Aphorismen zur Lebensweisheit

By Arthur Schopenhauer

Project Gutenberg's Aphorismen zur Lebensweisheit., by Arthur Schopenhauer

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Title: Aphorismen zur Lebensweisheit

Author: Arthur Schopenhauer

Release Date: November 20, 2014 [EBook #47406]

Language: German


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hinzugefügt.


  Schopenhauer

  Aphorismen zur
  Lebensweisheit

  1913

  Ernst Ohle in Düsseldorf

  Druck
  der Spamerschen
  Buchdruckerei in Leipzig




  Inhalt

  Einleitung
  Kapitel I. Grundeinteilung.
  Kapitel II. Von dem, was einer ist.
  Kapitel III. Von dem, was einer hat.
  Kapitel IV. Von dem, was einer vorstellt.
  Kapitel V. Paränesen und Maximen.
    A. Allgemeine.
    B. Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend.
    C. Unser Verhalten gegen andere betreffend.
    D. Unser Verhalten gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffend.
  Kapitel VI. Vom Unterschiede der Lebensalter.




    _Le bonheur n'est pas chose aisée: il est très difficile de le
    trouver en nous, et impossible de le trouver ailleurs._

    _*Chamfort.*_




Einleitung.


Ich nehme den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich im immanenten
Sinne, nämlich in dem der Kunst, das Leben möglichst angenehm und
glücklich durchzuführen, die Anleitung zu welcher auch Eudämonologie
genannt werden könnte: sie wäre demnach die Anweisung zu einem
glücklichen Dasein. Dieses nun wieder ließe sich allenfalls definieren
als ein solches, welches, rein objektiv betrachtet, oder vielmehr (da
es hier auf ein subjektives Urteil ankommt) bei kalter und reiflicher
Überlegung, dem Nichtsein entschieden vorzuziehn wäre. Aus diesem
Begriffe desselben folgt, daß wir daran hingen, seiner selbst wegen,
nicht aber bloß aus Furcht vor dem Tode; und hieraus wieder, daß wir
es von endloser Dauer sehn möchten. Ob nun das menschliche Leben dem
Begriff eines solchen Daseins entspreche, oder auch nur entsprechen
könne, ist eine Frage, welche bekanntlich meine Philosophie verneint;
während die Eudämonologie die Bejahung derselben voraussetzt. Diese
nämlich beruht eben auf dem angeborenen Irrtum, dessen Rüge das 49.
Kapitel im 2. Bande meines Hauptwerks eröffnet. Um eine solche dennoch
ausarbeiten zu können, habe ich daher gänzlich abgehn müssen von dem
höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte, zu welchem meine
eigentliche Philosophie hinleitet. Folglich beruht die ganze hier zu
gebende Auseinandersetzung gewissermaßen auf einer Akkommodation,
sofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen, empirischen Standpunkte
bleibt und dessen Irrtum festhält. Demnach kann auch ihr Wert nur ein
bedingter sein, da selbst das Wort Eudämonologie nur ein Euphemismus
ist. -- Ferner macht auch dieselbe keinen Anspruch auf Vollständigkeit;
teils weil das Thema unerschöpflich ist; teils weil ich sonst das von
andern bereits Gesagte hätte wiederholen müssen.

Als in ähnlicher Absicht, wie gegenwärtige Aphorismen, abgefaßt, ist
mir nur das sehr lesenswerte Buch des *Cardanus* _de utilitate ex
adversis capienda_ erinnerlich, durch welches man also das hier
Gegebene vervollständigen kann. Zwar hat auch *Aristoteles* dem 5.
Kapitel des 1. Buches seiner Rhetorik eine kurze Eudämonologie
eingeflochten: sie ist jedoch sehr nüchtern ausgefallen. Benutzt habe
ich diese Vorgänger nicht; da Kompiliren nicht meine Sache ist; und um
so weniger, als durch dasselbe die Einheit der Ansicht verloren geht,
welche die Seele der Werke dieser Art ist. -- Im allgemeinen haben
freilich die Weisen aller Zeiten immer dasselbe gesagt, und die Toren,
d. h. die unermeßliche Majorität aller Zeiten, haben immer dasselbe,
nämlich das Gegenteil getan: und so wird es denn auch ferner bleiben.
Darum sagt *Voltaire*: _nous laisserons ce monde-ci aussi sot et aussi
méchant que nous l'avons trouvé en y arrivant_.




Kapitel I.

Grundeinteilung.


Aristoteles hat (_Eth. Nicom. I, 8_) die Güter des menschlichen Lebens
in drei Klassen geteilt, -- die äußeren, die der Seele und die des
Leibes. Hievon nun nichts als die Dreizahl beibehaltend, sage ich, daß
was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet sich auf drei
Grundbestimmungen zurückführen läßt. Sie sind:

1. Was einer *ist*: also die Persönlichkeit, im weitesten Sinne.
Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament,
moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.

2. Was einer *hat*: also Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne.

3. Was einer *vorstellt*: unter diesem Ausdruck wird bekanntlich
verstanden, was er in der Vorstellung anderer ist, also eigentlich,
wie er von ihnen *vorgestellt wird*. Es besteht demnach in ihrer
Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.

Die unter der ersten Rubrik zu betrachtenden Unterschiede sind solche,
welche die Natur selbst zwischen Menschen gesetzt hat; woraus sich
schon abnehmen läßt, daß der Einfluß derselben auf ihr Glück, oder
Unglück, viel wesentlicher und durchgreifender sein werde, als was die
bloß aus menschlichen Bestimmungen hervorgehenden, unter den zwei
folgenden Rubriken angegebenen Verschiedenheiten herbeiführen. *Zu den
echten persönlichen Vorzügen*, dem großen Geiste oder großen Herzen,
verhalten sich alle Vorzüge des Ranges, der Geburt, selbst der
königlichen, des Reichtums u. dgl. wie die Theater-Könige zu den
wirklichen. Schon *Metrodorus*, der erste Schüler Epikurs, hat ein
Kapitel überschrieben: =peri tou meizona einai tên par' hêmas aitian
pros eudaimonian tês ek tôn pragmatôn=. (_Majorem esse causam ad
felicitatem eam, quae est ex nobis, eâ, quae ex rebus oritur._ -- Vgl.
_Clemens Alex. Strom. II, 21, p. 362_ der Würzburger Ausgabe der _opp.
polem._) Und allerdings ist für das Wohlsein des Menschen, ja, für die
ganze Weise seines Daseins, die Hauptsache offenbar das, was in ihm
selbst besteht oder vergeht. Hier nämlich liegt unmittelbar sein
inneres Behagen oder Unbehagen, als welches zunächst das Resultat
seines Empfindens, Wollens und Denkens ist; während alles außerhalb
Gelegene doch nur mittelbar darauf Einfluß hat. Daher affiziren
dieselben äußern Vorgänge oder Verhältnisse jeden ganz anders, und bei
gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer andern Welt. Denn nur mit
seinen eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Willensbewegungen hat er es
unmittelbar zu tun: die Außendinge haben nur, sofern sie diese
veranlassen, Einfluß auf ihn. Die Welt, in der jeder lebt, hängt
zunächst ab von seiner Auffassung derselben, richtet sich daher nach
der Verschiedenheit der Köpfe: dieser gemäß wird sie arm, schal und
flach, oder reich, interessant und bedeutungsvoll ausfallen. Während
z. B. mancher den andern beneidet um die interessanten Begebenheiten,
die ihm in seinem Leben aufgestoßen sind, sollte er ihn vielmehr um
die Auffassungsgabe beneiden, welche jenen Begebenheiten die
Bedeutsamkeit verlieh, die sie in seiner Beschreibung haben: denn
dieselbe Begebenheit, welche in einem geistreichen Kopfe sich so
interessant darstellt, würde, von einem flachen Alltagskopf aufgefaßt,
auch nur eine schale Szene aus der Alltagswelt sein. Im höchsten Grade
zeigt sich dies bei manchen Gedichten Goethes und Byrons, denen
offenbar reale Vorgänge zum Grunde liegen: ein törichter Leser ist
imstande, dabei den Dichter um die allerliebste Begebenheit zu
beneiden, statt um die mächtige Phantasie, welche aus einem ziemlich
alltäglichen Vorfall etwas so Großes und Schönes zu machen fähig war.
Desgleichen sieht der Melancholikus eine Trauerspielszene, wo der
Sanguinikus nur einen interessanten Konflikt und der Phlegmatikus
etwas Unbedeutendes vor sich hat. Dies alles beruht darauf, daß jede
Wirklichkeit, d. h. jede erfüllte Gegenwart, aus zwei Hälften besteht,
dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger
Verbindung wie Oxygen und Hydrogen im Wasser. Bei völlig gleicher
objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver, ist daher, so gut
wie im umgekehrten Fall, die gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz
andere: die schönste und beste objektive Hälfte bei stumpfer,
schlechter subjektiver, gibt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und
Gegenwart; gleich einer schönen Gegend in schlechtem Wetter, oder im
Reflex einer schlechten _Camera obscura_. Oder planer zu reden: Jeder
steckt in seinem Bewußtsein wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar
nur in demselben: daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen. Auf
der Bühne spielt einer den Fürsten, ein anderer den Rat, ein Dritter
den Diener oder den Soldaten, oder den General usf. Aber diese
Unterschiede sind bloß im Äußern vorhanden, im Innern, als Kern einer
solchen Erscheinung, steckt bei allen dasselbe: ein armer Komödiant,
mit seiner Plage und Not. Im Leben ist es auch so. Die Unterschiede
des Ranges und Reichtums geben jedem seine Rolle zu spielen; aber
keineswegs entspricht dieser eine innere Verschiedenheit des Glücks
und Behagens, sondern auch hier steckt in jedem derselbe arme Tropf,
mit seiner Not und Plage, die wohl dem Stoffe nach bei jedem eine
andere ist, aber der Form, d. h. dem eigentlichen Wesen nach, so
ziemlich bei allen dieselbe; wenn auch mit Unterschieden des Grades,
die sich aber keineswegs nach Stand und Reichtum, d. h. nach der Rolle
richten. Weil nämlich alles, was für den Menschen da ist und vorgeht,
unmittelbar immer nur in seinem *Bewußtsein* da ist und für dieses
vorgeht; so ist offenbar die Beschaffenheit des Bewußtseins selbst
zunächst das Wesentliche, und auf dieselbe kommt, in den meisten
Fällen, mehr an, als auf die Gestalten, die darin sich darstellen.
Alle Pracht und Genüsse, abgespiegelt im dumpfen Bewußtsein eines
Tropfs, sind sehr arm gegen das Bewußtsein des *Cervantes*, als er in
einem unbequemen Gefängnisse den Don Quijote schrieb. -- Die objektive
Hälfte der Gegenwart und Wirklichkeit steht in der Hand des Schicksals
und ist demnach veränderlich: die subjektive sind wir selbst; daher
sie im wesentlichen unveränderlich ist. Demgemäß trägt das Leben jedes
Menschen, trotz aller Abwechselung von außen, durchgängig denselben
Charakter und ist einer Reihe Variationen auf *ein* Thema zu
vergleichen. Aus seiner Individualität kann keiner heraus. Und wie das
Tier unter allen Verhältnissen, in die man es setzt, auf den engen
Kreis beschränkt bleibt, den die Natur seinem Wesen unwiderruflich
gezogen hat, weshalb z. B. unsere Bestrebungen, ein geliebtes Tier zu
beglücken, eben wegen jener Grenzen seines Wesens und Bewußtseins,
stets innerhalb enger Schranken sich halten müssen; -- so ist es auch
mit dem Menschen: durch seine Individualität ist das Maß seines
möglichen Glückes zum voraus bestimmt. Besonders haben die Schranken
seiner Geisteskräfte seine Fähigkeit für erhöhten Genuß ein für
allemal festgestellt. Sind sie eng, so werden alle Bemühungen von
außen, alles, was Menschen, alles, was das Glück für ihn tut, nicht
vermögen, ihn über das Maß des gewöhnlichen, halb tierischen
Menschenglücks und Behagens hinaus zu führen: auf Sinnengenuß,
trauliches und heiteres Familienleben, niedrige Geselligkeit und
vulgären Zeitvertreib bleibt er angewiesen: sogar die Bildung vermag
im ganzen, zur Erweiterung jenes Kreises, nicht gar viel, wenn gleich
etwas. Denn die höchsten, die mannigfaltigsten und die anhaltendsten
Genüsse sind die geistigen; wie sehr auch wir, in der Jugend, uns
darüber täuschen mögen; diese aber hängen hauptsächlich von der
geistigen Kraft ab. -- Hieraus also ist klar, wie sehr unser Glück
abhängt von dem, was wir *sind*, von unserer Individualität; während
man meistens nur unser Schicksal, nur das, was wir *haben*, oder was
wir *vorstellen*, in Anschlag bringt. Das Schicksal aber kann sich
bessern: zudem wird man, bei innerm Reichtum, von ihm nicht viel
verlangen: hingegen ein Tropf bleibt ein Tropf, ein stumpfer Klotz ein
stumpfer Klotz, bis an sein Ende, und wäre er im Paradiese und von
Huris umgeben. Deshalb sagt Goethe:

    Volk und Knecht und Überwinder,
    Sie gestehn, zu jeder Zeit,
    Höchstes Glück der Erdenkinder
    Sei nur die Persönlichkeit.

    *W. O. Divan.*

Daß für unser Glück und unsern Genuß das Subjektive ungleich
wesentlicher als das Objektive sei, bestätigt sich in allem: von dem
an, daß Hunger der beste Koch ist und der Greis die Göttin des
Jünglings gleichgültig ansieht, bis hinauf zum Leben des Genies und
des Heiligen. Besonders überwiegt die Gesundheit alle äußern Güter so
sehr, daß wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist als ein
kranker König. Ein aus vollkommener Gesundheit und glücklicher
Organisation hervorgehendes, ruhiges und heiteres Temperament, ein
klarer, lebhafter, eindringender und richtig fassender Verstand, ein
gemäßigter, sanfter Wille und demnach ein gutes Gewissen, dies sind
Vorzüge, die kein Rang oder Reichtum ersetzen kann. Denn was einer für
sich selbst ist, was ihn in die Einsamkeit begleitet und was keiner
ihm geben oder nehmen kann, ist offenbar für ihn wesentlicher als
alles, was er besitzen, oder auch, was er in den Augen anderer sein
mag. Ein geistreicher Mensch hat, in gänzlicher Einsamkeit, an seinen
eigenen Gedanken und Phantasien vortreffliche Unterhaltung, während
von einem Stumpfen die fortwährende Abwechselung von Gesellschaften,
Schauspielen, Ausfahrten und Lustbarkeiten, die marternde Langeweile
nicht abzuwehren vermag. Ein guter, gemäßigter, sanfter Charakter kann
unter dürftigen Umständen zufrieden sein; während ein begehrlicher,
neidischer oder böser es bei allem Reichtum nicht ist. Nun aber gar
dem, welcher beständig den Genuß einer außerordentlichen, geistig
eminenten Individualität hat, sind die meisten der allgemein
angestrebten Genüsse ganz überflüssig, ja, nur störend und lästig.
Daher sagt Horaz von sich:

    _Gemmas, marmor, ebur, Thyrrhena sigilla, tabellas,
    Argentum, vestes Gaetulo murice tinctas,
    Sunt qui non habeant, est qui non curat habere;_

und Sokrates sagte, beim Anblick zum Verkauf ausgelegter Luxusartikel:
»Wie vieles gibt es doch, was ich nicht nötig habe.« Für unser
Lebensglück ist demnach das, was wir *sind*, die Persönlichkeit,
durchaus das Erste und Wesentlichste; -- schon weil sie beständig und
unter allen Umständen wirksam ist: zudem aber ist sie nicht, wie die
Güter der zwei andern Rubriken, dem Schicksal unterworfen, und kann
uns nicht entrissen werden. Ihr Wert kann insofern ein absoluter
heißen, im Gegensatz des bloß relativen der beiden andern. Hieraus nun
folgt, daß dem Menschen von außen viel weniger beizukommen ist, als
man wohl meint. Bloß die allgewaltige Zeit übt auch hier ihr Recht:
ihr unterliegen allmählich die körperlichen und geistigen Vorzüge: der
moralische Charakter allein bleibt auch ihr unzugänglich. In dieser
Hinsicht hätten denn freilich die Güter der zwei letztern Rubriken,
als welche die Zeit unmittelbar nicht raubt, vor denen der ersten
einen Vorzug. Einen zweiten könnte man darin finden, daß sie, als im
Objektiven gelegen, ihrer Natur nach, erreichbar sind und jedem
wenigstens die Möglichkeit vorliegt, in ihren Besitz zu gelangen;
während hingegen das Subjektive gar nicht in unsere Macht gegeben ist,
sondern _jure divino_ eingetreten, für das ganze Leben unveränderlich
feststeht; so daß hier unerbittlich der Ausspruch gilt:

    Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
    Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
    Bist alsobald und fort und fort gediehen
    Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
    So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
    So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
    Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
    Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

    *Goethe.*

Das Einzige, was in dieser Hinsicht in unserer Macht steht, ist, daß
wir die gegebene Persönlichkeit zum möglichsten Vorteile benutzen,
demnach nur die ihr entsprechenden Bestrebungen verfolgen und uns um
die Art von Ausbildung bemühen, die ihr gerade angemessen ist, jede
andere aber meiden, folglich den Stand, die Beschäftigung, die
Lebensweise wählen, welche zu ihr passen.

Ein herkulischer, mit ungewöhnlicher Muskelkraft begabter Mensch, der
durch äußere Verhältnisse genötigt ist, einer sitzenden Beschäftigung,
einer kleinlichen, peinlichen Handarbeit obzuliegen, oder auch Studien
und Kopfarbeiten zu treiben, die ganz anderartige, bei ihm
zurückstehende Kräfte erfordern, folglich gerade die bei ihm
ausgezeichneten Kräfte unbenutzt zu lassen, der wird sich zeitlebens
unglücklich fühlen; noch mehr aber der, bei dem die intellektuellen
Kräfte sehr überwiegend sind, und der sie unentwickelt und ungenutzt
lassen muß, um ein gemeines Geschäft zu treiben, das ihrer nicht
bedarf, oder gar körperliche Arbeit, zu der seine Kraft nicht recht
ausreicht. Jedoch ist hier, zumal in der Jugend, die Klippe der
Präsumtion zu vermeiden, daß man sich nicht ein Übermaß von Kräften
zuschreibe, welches man nicht hat.

Aus dem entschiedenen Übergewicht unsrer ersten Rubrik über die beiden
andern geht aber auch hervor, daß es weiser ist, auf Erhaltung seiner
Gesundheit und auf Ausbildung seiner Fähigkeiten, als auf Erwerbung
von Reichtum hinzuarbeiten; was jedoch nicht dahin mißdeutet werden
darf, daß man den Erwerb des Nötigen und Angemessenen vernachlässigen
sollte. Aber eigentlicher Reichtum, d. h. großer Überfluß, vermag
wenig zu unserm Glück; daher viele Reiche sich unglücklich fühlen,
weil sie ohne eigentliche Geistesbildung, ohne Kenntnisse und deshalb
ohne irgend ein objektives Interesse, welches sie zu geistiger
Beschäftigung befähigen könnte, sind. Denn was der Reichtum über die
Befriedigung der wirklichen und natürlichen Bedürfnisse hinaus noch
leisten kann, ist von geringem Einfluß auf unser eigentliches
Wohlbehagen: vielmehr wird dieses gestört durch die vielen und
unvermeidlichen Sorgen, welche die Erhaltung eines großen Besitzes
herbeiführt. Dennoch sind die Menschen aber tausend Mal mehr bemüht,
sich Reichtum, als Geistesbildung zu erwerben; während doch ganz
gewiß, was man *ist*, viel mehr zu unserm Glücke beiträgt, als was man
*hat*. Gar manchen daher sehn wir, in rastloser Geschäftigkeit, emsig
wie die Ameise, vom Morgen bis zum Abend bemüht, den schon vorhandenen
Reichtum zu vermehren. Über den engen Gesichtskreis des Bereichs der
Mittel hiezu hinaus kennt er nichts: sein Geist ist leer, daher für
alles andere unempfänglich. Die höchsten Genüsse, die geistigen, sind
ihm unzugänglich: durch die flüchtigen, sinnlichen, wenig Zeit, aber
viel Geld kostenden, die er zwischendurch sich erlaubt, sucht er
vergeblich jene anderen zu ersetzen. Am Ende seines Lebens hat er
dann, als Resultat desselben, wenn das Glück gut war, wirklich einen
recht großen Haufen Geld vor sich, welchen noch zu vermehren, oder
aber durchzubringen, er jetzt seinen Erben überläßt. Ein solcher,
wiewohl mit gar ernsthafter und wichtiger Miene durchgeführter
Lebenslauf ist daher ebenso töricht, wie mancher andere, der geradezu
die Schellenkappe zum Symbol hatte.

Also was einer *an sich selber hat*, ist zu seinem Lebensglücke das
Wesentlichste. Bloß weil dieses, in der Regel, so gar wenig ist,
fühlen die meisten von denen, welche über den Kampf mit der Not hinaus
sind, sich im Grunde ebenso unglücklich, wie die, welche sich noch
darin herumschlagen. Die Leere ihres Innern, das Fade ihres
Bewußtseins, die Armut ihres Geistes treibt sie zur Gesellschaft, die
nun aber aus eben solchen besteht; weil _similis simili gaudet_. Da
wird dann gemeinschaftlich Jagd gemacht auf Kurzweil und Unterhaltung,
die sie zunächst in sinnlichen Genüssen, in Vergnügungen jeder Art und
endlich in Ausschweifungen suchen. Die Quelle der heillosen
Verschwendung, mittelst welcher so mancher, reich ins Leben tretende
Familiensohn, sein großes Erbteil, oft in unglaublich kurzer Zeit,
durchbringt, ist wirklich keine andere, als nur die Langeweile, welche
aus der eben geschilderten Armut und Leere des Geistes entspringt. So
ein Jüngling war äußerlich reich, aber innerlich arm in die Welt
geschickt und strebte nun vergeblich, durch den äußern Reichtum den
innern zu ersetzen, indem er alles *von außen* empfangen wollte, --
den Greisen analog, welche sich durch die Ausdünstung junger Mädchen
zu stärken suchen. Dadurch führte denn am Ende die innere Armut auch
noch die äußere herbei.

Die Wichtigkeit der beiden andern Rubriken der Güter des menschlichen
Lebens brauche ich nicht hervorzuheben. Denn der Wert des Besitzes ist
heutzutage so allgemein anerkannt, daß er keiner Empfehlung bedarf.
Sogar hat die dritte Rubrik, gegen die zweite, eine sehr ätherische
Beschaffenheit; da sie bloß in der Meinung anderer besteht. Jedoch
nach Ehre, d. h. gutem Namen, hat jeder zu streben, nach Rang schon
nur die, welche dem Staate dienen, und nach Ruhm gar nur äußerst
wenige. Indessen wird die Ehre als ein unschätzbares Gut angesehen,
und der Ruhm als das Köstlichste, was der Mensch erlangen kann, das
goldene Vlies der Auserwählten: hingegen den Rang werden nur Toren dem
Besitze vorziehen. Die zweite und dritte Rubrik stehn übrigens in
sogenannter Wechselwirkung; sofern das _habes, habeberis_ des
Petronius seine Richtigkeit hat, und, umgekehrt, die günstige Meinung
anderer, in allen ihren Formen, oft zum Besitze verhilft.




Kapitel II.

Von dem, was einer ist.


Daß dieses zu seinem Glücke viel mehr beiträgt, als was er *hat*, oder
was er *vorstellt*, haben wir bereits im allgemeinen erkannt. Immer
kommt es darauf an, was einer sei und demnach an sich selber habe:
denn seine Individualität begleitet ihn stets und überall, und von ihr
ist alles tingirt, was er erlebt. In allem und bei allem genießt er
zunächst nur sich selbst: Dies gilt schon von den physischen; wie viel
mehr von den geistigen Genüssen. Daher ist das englische _to enjoy
one's self_ ein sehr treffender Ausdruck, mit welchem man z. B. sagt
_he enjoys himself at Paris_, also nicht »er genießt Paris,« sondern
»er genießt *sich* in Paris.« -- Ist nun aber die Individualität von
schlechter Beschaffenheit, so sind alle Genüsse wie köstliche Weine in
einem mit Galle tingirten Munde. Demnach kommt, im Guten wie im
Schlimmen, schwere Unglücksfälle beiseite gesetzt, weniger darauf an,
was einem im Leben begegnet und widerfährt, als darauf, wie er es
empfindet, also auf die Art und den Grad seiner Empfänglichkeit in
jeder Hinsicht. Was einer in sich ist und an sich selber hat, kurz die
Persönlichkeit und deren Wert, ist das alleinige Unmittelbare zu
seinem Glück und Wohlsein. Alles andere ist mittelbar; daher auch
dessen Wirkung vereitelt werden kann, aber die der Persönlichkeit nie.
Darum eben ist der auf persönliche Vorzüge gerichtete Neid der
unversöhnlichste, wie er auch der am sorgfältigsten verhehlte ist.
Ferner ist allein die Beschaffenheit des Bewußtseins das Bleibende und
Beharrende, und die Individualität wirkt fortdauernd, anhaltend, mehr
oder minder in jedem Augenblick: alles andere hingegen wirkt immer nur
zu Zeiten, gelegentlich, vorübergehend, und ist zudem auch noch selbst
dem Wechsel und Wandel unterworfen: daher sagt Aristoteles: =hê gar
physis bebaia, ou ta chrêmata= (_nam natura perennis est, non opes_).
_Eth. Eud. VII, 2._ Hierauf beruht es, daß wir ein ganz und gar von
außen auf uns gekommenes Unglück mit mehr Fassung ertragen, als ein
selbstverschuldetes: denn das Schicksal kann sich ändern; aber die
eigene Beschaffenheit nimmer. Demnach also sind die subjektiven Güter,
wie ein edler Charakter, ein fähiger Kopf, ein glückliches
Temperament, ein heiterer Sinn und ein wohlbeschaffener, völlig
gesunder Leib, also überhaupt _mens sana in corpore sano_ (_Juvenal.
Sat. X, 356_), zu unserm Glücke die ersten und wichtigsten; weshalb
wir auf die Beförderung und Erhaltung derselben viel mehr bedacht sein
sollten, als auf den Besitz äußerer Güter und äußerer Ehre.

Was nun aber, von jenen allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die
Heiterkeit des Sinnes: denn diese gute Eigenschaft belohnt sich
augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist, hat allemal Ursach, es zu
sein: nämlich eben diese, daß er es ist. Nichts kann so sehr, wie diese
Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst
durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei jung, schön, reich und geehrt;
so frägt sich, wenn man sein Glück beurteilen will, ob er dabei heiter
sei: ist er hingegen heiter, so ist es einerlei, ob er jung oder alt,
gerade oder bucklig, arm oder reich sei; er ist glücklich. In früher
Jugend machte ich einmal ein altes Buch auf, und da stand: »wer viel
lacht, ist glücklich, und wer viel weint, ist unglücklich,« -- eine sehr
einfältige Bemerkung, die ich aber, wegen ihrer einfachen Wahrheit doch
nicht habe vergessen können, so sehr sie auch der Superlativ eines
_truism's_ ist. Dieserwegen also sollen wir der Heiterkeit, wann immer
sie sich einstellt, Tür und Tor öffnen: denn sie kommt nie zur unrechten
Zeit; statt daß wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem
wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursach
haben, zufrieden zu sein; oder auch, weil wir fürchten, in unsern
ernsthaften Überlegungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden:
allein, was wir durch diese bessern, ist sehr ungewiß; hingegen ist
Heiterkeit unmittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam die bare Münze
des Glückes und nicht, wie alles andere, bloß der Bankzettel; weil nur
sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt; weshalb sie das höchste Gut
ist für Wesen, deren Wirklichkeit die Form einer unteilbaren Gegenwart
zwischen zwei unendlichen Zeiten hat. Demnach sollten wir die Erwerbung
und Beförderung dieses Gutes jedem anderen Trachten vorsetzen. Nun ist
gewiß, daß zur Heiterkeit nichts weniger beiträgt als Reichtum, und
nichts mehr als Gesundheit: in den niedrigen, arbeitenden, zumal das
Land bestellenden Klassen sind die heiteren und zufriedenen Gesichter;
in den reichen und vornehmen die verdrießlichen zu Hause. Folglich
sollten wir vor allem bestrebt sein, uns den hohen Grad vollkommener
Gesundheit zu erhalten, als dessen Blüte die Heiterkeit sich einstellt.
Die Mittel hiezu sind bekanntlich Vermeidung aller Exzesse und
Ausschweifungen, aller heftigen oder unangenehmen Gemütsbewegungen,
auch aller zu großen oder zu anhaltenden Geistesanstrengung, täglich
wenigstens zwei Stunden rascher Bewegung in freier Luft, viel kaltes
Baden und ähnliche diätetische Maßregeln. Ohne tägliche gehörige
Bewegung kann man nicht gesund bleiben; alle Lebensprozesse erfordern,
um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung sowohl der Teile, darin sie
vorgehen, als des Ganzen. Daher sagt Aristoteles mit Recht: =ho bios
en tê kinêsei esti=. Das Leben besteht in der Bewegung und hat sein
Wesen in ihr. Im ganzen Innern des Organismus herrscht unaufhörliche,
rasche Bewegung: das Herz, in seiner komplizierten doppelten Systole
und Diastole, schlägt heftig und unermüdlich; mit 28 seiner Schläge
hat es die gesamte Blutmasse durch den ganzen großen und kleinen
Kreislauf hindurch getrieben; die Lunge pumpt ohne Unterlaß wie eine
Dampfmaschine; die Gedärme winden sich stets im _motus peristalticus_;
alle Drüsen saugen und sezernieren beständig, selbst das Gehirn hat
eine doppelte Bewegung mit jedem Pulsschlag und jedem Atemzug. Wenn
nun hiebei, wie es bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger
Menschen der Fall ist, die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt, so
entsteht ein schreiendes und verderbliches Mißverhältnis zwischen der
äußern Ruhe und dem innern Tumult. Denn sogar will die beständige innere
Bewegung durch die äußere etwas unterstützt sein: jenes Mißverhältnis
aber wird dem analog, wenn, infolge irgend eines Affekts, es in unserm
Innern kocht, wir aber nach außen nichts davon sehen lassen dürfen.
Sogar die Bäume bedürfen, um zu gedeihen, der Bewegung durch den Wind.
Dabei gilt eine Regel, die sich am kürzesten lateinisch ausdrücken läßt:
_omnis motus, quo celerior, eo magis motus_. -- Wie sehr unser Glück von
der Heiterkeit der Stimmung und diese vom Gesundheitszustande abhängt,
lehrt die Vergleichung des Eindrucks, den die nämlichen äußern
Verhältnisse, oder Vorfälle, am gesunden und rüstigen Tage auf uns
machen, mit dem, welchen sie hervorbringen, wann Kränklichkeit uns
verdrießlich und ängstlich gestimmt hat. Nicht was die Dinge objektiv
und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unsrer Auffassung sind,
macht uns glücklich oder unglücklich: Dies eben besagt Epiktets
=tarassei tous anthrôpous ou ta pragmata, alla ta peri tôn pragmatôn
dogmata= (_commovent homines non res, sed de rebus opiniones_).
Überhaupt aber beruhen 9/10 unseres Glückes allein auf der Gesundheit.
Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses: hingegen ist ohne sie kein
äußeres Gut, welcher Art es auch sei, genießbar, und selbst die übrigen
subjektiven Güter, die Eigenschaften des Geistes, Gemütes, Temperaments,
werden durch Kränklichkeit herabgestimmt und sehr verkümmert. Demnach
geschieht es nicht ohne Grund, daß man vor allen Dingen sich gegenseitig
nach dem Gesundheitszustande befragt und einander sich wohlzubefinden
wünscht: denn wirklich ist dieses bei weitem die Hauptsache zum
menschlichen Glück. Hieraus aber folgt, daß die größte aller Torheiten
ist, seine Gesundheit aufzuopfern, für was es auch sei, für Erwerb, für
Beförderung, für Gelehrsamkeit, für Ruhm, geschweige für Wollust und
flüchtige Genüsse: vielmehr soll man ihr alles nachsetzen.

So viel nun aber auch zu der, für unser Glück so wesentlichen
Heiterkeit die Gesundheit beiträgt, so hängt jene doch nicht von
dieser allein ab: denn auch bei vollkommener Gesundheit kann ein
melancholisches Temperament und eine vorherrschend trübe Stimmung
bestehn. Der letzte Grund davon liegt ohne Zweifel in der
ursprünglichen und daher unabänderlichen Beschaffenheit des
Organismus, und zwar zumeist in dem mehr oder minder normalen
Verhältnis der Sensibilität zur Irritabilität und Reproduktionskraft.
Abnormes Übergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der Stimmung,
periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholie
herbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Übermaß der
Nervenkraft, also der Sensibilität, bedingt ist, so hat Aristoteles
ganz richtig bemerkt, daß alle ausgezeichnete und überlegene Menschen
melancholisch seien: =pantes hosoi perittoi gegonasin andres, ê kata
philosophian, ê politikên, ê poiêsin ê technas, phainontai
melancholikoi ontes= (_Probl. 30, 1_). Ohne Zweifel ist dieses die
Stelle, welche Cicero im Auge hatte bei seinem oft angeführten
Bericht: _Aristoteles ait, omnes ingeniosos melancholicos esse_
(_Tusc. I, 33_). Die hier in Betrachtung genommene, angeborene, große
Verschiedenheit der Grundstimmung überhaupt aber hat *Shakespeare*
sehr artig geschildert:

    _Nature has fram'd strange fellows in her time:
    Some that will evermore peep through their eyes,
    And laugh, like parrots, at a bag-piper;
    And others of such vinegar aspect,
    That they'll not show their teeth in way of smile,
    Though Nestor swear the jest be laughable[A]._

    _Merch. of Ven. Sc. I._

  [A] Die Natur hat in ihren Tagen seltsame Käuze hervorgebracht,
  einige, die stets aus ihren Äuglein vergnügt hervorgucken, und, wie
  Papageien über einen Dudelsackspieler lachen, und andere von so
  sauertöpfischem Ansehn, daß sie ihre Zähne nicht durch ein Lächeln
  bloß legen, wenn auch Nestor selbst schwüre, der Spaß sei lachenswert.

Eben dieser Unterschied ist es, den *Plato* durch die Ausdrücke
=dyskolos= und =eukolos= bezeichnet. Derselbe läßt sich zurückführen
auf die bei verschiedenen Menschen sehr verschiedene Empfänglichkeit
für angenehme und unangenehme Eindrücke, infolge welcher der eine noch
lacht bei dem, was den andern fast zur Verzweiflung bringt: und zwar
pflegt die Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwächer zu
sein, je stärker die für unangenehme ist, und umgekehrt. Nach gleicher
Möglichkeit des glücklichen und des unglücklichen Ausgangs einer
Angelegenheit wird der =dyskolos= beim unglücklichen sich ärgern oder
grämen, beim glücklichen aber sich nicht freuen; der =eukolos=
hingegen wird über den unglücklichen sich nicht ärgern, noch grämen,
aber über den glücklichen sich freuen. Wenn dem =dyskolos= von zehn
Vorhaben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern
ärgert sich über das eine mißlungene: der =eukolos= weiß, im
umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trösten und
aufzuheitern. -- Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle
Kompensation ist; so ergibt sich auch hier, daß die =dyskoloi=, also
die finstern und ängstlichen Charaktere, im ganzen, zwar mehr
imaginäre, dafür aber weniger reale Unfälle und Leiden zu überstehn
haben werden als die heitern und sorglosen: denn wer alles schwarz
sieht, stets das Schlimmste befürchtet und demnach seine Vorkehrungen
trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben, als wer stets den
Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht. -- Wann jedoch eine
krankhafte Affektion des Nervensystems oder der Verdauungswerkzeuge,
der angeborenen =dyskolia= in die Hände arbeitet; dann kann diese den
hohen Grad erreichen, wo dauerndes Mißbehagen Lebensüberdruß erzeugt
und demnach Hang zum Selbstmord entsteht. Diesen vermögen alsdann
selbst die geringsten Unannehmlichkeiten zu veranlassen; ja, bei den
höchsten Graden des Übels bedarf es derselben nicht einmal; sondern
bloß infolge des anhaltenden Mißbehagens wird der Selbstmord
beschlossen und alsdann mit so kühler Überlegung und fester
Entschlossenheit ausgeführt, daß der meistens schon unter Aufsicht
gestellte Kranke, stets darauf gerichtet, den ersten unbewachten
Augenblick benutzt, um, ohne Zaudern, Kampf und Zurückbeben, jenes ihm
jetzt natürliche und willkommene Erleichterungsmittel zu ergreifen.
Ausführliche Beschreibungen dieses Zustandes gibt _Esquirol, des
maladies mentales_. Allerdings aber kann, nach Umständen, auch der
gesundeste und vielleicht selbst der heiterste Mensch sich zum
Selbstmord entschließen, wenn nämlich die Größe der Leiden, oder des
unausweichbar herannahenden Unglücks, die Schrecken des Todes
überwältigt. Der Unterschied liegt allein in der verschiedenen Größe
des dazu erforderlichen Anlasses, als welche mit der =dyskolia= in
umgekehrtem Verhältnis steht. Je größer diese ist, desto geringer kann
jener sein, ja am Ende auf Null herabsinken: je größer hingegen die
=eukolia= und die sie unterstützende Gesundheit, desto mehr muß im
Anlaß liegen. Danach gibt es unzählige Abstufungen der Fälle, zwischen
den beiden Extremen des Selbstmordes, nämlich dem des rein aus
krankhafter Steigerung der angebornen =dyskolia= entspringenden, und
dem des Gesunden und Heiteren, ganz aus objektiven Gründen.

Der Gesundheit zum Teil verwandt ist die Schönheit. Wenngleich dieser
subjektive Vorzug nicht eigentlich unmittelbar zu unserm Glücke
beiträgt, sondern bloß mittelbar, durch den Eindruck auf Andere; so
ist er doch von großer Wichtigkeit, auch im Manne. Schönheit ist ein
offener Empfehlungsbrief, der die Herzen zum voraus für uns gewinnt:
daher gilt besonders von ihr der Homerische Vers:

    =Outoi apoblêt' esti theôn erikydea dôra,
    Hossa ken autoi dôsi, hekôn d' ouk an tis heloito.=

Der allgemeinste Überblick zeigt uns, als die beiden Feinde des
menschlichen Glückes, den Schmerz und die Langeweile. Dazu noch läßt
sich bemerken, daß, in dem Maße, als es uns glückt, von einem
derselben uns zu entfernen, wir dem andern uns nähern, und umgekehrt;
so daß unser Leben wirklich eine stärkere oder schwächere Oszillation
zwischen ihnen darstellt. Dies entspringt daraus, daß beide in einem
doppelten Antagonismus zu einander stehn, einem äußern oder
objektiven, und einem innern oder subjektiven. Äußerlich nämlich
gebiert Not und Entbehrung den Schmerz; hingegen Sicherheit und
Überfluß die Langeweile. Demgemäß sehen wir die niedere Volksklasse in
einem beständigen Kampf gegen die Not, also den Schmerz; die reiche
und vornehme Welt hingegen in einem anhaltenden oft wirklich
verzweifelten Kampf gegen die Langeweile. Der innere oder subjektive
Antagonismus derselben aber beruht darauf, daß, im einzelnen Menschen,
die Empfänglichkeit für das eine in entgegengesetztem Verhältnis zu
der für das andere steht, indem sie durch das Maß seiner Geisteskräfte
bestimmt wird. Nämlich Stumpfheit des Geistes ist durchgängig im
Verein mit Stumpfheit der Empfindung und Mangel an Reizbarkeit, welche
Beschaffenheit für Schmerzen und Betrübnisse jeder Art und Größe
weniger empfänglich macht: aus eben dieser Geistesstumpfheit aber geht
andrerseits jene, auf zahllosen Gesichtern ausgeprägte, wie auch durch
die beständig rege Aufmerksamkeit auf alle, selbst die kleinsten
Vorgänge in der Außenwelt sich verratende *innere Leerheit* hervor,
welche die wahre Quelle der Langeweile ist und stets nach äußerer
Anregung lechzt, um Geist und Gemüt durch irgend etwas in Bewegung zu
bringen. In der Wahl desselben ist sie daher nicht ekel; wie dies die
Erbärmlichkeit der Zeitvertreibe bezeugt, zu denen man Menschen
greifen sieht, imgleichen die Art ihrer Geselligkeit und Konversation,
nicht weniger die vielen Türsteher und Fenstergucker. Hauptsächlich
aus dieser inneren Leerheit entspringt die Sucht nach Gesellschaft,
Zerstreuung, Vergnügen und Luxus jeder Art, welche viele zur
Verschwendung und dann zum Elende führt. Vor diesem Elende bewahrt
nichts so sicher, als der *innere* Reichtum, der Reichtum des Geistes:
denn dieser läßt, je mehr er sich der Eminenz nähert, der Langenweile
immer weniger Raum. Die unerschöpfliche Regsamkeit der Gedanken aber,
ihr an den mannigfaltigen Erscheinungen der Innen- und Außenwelt sich
stets erneuerndes Spiel, die Kraft und der Trieb zu immer andern
Kombinationen derselben, setzen den eminenten Kopf, die Augenblicke
der Abspannung abgerechnet, ganz außer den Bereich der Langenweile.
Andrerseits nun aber hat die gesteigerte Intelligenz eine erhöhte
Sensibilität zur unmittelbaren Bedingung, und größere Heftigkeit des
Willens, also der Leidenschaftlichkeit, zur Wurzel: aus ihrem Verein
mit diesen erwächst nun eine viel größere Stärke aller Affekte und
eine gesteigerte Empfindlichkeit gegen die geistigen und selbst gegen
körperliche Schmerzen, sogar größere Ungeduld bei allen Hindernissen
oder auch nur Störungen; welches alles zu erhöhen die aus der Stärke
der Phantasie entspringende Lebhaftigkeit sämtlicher Vorstellungen,
also auch der widerwärtigen, mächtig beiträgt. Das Gesagte gilt nun
verhältnismäßig von allen den Zwischenstufen, welche den weiten Raum
vom stumpfesten Dummkopf bis zum größten Genie ausfüllen. Demzufolge
steht jeder, wie objektiv, so auch subjektiv, der einen Quelle der
Leiden des menschlichen Lebens um so näher, als er von der andern
entfernter ist. Dem entsprechend wird sein natürlicher Hang ihn
anleiten, in dieser Hinsicht das Objektive dem Subjektiven möglichst
anzupassen, also gegen *die* Quelle der Leiden, für welche er die
größere Empfänglichkeit hat, die größere Vorkehr zu treffen. Der
geistreiche Mensch wird vor allem nach Schmerzlosigkeit,
Ungehudeltsein, Ruhe und Muße streben, folglich ein stilles,
bescheidenes, aber möglichst unangefochtenes Leben suchen und
demgemäß, nach einiger Bekanntschaft mit den sogenannten Menschen, die
Zurückgezogenheit und, bei großem Geiste, sogar die Einsamkeit wählen.
Denn je mehr einer an sich selber hat, desto weniger bedarf er von
außen und desto weniger können auch die übrigen ihm sein. Darum führt
die Eminenz des Geistes zur Ungeselligkeit. Ja, wenn die Qualität der
Gesellschaft sich durch die Quantität ersetzen ließe; da wäre es der
Mühe wert, sogar in der großen Welt zu leben: aber leider geben
hundert Narren, auf einem Haufen, noch keinen gescheuten Mann. -- Der
vom andern Extrem wird, sobald die Not ihn zu Atem kommen läßt,
Kurzweil und Gesellschaft, um jeden Preis suchen und mit allem leicht
vorlieb nehmen, nichts so sehr fliehend wie sich selbst. Denn in der
Einsamkeit, als wo jeder auf sich selbst zurückgewiesen ist, da zeigt
sich, was er *an sich selber* hat: da seufzt der Tropf im Purpur unter
der unabwälzbaren Last seiner armseligen Individualität; während der
Hochbegabte die ödeste Umgebung mit seinen Gedanken bevölkert und
belebt. Daher ist sehr wahr, was *Seneka* sagt: _omnes stultitia
laborat fastidio sui_ (_ep. 9_); wie auch Jesus Sirachs Ausspruch:
»des Narren Leben ist ärger denn der Tod.« Demgemäß wird man, im
ganzen, finden, daß jeder in dem Maße gesellig ist, wie er geistig arm
und überhaupt gemein ist. Denn man hat in der Welt nicht viel mehr,
als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit. Die geselligsten
aller Menschen sollen die Neger sein, wie sie eben auch intellektuell
entschieden zurückstehn: nach Berichten aus Nord-Amerika, in
Französischen Zeitungen (_le Commerce, Octbr. 19, 1837_), sperren die
Schwarzen, Freie und Sklaven durcheinander, in großer Anzahl, sich in
den engsten Raum zusammen, weil sie ihr schwarzes Stumpfnasengesicht
nicht oft genug wiederholt erblicken können.

Dem entsprechend, daß das Gehirn als der Parasit oder Pensionär des
ganzen Organismus auftritt, ist die errungene *freie Muße* eines
jeden, indem sie ihm den freien Genuß seines Bewußtseins und seiner
Individualität gibt, die Frucht und der Ertrag seines gesamten
Daseins, welches im übrigen nur Mühe und Arbeit ist. Was nun aber
wirft die freie Muße der meisten Menschen ab? Langeweile, und
Dumpfheit, so oft nicht sinnliche Genüsse oder Albernheiten da sind,
sie auszufüllen. Wie völlig wertlos sie ist, zeigt die Art, wie sie
solche zubringen: sie ist eben das _ozio lungo d'uomini ignoranti_ des
Ariosto. Die gewöhnlichen Leute sind bloß darauf bedacht, die Zeit
*zuzubringen*; wer irgend ein Talent hat, -- sie *zu benutzen*. -- Daß
die beschränkten Köpfe der Langeweile so sehr ausgesetzt sind, kommt
daher, daß ihr Intellekt durchaus nichts weiter, als das *Medium der
Motive* für ihren Willen ist. Sind nun vor der Hand keine Motive
aufzufassen da; so ruht der Wille und feiert der Intellekt; dieser,
weil er so wenig wie jener auf eigene Hand in Tätigkeit gerät: das
Resultat ist schreckliche Stagnation aller Kräfte im ganzen Menschen,
-- Langeweile. Dieser zu begegnen, schiebt man nun dem Willen kleine,
bloß einstweilige und beliebig angenommene Motive vor, ihn zu erregen
und dadurch auch den Intellekt, der sie aufzufassen hat, in Tätigkeit
zu versetzen: diese verhalten sich demnach zu den wirklichen und
natürlichen Motiven wie Papiergeld zu Silber; da ihre Geltung eine
willkürlich angenommene ist. Solche Motive nun sind die *Spiele*, mit
Karten usw., welche zu besagtem Zweck erfunden worden sind. Fehlt es
daran, so hilft der beschränkte Mensch sich durch Klappern oder
Trommeln, mit allem, was er in die Hand kriegt. Auch die Zigarre ist
ihm ein willkommenes Surrogat der Gedanken. -- Daher also ist, in
allen Ländern, die Hauptbeschäftigung aller Gesellschaft das
Kartenspiel geworden: es ist der Maßstab des Wertes derselben und der
deklarierte Bankrott an allen Gedanken. Weil sie nämlich keine
Gedanken auszutauschen haben, tauschen sie Karten aus und suchen
einander Gulden abzunehmen. O, klägliches Geschlecht! Und indessen
auch hier nicht ungerecht zu sein, will ich den Gedanken nicht
unterdrücken, daß man zur Entschuldigung des Kartenspiels allenfalls
anführen könnte, es sei eine Vorübung zum Welt- und Geschäftsleben,
sofern man dadurch lernt, die vom Zufall unabänderlich gegebenen
Umstände (Karten) klug zu benutzen, um daraus was immer angeht zu
machen, zu welchem Zwecke man sich denn auch gewöhnt, Contenance zu
halten, indem man zum schlechten Spiel eine heitere Miene aufsetzt.
Aber eben deshalb hat andererseits das Kartenspiel einen
demoralisierenden Einfluß. Der Geist des Spiels nämlich ist, daß man
auf alle Weise, durch jeden Streich und jeden Schlich, dem andern das
Seinige abgewinne. Aber die Gewohnheit, im Spiel so zu verfahren,
wurzelt ein, greift über in das praktische Leben, und man kommt
allmälig dahin, in den Angelegenheiten des Mein und Dein es ebenso zu
machen und jeden Vorteil, den man eben in der Hand hält, für erlaubt
zu halten, sobald man nur es gesetzlich darf. Belege hiezu gibt ja das
bürgerliche Leben täglich. -- Weil also, wie gesagt, die *freie Muße*
die Blüte, oder vielmehr die Frucht des Daseins eines jeden ist, indem
nur sie ihn in den Besitz seines eigenen Selbst einsetzt, so sind die
glücklich zu preisen, welche dann auch etwas Rechtes an sich selber
erhalten; während den Allermeisten die freie Muße nichts abwirft, als
einen Kerl, mit dem nichts anzufangen ist, der sich schrecklich
langweilt, sich selber zur Last. Demnach freuen wir uns, »ihr lieben
Brüder, daß wir nicht sind der Magd Kinder, sondern der Freien.« (Gal.
4, 31.)

Ferner, wie das Land am glücklichsten ist, welches weniger oder keiner
Einfuhr bedarf; so auch der Mensch, der an seinem innern Reichtum
genug hat und zu seiner Unterhaltung wenig oder nichts von außen nötig
hat; da dergleichen Zufuhr viel kostet, abhängig macht, Gefahr bringt,
Verdruß verursacht und am Ende doch nur ein schlechter Ersatz ist für
die Erzeugnisse des eigenen Bodens. Denn von andern, von außen
überhaupt, darf man in keiner Hinsicht viel erwarten. Was einer dem
andern sein kann, hat seine sehr engen Grenzen: am Ende bleibt doch
jeder allein, und da kommt es darauf an, *wer* jetzt allein sei. Auch
hier gilt demnach was Goethe (Dicht. u. Wahrh. Bd. 3, S. 474) im
allgemeinen ausgesprochen hat, daß, in allen Dingen, jeder zuletzt auf
sich selbst zurückgewiesen wird, oder, wie *Oliver Goldsmith* sagt:

    _Still to ourselves in ev'ry place consign'd,
    Our own felicity we make or find._

    (_The Traveller v. 431 sq._)

Das Beste und Meiste muß daher jeder sich selber sein und leisten. Je
mehr nun dieses ist, und je mehr demzufolge er die Quellen seiner
Genüsse in sich selbst findet, desto glücklicher wird er sein. Mit
größtem Rechte also sagt Aristoteles: =hê eudaimonia tôn autarkôn
esti= (_Eth. Eud. VII, 2_), zu deutsch: das Glück gehört denen, die
sich selber genügen. Denn alle äußern Quellen des Glückes und Genusses
sind, ihrer Natur nach, höchst unsicher, mißlich, vergänglich und dem
Zufall unterworfen, dürften daher, selbst unter den günstigsten
Umständen, leicht stocken; ja, dieses ist unvermeidlich, sofern sie
doch nicht stets zur Hand sein können. Im Alter nun gar versiegen sie
fast alle notwendig: denn da verläßt uns Liebe, Scherz, Reiselust,
Pferdelust und Tauglichkeit für die Gesellschaft: sogar die Freunde
und Verwandten entführt uns der Tod. Da kommt es denn, mehr als je,
darauf an, was einer an sich selber habe. Denn dieses wird am längsten
Stich halten. Aber auch in jedem Alter ist und bleibt es die echte und
allein ausdauernde Quelle des Glücks. Ist doch in der Welt überall
nicht viel zu holen: Not und Schmerz erfüllen sie, und auf die, welche
diesen entronnen sind, lauert in allen Winkeln die Langeweile. Zudem
hat in der Regel die Schlechtigkeit die Herrschaft darin und die
Torheit das große Wort. Das Schicksal ist grausam und die Menschen
sind erbärmlich. In einer so beschaffenen Welt gleicht der, welcher
viel an sich selber hat, der hellen, warmen lustigen Weihnachtsstube,
mitten im Schnee und Eise der Dezembernacht. Demnach ist eine
vorzügliche, eine reiche Individualität und besonders sehr viel Geist
zu haben ohne Zweifel das glücklichste Los auf Erden; so verschieden
es etwan auch von dem glänzendesten ausgefallen sein mag. Daher war es
ein weiser Ausspruch der erst 19jährigen Königin Christine von
Schweden, über den ihr noch bloß durch *einen* Aufsatz und aus
mündlichen Berichten bekannt gewordenen Kartesius, welcher damals seit
20 Jahren in der tiefsten Einsamkeit, in Holland, lebte: _Mr.
Descartes est le plus heureux de tous les hommes, et sa condition me
semble digne d'envie._ (_Vie de Descartes par Baillet, Liv. VII, ch.
10._) Nur müssen, wie es eben auch der Fall des Kartesius war, die
äußeren Umstände es so weit begünstigen, daß man auch sich selbst
besitzen und seiner froh werden könne; weshalb schon Koheleth (7, 12)
sagt: »Weisheit ist gut mit einem Erbgut, und hilft, daß einer sich
der Sonne freuen kann.« Wem nun, durch Gunst der Natur und des
Schicksals, dieses Los beschieden ist, der wird mit ängstlicher
Sorgfalt darüber wachen, daß die innere Quelle seines Glückes ihm
zugänglich bleibe; wozu Unabhängigkeit und Muße die Bedingungen sind.
Diese wird er daher gern durch Mäßigkeit und Sparsamkeit erkaufen; um
so mehr, als er nicht, gleich den andern, auf die äußern Quellen der
Genüsse verwiesen ist. Darum wird die Aussicht auf Ämter, Geld, Gunst
und Beifall der Welt, ihn nicht verleiten, sich selber aufzugeben, um
den niedrigen Absichten oder dem schlechten Geschmacke der Menschen
sich zu fügen. Vorkommenden Falls wird er es machen wie *Horaz* in der
Epistel an den Mäcenas (_Lib. I, ep. 7_). Es ist eine große Torheit,
um *nach außen* zu gewinnen, *nach innen* zu verlieren, d. h. für
Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre, seine Ruhe, Muße und
Unabhängigkeit ganz oder großenteils hinzugeben. Dies hat aber
*Goethe* getan. Mich hat mein Genius mit Entschiedenheit nach der
andern Seite gezogen.

Die hier erörterte Wahrheit, daß die Hauptquelle des menschlichen
Glückes im eigenen Innern entspringt, findet ihre Bestätigung auch an
der sehr richtigen Bemerkung des *Aristoteles*, in der Nikomachäischen
Ethik (_I, 7; et VII, 13, 14_), daß jeglicher Genuß irgendeine
Aktivität, also die Anwendung irgendeiner Kraft voraussetzt und ohne
solche nicht bestehn kann. Diese Aristotelische Lehre, daß das Glück
eines Menschen in der ungehinderten Ausübung seiner hervorstechenden
Fähigkeit bestehe, gibt auch Stobäos wieder in seiner Darstellung der
peripatetischen Ethik (_Ecl. eth. II, c. 7, p. 268-278_), z. B.
=energeian einai tên eudaimonian kat' aretên, en praxesi proêgoumenais
kat' euchên= (_felicitatem esse functionem secundum virtutem, per
actiones successus compotes_); auch mit der Erklärung, daß =aretê=
jede Virtuosität sei. Nun ist die ursprüngliche Bestimmung der Kräfte,
mit welchen die Natur den Menschen ausgerüstet hat, der Kampf gegen
die Not, die ihn von allen Seiten bedrängt. Wenn aber dieser Kampf
einmal rastet, da werden ihm die unbeschäftigten Kräfte zur Last: er
muß daher jetzt mit ihnen *spielen*, d. h. sie zwecklos gebrauchen:
denn sonst fällt er der anderen Quelle des menschlichen Leidens, der
Langeweile, sogleich anheim. Von dieser sind daher vor allem die
Großen und Reichen gemartert, und hat von ihrem Elend schon Lukretius
eine Schilderung gegeben, deren Treffendes zu erkennen man noch heute,
in jeder großen Stadt, täglich Gelegenheit findet:

    _Exit saepe foras magnis ex aedibus ille,
    Esse domi quem pertaesum est, subitoque reventat;
    Quippe foris nihilo melius qui sentiat esse.
    Currit, agens mannos, ad villam praecipitanter,
    Auxilium tectis quasi ferre ardentibus instans:
    Oscitat extemplo, tetigit quum limina villae;
    Aut abit in somnum gravis, atque oblivia quaerit;
    Aut etiam properans urbem petit, atque revisit._

    _III, 1073._

Bei diesen Herren muß in der Jugend die Muskelkraft und die
Zeugungskraft herhalten. Aber späterhin bleiben nur die Geisteskräfte:
fehlt es dann an diesen, oder an ihrer Ausbildung und dem
angesammelten Stoffe zu ihrer Tätigkeit, so ist der Jammer groß. Weil
nun der *Wille* die einzige unerschöpfliche Kraft ist; so wird er
jetzt angereizt durch Erregung der Leidenschaften, z. B. durch hohe
Hasardspiele, dieses wahrhaft degradierende Laster. -- Überhaupt aber
wird jedes unbeschäftigte Individuum, je nach der Art der in ihm
vorwaltenden Kräfte, sich ein Spiel zu ihrer Beschäftigung wählen:
etwan Kegel oder Schach; Jagd oder Malerei; Wettrennen oder Musik;
Kartenspiel oder Poesie; Heraldik oder Philosophie, usw. Wir können
sogar die Sache methodisch untersuchen, indem wir auf die Wurzel aller
menschlichen Kraftäußerungen zurückgehen, also auf die *drei
physiologischen Grundkräfte*, welche wir demnach hier in ihrem
zwecklosen Spiele zu betrachten haben, in welchem sie als die Quellen
dreier Arten möglicher Genüsse auftreten, aus denen jeder Mensch, je
nachdem die eine oder die andere jener Kräfte in ihm vorwaltet, die
ihm angemessenen erwählen wird. Also zuerst, die Genüsse der
*Reproduktionskraft*: sie bestehn im Essen, Trinken, Verdauen, Ruhen
und Schlafen. Diese werden daher sogar ganzen Völkern als ihre
Nationalvergnügungen von den andern nachgerühmt. Zweitens die Genüsse
der *Irritabilität*: sie bestehen im Wandern, Springen, Ringen,
Tanzen, Fechten, Reiten und athletischen Spielen jeder Art, wie auch
in der Jagd und sogar in Kampf und Krieg. Drittens, die Genüsse der
*Sensibilität*: sie bestehen im Beschauen, Denken, Empfinden, Dichten,
Bilden, Musiziren, Lernen, Lesen, Meditieren, Erfinden, Philosophiren
usw. -- Über den Wert, den Grad, die Dauer jeder dieser Arten der
Genüsse lassen sich mancherlei Betrachtungen anstellen, die dem Leser
selbst überlassen bleiben. Jedem aber wird dabei einleuchten, daß
unser allemal durch den Gebrauch der eigenen Kräfte bedingter Genuß
und mithin unser in dessen häufiger Wiederkehr bestehendes Glück, um
so größer sein wird, je edlerer Art die ihn bedingende Kraft ist. Den
Vorrang, welchen in dieser Hinsicht die Sensibilität, deren
entschiedenes Überwiegen das Auszeichnende des Menschen vor den
übrigen Tiergeschlechtern ist, vor den beiden andern physiologischen
Grundkräften hat, als welche in gleichem und sogar in höherem Grade
den Tieren einwohnen, wird ebenfalls niemand ableugnen. Der
Sensibilität gehören unsere Erkenntniskräfte an: daher befähigt das
Überwiegen derselben zu den im *Erkennen* bestehenden, also den
sogenannten *geistigen* Genüssen, und zwar zu um so größeren, je
entschiedener jenes Überwiegen ist[B]. Dem normalen, gewöhnlichen
Menschen kann eine Sache allein dadurch lebhafte Teilnahme abgewinnen,
daß sie seinen *Willen* anregt, also ein persönliches Interesse für
ihn hat. Nun ist aber jede anhaltende Erregung des *Willens*
wenigstens gemischter Art, also mit Schmerz verknüpft. Ein
absichtliches Erregungsmittel desselben und zwar mittels so kleiner
Interessen, daß sie nur momentane und leichte, nicht bleibende und
ernstliche Schmerzen verursachen können, sonach als ein bloßes Kitzeln
des Willens zu betrachten sind, ist das Kartenspiel, diese
durchgängige Beschäftigung der »guten Gesellschaft«, aller Orten[C].
-- Der Mensch von überwiegenden Geisteskräften hingegen ist der
lebhaftesten Teilnahme auf dem Wege bloßer *Erkenntnis*, ohne alle
Einmischung des *Willens*, fähig, ja bedürftig. Diese Teilnahme aber
versetzt ihn alsdann in eine Region, welcher der Schmerz wesentlich
fremd ist, gleichsam in die Atmosphäre der leicht lebenden Götter,
=theaôn rheia zôontôn=. Während demnach das Leben der übrigen in
Dumpfheit dahingeht, indem ihr Dichten und Trachten gänzlich auf die
kleinlichen Interessen der persönlichen Wohlfahrt und dadurch auf
Miseren aller Art gerichtet ist, weshalb unerträgliche Langeweile sie
befällt, sobald die Beschäftigung mit jenen Zwecken stockt und sie auf
sich selbst zurückgewiesen werden, indem nur das wilde Feuer der
Leidenschaft einige Bewegung in die stockende Masse zu bringen vermag;
so hat dagegen der mit überwiegenden Geisteskräften ausgestattete
Mensch ein gedankenreiches, durchweg belebtes und bedeutsames Dasein:
würdige und interessante Gegenstände beschäftigen ihn, sobald er sich
ihnen überlassen darf und in sich selbst trägt er eine Quelle der
edelsten Genüsse. Anregung von außen geben ihm die Werke der Natur und
der Anblick des menschlichen Treibens, sodann die so verschiedenartigen
Leistungen der Hochbegabten aller Zeiten und Länder, als welche
eigentlich nur ihm ganz genießbar, weil nur ihm ganz verständlich und
fühlbar sind. Für ihn demnach haben jene wirklich gelebt, an ihn haben
sie sich eigentlich gewendet; während die übrigen nur als zufällige
Zuhörer eines und das andere halb auffassen. Freilich aber hat er
durch dieses alles ein Bedürfnis mehr als die andern, das Bedürfnis zu
lernen, zu sehen, zu studiren, zu meditiren, zu üben, folglich auch
das Bedürfnis freier Muße: aber eben weil, wie *Voltaire* richtig
bemerkt, _il n'est de vrais plaisirs qu'avec de vrais besoins_, so ist
dies Bedürfnis die Bedingung dazu, daß ihm Genüsse offen stehn, welche
den andern versagt bleiben, als welchen Natur- und Kunstschönheiten
und Geisteswerke jeder Art, selbst wenn sie solche um sich anhäufen,
im Grunde doch nur das sind, was Hetären einem Greise. Ein so
bevorzugter Mensch führt infolge davon neben seinem persönlichen Leben
noch ein zweites, nämlich ein intellektuelles, welches ihm allmälig
zum eigentlichen Zweck wird, zu welchem er jenes erstere nur noch als
Mittel ansieht: während den übrigen dieses schale, leere und betrübte
Dasein selbst als Zweck gelten muß. Jenes intellektuelle Leben wird
daher ihn vorzugsweise beschäftigen und es erhält, durch den
fortwährenden Zuwachs an Einsicht und Erkenntnis, einen Zusammenhang,
eine beständige Steigerung, eine sich mehr und mehr abrundende
Ganzheit und Vollendung, wie ein werdendes Kunstwerk; wogegen das bloß
praktische, bloß auf persönliche Wohlfahrt gerichtete, bloß eines
Zuwachses in der Länge, nicht in der Tiefe fähige Leben der andern
traurig absticht, dennoch ihnen, wie gesagt, als Selbstzweck gelten
muß; während es jenem bloßes Mittel ist.

  [B] Die Natur steigert sich fortwährend, zunächst vom mechanischen und
  chemischen Wirken des unorganischen Reiches zum vegetabilischen und
  seinem dumpfen Selbstgenuß, von da zum Tierreich, mit welchem die
  Intelligenz und das Bewußtsein anbricht und nun von schwachen Anfängen
  stufenweise immer höher steigt und endlich durch den letzten und
  größten Schritt bis zum *Menschen* sich erhebt, in dessen Intellekt
  also die Natur den Gipfelpunkt und das Ziel ihrer Produktionen
  erreicht, also das Vollendetste und Schwierigste liefert, was sie
  hervorzubringen vermag. Selbst innerhalb der menschlichen Spezies aber
  stellt der Intellekt noch viele und merkliche Abstufungen dar und
  gelangt höchst selten zur obersten, der eigentlich hohen Intelligenz.
  Diese nun also ist im engeren und strengeren Sinne das schwierigste
  und höchste Produkt der Natur, mithin das Seltenste und Wertvollste,
  was die Welt aufzuweisen hat. In einer solchen Intelligenz tritt das
  klarste Bewußtsein ein und stellt demgemäß die Welt sich deutlicher
  und vollständiger als irgendwo dar. Der damit Ausgestattete besitzt
  demnach das Edelste und Köstlichste auf Erden und hat dementsprechend
  eine Quelle von Genüssen, gegen welche alle übrigen gering sind; so
  daß er von außen nichts weiter bedarf, als nur die Muße, sich dieses
  Besitzes ungestört zu erfreuen und seinen Diamanten auszuschleifen.
  Denn alle anderen, also nicht intellektuellen Genüsse sind niedrigerer
  Art: sie laufen sämtlich auf Willensbewegungen hinaus, also auf
  Wünschen, Hoffen, Fürchten und Erreichen, gleichviel auf was es
  gerichtet sei, wobei es nie ohne Schmerzen abgehen kann, und zudem mit
  dem Erreichen, in der Regel, mehr oder weniger Enttäuschung eintritt,
  statt daß bei den intellektuellen Genüssen die Wahrheit immer klarer
  wird. Im Reiche der Intelligenz waltet kein Schmerz, sondern alles ist
  Erkenntnis. Alle intellektuellen Genüsse sind nun aber jedem nur
  vermittels und also nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz
  zugänglich: denn _tout l'esprit, qui est au monde, est inutile à celui
  qui n'en a point_. Ein wirklicher, jenen Vorzug begleitender Nachteil
  aber ist, daß, in der ganzen Natur, mit dem Grad der Intelligenz die
  Fähigkeit zum Schmerze sich steigert, also ebenfalls erst hier ihre
  höchste Stufe erreicht.

  [C] Die *Vulgarität* besteht im Grunde darin, daß im Bewußtsein das
  Wollen das Erkennen gänzlich überwiegt, womit es den Grad erreicht,
  daß durchaus nur zum Dienste des Willens das Erkennen eintritt,
  folglich wo dieser Dienst es nicht heischt, also eben keine Motive,
  weder große noch kleine, vorliegen, das Erkennen ganz zessiert,
  folglich völlige Gedankenleere eintritt. Nun ist aber erkenntnisloses
  Wollen das Gemeinste, was es gibt: jeder Klotz Holz hat es und zeigt
  es wenigstens, wenn er fällt. Daher macht jener Zustand die Vulgarität
  aus. In demselben bleiben bloß die Sinneswerkzeuge und die geringe,
  zur Apprehension ihrer Data erforderte Verstandestätigkeit aktiv,
  infolge wovon der vulgäre Mensch allen Eindrücken beständig offen
  steht, also alles, was um ihn herum vorgeht, augenblicklich wahrnimmt,
  so daß der leiseste Ton und jeder, auch noch so geringfügige Umstand
  seine Aufmerksamkeit sogleich erregt, eben wie bei den Tieren. Dieser
  ganze Zustand wird in seinem Gesicht und ganzen Äußeren sichtbar, --
  woraus dann das vulgäre Ansehen hervorgeht, dessen Eindruck um so
  widerlicher ist, wann, wie meistens, der hier das Bewußtsein allein
  erfüllende Wille ein niedriger, egoistischer und überhaupt schlechter
  ist.

Unser praktisches, reales Leben nämlich ist, wenn nicht die
Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade; wenn sie aber es
bewegen, wird es bald schmerzlich: darum sind die allein beglückt,
denen irgendein Überschuß des Intellekts über das zum Dienst ihres
Willens erforderte Maß zuteil geworden. Denn damit führen sie, neben
ihrem wirklichen, noch ein intellektuelles Leben, welches sie
fortwährend auf eine *schmerzlose* Weise und doch lebhaft beschäftigt
und unterhält. Bloße Muße, d. h. durch den Dienst des Willens
*unbeschäftigter* Intellekt, reicht dazu nicht aus; sondern ein
wirklicher Überschuß der *Kraft* ist erfordert: denn nur dieser
befähigt zu einer dem Willen nicht dienenden, rein geistigen
Beschäftigung: hingegen _otium sine litteris mors est et hominis vivi
sepultura_ (_Sen. ep. 82_). Je nachdem nun aber dieser Überschuß klein
oder groß ist, gibt es unzählige Abstufungen jenes, neben dem realen
zu führenden intellektuellen Lebens, vom bloßen Insekten-, Vögel-,
Mineralien-, Münzensammeln und Beschreiben bis zu den höchsten
Leistungen der Poesie und Philosophie. Ein solches intellektuelles
Leben schützt aber nicht nur gegen die Langeweile, sondern auch gegen
die verderblichen Folgen derselben. Es wird nämlich zur Schutzwehr
gegen schlechte Gesellschaft und gegen die vielen Gefahren,
Unglücksfälle, Verluste und Verschwendungen, in die man gerät, wenn
man sein Glück ganz in der realen Welt sucht. So hat z. B. mir meine
Philosophie nie etwas eingebracht; aber sie hat mir sehr viel erspart.

Der normale Mensch hingegen ist, hinsichtlich des Genusses seines
Lebens, auf Dinge *außer ihm* gewiesen, auf den Besitz, den Rang, auf
Weib und Kinder, Freunde, Gesellschaft usw., auf diese stützt sich
sein Lebensglück: darum fällt es dahin, wenn er sie verliert oder er
sich in ihnen getäuscht sah. Dies Verhältnis auszudrücken, können wir
sagen, daß sein Schwerpunkt *außer ihm* fällt. Eben deshalb hat er
auch stets wechselnde Wünsche und Grillen: er wird, wenn seine Mittel
es erlauben, bald Landhäuser, bald Pferde kaufen, bald Feste geben,
bald Reisen machen, überhaupt aber großen Luxus treiben, weil er eben
in Dingen aller Art ein Genüge *von außen* sucht; wie der Entkräftete
aus Consommé's und Apothekerdrogen die Gesundheit und Stärke zu
erlangen hofft, deren wahre Quelle die eigene Lebenskraft ist. Stellen
wir nun, um nicht gleich zum anderen Extrem überzugehn, neben ihn
einen Mann von nicht gerade eminenten, aber doch das gewöhnliche
knappe Maß überschreitenden Geisteskräften, so sehn wir diesen etwa
irgendeine schöne Kunst als Dilettant üben, oder aber eine
Realwissenschaft, wie Botanik, Mineralogie, Physik, Astronomie,
Geschichte u. dgl. betreiben und alsbald einen großen Teil seines
Genusses darin finden, sich daran erholend, wenn jene äußeren Quellen
stocken oder ihn nicht mehr befriedigen. Wir können insofern sagen,
daß sein Schwerpunkt schon zum Teil *in ihn selbst* fällt. Weil jedoch
bloßer Dilettantismus in der Kunst noch sehr weit von der
hervorbringenden Fähigkeit liegt, und weil bloße Realwissenschaften
bei den Verhältnissen der Erscheinungen zueinander stehn bleiben, so
kann der ganze Mensch nicht darin aufgehen, sein ganzes Wesen kann
nicht bis auf den Grund von ihnen erfüllt werden und daher sein Dasein
sich nicht mit ihnen so verweben, daß er am übrigen alles Interesse
verlöre. Dies nun bleibt der höchsten geistigen Eminenz allein
vorbehalten, die man mit dem Namen des Genies zu bezeichnen pflegt:
denn nur sie nimmt das Dasein und Wesen der Dinge im ganzen und
absolut zu ihrem Thema, wonach sie dann ihr tiefe Auffassung
desselben, gemäß ihrer individuellen Richtung, durch Kunst, Poesie
oder Philosophie auszusprechen streben wird. Daher ist allein einem
Menschen dieser Art die ungestörte Beschäftigung mit sich, mit seinen
Gedanken und Werken dringendes Bedürfnis, Einsamkeit willkommen, freie
Muße das höchste Gut, alles übrige entbehrlich, ja, wenn vorhanden,
oft nur zur Last. Nur von einem solchen Menschen können wir demnach
sagen, daß sein Schwerpunkt *ganz in ihn* fällt. Hieraus wird sogar
erklärlich, daß die höchst seltenen Leute dieser Art, selbst beim
besten Charakter, doch nicht jene innige und grenzenlose Teilnahme an
Freunden, Familie und Gemeinwesen zeigen, deren manche der anderen
fähig sind: denn sie können sich zuletzt über alles trösten; wenn sie
nur sich selbst haben. Sonach liegt in ihnen ein isolirendes Element
mehr, welches um so wirksamer ist, als die anderen ihnen eigentlich
nie vollkommen genügen, weshalb sie in ihnen nicht ganz und gar
ihresgleichen sehen können, ja, da das Heterogene in allem und jedem
ihnen stets fühlbar wird, allmählich sich gewöhnen, unter den Menschen
als verschiedenartige Wesen umherzugehen und, in ihren Gedanken über
dieselben, sich der dritten nicht der ersten Person Pluralis zu
bedienen. --

Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint nun der, welchen die Natur in
intellektueller Hinsicht sehr reich ausgestattet hat, als der
Glücklichste; so gewiß das Subjektive uns näher liegt als das
Objektive, dessen Wirkung, welcher Art sie auch sei, immer erst durch
jenes vermittelt, also nur sekundär ist. Dies bezeugt auch der schöne
Vers:

    =Ploutos ho tês psychês ploutos monos estin alêthês,
    T' alla d' echei atên pleiona tôn kteanôn.=

    _Lucian in Anthol. I, 67._

Ein solcher innerlich Reicher bedarf von außen nichts weiter als eines
negativen Geschenks, nämlich freier Muße, um seine geistigen
Fähigkeiten ausbilden und entwickeln und seinen innern Reichtum
genießen zu können, also eigentlich nur der Erlaubnis, sein ganzes
Leben hindurch, jeden Tag und jede Stunde, ganz er selbst sein zu
dürfen. Wenn einer bestimmt ist, die Spur seines Geistes dem ganzen
Menschengeschlechte aufzudrücken, so gibt es für ihn nur ein Glück
oder Unglück, nämlich seine Anlagen vollkommen ausbilden und seine
Werke vollenden zu können, -- oder aber hieran verhindert zu sein.
Alles andere ist für ihn geringfügig. Demgemäß sehen wir die großen
Geister aller Zeiten auf freie Muße den allerhöchsten Wert legen. Denn
die freie Muße eines jeden ist so viel wert, wie er selbst wert ist.
=Dokei de hê eudaimonia en tê scholê einai= (_videtur beatitudo in
otio esse sita_) sagt *Aristoteles* (_Eth. Nic. X, 7_), und Diogenes
Laertius (_II, 5, 31_) berichtet, daß =Sôkratês epênei scholên, hôs
kalliston ktêmatôn= (_Socrates otium ut possessionum omnium
pulcherrimam laudabat_). Dem entspricht auch, daß Aristoteles (_Eth.
Nic. X, 7, 8, 9_) das philosophische Leben für das glücklichste
erklärt. Sogar gehört hierher, was er in der Politik (_IV, 11_) sagt:
=ton eudaimona bion einai ton kat' aretên anempodiston=, welches,
gründlich übersetzt, besagt: »seine Trefflichkeit, welcher Art sie
auch sei, ungehindert üben zu können, ist das eigentliche Glück,« und
also zusammentrifft mit *Goethes* Ausspruch im Wilhelm Meister: »wer
mit einem Talent, zu einem Talent geboren ist, findet in demselben
sein schönstes Dasein.« -- Nun aber ist freie Muße zu besitzen nicht
nur dem gewöhnlichen Schicksal, sondern auch der gewöhnlichen Natur
des Menschen fremd; denn seine natürliche Bestimmung ist, daß er seine
Zeit mit Herbeischaffung des zu seiner und seiner Familie Existenz
Notwendigen zubringe. Er ist ein Sohn der Not, nicht eine freie
Intelligenz. Dementsprechend wird freie Muße dem gewöhnlichen Menschen
bald zur Last, ja endlich zur Qual, wenn er sie nicht, mittels
allerlei erkünstelter und fingirter Zwecke, durch Spiel, Zeitvertreib
und Steckenpferde jeder Gestalt auszufüllen vermag: auch bringt sie
ihm aus dem selben Grunde Gefahr, da es mit Recht heißt _difficilis in
otio quies_. Andrerseits jedoch ist ein über das normale Maß weit
hinausgehender Intellekt ebenfalls abnorm, also unnatürlich. Ist er
dennoch einmal vorhanden, so bedarf es, für das Glück des damit
Begabten, eben jener den andern bald lästigen, bald verderblichen
freien Muße; da er ohne diese ein Pegasus im Joche, mithin unglücklich
sein wird. Treffen nun aber beide Unnatürlichkeiten, die äußere und
die innere, zusammen, so ist es ein großer Glücksfall: denn jetzt wird
der so Begünstigte ein Leben höherer Art führen, nämlich das eines
Eximirten von den beiden entgegengesetzten Quellen des menschlichen
Leidens, der Not und der Langenweile, oder dem sorglichen Treiben für
die Existenz und der Unfähigkeit, die Muße (d. i. die freie Existenz
selbst) zu ertragen, welchen beiden Übeln der Mensch sonst nur dadurch
entgeht, daß sie selbst sich wechselseitig neutralisiren und aufheben.

Gegen dieses alles jedoch kommt andererseits in Betracht, daß die
großen Geistesgaben infolge der überwiegenden Nerventätigkeit eine
überaus gesteigerte Empfindlichkeit für den Schmerz, in jeglicher
Gestalt, herbeiführen, daß ferner das sie bedingende leidenschaftliche
Temperament und zugleich die von ihnen unzertrennliche größere
Lebhaftigkeit und Vollkommenheit aller Vorstellungen eine ungleich
größere Heftigkeit der durch diese erregten Affekte herbeiführt,
während es doch überhaupt mehr peinliche als angenehme Affekte gibt;
endlich auch, daß die großen Geistesgaben ihren Besitzer den übrigen
Menschen und ihrem Treiben entfremden, da, je mehr er an sich selber
hat, desto weniger er an ihnen finden kann. Hundert Dinge, an welchen
sie großes Genüge haben, sind ihm schal und ungenießbar, wodurch denn
das überall sich geltend machende Gesetz der Kompensation vielleicht
auch hier in Kraft bleibt; ist doch sogar oft genug, und nicht ohne
Schein, behauptet worden, der geistig beschränkteste Mensch sei im
Grunde der glücklichste, wenn gleich keiner ihn um dieses Glück
beneiden mag. In der definitiven Entscheidung der Sache will ich
umsoweniger dem Leser vorgreifen, als selbst *Sophokles* hierüber zwei
einander diametral entgegengesetzte Aussprüche getan hat:

    =Pollô to phronein eudaimonias prôton hyparchei.=
    (_Sapere longe prima felicitatis pars est._)

    _Antig. 1328._

und wieder:

    =En tô phronein gar mêden hêdistos bios.=
    (_Nihil cogitantium jucundissima vita est._)

    _Ajax. 550._

Eben so uneinig miteinander sind die Philosophen des A. T.

    »Des Narren Leben ist ärger denn der Tod!«
    (=tou gar môrou hyper thanatou zôê ponêra.=)

    Jes. Sir. 22, 12.

und

    »Wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens.«
    (=ho prostitheis gnôsin, prosthêsei algêma.=)

    Kohel. 1, 18.

Inzwischen will ich hier doch nicht unerwähnt lassen, daß der Mensch,
welcher, infolge des streng und knapp normalen Maßes seiner
intellektuellen Kräfte, *keine geistige Bedürfnisse hat*, es
eigentlich ist, den ein der deutschen Sprache ausschließlich eigener,
vom Studentenleben ausgegangener, nachmals aber in einem höheren,
wiewohl dem ursprünglichen, durch den Gegensatz zum Musensohne, immer
noch analogen Sinne gebrauchter Ausdruck als den *Philister*
bezeichnet. Dieser nämlich ist und bleibt der =amousos anêr=. Nun
würde ich zwar, von einem höheren Standpunkt aus, die Definition der
Philister so aussprechen, daß sie Leute wären, die immerfort auf das
ernstlichste beschäftigt sind mit einer Realität, die keine ist.
Allein eine solche schon transzendentale Definition würde dem
populären Standpunkt, auf welchen ich mich in dieser Abhandlung
gestellt habe, nicht angemessen, daher auch vielleicht nicht durchaus
jedem Leser faßlich sein. Jene erstere hingegen läßt leichter eine
spezielle Erläuterung zu und bezeichnet hinreichend das Wesentliche
der Sache, die Wurzel aller der Eigenschaften, die den *Philister*
charakterisieren. Er ist demnach *ein Mensch ohne geistige
Bedürfnisse*. Hieraus nun folgt gar mancherlei: erstlich, *in Hinsicht
auf ihn selbst*, daß er ohne geistige *Genüsse* bleibt; nach dem schon
erwähnten Grundsatz: _il n'est de vrais plaisirs qu'avec de vrais
besoins_. Kein Drang nach Erkenntnis und Einsicht, um ihrer selbst
willen, belebt sein Dasein, auch keiner nach eigentlich ästhetischen
Genüssen, als welcher dem ersteren durchaus verwandt ist. Was dennoch
von Genüssen solcher Art etwa Mode oder Autorität ihm aufdringt, wird
er als eine Art Zwangsarbeit möglichst kurz abtun. Wirkliche Genüsse
für ihn sind allein die sinnlichen: durch diese hält er sich schadlos.
Demnach sind Austern und Champagner der Höhepunkt seines Daseins, und
sich alles, was zum leiblichen Wohlsein beiträgt, zu verschaffen, ist
der Zweck seines Lebens. Glücklich genug, wenn dieser ihm viel zu
schaffen macht! Denn, sind jene Güter ihm schon zum voraus oktroyirt,
so fällt er unausbleiblich der Langenweile anheim, gegen welche dann
alles Ersinnliche versucht wird: Ball, Theater, Gesellschaft,
Kartenspiel, Hasardspiel, Pferde, Weiber, Trinken, Reisen usw. Und
doch reicht dies alles gegen die Langeweile nicht aus, wo Mangel an
geistigen Bedürfnissen die geistigen Genüsse unmöglich macht. Daher
auch ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst, der sich dem
tierischen nähert, eigen und charakteristisch. Nichts freut ihn,
nichts erregt ihn, nichts gewinnt ihm Anteil ab. Denn die sinnlichen
Genüsse sind bald erschöpft; die Gesellschaft, aus eben solchen
Philistern bestehend, wird bald langweilig, das Kartenspiel zuletzt
ermüdend. Allenfalls bleiben ihm noch die Genüsse der Eitelkeit, nach
seiner Weise, welche denn darin bestehen, daß er an Reichtum oder
Rang, oder Einfluß und Macht andere übertrifft, von welchen er dann
deshalb geehrt wird; oder aber auch darin, daß er wenigstens mit
solchen, die in dergleichen eminiren, Umgang hat und so sich im Reflex
ihres Glanzes sonnt (_a snob_). -- Aus der aufgestellten
Grundeigenschaft des Philisters folgt *zweitens, in Hinsicht auf
andere*, daß, da er keine geistige sondern nur physische Bedürfnisse
hat, er den suchen wird, der diese, nicht den, der jene zu befriedigen
imstande ist. Am allerwenigsten wird daher unter den Anforderungen,
die er an andere macht, die irgend überwiegender geistiger Fähigkeiten
sein: vielmehr werden diese, wenn sie ihm aufstoßen, seinen
Widerwillen, ja, seinen Haß erregen; weil er dabei nur ein lästiges
Gefühl von Inferiorität und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid
verspürt, den er aufs sorgfältigste versteckt, indem er ihn sogar sich
selber zu verhehlen sucht, wodurch aber gerade solcher bisweilen bis
zu einem stillen Ingrimm anwächst. Nimmermehr demnach wird es ihm
einfallen, nach dergleichen Eigenschaften seine Wertschätzung oder
Hochachtung abzumessen; sondern diese wird ausschließlich dem Range
und Reichtum, der Macht und dem Einfluß vorbehalten bleiben, als
welche in seinen Augen die allein wahren Vorzüge sind, in denen zu
exzelliren auch sein Wunsch wäre. -- Alles dieses aber folgt daraus,
daß er ein Mensch *ohne geistige Bedürfnisse* ist. Das große Leiden
aller Philister ist, daß *Idealitäten* ihnen keine Unterhaltung
gewähren, sondern sie, um der Langenweile zu entgehen, stets der
*Realitäten* bedürfen. Diese nämlich sind teils bald erschöpft, wo
sie, statt zu unterhalten, ermüden; teils führen sie Unheil jeder Art
herbei; während hingegen die Idealitäten unerschöpflich und an sich
unschuldig und unschädlich sind.

Ich habe in dieser ganzen Betrachtung der persönlichen Eigenschaften,
welche zu unserem Glücke beitragen, nächst den physischen,
hauptsächlich die intellektuellen berücksichtigt. Auf welche Weise nun
aber auch die moralische Trefflichkeit unmittelbar beglückt, habe ich
früher in meiner Preisschrift über das Fundament der Moral § 22, S.
275 (2. Aufl. 272) dargelegt, wohin ich also von hier verweise.




Kapitel III.

Von dem, was einer hat.


Richtig und schön hat der große Glückseligkeitslehrer *Epikuros* die
menschlichen Bedürfnisse in drei Klassen geteilt. Erstlich die
natürlichen und die notwendigen: es sind die, welche, wenn nicht
befriedigt, Schmerz verursachen. Folglich gehört hierher nur
_victus et amictus_. Sie sind leicht zu befriedigen. Zweitens, die
natürlichen jedoch nicht notwendigen: es ist das Bedürfnis der
Geschlechtsbefriedigung; wiewohl Epikur dies im Berichte des Laertius
nicht ausspricht; (wie ich denn überhaupt seine Lehre hier etwas
zurechtgeschoben und ausgefeilt wiedergebe). Dieses Bedürfnis zu
befriedigen hält schon schwerer. Drittens, die weder natürlichen noch
notwendigen: es sind die des Luxus, der Üppigkeit, des Prunkes und
Glanzes: sie sind endlos und ihre Befriedigung ist sehr schwer. (Siehe
_Diog. Laert. L. X, c. 27, § 149_, auch _§ 127. -- Cic. de fin. I, 13._)

Die Grenze unserer vernünftigen Wünsche hinsichtlich des Besitzes zu
bestimmen ist schwierig, wo nicht unmöglich. Denn die Zufriedenheit
eines jeden, in dieser Hinsicht, beruht nicht auf einer absoluten
sondern auf einer bloß relativen Größe, nämlich auf dem Verhältnis
zwischen seinen Ansprüchen und seinem Besitz: daher dieser letztere,
für sich allein betrachtet, so bedeutungsleer ist wie der Zähler eines
Bruchs ohne den Nenner. Die Güter, auf welche Anspruch zu machen einem
Menschen nie in den Sinn gekommen ist, entbehrt er durchaus nicht
sondern ist, auch ohne sie, völlig zufrieden; während ein anderer, der
hundertmal mehr besitzt als er, sich unglücklich fühlt, weil ihm eins
abgeht, darauf er Anspruch macht. Jeder hat, auch in dieser Hinsicht,
einen eigenen Horizont des für ihn möglicherweise Erreichbaren: so
weit wie dieser gehn seine Ansprüche. Wann irgend ein innerhalb
desselben gelegenes Objekt sich ihm so darstellt, daß er auf dessen
Erreichung vertrauen kann, fühlt er sich glücklich; hingegen
unglücklich, wann eintretende Schwierigkeiten ihm die Aussicht darauf
benehmen. Das außerhalb dieses Gesichtskreises Liegende wirkt gar
nicht auf ihn. Daher beunruhigen den Armen die großen Besitztümer der
Reichen nicht, und tröstet andrerseits den Reichen, bei verfehlten
Absichten, das viele nicht, was er schon besitzt. (Der Reichtum
gleicht dem Seewasser: je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird
man. -- Dasselbe gilt vom Ruhm.) -- Daß nach verlorenem Reichtum oder
Wohlstande, sobald der erste Schmerz überstanden ist, unsre habituelle
Stimmung nicht sehr verschieden von der früheren ausfällt, kommt
daher, daß, nachdem das Schicksal den Faktor unsres Besitzes
verkleinert hat, wir selbst nun den Faktor unsrer Ansprüche gleich
sehr vermindern. Diese Operation aber ist das eigentlich Schmerzhafte,
bei einem Unglücksfall: nachdem sie vollzogen ist, wird der Schmerz
immer weniger, zuletzt gar nicht mehr gefühlt: die Wunde vernarbt.
Umgekehrt wird, bei einem Glücksfall, der Kompressor unsrer Ansprüche
hinaufgeschoben, und sie dehnen sich aus: hierin liegt die Freude.
Aber auch sie dauert nicht länger, als bis diese Operation gänzlich
vollzogen ist: wir gewöhnen uns an das erweiterte Maß der Ansprüche
und werden gegen den demselben entsprechenden Besitz gleichgültig.
Dies sagt schon die homerische Stelle, _Od. XVIII, 130-137_, welche
schließt:

    =Toios gar noos estin epichthoniôn anthrôpôn,
    Hoion eph' hêmar agei patêr andrôn te theôn te.=

Die Quelle unserer Unzufriedenheit liegt in unsern stets erneuerten
Versuchen, den Faktor der Ansprüche in die Höhe zu schieben, bei der
Unbeweglichkeit des andern Faktors, die es verhindert. --

Unter einem so bedürftigen und aus Bedürfnissen bestehendem
Geschlecht, wie das menschliche, ist es nicht zu verwundern, daß
*Reichtum* mehr und aufrichtiger als alles andere geachtet, ja verehrt
wird, und selbst die Macht nur als Mittel zum Reichtum; wie auch
nicht, daß zum Zwecke des Erwerbs alles andere beiseite geschoben oder
über den Haufen geworfen wird, z. B. die Philosophie von den
Philosophieprofessoren. -- Daß die Wünsche der Menschen hauptsächlich
auf Geld gerichtet sind und sie dieses über alles lieben, wird ihnen
oft zum Vorwurf gemacht. Jedoch ist es natürlich, wohl gar
unvermeidlich, das zu lieben, was als ein unermüdlicher Proteus jeden
Augenblick bereit ist, sich in den jedesmaligen Gegenstand unsrer so
wandelbaren Wünsche und mannigfaltigen Bedürfnisse zu verwandeln.
Jedes andere Gut nämlich kann nur *einem* Wunsch, *einem* Bedürfnis
genügen: Speisen sind bloß gut für den Hungrigen, Wein für den
Gesunden, Arznei für den Kranken, ein Pelz für den Winter, Weiber für
die Jugend usw. Sie sind folglich alle nur =agatha pros ti=, d. h. nur
relativ gut. Geld allein ist das absolut Gute: weil es nicht bloß
*einem* Bedürfnis _in concreto_ begegnet sondern *dem* Bedürfnis
überhaupt, _in abstracto_. --

*Vorhandenes Vermögen* soll man betrachten als eine Schutzmauer gegen
die vielen möglichen Übel und Unfälle, nicht als eine Erlaubnis oder
gar Verpflichtung, die Plaisirs der Welt heranzuschaffen. -- Leute,
die von Hause aus kein Vermögen haben, aber endlich in die Lage
kommen, durch ihre Talente, welcher Art sie auch seien, viel zu
verdienen, geraten fast immer in die Einbildung, ihr Talent sei das
bleibende Kapital und der Gewinn dadurch die Zinsen. Demgemäß legen
sie dann nicht das Erworbene teilweise zurück, um so ein bleibendes
Kapital zusammenzubringen, sondern geben aus in dem Maße, wie sie
verdienen. Danach aber werden sie meistens in Armut geraten, weil ihr
Erwerb stockt oder aufhört, nachdem entweder das Talent selbst
erschöpft ist, indem es vergänglicher Art war wie z. B. das zu fast
allen schönen Künsten, oder auch, weil es nur unter besonderen
Umständen und Konjunkturen geltend zu machen war, welche aufgehört
haben. Handwerker mögen immerhin es auf die besagte Weise halten, weil
die Fähigkeiten zu ihren Leistungen nicht leicht verloren gehn, auch
durch die Kräfte der Gesellen ersetzt werden und weil ihre Fabrikate
Gegenstände des Bedürfnisses sind, also alle Zeit Abgang finden,
weshalb denn auch das Sprichwort »ein Handwerk hat einen goldenen
Boden« richtig ist. Aber nicht so steht es um die Künstler und
_virtuosi_ jeder Art. Eben deshalb werden diese teuer bezahlt. Daher
aber soll, was sie erwerben, ihr Kapital werden; während sie
vermessener Weise es für bloße Zinsen halten und dadurch ihrem
Verderben entgegengehn. -- Leute hingegen, welche ererbtes Vermögen
besitzen, wissen wenigstens sogleich ganz richtig, was das Kapital und
was die Zinsen sind. Die meisten werden daher jenes sicher zu stellen
suchen, keinesfalls es angreifen, ja womöglich wenigstens ein Achtel
der Zinsen zurücklegen, künftigen Stockungen zu begegnen. Sie bleiben
daher meistens im Wohlstande. -- Auf Kaufleute ist diese ganze
Bemerkung nicht anwendbar: denn ihnen ist das Geld selbst Mittel zum
ferneren Erwerb, gleichsam Handwerksgerät; daher sie, auch wenn es
ganz von ihnen selbst erworben ist, es sich durch Benutzung zu
erhalten und zu vermehren suchen. Demgemäß ist in keinem Stande der
Reichtum so eigentlich zu Hause wie in diesem.

Überhaupt aber wird man, in der Regel, finden, daß diejenigen, welche
schon mit der eigentlichen Not und dem Mangel handgemein gewesen sind,
diese ungleich weniger fürchten und daher zur Verschwendung geneigter
sind als die, welche solche nur von Hörensagen kennen. Zu den ersteren
gehören alle, die durch Glücksfälle irgend einer Art oder durch
besondere Talente, gleichviel welcher Gattung, ziemlich schnell aus
der Armut in den Wohlstand gelangt sind: die andern hingegen sind die,
welche im Wohlstande geboren und geblieben sind. Diese sind
durchgängig mehr auf die Zukunft bedacht und daher ökonomischer als
jene. Man könnte daraus schließen, daß die Not nicht eine so schlimme
Sache wäre, wie sie, von weitem gesehn, scheint. Doch möchte der wahre
Grund vielmehr dieser sein, daß dem, der in angestammtem Reichtume
geboren ist, dieser als etwas Unentbehrliches erscheint, als das
Element des einzig möglichen Lebens, so gut wie die Luft; daher er ihn
bewacht wie sein Leben, folglich meistens ordnungsliebend, vorsichtig
und sparsam ist. Dem in angestammter Armut Geborenen hingegen
erscheint diese als der natürliche Zustand; der ihm danach irgendwie
zugefallene Reichtum aber als etwas Überflüssiges, bloß tauglich zum
Genießen und Verprassen; indem man, wann er wieder fort ist, sich so
gut wie vorher ohne ihn behilft und noch eine Sorge los ist. Da geht
es denn wie Shakespeare sagt:

    _The adage must be verified,
    That beggars mounted run their horse to death._

    (Das Sprichwort muß bewährt werden, daß der zu Pferde gesetzte
    Bettler sein Tier zu Tode jagt.)

    _Henry VI. P. 3. A. 1._

Dazu kommt denn freilich noch, daß solche Leute ein festes und
übergroßes Zutrauen teils zum Schicksal, teils zu den eigenen Mitteln,
die ihnen schon aus Not und Armut herausgeholfen haben, nicht sowohl
im Kopf als im Herzen tragen und daher die Untiefen derselben nicht,
wie es wohl den reich Geborenen begegnet, für bodenlos halten, sondern
denken, daß man, auf den Boden stoßend, wieder in die Höhe gehoben
wird. -- Aus dieser menschlichen Eigentümlichkeit ist es auch zu
erklären, daß Frauen, welche arme Mädchen waren, sehr oft
anspruchsvoller und verschwenderischer sind als die, welche eine
reiche Aussteuer zubrachten, indem meistenteils die reichen Mädchen
nicht bloß Vermögen mitbringen, sondern auch mehr Eifer, ja angeerbten
Trieb zur Erhaltung desselben, als arme. Wer inzwischen das Gegenteil
behaupten will, findet eine Autorität für sich am Ariosto in dessen
erster Satire; hingegen stimmt Dr. Johnson meiner Meinung bei: _A
woman of fortune being used to the handling of money, spends it
judiciously: but a woman who gets the command of money for the first
time upon her marriage, has such a gust in spending it, that she
throws it away with great profusion._ (S. _Boswell, Life of Johnson,
ann. 1776, aetat. 67._) Jedenfalls aber möchte ich dem, der ein armes
Mädchen heiratet, raten, sie nicht das Kapital sondern eine bloße
Rente erben zu lassen, besonders aber dafür zu sorgen, daß das
Vermögen der Kinder nicht in ihre Hände gerät.

Ich glaube keineswegs etwas meiner Feder Unwürdiges zu tun, indem ich
hier die Sorge für Erhaltung des erworbenen und des ererbten Vermögens
anempfehle. Denn von Hause aus so viel zu besitzen, daß man, wäre es
auch nur für seine Person und ohne Familie, in wahrer Unabhängigkeit
d. h. ohne zu arbeiten, bequem leben kann, ist ein unschätzbarer
Vorzug: denn es ist die Exemtion und die Immunität von der dem
menschlichen Leben anhängenden Bedürftigkeit und Plage, also die
Emanzipation vom allgemeinen Frohndienst, diesem naturgemäßen Lose des
Erdensohns. Nur unter dieser Begünstigung des Schicksals ist man als
ein wahrer Freier geboren: denn nur so ist man eigentlich _sui juris_,
Herr seiner Zeit und seiner Kräfte, und darf jeden Morgen sagen: »Der
Tag ist mein«. Auch ist ebendeshalb zwischen dem, der tausend, und
dem, der hunderttausend Taler Renten hat, der Unterschied unendlich
kleiner als zwischen ersterem und dem, der nichts hat. Seinen höchsten
Wert aber erlangt das angeborene Vermögen, wenn es dem zugefallen ist,
der, mit geistigen Kräften höherer Art ausgestattet, Bestrebungen
verfolgt, die sich mit dem Erwerbe nicht wohl vertragen: denn alsdann
ist er vom Schicksal doppelt dotirt und kann jetzt seinem Genius
leben: der Menschheit aber wird er seine Schuld dadurch hundertfach
abtragen, daß er leistet was kein anderer konnte und etwas
hervorbringt, das ihrer Gesamtheit zugute kommt, wohl auch gar ihr zur
Ehre gereicht. Ein anderer nun wieder wird in so bevorzugter Lage sich
durch philantropische Bestrebungen um die Menschheit verdient machen.
Wer hingegen nichts von dem allen, auch nur einigermaßen, oder
versuchsweise, leistet, ja, nicht einmal durch gründliche Erlernung
irgendeiner Wissenschaft sich wenigstens die Möglichkeit eröffnet,
dieselbe zu fördern, -- ein solcher ist, bei angeerbtem Vermögen, ein
bloßer Tagedieb und verächtlich. Auch wird er nicht glücklich sein:
denn die Exemtion von der Not liefert ihn dem anderen Pol des
menschlichen Elends, der Langenweile, in die Hände, die ihn so
martert, daß er viel glücklicher wäre, wenn die Not ihm Beschäftigung
gegeben hätte. Eben diese Langeweile aber wird ihn leicht zu
Extravaganzen verleiten, welche ihn um jenen Vorzug bringen, dessen er
nicht würdig war. Wirklich befinden Unzählige sich bloß deshalb in
Mangel, weil, als sie Geld hatten, sie es ausgaben, um nur sich
augenblickliche Linderung der sie drückenden Langenweile zu
verschaffen.

Ganz anders nun aber verhält es sich, wenn der Zweck ist, es im
Staatsdienste hoch zu bringen, wo demnach Gunst, Freunde, Verbindungen
erworben werden müssen, um durch sie, von Stufe zu Stufe, Beförderung,
vielleicht gar bis zu den höchsten Posten, zu erlangen: hier nämlich
ist es im Grunde wohl besser, ohne alles Vermögen in die Welt gestoßen
zu sein. Besonders wird es dem, welcher nicht adelig, hingegen mit
einigem Talent ausgestattet ist, zum wahren Vorteil und zur Empfehlung
gereichen, wenn er ein ganz armer Teufel ist. Denn was jeder, schon in
der bloßen Unterhaltung, wie viel mehr im Dienste, am meisten sucht
und liebt, ist die Inferiorität des anderen. Nun aber ist allein ein
armer Teufel von seiner gänzlichen, tiefen, entschiedenen und
allseitigen Inferiorität und seiner völligen Unbedeutsamkeit und
Wertlosigkeit in dem Grade überzeugt und durchdrungen, wie es hier
erfordert wird. Nur er demnach verbeugt sich oft und anhaltend genug,
und nur seine Bücklinge erreichen volle 90°: nur er läßt alles über
sich ergehn und lächelt dazu; nur er erkennt die gänzliche
Wertlosigkeit der Verdienste; nur er preist öffentlich, mit lauter
Stimme, oder auch in großem Druck, die literarischen Stümpereien der
über ihn Gestellten, oder sonst Einflußreichen, als Meisterwerke; nur
er versteht zu betteln: folglich kann nur er, bei Zeiten, also in der
Jugend, sogar ein Epopte jener verborgenen Wahrheit werden, die Goethe
uns enthüllt hat in den Worten:

    »Über's Niederträchtige
    Niemand sich beklage:
    Denn es ist das Mächtige,
    Was man dir auch sage.«

    *W. O. Divan.*

Hingegen der, welcher von Hause aus zu leben hat, wird sich meistens
ungebärdig stellen: er ist gewohnt _tête levée_ zu gehn, hat alle jene
Künste nicht gelernt, trotzt dazu vielleicht noch auf etwanige
Talente, deren Unzulänglichkeit vielmehr, dem _médiocre et rampant_
gegenüber, er begreifen sollte; er ist am Ende wohl gar imstande, die
Inferiorität der über ihn Gestellten zu merken; und wenn es nun
vollends zu den Indignitäten kommt, da wird er stätisch oder
kopfscheu. Damit poussirt man sich nicht in der Welt: vielmehr kann es
mit ihm zuletzt dahin kommen, daß er mit dem frechen Voltaire sagt:
_nous n'avons que deux jours à vivre: ce n'est pas la peine de les
passer à ramper sous des coquins méprisables_: -- leider ist,
beiläufig gesagt, dieses _coquin méprisable_ ein Prädikat, zu dem es
in der Welt verteufelt viele Subjekte gibt. Man sieht also, daß das
Juvenalische

    _Haud facile emergunt, quorum virtutibus obstat
    Res angusta domi,_

mehr von der Laufbahn der Virtuositäten als von der der Weltleute
gültig ist.

Zu dem, *was einer hat*, habe ich Frau und Kinder nicht gerechnet; da
er von diesen vielmehr gehabt wird. Eher ließen sich Freunde dazu
zählen: doch muß auch hier der Besitzende im gleichen Maße der Besitz
des andern sein.




Kapitel IV.

Von dem, was einer vorstellt.


Dieses, also unser Dasein in der Meinung anderer, wird, infolge einer
besonderen Schwäche unserer Natur, durchgängig viel zu hoch
angeschlagen; obgleich schon die leichteste Besinnung lehren könnte,
daß es, an sich selbst, für unser Glück, unwesentlich ist. Es ist
demnach kaum erklärlich, wie sehr jeder Mensch sich innerlich freut,
so oft er Zeichen der günstigen Meinung anderer merkt und seiner
Eitelkeit irgendwie geschmeichelt wird. So unausbleiblich wie die
Katze spinnt, wenn man sie streichelt, malt süße Wonne sich auf das
Gesicht des Menschen, den man lobt und zwar in dem Felde seiner
Prätension, sei das Lob auch handgreiflich lügenhaft. Oft trösten ihn
über reales Unglück oder über die Kargheit, mit der für ihn die
beiden, bis hieher abgehandelten Hauptquellen unseres Glückes fließen,
die Zeichen des fremden Beifalls: und, umgekehrt, ist es zum
Erstaunen, wie sehr jede Verletzung seines Ehrgeizes, in irgend einem
Sinne, Grad oder Verhältnis, jede Geringschätzung, Zurücksetzung,
Nichtachtung ihn unfehlbar kränkt und oft tief schmerzt. Sofern auf
dieser Eigenschaft das Gefühl der Ehre beruht, mag sie für das
Wohlverhalten vieler, als Surrogat ihrer Moralität, von ersprießlichen
Folgen sein; aber auf das eigene *Glück* des Menschen, zunächst auf
die diesem so wesentliche Gemütsruhe und Unabhängigkeit, wirkt sie
mehr störend und nachteilig als förderlich ein. Daher ist es, von
unserm Gesichtspunkt aus, ratsam, ihr Schranken zu setzen und, mittels
gehöriger Überlegung und richtiger Abschätzung des Wertes der Güter,
jene große Empfindlichkeit gegen die fremde Meinung möglichst zu
mäßigen, sowohl da, wo ihr geschmeichelt wird, als da, wo ihr wehe
geschieht: denn beides hängt am selben Faden. Außerdem bleibt man der
Sklave fremder Meinung und fremden Bedünkens:

    _Sic leve, sic parvum est, animum quod laudis avarum
    Subruit ac reficit._

Demnach wird eine richtige Abschätzung des Wertes dessen, was man in
und *für sich selbst* ist, gegen das, was man bloß in den Augen
*anderer* ist, zu unserm Glücke viel beitragen. Zum ersteren gehört
die ganze Ausfüllung der Zeit unsers eigenen Daseins, der innere
Gehalt desselben, mithin alle die Güter, welche unter den Titeln »was
einer ist« und »was einer hat« von uns in Betrachtung genommen worden
sind. Denn der Ort, in welchem alles dieses seine Wirkungssphäre hat,
ist das eigene Bewußtsein. Hingegen ist der Ort dessen, was wir für
*andere* sind, das fremde Bewußtsein: es ist die Vorstellung, unter
welcher wir darin erscheinen, nebst den Begriffen, die auf diese
angewandt werden[D]. Dies nun ist etwas, das unmittelbar gar nicht für
uns vorhanden ist, sondern bloß mittelbar, nämlich sofern das Betragen
der andern gegen uns dadurch bestimmt wird. Und auch dieses selbst
kommt eigentlich nur in Betracht, sofern es Einfluß hat auf irgend
etwas, wodurch das, was wir *in und für uns selbst* sind, modifizirt
werden kann. Außerdem ist ja, was in einem fremden Bewußtsein vorgeht,
als solches, für uns gleichgültig, und auch wir werden allmählig
gleichgültig dagegen werden, wenn wir von der Oberflächlichkeit und
Futilität der Gedanken, von der Beschränktheit der Begriffe, von der
Kleinlichkeit der Gesinnung, von der Verkehrtheit der Meinungen und
von der Anzahl der Irrtümer in den allermeisten Köpfen eine
hinlängliche Kenntnis erlangen, und dazu aus eigener Erfahrung lernen,
mit welcher Geringschätzung gelegentlich von jedem geredet wird,
sobald man ihn nicht zu fürchten hat oder glaubt, es komme ihm nicht
zu Ohren; insbesondere aber nachdem wir einmal angehört haben, wie vom
größten Manne ein halbes Dutzend Schafsköpfe mit Wegwerfung spricht.
Wir werden dann einsehen, daß, wer auf die Meinung der Menschen einen
großen Wert legt, ihnen zu viel Ehre erzeigt.

  [D] Die höchsten Stände, in ihrem Glanz, in ihrer Pracht und Prunk und
  Herrlichkeit und Repräsentation jeder Art können sagen: unser Glück
  liegt ganz außerhalb unserer selbst: sein Ort sind die Köpfe anderer.

Jedenfalls ist der auf eine kümmerliche Ressource hingewiesen, der
sein Glück nicht in den beiden, bereits abgehandelten Klassen von
Gütern findet, sondern es in dieser dritten suchen muß, also nicht in
dem, was er wirklich, sondern in dem, was er in der fremden
Vorstellung ist. Denn überhaupt ist die Basis unseres Wesens und
folglich auch unseres Glücks unsere animalische Natur. Daher ist, für
unsere Wohlfahrt, Gesundheit das wesentlichste, nächst dieser aber die
Mittel zu unserer Erhaltung, also ein sorgenfreies Auskommen. Ehre,
Glanz, Rang, Ruhm, so viel Wert auch mancher darauf legen mag, können
mit jenen wesentlichen Gütern nicht kompetiren, noch sie ersetzen:
vielmehr würden sie, erforderlichen Falle, unbedenklich für jene
hingegeben werden. Dieserwegen wird es zu unserm Glücke beitragen,
wenn wir beizeiten die simple Einsicht erlangen, daß jeder zunächst
und wirklich in seiner eigenen Haut lebt, nicht aber in der Meinung
anderer, und daß demnach unser realer und persönlicher Zustand, wie er
durch Gesundheit, Temperament, Fähigkeiten, Einkommen, Weib, Kind,
Freunde, Wohnort usw. bestimmt wird, für unser Glück hundertmal
wichtiger ist, als was es andern beliebt aus uns zu machen. Der
entgegengesetzte Wahn macht unglücklich. Wird mit Emphase ausgerufen
»Über's Leben geht noch die Ehre,« so besagt dies eigentlich: »Dasein
und Wohlsein sind nichts; sondern was die andern von uns denken, das
ist die Sache.« Allenfalls kann der Ausspruch als eine Hyperbel
gelten, der die prosaische Wahrheit zum Grunde liegt, daß zu unserm
Fortkommen und Bestehn unter Menschen die Ehre, d. h. die Meinung
derselben von uns, oft unumgänglich nötig ist; worauf ich weiterhin
zurückkommen werde. Wenn man hingegen sieht, wie fast alles, wonach
Menschen, ihr Leben lang, mit rastloser Anstrengung und unter tausend
Gefahren und Mühseligkeiten, unermüdlich streben, zum letzten Zweck,
hat, sich dadurch in der Meinung anderer zu erhöhen, indem nämlich
nicht nur Ämter, Titel und Orden, sondern auch Reichtum, und selbst
Wissenschaft[E] und Kunst, im Grunde und hauptsächlich deshalb
angestrebt werden, und der größere Respekt anderer das letzte Ziel
ist, darauf man hinarbeitet; so beweist dies leider nur die Größe der
menschlichen Torheit. Viel zu viel Wert auf die Meinung anderer zu
legen, ist ein allgemein herrschender Irrwahn: mag er nun in unserer
Natur selbst wurzeln, oder in Folge der Gesellschaft und Zivilisation
entstanden sein; jedenfalls übt er auf unser gesamtes Tun und Lassen
einen ganz übermäßigen und unserem Glücke feindlichen Einfluß aus, den
wir verfolgen können, von da an, wo er sich in der ängstlichen und
sklavischen Rücksicht auf das _qu'en dira-t-on_ zeigt, bis dahin, wo
er den Dolch des Virginius in das Herz seiner Tochter stößt, oder den
Menschen verleitet, für den Nachruhm, Ruhe, Reichtum und Gesundheit,
ja, das Leben zu opfern. Dieser Wahn bietet allerdings dem, der die
Menschen zu beherrschen oder sonst zu lenken hat, eine bequeme
Handhabe dar; weshalb in jeder Art von Menschendressierungskunst die
Weisung, das Ehrgefühl rege zu erhalten und zu schärfen, eine
Hauptstelle einnimmt: aber in Hinsicht auf das eigene Glück des
Menschen, welches hier unsere Absicht ist, verhält die Sache sich ganz
anders, und ist vielmehr davon abzumahnen, daß man nicht zu viel Wert
auf die Meinung anderer lege. Wenn es, wie die tägliche Erfahrung
lehrt, dennoch geschieht, wenn die meisten Menschen gerade auf die
Meinung anderer von ihnen den höchsten Wert legen und es ihnen darum
mehr zu tun ist als um das, was, weil es in *ihrem eigenen Bewußtsein*
vorgeht, unmittelbar für sie vorhanden ist; wenn demnach, mittels
Umkehrung der natürlichen Ordnung, ihnen jenes der reale, dieses der
bloß ideale Teil ihres Daseins zu sein scheint, wenn sie also das
Abgeleitete und Sekundäre zur Hauptsache machen und ihnen mehr das
Bild ihres Wesens im Kopfe anderer, als dieses Wesen selbst am Herzen
liegt; so ist diese unmittelbare Wertschätzung dessen, was für uns
unmittelbar gar nicht vorhanden ist, diejenige Torheit, welche man
*Eitelkeit*, _vanitas_, genannt hat, um dadurch das Leere und
Gehaltlose dieses Strebens zu bezeichnen. Auch ist aus dem Obigen
leicht einzusehn, daß sie zum Vergessen des Zwecks über die Mittel
gehört, so gut wie der Geiz.

  [E] _Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter._

In der Tat überschreitet der Wert, den wir auf die Meinung anderer
legen, und unsere beständige Sorge in betreff derselben, in der Regel,
fast jede vernünftige Bezweckung, so daß sie als eine Art allgemein
verbreiteter oder vielmehr angeborener Manie angesehn werden kann. Bei
allem, was wir tun und lassen, wird, fast vor allem andern, die fremde
Meinung berücksichtigt, und aus der Sorge um sie werden wir, bei
genauer Untersuchung, fast die Hälfte aller Bekümmernisse und Ängste,
die wir jemals empfunden haben, hervorgegangen sehn. Denn sie liegt
allem unserm, so oft gekränkten, weil so krankhaft empfindlichen,
Selbstgefühl, allen unsern Eitelkeiten und Prätensionen, wie auch
unserm Prunken und Großtun, zum Grunde. Ohne diese Sorge und Sucht
würde der Luxus kaum ein Zehntel dessen sein, was er ist. Aller und
jeder Stolz, _point d'honneur_ und _puntiglio_, so verschiedener
Gattung und Sphäre er auch sein kann, beruht auf ihr -- und welche
Opfer heischt sie da nicht oft! Sie zeigt sich schon im Kinde, sodann
in jedem Lebensalter, jedoch am stärksten im späten; weil dann, beim
Versiegen der Fähigkeit zu sinnlichen Genüssen, Eitelkeit und Hochmut
nur noch mit dem Geize die Herrschaft zu teilen haben. Am deutlichsten
läßt sie sich an den Franzosen beobachten, als bei welchen sie ganz
endemisch ist und sich oft in der abgeschmacktesten Ehrsucht,
lächerlichsten National-Eitelkeit und unverschämtesten Prahlerei Luft
macht; wodurch dann ihr Streben sich selbst vereitelt, indem es sie
zum Spotte der andern Nationen gemacht hat und die _grande nation_ ein
Neckname geworden ist. Um nun aber die in Rede stehende Verkehrtheit
der überschwänglichen Sorge um die Meinung anderer noch speziell zu
erläutern, mag hier ein, durch den Lichteffekt des Zusammentreffens
der Umstände mit dem angemessenen Charakter, in seltenem Grade
begünstigtes, recht superlatives Beispiel jener in der Menschennatur
wurzelnden Torheit Platz finden, da an demselben die Stärke dieser
höchst wunderlichen Triebfeder sich ganz ermessen läßt. Es ist
folgende, den _Times_ vom 31. März 1846 entnommene Stelle aus dem
ausführlichen Bericht von der soeben vollzogenen Hinrichtung des
*Thomas Wix*, eines Handwerksgesellen, der aus Rache seinen Meister
ermordet hatte: »An dem zur Hinrichtung festgesetzten Morgen fand sich
der hochwürdige Gefängniskaplan zeitig bei ihm ein. Allein *Wix*,
obwohl sich ruhig betragend, zeigte keinen Anteil an seinen
Ermahnungen: vielmehr war das einzige, was ihm am Herzen lag, daß es
ihm gelingen möchte, vor den Zuschauern seines schmachvollen Endes,
sich mit recht großer Bravour zu benehmen. -- -- -- Dies ist ihm denn
auch gelungen. Auf dem Hofraum, den er zu dem, hart am Gefängnis
errichteten Galgenschaffot zu durchschreiten hatte, sagte er: >Wohlan
denn, wie Doktor Dodd gesagt hat, bald werde ich das große Geheimnis
wissen!< Er ging, obwohl mit gebundenen Armen, die Leiter zum Schaffot
ohne die geringste Beihilfe hinauf: daselbst angelangt machte er gegen
die Zuschauer, rechts und links, Verbeugungen, welche denn auch mit
dem donnernden Beifallsruf der versammelten Menge beantwortet und
belohnt wurden, usw.« -- Dies ist ein Prachtexemplar der Ehrsucht, den
Tod, in schrecklichster Gestalt, nebst der Ewigkeit dahinter, vor
Augen, keine andere Sorge zu haben, als die um den Eindruck auf den
zusammengelaufenen Haufen der Gaffer und die Meinung, welche man in
deren Köpfen zurücklassen wird! -- Und doch war eben so der im selben
Jahr in Frankreich, wegen versuchten Königsmordes, hingerichtete
*Lecomte*, bei seinem Prozeß, hauptsächlich darüber verdrießlich, daß
er nicht in anständiger Kleidung vor der Pairskammer erscheinen
konnte, und selbst bei seiner Hinrichtung war es ihm ein Hauptverdruß,
daß man ihm nicht erlaubt hatte, sich vorher zu rasiren. Daß es auch
ehemals nicht anders gewesen, ersehen wir aus dem, was *Mateo Aleman*,
in der, seinem berühmten Romane, Guzman de Alfarache, vorgesetzten
Einleitung (_declaracion_) anführt, daß nämlich viele betörte
Verbrecher die letzten Stunden, welche sie ausschließlich ihrem
Seelenheile widmen sollten, diesem entziehn, um eine kleine Predigt,
die sie auf der Galgenleiter halten wollen, auszuarbeiten und zu
memoriren. -- An solchen Zügen jedoch können wir selbst uns spiegeln:
denn kolossale Fälle geben überall die deutlichste Erläuterung. Unser
aller Sorgen, Kümmern, Wurmen, Ärgern, Ängstigen, Anstrengen usw.
betrifft, in vielleicht den meisten Fällen, eigentlich die fremde
Meinung und ist eben so absurd, wie das jener armen Sünder. Nicht
weniger entspringt unser Neid und Haß größtenteils aus besagter
Wurzel.

Offenbar nun könnte zu unserem Glücke, als welches allergrößtenteils
auf Gemütsruhe und Zufriedenheit beruht, kaum irgend etwas so viel
beitragen, als die Einschränkung und Herabstimmung dieser Triebfeder
auf ihr vernünftig zu rechtfertigendes Maß, welches vielleicht ein
fünfzigstel des gegenwärtigen sein wird, also das Herausziehn dieses
immerfort peinigenden Stachels aus unserm Fleisch. Dies ist jedoch
sehr schwer: denn wir haben es mit einer natürlichen und angeborenen
Verkehrtheit zu tun. _Etiam sapientibus cupido gloriae novissima
exuitur_ sagt Tacitus (_hist. VI, 6_). Um jene allgemeine Torheit los
zu werden, wäre das alleinige Mittel, sie deutlich als eine solche zu
erkennen und zu diesem Zwecke sich klar zu machen, wie ganz falsch,
verkehrt, irrig und absurd die meisten Meinungen in den Köpfen der
Menschen zu sein pflegen, daher sie, an sich selbst, keiner Beachtung
wert sind; sodann, wie wenig realen Einfluß auf uns die Meinung
anderer, in den meisten Dingen und Fällen, haben kann; ferner, wie
ungünstig überhaupt sie meistenteils ist, so daß fast jeder sich krank
ärgern würde, wenn er vernähme, was alles von ihm gesagt und in
welchem Tone von ihm geredet wird; endlich, daß sogar die Ehre selbst
doch eigentlich nur von mittelbarem und nicht von unmittelbarem Werte
ist u. dgl. m. Wenn eine solche Bekehrung von der allgemeinen Torheit
uns gelänge; so würde die Folge ein unglaublich großer Zuwachs an
Gemütsruhe und Heiterkeit und ebenfalls ein festeres und sichereres
Auftreten, ein durchweg unbefangeneres und natürlicheres Betragen
sein. Der so überaus wohltätige Einfluß, den eine zurückgezogene
Lebensweise auf unsere Gemütsruhe hat, beruht größtenteils darauf, daß
eine solche uns dem fortwährenden Leben vor den Augen anderer,
folglich der steten Berücksichtigung ihrer etwanigen Meinung entzieht
und dadurch uns uns selber zurückgibt. Imgleichen würden wir sehr
vielem realen Unglück entgehn, in welches nur jenes rein ideale
Streben, richtiger jene heillose Torheit, uns zieht, würden auch viel
mehr Sorgfalt für solide Güter übrig behalten und dann auch diese
ungestörter genießen. Aber, wie gesagt, =chalepa ta kala=.

Die hier geschilderte Torheit unsrer Natur treibt hauptsächlich drei
Sprößlinge: Ehrgeiz, Eitelkeit und Stolz. Zwischen diesen zwei
letzteren beruht der Unterschied darauf, daß der *Stolz* die bereits
feststehende Überzeugung vom eigenen überwiegenden Werte, in
irgendeiner Hinsicht, ist; *Eitelkeit* hingegen der Wunsch, in andern
eine solche Überzeugung zu erwecken, meistens begleitet von der
stillen Hoffnung, sie, in Folge davon, auch selbst zu der seinigen
machen zu können. Demnach ist Stolz die von *innen* ausgehende,
folglich direkte Hochschätzung seiner selbst; hingegen Eitelkeit das
Streben, solche von *außen* her, also indirekt zu erlangen.
Dementsprechend macht die Eitelkeit gesprächig, der Stolz schweigsam.
Aber der Eitle sollte wissen, daß die hohe Meinung anderer, nach der
er trachtet, sehr viel leichter und sicherer durch anhaltendes
Schweigen zu erlangen ist, als durch Sprechen, auch wenn einer die
schönsten Dinge zu sagen hätte. -- Stolz ist nicht wer will, sondern
höchstens kann wer will Stolz affektiren, wird aber aus dieser, wie
aus jeder angenommenen Rolle bald herausfallen. Denn nur die feste,
innere, unerschütterliche Überzeugung von überwiegenden Vorzügen und
besonderem Werte macht wirklich stolz. Diese Überzeugung mag nun irrig
sein, oder auch auf bloß äußerlichen und konventionellen Vorzügen
beruhen, -- das schadet dem Stolze nicht, wenn sie nur wirklich und
ernstlich vorhanden ist. Weil also der Stolz seine Wurzel in der
*Überzeugung* hat, steht er, wie alle Erkenntnis, nicht in unserer
*Willkür*. Sein schlimmster Feind, ich meine sein größtes Hindernis,
ist die Eitelkeit, als welche um den Beifall anderer buhlt, um die
eigene hohe Meinung von sich erst darauf zu gründen, in welcher
bereits ganz fest zu sein die Voraussetzung des Stolzes ist.

So sehr nun auch durchgängig der Stolz getadelt und verschrien wird;
so vermute ich doch, daß dies hauptsächlich von solchen ausgegangen
ist, die nichts haben, darauf sie stolz sein könnten. Der
Unverschämtheit und Dummdreistigkeit der meisten Menschen gegenüber,
tut jeder, der irgend welche Vorzüge hat, ganz wohl, sie selbst im
Auge zu behalten, um nicht sie gänzlich in Vergessenheit geraten zu
lassen: denn wer, solche gutmütig ignorirend, mit jenen sich gerirt,
als wäre er ganz ihresgleichen, den werden sie treuherzig sofort dafür
halten. Am meisten aber möchte ich solches denen anempfehlen, deren
Vorzüge von der höchsten Art, d. h. reale, und also rein persönliche
sind, da diese nicht, wie Orden und Titel, jeden Augenblick durch
sinnliche Einwirkung in Erinnerung gebracht werden: denn sonst werden
sie oft genug das _sus Minervam_ exemplifizirt sehn. »Scherze mit dem
Sklaven; bald wird er dir den Hintern zeigen« -- ist ein
vortreffliches arabisches Sprichwort, und das Horazische _sume
superbiam, quaesitam meritis_ ist nicht zu verwerfen. Wohl aber ist
die Tugend der Bescheidenheit eine erkleckliche Erfindung für die
Lumpe; da ihr gemäß jeder von sich zu reden hat, als wäre auch er ein
solcher, welches herrlich nivellirt, indem es dann so herauskommt, als
gäbe es überhaupt nichts als Lumpe.

Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn
er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an *individuellen*
Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu
dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer
bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler
seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am
deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der
Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf
die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein: hieran erholt er
sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die
ihr eigen sind, =pyx kai lax= zu verteidigen. Daher wird man z. B.
unter fünfzig Engländern kaum mehr als einen finden, welcher mit
einstimmt, wenn man von der stupiden und degradirenden Bigotterie
seiner Nation mit gebührender Verachtung spricht: der eine aber pflegt
ein Mann von Kopf zu sein. -- Die Deutschen sind frei von
Nationalstolz und legen hierdurch einen Beweis der ihnen nachgerühmten
Ehrlichkeit ab; vom Gegenteil aber die unter ihnen, welche einen
solchen vorgeben und lächerlicher Weise affektiren; wie dies zumeist
die »deutschen Brüder« und Demokraten tun, die dem Volke schmeicheln,
um es zu verführen. Es heißt zwar, die Deutschen hätten das Pulver
erfunden: ich kann jedoch dieser Meinung nicht beitreten. Und
Lichtenberg frägt: »warum gibt sich nicht leicht jemand, der es nicht
ist, für einen Deutschen aus, sondern gemeiniglich, wenn er sich für
etwas ausgeben will, für einen Franzosen oder Engländer?« Übrigens
überwiegt die Individualität bei weitem die Nationalität, und in einem
gegebenen Menschen verdient jene tausendmal mehr Berücksichtigung als
diese. Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie viel
Gutes ehrlicherweise nachzurühmen sein. Vielmehr erscheint nur die
menschliche Beschränktheit, Verkehrtheit und Schlechtigkeit in jedem
Lande in einer andern Form und diese nennt man den Nationalcharakter.
Von *einem* derselben degoutirt loben wir den andern, bis es uns mit
ihm eben so ergangen ist. -- Jede Nation spottet über die andere, und
alle haben recht.

Der Gegenstand dieses Kapitels, also was wir in der Welt *vorstellen*,
d. h. in den Augen anderer sind, läßt sich nun, wie schon oben
bemerkt, einteilen in *Ehre*, *Rang* und *Ruhm*.

Der *Rang*, so wichtig er in den Augen des großen Haufens und der
Philister, und so groß sein Nutzen im Getriebe der Staatsmaschine sein
mag, läßt sich, für unsern Zweck, mit wenigen Worten abfertigen. Es
ist ein konventioneller, d. h. eigentlich ein simulirter Wert: seine
Wirkung ist eine simulirte Hochachtung, und das ganze eine Komödie für
den großen Haufen. -- Orden sind Wechselbriefe, gezogen auf die
öffentliche Meinung: ihr Wert beruht auf dem Kredit des Ausstellers.
Inzwischen sind sie, auch ganz abgesehn von dem vielen Gelde, welches
sie, als Substitut pekuniärer Belohnungen, dem Staat ersparen, eine
ganz zweckmäßige Einrichtung; vorausgesetzt, daß ihre Verteilung mit
Einsicht und Gerechtigkeit geschehe. Der große Haufe nämlich hat Augen
und Ohren, aber nicht viel mehr, zumal blutwenig Urteilskraft und
selbst wenig Gedächtnis. Manche Verdienste liegen ganz außerhalb der
Sphäre seines Verständnisses, andere versteht und bejubelt er, bei
ihrem Eintritt, hat sie aber nachher bald vergessen. Da finde ich es
ganz passend, durch Kreuz oder Stern, der Menge jederzeit und überall
zuzurufen: »der Mann ist nicht euresgleichen: er hat Verdienste!«
Durch ungerechte, oder urteilslose, oder übermäßige Verteilung
verlieren aber die Orden diesen Wert, daher ein Fürst mit ihrer
Erteilung so vorsichtig sein sollte, wie ein Kaufmann mit dem
Unterschreiben der Wechsel. Die Inschrift _pour le mérite_ auf einem
Kreuze ist ein Pleonasmus: jeder Orden sollte _pour le mérite_ sein,
-- _ça va sans dire_. --

Viel schwerer und weitläufiger, als die des Ranges, ist die Erörterung
der *Ehre*. Zuvörderst hätten wir sie zu definiren. Wenn ich nun in
dieser Absicht etwan sagte: die Ehre ist das äußere Gewissen, und das
Gewissen die innere Ehre; -- so könnte dies vielleicht manchem
gefallen; würde jedoch mehr eine glänzende, als eine deutliche und
gründliche Erklärung sein. Daher sage ich: die Ehre ist, objektiv, die
Meinung anderer von unserm Wert, und subjektiv, unsere Furcht vor
dieser Meinung. In letzterer Eigenschaft hat sie oft eine sehr
heilsame, wenn auch keineswegs rein moralische Wirkung, -- im Mann von
Ehre.

Die Wurzel und der Ursprung des jedem, nicht ganz verdorbenen Menschen
einwohnenden Gefühls für Ehre und Schande, wie auch des hohen Wertes,
welcher ersterer zuerkannt wird, liegt in Folgendem. Der Mensch für
sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: nur in
der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel. Dieses
Verhältnisses wird er inne, sobald sein Bewußtsein sich irgend zu
entwickeln anfängt, und alsbald entsteht in ihm das Bestreben, für ein
taugliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu gelten, also für
eines, das fähig ist, _pro parte virili_ mitzuwirken, und dadurch
berechtigt, der Vorteile der menschlichen Gemeinschaft teilhaft zu
werden. Ein solches nun ist er dadurch, daß er, erstlich, das leistet,
was man von jedem überall, und sodann das, was man von ihm in der
besonderen Stelle, die er eingenommen hat, fordert und erwartet. Eben
so bald aber erkennt er, daß es hierbei nicht darauf ankommt, daß er
es in seiner eigenen, sondern daß er es in der Meinung der anderen
sei. Hieraus entspringt demnach sein eifriges Streben nach der
günstigen *Meinung* anderer und der hohe Wert, den er auf diese legt:
beides zeigt sich mit der Ursprünglichkeit eines angeborenen Gefühls,
welches man Ehrgefühl und, nach Umständen, Gefühl der Scham
(_verecundia_) nennt. Dieses ist es, was seine Wangen rötet, sobald er
glaubt, plötzlich in der Meinung anderer verlieren zu müssen, selbst
wo er sich unschuldig weiß; sogar da, wo der sich aufdeckende Mangel
eine nur relative, nämlich willkürlich übernommene Verpflichtung
betrifft: und andrerseits stärkt nichts seinen Lebensmut mehr, als die
erlangte, oder erneuerte Gewißheit von der günstigen Meinung anderer;
weil sie ihm den Schutz und die Hilfe der vereinten Kräfte aller
verspricht, welche eine unendlich größere Wehrmauer gegen die Übel des
Lebens sind, als seine eigenen.

Aus den verschiedenen Beziehungen, in denen der Mensch zu andern
stehen kann und in Hinsicht auf welche sie Zutrauen zu ihm, also eine
gewisse gute Meinung von ihm, zu hegen haben, entstehen mehrere *Arten
der Ehre*. Diese Beziehungen sind hauptsächlich das Mein und Dein,
sodann die Leistungen der Anheischigen, endlich das Sexualverhältnis:
ihnen entsprechen die bürgerliche Ehre, die Amtsehre und die
Sexualehre, jede von welchen noch wieder Unterarten hat.

Die weiteste Sphäre hat die *bürgerliche Ehre*: sie besteht in der
Voraussetzung, daß wir die Rechte eines jeden unbedingt achten und
daher uns nie ungerechter, oder gesetzlich unerlaubter Mittel zu
unserm Vorteile bedienen werden. Sie ist die Bedingung zur Teilnahme
an allem friedlichen Verkehr. Sie geht verloren durch eine einzige
offenbar und stark dawider laufende Handlung, folglich auch durch jede
Kriminalstrafe; wiewohl nur unter Voraussetzung der Gerechtigkeit
derselben. Immer aber beruht die Ehre, in ihrem letzten Grunde, auf
der Überzeugung von der Unveränderlichkeit des moralischen Charakters,
vermöge welcher eine einzige schlechte Handlung die gleiche moralische
Beschaffenheit aller folgenden, sobald ähnliche Umstände eintreten
werden, verbürgt: dies bezeugt auch der englische Ausdruck _character_
für Ruf, Reputation, Ehre. Deshalb eben ist die verlorene Ehre nicht
wieder herzustellen; es sei denn, daß der Verlust auf Täuschung, wie
Verläumdung, oder falschem Schein, beruht hätte. Demgemäß gibt es
Gesetze gegen Verläumdung, Pasquille, auch Injurien; denn die Injurie,
das bloße Schimpfen, ist eine summarische Verläumdung, ohne Angabe der
Gründe: dies ließe sich Griechisch gut ausdrücken: =esti hê loidoria
diabolê syntomos=, -- welches jedoch nirgends vorkommt. Freilich legt
der, welcher schimpft, dadurch an den Tag, daß er nichts Wirkliches
und Wahres gegen den andern vorzubringen hat; da er sonst dieses als
die Prämissen geben und die Konklusion getrost den Hörern überlassen
würde; statt dessen er die Konklusion gibt und die Prämissen schuldig
bleibt: allein er verläßt sich auf die Präsumtion, daß dies nur
beliebter Kürze halber geschehe. -- Die bürgerliche Ehre hat zwar
ihren Namen vom Bürgerstande; allein ihre Geltung erstreckt sich über
alle Stände, ohne Unterschied, sogar die allerhöchsten nicht
ausgenommen: kein Mensch kann ihrer entraten und ist es mit ihr eine
ganz ernsthafte Sache, die jeder sich hüten soll leicht zu nehmen. Wer
Treu und Glauben bricht, hat Treu und Glauben verloren, auf immer, was
er auch tun und wer er auch sein mag; die bittern Früchte, welche
dieser Verlust mit sich bringt, werden nicht ausbleiben.

Die *Ehre* hat, in gewissem Sinne, einen *negativen* Charakter,
nämlich im Gegensatz des Ruhmes, der einen *positiven* Charakter hat.
Denn die Ehre ist nicht die Meinung von besonderen, diesem Subjekt
allein zukommenden Eigenschaften, sondern nur von den, der Regel nach,
vorauszusetzenden, als welche auch ihm nicht abgehen sollen. Sie
besagt daher nur, daß dies Subjekt keine Ausnahme mache; während der
Ruhm besagt, daß er eine mache. Ruhm muß daher erst erworben werden:
die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu gehn. Dem
entsprechend ist Ermangelung des Ruhmes Obskurität, ein Negatives;
Ermangelung der Ehre ist Schande, ein Positives. -- Diese Negativität
darf aber nicht mit Passivität verwechselt werden: vielmehr hat die
Ehre einen ganz aktiven Charakter. Sie geht nämlich allein von dem
*Subjekt* derselben aus, beruht auf *seinem* Tun und Lassen, nicht aber
auf dem, was andere tun und was ihm widerfährt: sie ist also =tôn eph'
hêmin=. Dies ist, wie wir bald sehn werden, ein Unterscheidungsmerkmal
der wahren Ehre von der ritterlichen, oder Afterehre. Bloß durch
Verläumdung ist ein Angriff von außen auf die Ehre möglich: das
einzige Gegenmittel ist Widerlegung derselben, mit ihr angemessener
Öffentlichkeit und Entlarvung des Verläumders.

Die Achtung vor dem Alter scheint darauf zu beruhen, daß die Ehre
junger Leute zwar als Voraussetzung angenommen, aber noch nicht
erprobt ist, daher eigentlich auf Kredit besteht. Bei den Älteren aber
hat es sich im Laufe des Lebens ausweisen müssen, ob sie, durch ihren
Wandel, ihre Ehre behaupten konnten. Denn weder die Jahre an sich, als
welche auch Tiere, und einige in viel höherer Zahl, erreichen, noch
auch die Erfahrung, als bloße, nähere Kenntnis vom Laufe der Welt,
sind hinreichender Grund für die Achtung der Jüngeren gegen die
Älteren, welche doch überall gefordert wird: die bloße Schwäche des
höheren Alters würde mehr auf Schonung als auf Achtung Anspruch geben.
Merkwürdig aber ist es, daß dem Menschen ein gewisser Respekt vor
weißen Haaren angeboren und daher wirklich instinktiv ist. Runzeln,
ein ungleich sichereres Kennzeichen des Alters, erregen diesen Respekt
keineswegs: nie wird von ehrwürdigen Runzeln, aber stets vom
ehrwürdigen weißen Haare geredet.

Der Wert der Ehre ist nur ein mittelbarer. Denn, wie bereits am
Eingang dieses Kapitels auseinander gesetzt ist, die Meinung anderer
von uns kann nur insofern Wert für uns haben, als sie ihr Handeln
gegen uns bestimmt, oder gelegentlich bestimmen kann. Dies ist jedoch
der Fall, so lange wir mit oder unter Menschen leben. Denn, da wir, im
zivilisirten Zustande, Sicherheit und Besitz nur der Gesellschaft
verdanken, auch der anderen, bei allen Unternehmungen, bedürfen und
sie Zutrauen zu uns haben müssen, um sich mit uns einzulassen; so ist
ihre Meinung von uns von hohem, wiewohl immer nur mittelbarem Werte
für uns; einen unmittelbaren kann ich ihr nicht zuerkennen. In
Übereinstimmung hiemit sagt auch *Cicero*: _de bona autem fama
Chrysippus quidem et Diogenes, detracta utilitate, ne digitum quidem,
ejus causa, porrigendum esse dicebant. Quibus ego vehementer
assentior._ (_fin. III, 17._) Imgleichen gibt eine weitläufige
Auseinandersetzung dieser Wahrheit *Helvetius*, in seinem
Meisterwerke, _de l'esprit_ (_Disc. III, ch. 13_), deren Resultat ist:
_nous n'aimons pas l'estime pour l'estime, mais uniquement pour les
avantages qu'elle procure_. Da nun das Mittel nicht mehr wert sein
kann als der Zweck; so ist der Paradespruch »die Ehre geht über das
Leben,« wie gesagt, eine Hyperbel.

Soviel von der bürgerlichen Ehre. Die *Amtsehre* ist die allgemeine
Meinung anderer, daß ein Mann, der ein Amt versieht, alle dazu
erforderlichen Eigenschaften wirklich habe und auch in allen Fällen
seine amtlichen Obliegenheiten pünktlich erfülle. Je wichtiger und
größer der Wirkungskreis eines Mannes im Staate ist, also je höher und
einflußreicher der Posten, auf dem er steht, desto größer muß die
Meinung von den intellektuellen Fähigkeiten und moralischen
Eigenschaften sein, die ihn dazu tauglich machen: mithin hat er einen
um so höhern Grad von Ehre, deren Ausdruck seine Titel, Orden usw.
sind, wie auch das sich unterordnende Betragen anderer gegen ihn. Nach
dem selben Maßstabe bestimmt nun durchgängig der Stand den besonderen
Grad der Ehre, wiewohl dieser modifizirt wird durch die Fähigkeit der
Menge über die Wichtigkeit des Standes zu urteilen. Immer aber erkennt
man dem, der besondere Obliegenheiten hat und erfüllt, mehr Ehre zu,
als dem gemeinen Bürger, dessen Ehre hauptsächlich auf negativen
Eigenschaften beruht.

Die Amtsehre erfordert ferner, daß wer ein Amt versieht, das Amt
selbst, seiner Kollegen und Nachfolger wegen, im Respekt erhalte, eben
durch jene pünktliche Erfüllung seiner Pflichten und auch dadurch, daß
er Angriffe auf das Amt selbst und auf sich, soferne er es versieht,
d. h. Äußerungen, daß er das Amt nicht pünktlich versehe, oder daß das
Amt selbst nicht zum allgemeinen Besten gereiche, nicht ungeahndet
lasse, sondern durch die gesetzliche Strafe beweise, daß jene Angriffe
ungerecht waren.

Unterordnungen der Amtsehre sind die des Staatsdieners, des Arztes,
des Advokaten, jedes öffentlichen Lehrers, ja jedes Graduirten, kurz
eines jeden, der durch öffentliche Erklärung für eine gewisse Leistung
geistiger Art qualifizirt erklärt worden ist und sich eben deshalb
selbst dazu anheischig gemacht hat; also mit einem Wort die Ehre aller
öffentlich Anheischigen als solcher. Daher gehört auch hieher die
wahre *Soldatenehre*: sie besteht darin, daß wer sich zur Verteidigung
des gemeinsamen Vaterlandes anheischig gemacht hat, die dazu nötigen
Eigenschaften, also vor allem Mut, Tapferkeit und Kraft wirklich
besitze und ernstlich bereit sei, sein Vaterland bis in den Tod zu
verteidigen und überhaupt die Fahne, zu der er einmal geschworen, um
nichts auf der Welt zu verlassen. -- Ich habe hier die *Amtsehre* in
einem weiteren Sinne genommen, als gewöhnlich, wo sie den dem Amt
selbst gebührenden Respekt der Bürger bedeutet.

Die *Sexualehre* scheint mir einer näheren Betrachtung und
Zurückführung ihrer Grundsätze auf die Wurzel derselben zu bedürfen,
welche zugleich bestätigen wird, daß alle Ehre zuletzt auf
Nützlichkeitsrücksichten beruht. Die Sexualehre zerfällt, ihrer Natur
nach, in Weiber- und Männerehre, und ist von beiden Seiten ein
wohlverstandener _esprit de corps_. Die erstere ist bei weitem die
wichtigste von beiden: weil im weiblichen Leben das Sexualverhältnis
die Hauptsache ist. -- Die *weibliche Ehre* also ist die allgemeine
Meinung von einem Mädchen, daß sie sich gar keinem Manne, und von
einer Frau, daß sie sich nur dem ihr angetrauten hingegeben habe. Die
Wichtigkeit dieser Meinung beruht auf Folgendem. Das weibliche
Geschlecht verlangt und erwartet vom männlichen alles, nämlich alles,
was es wünscht und braucht: das männliche verlangt vom weiblichen
zunächst und unmittelbar nur eines. Daher mußte die Einrichtung
getroffen werden, daß das männliche Geschlecht vom weiblichen jenes
eine nur erlangen kann gegen Übernahme der Sorge für alles und zudem
für die aus der Verbindung entspringenden Kinder: auf dieser
Einrichtung beruht die Wohlfahrt des ganzen weiblichen Geschlechts. Um
sie durchzusetzen, muß notwendig das weibliche Geschlecht
zusammenhalten und _esprit de corps_ beweisen. Dann aber steht es als
ein Ganzes und in geschlossener Reihe dem gesamten männlichen
Geschlechte, welches durch das Übergewicht seiner Körper- und
Geisteskräfte von Natur im Besitz aller irdischen Güter ist, als dem
gemeinschaftlichen Feinde gegenüber, der besiegt und erobert werden
muß, um, mittelst seines Besitzes, in den Besitz der irdischen Güter
zu gelangen. Zu diesem Ende nun ist die Ehrenmaxime des ganzen
weiblichen Geschlechts, daß dem männlichen jeder uneheliche Beischlaf
durchaus versagt bleibe; damit jeder einzelne zur Ehe, als welche eine
Art von Kapitulation ist, gezwungen und dadurch das ganze weibliche
Geschlecht versorgt werde. Dieser Zweck kann aber nur vermittelst
strenger Beobachtung der obigen Maxime vollkommen erreicht werden:
daher wacht das ganze weibliche Geschlecht, mit wahrem _esprit de
corps_, über die Aufrechterhaltung derselben unter allen seinen
Mitgliedern. Demgemäß wird jedes Mädchen, welches durch unehelichen
Beischlaf einen Verrat gegen das ganze weibliche Geschlecht begangen
hat, weil dessen Wohlfahrt durch das Allgemeinwerden dieser
Handlungsweise untergraben werden würde, von demselben ausgestoßen und
mit Schande belegt: es hat seine Ehre verloren. Kein Weib darf mehr
mit ihm umgehen: es wird, gleich einer Verpesteten, gemieden. Das
gleiche Schicksal trifft die Ehebrecherin; weil diese dem Manne die
von ihm eingegangene Kapitulation nicht gehalten hat, durch solches
Beispiel aber die Männer vom Eingehen derselben abgeschreckt werden;
während auf ihr das Heil des ganzen weiblichen Geschlechts beruht.
Aber noch überdies verliert die Ehebrecherin, wegen der groben
Wortbrüchigkeit und des Betruges in ihrer Tat, mit der Sexualehre
zugleich die bürgerliche. Daher sagt man wohl, mit einem
entschuldigenden Ausdruck, »ein gefallenes Mädchen«, aber nicht »eine
gefallene Frau«, und der Verführer kann jene, durch die Ehe, wieder
ehrlich machen; nicht so der Ehebrecher diese, nachdem sie geschieden
worden. -- Wenn man nun, infolge dieser klaren Einsicht, einen zwar
heilsamen, ja notwendigen, aber wohlberechneten und auf Interesse
gestützten _esprit de corps_ als die Grundlage des Prinzips der
weiblichen Ehre erkennt; so wird man dieser zwar die größte
Wichtigkeit für das weibliche Dasein und daher einen großen relativen,
jedoch keinen absoluten, über das Leben und seine Zwecke
hinausliegenden und demnach mit diesem selbst zu erkaufenden Wert
beilegen können. Demnach nun wird man den überspannten, zu tragischen
Farcen ausartenden Taten der Lukretia und des Virginius keinen Beifall
schenken können. Daher eben hat der Schluß der Emilia Galotti etwas so
Empörendes, daß man das Schauspielhaus in völliger Verstimmung
verläßt. Hingegen kann man nicht umhin, der Sexualehre zum Trotz, mit
dem Klärchen des Egmont zu sympathisiren. Jenes auf die Spitze Treiben
des weiblichen Ehrenprinzips gehört, wie so manches, zum Vergessen des
Zwecks über die Mittel: denn die Sexualehre wird, durch solche
Überspannung, ein absoluter Wert angedichtet; während sie, noch mehr
als alle andere Ehre, einen bloß relativen hat; ja, man möchte sagen,
einen bloß konventionellen, wenn man aus dem _Thomasius de
concubinatu_ ersieht, wie in fast allen Ländern und Zeiten, bis zur
Lutherischen Reformation, das Konkubinat ein gesetzlich erlaubtes und
anerkanntes Verhältnis gewesen ist, bei welchem die Konkubine ehrlich
blieb; der Mylitta zu Babylon (Herodot I, 199) usw. gar nicht zu
gedenken. Auch gibt es allerdings bürgerliche Verhältnisse, welche die
äußere Form der Ehe unmöglich machen, besonders in katholischen
Ländern, wo keine Scheidung stattfindet; überall aber für regierende
Herren, als welche, meiner Meinung nach, viel moralischer handeln,
wenn sie eine Mätresse halten, als wenn sie eine morganatische Ehe
eingehen, deren Deszendenz, beim etwanigen Aussterben der legitimen,
einst Ansprüche erheben könnte; weshalb, sei es auch noch so entfernt,
durch solche Ehe die Möglichkeit eines Bürgerkrieges herbeigeführt
wird. Überdies ist eine solche morganatische, d. h. eigentlich allen
äußern Verhältnissen zum Trotz geschlossene Ehe, im letzten Grunde,
eine den Weibern und den Pfaffen gemachte Konzession, zweien Klassen,
denen man etwas einzuräumen sich möglichst hüten sollte. Ferner ist zu
erwägen, daß jeder im Lande das Weib seiner Wahl ehelichen kann, bis
auf einen, dem dieses natürliche Recht benommen ist: dieser arme Mann
ist der Fürst. Seine Hand gehört dem Lande und wird nach der
Staatsraison, d. h. dem Wohl des Landes gemäß, vergeben. Nun aber ist
er doch ein Mensch und will auch einmal dem Hange seines Herzens
folgen. Daher ist es so ungerecht und undankbar, wie es
spießbürgerlich ist, dem Fürsten das Halten einer Mätresse verwehren,
oder vorwerfen zu wollen; versteht sich, so lange ihr kein Einfluß auf
die Regierung gestattet wird. Auch ihrerseits ist eine solche
Mätresse, hinsichtlich der Sexualehre, gewissermaßen eine
Ausnahmsperson, eine Eximirte von der allgemeinen Regel: denn sie hat
sich bloß einem Manne ergeben, der sie und den sie lieben, aber
nimmermehr heiraten konnte. -- Überhaupt aber zeugen von dem nicht
rein natürlichen Ursprunge des weiblichen Ehrenprinzips die vielen
blutigen Opfer, welche demselben gebracht werden, -- im Kindermorde
und Selbstmorde der Mütter. Allerdings begeht ein Mädchen, die sich
ungesetzlich preisgibt, dadurch einen Treuebruch gegen ihr ganzes
Geschlecht: jedoch ist diese Treue nur stillschweigend angenommen und
nicht beschworen. Und da, im gewöhnlichen Fall, ihr eigener Vorteil am
unmittelbarsten darunter leidet, so ist ihre Torheit dabei unendlich
größer als ihre Schlechtigkeit.

Die Geschlechtsehre der Männer wird durch die der Weiber
hervorgerufen, als der entgegengesetzte _esprit de corps_, welcher
verlangt, daß jeder, der die dem Gegenpart so sehr günstige
Kapitulation, die Ehe, eingegangen ist, jetzt darüber wache, daß sie
ihm gehalten werde; damit nicht selbst dieses Paktum, durch das
Einreißen einer laxen Observanz desselben, seine Festigkeit verliere
und die Männer, indem sie alles hingeben, nicht einmal des einen
versichert seien, was sie dafür erhandeln, des Alleinbesitzes des
Weibes. Demgemäß fordert die Ehre des Mannes, daß er den Ehebruch
seiner Frau ahnde und, wenigstens durch Trennung von ihr, strafe.
Duldet er ihn wissentlich, so wird er von der Männergemeinschaft mit
Schande belegt: jedoch ist diese lange nicht so durchgreifend, wie die
durch den Verlust der Geschlechtsehre das Weib treffende, vielmehr nur
eine _levioris notae macula_; weil beim Manne die Geschlechtsbeziehung
eine untergeordnete ist, indem er in noch vielen anderen und
wichtigeren steht. Die zwei großen dramatischen Dichter der neueren
Zeit haben, jeder zweimal, diese Männerehre zu ihrem Thema genommen:
Shakespeare, im Othello und im Wintermärchen, und Calderon, in _el
medico de su honra_ (der Arzt seiner Ehre) und _a secreto agravio
secreta venganza_ (für geheime Schmach geheime Rache). Übrigens
fordert diese Ehre nur die Bestrafung des Weibes, nicht die ihres
Buhlen; welche bloß ein _opus supererogationis_ ist: hiedurch bestätigt
sich der angegebene Ursprung derselben aus dem _esprit de corps_ der
Männer. --

Die Ehre, wie ich sie bis hieher, in ihren Gattungen und Grundsätzen,
betrachtet habe, findet sich bei allen Völkern und zu allen Zeiten als
allgemein geltend; wenn gleich der Weiberehre sich einige lokale und
temporäre Modifikationen ihre Grundsätze nachweisen lassen. Hingegen
gibt es noch eine, von jener allgemein und überall gültigen gänzlich
verschiedene Gattung der Ehre, von welcher weder Griechen noch Römer
einen Begriff hatten, so wenig wie Chinesen, Hindu und Mohammedaner,
bis auf den heutigen Tag, irgend etwas von ihr wissen. Denn sie ist
erst im Mittelalter entstanden und bloß im christlichen Europa
einheimisch geworden, ja, selbst hier nur unter einer äußerst kleinen
Fraktion der Bevölkerung, nämlich unter den höheren Ständen der
Gesellschaft und was ihnen nacheifert. Es ist die *ritterliche Ehre*,
oder das _point d'honneur_. Da ihre Grundsätze von denen der bis
hieher erörterten Ehre gänzlich verschieden, sogar diesen zum Teil
entgegengesetzt sind, indem jene erstere den *Ehrenmann*, diese
hingegen den *Mann von Ehre* macht; so will ich ihre Prinzipien hier
besonders ausstellen, als einen Kodex, oder Spiegel der ritterlichen
Ehre.

1. Die Ehre besteht *nicht* in der Meinung anderer von unserm Wert,
sondern ganz allein in den *Äußerungen* einer solchen Meinung;
gleichviel ob die geäußerte Meinung wirklich vorhanden sei oder nicht;
geschweige, ob sie Grund habe. Demnach mögen andere, in Folge unsers
Lebenswandels, eine noch so schlechte Meinung von uns hegen, uns noch
so sehr verachten; solange nur keiner sich untersteht, solches laut zu
äußern, schadet es der Ehre durchaus nicht. Umgekehrt aber, wenn wir
auch durch unsere Eigenschaften und Handlungen alle andern zwingen,
uns sehr hoch zu achten (denn das hängt nicht von ihrer Willkür ab);
so darf dennoch nur irgend einer, -- und wäre es der Schlechteste und
Dümmste --, seine Geringschätzung über uns aussprechen, und alsbald
ist unsere Ehre verletzt, ja, sie ist auf immer verloren; wenn sie
nicht wieder hergestellt wird. -- Ein überflüssiger Beleg dazu, daß es
keineswegs auf die *Meinung* anderer, sondern allein auf die
*Äußerung* einer solchen ankomme, ist der, daß Verunglimpfungen
*zurückgenommen*, nötigenfalls abgebeten werden können, wodurch es
dann ist, als wären sie nie geschehn: ob dabei die Meinung, aus der
sie entsprungen, sich ebenfalls geändert habe und weshalb dies
geschehn sein sollte, tut nichts zur Sache: nur die Äußerung wird
annullirt, und dann ist alles gut. Hier ist es demnach nicht darauf
abgesehn, Respekt zu verdienen, sondern ihn zu ertrotzen.

2. Die Ehre eines Mannes beruht nicht auf dem, was er *tut*, sondern
auf dem, was er *leidet*, was ihm widerfährt. Wenn, nach den
Grundsätzen der zuerst erörterten, allgemein geltenden Ehre, diese
allein abhängt von dem, was *er selbst* sagt oder tut; so hängt
hingegen die ritterliche Ehre ab von dem, was irgend ein anderer sagt
oder tut. Sie liegt sonach in der Hand, ja, hängt an der Zungenspitze
eines jeden, und kann, wenn dieser zugreift, jeden Augenblick auf
immer verloren gehn, falls nicht der Betroffene, durch einen bald zu
erwähnenden Herstellungsprozeß, sie wieder an sich reißt, welches
jedoch nur mit Gefahr seines Lebens, seiner Gesundheit, seiner
Freiheit, seines Eigentums und seiner Gemütsruhe geschehn kann. Diesem
zufolge mag das Tun und Lassen eines Mannes das rechtschaffenste und
edelste, sein Gemüt das reinste und sein Kopf der eminenteste sein; so
kann dennoch seine Ehre jeden Augenblick verloren gehn, sobald es
nämlich irgend einem, -- der nur noch nicht diese Ehrengesetze
verletzt hat, übrigens aber der nichtswürdigste Lump, das stupideste
Vieh, ein Tagedieb, Spieler, Schuldenmacher, kurz, ein Mensch, der
nicht wert ist, daß jener ihn ansieht, sein kann, -- beliebt, ihn zu
*schimpfen*. Sogar wird es meistenteils gerade ein Subjekt solcher Art
sein, dem dies beliebt; weil eben, wie *Seneka* richtig bemerkt, _ut
quisque contemtissimus et ludibrio est, ita solutissimae linguae est_
(_de constantia, 11_): auch wird ein solcher gerade gegen einen, wie
der zuerst Geschilderte, am leichtesten aufgereizt werden; weil die
Gegensätze sich hassen und weil der Anblick überwiegender Vorzüge die
stille Wut der Nichtswürdigkeit zu erzeugen pflegt; daher eben Goethe
sagt:

    Was klagst du über Feinde?
    Sollten solche je werden Freunde,
    Denen das Wesen, wie du bist,
    Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?

    *W. O. Divan.*

Man sieht, wie sehr viel gerade die Leute der zuletzt geschilderten
Art dem Ehrenprinzip zu danken haben; da es sie mit denen nivellirt,
welche ihnen sonst in jeder Beziehung unerreichbar wären. -- Hat nun
ein solcher geschimpft, d. h. dem andern eine schlechte Eigenschaft
zugesprochen; so gilt dies, vor der Hand, als ein objektiv wahres und
gegründetes Urteil, ein rechtskräftiges Dekret, ja, es bleibt für alle
Zukunft wahr und gültig, wenn es nicht alsbald mit Blut ausgelöscht
wird: d. h. der Geschimpfte bleibt (in den Augen aller »Leute von
Ehre«) das, was der Schimpfer (und wäre dieser der letzte aller
Erdensöhne) ihn genannt hat: denn er hat es (dies ist der _terminus
technicus_) »auf sich sitzen lassen.« Demgemäß werden die »Leute von
Ehre« ihn jetzt durchaus verachten, ihn wie einen Verpesteten fliehen,
z. B. sich laut und öffentlich weigern, in eine Gesellschaft zu gehn,
wo er Zutritt hat usw. -- Den Ursprung dieser weisen Grundansicht
glaube ich mit Sicherheit darauf zurückführen zu können, daß (nach C.
G. von Wächters »Beiträge zur deutschen Geschichte, besonders des
deutschen Strafrechts« 1845) im Mittelalter, bis ins 15. Jahrhundert,
bei Kriminalprozessen nicht der Ankläger die Schuld, sondern der
Angeklagte seine Unschuld zu beweisen hatte. Dies konnte geschehen
durch einen Reinigungseid, zu welchem er jedoch noch der Eideshelfer
(_consacramentales_) bedurfte, welche beschworen, sie seien überzeugt,
daß er keines Meineides fähig sei. Hatte er diese nicht, oder ließ der
Ankläger sie nicht gelten; so trat Gottesurteil ein, und dieses
bestand gewöhnlich im Zweikampf. Denn der Angeklagte war jetzt ein
»Bescholtener« und hatte sich zu reinigen. Wir sehn hier den Ursprung
des Begriffs des Bescholtenseins und des ganzen Hergangs der Dinge,
wie er noch heute unter den »Leuten von Ehre« stattfindet, nur mit
Weglassung des Eides. Eben hier ergibt sich auch die Erklärung der
obligaten, hohen Indignation, mit welcher »Leute von Ehre« den Vorwurf
der Lüge empfangen und blutige Rache dafür fordern, welches, bei der
Alltäglichkeit der Lügen, sehr seltsam erscheint, aber besonders in
England zum tiefwurzelnden Aberglauben erwachsen ist. (Wirklich müßte
jeder, der den Vorwurf der Lüge mit dem Tode zu strafen droht, in
seinem Leben nicht gelogen haben.) Nämlich in jenen Kriminalprozessen
des Mittelalters war die kürzere Form, daß der Angeklagte dem Ankläger
erwiderte: »das lügst du;« worauf dann sofort auf Gottesurteil erkannt
wurde: daher also schreibt es sich, daß, nach dem ritterlichen
Ehrenkodex, auf den Vorwurf der Lüge sogleich die Appellation an die
Waffen erfolgen muß. -- So viel, was das Schimpfen betrifft. Nun aber
gibt es sogar noch etwas Ärgeres als Schimpfen, etwas so
Erschreckliches, daß ich wegen dessen bloßer Erwähnung in diesem Kodex
der ritterlichen Ehre, die »Leute von Ehre« um Verzeihung zu bitten
habe, da ich weiß, daß beim bloßen Gedanken daran ihnen die Haut
schaudert und ihr Haar sich emporsträubt, indem es das _summum malum_,
der Übel größtes auf der Welt, und ärger als Tod und Verdammnis ist.
Es kann nämlich, _horribile dictu_, einer dem andern einen Klaps oder
Schlag versetzen. Dies ist eine entsetzliche Begebenheit und führt
einen so kompleten Ehrentod herbei, daß, wenn alle andern Verletzungen
der Ehre schon durch Blutlassen zu heilen sind, diese zu ihrer
gründlichen Heilung einen kompleten Totschlag erfordert.

3. Die Ehre hat mit dem, was der Mensch an und für sich sein mag, oder
mit der Frage, ob seine moralische Beschaffenheit sich jemals ändern
könne, und allen solchen Schulfuchsereien, ganz und gar nichts zu tun;
sondern wann sie verletzt, oder vor der Hand verloren ist, kann sie,
wenn man nur schleunig dazutut, recht bald und vollkommen wieder
hergestellt werden, durch ein einziges Universalmittel, das Duell. Ist
jedoch der Verletzer nicht aus den Ständen, die sich zum Kodex der
ritterlichen Ehre bekennen, oder hat derselbe diesem schon ein Mal
zuwider gehandelt; so kann man, zumal wenn die Ehrenverletzung eine
tätliche, aber auch, wenn sie eine bloß wörtliche gewesen sein sollte,
eine sichere Operation vornehmen, indem man, wenn man bewaffnet ist,
ihn auf der Stelle, allenfalls auch noch eine Stunde nachher,
niedersticht, wodurch dann die Ehre wieder heil ist. Außerdem aber,
oder wenn man, aus Besorgnis vor daraus entstehenden Unannehmlichkeiten,
diesen Schritt vermeiden möchte, oder wenn man bloß ungewiß ist, ob
der Beleidiger sich den Gesetzen der ritterlichen Ehre unterwerfe,
oder nicht, hat man ein Palliativmittel, an der »Avantage.« Diese
besteht darin, daß, wenn er grob gewesen ist, man noch merklich gröber
sei: geht dies mit Schimpfen nicht mehr an, so schlägt man drein, und
zwar ist auch hier ein Klimax der Ehrenrettung: Ohrfeigen werden durch
Stockschläge kurirt, diese durch Hetzpeitschenhiebe: selbst gegen
letztere wird von einigen das Anspucken als probat empfohlen. Nur wenn
man mit diesen Mitteln nicht mehr zur Zeit kommt, muß durchaus zu
blutigen Operationen geschritten werden. Diese Palliativmethode hat
ihren Grund eigentlich in der folgenden Maxime.

4. Wie Geschimpftwerden eine Schande, so ist Schimpfen eine Ehre. Z.
B. auf der Seite meines Gegners sei Wahrheit, Recht und Vernunft; ich
aber schimpfe; so müssen diese alle einpacken, und Recht und Ehre ist
auf meiner Seite: er hingegen hat vorläufig seine Ehre verloren, --
bis er sie herstellt, nicht etwan durch Recht und Vernunft, sondern
durch Schießen und Stechen. Demnach ist die Grobheit eine Eigenschaft,
welche, im Punkte der Ehre, jede andere ersetzt oder überwiegt: der
Gröbste hat allemal Recht: _quid multa?_ Welche Dummheit,
Ungezogenheit, Schlechtigkeit einer auch begangen haben mag; -- durch
eine Grobheit wird sie als solche ausgelöscht und sofort legitimiert.
Zeigt etwan in einer Diskussion, oder sonst im Gespräch ein anderer
richtigere Sachkenntnis, strengere Wahrheitsliebe, gesünderes Urteil,
mehr Verstand als wir, oder überhaupt, läßt er geistige Vorzüge
blicken, die uns in Schatten stellen; so können wir alle dergleichen
Überlegenheiten und unsere eigene durch sie aufgedeckte Dürftigkeit
sogleich aufheben und nun umgekehrt selbst überlegen sein, indem wir
beleidigend und grob werden. Denn eine Grobheit besiegt jedes Argument
und eklipzirt allen Geist: wenn daher nicht etwan der Gegner sich
darauf einläßt und sie mit einer größeren erwidert, wodurch wir in den
edlen Wettkampf der Avantage geraten; so bleiben wir Sieger und die
Ehre ist auf unserer Seite: Wahrheit, Kenntnis, Verstand, Geist, Witz
müssen einpacken und sind aus dem Felde geschlagen von der göttlichen
Grobheit. Daher werden »Leute von Ehre«, sobald jemand eine Meinung
äußert, die von der ihrigen abweicht, oder auch nur mehr Verstand
zeigt, als sie ins Feld stellen können, sogleich Miene machen, jenes
Kampfroß zu besteigen; und wenn etwan, in einer Kontroverse, es ihnen
an einem Gegenargument fehlt, so suchen sie nach einer Grobheit, als
welche ja denselben Dienst leistet und leichter zu finden ist: darauf
gehn sie siegreich von dannen. Man sieht schon hier, wie sehr mit
Recht dem Ehrenprinzip die Veredelung des Tones in der Gesellschaft
nachgerühmt wird. -- Diese Maxime beruht nun wieder auf der folgenden,
welche die eigentliche Grundmaxime und die Seele des ganzen Kodex ist.

5. Der oberste Richterstuhl des Rechts, an den man, in allen
Differenzen, von jedem andern, soweit es die Ehre betrifft, appelliren
kann, ist der der physischen Gewalt, d. h. der Tierheit. Denn jede
Grobheit ist eigentlich eine Appellation an die Tierheit, indem sie
den Kampf der geistigen Kräfte, oder des moralischen Rechts, für
inkompetent erklärt und an deren Stelle den Kampf der physischen
Kräfte setzt, welcher bei der Spezies Mensch, die von *Franklin* ein
_toolmaking animal_ (Werkzeuge verfertigendes Tier) definirt wird, mit
den ihr demnach eigentümlichen Waffen, im Duell, vollzogen wird und
eine unwiderrufliche Entscheidung herbeiführt. -- Diese Grundmaxime
wird bekanntlich, mit einem Worte, durch den Ausdruck *Faustrecht*,
welcher dem Ausdruck *Aberwitz* analog und daher, wie dieser, ironisch
ist, bezeichnet: demnach sollte, ihm gemäß, die ritterliche Ehre die
Faust-Ehre heißen. --

6. Hatten wir, weiter oben, die bürgerliche Ehre sehr skrupulös
gefunden im Punkte des Mein und Dein, der eingegangenen
Verpflichtungen und des gegebenen Wortes; so zeigt hingegen der hier
in Betrachtung genommene Kodex darin die nobelste Liberalität. Nämlich
nur *ein* Wort darf nicht gebrochen werden, das Ehrenwort, d. h. das
Wort, bei dem man gesagt hat »auf Ehre!« -- woraus die Präsumtion
entsteht, daß jedes andere Wort gebrochen werden darf. Sogar bei dem
Bruch dieses Ehrenworts läßt sich zur Not die Ehre noch retten, durch
das Universalmittel, das Duell, hier mit denjenigen, welche behaupten,
wir hätten das Ehrenwort gegeben. -- Ferner: nur *eine* Schuld gibt es,
die unbedingt bezahlt werden muß, -- die Spielschuld, welche auch
demgemäß den Namen »Ehrenschuld« führt. Um alle übrigen Schulden mag
man Juden und Christen prellen: das schadet der ritterlichen Ehre
durchaus nicht. --

Daß nun dieser seltsame, barbarische und lächerliche Kodex der Ehre
nicht aus dem Wesen der menschlichen Natur, oder einer gesunden
Ansicht menschlicher Verhältnisse hervorgegangen sei, erkennt der
Unbefangene auf den ersten Blick. Zudem aber wird es durch den äußerst
beschränkten Bereich seiner Geltung bestätigt: dieser nämlich ist
ausschließlich Europa und zwar nur seit dem Mittelalter, und auch hier
nur beim Adel, Militär und was diesen nacheifert. Denn weder Griechen,
noch Römer, noch die hochgebildeten asiatischen Völker, alter und
neuer Zeit, wissen irgend etwas von dieser Ehre und ihren Grundsätzen.
Sie alle kennen keine andere Ehre, als die zuerst analysirte. Bei
ihnen allen gilt demnach der Mann für das, wofür sein Tun und Lassen
ihn kund gibt, nicht aber für das, was irgend einer losen Zunge
beliebt von ihm zu sagen. Bei ihnen allen kann, was einer sagt oder
tut, wohl seine *eigene* Ehre vernichten, aber nie die eines andern.
Ein Schlag ist bei ihnen allen eben nur ein Schlag, wie jedes Pferd
und jeder Esel ihn gefährlicher versetzen kann: er wird, nach
Umständen, zum Zorne reizen, auch wohl auf der Stelle gerächt werden:
aber mit der Ehre hat er nichts zu tun, und keineswegs wird Buch
gehalten über Schläge und Schimpfwörter, nebst der dafür gewordenen
oder aber einzufordern versäumten »Satisfaktion.« An Tapferkeit und
Lebensverachtung stehn sie den Völkern des christlichen Europas nicht
nach. Griechen und Römer waren doch wohl ganze Helden: aber sie wußten
nichts vom _point d'honneur_. Der Zweikampf war bei ihnen nicht Sache
der Edeln im Volke, sondern feiler Gladiatoren, preisgegebener Sklaven
und verurteilter Verbrecher, welche, mit wilden Tieren abwechselnd,
auf einander gehetzt wurden, zur Belustigung des Volks. Bei Einführung
des Christentums wurden die Gladiatorenspiele aufgehoben: an ihre
Stelle aber ist, in der christlichen Zeit, unter Vermittelung des
Gottesurteils, das Duell getreten. Waren jene ein grausames Opfer, der
allgemeinen Schaulust gebracht; so ist dieses ein grausames Opfer, dem
allgemeinen Vorurteil gebracht; aber nicht wie jenes, von Verbrechern,
Sklaven und Gefangenen, sondern von Freien und Edeln.

Daß den Alten jenes Vorurteil völlig fremd war, bezeugen eine Menge
uns aufbehaltener Züge. Als z. B. ein Teutonischer Häuptling den
*Marius* zum Zweikampf herausgefordert hatte, ließ dieser Held ihm
antworten: »wenn er seines Lebens überdrüssig wäre, möge er sich
aufhängen«, bot ihm jedoch einen ausgedienten Gladiator an, mit dem er
sich herumschlagen könne (_Freinsh. suppl. in Liv. lib. LXVIII, c.
12_). Im Plutarch (_Them. 11_) lesen wir, daß der Flottenbefehlshaber
Eurybiades, mit dem Themistokles streitend, den Stock aufgehoben habe,
ihn zu schlagen; jedoch nicht, daß dieser darauf den Degen gezogen,
vielmehr, daß er gesagt habe: =pataxon men oun, akouson de=: »schlage
mich, aber höre mich.« Mit welchem Unwillen muß doch der Leser »von
Ehre« hiebei die Nachricht vermissen, daß das Atheniensische
Offizierkorps sofort erklärt habe, unter so einem Themistokles nicht
ferner dienen zu wollen! -- Ganz richtig sagt demnach ein neuerer
französischer Schriftsteller: _si quelqu'un s'avisait de dire que
Démosthène fut un homme d'honneur, on sourirait de pitié; -- -- --
Cicéron n'était pas un homme d'honneur non plus._ (_Soirées
littéraires, par C. Durand. Rouen 1828. Vol. 2. p. 300._) Ferner zeigt
die Stelle im Plato (_de leg. IX_, die letzten 6 Seiten, imgleichen
_XI p. 131 Bip._) über die =aikia=, d. h. Mißhandlungen, zur Genüge,
daß die Alten von der Ansicht des ritterlichen Ehrenpunktes bei
solchen Sachen keine Ahnung hatten. *Sokrates* ist, in Folge seiner
häufigen Disputationen, oft tätlich mißhandelt worden, welches er
gelassen ertrug: als er einst einen Fußtritt erhielt, nahm er es
geduldig hin und sagte dem, der sich hierüber wunderte: »würde ich
denn, wenn mich ein Esel gestoßen hätte, ihn verklagen?« -- (_Diog.
Laert. II, 21._) Als, ein ander Mal, jemand zu ihm sagte: »schimpft
und schmäht dich denn jener nicht?« war seine Antwort: »nein: denn was
er sagt paßte nicht auf mich« (_ibid. 36._) -- Stobäos (_Florileg.,
ed. Gaisford, Vol. I, p. 327-330_) hat eine lange Stelle des
*Musonius* uns aufbewahrt, daraus zu ersehen, wie die Alten die
Injurien betrachteten: sie kannten keine andere Genugtuung, als die
gerichtliche; und weise Männer verschmähten auch diese. Daß die Alten
für eine erhaltene Ohrfeige keine andere Genugtuung kannten, als eine
gerichtliche, ist deutlich zu ersehn aus Plato's Gorgias (S. _86
Bip._); woselbst auch (S. 133) die Meinung des Sokrates darüber steht.
Dasselbe erhellt auch aus dem Berichte des Gillius (_XX, 1_) von einem
gewissen Lucius Veratius, welcher den Mutwillen übte, den ihm auf der
Straße begegnenden römischen Bürgern, ohne Anlaß, eine Ohrfeige zu
versetzen, in welcher Absicht er, um allen Weitläuftigkeiten darüber
vorzubeugen, sich von einem Sklaven mit einem Beutel Kupfermünze
begleiten ließ, der den also Überraschten sogleich das gesetzmäßige
Schmerzensgeld von 25 Aß auszahlte. *Krates*, der berühmte Zyniker,
hatte vom Musiker Nikodromos eine so starke Ohrfeige erhalten, daß ihm
das Gesicht angeschwollen und blutrünstig geworden war: darauf
befestigte er an seiner Stirn ein Brettchen, mit der Inschrift
=Nikodromos epoiei= (_Nicodromus fecit_), wodurch große Schande auf
den Flötenspieler fiel, der gegen einen Mann, den ganz Athen wie einen
Hausgott verehrte (_Apul. Flor. p. 126 bip._), eine solche Brutalität
ausgeübt hatte. (_Diog. Laert. VI, 89._) -- Vom *Diogenes* aus Sinope
haben wir darüber, daß die betrunkenen Söhne der Athener ihn geprügelt
hatten, einen Brief an den Melesippus, dem er bedeutet, das habe
nichts auf sich. (_Nota Casaub. ad Diog. Laert. VI, 33._) -- Seneka
hat, im Buche _de constantia sapientis_, vom _C. 10_ an bis zum Ende,
die Beleidigung, _contumelia_, ausführlich in Betracht genommen, um
darzulegen, daß der Weise sie nicht beachtet. Kapitel 14 sagt er: _»at
sapiens colaphis percussus, quid faciet? quod Cato, cum illi os
percussum esset: non excanduit, non vindicavit injuriam: nec remisit
quidem, sed factam negavit.«_ »Ja,« ruft ihr, »das waren Weise!« --
Ihr aber seid Narren? Einverstanden. --

Wir sehn also, daß den Alten das ganze ritterliche Ehrenprinzip
unbekannt war, weil sie eben in allen Stücken der unbefangenen,
natürlichen Ansicht der Dinge getreu blieben und daher solche sinistre
und heillose Fratzen sich nicht einreden ließen. Deshalb konnten sie
auch einen Schlag ins Gesicht für nichts anderes halten, als was er
ist, eine kleine physische Beeinträchtigung; während er den Neuern
eine Katastrophe und ein Thema zu Trauerspielen geworden ist, z. B. im
Eid des Corneille, auch in einem neueren deutschen bürgerlichen
Trauerspiele, welches »die Macht der Verhältnisse« heißt, aber »die
Macht des Vorurteils« heißen sollte: wenn aber gar ein Mal in der
Pariser Nationalversammlung eine Ohrfeige fällt, so hallt ganz Europa
davon wieder. Den Leuten »von Ehre« nun aber, welche durch obige
klassische Erinnerungen und angeführte Beispiele aus dem Altertume
verstimmt sein müssen, empfehle ich, als Gegengift, in *Diderots*
Meisterwerke, _Jaques le fataliste_, die Geschichte des Herrn
*Desglands* zu lesen, als ein auserlesenes Musterstück moderner
ritterlicher Ehrenhaftigkeit, daran sie sich letzen und erbauen mögen.

Aus dem Angeführten erhellt zur Genüge, daß das ritterliche
Ehrenprinzip keineswegs ein ursprüngliches, in der menschlichen Natur
selbst gegründetes sein kann. Es ist also ein künstliches, und sein
Ursprung ist nicht schwer zu finden. Es ist offenbar ein Kind jener
Zeit, wo die Fäuste geübter waren als die Köpfe, und die Pfaffen die
Vernunft in Ketten hielten, also des belobten Mittelalters und seines
Rittertums. Damals nämlich ließ man für sich den lieben Gott nicht nur
sorgen, sondern auch urteilen. Demnach wurden schwierige Rechtsfälle
durch Ordalien oder Gottesurteile entschieden; diese nun bestanden,
mit wenigen Ausnahmen, in Zweikämpfen, keineswegs bloß unter Rittern,
sondern auch unter Bürgern; -- wie dies ein artiges Beispiel in
Shakespeares Heinrich VI. (T. 2, A. 2, Sz. 3) bezeugt. Auch konnte von
jedem richterlichen Urteilsspruch immer noch an den Zweikampf, als die
höhere Instanz, nämlich das Urteil Gottes, appellirt werden. Dadurch
war nun eigentlich die physische Kraft und Gewandtheit, also die
tierische Natur, statt der Vernunft, auf den Richterstuhl gesetzt, und
über Recht oder Unrecht entschied nicht was einer getan hatte, sondern
was ihm widerfuhr, -- ganz nach dem noch heute geltenden ritterlichen
Ehrenprinzip. Wer an diesem Ursprunge des Duellwesens noch zweifelt,
lese das vortreffliche Buch von _J. G. Mellingen, the history of
duelling_, 1849. Ja, noch heutzutage findet man unter den, dem
ritterlichen Ehrenprinzip nachlebenden Leuten, welche bekanntlich
nicht gerade die unterrichtetesten und nachdenkendesten zu sein
pflegen, einige, die den Erfolg des Duells wirklich für eine göttliche
Entscheidung des ihm zum Grunde liegenden Streites halten; gewiß nach
einer traditionell fortgeerbten Meinung.

Abgesehn von diesem Ursprunge des ritterlichen Ehrenprinzips, ist
seine Tendenz zunächst diese, daß man, durch Androhung physischer
Gewalt, die äußerlichen Bezeugungen derjenigen Achtung erzwingen will,
welche wirklich zu erwerben man entweder für zu beschwerlich, oder für
überflüssig hält. Dies ist ungefähr so, wie wenn jemand, die Kugel des
Thermometers mit der Hand erwärmend, am Steigen des Quecksilbers
dartun wollte, daß sein Zimmer wohlgeheizt sei. Näher betrachtet ist
der Kern der Sache dieser: wie die bürgerliche Ehre, als welche den
friedlichen Verkehr mit andern im Auge hat, in der Meinung dieser von
uns besteht, daß wir vollkommenes *Zutrauen* verdienen, weil wir die
Rechte eines jeden unbedingt achten; so besteht die ritterliche Ehre
in der Meinung von uns, daß wir *zu fürchten* seien, weil wir unsere
eigenen Rechte unbedingt zu verteidigen gesonnen sind. Der Grundsatz,
daß es wesentlicher sei, gefürchtet zu werden, als Zutrauen zu
genießen, würde auch, weil auf die Gerechtigkeit der Menschen wenig zu
bauen ist, so gar falsch nicht sein, wenn wir im Naturzustande lebten,
wo jeder sich selbst zu schützen und seine Rechte unmittelbar zu
verteidigen hat. Aber im Stande der Zivilisation, wo der Staat den
Schutz unserer Person und unseres Eigentums übernommen hat, findet er
keine Anwendung mehr, und steht da, wie die Burgen und Warten aus den
Zeiten des Faustrechts, unnütz und verlassen, zwischen wohlbebauten
Feldern und belebten Landstraßen, oder gar Eisenbahnen. Demgemäß hat
denn auch die ihn festhaltende ritterliche Ehre sich auf solche
Beeinträchtigungen der Person geworfen, welche der Staat nur leicht,
oder, nach dem Prinzip _de minimis lex non curat_, gar nicht bestraft,
indem es unbedeutende Kränkungen und zum Teil bloße Neckereien sind.
Sie aber hat in Hinsicht auf diese sich hinaufgeschroben zu einer der
Natur, der Beschaffenheit und dem Lose des Menschen gänzlich
unangemessenen Überschätzung des Wertes der eigenen Person, als
welchen sie bis zu einer Art von Heiligkeit steigert und demnach die
Strafe des Staates für kleine Kränkungen derselben durchaus
unzulänglich findet, solche daher selbst zu strafen übernimmt und zwar
stets am Leibe und Leben des Beleidigers. Offenbar liegt hier der
unmäßigste Hochmut und die empörendeste Hoffahrt zugrunde, welche,
ganz vergessend, was der Mensch eigentlich ist, eine unbedingte
Unverletzlichkeit, wie auch Tadellosigkeit, für ihn in Anspruch
nehmen. Allein jeder, der diese mit Gewalt durchzusetzen gesonnen ist
und dem zufolge die Maxime proklamirt: »wer mich schimpft, oder gar
mir einen Schlag gibt, soll des Todes sein«, -- verdient eigentlich
schon darum aus dem Lande verwiesen zu werden[F]. Da wird denn, zur
Beschönigung jenes vermessenen Übermutes, allerhand vorgegeben. Von
zwei unerschrockenen Leuten, heißt es, gebe keiner je nach, daher es
vom leisesten Anstoß zu Schimpfreden, dann zu Prügeln und endlich zum
Totschlag kommen würde; demnach sei es besser, anstandshalber die
Mittelstufen zu überspringen und gleich an die Waffen zu gehn. Das
speziellere Verfahren hierbei hat man dann in ein steifes,
pedantisches System, mit Gesetzen und Regeln, gebracht, welches die
ernsthafteste Posse von der Welt ist und als ein wahrer Ehrentempel
der Narrheit dasteht. Nun aber ist der Grundsatz selbst falsch: bei
Sachen von geringer Wichtigkeit (die von großer bleiben stets den
Gerichten anheimgestellt) gibt von zwei unerschrockenen Leuten
allerdings einer nach, nämlich der Klügste, und bloße Meinungen läßt
man auf sich beruhen. Den Beweis hievon liefert das Volk, oder
vielmehr alle die zahlreichen Stände, welche sich nicht zum
ritterlichen Ehrenprinzip bekennen, bei denen daher die Streitigkeiten
ihren natürlichen Verlauf haben: unter diesen Ständen ist der
Totschlag hundertmal seltener, als bei der vielleicht nur 1/1000 der
Gesamtheit betragenden Fraktion, welche jenem Prinzipe huldigt; und
selbst eine Prügelei ist eine Seltenheit. -- Sodann aber wird
behauptet, der gute Ton und die feine Sitte der Gesellschaft hätten
zum letzten Grundpfeiler jenes Ehrenprinzip, mit seinen Duellen, als
welche die Wehrmauer gegen die Ausbrüche der Rohheit und Ungezogenheit
wären. Allein in Athen, Korinth und Rom war ganz gewiß gute und zwar
sehr gute Gesellschaft, auch feine Sitte und guter Ton anzutreffen;
ohne daß jener Popanz der ritterlichen Ehre dahinter gesteckt hätte.
Freilich aber führten daselbst auch nicht, wie bei uns, die Weiber den
Vorsitz in der Gesellschaft, welches, wie es zunächst der Unterhaltung
einen frivolen und läppischen Charakter erteilt und jedes gehaltvolle
Gespräch verbannt, gewiß auch sehr dazu beiträgt, daß in unsrer guten
Gesellschaft der persönliche Mut den Rang vor jeder andern Eigenschaft
behauptet; während er doch eigentlich eine sehr untergeordnete, eine
bloße Unteroffizierstugend ist, ja, eine, in welcher sogar Tiere uns
übertreffen, weshalb man z. B. sagt: »mutig wie ein Löwe.« Sogar aber
ist, im Gegenteil obiger Behauptung, das ritterliche Ehrenprinzip oft
das sichere Asylum, wie im großen der Unredlichkeit und
Schlechtigkeit, so im kleinen der Ungezogenheit, Rücksichtslosigkeit
und Flegelei, indem eine Menge sehr lästiger Unarten stillschweigend
geduldet werden, weil eben keiner Lust hat, an die Rüge derselben den
Hals zu setzen. -- Dem allen entsprechend sehn wir das Duell im
höchsten Flor und mit blutdürstigem Ernst betrieben, gerade bei der
Nation, welche in politischen und finanziellen Angelegenheiten Mangel
an wahrer Ehrenhaftigkeit bewiesen hat: wie es damit bei ihr im
Privatverkehr stehe, kann man bei denen erfragen, die Erfahrung darin
haben. Was aber gar ihre Urbanität und gesellschaftliche Bildung
betrifft, so ist sie als negatives Muster längst berühmt.

  [F] Die ritterliche Ehre ist ein Kind des Hochmuts und der Narrheit.
  (Die ihr entgegengesetzte Wahrheit spricht am schärfsten _el principe
  constante_ aus in den Worten: »_esa es la herencia de Adan_«.) Sehr
  auffallend ist es, daß dieser Superlativ alles Hochmuts sich allein
  und ausschließlich unter den Genossen derjenigen Religion findet,
  welche ihren Anhängern die äußerste Demut zur Pflicht macht; da weder
  frühere Zeiten noch andere Weltteile jenes Prinzip der ritterlichen
  Ehre kennen. Dennoch darf man dasselbe nicht der Religion zuschreiben,
  vielmehr dem Feudalwesen, bei welchem jeder Edele sich als einen
  kleinen Souverän, der keinen menschlichen Richter über sich erkannte,
  ansah und sich daher eine völlige Unverletzlichkeit und Heiligkeit der
  Person beilegen lernte, daher ihm jedes Attentat gegen dieselbe, oder
  jeder Schlag und jedes Schimpfwort, ein todeswürdiges Verbrechen
  schien. Demgemäß waren das Ehrenprinzip und die Duelle ursprünglich
  nur Sache des Adels und infolge davon in späteren Zeiten der
  Offiziere, denen sich nachher hin und wieder, wiewohl nie durchgängig,
  die andern höheren Stände anschlossen, um nicht weniger zu gelten.
  Wenn auch die Duelle aus den Ordalien hervorgegangen sind; so sind
  diese doch nicht der Grund, sondern die Folge und Anwendung des
  Ehrenprinzips: wer keinen menschlichen Richter erkennt, appellirt an
  den göttlichen. Die Ordalien selbst aber sind nicht dem Christentum
  eigen, sondern finden sich auch im Hinduismus sehr stark, zwar
  meistens in älterer Zeit, doch Spuren davon auch noch jetzt. --

Alle jene Vorgaben halten also nicht Stich. Mit mehr Recht kann urgirt
werden, daß, wie schon ein angeknurrter Hund wieder knurrt, ein
geschmeichelter wieder schmeichelt, es auch in der Natur des Menschen
liege, jede feindliche Begegnung feindlich zu erwidern und durch Zeichen
der Geringschätzung oder des Hasses erbittert und gereizt zu werden;
daher schon Cicero sagt: _habet quendam aculeum contumelia, quem pati
prudentes ac viri boni difficillime possunt_; wie denn auch nirgends auf
der Welt (einige fromme Sekten beiseite gesetzt) Schimpfreden oder gar
Schläge gelassen hingenommen werden. Jedoch leitet die Natur keinenfalls
zu etwas Weiterem, als zu einer der Sache angemessenen Vergeltung, nicht
aber dazu, den Vorwurf der Lüge, der Dummheit oder der Feigheit, mit dem
Tode zu bestrafen, und der altdeutsche Grundsatz »auf eine Maulschelle
gehört ein Dolch« ist ein empörender ritterlicher Aberglaube. Jedenfalls
ist die Erwiderung oder Vergeltung von Beleidigungen Sache des Zorns,
aber keineswegs der Ehre und Pflicht, wozu das ritterliche Ehrenprinzip
sie stempelt. Vielmehr ist ganz gewiß, daß jeder Vorwurf nur in dem
Maße, als er trifft, verletzen kann; welches auch daran ersichtlich ist,
daß die leiseste Andeutung, welche trifft, viel tiefer verwundet, als
die schwerste Anschuldigung, die gar keinen Grund hat. Wer daher
wirklich sich bewußt ist, einen Vorwurf nicht zu verdienen, darf und
wird ihn getrost verachten. Dagegen aber fordert das Ehrenprinzip von
ihm, daß er eine Empfindlichkeit zeige, die er gar nicht hat, und
Beleidigungen, die ihn nicht verletzen, blutig räche. Der aber muß
selbst eine schwache Meinung von seinem eigenen Werte haben, der sich
beeilt, jeder denselben anfechtenden Äußerung den Daumen aufs Auge zu
drücken, damit sie nicht laut werde. Demzufolge wird, bei Injurien,
wahre Selbstschätzung wirkliche Gleichgültigkeit verleihen, und wo dies,
aus Mangel derselben, nicht der Fall ist, werden Klugheit und Bildung
anleiten, den Schein davon zu retten und den Zorn zu verbergen. Wenn man
demnach nur erst den Aberglauben des ritterlichen Ehrenprinzips los
wäre, so daß niemand mehr vermeinen dürfte, durch Schimpfen irgend etwas
der Ehre eines andern nehmen oder der seinigen wiedergeben zu können,
auch nicht mehr jedes Unrecht, jede Roheit oder Grobheit sogleich
legitimirt werden könnte durch die Bereitwilligkeit Satisfaktion zu
geben, d. h. sich dafür zu schlagen; so würde bald die Einsicht
allgemein werden, daß, wenn es an's Schmähen und Schimpfen geht, der in
diesem Kampfe Besiegte der Sieger ist, und daß, wie *Vincenzo Monti*
sagt, die Injurien es machen wie die Kirchenprozessionen, welche stets
dahin zurückkehren, von wo sie ausgegangen sind. Ferner würde es alsdann
nicht mehr, wie jetzt, hinreichend sein, daß einer eine Grobheit zu
Markte brächte, um Recht zu behalten; mithin würden alsdann Einsicht und
Verstand ganz anders zu Worte kommen als jetzt, wo sie immer erst zu
berücksichtigen haben, ob sie nicht irgendwie den Meinungen der
Beschränktheit und Dummheit, als welche schon ihr bloßes Auftreten
alarmirt und erbittert hat, Anstoß geben und dadurch herbeiführen
können, daß das Haupt, in welchem sie wohnen, gegen den flachen Schädel,
in welchem jene hausen, aufs Würfelspiel gesetzt werden müsse. Sonach
würde alsdann in der Gesellschaft die geistige Überlegenheit das ihr
gebührende Primat erlangen, welches jetzt, wenn auch verdeckt, die
physische Überlegenheit und die Husarenkourage hat, und infolge hievon
würden die vorzüglichsten Menschen doch schon einen Grund weniger haben,
als jetzt, sich von der Gesellschaft zurückzuziehn. Eine Veränderung
dieser Art würde demnach den *wahren* guten Ton herbeiführen und der
wirklich guten Gesellschaft den Weg bahnen, in der Form, wie sie, ohne
Zweifel, in Athen, Korinth und Rom bestanden hat. Wer von dieser eine
Probe zu sehn wünscht, dem empfehle ich das Gastmahl des Xenophon zu
lesen.

Die letzte Verteidigung des ritterlichen Kodex wird aber, ohne
Zweifel, lauten: »Ei, da könnte ja, Gott sei bei uns! wohl gar einer
dem andern einen Schlag versetzen!« -- worauf ich kurz erwidern
könnte, daß dies bei den 999/1000 der Gesellschaft, die jenen Kodex
nicht anerkennen, oft genug der Fall gewesen, ohne daß je einer daran
gestorben sei, während bei den Anhängern desselben, in der Regel,
jeder Schlag ein tötlicher wird. Aber ich will näher darauf eingehen.
Ich habe mich oft genug bemüht, für die unter einem Teil der
menschlichen Gesellschaft so fest stehende Überzeugung von der
Entsetzlichkeit eines Schlages, entweder in der tierischen, oder in
der vernünftigen Natur des Menschen, irgend einen haltbaren oder
wenigstens plausibeln, nur nicht in bloßen Redensarten bestehenden,
sondern auf deutliche Begriffe zurückführbaren Grund zu finden, jedoch
vergeblich. Ein Schlag ist und bleibt ein kleines physisches Übel,
welches jeder Mensch dem andern verursachen kann, dadurch aber weiter
nichts beweist, als daß er stärker oder gewandter sei, oder daß der
andere nicht auf seiner Hut gewesen. Weiter ergibt die Analyse nichts.
Sodann sehe ich denselben Ritter, welchem ein Schlag von Menschenhand
der Übel größtes dünkt, einen zehnmal stärkern Schlag von seinem
Pferde erhalten und, mit verbissenem Schmerz davonhinkend, versichern,
es habe nichts zu bedeuten. Da habe ich gedacht, es läge an der
Menschenhand. Allein ich sehe unseren Ritter von dieser Degenstiche
und Säbelhiebe im Kampfe erhalten und versichern, es sei Kleinigkeit,
nicht der Rede wert. Sodann vernehme ich, daß selbst Schläge mit der
flachen Klinge bei weitem nicht so schlimm seien wie die mit dem
Stocke, daher, vor nicht langer Zeit, die Kadetten wohl jenen, aber
nicht diesen ausgesetzt waren: und nun gar der Ritterschlag, mit der
Klinge, ist die größte Ehre. Da bin ich denn mit meinen
psychologischen und moralischen Gründen zu Ende, und mir bleibt nichts
übrig, als die Sache für einen alten, festgewurzelten Aberglauben zu
halten, für ein Beispiel mehr, zu so vielen, was alles man den
Menschen einreden kann. Dies bestätigt auch die bekannte Tatsache, daß
in China Schläge mit dem Bambusrohr eine sehr häufige bürgerliche
Bestrafung, selbst für Beamte aller Klassen sind; indem sie uns zeigt,
daß die Menschennatur, und selbst die hoch zivilisirte, dort nicht
dasselbe aussagt[G]. Sogar aber lehrt ein unbefangener Blick auf die
Natur des Menschen, daß diesem das Prügeln so natürlich ist, wie den
reißenden Tieren das Beißen und dem Hornvieh das Stoßen: er ist eben
ein prügelndes Tier. Daher auch werden wir empört, wenn wir, in
seltenen Fällen, vernehmen, daß ein Mensch den andern gebissen habe;
hingegen ist, daß er Schläge gebe und empfange, ein so natürliches,
wie leicht eintretendes Ereignis. Daß höhere Bildung sich auch diesem,
durch gegenseitige Selbstbeherrschung, gern entzieht, ist leicht
erklärlich. Aber einer Nation, oder auch nur einer Klasse,
aufzubinden, ein gegebener Schlag sei ein entsetzliches Unglück,
welches Mord und Totschlag zur Folge haben müsse, ist eine
Grausamkeit. Es gibt der wahren Übel zu viele auf der Welt, als daß
man sich erlauben dürfte, sie durch imaginäre, welche die wahren
herbeiziehn, zu vermehren: das tut aber jener dumme und boshafte
Aberglaube. Ich muß daher sogar mißbilligen, daß Regierungen und
gesetzgebende Körper demselben dadurch Vorschub leisten, daß sie mit
Eifer auf Abstellung aller Prügelstrafen, beim Zivil und Militär,
dringen. Sie glauben dabei im Interesse der Humanität zu handeln;
während gerade das Gegenteil der Fall ist, indem sie dadurch an der
Befestigung jenes widernatürlichen und heillosen Wahnes, dem schon so
viele Opfer gefallen sind, arbeiten. Bei allen Vergehungen, mit
Ausnahme der schwersten, sind Prügel die dem Menschen zuerst
einfallende, daher die natürliche Bestrafung: wer für Gründe nicht
empfänglich war, wird es für Prügel sein: und daß der, welcher am
Eigentum, weil er keines hat, nicht gestraft werden kann, und den man
an der Freiheit, weil man seiner Dienste bedarf, nicht ohne eigenen
Nachteil strafen kann, durch mäßige Prügel gestraft werde, ist so
billig wie natürlich. Auch werden gar keine Gründe dagegen
aufgebracht, sondern bloße Redensarten von der »Würde des Menschen«,
die sich nicht auf deutliche Begriffe, sondern eben nur wieder auf
obigen verderblichen Aberglauben stützen. Daß dieser der Sache zum
Grunde liege, hat eine fast lächerliche Bestätigung daran, daß noch
vor kurzem, in manchen Ländern beim Militär die Prügelstrafe durch die
Lattenstrafe ersetzt worden war, welche doch, ganz und gar wie jene,
die Verursachung eines körperlichen Schmerzes ist, nun aber nicht
ehrenrührig und entwürdigend sein soll.

  [G] _Vingt ou trente coups de canne sur le derrière, c'est, pour ainsi
  dire, le pain quotidien des Chinois. C'est une correction paternelle
  du mandarin, laquelle n'a rien d'infamant, et qu'ils reçoivent avec
  action de grâces. -- Lettres édifiantes et curieuses, édition de 1819.
  Vol. 11, p. 454._

Durch dergleichen Beförderung des besagten Aberglaubens arbeitet man
aber dem ritterlichen Ehrenprinzip und damit dem Duell in die Hände,
während man dieses andrerseits durch Gesetze abzustellen bemüht ist,
oder doch es zu sein vorgibt[H]. Infolge davon treibt denn jenes
Fragment des Faustrechts, aus den Zeiten des rohesten Mittelalters bis
in das 19. Jahrhundert herabgeweht, sich in diesem, zum öffentlichen
Skandal, noch immer herum: es ist nachgerade an der Zeit, daß es mit
Schimpf und Schande herausgeworfen werde. Ist es doch heutzutage nicht
einmal erlaubt, Hunde oder Hähne methodisch aufeinander zu hetzen
(wenigstens werden in England dergleichen Hetzen gestraft); aber
Menschen werden, wider Willen, zum tötlichen Kampf aufeinander
gehetzt, durch den lächerlichen Aberglauben des absurden Prinzips der
ritterlichen Ehre und durch dessen bornirte Vertreter und Verwalter,
welche ihnen die Verpflichtung auflegen, wegen irgend einer Lumperei
wie Gladiatoren mit einander zu kämpfen. Unseren deutschen Puristen
schlage ich daher, für das Wort Duell, welches wahrscheinlich nicht
vom lateinischen _duellum_, sondern vom spanischen _duelo_, Leid,
Klage, Beschwerde, herkommt, -- die Benennung Ritterhetze vor. Die
Pedanterei, mit der die Narrheit getrieben wird, gibt allerdings Stoff
zum Lachen. Indessen ist es empörend, daß jenes Prinzip und sein
absurder Kodex einen Staat im Staate begründet, welcher, kein anderes
als das Faustrecht anerkennend, die ihm unterworfenen Stände dadurch
tyrannisirt, daß er ein heiliges Vehmgericht offen hält, vor welches
jeder jeden, mittelst sehr leicht herbeizuführender Anlässe als
Schergen, laden kann, um ein Gericht auf Tod und Leben über ihn und
sich ergehn zu lassen. Natürlich wird nun dies der Schlupfwinkel, von
welchem aus jeder Verworfenste, wenn er nur jenen Ständen angehört,
den Edelsten und Besten, der ihm als solcher notwendig verhaßt sein
muß, bedrohen, ja, aus der Welt schaffen kann. Nachdem heutzutage
Justiz und Polizei es so ziemlich dahin gebracht haben, daß nicht mehr
auf der Landstraße jeder Schurke uns zurufen kann »die Börse oder das
Leben«, sollte endlich auch die gesunde Vernunft es dahin bringen, daß
nicht mehr, mitten im friedlichen Verkehr, jeder Schurke uns zurufen
könne »die Ehre oder das Leben«. Und die Beklemmung sollte den höhern
Ständen von der Brust genommen werden, welche daraus entsteht, daß
jeder, jeden Augenblick, mit Leib und Leben verantwortlich werden kann
für die Roheit, Grobheit, Dummheit oder Bosheit irgend eines andern,
dem es gefällt, solche gegen ihn auszulassen. Daß, wenn zwei junge,
unerfahrne Hitzköpfe mit Worten aneinander geraten, sie dies mit ihrem
Blut, ihrer Gesundheit oder ihrem Leben büßen sollen, ist
himmelschreiend, ist schändlich. Wie arg die Tyrannei jenes Staates im
Staate und wie groß die Macht jenes Aberglaubens sei, läßt sich daran
ermessen, daß schon öfter Leute, denen die Wiederherstellung ihrer
verwundeten ritterlichen Ehre, wegen zu hohen oder zu niedrigen
Standes, oder sonst unangemessener Beschaffenheit des Beleidigers
unmöglich war, aus Verzweiflung darüber sich selbst das Leben genommen
und so ein tragikomisches Ende gefunden haben. -- Da das Falsche und
Absurde sich am Ende meistens dadurch entschleiert, daß es, auf seinem
Gipfel, den Widerspruch als seine Blüte hervortreibt; so tritt dieser
zuletzt auch hier in Form der schreiendesten Antinomie hervor: nämlich
dem Offizier ist das Duell verboten: aber er wird durch Absetzung
gestraft, wenn er es, vorkommenden Falls, unterläßt.

  [H] Der eigentliche Grund, aus welchem die Regierungen scheinbar sich
  beeifern, das Duell zu unterdrücken und, während dies offenbar, zumal
  auf Universitäten, sehr leicht wäre, sich stellen, als wolle es ihnen
  nur nicht gelingen, scheint mir folgender: Der Staat ist nicht
  imstande die Dienste seiner Offiziere und Zivilbeamten mit Geld zum
  vollen zu bezahlen; daher läßt er die andere Hälfte ihres Lohnes in
  der Ehre bestehn, welche repräsentirt wird durch Titel, Uniformen und
  Orden. Um nun diese ideale Vergütung ihrer Dienste im hohen Kurse zu
  erhalten, muß das Ehrgefühl auf alle Weise genährt, geschärft,
  allenfalls etwas überspannt werden: da aber zu diesem Zweck die
  bürgerliche Ehre nicht ausreicht, schon weil man sie mit jedem teilt:
  so wird die ritterliche Ehre zu Hilfe genommen und besagterweise
  aufrecht erhalten. In England, als wo Militär- und Zivilbesoldungen
  sehr viel höher stehn, als auf dem Kontinent, ist die besagte Aushilfe
  nicht nötig: daher eben ist daselbst, zumal in diesen letzten zwanzig
  Jahren, das Duell fast ganz ausgerottet, kommt jetzt höchst selten
  vor, und wird dann als eine Narrheit verlacht; gewiß hat die große
  _Anti-duelling-society_, welche eine Menge Lords, Admiräle und
  Generäle zu ihren Mitgliedern zählt, hiezu viel beigetragen, und der
  Moloch muß sich ohne seine Opfer behelfen.

Ich will aber, da ich einmal dabei bin, in der Parrhesia noch weiter
gehn. Beim Lichte und ohne Vorurteil betrachtet, beruht bloß darauf,
daß, wie gesagt, jener Staat im Staate kein anderes Recht, als das des
Stärkeren, also das Faustrecht, anerkennt und dieses, zum Gottesurteil
erhoben, seinem Kodex zum Grunde gelegt hat, der so wichtig gemachte
und so hoch genommene Unterschied, ob man seinen Feind im offenen, mit
gleichen Waffen geführten Kampf, oder aus dem Hinterhalt erlegt habe.
Denn durch ersteres hat man doch weiter nichts bewiesen, als daß man
der Stärkere oder der Geschicktere sei. Die Rechtfertigung, die man im
Bestehen des offenen Kampfes sucht, setzt also voraus, daß das Recht
*des Stärkeren* wirklich ein *Recht* sei. In Wahrheit aber gibt der
Umstand, daß der andere sich schlecht zu wehren versteht, mir zwar die
Möglichkeit, jedoch keineswegs das Recht, ihn umzubringen; sondern
dieses letztere, also meine *moralische* Rechtfertigung kann allein
auf den *Motiven*, die ich, ihm das Leben zu nehmen, habe, beruhen.
Nehmen wir nun an, diese wären wirklich vorhanden oder zureichend; so
ist durchaus kein Grund da, es jetzt noch *davon* abhängig zu machen,
ob er, oder ich, besser schießen oder fechten könne, sondern dann ist
es gleichviel, auf welche Art ich ihm das Leben nehme, ob von hinten
oder von vorne. Denn moralisch hat das Recht des Stärkeren nicht mehr
Gewicht, als das Recht des Klügeren, welches beim hinterlistigen Morde
angewandt wird: hier wiegt also dem Faustrecht das Kopfrecht gleich;
wozu noch bemerkt sei, daß auch beim Duell das eine wie das andere
geltend gemacht wird, indem schon jede Finte, beim Fechten, Hinterlist
ist. Halte ich mich moralisch gerechtfertigt, einem das Leben zu
nehmen; so ist es Dummheit, es jetzt noch erst darauf ankommen zu
lassen, ob er etwan besser schießen und fechten könne als ich; in
welchem Fall er dann, umgekehrt, mir, den er schon beeinträchtigt hat,
noch obendrein das Leben nehmen soll. Daß Beleidigungen nicht durch
das Duell, sondern durch Meuchelmord zu rächen seien, ist *Rousseaus*
Ansicht, die er behutsam andeutet, in der so geheimnisvoll gehaltenen
21. Anmerkung zum 4. Buche des *Emile* (S. 173, _Bip._). Dabei aber
ist er so stark im ritterlichen Aberglauben befangen, daß er schon den
erlittenen Vorwurf der Lüge als eine Berechtigung zum Meuchelmorde
ansieht; während er doch wissen mußte, daß jeder Mensch diesen Vorwurf
unzählige Male verdient hat, ja, er selbst im höchsten Grade. Das
Vorurteil aber, welches die Berechtigung, den Beleidiger zu töten,
durch den offenen Kampf, mit gleichen Waffen, bedingt sein läßt, hält
offenbar das Faustrecht für ein wirkliches Recht und den Zweikampf für
ein Gottesurteil. Der Italiäner hingegen, welcher, von Zorn entbrannt,
seinen Beleidiger, wo er ihn findet, ohne weiteres mit dem Messer
anfällt, handelt wenigstens konsequent und naturgemäß: er ist klüger,
aber nicht schlechter, als der Duellant. Wollte man sagen, daß ich,
bei der Tötung meines Feindes im Zweikampf, dadurch gerechtfertigt
sei, daß er eben sich bemühte, mich zu töten, so steht dem entgegen,
daß ich, durch die Herausforderung, ihn in den Fall der Notwehr
versetzt habe. Dieses sich absichtlich gegenseitig in den Fall der
Notwehr versetzen, heißt im Grunde nur, einen plausibeln Vorwand für
den Mord suchen. Eher ließe sich die Rechtfertigung durch den
Grundsatz _volenti non fit injuria_ hören; sofern man durch
gegenseitige Übereinkunft sein Leben auf dieses Spiel gesetzt hat:
aber dem steht entgegen, daß es mit dem _volenti_ nicht seine
Richtigkeit hat; indem die Tyrannei des ritterlichen Ehrenprinzips und
seines absurden Kodex der Scherge ist, welcher beide, oder wenigstens
einen der beiden Kämpen vor dieses blutige Vehmgericht geschleppt hat.

Ich bin über die ritterliche Ehre weitläufig gewesen, aber in guter
Absicht und weil gegen die moralischen und intellektuellen Ungeheuer
auf dieser Welt der alleinige Herkules die Philosophie ist. Zwei Dinge
sind es hauptsächlich, welche den gesellschaftlichen Zustand der neuen
Zeit von dem des Altertums, zum Nachteil des ersteren unterscheiden,
indem sie demselben einen ernsten, finsteren, sinistern Anstrich
gegeben haben, von welchem frei das Altertum heiter und unbefangen,
wie der Morgen des Lebens, dasteht. Sie sind: das ritterliche
Ehrenprinzip und die venerische Krankheit, -- _par nobile fratrum_!
Sie zusammen haben =neikos kai philia= des Lebens vergiftet. Die
venerische Krankheit nämlich erstreckt ihren Einfluß viel weiter, als
es auf den ersten Blick scheinen möchte, indem derselbe keineswegs ein
bloß physischer, sondern auch ein moralischer ist. Seitdem Amors
Köcher auch vergiftete Pfeile führt, ist in das Verhältnis der
Geschlechter zueinander ein fremdartiges, feindseliges, ja teuflisches
Element gekommen, infolge wovon ein finsteres und furchtsames
Mißtrauen es durchzieht, und der unmittelbare Einfluß einer solchen
Änderung in der Grundfeste aller menschlichen Gemeinschaft erstreckt
sich, mehr oder weniger, auch auf die übrigen geselligen Verhältnisse;
welches auseinanderzusetzen mich hier zu weit abführen würde. --
Analog, wiewohl ganz anderartig, ist der Einfluß des ritterlichen
Ehrenprinzips, dieser ernsthaften Posse, welche den Alten fremd war,
hingegen die moderne Gesellschaft steif, ernst und ängstlich macht,
schon weil jede flüchtige Äußerung skrutinirt und ruminirt wird. Aber
mehr als dies! Jenes Prinzip ist ein allgemeiner Minotaur, dem nicht,
wie dem antiken, von einem, sondern von jedem Lande in Europa
alljährlich eine Anzahl Söhne edler Häuser zum Tribut gebracht werden
muß. Daher ist es an der Zeit, daß diesem Popanz einmal kühn zu Leibe
gegangen werde, wie hier geschehn. Möchten doch beide Monstra der
neueren Zeit im 19. Jahrhundert ihr Ende finden! Wir wollen die
Hoffnung nicht aufgeben, daß es mit dem ersteren den Ärzten, mittelst
der Prophylaktika, endlich doch noch gelingen werde. Den *Popanz* aber
abzutun ist Sache des Philosophen, mittelst Berichtigung der Begriffe,
da es den Regierungen, mittelst Handhabung der Gesetze, bisher nicht
hat gelingen wollen, zudem auch nur auf dem ersteren Wege das Übel an
der Wurzel angegriffen wird. Sollte es inzwischen den Regierungen mit
der Abstellung des Duellwesens wirklich ernst sein und der geringe
Erfolg ihres Bestrebens wirklich nur an ihrem Unvermögen liegen, so
will ich ihnen ein Gesetz vorschlagen, für dessen Erfolg ich einstehe,
und zwar ohne blutige Operationen, ohne Schafott oder Galgen oder
lebenswierige Einsperrungen zu Hilfe zu nehmen. Vielmehr ist es ein
kleines, ganz leichtes homöopathisches Mittelchen: wer einen andern
herausfordert oder sich stellt, erhält, _à la Chinoise_, am hellen
Tage, vor der Hauptwache, 12 Stockschläge vom Korporal, die
Kartellträger und Sekundanten jeder 6. Wegen der etwanigen Folgen
wirklich vollzogener Duelle bliebe das gewöhnliche kriminelle
Verfahren. Vielleicht würde ein ritterlich Gesinnter mir einwenden,
daß nach Vollstreckung solcher Strafe mancher »Mann von Ehre« imstande
sein könnte, sich totzuschießen; worauf ich antworte: es ist besser,
daß so ein Narr sich selber totschießt, als andere. -- Im Grunde aber
weiß ich sehr wohl, daß es den Regierungen mit der Abstellung der
Duelle nicht ernst ist. Die Gehalte der Zivilbeamten, noch viel mehr
aber die der Offiziere, stehen (von den höchsten Stellen abgesehn)
weit unter dem Wert ihrer Leistungen. Zur andern Hälfte werden sie
daher mit der Ehre bezahlt. Diese wird zunächst durch Titel und Orden
vertreten, im weiteren Sinne durch die Standesehre überhaupt. Für
diese Standesehre nun ist das Duell ein brauchbares Handpferd; daher
es auch schon auf den Universitäten seine Vorschule hat. Die Opfer
desselben bezahlen demnach mit ihrem Blut das Defizit der Gehalte. --

Der Vollständigkeit wegen sei hier noch die *Nationalehre* erwähnt.
Sie ist die Ehre eines ganzen Volkes als Teiles der Völkergemeinschaft.
Da es in dieser kein anderes Forum gibt, als das der Gewalt, und
demnach jedes Mitglied derselben seine Rechte selbst zu schützen hat;
so besteht die Ehre einer Nation nicht allein in der erworbenen
Meinung, daß ihr zu trauen sei (Kredit), sondern auch in der, daß sie
zu fürchten sei: daher darf sie Eingriffe in ihre Rechte niemals
ungeahndet lassen. Sie vereinigt also den Ehrenpunkt der bürgerlichen
mit dem der ritterlichen Ehre. --

Zu dem, was einer *vorstellt*, d. h. in den Augen der Welt ist, war
oben, in letzter Stelle, der *Ruhm* gezählt worden: diesen hätten wir
also noch zu betrachten. -- Ruhm und Ehre sind Zwillingsgeschwister;
jedoch so, wie die Dioskuren, von denen Pollux unsterblich und Kastor
sterblich war: der Ruhm ist der unsterbliche Bruder der sterblichen
Ehre. Freilich ist dies nur vom Ruhme höchster Gattung, dem
eigentlichen und echten Ruhme, zu verstehen: denn es gibt allerdings
auch mancherlei ephemeren Ruhm. -- Die Ehre, nun ferner, betrifft bloß
solche Eigenschaften, welchen von jedem, der in denselben
Verhältnissen steht, gefordert werden; der Ruhm bloß solche, die man
von niemandem fordern darf; die Ehre solche, die jeder sich öffentlich
beilegen darf; der Ruhm solche, die keiner sich selber beilegen darf.
Während unsere Ehre so weit reicht, wie die Kunde von uns; so eilt,
umgekehrt, der Ruhm der Kunde von uns voran und bringt diese so weit
er selbst gelangt. Auf Ehre hat jeder Anspruch; auf Ruhm nur die
Ausnahmen: denn nur durch außerordentliche Leistungen wird Ruhm
erlangt. Diese nun wieder sind entweder *Taten* oder *Werke*; wonach
zum Ruhme zwei Wege offen stehn. Zum Wege der *Taten* befähigt
vorzüglich das große Herz; zu dem der *Werke* der große Kopf. Jeder
der beiden Wege hat seine eigenen Vorteile und Nachteile. Der
Hauptunterschied ist, daß die Taten vorübergehn, die Werke bleiben.
Die edelste Tat hat doch nur einen zeitweiligen Einfluß; das geniale
Werk hingegen lebt und wirkt, wohltätig und erhebend, durch alle
Zeiten. Von den Taten bleibt nur das Andenken, welches immer
schwächer, entstellter und gleichgültiger wird, allmählich sogar
erlöschen muß, wenn nicht die Geschichte es aufnimmt und es nun im
petrifizirtem Zustande der Nachwelt überliefert. Die Werke hingegen
sind selbst unsterblich und können, zumal die schriftlichen, alle
Zeiten durchleben. Von Alexander dem Großen lebt Name und Gedächtnis:
aber Plato und Aristoteles, Homer und Horaz sind noch selbst da, leben
und wirken unmittelbar. Die Veden, mit ihren Upanischaden, sind da:
aber von allen den Taten, die zu ihrer Zeit geschehen, ist gar keine
Kunde auf uns gekommen[I]. -- Ein anderer Nachteil der Taten ist ihre
Abhängigkeit von der Gelegenheit, als welche erst die Möglichkeit dazu
geben muß; woran sich knüpft, daß ihr Ruhm sich nicht allein nach
ihrem innern Werte richtet, sondern auch nach den Umständen, welche
ihnen Wichtigkeit und Glanz erteilen. Zudem ist er, wenn, wie im
Kriege, die Taten rein persönliche sind, von der Aussage weniger
Augenzeugen abhängig: diese sind nicht immer vorhanden und dann nicht
immer gerecht und unbefangen. Dagegen aber haben die Taten den
Vorteil, daß sie, als etwas Praktisches, im Bereich der allgemeinen
menschlichen Urteilsfähigkeit liegen; daher ihnen, wenn dieser nur die
Data richtig überliefert sind, sofort Gerechtigkeit widerfährt; es sei
denn, daß ihre Motive erst später richtig erkannt oder gerecht
abgeschätzt werden: denn zum Verständnis einer jeden Handlung gehört
Kenntnis des Motivs derselben. Umgekehrt steht es mit den Werken: ihre
Entstehung hängt nicht von der Gelegenheit, sondern allein von ihrem
Urheber ab, und was sie an und für sich sind, bleiben sie, so lange
sie bleiben. Bei ihnen liegt dagegen die Schwierigkeit im Urteil, und
sie ist um so größer, in je höherer Gattung sie sind: oft fehlt es an
kompetenten, oft an unbefangenen und redlichen Richtern. Dagegen nun
wieder wird ihr Ruhm nicht von *einer* Instanz entschieden; sondern es
findet Appellation statt. Denn während, wie gesagt, von den Taten bloß
das Andenken auf die Nachwelt kommt und zwar so, wie die Mitwelt es
überliefert; so kommen hingegen die Werke selbst dahin, und zwar, etwa
fehlende Bruchstücke abgerechnet, so, wie sie sind: hier gibt es also
keine Entstellung der Data, und auch der etwan nachteilige Einfluß der
Umgebung, bei ihrem Ursprunge, fällt später weg. Vielmehr bringt oft
erst die Zeit, nach und nach, die wenigen wirklich kompetenten Richter
heran, welche, schon selbst Ausnahmen, über noch größere Ausnahmen zu
Gerichte sitzen: sie geben sukzessiv ihre gewichtigen Stimmen ab, und
so steht, bisweilen freilich erst nach Jahrhunderten, ein vollkommen
gerechtes Urteil da, welches keine Folgezeit mehr umstößt. So sicher,
ja, unausbleiblich ist der Ruhm der Werke. Hingegen daß ihr Urheber
ihn erlebe, hängt von äußeren Umständen und dem Zufall ab: es ist um
so seltener, je höherer und schwierigerer Gattung sie waren. Diesem
gemäß sagt Seneka (_ep. 79._) unvergleichlich schön, daß dem
Verdienste sein Ruhm so unfehlbar folge, wie dem Körper sein Schatten,
nur aber freilich, eben wie auch dieser, bisweilen vor, bisweilen
hinter ihm herschreite, und fügt, nachdem er dies erläutert hat,
hinzu: _etiamsi omnibus tecum viventibus *silentium livor indixerit*,
venient qui sine offensa, sine gratia judicent_; woraus wir nebenbei
ersehen, daß die Kunst des Unterdrückens der Verdienste durch
hämisches Schweigen und Ignoriren, um, zu Gunsten des Schlechten, das
Gute dem Publiko zu verbergen, schon bei den Lumpen des Seneka'schen
Zeitalters üblich war, so gut wie bei denen des unsrigen, und daß
jenen, wie diesen, *der Neid die Lippen zudrückte*. -- In der Regel
wird sogar der Ruhm, je länger er zu dauern hat, desto später
eintreten; wie ja alles Vorzügliche langsam heranreift. Der Ruhm,
welcher zum Nachruhm werden will, gleicht einer Eiche, die aus ihrem
Samen sehr langsam emporwächst; der leichte, ephemere Ruhm den
einjährigen, schnellwachsenden Pflanzen, und der falsche Ruhm gar dem
schnell hervorschießenden Unkraute, das schleunigst ausgerottet wird.
Dieser Hergang beruht eigentlich darauf, daß, je mehr einer der
Nachwelt, d. i. eigentlich der Menschheit überhaupt und im Ganzen,
angehört, desto fremder er seinem Zeitalter ist; weil, was er
hervorbringt, nicht diesem speziell gewidmet ist, also nicht demselben
als solchem, sondern nur sofern es ein Teil der Menschheit ist,
angehört und daher auch nicht mit dessen Lokalfarbe tingirt ist:
infolge hievon aber kann es leicht kommen, daß dasselbe ihn fremd an
sich vorübergehn läßt. Es schätzt vielmehr die, welche den
Angelegenheiten seines kurzen Tages, oder der Laune des Augenblicks
dienen und daher ganz *ihm* angehören, mit ihm leben und mit ihm
sterben. Demgemäß lehren Kunst- und Literaturgeschichte durchgängig,
daß die höchsten Leistungen des menschlichen Geistes in der Regel mit
Ungunst aufgenommen worden und darin so lange geblieben sind, bis
Geister höherer Art herankamen, die von ihnen angesprochen wurden und
sie zu dem Ansehn brachten, in welchem sie nachher, durch die so
erlangte Autorität, sich erhalten haben. Dies alles nun aber beruht,
im letzten Grunde, darauf, daß jeder eigentlich nur das ihm Homogene
verstehn und schätzen kann. Nun aber ist dem Platten das Platte, dem
Gemeinen das Gemeine, dem Unklaren das Verworrene, dem Hirnlosen das
Unsinnige homogen, und am allerbesten gefallen jedem seine eigenen
Werke, als welche ihm durchaus homogen sind. Daher sang schon der alte
fabelhafte Epicharmos:

    =Thaumaston ouden esti, me tauth' houtô legein,
    Kai handanein autoisin autous, kai dokein
    Kalôs pephykenai: kai gar ho kyôn kyni
    Kalliston eimen phainetai, kai bous boï,
    Onos de onô kalliston, hys de hyï.=

welches ich, damit es keinem verloren gehe, verdeutschen will:

    Kein Wunder ist es, daß ich red' in meinem Sinn,
    Und jene, selbst sich selbst gefallend, stehn im Wahn,
    Sie wären lobenswert: so scheint dem Hund der Hund
    Das schönste Wesen, so dem Ochsen auch der Ochs,
    Dem Esel auch der Esel, und dem Schwein das Schwein.

  [I] Demnach ist es ein schlechtes Kompliment, wenn man, wie heutzutage
  Mode ist, Werke dadurch zu ehren vermeint, daß man sie Taten titulirt.
  Denn Werke sind wesentlich höherer Art. Eine Tat ist immer nur eine
  Handlung auf Motiv, mithin ein einzelnes, vorübergehendes, und ist ein
  dem allgemeinen und ursprünglichen Element der Welt, dem Willen,
  angehöriges. Ein großes oder schönes Werk hingegen ist ein bleibendes,
  weil von allgemeiner Bedeutung, und ist der Intelligenz entsprossen,
  der schuldlosen, reinen, dieser Willenswelt wie ein Duft
  entsteigenden.

  Ein Vorteil des Ruhmes der Taten ist, daß er in der Regel sogleich
  eintritt mit einer starken Explosion, oft so stark, daß sie in ganz
  Europa gehört wird; während der Ruhm der Werke langsam und allmählich
  eintritt, erst leise, dann immer lauter, und oft erst nach hundert
  Jahren seine ganze Stärke erreicht: dann aber bleibt er, weil die
  Werke bleiben, bisweilen Jahrtausende hindurch. Jener andere hingegen
  wird, nachdem die erste Explosion vorüber ist, allmählich schwächer,
  wenigeren bekannt und immer wenigeren, bis er zuletzt nur noch in der
  Historie ein gespensterhaftes Dasein führt.

Wie selbst der kräftigste Arm, wenn er einen leichten Körper
fortschleudert, ihm doch keine Bewegung erteilen kann, mit der er weit
flöge und heftig träfe, sondern derselbe schon in der Nähe matt
niederfällt, weil es ihm an eigenem materiellen Gehalte gefehlt hat,
die fremde Kraft aufzunehmen, -- ebenso ergeht es schönen und großen
Gedanken, ja den Meisterwerken des Genies, wenn, sie aufzunehmen,
keine andere, als kleine, schwache oder schiefe Köpfe da sind. Dies zu
bejammern haben die Stimmen der Weisen aller Zeiten sich zum Chorus
vereint. Z. B. Jesus Sirach sagt, »wer mit einem Narren redet, der
redet mit einem Schlafenden. Wenn es aus ist, so spricht er: was
ist's?« -- Und Hamlet: _a knavish speech sleeps in a fool's ear_ (eine
schalkhafte Rede schläft im Ohr eines Narren). Und Goethe:

    Das glücklichste Wort es wird verhöhnt,
    Wenn der Hörer ein Schiefohr ist.

und wieder:

    Du wirkest nicht, alles bleibt so stumpf,
    Sei guter Dinge!
    Der Stein im Sumpf
    Macht keine Ringe.

Und Lichtenberg: »wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es
klingt hohl; ist denn das allemal im Buche?« -- und wieder: »Solche
Werke sind Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, kann kein Apostel
heraussehn.« Ja, Vater Gellert's gar schöne und rührende Klage darüber
verdient wohl einmal wieder in Erinnerung gebracht zu werden:

    »Daß oft die allerbesten Gaben
    Die wenigsten Bewundrer haben,
    Und daß der größte Teil der Welt
    Das Schlechte für das Gute hält;
    Dies Übel sieht man alle Tage.
    Jedoch, wie wehrt man dieser Pest?
    Ich zweifle, daß sich diese Plage
    Aus unsrer Welt verdrängen läßt.
    Ein einzig Mittel ist auf Erden,
    Allein es ist unendlich schwer:
    Die Narren müssen weise werden;
    Und seht! sie werdens nimmermehr.
    Nie kennen sie den Wert der Dinge.
    Ihr Auge schließt, nicht ihr Verstand:
    Sie loben ewig das Geringe,
    Weil sie das Gute nie gekannt.«

Zu dieser intellektuellen Unfähigkeit der Menschen, infolge welcher
das Vortreffliche, wie Goethe sagt, noch seltener erkannt und
geschätzt, als gefunden wird, gesellt sich nun, hier wie überall, auch
noch die moralische Schlechtigkeit derselben, und zwar als Neid
auftretend. Durch den Ruhm nämlich, den einer erwirbt, wird abermals
einer mehr über alle seiner Art erhoben: diese werden also um ebenso
viel herabgesetzt, so daß jedes ausgezeichnete Verdienst seinen Ruhm
auf Kosten derer erlangt, die keines haben.


    »Wenn wir andern Ehre geben,
    Müssen wir uns selbst entadeln.«

    *Goethe. W. O. Divan.*

Hieraus erklärt es sich, in daß, welcher Gattung auch immer das
Vortreffliche auftreten mag, sogleich die gesamte, so zahlreiche
Mittelmäßigkeit verbündet und verschworen ist, es nicht gelten zu
lassen, ja, wo möglich, es zu ersticken. Ihre heimliche Parole ist: _à
bas le mérite_. Aber sogar auch die, welche selbst Verdienste besitzen
und bereits den Ruhm desselben erlangt haben, werden nicht gern das
Auftreten eines neuen Ruhmes sehn, durch dessen Glanz der des ihrigen
um so viel weniger leuchtet. Daher sagt selbst Goethe:

    »Hätt' ich gezaudert zu werden,
    Bis man mir's Leben gegönnt,
    Ich wäre noch nicht auf Erden,
    Wie ihr begreifen könnt,
    Wenn ihr seht, wie sie sich geberden,
    Die, um etwas zu scheinen,
    Mich gerne möchten verneinen.«

Während also die *Ehre*, in der Regel, gerechte Richter findet und
kein Neid sie anficht, ja sogar sie jedem zum voraus, auf Kredit,
verliehen wird, muß der *Ruhm*, dem Neid zum Trotz, erkämpft werden,
und den Lorbeer teilt ein Tribunal entschieden ungünstiger Richter
aus. Denn die Ehre können und wollen wir mit jedem teilen: der Ruhm
wird geschmälert oder erschwert, durch jeden, der ihn erlangt. -- Nun
ferner steht die Schwierigkeit der Erlangung des Ruhmes durch Werke im
umgekehrten Verhältnis der Menschenzahl, die das Publikum solcher
Werke ausmacht; aus leicht abzusehenden Gründen. Daher ist sie viel
größer bei Werken, welche Belehrung, als bei solchen, welche
Unterhaltung verheißen. Am größten ist sie bei philosophischen Werken;
weil die Belehrung, welche diese versprechen, einerseits ungewiß, und
andrerseits ohne materiellen Nutzen ist; wonach denn solche zunächst
vor einem Publiko auftreten, das aus lauter Mitbewerbern besteht. --
Aus den dargelegten Schwierigkeiten, die der Erlangung des Ruhmes
entgegenstehn, erhellt, daß, wenn die, welche ruhmwürdige Werke
vollenden, es nicht aus Liebe zu diesen selbst und eigener Freude
daran täten, sondern der Aufmunterung durch den Ruhm bedürften, die
Menschheit wenige, oder keine, unsterbliche Werke erhalten haben
würde. Ja, sogar muß, wer das Gute und Rechte hervorbringen und das
Schlechte vermeiden soll, dem Urteile der Menge und ihrer Wortführer
Trotz bieten, mithin sie verachten. Hierauf beruht die Richtigkeit der
Bemerkung, die besonders *Osorius* (_de gloria_) hervorhebt, daß der
Ruhm vor denen flieht, die ihn suchen, und denen folgt, die ihn
vernachlässigen: denn jene bequemen sich dem Geschmacke ihrer
Zeitgenossen an, diese trotzen ihm.

So schwer es demnach ist, den Ruhm zu erlangen, so leicht ist es, ihn
zu behalten. Auch hierin steht er im Gegensatz mit der Ehre. Diese
wird jedem, sogar auf Kredit, verliehen: er hat sie nur zu bewahren.
Hier aber liegt die Aufgabe: denn durch eine einzige, nichtswürdige
Handlung geht sie unwiederbringlich verloren. Der Ruhm hingegen kann
eigentlich nie verloren gehn: denn die Tat, oder das Werk, durch die
er erlangt worden, stehen für immer fest, und der Ruhm derselben
bleibt ihrem Urheber, auch wenn er keinen neuen hinzufügt. Wenn jedoch
der Ruhm wirklich verklingt, wenn er überlebt wird; so war er unecht,
d. h. unverdient, durch augenblickliche Überschätzung entstanden, wo
nicht gar so ein Ruhm wie Hegel ihn hatte und Lichtenberg ihn
beschreibt, »ausposaunt von einer freundschaftlichen Kandidatenjunta
und vom Echo leerer Köpfe widergehallt; -- -- aber die Nachwelt, wie
wird sie lächeln, wann sie dereinst an die bunten Wörtergehäuse, die
schönen Nester ausgeflogener Mode und die Wohnungen weggestorbener
Verabredungen anklopfen und alles, alles leer finden wird, auch nicht
den kleinsten Gedanken, der mit Zuversicht sagen könnte: *herein*!« --

Der Ruhm beruht eigentlich auf dem, was einer im Vergleich mit den
Übrigen ist. Demnach ist er wesentlich ein Relatives, kann daher auch
nur relativen Wert haben. Er fiele ganz weg, wenn die Übrigen würden
was der Gerühmte ist. Absoluten Wert kann nur das haben, was ihn unter
allen Umständen behält, also hier, was einer unmittelbar und für sich
selbst ist: folglich muß hierin der Wert und das Glück des großen
Herzens und des großen Kopfes liegen. Also nicht der Ruhm, sondern
das, wodurch man ihn verdient, ist das Wertvolle. Denn es ist
gleichsam die Substanz und der Ruhm nur das Akzidenz der Sache: ja
dieser wirkt auf den Gerühmten hauptsächlich als ein äußerliches
Symptom, durch welches er die Bestätigung seiner eigenen hohen Meinung
von sich selbst erhält; demnach man sagen könnte, daß, wie das Licht
gar nicht sichtbar ist, wenn es nicht von einem Körper zurückgeworfen
wird; ebenso jede Trefflichkeit erst durch den Ruhm ihrer selbst recht
gewiß wird. Allein er ist nicht einmal ein untrügliches Symptom; da es
auch Ruhm ohne Verdienst und Verdienst ohne Ruhm gibt; weshalb ein
Ausdruck Lessings so artig herauskommt: »einige Leute sind berühmt,
und andere verdienen es zu sein.« Auch wäre es eine elende Existenz,
deren Wert oder Unwert darauf beruhte, wie sie in den Augen anderer
erschiene: eine solche aber wäre das Leben des Helden und des Genies,
wenn dessen Wert im Ruhme, d. h. im Beifall anderer, bestände.
Vielmehr lebt und existiert ja jegliches Wesen seiner selbst wegen,
daher auch zunächst in sich und für sich. -- Was einer ist, in welcher
Art und Weise es auch sei, das ist er zuvörderst und hauptsächlich für
sich selbst: und wenn es hier nicht viel wert ist, so ist es überhaupt
nicht viel. Hingegen ist das Abbild seines Wesens in den Köpfen
anderer ein Sekundäres, Abgeleitetes und dem Zufall Unterworfenes,
welches nur sehr mittelbar sich auf das erstere zurückbezieht. Zudem
sind die Köpfe der Menge ein zu elender Schauplatz, als daß auf ihm
das wahre Glück seinen Ort haben könnte. Vielmehr ist daselbst nur ein
chimärisches Glück zu finden. Welche gemischte Gesellschaft trifft
doch in jenem Tempel des allgemeinen Ruhms zusammen! Feldherren,
Minister, Quacksalber, Gaukler, Tänzer, Sänger, Millionäre und Juden:
ja die Vorzüge aller dieser werden dort viel aufrichtiger geschätzt,
finden viel mehr _estime sentie_, als die geistigen, zumal der hohen
Art, die ja bei der großen Mehrzahl nur eine _estime sur parole_
erlangen. In eudämonologischer Hinsicht ist also der Ruhm nichts
weiter, als der seltenste und köstlichste Bissen für unsern Stolz und
unsere Eitelkeit. Diese aber sind in den meisten Menschen, obwohl sie
es verbergen, übermäßig vorhanden, vielleicht sogar am stärkesten in
denen, die irgendwie geeignet sind, sich Ruhm zu erwerben und daher
meistens das unsichere Bewußtsein ihres überwiegenden Wertes lange in
sich herumtragen müssen, ehe die Gelegenheit kommt, solchen zu
erproben und dann die Anerkennung desselben zu erfahren: bis dahin war
ihnen zu Mute, als erlitten sie ein heimliches Unrecht[J]. Überhaupt
aber ist ja, wie am Anfange dieses Kapitels erörtert worden, der Wert,
den der Mensch auf die Meinung anderer von ihm legt, ganz
unverhältnismäßig und unvernünftig; so daß *Hobbes* die Sache zwar
sehr stark, aber vielleicht doch richtig ausgedrückt hat in den
Worten: _omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod
quis habeat quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de se
ipso_ (_de cive. I, 5_). Hieraus ist der hohe Wert erklärlich, den man
allgemein auf den Ruhm legt, und die Opfer, welche man bringt, in der
bloßen Hoffnung, ihn dereinst zu erlangen:

    _Fame is the spur, that the clear spirit doth raise
    (That last infirmity of noble minds)
    To scorn delights and live laborious days._

wie auch:

                            _how hard it is to climb
    The hights where Fame's proud temple shines afar._

  [J] Da unser größtes Vergnügen darin besteht, *bewundert* zu werden,
  die Bewunderer aber, selbst wo alle Ursache wäre, sich ungern dazu
  herbeilassen; so ist er der Glücklichste Der, welcher, gleichviel wie,
  es dahin gebracht hat, sich selbst aufrichtig zu bewundern. Nur müssen
  die andern ihn nicht irre machen.

Hieraus endlich erklärt es sich auch, daß die eitelste aller Nationen
beständig _la gloire_ im Munde führt und solche unbedenklich als die
Haupttriebfeder zu großen Taten und großen Werken ansieht. -- Allein,
da unstreitig der Ruhm nur das Sekundäre ist, das bloße Echo, Abbild,
Schatten, Symptom des Verdienstes, und da jedenfalls das Bewunderte
mehr Wert haben muß als die Bewunderung, so kann das eigentlich
Beglückende nicht im Ruhme liegen, sondern in dem, wodurch man ihn
erlangt, also im Verdienste selbst, oder, genauer zu reden, in der
Gesinnung und den Fähigkeiten, aus denen es hervorging, es mag nun
moralischer oder intellektueller Art sein. Denn das Beste, was jeder
ist, muß er notwendig für sich selbst sein: was davon in den Köpfen
anderer sich abspiegelt und er in ihrer Meinung gilt, ist Nebensache
und kann nur von untergeordnetem Interesse für ihn sein. Wer demnach
nur den Ruhm *verdient*, auch ohne ihn zu erhalten, besitzt bei weitem
die Hauptsache, und was er entbehrt, ist etwas, darüber er sich mit
derselben trösten kann. Denn nicht daß einer von der urteilslosen, so
oft betörten Menge für einen großen Mann gehalten werde, sondern daß
er es sei, macht ihn beneidenswert; auch nicht, daß die Nachwelt von
ihm erfahre, sondern daß in ihm sich Gedanken erzeugen, welche
verdienen, Jahrhunderte hindurch aufbewahrt und nachgedacht zu werden,
ist ein hohes Glück. Zudem kann dieses ihm nicht entrissen werden: es
ist =tôn eph' hêmin=, jenes andere =tôn ouk eph' hêmin=. Wäre hingegen
die Bewunderung selbst die Hauptsache; so wäre das Bewunderte ihrer
nicht wert. Dies ist wirklich der Fall beim falschen, d. i.
unverdienten Ruhm. An diesem muß sein Besitzer zehren, ohne das, wovon
derselbe das Symptom, der bloße Abglanz, sein soll, wirklich zu haben.
Aber sogar dieser Ruhm selbst muß ihm oft verleidet werden, wann
bisweilen, trotz aller, aus der Eigenliebe entspringenden
Selbsttäuschung, ihm auf der Höhe, für die er nicht geeignet ist, doch
schwindelt, oder ihm zu Mute wird, als wäre er ein kupferner Dukaten;
wo dann die Angst vor Enthüllung und verdienter Demütigung ihn
ergreift, zumal wann er auf den Stirnen der Weiseren schon das Urteil
der Nachwelt liest. Er gleicht sonach dem Besitzer durch ein falsches
Testament. -- Den echtesten Ruhm, den Nachruhm, vernimmt sein
Gegenstand ja nie, und doch schätzt man ihn glücklich. Also bestand
sein Glück in den großen Eigenschaften selbst, die ihm den Ruhm
erwarben, und darin, daß er Gelegenheit fand, sie zu entwickeln, also
daß ihm vergönnt wurde, zu handeln, wie es ihm angemessen war, oder zu
treiben, was er mit Lust und Liebe trieb: denn nur die aus dieser
entsprungenen Werke erlangen Nachruhm. Sein Glück bestand also in
seinem großen Herzen, oder auch im Reichtum eines Geistes, dessen
Abdruck, in seinen Werken, die Bewunderung kommender Jahrhunderte
erhält; es bestand in den Gedanken selbst, welchen nachzudenken, die
Beschäftigung und der Genuß der edelsten Geister einer unabsehbaren
Zukunft ward. Der Wert des Nachruhms liegt also im Verdienen
desselben, und dieses ist sein eigener Lohn. Ob nun die Werke, welche
ihn erwarben, unterweilen auch den Ruhm der Zeitgenossen hatten, hing
von zufälligen Umständen ab und war nicht von großer Bedeutung. Denn
da die Menschen in der Regel ohne eigenes Urteil sind und zumal hohe
und schwierige Leistungen abzuschätzen durchaus keine Fähigkeit haben;
so folgen sie hier stets fremder Autorität, und der Ruhm, in hoher
Gattung, beruht bei 99 unter 100 Rühmern, bloß auf Treu und Glauben.
Daher kann auch der vielstimmigste Beifall der Zeitgenossen für
denkende Köpfe nur wenig Wert haben, indem sie in ihm stets nur das
Echo weniger Stimmen hören, die zudem selbst nur sind, wie der Tag sie
gebracht hat. Würde wohl ein Virtuose sich geschmeichelt fühlen durch
das laute Beifallsklatschen seines Publikums, wenn ihm bekannt wäre,
daß es, bis auf einen oder zwei, aus lauter völlig Tauben bestände,
die, um einander gegenseitig ihr Gebrechen zu verbergen, eifrig
klatschen, sobald sie die Hände jenes Einen in Bewegung sähen? Und nun
gar, wenn die Kenntnis hinzukäme, daß jene Vorklatscher sich oft
bestechen ließen, um dem elendesten Geiger den lautesten Applaus zu
verschaffen! -- Hieraus ist erklärlich, warum der Ruhm der
Zeitgenossen so selten die Metamorphose in Nachruhm erlebt; weshalb
*d'Alembert*, in seiner überaus schönen Beschreibung des Tempels des
literarischen Ruhmes, sagt: »das Innere des Tempels ist von lauter
Toten bewohnt, die während ihres Lebens nicht darin waren, und von
einigen Lebenden, welche fast alle, wann sie sterben, hinausgeworfen
werden.« Und beiläufig sei es hier bemerkt, daß einem bei Lebzeiten
ein Monument setzen die Erklärung ablegen heißt, daß hinsichtlich
seiner der Nachwelt nicht zu trauen sei. -- Wenn dennoch einer den
Ruhm, welcher zum Nachruhm werden soll, erlebt, so wird es selten
früher als im Alter geschehn: allenfalls gibt es bei Künstlern und
Dichtern Ausnahmen von dieser Regel, am wenigsten bei Philosophen.
Eine Bestätigung derselben geben die Bildnisse der durch ihre Werke
berühmten Männer, da dieselben meistens erst nach dem Eintritt ihrer
Zelebrität angefertigt wurden: in der Regel sind sie alt und grau
dargestellt, namentlich die Philosophen. Inzwischen steht,
eudämonologisch genommen, die Sache ganz recht. Ruhm und Jugend auf
einmal ist zu viel für einen Sterblichen. Unser Leben ist so arm, daß
seine Güter haushälterischer verteilt werden müssen. Die Jugend hat
vollauf genug an ihrem eigenen Reichtum und kann sich daran genügen
lassen. Aber im Alter, wann alle Genüsse und Freuden, wie die Bäume im
Winter, abgestorben sind, dann schlägt am gelegensten der Baum des
Ruhmes aus, als ein ächtes Wintergrün: auch kann man ihn den
Winterbirnen vergleichen, die im Sommer wachsen, aber im Winter
genossen werden. Im Alter gibt es keinen schönern Trost, als daß man
die ganze Kraft seiner Jugend *Werken* einverleibt hat, die nicht
*mit* altern.

Wollen wir jetzt noch etwas näher die Wege betrachten, auf welchen
man, in den Wissenschaften, als dem uns zunächst liegenden, Ruhm
erlangt; so läßt sich hier folgende Regel aufstellen. Die durch
solchen Ruhm bezeichnete intellektuelle Überlegenheit wird allemal an
den Tag gelegt durch eine neue Kombination irgendwelcher Data. Diese
nun können sehr verschiedener Art sein; jedoch wird der durch ihre
Kombination zu erlangende Ruhm um so größer und ausgebreiteter sein,
je mehr sie selbst allgemein bekannt und jedem zugänglich sind.
Bestehn z. B. die Data in einigen Zahlen oder Kurven, oder auch in
irgend einer speziellen physikalischen, zoologischen, botanischen oder
anatomischen Tatsache, oder auch in einigen verdorbenen Stellen alter
Autoren, oder in halbverlöschten Inschriften, oder in solchen, deren
Alphabet uns fehlt, oder in dunkeln Punkten der Geschichte; so wird
der durch die richtige Kombination derselben zu erlangende Ruhm sich
nicht viel weiter erstrecken, als die Kenntnis der Data selbst, also
auf eine kleine Anzahl meistens zurückgezogen lebender und auf den
Ruhm in ihrem Fache neidischer Leute. -- Sind hingegen die Data
solche, welche das ganze Menschengeschlecht kennt, sind es z. B.
wesentliche, allen gemeinsame Eigenschaften des menschlichen
Verstandes, oder Gemütes, oder Naturkräfte, deren ganze Wirkungsart
wir beständig vor Augen haben, oder der allbekannte Lauf der Natur
überhaupt; so wird der Ruhm, durch eine neue, wichtige und evidente
Kombination Licht über sie verbreitet zu haben, sich mit der Zeit fast
über die ganze zivilisirte Welt erstrecken. Denn, sind die Data jedem
zugänglich, so wird ihre Kombination es meistens auch sein. -- Dennoch
wird hiebei der Ruhm allemal nur der überwundenen Schwierigkeit
entsprechen. Denn, je allbekannter die Data sind, desto schwerer ist
es, sie auf eine neue und doch richtige Weise zu kombiniren; da schon
eine überaus große Anzahl von Köpfen sich an ihnen versucht und die
unmöglichen Kombinationen derselben erschöpft hat. Hingegen werden
Data, welche, dem großen Publiko unzugänglich, nur auf mühsamen und
schwierigen Wegen erreichbar sind, fast immer noch neue Kombinationen
zulassen: wenn man daher an solche nur mit geradem Verstande und
gesunder Urteilskraft, also einer mäßigen geistigen Überlegenheit,
kommt; so ist es leicht möglich, daß man eine neue und richtige
Kombination derselben zu machen das Glück habe. Allein der hiedurch
erworbene Ruhm wird ungefähr dieselben Grenzen haben, wie die Kenntnis
der Data. Denn zwar erfordert die Lösung von Problemen solcher Art
großes Studium und Arbeit, schon um nur die Kenntnis der Data zu
erlangen; während in jener andern Art, in welcher eben der größte und
ausgebreiteteste Ruhm zu erwerben ist, die Data unentgeltlich gegeben
sind: allein in dem Maße, wie diese letztere Art weniger Arbeit
erfordert, gehört mehr Talent ja Genie dazu, und mit diesen hält,
hinsichtlich des Wertes und der Wertschätzung, keine Arbeit oder
Studium den Vergleich aus.

Hieraus nun ergibt sich, daß die, welche einen tüchtigen Verstand und
ein richtiges Urteil in sich spüren, ohne jedoch die höchsten
Geistesgaben sich zuzutrauen, viel Studium und ermüdende Arbeit nicht
scheuen dürfen, um mittelst dieser sich aus dem großen Haufen der
Menschen, welchen die allbekannten Data vorliegen, herauszuarbeiten
und zu den entlegeneren Orten zu gelangen, welche nur dem gelehrten
Fleiße zugänglich sind. Denn hier, wo die Zahl der Mitbewerber
unendlich verringert ist, wird auch der nur einigermaßen überlegene
Kopf bald zu einer neuen und richtigen Kombination der Data
Gelegenheit finden: sogar wird das Verdienst seiner Entdeckung sich
mit auf die Schwierigkeit, zu den Datis zu gelangen, stützen. Aber der
also erworbene Applaus seiner Wissensgenossen, als welche die
alleinigen Kenner in diesem Fache sind, wird von der großen Menge der
Menschen nur von Weitem vernommen werden. -- Will man nun den hier
angedeuteten Weg bis zum Extrem verfolgen; so läßt sich der Punkt
nachweisen, wo die Data, wegen der großen Schwierigkeit ihrer
Erlangung, für sich allein und ohne daß eine Kombination derselben
erfordert wäre, den Ruhm zu begründen hinreichen. Dies leisten Reisen
in sehr entlegene und wenig besuchte Länder: man wird berühmt durch
das, was man gesehen, nicht durch das, was man gedacht hat. Dieser Weg
hat auch noch einen großen Vorteil darin, daß es viel leichter ist,
was man gesehn, als was man gedacht hat, andern mitzuteilen und es mit
dem Verständnis sich ebenso verhält: demgemäß wird man für das Erstere
auch viel mehr Leser finden als für das andere. Denn, wie schon Asmus
sagt:

    »Wenn jemand eine Reise tut,
    So kann er was erzählen.«

Diesem allen entspricht es aber auch, daß, bei der persönlichen
Bekanntschaft berühmter Leute dieser Art einem oft die Horazische
Bemerkung einfällt:

    _Coelum, non animum, mutant, qui trans mare currunt._

    (_Epist. I, 11, v. 27._)

Was aber nun andrerseits den mit hohen Fähigkeiten ausgestatteten Kopf
betrifft, als welcher allein sich an die Lösung der großen, das
Allgemeine und Ganze betreffenden und daher schwierigsten Probleme
wagen darf; so wird dieser zwar wohl daran tun, seinen Horizont
möglichst auszudehnen, jedoch immer gleichmäßig, nach allen Seiten,
und ohne je sich zu weit in irgend eine der besonderen und nur Wenigen
bekannten Regionen zu verlieren, d. h. ohne auf die Spezialitäten
irgend einer einzelnen Wissenschaft weit einzugehen, geschweige sich
mit den Mikrologien zu befassen. Denn er hat nicht nötig, sich an die
schwer zugänglichen Gegenstände zu machen, um dem Gedränge der
Mitbewerber zu entgehn; sondern eben das allen Vorliegende wird ihm
Stoff zu neuen, wichtigen und wahren Kombinationen geben. Dem nun aber
gemäß wird sein Verdienst von allen denen geschätzt werden können,
welchen die Data bekannt sind, also von einem großen Teile des
menschlichen Geschlechts. Hierauf gründet sich der mächtige
Unterschied zwischen dem Ruhm, den Dichter und Philosophen erlangen,
und dem, welcher Physikern, Chemikern, Anatomen, Mineralogen,
Zoologen, Philologen, Historikern usw. erreichbar ist.




Kapitel V.

Paränesen und Maximen.


Weniger noch, als irgendwo, bezwecke ich hier Vollständigkeit; da ich
sonst die vielen, von Denkern aller Zeiten aufgestellten, zum Teil
vortrefflichen Lebensregeln zu wiederholen haben würde, vom Theognis
und Pseudo-Salomo an, bis auf den Rochefoucauld herab; wobei ich dann
auch viele, schon breit getretene Gemeinplätze nicht würde vermeiden
können. Mit der Vollständigkeit fällt aber auch die systematische
Anordnung größtenteils weg. Über beide tröste man sich damit, daß sie,
in Dingen dieser Art, fast unausbleiblich die Langeweile in ihrem
Gefolge haben. Ich habe bloß gegeben, was mir eben eingefallen ist,
der Mitteilung wert schien und, so viel mir erinnerlich, noch nicht,
wenigstens nicht ganz und eben so, gesagt worden ist, also eben nur
eine Nachlese zu dem auf diesem unabsehbaren Felde bereits von andern
Geleisteten.

Um jedoch in die große Mannigfaltigkeit der hierher gehörigen
Ansichten und Ratschläge einige Ordnung zu bringen, will ich sie
einteilen in allgemeine, in solche, welche unser Verhalten gegen uns
selbst, dann gegen andere, und endlich gegen den Weltlauf und das
Schicksal betreffen.


A. Allgemeine.

1. Als die oberste Regel aller Lebensweisheit sehe ich einen Satz an,
den *Aristoteles* beiläufig ausgesprochen hat, in der Nikomachäischen
Ethik (_VII, 12_): =ho phronimos to alypon diôkei, ou to hêdy= (_quod
dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prudens_). Besser
noch deutsch ließe sich dieser Satz etwan so wiedergeben: »Nicht dem
Vergnügen, der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige nach«; oder: »Der
Vernünftige geht auf Schmerzlosigkeit, nicht auf Genuß aus.« Die
Wahrheit desselben beruht darauf, daß aller Genuß und alles Glück
negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur ist. Die Ausführung
und Begründung dieses letzteren Satzes findet man in meinem Hauptwerke
Bd. I, § 58. Doch will ich denselben hier noch an einer täglich zu
beobachtenden Tatsache erläutern. Wenn der ganze Leib gesund und heil
ist, bis auf irgend eine kleine wunde, oder sonst schmerzende Stelle;
so tritt jene Gesundheit des Ganzen weiter nicht ins Bewußtsein,
sondern die Aufmerksamkeit ist beständig auf den Schmerz der
verletzten Stelle gerichtet und das Behagen der gesamten
Lebensempfindung ist aufgehoben. -- Ebenso, wenn alle unsere
Angelegenheiten nach unserem Sinne gehen, bis auf *eine*, die unserer
Absicht zuwider läuft, so kommt diese, auch wenn sie von geringer
Bedeutung ist, uns immer wieder in den Kopf: wir denken häufig an sie
und wenig an alle jene andern wichtigeren Dinge, die nach unserem
Sinne gehn. -- In beiden Fällen nun ist das Beeinträchtigte der Wille,
einmal, wie er sich im Organismus, das andere, wie er sich im Streben
des Menschen objektivirt, und in beiden sehen wir, daß seine
Befriedigung immer nur negativ wirkt und daher gar nicht direkt
empfunden wird, sondern höchstens auf dem Wege der Reflexion ins
Bewußtsein kommt. Hingegen ist seine Hemmung das Positive und daher
sich selbst Ankündigende. Jeder Genuß besteht bloß in der Aufhebung
dieser Hemmung, in der Befreiung davon, ist mithin von kurzer Dauer.

Hierauf nun also beruht die oben belobte Aristotelische Regel, welche
uns anweist, unser Augenmerk nicht auf die Genüsse und Annehmlichkeiten
des Lebens zu richten, sondern darauf, daß wir den zahllosen Übeln
desselben, so weit es möglich ist, entgehn. Wäre dieser Weg nicht der
richtige: so müßte auch *Voltaires* Ausspruch, _le bonheur n'est qu'un
rève, et la douleur est réelle_, so falsch sein, wie er in der Tat
wahr ist. Demnach soll auch der, welcher das Resultat seines Lebens,
in eudämonologischer Rücksicht, ziehn will, die Rechnung nicht nach
den Freuden, die er genossen, sondern nach den Übeln, denen er
entgangen ist, aufstellen. Ja, die Eudämonologie hat mit der Belehrung
anzuheben, daß ihr Name selbst ein Euphemismus ist und daß unter
»glücklich leben« nur zu verstehn ist »weniger unglücklich«, also
erträglich leben. Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da, um
genossen, sondern um überstanden, abgetan zu werden; dies bezeichnen
auch manche Ausdrücke, wie _degere vitam, vita defungi_, das
Italienische _si scampa così_, das Deutsche »man muß suchen
durchzukommen«, »er wird schon durch die Welt kommen«, u. dgl. m. Ja,
es ist ein Trost im Alter, daß man die Arbeit des Lebens hinter sich
hat. Demnach nun hat das glücklichste Los der, welcher sein Leben ohne
übergroße Schmerzen, sowohl geistige, als körperliche, hinbringt;
nicht aber der, dem die lebhaftesten Freuden oder die größten Genüsse
zuteil geworden. Wer nach diesen letzteren das Glück eines
Lebenslaufes bemessen will, hat einen falschen Maßstab ergriffen. Denn
die Genüsse sind und bleiben negativ: daß sie beglücken, ist ein Wahn,
den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen hingegen
werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab des
Lebensglückes. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die
Abwesenheit der Langenweile; so ist das irdische Glück im Wesentlichen
erreicht: denn das Übrige ist Chimäre. Hieraus nun folgt, daß man nie
Genüsse durch Schmerzen, ja, auch nur durch die Gefahr derselben,
erkaufen soll; weil man sonst ein Negatives und daher Chimärisches mit
einem Positiven und Realen bezahlt. Hingegen bleibt man im Gewinn,
wenn man Genüsse opfert, um Schmerzen zu entgehn. In beiden Fällen ist
es gleichgültig, ob die Schmerzen den Genüssen nachfolgen, oder
vorhergehn. Es ist wirklich die größte Verkehrtheit, diesen Schauplatz
des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt der
möglichsten Schmerzlosigkeit, Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu
stecken, wie doch so viele tun. Viel weniger irrt, wer, mit zu
finsterem Blicke, diese Welt als eine Art Hölle ansieht und demnach
nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu
verschaffen. Der Tor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich
betrogen: der Weise vermeidet die Übel. Sollte ihm jedoch auch dieses
mißglücken; so ist es dann die Schuld des Geschicks, nicht die seiner
Torheit. So weit es ihm aber glückt, ist er nicht betrogen: denn die
Übel, denen er aus dem Wege ging, sind höchst real. Selbst wenn er
etwan ihnen zu weit aus dem Wege gegangen sein sollte und Genüsse
unnötigerweise geopfert hätte; so ist eigentlich doch nichts verloren:
denn alle Genüsse sind chimärisch, und über die Versäumnis derselben
zu trauern wäre kleinlich, ja lächerlich.

Das Verkennen dieser Wahrheit, durch den Optimismus begünstigt, ist
die Quelle vielen Unglücks. Während wir nämlich von Leiden frei sind,
spiegeln unruhige Wünsche uns die Chimären eines Glückes vor, das gar
nicht existirt, und verleiten uns sie zu verfolgen: dadurch bringen
wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab. Dann jammern
wir über den verlorenen schmerzlosen Zustand, der, wie ein
verscherztes Paradies, hinter uns liegt, und wünschen vergeblich, das
Geschehene ungeschehen machen zu können. So scheint es, als ob ein
böser Dämon uns aus dem schmerzlosen Zustande, der das höchste
wirkliche Glück ist, stets herauslockte, durch die Gaukelbilder der
Wünsche. -- Unbesehens glaubt der Jüngling, die Welt sei da, um
genossen zu werden, sie sei der Wohnsitz eines positiven Glückes,
welches nur die verfehlen, denen es an Geschick gebricht, sich seiner
zu bemeistern. Hierin bestärken ihn Romane und Gedichte, wie auch die
Gleißnerei, welche die Welt, durchgängig und überall, mit dem äußern
Scheine treibt und auf die ich bald zurückkommen werde. Von nun an ist
sein Leben eine, mit mehr oder weniger Überlegung angestellte Jagd
nach dem positiven Glück, welches, als solches, aus positiven Genüssen
bestehn soll. Die Gefahren, denen man sich dabei aussetzt, müssen in
die Schanze geschlagen werden. Da führt denn diese Jagd nach einem
Wilde, welches gar nicht existiert, in der Regel, zu sehr realem,
positivem Unglück. Dies stellt sich ein als Schmerz, Leiden,
Krankheit, Verlust, Sorge, Armut, Schande und tausend Nöte. Die
Enttäuschung kommt zu spät. -- Ist hingegen, durch Befolgung der hier
in Betracht genommenen Regel, der Plan des Lebens auf Vermeidung der
Leiden, also auf Entfernung des Mangels, der Krankheit und jeder Not,
gerichtet; so ist das Ziel ein reales: da läßt sich etwas ausrichten,
und um so mehr, je weniger dieser Plan gestört wird durch das Streben
nach der Chimäre des positiven Glücks. Hiezu stimmt auch, was
*Goethe*, in den Wahlverwandtschaften, den für das Glück der andern
stets tätigen *Mittler* sagen läßt: »Wer ein Übel los sein will, der
weiß immer was er will: wer was besseres will, als er hat, der ist
ganz staarblind.« Und dieses erinnert an den schönen französischen
Ausspruch: _le mieux est l'ennemi du bien_. Ja, hieraus ist sogar der
Grundgedanke des Zynismus abzuleiten, wie ich ihn dargelegt habe, in
meinem Hauptwerke, Bd. 2, Kap. 16. Denn, was bewog die Zyniker zur
Verwerfung aller Genüsse, wenn es nicht eben der Gedanke an die mit
ihnen, näher oder ferner, verknüpften Schmerzen war, welchen aus dem
Wege zu gehn ihnen viel wichtiger schien, als die Erlangung jener. Sie
waren tief ergriffen von der Erkenntnis der Negativität des Genusses
und der Positivität des Schmerzes; daher sie, konsequent, alles taten
für die Vermeidung der Übel, hierzu aber die völlige und absichtliche
Verwerfung der Genüsse nötig erachteten; weil sie in diesen nur
Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze überliefern.

In Arkadien geboren, wie Schiller sagt, sind wir freilich alle: d. h.
wir treten in die Welt, voll Ansprüche auf Glück und Genuß, und hegen
die törichte Hoffnung, solche durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt
bald das Schicksal, packt uns unsanft an und belehrt uns, daß nichts
*unser* ist, sondern alles *sein*, indem es ein unbestrittenes Recht
hat, nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb und auf Weib und
Kind, sondern sogar auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja, auf die Nase
mitten im Gesicht. Jedenfalls aber kommt, nach einiger Zeit die
Erfahrung und bringt die Einsicht, daß Glück und Genuß eine Fata
Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn
man herangekommen ist; daß hingegen Leiden und Schmerz Realität haben,
sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion noch Erwartung
bedürfen. Fruchtet nun die Lehre; so hören wir auf, nach Glück und
Genuß zu jagen, und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz und
Leiden möglichst den Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann, daß
das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige,
erträgliche Existenz ist, und beschränken unsere Ansprüche auf diese,
um sie desto sicherer durchzusetzen. Denn, um nicht sehr unglücklich
zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man nicht verlange, sehr
glücklich zu sein. Dies hatte auch Goethes Jugendfreund *Merck*
erkannt, da er schrieb: »die garstige Prätension an Glückseligkeit,
und zwar an das Maß, das wir uns träumen, verdirbt alles auf dieser
Welt. Wer sich davon losmachen kann und nichts begehrt, als was er vor
sich hat, kann sich durchschlagen« (Briefe an und von Merck, S. 100).
Demnach ist es geraten, seine Ansprüche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre
usw. auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben und
Ringen nach Glück, Glanz und Genuß es ist, was die großen
Unglücksfälle herbeizieht. Aber schon darum ist jenes weise und
ratsam, weil sehr unglücklich zu sein gar leicht ist; sehr glücklich
hingegen nicht etwan schwer, sondern ganz unmöglich. Mit großem Rechte
also singt der Dichter der Lebensweisheit:

    _Auream quisquis mediocritatem
    Diligit, tutus caret obsoleti
    Sordibus tecti, caret invidenda
            Sobrius aula._

    _Saevius ventis agitatur ingens
    Pinus: et scelsae graviore casu
    Decidunt turres: feriuntque summos
            Fulgura montes._

Wer aber vollends die Lehre meiner Philosophie in sich aufgenommen hat
und daher weiß, daß unser ganzes Dasein etwas ist, das besser nicht
wäre und welches zu verneinen und abzuweisen die größte Weisheit ist,
der wird auch von keinem Dinge oder Zustand große Erwartungen hegen,
nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben, noch große Klagen
erheben über sein Verfehlen irgend einer Sache; sondern er wird von
Platos »=oute ti tôn anthrôpinôn axion megalês spoudês=« (_rep. X,
604_) durchdrungen sein, sowie auch hievon:

    Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
      Sei nicht in Leid darüber, es ist nichts;
    Und hast du einer Welt Besitz genommen,
      Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
    Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen,
      Geh' an der Welt vorüber, es ist nichts.

    *Anwari Soheili.*

    (Siehe das Motto zu Sadis Gulistan, übers. von Graf.)

Was jedoch die Erlangung dieser heilsamen Einsichten besonders
erschwert, ist die schon oben erwähnte Gleißnerei der Welt, welche man
daher der Jugend früh aufdecken sollte. Die allermeisten
Herrlichkeiten sind bloßer Schein, wie die Theaterdekoration, und das
Wesen der Sache fehlt. Z. B. bewimpelte und bekränzte Schiffe,
Kanonenschüsse, Illumination, Pauken und Trompeten, Jauchzen und
Schreien usw., dies alles ist das Aushängeschild, die Andeutung, die
Hieroglyphe der *Freude*: aber die Freude ist daselbst meistens nicht
zu finden: sie allein hat beim Feste abgesagt. Wo sie sich wirklich
einfindet, da kommt sie, in der Regel, ungeladen und ungemeldet, von
selbst und _sans façon_, ja, still herangeschlichen, oft bei den
unbedeutendesten, futilsten Anlässen, unter den alltäglichsten
Umständen, ja, bei nichts weniger als glänzenden oder ruhmvollen
Gelegenheiten: sie ist, wie das Gold in Australien, hierhin und
dorthin gestreuet, nach der Laune des Zufalls, ohne alle Regel und
Gesetz, meist nur in ganz kleinen Körnchen, höchst selten in großen
Massen. Bei allen jenen oben erwähnten Dingen hingegen ist auch der
Zweck bloß, andere glauben zu machen, hier wäre die Freude eingekehrt:
dieser Schein, im Kopfe anderer, ist die Absicht. Nicht anders als mit
der Freude verhält es sich mit der Trauer. Wie schwermütig kommt jener
lange und langsame Leichenzug daher! der Reihe der Kutschen ist kein
Ende. Aber seht nur hinein: sie sind alle leer, und der Verblichene
wird eigentlich bloß von sämtlichen Kutschern der ganzen Stadt zu
Grabe geleitet. Sprechendes Bild der Freundschaft und Hochachtung
dieser Welt! Dies also ist die Falschheit, Hohlheit und Gleißnerei des
menschlichen Treibens. -- Ein anderes Beispiel wieder geben viele
geladene Gäste in Feierkleidern, unter festlichem Empfange; sie sind
das Aushängeschild der edelen, erhöhten Geselligkeit: aber statt ihrer
ist in der Regel nur Zwang, Pein und Langeweile gekommen: denn schon
wo viel Gäste sind, ist viel Pack, -- und hätten sie auch sämtlich
Sterne auf der Brust. Die wirklich gute Gesellschaft nämlich ist,
überall und notwendig, sehr klein. Überhaupt aber tragen glänzende,
rauschende Feste und Lustbarkeiten stets eine Leere, wohl gar einen
Mißton im Innern; schon weil sie dem Elend und der Dürftigkeit unsers
Daseins laut widersprechen, und der Kontrast erhöht die Wahrheit.
Jedoch von außen gesehn wirkt jenes alles: und das war der Zweck. Ganz
allerliebst sagt daher *Chamfort*: _la société, les cercles, les
salons, ce qu'on appelle le monde, est une pièce misérable, un mauvais
opéra, sans intérêt, qui se soutient un peu par les machines, les
costumes, et les décorations_. -- Desgleichen sind nun auch Akademien
und philosophische Katheder das Aushängeschild, der äußere Schein der
*Weisheit*: aber auch sie hat meistens abgesagt und ist ganz wo anders
zu finden. -- Glockengebimmel, Priesterkostüme, fromme Gebärden und
fratzenhaftes Tun ist das Aushängeschild, der falsche Schein der
Andacht, usw. -- So ist denn fast alles in der Welt hohle Nüsse zu
nennen: der Kern ist an sich selten, und noch seltener steckt er in
der Schale. Er ist ganz wo anders zu suchen und wird meistens nur
zufällig gefunden.

2. Wenn man den Zustand eines Menschen, seiner Glücklichkeit nach,
abschätzen will, soll man nicht fragen nach dem, was ihn vergnügt,
sondern nach dem, was ihn betrübt: denn, je geringfügiger dieses, an
sich selbst genommen, ist, desto glücklicher ist der Mensch; weil ein
Zustand des Wohlbefindens dazu gehört, um gegen Kleinigkeiten
empfindlich zu sein: im Unglück spüren wir sie gar nicht.

3. Man hüte sich, das Glück seines Lebens mittelst vieler
Erfordernisse zu demselben, auf ein *breites Fundament* zu bauen: denn
auf einem solchen stehend stürzt es am leichtesten ein, weil es viel
mehr Unfällen Gelegenheit darbietet und diese nicht ausbleiben. Das
Gebäude unsers Glückes verhält sich also, in dieser Hinsicht,
umgekehrt wie alle anderen, als welche auf breitem Fundament am
festesten stehn. Seine Ansprüche, im Verhältniß zu seinen Mitteln
jeder Art, möglichst niedrig zu stellen, ist demnach der sicherste Weg
großem Unglück zu entgehn.

Überhaupt ist es eine der größten und häufigsten Torheiten, daß man
*weitläuftige Anstalten* zum Leben macht, in welcher Art auch immer
das geschehe. Bei solchen nämlich ist zuvörderst auf ein ganzes und
volles Menschenleben gerechnet; welches jedoch sehr Wenige erreichen.
Sodann fällt es, selbst wenn sie so lange leben, doch für die
gemachten Pläne zu kurz aus; da deren Ausführung immer sehr viel mehr
Zeit erfordert, als angenommen war: ferner sind solche, wie alle
menschlichen Dinge, dem Mißlingen, den Hindernissen so vielfach
ausgesetzt, daß sie sehr selten zum Ziele gebracht werden. Endlich,
wenn zuletzt auch alles erreicht wird, so waren die Umwandlungen,
welche die Zeit an *uns selbst* hervorbringt, außer Acht und Rechnung
gelassen; also nicht bedacht worden, daß weder zum Leisten noch zum
Genießen unsere Fähigkeiten das ganze Leben hindurch vorhalten. Daher
kommt es, daß wir oft auf Dinge hinarbeiten, welche, wenn endlich
erlangt, uns nicht mehr angemessen sind; wie auch, daß wir mit den
Vorarbeiten zu einem Werke die Jahre hinbringen, welche derweilen
unvermerkt uns die Kräfte zur Ausführung desselben rauben. So
geschieht es denn oft, daß der mit so langer Mühe und vieler Gefahr
erworbene Reichtum uns nicht mehr genießbar ist und wir für andere
gearbeitet haben; oder auch, daß wir den durch vieljähriges Treiben
und Trachten endlich erreichten Posten auszufüllen nicht mehr im
Stande sind: die Dinge sind zu spät für uns gekommen. Oder auch
umgekehrt, wir kommen zu spät mit den Dingen; da nämlich, wo es sich
um Leistungen, oder Produktionen handelt: der Geschmack der Zeit hat
sich geändert; ein neues Geschlecht ist herangewachsen, welches an den
Sachen keinen Anteil nimmt; andere sind, auf kürzeren Wegen, uns
zuvorgekommen usw. Alles unter dieser Nummer Angeführte hat Horaz im
Sinne, wenn er sagt:

        _quid aeternis minorem
    Consiliis animum fatigas?_

Der Anlaß zu diesem häufigen Mißgriff ist die unvermeidliche optische
Täuschung des geistigen Auges, vermöge welcher das Leben, vom Eingange
aus gesehn, endlos, aber wenn man vom Ende der Bahn zurückblickt, sehr
kurz erscheint. Freilich hat sie ihr Gutes: denn ohne sie käme
schwerlich etwas Großes zustande.

Überhaupt aber ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem,
indem er vorwärts schreitet, die Gegenstände andere Gestalten annehmen,
als die sie von ferne zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er
sich nähert. Besonders geht es mit unseren Wünschen so. Oft finden wir
etwas ganz anderes, ja, Besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte
selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach
eingeschlagen hatten. Zumal wird uns oft da, wo wir Genuß, Glück, Freude
suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht, Erkenntnis, -- ein bleibendes,
wahrhaftes Gut, statt eines vergänglichen und scheinbaren. Dies ist auch
der Gedanke, welcher im Wilhelm Meister als Grundbaß durchgeht, indem
dieser ein intellektueller Roman und eben dadurch höherer Art ist, als
alle übrigen, sogar die von Walter Scott, als welche sämtlich nur
ethisch sind, d. h. die menschliche Natur bloß von der Willens-Seite
auffassen. Ebenfalls in der Zauberflöte, dieser grotesken, aber
bedeutsamen und vieldeutigen Hieroglyphe, ist jener selbe Grundgedanke,
in großen und groben Zügen, wie die der Theaterdekorationen sind,
symbolisirt; sogar würde er es vollkommen sein, wenn, am Schlusse, der
Tamino, vom Wunsche, die Tamina zu besitzen, zurückgebracht, statt
ihrer, allein die Weihe im Tempel der Weisheit verlangte und erhielte;
hingegen seinem notwendigen Gegensatze, dem Papageno, richtig seine
Papagena würde. -- Vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung
des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe:
sie sehn ein, daß in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden
sei, werden es sonach gewohnt und zufrieden, Hoffnungen gegen Einsichten
zu vertauschen, und sagen endlich mit Petrarka:

    _Altro diletto, che 'mparar, non provo._

Es kann damit sogar dahin kommen, daß sie ihren Wünschen und
Bestrebungen gewissermaßen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehn,
eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloß Belehrung erwarten;
welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen
Anstrich gibt. -- Man kann in diesem Sinne auch sagen, es gehe uns wie
den Alchemisten, welche, indem sie nur Gold suchten, Schießpulver,
Porzellan, Arzeneien, ja Naturgesetze entdeckten.


B. Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend.

4. Wie der Arbeiter, welcher ein Gebäude aufführen hilft, den Plan des
ganzen entweder nicht kennt, oder doch nicht immer gegenwärtig hat; so
verhält der Mensch, indem er die einzelnen Tage und Stunden seines
Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines Lebenslaufes und des
Charakters desselben. Je würdiger, bedeutender, planvoller und
individueller dieser ist; desto mehr ist es nötig und wohltätig, daß
der verkleinerte Grundriß desselben, der Plan, ihm bisweilen vor die
Augen komme. Freilich gehört auch dazu, daß er einen kleinen Anfang in
dem =gnôthi sauton= gemacht habe, also wisse, was er eigentlich,
hauptsächlich und vor allem andern will, was also für sein Glück das
Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach diesem
einnimmt; wie auch, daß er erkenne, welches, im ganzen, sein Beruf,
seine Rolle und sein Verhältnis zur Welt sei. Ist nun dieses
bedeutender und grandioser Art; so wird der Anblick des Planes seines
Lebens, im verjüngten Maßstabe, ihn, mehr als irgend etwas, stärken,
aufrichten, erheben, zur Tätigkeit ermuntern und von Abwegen
zurückhalten.

Wie der Wanderer erst, wenn er auf einer Höhe angekommen ist, den
zurückgelegten Weg, mit allen seinen Wendungen und Krümmungen, im
Zusammenhange überblickt und erkennt; so erkennen wir erst am Ende
einer Periode unsers Lebens, oder gar des ganzen, den wahren
Zusammenhang unserer Taten, Leistungen und Werke, die genaue
Konsequenz und Verkettung, ja, auch den Wert derselben. Denn, solange
wir darin begriffen sind, handeln wir nur immer nach den feststehenden
Eigenschaften unsers Charakters, unter dem Einfluß der Motive, und
nach dem Maße unserer Fähigkeiten, also durchweg mit Notwendigkeit,
indem wir in jedem Augenblicke bloß tun, was uns jetzt eben das Rechte
und Angemessene dünkt. Erst der Erfolg zeigt, was dabei
herausgekommen, und der Rückblick auf den ganzen Zusammenhang das Wie
und Wodurch. Daher eben auch sind wir, während wir die größten Taten
vollbringen, oder unsterbliche Werke schaffen, uns derselben nicht als
solcher bewußt, sondern bloß als des unsern gegenwärtigen Zwecken
Angemessenen, unsern dermaligen Absichten Entsprechenden, also jetzt
gerade Rechten: aber erst aus dem Ganzen in seinem Zusammenhang
leuchtet nachher unser Charakter und unsere Fähigkeiten hervor: und im
einzelnen sehn wir dann, wie wir, als wäre es durch Inspiration
geschehn, den einzig richtigen Weg, unter tausend Abwegen,
eingeschlagen haben, -- von unserm Genius geleitet. Dies alles gilt
vom Theoretischen wie vom Praktischen, und im umgekehrten Sinne vom
Schlechten und Verfehlten.

5. Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen
Verhältnis, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit teils der Gegenwart,
teils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere
verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart: die Leichtsinnigen; --
andere zu sehr in der Zukunft: die Ängstlichen und Besorglichen.
Selten wird einer genau das rechte Maß halten. Die, welche, mittelst
Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwärts sehn und
mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst
das wahre Glück bringen sollen, inzwischen aber die Gegenwart
unbeachtet und ungenossen vorbeiziehn lassen, sind, trotz ihren
altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt
dadurch beschleunigt wird, daß an einem, ihrem Kopf angehefteten Stock
ein Bündel Heu hängt, welches sie daher stets dicht vor sich sehen und
zu erreichen hoffen. Denn sie betrügen sich selbst um ihr ganzes
Dasein, indem sie stets nur _ad interim_ leben, -- bis sie tot sind.
-- Statt also mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich
und immerdar beschäftigt zu sein, oder aber uns der Sehnsucht nach der
Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die Gegenwart
allein real und allein gewiß ist; hingegen die Zukunft fast immer
anders ausfällt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders
war; und zwar so, daß es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich hat,
als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstände
verkleinert, vergrößert sie dem Gedanken. Die Gegenwart allein ist
wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich
in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer heitern
Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbaren
Widerwärtigkeiten oder Schmerzen freie Stunde mit Bewußtsein als
solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter
über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse für
die Zukunft. Denn es ist durchaus töricht, eine gute gegenwärtige
Stunde von sich zu stoßen oder sie sich mutwillig zu verderben, aus
Verdruß über das Vergangene, oder Besorgnis wegen des Kommenden. Der
Sorge, ja, selbst der Reue sei ihre bestimmte Zeit gewidmet: danach
aber soll man über das Geschehene denken:

    =Alla ta men protetychthai easomen achnymenoi per,
    Thymon eni stêthessi philon damasantes anankê=,

und über das Künftige:

    =Êtoi tauta theôn en gounasi keitai=,

hingegen über die Gegenwart: _singulas dies singulas vitas puta_
(_Sen._) und diese allein reale Zeit sich so angenehm wie möglich
machen.

Uns zu beunruhigen sind bloß solche künftige Übel berechtigt, welche
gewiß sind und deren Eintrittszeit ebenfalls gewiß ist. Dies werden
aber sehr wenige sein: denn die Übel sind entweder bloß möglich,
allenfalls wahrscheinlich; oder sie sind zwar gewiß; allein ihre
Eintrittszeit ist völlig ungewiß. Läßt man nun auf die beiden Arten
sich ein, so hat man keinen ruhigen Augenblick mehr. Um also nicht der
Ruhe unsers Lebens durch ungewisse oder unbestimmte Übel verlustig zu
werden, müssen wir uns gewöhnen, jene anzusehn, als kämen sie nie;
diese, als kämen sie gewiß nicht sobald.

Je mehr nun aber einem die Furcht Ruhe läßt, desto mehr beunruhigen
ihn die Wünsche, die Begierden und Ansprüche. *Goethes* so beliebtes
Lied, »ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt,« besagt eigentlich,
daß erst nachdem der Mensch aus allen möglichen Ansprüchen
herausgetrieben und auf das nackte, kahle Dasein zurückgewiesen ist,
er derjenigen Geistesruhe teilhaft wird, welche die Grundlage des
menschlichen Glückes ausmacht, indem sie nötig ist, um die Gegenwart
und somit das ganze Leben genießbar zu finden. Zu eben diesem Zwecke
sollten wir stets eingedenk sein, daß der heutige Tag nur einmal kommt
und nimmer wieder. Aber wir wähnen, er komme morgen wieder: morgen ist
jedoch ein anderer Tag, der auch nur einmal kommt. Wir aber vergessen,
daß jeder Tag ein integrirender und daher unersetzlicher Teil des
Lebens ist, und betrachten ihn vielmehr als unter demselben so
enthalten, wie die Individuen unter dem Gemeinbegriff. -- Ebenfalls
würden wir die Gegenwart besser würdigen und genießen, wenn wir, in
guten und gesunden Tagen, uns stets bewußt wären, wie, in Krankheiten
oder Betrübnissen, die Erinnerung uns jede schmerz- und
entbehrungslose Stunde als unendlich beneidenswert, als ein verlorenes
Paradies, als einen verkannten Freund vorhält. Aber wir verleben unsre
schönen Tage, ohne sie zu bemerken: erst wann die schlimmen kommen,
wünschen wir jene zurück. Tausend heitere, angenehme Stunden lassen
wir, mit verdrießlichem Gesicht, ungenossen an uns vorüberziehn, um
nachher, zur trüben Zeit, mit vergeblicher Sehnsucht ihnen
nachzuseufzen. Statt dessen sollten wir jede erträgliche Gegenwart,
auch die alltägliche, welche wir jetzt so gleichgültig vorüberziehn
lassen, und wohl gar noch ungeduldig nachschieben, -- in Ehren halten,
stets eingedenk, daß sie eben jetzt hinüberwallt in jene Apotheose der
Vergangenheit, woselbst sie fortan, vom Lichte der Unvergänglichkeit
umstrahlt, vom Gedächtnisse aufbewahrt wird, um, wann dieses einst,
besonders zur schlimmen Stunde, den Vorhang lüftet, als ein Gegenstand
unsrer innigen Sehnsucht sich darzustellen.

6. *Alle Beschränkung beglückt.* Je enger unser Gesichts-, Wirkungs-
und Berührungskreis, desto glücklicher sind wir: je weiter, desto
öfter fühlen wir uns gequält, oder geängstigt. Denn mit ihm vermehren
und vergrößern sich die Sorgen, Wünsche und Schrecknisse. Darum sind
sogar Blinde nicht so unglücklich, wie es uns _a priori_ scheinen muß;
dies bezeugt die sanfte, fast heitere Ruhe in ihren Gesichtszügen.
Auch beruht es zum Teil auf dieser Regel, daß die zweite Hälfte des
Lebens trauriger ausfällt als die erste. Denn im Laufe des Lebens wird
der Horizont unserer Zwecke und Beziehungen immer weiter. In der
Kindheit ist er auf die nächste Umgebung und die engsten Verhältnisse
beschränkt; im Jünglingsalter reicht er schon bedeutend weiter; im
Mannesalter umfaßt er unsern ganzen Lebenslauf, ja, erstreckt sich oft
auf die entferntesten Verhältnisse, auf Staaten und Völker; im
Greisenalter umfaßt er die Nachkommen. -- Jede Beschränkung hingegen,
sogar die geistige, ist unserm Glücke förderlich. Denn je weniger
Erregung des Willens, desto weniger Leiden: und wir wissen, daß das
Leiden das Positive, das Glück bloß negativ ist. Beschränktheit des
Wirkungskreises benimmt dem Willen die äußeren Veranlassungen zur
Erregung; Beschränktheit des Geistes die innern. Nur hat letztere den
Nachteil, daß sie der Langenweile die Tür öffnet, welche mittelbar die
Quelle unzähliger Leiden wird, indem man, um nur sie zu bannen, nach
allem greift, also Zerstreuung, Gesellschaft, Luxus, Spiel, Trunk usw.
versucht, welche jedoch Schaden, Ruin und Unglück jeder Art
herbeiziehen. _Difficilis in otio quies._ Wie sehr hingegen die
*äußere* Beschränkung dem menschlichen Glücke, so weit es gehen kann,
förderlich, ja, notwendig sei, ist daran ersichtlich, daß die einzige
Dichtungsart, welche glückliche Menschen zu schildern unternimmt, das
Idyll, sie stets und wesentlich in höchst beschränkter Lage und
Umgebung darstellt. Das Gefühl der Sache liegt auch unserem
Wohlgefallen an den sogenannten Genre-Bildern zum Grunde. -- Demgemäß
wird die möglichste *Einfachheit* unserer Verhältnisse und sogar die
*Einförmigkeit* der Lebensweise, so lange sie nicht Langeweile
erzeugt, beglücken; weil sie das Leben selbst, folglich auch die ihm
wesentliche Last, am wenigsten spüren läßt: es fließt dahin, wie ein
Bach, ohne Wellen und Strudel.

7. In Hinsicht auf unser Wohl und Wehe kommt es in letzter Instanz
darauf an, womit das Bewußtsein erfüllt und beschäftigt sei. Hier wird
nun im ganzen jede rein intellektuelle Beschäftigung dem ihrer fähigen
Geiste viel mehr leisten als das wirkliche Leben mit seinem
beständigen Wechsel des Gelingens und Mißlingens, nebst seinen
Erschütterungen und Plagen. Nur sind dazu freilich schon überwiegende
geistige Anlagen erfordert. Sodann ist hiebei zu bemerken, daß, wie
das nach außen tätige Leben uns von den Studien zerstreut und ablenkt,
auch dem Geiste die dazu erforderliche Ruhe und Sammlung benimmt;
ebenso andrerseits die anhaltende Geistesbeschäftigung zum Treiben und
Tummeln des wirklichen Lebens, mehr oder weniger, untüchtig macht:
daher ist es ratsam, dieselbe auf eine Weile ganz einzustellen, wann
Umstände eintreten, die irgendwie eine energische praktische Tätigkeit
erfordern.

8. Um mit vollkommener *Besonnenheit* zu leben und aus der eigenen
Erfahrung alle Belehrung, die sie enthält, herauszuziehn, ist
erfordert, daß man oft zurückdenke und was man erlebt, getan, erfahren
und dabei empfunden hat, rekapitulire, auch sein ehemaliges Urteil mit
seinem gegenwärtigen, seinen Vorsatz und Streben mit dem Erfolg und
der Befriedigung durch denselben vergleiche. Dies ist die Repetition
des Privatissimums, welches jedem die Erfahrung ließ. Auch läßt die
eigene Erfahrung sich ansehn als der Text; Nachdenken und Kenntnisse
als der Kommentar dazu. Viel Nachdenken und Kenntnisse, bei wenig
Erfahrung, gleicht den Ausgaben, deren Seiten zwei Zeilen Text und
vierzig Zeilen Kommentar darbieten. Viel Erfahrung, bei wenig
Nachdenken und geringen Kenntnissen, gleicht den bipontinischen
Ausgaben, ohne Noten, welche Vieles unverstanden lassen.

Auf die hier gegebene Anempfehlung zielt auch die Regel des
Pythagoras, daß man abends, vor dem Einschlafen, durchmustern solle,
was man den Tag über getan hat. Wer im Getümmel der Geschäfte oder
Vergnügungen dahinlebt, ohne je seine Vergangenheit zu ruminiren,
vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht die klare
Besonnenheit verloren: sein Gemüt wird ein Chaos, und eine gewisse
Verworrenheit kommt in seine Gedanken, von welcher alsbald das
Abrupte, Fragmentarische, gleichsam Kleingehackte seiner Konversation
zeugt. Dies ist um so mehr der Fall, je größer die äußere Unruhe, die
Menge der Eindrücke, und je geringer die innere Tätigkeit seines
Geistes ist.

Hieher gehört die Bemerkung, daß, nach längerer Zeit und nachdem die
Verhältnisse und Umgebungen, welche auf uns einwirkten,
vorübergegangen sind, wir nicht vermögen, unsere damals durch sie
erregte Stimmung und Empfindung uns zurückzurufen und zu erneuern:
wohl aber können wir unserer eigenen, damals von ihnen hervorgerufenen
*Äußerungen* uns erinnern. Diese nun sind das Resultat, der Ausdruck
und der Maßstab jener. Daher sollte das Gedächtnis, oder das Papier,
dergleichen, aus denkwürdigen Zeitpunkten, sorgfältig aufbewahren.
Hiezu sind Tagebücher sehr nützlich.

9. Sich selber genügen, sich selber alles in allem sein, und sagen
können _omnia mea mecum porto_, ist gewiß für unser Glück die
förderlichste Eigenschaft: daher der Ausspruch des *Aristoteles* =hê
eudaimonia tôn autarkôn esti= (_felicitas sibi sufficientium est. Eth.
Eud. 7, 2_) nicht zu oft wiederholt werden kann. (Auch ist es im
wesentlichen derselbe Gedanke, den, in einer überaus artigen Wendung,
die Sentenz Chamforts ausdrückt, welche ich dieser Abhandlung als
Motto vorgesetzt habe.) Denn teils darf man, mit einiger Sicherheit,
auf niemand zählen, als auf sich selbst, und teils sind die
Beschwerden und Nachteile, die Gefahr und der Verdruß, welche die
Gesellschaft mit sich führt, unzählig und unausweichbar.

Kein verkehrterer Weg zum Glück, als das Leben in der großen Welt, in
Saus und Braus (_high life_): denn es bezweckt, unser elendes Dasein
in eine Sukzession von Freude, Genuß, Vergnügen zu verwandeln, wobei
die Enttäuschung nicht ausbleiben kann; so wenig, wie bei der
obligaten Begleitung dazu, dem gegenseitigen einander Belügen[K].

  [K] Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen
  verhüllt. Unser Reden, Tun, unser ganzes Wesen ist lügenhaft: und erst
  durch diese Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahre Gesinnung
  erraten, wie durch die Gewänder hindurch die Gestalt des Leibes.

Zunächst erfordert jede Gesellschaft notwendig eine gegenseitige
Akkommodation und Temperatur: daher wird sie, je größer, desto fader.
Ganz *er selbst sein* darf jeder nur so lange er allein ist: wer also
nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn
nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche
Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so
schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist.
Demgemäß wird jeder in genauer Proportion zum Werte seines eigenen
Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen oder lieben. Denn in ihr fühlt
der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine
ganze Größe, kurz, jeder sich als was er ist. Ferner, je höher einer
auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar
wesentlich und unvermeidlich. Dann aber ist es eine Wohltat für ihn,
wenn die physische Einsamkeit der geistigen entspricht: widrigenfalls
dringt die häufige Umgebung heterogener Wesen störend, ja, feindlich
auf ihn ein, raubt ihm sein Selbst und hat nichts als Ersatz dafür zu
geben. Sodann, während die Natur zwischen Menschen die weiteste
Verschiedenheit, im Moralischen und Intellektuellen, gesetzt hat,
stellt die Gesellschaft, diese für nichts achtend, sie alle gleich,
oder vielmehr sie setzt an ihre Stelle die künstlichen Unterschiede
und Stufen des Standes und Ranges, welche der Rangliste der Natur sehr
oft diametral entgegen laufen. Bei dieser Anordnung stehen sich die,
welche die Natur niedrig gestellt hat, sehr gut; die wenigen aber,
welche sie hoch stellte, kommen dabei zu kurz; daher diese sich der
Gesellschaft zu entziehn pflegen und in jeder, sobald sie zahlreich
ist, das Gemeine vorherrscht. Was den großen Geistern die Gesellschaft
verleidet, ist die Gleichheit der Rechte, folglich der Ansprüche, bei
der Ungleichheit der Fähigkeiten, folglich der (gesellschaftlichen)
Leistungen, der andern. Die sogenannte gute Sozietät läßt Vorzüge
aller Art gelten, nur nicht die geistigen, diese sind sogar
Kontrebande. Sie verpflichtet uns, gegen jede Torheit, Narrheit,
Verkehrtheit, Stumpfheit, grenzenlose Geduld zu beweisen; persönliche
Vorzüge hingegen sollen sich Verzeihung erbetteln oder sich verbergen;
denn die geistige Überlegenheit verletzt durch ihre bloße Existenz,
ohne alles Zutun des Willens. Demnach hat die Gesellschaft, welche man
die gute nennt, nicht nur den Nachteil, daß sie uns Menschen
darbietet, die wir nicht loben und lieben können, sondern sie läßt
auch nicht zu, daß wir selbst seien, wie es unsrer Natur angemessen
ist; vielmehr nötigt sie uns, des Einklanges mit den anderen wegen,
einzuschrumpfen, oder gar uns selbst zu verunstalten. Geistreiche
Reden oder Einfälle gehören nur vor geistreiche Gesellschaft: in der
gewöhnlichen sind sie geradezu verhaßt; denn um in dieser zu gefallen,
ist durchaus notwendig, daß man platt und bornirt sei. In solcher
Gesellschaft müssen wir daher, mit schwerer Selbstverleugnung,
dreiviertel unserer selbst aufgeben, um uns den andern zu
verähnlichen. Dafür haben wir dann freilich die andern: aber je mehr
eigenen Wert einer hat, desto mehr wird er finden, daß hier der Gewinn
den Verlust nicht deckt und das Geschäft zu seinem Nachteil
ausschlägt; weil die Leute, in der Regel, insolvent sind, d. h. in
ihrem Umgang nichts haben, das für die Langweiligkeit, die Beschwerden
und Unannehmlichkeiten desselben und für die Selbstverleugnung, die er
auflegt, schadlos hielte: demnach ist die allermeiste Gesellschaft so
beschaffen, daß, wer sie gegen die Einsamkeit vertauscht, einen guten
Handel macht. Dazu kommt noch, daß die Gesellschaft, um die echte, d.
i. die geistige Überlegenheit, welche sie nicht verträgt und die auch
schwer zu finden ist, zu ersetzen, eine falsche, konventionelle, auf
willkürlichen Satzungen beruhende und traditionell unter den höheren
Ständen sich fortpflanzende, auch, wie die Parole, veränderliche
Überlegenheit beliebig angenommen hat: diese ist, was der gute Ton,
_bon ton_, _fashionableness_ genannt wird. Wann sie jedoch einmal mit
der echten in Kollision gerät, zeigt sich ihre Schwäche. -- Zudem,
_quand le bon ton arrive, le bons sens se retire_.

Überhaupt aber kann jeder *im vollkommensten Einklange* nur mit sich
selbst stehn; nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten:
denn die Unterschiede der Individualität und Stimmung führen allemal
eine, wenn auch geringe, Dissonanz herbei. Daher ist der wahre, tiefe
Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe, dieses, nächst der
Gesundheit höchste irdische Gut, allein in der Einsamkeit zu finden
und als dauernde Stimmung nur in der tiefsten Zurückgezogenheit. Ist
dann das eigene Selbst groß und reich; so genießt man den
glücklichsten Zustand, der auf dieser armen Erde gefunden werden mag.
Ja, es sei heraus gesagt: so eng auch Freundschaft, Liebe und Ehe
Menschen verbinden; *ganz ehrlich* meint jeder es am Ende doch nur mit
sich selbst und höchstens noch mit seinem Kinde. -- Je weniger einer,
infolge objektiver oder subjektiver Bedingungen, nötig hat, mit den
Menschen in Berührung zu kommen, desto besser ist er daran. Die
Einsamkeit und Öde läßt alle ihre Übel auf einmal, wenn auch nicht
empfinden, doch übersehn: hingegen die Gesellschaft ist *insidiös*:
sie verbirgt hinter dem Scheine der Kurzweil, der Mitteilung, des
geselligen Genusses usf. große, oft unheilbare Übel. Ein Hauptstudium
der Jugend sollte sein, *die Einsamkeit ertragen zu lernen*; weil sie
eine Quelle des Glückes, der Gemütsruhe ist. -- Aus diesem allen nun
folgt, daß der am besten daran ist, der nur auf sich selbst gerechnet
hat und sich selber alles in allem sein kann; sogar sagt Cicero: _Nemo
potest non beatissimus esse, qui est totus aptus ex sese, quique in se
uno ponit omnia._ (_Paradox. II._) Zudem, je mehr einer an sich selber
hat, desto weniger können andere ihm sein. Ein gewisses Gefühl von
Allgenugsamkeit ist es, welches die Leute von innerm Wert und Reichtum
abhält, der Gemeinschaft mit andern die bedeutenden Opfer, welche sie
verlangt, zu bringen, geschweige dieselbe, mit merklicher
Selbstverleugnung, zu suchen. Das Gegenteil hievon macht die
gewöhnlichen Leute so gesellig und akkommodant: es wird ihnen nämlich
leichter, andere zu ertragen, als sich selbst. Noch kommt hinzu, daß,
was wirklichen Wert hat in der Welt, nicht geachtet wird, und, was
geachtet wird, keinen Wert hat. Hievon ist die Zurückgezogenheit jedes
Würdigen und Ausgezeichneten der Beweis und die Folge. Diesem allen
nach wird es in dem, der etwas Rechtes an sich selber hat, echte
Lebensweisheit sein, wenn er, erforderlichen Falls seine Bedürfnisse
einschränkt, um nur seine Freiheit zu wahren oder zu erweitern, und
demnach mit seiner Person, da sie unvermeidliche Verhältnisse zur
Menschenwelt hat, so kurz wie möglich sich abfindet.

Was nun andrerseits die Menschen gesellig macht, ist ihre Unfähigkeit,
die Einsamkeit, und in dieser sich selbst, zu ertragen. Innere Leere
und Überdruß sind es, von denen sie sowohl in die Gesellschaft, wie in
die Fremde und auf Reisen getrieben werden. Ihrem Geiste mangelt es an
Federkraft, sich eigene Bewegung zu erteilen: daher suchen sie
Erhöhung derselben durch Wein und werden viele auf diesem Wege zu
Trunkenbolden. Eben daher bedürfen sie der steten Erregung von außen
und zwar der stärkesten, d. i. der durch Wesen ihresgleichen. Ohne
diese sinkt ihr Geist, unter seiner eigenen Schwere, zusammen und
verfällt in eine drückende Lethargie[L]. Imgleichen ließe sich sagen,
daß jeder von ihnen nur ein kleiner Bruch der Idee der Menschheit sei,
daher er vieler Ergänzung durch andere bedarf, damit einigermaßen ein
volles menschliches Bewußtsein herauskomme: hingegen wer ein ganzer
Mensch ist, ein Mensch *par excellence*, der stellt eine Einheit und
keinen Bruch dar, hat daher an sich selbst genug. Man kann, in diesem
Sinne, die gewöhnliche Gesellschaft jener russischen Hornmusik
vergleichen, bei der jedes Horn nur einen Ton hat und bloß durch das
pünktliche Zusammentreffen aller eine Musik herauskommt. Denn monoton,
wie ein solches eintöniges Horn, ist der Sinn und Geist der
allermeisten Menschen: sehn doch viele von ihnen schon aus, als hätten
sie immerfort nur einen und denselben Gedanken, unfähig irgend einen
andern zu denken. Hieraus also erklärt sich nicht nur, warum sie so
langweilig, sondern auch warum sie so gesellig sind und am liebsten
herdenweise einhergehn: _the gregariousness of mankind_. Die Monotonie
seines eigenen Wesens ist es, die jedem von ihnen unerträglich wird:
-- _omnis stultitia laborat fastidio sui_: -- nur zusammen und durch
die Vereinigung sind sie irgend etwas; -- wie jene Hornbläser. Dagegen
ist der geistvolle Mensch einem Virtuosen zu vergleichen, der sein
Konzert *allein* ausführt; oder auch dem Klavier. Wie nämlich dieses,
für sich allein, ein kleines Orchester, so ist er eine kleine Welt,
und was jene alle erst durch das Zusammenwirken sind, stellt er dar in
der Einheit Eines Bewußtseins. Wie das Klavier, ist er kein Teil der
Symphonie, sondern für das Solo und die Einheit geeignet: soll er mit
ihnen zusammenwirken; so kann er es nur sein als Prinzipalstimme mit
Begleitung, wie das Klavier; oder zum Tonangeben, bei Vokalmusik, wie
das Klavier. -- Wer inzwischen Gesellschaft liebt, kann sich aus
diesem Gleichnis die Regel abstrahiren, daß was den Personen seines
Umgangs an Qualität abgeht, durch die Quantität einigermaßen ersetzt
werden muß. An einem einzigen geistvollen Menschen kann er Umgang
genug haben: ist aber nichts als die gewöhnliche Sorte zu finden, so
ist es gut, von dieser recht viele zu haben, damit durch die
Mannigfaltigkeit und das Zusammenwirken etwas herauskomme, -- nach
Analogie der besagten Hornmusik: -- und der Himmel schenke ihm dazu
Geduld.

  [L] Bekanntlich werden Übel dadurch erleichtert, daß man sie
  gemeinschaftlich erträgt: zu diesen scheinen die Leute die Langeweile
  zu zählen; daher sie sich zusammensetzen, um sich gemeinschaftlich zu
  langweilen. Wie die Liebe zum Leben im Grunde nur Furcht vor dem Tode
  ist, so ist auch der *Geselligkeitstrieb* der Menschen im Grunde kein
  direkter, beruht nämlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft, sondern auf
  Furcht vor der *Einsamkeit*, indem es nicht sowohl die holdselige
  Gegenwart der andern ist, die gesucht, als vielmehr die Öde und
  Beklommenheit des Alleinseins, nebst der Monotonie des eigenen
  Bewußtseins, die geflohen wird; welcher zu entgehn man daher auch mit
  schlechter Gesellschaft vorlieb nimmt, imgleichen das Lästige und den
  Zwang, den eine jede notwendig mit sich bringt, sich gefallen läßt. --
  Hat hingegen der Widerwille gegen dieses alles gesiegt und ist,
  infolge davon, die Gewohnheit der Einsamkeit und die Abhärtung gegen
  ihren unmittelbaren Eindruck eingetreten, so daß sie die oben
  bezeichneten Wirkungen nicht mehr hervorbringt; dann kann man mit
  größter Behaglichkeit immerfort allein sein, ohne sich nach
  Gesellschaft zu sehnen; eben weil das Bedürfnis derselben kein
  direktes ist und man andrerseits sich jetzt an die wohltätigen
  Eigenschaften der Einsamkeit gewöhnt hat.

Jener innern Leere aber und Dürftigkeit der Menschen ist auch dieses
zuzuschreiben, daß, wenn einmal, irgendeinen edelen, idealen Zweck
beabsichtigend, Menschen besserer Art zu einem Verein zusammentreten,
alsdann der Ausgang fast immer dieser ist, daß aus jenem _plebs_ der
Menschheit, welcher, in zahlloser Menge, wie Ungeziefer, überall alles
erfüllt und bedeckt, und stets bereit ist, jedes, ohne Unterschied, zu
ergreifen, um damit seiner Langenweile, wie unter anderen Umständen
seinem Mangel, zu Hilfe zu kommen, -- auch dort einige sich
einschleichen, oder eindrängen und dann bald entweder die ganze Sache
zerstören, oder sie so verändern, daß sie ziemlich das Gegenteil der
ersten Absicht wird.

Übrigens kann man die Geselligkeit auch betrachten als ein geistiges
Erwärmen der Menschen an einander, gleich jenem körperlichen, welches
sie, bei großer Kälte, durch Zusammendrängen hervorbringen. Allein wer
selbst viel geistige Wärme hat, bedarf solcher Gruppirung nicht. Eine
in diesem Sinne von mir erdachte Fabel wird man im 2. Bande dieses
Werkes finden, im letzten Kapitel. Diesem allen zufolge steht die
Geselligkeit eines jeden ungefähr im umgekehrten Verhältnisse seines
intellektuellen Wertes; und »er ist sehr ungesellig« sagt beinahe
schon »er ist ein Mann von großen Eigenschaften.«

Dem intellektuell hochstehenden Menschen gewährt nämlich die
Einsamkeit einen zwiefachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu
sein, und zweitens den, nicht mit andern zu sein. Diesen letzteren
wird man hoch anschlagen, wenn man bedenkt, wie viel Zwang, Beschwerde
und selbst Gefahr jeder Umgang mit sich bringt. _Tout notre mal vient
de ne pouvoir être seul_, sagt *Labruyère*. *Geselligkeit* gehört zu
den gefährlichen, ja, verderblichen Neigungen, da sie uns in Kontakt
bringt mit Wesen, deren große Mehrzahl moralisch schlecht und
intellektuell stumpf oder verkehrt ist. Der Ungesellige ist einer, der
ihrer nicht bedarf. An sich selber so viel zu haben, daß man der
Gesellschaft nicht bedarf, ist schon deshalb ein großes Glück, weil
fast alle unsere Leiden aus der Gesellschaft entspringen, und die
Geistesruhe, welche, nächst der Gesundheit, das wesentlichste Element
unseres Glückes ausmacht, durch jede Gesellschaft gefährdet wird und
daher ohne ein bedeutendes Maß von Einsamkeit nicht bestehen kann. Um
des Glückes der Geistesruhe teilhaft zu werden, entsagen die Kyniker
jedem Besitz: wer in gleicher Absicht der Gesellschaft entsagt, hat
das weiseste Mittel erwählt. Denn so treffend, wie schön, ist was
*Bernardin de St. Pierre* sagt: _la diète des alimens nous rend la
santé du corps, et celle des hommes la tranquillité de l'âme_. Sonach
hat, wer sich zeitig mit der Einsamkeit befreundet, ja, sie lieb
gewinnt, eine Goldmine erworben. Aber keineswegs vermag dies jeder.
Denn, wie ursprünglich die Not, so treibt, nach Beseitigung dieser,
die Langeweile die Menschen zusammen. Ohne beide bliebe wohl jeder
allein; schon weil nur in der Einsamkeit die Umgebung der
ausschließlichen Wichtigkeit, ja, Einzigkeit entspricht, die jeder in
seinen eigenen Augen hat, und welche vom Weltgedränge zu nichts
verkleinert wird; als wo sie, bei jedem Schritt, ein schmerzliches
_démenti_ erhält. In diesem Sinne ist die Einsamkeit sogar der
natürliche Zustand eines jeden: sie setzt ihn wieder ein, als ersten
Adam, in das ursprüngliche, seiner Natur angemessene Glück.

Aber hatte doch auch Adam weder Vater, noch Mutter! Daher wieder ist,
in einem andern Sinne, die Einsamkeit dem Menschen nicht natürlich;
sofern nämlich er, bei seinem Eintritt in die Welt, sich nicht allein,
sondern zwischen Eltern und Geschwistern, also in Gemeinschaft,
gefunden hat. Demzufolge kann die Liebe zur Einsamkeit nicht als
ursprünglicher Hang dasein, sondern erst infolge der Erfahrung und des
Nachdenkens entstehn; und dies wird statthaben, nach Maßgabe der
Entwickelung eigener geistiger Kraft, zugleich aber auch mit der
Zunahme der Lebensjahre; wonach denn, im ganzen genommen, der
Geselligkeitstrieb eines jeden im umgekehrten Verhältnisse seines
Alters stehn wird. Das kleine Kind erhebt ein Angst- und
Jammergeschrei, sobald es nur einige Minuten allein gelassen wird. Dem
Knaben ist das Alleinsein eine große Pönitenz. Jünglinge gesellen sich
leicht zueinander: nur die edleren und hochgesinnten unter ihnen
suchen schon bisweilen die Einsamkeit: jedoch einen ganzen Tag allein
zuzubringen wird ihnen noch schwer. Dem Manne hingegen ist dies
leicht: er kann schon viel allein sein, und desto mehr, je älter er
wird. Der Greis, welcher aus verschwundenen Generationen allein übrig
geblieben und dazu den Lebensgenüssen teils entwachsen, teils
abgestorben ist, findet an der Einsamkeit sein eigentliches Element.
Immer aber wird hiebei, in den einzelnen, die Zunahme der Neigung zur
Absonderung und Einsamkeit nach Maßgabe ihres intellektuellen Wertes
erfolgen. Denn dieselbe ist, wie gesagt, keine rein natürliche, direkt
durch die Bedürfnisse hervorgerufene, vielmehr bloß eine Wirkung
gemachter Erfahrung und der Reflexion über solche, namentlich der
erlangten Einsicht in die moralisch und intellektuell elende
Beschaffenheit der allermeisten Menschen, bei welcher das schlimmste
ist, daß, im Individuo, die moralischen und die intellektuellen
Unvollkommenheiten desselben konspiriren und sich gegenseitig in die
Hände arbeiten, woraus dann allerlei höchst widerwärtige Phänomene
hervorgehn, welche den Umgang der meisten Menschen ungenießbar, ja,
unerträglich machen. So kommt es denn, daß, obwohl in dieser Welt gar
vieles recht schlecht ist, doch das Schlechteste darin die
Gesellschaft bleibt; so daß selbst *Voltaire*, der gesellige Franzose,
hat sagen müssen: _la terre est couverte de gens qui ne méritent pas
qu'on leur parle_. Den selben Grund gibt auch der die Einsamkeit so
stark und beharrlich liebende, sanftmütige *Petrarka* für diese
Neigung an:

    _Cercato ho sempre solitaria vita
      (Le rive il sanno, e le campagne, e i boschi),
    *Per fuggir quest' ingegni storti e loschi*,
      Che la strada del ciel' hanno smarita._

In gleichem Sinne führt er die Sache aus, in seinem schönen Buche _de
vita solitaria_, welches *Zimmermanns* Vorbild zu seinem berühmten
Werke über die Einsamkeit gewesen zu sein scheint. Eben diesen bloß
sekundären und mittelbaren Ursprung der Ungeselligkeit drückt, in
seiner sarkastischen Weise, *Chamfort* aus, wenn er sagt: _on dit
quelquefois d'un homme qui vit seul, il n'aime pas la société. C'est
souvent comme si on disait d'un homme, qu'il n'aime pas la promenade,
sous le prétexte qu'il ne se promène pas volontiers le soir dans la
forêt de Bondy[M]._ Aber auch der sanfte und christliche Angelus
Silesius sagt, in seiner Weise und mythischen Sprache, ganz das Selbe:

    »Herodes ist ein Feind; der Joseph der Verstand,
    Dem macht Gott die Gefahr im Traum (im Geist) bekannt.
    Die Welt ist Bethlehem, Ägypten *Einsamkeit*:
    Fleuch, meine Seele! Fleuch, sonst stirbest du vor Leid.«

  [M] Im selben Sinne sagt *Sadi*, im Gulistan (S. die Übers. v. Graf
  _p. 65_): »Seit dieser Zeit haben wir von der Gesellschaft Abschied
  genommen und uns den Weg der Absonderung vorgenommen: denn die
  *Sicherheit ist in der Einsamkeit*.«

In gleichem Sinne läßt sich Jordanus Brunus vernehmen: _tanti uomini,
che in terra hanno voluto gustare vita celeste, dissero con una voce:
»ecce elongavi fugiens, et mansi in solitudine«_. In gleichem Sinne
berichtet *Sadi*, der Perser, im Gulistan, von sich selbst: »meiner
Freunde in Damaskus überdrüssig zog ich mich in die Wüste bei
Jerusalem zurück, die Gesellschaft der Tiere aufzusuchen.« Kurz, in
gleichem Sinne haben alle geredet, die Prometheus aus besserem Thone
geformt hatte. Welchen Genuß kann ihnen der Umgang mit Wesen gewähren,
zu denen sie nur vermittelst des Niedrigsten und Unedelsten in ihrer
eigenen Natur, nämlich des Alltäglichen, Trivialen und Gemeinen darin,
irgend Beziehungen haben, die eine Gemeinschaft begründen, und denen,
weil sie nicht zu ihrem Niveau sich erheben können, nichts übrig
bleibt, als sie zu dem ihrigen herabzuziehn, was demnach ihr Trachten
wird? Sonach ist es ein aristokratisches Gefühl, welches den Hang zur
Absonderung und Einsamkeit nährt. Alle Lumpe sind gesellig, zum
Erbarmen: daß hingegen ein Mensch edlerer Art sei, zeigt sich zunächst
daran, daß er kein Wohlgefallen an den übrigen hat, sondern mehr und
mehr die Einsamkeit ihrer Gesellschaft vorzieht und dann allmälig, mit
den Jahren, zu der Einsicht gelangt, daß es, seltene Ausnahmen
abgerechnet, in der Welt nur die Wahl gibt zwischen Einsamkeit und
Gemeinheit. Sogar auch dieses, so hart es klingt, hat selbst Angelus
Silesius, seiner christlichen Milde und Liebe ungeachtet, nicht
ungesagt lassen können:

    »Die Einsamkeit ist not: doch sei nur nicht gemein:
    So kannst du überall in einer Wüste sein.«

Was nun aber gar die großen Geister betrifft, so ist es wohl natürlich,
daß diese eigentlichen Erzieher des ganzen Menschengeschlechtes zu
häufiger Gemeinschaft mit den übrigen so wenig Neigung fühlen, als den
Pädagogen anwandelt, sich in das Spiel der ihn umlärmenden Kinderherde
zu mischen. Denn sie, die auf die Welt gekommen sind, um sie auf dem
Meer ihrer Irrtümer der Wahrheit zuzulenken und aus dem finstern Abgrund
ihrer Roheit und Gemeinheit nach oben, dem Lichte zu, der Bildung und
Veredlung entgegen zu ziehn, -- sie müssen zwar unter ihnen leben, ohne
jedoch eigentlich zu ihnen zu gehören, fühlen sich daher, von Jugend
auf, als merklich von den andern verschiedene Wesen, kommen aber erst
allmälig, mit den Jahren, zur deutlichen Erkenntnis der Sache, wonach
sie dann Sorge tragen, daß zu ihrer geistigen Entfernung von den andern
auch die physische komme, und keiner ihnen nahe rücken darf, er sei denn
schon selbst ein mehr oder weniger Eximirter von der allgemeinen
Gemeinheit.

Aus diesem allen ergibt sich also, daß die Liebe zur Einsamkeit nicht
direkt und als ursprünglicher Trieb auftritt, sondern sich indirekt,
vorzüglich bei edleren Geistern und erst nach und nach entwickelt,
nicht ohne Überwindung des natürlichen Geselligkeitstriebes, ja, unter
gelegentlicher Opposition mephistophelischer Einflüsterung:

    »Hör' auf, mit deinem Gram zu spielen,
    Der, wie ein Geier, dir am Leben frißt:
    Die schlechteste Gesellschaft läßt dich fühlen,
    Daß du ein Mensch mit Menschen bist.«

Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister: sie werden solche
bisweilen beseufzen; aber stets sie als das kleinere von zwei Übeln
erwählen. Mit zunehmendem Alter wird jedoch das _sapere aude_ in
diesem Stücke immer leichter und natürlicher, und in den sechziger
Jahren ist der Trieb zur Einsamkeit ein wirklich naturgemäßer, ja
instinktartiger. Denn jetzt vereinigt sich alles, ihn zu befördern.
Der stärkste Zug zur Geselligkeit, Weiberliebe und Geschlechtstrieb,
wirkt nicht mehr; ja, die Geschlechtslosigkeit des Alters legt den
Grund zu einer gewissen Selbstgenugsamkeit, die allmählich den
Geselligkeitstrieb überhaupt absorbirt. Von tausend Täuschungen und
Torheiten ist man zurückgekommen; das aktive Leben ist meistens
abgetan, man hat nichts mehr zu erwarten, hat keine Pläne und
Absichten mehr; die Generation, der man eigentlich angehört, lebt
nicht mehr; von einem fremden Geschlecht umgeben, steht man schon
objektiv und wesentlich allein. Dabei hat der Flug der Zeit sich
beschleunigt, und geistig möchte man sie noch benutzen. Denn, wenn nur
der Kopf seine Kraft behalten hat; so machen jetzt die vielen
erlangten Kenntnisse und Erfahrungen, die allmälig vollendete
Durcharbeitung aller Gedanken und die große Übungsfertigkeit aller
Kräfte das Studium jeder Art interessanter und leichter als jemals.
Man sieht klar in tausend Dingen, die früher noch wie im Nebel lagen:
man gelangt zu Resultaten und fühlt seine ganze Überlegenheit. Infolge
langer Erfahrung hat man aufgehört, von den Menschen viel zu erwarten;
da sie, im ganzen genommen, nicht zu den Leuten gehören, welche bei
näherer Bekanntschaft gewinnen: vielmehr weiß man, daß, von seltenen
Glücksfällen abgesehn, man nichts antreffen wird, als sehr defekte
Exemplare der menschlichen Natur, welche es besser ist, unberührt zu
lassen. Man ist daher den gewöhnlichen Täuschungen nicht mehr
ausgesetzt, merkt jedem bald an, was er ist, und wird selten den
Wunsch fühlen, nähere Verbindung mit ihm einzugehn. Endlich ist auch,
zumal wenn man an der Einsamkeit eine Jugendfreundin erkennt, die
Gewohnheit der Isolation und des Umgangs mit sich selbst hinzugekommen
und zur zweiten Natur geworden. Demnach ist jetzt die Liebe zur
Einsamkeit, welche früher dem Geselligkeitstriebe erst abgerungen
werden mußte, eine ganz natürliche und einfache: man ist in der
Einsamkeit, wie der Fisch im Wasser. Daher fühlt jede vorzügliche,
folglich den übrigen unähnliche, mithin allein stehende Individualität
sich, durch diese ihr wesentliche Isolation, zwar in der Jugend
gedrückt, aber im Alter erleichtert.

Denn freilich wird dieses wirklichen Vorzuges des Alters jeder immer
nur nach Maßgabe seiner intellektuellen Kräfte teilhaft, also der
eminente Kopf vor allen; jedoch in geringerem Grade wohl jeder. Nur
höchst dürftige und gemeine Naturen werden im Alter noch so gesellig
sein wie ehedem: sie sind der Gesellschaft, zu der sie nicht mehr
passen, beschwerlich, und bringen es höchstens dahin, tolerirt zu
werden; während sie ehemals gesucht wurden.

An dem dargelegten, entgegengesetzten Verhältnisse zwischen der Zahl
unsrer Lebensjahre und dem Grade unsrer Geselligkeit läßt sich auch
noch eine teleologische Seite herausfinden. Je jünger der Mensch ist,
desto mehr hat er noch, in jeder Beziehung, zu lernen: nun hat ihn die
Natur auf den wechselseitigen Unterricht verwiesen, welchen jeder im
Umgange mit seinesgleichen empfängt und in Hinsicht auf welchen die
menschliche Gesellschaft eine große Bell-Lancastersche Erziehungsanstalt
genannt werden kann; da Bücher und Schulen künstliche, weil vom Plane
der Natur abliegende Anstalten sind. Sehr zweckmäßig also besucht er
die natürliche Unterrichtsanstalt desto fleißiger, je jünger er ist.

_Nihil est ab omni parte beatum_ sagt Horaz, und »Kein Lotus ohne
Stengel« lautet ein indisches Sprichwort: so hat denn auch die
Einsamkeit, neben so vielen Vorteilen, ihre kleinen Nachteile und
Beschwerden, die jedoch, im Vergleich mit denen der Gesellschaft,
gering sind; daher wer etwas Rechtes an sich selber hat, es immer
leichter finden wird, ohne die Menschen auszukommen, als mit ihnen. --
Unter jenen Nachteilen ist übrigens einer, der nicht so leicht, wie
die übrigen, zum Bewußtsein gebracht wird, nämlich dieser: wie durch
anhaltend fortgesetztes Zuhausebleiben unser Leib so empfindlich gegen
äußere Einflüsse wird, daß jedes kühle Lüftchen ihn krankhaft
affizirt; so wird, durch anhaltende Zurückgezogenheit und Einsamkeit,
unser Gemüt so empfindlich, daß wir durch die unbedeutendesten
Vorfälle, Worte, wohl gar durch bloße Mienen, uns beunruhigt, oder
gekränkt, oder verletzt fühlen; während der, welcher stets im Getümmel
bleibt, dergleichen gar nicht beachtet.

Wer nun aber, zumal in jüngern Jahren, so oft ihn auch schon gerechtes
Mißfallen an den Menschen in die Einsamkeit zurückgescheucht hat, doch
die Öde derselben, auf die Länge, zu ertragen nicht vermag, dem rate
ich, daß er sich gewöhne, einen Teil seiner Einsamkeit in die
Gesellschaft mitzunehmen, also daß er lerne, auch in der Gesellschaft,
in gewissem Grade, allein zu sein, demnach, was er denkt, nicht sofort
den andern mitzuteilen, und andrerseits mit dem, was sie sagen, es
nicht genau zu nehmen, vielmehr, moralisch wie intellektuell, nicht
viel davon zu erwarten und daher, hinsichtlich ihrer Meinungen,
diejenige Gleichgültigkeit in sich zu befestigen, die das sicherste
Mittel ist, um stets eine lobenswerte Toleranz zu üben. Er wird
alsdann, obwohl mitten unter ihnen, doch nicht so ganz in ihrer
Gesellschaft sein, sondern hinsichtlich ihrer sich mehr rein objektiv
verhalten: Dies wird ihn vor zu genauer Berührung mit der
Gesellschaft, und dadurch vor jeder Besudelung, oder gar Verletzung,
schützen. Sogar eine lesenswerte dramatische Schilderung dieser
restringirten, oder verschanzten Geselligkeit besitzen wir am
Lustspiel »_el Café o sea la comedia nueva_« von *Moratin*, und zwar
im Charakter des D. Pedro daselbst, zumal in der zweiten und dritten
Szene des ersten Akts. In diesem Sinne kann man auch die Gesellschaft
einem Feuer vergleichen, an welchem der Kluge sich in gehöriger
Entfernung wärmt, nicht aber hineingreift, wie der Tor, der dann,
nachdem er sich verbrannt hat, in die Kälte der Einsamkeit flieht und
jammert, daß das Feuer brennt.

10. *Neid* ist dem Menschen natürlich: dennoch ist er ein Laster und
Unglück zugleich[N]. Wir sollen daher ihn als den Feind unsers Glückes
betrachten und als einen bösen Dämon zu ersticken suchen. Hiezu leitet
uns *Seneka* an, mit den schönen Worten: _nostra nos sine comparatione
delectent: nunquam erit felix quem torquebit felicior_ (_de ira III,
30_), und wiederum: _quum adspexeris quot te antecedant, cogita quot
sequantur_ (_ep. 15_): also wir sollen öfter die betrachten, welche
schlimmer daran sind, als wir, denn die, welche besser daran zu sein
scheinen. Sogar wird, bei eingetretenen, wirklichen Übeln, uns den
wirksamsten, wiewohl aus derselben Quelle mit dem Neide fließenden
Trost die Betrachtung größerer Leiden, als die unsrigen sind,
gewähren, und nächstdem der Umgang mit solchen, die mit uns im selben
Falle sich befinden, mit den _sociis malorum_.

  [N] Der *Neid* der Menschen zeigt an, wie unglücklich sie sich fühlen;
  ihre beständige *Aufmerksamkeit* auf fremdes Tun und Lassen, wie sehr
  sie sich langweilen.

Soviel von der aktiven Seite des Neides. Von der passiven ist zu
erwägen, daß kein Haß so unversöhnlich ist, wie der Neid; daher wir
nicht unablässig und eifrig bemüht sein sollten, ihn zu erregen;
vielmehr besser täten, diesen Genuß, wie manchen andern, der
gefährlichen Folgen wegen, uns zu versagen. -- Es gibt *drei
Aristokratien*: 1. die der Geburt und des Ranges, 2. die
Geldaristokratie, 3. die geistige Aristokratie. Letztere ist
eigentlich die vornehmste, wird auch dafür anerkannt, wenn man ihr nur
Zeit läßt: hat doch schon Friedrich der Große gesagt: _les âmes
privilégiées rangent à l'égal des souverains_, und zwar zu seinem
Hofmarschall, der Anstoß daran nahm, daß, während Minister und
Generäle an der Marschallstafel aßen, Voltaire an einer Tafel Platz
nehmen sollte, an welcher bloß regierende Herren und ihre Prinzen
saßen. -- Jede dieser Aristokratien ist umgeben von einem Heer ihrer
Neider, welche gegen jeden ihrer Angehörigen heimlich erbittert und,
wenn sie ihn nicht zu fürchten haben, bemüht sind, ihm auf
mannigfaltige Weise zu verstehn zu geben, »du bist nichts mehr, als
wir!« Aber gerade diese Bemühungen verraten ihre Überzeugung vom
Gegenteil. Das vom Beneideten dagegen anzuwendende Verfahren besteht
im Fernhalten aller dieser Schar Angehörigen und im möglichsten
Vermeiden jeder Berührung mit ihnen, so daß sie durch eine weite Kluft
abgetrennt bleiben; wo aber dies nicht angeht, im höchst gelassenen
Ertragen ihrer Bemühungen, deren Quelle sie ja neutralisirt: -- auch
sehn wir dasselbe durchgängig angewandt. Hingegen werden die der einen
Aristokratie Angehörigen sich mit denen einer der beiden andern
meistens gut und ohne Neid vertragen; weil jeder seinen Vorzug gegen
den der andern in die Wage legt.

11. Man überlege ein Vorhaben reiflich und wiederholt, ehe man
dasselbe ins Werk setzt, und selbst nachdem man alles auf das
gründlichste durchdacht hat, räume man noch der Unzulänglichkeit aller
menschlichen Erkenntnis etwas ein, infolge welcher es immer noch
Umstände geben kann, die zu erforschen oder vorherzusehn unmöglich
ist, und welche die ganze Berechnung unrichtig machen könnten. Dieses
Bedenken wird stets ein Gewicht auf die negative Schale legen und uns
anraten, in wichtigen Dingen, ohne Not, nichts zu rühren: _quieta non
movere_. Ist man aber einmal zum Entschluß gekommen und hat Hand ans
Werk gelegt, so daß jetzt alles seinen Verlauf zu nehmen hat und nur
noch der Ausgang abzuwarten steht; dann ängstige man sich nicht durch
stets erneuerte Überlegung des bereits Vollzogenen und durch
wiederholtes Bedenken der möglichen Gefahr; vielmehr entschlage man
der Sache sich jetzt gänzlich, halte das ganze Gedankenfach derselben
verschlossen, sich mit der Überzeugung beruhigend, daß man alles zu
seiner Zeit reiflich erwogen habe. Diesen Rat erteilt auch das
italiänische Sprichwort _legala bene, e poi lascia la andare_, welches
Goethe übersetzt »du, sattle gut und reite getrost«; -- wie denn,
beiläufig gesagt, ein großer Teil seiner unter der Rubrik
»Sprichwörtlich« gegebenen Gnomen übersetzte italiänische Sprichwörter
sind. -- Kommt dennoch ein schlimmer Ausgang; so ist es, weil alle
menschlichen Angelegenheiten dem Zufall und dem Irrtum unterliegen.
Daß *Sokrates*, der Weiseste der Menschen, um nur in seinen eigenen,
persönlichen Angelegenheiten das Richtige zu treffen, oder wenigstens
Fehltritte zu vermeiden, eines warnenden *Dämonions* bedurfte,
beweist, daß hiezu kein menschlicher Verstand ausreicht. Daher ist
jener, angeblich von einem Papste herrührende Ausspruch, daß von jedem
Unglück, das uns trifft, wir selbst, wenigstens in irgend etwas, die
Schuld tragen, nicht unbedingt und in allen Fällen wahr: wiewohl bei
weitem in den meisten. Sogar scheint das Gefühl hievon viel Anteil
daran zu haben, daß die Leute ihr Unglück möglichst zu verbergen
suchen und, so weit es gelingen will, eine zufriedene Miene aufsetzen.
Sie besorgen, daß man von Leiden auf die Schuld schließen werde.

12. Bei einem unglücklichen Ereignis, welches bereits eingetreten,
also nicht mehr zu ändern ist, soll man sich nicht einmal den
Gedanken, daß dem anders sein könnte, noch weniger den, wodurch es
hätte abgewendet werden können, erlauben: denn gerade er steigert den
Schmerz ins Unerträgliche; so daß man damit zum =heautontimôroumenos=
wird. Vielmehr mache man es wie der König David, der, so lange sein
Sohn krank daniederlag, den Jehova unablässig mit Bitten und Flehen
bestürmte; als er aber gestorben war, ein Schnippchen schlug und nicht
weiter daran dachte. Wer aber dazu nicht leichtsinnig genug ist,
flüchte sich auf den fatalistischen Standpunkt, indem er sich die
große Wahrheit verdeutlicht, daß alles, was geschieht, notwendig
eintritt, also unabwendbar ist.

Bei allem dem ist diese Regel einseitig. Sie taugt zwar zu unserer
unmittelbaren Erleichterung und Beruhigung bei Unglücksfällen: allein
wenn an diesen, wie doch meistens, unsere eigene Nachlässigkeit oder
Verwegenheit, wenigstens zum Teil, schuld ist; so ist die wiederholte,
schmerzliche Überlegung, wie dem hätte vorgebeugt werden können, zu
unserer Witzigung und Besserung, also für die Zukunft, eine heilsame
Selbstzüchtigung. Und gar offenbar begangene Fehler sollen wir nicht,
wie wir doch pflegen, vor uns selber zu entschuldigen, oder zu
beschönigen, oder zu verkleinern suchen, sondern sie uns eingestehn
und in ihrer ganzen Größe deutlich uns vor Augen bringen, um den
Vorsatz, sie künftig zu vermeiden, fest fassen zu können. Freilich hat
man sich dabei den großen Schmerz der Unzufriedenheit mit sich selbst
anzutun: aber =ho mê dareis anthrôpos ou paideuetai=.

13. In allem, was unser Wohl und Wehe betrifft, sollen wir die
*Phantasie im Zügel halten*: also zuvörderst keine Luftschlösser
bauen; weil diese zu kostspielig sind, indem wir, gleich darauf, sie,
unter Seufzern, wieder einzureißen haben. Aber noch mehr sollen wir
uns hüten, durch das Ausmalen bloß möglicher Unglücksfälle unser Herz
zu ängstigen. Wenn nämlich diese ganz aus der Luft gegriffen, oder
doch sehr weit hergeholt wären; so würden wir, beim Erwachen aus einem
solchen Traume, gleich wissen, daß alles nur Gaukelei gewesen, daher
uns der bessern Wirklichkeit um so mehr freuen und allenfalls eine
Warnung gegen ganz entfernte, wiewohl mögliche Unglücksfälle daraus
entnehmen. Allein mit dergleichen spielt unsere Phantasie nicht
leicht: ganz müßigerweise baut sie höchstens heitere Luftschlösser.
Der Stoff zu ihren finstern Träumen sind Unglücksfälle, die uns, wenn
auch aus der Ferne, doch einigermaßen wirklich bedrohen: diese
vergrößert sie, bringt ihre Möglichkeit viel näher, als sie in
Wahrheit ist, und malt sie auf das Fürchterlichste aus. Einen solchen
Traum können wir, beim Erwachen, nicht sogleich abschütteln, wie den
heitern: denn diesen widerlegt alsbald die Wirklichkeit und läßt
höchstens eine schwache Hoffnung im Schoße der Möglichkeit übrig. Aber
haben wir uns den schwarzen Phantasien (_blue devils_) überlassen; so
haben sie uns Bilder nahe gebracht, die nicht so leicht wieder
weichen: denn die Möglichkeit der Sache, im allgemeinen, steht fest,
und den Maßstab des Grades derselben vermögen wir nicht jederzeit
anzulegen: sie wird nun leicht zur Wahrscheinlichkeit, und wir haben
uns der Angst in die Hände geliefert. Daher also sollen wir die Dinge,
welche unser Wohl und Wehe betreffen, bloß mit dem Auge der Vernunft
und der Urteilskraft betrachten, folglich trockener und kalter
Überlegung, mit bloßen Begriffen und _in abstracto_ operiren. Die
Phantasie soll dabei aus dem Spiele bleiben: denn urteilen kann sie
nicht; sondern bringt bloße Bilder vor die Augen, welche das Gemüt
unnützer und oft sehr peinlicher Weise bewegen. Am strengsten sollte
diese Regel abends beobachtet werden. Denn wie die Dunkelheit uns
furchtsam macht und uns überall Schreckensgestalten erblicken läßt, so
wirkt, ihr analog, die Undeutlichkeit der Gedanken; weil jede
Ungewißheit Unsicherheit gebiert: deshalb nehmen des Abends, wann die
Abspannung Verstand und Urteilskraft mit einer subjektiven Dunkelheit
überzogen hat, der Intellekt müde und =thoryboumenos= ist und den
Dingen nicht auf den Grund zu kommen vermag, die Gegenstände unserer
Meditation, wenn sie unsere persönlichen Verhältnisse betreffen,
leicht ein gefährliches Ansehn an und werden zu Schreckbildern. Am
meisten ist dies der Fall nachts, im Bette, als wo der Geist völlig
abgespannt und daher die Urteilskraft ihrem Geschäfte gar nicht mehr
gewachsen, die Phantasie aber noch rege ist. Da gibt die Nacht allem
und jedem ihren schwarzen Anstrich. Daher sind unsere Gedanken vor dem
Einschlafen, oder gar beim nächtlichen Erwachen, meistens fast ebenso
arge Verzerrungen und Verkehrungen der Dinge, wie die Träume es sind,
und dazu, wenn sie persönliche Angelegenheiten betreffen, gewöhnlich
pechschwarz, ja, entsetzlich. Am Morgen sind dann alle solche
Schreckbilder, so gut wie die Träume, verschwunden: dies bedeutet das
spanische Sprichwort: _noche tinta, blanco el dia_ (die Nacht ist
gefärbt, weiß ist der Tag). Aber auch schon abends, sobald das Licht
brennt, sieht der Verstand, wie das Auge, nicht so klar, wie bei Tage:
daher diese Zeit nicht zur Meditation ernster, zumal unangenehmer
Angelegenheiten geeignet ist. Hiezu ist der Morgen die rechte Zeit;
wie er es denn überhaupt zu allen Leistungen, ohne Ausnahme, sowohl
den geistigen wie den körperlichen, ist. Denn der Morgen ist die
Jugend des Tages: alles ist heiter, frisch und leicht: wir fühlen uns
kräftig und haben alle unsere Fähigkeiten zu völliger Disposition. Man
soll ihn nicht durch spätes Aufstehn verkürzen, noch auch an unwürdige
Beschäftigungen oder Gespräche verschwenden, sondern ihn als die
Quintessenz des Lebens betrachten und gewissermaßen heilig halten.
Hingegen ist der Abend das Alter des Tages: wir sind abends matt,
geschwätzig und leichtsinnig. -- Jeder *Tag ist ein kleines Leben*, --
jedes Erwachen und Aufstehen eine kleine Geburt, jeder frische Morgen
eine kleine Jugend, und jedes zu Bette gehn und Einschlafen ein
kleiner Tod.

Überhaupt aber hat Gesundheitszustand, Schlaf, Nahrung, Temperatur,
Wetter, Umgebung und noch viel anderes Äußerliches auf unsere
Stimmung, und diese auf unsere Gedanken, einen mächtigen Einfluß.
Daher ist, wie unsere Ansicht einer Angelegenheit, so auch unsere
Fähigkeit zu einer Leistung so sehr der Zeit und selbst dem Orte
unterworfen. Darum also

    »Nehmt die gute Stimmung wahr,
    Denn sie kommt so selten.«

    G.

Nicht etwa bloß objektive Konzeptionen und Originalgedanken muß man
abwarten, ob und wann es ihnen zu kommen beliebt; sondern selbst die
gründliche Überlegung einer persönlichen Angelegenheit gelingt nicht
immer zu der Zeit, die man zum voraus für sie bestimmt und wann man
sich dazu zurechtgesetzt hat; sondern auch sie wählt sich ihre Zeit
selbst; wo alsdann der ihr angemessene Gedankengang unaufgefordert
rege wird und wir mit vollem Anteil ihn verfolgen.

Zur anempfohlenen Zügelung der Phantasie gehört auch noch, daß wir ihr
nicht gestatten, ehemals erlittenes Unrecht, Schaden, Verlust,
Beleidigungen, Zurücksetzungen, Kränkungen u. dgl. uns wieder zu
vergegenwärtigen und auszumalen; weil wir dadurch den längst
schlummernden Unwillen, Zorn und alle gehässigen Leidenschaften wieder
aufregen, wodurch unser Gemüt verunreinigt wird. Denn, nach einem
schönen, vom Neuplatoniker Proklos beigebrachten Gleichnis, ist, wie
in jeder Stadt, neben den Edelen und Ausgezeichneten, auch der Pöbel
jeder Art (=ochlos=) wohnt, so in jedem, auch dem edelsten und
erhabensten Menschen das ganz Niedrige und Gemeine der menschlichen,
ja tierischen Natur, der Anlage nach, vorhanden. Dieser Pöbel darf
nicht zum Tumult aufgeregt werden, noch darf er aus den Fenstern
schauen; da er sich häßlich ausnimmt: die bezeichneten Phantasiestücke
sind aber die Demagogen desselben. Hieher gehört auch, daß die
kleinste Widerwärtigkeit, sei sie von Menschen oder Dingen
ausgegangen, durch fortgesetztes Brüten darüber und Ausmalen mit
grellen Farben und nach vergrößertem Maßstabe, zu einem Ungeheuer
anschwellen kann, darüber man außer sich gerät. Alles Unangenehme soll
man vielmehr höchst prosaisch und nüchtern auffassen, damit man es
möglichst leicht nehmen könne.

Wie kleine Gegenstände, dem Auge nahe gehalten, unser Gesichtsfeld
beschränkend, die Welt verdecken, -- so werden oft die Menschen und
Dinge unserer *nächsten Umgebung*, so höchst unbedeutend und
gleichgültig sie auch seien, unsere Aufmerksamkeit und Gedanken über
die Gebühr beschäftigen, dazu noch auf unerfreuliche Weise, und werden
wichtige Gedanken und Angelegenheiten verdrängen. Dem soll man
entgegenarbeiten.

14. Beim Anblick dessen, was wir nicht besitzen, steigt gar leicht in
uns der Gedanke auf: »wie, wenn das mein wäre?« und er macht uns die
Entbehrung fühlbar. Statt dessen sollten wir öfter fragen: »wie, wenn
das *nicht* mein wäre?«, ich meine, wir sollten das, was wir besitzen,
bisweilen so anzusehn uns bemühen, wie es uns vorschweben würde,
nachdem wir es verloren hätten; und zwar jedes, was es auch sei:
Eigentum, Gesundheit, Freunde, Geliebte, Weib, Kind, Pferd und Hund:
denn meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge.
Hingegen infolge der anempfohlenen Betrachtungsweise derselben wird
erstlich ihr Besitz uns unmittelbar mehr, als zuvor, beglücken, und
zweitens werden wir auf alle Weise dem Verlust vorbeugen, also das
Eigentum nicht in Gefahr bringen, die Freunde nicht erzürnen, die
Treue des Weibes nicht der Versuchung aussetzen, die Gesundheit der
Kinder bewachen usw. -- Oft suchen wir das Trübe der Gegenwart
aufzuhellen durch Spekulation auf günstige Möglichkeiten und ersinnen
vielerlei chimärische Hoffnungen, von denen jede mit einer
Enttäuschung schwanger ist, die nicht ausbleibt, wann jene an der
harten Wirklichkeit zerschellt. Besser wäre es, die vielen schlimmen
Möglichkeiten zum Gegenstand unserer Spekulation zu machen, als
welches teils Vorkehrungen zu ihrer Abwehr, teils angenehme
Überraschungen, wenn sie sich nicht verwirklichen, veranlassen würde.
Sind wir doch, nach etwas ausgestandener Angst, stets merklich heiter.
Ja, es ist sogar gut, große Unglücksfälle, die uns möglicherweise
treffen könnten, uns bisweilen zu vergegenwärtigen; um nämlich die uns
nachher wirklich treffenden viel kleineren leichter zu ertragen, indem
wir dann durch den Rückblick auf jene großen, nicht eingetroffenen,
uns trösten. Über diese Regel ist jedoch die ihr vorhergegangene nicht
zu vernachlässigen.

15. Weil die uns betreffenden Angelegenheiten und Begebenheiten ganz
vereinzelt, ohne Ordnung und ohne Beziehung auf einander, im grellsten
Kontrast und ohne irgend etwas Gemeinsames, als eben daß sie unsere
Angelegenheiten sind, auftreten und durcheinanderlaufen; so muß unser
Denken und Sorgen um sie ebenso abrupt sein, damit es ihnen
entspreche. -- Sonach müssen wir, wenn wir eines vornehmen, von allem
andern abstrahiren und uns der Sache entschlagen, um jedes zu seiner
Zeit zu besorgen, zu genießen, zu erdulden, ganz unbekümmert um das
übrige: wir müssen also gleichsam Schiebfächer unserer Gedanken haben,
von denen wir eines öffnen, derweilen alle andern geschlossen bleiben.
Dadurch erlangen wir, daß nicht eine schwer lastende Sorge jeden
kleinen Genuß der Gegenwart verkümmere und uns alle Ruhe raube; daß
nicht eine Überlegung die andere verdränge; daß nicht die Sorge für
eine wichtige Angelegenheit die Vernachlässigung vieler geringen
herbeiführe usw. Zumal aber soll, wer hoher und edeler Betrachtungen
fähig ist, seinen Geist durch persönliche Angelegenheiten und niedrige
Sorgen nie so ganz einnehmen und erfüllen lassen, daß sie jenen den
Zugang versperren: denn das wäre recht eigentlich _propter vitam
vivendi perdere causas_. -- Freilich ist zu dieser Lenkung und
Ablenkung unsrer selbst, wie zu so viel anderm, Selbstzwang erfordert:
zu diesem aber sollte uns die Überlegung stärken, daß jeder Mensch gar
vielen und großen Zwang von außen zu erdulden hat, ohne welchen es in
keinem Leben abgeht; daß jedoch ein kleiner, an der rechten Stelle
angebrachter Selbstzwang nachmals vielem Zwange von außen vorbeugt;
wie ein kleiner Abschnitt des Kreises zunächst dem Centro einem oft
hundertmal größern an der Peripherie entspricht. Durch nichts entziehn
wir uns so sehr dem Zwange von außen, wie durch Selbstzwang: das
besagt Senekas Ausspruch: _si tibi vis omnia subjicere, te subjice
rationi_ (_ep. 37_). Auch haben wir den Selbstzwang noch immer in der
Gewalt, und können, im äußersten Fall, oder wo er unsere
empfindlichste Stelle trifft, etwas nachlassen; hingegen der Zwang von
außen ist ohne Rücksicht, ohne Schonung und unbarmherzig. Daher ist es
weise, diesem durch jenen zuvorzukommen.

16. Unseren Wünschen ein Ziel stecken, unsere Begierden im Zaume
halten, unsern Zorn bändigen, stets eingedenk, daß dem einzelnen nur
ein unendlich kleiner Teil alles Wünschenswerten erreichbar ist,
hingegen viele Übel jeden treffen müssen, also, mit einem Worte
=apechein kai anechein=, _abstinere et sustinere_, -- ist eine Regel,
ohne deren Beobachtung weder Reichtum noch Macht verhindern können,
daß wir uns armselig fühlen. Dahin zielt Horaz:

    _Inter cuncta leges, et percontabere doctos
    Qua ratione queas traducere leniter aevum;
    Ne te semper inops agitet vexetque cupido,
    Ne pavor, et rerum mediocriter utilium spes._

17. =Ho bios en tê kinêsei esti= (_vita motu constat_) sagt
Aristoteles, mit offenbarem Recht: und wie demnach unser physisches
Leben nur in und durch eine unaufhörliche Bewegung besteht; so
verlangt auch unser inneres, geistiges Leben fortwährend
Beschäftigung, Beschäftigung mit irgend etwas, durch Tun oder Denken;
einen Beweis hievon gibt schon das Trommeln mit den Händen oder irgend
einem Gerät, zu welchem unbeschäftigte und gedankenlose Menschen
sogleich greifen. Unser Dasein nämlich ist ein wesentlich rastloses:
daher wird die gänzliche Untätigkeit uns bald unerträglich, indem sie
die entsetzlichste Langeweile herbeiführt. Diesen Trieb nun soll man
regeln, um ihn methodisch und dadurch besser zu befriedigen. Daher
also ist Tätigkeit, etwas treiben, womöglich etwas machen, wenigstens
aber etwas lernen, -- zum Glück des Menschen unerläßlich: seine Kräfte
verlangen nach ihrem Gebrauch, und er möchte den Erfolg desselben
irgendwie wahrnehmen. Die größte Befriedigung jedoch, in dieser
Hinsicht, gewährt es, etwas zu *machen*, zu verfertigen, sei es ein
Korb, sei es ein Buch; aber daß man ein Werk unter seinen Händen
täglich wachsen und endlich seine Vollendung erreichen sehe, beglückt
unmittelbar. Dies leistet ein Kunstwerk, eine Schrift, ja selbst eine
bloße Handarbeit; freilich, je edlerer Art das Werk, desto höher der
Genuß. Am glücklichsten sind, in diesem Betracht, die Hochbegabten,
welche sich der Fähigkeit zur Hervorbringung bedeutsamer, großer und
zusammenhängender Werke bewußt sind. Denn dadurch verbreitet ein
Interesse höherer Art sich über ihr ganzes Dasein und erteilt ihm eine
Würze, welche dem der Übrigen abgeht, welches demnach, mit jenem
verglichen, gar schal ist. Für sie nämlich hat das Leben und die Welt,
neben dem allen gemeinsamen, materiellen, noch ein zweites und
höheres, ein formelles Interesse, indem es den Stoff zu ihren Werken
enthält, mit dessen Einsammlung sie, ihr Leben hindurch, emsig
beschäftigt sind, sobald nur die persönliche Not sie irgends atmen
läßt. Auch ist ihr Intellekt gewissermaßen ein doppelter: teils einer
für die gewöhnlichen Beziehungen (Angelegenheiten des Willens), gleich
dem aller andern: teils einer für die rein objektive Auffassung der
Dinge. So leben sie zwiefach, sind Zuschauer und Schauspieler
zugleich, während die Übrigen letzteres allein sind. -- Inzwischen
treibe jeder etwas, nach Maßgabe seiner Fähigkeiten. Denn wie
nachteilig der Mangel an planmäßiger Tätigkeit, an irgend einer
Arbeit, auf uns wirke, merkt man auf langen Vergnügungsreisen, als wo
man, dann und wann, sich recht unglücklich fühlt; weil man, ohne
eigentliche Beschäftigung, gleichsam aus seinem natürlichen Elemente
gerissen ist. Sich zu mühen und mit dem Widerstande zu kämpfen ist dem
Menschen Bedürfnis, wie dem Maulwurf das Graben. Der Stillstand, den
die Allgenugsamkeit eines bleibenden Genusses herbeiführte, wäre ihm
unerträglich. Hindernisse überwinden ist der Vollgenuß seines Daseins;
sie mögen materieller Art sein, wie beim Handeln und Treiben, oder
geistiger Art, wie beim Lernen und Forschen: der Kampf mit ihnen und
der Sieg beglückt. Fehlt ihm die Gelegenheit dazu, so macht er sie
sich, wie er kann: je nachdem seine Individualität es mit sich bringt,
wird er jagen, oder Bilboquet spielen, oder, vom unbewußten Zuge
seiner Natur geleitet, Händel suchen, oder Intriguen anspinnen, oder
sich auf Betrügereien und allerlei Schlechtigkeiten einlassen, um nur
dem ihm unerträglichen Zustande der Ruhe ein Ende zu machen.
_Difficilis in otio quies._

18. Zum Leitstern seiner Bestrebungen soll man nicht *Bilder der
Phantasie* nehmen, sondern deutlich gedachte *Begriffe*. Meistens aber
geschieht das Umgekehrte. Man wird nämlich, bei genauerer
Untersuchung, finden, daß, was bei unsern Entschließungen, in letzter
Instanz, den Ausschlag gibt, meistens nicht die Begriffe und Urteile
sind, sondern ein Phantasiebild, welches die eine der Alternativen
repräsentirt und vertritt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Romane von
Voltaire, oder Diderot, dem Helden, als er ein Jüngling und Herkules
am Scheidewege war, die Tugend sich stets darstellte in Gestalt seines
alten Hofmeisters, in der Linken die Tabaksdose, in der Rechten eine
Priese haltend und so moralisirend; das Laster hingegen in Gestalt der
Kammerjungfer seiner Mutter. -- Besonders in der Jugend fixirt sich
das Ziel unsers Glückes in Gestalt einiger Bilder, die uns vorschweben
und oft das halbe, ja das ganze Leben hindurch verharren. Sie sind
eigentlich neckende Gespenster: denn, haben wir sie erreicht, so
zerrinnen sie in nichts, indem wir die Erfahrung machen, daß sie gar
nichts von dem, was sie verhießen, leisten. Dieser Art sind einzelne
Szenen des häuslichen, bürgerlichen, gesellschaftlichen, ländlichen
Lebens, Bilder der Wohnung, Umgebung, der Ehrenzeichen,
Respektsbezeugungen usw. usw. _chaque fou a sa marotte_ auch das Bild
der Geliebten gehört oft dahin. Daß es uns so ergehe ist wohl
natürlich: denn das Anschauliche wirkt, weil es das Unmittelbare ist,
auch unmittelbarer auf unsern Willen, als der Begriff, der abstrakte
Gedanke, der bloß das Allgemeine gibt, ohne das Einzelne, welches doch
gerade die Realität enthält: er kann daher nur mittelbar auf unsern
Willen wirken. Und doch ist es nur der Begriff, der Wort hält: daher
ist es Bildung, nur ihm zu trauen. Freilich wird er wohl mitunter der
Erläuterung und Paraphrase durch einige Bilder bedürfen: nur _cum
grano salis_.

19. Die vorhergegangene Regel läßt sich der allgemeineren subsumiren,
daß man überall Herr werden soll über den Eindruck des Gegenwärtigen
und Anschaulichen überhaupt. Dieser ist gegen das bloß Gedachte und
Gewußte unverhältnismäßig stark, nicht vermöge seiner Materie und
Gehalt, die oft sehr gering sind; sondern vermöge seiner Form, der
Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, als welche auf das Gemüt
eindringt und dessen Ruhe stört, oder seine Vorsätze erschüttert. Denn
das Vorhandene, das Anschauliche, wirkt, als leicht übersehbar, stets
mit seiner ganzen Gewalt auf einmal: hingegen Gedanken und Gründe
verlangen Zeit und Ruhe, um stückweise durchdacht zu werden, daher man
sie nicht jeden Augenblick ganz gegenwärtig haben kann. Demzufolge
reizt das Angenehme, welchem wir, infolge der Überlegung, entsagt
haben, uns doch bei seinem Anblick: ebenso kränkt uns ein Urteil,
dessen gänzliche Inkompetenz wir kennen; erzürnt uns eine Beleidigung,
deren Verächtlichkeit wir einsehen; ebenso werden zehn Gründe gegen
das Vorhandensein einer Gefahr überwogen vom falschen Schein ihrer
wirklichen Gegenwart usw. In allen diesen macht sich die ursprüngliche
Unvernünftigkeit unsers Wesens geltend. Auch werden einem derartigen
Eindruck die Weiber oft erliegen, und wenige Männer haben ein solches
Übergewicht der Vernunft, daß sie von dessen Wirkungen nicht zu leiden
hätten. Wo wir nun denselben nicht ganz überwältigen können, mittelst
bloßer Gedanken, da ist das Beste, einen Eindruck durch den
entgegengesetzten zu neutralisiren, z. B. den Eindruck einer
Beleidigung durch Aufsuchen derer, die uns hochschätzen; den Eindruck
einer drohenden Gefahr durch wirkliches Betrachten des ihr
Entgegenwirkenden. Konnte doch jener Italiäner, von dem Leibnitz (in
den _nouveaux essais, Liv. I, c. 2, § 11_) erzählt, sogar den
Schmerzen der Folter dadurch widerstehn, daß er, während derselben,
wie er sich vorgesetzt, das Bild des Galgens, an welchen sein
Geständnis ihn gebracht haben würde, nicht einen Augenblick aus der
Phantasie entweichen ließ; weshalb er von Zeit zu Zeit _io ti vedo_
rief; welche Worte er später dahin erklärt hat. -- Eben aus dem hier
betrachteten Grunde ist es ein schweres Ding, wenn alle, die uns
umgeben, anderer Meinung sind als wir, und danach sich benehmen,
selbst wenn wir von ihrem Irrtum überzeugt sind, nicht durch sie
wankend gemacht zu werden. Einem flüchtigen, verfolgten, ernstlich
_incognito_ reisenden Könige muß das unter vier Augen beobachtete
Unterwürfigkeitszeremoniell seines vertrauten Begleiters eine fast
notwendige Herzensstärkung sein, damit er nicht am Ende sich selbst
bezweifle.

20. Nachdem ich schon im zweiten Kapitel den hohen Wert der
*Gesundheit*, als welche für unser Glück das erste und wichtigste ist,
hervorgehoben habe, will ich hier ein paar ganz allgemeiner
Verhaltungsregeln zu ihrer Befestigung und Bewahrung angeben.

Man härte sich dadurch ab, daß man dem Körper, sowohl im ganzen wie in
jedem Teile, so lange man gesund ist, recht viel Anstrengung und
Beschwerde auflege und sich gewöhne, widrigen Einflüssen jeder Art zu
widerstehn. Sobald hingegen ein krankhafter Zustand, sei es des
Ganzen, oder eines Teiles, sich kundgibt, ist sogleich das
entgegengesetzte Verfahren zu ergreifen und der kranke Leib, oder Teil
desselben, auf alle Weise zu schonen und zu pflegen: denn das Leidende
und Geschwächte ist keiner Abhärtung fähig.

Der Muskel wird durch starken Gebrauch gestärkt; der Nerv hingegen
dadurch geschwächt. Also übe man seine Muskeln durch jede angemessene
Anstrengung, hüte hingegen die Nerven vor jeder; also die Augen vor zu
hellem, besonders reflektirtem Lichte, vor jeder Anstrengung in der
Dämmerung, wie auch vor anhaltendem Betrachten zu kleiner Gegenstände;
ebenso die Ohren vor zu starkem Geräusch; vorzüglich aber das Gehirn
vor gezwungener, zu anhaltender oder unzeitiger Anstrengung: demnach
lasse man es ruhen während der Verdauung; weil dann eben dieselbe
Lebenskraft, welche im Gehirn Gedanken bildet, im Magen und den
Eingeweiden angestrengt arbeitet, Chymus und Chylus zu bereiten;
ebenfalls während, oder auch nach, bedeutender Muskelanstrengung. Denn
es verhält sich mit den motorischen wie mit den sensibeln Nerven, und
wie der Schmerz, den wir in verletzten Gliedern empfinden, seinen
wahren Sitz im Gehirn hat; so sind es auch eigentlich nicht die Beine
und Arme, welche gehn und arbeiten; sondern das Gehirn, nämlich der
Teil desselben, welcher, mittelst des verlängerten und des
Rückenmarks, die Nerven jener Glieder erregt und dadurch diese in
Bewegung setzt. Demgemäß hat auch die Ermüdung, welche wir in den
Beinen oder Armen fühlen, ihren wahren Sitz im Gehirn; weshalb eben
bloß die Muskeln ermüden, deren Bewegung willkürlich ist, d. h. vom
Gehirn ausgeht, hingegen nicht die ohne Willkür arbeitenden, wie das
Herz. Offenbar also wird das Gehirn beeinträchtigt, wenn man ihm
starke Muskeltätigkeit und geistige Anspannung zugleich, oder auch nur
dicht hinter einander abzwingt. Hiemit streitet es nicht, daß man im
Anfang eines Spaziergangs, oder überhaupt auf kurzen Gängen, oft
erhöhte Geistestätigkeit spürt: denn da ist noch kein Ermüden besagter
Gehirnteile eingetreten, und andrerseits befördert eine solche leichte
Muskeltätigkeit und die durch sie vermehrte Respiration das Aufsteigen
des arteriellen, nunmehr auch besser oxydirten Blutes zum Gehirn. --
Besonders aber gebe man dem Gehirn das zu seiner Refektion nötige,
volle Maß des Schlafes; denn der Schlaf ist für den ganzen Menschen,
was das Aufziehn für die Uhr. (Vergl. Welt als Wille und Vorstellung
II, 217. -- 3. Aufl. II, 240.) Dieses Maß wird um so größer sein, je
entwickelter und tätiger das Gehirn ist; es jedoch zu überschreiten
wäre bloßer Zeitverlust, weil dann der Schlaf an Intension verliert,
was er an Extension gewinnt. (Vergl. Welt als Wille und Vorstellung
II, 247. -- 3. Aufl. II, 275.)[O] Überhaupt begreife man wohl, daß
unser Denken nichts anderes ist als die organische Funktion des
Gehirns, und sonach jeder andern organischen Tätigkeit, in Hinsicht
auf Anstrengung und Ruhe, sich analog verhält. Wie übermäßige
Anstrengung die Augen verdirbt, ebenso das Gehirn. Mit Recht ist
gesagt worden: das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut. Der Wahn von
einer immateriellen, einfachen, wesentlich und immer denkenden,
folglich unermüdlichen Seele, die da im Gehirn bloß logirte, und
nichts auf der Welt bedürfte, hat gewiß manchen zu unsinnigem
Verfahren und Abstumpfung seiner Geisteskräfte verleitet; wie denn z.
B. Friedrich der Große einmal versucht hat, sich das Schlafen ganz
abzugewöhnen. Die Philosophieprofessoren würden wohl tun, einen
solchen, sogar praktisch verderblichen Wahn nicht durch ihre
katechismusgerechtseinwollende Rocken-Philosophie zu befördern. -- Man
soll sich gewöhnen, seine Geisteskräfte durchaus als physiologische
Funktionen zu betrachten, um danach sie zu behandeln, zu schonen,
anzustrengen usw., und zu bedenken, daß jedes körperliche Leiden,
Beschwerde, Unordnung, in welchem Teil es auch sei, den Geist
affizirt. Am besten befähigt hiezu *Cabanis*, _des Rapports du
physique et du moral de l'homme_.

  [O] Der Schlaf ist ein Stück *Tod*, welches wir _anticipando_ borgen
  und dafür das durch einen Tag erschöpfte Leben wieder erhalten und
  erneuern. _Le sommeil est un emprunt fait à la mort._ Der Schlaf borgt
  vom Tode zur Aufrechthaltung des Lebens. Oder: er ist der
  *einstweilige Zins* des Todes, welcher selbst die Kapitalabzahlung
  ist. Diese wird um so später eingefordert, je reichlichere Zinsen und
  je regelmäßiger sie gezahlt werden.

Die Vernachlässigung des hier gegebenen Rats ist die Ursache, aus
welcher manche große Geister, wie auch große Gelehrte, im Alter
schwachsinnig, kindisch und selbst wahnsinnig geworden sind. Daß z. B.
die gefeierten englischen Dichter dieses Jahrhunderts, wie *Walter
Scott*, *Wordsworth*, *Southey* u. a. m. im Alter, ja schon in den
sechziger Jahren geistig stumpf und unfähig geworden, ja, zur
Imbezillität herabgesunken sind, ist ohne Zweifel daraus zu erklären,
daß sie sämtlich, vom hohen Honorar verlockt, die Schriftstellerei als
Gewerbe getrieben, also des Geldes wegen geschrieben haben. Dies
verführt zu widernatürlicher Anstrengung, und wer seinen Pegasus ins
Joch spannt und seine Muse mit der Peitsche antreibt, wird es auf
analoge Weise büßen, wie der, welcher der Venus Zwangsdienste
geleistet hat. Ich argwöhne, daß auch *Kant*, in seinen späten Jahren,
nachdem er endlich berühmt geworden war, sich überarbeitet und dadurch
die zweite Kindheit seiner vier letzten Jahre veranlaßt hat. --

Jeder Monat des Jahres hat einen eigentümlichen und unmittelbaren, d.
h. vom Wetter unabhängigen Einfluß auf unsere Gesundheit, unsere
körperlichen Zustände überhaupt, ja, auch auf die geistigen.


C. Unser Verhalten gegen andere betreffend.

21. Um durch die Welt zu kommen, ist es zweckmäßig, einen großen
Vorrat von *Vorsicht* und *Nachsicht* mitzunehmen: durch erstere wird
man vor Schaden und Verlust, durch letztere vor Streit und Händel
geschützt.

Wer unter Menschen zu leben hat, darf keine Individualität, sofern sie
doch einmal von der Natur gesetzt und gegeben ist, unbedingt
verwerfen; auch nicht die schlechteste, erbärmlichste oder
lächerlichste. Er hat sie vielmehr zu nehmen als ein Unabänderliches,
welches, in Folge eines ewigen und metaphysischen Prinzips, so sein
muß, wie es ist, und in den argen Fällen soll er denken: »es muß auch
solche Käuze geben«. Hält er es anders; so tut er Unrecht und fordert
den andern heraus zum Kriege auf Tod und Leben. Denn seine eigentliche
Individualität, d. h. seinen moralischen Charakter, seine
Erkenntniskräfte, sein Temperament, seine Physiognomie usw. kann
keiner ändern. Verdammen wir nun sein Wesen ganz und gar; so bleibt
ihm nichts übrig, als in uns einen Todfeind zu bekämpfen: denn wir
wollen ihm das Recht zu existiren nur unter der Bedingung zugestehn,
daß er ein anderer werde, als er unabänderlich ist. Darum also müssen
wir, um unter Menschen leben zu können, jeden, mit seiner gegebenen
Individualität, wie immer sie auch ausgefallen sein mag, bestehn und
gelten lassen, und dürfen bloß darauf bedacht sein, sie so, wie ihre
Art und Beschaffenheit es zuläßt, zu benutzen; aber weder auf ihre
Änderung hoffen, noch sie, so wie sie ist, schlechthin verdammen[P].
Dies ist der wahre Sinn des Spruches: »leben und leben lassen«. Die
Aufgabe ist indessen nicht so leicht, wie sie gerecht ist, und
glücklich ist zu schätzen, wer gar manche Individualitäten auf immer
meiden darf. -- Inzwischen übe man, um Menschen ertragen zu lernen,
seine Geduld an leblosen Gegenständen, welche, vermöge mechanischer
oder sonst physischer Notwendigkeit, unserm Tun sich hartnäckig
widersetzen; wozu täglich Gelegenheit ist. Die dadurch erlangte Geduld
lernt man nachher auf Menschen übertragen, indem man sich gewöhnt zu
denken, daß auch sie, wo immer sie uns hinderlich sind, dies vermöge
einer ebenso strengen, aus ihrer Natur hervorgehenden Notwendigkeit
sein müssen wie die, mit welcher die leblosen Dinge wirken; daher es
ebenso töricht ist, über ihr Tun sich zu entrüsten, wie über einen
Stein, der uns in den Weg rollt.

  [P] Bei manchem ist am klügsten zu denken: »ändern werde ich ihn
  nicht; also will ich ihn benutzen.«

22. Es ist zum Erstaunen, wie leicht und schnell Homogeneität oder
Heterogeneität des Geistes und Gemüts zwischen Menschen sich im
Gespräche kund gibt: an jeder Kleinigkeit wird sie fühlbar. Betreffe
das Gespräch auch die fremdartigsten, gleichgültigsten Dinge; so wird,
zwischen wesentlich heterogenen, fast jeder Satz des einen dem andern
mehr oder minder mißfallen, mancher gar ihm ärgerlich sein. Homogene
hingegen fühlen sogleich und in allem eine gewisse Übereinstimmung,
die, bei großer Homogeneität, bald zur vollkommenen Harmonie, ja, zum
Unisono zusammenfließt. Hieraus erklärt sich zuvörderst, warum die
ganz Gewöhnlichen so gesellig sind und überall so leicht recht gute
Gesellschaft finden, -- so rechte, liebe, wackere Leute. Bei den
Ungewöhnlichen fällt es umgekehrt aus, und desto mehr, je
ausgezeichneter sie sind; so daß sie, in ihrer Abgesondertheit, zu
Zeiten, sich ordentlich freuen können, in einem andern nur irgend eine
ihnen selbst homogene Fiber herausgefunden zu haben, und wäre sie noch
so klein! Denn jeder kann dem andern nur so viel sein, wie dieser ihm
ist. Die eigentlichen großen Geister horsten, wie die Adler in der
Höhe, allein. -- Zweitens aber wird hieraus verständlich, wie die
Gleichgesinnten sich so schnell zusammenfinden, gleich als ob sie
magnetisch zu einander gezogen würden: -- verwandte Seelen grüßen sich
von ferne. Am häufigsten freilich wird man dies an niedrig Gesinnten
oder schlecht Begabten zu beobachten Gelegenheit haben; aber nur weil
diese legionenweise existiren, die besseren und vorzüglichen Naturen
hingegen die seltenen sind und heißen. Demnach nun werden z. B. in
einer großen, auf praktische Zwecke gerichteten Gemeinschaft zwei
rechte Schurken sich so schnell erkennen, als trügen sie ein
Feldzeichen, und werden alsbald zusammentreten, um Mißbrauch oder
Verrat zu schmieden. Desgleichen, wenn man sich, _per impossibile_,
eine große Gesellschaft von lauter sehr verständigen und geistreichen
Leuten denkt, bis auf zwei Dummköpfe, die auch dabei wären; so werden
diese sich sympathetisch zu einander gezogen fühlen und bald wird
jeder von beiden sich in seinem Herzen freuen, doch wenigstens einen
vernünftigen Mann angetroffen zu haben. Wirklich merkwürdig ist es,
Zeuge davon zu sein, wie zwei, besonders von den moralisch und
intellektuell Zurückstehenden, beim ersten Anblick einander erkennen,
sich eifrig einander zu nähern streben, freundlich und freudig sich
begrüßend, einander entgegeneilen, als wären sie alte Bekannte; -- so
auffallend ist es, daß man versucht wird, der Buddhaistischen
Metempsychosenlehre gemäß, anzunehmen, sie wären schon in einem
früheren Leben befreundet gewesen.

Was jedoch, selbst bei vieler Übereinstimmung, Menschen
auseinanderhält, auch wohl vorübergehende Disharmonie zwischen ihnen
erzeugt, ist die Verschiedenheit der gegenwärtigen Stimmung, als
welche fast immer für jeden eine andere ist, nach Maßgabe seiner
gegenwärtigen Lage, Beschäftigung, Umgebung, körperlichen Zustandes,
augenblicklichen Gedankenganges usw. Daraus entstehn zwischen den
harmonirendsten Persönlichkeiten Dissonanzen. Die zur Aufhebung dieser
Störung erforderliche Korrektion stets vornehmen und eine
gleichschwebende Temperatur einführen zu können, wäre eine Leistung
der höchsten Bildung. Wie viel die Gleichheit der Stimmung für die
gesellige Gemeinschaft leiste, läßt sich daran ermessen, daß sogar
eine zahlreiche Gesellschaft zu lebhafter gegenseitiger Mitteilung und
aufrichtiger Teilnahme, unter allgemeinem Behagen, erregt wird, sobald
irgend etwas Objektives, sei es eine Gefahr oder eine Hoffnung oder
eine Nachricht oder ein seltener Anblick, ein Schauspiel, eine Musik
oder was sonst, auf alle zugleich und gleichartig einwirkt. Denn
dergleichen, indem es alle Privatinteressen überwältigt, erzeugt
universelle Einheit der Stimmung. In Ermangelung einer solchen
objektiven Einwirkung wird in der Regel eine subjektive ergriffen, und
sind demnach die Flaschen das gewöhnliche Mittel, eine gemeinschaftliche
Stimmung in die Gesellschaft zu bringen. Sogar Tee und Kaffee dienen
dieser Absicht.

Eben aber aus jener Disharmonie, welche die Verschiedenheit der
momentanen Stimmung so leicht in alle Gemeinschaft bringt, ist es zum
Teil erklärlich, daß in der von dieser und allen ähnlichen, störenden,
wenn auch vorübergehenden, Einflüssen befreiten Erinnerung sich jeder
idealisirt, ja, bisweilen fast verklärt darstellt. Die Erinnerung
wirkt, wie das Sammlungsglas in der Kamera obskura: sie zieht alles
zusammen und bringt dadurch ein viel schöneres Bild hervor als sein
Original ist. Den Vorteil, so gesehn zu werden, erlangen wir zum Teil
schon durch jede Abwesenheit. Denn obgleich die idealisirende
Erinnerung, bis zur Vollendung ihres Werkes, geraumer Zeit bedarf: so
wird der Anfang desselben doch sogleich gemacht. Dieserwegen ist es
sogar klug, sich seinen Bekannten und guten Freunden nur nach
bedeutenden Zwischenräumen zu zeigen; indem man alsdann beim
Wiedersehen merken wird, daß die Erinnerung schon bei der Arbeit
gewesen ist.

23. Keiner kann *über sich* sehen. Hiemit will ich sagen: jeder sieht
am andern so viel, als er selbst auch ist: denn er kann ihn nur nach
Maßgabe seiner eigenen Intelligenz fassen und verstehn. Ist nun diese
von der niedrigsten Art; so werden alle Geistesgaben, auch die
größten, ihre Wirkung auf ihn verfehlen und er an dem Besitzer
derselben nichts wahrnehmen, als bloß das Niedrigste in dessen
Individualität, also nur dessen sämtliche Schwächen, Temperaments- und
Charakterfehler. Daraus wird er für ihn zusammengesetzt sein. Die
höheren geistigen Fähigkeiten desselben sind für ihn so wenig
vorhanden, wie die Farbe für den Blinden. Denn alle Geister sind dem
unsichtbar, der keinen hat: und jede Wertschätzung ist ein Produkt aus
dem Werte des Geschätzten mit der Erkenntnissphäre des Schätzers.
Hieraus folgt, daß man sich mit jedem, mit dem man spricht, nivellirt,
indem alles, was man vor ihm voraus haben kann, verschwindet und sogar
die dazu erforderte Selbstverleugnung völlig unerkannt bleibt. Erwägt
man nun, wie durchaus niedrig gesinnt und niedrig begabt, also wie
durchaus *gemein* die meisten Menschen sind; so wird man einsehn, daß
es nicht möglich ist, mit ihnen zu reden, ohne, auf solche Zeit, (nach
Analogie der elektrischen Verteilung) selbst *gemein* zu werden, und
dann wird man den eigentlichen Sinn und das Treffende des Ausdrucks
»sich gemein machen« gründlich verstehn, jedoch auch gern jede
Gesellschaft meiden, mit welcher man nur mittelst der _partie
honteuse_ seiner Natur kommuniziren kann. Auch wird man einsehn, daß,
Dummköpfen und Narren gegenüber, es nur *einen* Weg gibt, seinen
Verstand an den Tag zu legen, und der ist, daß man mit ihnen nicht
redet. Aber freilich wird alsdann in der Gesellschaft manchem
bisweilen zu Mute sein wie einem Tänzer, der auf einen Ball gekommen
wäre, wo er lauter Lahme anträfe: mit wem soll er tanzen?

24. *Der* Mensch gewinnt meine Hochachtung, als ein unter hundert
Auserlesener, welcher, wann er auf irgend etwas zu warten hat, also
unbeschäftigt dasitzt, nicht sofort mit dem, was ihm gerade in die
Hände kommt, etwan seinem Stock, oder Messer und Gabel, oder was
sonst, taktmäßig hämmert oder klappert. Wahrscheinlich denkt er an
etwas. Vielen Leuten hingegen sieht man an, daß bei ihnen das Sehn die
Stelle des Denkens ganz eingenommen hat: sie suchen sich durch
Klappern ihrer Existenz bewußt zu werden; wenn nämlich kein Cigarro
bei der Hand ist, der eben diesem Zwecke dient. Aus demselben Grunde
sind sie auch beständig ganz Auge und Ohr für alles, was um sie
vorgeht.

25. *Rochefoucauld* hat treffend bemerkt, daß es schwer ist, jemanden
zugleich hoch zu verehren und sehr zu lieben. Demnach hätten wir die
Wahl, ob wir uns um die Liebe oder um die Verehrung der Menschen
bewerben wollen. Ihre Liebe ist stets eigennützig, wenn auch auf
höchst verschiedene Weise. Zudem ist das, wodurch man sie erwirbt,
nicht immer geeignet, uns darauf stolz zu machen. Hauptsächlich wird
einer in dem Maße beliebt sein, als er seine Ansprüche an Geist und
Herz der andern niedrig stellt, und zwar im Ernst und ohne
Verstellung, auch nicht bloß aus derjenigen Nachsicht, die in der
Verachtung wurzelt. Ruft man sich nun hiebei den sehr wahren Ausspruch
des *Helvetius* zurück: _le degré d'esprit nécessaire pour nous
plaire, est une mesure assez exacte du degré d'esprit que nous avons_;
-- so folgt aus diesen Prämissen die Konklusion. -- Hingegen mit der
Verehrung der Menschen steht es umgekehrt: sie wird ihnen nur wider
ihren Willen abgezwungen, auch, ebendeshalb, meistens verhehlt. Daher
gibt sie uns, im Innern, eine viel größere Befriedigung: sie hängt mit
unserm Werte zusammen; welches von der Liebe der Menschen nicht
unmittelbar gilt: denn diese ist subjektiv, die Verehrung objektiv.
Nützlich ist uns die Liebe freilich mehr.

26. Die meisten Menschen sind so subjektiv, daß im Grunde nichts
Interesse für sie hat, als ganz allein sie selbst. Daher kommt es, daß
sie bei allem, was gesagt wird, sogleich an sich denken und jede
zufällige, noch so entfernte Beziehung auf irgend etwas ihnen
Persönliches ihre ganze Aufmerksamkeit an sich reißt und in Besitz
nimmt; so daß sie für den objektiven Gegenstand der Rede keine
Fassungskraft übrig behalten; wie auch, daß keine Gründe etwas bei
ihnen gelten, sobald ihr Interesse oder ihre Eitelkeit denselben
entgegensteht. Daher sind sie so leicht zerstreut, so leicht verletzt,
beleidigt oder gekränkt, daß man, von was es auch sei, objektiv mit
ihnen redend, nicht genug sich in acht nehmen kann vor irgend welchen
möglichen, vielleicht nachteiligen Beziehungen des Gesagten zu dem
werten und zarten Selbst, das man da vor sich hat: denn ganz allein an
diesem ist ihnen gelegen, sonst an nichts, und während sie für das
Wahre und Treffende, oder Schöne, Feine, Witzige der fremden Rede ohne
Sinn und Gefühl sind, haben sie die zarteste Empfindlichkeit gegen
jedes, was auch nur auf die entfernteste oder indirekteste Weise ihre
kleinliche Eitelkeit verletzen oder irgendwie nachteilig auf ihr
höchst pretioses Selbst reflektiren könnte; so daß sie in ihrer
Verletzbarkeit den kleinen Hunden gleichen, denen man, ohne sich
dessen zu versehen, so leicht auf die Pfote tritt und nun das Gequieke
anzuhören hat; oder auch einem mit Wunden und Beulen bedeckten Kranken
verglichen werden können, bei dem man auf das Behutsamste jede
mögliche Berührung zu vermeiden hat. Bei manchen geht nun aber die
Sache so weit, daß sie Geist und Verstand, im Gespräch mit ihnen an
den Tag gelegt, oder doch nicht genugsam versteckt, geradezu als eine
Beleidigung empfinden, wenngleich sie solche vor der Hand noch
verhehlen; wonach dann aber nachher der Unerfahrene vergeblich darüber
nachsinnt und grübelt, wodurch in aller Welt er sich ihren Groll und
Haß zugezogen haben könne. -- Ebenso leicht sind sie aber auch
geschmeichelt und gewonnen. Daher ist ihr Urteil meistens bestochen
und bloß ein Ausspruch zu Gunsten ihrer Partei oder Klasse; nicht aber
ein objektives und gerechtes. Dies alles beruht darauf, daß in ihnen
der Wille bei Weitem die Erkenntnis überwiegt und ihr geringer
Intellekt ganz im Dienste des Willens steht, von welchem er auch nicht
auf einen Augenblick sich losmachen kann.

Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der
Menschen, infolge welcher sie alles auf sich beziehn und von jedem
Gedanken sogleich in gerader Linie auf sich zurückgehn, liefert die
*Astrologie*, welche den Gang der großen Weltkörper auf das armselige
Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit
den irdischen Händeln und Lumpereien. Dies aber ist zu allen und schon
in den ältesten Zeiten geschehen. (S. z. B. _Stob. Eclog. L. I, c. 22,
9, pag. 478._)

27. Bei jeder Verkehrtheit, die im Publiko, oder in der Gesellschaft,
gesagt, oder in der Literatur geschrieben und wohl aufgenommen,
wenigstens nicht widerlegt wird, soll man nicht verzweifeln und
meinen, daß es nun dabei sein Bewenden haben werde; sondern wissen und
sich getrösten, daß die Sache hinterher und allmälig ruminirt,
beleuchtet, bedacht, erwogen, besprochen und meistens zuletzt richtig
beurteilt wird; so daß, nach einer, der Schwierigkeit derselben
angemessenen Frist, endlich fast alle begreifen, was der klare Kopf
sogleich sah. Unterdessen freilich muß man sich gedulden. Denn ein
Mann von richtiger Einsicht unter den Betörten gleicht dem, dessen Uhr
richtig geht in einer Stadt, deren Turmuhren alle falsch gestellt
sind. Er allein weiß die wahre Zeit: aber was hilft es ihm? alle Welt
richtet sich nach den falsch zeigenden Stadtuhren; sogar auch die,
welche wissen, daß seine Uhr allein die wahre Zeit angibt.

28. Die Menschen gleichen darin den Kindern, daß sie unartig werden,
wenn man sie verzieht; daher man gegen keinen zu nachgiebig und
liebreich sein darf. Wie man in der Regel keinen Freund dadurch
verlieren wird, daß man ihm ein Darlehn abschlägt, aber sehr leicht
dadurch, daß man es ihm gibt; ebenso, nicht leicht einen durch stolzes
und etwas vernachlässigendes Betragen; aber oft infolge zu vieler
Freundlichkeit und Zuvorkommens, als welche ihn arrogant und
unerträglich machen, wodurch der Bruch herbeigeführt wird. Besonders
aber den Gedanken, daß man ihrer benötigt sei, können die Menschen
schlechterdings nicht vertragen; Übermut und Anmaßung sind sein
unzertrennliches Gefolge. Bei einigen entsteht er, in gewissem Grade,
schon dadurch, daß man sich mit ihnen abgibt, etwan oft, oder auf eine
vertrauliche Weise mit ihnen spricht: alsbald werden sie meinen, man
müsse sich von ihnen auch etwas gefallen lassen, und werden versuchen,
die Schranken der Höflichkeit zu erweitern. Daher taugen so wenige zum
irgend vertrauteren Umgang, und soll man sich besonders hüten, sich
nicht mit niedrigen Naturen gemein zu machen. Faßt nun aber gar einer
den Gedanken, er sei mir viel nötiger als ich ihm; da ist es ihm
sogleich, als hätte ich ihm etwas gestohlen: er wird suchen, sich zu
rächen und es wiederzuerlangen. *Überlegenheit* im Umgang erwächst
allein daraus, daß man der andern in keiner Art und Weise bedarf, und
dies sehn läßt. Dieserwegen ist es ratsam, jedem, es sei Mann oder
Weib, von Zeit zu Zeit fühlbar zu machen, daß man seiner sehr wohl
entraten könne: das befestigt die Freundschaft; ja, bei den meisten
Leuten kann es nicht schaden, wenn man ein Gran Geringschätzung gegen
sie, dann und wann, mit einfließen läßt: sie legen desto mehr Wert auf
unsere Freundschaft: _chi non istima vien stimato_ (wer nicht achtet
wird geachtet) sagt ein feines italienisches Sprichwort. Ist aber
einer uns wirklich sehr viel wert; so müssen wir dies vor ihm
verhehlen, als wäre es ein Verbrechen. Das ist nun eben nicht
erfreulich; dafür aber wahr. Kaum daß Hunde die große Freundlichkeit
vertragen, geschweige Menschen.

29. Daß Leute edlerer Art und höherer Begabung so oft, zumal in der
Jugend, auffallenden Mangel an Menschenkenntnis und Weltklugheit
verraten, daher leicht betrogen oder sonst irre geführt werden,
während die niedrigen Naturen sich viel schneller und besser in die
Welt zu finden wissen, liegt daran, daß man, beim Mangel der
Erfahrung, _a priori_ zu urteilen hat, und daß überhaupt keine
Erfahrung es dem _a priori_ gleichtut. Dies _a priori_ nämlich gibt
denen vom gewöhnlichen Schlage das eigene Selbst an die Hand, den
Edelen und Vorzüglichen aber nicht: denn eben als solche sind sie von
den andern weit verschieden. Indem sie daher deren Denken und Tun nach
dem ihrigen berechnen, trifft die Rechnung nicht zu.

Wenn nun aber auch ein Solcher _a posteriori_, also aus fremder
Belehrung und eigener Erfahrung, endlich gelernt hat, was von den
Menschen, im Ganzen genommen, zu erwarten steht, daß nämlich etwa 5/6
derselben, in moralischer oder intellektueller Hinsicht, so beschaffen
sind, daß, wer nicht durch die Umstände in Verbindung mit ihnen
gesetzt ist, besser tut, sie vorweg zu meiden und, soweit es angeht,
außer allem Kontakt mit ihnen zu bleiben; -- so wird er dennoch von
ihrer Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit kaum jemals einen
*ausreichenden* Begriff erlangen, sondern immerfort, so lange er lebt,
denselben noch zu erweitern und zu vervollständigen haben, unterdessen
aber sich gar oft zu seinem Schaden verrechnen. Und dann wieder,
nachdem er die erhaltene Belehrung wirklich beherzigt hat, wird es ihm
dennoch zu Zeiten begegnen, daß er, in eine Gesellschaft ihm noch
unbekannter Menschen geratend, sich zu wundern hat, wie sie doch
sämtlich, ihren Reden und Mienen nach, ganz vernünftig, redlich,
aufrichtig, ehrenfest und tugendsam, dabei auch wohl noch gescheut und
geistreich erscheinen. Dies sollte ihn jedoch nicht irren: denn es
kommt bloß daher, daß die Natur es nicht macht wie die schlechten
Poeten, welche, wann sie Schurken oder Narren darstellen, so plump und
absichtsvoll dabei zu Werke gehn, daß man gleichsam hinter jeder
solcher Person den Dichter stehn sieht, der ihre Gesinnung und Rede
fortwährend desavouirt und mit warnender Stimme ruft: »dies ist ein
Schurke, dies ist ein Narr; gebt nichts auf das, was er sagt.« Die
Natur hingegen macht es wie Shakespeare und Goethe, in deren Werken
jede Person, und wäre sie der Teufel selbst, während sie dasteht und
redet, Recht behält; weil sie so objektiv aufgefaßt ist, daß wir in
ihr Interesse gezogen und zur Teilnahme an ihr gezwungen werden: denn
sie ist, eben wie die Werke der Natur, aus einem innern Prinzip
entwickelt, vermöge dessen ihr Sagen und Tun als natürlich, mithin als
notwendig auftritt. -- Also, wer erwartet, daß in der Welt die Teufel
mit Hörnern und die Narren mit Schellen einhergehn, wird stets ihre
Beute oder ihr Spiel sein. Hiezu kommt aber noch, daß im Umgange die
Leute es machen, wie der Mond und die Bucklichten, nämlich stets nur
eine Seite zeigen, und sogar jeder ein angeborenes Talent hat, auf
mimischem Wege seine Physiognomie zu einer Maske umzuarbeiten, welche
genau darstellt, was er eigentlich sein *sollte*, und die, weil sie
ausschließlich auf seine Individualität berechnet ist, ihm so genau
anliegt und anpaßt, daß die Wirkung überaus täuschend ausfällt. Er
legt sie an, so oft es darauf ankommt, sich einzuschmeicheln. Man soll
auf dieselbe so viel geben, als wäre sie aus Wachstuch, eingedenk des
vortrefflichen italiänischen Sprichworts: _non è sì tristo cane, che
non meni la coda_ (so böse ist kein Hund, daß er nicht mit dem
Schwanze wedelte).

Jedenfalls soll man sich sorgfältig hüten, von irgend einem Menschen
neuer Bekanntschaft eine sehr günstige Meinung zu fassen; sonst wird
man, in den allermeisten Fällen, zu eigener Beschämung oder gar
Schaden, enttäuscht werden. -- Hiebei verdient auch dies
berücksichtigt zu werden: Gerade in Kleinigkeiten, als bei welchen der
Mensch sich nicht zusammennimmt, zeigt er seinen Charakter, und da
kann man oft, an geringfügigen Handlungen, an bloßen Manieren, den
grenzenlosen, nicht die mindeste Rücksicht auf andere kennenden
Egoismus bequem beobachten, der sich nachher im Großen nicht
verleugnet, wiewohl verlarvt. Und man versäume solche Gelegenheit
nicht. Wenn einer in den kleinen täglichen Vorgängen und Verhältnissen
des Lebens, in den Dingen, von welchen das _de minimis lex non curat_
gilt, rücksichtslos verfährt, bloß seinen Vorteil oder seine
Bequemlichkeit, zum Nachteil anderer, sucht; wenn er sich aneignet,
was für alle da ist usw.; da sei man überzeugt, daß in seinem Herzen
keine Gerechtigkeit wohnt, sondern er auch im Großen ein Schuft sein
wird, sobald das Gesetz und die Gewalt ihm nicht die Hände binden, und
traue ihm nicht über die Schwelle. Ja, wer ohne Scheu die Gesetze
seines Klubs bricht, wird auch die des Staates brechen, sobald er es
ohne Gefahr kann[Q].

  [Q] Wenn in den Menschen, wie sie meistenteils sind, das Gute das
  Schlechte überwöge, so wäre es geratener, sich auf ihre Gerechtigkeit,
  Billigkeit, Dankbarkeit, Treue, Liebe oder Mitleid zu verlassen, als
  auf ihre Furcht: weil es aber mit ihnen umgekehrt steht, so ist das
  Umgekehrte geratener.

Hat nun einer, mit dem wir in Verbindung oder Umgang stehn, uns etwas
Unangenehmes oder Ärgerliches erzeigt; so haben wir uns nur zu fragen,
ob er uns so viel wert sei, daß wir das Nämliche, auch noch etwas
verstärkt, uns nochmals und öfter von ihm wollen gefallen lassen;
-- oder nicht. (Vergeben und Vergessen heißt gemachte kostbare
Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen.) Im bejahenden Fall wird nicht
viel darüber zu sagen sein, weil das Reden wenig hilft: wir müssen
also die Sache, mit oder ohne Ermahnung, hingehn lassen, sollen jedoch
wissen, daß wir hiedurch sie uns nochmals ausgebeten haben. Im
verneinenden Falle hingegen haben wir sogleich und auf immer mit dem
werten Freunde zu brechen, oder, wenn es ein Diener ist, ihn
abzuschaffen. Denn unausbleiblich wird er, vorkommenden Falls, ganz
dasselbe, oder das völlig Analoge, wieder tun, auch wenn er uns jetzt
das Gegenteil hoch und aufrichtig beteuert. Alles, alles kann einer
vergessen, nur nicht sich selbst, sein eigenes Wesen. Denn der
Charakter ist schlechthin inkorrigibel; weil alle Handlungen des
Menschen aus einem innern Prinzip fließen, vermöge dessen er, unter
gleichen Umständen, stets das gleiche tun muß und nicht anders kann.
Man lese meine Preisschrift über die sogenannte Freiheit des Willens
und befreie sich vom Wahn. Daher auch ist, sich mit einem Freunde, mit
dem man gebrochen hatte, wieder auszusöhnen, eine Schwäche, die man
abbüßt, wann derselbe, bei erster Gelegenheit, gerade und genau
dasselbe wieder tut, was den Bruch herbeigeführt hatte; ja, mit noch
mehr Dreistigkeit, im stillen Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit. Das
Gleiche gilt von abgeschafften Dienern, die man wiedernimmt.
Ebensowenig, und aus demselben Grunde, dürfen wir erwarten, daß einer,
unter *veränderten* Umständen, das Gleiche, wie vorher, tun werde.
Vielmehr ändern die Menschen Gesinnung und Betragen ebenso schnell,
wie ihr Interesse sich ändert; ja, ihre Absichtlichkeit zieht ihre
Wechsel auf so kurze Sicht, daß man selbst noch kurzsichtiger sein
müßte, um sie nicht protestiren zu lassen.

Gesetzt demnach, wir wollten etwan wissen, wie einer, in einer Lage,
in die wir ihn zu versetzen gedenken, handeln wird; so dürfen wir
hierüber nicht auf seine Versprechungen und Beteuerungen bauen. Denn,
gesetzt auch, er spräche aufrichtig; so spricht er von einer Sache,
die er nicht kennt. Wir müssen also allein aus der Erwägung der
Umstände, in die er zu treten hat, und des Konfliktes derselben mit
seinem Charakter, sein Handeln berechnen.

Um überhaupt von der wahren und sehr traurigen Beschaffenheit der
Menschen, wie sie meistens sind, das so nötige, deutliche und
gründliche Verständnis zu erlangen, ist es überaus lehrreich, das
Treiben und Benehmen derselben in der Literatur als Kommentar ihres
Treibens und Benehmens im praktischen Leben zu gebrauchen, und _vice
versa_. Dies ist sehr dienlich, um weder an sich, noch an ihnen irre
zu werden. Dabei aber darf kein Zug von besonderer Niederträchtigkeit
oder Dummheit, der uns im Leben oder in der Literatur aufstößt, uns je
ein Stoff zum Verdruß und Ärger, sondern bloß zur Erkenntnis werden,
indem wir in ihm einen neuen Beitrag zur Charakteristik des
Menschengeschlechts sehn und demnach ihn uns merken. Alsdann werden
wir ihn ungefähr so betrachten, wie der Mineralog ein ihm
aufgestoßenes, sehr charakteristisches Spezimen eines Minerals. --
Ausnahmen gibt es, ja, unbegreiflich große, und die Unterschiede der
Individualitäten sind enorm: aber, im Ganzen genommen, liegt, wie
längst gesagt ist, die Welt im argen: die Wilden fressen einander und
die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt. Was
sind denn die Staaten, mit aller ihrer künstlichen, nach außen und
nach innen gerichteten Maschinerie und ihren Gewaltmitteln anderes,
als Vorkehrungen, der grenzenlosen Ungerechtigkeit der Menschen
Schranken zu setzen? Sehn wir nicht, in der ganzen Geschichte, jeden
König, sobald er fest steht, und sein Land einiger Prosperität
genießt, diese benutzen, um mit seinem Heer, wie mit einer
Räuberschar, über die Nachbarstaaten herzufallen? Sind nicht fast alle
Kriege im Grunde Raubzüge? Im frühen Altertum, wie auch zum Teil im
Mittelalter, wurden die Besiegten Sklaven der Sieger, d. h. im Grunde,
sie mußten für diese arbeiten: dasselbe aber müssen die, welche
Kriegskontributionen zahlen: sie geben nämlich den Ertrag früherer
Arbeit hin. _Dans toutes les guerres il ne s'agit que de voler_, sagt
Voltaire, und die Deutschen sollen es sich gesagt sein lassen.

30. Kein Charakter ist so, daß er sich selbst überlassen bleiben und
sich ganz und gar gehn lassen dürfte; sondern jeder bedarf der Lenkung
durch Begriffe und Maximen. Will man nun aber es hierin weit bringen,
nämlich bis zu einem nicht aus unsrer angeborenen Natur, sondern bloß
aus vernünftiger Überlegung hervorgegangenen, ganz eigentlich
erworbenen und künstlichen Charakter; so wird man gar bald das

    _Naturam expelles furca, tamen usque recurret_

bestätigt finden. Man kann nämlich eine Regel für das Betragen gegen
andere sehr wohl einsehn, ja, sie selbst auffinden und treffend
ausdrücken, und wird dennoch, im wirklichen Leben, gleich darauf,
gegen sie verstoßen. Jedoch soll man nicht sich dadurch entmutigen
lassen und denken, es sei unmöglich, im Weltleben sein Benehmen nach
abstrakten Regeln und Maximen zu leiten, und daher am besten, sich
eben nur gehn zu lassen. Sondern es ist damit, wie mit allen
theoretischen Vorschriften und Anweisungen für das Praktische: die
Regel verstehn ist das erste, sie ausüben lernen ist das zweite. Jenes
wird durch Vernunft auf einmal, dieses durch Übung allmälig gewonnen.
Man zeigt dem Schüler die Griffe auf dem Instrument, die Paraden und
Stöße mit dem Rapier: er fehlt sogleich, trotz dem besten Vorsatze,
dagegen, und meint nun, sie in der Schnelle des Notenlesens und der
Hitze des Kampfes zu beobachten, sei schier unmöglich. Dennoch lernt
er es allmälig, durch Übung, unter Straucheln, Fallen und Aufstehn.
Ebenso geht es mit den Regeln der Grammatik im lateinisch Schreiben
und Sprechen. Nicht anders also wird der Tölpel zum Hofmann, der
Hitzkopf zum feinen Weltmann, der Offene verschlossen, der Edle
ironisch. Jedoch wird eine solche, durch lange Gewohnheit erlangte
Selbstdressur stets als ein von außen gekommener Zwang wirken, welchem
zu widerstreben die Natur nie ganz aufhört und bisweilen unerwartet
ihn durchbricht. Denn alles Handeln nach abstrakten Maximen verhält
sich zum Handeln aus ursprünglicher, angeborener Neigung, wie ein
menschliches Kunstwerk, etwan eine Uhr, wo Form und Bewegung dem ihnen
fremden Stoffe aufgezwungen sind, zum lebenden Organismus, bei welchem
Form und Stoff von einander durchdrungen und eins sind. An diesem
Verhältnis des erworbenen zum angeborenen Charakter bestätigt sich
demnach ein Ausspruch des Kaisers Napoleon: _tout ce qui n'est pas
naturel est imparfait_; welcher überhaupt eine Regel ist, die von
allem und jedem, sei es physisch oder moralisch, gilt, und von der die
einzige, mir einfallende Ausnahme das, den Mineralogen bekannte,
natürliche Aventurino ist, welches dem künstlichen nicht gleichkommt.

Darum sei hier auch vor aller und jeder *Affektation* gewarnt. Sie
erweckt allemal Geringschätzung: erstlich als Betrug, der als solcher
feige ist, weil er auf Furcht beruht; zweitens als Verdammungsurteil
seiner selbst durch sich selbst, indem man scheinen will, was man
nicht ist, und was man folglich für besser hält, als was man ist. Das
Affektiren irgend einer Eigenschaft, das Sich-Brüsten damit, ist ein
Selbstgeständnis, daß man sie nicht hat. Sei es Mut oder Gelehrsamkeit
oder Geist oder Witz oder Glück bei Weibern oder Reichtum oder
vornehmer Stand, oder was sonst, womit einer groß tut; so kann man
daraus schließen, daß es ihm gerade daran in etwas gebricht: denn wer
wirklich eine Eigenschaft vollkommen besitzt, dem fällt es nicht ein,
sie herauszulegen und zu affektiren, sondern er ist darüber ganz
beruhigt. Dies ist auch der Sinn des spanischen Sprichworts:
_herradura que chacolotea clavo le falta_ (dem klappernden Hufeisen
fehlt ein Nagel). Allerdings darf, wie anfangs gesagt, keiner sich
unbedingt den Zügel schießen lassen und sich ganz zeigen, wie er ist;
weil das viele Schlechte und Bestialische unserer Natur der Verhüllung
bedarf: aber dies rechtfertigt bloß das Negative, die Dissimulation,
nicht das Positive, die Simulation. -- Auch soll man wissen, daß das
Affektiren erkannt wird, selbst ehe klar geworden, was eigentlich
einer affektirt. Und endlich hält es auf die Länge nicht Stich,
sondern die Maske fällt einmal ab. _Nemo potest personam diu ferre
fictam. Ficta cito in naturam suam recidunt._ (_Seneca de Clementia,
L. I, c. 1._)

31. Wie man das Gewicht seines eigenen Körpers trägt, ohne es, wie
doch das jedes fremden, den man bewegen will, zu fühlen; so bemerkt
man nicht die eigenen Fehler und Laster, sondern nur die der andern.
-- Dafür aber hat jeder am andern einen Spiegel, in welchem er seine
eigenen Laster, Fehler, Unarten und Widerlichkeiten jeder Art deutlich
erblickt. Allein meistens verhält er sich dabei wie der Hund, welcher
gegen den Spiegel bellt, weil er nicht weiß, daß er sich selbst sieht,
sondern meint, es sei ein anderer Hund. Wer andre bekrittelt, arbeitet
an seiner Selbstbesserung. Also die, welche die Neigung und Gewohnheit
haben, das äußerliche Benehmen, überhaupt das Tun und Lassen der
andern im Stillen, bei sich selbst, einer aufmerksamen und *scharfen
Kritik* zu unterwerfen, arbeiten dadurch an ihrer eigenen Besserung
und Vervollkommnung: denn sie werden entweder Gerechtigkeit, oder doch
Stolz und Eitelkeit genug besitzen, selbst zu vermeiden, was sie so
oft strenge tadeln. Von den Toleranten gilt das Umgekehrte: nämlich
_hanc veniam damus petimusque vicissim_. Das Evangelium moralisirt
recht schön über den Splitter im fremden, den Balken im eigenen Auge:
aber die Natur des Auges bringt es mit sich, daß es nach außen und
nicht sich selbst sieht: daher ist, zum Innewerden der eigenen Fehler,
das Bemerken und Tadeln derselben an andern ein sehr geeignetes
Mittel. Zu unserer Besserung bedürfen wir eines Spiegels.

Auch hinsichtlich auf Stil und Schreibart gilt diese Regel: wer eine
neue Narrheit in diesen bewundert, statt sie zu tadeln, wird sie
nachahmen. Daher greift in Deutschland jede so schnell um sich. Die
Deutschen sind sehr tolerant: man merkt's. _Hanc veniam damus
petimusque vicissim_ ist ihr Wahlspruch.

32. Der Mensch edlerer Art glaubt, in seiner Jugend, die wesentlichen
und entscheidenden Verhältnisse und daraus entstehenden Verbindungen
zwischen Menschen seien die *ideellen*, d. h. die auf Ähnlichkeit der
Gesinnung, der Denkungsart, des Geschmacks, der Geisteskräfte usw.
beruhenden: allein er wird später inne, daß es die *reellen* sind, d.
h. die, welche sich auf irgend ein materielles Interesse stützen.
Diese liegen fast allen Verbindungen zum Grunde: sogar hat die
Mehrzahl der Menschen keinen Begriff von andern Verhältnissen.
Demzufolge wird jeder genommen nach seinem Amt, oder Geschäft, oder
Nation, oder Familie, also überhaupt nach der Stellung und Rolle,
welche die Konvention ihm erteilt hat: dieser gemäß wird er sortirt
und fabrikmäßig behandelt. Hingegen was er an und für sich, also als
Mensch, vermöge seiner persönlichen Eigenschaften sei, kommt nur
beliebig und daher nur ausnahmsweise zur Sprache, und wird von jedem,
sobald es ihm bequem ist, also meistenteils, beiseite gesetzt und
ignorirt. Je mehr nun aber es mit diesem auf sich hat, desto weniger
wird ihm jene Anordnung gefallen, er also sich ihrem Bereich zu
entziehn suchen. Sie beruht jedoch darauf, daß, in dieser Welt der Not
und des Bedürfnisses, die Mittel, diesen zu begegnen, überall das
Wesentliche, mithin Vorherrschende sind.

33. Wie Papiergeld statt des Silbers, so kursiren in der Welt, statt
der wahren Achtung und der wahren Freundschaft, die äußerlichen
Demonstrationen und möglichst natürlich mimisirten Gebärden derselben.
Indessen läßt sich andrerseits auch fragen, ob es denn Leute gebe,
welche jene wirklich verdienten. Jedenfalls gebe ich mehr auf das
Schwanzwedeln eines ehrlichen Hundes, als auf hundert solche
Demonstrationen und Gebärden.

Wahre, echte Freundschaft setzt eine starke, rein objektive und völlig
uninteressirte Teilnahme am Wohl und Wehe des andern voraus, und diese
wieder ein wirkliches Sich mit dem Freunde identifiziren. Dem steht
der Egoismus der menschlichen Natur so sehr entgegen, daß wahre
Freundschaft zu den Dingen gehört, von denen man, wie von den
kolossalen Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft sind, oder
irgendwo existiren. Indessen gibt es mancherlei, in der Hauptsache
freilich auf versteckten egoistischen Motiven der mannigfaltigsten Art
beruhende Verbindungen zwischen Menschen, welche dennoch mit einem
Gran jener wahren und echten Freundschaft versetzt sind, wodurch sie
so veredelt werden, daß sie, in dieser Welt der Unvollkommenheiten,
mit einigem Fug den Namen der Freundschaft führen dürfen. Sie stehn
hoch über den alltäglichen Liaisons, welche vielmehr so sind, daß wir
mit den meisten unserer guten Bekannten kein Wort mehr reden würden,
wenn wir hörten, wie sie in unsrer Abwesenheit von uns reden.

Die Echtheit eines Freundes zu erproben, hat man, nächst den Fällen,
wo man ernstlicher Hilfe und bedeutender Opfer bedarf, die beste
Gelegenheit in dem Augenblick, da man ihm ein Unglück, davon man
soeben getroffen worden, berichtet. Alsdann nämlich malt sich in
seinen Zügen entweder wahre, innige, unvermischte Betrübnis; oder aber
sie bestätigen, durch ihre gefaßte Ruhe, oder einen flüchtigen
Nebenzug, den bekannten Ausspruch des *Rochefoucauld*: _dans
l'adversité de nos meilleurs amis, nous trouvons toujours quelque
chose qui ne nous déplait pas_. Die gewöhnlichen sogenannten Freunde
vermögen, bei solchen Gelegenheiten, oft kaum das Zucken zu einem
leisen, wohlgefälligen Lächeln zu unterdrücken. -- Es gibt wenig
Dinge, welche so sicher die Leute in gute Laune versetzen, wie wenn
man ihnen ein beträchtliches Unglück, davon man kürzlich getroffen
worden, erzählt, oder auch irgend eine persönliche Schwäche ihnen
unverhohlen offenbart. -- Charakteristisch! --

Entfernung und lange Abwesenheit tun jeder Freundschaft Eintrag; so
ungern man es gesteht. Denn Menschen, die wir nicht sehn, wären sie
auch unsere geliebtesten Freunde, trocknen, im Laufe der Jahre,
allmählich zu abstrakten Begriffen aus, wodurch unsere Teilnahme an
ihnen mehr und mehr eine bloß vernünftige, ja traditionelle wird: die
lebhafte und tiefgefühlte bleibt denen vorbehalten, die wir vor Augen
haben, und wären es auch nur geliebte Tiere. So sinnlich ist die
menschliche Natur. Also bewährt sich auch hier Goethes Ausspruch:

    »Die Gegenwart ist eine mächt'ge Göttin.«

    (Tasso, Aufzug 4, Auftr. 4.)

Die *Hausfreunde* heißen meistens mit Recht so, indem sie mehr die
Freunde des Hauses, als des Herrn, also den Katzen ähnlicher als den
Hunden, sind.

Die Freunde nennen sich aufrichtig; die Feinde sind es: daher man
ihren Tadel zur Selbsterkenntnis benutzen sollte, als eine bittre
Arznei. --

Freunde in der Not wären selten? -- Im Gegenteil! Kaum hat man mit
einem Freundschaft gemacht; so ist er auch schon in der Not und will
Geld geliehen haben. --

34. Was für ein Neuling ist doch der, welcher wähnt, Geist und
Verstand zu zeigen wäre ein Mittel, sich in Gesellschaft beliebt zu
machen! Vielmehr erregen sie, bei der unberechenbar überwiegenden
Mehrzahl, einen Haß und Groll, der um so bitterer ist, als der ihn
Fühlende die Ursache desselben anzuklagen nicht berechtigt ist, ja,
sie vor sich selbst verhehlt. Der nähere Hergang ist dieser: merkt und
empfindet einer große geistige Überlegenheit an dem, mit welchem er
redet, so macht er, im stillen und ohne deutliches Bewußtsein, den
Schluß, daß in gleichem Maße der andere seine Inferiorität und
Beschränktheit merkt und empfindet. Dieses Enthymem erregt seinen
bittersten Haß, Groll und Ingrimm. (Vergl. Welt als Wille und
Vorstell., 3. Aufl., Bd. II, 256 die angeführten Worte des Dr.
*Johnsons* und *Mercks*, des Jugendfreundes Goethes.) Mit Recht sagt
daher *Gracian*: »_para ser bien quisto, el unico medio vestirse la
piel del mas simple de los brutos_.« (S. _Oraculo manual, y arte de
prudencia, 240. [Obras, Amberes 1702, P. II, p. 287.]_) Ist doch Geist
und Verstand an den Tag legen, nur eine indirekte Art, allen andern
ihre Unfähigkeit und Stumpfsinn vorzuwerfen. Zudem gerät die gemeine
Natur in Aufruhr, wenn sie ihr Gegenteil ansichtig wird, und der
geheime Anstifter des Aufruhrs ist der Neid. Denn die Befriedigung
ihrer Eitelkeit ist, wie man täglich sehn kann, ein Genuß, der den
Leuten über alles geht, der jedoch allein mittelst der Vergleichung
ihrer selbst mit andern möglich ist. Auf keine Vorzüge aber ist der
Mensch so stolz, wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein
Vorrang vor den Tieren[R]. Ihm entschiedene Überlegenheit in dieser
Hinsicht vorzuhalten, und noch dazu vor Zeugen, ist daher die größte
Verwegenheit. Er fühlt sich dadurch zur Rache aufgefordert und wird
meistens Gelegenheit suchen, diese auf dem Wege der Beleidigung
auszuführen, als wodurch er vom Gebiete der Intelligenz auf das des
Willens tritt, auf welchem wir, in dieser Hinsicht, alle gleich sind.
Während daher in der Gesellschaft Stand und Reichtum stets auf
Hochachtung rechnen dürfen, haben geistige Vorzüge solche keineswegs
zu erwarten: im günstigsten Fall werden sie ignorirt, sonst aber
angesehn als eine Art Impertinenz, oder als etwas, wozu ihr Besitzer
unerlaubter Weise gekommen ist und nun sich untersteht damit zu
stolziren; wofür ihm also irgend eine anderweitige Demütigung
angedeihen zu lassen jeder im stillen beabsichtigt und nur auf die
Gelegenheit dazu paßt. Kaum wird es dem demütigsten Betragen gelingen,
Verzeihung für geistige Überlegenheit zu erbetteln. Sadi sagt im
Gulistan (S. 146 der Übersetzung von Graf): »Man wisse, daß sich bei
dem Unverständigen hundertmal mehr Widerwillen gegen den Verständigen
findet, als der Verständige Abneigung gegen den Unverständigen
empfindet.« -- Hingegen gereicht geistige *Inferiorität* zur wahren
Empfehlung. Denn was für den Leib die Wärme, das ist für den Geist das
wohltuende Gefühl der Überlegenheit; daher jeder, so instinktmäßig wie
dem Ofen, oder dem Sonnenschein, sich dem Gegenstande nähert, der es
ihm verheißt. Ein solcher nun ist allein der entschieden tiefer
Stehende, an Eigenschaften des Geistes, bei Männern, an Schönheit, bei
Weibern. Manchen Leuten gegenüber freilich unverstellte Inferiorität
zu beweisen -- da gehört etwas dazu. Dagegen sehe man, mit welcher
herzlichen Freundlichkeit ein erträgliches Mädchen einem
grundhäßlichen entgegenkommt. Körperliche Vorzüge kommen bei Männern
nicht sehr in Betracht; wiewohl man sich doch behaglicher neben einem
kleineren, als neben einem größeren fühlt. Demzufolge also sind, unter
Männern, die dummen und unwissenden, unter Weibern die häßlichen
allgemein beliebt und gesucht: sie erlangen leicht den Ruf eines
überaus guten Herzens; weil jedes für seine Zuneigung, vor sich selbst
und vor andern, eines Vorwandes bedarf. Eben deshalb ist
Geistesüberlegenheit jeder Art eine sehr isolirende Eigenschaft: sie
wird geflohen und gehaßt, und als Vorwand hiezu werden ihrem Besitzer
allerhand Fehler angedichtet[S]. Gerade so wirkt unter Weibern die
Schönheit: sehr schöne Mädchen finden keine Freundin, ja, keine
Begleiterin. Zu Stellen als Gesellschafterinnen tun sie besser sich
gar nicht zu melden: denn schon bei ihrem Vortritt verfinstert sich
das Gesicht der gehofften neuen Gebieterin, als welche, sei es für
sich, oder für ihre Töchter, einer solchen Folie keineswegs bedarf. --
Hingegen verhält es sich umgekehrt mit den Vorzügen des Ranges; weil
diese nicht, wie die persönlichen, durch den Kontrast und Abstand,
sondern, wie die Farben der Umgebung auf das Gesicht, durch den Reflex
wirken.

  [R] Den *Willen*, kann man sagen, hat der Mensch sich selbst gegeben,
  denn der *ist* er selbst; aber der *Intellekt* ist eine Ausstattung,
  die er vom Himmel erhalten hat, -- d. h. vom ewigen, geheimnisvollen
  Schicksal und dessen Notwendigkeit, deren bloßes Werkzeug seine Mutter
  war.

  [S] Zum *Vorwärtskommen in der Welt* sind Freundschaften und
  Kamaraderien bei weitem das Hauptmittel. Nun aber *große Fähigkeiten*
  machen allemal stolz und dadurch wenig geeignet, denen zu schmeicheln,
  die nur geringe haben, ja, vor denen man deshalb die großen verhehlen
  und verleugnen soll. Entgegengesetzt wirkt das Bewußtsein nur geringer
  Fähigkeiten: es verträgt sich vortrefflich mit der Demut,
  Leutseligkeit, Gefälligkeit und Respekt vor dem Schlechten, verschafft
  also Freunde und Gönner.

  Das Gesagte gilt nicht bloß vom Staatsdienst, sondern auch von den
  Ehrenstellen, Würden, ja, dem Ruhm in der gelehrten Welt; so daß z. B.
  in den Akademien die liebe Mediokrität stets oben auf ist, Leute von
  Verdienst spät oder nie hineinkommen, und so bei allem.

35. An unserm Zutrauen zu andern haben sehr oft Trägheit, Selbstsucht
und Eitelkeit den größten Anteil: Trägheit, wenn wir, um nicht selbst
zu untersuchen, zu wachen, zu tun, lieber einem andern trauen;
Selbstsucht, wenn das Bedürfnis von unsern Angelegenheiten zu reden
uns verleitet, ihm etwas anzuvertrauen; Eitelkeit, wenn es zu dem
gehört, worauf wir uns etwas zu Gute tun. Nichtsdestoweniger verlangen
wir, daß man unser Zutrauen ehre.

Über Mißtrauen hingegen sollten wir uns nicht erzürnen: denn in
demselben liegt ein Kompliment für die Redlichkeit, nämlich das
aufrichtige Bekenntnis ihrer großen Seltenheit, infolge welcher sie zu
den Dingen gehört, an deren Existenz man zweifelt.

36. Von der *Höflichkeit*, dieser chinesischen Kardinaltugend, habe
ich den *einen* Grund angegeben in meiner *Ethik* S. 201 (2. Aufl.
198): der andere liegt in Folgendem. Sie ist eine stillschweigende
Übereinkunft, gegenseitig die moralisch und intellektuell elende
Beschaffenheit von einander zu ignoriren und sie sich nicht
vorzurücken; -- wodurch diese, zu beiderseitigem Vorteil, etwas
weniger leicht zutage kommt.

Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist Unhöflichkeit Dummheit: sich
mittelst ihrer unnötiger und mutwilliger Weise Feinde machen ist
Raserei, wie wenn man sein Haus in Brand steckt. Denn Höflichkeit ist,
wie die Rechenpfennige, eine offenkundig falsche Münze: mit einer
solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand; hingegen Freigebigkeit
mit ihr Verstand. Alle Nationen schließen den Brief mit _votre
très-humble serviteur, -- your most obedient servant, -- suo
devotissimo servo_: bloß die Deutschen halten mit dem »Diener« zurück,
-- weil es ja doch nicht wahr sei --! Wer hingegen die Höflichkeit bis
zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke
statt Rechenpfennige gäbe. -- Wie das Wachs, von Natur hart und
spröde, durch ein wenig Wärme so geschmeidig wird, daß es jede
beliebige Gestalt annimmt; so kann man selbst störrische und
feindselige Menschen, durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit,
biegsam und gefällig machen. Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen,
was die Wärme dem Wachs.

Eine schwere Aufgabe ist freilich die Höflichkeit insofern, als sie
verlangt, daß wir allen Leuten die größte Achtung bezeugen, während
die allermeisten keine verdienen; sodann, daß wir den lebhaftesten
Anteil an ihnen simuliren, während wir froh sein müssen, keinen an
ihnen zu haben. -- Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen ist ein
Meisterstück. --

Wir würden bei Beleidigungen, als welche eigentlich immer in
Äußerungen der Nichtachtung bestehn, viel weniger aus der Fassung
geraten, wenn wir nicht einerseits eine ganz übertriebene Vorstellung
von unserm hohen Wert und Würde, also einen ungemessenen Hochmut
hegten, und andrerseits uns deutlich gemacht hätten, was in der Regel
jeder vom andern, in seinem Herzen, hält und denkt. Welch ein greller
Kontrast ist doch zwischen der Empfindlichkeit der meisten Leute über
die leiseste Andeutung eines sie treffenden Tadels und dem, was sie
hören würden, wenn sie die Gespräche ihrer Bekannten über sie
belauschten! -- Wir sollten vielmehr uns gegenwärtig erhalten, daß die
gewöhnliche Höflichkeit nur eine grinsende Maske ist: dann würden wir
nicht Zeter schreien, wenn sie einmal sich etwas verschiebt, oder auf
einen Augenblick abgenommen wird. Wann aber gar einer geradezu grob
wird, da ist es, als hätte er die Kleider abgeworfen und stände _in
puris naturalibus_ da. Freilich nimmt er sich dann, wie die meisten
Menschen in diesem Zustande, schlecht aus.

37. Für sein Tun und Lassen darf man keinen andern zum Muster nehmen;
weil Lage, Umstände, Verhältnisse nie die gleichen sind, und weil die
Verschiedenheit des Charakters auch der Handlung einen verschiedenen
Anstrich gibt, daher _duo cum faciunt idem, non est idem_. Man muß,
nach reiflicher Überlegung und scharfem Nachdenken, seinem eigenen
Charakter gemäß handeln. Also auch im *Praktischen* ist *Originalität*
unerläßlich: sonst paßt was man tut, nicht zu dem, was man ist.

38. Man bestreite keines Menschen Meinung; sondern bedenke, daß, wenn
man alle Absurditäten, die er glaubt, ihm ausreden wollte, man
Methusalems Alter erreichen könnte, ohne damit fertig zu werden.

Auch aller, selbst noch so wohlgemeinter, korrektioneller Bemerkungen
soll man, im Gespräche, sich enthalten: denn die Leute zu kränken ist
leicht, sie zu bessern schwer, wo nicht unmöglich.

Wenn die Absurditäten eines Gesprächs, welches wir anzuhören im Falle
sind, anfangen uns zu ärgern, müssen wir uns denken, es wäre eine
Komödienszene zwischen zwei Narren. _Probatum est._ -- Wer auf die
Welt gekommen ist, sie ernstlich und in den wichtigsten Dingen zu
*belehren*, der kann von Glück sagen, wenn er mit heiler Haut
davonkommt.

39. Wer da will, daß sein Urteil Glauben finde, spreche es kalt und
ohne Leidenschaftlichkeit aus. Denn alle Heftigkeit entspringt aus dem
Willen: daher wird man *diesem* und nicht der Erkenntnis, die ihrer
Natur nach kalt ist, das Urteil zuschreiben. Weil nämlich das Radikale
im Menschen der Wille, die Erkenntnis aber bloß sekundär und
hinzugekommen ist; so wird man eher glauben, daß das Urteil aus dem
erregten Willen, als daß die Erregung des Willens bloß aus dem Urteil
entsprungen sei.

40. Auch beim besten Rechte dazu lasse man sich nicht zum Selbstlobe
verführen. Denn die Eitelkeit ist eine so gewöhnliche, das Verdienst
aber eine so ungewöhnliche Sache, daß, so oft wir, wenn auch nur
indirekt, uns selbst zu loben scheinen, jeder hundert gegen eins
wettet, daß, was aus uns redet die Eitelkeit sei, der es am Verstande
gebricht, das Lächerliche der Sache einzusehn. -- Jedoch mag, bei
allem dem, Bako von Verulam nicht ganz Unrecht haben, wenn er sagt,
daß das _semper aliquid haeret_, wie von der Verläumdung, so auch vom
Selbstlobe gelte, und daher dieses, in mäßigen Dosen, empfiehlt.

41. Wenn man argwöhnt, daß einer lüge, stelle man sich gläubig: da
wird er dreist, lügt stärker und ist entlarvt. Merkt man hingegen, daß
eine Wahrheit, die er verhehlen möchte, ihm zum Teil entschlüpft, so
stelle man sich darüber ungläubig, damit er, durch den Widerspruch
provozirt, die Arriergarde der ganzen Wahrheit nachrücken lasse.

42. Unsere sämtlichen persönlichen Angelegenheiten haben wir als
Geheimnisse zu betrachten, und unsern guten Bekannten müssen wir, über
das hinaus, was sie mit eigenen Augen sehn, völlig fremd bleiben. Denn
ihr Wissen um die unschuldigsten Dinge kann, durch Zeit und Umstände,
uns Nachteil bringen. -- Überhaupt ist es geratener seinen Verstand
durch das, was man verschweigt, an den Tag zu legen, als durch das,
was man sagt. Ersteres ist Sache der Klugheit, letzteres der
Eitelkeit. Die Gelegenheit zu beiden kommt gleich oft: aber wir ziehn
häufig die flüchtige Befriedigung, welche das letztere gewährt, dem
dauernden Nutzen vor, welchen das erstere bringt. Sogar die
Herzenserleichterung, einmal ein Wort mit sich selbst laut zu reden,
was lebhaften Personen wohl begegnet, sollte man sich versagen, damit
sie nicht zur Gewohnheit werde; weil dadurch der Gedanke mit dem Worte
so befreundet und verbrüdert wird, daß allmälig auch das Sprechen mit
andern ins laute Denken übergeht; während die Klugheit gebeut, daß
zwischen unserm Denken und unserm Reden eine weite Kluft offen
gehalten werde.

Bisweilen meinen wir, daß andere etwas uns betreffendes durchaus nicht
glauben können; während ihnen gar nicht einfällt, es zu bezweifeln:
machen wir jedoch, daß ihnen dies einfällt, dann können sie es auch
nicht mehr glauben. Aber wir verraten uns oft bloß, weil wir wähnen,
es sei unmöglich, daß man das nicht merke; -- wie wir uns von einer
Höhe hinabstürzen, aus Schwindel, d. h. durch den Gedanken, es sei
unmöglich, hier fest zu stehen, die Qual aber, hier zu stehn, sei so
groß, daß es besser sei, sie abzukürzen: dieser Wahn heißt Schwindel.

Andrerseits wieder soll man wissen, daß die Leute, selbst die, welche
sonst keinen besondern Scharfsinn verraten, vortreffliche Algebristen
in den persönlichen Angelegenheiten anderer sind, woselbst sie,
mittelst einer einzigen gegebenen Größe, die verwickeltesten Aufgaben
lösen. Wenn man z. B. ihnen eine ehemalige Begebenheit, unter
Weglassung aller Namen und sonstiger Bezeichnung der Personen erzählt;
so soll man sich hüten, dabei ja nicht irgend einen ganz positiven und
individuellen Umstand, sei er auch noch so gering, mit einzuführen,
wie etwan einen Ort, oder Zeitpunkt, oder den Namen einer Nebenperson,
oder sonst etwas auch nur unmittelbar damit Zusammenhängendes: denn
daran haben sie sogleich eine positiv gegebene Größe, mittelst deren
ihr algebraischer Scharfsinn alles Übrige herausbringt. Die
Begeisterung der Neugier nämlich ist hier so groß, daß, kraft
derselben, der Wille dem Intellekt die Sporen in die Seite setzt,
welcher nun dadurch bis zur Erreichung der entlegensten Resultate
getrieben wird. Denn so unempfänglich und gleichgültig die Leute gegen
*allgemeine* Wahrheiten sind, so erpicht sind sie auf individuelle.

Dem allen gemäß ist denn auch die Schweigsamkeit von sämtlichen
Lehrern der Weltklugheit auf das dringendeste und mit den
mannigfaltigsten Argumenten anempfohlen worden; daher ich es bei dem
Gesagten bewenden lassen kann. Bloß ein paar arabischer Maximen,
welche besonders eindringlich und wenig bekannt sind, will ich noch
hersetzen. »Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde
nicht.« -- »Wenn ich mein Geheimnis verschweige, ist es mein
Gefangener: lasse ich es entschlüpfen, bin ich sein Gefangener.« --
»Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht, der Friede.«

43. Kein Geld ist vorteilhafter angewandt, als das, um welches wir uns
haben prellen lassen: denn wir haben dafür unmittelbar Klugheit
eingehandelt.

44. Man soll, wo möglich, gegen niemanden Animosität hegen, jedoch die
_procédés_ eines jeden sich wohl merken und im Gedächtnis behalten, um
danach den Wert desselben, wenigstens hinsichtlich unserer,
festzustellen und demgemäß unser Verhalten und Betragen gegen ihn zu
regeln, -- stets überzeugt von der Unveränderlichkeit des Charakters:
einen schlechten Zug eines Menschen jemals vergessen, ist, wie wenn
man schwer erworbenes Geld wegwürfe. -- So aber schützt man sich vor
törichter Vertraulichkeit und törichter Freundschaft. --

»Weder lieben noch hassen« enthält die Hälfte aller Weltklugheit:
»nichts sagen und nichts glauben« die andere Hälfte. Freilich aber
wird man einer Welt, welche Regeln, wie diese und die nächstfolgenden
nötig macht, gern den Rücken kehren.

45. Zorn oder Haß in Worten oder Mienen blicken zu lassen ist unnütz,
ist gefährlich, ist unklug, ist lächerlich, ist gemein. Man darf also
Zorn oder Haß nie anders zeigen als in Taten. Letzteres wird man um so
vollkommener können, als man ersteres vollkommener vermieden hat. --
Die kaltblütigen Tiere allein sind die giftigen.

46. _Parler sans accent_: diese alte Regel der Weltleute bezweckt, daß
man dem Verstande der andern überlasse herauszufinden, was man gesagt
hat: der ist langsam, und ehe er fertig geworden, ist man davon.
Hingegen _parler avec accent_ heißt zum Gefühle reden; wo denn alles
umgekehrt ausfällt. Manchem kann man, mit höflicher Gebärde und
freundlichem Ton, sogar wirkliche Sottisen sagen, ohne unmittelbare
Gefahr.


D. Unser Verhalten gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffend.

47. Welche Form auch das menschliche Leben annehme; es sind immer
dieselben Elemente, und daher ist es im wesentlichen überall dasselbe,
es mag in der Hütte oder bei Hofe, im Kloster oder bei der Armee
geführt werden. Mögen seine Begebenheiten, Abenteuer, Glücks- und
Unglücksfälle noch so mannigfaltig sein; so ist es doch damit wie mit
der Zuckerbäckerware. Es sind viele und vielerlei gar krause und bunte
Figuren: aber alles ist aus einem Teig geknetet; und was dem einen
begegnet, ist dem, was dem andern widerfuhr, viel ähnlicher, als
dieser beim Erzählenhören denkt. Auch gleichen die Vorgänge unsers
Lebens den Bildern im Kaleidoskop, in welchem wir bei jeder Drehung
etwas anderes sehn, eigentlich aber immer das Selbe vor Augen haben.

48. Drei Weltmächte gibt es, sagt, sehr treffend, ein Alter: =synesis,
kratos, kai tychê=, Klugheit, Stärke und Glück. Ich glaube, daß die
zuletzt genannte am meisten vermag. Denn unser Lebensweg ist dem Lauf
eines Schiffes zu vergleichen. Das Schicksal, die =tychê= die _secunda
aut adversa fortuna_, spielt die Rolle des Windes, indem sie uns
schnell weit fördert oder weit zurückwirft; wogegen unser eigenes
Mühen und Treiben nur wenig vermag. Dieses nämlich spielt dabei die
Rolle der Ruder: wenn solche, durch viele Stunden langes Arbeiten, uns
eine Strecke vorwärts gebracht haben, wirft ein plötzlicher Windstoß
uns ebenso weit zurück. Ist er hingegen günstig, so fördert er uns
dermaßen, daß wir der Ruder nicht bedürfen. Diese Macht des Glückes
drückt unübertrefflich ein spanisches Sprichwort aus: _da ventura a tu
hijo, y echa lo en el mar_ (gib deinem Sohne Glück und wirf ihn ins
Meer).

Wohl ist der Zufall eine böse Macht, der man so wenig wie möglich
anheimstellen soll. Jedoch wer ist, unter allen Gebern, der einzige,
welcher, indem er gibt, uns zugleich aufs deutlichste zeigt, daß wir
gar keine Ansprüche auf seine Gaben haben, daß wir solche durchaus
nicht unserer Würdigkeit, sondern ganz allein seiner Güte und Gnade zu
danken haben, und daß wir eben hieraus die freudige Hoffnung schöpfen
dürfen, noch ferner manche unverdiente Gabe demutsvoll zu empfangen?
-- Es ist der Zufall: er, der die königliche Kunst versteht,
einleuchtend zu machen, daß gegen seine Gunst und Gnade alles
Verdienst ohnmächtig ist und nichts gilt. --

Wenn man auf seinen Lebensweg zurücksieht, den »labyrintisch irren
Lauf« desselben überschaut und nun so manches verfehlte Glück, so
manches herbeigezogene Unglück sehen muß; so kann man in Vorwürfen
gegen sich selbst leicht zu weit gehn. Denn unser Lebenslauf ist
keineswegs schlechthin unser eigenes Werk; sondern das Produkt zweier
Faktoren, nämlich der Reihe der Begebenheiten und der Reihe unserer
Entschlüsse, welche stets in einander greifen und sich gegenseitig
modifiziren. Hiezu kommt noch, daß in beiden unser Horizont immer sehr
beschränkt ist, indem wir unsere Entschlüsse nicht schon von weitem
vorhersagen und noch weniger die Begebenheiten voraussehen können,
sondern von beiden uns eigentlich nur die gegenwärtigen recht bekannt
sind. Deshalb können wir, so lange unser Ziel noch fern liegt, nicht
einmal gerade darauf hinsteuern; sondern nur approximativ und nach
Mutmaßungen unsere Richtung dahin lenken, müssen also oft lawiren.
Alles nämlich, was wir vermögen, ist, unsere Entschlüsse allezeit nach
Maßgabe der gegenwärtigen Umstände zu fassen, in der Hoffnung, es so
zu treffen, daß es uns dem Hauptziel näher bringe. So sind denn
meistens die Begebenheiten und unsere Grundabsichten zweien, nach
verschiedenen Seiten ziehenden Kräften zu vergleichen und die daraus
entstehende Diagonale ist unser Lebenslauf. -- *Terenz* hat gesagt:
_in vita est hominum quasi cum ludas tesseris: si illud, quod maxime
opus est jactu, non cadit, illud quod cecidit forte, id arte ut
corrigas_; wobei er eine Art Triktrak vor Augen gehabt haben muß.
Kürzer können wir sagen: das Schicksal mischt die Karten und wir
spielen. Meine gegenwärtige Betrachtung auszudrücken, wäre aber
folgendes Gleichnis am geeignetesten. Es ist im Leben wie im
Schachspiel: wir entwerfen einen Plan, dieser bleibt jedoch bedingt
durch das, was im Schachspiel dem Gegner, im Leben dem Schicksal, zu
tun belieben wird. Die Modifikationen, welche hierdurch unser Plan
erleidet, sind meistens so groß, daß er in der Ausführung kaum noch an
einigen Grundzügen zu erkennen ist.

Übrigens gibt es in unserm Lebenslaufe noch etwas, welches über das
alles hinausliegt. Es ist nämlich eine triviale und nur zu häufig
bestätigte Wahrheit, daß wir oft törichter sind als wir glauben:
hingegen ist, daß wir oft weiser sind, als wir selbst vermeinen, eine
Entdeckung, welche nur die, so in dem Fall gewesen, und selbst dann
erst spät, machen. Es gibt etwas Weiseres in uns, als der Kopf ist.
Wir handeln nämlich, bei den großen Zügen, den Hauptschritten unsers
Lebenslaufes, nicht sowohl nach deutlicher Erkenntnis des Rechten, als
nach einem innern Impuls, man möchte sagen Instinkt, der aus dem
tiefsten Grunde unsers Wesens kommt, und bemäkeln nachher unser Tun
nach deutlichen, aber auch dürftigen, erworbenen, ja, erborgten
Begriffen, nach allgemeinen Regeln, fremdem Beispiele usw., ohne das
»Eines schickt sich nicht für alle« genugsam zu erwägen; da werden wir
leicht ungerecht gegen uns selbst. Aber am Ende zeigt es sich, wer
Recht gehabt hat; und nur das glücklich erreichte Alter ist, subjektiv
und objektiv, befähigt, die Sache zu beurteilen.

Vielleicht steht jener innere Impuls unter uns unbewußter Leitung
prophetischer, beim Erwachen vergessener Träume, die eben dadurch
unserm Leben die Gleichmäßigkeit des Tones und die dramatische Einheit
erteilen, die das so oft schwankende und irrende, so leicht
umgestimmte Gehirnbewußtsein ihm zu geben nicht vermöchte, und infolge
welcher z. B. der zu großen Leistungen einer bestimmten Art Berufene
dies von Jugend auf innerlich und heimlich spürt und darauf
hinarbeitet, wie die Bienen am Bau ihres Stocks. Für jeden aber ist es
das, was *Baltasar Gracian* _la gran sinderesis_ nennt: die
instinktive große Obhut seiner selbst, ohne welche er zu Grunde geht.
-- Nach *abstrakten Grundsätzen* handeln ist schwer und gelingt erst
nach vieler Übung, und selbst da nicht jedesmal: auch sind sie oft
nicht ausreichend. Hingegen hat jeder gewisse *angeborene konkrete
Grundsätze*, die ihm in Blut und Saft stecken, indem sie das Resultat
alles seines Denkens, Fühlens und Wollens sind. Er kennt sie meistens
nicht _in abstracto_, sondern wird erst beim Rückblick auf sein Leben
gewahr, daß er sie stets befolgt hat und von ihnen, wie von einem
unsichtbaren Faden, ist gezogen worden. Je nachdem sie sind, werden
sie ihn zu seinem Glück oder Unglück leiten.

49. Man sollte beständig die Wirkung der Zeit und die Wandelbarkeit
der Dinge vor Augen haben und daher bei allem, was jetzt stattfindet,
sofort das Gegenteil davon imaginiren; also im Glücke das Unglück, in
der Freundschaft die Feindschaft, im schönen Wetter das schlechte, in
der Liebe den Haß, im Zutrauen und Eröffnen den Verrat und die Reue,
und so auch umgekehrt, sich lebhaft vergegenwärtigen. Dies würde eine
bleibende Quelle wahrer Weltklugheit abgeben, indem wir stets besonnen
bleiben und nicht so leicht getäuscht werden würden. Meistens würden
wir dadurch nur die Wirkung der Zeit antizipirt haben. -- Aber
vielleicht ist zu keiner Erkenntnis die Erfahrung so unerläßlich, wie
zur richtigen Schätzung des Unbestandes und Wechsels der Dinge. Weil
eben jeder Zustand, für die Zeit seiner Dauer, notwendig und daher mit
vollstem Rechte vorhanden ist; so sieht jedes Jahr, jeder Monat, jeder
Tag aus, als ob nun endlich er Recht behalten wollte, für alle
Ewigkeit. Aber keiner behält es, und der Wechsel allein ist das
Beständige. Der Kluge ist der, welchen die scheinbare Stabilität nicht
täuscht und der noch dazu die Richtung, welche der Wechsel zunächst
nehmen wird, vorhersieht[T]. Daß hingegen die Menschen den
einstweiligen Zustand der Dinge, oder die Richtung ihres Laufes, in
der Regel für bleibend halten, kommt daher, daß sie die Wirkungen vor
Augen haben, aber die Ursachen nicht verstehn, diese es jedoch sind,
welche den Keim der künftigen Veränderungen in sich tragen; während
die Wirkung, welche für jene allein da ist, hievon nichts enthält. An
diese halten sie sich und setzen voraus, daß die ihnen unbekannten
Ursachen, welche solche hervorzubringen vermochten, auch imstande sein
werden, sie zu erhalten. Sie haben dabei den Vorteil, daß, wenn sie
irren, es immer _unisono_ geschieht; daher denn die Kalamität, welche
infolge davon sie trifft, stets eine allgemeine ist, während der
denkende Kopf, wenn er geirrt hat, noch dazu allein steht. --
Beiläufig haben wir daran eine Bestätigung meines Satzes, daß der
Irrtum stets aus dem Schluß von der Folge auf den Grund entsteht.
Siehe »Welt als W. u. V.« Bd. 1, S. 90. (3. Aufl. 94.)

  [T] Der *Zufall* hat bei allen menschlichen Dingen so großen
  Spielraum, daß, wenn wir einer von ferne drohenden Gefahr gleich durch
  Aufopferungen vorzubeugen suchen, diese Gefahr oft durch einen
  unvorhergesehenen Stand, den die Dinge annehmen, verschwindet, und
  jetzt nicht nur die gebrachten Opfer verloren sind, sondern die durch
  sie herbeigeführte Veränderung nunmehr, beim veränderten Stande der
  Dinge, gerade ein Nachteil ist. Wir müssen daher in unsern
  Vorkehrungen nicht zu weit in die Zukunft greifen, sondern auch auf
  den Zufall rechnen und mancher Gefahr kühn entgegensehn, hoffend, daß
  sie, wie so manche schwarze Gewitterwolke, vorüberzieht.

Jedoch nur theoretisch und durch Vorhersehn ihrer Wirkung soll man die
*Zeit antizipiren*, nicht praktisch, nämlich nicht so, daß man ihr
vorgreife, indem man *vor* der Zeit verlangt was erst die Zeit bringen
kann. Denn wer dies tut, wird erfahren, daß es keinen schlimmeren,
unnachlassendern Wucherer gibt als eben die Zeit, und daß sie, wenn zu
Vorschüssen gezwungen, schwerere Zinsen nimmt als irgend ein Jude. Z.
B. kann man durch ungelöschten Kalk und Hitze einen Baum dermaßen
treiben, daß er binnen weniger Tage Blätter, Blüten und Früchte
treibt, dann aber stirbt er ab. -- Will der Jüngling die Zeugungskraft
des Mannes schon jetzt, wenn auch nur auf etliche Wochen, ausüben und
im neunzehnten Jahre leisten was er im dreißigsten sehr wohl könnte;
so wird allenfalls die Zeit den Vorschuß leisten, aber ein Teil der
Kraft seiner künftigen Jahre, ja, ein Teil seines Lebens selbst, ist
der Zins. -- Es gibt Krankheiten, von denen man gehörig und gründlich
nur dadurch genest, daß man ihnen ihren natürlichen Verlauf läßt, nach
welchem sie von selbst verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Verlangt man aber sogleich und jetzt, nur gerade jetzt, gesund zu
sein; so muß auch hier die Zeit Vorschuß leisten: die Krankheit wird
vertrieben, aber der Zins ist Schwäche und chronische Übel,
zeitlebens. -- Wenn man in Zeiten des Krieges oder der Unruhen Geld
gebraucht, und zwar sogleich, gerade jetzt; so ist man genötigt,
liegende Gründe oder Staatspapiere für 1/3 und noch weniger ihres
Wertes zu verkaufen, den man zum vollen erhalten würde, wenn man der
Zeit ihr Recht widerfahren lassen, also einige Jahre warten wollte;
aber man zwingt sie, Vorschuß zu leisten. -- Oder auch man bedarf
einer Summe zu einer weiten Reise: binnen eines oder zweier Jahre
könnte man sie von seinem Einkommen zurückgelegt haben. Aber man will
nicht warten, sie wird also geborgt oder einstweilen vom Kapital
genommen, d. h. die Zeit muß vorschießen. Da ist ihr Zins eingerissene
Unordnung in der Kasse, ein bleibendes und wachsendes Defizit, welches
man nie mehr los wird. -- Dies also ist der Wucher der Zeit: seine
Opfer werden alle, die nicht warten können. Den Gang der gemessen
ablaufenden Zeit beschleunigen zu wollen, ist das kostspieligste
Unternehmen. Also hüte man sich, der Zeit Zinsen schuldig zu werden.

50. Ein charakteristischer und im gemeinen Leben sehr oft sich
hervortuender Unterschied zwischen den gewöhnlichen und den gescheuten
Köpfen ist, daß jene, bei ihrer Überlegung und Schätzung möglicher
Gefahren, immer nur fragen und berücksichtigen, was derart bereits
*geschehn* sei; diese hingegen selbst überlegen, was möglicherweise
*geschehn könne*; wobei sie bedenken, daß, wie ein spanisches
Sprichwort sagt, _lo que no acaece en un año, acaece en un rato_ (was
binnen eines Jahres nicht geschieht, geschieht binnen weniger
Minuten). Der in Rede stehende Unterschied ist freilich natürlich:
denn was geschehn *kann* zu überblicken, erfordert Verstand, was
geschehn *ist*, bloß Sinne.

Unsere Maxime aber sei: opfere den bösen Dämonen! D. h. man soll einen
gewissen Aufwand von Mühe, Zeit, Unbequemlichkeit, Weitläuftigkeit,
Geld oder Entbehrung nicht scheuen, um der Möglichkeit eines Unglücks
die Tür zu verschließen: und je größer dieses wäre, desto kleiner,
entfernter, unwahrscheinlicher mag jene sein. Die deutlichste
Exemplifikation dieser Regel ist die Assekuranzprämie. Sie ist ein
öffentlich und von allen auf den Altar der bösen Dämonen gebrachtes
Opfer.

51. Über keinen Vorfall sollte man in großen Jubel oder große Wehklage
ausbrechen; teils wegen der Veränderlichkeit aller Dinge, die ihn
jeden Augenblick umgestalten kann; teils wegen der Trüglichkeit unsers
Urteils über das uns Gedeihliche oder Nachteilige; infolge welcher
fast jeder einmal gewehklagt hat über das, was nachher sich als sein
wahres Bestes auswies, oder gejubelt über das, was die Quelle seiner
größten Leiden geworden ist. Die hier dagegen empfohlene Gesinnung hat
Shakespeare schön ausgedrückt:

    _I have felt so many quirks of joy and grief,
    That the first face of neither, on the start,
    Can woman me unto it.[U]_

    (_All's well, A. 3. sc. 2._)

  [U] So viele Anfälle von Freude und Gram habe ich schon empfunden, daß
  ich nie mehr vom ersten Anblicke des Anlasses zu einem von beiden
  sogleich mich weibisch hinreißen lasse.

Überhaupt aber zeigt der, welcher bei allen Unfällen gelassen bleibt,
daß er weiß, wie kolossal und tausendfältig die möglichen Übel des
Lebens sind; weshalb er das jetzt eingetretene ansieht als einen sehr
kleinen Teil dessen, was kommen könnte: dies ist die stoische
Gesinnung, in Gemäßheit welcher man niemals _conditionis humanae
oblitus_, sondern stets eingedenk sein soll, welch ein trauriges und
jämmerliches Los das menschliche Dasein überhaupt ist, und wie
unzählig die Übel sind, denen es ausgesetzt ist. Diese Einsicht
aufzufrischen, braucht man überall nur einen Blick um sich zu werfen:
wo man auch sei, wird man es bald vor Augen haben, dieses Ringen und
Zappeln und Quälen um die elende, kahle, nichts abwerfende Existenz.
Man wird danach seine Ansprüche herabstimmen, in die Unvollkommenheit
aller Dinge und Zustände sich finden lernen und Unfällen stets
entgegensehn, um ihnen auszuweichen oder sie zu ertragen. Denn
Unfälle, große und kleine, sind das eigentliche Element unsers Lebens:
dies sollte man also stets gegenwärtig haben; darum jedoch nicht, als
ein =dyskolos=, mit *Beresford*, über die stündlichen _miseries of
human life_ lamentiren und Gesichter schneiden, noch weniger _in
pulicis morsu Deum invocare_; sondern, als ein =eulabês=, die
Behutsamkeit im Zuvorkommen und Verhüten der Unfälle, sie mögen von
Menschen oder von Dingen ausgehn, so weit treiben und so sehr darin
raffiniren, daß man, wie ein kluger Fuchs, jedem großen oder kleinen
Mißgeschick (welches meistens nur ein verkapptes Ungeschick ist)
säuberlich aus dem Wege geht.

Daß ein Unglücksfall uns weniger schwer zu tragen fällt, wenn wir zum
voraus ihn als möglich betrachtet und, wie man sagt, uns darauf gefaßt
gemacht haben, mag hauptsächlich daher kommen, daß, wenn wir den Fall,
ehe er eingetreten, als eine bloße Möglichkeit, mit Ruhe überdenken,
wir die Ausdehnung des Unglücks deutlich und nach allen Seiten
übersehn und so es wenigstens als ein endliches und überschaubares
erkennen; infolge wovon es, wenn es nun wirklich trifft, doch mit
nicht mehr als seiner wahren Schwere wirken kann. Haben wir hingegen
jenes nicht getan, sondern werden unvorbereitet getroffen; so kann der
erschrockene Geist im ersten Augenblick die Größe des Unglücks nicht
genau ermessen: es ist jetzt für ihn unübersehbar, stellt sich daher
leicht als unermeßlich, wenigstens viel größer dar, als es wirklich
ist. Auf gleiche Art läßt Dunkelheit und Ungewißheit jede Gefahr
größer erscheinen. Freilich kommt noch hinzu, daß wir für das als
möglich antizipirte Unglück zugleich auch die Trostgründe und Abhülfen
überdacht, oder wenigstens uns an die Vorstellung desselben gewöhnt
haben.

Nichts aber wird uns zum gelassenen Ertragen der uns treffenden
Unglücksfälle besser befähigen, als die Überzeugung von der Wahrheit,
welche ich in meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens aus
ihren letzten Gründen abgeleitet und festgestellt habe, nämlich, wie
es daselbst, S. 62 (2. Aufl. S. 60), heißt: »Alles was geschieht, vom
Größten bis zum Kleinsten, geschieht *notwendig*.« Denn in das
unvermeidlich Notwendige weiß der Mensch sich bald zu finden, und jene
Erkenntnis läßt ihn alles, selbst das durch die fremdartigsten Zufälle
Herbeigeführte, als eben so notwendig ansehn, wie das nach den
bekanntesten Regeln und unter vollkommener Voraussicht Erfolgende. Ich
verweise hier auf das, was ich (Welt als W. u. V. Bd. 1, S. 345 u. 46
[3. Aufl. 361]) über die beruhigende Wirkung der Erkenntnis des
Unvermeidlichen und Notwendigen gesagt habe. Wer davon durchdrungen
ist, wird zuvörderst tun was er kann, dann aber willig leiden was er
muß.

Die kleinen Unfälle, die uns stündlich vexiren, kann man betrachten
als bestimmt, uns in Übung zu erhalten, damit die Kraft, die großen zu
ertragen, im Glück nicht ganz erschlaffe. Gegen die täglichen
Hudeleien, kleinlichen Reibungen im menschlichen Verkehr, unbedeutende
Anstöße, Ungebührlichkeiten anderer, Klatschereien u. dgl. m. muß man
ein gehörnter Siegfried sein, d. h. sie gar nicht empfinden, weit
weniger sich zu Herzen nehmen und darüber brüten; sondern von dem
allen nichts an sich kommen lassen, es von sich stoßen, wie Steinchen,
die im Wege liegen, und keineswegs es aufnehmen in das Innere seiner
Überlegung und Rumination.

52. Was aber die Leute gemeiniglich das Schicksal nennen, sind
meistens nur ihre eigenen dummen Streiche. Man kann daher nicht
genugsam die schöne Stelle im Homer (_JL. XXIII, 313 sqq._)
beherzigen, wo er die =mêtis=, d. i. die kluge Überlegung, empfiehlt.
Denn wenn auch die schlechtesten Streiche erst in jener Welt gebüßt
werden; so doch die dummen schon in dieser; -- wiewohl hin und wieder
einmal Gnade für Recht ergehen mag.

Nicht wer grimmig, sondern wer klug dareinschaut, sieht furchtbar und
gefährlich aus: -- so gewiß des Menschen Gehirn eine furchtbarere
Waffe ist als die Klaue des Löwen. --

Der vollkommenste Weltmann wäre der, welcher nie in Unschlüssigkeit
stockte und nie in Übereilung geriete.

53. Nächst der Klugheit aber ist Mut eine für unser Glück sehr
wesentliche Eigenschaft. Freilich kann man weder die eine noch die
andere sich geben, sondern ererbt jene von der Mutter und diesen vom
Vater: jedoch läßt sich durch Vorsatz und Übung dem davon Vorhandenen
nachhelfen. Zu dieser Welt, wo »die Würfel eisern fallen,« gehört ein
eiserner Sinn, gepanzert gegen das Schicksal und gewaffnet gegen die
Menschen. Denn das ganze Leben ist ein Kampf, jeder Schritt wird uns
streitig gemacht, und Voltaire sagt mit Recht: _on ne réussit dans ce
monde, qu'à la pointe de l'épée, et on meurt les armes à la main._
Daher ist es eine feige Seele, die, sobald Wolken sich zusammenziehn
oder wohl gar nur am Horizont sich zeigen, zusammenschrumpft, verzagen
will und jammert. Vielmehr sei unser Wahlspruch:

    _Tu ne cede malis, sed contra audentior ito._

Solange der Ausgang einer gefährlichen Sache nur noch zweifelhaft ist,
solange nur noch die Möglichkeit, daß er ein glücklicher werde,
vorhanden ist, darf an kein Zagen gedacht werden, sondern bloß an
Widerstand; wie man am Wetter nicht verzweifeln darf, solange noch ein
blauer Fleck am Himmel ist. Ja, man bringe es dahin zu sagen:

    _Si fractus illabatur orbis,
    Impavidum ferient ruinae._

Das ganze Leben selbst, geschweige seine Güter, sind noch nicht so ein
feiges Beben und Einschrumpfen des Herzens wert:

                _Quocirca vivite fortes,
    Fortiaque adversis apponite pectora rebus._

Und doch ist auch hier ein Exzeß möglich: denn der Mut kann in
Verwegenheit ausarten. Sogar ist ein gewisses Maß von Furchtsamkeit zu
unserm Bestande in der Welt notwendig: die Feigheit ist bloß das
Überschreiten desselben. Dies hat Bako von Verulam gar treffend
ausgedrückt, in seiner etymologischen Erklärung des _terror Panicus_,
welche die ältere, vom Plutarch (_de Iside et Osir. c. 14_) uns
erhaltene, weit hinter sich läßt. Er leitet nämlich denselben ab vom
*Pan*, als der personifizirten Natur, und sagt: _Natura enim rerum
omnibus viventibus indidit metum, ac formidinem, vitae atque essentiae
suae conservatricem, ac mala ingruentia vitantem et depellentem.
Verumtamen eadem natura modum tenere nescia est: sed timoribus
salutaribus semper vanos et inanes admiscet; adeo ut omnia (si intus
conspici darentur) Panicis terroribus plenissima sint, praesertim
humana._ (_De sapientia veterum VI._) Übrigens ist das Charakteristische
des panischen Schreckens, daß er seiner Gründe sich nicht deutlich
bewußt ist, sondern sie mehr voraussetzt als kennt, ja zur Not
geradezu die Furcht selbst als Grund der Furcht geltend macht.




Kapitel VI.

Vom Unterschiede der Lebensalter.


Überaus schön hat *Voltaire* gesagt:

    _Qui n'a pas l'esprit de son âge,
    De son âge a tout le malheur._

Daher wird es angemessen sein, daß wir, am Schlusse dieser
eudämonologischen Betrachtungen, einen Blick auf die Veränderungen
werfen, welche die Lebensalter an uns hervorbringen.

Unser ganzes Leben hindurch haben wir immer nur die *Gegenwart* inne,
und nie mehr. Was dieselbe unterscheidet ist bloß, daß wir am Anfang
eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber eine lange
Vergangenheit hinter uns sehn; sodann, daß unser Temperament, wiewohl
nicht unser Charakter, einige bekannte Veränderungen durchgeht,
wodurch jedesmal eine andere Färbung der Gegenwart entsteht. --

In meinem Hauptwerke, Bd. 2, Kap. 31, S. 394 ff. (3. Aufl. 499 ff.),
habe ich auseinandergesetzt, daß und warum wir in der *Kindheit* uns
viel mehr *erkennend* als *wollend* verhalten. Gerade hierauf beruht
jene Glückseligkeit des ersten Viertels unsers Lebens, infolge welcher
es nachher wie ein verlorenes Paradies hinter uns liegt. Wir haben in
der Kindheit nur wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also
wenig Anregung des Willens: der größere Teil unsers Wesens geht
demnach im *Erkennen* auf. -- Der Intellekt ist, wie das Gehirn,
welches schon im 7. Jahre seine volle Größe erreicht, früh entwickelt,
wenn auch nicht reif, und sucht unaufhörlich Nahrung in einer ganzen
Welt des noch neuen Daseins, wo alles, alles mit dem Reize der Neuheit
überfirnißt ist. Hieraus entspringt es, daß unsre Kinderjahre eine
fortwährende Poesie sind. Nämlich das Wesen der Poesie, wie aller
Kunst, besteht im Auffassen der platonischen Idee, d. h. des
Wesentlichen und daher der ganzen *Art* Gemeinsamen, in jedem
Einzelnen; wodurch jedes Ding als Repräsentant seiner Gattung auftritt
und *ein* Fall für tausend gilt. Obgleich nun es scheint, daß wir in
den Szenen unsrer Kinderjahre stets nur mit dem jedesmaligen
individuellen Gegenstande oder Vorgange beschäftigt seien, und zwar
nur, sofern er unser momentanes Wollen interessirt; so ist dem doch im
Grunde anders. Nämlich das Leben, in seiner ganzen Bedeutsamkeit,
steht noch so neu, frisch und ohne Abstumpfung seiner Eindrücke durch
Wiederholung, vor uns, daß wir, mitten unter unserm kindischen
Treiben, stets im Stillen und ohne deutliche Absicht beschäftigt sind,
an den einzelnen Szenen und Vorgängen das Wesen des Lebens selbst, die
Grundtypen seiner Gestalten und Darstellungen, aufzufassen. Wir sehn,
wie Spinoza es ausdrückt, alle Dinge und Personen _sub specie
aeternitatis_. Je jünger wir sind, desto mehr vertritt jedes einzelne
seine ganze Gattung. Dies nimmt immer mehr ab, von Jahr zu Jahr: und
hierauf beruht der so große Unterschied des Eindrucks, den die Dinge
in der Jugend und im Alter auf uns machen. Daher werden die
Erfahrungen und Bekanntschaften der Kindheit und frühen Jugend
nachmals die stehenden Typen und Rubriken aller spätern Erkenntnis und
Erfahrung, gleichsam die Kategorien derselben, denen wir alles Spätere
subsumiren, wenn auch nicht stets mit deutlichem Bewußtsein. So bildet
sich demnach schon in den Kinderjahren die feste Grundlage unserer
Weltansicht, mithin auch das Flache oder Tiefe derselben: sie wird
später ausgeführt und vollendet; jedoch nicht im Wesentlichen
verändert. Also infolge dieser rein objektiven und dadurch poetischen
Ansicht, die dem Kindesalter wesentlich ist und davon unterstützt
wird, daß der Wille noch lange nicht mit seiner vollen Energie
auftritt, verhalten wir uns, als Kinder, bei weitem mehr rein
erkennend als wollend. Daher der ernste, schauende Blick mancher
Kinder, welchen Raffael zu seinen Engeln, zumal denen der Sixtinischen
Madonna, so glücklich benutzt hat. Eben dieserhalb sind denn auch die
Kinderjahre so selig, daß die Erinnerung an sie stets von Sehnsucht
begleitet ist. -- Während wir nun, mit solchem Ernst, dem ersten
*anschaulichen* Verständnis der Dinge obliegen, ist andrerseits die
Erziehung bemüht, uns *Begriffe* beizubringen. Allein Begriffe liefern
nicht das eigentlich Wesentliche: vielmehr liegt dieses, also der
Fonds und echte Gehalt aller unserer Erkenntnisse in der
*anschaulichen* Auffassung der Welt. Diese aber kann nur von uns
selbst gewonnen, nicht auf irgendeine Weise uns *beigebracht* werden.
Daher kommt, wie unser moralischer, so auch unser intellektueller Wert
nicht von außen in uns, sondern geht aus der Tiefe unsers eigenen
Wesens hervor, und können keine Pestalozzische Erziehungskünste aus
einem geborenen Tropf einen denkenden Menschen bilden: nie! er ist als
Tropf geboren und muß als Tropf sterben. -- Aus der beschriebenen,
tiefinnigen Auffassung der ersten anschaulichen Außenwelt erklärt sich
denn auch, warum die Umgebungen und Erfahrungen unserer Kindheit sich
so fest dem Gedächtnis einprägen. Wir sind nämlich ihnen ungeteilt
hingegeben gewesen, nichts hat uns dabei zerstreut, und wir haben die
Dinge, welche vor uns standen, angesehn, als wären sie die einzigen
ihrer Art, ja, überhaupt allein vorhanden. Später nimmt uns die dann
bekannte Menge der Gegenstände Mut und Geduld. -- Wenn man nun hier
sich zurückrufen will, was ich S. 372 ff. (3. Aufl. 423 ff.) des oben
erwähnten Bandes meines Hauptwerkes dargetan habe, daß nämlich das
*objektive* Dasein aller Dinge, d. h. ihr Dasein in der bloßen
*Vorstellung*, ein durchweg erfreuliches, hingegen ihr *subjektives*
Dasein, als welches im *Wollen* besteht, mit Schmerz und Trübsal stark
versetzt ist; so wird man als kurzen Ausdruck der Sache auch wohl den
Satz gelten lassen: alle Dinge sind herrlich zu *sehn*, aber
schrecklich zu *sein*. Dem Obigen nun zufolge sind, in der Kindheit,
die Dinge uns viel mehr von der Seite des *Sehns*, also der
Vorstellung, der Objektivität, bekannt, als von der Seite des *Seins*,
welche die des Willens ist. Weil nun jene die erfreuliche Seite der
Dinge ist, die subjektive und schreckliche uns aber noch unbekannt
bleibt; so hält der junge Intellekt alle jene Gestalten, welche
Wirklichkeit und Kunst ihm vorführen, für ebenso viele glückselige
Wesen: er meint, so schön sie zu sehn sind, und noch viel schöner,
wären sie zu *sein*. Demnach liegt die Welt vor ihm wie ein Eden: dies
ist das Arkadien, in welchem wir alle geboren sind. Daraus entsteht
etwas später der Durst nach dem wirklichen Leben, der Drang nach Taten
und Leiden, welcher uns ins Weltgetümmel treibt. In diesem lernen wir
dann die andere Seite der Dinge kennen, die des Seins, d. i. des
Wollens, welches bei jedem Schritte durchkreuzt wird. Dann kommt
allmälig die große Enttäuschung heran, nach deren Eintritt heißt es
_l'âge des illusions est passé_: und doch geht sie noch immer weiter,
wird immer vollständiger. Demzufolge kann man sagen, daß in der
Kindheit das Leben sich uns darstellt wie eine Theaterdekoration von
weitem gesehn; im Alter, wie dieselbe in der größten Nähe.

Zum Glücke der Kindheit trägt endlich noch folgendes bei. Wie im
Anfange des Frühlings alles Laub die gleiche Farbe und fast die
gleiche Gestalt hat; so sind auch wir in früher Kindheit alle einander
ähnlich, harmoniren daher vortrefflich. Aber mit der Pubertät fängt
die Divergenz an und wird, wie die Radien eines Zirkels, immer größer.

Was nun den Rest der ersten Lebenshälfte, die so viele Vorzüge vor der
zweiten hat, also das jugendliche Alter, trübt, ja unglücklich macht,
ist das Jagen nach Glück, in der festen Voraussetzung, es müsse im
Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend getäuschte
Hoffnung, und aus dieser die Unzufriedenheit. Gaukelnde Bilder eines
geträumten, unbestimmten Glückes schweben, unter kapriziös gewählten
Gestalten, uns vor, und wir suchen vergebens ihr Urbild. Daher sind
wir in unsern Jünglingsjahren mit unserer Lage und Umgebung, welche
sie auch sei, meistens unzufrieden; weil wir ihr zuschreiben, was der
Leerheit und Armseligkeit des menschlichen Lebens überall zukommt, und
mit der wir jetzt die erste Bekanntschaft machen, nachdem wir ganz
andere Dinge erwartet hatten. -- Man hätte viel gewonnen, wenn man,
durch zeitige Belehrung, den Wahn, daß in der Welt viel zu holen sei,
in den Jünglingen ausrotten könnte. Aber das Umgekehrte geschieht
dadurch, daß meistens uns das Leben früher durch die Dichtung, als
durch die Wirklichkeit bekannt wird. Die von jener geschilderten
Szenen prangen im Morgenrot unserer eigenen Jugend, vor unserm Blick,
und nun peinigt uns die Sehnsucht, sie verwirklicht zu sehn, -- den
Regenbogen zu fassen. Der Jüngling erwartet seinen Lebenslauf in Form
eines interessanten Romans. So entsteht die Täuschung, welche ich S.
347 (3. Aufl. 428) des schon erwähnten zweiten Bandes bereits
geschildert habe. Denn was allen jenen Bildern ihren Reiz verleiht,
ist gerade dies, daß sie bloße Bilder und nicht wirklich sind, und wir
daher, bei ihrem Anschauen, uns in der Ruhe und Allgenugsamkeit des
reinen Erkennens befinden. Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen
ausgefüllt werden, welches Wollen unausweichbare Schmerzen
herbeiführt. Auch noch auf die Stelle S. 427 (3. Aufl. 488) des
erwähnten Bandes sei der teilnehmende Leser hier hingewiesen.

Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte
Sehnsucht nach Glück; so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück.
Denn mit ihr ist, mehr oder weniger deutlich, die Erkenntnis
eingetreten, daß alles Glück chimärisch, hingegen das Leiden real sei.
Jetzt wird daher, wenigstens von den vernünftigeren Charakteren, mehr
bloße Schmerzlosigkeit und ein unangefochtener Zustand als Genuß
angestrebt[V]. -- Wenn, in meinen Jünglingsjahren, es an meiner Tür
schellte, wurde ich vergnügt, denn ich dachte, nun käme es. Aber in
spätern Jahren hatte meine Empfindung, bei demselben Anlaß, viel mehr
etwas dem Schrecken Verwandtes: ich dachte: »da kommt's.« --
Hinsichtlich der Menschenwelt gibt es, für ausgezeichnete und begabte
Individuen, die, eben als solche, nicht so ganz eigentlich zu ihr
gehören und demnach, mehr oder weniger, je nach dem Grad ihrer
Vorzüge, allein stehn, ebenfalls zwei entgegengesetzte Empfindungen:
in der Jugend hat man häufig die, von ihr *verlassen* zu sein; in
spätern Jahren hingegen die, ihr *entronnen* zu sein. Die erstere,
eine unangenehme, beruht auf Unbekanntschaft, die zweite, eine
angenehme, auf Bekanntschaft mit ihr. -- Infolge davon enthält die
zweite Hälfte des Lebens, wie die zweite Hälfte einer musikalischen
Periode, weniger Strebsamkeit, aber mehr Beruhigung, als die erste,
welches überhaupt darauf beruht, daß man in der Jugend denkt, in der
Welt sei Wunder was für Glück und Genuß anzutreffen, nur schwer dazu
zu gelangen; während man im Alter weiß, daß da nichts zu holen ist,
also, vollkommen darüber beruhigt, eine erträgliche Gegenwart genießt,
und sogar an Kleinigkeiten Freude hat. --

  [V] Im Alter versteht man besser die Unglücksfälle zu verhüten; in der
  Jugend, sie zu ertragen.

Was der gereifte Mann durch die Erfahrung seines Lebens erlangt hat
und wodurch er die Welt anders sieht als der Jüngling und Knabe, ist
zunächst *Unbefangenheit*. Er allererst sieht die Dinge ganz einfach
und nimmt sie für das, was sie sind; während dem Knaben und Jüngling
ein Trugbild, zusammengesetzt aus selbstgeschaffenen Grillen,
überkommenen Vorurteilen und seltsamen Phantasien, die wahre Welt
bedeckte oder verzerrte. Denn das Erste, was die Erfahrung zu tun
vorfindet, ist uns von den Hirngespinsten und falschen Begriffen zu
befreien, welche sich in der Jugend angesetzt haben. Vor diesen das
jugendliche Alter zu bewahren, wäre allerdings die beste Erziehung,
wenngleich nur eine negative; ist aber sehr schwer. Man müßte, zu
diesem Zwecke, den Gesichtskreis des Kindes möglichst enge halten,
innerhalb desselben jedoch ihm lauter deutliche und richtige Begriffe
beibringen, und erst nachdem es alles darin Gelegene richtig erkannt
hätte, denselben allmälig erweitern, stets dafür sorgend, daß nichts
Dunkeles, auch nichts halb oder schief Verstandenes, zurück bliebe.
Infolge hievon würden seine Begriffe von Dingen und menschlichen
Verhältnissen, immer noch beschränkt und sehr einfach, dafür aber
deutlich und richtig sein, so daß sie stets nur der Erweiterung, nicht
der Berichtigung bedürften; und so fort bis ins Jünglingsalter hinein.
Diese Methode erfordert insbesondere, daß man keine Romane zu lesen
erlaube, sondern sie durch angemessene Biographien ersetze, wie z. B.
die *Franklins*, den Anton Reiser von Moritz u. dgl. --

Wann wir jung sind, vermeinen wir, daß die in unserm Lebenslauf
wichtigen und folgenreichen Begebenheiten und Personen mit Pauken und
Trompeten auftreten werden: im Alter zeigt jedoch die retrospektive
Betrachtung, daß sie alle ganz still durch die Hintertür, und fast
unbeachtet, hereingeschlichen sind.

Man kann ferner, in der bis hieher betrachteten Hinsicht, das Leben
mit einem gestickten Stoffe vergleichen, von welchem jeder in der
ersten Hälfte seiner Zeit, die rechte, in der zweiten aber die
Kehrseite zu sehen bekäme: letztere ist nicht so schön, aber
lehrreicher; weil sie den Zusammenhang der Fäden erkennen läßt. --

Die geistige Überlegenheit, sogar die größte, wird, in der
Konversation, ihr entschiedenes Übergewicht erst nach dem vierzigsten
Jahre geltend machen. Denn die Reife der Jahre und die Frucht der
Erfahrung kann durch jene wohl vielfach übertroffen, jedoch nie
ersetzt werden: sie aber gibt auch dem gewöhnlichsten Menschen ein
gewisses Gegengewicht gegen die Kräfte des größten Geistes, solange
dieser jung ist. Ich meine hier bloß das Persönliche, nicht die Werke.
--

Jeder irgend vorzügliche Mensch, jeder, der nur nicht zu den von der
Natur so traurig dotirten 5/6 der Menschheit gehört, wird, nach dem
vierzigsten Jahre, von einem gewissen Anfluge von Misanthropie
schwerlich frei bleiben. Denn er hatte, wie es natürlich ist, von sich
auf andere geschlossen und ist allmälig enttäuscht worden, hat
eingesehn, daß sie entweder von der Seite des Kopfes oder des Herzens,
meistens sogar beider, ihm im Rückstand bleiben und nicht quitt mit
ihm werden; weshalb er sich mit ihnen einzulassen gern vermeidet; wie
denn überhaupt jeder nach Maßgabe seines inneren Wertes die
Einsamkeit, d. h. seine eigene Gesellschaft, lieben oder hassen wird.
Von dieser Art der Misanthropie handelt auch *Kant*, in der Krit. der
Urteilskraft, gegen das Ende der allgemeinen Anmerkung zum § 29 des
ersten Teils.

An einem *jungen Menschen* ist es, in intellektueller und auch in
moralischer Hinsicht, ein schlechtes Zeichen, wenn er im Tun und
Treiben der Menschen sich recht früh *zurechtezufinden* weiß, sogleich
darin zu Hause ist und, wie vorbereitet, in dasselbe eintritt: es
kündigt Gemeinheit an. Hingegen deutet, in solcher Beziehung, ein
befremdetes, stutziges, ungeschicktes und verkehrtes Benehmen auf eine
Natur edlerer Art.

Die Heiterkeit und der Lebensmut unserer Jugend beruht zum Teil
darauf, daß wir, bergauf gehend, den Tod nicht sehn; weil er am Fuß
der andern Seite des Berges liegt. Haben wir aber den Gipfel
überschritten, dann werden wir den Tod, welchen wir bis dahin nur vom
Hörensagen kannten, wirklich ansichtig, wodurch, da zu derselben Zeit
die Lebenskraft zu ebben beginnt, auch der Lebensmut sinkt; so daß
jetzt ein trüber Ernst den jugendlichen Übermut verdrängt und auch dem
Gesichte sich aufdrückt. Solange wir jung sind, man mag uns sagen, was
man will, halten wir das Leben für endlos und gehn danach mit der Zeit
um. Je älter wir werden, desto mehr ökonomisiren wir unsere Zeit. Denn
im spätern Alter erregt jeder verlebte Tag eine Empfindung, welche der
verwandt ist, die bei jedem Schritt ein zum Hochgericht geführter
Delinquent hat.

Vom Standpunkte der Jugend aus gesehn, ist das Leben eine unendlich
lange Zukunft; vom Standpunkt des Alters aus, eine sehr kurze
Vergangenheit; so daß es anfangs sich uns darstellt wie die Dinge,
wann wir das Objektivglas des Opernguckers ans Auge legen, zuletzt
aber wie wann das Okular. Man muß alt geworden sein, also lange gelebt
haben, um zu erkennen, wie kurz das Leben ist. -- Je älter man wird,
desto kleiner erscheinen die menschlichen Dinge samt und sonders: das
Leben, welches in der Jugend als fest und stabil vor uns stand, zeigt
sich uns jetzt als die rasche Flucht ephemerer Erscheinungen: die
Nichtigkeit des Ganzen tritt hervor. -- Die Zeit selbst hat in unserer
Jugend einen viel langsameren Schritt; daher das erste Viertel unsers
Lebens nicht nur das glücklichste, sondern auch das längste ist, so
daß es viel mehr Erinnerungen zurückläßt, und jeder, wenn es darauf
ankäme, aus demselben mehr zu erzählen wissen würde, als aus zweien
der folgenden. Sogar werden, wie im Frühling des Jahres, so auch in
dem des Lebens, die Tage zuletzt von einer lästigen Länge. Im Herbste
beider werden sie kurz, aber heiterer und beständiger.

Warum nun aber erblickt man, im Alter, das Leben, welches man hinter
sich hat, so kurz? Weil man es für so kurz hält, wie die Erinnerung
desselben ist. Aus dieser nämlich ist alles Unbedeutende und viel
Unangenehmes herausgefallen, daher wenig übrig geblieben. Denn, wie
unser Intellekt überhaupt sehr unvollkommen ist, so auch das
Gedächtnis: das Erlernte muß geübt, das Vergangene ruminirt werden,
wenn nicht beides allmälig in den Abgrund der Vergessenheit versinken
soll. Nun aber pflegen wir nicht das Unbedeutende, auch meistens nicht
das Unangenehme zu ruminiren; was doch nötig wäre, um es im Gedächtnis
aufzubewahren. Des Unbedeutenden wird aber immer mehr: denn durch die
öftere und endlich zahllose Wiederkehr wird vielerlei, das anfangs uns
bedeutend erschien, allmälig unbedeutend; daher wir uns der früheren
Jahre besser als der späteren erinnern. Je länger wir nun leben, desto
weniger Vorgänge scheinen uns wichtig, oder bedeutend genug, um
hinterher noch ruminirt zu werden, wodurch allein sie im Gedächtnis
sich fixiren könnten: sie werden also vergessen, sobald sie vorüber
sind. So läuft denn die Zeit immer spurloser ab. -- Nun ferner das
Unangenehme ruminiren wir nicht gern, am wenigsten aber dann, wenn es
unsere Eitelkeit verwundet, welches sogar meistens der Fall ist; weil
wenige Leiden uns ganz ohne unsere Schuld getroffen haben. Daher also
wird ebenfalls viel Unangenehmes vergessen. Beide Ausfälle nun sind
es, die unsere Erinnerung so kurz machen, und verhältnismäßig immer
kürzer, je länger ihr Stoff wird. Wie die Gegenstände auf dem Ufer,
von welchem man zu Schiffe sich entfernt, immer kleiner, unkenntlicher
und schwerer zu unterscheiden werden; so unsere vergangenen Jahre, mit
ihren Erlebnissen und ihrem Tun. Hiezu kommt, daß bisweilen Erinnerung
und Phantasie uns eine längst vergangene Szene unseres Lebens so
lebhaft vergegenwärtigen wie den gestrigen Tag; wodurch sie dann ganz
nahe an uns herantritt; dies entsteht dadurch, daß es unmöglich ist,
die lange zwischen jetzt und damals verstrichene Zeit uns ebenso zu
vergegenwärtigen, indem sie sich nicht so in einem Bilde überschauen
läßt, und überdies auch die Vorgänge in derselben größtenteils
vergessen sind, und bloß eine allgemeine Erkenntnis _in abstracto_ von
ihr übriggeblieben ist, ein bloßer Begriff, keine Anschauung. Daher
nun also erscheint das längst Vergangene im einzelnen uns so nahe, als
wäre es erst gestern gewesen, die dazwischen liegende Zeit aber
verschwindet, und das ganze Leben stellt sich als unbegreiflich kurz
dar. Sogar kann bisweilen im Alter die lange Vergangenheit, die wir
hinter uns haben, und damit unser eigenes Alter, im Augenblick uns
beinahe fabelhaft vorkommen; welches hauptsächlich dadurch entsteht,
daß wir zunächst noch immer dieselbe, stehende Gegenwart vor uns sehn.
Dergleichen innere Vorgänge beruhen aber zuletzt darauf, daß nicht
unser Wesen an sich selbst, sondern nur die Erscheinung desselben in
der Zeit liegt, und daß die Gegenwart der Berührungspunkt zwischen
Objekt und Subjekt ist. -- Und warum nun wieder erblickt man in der
Jugend das Leben, welches man noch vor sich hat, so unabsehbar lang?
Weil man Platz haben muß für die grenzenlosen Hoffnungen, mit denen
man es bevölkert, und zu deren Verwirklichung Methusalem zu jung
stürbe; sodann, weil man zum Maßstabe desselben die wenigen Jahre
nimmt, welche man schon hinter sich hat und deren Erinnerung stets
stoffreich, folglich lang ist, indem die Neuheit alles bedeutend
erscheinen ließ, weshalb es hinterher noch ruminirt, also oft in der
Erinnerung wiederholt und dadurch ihr eingeprägt wurde.

Bisweilen glauben wir, uns nach einem fernen *Orte* zurückzusehnen,
während wir eigentlich uns nur nach der *Zeit* zurücksehnen, die wir
dort verlebt haben, da wir jünger und frischer waren. So täuscht uns
alsdann die Zeit unter der Maske des Raumes. Reisen wir hin, so werden
wir der Täuschung inne. --

Ein hohes Alter zu erreichen, gibt es, bei fehlerfreier Konstitution,
als _conditio sine qua non_, zwei Wege, die man am Brennen zweier
Lampen erläutern kann: die eine brennt lange, weil sie, bei wenigem
Öl, einen sehr dünnen Docht hat; die andere, weil sie, zu einem
starken Docht, auch viel Öl hat: das Öl ist die Lebenskraft, der Docht
der Verbrauch derselben auf jede Art und Weise.

Hinsichtlich der *Lebenskraft* sind wir, bis zum 36sten Jahre, denen
zu vergleichen, welche von ihren Zinsen leben: was heute ausgegeben
wird, ist morgen wieder da. Aber von jenem Zeitpunkt an ist unser
Analogon der Rentier, welcher anfängt, sein Kapital anzugreifen. Im
Anfang ist die Sache gar nicht merklich: der größte Teil der Ausgabe
stellt sich immer noch von selbst wieder her: ein geringes Defizit
dabei wird nicht beachtet. Dieses aber wächst allmälig, wird merklich,
seine Zunahme selbst nimmt mit jedem Tage zu: sie reißt immer mehr
ein, jedes Heute ist ärmer als das Gestern, ohne Hoffnung auf
Stillstand. So beschleunigt sich, wie der Fall der Körper, die Abnahme
immer mehr, -- bis zuletzt nichts mehr übrig ist. Ein gar trauriger
Fall ist es, wenn beide hier Verglichene, Lebenskraft und Eigentum,
wirklich zusammen im Wegschmelzen begriffen sind: daher eben wächst
mit dem Alter die Liebe zum Besitze. -- Hingegen anfangs, bis zur
Volljährigkeit und noch etwas darüber hinaus, gleichen wir,
hinsichtlich der Lebenskraft, denen, welche von den Zinsen noch etwas
zum Kapitale legen: nicht nur das Ausgegebene stellt sich von selbst
wieder ein, sondern das Kapital wächst. Und wieder ist auch dieses
bisweilen, durch die Fürsorge eines redlichen Vormundes, zugleich mit
dem Gelde der Fall. O glückliche Jugend! o trauriges Alter! --
Nichtsdestoweniger soll man die Jugendkräfte schonen. Aristoteles
bemerkt (_Polit. L. ult. c. 5_), daß von den olympischen Siegern nur
zwei oder drei einmal als Knaben und dann wieder als Männer gesiegt
hätten; weil durch die frühe Anstrengung, welche die Vorübung
erfordert, die Kräfte so erschöpft werden, daß sie nachmals, im
Mannesalter, fehlen. Wie dies von der Muskelkraft gilt, so noch mehr
von der Nervenkraft, deren Äußerung alle intellektuelle Leistungen
sind: daher werden die _ingenia praecocia_, die Wunderkinder, die
Früchte der Treibhauserziehung, welche als Knaben Erstaunen erregen,
nachmals sehr gewöhnliche Köpfe. Sogar mag die frühe, erzwungene
Anstrengung zur Erlernung der alten Sprachen schuld haben an der
nachmaligen Lahmheit und Urteilslosigkeit so vieler gelehrter Köpfe.
--

Ich habe die Bemerkung gemacht, daß der Charakter fast jedes Menschen
einem Lebensalter vorzugsweise angemessen zu sein scheint; so daß er
in diesem sich vorteilhafter ausnimmt. Einige sind liebenswürdige
Jünglinge, und dann ist's vorbei; andere kräftige, tätige Männer,
denen das Alter allen Wert raubt; manche stellen sich am
vorteilhaftesten im Alter dar, als wo sie milder, weil erfahrener und
gelassener sind: dies ist oft bei Franzosen der Fall. Die Sache muß
darauf beruhen, daß der Charakter selbst etwas Jugendliches,
Männliches oder Ältliches an sich hat, womit das jedesmalige
Lebensalter übereinstimmt, oder als Korrektiv entgegenwirkt.

Wie man, auf einem Schiffe befindlich, sein Vorwärtskommen nur am
Zurückweichen und demnach Kleinerwerden der Gegenstände auf dem Ufer
bemerkt; so wird man sein Alt- und Älterwerden daran inne, daß Leute
von immer höhern Jahren einem jung vorkommen.

Schon oben ist erörtert worden, wie und warum alles, was man sieht,
tut und erlebt, je älter man wird, desto wenigere Spuren im Geiste
zurückläßt. In diesem Sinne ließe sich behaupten, daß man allein in
der Jugend mit vollem Bewußtsein lebte; im Alter nur noch mit halbem.
Je älter man wird, mit desto wenigerem Bewußtsein lebt man: die Dinge
eilen vorüber, ohne Eindruck zu machen; wie das Kunstwerk, welches man
tausendmal gesehn hat, keinen macht: man tut, was man zu tun hat, und
weiß hinterher nicht, ob man es getan. Indem nun also das Leben immer
unbewußter wird, je mehr es der gänzlichen Bewußtlosigkeit zueilt, so
wird eben dadurch der Lauf der Zeit auch immer schleuniger. In der
Kindheit bringt die Neuheit aller Gegenstände und Begebenheiten
jegliches zum Bewußtsein: daher ist der Tag unabsehbar lang. Dasselbe
widerfährt uns auf Reisen, wo deshalb *ein* Monat länger erscheint,
als vier zu Hause. Diese Neuheit der Dinge verhindert jedoch nicht,
daß die, in beiden Fällen, länger scheinende Zeit uns auch in beiden
oft wirklich »lang wird«, mehr als im Alter, oder mehr als zu Hause.
Allmälig aber wird, durch die lange Gewohnheit derselben
Wahrnehmungen, der Intellekt so abgeschliffen, daß immer mehr alles
wirkungslos darüber hingleitet; wodurch dann die Tage immer
unbedeutender und dadurch kürzer werden: die Stunden des Knaben sind
länger als die Tage des Alten. Demnach hat die Zeit unsers Lebens eine
beschleunigte Bewegung, wie die einer herabrollenden Kugel; und wie
auf einer sich drehenden Scheibe jeder Punkt um so schneller läuft,
als er weiter vom Zentro abliegt; so verfließt jedem, nach Maßgabe
seiner Entfernung vom Lebensanfange, die Zeit schneller und immer
schneller. Man kann demzufolge annehmen, daß, in der unmittelbaren
Schätzung unsers Gemütes, die Länge eines Jahres im umgekehrten
Verhältnisse des Quotienten desselben in unser Alter steht: wenn z. B.
das Jahr 1/5 unsers Alters beträgt, erscheint es uns zehnmal so lang,
als wenn es nur 1/50 desselben ausmacht. Diese Verschiedenheit in der
Geschwindigkeit der Zeit hat auf die ganze Art unsers Daseins in jedem
Lebensalter den entschiedensten Einfluß. Zunächst bewirkt sie, daß das
Kindesalter, wenn auch nur etwan 15 Jahre umfassend, doch die längste
Zeit des Lebens, und daher die reichste an Erinnerungen ist; sodann
daß wir durchweg der Langenweile im umgekehrten Verhältnis unsers
Alters unterworfen sind: Kinder bedürfen ständig des Zeitvertreibs,
sei er Spiel oder Arbeit; stockt er, so ergreift sie augenblicklich
entsetzliche Langeweile. Auch Jünglinge sind ihr noch sehr unterworfen
und sehn mit Besorgnis auf unausgefüllte Stunden. Im männlichen Alter
schwindet die Langeweile mehr und mehr: Greisen wird die Zeit stets zu
kurz und die Tage fliegen pfeilschnell vorüber. Versteht sich, daß ich
von Menschen, nicht von altgewordenem Vieh rede. Durch diese
Beschleunigung des Laufes der Zeit fällt also in spätern Jahren
meistens die Langeweile weg, und da andrerseits auch die
Leidenschaften, mit ihrer Qual, verstummen; so ist, wenn nur die
Gesundheit sich erhalten hat, im Ganzen genommen, die Last des Lebens
wirklich geringer als in der Jugend: daher nennt man den Zeitraum,
welcher dem Eintritt der Schwäche und der Beschwerden des höhern
Alters vorhergeht, »die besten Jahre«. In Hinsicht auf unser
Wohlbehagen mögen sie es wirklich sein: hingegen bleibt den
Jugendjahren, als wo alles Eindruck macht und jedes lebhaft ins
Bewußtsein tritt, der Vorzug, die befruchtende Zeit für den Geist, der
blütenansetzende Frühling desselben zu sein. Tiefe Wahrheiten nämlich
lassen sich nur erschauen, nicht errechnen, d. h. ihre erste
Erkenntnis ist eine unmittelbare und wird durch den momentanen
Eindruck hervorgerufen: sie kann folglich nur eintreten, so lange
dieser stark, lebhaft und tief ist. Demnach hängt, in dieser Hinsicht,
alles von der Benutzung der Jugendjahre ab. In den späteren können wir
mehr auf andere, ja, auf die Welt einwirken: weil wir selbst vollendet
und abgeschlossen sind und nicht mehr dem Eindruck angehören: aber die
Welt wirkt weniger auf uns. Diese Jahre sind daher die Zeit des Tuns
und Leistens; jene aber die des ursprünglichen Auffassens und
Erkennens.

In der Jugend herrscht die Anschauung, im Alter das Denken vor: daher
ist jene die Zeit für Poesie; dieses mehr für Philosophie. Auch
praktisch läßt man sich in der Jugend durch das Angeschaute und dessen
Eindruck, im Alter nur durch das Denken bestimmen. Zum Teil beruht
dies darauf, daß erst im Alter anschauliche Fälle in hinlänglicher
Anzahl dagewesen und den Begriffen subsumirt worden sind, um diesen
volle Bedeutung, Gehalt und Kredit zu verschaffen und zugleich den
Eindruck der Anschauung, durch die Gewohnheit, zu mäßigen. Hingegen
ist in der Jugend, besonders auf lebhafte und phantasiereiche Köpfe,
der Eindruck des Anschaulichen, mithin auch der Außenseite der Dinge,
so überwiegend, daß sie die Welt ansehn als ein Bild; daher ihnen
hauptsächlich angelegen ist, wie sie darauf figuriren und sich
ausnehmen, -- mehr, als wie ihnen innerlich dabei zumute sei. Dies
zeigt sich schon in der persönlichen Eitelkeit und Putzsucht der
Jünglinge.

Die größte Energie und höchste Spannung der Geisteskräfte findet, ohne
Zweifel, in der Jugend statt, spätestens bis ins 35ste Jahr: von dem
an nimmt sie, wiewohl sehr langsam, ab. Jedoch sind die späteren
Jahre, selbst das Alter, nicht ohne geistige Kompensation dafür.
Erfahrung und Gelehrsamkeit sind erst jetzt eigentlich reich geworden:
man hat Zeit und Gelegenheit gehabt, die Dinge von allen Seiten zu
betrachten und zu bedenken, hat jedes mit jedem zusammengehalten und
ihre Berührungspunkte und Verbindungsglieder herausgefunden; wodurch
man sie allererst jetzt so recht im Zusammenhange versteht. Alles hat
sich abgeklärt. Deshalb weiß man selbst das, was man schon in der
Jugend wußte, jetzt viel gründlicher; da man zu jedem Begriffe viel
mehr Belege hat. Was man in der Jugend zu wissen glaubte, das weiß man
im Alter wirklich, überdies weiß man auch wirklich viel mehr und hat
eine nach allen Seiten durchdachte und dadurch ganz eigentlich
zusammenhängende Erkenntnis; während in der Jugend unser Wissen stets
lückenhaft und fragmentarisch ist. Nur *wer alt wird*, erhält eine
vollständige und angemessene Vorstellung vom Leben, indem er es in
seiner Ganzheit und seinem natürlichen Verlauf, besonders aber nicht
bloß, wie die übrigen, von der Eingangs-, sondern auch von der
Ausgangsseite übersieht, wodurch er dann besonders die Nichtigkeit
desselben vollkommen erkennt; während die übrigen stets noch in dem
Wahne befangen sind, das Rechte werde noch erst kommen. Dagegen ist in
der Jugend mehr Konzeption; daher man alsdann aus dem Wenigen, was man
kennt, mehr zu machen imstande ist: aber im Alter ist mehr Urteil,
Penetration und Gründlichkeit. Den Stoff seiner selbsteigenen
Erkenntnisse, seiner originalen Grundansichten, also das, was ein
bevorzugter Geist der Welt zu schenken bestimmt ist, sammelt er schon
in der Jugend ein: aber seines Stoffes Meister wird er erst in späten
Jahren. Demgemäß wird man meistenteils finden, daß die großen
Schriftsteller ihre Meisterwerke um das fünfzigste Jahr herum
geliefert haben. Dennoch bleibt die Jugend die Wurzel des Baumes der
Erkenntnis; wenngleich erst die Krone die Früchte trägt. Wie aber
jedes Zeitalter, auch das erbärmlichste, sich für viel weiser hält als
das ihm zunächst vorhergegangene, nebst früheren; ebenso jedes
Lebensalter des Menschen: doch irren beide sich oft. In den Jahren des
leiblichen Wachstums, wo wir auch an Geisteskräften und Erkenntnissen
täglich zunehmen, gewöhnt sich das Heute mit Geringschätzung auf das
Gestern herabzusehn. Diese Gewohnheit wurzelt ein und bleibt auch
dann, wenn das Sinken der Geisteskräfte eingetreten ist und das Heute
vielmehr mit Verehrung auf das Gestern blicken sollte; daher wir dann
sowohl die Leistungen wie die Urteile unsrer jungen Jahre oft zu
gering anschlagen.

Überhaupt ist hier zu bemerken, daß, ob zwar, wie der Charakter oder
das Herz des Menschen, so auch der Intellekt, der Kopf, seinen
Grundeigenschaften nach, angeboren ist, dennoch dieser keineswegs so
unveränderlich bleibt wie jener, sondern gar manchen Umwandelungen
unterworfen ist, die sogar, im ganzen, regelmäßig eintreten; weil sie
teils darauf beruhen, daß er eine physische Grundlage, teils darauf,
daß er einen empirischen Stoff hat. So hat seine eigene Kraft ihr
allmäliges Wachstum, bis zur Akme, und dann ihre allmälige Dekadenz,
bis zur Imbezillität. Dabei nun aber ist andrerseits der Stoff, der
alle diese Kräfte beschäftigt und in Tätigkeit erhält, also der Inhalt
des Denkens und Wissens, die Erfahrung, die Kenntnisse, die Übung und
dadurch die Vollkommenheit der Einsicht, eine stets wachsende Größe,
bis etwan zum Eintritt entschiedener Schwäche, die alles fallen läßt.
Dies Bestehn des Menschen aus einem schlechthin Unveränderlichen und
einem regelmäßig, auf zweifache und entgegengesetzte Weise,
Veränderlichen erklärt die Verschiedenheit seiner Erscheinung und
Geltung in verschiedenen Lebensaltern.

Im weitern Sinne kann man auch sagen: die ersten vierzig Jahre unsers
Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu, der
uns den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und
allen Feinheiten desselben, erst recht verstehn lehrt.

Gegen das Ende des Lebens nun gar geht es wie gegen das Ende eines
Maskenballs, wenn die Larven abgenommen werden. Man sieht jetzt, wer
diejenigen, mit denen man, während seines Lebenslaufes in Berührung
gekommen war, eigentlich gewesen sind. Denn die Charaktere haben sich
an den Tag gelegt, die Taten haben ihre Früchte getragen, die
Leistungen ihre gerechte Würdigung erhalten und alle Trugbilder sind
zerfallen. Zu diesem allen nämlich war Zeit erfordert. -- Das
Seltsamste aber ist, daß man sogar sich selbst, sein eigenes Ziel und
Zwecke, erst gegen das Ende des Lebens eigentlich erkennt und
versteht, zumal in seinem Verhältnis zur Welt, zu den andern. Zwar
oft, aber nicht immer, wird man dabei sich eine niedrigere Stelle
anzuweisen haben, als man früher vermeint hatte; sondern bisweilen
auch eine höhere, welches dann daher kommt, daß man von der
Niedrigkeit der Welt keine ausreichende Vorstellung gehabt hatte und
demnach sein Ziel höher steckte als sie. Man erfährt beiläufig, was an
einem ist. --

Man pflegt die Jugend die glücklichste Zeit des Lebens zu nennen, und
das Alter die traurige. Das wäre wahr, wenn die Leidenschaften
glücklich machten. Von diesen wird die Jugend hin- und hergerissen,
mit wenig Freude und vieler Pein. Dem kühlen Alter lassen sie Ruhe,
und alsbald erhält es einen kontemplativen Anstrich: denn die
Erkenntnis wird frei und erhält die Oberhand. Weil nun diese, an sich
selbst, schmerzlos ist, so wird das Bewußtsein, je mehr sie darin
vorherrscht, desto glücklicher. Man braucht nur zu erwägen, daß aller
Genuß negativer, der Schmerz positiver Natur ist, um zu begreifen, daß
die Leidenschaften nicht beglücken können und daß das Alter deshalb,
daß manche Genüsse ihm versagt sind, nicht zu beklagen ist. Denn jeder
Genuß ist immer nur die Stillung eines Bedürfnisses: daß nun mit
diesem auch jener wegfällt, ist so wenig beklagenswert, wie daß einer
nach Tische nicht mehr essen kann und nach ausgeschlafener Nacht wach
bleiben muß. Viel richtiger schätzt Plato (im Eingang zur Republik)
das Greisenalter glücklich, sofern es den bis dahin uns unablässig
beunruhigenden Geschlechtstrieb endlich los ist. Sogar ließe sich
behaupten, daß die mannigfaltigen und endlosen Grillen, welche der
Geschlechtstrieb erzeugt, und die aus ihnen entstehenden Affekte einen
beständigen, gelinden Wahnsinn im Menschen unterhalten, solange er
unter dem Einfluß jenes Triebes oder jenes Teufels, von dem er stets
besessen ist, steht; so daß er erst nach Erlöschen desselben ganz
vernünftig würde. Gewiß aber ist, daß, im allgemeinen und abgesehn von
allen individuellen Umständen und Zuständen, der Jugend eine gewisse
Melancholie und Traurigkeit, dem Alter eine gewisse Heiterkeit eigen
ist: und der Grund hievon ist kein anderer, als daß die Jugend noch
unter der Herrschaft, ja dem Frondienst jenes Dämons steht, der ihr
nicht leicht eine freie Stunde gönnt und zugleich der unmittelbare
oder mittelbare Urheber fast alles und jedes Unheils ist, das den
Menschen trifft oder bedroht: das Alter aber hat die Heiterkeit
dessen, der eine lange getragene Fessel los ist und sich nun frei
bewegt. -- Andrerseits jedoch ließe sich sagen, daß nach erloschenem
Geschlechtstrieb der eigentliche Kern des Lebens verzehrt und nur noch
die Schale desselben vorhanden sei, ja, daß es einer Komödie gliche,
die von Menschen angefangen, nachher von Automaten, in deren Kleidern,
zu Ende gespielt werde.

Wie dem auch sei, die Jugend ist die Zeit der Unruhe; das Alter die
der Ruhe: schon hieraus ließe sich auf ihr beiderseitiges Wohlbehagen
schließen. Das Kind streckt seine Hände begehrlich aus, ins Weite,
nach allem, was es da so bunt und vielgestaltet vor sich sieht: denn
es wird dadurch gereizt; weil sein Sensorium noch so frisch und jung
ist. Dasselbe tritt, mit größerer Energie, beim Jüngling ein. Auch er
wird gereizt von der bunten Welt und ihren vielfältigen Gestalten:
sofort macht seine Phantasie mehr daraus, als die Welt je verleihen
kann. Daher ist er voll Begehrlichkeit und Sehnsucht ins Unbestimmte:
diese nehmen ihm die Ruhe, ohne welche kein Glück ist. Im Alter
hingegen hat sich das alles gelegt; teils weil das Blut kühler und die
Reizbarkeit des Sensoriums minder geworden ist; teils weil Erfahrung
über den Wert der Dinge und den Gehalt der Genüsse aufgeklärt hat,
wodurch man die Illusionen, Chimären und Vorurteile, welche früher die
freie und reine Ansicht der Dinge verdeckten und entstellten, allmälig
losgeworden ist; so daß man jetzt alles richtiger und klarer erkennt
und es nimmt für das, was es ist, auch, mehr oder weniger, zur
Einsicht in die Nichtigkeit aller irdischen Dinge gekommen ist. Dies
eben ist es, was fast jedem Alten, selbst dem von sehr gewöhnlichen
Fähigkeiten, einen gewissen Anstrich von Weisheit gibt, der ihn vor
den Jüngern auszeichnet. Hauptsächlich aber ist durch dies alles
Geistesruhe herbeigeführt worden: diese aber ist ein großer
Bestandteil des Glückes, eigentlich sogar die Bedingung und das
Wesentliche desselben. Während demnach der Jüngling meint, daß wunder
was in der Welt zu holen sei, wenn er nur erfahren könnte, wo; ist der
Alte vom Kohelethischen »es ist alles eitel« durchdrungen und weiß,
daß alle Nüsse hohl sind, wie sehr sie auch vergoldet sein mögen.

Erst im spätern Alter erlangt der Mensch ganz eigentlich das
horazische _nil admirari_, d. h. die unmittelbare, aufrichtige und
feste Überzeugung von der Eitelkeit aller Dinge und der Hohlheit aller
Herrlichkeiten der Welt: die Chimären sind verschwunden. Er wähnt
nicht mehr, daß irgendwo, sei es im Palast oder der Hütte, eine
besondere Glückseligkeit wohne, eine größere als im wesentlichen auch
er überall genießt, wenn er von leiblichen oder geistigen Schmerzen
eben frei ist. Das Große und das Kleine, das Vornehme und Geringe,
nach dem Maßstab der Welt, sind für nicht mehr unterschieden. Dies
gibt dem Alten eine besondere Gemütsruhe, in welcher er lächelnd auf
die Gaukeleien der Welt herabsieht. Er ist vollkommen enttäuscht und
weiß, daß das menschliche Leben, was man auch tun mag es
herauszuputzen und zu behängen, doch bald durch allen solchen
Jahrmarktsflitter, in seiner Dürftigkeit durchscheint und, wie man es
auch färbe und schmücke, doch überall im wesentlichen dasselbe ist,
ein Dasein, dessen wahrer Wert jedesmal nur nach der Abwesenheit der
Schmerzen, nicht nach der Anwesenheit der Genüsse, noch weniger des
Prunkes zu schätzen ist. (_Hor. epist. L. I, 12, v. 1-4._) Der
Grundcharakterzug des höhern Alters ist das Enttäuschtsein: die
Illusionen sind verschwunden, welche bis dahin dem Leben seinen Reiz
und der Tätigkeit ihren Sporn verliehen; man hat das Nichtige und
Leere aller Herrlichkeiten der Welt, zumal des Prunkes, Glanzes und
Hoheitsscheins erkannt; man hat erfahren, daß hinter den meisten
gewünschten Dingen und ersehnten Genüssen gar wenig steckt, und ist so
allmälig zu der Einsicht in die große Armut und Leere unsers ganzen
Daseins gelangt. Erst im 70. Jahre versteht man ganz den ersten Vers
des Koheleth. Dies ist es aber auch, was dem Alter einen gewissen
grämlichen Anstrich gibt. --

Gewöhnlich meint man, das Los der Alten sei Krankheit und Langeweile.
Erstere ist dem Alter gar nicht wesentlich, zumal nicht, wenn dasselbe
hoch gebracht werden soll: denn _crescente vita, crescit sanitas et
morbus_. Und was die Langeweile betrifft, so habe ich oben gezeigt,
warum das Alter ihr sogar weniger, als die Jugend, ausgesetzt ist:
auch ist dieselbe durchaus keine notwendige Begleiterin der
Einsamkeit, welcher, aus leicht abzusehenden Ursachen, das Alter uns
allerdings entgegenführt; sondern sie ist es nur für diejenigen,
welche keine anderen, als sinnliche und gesellschaftliche Genüsse
gekannt, ihren Geist unbereichert und ihre Kräfte unentwickelt
gelassen haben. Zwar nehmen, im höhern Alter, auch die Geisteskräfte
ab: aber wo viel war, wird zur Bekämpfung der Langenweile immer noch
genug übrig bleiben. Sodann nimmt, wie oben gezeigt worden, durch
Erfahrung, Kenntnis, Übung und Nachdenken, die richtige Einsicht immer
noch zu, das Urteil schärft sich und der Zusammenhang wird klar; man
gewinnt in allen Dingen mehr und mehr eine zusammenfassende Übersicht
des Ganzen: so hat dann, durch immer neue Kombinationen der
aufgehäuften Erkenntnisse und gelegentliche Bereicherung derselben,
die eigene innerste Selbstbildung in allen Stücken noch immer ihren
Fortgang, beschäftigt, befriedigt und belohnt den Geist. Durch dieses
alles wird die erwähnte Abnahme in gewissem Grade kompensirt. Zudem
läuft, wie gesagt, im Alter die Zeit viel schneller; was der
Langenweile entgegenwirkt. Die Abnahme der Körperkräfte schadet wenig,
wenn man ihrer nicht zum Erwerbe bedarf. Armut im Alter ist ein großes
Unglück. Ist diese gebannt und die Gesundheit geblieben; so kann das
Alter ein sehr erträglicher Teil des Lebens sein. Bequemlichkeit und
Sicherheit sind seine Hauptbedürfnisse: daher liebt man im Alter, noch
mehr als früher, das Geld; weil es den Ersatz für die fehlenden Kräfte
gibt. Von der Venus entlassen, wird man gern eine Aufheiterung beim
Bacchus suchen. An die Stelle des Bedürfnisses zu sehn, zu reisen und
zu lernen ist das Bedürfnis zu lehren und zu sprechen getreten. Ein
Glück aber ist es, wenn dem Greise noch die Liebe zu seinem Studium,
auch zur Musik, zum Schauspiele und überhaupt eine gewisse
Empfänglichkeit für das Äußere geblieben ist; wie diese allerdings bei
einigen bis ins späteste Alter fortdauert. Was einer »an sich hat,«
kommt ihm nie mehr zugute als im Alter. Die meisten freilich, als
welche stets stumpf waren, werden im höhern Alter mehr und mehr zu
Automaten: sie denken, sagen und tun immer dasselbe, und kein äußerer
Eindruck vermag etwas daran zu ändern oder etwas Neues aus ihnen
hervorzurufen. Zu solchen Greisen zu reden, ist wie in den Sand zu
schreiben: der Eindruck verlischt fast unmittelbar darauf. Ein
Greisentum dieser Art ist denn freilich nur das _caput mortuum_ des
Lebens. -- Den Eintritt der zweiten Kindheit im hohen Alter scheint
die Natur durch das, in seltenen Fällen, alsdann sich einstellende
dritte Zahnen symbolisiren zu wollen.

Das Schwinden aller Kräfte im zunehmenden Alter, und immer mehr und
mehr, ist allerdings sehr traurig, doch ist es notwendig, ja
wohltätig, weil sonst der Tod zu schwer werden würde, dem es
vorarbeitet. Daher ist der größte Gewinn, den das Erreichen eines sehr
hohen Alters bringt, die Euthanasie, das überaus leichte, durch keine
Krankheit eingeleitete, von keiner Zuckung begleitete und gar nicht
gefühlte Sterben; von welchem man im zweiten Bande meines Hauptwerkes,
Kap. 41, S. 470 (3. Aufl. 534), eine Schilderung findet. --

Im Upanischad des Veda (_Vol. II, p. 53_) wird *die natürliche
Lebensdauer* auf 100 Jahre angegeben. Ich glaube, mit Recht; weil ich
bemerkt habe, daß nur die, welche das 90ste Jahr überschritten haben,
der *Euthanasie* teilhaftig werden, d. h. ohne alle Krankheit, auch
ohne Apoplexie, ohne Zuckung, ohne Röcheln, ja bisweilen ohne zu
erblassen, meistens sitzend, und zwar nach dem Essen, sterben, oder
vielmehr gar nicht sterben, sondern nur zu leben aufhören. In jedem
früheren Alter stirbt man bloß an Krankheiten, also vorzeitig[W]. --

  [W] [Variante:] Im A. T. wird (Psalm 90, 10) die menschliche
  Lebensdauer auf 70 und, wenn es hoch kommt, 80 Jahre gesetzt, und, was
  mehr auf sich hat, *Herodot* (_I, 32_ und _III, 22_) sagt dasselbe. Es
  ist aber doch falsch und ist bloß das Resultat einer rohen und
  oberflächlichen Auffassung der täglichen Erfahrung. Denn wenn die
  natürliche Lebensdauer 70-80 Jahre wäre, so müßten die Leute zwischen
  70 und 80 Jahren *vor Alter* sterben. Dies aber ist gar nicht der
  Fall: sie sterben, wie die jüngeren, an *Krankheiten*; die Krankheit
  aber ist wesentlich eine Abnormität: also ist dies nicht das
  natürliche Ende. Erst zwischen 90 und 100 Jahren sterben die Menschen,
  dann aber in der Regel *vor Alter*, ohne Krankheit, ohne Todeskampf,
  ohne Röcheln, ohne Zuckung, bisweilen ohne zu erblassen, welches die
  *Euthanasie* heißt. Daher hat auch hier der *Upanischad* recht,
  welcher die natürliche Lebensdauer auf 100 Jahre setzt.

Das menschliche Leben ist eigentlich weder lang noch kurz zu
nennen[X]; weil es im Grunde das Maß ist, wonach wir alle andern
Zeitlängen abschätzen. --

  [X] Denn, wenn man auch noch so lange lebt, hat man doch nie mehr
  inne, als die unteilbare Gegenwart: die Erinnerung aber verliert
  täglich mehr durch die Vergessenheit, als sie durch den Zuwachs
  gewinnt.

Der Grundunterschied zwischen Jugend und Alter bleibt immer, daß jene
das Leben im Prospekt hat, dieses den Tod; daß also jene eine kurze
Vergangenheit und lange Zukunft besitzt; dieses umgekehrt. Allerdings
hat man, wenn man alt ist, nur noch den Tod vor sich; aber wenn man
jung ist, hat man das Leben vor sich; und es fragt sich, welches von
beiden bedenklicher sei, und ob nicht, im ganzen genommen, das Leben
eine Sache sei, die es besser ist hinter sich, als vor sich zu haben;
sagt doch schon Koheleth (7, 2): »der Tag des Todes ist besser denn
der Tag der Geburt.« Ein sehr langes Leben zu begehren, ist jedenfalls
ein verwegener Wunsch. Denn _quien larga vida vive mucho mal vive_
sagt das spanische Sprichwort. --

Zwar ist nicht, wie die Astrologie es wollte, der Lebenslauf der
einzelnen in den Planeten vorgezeichnet; wohl aber der Lebenslauf des
Menschen überhaupt, sofern jedem Alter desselben ein Planet, der
Reihenfolge nach, entspricht, und sein Leben demnach sukzessive von
allen Planeten beherrscht wird. -- Im zehnten Lebensjahre regiert
*Merkur*. Wie dieser bewegt der Mensch sich schnell und leicht, im
engsten Kreise: er ist durch Kleinigkeiten umzustimmen, aber er lernt
viel und leicht, unter der Herrschaft des Gottes der Schlauheit und
Beredsamkeit. -- Mit dem zwanzigsten Jahre tritt die Herrschaft der
*Venus* ein: Liebe und Weiber haben ihn ganz im Besitze. Im
dreißigsten Lebensjahre herrscht *Mars*: der Mensch ist jetzt stark,
heftig, kühn, kriegerisch und trotzig. -- Im vierzigsten regieren die
4 *Planetoiden*: sein Leben geht demnach in die Breite: er ist
_frugi_, d. h. fröhnt dem Nützlichen, kraft der *Ceres*: er hat seinen
eigenen Herd, kraft der *Vesta*: er hat gelernt, was er zu wissen
braucht, kraft der *Pallas*: und als *Juno* regiert die Herrin des
Hauses, seine Gattin[Y]. -- Im fünfzigsten Jahre aber herrscht
*Jupiter*. Schon hat der Mensch die meisten überlebt, und dem jetzigen
Geschlechte fühlt er sich überlegen. Noch im vollen Genuß seiner
Kraft, ist er reich an Erfahrung und Kenntnis: er hat (nach Maßgabe
seiner Individualität und Lage) Autorität über alle, die ihn umgeben.
Er will demnach sich nicht mehr befehlen lassen, sondern selbst
befehlen. Zum Lenker und Herrscher, in seiner Sphäre ist er jetzt am
geeignetsten. So kulminirt Jupiter und mit ihm der Fünfzigjährige. --
Dann aber folgt im sechzigsten Jahre *Saturn* und mit ihm die Schwere,
Langsamkeit und Zähigkeit des *Bleies*:

    _But old folks, many feign as they were dead;
    Unwieldy, slow, heavy and pale as lead[Z],_

    _Rom. et. Jul. A. 2 sc. 5._

  [Y] Die zirka 60 seitdem noch hinzu entdeckten Planetoiden sind eine
  Neuerung, von der ich nichts wissen will. Ich mache es daher mit
  ihnen, wie mit mir die Philosophieprofessoren: ich ignorire sie, weil
  sie nicht in meinen Kram passen.

  [Z]
  Viel Alte scheinen schon den Toten gleich:
  Wie Blei, schwer, zähe, ungelenk und bleich.

Zuletzt kommt *Uranus*: da geht man, wie es heißt, in den Himmel. Den
*Neptun* (so hat ihn leider die Gedankenlosigkeit getauft) kann ich
hier nicht in Rechnung ziehn; weil ich ihn nicht bei seinem wahren
Namen nennen darf, der *Eros* ist. Sonst wollte ich zeigen, wie sich
an das Ende der Anfang knüpft, wie nämlich der Eros mit dem Tode in
einem geheimen Zusammenhange steht, vermöge dessen der Orkus oder
Amenthes der Ägypter (nach Plutarch _de Iside et Os. c. 29_), der
=lambanôn kai didous=, also nicht nur der Nehmende, sondern auch der
Gebende, und der Tod das große _réservoir_ des Lebens ist. Daher also,
daher, aus dem Orkus, kommt alles, und dort ist schon jedes gewesen,
das jetzt Leben hat: -- wären wir nur fähig, den Taschenspielerstreich
zu begreifen, vermöge dessen das geschieht; dann wäre alles klar.

          Ende.




Anmerkungen zur Transkription:

Bei der Transkription erfolgte Korrekturen:

- Im Kontext "gewissermaßen auf einer Akkommodation": statt
"Akkommodation" stand "Akkomodation".

- Im Kontext "pantes hosoi perittoi gegonasin andres, ê kata
philosophian, ê politikên, ê poiêsin ê technas, phainontai
melancholikoi ontes": statt "ontes" stand "sntes".

- Im Kontext "=Dokei de hê eudaimonia en tê scholê einai=": statt
"scholê" stand "ocholê"

- Im Kontext "verbreiteter oder vielmehr angeborener Manie": statt
"Manie" stand "Mannie".

- Im Kontext "Daher wird man z. B. unter fünfzig Engländern": statt
"fünfzig" stand "funfzig".

- Im Kontext "der Mylitta zu Babylon": statt "Babylon" stand "Babylan".

- Im Kontext "Shakespeare, im Othello und im Wintermärchen": statt
"Shakespeare" stand "Shakesspeare".

- Im Kontext "welche bloß ein _opus supererogationis_ ist": statt
"supererogationis" stand "supererogations".

- Im Kontext "Alle jene Vorgaben halten also nicht Stich.": statt
"Vorgaben" stand "Vorgeben".

- Im Kontext "der geringe Erfolg ihres Bestrebens": statt "ihres" stand
"ihrer".

- Im Satz "Zum Wege der *Taten* befähigt vorzüglich das große Herz; zu
dem der *Werke* der große Kopf." wurde "Werke" in gleicher Weise
hervorgehoben wie "Taten".

- Im Kontext "sondern daß er es sei, macht ihn beneidenswert": statt
"beneidenswert" stand "beneidensweit".

- Im Kontext "sind die Data jedem zugänglich, so wird ihre Kombination
es meistens auch sein": statt "meistens" stand "meistes".

- Im Kontext "1. Als die oberste Regel aller Lebensweisheit": aus
Gründen der Konsistenz "1)" geändert zu "1.".

- Im Kontext "wir denken häufig an sie und wenig an alle jene andern
wichtigeren Dinge, die nach unserem Sinne gehn.": statt "unserem" stand
"unseren".

- Im Kontext "daß seine Befriedigung immer nur negativ wirkt und daher
gar nicht direkt empfunden wird" und "im Unglück spüren wir sie gar
nicht": statt "gar nicht" (wie anderswo im Buch verwendet) stand
"garnicht".

- Im Kontext "Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit
der Langenweile": statt "noch" stand "nach".

- Im Kontext "Man kann in diesem Sinne auch sagen,": statt "Man" stand
"Mann".

- Im Kontext "Hat hingegen der Widerwille gegen dieses alles gesiegt":
statt "hingegen" stand "hingegegen".

- Im Kontext "Wer inzwischen Gesellschaft liebt, kann sich aus diesem
Gleichnis die Regel abstrahiren, daß was den Personen seines Umgangs
an Qualität abgeht, durch die Quantität einigermaßen ersetzt werden
muß.": zwei Kommata ergänzt, und statt "Quantität" stand "Quantiät".

- Im Kontext "Furcht vor der *Einsamkeit*": statt "Furcht" stand
"Frucht".

- Im Kontext "daher viele Reiche sich unglücklich fühlen," Semikolon
ersetzt durch Komma.

- Im Kontext "in den sechziger Jahren ist der Trieb zur Einsamkeit":
statt "sechziger" stand "sechsziger".

- Im Kontext "so daß man damit zum =heautontimôroumenos= wird": statt
"heautontimôroumenos" stand "heautontimoroumenos".

- Im Kontext "indem er sich die große Wahrheit verdeutlicht, daß
alles, was geschieht, notwendig eintritt,": statt "daß" stand "das".

- Im Kontext "in der Linken die Tabaksdose, in der Rechten eine Priese
haltend": statt "Rechten" stand "rechten".

- Im Kontext "Denn da die Menschen in der Regel ohne eigenes Urteil
sind und zumal hohe und schwierige Leistungen abzuschätzen durchaus
keine Fähigkeit haben; so folgen sie hier stets fremder Autorität,":
statt "Autorität" (wie anderswo im Buch verwendet) stand "Auktorität".

- Im Kontext "eine falsche, konventionelle, auf willkürlichen
Satzungen beruhende und traditionell unter den höheren Ständen sich
fortpflanzende, auch, wie die Parole, veränderliche Überlegenheit":
statt "eine" stand "ein".

- Im Kontext "Sind nicht fast alle Kriege im Grunde Raubzüge?" war der
Satzanfang klein geschrieben.

- Im Kontext "für den ganzen Menschen,": statt "ganzen" stand "ganen".

- Im Kontext "bei großer Homogeneität": statt "Homogeneität" stand
"Homogenietät".

- Im Kontext "in der Literatur geschrieben": statt "Literatur" stand
"Literartur".

- Im Kontext "außer allem Kontakt": statt "Kontakt" stand "Konkakt".

- Im Kontext "trocknen, im Laufe der Jahre, allmählich zu abstrakten
Begriffen aus": statt "aus" stand "auf".

- Im Kontext "eine bloß vernünftige, ja traditionelle": statt
"vernünftige" stand "venünftige".

- Im Kontext "sie wird geflohen und gehaßt": statt "gehaßt" stand
"gehaß".

- Im Kontext "In diesem Sinne ließe sich behaupten, daß man allein in
der Jugend mit vollem Bewußtsein lebte": statt "Bewußtsein" stand
"Bewußstein".

- Im Kontext "an Geisteskräften und Erkenntnissen täglich zunehmen,":
statt "zunehmen" stand "znuehmen".

- Im Kontext "Diese Gewohnheit wurzelt ein und bleibt auch dann, wenn
das Sinken der Geisteskräfte eingetreten ist": statt "das" stand "des".

- Im Kontext "der Jüngling meint, daß wunder was in der Welt zu holen
sei": statt "daß" stand "das".

- Im Kontext "Amenthes der Ägypter": statt "Ägypter" stand "Ägipter".

- Im Kontext "si scampa così": statt "così" stand "cosi".

- Im Kontext "non è sì tristo cane, che non meni la coda": statt "sì"
stand "si".








End of the Project Gutenberg EBook of Aphorismen zur Lebensweiheit, by
Arthur Schopenhauer

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK APHORISMEN ZUR LEBENSWEISHEIT ***

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