Ravachol und die Pariser Anarchisten

By Arthur Holitscher

The Project Gutenberg eBook of Ravachol und die Pariser Anarchisten, by
Arthur Holitscher

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Title: Ravachol und die Pariser Anarchisten
       Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Band
       8

Author: Arthur Holitscher

Editor: Rudolf Leonhard

Release Date: October 9, 2021 [eBook #66501]

Language: German


Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RAVACHOL UND DIE PARISER
ANARCHISTEN ***


                     AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
                    – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –




                              AUSSENSEITER
                            DER GESELLSCHAFT
                    – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –


                           HERAUSGEGEBEN VON
                            RUDOLF LEONHARD

                                 BAND 8


                          VERLAG DIE SCHMIEDE
                                 BERLIN




                            RAVACHOL UND DIE
                          PARISER ANARCHISTEN


                                  VON
                           ARTHUR HOLITSCHER


                          VERLAG DIE SCHMIEDE
                                 BERLIN


                             EINBANDENTWURF
                              GEORG SALTER
                                 BERLIN


              Copyright 1925 by Verlag Die Schmiede Berlin




Der ewige Zwiespalt, der offenkundige unlösbare Widerspruch, der die
Theoretiker einer revolutionären politischen Richtung von Jenen trennt,
die diese Richtung in die direkte, persönlich unerbittliche Aktion
umsetzen, kam wohl selten mit solcher Vehemenz zum Ausdruck wie gerade
in der Periode „der anarchistischen Attentate“, von der hier die Rede
sein wird.

Ich habe „anarchistisch“ gesagt, aber es ist nicht offenbar, es steht
keineswegs unumstößlich fest, es ließe sich wohl darüber streiten, ob
die Männer, die von 1891 bis 1894 in Frankreich jene Attentate verübten,
Anarchisten waren. Politische Aktionen ähnlicher Art, individuelle
Aktionen, die nur scheinbar durch ein System zusammengehalten sind,
grenzen in ihrem Wesen nahe an Verzweiflungstaten von Menschen, die aus
ihrem rein persönlichen Erleben heraus und nur bedingt aus den Motiven
einer, vom politischen Gesichtspunkt als notwendig erkannten Richtung
handeln. Wenn Aktionen dieser Art sich im Laufe der Zeiten gleichen, so
kann man doch aus der Geschichte den ewig wechselnden Namen der
politischen Richtung verfolgen, die jeweils mit diesen Aktionen
verknüpft, ihnen eine Art Rechtfertigung zu geben scheint. Die Taten der
Nihilisten in Rußland, der Sozialisten in den Anfangsjahrzehnten der
Arbeiter-Organisation, der Anarchisten in Frankreich, sie entsprangen
alle der Not des aufgewühlten Zeitgewissens. Im Grunde waren sie
Manifestationen des stetig gleichbleibenden, seit Urzeiten in die
Menschenseele versenkten revolutionären Triebes: das _Unrecht_ aus der
Welt zu schaffen. Die Auflehnung des Individuums gegen den Staat, der
Kampf gegen die Gesellschaft, die das mitgeborene Recht des Individuums
schmälert und vernichtet.

In seinem grundlegenden Werk „_Der Anarchismus_“ gibt _Paul Eltzbacher_
ein kurzes Résumé der theoretischen Grundlagen der anarchistischen
Lehren und ich will hier einen Abschnitt zitieren, der für den, wenn
auch losen Zusammenhang der anarchistischen Theorie mit den Taten der
Anarchisten, über die hier berichtet werden soll, wesentlich und
wissenswert ist:

„Der Anarchismus,“ sagt Eltzbacher, „ist die rechtsphilosophische
Verneinung des Staates, d. h. diejenige Art der rechtsphilosophischen
Staatslehre, welche den Staat verneint.

Eine anarchistische Lehre kann nicht vollständig sein, ohne anzugeben,
auf was für einer Grundlage sie ruht, was für einen Zustand sie im
Gegensatz zum Staate bejaht, und wie sie sich den Übergang zu diesem
Zustande denkt. Eine Grundlage, eine bejahende Seite und eine
Vorstellung von dem Übergang zu dem, was bejaht wird, sind notwendige
Bestandteile jeder anarchistischen Lehre. Mit Beziehung auf diese
Bestandteile lassen sich folgende _Arten des Anarchismus_ unterscheiden.

1. Der Grundlage nach: der _genetische Anarchismus_, welcher als
höchstes Gesetz menschlichen Verhaltens nur ein _Naturgesetz_ anerkennt
und der _kritische Anarchismus_, welcher als höchstes Gesetz
menschlichen Verhaltens eine Norm betrachtet; als Unterarten des
kritischen Anarchismus der _idealistische Anarchismus_, dessen höchstes
Gesetz eine Pflicht, und der _eudämonistische Anarchismus_, dessen
höchstes Gesetz das Glück ist; und endlich als Unterarten des letzteren
der _altruistische Anarchismus_, für den das Glück der Gesamtheit, und
der _egoistische_, für den das Glück des Einzelnen höchstes Gesetz ist.

2. Nach dem im Gegensatz zum Staat bejahten Zustande lassen sich
unterscheiden: der _föderalistische Anarchismus_, welcher für unsere
Zukunft ein geselliges Zusammenleben der Menschen nach der Rechtsnorm,
daß Verträge erfüllt werden müssen, bejaht, und der _spontanistische
Anarchismus_, welcher für unsere Zukunft ein geselliges Zusammenleben
nach einem nichtrechtlichen Gesetz bejaht.

3. Nach der Vorstellung von dem _Übergang zu dem bejahten Zustande_
lassen sich unterscheiden:

Der _reformistische Anarchismus_, welcher sich den Übergang vom Staat zu
dem im Gegensatz zu ihm bejahten Zustand _ohne Rechtsbruch_ denkt, und
der _revolutionäre Anarchismus_, welcher sich diesen Übergang _als
Rechtsbruch_ denkt. Als Unterarten dieses revolutionären Anarchismus:
der _renitente Anarchismus_, der sich den Rechtsbruch ohne Anwendung von
Gewalt denkt, und der _insurgente Anarchismus_, der sich ihn unter
Anwendung von Gewalt denkt.“

Eltzbacher, der das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Abhandlung
besonders aus den Schriften von sieben der hervorragendsten Theoretiker
der anarchistischen Lehre, nämlich _Godwin_, _Proudhon_, _Stirner_,
_Bakunin_, _Kropotkin_, _Tucker_ und _Tolstoj_ schöpft, schreibt zu
diesen letzteren Arten des Anarchismus, nämlich dem _renitenten_
Anarchismus, der sich den Rechtsbruch ohne Anwendung von Gewalt denkt,
die Namen: Tucker und Tolstoj, und zu dem _insurgenten_ Anarchismus, der
sich den Rechtsbruch _aktiv_ und _unter Anwendung von Gewalt denkt_, die
Namen Stirner, Bakunin, Kropotkin. –

Unter diesen dreien war es besonders _Kropotkin_, der sich eine klare
Vorstellung von der Anwendung der Gewalt, der Propaganda durch die Tat
gemacht hat. Es ist dies nicht weiter zu verwundern, denn Kropotkin war
es ja, neben Bakunin und Tolstoj, der die Gewalt der zaristischen
Unterdrückung, der grausamen Bekämpfung der Freiheit des Individuums am
tiefsten, am eigenen Leben, an der eigenen Seele, an der Freiheit des
Körpers und des Gedankens erfahren hat.

In seinem Buche: „_Worte eines Empörers_“ gibt er eine klare Darstellung
des Propagandisten der Tat, wie er auch über die Notwendigkeit einer
solchen Propaganda, über das Verhältnis der Tat zur Idee, des Täters zur
Allgemeinheit, des begrenzten Ereignisses zur Zukunft Wesentliches
aussagt. Er betont, daß es Aufgabe derjenigen sei, die den Gang der
Entwicklung vorhersehen, die Geister auf die bevorstehende Revolution
vorzubereiten.

„Die Anarchisten,“ sagt er weiter, „sind heute noch eine Minderheit,
aber ihre Zahl wächst täglich, wird immer wachsen und am Vorabend der
Revolution zur Mehrheit werden. Vor allem aber ist das Ziel der
Revolution allgemein bekannt zu machen, damit die Massen von der Idee
ergriffen werden. In Wort und Tat ist dieses Ziel zu verkünden, bis es
durchaus volkstümlich wird, so daß es am Tage der Erhebung in aller
Munde ist.“

„Diese Aufgabe,“ sagt Kropotkin, „ist größer und wichtiger, als man im
allgemeinen annimmt. Denn wenn das Ziel auch einigen wenigen deutlich
vor Augen steht, so ist es doch ganz anders mit den fortwährend von der
Bourgeoispresse bearbeiteten Massen.“

„Der Geist der Empörung,“ sagt Kropotkin ferner, „muß geweckt werden. Es
müssen das Unabhängigkeitsgefühl und die wilde Kühnheit erwachen, ohne
die keine Revolution zustande kommt. Zwischen der friedlichen Erörterung
von Übelständen und dem Aufruhr, der Empörung liegt ein Abgrund,
derselbe Abgrund, der beim größten Teil der Menschheit die Überlegung
von der Tat, den Gedanken vom Willen scheidet. Das Mittel, um diese
beiden Wirkungen zu erzielen, ist: beständiges, unablässiges Handeln
der Minderheiten, denn,“ so meint er: „Mut, Ergebenheit,
Aufopferungsfähigkeit seien ebenso ansteckend wie Feigheit,
Unterwürfigkeit und Angst.“

(Wie sehr Kropotkin in diesen Äußerungen sich als reiner Theoretiker
erweist, erhellt aus der Rolle, die er etwa ein Dritteljahrhundert nach
der Veröffentlichung der „Worte“ gelegentlich der großen
bolschewistischen Revolution Rußlands gespielt hat. Kropotkin hat, als
Anarchist kommunistischer Observanz, in idealistischer Weise und der
gegebenen Wirklichkeit fremd, den Bolschewismus als Mittel zur
Herbeiführung der endlichen Freiheit verkannt. Er hat den „Mut, die
Ergebenheit, die Aufopferungsfähigkeit“ der kleinen initiierenden Gruppe
der Bolschewiki nicht in voller Weise zu würdigen verstanden. Wenn er
sagt, daß diese Eigenschaften ebenso ansteckend seien wie Feigheit,
Unterwürfigkeit und Angst, so hat er im Grunde das Wesen der
bürgerlichen Seele auch nicht bis in seine Tiefen ergründet – denn er
hätte sonst jene kleine Gruppe, die in der Tat Mut, Ergebenheit und
Aufopferungsfähigkeit gegen eine Welt von Feigheit, Unterwürfigkeit und
Angst repräsentierte, wirkungsvoller durch die Macht seiner
Persönlichkeit unterstützen müssen, als er es in Wahrheit getan hat.)

„Welche Formen soll die Propaganda annehmen?“ fragt Kropotkin weiter.
„Jede, die durch die Lage der Dinge, durch Gelegenheit und Neigung
vorgezeichnet wird. Bald mag sie ernst, bald scherzhaft, aber immer muß
sie kühn sein. Bald mag sie von einer Mehrheit, bald von einem Einzelnen
ausgehen. Niemals darf sie ein Mittel unbenutzt, niemals eine Tatsache
des öffentlichen Lebens unbeachtet lassen, um die Geister in Spannung zu
erhalten, der Unzufriedenheit Nahrung und Ausdruck zu geben, den Haß
gegen die Ausbeuter zu schüren, die Regierung lächerlich zu machen, ihre
Ohnmacht darzutun. Vor allem aber muß sie, um die Kühnheit und den Geist
der Empörung zu wecken, immerfort durch das Beispiel predigen.“

Und weiter heißt es: „Männer von Herz, die nicht nur reden, sondern
handeln wollen, reine Charaktere, die Gefängnis, Verbannung und Tod
einem Leben vorziehen, das ihren Grundsätzen widerspricht, kühne
Naturen, die wissen, daß man wagen muß, um zu gewinnen – das sind die
verlorenen Posten, die den Kampf eröffnen, lange, bevor die Massen reif
sind, offen die Fahne der Empörung zu erheben und mit den Waffen in der
Hand das Recht zu suchen. Mitten in dem Klagen, Schwätzen, Erörtern
erfolgt durch einen oder mehrere eine aufrührerische Tat, die die
Sehnsucht Aller verkörpert.“

Schließlich aber kommt Kropotkin auf die Wirkung und somit das
praktische Ergebnis dieser Propaganda zu sprechen, indem er resumiert:
„_Eine einzige Tat macht in wenigen Tagen mehr Propaganda als tausend
Broschüren._ Eine Tat gebiert die andere; Gegner schließen sich dem
Aufruhr an; die Regierung wird uneins, Härte verschärft den Streit;
Zugeständnisse kommen zu spät: _Die Revolution bricht aus._“

                   *       *       *       *       *

Die Spannweite zwischen den angeführten Theorien des Anarchismus und den
Motiven der Propagandisten durch die Tat, wenn man die im Folgenden zu
behandelnden Individuen so nennen darf, ist eine beträchtliche; auch die
eingestandene Auffassung, die diese letzteren von ihrer anarchistischen
Gesinnungspflicht öffentlich kundgegeben haben, entfernt sich von der
eben zitierten Darstellung Kropotkins, in der wir das grundlegende
Bekenntnis eines aktiven Revolutionärs zu sehen haben. Immerhin lassen
sich bei den Geständnissen dieser Propagandisten, in der Motivierung
ihrer Taten vor Gericht, Abstufungen wahrnehmen, welche mehr oder
weniger deutlich ihre Stellung zu der Idee des Anarchismus kundgeben.
Die geringere oder weitere Entfernung ihrer emotionellen Motivierung von
jenem nüchternen und festen Gesetz der Notwendigkeit der
Propagandaaktion, wie sie Kropotkin dargelegt hat, ist weniger an dem
Temperament als an dem Bildungsgrade der Propagandisten zu messen.

Es wäre verkehrt, die Menschen, von deren Taten ich berichten will, als
Verbrecher anzusehen. Verbrecher darf sie nur jener nennen, der sich mit
den Anschauungen der Gesellschaft, wie sie heute besteht, identifiziert.
Wer aber auf dem Standpunkt beharrt, daß die Gesellschaft, in der wir
leben, geändert werden muß, daß sie auf _revolutionäre_ Weise aus ihren
Fugen gebracht werden muß, weil eine evolutionäre die Widerstände
stärkt, statt sie zu vermindern, wer eine freiere, glücklichere,
utopistische Form der Gesellschaft in der Zukunft erkannt hat und
vorbereiten will – wird die anarchistischen Propagandisten nicht als
Verbrecher, sondern als Pioniere einschätzen müssen. Wenn auch ihre
Taten zuweilen das Draufgängertum blindwütigen, rücksichtlosen
Vernichtens von Leben und Eigentum erkennen lassen, so wurzeln diese
Taten doch in einer anderen Sphäre. Folgt man dem Ursprung der Revolte
dieser „Attentäter, Bombenwerfer, Mörder und Räuber“, dieser „Feinde der
Menschheit“, – so findet man in der Ursache ihrer Empörung die Elemente
der sozialen Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, des Elends der
Herkunft, ebenso der ursprünglichen Blutmischung, wie der sozialen
Lebensbedingungen im Elternhaus, der Erziehung – – über all diesem aber
den _Zug der Zeit_.

Der soziale Unfriede manifestiert sich am deutlichsten und
entscheidendsten in Charakteren, die nicht erst die langsame Disziplin
der sozialistischen Parteiorganisation durchmachen können. Er
manifestiert sich in explosiver Form. Seit den Attentaten 1891-94 hat
die revolutionäre Organisation der Massen ungeheure Fortschritte
gemacht. Durch die Organisation aber ist augenscheinlich der
revolutionäre Trieb in den Individuen zurückgedrängt worden, wenn nicht
verkümmert. Organisation bedeutet: Abwälzung der Verantwortung des
Einzelnen auf eine hinter ihm stehende, ihn schützende größere Masse,
und in diesem Sinne fragt es sich, ob die Propaganda durch die Tat des
Einzelnen heute noch stark genug sein könnte, die Organisation, d. h.
die Massen in Bewegung zu setzen. Das Ergebnis besonders der deutschen
Revolution, dieser Revolution eines überorganisierten Proletariats,
antwortet auf diese Frage: Nein.

Besonderen Aufschluß über Wesen und Wirkung der Propagandaaktion des
Einzelnen gibt die Legende, die sich um Namen, Tat, das Leben eines
solchen Einzelnen im Volke bildet. Die Tat des Individuums, das sich von
der Gesamtheit ablöst, übt auf die Masse, in deren Interesse diese Tat
getan worden ist, einen außerordentlichen Zauber, eine starke
Suggestionskraft aus. Dies hat auch Kropotkin erkannt. Ob aber diese
Suggestion, wie Kropotkin meint, eine _aktive Tat der Gesamtheit_
hervorrufen kann, bleibt dahingestellt. Jedenfalls bemächtigt sich das
Bedürfnis der Massen nach Romantik des Lebens des revolutionären
Propagandisten und hüllt es in eine Glorie ein.

Der Name _Ravachol_, der hier öfters erwähnt werden wird, ist auf diese
Art, wie ein Symbol der Empörung, Sprichwort im französischen Volke
geblieben.

Dieser Name _Ravachol_, fremdartig, einprägsam und populär, deckt eine
ganze Epoche des revolutionären Lebens Frankreichs. Man kann nach
anderen Epochen Umschau halten, Epochen, in denen sich große
Staatsaktionen, bedeutsame Erlebnisse des Volkes abgespielt haben, und
wird finden, daß diese in ihrer Gesamtwirkung bedeutsamen Zeitläufte von
keinem einzigen Namen gedeckt werden, wo die Epoche des insurgenten
Anarchismus von 1891-94 in Paris durch den Namen _Ravachol_ gedeckt ist.

Neben diesem Namen büßen jene anderen aus derselben Epoche: Vaillant,
Henry, Caserio einen wesentlichen Teil ihrer Bedeutung ein, obzwar sie
für die Epoche von äußerster Bedeutung geblieben sind, obzwar sie sich
sogar mit den Idealen des aktiven Anarchismus (jedenfalls in dem Fall
Vaillant und Henry) inniger berühren als dies bei Ravachol der Fall ist.
Dieser aber galt und gilt als der _Initiator_, als der Erwecker jener
Epoche, als Der, dessen Tat den revolutionären Instinkt, den immer
gärenden latenten Instinkt zur Menschheitsbefreiung in dem französischen
Volke für eine Zeit entfesselt und aufgerichtet hat.

                   *       *       *       *       *

1891-94.

Die Zeit der Attentate von Ravachol, Vaillant, Henry, Caserio. Die Zeit
des Prozesses der Dreißig.

Die Zeit des Panama-Skandals. Eine Epoche der politischen Korruption,
der Hochkonjunktur des bürgerlichen rücksichtslosen Genußlebens, der
stärksten Konzentration von Industrie- und Finanzkapital zur Ausbeutung
der arbeitenden Massen.

Es war die Zeit vor der Reinigung der Atmosphäre durch die Aktion für
den Kapitän Dreyfus, die Zeit der Präsidentschaft Sadi-Carnots, die das
Regime des alten Grévy abgelöst hatte.

Jules Grévys Präsidentschaft, in deren Zeit die Beängstigung des
republikanischen Frankreichs durch den General Boulanger fiel, versank
im Sumpf des Wilson-Skandals. Kaum hatte die denkwürdige
Schnäbele-Affäre an der elsässischen Grenze die Gefahr eines Krieges
zwischen Frankreich und Deutschland für einen Augenblick aufleben
lassen, da wurde das Interesse des Volkes durch eben jenen Skandal unter
dem Namen Wilson auf den Zustand der bedrohten bürgerlichen Republik
abgelenkt. Wilson, Schwiegersohn des Präsidenten Grévy, hatte für gutes
Geld die Ehrenlegion an Leute verschachert, die alles, nur nicht die
Ehre Frankreichs repräsentierten. Als nun diese übelriechenden
Machenschaften aufgedeckt wurden, blieb Grévy, der von den Geschäften
seines Schwiegersohnes keine Ahnung hatte, nichts übrig, als zu gehen.
Er verließ seinen Posten ohne das Odium des geringsten persönlichen
Makels.

Sadi-Carnot, sein Nachfolger aber übernahm ein so ziemlich außer Rand
und Band geratenes bürgerliches Gemeinwesen. Carnots Regierungsantritt
war durch die Notwendigkeit, mit des Generals Boulanger Agitation
aufzuräumen, belastet. Die Republik war durch den doppelten, sozusagen
konzentrischen Angriff von orleanistischer Seite wie vonseiten ihrer
eigenen bürgerlichen Korruption in schwerste Bedrängnis geraten. Wilsons
Tat deckte ja nur einen Zipfel von dem ungeheuren Schmutz auf, in dem
die Republik Frankreich zu versacken drohte. Sadi-Carnots Regierungsära
hatte außer der Aufglättung des Ehrenlegionsskandals mit üblen Affären
ähnlicher Art zu schaffen, die hervorragende Mitglieder des Pariser
Magistrates durch ihre Geschäfte mit dem Crédit Foncier, in Verbindung
mit dem Comptoir d’Escompte, kompromittierten. Zur gleichen Zeit
explodierte überdies, wie ein Kloakenrohr, die Affäre des Panamakanals
über dem öffentlichen Leben Frankreichs, und der Unflat, der sich auf
solche Weise über das politische Leben des Landes ergoß, blieb auf der
ganzen Regierungsepoche von Sadi-Carnot haften, die man mit diesem
Skandal identifizierte.

All diese Skandalaffären verbreiteten, wie erklärlich, große Erbitterung
und Haß unter den arbeitenden Schichten der Bevölkerung, denen die
Verrottung des Bürgertums, der sie ausbeutenden Klassen, der regierenden
und der Finanz, offenbar geworden war.

Eine Reihe von Streiks bezeichnet die beginnende Unruhe der arbeitenden
Schichten Frankreichs jener Zeit. In den Industriebezirken war diese
Unruhe natürlich am stärksten wahrzunehmen, doch schlug sie ihre Wellen
nach Paris, der Metropole, die ja von jeher das Zentrum jeder
Manifestation des französischen Volkswillens war, die den Pulsschlag der
französischen Energie in allen Phasen der Geschichte vernehmbar
aufgedeckt hat.

Noch hatten die Streiks nicht das Stadium der akuten Revolte erreicht –
da brachte ein Ereignis sozusagen den entscheidenden Schwung in die
gesamte revolutionäre Bewegung.

Im Mai 1890 wurde in dem kleinen Ort Le Raincy bei Paris eine Werkstatt
entdeckt, in der Russen Explosivstoffe und Höllenmaschinen hergestellt
hatten. Wenige Monate später wurde der russische General Seliwerstow,
ehemaliger Polizei-Präfekt von St. Petersburg, auf den Boulevards durch
einen Polen, namens Padlewski, getötet. Padlewski gelang es, mit Hilfe
französischer revolutionärer Sozialisten, die Flucht zu ergreifen. Diese
Tat lenkte die Aufmerksamkeit des Publikums und der Regierung auf die
unzweifelhaft gärenden Elemente der französischen Arbeiterbevölkerung,
die sich schon in den mannigfachen Streiks deutlicher werdend, an die
Oberfläche gewagt hatten. Es kam der _1. Mai 1891_, und mit diesem Datum
beginnt die Ära der anarchistischen Attentate, von der hier die Rede
sein soll.

                   *       *       *       *       *

An diesem 1. Mai 1891 fanden an vielen Orten Manifestationen ernster
Art, Zusammenstöße zwischen Arbeitern und der Polizei statt. In Lyon,
Marseille, Nantes und Charleville kam es zu Konflikten, wobei
gelegentlich die Truppen von der Polizei zu Hilfe gerufen worden waren.
Die beiden bedeutungsvollsten und für die Entwicklung der Dinge
wesentlichsten Ereignisse aber waren die von _Fourmies_ und von
_Clichy_. Man kann sagen, daß diese beiden Ereignisse, die von Fourmies
und von Clichy, den revolutionären Trieb unter den radikalen Elementen
der französischen Arbeiterschaft, vor allem unter den Propagandisten der
Tat, entfesselt haben.

_Fourmies_ ist eine kleine Industriestadt in der Nähe von Avesnes im
Departement Nord und bildet den Mittelpunkt eines großen
Industriebezirkes, in dem hauptsächlich Glasbläsereien und Spinnereien
sich befinden. Ein lokaler Streik, der in Fourmies um die Zeit der
Maifeier ausbrach, drohte bald derartige Dimensionen anzunehmen, daß der
Unterpräfekt der Kreisstadt Avesnes, Isaac, Infanterie zur Unterdrückung
der Unruhen herbeizurufen für gut befand. Die Truppen wurden von einem
Major Chapu befehligt, der, als aus der Menge Steine gegen die Soldaten
geworfen wurden, den Befehl zum Feuern gab. Nach wenigen Augenblicken
bedeckte eine Menge von Toten und Verletzten das Pflaster. Man zählte 40
Schwerverwundete; 2 Männer, 4 Frauen und 3 Kinder waren getötet worden.

Um die gleiche Stunde spielte sich in Clichy, der nördlichen
Arbeitervorstadt von Paris, ein wesentlich harmloseres Ereignis ab,
welches aber, da es den revolutionären Kern Paris berührte, vielleicht
von erheblicheren Folgen begleitet war, als das Ereignis von Fourmies,
das immerhin die Geister noch lange im Banne hielt.

Eine kleine Gruppe von Anarchisten hatte in einem kleinen Café eine
Versammlung abgehalten, bei welcher Gelegenheit die Korruption der
bürgerlichen Republik in gehöriger Weise ihre Kritik abbekam. Nach
Schluß der Versammlung begaben sich die Teilnehmer der Versammlung auf
die Straße. Es war nicht das erste Mal, daß in den Straßen von Paris
eine Gruppe von Menschen unter Vorantragung einer roten Fahne sich
vorwärts bewegte, aber diesmal schien die Polizei strenge Weisung
erhalten zu haben, jede Manifestation revolutionärer Art unnachsichtig
zu unterdrücken. An einer Straßenkreuzung stürzten sich daher die
Polizisten auf die Frau, die die Fahne trug, und auf die kleine Gruppe
von Menschen, die hinter ihr her marschierte. Revolverschüsse fielen –
von beiden Seiten – und das war das Neue an der ganzen Angelegenheit.
Die Polizei verhaftete eine Anzahl von Menschen, brachte sie auf die
Wache, wo die Gefangenen in übelster Weise zugerichtet wurden. Im
französischen Volksmund heißt diese Prozedur: „passer à tabac“, und die
Art und Weise, wie die Gefangenen bei dieser Gelegenheit „vertobakt“
wurden, schien die Gemüter der unteren Schichten von Paris in besonders
starkem Maße aufgebracht zu haben.

Die Polizei behielt drei der Verhafteten, die vor das Gericht gestellt,
in den nächsten Wochen abgeurteilt wurden. Während einer von den dreien
straflos entlassen wurde, erhielten die beiden anderen ungewohnt harte
Strafen, die tatsächlich in keinem Verhältnis zu dem Vergehen standen,
dessen sie beschuldigt waren, namentlich: der Arbeiter _Decamp_ 5 Jahre
Zwangsarbeit, der Arbeiter _Dardare_ 3 Jahre Zwangsarbeit. Das Urteil
der Jury fiel nach Wunsch des Staatsanwaltes aus, der für die
Angeklagten die höchste zulässige Strafe verlangt hatte. Wenn die Jury
auch mildernde Umstände in Anwendung gebracht sehen wollte, weigerte
sich der Präsident des Gerichtshofes doch, diesem Begehren stattzugeben.
Die beiden Arbeiter wanderten ins Zuchthaus, ihr Gedenken lebte in den
Gemütern der Pariser Arbeiterschaft unter dem Stichwort der „_Märtyrer
von Clichy_“ fort.

Die öffentliche Meinung des rasch lebenden Paris hatte diese Märtyrer
und ihre Leiden, wie das Schandurteil des Gerichtes, das sie zu diesem
Leiden verurteilte, bald vergessen – aber die revolutionäre
Arbeiterschaft hatte sie nicht vergessen. Immerhin verging ein halbes
Jahr, ehe sie, und zwar auf eklatante Weise gerächt wurden.

Im März 1892 erfolgten innerhalb weniger Tage drei Ereignisse, die mit
dem Prozesse von Decamp und Dardare zusammenhingen, und die den
sogenannten anarchistischen Terror von 1892-94 einleiteten.

Am 11. März explodierte eine Bombe im Hause des Monsieur Benoit,
Präsidenten des Gerichtshofes, der die beiden Arbeiter verurteilt hatte;
am 15. richtete eine Explosion in der Lobau-Kaserne beträchtlichen
Schaden an; am 27. März aber flog ein Teil des Hauses, in dem Monsieur
Bulot, der Staatsanwalt, wohnte, in die Luft. Auf solche Weise rächte
die Revolution sich an den Vertretern der Staatsgewalt für den 28.
August 1891, an dem die Märtyrer von Clichy ihre ungerechte Strafe
empfangen hatten.

                   *       *       *       *       *

Besonders die Explosion bei Monsieur Benoit, der in einem vornehmen
Hause am Boulevard St. Germain wohnte, und jene andere Explosion, die in
der Rue de Clichy das Haus des Staatsanwaltes Bulot arg beschädigte,
zeigten dem aufschreckenden Volke von Paris, daß ein Wille, ein Plan
hinter diesen Attentaten steckte. Das war es, was am meisten Schrecken
unter der Bevölkerung, besonders dem Magistrat und den Personen der
Regierung verbreitete. Man sah sich plötzlich einer ungekannten,
ungreifbaren, augenscheinlich effektiven Macht gegenübergestellt, die
durch eine _Idee_ geleitet wurde, gleich jener, in deren Dienste man
selber stand. Es war die Idee der _Gewalt_, Gericht gegen Gericht,
Meinung gegen Meinung, Schicksal gegen Schicksal. Das _Volk_ hatte
gesprochen, das stumme, unterdrückte wurde in einer Folge von schrillen
Aufschreien plötzlich laut. Und diese Schreie tönten mitten durch den
Lärm des genießerischen Paris, durch die taumelnden Boulevards. Sie
verkündeten _Revolution_.

Man mußte sich vor der Revolution schützen. Wo aber sie fassen? Die drei
Explosionen bedeuteten dem zynisch leichtlebigen, jede Beängstigung
leichtfertig zum Nervenkitzel degradierenden Paris eine Warnung und
ernste Beunruhigung.

Rascher als man ahnte, entblößte sich die Wurzel des revolutionären
Triebes. Kaum drei Tage nach dem letzten Attentat, dem der Staatsanwalt
zum Opfer fallen sollte, wurde in einem Restaurant am Boulevard Magenta
der Täter verhaftet. Und das kam so. –

Der Kellner des Restaurants Véry, jenes Restaurants am Boulevard
Magenta, bediente am 27. März einen Mann, der sich mit ihm in ein
Gespräch eingelassen hatte. Der Mann frug den Kellner, ob er Soldat
gewesen sei? Der Kellner antwortete „Nein“ und bemerkte, er freue sich
darüber, dem Dienst entronnen zu sein, worauf der Gast ihm den Rat gab,
fleißig anarchistische Zeitungen zu lesen und im Gespräch die Bemerkung
fallen ließ, daß sich vor einigen Stunden in der Clichy-Straße eine neue
Explosion ereignet hätte, die von größerer Wirkung als die neuliche am
Boulevard St. Germain gewesen sei. Es seien diesmal zahlreiche Personen
verwundet worden. – Kurze Zeit, nachdem der Gast gegangen war, brüllten
die Zeitungsjungen die aufregenden Einzelheiten des neuerlichen
Attentates über den Boulevard Magenta. Als der Gast drei Tage später
wieder im Restaurant Véry erschien, schickte der Kellner insgeheim nach
der Polizei. Die Polizei verhaftete den Gast des Restaurants Véry: es
war Ravachol.

                   *       *       *       *       *

Wer aber war _Ravachol_? Der Prozeß vor den Assisen, der sich kaum einen
Monat nach der Verhaftung Ravachols in Paris abspielte, setzte eine der
merkwürdigsten Gestalten des revolutionären Frankreichs ins volle Licht
der Öffentlichkeit.

Ravachol war zur Zeit seiner Verhaftung 32 Jahre alt; ein kleiner
untersetzter Mann von enormen physischen Kräften, dabei von einer
gewissen Sentimentalität beherrscht, die sich in seinem Verhältnis zu
der Frau, mit der er zusammenlebte, wie auch in seinen Anschauungen über
die Pflicht, die der Einzelne seinen leidenden Mitmenschen, besonders
wehrlosen Frauen und hungrigen Kindern gegenüber hat, manifestierte.
Gleichzeitig mit einer aufs höchste entwickelten Zielbewußtheit und
Energie in bezug auf die Aktion, die unternommen werden mußte, um das
Unrecht, das die Gesellschaft an dem leidenden Mitmenschen verübte, aus
der Welt zu schaffen.

Ravachol war das eheliche Kind seines Vaters. Sein richtiger Name war
Franz August Königstein, aber Ravachol hatte den Namen seiner Mutter
angenommen, weil er es ablehnte, in Frankreich als ein Deutscher
herumzulaufen. Seine Kindheit und frühen Mannesjahre spielten sich im
Geburtsort der Mutter, dem Städtchen St. Chamond ab, in dem sich
verschiedene Fabriken befinden, Stahlwerke, Glasbläsereien, Seiden- und
Bänderwirkereien, wie überhaupt dieses ganze Gebiet der oberen Loire
einen der werktätigsten Industriebezirke Frankreichs bildet.

Ravachol, der nicht schwerer als die gesamte andere Bevölkerung unter
der Ausbeutung der Arbeiter dieser Gegend litt, betätigte sich Jahre
lang in verschiedenen Fabriken, zuletzt als Färber, wobei er sich
wahrscheinlich einige grundlegende Kenntnisse in der Chemie anzueignen
verstand. (Diese Kenntnisse hat er später bei der Vorbereitung seiner
Attentate gehörig zu verwerten gewußt.) Bald bekam er das Elendsdasein,
das die Genossen in den Fabriken allzu willig ertrugen, satt. Seinem
phantastischen und ungezügelten Temperament entsprach weder die harte
Fron, die aussichtslose stupide Folge der täglichen eintönigen
Arbeitslast, noch das langsame unabsehbare Spiel der Reformen, zu denen
die Organisationen die Arbeiterschaft zu drillen unternommen hatten.
Natürlich war seines Bleibens, da er seinem Temperament die Zügel
schießen ließ, in den Fabriken der Gegend nicht lange.

Nach einem kleinen mißglückten Versuch, das schöne Silbergeld
Frankreichs durch eigene Stanzapparate herzustellen, unternahm Ravachol
seinen ersten Mord. Er verübte ihn an einem alten alleinstehenden
Edelmann, namens Rivollier, der mit seiner bejahrten Dienerin am Ende
eines Dorfes in der Nähe von St. Chamond hauste. Die Ausbeute an Geld
scheint bei dieser Tat nur eine geringe gewesen zu sein. Nach der Tat
kehrte er an seinen Wohnort zurück, wo er fünf weitere Jahre lebte, ehe
er seine zweite Unternehmung vollbrachte.

Diese war von weitaus geringerer krimineller Bedeutung als die erste.
Eine der vornehmsten aristokratischen Familien der Umgebung, die Familie
der Grafen von Rochetaillée hatte eine Angehörige verloren: eine alte
Dame, von der die Sage ging, sie habe in ihrem letzten Willen den Wunsch
geäußert, mitsamt ihrem wertvollen Schmuck begraben zu werden. Einige
Wochen nach dem Begräbnis der alten Dame wurde das Gewölbe des
Erbmausoleums erbrochen gefunden, die Platten von dem Grabe waren mit
ungeheuerlicher Kraft beiseite geschoben, ein kleines Holzkreuz und eine
geweihte Medaille lagen auf dem Boden neben dem Sarkophag, in dem die
alte Dame ruhte – die, wie man bei dieser Gelegenheit erfuhr, als
einzigen Schmuck eben nur diese beiden kümmerlichen Stücke mit ins Grab
bekommen hatte. Dies war Ravachols zweite Tat.

Die dritte, die er wenige Wochen später, und zwar Mitte Juni 1891
ebenfalls in der Nähe seines Wohnortes verübte, war der Mord an dem
„Eremiten“. Der alte Brunel, von der Bevölkerung der Eremit genannt,
lebte vom Beten, Prophezeien und von der Weiterleitung der Wünsche der
Landbevölkerung an den lieben Gott. Er bekam für diese Betätigung von
den abergläubischen Bauern und Bäuerinnen Lebensmittel, abgelegte
Kleider und Geld. Ravachol dürfte, als er den Alten in seiner Hütte
erwürgte, in allen möglichen Behältern, Pfannen, Matratzen, in allen
Winkeln und Verstecken etwa 5000 Franken erbeutet haben. Dieser Schatz
bestand aus Gold-, Silber- und Kupfermünzen. Die Kupfermünzen ließ
Ravachol liegen, den Rest schleppte er mit, wurde aber von der
Gendarmerie nach kurzer Zeit verhaftet und konnte diesmal nur durch
einen glücklichen Zufall entwischen.

Einige Monate später sehen wir Ravachol mitsamt seinem Freunde und einer
Freundin, bei denen er einige Zeit lang Unterkunft gefunden hatte,
seinen Weg nach Paris nehmen, und zwar nach St. Denis, einem nördlichen
Vorort, der seit langem, auch heute noch als Brennpunkt der
revolutionären Arbeiterbewegung bekannt ist.

Ravachol, der in St. Denis unter dem Namen Louis Léger lebte, trat bald
nach seiner Ankunft mitsamt seinem Freund Jus-Béala einer Gruppe aktiver
Anarchisten bei, die die antimilitaristische Propaganda zur
hauptsächlichsten Aufgabe ihrer Aktivität gemacht hatte. Die Gedanken
dieser Gruppe faßten bald starke Wurzeln in Ravachols Hirn und Herz, und
da ihn ein Zufall binnen kurzem in den Besitz einer großen Menge von
Dynamit-Patronen brachte, unternahm er es, die Märtyrer von Clichy auf
eigene Faust zu rächen. Es war gerade die Zeit, in der das Gedächtnis
von Decamp und Dardare den revolutionären Flügel der Pariser
Arbeiterschaft besonders heftig irritierte. Mit einigen Genossen, unter
denen sich auch der spätere Judas der Gruppe befand, gelang es Ravachol,
jenen Diebstahl von Dynamit-Patronen bei einem Erdbauunternehmer namens
Couézy, in Soisy-sous-Étiolles bei Paris durchzuführen. Nach einer
Version sollen es bloß 120 Patronen gewesen sein, eine andere Version
aber spricht von 400. Jedenfalls erregte der Diebstahl bald die
Aufmerksamkeit der Polizei, die mit voller Energie in allen möglichen
Quartieren, wo Anarchisten wohnten oder vermutet wurden, rund um Paris
Haussuchungen veranstaltete. Ravachol indes war mitsamt seiner Beute
bereits nach einem anderen Vorort von Paris übersiedelt, dem Ort St.
Mandé im Osten der Stadt. Sein Plan stand fest: er war berufen, das
Leiden der ungerecht und allzu hart Verurteilten Decamp und Dardare an
den beiden Personen heimzusuchen, die als Exekutivbeamte des Staates die
größte Schuld zu tragen schienen. So kamen die Explosionen bei Benoit
und Bulot zustande.

Die zweite in der Reihe der Explosionen, nämlich die in der
Lobau-Kaserne war, wie man später erfuhr, das Werk des Anarchisten
_Meunier_, desselben, der am Vorabend des Prozesses gegen Ravachol eine
Bombe in dem Restaurant Véry am Boulevard von Magenta niederlegte, in
dem Ravachol verhaftet worden war. (Dieses Attentat, das Meunier
zusammen mit einem jungen Genossen namens Francis unternommen hatte,
verursachte den Tod des Wirtes Véry und eines zufälligen Besuchers. Es
erregte in Paris ungeheuren Schrecken und Entsetzen, weil man in ihm,
mit Recht, die systematische Fortsetzung der durch Ravachol begonnenen
Aktionen erblickte.)

Meunier wurde erst zwei Jahre später entdeckt, verhaftet und zu
lebenslänglicher Zwangsarbeit deportiert. –

                   *       *       *       *       *

Am 26. April 1892 begann der erste Prozeß gegen Ravachol vor dem
Schwurgericht in Paris; der zweite und letzte Prozeß gegen Ravachol aber
fand zwei Monate später vor dem Schwurgericht in Montbrison statt.

Die Zweiteilung der Anklage hatte außer formal juristischen Gründen auch
noch andere, die angesichts der gefährdeten Lage der Pariser Bevölkerung
als motiviert angesehen werden konnten. Während nämlich in Paris nur die
Dynamit-Anschläge verhandelt wurden, jene beiden letzten Taten
Ravachols, die ja eigentlich keinen Verlust von Menschenleben verursacht
hatten und daher auch keine ausdrückliche Veranlassung zu Todesstrafen
werden mußten, wurde in Montbrison Ravachol zweier vollendeten
Morddelikte sowie des Leichenraubes an der Gräfin angeklagt, und hier
war es schon weitaus plausibler, ein Todesurteil zu fällen.

In Paris, wo als Zeugen gerade jene beiden hohen Justizbeamten, gegen
die Ravachols Attentate gerichtet waren, vorgeladen wurden, lag die
Gefahr nahe, daß sich bei einem Todesurteil der Zündstoff des
revolutionären Hasses wieder kumulieren und zu einer Entladung drängen
könnte. Ein Todesurteil in Montbrison aber konnte sozusagen diesen Haß
und diese Gefahr von Paris geographisch ablenken. Man hat den Pariser
Assisen, als sie Ravachol zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilten,
Feigheit vorgeworfen, aber Erstaunen mischte sich mit Beruhigung.
Ravachol nicht zum Tode verurteilt? Die Rachegier des erschütterten
Bürgertums überwog diesmal nicht die Erleichterung, die man empfand; so
sehr war die öffentliche Meinung durch die Tat Ravachols und Meuniers
eingeschüchtert. Zudem wußte man ja, und es war rechtzeitig verkündet
worden, daß in Montbrison die Morde Ravachols mit dem Todesurteil
gesühnt werden sollten. Dieses Todesurteil hat dann, wie wir sehen
werden, auch wieder eine Reihe von Dynamit-Anschlägen nach sich gezogen.
Sie waren über Frankreich, die Provinz, ja das Ausland verstreut; Paris
selber blieb einstweilen von den Aktionen der Anarchisten verschont.

Während vor dem Pariser Schwurgericht eine Reihe von Angeklagten auf der
Bank neben Ravachol Platz genommen hatte, Jus-Béala, der Freund,
Mariette Soubert, seine Geliebte, der Judas Chaumentin und ein Pariser
Lausbub, _Simon_, genannt _Biscuit_, waren in Montbrison nur Jus-Béala
und Mariette mitangeklagt – diese beiden übrigens, in Paris wie in
Montbrison, freigesprochen.

In Paris verteidigte sich Ravachol mit Festigkeit und nicht ohne Würde.
Er sagte: Ich habe meine Taten aus folgenden Gründen verübt. Herr Benoit
hat Decamp und die anderen zu den höchsten, zulässigen Strafen
verurteilt, während die Jury die geringsten vorgeschlagen hatte. Die
Polizei hat die Verhafteten von Clichy auf schmählichste Weise
mißhandelt. All dies war unerträglich. Ich habe meine Taten begangen, um
die verantwortlichen Lenker, die Staatsjustiz zu belehren, daß ihrer
Härte _unsere_ Härte gegenübersteht. Wohl sind die unschuldigen Opfer
meiner Taten zu beklagen, und ich bin der erste, der sie beklagt, denn
mein Leben war voll von Bitternis; ich bedauere auch, daß hier auf der
Bank neben mir Menschen als Angeklagte sitzen, deren Vergehen nur darin
bestand, daß sie mich gekannt haben! Ich habe im Namen der Anarchie
gehandelt, die eines Tages die große Familie der Menschheit bedeuten
wird, und in jener Zeit wird es keine Hungernden mehr geben. Die
Schreckensakte, die ich begangen habe, sollten ein Signal für das
Bürgertum sein: _daß wir leben_, und daß man uns erkennen solle als das,
was wir sind: die einzigen Verteidiger der Unterdrückten.

Auf die Frage nach den Dynamit-Patronen, die aus seiner Behausung
verschwunden waren, verweigerte Ravachol die Antwort.

_Simon_ der Zwieback dagegen stellte seinen Standpunkt mit aller
Lebhaftigkeit und unbekümmerten Unverschämtheit des vorlauten Gamins
dar, wie ihn die Vorstadt jeder großen Metropole kennt. Er wurde
gleichzeitig mit Ravachol zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt und
beendete sein junges Leben einige Jahre später gelegentlich einer
Revolte in der Strafkolonie. –

Die beiden Monate zwischen dem Pariser Rechtsverfahren und dem vor den
Assisen in Montbrison verbrachte Ravachol in einer Art Käfig, immerfort
von Wächtern umschlichen und beobachtet, körperlich mürbe gemacht, doch
in ungebrochener geistiger Energie. Das Todesurteil löste in ihm nur den
Hochruf auf die Anarchie aus, keine Schwäche. Er wies es zurück, die
Nichtigkeitsbeschwerde an die weltliche Behörde einzureichen, wie er
einige Wochen später, am 10. Juli, im Hofe vor der Guillotine die
„Segnungen der Kirche“, das heißt den Appell an die göttliche Gnade
zurückwies – das Kruzifix, das ihm der Anstaltsgeistliche vorhielt, war
ihm mehr Sinnbild des gekreuzigten Proletariats als Symbol der irdischen
Gerechtigkeit. Es wird berichtet, daß Ravachol einen populären
Gassenhauer sang, während er durch den Gefängnishof zum Blutgerüst
schritt. Die Strophe lautet:

   „Pour être heureux, nom de Dieu,
   Il faut tuer les propriétaires,
   Pour être heureux, nom de Dieu,
   Il faut couper les curés en deux,
   Pour être heureux, nom de Dieu,
   Il faut mettre le bon Dieu dans la merde!“

Schon während des Prozesses, der Ravachol vor die Pariser Assisen
stellte, hatte sich die Legende um seinen absonderlich revolutionär
klingenden Namen gewoben. Die beflügelte, rhythmische Phantasie des
Volkes von Paris bemächtigte sich der Taten und der Gestalt des Rächers
der Armen. Nach der Melodie der „Carmagnole“ entstand um diese Zeit ein
Lied zur Verherrlichung Ravachols. „La Ravachole“. Die erste Strophe
lautet:

   „Dans la grande ville de Paris,
   Y a des bourgeois bien nourris;
     Y a aussi des miséreux,
     Qui ont le ventre bien creux.
   Ceux-là ont les dents longues –
   Vive le son, vive le son,
   Ceux-là ont les dents longues,
     Vive le son de l’explosion!“

CHORUS:

   „Dansons la Ravachole,
     Vive le son, vive le son,
   Dansons la Ravachole,
     Vive le son d’ l’explosion!
   Ah, ça ira, ça ira, ça ira,
   Tous les bourgeois gout’ront de la bombe!
   Ah, ça ira, ça ira, ça ira,
   Tous les bourgeois, on les sautera!“

Außerdem entstand in diesen Tagen das lebhaft stampfende, an den Tanz um
die Guillotine der Großen Revolution gemahnende „Dynamit-Lied“:

   „Danse, dynamite,
   Danse, danse vite,
   Dansons, chantons:
   Dynamitons, dynamitons!“

Nach Ravachols Verhaftung, während seiner Prozesse, nach seinem Tode
erfolgte eine Reihe von Dynamit-Explosionen, und zwar waren es die
hauptsächlichsten Konzentrationspunkte Frankreichs und des Auslandes, in
denen Gruppen sympathisierender Revolutionäre existierten, die von
solchen Explosionen betroffen wurden.

Indes, es hatte den Anschein, als wollte die Welle der anarchistischen
Aktivität abebben, bis an einem Dezembertage des folgenden Jahres, 1893,
ein neues bedeutungsvolles Attentat die Welt über die weitergehende
Gärung des revolutionären Frankreichs belehrte.

                   *       *       *       *       *

Diesmal wies der geheimnisvolle Finger der Volksjustiz auf einen Herd
der Unterdrückung, den Krebsschaden des Klassenstaates, auf das
Exekutivorgan des Willens der Minderheit gegen die großen Massen des
Volkes: das Parlament.

Am 9. Dezember 1893 warf _August Vaillant_ von der Galerie der Pariser
Kammer, des Palais Bourbon, eine Bombe in den Saal, in dem das
Ministerium Casimir-Périer und sämtliche Abgeordnete unter dem Vorsitz
von Dupuy ihre Nachmittagssitzung abhielten.

Die Vorgeschichte dieses Attentates ist in kurzem folgende:

Unmittelbar nach dem Dynamit-Diebstahl in dem Pariser Vorort
Soisy-sous-Étiolles hatte die Regierung, deren Oberhaupt Emile Loubet,
nachmaliger Präsident der Republik war, der Kammer eine Gesetzesvorlage
überwiesen, kraft der jeder, der bei der Verübung eines
Dynamit-Attentates gleich jenem in der Lobau-Kaserne betroffen würde,
die Todesstrafe erleiden sollte. Wie wir gesehen haben, war diese
Gesetzesvorlage nicht imstande, die knapp darauf folgenden
Dynamitanschläge zu verhüten. Gegen Ende 1892 trat das Kabinett Loubet
zurück. Ihm folgte ein kurzlebiges unter der Führung Ribots, das schon
im März 1893 das Zeitliche segnete.

Ribots Nachfolger war Charles Dupuy, konservativer Republikaner von
ausgesprochen reaktionärer Färbung, ein in den Kreisen der
Arbeiterschaft verrufener Mann, verhaßt vor allem wegen eines durch
nichts motivierten Vorgehens gegen die Arbeits-Börse und verschiedene
Gewerkschaftssyndikate im Lande. (Dupuys Vorgehen wurde immerhin Ursache
einer starken Vermehrung der radikalen republikanischen und
sozialistischen Parteien gelegentlich der Wahlen im August-September
1893.)

Die Zusammensetzung der Kammer hatte diesmal den Rücktritt verschiedener
Minister aus dem Kabinett Dupuy zur Folge. Das Kabinett selbst ging in
die Brüche und der 1. Dezember 1893 sah den Aufstieg eines Ministeriums
Casimir-Périer, das sich aber in der Hauptsache infolge des
Trägheits-Gesetzes der Politik immer noch aus gemäßigten, ja
konservativen Elementen zusammensetzte. Dupuy und Casimir-Périer
tauschten nun ihre Plätze. Der letztere überließ den Stuhl des
Kammerpräsidenten dem ersteren, so daß in jener denkwürdigen Sitzung vom
9. Dezember Dupuy im Präsidentschaftssessel der Kammer saß, während auf
dem Ministerpräsidenten-Fauteuil Casimir-Périer seinen Platz eingenommen
hatte. –

Vaillants Bombe war vor allem diesen beiden Männern zugedacht. Durch
einen Zufall explodierte sie aber nicht in dem Raum zwischen Dupuy und
der Ministerreihe, sondern an einem Seitenpfeiler des Balkons, so daß
mehr Besucher der Galerie von den umherfliegenden Nägeln, Eisenstücken
und sonstigen Projektilen verletzt wurden als Mitglieder der Kammer. Im
Augenblick, nachdem der Effekt der Detonation und des Schreckens
überwunden war, sprach Dupuy, der reglos auf dem Präsidentensessel
verharrt war, die legendär und historisch gewordenen Worte: „Die Sitzung
nimmt ihren Fortgang.“

Wer war dieser _Vaillant_, der den Faden zerschnitt, an dem die
Damokles-Bombe des Volkswillens über dem Haupt der Deputierten und
Minister Frankreichs hing?

_Vaillant_, ein uneheliches Kind, hatte das elende Leben des
gesellschaftlichen Parias bis zur Neige gekostet. Mit 14 Jahren auf sich
selber angewiesen, trieb ihn die Not des Lebens von einer Arbeitsstätte
zur anderen. Auf seinen regellosen Wanderungen kam er nach Algier, dann
sogar bis Argentinien, wo er Land aufnahm, ohne sich als Farmer
irgendwie bewähren zu können. In Buenos-Aires erschien zu dieser Zeit
das Anarchistenblatt „La Liberté“, wie um 1893/94 Zentral- und
Südamerika überhaupt ein Mittelpunkt der anarchistischen Weltagitation
genannt werden konnte. Ruhelos wanderte Vaillant von Kontinent zu
Kontinent. Ohne einen Pfennig kehrte er nach Frankreich zurück, mit ihm
seine kleine Tochter Sidonie, die ihm sein frühverstorbenes Weib
hinterlassen hatte. Nach schwierigem Kampf, vom Mißgeschick mehr als
notwendig verfolgt, gelang es Vaillant endlich in Paris einen elenden
Posten in einem kleinen Laden zu ergattern. Von seinem Monatsgehalt,
ganzen 80 Franken, mußte er sich und sein Kind erhalten. Es wird
berichtet, daß er bei seinen Arbeitgebern und im Kreise seiner Genossen
als der arbeitswilligste, dabei nüchternste, rechtschaffenste,
bescheidenste Mensch bekannt gewesen sei, ein Mann von träumerischer und
zarter Veranlagung. Auch in ihm hatte die Idee des Anarchismus Fuß
gefaßt, – nicht mit der Gewaltsamkeit, wie sie das in der wilden,
muskulösen Robustheit Ravachols getan hatte, all sein Sinnen
konzentrierte sich vielmehr in einer verzweifelten Auflehnung gegen das
Unrecht, das den Armen, den Schwachen, den Zarten, den Hilflosen in
dieser Welt der schamlosen Ungerechtigkeit geschieht.

Casimir-Périer, ein Mann von als außerordentlich anerkannten Fähigkeiten
brachte es zuwege, mit seinen politischen Funktionen den Besitz eines
der größten Grubengebiete von Frankreich zu vereinen. Dieses Gebiet von
Anzin, dessen Direktor er war, ehe er die politische Karriere einschlug,
war einer der berüchtigtsten Schauplätze des ewigen erbitterten Kampfes
zwischen den Besitzern und den Arbeitern, zwischen Kapital und
Ausgebeuteten. Und Casimir-Périer, dem man geheime Beziehungen zu den
Royalisten und den Klerikalen, also zur ausgesprochenen Reaktion in
Frankreich nachsagte, figurierte in den sozialistischen und
anarchistischen Zeitungen der Epoche unter dem giftigen Spitznamen des
„Mannes mit den 40 Millionen“ des „Blutsaugers von Anzin“.

Casimir-Périer war es auch, der mit voller Energie zwei Tage nach dem
Attentat von Vaillant das unerbittliche Anarchistengesetz der Kammer
vorlegte und durchsetzte, laut welchem anarchistische Attentate als
gemeine Verbrechen betrachtet, anarchistische Zeitungen rücksichtslos
unterdrückt und die Pariser Polizei in effektiver Weise vermehrt werden
sollte. Zu gleicher Zeit verfügte ein Erlaß die Verhaftung einer Reihe
bekannter und berühmter Theoretiker der radikalen sozialistischen und
anarchistischen Richtung, Haussuchungen, Briefkontrollen, von der nach
den Registern jener Zeit eine Reihe außerordentlicher Menschen betroffen
wurde, unter anderem: Jean Grave, Sébastian Faure, Elisée Reclus, Paul
und Elias Reclus, Louis Delorme, Louise Michel, die in London unter dem
Namen Louise Fauvelle lebte, dann Josef Pauwels, der später die Bombe in
die Madeleine schleuderte, Ortiz, der später im „Prozeß der Dreißig“
figurierte, Matha, der große Theoretiker des Anarchismus Karl Malato,
Errico Malatesta, und auch der große ehrwürdige Fürst Kropotkin, der
damals bei London seinen Wohnsitz hatte.

Diese Liste, aus einer wesentlich größeren exzerpiert, zeigt so ziemlich
alle Namen auf, die um diese Zeit in der theoretischen wie der
praktischen Übung der anarchistischen Idee sich hervortaten. Am
Neujahrstage 1894 wurden von den 100 mit Verhaftung bedrohten Personen
64 eingeliefert, unter ihnen Elias und Paul Reclus, Mitglieder jener
wunderbaren und denkwürdigen Familie von Gelehrten und enthusiastischen
Vorkämpfern der Menschenbefreiung, der wahren Geistes- und
Seelenaristokratie der Welt, und schon 10 Tage nach dem Neujahrstage
begann der Prozeß gegen Vaillant vor den Assisen von Paris.

Der Prozeß war, in der überstürzten Art, wie sein Termin angesetzt
worden war, und auch durch den ganzen Verlauf des summarischen
Verfahrens gegen den Angeklagten, eine offenkundige, empörende Infamie.
Der Protest des ursprünglich für die Verteidigung eingesetzten,
ausgezeichneten Advokaten Ajalbert verhallte ungehört: der Termin wurde
nicht verschoben. In letzter Stunde erklärte sich ein anderer
hervorragender Anwalt, der später als Verteidiger von Zola im
Dreyfus-Prozeß weltberühmt gewordene Ferdinand Labori, bereit, den
Prozeß für Vaillant zu führen. Es war ja vorauszusehen, welchen Verlauf
dieser Prozeß nehmen würde. So wurde dann Vaillant am 10. Januar 1894 in
einer einzigen Gerichtssitzung zum Tode verurteilt.

Mit der selben sträflichen Beschleunigung wurde dann das Todesurteil
durch den Präsidenten der Republik Carnot bestätigt – der wohl kaum im
Unterbewußtsein ahnen mochte, daß er mit demselben Federstrich sein
eigenes Todesurteil unterfertigt hatte!

Vaillant, ein Mann von sympathischer Erscheinung, ernst, einfach, Herr
seiner Worte wie seiner Gedanken, verweilte in seiner Selbstverteidigung
nur flüchtig bei seinem eigenen Schicksal, dem Unrecht und den
Brutalitäten, die er im Laufe seines bedrückten Lebens erfahren hatte.
Er erbat und erhielt die Erlaubnis, eine längere Erklärung vorzulesen,
in der er seine Theorien, seinen Standpunkt, dem Leben, der
Notwendigkeit der Freiheit und dem selbstgewählten Weg der Propaganda
gegenüber ausführte.

„Unter den Ausgebeuteten gibt es im wesentlichen zwei Arten von
Menschen; die eine Art gibt sich keine Rechenschaft darüber, was mit ihr
geschieht, was mit ihr geschehen, und wie sie eigentlich leben sollte.
Diese Menschen nehmen das Leben, wie es ist; sie sind als Sklaven
geboren, glauben, daß es so recht ist und sind froh über den Bissen
Brot, den man ihnen für ihre Arbeit hinwirft. Die andere Art aber ist
nicht so leicht mit dem Schicksal versöhnt. Menschen dieser Art denken,
studieren, blicken mit hellen Augen um sich, sehen und erkennen die
Ursache der sozialen Ungerechtigkeit. Soll man es ihnen vorwerfen, daß
sie klar sehen und die Leiden der anderen mitfühlen? Sobald sie aber das
eingesehen haben, werfen sie sich in den Kampf und stellen als Rächer
der allgemeinen Bedrückung ihren Mann. Ich gehöre zu diesen letzteren.
Wo immer ich auch hingekommen bin, überall habe ich Elende, unter das
Joch des Kapitals Gebeugte gesehen. Überall war ich Zeuge derselben
Folterungen, derselben blutigen Tränen – bis in die Tiefen der wenig
bevölkerten Provinzen Südamerikas hinein, wo ich als ein Mensch, der an
der Zivilisation verzweifelte, glaubte unter Palmen ausruhen und die
Natur genießen zu können. Und hier wie überall habe ich das Kapital
gesehen, wie es den letzten Blutstropfen des unglücklichen Parias
vampyrgleich aussaugt. Die Meinen in so hoffnungsloser Weise leiden zu
sehen – das brachte den Kelch zum Überlaufen. Ich war dieses Leben der
Qual und der Feigheit satt. Meine Bomben warf ich unter jene, die ich
als in erster Linie verantwortlich für die Leiden der Allgemeinheit
erachte. – Aber geben Sie sich keinen Illusionen hin, die Explosion
meiner Bombe ist nicht allein das Zeichen der Verzweiflung eines
einzelnen Menschen, sie ist der Ausdruck der Not einer ganzen Klasse,
die bald den Schrei des einzelnen übertönen wird. Mit Ihrem Gesetz
werden Sie die Ideen der Denker nicht zum Schweigen verurteilen. Alle
Kräfte der regierenden Klassen vermochten es im letzten Jahrhundert
nicht, zu verhindern, daß Diderot, daß Voltaire ihre befreienden Ideen
ins Volk auswarfen; alle Gewalt der heute Regierenden wird es nicht
verhindern, daß Reclus, Darwin, Spencer, Ibsen, Mirbeau und die anderen
ihre Ideen des Rechts und der Freiheit aussäen, die Vorurteile der
unwissenden Menge aus der Welt schaffen. Diese Ideen werden die
Unglücklichen zu Akten der Empörung stacheln, wie das in mir geschehen
ist – und dies wird bis zu dem Tag sich fortsetzen, an dem _das
Verschwinden der Autorität_ allen Menschen gestatten wird, sich frei
zusammenzufinden nach Maßgabe ihrer inneren Zusammengehörigkeit. Dann
wird jeder sich der Früchte seiner Arbeit erfreuen können. Jene
Sittenkrankheit, die man Vorurteil nennt, wird in den Tagen
verschwinden. Ebenso wird es Allem, was Menschenantlitz trägt, erlaubt
sein, in Harmonie zu leben, ohne anderen Willen als dem zum Studium der
Wissenschaften und der Liebe zum Nächsten.“

                   *       *       *       *       *

Die Verteidigung Vaillants hat nicht nur unter den Genossen seiner
eigenen Klasse, sondern in der großen, in den Tiefen des Gewissens
erschütterten Allgemeinheit Frankreichs ihre Wirkung getan. Als am 5.
Februar sein Haupt fiel, erhob sich in Paris, in Frankreich, in der Welt
ein Schrei der Empörung.

Die Worte, die er am Fuße des Schafotts ausrief, wie berichtet wird mit
starker und jubelnder Stimme: Tod der bürgerlichen Gesellschaft, lange
lebe der Anarchismus! fanden einen Widerhall überall, wo um das
Menschenrecht gestritten wurde.

Ich erinnere mich deutlich an die Erschütterung, die sich der radikalen
Arbeiterschaft um die Zeit der Exekution Vaillants an dem Ort, an dem
ich um diese Zeit lebte (es war in Wien), bemächtigt hatte.

Als Vaillants Leiche in jener schmählichen „Ecke der Hingerichteten“, im
kleinen Friedhof von Ivry im Süden von Paris verscharrt worden war,
pilgerten in den nächsten Tagen Hunderte zum Grabe dieses reinen und
edlen Empörers. Es wird berichtet, daß man Blumen mit Schleifen auf dem
Grabhügel gefunden hat, Blätter, auf denen Gedichte standen. Eine Zeile:
„Ehre und Ruhm Deinem Andenken. Ich bin nur ein Kind, aber ich werde
Dich rächen!“ Ein Gedicht lautete wie folgt:

   „Puisqu’ils ont fait boire à la terre,
     A l’heure du soleil naissant,
   Rosée auguste et salutaire,
     Les saintes gouttes de ton sang –
   Sous les feuilles de cette palme,
     Que t’offre le Droit outragé,
   Tu peux dormir d’un sommeil calme:
     O Martyr, tu seras vengé!“

                   *       *       *       *       *

Bedeutungsvoll und charakteristisch war die Attitude der Zeitungen.
Während die Regierungsorgane nach wie vor in ihrem wilden Begehren nach
dem Kopf des Attentäters und in der Genugtuung, daß sein Kopf gefallen,
verharrten, änderten andere einflußreiche Blätter, wie z. B. der
„Figaro“ plötzlich ihren Ton und wiesen auf die offenkundige soziale
Ungerechtigkeit hin, die es verursacht hatte, daß ein Mensch von solch
starker Begabung, intensivem Seelenleben durch die unverschuldeten
Schicksale der Armen zum Schafott getrieben werden mußte.

Die bürgerliche Gesellschaft, deren Untergang Vaillant auf seinem Wege
zur Guillotine herbeigewünscht hatte, vereinigte sich jetzt zu einer
jener bekannten scheinheiligen Massenaktionen, mit denen sie seit jeher
ihr Gewissen entlastet, mehr noch aber die Drohungen der Unterdrückten
von sich abzulenken versucht. Um die Person, das gegenwärtige und
zukünftige Schicksal des armen, hinterbliebenen Töchterchens Sidonie
betätigte sich der Wohltätigkeitssinn des französischen Bürgertums, der
mit Menschenliebe und Gerechtigkeit übertünchte gesellschaftliche Trieb
des Feudal-Adels. Kampf und Rivalitäten entbrannten darum: wer Vormund
von Sidonie Vaillant werden sollte. Das Testament ihres Vaters sprach
sie seinem Freunde, dem außerordentlichen Vorkämpfer der anarchistischen
Theorien Sebastian Faure zu. In einem ergreifenden Briefe, den der
Verurteilte aus dem Gefängnis von La Roquette an sein Kind schrieb, und
in dem er Sidonie mitteilte, daß von nun an Faure ihr wirklicher Vater
sein werde, heißt es: „ein letzter und einziger Rat: sei stets gewärtig,
meine Kleine, daß das einzige Ziel des Lebens ist, seinem Nächsten nicht
wehe zu tun; sonst aber sollte jeder frei sein, um unbehindert das zu
tun, was ihm beliebt. Lasse tun, lasse sagen. Gebe Deinem Leben ein
Ziel: das Glück der Menschheit. Arbeite an Dir, damit jene, die Dein
Wort hören und Deinen Taten zu folgen vermögen, sich Dir gesellen. Dann
wird Dein Leben gut vollendet sein, und Dich wird, wenn Du Dein Leben
lässest, dieselbe Genugtuung erfüllen, die Deinen Vater in der Stunde
seines Sterbens beherrscht, – denn ich sterbe für all jene, die man die
Verdammten in der Hölle dieser Gesellschaft nennen muß!“

Und in einem Tagebuchblatt, das er am Vorabend seines Attentates
geschrieben und in einem letzten Willen seinem Genossen und Freund Paul
Reclus zugedacht hatte, heißt es u. a.: „Ich sehe dem Tod gefaßt ins
Gesicht, denn er ist der Hafen der Enttäuschten. Ich werde zumindest mit
der Genugtuung sterben, daß ich für mein Teil alles getan habe, um das
Kommen einer neuen Zeit zu beschleunigen. Jetzt verlange ich nur noch
eins, das ist: daß bei der Auflösung meines Leibes alle meine Atome sich
in der Menschheit verbreiten und ihr dieses Ferment des Anarchismus
einimpfen mögen, damit die Gesellschaft der Zukunft endlich Wirklichkeit
werde.“

                   *       *       *       *       *

Fünf Tage nach der Exekution August Vaillants wies der unsichtbare
Finger der Volksrache auf eine andere Stätte, an der sich die Moral der
herrschenden Bürgerklasse manifestierte. Nach dem Bombenwurf gegen die
Beamten der Klassenjustiz, nach dem Bombenwurf in die Kammer der
gesetzgebenden Körperschaften flog an einem Abend im Februar 1894 eine
Bombe in das große luxuriöse Caféhaus des Pariser Hôtels „Terminus“ vor
dem Bahnhof „St. Lazare“.

In der Panik, die die Explosion unter den zahlreichen Gästen dieses
Caféhauses verursachte, – einer kam ums Leben, etliche 20 erlitten
schwerere und leichtere Verletzungen – versuchte ein junger Mensch,
offenbar der Täter, durch die Menge zu entfliehen, wurde aber
aufgehalten und gab einige Revolverschüsse auf seine Verfolger und jene,
die sich ihm entgegenwarfen, ab. Dem Untersuchungsrichter erklärte er,
sein Name sei Le Breton, bald aber gestand er seinen richtigen Namen
ein: _Emil Henry_. War Vaillant in seiner ganzen Erscheinung, seinem
Lebenslauf und den geistigen Konsequenzen, die dieser Lebenslauf hatte,
auf eine höhere, nicht nur gesellschaftlich, sondern ethisch höhere
Stufe zu stellen, als beispielsweise Ravachol, so repräsentierte der
junge Henry unzweifelhaft eine in beiden Beziehungen gehobene Position
über Vaillant, dessen Tod die Bombe im Hotel „Terminus“ rächen sollte.

Emil Henrys Erscheinung bildet sozusagen den Übergang, die notwendige
Verbindung zwischen dem aktiven Propagandisten der anarchistischen Idee
und jenen Anarchisten, die das theoretische Ideal zu seiner höchsten
Vollendung führen, denen aber die physische Kraft zu Propagandataten
mangelt, weil sich ihre ganze Energie in der Gedankenaktion konzentriert
hat, jede materielle Energie aber durch die Arbeit des Gedankens
aufgebraucht und absorbiert wurde.

War die Verteidigungsrede Vaillants, dem lückenhaften Bildungswege des
Verfassers entsprechend, noch nicht frei von sentimentalen oder
manifestartigen Ingredienzien, so stellt Henrys Plaidoyer ein
klassisches Beispiel der durch einen geistig hochstehenden Menschen
vollkommen verarbeiteten wissenschaftlichen Theorie dar, die sich
notwendigerweise in physische Energie und Tat um setzen mußte.

In der Geschichte der anarchistischen Bewegung ist dieses Dokument dann
auch eine der grundlegenden Äußerungen des in bestimmter Weise
durchgeführten revolutionären Willens geblieben. Zu den theoretischen
Schriften der großen Denker des Anarchismus bildet das Manifest des
jungen Henry – er war zur Zeit seiner Tat etwas, über 21 Jahre alt –
ein, fast möchte ich sagen, _notwendiges_ Komplement, denn es beweist
die aktive Kraft, die jenen Schriften der Theoretiker innewohnt; und
damit führt dieses Manifest den Beweis, in welcher Weise Theorie, in den
geeigneten physischen Bereich verpflanzt, die notwendige Wirkung
erzeugen muß.

Es gibt wohl in der Literatur, die sich um die Berichte der Taten des
individuellen revolutionären Willens gebildet hat, keine reinere und
wirkungsvollere Beweisführung für die Kraft des Gedankens, der sich in
junge enthusiastische Seelen versenkt, als die durch dieses Manifest des
Einundzwanzigjährigen geoffenbart ist. Ein Berichterstatter jener Epoche
charakterisiert die intellektuelle Einstellung des jungen, begabten und
gebildeten Bürgersohnes sehr originell, indem er sagt, daß Henrys Haß
gegen seine eigene Klasse weniger der Haß des Hungerleiders gegen den
Satten genannt werden kann, sondern eher mit der Verachtung verglichen
werden darf, die ein junger Maler der realistischen Schule gegenüber dem
süßlichen, verlogenen Kitsch der Schule Bouguereaus empfindet.

Auf alle Fälle haben wir in der merkwürdigen und noch mehr denkwürdigen
Erscheinung des jungen Henry einen Vorläufer jener Generation, die wir
heute in unserer Zeit der sozialen Umwandlung, des Kataklysmus, in
dessen Mitte unsere bürgerliche Welt geraten ist, und in der sie
versinkt, entstehen und aufwachsen sehen. Ein klarer, scharfer, ohne
Zynismus, mit absoluter Sicherheit seiner Instinkte bewaffneter Geist,
der die Konsequenzen seiner Überzeugung wie ein mathematisches Exempel
in realen Faktoren zu ziehen versteht. Skepsis beirrt ihn noch nicht,
dazu ist er zu jung. Trotzdem hat seine Lebenserfahrung kraft seiner
ungemeinen Intelligenz und überlegenen Beobachtungsgabe schon die Zahl
seiner Lebensjahre Lügen gestraft. Noch einige Jahre Leben, und er wird
sich entweder zum glänzenden geistigen Anwalt seines eingeborenen
revolutionären Dranges entwickelt haben, oder ein leergebrannter, kühler
und kalter Verächter der Menschheit geworden sein.

Die Bücher der Führer der anarchistischen Idee und die Taten der
Anarchisten in jenem Paris von 1891-93 entzündeten den Funken in dem
jungen Mann, dessen rein geistig gerichteter Drang nicht durch seinen in
der Irritation der Nerven unternommenen Fluchtversuch nach der Tat
verneint wird.

Bei der Vernehmung Henrys ereignete sich das Überraschende: er gestand,
zugleich der Urheber eines bisher ungeklärten Attentates zu sein, das im
November 1892 gegen die Pariser Büros der Bergwerkgesellschaft Carmaux
versucht worden war. Die Bombe wurde damals rechtzeitig entdeckt und von
den Polizisten nach dem nächsten Polizeikommissariat in der Rue des Bons
Enfants gebracht, wo sie explodierte, wobei vier Polizisten getötet
wurden und eine große Zahl Anwesender schwer verletzt worden war. Henry
gestand ruhig ein, daß er nach diesem verunglückten Anschlag gegen die
Bergwerkgesellschaft sich für einige Zeit nach London begeben habe, wo
er unter Anarchisten gelebt und sich zu seiner Tat offen bekannt, ja
sich dieser Tat auch gerühmt hätte. Offenbar war es auch Henry, auf den
sich eine Äußerung in den Memoiren Rocheforts bezieht, der zu jener Zeit
in London im Exil lebte, weil er sich aktiver Beihilfe in den
boulangistischen Machenschaften schuldig gemacht hatte. Rochefort
berichtet, daß Charles Malato, der anarchistische Schriftsteller, ihm
eines Tages gesagt habe: „Hier in London geht ein junger Bursche herum,
der jene Explosion in der Rue des Bons Enfants verursacht haben will. Er
ist wahrscheinlich ein Prahlhans und will die Leute hineinlegen.“ Es
verhielt sich aber in der Tat so, der junge Prahlhans erwies sich als
Henry, der Attentäter vom Café „Terminus“.

Henry entstammte einer Familie der höheren Bourgeoisie, die jedoch
bereits zur Zeit der Pariser Kommune einige revolutionäre Mitglieder
hervorgebracht hatte. Auch war Emils älterer Bruder _Fortuné_ selber
Anarchist. Emils außerordentliche Intelligenz wurde in dem Lyzeum in
Paris, in dem er sich hauptsächlich in der Mathematik hervortat, dadurch
anerkannt, daß er mit 16 Jahren ein Stipendium zum Eintritt in die
berühmte polytechnische Hochschule zugewiesen erhielt. Da diese Schule
aber eine militärisch organisierte und ihre Schüler für den
Offizierstand vorbereitende Institution ist, und Emil sich als
ausgesprochener Feind des Militarismus schon in frühester Jugend
bekannte und betätigte, machte er von dem sozialen Vorrecht, in jene
Hochschule einzutreten, keinen Gebrauch. Nach einigen Wanderjahren, die
ihn in Geschäftsunternehmungen seiner Verwandten in der Provinz und in
Venedig herumgeführt hatten, trat er plötzlich zu einem Uhrmacher in die
Lehre, um, wie er in seiner Aussage bekundete, sich die notwendigen
Kenntnisse in der Mechanik anzueignen, und später Höllenmaschinen selber
herstellen zu können. Um diese Zeit betätigte er sich schon als eifriger
Mitarbeiter anarchistischer Zeitungen. Das junge Leben Henrys zeigte
also bereits die entscheidende Kurve zur ernsten Verfolgung der
anarchistischen Ziele, die ihm durch Blutmischung, Familientradition und
durch das Gebot seiner früh entwickelten außergewöhnlichen Intelligenz
vorgezeichnet zu sein schien.

Der erste Eindruck, den die bei dem Prozeß Anwesenden von dem jungen,
hübschen und besonnenen, dabei von einem schier maßlosen Idealismus
erfüllten Menschen hatten, war: hier hat man den St. Just des
Anarchismus vor sich.

Und in der Tat, wenn man die versprengten Erscheinungen dieser
revolutionären Periode betrachtet, kann man sich der Anschauung nicht
erwehren, daß nur der Mangel einer allgemeinen Erhebung sie zu den
isolierten und sehr lose vereinten Taten geführt hatte, wo in einer
revolutionär aktiveren Zeit jeder von diesen Individualisten seinen
Platz in der allgemeinen Bewegung vorgeschrieben gefunden hätte. Jede
Zeit gebiert die Menschen oder findet sie vor, die ihre Parole
durchführen können; oft ist es aber die Zeit, die kleiner ist als die
Menschen, die in ihr leben. Nur selten und in denkwürdigen Fällen der
Freiheitsbewegung, der allgemeinen Entwicklung der Menschheitsidee deckt
sich die Zeit mit dem Individuum, das ihr Exponent ist. Wenn dann die
stupide Menge den an Energie seine Zeit überragenden Revolutionär
kurzerhand als Verbrecher stempelt, ist eine von jenen oberflächlichen
Meinungen geprägt, in deren Bann die minderwertige Allgemeinheit lange
verweilt. Die Geschichte der Menschheit scheint durch solche
Fehlurteile, Seichtigkeit des Gefühls, nicht zu Ende-denken-Können,
gefälscht zu sein.

Nahm die Erscheinung und das Benehmen Henrys vor seinem Richter auch
gleich am Anfang für ihn ein, so verscherzte er sich die allgemeine
Sympathie durch einen zynisch klingenden, doch aus der Energie der Idee
erwachsenen Ausspruch: auf die Frage des Vorsitzenden, warum er gerade
das Café Terminus sich ausersehen hatte, antwortete Henry ruhig: weil er
möglichst viele Bürger zu töten beabsichtigte. In der Tat hatte er mit
seiner Bombe, bevor er ins Café Terminus kam, bereits einige weniger
besuchte Lokale aufgesucht.

Unter den Verletzten im Café befanden sich aber nicht nur „Bürger“,
sondern Arbeiter oder wenigstens werktätige Menschen. „Sie sehen,
Henry,“ bemerkte der Präsident, „es sind arbeitende Menschen, die Sie
töten wollten. Sie haben sie nicht gekannt. Sie konnten sie gar nicht
hassen und trotz alledem bleiben Sie vollkommen kalt und gleichgültig
vor diesen armen Menschen, die Sie hier, verstümmelt und zu Schaden
gekommen, auf der Zeugenbank sitzen sehen!“ Darauf Henry: „Allerdings;
diese Leute sind mir vollkommen gleichgültig wie im übrigen auch Sie,
Herr Präsident. Diese Leute sind Bourgeois, die Leiden und Unglück
verursachen. Ihre Misère, was geht die mich an. Ich habe genug andere
Misère in meinem Leben gesehen, und wenn es einen Schuldigen und
Verantwortlichen dafür gibt, sind Sie es und Ihre Partei.“ Der
Präsident: „Gut. Genug. Setzen Sie sich.“ Henry, während er sich setzt:
„Das ist es, was ich tue.“

Der Prozeß Henrys förderte keine besonderen Überraschungen zu Tage. Er
rollte sich in den üblichen Formen des Verhörs ab; das übliche
Aufmarschieren der Zeugen erfolgte. Es wurde vom Angeklagten kein
Versuch gemacht, sich zu entlasten, und die Zeugen, die von seinem
Vorleben Kunde geben sollten, bezeichneten ihn übereinstimmend als
ernsten, gewissenhaften, nur in seinen Anschauungen und seinen
politischen Zielen überreifen und intransigenten Menschen.

Seine Attitüde, die er vom ersten Augenblick an einnahm, blieb bis zum
Schlusse des Prozesses die gleiche. Er wußte, daß sein Leben verwirkt
war; aber dies beeinflußte seine Haltung oder die Handhabung seines
Organs keinen Augenblick lang.

Die Kälte, die er den Opfern seines Attentates gegenüber zur Schau trug,
entsprach nur der konzentrierten geistigen Anstrengung, nicht aber der
wirklichen inneren Veranlagung Henrys. Er legte sie absichtlich an den
Tag, um den Antagonismus des revolutionären Kämpfers zur öffentlichen
Meinung darzulegen. Seine oft an Zynismus streifenden Aussprüche waren
im Grunde nur Akzente, mit denen er die Theorie, deren Konsequenzen er
vertrat, verstärkte. Fast gegen seinen Willen bekundete er bei der
Vernehmung seiner Verwandten (auf seinen ausdrücklichen Wunsch hatte man
es seiner Mutter verboten, bei der Verhandlung zu erscheinen) eine
gewisse Rücksicht und Zartgefühl. Von ihnen hatte er ja nichts wie Gutes
erfahren. Was gingen ihn aber diese intimen Eigenschaften an, wo er das
Leiden der großen Massen vor eben diesen, in ihren privaten Beziehungen
gütigen und gerechten Menschen im Auge hatte!

Alles in diesem Prozeß schien sich auf das Plaidoyer zuzuspitzen, in dem
Henry sein Lebensbekenntnis ablegte. Und dieses Lebensbekenntnis
allerdings ist nicht nur eine Rechtfertigung der zufälligen Existenz
eines ungewöhnlichen, in vielen Beziehungen einzigen Menschen, sondern
es sichert seinem Verfasser auch eine rühmliche Stellung innerhalb der
Geschichte der großen sozialen Bewegungen aller Zeiten.

Ehe ich einige Teile, bedeutungsvolle Bruchstücke aus seinem Plaidoyer
hier reproduziere, will ich noch rasch einige Worte über den Tod Henrys
niederschreiben.

Anfang Februar fand die Explosion im Café Terminus statt, Ende Mai starb
Henry unter dem Messer der Guillotine. Es wird berichtet, daß er
aufrechten Ganges zum Schafott schritt, aber daß seine Stimme ihn
verriet, als er wie ins Leere ins Weltall hinaus, die Worte: „Kameraden,
Mut, es lebe die Anarchie!“ zu rufen suchte.

Gleichviel. Es ist ja gleichgültig, wie dieser Mensch starb. Es ist fast
gleichgültig zu nennen, wie er gelebt hatte. Sein Plaidoyer, sein Werk,
das er hinterließ, ist das Wesentliche an seiner Erscheinung.

                   *       *       *       *       *

Nach der Rede des Staatsanwaltes, – es war wieder jener Bulot – in der
selbstverständlich die Todesstrafe gefordert wurde, bat der Angeklagte
um das Wort, noch ehe sich sein Verteidiger erhoben hatte. Aus dem
Dokument der Verteidigungsrede Henrys, die er am Anfang kühl und
sachlich, ohne das Schriftstück in der Hand zu halten, vortrug (erst
später, nach den einleitenden Sätzen, erbat er sich von seinem
Verteidiger das Konzept) – aus diesem denkwürdigen, ja, wie man mit Fug
sagen darf, historischen Dokument folgen hier etliche kurze Auszüge. –

Nachdem er eine rapide Übersicht über seinen Werdegang gegeben,
präzisierte Henry seine Stellung innerhalb der sozialen Bewegung auf
folgende Weise: „Einen Augenblick lang zog mich der Sozialismus an; doch
es dauerte nicht lange, da lehnte ich diese Partei ab. Ich war viel zu
sehr von der Liebe zur Freiheit erfaßt, hatte zu große Ehrfurcht vor der
persönlichen Initiative; die Einkapselung in eine gleichgerichtete
Truppe flößte mir zu großen Widerwillen ein, als daß ich eine Nummer in
der organisierten Körperschaft des Vierten Standes hätte werden können.
Übrigens bemerkte ich gar bald, daß der Sozialismus im Grunde an dem
Stand der Dinge gar nichts ändert; er respektiert und hält das
Autoritätsprinzip aufrecht, und dieses Prinzip ist, was auch die
sogenannten Freidenker sagen mögen, nichts anderes als ein Überbleibsel
jener atavistischen Furcht vor einer höheren Vorsehung. Ich bin
Materialist und Atheist: Studium der Wissenschaften hat mich nach und
nach das Spiel der Naturgewalten erkennen lassen; ich habe bald
verstehen gelernt, daß die Hypothese, es gäbe einen Gott, durch die
moderne Wissenschaft beiseite geschoben worden ist, als unnütz und
überflüssig erkannt wurde. Infolgedessen mußten die religiöse Moral und
die Autorität, die ebenfalls auf einer falschen Voraussetzung beruhen,
verschwinden. Wo also war das milde Gesetz der Sittlichkeit zu suchen,
das in einer Harmonie mit den Naturgesetzen diese alte Welt erneuen und
eine glückliche Menschheit gebären könnte? Als ich dies erkannt hatte,
verband ich mich mit einigen Genossen, die Anarchisten waren, und die
ich heute als die besten Freunde liebe, die mir jemals begegnet sind.“

„In den Kampf ging ich mit einem tiefen Haß, den der tägliche, empörende
Anblick dieser Gesellschaft schürte; denn in dieser Gesellschaft ist
alles niedrig, alles feige, alles häßlich, alles ist Hindernis zur
Entfaltung der Leidenschaften des Menschen, des edlen Willens der
Herzen, des freien Aufschwunges des Gedankens. Ich wollte so hart und
auch so gerecht zuschlagen wie ich es nur vermochte.“

Henry gibt nun eine Darstellung seiner Freude, die ihn angesichts der
ersten Ereignisse des Streiks von Carmaux ergriffen hatte; dieser Streik
hatte zu Anfang den Anschein einer revolutionären Tat erweckt, bald aber
bemächtigten sich einige Männer der Seelen der Arbeitnehmer, und der
Streik schien abzuflauen. Was waren diese Männer? „Es waren dieselben,
die alle revolutionären Bewegungen vernichteten, aus Angst, das Volk
könnte, losgelassen, nicht mehr auf ihre Stimmen hören. Es waren
dieselben, die die Tausende der Arbeiter überreden, monatelang ihr Elend
geduldig zu ertragen und die dann auf dem Rücken der Arbeiter sich
Volkstümlichkeit und ein Deputiertenmandat ergattern. Dies waren die
Männer, die sich an die Spitze der Streikenden stellten. Mit einemmal
sah man einen Schwarm von Schönschwätzern sich über das Land
niedersenken. Die Grubenarbeiter legten alle Macht in die Hand dieses
Packs. Man weiß, was nun geschah. Der Streik drohte ins Unendliche
hinauszuwachsen. Die Arbeiter gewöhnten sich an den Hunger, ihren
täglichen Gefährten. Die kleinen Reserven ihrer Gewerkschaften und
anderer Angeschlossenen kamen ihnen zu Hilfe, waren bald aufgebraucht,
und nach zwei Monaten krochen die Armen demütig und elender als je in
ihre Gruben zurück. Es wäre einfach gewesen, die Gesellschaft,
Besitzerin des Bergwerks, gleich zu Anfang dort anzugreifen, wo sie am
leichtesten zu verwunden war: die Kohlenvorräte zu verbrennen, das
Maschinenhaus zu zerstören, die Entwässerungsanlagen zu vernichten. In
diesem Falle hätte die Gesellschaft rasch nachgegeben, doch die
Großbonzen erkennen diese Methoden nicht an, denn es sind _unsere
Methoden, der Anarchisten_.“

„Für mein Teil hatte ich meinen Anschlag auf das Gebäude der
Gesellschaft in Paris rasch beschlossen. Der Vorwurf gegen Ravachol: Die
unschuldigen Opfer! kam mir in den Sinn. Das Haus aber, in dem sich die
Büros der Carmaux-Gesellschaft befinden, ist ausschließlich von Bürgern
bewohnt, daher konnte es keine unschuldigen Opfer geben. Da die gesamte
Bourgeoisie der Ausbeutung der Unglücklichen teilnahmslos zusieht, muß
sie in ihrer Gesamtheit ihre Schuld büßen. Im vollen Bewußtsein der
Legitimität meines Unternehmens habe ich jene Höllenmaschine vor den
Pforten des Büros niedergelegt.“

„Dasselbe ist der Fall bei meinem Terminus-Attentat. Die Bourgeoisie
erkennt die Anarchisten als eine geeinte Körperschaft an. Ein einzelner
Mann, Vaillant, warf eine Bombe. Neunzehntel der Genossen kannte
Vaillant gar nicht. Das aber schadete nichts: die Anarchisten wurden in
ihrer _Gesamtheit_ verfolgt. Jeder, der nur entfernt zum Anarchismus
Beziehungen hatte, unterlag der Verfolgung. Nun, da sie die gesamte
Partei für die Tat eines einzelnen verantwortlich machen, vergelte ich
_gleiches_ mit _gleichem_.“

„Ihr habt in Chicago gehängt, in Deutschland geköpft, in Xeres erwürgt,
in Barcelona erschossen, in Montbrison und Paris guillotiniert – was Ihr
aber niemals werdet töten können, das ist die Anarchie. Ihre Wurzeln
reichen zu tief. Sie ist erstanden aus einer verwesenden Gesellschaft,
die sich in ihre Bestandteile auflöst. Sie erhebt sich als eine
gewaltsame Gegenbewegung gegen die Ordnung dieser Gesellschaft, sie
repräsentiert alle Sehnsucht nach Gleichheit und Befreiung, nach
Zertrümmerung der gegenwärtigen Autorität. Sie ist überall; sie ist
nirgends zu fassen; sie wird Euch alle töten. Hier, meine Herren
Geschworenen, habe ich gesagt, was ich zu sagen hatte. Sie werden nun
die Rede meines Verteidigers anhören.“

                   *       *       *       *       *

Es kann nicht die Aufgabe dieser Abhandlung sein, _Caserios_ Attentat
auf Sadi-Carnot zu behandeln, obzwar es in organischem Zusammenhang mit
den oben berichteten Taten steht.

Am 5. Februar war Vaillant hingerichtet worden, – am 24. Juni rächte
Santo Caserio, ein italienischer Proletarier, diesen Tod. Der Präsident
der Republik hatte in jenen Tagen in Lyon die Kolonialausstellung
besucht. Nach dem Abendessen, auf der Fahrt zum Theater, inmitten
pompöser Kavallerie, die den Prunkwagen eskortierte, traf Carnot der
Dolch des Italieners. Caserios Motive und Persönlichkeit sind in dem
Zusammenhang dieser Erörterungen von geringem Belang (so wie die Jahre
später erfolgte Ermordung Elisabeths von Österreich z. B.). Man darf
über seine Tat leicht hinweggehen, wie auch andere Taten von
Anarchisten, die sich um dieselbe Zeit in Paris ereigneten, von geringer
Bedeutung für die Idee und den zentralen Trieb der anarchistischen
Empörung sind.

                   *       *       *       *       *

Manche dieser Taten wiesen wohl darauf hin, daß sie die Ketten der
Versklavung des Geistes an bestimmten Orten zu sprengen und
durchzubrechen suchten: wie z. B. die Tat des _Pauwels_, eines Freundes
von Henry, dessen Bombe ihn selber, als er die Madeleine-Kirche in Paris
betrat, in Stücke riß.

Andere Attentate hatten einen ausgesprochen burlesken Beigeschmack wie
das Attentat jenes Droschkenkutschers _Moore_, des „Dichterkutschers“,
der seinen Kollegen in Apoll, Lockroy, den Schwiegersohn Victor Hugos,
anschoß, weil dieser Moores Bettelbriefe schließlich nicht mehr
beantwortete.

Auch das Attentat auf das Restaurant Foyot bot dem Pariser Witz
reichliche Nahrung: wenige Tage, ehe er gelegentlich dieses Attentates
ernstlich verletzt wurde, hatte der satyrische Dichter _Laurent
Tailhade_ in einem dithyrambischen Artikel die Tat Vaillants mit den
Worten gepriesen: „Was will der Verlust einiger gleichgültiger Opfer
besagen – wenn nur die Geste schön ist!“

Eine andere Tat aber prägte sich der öffentlichen Meinung tiefer ein,
das war die Tat des Schusters _Leauthier_, der in einem der bekannten
Speisehäuser von Duval den serbischen Gesandten Georgewitsch anschoß,
als einen schlemmenden Bourgeois, der noch dazu ein Ordensband im
Knopfloch trug! (Leauthier starb in der Strafkolonie während jener schon
erwähnten Revolte, gleichzeitig mit Simon, dem Zwieback, Ravachols
Gehilfen.)

                   *       *       *       *       *

Nachdem die Staatsgewalt sich der Propagandisten der Tat auf solche
Weise entledigt hatte, ging sie mit größter Energie ans Werk, die
geistigen Wurzeln der Lehre anzugreifen. Eine ganze Anzahl bedeutender
Gelehrter, Schriftsteller, Soziologen trafen diese Maßregeln. Es hatten
sich in Paris und in Frankreich zahlreiche Gruppen gebildet, die mit dem
Studium und der Verbreitung der Lehre des Anarchismus sich
beschäftigten. Solche Gruppen waren: Die Gruppe der Libertäre; Die
Avantgarde; Die Kinder der Natur; Die Antipatriotische Jugend; Der
Internationale Kreis; Die Schwarze Fahne; Die haarigen Burschen („Les
Gonzes Poilus“) von Billancourt; Der Panther von Batignolles. Diese
sämtlich in Paris.

Von den Gruppen in der Provinz, die immerhin ihre zentrale Organisation
(ohne die selbst der Anarchismus nicht auskommt!) in Paris besaßen,
nenne ich die hauptsächlichsten: Die Zuchthäusler von Lille; Die
Vaterlandslosen von Charleville; Die Unbezähmbaren; Erde und Freiheit
von Armentières; Der Pranger von Sedan; Die Parias der Picardie, die
Organisationen der nordwestlichen Teile Frankreichs umfaßte; Die
Bereitschaft von Blois; Die Gruppe der Sozialen Forschung in Cherbourg;
Die Eber von Châlons; Die Nivellierer von Beaune; Der Yatagan von
Terre-Noire; Die Freunde Ravachols von Saint-Chamond; Die Gruppe
Erst-recht! von Vienne; Die Rächer; Die Hungrigen von Marseille; Die
Empörung; Die Bauernrevolte; Die Entschlossenen; Die Eichenherzen von
Cette und viele andere.

Eine dieser Gruppen war von dem Sozialreformer Rousset organisiert und
hatte den Namen der „Suppen-Vorträge“. In einer Pariser Wärmehalle
sprach Rousset, während arme Hungernde von der Straße dort ihren Teller
Suppe löffelten, über soziale Probleme und wie der Not abzuhelfen wäre.
Diese Ansprachen erregten selbstverständlich die Aufmerksamkeit und
schließlich Abwehr der Behörden. Trotz dem Protest einer Anzahl
hervorragender Pariser, darunter Jules Simon, Léon Say, Floquet, de
Cassagnac, Alfons Daudet, Sarah Bernhardt und Zola, wurde Rousset vors
Gericht gestellt und zu einer empfindlichen Gefängnisstrafe verurteilt.

In Paris wie in der Provinz erschienen Wochenblätter, Zeitschriften in
großer Zahl, die der Regierung ein Dorn im Auge waren und deren
Verfolgung beschlossen wurde. Die Namen der hauptsächlichsten
Zeitschriften dieser Art sind:

„Le Père Peinard“, „Le Riflard“, „Der Leimtopf“, „Die Revolte“, letztere
hatte Jean Grave zum Herausgeber. Sebastien Faure gab den „Almanach
Anarchiste“ heraus, der originelle Bohémien Zo d’Axa die lebhafte und
revolutionäre Revue „L’En-Dehors“, die zu ihren Mitarbeitern neben
Malato Schriftsteller wie Octave Mirbeau und den Initiator der
Dreyfus-Revision, Bernard Lazare, einen edlen und bescheidenen
Menschenfreund, zählte. Beide, Mirbeau wie Lazare, aus der oberen
Bourgeoisie stammende Intellektuelle, bekannten sich frei und laut zum
Anarchismus und legten in den gefährlichsten Zeiten Zeugnis ab für die
seelische Integrität manches von der öffentlichen Meinung gebrandmarkten
„Mörders und Attentäters“. –

„Der Freie Gedanke“, „Die Attacke“, „Die Libertäre Revue“ erschienen mit
Unterbrechungen weiter; eine antimilitaristische Zeitschrift, „Le
Conscrit“ hielt sich trotz härtester Verfolgung. In Marseille erschien
„Die Harmonie“, in London, nach einer anderen Version in Brüssel der
„L’International“, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die lediglich
doktrinären Anarchisten anzugreifen und dabei auch vor Grave, sogar vor
Kropotkin nicht Halt machte. Dieser „L’International“ scheint der
richtige Moniteur der Propagandisten durch die Tat gewesen zu sein. Er
brachte eine Beilage „L’Indicateur Anarchiste“, in dem praktische
Anweisung zur Verfertigung von Explosivkörpern gegeben wurde. In
früherer Zeit, lange vor dem Erscheinen des „L’International“ hatte die
„Lutte“ von Lyon ähnliches unter dem Titel „Anti-bürgerliche Produkte“
zu geben versucht.

Andere Zeitschriften, die die Verbreitung der Ideen des Anarchismus über
den ganzen Erdball bezweckten, waren um diese Zeit: in Belgien „La
Société Nouvelle“, „Le Libertaire“ und „Le XX. Siècle“. In London
erschien „Freedom“, eine ausgezeichnete Publikation, die noch jetzt in
dem, jedem London besuchenden Sozialisten wohlbekannten „Bomb-Shop“ des
alten Henderson, Charing Cross-Road, erhältlich ist (gegenwärtig hat sie
ausgesprochen kommunistischen Einschlag); „The Commonweal“, der durch
die Mitarbeit William Morris’ geadelt war; außerdem „The Torch“.
Ebenfalls in London, der Stadt, die um die Zeit der allgemeinen
europäischen Anarchistenverfolgungen ein sicherer Hafen für die Rebellen
aller Nationen war, erschien in hebräischen Lettern das jiddische
Anarchistenblatt „Der Fraind fun die Arbeter“, und die deutsche Zeitung
„Der Lumpenproletarier“. Andere deutsche Publikationen jener Zeit
umfassen die in Amerika erscheinenden: „Freiheit“ von Johann Most, „Die
Brandfackel“ von New York, den „Armen Teufel“ Robert Reitzels in
Detroit, „Den Vorboten“ von Chicago, die jiddische „Freie
Arbeiterstimme“, den „Anarchist“ und andere. Gustav Landauers
„Sozialist“, das bedeutendste deutsche Organ, ist noch in Aller
Erinnerung. In Italien waren der „Sempre Avanti“ von Livorno, in Spanien
„La Conquista del Pan“ von Barcelona, in Südamerika „El Oprimido“ und
„Tribuna Operaia“ die verbreitetsten Blätter der Bewegung.

                   *       *       *       *       *

Es war offenkundig, daß die Taten jener Propagandisten die Lehre des
Anarchismus in weitere Gebiete ausgestreut hatten, als friedliche
Verbreitung der Theorie dies jemals vermocht hätte. Denn die Zahl, der
Umfang der anarchistischen Zeitschriften-Literatur schwoll um die Zeit
der Jahrhundertwende in der ganzen Welt beträchtlich an. Ich erinnere
mich, welch’ tiefgehende Wirkung in den Tagen meines Pariser
Aufenthaltes, der in dieselbe Zeit fiel, zwei Bücher erregten, die von
zweien der bedeutendsten lebenden Anarchisten verfaßt waren – und die
Eltzbacher in seinem Werk nicht anführt, ja gar nicht zu kennen scheint.
Diese Bücher waren _Sebastien Faures_ „La Douleur universelle“, und
_Jean Graves_ „La Société mourante et l’Anarchie“, zu dem Octave Mirbeau
ein begeistertes Vorwort geschrieben hat.

Es war bezeichnend für die im Grunde trotz aller Reaktion demokratische
Grundtendenz des öffentlichen Lebens von Frankreich und seiner
Hauptstadt, daß schon 1895, also kaum ein Jahr nach der Ermordung
Sadi-Carnots (und dem Prozeß gegen die Dreißig, von dem ich im
nachfolgenden sprechen will), die öffentlichen Vorträge von Sebastien
Faure monatelang ohne Störung durch die Behörden abgehalten werden
konnten. Sie gehören zu den wunderbarsten Erinnerungen, die mich an jene
Zeit gemahnen. Vor einem großen und beständigen Publikum, das sich im
wesentlichen aus Studenten und Arbeitern zusammensetzte, verkündete
Faure das System seines Aufbaus. Mit unerbittlicher Logik zergliederte
er die gegenwärtige Gesellschaft, nahm sozusagen das ganze Gebäude der
gesellschaftlichen Zusammenhänge auseinander, warf die schädlichen,
überflüssigen Teile des Gebäudes auf den Schutthaufen der Vergangenheit
und errichtete aus dem Übrigbleibenden ein einfacheres, bewohnbares,
lichtes Heim der zukünftigen Menschheit.

Faures Rednergabe führte seine Argumente beweiskräftiger aus, als es
seinem Buch, das ich eben erwähnt habe, gelingt. Doch spricht auch in
diesem Werk der merkwürdig klare und logische Verstand, jener
spezifische französische sens commun den Leser mächtig an.

Eine literarisch höchst zu bewertende Leistung stellt das Buch Graves
dar. Es ist eine Kampfschrift gegen den reformistischen Sozialismus,
gegen die Grundirrtümer der kapitalistischen und militaristischen
Gesellschaft. In erstaunlicher Weise hat der Autodidakt Grave sich die
wissenschaftlichen Grundlagen seiner Gewissensüberzeugung zu verschaffen
verstanden. Aus der Erkenntnis, die er sich auf solche Art erwirbt,
gelingt es ihm, überzeugend und mit hohem Schwung der Begeisterung, die
Durchführbarkeit der anarchistischen Prinzipien trotz den feindlichen
Grundinstinkten der ewig gleichbleibenden Menschenseele zu beweisen.
Auch in seinem anderen Werke „Die Gesellschaft am Tage nach der
Revolution“ gelang es Grave, den Aufbau einer utopischen Gemeinschaft in
überzeugenden Konturen festzulegen.

Die Taten Ravachols, Vaillants, Henrys und der anderen – die Bücher
Faures und Graves: sie geben der Bewegung, dem revolutionären Beginnen
des französischen Proletariats um die Jahrhundertwende ihre Grenzen nach
dem materiellen und dem moralischen Bereich.

                   *       *       *       *       *

_Den Prozeß gegen die Dreißig_, dessen ich oben Erwähnung getan habe,
strengte die Regierung Frankreichs hauptsächlich in der Absicht an, daß
durch seinen Verlauf die Notwendigkeit einer durchaus revidierten
Gesetzgebung gegen die Feinde der Gesellschaft gerechtfertigt werde. Es
sollte zudem schon durch die Namenliste der Angeklagten die Sicherheit
in der beängstigten Bevölkerung erweckt werden, daß es nunmehr der
Regierung gelungen sei, die ganze gefährliche Gruppe der wesentlichsten
Anarchisten, sozusagen die Zentrale des Anarchismus in Frankreich
auszuheben. Die Absicht war: alle möglichen Leute, die im Geruch des
Anarchismus standen, die sich als Theoretiker der Lehre, die sich als
Propagatoren und als Ausführer anarchistischer Taten betätigten, in
einen geschlossenen Raum zusammenzutreiben, sie dort beisammen zu
behalten und möglichst endgültig zu „erledigen“. Daß in dieser Gruppe,
die man kurz als eine Vereinigung von Verbrechern bezeichnete,
hervorragende und allgemein anerkannte Gelehrte wie Paul Reclus,
Publizisten wie Jean Grave, Sébastien Faure, Alexander Cohen, Charles
Chatel, Félix Fénéon, Pouget, Matha, Ledot neben Dieben und
undurchsichtigem Gesindel figurierten, bewies nicht nur die Willkür der
Regierung, sondern barg auch die Erklärung für das Scheitern ihrer
Absicht in sich. Denn, um es vorweg zu nehmen, der Prozeß der Dreißig
endete mit einem ausgesprochenen und für die Regierung peinlichen Fiasko
der Rechtsbehörden. Wieder beantragte der sattsam bekannte Staatsanwalt
Bulot gegen die Dreißig die höchste zulässige Strafe, indem er die
Angeklagten miteinander, mit pathetischer Gebärde:

   „Vous êtes tous des misérables!“

apostrophierte, aber die Jury gab seinem Begehren nur in einem einzigen
Falle nach, indem sie den Mitangeklagten _Ortiz_, das Oberhaupt der
„_Bande Ortiz_“ zu langjähriger Zwangsarbeit, zwei Mitglieder der
„Bande“ aber zu geringen Freiheitsstrafen verurteilte. Die übrigen
wurden, wie recht und billig, freigesprochen.

Artikel 265 des französischen Strafgesetzbuches besagt (in seiner
Abänderung durch das Gesetz vom 18. Dezember 1893, jenes „Gesetz
Vaillant“): „Jede Vereinigung, jedwede Gemeinschaft, die hergestellt
ist, um Verbrechen gegen Einzelindividuen vorzubereiten oder
durchzuführen, stellt ein Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung dar.“
Durch diese Fassung des Artikels wird ausgesprochen, daß die Theoretiker
des Anarchismus, genau so wie die Propagandisten durch die Tat, der
Gemeinschaftbildung, der Schaffung einer Vereinigung schuldig erkannt
sind. Die „Intellektuellen“ wie die „Impulsiven“, beide sind in gleichem
Maße für die Tat selbst verantwortlich, denn ohne die Kraft des
Gedankens, des Wortes, der Feder der ersteren würden die letzteren nicht
zur Tat gelangen. Die Initiative wie die Ausführung werden auf gleiche
Linie gestellt. Die Verbindung zwischen den Studiengruppen der
anarchistischen Lehre und dem tatsächlichen Verbrecher ist evident;
beide zugleich muß das Gesetz treffen, soll der Anarchismus an der
Wurzel gepackt und ausgerottet werden.

Dieser Prozeß der Dreißig dauerte im ganzen acht Tage. Er spielte sich
in der ersten Hälfte des August 1894, gleichzeitig mit dem Prozeß gegen
den Mörder Sadi-Carnots, Caserio, ab. Das Merkwürdigste und
Bedeutungsvollste, der Umstand, der den Ausgang des Prozesses gleich am
Anfang ahnen ließ, war: daß sich keine Belastungszeugen für die Dreißig
auftreiben ließen. So hatte das rege und immer schwankende Gewissen des
französischen Volkes, der wohl aufs höchste irritierten, aber immer noch
in den Grenzen des klaren Verstandes und der lauteren Gesinnung
bleibenden öffentlichen Meinung Frankreichs von vornherein die
Überzeugung behalten, daß der ganze Prozeß ein Fehlgriff war und ein
schlechteres Licht auf die Rechtspflege des Landes werfen mußte als auf
die Mehrzahl der Angeklagten.

Es wurden darum auch von dem großen Publikum Frankreichs die würdevollen
und selbstsicheren Verteidigungsreden von Grave und Faure mit derselben
Sympathie aufgenommen, wie die witzig ironischen Wendungen, in denen der
Kunstschriftsteller Fénéon seinerseits die Anklagen und die Behandlung
des Verdachtes gegen ihn zurückwies. Die „Gemeinschaft der Verbrecher“
stand, wie man aus dem Fehlen von Belastungszeugen ersehen konnte, auf
schwachen Füßen. Niemand war zu finden, der irgendwie stichhaltig, ja
auch nur willkürlich bestätigen oder bejahen konnte, daß eine solche
Vereinigung in der Tat bestehe.

Die Anklage behauptete, daß der Gelehrte Reclus die Finanzen dieser
Vereinigung oder Partei geführt habe; daß Jean Grave der Schaffung der
Studiengruppe oblag, daß die Zeitschrift Graves „La Révolte“ den
verstreuten Mitgliedern der Vereinigung die Mittel bot, sich gegenseitig
zu kennen und zu verständigen. Faure sollte die Bewegung in der
Propaganda organisieren. Er war Herausgeber einer in Marseille
erscheinenden Zeitschrift „L’Agitation“, hatte außerdem, wie
nachgewiesen werden konnte, das Kapitalverbrechen begangen, Vaillant 5
Franken durch die Post überweisen zu lassen. Der Schriftsteller Chatel
war Begründer der „Revue anarchiste“ und Mitarbeiter verschiedener
anarchistischer Zeitschriften. Matha redigierte den „En-dehors“, er war
es auch, der Emil Henry in London bei sich aufgenommen hatte, während
Matha selber gelegentlich in Paris bei Fénéon, dem Kunstschriftsteller,
der zur Zeit Beamter des französischen Kriegsministeriums war,
zeitweilige Unterkunft gefunden hatte. Aus solchen losen Verknüpfungen
sollte das Netz sich um die Dreißig knüpfen, und in diesem Netz zappelte
zugleich die Bande um den Räuber Ortiz.

Dieser Ortiz, ein merkwürdiger Mischtypus, Sohn eines Mexikaners und
einer Polin, stellte in seinem ganzen Wesen den idealistischen Räuber
aus sozialen Beweggründen dar, wie die romantische Literatur aller
Völker ihn aufweist. Daß dieser intelligente und gebildete Mensch sich
bei seinen Taten, die einem unzweifelhaft gemischten, undurchsichtigen
Instinkt entsprangen, anarchistischer Grundsätze rühmte und dabei
unleugbar die Freundschaft Emil Henrys und anderer reiner Verkünder der
Idee genoß, beweist: daß die verbrecherischen Instinkte der Ausbeutung
und Knechtung des Einzelnen und der Massen, wie sie sich die heutige
Gesellschaft zu schulden kommen läßt, durch gleiches Vorgehen des
Einzelnen gerächt werden müssen. Nur dem oberflächlich in den
Vorstellungen und Vorurteilen der bestehenden Gesellschaftsform träge
Verharrenden wird es, wie bereits betont, einfallen, Verbrechen, die im
Obigen als revolutionäre Taten gekennzeichnet worden sind, als
Verbrechen zu betrachten.

Solange die Gesellschaft ihre Gesetze nicht den Geboten der Gleichheit,
Freiheit und Brüderlichkeit anzupassen oder wenigstens anzunähern
verstanden hat, wird das Verbrechen des Einzelnen, sofern es nicht eines
der aus Leidenschaft begangenen genannt werden darf, vielmehr die Rache
des Einzelnen an der Gesellschaft und rechtmäßiger Kampf des Empörers
gegen die große Ungerechtigkeit genannt werden müssen.

Das schmähliche Scheitern des Prozesses gegen die stupid und mit
brutaler Willkür, wie bei einer Razzia zusammengetriebenen Dreißig, das
gleichzeitig mit der Verurteilung Caserios abschließende Verfahren gegen
jenen Anarchisten, dessen Hand das verantwortliche Oberhaupt der
Regierung getroffen hatte, schloß eine Periode der revolutionären
Bewegung ab, die die anarchistische Periode in der Freiheitsbewegung
Frankreichs genannt ist.

Sie bildet, wie gesagt wurde, ein Segment in der fortschreitenden, unter
wechselnden Namen stetig gleichbleibenden Entwicklung der Freiheitsidee
der Menschheit; die Zeit ihres Geschehens ist der Vorabend des XX.
Jahrhunderts, dessen Morgen bereits solch ungeheures Vorwärtstreiben der
Idee sah; ihr Schauplatz ist Frankreich, die bürgerliche Republik der
Demokratie, des „juste milieu“.

Nach dem 26. August 1894, an dem der arme unwissende, wirre Schädel des
italienischen Proletariers unter dem Fallbeil der bürgerlichen
Justizmaschine fiel, ebbt die Welle der anarchistischen Propaganda der
Tat in Frankreich ab.

                   *       *       *       *       *

Es scheint nunmehr, als sollte sich die anarchistische Theorie aus dem
aktivistischen mehr ins wissenschaftliche Feld zurückziehen. Der
Anarchismus wird von dem sich langsam nach links, ins radikale Gebiet
ausbreitenden Sozialismus als kleinbürgerliche Ideologie verworfen. Der
Sozialismus erhebt die Autorität der Organisation zum leitenden Prinzip
und leugnet das Recht des Individuums, aus Gründen der praktischen
Erfahrung, wie aus Anbetung der Klasse als solcher, eines Götzen auf
tönernen Füßen, sich außerhalb der Organisation, eigenwillig,
selbstherrlich und unter voller persönlicher Verantwortung sein Recht zu
suchen. Er erklärt das auf solche Weise aus der Organisation
entweichende Individuum für einen Feind des Sozialismus und das
Individuum sieht sich von dem demokratischen Sozialisten, in
Übereinstimmung mit dem reaktionärsten Bürgertum, in Acht und Bann getan
und vogelfrei erklärt.

Der Kommunismus, wie wir ihn nach dem Krieg sich ausbreiten und seine
Grenzen erweitern sehen, zögert noch, die eigenmächtigen Energien aus
dem Bereich des eng benachbarten Syndikalismus, aus den militanten
Rängen des insurgenten Anarchismus aufzunehmen. Anzeichen deuten darauf,
daß er sie zur gegebenen Zeit wohl aufnehmen, einreihen und benutzen
wird. Denn in dem insurgenten Anarchisten brennt am leuchtendsten die
Flamme der ewigen Revolte des Menschengeschlechtes. Was verschlägts, daß
an ihrem Brand das ephemere Verordnungsblatt der Parteidisziplin rasch
verkohlt!

In der Schicksalsstunde der höchsten Gefahr des Freiheitsgedankens, in
der Stunde, da das kämpfende und kampfbereite Proletariat am ärgsten
bedroht ist, schlägt die große Flamme aus dem Einzelnen auf die Masse
über und hüllt die Gesamtheit, Individuum, Partei, Klasse, Menschheit in
ihr Licht, ihre Glut ein.




                              In der Sammlung
                       AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
                     – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART. –
               erscheinen in kürzester Zeit folgende Bände:


   *Band 1:

                               ALFRED DÖBLIN
                  DIE BEIDEN FREUNDINNEN UND IHR GIFTMORD

   *Band 2:

                             EGON ERWIN KISCH
                    DER FALL DES GENERALSTABSCHEFS REDL

   *Band 3:

                              EDUARD TRAUTNER
                      DER MORD AM POLIZEIAGENTEN BLAU

   *Band 4:

                                ERNST WEISS
                          DER FALL VUKOBRANKOVICS

   *Band 5:

                                 IWAN GOLL
                     DIE ROTE JUNGFRAU GERMAINE BERTON

   *Band 6:

                              THEODOR LESSING
                  HAARMANN, DIE GESCHICHTE EINES WERWOLFS

   *Band 7:

                                KARL OTTEN
                             DER FALL STRAUSS

   *Band 8:

                             ARTHUR HOLITSCHER
                             DER FALL RAVACHOL

   *Band 9/10:

                          P. DREYFUS – PAUL MAYER
                   RECHT UND POLITIK IM FALL FECHENBACH

   Band 11[1]:

                            L. LANIA – HERRMANN
                            DER HITLER-PROZESS

   Band 12:

                              THOMAS SCHRAMEK
                           DER FALL EGLOFFSTEIN

   Band 13:

                              HENRI BARBUSSE
                     DIE MATROSEN DES SCHWARZEN MEERES

   Band 14:

                                 OTTO KAUS
                            DER FALL GROSSMANN

   Band 15:

                               EUGEN ORTNER
                             DER FALL BERNOTAT

   Band 16:

                               WALTER PETRY
                              DER FALL NÄGLER

   Band 17:

                            FRIEDRICH STERNTHAL
                        DER FALL DER RATHENAUMÖRDER

   Band 18:

                              RENÉ SCHICKELE
                           DIE CAILLAUXPROZESSE

   Band 19:

                                KARL FEDERN
                         DER FALL MURRI-BONMARTINI

   Band 20:

                               KURT KERSTEN
            DER PROZESS GEGEN DIE MOSKAUER SOZIALREVOLUTIONÄRE

   Band 21:

                               MARTIN BERADT
                            DER FALL HASSELBACH

   Band 22:

                             F. A. ANGERMAYER
                  DER FALL DER PARISER AUTOMOBILBANDITEN

   Band 23:

                                WILLY HAAS
                              DER FALL GROSS

   Band 24:

                           WALTER VON HOLLANDER
                              DER FALL GRUPEN

   Band 25:

                                MAX FREYHAN
                 DER JUWELENRAUB IN DER KÖPENICKERSTRASSE

   Band 26:

                                HANS REISER
                             DER FALL STRASSER

   Band 27:

                           FRANZ THEODOR CSOKOR
                              DER FALL EISLER

   Band 28:

                               E. I. GUMBEL
                           EIN POLITISCHER MORD

   Band 29:

                              EDUARD TRAUTNER
                  DER FALL DES SCHUPOWACHTMEISTERS GERTH

   Band 30:

                              ARNOLT BRONNEN
                             DER FALL VAQUIER

   Band 31:

                               HERMANN UNGAR
                            DER FALL ANGERSTEIN

   Band 32:

                                JOSEPH ROTH
                            DER FALL HOFRICHTER

            Die mit * versehenen Bände sind bereits erschienen.

   [1] Bei den folgenden noch nicht erschienenen Bänden behält sich der
   Verlag Änderungen sowohl der Titel als auch der Reihenfolge usw.
   ausdrücklich vor.

                             Ferner Bände von:

   MAX BROD, OTTO FLAKE, WALTER HASENCLEVER, GEORG KAISER, THOMAS
   MANN, LEO MATTHIAS, JAKOB WASSERMANN, ALFRED WOLFENSTEIN
                            und vielen Anderen.


                  Ohlenroth’sche Buchdruckerei Erfurt.


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 24]:
   ... Manifestation revolutionärer Art unnachsichtlich ...
   ... Manifestation revolutionärer Art unnachsichtig ...

   [S. 29]:
   ... herumzulaufen. Seine Kindheit und frühe ...
   ... herumzulaufen. Seine Kindheit und frühen ...


*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RAVACHOL UND DIE PARISER
ANARCHISTEN ***

Updated editions will replace the previous one--the old editions will
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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation's website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without
widespread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This website includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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