Werner von Siemens, der Begründer der modernen Elektrotechnik

By Artur Fürst

The Project Gutenberg EBook of Werner von Siemens, by Artur Fürst

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Title: Werner von Siemens
       der Begründer der modernen Elektrotechnik

Author: Artur Fürst

Release Date: December 21, 2014 [EBook #47733]

Language: German


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Werner von Siemens




Werner von Siemens
der Begründer der modernen Elektrotechnik

Von

_Artur Fürst_

Mit 13 Abbildungen

Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart und Berlin 1916




Alle Rechte vorbehalten


*Copyright 1916
by Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart*


Druck der Deutschen Verlags-Anstalt
in Stuttgart
Papier von der Papierfabrik Salach
in Salach, Württemberg




Inhalt


                                          Seite

Die Persönlichkeit                            7

Voreltern und Elternhaus                     15

Die Anfänge                                  21

Erste Erfindungen                            29

Theorie und Technik                          37

Revolution und Krieg                         44

Telegraphen-Apparate                         49

Das Leitungsnetz                             58

Bauten in Rußland                            71

Unterseekabel                                79

Die Überwindung des Ozeans                   94

Intermezzo                                  103

Die indo-europäische Telegraphenlinie       109

Die Erfindung der Dynamomaschine            114

Elektrische Bahnen                          129

Elektrisches Licht                          138

Parerga                                     141

Wissenschaft                                150

Öffentliche Wirksamkeit                     161

Siemens & Halske                            172

Lebenserinnerungen. Weltruhm                183

Quellenverzeichnis                          188




Vieles Gewaltige lebt, und nichts
Ist gewaltiger als der Mensch
    (»Antigone« des Sophokles)

[Illustration: Werner Siemens als Seconde-Lieutenant]

[Illustration: Werner Siemens
Geboren 13. Dezember 1816, gestorben 6. Dezember 1892]




Die Persönlichkeit


Vor dem stolz ragenden Gebäude der Technischen Hochschule in
Charlottenburg ist ein Bronzestandbild aufgerichtet, das Werner
Siemens in schlichter Gestalt zeigt. Gewiß konnte der Bildhauer,
der heutigen Kunstrichtung entsprechend, nichts Besseres tun,
als dem heranreifenden Ingenieurgeschlecht das große Vorbild im
Gewand des Bürgers vor Augen führen. Aber die Phantasie, die
keine bildnerischen Schwierigkeiten kennt, darf sich Werner
Siemens anders vorstellen.

Wir Jüngeren, die mit ihm nicht mehr in persönliche Berührung
gekommen sind, sehen ihn gern in zeusähnlicher Gestalt mit einer
modern geformten Ägis in der Hand. Ist er es doch gewesen, der
so recht eigentlich dem furchtbaren Schildschütterer die Blitze
aus der Hand genommen. Sein Schaffen erst hat dem Menschen die
Kraft und die Fähigkeit gegeben, den elektrischen Funken sicher
einzufangen, ihn zu meistern und weithin zucken zu lassen. Was
vor ihm war, erscheint uns heute als dilettantisches Spiel mit
der Elektrizität, durch sein Wirken erst wurde die weltfüllende
Kraft wirklich in den Dienst des Menschen gezwungen, der Blitz
aus den Wolken den Sterblichen als Werkzeug beigesellt.

Den Grundbau der modernen Elektrotechnik haben wir aus Werner
Siemens' Händen empfangen. Es ist ein Ganzes, das die Menschheit
ihm verdankt, nicht blendende Teile, die erst von anderen einem
Ganzen angefügt werden mußten. Zwar war auch Werner Siemens ein
großer Erfinder, aber ihn kennzeichnet nicht eine Fülle genialer
»Einfälle«; sondern ein langsames, stetiges Weiterführen dessen,
was er als noch nicht vollkommen erkannt hatte, ließ ihn ein
Lebenswerk von seltener Geschlossenheit aufrichten. Niemals
findet man bei ihm, von einer kurzen Jugendperiode abgesehen,
ein Herumirren der Gedanken auf krausen Wegen; den Zufallserfolg
hat er stets verschmäht. Wie auf einem Gleis ward sein Streben
und Forschen stets zwangläufig geführt, und diese ihm von
seiner Natur gewiesene feste Bahn, auf der er in stets gleicher
Richtung, aber zu den höchsten Zielen vorwärts eilen mußte, hieß
_Wissenschaft_.

Er schöpfte bei seiner Arbeit stets aus der Tiefe
wissenschaftlicher Erkenntnis, und dieses stark gegründete
Fundament des Siemensschen Schaffens bringt es mit sich, daß in
der Reihe der erlauchten Namen, die in die Ehrentafel der Technik
eingegraben sind, der seinige eine besondere Stellung einnimmt.

Man nennt Montgolfier den Erfinder des Luftballons, Franklin
den Erfinder des Blitzableiters, Philipp Reis den Erfinder des
Telephons, aber Werner Siemens lebt nicht fort als der Urheber
einer bestimmten Erfindung, sondern man bezeichnet ihn als
den Mann, der das elektrische Zeitalter, _unser_ Zeitalter,
heraufgeführt hat.

Auch von anderen Namen aus dem Reich der Technik strahlt ein
blendendes Licht, aber die meisten gleichen doch punktförmigen
Lichtquellen, bei deren Beobachtung man deutlich wahrnimmt, daß
all die weit hinausgesandten Strahlen an einer einzigen Stelle
entstehen. Siemens' Schaffen jedoch ist wie die Sonne, die aus
leicht verhangenem Himmel niederstrahlt; auch sie verbreitet ein
sehr starkes Licht, das aber weit verstreut ist, von überall
her, aus sämtlichen Richtungen zu kommen scheint und ein
ungeheures Gebiet erhellt. Warm, wohltuend und ganz gleichmäßig
ist dieses Licht; nur wenn man ganz scharf beobachtet, sieht
man einen besonders kräftig erhellten Abschnitt. Hier ist
der Ort am Firmament des Siemensschen Schaffens, von wo die
Leuchtkraft seiner größten Tat, der Schöpfung der Dynamomaschine,
niederstrahlt.

Daß die Wirksamkeit dieses Manns, die ihre Kraft aus der Tiefe
der Wissenschaft heraufholte, zugleich so sehr sich in die Breite
entwickeln, dem praktischen Leben von so bedeutendem Nutzen sein
konnte, verdanken wir einer seltenen Mischung verschiedener
Fähigkeiten in der Person von Werner Siemens.

Aus drei Farben stellt die heutige Drucktechnik jede mögliche
Tönung her; aus drei Eigenschaften vermochte Siemens so viele
und so mannigfaltige Leistungen herauszuentwickeln, daß sein
Lebenswerk fast unübersehbar geworden ist.

In ihm vereinigten sich der Mann der Wissenschaft, der Techniker
und der Kaufmann zu einem schillernden und doch einheitlichen
Ganzen. Für den Apparat, den der Techniker als unzureichend
und verbesserungsbedürftig erkannt hatte, entwickelte der
Wissenschaftler die theoretische Grundlage, schuf er das
Fundament, auf dem weitergebaut werden konnte; wurde im
wissenschaftlichen Laboratorium eine neue Erkenntnis geboren,
dann war der Ingenieur imstande, das Geisteserzeugnis mit einem
Körper zu umschließen, der Knochen, Blut und Muskeln besaß, so
daß es lebendig zu wirken vermochte. Der Kaufmann aber kannte
die Wege, um den Gegenstand so auf den Markt zu bringen, daß er
Käufer fand und Geld einbrachte, das nun wieder die Möglichkeit
zu weiteren wissenschaftlichen Forschungen schuf. Auf diese Weise
entstand ein Kreislauf, der zu immer Größerem führen mußte. Er
stellte die vorausgenommene Anwendung des von Siemens später
gefundenen dynamo-elektrischen Prinzips auf sein eigenes Leben
dar, dieses Prinzips, nach dem der Induktor durch die Leitung
die Polmagnete verstärkt und diese dann wieder rückwirkend den
Induktor zu höheren Leistungen befähigen.

»Naturwissenschaftliche Forschung war meine erste, meine
Jugendliebe ... daneben habe ich freilich immer den Drang gefühlt,
die naturwissenschaftlichen Errungenschaften dem praktischen Leben
nutzbar zu machen,« so hat er von sich gesagt. »Dabei kann ich mir
selbst das Zeugnis geben, daß es nicht Gewinnsucht war, die mich
bewog, meine Arbeitskraft und mein Interesse in so ausgedehntem Maß
technischen Unternehmungen zuzuwenden. In der Regel war es zunächst
das wissenschaftlich-technische Interesse, das mich einer Aufgabe
zuführte. Indessen will ich auch die mächtige Einwirkung nicht
unterschätzen, welche der Erfolg und das ihm entspringende
Bewußtsein, Nützliches zu schaffen und zugleich Tausenden von
fleißigen Arbeitern dadurch ihr Brot zu geben, auf den Menschen
ausübt.«

Diese mächtige Einwirkung trieb hier nun nicht zu Spekulationen,
sondern eben zur wissenschaftlichen Forschung zurück in dem
unbewußten Drang, der das echte Genie stets auf den richtigen Weg
lenkt.

Die Dreigestalt von Siemens' Persönlichkeit hat auch äußerlich zu
eigenartigen Konstellationen geführt. Der praktisch schaffende
Ingenieur wurde als ordentliches Mitglied in die preußische Akademie
der Wissenschaften berufen, die doch, wie Du Bois-Reymond damals
betonte, die Wissenschaft um ihrer selbst willen betreibt, und eben
derselbe Mann hatte als *Dr. phil. honoris causa* einmal
Gelegenheit, den Titel Kommerzienrat, den man ihm antrug, als nicht
ganz zusagend abzulehnen.

Als Werner Siemens nach Berlin kam, um seine Laufbahn zu
beginnen, war die erste Eisenbahn in Deutschland noch nicht
eröffnet; eine Technik in unserem heutigen Sinn gab es überhaupt
nicht. Faraday hatte gerade erst seine Untersuchungen über
die Magnetinduktion bekannt gegeben, die in der Folge die
theoretische Grundlage für den Bau sämtlicher elektrischer
Maschinen geworden sind; an eine Elektrotechnik war also
überhaupt noch nicht zu denken. Das Wort Elektrotechnik selbst
ist erst viel später bei der unter Siemens' Mitwirkung erfolgten
Begründung des Elektrotechnischen Vereins geschaffen worden.

Der junge Mann selbst kam vom Land, aus den engen Verhältnissen
einer ärmlichen, kinderreichen Familie. Er war ohne Mittel und
ohne besondere Schulbildung. Er hatte auch nicht das Glück,
nun gleich systematische Studien beginnen zu können, sondern
sah sich gezwungen, die Laufbahn eines Artillerieoffiziers
einzuschlagen. Viele, viele Jahre lang konnte er an nichts
anderes denken als nur daran, wie er sich die Mittel zu seinem
kargen Lebensunterhalt verschaffte.

Und doch! Das Wunderbare geschah, das Unbegreifliche trat auch
hier wieder ein, dem wir immer begegnen, wenn die geheimnisvoll
über uns gebietende Macht jemanden dazu ausersehen hat, ihr
Werkzeug bei der Fortentwicklung des Menschengeschlechts zu
werden.

Das in den freien Luftraum geworfene und am Wachstum behinderte
Samenkorn keimte dennoch, ward groß und stark, schöpfte seine
Kraft aus unbekannten Regionen, in die nur die Wurzeln des Genies
den Eingang finden, entfaltete sich als ein Baum, der köstliche
Früchte trug und seine breitästige Krone auf kerngesundem,
knorrigem Stamm weit ausbreitete.

Als Werner Siemens die Augen schloß, da war mit seiner
Hilfe, durch seine Forschungen und Erfindungen das Reich des
elektrischen Schwachstroms prachtvoll errichtet und gefestigt.
Die Elektrizität war als Übermittlungswerkzeug des menschlichen
Gedankens unentbehrlich geworden, sie schloß Erdteile zusammen
und überbrückte die Weltmeere. Schon damals waren die Drähte
die Harfensaiten, auf denen das brausende Lied der menschlichen
Kultur gespielt wurde. Die Starkstromtechnik hatte den festen
Unterbau erhalten, auf dem sie sich bald zu ihrer heutigen
umfassenden Bedeutung entwickeln sollte. Siemens selbst, der
mit der Dynamomaschine der Menschheit das Mittel zu ungeahnter
Beherrschung und Dienstbarmachung der Naturkräfte in die Hand
gegeben hatte, konnte auch hier noch die erste Entwicklungsstufe
selbst leiten und geistig begleiten, bis mit seinem zunehmenden
Alter ein anderer Führer wurde: Emil Rathenau.

Der Sohn des armen Landwirts hinterließ ein Vermögen, das
eine sehr stattliche Zahl von Millionen umfaßte. Die von
ihm begründete und geleitete Industriefirma war eine der
angesehensten und bedeutendsten in Deutschland geworden; er
hat ihren Namen für immer mit der Geschichte der Technik
verbunden. Was an Ehrungen einem Gelehrten, einem Erfinder, einem
Industriellen zuteil werden kann, ist ihm in reichster Fülle
zugeflossen.

Er verdiente diese Auszeichnungen um so mehr, als er neben
seinen großen Taten auf ureigenstem Gebiet dem Gedeihen des
Staats zeitlebens eine lebhafte und tatkräftige Aufmerksamkeit
zugewendet hat. In die preußische Politik hat er ratend und
rettend eingegriffen. Ein starkes soziales Pflichtgefühl trieb
ihn schon zu einer Zeit, als man diesen Einrichtungen in
industriellen Kreisen noch recht bedenklich gegenüberstand,
dazu, für die Angestellten und Arbeiter seiner Firma eine
Invaliditätskasse und Altersversorgungseinrichtung zu schaffen.
Er fand nicht Ruhe, bis es ihm gelungen war, der erfinderischen
Tätigkeit in Deutschland einen gesunden Boden zu schaffen. Werner
Siemens ist als der Vater unserer Patentgesetzgebung anzusehen.
Durch die Errichtung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt,
deren Gründung er geistig vorbereitete und durch reiche
finanzielle Beihilfe ermöglichte, ließ er das erste Institut in
Deutschland entstehen, das ausschließlich der wissenschaftlichen
Forschung gewidmet ist.

Sein universeller Geist trieb ihn auch unablässig, über
naturwissenschaftliche Fragen nachzusinnen, die abseits der
Technik lagen. Wenn man seine Arbeiten über solche Themen
durchblättert und zugleich die Fülle der wissenschaftlichen
Aufsätze wahrnimmt, die er über technische Probleme geschrieben
hat, so wird man mit Staunen erfüllt über die geistige Kapazität
dieses Manns, der schließlich zu wissenschaftlicher Tätigkeit
doch nur in den kargen Mußestunden Zeit hatte, die ihm seine
weitest ausgebreitete industrielle Wirksamkeit ließ.

Man sollte meinen, daß in dem Leben eines solchen Manns kein Raum
zu dem geblieben wäre, was man im landläufigen Sinn »Erlebnis«
nennt. Doch da sehen wir wieder, wie das Genie den Fassungsraum
des Jahrs und der Stunde zu weiten vermag, so daß sie für ihn
ein Mehrfaches der Sekundenzahl zu enthalten scheinen, die der
gewöhnliche Mensch abzählt. Werner Siemens' Erdenwallen ist
erfüllt von romantischen Begebenheiten, von Abenteuern könnte man
sagen, wie sie in solcher Zahl nur wenigen begegnen.

Fortwährend erlebt er Außerordentliches. Das Plötzliche, das
seinen Erfindungsideen fremd ist, tritt im Gang seines Lebens
fortwährend auf. Unerwartete Ereignisse werfen ihn häufig in
andere Richtung, als er gerade einzuschlagen beabsichtigt.
Dreimal verursacht er schwere Explosionen, er erobert eine
Festung, kämpft mit Beduinen auf der Spitze einer Pyramide, wird
durch einen Schiffbruch auf eine unbewohnte Insel gebannt, eine
lose gewordene Kabeltrommel droht sein Schiff zu zerschmettern,
das Meer strömt mit furchtbarem Wüten in seltsamer Weise gegen
ihn an. Und -- was das erstaunlichste ist -- in all diesem
Getümmel oft schwerer Gefahren bleibt er jeden Augenblick
der ruhige, sorgsam beobachtende Mann der Wissenschaft. Ein
Ausbruch des Vesuv läßt in ihm Gedanken über die Beschaffenheit
des Erdinnern erwachsen, er treibt Navigation während des
Schiffbruchs und Meeresforschung inmitten der Wasserhose.

Auch der Kreis der Familie, aus dem er hervorging, zeigt uns
ein ungewöhnliches Bild. Unter den zahlreichen Kindern, die
Werner Siemens' Eltern hinterließen, ist er nicht das einzige
gewesen, das als schaffender Mensch Bedeutung erlangte.
Zeitlebens war er auf seinem Höhenpfad aufs engste mit drei
Brüdern verbunden, von denen jeder in seinem Gebiet Großes
geschaffen hat. Wilhelm, Friedrich und Karl Siemens umgeben als
ein leuchtendes Dreigestirn die Zentralsonne Werner. In ihren
jungen Jahren waren sie alle seine Helfer, und auch später
haben sie häufig in seinem Interessenkreis gearbeitet. Aber die
wissenschaftlich-technischen Schöpfungen Wilhelms und Friedrichs,
die außerordentliche organisatorische Begabung Karls würden auch
ohne den großen Bruder es jedem von den Dreien ermöglicht haben,
den Namen Siemens bekannt und bedeutsam zu machen.

Die Mitwelt hat die vier Männer mit gleichem Namen gewissermaßen
individuell angesiedelt, um sie leichter unterscheiden zu
können. Werner war natürlich der »Berliner Siemens«, _Wilhelm_
(William), der während des größten Teils seines Lebens in England
wirkte und dort als hochberühmter und verehrter Mann starb, der
Schöpfer des nach ihm benannten, auf der ganzen Erde angewendeten
Stahlbereitungsverfahrens, hieß der »Londoner Siemens«.
_Friedrich_, der Erfinder des Regenerativofens und verdiente
Förderer der Glasindustrie, wurde der »Dresdener Siemens«
genannt. _Karl_ endlich, der lange Zeit in Petersburg und im
Kaukasus gewirkt hat, war als der »Russische Siemens« bekannt.

Nachzuforschen, wie die gemeinsame Quelle gestaltet war, aus
der diese vier prächtigen Ströme entsprangen, ist gewiß eine
lohnende Aufgabe. Ihr wollen wir uns zunächst zuwenden, um dann
zu beobachten, wie der größte und mächtigste von ihnen in seinem
Lauf sich um sperrende Krümmungen windet, über Hindernisse
brausend hinwegschießt, Arme aussendet, die sich später wieder
mit dem Hauptlauf vereinigen, wie aus dem schmalen Wasser
allmählich ein breiter Strom wird, der endlich ruhig und gelassen
ins unendliche Meer des Weltruhms und der Unsterblichkeit
ausmündet.




Voreltern und Elternhaus


Die Ahnenreihe der Siemens schließt sich zu einer Familie von
bestem Bürgeradel zusammen. Der Stammbaum läßt sich bis zum
Jahre 1523 zurückverfolgen. Da wird in der Bürgerrolle der Stadt
_Goslar_ ein Petrowin Siemens als Mitglied der Krämergilde und
Hauseigentümer genannt. Seine Nachkommen sind Ratsherren und
Stadthauptleute in Goslar. Noch heute steht dort ein altes
schönes Haus mit geschnitztem Gebälk und Butzenscheiben, das
einer der Siemensschen Ahnen errichtet hat; in ihm werden jetzt
noch in gewissen Abständen Zusammenkünfte der Siemens abgehalten.
Es bestand in der Familie von jeher ein in Bürgerkreisen seltenes
Zusammengehörigkeitsgefühl, das bis zum heutigen Tag sorgsam
gepflegt wird.

Werner Siemens erwähnt in seinen »Lebenserinnerungen« eine alte,
höchst romantische Familienlegende, die er als geschichtlich
nicht erwiesen bezeichnet. Indessen ist durch die Forschungen
von Stephan Kekulé von Stradonitz festgestellt worden, daß die
Erzählung wirklich einen Urahnen des Hauses betrifft und zwar
eine Stammutter des Geschlechts. Der Historiograph hat darüber in
den »Grenzboten« berichtet:

»Von 1618 bis 1648 wütete in Deutschland der Dreißigjährige
Krieg: ein Menschenalter von Blut, Mord und Brand, gänzlicher
Vernichtung der beweglichen, Zerstörung der unbeweglichen Habe,
eine Zeit geistigen und materiellen Verderbens der Nation.

»Vor den Kriegsgreueln war _Anna Maria Crevet_, die am 4. März
1611 zu Lippstadt geborene bildschöne, schwarzlockige Tochter
eines Barbiers mit Namen Gerhard Crevet und seiner ehrsamen
Hausfrau Anna Gallenkamm, zu ihrem Vetter Jobs Bruckmann, einem
vornehmen Kaufmann, nach Magdeburg geflohen, um in dessen Haus
eine sichere Zufluchtsstätte zu finden.

»Im Frühjahr des Jahres 1631 kam es zur Belagerung der Stadt, am
10. Mai alten, 20. Mai neuen Stils zu jener furchtbaren Plünderung,
die alles, was bisher im großen Krieg an Scheußlichkeiten verübt
worden war, in den Schatten stellte.

»Im Heer der Belagerer diente damals ein Soldat mit Namen Hans
Volkmar, geboren am 24. November 1607 zu Hollenstedt an der
Leine in der heutigen Provinz Hannover. Einer der eifrigsten bei
der Plünderung, drang er mit einer Anzahl Spießgesellen in das
Bruckmannsche Haus. Dieses wurde von unten bis oben durchsucht,
und so gelangten die Plünderer auch auf den Heuboden, wo ein
großer Heuhaufen ihre Aufmerksamkeit anzog, weil erfahrungsgemäß
die Einwohner der Häuser derartige Verstecke zu benutzen
pflegten, um Wertvolles darin zu bergen.

»Eifrig stocherte Hans Volkmar mit seinem Mordgewehr im
Heuhaufen. Da! Ein dumpfer Schrei, Geraschel. Er wühlt weiter.
Da stürzt sich aus dem Heuhaufen ihm zu Füßen, seine Knie
umklammernd, ein schönes junges Weib, notdürftig gekleidet, zum
Tod erschrocken, aus einer frischen Wunde an der Lende blutend,
und fleht mit heißem Ringen ums Leben. Einen Augenblick steht er
erstarrt, dann stürzt er sich auf sie, reißt sie hoch, wehrt mit
wildem Ruf die Gefährten zurück und eilt mit seiner süßen Beute
ins Lager, alle Schätze vergessend.

»Vier Tage nachher, am 14. Mai alten, 24. Mai neuen Stils, wurde
das Paar durch einen Feldprediger im Lager getraut.

»Hans Volkmar diente noch eine Zeitlang als Soldat, später ließ
er sich in der alten Kaiserstadt Goslar am Harz nieder. Dort
erwarb er 1650 das Bürgerrecht, wurde 1652 Achtsmann, 1660
Stadthauptmann und ist am 28. Mai 1678 im 71. Lebensjahr,
nachdem er mit seiner bei der Belagerung Magdeburgs gewonnenen
Ehefrau 47 Jahre im glücklichsten Ehestand gelebt hatte,
gestorben. Seine Witwe überlebte ihn noch lange. Sie starb
erst im Jahre 1696 im 85. Jahr ihres Lebens, nachdem sie von
11 Kindern Mutter, von 31 Enkeln Großmutter, von 30 Urenkeln
Urgroßmutter geworden war.«

Die älteste Tochter dieser Anna Maria Crevet-Volkmar, namens
_Anna_, die am 1. August 1636 geboren wurde, heiratete einen
_Hans Siemens_, Stadthauptmann und Achtsmann zu Goslar. Sie
brachte in das Geschlecht der Siemens eine Eigentümlichkeit
hinein, die es bis heute bewahrt hat, nämlich den Kinderreichtum.
Kommen doch in einzelnen Fällen 13, 14 und 15 Kinder eines
Ehepaars vor. Das Geschlecht ist noch heute sehr ausgebreitet.
An einem Familientag waren nicht weniger als 63 Vertreter des
Geschlechts versammelt. Augenblicklich zählt die Familie 38
Mitglieder.

Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts ab bis auf den Vater der
vier berühmten Brüder sind die Ahnen der Siemens meist Landwirte
gewesen. Aber das Interesse für mechanisch-technische Dinge und
die Erfinderbegabung treten doch mit jenen nicht zum erstenmal in
diesem Geschlecht auf.

Schon ein Großonkel der Brüder beschäftigte sich in seinen
Mußestunden viel mit optischen Instrumenten und fertigte gern
Mikroskope und Fernrohre als Geschenke für seine Verwandten an.
Der Onkel Ernst Franz Siemens, der 1780 in Lutter am Barenberg
geboren wurde, hat das Sieden und Zerkleinern der Kartoffel
bei hoher Temperatur und die Anwendung des Wasserdampfs zur
Destillation in die Brennerei eingeführt. Sein Sohn Karl Georg
errichtete in Braunschweig die erste große Zuckerfabrik mit
Dampfeinrichtung und war Professor der technischen Werkstatt an
der Hochschule zu Hohenheim. Ein anderer Sohn, Adolf Siemens,
der Offizier bei der Hannoverschen Artillerie war, erfand eine
Verbesserung der Schrapnelleinrichtung und einen elektrischen
Apparat zum Entfernungsmessen für Geschütze. So ist es also
nicht etwas Neues, sondern nur eine freilich rasche und
großartige Weiterentwicklung, wenn Werner Siemens den Ruhm des
Familiennamens über die ganze Erde trug.

Er wurde am 13. Dezember 1816 als der Sohn des Landwirts
_Christian Ferdinand Siemens_ und seiner Gattin _Eleonore_, der
Tochter des Amtsrats Deichmann in Poggenhagen, zu _Lenthe_ bei
Hannover geboren. Die Eltern hatten 14 Kinder, nämlich 11 Söhne
und 3 Töchter. Das älteste Kind war Ludwig, von dem wir nichts
näheres wissen, da er verschollen und ohne Kinder gestorben ist.
_Mathilde_, die geliebte Schwester von Werner, war das zweite
Kind. Dann folgte ein Sohn Werner, der kurz nach der Geburt
gestorben ist. Unser großer Ernst Werner Siemens war das vierte
Kind seiner Eltern, Wilhelm das achte, Friedrich das neunte und
Karl das zehnte.

Das Obergut Lenthe, auf dem die Eltern lebten, liegt an einem
bewaldeten Bergrücken, der vom Deistergebirge abfällt. Es gehörte
zu der damaligen Königlich Großbritannischen Provinz Hannover,
deren staatliche Organisation noch fast mittelalterlich war. Der
Vater wagte es einstmals, ein Rudel der Hirsche einzusperren,
die in großer Zahl die Saaten auf schlimmste Weise verwüsteten,
aber von niemand angegriffen werden durften. Sofort wurde
vom Oberhofjägeramt in Hannover eine Untersuchung gegen ihn
eingeleitet, und der Vater hatte es nur einem Glückszufall
zu verdanken, daß er mit einer schweren Geldstrafe davonkam.
Dieses Erlebnis gab ihm Anlaß, ein Land mit freieren Zuständen
aufzusuchen, und er pachtete die Domäne Menzendorf im Fürstentum
Ratzeburg, das zu -- Mecklenburg gehörte. Dort hat Werner
glückliche Jugendjahre verlebt. Die ökonomischen Verhältnisse im
Elternhaus waren freilich recht trübselig; die Domäne warf nur
einen geringen Gewinn ab, viel zu wenig, um eine so zahlreiche
Familie zu ernähren.

Bis zu seinem elften Lebensjahr unterrichtete Großmutter
Deichmann -- geborene von Scheiter, wie sie nie ihrer Unterschrift
beizufügen vergaß -- ihren Enkelsohn, und auch der Vater erteilte
einige Unterrichtsstunden. Dann wurde die einfache Bürgerschule
des eine Stunde weit entfernten Städtchens Schöneberg bezogen.
Die wissenschaftlichen Resultate dort waren, wie Werner Siemens
selbst feststellt, recht mäßig.

Im Jahre 1828 berief der Vater für seine Kinder einen Hauslehrer,
den Kandidaten der Theologie _Sponholz_, der Ausgezeichnetes
geleistet haben muß, da Werner seiner noch in hohem Alter mit
lebhafter Dankbarkeit gedachte. Leider machte Sponholz nach
einigen Jahren seinem Leben durch Selbstmord ein Ende, und nun
kam ein trockener Pedant als Lehrer ins Haus, der vieles verdarb,
was die Kinder vorher schon in sich aufgenommen hatten.

Als auch dieser Mann im Siemensschen Haus gestorben war, wurde
Werner endlich einem systematischen Unterricht zugeführt, indem
man ihn auf die Katharinenschule, ein Gymnasium zu Lübeck,
sandte. Bei der Prüfung erwies er sich als reif für die Aufnahme
in Obertertia. Es hat ihm viel Verdruß bereitet, daß auf diesem
Gymnasium ein fast ausschließlicher Wert auf das Erlernen
der alten Sprachen gelegt wurde. Für diese hatte er gar kein
Interesse, da es bei den grammatischen Regeln »nichts zu denken
und nichts zu erkennen gab«. Fast gar nicht gepflegt wurde die
Mathematik, für die der junge Werner eine starke Begeisterung
fühlte, und in der er auch schon viel wußte, obgleich seine
beiden Hauslehrer gar nichts davon verstanden hatten. Nur aus
einem inneren Drang heraus hatte er sich so lebhaft mit dieser
Wissenschaft beschäftigt, daß er auf dem Gymnasium in dieser
Disziplin sogleich eine höhere Klasse besuchen durfte. Schon in
der Sekunda ließ er das Studium des Griechischen vollständig
fallen und nahm statt dessen Privatstunden in Mathematik und
Feldmessen, um sich für das Baufach vorzubereiten, das einzige
technische Fach, das es damals gab.

Sein glühender Wunsch war, an der Bauakademie in Berlin studieren
zu dürfen. Aber die sehr geringen Mittel des Vaters erlaubten
ihm das nicht. Sein Lehrer im Feldmessen, der Leutnant im
Lübecker Kontingent Freiherr von Bülzinglöwen, der früher bei
der preußischen Artillerie gedient hatte, empfahl ihm, beim
preußischen Ingenieurkorps einzutreten, wo er mit Aufwendung
geringer Summen dasselbe lernen könnte wie auf der Bauakademie.
Das schien Werner hoffnungsreich zu sein, und um Ostern 1834, in
seinem siebzehnten Lebensjahr, nahm er Abschied vom Elternhaus,
um nach der preußischen Hauptstadt überzusiedeln.

Wir wissen nicht, mit welchen Gefühlen die Eltern, damals wohl
schon kränklich und von schweren Sorgen niedergedrückt, ihren
Sohn haben fortziehen lassen. Sie mögen ihn als einen Jüngling
betrachtet haben, der mit etwas exzentrischen Ideen aus der Art
schlug, da er durchaus nicht in dem hergebrachten Kreis der
Landwirte bleiben wollte. Niemand konnte gewiß ahnen, daß die
als Kuriosität betrachtete Vorliebe für die Mathematik so hohe
Bedeutung für das ganze Geschlecht gewinnen sollte.




Die Anfänge


Wir Heutigen haben Mühe, uns die Zeitumstände vorzustellen,
unter denen der junge Werner nach Berlin ging. Ging im wahren
Sinn des Worts, denn er mußte über die Chaussee wandern, da es
eine regelmäßige Verbindung von Mecklenburg nach Berlin nicht
gab, und er auch gar nicht imstande gewesen wäre, die Fahrkosten
aufzubringen.

Für die Mecklenburger zog er ins Ausland, in das fremde, immer
mit einem gewissen Schrecken betrachtete preußische Gebiet
hinein. Die Bauern von Menzendorf, die den Knaben liebgewonnen
hatten, sandten sogar eine Abordnung an den Vater, um ihn
zu bitten, »so einen gauden Jungen« doch nicht nach Preußen
gehen zu lassen, wo er notwendigerweise verhungern müsse. Sie
dachten, daß das ganze Land aus demselben unfruchtbaren Sand
bestünde wie der preußisch-mecklenburgische Grenzrand. Irgendein
deutsches Zusammengehörigkeitsgefühl war noch nicht vorhanden;
nur der Vater ahnte schon mit ziemlicher Klarheit, daß der Staat
Friedrichs des Großen Deutschland einstmals zur Größe emporführen
würde.

So trug also der künftige Offiziersaspirant sein gewiß nicht
allzu schweres Ränzel über die staubige Landstraße einer
Zukunft entgegen, deren Größe ihm durch keine Fata Morgana
angezeigt wurde. Der erste Mensch, der sich ihm auf dem neuen
Lebensweg beigesellte, war ein junger Knopfmacher. Der zog
auch nach Berlin, und mit ihm nahm Werner Siemens in der
Knopfmacherherberge sein erstes Quartier.

Das sollte ihm bald sehr übelgenommen werden. Er hatte eine
Empfehlung an einen entfernten Verwandten, den Leutnant von Huet
bei der reitenden Gardeartillerie, bei sich; diesen suchte er
auf und versetzte ihn in größten Schrecken durch die Mitteilung,
daß er in der standesunwürdigen Knopfmacherherberge übernachtet
habe. Der Leutnant ließ sofort das Ränzel abholen, den jungen
Mann in einem besseren Hotel in der Neuen Friedrichstraße
unterbringen und sandte ihn zum General von Rauch, den damaligen
Chef des Ingenieurkorps.

Der junge Werner trug nun dem General seinen Wunsch vor, als
Avantageur sich das Recht auf Einberufung zur Artillerie- und
Ingenieurschule zu erdienen. Aber auch hier sollte er keinen
Erfolg haben. Der General riet dringend ab, da so viel Vormänner
vorhanden wären, daß der Eintritt in die Schule vielleicht erst
in vier bis fünf Jahren stattfinden könnte. Er empfahl jedoch,
zur Artillerie zu gehen, wo die Aussichten besser seien und eine
gleiche Schulbildung erworben werden könnte. Der junge Siemens
sah ein, daß dieser Weg wohl der beste sein würde, und mit guter
Empfehlung versehen, fuhr er nach Magdeburg zum Kommandeur der
dritten Artilleriebrigade, dem Obersten von Scharnhorst, einem
Sohn des großen Organisators der preußischen Armee.

Hier stehen wir nun an der Wurzel des wissenschaftlichen
Werdegangs von Werner Siemens, der also ebenso im soldatischen
Bezirk seinen Anfang nahm wie die Entwicklung eines anderen
Großen, dessen Lebenslauf er später kreuzen sollte, Hermann
Helmholtz'.

Der Oberst von Scharnhorst machte auch noch einige
Schwierigkeiten. Die Zulassung zur Artillerielaufbahn sollte von
dem Ausfall eines Examens abhängig gemacht werden. Und auch die
Erlaubnis zur Teilnahme an der Prüfung konnte nicht ohne weiteres
erteilt werden, denn Siemens war ja als Mecklenburger für Preußen
ein Ausländer und mußte zuvor vom mecklenburgischen Militärdienst
freigekauft werden. Das ging keinesfalls geschwind. Erst als er
sich schon zum Examen begeben wollte und mit großen Sorgen den
Freikaufbrief vermißte, kam der Vater selbst auf einem leichten
Wagen nach Magdeburg gefahren und übergab seinem Sohn das
Dokument, das er der langsamen Beförderung durch die Post nicht
hatte anvertrauen wollen.

Siemens hatte sich, obwohl er ausgezeichnete Kenntnisse in der
Mathematik besaß, auf das Examen mühselig vorbereiten müssen, da
hierbei auch in Geschichte, Geographie und Französisch geprüft
wurde; diese Fächer hatte er auf dem Lübecker Gymnasium nur sehr
oberflächlich getrieben. Große Kenntnisse hatte er denn darin
auch nicht erreicht, am wenigsten in der Erdkunde, aber im Examen
half ihm einer jener zahlreichen Zufälle, denen unser großer
Mann im Leben so häufig als fördernden oder hemmenden Elementen
begegnen sollte.

Die kleine Episode hat uns Werner Siemens selbst in seinen
»Lebenserinnerungen« erzählt, einem der schönsten Volksbücher,
die wir besitzen; jeder Jüngling sollte es lesen, der sich zu
Ausdauer und großen Taten kräftigen will, und jeder Mann, der
Erbauung sucht in der Darstellung eines Lebens, das voll ist
von Suchen und Finden, von jauchzendem Hoffen und unverzagtem
Bescheiden, von Fehlschlägen und prachtvollem Gelingen.

Das dramatische Erlebnis bei der Prüfung trug sich so zu:
»Examinator war ein Hauptmann Meinicke, der den Ruf eines sehr
gelehrten und dabei originellen Mannes hatte. Er galt für einen
großen Kenner des Tokaierweins, wie ich später erfuhr, und das
mochte ihn wohl veranlassen, nach der Lage von Tokai zu forschen.
Niemand wußte sie, worüber er sehr zornig wurde. Mir als letztem
der Reihe fiel zum Glück ein, daß es Tokaierwein gab, der einst
meiner kranken Mutter verordnet war, und daß der auch Ungarwein
benannt wurde. Auf meine Antwort: »In Ungarn, Herr Hauptmann!«
erhellte sich sein Gesicht, und mit dem Ausruf: »Aber, meine
Herren, Sie werden doch den Tokaierwein kennen!« gab er mir die
beste Zensur in der Geographie.«

So zählte Siemens schließlich zu den vier Glücklichen, die das
Examen am besten bestanden. Gewissermaßen haben wir es also dem
feurigen Erzeugnis der ungarischen Weinberge zu verdanken, daß
er seine Laufbahn in einigermaßen brauchbarer Weise beginnen
konnte. Wer weiß, wohin seine Entwicklung geführt hätte, wenn der
prüfende Lehrer dem Tokaierwein nicht ergeben gewesen wäre.

Es fehlte aber immer noch eine Planke auf der Brücke, die
zur Zukunft führen sollte. Der »Ausländer« mußte erst eine
ausdrückliche königliche Genehmigung für den Eintritt ins
preußische Heer haben. Sie wurde ihm schließlich erteilt und
ward das Eingangstor zu dem Bezirk, den er mit seinem Ruhm
erfüllen sollte. »Ich betrachte,« so schrieb Siemens später, »die
Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III., die mir den Eintritt in
die preußische Armee gestattete, als die Eröffnung der einzigen
für mich damals geeigneten Bahn, auf der meine Tatkraft sich
entfalten konnte.«

Nun ward der junge Artillerist auf dem Domplatz zu Magdeburg
gedrillt. Und schon nach sechs Monaten erhielt er die Beförderung
zum Bombardier; das war ein Dienstgrad, der ungefähr unserem
heutigen Obergefreiten entspricht. Bei den Schießübungen wurde er
zum erstenmal seiner besonderen technischen Begabung gewahr, denn
es schien ihm hier alles selbstverständlich, was die anderen nur
schwer begriffen.

Im Herbst des Jahres 1835 erhielt Siemens endlich das ersehnte
Kommando zur Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin. Die
drei Jahre, die er hier zubrachte, zählt er selbst zu den
glücklichsten seines Lebens. Ein wiederum günstiger Zufall
wollte es, daß er hier drei sehr bedeutende Naturwissenschaftler
als Lehrer vorfand, den Mathematiker und Physiker _Ohm_, der
das für die Elektrizitätslehre grundlegende Ohmsche Gesetz
aufstellte, den Physiker _Magnus_ und den Chemiker _Erdmann_.
Nur durch eisernen Fleiß gelang es Siemens, das Fähnrich-, das
Armeeoffizier- und endlich das Artillerieexamen zu bestehen;
mit großer Not und ohne Auszeichnung kam er durch diese Klippen
hindurch, da ihm eben die feste wissenschaftliche Grundlage
fehlte. Soweit er irgend Zeit hatte, beschäftigte er sich darum
mit seinen Lieblingswissenschaften Mathematik, Physik und Chemie,
und diesen Disziplinen hat er sein ganzes Leben hindurch eine
treue Zuneigung bewahrt.

Nun war er Sekondeleutnant und kehrte im Sommer 1838 aus Berlin
wieder zu seinem Truppenteil nach Magdeburg zurück.

Es begann eine Zeit schwerer Sorgen und Kümmernisse. Während
eines vierwöchigen Urlaubs besuchte er mit seinem Freund William
_Meyer_ das Heimatdorf, und die Wiedersehensfreude mit der
vielköpfigen Familie war groß und rührend. Die preußischen
Offiziersuniformen imponierten den braven Dörflern lebhaft, und
sie begannen einzusehen, daß es in Preußen doch wohl noch andere
Menschen geben müsse als Hungerleider. Damals feierte auch die
älteste Schwester Mathilde ihre Hochzeit mit dem Professor Karl
_Himly_ aus Göttingen.

Der Bruder Wilhelm sollte nach der Absicht der Eltern Kaufmann
werden. Aber Werner erkannte klar, daß dieses für Wilhelm keine
geeignete Laufbahn wäre. Mit großherzigem Entschluß nahm er ihn
gelegentlich seines Besuchs in Lenthe aus dem Lübecker Gymnasium
und ließ ihn, nachdem die Genehmigung der widerstrebenden
Eltern erlangt war, mit nach Magdeburg übersiedeln, wo er seine
Erziehung mit treuer Sorge überwachte. Er erteilte dem Bruder
selbst an jedem Morgen von fünf bis sieben Uhr mathematischen
Unterricht und veranlaßte ihn auch, sich mit der englischen
Sprache zu beschäftigen. Beides ist für Wilhelm in der Folge von
grundlegender Bedeutung geworden. Um sein eigenes Verdienst zu
verdecken, schrieb Werner Siemens später, »daß der dem Bruder
erteilte mathematische Unterricht für ihn selbst sehr nützlich
gewesen sei, da er dazu beigetragen habe, ihn allen Verlockungen
des Offizierslebens siegreich widerstehen zu lassen.«

Zu systematischer wissenschaftlicher Weiterbildung war jetzt
wenig Zeit. Aber Werner Siemens begann doch schon ein wenig
technisch zu experimentieren. Und das wäre ihm beinahe schlecht
bekommen. Der erste Versuch brachte gleich ein jähes, nicht
gerade angenehmes Erlebnis. Er hat es in den »Lebenserinnerungen«
dargestellt:

»Ich hatte gehört, daß mein Vetter, der hannöversche
Artillerieoffizier A. Siemens, erfolgreiche Versuche mit
Friktionsschlagröhren angestellt hatte, die anstatt der damals
noch ausschließlich gebrauchten brennenden Lunte zum Entzünden
der Kanonenladung benutzt werden sollten. Mir leuchtete die
Wichtigkeit dieser Erfindung ein, und ich entschloß mich, selbst
Versuche nach dieser Richtung zu machen. Da die versuchten
Zündmittel nicht sicher genug wirkten, so rührte ich in
Ermangelung besserer Gerätschaften in einem Pomadennapf mit sehr
dickem Boden einen wässerigen Brei von Phosphor und chlorsaurem
Kali zusammen und stellte den Napf, da ich zum Exerzieren
fortgehen mußte, gut zugedeckt in eine kühle Fensterecke.

»Als ich zurückkam und mich mit einiger Besorgnis nach meinem
gefährlichen Präparat umsah, fand ich es zu meiner Befriedigung
noch in derselben Ecke stehen. Als ich es aber vorsichtig
hervorholte und das in der Masse stehende Schwefelholz, welches
zum Zusammenrühren gedient hatte, nur berührte, entstand eine
gewaltige Explosion, die mir den Tschako vom Kopf schleuderte
und sämtliche Fensterscheiben samt den Rahmen zertrümmerte. Der
ganze obere Teil des Porzellannapfes war als feines Pulver im
Zimmer umhergeschleudert, während sein dicker Boden tief in das
Fensterbrett eingedrückt war.

»Als Ursache dieser ganz unerwarteten Explosion stellte sich
heraus, daß mein Bursche beim Reinmachen des Zimmers das Gefäß
in die Ofenröhre gesetzt und dort einige Stunden hatte trocknen
lassen, bevor er es wieder an denselben Platz zurücktrug.
Wunderbarerweise war ich nicht sichtlich verwundet, nur hatte der
gewaltige Luftdruck die Haut meiner linken Hand so gequetscht,
daß Zeigefinger und Daumen von einer großen Blutblase bedeckt
waren. Leider war mir aber das rechte Trommelfell zerrissen, was
ich sogleich daran erkannte, daß ich die Luft durch beide Ohren
ausblasen konnte; das linke Trommelfell war mir schon im Jahre
vorher bei einer Schießübung geplatzt. Ich war infolgedessen
zunächst ganz taub und hatte noch keinen Laut gehört, als
plötzlich die Tür meines Zimmers sich öffnete, und ich sah,
daß das ganze Vorzimmer mit entsetzten Menschen angefüllt war.
Es hatte sich nämlich sofort das Gerücht verbreitet, einer der
beiden im Quartier wohnenden Offiziere hätte sich erschossen.

»Ich habe infolge dieses Unfalls lange an Schwerhörigkeit
gelitten und leide auch heute noch hin und wieder daran, wenn
sich die verschlossenen Risse in den Trommelfellen gelegentlich
wieder öffnen.«

Es gelang also vorläufig noch nicht, eine wichtige Erfindung zu
machen, und das war um so betrüblicher, als die finanzielle Lage
der Brüder allmählich immer bedenklicher wurde.

Am 8. Juli 1839 starb die heißgeliebte Mutter, und ein halbes
Jahr später, am 16. Januar 1840, schied auch der Vater aus
dem Leben, zermürbt vom vergeblichen Ringen um den Erwerb des
Lebensunterhalts für seine Familie und niedergebeugt von schwerer
Sorge, da die Landwirtschaft damals Erkleckliches nicht abwerfen
wollte. Es ist ein tragisches Geschick, daß die Eltern dahingehen
mußten, bevor noch ein Ahnungsschimmer von dem künftigen Aufstieg
ihres Sohns ein wenig lichte Freude in ihr trübes Dasein hatte
bringen können.

Auf den ältesten der dem Haus nahegebliebenen Söhne fiel nun
als schwere Last die Sorge um die sämtlichen Kinder. Die Domäne
Menzendorf wurde den Brüdern Hans und Ferdinand übertragen, die
jüngste Schwester Sophie nahm ein Onkel Deichmann in Lübeck an
Kindesstatt an, und die jüngsten Brüder Walter und Otto blieben
zunächst noch bei der Großmutter in Menzendorf.

Später hat Werner Siemens noch einige der Brüder zu sich
genommen, und immer schwerer drängte sich ihm die Notwendigkeit
auf, Geldmittel zum Unterhalt für sich und die Geschwister
herbeizuschaffen. Er fühlte, daß dies mit Hilfe von Erfindungen
wohl am leichtesten der Fall sein würde.

Mehr Muße hierzu als in Magdeburg fand er in der kleinen
Garnisonstadt Wittenberg, wohin er im Jahre 1840 kommandiert
wurde.

Kurze Zeit vorher hatte _Jacobi_ in Dorpat die _Galvanoplastik_
erfunden, und gerade als Siemens in dem allzu kleinstädtischen
Leben von Wittenberg nach anregender Betätigung suchte, kamen
die ersten Nachrichten von dieser so wichtigen Erfindung nach
Deutschland. Siemens versuchte sofort, die Methode nachzumachen,
und es gelang ihm auch, mit Hilfe des galvanischen Stroms aus
einer Lösung von Kupfervitriol Kupferniederschläge auf anderen
Metallen zu erhalten. Sein lebhafter Geist führte ihn sofort
weiter. Er dachte, daß es doch möglich sein müsse, ebenso wie man
Niederschläge aus Kupfer erhielt, auf gleiche Weise auch solche
von Gold oder Silber zu erzielen. Daß Gegenstände aus unedlen
Metallen, die mit Gold oder Silber überzogen wären, einen sehr
viel höheren Wert bekommen müßten, war ohne weiteres einleuchtend.

Einem an sich fatalen Erlebnis, wieder einem plötzlichen Blitz
aus der Schicksalswolke, durfte er es verdanken, daß er seine
Erfindungsabsicht in voller Ruhe ausarbeiten konnte.




Erste Erfindungen


Siemens hatte an einem der zahlreichen Duelle, wie sie unter den
Offizieren der kleinen Garnison häufig vorkamen, als Sekundant
teilgenommen, und der Zufall wollte es, daß das Vorkommnis
zur Anzeige gelangte. Die Strafen, die das Gesetz damals den
Duellteilnehmern androhte, waren äußerst streng. Die Duellanten
wurden demzufolge zu zehn, Siemens zu fünf Jahren Festungshaft
verurteilt.

Als er sich nach der Zitadelle von Magdeburg begab, um dort seine
Strafe anzutreten, versorgte er sich beim Vorübergehen in einer
Chemikalienhandlung mit den Mitteln, um seine elektrolytischen
Versuche fortsetzen zu können. Er richtete sich in der Zelle
ein kleines Laboratorium ein und experimentierte mit Gold in
unterschwefligsaurem Natron. Diese Flüssigkeit benutzte er zur
Anstellung eines ersten galvanoplastischen Vergoldungsversuchs.
Er gelang über alles Erwarten gut.

»Ich glaube,« so schreibt er darüber, »es war eine der größten
Freuden meines Lebens, als ein neusilberner Teelöffel, den ich,
mit dem Zinkpol eines Daniellschen Elementes verbunden, in einen
mit unterschwefligsaurer Goldlösung gefüllten Becher tauchte,
während der Kupferpol mit einem Louisdor als Anode verbunden
war, sich schon in wenigen Minuten in einen goldenen Löffel vom
schönsten, reinsten Goldglanze verwandelte.«

Die goldenen Löffel, die der Leutnant Siemens durch Zauberkraft
aus unechten zu erzeugen vermochte, erregten ein solches
Aufsehen, daß die Kunde davon über die festen Mauern der
Zitadelle hinaus bis in die Stadt drang. Ein Magdeburger Juwelier
erschien in der Zelle und kaufte dem jungen Erfinder das Recht
zur Anwendung seines Verfahrens für 40 Louisdor ab. So gelangte
auf galvanoplastischem Weg auch Gold in Siemens' Portemonnaie,
und er hatte nun die Mittel, seine Versuche fortzusetzen. Im
Jahre 1842 nahm er sein erstes Patent, das damals nicht länger
als fünf Jahre lief, »auf ein Verfahren, Gold behufs der
Vergoldung auf nassem Wege mittels des galvanischen Stromes
aufzulösen«.

Nun gerade, wo es notwendig war, weiter an dem Verfahren zu
arbeiten, erschien unerwartet der wachthabende Offizier in
der Zelle und überreichte Siemens zu seinem nicht geringen
Schrecken, wie er bekennt, die königliche -- Begnadigung.
Das war ein schwerer Schlag für ihn, denn die Zelle war
vollgestopft mit allen erdenklichen chemischen Stoffen und
elektrischen Einrichtungen, und es erschien dem jungen Erfinder
ganz unmöglich, diese rasch und glücklich nach dem noch ganz
unbekannten Ort zu schaffen, wohin man ihn jetzt versetzen würde.
Er tat darum einen nicht ganz gewöhnlichen Schritt.

Er schrieb nämlich an den Festungskommandanten ein Gesuch,
in dem er bat, noch einige Zeit in seiner Gefangenenzelle
verbleiben zu dürfen, in der er mehr edles Metall zu finden
hoffen durfte als in der goldenen Freiheit. Man nahm ihm aber
eine solche Undankbarkeit gegen eine königliche Gnade sehr übel
und bestand darauf, daß er sich sofort empfehle. Gerade um die
Mitternachtsstunde wurde er mit sanfter Gewalt aus der Zitadelle
entfernt und befand sich nun inmitten seiner Habseligkeiten
hilflos auf der Straße. So kann auch die Gnadensonne einmal wie
ein Schadenfeuer wirken.

Aber so ganz verlassen, wie er geglaubt hatte, war er doch
nicht. Die vorgesetzte Behörde war offenbar auf seine chemischen
Talente aufmerksam gemacht worden, und man sandte ihn nicht nach
Wittenberg zurück, sondern kommandierte ihn nach Spandau zur
Lustfeuerwerkerei-Abteilung. Hier konnte er seine chemische Kunst
lebhaft betätigen, und er machte in dem neuen Wirkungsbereich
so rasche Fortschritte, daß ihm ein Feuerwerk, welches er am
Geburtstag der Kaiserin von Rußland im Park des Prinzen Carl in
Glienicke bei Potsdam abbrannte, wegen der Pracht der Farben viel
Ehre und Anerkennung eintrug.

Aber das war doch ein totes Gleis, und zu seiner größten
Freude erhielt er bald das längst gewünschte Kommando zur
Artilleriewerkstatt in Berlin. Hier war der Ort, wo er seine
naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse, die, wie
er wohl wußte, an manchen Stellen noch recht mangelhaft waren,
weiter vervollständigen konnte.

Aber noch immer sollte er nicht zu einer systematischen
Ausgestaltung seines Wissens gelangen. »Das verdammte Geld,« so
schrieb er damals, »ist doch der Knüppel, den man stets am Halse
trägt.« Er meinte mit diesem Knüppel das Geld, das man nicht
besitzt.

Die Verpflichtung, für die jüngeren Geschwister zu sorgen,
drückte immer schwerer, je weiter diese heranwuchsen. Hans und
Ferdinand hatten zwar noch immer die Domänenpachtung, aber das
aus der Bewirtschaftung gewonnene Geld reichte bei weitem nicht
zu der Erziehung der Kinder aus. Der Zwang, Geld verdienen zu
müssen, war darum die Peitsche, die Werner vorläufig immer noch
von der Wissenschaft forttrieb. Mit Hilfe von Erfindungen dachte
er auch jetzt noch, Fortunas Rockzipfel leichter ergreifen zu
können.

Vor allem suchte er nun sein Patent auf galvanoplastische
Vergoldung und Versilberung richtig zu verwerten. Er trat mit der
Neusilberfabrik von J. Henniger in Berlin in Verbindung, die sein
Verfahren in größerem Maßstab anwenden wollte und ihn am Gewinn
beteiligte. Damit entstand die erste galvanoplastische Anstalt in
Deutschland.

Der Gewinn, der in Werner Siemens' Tasche floß, war aber gering,
und bald trieb die weitere Not ihn dazu, alle Ansprüche aus dem
Vertrag für 800 Taler an die Firma Henniger zu verkaufen. Kaum
war dies geschehen, so vergrößerte Henniger seine Fabrikation,
die bis dahin nur schwächlich betrieben worden war, ganz
bedeutend und zog weiter ansehnliche Gewinne aus dem Verfahren.

Die immer ärger sich fühlbar machende Not trieb Werner Siemens
nun dazu, eine richtige Spekulation zu beginnen. Er hatte gehört,
daß ein Herr _Elkington_ in London gleichfalls ein Verfahren
der galvanischen Vergoldung und Versilberung gefunden habe,
bei dem er Cyanverbindungen verwendete. Siemens hielt seine
unterschwefligsauren Salze für besser wirkend und hoffte darum,
in England, dem damaligen Paradies der Technik, dem für alles
Neue empfänglichen und zur Aufnahme jeder guten Idee am ehesten
bereiten Land, goldene Berge verdienen zu können. Er selbst
konnte nicht hinübergehen, da er ja als Offizier an seinen
Garnisonort gebannt war. Aber sein Bruder Wilhelm war sehr gern
zu der Reise bereit.

Der junge Mann hatte inzwischen einige Zeit in Göttingen bei
seiner Schwester Mathilde Himly zugebracht, wo er mit Hilfe
seines Schwagers seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse hatte
vertiefen können. Darauf war er nach Magdeburg zurückgekehrt und
dort als Eleve in die Gräflich Stollbergsche Maschinenbauanstalt
eingetreten. Dem lebhaften Geist Wilhelms behagte der Aufenthalt
gar nicht, und gern ergriff er die Gelegenheit, ins Weite
hinauszuziehen. Diese erste Fahrt Wilhelms nach England ist ein
richtiger kleiner Roman, dessen günstigen Ausgang der recht
klägliche Anfang keinesfalls erwarten ließ.

Im Februar 1843 trat der junge, kaum zwanzigjährige Wilhelm
seine Reise an. Er begab sich zunächst nach Hamburg, wo er sich
die Mittel für die Überfahrt nach England mit viel Mühe dadurch
verschaffte, daß er an einen Fenstersprossenfabrikanten ein
galvanisches Verkupferungsverfahren verkaufte und schließlich
auch noch alle Chemikalien, die er bei sich hatte und nicht in
England einführen wollte, zu Geld machte. Die Gesamtsumme des
Erlöses war so gering, daß er im Augenblick der Abfahrt an
Werner schrieb, er dürfe in England im ganzen nicht mehr als
sechs Louisdor verzehren, wenn er noch imstande sein solle, mit
Ehren nach Haus zurückzukehren.

Nach seiner Landung in London nahm er in einer bescheidenen
Herberge Quartier. Er hatte vom Leben in England gar keine
Kenntnis, beherrschte auch die Sprache des Landes recht
mangelhaft. Nur einen einzigen Empfehlungsbrief brachte er mit,
aber trotz dieser bescheidenen Ausrüstung warf er sich doch kühn
in den Strudel des Lebens der Riesenstadt. Über seine Erlebnisse
hat Wilhelm später einmal in einem Vortrag, den er im Jahre 1881
im Rathaus von Birmingham hielt, selbst in interessanter Weise
berichtet:

»Ich hoffte irgendein Bureau ausfindig zu machen, wo man
Erfindungen einer Prüfung unterwerfen und eventuell je nach
Verdienst vergüten würde; doch niemand konnte mir einen
derartigen Platz angeben. So spazierte ich denn Finsbury Pavement
entlang und sah auf einmal über einer Tür »So und So« -- der Name
ist mir entfallen -- »*Undertaker*« (das bedeutet Unternehmer
von Leichenbegängnissen) in großen Buchstaben geschrieben. Halt,
dacht' ich, das muß wohl der lange gesuchte Ort sein; denn auf
alle Fälle wird doch ein Mann, der sich »*Undertaker*« nennt,
sich auch nicht weigern, einen Einblick in meine Erfindung zu
tun und mir am Ende dann auch die gewünschte Anerkennung oder
besser noch meinen Lohn dafür besorgen können. Beim Eintritt ins
Haus überzeugte ich mich jedoch sehr bald, daß ich entschieden zu
früh gekommen war, um dort bedient zu werden, und als ich mich
dann dem Inhaber des Etablissements gegenüber befand, deckte ich
meinen Rückzug mit einigen abgebrochenen Entschuldigungen, die
dem Herrn »*Undertaker*« jedenfalls sehr leer vorgekommen sein
müssen.

»Hierdurch keineswegs entmutigt, setzte ich meine Forschungsreise
fort und fand endlich meinen Weg zum Patentoffice der Herren
Poole & Carpmael, die mich nicht nur freundlich empfingen,
sondern mir auch ein Empfehlungsschreiben an Herrn Elkington
mitgaben. So ausgerüstet, fuhr ich nach Birmingham, um hier mein
Glück zu versuchen.«

Von Birmingham aus trat Wilhelm nun an Elkington heran und
glaubte einen großen Trumpf in der Hand zu haben, als er diesem
sein vermeintlich besseres Verfahren anbot. Er war gar nicht
bescheiden, sondern forderte dafür gleich 3000 Pfund Sterling
(60000 Mark). Es ist nicht weiter verwunderlich, daß Elkington
auf dieses Angebot des etwas stürmischen jungen Manns nicht
einging. Er ließ jedoch Wilhelm zu sich kommen, und dieser erfuhr
nun zu seiner nicht geringen Bestürzung, daß Werners Erfindung in
einem der Elkingtonschen Patente schon erwähnt, also nicht mehr
neu und demgemäß auch kein Handelsobjekt war.

Aber Wilhelm gewann Elkingtons Vertrauen, und dieser erlaubte
ihm, in seiner Fabrik zu experimentieren. Hierbei glückte es
Wilhelm Siemens, eine bedeutende Verbesserung des Elkingtonschen
Verfahrens zu erfinden. Der offenbar sehr vornehm denkende
Engländer ermöglichte Wilhelm darauf, ein Patent auf seine
Erfindung zu nehmen und zahlte ihm schließlich dafür die Summe
von 1600 Pfund Sterling, von der jedoch 110 Pfund Sterling für
Patentkosten abgingen.

Wilhelm konnte also mit einer Summe von annähernd 30000 Mark
nach Deutschland zurückkehren, wodurch er der Gegenstand
staunender Bewunderung für die ganze Familie ward. Die Schwester
Mathilde Himly schrieb damals in einem Brief an Werner: »Von
unserem lieben Goldfisch erhielt ich vor wenigen Tagen die erste
Nachricht, seit er Dich gesehen. Deine Freude über Wilhelms
Erscheinen als Croesus! wird wohl so ziemlich so gewesen sein
als die meine; bis dahin hatte mich noch nie eine Freude so
außer Fassung gebracht. Ach! Werner -- warum mußten dies die
theuern seligen Eltern nicht erleben! -- Werdet Ihr das Geld denn
brüderlich theilen? Ich bin überzeugt, daß Wilhelm noch mehr so
glücklich spekulieren wird, und so nimm es nur gern an ...«

Damit traten nun die Geldsorgen für einige Zeit in den
Hintergrund. Aber ein solcher Erfolg hätte bei einem schwächeren
Charakter, als er Werner Siemens zu eigen war, leicht dauernd auf
eine schiefe Bahn führen können. So trieb er ihn nur für einige
Zeit auf das trügerische Meer der »Erfindungsspekulationen«
hinaus, wie er selbst die Bestrebungen jener Zeit später etwas
verächtlich genannt hat. Eine Erfindung folgte jetzt rasch der
anderen. Wissenschaftliche Bestrebungen wurden zurückgestellt,
zumal das aus England gebrachte Geld bei den zahlreichen
Verpflichtungen der Brüder nicht lange reichte, und die
Bedrängnisse bald wieder begannen.

Werner dehnte zunächst seine elektrolytischen Versuche weiter
aus und gelangte dazu, gute _Nickelniederschläge_ herzustellen.
Das schien etwas sehr Aussichtsreiches zu sein, da die teuren,
für den Druck verwendeten gravierten Kupferplatten durch den
Nickelüberzug, der die Feinheit der Striche nicht beeinträchtigte,
sehr viel haltbarer wurden. Bald jedoch wurde der galvanische
Eisenniederschlag erfunden, dem man gegenüber dem Nickelüberzug
den Vorzug gab, und die Erfindung konnte nichts mehr einbringen.

Gleichzeitig arbeitete Werner zusammen mit seinem Bruder Wilhelm
einen Apparat aus, der imstande sein sollte, den Gang von
Dampfmaschinen, die damals noch an vielen Stellen bei ihrer
Arbeit durch Wind- und Wassermotoren unterstützt wurden, genau zu
regeln. Es sollte dies unter Anwendung des Differentialverfahrens
geschehen, und so entstand der _Differenzregulator_.

Dann bemühte sich Werner Siemens, den damals gerade bekannt
gewordenen _Zinkdruck_ für die Rotationspresse brauchbar zu
machen, und erfand ferner das _anastatische Druckverfahren_,
das durch Anwendung von Chemikalien gestattet, ältere Drucke zu
vervielfältigen. Auch einer Tretfliegemaschine wandte er sein
Interesse zu, derselbe Mann, der später behauptet hat, daß man
niemals Flugmaschinen würde bauen können, wenn man nicht imstande
wäre, Antriebsmaschinen zu erschaffen, die im Verhältnis so
leicht und kräftig sind wie die Bewegungsmuskeln der fliegenden
Tiere.

Zur Ausbeutung dieser Erfindungen ging Wilhelm Anfang des Jahres
1844 zum zweitenmal nach England, das von da ab seine zweite
Heimat wurde. Auch Werner folgte ihm für kurze Zeit dorthin, aber
beide mußten bald einsehen, daß ihre hochgespannten Hoffnungen
auf Verwertung der Erfindungen aussichtslos waren. Wilhelm
hatte für die Abtretung der Rechte auf den Differenzregulator
nicht weniger als 720000 Mark gefordert, für das anastatische
Druckverfahren gar eine Million Mark. Nach mehr als einjährigem
Aufenthalt in England sah er jedoch all seine Hoffnungen so weit
vernichtet, daß er nach Hause schreiben mußte: »Ich bitte nur
noch um die notwendigsten Mittel, um meine dringendsten Schulden
abzahlen zu können, da ich seit einiger Zeit nicht einmal mehr
imstande gewesen bin, meine Hauswirte zu befriedigen.«

Werner lernte bei seiner Rückkehr aus England während eines
Aufenthalts in Paris sogar den Hunger kennen. Aus Berlin schreibt
er dann an Wilhelm: »Die jetzige Zeit ist der einlaufenden
Buchhändler-, Schneider- und sonstigen Rechnungen wegen besonders
verdrießlich. Dazu kommt Miete, Schulgeld und weiß der Henker
was sonst noch für Lumpereien.« Als es ganz schlimm stand, wurde
schließlich durch eine Geldsendung Wilhelms der »dem Verwelken
nahe Subsistenzbaum bedeutend erfrischt«.




Theorie und Technik


Es ist heute nicht mehr genau zu verfolgen, wie Werner Siemens
sich und seine Geschwister durch diese Periode der drückendsten
Sorgen glücklich hindurchgebracht hat. Aber es steht fest, daß
der Kummer ihn nicht zu Boden warf, sondern seine Kräfte nur
verstärkte, wie die Kraft einer stählernen Feder gesteigert
wird, je mehr man sie zusammenpreßt. Eine moralische Stimme in
Siemens begann plötzlich deutlich zu sprechen. Er erkannte,
daß das Jagen nach Erfindungen, zu dem er sich durch die
Leichtigkeit des ersten Erfolgs hatte hinreißen lassen, sowohl
ihm wie seinem Bruder zum Verderben gereichen würde. Er sagte
sich daher von allen Erfindungen los und gab sich ganz ernsten
wissenschaftlichen Studien hin.

Von nun ab beginnt der Werner Siemens, wie wir ihn kennen und
wie er uns teuer geworden ist, zu wachsen. Er fühlte deutlich,
daß seine Vorbildung noch immer unvollkommen sei und seine
Leistungen dadurch zurückgehalten würden. Da er nun Vorlesungen
an der Berliner Universität hörte, kam er bald in den anregenden
Kreis der später so bedeutend gewordenen jungen Naturforscher Du
Bois-Reymond, Brücke, Helmholtz, und durch diesen Verkehr wurde
sein ernstes Streben nach wissenschaftlicher Durchbildung seines
Geistes mächtig gefördert.

Unter den naturwissenschaftlichen Fragen, die ihn damals sofort
lebhaft beschäftigten, stand das Problem der _Heißluftmaschine_,
die soeben von Stirling erfunden worden war, voran. Es schien
eine Zeitlang, als sollte sie der Antriebsmotor der Zukunft
werden, und die erste literarische Arbeit, die Werner Siemens
verfaßte, führte den Titel: »_Über die Anwendung der erhitzten
Luft als Triebkraft_.« Die Abhandlung erschien im Sommer 1845 in
Dinglers »Polytechnischem Journal«. Die abgeklärten Betrachtungen
darin sind auffallend, und die strenge Wissenschaftlichkeit
darin verblüfft um so mehr, wenn man weiß, daß Werner noch im
Anfang des Jahrs in flammendem Enthusiasmus über die Leistungen
der Stirlingschen Maschine an Wilhelm geschrieben hatte:
»Ein Perpetuum mobile ist jetzt kein Unsinn mehr.« Bis zur
Niederschrift seiner Betrachtungen ist er von dieser Ansicht,
die ein schwerer Irrtum war, vollständig zurückgekommen, und
der Aufsatz steht bereits vollständig auf dem Boden des großen
Perpetuum mobile-feindlichen Satzes von der Erhaltung der Kraft,
der gerade in jener Zeit von Julius Robert Mayer zum erstenmal
ausgesprochen worden, Siemens aber noch nicht bekannt war.

Wenn die Stirlingsche Maschine auch später keine große Bedeutung
erlangt hat, so ist sie, abgesehen von der Gelegenheit, die sie
Werner Siemens für seine erste wissenschaftliche Betätigung
gegeben hat, auch noch dadurch wichtig geworden, daß sie dessen
Brüder Wilhelm und Friedrich Siemens zu ihren Arbeiten über die
Wärmeausnutzung anregte und so zur Aufstellung des bedeutenden
Regenerativprinzips beitrug.

In »Poggendorfs Annalen« erschien im gleichen Jahr die zweite
wissenschaftliche Abhandlung aus Werner Siemens' Feder, und deren
Thema fiel bereits in das Gebiet der Elektrizität. Den jungen
Physiker beschäftigte schon seit längerer Zeit das Problem der
_Messung von Geschoßgeschwindigkeiten_. Er sah bald ein, daß die
Feststellung äußerst geringer Zeitunterschiede auf dem bisher
immer wieder versuchten elektro-magnetischen Weg nicht gelingen
könne. Hierbei mußten Massen bewegt werden, und diese brauchten
zur Überwindung ihrer natürlichen Trägheit zu lange Zeit. Er
ließ darum durch die fliegende Kugel, die an zwei Stellen ihres
Wegs Drähte berührte, nicht magnetisierende Ströme schließen,
sondern Funkenentladungen hervorrufen, die Marken in einen rasch
rotierenden blanken Stahlzylinder brannten. Die Funken besitzen
keine Schwere und tun ihre Arbeit darum ohne Verzögerung. Was
er in dem Aufsatz »_Über die Anwendung des elektrischen Funkens
zur Geschwindigkeitsmessung_« darlegte, wird mit entsprechenden
Abänderungen noch heute zur Messung von Geschoßgeschwindigkeiten,
insbesondere in Geschützrohren, benutzt.

Seine Bemühungen um die Feststellung der Geschoßgeschwindigkeiten
brachte Siemens auch mit dem Uhrmacher _Leonhardt_ in Berührung,
der für die Artillerieprüfungskommission auf gleichem Gebiet
tätig war. Zur selben Zeit machte Leonhardt für den Generalstab
der Armee Versuche, die Klarheit darüber schaffen sollten, ob
der rascher arbeitende elektrische Telegraph wohl imstande
sein könnte, den optischen zu ersetzen. Leonhardt bemühte
sich, für diesen Zweck den unzuverlässigen _Zeigertelegraphen
von Wheatstone_ zu verbessern. Siemens stand ihm hierbei mit
plötzlich aufflammendem Interesse eifrig bei. Es gelang ihm zu
seiner eigenen Überraschung sehr schnell, den charakteristischen
Fehler des Wheatstone-Apparats herauszufinden und diesen durch
eine Neukonstruktion zu verbessern.

Sogleich fühlte er deutlich, daß der Telegraph eine große Zukunft
haben, und daß er selbst vermutlich befähigt sein würde, an dem
Ausbau dieser Zukunft mit Erfolg und Vorteil mitzuarbeiten. Und
so sehen wir ihn jetzt den ersten Schritt auf dem Weg tun, der
ihn zum Gipfel führen sollte.

Aber schon tritt von neuem der *Deus ex machina* auf und faßt
ihn hindernd am Knöchel. Der Gipfelweg verschwindet noch einmal
hinter Wolken.

Wenn man erfahren hat, an wie vielen wissenschaftlichen und
technischen Dingen Werner Siemens in jener Zeit eifrig und
schaffend arbeitete, so denkt man sicher nicht mehr daran, daß er
zu jener Zeit noch Offizier war und für alle diese Dinge nur die
Zeit übrig hatte, die ihm der Dienst in der Artilleriewerkstatt
ließ. Nur eisernster Fleiß vermochte ihm die Kraft zu geben,
immer weiter an seinem geistigen Aufstieg zu arbeiten. War der
Dienst also längst eine höchst unangenehm empfundene Hemmung,
so schien es nun gar einen Augenblick, als ob das Räderwerk der
militärischen Zucht die ganze Zukunft des jungen Siemens zwischen
seinen Zähnen zermalmen wollte.

Er wurde plötzlich in einen politisch-religiösen Konflikt
verwickelt.

Man brachte in jenen bewegten Zeiten den Rundreisen des
Predigers Johannes _Ronge_, eines früheren katholischen Kaplans,
lebhaftestes Interesse entgegen. Ronge hatte einen scharfen
Artikel gegen die von einer wahren Völkerwanderung besuchte
Ausstellung des heiligen Rocks in Trier geschrieben und war zur
Strafe dafür exkommuniziert worden. Er strebte nun, Deutschland
durchziehend, die Gründung einer neuen deutsch-katholischen
Kirche an. Auch in Berlin trat er auf, und seine Versammlungen
wurden von vielen jungen Offizieren und Beamten besucht, die
damals sämtlich liberal dachten.

Werner Siemens hatte sich nicht allzusehr um diese Bewegung
gekümmert, da seine naturwissenschaftlich-technischen Bemühungen
ihn weit davon hinwegtrugen. Aber er sollte durch eine zunächst
ganz äußerliche Berührung doch recht eng damit verknüpft werden.
Über diesen Vorgang berichtet er in den »Lebenserinnerungen«:

»Gerade als dieser Rongekultus auf seinem Höhepunkte angelangt
war, machte ich mit sämtlichen Offizieren der Artilleriewerkstatt
-- neun an der Zahl -- nach Schluß der Arbeit eine Promenade im
Tiergarten. »Unter den Zelten« fanden wir viele Leute versammelt,
die lebhaften Reden zuhörten, in denen alle Gesinnungsgenossen
aufgefordert wurden, für Johannes Ronge und gegen die Dunkelmänner
Stellung zu nehmen. Die Reden waren gut und wirkten vielleicht
gerade deswegen so überzeugend und hinreißend, weil man in
Preußen bis dahin an öffentliche Reden nicht gewöhnt war.

[Illustration: Die erste Dynamomaschine]

[Illustration: Moderne Riesen-Dynamo der Siemens-Schuckert-Werke]

»Als mir daher beim Fortgehen ein Bogen zur Unterschrift
vorgelegt wurde, der mit teilweise bekannten Namen schon
beinahe bedeckt war, nahm ich keinen Anstand, auch den meinigen
hinzuzufügen. Meinem Beispiel folgten die übrigen zum Teil viel
älteren Offiziere ohne Ausnahme. Es dachte sich eigentlich keiner
dabei etwas Schlimmes. Jeder hielt es nur für anständig, seine
Überzeugung auch seinerseits offen auszusprechen.

»Aber groß war mein Schreck, als ich am anderen Morgen beim
Kaffee einen Blick in die Vossische Zeitung warf und als
Leitartikel einen »Protest gegen Reaktion und Muckertum« und
an der Spitze der Unterschriften meinen Namen und nach ihm die
meiner Kameraden fand.«

Die Offiziere erfuhren bald, daß sie zur Strafe aus der
Artilleriewerkstatt zu ihren Truppenteilen zurückversetzt
werden sollten. Für Siemens drohte also die Gefahr, wieder nach
Wittenberg zu kommen, wo natürlich weitere Bestrebungen auf dem
Gebiet der Telegraphie unmöglich gewesen wären.

Dagegen empörte sich alles in ihm, und er war schon stark genug,
nicht bloß gegen das Schicksal zu wüten, sondern es zu meistern.
Er faßte einen Entschluß, der bei jedem anderen als bei einem
Menschen von genialer Kraft abenteuerlich zu nennen wäre.

Etwas Besonderes mußte geschehen, um sein weiteres Verbleiben in
Berlin zu ermöglichen, das sah er klar. Er mußte eine bedeutende
Erfindung machen, und zwar sofort, auf der Stelle! Es war gar
keine Zeit zu verlieren.

Doch eine solche Eingebung greift man nicht aus der Luft.
Siemens ließ darum alle ihm in letzter Zeit bekannt gewordenen
Erfindungen an seinem Auge vorüberziehen, um zu sehen, ob darunter
nicht eine wäre, die er in auffallender Weise fördern könnte.
In einer schlaflosen Nacht fiel ihm da die _Schießbaumwolle_ ein,
die vor kurzem von Professor Schönbein in Basel erfunden worden
war. Man setzte damals in artilleristischen Kreisen große Hoffnung
in diesen Stoff, der bei weitem kräftiger explodierte als das
bisher verwendete Schwarzpulver. Störend war nur, daß sich die
Schießbaumwolle sehr schnell zersetzte und daher praktisch nicht
verwendbar war.

Siemens beschloß in seiner Not, die Schießbaumwolle haltbar zu
machen, und ging sogleich mit loderndem Eifer an die Versuche.
Von seinem alten Lehrer in der Chemie, Erdmann, erwirkte er
sich die Erlaubnis, in dessen Laboratorium in der Königlichen
Tierarzneischule experimentieren zu dürfen. Dort versuchte er
und versuchte immer von neuem, Baumwolle mit Salpetersäure zu
tränken. Er nahm immer stärker konzentrierte Lösungen, aber die
größere Luftbeständigkeit wollte sich nicht einstellen.

Schließlich hatte er schon so viel Salpetersäure verbraucht,
daß der Vorrat zu Ende zu gehen drohte. Da begann er ihn durch
Mischung mit Schwefelsäure zu »strecken«. Und siehe da! Plötzlich
hatte er, als er die Baumwolle mit dieser Mischung tränkte, ein
vorzügliches Produkt vor sich, das sich nicht zersetzte und ganz
ausgezeichnet explodierte. Ja, die Explosionsfähigkeit war sogar
noch besser, als Siemens selbst es vermutete, wie er bald zu
seinem Schrecken erfahren sollte.

Bis in die Nacht hinein hatte er in seiner Freude über das
Gelingen der Versuche eine stattliche Menge der neuen guten
Schießbaumwolle hergestellt und sie in den Ofen des Laboratoriums
zum Trocknen gelegt. »Als ich nach kurzem Schlaf am frühen
Morgen wieder nach dem Laboratorium ging,« so erzählt er, »fand
ich den Professor trauernd unter Trümmern in der Mitte des
Zimmers stehen. Beim Heizen des Trockenofens hatte sich die
Schießbaumwolle entzündet und den Ofen zerstört. Ein Blick machte
mir dies und zugleich das vollständige Gelingen meiner Versuche
klar. Der Professor, mit dem ich in meiner Freude im Zimmer
herumzutanzen suchte, schien mich anfangs für geistig gestört zu
halten. Es kostete mir Mühe, ihn zu beruhigen und zur schnellen
Wiederaufnahme der Versuche zu bewegen. Um elf Uhr morgens hatte
ich schon ein ansehnliches Quantum Schießwolle gut verpackt
und sandte es mit einem dienstlichen Schreiben direkt an den
Kriegsminister.«

Im Ministerium erkannte man sofort die Wichtigkeit der neuen
Zusammensetzung und ließ Schießversuche damit anstellen. Und
wenn das Präparat auch in späteren Zeiten die Hoffnungen nicht
erfüllte, die man damals darauf setzte, so war ihm doch der
Erfolg beschieden, Siemens vor der Strafversetzung zu bewahren.
Da man ihn in der Pulverfabrik zu Spandau für den weiteren Ausbau
der Erfindung dringend brauchte, so war von der Verbannung nach
Wittenberg keine Rede mehr, und von den Kameraden, die jenes
Ronge-Manifest unterzeichnet hatten, blieb er als einziger in
Berlin zurück. Kühne Selbsthilfe hatte ihn vor dem Verderben
bewahrt.

Die Vervollkommnung des Telegraphen wurde darauf weiter eifrig
betrieben, obwohl Siemens sich davon eine geschwinde Rettung
aus der immer noch andauernden finanziellen Trübsal nicht
versprechen konnte. Bald hatte er auf diesem Gebiet Erfindungen
von großer und bleibender Bedeutung gemacht, so unter anderem die
erste brauchbare Leitungsisolation hergestellt, wovon wir noch
ausführlich hören werden; schon erwog er, ob es nicht günstig
für ihn wäre, den Abschied vom Militär zu nehmen, um sich ganz
der Telegraphentechnik zu widmen; schon gründete er eine kleine
Werkstatt zur Ausführung der von ihm erfundenen Apparate, da
wird er noch einmal von politischen Ereignissen aus seiner Bahn
gerissen.




Revolution und Krieg


Das Jahr 1848 hatte seine drohenden Wolken heraufgeschickt. Ohne
darauf vorbereitet zu sein, hörte Siemens plötzlich in sein
Laboratorium den Donner der Revolution hineinrollen. Er fühlte
bald, daß jetzt keine Zeit wäre, technische Neuerungen für den
Staat zu schaffen, aber er stellte sich nicht entmutigt beiseite,
um besseres Wetter abzuwarten, er verließ nicht mit einer
sentimentalen Träne im Auge den wieder einmal morsch gewordenen
Bau seiner Zukunft, sondern er gab sofort darauf acht, was er der
Gegenwart Brauchbares leisten könnte.

In Berlin spielten sich die großen Ereignisse der Märztage ab.
Siemens, der innerlich an der Bewegung teilnahm, mußte doch
persönlich allen Kundgebungen fernbleiben, weil er des Königs
Rock trug. Andererseits schloß ihn die Trennung von seinem
Truppenteil, die eine Folge seiner Abkommandierung war, von jeder
militärischen Aktion aus.

Bald darauf brach die Empörung der Schleswig-Holsteiner gegen die
dänische Herrschaft aus. Die Stadt _Kiel_ befreite sich zuerst,
und bald waren die Dänen aus Schleswig vertrieben. Sie rüsteten
sich zur Wiedereroberung und drohten, besonders Kiel durch ein
Bombardement zu strafen.

Siemens' Schwager Himly war als Professor der Chemie schon seit
längerer Zeit in Kiel ansässig, und die Schwester Mathilde
schrieb nach Berlin angstvolle Briefe, denn sie sah schon ihr am
Hafen gelegenes Haus von dänischen Kanonen zerstört. Die Einfahrt
in die Föhrde war für die feindlichen Schiffe leicht, da die
kleine Festung _Friedrichsort_, die den Hafeneingang sperrte,
sich noch in dänischen Händen befand.

Der Hilferuf der Schwester löste in Werner Siemens einen
Gedanken von größter Tragweite aus. Er wollte den Verwandten
zu Hilfe eilen und überlegte sich, wie man wohl imstande sein
könne, die Dänen von der Einfahrt in den Hafen zurückzuhalten.
Als das einzig mögliche Mittel erschien ihm die Versenkung von
großen Pulvermengen in das Wasser des Hafens so, daß sie beim
Darüberfahren eines feindlichen Schiffs auf elektrischem Weg zur
Explosion gebracht werden konnten. Die Idee der _Unterseemine mit
elektrischer Zündung_ tauchte hier zum erstenmal auf, und der
Gedanke konnte auch nur aus dem Grund gefaßt werden, weil Werner
Siemens die einzig brauchbare Isolierung von Leitungsdrähten
gegen Seewasser geschaffen hatte.

Er bemühte sich sofort, einen Urlaub zur Fahrt nach Kiel zu
erhalten. Die provisorische Regierung in den Herzogtümern,
die von dem Plan Kenntnis erlangt hatte, sandte sogar einen
besonderen Boten nach Berlin, der die Erlaubnis für Siemens
erwirken sollte. Diese konnte jedoch nicht erteilt werden, da ja
Preußen und Dänemark sich noch im Friedenszustand befanden. Jeder
fühlte aber, daß der Ausbruch des Kriegs nur eine Frage von Tagen
war. Die Wartezeit benutzte Siemens, um große Säcke aus starker,
mit Kautschuk gedichteter Leinwand anzufertigen, von denen jeder
fünf Zentner Pulver faßte; ferner bereitete er die isolierten
Leitungen sowie die galvanischen Zündbatterien vor.

Endlich teilte ihm der Departementschef im Kriegsministerium,
General von Reyher, in dessen Vorzimmer er täglich auf die
Entscheidung wartete, mit, daß der Krieg gegen Dänemark
beschlossen wäre, und daß er als erste feindliche Handlung
Siemens den gewünschten Urlaub gewähre. Dieser brach sofort
nach Kiel auf. Dort brachte sein Erscheinen in preußischer
Uniform den Einwohnern die erwünschte Kunde von der ersehnten
Kriegserklärung, und der Leutnant Siemens wurde darum mit
begeistertem Jubel empfangen.

Sein Schwager Himly hatte indessen in Kiel schon alle Anstalten
getroffen, damit die Minen schnell ausgelegt werden könnten,
denn man erwartete täglich das Eintreffen der dänischen Flotte.

»Es war,« wie Siemens erzählt, »eine Schiffsladung von Rendsburg
bereits eingetroffen, und eine Anzahl großer Stückfässer stand
gut gedichtet und verpicht bereit, um einstweilen statt der
noch nicht vollendeten Kautschuksäcke benutzt zu werden. Diese
Fässer wurden schleunigst mit Pulver gefüllt, mit Zündern
versehen und in der für große Schiffe ziemlich engen Fahrstraße
vor der Badeanstalt derart verankert, daß sie etwa 20 Fuß unter
dem Wasserspiegel schwebten. Die Zündleitungen wurden nach
zwei gedeckten Punkten am Ufer geführt, und der Stromlauf so
geschaltet, daß eine Mine explodieren mußte, wenn an beiden
Punkten gleichzeitig die Kontakte für ihre Leitung geschlossen
waren.

»Für jede Mine wurden an den beiden Beobachtungsstellen
Richtstäbe aufgestellt und die Instruktion erteilt, daß der
Kontakt geschlossen werden müsse, wenn ein feindliches Schiff
sich in der Richtlinie der betreffenden Stäbe befinde, und so
lange geschlossen bleiben müsse, bis sich das Schiff wieder
vollständig aus der Richtlinie entfernt habe. Waren die
Kontakte beider Richtlinien in irgendeinem Moment gleichzeitig
geschlossen, so mußte das Schiff sich gerade über der Mine
befinden. Durch Versuche mit kleinen Minen und Booten wurde
konstatiert, daß diese Zündeinrichtung vollkommen sicher
funktionierte.«

Sie ist für spätere derartige Einrichtungen vorbildlich geworden.

Doch mit seinen Minen glaubte Siemens den Hafen immer noch nicht
genug geschützt. Er berechnete, daß die Dänen, ohne in den Hafen
einzufahren, von Friedrichsort her Kiel bombardieren könnten.
Daher hielt er es für notwendig, die Eingangsfestung den Feinden
aus der Hand zu nehmen.

Er hielt eine flammende Rede an die Kieler Bürgerwehr, und es
gelang ihm auch wirklich, sie als Eroberungsheer zu konstituieren.
An der Spitze eines Expeditionskorps von 200 Mann zog er aus, und
nach kurzer Zeit hatten sie wirklich die Festung Friedrichsort
erobert. Sie war nur von wenigen Invaliden besetzt gewesen.
»Ein Widerstand irgendwelcher Art machte sich _leider_ nicht
bemerklich,« so schreibt Siemens darüber.

Auch als Festungskommandant entfaltete er eine seltene Tatkraft.
Friedrichsort wurde gleichfalls durch Minen gesichert, von
denen eine infolge einer Unvorsichtigkeit explodierte und die
ganze Gewalt solcher Anlagen offenbarte. Die Dänen, die von
diesen Veranstaltungen hörten, bekamen einen derartigen Respekt
davor, daß sie wirklich während des ganzen Kriegs nicht ein
einziges Mal versucht haben, in den Kieler Hafen einzufahren.
Daher konnten die berühmten Elektrominen im inneren Hafen zwar
niemals zur Anwendung kommen, es ist aber kein Zweifel, daß sie
im Bedarfsfall ihre ganze Schuldigkeit getan hätten; denn als
man die Pulversäcke nach Verlauf von zwei Jahren wieder aus
dem Wasser herausnahm, erwies sich der Inhalt noch immer als
vollkommen staubtrocken.

Durch ein Schreiben aus dem preußischen Hauptquartier ward
Siemens wegen der unter seinem Kommando erfolgten Besitznahme
der Seebatterie Friedrichsort feierlich belobt, und als er
später mit dem berühmten Führer des Feldheers, dem General
_Wrangel_, in einer glänzenden Versammlung von Prinzen und
höheren Offizieren zusammentraf, da mußte sich, dem Beispiel
des Höchstkommandierenden folgend, die ganze Tafel zu Ehren des
kühnen Festungseroberers erheben.

Er hat dann später auch noch die Verteidigung von Eckernförde
geleitet. Die von ihm dort angelegten Batterien taten sich
später noch rühmlichst dadurch hervor, daß sie das dänische
Linienschiff »Christian VIII.« in Brand schossen und die Fregatte
»Gefion« kampfunfähig machten. Er selbst aber hatte zu wirklichen
Kriegstaten keine Gelegenheit mehr und war daher sehr froh, als
die bald beginnenden Friedensverhandlungen ihm gestatteten, nach
Berlin zurückzukehren.

Damit schließen Werner Siemens' Werdejahre ab. Es beginnt
nunmehr die Zeit der Reife, der großen Schöpfungen, die die
Kulturentwicklung der Menschheit bleibend beeinflußt haben. Lange
Zeit war es ausschließlich die elektrische Gedankenübermittlung,
die Telegraphie, die ihn beschäftigte.

Um die Tragweite der Siemensschen Taten auf dem Gebiet der
Telegraphie voll würdigen zu können, ist es notwendig, zu wissen,
was bis zu seinem Auftreten auf diesem Gebiet geleistet worden
war. Es sei darum hier eine kurze Geschichte der Telegraphie
eingeschaltet, wobei wir in der glücklichen Lage sind, einer
Darstellung des Meisters selbst folgen zu können, die er einst in
einem gemeinverständlichen Vortrag gegeben hat. Dieser ist uns
in einer von Virchow und Holtzendorff herausgegebenen Sammlung
erhalten geblieben.




Telegraphen-Apparate


Der heutigen Zeit, die hunderttausend Pferdekräfte in Form
elektrischer Energie durch dünne Drähte weithin sendet, die sich
des Telephons als etwas Selbstverständlichem bedient, erscheint
der Telegraph nicht mehr als die höchst geheimnisvolle, ungeahnte
Möglichkeiten erschließende Einrichtung, die er für unsere
Vorfahren im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts war.
Erfüllte der Telegraph doch zum erstenmal einen Wunsch der
Menschheit, der seit Jahrhunderten in Märchen- und Sagengestalten
immer wieder seinen Ausdruck gefunden hatte: mit der Geschwindigkeit
des Blitzes an verschiedenen Orten zugleich wirken, den
widerstehenden Raum mühelos überwinden zu können. Hier ward das
Wunder vollbracht. Man dachte zunächst an gar keine andere
Nutzungsmöglichkeit der eben entdeckten Elektrizität, als daran,
ihre Fähigkeit der fast unendlich raschen Ausbreitung zur
geschwinden Übermittlung des Gedankens von Ort zu Ort auszunutzen.
Die Bemühungen hierum setzten mit raschem Zugreifen ein.

Im Jahre 1780 sah _Galvani_ den Froschschenkel, den er, auf einen
kupfernen Haken gespießt, am eisernen Treppengeländer aufgehängt
hatte, in geheimnisvoller Weise zucken. 1794 klärte Alessandro
_Volta_ die Ursache dieser Muskelkontraktion auf. Er stellte
fest, daß nicht eine geheimnisvolle Kraft im Froschschenkel
selbst, sondern durchfließende Elektrizität die Ursache gewesen
sei. Mit Hilfe der Voltaschen Säule gelang es zum erstenmal,
dauernde galvanische Ströme zu erzeugen.

Man erfuhr bald, daß solch ein Strom beim Durchgang durch
gesäuertes Wasser imstande sei, dieses in seine chemischen
Bestandteile, Sauerstoff und Wasserstoff, zu zerlegen. Und
schon im Jahre 1808 machte der Münchener Arzt *Dr.* _Sömmering_
den Vorschlag, diese Eigenschaft des elektrischen Stroms zur
Herstellung einer telegraphischen Verbindung entfernter Orte zu
benutzen.

Sömmering brachte in einem Glasgefäß 26 Goldspitzen an, von denen
jede mit einem Buchstaben des Alphabets bezeichnet war. Die Spitzen
standen durch 26 Leitungen mit ebensovielen Tasten am Gebeort in
Verbindung. In einen 27. Draht, der die Flüssigkeit im Gefäß
leitend mit der Gebestation verband, war eine galvanische Batterie
eingeschaltet. Sobald am Gebeort eine Taste niedergedrückt wurde,
begann eine Entwicklung von Gasbläschen an der betreffenden
Goldspitze der Empfangsstelle, so daß der Beobachter am Empfangsort
erkennen konnte, welche Taste in der Ferne niedergedrückt worden
war. Auf diese Weise vermochte man also, wenn auch langsam, Worte
zu übermitteln.

Sömmering stellte diesen ersten elektrischen Telegraphen der
Münchener Akademie vor. Aber wegen der vielen Leitungen, die
notwendig waren, und infolge der Schwierigkeit, diese genügend
zu isolieren, konnte die Anordnung keine praktische Verwendung
finden.

Professor _Schweigger_ in Erlangen schlug darum vor, statt
der 26 Goldspitzen nur 2 zu nehmen. Durch eine Vorrichtung,
die ein Umpolen der stromgebenden Batterie gestattete, wollte
er die Entwicklung von Wasserstoff willkürlich bald an der
einen, bald an der anderen Spitze stattfinden lassen. Man sieht
nämlich an der Wasserstoffspitze eine bedeutend größere Zahl von
Gasbläschen aufsteigen als an der anderen, wo Sauerstoff erzeugt
wird. War nun ein Alphabet vereinbart, das jeden Buchstaben
durch eine bestimmte Reihenfolge der ihren Ort wechselnden
Wasserstoffentwicklung darstellte, so konnte man mit Hilfe von
zwei Drähten dasselbe erreichen wie Sömmering mit seiner großen
Zahl von Leitungen. Doch auch der Schweiggersche Telegraph hat
keine praktische Verwendung gefunden, da mit den damaligen
Hilfsmitteln eine deutliche Abgabe der Gasbläschenzeichen nicht
möglich war.

Erst als _Oersted_ in Kopenhagen im Jahre 1820 die epochale
Entdeckung gemacht hatte, daß ein elektrischer Strom, der in
der Nähe einer frei schwebenden Magnetnadel parallel mit dieser
vorbeigeführt wird, die Nadel abzulenken vermag, und daß diese
Ablenkung von der Richtung des elektrischen Stroms abhängt, tat
die Telegraphie einen weiteren wichtigen Schritt.

_Ampère_ in Paris schlug sofort vor, diese Eigenschaft des
elektrischen Stroms zur Übermittlung von Nachrichten zu
verwenden. Er wollte so viel Nadeln aufhängen, wie das Alphabet
Buchstaben besitzt, und eine jede Nadel durch einen darunter
fortgeführten Draht von fernher ablenkbar machen. Hierzu hätte
man wiederum 27 Drähte nötig gehabt. Ein solcher Ampèrescher
Apparat ist nie gebaut worden.

_Fechner_ gab aber hierzu eine ebensolche Vereinfachung an, wie
sie Schweigger für den Sömmeringschen Apparat empfohlen hatte,
indem er nur _eine_ Nadel mit willkürlich wechselnder Ablenkung
nach beiden Richtungen anordnete. Die Wirkung der Ströme wurde
dadurch verstärkt, daß man den Draht in vielen Windungen um die
Nadel herumführte. Nadeltelegraphen, die auf diesem Fechnerschen
Grundgedanken beruhen, sind später, als die Technik weiter
vorgeschritten war, häufig angewendet worden und, wenn auch in
abgeänderter Form, bei Beobachtungsinstrumenten noch heute im
Gebrauch.

Nicht lange darauf wurden durch _Arago_ und namentlich durch die
genialen Forschungen Michael _Faradays_ der Elektromagnetismus
und die Magnetinduktion entdeckt. _Gauß_ und _Weber_ in Göttingen
benutzten die Tatsache, daß die Verschiebung einer Drahtrolle
in einem magnetischen Feld Stromstöße hervorruft, dazu, einen
Nadelempfänger zu beeinflussen. Dieser erste Telegraph, bei dem
kein Batteriestrom verwendet wurde, ist besonders bedeutungsvoll
dadurch geworden, daß er zum erstenmal zu einer wirklichen
telegraphischen Verbindung über eine gewisse Entfernung gedient
hat. In dem Zeitabschnitt von 1833 bis 1844 verband ein
Gauß-Weberscher Telegraph das Observatorium in Göttingen mit der
dortigen Sternwarte. Im letztgenannten Jahr schlug ein Blitz in
die über die Stadt Göttingen geführte Leitung und zerstörte sie
vollständig.

_Steinheil_ in München baute im Jahre 1837 die zweite in Gebrauch
genommene Telegraphenanlage zwischen dem Akademiegebäude in
der bayerischen Hauptstadt und der Sternwarte im benachbarten
Bogenhausen. Ihm gelang es schon, die Nadelschwankungen auf
einen vorbeigleitenden Papierstreifen durch feine Farblinien
aufzeichnen zu lassen, und ihm gebührt darum das Verdienst,
den ersten Schreibtelegraphen hergestellt zu haben. Er war es
auch, der die Entdeckung machte, daß man mit einem einzigen
Leitungsdraht auskommen und die Erde als Rückleitung benutzen
könne, wenn man sowohl am Gebe- wie am Empfangsort je eine
mit der Leitung verbundene Metallplatte in offenes Wasser
oder in feuchtes Erdreich einsenkt. _Schilling von Cannstadt_
erweiterte den Steinheilschen Telegraphen durch die Zufügung
eines Glockenwerks, das durch die erste Ablenkung der Magnetnadel
ausgelöst wurde.

Bis dahin waren es ausschließlich Deutsche gewesen, die an der
Entwicklung des Telegraphen gearbeitet hatten. Nun ging die
Führung eine Zeitlang an die Engländer und Amerikaner über.
_Wheatstone_ und _Morse_ waren es, die durch ihre Apparate eine
neue große Periode der elektrischen Nachrichtenübermittlung
herbeiführten. Aber sofort war es von neuem einem Deutschen
beschieden, hier bahnbrechend einzugreifen, und dieser Deutsche
hieß Werner Siemens.

Bis zu seinem Auftreten konnte von einem richtigen
telegraphischen Verkehr nicht die Rede sein. Zehn Jahre später
war das große Welttelegraphennetz bereits in lebhaftem Ausbau und
ist auf den Bahnen, die Siemens ihm vorgeschrieben hat, bis zum
heutigen Tag weitergeführt worden.

Als Siemens den Wheatstoneschen Zeigertelegraphen kennen lernte,
gelang ihm, wie wir wissen, sofort eine Verbesserung dieser
unzuverlässigen Maschine. Wheatstone hatte die Buchstaben des
Alphabets im Kreis auf einem Zifferblatt angeordnet. Darüber
war eine drehbare Nadel angebracht. An dem Empfangsort befand
sich ein gleicher Buchstabenkreis, über den man eine Kurbel
hinwegbewegen konnte. Durch das Drehen der Kurbel von einem
Buchstaben zum anderen wurde immer ein Stromstoß in die Leitung
gesandt, und damit die Nadel um einen Buchstaben weiterbewegt.
Kurbel und Nadel sollten auf diese Weise stets den gleichen Stand
haben, so daß in einfachster Weise hätte telegraphiert werden
können. Die Übereinstimmung war jedoch äußerst mangelhaft, und
erst Siemens vermochte hier Sicherheit zu erwirken. Er formte den
Apparat dann noch weiter um, indem er an die Stelle der gebenden
Kurbel Tasten mit Buchstabenbenennung setzte.

Die gesamte Bemühung um die Nadeltelegraphie war jedoch sofort
zu Ende, als der _Morse-Apparat_ erschien. Hier wurde der
vortreffliche Gedanke verwendet, durch einen Magnet einen Anker
anziehen zu lassen und dadurch ein Aufschreiben von Zeichen
auf einem an der Ankerspitze vorbeirollenden Papierstreifen
zu bewirken. Sobald man am Gebeort durch Niederdrücken einer
Taste einen Stromschluß hervorruft, wird drüben der Anker
angezogen, und dessen Spitze schreibt bei längerem Niederdrücken
der Taste auf den Papierstreifen einen Strich, bei kürzerem
Niederhalten einen Punkt. Aus Punkten und Strichen setzte
Morse in ausgezeichneter Weise ein Alphabet zusammen, das wir
noch heute in der Draht- und sogar in der Funkentelegraphie
verwenden. Der Apparat wurde zum Grundpfeiler der elektrischen
Nachrichtenübermittlung.

Aber doch nur, nachdem er durch Siemens' Hand die brauchbare
Gestalt erhalten, und nachdem seiner Wirkungsfähigkeit durch
denselben Mann freie Bahn eröffnet worden war.

So wie der Morse-Apparat nach Europa kam, als Uhrmacherarbeit,
war er keinesfalls zu verwenden. An ihm betätigte Siemens
zum erstenmal seinen fabrikatorisch-technischen Grundsatz,
dem er das ganze Leben hindurch treu geblieben ist, nämlich,
sorgfältige und dauerhafte Arbeit zu leisten. So gab er dem Morse
haltbare Laufwerke mit Selbstregulierung der Geschwindigkeit,
zuverlässig wirkende Magnetsysteme und sichere Kontakte. Er
bildete ihn allmählich zu dem Apparat durch, der heute noch als
Normal-Morseschreiber bei den Eisenbahnen und Postanstalten
Deutschlands in großer Zahl verwendet wird.

Schon überraschend frühzeitig dachte Siemens daran, den
telegraphischen Verkehr dadurch zu beschleunigen und zugleich
die Depeschen klarer lesbar zu machen, daß er Apparate für
_automatische Sendung_ konstruierte. Er ließ Typen, die mit
den Morsezeichen versehen waren, zusammensetzen und sie unter
einer Vorrichtung rasch hindurchtreiben, die nun Punkte und
Striche geschwind durch die Leitung schickte. Später verbesserte
er durch die Konstruktion einer _Dreitastenstanzmaschine_ den
selbsttätigen Lochstreifensender, der die Grundlage für die
feinste Blüte der automatischen Zeichengebung, den Siemens &
Halskeschen Schnelltelegraphen, geworden ist; mit diesem kann man
heute bis zu 2000 Zeichen in der Minute durch den Draht senden.

Ein wenig an Zauberei gemahnt immer das Verfahren, das uns
ermöglicht, durch _einen_ Draht zu gleicher Zeit zwei Telegramme nach
beiden Richtungen zu senden. Von jeder der beiden Leitungsendstellen
aus wird im gleichen Augenblick etwas anders telegraphiert; die
Ströme durchdringen sich sozusagen gegenseitig in der Leitung, aber
sie stören einander dennoch nicht. Ganz deutlich und klar kommt
jedes der beiden zur gleichen Zeit durch den Draht laufenden
Telegramme am Empfangsort an. Werner Siemens ist es gewesen, der
diese _Gegensprechmethode_, wie sie noch heute genannt wird,
erfunden hat. Die Möglichkeit dazu wird durch eine sehr fein
erdachte Schaltungsmethode an beiden Endpunkten der Leitung gegeben.
Zur selben Zeit wie Siemens erfand auch der Telegrapheninspektor
Carl _Frischen_ in Hannover das Gegensprechen; dieser hat später
als Ingenieur der Firma Siemens & Halske dort eine bedeutende
Stellung eingenommen und ist der Vater des Blocksystems, der
wichtigsten Sicherungsanlage für Eisenbahnen, geworden.

Als sich bei der immer größer werdenden Ausdehnung der
Telegraphenleitungen die Notwendigkeit zeigte, die niedrig
gespannten Batterieströme in höher gespannte Gleichströme
umzuwandeln, konstruierte Werner Siemens eine _Tellermaschine_,
welche die damals technisch nicht einfache Aufgabe glänzend
löste. Diese Tellermaschine ist als Vorläuferin der Dynamomaschine
anzusehen, und zugleich ist in ihr zum erstenmal das Prinzip des
_Transformators_ verwendet, das für die heutige Starkstromtechnik
eine so überragende Bedeutung gewonnen hat.

Allen wohl sind die großen Läutewerke bekannt, die an jeder
Eisenbahnwärterbude stehen. Sie dienen dazu, dem Wärter durch
das Ertönen der Glocke erkennen zu lassen, daß alsbald ein Zug
herankommen wird. Die Signale werden mittels des elektrischen
Stroms von dem nächsten Bahnhof her gegeben. Im Anfang mußte man
so kräftige Ströme hierfür verwenden, daß sie imstande waren, die
schweren Glockenklöppel selbst durch Magnetanziehung in Tätigkeit
zu setzen. Siemens führte hier durch einen Gedanken, der fortab
auch an vielen anderen Stellen verwendet worden ist, eine sehr
bedeutende Erleichterung der Zeichengebung ein. Er brachte in
den Gehäusen der Glocken Uhrwerke an, durch die, sobald die
Sperrung ausgelöst ist, die Klöppel bewegt, und so die Glocken
zum Tönen gebracht werden. Der elektrische Strom braucht jetzt im
Augenblick der Zeichengebung nur noch die _Sperrung auszulösen_,
kann also sehr viel schwächer sein.

Die Beschäftigung mit den Eisenbahnläutewerken regte Werner
Siemens auch dazu an, darüber nachzudenken, ob die sehr
unbequemen galvanischen Batterien, die sehr viel Wartung
beanspruchten und auf den an der freien Strecke gelegenen
Zwischenpunkten niemals sachgemäß gepflegt wurden, nicht durch
andere Stromgeber ersetzt werden könnten. Es gab damals schon
die Magnetinduktionsmaschine, bei der durch Drehen eines Ankers
zwischen den Polen von Stahlmagneten Elektrizität erzeugt wurde.
Siemens war jedoch nicht der Mann, diese Maschine, als sie ihm
für seine Zwecke geeignet schien, einfach in der hergebrachten
Form zu übernehmen. Er erfand vielmehr sofort eine Verbesserung,
die wohl zum erstenmal seinen Namen in der ganzen technischen
Welt bekannt gemacht hat.

Es entstand für diese Eisenbahnläutewerke der _Doppel-T-Anker_,
in England *Siemens armature* genannt. Dieser verbesserte den
Wirkungsgrad der Induktoren ganz außerordentlich, und wir
werden seine Bedeutung auch für die Dynamomaschine später noch
kennen lernen. Heute noch ist der Doppel-T-Anker bei allen
Magnetinduktoren, die für Telephonruf und für Signalzwecke
verwendet werden, in sämtlichen Ländern der Erde in unzähligen
Exemplaren im Gebrauch.

Aber trotz dieser fruchtbaren erfinderischen Tätigkeit liegt die
epochale Leistung Werner Siemens' für die Telegraphie doch auf
einem Gebiet, das mit deren Apparatur selbst nichts zu tun hat,
sondern nur das anscheinend nebensächliche, aber schließlich doch
wichtigste Zwischenglied betrifft: die Leitung.

»Der Gelehrte,« so schreibt er einmal, »konnte leicht Methoden
und Kombinationen ersinnen, welche telegraphische Mitteilungen
möglich machten, und welche sich auch, im Zimmer versucht,
trefflich bewährten. In Wirklichkeit trat aber ein neues
schlimmes Element hinzu, welches seine Pläne durchkreuzte -- die
isolierte Leitung zwischen den telegraphisch zu verbindenden
Orten.« Seltsamerweise bevorzugte man in jenen Zeiten die
unterirdischen Telegraphenleitungen vor den durch die Luft
geführten. Um so mehr war eine gründliche Isolierung der Drähte
notwendig, und eine solche war nicht vorhanden. Gerade das trieb
Siemens dazu, der Telegraphie seine Lebensarbeit zu widmen.




Das Leitungsnetz


Schon gleich nachdem ihm die Verbesserung des Wheatstoneschen
Zeigertelegraphen gelungen, war es, wie wir schon gehört haben,
Werner Siemens ganz klar geworden, daß er hier seinen Lebensweg
gefunden habe. Endgültig warf er alle »Erfindungsspekulationen«
hinter sich und begann eine Arbeit, die erst in der Zukunft
Früchte bringen konnte, obgleich die materiellen Sorgen ihn
schwer bedrängten.

Am 13. Dezember 1846 schreibt er an seinen Bruder Wilhelm:
»Ich bin jetzt ziemlich entschlossen, mir eine feste Laufbahn
durch die Telegraphie zu bilden, sei es in oder außer dem
Militär. Die Telegraphie wird eine eigene wichtige Branche
der wissenschaftlichen Technik werden, und ich fühle mich
einigermaßen berufen, organisierend in ihr aufzutreten, da sie,
meiner Überzeugung nach, noch in ihrer ersten Kindheit liegt
... Man muß doch endlich einmal suchen, irgendwo festen Fuß zu
fassen. Meyer schenkte mir gestern eine Tasse mit der Aufschrift:
»Schier dreißig Jahre bist du alt!« -- Die Wahrheit dieses
Ausspruchs macht bedenklich und spornt zur Eile an. Wenn nur das
verdammte Geld einen nicht im Drecke festhielte!«

Und dann kommt es wie eine Offenbarung über ihn, daß er richtig
gehandelt habe und niemals mehr werde zurückzuweichen brauchen.
In einem Brief vom 3. Januar 1847 an Wilhelm, der ihm inzwischen
geantwortet und ihn in seinem Vorhaben bestärkt hatte, heißt es:

»Die trübe Stimmung (der Neujahrsnacht) wurde durch die neue
Bahn, die ich mir zum 30. Geburtstage geschenkt habe, gemildert.
Ich habe mich im alten Jahre aller sanguinischen Hoffnungen,
aller der vielen sich teils durchkreuzenden Pläne entledigt
und will, mit Deinem Rate übereinstimmend, alle meine Kräfte
dem einen Ziele, der galvanischen Telegraphie und was daran
hängt und dazu nutzt, widmen! Ich will suchen, mich mit aller
Anstrengung aus der verzweifelten Lage, in der ich mich befinde,
herauszuarbeiten und wünsche mir selbst Ausdauer und Gesundheit
dazu ...

»Ich kündige Dir hierdurch unsere Kompanieschaft und entsage
allen Ansprüchen auf die aus einer durch Dich vielleicht
herbeigeführten glücklichen Wendung unserer bisherigen gemeinsamen
Angelegenheiten entspringenden Einnahmen. Wir können darum doch
treue Brüder bleiben, können uns gegenseitig raten und helfen.«

Ist es nicht, als wenn hier die Macht, die das Schicksal der
Menschheit lenkt, ihrem Werkzeug zugeflüstert habe: das gelobte
Land liegt hier vor dir!

Denn in Wirklichkeit war ja noch gar nichts geschehen, was zu
großen Hoffnungen berechtigte. Nun erst setzt sich Siemens mit
einer kleinen Werkstatt in Verbindung, die von den Mechanikern
Böttcher und _Halske_ geleitet wurde. Er zeigt einen von ihm
erdachten Telegraphenapparat, und der vorzügliche Gang begeistert
Halske so sehr, daß er sofort beschließt, den Apparat mechanisch
exakt auszuführen.

Siemens hatte lange gesucht, bis er in der damaligen noch so
untechnischen Welt jemand fand, auf dessen Arbeit er sich
verlassen konnte. Er wußte ganz genau, daß von der Sorgfalt der
mechanischen Abarbeitung alles künftige Gelingen beim Ausbau der
Telegraphenapparatur abhing. Und das ist ein Grundsatz, den er
später auf die Großfabrikation übertragen hat, und der lebhaft
mithalf, die von ihm begründete Firma groß und bedeutend zu
machen.

Die überraschend sicher laufenden Apparate erregten das Interesse
des Generalstabs, in dessen Händen damals die gesamte Telegraphie
lag. Der Telegraphendirektor Oberst Etzel erwirkte, als schon
wieder eine Rückversetzung nach Wittenberg drohte, Siemens'
Kommandierung zur Militärtelegraphie.

Hierbei nahm Werner Siemens wahr, daß die Hauptschwierigkeit beim
Bau der gewünschten unterirdischen Leitungen die mangelhafte
Isolation war. Jacobi hatte versucht, die Leitungen mit
Kautschuk oder Harzen zu umkleiden und sie durch Glasröhren
hindurchzuziehen. Aber die Feuchtigkeit des Bodens drang in die
Nähte des Kautschuks und in die Verbindungsstellen zwischen den
Glasröhren ein. Nur eine zusammenhängende isolierende Masse
konnte hier helfen. Es gelang Siemens, sie aufzufinden.

Kurz vor jener Periode hatte José d'Almeida der Asiatischen
Gesellschaft in London ein Stück _Guttapercha_ vorgelegt. Dieser
Stoff wird aus dem Saft eines Baums gewonnen, der nur auf der
Halbinsel Malakka, den Inseln Sumatra und Borneo sowie einigen
kleinen benachbarten Inselgruppen wächst. Man schenkte der
Guttapercha jedoch keinerlei Interesse, bis der Arzt Montgomery
einige daraus gefertigte Gegenstände, wie Rohre und Flaschen, aus
Hinterindien nach England mitbrachte. Da wurde Wilhelm Siemens
darauf aufmerksam und schickte seinem Bruder Werner ein Stück
Guttapercha als Kuriosität zu.

Dieser beobachtete, daß die Masse in erwärmtem Zustand
plastisch wurde und sehr gute isolierende Eigenschaften besaß.
Er überzog einige Drahtproben mit erwärmter Guttapercha und
fand, daß die Drähte vorzüglich isoliert waren. Sogleich legte
er der Telegraphenkommission die Guttaperchaleitungen vor,
und man veranstaltete eine Probeverlegung auf dem Gelände der
Anhaltischen Bahn. Es zeigte sich jedoch bald, daß die Naht, die
in der Umhüllung vorhanden war, weil man die erwärmte Guttapercha
um den Draht herumgewalzt hatte, sich leicht löste, wodurch
die Isolierung unbrauchbar wurde. Da erfand Werner Siemens die
_Guttapercha-Schraubenpresse_, die gestattete, den Stoff unter
Anwendung hohen Drucks nahtlos um den Kupferdraht zu fügen. Das
ist das große Ereignis, von dem ab die Menschheit in den Besitz
ausgezeichnet isolierter Drähte gelangte.

Sofort wurde Werner Siemens beauftragt, eine längere
unterirdische Leitung zu legen, und zwar von Berlin bis
Großbeeren. Sie bewährte sich ausgezeichnet. Und nun erschien
Siemens das Aufblühen des Telegraphen unmittelbar bevorzustehen.

Obgleich er noch immer Offizier war, veranlaßte er den Mechaniker
J. G. Halske, aus der Firma, der er bisher angehörte, auszutreten
und mit ihm zusammen eine Werkstatt zu begründen. Am 12. Oktober
1847 wurde diese in einem Hinterhaus der Schöneberger Straße
eröffnet, in dem auch Halske und Siemens selbst Wohnung nahmen.
Ein Vetter, der Justizrat Georg Siemens, der spätere Direktor
der Deutschen Bank und Vater des Bagdadbahn-Unternehmens, hatte
hierzu 6000 Taler hergegeben. Diese Anleihe ist die einzige
geblieben, die für das Geschäft gemacht wurde. Ohne weitere
Inanspruchnahme fremden Kapitals erwuchs hieraus die Weltfirma
Siemens & Halske. Wir werden im Verlauf der nun folgenden
Darstellung die Entwicklung dieser Firma nicht genauer verfolgen,
da sie in einem späteren besonderen Abschnitt zusammenhängend
dargestellt werden soll.

Vorläufig konnte der Leutnant Siemens nur als stiller Teilnehmer
an dem Geschäft mitarbeiten, aber er war doch die tragende Kraft
des Unternehmens. Als ihm kurze Zeit später die Stellung als
Leiter der preußischen Staatstelegraphen angeboten wurde, lehnte
er jugendkräftig diese bequeme Versorgung ab, um die Hände zu
weiteren selbständigen Arbeiten frei zu haben.

Aber schon in dieser Periode geringer Entwicklung dachte er
daran, welchen Nutzen der Telegraph der Allgemeinheit bringen
könnte. Er kämpfte in der Kommission des Generalstabs dafür, daß
die Benutzung der Telegraphenlinien auch dem Publikum gestattet
würde, was bis dahin nicht der Fall war. Es gelang jedoch erst
später, diesen Gedanken durchzusetzen, der das öffentliche Wohl
so lebhaft fördern sollte.

Während sich nun alles in bester Entwicklung befand, brach
der Sturm von 1848 los, dessen Einwirkung auf Werner Siemens
wir bereits geschildert haben, ebenso wie seine Teilnahme
an dem Kampf gegen Dänemark. Dabei haben wir gesehen, wie
vortrefflich er die eben neu hergestellten Leitungen mit
Guttapercha-Isolierung für die Minen zur Verteidigung des Hafens
zu verwenden wußte.

Als der Festungseroberer und Batteriekommandant heimkehrte, fand er
eine recht lebhaft veränderte Situation vor. Die Telegraphenverwaltung
war dem Militär entzogen und dem Handelsministerium unterstellt
worden. Zum Leiter dieser Abteilung war ein Regierungsassessor
_Nottebohm_ ernannt worden, den Siemens von einem Verwaltungsposten
in der Telegraphenkommission her kannte und nicht sonderlich
schätzte. Halske hatte inzwischen dafür gesorgt, daß die kleine
Fabrik weiterarbeitete, und so konnte sie sich gleich an der
Ausführung eines großen Unternehmens beteiligen, zu dessen Leitung
Werner Siemens berufen wurde.

Man wollte möglichst schnell eine _unterirdische Leitung von
Berlin nach Frankfurt a. M._ verlegt haben, wo die Deutsche
Nationalversammlung, das berühmte Parlament der Paulskirche,
tagte. Mit der Lieferung der Apparate wurde Halske beauftragt.
Die isolierten Drähte wurden von der Berliner Gummifabrik
Fonrobert & Pruckner bezogen, an die Siemens das Recht zur
Herstellung der Guttapercha-Isolierung mit der von ihm erfundenen
Presse übertragen hatte.

Siemens war also, wie Ehrenberg schreibt, an dem Bau der
Linie nach Frankfurt in dreifacher Weise beteiligt: als
Staatsangestellter, als stiller Teilhaber von Halske und als
vertragsmäßig beteiligter Interessent bei der Firma, welche
die Leitungen lieferte. Es war ein verwickeltes und offenbar
auf die Dauer nicht mögliches Verhältnis. Dabei wurde an dem
Unternehmen nicht viel verdient. Werner meinte: »Wenn 5000
Taler übrigbleiben, können wir zufrieden sein!« Doch wurden es
schließlich bei weitem nicht so viel.

Selbstverständlich mußte die Leitung unterirdisch geführt werden,
da man in Deutschland, wie damals überall, die Furcht hegte, daß
oberirdisch geführte Drähte von Mutwilligen zerstört oder von
diebischen Leuten, die der Wert der Drähte lockte, herabgerissen
werden könnten. Siemens empfahl, sich bei den in die Erde
einzusenkenden Kabeln mit der bloßen Isolation nicht zu begnügen,
sondern sie noch mit einem Eisenbandmantel zu umkleiden, damit
sie Beschädigungen genügenden Widerstand entgegensetzen könnten.
Doch in Rücksicht auf die erforderliche Schnelligkeit und
wegen der zu hohen Kosten wurde dieser Ermahnung kein Gewicht
beigelegt, was sich später bitter rächen sollte. Man umhüllte
die Drähte nur mit Hilfe der Siemensschen Guttaperchapresse und
legte sie dann in einen nur anderthalb Fuß tiefen Graben am
Eisenbahndamm entlang.

Das Unglück wollte es ferner, daß die Guttapercha knapp zu
werden begann, da plötzlich infolge der von Siemens ausgehenden
Anregung, sie zur Isolierung von Drähten zu verwenden, eine
sehr lebhafte Nachfrage nach diesem Stoff eingetreten war. So
sah man sich gezwungen, um den weiteren Fortschritt der Arbeit
nicht aufzuhalten, die Guttapercha zu vulkanisieren, das heißt
mit Schwefel zu mischen, was sich in der Folge als ein weiterer
Fehlgriff erwies. Das Endstück von Eisenach bis Frankfurt mußte
dann schließlich doch noch oberirdisch geführt werden, da hier
die Eisenbahn, deren Erstreckung man sonst folgte, noch nicht
fertiggestellt war.

Auch an der Luftleitung traten ungeahnte Schwierigkeiten auf.
Es zeigte sich nämlich, daß der nur ganz einfach an hölzernen
Pfosten befestigte Draht mit der Erde in leitende Verbindung
kam, sobald die Pfosten durch Regen benetzt wurden. Zur Abhilfe
erfand Werner Siemens den _glockenförmigen Isolator_, wie wir ihn
heute zu Millionen in allen Ländern der Erde als Leitungsträger
antreffen. Dieser Isolator bietet den großen Vorteil, daß der
tief ins Innere hineingezogene Mantel der Glocke auch bei starkem
Regen trocken bleibt, so daß sich eine zusammenhängende Regenhaut
von dem über die Spitze der Glocke laufenden Draht bis zum
Pfosten nicht bilden kann.

Es gelang wirklich, die ganze Linie so rasch fertigzustellen,
daß mit ihrer Hilfe die am 28. März 1849 in Frankfurt erfolgte
Wahl König Friedrich Wilhelms IV. zum Deutschen Kaiser noch in
derselben Stunde in Berlin bekannt wurde.

Diese Telegraphenlinie war die erste von größerer Ausdehnung, die
in Europa entstand.

Die Leistung, die Werner Siemens hier vollbrachte, ist um so
bemerkenswerter, als sich in den unterirdisch verlegten Leitungen
physikalische Phänomene zeigten, die niemand vorher bekannt
waren, und die das Telegraphieren zunächst fast unmöglich
machten. Auch ihre Beobachtung und Erklärung sollte von
grundlegendem Wert für die weitere Entwicklung der Telegraphie
werden.

Nach den Grundsätzen, die Siemens sein ganzes Leben hindurch
bewahrt hat, richtete er schon bei der Verlegung dieser
ersten größeren Linie eine äußerst sorgfältige Kontrolle der
Leitungsfähigkeit ein. Halske hatte zu diesem Zweck Galvanometer
angefertigt, deren Empfindlichkeit weit über all das hinausging,
was man bisher besessen hatte. Als hiermit Leitungsstücke geprüft
wurden, zeigte sich, daß der Stromdurchgang nicht in der Weise
stattfand, wie man es erwarten durfte und bisher bei allen
Leitungen beobachtet hatte. Es trat eine Verzögerung des Stroms
beim Durchlaufen der Leitung ein. Wenn die Batterie am Anfang
der Leitung eingeschaltet wurde, zeigte sich ihre Wirkung nicht
sogleich am anderen Ende, sondern diese trat verzögert, dann auch
noch schwach auf und wuchs erst allmählich zu voller Höhe an.
Werner deutete diese höchst seltsame Erscheinung alsbald richtig
als _elektrostatische Ladung der Kabel_.

Ein Kabel stellt nämlich, richtig betrachtet, nichts anderes
dar als eine Leydener Flasche. Der Leitungsdraht selbst ist die
innere Belegung, die Isolation die trennende Zwischenschicht (das
Diëlektrikum, das bei der Flasche durch das Glasgefäß gebildet
wird), und die Erde oder das vom Draht durchzogene Wasser stellen
die äußere Belegung dar. Eine Leydener Flasche hat nun die
Eigenschaft, sich, wenn sie an Spannung gelegt wird, aufzuladen.
Sie nimmt ein Quantum elektrischer Energie in sich selbst auf
und hält es fest. Bei den Kabeln, die Siemens auch demzufolge
Flaschendrähte genannt hat, ist nun die Aufnahmefähigkeit
infolge ihrer großen Ausdehnung sehr groß, und so wird die
elektrostatische Aufladung als Verzögerung des Stromdurchgangs
bemerkbar.

Durch diese Verzögerung ist es unmöglich, schnell nacheinander
Stromstöße durch sehr lange Kabel zu schicken. Hätte Siemens
nicht schon im Jahre 1849 die auftretenden Ladungserscheinungen
entdeckt, so wäre man bei der ersten Benutzung der durch
die Meere verlegten Kabel wahrscheinlich in die allergrößte
Verlegenheit geraten. Denn durch diese ist bis zum heutigen Tag
kein telegraphischer Verkehr nach gewöhnlicher Methode möglich.
Nur mit ganz schwachen Strömen und mit Hilfe höchst empfindlicher
Einrichtungen kann über ein langes Kabel verkehrt werden.

Bei der Frankfurter Linie wurde es ferner notwendig, für die
oberirdisch geführte Leitung _Blitzableiter_ zu erfinden, wie sie
heute an allen oberirdisch laufenden Telegraphenlinien auf der
ganzen Erde gebraucht werden, und klar deutete Siemens die in
einer gewissen Periode auftretenden, sonst ganz unerklärlichen
Störungen in der Leitung als magnetische Einflüsse, die von
den damals gerade sehr lebhaft auftretenden Nordlichtern
hervorgerufen wurden. Vorher hatte man noch niemals den
Zusammenhang zwischen solchen elektrischen Vorgängen in der
Atmosphäre und Störungen in den Leitungen erkannt.

Der glänzende Erfolg, den die Frankfurter Telegraphenlinie hatte,
führte dazu, daß Siemens sogleich einen weiteren großen Auftrag
erhielt, nämlich den, eine Leitung von Berlin nach Köln und dann
weiter an die belgische Grenze bis Verviers zu verlegen. Auch
hier wurde er aller Schwierigkeiten rasch Herr, und als der
Anschluß an die inzwischen gebaute belgische Telegraphenlinie in
Verviers erreicht war, erhielt er eine Einladung nach Brüssel,
um dort vor dem König Leopold und der ganzen königlichen Familie
einen Vortrag über elektrische Telegraphie zu halten.

Die so entstandene Linie Köln-Brüssel zerstörte schonungslos das
blühende Geschäft eines Manns, der bis dahin eine Taubenpost
zwischen den beiden Orten unterhalten hatte. Der Mann hieß
_Reuter_. Als er und seine Frau sich bei Siemens darüber
beklagten, daß ihre Existenz nun vernichtet sei, erzählte
dieser ihnen, daß ein Herr Wolff soeben in Berlin mit Hilfe
seines Vetters, des schon erwähnten Justizrats Siemens, ein
Depeschenvermittlungsbureau begründet habe. Sie sollten doch
nach London gehen und dort ein gleiches Bureau eröffnen. Das
Ehepaar folgte diesem Rat, und das Unternehmen hatte den denkbar
größten Erfolg. Wem früher in Deutschland das Reutersche
Telegraphenbureau nicht bekannt gewesen ist, der hat es während
des Weltkriegs sicher zur Genüge kennen gelernt.

Der Bau der Linie von Köln zur belgischen Grenze machte es auch
notwendig, ein Telegraphenkabel durch den Rhein zu legen. Bei
dem regen Schiffsverkehr auf diesem Strom schien eine einfache
Umwehrung der Leitung mit eisernen Drähten nicht genügend, da
die Gefahr vorlag, daß schleppende Anker großer Schiffe sie
zerreißen könnten. Siemens ließ daher für den Rhein eine biegsame
Eisenröhre herstellen, die aus einzelnen Gliedern bestand; durch
das Innere der Röhre wurde die isolierte Leitung hindurchgezogen.
Vor die Röhrenkette wurde eine schwere Ankerkette gespannt, die
schleppende Anker aufhalten sollte. Es war die erste größere
Flußüberquerung durch den Telegraphen, die hier hergestellt
wurde, und sie hat sich so vorzüglich bewährt, daß sie noch
vollkommen brauchbar war, als sie nach vielen Jahren aufgenommen
wurde, nachdem man eine neue Leitung über die inzwischen
errichtete feste Eisenbahnbrücke gelegt hatte. An der Schutzkette
fand man eine Menge abgerissener Schiffsanker hängen; die
Sicherung hatte also vollständig ihre Schuldigkeit getan.

Da Aufträge zur Einrichtung von telegraphischen Leitungen an
Siemens jetzt in immer größerer Zahl herantraten, so mußte er
sich nunmehr dazu entschließen, seinen Abschied vom Militär zu
nehmen. Er erhielt ihn als Premierleutnant »mit der Erlaubnis,
die Uniform als Armeeoffizier mit den vorschriftsmäßigen
Abzeichen für Verabschiedete zu tragen«. Die Genehmigung des
Abschiedsgesuchs enthielt eine tadelnde Bemerkung, weil Siemens
sich eines Formfehlers schuldig gemacht hatte. Da er sich trotz
mancherlei Krankheitsanfällen, denen er damals unterworfen war,
kräftig genug fühlte, ganz auf eigenen Füßen zu stehen, so
verzichtete er auf die ihm nach zwölfjährigem Offiziersdienst
zustehende Pension. Dem schaffensstarken Mann, der wohl dunkel
fühlte, daß er am Anfang einer großen Laufbahn stand, paßte es
nicht, ein vorschriftsmäßiges Invaliditätsattest einzureichen.
»Mit leeren Händen, wie ich in den Dienst gegangen bin,« so
schreibt er damals in einem Brief, »habe ich ihn auch wieder
verlassen und bin zufrieden damit.« Aus dieser Äußerung geht
auch hervor, daß das Geschäft bis dahin geldlich nicht sehr
erfolgreich gewesen war, und so ist es auch noch längere Zeit
hindurch geblieben.

Siemens war sich jetzt auch schon der Bedeutung dessen, was
er auf dem Gebiet der Telegraphie bisher geleistet hatte, so
weit bewußt, daß er eine zusammenfassende Abhandlung darüber
verfaßte. Er legte sie im April 1850 unter dem Titel »*Mémoire
sur la télégraphie électrique*« der Pariser Akademie der
Wissenschaften vor, deren Votum ja damals eine überragende
Bedeutung besaß. Es waren sehr bedeutende Männer, die handelnd
in der Sitzung auftraten, in welcher das Siemenssche Memoire
vorgelegt wurde. _Regnault_ erstattete den Bericht; _Du
Bois-Reymond_ und der Autor selbst waren als Gäste zugegen. Als
Opponent trat _Leverrier_, der große Errechner des Neptuns,
auf, während _Arago_ als *Sécrétaire perpétuel* den Vorsitz
führte. Die Arbeit wurde für würdig erachtet, in die »*Savants
étrangers*« aufgenommen zu werden.

Im Vaterland aber gab es gerade zu dieser Zeit schwere
Mißhelligkeiten, die eine Zeitlang drohten, das junge, von
Siemens ins Leben gerufene Unternehmen zu vernichten.

Nachdem nämlich die von ihm gelegten unterirdischen Leitungen
eine Weile die besten Dienste getan hatten, begannen sie
plötzlich zu versagen. Überall zeigten sich Leitungsstörungen.
Siemens erkannte den Grund sofort, ja er sah nur die Voraussage
erfüllt, die er gleich zu Beginn der Leitungslegung gemacht hatte.

Er war damals, wie wir wissen, wider seinen Willen von der
Telegraphenverwaltung hart bedrängt worden, so schnell wie
möglich die Verbindungen herzustellen. Schützende Umhüllungen
über der Guttapercha anzubringen, hatte man ihm trotz seines
dringenden Vorschlags wegen der zu hohen Kosten verwehrt. Die
Leitungen waren auch nur in geringe Tiefen unter dem Boden
eingesenkt und noch dazu mit einer isolierenden Masse umgeben,
die durch Schwefelbeimischung verschlechtert war. Nun waren an
vielen Orten die Leitungen von Eisenbahnarbeitern beschädigt
worden, und man hatte die Fehlerstellen nur unsachgemäß
ausgebessert, da kein geschultes Personal hierfür zur Verfügung
gestellt wurde. Nagetiere hatten vielfach die Drähte angefressen.
Kurz, es begann ein sicherer Verfall der gesamten Anlagen.

Die Telegraphenverwaltung mit Herrn Nottebohm an der Spitze
schob die ganze Schuld auf den technischen Leiter. Da setzte
sich Werner Siemens zur Wehr und schrieb eine umfassende
Broschüre mit dem Titel: »_Kurze Darstellung der an den
preußischen Telegraphenlinien mit unterirdischen Leitungen
gemachten Erfahrungen_«. Er wies darin nach, daß die Störungen
notwendigerweise eintreten mußten, weil man seinerzeit seine
Wünsche und Ermahnungen nicht beachtet hatte. Damit wurde
indirekt ausgedrückt, daß die Verwaltung schwere Fehler gemacht
hatte, und die Folge war, daß der Telegraphenbauanstalt von
Siemens & Halske für viele Jahre alle Staatsaufträge entzogen
wurden. Das hätte zu einer Katastrophe für das junge Unternehmen
führen müssen, wenn nicht die damals noch nicht verstaatlichten
Eisenbahnen größere Bestellungen auf Telegraphenleitungen und
elektrische Läutewerke gemacht hätten. Außerdem aber wurde
Siemens nun auch mehr gezwungen, sich um Aufträge aus dem Ausland
zu bemühen, und das legte den Grund für die künftige Ausbreitung
des Geschäfts über die ganze Erde.

Ein besonders interessanter und wichtiger Auftrag kam jedoch
gerade in dieser Zeit, nämlich im Jahre 1851, aus nächster Nähe,
aus Berlin. Hier wollte man den inzwischen schon bewährten
Telegraphen für eine große Sicherheitsanlage nutzbar machen.
Siemens & Halske bauten damals die erste _Feuermeldeanlage für
Berlin_, die zugleich mit einem Polizeitelegraphen verbunden war.
Die Aufgabe war mit ihren mannigfachen technischen Ansprüchen
interessant, und sie wurde vorzüglich gelöst. Es waren 45
Stationen einzurichten und 6 Meilen Leitung zu verlegen. Zum
erstenmal wurden hierbei die Drähte in nahtlose Bleimäntel
eingeschlossen, was heute ja bei Kabeln allgemein üblich ist.
Freilich geschieht die Herstellung des Bleimantels in jetziger
Zeit nach einer anderen Methode. Für die ganze Anlage erhielt die
Firma die Summe von 34000 Talern.

Im gleichen Jahr wurde die erste in London veranstaltete
Ausstellung beschickt. Siemens & Halske wurden durch die
»*Council medal*« belohnt, eine Auszeichnung, die außer ihnen nur
noch zehn Aussteller aus dem Gebiet des Deutschen Zollvereins
erhielten.

Doch was Siemens so gern wollte, nämlich seinen Fabrikaten
Eingang in England zu verschaffen, gelang trotzdem nicht.
Er vermochte gegen die *Electric Telegraph Company* nicht
aufzukommen.

Aber aus Rußland kamen bald sehr wertvolle Aufträge. Dieses Land
hat Siemens Gelegenheit zu einer technisch und wissenschaftlich
gleich bedeutenden Betätigung gegeben. Andererseits verdankte
damals Rußland dem Deutschen die Ausrüstung mit einem so
vorzüglichen Telegraphensystem, wie es von keiner anderen Stelle
her zu erlangen gewesen wäre.

Bevor Werner Siemens zum erstenmal russischen Boden betrat,
warb er auf der Reise dorthin in Königsberg um die Hand seiner
Kusine _Mathilde Drumann_, die er vor Jahren in Berlin kennen
gelernt hatte, als ihre Mutter dort plötzlich auf der Durchreise
verschieden war, und die er seither im Herzen behalten hatte. Am
1. Oktober 1852 fand die Hochzeit statt. Doch schon nach wenigen
Jahren wurde die sehr glückliche Ehe durch das Dahinscheiden der
jungen Gattin zerstört.




Bauten in Rußland


Schon seit dem Jahre 1848 hatte die russische Regierung mit
Siemens & Halske über den Ankauf von Telegraphenapparaten
verhandelt. Drei Jahre später erwarb die Regierung 75 Apparate
für die erste in Rußland gebaute Telegraphenlinie von Petersburg
nach Moskau. Nun begab sich Werner Siemens nach Petersburg, um
weitere Verhandlungen zu führen.

Die Reise dorthin entbehrte durchaus jeglicher Bequemlichkeit.
In den »Lebenserinnerungen« heißt es: »Es gab damals noch keine
andere Reiseform in Rußland als die Extrapost. Diese war auf den
Hauptstraßen recht gut organisiert, natürlich den Verhältnissen
entsprechend. Durchschnittlich alle zwanzig bis dreißig Werst
-- eine Werst ist etwas mehr als ein Kilometer -- waren auf den
Poststraßen feste Häuser mit Stallungen gebaut, in denen man
Unterkunft und Pferde fand, wenn solche disponibel waren und
man einen Regierungsbefehl an die Posthalter hatte, durch den
sie angewiesen wurden, dem Reisenden gegen Zahlung der Taxe
Postpferde für eine bestimmte Reise zu geben.

»War man im Besitz einer solchen Order -- Podoroschna genannt
-- so erhielt man, falls man keine eigene Equipage hatte,
einen kleinen vierräderigen Bauernwagen ohne Federn, Überdeck
oder sonstigen Luxus, bespannt mit drei, gewöhnlich nicht
schlechten Pferden, von denen das mittlere in eine Gabeldeichsel
eingeschirrt, und die beiden äußeren mit einer Wendung nach außen
angespannt waren ...

»Eine solche Postreise will erst gelernt sein. Man muß ganz
frei und stark vorgebeugt auf seinem Koffer sitzen, damit das
eigene Rückgrat die Feder bilde, die das Gehirn vor den heftigen
Stößen der Räder auf den meist nicht allzu guten Straßen schützt.
Versäumt man diese Vorsicht, so bekommt man unfehlbar bald
heftige Kopfschmerzen. Man gewöhnt sich jedoch ziemlich schnell
an diese Reiseform, die auch ihre Reize hat, lernt es sogar bald,
ganz fest in der wiegenden Stellung zu schlafen, und begegnet
dabei instinktiv allen Unbilden der Straße durch zweckmäßige
Gegenbewegungen.

»Wenn zwei Reisende eine solche »Telega« benutzen, pflegen sie
sich durch einen Gurt zusammenzuschnüren, damit ihre Schwankungen
so reguliert werden, daß sie nicht mit den Köpfen aneinander
stoßen. Ich habe übrigens gefunden, daß das Telegenreisen ganz
gut bekommt, wenn man es nicht übertreibt. Freilich Kurieren, die
wochenlang ohne Unterbrechung Tag und Nacht auf der Telega sitzen
müssen, sollen diese Reisen oft den Tod gebracht haben.«

Kaum in Petersburg angekommen, erkrankte Siemens schwer an den
Masern, denen eine heftige Nierenentzündung folgte; diese hielt
ihn für längere Zeit ans Bett gefesselt. Geschäftlich aber hatte
er Glück, denn es gelang, den Auftrag für eine unterirdische
Telegraphenlinie von Petersburg nach Oranienbaum zu erhalten,
an die sich ein Kabel durch den Finnischen Meerbusen nach
Kronstadt anschließen sollte. Der Bau wurde bis zum Herbst des
Jahres 1853 zur größten Zufriedenheit des damals unter der
Regierung des Kaisers Nikolaus I. allmächtigen Ministers der
Wege und Kommunikationen, des Grafen _Kleinmichel_, vollendet.
Das Kronstadter Kabel nennt Siemens selbst die erste submarine
Telegraphenlinie auf der Erde, die brauchbar geblieben ist. In
Wirklichkeit aber war schon zwei Jahre vorher von Crampton ein
Kabel durch den englischen Kanal gelegt worden, das gleichfalls
mit Eisendrähten armiert gewesen ist und recht gut gehalten
hat. Jedenfalls aber tritt hier der künftige geistige Schöpfer
der Unterseetelegraphie zum erstenmal mit der großen Aufgabe in
Berührung, die er ganz selbständig löst.

[Illustration: Die erste elektrische Eisenbahn auf der Berliner
Gewerbeausstellung 1879]

[Illustration: Elektrischer Vollbahnzug (Schwedische Eisenbahn
Kiruna-Riksgränsen)]

Im Jahre 1853 wurde der Firma Siemens & Halske gleich eine
weitere Telegraphenlinie in Auftrag gegeben, die von Warschau zur
preußischen Grenze führen sollte. Als Werner Siemens sich bei
dieser Gelegenheit zum zweitenmal nach Rußland begab, lernte er
die dort herrschenden politischen Zustände gründlich kennen.

Schon in Berlin hatte er zu seiner Verwunderung Mühe, das Visum
seines Passes von der russischen Gesandtschaft zu erhalten.
Als er an der russischen Grenzstation anlangte, wurde sein
Gepäck nach Abfertigung aller übrigen Reisenden mit einer
höchst verletzenden Sorgfalt durchsucht, und er überhaupt wie
ein Verdächtiger behandelt. Als Siemens daraufhin sein Gepäck
zurückverlangte, um nach Haus umzukehren, weil ihm eine solche
Behandlung nicht paßte, erklärte man ihm, daß dies nicht
anginge; er müsse vielmehr nach Warschau weiterreisen. Er war
also russischer Staatsgefangener. Erst auf seine Beschwerde von
Warschau aus durfte er nach Petersburg fahren, und dort erfuhr
er vom Grafen Kleinmichel, daß aus Kopenhagen eine Meldung
eingelaufen sei, die ihn als einen politisch verdächtigen
Menschen kennzeichnete. Siemens meint, daß diese Kopenhagener
Anzeige wohl der Dank der Dänen für die Minenlegung im Kieler
Hafen und den Bau der Eckernförder Batterie gewesen sei.

In späterer Zeit wurde er noch einmal von der brutalen russischen
Gewalt in ähnlicher Weise angepackt. Als er in Petersburg mit
dem allmächtigen Minister den Bau einer besonders wichtigen
Linie besprochen hatte, wollte ihn dieser einfach nicht mehr
fortlassen, bis die Linie beendet wäre. Man hatte also die
Absicht, ihn für absehbare Zeit einfach in der russischen
Hauptstadt zu internieren. Zum Glück kam damals der Prinz von
Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm I., zum Besuch an den
Zarenhof. Werner Siemens suchte um eine Audienz nach und wurde
von dem Prinzen sehr freundlich empfangen. Dieser sagte, daß ihm
die Pfosten der neuerbauten Telegraphenlinie von der Grenze bis
Petersburg das Geleit gegeben und ihm die freudige Gewißheit
verschafft hätten, daß er mit der Heimat in ständiger Verbindung
sei. Der Erfolg der Audienz war, daß nun der Paß für die
Rückreise sofort ausgestellt wurde.

Schon die Linie Warschau-Preußische Grenze machte es notwendig,
ein besonderes Petersburger Bureau einzurichten. An seine Spitze
wurde Karl Siemens gestellt, der vorher bereits für die Firma in
Paris tätig gewesen war und sich dort vorzüglich bewährt hatte.

Als der damals erst vierundzwanzigjährige Karl in Petersburg
ankam, war Graf Kleinmichel über diesen neuen Leiter des
wichtigen Telegraphenbaus sehr enttäuscht. Um die Fähigkeiten des
jungen Manns zu prüfen, stellte er ihm sofort eine Aufgabe.

Karl Siemens sollte ausfindig machen, wie man die
Telegraphenlinie von Oranienbaum her in das Turmzimmer des
Kaiserlichen Winterpalais einführen könnte, ohne an dem
prächtigen Gebäude störende Arbeiten vorzunehmen. An dieser
Stelle war bisher die Endstation des optischen Telegraphen
gewesen. Die russischen Offiziere hatten keinen anderen Rat für
die Emporführung der nun erforderlichen Drahtleitung zu geben
gewußt als den, daß man große Rinnen in das Mauerwerk schlagen
sollte.

Karl betrachtete den turmartig ausgebauten Erker, und es fiel
ihm sofort auf, daß in einer der Turmecken keine Wasserrinne
niederführte. Er erklärte dem Grafen Kleinmichel, daß man in
dieser leeren Ecke nur ein ebensolches Regenrohr anzubringen
brauche, wie es in den anderen Ecken niederlaufe, um dann in
diesem die isolierte Telegraphenleitung unsichtbar hinaufzuführen.
Das imponierte dem Grafen sehr. Er schimpfte auf seine Offiziere,
die keine Lösung gewußt hätten, und sagte: »Nun muß so ein junger,
bartloser Mensch kommen, und sieht auf den ersten Blick, wie
leicht die Sache zu machen ist.« Fortab hatte Karl das Vertrauen
des Ministers im höchsten Grad gewonnen und ward sein Vertrauter.
Kleinmichel tat bald nichts mehr ohne den »Prußky Ingener
Siemens«.

Ein großes politisches Ereignis brachte neue umfangreiche
Aufträge. Im Jahre 1854 brach der Krimkrieg aus, in dem Rußland
gegen die Türkei und deren Verbündete, England, Frankreich und
das Königreich Sardinien, kämpfen mußte. Nun hatte das Zarenreich
den dringenden Wunsch, den Willen der Zentralverwaltung rasch
überallhin übermitteln zu können, und wollte möglichst schnell
weitere Telegraphenlinien ausgebaut haben. Zunächst sollte
Gatschina und damit Petersburg mit Warschau verbunden werden.
Werner Siemens stellte einen sorgfältig durchdachten Plan für
die Leitungslegung auf, und zur nicht geringen Verwunderung
der Russen, die an gut organisierte Arbeit nicht gewöhnt
waren, wurde die 1100 Werst lange Strecke in sechs Wochen
fertiggestellt. Als man dem Grafen Kleinmichel die Meldung
von der Vollendung der Linie zur versprochenen Zeit brachte,
wollte er die Nachricht nicht glauben. Er begab sich sofort
selbst zu der Station im Telegraphenturm des Winterpalais und
ließ sich mit dem Stationschef in Warschau verbinden. Erst als
dieser augenblicklich Antwort gab, glaubte der Minister an die
Fertigstellung der Leitung und erstattete dem Zaren darüber
Bericht. Auf dieser Linie gelangte zum erstenmal das von
Werner erfundene automatische Schnelltelegraphensystem mit dem
Dreitastenlocher zur Anwendung.

Die glückliche Vollendung dieser Linie brachte weitere große
Bestellungen, die infolge der durch den Krieg geschaffenen Lage
nur mit unsäglichen Schwierigkeiten ausgeführt werden konnten. Am
fatalsten war ein Auftrag, der die Legung einer Telegraphenlinie
bis in die bereits belagerte Festung Sebastopol verlangte.

Um Mitternacht wurde Werner Siemens von einem Gehilfen des
Grafen Kleinmichel aufgesucht, der ihm eröffnete, der Kaiser
habe den Bau einer telegraphischen Verbindung mit Sebastopol
befohlen, und der Minister wünsche Angabe der Kosten und des
Vollendungstermins bis zum nächsten Morgen um sieben Uhr. Als
Siemens nach durcharbeiteter Nacht zur angegebenen Zeit bei
dem Grafen Kleinmichel erschien, wurde ihm mitgeteilt, daß
dieser bereits eine Stunde vorher dem Kaiser Bericht erstattet
und ihm mitgeteilt habe, die Festung würde in sechs Wochen
an das Telegraphennetz angeschlossen sein. Alle Hinweise
darauf, daß es fast unmöglich sei, in dieser schwierigen
Situation die Materialien rechtzeitig heranzuschaffen, halfen
nichts. Es hieß einfach: »Der Kaiser will es!« Und dieses in
Rußland so vielbewährte Zauberwort half auch hier. Die Linie
wurde, wenn auch mit einiger Verzögerung, noch so rechtzeitig
fertiggestellt, daß der bald zu erwartende Fall von Sebastopol
auf telegraphischem Weg von der Festung nach Petersburg gemeldet
werden konnte.

Es war kein Wunder, daß die so ausgezeichnet arbeitende deutsche
Firma immer weitere Aufträge zum Ausbau des Telegraphennetzes
in dem riesigen russischen Reich erhielt. Da die oberirdisch
geführten Leitungen vielfach beschädigt wurden oder von selbst
brachen, so war eine sorgfältige Kontrolle zur Aufrechterhaltung
eines regelmäßigen Dienstes notwendig. Graf Kleinmichel übertrug
die Überwachung der Leitungen zunächst den Verwaltungen der
Chausseen, an deren Rand die Leitungen hinliefen. Aber die
damit beauftragten gänzlich sachunkundigen Leute, die wohl auch
nach echt russischer Art der Neuerung nicht sehr freundlich
gegenüberstanden, machten ihre Arbeit herzlich schlecht.
Schließlich mußten Siemens & Halske auch diese Überwachung oder
Remonte, wie man den Dienst damals nannte, übernehmen.

Es gelang hierdurch, einen schönen Gewinn zu erzielen, da
Werner Siemens sofort ein auf wissenschaftlicher Grundlage
beruhendes elektrisches Überwachungssystem erdachte, das eine
ständige Begehung der Strecken unnötig machte und daher sehr
viel Personal ersparte. Es wurden an den Linien Wachtbuden
errichtet, die immer 50 Werst voneinander entfernt waren. Der
darin aufgestellte Wächter hatte darauf zu achten, ob das in die
Leitung eingeschaltete Galvanoskop längere Zeit stillstand. War
dies der Fall, so mußte er seine Kontrollstelle mit Hilfe einer
einfachen Vorrichtung an die Erde schalten und die Nummer seiner
Bude telegraphieren. Aus den Nummern, die sie so zugesprochen
erhielt, konnte die nächste Telegraphenstation genau erkennen,
zwischen welchen Wachtbuden der Fehler lag. Ein mit den
Wiederherstellungsarbeiten betrauter Mechaniker mußte dann sofort
Extrapost nehmen und zur Fehlerstelle fahren. Der Leitungsschaden
konnte auf diese Weise stets in kürzester Zeit beseitigt werden.

Die großen Telegraphenbauten, welche die Firma in Rußland
ausgeführt hatte, und die Remonteverwaltung verschafften ihr
bald eine ganz besondere Stellung im Reich. Siemens & Halske
erhielten den Titel »Kontrahenten für den Bau und die Remonte der
Kaiserlich russischen Telegraphenlinien«.

Da den Russen auch damals schon diejenigen Leute am meisten
imponierten, die Uniformen trugen, so ließ Werner Siemens von
einem tüchtigen Künstler Dienstkleidungen für seine Leute
entwerfen; es waren hechtgraue Röcke mit blauen Vorstößen sowie
breite russische Mützen. Graf Kleinmichel wollte zunächst das
geheiligte Tragen der Uniformen den Telegraphenbeamten nicht
bewilligen, aber als er die in einer Mappe vereinigten schönen
Bilder sah, gab er nach und erwirkte vom Kaiser die Genehmigung
zum Anlegen der Dienstkleidung.

Allmählich war nun die Werdezeit der telegraphischen Technik
überwunden. Sowohl die ferner in Rußland wie auch in Preußen
und anderen Ländern herzustellenden Linien boten meist kein
besonderes technisch-wissenschaftliches Interesse mehr. Sie
konnten nach den von Werner Siemens in jahrelanger Geistesarbeit
geschaffenen Grundsätzen schematisch ausgeführt werden. Sein
Interesse daran minderte sich also -- abgesehen von dem
geschäftlichen Nutzen, den die Bauten abwarfen -- sehr erheblich.
1857 schreibt er: »Das Telegraphengeschäft ist sehr langweilig
geworden und kommt mir vor wie ein Leierkasten, den ich zu drehen
verpflichtet bin.« Siemens sah sich nun nach einer anderen großen
Aufgabe um, und er fand sie im Ausbau der Telegraphie durch die
Meere.




Unterseekabel


Obgleich die ersten Seekabel ohne die direkte Mitwirkung von
Werner Siemens verlegt worden sind, und obwohl auch das gewaltige
Werk der ersten telegraphischen Verbindung Europas mit Amerika
ohne seine Teilnahme vor sich ging, ist er dennoch anerkanntermaßen
als Begründer auch der unterseeischen Telegraphie anzusehen. Neben
ihm hat sich Wilhelm Siemens dabei die größten Verdienste erworben.

Ohne die von Werner angegebene Isolierung mit Guttapercha hätte
ja von einer Drahtführung durch das Wasser überhaupt nicht die
Rede sein können. Seinen Überlegungen und Beobachtungen entsprang
die richtige Form für die Herstellung der Kabel. Dann aber hat er
auch die einzige sichere Methode der Kabelauslegung vom fahrenden
Schiff her angegeben. Was vorher an Kabelführungen durch das
Meer gelang -- und es war nur äußerst wenig von bleibendem Wert
-- war Zufallserfolgen zu verdanken. Die wissenschaftliche
Kabellegungstheorie von Werner Siemens erst brachte die
notwendige Sicherheit auch in diese Technik.

Die bereits besprochene Beobachtung der Ladungserscheinungen
in langen Kabeln hatte rechtzeitig die elektrische Methode
aufgeklärt, die man zum Geben von telegraphischen Zeichen
durch solche Leitungen anwenden mußte. Die Apparatur für die
Kabeltelegraphie ist in Rücksicht darauf von Werner Siemens
grundlegend ausgestaltet worden.

Die Geschichte der Kabellegungen ist so reich an höchst
dramatischen Vorgängen wie der Werdegang keiner anderen Technik.
Niemals wohl hat die Menschheit für die Erringung eines
technischen Fortschritts so viel Lehrgeld bezahlen müssen wie
hier. Daß die Summe nicht allzu hoch ward, daß sie nicht zu der
schließlichen Einstellung der Versuche führte, ist das Verdienst
der wissenschaftlichen Forschungen und praktischen Arbeiten
von Werner Siemens. Auch ihm begegneten hierbei manche harten
Erlebnisse, die er jedoch alle glücklich überstand, obgleich
dabei selbst sein Leben mehr als einmal aufs schwerste bedroht
war.

Im Jahre 1840 bereits legte der bedeutende englische Physiker
Wheatstone dem Parlament den Plan für die Verlegung eines
Meerkabels zwischen Dover und Calais vor. Er eilte jedoch mit
dieser Absicht etwas allzu heißblütig den Zeitumständen voraus,
denn damals kannte man noch keinen Stoff, der den Draht genügend
sicher hätte isolieren können. Erst nachdem Werner Siemens
jene berühmte Minenleitung im Kieler Hafen gelegt hatte, ging
der englische Ingenieur _Brett_ im Jahre 1850 wirklich daran,
die Meerenge zwischen England und Frankreich durch ein mit
Guttapercha isoliertes Kabel zu überbrücken. Er erachtete es
nicht für nötig, über der Isolierung noch eine besondere feste
Schutzhülle anzubringen, sondern ließ die bloße Leitung, mit
Bleistücken beschwert, auf den Meeresboden nieder. Schon am Tag
nach der Legung wurde der Draht durch einen Fischer zerstört. Ein
zweites Kabel wurde im Jahre darauf von _Crampton_ ausgelegt.
Als es seine Güte durch eine gewisse Haltbarkeit bewiesen hatte,
folgte alsbald der Bau unterseeischer Telegraphenlinien von
England nach Irland und ebenso nach Belgien und Holland.

Es setzte darauf in England ein wahrer Kabeltaumel ein, und man
begann auch größere Meere zu überbrücken, indem man dachte,
daß das, was in den Küstengewässern gelungen war, auch weiter
draußen anwendbar sein müsse. Wissenschaftliche Kenntnisse waren
eben damals in der Industrie noch wenig verbreitet. Der Firma
_Newall_ & Co., die in Gateshead-on-Tyne eine Kabelfabrik besaß,
gelang es auch wirklich, im Jahre 1854 ein Kabel durch das
Schwarze Meer von Varna an der Balkanküste nach Balaclava auf
der Krim zu legen. Die Leitung hielt aber nur ein Jahr lang,
nämlich gerade bis zur Eroberung von Sebastopol. Es stellten sich
hierbei auch schon Schwierigkeiten bei der Benutzung der damals
in England noch gebräuchlichen Nadeltelegraphen heraus, weil die
elektrostatische Kabelladung ihren hindernden Einfluß auf die
Stromsendungen ausübte. Obwohl Werner Siemens seine Beobachtungen
dieser Erscheinungen schon vier Jahre vorher publiziert hatte,
waren sie in England doch noch nicht bekannt geworden. Nun
wandte man sich an ihn und bestellte bei seiner Firma geeignete
Telegraphenapparate. Da Siemens & Halske, wie wir wissen, auch
in russischem Auftrag eine Linie nach Sebastopol gebaut hatten,
so entstand jetzt der eigentümliche Zustand, daß in beiden
feindlichen Lagern Apparate gleichen Fabrikats arbeiteten.

Brett, der schon im Kanal nicht sonderlich günstig gearbeitet
hatte, machte im folgenden Jahr den Versuch, ein Kabel quer
durch das Mittelländische Meer _von Cagliari nach Bona_ in
Algier zu verlegen. Aber ihm war das Glück nicht hold. Als er in
tiefes Wasser kam, rollte das Kabel, weil die Trommel auf dem
Schiff nicht genügend scharf gebremst werden konnte, ab und ging
verloren. Ein gleiches geschah bei dem zweiten Versuch Bretts im
Jahre 1856. Er gab daher weitere Versuche auf, und die Legung des
Kabels wurde der Firma Newall & Co. anvertraut.

Inzwischen hatte Wilhelm Siemens dafür gesorgt, daß die
Leistungen Werners auf dem Gebiet der Telegraphie in England
bekannt wurden. Mittels des Kabels durch das Schwarze Meer hatte
Newall ja schon eine Verbindung mit dem Berliner Haus angeknüpft,
und nun ersuchte er, gewitzigt durch die Mißerfolge Bretts,
Werner Siemens, die elektrische Prüfung des Mittelmeerkabels
bei der Legung zu übernehmen. Denn dieser hatte inzwischen den
Grundsatz aufgestellt, daß das Kabel in jedem Augenblick der
Legung sorgfältigst daraufhin kontrolliert werden müsse, ob es
auch fehlerfrei sei.

Im September 1857 ging Werner Siemens mit einem Gehilfen und den
notwendigen elektrischen Apparaten an Bord einer sardinischen
Korvette, die alle an der Kabellegung Beteiligten nach Bona
brachte. Obgleich Siemens nicht die Absicht hatte, sich um
den mechanischen Teil der Kabellegung zu kümmern, konnte
er doch nicht umhin, an den Unterhaltungen über die beste
hierfür anzuwendende Methode teilzunehmen und schließlich
auseinanderzusetzen, daß ein Mißerfolg bei dieser Legung sicher
sei, wenn man dabei beharre, die im seichten Wasser gebräuchliche
Methode auch bei größeren Meerestiefen zu benutzen. Er stellte
schon damals seine Kabellegungstheorie auf, die in der Hauptsache
darin bestand, daß das Kabel an Bord des legenden Schiffs durch
Bremsvorrichtungen mit einer Kraft zurückgehalten werden müsse,
die dem Gewicht eines senkrecht zum Meeresboden hinabreichenden
Kabelstücks im Wasser entspricht. Er hat diese improvisierte
Darlegung dann später zu einer geschlossenen wissenschaftlichen
Theorie ausgebaut, die er im Jahre 1874 der Akademie der
Wissenschaften in Berlin vorlegte. Sie ist, wie schon bemerkt,
für alle Zeiten grundlegend geworden.

Werner Siemens wurde nun ersucht, außer der elektrischen
Überwachung auch die mechanische Auslegung des Kabels leitend zu
übernehmen, und trotz der nur provisorisch nach seinen Angaben
zusammengestellten Einrichtungen hierfür gelang es ihm in der
Tat, das Kabel glücklich von einem Landungspunkt zum anderen
hinüberzubringen, noch dazu ohne »*slack*«, das heißt, ohne
mehr Kabel zu gebrauchen, als der überschrittenen Bodenlänge
entsprach. Es war dies das erste Kabel, das über größere Tiefen
glücklich gelegt wurde.

Durch die Arbeit, die Werner Siemens während der Legung leistete,
fühlte er sich außerordentlich angegriffen. Er hatte sich keinen
Augenblick der Ruhe und Erholung gegönnt und sich nur durch
häufigen Genuß von starkem schwarzen Kaffee aufrecht zu erhalten
vermocht. Nach Beendigung der Expedition gebrauchte er mehrere
Tage zur Wiedererlangung seiner Kräfte.

Der Sieg der Deutschen war damit vollkommen. Und als noch in
demselben Jahr Newall & Co. mit der Legung von Kabeln _zwischen
Cagliari und Malta_ sowie _Korfu_ beauftragt wurden, waren es
wiederum Ingenieure von Siemens & Halske, welche die elektrischen
Prüfungen bei der Verlegung ausführten. Es konnte nicht lange
dauern, bis unter diesen Umständen das Verhältnis mit der
englischen Firma recht unangenehm zu werden begann. Die Engländer
versuchten Siemens' Verdienste zu verkleinern, und dieser ging
daher bald daran, ein eigenes Haus in England zu begründen. Denn
dieses Land mußte, wie er wohl einsah, noch für lange Zeit das
Hauptausgangsgebiet für Kabelverlegungen bleiben. Am 1. Oktober
1858 wurde die Firma _Siemens, Halske & Co._ in London gegründet,
und an ihre Spitze trat der vielbewährte und in England bereits
hochangesehene Bruder Wilhelm.

Schon im Jahre 1858 hatte die neue Firma Gelegenheit, sich
lebhaft zu betätigen. Damals erhielten Newall & Co. den Auftrag,
ein _Kabel durch das Rote Meer von Suez nach Aden_ und dann
weiter durch den Indischen Ozean bis nach Karatschi in Indien zu
legen. Das Haus Siemens übernahm nun selbständig die elektrische
Überwachung der Kabellegung sowie die Lieferung und Aufstellung
der Apparate. Dieses Kabel hatte eine besondere Bedeutung aus
dem Grund, weil es die außerordentliche Länge von 3500 Seemeilen
hatte, während die Mittelmeerkabel nur höchstens 700 Seemeilen
lang gewesen waren. Werner Siemens arbeitete daher eine neue
Theorie aus, die er innerhalb eines Aufsatzes »_Apparate für den
Betrieb langer Unterseelinien_« veröffentlichte, und die ihn zu
besonderen Konstruktionen veranlaßte; diese sind unter dem Namen
»_Rotes-Meer-System_« bekannt geworden. Siemens brachte hier zum
erstenmal den Kondensator bei der Kabeltelegraphie in Anwendung,
der für die transatlantische Nachrichtengebung von größter
Bedeutung geworden ist.

Die Auslegung des Kabels gelang wiederum gut. Aber weil es
schon in der Fabrik nicht mit vollster Sorgfalt hergestellt
worden war, und da auch die hohe Temperatur des Roten Meers
die Guttapercha erweichte, wurde nach der Ankunft in Aden ein
Fehler festgestellt, der das Telegraphieren unmöglich machte.
Die Engländer waren sehr unglücklich darüber und glaubten schon,
das ganze Kabel wieder aufnehmen zu müssen, da man ja, wie sie
meinten, nicht wissen könne, an welcher Stelle sich der Fehler
befände.

Aber Siemens wandte sich wiederum an die Zauberin Wissenschaft
und untersuchte das Kabel nach einer schon früher von ihm
erdachten Methode. Damit vermochte er die Fehlerlage ziemlich
genau zu bestimmen. Er behauptete, daß die schadhafte Stelle ganz
in der Nähe von Aden, noch in der Meerenge von Bab-el-Mandeb
liegen müsse. Die Engländer lachten zwar über diesen »*scientific
humbug*«, aber als man das Kabel an der angegebenen Stelle
aufgefischt und geschnitten hatte, ergab sich, daß der Rest
fehlerfrei war. Die Genauigkeit der Messung war dadurch möglich
geworden, daß Werner Siemens zum erstenmal an die Stelle der
unsicheren Strommessung die weit genauere Widerstandsmessung
gesetzt hatte. Wir werden seinen Bemühungen um die allgemeine
Einführung dieser Widerstandsmessung noch bei der Zusammenfassung
seiner wissenschaftlichen Meisterarbeiten begegnen.

Leider aber blieb dieser so schnell behobene Fehler nicht der
einzige in dem Kabel durch das Rote Meer. Nachdem es kurze Zeit
im Gebrauch gewesen, trat immer deutlicher das Vorhandensein
vieler schlecht isolierter Stellen hervor. Sie konnten zum
größten Teil nicht mehr ausgebessert werden, weil das Kabel
durch Korallenbildung auf dem Meeresboden festgehalten wurde. Es
ging schließlich gänzlich zugrunde, und Siemens weist in seinen
Schriften darauf hin, daß mangelnde Sorgfalt bei der Fabrikation
und schlechte Auswahl der Lage der Grund für den Untergang dieses
sowie fast sämtlicher bis zu jener Zeit gelegten Kabel gewesen
sind.

Erst nachdem vom Jahre 1859 ab die englische Regierung der
Firma Siemens, Halske & Co. die Kontrolle der Kabel schon bei
der Anfertigung und alle weiteren Prüfungen übertragen hatte,
hörten die schweren Verluste auf. Seit jener Zeit setzte sich
der von Werner Siemens aufgestellte Grundsatz durch, daß
nicht die Billigkeit, sondern die Güte bei der Fabrikation
von Unterseekabeln ausschlaggebend sein müsse. Im Juli 1860
hielt Wilhelm Siemens vor der *British Association* einen
Vortrag mit dem Titel »Umriß der Prinzipien und des praktischen
Verfahrens bei der Prüfung submariner Telegraphenlinien auf ihren
Leitungszustand«. Damit wurden die Siemensschen Erfahrungen
Allgemeinbesitz, und seit jener Zeit sind keine fehlerhaften
Kabel mehr verlegt worden.

Die Kabellegung im Roten Meer sollte für die Beteiligten noch ein
seltsames Nachspiel haben. Die Mitglieder der Expedition gingen
nach Erledigung der Geschäfte an Bord des Dampfers »Alma« von der
*Peninsular and Oriental Company*. Sie trafen auf dem Schiff eine
höchst elegante Gesellschaft an, von der die neu hinzugekommenen
Reisenden wegen ihrer stark abgenutzten Kleidung ziemlich über
die Achsel angesehen wurden. Aber bald sollte ein unerwartetes
Ereignis alle scheinbaren Standesunterschiede gründlichst
verwischen. Wir lesen darüber in den »Lebenserinnerungen«:

»Wir hatten erst einige Stunden geschlafen, als wir auf eine
rauhe Weise aus unseren Träumen geweckt wurden. Ein heftiger Stoß
machte das ganze Schiff erzittern, ihm folgten zwei andere noch
heftigere, und als wir entsetzt aufgesprungen waren, fühlten
wir auch schon, wie das Schiff sich zur Seite neigte. Ich hatte
glücklicherweise meine Stiefel nicht ausgezogen, nur Hut und
Brille abgelegt. Als ich mich nach diesen umsah, bemerkte ich
meinen Hut bereits auf dem Wege zum niedersinkenden Schiffsbord
und folgte ihm unfreiwillig in gleicher Richtung.

»Von allen Seiten erscholl ein wilder, angsterfüllter,
ohrenzerreißender Aufschrei, dann ein allgemeines Gepolter,
da alles auf Deck Befindliche den Weg in die Tiefe antrat.
Instinktiv strebte jeder dem höheren Schiffsbord zu, die meisten
vermochten ihn zu erreichen. Mir ging es schlechter, da ich beim
Suchen nach Hut und Brille Zeit verlor. Schon strömte das Wasser
über die Bordkante und mahnte mich, an die eigene Rettung zu
denken. Das Deck war in wenigen Sekunden in eine so schräge Lage
gekommen, daß es nicht mehr möglich war, auf ihm emporzuklimmen.
Doch die Not macht riesenstark! Ich stellte Tische und Stühle
so übereinander, daß ich ein im hellen Mondschein sichtbares
Schiffstau, das vom hochliegenden Bord herunterhing, erreichen
und an ihm emporklimmen konnte.

»Dort oben fand ich fast die ganze Schiffsgesellschaft schon
versammelt und mit bewunderungswürdiger Ruhe die Entwicklung des
Dramas erwartend ... Das Schiff lag bald ganz auf der Seite, und
die große Frage, an der jetzt Leben und Tod alles Lebendigen auf
ihm hing, war die, ob es eine Ruhelage finden oder kentern und
uns sämtlich in die Tiefe schleudern würde.«

Auch hier, in dieser höchsten Notlage, verzichtete Werner Siemens
nicht darauf, in aller Ruhe eine wissenschaftliche Methode
anzuwenden.

»Ich errichtete mir,« so schreibt er weiter, »eine kleine
Beobachtungsstation, mit deren Hilfe ich die weitere Neigung
des Schiffes an der Stellung eines besonders glänzenden Sternes
verfolgen konnte, und proklamierte von Minute zu Minute das
Resultat meiner Beobachtungen. Alles lauschte mit Spannung diesen
Mitteilungen. Der Ruf »Stillstand!« wurde mit kurzem, freudigem
Gemurmel begrüßt, der Ruf »Weitergesunken!« mit vereinzelten
Schmerzenslauten beantwortet. Endlich war kein weiteres Sinken
mehr zu beobachten, und die lähmende Todesfurcht machte
energischen Rettungsbestrebungen Platz.«

Es gelang schließlich, bei ruhiger See die ganze
Schiffsgesellschaft in Booten auf einen Korallenfelsen der
Harnischinselgruppe zu schaffen. Da die meisten keine Schuhe
anhatten, und der Felsen mit scharfen Korallenspitzen übersät
war, so war es Siemens' erste Sorge, hier Ersatz zu schaffen.
Er fuhr noch einmal nach dem Wrack zurück und holte eine
Linoleummatte. Unter Verwendung seines ebenfalls geretteten
Taschenmessers eröffnete er nun am Ufer eine Sandalenwerkstatt
und brachte so freudigst begrüßte Hilfe.

Fünf Tage lang mußten nun die 500 Geretteten auf dem etwa einen
Hektar großen Koralleneiland zubringen. Die Sonne brannte mit
furchtbarer Glut hernieder, und das Wasser fing an zu mangeln.
Dazu kam, daß die Schiffsbesatzung zu meutern begann. Die
Offiziere hatten wegen der schlechten Führung des Fahrzeugs alle
Autorität verloren; es mußte deshalb aus den jüngeren Passagieren
eine Wachmannschaft gebildet werden. Nachdem alle schwere Qualen
ausgestanden hatten, kam endlich ein englisches Kriegsschiff in
Sicht, das die Schiffbrüchigen zunächst mit dem heiß begehrten
Trinkwasser versorgte und dann zur Weiterbeförderung aufnahm. --
--

Die Brüder Siemens wollten fortab in noch stärkerem Maß in dem
Kabelgeschäft unabhängig sein. Insbesondere auf das Betreiben
von Wilhelm wurde darum im Jahre 1863 eine eigene _Kabelfabrik
in Charlton_ bei Woolwich gegründet. Der erste Auftrag für diese
kam von der französischen Regierung, die ein Kabel für eine neue
Verbindung mit ihrer wichtigsten Kolonie, Algier, bestellte. Der
Anfangspunkt in Europa sollte _Cartagena_ in Spanien sein, bis
wohin eine Landlinie lief, und drüben sollte es in _Oran_ landen.
Obgleich die Strecke recht kurz war, und obwohl die Brüder
Siemens ihre ganze Kunst auf dieses Kabel verwendeten, sollte die
Legung aus äußeren Gründen doch die unglücklichste von allen
werden, die sie je ausgeführt haben.

Werner Siemens mußte, um an der Verlegung teilnehmen zu können,
ganz Europa durchqueren, denn er befand sich zu jener Zeit in
Moskau. In fünf Tagen fuhr er über Petersburg, Berlin und Paris
nach Madrid. Dort traf er neben den anderen Teilnehmern an der
Expedition seinen Bruder Wilhelm mit seiner jungen Gattin Anne,
die gleichfalls mit zu Schiff ging.

In den »Lebenserinnerungen« sagt Werner Siemens, daß, vom
Standpunkt des vorgeschrittenen Alters betrachtet, jene
Kabellegung ein großer Leichtsinn gewesen sei, da Schiff und
Legungsmethode durchaus unzweckmäßig waren. Als Entschuldigung
dafür, daß das Unternehmen trotzdem versucht wurde, könne nur
angeführt werden, daß sie damals unter allen Umständen ein
eigenes Kabel legen wollten. Wilhelm hatte unglücklicherweise
darauf gedrungen, daß ein neuer, von ihm erdachter Mechanismus
für die Kabellegung angewendet würde, eine Trommel mit stehender
Achse, deren Konstruktion zwar sehr geistreich ersonnen war, sich
jedoch nicht bewähren sollte.

Als man das Kabel von Oran aus zu legen begann, zeigte sich, daß
es trotz der ausgezeichneten Fabrikationsmethode, mit der man
es hergestellt hatte, doch mechanisch nicht völlig zuverlässig
geblieben war, da es sich seitdem stark verändert hatte. Man
hatte damals eben noch nicht genügend Erfahrungen. Die Festigkeit
des Kabels hatte gelitten. Doch da das Wetter ruhig und schön
war, wollte man trotzdem den Versuch machen. Aber nachdem die
Uferstrecke gelegt war, riß das Kabel plötzlich und sank in
die Tiefe, von wo es wegen des am Meeresboden befindlichen
Steingerölls nicht mehr aufgefischt werden konnte.

Man war jedoch nicht allzu traurig darüber, da man einen
ausreichenden Überschuß an Kabel auf dem Schiff hatte, und
es wurde nur beschlossen, an Stelle von Cartagena den näher
liegenden Ort Almeria als Landungspunkt in Spanien zu benutzen.
Um die Situation dort aufzuklären, mußte man vorerst hinüberfahren.
Dies geschah, und die Schiffsgesellschaft, die von den Ortsbewohnern
sehr freundlich aufgenommen und durch ein Fest in den Räumen des
Theaters geehrt wurde, verlebte in der spanischen Stadt einen sehr
angenehmen Tag.

Aber als man am nächsten Morgen wieder abgefahren war, änderte
sich das bisher so günstige Wetter plötzlich, nachdem die offene
See erreicht war. Es blies ein lebhafter Südwest, und eine
tiefgehende Wolke streckte einen seltsamen Rüssel bis zum Meer
hinab, wo das Wasser unter dem Rüssel mächtig aufschäumte.

Bald kam man mit dem schlechten Schiff, das ein englischer
Küstenfahrer und für das offene Meer wenig geeignet war, in
den Teil der See, den die Wasserhose kräftig aufgewühlt hatte.
Das Schiff begann hier mächtig zu schwanken, und plötzlich
hörte man dumpfe, kurze Schläge aus dem Innern herauftönen. Die
Kabeltrommel hatte sich gelöst.

Entsetzt stürzte Werner Siemens in die Kajüte zu seinem Bruder
Wilhelm, der schwer mit der Seekrankheit kämpfte. Nur dieser
kannte die Konstruktion der Trommel genügend und vermochte
allein, das Ungetüm wieder zu fesseln, das die Schiffswände im
nächsten Augenblick zu zerschmettern drohte. Das gelang denn auch
mit großer Mühe. Mit einem Gefühl der Befreiung suchten alle, als
es dunkel wurde, ihr Lager auf. Aber bald sollten sie durch ein
neues schreckliches Begebnis geweckt werden.

»Ich hatte,« so schildert Werner Siemens den Vorgang, »noch nicht
lange geschlafen, als mich lautes Kommando und Schreckensrufe
auf Deck jäh erweckten; unmittelbar darauf legte sich das Schiff
in einer Weise auf die Seite, wie ich es sonst nie erlebt habe
und auch heute noch kaum für möglich halten kann. Die Menschen
wurden aus ihren Betten geworfen und rollten auf dem ganz schräg
stehenden Fußboden der großen Kajüte in die gegenüberliegenden
Kabinen. Ihnen folgte alles, was beweglich auf dem Schiff war,
und gleichzeitig erlosch alles Licht, da die Hängelampen gegen
die Kajütendecke geschleudert und zertrümmert wurden. Dann
erfolgte nach kurzer Angstpause eine Rückschwankung und noch
einige weitere von nahezu gleicher Stärke.

»Es gelang mir, gleich nach den ersten Stößen, das Deck zu
gewinnen. Ich erkannte im Halbdunkel den Kapitän, der auf meinen
Zuruf nur nach dem Hinterdeck zeigte mit dem Rufe: »*Voilà la
terre!*« In der Tat schien eine hohe, in der Dunkelheit schwach
leuchtende Felswand hinter dem Schiff zu stehen. Der Kapitän
hatte, als er sie gesehen, das Schiff ganz plötzlich gewendet,
und dadurch waren die gewaltigen Schwankungen hervorgerufen. Er
meinte, wir müßten abgetrieben sein und befänden uns dicht vor
den Felsen des Cap des Lions.

»Plötzlich rief eine Stimme im Dunkeln: »*La terre avance!*«, und
wirklich stand die hohe, unheimlich leuchtende Wand jetzt dicht
hinter dem Schiff und rückte mit einem eigentümlichen, brausenden
Geräusch heran.

»Dann kam ein Moment so schrecklich und überwältigend, daß er
nicht zu schildern ist.

»Es ergossen sich über das Schiff gewaltige Fluten, die von
allen Seiten heranzustürmen schienen, mit einer Kraft, der ich
nur durch krampfhaftes Festhalten an dem eisernen Geländer des
oberen Decks widerstehen konnte. Dabei fühlte ich, wie das ganze
Schiff durch heftige, kurze Wellenschläge gewaltsam hin und
her geworfen wurde. Ob man sich über oder unter Wasser befand,
war kaum zu unterscheiden. Es schien Schaum zu sein, den man
mühsam atmete. Wie lange dieser Zustand dauerte, darüber konnte
sich später niemand Rechenschaft geben. Auch die in der Kajüte
Gebliebenen hatten mit den heftigen Stößen zu kämpfen, die sie
hin und her warfen, und waren zu Tode erschreckt durch das
prasselnde Geräusch der auf Deck niederfallenden Wassermassen.
Die Zeitangaben schwankten zwischen zwei und fünf Minuten.

»Dann war ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, alles vorüber,
aber die leuchtende Wand stand jetzt vor dem Schiffe und
entfernte sich langsam von ihm.

»Als nach kurzer Zeit die ganze Schiffsgesellschaft sich mit
neugestärktem Lebensmute auf dem Schiffsdeck zusammenfand und
die überstandenen Schrecken und Wunder besprach, meinten die
französischen Offiziere, das unglaublichste Wunder sei doch
gewesen, daß unsere Dame gar nicht geschrien habe. Die echt
englische, mit steigender Gefahr wachsende Ruhe meiner Schwägerin
schien den lebhaften Franzosen ganz unbegreiflich.«

Die Wasserhose war mit ihrer ganzen Gewalt über das Schiff
hinweggegangen, und die Passagiere hatten nur einem Wunder
die Rettung zu verdanken. Doch das Phänomen gewährte ihnen,
nachdem es sie erschreckt, auch eine Erquickung dadurch, daß es
das lebhaftest bewegte Meer in herrlichstem Glanz aufleuchten
ließ. Werner Siemens erzählt, das Meeresleuchten sei so lebhaft
gewesen, daß man dabei selbst kleine Schrift deutlich habe lesen
können.

Einige Stunden später landete man in Oran, und trotz der
durchgemachten Aufregung mußte doch daran gedacht werden, das
Kabel nach Almeria auszulegen. Es wurde auf eine andere Trommel
gewickelt, und bei wiederum sehr schönem Wetter fuhr man ab.

Alles ging sehr gut, und schon hatte man den Küstenstrich bei
Cartagena dicht vor Augen. Da sahen die Beobachter des Kabels
plötzlich, wie dieses ganz sanft auseinanderging und in der Tiefe
verschwand.

Das bedeutete einen Verlust von 150000 Mark. In einem an seinen
Bruder Karl gerichteten Brief schrieb Werner bald darauf:
»Wie die Untersuchung ergab, war der Hanf an der Bruchstelle
gebräunt, was uns einen Augenblick an Bosheit glauben ließ. Doch
es scheint eine Schwächung durch Eisenrost gewesen zu sein. Du
hast keine Idee, wie ein solcher Ruck einem durch die Glieder
fährt! -- Bei dem großen Sturme hatte Anne sich mit bewundertem
Mute in ihr Schicksal ergeben; als aber das Kabel riß, war ihre
Selbstbeherrschung nicht ausreichend; das wirkte stärker wie die
Todesfurcht! Wir sind doch sonderbare Geschöpfe!«

Noch schwerer als der finanzielle Verlust traf ihn das technische
Fiasko. »Die Arbeit von Monaten, alle Mühe und Gefahr, die nicht
wir allein, sondern auch alle unsere Begleiter des Kabels wegen
erlitten hatten, waren in einem Augenblick, einiger verstockter
Hanffäden wegen unwiederbringlich verloren. Dazu das unangenehme
Gefühl, Gegenstand des Mitleids der ganzen Schiffsgesellschaft zu
sein. Es war eine harte Strafe für unsere Waghalsigkeit.«

Noch in demselben Jahr wurde, um die Scharte möglichst schnell
auszuwetzen, wiederum eine Legung mit einem neu angefertigten
und verstärkten Kabel vorgenommen. Diesmal ging alles glücklich
vonstatten, und Werner Siemens erhielt von Wilhelm, der wiederum
die Legung leitete, aus Cartagena die ersehnte Mitteilung, daß
bereits Telegramme zwischen Oran und Paris gewechselt worden
seien. Nach wenigen Stunden folgte dann aber die betrübliche
Nachricht, daß das Kabel an der spanischen Küste gebrochen sei.
Ein Aufnehmen wurde versucht, blieb aber vergeblich, und so war
auch das zweite Kabel verloren. Es hatte sich über zwei Felsen
gelagert, die hoch über dem Meeresboden standen. So freischwebend
bildete es eine »Kettenlinie«, deren Spannung so groß war, daß
das Kabel unter dem Zug der eigenen Schwere riß. Zum Glück war
die Firma Siemens, Halske & Co. durch die Tatsache, daß zwischen
Paris und Oran wirklich Telegramme gewechselt worden waren,
von der Verpflichtung entbunden, noch eine dritte Legung zu
unternehmen.

Die sehr schweren Verluste, die durch diese unglückliche
Unternehmung verursacht waren, führten zu einer Krisis im
Geschäft. Halske trat damals aus dem Unternehmen aus, und
das Londoner Haus wurde unter der Firma _Siemens Brothers_
selbständig gemacht. Diese Periode ist als die Lehrzeit der
Siemens auf dem Gebiet der Kabeltelegraphie aufzufassen, denn
die Erfahrungen, die sie hierbei machten, befähigten sie zu den
großen und grundlegenden Erfolgen, die sie fortab davontrugen.




Die Überwindung des Ozeans


Die Brüder Werner und Wilhelm Siemens haben bei der Herstellung
der telegraphischen Verbindung zwischen der Alten und der Neuen
Welt Leistungen von grundlegender Bedeutung vollbracht, obgleich
sie auch hier nicht die ersten waren, die den Versuch wagten.

Der Pionier ist vielmehr der amerikanische Kaufmann Cyrus W.
_Field_ gewesen. Er erkannte die Größe der Aufgabe und hat ihrer
Lösung seine Lebensarbeit gewidmet.

Zunächst suchte er die amerikanische und die englische Regierung
dazu zu bewegen, das Geld für eine transatlantische Kabellegung
herzugeben. Aber die Verhandlungen führten zu keinem Erfolg.
Da gründete Field im Jahre 1854 eine Aktiengesellschaft unter
dem Namen *Atlantic Telegraph Company* mit einem Kapital von 7
Millionen Mark. Drei Jahre nach der Errichtung der Gesellschaft
war das 4025 Kilometer lange Kabel fertiggestellt, und es konnte
mit der Auslegung an der schmalsten Stelle des Atlantischen
Ozeans, zwischen Valentia auf Irland und St. Johns an der
Ostküste der kanadischen Insel Neufundland, begonnen werden.

Das Kabel war, nach Biedenkapp, folgendermaßen gebaut: der
eigentliche Leitungsdraht bestand aus sieben zu einer Litze
zusammengedrehten Kupferdrähten; um diese waren drei Lagen
Guttapercha gepreßt, dann kam eine Lage geteerten Hanfs,
und außen waren 18 schützende Eisendrähte schraubenförmig
herumgewunden. Für die Auslegung wurde das Kabel auf zwei
Schiffen, »Agamemnon« und »Niagara«, den größten Fahrzeugen der
englischen und amerikanischen Marine, untergebracht. Man begann
mit der Auslegung an der irischen Küste. Schon hatte man 450
Kilometer glücklich gelegt, da kam man an eine Stelle, wo der
Meeresboden ziemlich plötzlich bis zu einer Tiefe von 3600 Metern
abfiel. Das Kabel lief nun so schnell vom Schiff, daß die Trommel
nicht folgen konnte, es riß daher und ging verloren.

Zwei Jahre später wurde wieder ein Legungsversuch mit einem
neuen Kabel unter Mitwirkung derselben Schiffe gemacht. Diesmal
fuhren die Fahrzeuge bis zur Mitte des Ozeans, dort wurden die
Kabelenden miteinander verspleißt, »Niagara« ging darauf nach
Neufundland, »Agamemnon« nach Irland ab. Es ereigneten sich bei
den Fahrten mancherlei aufregende Zwischenfälle. So war es einmal
notwendig, eine schadhafte Stelle mit äußerster Geschwindigkeit
auszubessern, während das Kabelstück schon abrollte. Dann wurde
die moderne Seeschlange von einem Riesenwalfisch angegriffen, der
sie beinahe zur Strecke gebracht hätte. Aber schließlich kam das
große Werk doch zu glücklichem Ende.

Am 4. August 1858 fuhr der »Agamemnon«, während die Geschütze
donnerten, in Valentia ein, am nächsten Tag erhielt man die
Nachricht, daß auch »Niagara« glücklich den Trinitybusen, den
diesmal gewählten Endpunkt auf Neufundland, erreicht hätte. Die
Kabelenden konnten auf beiden Seiten ans Ufer gezogen und mit
den bereits vorbereiteten Landlinien verbunden werden. Der große
englische Elektriker William _Thomson_, der spätere Lord Kelvin,
war der wissenschaftliche Leiter des großen Versuchs. »Freut
Euch,« rief er damals aus, »Europa und Amerika sind nicht mehr
durch das große Wasser getrennt, wir haben sie einander bis auf
wenige Minuten näher gebracht.« Die Königin Viktoria und der
Präsident der Vereinigten Staaten tauschten Glückwunschtelegramme
als erste transatlantische Depeschen aus. Field wurde in England
begeistert gefeiert.

Doch die Freude dauerte nicht lange. Schon am 1. September
gingen keine Zeichen mehr durch das Kabel, und es konnte niemals
wieder ausgebessert werden. Da während der kurzen Gebrauchszeit
des Kabels im ganzen 4359 Worte durch dieses telegraphiert
worden waren, so hatte, wie man in Anbetracht der Kabelkosten
ausrechnete, jedes Wort 1800 Mark gekostet.

Der Verlust auch dieses Kabels war zwar sehr schmerzlich, aber
die gewechselten Telegramme hatten immerhin deutlich gezeigt,
von welch außerordentlichem Wert eine solche Verbindung zwischen
den beiden Weltteilen ist. Man bemühte sich nun, die Ursache des
zweimaligen Mißlingens zu ergründen. Die englische Regierung
setzte ein besonderes Komitee ein, das ausfindig machen sollte,
wie die Methoden bei der Herstellung und Verlegung von Kabeln zu
vervollständigen seien. Schließlich kam man dazu, die Grundsätze,
die ein Deutscher, nämlich Werner Siemens, aufgestellt hatte, als
maßgeblich anzunehmen. Was Siemens selbst durch die Verlegung
der Mittelmeerkabel gelernt, und was er auf Grund seiner
theoretischen Ergründungen theoretisch gelehrt hatte, wurde
vorbildlich auch für die Überbrückung des Ozeans. So wirkte er
auf diesem Gebiet schon geistig, während er persönlich an dem
Werk noch nicht beteiligt war.

Gestützt auf die wissenschaftlich nunmehr besser geklärte
Situation, an deren Aufstellung auch William Thomson ein
lebhaftes Verdienst hatte, vermochte der unermüdliche Field
nochmals ein Kapital von 12 Millionen Mark für ein Ozeankabel
aufzubringen. Es wurde eine besondere Gesellschaft, »*The
Telegraph Construction and Maintenance Company*«, gebildet,
welche die Herstellung und Verlegung des Kabels ausführen sollte.

Unter Teilnahme der ganzen Welt wurde der riesenhafte
Leitungsdraht auf dem »Imperator« der damaligen Zeit, dem größten
Schiff, das man hatte, dem »_Great Eastern_«, untergebracht.
Es war dies ein Dampfer von 200 Metern Länge, dessen vier
tausendpferdige Maschinen Schaufelräder und eine Schraube
antrieben. Das große Schiff konnte bei dieser Fahrt nicht allein
auslaufen, da die kolossalen Eisenmassen, welche die Umwehrung
des Kabels darstellten, seinen Kompaß unzuverlässig machten. Es
mußte daher von zwei anderen Schiffen begleitet werden, die ihm
die Richtung zeigten. Als fast 2400 Kilometer ausgelegt waren,
riß das Kabel von neuem und versank in unergründliche Tiefe.

Es ist sehr erstaunlich, daß es trotz all dieser Mißerfolge Field
dennoch wieder gelang, Kapital aufzubringen, um einen vierten
Legungsversuch zu unternehmen. Schon im nächsten Jahr ging der
»Great Eastern« wieder in See, und diesmal glückte es wirklich,
innerhalb zehn Tagen die Kabellegung zu Ende zu führen. Am 5.
August 1866 wurde die Leitung in Neufundland ans Ufer gebracht,
und am 2. September gelang es noch dazu, das im vorigen Jahr
verlorene Kabel aufzufischen und gleichfalls bis Neufundland
zu verlängern. Auf diese Weise hatte man nun gleich zwei
transatlantische Telegraphenleitungen, und fortab sind die beiden
Weltteile in ununterbrochenem elektrischen Verkehr miteinander
geblieben.

Aber bisher hatte man den Atlantischen Ozean nur an einer
verhältnismäßig schmalen Stelle überquert. Es fehlte noch
die direkte Verbindung zwischen England und den Vereinigten
Staaten, da die Kabel auf der amerikanischen Seite bisher alle
in Neufundland, also auf kanadischem Gebiet, gelandet waren,
von wo die Linien über Land nach dem Gebiet der Vereinigten
Staaten geführt wurden. Die Legung und Herstellung eines solchen
direkten Kabels stellte wegen seiner sehr viel größeren Länge
eine neue schwierige Aufgabe dar. Das Unternehmen wurde darum der
Fabrik übertragen, die den nun auch in England schon lebhaftest
bewährten Namen Siemens trug. Das erste der ganz großen
transatlantischen Kabel ist also in der Fabrik zu Charlton bei
Woolwich hergestellt worden. Ihm wurde alle Sorgfalt zugewendet,
die möglich war, und die ganzen Erfahrungen der Brüder Werner und
Wilhelm halfen mit, ein vorzügliches Fabrikat herzustellen. Der
Erfolg ist denn auch dementsprechend gewesen.

Auftraggeberin für das Kabel war die »*Direct United States Telegraph
Company*«, die sich im Jahre 1873 mit einem Kapital von 26 Millionen
Mark bildete und Wilhelm Siemens zu ihrem *Consulting Director*
machte. Die Leitung sollte in Ballinskellig-Bai in Irland beginnen
und in Torbay auf Neuengland enden. Von dort aus sollte die Linie
gleichfalls durch ein Unterseekabel nach Ray Beach in New Hampshire
weitergeführt werden, wo der Anschluß an die amerikanischen
Landleitungen erreicht wurde.

Wilhelm Siemens konstruierte für diese Kabellegung ein
besonderes Schiff, den auf der ganzen Erde berühmt gewordenen
Dampfer »_Faraday_«, der so viele und so vortrefflich gelungene
Kabellegungen ausführen sollte und mit seinem Erscheinen
die glückliche Periode der drahtlichen Ozeanüberquerungen
einleitete. Wenngleich Wilhelm die Frage der transatlantischen
Kabeltelegraphie nach allen Richtungen hin studiert hatte, so
ist es doch recht erstaunlich, daß es ihm als einem Mann, der
sich niemals mit Schiffbau näher beschäftigt hatte, gelang,
ein so vorzügliches und noch nach langer Zeit unübertroffenes
Spezialschiff zu konstruieren.

Der »Faraday« wurde auf der Werft von Mitchell & Co. in Walker
bei Newcastle-on-Tyne erbaut. Er hatte einen Inhalt von 5000
Registertonnen und war 360 Fuß lang. In seinem Innern barg er
drei riesige Trommeln, auf denen ein Kabel von 3500 Kilometern
Länge aufgerollt werden konnte. Es war auch eine Einrichtung
getroffen, die gestattete, das Kabel im Schiff stets unter Wasser
zu halten, da man die Erfahrung gemacht hatte, daß es sich im
Trockenen selbst erhitzte, wodurch die Isolierung schmelzen
konnte. Der Dampfer war mit zwei Schrauben ausgerüstet, deren
Wellen schräg zueinander standen, was ihm eine vorzügliche
Manövrierfähigkeit verlieh. Nach dem Urteil aller Zeitgenossen
war das Schiff wie kein anderes geeignet, bei Kabellegungen und
auch bei Hebungen vortreffliche Dienste zu leisten.

Am 16. Mai 1874 ging der »Faraday« zum erstenmal in See. Diesmal
hatte er jedoch nur die Küstenkabel für die englische und auch
für die amerikanische Seite an Bord.

Anfang Juni begann er seine Tätigkeit auf der amerikanischen
Seite, wo er bald durch starken Nebel aufgehalten wurde.

Am 2. Juli brachten die »*Times*« folgende sensationelle Depesche
des Reuterschen Telegraphenbureaus: »Der Dampfer »Faraday« ist
in der Nähe von Halifax mit einem Eisberg zusammengestoßen und
vollständig gescheitert.«

Die Unglücksbotschaft gelangte natürlich auch sofort nach
Deutschland, und sie traf Werner Siemens in einem höchst
ungeeigneten Augenblick.

Es war in dem Jahr, als er zum ordentlichen Mitglied der Akademie
der Wissenschaften in Berlin ernannt worden war, und an jenem Tag
hatte er in einer Festsitzung der Akademie seine Antrittsrede zu
halten. Gerade als er zu diesem Zweck von Hause fortgehen wollte,
erhielt er die Nachricht von dem Untergang des »Faraday«.

»Es erforderte,« so schreibt er darüber, »nicht geringe
Selbstbeherrschung von meiner Seite, niedergedrückt von dieser
schrecklichen Kunde, doch meinen nicht verschiebbaren Vortrag
zu halten! Nur wenige intime Freunde haben mir die gewaltige
Erregung angesehen.«

Glücklicherweise stellte sich bald heraus, daß die Nachricht von
den Gegnern der Siemens fälschlich aufgebracht worden war, um
diese zu schädigen. Der »Faraday« kehrte wohlbehalten zurück und
konnte am 1. September von neuem in See gehen, um die Hauptlegung
auszuführen.

Sie geschah unter Leitung von Karl Siemens, der sich zu diesem
Zweck an Bord befand. Aber auch Werner wollte persönlich diesen
wichtigen Vorgang überwachen. Deshalb hielt er sich während der
Legung in Ballinskellig-Bai auf, wo in der Landungsstation die
Instrumente zur ständigen Beobachtung des Kabels während der
Auslegung aufgestellt waren. Man konnte an ihnen genau den
Isolationszustand der gesamten Leitung, soweit sie ins Meer
hinabgelassen war, erkennen.

»Es war ziemlich günstiges Wetter,« so schreibt Werner
Siemens über die aufregende Zeit seiner Beobachtungen zu
Ballinskellig-Bai in den »Lebenserinnerungen«, »und alles ging
zunächst gut vonstatten. Der schwierige steile Abfall der
irischen Küste zu großer Meerestiefe war glücklich überwunden
und den elektrischen Prüfungen zufolge der Zustand des Kabels
untadelhaft.

»Da trat plötzlich ein kleiner Isolationsfehler ein, so klein,
daß nur außerordentlich empfindliche Instrumente, wie wir
sie anwendeten, ihn konstatieren konnten. Nach bisheriger
Kabellegungspraxis würde man diesen Fehler unberücksichtigt
gelassen haben, da er ohne jeden Einfluß auf die telegraphische
Zeichenbildung war. Doch wir wollten eine ganz fehlerfreie
Kabelverbindung herstellen und beschlossen daher, das Kabel bis
zu dem Fehler, der noch dicht hinter dem Schiffe liegen mußte,
wieder aufzunehmen.

»Dies ging auch zunächst trotz der großen Meerestiefe von
18000 Fuß ganz gut vonstatten, wie uns vom Schiffe fortlaufend
telegraphiert wurde. Plötzlich flog aber die Skala unseres
Galvanometers aus dem Gesichtsfelde -- das Kabel war gebrochen!
Gebrochen in einer Tiefe, aus der das Ende wieder aufzufischen
ganz unmöglich erschien.

»Es war ein harter Schlag, der unser persönliches Ansehen wie
unseren geschäftlichen Kredit schwer bedrohte. Die Nachricht
durchlief noch in derselben Stunde ganz England und wurde mit
sehr verschiedenen Empfindungen aufgenommen. Niemand glaubte an
die Möglichkeit, aus so großer Tiefe ein abgerissenes Kabelende
wieder aufzufischen, und auch Bruder Wilhelm riet telegraphisch,
das verlegte Kabel aufzugeben und die Legung von neuem zu
beginnen.

»Ich war überzeugt, daß Karl, ohne den Versuch der Auffischung
gemacht zu haben, nicht zurückkehren würde, und beobachtete
ruhig die steten Schwankungen der Skala des Galvanometers, um
Anzeichen zu finden, die auf Bewegung des Kabelendes durch den
Suchanker hindeuteten. Solche Anzeichen traten auch häufig ein,
ohne weitere Folgen zu haben, und es vergingen zwei bange Tage,
ohne irgendwelche Nachricht von dem Schiffe.

»Auf einmal heftige Spiegelschwankung! Das Ende des Kupferdrahtes
mußte metallisch berührt sein. Dann mehrere Stunden lang
schwaches, regelmäßiges Zucken des Spiegelbildes der Skala,
woraus ich auf stoßweises Heben des Kabelendes durch die
Ankerwinde schloß. Doch stundenlange, darauffolgende Ruhe ließ
die Hoffnung wieder sinken. Da wiederum starke Spiegelschwankung
durch Schiffsstrom, die mit nicht enden wollendem Jubel des
Stationspersonals begrüßt wurde.

»Das Unglaubliche war gelungen. Man hatte aus einer Tiefe, die
die Höhe des Montblanc über dem Meeresspiegel übertraf, in einer
einzigen Operation das Kabel gefunden und, was noch viel mehr
sagen will, ungebrochen zutage gebracht. Es mußten viele günstige
Verhältnisse zusammentreffen, um dies möglich zu machen. Guter,
sandiger Meeresgrund, gutes Wetter, zweckmäßige Einrichtungen für
das Suchen und Heben des Kabels und ein gutes, leicht lenkbares
Schiff mit einem tüchtigen Kapitän fanden sich hier glücklich
zusammen und machten mit Hilfe von viel Glück und Selbstvertrauen
das unmöglich Erscheinende möglich.

»Bruder Karl bekannte mir aber später, daß er während des
ununterbrochenen Niederlassens des Suchankers, der _sieben
Stunden_ brauchte, um den Meeresgrund zu erreichen, was ihm erst
eine klare Anschauung von der Größe der bekannten Meerestiefe
gegeben habe, doch die Hoffnung auf guten Erfolg schon verloren
hatte und dann selbst von diesem überrascht wurde.«

Nachdem der Fehler beseitigt war, wurde die Legung zu Ende
geführt. Es hatten sich jedoch einige weitere Fehlerstellen
gezeigt, und diese wollte man ausbessern, bevor das Kabel in den
Betrieb kam. Diese Fehlersuche machte viel Mühe und kostete viel
Kabel, so daß der »Faraday« noch zweimal nach England fahren und
wieder auslaufen mußte. Das Ergebnis war jedoch schließlich ein
so vorzügliches Kabel, wie es vorher von niemanden gebaut und
verlegt worden war.

»Der Grundsatz,« so schreibt William _Pole_, der englische
Biograph von Wilhelm Siemens, »alle, auch die unbedeutendsten
Fehler zu beseitigen, ist bei diesem Kabel auf das gewissenhafteste
befolgt worden, obgleich die Vollendung der Legung des Kabels
dadurch bedeutend verzögert wurde. Seitdem das Kabel aber im
Besitz der Auftraggeber ist, hat es sich als eins der besten
von allen Kabeln, welche überhaupt je verlegt worden sind,
erwiesen, und seine Sprechfähigkeit ist der anderer Kabel, in
welchen unscheinbare Fehler unberücksichtigt geblieben sind,
ganz bedeutend überlegen.« Auch die Prüfung durch Sir William
Thomson, die höchste Autorität auf diesem Gebiet in England,
ergab, daß die Leitung durchaus fehlerfrei war und eine sehr hohe
Leitungsfähigkeit besaß.

Durch diese vorzügliche Leistung stand die Fabrik von Siemens
Brothers nunmehr an der Spitze der Kabelfabriken. Im Jahre
1881 bestellte der amerikanische Eisenbahnkönig _Gould_ ein
Doppelkabel nach Amerika durch einfaches Kabeltelegramm.
Nach einiger Zeit schon hatte der Dampfer »Faraday« sechs
transatlantische Kabel aus der Siemensschen Fabrik verlegt, und
damit war auch dieser Zweig der Technik in seine Reifejahre
eingetreten.




Intermezzo


Es muß hier noch eine durch das Haus Siemens Brothers in London
ausgeführte Kabellegung geschildert werden, weil sie zu ihrer
Zeit auf der ganzen Erde sehr großes Aufsehen erregt hat.
Das Interesse, das sie erweckte, ist nicht durch besondere
technische Vorgänge hervorgerufen worden, sondern durch äußere
Begleitumstände, die glücklicherweise für Kabellegungen nicht
charakteristisch sind.

In demselben Jahr, in welchem die glückliche Auslegung des
ersten direkten atlantischen Kabels durch den Dampfer »Faraday«
gelang, war die Fabrik in Charlton auch mit der Herstellung eines
Kabels beschäftigt, das die *Brazil and River Plate Telegraph
Company* bei ihr bestellt hatte. Es sollte zur _Herstellung
einer Telegraphenlinie zwischen Rio de Janeiro und der Küste
von Uruguay_ dienen. Hierfür mußten 2260 Kilometer Kabel
ausgelegt werden. Obgleich es sich hierbei durchaus nicht um die
Durchquerung gefährlicher Gewässer handelte, auch um gar keine in
irgendeiner anderen technischen Beziehung besonders beschwerliche
Aufgabe, griff doch das Verhängnis besonders hart in den Gang der
Dinge ein. Zwei gute, große Schiffe gingen bei der Kabellegung
verloren, und 58 Menschen kamen dabei ums Leben.

Als das Kabel fertiggestellt war, wurde es auf den Dampfer
»Gomos« geladen, der nach Brasilien abging. Er legte ein ziemlich
bedeutendes Stück der Kabelstrecke glücklich aus, aber in der
Nacht zum 25. Mai 1875 geriet er in der Nähe von Rio Grande
do Sul auf eine Sandbank, von der er nicht mehr freizukommen
vermochte. Das Schiff wurde gänzlich wrack und mußte verlassen
werden. Über 400 Kilometer Kabel gingen mit ihm verloren.

In Charlton wurde darauf ein Ersatzkabel hergestellt und für
dessen Überführung nach Südamerika der Dampfer »La Plata«
gechartert, der, mit dem Ersatzkabel und Hilfsmaterialien an
Bord und mit den besten Wünschen versehen, am 26. November 1874
Gravesend verließ. Das Schiff war ein eiserner Schraubendampfer
von fast 1000 Registertonnen Gehalt. Es war vorzüglich ausgerüstet,
stand unter dem Kommando eines bewährten Seemanns, des Kapitäns
Dudden, und hatte 75 Personen an Bord, darunter den Ingenieur
Ricketts, der bei der Auslegung des Kabels die Oberleitung
innehaben sollte. Niemand konnte ahnen, daß auch dieses zweite
Kabel in ganz anderer Weise den Grund des Meers erreichen sollte,
als beabsichtigt war.

Als der »La Plata« sich der Bai von Biskaya näherte, geriet er
in einen heftigen Sturm. Das Schiff wurde sehr stark hin und
her geworfen und zwei seiner Boote gingen über Bord. Am Morgen
wurde dem Kapitän aus dem Maschinenraum mitgeteilt, daß Wasser in
diesen eindringe. Er ließ darauf, um das Schiff zu erleichtern,
einen Teil des Kabels über Bord laufen. Aber um 10 Uhr war das
Wasser im Maschinenraum doch bereits so hoch gestiegen, daß die
Feuer erloschen. Die Maschine blieb stehen, und damit war das
Schiff verloren. Man ließ die Boote hinunter, und jeder versuchte
einen Platz darin zu gewinnen.

Es waren nur noch drei Boote vorhanden. Zwei von diesen
scheiterten alsbald in dem hohen Seegang. Eines aber mit 15
Personen wurde nach schweren Erlebnissen von dem Dampfer »Gare
Loch« gesichtet, der die Schiffbrüchigen rettete und an Bord
nahm. Einer der Überlebenden hat den Untergang des Schiffs
geschildert. Wir geben diesen Bericht wie auch den später
folgenden auszugsweise nach Pole wieder:

[Illustration: Die erste elektrische Straßenbahn in
Berlin-Charlottenburg]

[Illustration: Ein moderner Berliner Straßenbahnwagen]

»Ich sah das Schiff untergehen; es war 25 Minuten vor 1 Uhr.
Einige Minuten hindurch sank das Schiff nur ganz allmählich, dann
verschwand es plötzlich, mit dem Stern nach unten gerichtet.
Es war ein entsetzlicher Anblick. Das Deck des Dampfers zersprang
kurz vor seinem Untergang, und er war überhaupt in einem
schrecklichen Zustand. Der Kapitän aber war noch immer auf seinem
Posten; er stand da, allem Anschein nach ruhig und gefaßt, und
ich glaube, er hat uns sogar noch ein Lebewohl zugewinkt in dem
Augenblick, als er mit dem Schiff versank. Dann noch ein Mark
und Bein erschütternder Schrei von den an Bord zurückgebliebenen
Mannschaften -- solch ein Schrei, wie ich ihn hoffentlich nie
wieder hören werde. Wir fischten noch zwei Jungen und einen Mann
auf, konnten jedoch sonst niemand mehr retten ...

»Wir erlebten eine schreckliche Nacht. Ich war während der ganzen
Zeit auf meinen Knien damit beschäftigt, Wasser aus dem Boot zu
schöpfen, wobei ich so fürchterlich ausstand, daß ich wünschte,
ich wäre ertrunken. Einige andere von meinen Unglücksgenossen
wurden von Fieber und Durst noch schlimmer geplagt. Oft hörte
ich den einen oder anderen von ihnen ausrufen: »O mein Gott, was
würde ich jetzt nicht für einen Trunk Wassers geben!« Seewasser
war genug da; aber davon trank man nur, wenn die Verzweiflung
dazu trieb, und der Durst wurde dadurch nur um so qualvoller.«

Die Schiffbrüchigen langten am 2. Dezember 1874 wieder in
London an und brachten erst die Nachricht von dem Untergang des
Dampfers »La Plata« dorthin. Die Brüder Siemens gaben sofort auf
telegraphischem Weg Anordnung, daß Schiffe an die Unglücksstelle
fahren sollten, um vielleicht noch Überlebende zu retten. Das
hatte jedoch keinen Erfolg. Indessen gelang es einem fremden
Schiff, noch zwei Überlebende aufzufinden und zu bergen. Diese
beiden hatten eine Leidensgeschichte durchgemacht, wie sie in der
Geschichte der Schiffahrt nicht allzuoft vorkommt.

»Sie befanden sich in einem der verloren gegangenen Boote und
wurden von der Sturzsee über Bord geschwemmt. Gerade in dem
Augenblick, als sie wieder auf der Oberfläche erschienen,
versank das Schiff plötzlich in die Tiefe, wodurch sie abermals
mit nach unten gezogen wurden. Als sie zum zweitenmal nach
oben kamen, erblickten sie ganz in ihrer Nähe ein auf dem
Wasser umherschwimmendes beschädigtes Luftrettungsfloß, von
dem sie Besitz zu ergreifen sich bemühten. Dieses Floß war aus
Gummi gefertigt und bestand aus mehreren mit Luft angefüllten
Abteilungen, die durch ein einen Sitz bildendes Segeltuch
verbunden waren. Auf diesem Sitz befanden sie sich wie in einem
Wassertrog; das Wasser spielte bis an ihre Hüften, so daß ihr
unterer Körperteil allmählich von der Kälte erstarrte. Ihre
einzige Hoffnung, einem langsamen Tode zu entrinnen, bestand
darin, daß sie vielleicht von einem der vorübersegelnden Schiffe
bemerkt würden, eine Hoffnung, die nur sehr wenig Aussicht auf
Erfüllung hatte, da ein Schiff, das nicht ganz dicht an ihnen
vorbeifuhr, sie nur mit Hilfe eines Fernrohrs hätte erblicken
können, wenn sie sich gerade auf dem Kamm einer Welle befanden.
Dabei wusch die See beständig über sie hin, und wenn sie nicht
beide Männer von sehr kräftiger und gesunder Körperkonstitution
gewesen wären, so würden sie wohl kaum diese drei Tage bis zu
ihrer endlichen Erlösung überlebt haben.«

Häufig sahen sie in der Tat Schiffe in ihrer Nähe vorüberfahren,
von denen kein einziges ihre Notschreie hörte, und sie versanken
allmählich in einen Zustand, in dem sie zwischen Wachen und
Schlafen dahindämmerten.

»Am Mittwoch gegen 4 Uhr morgens sah der eine der
Schiffbrüchigen, der eben munter war, trotz der Dunkelheit in
der Ferne ein Schiff gerade auf das Floß zusteuern und weckte
sofort seinen Leidensgefährten. Das Fahrzeug näherte sich ihnen
sehr rasch bis auf eine Entfernung von etwa 100 Yards. Mit der
ganzen noch übrigen Kraft ihrer Lungen schrien beide wiederum
um Hilfe, und nach einigen Sekunden banger Erwartung kündigte
ihnen ein helles Licht an, daß sie gehört worden seien. Zwei
Stunden lang leuchtete das Licht wie ein Rettungsstrahl vor
ihren Augen, verschwand jedoch kurz vor der Morgendämmerung, und
als der Tag anbrach, war nirgendwo mehr ein Schiff zu sehen. Ihre
Hoffnung war fast der Verzweiflung gewichen, als sie plötzlich
etwa zwei Stunden, nachdem es vollständig hell geworden war, das
heiß ersehnte Schiff gerade auf sich zusteuern sahen. Es war der
holländische Schoner »Wilhelm Blenkelszoon«. Der Eigentümer,
Kapitän J. van Dorp, hatte unmittelbar, nachdem er den Notschrei
vernommen, sein Schiff aufgebracht und bis zum Morgen vor Anker
gelegt. Inzwischen war das Luftfloß leewärts getrieben. Als der
Holländer bei Tagesanbruch nirgends mehr etwas sehen konnte,
folgerte er aus der Strom- und Windrichtung genau den Ort, wohin
ein schwimmender Schiffstrümmer oder ein Boot getrieben sein
könnten, und wandte sofort nach jener Richtung.«

Die Rettung bot jedoch noch besondere Schwierigkeiten, da das
Schiff wegen der hochgehenden See nicht unmittelbar an die
Seite des Floßes gebracht werden konnte. Ebensowenig konnte
man ein Boot hinunterlassen. Die Schiffbrüchigen wurden
also aufgefordert, die kurze Strecke zu durchschwimmen. Dem
Hochbootsmann Lamont gelang dies glücklich. Nun sollte auch sein
Genosse Hooper den Versuch wagen.

»Dieser war noch mehr erschöpft als Lamont; aber in dem Gedanken,
daß es am Ende nicht schlimmer sei, auf dem Wege vom Floß nach
dem Schiff zu ertrinken, als allein auf dem Floß hilflos auf dem
Meere umherzutreiben und schließlich elendiglich umzukommen,
wagte er den verzweifelten Versuch und schwamm für sein Leben auf
den Schoner zu. Als er jedoch bis an dessen Seite herangekommen
war, waren seine Hände so erstarrt, daß er selbst das ihm
zugeworfene Seil nicht einmal mehr ergreifen konnte, und so
erfaßte er es daher mit den Zähnen. Der kleine Schoner lag tief
im Wasser, einige von seiner Bemannung lehnten sich sofort über,
und es gelang ihnen, Hooper bei den Händen zu ergreifen und ihn
sodann an Bord zu ziehen.

»Die armen Leute waren nicht mehr imstande zu stehen und fast
tot vor Nässe, Kälte und Hunger; denn es war damals beinahe
Mittwoch mittag, und seit dem vorhergegangenen Samstagabend
hatten sie keine Nahrung mehr zu sich genommen. Doch die
Menschenfreundlichkeit und sorgsame Pflege des Kapitäns van Dorp
und seiner braven Mannschaft, die nicht hoch genug gepriesen
werden kann, brachte sie allmählich wieder zu sich.

»Ihre Namen waren mit unter denen veröffentlicht worden, die mit
dem Dampfer »La Plata« zugrunde gegangen waren; es muß daher für
ihre Familien, als sie plötzlich wieder erschienen, gewesen sein,
als ob sie von den Toten auferstanden wären.«

Damit waren also 17 Personen gerettet, 58, darunter auch der
Leiter der Expedition, Ricketts, hatten ihren Tod gefunden.
Die Feinde des Hauses Siemens benutzten die Gelegenheit, um
eine lebhafte Agitation gegen die Brüder einzuleiten. Es wurde
behauptet, der Dampfer »La Plata« sei mit schwerer Überlastung
in See gegangen. Das Handelsministerium ließ die Angelegenheit
auf das genaueste untersuchen, worauf sich die vollkommene
Grundlosigkeit aller Beschuldigungen herausstellte, ja Wilhelm
Siemens konnte bei seiner Vernehmung glaubwürdig nachweisen,
daß er das Schiff mit weit mehr Rettungseinrichtungen versehen
hatte, als gesetzlich nötig gewesen war. Durch öffentliche
Sammlung wurde zum Besten der Witwen und Waisen der zugrunde
gegangenen Mannschaft ein Fonds aufgebracht, zu dem die Brüder
Siemens 10000 Mark beisteuerten; ferner sorgten sie reichlich für
die Familien der Angestellten ihres eigenen Hauses, die bei der
»La-Plata«-Katastrophe ertrunken waren.

Das brasilianische Unglückskabel wurde endlich im Anfang
des Jahres 1875 durch ein drittes ausgesandtes Schiff, den
»Ambassador«, ausgelegt.




Die indo-europäische Telegraphenlinie


Kurz bevor die Brüder Werner und Wilhelm Siemens sich zur
Auslegung ihres ersten transatlantischen Kabels besonders eng
zusammengetan hatten, war von ihnen bereits ein anderes großes
Werk gemeinschaftlich vollbracht worden. Sie hatten, gleichfalls
unter tätiger Mitwirkung von Karl Siemens, eine Landlinie
zustande gebracht, welche bei weitem die größte ihrer Zeit war,
und die, noch heute fortbestehend, als ein Denkmal Siemensscher
Tatkraft anzusehen ist.

Das englische Mutterland suchte, sobald dies technisch möglich
war, eine telegraphische Verbindung mit seiner größten und
wichtigsten Kolonie, mit Indien, herzustellen. Der erste Versuch,
Indien zu erreichen, wurde über Ägypten gemacht. Wir haben
Werner Siemens auch hierbei schon am Werk gesehen, denn jenes
Kabel durch das Rote Meer, nach dessen Auslegung er Schiffbruch
erlitt, war ein Teil der englisch-indischen Verbindungslinie. Es
fand seine Fortsetzung durch ein zweites Kabel, das von Aden bis
nach Karatschi an der Mündung des Indus verlegt wurde, von wo
aus Landtelegraphenlinien sich über ganz Indien erstreckten. Wie
wir wissen, hörte das Kabel im Roten Meer schon im Jahre 1861 zu
arbeiten auf, und ähnlich ging es manchen anderen Teilstrecken,
weil die Leitungen in der Fabrik noch nicht nach den Siemensschen
Methoden hergestellt worden waren.

Nun suchte man, da die Wichtigkeit der Verbindung immer
deutlicher wurde, Indien über Land zu erreichen. Nur von England
zum Kontinent und durch den Persischen Golf von Buschir bis nach
Karatschi sollte wieder das Kabel benutzt werden. Schon jetzt
wurden die Brüder Siemens von den Regierungen, durch deren Länder
diese Telegraphenlinie hindurchging, als Berater herangezogen.
Aber man kam hier zu keinem befriedigendem Ergebnis. Hatte man
doch keine geschlossene Linie von England bis Indien, sondern
es mußten in den verschiedenen Ländern Umtelegraphierungen
stattfinden. Dadurch, daß die in englischer Sprache abgefaßten
Telegramme in Deutschland, in Rußland und in Persien aufgenommen
und von den oft des Englischen nicht kundigen Beamten weiter
telegraphiert werden mußten, entstanden sehr böse Störungen.
Häufig kamen die Telegramme derartig verstümmelt an, daß sie
nicht mehr zu entziffern waren, und ihr Weg dauerte manchmal
mehrere Wochen.

Werner Siemens faßte darauf den Plan, eine eigene durchgehende
Linie von England nach Indien zu schaffen, die ausschließlich
diesem Verkehr dienen und ein direktes Abgeben der Telegramme von
London bis Karatschi und Kalkutta ermöglichen sollte. Er schrieb
im Jahre 1867:

»Eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart von der
weittragendsten merkantilen und politischen Bedeutung ist die
sichere und schnelle telegraphische Verbindung Europas mit
Indien. Betrachten wir Indien mit seiner ungeheuren Bevölkerung
und seiner steigenden Produktion -- für sich allein schon
eines der wichtigsten Handelsgebiete der Erde -- zugleich als
Durchgangspunkt des europäischen Verkehrs nach China, Japan,
Australien und ganz Polynesien, eines Verkehrs, der unübersehbare
Dimensionen annehmen wird: so leuchtet die Notwendigkeit einer
für alle Eventualitäten gesicherten telegraphischen Verbindung
hervor, besonders seitdem die große Aufgabe der atlantischen
Telegraphenverbindung mit Amerika so glänzend und mit so überaus
günstigem finanziellen Erfolge gelöst worden ist.

»Der Verkehr Europas mit Indien und seinen Hinterländern ist an
sich für Europa von größerer Bedeutung, als der mit Amerika. Dies
gilt in noch höherem Maße vom Telegraphenverkehr. Der Nutzen, den
dieser dem korrespondierenden Publikum darbietet, ist der Zeit
proportional, welche durch eine telegraphische Mitteilung einer
brieflichen gegenüber erspart wird. Da nun ein Brief von London
nach Neuyork durchschnittlich nur etwa 11 Tage, nach Kalkutta
aber 30 Tage braucht, so ergibt sich der verhältnismäßig weit
größere Nutzen einer telegraphischen Depesche nach Kalkutta
im Vergleich zu der nach Neuyork aus dieser weit größeren
Zeitersparnis.

»Seit die telegraphische Verbindung mit Amerika in so gutem
Betriebe ist, daß, gespornt von den brillanten ökonomischen
Resultaten derselben, bereits Konkurrenzlinien in Aussicht
genommen werden, durch welche die bisher übermäßig hohen Gebühren
wahrscheinlich eine bedeutende Herabsetzung erfahren werden,
seitdem wird die Bedeutung der direkten indo-europäischen
Telegraphie noch wesentlich dadurch erhöht, daß sie künftig auch
den bedeutenden Depeschenverkehr Amerikas mit dem östlichen Asien
und Australien vermitteln wird. Ist die Depeschenbeförderung
zuverlässig, schnell und nicht unverhältnismäßig kostspielig, so
wird sie sich sowohl der Handels-, als auch der persönlichen und
politischen Mitteilungen in noch weit höherem Maße bemächtigen,
als es bei anderen kürzeren und daher weniger Zeit ersparenden
Linien der Fall ist.

»Es wird dann kaum ein irgend bedeutenderes Handelsgeschäft ohne
telegraphische Verständigung mehr zustande kommen können, da der
telegraphische Korrespondent dem brieflichen schon bei einem
einfachen Angebot und Akzept um Monate voraus ist. Eine sichere
indo-europäische Telegraphie wird aber nicht nur dem bereits
bestehenden Verkehr großen Nutzen bringen, sondern auch sehr viel
zur schnelleren Entwicklung desselben beitragen.«

Werner Siemens besprach diesen Plan mit seinen Brüdern Wilhelm
und Karl, und sie beschlossen, jeder in seinem Gebiet die
Vorverhandlungen zu beginnen. Wilhelm arbeitete für das
Unternehmen in England, Werner verhandelte mit der preußischen
Regierung, Karl suchte Rußland für den Plan zu gewinnen. Drei
Jahre lang dauerten die Erörterungen. Dann erklärten sich alle
beteiligten Regierungen bereit, die Konzession zu erteilen.

Technisch wurde die Anlage einer solchen, fast 10000 Kilometer
langen durchgehenden Linie nur dadurch möglich, daß Werner
Siemens wiederum neue, besonders empfindliche Übertragungs-
und Empfangsapparate schuf. Sie gestatten das Übergehen
der Telegramme von einem Leitungsteil zum andern ohne das
Dazwischentreten von Menschen.

Im Jahre 1868 wurde die *Indo European Telegraph Company* mit
einem Kapital von 9 Millionen Mark gegründet. Mit Stolz sagt
Werner, es sei ein ehrendes Zeichen für das Ansehen gewesen,
welches die Siemensschen Firmen schon damals genossen, daß
das erforderliche beträchtliche Kapital ohne Vermittlung von
Bankhäusern, nur auf die direkte Aufforderung hin, in London und
Berlin gezeichnet wurde.

Der Bau der Linie war am 10. Dezember 1869 beendet. Die Strecke
besteht bis zum heutigen Tag unverändert fort. Ihr Arbeiten ist
natürlich mit dem Beginn des Weltkriegs unterbrochen worden. Der
Weg, den sie durchzieht, ist folgender:

Von London läuft eine Landlinie bis an die englische Küste nach
Lowestoft. Von dort führt ein Kabel durch die Nordsee nach
Norderney und setzt sich nach Emden fort. Hier schließt die
riesige Landlinie an. Sie läuft über Berlin bis Thorn, wo das
russische Gebiet erreicht wird. Von dort geht es über Warschau
nach Odessa, dann zur Krim und darauf über Tiflis und Täbris nach
der persischen Hauptstadt Teheran. Bis dorthin hatte die indische
Regierung im Anschluß an das Kabel Karatschi-Buschir ihren
Telegraphen vorgestreckt.

Bis die Linie in praktische Benutzung genommen werden konnte,
gab es noch mancherlei Verdruß, weil es schwer hielt, den
Überwachungsdienst in den verschiedenen Ländern richtig zu
organisieren. Erst am 12. April 1870 konnte die von Werner
Siemens gewünschte Generalprobe stattfinden. Auf seine Einladung
versammelte sich, wie Ehrenberg berichtet, in der Londoner
Station der indo-europäischen Linie eine Anzahl hervorragender
Interessenten. Darauf wurde Teheran angerufen. Zu Werners nicht
geringem Verdruß gelang die Verständigung mit der persischen
Hauptstadt zunächst nicht. Dann aber ging alles gut.

»Major Smith, Chef der englischen Telegraphenverwaltung in
Teheran, fragte: »Was ist dort die Zeit?« London antwortete: »11
Uhr 50, und dort?« -- »3 Uhr 27 nachmittags.« General Sir William
Baker, Mitglied des *Council of India*, depeschierte um 12 Uhr 45
nach Kalkutta: »Sir William Baker an Oberst Robinson, Kalkutta;
bin entzückt über die Leistungen der indo-europäischen Linie.«
Antwort kam schon um 1 Uhr 50: »Kalkutta, 7 Uhr 7 nachmittags.
Betriebsdirektor an Sir William Baker, London. Dank für Ihre
Botschaft, die in 28 Minuten hier angelangt ist.«

Damit war der größte Erfolg erzielt, den der Überlandtelegraph
bisher erreicht hatte; über eine Entfernung hinweg, die ungefähr
einem Siebentel des Erdumfangs entspricht, hatte man in kürzester
Zeit Nachrichten getauscht. Es war ein neuer großer Sieg des
Siemensschen Hauses.




Die Erfindung der Dynamomaschine


Wir gelangen nunmehr zur Darstellung jener Erfindung, die den
Höhepunkt in dem Schaffen von Werner Siemens bedeutet.

Die menschliche Kultur könnte das, was sie heute ist, nicht sein
ohne die Einwirkung und Mitwirkung des elektrischen Starkstroms.
Die Möglichkeiten, die uns die Ausnutzung der Naturkraft
Elektrizität in dieser Form erschlossen hat, sind so zahlreich
und so innig mit dem gesamten Dasein und Treiben der heutigen
Menschheit verwebt, daß das zwanzigste Jahrhundert ohne sie nicht
denkbar wäre.

Starkstrom-Elektrizität treibt gewaltige Maschinen an; sie
gestattet -- und das ist ihre ureigenste grandiose Eigenschaft --
Energie, die an einem geeigneten Punkt erzeugt wird, weithin zu
leiten und überallhin zu verteilen; das elektrische Kraftzentrum
liefert nach Belieben vier Formen der Energie: Kraft, Licht,
Wärme und chemische Zerspaltungs- oder Verbindungsenergie.

Elektrische Bahnen sind das bequemste und vorteilhafteste
Beförderungsmittel geworden. Der Elektromotor hebt die schwersten
Lasten. Die Elektrometallurgie scheidet Metalle aus dem Erz,
die elektrochemische Industrie bereitet das Aluminium, sie
entnimmt Stickstoffverbindungen aus der Luft. Millionen und
aber Millionen Menschen sind bei der Fabrikation elektrischer
Maschinen und aller derjenigen Einrichtungen beschäftigt, die
durch sie erst möglich geworden sind. Fast die ganze zivilisierte
Menschheit genießt heute die Segnungen, die von den elektrischen
Leitungsdrähten ausgehen. Nicht lange mehr, und kein Ort in einem
Kulturstaat wird ohne öffentlich nutzbare Elektrizitätsquelle
sein.

Daß wir diese unvergleichliche Kraft zu unserer Verfügung haben,
verdanken wir Werner Siemens. Er hat die Maschine erfunden,
durch die allein es bis zum heutigen Tag möglich ist, nutzbare
elektrische Ströme im großen zu erzeugen.

Sowenig wie in irgendeinem anderen Bezirk entspringt im Reich
der Technik ein großer Gedanke plötzlich und unvermittelt dem
Gehirn eines Menschen, wie Athene fertig gepanzert dem Haupt
des Zeus entstieg. Generationen sind gewöhnlich nötig, um
das Feld zu düngen, aus dem dann endlich die Wunderblume des
abschließenden genialen Gedankens erblüht. Es ist erstaunlich,
daß der ganze Werdegang der Dynamomaschine vom ersten Aufblitzen
des theoretischen Gedankens, der zur Grundlage ward, bis zu ihrer
Fertigstellung kaum mehr als drei Jahrzehnte gebraucht hat.

Wir haben schon in dem kurzen Bericht über die Entwicklung der
Telegraphie von der Entdeckung Aragos gehört, daß elektrische
Ströme Eisen, das sie in darumgelegten Windungen umfließen,
magnetisch machen. Es währte mehrere Jahre, bis der geniale
Entdecker der elektrischen Induktion, Michael Faraday, auf den
Gedanken kam, daß diese Wechselwirkung zwischen Elektrizität und
Magnetismus auch umkehrbar sei. Durch bloße Überlegung erkannte
Faraday, daß, wenn Elektrizität Magnetismus zu erzeugen vermöge,
Magnetismus auch imstande sein müsse, Elektrizität hervorzurufen.
Im Jahre 1831 vermochte er diese Behauptung durch ein Experiment
zu beweisen. Er schrieb darüber:

»Es erschien mir sehr sonderbar, daß, während jeder elektrische
Strom von einer magnetischen Wirkung rechtwinklig zum Strom von
entsprechender Intensität begleitet war, nicht auch in guten,
in den Bereich dieser Wirkung gebrachten Elektrizitätsleitern
irgendein Strom oder etwas einem solchen Strom an Kraft
Äquivalentes durch sie induziert werden sollte.

»Diese Erwägungen und die daraus erwachsende Hoffnung,
Elektrizität aus gewöhnlichem Magnetismus zu gewinnen,
regten mich zu verschiedenen Zeiten an, die Induktionswirkung
elektrischer Ströme durch Experimente genauer zu untersuchen. Vor
kurzem habe ich denn auch positive Resultate erreicht, und meine
Hoffnungen sind in Erfüllung gegangen.«

Faraday fand, daß ein Magnetstab, den man in eine Drahtspule
hineinstößt, in dieser einen Strom erzeugt, und daß dasselbe
geschieht, wenn man den Magnet wieder herauszieht. Während der
Magnetstab in der Spule ruht, entsteht jedoch kein Strom. Man
vermag ebenso eine Stromerzeugung zu bewirken, wenn man einen
weichen Eisenkern, der fest in der Spule steckt, abwechselnd
magnetisiert und wieder entmagnetisiert.

Zunächst waren die Wirkungen, die Faraday auf diese Weise
erhielt, nur gering. Bei der ersten Vorführung seiner Entdeckung
vor der *Royal Institution* sagte er: »Der Funke ist so gering,
daß Sie ihn kaum bemerken können, aber andere Funken werden
folgen, welche diese Kraft für höchst wichtige Zwecke verwendbar
machen.« Er selbst verfolgte als reiner Wissenschaftler die
praktische Verwendung seiner Entdeckung nicht weiter. »Mir war
es mehr darum zu tun,« sagte er später, »neue Tatsachen und
weitere Beziehungen, die auf der magneto-elektrischen Induktion
beruhen, ausfindig zu machen, als die Kraft der bereits erzielten
Ströme zu vermehren, da ich der festen Überzeugung war, daß diese
ohnedies im Laufe der Zeit zu ihrer vollen Entwicklung gebracht
werden würden.«

Und wirklich wurden sehr bald von anderen Maschinen gebaut,
welche die magnet-elektrische Induktion ausnutzten. Der Franzose
_Pixii_ und der Italiener _Dal Negro_ konstruierten schon im
Jahre 1832 Maschinen, bei denen die Magnetinduktion dadurch
hervorgerufen wurde, daß Induktionsspulen den Polen von Magneten
durch Drehung fortwährend genähert und wieder von ihnen entfernt
wurden. 1853 gelang es _Nollet_, eine sehr große Maschine
dieser Art zu bauen. Nachdem sie durch _Holmes_ verbessert und
ausgestaltet worden war, geschah es am 8. Dezember 1850 zum
erstenmal, daß Strom für elektrisches Licht durch Maschinenkraft
erzeugt wurde. Es brannte in dem Leuchtturm auf South-Foreland.

Die so gebauten Maschinen erlangten bald eine gewisse Bedeutung.
Der ihnen zugrunde liegende Gedanke war, die von dauernden
Stahlmagneten erzeugten Kraftfelder zur Induzierung von Strömen
in Spulen zu benutzen, die durch die Magnetfelder hindurchgedreht
wurden. Den drehbaren Teil, auf dem die Spulen saßen, nannte man
Anker.

Um eine möglichste Steigerung der induzierten elektrischen
Kraft hervorzurufen, kam es darauf an, den Anker so zu bauen,
daß möglichst viele Spulenwindungen sich zu gleicher Zeit im
Bereich des magnetischen Felds befanden. 1856 erfand Werner
Siemens eine in dieser Hinsicht sehr wichtige Neuerung. Er
baute damals einen Anker, der die Form eines Zylinders mit zwei
parallelen Einschnitten in der Längsrichtung hatte. Nach der
Form, die der Querschnitt dieses Ankers besitzt ([Symbol:
Doppel-T-Anker]), nannte er ihn Doppel-T-Anker. Es sind hier
die Spulenwindungen parallel zur Achse des Zylinders in den
Einschnitten aufgewickelt.

Da man den dringenden Wunsch hatte, recht starke und dauernde
elektrische Ströme zu erhalten, so wurden immer umfangreichere
magnet-elektrische Maschinen gebaut. Man nahm jedoch bald wahr,
daß deren Leistungsfähigkeit durchaus nicht im Verhältnis
zu ihrer Größe wuchs. Es wurde im Gegenteil die Kraft der
induzierenden Stahlmagnete durch den im Anker entstehenden
induzierten und entgegengesetzten Magnetismus immer mehr
geschwächt.

Daraus erwuchs der Gedanke, an Stelle der Stahlmagnete
Elektromagnete zur Erzeugung der Induktion zu benutzen. Man
versuchte dies zuerst in der Weise, daß man die Elektromagnete
durch Batterieströme erregte. Aber auch hier arbeitete die
Maschine sich selbst bis zu einem gewissen Grad entgegen. _Wilde_
in Birmingham benutzte dann an Stelle der Batterie zur Erregung
der Elektromagnete eine kleine magnet-elektrische Maschine, die
mit Siemensschem Doppel-T-Anker ausgerüstet war. Hierdurch konnte
man schon recht kräftige Ströme erzeugen, aber eine genügende
Steigerung war auch hier nicht möglich. Die richtige Anordnung
brachte erst das _dynamo-elektrische Prinzip_, das von Werner
Siemens im Jahre 1866 gefunden wurde.

Siemens faßte den großartigen Gedanken, daß man für die
Erregung der Magnete, die dann im Anker der Maschine den
Strom hervorrufen, doch nicht notwendigerweise von außen her
gelieferten elektrischen Strom verwenden müsse. In jedem einmal
magnetisierten Eisen, also auch in den Erregern, bleibt immer
etwas Magnetismus zurück. Dieser genügt, um im Anker, wenn man
ihn dreht, elektrischen Strom hervorzurufen. Führt man nun diesen
schwachen elektrischen Strom um die Wicklungen der erregenden
Magnete herum, so muß deren Magnetismus verstärkt werden, wodurch
nun wieder die Stromentwicklung im Anker gesteigert wird. Das
wirkt von neuem auf die Erregermagnete, von da wiederum auf
den Anker, und so muß sich immer weiter eine Steigerung der
Maschinenleistung ergeben, bis die für ihre Bauart höchstmögliche
Leistung erreicht ist.

Das Ergebnis war, als Siemens das Prinzip praktisch ausprobte,
in der Tat so, wie er es erwartet hatte. Er nannte den so
entstandenen wunderbaren Apparat dynamo-elektrische Maschine, von
dem griechischen Wort Dynamis = Arbeit, weil hier die Arbeit,
die dazu verwendet wurde, um den Anker zu drehen, sich direkt
in elektrischen Strom umsetzte. In trefflicher Weise ist die
Anordnung in der Maschine so getroffen, daß der Magnetismus
immer den Strom und der Strom den Magnetismus verstärken muß.
Technische Konstruktionen sind, wie Graetz sagt, immer genial und
hervorragend leistungsfähig, wenn sie es verstehen, Anordnungen
zu treffen, durch welche sich Ursache und Wirkung gegenseitig
verstärken. Das ist bei dieser Maschine in besonderem Maß der
Fall.

Werner Siemens erwähnt seine große Erfindung, nach Pole, zum
erstenmal in einem Brief, den er am 4. Dezember 1866 an seinen
Bruder Wilhelm schrieb:

»... Ich habe eine neue Idee gehabt, die aller Wahrscheinlichkeit
nach reussieren und bedeutende Resultate geben wird.

»Wie Du wohl weißt, hat Wilde ein Patent in England
genommen, welches in der Kombination eines Magnetinduktors
meiner Konstruktion mit einem zweiten, welcher einen großen
Elektromagnet anstatt der Stahlmagnete hat, besteht. Der
Magnetinduktor magnetisiert den Elektromagnet zu einem höheren
Magnetismus, wie er durch Stahlmagnete zu erreichen ist. Der
zweite Induktor wird daher viel kräftigere Ströme geben, als wenn
er Stahlmagnete hätte. Die Wirkung soll kolossal sein, wie in
»Dinglers Journal« mitgeteilt.

»Nun kann man aber offenbar den Magnetinduktor mit Stahlmagneten
ganz entbehren. Nimmt man eine elektromagnetische Maschine,
welche so konstruiert ist, daß der feststehende Magnet ein
Elektromagnet mit konstanter Polrichtung ist, während der Strom
des beweglichen Magnetes gewechselt wird; schaltet man ferner
eine kleine Batterie ein, welche den Apparat also bewegen würde,
und dreht nun die Maschine in der entgegengesetzten Richtung,
so muß der Strom sich steigern. Es kann darauf die Batterie
ausgeschlossen und entfernt werden, ohne die Wirkung aufzuheben.«

Der welthistorische Augenblick, in dem eine elektrische Maschine
mit Fremderregung zum erstenmal so geschaltet wurde, daß ihr
eigener Strom um die Erregermagnete lief, ist uns durch einen
Augenzeugen geschildert worden. Siemens, der ungeduldig auf die
Feststellung harrte, ob sein Gedanke auch durch den praktischen
Versuch bestätigt werden würde, hat damals die ausschlaggebende
Umschaltung selbst vorgenommen. Der Werkmeister Karl Müller, der
ihm dabei behilflich war, lebt heute noch in Schöneberg, und er
hat in einer Unterredung, die Heintzenberg mit ihm anläßlich
des 50jährigen Jubiläums der Dynamomaschine hatte, die Vorgänge,
die ihm noch nach einem halben Jahrhundert sehr gut erinnerlich
waren, geschildert. Heintzenberg hat diese Darstellung Müllers
in der »Täglichen Rundschau« wiedergegeben. Müllers Erzählung
lautete demnach ungefähr so:

Eines Tages war »der Alte« zu ihm in die Werkstatt
hinuntergestürmt und hatte ihm in seiner lebhaften Art den
Auftrag gegeben, nach einer Handskizze so schnell wie möglich
eine Maschine zusammenbauen zu lassen, bei der die Erregung nicht
durch Stahlmagnete, sondern durch Elektromagnete hervorgerufen
werden sollte. Die Eisenkerne für die Elektromagnete, die
Polschuhe und die Wicklung mußten neu hergestellt werden. Müller
ging eifrig an die Arbeit. Es konnte jedoch dem Prinzipal nicht
schnell genug gehen. Schon nach wenigen Tagen gab er in heftiger
Weise seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, daß die Maschine
immer noch nicht fertig sei.

Endlich war es nun so weit.

»Die Maschine stand bereit in der Werkstatt; ob sie allerdings
den Anforderungen des gestrengen Herrn genügen würde ...? Es
war eine tolle Hetzjagd gewesen, und manches hätte in ruhigerer
Arbeit sorgfältiger gemacht werden können. Müller hatte auch
mehrfach versucht, den Anker der Maschine zu drehen und dabei
gefunden, daß dies verdammt schwer ging. Auch die Anker seiner
gewöhnlichen Induktoren setzten der Drehung einen gewissen
Widerstand entgegen, aber doch nicht in dem Maße. Er hatte die
Maschine wieder auseinandernehmen und die Lager nachsehen lassen,
aber niemand hatte einen Fehler finden können; so sah Müller mit
etwas gemischten Gefühlen dem Augenblick entgegen, in dem Werner
Siemens kommen würde, um die neue Maschine zu prüfen.

»Ein Gehilfe bat um eine Auskunft, und als sie zusammen in die
Werkstatt traten, sah Müller, daß Werner Siemens bereits an der
Versuchsmaschine stand. Die Stirnfurche, von der man nie recht
wußte, ob sie ein Zeichen von schlechtem Wetter oder nur die
Folge von angestrengtem Nachdenken war, schien heute noch tiefer
als sonst. Manchmal war ihm recht ungemütlich in der Nähe dieses
Feuergeistes, wenn er sich auch immer wieder sagte, daß dieses
aufbrausende Wesen nie lange andauerte, und wenn er auch ahnte,
daß es nur ein Schild war, hinter dem der Alte gegen seine eigene
große Gutmütigkeit Deckung suchte.

»Werner Siemens hatte kaum bemerkt, daß Müller mit ehrerbietigem
Gruß zu ihm getreten war. Die Hände fest in den Taschen
verankert, stand er vor der Maschine und ließ seinen scharfen
Blick von einem Teil zum anderen gleiten. Dann versuchte er zu
drehen.

»Na, nun geht das Donnerwetter los, dachte Müller; aber nichts
dergleichen geschah. Im Gegenteil, die Stirnfalte war zweifellos
etwas geglättet. Nun sollte Müller die Drahtverbindung zwischen
der Batterie und dem Elektromagneten lösen. Das ging dem Alten
aber zu langsam, und schon hatte er Müller den Schraubenschlüssel
aus der Hand genommen, warf die abgeschalteten Drähte beiseite
wie etwas sehr Überflüssiges und verband nun die freien Enden der
Magnetwicklung irgendwie mit den Schleiffedern am Kommutator. Das
alles ging so schnell, daß Müller kaum die geänderte Schaltung
zu erkennen vermochte. Nachdem in den Ankerstromkreis noch ein
Galvanoskop eingeschaltet war, mußte Müller drehen.«

Das Galvanoskop erhielt sofort so viel Strom, daß es für
immer dahin war. Müller dachte, der Prinzipal würde über die
Vernichtung des kostbaren Instruments verdrießlich sein. Aber
Werner Siemens klopfte im Gegenteil dem verdutzten Werkführer
auf die Schulter und sprach zu ihm wie zu einem Freund, was
er früher nie getan hatte. »Er sprach und sprach, und seine
Augen leuchteten noch mehr als sonst.« Was er eigentlich sagte,
verstand Müller nicht recht vor lauter Verwunderung über das
veränderte Wesen des Prinzipals.

Wir verstehen diese Erregung Werner Siemens' heute sehr gut.
Es war eben der Augenblick gewesen, in dem die Richtigkeit des
dynamo-elektrischen Prinzips praktisch erwiesen wurde. Das
Galvanoskop war das erste Opfer des dynamo-elektrisch erzeugten
Stroms geworden. Aber es sollte nicht umsonst gestorben sein.

In einer schönen Zeitverkettung fällt das 50jährige Jubiläum der
Dynamomaschine genau in die Zeit, in welcher der Geburtstag des
Meisters sich zum hundertsten Mal jährt.

Kurz vor Weihnachten des Jahres 1866 führte Werner Siemens
seine neue Erfindung den Professoren Dove, Magnus und Du
Bois-Reymond sowie mehreren anderen ersten Physikern Berlins
vor. Professor Magnus erbot sich sogleich, der Berliner Akademie
der Wissenschaften eine Beschreibung der Erfindung vorzulegen.
Dies konnte jedoch wegen der Weihnachtsferien erst am 17. Januar
1867 geschehen. In der Arbeit, die Professor Magnus damals der
Akademie übergab, schrieb Werner Siemens am Schluß: »Der Technik
sind gegenwärtig die Mittel gegeben, elektrische Ströme von
unbegrenzter Stärke auf billige und bequeme Weise überall da zu
erzeugen, wo Arbeitskraft disponibel ist. Diese Tatsache wird auf
mehreren Gebieten derselben von wesentlicher Bedeutung sein.« Das
ist denn auch in großartigster Weise eingetroffen.

In England wurde die Erfindung dadurch bekanntgemacht, daß
Wilhelm Siemens am 14. Februar 1867 einen Vortrag darüber in der
*Royal Society* unter dem Titel Ȇber die Umsetzung dynamischer
in elektrische Kraft ohne Hilfe von permanentem Magnetismus«
hielt. Er sagte darin:

»Seit Faradays großer Entdeckung der Magneto-Elektrizität im
Jahre 1830 haben die Elektriker für den Zweck der Erzeugung
ihrer kraftvollsten Effekte ihre Zuflucht zu mechanischer Kraft
genommen, jedoch die Kraft der magneto-elektrischen Maschine
scheint in gleichem Maße von der verausgabten Kraft einerseits
und von dem permanenten Magnetismus andererseits abhängig zu sein.

»Mein Bruder, *Dr.* Werner Siemens in Berlin, hat mich aber
vor kurzem auf ein von ihm angestelltes Experiment aufmerksam
gemacht, wodurch nachgewiesen wird, daß der permanente Magnetismus
zur Umsetzung von mechanischer in elektrische Kraft nicht
erforderlich ist, und das durch dieses Experiment erzielte
Resultat ist höchst bemerkenswert, weil dasselbe nicht nur diese,
bis dahin unbekannte Tatsache feststellt, sondern vor allem auch,
weil es uns ein einfaches Mittel an die Hand gibt, um höchst
kraftvolle elektrische Nutzeffekte hervorzubringen.«

Er gab hierauf eine Beschreibung des Apparats. Und dann geschah
in der Versammlung etwas, das in der Geschichte der Erfindungen
ewig denkwürdig bleiben wird.

Unmittelbar nachdem Wilhelm Siemens seinen Vortrag beendet hatte,
stellte Professor _Wheatstone_ der *Royal Society* einen Apparat
vor, der gleichfalls auf Grund des dynamo-elektrischen Prinzips
gebaut war. Die Erfindung war also von ihm fast gleichzeitig
gemacht worden. Ja es stellte sich heraus, daß bereits im
Dezember 1866, also gerade in den Tagen, in welchen Werner
Siemens seine Maschine vollendete, ein Ingenieur namens _Varley_
ein englisches Patent auf den gleichen Apparat nachgesucht
und hierbei dem Patentamt eine provisorische Beschreibung in
versiegeltem Umschlag eingereicht hatte.

Es war also, wie man das bei großen Gedanken nicht selten
beobachten kann, die Zeit der Reife für diese Erfindung gekommen
gewesen. Nun _mußte_ sie der Menschheit in den Schoß fallen. Das
Verdienst von Werner Siemens wird hierdurch nicht im geringsten
gemindert. Jeder, der sich nicht durch nationalistische
Beweggründe in seiner Meinung beirren läßt, muß zugeben, daß dem
deutschen Meister das Recht der Priorität zusteht. Selbst der
Engländer Tyndall erklärte am 17. Januar 1879 in einem Vortrag
über das elektrische Licht, den er vor der *Royal Institution*
hielt:

»Eine Abhandlung über denselben Gegenstand von *Dr.* Werner Siemens
wurde am 17. Januar 1867 vor der Akademie der Wissenschaften in
Berlin verlesen. In einem Brief an die Zeitschrift »*Engineering*«,
Nr. 622, Seite 45, behauptet Mr. Robert Sabine, daß Professor
Wheatstones Maschine in den Monaten Juli und August 1866 von Herrn
Stroh gebaut worden sei. Ich bezweifle Herrn Sabines Aussage
keineswegs; es ist jedoch im allerhöchsten Grade gefährlich,
von dem alten Grundsatz, den Faraday stets in aller Strenge
befolgt hat, abzuweichen, daß das Datum der Geburt einer Erfindung
mit dem Datum der Veröffentlichung identisch sei.«

Werner Siemens selbst nahm die Priorität durchaus für sich in
Anspruch mit dem Hinweis darauf, daß das Prinzip zum erstenmal
in den gedruckten Verhandlungen der Berliner Akademie der
Wissenschaften veröffentlicht worden sei. Auch ist der Name,
den er dem Apparat gegeben hat, dynamo-elektrische Maschine,
allgemein üblich geworden, und er wird noch heute in der Praxis
in der abgekürzten Form Dynamomaschine überall gebraucht.

Werner Siemens durfte sich um so mehr auf diese erste
Veröffentlichung als die ausschlaggebende Tatsache stützen, als
ihm selbst während seiner langen Erfindertätigkeit oft genug die
Vaterschaft an einer Erfindung nur aus dem Grund nicht zuerkannt
wurde, weil er im Drang der Geschäfte die Veröffentlichung
unterlassen hatte und ein anderer ihm damit zuvorgekommen war.
Auch in diesen Fällen, wo es für ihn ungünstig war, hielt er
den Grundsatz, daß die erste Veröffentlichung die Priorität
begründe, für einzig richtig. Er schreibt darüber einmal in den
»Lebenserinnerungen«:

»Es erscheint zuerst zwar hart und ungerecht, daß jemand durch
frühere Publikation die Ehre einer Entdeckung oder Erfindung
sich aneignen kann, die ein anderer, der schon lange mit Liebe
und gutem Erfolge an ihr gearbeitet hat, erst nach vollkommener
Durcharbeitung publizieren wollte. Andererseits muß man jedoch
zugeben, daß irgendeine bestimmte Regel über die Prioritäten
festgesetzt werden muß, da für die Wissenschaft und die Welt
_nicht die Personen, sondern die Sache selbst_ und deren
Bekanntmachung in Betracht kommt.«

Es ist kein Zweifel, daß der Gedanke, den Werner Siemens im
dynamo-elektrischen Prinzip ausgesprochen hat, uns heute
außerordentlich naheliegend erscheint. Aber gerade die großen
Vereinfachungen pflegen stets zuletzt gefunden zu werden, und
eben sie bewirken durch ihre unvergleichliche Klarheit, daß
die Konstruktion dann selbstverständlich erscheint. Durch die
Schaffung der Dynamomaschine erst gelang es, die Elektrizität
aus dem Anfangsstadium herauszuheben, in dem sie nur Gedanken
übermittelte, gewissermaßen nur den Kommandeur spielte. Von
jetzt ab konnte sie auch Kraft übertragen und selbst dienstbar
schaffend dem Menschen zur Hand gehen.

Die erste Anwendung, die Werner Siemens von der neu erfundenen
Maschine machte, war die Konstruktion eines Zündapparats für
Sprengkapseln. Verbesserte Vorrichtungen dieser Art werden
noch heute zu tausenden in Bergwerken und bei der Armee
angewendet. Am 10. Juli 1868 wurde dann zum erstenmal auf
dem Artillerieschießplatz bei Berlin das elektrische Licht
eines Scheinwerfers durch einen Strom erzeugt, der von einer
Dynamomaschine herrührte. Alsdann mehrten sich die Anwendungen
außerordentlich rasch.

Auch der große und für die Jetztzeit so überaus wichtige Gedanke
der Übertragung von Kraft, die durch die Dynamomaschine erzeugt
wird, über weite Strecken wurde nicht sehr viel später gefaßt.
Es ist Wilhelm Siemens, der ihn im Jahre 1877 wohl zum erstenmal
ausgesprochen hat. Er war damals zum Präsidenten des *Iron and
Steel Institute* gewählt worden und wies in seiner Antrittsrede
darauf hin, daß für eine gewisse spätere Zeit eine Abnahme der
Kohle drohe, und daß man rechtzeitig dafür Sorge tragen müsse,
sie durch Wasserkräfte zu ersetzen. Er machte dabei insbesondere
auf die Niagarafälle als eine riesenhafte natürliche Kraftquelle
aufmerksam und sagte:

»Die Wassermasse, die stündlich über diesen Fall hinwegstürzt,
ist auf 100 Millionen Tonnen geschätzt worden, und die senkrechte
Tiefe kann man auf 150 Fuß veranschlagen, die Stromschnellen
noch nicht gerechnet, die einen ferneren Höhenabfall von 150
Fuß repräsentieren, was einen Gesamtabfall von 300 Fuß zwischen
See und See ausmacht. Die Kraft, die der Hauptfall allein
darstellt, beträgt 16800000 Pferdekräfte, eine Kraftmenge, die,
wenn sie durch Dampf erzeugt werden sollte, die Verausgabung von
nicht weniger als jährlich 266000000 Tonnen Kohlen benötigen
würde, wenn man den Kohlenverbrauch auf stündlich vier Pfund
pro Pferdekraft berechnet. Mit anderen Worten, die gesamte
Kohlenmenge, die auf der ganzen Welt zutage gefördert wird, würde
kaum genügen zur Erzeugung der Kraftmenge, die bei diesem einen
großen Wasserfalle beständig nutzlos vergeudet wird.

»Es würde in der Tat nicht schwierig sein, einen großen Teil
der auf diese Weise verloren gehenden Kraft mit Hilfe von
Turbinen und Wasserrädern nutzbar zu machen, die an den Ufern
des Flusses unterhalb der Fälle errichtet und durch Gräben längs
der Uferränder gespeist würden. Dagegen würde es unmöglich sein,
die Kraft an Ort und Stelle auszunützen, da der Bezirk keinen
Reichtum an Mineralien oder anderen Naturprodukten besitzt,
welche die Errichtung vorteilhaft erscheinen ließen ...

»Im Lauf der Zeit dürften sich wohl wirksame Mittel finden
lassen, um Kraft auf große Entfernungen zu übertragen; doch
kann ich nicht umhin, schon jetzt auf ein Mittel aufmerksam zu
machen, das meines Erachtens wohl der Beachtung würdig ist,
nämlich auf den elektrischen Leiter. Man nehme an, Wasserkraft
werde verwendet, um eine dynamo-elektrische Maschine in Bewegung
zu setzen, so würde ein sehr starker elektrischer Strom erzeugt
werden, der durch einen metallischen Leiter von größeren
Dimensionen auf eine bedeutende Entfernung fortgeleitet und dann
wiederum benutzt werden könnte, um elektromagnetische Maschinen
zu treiben und die Kohlenspitzen elektrischer Lampen zum Glühen
zu bringen oder die Scheidung von Metallen aus ihren Verbindungen
zu bewirken. Ein Kupferleiter von 3 Zoll Durchmesser würde
imstande sein, 1000 Pferdekräfte auf eine Entfernung von etwa 50
Kilometern zu übertragen, und diese Kraftmenge würde genügen, um
Leuchtkraft von einer Viertelmillion Normalkerzen zu liefern,
womit eine mittelgroße Stadt erleuchtet werden könnte.«

Pole schreibt in seiner Schilderung des Lebens von Wilhelm
Siemens, daß diese Äußerung die Zuhörer in höchstem Grad
überrascht habe, und daß diese Zukunftshoffnungen nur mit
einem Lächeln des Unglaubens aufgenommen worden seien. Wir
wissen heute, in wie großartiger Weise die Erfindung von Werner
Siemens die Hoffnungen seines Bruders auch auf dem Gebiet der
Kraftübertragung erfüllt hat.

Die erste Dynamomaschine, die Werner Siemens baute, war noch
mit seinem Doppel-T-Anker ausgerüstet. Antonio _Pacinotti_
hatte aber schon 1860 für die magnet-elektrische Maschine
den Ringanker erfunden, der eine gründlichere Ausnutzung der
Induktion gestattete. Er ist unter dem Namen Grammescher Ring
weit verbreitet gewesen, weil der Belgier Zenobius _Gramme_ es
war, der die Pacinottische Erfindung in die Praxis übertrug.

Ein weiterer wichtiger Schritt in der Ausbildung der
Dynamomaschine geschah, als der Leiter des Konstruktionsbureaus
der Firma Siemens & Halske, Friedrich _von Hefner-Alteneck_,
den Trommelanker konstruierte, der gewissermaßen die Vorteile
des Doppel-T-Induktors und des Pacinottischen Rings vereinigte.
Bei dem Trommelanker sind die Wicklungen über den Mantel eines
Zylinders so gezogen, daß die erregende Einwirkung der Polmagnete
fast vollständig ausgenutzt werden kann.

Mit diesem »Wunderknäuel«, wie man Hefner-Altenecks Erfindung
bei ihrem ersten Auftreten nannte, hatte die Dynamomaschine
die Form bekommen, in der sie noch heute benutzt wird. Die
Abmessungen aber, wie sie in unseren Tagen bei den gewaltigen
Turbogeneratoren erreicht worden sind, hat wohl auch Werner
Siemens noch in seinen letzten Lebensjahren kaum geahnt.




Elektrische Bahnen


Die Übertragungsfähigkeit der elektrischen Energie, der Wilhelm
Siemens bald nach Erfindung der Dynamomaschine eine so große
Zukunft vorausgesagt hatte, sollte wirklich bald in besonderer
Weise ausgenutzt werden.

Die Dynamomaschine hat den außerordentlichen Vorzug, daß sie
umkehrbar ist. Im Anker wird Strom erzeugt, wenn man ihn
gewaltsam innerhalb des Felds der feststehenden Polmagnete dreht.
Führt man aber dem Anker von außen her Strom zu, so setzt er sich
mit bedeutender Kraft in Bewegung und ist imstande, Maschinen zu
drehen. Man sprach im Beginn von »sekundären Dynamomaschinen«,
denen man Strom zuführte; heute nennen wir diese Maschinen
_Elektromotoren_. Setzt man einen solchen Elektromotor auf ein
Fahrgestell, so vermag er, sobald man ihm Strom zuführt, die
Räder des Fahrgestells in Bewegung zu setzen und kann auf diese
Weise Wagen befördern.

Die erste Anregung zur Herstellung elektrischer Bahnen wurde
indirekt durch den im vorigen Abschnitt erwähnten Vortrag von
Wilhelm Siemens gegeben.

Der Baumeister Westphal in Kottbus hatte von dem Vorschlag
Wilhelm Siemens' gehört, die Kraft der Niagarafälle zu übertragen.
Er war nicht so skeptisch wie die Engländer und fragte darum bei
Werner Siemens in Berlin an, ob es nicht möglich wäre, die Energie
verbrennender Braunkohle aus seinem Wohnbezirk nach Berlin zu
übertragen. Hiermit wurde ein Gedanke ausgesprochen, der ja heute
eine sehr bedeutende praktische Nutzanwendung gefunden hat. Aber
damals waren noch keine Möglichkeiten vorhanden, eine ökonomische
Fernleitung elektrischer Energie über so weite Strecken
herzustellen, da man die Vorzüge der Hochspannung noch nicht
kannte und sie technisch auch nicht hätte beherrschen können.
Aber aus den Verhandlungen mit Werner Siemens entstand schließlich
die Idee, die elektrische Kraftübertragung wenigstens dazu zu
benutzen, um die Kohle mittels elektrischer Kraft auf Schienen
über das Grubengebiet des Herrn Westphal selbst zu transportieren.

Werner Siemens ging gleich daran, eine kleine, schmalspurige
elektrische Bahn zu konstruieren. Sie ist niemals in einer
Kohlengrube gefahren, aber sie wurde doch die erste elektrische
Bahn der Welt, die in Betrieb gesetzt wurde.

Schon im Jahre 1834 hatte Jacobi in Petersburg versucht, ein
Boot mittels einer magnet-elektrischen Maschine anzutreiben.
Der Strom wurde einer Batterie entnommen. Aber das Zink, das
hierbei elektrolytisch verbraucht wurde, war ein viel zu teures
Brennmaterial. 1835 konstruierten dann die Ingenieure Strathing
und Becker in Gröningen eine magnet-elektrische Lokomotive.
Auch diese Versuche führten zu keinem Ergebnis. 1841 erließ der
Deutsche Bund ein Preisausschreiben für die Konstruktion einer
elektrischen Lokomotive. Ein Erfolg konnte hier ebenfalls nicht
erzielt werden, weil die geeignete Antriebsmaschine noch fehlte.
Erst die Dynamo schuf auch hier eine fördernde Möglichkeit.

Im Jahre 1879 fand in Berlin eine Gewerbeausstellung statt.
Werner Siemens, der möglichst schnell das hochinteressante
Zusammenarbeiten einer primären mit einer sekundären Dynamomaschine
zeigen wollte, benutzte die Anlage, die er eigentlich für
die Braunkohlengrube in Kottbus gebaut hatte, dazu, um auf
dem Ausstellungsgelände eine elektrische Bahn einzurichten.
Es wurde ein in sich geschlossenes ovales Gleis von 600 Metern
Länge hergerichtet. Darauf verkehrte ein Zug, der aus drei
offenen Wagen bestand; auf jedem von ihnen fanden acht Personen
Platz. Zum Antrieb wurde eine kleine vierrädrige elektrische
Lokomotive benutzt, die nur aus dem Fahrgestell und dem darauf
liegenden Elektromotor bestand. Auf dessen Rücken befand sich
der gleichfalls offene Führersitz.

Die Bahn fuhr mit einer Stundengeschwindigkeit von 24 Kilometern.
Der Strom wurde mittels Schleiffedern von einer mittleren Schiene
abgenommen. Die Fahrschienen dienten als Rückleitung.

Der kleine elektrische Zug lief ganz vorzüglich. Aber selbst in
Fachkreisen erkannte man die Wichtigkeit dieses Versuchs nicht.
Die Zeitschrift »Der Techniker« schrieb im Jahre 1880 am Schluß
ihrer Schilderung der Siemensschen elektrischen Bahn: »Als
ausgeführtes Beispiel der Umwandlung von mechanischer Kraft in
elektrische und zurück in mechanische Kraft war die elektrische
Eisenbahn interessant, wenn wir auch sonst vorderhand noch
keinen weittragenden Nutzen ersehen.« Und dieses Urteil wurde
ausgesprochen, obgleich die Bahn in der Zeit vom 31. Mai bis zum
30. September 1879 86398 Fahrgäste befördert hatte.

Werner Siemens dachte jedoch mit seinem weit vorausschauenden
Geist ganz anders über die Zukunft dieser seiner Schöpfung. Er
wollte sie sofort auf das gründlichste in einer umfangreichen
Anlage ausnutzen. Schon im Jahre 1880 reichte er den Entwurf für
eine große _Hochbahnlinie in Berlin_ ein.

In Ney York waren damals gerade die ersten Hochbahnen in Betrieb
genommen worden, weil es dort nicht mehr möglich war, den
gesamten Verkehr durch Bahnen in Straßenhöhe zu bewältigen. Die
Züge wurden auf den Viadukten von Dampflokomotiven gezogen.
Werner Siemens sah klar ein, daß der elektrische Antrieb
innerhalb einer Stadt große Vorteile bieten mußte, weil die
Belästigung der Straßenanwohner durch den Rauch und der Passanten
durch herabtropfendes Wasser sowie das puffende Geräusch des
ausgestoßenen Dampfs hier fortfallen mußten. In einem Vortrag,
den er am 27. Januar 1880 im Elektrotechnischen Verein zu Berlin
hielt, sagte er:

»Meinerseits halte ich es für eine Großstadt für eine absolute
Notwendigkeit, außer den Straßenflächen für die Wagen und
Fußgänger noch eine zweite Kommunikationsetage für den schnellen
Verkehr zu haben. Sie sehen, wie mit dem steigenden Verkehr sich
unsere belebteren Straßen schon jetzt täglich mehr verstopfen;
es ist oft kaum mehr durchzukommen, und kein Konstabler kann das
ändern. Wie soll das werden nach 10, 20, 50 Jahren!

»Die Statistik über die Zunahme des Verkehrs berechtigt uns,
mit der vollsten Bestimmtheit zu sagen, daß die Straßenfläche
demselben schon in der nächsten Zeit nicht mehr genügen kann.
Eine Abhilfe muß gefunden werden, wenn das auf wachsenden Verkehr
sich gründende großstädtische Leben nicht verkümmern und die
weitere Entwicklung der Reichshauptstadt nicht vollständig
gehemmt werden soll.

»Es muß also notwendig für Berlin ein neues Kommunikationsnetz
für schnellen Personen- und Güterverkehr geschaffen werden,
welches den Straßenverkehr nicht hindert und durch ihn nicht
gehindert wird ...

»Berlin ist die Geburtsstätte der dynamo-elektrischen Maschine
und der elektrischen Eisenbahn -- es sollte daher auch der Welt
mit der Anlage eines Systems elektrischer Hochbahnen vorangehen,
dem es sich auf die Dauer doch nicht wird entziehen können! Ich
bitte Sie, meine Herren, zur Realisierung dieses Vorschlages
mitzuwirken!«

Er empfahl nun, die Stadtbahn, die damals gerade gebaut
wurde, durch ein Netz von nordsüdlich gerichteten, elektrisch
betriebenen Radiallinien auf eisernen Viadukten zu ergänzen.
Die erste und Hauptlinie sollte durch die _Friedrichstraße_
hindurchgeführt werden. Hier sollten an den Bordschwellen auf
beiden Seiten der Straße eiserne Säulen errichtet werden, die
eine schmale Fahrbahn, nicht breiter als das Gleis selbst,
tragen sollten. Siemens drückte sich sehr optimistisch über
die Geringfügigkeit des Geräuschs aus, das die fahrenden Züge
entwickeln würden, und befürchtete auch keine besondere
Verunstaltung der Straßen.

Aber das Projekt scheiterte an dem Widerspruch der Hausbesitzer.
Der Kaiser legte gleichfalls sein Veto ein, insbesondere,
weil die Hochbahnkreuzung die Straße Unter den Linden, diese
historische *Via triumphalis*, für immer verunstaltet hätte.

Der Plan blieb unausgeführt, und erst im Jahre 1896 begann man in
Berlin mit dem Bau von Schnellbahnen. Es war die Firma Siemens
& Halske, die damals die erste Hochbahnlinie im Osten der Stadt
anlegte. 1902 wurde sie eröffnet, und daran schloß sich der
bekannte rasche Ausbau des Berliner Schnellbahnnetzes über und
unter der Erde.

Dem damaligen Stand der Technik entsprechend, war Werner Siemens
der Meinung gewesen, daß in dem höchst ungeeigneten Boden von
Berlin Untergrundbahnen niemals würden angelegt werden können.
»Sehen wir auf Berlin,« sagte er, »so müssen wir sagen, unsere
Urväter, die Fischer, die in den Dörfern Berlin und Kölln lebten,
haben insofern eine schlechte Wahl getroffen, als sie sich
an einem Platz niedergelassen haben, wo der Grundwasserstand
sehr hoch liegt. Ein paar Fuß unter der Erde stoßen wir auf
Grundwasser. An einem solchen Orte sollte eigentlich keine
große Stadt angelegt werden; man sollte eine solche immer
in einer solchen Höhe anlegen, daß ein gutes unterirdisches
Kommunikationsnetz sich schaffen ließe. Könnten wir das, so wäre
alle Not vorüber, und Berlin könnte sich unbehindert weiter
entwickeln. Das ist uns aber abgeschnitten; kein Baumeister wird
so kühn sein und im Grundwasser ein Eisenbahnnetz ausführen
wollen durch Bauten wie der Themsetunnel; das würde unermeßliche
Kosten machen und doch nicht vollständig durchführbar sein.« Hier
hat sich der große Mann über die Zukunftsmöglichkeiten getäuscht.

Damals machte Werner Siemens gleich noch einen zweiten Vorschlag
für die Anwendung des Elektromotors im Bahnbetrieb. Auch für
diesen ist erst die heutige Zeit reif geworden. Er wollte
schmale, niedrige Tunnel neben den Eisenbahnlinien herrichten,
in denen die Post auf kleinen elektrisch angetriebenen Wägelchen
ihre Sendungen unabhängig von der Bahn befördern sollte. Die
Post würde dadurch vom Zugverkehr unabhängig geworden sein,
und es wäre ein häufigerer Austausch von Briefen zwischen
den verschiedenen Orten möglich geworden. Heute besteht in
der Tat der bereits ziemlich greifbar gewordene Plan, solche
Posttunnel für elektrischen Betrieb unter dem Berliner Pflaster
einzurichten. Vermutlich werden die ersten Linien in nicht allzu
ferner Zeit gebaut werden.

Die Möglichkeit, die erste elektrische Bahn für praktischen
Betrieb innerhalb Berlins zu erbauen, war Werner Siemens also
genommen. Er stand deshalb jedoch nicht davon ab, einen Versuch
mit der neuen Einrichtung, wenn auch in kleinerem Maßstab, zu
machen.

Am 12. Mai 1881 wurde die erste elektrische Bahn auf der Erde
eröffnet, die dem öffentlichen Verkehr diente. Die Linie führte
von der Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde nach dem Bahnhof der
Anhaltischen Bahn in diesem Ort. Auch diesmal fehlte es nicht an
ironischem Spott kurzsichtiger Leute. Eine Zeitschrift schrieb,
der einzige Zweck dieser merkwürdigen Bahnanlage sei, die
künftigen preußischen Feldmarschälle durch den märkischen Sand zu
fahren. Daß sie die Urzelle einer unabsehbaren Entwicklung sein
würde, sah der überlegen denkende Verfasser nicht.

Die Linie war auf einem eigenen Bahnkörper geführt. Zur Hin- und
Rückleitung des Stroms diente je eine der Fahrschienen. Sie waren
ohne weitere Isolierung auf hölzernen Querschwellen verlegt,
obgleich die Spannung des Stroms 180 Volt betrug. Der Motor
war bei dieser Bahn bereits unter dem Wagenkasten aufgehängt,
die Kraft wurde von der Motorwelle durch Spiralschnüre auf
beide Radachsen übertragen. An den Wochentagen wurde die
Linie nicht sehr stark in Anspruch genommen, aber am Sonntag
hatte sie einen sehr lebhaften Verkehr, weil die Berliner
neugierig hinausströmten, um auch einmal eine Fahrt auf diesem
abenteuerlichen Verkehrsmittel, in diesem »Wagen ohne Pferde« zu
machen.

In demselben Jahr noch wurde ein bedeutender Fortschritt auf dem
Gebiet der elektrischen Bahnen getan. Siemens erbaute eine solche
Bahn auch auf der Weltausstellung in Paris, und hier kam zum
erstenmal die _oberirdische Stromzuführung_ in Anwendung.

Durch diese Anordnung erst wurde es möglich, die elektrisch
angetriebenen Bahnen auch über öffentliche Straßen zu führen.
Denn nun bestand nicht mehr die Gefahr, daß Menschen oder Tiere
dadurch verletzt werden könnten, daß sie bei gleichzeitiger
Berührung von zwei stromführenden Schienen in die Spannung
gerieten. Jene erste »Oberleitung« hatte eine recht schwerfällige
Form. Sie bestand nämlich aus einem unten aufgeschlitzten Rohr,
in das ein Kontaktstück eingelegt war. Dieses wurde vom Wagen
nachgezogen.

Als im nächsten Jahr Groß-Berlin durch Siemens & Halske seine
erste elektrische Straßenbahn erhielt -- es war dies die
Linie Charlottenburg-Spandauer Berg -- war die oberirdische
Leitungsführung wieder geändert. Man hatte hier zur Seite
der eingleisigen Bahn an Telegraphenstangen zwei starke
Kupferdrahtseile nebeneinander aufgehängt. Auf diesen Seilen lief
ein kleiner vierrädriger Wagen; von diesem führte eine biegsame
Doppelleitung zum Dach des Wagens hinunter, der an diesen
Leitungen zugleich den Kontaktwagen hinter sich herzog.

Beide Oberleitungsarten wirkten sehr unschön. Sie verunstalteten
die Straßen erheblich und sind die Ursache gewesen, daß die
Weiterentwicklung der elektrischen Bahnen trotz einzelner
weiterer Versuche in Europa sehr bald ins Stocken geriet.
Amerika nahm sich dieses Verkehrsmittels jedoch sehr energisch
an, und hier wurde zum erstenmal die Stromabnahme durch einen
schräg gestellten Arm mit Kontaktrolle eingeführt. Erst viele
Jahre später begann man, unter der Führung Emil Rathenaus, die
elektrischen Bahnen in ihrem Ursprungsland weiter auszubauen,
obgleich Werner Siemens schon im Jahre 1887 den Gleitbügel
erfunden hatte.

Von ihm wurde auch die erste Grubenbahn in dem Bergwerk
Zauckerode erbaut, und seine Firma führte im Jahre 1889 die erste
Straßenbahn mit unterirdischer Stromzuführung in Budapest aus.

Welche Bedeutung die elektrischen Bahnen, deren Urheber Werner
Siemens ist, heute erlangt haben, ist bekannt. Der Nutzen
der Straßenbahnen beschränkt sich aber nicht darauf, daß sie
eine schnellere Beförderung als die Pferdebahnen ermöglichen,
sondern sie üben auch auf den Ausbau der Weltstädte, ihre
Wohnungsverhältnisse, die Gesundheit ihrer Einwohner einen
außerordentlich fördernden und bessernden Einfluß aus. Niemals
hätten die Weltstädte ihre Straßen über ein so weites Gebiet
erstrecken können, wenn nicht die bequeme und schnelle Beförderung
nach dem Mittelpunkt durch die elektrischen Bahnen möglich
gewesen wäre. Das billige und schnelle Verkehrsmittel gestattet
auch den Minderbemittelten ein Wohnen in luftigen Außenbezirken,
weitab von ihrem Arbeitsort. Die volkshygienisch so wichtige
Gartenstadtbewegung hängt eng mit dem Ausbau der elektrischen
Bahnen zusammen.

Diese beschränken sich heute schon nicht mehr auf den
Kleinverkehr in den Straßen, sondern die elektrische Lokomotive
hat sich jetzt bereits auch die Fernbahnen erobert. In allen
Ländern, auch in Preußen, sind ausgedehnte Versuche mit
elektrischer Zugförderung auf großen Fernbahnstrecken gemacht
worden, und man kann heute schon sagen, daß der elektrische
Betrieb ökonomisch und technisch dem Dampfbetrieb auch auf
großen Linien überlegen ist. Länder, die reich an Wasserkräften
sind, wie Schweden und die Schweiz, bauen in größerem Maßstab
ihr Bahnsystem für elektrischen Antrieb um, weil sie auf diese
Weise die billig zur Verfügung stehende Naturkraft des fallenden
Wassers ausnutzen können.

[Illustration: Elektrische Hochbahn durch die Friedrichstraße
nach dem Vorschlag von Werner Siemens aus dem Jahre 1880
(Aufnahme nach einem Modell)]

[Illustration: Die heutige Berliner Schnellbahn; Hochbahnstrecke
am Halleschen Tor]

Im Jahre 1906 wurde durch einen epochalen Versuch gezeigt, daß mit
elektrischem Antrieb Fahrgeschwindigkeiten erreicht werden können,
welche die Dampflokomotive nicht zu leisten vermag. Damals taten sich
die führenden elektrischen Firmen Deutschlands, Siemens & Halske und
die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, zu _Schnellfahrversuchen_
zusammen, für welche die Verwaltung der preußischen Staatsbahnen die
Strecke Marienfelde-Zossen zur Verfügung gestellt hatte. Es wurden
hier Geschwindigkeiten von über _200 Kilometern in der Stunde_
erreicht und damit bewiesen, daß der Elektromotor fähig ist, Züge
mit einer so außerordentlichen Schnelligkeit über die Strecke zu
befördern. Das Ergebnis dieses Versuchs ist bis heute noch nicht
praktisch ausgenutzt worden, aber es schlummern in ihm große
Zukunftsmöglichkeiten.

Sobald das Verkehrsbedürfnis es erfordern wird, dürften
besondere, mit nur sehr schwachen Krümmungen versehene
Strecken erbaut werden, und auf ihnen wird ein Zugverkehr mit
dem Doppelten der heute üblichen Schnellzugsgeschwindigkeit
stattfinden können. Die großen Verkehrszentren werden dann
einander außerordentlich viel näher rücken.




Elektrisches Licht


Der Erfinder der Dynamomaschine hat selbstverständlich neben dem
Ausbau der elektrischen Bahn auch einem anderen Nutzungsbereich
der Elektrizität seine besondere Aufmerksamkeit zugewendet, der
zu jener Zeit schon bis zu einem gewissen Grad angebaut war.

Es wurde bei der Darstellung der Vorgeschichte der Dynamomaschine
bereits erwähnt, daß mit Hilfe von magnet-elektrischen Maschinen
elektrische Beleuchtungsanlagen für Leuchttürme geschaffen
worden sind. Die außerordentliche Helligkeit des elektrischen
Lichtbogens, die bis zum heutigen Tag unübertroffen ist, zog eben
schon früh die Aufmerksamkeit der technischen Welt auf sich. Die
elektrischen Leuchtturmfeuer leisteten auch recht gute Dienste,
da die in jener Zeit vorhandenen Hilfsmittel gerade die hier
gewünschte Konzentration einer großen Energiemenge zur Erzeugung
eines einzigen Lichtpunkts sehr begünstigten.

Aber es war damals noch nicht daran zu denken, daß das
elektrische Licht den normalen Beleuchtungseinrichtungen,
dem Petroleumbrenner etwa oder dem Gaslicht, Konkurrenz
machen könnte, denn ihm fehlte eine wichtige Eigenschaft: die
»Teilbarkeit«. Man konnte von einer Maschine aus immer nur
eine einzige Leuchtquelle betreiben. Werner Siemens war es
vorbehalten, auch hier einen neuen Weg zu eröffnen und damit die
moderne Ära der elektrischen Beleuchtung einzuleiten.

Die Leuchtkraft des elektrischen Lichts wurde zum erstenmal im
Jahre 1808 von Humphrey _Davy_ einem staunenden Auditorium mit
blendender Klarheit gezeigt. Zwar hatte man schon früher die
leuchtenden Funken überspringen gesehen, aber die Dauer dieser
Lichterscheinung war stets außerordentlich kurz gewesen. Davy
erzeugte nun mit Hilfe einer riesenhaften Voltaschen Säule, wie
man sie bis dahin noch nicht aufgebaut hatte, einen dauernden
Lichtbogen, indem er zwei Kohlenstäbe, die in die Leitung
eingeschaltet waren und sich berührten, ein wenig voneinander
entfernte.

Als man dann später zur Erzeugung kräftiger Ströme nicht mehr auf
Voltasäulen und galvanische Batterien angewiesen war, sondern
die magnet-elektrischen Maschinen zur Verfügung hatte, benutzte
man den Lichtbogen für die Erzeugung eines Lichts von unerhörter
Intensität.

So lagen die Dinge noch, als Werner Siemens die Dynamomaschine
erfand. Die ersten elektrischen Lampen, die durch diese Maschinen
gespeist wurden, gehörten gleichfalls zu der unteilbaren Gattung.

Man hatte jedoch den dringenden Wunsch, diese glänzende
Erscheinung, die sich für Leuchttürme und Scheinwerfer vorzüglich
eignete, in ihrer Intensität dadurch zu mindern, daß man in den
Maschinenstrom mehrere Lampen zugleich schaltete.

Die erste Möglichkeit hierfür bot die Erfindung eines Russen, die
Jablochkoff-Kerze, mit der im Jahre 1876 die Avenue de l'Opéra
in Paris zum erstenmal beleuchtet wurde. Man vermochte vier bis
fünf Jablochkoff-Kerzen in denselben Stromkreis zu schalten und
hatte damit schon einen recht achtbaren Schritt vorwärts getan.
Die Lampen bestanden aus zwei parallel nebeneinander liegenden
Kohlenstiften, die durch eine Gipsschicht getrennt waren. Vor
der Benutzung waren die Kohlenstifte durch ein quer darüber
gelegtes Stückchen Graphit verbunden. Beim Einschalten des Stroms
verbrannte der Graphit in kurzer Zeit, und nun entzündete sich
von selbst der Lichtbogen zwischen den Kohlenspitzen. Erlosch
aber einmal eine der Lampen, was bei der Ungleichmäßigkeit
der Kohlen nicht gar zu selten vorkam, so konnte dieselbe
Kerze nur durch höchst umständliche Manipulationen wieder
entzündet werden. Und zugleich verursachte das Verlöschen der
einen Lampe das Ausgehen aller anderen, die sich in demselben
Stromkreis befanden. Zur weiteren Verbreitung, zur allgemeinen
Straßenbeleuchtung etwa oder zur Erhellung von Fabrikhöfen, war
das elektrische Licht also auch in diesem Zustand noch nicht
geeignet.

In dem für die Elektrotechnik so wichtigen Jahr 1879, das die
elektrische Bahn brachte, wurde die damals neu entstandene
Kaiser-Galerie in Berlin, die bekannte Passage zwischen
der Straße Unter den Linden und der Friedrichstraße, zum
erstenmal durch eine neue Bogenlampenart erleuchtet. Von diesen
Lichtspendern konnte man so viel in dieselbe Leitung schalten,
wie die von der Maschine gelieferte Energie zu speisen vermochte;
sie entzündeten sich, falls die Lichtbogen aus irgendeinem Grund
einmal momentan zum Erlöschen gebracht wurden, sofort selbsttätig
von neuem, und das Erlöschen blieb immer nur auf die eine gerade
in Unordnung geratene Lampe beschränkt, keine andere wurde
dadurch in Mitleidenschaft gezogen.

In der Kaiser-Galerie brannten damals zum erstenmal die
_Differential-Bogenlampen_, deren Grundidee Werner Siemens
ersonnen hatte. Die Konstruktion war dann von Hefner-Alteneck,
der bereits als Erfinder des Trommelankers erwähnt wurde,
ausgeführt und in hervorragender Weise durchgebildet worden. Bei
diesen Lampen wurde durch die Anbringung einer Selbstregulierung
mittels Haupt- und Nebenstroms erreicht, daß die Kohlenenden bei
eingeschaltetem Strom immer einen solchen Abstand voneinander
einnehmen mußten, daß der Lichtbogen sich stets in richtiger
Weise bilden konnte. Die Bogenlampen mit Differentialregulierung
sind jahrzehntelang der Grundpfeiler der elektrischen Beleuchtung
gewesen. Erst als die Glühlampen in der Form, wie wir sie
von Edisons Hand empfingen, eine viel weitere Teilung des
elektrischen Lichts ermöglichten, hat die elektrische Beleuchtung
einen zweiten erfolgreichen Weg zu wandeln begonnen.




Parerga


Mit der Darstellung der Meisterleistungen, der Errichtung des
Grundbaus für die Land- und Unterseetelegraphie, der Erfindung
der Dynamomaschine, der Einrichtung der ersten elektrischen
Bahnen und der ersten modernen elektrischen Beleuchtung, ist
der Rahmen, der das Bild des Schaffens von Werner Siemens
umschließt, noch nicht ausgefüllt. Dieser universelle Geist
durchschweifte alle Höhen und Tiefen der Technik; er unterwarf
das Kleine wie das Große einer scharfen Musterung, und allerorten
bot sich ihm Gelegenheit, fördernd einzugreifen. Die Blumen,
die an dem von Werner Siemens durch Jahrzehnte abgeschrittenen
Ideenpfad bescheiden zur Seite stehen, würden genügen, um den
Erfindungsgarten vieler anderer prächtig zu schmücken.

Es genügt, die kleineren, aber oft gleichfalls sehr
bedeutungsvollen Erfindungen, die er gemacht hat, nur kurz
aufzuzählen, um den quellenden Gedankenreichtum anzudeuten,
den die Natur in den Geist dieses Manns eingesenkt hatte. Man
glaubt einen übersprudelnden Wildbach vor sich zu sehen, nimmt
aber bei genauem Studium wahr, daß hier ein wohlgeregelter
Wasserlauf fließt, daß keine dieser Erfindungen plötzlich und
wurzellos hervorgebrochen ist, sondern daß jede von ihnen
nur der körperliche Ausdruck, das letzte Glied einer langen,
wissenschaftlichen Überlegungsreihe oder der Weiterausbau einer
schon früher als aussichtsreich erkannten Ideenkette ist.

So führte die erste elektrische Bahn Siemens dazu, den _ersten
elektrisch angetriebenen Fahrstuhl_ zu ersinnen. Ist diese
Vorrichtung doch nichts anderes, als eine aus der Wagerechten ins
Senkrechte gewendete Bahn.

Dieser erste elektrische Fahrstuhl diente dazu, die staunenden
Besucher in der Industrieausstellung zu Mannheim im Jahre
1880 auf einen Aussichtsturm zu befördern. Bis dahin hatte
man nur hydraulisch betriebene Aufzüge gekannt. Die Anwendung
des Elektromotors für diesen Zweck bedeutete eine sehr große
Vereinfachung der Anlage. Dieser Fahrstuhl ist als die erste
elektrisch betriebene Hebemaschine überhaupt zu betrachten,
wodurch er an den Anfang einer außerordentlich wichtigen
Entwicklungsreihe tritt. Die elektrischen Krane leisten ja heute
allerorten in weitestem Maß unersetzliche Dienste.

Die Konstruktion dieses ersten Siemensschen Fahrstuhls weicht
sehr weit von den heute üblichen Bauarten ab; wir verwenden
heute fast ausschließlich Seile, die sich auf eine Trommel
wickeln, zum Heben der Fahrkammer. Der Mannheimer Aufzug war
nach dem Kletterprinzip gebaut. Man hatte in dem Schacht eine
senkrecht hinaufführende Zahnstange errichtet, die man auch als
eine eiserne Leiter mit geringem Sprossenabstand ansehen kann.
Von beiden Seiten griffen in die Leitersprossen kleine, vom
Elektromotor angetriebene Zahnräder ein, und sobald diese gedreht
wurden, kletterte der Aufzug gewissermaßen an der Leiter empor.
Der Antriebsmotor war an der Fahrkammer selbst angebracht, er
machte also deren Bewegungen mit. Um ein Abstürzen zu verhüten,
geschah die Übertragung der Kraft vom Motor zu den Zahnrädern mit
Hilfe einer Schnecke, die ja ein selbstsperrendes Getriebe ist.
Wenn die Schnecke beim Ausbleiben des Stroms stehen blieb, konnte
der Fahrstuhl nicht hinunterrutschen, weil die Zahnräder dann
keine Bewegung zu machen vermochten.

Bald machte Werner Siemens auch den Vorschlag, den Elektromotor,
der immer noch sekundäre Dynamomaschine hieß, für die Landwirtschaft
dienstbar zu machen. Er konstruierte den ersten _elektrischen
Pflug_. Mit den damaligen, durch Dampfkraft angetriebenen Pflügen
war man nur imstande, vollkommen ebene Felder abzupflügen und
konnte nur gerade, parallel zueinander stehende Furchen ziehen.
Für die Anwendung der Maschinenpflüge war also Bedingung, daß die
Felder flach und rechteckig geschnitten waren. Werner Siemens
setzte nun seinen Motor auf den Pflug selbst und gewann auf
diese Weise volle Bewegungsfreiheit, da die Verbindung mit der
stromgebenden Maschine durch eine biegsame Leitung stattfinden
konnte, die jeder wie immer gearteten Bewegung zu folgen vermochte.

Eine hübsche Anwendung der Elektrizität als Bewegungskraft
brachte der _elektrische Hammer_. Es wurde die Fähigkeit einer
stromdurchflossenen Spule ausgenutzt, einen Eisenstab bei
Schließung des Stroms kräftig in sich hineinzuziehen. Durch
Anwendung von Wechselstrom und Einbau zweier Spulen, die
abwechselnd auf einen magnetisierten Stab einwirkten, wurde eine
rasch hin und her gehende Bewegung erzielt. Die kräftigen Schläge
wurden bald dazu benutzt, um Gesteinsbohrmaschinen zu bauen. Sie
hatten durch eine vom Erfinder angegebene weitere Anordnung die
Fähigkeit, den Stößel von selbst, entsprechend der wachsenden
Vertiefung des Lochs, vorrücken zu lassen, so daß er immer gegen
das Gestein schlug.

Sehr interessant ist die Anordnung, die Siemens angegeben hat,
um eine _Fernsteuerung von Schiffen_ zu bewirken. Man kannte
damals die selbstlaufenden Torpedos, die wir heute so reichlich
benutzen, noch nicht. Um ein Torpedo an ein feindliches Schiff
heranzubringen, wurde es vielmehr mit langen Spieren an einem
Boot befestigt, das eine Antriebsmaschine besaß. Es war nun
natürlich nicht gerade angenehm, dieses Boot mit seiner
gefährlichen Beigabe an das feindliche Schiff heranzufahren.
Siemens brachte darum auf dem »Torpedoboot« -- das Wort hatte
damals eine andere Bedeutung als heute -- eine elektromagnetische
Einrichtung an, mit deren Hilfe man das Steuer von fernher
bewegen konnte, so daß nun eine Bemannung nicht mehr nötig war.
Ein Querbalken, der an der Pinne des Steuerruders befestigt
war, konnte mit Hilfe von zwei Magneten, die auf seine Enden
einwirkten, bewegt werden. Je nachdem man den einen oder den
anderen Magnet einschaltete, fand ein Umlegen des Ruders statt.
Durch eine abrollende isolierte Doppelleitung mußte das Boot
natürlich mit seinem Mutterschiff in Verbindung bleiben, auf dem
die nötigen Schaltungen und damit die Beeinflussungen der beiden
Steuermagnete vorgenommen wurden.

Indem er diese Konstruktion weiter bildete, kam Siemens dann
zu einer Einrichtung, die es ermöglichte, daß ein _unbemanntes
Schiff sich selbst stets so steuerte_, daß es genau in einer
einmal vorgeschriebenen Richtung fuhr. Als Steuermann wurde
hierbei eine Magnetnadel benutzt, die ja immer unbeirrt in
derselben Richtung, nämlich nach dem magnetischen Nordpol, zeigt.
Durch eine Einstellvorrichtung wurde bewirkt, daß das Steuer nur
dann in Ruhe blieb, wenn das Schiff in einer Richtung fuhr, die
einen ganz bestimmten Winkel zu der magnetischen Nordsüdrichtung
bildete. Wich das Schiff von dieser Richtung ab, so bekam
entweder der eine oder der andere der Magnete, die den Querbalken
des Steuerruders beherrschten, Strom, bis die festgelegte
Fahrtrichtung wieder eingehalten wurde. Es kam also hier derselbe
Gedanke in Anwendung, den wir heute bei unseren selbstlaufenden
Torpedos benutzen, nur daß bei diesen der unbeirrbare Steuermann
nicht eine Magnetnadel, sondern ein sehr schnell rotierender
Kreisel ist, dessen Achse sich gleichfalls nicht aus der einmal
angenommenen Richtung bringen läßt.

Eine von Siemens weiter ersonnene Einrichtung gab Gelegenheit,
den _Stand des Wassers_ in Sammeltürmen oder anderen Behältern
_von fernher_, insbesondere also in der Pumpstation, zu erkennen.
Durch das im Behälter auf und nieder gehende Wasser wurde ein
Schwimmer bewegt. Dieser betätigte einen Mechanismus, der von
Zeit zu Zeit, wenn der Stand des Wasserspiegels sich um eine
bestimmte Größe verändert hatte, einen Strom durch die Leitung
nach dem Maschinenhaus schickte. Dadurch wurde ein elektrischer
Zeiger bald vorwärts, bald rückwärts über eine Skala bewegt,
so daß man auf dieser die Höhe des Wasserstands stets ablesen
konnte. Wasserstandsfernmelder sind später von diesem Ursprung
her in zahlreichen Arten konstruiert worden, und sie bilden heute
unentbehrliche Bestandteile jeder großen Wasseranlage.

Man kann Elektrizität nicht nur durch Reibung, durch Magnetismus
und durch Induktion, sondern noch auf eine vierte Weise, nämlich
durch Wärme, erzeugen. Lötet man zwei Stäbe aus verschiedenen
Metallen, etwa Neusilber und Eisen, mit beiden Enden zusammen
und erwärmt die eine Lötstelle, so fließt durch den metallenen
Kreis ein Strom. Siemens baute eine riesige _Thermosäule_ aus
2500 einseitig verlöteten Neusilber-Eisen-Elementen auf, deren
Lötstellen in einem Rohr untergebracht waren. Die anderen
nicht zusammengelöteten Enden waren durch Drähte verbunden,
und diese führten alle zu einer gemeinschaftlichen Leitung, in
die ein passendes Instrument eingeschaltet war. Erwärmte man
die Lötstellen durch Leuchtgas, so wurde durch die entstehende
Thermo-Elektrizität schon nach einer Minute eine Glocke zum Tönen
gebracht. Es war dies die erste Thermosäule, die so kräftig
wirkte, daß durch sie eine merkbare elektromotorische Kraft
erzeugt wurde.

Willougby Smith hatte entdeckt, daß das _Selen_ seine elektrische
Leitfähigkeit mit wechselnder Belichtung ändert. Siemens brachte
das Selen durch Umschmelzen in sehr hoher Temperatur in eine
Form, die gestattete, mit Hilfe der sich bei Belichtung ändernden
Leitfähigkeit die Stärke von Lichtquellen zu messen. Bis dahin
besaß man in der Photometrie nur die Möglichkeit, die Stärke
einer Lichtquelle dadurch zu bestimmen, daß man sie mit einer
anderen verglich. Das Siemenssche Selen-Photometer gestattete die
direkte Feststellung der Lichtstärke durch Widerstandsmessung,
was sehr viel genauere Resultate lieferte. Man war dadurch auch
in der Lage, die Leuchtstärke verschiedenfarbiger Lichtquellen
miteinander zu vergleichen.

Die durch _schlagende Wetter_ in Bergwerken auch damals schon
nicht allzu selten hervorgerufenen Katastrophen hatten Siemens'
warmherziges Empfinden auf sich gelenkt. Er begnügte sich
jedoch nicht mit dem bloßen Mitleid für die armen Bergarbeiter,
sondern sann über ein Mittel nach, solche Unglücksfälle zu
verhindern. Er fand, daß Platinmoor erwärmt wurde, sobald
eine gewisse Menge Grubengas in seiner Nähe vorhanden war. Es
findet dann eine langsame, nicht sichtbare Verbrennung des
Grubengases statt. Diese Tatsache benutzte er, um die Lötstellen
von Thermo-Elementen erwärmen zu lassen. Hatte sich in einer
Grube eine gewisse Menge des gefährlichen Gases angesammelt,
das bei Entzündung die Ursache der schlagenden Wetter ist,
dann begannen die an den Lötstellen mit Platinmoor belegten
Thermoelemente Strom durch die Leitung zu schicken, die nach oben
führte, und die Zeiger feiner Instrumente, die an bestimmten
Beobachtungsstellen über Tag aufgestellt waren, begannen
auszuschlagen oder auch akustische Zeichen auszulösen. Die
Hoffnungen, die man auf diese Einrichtung damals setzte, haben
sich allerdings nicht in vollem Maß erfüllt. Noch heute besitzen
wir kein unbedingt zuverlässiges Anzeigemittel für Grubengas.

Die Firma Siemens & Halske hat im Jahre 1866 die _erste
Rohrpostanlage in Berlin_ gebaut. Sie führte vom
Haupttelegraphenamt zur Börse und diente der raschen Beförderung
von Telegrammen innerhalb der Stadt. Werner Siemens selbst schuf
die wissenschaftliche Grundlage für die Einrichtung, indem er die
Bewegungsgesetze der Gase in Röhren studierte.

In Rußland war schon damals eine hohe Abgabe auf die Erzeugung
von Spiritus gelegt. Um brauchbare Unterlagen für diese
Besteuerung zu erhalten, wünschte man einen Apparat, der genau
die Menge des durch ein Rohr strömenden Spiritus anzeigte und
ferner auch die Menge des absoluten Alkohols angäbe, der darin
enthalten war. Der von Siemens erfundene _Alkoholmeßapparat_
macht die gewünschten Angaben ebenso genau, wie sie sonst nur
durch die besten, sehr komplizierten Meßverfahren erzielt werden
können. Eine sich drehende Trommel stellt die durchströmende
Flüssigkeitsmenge fest, und ein in der Flüssigkeit liegender
Schwimmer, der sich entsprechend dem spezifischen Gewicht hebt
und senkt, korrigiert die Anzeige gemäß der Menge des darin
enthaltenen absoluten Alkohols.

Ein Apparat von ähnlicher Feinfühligkeit ist der
_Elektrizitätszähler_. Die Konstruktion mit Zählantrieb durch
einen Motor, dessen Bewegung durch eine Kupferscheibe und
Magnetbeeinflussung geregelt wird, verdanken wir gleichfalls
Werner Siemens. Strommesser dieser Art werden heute fast
ausschließlich verwendet.

Die lange Zeit, welche in Parlamentssitzungen für die Abstimmungen
gebraucht wird, verdroß den technischen Sinn von Werner Siemens.
Im Jahre 1870 reichte er beim Präsidium des Preußischen
Abgeordnetenhauses einen Vorschlag für einen _elektrischen
Abstimmungsapparat_ ein, der ermöglichen sollte, das Resultat
der Abstimmungen in kürzester Zeit festzustellen. An jedem
der Abgeordnetensitze sollte eine kleine Schaltvorrichtung
angebracht werden, deren Hebel auf »Ja« oder »Nein« zu stellen
war und bei Abwesenheit eines Abgeordneten oder bei Stimmenthaltung
auch eine dritte Stellung einnehmen konnte. Sollte eine
Abstimmung vor sich gehen, so war es nun nicht mehr notwendig,
die Stimmzettel in einem langwierigen Vorgang einzusammeln,
sondern jeder Abgeordnete legte seinen Hebel in die gewünschte
Stellung, und ein Diener konnte durch rasches Drehen einer
Kurbel die sämtlichen Ja und Nein in kaum einer Minute auf
einem abrollenden Papierstreifen erscheinen lassen. Durch
 Nummernaufdruck auf dem Streifen war es auch möglich, zu
erkennen, wie jeder einzelne Abgeordnete gestimmt hatte. Der
Streifen konnte leicht vervielfältigt und so verschiedenen an
der Abstimmung interessierten Personen übergeben werden. Es war
auch eine Einrichtung hinzugefügt, die durch Niederlegen von
Fallklappen jeden Abgeordneten auf seinem Platz erkennen lassen
sollte, ob seine Abstimmung richtig registriert war. Damit die
Schalter an den Plätzen nicht von Unbefugten benutzt werden
könnten, war jeder von ihnen nur mit Hilfe eines bestimmten
Schlüssels zu bewegen, der sich im Besitz des Platzinhabers
befand. Zu einer Einführung dieses technisch sehr hübschen
Apparats ist es nicht gekommen.

Schon in jener Zeit empfand man es als schwere Belästigung,
daß in den Schornsteinen von Kesselfeuerungsanlagen sehr
viele Rußteilchen durch den austretenden Rauch mitgerissen
wurden. Siemens konstruierte, um dies zu verhindern, den
_Spiraldeflektor_. Er setzte in das Rauchrohr eine Spirale aus
Blech ein, durch welche die Rauchgase hindurchziehen mußten.
Infolge der dadurch eintretenden zentrifugalen Bewegung wurden
die schweren Rußteile tangential zur Seite geschleudert; sie
fielen in einen Sammelbehälter hinunter, und nur die gereinigten
Rauchgase konnten aus dem Schornstein austreten. Man benutzt
diese Einrichtung noch heute zur Gewinnung des technisch viel
verwendeten Rußes.

Für die Reinigung der Luft sowie zur Sterilisierung von
Trinkwasser und zum Bleichen von Leinengarnen sowie Tuchen
benutzen wir heute vielfach das Ozon. Es ist dies ein Gas, in
dem nicht, wie in der Luft, zwei Sauerstoffatome, sondern drei
miteinander verbunden sind. Dieses dritte Atom trennt sich jedoch
sehr leicht von den anderen, und dadurch vermag das Ozon eine
sehr starke oxydierende Wirkung auszuüben. Siemens erfand bereits
im Jahre 1857 eine _Ozonröhre_, welche die Erzeugung dieses
nützlichen Gases in vorzüglicher Weise gestattete. In etwas
veränderter Form wird sie noch jetzt verwendet.

Siemens hat sich überhaupt schon frühzeitig mit elektrochemischen
Studien beschäftigt. Er sah die große Bedeutung, die diese
Anwendung des elektrischen Stroms einst haben würde, deutlich
voraus. »Gerade auf diesem Gebiet,« so schrieb er, »wird der
elektrische Strom voraussichtlich künftig die größten Erfolge
aufzuweisen haben und auf ihm der Menschheit die größten Dienste
leisten können.«

Im Jahre 1886 deutete er bereits auf einen erst in der letzten
Zeit sehr wichtig gewordenen elektrochemischen Industriezweig
hin. Er sagte damals voraus, daß wir »mit Hilfe mechanisch
erzeugter Elektrizität imstande sein werden, gewerbsmäßig
_Stickstoffverbindungen aus der Luft_ herstellen zu können«. Wir
wissen, daß diese Möglichkeit unsere Landwirtschaft während des
Weltkriegs gerettet hat, als es nach Abschneidung der Zufuhr von
natürlichem Salpeter aus Chile nur auf elektrischem Weg möglich
war, die nötigen Düngemittel herzustellen. Mit seinem Freund, dem
großen Chemiker A. v. Hofmann, hat Siemens auch selbst eingehende
Versuche zur elektrischen Bindung des Stickstoffs aus der Luft
gemacht.

Rechnet man zu den in diesem Abschnitt aufgezählten Erfindungen
noch die anderen hinzu, die von Werner Siemens früher gemacht
wurden, die galvanoplastische Herstellung von Gold- und
Silberüberzügen, den Differenzregulator, den Zinkdruck, den
anastatischen Druck, die haltbare Schießbaumwolle, die Messung
von Geschoßgeschwindigkeiten mittels des elektrischen Funkens,
so steht man einer erstaunlichen Fülle von fruchtbaren Gedanken
gegenüber. Der Meister, welcher der Elektrotechnik ihre
gewaltigsten Hilfsmittel schuf, hat sie auch in einer großen
Anzahl von Nebengebieten auf das kräftigste gefördert. Er hat
sich ferner erfolgreich um die Förderung anderer Zweige der
Technik bemüht und steht so als ein Riese technischen Schaffens
vor unseren Augen.




Wissenschaft


Wenn die wissenschaftlichen Arbeiten von Werner Siemens hier
in einem besonderen Abschnitt behandelt werden, so geschieht
die Trennung nur aus einem äußerlichen Grund, nämlich um das
Überblicken seines so umfangreichen Lebenswerks zu erleichtern.
Denn wie wir nun schon aus vielen Beispielen wissen, sind der
Techniker und der Wissenschaftler in Werner Siemens nicht
voneinander zu sondern. Entsprang doch fast eine jede seiner
Erfindungen einer wissenschaftlichen Überlegung. Das ist es ja
eben gewesen, was seinen Meisterleistungen die mächtige und
nachhaltige Wirkungsmöglichkeit schaffte, ihnen den breiten Boden
gab, auf dem sie zu so imponierender Höhe emporwachsen konnten.

Sehr häufig hat man bei der Lektüre Siemensscher Schriften oder
Reden das deutliche Gefühl, daß nur ein unwiderstehlicher Drang
ihn dazu trieb, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse praktisch
auszubeuten, daß er dies fast gegen seinen Willen getan hat.
Immer von neuem klagt er, seine Berufstätigkeit habe ihm so wenig
Zeit gelassen, eine rein wissenschaftliche Tätigkeit auszuüben.
Den Wissensschatz nennt er einmal den einzig wahrhaften Schatz,
den die Menschheit besitzt.

Und wiederum erkennt er selbst ganz genau, daß er seine
Lebensarbeit als schaffender Techniker und nicht als
abstrakter Gelehrter zu leisten habe. Als man ihn im Jahre
1874 als ordentliches Mitglied in die Preußische Akademie der
Wissenschaften berief, sagte er in seiner Antrittsrede: »Ich bin
nicht anmaßend genug, zu glauben, daß die rein wissenschaftlichen
Leistungen, welche ich aufzuweisen habe, allein entscheidend
hierfür (nämlich für die Berufung) gewesen sind.« Sein Freund
Du Bois-Reymond, der ihm antwortete, stellte dann den Doppelcharakter
von Werner Siemens, der ihn Wissenschaftler und Techniker
zugleich sein ließ, vorzüglich in einem Satz zusammen, indem
er sagte: »Daß du auf solcher Höhe als ein Fürst der Technik
die Fäden unzähliger Kombinationen in der Hand haltend,
hundert Pläne im Kopf wälzend, im Innersten der deutsche Gelehrte
in des Wortes edelstem Sinne bliebst, als der du geboren bist,
zu dem du nicht einmal erzogen wurdest; daß in jedem Augenblick,
wo die Last der Geschäfte es dir erlaubte, du mit Liebe zum
Phänomen, mit Treue zum Experiment, mit Unbefangenheit zur
Theorie, genug, mit echter Begeisterung zur reinen Wissenschaft
zurückkehrtest: das stempelte dich, von deinem Scharfsinn, deiner
Erfindsamkeit, deiner Beobachtungsgabe zu schweigen, in unseren
Augen zum Akademiker.«

In seiner Antrittsrede bei der Akademie gab Werner Siemens
dann selbst eine kleine Übersicht über die wissenschaftlichen
Leistungen, von denen er meinte, daß sie die Ursache zu
seiner für einen praktisch schaffenden Techniker so besonders
ehrenvollen Berufung gewesen seien. Er erwähnte die Methode der
Messung großer Geschwindigkeiten durch den elektrischen Funken,
die Auffindung der elektrostatischen Ladung telegraphischer
Leitungen und ihre Gesetze, die Aufstellung von Methoden und
Formeln für die Untersuchung unterirdischer und unterseeischer
Leitungen sowie für die Bestimmung des Orts vorhandener
Isolationsfehler, seine Experimentaluntersuchungen über die
elektrostatische Induktion und die Verzögerung des elektrischen
Stroms durch diese, die Aufstellung und Darstellung eines
reproduzierbaren Grundmaßes für den elektrischen Leitungswiderstand,
den Nachweis der Erwärmung des Dielektrikums des Kondensators
durch plötzliche Entladung, die Auffindung und Begründung der
dynamo-elektrischen Maschine. Er glaubte ferner anführen zu
können, daß manche seiner technischen Leistungen nicht ohne
wissenschaftlichen Wert gewesen seien, und nannte von diesen
den Differenzregulator, die Herstellung isolierter Leitungen
durch Umpressung mit Guttapercha, die Gegen-Doppel-Induktions-
und automatischen Apparate für Telegraphie, die Ozonröhre und
Meßinstrumente verschiedener Art.

Die meisten dieser Schöpfungen sind uns aus den vorhergehenden
Ausführungen bereits bekannt. Aber einige der wissenschaftlichen
Meisterleistungen von Werner Siemens haben wir hier doch noch
näher zu besprechen.

Eine hervorragende Tat war die Schöpfung sorgfältiger
_Meßinstrumente_. Wir entsinnen uns, daß Werner Siemens sich mit
dem Mechaniker Halske insbesondere aus dem Grund verbündete, weil
dieser ungewöhnlich feine Präzisionsarbeit zu leisten vermochte.
Nach den von Siemens aufgestellten theoretischen Grundlagen hat
Halske Galvanometer und Bussolen von einer solchen Feinheit
entstehen lassen, wie sie bis dahin noch nicht bekannt waren.
Die Instrumente sind auf der ganzen Erde für die elektrischen
Messungen grundlegend geworden. Die Physiker in allen Ländern
benutzen noch heute zu den genauesten Messungen Instrumente, die
in ihrem Bau sich ganz genau an die ersten von Siemens & Halske
geschaffenen anlehnen.

Im Jahre 1876 beschäftigte sich Werner Siemens in nachhaltiger
Weise damit, die _Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Elektrizität_
festzustellen, über die man bis dahin nur sehr wenig verläßliche
Zahlen besaß. Er stellte den Versuch so an, daß er den Zeitunterschied
zwischen den Entladungen zweier Leydener Flaschen maß, von denen die
eine durch Verbindung der Belegungen mittels eines kurzen Drahts,
die andere durch eine sehr lange Leitung geschlossen werden konnte.
Jede der beiden Entladungen rief einen Funken hervor, der wiederum,
wie bei der Messung der Geschoßgeschwindigkeit, eine Marke in einen
schnell rotierenden Stahlzylinder schlug. Für die praktische
Anstellung des Versuchs wurde ein eiserner Telegraphendraht von
23372 Kilometern Länge benutzt, der zwischen Köpenick und Erkner
an der damaligen Niederschlesisch-Märkischen Bahn entlang lief.
Siemens fand die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Elektrizität
zu 240000 Kilometern in der Sekunde. Nachdem Kirchhoff später
gelehrt hatte, daß für eine widerstandsfreie Leitung eine um
etwa ein Drittel höhere Geschwindigkeit angenommen werden
müsse, ergab sich aus dieser Messung ziemlich genau, daß die
Elektrizitätsgeschwindigkeit der des Lichts gleich ist, nämlich
rund 300000 Kilometer in der Sekunde beträgt. Heute, wo wir die
nahe Verwandtschaft zwischen Licht- und Elektrizitätsschwingungen
kennen, wissen wir, daß diese Zahl richtig sein muß.

Grundlegend für das gesamte Meßwesen in der Elektrotechnik ist
die von Werner Siemens geschaffene _Einheit für den Widerstand_
geworden. Sowohl in der wissenschaftlichen Physik wie auch in der
Technik ist die Feststellung des Widerstands von Stromleitern
sehr häufig erforderlich. Wenn man aber ein Maß angeben soll, so
braucht man eine genau festgelegte, jedem zugängliche Einheit,
auf die man es beziehen kann. Die Wichtigkeit des Gegenstands
war Ursache, daß schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts
Versuche gemacht wurden, eine Einheit des Widerstands zu
schaffen. Jacobi wollte hierfür einen Kupferdraht von bestimmter
Länge und bestimmtem Querschnitt einführen. Aber es zeigte
sich, daß der Widerstand eines solchen Drahts sich mit der Zeit
ändert. Durch das Kopieren und immer wieder neue Kopieren des
Originaldrahts entstanden ferner immer größere Ungenauigkeiten.
Die Grundeinheit muß aber selbstverständlich stets ganz genau und
verhältnismäßig leicht hergestellt werden können. Der Jacobische
Widerstands-Etalon war daher nicht brauchbar.

In dem von Wilhelm _Weber_ entwickelten absoluten
elektromagnetischen Maßsystem war zwar schon eine absolute
Einheit für den Widerstand enthalten. Aber ihre Herstellung
konnte, namentlich wegen der sehr geringen Größe dieser Einheit,
stets nur mit großen Schwierigkeiten geschehen.

Siemens erkannte, daß ein _Quecksilberstab_ sich am besten zur
Herstellung der Widerstandseinheit eigne. Die Notwendigkeit,
eine wirklich praktisch brauchbare Grundlage für diese Einheit
zu schaffen, wurde ihm besonders deutlich, als er jene von
uns schon erwähnte Fehlerbestimmung beim Kabel im Roten
Meer durch Widerstandsmessung machte. Er schlug vor, eine
Quecksilbersäule von einem Quadratmillimeter Querschnitt und
einem Meter Länge bei einer Temperatur von 0 Grad als Einheit
des Widerstands anzunehmen. Eine solche Quecksilbereinheit
läßt sich in jedem Laboratorium mit großer Leichtigkeit
herstellen; das Quecksilber kann immer wieder erneuert
werden und ist darum keinen Veränderungen unterworfen. In
der Tat wurde diese _Siemens-Einheit_ als Grundlage für
die elektrische Meßtechnik angenommen und hat über zwei
Jahrzehnte als maßgebende Größe geherrscht. Der Internationale
Elektrizitätskongreß in Paris beschloß dann freilich im Jahre
1881, die absoluten elektromagnetischen Einheiten, das sogenannte
Zentimeter-Gramm-Sekunden-System, einzuführen. Werner Siemens hat
es lebhaft bedauert, daß damit die Siemens-Einheit verschwand,
aber er erlebte die Genugtuung, daß die neugeschaffene Einheit
für den Widerstand, das »Ohm«, durch sein Verhältnis zur
Siemens-Einheit definiert wurde. Ein »Ohm« ist nämlich = 1,06 S.E.

Inmitten seiner ausgedehnten Beschäftigung mit den
wissenschaftlichen Grundlagen der Elektrotechnik und im Drang
der immer weiter sich ausdehnenden Geschäfte fand Werner Siemens
doch noch Zeit, mit deutscher Gelehrtengründlichkeit solche
Probleme zu bearbeiten, die von seiner Lebensarbeit ziemlich weit
ablagen. Wenn ihm auf seinen Reisen eine Erscheinung begegnete,
die ihm nicht ohne weiteres verständlich war, so trieb ihn sein
»Kausalitätsbedürfnis« unwiderstehlich dazu, sie zu erklären und
durch Stellung auf einen wissenschaftlichen Boden dem eigenen
Verständnis näherzuführen. Solche Beobachtungen und Erklärungen
führten ihn nicht selten dazu, sehr ausführliche Arbeiten darüber
abzufassen, die so gründlich angelegt waren, daß er sie der
Akademie der Wissenschaften in Berlin vorlegen konnte.

Als Siemens sich zur Auslegung des Kabels durch das Rote Meer
nach dem Süden begab, durchreiste er auch Ägypten. In Kairo mußte
er einige Tage Aufenthalt nehmen, da das Kabelschiff »Agamemnon«
nicht zur rechten Zeit eintraf, das, weil der Suezkanal damals
noch nicht eröffnet war, den Weg um das Kap der Guten Hoffnung
machen mußte. Er benutzte die Muße zu einem Ausflug nach der
Cheopspyramide.

Schon während des Eselritts dorthin erhob sich ein
außergewöhnlich kalter Wüstenwind, der von einer eigentümlichen
roten Färbung des Horizonts begleitet war. Nachdem sie an ihrem
Ziel angekommen waren, wurden Siemens und seine Reisegefährten
in der üblichen Weise von Beduinen über die hohen Steinstufen
auf die Spitze der Pyramide hinaufbefördert. Als sie droben
anlangten, war der Wind zu sturmartiger Stärke angewachsen,
so daß sie sich auf der abgeplatteten Spitze kaum aufrecht
halten konnten. Der Wüstenstaub hüllte die Spitze der Pyramide
allmählich ganz ein.

Man vernahm dabei ein merkwürdig zischendes Geräusch, das, wie
sich der sorgfältig beobachtende Werner Siemens alsbald sagte,
nicht durch den Wind verursacht sein konnte. Als er einen Finger
über seinen Kopf emporhob, entstand ein scharfer, singender Ton,
wodurch ihm klar wurde, daß es sich nur um eine elektrische
Erscheinung handeln konnte. Die Araber, die auf den nächsten
Stufen kauerten, kannten die Erscheinung gleichfalls, denn sie
hielten auch die ausgestreckten Finger mit dem Ruf »Chamsin!«
(das ist der Name des Winds) in die Höhe.

Sofort begann nun Werner Siemens auf der Pyramide mit der
elektrischen Erscheinung zu experimentieren. Er hat über diese
sehr interessanten Versuche in »Poggendorfs Annalen« unter
dem Titel »_Beschreibung ungewöhnlich starker elektrischer
Erscheinungen auf der Cheopspyramide bei Kairo während des Wehens
des Chamsins_« nähere Mitteilungen gemacht.

»Als ich eine gefüllte Weinflasche, deren Kopf mit Stanniol
beklebt war, emporhielt,« schreibt er dort, »hörte ich denselben
singenden Ton wie bei der Aufhebung des Fingers. Währenddessen
sprangen von der Etikette fortwährend kleine Funken zu meiner
Hand über, und als ich darauf den Kopf der Flasche mit der
anderen Hand berührte, erhielt ich eine heftige elektrische
Erschütterung, während ein glänzender Funke vom metallenen Kopf
der Flasche in meine Hand übersprang. Es ist klar, daß die
durch den feuchten Kork mit der Metallbelegung des Kopfes der
Flasche in leitender Verbindung stehende Flüssigkeit im Innern
derselben die innere Belegung einer Leydener Flasche bildete,
während Etikette und Hand die abgeleitete äußere vertraten. Auch
eine entkorkte Flasche lud sich auf gleiche Weise, namentlich
dann, wenn die Öffnung gegen den Wind geneigt wurde, wie *Dr.*
Esselbach durch einen heftigen Schlag erkannte, den er empfand,
als er dieselbe an den Mund setzte.«

Siemens baute darauf eine leistungsfähigere Leydener Flasche,
indem er eine gefüllte Weinflasche mit metallisch belegtem
Kopf in ein angefeuchtetes Papier aus dem Proviantkorb hüllte.
Als er diese hoch über den Kopf hielt, konnte er daraus laut
klatschende Funken von etwa einem Zentimeter Schlagweite ziehen.
Bald hatte er auch Gelegenheit, diese Leydener Flasche als
Verteidigungswaffe gebrauchen zu können.

»Die Araber hatten,« so erzählt er, »die aus unseren Weinflaschen
hervorbrechenden Blitze gleich mit offenbarem Mißtrauen
betrachtet. Sie hielten dann eine kurze Beratung, und auf ein
gegebenes Signal wurde ein jeder meiner Begleiter von den drei
Mann, die ihn hinaufbefördert hatten, gepackt, um gewaltsam
wieder hinabtransportiert zu werden. Ich stand gerade auf dem
höchsten Punkt der Pyramide, einem großen Steinwürfel, der in
der Mitte der Abplattung lag, als der Scheich der Arabertribus
sich mir näherte und mir durch unseren Dolmetscher sagen ließ,
die Tribus hätte beschlossen, wir sollten sofort die Pyramide
verlassen. Als Grund gab er auf Befragen an, wir trieben offenbar
Zauberei, und das könnte ihrer Erwerbsquelle, der Pyramide,
Schaden bringen.

»Als ich mich weigerte, ihm Folge zu leisten, griff er nach
meiner linken Hand, während ich die rechte mit der gut armierten
Flasche -- in offenbar beschwörender Stellung -- hoch über den
Kopf hielt. Diesen Moment hatte ich abgewartet und senkte nun
den Flaschenkopf langsam seiner Nase zu. Als ich sie berührte,
empfand ich selbst eine heftige Erschütterung, aus der zu
schließen der Scheich einen gewaltigen Schlag erhalten haben
mußte. Er fiel lautlos zu Boden, und es vergingen mehrere,
mich schon angstvoll machende Sekunden, bis er sich plötzlich
laut schreiend erhob und brüllend in Riesensprüngen die
Pyramidenstufen hinabsprang. Als die Araber dies sahen und den
fortwährenden Ruf »Zauberei!« des Scheichs hörten, verließen sie
sämtlich ihre Opfer und stürzten ihm nach. In wenigen Minuten war
die Schlacht entschieden und wir unbedingte Herren der Pyramide.
Jedenfalls ist Napoleon der »Sieg am Fuße der Pyramiden« nicht so
leicht geworden wie mir der meinige auf der Spitze!«

Nun hatten die Reisenden volle Freiheit, ihre Experimente
fortsetzen zu können. Als Siemens sich durch einen improvisierten
Isolierschemel aus aufgestellten Weinflaschen von der Steinmasse
der Pyramide isolierte, hörte das sausende Geräusch beim
Emporheben des ausgestreckten Fingers nach kurzer Zeit auf.
Er konnte jetzt zu seinen Gefährten durch Näherung der Hand
Funken überschlagen lassen. Siemens hat in seiner Arbeit die
interessante Erscheinung dadurch erklärt, daß, wie er annimmt,
die Staubteilchen durch Reibung auf dem Boden elektrisch werden,
daß dann später, wenn sie durch den Wind hoch emporgetrieben
worden sind, ihre in der Staubwolke konzentrierte Gesamtheit eine
elektrische Spannung gegen die Erde hat. Die Pyramide, die als
leitend zu betrachten ist, bildet eine gewaltige Spitze, von der
aus die Erdelektrizität zur Wolke besonders stark ausströmt.

Als Werner Siemens den Kaukasus besuchte, erkrankte er an
Wechselfieber. Während andere Menschen sich in einem solchen
Zustand nur mit ihrem körperlichen Befinden zu beschäftigen
pflegen, beobachtete er sorgfältig alle wissenschaftlichen
Begleitumstände. Er kam schon damals, lange bevor Koch seine
berühmte Theorie aufgestellt hatte, zu der Überzeugung, daß das
klimatische Fieber seine Ursache in _mikroskopischen Organismen_
haben müsse, die sich im Körper aufhalten. Die Periodizität
des Wechselfiebers erklärt er durch die Zeit, welche die junge
Brut jedesmal braucht, um zu ihrer, dem menschlichen Körper
schädlichen Aktionsfähigkeit heranzuwachsen. Das ist später
zu Siemens' großer Freude von der medizinischen Wissenschaft
bestätigt worden.

Beim Auslegen der Kabel wurde er dazu geführt, einen Apparat für
genaue _Messung der Meerestemperaturen_ anzugeben, der gestattet,
auf dem Schiff die Temperatur der Tiefe stets sofort abzulesen.

Im Jahre 1878 sah Siemens zum erstenmal den Vesuv, der sich
gerade damals in lebhafter Tätigkeit befand. Er beobachtete die
Erscheinungen, die sich seinem Auge darboten, so genau, als wenn
er sich in seinem Leben mit nichts anderem beschäftigt hätte
als mit dem Vulkanismus. »Der Vesuv trug,« so schrieb er in
den Monatsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften,
»während meiner Anwesenheit in Neapel im Mai d. J. (1878) eine
Dampfkrone, welche sich hin und wieder bei windstillem Wetter
etwa bis auf ein Drittel seiner Höhe über dem Meeresspiegel
erhob. Während der Nacht erschien die Dampfkrone schwach
leuchtend. Auffallend war mir hierbei, daß dieselbe, mit einem
guten Fernrohre betrachtet, aus schnell aufeinander folgenden
Dampfringen zu bestehen schien. Der Lichtschein war nicht
konstant. Seine Helligkeit war sehr veränderlich, und hin und
wieder schien er intermittierend zu sein.«

Siemens bestieg den Berg bis zum alten Kraterrand und
setzte seine Forschungen fort. »Auf der höchsten Spitze des
Aschenkegels, welcher sich in der Mitte des großen Kraters etwa
bis zur halben Höhe seines Randes erhob, sah man eine hell
glühende Öffnung, aus welcher in ziemlich regelmäßiger Folge alle
zwei bis drei Sekunden heftige Explosionen hervorbrachen. Die
Stärke dieser Explosionen ließ sich ungefähr daraus ermessen,
daß durch dieselben glühende Steine und Schlackenstücke in
Menge bis bedeutend über meinen Standpunkt auf dem Rande des
alten Kraters emporgeschleudert wurden und nach ihrem fast
senkrecht erfolgenden Niederfalle auf der Oberfläche des inneren
Aschenkegels niederrollten. Die hellglühende Öffnung des tätigen
Kraters bildete ein unregelmäßiges Viereck, dessen mittlere
Seitenlänge ich auf 5 bis 6 Meter schätzte. Jede Explosion
riß die umgebende Luft mit sich fort und bildete dadurch über
dem Berggipfel einen in sich von innen nach außen rotierenden
und sich beim Aufsteigen erweiternden Dampfring. Sie war von
einem dumpfen Knalle begleitet, welcher den ganzen Berggipfel
merklich erschütterte. Eine eigentliche Flammenerscheinung war
nicht zu beobachten. Da jedoch heller Sonnenschein herrschte, so
hatte die ausgestoßene Dampfmasse in der Nähe der Krateröffnung
die gelbliche Färbung, welche schwach leuchtende Flammen im
Sonnenschein anzunehmen pflegen.«

Diese Beobachtungen gaben ihm Anlaß, ausführliche Betrachtungen
über die _Gestaltung des Erdinnern_ und die darin tätigen Kräfte
anzustellen. Wir besitzen eine sehr ausführliche Arbeit von ihm
hierüber, in der er sich mit den damaligen widerstreitenden
geologischen Ansichten auseinandersetzt.

Diesen stets nach Aufklärung ringenden Geist hat das große
Haus, in dem er mit der gesamten Menschheit wohnte, weiter
lebhaft beschäftigt. Er hat versucht, sehr viele Phänomene,
die sich auf der Erde und in deren Luftmeer abspielen, zu
erklären. So schrieb er »_Über die Zulässigkeit der Annahme
eines elektrischen Sonnenpotentials und dessen Bedeutung zur
Erklärung terrestrischer Phänomene_«. Hierin legt er dar, daß das
elektrische Potential der Sonne auf die Erde so einwirken müsse,
daß auf der Erdoberfläche Elektrizität gebunden wird. Diese wird
bei der Rotation der Erde ständig um diese herumgeführt und
bewirkt als kreisender Strom deren Magnetisierung.

Weitere Arbeiten geologischer Natur führen die Titel: »Über
die Erhaltung der Kraft im Luftmeer der Erde«, »Zur Frage der
Ursachen atmosphärischer Ströme« und »Über das allgemeine
Windsystem der Erde«.

In einem Aufsatz »_Über das Leuchten der Flamme_« hat Siemens
Versuche beschrieben, die er in einem der großen Glasöfen seines
Bruders Friedrich in Dresden über das Leuchten gasförmiger
Körper angestellt hat. Er kommt zu dem überaus modern anmutenden
Ergebnis, daß das Flammenlicht ebenso elektrisches Licht sei wie
das der Geißlerschen Röhre.




Öffentliche Wirksamkeit


Mit der Hoffnung im Herzen, daß der Staat Friedrichs des Großen
Deutschland zur Einigkeit und Größe emporführen würde, überschritt
Werner Siemens einstens die mecklenburgisch-preußische Grenze. Um
so schwerer lastete auf ihm die Reaktionszeit, die nach der
Freiheitsbewegung von 1848 einsetzte. Länger als ein Jahrzehnt
hielt ihn seine angestrengte technisch-wissenschaftlich-industrielle
Tätigkeit von der Politik fern, zumal damals keiner zu hoffen
wagte, daß die Verhältnisse sich alsbald bessern würden.

Dann aber, als nach der Erkrankung Friedrich Wilhelms IV. Prinz
Wilhelm von Preußen die Regentschaft übernahm, begann, wie in den
Herzen so vieler, auch in Werner Siemens die Ahnung zu sprießen,
daß Preußen sich vielleicht doch noch auf die Verpflichtung
besinnen könnte, welche die Weltgeschichte ihm zweifellos für
die Herbeiführung der Einigung Deutschlands zugedacht hatte.
Am 3. September 1860 wohnte er mit seinem Bruder Wilhelm
einer großen Versammlung in Koburg bei, die zur Förderung der
Einheitsbestrebungen einberufen worden war. Beide Brüder trugen
damals das schwarz-rot-goldene Band mit deutlicher Absicht zur
Schau.

Die Hoffnungen auf eine gründliche Besserung der Zustände in
Deutschland schienen sich dann aber unter der Regentschaft und
auch in den ersten Jahren, als der neue König die Krone trug,
nicht zu erfüllen. Es kam der _Verfassungskonflikt_, in dem die
Regierung mit dem Abgeordnetenhaus so hart um die Bewilligung
der Mittel für die Heeresreorganisation kämpfte. Siemens war
schon dem Nationalverein beigetreten, der sich unter der Führung
Bennigsens gebildet hatte und auf das lebhafteste dafür eintrat,
daß Preußen die führende Rolle in Deutschland übernähme. Als
im Jahre 1862 Neuwahlen für das aufgelöste Abgeordnetenhaus
stattfanden, erkor der _Wahlkreis Lennep-Solingen_ Werner
Siemens zu seinem _Vertreter im Parlament_. Er hatte sich selbst
nicht als Kandidat gemeldet, fühlte sich aber doch nunmehr
verpflichtet, die Wahl anzunehmen. Er hat dem preußischen
Parlament in seiner geschichtlich bedeutungsvollsten Periode fünf
Jahre lang angehört. Den Konflikt, den er damals antraf, stellt
er in seinen »Lebenserinnerungen« so dar:

»Der Kern der Frage bestand in der nach dem Regierungsplane
faktisch eintretenden Verdoppelung der preußischen Armee mit
entsprechender Vergrößerung des Militärbudgets. Die Stimmung
des Landes ging dahin, daß diese Vergrößerung der Militärlast
nicht ertragen werden könnte, ohne zu gänzlicher Verarmung des
Volkes zu führen. In der Tat war der Wohlstand Preußens schon
damals hinter dem der anderen deutschen Staaten ansehnlich
zurückgeblieben, da die Last der deutschen Wehrkraft auch nach
den Befreiungskriegen hauptsächlich auf seinen Schultern geruht
hatte. Sollte diese Last im Sinne der Reorganisation noch in
so hohem Maße vergrößert werden, ohne daß eine entsprechende
Teilnahme der übrigen Staaten erzwungen wurde, so mußte das Land
in seinem Wohlstande mehr und mehr zurückgehen und hätte die Last
schließlich doch nicht mehr zu tragen vermocht.

»Man wußte zwar, daß König Wilhelm schon als Prinz von Preußen
und als Prinzregent von der Notwendigkeit überzeugt war, den
Staat Friedrichs des Großen wieder zu der seiner geschichtlichen
Stellung angemessenen Höhe an der Spitze Deutschlands zu erheben,
und man zweifelte nicht an dem Ernste der darauf gerichteten
Bestrebungen des persönlich geliebten und hochgeachteten
Monarchen, aber man zweifelte an der Durchführbarkeit seines
Planes.

»Der Glaube an den historischen Beruf des preußischen Staates zur
Vereinigung Deutschlands und an Preußens Glücksstern war zu tief
gesunken. Auch die eifrigsten Schwärmer für Deutschlands Einheit
und künftige Größe, ja selbst spezifisch preußische Patrioten
hielten es deshalb mit ihrer Pflicht nicht für vereinbar,
Preußen diese neue, fast unerschwinglich scheinende Militärlast
aufzubürden. Die Volksvertretung verwarf, zum großen Teil
allerdings mit schwerem Herzen, den Reorganisationsentwurf der
Regierung, und bei wiederholten Auflösungen bestätigte das Volk
durch die Neuwahlen dieses Votum.«

Es wurde Siemens besonders schwer, gleichfalls gegen die
Militärvorlage zu stimmen, da er sich im innersten Herzen den
alten Glauben an den Beruf des preußischen Staats bewahrt hatte.
Er hatte den Wunsch, einen Vermittlungsversuch zu machen,
und schrieb damals eine _anonyme Broschüre_ unter dem Titel
»_Zur Militärfrage_«, die im Verlag von Julius Springer-Berlin
erschien. Es wurden darin Vorschläge gemacht, eine Verdoppelung
der Armee für den Kriegsfall zu erreichen, ohne daß dem Land eine
so hohe Kostenlast aufgebürdet würde, wie die Regierung dies
wünschte.

Bismarck und Roon führten bekanntlich damals die Neuordnung des
Heers gegen den Willen des Parlaments durch. Und als der Krieg
mit Österreich im Jahre 1866 ausbrach, hatten sie die Waffen in
der Hand, mit deren Hilfe Preußen durch glorreiche Kriegstaten
sich nun endlich doch an die Spitze der deutschen Staaten zu
stellen vermochte.

Dann tat König Wilhelm in weiser Mäßigung den welthistorischen
Schritt, für die ohne gesetzliche Grundlage im Interesse der
Heeresschlagfertigkeit gemachten Ausgaben _Indemnität_ vom
Landtag zu erbitten.

Die Führer der oppositionellen Fortschrittspartei sahen
zunächst nicht deutlich genug ein, daß es nun auch an ihnen
sei, Nachgiebigkeit zu üben und die Ausgaben nachträglich zu
bewilligen. Der gediegene Charakter von Werner Siemens aber und
seine große Lebensklugheit ließen ihn deutlich erkennen, daß es
nach einem so bedeutenden Erfolg der Regierungspolitik für das
Wohl des Staats nicht zweckmäßig wäre, in unfruchtbarem Groll
zu verharren. Mit großer Lebhaftigkeit schilderte er in den
Parteiversammlungen die Gefahren, die mit einer Verweigerung der
Indemnität verknüpft wären. Auch objektive Beurteiler gestehen
zu, was er in seinen »Lebenserinnerungen« behauptet, nämlich, daß
es seiner Einwirkung zu einem großen Teil zuzuschreiben ist, wenn
wirklich der Bruch zwischen Parlament und Regierung durch Annahme
der Indemnitätserklärung abgewendet und damit der innere Friede
in Preußen wiederhergestellt, der Weg zu weiterer Größe und zur
wirklichen Einigung Deutschlands freigemacht wurde.

Als er dieses wichtige Ergebnis erreicht hatte, trat Siemens, der
seine politische Tätigkeit immer nur als vorübergehend empfunden
hatte, sogleich von der parlamentarischen Bühne ab. Er legte
sein Mandat nieder, um sich wieder ganz seiner industriellen
Beschäftigung zuzuwenden. Aber er tat es doch nicht ohne
Überwindung, denn am 6. Oktober 1866 schrieb er an seinen Bruder
Karl: »Eben ist meine Mandatsniederlegung abgegangen! Auch ein
Opfer, welches ich dem Geschäft bringe!«

Während seiner Abgeordnetenzeit hatte Siemens auch Gelegenheit,
eine wichtige Tat für die Besserung der industriellen Verhältnisse
in Deutschland zu vollbringen. Er war Spezialreferent der
Abteilung »Metalle und Metallwaren« für die Vorbereitung
des deutsch-französischen Handelsvertrags. In kluger Erkenntnis
des großen Schadens, den die deutsche Industrie durch den
mangelnden Stolz ihrer führenden Männer dauernd erlitt,
setzte er damals durch, daß in den Handelsvertrag ein Artikel
aufgenommen wurde, der verbot, deutsche Fabrikate fortab mit
Firmen- und Fabrikzeichen der Fabrikanten eines anderen Lands zu
versehen. Er war der Meinung, daß die deutsche Industrie geradezu
selbstmörderisch handle, wenn sie die gute von ihr erzeugte
Ware als fremdes Produkt und nur das Minderwertige als eigenes
Fabrikat bezeichne. Selbst in den Städten Solingen und Remscheid,
die damals schon in der Stahlfabrikation Ausgezeichnetes
leisteten, bestand in jenen Zeiten noch die verderbliche Übung,
die besten Waren, die man hervorbrachte, als englische in die
Welt hinauszusenden. Die Industriellen glaubten auch, darauf
keinesfalls verzichten zu können, und sie sandten eine Deputation
an Siemens, die ihn dringend bat, die Einführung eines Verbots
fremder Fabrikzeichen nicht weiter zu betreiben. Er lehnte
jedoch ab, obgleich man ihm deutlich machte, daß man ihn dann
kaum wiederwählen würde. Daran lag ihm aber weniger, als an der
Förderung von Deutschlands Industrie. Und wirklich haben seit
jener Zeit unsere Fabriken ihren wertvollen Erzeugnissen den Ruf
auf dem Weltmarkt verschaffen können, auf den sie längst schon
Anspruch hatten und heute gewiß erst recht haben.

Es wäre jedoch nicht gelungen, dies zu erreichen, wenn von Werner
Siemens nicht die Anregung zu einer weiteren gesetzgeberischen
Tat auf industriellem Gebiet ausgegangen wäre. Die Schaffung des
deutschen _Patentgesetzes_, das auf ihn als seinen gedanklichen
Urheber zurückgeht, kann man wohl als Siemens größte Tat im
Rahmen seiner öffentlichen Wirksamkeit bezeichnen.

Im Jahre 1863 war man auf dem Weg, die ganze Patentgesetzgebung
in Preußen aufzuheben, da sie sich in der damals bestehenden
Form als ein schweres Hindernis für die Industrie erwiesen
hatte. Das Patent bedeutete in jener Zeit nicht einen Schutz
des Erfinders gegen Nachahmung, sondern es war ein Privilegium,
das ihm in Anerkennung seines Verdienstes verliehen wurde.
Die Erfindung wurde streng geheim gehalten und nur ihre
Benennung veröffentlicht, damit ein jeder sich hüten sollte,
etwas Ähnliches zu schaffen. Da man nun nie genau wußte,
worum es sich in einem Patent handelte, so war eine Fülle
verdrießlicher Konflikte die Folge, und die Allgemeinheit
hatte gar keinen Nutzen von den Patenten. Die kurze Dauer von
fünf Jahren gestattete auch nicht eine genügende Ausnutzung, da
die Entwicklung technischer Dinge größtenteils einen längeren
Zeitraum beansprucht.

Der preußische Handelsminister fragte in dem genannten Jahr bei
sämtlichen Handelskammern an, ob es nicht an der Zeit wäre, das
Patentwesen zu beseitigen. Auch an das Ältestenkollegium der
Berliner Kaufmannschaft kam eine solche Anfrage, und das Mitglied
des Kollegiums Werner Siemens erstattete den Bericht. Er trat
dem Standpunkt des Handelsministers durchaus entgegen, indem er
zeigte, daß ein Patentgesetz von größtem Nutzen für die Industrie
sein könne, wenn es nur die richtigen Bestimmungen enthielte.

Siemens ging davon aus, daß man dem Erfinder unbedingt ein
Vorrecht auf sein Geisteserzeugnis einräumen müsse. Nur dann sei
zu erwarten, daß er seine Erfindung gründlich ausbaue und so
im Lauf der Jahre der Allgemeinheit etwas besonders Wertvolles
überliefere. Nur wenn dem Erfinder ein Besitztitel auf seine
Erfindung zustehe, könne er Kapitalisten gewinnen, die ihm die
Ausführung der nötigen Versuche ermöglichen, denn der Geldgeber
könne ja einen gesicherten Anteil am künftigen Gewinn erhoffen.
Siemens wies darauf hin, daß es James Watt nur infolge seines
durch vierzehn Jahre laufenden Patents gelungen sei, den reichen
Bolton als Teilnehmer zu gewinnen und so die Dampfmaschine zu
entwickeln.

Wenn aber der Staat dem Erfinder das nützliche Geschenk des Schutzes
für lange Zeit mache, so müsse dieser zur Entgeltung verpflichtet
sein, den Inhalt der Erfindung öffentlich darzulegen. »Das Patent
ist,« so hieß es in dem Bericht für das Ältestenkollegium,
»nach dieser Anschauungsweise ein wirklicher Kontrakt zwischen
Staat und Erfinder: jener, als Vertreter der Interessen
der Gesamtheit, gewährt diesem auf eine Zahl von Jahren,
welche nur so groß zu bemessen ist, als es die Erreichung
des Zweckes erfordert, das alleinige Dispositionsrecht über
dessen Erfindung; dieser übernimmt dagegen die Verpflichtung,
die in ihr liegenden neuen Gedanken sofort und vollständig
durch Veröffentlichung zum Gemeingut zu machen. Es ist Sache
der Gesetzgebung, dafür zu sorgen, daß die Gesamtheit aus
diesem Kontrakt den möglichst großen Nutzen zieht.«

Dieser Bericht von Werner Siemens wurde einstimmig als
Gutachten des Ältestenkollegiums angenommen, und viele andere
Handelskammern in Preußen schlossen sich seiner Meinung an. Von
einer Abschaffung der Patente wurde infolgedessen abgesehen.

Aber damit war nur etwas Negatives verhindert, Positives jedoch
nicht erreicht. Die damalige Form des Patentwesens war praktisch
einer gänzlichen Schutzlosigkeit der Erfindungen gleich und
hatte nach Siemens' Meinung sogar eine Unsolidität der deutschen
Industrie zur Folge, die deren Ansehen im Ausland beeinträchtigen
mußte. »Es hat sich,« so schrieb Siemens in einer späteren
Denkschrift, »bei uns in technischen Dingen nach und nach eine
von der anderer Länder ganz verschiedene Rechtsanschauung,
eine andere Moral herausgebildet. Während es in England und
Frankreich, selbst in Amerika, für unehrenhaft, mindestens
für unschicklich gilt, fremde Erfindungen ohne Zustimmung des
Erfinders zu benutzen, selbst wenn sein Rechtsschutz zweifelhaft
oder ein solcher nicht vorhanden ist, gilt dies in Deutschland
nicht nur für anständig, sondern in vielen Fällen sogar für
verdienstlich.

»Als charakteristische Beispiele dieser Richtung brauche ich
nur anzuführen, daß in Preußen selbst technische Staatsbehörden
keinen Anstand nehmen, neue Betriebsapparate oder Einrichtungen,
die von Gewerbetreibenden auf deren Veranlassung mit Mühe und
Kosten ausgearbeitet sind, anderen Gewerbetreibenden als Modelle
zur Nachahmung zu übergeben oder sie zur Submission zu bringen
und die Ausführung dem Mindestfordernden zu überweisen. Sie sind
dazu sogar oft durch ihre Instruktion verpflichtet.

»In gleicher Richtung empfehlen Gewerbetreibende bei uns häufig
offen ihre Fabrikate damit, daß sie grundsätzlich nur die
bewährtesten und neuesten Konstruktionen bekannter angesehener
Firmen nachahmen und daher billiger liefern könnten wie diese,
da sie keine Erfindungs- und Versuchskosten zu tragen hätten!
In anderen Ländern würde dies für ehrenwidrig gehalten werden;
hier nehmen selbst Staatsbehörden keinen Anstand, von solchen
vorteilhaft scheinenden Anerbietungen bestens Gebrauch zu machen!«

Um in diesen Zuständen, die uns heute ganz mittelalterlich
erscheinen, grundlegende Besserung zu schaffen, forderte Siemens
zur Bildung eines _Patentschutz-Vereins_ auf, der dann auch
unter seinem Vorsitz ins Leben trat. Seine Tätigkeit erwirkte
im Jahre 1877 endlich den Erlaß eines Patentgesetzes für das
Deutsche Reich, dessen Grundgedanken sich vollständig auf die
Siemensschen Ausführungen von 1863 stützten. Danach werden
Patente auf die Dauer von fünfzehn Jahren mit jährlich steigenden
Abgaben erteilt. Es finden eine Voruntersuchung über die Neuheit
der Erfindung und die öffentliche Auslegung der Beschreibung
statt, um Gelegenheit zum Einspruch gegen die Patentierung zu
geben. Eine vollständige Publikation des erteilten Patents
hat stattzufinden, auf gerichtlichem Weg kann jederzeit die
Nichtigkeitserklärung eines erteilten Patents erfochten werden.

[Illustration: Der erste Scheinwerfer, der Strom von einer
Dynamomaschine erhielt]

[Illustration: Moderner Riesenscheinwerfer der Siemens-Schuckert-Werke
mit Fernsteuerung]

In Deutschland ist im Jahre 1891 ein neues abgeändertes
Patentgesetz erlassen worden, aber auch hierin finden wir Werner
Siemens' Ideen vollkommen enthalten. Sie haben also seit fast
vier Jahrzehnten die deutsche Industrie bei ihrem außerordentlichen
Aufschwung begleitet, und es ist kein Zweifel, daß sie hierbei
zugleich Stütze und Förderungsmittel in hohem Maß gewesen
sind. Die Mängel auch der heutigen Patentgesetzgebung sind
gewiß nicht zu verkennen. Aber die Vorzüge ihrer Grundgedanken
gegenüber dem, was vorher bestand, sind so bedeutend, daß die
deutsche Industrie Werner Siemens auch für deren Aufstellung
zu besonderer Dankbarkeit verpflichtet ist.

Der lebhafte und uneigennützige Wunsch, die Stellung der
Industrie seines Vaterlands auf dem Weltmarkt zu stärken, ihr
Ansehen zu heben, führte Werner Siemens zu einer weiteren
bedeutsamen Tat. »Die naturwissenschaftliche Forschung,« so
sagte er, »bildet immer den sicheren Boden des technischen
Fortschritts, und die Industrie eines Landes wird niemals
eine internationale, leitende Stellung erwerben und sich
erhalten können, wenn dasselbe nicht gleichzeitig an der Spitze
des naturwissenschaftlichen Fortschritts steht.« In diesem
Zusammenhang vermißte er in Deutschland die Existenz von
Instituten, die ausschließlich der physikalischen Forschung
gewidmet seien.

»Der Staat hat,« so führte er weiter aus, »seine ganze Kraft mit
unzweifelhaftem Erfolge der Förderung des wissenschaftlichen
Unterrichts zugewandt. Seine Unterrichtsanstalten erzeugen eine
große Zahl hochgebildeter Naturforscher, deren Lebensberuf
fast immer wieder der Unterricht ist. Die wissenschaftliche
Forschung selbst ist nirgends Lebensberuf in der staatlichen
Organisation, sie ist nur eine geduldete Privattätigkeit der
Gelehrten neben ihrem Berufe, der Lehrtätigkeit. Einzelne
Versuchsstationen, die durch spezielle dringende Bedürfnisse
hervorgerufen sind, und auch die Akademien, die zwar der
wissenschaftlichen Forschung gewidmet, aber nur nebenamtlich
besetzt und nicht mit den erforderlichen Einrichtungen zur
Ausführung von Experimentaluntersuchungen versehen sind, ändern
hierin nichts Wesentliches. Die Berufsgelehrten der Akademien
sind fast durchgängig neben dem ihnen obliegenden Unterricht noch
mit gelehrten Geschäften derartig überbürdet, daß sie -- nach dem
Ausspruch eines unserer ersten Naturforscher -- aufhören müssen,
Gelehrte zu sein!«

Der Mangel an Gelegenheit zu ruhiger wissenschaftlicher Arbeit
müsse dazu führen, die deutsche Technik in die zweite Linie
zu drängen. Als ein recht schlagendes Beispiel für diese
Rückständigkeit in Deutschland führte Siemens die Tatsache an,
daß die elektrischen Maßeinheiten in England hätten festgestellt
werden müssen, obgleich sie von dem deutschen Gelehrten Wilhelm
Weber theoretisch begründet worden waren. Privatlaboratorien
reicher Engländer hätten die Arbeit geleistet, bei uns sei eine
solche Gelegenheit nicht vorhanden.

Und auch hier wieder läßt er es als Mann der Tat nicht bei dem
Bedauern bewenden, sondern er handelt in großzügigster Weise,
als es sich zeigt, daß die Instanzen des Reichs nicht so leicht
dazu zu bewegen sein würden, ein ausschließlich der Forschung
gewidmetes Institut zu schaffen. Er bietet dem Reich eine _halbe
Million in Grundwert oder Kapital_ an mit der Bedingung, daß der
Reichsfiskus die Kosten der auf dem Grundstück zu errichtenden
Bauten trage und ihre Erhaltung übernehme. Regierung und
Reichstag nahmen das hochherzige Geschenk an, und so entstand
die _Physikalisch-Technische Reichsanstalt_ auf dem damals still
und erschütterungsfrei daliegenden Gelände an der Marchstraße
in Charlottenburg. Sie ist ein stolzes Denkmal der Siemensschen
Zuneigung für die Wissenschaft geworden, die seine »erste Liebe«
war und seine letzte geblieben ist.

Der erste Präsident der neugeschaffenen Reichsanstalt wurde
der größte Physiker der damaligen Zeit, einer der allergrößten
überhaupt, die je gelebt haben, _Hermann von Helmholtz_. Die
Geschichte des fördernden Einflusses, den die Reichsanstalt
unter Helmholtz und den nachfolgenden Präsidenten Kohlrausch
und Warburg auf die deutsche Industrie geübt hat, muß noch
geschrieben werden. Sie ist die kräftigste wissenschaftliche
Tragsäule für den stolzen Bau der deutschen Technik geworden.

Durch die Anregung des Staatssekretärs im Reichspostamt *Dr.* von
Stephan und Werner Siemens' bildete sich der _Elektrotechnische
Verein_, in dessen Namen, wie wir bereits gehört haben, das
Wort Elektrotechnik zum erstenmal auftrat. Eine der wichtigsten
Anregungen, die von dem Verein ausgegangen sind, war das Ersuchen
an die deutschen Regierungen, an den Technischen Hochschulen
_eigene Professuren der Elektrotechnik_ zu errichten. Erst
als diesem Wunsch Folge geleistet worden war, begann die
Elektrotechnik als Spezialfach zu bestehen. Die Resolution, durch
welche diese Angelegenheit in Fluß gebracht wurde, war von Werner
Siemens im Verein eingebracht worden.




Siemens & Halske


Es bleibt uns noch übrig, in großen Zügen die Entwicklung
der industriellen Firma zu verfolgen, die von Werner Siemens
begründet worden ist. Die Schaffung dieses Hauses ist ein sehr
beträchtlicher Teil seines Lebenswerks. Das ungewöhnliche
Wachstum der Firma, ihre Ausdehnung zu einem Weltgeschäft und
die Tatsache, daß sie schon zu Lebzeiten des Gründers zu den
angesehensten industriellen Häusern der Erde zählte, sprechen
dafür, daß Werner Siemens auch in seiner dritten Eigenschaft,
nämlich als Kaufmann, genial begabt war. Er verstand es mit
großer Klugheit, seine wissenschaftlichen und technischen
Schöpfungen in dem Geschäftshaus zu verankern, und er hat der
Firma dadurch die Möglichkeit zu so kraftvoller Entwicklung
gegeben, daß sie sehr viel dazu beizutragen vermochte, den Namen
des industriellen Deutschland auf der ganzen Erde zu hohem
Ansehen zu bringen.

Wir wissen bereits aus früheren Abschnitten, daß Werner Siemens
in seinem dreißigsten Lebensjahr, als bei ihm der Entschluß
feststand, sich ganz der Entwicklung des Telegraphenwesens zu
widmen, in Berlin eine Werkstatt begründete. Überhaupt wird im
folgenden manches schon früher Gesagte wiederholt werden müssen,
da bei dem innigen Zusammenhang von Schöpfer und Schöpfung sonst
eine fortlaufende Darstellung in diesem Abschnitt nicht zu
erzielen wäre.

Siemens war damals noch Artillerieoffizier. Der Vetter Georg
Siemens lieh ihm die zur Einrichtung der Werkstatt erforderlichen
6000 Taler; sie sind die einzige Summe geblieben, welche die
Firma jemals von Außenstehenden nötig hatte. Der Gedanke, der
zur Schaffung einer eigenen kleinen Fabrik trieb, war der Wille
Werner Siemens', seine Erfindungen mechanisch in vollkommenster
Weise und mit der größten Genauigkeit bauen zu lassen. Darum
verbündete er sich mit dem Mechaniker _Johann Georg Halske_, der,
wie er wußte, besonders vorzügliche Präzisionsarbeit zu leisten
vermochte.

Man kann sagen, daß dieser Grundsatz, stets beste und saubere
Arbeit zu leisten, während all der Jahrzehnte, die bis zum
heutigen Tag vergangen sind, bei der Firma Siemens & Halske auf
das sorgsamste innegehalten worden ist. Das Haus war dadurch
lange in den Stand gesetzt, ohne Konkurrenz in der Elektrotechnik
zu arbeiten, und niemand kann verkennen, daß alle Firmen,
die sich später in Deutschland auf elektrotechnischem Gebiet
zu bedeutender Größe entwickelt haben, in dieser Beziehung
bei Siemens & Halske in die Schule gegangen sind. Deutsche
elektrische Maschinen kennt man auf der ganzen Welt als im
höchsten Grad zuverlässige Apparate, und diese Fabrikationsweise
hat sich aus dem Vorbild heraus entwickelt, das von Werner
Siemens seinem industriellen Schaffen zugrunde gelegt wurde.

Siemens schreibt im Sommer 1847 an seinen Bruder Wilhelm in
London: »Ich habe mit dem Mechaniker Halske, der sich schon von
seinem Kompagnon (Böttcher) getrennt hat, definitiv die Anlage
einer Fabrik beschlossen, und hoffentlich wird sie in sechs
Wochen schon in vollem Gange sein ... Halske, den ich völlig
gleich mit mir gestellt habe in der Fabrik, bekommt die Leitung
in der Fabrik, ich die Anlagen der Fabrik, Kontraktabschlüsse
usw. Wir wollen vorläufig nur Telegraphen, Läutewerke für
Eisenbahnen und Drahtisolierungen mittels Guttapercha machen
... Nach langem Suchen ist endlich ein passendes Quartier für
unsere Werkstatt gefunden und gemietet, mit den Fenstern nach dem
Anhaltischen Bahnhof hinaus. (Es war ein Haus in der Schöneberger
Straße, in der die Firma bis zum heutigen Tag eine Niederlassung
unterhält) ... Ich wohne parterre, die Werkstatt eine Treppe,
Halske zwei Treppen hoch, in Summa für 300 Taler. Bald nach dem
1. Oktober wird die Arbeit beginnen.«

Am 12. Oktober 1847 war die Werkstatt in der Tat eingerichtet.
Dieses Datum ist als Geburtstag der heutigen Weltfirma Siemens &
Halske anzusehen.

Die Arbeit wurde mit drei Drehbänken begonnen. Am 20.
Dezember war die Werkstatt mit zehn Arbeitern »ganz besetzt«.
Kaum hatte man jedoch eine intensivere Tätigkeit begonnen,
insbesondere um die Apparate für den damals von der preußischen
Telegraphenverwaltung veranstalteten Wettbewerb herzustellen, da
kamen die Revolution und der Krieg mit Dänemark, der, wie wir
wissen, Werner Siemens lange von Berlin fernhielt. Er hatte es
der Sorgsamkeit seines Geschäftsgenossen zu verdanken, daß die
Firma durch jene ungünstige Zeit hindurchkam. Dann aber wurde
die unterirdische Telegraphenlinie nach Frankfurt gebaut, und im
Anschluß daran gab es weitere Aufträge.

Im Sommer 1849 nahm Werner Siemens seinen Abschied vom Militär.
Damals, als gerade die ersten russischen Aufträge eingelaufen
waren, hatte sich die Zahl der Arbeiter in der Fabrik bereits auf
32 gehoben.

Das Geschäft entwickelte sich weiter ganz gut, da die Aufträge
infolge der Verbesserungen, die Werner Siemens fortwährend an
den Apparaten anbrachte, sich mehrten: Schon gegen Ende des
Jahres 1851 mußte ein neues Gelände erworben werden, auf dem
eine erweiterte Fabrik errichtet werden sollte. Es wurde das
Grundstück _Markgrafenstraße 94_ angekauft, von dem aus das Haus
sich später über viele Teile von Groß-Berlin verbreitet hat.

Aber gerade jetzt, als Werner Siemens so gut im Fahrwasser
zu sein glaubte, daß er die lange geliebte Braut heimführte,
kam für das Geschäft eine schwere Krisis. Siemens hatte jene
Broschüre geschrieben, welche die grobe Nachlässigkeit der
preußischen Telegraphenverwaltung bei der Auslegung der ersten
unterirdischen Telegraphenleitungen klarlegte, und die Folge war,
daß der Hauptkunde dem Geschäft die Bestellungen entzog. Während
im Jahre 1852 Werner Siemens in Petersburg durch die Masern ans
Krankenbett gefesselt war, sah es in Berlin recht böse aus.
Friedrich Siemens schrieb damals an Karl: »Halske ist durch den
Hausankauf in große Geldnot geraten und scheint überhaupt ganz
ratlos zu sein, seit Werner fort ist.«

Es wurden lebhafteste Anstrengungen gemacht, um mit dem Ausland,
namentlich mit Frankreich, ins Geschäft zu kommen. Aber Karl, der
sich in Paris lebhaft bemühte, hatte wenig Erfolg, und die Lage
wurde immer schlimmer. Drahtexporte, auf die sich die Firma auf
Anraten Wilhelms eingelassen hatte, brachten sie in gefährliche
finanzielle Situationen. Am 12. Mai 1853 schrieb Werner an
Wilhelm: »Geld! Geld! Am 21., spätestens 22. müssen wir notwendig
1500 Pfund Sterling haben, damit unser Kredit nicht wacklig wird.
Die mußt Du verschaffen und rechtzeitig schicken.« Wilhelm gelang
es wirklich, das Geld zu besorgen, und damit war die Lage im
Augenblick gerettet.

Man befand sich damals in solcher Bedrängnis, daß die Firma
Siemens & Halske, die doch als Telegraphenbauanstalt gegründet
war, während dieser Zeit eifrig danach strebte, einen Auftrag auf
die Herstellung ganz gewöhnlicher Ausrüstungsteile (Fittings) für
die gerade im Bau befindlichen Berliner Wasserwerke zu erhalten.

Werner war gegenüber seinem eigentlichen Fabrikationsgegenstand
so verzagt, daß er sich äußerte: »Bekommen wir die Fittingsarbeit,
so werden wir den Telegraphen wohl nach und nach adieu sagen.
Die Sache ist zu anlockender Natur ...«

Sie bekamen die Aufträge auf die Fittings nicht, aber nun
setzte bald das große Geschäft mit Rußland ein. Der gesamte
Geschäftsgewinn der beiden Jahre 1851 und 1852 hatte, nach
Ehrenberg, nicht mehr als 8678 Taler betragen. Das Ergebnis war
hinter dem von 1850 weit zurückgeblieben.

Es hieße die erfinderische Tätigkeit von Werner Siemens noch
einmal erzählen, wenn wir hier jede Entwicklungsphase der Firma
verfolgen wollten. Langsam schwanden die Schwierigkeiten, und das
Haus wurde zu einer hochangesehenen Telegraphenbauanstalt, die
aus allen Teilen Europas Aufträge erhielt und am Ende stark genug
war, das große Unternehmen der indo-europäischen Telegraphenlinie
in die Hand zu nehmen.

Im Jahre 1858 war ein _Londoner Zweiggeschäft_ unter der
Leitung von Wilhelm Siemens begründet worden, das 1862 bereits
80 Arbeiter beschäftigte. Im folgenden Jahr wurde dann die
_Kabelfabrik in Charlton_ bei Woolwich begründet, deren erstes
Erzeugnis jenes unglückselige Cartagena-Oran-Kabel gewesen
ist. Halske erschrak damals über die Gefährlichkeit des
Seekabelgeschäfts so sehr, daß er die Abtrennung der Londoner
Firma vom Berliner Geschäft verlangte. Sie ging darauf in den
Privatbesitz der drei Brüder Werner, Wilhelm und Karl über, von
denen Wilhelm die Leitung übertragen wurde. Fortab firmierte das
englische Geschäft _Siemens Brothers_. Auch die _Petersburger
Firma_ wurde damals unter der Leitung von Karl selbständig
gemacht, so daß fortab drei getrennte Siemenshäuser bestanden.

[Illustration: Die Fabriken in Siemensstadt
(Nach einem Gemälde von Obronski)]

Der umfangreiche Bau der indo-europäischen Linie veranlaßte
eine weitere Vergrößerung der Firma, die auch die Kriegsjahre
1870/71 gut überstanden hatte. Die Zahl der Arbeiter in der
Berliner Fabrik, die, nach Howe, im Jahre 1867 erst 177 betrug,
wuchs 1869 auf 250 und 1871 auf 412 an. Mehr und mehr mußte
Werner Siemens sich durch das Heranziehen tüchtiger Mitarbeiter
entlasten, um Zeit genug für die Oberleitung der gesamten
Geschäfte zu gewinnen. Sein Jugendfreund _William Meyer_, der ihm
als leitender Ingenieur vortreffliche Dienste geleistet hatte,
starb im Jahre 1866. An seine Stelle wurde _Karl Frischen_
berufen, und auch _Friedrich von Hefner-Alteneck_ trat damals
in die Firma ein. Dieser hat sich, wie uns bekannt ist, um die
Durchbildung der Dynamomaschine und der Bogenlampe die größten
Verdienste erworben; Frischen wurde der Vater der ausgezeichneten
Eisenbahnsicherungsanlagen, die heute als Blocksystem von Siemens
& Halske über die ganze Erde verbreitet sind.

Zwei Jahre später faßte _Halske_ den Entschluß, _aus der Firma
auszutreten_. Die schweren Zeiten, die das Haus durchzumachen
hatte, ließen ihn treu ausharren. Aber seltsamerweise machte
ihm das Geschäft keine Freude mehr, als es sich immer weiter
ausdehnte. »Die Erklärung liegt,« wie Werner Siemens schreibt,
»in der eigenartig angelegten Natur Halskes. Er hatte Freude an
den tadellosen Gestaltungen seiner geschickten Hand sowie an
allem, was er ganz übersah und beherrschte. Unsere gemeinsame
Tätigkeit war für beide Teile durchaus befriedigend. Halske
adoptierte stets freudig meine konstruktiven Pläne und Entwürfe,
die er mit merkwürdigem mechanischem Taktgefühl sofort in
überraschender Klarheit erfaßte und denen er durch sein
Gestaltungstalent oft erst den rechten Wert verlieh. Dabei war
Halske ein klardenkender, vorsichtiger Geschäftsmann, und ihm
allein habe ich die guten geschäftlichen Resultate der ersten
Jahre zu danken.

»Das wurde aber anders, als das Geschäft sich vergrößerte und
nicht mehr von uns beiden allein geleitet werden konnte. Halske
betrachtete es als eine Entweihung des geliebten Geschäftes, daß
Fremde in ihm anordnen und schalten sollten. Schon die Anstellung
eines Buchhalters machte ihm Schmerz. Er konnte es niemals
verwinden, daß das wohlorganisierte Geschäft auch ohne ihn lebte
und arbeitete. Als schließlich die Anlagen und Unternehmungen
der Firma so groß wurden, daß er sie nicht mehr übersehen
konnte, fühlte er sich nicht mehr befriedigt und entschloß sich,
auszuscheiden und seine ganze Tätigkeit der Verwaltung der Stadt
Berlin zu widmen, die ihm persönliche Befriedigung gewährte.«

Da war der Kompagnon Siemens ein ganz anderer Kerl. In einem
Brief an seinen Bruder Karl, in dem er diesem von dem Ausscheiden
Halskes Mitteilung machte, schrieb er: »Ich will und kann noch
nicht zur Ruhe gehen. Ich hasse das faule Rentierleben, will
schaffen und suchen, solange ich kann, sehne mich nicht nach
persönlichen Annehmlichkeiten und Genüssen des Reichtums. Ich
würde körperlich und geistig zugrunde gehen, wenn ich keine
nützliche Tätigkeit, an der ich Anregung und dadurch Beruhigung
finde, mehr entfalten könnte.«

Halske, der 1890 gestorben ist, hat Werner Siemens bis zu seinem
Lebensende als Freund nahegestanden. Sein einziger Sohn trat als
Prokurist bei der Firma ein.

Bei ihrem fünfundzwanzigjährigen Geschäftsjubiläum am 12. Oktober
1872 waren in der Fabrik bereits 543 Arbeiter und 43 Beamte
tätig. Damals nahm Werner Siemens Gelegenheit, seine warmherzigen
sozialen Empfindungen, die ihn sein ganzes Leben hindurch beseelt
haben, auch im eigenen Haus praktisch zu betätigen. Er schuf eine
Einrichtung, die alle Angestellten der Firma nach Maßgabe ihrer
Leistungen am Gewinn beteiligte. Es wurde bestimmt, daß fortab
stets ein ansehnlicher Teil des Jahresgewinns zu _Tantiemen für
Beamte und Prämien für Arbeiter_ (später in Gratifikationen
umgewandelt) sowie zu _Unterstützungen für Arbeiter_ in Notlagen
aus dem Geschäftsgewinn zurückgestellt würden. Ferner wurde
ein Kapital von 60000 Talern zur Begründung einer _Alters- und
Invalidenkasse_ abgezweigt und zugleich die Verpflichtung des
Geschäfts festgelegt, der von den Beteiligten direkt gewählten
Kassenverwaltung jährlich fünf Taler für jeden Arbeiter und zehn
Taler für jeden Beamten zu zahlen, sobald diese ein Jahr lang
ohne Unterbrechung im Geschäft gearbeitet hatten.

Man muß bedenken, daß diese Schöpfungen zu einer Zeit geschahen,
als man sich selbst in Deutschland, dem Ursprungsland der
Arbeiterversicherungen, noch sehr wenig mit dem Schicksal des
kranken und invaliden Arbeiters beschäftigte. Auch auf diesem
Gebiet also ist Werner Siemens als ein Bahnbrecher zu betrachten,
und es spricht nichts so sehr für die Seelengröße dieses Manns
wie die Tatsache, daß gerade er, dem es gelungen war, aus dem
Nichts sich so hoch emporzuarbeiten, warmherzig derer gedachte,
die vom Schicksal nicht so glücklich begabt waren.

Das Haus Siemens Brothers in London hatte seit dem Jahre
1874, das die Auslegung des ersten direkten transatlantischen
Kabels brachte, sehr große Aufträge auf Seekabel zu erledigen.
Bald darauf lenkte die Erfindung des _Telephons_ die Aufmerksamkeit
auf sich, und das Berliner Haus nahm sich ihrer fördernd und
ausgestaltend an. Eine unabsehbare Reihe von Konstruktionen auf dem
Gebiet der Telephonsprechapparate und Fernsprechvermittlungsämter
ist aus der Fabrik hervorgegangen.

Mit der Erfindung der Dynamomaschine setzt alsbald der Ausbau
der _Starkstromtechnik_ ein. Die Firma hat auch hierin auf allen
Gebieten Grundlegendes geleistet. Es gibt keine Anwendungsform
des Starkstroms, für welche die Apparate nicht bei ihr frühzeitig
durchgebildet worden wären. Im Jahre 1883 wurde am Salzufer in
Charlottenburg eine neue Fabrik für größere Maschinen eröffnet.
Aus kleinen Anfängen heraus hat sie sich allmählich zu dem großen
_Charlottenburger Werk_ entwickelt.

Werner Siemens sah seine Schöpfung prächtig gediehen, als er
im Jahre 1889 die Leitung niederlegte und nur noch als stiller
Kommanditist beteiligt blieb. Drei Jahre später ist er in seinem
Charlottenburger Heim einer Lungenentzündung erlegen.

Als er sich von dem Geschäft zurückzog, übergab er die Leitung
des großen Unternehmens seinem Bruder Karl und seinen beiden
ältesten Söhnen _Arnold_ und _Wilhelm_. Karl Siemens starb im
Jahre 1906. Heute stehen die beiden genannten Söhne von Werner
Siemens an der Spitze der Firma, und ein dritter, bedeutend
jüngerer Sohn aus der _zweiten Ehe_, die Werner Siemens im Jahre
1869 mit einer Verwandten, _Antonie Siemens_, geschlossen hatte,
_Karl Friedrich von Siemens_, gehört ebenfalls dem Vorstand an.
Den drei Söhnen gesellten sich drei Töchter, Anna, Käthe und
Hertha, zu.

Im Jahre 1897 wurde die Firma Siemens & Halske mit einem Kapital
von 35 Millionen Mark in eine _Aktiengesellschaft_ umgewandelt.
1903 gliederte man die Nürnberger Fabrik Schuckert & Co. an,
und es wurden auf diese Weise die _Siemens-Schuckert-Werke_ als
Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit einem Kapital von 90
Millionen Mark begründet. Sie haben insbesondere die Aufgabe
übernommen, die Fabrikation und den Vertrieb auf dem Gebiet der
Starkstromtechnik auszuführen, während die Firma Siemens & Halske
sich mehr der Entwicklung des Schwachstroms zugewendet hat.

Mit welchem Gelingen die Nachkommen das hinterlassene Werk ihres
großen Vaters zu fördern und weiterzubilden gewußt haben, geht
aus den Zahlen hervor, die das letzte Geschäftsjahr vor dem
Ausbruch des Weltkriegs charakterisieren. Der gesamte Konzern
beschäftigte damals _82500 Arbeiter und Angestellte_. Das
_gesamte Aktienkapital_ betrug im gleichen Jahr _153 Millionen
Mark_. Die Siemens-&-Halske-Aktiengesellschaft erzielte einen
Geschäftsgewinn von 17-1/2 Millionen, die Siemens-Schuckert-Werke
einen solchen von rund 28 Millionen Mark.

Der älteste Sohn des Meisters, _Arnold von Siemens_, ist jetzt
der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Firma Siemens & Halske.
Er wurde als Vertreter der Familie ins Herrenhaus berufen
und ist mit einer Tochter des großen Hermann von Helmholtz
verheiratet. Der zweite Sohn, Geheimer Regierungsrat Dr.-Ing.
*h. c.* _Wilhelm von Siemens_, Vorsitzender des Aufsichtsrats
der Siemens-Schuckert-Werke, läßt insbesondere die Führung der
Geschäfte im Rahmen der großen Siemensschen Tradition seine
Aufgabe sein. Ihm persönlich ist vielfach der Anstoß zu weiteren
großen Leistungen zu verdanken, die das Haus nach des Meisters
Tod vollbracht hat.

So ist der Siemenssche Schnelltelegraph, der geschwindeste
Fernbote, den wir in der Praxis besitzen, als seine Schöpfung
anzusehen. Die Ausgestaltung der Metallfadenglühlampe wurde durch
seine Anregung von der Firma in besonderer Weise gefördert.

Nachdem in Budapest von der Firma Siemens & Halske die erste
Untergrundbahn auf dem europäischen Festland gebaut worden
war, hat Wilhelm von Siemens mit größter Energie und Ausdauer
die Idee des Baus von _Hoch- und Untergrundbahnen in Berlin_
betrieben. Im Jahre 1896 wurde denn auch die Werner Siemenssche
Idee der Schaffung von elektrischen Schnellbahnen für Berlin
wieder aufgenommen, und der erste Spatenstich für die Hoch- und
Untergrundbahnlinien getan. Das Schnellbahnnetz von Berlin,
das sich bis jetzt im Betrieb befindet -- 1902 wurde die erste
Linie eröffnet -- ist eine hervorragende Schöpfung der Firma
Siemens & Halske, die besonders auf dem Gebiet des Tunnelbaus mit
Grundwasserabsenkung Bahnbrechendes geleistet hat.

Seit einigen Jahren sind die Hauptfabriken des Konzerns zu
einem imponierenden Ganzen in einem Berliner Außenbezirk
zusammengeschlossen. Er trägt den Namen _Siemensstadt_ und ist
eine Industriestätte von hervorragender Bedeutung. Es befinden
sich dort das gewaltige Wernerwerk, in dem alle erdenklichen
Schwachstromapparate in höchster Vollendung erzeugt werden, das
Blockwerk, das der Herstellung der Eisenbahnsicherungsanlagen
dient, das Dynamowerk, Elektromotorenwerk, Autowerk und das
Kleinbauwerk, das die zierlichen Zubehörteile elektrischer
Anlagen sowie Handapparate in ungeheurer Zahl fertigstellt. In
geringer Entfernung von Siemensstadt, in Gartenfelde, ist das
Kabelwerk angesiedelt. In Berlin-Lichtenberg befindet sich die
Fabrik für Bogenlampenkohlen, welche die Firma Gebrüder Siemens &
Co. führt. Hier wird auch noch der von Werner Siemens erfundene
Alkoholmeßapparat hergestellt. In der Franklinstraße produziert
das Charlottenburger Werk weitere Schaltanlagen und eine große
Anzahl von Starkstrom-Apparatteilen. Dicht daneben liegt das
Glühlampenwerk. Große Fabriken unterhält die Firma ferner in
_Nürnberg_ und _Wien_.




Lebenserinnerungen. Weltruhm


Dreiundsiebzig Jahre war Werner Siemens alt, als er die Zügel der
Regierung in dem von ihm selbst geschaffenen großen industriellen
Reich aus der Hand legte. Aber er tat es auch dann noch nicht, um
fortab der Ruhe zu pflegen, sondern dieser nimmermüde Geist hatte
sich noch ein neues bedeutendes Ziel gesteckt.

Das _Werk_, das er vollbracht, stand deutlich erkennbar vor aller
Augen. Nun wollte er auch das _Leben_ darstellen, aus dem dieses
Werk hervorsprießen konnte, emporwachsen mußte. Er ging an die
Niederschrift seiner »Lebenserinnerungen«, die er bis kurze Zeit
vor seinem Tod fortsetzte. Mit diesem Buch hat Werner Siemens
sich und der deutschen Technik ein bleibendes Denkmal errichtet.
Während wir sonst die einzelnen Teile seines wissenschaftlichen
und technischen Schaffens nur nebeneinander aufgestellt, wie in
einem Lager nach bloß praktischen Gesichtspunkten aufgereiht
sehen würden, erblicken wir sie nun in künstlerischer Anordnung
zu einem Museum vereint, sinnvoll zu einem übersichtlichen Ganzen
verbunden. Wir vermögen zu erkennen, wie ein Gedanke dem andern
die Hand reicht, wie die jüngere Schöpfung sich auf die ältere
stützt, »wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem anderen
wirkt und lebt«. Ein Lebenswerk steht geschlossen, als etwas
Vollkommenes vor uns.

In dem Buch eines solchen Autors ist der Stil etwas Äußerliches.
Werner Siemens hat bei der Abfassung seiner Lebensgeschichte
sicherlich keine schriftstellerischen Wirkungen beabsichtigt.
Gerade darum aber ist es doppelt bemerkenswert, daß dieser Mann
die Klarheit seiner Gedanken in ebenso klare Rede umzugießen
wußte. Nicht in den »Lebenserinnerungen« allein, auch in
seinen Schriften wissenschaftlichen und technischen Inhalts,
von denen wir zwei starke Bände besitzen, sind die Prägung des
Ausdrucks, die Kraft der Darstellung, die Anmut der Schilderungen
bewunderungswürdig. Gerade hierin sollte der Meister ein Vorbild
für das nachgeborene Technikergeschlecht sein. Aus seinen
schriftstellerischen Leistungen kann eine bedeutsame Lehre
entnommen werden.

Noch heute, wo die Technik das Leben der Menschen so innig
durchdrungen hat, wo ein jeder innerhalb ihrer Erzeugnisse und
mit ihnen lebt, stehen die allermeisten der Technik kühl, fast
abweisend gegenüber. Während jeder sich in der Unterhaltung die
äußerste Mühe gibt, fehlende Kenntnisse in der Literatur, der
Musik, den bildenden Künsten sorgsam zu verdecken, gehört es
fast zum guten Ton, von technischen Dingen nichts zu wissen. Man
gibt zwar hier und da einer kalten Bewunderung Ausdruck, sieht
in den technischen Schöpfungen aber doch kaum mehr als nützliche
Gegenstände, Werkzeuge, die nur für die Hände da sind, aber dem
Geist nichts zu bieten vermögen.

Der innere Gehalt der Technik, ihre großen gedanklichen Werte
sind unbekannt. Man ahnt nicht, daß das Große auch hier nicht
durch handwerksmäßiges Betreiben, sondern nur als Folge tief
eindringender Geistesprozesse entstehen kann. Es entgeht den
meisten, daß die Technik eine philosophische und künstlerische
Angelegenheit zugleich ist.

Den Grund hierfür muß man in der mangelhaften Form suchen, mit
der das technische Schaffen den Fernstehenden erläutert und
vorgetragen wird. Kaum einer außerhalb der Fachkreise befaßt
sich gern mit der Lektüre technischer Schriften, weil er von
vornherein weiß, daß er hieraus doch keinen Gewinn davontragen
wird. Der schreibende Ingenieur erzählt ihm in seinen Aufsätzen
von einem einzelnen, das nur als Glied eines Ganzen zu verstehen
ist, aber von diesem Ganzen ist niemals die Rede. Dazu soll der
bloß interessierte, nicht fachmännische Leser Vorkenntnisse
mitbringen, die ihm notwendigerweise mangeln müssen. Der
schreibende Ingenieur kennt nicht das seit Jahrhunderten bewährte
Einführungsmittel der Literatur, die Exposition. Er geht *medias
in res*, aber nicht wie Homer, indem er den Leser sofort auf
einen schönen Aussichtspunkt geleitet, von dem er ihn dann,
rückwärts schauend, den Weg erkennen läßt, der dorthin führte,
sondern er stellt die Wißbegierigen sogleich auf einen kahlen
Gipfel, von dem aus nach allen Seiten unüberschreitbare Abgründe
tief hinunterfallen, der keine Verbindung mit der übrigen
Welt hat. Dem Leser ist unverständlich, wie er plötzlich dort
hinausgekommen ist, und er begreift nichts.

Technische Dinge lassen sich nicht so darstellen, daß die
Lektüre Verständnis und Genuß zu gewähren vermag, heißt dann die
allgemeine Meinung. Sie ist so falsch wie möglich. Alles was
ist, kann durch schildernde Kraft deutlich gemacht werden. Und
diese romantische Welt der Technik, die voll ist von Wundern,
durchströmt von heißem Leben, von glühendem Schaffen, die
fortwährend Riesen von ungeheurem Wuchs gebiert, Zwerge mit
märchenhaft feiner Durchbildung ihrer Glieder schafft, sie sollte
nicht Gegenstand von Schilderungen sein können, die ihre Leser
zu bannen vermögen?! Man glaubt das nur, weil die Techniker ihre
Aufsätze, die sich an die Laienwelt wenden, nur allzuoft aus
einem Stoff herstellen, der im Maschinenbau ja häufig mit ganz
gutem Erfolg angewendet wird, aber für das Schrifttum doch nicht
geeignet ist: aus Leder.

Man lese, wie Werner Siemens seine Kabellegungen, seine
elektrischen Studien auf der Cheopspyramide, selbst die
Geschichte des Telegraphen darstellt, und man wird einsehen, daß
in der Welt der Technik großartige Stoffe in genügender Zahl zu
finden sind.

Freilich muß man wohl das Organ besitzen, um die tiefe seelische
Erregung nachempfinden zu können, von denen ein Mann wie Siemens
gleich den geistigen Größen aller Zeiten bewegt wurde, wenn er
eine neue Wahrheit gefunden hatte. Das überströmende Gefühl, das
den Archimedes, nachdem er das hydrostatische Gesetz entdeckt
hatte, mit dem Ruf Heureka! durch die Straßen laufen ließ,
kannte auch er. Denn er schreibt: »Wenn ein dem Geist bisher
nur dunkel vorschwebendes Naturgesetz plötzlich klar aus dem es
verhüllenden Nebel hervortritt, wenn der Schlüssel zu einer lange
vergeblich gesuchten mechanischen Kombination gefunden ist, wenn
das fehlende Glied einer Gedankenkette sich glücklich einfügt, so
gewährt dies dem Erfinder das erhebende Gefühl eines errungenen
geistigen Sieges, welches ihn allein schon für alle Mühen des
Kampfes reichlich entschädigt und ihn für den Augenblick auf eine
höhere Stufe des Daseins erhebt.« Er empfand also vollkommen als
Künstler, der er auch in allen seinen Schöpfungen gewesen ist.

In welch einer quellenden Fülle aber stehen diese vor uns!
Wie eng ist der Raum der fünf Jahrzehnte, die er schaffend
durchlebte, gegenüber dem geleisteten Werk! Niemals wird der
gewöhnliche Sterbliche begreifen können, wie das Genie sein Leben
lebt, wie es Zeit findet zu ergründenden Gedanken, während es
handfeste Taten vollbringt; wie es Muße gewinnt, die bestehende
Welt in sich aufzunehmen, während es die neue schafft, die von
seinem Auftreten an datiert; welche Methoden ihm helfen, die Zeit
so zu überwinden wie der elektrische Funke den Raum.

Werner Siemens starb von allen äußeren Ehren bekränzt. Die
Universität Berlin hatte ihn bei ihrem fünfzigjährigen Jubiläum
zum Ehrendoktor ernannt, die Akademie ihn zu ihrem Mitglied
berufen. Kaiser Wilhelm I. zeichnete ihn durch den Orden
*Pour le Mérite* aus, Kaiser Friedrich verlieh ihm bei seiner
Thronbesteigung den erblichen Adel. Niemals sind Auszeichnungen
einem Würdigeren zuteil geworden. Denn sein Leben gehörte nicht
ihm selbst, es war ganz seiner Kunst, wie wir sein Schaffen ruhig
nennen wollen, dem Vaterland, der ganzen Menschheit gewidmet. Er
gab allen Bewohnern der Erde das unübertrefflich weit reichende
Werkzeug der elektrischen Gedanken- und Arbeitsübertragung in die
Hand, er legte das Fundament für den ragenden Bau der deutschen
Elektrotechnik, er half den Erfindern, bedachte mit warmem Herzen
seine Werkleute und richtete der reinen Wissenschaft Tempel ein.

Aber ihm selbst war das, was er geschaffen, noch nicht genug. Am
Ende seiner Selbstbiographie erklärt er, daß sein Leben schön
gewesen sei, weil es erfolgreiche Mühe und nützliche Arbeit war.
Und nichts ist ihm im Alter schmerzlicher, als von seinen Lieben
scheiden zu müssen und der Gedanke, nicht mehr weiter an der
Entwicklung des naturwissenschaftlichen Zeitalters arbeiten zu
können.

Uns scheint er den Raum seines Daseins voll ausgefüllt zu haben.
Sein Name steht als ein Felsen fest gefügt im brandenden Meer der
Kulturgeschichte. Niemals wird er untergehen. Mit Ehrfurcht nennt
man den Namen Werner Siemens in fünf Erdteilen. Die Größe seines
Werks erscheint erhabener mit jedem Fortschritt, den die immer
bedeutsamer werdende Elektrotechnik macht. Unser Vaterland ist
stolz darauf, daß Werner Siemens ein deutscher Mann gewesen!




Quellenverzeichnis


_Werner von Siemens_: »Lebenserinnerungen«. Verlag von Julius
    Springer, Berlin, 1901. -- »Wissenschaftliche und technische
    Arbeiten«. Zwei Bände. Verlag von Julius Springer, Berlin,
    1889 und 1901. -- »Zur Militärfrage«. Ein Vorschlag. Verlag
    von Julius Springer, Berlin, 1862.

Antrittsreden der Herren _Siemens_ und _Virchow_ und
    Antwort des Herrn _Du Bois-Reymond_, Sekretärs der
    Physikalisch-Mathematischen Klasse. Gelesen in der
    öffentlichen Sitzung der Kgl. Akademie der Wissenschaften zu
    Berlin am 2. Juli 1874.

_William Pole_: »Wilhelm Siemens«. Verlag von Julius Springer,
    Berlin, 1890.

_Richard Ehrenberg_: »Die Unternehmungen der Brüder Siemens«.
    Erster Band. Verlag von Gustav Fischer, Jena, 1906.

_Wilhelm von Siemens_: »25 Jahre elektrischer
    Energieversorgung«. Sonderabdruck aus der deutschen
    Monatsschrift »Nord und Süd«. Verlag der Schlesischen
    Buchdruckerei von S. Schottländer A.-G., Breslau, 1913.

_August Kundt_: »Gedächtnisrede auf Werner von Siemens«. Aus den
    Abhandlungen der Kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin
    vom Jahre 1893.

_Stefan Kekule von Stradonitz_: Ȇber das Erfindergeschlecht
    Siemens«. Aufsatz in der Zeitschrift »Die Grenzboten«.
    Verlag von Friedrich Wilhelm Grunow, Leipzig, 1908.

*Dr.* _Karl Burhenne_: »Biographie der Brüder Siemens« in der
    »Allgemeinen Deutschen Biographie«, 55. Band, Nachträge.
    Verlag von Duncker & Humblot, Leipzig, 1909.

*Dr.* _W. Howe_: »Siemens & Halske. Ein Rückblick am Tage des
    50jährigen Bestehens der Firma«. Verlag von Julius Springer,
    Berlin, 1897.

»Zum 25jährigen Gedenktag der ersten elektrischen Bahn, 31. Mai
    1904«. Herausgegeben von der Siemens & Halske A.-G.

»Die elektrische Beleuchtung der Kaisergalerie«. Sonderabdruck
    aus der Nr. 251 der »National-Zeitung«.

_F. Heintzenberg_: »Die erste Dynamomaschine. Aus den
    Erinnerungen eines Veteranen der Elektrotechnik«. Aufsatz in
    Nr. 240 der »Täglichen Rundschau« vom 12. Oktober 1916.

_Georg Biedenkapp_: »Die Entwicklung der modernen
    Verkehrsmittel«. Zweiter Band: »Elektrizität und Presse«.
    Verlag von Hermann Paetel, Berlin-Wilmersdorf, 1911.

Geschäftsberichte der A.-G. Siemens & Halske und der
    Siemens-Schuckert-Werke G. m. b. H.





End of the Project Gutenberg EBook of Werner von Siemens, by Artur Fürst

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