikke und mit der Yorikke
verrecken, als mit einem Polizisten tauschen.“

Wir lagen auf der Reede an der portugiesischen Küste, um Deckungsgut
einzunehmen und die Yorikke zu klären. Die Yorikke war plötzlich in
Verdacht gekommen. Deshalb nahm der Skipper nur echtes Gut ein und ließ
sehr saubere Deklarierungen gegen die Yorikke laufen, an denen auch
nicht ein Pünktchen zu deuteln war. Es war sehr billiges Gut, denn hohes
vertraute der Yorikke niemand an. Wer sie kannte, nicht. Aber da gibt es
ja so unendlich viel Gut, das an sich keinen besonderen Wert darstellt,
aber doch gefahren werden muß und doch wieder zu gut ist, um nur als
Ballast zu gehen. Den Wert bekommt dieses Gut erst, wenn es abgeliefert
ist.

Nach fünf Uhr des Nachmittags hatten wir nichts mehr zu tun, und die
Arbeit begann erst wieder am nächsten Morgen um sieben. Das war die
Arbeitszeit, wenn wir auf Reede oder am Kai in einem Hafen lagen. Die
Arbeit in diesen Fällen war meist unangenehm, aber doch nicht gar so
schwer wie auf der Fahrt.

Hier war es dann, daß wir schon manchmal einige Stunden beieinander
sitzen konnten, um in Ruhe zu schwätzen. Ein Schiff ist immer groß
genug, daß man irgendwo sitzen kann, ohne daß man sich mit den Ellbogen
stößt.

So viele Leute auf der Yorikke waren, so viele Nationen waren auch
vertreten. Jede Nation hat ihre Toten, die leben und atmen, aber
gegenüber der Nation doch tot für ewig sind. Manche Staaten haben ganz
offen ihre Totenschiffe. Diese Totenschiffe nennt man dann
Fremdenlegion. Wer sie überlebt, kann vielleicht ein neues Leben damit
erkauft haben. Er hat einen neuen Namen erworben, der ihm bestätigt
wird, und er hat einen neuen Platz in einer Nation gefunden, als wäre er
als Säugling eben hineingeboren.

Alle Kommandos auf der Yorikke wurden in Englisch gegeben, und alle
Unterhaltung wurde in englischer Sprache gepflogen, weil sonst eine
Verständigung nicht denkbar gewesen wäre. Es war ein höchst merkwürdiges
Englisch. Nur der Skipper sprach ein reines, fehlerfreies Englisch. Alle
übrigen dagegen sprachen etwas, das mit Englisch nichts zu tun hatte. Es
war Yorikkisch. Eine eigne Sprache.

Wie die Sprache klang und aussah, läßt sich nur schwer schildern. Jeder
Seemann weiß zwei Dutzend englische Worte. Und jeder weiß drei bis sechs
Worte, die der andre nicht weiß, aber von ihm lernt durch das
Zusammenleben an Bord, wenn nur Englisch gesprochen wird. Dadurch eignet
sich jeder in kurzer Zeit etwa zweihundert Worte an. Zweihundert Worte
der englischen Sprache auf diese Weise, aber nur auf diese Weise gelernt
und dazu die Zahlen, die Namen der Tage und Monate in Englisch,
ermöglichen jedem Menschen, alles das klar und zweifelsfrei
auszudrücken, was er innerhalb dieses Kreises sagen will. Ganze Romane
kann er mit diesem Sprachschatz erzählen. Er kann natürlich kein
englisches Buch lesen und noch viel weniger eine englische Zeitung.
Keine andre europäische Sprache kann diesen Vorteil ihren Schülern
bieten, sich so leicht und so rasch im Leben verwenden zu lassen.

Ehe ich aber das Yorikkisch verstand und mich in Yorikkisch ausdrücken
konnte, vergingen mehrere Tage. Hätte ich Worte und Wortverbindungen so
gebraucht, wie ich sie seit meinen ersten nassen Windeln gehört und
geplappert hatte, würde mich niemand auf der Yorikke, der Skipper
ausgenommen, verstanden haben, und man würde mir kaum geglaubt haben,
daß ich Englisch spräche.

Wie war das Yorikkische Englisch entstanden, und wie war das Englisch
auf andern Totenschiffen entstanden?

Das Sprachengewirr unter den Angehörigen der verschiedenen Nationen, die
auf der Yorikke fuhren, machte eine gemeinsame Sprache notwendig. Da
jeder, wenn er nur ein paar Wochen fährt, einige englische Brocken weiß
und gleich mitbringt, so ergibt sich ganz von selbst das Englisch als
Kommando- und Umgangssprache.

Da ist das Wort First-Mate, Erster Offizier, das die meisten wissen, und
da ist das Wort Money, das jeder weiß.

Nun aber kommt die lebendige Entwicklung, eine Sprachentwicklung, wie
sie sich nicht nur auf der Yorikke zeigte, sondern wie sie sich in
ganzen Völkern zeigt und von jeher gezeigt hat.

Mate wird in London-West ganz anders ausgesprochen als in London-Ost,
und der Amerikaner spricht achtzig Prozent der Worte anders aus als der
Engländer, und sehr viele schreibt er auch ganz anders und verwendet sie
in ganz andern Ideenverbindungen.

Der Zimmermann hat das Wort First-Mate nie in England gehört, sondern
von einem Schweden, der das Wort von einem Seemann aus London-Ost gehört
hatte. Der Schwede konnte es schon selbst nicht richtig aussprechen,
außerdem hatte er es noch in dem üblen Petty-coat-lane oder
Cockney-Dialekt gehört, den er für die richtige und allein gültige
Aussprache halten mußte, weil er ja das Wort von einem Engländer
vernommen hatte. Wie das Wort nun von dem Zimmermann ausgesprochen
wurde, kann man sich vielleicht vorstellen. Ein Spanier bringt die
Aussprache des Wortes Money, ein Däne bringt Coal, ein Holländer Bread,
ein Pole Meal, ein Franzose Thunder und ein Deutscher Water.

Das Wort First-Mate läuft durch alle Stadien der Laute, die ein Mensch
geben kann: Feist-Moat, Fürst-Meit, Forst-Miet, Fisst-Määt und noch so
viel mehr als Leute auf der Yorikke sind. Nach einer kurzen Zeit aber
schleifen sich die verschiedenartigen Aussprache-Färbungen gegeneinander
ab und es kommt zu einer einheitlichen Aussprache, in der sich alle die
Tonfarben wiederfinden in abgeschwächter Form. Wer neu hinzukommt,
selbst wenn er genau weiß, wie das Wort richtig ausgesprochen wird, ja
selbst wenn er Professor der Phonetik in Oxford wäre, muß das Wort
Yorikkisch aussprechen, wenn er zu jemand den Befehl bringen soll, daß
der First-Mate ihn zu sehen wünsche, weil der Mann sonst gar nicht
wüßte, was man von ihm wolle. Der Professor merkt nach kurzer Zeit gar
nicht mehr, daß er die Worte Yorikkisch ausspricht, weil er sie nur in
dieser Form hört und sie sich in dieser Form in sein Gedächtnis
einprägen. Von den Vokalen bleibt nicht viel an richtiger Aussprache
übrig, aber von den Konsonanten bleibt genug übrig, um das Wort nach
einigem Hinhören doch zu verstehen. Dadurch bleibt die Sprache immer
Englisch in ihrem Skelett und kann auf jedes andre Schiff übertragen
werden. Gäbe es keine Buchdruckerkunst, so würde es so viele ganz
selbständige Sprachen geben wie es Dialekte gibt. Hätten die Amerikaner
nicht die gleiche Schriftsprache wie die Engländer, würde heute die
Sprache der beiden Völker ebenso verschieden sein wie die Sprache der
Holländer und der Deutschen.

Der Seemann ist, soweit die Sprache in Frage kommt, nie verlegen. An
welche Küste er auch geworfen werden mag, er kann sich zurechtfinden und
kann sich verständlich machen. Und wer eine Yorikke überwinden und
überleben kann, den kann nichts mehr in Schrecken versetzen, für ihn ist
nichts unmöglich.


                                   36

Stanislaw wurde nur von mir und den Heizern Stanislaw oder Lawski
gerufen. Alle übrigen, auch die Offiziere und Ingenieure riefen ihn
Pole, manche Pollack. Die Mehrzahl der Leute wurden nach ihrer
Nationalität gerufen: He, Spanier oder Russ oder Holländer. Und das war
ein ironischer Witz des Schicksals. Ihre Nation verleugnete sie und
stieß sie von sich, auf der Yorikke war ihre Nation ihre ganze
Persönlichkeit. Jeder, der auf einem Schiff angezeichnet werden soll,
wird zum Konsul gebracht, zum Konsul jenes Staates, unter dessen Flagge
des Schiff fährt. Der Konsul hat die Anmusterung zu bestätigen und zu
registrieren. Er prüft die Papiere des Seemanns, und wenn ihm die
Papiere nicht gefallen, verweigert er die Registrierung, und der Mann
kann nicht mustern. Die Anmusterung vor dem Konsul muß im Hafen
erfolgen, ehe der Mann seine Arbeit beginnt.

Yorikke hätte auf diese Art nie einen Mann bekommen, vielleicht nicht
einmal Ingenieure und Offiziere; denn wer mit seinen Papieren in Ordnung
war, ging der Yorikke in weitem Bogen aus dem Wege. Die Yorikke verdarb
die besten Papiere eines Mannes, und ein Mann, der von der Yorikke
abzeichnete, hatte ein oder zwei Jahre dreiviertel und halbe Yorikken
erst zu fahren, ehe er sich wieder beim Skipper eines ehrlichen Schiffes
sehen lassen konnte, falls er überhaupt je auf eine dreiviertel Yorikke
kommen konnte. Denn selbst da war der Skipper mißtrauisch. „Auf der
Yorikke haben Sie gefahren? Wo werden Sie denn verlangt? Was haben Sie
denn ausgefressen?“ Das sagt der Skipper.

Und der Mann sagt: „Ich konnte kein andres Schiff kriegen und nahm
deshalb die Yorikke für eine Reise.“

„Ich will keine Scherereien haben mit der Polizei oder mit den Konsuln.
Ich möchte nicht gern, daß es heißt, auf meinem Schiff haben sie unter
der Mannschaft einen Raubmörder verhaftet, der in Buenos-Aires verlangt
wird“, sagt der Skipper.

„Aber, Skipper, wie können Sie denn das sagen? Ich bin ein ganz
ehrlicher Mann.“

„Ja, ja. Aber von der Yorikke. Ich kann doch nicht von Ihnen fordern,
daß Sie mir von allen Ländern der Erde ein polizeiliches Leumundszeugnis
beibringen, nicht älter als vier Wochen. Da haben Sie zwei Schillinge,
für ein gutes Abendessen, aber Anmusterung? Ich möchte doch lieber nicht
das Risiko übernehmen. Vielleicht kriegen Sie ein andres Schiff, liegen
ja eine Masse hier. Gehen Sie mal zu dem Italiener da drüben. Kann sein,
er nimmt es nicht so hart.“

Der Skipper der Yorikke konnte mit keinem seiner Leute zum Konsul gehen,
wahrscheinlich nicht einmal mit seinem Ersten Offizier, und ich würde
mich nicht wundern, wenn er sich selbst nicht beim Konsul sehen lassen
dürfte, ohne daß der Konsul sofort den Hörer abnimmt und zum Skipper
sagt: „Setzen Sie sich, bitte, Herr Kapitän, nur einen Augenblick, dann
stehe ich zu Ihren Diensten.“

Diese Dienste würde der Skipper vielleicht nicht abwarten, sondern etwas
andres tun; rin ins Auto, rauf auf die Yorikke, Anker gehievt und
abgesurrt mit hundertfünfundneunzig und zugeschraubten Tränendrüsen.

Die Yorikke bekam alle Leute unter dem Schiffsnotgesetz. Sie kamen rauf,
wenn der Blaue Peter eingezogen wurde und der Lotse schon an Bord war.
Kein Konsul der Erde wird dann verlangen, daß der Skipper nun wieder
anhalten und mit einem Mann zum Konsul gehen soll. Das verlangt noch
viel weniger irgendeine Hafenbehörde. Früher konnte man den Mann nicht
anmustern, weil keiner da war, und weil man nicht wußte, daß von der
Mannschaft sich einer besaufen und achtern abkanten würde. Das merkte
man erst, als das Lotsensignal gepfiffen wurde und der Mann nicht an
Bord war.

Selten verriet jemand auf der Yorikke einem andern seinen wahren Namen
und seine wahre Nationalität. Ebenso selten erfuhr man, unter welchem
Namen und unter welcher Nationalität jemand angemustert hatte. Kam
jemand neu, so fragte ihn der Offizier oder der Ingenieur oder ein Mann,
eben irgendeiner, der mit ihm zuerst zu tun hatte: „Wie heißen Sie?“
Darauf sagte der Gefragte: „Ich bin Däne.“ Damit hatte er zwei Fragen
beantwortet und nun hieß er Der Däne oder nur Däne. Mehr zu fragen,
hielt man für überflüssig. Man wußte meist oder glaubte meist, daß Däne
schon gelogen war, und sich mehr anlügen zu lassen, darauf ging man
nicht aus. Willst du nicht belogen werden, dann darfst du auch nicht
fragen.

Um uns an einem faulen Abend, während wir auf der Reede lagen, die Zeit
zu vertreiben, erzählte mir Stanislaw seine Geschichte und ich ihm
meine. Ich erzählte ihm nicht meine wahre Geschichte, sondern eben eine
Geschichte. Ob er mir eine wahre Geschichte erzählte, weiß ich nicht.
Wie kann ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, ob das Gras grün ist,
es kann ja nur in meinen Augen eine grüne Täuschung verursachen.

Aber gute Gründe machen mich glauben, daß die Geschichte, die mir
Stanislaw erzählte, der vollen Wahrheit entsprach, weil sie den
Geschichten aller Reisenden auf Totenschiffen so ähnlich war.

Sein Name, den ich, wie die ganze Geschichte, auf dem Eimer nicht
verraten durfte, war Stanislaw Koslowski. Er war geboren in Posen und
dort bis zu seinem vierzehnten Jahre in die Schule gegangen. Indianer-
und Seegeschichten verlockten ihn, er rannte von Hause fort, kam nach
Stettin, verbarg sich dort auf einem dänischen Fischkutter und fuhr mit
ihm nach Fünen. Dort fanden ihn die Fischersleute in ihrem Kutter
halberfroren und halb verhungert. Er sagte, er sei aus Danzig, borgte
sich von seinem Buchbinder, wo er die Seegeschichten zu kaufen pflegte,
den Namen aus und gab ihn als seinen Namen an. Er erzählte weiter, daß
er ein Waisenkind sei und von den Leuten, bei denen er in Pflege sei, so
schlecht behandelt und so verprügelt werde, daß er ins Meer gesprungen
sei, um sich zu töten. Da er aber schwimmen könne, so habe er zu
schwimmen angefangen und sich auf dem Kutter versteckt. Er schloß seine
Erzählung unter Tränen mit den Worten: „Wenn ich zurück nach Deutschland
muß, binde ich mir Hände und Füße zusammen und springe sofort ins Meer.
Zu den Pflegeeltern gehe ich nicht zurück.“

Die Fischersfrauen weinten alle herzzerbrechend über das traurige
Schicksal des kleinen deutschen Jungen und nahmen ihn auf. Zeitungen
lasen sie nicht, und in die dänischen Zeitungen kam es wohl auch nicht,
daß ganz Deutschland nach dem Jungen abgesucht wurde und die
gräßlichsten Geschichten in Umlauf waren, was wohl alles mit dem Jungen
geschehen sein könne.

Bei den Fischersleuten auf Fünen mußte er schwer arbeiten, aber es
gefiel ihm hundertmal besser als in den Straßen von Posen; und wenn er
daran dachte, daß man ihn zu einem Schneider hatte in die Lehre geben
wollen, so verging ihm alle Lust, seinen Eltern auch nur das kleinste
Zeichen zu schicken, daß er am Leben sei. Die Furcht, Schneider werden
zu müssen, war größer als die Liebe zu Vater und Mutter, die er ganz
niedlich hassen konnte für ihre Absicht, ihn zu einem tüchtigen
Schneider ausbilden zu lassen.

Mit siebzehn Jahren verließ er die Fischersleute mit deren
Segenswünschen, um nach Hamburg zu gehen und für große Fahrt zu mustern.
In Hamburg war kein Schiff zu haben, und er nahm für einige Monate
Arbeit bei einem Segelmacher. Er meldete sich vorschriftsmäßig unter
seinem richtigen Namen an, bekam seine Invalidenkarte und ließ sich
endlich ein gutes deutsches Seemannsbuch ausstellen.

Dann fuhr er los auf große Fahrt auf ehrlichen deutschen Schiffen. Dann
wechselte er und fuhr auf einem Holländer. Und dann kam der blutige Tanz
ums goldene Kälbchen. Als das los ging, war er mit seinem Holländer im
Schwarzen Meer. Auf der Heimfahrt passierte das Schiff den Bosporus,
wurde von den Türken untersucht, und er mit noch einem Deutschen wurde
herausgeholt und in die türkische Kriegsmarine gesteckt, unter anderm
Namen, weil er seinen richtigen nicht angab.

Dann kamen zwei deutsche Kriegsschiffe nach Konstantinopel, die in einem
italienischen Hafen gelegen hatten und dort den Engländern, die ihnen
auflauerten, entwischt waren. Stanislaw kam nun auf eines dieser Schiffe
und diente weiter unter türkischer Flagge, bis er eine passende
Gelegenheit fand, den Türken den Abschied zu geben.

Er fand Heuer auf einem Dänen. Der Däne wurde von einem deutschen
Unterseeboot durchsucht, und ein Schwede, der auf dem Schiff fuhr, und
dem er erzählt hatte, daß er nicht Däne, sondern Deutscher sei, verriet
ihn an die Offiziere des Unterseebootes. Stanislaw kam nach Kiel und
wurde unter falschem Namen in die deutsche Kriegsmarine gesteckt.
Artilleriedienst.

In Kiel traf ihn ein andrer Kuli, mit dem er früher auf einem deutschen
Handelsschiff gefahren war. Durch den kam der richtige Name heraus, und
Stanislaw wurde nun mit seinem richtigen Namen in der deutschen
Kriegsmarine geführt.

Stanislaw war dabei, als in der Nähe von Skagen zwei sich bekämpfende
Nationen, die Engländer und die Deutschen, zu gleicher Zeit Sieger
wurden und die Engländer mehr Schiffe verloren als die Deutschen und die
Deutschen mehr als die Engländer. Stanislaw wurde von dänischen
Fischerbooten aufgepickt und ins Dorf gebracht. Da er mit dänischen
Fischersleuten umzugehen verstand und hier ein Bruder jener Frau war,
die ihn in Fünen aufgenommen hatte, so lieferten ihn die Fischer nicht
ab an die dänische Regierung, sondern versteckten ihn und brachten ihn
endlich als Dänen auf einem guten Schiff in Esbjerg unter, mit dem
Stanislaw wieder auf große Fahrt kam. Diesmal hütete er sich, zu
verraten, daß er Deutscher sei, und so konnte er allen Unterseebooten,
englischen und deutschen, ins Gesicht lachen.

Die Regierungen vertrugen sich, die großen Räuber setzten sich alle zu
einem fetten Versöhnungsbankett nieder, und die Arbeiter und kleinen
Leute in allen Ländern hatten die Unfallkosten, die Hospitalrechnungen,
die Beerdigungskosten und das Versöhnungsbankett zu bezahlen. Dafür
durften sie den einziehenden Heeren, die „im Felde gesiegt“ hatten, mit
kleinen Fähnchen und Taschentüchern zuwedeln und den übrigen Heeren, die
„im Felde nicht besiegt“ waren, mit brausender Begeisterung zurufen:
Macht nischt, das nächste Mal! Und als den Arbeitern und den Kleinen
schwindlig wurde von der Höhe der Rechnungen, die sie bezahlen sollten,
weil die großen Räuber nichts verdient und sogar das noch für die
Wohltätigkeit geopfert hatten, da führte man die kleinen Leute an das
Grab des „Unbekannten Kriegers“, wo sie so lange standen und man so
lange auf sie einredete, bis sie dran glaubten, an die Pflicht des
Bezahlens und an die Echtheit des Unbekannten Kriegers. Wo man sich
keinen Unbekannten Krieger leisten konnte, weil man keinen hatte, da
schläferte man das Denken der Arbeiter damit ein, daß man ihnen den
Dolch im Rücken zeigte und sie raten und streiten ließ, wer ihn
reingesteckt habe.

Dann kam die Zeit, wo in Deutschland ein Zündholz zweiundfünfzig
Billionen Mark kostete, während die Herstellung jener zweiundfünfzig
Billionen Mark in Nicht-Billionen-Scheinen mehr kostete als ein ganzer
Eisenbahnwaggon voll Zündhölzer. Da fand es die dänische Kompanie an der
Zeit, ihre Schiffe nach Hamburg ins Trockendock zu schicken zum
Überholen. Die Mannschaften wurden entlassen und in ihre Heimat
geschickt. Stanislaw war mit dem Schiff nach Hamburg gekommen und war
nun gleich in seinem Heimatlande.


                                   37

Das dänische Heuerbuch war nicht viel wert. In Dänemark lagen so viele
Schiffe auf, daß man kaum auf Musterung rechnen konnte. Und Stanislaw
wollte endlich wieder einmal ein richtiges Seemannsbuch haben.

Er ging zum Seemannsamt, wo er dachte, das Buch zu bekommen.

„Müssen Sie erst eine Bescheinigung von der Polizei beibringen.“ – „Ich
habe hier mein altes Seemannsbuch.“

„Das ist ein dänisches. Wir sind hier nicht in Dänemark.“

Das dänische Seemannsbuch trug einen andern Namen, nicht den richtigen
Namen Stanislaws.

Er ging zur Polizei, sagte seinen richtigen Namen und wollte eine
Bescheinigung haben, damit er ein Seemannsbuch bekommen könne.

„Hier gemeldet?“ wurde er gefragt.

„Nein. Bin gestern erst angekommen. Mit einem Dänen“, sagte Stanislaw.

„Dann lassen Sie sich erst Ihren Geburtsschein schicken, sonst können
wir Ihnen keine Bescheinigung geben“, sagte die Polizei.

Stanislaw schrieb nach Posen, um seinen Geburtsschein zu bekommen. Er
wartete eine Woche. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete zwei Wochen.
Der Geburtsschein kam nicht.

Nun schrieb Stanislaw einen Einschreibebrief und packte fünfzig
Billionen Mark bei für Unkosten.

Stanislaw wartete drei Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete
vier Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Was kümmert man sich in Polen
um den Geburtsschein eines Mannes, der in Deutschland wohnt. Man hat
andre Sorgen. Da ist erst mal Oberschlesien. Und da ist erst mal Danzig.
Und wer weiß, wo die Geburt registriert ist. In diesem Kram können wir
uns nicht zurecht finden. Das ist alles nichts für uns. Das Geld, das
Stanislaw mitgebracht hatte, ein hübsches Päckchen dänischer Kronen, war
längst über alle Berge. Berge? Nein, war längst über ganz St. Pauli. In
St. Pauli kennt man dänische Kronen und weiß sie zu schätzen, sind
beinahe ebenso gut wie Dollar. „Was willst du machen, wenn da die Mädels
sind? Kannst doch nicht gut abwinken. Sieht ja aus, als ob du nicht mehr
–. Ja, da waren halt die Kronen im –.“

„Verhungern und Kohldampf schieben tun nur die Dussel und Idioten“,
sagte Stanislaw. „Ein ehrliches Handwerk ernährt immer seinen Mann.“

Da fiel schon mal eine Kiste auf dem Güterbahnhof aus einem Güterwagen,
wo die Tür zu leicht aufging. „Mußt bloß da sein, wenn sie fällt, und
mußt sie nicht liegen lassen. Das ist der ganze Witz an der Geschichte“,
sagte Stanislaw.

Dann gingen auch schon mal ein paar Zuckersäcke im Hafen auf. „Wenn du
da mit einem leeren Rucksack gehst“, sagte Stanislaw, „und es geht ganz
von allein so ein Zucker- oder Kaffeesack auf, und der ganze Brassel
rutscht dir in den Rucksack, da machst du doch nicht den Rucksack los,
schüttest den Kaffee wieder aus und gehst deiner Wege. Das wäre ja
Gottversuchen. Wenn du den Kaffee wieder ausschüttest und es sieht
einer, denkt er gar noch, du hättest ihn gestohlen, und er läßt dich
hochgehen.“

Es gab auch Salvarsan und Koks. „Für die arme leidende Menschheit muß
man ein Herz haben, da kannst du nicht drum rum. Weißt nicht, wie es dir
tun kann, wenn du Salvarsan nötig hast und kannst es nicht kriegen. Mußt
nicht nur immer an dich denken, mußt auch mal an andre denken, wenn es
dir gut gehen soll.“

„Siehst du, Pippip,“ ergänzte Stanislaw seine Erzählung, „jedes Ding hat
seine Zeit. Da kommt dann eine Zeit, wo du dir sagen mußt, nun trachte
aber nach etwas anderm. Das ist der Fehler, daß die meisten nicht zur
rechten Zeit sagen können: Nun aber runter von der Ella, sonst kommst du
nicht mehr raus und die Olsche schnappt dich. Und da sagte ich mir,
jetzt mußt du einen Kasten kriegen, und wenn du ihn stehlen sollst,
sonst sitzt du fest.“

Als Stanislaw zu dieser Überzeugung gekommen war, ging er wieder zur
Polizei und sagte, daß sein Geburtsschein nicht gekommen sei.

„Die verfluchten Pollacken,“ sagte der Inspektor, „das machen sie aus
Niedertracht. Wir werden ihnen schon noch die Hölle heiß machen, lassen
Sie nur erst mal die Franzosen in Afrika und die Engländer in Indien und
China die Hände voll Dreck haben, dann werden wir schon was pfeifen.“

Stanislaw, den die politische Meinung des Inspektors nicht
interessierte, der aber aus Höflichkeit zugehört, genickt und mit der
Faust auf den Tisch geschlagen hatte, sagte nun: „Wo krieg ich denn nun
mein Seemannsbuch her, Herr Inspektor?“

„Haben Sie denn nicht schon mal in Hamburg gewohnt?“

„Natürlich. Vor dem Kriege.“

„Lange?“

„Über ein halbes Jahr.“

„Gemeldet gewesen?“

„’türlich.“

„Welchen Bezirk?“

„Hier in diesem Bezirk. Auf diesem Revier.“

„Dann gehen Sie nur einmal rasch zur Hauptmeldestelle und lassen Sie
sich einen Meldeauszug geben. Dann kommen Sie damit her und bringen Sie
zwei oder drei Photographien mit, die ich Ihnen stempeln kann.“

Stanislaw bekam den Meldeauszug und eilte zurück zu dem Inspektor. Der
Inspektor sagte: „Der Auszug ist richtig, wenn ich nur genau wüßte, daß
Sie auch der sind, der hier im Auszug genannt ist?“

„Das kann ich beweisen. Ich kann ja den Segelmacher Andresen, bei dem
ich gearbeitet habe, herbringen. Aber da steht ja ein Wachtmeister, der
mich vielleicht noch kennt.“

„Ich? Sie kennen?“ fragte der Wachtmeister.

„Ja. Ihnen habe ich neun Mark Ordnungsstrafe zu verdanken, die Sie mir
eingebracht haben, wegen einer Prügelei. Damals hatten Sie noch eine
Fliege an der Unterlippe, die Sie jetzt abrasiert haben“, sagte
Stanislaw.

„Ja–a–a–! Jetzt kann ich mich auf Sie besinnen. Richtig, Sie arbeiteten
bei dem Andresen. Wir hatten ja noch die Geschichte mit Ihnen. Posen
suchte Sie, weil Sie als Junge zu Hause durchgebrannt waren. Wir ließen
Sie dann hier, weil Sie ja hier anständig in Arbeit waren.“

„Dann stimmt das alles“, sagte nun der Inspektor. „Jetzt kann ich Ihnen
die Bescheinigung geben und die Photographien stempeln.“

Am nächsten Tage ging Stanislaw mit der Bescheinigung zum Amt.

„Die Bescheinigung stimmt. Der Inspektor bestätigt, daß er Sie
persönlich kennt. Aber. Aber die Reichsangehörigkeit bezweifeln wir
noch. Da steht Deutsche Reichsangehörigkeit. Das müssen Sie uns
beweisen.“

Das sagte man ihm auf dem Amt.

„Ich habe doch in der K. M. gedient und bin am Skagerrak verwundet
worden.“

Der Beamte zog die Augenbrauen hoch und machte eine Gebärde, als ob von
dem, was er jetzt sagen wolle, der Weiterbestand der Erde abhängig sei.
„Als Sie in der Kaiserlichen Marine dienten und am Skagerrak verwundet
wurden, wo wir es den scheinheiligen Hunden aber gründlich gegeben
haben, da waren Sie deutscher Reichsangehöriger. Das wird nicht in
Zweifel gestellt. Aber ob Sie heute noch deutscher Staatsangehöriger
sind, das ist von Ihnen zu beweisen. Solange Sie uns das nicht beweisen
können, sind wir nicht in der Lage, Ihnen ein Seefahrtsbuch
auszustellen.“

„Wo muß ich denn da hingehen?“

„Da müssen Sie zum Polizeipräsidium gehen. Abteilung
Staatsangehörigkeit.“


                                   38

Stanislaw mußte doch wieder nach seinem ehrlichen Handwerk sehen, um
nicht zu verhungern. Da half nichts. Seine Schuld war es
nicht. Arbeit gab es nicht einen Brocken. Alles saugte an der
Arbeitslosenunterstützung. Stanislaw machte keinen Versuch, sie
mitzunehmen. Ehrliches Handwerk war ihm lieber.

„Es drückt einen so nieder, wenn man immer zwischen Arbeitslosen steht
und dort der paar Pfennige wegen halbe Tage in Reih und Glied anstehen
und jeden Tag hinlaufen muß. Dann schon lieber Schmalmachen nachts auf
der Straße oder aufpassen, ob nicht jemandem die Brieftasche juckt“,
sagte Stanislaw. „Meine Schuld ist es nicht. Hätten die mir ein Buch
gegeben, als ich das erstemal da war, wäre ich längst fort. Ich kriege
schon einen Kasten.“

Auf dem Polizeipräsidium fragte man ihn: „Sie sind in Posen geboren?“

„Ja.“

„Geburtsschein?“

„Hier ist die Quittung vom Einschreibebrief. Schicken keinen.“

„Die Bescheinigung von dem Inspektor in Ihrem Revier genügt mir. Es ist
nur die Staatsangehörigkeit. Haben Sie für Deutschland optiert?“

„Ob ich was habe?“

„Ob Sie für Deutschland optiert haben? Ob Sie, als die polnischen
Provinzen abgegeben werden mußten, vor einer deutschen zuständigen
Behörde die Erklärung persönlich zu Protokoll gegeben haben, daß Sie
deutscher Staatsangehöriger bleiben wollen?“

„Nein“, sagte Stanislaw. „Das habe ich nicht getan. Davon habe ich gar
nichts gewußt, daß man das tun müsse. Ich habe geglaubt, wenn ich
Deutscher einmal bin und nichts andres werde, daß ich dann auch
Deutscher bleibe. Ich war doch in der K. M. und habe Skagerrak
mitgekämpft.“

„Damals waren Sie Deutscher. Damals gehörte die Provinz Posen noch zu
Deutschland. Wo waren Sie denn, als die Optionen gemacht werden mußten?“

„Auf großer Fahrt. Draußen.“

„Da hätten Sie zu einem deutschen Konsul gehen müssen und dort Ihre
Option zu Protokoll geben müssen.“

„Aber ich habe doch gar nichts davon gewußt“, sagte Stanislaw. „Wenn man
draußen fährt und hat seine verfluchte schwere Arbeit, dann hat man
keine Zeit, an solche dummen Sachen zu denken.“

„Hat Ihnen denn Ihr Kapitän nichts gesagt?“

„Ich fuhr einen Dänen.“

Der Beamte dachte eine Weile nach und sagte dann: „Da ist nichts mehr zu
wollen. Sind Sie vermögend? Haben Sie Landbesitz oder Hausbesitz?“

„Nein, ich bin Seemann.“

„Ja, wie gesagt, da ist nichts mehr zu wollen. Alle Fristen, sogar die
Versäumungsfristen sind abgelaufen. Und Sie können sich nicht einmal
berufen darauf, daß Sie irgendwo durch höhere Gewalt gehindert worden
seien, zu optieren. Sie waren nicht schiffbrüchig in irgendeinem Lande,
das außerhalb des üblichen Verkehrs liegt. Sie konnten zu jeder Zeit
einen deutschen Konsul oder den Konsul einer andern Macht, der uns
vertrat, aufsuchen. Die Aufforderung zur Option ist in der ganzen Welt
bekanntgemacht worden, und das ist wiederholt geschehen.“

„Wir kommen nicht dazu, Zeitungen zu lesen. Deutsche sieht man nicht,
und andre versteht man nicht. Und wenn man eine Zeitung wirklich mal
kriegt, da steht es dann nicht drin, weil das nicht in jede Nummer
eingesetzt wird.“

„Ich kann nichts machen, Koslowski. Es tut mir leid. Ich möchte Ihnen ja
gerne helfen. Aber ich habe nicht die Vollmachten. Sie können sich noch
an das Ministerium wenden. Aber das dauert lange, und ob Sie Erfolg
haben, ist noch sehr fraglich. Die Polen kommen uns in keiner Weise
entgegen. Warum sollen wir dann ihre Stuben rein fegen. Vielleicht kommt
es noch so weit, daß sie in Polen alle, die für Deutschland optiert
haben, ausweisen, und dann tun wir das natürlich auch.“

Überall erzählte man dem armen Stanislaw politische Ansichten, anstatt
ihm ernsthaft zu helfen. Wenn ein Beamter jemand nicht helfen will, so
sagt er, er möchte ja so gerne helfen, aber er habe keine Macht und
keine Vollmachten. Wenn man aber laut mit einem Beamten spricht oder ihn
nachdenklich ansieht, dann kommt man ins Gefängnis wegen Beleidigung
eines Staatsbeamten und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Dann
ist er plötzlich der Staat selbst, ausgerüstet mit allen Vollmachten und
allen Gewalten, sein Bruder spricht das Urteil, und sein andrer Bruder
schließt einen in die Zelle oder schlägt einem den Knüppel über den
Schädel. Was ist der Wert des Staates, wenn er dir nicht helfen kann in
deinen Nöten?

„Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben, Koslowski,“ sagte der Beamte,
während er mit dem Stuhle rückte, „gehen Sie zum polnischen Konsul. Sie
sind Pole. Der polnische Konsul muß ihnen einen polnischen Paß
ausstellen. Dazu ist er verpflichtet. Sie sind in Posen geboren. Wenn
Sie den polnischen Paß haben, dann können wir eine Ausnahme hier machen
und Ihnen, weil Sie hier ortsansässig sind und auch schon früher hier
gewohnt haben, ein deutsches Seemannsbuch ausstellen. Das ist alles, was
ich Ihnen raten kann.“

Stanislaw ging am nächsten Tage zum polnischen Konsul.

„Sie sind in Posen geboren?“

„Ja. Meine Eltern wohnen noch da.“

„Haben Sie in Posen oder in einer der Provinzen, die von Deutschland,
Rußland oder Österreich abgetreten werden mußten, zur Zeit der Abtretung
gewohnt?“

„Nein.“

„Auch nicht zwischen neunzehnhundertzwölf und dem Tage der Abtretung?“

„Nein. Ich fuhr auf See.“

„Was Sie taten und wo Sie fuhren, will ich jetzt noch nicht wissen.“

„Stanislaw, da war der richtige Zeitpunkt, ihn über die Barriere zu
ziehen.“

„Weiß ich, Pippip, aber ich wollte doch erst den Paß haben, dann hätte
ich ihm eine auf die Nase gesetzt, eine Stunde ehe mein Schiff abging.“

„Haben Sie bei einer polnischen Behörde innerhalb Polens, die hierfür
zuständig war, innerhalb der vorgeschriebenen Frist persönlich zu
Protokoll gegeben, daß Sie Pole bleiben wollen?“

„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich in den letzten Jahren nicht
in Posen oder in Westpreußen war.“

„Das ist keine Antwort auf meine klare Frage. Ja oder nein?“

„Nein.“

„Haben Sie vor einem rechtmäßig bestallten polnischen Konsul im
Auslande, der ausdrücklich bevollmächtigt war, Willenserklärungen
solcherart anzunehmen, persönlich zu Protokoll gegeben, daß Sie
polnischer Staatsangehöriger bleiben wollen?“

„Nein.“

„Was wollen Sie denn dann hier? Sie sind Deutscher. Scheren Sie sich zu
den deutschen Behörden und belästigen Sie uns ja nicht mehr.“

Stanislaw erzählte das nicht kochend, sondern mehr traurig, weil er aus
Gründen andrer Art dem Konsul nicht seine Meinung nach Seemannsart hatte
sagen können.

„Sieh mal einer an,“ sagte ich, „was diese neuen Staaten sich leisten.
Das ist schon allerhand. Die werden es noch weit bringen. Du solltest
nur mal sehen, wie weit es Amerika auf diesem Gebiete schon gebracht
hat, und wie es sich abrackert, es noch viel weiter zu bringen und das
muffigste und verstaubteste preußisch-kaiserliche Beamtenhirnchen an
Muffigkeit und Beschränktheit zu übertrumpfen. Gehe mal nach Deutschland
oder nach Polen oder nach England oder nach Amerika und hilf mal deiner
Ella mit Rotwein und Zimt und Nelken aus der Appelsoße, da hast du
gleich ein Jahr weg, daß es nur so hagelt. Der Staat darf keinen
Menschen verlieren. Wenn du aber ausgewachsen bist, dann will dich
keiner haben. Du hast ja kein Vermögen, keinen Landbesitz, keinen
Hausbesitz. Da geben die Staaten Millionen an Dollar aus, halten
Tausende von Vorträgen, machen Filme und drucken Bücher, damit die
Jungen nicht in die Fremdenlegion gehen sollen. Aber wenn ein Junge
kommt und hat keinen Paß, geben sie ihm einen Tritt in den Hintern. Dann
muß er in die Fremdenlegion oder, was viel schlimmer ist, aufs
Totenschiff. Das Volk, das zuerst die Pässe aufheben und den Zustand
wieder herbeiführen wird, der vor dem Freiheitskriege war, und der
niemand schadete und allen das Leben erleichterte, das Volk, das zuerst
diese Tat vollführt, wird den Toten der Totenschiffe das Leben
zurückgeben und den Besitzern der Totenschiffe den Spaß verderben.“

„Möglich“, sagte Stanislaw. „Von der Yorikke kommt keiner mehr runter.
Wie es heute ist, nicht. Er hat nur eine Aussicht, wenn sie abrutscht,
und man rutscht nicht mit ab. Aber so sicher ist das auch nicht, man
kann leicht auf einer andern Yorikke landen.“

Stanislaw ging nun wieder zum Polizeipräsidium, Abteilung
Staatsangehörigkeit.

„Der polnische Konsul nimmt mich nicht auf.“

„Das war vorauszusehen. Was machen wir nun, Koslowski. Sie müssen doch
Papiere haben, sonst kriegen Sie kein Schiff.“

„Sicher, Herr Kommissar.“

„Gut, ich gebe Ihnen eine Bescheinigung, und da gehen Sie
morgen früh um zehn zum Paßamt. Ist hier gleich dabei, Zimmer
dreihundertvierunddreißig. Da kriegen Sie dann einen Paß. Mit dem Paß
holen Sie sich dann Ihr Seemannsbuch.“

Stanislaw war froh, und die Deutschen hatten bewiesen, daß sie Leute
waren, die noch am wenigsten Bureaukraten genannt werden konnten. Er
ging zum Paßamt, gab seine Bescheinigung ab und seine Photographien,
unterschrieb seinen schönen Paß, bezahlte vierzig Trillionen Mark und
bekam seinen Paß.

Alles stimmte in dem Paß. Es war ein gutes Papier. Stanislaw hatte nie
in seinem ganzen Leben je ein so gutes Papier gehabt. Damit konnte er
direkt nach New York fahren, so gut war das Papier. Er hätte nicht
einmal nach Ellis Island gebraucht.

Alles stimmte, Name, Geburtsdatum, Beruf, Geburtsort. Was ist denn das?
„Staatenlos.“ Macht nichts, brauche ich nicht. Kriege ein Seemannsbuch.
Und das, was bedeutet das? „Nur für das Inland gültig.“ Wahrscheinlich
denken die Beamten, daß man auch in der Lüneburger Heide mit Dampfern
fahre, oder daß man auf Elbkähnen rudern wolle.

Wieder ein Tag mehr, und Stanislaw ist auf dem Seemannsamt.

„Seefahrtsbuch? Können wir nicht ausstellen. Sie haben ja
keine Staatsangehörigkeit. Und die Staatsangehörigkeit, die
Heimatsberechtigung ist für das Seefahrtsbuch die Hauptsache, der
übrigen Sachen wegen kann man auch mit der Invalidenkarte auskommen.“

„Wie soll ich denn da ein Schiff kriegen? Sagen Sie mir das bloß.“
Stanislaw war zu Ende mit seiner Weisheit.

„Sie haben ja einen Paß, da kriegen Sie jedes Schiff. Es geht ja aus dem
Paß hervor, wer Sie sind, was Sie sind, und daß Sie hier in Hamburg
wohnen. Sie sind doch ein alter befahrener Mann, Sie kriegen spielend
ein Schiff. Kriegen jeden Ausländer, verdienen Sie mehr als auf
deutschen Schiffen bei diesem Tiefstand der Mark.“

Stanislaw bekam ein Schiff. Einen schönen Holländer. Gute Heuer. Als der
Heuerbas den Paß sah, sagte er: „Feine Sache“, und als der Skipper den
Paß sah, sagte er: „Gute Papiere, das habe ich gern; wir wollen jetzt
zum Konsul gehen, anmustern und registrieren, Akten verlesen.“

Der Konsul registrierte und trug den Namen Stanislaw Koslowski ein. Dann
sagte er: „Seemannsbuch?“

Und Stanislaw antwortete: „Paß.“

„Ebensogut“, erwiderte der Konsul.

„Paß ist ganz neu, hier vom Präsidium, zwei Tage alt. Alles in Ordnung.
Der Mann ist gut.“ Das sagte der Skipper und zündete sich eine Zigarre
an.

Der Konsul nahm den Paß, blätterte darin herum, nickte wohlgefällig,
weil es ein Meisterwerk gutgeölter Bureaukratie war. Solche Dinge
behagten dem Konsul.

Plötzlich hielt er inne und erstarrte zu einer Eiskruste.

„Können nicht mustern“, sagte er.

„Was?“ rief Stanislaw.

Und „Was?“ rief der Skipper und ließ vor Erstaunen die Zündholzschachtel
auf den Boden fallen.

„Mustere ich nicht an“, sagte der Konsul.

„Warum denn nicht? Ich kenne ja den Beamten vom Präsidium, der die
Unterschrift gegeben hat, persönlich.“ Der Kapitän wurde ungeduldig.
„Der Paß ist durchaus einwandfrei. Aber ich kann nicht mustern. Er hat
ja keine Staatsangehörigkeit“, ereiferte sich der Konsul.

„Das ist mir ganz Wurscht“, sagte darauf der Skipper. „Ich will den Mann
haben, mein Erster kennt ihn, und die Schiffe, auf denen der Mann
gefahren hat, sind Topp. Solche Leute, wie den hier, will ich um mich
haben.“

Der Konsul hatte das Paßbüchlein zugeklappt und patschte sich damit auf
die offne linke Hand.

Er sagte nun: „Sie wollen den Mann gern haben, Herr Kapitän? Wollen Sie
ihn adoptieren?“

„Unsinn!“ bellte der Skipper.

„Übernehmen Sie persönlich die Verantwortung dafür, daß Sie den Mann
wieder loswerden können?“

„Verstehe ich nicht“, brummte der Skipper.

„Der Mann darf in keinem Lande landen. Er darf an Land gehen, solange
das Schiff im Hafen liegt. Wenn das Schiff fort ist, und er wird
aufgegriffen, hat die Kompanie oder Sie, Kapitän, den Mann wieder aus
dem Lande herauszubringen. Wo wollen Sie ihn hinbringen?“

„Er kann doch hier nach Hamburg jederzeit zurück“, sagte der Skipper.

„Kann. Kann. Nein, er kann nicht. Deutschland kann seine Aufnahme
verweigern und gibt ihn der Kompanie zurück oder Ihnen. Deutschland
braucht ihn nicht mehr aufzunehmen, sobald er auch nur die Grenze
übertreten hat. Er hat einen Weg. Er kann sich eine Bescheinigung
verschaffen, daß er jederzeit nah Hamburg oder Deutschland zurück dürfe
und da wohnen darf. Aber eine solche Bescheinigung kann nur das
Ministerium ausstellen, und das Ministerium wird es kaum so ohne
weiteres tun, weil diese Bescheinigung gleichbedeutend ist mit deutscher
Staatsbürgerschaft. Und dann kommt es wieder zu dem Ausgangspunkt
zurück. Könnte er eine Staatsbürgerschaft erwerben, dann hätte er sie,
er ist ja Deutscher, ist in Posen geboren. Aber weder Deutschland, noch
Polen erkennen ihn an. Nur wenn Sie oder Ihre Kompanie volle
Verantwortung für den Mann übernehmen –“

„Wie kann ich denn das?“ rief der Kapitän unwillig aus.

„Dann kann ich den Mann nicht anmustern“, sagte der Konsul ruhig, strich
den Namen aus dem Buche wieder aus und händigte Stanislaw den Paß ein.

„Hören Sie,“ der Skipper drehte sich noch einmal um und sagte zu dem
Konsul, „hören Sie, können Sie denn keine Ausnahme machen? Ich möchte
den Mann gern haben. Er ist ein vorzüglicher Rudermann.“

„Tut mir leid, Kapitän, dazu reichen meine Vollmachten nicht aus. Ich
habe mich an meine Vorschriften zu halten. Ich bin nur ein Diener.“

Der Konsul hob die Schultern hoch bis zu den Ohren, als er das sagte,
seine Arme gingen mit hoch, und die Unterarme hingen nun rechtwinklig
und wackelnd im Ellbogengelenk. Das sah aus, als ob man ihm die Flügel
gerupft und gestutzt hätte.

„Verfluchter Schietkram, verfluchter“, schrie der Skipper, warf seine
Zigarre wütend auf den Fußboden, trampelte wie wild darauf rum, ging zur
Tür und warf die Tür krachend zu.

Draußen auf dem Korridor stand Stanislaw.

„Was mache ich denn bloß mit dir, Junge“, sagte der alte Skipper. „Ich
möchte dich ja so gerne mitnehmen. Aber nun kannst du nicht mal mehr
Notmusterung machen, der Konsul kennt deinen Namen. Da hast du zwei
Gulden, mach’ dir einen vergnügten Abend. Muß mich nach einem andern A.
B. umsehen.“

Skipper und schöner Holländer waren weg.


                                   39

Aber ein Schiff mußte Stanislaw unbedingt haben.

„Ehrliches Handwerk ist ganz gut, für eine Weile. Aber nicht zu lange.
So eine Kiste oder so ein Sack, das tut ja niemand weh. Das sind
Geschäftsunkosten in einem großen Hause. Die Kiste kann ja auch bei
Verladung in die Brüche gehen. Aber man wird das ehrliche Handwerk
leid.“

Ich sagte nichts darauf und ließ ihn ruhig reden.

„Ja, man wird es wahrhaftig leid,“ setzte Stanislaw fort, „man kriegt
das Gefühl, als ob man jemand auf der Tasche liegt. Eine Zeit, ja, aber
dann wird es einem so widerlich, immer auf der Tasche zu liegen. Man
will doch auch was tun, was schaffen. Sehen will man, wie das rennt, was
man arbeitet. Siehst du, Pippip, so am Ruder stehen, in schwerem Wetter,
und den Kurs halten ... Das ist eine Sache, da kann das ganze ehrliche
Handwerk nicht mit. Verflucht und zugenäht, nein, da kann es nicht mit.
Da stehst du und stehst, und der Kasten will herumhauen und rauswichsen
aus dem Kurs. Aber da hältst du ihn an der Kandare. Sieh mal so.“

Stanislaw packte mich beim Gürtel und versuchte mich herumzuwitschen,
als ob er das Ruderrad in der Hand hätte.

„Du, ich bin kein Ruder, laß los!“

„Und dann, wenn du es durchhältst im schweren Wetter, und es rutscht dir
noch nicht einmal einen viertel Strich ab, Pippip, ich kann dir sagen,
da könnte man schreien und brüllen vor lauter Vergnügen, daß man diesen
Riesenkasten so an der Schlippe halten kann, daß er tun muß, wie du
willst, wie ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee. Und wenn dann der
Erste oder gar der Skipper auf die Rose guckt und sagt: ‚Kos’ki, Junge,
Sie können aber mal Kurs halten, verflucht feine Arbeit, könnte ich
selber nicht besser machen. Weiter so, dann halten wir die Karline gut
in der Zeit!‘ ja, Mensch, Pippip, da lacht dir das Herz, da könnte man
gleich so wegheulen und natschen, daß dir der Rotz die Backen
runtertrippt, vor lauter Vergnügen. Siehst du, das kann das ehrliche
Handwerk nicht und nie. Lachst ja auch, wenn dir ein Schnapp glückt,
aber lachst doch nicht so, lachst mehr scheinheilig und drehst dich
immer um dabei, ob nicht schon einer hinter dir her ist.“

„Ich habe ja an dicken Eimern noch nicht gerudert, aber doch schon an
kleinen, und ich denke, du hast recht“, sagte ich. „Aber beim Anpinseln
geht es einem auch so. Wenn dir eine grüne oder braune Kante so recht
fein glückt, ohne zu klecksen und ohne auszurutschen, da hat man auch
seinen Spaß.“

Stanislaw schwieg eine Weile, spuckte über die Reeling, schob sich ein
neues Dickerchen zwischen die Zähne, den er vor einer halben Stunde von
einem Händler, der mit einem Boot herangepullt war, gekauft hatte und
sagte: „Wirst vielleicht lachen. Kohlenschleppen, wenn man eigentlich A.
B. ist, und ein besserer A. B. als diese Räuber hier, ist ja vielleicht
eine Schmach. Aber doch nicht. Hat auch seine Freuden. Auf so einem
Kasten ist alles wichtig. Wenn nicht geschleppt wird, kann der Heizer
keinen Dampf halten, und wenn der keinen Dampf hält, steht die Karre wie
eine Ramme im Lehm. Und mal so fünfhundert Schaufeln in einem Zug auf
zehn Schritt Entfernung durch die Schachtluke pfeffern und einen Vorrat
hinhauen, daß der Heizer kaum noch treten kann, bloß um mal zu sehen,
was du schaffen kannst, wenn du mal rangehst an die Ella, und du siehst
dir den Berg an, den du so auf einen Sitz hingehauen hast, da lacht dir
auch das Herz im Leibe. Du könntest den Berg wahrhaftig abknutschen vor
Vergnügen, wenn er da so dick aufgeschichtet daliegt und dich so
verwundert anglubscht, weil er doch eben noch oben in einem Bunker war
und nun mit einemmal hier vor den Kesseln liegt. Nein, an Arbeit, an
gesunde Arbeit, kann das schönste ehrliche Handwerk nicht ran.

Und warum macht man das ehrliche Handwerk überhaupt? Weil man keine
Arbeit hat, weil man keine kriegt. Mußt doch was tun, kannst doch nicht
den ganzen geschlagenen Tag im Bett liegen oder dich in den Straßen
rumtreiben, wirst ja ganz vertattelt im Kopf.“

„Na und was dann, als du den Holländer nicht kriegtest?“ fragte ich.

„Arbeit mußte ich haben, und ein Schiff mußte ich haben, weil ich sonst
verrückt geworden wäre. Den guten Paß, das feine Papier, verkaufte ich
für Dollar. Dann platzte wieder ein Sack, und ich hatte ein paar
Silberlinge in der Hand. Machte mit ein paar dänischen Fischern ein
saftiges Spritgeschäft, das ich ihnen durch den Zoll brachte, na und da
hatte ich ja feine Pinke.

Ich mich in den Zug gesetzt und runter nach Emmerich. Komme auch glatt
rüber. Drüben aber, als ich mir eine Karte nach Amsterdam kaufen will,
werde ich geschnappt, und nachts bringen sie mich über die Grenze und
schieben mich rüber.“

„Was?“ fragte ich. „Du willst doch nicht etwa sagen, daß die Holländer
Leute nachts über die Grenze bringen, ganz heimlich?“

Ich wollte hören, wie es Stanislaw ergangen war.

„Die? Die?“ sagte Stanislaw, und streckte seinen Kopf weit vor und
bohrte mich fest mit seinen Augen. „Die machen noch ganz andre Sachen.
Da ist jede Nacht an den Grenzen das schönste Austauschgeschäft mit
Menschen. Die Deutschen schleppen ihre lästigen Ausländer und
Bolschewisten über die holländische, belgische, französische und
dänische Grenze, und das machen die Holländer, die Belgier, die
Franzosen, die Dänen. Ich bin sicher, die Schweizer, die Tschechen, die
Polen machen es genau ebenso.“

Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Kann ich nicht glauben. Das ist ganz
ungesetzlich.“

„Aber sie machen’s. Sie haben es doch mit mir gemacht, und ich habe an
der Grenze und in Holland ein paar Dutzend getroffen, mit denen sie es
von allen Seiten aus gemacht hatten.

Was wollen Sie denn tun? Totschlagen und eingraben können sie doch die
Leute nicht. Sie haben ja nichts verbrochen. Haben bloß keinen Paß und
können keinen kriegen, weil sie nicht geboren sind oder nicht optiert
haben. Jedes Land versucht, seine Paßlosen und Staatenlosen loszuwerden,
weil die Leute ihnen immer wieder Scherereien machen. Wenn sie mit den
Pässen aufhören, hört diese Warenverschiebung auch auf. Also, ob du es
glaubst oder nicht, mit mir haben sie es getan.“

Stanislaw ließ sich aber nicht einschüchtern weder mit der Drohung
Arbeitshaus, noch mit der Drohung Gefängnis, noch mit der Drohung
Internierung. Er ging in derselben Nacht wieder rüber nach Holland,
machte es klüger und kam nach Amsterdam. Er kriegte einen Italiener, ein
ganz schmachvolles Totenschiff, und ging mit ihm nach Genua. Dort
segelte er achtern raus, kriegte wieder ein Totenschiff, diesmal einen
unmittelbaren Leichenmacher, und ging mit ihm aufs Riff. Er, mit noch
ein paar andern, überlebte die Leichen, strolchte sich bettelnd durch zu
einem andern Hafen und kam über ein andres Totenschiff, wo er infolge
einer gräßlichen Schlägerei abkanten mußte, auf die Yorikke.

Wo bleibt er? Wo bleibe ich? Wo bleiben alle die Toten eines Tages? Am
Riff. Früher oder später. Einmal trifft es. Man kann nicht ewig
Totenschiffe fahren. Man muß die Fahrerei eines Tages doch bezahlen, ob
man noch soviel Glück hat. Und man muß immer auf ein Totenschiff. Kein
andrer Ausweg ist einem geblieben. Das feste Land ist mit einer
unübersteigbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind,
ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind. Es
ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines
Sinnes entwickeln will und muß, dem einzelnen Menschen, der nicht
numeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit kühler
Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch kommen
müssen. Vorläufig aber hat Cäsar Kapitalismus an diesem Mord noch kein
wesentliches Interesse, weil er den Kehricht, der über die
Zuchthausmauern geworfen wird, noch gebrauchen kann. Und Cäsar
Kapitalismus läßt nichts verkommen, solange es noch Profit verspricht.
Auch der Kehricht, den die Staaten über die Mauern werfen, hat noch
seinen Wert und wirft gute Profite ab, die abzuweisen Sünde wäre,
unverzeihliche Sünde.

„In der Bunk über mir,“ sagte ich eines Tages zu Stanislaw, „da ist
einer verreckt, wurde mir erzählt. Weißt du was davon, Lawski?“

„Freilich, weiß ich davon. Wir waren ja sozusagen Brüder. Er war ein
Deutscher. War aus Mülhausen im Elsaß. Seinen richtigen Namen weiß ich
nicht. Kümmert mich auch nicht. Er sagte, er hieße Paul. Gerufen wurde
er Franzos oder French eigentlich. War Kohlschlepp. Er hat mir mal in
einer Nacht, als wir zusammen im Achterbunk saßen und er wie ein kleiner
Junge heulte, erzählt, was mit ihm los war.“

Paul war in Mülhausen geboren und hatte Kupferschmied, glaube ich,
gelernt in Straßburg oder in Metz. Ich habe das verwechselt, weil es nur
so nebenbei war.

Er ist dann auf die Wanderschaft gegangen nach Frankreich und Italien.
In Italien war er interniert, als der Dreck da losging, oder warte mal,
nein, es war anders. Er war in der Schweiz gewesen als es losging, hatte
kein Geld, wurde rübergeschoben und eingezogen. Dann wurde er auf einem
Patrouillengang von den Italienern gefangengenommen. Er brach aus, stahl
sich Zivilsachen, grub seine feldgrauen Lumpen ein und trieb sich in
Mittelitalien und Süditalien herum. Er kannte ja die Gegenden, weil er
da gearbeitet hatte.

Endlich wurde er erwischt. Daß er ausgekniffener Kriegsgefangener war,
wußte man nicht, man hielt ihn für einen Deutschen, der sich da während
der ganzen Zeit herumgetrieben hatte, und so kam er in ein
Internierungslager für Zivilgefangene. So war die Geschichte.

Ehe noch die Zivilgefangenen ausgetauscht wurden, war er schon wieder
ausgebrochen und walzte rauf durch die Schweiz. Er wurde abgeschoben
nach Deutschland und arbeitete da in einer Brauerei. Dann kam er in
revolutionäre Geschichten rein, wurde verhaftet und mit Landesverweis
bedacht als Franzose. Die Franzosen nahmen ihn nicht an, weil er schon
ewige Zeiten fort war von Mülhausen und weder für Frankreich, noch für
Deutschland optiert hatte. Was kümmert man sich als Arbeiter um solchen
Quatsch. Da hat man andres zu denken und zu sorgen, besonders wenn man
keine Arbeit hat und rumlaufen muß wie verrückt, um wenigstens was für
den Magen zu schaffen.

Aber er wurde wegen der bolschewistischen Sachen, von denen er gar
nichts verstand, landesverwiesen. Er kriegte zweimal vierundzwanzig
Stunden Zeit, sich zu verduften, oder sechs Monate Arbeitshaus. Kam er
raus aus dem Arbeitshaus, so bekam er wieder zwei Tage Zeit, und war er
nicht weg in der Zeit, dann blühte ihm wieder Arbeitshaus oder Gefängnis
oder Internierungslager. Arbeitshaus haben sie ja nicht mehr oder nennen
es nicht mehr so, wie er mir sagte. Aber sie haben dafür ähnliche
Einrichtungen. Die Brüder finden immer eine neue Schikane, wenn sie mit
einer alten aufräumen aus irgendwelchen Gründen. Was wissen die von
menschlichen Gründen? Da gibt es bloß Verbrecher und Nichtverbrecher.
Wer nicht beweisen kann, daß er bestimmt kein Verbrecher ist, der ist
eben einer.

Also raus mußte er. Er war ein halbes Dutzend mal schon beim
französischen Konsul gewesen, aber der wollte nichts von ihm wissen,
schmiß ihn raus und verbot ihm das Betreten des Konsulats.

Paul walzte nun nach Luxemburg, machte die Grenzen und kam nach
Frankreich. Als er geschnappt wurde, sagte der Esel, er sei Franzose. Es
blieb ihm ja nichts weiter übrig. Es wurde nachgeforscht, und die fanden
raus, daß er sich auf diesem Wege die französische Staatsangehörigkeit
in ungesetzlicher Weise habe erschleichen wollen. Das ist ein großes
Verbrechen. Ein saftiger Einbruch ist lange kein so großes Verbrechen.
Die hätten ihm ein paar Jahre aufgeknackst.

Na, kurz und gut, er kriegte ein Mauseloch, um zu entwischen.
Anmusterung für die Fremdenlegion. Da konnte er sich ja ein Zehntel
französische Staatsangehörigkeit verdienen, wenn er es aushielt.

Aber er hielt es nicht aus und mußte kippen.

Wie er mir erzählte, ist das ja nun so mit dem Abbrennen. Wo willst du
hin? Rüber auf spanisches Gebiet? Gut. Wenn nur der Weg nicht so weit
wäre. Aber da kommen Marokkaner, die sich das Kopfgeld verdienen wollen.
Man sieht es ihnen nicht an der Nasenspitze an, wenn man sie um ein paar
Datteln oder um einen Schluck Wasser anbettelt. Und zurück als
Deserteur, dann schon lieber mit einem Stück spitzen Holz erstechen.

Dann wieder trifft man Marokkaner, die ziehen einen aus bis aufs Hemd
und lassen einen liegen im Sonnenbrand und im Sande.

Dann trifft man welche, die rauben einen nicht aus, aber schlagen einen
tot oder martern einen tot, weil er von der verhaßten Legion ist oder
von den verhaßten Christenhunden einer ist.

Da sind auch welche, die verschleppen einen und verkaufen einen tief ins
Innere als Sklave zu den Göpelmühlen. Auch ein Vergnügen, lieber die
Kaldaunen aus dem Leibe reißen.

Aber der Junge hatte Glück, ein ganz verfluchtes Glück. Er traf
Marokkaner an, die ihn erschlagen wollten oder an den Pferdeschwanz
binden und abhäuten. Aber er konnte ihnen verständlich machen, noch
rechtzeitig genug, denn sie lassen sich für gewöhnlich in keine
Diskussionen ein, daß er Deutscher sei. Na, die Deutschen sind ja auch
Christenhunde, aber sie haben gegen die Franzosen gekämpft, das wird
ihnen hoch angerechnet, wie man in Spanien und in Mexiko es den
Deutschen hoch anrechnet, daß sie fünfzigtausend Amerikanern unter die
Erde verholfen haben. Bei den Marokkanern haben aber die Deutschen noch
einen andern Stein im Brett, sie haben an der Seite der Türken, an der
Seite der Mohammedaner gegen die Engländer und Franzosen gekämpft, und
sie haben die mohammedanischen Glaubensgenossen, die auf seiten der
Engländer und Franzosen kämpften und von den Deutschen gefangen wurden,
nicht als Kriegsgefangene, sondern als dreiviertel Freunde behandelt.
Das weiß jeder, der Allah und den Propheten anruft, ob er in Marokko
wohnt oder in Indien.

Es ist nur so ungemein schwer, einem nichttürkischen Mohammedaner das
begreiflich zu machen, daß einer Deutscher ist. Er denkt sich die
Deutschen ganz anders aussehend als die verhaßten Franzosen und
Engländer, und wenn er nun sieht, daß der Deutsche auch nicht viel
anders aussieht, so glaubt er es ihm nicht und denkt, der Mann will ihn
beschwindeln. Wenn er nun gar als Deutscher in der Fremdenlegion dient,
um die Mohammedaner dort zu bekämpfen, so glaubt es ihm selbst der nicht
mehr, der vielleicht zuerst ihn für einen Deutschen gehalten hätte. Denn
ein Deutscher kämpft nicht auf seiten der Franzosen gegen die
Mohammedaner, die um ihre Freiheit kämpfen, weil die Deutschen das
selbst wissen, was es bedeutet, wenn man um die Freiheit und
Unabhängigkeit seines Landes gegen Franzosen und Engländer zu kämpfen
hat.

Wie es geschah, niemand kann es sagen. Durch ein unbegreifliches Gefühl,
das in den Marokkanern plötzlich auftauchte, glaubten sie ihm, daß er
Deutscher sei, und daß er nie gegen Marokkaner gekämpft habe. Sie nahmen
ihn auf, pflegten ihn, fütterten ihn gut und gaben ihn von Sippe zu
Sippe und von Stamm zu Stamm weiter, bis er an der Küste landete und
dort mit den Pflaumenmushändlern auf die Yorikke gebracht wurde.

Der Skipper nahm ihn mit Freuden auf, weil er einen Kohlschlepp
brauchte, und Paul war glücklich, unter uns zu sein.

Aber nach zwei Tagen schon, obgleich er mit Rosten kein Pech hatte und
die Kohlen damals gut zur Hand lagen, sagte er: „Ich wollte, ich hätte
die Fremdenlegion nicht gekippt. Das hier ist zehnmal schlimmer als die
böseste Kompanie in unsrer Division. Wir lebten demgegenüber ja wie die
Fürsten. Hatten menschliches Essen und menschliche Quartiere. Ich gehe
hier in die Wicken.“

„Mach keine solchen Töne, Paul“, sagte Stanislaw, um ihn aufzurichten.
Aber Paul, der vielleicht auch durch die Strapazen der Flucht schon
etwas abgekriegt hatte, fing an Blut zu spucken. Immer mehr. Dann kotzte
er Blut in großen Fladen. Und eines Nachts, als ich ihn ablösen kam, lag
er auf einem Kohlenhaufen oben im Bunker im dicken Blut. Tot war er
nicht. Ich schleife ihn ins Quartier und packte ihn in seine Bunk da
oben. Früh als ich ihn wecken kommen wollte, war er tot. Um acht kam er
über Bord. Der Skipper nahm nicht mal die Mütze ab, er tippte bloß so an
den Rand. Eingewickelt wurde er auch nicht. Er hatte nur Lumpen, die vom
Blut verkleistert waren. Ans Bein kriegte er einen dicken Klumpen Kohle.
Ich glaube, selbst diesen Klumpen Kohle gönnte ihm der Skipper nur mit
schiefem Maul. Ins Journal ist Paul nicht gekommen. Luft, verwehte Luft.


                                   40

Paul war nicht der einzige Schlepp, den die Yorikke verschluckt und
verdaut hat, während Stanislaw drauf war. Da war der Kurt, ein Junge von
Memel, auch nicht optiert. Zu der Zeit trieb er sich in Australien
herum, wurde aber nie erwischt, um interniert zu werden. Schließlich
kriegte er namenloses Heimweh und mußte nach Deutschland. Irgendwo in
Australien hatte er was ausgefressen. Eine Streikbrechergeschichte mit
Streikbrecherverholzen, und einer von diesen Lumpen war liegengeblieben
und nicht mehr aufgestanden. Kurt konnte nicht zum Konsul gehen, um auf
treuem Wege wegzukommen, denn wenn es sich um Streik handelt oder um
Geschichten, die nach Kommunismus riechen, dann bocken die Konsuln
gleich alle zusammen, auch wenn sie ein paar Monate vorher sich noch
anspucken wollten. Der Konsul hätte ihn sicher der Polizei verwinkt, und
Kurt hätte seine zwanzig Jahre machen müssen. Ein Konsul ist immer auf
seiten des Staatsgedankens. Des Staatsgedankens, dieses großen
erlauchten Wortes, das nichts als Unfug stiftet und die Menschen zu
Nummern macht. Und diese Staatsidee ist so stark in den Konsuln
entwickelt, daß sie zugunsten der Staatsidee ihre eignen Söhne
verkaufen, nur damit der Staat recht behalten kann. Streik ist ja gegen
den Staat gerichtet. Manchmal, wenn er ein treuer und nicht ein
geschobener Streik ist.

Es gelang Kurt, ohne Papiere bis nach England zu kommen. Aber England
ist eine böse Sache. Eine Insel ist immer bös. Man kann rauf, aber nicht
mehr runter. Kurt konnte nicht mehr runter. Er mußte zum Konsul. Der
Konsul wollte wissen, warum er von Brisbane in Australien fort sei,
warum er dort nicht den deutschen Konsul aufgesucht habe, und warum er
auf illegalen Wegen nach England gekommen sei.

Kurt konnte das nicht erzählen und wollte es auch nicht erzählen, weil
ja England für ihn auch nicht sicherer war als Australien. Die Engländer
hätten ihn sofort an Australien zur Aburteilung ausgeliefert.

Auf dem Konsulat in London oder in Southampton oder in welcher Stadt in
England es sein mochte, bekam Kurt in dem Bureau des Konsuls, wo alles
an die Heimat erinnerte, ein so übermächtiges Heimwehgefühl, daß er
bitterlich zu weinen anfing. Darauf schrie ihn der Konsul an, er möge
hier kein Theater machen, sonst schmisse er ihn raus, solche Vagabunden
kenne er schon zur Genüge. Kurt gab ihm die einzige richtige Antwort,
die ein echter Junge für solche Gelegenheiten auf Lager hält, und um der
Einladung den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ergriff er einen
Sandstreuer oder was es war und feuerte es dem Konsul an den Kopf. Der
fing gleich an zu bluten und an zu schreien, aber Kurt war raus wie der
Teufel.

Er hätte sich den Weg zum Konsul sparen können, denn da er von Memel war
und nicht optiert hatte, konnte ihm der Konsul ja doch nicht helfen.
Dazu reichten dessen Vollmachten nicht aus. Wie gewöhnlich. Er war ja
nur Diener des Götzen.

Dadurch war Kurt nun endgültig tot und konnte die Heimat nicht
wiedersehen. Es war ihm ja durch eine Amtsperson bestätigt worden, daß
sein Heimweh nur Theater war. Was weiß eine Amtsperson davon, daß ein
Vagabund, ein zerlumpter Weltherumtreiber auch Heimweh bekommen kann?
Solche Gefühle sind nur denen vorbehalten, die weiße Wäsche haben und
jeden Tag ein reines Taschentuch aus der Kommode nehmen können. Yes,
Sir.

Ich habe kein Heimweh. Ich habe gelernt, daß das, was Heimat, was
Vaterland sein sollte, eingepökelt und in Aktenmappen eingeheftet ist,
daß es in Gestalt von Staatsbeamten repräsentiert wird, die einem das
treue Heimatsgefühl so sicher austreiben, daß nicht eine Spur davon mehr
übrigbleibt. Wo meine Heimat ist? Da, wo ich bin und wo mich niemand
stört, niemand wissen will, wer ich bin, niemand wissen will, was ich
tu, niemand wissen will, woher ich gekommen bin, da ist meine Heimat, da
ist mein Vaterland.

Der Junge von Memel kriegte einen Spanier und kam schließlich auf die
Yorikke als Schlepp.

Schutzvorrichtungen gab es auf der Yorikke nicht, erstens kosten sie
Geld und zweitens hindern sie an der Arbeit. Ein Totenschiff ist keine
Kleinkinderbewahranstalt. Mach die Augen auf, und wenn was abgeht, so
ist das nur faules Fleisch oder ein fauler Finger, der doch nicht
arbeiten wollte.

Das Wasserstandglas an den Kesseln hatte weder ein Schutzglas, noch ein
Drahtgitter. Eines Tages platzte es, als Kurt auf Wache war. Es war auch
kein Langhebel dran, wodurch das Rohr, das zum Wasserstandglas führte,
von einem sicheren Platz aus hätte abgedrosselt werden können. Das
kochende Wasser strahlte heraus, und der Kesselraum war in dichten
heißen Dampf gehüllt.

Das Rohr mußte abgedrosselt werden. Mußte gemacht werden. Aber der
Drosselhahn war direkt unter dem gebrochenen Glas, zwei Zoll von der
Strahlöffnung entfernt. Es mußte abgedrosselt werden, sonst lag der
Eimer einen halben Tag fest, und wenn schweres Wetter aufkam, konnte das
Schiff nicht manövrieren und wurde gepfeffert, daß kein Splitter mehr
heil blieb.

Wer drosselt ab? Der Schlepp natürlich. Der Vagabund opferte sein Leben,
damit Yorikke manövrierfähig blieb und erst dann zu den Fischen ging,
wenn es befohlen wurde.

Und Kurt drosselte ab. Dann brach er zusammen und wurde von dem
Ingenieur und dem Heizer in seine Bunk getragen.

„So etwas von Schreien“, erzählte mir Stanislaw, „kannst du dir nicht
denken. Auf dem Rücken konnte er nicht liegen und nicht auf dem Bauche
und nicht auf den Seiten. Die Haut hing ihm in Fetzen herunter wie ein
zerrissenes Hemd, alles Blasen und Blasen, dick wie ein Kopf, und eine
neben der andern. Hätte man ihn in ein Hospital gebracht, ich weiß ja
nicht, vielleicht hätte man ihm helfen können mit Hauteinsetzen. Aber
man hätte schon eine ganze Kalbshaut gebrauchen müssen, um ihn wieder
zurechtzuflicken. Und geschrien und geschrien und geschrien! Ich wünsche
nur, daß der Konsul ihn im Schlafe gehört hätte, er wäre den Schrei
nicht mehr los geworden. Die sitzen am Tisch und schreiben Formulare
voll. Hundert Meilen hinter der Front des nackten Lebens.

Tapferkeit im Kriege? Quatsch! Tapferkeit auf dem Felde der Arbeit. Aber
da kriegst du keinen Orden. Da bist du kein Held. Er hat sich
totgeschrien. Abends kam er über Bord, der Junge von Memel. Na, Pippip,
ich muß die Kappe abnehmen, guck mich nicht so an. Da mußt du
Präsentiert das Gewehr! machen. Kannst nicht anders. Über Bord, mit
einem Klumpen Kohle am Bein. Sah aus wie ein Sträfling. Der Zweite
Ingenieur sah hinterdrein und sagte dann: „Verfluchte Geschichte, jetzt
haben wir wieder keinen Schlepp.“ Das war alles, was er sagte. Und
gerade er war der Mann, der es hätte machen müssen; denn es war eine
Reparatur, und solche Reparaturen gehen den Schlepp gar nichts an. Ja,
das war der Kurt. Steht auch nicht im Journal. Der Zweite Ingenieur
steht drin. Der Koch hat es gesehen, als er Seife stehlen ging in die
Kabine vom Skipper. Na, was sich unsereiner dafür schon kauft.“


                                   41

Mit den übrigen Mannschaften redete ich sehr wenig. Sie waren meist
brummig, übelgelaunt und schläfrig, wenn sie nicht besoffen waren, was
in jedem Hafen vorkam. Aber, wenn ich ganz ehrlich sein soll, so waren
es eigentlich sie, die nicht mit uns redeten. Ich war ja nur Schlepp,
ich und der Stanislaw. Und der Schlepp ist ja nicht, bei weitem nicht so
viel wie ein A. B., nicht einmal so viel wie ein Deckarbeiter. Das sind
alles Herren im Vergleich zum Schlepp. Der Schlepp wühlt im Dreck und in
der Asche und ist erst recht Dreck und Asche. An ihm kann man sich ja
die Finger dreckig machen. Und nun gar erst der Zimmermann oder gar, um
noch höher zu gehen, der Bootsmann. Denen gegenüber ist man nur ein
Würmchen. Niemand versteht es so gut, feine und allerfeinste
Rangunterschiede zu machen wie der Arbeiter.

Nun erst in der Fabrik. Der die Schrauben drehen darf, tausendweise,
alle nach Schablone, was ist der für ein großer Mann gegenüber dem, der
die Schrauben in einem Korbe wegschleppen muß. Und der die Schrauben
wegschleppen darf, was ist der für eine unerreichbare Größe gegenüber
dem, der die Säle ausfegen darf. Und der, der ausfegen darf, wirft sich
in die Brust und sagt: „Ach der, der sucht ja bloß den Dreck durch, der
muß ja die Messingspäne aussuchen, mit dem kann ich doch nicht
verkehren. Wie sieht denn das aus?“

Unter den Toten hört der Rangunterschied nicht auf. Er wird noch größer
beinahe. Wer da hinten an der Mauer nur gerade so verscharrt ist, weil
er ja irgendwo liegen muß, der ist nichts. Der in einem Tannensarg
begraben wird, ist schon mehr. Nachts, wenn sie tanzen, guckt er den
Verscharrten mit keiner Miene an, sondern sieht sehnsüchtig rüber zu
denen, die mit ihrem Eichensarg tanzen. Zu denen, die mit einem
Metallsarg mit goldenen Ecken gravitätisch herumwandern, wagt er gar
nicht aufzusehen; das würden die sich auch sehr verbitten. Damit man das
alles gleich von vornherein klarstellen kann, darum werden ja die einen
in Metallsärgen mit vergoldeten Ecken begraben und die andern in einer
viereckigen Holzkiste in einem Winkel verscharrt. Erst die Würmer und
die Maden, diese revolutionären Aufräumer und Umwälzer, die machen sich
nichts aus Rangunterschieden. Die sind alle gleich weiß und alle gleich
groß und sie wollen fressen; und das Fressen nehmen sie sich, wo sie es
kriegen, sie holen es sich aus dem Metallsarg mit vergoldeten Ecken
ebenso rasch wie aus der Kiste.

Der Herr Zimmermann und der Herr Bootsmann und der Herr Donkeyman waren
Petty-Offiziere, Unteroffiziere. Sie waren genau so dreckig wie wir,
waren auch nicht länger befahren als wir, waren für den geregelten Gang
der Yorikke viel weniger wichtig als wir, aber die Schlepps mußten den
Herrn Donkeyman bedienen. Mußten ihm das Essen aus der Galley holen, auf
den Tisch stellen und wieder abservieren. Damit der Rangunterschied
gewahrt blieb. Der Donkeyman ist der Wintschenmaschinist, und wenn das
Schiff im Hafen liegt und die Heizer und Schlepps haben Tagarbeit, dann
muß er die Kessel heizen, auch des Nachts. Auf der Fahrt murkst er im
Wege herum, putzt an den Maschinen hier ein wenig, dort schmiert er ein
Lager, dann muß er einen Selbstöler auseinandernehmen und auswaschen und
dann wieder da ein wenig Dreck wegnehmen und ihn hier hinlegen. Dafür
braucht er nicht in den großen Quartieren schlafen, sondern in kleinen,
wo nur zwei oder drei Bunks sind, und dafür bekommt er Sonntag
Grießpudding mit Himbeersaft und in der Woche zweimal Backpflaumen in
blauer Stärke, während wir keinen Pudding am Sonntag und nur einmal in
der Woche Backpflaumen in blauer Stärke fassen. Wenn wir aber zweimal
Backpflaumen kriegen mit versteinertem Salzfisch, dann bekommt er
dreimal Backpflaumen. Er, der Bootsmann, der Zimmermann, die
Unteroffiziere. Dafür hat er hinter uns her zu sein und aufzupassen, daß
wir nicht etwa einen Kesselbunker aufschrauben, wenn schweres Wetter ist
und die Achterbunker noch ein paar Kilogramm haben. Was würde Cäsar mit
seinen Armeen machen, wenn er keine Unteroffiziere hätte, die auf der
ersten Sprosse der Leiter zum Generalfeldmarschall stehen?
Unteroffiziere, die von oben kommen, sind nicht zu gebrauchen; sie
müssen von unten kommen, gestern noch geprügelt worden sein, dann sind
sie gut zu gebrauchen, die können am besten prügeln.

Dann kamen die A. B.s und dann die Deckarbeiter. Stanislaw konnte mehr
als alle drei A. B.s zusammen, aber er war nur Dreck. Sie hätten sich
erst wohlgefühlt, wenn angeordnet worden wäre, daß die Schlepps, wenn
sie an dem Donkeyman vorbeigehen wollten, zu fragen hätten, ob es ihnen
auch erlaubt sei, an ihm vorbeizugehen.

Dennoch waren sie alle Tote, und dennoch waren sie alle auf dem Wege zu
den Fischen.

Soweit das Erhabenheitsgefühl bei ihnen nicht verletzt wurde, konnte man
mit ihnen umgehen, und sie fühlten sich durchaus im gleichen
Schiethaufen mit uns. Die weniger Befahrenen unter den Deckarbeitern
waren noch zu unsicher unter uns alten Seehunden, um irgendwelchen
Sprossensinn uns gegenüber zu entwickeln. Mit der Zeit kam dann doch ein
Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das seinen Grund in der uns allen
gemeinsamen Schicksalslage hatte. Wir alle waren Verwehte, wenn es auch
keiner für sich zugeben wollte und immer noch auf ein Entspringen
hoffte. Uns allen drohte das gleiche Schicksal der Gladiatorenopferung,
was wir alle wußten, ohne es offen auszusprechen. Seeleute sprechen
nicht von Schiffbruch und nicht von Untergang, das ist nicht gut. Lockt
nur den Gast aufs Schiff. Aber gerade dieses wartende Wissen, dieses
bebende Zählen der Tage von einem Hafen zum andern, dieses verhaltene
Nichtaussprechen der Tatsache, daß, wie lange es auch immer dauern möge,
wir doch mit jedem Tage näher und sicherer dem letzten Tage kommen, wo
es um den brutalen Kampf, ums nackte Leben gehen würde, knüpfte uns mit
einem merkwürdigen Band zusammen.

Es ging nie einer allein in den Hafen, immer zu zweien oder dreien.
Seeräuber konnten nicht ein Viertel so schlimm aussehen wie wir. Wir
kamen nie in Händel mit den Mannschaften andrer Schiffe. Zum Teil waren
wir ihnen zu dreckig und zu zerlumpt, zum Teil hakten sie nicht ein. Wir
konnten sagen, was wir wollten, sie taten, als hörten sie es nicht,
tranken ihren Wein aus oder ihren Schnaps und gingen ihrer Wege. Sie
waren die ehrliche Arbeiterklasse, der vierte Stand; wir waren der
fünfte, der noch lange nicht dran ist, solange nicht der vierte erst
einmal an der Krippe sitzt. Vielleicht waren wir gar der sechste und
hatten noch ein paar Jahrhunderte zu warten.

Die vom vierten, dem ehrlichen Stand, ließen sich auch darum nicht mit
uns ein, weil sie uns für Desperados hielten. Das waren wir ja auch. Uns
war alles gleichgültig. Was immer auch geschah, es konnte uns nichts
Schlimmeres geschehen. Also los, weg mit ihm.

Wenn wir in eine Seemannskneipe kamen, war der Wirt immer ängstlich
darauf bedacht, uns nur ja recht schnell heraus zu haben, obgleich wir
alles über die Kante hauten, was wir in der Tasche hatten oder im Munde,
weil die Taschen zerrissen waren, oder auch im Mützenleder, wenn es noch
vorhanden war. Wir waren gute Kunden, aber solange wir in der Taverne
waren, ließ der Wirt kein Auge von uns und beobachtete jeden Schritt und
jeden Blick. Schien es ihm, daß einer mit den Augen zuckte und einen vom
ehrlichen Stand zu deutlich anguckte, ging der Wirt sofort zu dem Manne
hin, der angeguckt worden war, und bearbeitete ihn, daß er das Lokal
verließe. Er mußte ihn ja vorsichtig und zart behandeln, denn hätte der
Betreffende gemerkt, was los war, so hätte er vielleicht doch einmal
gelippt, und dann war die Appelsoße im Gange.

Wahrscheinlich hatte sich mit der Zeit durch die übermäßige Arbeit, die
wir zu leisten hatten, durch die seltsame, verlorene Lage, in der wir
uns alle befanden, durch die unaufhörliche Spannung vor dem krachenden
Schrei der aufgebrannten Yorikke, die nicht zu den Fischen wollte, in
unsre Gesichter etwas eingegraben, das alle Menschen, die nicht auf der
Yorikke fuhren, mit unsagbarem Grauen erfüllte. Es mußte etwas in unsern
Gesichtern und in unsern Augen liegen, das Frauen manchmal erbleichen
und aufschreien machte, wenn wir unerwartet in ihren Gesichtskreis
traten. Selbst Männer sahen uns scheu an und drehten und wendeten sich,
um einen andern Weg zu machen, damit sie nicht an uns vorbei brauchten.
Die Polizei folgte uns mit den Augen, solange sie auch nur ein
Zipfelchen von uns sah. Merkwürdig war es mit Kindern. Manche fingen an
zu schreien, wenn sie uns sahen, und liefen fort wie gehetzt, manche
wieder blieben stehen, rissen die Augen weit auf, wenn wir vorüber
kamen, manche wieder folgten uns atemlos, als hätten sie Traumgestalten
verwirklicht gesehen, und manche, und das war recht seltsam, kamen auf
uns zu, gaben uns die Hand, lachten uns an und sagten: „Guten Tag,
Mann!“ oder „Guten Tag, Seemann!“ oder so etwas. Unter denen, die uns
die Hand gaben, waren aber wieder einige, die, nachdem sie uns die Hand
gegeben hatten, aufblickten mit großen Augen, uns mit offnem Munde
anstarrten, dann plötzlich wegrannten und sich nicht mehr umdrehten.

Waren wir so tot, daß die Kinderseele den Tod in uns sah und fühlte?
Waren wir den Kindern erschienen, als sie noch unter dem Herzen ihrer
Mütter träumten? Schlang sich ein geheimnisvolles Band um uns
Fortgehende und Totgeweihte und um die Kinderseelen, die gerade über die
Schwelle des Lebens getreten sind und noch den Schatten des unbekannten
Reiches im Bewußtsein tragen? Wir die Gehenden – sie die Kommenden, die
Verwandtschaft lag im Gegensatz.

Richtig sauber gewaschen waren wir nie. Mit Sand und Asche kann man sich
nicht sauber waschen. Wenn man in einem Hafen dachte, daß man ja auch
Seife haben wollte, war das Geld schon weg für andre Dinge, die einem
auch wichtig erschienen, Wein und Gesang und alles das übrige. Singen
konnten wir auch. Es war ein Grölen und Heulen, aber niemand rief vom
Fenster hinunter, daß wir ruhig sein sollten. Sie hüteten sich. Die
Polizei hörte nichts und sah nichts.

Manchmal kauften wir ja auch ein Stück Seife, aber man hatte es nur
einen Tag. Dann war es weg für immer. Man kann doch nicht die Seife den
ganzen Tag im Munde halten, um sie zu schützen. Und weil man das Geld
auch nicht dauernd im Munde halten konnte und es auch nicht gestohlen
haben wollte und sich dann noch ärgern mußte, gab man es aus. Das
einfachste Ding von der Welt.

Es kam vor, daß wir uns rasieren ließen, wenn wir daran dachten, solange
wir noch Geld hatten, oder wenn wir zufällig in eine Schaufensterscheibe
guckten und uns selber nicht mehr kannten. Denn einen Spiegel hatten wir
nicht. Das war gut, so wußte keiner, wie er selbst aussah im Gesicht. Es
war ja immer der andre, der so fürchterlich aussah, daß die Frauen
aufschrien und sich in den Häusern versteckten. Nicht rasiert, das
Gesicht rot und verschrammt von dem Sand und der Asche, die nackten Arme
voll Brandnarben und die Kleidung versengt, verbrannt, zerrissen,
verlumpt.

Nach einem englischen, französischen, deutschen, dänischen oder
holländischen Hafen gingen wir nie. Da hatten wir nichts zu suchen.
Immer an den Küsten Afrikas oder Syriens. Nur selten gingen wir in
Spanien oder Portugal an einen Kai, meist blieben wir draußen auf der
Reede liegen und nahmen die Ladung von Leichtern und von Booten über.
Der Skipper mochte wohl wissen, warum er in manchen Häfen nicht an den
Kai ging, sondern sich auf Reede vor Anker legte. Dann signalisierte er
nach einem Boot und fuhr hinein zum Hafen, um die Papiere in Ordnung zu
bringen beim Konsul oder bei den Hafenbehörden.

Wir gingen unsre eignen Wege. Es gibt keine Totenschiffe. Das sind Dinge
der Vorkriegszeit. Es gibt keine, weil man sie in einem Hafen, in einem
bekannten Hafen nicht sieht. Sie sind da draußen in der Ferne, wo jede
Bucht ein Hafen ist, wenn ein Schuppen hingebaut wird. In den
chinesischen Gewässern, in den indischen, in den persischen, den
malaiischen, an den Küsten des südlichen und östlichen Mittelmeeres, an
den Küsten Madagaskars, an den Westküsten und Ostküsten Afrikas, an den
Küsten Südamerikas, in der Südsee. Platz genug für alle und für ein paar
Tausend mehr. Sowenig wie man je alle Vagabunden von den Landstraßen der
Erde wird vertreiben können, weil ja auch ganz anständige Leute darunter
sein mögen, die eben gerade nur mal knapp bei Gelde sind, ebensowenig
wird man die Totenschiffe von den sieben Meeren vertreiben können. Wer
sie suchen wollte, findet sie nicht. Es gibt ja dreimal mehr Wasser auf
der Erde als Land; und wo Wasser ist, da ist auch eine Straße für ein
Schiff, aber wo Land ist, da ist noch lange nicht eine Straße für einen
Vagabunden.

Die Yorikke hätte nie jemand gefunden. Sie hatte einen Skipper, der sich
aufs Handwerk verstand. Er konnte mit Fürsten umgehen, sie würden ihn
für ihresgleichen gehalten haben. Kam jemand irgendetwas verdächtig vor,
er schlug die Geschicktesten. Seine Papiere waren immer in Ordnung,
soweit sie sich auf die Yorikke und auf ihren Mageninhalt bezogen. Kein
zehnmal konzessionierter und überwachter Postdampfer konnte bessere
Papiere zeigen. Und das Journal? Es stimmte auf die Minute.

Da kam mal ein spanisches Kriegsboot auf, als wir noch innerhalb der
Seegrenze waren. Das Boot suchte. Jedes Kind wußte, daß Corned Beef mit
Knochen ein gutes Geschäft ist.

Das Boot signalisierte, aber der Skipper pfiff drauf. Dann feuerte das
Boot den Stopper. Und Yorikke stoppte. Es hatte nicht mehr gelangt. Sie
war noch drin. Na, solche Boote machen sich ja nichts draus. Sie
versuchen auch außerhalb der Grenze zu picken. Der Skipper muß vor
Gericht beweisen, daß er nicht mehr drin war, sondern schon anderthalb
Seemeilen raus. Soll er mal beweisen, das ist nicht so einfach. Es steht
kein Grenzpfahl im Wasser. Die Rumjäger in den States kennen überhaupt
keine Seegrenze. Manchmal glückt es dem Skipper aber doch, zu beweisen,
daß er raus war. Na, dann wird eben bezahlt. Und eine halbe Stunde drauf
wird es woanders schon wieder versucht. Nur der Mensch, der kleine, der
muß das Gesetz achten, der Staat braucht das nicht. Er ist die Allmacht.
Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt keine Moral. Er mordet, wenn
er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für gut befindet; er
raubt die Kinder von den Müttern, wenn er es für gut befindet; er
zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was er will.
Für ihn gibt es keinen Gott im Himmel, an den zu glauben er den Menschen
bei Leib- und Lebensstrafe zwingt, für ihn gibt es keine Gebote Gottes,
die er den Kindern mit dem Knüppel einbläuen läßt. Er macht sich seine
Gebote selbst, denn er ist der Allmächtige und der Allwissende und der
Allgegenwärtige. Er macht sich die Gebote selbst, und wenn sie ihm eine
Stunde darauf nicht mehr zusagen, übertritt er sie selbst. Er hat keinen
Richter über sich, der ihn zur Rechenschaft zieht, und wenn der Mensch
anfängt, mißtrauisch zu werden, dann fuchtelt er ihm mit der Flagge
Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra vor den Augen herum, daß der Mensch ganz
duselig wird, und brüllt ihm ins Ohr: „Haus und Herd – Weib und Kind“
und bläst ihm in die Nasenlöcher den Rauch: Blick auf deine ruhmreiche
Vergangenheit. Und dann plappern die Menschen alles nach, weil der
Allmächtige sie in ausdauernder Arbeit zu Maschinen und Automaten
gemacht hat, die ihre Arme, Beine, Augen, Lippen, Herzen und
Gehirnzellen genau so bewegen, wie es der allmächtige Staat haben will.
Das hat nicht einmal der allmächtige Gott zuwege gebracht, und der
konnte doch auch etwas. Aber diesem Ungeheuer gegenüber ist er nur ein
armer Stümper. Seine Menschen handelten ganz selbständig, sobald sie
erst einmal ihre Arme und Beine bewegen konnten. Sie liefen ihm davon,
achteten seine Gebote nicht, sündigten wie toll und setzten ihn endlich
ab. Bei dem neuen allmächtigen Gott haben sie es schwerer, weil er noch
zu jung ist, und weil sie noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu treten
und den Apfel vom Baume zu reißen.

Wir stoppten. Blieb uns ja nichts andres übrig. Er hätte uns sonst
hochgeblasen. Und dann kamen sie rauf.

„Möchten die Papiere sehen. Ja, danke, die sind in Ordnung. Wir dürfen
doch wohl einmal überprüfen. Wir halten Sie nicht auf. Ein paar Minuten
nur.“

„Bitte, bitte, meine Herren, aber nicht zu lange. Ich habe Verspätung,
oder ich muß Ihre Regierung haftbar machen.“ Der Skipper lacht. Wie der
Mann zu lachen verstand. Mit seinem Lachen, das so halb ironisch, so
halb ungemein lustig war, leerte er alles aus, was da noch verdächtig
sein konnte.

Die guten Leute hatten etwas von Corned Beef mit Knochen vernommen. Wie
Ameisen krochen sie in dem Laderaum herum und suchten Corned Beef von
Chikago. Und der Skipper lachte und lachte.

Es war kein Corned Beef da. In der Galley waren ein paar Büchsen. Zum
Hausgebrauch für das Mitschiff.

Aber da war Kakao. Holländischer, garantiert reiner, entölter, Van
Houtens. Kisten und Kisten voll. Aller Kakao in Blechbüchsen. Damit das
Aroma nicht verlorengeht.

Der Untersuchungsoffizier tippte auf eine Kiste, die ganz mitten drin
lag. Die Kiste kam hoch. Er lief sie öffnen.

Und der Skipper lachte. Und der Offizier wurde nervös. Er wollte es
nicht merken lassen, aber er konnte es nicht verbergen. Das Lachen
machte ihn halbverrückt.

Schöne große Büchsen. Alle mit Etiketten verklebt. Der Skipper trat an
die Kiste, nahm eine Blechbüchse heraus und reichte sie dem Offizier zu,
während er seinem Lachen einen ganz unterstrichnen sarkastischen Ton
gab. Der Offizier sah den Skipper an, dann sah er die Büchse an und nun
trat er mit einem schneidigen Schritt auf die offene Kiste zu und nahm
sich selbst eine Büchse heraus, gleich neben der Lücke. Er riß das
Etikett hastig ab und öffnete die Büchse. – Kakao.

Der Skipper schüttelte sich vor Lachen.

Plötzlich fiel dem Offizier wieder das Corned Beef mit Knochen ein und
er schüttele den Kakao aus der Büchse völlig aus.

Kakao. Da war nichts andres drin. Nichts als garantiert reiner entölter
Van Houtens Kakao.

Aber der Offizier, zitternd vor Nervosität, nahm jetzt dem Skipper die
Büchse aus der Hand, riß das Etikett ab, hob den Blechdeckel ab und da
war – Kakao. Er steckte den Deckel wieder auf und gab die Büchse dem
Skipper mit einem „Danke!“ zurück.

Was in dem Skipper vorging, als ihm der Offizier die Büchse aus der Hand
nahm, weiß nur er allein. Aber er lachte, daß man es drüben auf dem
Kriegsboot, das beigedreht hatte, hören konnte.

Der Offizier entschuldigte sich, gab das Revisionsdokument, in das er
das Zeichen der geöffneten Kiste einschrieb mit der Quittung für die
beiden verdorbenen Büchsen Kakao, stieg mit seinen Leuten in die
Schaluppe und setzte ab zu seinem Boot.

Als er abstieß, rief der Skipper rüber zur Galley: „Koch, heute abend
Kakao für die Mannschaft und Rosinenstollen.“

Dann ging er näher zur Kiste, suchte eine Weile herum, bis er fand, was
er haben wollte, nahm die gewünschte Büchse heraus und übergab sie dem
Koch. Dann ließ er die Kiste wieder zunageln und verstauen.

Ich hatte auf Deck gestanden, als dies geschah. Und da man Gelegenheiten
nie verpassen soll, so machte ich mich nachts gleich daran, ein paar
Blechbüchsen Kakao flottzumachen. Im nächsten Hafen brachten sie immer
ein paar Schillinge ein, oder man konnte sie für Tabak eintauschen.

Fünf zog ich ab und verstaute sie im Bunker.

Bei der Ablösung sagte ich zu Stanislaw: „Hast du schon mal an den Kakao
gedacht? Ehrliches Handwerk. Ein paar Schillinge sind drin.“

„Da ist kein Schilling drin. Wenn es Kakao wäre. Aber es sind ja
Kakaobohnen, und wenn du nicht die passenden Kakaomühlen dazu verkaufen
kannst, kriegst du nicht einen roten Penny dafür.“

Das kam mir verdächtig vor. Stanislaw hatte also schon an das Handwerk
gedacht. Wahrscheinlich schon eine Kiste aufgehabt, als die zweite noch
am Lademast hing.

Ich kletterte sofort rauf in den Bunker und machte eine Büchse auf.
Stanislaw hatte recht. Es waren Kakaobohnen. Sehr harte, mit
Messinghülsen. In der zweiten Büchse, dasselbe. In der dritten, vierten,
fünften: dasselbe. Ich machte sie wieder schön zu und packte sie zurück
in die Kisten. Für arabische und marokkanische Kakaobohnen hatte ich
kein Interesse; die passenden Mühlen, falls wir sie an Bord hatten,
hätte ich ja doch nicht sicher heruntergekriegt.

Nur der Skipper war fähig, Kakaobohnen in Kakaopulver zu verwandeln. Er
konnte es auf zwei Arten. Er konnte das Wunder vollbringen dadurch, daß
er die Blechbüchse in der Kiste ließ, er konnte es aber auch dadurch,
daß er die Büchse in die Hand nahm. Er war ein Meister in der schwarzen
Magie, yes, Sir.


                                   42

Wir machten Tripolis und hatten verteufelt schweren Seegang. Wir wurden
im Kesselraum hin und her gepfeffert, und in den Bunkern war es noch
schlimmer. Ich betrachtete mir, wenn ich mal ein wenig zum Verschnaufen
im Kesselraum auf einem Kohlenhaufen saß, zuweilen das kleine
Glasröhrchen, das einen erwachsenen Seemann so martervoll verschlucken
kann, wenn es dazu in der Laune ist. Dabei legte ich mir die Frage vor,
ob ich das Rohr abdrosseln würde, wenn das Röhrchen zum Tanzvergnügen
geht.

Natürlich sagte ich nein. Aber wer kann sagen, was er tun wird, wenn die
Frage nicht gestellt wird, sondern wenn die Frage entschieden werden muß
und man gar nicht daran denkt, daß die Frage überhaupt existiert? Der
Heizer kann ja drunter liegen und kann nicht mehr allein fort. Meinen
Heizer im Stich lassen, daß er mir mein ganzes Leben hinterher schreit:
„Pippip! Pippip! Ich verbrühe! Hol mich raus, Pippip! Ich kann nicht
sehen, meine Augen sind rausgebrüht, Pippip, schnell, es ist gleich
vorbei! Pip–pip–p–“

Na, nu laß mal da deinen Heizer liegen. Da gehst du eben, auch wenn du
weißt, ihr bleibt beide da liegen.

Vielleicht gehe ich auch nicht. Warum? Mein Leben ist auch etwas wert.
Mein Leben –

„Pippip, Schlepp, spring Back, nicht gucken, Backbord und her!“

Der Heizer brüllt es, daß er das Hämmern der Maschine überkreischt.

Ohne aufzugucken, mache ich einen Satz rüber nach Backbord und falle
dort in die Knie, weil ich über das Schüreisen falle, das im Wege liegt.
Gleichzeitig erfolgt ein Krach und ein Rasseln, das betäubend ist.

Unter seinem schwarzen dicken Kohlenstaub, den er im Gesicht hat, sehe
ich, daß der Heizer ganz bleich ist. Auch Tote können noch erbleichen.
Ich klaube mich auf mit zerschundenen Schienbeinen und aufgeschlagenen
Kniescheiben und drehe mich um.

Die Aschenhuze, die Aschenführung, ist runtergekommen.

Diese Aschenführung ist ein runder Blechkanal, wie ein großer
Blechschornstein, mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. In ihm
werden die Aschkannen hochgehievt, damit sie nicht hin und her
schlenkern können, sondern oben in den Aushebeschacht geführt werden.

Die Huze hängt weit in den Kesselraum hinein bis etwa neun Fuß über dem
Boden. Oben ist sie an einen Kranz festgenietet. Sie ist sicher dort an
den Nieten durchgerostet, und jetzt bei dem Wetter hat sie den Rest
bekommen und ist abgebrochen. Wo will sie hin? Sie muß in den
Kesselraum. Sie ist senkrecht fallendes, sehr starkes Eisenblech und hat
hundert Kilo oder mehr. Schneidet den Kopf und den ganzen Körper der
Länge nach durch. Geht wie mit dem Rasiermesser. Oder schlägt den Arm ab
und nimmt die eine Schulter mit. Wenn sie Gnade übt, nur den halben Fuß.
Wer denkt an die Aschenhuze, daß die einmal abrosten könnte am Kranz.
Sie hängt seit der Zerstörung Jerusalems da drin und ist nie
runtergefallen. Die ganzen vielen Jahrhunderte nicht. Und nun mit
einemmal fällt es ihr ein, runterzukommen.

Seemannslos. Arbeiterlos. Deine Schuld. Geh zur rechten Zeit drunter
weg, dann kann dir nichts passieren.

Hallo, Heizer, da bin ich ja nochmal mit einem Sprung davongekommen.
Gleich beim ersten Schrei: „Schlepp, Back!“ gesaust wie ein Affe. Nicht
erst lange gedacht, was los ist. Die Yorikke entwickelt die Instinkte,
sie hält einen in Form.

„Ja, Heizer, verflucht nochmal, das war ein Sprung zur rechten Zeit.“

Danke! ist nicht. Wozu? Morgen dir, übermorgen Stanislaw. Wer weiß, wen
die nächste Kugel trifft. Wir sind im Kriege. Kopp weg. Aber ehe du es
hörst, ist er schon weg, der Kopp. Der Rest bleibt liegen. Wird nicht
bezahlt. Über Bord. Klumpen Kohle ans Bein. An die Mütze getippt.
Grabmusik: „Nun haben wir wieder keinen Schlepp.“

Das Glasröhrchen ist heil. Es hat sein Opfer. Der Aschenhuze hat der
Heizer den Spaß verdorben. Aber dafür wartet die Rache. Was ist das
nächste Glasröhrchen? Wer ist der Nächste? Junge, zieh dir den Gürtel
fest. Da ist Warnung in der Luft. Warnung für dich. Es schwirrt der Gast
herum, er kriecht in den Winkeln und lauert in den Ecken. Beim
nächstenmal macht er bessere Arbeit und läßt nicht gerade den Heizer
zufällig nach oben blicken, daß er sieht, wie sich erst die eine Hälfte
am Kranz löst und dann die andre. Beim nächstenmal ist es vielleicht das
Brett da oben, auf dem du rüberbalancierst zur Bunkerluke.

Mein Junge, ich glaube, du steigst am besten aus in Tripolis. Wenn du
auch tot bist, man macht doch gern noch manchmal einen Spaziergang aus
den Gräbern und sieht, was draußen los ist, weil man sich so rasch an
die stickige Luft im Grabe nicht gewöhnen kann. Mußt ja wieder rein ins
Grab oder in ein Totenschiff, aber hast doch eine Nase voll frischer
Luft mitgenommen und beim zweiten Male geht es schon besser. Aber
Tripolis war nichts mit Aussteigen. Wir konnten keinen Schritt tun ohne
Bewachung. Beim geringsten Versuch, achtern abzubleiben, hätten sie uns
gepackt und zurückgebracht. Hätten dem Skipper eine Kostenrechnung
gemacht, und er hätte sie von der Heuer abgezogen. Es war auch nichts in
Syrien. Man konnte nicht abkanten. Wir waren freie Männer, freie
Seeleute. Durften in die Häfen gehen, durften in den Kneipen rumsaufen,
durften tanzen und unser Geld verspielen oder es uns aus den Taschen
räubern lassen. Alles durften wir tun, weil wir ja freie Seeleute und
keine Sträflinge waren. Aber sobald Yorikke das Blaue Peterlein flattern
ließ, und man drückte sich auffällig weit vom Kai oder von den Molen
herum oder gar in verschnörkelten Gäßchen und dunklen Winkeln, da hatte
einen auch schon einer am Arm:

„Monsieur, s’il vous plaît, Ihr Schiff wartet, wir werden Sie begleiten,
damit Sie nicht den Weg verfehlen.“

Und war man dann erst wieder drauf auf der Yorikke, hatten sie das
Recht, draußen am Kai zu stehen und einem das abermalige Verlassen des
Bootes zu verbieten, denn Blau Peterlein flatterte, und das hieß, nun
hat die Freiheit wieder mal ein Ende.

Stanislaw hatte schon recht gehabt: „Kommst nicht mehr runter. Und wenn
du kommst, die kriegen dich und stecken dich auf einen andern
Toteneimer, der vielleicht noch schlimmer ist. Denn die Toten nehmen
dich immer wieder auf, auch aus den Händen der Polizei. Mit Dank.
Drücken dem Engelmacher noch zehn Schillinge in die Hand dafür. Füttern
dich sogar, bis sie dich auf ein andres Totenschiff, das hereinkommt,
verkaufen können. Müssen dich doch los werden. Können dich doch nicht
nach der Heimat deportieren, hast ja keine.“

„Da brauche ich doch aber nicht raufzugehen.“

„Mußt rauf. Der Skipper sagt, er hat dich gezeichnet, auf Handschlag.
Dir glaubt man nichts, dem Skipper glaubt man. Er ist ja ein Skipper und
hat eine Heimat, wenn es auch nur selbst eine geschwindelte ist und er
selber nicht mehr heim darf. Aber er ist der Skipper. Mußt rauf. Er hat
dich gemustert. Hat dich nie gesehen. Aber auf Handschlag gemustert.
Mußt rauf. Bist Deserteur.“

„Aber, Stanislaw, nun rede mal klar. Da gibt es doch noch Recht“, sagte
ich, weil ich glaubte, er übertreibt.

„Das ist doch schon mein viertes. Es ist dein erstes. Und ich bin durch
mit allen Zipfeln.“

„Man kann dich doch nicht zwingen. Ich bin doch freiwillig auf die
Yorikke gekommen“, wandte ich ein.

„Ja, das erstemal kommt man halb freiwillig. Aber hättest du deine
Sachen alle klar gehabt, wärst du nicht freiwillig gekommen. Wenn du
deine Sachen in Ordnung hast, kann dir niemand mit solchem Zimt kommen,
wie Handschlag, Deserteur und so. Da sagst du, du willst zum Konsul. Da
müssen sie dich gehen lassen und können mitkommen. Wenn der Konsul sagt,
daß er dich annimmt, daß er dich anerkennt, müssen sie abziehen. Da ist
nichts von Handschlag, da heißt es zu dem Skipper: ‚Wer sind Sie? Wann
wurde das Schiff zum letztenmal inspiziert? Wie sind die Gebührnisse für
die Mannschaft, Essen, Löhnung, Quartiere?‘ Da zuppelt er ab, der
Skipper und sagt nichts mehr von Handschlag. Kannst du zum Konsul gehen?
Hast du Papiere? Hast du ein Vaterland? Na also. Können sie mit dir
machen, was sie wollen. Glaubst du nicht? Steig aus, versuche es.“

„Hast du denn dein dänisches Heuerbuch nicht mehr?“ fragte ich
Stanislaw.

„Eine Frage! So eine dumme Frage! Wenn ich das noch hätte, wäre ich doch
nicht hier. Ich hab’s doch gleich für zehn Dollar verkauft, als ich den
schönen Paß in Hamburg kriegte. Auf einen Dänen darf er nicht damit
gehen, auch nicht zu einem dänischen Konsul. Der nimmt es ihm gleich ab,
weil es angemeldet ist; es ist doch ein Schwimmer. Lebt doch nicht mehr.
Aber für kleine Verhältnisse ist es hundert Dollar wert. Wenn ich es nur
hätte. Hab mich doch auf meinen eleganten Paß verlassen. War doch wie
eine Festung, so gut und so sicher. Kerngesund. Echt bis auf die
Pupille. Besser als zehn Eide. Konnte von der ganzen Erde aus
angeklingelt werden in Hamburg, ohne Murren. Bloß die Nummer gewinkt.
Schon war die Antwort da: Paß ist klar wie ein Diamant. Aber er war doch
bloß Gipsfront. Hatte bloß ein schönes Gesicht und nichts dahinter.“

„Warum hast du es denn nicht noch woanders damit versucht?“

„Habe ich doch, Pippip. Denkst du denn, ich laß so einen eleganten
Schwenker gehen, ohne ihn ein halbes Dutzend mal anzuziehen und zu
sehen, ob er nicht doch noch paßt? Ich hatte doch auch einen Schweden.
Da sind wir gar nicht erst bis zum Konsul gekommen. Der Skipper nahm
ihn, guckte rein und sagte gleich: „Nichts zu machen mit uns. Ich werde
Sie nicht mehr los.“

„Die Deutschen hätten dich doch aber genommen“, sagte ich nun.

„Zuerst einmal zahlen die ja hundemäßig. Damals wenigstens. Was sie
heute zahlen, weiß ich nicht. Ich hätte auch gern einen genommen. War
mir ja egal. Aber wenn du da ankamst, gleich sprangen sie dir ins
Gesicht: ‚Nehmen keine Pollacken. Pollacken raus. Freßt oberschlesische
Steinkohle. Könnt ja euren Pollackenrachen nicht voll kriegen.‘ Und
lauter solche Sachen. Das wäre dann die ganze Fahrt so gegangen. Auch
wenn ich hätte mustern können. Die andern, die Mannschaften sind ja noch
zehnmal schlimmer, noch zehnmal verhetzter. Hältst du gar nicht aus.
Geht vom frühen Morgen bis zum Abend: ‚Saupollack. Dreckpollack.
Mistpollack. Wollt ihr nicht auch noch Berlin einsacken, ihr
Pollackenschweine?‘ Hältst du nicht aus, Pippip. Gehst über die Reeling.
Dann schon lieber Yorikke. Da schmeißt keiner dem andern seine
Nationalität vor, weil keiner mehr eine Nationalität hat, mit der er
protzen kann.“

So verging ein Monat nach dem andern. Ehe ich es mir versah, war ich
vier Monate auf der Yorikke. Und ich hatte gedacht, ich könnte dort
keine zwei Tage leben.


                                   43

Lasset uns Menschen machen ein Bild, das uns gleich sei, und lasset uns
ihnen die Fähigkeit geben, zu glauben und sich zu gewöhnen, damit sie
uns nicht eines Tages absetzen. Yorikke war erträglich geworden. War
eigentlich doch ein ganz feines Schifflein. Das Essen war gar nicht so
schlecht, wie es schien. Es gab ja hin und wieder Nach-Sturm-Frühstück.
Auch schon mal Kakao mit Rosinenstollen. Und zuweilen ein halbes
Wasserglas Kognak oder ein volles Wasserglas Rum. Manchmal gab der Koch
sogar ein halbes Kilo Zucker extra her, wenn man ihm schöne Nußkohle für
die Galley aus den Bunkern klaubte.

Der Dreck in den Quartieren war zu ertragen. Wir hatten ja keine Bürste
und keinen Feger. Wir fegten mit einem Sacklumpen. Seife hatten wir ja
auch keine. Und wenn wir uns ein Stück kauften für den persönlichen
Gebrauch, werden wir es doch nicht aufbrauchen für Reinquartier. Wir
waren doch nicht verrückt.

Die Bunk war auch gar nicht so hart, wie sie erst erschien. Ich hatte
mir aus Putzwolle ein Kissen zurecht gemacht. Wanzen? Gibt es auch
anderswo. Nicht nur auf der Yorikke. Es war ganz gut zu ertragen. Es sah
auch niemand mehr so dreckig aus und so zerlumpt, wie in den ersten
Tagen. Auch die Eßgeschirre waren nicht mehr so schmierig.

Mit jedem Tag war alles ein klein wenig sauberer und besser und
erträglicher geworden. Wenn Augen sehr lange dasselbe sehen, sehen sie
es nicht mehr. Wenn müde Glieder jeden Tag auf demselben harten Holze
ruhen, schlafen sie bald wie auf Daunen. Wenn die Zunge jeden Tag
dasselbe schmeckt, weiß sie nicht, wie andres wohl schmecken mag.
Wenn alles rundherum kleiner wird, sieht man nicht, wie man
zusammenschrumpft, und wenn alles dreckig ist, was einen umgibt, sieht
man nicht, wie dreckig man selbst ist.

Die Yorikke war recht erträglich. Mit Stanislaw konnte man sich gut
unterhalten. Er war ein kluger und intelligenter Junge, der viel gesehen
und alles mit ganz klaren Augen gesehen hatte, und der sich das Hirn
nicht so leicht verkleistern ließ. Mit den Heizern konnte man auch
sprechen. Wußten auch dies und jenes Neue zu erzählen. Die Deckarbeiter
waren auch keine verblödeten Dummköpfe. Dummköpfe kamen nie zu den Toten
und nur selten Durchschnittsmenschen. Denn die haben immer alles schön
in Ordnung. Die können nie über die Mauer fallen, weil sie nie
hochklettern, um zu sehen, wie es auf der andern Seite wohl aussehen
mag. Die glauben, was man ihnen darüber erzählt. Die glauben, daß auf
der andern Seite der Mauer Mordbrenner sitzen. Die Mordbrenner sitzen
immer auf der andern Seite der Mauer. Und wer das nicht glaubt und
einmal nachsehen will, ob es wahr ist, auf die Mauer klettert und dabei
runterfällt, dem geschieht es ganz recht, daß er draußen bleibt. Und
wenn er schon auf die andre Seite will, um den Mordbrennern die
überflüssigen Hosenknöpfe zu verkaufen, dann soll er wenigstens durch
das Tor gehen, damit man sieht, wer es ist, und damit der Nachtwächter,
der über der Haustür den Adler und die Fahnenstange hat, damit man auch
gleich weiß, daß er der Nachtwächter seines Landes ist, das Trinkgeld
nicht einbüßt. Wer kein Trinkgeld bezahlen kann und keinen Zettel in der
Tasche hat, auf dem abgestempelt wurde, daß er der Sohn seiner Mutter
ist, soll daheim bleiben. Freiheit ja, aber muß abgestempelt sein.
Freizügigkeit der Erdenbewohner ja, aber nur mit Zustimmung der
Nachtwächter. Vier Monate Heuer hatte ich beim Skipper stehen.
Hundertzwanzig oder einige mehr Pesetas Vorschuß gingen ab. Blieb ein
ganz hübsches Sümmchen übrig. War auch dann noch ein ganz nettes
Sümmchen, wenn es in Pfunde umgerechnet wurde.

Umsonst wollte ich nun auch nicht gerade gearbeitet haben und das Geld
dem Skipper schenken. Und so hatte er mich nur um so fester. Aber wo und
wann und wie abmustern? Gab es doch nicht. In keinem Hafen wurde die
Abmusterung bestätigt. Keine Papiere, kein Heimatsland. Werden den Mann
nie wieder los. Kann nicht abmustern.

Es gab nur eine Abmusterung. Die Gladiatorenabmusterung. Abzeichnung auf
dem Riff. Abzeichnung bei den Fischen. Kam man klar, dann flog man auf
eine Küste. Da konnten sie einen nicht gleich wieder ins Wasser fegen.
Schiffbrüchiger. Es regt sich das Mitleid der Menschen, besonders derer,
die in Küstenstrichen wohnen. Mit Toten gibt es kein Erbarmen, mit
Schiffbrüchigen ist es etwas andres.

Dann muß sich ja auch der Nachtwächter der Flagge melden, unter der man
aufs Riff ging. Er zahlt nicht für den Mann, er zahlt für den Rapport,
damit die Versicherung besser geölt wird. Denn wenn der Rapport nicht
einläuft, dann kommt die Verschollenwartezeit, und das bedeutet einen
erheblichen Zinsverlust. Wenn der Rapport da ist und das Mitleid mit dem
Schiffbrüchigen eingetrocknet ist, dann wandert man wieder zu den Toten.
Erst ganz langsam, dann schneller und immer schneller. Die Kompanie ist
für den Mann haftbar und sie ist verantwortlich für seine Fortschaffung.
Wohin mit ihm? Kein Skipper will ihn haben. Er wird ihn nicht mehr los.
Auf ein Totenschiff. Er will nicht, weil er genug hat, vom letztenmal.
Handschlag, versuchte Desertion, zehn Schilling in die Hand, Blaues
Peterlein, rauf. Guten Morgen, da wären wir wieder.

Die Fische können warten. Er kommt. Einmal kommt er. Er kommt, entweder
mit dem Glasröhrchen oder mit der Aschenhuze oder mit einer Kohlenlawine
im Bunker oder mit dem Riff. Aber er kommt. Er kann nicht pensioniert
werden oder ein Weib nehmen und einen kleinen Bootshandel anfangen. Er
muß immer wieder in die Arena. Bis er es vergißt, daß er in der Arena
ist, yes, Sir ...

Nun lagen wir in Dakar. Ein durchaus anständiger Hafen. Nichts gegen ihn
einzuwenden.

Kesselreinigen. Kesselreinigen, wenn die Feuer unter dem zu reinigenden
Kessel nur gerade einen knappen Tag aus sind und der Nachbarkessel unter
Dampf bleibt. Und dieses Vergnügen in einer Gegend, wo man sagt: „Guck
mal da rüber, wo die grünen Zaunpfähle stehen mit dem großen A dran, das
ist der Äquator, kannst auch sagen Mittagslinie, dann mußt du aber das A
abschrauben und ein Messingschild anhängen mit dem großen M drauf. Aber
ob du nun Mittagslinie sagst oder Äquator oder überhaupt nichts, es ist
immer egal heiß und glühend. Wenn du den Äquator anfaßt, die Hand ist
sofort weg, wie abrasiert, bloß noch ein paar Krümelchen Asche sind
übrig. Wenn du ein Stück Eisen auf den Äquator legst, schmilzt das wie
Butter. Wenn du zwei Stück zusammenhältst, die schweißen autogen. Glatt
ohne Naht, brauchst bloß drücken.“

„Weiß ich,“ sagte Stanislaw, „wir sind mal rübergefahren über den
Äquator, da war es gerade Weihnachten. Da war doch der immer noch so
heiß, daß du die dicken eisernen Bordwände man bloß so mit dem Finger
durchbohren konntest. Brauchtest gar nicht bohren. Bloß so mit dem
Finger antippen, da war schon ein Loch drin. Wenn du gegen die eiserne
Bordwand spucktest, flog die Spucke durch wie nichts, war gleich wieder
ein Loch. Der Skipper sah das von der Brücke und schrie: ‚Ihr wollt wohl
hier ein Kaffeesieb aus dem Schiff machen. Sofort die Löcher wieder
zugemacht.‘ Und da wischten wir so ein klein wenig mit der Hand rüber
oder mit dem Ellbogen und da waren die Löcher wieder zu. Es war ja
gerade so weich wie Kuchenteig. Die eisernen Masten hatten sich ganz
umgebogen, so wie ein langes Wachslicht, das du auf einen heißen
Kochherd stellst. Es war eine Schweinerei, bis wir sie wieder gerade
hatten. Mit dem Äquator darf man nicht spaßen.“

„Ganz gewiß nicht,“ gab ich zu, „darum hat man ja zu beiden Seiten des
Äquators rund um die Erde einen Lattenzaun gemacht mit Warnungsschildern
dran. Kannst du ja schon auf der Landkarte sehen, den Zaun. Ihr habt den
dummen Fehler gemacht, ihr seid drüber weggefahren. Wir waren schlauer.
Wir sind durch die Unterwassertunnel drunter hergefahren. Da ist es
schön kühl. Merkst gar nicht, daß du unter dem Äquator herfährst.“

„Die Äquatortunnel kenne ich. Aber die Kompanie wollte nicht die
Tunneldurchfahrtkosten bezahlen. Die berechnen pro Tonne einen Schilling
Tunnelkosten. Wie geht es denn da rein in den Tunnel?“

„Aber Mensch, das ist doch ganz einfach,“ erwiderte ich, „da ist ein
großes Loch im Meer und da geht das Schiff eben rein, mit dem Bug
zuerst, fährt durch und kommt an der andern Seite wieder raus, da ist
auch so ein Loch im Wasser.“

„Ist tatsächlich ganz einfach,“ gab Stanislaw zu, „das hätte ich mir
viel komplizierter gedacht. Ich habe gedacht, das Schiff wird in eine
Art Taucheranzug gesteckt und dann runtergezogen. Unten ist eine
Maschine, die da zieht, und dann geht es unten lang auf Zahnradschienen
und an der andern Seite wird das Schiff dann wieder hochgezogen.“

„So hätte man das natürlich auch machen können,“ sagte ich, „aber das
ist zu umständlich. Könnten sie auch gar nicht machen für einen
Schilling die Tonne.“

„Zum Kreuzdonnerwetter nochmal, wird das Geschwätze da drin im Kessel
nun bald aufhören oder nicht“, schrie der Zweite Ingenieur in den
Kessel, während er den Kopf zum Mannloch durchsteckte. „Wenn da in einem
fort erzählt wird, kann der Kessel nicht rein werden.“

„Komm doch rein, du Hund, wenn du den Hammer an den Schädel haben
willst.“ Ich schrie es wie wild, halbverrückt von der Hitze. „Klopp dir
den Kessel allein, du Roßtäuscher, du verfluchter. Dir werde ich ja
überhaupt noch was erzählen.“

Ich wollte ja gern, daß er mich rapportiert und daß ich rausgefeuert
werde. Dann hätte ich ein Quittungsbuch kriegen müssen und mein Geld.
Aber dazu waren die ja viel zu schlau. „Ebenso wie die Offiziere im
Kriege. Kann man noch so beleidigen und in die Fresse hauen, melden dich
nicht,“ sagte Stanislaw, „haben dich lieber draußen als daß du im
Gefängnis im Trocknen sitzt.“

Kesselreinigen am Äquator, wenn das Feuer nur knapp einen Tag gelöscht
ist und der Nachbarkessel unter Dampf liegt. Meine Herren! Wer nie sein
Brot mit Tränen aß, der trinkt es jetzt wie Himbeerlimonade. Wir saßen
nackt drin, aber die Wände waren so glühend heiß, daß wir uns anziehen
mußten und dicke Polster aus Sacklumpen unter die Knie zu legen hatten,
um nicht anzubrennen.

Dann klopfen. Und was der Kesselstein für einen Staub macht. Das ist,
als ob man die Lunge, den Schlund, die Kehle mit Glas abkratzt. Wenn man
den Mund bewegt, knirscht es zwischen den Zähnen, als ob man Sand mahlt,
und es kriecht einem am ganzen Rückenmark ein entsetzliches Empfinden
hoch, als würde das Rückenmark von einem Ende aus herausgebohrt.

Der Kessel ist an sich schon nicht allzu geräumig. Nun liegen auch noch
die Feuerzüge drin, und man muß auf dem Rücken liegen, auf dem Bauche,
um überall hinzukommen. Wie eine Schlange windet man sich in den Zügen
herum. Wo man mit der bloßen Hand hinfaßt, ist es so heiß, als fasse man
auf eine heiße Herdplatte.

Dann springt einem Kesselstein in die Augen. Und das harte scharfe
Körnchen bereitet einem Schmerzen, daß man glaubt, wahnsinnig zu werden.
Dann wird es mit dreckigen und schweißigen Händen herausgefischt und das
Auge rötet sich von den Martern, die man ihm angetan hatte. Eine Weile
geht es gut, und ratsch: wieder ist ein scharfer Splitter drin, und die
Marter geht von neuem los.

Schutzbrillen? Die kosten Geld. Für solchen Unfug hat die Yorikke kein
Geld. So wurde es vor tausend Jahren gemacht, und so wird es heute
gemacht. Meist sind die Brillen auch nicht viel wert. Entweder man sieht
nichts durch oder sie drücken oder der Schweiß läuft einem zwischen die
Plüschdichtungen und frißt sich in die Augen.

Hätte man elektrische Lampen gehabt, wäre das ja eine kleine
Erleichterung. Aber nun die Lampen aus Karthago. In fünf Minuten ist der
Kessel schwarz und dick von Rauch. Aber es muß geklopft werden.

Und die Hämmer dröhnen innerhalb des Kessels, als ob tausend Donner
einem unmittelbar auf das Trommelfell pauken. Es ist keine federnde
Resonanz, sondern ein hart vibrierendes gell-kreischendes Pochen.

Fünf Minuten, dann müssen wir raus, um Luft zu holen. Wir kochen in
Schweiß, die heißen Lungen fliegen und flattern, das Herz tobt, als
wollte es die Brust durchsprengen, und wir zittern in den Knien.

Luft, nur Luft. Koste es, was es wolle. Und wir stehen in der
Meeresbrise, die auf uns wirkt, als wäre sie ein Schneesturm in
Saskatchewan. Ein breites hartes Schwert stößt durch unsern Körper in
seiner ganzen Länge. Wir frieren und beben und sehnen uns zurück in die
heiße Glut des Kessels.

Wieder fünf Minuten, und wir schreien: Luft. Alle drei, die wir drin
sind, drängen wir an das kleine Mannloch, durch das wir uns zwängen
müssen. Nur einer kann zu gleicher Zeit durch und muß sich wie eine
Katze drehen und winden, um herauszukommen. Während der Zeit, wo er sich
durch das Mannloch zwängt, kommt auch nicht ein Hauch von Luft in den
Kessel. Mit Mühe kriege ich, der ich Zweiter bin am Loch, die Arme durch
und zwänge mich hinaus. Der Heizer fällt innen um und schlägt hart auf.
Er ist besinnungslos.

„Stanislaw, der Heizer muß raus, hat schlapp gemacht“, rufe ich mit
letztem Atem. „Wenn wir ihn nicht holen, zockt er ab und erstickt.“

„Ei–ei–ne Mi–nu–te, Pip–, Hab’ noch keine Luft wieder.“

Es dauert nicht lange, und das Schwert sitzt uns wieder im Körper und
wir sehnen uns nach der kochenden Hitze des Kessels.

Wir nehmen ein Tau. Ich winde mich wieder durch und hole den Heizer
fest. Und nun arbeiten wir, ihn hinauszukriegen. Das ist das Schwerste.
Hineinwinden und herauswinden kann man sich. Aber einen leblosen
Menschen da durchzuziehen, das erfordert unendliche Geduld und
Geschicklichkeit und Kenntnisse in der Anatomie. Der Kopf ist rasch
durch. Aber die Schultern.

Endlich schnüren wir die Schultern zusammen wie ein Paket, ganz fest und
dann können wir ihn hieven und er kommt.

In den Schneesturm bringen wir ihn nicht, sondern wir lassen ihn im
Kesselraum und legen ihn sogar dicht in die Nähe der Feuer des
Nachbarkessels. Wir binden seine Schultern los.

Der Atem ist weg. Ganz weg. Aber das Herz pocht. Leise, doch regelmäßig.
Wir gießen ihm Wasser über den Kopf und pressen einen nassen Sack aufs
Herz. Dann fächeln wir ihm Wind ins Gesicht, blasen ihn an wie
Holzkohlen und tragen ihn endlich unter die Windhuze.

Stanislaw muß rauf und die Windhuze in den Wind stellen, damit frische
Luft auf den Heizer fällt.

Jetzt läßt sich der Hund von einem Roßtäuscher natürlich nicht sehen;
aber wir brauchen uns nur etwas im Kessel erzählen, dann ist diese
widerwärtige Fratze gleich am Mannloch und stopft uns die Luft ab mit
seiner klobigen Knochenbeule. Er kriegt doch noch den Spitzhammer an den
Kadaver geworfen. Möchte er wenigstens ein Wasserglas Rum für den Heizer
bringen, der Schuft. Wir wollen ihn ja gar nicht trinken. Nur ein
Schlückchen, um den Glasstaub aus der Kehle und aus den Zähnen zu
kriegen.

Der Heizer ist unter der Windhuze, und ich fange mit Armbewegungen an.
Allmählich kommt er. Und er kommt immer besser. Als wir ihn hoch haben,
auf den Kohlenhaufen setzen und in die Ecke drücken, damit er einen Halt
hat, kommt der Zweite Ingenieur.

„Was ist denn das, zur Hölle nochmal,“ schreit er gleich, „werdet ihr
bezahlt für Faulenzen oder für was?“

Stanislaw oder ich oder wir beide hätten ja nun sagen können: „Der
Heizer war ...“

Aber wir hatten beide dasselbe Gefühl, und unser Instinkt war wieder
einmal richtig. Arbeiter brauchen nur auf ihren Instinkt hören, dann
handeln sie schon ganz richtig.

Gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen, hatten wir uns gebückt, in jede
Hand einen sauberen dicken Brocken Kohle genommen und noch in derselben
Sekunde dem Zweiten an seine Knochenbeule und an seinen Kadaver
gefeuert.

Die Arme um den Kopf herum, rannte er davon. Stanislaw lief ihm ein paar
Schritte nach und schrie: „Du Giftkröte, wenn du einen halben Schilling
für den Pfeffer abziehst, den du erwischt hast, kommst du auf der
nächsten Fahrt in den Feuerkanal und dann in die Aschkanne und du sollst
mich ins Gesicht spucken dürfen, wenn ich dich nicht in die Feuerung
schiebe. Biest von einem Ingenieur.“

Das Biest machte keine Meldung beim Skipper. Wäre uns auch ganz egal
gewesen. Wir wären mit Wonne in Dakar ins Gefängnis gegangen. Hat auch
keinen Penny Strafe abgezogen. Solange wir Kessel reinigten, und das
dauerte ein paar Tage, ist er nie wieder in die Nähe gekommen. Von dem
Tage an behandelte er uns wie rohe Eier und bekam mehr diplomatische
Fähigkeiten, als der Erste sie besaß. Wirkt Wunder, wenn man Kohle oder
einen Hammer oder eine Schürstange zur Hand hat, und man weiß sie am
rechten Orte zu gebrauchen.

Als der Kessel sauber war, bekamen wir zwei Glas Rum und Vorschuß. Wir
in die Stadt und rumgeguckt. Man denkt ja immer, man könnte einen
treffen, den man nicht erwartet. Ich hätte wegpacken können auf einem
Franzosen, der nach Barcelona ging. Aber ich wollte meine vier Monate
Heuer dem Skipper nicht schenken. Warum sollte ich denn umsonst
arbeiten? So ließ ich den netten Franzosen allein. Stanislaw hätte mit
einem Norweger stauen können, der nach Malta ging. Aber er hatte
dieselben Gründe. Die Heuer. Er hatte viel mehr stehen als ich.

So trieben wir uns im Hafen herum. Stanislaw ging auf den Norweger und
ich schlenderte für mich weiter.


                                   44

Da lag weit draußen die Empreß of Madagascar, die Kaiserin von
Madagaskar, ein Engländer, neun Tausend Tonnen, vielleicht noch mehr.
Das wäre so ein Eimerchen, um damit abzuflippen und zu versuchen, für
eine Weile aus dem Grabe aufzustehen und einen Spaziergang zu machen.
Feines neues Bötchen. Wie lackiert, so sauber. Sogar das Gold ist noch
nicht mal abgewettert. Funkelfarbenneu. Aber da ist keine Schanz, da ist
nichts frei, auf so einem pfirsichweichen Backfischlein. Lächelt so
kokett rüber, zwinkert mit den angefärbten Wimperchen und flickert mit
den unterstrichenen Augäpfeln, daß es eine wahre Freude ist. Muß mal
rüber und das holde Geschöpfchen aus der Nähe besehen.

Verflucht nochmal, wenn nur die Heuer nicht wäre, ich würde wahrhaftig
mal anklingeln. Aber die Heuer lasse ich nicht im Stich. Wenn ich den
Zweiten nur dazu kriegte, daß er mich rausfeuert. Vielleicht einen
Brocken Bolschewistenhetzerei machen. Aber die pfeifen drauf. Hetz’ so
viel du magst, kommst nicht runter. Und machst du es zu bunt, zieht er
dir zwei Wochen Heuer ab. Arbeitest umsonst.

Wenn die Kaiserin früher abfährt als die Yorikke und ich bin darauf mit
Notheuer, ist nichts mehr zu wollen. Aber wo ladet mich die Empreß
wieder ab? Nach England darf sie mich nicht mitnehmen, wird mich nicht
los. Loswerden muß sie mich. Aber wo? Schiebt mich ab auf ein
Totenschiff, irgendwo unterwegs oder in irgendeinem Hafen, wo gerade ein
Schuppen steht.

Aber fragen kostet ja nichts. – „Hallo!“

„Hallo! What is up?“ Er hat eine weiße Mütze auf, der es runter ruft.

„Ain’t no chance for a fireman, chap? Ist bei euch keine Stelle frei für
einen Heizer?“ rufe ich hinauf. „Papiere?“ „No, Sir.“

„Sorry. Bedaure, nichts zu machen.“

Habe ich ja gewußt. Ist ein sauberes Fräuleinchen. Muß alles in Ordnung
sein. Heiratslizenz notwendig. Hat noch eine Mutter, die die Hand drauf
hält. Mutter Lloyd in London.

Ich gehe lang runter an dem Eimer. Auf dem Achterdeck sitzt Mannschaft.
Spielen Karten. Verflucht nochmal, was reden denn die für ein Englisch.
Das ist ja Yorikkisch. Und das auf einem glattlackierten Engländer, wo
das Gold noch nicht mal abgeblättert ist? Da stimmt etwas nicht. Spielen
Karten, aber zanken sich nicht und lachen nicht.

Laß mal sehen. Klingelfisch und Haifischflosse, die sitzen da herum und
spielen, als ob sie auf ihrem eignen Grabhügel sitzen und um ihre Maden
spielen. Zu essen haben sie gut, sehen gutgemästet aus. Aber das
traurige Kartenspiel und die trüben Gesichter, und das alles auf einem
brandneuen Engländer? Da stimmt etwas nicht. Was tut denn der überhaupt
hier in Dakar-Hafen? Was hat er denn geladen?

Eisen, Alt-Eisen. An der Westküste Afrikas? Gleich beim Äquator?
Alt-Eisen? Well, die Dame Kaiserin geht in Ballast heim und nimmt das
Alt-Eisen mit. Nach Glasgow. Bezahlt wenigstens die Fahrt zur Hälfte.
Alt-Eisen ist besser als Sand und Steine.

Nichtsdestoweniger. Das schöne neue Schifflein Empreß und kann keine
Ladung kriegen von Afrika nach England?

Wenn ich hier an der Beach liegen würde, hätte ich es in drei Stunden
raus, was da los ist mit der blanken Kaiserin. Sie wird doch nicht etwa
–? Na, bist auch schon eingetrant, siehst auch schon in allen Ecken
Gespenster. Die Empreß of Madagascar, dieser pfirsichweiche und
schwellende Backfisch aus Glasgow sollte hier bereits auf den Strich
gehen? Aufgeschminkt?

Nein, sie ist nicht geschminkt. Alles Natur. Sie ist keine drei Jahre
alt. Alles echt. Noch nicht einmal eine Niete abgeschliffen am Röckchen.
Alles wie geleckt und duftet gesund oben und unten. Aber die Mannschaft,
die Mannschaft. Da ist etwas nicht in Ordnung.

Was geht es mich an. Jedes Kind will seine Freude haben.

Ich gehe zurück zum Norweger.

Ich setze rauf. Stanislaw ist noch da. Sitzt im Quartier und schnackt
mit ein paar Dänen. Hat eine Büchse guter dänischer Butter in der Tasche
und ein Stück Prachtkäse.

„Pippip, kommst gerade zur Zeit, kannst Abendbrot mitmachen, ein treues
dänisches Abendbrot, vollwertig und echt“, sagt Stanislaw.

Wir lassen uns nicht nötigen und machen das Abendbrot mit.

„Habt ihr den Engländer da drüben gesehen, die Empreß?“ frage ich,
während wir alle im Meßraum sitzen und futtern.

„Liegt schon eine Weile hier“, sagt einer.

„Feines Mädchen“, forsche ich nun.

„Oben Seide, unten meide“, sagt einer von den Dänen.

„Na?“ frage ich, „meiden? Warum meiden? Ist doch ganz echt.“

„Freilich ist sie echt“, ruft ein andrer dazwischen. „Kannst du
notmustern wenn du willst. Mit Honig und Schokolade. Kriegen jeden Tag
Henkersmahlzeit. Pudding und Braten.“

„Kreuzdonnerwetter nochmal, komm endlich klar“, sage ich nun. „Was ist
los? Ich habe doch wegen Schanz gefragt, ist nichts zu machen.“

„Lieber Freund, siehst doch nicht so aus, als ob du gestern zum
erstenmal Seewasser geschluckt hast. Sie ist ein Leichenwagen.“

„Du bist wohl verrückt und mit Teer gepinselt?“ rufe ich.

„Ein Leichenwagen, sage ich dir“, wiederholt der Däne und gießt sich
Kaffee ein. „Willst du auch noch Kaffee? Wir brauchen mit der Milch, mit
dem Zucker und der Butter nicht sparen. Wir können wühlen. Kannst eine
Büchse Milch mit heimnehmen. Willst du?“

„Die Frage allein rührt mich zu Tränen“, sage ich und fülle mir meine
Tasse mit Kaffee, mit richtigem Bohnenkaffee. Ich hatte vergessen, wie
das schmeckt, denn Yorikke gab nur Kaffee-Ersatz mit zwanzig Prozent
Kaffee, damit unser Herz nicht beschädigt würde.

„Ein Leichenschiff, sage ich dir noch einmal.“

„Wie meinst du das? Leichen von Frankreich nach Amerika, daß sie drüben
die Mütter in den Blumentopf pflanzen können, um sich an der Ehre zu
erfreuen und sich am Kriege zur Beendigung aller Kriege begeistern zu
können?“

„Rede doch nicht so ausländisch, Mensch.“

„Sie fährt Leichen, aber keine Kriegerleichen aus Frankreich.“

„Sondern?“

„Kleine Engelchen. Seemanns-Engelchen. Seemanns-Leichen, du Sägefisch,
wenn du das nicht endlich verstehst.“

„Hat die Kaiserin die an Bord?“

„Mensch, mit dir kann man ja Bunkerwände einrennen.“

„Natürlich hat die Tante sie an Bord. Siebenachtel fertig. Können zu
Hause in ihrer Dorfkirche schon ruhig in die Gedenktafel für Seeleute
eingekratzt werden. Braucht nicht mehr ausradiert werden. Wenn du deinen
Namen auch auf der Gedenktafel in deiner Dorfkirche haben willst,
brauchst du nur mitgehen. Sieht überhaupt sehr vornehm aus, wenn du
neben deinem Namen stehen hast ‚Empreß of Madagascar‘. Klingt doch nach
etwas. Sieht doch besser aus, als wenn da nur daneben steht Berta oder
Emma oder Nordkap. Man muß auch daran denken, wen du als Nachbar kriegst
auf der Tafel. ‚Empreß of Madagascar‘, da ist Schwung drin, Junge.“

„Warum soll denn die schon Versicherung fahren?“ Das leuchtete mir nun
durchaus nicht ein. Das war wieder nur so Gerede. Blasser Neid, weil sie
nicht selber drauf waren, auf dem neuen Eimer.

„Kinderleichte Sache.“

„Ist doch höchstens drei Jahre aus den Windeln“, warf ich ein.

„Endlich beweist du, daß du länger aus den Windeln bist. Sie ist genau
drei Jahre alt. War für große Fahrt gebaut, Ostasien und Südamerika.
Sollte zwölf Knoten machen. War Bedingung. Als sie losackerte, machte
sie vier und wenn es gut ging vier und einen halben. Das kann sie nicht
aushalten, dabei geht sie pleite.“

„Können sie doch umbauen.“

„Schon zweimal versucht. Wird immer schlechter. Hat ursprünglich sogar
sechs Knoten gemacht, nach dem Umbau nur noch vier. Die muß runter vom
Wasser, muß die Versicherung bringen. Haben die Versicherung sicher fein
gedreht, daß sie Lloyd passieren konnte. Aber geht ja alles zu
schieben.“

„Und nun soll sie abrasseln?“

„Sie hat schon zweimal gebrummt. Hat aber nicht gefleckt. Das erstemal
saß sie auf Sand. Sauber wie hingestreichelt. Haben sicher schon in
Glasgow darauf gezecht. Kam aber Schwerwetter hoch mit Mordsflut und die
hob die edle Dame runter vom Sand wie Himmelfahrt mit Trompeten und
Pauken. Und sie schwenkte lustig ab. Da mag der Skipper schön geflucht
haben. Beim zweitenmal, das war vorige Woche, wir lagen schon hier, da
ist sie draußen zwischen Klippen gefegt. Saß fein fest. Drahtlose
Station war zerhauen. Natürlich. Mußte der Skipper Flaggen setzen.
Anstandshalber. Sind doch immer Zeugen rum. Da kam ein französisches
Patrouillenboot, gerade wo der Skipper schon so ganz gemütlich ausbooten
ließ. Die Patrouille flaggte rüber: „Warten. Hilfe unterwegs!“ Da hat
der Skipper aber geflucht. Möchte nur wissen, wie er das Journal wieder
in Ordnung gebracht haben mag. Er hatte es doch schon aufgezaubert. Wird
schön radiert haben, Junge, Junge. Er hatte einen Fehler gemacht. Heißt,
es ging wohl nicht anders. War bei Ebbe aufgesessen. Nun kamen drei
Schlepper und hoben ihn ab von den Klippen bei Flut. Ganz elegant. Hatte
nicht mal eine Schramme abbekommen. Das ist Pech. Muß nun auch die
Bergungskosten bezahlen. Geht alles runter von der Versicherung. Fragt
sich, ob die Versicherung die ganzen Kosten trägt. Hängt vom Journal
ab.“

„Und was nun?“

„Jetzt macht er den Verzweifler. Muß er machen. Dreimal kann er nicht
abkommen. Dann macht die Versicherung eine Untersuchung und streicht die
Versicherung. Verlangt einen andern Skipper drauf, der treu fährt. Dann
ist es aus. Dann muß die Empreß zum Abwracken. Fahren kann sie nicht.“

„Warum liegt sie denn da so lange, wenn sie keine Reparatur hat?“

„Kann nicht raus. Hat keine Heizer.“

„Das ist Unsinn. Hätte er mich doch nehmen können. Ich sagte ihm doch
rauf, ich sei Heizer.“

„Hast du Papiere?“

„Sei nicht so albern, Mensch.“

„Wenn du keine Papiere hast, nimmt er dich nicht. Er muß ein vornehmes
Gesicht behalten. Tote wären für ihn verdächtig. Aber ob du Zulukaffer
bist oder Hottentotte oder taubstumm, das ist ihm gleichgültig. Mußt nur
Papiere haben und mußt befahren sein. Unbefahrene Leute ist nicht gut,
da kann die Versicherung mauern und Geschichten machen. Die Heizer haben
sich rausgemacht. Haben sich verbrannt und liegen im Hospital, sonst
hätten sie ja nicht fortgekonnt. Die Heizer sind am schlimmsten dran,
die kommen nicht raus, wenn es ein verzweifelter Aufbrummer ist. Da ist
gleich Wasser vor den Kesseln, und die Kessel gehen auch gewöhnlich
gleich hoch, wenn sie so plötzlich kalte Dusche kriegen. Die haben
gleich die explodierende Lungenentzündung weg.“

„Wartet er jetzt ab, bis die Heizer wieder raus sind aus dem Hospital?“

„Das nützt ihm nichts. Die brauchen nicht mehr rauf, wenn sie nicht
wollen. Können sauber abmustern. Haben feine Papiere und können in Ruhe
auf einen andern warten.“

„Wie denkt die Tante denn fortzukommen?“

Die Leute lachten in sich hinein, und der, der diesen Fall am besten
studiert zu haben schien, sagte: „Die sind auf Kindsraub aus. Auf
Shanghaien. Kann ich dir zuflüstern, Junge. Ja, eine feine elegante
Dame, die Kaiserin von Madagaskar. Oben Seide, unten meide. Meide, in
die Nähe zu gehen.“

Dagegen ist die Yorikke ja eine hochachtbare Dame. Sie täuscht nichts
vor. So wie sie aussieht, so ist sie. Ehrlich bis auf das Gerippe.
Beinahe fange ich an, Yorikke zu lieben.

Ja, Yorikke, ich muß es dir gestehen: Ich liebe dich. Liebe dich
aufrichtig um deiner selbst willen. Habe an meinen Händen sechs
schwarzblaue Fingernägel und an den Zehen vier schwarzgrünblaue
Zehennägel. Alles um deinetwillen, geliebte Yorikke. Auf die Zehen sind
Roste geschlagen, und jeder Fingernagel hat seine eigne schmerzhafte
Geschichte. Meine Brust, mein Rücken, meine Arme, meine Füße haben
Narben von bösen Brandwunden. Jede einzelne Narbe wurde geboren unter
einem Schmerzensschrei, der dir galt, Geliebte.

Dein Herz heuchelt nicht. Dein Herz weint nicht, wenn es nicht zum
Weinen fühlt, es jubelt nicht, wenn es keine Freude fühlt. Dein Herz
heuchelt nicht, es ist rein und lauter wie pures Gold. Wenn du lachst,
Herzliebste, so lacht deine Seele, lacht dein Leib und lacht dein
lustiges Zigeunerkleid. Und wenn du weinst, Herzallerliebste, dann weint
selbst das kalte Riff, an dem du vorübergehst.

Ich will dich nimmermehr verlassen, Geliebte, nicht um alle Schätze der
Welt. Ich will mit dir wandern, mit dir singen, mit dir tanzen und mit
dir schlafen. Ich will mit dir sterben, in deinen Armen meinen letzten
Seufzer tun, du Zigeunerin der Meere. Du protzest nicht mit deiner
glorreichen Vergangenheit und deinem uralten Stammbaum bei Tantchen
Lloyd in London. Du protzest nicht mit deinen Lumpen, und du spielst
nicht mit ihnen. Sie sind dein rechtmäßiges Gewand. Du tanzest in deinen
Lümpchen froh und stolz wie eine Königin und singst dein Zigeunerlied,
dein Lumpenlied:


                     DAS TANZLIED DES TOTENSCHIFFES

   Was gehn euch meine Lumpen an?
   Da hängen Freud’ und Tränen dran.
   Was kümmert euch denn mein Gesicht?
   Ich brauche euer Mitleid nicht.

   Was kümmert euch, was mir gefällt?
   Ich lebe mich, nicht euch, in dieser Welt.
   In euren Himmel will ich gar nicht rein,
   Viel lieber dann schon in der Hölle sein.

   Ich brauch’ gewiß nicht eure Gnaden,
   Und selbst wenn Tote ich geladen,
   Wenn Schimpf und Schand’ sind an mir dran,
   Euch geht das einen Sch...dreck an.

   Ich pfeife auf das Weltgericht.
   An Auferstehung glaub’ ich nicht,
   Ob’s Götter gibt, das weiß ich nicht,
   Und Höllenstrafen fürcht’ ich nicht.

       Hopla he, auf weiter See,
       Hopla, hopla, he!




                              DRITTES BUCH


   ES FÄHRT SO MANCHES SCHIFFLEIN
   DA DRAUSSEN KREUZ UND QUER;
   DOCH KEINS KANN SO VERRUFEN SEIN,
   DASS NICHT MANCH ANDRES
   SCHLIMMER WÄR’.


                                   45

Mag sein, daß man seine Frau nicht zu sehr lieben darf, wenn man sie
behalten will. Sie langweilt sich sonst und läuft zu einem andern, um
geprügelt zu werden.

Es war verdächtig, sehr verdächtig, daß ich die Yorikke plötzlich so
innig zu lieben begann. Aber wenn man soeben die gräßliche Geschichte
eines Kindsräubers vernommen hat, in der einen Tasche eine Büchse Milch,
in der andern eine Büchse guter dänischer Butter trägt, kann man wohl
Liebesgedanken bekommen und diejenige lieben, die in ihren Lumpen
liebenswerter ist als Leichenräuber in seidenen Kleidern.

Aber verdächtig war diese aufkeimende Liebe doch. Etwas war nicht in
Ordnung. Da war die Aschenhuze gewesen. Und nun war auch noch Yorikke,
die ich mit heißer Inbrunst liebte. Das wollte mir nicht gefallen. Da
stimmte etwas nicht.

Im Quartier war es nicht auszuhalten. Die Luft stand dick und schwer und
drückte auf das Hirn.

„Laß uns wieder rausgehen,“ sagte ich zu Stanislaw, „wir schlendern am
Wasser herum bis es kühler wird. Nach neun wird sicher eine Brise
aufkommen. Dann gehen wir heim und legen uns aufs Deck.“

„Hast recht, Pippip“, gab Stanislaw zu. „Hier kann man weder schlafen
noch sitzen. Wir können mal raufgehen zu dem Holländer, der da oben
liegt. Vielleicht sehe ich einen Bekannten.“

„Immer noch Hunger?“ fragte ich.

„Nein, aber vielleicht kann ich ihnen ein Stück Seife abnehmen und ein
Handtuch. Wäre ganz gut mitzunehmen.“

Wir trotteten langsam los. Es war inzwischen ganz finster geworden. Die
Hafenlampen waren nur spärlich erleuchtet. Es wurde nirgends geladen.
Die Schiffe glimmerten schläfrig durch die abendliche Dunkelheit.

„Berühmt ist der Tabak aber auch nicht, den uns die Norweger gegeben
haben“, sagte ich.

Kaum hatte ich das ausgesprochen und mich dabei Stanislaw zugewandt, um
Feuer von ihm zu kriegen, als ich einen mächtigen Hieb über den Schädel
erhielt. Ich fühlte den Schlag ganz deutlich, konnte mich aber nicht
bewegen, meine Beine wurden merkwürdig plump und dick und ich fiel hin.
Es sauste und brummte entsetzlich um mich herum und es tat drückend weh.

Das dauerte aber nicht lange, schien mir. Ich stand wieder auf aus
meiner Betäubung und wollte weitergehen. Aber ich lief gegen eine Wand,
gegen eine Holzwand. Wie konnte das sein? Ich ging links, doch auch da
war eine Wand. Und rechts war eine Wand und hinter mir war eine Wand.
Und alles war finster. Mein Kopf summte und dröhnte. Ich konnte nicht
denken, wurde müde und legte mich wieder auf den Boden.

Als ich abermals aufwachte, waren die Wände noch immer da. Aber ich
konnte nicht ruhig stehen. Ich schwankte. Nein, das war es nicht, der
Boden schwankte.

Himmelkreuzdonnerwetter nochmal, ich weiß jetzt, was los ist. Ich bin
auf einem Boot, auf einem Eimer, und der ist auf hoher See. Schwimmt
lustig voran. Die Maschinen stampfen und bollern.

Mit beiden Fäusten und endlich auch mit den Füßen hämmere ich gegen die
Wände. Es scheint niemand etwas zu hören. Aber nach längerer Zeit, als
ich wieder und wieder die Wände bearbeitet und auch mit Schreien mein
Trommeln unterstützt habe, wird eine Luke aufgemacht und es leuchtet
jemand mit einer elektrischen Taschenlampe herein.

„Haben Sie jetzt Ihren Soff ausgeschlafen?“ werde ich gefragt.

„Scheint, ja“, sage ich.

Es braucht mir niemand etwas erzählen, ich weiß bereits, was los ist.
Kindsraub, shanghaied. Ich bin auf der Empreß of Madagascar.

„Sie sollen zum Skipper kommen“, sagt der Mann.

Es ist heller Tag draußen. Ich klettere die Leiter hoch, die der Mann
durch die Luke schiebt und bin bald darauf auf dem Deck.

Ich werde zum Skipper geführt.

„Feine Leute seid ihr, muß ich sagen“, schreie ich gleich, als ich in
die Kabine komme.

„Bitte?“ sagt der Skipper ganz ruhig.

„Kindsräuber. Shanghaier. Engelmacher. Leichenfledderer. Das ist es, was
ihr seid“, schreie ich.

Der Skipper bleibt ungerührt, steckt sich ruhig eine Zigarre an und
sagt: „Es scheint, Sie sind noch nicht ganz nüchtern. Wir werden Sie mal
in kaltes Wasser tauchen müssen, damit der Rauch abzieht.“

Ich sehe ihn an und sage nichts.

Der Skipper drückt auf einen Knopf, der Steward kommt und der Skipper
nennt zwei Namen.

„Setzen Sie sich“, sagt der Skipper nach einer Weile.

Es kommen zwei widerliche Kerle rein. Verbrechergesichter.

„Ist das der Mann?“ fragt der Skipper.

„Ja, das ist er“, bestätigen die beiden.

„Was tun Sie hier auf meinem Schiff?“ sagt der Skipper jetzt zu mir in
einem Tone, als ob er Vorsitzender eines Schwurgerichts wäre. Vor sich
hat er Papier liegen, auf dem er mit einem Bleistift kritzelt.

„Das möcht ich gern von Ihnen wissen, was ich hier auf dem Schiff
mache“, antworte ich.

Nun redet der eine dieser beiden Verbrecher. Sie scheinen Italiener zu
sein nach der Art, wie sie die Brocken Englisch herausbringen.

„Wir wollten gerade die Ladekammer elf reinigen, und da fanden wir den
Mann hier besoffen in einer Ecke liegen, wo er fest schlief.“

„Also“, sagt darauf der Skipper, „dann ist das ganz klar. Sie wollten
sich auf meinem Schiff blind wegpacken, um nach England zu kommen. Sie
werden das nun wohl nicht mehr bestreiten wollen. Ich kann Sie leider
nicht über Bord werfen, was ich ja eigentlich tun müßte. Verdienten
eigentlich, daß ich Sie ein halbes Dutzend mal am Lademast schleifen
lasse und Ihnen die Haut ein wenig abschinde, damit Sie dran denken, daß
ein englisches Schiff nicht dazu dient, Verbrecher, die von der Polizei
verfolgt werden, in Sicherheit zu bringen.“

Was sollte ich da lange reden. Er hätte mir von diesen italienischen
Sträflingen die Knochen zerschlagen lassen, wenn ich ihm gesagt hätte,
was ich von ihm denke. Er würde es überhaupt tun schon für das, was ich
ihm gleich am Anfang erzählt habe. Aber er hat ja nur Interesse an
meinen gesunden Knochen und nicht an meinen zerschlagenen.

„Was sind Sie?“ fragte er nun.

„Schlichter Deckarbeiter.“

„Sie sind Heizer.“

„Nein.“

„Sie haben sich doch hier gestern als Heizer angeboten?“

Ja, das hatte ich, und das war mein Fehler. Seitdem haben die mich nicht
mehr aus den Augen gelassen. Hätte ich damals gesagt, Deckarbeiter,
hätten sie vielleicht kein Interesse an mir gehabt. Heizer waren es, die
sie brauchten.

„Da Sie also Heizer sind und Sie Glück haben dadurch, daß mir zwei
Heizer krank geworden sind, so können Sie als Heizer arbeiten. Sie
bekommen englische Heizerheuer, zehn Pfund zehn ist sie augenblicklich.
Aber ich kann Sie nicht heuern. Wenn wir nach England kommen, habe ich
Sie den Behörden zu übergeben; und Sie werden, je nachdem der Richter
Ihnen geneigt sein wird, zwei bis sechs Monate abmachen müssen und dann
natürlich Deportation. Aber hier werden Sie, solange wir auf Fahrt sind,
als regelrechtes Mitglied der Mannschaft unsrer Empreß of Madagascar
behandelt.

Wir können uns gut vertragen, wenn Sie Ihre Arbeit tun. Wenn wir uns
nicht vertragen können, gibt es kein Wasser, lieber Freund. Ich denke
also, wir vertragen uns lieber. Um zwölf beginnt ihre Wache. Ihre Wachen
sind sechs und sechs Stunden; die zwei Stunden je Wache mehr, werden
Ihnen bezahlt mit einem Schilling sechs Pence die Stunde.“

Da war ich nun Heizer auf der Empreß of Madagascar, auf der Fahrt zu dem
Gedenkstein in der Dorfkirche. Ich hatte keine Dorfkirche, also blieb
mir nicht einmal diese Ehre.

Die Heuer war gut, da ließ sich Geld dabei machen. Aber in England
Gefängnis wegen Schiffschleichens und dann vielleicht noch Jahre im
Gefängnis warten auf Deportation. Doch das war ja eben die Sache. Die
Heuer bekam ich nicht, weil die Fische sie nicht auszahlen werden. Komme
ich heil raus, ich kriege keinen Nickel Heuer, ich bin nicht treu
gemustert. Kein englischer Konsul erkennt diese Strafmusterung an.
Gefängnis und Deportation rühren mich nicht. Wir kommen nicht nach
England. Nur ja keine Sorge. Wollen uns doch mal die Boote ansehen. Die
Boote sind fertig. Da wird es also in den nächsten Tagen losgehen. Erste
Bedingung ist, alles klarmachen, um auf alle Fälle aus dem Kesselraum zu
kommen. Beim leisesten Knirscher weg vom Kessel und hoch wie der Satan.


                                   46

Die Quartiere sind wie Salons. Sauber und neu. Stinken nur unerträglich
nach frischer Farbe. Matratzen im Bunk, aber kein Kissen, keine Decke,
kein Laken. Kaiserin von Madagaskar, bist nicht so reich wie du von
draußen aussiehst. Oder die haben schon alles gezockelt und vermünzt,
was gerettet werden konnte.

Geschirr gibt es auch nicht. Aber man kann es schon leichter
zusammenklauben, weil da was übrig ist und dort was herumliegt. Das
Essen wird von einem italienischen Jungen gebracht, damit hat man also
nichts zu tun. Das Essen ist ausgezeichnet. Freilich, unter
Henkersmahlzeit verstehe ich etwas andres.

Rum gibt es hier überhaupt nicht, wie mir von einem erzählt wird. Der
Skipper ist Anti, schon faul.

Schiffe ohne Rum stinken wie Jauche.

Ich sitze im Meßraum des Kesselpersonals.

Der Meßboy ruft die Leute aus den Bunks zum Essen. Es kommen zwei
schwere Neger herein, die Kohlschlepps. Und dann kommt ein Heizer
herein, der auf Freiwache ist.

Den Heizer kenne ich. Sein Gesicht habe ich schon irgendwo gesehen. Das
Gesicht ist aufgeschwommen, und um den Kopf hat er eine Binde.

„Stanislaw, du?“

„Pippip, du auch?“

„Wie du siehst. Mitgegangen, mitgefangen“, sagte ich.

„Du bist ja noch ganz gut davon gekommen. Ich habe mich mit ihnen schwer
gekloppt. Ich kam gleich wieder hoch, nachdem ich den ersten Schlag weg
hatte. Du lagst fest, hattest gleich einen saftigen gekriegt. Aber als
du so plötzlich umknicktest, bückte ich mich nach dir und so kriegte ich
nur einen halben. Gleich war ich wieder auf. Und nun ging die Bürsterei
los. Waren gleich vier herum. Und ich habe ganz verflucht was auf den
Schädel gekriegt.“

„Was haben sie dir denn für eine Geschichte erzählt?“ fragte ich.

„Ich hätte mich gekloppt, hätte einen erstochen und dann hätte ich mich
auf dem Eimer versteckt, weil die Polizei hinter mir her gewesen sei.“

„Mir haben sie etwas Ähnliches erzählt, die Kindsräuber“, sagte ich.
„Unsre Heuer von der Yorikke sind wir nun auch noch los, und hier
kriegen wir nie einen Cent.“

„Dauert ja nur ein paar Tage. Ich denke übermorgen wird es schon soweit
sein. Es ist ein Platz, wie er ihn sich nicht besser wünschen kann. Kann
sich schön sauber hinlegen wie gemalt. Kommt niemand her und deckt das
Gesicht ab. Um fünf ist Exerzieren an den Booten. Merkst was, he? Wir
sind nicht dabei, wir sind gerade dann auf Wache. Wir sind beide Boot
vier, Heizer von Wache zwölf bis vier. Ich habe die Liste gesehen, hängt
im Gangweg.“

„Weißt du schon, wie es vor den Kesseln ist?“ fragte ich.

„Zwölf Feuer. Vier Heizer. Die beiden andern sind Neger. Auch die
Schlepps sind Neger. Da die beiden, die am Tisch sitzen.“ Stanislaw
deutete rüber zu den starken Burschen, die gleichgültig an ihrem Essen
würgten und uns kaum zu bemerken schienen.

Um zwölf traten wir unsre Wache an. Die vorige Wache hatte der Donkeyman
mit den Negern gemacht.

Die Feuer sahen bös aus, und wir hatten beinahe zwei Stunden wild zu
arbeiten, bis wir sie in Ordnung hatten. Alles war verschlackt;
aufzuschmeißen verstanden die schwarzen Heizer auch nicht. Sie
pfefferten die Kohle hinein, und damit gaben sie sich zufrieden. Daß
Heizen eine Kunst ist, die mancher nie lernt, davon schienen sie nichts
zu wissen, obgleich sie offenbar schon einige Jahre vor den Kesseln
arbeiteten und sicher schon eine gute Anzahl von Schiffen abgedient
hatten.

Mit den Rosten hatten wir hier nur wenig Arbeit. Brannte einer durch, so
ließ er sich rasch einsetzen ohne daß er nachfiel oder gar andre mitriß.
Die Schlepps, riesenhafte Neger, mit Armen wie Oberschenkel und einem
Körperbau, daß man glaubte, sie könnten einen ganzen Kessel auf ihren
Schultern fortschleppen, brachten die Kohle verteufelt langsam heran,
und wir mußten ihnen ganz gehörig den Marsch blasen, bis sie sich
endlich herbeiließen, zu arbeiten. Sie stöhnten in einem fort, daß es zu
heiß sei, daß sie keine Luft bekämen, daß sie vor Staub nicht schlucken
könnten, und daß sie sicher verdursten würden.

„Na, Pippip,“ sagte Stanislaw, „da mußten wir ganz anders ziehen auf der
alten Yorikke. Was tun die Kerle nur mit ihren Knochen? Ehe die eine
halbe Tonne heran haben, hole ich sechs und puste noch nicht einmal
dabei. Und hier liegen ihnen die Kohlen direkt vor der Nase.“

„Gerade jetzt fing auf der Yorikke wieder eine schöne Zeit für eine
Woche an“, sagte ich. „Sie hatte gerade frisch gekohlt und die Schächte
und Kesselbunker lagen gepfropft, daß es ein wahrer Spaß hätte sein
müssen für die nächste Fahrt. Aus. Schiet Yorikke. Haben jetzt andres zu
denken.“

Ich sah mich um.

„Habe auch schon herumgeblickt“, sagte Stanislaw. „Wir müssen Luftlöcher
suchen. Zur Leiter kommt man nicht immer. Bricht meist weg, wenn sie
richtig aufknallt. Und wenn gar noch die Kessel oder die Rohre anfangen
zu summen und zu spucken, dann ist die Leiter eine verfluchte
Rattenfalle. Kannst nicht mehr runter, nicht mehr rauf.“

„Der Oberbunker hat eine Luke zum Deck“, sagte ich. Ich war eben oben
gewesen und hatte untersucht. „Wir müssen die Luke immer klar haben,
wenn wir auf Wache gehen. Dann baue ich eine Lattenleiter, und die
halten wir immer hier an der Schachtluke. Wenn es knirscht, sofort raus,
rauf, hoch und raus zur Deckluke.“

Wir arbeiteten uns nicht blöd. Es schien den Ingenieuren auch ganz
gleich zu sein. Solange die Maschine lief, war es recht. Ob sie große
Fahrt machte oder kleine, kam nicht in Betracht.

Es hätte alles ganz nach Vorschrift gehen können. Ein paar Löcher unten
in den Mantel gedrillt, nicht größer als einen halben Zoll, und mit
ihrer Sargeinlage Alteisen wäre die Empreß sanft und selig
eingeschlafen, weggesackt wie ein Stein. Nur noch der Pumpe einen Klaps
gegeben. Aber vor dem Seegericht kann das manchmal fehlgehen, und wenn
die ganze Mannschaft heil abkommt, so ist das immer verdächtig. Zwei
Tage waren es nur. Wir hatten gerade die Wache übernommen und waren mit
dem Ausschlacken halb durch, da hörte ich einen furchtbaren Knall und
ein Krachen. Ich flog zuerst gegen die Kessel und dann zurück in einen
Kohlenhaufen.

Gleich darauf standen die Kessel senkrecht über mir, ein paar
Feuerungstüren brachen auf und die Glut fiel in den Kesselraum. Zur
Lattenleiter brauchte ich nicht hinaufsteigen, ich konnte auf ebener
Fläche zu der Schachtluke gehen.

Stanislaw war schon raus.

Als ich in den Bunker kam, kletterte er gerade durch die Luke.

In diesem Augenblick hörten wir einen gräßlichen Schrei aus dem
Kesselraum.

Stanislaw hatte den Schrei auch gehört und drehte sich um.

„Das war Daniel, der Schlepp“, rief ich Stanislaw zu. „Ich glaube, er
sitzt fest.“

„Verflucht, runter, aber rasch“, schrie Stanislaw.

Ich war schon wieder drin im Kesselraum. Die Kessel standen noch immer
Kopf, und jede Sekunde konnte einer losfahren in die Lüfte. Das
elektrische Licht war verlöscht, weil offenbar das Kabel durchgerissen
war. Aber die Glut gab Licht genug, wenn es auch recht gespensterhaft
aussah.

Daniel, der eine Neger, lag lang und war mit seinem linken Fuß von einer
losgelösten Platte eingeklemmt. Er schrie und schrie, weil die Glut ihn
schmorte.

Wir versuchten, die Platte zu heben, aber es ging nicht, wir kriegten
sie nicht hoch und konnten mit der Schürstange nicht heran, um sie
hochzuheben.

„Geht nicht, Daniel, Fuß sitzt fest.“ Ich schrie es in wahnsinniger Eile
auf Daniel ein.

Was tun? Sollen wir ihn hierlassen?

„Wo ist der Hammer?“ schreit Stanislaw.

Schon ist der Hammer zur Hand, und in derselben Sekunde haben wir eine
Schaufel glattgeklopft, und ohne Besinnen schlägt Stanislaw dem Neger
den Fuß ab. Drei Hiebe waren nötig. Wir schleiften Daniel zur
Schachtluke, schleiften ihn durch den Bunker und zerrten ihn durch die
Deckluke.

Draußen packte der andre Neger unsrer Wache, der sich rechtzeitig in
Sicherheit gebracht hatte, sofort zu. Wir überließen ihm Daniel und
kümmerten uns nun um uns selbst.

Das Quartier lag bereits im Wasser. Die Empreß ragte mit dem Stern hoch
in die Luft. Das war beim Bootsexerzieren nicht ausprobiert worden. Es
stand alles ganz anders, als man es gewöhnt war. Eine Weile hatte noch
das Licht gebrannt. Der Ingenieur hatte es zu den Akkumulatoren
durchgeschaltet. Jetzt verglimmte es langsam, weil die Akkumulatoren
wahrscheinlich auszulaufen begannen oder die Kabel irgendwo Widerstände
aufnahmen. Elektrische Taschenlampen und Notlaternen mußten helfen.

Vom Quartier sah ich niemand. Die waren schon fertig. Die konnten nicht
mehr raus. Gegen die Tür lehnten einige Tonnen Wasserdruck.

Boot zwei riß sich los und war im Augenblick vom Seegang fortgeschwemmt,
ohne daß auch nur ein Mann drin saß.

Boot vier war nicht zu holen. Lag nicht klar.

Boot eins war klar, und der Skipper kommandierte die Besatzung. Dann
stand es bei und wartete auf ihn, weil er anstandshalber auf Deck blieb.
Das Seegericht sieht so etwas gern und lobt es.

Nun kam auch Boot drei klar. Hier flitzten Stanislaw und ich hinein,
zwei Ingenieure, der gesunde Negerschlepp und Daniel mit dem abgehackten
Fuß, der jetzt mit einem Hemd verbunden war; ferner kriegten wir den
Ersten Offizier und den Steward.

Die Kessel schienen brav zu halten und waren vielleicht durch die
herausgefallenen Feuer beruhigt worden. Pflaumenmus gab es ja hier
nicht.

Wir stießen ab. Der Skipper war inzwischen in Boot eins gesprungen, und
auch dieses Boot lief klar ab.

Aber ehe es seine Riemen gestreckt hatte, wurde es von der See heftig
gegen den Schiffsleib geschleudert. Immer wieder versuchten sie, klar zu
kommen.

Da plötzlich löste sich ein Etwas von dem Schiffe los und schlug mit
brechendem und splitterndem Getöse auf das Boot. Man hörte ein Schreien
von vielen Stimmen und dann war alles still, als wären Schrei, Boot und
Besatzung mit einem Ruck von einem großen Maul verschluckt worden.

Wir waren ganz schön abgekommen und pullten lustig drauf los. Kurs zur
Küste.

Große Fahrt machten wir nicht mit den paar Riemen. Die Wogen gingen
verteufelt hoch, und wir standen manchmal zwei Bootslängen hoch an einer
steilen Wasserwand. Dann spreizten die Riemen in der Luft, konnten nicht
einlegen, und wir wurden kreuz und quer geschleudert. Der Ingenieur, der
mit an den Riemen saß, sagte da plötzlich: „Wir sitzen ziemlich flach.
Kaum drei Fuß. Auf Fels.“

„Nicht möglich“, erwiderte der Erste Offizier. Er tastete nach dem
Riemen, lotete und sagte dann: „Sie haben recht. Raus, raus.“

Er hatte den Befehl noch halb im Munde, da gingen wir steil an einer
Wand hoch. Die Welle nahm uns wie eine kleine Untertasse und haute das
ganze Boot mit solcher Wucht auf den Fels, daß es in tausend Splitter
ging.

„Stanislaw!“ schrie ich hinaus in das Toben der Wellen. „Hast du was, wo
du kleben kannst?“

„Nicht einen dürren Strohhalm“, schrie er mir zu. „Ich schwimme zurück
zum Eimer. Der steht ein paar Tage gut so, wie er da steht. Der fällt
dir so leicht nicht auf die Zehen.“

Die Idee war nicht schlecht. Ich versuchte, Kurs auf das schwarze
Ungetüm zu halten, das sich gegen den Nachthimmel klar abhob.

Und verflucht nochmal, wir kamen beide ran, obgleich wir einige
dutzendmal immer wieder zurückgeschleudert worden waren.

Wir kletterten rauf und suchten in Mittschiff zu kommen. Das war nicht
so leicht. Die Achternwand bildete jetzt das Deck oder das Dach für das
Mittschiff. Die beiden Korridore waren tiefe Schächte geworden, in die
hinunterzukommen während der Nacht nicht gut vollführt werden konnte und
selbst bei Tage seine Schwierigkeiten haben würde. Die Wogen gingen
außerordentlich hoch und schienen an Wucht noch zuzunehmen. Offenbar
waren wir bei Ebbe aufgebrummt, denn das Wasser begann zu steigen.

Die Empreß stand fest wie ein Turm, eingeklemmt in einer Riffspalte. Wie
sie in diese unschiffsmäßige Lage kommen konnte, wußte wohl nur sie
allein. Sie zitterte kaum und bebte nicht, so fest stand sie. Nur
manchmal, wenn ein besonders schwerer Brecher gegen ihren Panzer tobte,
zuckte sie mit den Schultern, als wolle sie ihn abschütteln. Sturm war
gar nicht. Der Aufruhr lag nur in der schweren See. Es sah auch nicht
danach aus, als ob Sturm aufkommen würde. Nicht in den nächsten sechs
Stunden.

Dann graute der Himmel. Die Sonne ging auf. Frisch gewaschen stieg sie
aus ihrem Seebade empor zu den weiten Höhen.

Zuerst lugten wir aus über die See. Es war nichts zu sehen. Kein Mann
schien übrig zu sein. Daß irgendeiner aufgepickt worden war, glaubte ich
nicht; auch Stanislaw bezweifelte es. Wir hatten kein Schiff passieren
sehen. Außerdem lagen wir nicht in der Route. Der Skipper war
herausgegangen, um nicht abermals von Patrouillen oder Passanten gesehen
zu werden. Der Spaß war für ihn teuer geworden. Er hatte an eine ruhige
friedliche Abwicklung des Geschäfts gedacht. Daß er vom Quartier keinen
Mann mitbekommen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Wären die beiden
Boote richtig bemannt gewesen, hätte das ein Vergnügen sein müssen, klar
abzukommen.


                                   47

Als es völlig hell geworden war, versuchten wir, den Korridorschacht
hinabzuklettern. Mit einiger Sorgfalt ging es auch. Wir benutzten die
Türen zu den einzelnen Kabinen und die Wandrippen als Sprossen, und so
ging es viel rascher und schneller, als wir gedacht hatten.

Auf dem Boden des Schachtes befanden sich die beiden Kabinen des
Skippers. Ich fand einen Taschen-Schiffskompaß, den ich gleich mit
Beschlag belegte, aber Stanislaw anvertraute, weil ich keine Tasche
hatte, wo ich ihn aufbewahren konnte. Es waren auch zwei kleine
Wassertanks in der Kabine, einer diente für Waschwasser und einer für
Trinkwasser. Um Wasser waren wir nun für einige Tage nicht verlegen,
denn ob die Pumpen in der Galley würden Wasser ziehen können, mußten wir
erst noch ausprobieren. Vielleicht war der Frischwassertank überhaupt
schon ausgelaufen.

Auf der Yorikke hatten wir ja jedes Plätzchen gewußt, wo was zu holen
war. Hier mußten wir erst damit beginnen, alles zu suchen. Aber
Stanislaw hatte eine gute Nase und hatte die Vorratskammer, die Pantry,
im Augenblick entdeckt, sobald nur die Frage nach dem Frühstück
auftauchte. Verhungern konnten wir zwei Mann innerhalb der nächsten
sechs Monate nicht. Und wenn wir genügend Wasser noch hatten, ließ es
sich für eine Weile aushalten. In der Pantry waren mehrere Kasten mit
Mineralwasser, Bier und Wein. Ganz schlimm konnte es nicht werden.

Der Kochherd wurde auch wieder aufgerichtet, und so konnten wir auch
kochen. Wir probierten die Pumpen für Frischwasser aus. Die eine zog
nicht an, dagegen um so besser die andre. Das Wasser war noch etwas trüb
von dem aufgerüttelten Schlamm, der sich am Boden festgesetzt hatte,
aber das würde sich nach einem Tage schon geben.

Mir wurde übel zumute, und auch Stanislaw zeigte Unbehagen.

„Mensch,“ sagte er mit einemmal, „was sagst du dazu, ich werde
seekotzig. Verflucht nochmal, das ist mir denn doch noch nicht
passiert.“

Ich konnte mir das nicht erklären, denn mir wurde immer kläglicher
zumute, während der Eimer doch ziemlich still stand. Das Herantoben der
Brecher und das gelegentliche Erzittern des Eisenkolosses konnte ein so
erbärmliches Gefühl doch nicht auslösen.

„Nun kann ich dir sagen, was los ist, Stanislaw“, gab ich nach einer
Weile zur Antwort. „Die verrückte Lage der Kabinen ist es, was uns
kotzig macht. Alles steht schräg und steil. Da muß man sich erst daran
gewöhnen.“

„Ich glaube, du hast recht“, meinte er, und sobald wir draußen waren im
Freien, war das üble Empfinden sofort weg, obgleich einem auch die ganze
Lage des Schiffes, die so blödsinnig toll zum Horizont stand, auf das
Gleichgewichtsempfinden schlug.

„Siehst,“ sagte ich jetzt zu ihm, als wir draußen saßen und des Skippers
gute Zigarren rauchten, „es ist nur die Einbildung, nichts weiter. Ich
bin sicher, wenn wir einmal heraus haben, was in unserm Leben alles
Einbildung und was Tatsache ist, werden wir noch recht sonderbare Dinge
lernen und die ganze Welt von einem andern Gesichtswinkel aus
betrachten. Wer weiß, welche Folgen das haben kann.“

So sehr wir auch Ausschau hielten, ein Schiff war nicht zu sehen. Nicht
einmal eine Rauchfahne konnten wir erblicken. Wir lagen zu weit
außerhalb der üblichen Fahrstraßen.

„Wir können hier das schönste Leben führen, das wir je geträumt haben,“
philosophierte Stanislaw, „haben alles, was wir uns nur wünschen, können
essen und trinken, was wir wollen und soviel wir wollen, kein Mensch
stört uns, und arbeiten brauchen wir auch nicht. Trotzdem möchten wir
fort, je rascher, je lieber, und wenn kein Eimer uns abholen kommt,
müssen wir doch bald sehen, runter zu kommen und versuchen, die Küste zu
machen. Immer jeden Tag dasselbe, das ist es, was man nicht ertragen
kann. Ich denke mir manchmal, auch wenn es wirklich ein Paradies geben
würde, was ich ja nicht glaube, weil ich mir nicht vorstellen kann, wo
die Reichen hingehen, ich würde nach drei Tagen im Paradiese eine
gräßliche Gotteslästerung verüben, nur um wieder rauszukommen und nicht
immerfort fromme Lieder singen zu müssen und zwischen alten
Betschwestern und Pfaffen und Muckern zu sitzen.“

Da mußte ich aber doch lachen: „Habe nur ja keine Bange, Stanislaw, wir
beide kommen nicht da rein. Wir haben ja keine Papiere. Und kannst dich
heilig drauf verlassen, die verlangen da oben auch Papiere, Pässe und
Taufzeugnisse von dir, und wenn du die nicht beibringen kannst, machen
sie dir die Türe vor der Nase zu. Frag’ nur den Pfaffen, er wird es dir
sofort bestätigen. Mußt Heiratslizenz beibringen, kirchlichen
Trauschein, Taufschein, Konfirmationsschein, Firmungsschein,
Kommunionsstempel und Beichtzettel. Ginge das da oben so glatt ohne
Papiere, wie du dir das zu denken scheinst, brauchten die hier unten ja
keine ausstellen. Auf die Allwissenheit scheinen sie sich nicht zu
verlassen, besser ist es schon, man hat es schwarz auf weiß und
ordnungsmäßig abgestempelt. Wird dir jeder Pfaff erzählen, daß der
Torwächter da oben ein großes Bund mit Schlüsseln hat. Wozu? Zum
Abschließen der Türen, damit nicht doch vielleicht einer ohne Visa über
die Grenze schleichen kann.“

Stanislaw saß eine Weile still und sagte dann: „Merkwürdig, daß ich
gerade so drauf komme, aber die ganze Geschichte hier will mir nicht
recht gefallen. Es geht uns viel zu gut. Und wenn es einem so ganz
ausnahmsweise gut geht, so ist etwas nicht in Ordnung. Ich kann das
nicht vertragen. Es ist immer, als ob man auf Mastkur geschickt wird,
weil eine besonders schwierige Sache auf einen wartet, die man ohne jene
gute Vorbereitung und Erholung sonst nicht bewältigen kann. War bei der
K. M. auch so. Immer wenn was Besonderes bevorstand, gab es vorher ein
paar gute Tage. War auch so, ehe wir rauf nach Skagen glitschten.“

„Da redest du aber nun einmal richtigen Kohlgulasch“, sagte ich zu ihm.
„Wenn dir ein gebratenes Hühnchen ins Maul fliegt, dann spuckst du es
wieder aus, nur damit es dir nicht gut gehen soll. Die schwierige Sache
kommt ganz von selbst, verlaß dich drauf. Um so besser, wenn du vorher
in der Sommerfrische warst. Wenn du eine Mastkur hinter dir hast, dann
kannst du die schwierige Sache unterkriegen, andernfalls kriegt sie
vielleicht dich unter.“

„Verflucht, du hast recht“, rief Stanislaw nun wieder gutgelaunt. „Ich
bin ein altes Schaf. Ich habe sonst auch noch nie solche blöden Gedanken
gehabt. Gerade heute. Es kam mir so, als ich dachte, vorn im Quartier,
oder ich muß ja eigentlich sagen: da unten zu unsern Füßen, da liegen
die Burschen alle schwimmend hinter der Tür, auf demselben Kasten wie
wir. Weißt, Pippip, man soll keine Leiche auf einem Kasten fahren, das
bringt den Gast herbei. Ein Schiff ist lebendig, das mag keine Leichen
in der Nähe haben. Als Fracht, meinetwegen. Das ist etwas andres. Aber
nicht so herumliegende, so herumschwimmende Leichen.“

„Können wir doch nicht ändern“, sagte ich.

„Das ist es gerade, was ich meine“, antwortete Stanislaw. „Wir können es
nicht ändern. Und das ist das Schlimme. Alle die andern sind
abgerasselt. Wir beide sind allein noch übrig. Da stimmt etwas nicht.“

„Nun will ich dir etwas sagen, Stanislaw, wenn du mit dieser blöden
Pinselei nicht aufhörst, dann – nein, runterschmeißen will ich dich
nicht, wirst es dir ja auch nicht gefallen lassen. Aber dann rede ich
mit dir keine Silbe mehr, und wenn ich dadurch meine Sprache verlernen
sollte. Dann wohnst du im Steuerbordschacht und ich im Backbordschacht
und jeder geht seine eignen Wege. Solange ich am Leben bin, will ich mir
nichts vom Gast vorjaulen lassen. Da habe ich später, wenn es mal so
weit ist, noch Zeit genug dazu. Und wenn du nun meine Meinung wissen
willst, warum wir beide gerade übriggeblieben sind, so ist das ganz klar
und zeigt wieder einmal, wie gerecht alles zugeht in der Welt. Wir
gehörten nicht zu der Mannschaft. Wir waren gestohlen. Wir haben der
Empreß von Madagaskar nie etwas getan und wollten ihr auch nie etwas
tun. Niemand weiß das so gut wie sie. Das ist der Grund, warum sie uns
nicht mitgenommen hat.“

„Warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt, Pippip?“

„Ja, was denkst du denn von mir, ich bin doch nicht dein königlicher
Ratgeber. So etwas weiß man doch von selbst und hat es im Gefühl.“

„Jetzt gehe ich mich besaufen“, sagte nun Stanislaw. „Ist mir ganz egal.
Na, ich will ja nicht sagen besaufen, aber doch einen gesunden hieven.
Wer weiß, vielleicht kommt doch bald ein Kasten vorbei und holt uns
über. In meinem Leben könnte ich es mir dann nicht vergeben, daß ich
hier das alles zurückgelassen habe, ohne es mal durchzukosten.“

Warum sollte denn Stanislaw das Vergnügen allein genießen?

Es begann jedenfalls jetzt eine Schlemmerei, die sich selbst der Skipper
nie auf einen Sitz erlaubt haben würde.

Es war ja alles so schön da in Büchsen. Salm von British Columbia, Wurst
von Bologna, Hähnchen, Hühnerfrikassee, Pasteten, Zungen aller Art, ein
Dutzend verschiedene eingemachte Früchte, zwei Dutzend verschiedene
Sorten Jam, Biskuits, Gemüse der besten Auslesen, Liköre, Schnäpse,
Weine, Ales, Stouts, Pilsener. Die Kapitäne, Offiziere und Ingenieure
wissen sich das Leben angenehm zu machen. Aber wir waren jetzt die
Besitzer und die Esser, während die früheren Esser jetzt schwammen und
gegessen wurden, um die Fische fett zu machen.

Den folgenden Tag war es sehr diesig und dunstig. Wir konnten kaum eine
halbe Meile weit sehen.

„Wir kriegen schweres Wetter“, sagte Stanislaw.

Am Abend kam es auf. Schwerer und schwerer.

Wir saßen in des Skippers Kabine bei einer Petroleum-Notlaterne.

Stanislaw machte ein besorgtes Gesicht: „Wenn die Empreß abhaut oder
runterbricht vom Riff, dann sind wir geliefert, Junge. Wir wollen uns
mal schon beizeiten umsehen.“

Er fand etwa drei Meter Tauende, das er sich um den Leib band, um es zur
Hand zu haben. Alles, was ich finden konnte, war eine halb aufgebrauchte
Rolle Bindfaden, kaum so stark wie ein Bleistift.

„Wir klettern besser den Schacht hoch“, schlug Stanislaw vor. „Hier
drinnen sitzen wir in der Falle, wenn der Rummel losgeht. Oben hat man
immer noch eine Möglichkeit, abzukommen.“

„Wenn du oben in die Wicken gehen sollst, dann gehst du oben, und wenn
du unten vor die Fische gehen sollst, dann unten“, sagte ich. „Eins wie
das andre. Wenn du vom Auto überfahren werden sollst, dann springt es
rüber zum Schaufenster, vor dem du stehst, brauchst dem Auto gar nicht
nachzulaufen oder in den Weg zu rennen.“

„Du bist mir einer. Wenn du im Wasser ersaufen sollst, dann kannst du
ruhig deinen Hals auf die Eisenbahnschienen legen und der Expreß springt
über dich weg wie ein Luftschiff. Daran glaube ich nicht. Ich lege
meinen Hals nicht auf die Schienen. Ich gehe rauf und sehe zu, was
geschieht.“

Er kletterte den Korridorschacht hinauf, und da mir einleuchtete, daß er
recht habe, kletterte ich hinterher.

Dann saßen wir wieder oben auf der Achternwand von Mittschiff, dicht
nebeneinander. Wir mußten uns an den Beschlägen festhalten, sonst hätte
uns der Sturm hinuntergeschleudert.

Immer mehr kam das Wetter in Aufruhr. Schwere Brecher wüteten gegen die
unter uns liegende Vorfront von Mittschiff und brandeten gegen die
Skipperkabinen.

„Wenn das die ganze Nacht so fortgeht“, sagte Stanislaw, „dann ist
morgen früh von der Kabine nichts mehr übrig. Ich glaube sogar stark,
die Brecher holen das ganze Mittschiff ab. Dann bleiben uns nur noch die
Kammern im Stern und der Maschinenraum, wo die Rudermaschine steht. Dann
gute Nacht Essen und Trinken. Da findet keine Maus was.“

„Vielleicht besser, wir klettern jetzt schon rauf“, riet ich, „denn wenn
das Mittschiff abrasselt, haben wir keine Zeit mehr. Dann schwimmen wir
auch schon.“

„So mit einem Hieb haut das Mittschiff nicht ab,“ erklärte nun
Stanislaw, „das geht in Stücken zum Teufel. Und wenn unten eine Wand
losbricht, haben wir Zeit genug, raufzuklettern.“

Stanislaw hatte recht.

Aber das Recht ändert sich durch wechselnde Verhältnisse. Es gibt
nichts, das nicht einmal Recht gewesen ist. Man darf das Recht nur nicht
einpökeln wollen und erwarten, daß es in hundert Jahren noch immer
Recht, vielleicht gar dasselbe Recht sein werde.

Stanislaw hatte ganz gewiß recht. Aber einige Minuten später hatte er
schon nicht mehr recht.

Drei gigantische Brecher, von denen jeder folgende immer zehnfach
schwerer und stärker zu sein schien als der vorangegangene, wüteten mit
donnerndem Gebrüll, als wollten sie die ganze Erde verschlingen, gegen
die Empreß.

Das tobende Gebrüll der Brecher und der nachziehenden Brandungswogen war
ein drohendes Wutgeheul gegen die Empreß, die es wagte, ihnen auf diesem
Riff so lange Trotz zu bieten.

Der dritte Brecher brachte die steil hochgeworfene Empreß zum Schwanken.
Aber sie stand noch. Doch wir beide hatten es im Gefühl, sie ist los,
sie steht nicht mehr fest wie ein Turm.

Die Brecher ebbten ab, um auszuholen für die nächsten drei.

Der tosende Sturm jagte die schweren Wolken gleich Fetzen am Nachthimmel
dahin. Zuweilen öffnete sich ein Loch in diesem schweren Wolkentoben,
und man erblickte für einige Sekunden ein paar klare glänzende Sterne,
die in diesen schwarzen, heulenden, brüllenden, tobenden und brandenden
Aufruhr empörter Elemente herunterriefen:

„Wir sind Friede und Ruhe für dich, für uns aber sind wir umlodert von
den Flammen des Schöpfens, des Gebärens und der Rastlosigkeit. Fliehe
nicht zu den Sternen, wenn du Ruhe suchst und Frieden. Was du nicht in
dir trägst, wir können es dir nicht geben!“

„Stanislaw!“ schrie ich laut, obgleich er doch an meiner Seite saß, „die
Brecher kommen zurück. Jetzt gilt’s. Die Empreß fegt ab.“

Ich sah den ersten Brecher in dem schwachen Sternenlicht herankommen wie
ein unmeßbar riesenhaftes schwarzes Ungetüm.

Er peitschte hoch und peitschte mit seinen nassen Tatzen über uns
hinweg.

Wir hatten gut festgehalten, aber die Empreß hob sich und wand sich in
den Krallen des Riffs, als ob sie schwere Schmerzen erdulde.

Der zweite Brecher kam auf, nahm uns den Atem weg für eine lange Zeit,
und ich hatte das Empfinden, ich sei ins Meer geschleudert. Aber ich saß
noch fest.

Die Empreß jedoch kreischte, als ob sie zu Tode verwundet würde. Sie
drehte sich noch weiter herum in ihrem Schmerz und schwankte im Stern
zurück, krachend, polternd und dröhnend, bis sie nicht mehr steil stand,
sondern schräg. Außerdem legte sie sich auch noch nach Steuerbord über.

Mittschiff war durch die Brecher jetzt so voll Wasser gelaufen, daß
alles verdorben sein mußte, was nicht in Büchsen eingelötet war. Aber,
was in Mittschiff vor sich ging, war in mir nur wie ein ganz ferner
dünner Gedanke.

„Stanislaw, Junge!“ brüllte ich.

Ob er ebenfalls gebrüllt hatte, weiß ich nicht. Sicher hatte auch er es
getan. Aber zu hören war ja nichts.

Der dritte Brecher, der schwerste dieses Zuges, war herangestürmt.

Die Empreß war bereits verschieden, als wäre sie vor Schreck gestorben.
Der dritte Brecher, obgleich er mit donnerndem Branden herangejagt kam,
nahm den Leichnam der Kaiserin von Madagaskar leicht auf wie eine leere
Seidenhülle. Er tat es trotz seines rauhen Tobens kosend und
streichelnd. Er hob den Leichnam hoch, drehte ihn der ganzen Länge nach
in einem Halbkreise herum und ohne ihn noch einmal auf den Fels krachen
zu lassen und sich an dem Brechen der Knochen zu erfreuen, legte er ihn
sanft und zärtlich auf die Seite.

„Spring weg und schwimm, Pippip, sonst kommen wir in den Schlucker,“
schrie Stanislaw.

Schwimm mal, wenn du eben eins über die Arme gekriegt hast von einem
herumpfeifenden Lademast oder was es sein mochte.

Aber ob ich schwimmen konnte oder nicht wollte, kam gar nicht in Frage.
Der Nachzieher des letzten Brechers hatte mich abgeschwemmt und weit
genug, um nicht vom Schlucker gefaßt zu werden. Ein paar Minuten würde
die Empreß ja noch machen, ehe sie endgültig wegschluckt und strudelt.
Das Achterschiff hat ja noch kaum Wasser gekriegt.

„Hoiho!“ hörte ich jetzt Stanislaw schreien. „Wo steckst du?“

„Komm, hier. Ich klebe gut. Platz genug“, brüllte ich hinaus in die
Finsternis. „Hallo. Hier. Hoiho!“ Immer wieder rief ich es, um Stanislaw
die Richtung zu geben.

Er kam auch immer näher. Endlich hatte er gepackt und kletterte hoch.


                                   48

„Was ist denn das, wo wir drauf sind?“ fragte Stanislaw.

„Weiß ich selbst nicht. Mit einemmal war ich drauf, weiß gar nicht, wie
es zuging. Ich denke, daß es eine Wand vom Ruderhaus ist. Hier sind die
Haltegriffe überall.“

„Sicher. Ist vom Ruderhaus“, bestätigte Stanislaw.

„Gut, daß die Esel noch nicht alles aus Eisen machen und manchmal noch
ein paar Stückchen Holz übriglassen. In den alten Schwarten siehst du
immer den Schiffsjungen an einen Mast angeklammert, auf dem er sich
rettet und mit dem er losschwimmt. Das ist heute aus. Die Masten sind
auch schon aus Eisen, und wenn du dich dran festklammerst, kannst du dir
auch ebenso gut einen Stein an den Bauch hängen. Wenn du wieder mal so
ein Bild siehst, dann sag ruhig, der Maler ist ein Schwindler.“

„Du hast aber einen Redefluß unter diesen verdammten Umständen hier“,
kritisierte Stanislaw.

„Ja, du Esel, soll ich denn hier jammern und Trauer flöten? Wer weiß, ob
ich dir in einer Viertelstunde noch erzählen kann, daß man sich heute
nicht mehr auf Maste verlassen darf. Und das muß gesagt werden, denn das
ist wichtig.“

„Bürsten und Bimsstein, da sind wir ja nochmal glatt davongekommen“,
rief er nun.

„Kreuzverhagelt nochmal“, schrie ich ihn an. „Halt dein
gotteslästerliches Maul, verflucht nochmal. Schreist ja das ganze
Gesindel heran. Wenn du im Trocknen sitzt, dann freu’ dich im stillen,
aber schrei es nicht raus so unverschämt. Ich gebe mir die größte Mühe,
das in unauffälliger und höchst eleganter Form zu sagen und vornehm zu
umschreiben, was ich meine, und du Prolet brüllst das glatt hinaus.“

„Rede nicht so große Töne. Jetzt ist doch alles egal, ist doch alles im
–.“

Mit diesem Stanislaw ist nichts zu erreichen, die Redewendungen, die er
zuweilen braucht, werden mich noch veranlassen, seine Gesellschaft zu
meiden.

„Alles egal?“ wiederholte ich. „Ich denke ja gar nicht dran. Alles egal
ist blöd. Es ist nie etwas egal. Jetzt geht das Vergnügen ja erst
richtig los. Bisher haben wir uns nur um Papiere herumgeschlagen, dann
mit dem Rattenfraß, dann wieder mit den verfluchten Rosten. Jetzt geht
es endlich um den letzten Atemzug, mit dem wir uns herumzuschlagen
haben. Alles übrige, was ein Mensch haben kann, ist weg. Alles, was wir
noch haben, ist der Atem. Und so schnell und willig laß ich mir den
nicht auch noch wegnehmen.“

„Ein Vergnügen denke ich mir aber anders“, sagte Stanislaw.

„Sei nicht undankbar, Lawski. Ich sage dir, es ist ein höllisches
Vergnügen, sich mit den Fischen um den Bissen zu prügeln, wenn man der
Bissen sein soll.“

Stanislaw hatte natürlich durchaus recht. Es war kein Vergnügen. Man
mußte sich ankrallen an den Handgriffen wie toll, um nicht
runtergeschwemmt zu werden. Die Brecher fühlte man nicht so hart auf der
schwimmenden Wand hier wie auf dem Schiff, weil die Brecher die Wand mit
hoch nahmen und nicht in voller Wucht darüber hinwegbrandeten. Aber
getaucht wurden wir doch oft genug, damit wir auch nicht vergessen
sollten, wo wir waren.

„Ich denke, wir müssen nun etwas tun“, sagte ich. „Meine Arme sind so
zerknüppelt, ich kann nicht mehr lange halten.“

„Wollen wir festlegen“, sagte Stanislaw. „Ich gebe dir hier mein
Tauende, und ich nehme deinen Bindfaden. Ich kann schon besser halten.
Der Bindfaden ist ja lang genug, daß man ihn dreifach nehmen kann.“

Stanislaw half nun, mich mit dem Tau festzuholen; ich konnte es mit
meinen lahmen Armen nicht gut allein tun. Dann band er sich ebenfalls
fest, und wir warteten nun auf die Geschehnisse.

Keine Nacht ist so lang, daß sie nicht endlich doch vorübergeht und dem
Tage weichen muß.

Mit dem neuen Tage ließ das schwere Wetter nach, aber der hohe Seegang
blieb.

„Siehst du was von Land?“ fragte Stanislaw.

„Nein. Ich wußte es ja, so leicht werde ich kein Entdecker neuer
Erdteile. Wenn nichts vor der Nase liegt, sehe ich keins.“

Plötzlich sagte Stanislaw: „Mensch, ich habe ja den Kompaß. War gut, daß
du ihn fandest.“

„Ja, ein Kompaß ist eine feine Sache, Lawski. Können wir immer sehen, in
welcher Richtung die afrikanische Küste liegt. Aber ein Segel wäre mir
lieber als zehn Kompasse.“

„Kannst nichts mit einem Segel machen auf dem Brett.“

„Warum nicht? Wenn Seebrise auf Land geht, gehen wir mit.“

„Wir werden wohl woandershin mitgehen, Pippip.“

Am Nachmittag wurde es wieder diesig und ein leichter Nebel legte sich
über die See. Er wirkte beruhigend auf das Toben des Meeres.

Die unermeßliche Weite der See wurde immer kleiner. Bald hatten wir die
Täuschung, daß wir nur auf einem Binnensee seien. Dann wurde auch der
See kleiner und kleiner und endlich glaubten wir, auf einem Flusse
dahinzugleiten. Es schien, als ob wir die Ufer mit den Händen ergreifen
könnten, und ehe wir einschliefen, sagte bald Stanislaw, bald ich: „Da
ist das Ufer, laß uns runtergehen und das kleine Stückchen
rüberschwimmen. Kannst es ganz deutlich sehen, es sind noch keine
hundert Schritt.“

Aber wir waren zu müde, um uns loszubinden und diese hundert Schritte zu
schwimmen.

Wir sprachen dann kaum noch und schliefen ein.

Als ich erwachte, war es Nacht.

Der dunstige Nebel lag noch immer auf dem Meer. Aber hoch in den Lüften
sah ich Sterne funkeln. Zu beiden Seiten sah ich die Ufer des Flusses,
auf dem wir hinglitten. Zuweilen wurde an einem der Ufer der Nebel
dünner, und ich sah die tausende funkelnden Lichter des nahen Hafens. Es
war ein großer Hafen. Er hatte hohe Wolkenkratzer und Miethäuser, deren
Fenster alle erleuchtet waren. Und hinter den Fenstern saßen die Leute
traulich beisammen und wußten nichts davon, daß hier auf dem Flusse zwei
Tote dahinglitten.

Und die Wolkenkratzer und die hohen Wohnhäuser wuchsen und wuchsen.
Welch ein gewaltiger Hafen war es, an dem wir vorüberglitten. Immer
höher und höher wuchsen die Wolkenkratzer bis sie endlich den Himmel
erreichten. Und die tausende funkelnden Lichter des Hafens, der
Wolkenkratzer und der traulichen Wohnhäuser, wo man nichts wußte von den
vorübergleitenden Toten, waren wie Sterne des Himmels. Und oben steil
über meinem Haupte trafen die Wolkenkratzer zusammen, und ich sah ihre
Fenster leuchten, und ich hoffte, die Gebäude möchten zusammenbrechen
und mich unter sich begraben. Es war die große Sehnsucht des Toten,
begraben zu werden und nicht mehr wandern zu müssen.

Ich bekam Angst und rief: „Stanislaw. Da ist ein großer Hafen. Sieht aus
wie New York.“

Stanislaw wurde munter, guckte sich um, sah durch den dünnen Nebel zu
den Ufern des Flusses, rieb sich die Augen, guckte hoch über sich und
sagte dann: „Du träumst, Pippip, die Lichter des großen Hafens sind
Sterne. Da ist auch kein Ufer. Wir sind auf hoher See. Spürst du doch an
den langen Wellen.“

Er konnte mich nicht überzeugen. Ich wollte nun doch zum Ufer schwimmen
und den großen Hafen erreichen. Aber als ich das Tau lösen wollte,
fielen mir die Hände schlaff herunter, und ich schlief ein.

Durst und Hunger machten mich wach. Es war Tag.

Stanislaw sah mich an mit verquollenen Augen. Mein Gesicht war
verkrustet von dem Salzwasser. Ich bemerkte, wie Stanislaw würgte, als
wollte er seine eigne Zunge kauen oder als sei sie ihm im Wege und lege
sich vor die Luftröhre.

In seinen Augen glomm Wut auf, und er rief mit rauher Stimme: „Du hast
immer gesagt, das Wasser auf der Yorikke stinkt. Das ist nicht wahr. Das
ist Quellwasser, ganz frisches, klares Quellwasser aus dem Tannenwalde.“

„Das Wasser stank nie,“ bestätigte ich, „das Wasser war Eiswasser. Und
der Kaffee war guter Kaffee. Ich habe nie etwas gegen den Kaffee auf der
Yorikke gesagt.“

Stanislaw schloß die Augen. Doch nicht lange darauf schreckte er
zusammen und schrie: „Zwanzig vor fünf, Pippip, raus. Hol’ das
Frühstück. Hiev die Asche. Das Frühstück zuerst. Pellkartoffeln und
Rauchhering. Den Kaffee. Viel Kaffee. Bring Wasser mit.“

„Ich kann nicht aufstehen“, gab ich ihm zur Antwort. „Bin gebrochen. Zu
müde. Mußt heute allein hieven. Wo ist denn der Kaffee?“

Wie war das? Ich hörte Stanislaw schreien, aber er war zwei Meilen fort.
Und meine Stimme war auch zwei Meilen weit fort von mir.

Nun brachen auch noch drei Feuertüren auf und die Hitze war nicht zu
ertragen. Ich lief zur Windhuze, um Atem zu schöpfen. Aber der spanische
Heizer schrie: „Pippip, die Feuertüren zu, der Dampf fällt.“

Aller Dampf fiel in den Kesselraum, und es wurde immer heißer. Ich lief
zum Trog, wo das Schlackenlöschwasser drin war, um meinen Durst zu
löschen, aber es schmeckte salzig und widerlich. Ich schnappte und
schnappte und trank es wieder, und der Feuerungskanal stand ganz weit
offen über meinem Kopfe am Himmel und war die Sonne, und ich trank
Seewasser.

Dann schlief ich wieder ein und die Türen der Feuerkanäle waren
geschlossen und der Heizer goß den Trog mit dem Schlackenwasser über den
Kesselraum, und ich war auf dem offnen Meer und ein Wellenkamm war über
die Wand hinweggebrochen.

„Da ist die Yorikke!“ schrie Stanislaw viele Meilen weit fort von mir.
„Das ist das Totenschiff. Der Hafen. Der Norweger liegt da. Er hat
Eiswasser. Siehst du nicht, Pippip?“

Mit beiden Armen, die Fäuste geballt, deutete Stanislaw über das weite
Meer.

„Wo ist die Yorikke?“ rief ich.

„Siehst du sie denn nicht, Mensch? Da liegt sie ja. Sechs Roste sind
rausgefallen. Verflucht. Jetzt acht. Himmelkreuzdonnerwetter! Wo ist der
Kaffee, Pippip? Habt ihr wieder alles weggesoffen. Das ist keine
Schmierseife, du Hund, das ist Butter. Gib den Tee jetzt her, verflucht
nochmal.“

Stanislaw fuhr herum, bald zeigte er in diese Richtung, bald in jene.
Immer fragte er, ob ich denn die Yorikke und den Hafen nicht sähe.

Aber mir war das gleichgültig. Es tat mir weh, den Kopf nach dem Hafen
zu drehen.

„Wir kommen ab! Wir kommen ab!“ brüllte nun Stanislaw. „Ich muß rüber
zur Yorikke. Die Roste sind alle raus. Der Heizer liegt im Kessel. Wo
ist das Wasser? Habt ihr denn keinen Kaffee mehr für mich gelassen? Ich
muß rüber, rüber, rüber.“

Er zerrte nun an dem Bindfaden, um ihn zu lösen. Er konnte aber die
Knoten nicht öffnen. Er drehte wie unsinnig an den Knoten und verknotete
sie immer mehr.

„Wo ist die Schaufel?“ rief er. „Ich muß das Tau kappen.“

Aber der Bindfaden hielt nicht lange. Stanislaw zerrte, riß und
scheuerte mit solcher Kraft an den dreifach gedrehten Verschnürungen,
daß er sich immer weiter daraus hervorwinden konnte. Die letzten Stringe
riß er durch.

„Die Yorikke fährt weg. Schnell, Pippip. Der Norweger hat Eiswasser. Er
winkt mit der Kanne. Ich bleibe nicht auf dem Totenschiff.“

Immer wilder brüllte Stanislaw.

Er hing nur noch am Fuß fest, und jetzt zerrte er auch dort die Stringe
los.

Ich sah das alles in meilenweiter Ferne, wie auf einem Bilde oder durch
ein Fernrohr.

„Da ist die Yorikke. Der Skipper tippt an die Mütze.“ Stanislaw rief es
und sah mich an mit starren Augen. „Komm rüber, Pippip. Tee und
Rosinenstollen mit Kakao und Wasser.“

Ja, da lag die Yorikke. Ich sah sie deutlich liegen. Erkannte sie an
ihrem bunten närrischen Kleide und an ihrer Brücke, die immer in der
Luft hängen blieb und von irgendeinem Schiff zurückgelassen worden war,
das sie nichts anging.

Da war die Yorikke, und jetzt hatten sie Frühstück oder Abendessen oder
Pflaumen in blauem Stärkeschleim. Der Tee war nicht schlecht. Das war
Lüge und Verleumdung. Der Tee war gut auch ohne Zucker und Milch. Und
das Trinkwasser stank nicht.

Ich begann, an meinem Tau zu knoten. Aber ich bekam den Knoten nicht
auf. Dann rief ich Stanislaw, er möge mir helfen, den Knoten
aufzuziehen. Aber er hatte keine Zeit. Er wurde mit seinem Fuße nicht
fertig und arbeitete wie toll, um den Fuß loszukriegen. Nun gehen auch
noch die Wunden auf, die man ihm auf dem Kopfe geschlagen hatte. Das
Blut sickert über sein Gesicht, aber er läßt sich nicht stören.

Und ich zerrte und zerrte an meinen Banden. Aber das Tau war zu dick.
Ich konnte es nicht durchscheuern und konnte meine Glieder nicht
herauswinden. Ich verstrickte mich immer mehr. Dann suchte ich nach der
Axt, nach dem Messer und endlich nach der Schaufel, die wir glatt
geklopft hatten, um einen hölzernen Mast daraus zu machen, aber der
Kompaß fiel immer wieder ins Wasser, und ich mußte ihn mit dem
durchgebrannten Rost fischen. Das Tau gab nicht nach. Der Knoten zog
sich immer fester. Das versetzte mich in namenlose Wut.

Stanislaw hatte seinen Fuß jetzt los.

Er drehte sich halb um nach mir und rief: „Komm rüber, Pipplaw. Sind nur
zwanzig Schritte zu laufen. Die Roste sind alle raus, und es ist
Wasserminute vor fünf. Aufstehen. Rasch auf. Raus. Asche hieven.“

Aber die Aschenhieve kreischte: „Da ist keine Yorikke!“ Und ich schrie,
so laut ich konnte: „Da ist keine Yorikke! Da ist keine Yorikke! Da ist
keine Yorikke!“

Ich klammerte mich an das Tau in furchtbarer Angst; denn die Yorikke war
fort, und ich sah nur Meer, Meer, sah nichts als die gleichmäßigen Wogen
der See.

„Stasinkowslow, spring nicht!“ Ich schrie es in namenloser Angst; denn
ich konnte seinen Namen nicht finden, der mir aus der Hand gerutscht
war. „Stanislaw, nicht springen! Nicht springen! Nicht. Bleib hier!“

„Die holt den Anker ein. Ich gehe nicht auf ein Totenschiff. Ich renne
rüber zur Yorikke. Renne, ich renne, renne. Rüber. Komm!“

Und er sprang. Er sprang. Da war kein Hafen. Da war kein Schiff. Da war
kein Ufer. Alles See. Alles Wogen.

Er tat nur ein paar patschende Schläge. Dann sank er für immer weg. Ich
starrte rüber zu dem Loch, in das er gefallen war. Ich sah es in
unendlich weiter Ferne. Und ich rief: „Stanislaw! Lawski! Bruder!
Lieber, lieber Kamerad, komm hierher! Hoiho! Hoiho! Hierher! Hierher!“

Er hörte nicht. Er kam nicht. Er kam nicht mehr hoch. Er tauchte nicht
mehr auf. Da war kein Totenschiff. Da war kein Hafen. Da war keine
Yorikke. Er tauchte nicht mehr auf, no, Sir.

Und das war merkwürdig. Er tauchte nicht mehr auf, und ich konnte es
nicht fassen, wie das zuging.

Er hatte angemustert für große Fahrt, für ganz große Fahrt. Aber wie
konnte er nur mustern? Er hatte doch kein Seefahrtsbuch. Sie würden ihn
gleich wieder runterfeuern.

Aber er kam nicht hoch. Der große Kapitän hatte ihn gemustert. Und treu
hatte er ihn gemustert, auch ohne Papiere.

„Komm, Stanislaw Koslowski“, sagte der große Kapitän, „komm, ich mustere
dich treu und ehrlich für große Fahrt. Laß nur die Papiere. Brauchst
keine bei mir. Fährst auf treuem und ehrlichem Schiff. Geh zum Quartier,
Stanislaw. Kannst du lesen, was über der Tür steht?“

Und Stanislaw sagte: „Ja, Käp’n. Wer hier eingeht, ist ledig aller
Qualen!“


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 48]:
   ... können einen manchmal besser voranhelfen als die ...
   ... können einem manchmal besser voranhelfen als die ...

   [S. 81]:
   ... einem Fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was
       ich bis jetzt ...
   ... einem fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was
       ich bis jetzt ...

   [S. 155]:
   ... Straße gehen kannst, könntet du ja vielleicht wieder
       lebendig werden. ...
   ... Straße gehen kannst, könntest du ja vielleicht wieder
       lebendig werden. ...

   [S. 171]:
   ... Ein weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte
       festgemacht. ...
   ... Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte
       festgemacht. ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS TOTENSCHIFF ***


    

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