Wege und Umwege

By Annette Kolb

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Title: Wege und Umwege

Author: Annette Kolb

Release Date: July 6, 2014 [EBook #46204]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK WEGE UND UMWEGE ***




Produced by Jens Sadowski








                             ANNETTE KOLB
                                 WEGE
                              UND UMWEGE


                        HYPERIONVERLAG / BERLIN

                       Zweite und dritte Auflage
             Gedruckt von Emil Herrmann senior in Leipzig
                             im Jahre 1919




                                 TORSO


Gedanken, Meinungen und Überzeugungen drängen nach Äußerung, lange bevor
wir noch wissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form wir
sie bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur Ausführung
oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen sie zur Schrift.

Leopardi nennt die so verbreitete Meinung von der Seltenheit der Originale
einen großen Irrtum, denn bei näherer Betrachtung erweise sich fast ein
jeder als ein ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar! Einem solchen
Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige. Aber tatsächlich
ist es mit den geistigen Physiognomien der Menschen wie mit den
äußerlichen. Könnten wir jene mit den Augen sehen, wir würden da genau
dieselbe Mannigfaltigkeit, aber auch dieselben Mißverhältnisse wahrnehmen,
wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sich auf geistigem Gebiete der
Wahn so bemerkbar macht, als sei hier eine Unterschiebung der eigenen
Identität durch eine schönere oder bedeutendere leichter möglich, die
Gesetze der Unveränderlichkeit leichter zu täuschen oder zu umgehen, als in
der körperlichen Welt. Wie wenige sind denn wirklich schöne oder vollendete
Typen! Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken antiker Statuen, deren
Wirkung durch einen ergänzten Kopf, eine fremde Bewegung verdorben oder
gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie sind, nämlich meist _ohne_
Kopf und Fuß, aber echt.

Marie stand mit fünf Jahren eines Morgens unter einem Baum, dessen Laub im
Winde rauschte und den blauen Himmel durchblicken ließ. »Das Leben ist
schön!« dachte sie.

Da flog ein Blatt von den Zweigen herab in ihre Hand, und während sie seine
groben Adern und Fasern langsam auseinanderriß, wurde sie unsäglich
verstimmt. Nicht der frohbewegte Wipfel in der Höhe, das einzelne
langweilige Ding in ihren Händen war die Wirklichkeit! --

Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zum erstenmal an ihr Bewußtsein an;
denn es gibt nichts Neues im Menschen. Das fin mot eines Ich's ist ein
Motiv, und was hinzutritt, sind Amplifikationen.

Schon ein Jahr darauf lernte sie im Kloster die Langeweile kennen, zu der
sie neigte wie ein anderer zu Gichtschmerzen oder Rheumatismen, und die sie
anwehen konnte, plötzlich, unvermittelt wie ein Wind, der um die Ecke
fährt.

In ihrem Kloster blies sie durch das ganze Haus, um alle Mauern, und durch
den ganzen Garten, die Stelle ausgenommen, an der eine reizende Brücke über
den Wildbach bog, Libellen unklösterlich schwirrten und die Bäume
parkähnlich zusammenstanden. Aber alles andere war häßlich. Zwei hohe
plumpe Berge versperrten wie Riesentore nach Norden hin die Welt, und die
Monatsrosen standen, meist verwelkt und verweht, um ein mächtiges Kreuz vor
dem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich empfinden, doch ohne auch
nur entfernt die Fähigkeit zu haben, sich dies zum Bewußtsein zu führen.
Wie schmerzlich schien ihr im Frühjahr das Licht, wenn die Furchen der
Berge so rauh aus dem Schnee hervorstachen und die grünenden Bäume im
Scheine eines regnerischen Tages fröstelten. Ach wie öde der Ackergeruch im
Winter, die Stoppeln und Maulwurfhügel auf dem Felde, der schwere, fette
Flug der Raben!

Zu ihrer Unterhaltung verfiel sie da auf ein höchst seltsames
Gedankenspiel: sie setzte sich abseits, stützte die Arme auf, schloß die
Augen und dachte mit immer beschleunigterem Tempo und eingezogenem Atem:
»Ich bin Ich«. An diesem Gedanken konnte sie nämlich, wie an einem Seil,
immer dunklere Schlünde hinabgleiten, bis sie ein Schwindel erfaßte und ihr
Ich ihrem Bewußtsein entsank.

Wie sie das zusammenbrachte, wurde ihr später selbst ein Rätsel: ihr Geist
hatte damals eine jongleurartige Geschwindigkeit, als sei er transparenter
und zugleich schärfer gewesen, lösbarer von ihr? -- Sie wußte es nicht.
Aber sie fand es »spannend«, sich selbst zu jagen, bis zu einer Wurzel, die
sie nicht mehr war. -- »Ich bin gefangen!« dachte sie da wohl. »Auch nicht
für eine Stunde kann ich jemals von mir fort, und wenn mir andere Menschen
noch so sehr gefallen werden, kann ich sie nie sein!«

Aber einmal, als ihr diese geistige Rutschpartie besonders gut gelungen
war, faßte sie ein Entsetzen, als hätte sie sich verloren, als hinge das
Seil ihrer Identität in der Luft, -- als harrten ihrer Gespenster in den
Tiefen, in die sie geraten war, -- und mühsam, wie ein Ertrinkender, so
rang sie seufzend zur Oberfläche ihres Bewußtseins zurück.

Ein Instinkt riet ihr jedoch, dies unheimliche Spiel zu lassen, und die
Fähigkeit verlor sich auf diese Weise sehr rasch. Dafür fingen andere
Probleme, deren Lösung sie keinen Augenblick gewachsen war, an sie zu
quälen.

Starb eine Klosterfrau und wurde es den Zöglingen freigestellt, sie auf der
Bahre noch einmal zu sehen, so ließ Marie alles liegen und stehen, und
marschierte zwei Schuhe hoch, allen voran. Dann starrte sie forschend in
das fahle Gesicht, dem der Geist schon zu lange entschwunden war, und das
ausdruckslos, ja sinnlos vor ihr lag. Und nichts schien ihr gerade auf das
Klosterleben ein so trauriges Licht zu werfen als der Tod.

Aber es kamen immer mehr Dinge, die ihr mißfielen.

Eines Sonntags fand sie in einem Bilderbuch eine Palmengruppe abgebildet,
einen sprungbereiten Tiger und ein Mädchen, das mit tödlich entsetzter
Miene sich vor ihm zu verbergen suchte, aber vergebens, denn er hatte sie
schon fast erreicht und mußte sie unfehlbar zerreißen.

Empört und außer sich, rannte Marie im Zimmer umher. Sie blickte zu den
gemalten Inschriften auf, die an den Wänden hingen, und die ihr so gut
gefielen: »Siehe, so sehr hat Gott die Welt geliebt . . .« »Er aber liebt
die Seinen bis in den Tod . . .« »Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört
. . .« Über ihren Schrank breitete ein Pelikan seine Flügel aus mit einem
ähnlichen gefühlvollen Spruch. Wie reimte sich dies? -- Und sie verbiß sich
von neuem in das schreckliche Bild. -- Wie konnte Gott dies ertragen, wenn
wir sein Ebenbild waren?

Ein anderes Mal hatte die Feuerglocke wegen eines in der Nähe brennenden
Anwesens wohl eine Stunde hindurch geläutet. Endlich kam fliegenden
Schrittes eine Klosterfrau den Gang heraufgeeilt und sagte: »Gottlob
Kinder, es ist kein Menschenleben zugrunde gegangen, nur sechzehn Kühe sind
verbrannt«.

In der Nacht sah Marie die Tiere heulend durch die Flammen jagen und fuhr
erschrocken aus ihren Träumen empor. Sie schlief nahe am Fenster, und der
Wildbach rauschte mit düsterem Schwalle, ewig stöhnend, schwarze Klagen
herauf. Was war dies für eine Welt, in der die Kinder ihre Eltern begruben,
und der Herr der Schöpfung zur Beute eines niedrigen Tieres entehrt werden
durfte? Schöne Menschen, die sie kannte oder gesehen hatte, und die
schwerlich je in Kollision mit einem Tiger oder einer Boa constrictor
kommen würden, schwebten ihr vor Augen. Allein gewisse _Möglichkeiten_
genügten, um da ihren Weltschmerz zu einem unerhörten Fortissimo zu
steigern. Es gab ja kein Entrinnen aus einer solchen Welt, keinen Tod,
keine Bewußtlosigkeit mehr für unsere unsterblichen Seelen! »O wie ist
das?« dachte sie erschrocken: »Ich kann Gott nicht lieben!«

Am nächsten Morgen waren Geschenke für sie angekommen, und sie bezeigte
eine solche Gier, sie alsbald in Empfang zu nehmen, daß die Oberin sie
zurechtwies: »Du genußsüchtiges Kind,« sagte sie streng. Marie hörte dies
Wort zum erstenmal und vernahm es mit Interesse. In der Tat: Warum haßte
sie nichts so sehr auf der Welt als den Schmerz? Warum ging sie stets mit
abgewandtem Gesicht den unteren Gang entlang, wo die Apostel der Reihe nach
in schlecht gemalten Bildern hingen, mit Kreuz, Nägeln und Stricken, all
den furchtbaren Zutaten ihres Sterbens? Warum erfaßte sie jede Freude mit
so peinvoller Hast und entbehrte sie mit solcher Heftigkeit? Und warum
waren selbst ihre schwärzesten Stimmungen so seicht, wie Wolken, die ein
leichter Windstoß wieder zerreißt?

Aber ihre Grübeleien brachten ihr nur Überdruß, und sie war froh, sich
ihrer zu entschlagen. So fing sie mit acht Jahren an zu schwärmen, und wenn
Orgelklänge und Weihrauchdüfte die Kirche erfüllten, dachte sie nur mehr an
Rosa Flatz, Paula Baselli, Irene Angermaier und Livia Gelmini.

Es gibt Wesen, die in früher, unwahrscheinlicher Vollendung ins Leben
hineinleuchten, gleich jenen vereinzelten Tagen inmitten langer
Regenzeiten, an denen das Licht so zärtlich, das Laub so golden, der
feuchte Blick der Sonne so kristallen leuchtet! Aber tags darauf haben
Regen und Wind ihre trüben Lieder wieder aufgenommen . . . Flatz war von
hohem Wuchs, hatte goldenes Haar und den Kopf einer Sirene. Da sie fast
schon erwachsen war, wagte Marie nur im Winter, wenn die Zöglinge
schweigend spazieren gehen mußten, sich zu ihr zu gesellen, ergriff ihre
Hand und sah stillbeglückt von der Seite zu ihr auf. Kein Frost konnte die
liebliche Röte dieser Wangen beeinträchtigen, so schön und blühend war ihr
Flaum. Aber sie blühte so königlich! Wo sie ging, war kein Winter, heftig
Rosensträuche blühten an allen Wegen, und an den Frühling gemahnte selbst
ihr sicherer, zerstreuter Blick.

Baselli hatte einen zu tiefen Teint und ungeschmeidiges Haar. Aber der
Schnitt war rein wie der eines Ägineten, und ihr stolzer Blick flammte in
unbewußter oder in Zaum gehaltener Trauer. Marie hielt sich gern in ihrem
Umkreis, um die edlen Augenhöhlen, die köstliche Zeichnung ihrer Lippen in
der Nähe zu sehen, und wie über einen heiligen Wald schwärmte ihr inneres
Auge über sie hin.

Aber Irene Angermaier war die schönste! Mit braunem, weichfließendem Haar,
ruhig und müd wie eine Nymphea im Mondlicht. Sie lehnte in ihrer harten
Schulbank mit jener überlegenen Grazie, welche die Menge anjubelt und vor
der die Maler knien. In prunkvoll ausgeschlagener Gondel, in Palästen hätte
sie ruhen sollen; ein Antlitz für Perlen und unschätzbare Schleier, ein
Wesen, zu schön um zu leben, zu leicht, um im Grabe zu ruhen.

Gelmini war aus Salurn, und melodisch wie ein Glockenspiel. Ihre Achseln
schienen wie mit Blütenfäden an ihren Körper gefügt, und an der Art, wie
sie den Arm nach der Stiegenrampe ausstreckte, und an ihrem Gang konnte
Marie sich nimmer satt sehen. So schritt wohl Julia, als Romeo sie zum
erstenmal erblickte. Und wenn Livia: »il gallo, la primavera, la catena«
sagte, dann schwärmte Maries Herz wie ein bunter Schmetterling in der
Sonne. Mit Livien, die erst neun Jahre alt war, hätte sie verkehren können,
aber sie gefiel ihr zu gut, und wo sie bewunderte, zerfloß sie in
Verehrung. In Wirklichkeit wollte sie weder von Puppen, noch von
Freundinnen etwas wissen, und mit Vertraulichkeiten war ihr nicht gedient.
Sondern sie wollte höhere Wesen, die sie ihrer enthoben. Und angesichts
jener vier reizvollen Gestalten, die sie so früh verlieren und sterben oder
scheiden sehen mußte, war sie viel mehr einem Zustand als Gefühlen
hingegeben. Sie sprach nie mit ihnen und suchte nie von ihnen beachtet zu
werden, nur in der Nähe, im selben Zimmer mußten sie sein; sie mußte sie
alle vier sehen können, wenn sie den Kopf wandte; dann war ihr Kloster ein
gar schöner, gewählter und träumerischer Ort.

Mit ihnen schwand alle Poesie aus Maries klösterlichem Leben; sie stak von
neuem in Grübeleien, wie in ödem, verwirrendem Sande, langweilte sich und
sehnte sich fort. Zudem wurden alle ihre Bücher, die sie gerne
vorschriftswidrig in ihrer Schublade aufgeschlagen hielt, der Reihe nach
konfisziert, und ehe sie sich versah, stand sie als Verkörperung der
Insubordination von allen Zöglingen abseits. Alljährlich feierte man in
ihrem Kloster das sogenannte Königsfest, bei dem sich das ganze Pensionat
in einen Hofstaat umwandelte, und jeder Zögling, von der Königin herab zu
den Köchen und Kaminkehrern, je nach Verdienst, seine Charge erhielt. Die
ersten Jahre stand Marie als Page, in Korkzieherlocken und Goldreif, einen
ganzen Tag hindurch stumm, doch voll Entzücken in der Königin Dienst. Es
war Irene Angermaier, in Silbergaze und königlicher Krone. Aber später
wurde ihr dies reizende Fest verleidet: In einem schief aufgesetzten, viel
zu kleinen Schäferinnenhut und einem zu engen grünen Tarlatankleid (denn es
hatte als ehemalige Balltoilette eine Taille, und sie noch lange nicht)
spazierte sie als »königliche Lectrice« mit einem Riesenbuch, allein und
tödlich verlegen, hinter den Landgräfinnen einher, und wenn im cortège die
Reihe an sie kam, tanzte der Bouffon in seiner roten Schellenkappe vor ihr
her und verkündete ihre Streiche. Nun pflog sie zwar über die Weltordnung
allerlei Separatanschauungen, doch für das Maß ihrer eigenen Missetaten
fehlte ihr jedes persönliche Gutdünken, und sie schämte sich über Gebühr.

Aber dafür war die freie, herrliche Welt der Tummelplatz aller Freiheiten,
und ihr Herz schlug hoch, als die schweren Klosterriegel auf immer hinter
ihr zufielen.

Das Leben präludiert meist anders, als es verläuft. In der Tat: so
unglaublich es ihr selber erschien: einen Monat später durchschwärmte sie,
frei wie ein Waldestier, eine Mondnacht um die andere in den Bergen und
kampierte am offenen Feuer wie ein Zigeuner. Was hätte sie gesagt, die
würdige Mère Supérieure, die ihre Uhr nach den Hühnern richtete? -- Da hing
Maries Disziplin am hohen Klostergiebel, als leeres Fähnchen
zurückgeblieben.

Folgendes müssen wir ihren eigenen Aufzeichnungen entnehmen:

»Es war zur Sommerszeit in den bayrischen Bergen, als uns vier Kinder die
Wanderlust zum erstenmal ergriff. Aber der Tag ließ uns nicht weit genug
gelangen; so rüsteten wir uns sorglich auf einen längeren Streifzug aus.
Daß uns gerade nur soviel Geld bewilligt wurde, um vierundzwanzig Stunden
fernzubleiben, kümmerte uns nicht.

Erst als der späte Nachmittag golden verglühte, traten wir vor. Bald
rauschte dann im Mondlicht der Fluß uns zur Seite, und schneeweiß zog sich
die Straße den schwarzen und bewaldeten Felsen entlang. Jeder Stein, der im
Flusse die Wellen zurückwarf, die Kiesel am Wegesrand, ja das zertretene
Gras am Ufer schienen verklärt. Und wenn sich in dem mondlichen Schweigen
der Schrei eines Tieres entrang, durchzitterte ein ewiges Glück die
schimmernden Mulden.

Immer leichter trugen uns unsere Schritte voran! Immer eifriger berieten
wir die Möglichkeiten einer einstigen großen Erbschaft, und in der großen
Bergesstille schallte unser lautes Gelächter.

Als die Lichter der »Fall« vom anderen Ufer herüberleuchteten, hielten wir
Rat: denn aller Spaß wäre zu Ende gewesen, hätte unserem Auftreten etwas
von dem hohen Ansehen gefehlt, von dem wir selbst so sehr überzeugt waren.
So betraten wir, stets fremde Sprachen untereinander führend, das alte
Gasthaus, bestellten ein wohl ausgeklügeltes, sehr zimperliches, aber sehr
billiges Essen, gaben dann vor, einer Wette halber, die Nacht in keinem
Hause verbringen zu dürfen, und griffen, mitten in der Nacht, mit großer
Eile nach unseren Stöcken. Der Eindruck war nach Wunsch: die paar Reisenden
und das Personal standen neugierig an der Türe, eine alte Dame protegierte,
die Wirtin bewunderte uns, der Förster zog seine Pfeife weg und wies uns
den Weg, und von freundlichen Zurufen verfolgt, von der alten Dame gewarnt,
drangen wir in den Wald, und weiter hinein in die Riß. Den Tag verschliefen
wir auf Almen oder Bergeskanten. Kamen Stürme, so äfften wir sie. Von den
Felsen geschützt, apostrophierten wir das finster fliegende, grandiose
Gewölk und begrüßten die Donnerschläge mit dröhnendem Gelächter.

In der Folge dehnten wir unsere Touren immer stattlicher aus. An einem
Herbsttag kamen wir vom Achensee und wollten über den Schildenstein zurück.
Die Alm war geschlossen. Da liefen wir in der Dämmerung den Kanten des
Blauberges entlang, drangen durch das Fenster in eine leere Hütte und
machten uns Feuer. Aber draußen lockte die Nacht, lockten die im Monde
getauchten Tiefen des Achentales und der silberne See. Unbeweglich wie
Berggeister saßen wir, in unsere Mäntel gehüllt, vor unserer Alm. War es
Ahnung oder Müdigkeit, die uns verstummen ließ? Die Welt mit ihrem Spiel
riesiger Schatten und frohlockender Höhen atmete Gesang, aber die Leier
unserer Freuden schwebte zerrissen über uns.

Bald standen wir wie ein Häuflein, das ohne den Führer trübe zerfällt. Der
große Zauber jener Wanderungen hing an einem romantischen, 19jährigen,
höchst merkwürdigen Wesen, in dem kein Raum war für Pandorens Trug. Reinste
Vernunft gebot hier jeder Unruhe, und die Erkenntnis überstrahlte den
Wunsch. Aber nie vorher hatte sich so hohe Weisheit mit solcher Grazie
umkleidet und die Taue eines so unschuldigen Lebens gelockert. In dieser
fast morbiden Erscheinung mit dem unbeschreiblichen Relief ihrer bangen
Umrisse, blieb alle Schwäche ausgeschieden, war alles Schönheitssinn und
Stil. Zuletzt sind Linien, die uns fesseln, solche, an die wir uns nicht
gewöhnen, und stete Neugier erregte diese schmale, ernste Stirne mit den
hochgezogenen Brauen, die fast leichtsinnige Anmut des kleinen Ovals, das
eitel gesteckte Gold der Haare, und dabei die männliche Zurückhaltung in
den durchdringenden Augen. So glich die Mischung ihrer psychischen Elemente
der Stimmung eines herrlichen, aber zu zarten Instrumentes; und so ließen
sich ihre Anforderungen an ein Leben, an das sie nicht glaubte, nicht
herabdrücken, und mit allen Fasern zog sie sich von ihm zurück.

»La mort est bête« sagte Gambetta. »Aber der Tod überblickt Zusammenhänge,
und das Leben ist befangen. In unserer Existenz wähnen wir unser Wesen
erschöpft, währenddem die Grundlagen neuer Individualitäten schon in uns
dämmern, neue Lebensformen unserer harren mögen. Allein einzig ist der
Mensch als Kunstwerk! Und mit Grauen erfahren wir, daß es Wesen gibt, die,
köstlichen Schalen gleich, einmal zerschlagen, der Natur nicht wieder
gelingen.«

                   *       *       *       *       *

Wie der Seekranke vom Schiff im ersten Morgengrauen nach der Küste späht,
so sehnt man sich oft nach dem Tode -- man weiß, daß man den Gang und die
Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.

                                       Nietzsche. Nachgelassene Werke.

Ob wir wollen oder nicht, wir werden am Ende alle katholisch.

                                                               Moltke.

Als Marie heranwuchs, wurde ihr der Ernst so widerwärtig wie früher das
Leiden. Von den beiden Philosophen, von welchen der eine die Welt ewig
weinenswert, der andere sie ewig komisch fand, hatte nur der letztere ihren
Beifall. Denn wer sich über eine Welt, gegen die er nichts vermochte,
Sorgen machte, der war in ihren Augen ein Narr. Man lebt nicht lange, also
lebe man, ohne zu denken. Allein ihren Theorien zum Trotz erhoben sich die
Gedanken wie ein brennender Wüstenwind in ihrem kindlichen Gehirn. Da faßte
sie eine tiefe Abneigung zu Menschen ihrer Art. Mädchen ihres Alters umging
sie in weitem Bogen, aber das Zusammensein mit schönen verwöhnten Frauen,
im Kreise weltgewandter Männer, wurde ihr Paradies. So geriet sie sehr früh
in eine Clique welterfahrener, mächtiger und verfeinerter Leute, die sich
täglich sahen, in deren Vertraulichkeit, die keine war, das Herz fast keine
Rolle spielte, sondern mehr das Behagen, und deren Denkprozeß bei oft
interessanter Begabung ein geringer blieb. Aber gerade dies fand sie
bezaubernd. Das Leben war es wohl wert, zur Kunst erhoben, erheitert zu
werden, und die Sorglosen waren die Lieblinge, die Nachdenklichen nur die
Frondiener der Götter.

_Jene_ also waren die überlegenen und vollkommeneren Menschen. Ach und das
ferne, freundliche Mitgefühl, mit dem sie eine eben ereignete große
Katastrophe, einen Brand, ein Eisenbahnunglück besprachen, vollends die
Art, mit der sie dann das Thema wieder fallen ließen, entzückte, ja
betäubte Marie. Und die Ironie, mit der sie gesprächsweise die
Erbärmlichkeiten des Lebens streiften, -- nur streiften! schien ihr das non
plus ultra seelischer Eleganz.

Diese siegreichen Typen schieden in ihren Augen alle entwürdigenden
Grausamkeiten, alle Häßlichkeiten aus, alles, was sie haßte, woran sie
nicht erinnert werden wollte, und keine verzehrenden, keine erniedrigenden
Schmerzen gelangten je zu diesen lachenden Höhen.

Und es lag ihr so sehr am Leben! Es schien ihr so kostbar, so
begehrenswert. Sie liebte, ja in dem höher potenzierten Menschen
vergötterte sie es; aber die _Freude_ war das Gesetz, nach dem er wandeln
sollte.

Aber ach! die Freunde ihrer Wahl, in deren Oberflächlichkeit sie schwelgte,
deren Lächeln sie beruhigte, an deren Leichtsinn sie ihr Gemüt sonnte wie
ein Kranker im Mittagsscheine, sie hinderten ja nicht, daß ihre Gegensätze
bestanden. Ihr Genuß löschte keine Qual, war nur ein Kontrast, -- kein
Ersatz, -- nur ein Widerspruch mehr! Empfindungen von solcher
Mannigfaltigkeit konnten sie da überwältigen, und der Andrang ihrer
Gedanken im Verhältnis zu ihren noch kaum entwickelten Fähigkeiten sich so
mächtig steigern, daß vor innerer Erregung ihre Zähne zusammenschlugen, und
ein lauerndes Angstgefühl sie immer deutlicher beschlich.

Zu ihren Freunden hatte sie indes eigentümlich Stellung genommen: zu jung,
um noch zu zählen, störte sie niemanden; die Frauen litten sie gern, ja die
schönste von ihnen zog sie zu den Zusammenkünften, die täglich bei ihr
stattfanden, und hielt sie wie eine Art von Pagen. In der Tat hatte Marie
der Schönheit gegenüber eine huldigende Art, ein Gefühl des Ausgefülltseins
und Verlorengehens, ein Stillstehen ihres Selbst zu einem Atom, das nicht
Schwärmerei war, sondern Glück.

Eines Tages hatte sie sich verspätet, die Besucher waren fort und ihre
Freundin allein.

Durch das alte, gemalte Scheibenfenster umwob sie der goldene Staub der
sinkenden Frühlingssonne. Sie lag, den Kopf zurückgeworfen, ausgestreckt
und rauchte eine Zigarette. Nichts dächte man, was in diesem Anblick
klassische Erinnerungen weckte. Was hielt nun Marie vor einer der schönsten
Gestalten ihrer Zeit, unbeweglich, wie geblendet, an der Schwelle zurück?
Sie sah Helden verbluten, Troja im Schutt und Hektor erschlagen, und wie
von einem plötzlichen Schein entrückt, faßte sie das ewige Relief dieses
flüchtigen Lebens.

Aber der Mensch war ihr, was dem Künstler die Kunst, und ihr Wohlgefallen
war ein Meer der Ruhe. Und dieser eine göttliche Funke in ihr schuf ihr
Beziehungen, baute ihr Brücken, die lustig funkelten wie Regenbogen.

Allein nicht nur vergessen und sich verlieren wollte sie, sondern die Art
ihrer Salon-Olympier sich aneignen und nachahmen. Stets schwärmend, haßte
sie Exaltation, und Kälte des Herzens war in ihren Augen Weisheit.

Es ist ja eine Tatsache, daß nicht die Eigenschaften selbst, sondern ihr
Reflex es ist, der uns besticht, und nicht der Wert, den man besitzt,
sondern den man verausgabt. Hierin beruht der Reiz gewisser typischer
Genußmenschen. Sie erwecken Illusionen, weil wir ihnen mehr zugute halten,
als sie veräußern, manchmal mit Recht, und manchmal nicht. Es sind die
Reichen, die kein dunkler Stachel der Entbehrung hindert, ihre
Empfindsamkeit ohne Rest auszuleben, und von denen geschrieben steht, daß
sie das Himmelreich so schwer erlangen, denn es leidet Gewalt.

Und doch konnte sie nicht umhin, das Leiden als einen Mißstand, die
Entsagung nicht als eine Bestimmung des Menschen zu betrachten, und wenn
sie glückliche Naturen so sehr liebte, so war es, weil sie ihre
Berechtigung anerkannte. Dieser Glaube saß ihr im Blute, er wuchs und
lebte, er zehrte an ihr. In ihrer eigenen Zerrissenheit erblickte sie einen
untergeordneten Zustand, weil sie fühlte, wie dies Übergreifen ihrer
Individualität nichts anderes aus ihr schuf, als einen heiseren Mißton, der
jede Saite erzittern ließ, der keinen Klang ausschied und keinen
unvermischt behielt. Die Röte stieg ihr dann wohl auf, wenn sie der eigenen
Maßlosigkeit gedachte, ihres übertriebenen Gebahrens, noch vor einer
Stunde, als sie in Voltaires Geschichte Karls XII. von Peter dem Großen
las, der seine Kosaken so unentwegt, nach Tausenden rädern ließ. Gleich
einem scheugewordenen Tiere war sie da mit dem Kopf gegen die Wand
gestoßen, wie um eine solche Tatsache aus ihrem Bewußtsein zu löschen. Denn
aller Jammer, der solche Greuel deckt, war da vor ihren Blicken
aufgestiegen, und ungestüme Todessehnsucht ergriff sie vor dem Bilde einer
so schmerzbefleckten Welt.

Bei solcher Gemütsart mag es eigentümlich erscheinen, daß sie die Religion
so ganz abseits ließ. Allein sie war ihr durch das Kloster zu sehr
entfremdet worden. Das Breittreten großer Mysterien hatte nur ihren
Widerwillen, später ihre Gleichgültigkeit hervorgerufen, und weiter ging
das Senkblei ihrer Messungen nicht. Es ging ihr wie so vielen. Daß wir
einem Glauben, in dessen tiefste Geheimnisse wir als kleine Kinder
eingeweiht werden, eines Tages ungeduldig den Rücken kehren, ist ja
ungefähr das Naheliegendste, was es gibt und erfordert spottwenig Geist.
Und wie tief drang jener Rat Goethes in Wilhelm Meister, den Knaben die
Mysterien des Neuen Testaments bis zum Jünglingsalter vorzuenthalten, um
der notwendigen Verstümmelung ihrer Eindrücke vorzubeugen? Christus wählte
reife Männer zu seinen Zuhörern, und wie summarisch verstanden ihn selbst
die!

Jene Verstümmelung ihrer Eindrücke nun hatte Marie erfahren. Christus war
ihr ein furchtbares Rätsel geworden, eine unverständliche Gestalt, der
Widersprüche voll, der Umrisse bar, zu der sie keine Fühlung gewinnen
konnte und die sie bedrückte.

Und jene dunkle, unbestimmte Furcht umzingelte sie immer näher mit
unruhigen, peinigenden Schatten. Bald mied, bald erforschte sie im Spiegel
ihre scheuen trostlosen Blicke. In den Dissonanzen ihres Innern sah sie
keine Lösung, keine Lichtung für einen Strahl des Gleichgewichts, und wie
der Sturm auf schwarzem Geball, so jagte das Gespenst des Wahnsinns auf dem
Getürme ihrer Gedanken und Empfindungen, die ungeschieden ineinander
wogten; wie ein im Stimmen begriffenes Orchester, in dem Violinen, Hörner
und Baßgeigen die unzusammenhängendsten Läufe und Motive wirr
ineinandertönen. Nur indem sie stets zu den heiteren Seiten des Daseins
flüchtete, glaubte sie Ruhe und Rettung zu finden, und glich so einem in
Brand Gesteckten, der vor der Flamme davonläuft und sie dadurch nur
entfacht. Sie las grundsätzlich keine ernsten Bücher mehr und ging nie in
ein Konzert. Einzig französische Musik vermochte sie zu zerstreuen. Ihr
entströmten, wie Wohlgerüche aus unnachahmlicher Phiole, die Kundgebungen
nationalster Grazie und Form, und sie schlürfte den Tau französischen
Geistes, wie durchsickert von seiner Vollendung. Denn sie liebte feste
Umrisse, und der Zauber einer Rasse lag für sie in deren Geschlossenheit,
aber das Feine gewährte ihr mehr Befriedigung als das Große, weil sich in
ihm das Wohlgefallen ohne Stachel erschöpfte. So abhold sie jedoch dem
Leben gegenüber jeder Gründlichkeit war, in der Kunst verletzte sie die
Oberflächlichkeit, ja sie erschien ihr gemein. Und hierin allein mochte sie
es nicht mit ihren Freunden halten, deren Stellungnahme gewissen Dingen
gegenüber sie verdroß. Denn sie fühlte die gänzliche Bezugslosigkeit der
Frivolität zu allen höheren Gebieten. Aber hier wie da gelangten nur
flüchtige und heftige Stimmungen bei ihr zu Atem, und es lag etwas
Chaotisches in der Gleichzeitigkeit ihrer oft ganz entgegengesetzten
Empfindungen.

Übrigens mußte sie doch bald einsehen, daß ihr alles nichts half. Sie
mochte ihre Freunde noch so sehr bewundern, die Ansichten des einen, den
Tonfall und das blasierte Lachen eines anderen, die Persiflage eines
dritten nachahmen, schwärmen und kopieren, kopieren und schwärmen, sie
wurde ihnen nicht ähnlich. Zwar wollte auch sie zu denen gehören, welche
ihre Herzen abrichten, ihre Eindrücke assimilieren, nicht ihnen nachhängen
-- ja, aber sie stürmte nicht, wie ihre Freunde, in die weite Welt! Für sie
segelte kein Schiff auf die herrlich freien, hohen Wogen des Lebens, sie
stand am Gestade, und der Gedanke an ein ruhiges gleichförmiges Dasein
erfüllte sie mit Verzweiflung.

Denn das Element, die Atmosphäre, in der ihre Seele lebte, war die Welt der
Eindrücke; wo diese fehlten, stagnierte ihr Inneres wie ein Sumpf, und ihre
Züge wurden stumpf und leblos vor den Augen derer, die entweder kein Gefühl
oder kein Interesse in ihr erweckten.

Ein einziger in jener Gesellschaft, die ihr El Dorado war, hatte sie
durchschaut. -- Er trug seiner romantischen Erscheinung halber den
Spitznamen Alfred de Musset. Sein Gesicht war en face gesehen schön und
zauberhaft jung, das Profil niederträchtig, die Gestalt bei äußerlicher
Eleganz von schlechter Rasse, die Hände unsympathisch. Seine Begabung, in
ihrer Art ungewöhnlich, war à fleur de peau. Dabei gehörte er zu jenen
Menschen, welche den Geist der anderen auf das lebhafteste anregen und in
Schwung versetzen. In seiner Gegenwart beherrschte sich die schüchterne
Marie vollkommen. Sie drückte sich frei und unbefangen aus, und die Worte
standen ihr für alle ihre Einfälle zu Gebot. Dies erhöhte nur ihre
Gereiztheit, denn genau so, wie sie sich im Zwiegespräch mit ihm zeigte,
wäre sie gern vor ihren anderen Freunden erschienen, die nur beiläufig auf
sie achteten und die ihr so gut gefielen. Sie glaubte sich an ihm rächen zu
müssen, indem sie es ihm ins Gesicht sagte, und ihm alles vorwarf, was ihr
an ihm mißfiel: von seinem Profil bis zu seinem dekadenten, mehr in die
Tiefe als in die Breite gehenden Verstand. Er ließ sie reden, -- ihr aber
schien ihr eigenes merkwürdiges Verfahren höchst angebracht und loyal, und
indem sie ihm ihre Abneigung gestand, ja klagte, glaubte sie den so
anregenden Verkehr mit ihm aufrechthalten und nach Wunsch gestalten zu
können.

Aber die Nachwirkung blieb stets dieselbe, die Abneigung für ihn steigerte
sich ins Unerträgliche, denn genau so ehrlich, so akut, wie sich sehr junge
Leute verlieben, war sie in ihn verhaßt.

Eines Tages brachte er ihr die frühen, verträumten Lieder Debussys auf
Gedichte Beaudelaires, und von der schwülen Atmosphäre dieser Musik halb
gehoben, halb betäubt, sprach sie sich da so manche Last so leicht vom
Herzen: ihre Scheu vor tiefen Problemen, und die heimliche Qual großer
Musik. Und wie von fernem Ufer sah sie ihn da aus der Tiefe ihrer
Verlassenheit an und lächelte ihm zu, weil er ihr vom Hauche des Frühlings
umweht erschien wie ein blühender Zweig.

Er aber sagte ihr tröstliche, schmeichelhafte Dinge, für welche sie,
aufatmend, naiv genug war, ihm zu danken; denn er wollte einen Einfluß über
sie gewinnen, nicht aber sie erfreuen. In demselben Tone weiterredend,
änderte er da auf der Stelle seine Taktik; ohne daß sie seine Absicht
merkte, entstellte, verzerrte er das Bild, das er noch eben von ihr malte.
Sie horchte entsetzt und sah nicht, daß er es war, der sich nun rächte. Ihr
war als stürzten die Balken eines Gerüstes über sie zusammen, als hörte sie
den endlichen Schlag einer lang lauernden, elenden Stunde, den Wehruf
finsterer Vögel.

»Den Wahnsinn, dem Sie verfallen sind, ahnen Sie ja längst,« sagte er. --
Aber ein mutigeres, stärkeres Wesen schien da plötzlich in ihr zu
erstarken, sie von seinen Drohungen freizusprechen, zu beschützen. Dieselbe
Fähigkeit, aus dem Stegreif zu erfassen, zu überblicken, sich auszudrücken,
verlieh er ihr auch jetzt; doch als er lächelnd, mit begütigenden Worten,
Abschied von ihr nehmen wollte, hielt sie ihn schnell zurück: »Dies Haus
gaben Sie mir ein Recht, Ihnen zu verbieten,« flüsterte sie, und wie
Liebende in ihrer ersten Umarmung, so war sie durch die endgültige Trennung
von ihm an das Ziel ihrer Wünsche gelangt, und Haß und Widerwille waren
erloschen.

Es gibt Momente, in welchen der Mensch den Charakter seines Lebenslaufes so
klar und nüchtern erschaut, daß, Maeterlincks kühner Hypothese gemäß, die
Zukunft mit der Klarheit der Vergangenheit an ihn herantritt. Warum
erkannte da Marie gerade jetzt, als sie dem Manne nachblickte, daß auf
Jahre hinaus alles, was sich ihr bieten, sich verkehrt zu ihr stellen
mußte, und daß sie alle Früchte verdorren sehen oder zur Unzeit brechen
würde?

Indessen stand das Haus, in dem alle Freuden ihres Lebens blühten,
unversehens leer, ihre Freunde zogen fort, und ihr Zaubergarten versank.
Ach auf so winzige Veranlassungen hin konnte dort die Schale ihres Glückes
überströmen, denn mächtiger als in allen Mandelblüten des Südens, als in
allen Fliederbüschen des Nordens rauschte der Frühling in ihrem Herzen. Sie
sah nun zu den verödeten Fenstern empor, und litt um so mehr, als sie nicht
leiden wollte, nicht fliehen, an toter Stätte nicht vergessen konnte.

Daß unser Leben zwar lange nicht so spannend, aber in seinem eigentümlichen
Verlauf unwahrscheinlicher ist als der kühnste Roman, diese Bemerkung ist
ja nicht mehr neu. Aber was uns in unsere Bahn lenkt, tritt in der Regel
nicht ominös, sondern leicht und mit nichtssagender Miene in unseren Weg.
Die Wendepunkte des Lebens liegen im Tal, im aussichtslosen Dickicht und
Gestrüpp. Marie erhielt Besuch aus New-York, in Gestalt eines jungen,
reichen und verwöhnten Mädchens. Es war eine jener zu rasch erfolgten,
atemlosen und überhitzten Kulturen, ohne Verweilen, ohne Gemütlichkeit und
ohne Humor. Ihr Geist war stärker als ihre Persönlichkeit. Sie kampierte
auf einer weißen, großartigen Wolke und schien mit ihrem stets in die Ferne
gerichteten Blicke über ideelle und allgemeine Interessen das Einzelne und
Persönliche aus den Augen verloren zu haben. Dabei aber war dieser
»spiralähnlichen« Begabung ein ausgesprochener Stich ins Erhabene zu eigen.
Und wie sich sehr hervorragende psychische Veranlagungen oder Eigenschaften
häufig in einer körperlichen Linie widerspiegeln und nach sichtbarer
Gestaltung drängen, so verriet sich die hohe Unterscheidungsgabe dieses zu
farblosen und abstrakten Geistes in einer eigentümlichen Hoheit der Haltung
und der Gestalt, in einer unvergleichlich edlen Kurve ihrer Achseln, und --
man lache nicht -- in dem idealen Glanz ihrer träumerischen Flechten.
Äußerlichkeiten waren es denn auch, die Marie mit ihr versöhnten.

»In jeder Menschenseele wohnt das Bedürfnis, sich groß zu machen, und auch
das Bedürfnis, sich klein zu machen.« Marie, welche Verherrlichungen ihrer
eigenen Person mit fast kindischer Freude entgegennahm, trieb eine gewisse
Bescheidenheit wiederum so weit, daß es ihr unmöglich wurde, ein ihr
dargebrachtes Gefühl sich wirklich vorzustellen, noch zu begreifen.
Entweder suchte sie den Grund dafür in irgend einer Lücke, einer
untergeordneten Beschaffenheit des Betreffenden, oder sie fand überhaupt
nicht den Mut, daran zu glauben. So verwirrte sie jetzt die entschiedene
Gunst, die ihr von der jungen Fremden zu teil wurde, um so mehr, als sie
viel zu unerfahren war, um sie richtig zu taxieren. Die wenigen Tage ihres
Aufenthaltes gestalteten sich übrigens für Marie auf die denkbar
angenehmste Weise. Sie kam zum erstenmal mit den berühmtesten Leuten ihrer
Zeit zusammen und saß stumm, doch hoch erregt, mittags mit ihnen zu Gaste
und abends im Theater. Zwischendrin allerdings wurde sie von Honorien,
ihrer neuen Freundin, in Zwiegespräche hineingezogen, die ihr gar nicht
entsprachen. Hohen, übersichtlichen Besprechungen war Marie nicht
gewachsen, und selbst wo sie diese zu verfolgen vermochte, geschah es mit
Widerstreben. Denn philosophische und künstlerische Probleme schienen ihr
zu so gewohnheitsmäßiger Erörterung nicht geeignet, Honoria aber besprach
nie Alltägliches, selten und nur von ferne Personalien. Bei aller
Herzlichkeit lag etwas so Unnahbares, Unpersönliches in ihrem Wesen, etwas
so Indirektes und Ferngerücktes in ihrem Blick, daß Marie immer den
Eindruck hatte, als sähe sie jene nicht selbst, sondern statt ihrer ein
Schemen, das ihr gefiel.

Am Morgen der Abreise ging Marie zu ihr. Es war ein lauer Sommertag, die
Bayreuther Festspiele eben zu Ende. Honoria empfing sie mit offenen Armen
und schickte den Wagen fort, um die Strecke zur Bahn zu Fuß mit ihr
zurückzulegen. Alsbald war denn auch eines jener Gespräche im Gange, die
Marie so sehr langweilten. Sie seufzte und sah zerstreut auf die staubigen
Bäume, zum weichen, herbstlichen Himmel empor. »Gott sei Dank,« dachte sie,
»sie geht«.

Aber schon am folgenden Morgen kam ein fingerdicker, in der Eisenbahn
geschriebener, französischer Brief, der nichts weniger enthielt, als die
Fortsetzung der allzu umfassenden Philosopheme, welche Honoria auf dem Weg
zur Bahn entworfen hatte. Nicht einen Augenblick länger wollte jedoch Marie
eine solche Komödie aufrechthalten. Das »Du« ignorierend, das in jenem
Briefe geführt wurde, schilderte sie sich selbst so, wie sie war, mit ihrem
wirklichen, mit ihrem grundsätzlichen Mangel an Interessen, und die
gänzlich verschiedene Richtung, welcher sie ihrer Natur nach angehörte.
Somit galt ihr diese Episode als beendet, und sie war nicht wenig
überrascht, als Honoria, welche die Dinge von oben nahm, sie in einem noch
dickeren Briefe eine Spartanerin nannte und nunmehr den Verkehr so rege
gestaltete, als lebten die beiden Mädchen in benachbarten Städten, nicht in
getrennten Erdteilen. Marie wurde der Gegenstand fortwährender Sendungen
und Geschenke. Bald kamen persische Lieder in köstlichem Pergamenteinband,
mystische und philosophische Werke, eingerahmte Gravuren in hohen Kisten,
und sie hatte vollauf zu tun, um nur die Zeitschriften durchzusehen, auf
die sie sich mit einemmal abonniert sah, und sich von all den Büchern in
Kenntnis zu setzen, die ihr bald direkt, bald durch Buchhandlungen zukamen.
-- Sie tat es denn auch mehr aus Erkenntlichkeit, denn aus Neigung.

So verging ein Jahr. Da erhielt sie in den letzten Septembertagen
unerwartet einen Brief mit dem Homburger Stempel. Honoria war infolge einer
durch Überanstrengung erfolgten Krankheit zur Erholung dorthin befohlen
worden und sollte nach beendeter Kur schleunigst nach dem Süden. Da ihr der
Umweg zu Marie nicht gestattet war, bat sie nun dringend um ihren Besuch.
Marie sah diesem Wiedersehen mit Interesse entgegen; besonders freute sie
sich auf das Treiben eines so berühmten Kurortes und ließ sich durch die
Jahreszeit in ihren Erwartungen nicht beeinträchtigen, denn in Homburg,
wollte sie wissen, gab es das ganze Jahr hindurch schöne und interessante
Leute.

Honoria, die ihr einige Tage später auf dem Frankfurter Bahnsteig
entgegeneilte, erschien ihr noch höheren, noch edleren Wuchses als vordem.
Trotz der großen Modernität ihrer Kleidung war die Zeichnung ihres Kopfes,
die Linien ihrer Gestalt erhebend wie ein antiker Fries. Ihr Anblick rührte
die leichtbewegte Marie. Sie freute sich, den heißen, staubigen Zug zu
verlassen und die letzte Strecke in dem offenen Wagen zurückzulegen, der
vor dem Bahnhof in der Sonne wartete, durch Frankfurt, das sie nicht kannte
und in der frischen, schimmernden Luft nach Homburg zu fahren, und sie
freute sich, daß sie gekommen war. Allein schon unterwegs empfand sie die
alte Ungemütlichkeit, die alten Strapazen dieses Verkehrs. Honoria schien
in ihrem Element, wenn ihre Gedanken gleichsam in der Luft hingen; Marie
hingegen war gänzlich real, und ihr Idealismus galt dem Leben. O wie
erschrak sie über den Anblick, den ihr Homburg gewährte! Von Massen
welkenden Laubes bedrückt, starrten die leeren Alleen, starrten verödete
Gärten und Villen. Honoria rühmte ihr die große, wohltuende Stille des
sonst so geräuschvollen Ortes. Die Villa, welche sie ganz allein mit ihrer
Gesellschafterin und einer Kammerfrau bewohnte, war die Dependance des
einzigen Hotels, das, wahrscheinlich ihr zu Ehren, noch nicht geschlossen
war. Marie erblaßte. Ihr Herz sank. Sie haßte das ausschließliche
Zusammensein mit Damen! Sie sah keine Anregung, keinen Sinn in einem
einschichtigen Verkehr, und er langweilte sie auf die Dauer zu Tränen. Ein
Leben, das auf ein Weilchen das Ideal eines geistig und gesellig
überanstrengten Menschen sein mochte, war nur ein Alp für das
zerstreuungssüchtige Mädchen.

Honoria lag des Morgens meist mit schon ganz erschöpften Zügen zu Bett;
hatte vor Tagesanbruch ihre Korrespondenz erledigt und Emersons Essays oder
die Briefe des hl. Paulus gelesen. Sobald sie aufgestanden war, ging sie
unverzüglich an eine, aus Gefälligkeit unternommene, Übersetzung, und
Stunden hindurch drang der hartnäckige Lärm der Schreibmaschine durch die
stillen Zimmer. Vor dem öden Klippklapp floh Marie ins Freie und strich
durch die toten Straßen Homburgs, oder verlor sich in einer Anwandlung von
Schwermut in den großen Park. Früh am Nachmittag harrte dann die
leichtgeschirrte Viktoria und Marie freute sich der langen Fahrten durch
den goldenen Taunus. Aber als der Oktober seinem Ende zuneigte, litt sie
bei dem Anblick des sterbenden Laubes, der finster welkenden Natur. Ihr
war, als fielen ihr die gelben Blätter aufs Herz, und ihr Auge lechzte nach
einem grünen Zweig, nach einem blühenden Fleck inmitten des ungeheuren
Grabes, das sich bereitete. Sie begriff die Schönheit des Herbstes,
Honoriens Freude daran nicht. Was der Augenblick verhieß, nicht was er bot,
nicht der Sonne zärtliches Verweilen, ihren Scheidegruß vernahm sie allein.
Und wenn der Wagen in der Dämmerung durch einen Dom welker seufzender Bäume
fuhr, so umlauerten sie, wie einst die Elfen des Erlkönigs Sohn, des
Verfalles grausame Schatten, und entwanden ihr das Herz.

Zu Hause kam dann der lange Abend mit Shakespeares und Brownings Gedichten;
aber sie fing an, alle Bücher zu hassen. Wohl konnte sich ihr Blick
flüchtig beleben, wenn Honoria duftend und geschmückt, gleich einer hellen
Wolke, ihrem Zimmer entschwebte, sonst aber saß sie oft stundenlang mit
ihrer Stickerei still am Fenster, und nach den einfältigsten Bemerkungen
mußte die sonst so Gesprächige ringen. Gern folgte sie Honoriens
Aufforderung zu musizieren. Allein die Töne brachten das Echo ihrer
Langeweile mit quälender Steigerung zu ihrem Bewußtsein, und schlaff und
zerstreut endete ihr Spiel.

In dieser Zeit hörte Marie, die sonst alle Wagner-Opern kannte, in
Frankfurt zum erstenmal den Rienzi, und obwohl Aufführung wie Besetzung zu
den minderen gehörten, so war sie von dem Drang, dem titanischen Gären, ja
gerade von dem Unvermögen dieses Werkes heftig ergriffen. Hier war Ikarus,
dessen ewiger Mut sich Flügel über Welten hin, Flügel, die nicht brachen,
schmieden sollte.

Mächtig angeregt fuhr sie im offenen Wagen durch das mondumhauchte Land und
weiße Dörfer nach Homburg zurück, und Wagners Schaffen als eines Wunders
gedenkend, lehnte sie den Kopf weit im Wagen zurück, und verlor sich in der
stillen bethlehemischen Pracht. Vergessen und verweht schien ihre
Schwermut, die doch schon tags darauf, gleich einem Nebel, ihr Gemüt von
neuem umschleierte. Besonders auf die Schreibmaschine wurde sie zuletzt
erbittert, und als diese eines Morgens wieder so geschäftig das stille
Stockwerk durchdrang, fing Marie in einem Paroxysmus von Langeweile in
ihrem Zimmer stürmisch zu weinen an. Das Leben war so reich, so mannigfach
und schön! Es gingen auf der Welt so typische, reizende Menschen einher!
Ach! warum lebte sie von ihnen getrennt! Wer war für des Lebens Genüsse
königlicher geartet? Mochte sie zeitlebens entbehren, bis in alle Fibern
blieb sie verwöhnt.

Und obwohl nur mehr drei Tage ihres Bleibens waren, schien ihr gerade der
heutige nicht mehr erträglich. Rasch zu Honoria tretend: »Ich kann heute
keine gelben Bäume sehen und fahre nach Frankfurt,« sagte sie lachend und
drückte ihr den Arm. Sie sah noch Honoriens überraschten, aber so
freundlichen Blick, dann stürmte sie die Treppe hinab und zur Bahn, der
Schreibmaschine und Homburg davon!

Wie ein Füllen, das sich auf freiem Rasen tummelt, so behaglich war es
Marie am selben Nachmittag auf der bewegten, im lieblichsten Lichte
getauchten Zeil. Die üppigen Töchter der Stadt, die mit ihren Müttern
erwartungsvoll einherzogen, die eiligen Geschäftsleute, die Müßigen und die
Lebensfrohen, die gemeinen, die aufgeputzten, oder die sympathischen Leute,
alle schufen ihr Kurzweil, und wie ein Kind in Bilderbücher, war sie ganz
in den Anblick der vielen Spaziergänger versunken; überall von dem
Zauberkreis eines selben Lebens gebannt, ruhte, sich selber verlierend,
ihre gehaltlose Seele, die dem Mann ohne Schatten glich, von der Einsamkeit
aus.

Sie hatte die Stadt der Kreuz und Quere nach durchstreift, an Brücken,
stillen Plätzen und verlorenen Straßen geweilt, und schon erblaßte der
Himmel. Gänzlich ihrer Stimmung hingegeben, war ihr Bewußtsein wie umflort,
von der Atmosphäre des alten und des neuen Frankfurt durchdrungen, und von
der sterbenslauen Luft, in der ein Klang lag ewiger Ermattung, von ewiger
Vergänglichkeit.

In einer kleinen verträumten Sackgasse machte sie Halt, um ihren Weg zur
Bahn zu erfragen; und von einem entstellten Profil Richard Wagners, das
dort in der Auslage eines Musikladens prangte, wandte Marie, die ungern
Häßliches sah, im Vorübereilen den Blick.

Den Abend verbrachte sie mit Honorien in aufgeräumtester Laune, erzählte,
was sie gesehen, gehört, gegessen hatte, und unterbrach die Browningsche
Lektüre mit allerlei Späßen.

Dies war ihre vorletzte Nacht in Homburg, und entmutigt schlief sie ein.
Wann endlich würde sich ihr Leben bewegter gestalten? -- Sie gedachte der
vergnügten kleinen Konditorsfrau in Frankfurt, an die sie heute so viele
Fragen gestellt, die über ihren schmucken Laden nicht hinausdachte und
inmitten ihrer Glasglocken, ihrer Schokoladekrapfen und Schaumrollen ein
Dasein lebte, vor welchem Marie erschauerte.

Aber was hatte sie denn selbst von ihrem klein bißchen Bildung, als daß sie
für die Alltäglichkeit auf immer verdorben, auf immer beunruhigt blieb.
Heiß schoß ihr das Blut zu Kopfe: was wußte sie denn? -- und was sollte sie
von Honorien halten, die über ihre Theorien zu leben verlernte?

Es war finster und still in ihrem Zimmer, als Marie erwachte. Sie besann
sich nicht sogleich, was dies wilde Klopfen ihres Herzens verursacht, was
sie geweckt, was sie gesehen hatte. Dann stürzte sie ans Fenster und riß es
auf. Östlich dämmerte ein heller Streifen durch die Nacht, allein den Tag
in ihrem Herzen begrüßte sie mit einer Flut immer neu hervorbrechender
Tränen, daß ihr Gesicht erblindete wie eine Scheibe unter dem Regen.

Jenes selbe Profil, von welchem sie gestern im Vorübereilen den Blick
abwandte, hatte sie, verherrlicht, zwei Schritte vor sich, mit unbewegtem,
gerade ausschauendem Auge gesehen. Aber es war ein vergöttlichtes Auge,
weltenstrahlend, weltenspiegelnd und von unvergeßlicher Größe; ein
individuelles und doch gänzlich entrücktes Auge. Kein Auge, mit dessen
Blick der ihre sich hätte kreuzen können. Es waren die ewigen Augen
Wagnerschen Geistes.

Wie ein Erdboden durch plötzliche Erschütterung, so hatte ihre Gesinnung
durch ein so ungeahntes Bild eine Umgestaltung erfahren. Es war seltsam, es
war spaßhaft genug, und sie wußte, welchen Hohn die Tatsache gerade in
ihrem Herzen finden, sie verfolgen würde! Hier war sie: ein junges, bis ins
Mark vergnügungssüchtiges Mädchen, das nichts mehr zur Ruhe bringen, in dem
nichts den einen brennenden Wunsch mehr betäuben konnte: die Wahrheit zu
suchen.

Denn sie wußte in dieser stillsten Stunde ihres Lebens, daß Unwissenheit es
war, die jenen Gram in ihr erzeugte, weil _Gedanken_ hinter jenen unruhigen
Schatten ruhten, die sie schreckten, und daß nichts sie retten konnte, als
ein hellerer Kreis des Wissens, der sie schützend umschloß, als ein Glaube,
um den sie selber rang.

Tags darauf verließ sie Homburg.

Golden flogen im Nachmittagscheine Brücken, Felder und Wiesen vor ihrem Zug
vorbei, aber vor dem Glanz dieser sonnenerfüllten Welt schloß sie bekümmert
die Augen; denn immer schwerer wurde da wieder, auf der langen Fahrt, ihr
einsam entschlossenes Herz. Sie sah sich wie vor einem Berg, den nur Geübte
und Wetterkundige mit einem Arsenal von Werkzeugen wohlausgerüstet zu
besteigen wagen und denen sie nun barfuß und allein folgen wollte. Was sie
erstrebte, war ja zu schwer: Nichts was Gleichgewicht und Disziplin des
Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet noch vererbt, und zu einem
systematischen Denken war sie weder veranlagt noch geschult. Kein Pegasus,
die traurigste aller Rosinanten stand ihr zu Gebote. Aber weniger glücklich
als der an Illusionen reichste Don Quichote, verglich sie unerbittlichen,
fast feindlichen Auges ihre Unzulänglichkeit mit ihrem Wagnis. -- Was hatte
ihr stumpfes kindisches Gehirn mit jenen Rätseln zu schaffen, die es von
jeher mühten? Nun war sie erwacht. Mit weitgeöffneten Augen, die nicht
sahen.

Als sie bei ihrer Ankunft in München Glucks Oper »Iphigenie in Tauris« auf
dem Zettel sah, ging sie noch selben Abends hinein. Es war eine der letzten
Vorstellungen, die unter Levis eminenter Leitung und einer Besetzung
alternder aber trefflicher Leute dort stattfanden, und Marie atmete auf in
der Atmosphäre dieses edlen Werks.

   »Die Ruhe kehret mir zurück.
   So sollte meine Qual Euch Ihr Götter ermüden.«

Es war Orestens Lied, und in prachtvoller Wiedergabe, die eherne Begleitung
des Orchesters.

In diesem Augenblick kulminierte das musikalische Vermögen, die Genialität
des Dirigenten. Nicht so sehr »gestaltend« stand er dem Meisterwerke
gegenüber, als daß seinem unvergleichlich künstlerischen Impuls, seiner in
höchster Passivität so wundervollen Ergriffenheit die tief umhülltesten
Regionen sich erschlossen. So stand er unbeweglich, mit gesenktem Stabe,
nur verklärten Auges sein Orchester bannend. Aber der Hauch von Ewigkeit,
der über den friedensvollen Fall der Baßtöne gebreitet liegt, riß Marie mit
fort. Kein anderes Kunstwerk sollte je wieder jene selbe überwältigende
Wirkung in ihr hervorrufen, zu der sie jetzt ihr abnorm gesteigerter
Gemütszustand befähigte. Sie verlor das Gesicht. Der Wunsch, den sie so
früh gehegt, er war ihr erfüllt, die Müdigkeit, die sie so früh empfunden,
sie war von ihr genommen, und sich selbst, der eigenen Dürftigkeit, der
eigenen Torheit, allen Schranken des Persönlichen weit enthoben, behielt
sie nur das Bewußtsein eines strömenden Glücks.

So waren denn die Würfel gefallen. Ihr Drang nach Erkenntnis war stärker
als ihr Sträuben, als ihre Trägheit und ihr Unvermögen.

Stundenlang saß sie nun, meist ganz vergebens, -- über einer einzigen Seite
Kants. Aber gerade bei ihm, dem sie ein so lückenhaftes Verständnis
entgegenbrachte, durfte sie, zum Atome sich erkennend, ruhn, -- wenn sie
die Schwingen ewiger Begriffe auf Augenblicke streiften. Denn Marie hatte
Geist, doch keine Geisteskraft, niemanden, der ihr half, noch sie belehrte!
Nur einem Menschen, dessen Überlegenheit ihr nach allen Seiten hin
entsprach, hätte sie sich ohne Reue anvertrauen können, und einen solchen
Freund zu haben, war ihr nicht vergönnt. So mußten denn die Bücher ihre
Freunde, ihre Lehrer werden. Und schon hatte sie erkannt, daß hervorragende
Anlagen nur eine gefährliche Mitgift sind, wenn gerade sie einen
versöhnenden Ausgleich innerer und äußerer Widersprüche erschweren. Sie
hatte erkannt, daß nicht das Leben, für welches wir geschaffen wären, in
die Wage fällt, daß nicht wir selbst, sondern unser Geschick das Gegebene
ist, und daß sie nicht dem Knechte gleichen durfte, der mit seinem einen
Talent verzagte und es vergrub. Am schwersten ließ sie sich's mit
Schopenhauer werden, der den jugendlichen Leser terrorisiert. Und wer war
sie, daß sie es wagte, ohnmächtig, verzweifelnd, so lange gegen ihn
anzustürmen, bis ihre innerste Überzeugung sich wieder von ihm losriß, von
seinem großartigen Gedankenring gefördert und belehrt, ihm nicht länger
unterworfen war?

Wagner aber lehrte sie, wie mit jener Philosophie zu verfahren sei: Die
schroff eingehemmte Theorie der Willensverneinung lenkte er versöhnend zu
Parsifals Erkenntnis, und Schopenhauers elementare Lehre der Liebe
veredelten und krönten Tristan und Isolde.

Einen heißen einsamen Sommer verbrachte sie mit Platos Büchern und unter
Tränen las sie das herrliche Symposion. Hier war ein Ziel und göttliches
Verweilen, der Harmonien seliger Hauch, und wie vom hohen Berg herab lag da
die Welt, -- beschaulich, -- unbegehrt, -- zu ihren Füßen.

Aber sie war schön, diese Welt! Feierlich und groß! -- Und alles in ihr
erhielt Sinn, Leben und Bestand durch Bezüge. Und in Bezügen lag ein
Schwerpunkt selbst der größten Geister.

Der Erwerb des einen wird da dem anderen Besitz; Steigbügel für den
Kommenden. Allein die Schranke war die Bedingung des menschlichen Gehirns,
und die Grenze des intellektuellen Vermögens durch die menschliche Natur
scharf abgesteckt.

Marie versank in immer tieferes Nachdenken.

Nein: Allumfassende Vollkommenheit war nirgends. --

Da erstand vor ihrem inneren Auge, wie im Morgengrauen deutlich erkennbar
-- die universellste, übergreifendste Gestalt, die keine Irrtümer und keine
Lücken in sich aufwies! Vielmehr auf unnennbar geheimnisvolle Weise alle
Widersprüche in sich aufhob, weil ihr nichts fremd war und nichts entzogen,
was tausendfach die Menschen scheidet und vereinsamt. Ja, es war ein
Mensch. Aber Himmel und Erde waren der Schlüssel zu ihm, und er erfüllte
die Welt. Allumfassendes, schweigendes Begreifen entströmte seinem Auge. Es
war ein Gott. Seine Züge aber! Die größten Denker und Meister aller Zeiten
hatten sie ihr entschleiert, weil alle menschlichen Heroen zu seinen
Kommentaren wurden, und ihre unbeschreibliche Bewandtnis zur Erläuterung!
-- Keine Philosophie, keine Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen
Geistes, ja des Geistreichen, des Witzigen, des Profanen -- keine Kunst,
die nicht zu ihm gravitierte. Der Gedanke war so groß, daß sie erschauerte.
Und von der überschwenglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches:
»In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen« war sie da wie von unendlichen
Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.

Nur eines trennte ihn von uns -- das Übel, das allen Gram erzeugt. Eines
mußte er uns entnehmen. Eines war göttergleich im Prinzip von ihm
ausgeschieden: die Qual.

Marie mochte ihre Gedanken nicht länger ertragen. Sie ging hinab in die
Straße, die starren Häuserreihen entlang, der heißen verödeten Stadt. Aber
das Licht, der Anblick des leeren, weißlichen Himmels erweckte Erinnerungen
und Leid. Zum Stachel war ihr da der taube Glanz des Tages, und jene
»Geister der Luft,« die den Menschen jagen und ihm das Himmelslicht
versteinern. Atemringend muß er es ertragen.

Nicht daß es sie jetzt nach Mitteilsamkeit drängte, nein, auszuruhen, zu
vergessen, sich zu freuen. Schönheit, Gebärde, Sprache, die Form eines
Auges, die Bewegung eines Armes, dies alles war ein Organismus, der sie
umfriedete. Dann wurde es still in der dumpfen Werkstatt, und Gedanken
feierten. Der Reiz der Nähe löste den gezogenen Blick von ihren Augen, und
ihr Geist erkannte rastend seine Heimat.

Denn es war ihr Geist, der in der Welt der Körper, der in dieser Welt sein
Element erkannte!

Allein in der Einsamkeit, die sie also bedräute, umschloß sie jetzt,
deutlich wie Felsenzacken gegen das Sonnenlicht, der Ring ihrer Gedanken.

Nicht länger von der Welt barer Vorkommnisse aus den Fugen gerissen,
erkannte sie die tröstliche Bedingtheit alles Elends. Erkenntnis sollte
_nicht_ den Pflock des Leidens tiefer in uns treiben! Alles war Folge, und
selbst Geschehnisse waren nicht unentrinnbar.

So weit, so anders erblickte sie die verlorenen Tore ihres Glaubens wieder.
Was immer das Dogma vom Geiste löste, erschien ihr da als ungeheuerster
Verrat. Nicht als Dualität, als Organismus erfaßte sie den Menschen und
seine Apotheose, nicht seine Trennung als sein Endziel. Ihrem
weltabgewandten und entsagungsvollen, aber stets verheißungsvollen Bildern
zugekehrten Auge wollte die unendliche Elastizität jenes Glaubens als sein
tiefinnerstes Geheimnis sich erschließen; des Paradoxalsten, eingedenk und
psychologisch tiefst Begründeten, was der Mensch zutage förderte: als das
»Maß aller Dinge« stellt er den Abstand zwischen ihm und der Gottheit,
Prometheus, die seligen Götter und den allgewaltigen Zeus. Quellen und
Haine belebt er mit übermenschlichen Wesen, scheu verehrend, was er selber
schuf. Ahnung war es, die ihn die eigenen Ideale, das eigene Ziel so fern
erkennen und den Olymp erträumen ließ! Solche Träume, mußten sie nicht das
Sehnen eines Gottes nötigen, zu tausendfacher Befreiung den Menschen zu
erlösen?

                                                  Neue Rundschau 1905.




                                REISEN
                               1904-1908


                                  I.

Zwei Stunden von Paris liegt zu Füßen einer hohen Ruine ein altes
Städtchen, das an einem Hügel herumklettert. Und ringsumher einsiedlerische
Wälder, sonnige Gefälle, lauernde Teiche, an deren Rande dunkle Vögel mit
unheimlichen Schritten spazieren gehen; und weltentrückte Auen.

Ein Spätsommertag ging zur Neige, als mein Zug vor diesem Städtchen hielt,
das mir allzu stille Tage zu verkünden schien.

Aber in ein Milieu, in dem es ausschließlich Abgeordnete, Leiter
politischer Revuen und Vertreter großer Zeitungen gab, sah ich mich da
plötzlich wie hineingeschneit. Mein Tischnachbar war gleich am ersten Abend
ein ganz schief gewachsener und ergrauter, aber sehr strammer Herr, der
mich übrigens gänzlich ignorierte. Dabei sprach er fortgesetzt, richtete
aber seine Worte nur an den Hausherrn. Der Blick seiner Augen, die wie zwei
Sterne leuchteten, war starr wie ein Scheibenherz. Mit größter Präzision
wußte er eine Reihe von Themen so eindringlich und zugleich so eilig
durchzunehmen, als gelte es, innerhalb der wenigen Stunden, die er hier
verbrachte, seine Gedanken für Jahre hinaus und auf Jahre zurück
zusammenzufassen. Es war dem Uneingeweihten nicht möglich, ihm zu folgen,
oft auch nur zu erraten, wovon er sprach.

Nach dem Essen fuhr er im Salon in derselben glänzenden und gedrungenen
Weise zu berichten fort. Seine Augen sahen jetzt aus wie zwei große
Monokels. Die Damen stickten schweigend oder sprachen leise unter sich. Vor
dem brennenden Kamin lag ein englischer Jagdhund ausgestreckt und seufzte
vor Müdigkeit. Die Lampen warfen milde Scheine auf die eingelassenen Louis
XIII-Spiegel und die laubreichen Tapisserien der Wände. Durch die hohen
Fenster und die schmalen wurmstichigen Türen blies der Wind. Ich war noch
auf keine Stickerei eingerichtet, saß in einer Sofaecke und hörte den
Herren zu; denn ob ich auch ihren Gesprächen nicht viel entnehmen konnte,
interessierte es mich, sie zu betrachten.

Als es 10 Uhr schlug, schnellte der graue Herr empor, empfahl sich den
Damen mit großer Korrektheit, aber auch mit denkbar größter Kürze, und
gleich darauf rollte sein Wagen, der noch den letzten Zug nach Paris
erreichen sollte, in aller Eile davon.

Mich hatte dieses Gespräch, von dem ich nichts verstehen konnte, in große
Aufregung versetzt; und mit der Belletristik oder gar mit Werken der
schönen Beschaulichkeit war es mit einem Schlage vorbei. Ich holte sie so
wenig wie die Stickerei aus meinem Koffer hervor. Denn Zeitungsartikel,
Berichte und Telegramme waren das einzig Spannende für mich geworden.

In dem weitläufigen Garten, der zu dem Hause gehörte, gab es eine Auswahl
von Bänken, Lauben, steinernen Nischen und Terrassen. Steil und verwildert
fiel er die sonnige Felsenwand herab, um sich wie in einem Graben
geheimnisvoll und schattig auszubreiten. Dorthin schleppte ich denn auch
mein neues Steckenpferd: die Zeitungen und politischen Abhandlungen aller
Länder.

Man stand im Zeichen der ersten sonoren Pendelschwingungen der Entente
cordiale mit England einerseits, des Rapprochements mit Italien anderseits;
sie und l'Isolement de l'Allemagne bildeten die Parole des Tages. Eines
Nachmittags, -- den Morgen hatte ich in Paris verschwärmt -- saß ich wieder
in einer Mauernische meiner Gartenwildnis und hielt die letzte Nummer der
»Renaissance latine«. Sie brachte den ungemein schneidigen Entwurf einer
politischen Karte Europas, mit sensationellsten geographischen Neuerungen.
Der Wunsch war darin Vater aller Voraussetzungen, und Deutschland rückte
kühn bis in die Polargegenden hinauf, so daß es mit grönländischer Kälte
von allen Seiten darauf einblies.

Ich notierte Titel und Nummer des Blattes und sah verdrießlich zum
feingetönten französischen Himmel empor.

Ach, dachte ich, wie wenig weißt du von Deutschland! -- und dachte dann
hinüber zu unseren Brücken und Häusern, unseren Mondscheinnächten und
Wäldern.

Ach wie viel tausend Meilen lagen auch sie von hier entfernt, und wie wenig
wußten sie dort von den Franzosen!

Und ich wußte auch, hier war keine unüberlegte, instinktive und impulsive
Liebhaberei, wie sie England gegenüber oft bei mir im Spiele war, sondern
ich vermochte einfach nicht, die Geschicke Frankreichs mit einem
gleichgültigen oder unbeteiligten Bewußtsein zu erwägen. Von französischen
Naturen in zu mannigfacher Weise verschieden, empfand ich die Franzosen
zugleich als meine Angehörigen, und es schnitt mir oft ins Herz, wie gut
ich sie kannte. Denn leider ist es ja noch immer keine Anmaßung, wenn heute
der Deutsch-Franzose -- und umgekehrt -- sich für den allein Befugten hält,
die Kluft zu messen, die zwei so große Nationen voneinander scheidet, die
unzulängliche Kenntnis voneinander, in der sie leben, wie die Sehnsucht,
die sie zueinander zieht.

Aber noch nie war mir so deutsch zumute gewesen, wie heute morgen, denn
nirgends fühlten sich meine Augen so heimisch, mein Herz so eifersüchtig
wie in Paris, dem Paris der Renaissance bis zum zweiten Empire, das unsere
junge Kultur so weit übertrifft.

Und doch so jung nicht, als daß sie nicht schon einmal des Sterbens
Bitterkeit, die traurige Mühsal gekostet hätte, aus Verwüstung und Schutt
zerfallene Türme wieder aufzurichten. Hoch über den stillen Garten hin
umriß sich da vor meinem inneren Auge, intakt in ihrem entflohenen Leben,
wie der einbalsamierte Leichnam eines Jünglings, eine deutsche Stadt in
ihrem unterbrochenen Wachstum. Ihr langentschwundener Frühling prangt an
den Marktplätzen, den Pforten und Brücken, den Erkern und Laternen. Er weht
von den Türmen und Brunnen, durch die Häuser und Stuben. Er flutet in den
Kirchen und von den Glasgemälden, und in dem verwitterten Stein umrauscht
er Jungfrauengestalten mit ihrem unbeschreiblichen Gemisch deutscher
Morbidezza und deutscher Lauterkeit.

Ich sah die Marienkirche und atmete wieder ihre Luft. Und vor den Toren der
Stadt jenen anderen Zeugen reinster und so verfeinerter Kunst: das
Tuchersche Jagdschloß mit den verhaltenen Lauschen seiner Fensternischen
und Türen, der holden Strenge seiner Räume, den verschwiegenen Schwellen,
der verträumten Stiege. Denn die ganze Burg ist reich an Widerhall wie ein
Vers von Walther von der Vogelweide, und wir stehen inmitten ihrer Stille
wie an einer Brandung.

Aber scholl da nicht von der Burg hernieder, von Dürers Hause, weithin
durch alle Gassen, Hans Sachsens Ruf: Habt acht! uns dräuen üble Streich'!

Nicht länger glaubte ich da die Empörung verantworten zu dürfen, die mich
auf der Fahrt nach Frankreich ergriff, als ich von meinem Zuge aus im
Morgengrauen französisch aussehende Häuser auf deutschem Boden sah und
unvermutet alle Trauer, die an dieser verlorenen Erde haftet, mitempfand,
von jener Flut von Trübsal eingeholt, mit ihrem universalen, geisterhaften
Anrecht: jenem geheimnisvoll, zeitlos elementaren Etwas -- der Zeit
bittersten Rest! --, den sie als unser Erbteil zurückläßt. Ach, dachte ich,
wann wird der Tag anbrechen, an welchem sich der letzte Schlachtenplan zum
letzten Ritterharnisch als Museumstück gesellen wird, weil zwischen
Nationen wie den unseren, der Gedanke in Stücke gerissener oder
zerschossener Glieder mit der menschlichen Würde nicht länger verträglich,
geschweige denn rühmlich erschiene!

Drei Jahre, glaubte Bismarck, seien das äußerste, was sich in der Politik
voraussagen ließe, und: »für drei Jahre haben wir heute vorgebaut,« meinte
er nach einem seiner größten diplomatischen Erfolge der achtziger Jahre.

Und darum wissen wir heute nicht, wozu er sich damals entschlossen hätte,
welchen Plan er damals entworfen und ausgemeißelt, ob er dem deutschen
Volke nicht einen gleichwertigen anderen Entgeld ersonnen hätte, wenn er
damals schon einer deutschen Kolonialpolitik hätte Rechnung tragen müssen.

Jene Worte am Abend seines Lebens haben einen so nachdenklichen Klang; »Das
westliche Glacis, das wir ihnen nehmen mußten, was sie uns nie vergessen
werden.«

Es ist der Gedanke an unser zuversichtliches Bewußtsein alles dessen, was
er heute, angesichts der vielen veränderten Faktoren unternehmen, an die
Initiativen, die ein Mann wie er _heute_ ergreifen würde, der ihn uns
unersetzlich erscheinen läßt. Denn der Geist seines Wirkens schuf ihn zu
einem Lehrer, weit mehr als seine Taten, die das Schicksal und die Zeit
ereilen können. Und wer tiefer in jenen Geist einzudringen suchte, wie
könnte der noch zweifeln, daß ein heutiger Bismarck, gleichviel welcher
Nation er angehörte, jene große Einigungsidee, die einst ein kompaktes
Italien und ein kompaktes Deutschland schuf, in erweitertem Sinne zu
vertreten und aktuell auszugestalten wüßte? Wer könnte zweifeln, daß ein
heutiger Bismarck, ob er unser eigener, oder Cavours, oder Gambettas
Landsmann wäre, zum Vorkämpfer eines föderierten Europas würde?

Eins aber konnte nur Paris in seinem überlegenen Reiz mich lehren, dies
schimmernde Paris, das sich vollenden durfte, wie inmitten einer Welt des
Friedens: Nicht um eine Minute hatten wir die Kultur dieses Landes
zurückgeworfen, das als ein unerhörter Feind der unseren in der Geschichte
steht.

Ich war empört in meiner Mauernische aufgesprungen: und nicht länger hielt
es mich da in dem verlassenen Garten. Der Zwiespalt, der mich bewegte, ließ
mir dies Land, mein eigenes, die ganze Welt beengt erscheinen.

Unsichtbare Schatten glitten schon durch das Tageslicht und hielten die
alten Bäume umschlungen. In peinigender Flüssigkeit und Süße
durchschauerten sie die Luft. Wir waren Brüder! Noch stehen sie überall,
die Spuren unserer einstigen Gemeinschaft, unsere Kathedralen, unsere
Minnelieder und Novellen. Und heute sind wir Nationen, die sich schon lange
insgesamt langweilen, weil gerade in der Reife, zu der unsere nationalsten
Züge und Besonderkeiten gediehen sind, das Bewußtsein unserer Halbheit und
in der Verschmelzung unserer Qualitäten der Keim vollkommenerer Typen
liegt. Wozu sich betören? Von Herzen froh wird man ja heute nirgends.
Kläglich veraltet und vermorscht sind heute unsere tausendjährigen
Familienzwiste, als könnte ihrer Asche allein der neue Phönix unseres
Erdteils entsteigen: nur einem »greater Europe« ein »greater England«,
»greater Germany« und »greater France«.

                                            1905 in der Wiener »Zeit«.


                                  II.

Im Laufe jenes selben Herbstes fuhr ich mit einem Politiker von Vendôme
nach Paris. Schlösser und Hütten, Riesenwälder, lichte Pappelgruppen an
langweiligen kleinen Flüssen waren an uns vorüber geflogen, und ich dachte
zurück an den verflossenen Abend, an eine Fahrt nach einem wundervollen
mittelalterlichen Schloß, und an ein vollendetes, und wenn ich so sagen
darf: erhebendes Diner, denn Götter hätten hier tafeln können, ohne sich zu
schämen.

Nur die Konversation war nicht auf der entsprechenden Höhe gewesen. Die
üblichen Gespräche in der Provinz: die Jagd, das Automobil und die
religiösen Zustände waren ergiebig und einmütig verhandelt worden; von dem
damals eben erfolgten Besuch des italienischen Königspaares in Paris
gelangten dafür nur einzelne Verstöße beim Empfang in Versailles zu
ausführlicher und höhnischer Erörterung, und der Rest war Schweigen. Nun
hatte ich Paris während der Festlichkeiten gesehen, und nach meinem
Empfinden nahm es sich gerade in diesen Tagen, in der verhältnismäßig etwas
naiven Schmückung der Häuser und Straßen, am wenigsten zu seinen Gunsten
aus. Was sollen auch Fähnchen und provinziale Jubeltransparente auf einer
Place Vendôme viel ausrichten? Vollends am Gala-Abend, im Lichtmeer der
erleuchteten Kugel-Girlanden und Triumphbögen schien es, als zöge sich für
den Abend das stolze Paris hinter ein riesengroßes funkelndes
Kasperltheater zurück.

Ich erzählte meinem Tischnachbarn, daß ich der Einfahrt des Königs von
einem Hause der Champs Elysées aus zugesehen und mich über die
verhältnismäßige Stille in der Avenue gewundert hatte. Er belehrte mich
jedoch: das Demonstrative läge nicht in der Natur des Franzosen. Ein Zufall
hatte aber gewollt, daß mir noch an jenem selben Abend das Paris der
Revolution auf das grellste und lebhafteste veranschaulicht wurde.

Einige Stunden nach dem Einzug war ich durch eine jener schmalen Gassen
gegangen, die das Elysée umgrenzen, und ich dachte für den Augenblick nicht
an die Anwesenheit des italienischen Königspaares, als ich auf die
peinlichste Weise daran erinnert wurde. Von einem Strom von Menschen
plötzlich fortgerissen und umringt, gab es für mich kein Vorwärts noch
Zurück. In der Angst zu fallen und von dem schrecklichen Dunst bedrängt,
sah ich ratlos umher und erblickte da zu meiner Verwunderung und Freude in
nächster Nähe, friedlich an einen Baum gelehnt -- einen unbesetzten Stuhl.
Rasch daraufspringend und so dem Haufen einigermaßen entzogen, wollte ich
hier ruhig warten, bis er sich zerstieb.

Wer die Franzosen nicht für demonstrativ hielt, der wurde nämlich hier
eines anderen belehrt. Weder nach rechts noch nach links sehend, schrien
sie da gerade hinaus, halb betäubt, halb wie die Wilden, nach der Königin.
»Kommen sie bald?« fragte ich beklommen einen wenig anziehenden beschürzten
Vertreter des stärkeren Geschlechts. -- »Sie sind schon vorüber«, gab er
mir zur Antwort.

Dies erklärte nun zwar den disponiblen Stuhl. Warum aber beharrte diese
Menge nach wie vor an der Stelle, belagerte alle Ausgänge und schrie mit
heiserer Stimme: »La reine! nous voulons voir la reine!« Und von meinem
erhöhten Posten auf sie herabsehend, erkannte ich sie genau wieder als
jenes selbe kopfscheue, schnell überschäumende Volk, das unfähig sich zu
besinnen, die Köpfe so mancher harmloser, zur Unzeit geborener Opfer zu
höllischen Bildsäulen erhob und in diesen Straßen wütete, erkannte den
furchtbarsten Pöbel innerhalb der kultiviertesten und feinsten Nation.

Allein ich hütete mich wohl (aus Widerspruchsgeist), bei jenem Diner
irgendwelche zustimmende Kommentare zu liefern: sie hätten allzu bereiten
Erfolg gehabt. Denn an die hundertjährigen Hecken, die das Dornröschen von
der Außenwelt trennten, sah man sich in diesen Schlössern gemahnt. Man muß
sie gesehen haben, Frankreichs politische Mumien! Eine Dame äußerte sich,
es sei unbedingt heroisch vom König von Italien, ein so heruntergekommenes
Land wie Frankreich offiziell zu betreten, und fragte mich über den Tisch
herüber, ob wir im Ausland gegenwärtig die Franzosen nicht sehr von oben
herab behandelten?

»Unsere große Majorität ist doch nun einmal republikanisch!« sagte da einer
der Gäste.

»Die ganze erste Gesellschaft Frankreichs würden Sie anderer Meinung
finden,« gab ihm die Dame zur Antwort.

»Ach,« sagte er »es gibt nur erste Menschen und sie können nicht
aristokratisch genug, sie können nicht demokratisch genug sein. England hat
diese Wahrheit auch für seine Gesellschaft praktisch zu verwerten gewußt.
Worin beruht die Macht und Würde des englischen Adels, wenn nicht in seiner
demokratischen Affiliation, und woran ging unser Königstum zugrunde, wenn
nicht an seinem Mangel jeder demokratischen Basis?«

»Es gibt noch Leute, mein Herr,« unterbrach ihn ein vergrämter, früh
verabschiedeter einstiger Diplomat, »welche in der französischen Revolution
den unglücklichsten Augenblick in der Geschichte unseres Volkes erkennen.«

»Doch nur,« rief er, »weil es vor seinem eigenen edlen Freiheitsgedanken
nicht bestand und die eigene Saat mit dem eigenen Blute unheilvoll tränkte!
Denn während aus jenen Gedanken über das ganze zivilisierte Europa ein
belebender Zug strömte, weilen in seiner Heimat, an seiner Quelle selbst,
unversöhnt, unüberzeugt, die Sühnegeister der Gemordeten. Jeden Hauch
veränderter Gesichtspunkte halten sie zürnend von ihren Nachkommen ab, und
nicht das Leben, wie es sich seitdem erhob, nicht das Königtum, wie es sich
seitdem verjüngte, sondern ein altes verstaubtes, ewig überwundenes
Königtum, möchten sie in vergoldeten Kutschen einholen und begrüßen.«

Einen Augenblick war es still, wie in einem verzauberten Schloß.

»Sehen Sie sich doch die Elemente an der Spitze unserer Verfassung an!«
sagte der Hausherr, der die Place de la Concorde nie anders als Place Louis
XV nannte.

»Bedenken Sie den Spielraum, den wir ihnen gelassen haben. Bedenken Sie,
daß es bei uns zum guten Ton gehört, sich für Politik nicht zu
interessieren! Indes selbst die Herrscherhäuser anderer Länder ein so
weitgehendes Verständnis für die großen Strömungen an den Tag legten,
welche die Welt Frankreich verdankt, und welchen die erste Gesellschaft
Frankreichs widerstrebt! Eben weil ich ihr Kontingent hoch einschätze,
erscheint mir diese Gesellschaft in so hohem Grade verantwortlich für
Extreme, die ich mit Ihnen beklage, und als deren bitterster Ankläger sie
sich erhebt. Denn ihre Geschichte, -- und er deutete auf die Wände, von
welchen die Ahnen des Hauses in Harnisch oder Lockenperücken hernieder
sahen -- ist nicht mehr wie bisher die ihres Landes.« --

                   *       *       *       *       *

Immer schneller fuhr der Zug dahin mit seinem gleichmäßig gleitenden
Gerolle, das uns schweigsam macht und die Nachdenklichkeit erhöht. Draußen
lag schon Blässe über das Land gebreitet und blässer noch, im langen,
regelmäßigen Viereck, schimmerte da, wie entschlafen, ein künstlicher
Teich, und weiter zurück, fast geisterhaft, das prunkvolle Versailles mit
den majestätischen Senkungen seiner Terrassen.

»An was denken Sie?« fragte mich da plötzlich mein Reisegefährte.

»Wie soll ich das der Reihe nach sagen?« erwiderte ich. »Gedanken können
sehr wohl in Schwärmen auf uns eindringen und ebenso wieder verfliegen.«

»Aber eine Taube in der Hand,« sagte er, »ist besser, als viele auf dem
Dache.«

»Nun, ich dachte an Ihre gestrigen Theorien und geriet dabei vom
Hundertsten ins Tausendste. Alle Äußerungen, welche die Geistesart, den
Charakter einer Nation am geschlossensten kundgeben, reizen und fesseln
mich, denn unwillkürlich beziehe ich auf Deutschland, was immer im Ausland
mein Interesse erregt. Allein ich staune, wie mächtig innerhalb eines
kleinen Gebietes der Nationalgeist benachbarte, verwandte Völker
auseinanderhält, wie verschieden er sie bildete, und daß in einer Welt, die
überall so gleich, unter Menschen, die sich überall so ähnlich sind, hier
der Schwerpunkt aller Verschiedenheiten liegt.«

»Wußten Sie das nicht?« sagte er.

»Ich zweifle, daß wir es alle zur Genüge wissen. Denn diese
Verschiedenheiten sind gegenwärtig so weit gediehen, daß drei
hervorragendste europäische Nationen, die Deutschen, Franzosen und
Engländer, die einander am vollkommensten ergänzen, tatsächlich außerstand
gesetzt sind, einander in ihrer Wesenheit wirklich zu durchdringen und
psychologisch unüberbrückbar fern einander gegenüberstehen. Wir leugnen zum
Beispiel gar nicht, daß es eine bêtise allemande gibt. Inzwischen wurde ich
auch mit der fine fleur der Ihrigen bekannt. Aber Sie glauben nicht, wie
weltverschieden die beiden voneinander sind! Wieviel unbestimmter, breiter,
verschwommener die unsere, wieviel greifbarer, logischer durchgeführt, ich
möchte sagen, >abgeschliffener< die Ihre ist, welches Talent sie hat, sich
zu veräußern. Die beiden bêtises erkennen sich nicht wieder.«

»Daraus folgt nicht, daß sich die Klugen nicht verständigen könnten.«

»Aber auch da ist mir eines zumeist aufgefallen: die Schwierigkeit für den
Ausländer, sich in seiner Beurteilung der Franzosen zurechtzufinden, beruht
darin, daß er den französischen Geist von der französischen Kultur nicht
genügend unterscheidet. Es fiel mir auf, wie sehr der Formensinn in allen
seinen Äußerungen in Kleidung, Möbeln und Gewerbe, auf allen Gebieten des
äußeren Lebens bis hinauf zu den bildenden Künsten in Frankreich seine
eigentliche Heimat hat. Der sichere Instinkt des Schönen ist da von einer
Ära zur anderen Ihr Monopol. Angesichts gewisser Gärten, Lauben und
Fassaden, gewisser Plätze in Paris, war ich von Bewunderung für die
Franzosen hingerissen und verehrte in ihnen die Lehrer der Welt. Aber trotz
jenes großen Stilgefühls, das bei ihnen den Geschmack zur Kunst erhob,
trotz jener Gründlichkeit und Vollendung, jenes strengen Maßes, das ihre
Leistungen krönt, ist es nicht seltsam, daß auf rein ideellem Gebiete,
gerade in ihrem Lande das Extreme und Maßlose sich freier als anderswo
entfalten durfte, während in dem rauhen und vielspältigen Deutschland ein
Mann wie Goethe dessen Geistesleben adelte?«

»Werden Sie mir später auch einige Kritiken gestatten?« begann da mein
Reisegefährte. »Aber Sie sehen zum Fenster hinaus. Sind Sie schon fertig
mit unseren Extremen?«

»Ah«, sagte ich, »Frankreich ist doch wie ein Blumengarten, mit Schlössern
und Gütern besät. Unlängst sah ich ein Schloß, in dem die Schlafzimmer
genau aussahen wie Zellen. Das einzige, was den strengen Eindruck etwas
milderte, waren Büchergestelle, die den Wänden entlang liefen, aber wohin
man auch sah, waren es ausschließlich Gebet- und Erbauungsbücher. Ich
lernte dort eine Verwandte Mussets kennen, die mir versicherte, einer
solchen Verwandtschaft könne sie sich nur von ganzem Herzen schämen.
Flaubert zu lesen hatte ihr Gatte ihr zeitlebens untersagt; es hätte jedoch
seines Verbotes nicht bedurft, da sie gottlob den Schmutz nicht liebe.«

»Aber solche Leute,« rief er, »gibt es doch überall!«

»Der Unterschied, wie gesagt, liegt nur im Grad. Ich hörte in Frankreich
Sonntagspredigten, die bei uns nicht möglich wären. Eine junge und reizende
laisierte Klosterfrau klagte mir ihre Not mit den Dorfkindern; von den
Volksschullehrern würden sie unterwiesen, nicht darauf achtzugeben, was
ihnen der Pfarrer von der Kanzel herab lehrte, und dieser wiederum male der
Gemeinde die Autoritäten des Landes in den fürchterlichsten Farben.
Tatsächlich habe ich nichts betrüblich Unfrommeres gesehen, als das hiesige
Bauernvolk, wenigstens in der Gegend, von der wir kommen. Dafür traf ich
unter den begüterten Familien nicht einen Knaben, dessen Erziehung unter
einer anderen Obhut als der eines Abbés stand. Auch diese Sitte wäre uns zu
extrem. Aber ich fürchte, derartige Auslassungen sind nicht der Brauch. Man
sagt sich von einem Lande zum anderen in den Zeitungen unangenehme Dinge,
zu einer Aussprache aber pflegt man nicht zu kommen.«

»Ich finde Sie zumeist mit den deutschen Vorzügen und den französischen
Mängeln beschäftigt.«

»Nein,« rief ich, »denn nichts regt ja unseren Eifer so sehr an, wie unsere
Anerkennung für die Vorzüge einer anderen, sei es einer fremden oder
verwandten Nation! Solche Empfindungen erregen in mir der Formensinn, die
Regsamkeit, welche Paris inmitten so gefahrvoller Geschicke stets auf
seiner Höhe zu erhalten wußte. Und mit ebensolchen Empfindungen bewundere
ich in England den praktischen, nie ins Kleine sich verlierenden Überblick,
das Erziehungssystem, die Ästhetik, kurz alles, wodurch dies Volk zur
glücklichsten und schönsten Nation der Welt geworden ist.«

»Aber Ihr Eifer ist ja die reine Utopie!« rief er. »Die Vorzüge der
Franzosen und Engländer sind den Deutschen entzogen, weil sie eben Deutsche
sind!«

»Zu welchem Reichtum gerade ihr Wesen sich entfalten kann, dafür bürgen
ihre großen Männer.«

»Immer diese großen Männer!« sagte er. »Sie sind noch lange nicht die
Nation. Und Sie vergessen, daß noch keine von ihren eigenen großen
Individuen so unumwundene Aussprüche des Tadels erfuhr, wie die deutsche.«

»Weil niemand besser als diese vollendeten Typen die Tiefe und Fülle ihrer
Anlagen erkannte.«

»Aber was nützt es?« sagte er. »Die Deutschen bearbeiten meist nur eine
Geisteskraft. Es ist ihr Lichtenberg, der ihnen dies vorwirft. Was nützt
es, daß sie denken? Durch ihre minder durchdringende, minder ausgeglichene
Kultur bleiben sie der Kritik fremder Nationen ausgesetzt.«

»Ein glücklicheres Ebenmaß könnte diese Kritiker über schwerer zu
beseitigende Mängel hinwegtäuschen. Die Deutschen sind noch im Werden. Das
ist auch etwas Schönes.«

»Wir sind alle im Werden!« rief er. »Aber warum unterschätzen Sie die
Großzügigkeit, die ihrem gesellschaftlichen Leben fehlt?«

»In Deutschland,« sagte ich, »machen sich die klugen Leute nichts aus der
Geselligkeit, weil sie ganz ihrer Arbeit leben.«

»Hier arbeiten sie ebenso. Und Sie irren: kluge Leute sind von Natur nicht
einsamer als andere. Aber sie wollen _herrschen_! Die Berechtigung ihres
Einflusses wie ihr Prestige gestehen wir ihnen in weit größerem Maße zu;
hierin sind ja die Deutschen viel demokratischer als wir; und dies ist der
Grund, warum ihrem Verkehr nicht selten der Zug und das Interesse fehlt,
das ihrem geistigen Niveau entspräche. Dazu kommt, daß bei ihnen der
Prozentsatz zwar sicher nicht der Reisenden, aber der >Bereisten< ein so
geringer ist. Man kann ja,« fuhr er fort, »den Kosmopolitismus zu weit
treiben; wo aber die unentbehrliche Voraussetzung für ihn: eine wahre und
vererbte Bildung, vorhanden ist, bildet er deren letzten Abschluß und
verleiht unter anderem den Überblick und die Menschenkenntnis der
eigentlichen Leute von Welt. Bei ihnen reisen jedoch die Vermögenden wie
die Windsbraut durch ganz Italien und wieder retour, haben Italien und
nichts von der Welt gesehen, und ein anderes Mal fahren sie mit derselben
Eile nach Paris, sehen mit diebischer Freude alle Cafés chantants und
wissen viel von den Boulevards, aber nichts von den Franzosen.«

»Und Sie sind der Mann, der mir meinen utopischen Eifer vorwarf, als ich
sagte, beide Völker hätten soviel von einander zu lernen. Wer denkt nun
logischer von uns beiden?«

»Sie vergessen nur zu leicht, daß es auch politische Gesichtspunkte gibt.«

»Was andere besser verstehen, überlasse ich ihnen lieber ganz und gar und
finde es anregender, die Dinge von einer anderen Seite aus, die mir mehr
Übersicht gewähren kann, zu betrachten. Von einander getrennt stellen sich
mir da, wie die Begriffe, von welchen Sie gestern sprachen, so auch die
hervorragendsten Nationen in ihrem Gesamtbild als mangelhaft dar. Ich bin
für psychologische Eroberungen, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht in
hundert Jahren recht haben sollte.«

Langsam rollte jetzt der Zug in die große Halle der Gare St. Lazare.

                                                     1905 Wiener Zeit.


                                 III.

Alte Leute schütteln die Köpfe über unsere Ruhelosigkeit, weil wir mit
unseren immer schleunigeren Schnellzügen nicht zufriedener sind, als unsere
Väter zur Zeit der Stellwagen. Aber zu unserer Ehre sei's gesagt: wir sind
um so ruheloser und unzufriedener, je weniger wir die Zufriedenheit, je
mehr wir den Fortschritt erstreben. Ein steigernder Drang, eine Hast und
Ungeduld, wachsenden Flügeln vergleichbar, ist heute in uns rege; wir
durchschneiden die Luft, durchfahren unterirdisch große Städte mit
Windeseile, und größte Schnelligkeit der Bewegung ist uns zur
entsprechendsten Äußerung, ja zur Notwendigkeit geworden, wie der Schatten
des Glücks, nach dem wir jagen. Eine solche Generation bringen heimelige
Postkutschen zur Verzweiflung, und selbst das Geticke der alten Wanduhren
verträgt sie nicht mehr. Sie bringt viel Unrecht und viel Unsinn zutage,
aber sie ist im Grunde nicht schlimmer, sie ist besser als eine andere,
denn sie ist so müde und überreizt zugleich, weil ihr der Frühling in den
Gliedern sitzt.

Es stehen uns zwar noch zu viel trübe, regnerische Tage bevor, als daß wir
merken könnten, daß sie länger werden. Aber wenn es stürmischere Zeiten
gegeben hat, als die unsere, so war kaum eine, in der so viel neue, noch
unausgesprochene Gedanken zu reifen, Gegensätze sich zu versöhnen, alte
Vorurteile zu zerfallen strebten.

Kürzlich ging ich an einem Nachmittag die kurze Strecke von der Rue de la
Paix zur Place Vendôme; den weltberühmten Modeläden entstiegen elegante
Frauen mit blassen Zügen und großen sicheren Augen. Die reiche, fast edel
zu nennende Vollendung ihrer ganzen äußerlichen Haltung lieh ihnen einen
Glanz von Schönheit und Überlegenheit. Sie harrten einen Augenblick, bis
ihr Wagen aus dem Gedränge vorfuhr, und neugierig betrachtete ich ihre
stolz zerstreuten, unbefangenen Blicke. Nichts ist ja psychologisch tiefer
begründet, als jenes Gefühl unendlichen Entrücktseins von der Not des
Lebens und die satten, fast melancholisch strengen Mienen der Besitzenden.

In jenen Pariser Straßen geht es sich so leicht. Was das Auge dort
fortwährend fesselt, trägt den Schritt so schnell, gedankenvoll dahin.
Geschmeide blitzten mir entgegen, große träumerische Perlen, ein köstlich
strahlender Halsschmuck aus Smaragden, smaragdne Ringe und viele, zärtlich
funkelnde Smaragde.

Allein zärtlicher noch und schimmernder, ein Triumph für die ersten
Kürschner und Putzmacher der Welt, war da der Anblick einer schönen Frau
mit einem samtnen Gesicht wie eine Primel. Kaum war sie aus dem Laden ins
Freie getreten, als ein Automobil um die Ecke raste und einer der
bekanntesten jungen Männer von Paris, morbid und unverschämt, den Hut vom
Winde etwas zurückgeschoben, aber frei wie ein Marmorbild, ihr
entgegenfuhr.

»Es geht sich heute so schön,« sagte da plötzlich dicht neben mir ein
Pariser Freund, »haben Sie Zeit?«

»Aber bleiben wir in diesen Straßen,« sagte ich, »man wird da von dem Leben
ringsumher wie von Wellen so schön fortgerissen.«

Zwar hörte man vor dem Getöse und Gebrause ringsumher seine eignen Worte
nicht; dann zerstreuten die Schaufenster, hier ein Pelzumhang,
unnachahmliche Mäntel, in die man im Vorübergehen sich hineindachte; dann
wieder unter den vorübereilenden Wagen so manches glänzende, bewegte Bild.
»Ach,« seufzte ich, »mir ist hier oft, als müßte mein Herz brechen vor
Sehnsucht nach Geld!«

»Nach Geld?« rief er erstaunt.

»Ja,« sagte ich, »ich konstatiere an mir selbst eine immer wachsende
Leidenschaft für die Güter dieser Erde, und wie sehr sich unsere
Anforderungen an das Leben mit unseren geistigen Fähigkeiten steigern.«

»Diese lehren uns vielmehr, das Glück in uns zu suchen.«

»Sie scherzen!« rief ich.

Aber hier erlitt unser Gespräch von neuem eine Unterbrechung; denn langsam
kamen uns zwei hinreißende Gestalten entgegen: es war die Dame mit dem
eleganten Primelgesicht, an der Seite ihres Begleiters. Göttliche Schultern
trugen ihr leichtsinniges Haupt, und goldene Haare verklärten es. Es lag
etwas halb Zärtliches, halb Spöttisches in ihrer Anmut; zugleich etwas
Siegreiches, ja Unnahbares in ihrer Sorglosigkeit, in ihrer Flüchtigkeit
selbst. Und es war, als zöge sich, wie um die Mondessichel, ein hellerer
Schimmer um die beiden, ein Schein, der sie der Not fehlgeschlagener
Hoffnungen, vergeblicher Wünsche entrückte.

»Folgen wir ihnen!« schlug ich vor, auch als sie gleich darauf im Ritz
verschwanden. Es war Teezeit. Wir betraten die Galerie, in welcher der Tee
genommen wird, der -- wie allerorts in Paris -- zu wünschen übrig läßt; sie
glich um diese Stunde einem Turnierplatz geschmackvollster und zugleich
kühnster Hüte. Man sah die diszipliniertesten Taillen und die kunstvollsten
Teints. Allein weit entfernt, frivol zu sein, war für mein Empfinden der
äußere Eindruck dieser hergerichteten Pariserinnen der eines sehr strengen,
sehr erstrebenswerten Formensinns. Übrigens waren sie nicht in der Mehrzahl
vertreten, sondern alle Sprachen schwirrten hier durcheinander. Auch
unenthusiastische Jünglinge mit fallenden Schultern hatten sich eingefunden
und stattliche Damen, deren Mundbildung von weitem den amerikanischen
Akzent verriet, mit Physiognomien von faszinierender Gewöhnlichkeit.

Ich hatte die Eckplätze links am Eingang gewählt, die zugleich einen
Ausblick auf die Treppe gewährten, denn die Menschen, die dort
vorüberkamen, waren als Millionärtypen vielleicht noch charakteristischer.
Ein blasser, schwarzer Herr, mit breiten Schultern, stumpfen Augen und
einem lautlosen Tritt, sah aus wie der Mammon selbst. Die Marchioness von
A*, eine sehr schön gewesene Dame, mit fliegendem Schleier, fliegendem
Mantel und einem fliegenden blauen Blick, hielt eine Weile unter der Türe
stand, sah mit theatralischer Unverschämtheit um sich her und verschwand.
In unserer Nähe ließ eine Österreicherin, die Frau eines durchreisenden
Diplomaten, immer lauter ihren wienerisch-französischen Jargon vernehmen.
Sicher fiel diese Frau ihrem Manne durch zu große politische Wißbegierde
niemals lästig, vielmehr war sie von jenem rein gesellschaftlichen Prestige
einer Diplomatenstellung, wie ihn die Scribeschen Lustspiele feiern (wie
Bismarck ihn verhöhnte) noch gänzlich erfüllt. Weder jung noch schön, aber
von ansehnlicher Größe, mit ihren konventionellen Zügen, ihrer kunstvollen
Frisur und ihrem erbsenfarbenen Gewand sah sie aus wie der Genius des »High
Life«. Mit groben aber wohlgepflegten Händen schwang sie unaufhörlich ein
Lorgnon. Es war ihr Degen, ihr Symbol. Denn auch die Welt in Zeit und Raum
sah sie durch ein solch abgrenzendes Glas, das für sie nur die Welt des
Salons auffing und spiegelte.

»Rom ist deliciös,« hörten wir sie sagen -- »c'est autre chose que la
Suède! Ganz die große Welt! In der Saison komme ich einfach nicht zu Atem;
die Unmasse von Engagements, déjeuners, dîners und die vielen jours . . .«
sie suchte dies in bedauerndem Tone vorzubringen, aber es gelang ihr nicht.
Dabei hatte sie durch ihr Lorgnon jemanden von der »großen Welt« erblickt,
der auf sie lossteuerte: »Sie hier, cher Comte?«

Es war alles so ergötzlich! Der Pariser Freund und ich, wir sahen einander
lächelnd an: »Ihre zwei Göttergestalten scheinen sich in die oberen
Stockwerke verloren zu haben,« bemerkte er. Indes kam die Marchioness von
A* mit Bekannten wieder. Sie kam in Begleitung einer reizvollen,
melancholischen Dame, einem hypereleganten, unwahrscheinlich schönen
Mädchen, und einem nicht mehr jungen Mann von wortkargem und gebieterischem
Wesen. Was Lebensstellung und Gewohnheiten anlangte, gehörte er zweifellos
zu den Gebietenden dieser Erde. Sein großes weißes Gesicht trug zugleich
den Stempel der Oberflächlichkeit und einer gewissen Leidenschaft. Aus
seinem stahlgrauen, etwas starren Blick sprach nicht etwa eine sehr
machtvolle oder reiche Persönlichkeit, aber deren ungehemmte und machtvolle
Entfaltung.

Plötzlich war alle meine Munterkeit dahin: den Tee, von dem ich mir noch
eben eine Tasse eingeschenkt hatte, schob ich mit Widerwillen von mir.
Bisher, wie im Schauspiel, meinem eigenen Bewußtsein gänzlich entfallen,
war ich mir plötzlich meiner selbst aufs heftigste bewußt. Keine Paläste
mit unschätzbaren Tapisserien und Bildern, keine Reichtümer und keinerlei
Macht war mein eigen! Über das blaue Meer hin, nach Indien oder
Griechenland, wo gerade die Erde am schönsten blühte, unter Menschen, deren
Pracht gerade am lachendsten sich entfaltete, wohin er nur wollte, setzte
der Mann dort herrschend seinen Fuß. »Kein Ersatz,« dachte ich, »ist dem
Menschen beschieden! Nicht die eine Sache zum Trost, weil ihm die andere
verwehrt ist. Nie darf er den Kelch verhaßter, tödlicher Entsagung von sich
schleudern!«

Wir standen wieder im Freien, diesmal den Tuilerien zugekehrt. Grau und
vornehm ragte die Säule von Vendôme, aber nicht länger zog es mich hin zu
den Herrlichkeiten der Rue de la Paix.

»Ich begreife Sie nicht,« sagte der Pariser Freund, »ist es denn möglich,
daß Ihnen solche Leute imponieren?!«

»Ich nehme sie ja nicht persönlich,« sagte ich. »Aber wenn ein kunstvoller
Rahmen ein wertloses Bild nicht zu heben vermag, so wird eine schlechte
Holzleiste die Wirkung eines Kunstwerkes sehr wohl beeinträchtigen können.
Und weil sich um die gewöhnlichsten Menschen oft die herrlichsten Rahmen
ziehen, so brauchen wir deshalb den Wert dieser letzteren nicht zu
verkennen. Das Leben ist zu schön geworden.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Hier galt es jedoch, schweigend und mit Bedacht, von Automobilen wie von
feindlichen Kugeln umsaust, die Rue de Rivoli an der Mündung der Rue
Castiglione zu überschreiten.

Nach dem Gewoge der Straßen schienen die Tuilerien so weit und still.

Alles lag in jenem entzückend feinen, mattsilbernen Ton der zärtlichen
Pariser Luft, die so leicht und optimistisch schimmert und selbst den
kahlen Bäumen ihre Düsterkeit nimmt. In kalter Grazie dem grauen Louvre
zugewandt, stand eine nackte steinerne Nymphe.

Mit Statuen aber geht es uns häufig wie mit der Musik: was im Museum wohl
zurückstände, im Konzertsaal uns kritisch ließe, kann unter freiem Himmel
hinreißen und rühren. Unwillkürlich waren wir stehen geblieben.

»Wie der menschliche Körper durch die griechische Kunst, so hat sich
seitdem das menschliche Leben selbst zu einem Ideal gestaltet.«

»Zum mindesten ein vorgreifender Glaube«, meinte er.

»Wie jeder Glaube«.

                                                   1905 Neue Rundschau


                                  IV.

So machen wir auf Reisen unsere schnurrigsten Erfahrungen. Gilt es jedoch
die Ansichten vorzubringen, die sich da ganz von selbst für uns ergeben, so
dünken sie uns gar zu einleuchtend und elementar, um noch erwähnt zu
werden. Aber das langweiligste ist, daß wir mit solchen Ansichten immer
noch als Vorläufer erscheinen, und daß es immer noch keine Gemeinplätze
sind; denn sie stehen noch immer nicht in den Zeitungen, diesen Feldern des
Überdrusses, diesen mit wenigen Ausnahmen so träg geschäftigen Wiederkäuern
zu oft gesagter oder längst überwundener Dinge.

Manchmal sind es aber Kleinigkeiten, die uns mit der Artung einer Nation
unversehens in Berührung bringen, wie ein plötzlicher Augenaufschlag oder
der Schatten eines Lächelns uns plötzlich neue Einblicke in das Wesen eines
Menschen gewähren können.

Zwei Pariser Episoden sind mir lebhaft in der Erinnerung geblieben.

Eines Nachmittags ging ich den Quai d'Orsay entlang und einem matten
winterlichen Sonnenuntergang entgegen.

Ich hielt einen Strauß wundervollster Blumen. Besonders prangte da eine
ganz erstaunliche Rose, mit der man immer wieder sich befassen mußte. Sonst
war ich eigentlich eher verstimmt. Ich kam gerade von einem Frühstück, das
mir, solange es dauerte, sehr belebt erschien, bis ich nachträglich merkte,
daß es mich gelangweilt, und daß all die unnützen Worte, die ich vernommen
oder selbst gesagt, ja selbst all die schönen saillies und mots d'esprits
mich zuletzt verdrossen hatten. Gott, und mein Nachbar erst, wie sich der
verpuffte! Es glitzerte und flickerte, jedoch das Wässerlein war seicht,
und war kein Fischlein darin.

Vielleicht ist die Gemütlichkeit dasjenige, was wir bei den Franzosen, ob
hoch oder niedrig, am öftesten vermissen. Und sie ist es, welche der
médiocrité allemande vor der médiocrité française, den kleinen Leuten vor
den petites gens den Vorzug verleiht.

Ich steuerte indes der Madeleine zu und verfehlte dort wie gewöhnlich
meinen Weg. Der Zeitpunkt, den ich für eine Verabredung in der Rue
Montalivet getroffen hatte, war längst vorüber, und immer irrte und eilte
ich noch durch ein ganzes Strickwerk kleiner Gassen, als ein Mann, der
seinem rußigen Aussehen nach Lokomotivführer oder Tunnelarbeiter sein
mochte, plötzlich wie aus dem Erdboden vor mir stand. Indem ich nun im
Sturmschritt an ihm vorüberging, sah ich ihn stutzen und mit einem leisen,
halbunterdrückten Ausruf des Entzückens auf meine Blumen starren. Einem
Impulse folgend hatte ich da auch schon die Wunderrose hervorgezogen,
wandte mich im Gehen schnell noch einmal um, warf sie ihm in einem Bogen zu
und eilte weiter. Auch wäre mir der kleine und so flüchtige Vorgang kaum im
Gedächtnis haften geblieben, hätte er da nicht etwas wie ein
Freudenlichtlein in mir angesteckt. Denn es hätte kein Mann von Welt, kein
Fürst den Sinn dieser zugeworfenen Rose mit bereiterem Takte erfassen, noch
mir zarter dafür danken können, als dieser zerlumpte junge Mensch in seinem
Kittel; und ich werde ihn nie vergessen, den edel aufleuchtenden Blick, als
er die Rose auffing.

Ein paar Tage darauf ging ich abends wieder die Rue St. Honoré hinauf,
wieder auf dem Weg zur Rue Montalivet, und war noch viel müder und
verstimmter als das erste Mal. Denn ich hatte in Paris kein Glück, und
konnte mich doch nicht davon losreißen. Statt daß aber auf französischem
Boden die französische Seite meines Wesens in Schwung gerät, geht es mir
gerade umgekehrt; unter Franzosen wird mir so deutsch zumute; Deutschland
klingt und rauscht in Frankreich durch mein Herz; wie in ein Wetterhäuschen
zieht sich Marianne tief zurück, und einsam wie eine Schildwache rückt
Michel vor.

Wie ferne, dachte ich, sind die Franzosen selbst mir, die ich schon
mittewegs zu ihnen stehe! Und im Lichte unserer immer rascheren
Verkehrsmittel wollte mir die gute alte Zeit, je weiter sie zurücklag, nur
um so schlimmer, und jede, die verflossen, als abgetan erscheinen; denn
Lloyddampfer, Blitzzüge und Automobile waren im letzten Grunde
Friedensmaschinen, während die idyllischen Postkutschen, in ihrer
Unfähigkeit einen Kontakt zwischen den Ländern aufrecht zu erhalten,
Nationen und Staaten eines Stammes bis zur Unkenntlichkeit sich entfremden
ließen.

Tief in Gedanken ging ich also meines Wegs und merkte nicht, daß die
Straßen immer leerer wurden. Mit seiner Dinerstunde nämlich läßt der
Pariser, ob Kapitalist oder Concierge, nicht spassen, und zwischen acht und
neun Uhr ist Paris am stillsten. Zu meinem tiefen Schrecken sah ich jetzt
plötzlich meinen Weg durch einen Arm, den unter der Türe eines finsteren
Hauses ein Mann vor mir ausstreckte, gesperrt. »Donnez moi de l'argent!«
sagte er auffahrend, »ou achetez moi du pain.« Er hielt sich im Dunkeln und
ich unterschied nur seine Größe und den gerade ausgestreckten Arm. Ohne
eine Miene zu verziehen, als hätte ich ihn nicht vernommen, als sei ich
eine wandelnde Uhr und mein Gang nur ein Pendelwerk, ging ich an ihm
vorüber. Aber an der Bewegung meines rechten Armes konnte der Mann, wenn er
mir nachkam, sehen, daß ich in die Tasche griff. Immer im selben Takte
weitergehend fingerte ich mit der rechten Hand, was ich an kleiner Münze
spüren oder greifen konnte, hervor, und an der Ecke der Rue de l'Elysée,
drehte ich mich um. Der Mann war mir in einiger Entfernung mitten auf der
Straße gefolgt, blieb nun auch stehen und wartete. Aber etwas Furchtbares
und Verzweifeltes in der Haltung dieses Menschen veranlaßte mich, ihm in
meinem besten Salonschritt näher zu treten, und es vollzog sich auf einmal
etwas, wie eine szenische Wandlung. Denn nicht wie einem Bettler und nicht
wie in einer feuchten, glitschigen Straße, im dürftigen Laternenschein,
sondern wie auf Teppichen und unter Kronleuchtern schritt ich auf ihn zu
und händigte ihm die elenden Sous wie einen Tribut mit einer vagen Geste
ein. Der Mann machte rasch Kehrt, und ich verfiel wieder in meine vorige
Gangweise, als hätte nichts ihr Tempo unterbrochen. Plötzlich aber wurde
mir bewußt, wie sehr diese Begegnung durch den Stempel des Stolzes, den
jener Unglückliche seiner kläglichen Forderung lieh, mich entzückte und
begeisterte.

Und Michel trat zurück und ließ Mariannen vortreten. Herrliche Kinder!
dachte ich, diese Franzosen. Aus ihren Herzen brach er hervor, jener
Gedanke tiefinnerster, reinmenschlicher Gleichheit, über dessen Adel uns
nichts hinwegtäuschen darf.

Aber Kinder! Und wüßten sie es doch endlich über dem Rheine drüben, in
welchem Sinne die Franzosen Kinder sind. Oder sind die Deutschen, die keine
Kinder sind, zu naiv, um es zu lernen? Denn hier liegt der wahre Grund zu
all den kontinuierlichen und unerfreulichen Gegensätzen, die einer wahren
inneren Annäherung der beiden Nationen, und wenn sie beiderseits noch so
sehnlich empfunden wäre, immer wieder im Weg liegt.

In einem Zeitalter, wie dem unserem, in unserem so klein gewordenen Europa
weiß sich der Franzose das deutsche Gemüt noch immer nicht zurechtzulegen,
der Deutsche den Franzosen noch immer nicht zu behandeln. Denn für die
Mobilität, die Akuität -- ich muß bezeichnenderweise lauter Fremdwörter
gebrauchen. -- der französischen Empfindungsweise zeigt der Deutsche wenig
Sinn. Der Franzose, der auf Nuancen eingerichtet ist, harrt indes
vergebens, daß der andere, dem sie ganz entgangen sind, darauf eingeht und
fühlt sich von ihm verletzt. Der andere borgt sich dafür bei ihm das Wort:
sensibel, denn mit der sensibilité, dieser kleinen Münze des Gemüts, führt
er nicht Haus.

Kurz: für ihr _Gefühlsleben_ finden die beiden Völker nicht den adäquaten
Austausch. Denn wahrlich nicht der _Geist_ der zwei Nationen ist es, der
sie auseinanderhält. Der Idealismus, der geistige Ausblick des Deutschen
ist vielmehr der mächtigste Anziehungspunkt für den Franzosen, und in der
Anerkennung unserer Vorzüge legen sie ein Verständnis und eine rückhaltlose
und geniale Großherzigkeit zutage, vor der länger zurückzustehen uns weder
zum Lobe noch zum Nutzen gereichen könnte.

Hören wir einen so leidenschaftlichen Sohn seines Landes wie Maurice
Barrès, mit welch zarten und tiefen Worten er seine Betrachtungen über
Goethes Iphigenie beschließt:

»Peut-être n'est il pas permis, -- permis, ce mot si vague rend seul ma
peur un peu mystérieuse, -- que nous produisions au dehors nos pensées les
plus intimes: peut-être devons-nous protéger, voiler nos réserves, de
crainte qu'une source, dont nous avons écarté les branches, ne se dessèche
au soleil. Mais je dois reconnaitre mes obligations. La destinée qui oppose
mon pays à l' Allemagne, n'a pourtant pas permis, que je demeurasse
insensible à l' horizon d'outre Rhin: J'aime la Grecque Germanisée.«

Fand jemals eine Huldigung, in ihrer scheuen Zurückhaltung, einen so
wundervollen Ausdruck? Ich kenne mir nichts Edleres als jenes Geständnis,
das sich einem so französischen Herzen entrang: »_J'aime la Grecque
Germanisée_.«

Aber Deutschland und Frankreich scheinen mir oft dahinzuleben, wie ein sehr
männlicher Mann neben einer sehr feinen Frau, die ihn schon durchschaute,
aber die er noch nicht verstand. Gerade diesem Manne aber hat der Mangel an
Talent, sein Empfindungsvermögen zu verausgaben, manchen Nachteil gebracht
und manch unfreundliche Reflexe zugezogen. Wenn ihm aber der Neid, wenn
seiner Sprache das Monopol des Wortes »schadenfroh« zum Hauptvorwurfe
werden konnte, so hat er dafür ein Wort, das im Widerspruch zu jenem
anderen steht und es an Kraft weit überbietet, das Wort, das in keiner
Sprache seinesgleichen findet und einen Zug, der viel deutscher noch ist
als sein Neid, und das ist seine Treue. Treu aber sind die Deutschen sich
selbst _nur_ indem sie _streben_.

Zwar ist von vielen Seiten behauptet worden, seit ihrem großen Siege seien
sie in ihren sympathischen Eigenschaften weniger gefördert worden, als im
Verhältnis die Franzosen seit ihrer großen Niederlage. Nichts scheint mir
zweckloser als darüber Worte zu verlieren, denn Glück wie Unglück liegen
hinter uns. Jede Nation hat heute die Tafel ihrer Siege und ihrer
Niederlagen, und der Haß ist zwischen ihnen etwas Künstliches geworden. Die
Schwelle eines neuen Zeitalters ist schon überschritten, und eine neue
Stunde hat für uns geschlagen. Fluch träfe das stumpfe Auge und die
verbrecherische Hand, die den Zeiger wieder zurückstellte.

                                                                 1906.


                                München
                                  V.

Ein sommerlicher Sonnenuntergang in München lebte heute in meiner
Erinnerung auf. Von der Terrasse zur Friedenssäule hatte ich auf die Isar
hinabgesehen, die unter dem verklärten Gewölk so leuchtend und blau
dahinfloß, so deutsch mit dem verträumten Gebüsch ihrer weiten Sandbänke
und zugleich so sagenhaft schön in ihrer ewigen Frische, als eile sie nach
dem Meere, Galateens Muschelboot zu umspielen.

Und München erschien mir da wie eine jener mittelalterlichen Schlaguhren,
mit ihrem kunstvollen Aufbau von Säulen, Gehäusen und Vertiefungen. Zeiger
und Figuren treten immer in gleicher Schönheit, gleicher Bedeutsamkeit
hervor, und das Ziffernblatt ist von erlesener Pracht. Aber etwas in den
goldenen Speichen der Räder ist zertrümmert oder gehemmt, und die Zeit
verhallt hier in zu tiefen, zu lauschenden Klängen. Und dieses Echo, diese
Beschaulichkeit ist es, die wir nicht immer ertragen, denn gerade das
Unveränderliche und Unverbrüchliche in uns erheischt ein schnelleres Tempo
unseres äußeren Lebens.

Aber wie uns in dem trüben und zugleich schon grellen Lichte
spätwinterlicher Tage Bilder des Südens bewegen, so umwehten mich jetzt,
inmitten der weiten Regungslosigkeit und Leere, die Bilder bewegterer
Städte. Von den lauen Winden zu mir herübergetragen, durchschauerte mich
das silberne Paris, und, lächelnd wie eine verschleierte Schöne, die Place
de la Concorde. Ein anderer Sonnenuntergang flammte da auf und überflutete
die weiten Champs Elysées, den surrenden Wagenstrom mit seinem gedämpften,
prunkenden Geräusch und all die strahlenden oder trügerischen oder schnöden
Silhouetten des Glücks, die er vorbeiträgt. Was immer sie quälen mag, stets
sind es Schattenbilder selbstverständlichen Genusses, die sie uns malen.
Wie die weithin leuchtende Front der zwei Paläste am Eingang der Rue
Royale, so trägt hier die _Fassade_ des Lebens den Stempel jenes Maßes und
jener Disziplin, die wahren Formensinn kennzeichnet. Wenn andernorts
Leichtsinn und Ungefähr an Äußerlichkeiten haften, so ist es hier das Auge,
das zumeist sich heimisch fühlt und inmitten der Verwirrung ganz sich
auszuleben vermag.

Aber hier riß mich das brutale Gellen einer Trambahnglocke aus der Ferne in
die Wirklichkeit zurück. Mit furchtbarem Gepolter lärmte der umfängliche
Kasten einher, und eine Dame im Reformkleid wandelte mir entgegen. Heiß und
öde dehnten sich die Häuserreihen wieder vor mir hin, und jede Straße fand
von neuem Muße, mit ihrer Atmosphäre mich zu bedrängen. Denn ach! inmitten
der seelischen Abgeschiedenheit, die München an Wintermorgen wie an
Juliabenden oft bis an den Rand wie einen Schmerzensbecher füllt, war mir,
als ob der Strom des Lebens sich hier zu einem See besänftigte, sich
weitete, und als ahne er hier nichts von seinen reißenden Stellen, deren
Hast und Getöse allen Schmerz der Besinnung so weit überrauscht.

Und wie ein Riese schien da die Sehnsucht den Weg mir zu vertreten und mich
zu würgen, als müßte sie aus meinen Augen hervorbrechen beim Anblick der
hoch dahinziehenden Vögel: zur englischen Küste trugen sie meinen Geist im
Fluge hin, und die Lust zu wandern kam wieder über mich.

Ich gedachte der Woche, die ich in London einsam verschwelgte, und zu
welcher Lust sich mein Alleinsein steigerte angesichts der Gestalten, die
uns, lebenden Statuen gleich, zu Hunderten dort begegnen. In welcher
Stimmung ich da eines Nachts aus dem Theater fuhr, und wie mich fror in der
warmen Sommernacht, weil angesichts so vieler, vollendet schöner
Erscheinungen derselbe Gedanke wie angesichts der Elgin Marbles mich
bewegte: Welch edles Ding ist doch der Mensch! Wie müde und erregt zugleich
ich dann das leere Haus betrat, in dem ich wohnte und wie ich da mit
geschlossenen Augen und verschränkten Armen noch lange unten verweilte,
ganz in London versunken, von dem Sausen und Brausen des unendlichen, nie
lärmenden London berauscht.

Zwar schwebte mir gerade in Frankreich, gerade in England Deutschlands
geistiges Bild so gerne vor Augen! So tags zuvor bei englischen Freunden
auf dem Lande, als ich in der großen Halle mit mir allein zurückblieb, weil
mir schien, als wüßte ich in letzter Zeit, durch neue Eindrücke und die
Meinungen und Ansichten anderer von allen Seiten abgelenkt, oft nicht mehr,
was ich selber dachte.

Nun aber flutete das Licht des alabastermilden englischen Himmels so
beschaulich durch die weitgeöffneten Tore, und die Bäume vor dem Eingang
breiteten wie schützend ihre gewaltige Ruhe über diese Erde, diesen Rasen,
und über das unaufhörlich holde Gurren und Geflatter der Turteltauben.

Aber wie hoch in der stillen Luft das Laub der Bäume erst leis erzitterte
und dann in Aufruhr blieb, so wurden meine erst leis sich schwingenden
Gedanken von allen Himmelsrichtungen aufgescheucht, bis sie, im Sturme hin
und wieder fortgetragen, wie Blätter mein Bewußtsein umwirbelten. Ich
konnte sie nicht erhaschen, die eigene Verwirrung, den eigenen Zwiespalt
nicht begreifen, noch jenes tiefe Echo heimatlicher Erde, das deutschem
Geiste aus angelsächsischem Boden entgegenhallt; als würden jene Worte
wieder zu ihm hingetragen, mit welchen Shakespeares verbannte Könige dies
Land betraten:

   »Ich grüße mit der Hand dich, teure Erde,
   -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
   -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
   -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
   So weinend, lächelnd, grüß ich dich, mein Land
   Und schmeichle dir mit königlichen Händen.«

Aber Shakespeare selbst, der in seiner ausgeprägt englischen Eigenart uns
doch so nahe steht, wie glich er diesem Boden, auf welchem geschlossenste
Äußerungen unserer Rasse, so heimisch und fremd zugleich, uns
entgegentreten!

An diesem Faden weiterspinnend war es dann ein anderer wichtiger Punkt, der
zumeist mich fesselte. Die Identität unserer geistigen Stellungnahme zu den
Griechen: Walter Pater, in seiner Auffassung und Fühlung der Antike mit
unseren Rhode und Burckhardt, als eines Geistes Kind.

Von unseren inneren Analogien aber versank ich staunend in die Betrachtung
unserer äußerlich so starken Verschiedenheiten. Aber von allen Dingen sah
und erfaßte ich da nur ihr Suchen, Fließen, Streben nach einem gleichen
Ziele. Und nichts, was die Vorzüge der Engländer, Deutschen und Franzosen
auseinanderhielt und voneinander abschloß, wollte mir da noch den Eindruck
von etwas Verheißungsvollem, noch Ganzem, noch Befriedigendem gewähren.

Mein Alleinsein wurde indes von einem der Gäste unterbrochen, einem
gewichtigen Parlamentarier, dessen politisches Credo: »We are the first
nation« aus allen seinen Beweisführungen mit unfehlbarer Sicherheit
hervorging.

»What are you doing?« sagte er.

Doch als ich ihm nun meine Gedanken auseinandersetzen wollte, da standen
mir die Worte, die den Stein des Weisen, den ich doch schon zu halten
glaubte, fassen sollten, nicht zu Gebote, sondern die Flammen, die im Kamin
mit ihrem laut- und ruhelosen Rhythmus loderten, schienen in elementarerem
Bezug zu meinen Träumen, als ich selbst. . . .

Warum aber weckte ich den Nachhall so vergessener Dinge? Lag an der
Wirklichkeit, lag in der Gegenwart stets ein Etwas, das des Reizes tief
entbehrte oder ihn verhüllte, da Augenblicke, die wir zu genießen uns nur
flüchtig bewußt wurden, als wir sie erlebten, sich verklären, wenn sie wie
abgeflossene Wellen längst verrauschten? Selbst die fiebernde Öde dieses
Münchner Sommertages, -- täuschte mich seine spleenartige Wirkung nicht?

Still schwebte schon der Mond am klaren Himmel über die Parkanlagen, die
Straßen und Plätze. Von den dunklen Baumgruppen hob sich der
Hildebrand'sche Brunnen ab, die immer neuen Strahlen seiner Lebensfülle
milde wie der Mond ergießend. Immer neu sind dem Auge die kühnen, reichen
Schweifungen des Beckens, in welchem das Wasser unter der überströmenden
Schale, frei wie eine Flut sich ausbreitet und bewegt. Und immer neu
blicken von dem mächtigen Sockel, wie durch rieselnde Schleier,
überlebensgroße, marmorne Häupter. Aber das gesenkte Antlitz des Athleten,
die weit getrennten Gruppen und das Quellen aus den Nischen, sie alle
ertönen in übermächtiger Einheit zu einem rauschenden Akkord, aus welchem
Münchens eigenste Seele in ihren reichen Gründen, echt wie der frische
Strahl des Wasserstaubes, uns entgegenhaucht.


                                  VI.

An einem Spätnovembermorgen sah ich zum ersten Male die Straßen von Berlin
unter einem regnerischen Himmel tropfnaß und düster vor mir liegen, und
musterte mit enttäuschten, übernächtigen Augen ihre graue, geradlinige
Nüchternheit.

Auf meiner Fahrt vom Anhalter Bahnhof zum Potsdamer Platz war es zugleich
das einzige Mal, daß ich in Berlin dazu kam, mich über Berlin zu besinnen.
Ich weiß nicht, welch verzehrende Neugierde dort alsbald von mir Besitz
ergriff und mich in eine Art von Gummiball verwandelte, der ohne Unterlaß
von einem Ende der Stadt zum anderen flog.

Die meisten Dinge natürlich sah ich nur im Fluge.

Im Fluge machte ich dort übrigens eine, wenigstens für mich, endgültige
Erfahrung: wie sehr nämlich die Wirkung, welche die Plastik auf den Laien
ausübt, eine von der Malerei nicht nur verschiedene, sondern ihr
entgegengesetzte ist. Allerdings haben wir bis jetzt nur Glyptotheken,
welche organisatorische Probleme auf siegreiche Weise lösen. Vergleichen
wir aber den Zustand von Beglückung und Rast, den wir im Pergamon finden,
mit der Nervosität, dem Unbehagen, das uns bei längerem Verweilen in einer
Bildergalerie befällt, so will uns dabei der Maler von allen Künstlern als
der glücklichste erscheinen, weil von allen Kunstwerken Bilder am
rückhaltlosesten zu einer Charakteristik ihres Schöpfers, im vollsten Sinne
zu Individualitäten sich gestalten: je bedeutender zwar, desto bestimmter
natürlich, desto mehr Aufmerksamkeit und Spielraum beanspruchend, auch nach
außen hin, desto mehr Perspektive gebietend. Wer hätte im Louvre nicht die
fast schmerzliche Empfindung einer Gioconda, fast hätte ich gesagt eines
Lionardo, der hier in einem licht- und luftlosen Kerker gefangen liegt? Ich
für meinen Teil kann nicht an den Giorgione im Kaiser-Friedrich-Museum
denken, ohne daß mir ein kaum einen Meter davon entferntes Bild durch seine
schreiende Unverträglichkeit mit dem Giorgione dazwischenfährt. Aber
scheinen nicht alle Wände dieses selben Saales von laut aufbegehrenden und
unzufriedenen Leuten erfüllt, deren Heterogenität uns peinigt und verfolgt,
und die alle zusammen das große Tizianbild umlärmen? Auf meinem Wege zu den
Rembrandts fesselte mich ein Gemälde durch den klangvollen, durchdringenden
Reiz des Kolorits. Als ich aber auf dem Rückwege an diesem selben Bilde
wieder vorbeiging, zog es sich bei seinem Anblick -- ich übertreibe nicht
-- wie ein eiserner Ring um meine Schläfen, von nahezu unerträglicher
Erschöpfung und Qual. Wahrlich! dachte ich, die Musik ist eine stillere
Kunst als die Malerei.

Um aber auf Berlin zurückzukommen: als am siebenten Tage der Zweck meines
Aufenthaltes erreicht schien, reiste ich am nächsten Morgen wieder ab. Zwar
wurde mir von allen Seiten und überall auf Grund meines Behagens an Berlin
lebhaft davon abgeraten. Aber hierüber, schien mir, mußte ich doch selbst
am besten Bescheid wissen und packte unbeirrt meine Sachen. Zwar fand ich
Berlin nicht mehr so häßlich, wie bei meiner Ankunft, eine »jolie laide«
vielmehr, mit fesselnden Einzelheiten.

Am Morgen meiner Abreise fuhr ich in einer offenen Droschke und bei dichtem
Nebel noch einmal um den Schloßplatz, durch die Linden, die Wilhelmstraße,
Leipziger- und Friedrichstraße, und dachte: »Berlin ist doch spannend!«
Deutlich war jetzt der Wunsch in mir aufgestiegen, es besser kennen zu
lernen, als mir der vorgerückte Zeiger einer Riesenuhr ins Auge fiel und
zugleich an einer Straßenecke ein Zeichen trübseliger Vorbedeutung, das,
wie meiner harrend, stille stand. Nicht länger spendete ich da mehr nach
rechts und nach links halb gleichgültige, halb neugierige Blicke des
Abschieds. Was konnte es an diesem Morgen Verdrießlicheres für mich geben,
als meinen Zug zu versäumen, nachdem ich eigens deshalb so früh
aufgestanden war? Ich trieb den Kutscher zur Eile an, stürmte zehn Minuten
später die Treppen des Bahnhofs hinauf, lief zum Gepäckschalter, flog durch
den Perron. Kaum war ich eingestiegen, als der Zug sich in Bewegung setzte
und ich in meiner glücklich eroberten Waggonecke zufrieden einschlief.

Und dann kam das Erwachen, das eine unvermittelte und grenzenlose
Deprimiertheit wie mit dumpfen Stößen begleitete. Draußen starrte ein
totes, träges, grelles Mittaglicht wie ein Abglanz des unerhörten
Katzenjammers, der mich bedrückte. Es war doch gestern so gut wie
ausgemacht, daß ich um diese Stunde nach Charlottenburg fahren und dann in
ein Konzert gehen würde. Und abends wollte ich die Oper von Nicolai hören.
Warum in aller Welt war ich denn fortgefahren? Ich konnte den Grund nicht
finden. Es mußte irrtümlich geschehen sein, weil ich nicht wußte, daß ich
noch bleiben wollte. Ich wußte nur, was ich _jetzt_ vergebens wollte! Mit
welchem Ungestüm ich die Lokomotive an das andere Ende des Zuges wünschte,
und daß sie mich wieder nach Berlin zurückbrächte!

Und ich erwachte ganz.

Eine dumpfe, trübe Hitze erfüllte das Coupé. Ich stand auf, um das Fenster
einen Augenblick zu öffnen. Aber mein Gegenüber, ein mächtiger,
breitschulteriger Herr, sah mir, ohne sich zu rühren, mit solcher Empörung
zu, daß ich es aufgab, weil der Gedanke, ihn auch noch sprechen zu hören,
unerträglich war. Oh, wie mußte der seinen Enkelkindern imponieren und
seiner Schwiegertochter auf die Nerven gehen! Und ich sank zurück. Aber die
Reue, der leidenschaftliche Ärger über meine unbedachte und sinnlose
Übereilung, brach mit der Gewalt jener unvorhergesehenen Stürme über mich
herein, wie sie über Nacht, zur Zeit der Äquinoktien, Kamine wegreißen, und
Steine und Ziegeln von den Dächern schleudern. Wie verträumt rauschte der
Zug durch das winterliche Land, während ich unbeweglich in meiner Ecke saß.
»Komm,« sagte ich zu mir selbst, »dies ist alles nur eine ganz abnorme
Übermüdung.« -- Meine Hände lagen mutlos ineinander, meine Arme waren wie
mit Gewichten behängt, an meinem Herzen hing ein großer Stein, und ein
anderer saß mir auf dem Kopfe wie ein Helm. Es war lächerlich. Es konnte
nicht sein. »Trink eine Tasse Kaffee,« schlug ich vor. »Sieh nur, wie müde
du bist!« fuhr ich ermunternd zu mir fort, als ich im Speisewagen mit
zitternden Knien und mit aufgestützten Armen vor meinem Tischchen saß und
das öde Licht, das durch die angehauchten Scheiben fiel, meine Bitterkeit
noch erhöhte. Warum hatte ich nur so eilig Reißaus genommen? Es lohnte sich
doch wahrlich, Berlin besser kennen zu lernen! Warum aber denn _jetzt_ eine
so ungestüme und überspannte Betrübnis? Es wurde mir immer heißer zumute,
und der fade Kaffeegeruch machte mich vollends untröstlich. Ich kehrte also
wieder auf meinen Platz zurück, zog den Vorhang zu, den Hut tiefer ins
Gesicht, und wie nach dem Sturme der Regen einsetzt, so drängten da die
ungeheuerlichen Wolken, die mein Gemüt umlagerten, leise, langsam und
unaufhörlich, nach Art der Landregen sich zu lösen. Es war viel besser, daß
ich mir's eingestand: der vorschnelle Abschied von Berlin machte mir eben
Beschwerden. Aber wie? Was lag mir dort am Herzen?

Ich habe jedoch schon öfters erfahren, daß persönliche Momente für unsere
Abneigung oder unsere Vorliebe für einen Ort keine, oder nur eine relative
Rolle spielen. Und ich kann mir nicht helfen: meine Eindrücke großer Städte
verdichten sich zu einem gewiß anthropomorphen Bilde, wie es uns in der
Karikatur etwa die Münchner Bavaria entgegenhält. Eine Stadt oder eine
Landschaft aufzusuchen, um dort Erinnerungen nachzuhängen, stelle ich mir
deshalb als ein höchst unerfreuliches Experiment von ganz besonders öder
und ausgeblasener Wirkung vor. Denn der Dämon eines Ortes ist viel zu stark
für die einzelne Psyche.

Daß ich mich aber durch jenen einen proletarischen Zug in der Physiognomie
der Jolie Laide in meinen wirklichen Eindrücken so hatte täuschen lassen,
und, während die Schärfe ihrer intellektuellen Aura mich hinriß, immer noch
der Meinung war, daß sie mich nur abstieß? -- Seit einer Woche ganz von ihr
eingenommen und mit ihr beschäftigt, wollte ich alles kennen lernen und mir
nichts entgehen lassen, jeder Einladung Folge leisten, auch wenn sie mit
einer anderen kollidierte, um dann, wenn auch nur für einen Akt, schnell
noch ein entlegenes Theater zu besuchen. Zwischendrin aber, sobald ich
allein war, in der Droschke, der Hochbahn, oder während einer musikalischen
Soiree, zog ich unverzüglich, wie aus einer geistigen Schublade, die
Schlußseiten einer Arbeit hervor, die vor meiner Abreise fertig werden
mußte, korrigierte und glättete daran herum, suchte fortgesetzt nach neuen
Satzstellungen und Worten, und fand niemals Zeit, mich auf mich selber zu
besinnen.

So war ich in meinem Element, und glücklich gewesen, ohne es zu wissen.
Denn die Wagschale des eigenen Ichs, aller Gewichte persönlicher Bezugnahme
ledig, war seltsam erleichtert aufgestiegen.

Ich merkte nicht, wie sehr mich hier alles Nüchterne oder Geschmacklose
verdroß, welche Genugtuung mir alles Schöne, Hervorragende oder Bedeutende
gewährte. Ich wußte erst, nachdem ich Berlin verließ, mit welcher
Anteilnahme ich es betrachtet hatte.

Wie leicht beschlich mich sonst inmitten einer neuen Umgebung ein Gefühl
der Isolierung, kalt und leise wie ein Gift! Nichts wirft uns ja so sehr
auf uns selbst zurück, als das Gefühl oder das Bewußtsein, oder die Idee,
unrichtig taxiert, sei es nun überschätzt oder verkannt zu werden. Diesen
Berlinern aber, die mir in mancher Hinsicht viel fremder waren als Londoner
oder Pariser, schien ich eine längst bekannte Nummer, und so half alles
zusammen, daß ich mir selbst gänzlich in Vergessenheit geriet.

Aber derselbe Schwung, der mein Auffassungsvermögen mit so ungewohnter
Schärfe nach außen wandte, währenddem er mein Bewußtsein gewissermaßen
ausschaltete, stürzte mich zuletzt vor lauter Elastizität blindlings in
diesen Zug.

Das Spiel war zu Ende, und der Gummiball lag im Graben.


                                 VII.

Ein von langer, gefahrvoller Reise eben zurückgekehrter Marineoffizier, den
ich in Rom in einer Gesellschaft traf, sagte mir, es berühre ihn komisch,
wieder in einem Salon zu sein; der Kontrast sei noch zu heftig, er verspüre
da etwas wie Seekrankheit und müsse sich erst wieder zurechtfinden.

Ich begriff das recht gut. Dicht neben uns redeten zwei Diplomatenfrauen,
eine griechische und eine brasilianische, im kreischenden Französisch
lebhaft aufeinander ein. In ihrer Ahnungslosigkeit lag ein so gewichtiges
Etwas, daß sie das gleichzeitige Vorhandensein auf der Welt von solchen
Dingen wie Urwäldern, wilden Völkerstämmen und Papageien auszuscheiden und
doch a tempo daran zu erinnern schienen. Wohl mochte da das Gemüt eines
soweit Heimgekehrten ins Schaukeln geraten.

Ach! man braucht kein Weltumsegler zu sein; es genügt, ein bißchen Umschau
in den europäischen Städten zu halten, um bei der Rückkehr in die eigene,
ich will nicht sagen das Lachen (ohne eine gewisse Verdrossenheit geht die
Einsicht nicht her), aber -- schmunzeln zu lernen.

Wie kurzweilig ist ein Snobismus, der uns nicht anficht! Wahrzunehmen, in
welch charakteristischen Prägungen, mit welcher Bestimmtheit und wie starr
er überall mit ganz verschiedenen Wertungen sich behauptet. -- Ich wüßte
nichts, was einen vom Snobismus gründlicher kurieren könnte, wie das
Reisen.

Als einmal die Rede auf gesellschaftliche Vorurteile fiel (es war in
London), fragte ich: »Und wie steht es hier mit den Juden?« »Oh we love
them!« rief die Frau des Hauses, die eine sehr große Dame war; »they are so
nice and rich!«

Nie und nimmer hätte sie geduldet, daß sich ihre Nichte mit einem Arzt
verheirate; als dann ein reicher Brauer um sie freite, war von Mesalliance
durchaus nicht mehr die Rede.

Es ist wahr, daß Bildung und Wissen nirgends so tief im Kurse stehen, wie
bei den vornehmen Engländern. Aber man übersieht, daß ihre oft sehr krasse
Unwissenheit keine ganz ungewollte ist. Sie sind so zivilisiert, daß sie
glauben, der Bildung entraten zu dürfen: »It is not smart to be clever«,
wurde mir in London allen Ernstes gesagt.

Ich traf dort öfters die schöne Lady Beatrix. Wer die Geste sah, mit der
sie beim Tanz die Schleppe warf, der vergaß zur Stelle alle unschönen und
traurigen Seiten des Lebens. Von einem ihrer Hüte sehr hingerissen, sagte
ich ihr eines Tages, daß keine Frau in London deren so viele und so
reizende besaß. -- Tief errötend mit einem empörten Blick und ohne mich
einer Antwort zu würdigen, starrte sie mich an.

Was hatte die schöne Lady gekränkt?

Es trifft sich, wie ganz London weiß, -- teilte mir im korrektesten Tone
einer ihrer Freunde mit, -- daß Lady Beatrix infolge ihrer zerrütteten Lage
als Essayeuse in einem Hutgeschäft steht. Die hohe Bezahlung, die sie dafür
erhält, ermöglicht ihr die Aufrechterhaltung ihrer Stellung.

Es klang wie ein schlechter Witz. Lady Beatrix Hutmamsell, um ihr
gesellschaftliches Prestige nicht zu verlieren.

»Hat sie denn nichts gelernt?« rief ich bestürzt.

Ihr Verehrer sah mich kalt an. »Sie können Lady Beatrix doch nicht zumuten,
etwa Gouvernante zu werden,« sagte er. Ich besann mich; und mit einem Male
fand ich es entschieden geistreich, daß Londons beste Gesellschaft dies
Mädchen mit so großer Auszeichnung empfing. Der Boden eines Salons hatte
sich -- wenn man will -- gesenkt, jedenfalls verschoben, und seine
Anforderungen waren andere geworden. So rückständig war man nur noch bei
uns zu Lande, daß man einen Salon im Sinn des 18. Jahrhunderts sich
erträumte; ein solcher bringt es höchstens auf einen Jahrgang, und einen
Succès de ridicule.

Denn wir betreten ihn heute, wie wir ein Eisenbahncoupé besteigen: mit
Zurücklassung alles Gepäcks, höchstens mit einer kleinen Handtasche
ausgerüstet. So lassen wir auch unser bagage intellectuel im Vorraum bei
unseren Mänteln hängen: nur leichter Stücke, wie Schlagfertigkeit oder
Witz, bedürfen wir hier. Was wir denken, wollen wir jetzt vergessen, und
ausschalten, was wir wissen. Ein Salon will keine Steigerung mehr, nur eine
Ablenkung vom Leben sein. Uns ist wohl, wenn nur die Lüge glücklich
vertreten bleibt, wenn nur unsere Augen, unsere Sinne einen Moment der
Täuschung sich hingeben können, daß unser Leben etwas Heiteres sei.

Man trifft in London und Paris und auch in Rom sehr geistreiche Leute in
Gesellschaft: der Schein ist eben für die ganz Ernsten wie für die
Gedankenlosen; den einen ist er Element, den anderen ein Verweilen. Der
heutige Salon zerfällt in Bühne und Zuschauerraum -- ungleich dem Leben, in
dem Kluge wie Toren -- und zwar zusammen -- mitspielen müssen. Dort
hingegen kann die schönste Teilung vor sich gehen: je großartiger aber der
Schein, je stärker die Illusion, umso gewählter natürlich das Publikum.

Ich eile zur Pointe. -- In unseren Salons stehen noch allzuhäufig -- statt
der Kulissen -- alle Türen nach der Wirklichkeit offen, -- oder doch
angelehnt. Unsere Frauen sind allzu wahrhaft: der einen spricht die Sorge
um ihre Kinder, oder die Mißvergnügtheit, oder die Literatur, oder gar die
Schlichtheit ihrer Verhältnisse allzu deutlich aus Ton und Blick.

Wenn ich da an Lady Beatrix denke, erscheint sie mir wie ein ideales
Standbild -- ich sage nicht des Lebens --, wohl aber des heutigen Salons.
Statt Banalitäten über hohe Themen sagte sie geistreiche Dinge über dumme
Sachen. Und wie verriet sie doch mit keiner Miene die innere Zerworfenheit
mit ihrem Schicksal.

Obwohl ich es noch nicht verlauten hörte, kann ich mir nicht denken, daß es
nicht schon oft gesagt wurde, so sehr sticht es ins Auge: das Erbe der
Griechen haben Deutsche und Engländer unter sich geteilt. Wir setzten es in
unsere Gedankenwelt, und sie ins äußere Leben um. So ist Halbheit überall.
Il ne nous manque que la grâce. Es ist das ganze Geheimnis unserer
Unpopularität.

                                                  Neue Rundschau 1908.




                               BEI TAINE


Statt über das Werk den Meister zu vergessen, geht es mir oft umgekehrt.
Jeder hat seine Manier, und es fruchtet nichts, es anderen nachzutun. Als
ich aber das erstemal einem bedeutenden Manne gegenüberstand, spielte sie
mir einen recht schlechten Streich.

Kaum erwachsen, war ich in Paris bei Taine eingeführt worden. Er wohnte in
der Rue Cassette Nr. 23, einer stillen Straße am linken Seineufer. Dorthin
wanderten an Dienstagen -- dem Tage, an dem Taines empfingen -- Gelehrte,
Künstler, einheimische und durchreisende Sommitäten. Die Wohnung selbst war
ohne Prunk; nichts wehte hier von wortfroher, pariserischer Eleganz, zumal
die Boulevards schienen meilenweit von diesen ernsten, hohen Räumen
entfernt, in welchen Taine, der Feind der Phrase, mit mehr Güte und
Gelassenheit als Neugier seine Besucher empfing. Ich beobachtete ihn von
ferne, wie er zwischen Arvéde Barine und Ferdinand Fabre aufmerksam, aber
mehr rege als lebhaft, bald dem einen, bald dem anderen zugewandt saß.
Trotz seiner weißen Haare und seines wenig robusten Aussehens machte der
70jährige nicht den Eindruck eines alten Mannes.

Als pilgernde Törin stand ich indessen gottverlassen und grenzenlos
verschüchtert inmitten des Salons, als Taine plötzlich auf mich zukam. Mit
einem großen Ruck hielt da mein Herz alsbald zu schlagen inne. Mein Gott!
dachte ich erschrocken, da ist er ja! Taine begann nun ein Gespräch oder,
besser gesagt, einen Monolog, denn ich entgegnete kein Wort. Den Blick
unverwandt auf ihn gerichtet, gedachte ich, alles, was er sagte, mir getreu
zu merken, wohl bewußt, daß eine solche Gelegenheit sich mir nie wieder
bieten würde. Taines stilles, blasses, duldendes Gesicht, das in der
Jugend, am Mittag seines Lebens, häßlich gewesen sein mochte, war im Alter
schön. Wir sehen im Scheine einer verglühenden Sonne rauhe Bergesfurchen
zart und träumerisch ermatten. So kann das sinkende Licht eines bedeutsamen
und wertvollen Lebens Schatten von zauberhafter Anmut in ein Antlitz
graben. Zwar spiegelte sich nur Mühsal, nichts in diesen erschöpften Zügen
gemahnte an die Freude. Dennoch schwebte mir dies Leben wie ein voller
begehrenswerter Becher vor, nach dem ich dürstend die Hand ausstreckte. Und
zerbrochen, leer, glitt da mein eigenes zu Boden.

Taine sprach lange, wie gewohnheitsgemäß nachdenklich und konzentriert,
während ich ihn schweigend und unbeweglich ansah. Doch als er innehielt,
erfaßte mich größte Reue und Bestürzung. Denn ich gewahrte -- jetzt erst
--, daß seine Worte, die meinem Gedächtnis zeitlebens nicht entfallen
sollten, -- gänzlich an mir vorbeigeklungen waren, und daß ich keine Silbe
davon vernommen, geschweige denn behalten würde. Der Eindruck seiner
Persönlichkeit war zu überraschend gewesen; er hatte die Fähigkeit, auf
seine Worte aufzumerken, in mir wie ausgeschaltet und betäubt. Taine
selbst, seinen Gedanken nachhängend, mochte meine innere Fassungslosigkeit
so wenig bemerkt haben, wie die Betretenheit, mit der ich ihn verließ. --
Ihn wieder zu sehen, sollte mir nicht vergönnt sein, und schon das Jahr
darauf drang die Kunde seines Todes nach Deutschland. Da war es einer
seiner Schüler, der mir von der Schwermut, den inneren Kämpfen erzählte,
durch welche Taines Lebensabend so schwere Trübungen erfuhr, weil der
Glaube an das System, auf welches er einst mit so fester Überzeugung seine
Weltanschauung gründete, in ihm erschüttert war. Daß er selbst am Ende sein
Tagewerk so kritisch überschaute, von seinen eigenen Zweifeln zu vernehmen,
berührte mich seltsam, fast wie eine Kunde. Ich sah ihn wieder vor mir --
gesenkten, duldenden Angesichts, wie am Tage jenes verlorenen und doch so
unvergeßlichen Gespräches; und mein damaliges Verhalten, der Überschwang
meines Eindruckes wollte mir nicht mehr in demselben Maße töricht und
unverantwortlich erscheinen. Ich weiß: ein so gesteigerter Heroenkult gilt
nicht für abgeklärt. Es wird uns bei sehr vortrefflichen Menschen begegnen
-- (ja gerade von solchen, welche ihr Leben der Erhaltung, dem Gedeihen
oder dem Fortschritt der Menschheit widmen: von Ärzten, Gelehrten,
Forschern) --, daß sie der Meinung sind, der Mensch nehme sich selber
allzuwichtig. Aber so berechtigt sie auch klingt, daß ein Philosoph sich
rückhaltlos zu dieser Anschauung bekennt, werden wir nicht erfahren; nicht
etwa, weil er hier gravitätischer zu Werke geht, sondern lediglich deshalb,
weil sie keine philosophische ist.

Je typischer freilich oder je vollendeter ein Mensch, desto unvollkommener
vermag sein Dasein die Fülle seines Wesens auszulösen. In dem Maß ist er ja
verehrungswürdig, als er die eigenen Unzulänglichkeiten, die
Unzulänglichkeit des Lebens überbietet.

»Ich sehne mich recht von hier weg,« schrieb Goethe am 2. Juli 1781 an Frau
v. Stein, »die Geister der alten Zeiten lassen mir hier keine frohe Stunde;
ich habe keinen Berg besteigen mögen, die unangenehmen Erinnerungen haben
alles befleckt. Wie gut ist's, daß der Mensch sterbe, um nur die Eindrücke
auszulöschen und gebadet wieder zu kommen!«

Übrigens fand mein Besuch bei Taine noch am selben Abend ein komisches
Nachspiel. Von der Rue Cassette aus eilte ich nämlich nach der Rue de
Verneuil. Damals setzte gerade meine Geselligkeitsphase ein, und neue
Menschen interessierten mich noch namenlos. So betrat ich denn sehr
verspätet und als ahnungsloser Neuling einen, trotz provinzialen Einschlags
sehr typischen Salon des Faubourg. »Ich komme von Taine,« verkündete ich
gleich beim Eintritt, teils um mein spätes Erscheinen zu begründen, teils
um mir bei dem Anblick einer sehr zahlreichen und fast gänzlich fremden
Gesellschaft eine Contenance zu geben. Die Mitteilung schien jedoch
keinerlei Echo hervorzurufen. Daraus schloß ich, sie sei überhört worden,
und fing also noch einmal an, ich sei bei Taine gewesen und käme geradewegs
von ihm. Jetzt unterbrach mich aber eine alte, wundervoll frisierte Dame.
»Vous en êtes fière?« sagte sie und fixierte mich mit großen, wie
absichtlich ausdruckslosen Augen: »Eh bien, ma bonne petite, pour nous
c'est le diable«.

                                          Münchner Neueste Nachrichten
                                                                 1905.




                      RANDGLOSSE ZUR PSYCHOLOGIE
                             DER NATIONEN.


Es ist nicht anders: eine Nation fällt meist unter dieselben Gesichtspunkte
wie der einzelne Mensch, der, je nachdem seine Licht- oder Schattenseiten
hervortreten oder ins Auge gefaßt werden, uns höchst liebenswert erscheinen
kann, oder höchst wert, daß er zu Grunde geht.

Und wo wäre heute die Nation, an der nicht hassenswerte Züge hafteten?

Ich gedenke eines dreitägigen Aufenthaltes in einer englischen Pension in
Florenz, mit 45 englischen Spinsters. -- In ihrer Haltung, ihren
Ellenbogen, ihren fantasielosen Fingerknöcheln, dem Behagen und der
Gravität, mit der sie ihren Afternoon-Tea ins Auge faßten, ihre Bröter
bestrichen und über Italian Art verhandelten, feierte die englische
Borniertheit wahre Orgien. Man glaubte eine weit vorgeschrittene Tumeur
Nationale vor sich zu haben; und es war erdrückend, ja, es war fast
spukhaft, so wenig existenzberechtigt und zugleich so lady-like zu sein!

Einige Tage später hatte ich das Mißgeschick, in Rom einer Aufführung des
Tristan beizuwohnen. Der Dirigent, der das Hornsolo am Schlusse der
Introduktion zum III. Akt als weinerliche Berceuse auffaßte, konnte sich an
seinen falschen Betonungen nimmer satt hören und zog und dehnte sie mit
wahrer Wonne immer mehr hinaus. Und als dies überstanden war, erlebte man
einen, jenem Hornsolo entsprechenden, als männliche Cameliendame
dahingestreckten Tristan.

Ganze Scharen hochfahrender Betrachtungen und Vergleiche drangen da
unwillkürlich auf mich ein; und meine Blicke schweiften im Hause umher, wie
um ein deutsches Wesen ausfindig zu machen und einen verständnisvollen
Salut mit ihm zu wechseln. Denn was hatten wir für Orchester, was hatten
wir für eine Auffassung, und überhaupt, was waren wir für Leute!

Allein errötend erkannte ich da gleich in meiner nächsten Nähe -- in einem
Aufzug, der meine nationale Eitelkeit auf das Empfindlichste verletzte, --
eine deutsche Familie. Und dabei mußte ich mir zugestehen, daß diese Leute
sich ebenso unverkennbar als Deutsche, wie die Spinsters der Florenzer
Pension auf den ersten Blick als Britinnen sich verrieten. --

Es ist ja stets eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Dingen, aus welchen
sich in der Physiognomie einer Nation das Charakteristische gewisser
einheitlicher Züge zusammenstellt. Der Schwerpunkt solcher Probleme liegt
denn auch in ihren Beziehungen, so daß wir einer Lösung näher schreiten, je
synthetischer wir hier verfahren; doch sind es Beziehungen, an welchen nur
zu oft, durch die geringe Sichtung, welche sie bisher erfuhren, der Schein
des Unzusammenhängenden haftet.

Unvermittelt erregten in mir jene deutschen Touristen lebhafte
Betrachtungen über die Reformation. Und weil die Größe der Gesinnung zwar
die persönliche Verantwortung, doch keine Konsequenzen deckt, erschien mir
Luther als eine tragische, doch höchst unpolitische Gestalt; der Kahlheit
wegen, die sich im Lauf der Zeiten in den Lutherischen Protestantismus
schlich; denn es liegt seiner unkatholischen Färbung ein unkünstlerisches
Element zu Grunde, vor dem sich zwar der deutsche Geist schadlos halten
konnte, das deutsche Naturell aber nicht ohne bedenkliche Einbuße blieb. Im
katholischen wie im protestantischen Deutschen ist heute der katholische
Zug zur Temperamentssache geworden: der Lutherische Protestantismus ist
einmal nichts fürs Auge!

                                                Zeitler Almanach 1907.




                               CAMBRIDGE


Bevor ich England verließ, wollte ich noch Cambridge »mitnehmen«; der
Ausdruck ist nicht mehr trivial, wenn man ihn bedenkt. Denn tatsächlich
»besitzen« wir die Städte, die wir sahen, und merken nachträglich -- an der
Bereicherung -- welche Lücke es gewesen ist, das Kennenswerte nicht zu
kennen.

So ist man über das konservativste aller Länder noch im Unklaren, bevor man
in Oxford und in Cambridge einen Blick in die große Werkstatt warf, in der
seit Jahrhunderten der Gentleman in seinem scharfen Gegensatz zum
Nicht-Gentleman sozusagen fabriziert wird. Man sieht die ungeheure
Wichtigkeit, welche dem englischen »student« zuerkannt wird, wobei man
freilich seine Stellung als künftigen Herrn mehr denn als gegenwärtiger
Studiosus im Auge hat.

Sonst ein gutmütiges Geschöpf, lernte ich erst in Oxford und vielleicht
noch stärker in Cambridge die peinvollen Empfindungen erfahren, welche der
Neid auszulösen imstande ist. Und auch ein Wunsch, den ich noch nirgends
hegte, stieg hier in mir auf: noch einmal zur Welt zu kommen, um an diesem
beschaulichen Ort das dem Alltag so entrückte, so vollkommen unreale Dasein
der englischen Jünglinge zu führen.

Wir haben ja alle Stunden, sagen wir an trüben November- oder
Februarnachmittagen, wenn das Tageslicht am schalsten ist, wo uns der ganze
Aufwand unseres Lebens, und die Vergünstigung, ein Weilchen in dieser
fragwürdigen Welt einherzuwandeln, ein bißchen überfordert scheinen will,
-- Stunden, in welchen wir uns versucht fühlen, jenem früh blasierten
Engländer zuzustimmen, der sich eines Tages dem ganzen Turnus unseres
Tageslaufes empfahl, indem er sich eine Kugel durch den Kopf schoß, einen
lakonischen Zettel zurücklassend, auf welchem als Motivierung seiner Tat
die Worte standen: »Tired of buttoning and unbuttoning.«

In Cambridge aber hat keine Jahres- noch Tageszeit etwas von jenem
bedrohlichen Licht. Nirgends stellt sich das menschliche Leben so von Grund
auf bejahenswert und würdig dar, wie in dieser Adolescentenstadt.
Jahreszahlen stimmen hier nicht mehr, und in der Verwirrung, in die hier
die Zeit geraten ist, liegt aller Zauber. Es ist als hielte sie hier inne,
als fluteten ihre Wellen hier nicht in die Vergessenheit hinüber. Die
grasigen Höfe der Colleges haben etwas Verhaltenes; in dem Zwielicht, das
hier die Gegenwart tönt, fließen seltsame Schatten ineinander. Das
Vergängliche wird fraglich, Vergangenes ist zugegen, und das Leben
ephemärer als der Tod.

Der Professor, der uns auf der Bahn in einer weiten Toga und einer
mittelalterlichen, mit Quasten und Troddeln behangenen Kappe
entgegenwallte, schien geradeswegs von der Augsburger Confession zu kommen,
und die »Kutsche«, in welcher er uns nun über das schlechte, ungeebnete
Pflaster poltern ließ, war aus Thackerays Jugendjahren. Aber die Schar
junger Leute, die in Fläusen und Tuniken über die Straße ziehen,
verwunderten mich nicht. Ein Falke an der Hand jenes halbwüchsigen Knaben
mit dem nach Pagenart übergeworfenen Mäntelchen hätte mich kaum befremdet.

Den Verdacht, daß sich hier die Jugend beim Studium nicht übermäßig
anstrengt, schöpft man in Cambridge sehr bald. Wer da am schönsten lernt,
das sind die Lehrer. Vielleicht ist dies auch wichtiger. Daß die Jungen
weiter lernen sofern sie lernbegierig sind, versteht sich von selbst, und
sie werden nicht Mangel finden sich zu bilden. Die Gefahr hienieden ist
ausgelernt zu haben. In dem regen Kontakt jedoch, in den hier die Meister
mit den Schülern treten, ist die Lücke für den Gelehrtendünkel überbrückt.
Und liegt nicht die meiste Bereicherung in dem, was der schon Erfahrene
hinzulernt? Nichts ist charakteristischer für ihn selbst wie seine
Beobachtungen über eine Generation, die nicht mehr die seine ist; nichts
ist für die Nachwelt interessanter wie die Schlüsse, die er daraus zieht,
und die Prognose, die er zurückläßt.

Ach mein Gott! wir haben doch in Europa eine gemeinsame Architektur, und
alte Abteien, gotische Kirchen stehen an der Donau wie an der Themse und
der Loire. Man lernte dasselbe in Cambridge, Bologna oder Salamanca, und
schon in altersgrauen Zeiten zog ein Studiosus gern von einer Universität
zur anderen, um sich mit seinem Wissen zugleich Kenntnisse von Ländern und
Leuten zu erwerben. Wie kommt es nur, daß bei einem so regen Kontakt der
verschiedenen Bildungszentren ein Collegeleben wie das in Cambridge und
Oxford nicht Schule machte, und man Engländer sein mußte, um eine so
traumhafte Existenz führen zu dürfen. Klöster nach einem und demselben Typ
verbreiteten sich doch in der ganzen abendländischen Welt, und nur ein
solches Ideal zwanglosen Zusammenlebens wurde andernorts nicht nachgeahmt
und blieb das köstliche Privilegium von Cambridge und Oxford, wie die
Gondel das Eigentum von Venedig.

So komme ich denn auf jene Empfindungen des Neides zurück, deren ich schon
gedachte -- denn es war Neid, der mich bewegte, als ich mich in den großen
Clubräumen umsah und in dem Saale stand, in welchem das Parlament der
Cambridger Students tagt, die sich hier in der Kunst des Redens
heranbilden, wie ihnen innerhalb des prachtvollen Rahmens, der ihnen hier
gewährt ist, die Kunst zu leben zur Natur wird.

Als wir dem Flüßchen entlang gingen, hatte sich das Grün der weiten
Rasenflächen schon ins Bläuliche vertieft, und mit einem Male war alles
Mittelalter wie ein goldener Staub verflogen; an noch viel fernere Gestade
sah man sich hinversetzt. Diese Jünglinge, die rudernd oder in ihren Booten
zurückgelehnt oder im Grase sitzend dem Spiel der anderen zusahen, sind wie
lebendige Statuen anzusehen, und tragen sich so edel, ob sie nun frei in
ihren kleinen »canoes« stehen oder an einem Baumstumpf lehnen, als hätte
ein großer Meister, der ihr Bild in Marmor festhalten wollte, sie soeben so
gestellt und ihnen eben diese Haltung verliehen.

                                          Münchner Neueste Nachrichten
                                                         6. Juni 1913.




                          TRAUM UND HELLSEHEN


Aber das weiß ich, solche Träume soll man nicht gering achten. Sieh, ich
denke mir das so. Wenn der Mensch im Schlafe liegt, aufgelöst, nicht mehr
zusammengehalten durch das Bewußtsein seiner selbst, dann verdrängt ein
Gefühl der Zukunft alle Gedanken und Bilder der Gegenwart, und die Dinge,
die kommen sollen, gleiten als Schatten durch die Seele, vorbereitend,
warnend, tröstend. Daher kommt's, daß uns so selten oder nie etwas wahrhaft
überrascht, daß wir auf das Gute schon lange vorher so zuversichtlich
hoffen, und vor jedem Übel unwillkürlich zittern. Oft habe ich gedacht, ob
der Mensch wohl auch noch kurz vor seinem Tode träumt.

                                                             (Hebbel.)

Eines Tages erhielt ich in der Münchner Staatsbibliothek ein Traumbuch aus
dem sechzehnten Jahrhundert zur Ansicht, und von der phantastisch reichen
Flora der höchst belebten, anschaulichen Bilder verlockt, verlor ich mich
darin wie in einem Zaubergarten. Auf Träume zu merken, war mir zwar bisher
nie eingefallen, allein mich reizte die Poesie, die Schlagfertigkeit,
welche hier fast jeder Deutung etwas Prägnantes oder Überzeugendes lieh.
Der Mond, die Sonnenblume, die entfaltete wie die knospende Rose, Wind und
Welle, hier schien alles zu einer zeit- und raumlosen, und doch so
farbenfrohen Welt sich noch einmal zu fügen. Selbst das Leblose leuchtete
da -- als wie in Gold gefaßt -- noch einmal auf; als ob jedes Ding, kraft
eines geheimnisvollen inneren Lichtes, noch eine Art geistigen Schattens
würfe. So entzückte es mich, von einer Deutung des Geißblattes, der
Zuckererbse, der Nachtigall zu lesen, und eine Reihe von Auslegungen
frappierte mich oder gefiel mir derart, daß ich sie auf der Stelle
notierte.

Es kam, was kommen mußte; ich fing unwillkürlich mit meinen Träumen zu
experimentieren an, und indem ich sie mir des Morgens ins Gedächtnis rief
und die interessanten in nur mir verständlichen Hieroglyphen verzeichnete,
entstand eine Art von Buchführung, die manchem gewiß sehr töricht
erscheinen wird. (Aber offen gesagt, seitdem das Gescheitsein so in die
Mode gekommen ist, daß ein jeder dafür gelten will, hält man es manchmal
lieber mit den Dummen.) Meine Angewöhnung hatte also zur Folge, daß sich
nach einigen Jahren ein sechster Sinn: ein Traumsinn ganz von selbst in mir
entwickelte. Und da ergab es sich denn: 1. daß die ungeheure Heerschar der
Träume -- der Traum des Darius steht hierfür als der eigentliche klassische
Typ -- ihrer Natur nach nichts anderes als leere Trugbilder sind, 2. aber
daß _Zeichen_, ob sie uns zwar gleich den Träumen zum besten halten und in
die Irre führen können, uns nie eigentlich belügen. Was unter diesen
Zeichen zu verstehen ist, läßt sich wohl nur durch Beispiele erläutern.

Ich ging eines Tages die Theatinerstraße entlang, spazierte langsam vor mir
her, hielt mich auf der Sonnenseite und ließ mich bescheinen. Ecke der
Ludwigstraße begegnete mir einer meiner Freunde. Die Straße lag leer vor
uns und das Wetter war heiß. Eine Strecke begleitete er mich und sprach von
seiner bevorstehenden Reise, dann gingen wir auseinander. Nun war ich
gerade auf dem Wege zu Habermann's Atelier, der mein Bild unternommen
hatte, und langte von dem Weg in der Sonnenhitze ziemlich erschöpft bei ihm
an. Als es an die Sitzung gehen sollte, klopfte es, und Habermann wurde
hinausgerufen. Indes lehnte ich nochmals in meinem Sessel zurück, und, von
dem scharfen Nordlicht geblendet, schloß ich die Augen.

Als ich sie öffnete, mochte kaum eine halbe Minute verstrichen sein; der
Zeiger an der Uhr hatte sich nicht gerührt, und ich war noch allein. Jedoch
in dieser kurzen Spanne Zeit war ich dem Augenblick so weit vorausgeeilt,
daß ich mit Grauen in das Tageslicht starrte, als hätte es inzwischen
vorrücken und sich verändern sollen. Nichts mußte mir ja natürlicher
erscheinen, als daß mir die Gestalt des Freundes, den ich vorhin getroffen
hatte, wieder vorgeschwebt war; und dies umsomehr, als jeder Gedanke an
ihn, nachdem wir so flüchtig von einander schieden, mir unverzüglich
entfallen war. Ich hätte also dem Traum keinerlei Beachtung geschenkt, wäre
nicht das leidige, sinnlose Gelächter gewesen, das mich bei seinem Anblick
befiel. Ohne jeden Grund bog und wand ich mich nämlich in diesem Traume vor
Lachen, so zwar, daß ich zuletzt in gebückter Haltung mit den Armen an mich
hielt, wie einer, dem vor Lachen der Atem ausgeht. Dies Gelächter aber war
es, welches eine so tiefe Verstimmung, eine so öde Bangigkeit in mir
hervorrief, daß ich in diesem Augenblicke viel gegeben hätte, um diesen
Traum nur wieder ungeträumt zu wissen.

Der Sommer war längst vorüber, als die Nachricht von dem jähen und
grauenvollen Tode jenes Freundes in allen Blättern stand. -- Die Zeitung,
welche die Kunde enthielt, noch in der Hand, hörte ich von draußen eine
fröhliche Stimme, die nach mir rief, schnelle Schritte, die sich näherten,
und ein munteres Klopfen an meiner Türe. Ich war nicht in der Laune zu
öffnen, schob leise den Riegel vor und antwortete nicht; wagte aber dann
keinen Schritt von der Türe weg, um durch kein Geräusch meine Anwesenheit
zu verraten. Und plötzlich stand ich gebückt, mit gekreuzten Armen, um die
Seufzer zurückzuhalten, die mir die Nachricht eines so bedauernswerten
Todes entrang. Zugleich gemahnte es mich da an jenen vergessenen Traum, der
so düster, so unwiderruflich an mein Bewußtsein angeklungen hatte.

Dies eine Beispiel soll natürlich nichts beweisen. Infolge zahlreicher
Beobachtungen reizte es mich jedoch, das Spiel, oder wie man es nennen mag,
weiter zu betreiben, und zu merken, wie viel, zu merken, wie unsagbar wenig
Träume zu bedeuten haben; gleichen sie doch in der ungeheuren Mehrzahl von
Fällen den Rohabdrücken photographischer Platten die am Tageslicht noch
eine kurze Weile standhalten, um dann gänzlich zu verblassen; während die
seltenen Wachträume von einer so starken Atmosphäre umhüllt sind, daß sie,
dem Gehirn wie _eingeätzt_, vor dem wachen Bewußtsein fortbestehen, ja sich
eher noch verschärfen.

Um aber auf das zurückzukommen, was ich Zeichen nannte, so ließe sich sagen
-- -- -- daß uns für die Begebenheiten des täglichen Lebens ein heimlicher,
absolut zuverlässiger Nachrichtendienst zu Gebote stehen kann, eine Art
chiffrierter Telegramme, die uns sehr schnell geläufig werden, auch nicht
weiter aufregend, jedenfalls nicht zeitraubend sind; die Erfahrung lehrt
uns aber sehr bald, daß wir sie zu bescheinigen haben. Sie lehrt uns auch
alle Winkelzüge wahrzunehmen, welche im Traume zu unserer Belehrung oder
Mystifizierung geschehen. Dabei kam mir häufig der Verdacht, daß ein
solcher »Traumsinn« in jedem Menschen latent vorhanden sein müsse; hatte
ich ihn selbst doch nur durch Zufall in mir entdeckt und nur durch
Beobachtung in mir ausgebildet.

Wenn der skeptische Franzose sagt: La nuit porte conseil, und wenn wir nach
einer scheinbar traumlosen Nacht beim Erwachen nicht selten auf das
bestimmteste wissen, ob der gestern noch erwogene Entschluß auszuführen sei
oder nicht, so erlangten wir unsere plötzliche Einsicht doch nicht einfach
dadurch, daß wir inzwischen geschlafen haben, sondern weil ein Etwas, das
weidlich klüger als wir selbst und doch mit unserem Selbst aufs innigste
verwoben ist, während dieser zeitweiligen Ausschaltung unseres Bewußtseins
_überbieten_ durfte. Daher das dämonisch Überlegene, ungemein Witzige
mancher Traumweisen.

So ließe sich denn, falls unser Traumsinn ausgebildet ist, in der Tat
behaupten, daß wir in den Tiefen unseres Gemütes durch gute oder böse
Ereignisse nicht überrascht werden können, obwohl wir deshalb dem Leben
nicht um einen Grad weniger ahnungslos gegenüberstehen; denn die
Vorstellung erweist sich hier niemals als das Korrelat der Wirklichkeit und
sowohl für die Art, wie für die Zeit, in der das Schicksal an uns
herantreten wird, liegt es im Charakter des Traums, jede Andeutung zu
verweigern. So mag einer über Ziel und Ende seines Lebenslaufes mit Recht
sich orientiert glauben, unübersehbar dunkel liegt es dennoch vor ihm, und
nur für die Richtung seines Weges ist ein Kompaß in ihn gelegt. Seine
Träume nicht zu mißachten, kann daher wohl nur dem geistig Geschulten
förderlich sein, denn wenn sie ihn vielleicht vor einem unnützen Tappen im
Dunkeln, einer Untreue an sich selber bewahren, so wird er dabei nicht die
richtige Distanz zu derlei Dingen verlieren.

Ich möchte über das Hellsehen ein Wort sagen: Es mußte mich natürlich
interessieren, über diese Art des Schauens meine eigenen Eindrücke zu
gewinnen, ein Interesse, das allerdings sehr bald erlahmte. Eine Zeitlang
aber suchte ich jede Somnambule, die sich zufällig in meinem Bereich fand,
pflichtschuldigst auf und sammelte mir so ein ganz ansehnliches Material.
Nun ist mir keine, die sich ohne eine Spur von Begabung als solche
ausgegeben hätte, mithin keine absolute Schwindlerin begegnet -- enorm
geschwindelt haben sie dabei alle. Und ich wüßte nichts, was gerade der
ungebildeten Klasse füglicher untersagt werden könnte, nichts, was zugleich
unzweckmäßiger und gefährlicher für sie wäre, als das Konsultieren
derartiger Wesen. Der Wust von Bildern nämlich, den der in den
Trancezustand Versetzte schaut, kann mit dem Wust von Bildern, die vor dem
Träumenden vorüberziehen, insofern gut verglichen werden, als hier wie dort
die Dinge außerhalb ihres Zusammenhanges, ihres Rahmens, ihrer Kausalität,
mithin der Wirklichkeit entäußert sich darstellen. Daß hier der Unerfahrene
oder der Tor -- statt den Weizen von der Spreu zu lösen -- das Körnchen
Wahrheit, das er etwa hält, zur Ladung Unsinn häufen muß, ergibt sich von
selbst. Gesetzt, er vernimmt etwas sehr erstaunlich Zutreffendes, so wird
leicht in ihm die Vorstellung entstehen, als sei hier eine deutlichere,
eine geschärftere Sehkraft am Werke, während es mit dem Prozeß des
Hellsehens gerade umgekehrt beschaffen ist; es ist gleichsam, als würden
dem hellsehenden Individuum ein paar Nußschalen hart vor die Augen
gebunden; undurchdringliche Schalen, die eine winzige Spalte in sich
bergen. Durch diese nun gewahrt das seherische Auge aus Zeit und Raum
herausgegriffene Bilder, Punkte, die zufällig in seinen Gesichtskreis
fallen, was es da sieht, mag wahr sein, oder ist wahr; der Gran Wahrheit
aber, der hier erfaßt wird, verhält sich zur Wirklichkeit wie das Blatt zum
Baum, wie der Baum zum Wald. Der »ganze Schwindel« bei einem hellsehenden
Wesen von gewissenhaftester Ehrlichkeit bestünde ganz auf Seite dessen, der
sich das Geschaute mitteilen läßt, indem er nämlich dem wesenlos Geschauten
die -- meist beliebige -- Wesenheit aufoktroyiert.

Nehmen wir den Fall: Heinrich VIII., Catharina von Aragoniens müde und in
Anne Boleyn verliebt, hätte sich zu einer Hellseherin begeben. Aus einer
Flut verwirrter, unklarer Bilder wäre da etwa am deutlichsten das eines
schönen Frauenkopfes und einer Krönung emporgetaucht. Wie hätte da Heinrich
VIII. es nicht alsbald aufgegriffen und vergnügt auf Anne Boleyn bezogen?
Was sich indes dem seherischen Auge darbot, das war vielleicht das
Angesicht der Catharina Parr, Heinrichs sechster Frau, während alles, was
dazwischen lag, die schaurige Vision gestürzter, enthaupteter Königinnen
sich jenem Blicke entzog. Der scheinbar nicht Betrogene und der Betrüger
wäre somit kein anderer gewesen als Heinrich VIII. selbst.

Genug. Sofern Traum wie Hellsehen zur Lehre der Idealität von Zeit und Raum
bedeutsame Kommentare liefern, scheint es mir unüberlegt, daß wir dies
Gebiet vorzugsweise der spekulativen Ader des niederen Volkes überlassen.
Hier, wie fast zu allen geistigen Problemen, haben sich wohl die alten
Griechen am richtigsten gestellt. Nicht alltägliche, sondern bedeutsame
Träume bedeutender Männer schienen ihnen der Beachtung wert, und nicht für
die gedankenlose Masse war das Amt der Sibylle ins Leben gerufen. Da solch
schwermütige Talente einmal nicht aus der Welt zu schaffen sind, dürfte es
sich lohnen, sie besser auszubilden statt verrohen zu lassen, wie es
geschieht. Und wenn zur eigentlichen Prosa-Marke unserer Zeit das heutige
Traumbuch gehört, das seinen entsprechenden Platz in der Küchenschublade
gefunden hat, so wüßte ich dagegen nichts, was antiker anmuten könnte als
jener Wahrtraum Bismarcks, einige Jahre vor der Schlacht von Königgrätz,
den er Jahrzehnte später in seinen »Gedanken und Erinnerungen« beschreibt.

                                                  Neue Rundschau 1908.




                          AUS EINEM TRAUMBUCH


   Die zarten Blumen neigen sich zur Erde,
   Die kühlen Grund den süßen Farben beut;
   Und Dämmerung verbreitet sich und sinkt,
   Sich sehnend nach Verzögerung,
   Gleich einem letzten Blick.
   Einsam erschauern da Glycinen,
   Und Azaleen hauchen ihre Blüte,
   So lau der feuchten Nacht entgegen!
   Und nur die Rose läßt sich nicht betäuben.

   Denn Rosen zieh'n des Nachts geheimnisvolle Kreise
   Als wallten ihre Düfte träumend hin
   Wo sie der sehnsüchtige Schimmer
   Ruhloser Herzen lockt.
   Doch kennen Rosen nur der Freude Schwingen,
   Und mit der Göttin Tauben ziehen sie
   Als Boten ihrer Huld. --
   Wen ohne Gunst in ihrem Ringe
   Die Liebe unfroh hält,
   Nimmer scheinet ihm die Rose!

   Tief entleuchtet seinen Träumen
   Grausam, und auf starrem Grunde,
   Nur der Sonnenblume brennend Aug!

                                                Zeitler Almanach 1907.




                               LITERATUR


Zu leugnen, daß es große Schriftstellerinnen geben kann, ist vielleicht
erst in unseren Tagen wirklich unzulässig geworden, seit eine Frau von
Genie wie Selma Lagerlöf zu Würden gelangte, die ihr die Zeit gewiß nicht
rauben wird. Ja, im Gegenteil: ich bin überzeugt, ihr Ruhm wird Zeit ihres
Lebens seinen Höhepunkt gar nicht erreichen können, ob auch schon viele das
Fortlebende ihres nicht vielseitigen, aber so tragenden Geistes empfinden.
Aber auch sonst möchte ich nichts gegen Schriftstellerinnen sagen. Es wäre
unsolidarisch, denn eigentlich muß man mich auch so nennen. Was mir an
Fachmäßigkeit fehlt, läßt doch meine Zünftigkeit bestehen, so daß ich mir
über dieses Thema wohl einige Äußerungen gestatten darf.

Die Gefahr beim Schreiben ist natürlich die innere Verarmung. Produziert
doch der Schreibende -- ach! -- so selten aus seiner Fülle, so häufig aus
einem Mangel heraus. Getrieben, gezwungen mag er sich wohl fühlen, aber
seltener durch seinen Überschwang denn durch seine Not! Von ihm gilt weit
mehr noch, was Plato vom bildenden Künstler aufrecht erhielt: So herrlich
seine Werke auch seien, möchte man nicht ihr Schöpfer gewesen sein. Aber
tausendmal größere Pein hängt doch sicherlich an den Tragödien des Äschylus
als an den Statuen des Phidias. Und wo ist das Buch, fesselte es uns noch
so sehr, wo ist das Buch, das wir deshalb geschrieben haben möchten? Ich
weiß keines. Ich hätte zu keinem den Mut.

Es muß doch endlich eingestanden werden, was für eine Qual das Schreiben
ist. Der passionierteste Dichter wird mir hierin beistimmen; eine gesunde
Qual, eine Qual, ohne die er nicht leben könnte; zugegeben; aber eine Qual.
Ist das Musizieren nicht eine Lust? Ist das Malen nicht beglückend? Es
benimmt der Kunst des Bildners sicher nichts von ihrer Schwere, daß die
Natur ihm so sehnsüchtig entgegenkommt; aber sein Wesen, seine Vitalität
bleibt von seiner Schaffensmühe unbelastet: außerhalb seines Ateliers
feiert er wirklich. Nur den wenigsten Schriftstellern hingegen fällt nach
der Arbeitszeit die Tür ihrer Werkstatt wirklich ins Schloß. Die Maschine,
einmal in Betrieb gesetzt, fährt auch ins Leere zu arbeiten fort, und es
entsteht der Literat, jenes oft so zerquälte und so ermüdende Geschöpf. Der
produktive, schon der reproduktive Mensch ist ja vielfach mehr als der
Müßige gefährdet. Bête comme un ténor heißt doch nicht, daß einer dümmer
ist, weil ihm die paar Töne im Halse sitzen, sondern, daß er sich von
dieser erfreulichen Beschaffenheit seiner Kehle überbieten ließ und in
seiner Gesangskunst den Mittelpunkt aller Dinge erkennt. Wenn nun schon
_sein_ Gleichgewicht öfter als nicht durch sein Talent bedroht wird, was
ist vom Dichter zu gewärtigen, an den die ungeheuerliche Forderung ergeht,
Mann und Weib in einer Person abzugeben, aus dem Nichts zu schaffen, das
Konzipierte selber auszutragen, ein Wagnis, bei dem der Einsatz des
Individuums so gewaltig ist.

Und gar die Dichterin! Das Gewaltsame entspricht doch wenigstens bis zu
einem gewissen Grade dem Wesen des Mannes, und das Feminine liegt ihm nie
so fern wie der Frau das Maskuline. Bei, ihr schillert die Aufgabe, sich
fremde Wesenselemente abzutrotzen, von vornherein arg ins Groteske hinüber.
Es ist zu schwer, die Überforderung ist zu groß! Was Wunder, wenn sie bei
der gefährlichen Arbeit unter die Maschine gerät, ein Arm und ein Bein ihr
abhanden kommt, und jenes Strafgericht sie ereilt, von dem schon im alten
Mythos die Rede ist. Denn nicht nur, heißt es da, hätten uns die Götter
dereinst gespalten, daß wir, statt über vier Beine und vier Arme zu
verfügen, auf die Hälfte unseres ursprünglichen Seins angewiesen wurden,
sondern es könne wohl geschehen, daß die also beraubte und reduzierte
Kreatur, nicht mehr aus Übermut zwar, aber aus Mangel und Sehnsucht heraus,
sich zum Schöpfer erhebe und von neuem die Götter reize. Und diese, in
ihrem Zorn, würden sie zum zweiten Male spalten, daß sie, zur Profilgestalt
geschwunden und nach Art der Zikaden dahinhüpfend, ihr dürftiges Dasein
verlebe.

Der Mann hat für die Kategorie der mehr intellektuellen als intelligenten
Frauen den Namen Blaustrumpf ersonnen. Bezeichnenderweise (mehr bezeichnend
vielleicht als bewußt) wird für sie auch in den anderen Sprachen stets nur
auf _ein_ Bein Bezug genommen: der Bas bleu, der Blue stocking, nirgendwo
scheint er ein _Paar_ Strümpfe zu benötigen.

Dabei vergaß aber der Mann, daß er selbst ein Gegenstück zu dieser Spezies
stellt, wenn er sich, wie so häufig geschieht, als Literat von seinem
Schreibtisch weg unter die Menschen begibt, Menschen und Dinge in seinen
unlebendigen Gesichtspunkt rückt, und ihrer Perspektive entzieht. Die
Literatur läuft in sehr schwanken Brücken aus, die leicht _aus_ der Welt
statt tiefer hinein führen. Wir sind die Gefährdetsten. Unsere
Unzugänglichkeit ist keine einfache Sache, auch lange nicht so sympathisch
wie etwa die Borniertheit ungebildeter Leute, die keine höheren Interessen
haben. _Unsere_ Dummheit wird durch Gedankensplitter, die doch keine
Gedanken sind, durch Wissen, Bildung, ja mitunter durch eine ausgesprochene
Geistigkeit erschwert, wie komplizierte Knochenbrüche, denen so schwierig
beizukommen ist. Und das Schriftstellern wird uns dann zur Klippe, an der
wir sehr naturgemäß zerschellen; Denn Schreiben ist Unnatur. Nur die ganz
Reichen können das ominöse Wagnis ohne Schaden an sich selbst bestehen und
sich noch zurückbehalten. Wir andern -- und ich muß schon die Herren
bitten, auch mit in die Reihe zu treten -- seien wir auf der Hut, wir
andern! Denn nichts ist leichter, als sich in dem Wettlaufen um das
Zuviel-sein-Wollen ein Bein auszulaufen und zum Schemen, zur Profilfigur zu
verarmen.

                                                                 1913.




                         EINIGES ÜBER DEN GEIZ


Avec la richesse commence l'avarice, sagt Balzac in seinen Illusions
perdues.

Der Geiz scheint jedoch nicht zur Beobachtung zu reizen, und außer Molière
und Schopenhauer haben sich nur die allerwenigsten mit diesem
hochinteressanten Laster eingehend befaßt. Auch soll hier keineswegs von
seinen ungeheuerlichen Auswüchsen die Rede sein, sondern vom Geiz in seinem
normalen Verlauf, wie die Ärzte sagen.

Vor allen Dingen glaube man nicht, das Geld sei etwas Totes. Es ist ganz
Wahlverwandtschaft, ganz Antipathie, ganz Selbsterhaltungstrieb, ganz
»Seele« (auf seine Art). Ja, dem Gelde entströmen atmosphärische Schichten,
die sich in feine, aber undurchsichtige Schleier zerteilen, um sich über
das Gemüt des Reichen zu lagern. Es ist, als schöbe sich ein Milchglas
trennend zwischen ihn und seine Welt. Mag der Trinker vom Weine noch so
sehr umnebelt sein: daß er ein Trinker ist, darüber ist er sich klar. Der
Lügner weiß von seiner Verlogenheit, der Zornige von seinem Haß. Aber der
Geiz spinnt so feine und undeutliche Fäden, daß der von ihm Betroffene ganz
im Unklaren über sich selbst verbleiben darf. Dem Geizigen steht überdies
ein Überfluß an Mänteln und Mäntelchen zu Gebote, die ihm sein Spiegelbild
bis zur Unkenntlichkeit maskieren, wobei immer nur er selbst, niemals die
anderen über seine wahren Züge mystifiziert werden. Man denke sich die
Freudsche Methode, die meist einer so sinnwidrigen Anwendung verfällt,
einmal auf verhärtete Geizhälse angewandt. Einer psychoanalytischen
Behandlung unterzogen, würden diese Patienten am Ende gar kuriert vor
Schreck über die Entdeckungen, welche sie an sich selber zu machen hätten.

Ein Grund ihres Selbstbetruges liegt darin, daß sie nicht selten mit
Vorliebe geben; ja Geschenke zu machen -- freilich niemals entsprechende --
kann bei dem Geizigen fast zur Marotte werden. Denn er weiß so gut wie ein
anderer, daß Geben seliger ist als Nehmen, und er hat es so gut wie der
Freigebige an sich erfahren. Und weil er auch -- denn er will Alles haben
-- des Gebens froh werden will, gibt er nochmal aus seinem Geiz und seiner
Habgier heraus. Und darum schenkt auch er. Aber dabei rächt sich alsbald
sein Laster an ihm und bindet seine Hände, daß er nicht frei--gebig d. h.
nicht frei wird zu geben wie er möchte, und schließt ihn wie mit eisernen
Fäden in immer engere Gefangenschaft, bis seine Miene den inneren Bann, dem
er verfiel, auch äußerlich verrät.

Wer wollte denn auch leugnen, daß geizige Leute häufig zu bedauern sind,
und zwar je mehr sie sich bereichern, da ein Zuwachs ihrer Habe eine
Verhärtung ihres Geizes unerbittlich zur Folge hat. Wobei ihm die fremde
Schlechtigkeit vielfach Grund für sein Verhalten zu bieten scheint. Denn
ein sehr reicher Mensch ist ja schlechten Erfahrungen in schlimmster Weise
ausgesetzt. Die anständigen Leute werden es ja nicht sein, die sich an ihn
herandrängen -- seine guten Erfahrungen bleiben somit negativ -- während er
die miserabelste Sorte aus nächster Nähe kennen lernt. Kein Wunder, daß
manch vertrauendes und großmütiges Herz karg und mißtrauisch wurde. Es
kommt unversehens. Der Geiz hat eine unheimlich schnelle Reife. Dann aber
läßt er seine Opfer nicht mehr los. Er hat nur eine aufsteigende Linie. Er
kennt keinen Verfall, und er kann nicht sterben.

Das Trübseligste erlebte ich einmal auf der Reise von seiten einer alten
kinderlosen Dame, deren Nichte mich gebeten hatte, ihr Nachricht zukommen
zu lassen, denn die Greisin schien sich um ihre sämtliche Verwandtschaft
nicht mehr viel zu kümmern. Sie lebte fern von ihr in einer fremden Stadt,
und hatte es glücklich auf 86 Jahre und 50 Millionen gebracht. Ich traf sie
in ihrem wundervollen Haus, umgeben von Bildern und Schätzen. -- In ihrem
Lehnstuhl vergraben, klagte sie, daß ihr das Schreiben schwer fiele und
erkundigte sich alsbald mit der wärmsten Anteilnahme nach der Schar ihrer
Nichten, Groß- und Urgroßnichten, insbesondere nach einer gewissen
»Hertha«, ihrem Patchen, das sie am innigsten liebte. Um die handelte es
sich eben: ich malte also die blasse Schönheit dieser Hertha in den
leuchtendsten Farben hin und erzählte sodann, daß die Ärzte einen längeren
Aufenthalt in Egypten sehr ratsam für sie hielten.

»Ja mein Gott,« forschte sie ganz bestürzt und voll aufrichtiger Besorgnis;
»wird sich denn das pekuniär machen lassen?«

»Schwer,« erwiderte ich.

Mehr zu sagen stand mir natürlich nicht zu. Derselbe Gedanke war zwar
gleichzeitig in uns aufgestiegen; aber nichts von Unentschlossenheit malte
sich in dem Gesichte der Greisin -- (viele Jahre früher hätte sie wohl noch
gezaudert) -- nur Schatten des Grames breiteten sich über ihr
melancholisches Gesicht. Hier war wieder einmal ein ursprünglich goldenes
Herz vom Geize gelähmt.

Seufzend sprach sie jetzt von ihrem nahen Tode, von der Verlassenheit und
den Enttäuschungen eines zu langen Lebens. Während wir uns unterhielten,
trat die Jungfer ein und fragte leise, ob sie das Töchterchen des
Kutschers, das heute das Haus verließ und in die Lehre zog, einen
Augenblick einlassen dürfe. Die alte Dame empfing das Kind voll Güte und
Wohlwollen, und als es dann schied, hielt sie es noch einmal zurück.
Schränke, Kästen und Truhen wurden nun durchgesehen, aufgeschlossen und
dann wieder abgesperrt. Ein Heer weißer Schachteln in Seidenpapier,
umwickelte Päckchen und Pakete kamen dabei zum Vorschein. Aber die Dame zog
bald diese bald jene Schieblade zu Rat, ohne sich entscheiden zu können.
Die Kleine stand indes mitten im Zimmer und wartete, wie man es ihr gesagt
hatte. Plötzlich flog ein Schein, eine schnelle Röte über ihr Gesicht.
Gleich darauf wandte sie erblassend den Blick nach einer anderen Seite hin.
Aber ich war ihm schon gefolgt und gewahrte ein schwarzes Ledertäschchen,
das die Greisin gerade in Händen hielt, öffnete und untersuchte. Innen mit
dunkelroter Seide ausstaffiert und mit Nähutensilien angefüllt, zugleich
verschiedene Fächer enthaltend, war es wohl der kühnste Traum von einem
Täschchen für eine kleine Nähmamsell; im übrigen nichts Kostbares, sondern
ein schöner Dutzendartikel aus einem Warenhaus. Aber nicht lange, und die
Besitzerin hüllte es wieder ein. Ihre Hände waren gebunden, und sie konnte
das Täschchen, das um eine Idee zu schön für die Kleine war, nicht spenden.
Diese stand unbeweglich mitten im Zimmer, aber der Strahl in ihren Augen
war erloschen. Die Alte kramte indes in einem anderen Fach und zog ein
silbernes Armband hervor, auf dem »Gott mit Dir« in schwarzen Lettern
eingetragen waren, und damit entließ sie die enttäuschte kleine Mamsell.

Die Geberin saß nun wieder in ihrem Lehnstuhl zusammengesunken und schaute
mit einem blassen, vergrämten Gesicht vor sich hin. Ein Fest war ja der
kleine Zwischenfall mit dem häßlichen Armband, darauf »Gott mit Dir« in
schwarzen Lettern prangte, für niemanden gewesen, und ein gesteigertes
Bewußtsein hatte sich der Geberin unmöglich mitteilen können, vielmehr die
Öde des Ereignislosen. Es hatte sich _nichts_ ereignet. Die Kleine war nur
um eine gewaltige Freude betrogen worden, und die Alte, die gern Freude
bereitete, wußte es genau; und wußte ebenso wohl, daß sie niemals anders
verfahren würde, selbst wenn sie das Kind noch einmal zurückriefe. Nebenan
hub jetzt ein Papagei, von der kleinen Passantin aufgeschreckt, zu schreien
und über die Unerfreulichkeit der Welt zu schimpfen an. Schräge Strahlen
ergossen sich durch die weit geöffneten Fenster (die größten der Stadt) und
über die prachtvoll weichen Farben der Teppiche, der Leuchter aus altem
Kristall, der goldumränderten Schalen und silbernen Dosen. Dennoch lag
etwas Drückendes, in seiner Öde unerträglich Akzentuiertes, ja Unheimliches
in der Atmosphäre dieses Raums. Und plötzlich war mir, als befände ich mich
ganz allein, als sei die halb erloschene Greisin vor mir schon verblichen
und nur mehr ein Schemen. Es fehlte ja so wenig! All die Päckchen und
Pakete, die sich in tadelloser Ordnung in ihren Kästen und Truhen häuften,
waren ja schon fast herrenlos. Und nicht die kleine Nähmamsell, nicht
einmal die Nichte Hertha schien mir mit einem Male beklagenswert, sondern
die sonst so kluge, ja sympathische, die unbegreifliche alte Dame, die
rettungslos in die Falle geraten war, welche der Geiz den Besitzenden
stellt.

Sie starb bald darauf. Und da ihr Geiz eine lange Geschichte hatte, ragte
er denn auch weit über ihr Leben hinaus. Sie hinterließ ihr Vermögen ihren
_reichen_ Verwandten, den weniger bemittelten, der Großnichte Hertha, die
ihrem Herzen so nahe stand, unbedeutende Legate.

                                                  Neue Rundschau 1911.




                            DIE MARKGRÄFIN
                             VON BAYREUTH


Es gibt Menschen, welchen das Schicksal die volle und glückliche Auslösung
ihrer Fähigkeiten so sehr verkürzt, daß wir ihnen nur gerecht werden, indem
wir neben ihren Betätigungen auch ihre Möglichkeiten ins Auge fassen. Zu
ihnen gehört die älteste Schwester Friedrichs des Großen, Wilhelmine,
Markgräfin von Bayreuth.

Ihre Mutter, die Königin Sophie Dorothea von Preußen, versah sich nur in
den Mitteln und Wegen, nicht aber in der Höhe der für ihre Tochter
angestrebten Ziele; denn wäre diese wirklich Königin von England geworden,
ihr Name stünde heute unzweifelhaft als der einer großen Regentin in der
Geschichte verzeichnet. Elle aurait certainement compris les grandes
Affaires, wie Lavisse von ihr sagte. Ihre oft gerügte Unkenntnis der
politischen Konjunkturen, wie ihr Mangel an historischem Überblick rührten
nicht von mangelndem Verständnis, sonder von mangelnder Schulung her; sie
hat diese Lücke später aus freien Stücken so wohl zu ersetzen gewußt, daß
Friedrich, der nicht leicht etwas aus der Hand gab, sie während der
schwierigsten Phasen des siebenjährigen Krieges sehr heikler
Unterhandlungen walten, mit Vertretern fremder Nationen verhängnisvolle
Fäden anknüpfen, selbst diplomatische Instruktionen erteilen ließ. Für sie
fand der große Spötter Voltaire nur Worte der Anerkennung, und für
Friedrich blieb sie die Unvergeßliche, deren Andenken er wie kein anderes
gefeiert hat. Seine hohe Meinung von ihrem Werte sollte jedoch von der
Nachwelt nicht unwidersprochen fortbestehen; vielmehr wurde durch die
Veröffentlichung ihrer Memoiren, so fesselnd und geistvoll sie sind, das
Urteil späterer Geschichtsschreiber in vielfach ungünstiger Weise bestimmt.

Die Denkwürdigkeiten der Markgräfin von Bayreuth erschienen zum ersten Male
in Tübingen, und zwar in deutscher Übersetzung, von Dr. Cotta
herausgegeben, und umfaßten die Jahre 1709 bis 1733. Im selben Jahre
veröffentlichte von Osten in Braunschweig das von 1706 bis 1742 führende
französische Original. Zeit und Ort des Erscheinens: das Jahr 1810 und die
preußenfeindlichen Rheinbundstaaten verrieten nur zu deutlich, wie sehr mit
der Publikation dieser höchst interessanten, mitunter aber sehr
verblüffenden Mitteilungen eine sensationelle Wirkung beabsichtigt war. Der
Streit entspann sich fürs erste zwischen beiden Herausgebern, von welchen
sich jeder darauf berief, der alleinige Besitzer des Originalmanuskripts zu
sein. Da sich aber beide Handschriften in der Folge als Kopien erwiesen,
mußte die Echtheit der Memoiren bis zu dem Tage angezweifelt werden, an dem
Pertz im Jahre 1848 das wirkliche Originalmanuskript der Markgräfin bei
einer Bücherversteigerung entdeckte. Es stammte aus dem Nachlaß ihres
ehemaligen Leibarztes Dr. von Superville, war, dank einer Abschrift, durch
die Braunschweiger Ausgabe schon veröffentlicht worden, und brach wie
dieses mit dem Jahre 1742 ab. Zugleich führte es aber bis ins Jahr 1754, da
es auch mit dem Vermerk: ceci ne doit pas être imprimé das versiegelte
Tagebuch aus Italien enthielt. In den Memoiren fanden sich viele noch
ungedruckte Stellen vor; mehrere Blätter waren herausgerissen, oder durch
Alter beschädigt und nicht nur zahllose einzelne Stellen durchstrichen,
sondern ganze Seiten verworfen, und durch einen neuen Text ersetzt. Jeder
Zweifel an der Echtheit der Memoiren war nunmehr behoben, und es erübrigte
sich nur mehr die Frage ihrer Glaubwürdigkeit. Daß sie durch Legat in die
Hände Supervilles gelangt waren, ist zwar behauptet, jedoch nie mit
Sicherheit erwiesen worden; so wenig wie der Ursprung all der Abschriften,
die schon früh in Umlauf kamen; entsprach es doch der Sitte der damaligen
Zeit, mit Manuskripten hoher Persönlichkeiten allerlei Mystifikationen und
Mißbräuche zu treiben. Weder für die Verantwortlichkeit der Markgräfin in
Hinsicht der Verbreitung ihrer Memoiren noch der Zeit ihres Entstehens,
haben sich trotz aller Nachforschungen bestimmte Angaben ermitteln lassen.
Die Feststellung gerade dieser negativen Resultate aber ist für die
Beurteilung der Markgräfin von großer Wichtigkeit, besonders wo es sich,
wie hier, um die mit so mannigfachen Streichungen, Umarbeitungen und
Zusätzen versehene, spätere Redaktion der Denkwürdigkeiten handelt, wobei
zwar ihr Talent gereifter und glänzender zu Tage tritt, ihr Urteil aber um
vieles härter und schonungsloser zum Ausdruck kommt. Denn verglich man
dieses Urteil mit brieflichen Äußerungen der Markgräfin aus derselben Zeit,
so ergaben sich bedenkliche Widersprüche, und nicht nur chronologische
Irrtümer, sondern nachweisbare Entstellungen von Tatsachen und Briefen. Da
mußte es denn nahe liegen, daß man über die Verfasserin ziemlich formell zu
Gerichte saß, sie der Doppelzüngigkeit und Verlogenheit zieh, die
Aufmerksamkeit auf ihre politische Ahnungslosigkeit sowie ihre Unkenntnis
historischer Vorkommnisse lenkte und damit ihre Person, und zum Teil ihre
Memoiren für erledigt hielt.

Wird sie von Ranke mit ziemlicher Kälte ihres Weges beschieden, so schlägt
Droysen schon fast den Ton des Staatsanwaltes ihr gegenüber an, welcher
dann bei Onckens Schüler Bernbeck pflichtschuldig in Grobheit ausartet.

Sein Ton kontrastiert lebhaft genug mit der ritterlichen Weise Carlyles,
dem Wilhelmine zwar die »schrille Prinzessin« ist, der nie müde wird, auf
ihre Übertreibungen hinzuweisen; wo er sich auf ihre Aussagen beruft, das
»Verkleinerungsglas« nie aus der Hand legt, und dennoch ein so edles Bild
von ihr festhält. Und es zeigt sich heute, da wir gelernt haben, eine
weniger summarische Psychologie zu treiben, wie sehr er ihr gerade in
seiner Parteilichkeit gerecht wird.

Um sie zu verdammen, wären Daten erforderlich, die uns wahrscheinlich für
immer entzogen sind, da ihre Memoiren bedauerlicherweise unvollendet
blieben. Wir wissen nur, daß zwei Fassungen derselben bestanden, -- das
Original der früheren ging verloren -- daß die spätere in durchaus
schärferem und boshafterem Sinne umgearbeitet wurde, und daß zwischen
beiden Redaktionen Jahre liegen. Es fragt sich nur, wie Fester hervorhebt,
_welche_ Jahre.

Die Markgräfin nennt uns für ihre Memoiren ein einziges Datum, nämlich: das
Jahr 1744, als dasjenige, in welchem sie die Schilderung der Eremitage
entwirft. Weitere Schlüsse lassen sich nur noch aus einer Stelle ziehen,
welche den Tod des Fürsten Leopold von Dessau, der im Frühling des Jahres
1747 fiel, voraussetzt. Fester nimmt als Zeit der Abfassung die »Jahre der
Erbitterung« 1742--1747 an, während ihrer Entfremdung und vor ihrer
Aussöhnung mit Friedrich; und keine Vermutung könnte glaubwürdiger sein,
als daß die Markgräfin gerade in jenen Zeiten innerster Verlassenheit Trost
und Ablenkung in ihren Erinnerungen suchte, dabei aber die Not des
Augenblickes auf lichtere Tage übertrug, und Vergangenes mit den Schatten
der Gegenwart übermalte.

Bisher war immer noch Sonne in ihrer »carrière d'adversité«. Ihre
wechselvollen und durchkreuzten Pfade sind stets von der großen, fast
ausschließlichen Liebe ihres Bruders, später der ihres Gatten erhellt. Als
sie sich mit diesem durch fremde, mit jenem größtenteils durch eigene
Schuld zerworfen, und ihrer Familie entfremdet fühlte, da suchte sie einen
imaginären Halt in ihrer eigenen Erbitterung. Über diese selbst sich uns
mitzuteilen, versagte ihr jedoch der Mut, und so entnehmen wir ihre
ferneren Schicksale ihren Briefen und den Briefen ihres Bruders.

Eine merkliche Kühle zwischen den Geschwistern war schon seit Friedrichs
Thronbesteigung eingetreten. Die herrische Haltung, in die Friedrich als
junger König verfiel, der Abstand, der sich jetzt zwischen seiner und ihrer
Stellung geltend machte, ihr unbefriedigter Ehrgeiz, dies alles quälte die
Markgräfin schon lange. Aber äußerlich stand alles noch beim Alten, als
Friedrich im September 1743 zum Besuch der Schwester in Bayreuth erschien.
Zwar konnte er nur kurz bei ihr verweilen und mußte politische
Nebenabsichten mit dieser Reise vereinen, da er bei den süddeutschen
Reichsfürsten eines Rückhaltes gegen Österreich bedurfte, ließ aber seinen
Hofstaat, seine Sänger, seinen Bruder, den Prinzen August Wilhelm, und vor
allem Voltaire bei ihr zurück. Dieser sollte nun der wahre Mittelpunkt all
der Festlichkeiten werden, die jetzt auf kurze Zeit das stille Bayreuth mit
so viel Glanz und Leben überzogen, und in diesen froh bewegten Tagen fühlte
sich die geistvolle und gesellige Fürstin in ihrem Elemente; einem Manne
wie Voltaire mußte sie sich in ihrem besten und zugleich wahrsten Lichte
zeigen. Sie war nichts für Philister, für einen bedeutenden Verkehr aber
wie geschaffen. Wies doch ihr eigener Geist nichts von den Halbheiten und
Unzugänglichkeiten auf, die selbst bei talentierten Frauen nicht selten
verdrießen: er war vom Besten wie edler Wein.

So mußte ihrem großstädtischen Sinn die froh bewegte, wohl etwas
geräuschvolle Note, die während Voltaires vierzehntägigen Aufenthaltes in
dem abgelegenen Städtchen anschlug, von Grund auf zusagen, als jedoch
Friedrich zurückkehrte und mit dem ganzen glänzenden Gefolge wieder von
dannen zog, sollte sie auf lange verklungen sein.

Schon wenige Monate später entstand zwischen der Markgräfin und dem König
Friedrich das große Zerwürfnis. Der Markgraf hatte sich vor Jahr und Tag in
eine ihrer Damen, Fräulein von Marwitz, verliebt, und trug jetzt seine
Neigung immer offener zur Schau. Wilhelmine fühlte sich durch seine Untreue
nicht nur ins Herz getroffen, sie empfand sie in ihrem Stolze als eine
nicht zu verwindende Schmach. Sie setzte indes, wohl um die Rivalin zu
entfernen, deren Heirat mit dem österreichischen Grafen Burghaus durch.
Hiermit brach sie aber, wie man aus den Memoiren ersehen wird, ein ihrem
Vater, dem König Friedrich Wilhelm gegebenes Versprechen, und beschwor
zugleich den Bruch mit Friedrich herauf, dessen Interessen durch diese Ehe
in rücksichtsloser Weise mißachtet wurden. Die gehoffte Entfernung der
Marwitz unterblieb, der österreichischen Partei aber, deren Einfluß
Friedrich bei seinem Besuche in Bayreuth schon wahrgenommen hatte, ward
durch diese Ehe ein neuer Vorschub gewonnen. Die Markgräfin stand nun bald
vor aller Welt in einem sehr zweideutigen Lichte. Als sie vollends der zur
Krönung nach Frankfurt ziehenden Maria Theresia huldigend entgegen kam,
mußte dies nicht nur bei ihrem Bruder, sondern bei allen ihren Angehörigen
Entrüstung hervorrufen. Für die feindlichen Strömungen am Bayreuther Hofe,
wie für die anti-preußischen Presse-Äußerungen in ihrem Lande, wurde sie
nun verantwortlich gemacht. Aber sie schien alles, selbst die gehaßte Nähe
der Burghaus-Marwitz eher zu ertragen, als daß sie es über sich brachte,
durch einen Skandal das offene Zugeständnis dessen zu geben, was doch alle
Welt seit Jahren wußte und besprach. Je einfacher ihre Motive gewesen
waren, desto komplizierter und rätselhafter wurde jetzt ihr Verhalten, so
daß zuletzt selbst Friedrich irre an ihr wurde. »Une vraie querelle
d'amants« hat Lavisse ihr Zerwürfnis genannt. Und in Wahrheit konnte nur
die tiefste innere Zusammengehörigkeit einer so andauernden Entfremdung
standhalten. Die spärlichen Briefe, die Friedrich während der folgenden
Jahre an die Markgräfin richtet, sind meist diktiert; nur hin und wieder
gibt ihr ein Vorwurf oder eine grimmige Anspielung zu verstehen, wie schwer
Friedrich den Verlust dieser Freundschaft empfindet. Wilhelminen mag er in
ihrer inneren Verlassenheit wohl noch schmerzlicher gefallen sein. Dennoch
wurde beiderseits nichts unternommen, die stets größer werdende Kluft zu
überbrücken. Ohne die freundliche Vermittlung des Prinzen August Wilhelm
hätten sie den Weg zu einander wohl nie wieder gefunden. Durch ihn wurde im
Jahre 1746 endlich eine Versöhnung der Geschwister angebahnt, und im
Spätsommer des folgenden Jahres folgte Wilhelmine einer Einladung
Friedrichs nach Berlin. Was sie ihm auch jetzt noch verschweigt, verraten
ihm ihre abgehärmten Züge und ihre Erschöpfung; und mit seinen
durchdringenden Augen sieht er Dingen auf den Grund, die auch die letzten
Schatten seines Grolles verscheuchen.

Wilhelmine hatte bei ihrer Abreise die Burghaus todkrank zurückgelassen und
glaubte sich auf immer von ihr befreit. Statt dessen tritt diese der
zurückkehrenden Markgräfin wohlbehalten und triumphierend entgegen. Es
kommt nun doch zu der so lang vermiedenen Szene. Die Burghaus sieht sich
zwar genötigt, das Schloß zu räumen, bezieht aber dafür, auf Kosten des
Markgrafen, eine Wohnung im Gesandtschaftspalais. Ihr Gatte war ruiniert,
ihr eigenes Vermögen aber, infolge ihrer Heirat mit einem Österreicher, die
einzig und allein Wilhelminens Werk gewesen war, gesetzmäßig eingezogen
worden. Diese entschließt sich nun endlich, ihren Bruder zu Hilfe zu rufen;
er allein kann sie aus ihrer Lage retten. Der Brief, in dem sie ihm
gegenüber die Sachlage erörtert, ist noch gewunden genug, aber Friedrich
weiß jetzt längst, welches Geständnis aus ihren gepreßten Worten und
zwischen den Zeilen ihrer Briefe herauszulesen ist, und er zögert keinen
Augenblick, ihr beizustehen: der Burghaus wird ihr väterliches Erbe
ausbezahlt unter der Bedingung, daß sie Bayreuth sofort verläßt. Die
unerquickliche Episode findet somit ihr Ende.

Sie hatte zu lange gewährt, und einen so finsteren Ring um Wilhelminens
Leben gezogen, daß die elastische, trotz aller Lamentos so frohlaunige
Fürstin daran zerschellte. In immer schlimmere Widersprüche geratend, mit
der Feindin befreundet, den Freunden verfeindet, läßt sie heterogenen
Einflüssen ungehinderten Lauf, ihr Gemüt aber bis zur Krankhaftigkeit sich
steigern, indem sie eine unerträgliche Situation, die sie als inavouable
empfindet, scheinbar nicht bemerkt.

In diesem Konflikt einer Selbstlüge, nicht in ihrem Charakter ist das
Geheimnis ihrer vermeintlichen Verlogenheit zu suchen, wie ihrer
vermeintlichen Härte und Herzlosigkeit, und der wahre Grund so mancher
Widersprüche zwischen ihren Memoiren und ihren Briefen. Ihre bitteren
Ausfälle gegen Friedrich aber stimmen ebenso gut zu ihrem Verhalten während
jener Jahre der Entzweiung, als sie mit ihrem späteren kontrastieren. So
war es, in Ermanglung aller Gegenbeweise, eine Zubilligung, ihre Memoiren
in eben diese Jahre zu verweisen.

Dazu kommt, daß selbst den klügsten Frauen nicht entfernt dasselbe scharfe
Gefühl für die starke Realität des geschriebenen Wortes innewohnt, wie dem
Manne. Bei aller Begabung, die aus dem Buche der Markgräfin hervorleuchtet,
steht sie sich dabei doch sehr im Lichte, weil es ihr zwar nicht an
literarischem Talente, aber ganz und gar an literarischer Perspektive
fehlt. Der schöne Nachruf Friedrichs des Großen an seinen Vater ist darum
nicht minder schön, weil darin auch nicht eine Spur jener Subjektivität zu
finden ist, mit welcher doch auch Friedrich sich seinerzeit brieflich über
seinen Vater ausläßt. Es ist darum nicht minder schön und nicht minder
empfunden, weil Friedrich das Gefühl für die objektive Wirkung dieses, auch
für ihn selbst so ehrenvollen Nachrufes in sich trug. Der innere Vorgang
ist hier so einfach, daß es sicher kein Kalkül, kaum ein Bewußtsein zu
nennen ist, daß es vielmehr einem Manne kaum begreiflich scheinen muß, wie
er bei einer so überragenden Persönlichkeit wie der Markgräfin davon
absehen soll.

Um ein wahres Bild von ihr zu gewinnen, dürfen wir der Umgebung, von
welcher es sich so mächtig abhebt, nicht vergessen. Hier hat sie sicherlich
nicht übertrieben. Sie war, noch sehr jung, nach all den großartigen
Aussichten, mit welchen sie aufwuchs, in ein Provinz-Städtchen und in eine
geistige Öde verschlagen worden.

Wenn wir von Voltaires kurzem Aufenthalt in Bayreuth und den paar Besuchen
und Gegenbesuchen zwischen ihr und Friedrich absehen, war die Anregung im
Leben der Markgräfin sehr gering. Nur durch sie ward in ihrem Ländchen für
Architektur und Musik, für Kunst und Wissenschaft ein Boden gewonnen, und
ohne sie wäre die kulturelle Geschichte Bayreuths ein leeres Blatt. An dem
adeligen Stempel, den sie dem Städtchen aufdrückte, hat ihr liebesfroher
Markgraf keinen Teil. Und _sie_ war es, welche Bayreuth »créierte«.

Volle Würdigung ihrer Interessen wie ihrer Initiative findet sie hier nur
bei ihrem Leibarzt von Superville, der ihr seine reichen Fähigkeiten und
sein organisatorisches Talent zu Diensten stellt, ihr die Gründung der
Universität Erlangen ermöglichte, und ihr neun Jahre hindurch als Freund
und berufener Ratgeber zur Seite steht. Daß sein Sturz sich um dieselbe
Zeit ereignete, in welcher die Burghaus aus Bayreuth verwiesen wurde, hat
zu der Hypothese geführt, Superville habe sich als Arzt die Freiheit
genommen, den Markgrafen zu warnen, daß er seine Liaison mit der Marwitz
auf die Dauer nicht aufrecht halten könne, ohne an die zerrüttete
Gesundheit der Markgräfin gefahrvolle Zumutungen zu stellen. Gewiß ist, daß
sie Superville aufs wärmste an ihre Schwester, die Herzogin von
Braunschweig, anempfahl, an deren Hofe er bis zu seinem Ende verblieb. Die
Bedeutung dieses Mannes scheint übrigens größer gewesen zu sein wie sein
Prestige. Falls sie ihm wirklich das Originalmanuskript ihrer Memoiren zum
Vermächtnis machte, scheint sie sich gewisser wenig schmeichelhafter
Stellen betreffs seiner nicht mehr erinnert zu haben, eine Vergeßlichkeit,
die wieder darauf hindeuten würde, wie wenig sie sich in ihren letzten
Jahren mit ihren Memoiren befaßte.

Es brach durch ihre Versöhnung mit Friedrich eine so andere Zeit für sie
an, so wenig geeignet, sie weiterhin zu Rückblicken anzuregen. In den
Jahren 1750 und 1753 verweilt sie wieder auf einige Zeit zu Besuch ihres
Bruders in Berlin, 1754 besucht er sie zum letzten Male in Bayreuth, und im
Herbst desselben Jahres tritt sie ihre langersehnte Reise nach Italien an.
In Lyon kommt sie wieder mit Voltaire zusammen; sie hat besser als ihr
Bruder die Regungen seines Herzens durchschaut, das die Bewunderung für den
großen Friedrich so wenig als die erlittene Kränkung verwinden konnte, und
sie versteht es, neue Brücken zwischen ihnen anzubahnen. Mit ihrer Reise
nach Italien, das sie mit so offenen Augen betrachtet hat, ist dann das
Register ihrer sonnigen Tage geschlossen. Wenn aber sieben Jahre der
Entfremdung ihre Liebe zu Friedrich nicht ertöten konnten, so steigert sie
sich jetzt, da seine Lage immer bedrängter wird, ins Heroische, und nicht
länger darf sich Maria Theresia der Sympathien seiner Schwester rühmen:
Wilhelmine politisiert, intrigiert und vermittelt, sucht durch Folard, den
Vertreter Frankreichs, an mehreren deutschen Fürstenhöfen, durch Voltaire,
den sie in Bewegung setzt, auf den Frieden hinzuwirken. Dem König ist ihre
starke Anteilnahme eine Stärkung und ein Trost. Als er im Jahre 1757 im
scheinbar aussichtslosen Kampf wider die Übermacht seiner Feinde den
Selbstmord ins Auge faßt, schreibt ihm Voltaire auf Wilhelminens Bitte den
zwar inspirierten, aber von prachtvoller Empfindung getragenen Brief, um
ihm von diesem Vorhaben abzuraten. So knüpft sie überall Fäden an, mit
unverkennbarem Geschick, wenn auch aller Erfolg jenseits der Tage liegt,
die ihr noch beschieden sind. Ihrer Sorge um den König vermögen ihre
aufgezehrten Kräfte nicht mehr lange zu widerstehen. Man ist in Berlin über
ihren Zustand unterrichtet, und sie selbst weiß, daß keine Rettung für sie
ist; nur Friedrich bringt es nicht über sich, der traurigen Tatsache ins
Auge zusehen, und ihm verhehlt sie ihre Lage, wie er selbst sie über die
eigene zu täuschen sucht. Denn beide wissen nur zu gut, was das Los des
einen dem anderen bedeutet. »Auf meinen Knien«, schreibt ihr Friedrich, als
könne sie über ihr sinkendes Leben gebieten, »bitte und beschwöre ich Dich
zu tun, was Du nur tun kannst, um dieser Krankheit zu entrinnen; iß, nimm
die Arzneien, folge blindlings den Anordnungen Deines Arztes. Denke, daß
Dein Tod mich zur beklagenswertesten Kreatur der Erde machen würde.«

Seinen letzten Zuruf, den er zwei Tage vor ihrem Tode an sie ergehen läßt,
vernimmt sie nicht mehr. Sie stirbt am 14. Oktober 1758, um dieselbe
Stunde, zu der Friedrich die schwere Niederlage bei Hochkirch erleidet.

Die Welt kennt den Nachruf, den er ihr widmet, weiß von dem
Freundschaftstempel mit den korinthischen Säulen, den er im Park von
Sanssouci zu ihrem Gedächtnis errichten ließ. Bis zu seinem Lebensende
pilgerte er gerne zu dieser Stätte hin, wo sich, inmitten von Bildnissen
der Heroen der Freundschaft, ihre Statue erhob und er die stille Sprache
der Erinnerung mit ihr führte.

Ein Tempel war in der Tat der gemäße Ausdruck für die Harmonie, welche
diese beiden großen Herzen umspann.

Und der Markgraf?

Zwar tritt er in Wilhelminens letzten Jahren hinter ihrer Teilnahme an dem
mächtigen Geschicke ihres Bruders etwas zurück; dennoch bleibt sie ihm bis
ans Ende ihrer Tage leidenschaftlich zugetan, sodaß sie die eifersüchtigen
Regungen, zu welchen er ihr auch nach der Marwitz-Affäre mehr denn einmal
Anlaß gibt, nie ganz unterdrücken kann. Es fällt uns ja heute nicht leicht,
den Zauber zu begreifen, den dieser nichtssagende Mann auf eine Frau wie
die Markgräfin auszuüben vermochte. Aber wir wissen, daß er auch an ihrer
jüngeren Schwester nicht verloren ging, und daß sie mit Vergnügen den
eigenen Verlobten mit dem Wilhelminens eingetauscht haben würde. Er gehörte
also wohl zu jenen typischen »Menschen des Augenblicks«, die gleichsam mit
jedem Tage die Summe ihres Wesenswertes ganz und voll verausgaben und die
nichts überdauert, deren Reiz aber nicht selten umso mächtiger fesselt, je
illusorischer er ist. Wo immer der Markgraf Proben selbständigen Urteils
abzugeben hat, versagte er gänzlich, und als er einmal auf eigene Faust im
Interesse seines Hauses eine Reise nach Dänemark unternimmt, kehrt er
unverrichteter Sache heim. Aber die Markgräfin, als die loyalste Gattin,
die sich denken läßt, hält stets zu ihm und macht mit wahrer Vorliebe seine
Verdienste und seine Fähigkeiten geltend.

Im ganzen gehörte sie zu den Menschen, die wenig positives, aber
reichliches Glück im Unglück haben; so fällt ihr in ihrer aufgezwungenen
Ehe zwar eine geringe Partie, zugleich aber ein Prinz zu, den sie
passionément liebt, was mehr ist, als man von einer Vernunftehe erwarten
darf. Der geistigen Sphäre der Geschwister freilich gehört er nicht an, und
daß er die große Illusion und nicht der wahre Gefährte ihres Lebens war,
blieb ihr wohl nicht immer verborgen.

Aber hier gerade kommen wir zum Prüfstein ihres Wertes.

Wenn Friedrich begeistert an ihr loben durfte, daß man sich »über die
heterogensten Dinge, über Frisuren, über Krieg und Politik mit ihr
unterhalten könne«, so hatte sie sich allein zu dieser Vielseitigkeit
vermocht, und ganz von innen heraus die scharfen geistigen Umrisse
gezeichnet. Und darum nehmen wir an ihr jenes starke Relief wahr, das wir
an so manch berühmter Frau vermissen, deren Züge an Ebenmaß gewannen, was
sie an Deutlichkeit verloren, weil ein Größerer als sie selbst sie ihrer
eigenen Bedeutung liebend überbot, hier ein bißchen untermalte, dort kleine
Mängel wegretouchierte . . . . . . Denn Frauen lieben es, ohne sich dabei
einer Unredlichkeit bewußt zu werden, sondern wie sie es lieben sich zu
schmücken, so lieben sie es, sich auch intellektuelle Ritterdienste
erweisen zu lassen.

In dieser Hinsicht aber war Wilhelmine nicht verwöhnt. Kein Lehrer, kein
Geliebter, der ihren inneren Werdegang beeinflußt oder erleichtert hätte.
Auf ihrer geistigen Bahn fehlen alle Abstecher und alle Wegweiser, und
Echtheit und Eigenwert sind ihre Marke, wo sie sich hervortat. Wir fühlen,
ohne daß sie es nur andeutet, mit welchem Erfolge sie bei den Frankfurter
Krönungsfesten erschien, und wie groß der Reiz dieser jungen Frau gewesen
sein muß, die, so tugendsam, und dabei so verführerisch, nach einem
ziemlich verloren gegangenen Rezept deutsche Solidität des Geistes mit
französischer Grazie vereinte. Kraft eigenster Energie fuhr sie fort zu
werden, bis sie vor der Schwelle ihres Alters und zugleich der ihres Todes
stand. Ihre Briefe an Voltaire über kriegerische Dinge und friedliche
Endziele sind durch die erstaunliche Klarheit und Sachlichkeit, wie durch
die wahrhaft künstlerische Reife des Ausdrucks gleich bewundernswert.

Man denke, woher sie stammt:

Von Eltern, die weniger Kontraste als Unvereinbarkeiten aufweisen. Carlyle
wirft ihr vor, sie hätte ihren Vater nur »von außen gekannt.« Es ist aber
viel leichter, diesem König par distance gerecht zu werden: seiner Umgebung
war es fast unmöglich. Wilhelminens Eindrücke stimmen nur zu wohl mit den
Berichten der damaligen Gesandten am Hofe Friedrich Wilhelms überein. Er
galt ihnen als ein gefährlicher Narr: sein Hauptargument war der Stock. Die
Tochter konnte es dem König nicht recht machen, ohne die Königin zu
erzürnen. Bald in Gnaden, dann, wenn ihre Aussichten auf eine glänzende
Partie sich verschlechterten, zurückgestoßen und malträtiert, wird sie
Zeuge und unfreiwillige Ursache furchtbarster Szenen. So tritt sie, als ein
altkluges Dämchen, aus einer Kinderstube, die jeglicher Hygiene und
Pädagogik spottete. Gewiß ist, mag man ihren Übertreibungen noch so sehr
Rechnung tragen, daß die zu frühen und zu fortgesetzten Aufregungen ihre
zarte Konstitution frühzeitig untergruben. So ist in ihrer Schrillheit
zugleich ein Echo; an ihrer späteren Vollendung und edlen Reife aber haftet
nichts Fremdes. Wir heben es noch einmal hervor. Denn sie selbst, die sich
oft zu Unrecht lobte, hat sich dessen nicht gerühmt. Die sonst so
Ranglustige weiß nicht, wie abseits sie steht. Es war noch nicht die Zeit
der Selbstanalysen, und man war noch nicht darauf verfallen, sein Ich
herauszugreifen und zu bespiegeln. In dieser verfrühten Blume geistiger
Kultur ist noch viel Herbheit in der Verfeinerung. In ihrer etwas morbiden
Selbstherrlichkeit aber liegt ihr großes Anrecht auf unsere Bewunderung wie
auf unsere Nachsicht.

Ich für meinen Teil möchte auch ihren Hochmut nicht missen. Er hat dieselbe
Befugnis wie die weitläufigen Zieraten des damaligen Kostüms, und er
verhält sich zu ihrer Aufgeklärtheit wie zu ihrem schmalen Gesicht die
mächtige Perücke und der immer höher steigende Kopfputz. So hat ihr
gewaltiger Dünkel die große relative Berechtigung der Mode. Der Geist einer
Zeit umgibt sich nie so sehr mit dem Scheine des Unwandelbaren, wie kurz
bevor er schwindet. Die Zopfgeschichten, die Wilhelmine wegen ihrer Audienz
bei der Kaiserin aufführt, stehen ihr noch allerliebst. Und man begreift,
daß der Fürstbischof von Würzburg, trotz aller Impertinenzen, die er sich
in seiner eigenen Hoffart von ihr gefallen lassen mußte, von ihr entzückt
war.

Wie es einen letzten Ritter gab, und wie Carlyle in Friedrich den letzten
König sehen wollte, so war Wilhelmine die letzte Prinzessin alten Stiles,
eine so typische Prinzessin, daß sich die Prinzessin, -- was auch bei
Prinzessinnen selten ist, -- nicht von ihr wegdenken, die Frau nicht ohne
die Prinzessin in Erwägung ziehen läßt. Dies wurde bei ihr zu Unrecht
übersehen. Denn es ist etwas Geheimnisvolles um eine königliche Geburt.

Wie die Wasserfläche diese Welt des Scheines reflektiert, so liegt in der
geistigen Sphäre das getreue Abbild -- oder Vorbild? -- aller Schranken und
Unterschiede, welche die menschliche Gesellschaft geschaffen hat. Und das
ganze Kortege, vom Edlen zum Niedrigen, zieht -- nur so anders -- von neuem
auf. Aus den ungeheuren Fluktuationen aber, dem Schwanken, dem Hin und
Wider ihrer Würden -- und ihren Gleichungen -- sind alle Adelsbriefe in
dieser krausen Welt geschrieben.

Daher der mystische Zug erlesenen Blutes zu erlesenen Kräften. So wahr ist
dies, daß an einer Stelle dieses Buches, der, an welcher Wilhelmine die
Boskette der Eremitage beschreibt, und mit so viel Wohlgefallen die vielen
Lauben und Glorietten, und die Unmenge von Springbrunnen aufzählt, die sich
da alle paar Schritte ereignen, daß sie da als die vollendetere Prinzessin
erschiene, wenn sie ein Gefühl dafür hätte, daß dies kein Garten ist,
sondern eine Spielerei.

                                                     1910 Inselverlag.




                          CATHARINA VON SIENA


Es geht den Heiligen wie den anderen ausgezeichneten Menschen. Die Zeit ist
das Feuer, das sie vor unseren Augen läutert, indem sie das Vergängliche
und Unzulängliche an ihnen zurückweist, das Wertvolle und Bedeutende aber
zu einem Bildnis von individuellstem Umriß scheidet. Wenn daher Siena --
nach mehr als fünf Jahrhunderten -- vom Leben der hl. Catharina so erfüllt
blieb, daß ein Echo dieses Lebens Sienas Luft, seine Türme und Felsen noch
umhallt, so muß einem Dasein, das so kurz und doch so bleibend, Zügen, die
so weltabgewandt und doch so unverweht der Welt geblieben sind, eine Zeit,
der sie noch gelten, neue Deutungen entraten können. Vor allem heute! da
für das ungeübte Auge alle Symptome hinfälligen Alters am Christentume
haften, während es, wie eine Raupe eingesponnen, sein neues Wachstum
umhüllt.

Denn wir sind heute so weit wie zuvor: Der Protestantismus wird seiner
nicht mehr froh, und die Norm der Katholiken, durch zu viel gescheiterte
Reformversuche eingeschüchtert, hat den Glauben an eine römisch-katholische
Reformation verloren, jene Reformation, die Catharina nicht müde wird zu
verkünden, und der ihre leidenschaftlichen und begeisterten Zurufe gelten.
Und wenn heute unsere katholischen Gesellschaften, Vereine usw. ihre
fortschrittlichen Bestrebungen verheißen, so belächeln wir im voraus die
kümmerlichen Resultate, die sie uns bringen werden. Da dringt denn zu guter
Stunde die kühne Sprache Catharinas wie ein frischer Luftzug in eine
verbrauchte Atmosphäre.

Catharina von Siena, geboren am weißen Sonntag des Jahres 1347, war das
Kind frommer und, trotz ihrer 22 Kinder, wohlhabender Leute: des Färbers
Benincasa und der Monna Lapa. Ihr religiöser Hang zeigte sich schon sehr
früh; doch war sie dabei ein munteres und sehr empfindsames Kind, und so
anmutig, daß sie den Beinamen Euphrosyne erhielt. Ihre erste Vision -- sie
stand damals in ihrem sechsten Jahre -- war für ihre Laufbahn bestimmend:
sie kam mit ihrem Bruder vom Hause einer verheirateten Schwester, an der
sie mit besonderer Zärtlichkeit hing, da erschien ihr über der
Dominikanerkirche, in den Lüften schwebend, Christus als hoher Priester,
eine dreifache Krone auf dem Haupte, der die Hand segnend nach ihr
ausstreckte. Seitdem mied sie die Freuden ihres Alters. Daß sie gerade dem
hl. Dominikus eine so besondere Verehrung widmet, hängt zusammen mit dieser
ersten Vision. Seine Taten sind es, die sie zumeist beschäftigen; sie trägt
sich mit dem Gedanken herum, als Mann verkleidet in den Predigerorden der
Dominikaner zu treten, und Dominikaner sind überall der Gegenstand ihrer
Ehrfurcht und Begeisterung. Schon jetzt führt sie ein Leben strenger
Abtötung und gelobt in ihrem siebenten Jahr, nie einen anderen Bräutigam zu
nehmen als Christus. Indes sie aber heranwuchs, hatten ihre Eltern andere
Pläne und verlangten, daß sie sich wie andere Mädchen ihres Alters
schmücke. Durch die Lieblingsschwester ließ sie sich dazu bewegen, als aber
eifrig an ihre Verlobung gedacht wurde, und Catharina, um sich ihr zu
entziehen, ihr schönes blondes Haar abschnitt, zog ihr ein so radikales
Verfahren die erste schwere Prüfung zu. Um ihren Widerstand zu brechen,
wird ihr die Kammer, die sie zu einer Kapelle sich errichtet hatte,
genommen, und sie selbst im Hause ihrer Eltern wie eine Magd gehalten.
Catharina, die sich ihren niedrigen Diensten mit großer Sanftmut und
Freudigkeit unterzieht, hat bald eine neue Vision, die sie tröstet und
ermutigt. Diesmal sind es die großen Ordensstifter, die ihr erscheinen: sie
sieht den Gründer des Karthäuser-Ordens, den hl. Franz von Assisi, den hl.
Benedikt: allein sie alle machen ihren Klosterschwestern strengste Klausur
und Abgeschiedenheit zur Ordensregel, und Catharina läßt sie vorüberziehen.
Sie hat nur Augen für den hl. Dominikus, der mit einer herrlichen Lilie auf
sie zuschreitet und ihr das Kleid seines Tertiazordens entgegenhält.

Nicht länger hält sie mehr mit ihrem Entschlusse zurück, und die Eltern
Benincasa lassen sie jetzt betrübten Herzens gewähren. Allein ihrem Wunsche
standen noch die Dominikanerinnen selbst entgegen. Obwohl sie gewisse
Ordensregeln befolgten, unter einer gemeinsamen Priorin standen und die
Tracht des Ordens: das weiße Kleid und den schwarzen Mantel trugen, weshalb
das Volk sie Mantellate nannte, so lebten sie doch ohne Klausur, ohne
eigentliche Gelübde, und in ihrer eigenen Wohnung. Es gehörten denn auch
meist Witwen gesetzten Alters dieser Genossenschaft an, und die 15 jährige
Catharina aufzunehmen, schien ihnen in keiner Weise ratsam; aber Catharina
verfällt in eine schwere Krankheit, und die Mutter selbst muß ihr nun
helfen, die Mantellate zu bestürmen; zudem ist ihre Schönheit zerstört,
nichts als eine gewisse morbide Grazie war ihr geblieben. So wird denn
ihrem Verlangen endlich nachgegeben und nach ihrer Genesung an einem
Sonntag des Jahres 1362 ihre feierliche Einkleidung in der
Dominikanerkirche vollzogen.

Drei Jahre lebte sie nun im Hause ihrer Eltern ein den strengsten
Bußübungen, der tiefsten Zurückgezogenheit und dem Schweigen geweihtes
Leben. Die Nächte durchwachte sie im Gebet, aß nie Fleisch, nur ungekochtes
Kraut, Früchte und Brot -- später wurde ihre Nahrung so gut wie keine mehr
-- geißelte sich des Tags dreimal nach Dominikanersitte, und schlief
zwischen einigen Brettern in einem sargähnlichen Bett und auf einem
Kopfkissen aus Holz. Zu dieser Zeit sollen doch manche Anfechtungen und der
Wunsch, wie andere Menschen zu leben, die Ruhe ihrer Seele gestört haben.
Schlafend und wachend, ob sie ihren Leib noch so sehr marterte, hielt ihr
ein Dämon verführerische Bilder vor, bis wieder eine Vision das Ende ihres
Kampfes verkündet.

Einmal erscheint ihr die hl. Jungfrau, sie mit ihrem Sohn zu verloben.
Christus steckt ihr einen goldenen Ring mit vier Perlen an, und David
begleitet die Zeremonie auf der Harfe. Ein anderes Mal vertauscht Christus
sein Herz mit dem ihrigen. In einer späteren Ekstase berstet ihr Herz von
oben bis unten, so daß man sich fragt, wessen Herz es dann gewesen ist?
Endlich waren es die Wundmale Christi, die sich in fünf blutigen Strahlen
auf ihre Hände, ihre Füße und nach ihrem Herzen richteten. Bevor aber diese
Strahlen die fünf Stellen ihres Leibes erreichten, verwandelte sich das
Blut in Licht, und in Gestalt des Lichtes prägten sich ihr diese Strahlen
ein. Daß diese Wundmale, die ihr ein Gefühl des Schmerzes zurückließen,
gleich dem Verlobungsring[1] den Augen der anderen niemals sichtbar wurden,
beirrte Catharina in ihrem Glauben daran nicht. Und der Grundton ihres
Wesens ist so wahr und echt, daß sich ein ablehnendes Gefühl für ihre
visionäre Seite mit dem Glauben an sie selbst vertragen kann. Allein
bedeutsam bleibt es immerhin, daß Catharina, deren Heiligkeit es doch ist,
die uns als die schwerste und ruhmreichste Tat ihres Lebens gelten muß,
gerade in den Äußerungen dieser Heiligkeit so ganz ihrer Zeit angehört, und
so ganz von der Anschauungsweise und der Phantasie des Mittelalters
beherrscht ist, daß gerade das Visionäre an ihr sich nicht selten als das
Veraltete zeigt! Ist doch auch das Wertvollste heute an ihren furchtbaren
Kasteiungen die fesselnde und geistvolle Art, mit der sie über solche Dinge
spricht -- man könnte fast sagen, abspricht -- und den ganz relativen Wert,
den sie ihnen zuerkennt. So streng ihre eigene Askese ist, man fühlt, sie
steht darüber. Nimmermehr würde sich wohl heute diese selbe Catharina
bewogen fühlen, das eiterige und blutige Wasser, mit dem sie die ekelhaften
Geschwüre einer Kranken gewaschen hatte, auszutrinken. Warum hat sie sich
dann einer so extremen Lebensweise ergeben, als könnte sie es nicht
erwarten, daß ihr Leib zugrunde gehe? Aber lag es nicht in der Natur der
Dinge, daß ein Heiligenleben des 14. Jahrhunderts einen wesentlich büßenden
Charakter trug? in einer Zeit, in welcher die Gemüter vom Geist des
Christentums noch so wenig umbildet waren, und das Leben wie eingedämmt war
von Grausamkeiten; da abgehauene Hände, geblendete Augen zu den üblichen
Racheakten gehörten, und der Feind den anderen nicht schonte. Fand es doch
mancher bedenklich, daß ein so liebendes Gemüt wie der hl. Franz von Assisi
wenig Herz gezeigt habe für die Greuel der Inquisition, deren Kunde er doch
vernahm. -- Wenn aber Franz von Assisi zu jener selben Epoche sich gedrängt
fühlen konnte, Aussätzigen um den Hals zu fallen und sie zu küssen, was war
dies anderes, als der spontane Ausdruck eines trostlos-ohnmächtigen
Mitgefühles? In ihrem Beweggrund allein lag der Sinn so überschwenglicher
Werke. Wenn daher ihre Abtötungen es nicht sind, die Catharina zu einer
großen Heiligen stempeln, so wäre sie die große Heilige nicht gewesen ohne
den sublimen Drang, der sie zu ihnen trieb. Ein Herz wie das ihre mußte
dürsten, die Blüte ihrer Jugend zu zertreten in einer von Leiden so
befleckten Welt, vor der selbst ein Boccaccio in eine Karthäuserzelle
flüchtete.

[Fußnote 1: Sie selbst äußerte ihrem Beichtvater gegenüber, daß sie den
Ring immer an ihrem Finger sähe.]

Nicht ganz so leicht läßt sich in der visionären Catharina unterscheiden.
Wenn auch ihre in astrazione, das heißt in Verzückung geschriebenen Briefe
ihren Gedankengang stellenweise zu erhabenem Ausdruck bringen, so erwecken
sie doch anderseits den Eindruck einer von Hunger so geschwächten
Catharina, daß ihr schwarz vor den Augen wird. Der eigene Bericht nun gar
(in ihrem letzten Brief an Bruder Raimund da Capua), den sie von einer
solchen Vision erstattet, liest sich nicht angenehm. Zum Teil mag es daran
liegen, daß hier das Wort nun einmal ein schlechtes Vehikel ist, und der
hl. Franz Solanos war sicher gut beraten, da er die Flöte blies, um seine
mystischen Erlebnisse zu schildern. Allein vor allem ist es der Christus
ihrer Visionen, dem wir nicht ohne Mißbehagen und einer gewissen Kälte des
Herzens gegenüberstehen: es ist denn doch ein zu primitiver, zu sehr ein
Klosterfrauen-Christus, der ihr da vorschwebt! Und auch hier ist ihre
Auffassung des nichtvisionären Zustandes trotzdem, oder vielleicht weil sie
ihr stets dieselben Worte leiht, von ungleich größerer Bedeutsamkeit.

Christus ist ihr da stets das von Liebe entbrannte Lamm Gottes, das dem
Kreuzestode entgegen eilt, und stets sieht sie ihn als den von Nägeln
durchbohrten, von der Liebe am Kreuze festgehaltenen, verblutenden Erlöser.
Es war ein durchaus genialer Instinkt, der sie Zeit ihres Lebens an diesem
Bilde, haften ließ: Denn wie die Geschichte des jüdischen Volkes vor der
Ankunft des Messias von dessen _künftiger_ Bahn so mächtig vorausbeschattet
ist, daß die Gestalten der Führer dieses Volkes zu Vorbildern jenes Lebens
sich verdichteten, so wirkt seitdem die _vollendete_ Bahn dieses Gestirns
auf die Evolutionen der gesamten christlichen Völker bestimmend zurück. Für
das schauende Auge nun konnte die damalige Welt nur im Zeichen jenes
trauernden Erlösers stehen, von dem die Scholastiker sagten, daß er am
Ölberg gebrochenen Herzens zusammensank, weil sich ihm da die partielle
Fruchtlosigkeit seines Opfertodes auftat.

Nicht ein einziges Mal sehen wir Catharina den Blick hinwenden nach jenem
anderen rätselvollen Auferstehungstage eines verklärten und vergöttlichten
Leibes, als sei es nicht an der Zeit, solcher Kunde zu gedenken. Aber wie
entrückt die apollinischen Klänge jenes Tages uns auch verbleiben, die
seither mit den christlichen Nationen vorgegangene Wandlung ist dennoch so
groß, daß sich in vieler Hinsicht behaupten läßt: der Christus des
Mittelalters und der Kreuzzüge ist der unsere nicht mehr. Es ist -- wenn
ich dies Bild gebrauchen darf -- als träte nunmehr die Welt in das Zeichen
der Grablegung, und als dämmerte unsere Zeit oder die nächstkommende, oder
die kommenden Jahrhunderte, dem beruhigten, ahnungsvollen Zauber der
Kartage entgegen. --

So lange Catharina in der Zelle ihres elterlichen Hauses verborgen blieb,
unterschied sich ihr Leben nicht von dem der anderen Heiligen: die Liebe zu
den Armen, die Krankenpflege, selbst die Wunder, die ihr zugeschrieben
werden, dies alles findet sich in ähnlicher Weise in so vielen anderen
Legenden wieder. Aber durch ihre große Heiligkeit wurde sie bald zum
Mittelpunkte einer kleinen Gemeinde, und verschiedene Mantellate hatten
sich ihr angeschlossen, vor allem jene junge Witwe Alessa, aus dem
Geschlechte der Saraceni, der wir in den Briefen als dem Sekretär der
Catharina begegnen. Denn Lesen und Schreiben war dieser nicht beigebracht
worden; man erachtete es für Mädchen ihres Standes als einen Luxus, und sie
lernte es erst in ihren letzten Lebensjahren. In dem Hause, das Alessa in
ihrer Nähe gemietet hatte, zog sich Catharina vor dem Getriebe und
Geräusche des Färberhauses zu längeren Aufenthalten und öfter zurück, und
bald wird sie nun in ihre eigentliche Bahn gelenkt. Denn nicht nur Frauen
und Mädchen, auch Männer traten bald in ihren heiligen Kreis, und nicht nur
Geistliche wie ihr Beichtvater Raimund da Capua, sondern junge Ritter, wie
Stefano di Maconi, der vor allen geliebte Jünger, und Francesco di
Malvolti. Catharina kam nämlich mit Weltleuten vielfach in Berührung durch
eine der denkwürdigsten Seiten ihrer Wirksamkeit: die der
Friedensstifterin. Als solche weilt sie längere Zeit auf der Burg der
Salimbeni, und wir sehen die Führer des kriegerischen Adels, später eine
Stadt, einen Papst zur Schlichtung der Fehden sich an sie wenden. Der Ruf
ihrer wunderbaren Heiligkeit -- es hieß, sie hätte monatelang nichts
anderes als das Abendmahl genossen -- verbreitete sich immer mehr. Die
Heiligkeit erlebte aber zur Zeit des Faustrechtes ihr größtes Prestige, und
in dem Italien des 14. Jahrhunderts wob die Zeit selbst an dem Zauber, der
ihr einen so unerhörten Einfluß verlieh.

Ihre erste Mission galt der eigenen Vaterstadt, dem von Fraktionen zwischen
Adel und Bürger, Guelfen und Ghibellinen zerrissenen Siena. Im Jahre 1368
fiel dort die Macht den, größtenteils aus dem Pöbel zusammengesetzten,
sogenannten »Fünfzehn« zu, die unter Kaiser Karl VI. den Titel Reformatoren
annahmen und das Reformieren auf ihre Weise betrieben. Ihnen galt
Catharinas erster Mahnbrief, und von da an ruhte sie nicht mehr, die
Menschen zur Liebe und zum Frieden aufzurufen. Ihr überströmendes Mitgefühl
ist ihre Zauberformel, mit der sie die härtesten und die schwersten Herzen
gewinnt. Zum Tod Verurteilte wollen sie sehen und von ihr getröstet werden.
Ein junger Edelmann: Nicola Tuldo, der wegen seiner Teilnahme an einer
Verschwörung wider die »Fünfzehn« zur Enthauptung verurteilt wurde, raste
vor Verzweiflung über sein bitteres Los. Da vermag es Catharina, ihn mit
seinem Schicksal auszusöhnen: sie steht ihm bei, harrt bis ans letzte Ende
mit ihm aus, und er stirbt getrost, ja glücklich, in ihren Armen.

Es läßt sich denken, daß Catharina von Anfeindungen nicht verschont blieb.
Aber die Sonne ihrer Tugend überstrahlte so weit alle Verdächtigungen und
Verleumdungen, daß ihr Ruf nur um so unantastbarer daraus hervorging.

Nachdem sie 1374 die Pestkranken in Siena gepflegt, verbrachte sie mit
mehreren Mantellaten und Mönchen, darunter der getreue Raimund da Capua,
einen großen Teil des Jahres in Pisa, von der Bevölkerung und von dem
Tyrann Gambacorti begeistert aufgenommen. Dort pflegte sie häufige
Unterredungen mit dem Gesandten von Cypern, der sich auf dem Weg nach
Avignon befand und ihr Umständliches über die Mohammedaner berichtete,
gegen die er den Papst zu einem Kreuzzug überreden sollte. Von diesem
Gedanken ließ die Heilige nicht los. Sie schrieb an die Fürsten und
Feldherrn Italiens, an Carl V. von Frankreich drei dringende Briefe, an die
Königin Johanna von Neapel, an den Grafen Monna Agnola, und wendet sich
unverzagt an Männer wie Barnabo Visconti und den Condottiere Hawkwood.
Allein in ihrem so beherzten und naiven Verfahren leuchtet zugleich ihre
große intuitive Menschenkenntnis hervor und ihr praktischer Sinn; denn das
eigentliche Gebiet der Catharina von Siena ist nicht die Zelle noch die
Krankenpflege, so mutig und groß sie sich dabei bewährte, sondern die
Politik und die Diplomatie, eine Diplomatie freilich, deren ganzes
Geheimnis Friedensliebe ist und Mitgefühl, und welcher trotzdem ein
unleugbarer und großer Einfluß auf die Geschichte Italiens nicht versagt
blieb.

Es war ihr Traum, daß die Fürsten der Christenheit ihre Fehden schlichten,
um sich zu einem Kreuzzug alle zu vereinen. Es wurde auch wirklich daran
gedacht, den Condottiere schwebte schon die reiche Beute vor, die ihrer im
Lande der Ungläubigen wartete, und einen Augenblick durfte Catharina an die
Erfüllung ihrer Hoffnungen glauben. Allein die Empörung Italiens wider die
päpstlichen Legaten, die bald darauf ausbrechen sollte, machte ihre
großmütigen Pläne zunichte. Catharina schrieb an die Konsuln von Bologna,
schrieb an den Papst und faßte damals schon den Gedanken von der
Notwendigkeit eines römischen Papsttums und seiner Rückkehr in die Stadt
des hl. Petrus. Sie kam indessen wieder nach Siena und erfuhr dort, welche
unheilvolle Wendung der Aufstand in Florenz genommen hatte: statt des
Kreuzzuges sieht sie nun die Städte Italiens im Kriege wider den
Stellvertreter Christi und die eigene Vaterstadt dem Bunde gegen ihn
beitreten. Florenz aber, den eigentlichen Herd des Aufruhrs, dem schwersten
Interdikt verfallen, das je eine Stadt betroffen hatte. Durch den
päpstlichen Bannfluch fand es alle Häfen verschlossen und sah bald seinen
ganzen Handel ruiniert. Da wandte sich Soderini im Namen der Kriegspartei
an Catharina, von deren Einfluß auf Gregor er vernommen hatte, um sie als
Vermittlerin zum Papst nach Avignon zu entsenden. Es lag nicht in
Catharinas Natur, sich einem solchen Wagnis zu entziehen. Im Mai des Jahres
1376 ist sie in Florenz. Von Soderini, in dessen Hause sie wohnt, wird sie
der Signoria vorgestellt und steht alsbald inmitten ihrer diplomatischen
Aktion. Schon am 18. Juni hat sie Avignon erreicht, begleitet von 21
Gliedern ihrer geistlichen Familie, Mantellaten und Mönchen, dem treuen
Raimund und Stefano di Maconi.

Man kann nicht sagen, daß die schweren Aufgaben, die Catharina stets so
schnell entschlossen übernahm, ihr je erleichtert worden seien, und es
zeugt für die Reinheit ihrer Ziele, daß sie durch keine Mißerfolge in ihrem
Eifer erlahmte. Der Friede mit dem Papste scheiterte sowohl an dem
Verhalten der Signoria, worüber wir bittere Klagen in ihren Briefen
vernehmen, als an mancherlei Intrigen von seiten der Kardinäle. Catharina
war den Gesandten von Florenz vorausgeschickt worden, um deren versöhnliche
Gesinnung dem Papste zu verkünden. Als nun diese Gesandten nach langem
Zögern in Avignon eintrafen, erklärten sie keine Vollmacht zu haben, mit
Catharina zu verhandeln; von den Beratungen, die nun stattfanden und die zu
einem neuen Bruche führen sollten, blieb sie ausgeschlossen. Die Vorschläge
der Signoria an den Papst wurden als unannehmbar verworfen, das Interdikt
aufrechterhalten und die Kriegserklärung von neuem ausgesprochen. Ergrimmt
verließen die Gesandten Avignon; Catharina indessen, die noch eine andere
Mission erfüllen mußte, blieb zurück. Es war Gregors frommer und geheimer
Entschluß, das Papsttum nach Rom zurückzuführen. Aber die Kardinäle, die
nahezu alle Franzosen waren, der Hof, Gregors Umgebung, seine eigene
Neigung stand diesem Entschluß so mächtig entgegen, daß er ohne Catharina
schwerlich zur Ausführung gekommen wäre. Allein gegen so mächtige
Widersacher, zu welchen sie den Herzog von Anjou, des Königs eigenen
Bruder, zu rechnen hatte, unternahm sie jetzt den Kampf. Aber Catharina
hatte von Anfang an viel Einfluß auf Gregors hohe Seele gewonnen. In ihren
Briefen an ihn spiegelt sich seine eigene liebenswürdige Natur, an die sie
also zärtlich, naiv und stürmisch zugleich sich wenden kann. Denn Catharina
war eine Herrschernatur: ein tyrannischer Zug geht sehr deutlich aus ihren
Briefen hervor. Wie sie ihre Kreuzzugspläne nie aufgeben will, so läßt sie
nicht nach, dem Papste die Reformation der Kirche, die Beseitigung der
schlechten Hirten und der Mißbräuche vorzupredigen. Zwar kann ihr die
Schwierigkeit eines solchen Unternehmens nicht verborgen sein, denn diese
heilige Jungfrau hat für die Verderbtheiten der Menschen einen sehr
durchdringenden Blick; allein es ist, als sei ihr als Ziel das
Unerreichbare gerade recht.

Sowohl für die Zeit als für die Art der Abreise Gregors sollte ihr Rat
bestimmend sein. Noch einmal zwar bedarf er ihres anfeuernden Mutes, um
seinen Entschluß zu Ende zu führen, denn schon hatten sich andere Einflüsse
geltend gemacht und ihn zur Rückkehr nach Avignon bewogen, als er nach
einer stürmischen Seefahrt in Genua landete. Dort aber hat ihn die Heilige,
die ihm auf dem Landweg vorausgekommen war, erwartet. Es finden geheime
nächtliche Unterredungen zwischen den beiden statt, und wieder erweist sich
Catharinas begeisterte Sprache siegreich über eine mächtige Partei, Gregors
Unentschlossenheit und das Widerstreben der Kardinäle. Jetzt erst kehrte
die Heilige, die ihre Aufgabe für erledigt hielt, nach Siena zurück. Dem
feierlichen Einzug Gregors in Rom, den sie herbeigeführt, wohnte sie nicht
bei, sondern war still zu den Ihren zurückgekehrt. Doch sollte ihr
hienieden keine Ruhe mehr beschieden sein. Bald darauf ist sie auf Gregors
Wunsch wieder in Florenz. Soderini, das Haupt der guelfischen Partei, hatte
sie abermals dorthin berufen und in seinem Hause aufgenommen. Es neigten
jetzt alle rebellischen Städte zum Frieden mit dem Papste: in Florenz war
die guelfische Partei eifrig darum bemüht, und im Vorfrühling 1378 kam zu
Sarzano glücklich ein Kongreß zusammen, als die Kunde von Gregors Tod die
Verhandlungen unterbrach. Erst unter dem neuen Papste, dem der Friede mit
Florenz dringend am Herzen liegen mußte, kam er zum Abschluß. Catharina,
unversehens zum Werkzeug einer politischen Partei mißbraucht, war indessen
durch Ausschreitungen der Guelfen in eine sehr schiefe und mißliche Lage
geraten. Es kam soweit, daß ein Pöbelhaufe, von den Ghibellinen gegen
Catharina aufgestachelt, Soderinis Haus umstellte und niederbrannte, um
dann unter wilden Verwünschungen in den Garten einzudringen, in welchen sie
mit einem Teil ihrer geistigen Familie geflüchtet war. Catharina aber eilte
da selbst dem Führer der Rotte, der mit gezogenem Schwert auf sie
losstürzte, entgegen, und ihre heitere Miene, ihre ruhigen Worte erfüllten
ihn mit solchem Grauen, daß er entsetzt sich von ihr abwandte und seine
wütende Schar hinwegführte. Sie aber brach in Tränen aus, weil ihr das lang
ersehnte Märtyrertum versagt worden war.

Sie machte wenig Worte aus der Begebenheit und streifte sie nur flüchtig in
einem Brief an Gregors Nachfolger Urban VI. Dieser Papst setzte in
Catharina ein unbegrenztes Vertrauen, und als er bald darauf durch das
Schisma und den Abfall seiner sämtlichen Kardinäle in die furchtbarste Not
geriet, berief er die Heilige nach Rom. Noch einmal ergehen da ihre Briefe
an die Fürsten und Kardinäle, die frommen Genossenschaften und Klöster, sie
zur Treue für Urban aufzurufen. Auf ihr Zeichen eilen heilige Männer aus
ihrer Zelle, ihrer Einöde herbei. Gestützt auf Catharinas klugen und
umsichtigen Rat, gelingt es Urban, eine neue Anhängerschaft um sich zu
sammeln, und mit fieberhafter Eile ist Catharina um seine Sache bemüht.
Denn ihre Kräfte sind aufgezehrt; sie fühlt die lang ersehnte Nähe des
Todes. Zum letzten Male schreibt sie an Urban, ihn zur Milde ermahnend, und
an den getreuen Raimund, der in der Ferne weilt. Am 29. April 1380 stirbt
sie »mit dem Angesicht eines Engels« im Alter von 33 Jahren. Von einer
inneren Stimme gerufen, war Stefano di Maconi an ihr Sterbelager geeilt.
Auf seinen Schultern trug er sie zu Grabe. --

Catharina hatte wahr gesprochen, als sie im Scheiden ihren geistlichen
Söhnen und Töchtern, die sie weinend umringten, verhieß: sie würde
vollkommener mit ihnen sein, und vorteilhafter von dort, als sie es
hienieden vermöchte. Gegen die Stürme, die nunmehr dem Papsttum beschieden
waren, hätte Catharina nichts vermocht, und ihre Mission auf Erden war
erfüllt. Ihr lag das Unanalytische zugrunde, das die Großen des
Mittelalters kennzeichnet. Die _Menschenliebe_ war das Geheimnis ihres
Herzens. Ihr Suchen nach Gott und göttlichen Dingen hat bei den anderen
Mystikern einen mächtigeren, transzendentaleren Zug. Gott ist wohl der
Ausgangspunkt ihrer Mystik, die Menschheit aber deren Ziel; man könnte sie
eine auf die Menschheit angewandte Mystik nennen; wie uns ja auch ihre
Beziehung zur Gottheit mehr durch ihre eigenen Heilandszüge als ihre
Unterredungen mit Gott beglaubigt wird. Sie hat nicht die Ader eines Franz
von Assisi, nicht den Flug eines Ekkehard, noch die Lichtblicke eines Jakob
Böhme. Im rein Beschaulichen zeigt sie sich nicht versonnen, noch von
reicher Imagination. Auch für die tiefsinnigsten Probleme ist sie's
zufrieden, den Boden des Katechismus zu durchmessen, und das Rätselvolle,
Vieldeutige und Heimliche eines Ausspruches ist für sie nicht vorhanden;
denn der eigentliche Sinn dieser Ekstatikerin ist das Reale. Ihr
staatsmännisches Talent verrät sich in der starken Logik, dem Aufbau ihrer
Briefe; vielleicht fällt gerade das Unspekulative ihres starken Geistes mit
ihrer politischen Begabung zusammen, wie dies in größerem Maßstab bei Dante
zutage trat, und ihre Briefe sind deshalb von ungleich höherem Interesse
als ihre anderen Schriften, weil sie uns von dem Interessantesten an
Catharina -- und das ist ihre Persönlichkeit -- am meisten verraten.

Mit diesen Briefen geht es uns wie mit ihr selbst und wie es so vielen
ihrer Zeitgenossen ging, die ihr voll Abneigung entgegentraten und ihrem
Banne verfielen: so möchten wir zurückschrecken vor der Monotonie einer so
einseitigen Weltanschauung und verfangen uns an dem Feuer eines so reinen
und kühnen Herzens. Catharina wäre uns heute so stumm wie viele ihrer
heiligen Genossen, die im Kalender stehen, wäre sie nicht als Frau so
unvergänglich! -- modern bis in die Fingerspitzen -- als Frauenrechtlerin
vielleicht die einzige, die ganz unserem Geschmack entspricht. Wie sie mit
der Sitte, mit allen Konventionen bricht, wie diese Jungfrau, die Mönche
und junge Ritter ihres Alters in ihrem Gefolge hat, frei und königlich
einherschreitet und wie leicht und wie von selbst sich ihre
Ausnahmestellung in der Welt ergibt, und wie hochgebildete Männer den Rat
der Färberstochter einholen und der Spott der Rauhen vor ihr verstummt.

Das Geheimnis? -- Ihr Geist allein war es nicht: eine so überbietende
Gewalt hat der Geist einer Frau niemals. Das Überbietende an ihr war die
Natur, und man möchte die italienische Volksseele darum beneiden, eine
Blüte wie Catharina gezeitigt zu haben. Das mystische an Catharina ist sie
selbst: Alles was Dianenhaftes in einer Frauenseele schlummert, griff sie
leuchtenden Armes hervor. Bis zum innersten Kern eines unklaren und
geheimnisvollen Dranges getrieben, erhebt sie ihn zu mächtiger Bewußtheit,
zu einem Typus höchster Jungfräulichkeit sich entfaltend. Sie darf es
verschmähen, hinter Klostermauern sich zu verschanzen und dem Manne, den
sie in sich ausgeschieden, in ihrer männerliebenden Seele zu entsagen. Weit
überragt ihre Bedeutung den Rahmen eigentlicher Heiligkeit. Ihre zarte
Gestalt zieht wie ein Mythos am Himmel der Heiligen auf, und unwillkürlich
erinnert sie an jene Worte des Psalms, die Christus an seine Jünger
richtete -- Worte, deren Geltung er ausdrücklich für den Menschen
aufrechthielt und die an ihrer schlichten Seele vorüberhallten: »Ihr seid
Götter!«

»Weißt du, liebster Sohn, daß bald ein größeres Verlangen, das du hast,
erfüllt werden wird?« sagte sie zu Maconi. »Was ist das für ein größeres
Verlangen, das ich hätte?« sagte er. Und sie: »Frage in deinem Herzen!«
Worauf Maconi: »In Wahrheit, ich weiß kein größeres Verlangen in mir
aufzufinden, als immer bei Euch zu sein.« Darauf sie rasch erwiderte: »Und
das eben ist es!« -- Und nimmt ihn mit nach Avignon.

Ein solches Wesen mußte das feinbesaitete und stille Gemüt Gregors
entzücken. Und wie gut durchschaut und kennt ihn Catharina! Ihn bestürmt
und drängt sie und macht ihm Vorwürfe, und wieviel zurückhaltender,
vorsichtiger, und unfreudiger ist dagegen ihre Sprache dem schrecklichen
und ungeschickten Urban gegenüber. Auch ihn nennt sie ihr »süßes
Väterchen«, aber sie holt weiter aus, um ihn zur Milde zu ermahnen; sie
weiß, die von ihr ersehnte Reformation ist von ihm nicht zu hoffen: was er
anfaßt, kann er nur zertrümmern. Aber an ihr findet Urban in seiner Not
seinen festesten Halt: denn immer bleibt das stärkste Mobil in ihrer Seele
die Treue einer Kirche gegenüber, in deren Dienst sie sich verzehrte. »Ich
sterbe und kann nicht sterben!« ruft sie oft in ihrer Sorge, wenn ihr
prophetischer Geist ihr die bevorstehenden Leiden und Kämpfe verkündet.

Was mögen ihr für Bilder vorgeschwebt sein, wenn sie eine Reformation der
katholischen Kirche verhieß?

Es ist nicht auszudenken, was die Geschicklichkeit, die Friedensliebe und
der unparteiische Sinn der stürmischen, nie ungestümen Catharina verhütet
haben würde in den verhängnisvollen Tagen, die ein Jahrhundert später sich
bereiteten.

                  (Zeitlers Verlag.) Die Briefe der hl. C. v. S. 1906.




                        DAS LEBEN DER HEILIGEN
                               WALPURGA


Welch' goldumwobene Täler tun sich dem Blicke auf, der einzudringen sucht
in das Wesen des Wunders! Der Schwung, der den Menschen vom Tiere weg zu
einem neuen Tag und neuen Ufern hinwies, fuhr fort, ihn zu bewegen. Vom
niedrigsten zum höchst Gearteten gähnte schon ein Abgrund, als der Heilige
neue Höhen erklomm. Mußte der weit überbotenen Natur, mußte diesem neu
geschaffenen Erdreich das Übernatürliche nicht »natürlich«, wie die Blume
dem Abhang entsprießen?

Der Tod, so heißt es, sei durch die Sünde in die Welt gekommen. Aber dem
wirklich Wahren ist ja stets von mehr als einer Seite beizukommen, und es
trägt stets ein doppeltes Gesicht. -- In der Idee des Menschen lag das
Prinzip des Todes nicht enthalten. Es war nicht gemeint, daß er sterbe. Die
Torheit und der Schimpf des Todes waren ihm nicht zugedacht. Es entsprach
ihm nicht, daß er modere; noch solcher Möglichkeiten, wie daß der Wolf oder
die Hyäne ihn, den Herrn, stumpfsinnig zu seinem Fraß erniedrige. _Dies_
war von einem höheren Plane aus gesehen _wider die Natur_. Nicht aber, daß
unter den Füßen des Gottmenschen ein aufrührerisches Meer sich wie zu
Marmor-Fließen glättete, um seine Schritte hinzutragen.

Nur dem Chaos sehen wir Halt geboten, nur die Ordnung scheint uns
hergestellt, wenn wir vernehmen, daß Walpurgas Leichnam unversehrt gefunden
wurde und ihr blühweißes Gebein von einem duftenden Oel tauartig troff.
Gott allein weiß, wen er zu ehren hat. Daß er in das Herz des Menschen
sieht, heißt soviel, als daß der Mensch es _nicht_ sieht. Denn seine Psyche
ist ein Angesicht, nur für ein höheres Ich ersichtlich. Und wenn es heißt,
daß reine Herzen Gott schauen werden, so heißt dies, daß Gott sie schaut.
Und darum heißt es, daß der Herr des Lügners Angesicht nicht sieht und
seine Stimme nicht hört. Denn sein Augenstrahl dringt nur zu dem was ist.
-- Ach, zwei Welten gibt es, die einander meiden müssen! Wo das Seiende
seinen stobenden Funken auf die Welt des Scheines hinschlägt, da ist ihr
starres unabwendbares Gesetz ungewesen und zerflossen. Wie jene Strahlen,
die Fleisch und Blut übersehend, sich nur auf Wirbel und Knochen richten,
so ist ein Auge denkbar, das absieht von Bergen und Wolken und Kuppeln,
Dächern, und der menschlichen Hülle. Ein moderner Denker hat jene vageste
und zugleich bestimmteste Art des Fassens zu Ehren gebracht, die ein auf
das verstandesmäßige Sehen verzichtleistendes Schauen ist -- jener unter
Schutt und Gebälk ringende Funken, Intuition genannt, kraft deren sich die
Kreatur ihrem Joche entzieht und das Unfaßliche erfaßt.

Der Pförtner, der sich eines Abends weigerte, Walpurgas Befehle
auszuführen, und die Lichter ihres Klosters anzustecken, ist das Bild des
unintuitiven Menschen, der immerzu sieht und nie erschaut, indes Walpurgas
lauterem Herzen ein Licht entquoll und ihre Gestalt umflutete, die mitten
in der Nacht so hell zu leuchten begann, daß die Schar der Nonnen bestürzt
herbeieilte und sprachlos vor Staunen die Strahlende umringte.

Aber die dem Unwahren überwiesene, vom Schein genarrte und gefolterte
Kreatur hat das nur der Intuition erkennbare Wahre diskreditiert und das
Wort Mirakel dafür gesetzt.

                                                                 1911.




                             BEI DUCHESNE


                                  I.

Seit ich über die heilige Catharina und die heilige Walpurga schrieb, sind
nur wenige Jahre verflossen, und doch ist es schon nicht mehr dieselbe
Zeit. Jetzt erst realisiere ich, wie reizvoll es war, religiösen Problemen
nachzuhängen, während sie so ziemlich niemand interessierten. Ich sage dies
nicht aus Hochmut. Es sind Beleuchtungsfragen, und jeder kennt ja ihren
Belang. Wir wissen, daß eine zu offene Helle die Dinge schlagen und ihrer
Intimität berauben kann; wie sehr dagegen jenes andere gehemmte und
entkräftete Licht alles verstärkt und verdeutlicht, was es bestrahlt; --
Mitsommers vielleicht, während das voll entfaltete Laub regungslos unter
dem bedeckten Himmel hängt.

Eine frühe, noch ungewohnte Christenheit sah alles so grell, daß sie
verwirrten Sinnes die Geschichte ihres Kultus wob. Aber seit Dezennien, ja
seit Jahrhunderten schon hat sich ein stetig wachsender Indifferentismus
wie Wolkenbänke aufgeschichtet. Die Dinge der Religion ließ man links
liegen, hörte auf, sich zu ereifern. Immer weiter glitten sie wie
Abgeschiedene von uns weg, und immer weniger »gehörten sie her«.

Merkwürdigerweise gärte dabei das christliche Agens wie ein Sauerteig in
unserer entfrommten Welt unbeschadet weiter, fand andere Ventile, und
pflanzte sich in unserer Philantropie wie zu einem blühenden Stabe auf. Es
war erstaunlich zu sehen, wie gut gerade der Katholizismus es vertrug, daß
man ihn in Ruhe ließ, und abgewandten Sinnes lieber fliegen, forschen und
entdecken lernte. Ja, es schien, als atme er indessen von den Strapazen
unserer tausendjährigen Mißverständnisse auf; sachte begann er schon der
bitteren, unleidlichen Rinde sich zu entziehen, in die Menschenhände ihn
verbaut hatten, glitt einer neuen Kurve zu und evoluierte wie ein Planet.
Ja, man kann sagen: seine Idee evoluierte in dem Maße, als seine Dogmen an
Presenz und Deutlichkeit verloren. Nichts gleicht ja so vollkommen einer
Kugel als diese Idee. Und so drehte sie sich nur um ihre Achse, als sie,
ohne doch von uns abzurücken, wie der Neumond unserem Gesichtskreis
entschwand . . . Aber leider sind wir daran, ihn auf seiner Bahn noch
einmal störend aufzuhalten. Aus der Penombra unserer Gleichgültigkeit soll
er noch einmal vorschnell ans Licht, und wenn nicht alles trügt, so kommt
wahrhaftigen Gottes der Katholizismus jetzt in Mode.

Auf irgend einen Umschwung mußte man ja gefaßt sein. Mit der Liebe als
»Topic« ist es bekanntlich vorbei, sie muß sich erst von der Publizität
erholen, die wir ihr ein Jahrzehnt lang angedeihen ließen, so daß wir eine
Zeitlang lieber nichts mehr von ihr hören. Wer hinzukommt, wie ein Rad
ausläuft, der harrt der neuen Schwingung: so sind heute die Unerfahrensten
blasiert. Und daran ist ja nichts auszusetzen. Wohl aber, daß man darauf
verfiel, nunmehr das Religiöse gewissermaßen als Novität auf seine Zugkraft
hin zu erproben! Auch der laueste Katholik sieht heute entsetzt, wie die
Literaten deutlich Miene machen, den Katholizismus zu »entdecken«. Nicht
als Ausübende versteht sich, nur als Imaginäre, die allen Ernstes glauben,
aus Sport, und wie man Wagnerianer und später Antiwagnerianer war, so könne
man auch katholisch sein. Ein grotesker Wahn, wenn man bedenkt, daß der
Begriff Amateur-Katholik so wenig wie der des Amateur-Soldaten existiert.
Und zöge einer in Helmbusch und Epauletten einher, und würfe sich gar in
eine Generalsuniform, weil sie ihm so gut gefällt, so hätte er doch erst
recht mit militärischen Dingen nichts zu schaffen; es sei denn, daß er dem
Stande beitritt und sich dem Drill unterzieht. So fragt der Katholizismus
nicht nach Velleitäten, er fragt nicht, wer für den Pomp seiner Zeremonien
und Gewänder, auch nicht, wer für den suggestiven Zauber des Meßopfers
schwärmt, sondern er fragt nur, wer eingeht durch das kaudinische Joch, das
bis auf weiteres den einzigen Zugang bildet zu einer ehrwürdigen und
wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden Feste, daß nur
mehr die ganz Einfältigen, die freiwillig Gedankenlosen oder Leute von sehr
merkwürdiger Abstraktionsfähigkeit ihre Besatzung bilden. Und er fordert
von diesen Wenigen, daß sie es über sich bringen, die wankende Burg um
ihres ewigen Grundrisses willen nicht zu verlassen. Er fordert, daß sie,
wenn auch ohne Illusion und des Einsturzes gewärtig, den täglich
unleidlicheren Verhältnissen sich fügen. Er fragt nicht, welche Grimassen
sie dabei schneiden. Es genügt ihm, daß sie nicht ausziehen. Denn er bedarf
ihrer als Pfeiler für den kommenden Umbau.

In Rom, bei einem Kardinal, der ein sehr heiliges Leben führte, war eines
Tages im engsten Zirkel von der letzten Papstwahl die Rede; und auch von
den politischen Intrigen, die damals in allen Kanzleien so üppig und
offenkundig in Blüte kamen, daß am Tage der Entscheidung einer der
Botschafter mit der Prognose: »Ce sera un petit pape« -- im Gegensatz zu
Leo XIII. -- unumwunden herausrücken durfte. Der Neffe des Kardinals wagte
zu bemerken, daß sich der hl. Geist während dieses letzten Konklaves sehr
passiv verhalten habe. »Et vous croyez«, sagte der Kardinal, nicht etwa
ironisch, sondern mit der Fassung und erfahrenen Gelassenheit des
Veteranen: »Et vous croyez, que dans cent ans nous aurons encore ces
chinoiserieslà?« Mögen manche Katholiken ungläubig die Köpfe schütteln,
mögen sie den Neokatholiken unbegreiflich dünken; dies waren seine Worte.
--

Ich möchte hier etwas über Konvertiten einschalten. -- Zwischen ihnen und
den angestammten Katholiken herrscht so oft eine merkwürdige Fremdheit, als
wären sie gar keine richtigen Glaubensgenossen. Der alte Bau, der für die
Einen die edle Patina der Jahrhunderte trägt, steht wie frisch getüncht und
so hart und plötzlich -- und so neuartig vor den Augen der anderen. Nichts
von seinen Herrlichkeiten ist ihnen noch geläufig. Als nouveaux riches sind
sie über Nacht zu dem gelangt, was den Erbangesessenen selbstverständlicher
Besitz ist. Daher nichts Vornehmeres, aber auch nichts Selteneres als ein
Parvenu -- oder ein Konvertit, -- dem man's nicht anmerkt.

In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu bleiben,
ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß eine ganze Anzahl
Katholiken, und gerade die sympathische Sorte, da sie sich nicht lossagen
wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als über ein so gefährliches und
verwirrendes Thema nachzudenken. Und ich begreife sie sehr wohl. Seinem
Geiste nach ist der Katholizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich
zu Insgeheimes und zu Irisierendes. Für die Armen da, gewiß, aber wie ein
König für die Armen da ist, so ist er in seinem unantastbaren Adel denen
sogleich entzogen, die in ihn hinein geheimnissen oder ihm mit
Anachronismen zu nahe treten. Denn er kennt kein Zurück; und
durchschrittene Bahnen umkreist er kein zweites Mal. O wüßte Claudel, wie
weit dieser Geist seiner versteinerten Muse entschwebt ist, wie wenig ihr
erledigtes Mittelalter den Unaufhaltsamen trifft!

Wenn mir vorhin die Konvertiten einfielen, so geschah es, weil mir bei der
Äußerung des Kardinals, die ich zitierte, unwillkürlich ihre erschrockenen
Mienen vorschwebten. Der junge Diakon hingegen, an den sich die Worte
richteten, vernahm sie mit einem beschaulichen Lächeln. Er sollte sich bald
darauf durch einen zu fürwitzigen Modernismus seinem Seminar mißliebig
machen, auch sollte ihm -- gerade nach Torschluß -- dünken, daß er für die
Aviatik oder die Armee -- er stammte aus einer französischen
Offiziersfamilie -- berufener gewesen wäre, als für den Priesterstand, den
er offenbar ein wenig vorschnell erwählt hatte. In dieser Verfassung kam er
nach München und besuchte mich hin und wieder. Bei seinem skeptischen
Naturell konnte von einem Glauben, der Berge versetzt, nicht die Rede sein.
Intelligent und rege, aber der Wissenschaft, der Technik zugewandt und ohne
jede Einstellung für das Religiöse, läßt sich denken, wie ihm heutzutage in
seinem Stande zumute sein mußte. Seine Ironie war zu wenig gespielt, sein
Achselzucken zu vielsagend, seine Munterkeit zu sehr die eines gefangenen
Eichhorns, kurz, sein Stichwort war die Qual, -- man brauchte es gar nicht
lange zu suchen.

Eines Tages erschien er plötzlich zu ungewohnter Stunde, sich zu
verabschieden. Es habe sich eine Vikarstelle für ihn geboten; ob er die
annähme, wisse er noch nicht, und er zuckte die Achseln; doch jedenfalls
kehre er nach Frankreich zurück.

Die Fenster standen groß offen, und es war ein Frühlingstag, daß ihn die
Gestorbenen unter ihren Erdhügeln spüren mußten. Als eine verwegene
Negation des Todes rauschte er mit allen Schauern herein, sein Licht hing
sich wie ein Lockruf an den blassen und eleganten Abbé und hob mit so weher
Schärfe die Tragik seines Daseins hervor, daß ich aufatmete, als er wieder
ging. Doch gleich darauf hielt ich es selber im Hause nicht mehr aus.
Draußen, unter freiem Himmel, angesichts der Straßen, der blühenden
Anlagen, da gab es die vieljährigen Bäume, die oft erstorbenen und nun
wieder ergrünten, und Menschen aller Art, erst da ließ sich das Schicksal
des jungen Priesters wieder einreihen und erdrückte nicht mehr. Da erst
konnte man sich ein Herz fassen, kalte Dinge in den Tag hineinzudenken.

Zwei Jahre waren vergangen, als ich ihn unvermutet wieder traf. Er hatte
sich in einem Lyzeum ganz der Erziehung junger Knaben gewidmet, seine
Hoffnungslosigkeit schien glücklich eingedämmt; ich fand ihn
»zusammengerissen« und gefestigt, ohne daß er doch im Stillen von seiner
Skepsis das geringste eingebüßt hatte; er zuckte die Achseln womöglich noch
höher als zuvor, und nie war einer seines Zeichens der Dogmen so ungewiß.

»Warum gehen Sie nicht weg?« fragte ich starr.

»Es ist keine Sache, die man desertiert,« sagte er. Dabei kam ein so
anderer Ausdruck in sein Gesicht, und ich begriff, daß eine Weihe wie die,
welche er empfangen hatte, dem Flüchtling zum Brandmal werden müßte. Für
den Augenblick wollte mir alles andere gering scheinen im Vergleich zu dem
Leben dieses im eigenen Lager mißkreditierten und verdächtigten Abbés, der
mit so großer Selbstverleugnung auf seinem Posten blieb. Weil _hinter_
diesem Katholizismus, dem wir doch sonst lieber heute als morgen
davonliefen, das Rätsel steht, das wie eine noch ungehobene Monstranz weit
hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes inmitten der
ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann ausstrahlt.

Wird mich der Leser verstehen, wenn ich ihm das Bild nenne, das da
plötzlich vor mir aufstieg? Ein kleiner Reitertroß, welcher dem vorsichtig
nachziehenden Heere voransprengt, verwehrte Grenzlinien erkundend, ohne
Deckung, verfallen, namenlos, und dennoch vom Sturm seiner Gesinnung sich
zu opfern hingerissen, weil dort einige Helden liegen müssen, wo die
kommenden Vielen freien Durchzug über neue Brücken finden sollen. Und auch
jene Kundschafter schwebten mir vor, die sich als erste in die mörderische
Luft erhoben, um sie für andere zu besiegen. Von dem mystischen
Generalissimus aber, der heute eine solche verschwindend kleine Schar durch
seinen Geist beseelt und, vielleicht ohne es zu wissen, auf ihren
gefährlichen Vorposten zurückhält, von Duchesne will ich nun sprechen.


                                  II.

Ich wäre glücklich, wenn es mir gelänge, das Bild des Mannes zu umreißen,
der sich aus dem unmöglichen Kompromiß zwischen Skepsis und Gläubigkeit
seine gedankliche Würde und Unabhängigkeit rettete, und -- klug wie eine
Schlange -- die Desinvoltura seines Geistes bis in ihre kleinsten,
spöttischesten Züge vorbehielt, während er sich doch als ein Gebundener
aller Waffen begab; -- der heute mit einer Selbstverleugnung ohnegleichen
als Trumpf einer Partei steht, die nur darauf sinnt, ihn auszustoßen,
während er durch sein geistiges Prestige ihre Wagschale hält; -- der über
die obskuren Tage, durch welche sich der Katholizismus durchringen muß, wie
ein blühender Ast hinausreicht, und dessen Schatten so beseelt eine
Schwelle überhängt, die er nicht beschreiten wird. Es gibt heute auf der
Welt keine stolzere Gestalt, und keine, die so einsam steht, wie Duchesne.
Nicht mit den Unbedachten und den Fanatikern, die blindlings ein
zerfallendes Gemäuer verteidigen, sondern weil er dessen unerschütterliche
Basis ergründete, nur deshalb verharrt er standhaften Fußes inmitten des
immer hastigeren Gerölles. Gar manche Werte, als unvergänglich ausgegeben,
wird es ja als vergangene vor sich hintreiben. Aber keine Kunst wird es
dann sein und keines Scharfblickes wird es mehr bedürfen, sich zu einem
Katholizismus zu bekennen, von dem die düstere, unziemliche und abgenützte
Wörtlichkeit sich endlich löste!

Ich war zum erstenmal nach Rom gekommen und wußte noch nichts von Duchesne,
als mich eines Tages Barrère auf die Gäste aufmerksam machte, die er für
den Abend erwartete; er hob den soeben zum Monseigneur ernannten Abbé
Duchesne vor allen anderen hervor und bestimmte mich in seiner impulsiven
Art zu seiner Nachbarin. Nun war ich aber noch übertrieben jung, wenn man
so sagen darf, und eine viel zu unwichtige Person, um von dem neuen
Würdenträger geführt zu werden. Man beförderte mich also an seine Linke. Es
war alles was sich machen ließ. Zu seiner Rechten saß -- zart und
pariserisch -- die sehr reizvolle junge Gattin eines französischen
Deputierten. Sie verstand es sogleich, sich mit einer huldigenden kleinen
Phrase Duchesne zuzuwenden, und ich beneidete sie um ihre Sicherheit,
erschrak jedoch, als sie ihn dann fast unverweilt auf religiöse Themen hin
unternahm. Allein sie trug sich als strenggläubige Katholikin und ohne
Furcht. Leo XIII., obwohl schon ein Sterbender, hatte sie noch empfangen
und ihr seinen Segen gewährt . . . sie war so glücklich . . . dieser
unvergeßliche Eindruck . . . »Und werden Sie sich einige Zeit in Rom
aufhalten?« fragte Duchesne. »Ach nein, leider nicht.« Sie müsse wegen der
ersten Kommunion ihres ältesten Kindes zurück.

»Schade,« sagte er.

Es entstand eine kleine Pause; man reichte ihr eben den Fisch, aber dann
erklärte sie eifrig, sie wolle jedenfalls den Ablaß gewinnen, bevor sie Rom
verließe. Hatte Monseigneur ihn schon gewonnen? »Non,« gab er zur Antwort,
»j'attends qu'il y ait un rabais«. Und ohne aufzusehen, ließ er ihr ruhig
Zeit sich zu sammeln. Ihr Gatte fing die bestürzte, fast hilfesuchende
Miene nicht auf, mit der sie über den Tisch zu ihm hinsah, indes ich mich
schnell zurücklehnte, um Duchesne mit einem unauffälligen Blick zu
überfliegen. Mein Herz tat einen großen Ruck und stand horchend still. O,
diese hohe, wie in kühner Abwehr geschwungene Braue! dies aufblitzende,
bedrohliche Feuer des Auges! und welcher Ernst hinter dieser grimmigen
Maske! Jene unverbriefte augenblickliche Sicherheit, zu der eine intuitive
Erkenntnis hinreißen kann, trug mich da, -- des Pfeils nicht achtend, wo er
lag -- schnurgerade zu dessen Ausgangspunkt hin. Nein, bei Burgunder und
Salmi gab dieser Mann nichts zum Besten von dem, was der Brennpunkt seines
Lebens war. Bedachte sie es nicht und zog sie keine Schlüsse, die anmutige
Frau, die sich die Dinge zugute hielt, deren letzte Konsequenzen er trug?
Sein zierlicher violetter Mantel, als seidenes Nichts über den Sessel
zurückgeschlagen, hing er ihm nicht wie mit eisernen Schließen am Halse an?
und entnahm sie nichts der so wenig klerikalen, der so priesterlichen
Prägung dieser tragisch in sich gekehrten Züge? --

Ach! so neu war dies! wie wenn Berge zurücktretend ein Tal einlassen. Ich
war so entzückt, daß sich mir alles festlich erhöhte: das Silberzeug wie
neu gehäuft, als spende es seine Pracht zum ersten Male, und auch die
Blumen!

Es ist leider nicht zu umgehen, daß hier zu viel von mir selbst die Rede
ist, denn ich muß zur Erklärung manches einschalten. Mit sechs Jahren
steckte ich schon in einem Kloster, das ich erst mit zwölf, beflügelten
Schrittes, auf immer verließ. Der Begriff und das Hochgefühl, ja die Würde
der Freiheit bestand für mich darin, daß ich nunmehr mit Klosterfrauen,
spitzenbesetzten Heiligenbildern auf Tortenpapier, und den frommen und so
faden Öldrucken, vor welchen es in keinem Saale, keinem Korridor, keinem
Vorplatz ein Entrinnen gab, auf immer außer Kontakt treten durfte. Dies
hatte der furchtbare Klosterjargon bewirkt, in den das Erhabene und
Unbegreifliche, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee, ohne
Unterlaß hereingezogen wurde. Kein Anlaß war zu gering, um uns von Gott zu
sprechen. Schneller als man glaubt hat aber die geheimnislose Aufmachung
des Geheimnisvollen das religiöse Bewußtsein eines Kindes zerstört, und es
wendet sich so bald als möglich von einer Sache ab, die man ihm mit
beschämend albernen Reminiszenzen behing. Ich war mit so mächtigen
Aversionen aus meinem Kloster ausgetreten, daß ich mich fortan allen
religiösen Erörterungen und dem Umgang kirchlicher Personen mit anstößiger
Deutlichkeit entzog und meiner Abneigung für sie auch dann, ja dann erst
recht mit wahrem Behagen treu blieb, als ich angefangen hatte, dem Problem
des Katholizismus still für mich allein mit gespanntem Interesse
nachzuhängen.

Und nun zurück zu jener Tafel: aber ich glaube, es werden einige schon
begriffen haben, warum da mein Herz so plötzlich höher schlug.

Tags darauf bestürmte ich Barrère, mir zu einer Unterredung unter vier
Augen mit Duchesne zu verhelfen. Ihnen kann er's nicht verweigern, und mich
machen Sie für den Rest meiner Tage glücklich, beteuerte ich.

Aber Barrère ließ sich durch meine melodramatische Geste nicht beirren. Er
dachte nicht, was ein jeder an seiner Stelle gedacht hätte: »die Kleine
wird mich blamieren!« Er zögerte nur einen Augenblick lang, dann schickte
er eine Zeile zu Duchesne hinauf: dieser wohnte nämlich im selben Hause,
wenn auch nach einer anderen Himmelsrichtung und fast eine Viertel Meile
Weges entfernt. Denn das Dach des Palais Farnese ist weitläufig wie ein
Stadtviertel und birgt einen ganzen Komplex verschiedenster Wohnungen. Es
hat sogar seine Slums, sozusagen, unkontrollierbare Schlupfwinkel, aus
welchen allerlei lichtscheues Volk sich nicht mehr vertreiben läßt.

Duchesne schickte den Boten mit der Antwort zurück, daß er mich am
folgenden Morgen empfangen könne. Als Leiter des Archäologischen Institutes
hatte er eine hochgelegene, aber stattliche Flucht von Zimmern inne.
Beklommen erstieg ich die vielen Stufen und begriff den Ansturm nicht mehr,
der mich mit solcher Macht zu diesem Schritt getrieben hatte: er erschien
mir plötzlich anmaßlich und ungenügend motiviert. Lag mir denn auch
wirklich so übermenschlich viel an solchen Fragen? welchen Fragen? . . .
ich wußte auf der Welt nicht mehr, was ich Duchesne sagen wollte, und
angsterfüllt zog ich die Klingel.

Der Diener verneigte sich stumm, zum Zeichen, daß ich erwartet sei, und aus
dem Halbdunkel trat eine Katze hervor, die sich ohne Zögern meiner annahm
und mir voranschritt. Zwar hätte nichts farbloser sein können als Duchesnes
Empfang. Mir jedoch, da ich vor ihm stand, verscholl alles Alltägliche, und
alles Zufällige stürzte mir zusammen wie Kulissen, die aus dem Wege müssen
und mein wahres Leben umgab mich wie ein Paradies. Kindheit und Jugend von
mir fortgeweht und selbst die Jahre, die noch vor mir lagen, im voraus
abgesponnen, gehörten mir nicht mehr an, keine Zeit, nur diese eine
denkwürdige Stunde; kaum ein Geschöpf, nur ein Gedanke, so stand ich vor
ihm; nichts von dem Zimmer wahrnehmend, in dem ich stand, nur den Himmel,
der durch die Scheiben sah: rosige Wolkenstreifen über den Janiculus. Es
ist Abend, dachte ich.

»Guten Morgen,« sagte Duchesne.

Doch ich blieb unter dem vagen Eindruck eines Abendhimmels und sah so klar,
wie ohne diese unverhoffte Begegnung mein Weg sich verengte und ich
abstürzte. Aber im magischen Schein dieses sinkenden Tages, der ein
aufziehender war, dünkte es mir mit nichten wunderbar, daß der ausgerechnet
einzige Mensch auf dieser Erde, vor dem ich mir -- wie ich nun einmal
beschaffen war -- die Bestätigung, das »Geländer« dessen holen würde, was
ich mir nun schon lange -- Sprosse für Sprosse -- trotzig aufbaute, hier
vor mir stünde, mich zu vernehmen. Die Tatsache war schon vergessen, daß
sich mein Leben bisher zu einer Mosaik heftiger, stets unerfüllter Wünsche
mit erstaunlichem Tempo zusammensetzte. Stand doch auch mein Umgang mit
Menschen damals im Zeichen des erbitterten, weil unstillbaren Wunsches, auf
einen Stuhl zu steigen, und was ich gerade meinte oder dachte, furchtbar
hinauszuschreien, um die Nichtachtung zu übertönen, die meine aperçus samt
und sonders erfuhren. Die sogenannten reifen Leute pflegen ja den Werdenden
jeden Kredit auf eigene Gedanken um so systematischer zu verweigern, je
gedankenloser sie selber sind. Und doch trägt einer seine paar Ideen, wenn
überhaupt, schon sehr früh mit sich herum, und sich selbst überlassen,
kommt vielleicht nichts seiner Bedrängnis gleich.

Aber hier stand der gewaltige Duchesne, und ihm bekannte ich da in hastigen
Umrissen die ganze Not meiner geistigen Existenz: Wie ich auf meiner Flucht
vor all denjenigen Dingen, die mir so früh verleidet wurden, dem
menschlichen Geiste auf allen mir zugänglichen Gebieten, nur nicht den
religiösen, nachzuspüren begann, wie aber alle diese der Religion
entfremdeten, oder sie ignorierenden, ja sie scheinbar negierenden Pfade,
sich mir zu guter Letzt als Umschreibungen jener selben Mysterien
bekundeten, deren Sinn, ja deren Wahrheit mir eine zu unumwundene und
plumpe Wörtlichkeit so früh raubte; wieso ich die Leute nicht verstünde,
die es sich untersagten, den Dogmen nachzuhängen aus insgeheimer Furcht,
sie dann bezweifeln zu müssen, und wie feig, wie träge, wie wenig
menschenwürdig mir dies erschiene; um so mehr als sie den spekulativen
Gedanken auf das äußerste anzuspornen vermöchten, und es eine Art gab sie
zu jagen und zu verfolgen, bis sich ihre Fassetten zu einer vieldeutigen
Einheit blitzend zusammenballten, daran sich von neuem Alles erproben, die
kühnsten, fürwitzigsten Spiele treiben ließe, die selbst mit dem
schwindligen Kosmos bemessen, ihre Schwingung behielt . . . die vielen
Wohnungen auch wirklich birgt, von welchen geschrieben steht, und also auch
Hürden den Einfältigen gewährt; daß sich der Freie aber nur deshalb
zufrieden gibt, weil hier ein Geheimnis hinter dem anderen lauert, und
Unerforschliches hinter dem Erforschlichen wie im Sternenraume immer neue
Kreise einbezieht. Eine solche Einsicht, meinte ich, in einem Zuge
fortredend, hatte so sehr den Charakter des einreißenden Affektes, daß man
wohl scheuen könne, ihn vor sich selber auszuplaudern . . . . daher das so
sehr Fakultative dessen, was man Frömmigkeit nennt und für einen
Bestandteil des Religiösen hielt, während es ein vielfach sich lösendes
Abzeichen sei.

Duchesne unterbrach mich mit keinem Wort. Am Fenster stehend, und halb mir
zugekehrt, hörte er mich an. Ich meine, wir sind so empfindlich geworden,
gerade in solchen Dingen, fuhr ich fort, denn wir neigen so stetig vom
Sichtlichen weg! Wem der Katholizismus seit Generationen im Blute sitzt,
der scheint heute Nichtkennern unverständlich, fast hostil. Schon fordert
er den Altar als Hintergrund für Priestergewande. Mönchstrachten und
Klosterschwestern im Straßenbild sind nicht glücklich -- -- -- --

Die Sonne senkte Streifen goldenen Staubes herein. Bald wird sie sinken,
dachte ich, und meine Worte fingen an sich zu überstürzen: durch das
Überdauernde und Grenzenlose der Konnexe war eine Sache groß. Alle Künste
aber strebten seit vielen tausenden von Jahren an den Schleiern unseres
Kultes zu weben und waren von jeher durch den Pulsschlag oder den Gedanken
eminent katholisch. Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten
Gewässer verdrängt, das universalste zum einschichtigen, die Sache, deren
Schlagwort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge. So kehrt
fast jeder um, wo dennoch ein Weg über jene Himmelsbrücke bis zum alten
Hellas hinüberreicht, das sich als gewaltiger Aufruf, als elementarer
Auftakt der Messianischen Zeit aus der Versenkung hebt. Und die Gestalt des
Erlösers . . . Hier brach ich ab. War es denn nötig, etwas hinzuzufügen?
Mußte der Mann, zu dem ich mit geweiteten Augen hinübersah, nicht mit einem
Blick erraten, wie sich auf dem eingeschlagenen Wege die Prinzipien, die
man mich als Gegensätze gelehrt hatte, ins Unabsehbare versöhnten, und wie
brennend ein solcher Verdacht mich innerlich einschloß und umzüngelte?
Vielleicht hatten ihn schon viele geschöpft; ich konnte es nicht wissen, da
ich ihn noch von niemand vernommen und zu niemand geäußert hatte. Unter den
geistvollen und mir unendlich überlegenen Menschen, die ich schon kannte,
war mir doch keiner vorgekommen, dem ich gerade in solchen Dingen die
Autorität zugestanden hätte, mir diesen Verdacht zu bestätigen oder zu
bestreiten; keiner, dessen Widerspruch mich nicht unbeschreiblich gereizt
hätte, um dann anzunehmen, daß ich es selber besser wüßte . . .

Wozu hatte ich jetzt gesprochen, wenn dieser hier alle diese Dinge nicht
erriet?

Monseigneur, schloß ich unvermittelt, täusche ich mich oder habe ich recht?

Und Duchesne antwortete mir ohne Zögern.

Aber mein Gehirn war plötzlich wie ausgelöscht und leer und ein Büschel
Fräsien, deren Duft ich bisher nicht wahrgenommen hatte, ward
überwältigend. Ihre archaische Seele ausatmend -- diesem ewigen Echo von
Hoffnung, Frühling, unglücklicher Liebe -- bestimmten sie den Klang dieser
Stunde und trugen ihre schwere und doch so beschwingte römische Luft, ins
Unermessene hin.

Duchesne saß mir jetzt gegenüber und sprach unter anderem von den
Katholiken Deutschlands.

»En Allemagne on aurait fait de moi un Döllinger,« sagte er, »ici on m'a
fait Monseigneur.«

Und es fiel mir ein, daß Barrère sich fast ein wenig verwundert über die
Befriedigung geäußert hatte, welche ihm diese Ernennung bereitete. Ich
begriff die Genugtuung so wohl. --

Aber ich fühle, wie ungeduldig der Leser auf mich wird. Duchesnes Antwort
ist es, die er wissen möchte, und ich kann sie ihm nicht sagen, denn mein
Besuch ist kein Interview gewesen.

Genug, daß dieser wegen seines Liberalismus so viel angefeindete Mann der
beißenden Sarkasmen, der bitter-frivolen Witze, sich als ein heiliger
Priester entlarvte. Die Entdeckung, obwohl gleich bei der ersten Begegnung
so vorschnell geahnt, war so wichtig, daß ich sogleich wußte, bevor ich es
erfahren lernte: Daß mein Leben, was immer es mir bringen oder verwehren
würde, dennoch in dieser Unterredung mit Duchesne seinen eigentlichen
Abschnitt fand und in ein vor oder nach ihr zerfiel. Ja, ich verließ ihn so
ganz von diesem Bewußtsein eingenommen, daß ich wie im Traum die vielen
Stufen hinabging, die ich so bang erstiegen hatte. Vor dem kühlen Palast
lag jetzt der Campo di Fiore in der Mittagsglut. Wo sich träge und lau, und
doch nachhaltig wie ein Lied, sanfte Levkojen häuften, nahm ich meinen
Stand, zu glücklich, um mich von der Stelle zu rühren. Nichts war ja
sinnlos und alles hing zusammen.

Ein paar Tage später traf es sich, daß ich infolge einer Konfusion in
Duchesnes Wagen von einer Gesellschaft mit ihm zurückfuhr. Wir sprachen
dabei über das holperige Pflaster, die zunehmende Hitze und die mangelhafte
Beleuchtung des nächtlichen Rom.

Als bald darauf bei ihm selbst ein Empfang stattfand, kam ich ihm nicht in
die Nähe, und als ich mich in der Folge wieder nach Rom begab, suchte ich
ihn nicht mehr auf.

Die Jahre verstrichen, ohne daß ich ihn wiedersah. Von dem neuen Kurs
begünstigt, hatte einstweilen in den klerikalen Blättern des halben
Kontinents jene berühmte Hetzjagd auf ihn eingesetzt, bei welcher er nicht
besser als ein Ketzer behandelt und seiner Ernennung zum Mitglied der
französischen Akademie mit täglich neuen Insulten entgegengetreten wurde.
Ein Buch, das unter Leo XIII. niemand zu rügen wagte, stand plötzlich auf
dem Index, und der Augenblick schien endlich gekommen, wo er, der
ungerechtfertigten Angriffe müde, durch einen offenen Bruch entgegnen
würde. Wenn die Nichtkatholiken darauf wetteten, so konnten ihn seine
feindlichen Glaubensbrüder kaum erwarten. Aber ich wußte zu genau, daß er
diesen den Gefallen nicht tun würde, um mich auch nur zu erkundigen,
welchen Entschluß er getroffen hatte.

Es wurde Mittsommer über der häßlichen Campagne, ich war gerade in London
und wollte nach Deutschland zurück, als ich durch eine Zeitungsnotiz
erfuhr, daß Duchesne sich in Paris befand. Plötzlich lebte da übermächtig
der Wunsch in mir auf, ihn wiederzusehen. Seine Adresse war schnell
ermittelt, ich schrieb ihm, daß ich über Paris führe und fragte an, ob er
mich empfangen wolle. Die Antwort war ein kleines Billet, mit sorglicher
Angabe der Untergrundbahn und der Stationen, wo ich ein- und umsteigen
müsse, um am schnellsten vom rechten Ufer zu ihm hinüberzukommen. Möglichst
bald, denn er sei im Begriff, in die Bretagne zu fahren! Ich reiste
sogleich, war abends in Paris, und kündete mich für den nächsten Morgen bei
ihm an. An der Hand seiner Vermerke legte ich, bald über, bald unter der
Erde, den komplizierten Weg zu seiner verlorenen kleinen Sackgasse zurück,
in der sich zweistöckige Häuser altmodisch aneinanderreihten. Ich eilte
eine Stiege hinauf, trat rasch durch eine Türe -- wie damals stand er am
Fenster -- kein Janiculum mehr -- gesenkte Jalousien, um das Sonnenlicht zu
dämpfen; wie damals wußte ich nichts von dem Raum um mich her. Ich hatte
mich verschleiert, wie man das unwillkürlich tut, wenn man jemand nach acht
Jahren wiedersieht; sein verändertes Aussehen aber war es, das ich mit
Bestürzung wahrnahm. Nicht, daß er krank oder stark gealtert schien, es war
noch das schnell bereite, fast bedrohliche Aufblitzen des Auges, die kühne
und gebieterische Abwehr, aber es war auch die Furche des Kummers, etwas so
Bitteres, ein so wühlender Gram, daß mir der Gedanke an König Lear durch
den Kopf schoß, wie er in seiner Verlassenheit die sturmgepeitschte Natur
zum Zeugen erlittenen Unrechts anruft. Es war nur eine andere Zügelung,
aber es war dieselbe Gehetztheit.

»Sie wissen,« sagte er »auf welche Weise man mich zur Strecke zu bringen
sucht.«

»Aber so vergebens,« meinte ich achselzuckend.

»Keine Waffe scheint dafür zu schlecht,« und er deutete auf die Blätter und
Zeitschriften, die ihm offenbar soeben zugekommen waren. Vor ihm lag eine
Revue aufgeschlagen.

»Ist Ihnen das schon bekannt?« fragte er, und nannte die Beschuldigungen,
die in heuchlerischen und perfiden Protesten gegen ihn erhoben wurden.

»Warum in aller Welt lesen Sie dieses Zeug,« rief ich und starrte ihn
verwundert hinter den verschnörkelten Gittern meines Schleiers an. Aber er
machte kein Hehl daraus, wie sehr es ihm zu Herzen ging. Ich war
aufgesprungen.

»Monseigneur,« rief ich, »Sie müssen doch wissen, daß Sie der Halt einer
verstreuten kleinen Gemeinde sind, die einfach durch die Tatsache, daß Sie
da sind, lediglich durch den Eindruck Ihrer Existenz beherrscht, verankert,
durch Sie allein gehalten ist.«

»Es freut mich,« sagte er, doch ohne daß seine Züge sich erhellten. »Aber
sehen Sie -- es können doch auch Rechtdenkende an mir irre werden, wenn sie
alle diese Schmähungen lesen.« Und er deutete wieder auf die Blätter hin.

»Das ist mir zu viel Bescheidenheit,« gestand ich.

Wir sprachen dann von anderen Dingen, aber auch sonst war eine Unfreude und
Entmutigung an ihm, die ich nicht kannte.

Die Straße lag brütend vor mir, als ich wieder aus dem Hause trat, aber ich
ging zu Fuß meinen langen flimmernden Weg.

Ist uns nicht, als wollten wir immerzu gehen, ungestört unser Lebtag lang,
wenn infolge eines starken Kontaktes ein geistiger Pendel in uns schwingt?
Es kann sein, daß dann unsere Füße ganz mechanisch einsetzen, nicht wahr,
oder wie eingewurzelt stehen. Zwar hatte ich Duchesne gegenüber die
richtige Note wohl nicht getroffen. Schnell fertig hatte ich unüberlegt
geglaubt, er würde sich mit ein paar schlechten Witzen und einem ironischen
Achselzucken über den obskuren Tumult hinwegsetzen, der ihn verfolgte, und
während er meinen Besuch als eine Sympathiekundgebung erwartete, hatte ich
ihm nur Lebhaftigkeit bezeigt. Es war gewiß schade, dennoch konnte mich das
Bedauern darüber nur flüchtig stören. So leicht wog da alles Persönliche!
So unnachhaltig erwies es sich!

Ich erinnere mich keines heißeren Tages wie jenes 14. Juli in Paris. Die
Häuser waren beflaggt, aber die Straßen schienen zu trauern, da keine Fahne
sich regte. Erst nachts, als ich zur Bahn fuhr, belebte sich das Bild.
Singendes Volk schwärmte durch die Straßen, und alle Leierkästen der Stadt
orgelten durch die Luft. Ein Mädchen tanzte, hocherhobenen Kopfes, unter
dem dunklen Himmel, von Zuschauern umringt.

Doch welch barscher Novemberwind wirbelte die Blätter von der feuchten Erde
auf, als ich wiederkam! Alles Laub dahingerafft und schon vergessen. Aber
ich will nur den einen Moment herausgreifen, da ich im Flur von Professor
Bergsons Hause der Ausgangstüre zuschritt und er mich geleitete. Ich weiß
nicht wie es kam, daß vor seiner offenen Schwelle und dem niedrigen Himmel,
der seinen erstorbenen und verwehten Garten überhing, Duchesnes Namen
zwischen uns fiel, und wir seiner einzigartigen Stellung in der geistigen
Welt gedachten. Und Bergson sprach von dem Katholizismus im Lichte dieses
großen Katholiken, der, so klug, so wohl beraten und durch den Irrtum
anderer gewitzigt lautlos jenen treibenden und langersehnten Schritt
voranging, der den Schismatikern mißlang.

So klar entstand jetzt zwischen uns sein undeutliches, von den Nebeln des
Tages verhülltes Bild, als sei es schon entseelt und als hätte sich sein
Schatten zu uns gesellt. Bergson drückte die Klinke wieder zu. Wir mußten
lächeln. So ohnmächtig also verhielt sich hier der Tod, so wenig würde es
hier für ihn zu holen geben, wenn er da rufen würde! -- -- --

                                                 1914 (Weiße Blätter).




                                BARRÈRE


Während meines letzten Aufenthaltes in Paris kam ich eines Abends zu
Barrère, der wegen Influenza das Zimmer hüten mußte. Ich traf ihn lesend,
die Füße auf einem Stuhle ausgestreckt, Zeitungen über ihn geschichtet und
wie eine Decke von ihm niedergleitend. Eine Lampe hing gerade über seinem
weit zurückgeworfenen Kopf.

Ich wollte ihn bitten, liegen zu bleiben, aber schon war er aufgesprungen,
mit jener knabenhaften Schnelligkeit, die alle seine Bewegungen
kennzeichnet. »Sie bleiben den Abend?« fragte er. »Ich bin bei Ihnen
eingeladen,« erinnerte ich ihn. Und ich trat an den Kamin, darin hohe,
still flackernde Flammen loderten. Es war ein dunkler, trüber und
regnerischer Tag gewesen. Ich fand Barrère, den ich seit zwei Jahren nicht
gesehen hatte, verändert. Auf das lebhafteste gemahnte er mich jetzt an
einen Ausspruch, den ich mir zu zitieren gestatte, obwohl er nur von mir
ist.

»Habt ihr nicht bemerkt?« fragte ich schon Anno dazumal, da noch kein
Mensch auf das, was ich sagte (auch wenn es noch so richtig war) im
geringsten achtete; »habt Ihr nicht bemerkt, daß wir nur in dem Maße
altern, als wir nichts taugen?« Nun hatte ich Barrère das letztemal kurz
nach einem Sturz vom Pferde getroffen, und ich erinnere mich sehr deutlich,
wie plötzlich das Zukunftsbild eines alternden, einer bestimmten Generation
angehörenden, sich nicht mehr erneuernden Barrère flüchtig in mir
vorüberzog. Denn auch für die Besten kommt der Augenblick, wo der »Genius
der Zeit«, dieser ärgste Feind des Menschen, ihn umwittert, um an sein
Tagewerk, sein Wesen, ja an sein Ich das grausame Schild »Vorbei« zu
hängen. Doch als jenes Bild von einem Barrère, qui a fait son temps, in mir
aufzog, da hatte ich vergessen, wie sehr seine Einstellung doch gerade auf
Fußangeln, Hemmungen und Hindernisse war, und mit welchem Geschick er
mißliche Umstände zu einem Wetzstein seiner Fähigkeiten konvertierte.

Ich kannte ihn nun seit vielen Jahren, aber ich mußte mir gestehen, daß er
inzwischen über sich selbst so rastlos hinausgewachsen war, daß seine
Haltung, seine Züge, seine Gestalt einen Meißel, ein höheres Training, eine
feiertägliche Glasur erlangt hatten, sein Blick aber bei gesteigerter
Aktuität eine innere Stille, mit einem Worte: daß er die Miene desjenigen
trug, der es insofern mit der Zeit aufnehmen darf, als er sie nie
vergeudete. (Zwar hatte er schon als junger Minister die Aufmerksamkeit
Bismarcks erregt, der auf ihn als auf den kommenden Mann hinwies, ein Wink,
der bei uns unbeachtet blieb.)

»Wie ist es draußen?« fragte er.

»Trüb, windig und regnerisch.« Und ich sagte ihm, daß ich in der rue de la
Paix, in einem Wagen wartend, die Passanten gemustert hatte, und wie schwer
es mir schien, den Typ der heutigen Generation zu bestimmen. Es gibt die
Menschen der achtziger, die der neunziger Jahre, aber die Leute von 1911,
meinte ich, die gibt es eigentlich garnicht, und man wird eines Tages seine
Not mit ihnen haben, so transitorisch, so ungefähr erscheinen sie, als
seien sie nur angedeutet. Sehr ausgesprochen ist nur das eine Merkmal, daß
die wenigen großen Leute, die es noch gibt, so vorschnell, als seien sie
abberufen, diese Welt verlassen. Welch erlesene kleine Schar bilden unsere
heurigen Toten! Unter ihnen kein einziger Greis.

»Es ist eine an überragenden Persönlichkeiten sehr arme Zeit geworden,«
stimmte er mir bei.

»Wenn Sie Umschau halten,« sagte ich, noch immer vom Kamin aus, »müssen Sie
finden, daß Sie herzlich wenig Kollegen haben.«

»Für einen wahren Diplomaten,« bemerkte er, »genügt es heute nicht, nur
Nationalist zu sein. Sein Blick muß noch weiter hinausreichen.«

Es entstand eine Pause, denn ich wollte nicht sagen, was ich dachte, da
erschien ein soeben von Rom angekommener Sekretär seiner Botschaft unter
der Tür. Zufällig hatte ich auch ihn vor zwei Jahren hier getroffen; er war
damals ein Neuling in der Karriere und ich hatte mich im stillen gewundert,
daß Barrère ihn so ohne weiteres für seinen »Stab« akzeptierte, denn er war
mir recht talentlos, nichtssagend und langweilig erschienen. Und nun hätte
ich ihn kaum wiedererkannt in diesem lebhaften, energischen jungen Manne,
der sich mit so großer Präzision ausdrückte und dessen Wesen einen so
eigentümlichen Ernst und eine so große Aufmerksamkeit verriet. Dies also
war unter dem Einfluß eines solchen Chefs aus ihm geworden.

Von Rom her wußte ich, mit welchem Wetteifer sein Personal arbeitete.
Vielleicht lag die Stärke seines Einflusses in der nie Kälte und
Gleichgültigkeit ausstrahlenden Sobrietät seines Verhaltens. Was er aus
sich selbst gezüchtet hatte, war die treibende Kraft geworden, die er in
seine Leute hineinlegte und magnetisch sie bereicherte, um aus ihnen das
äußerste an Arbeitsfähigkeit herauszuholen. Denn das Plastische war einfach
seine Ader.

Ich dachte an Mottl, den Unvergeßlichen. Wie kraft seiner, nie Kälte noch
Gleichgültigkeit ausstrahlenden Sobrietät der Geste selbst die Unbegabten
und die Lauen unter seinem Banne zu Taten aufgerüttelt und mit fortgerissen
wurden und sich selbst weit überboten, und er Funken seines eigenen Feuers
aus _ihnen_ schlug, um Tongebilde auf goldenen Säulen ans Licht des Tages
emporzutragen. Denn das Plastische war seine Ader.

Man hegt in Deutschland eine sehr bestimmte Meinung über Barrère, aber wenn
er ein Siamese wäre, könnte uns sein Wesen nicht ungeläufiger und
unbekannter sein. Als ich vor mehreren Jahren einen Aufsatz über ihn
verfaßte, berief ich mich darauf, daß auch bei dem gewiegtesten Diplomaten
ein Hauptgewicht auf sein Temperament zu legen sei. Und das Temperament
Barrères sei das des Architekten.

Und so winkte ich lang, ehe es noch ein Marokko zwischen uns gab, mit
Girlanden und Zaunpfählen meinen Landsleuten zu, die natürlich nicht die
leiseste Notiz davon nahmen. Denn in keinem Lande ist es so unmöglich, sich
Gehör zu verschaffen, wenn man nicht in Amt und Würden schon ergraute, wie
bei uns. Nur Dichtern, Schauspielern und Sängern ist Jugend bewilligt. Ich
glaube übrigens, daß sich um dieselbe Zeit in Deutschland ein Mann vom Rang
und Ansehen eines Barrère schwerlich herabgelassen hätte, sich mit solcher
Schlichtheit über europäische Dinge hin und wieder mit mir zu unterhalten.
Man wird mir einwenden, daß er sich den Luxus der Bescheidenheit gestatten
durfte. Das war ja auch meine Idee.

Aber eben darum greife ich die Presse außer acht lassend, weiter zurück;
denn die Zeitungen sehe ich nur mehr sehr flüchtig durch. Sie immerzu als
aufgeregte Ohnmächtige zu handhaben, war auf die Dauer allzu lächerlich und
zwecklos. Und so greife ich weiter zurück und sehe etwas Unheilvolles und
Gefährliches in unserer Arroganz. Sie ist es, die unserem Verständnis
französischer Wesensart so sehr im Wege liegt. Und sie ist das Bedenkliche
und Hinzugekommene. Das Ominöse und Charakteristische bei gewissen
Alldeutschen ist, daß sich die Arroganz bei ihnen an Stelle der
Besonnenheit behauptet und da Türen zuschlägt, wo sonst Gedanken wären
. . .

Zwar wird heute hin und wieder, zwischen Deutschen und Franzosen, etwas von
einem Sich-besser-kennen-lernen, niemals aber die Frage nach dem
Sich-weniger-kennen ventiliert. Nun behaupte ich, daß die Franzosen uns
unrichtig und ungenügend, wir die Franzosen aber gar nicht kennen. Außer
unter den Künstlern habe ich niemals auch nur den leisesten Flair für
französische Wesensart und Empfindungsweise bei meinen Landsleuten
wahrgenommen.

                                                       »Panther« 1913.




                            ALARMGLÖCKCHEN


Wenn feine und feinste Nadelspitzen abbrechen, so werden sie bekanntlich
stumpfer wie eine weniger dünne, die nicht entzwei ging. Feinste Nadeln
sind also gerade in ihrer Feinheit gefährdet; sogenannte »feinste Kreise«
seit etwa zehn Jahren in eben dem Sinne auch.

Diese Behauptung bitte ganz à l'Européenne aufzufassen, nicht aber mich
deshalb als Sozialistin, denn ich bin garnichts.

Wer aber hin und wieder zum Wanderstabe greift und dann nach der Rückkehr
am alten Fleck sich wieder umsieht, in dem drängen und schieben sich die
Eindrücke wie Bücher in ihren Regalen zurecht, Bilder finden ihren Platz,
und jener merkwürdige Vorgang, den man »vergleichende Geographie« zu nennen
versucht ist, fängt an in seinem Kopfe zu entstehen. Dabei werden ihn die
Verschiedenheiten, die er in der Fremde wahrnahm, natürlich viel weniger
stutzig machen, als die Ähnlichkeiten. Ja, diese sind es wohl, die dann der
Bereicherung durch das Gesehene fürs erste jenen leisen Untergrund von
Ernüchterung beimischten, den der Heimgekehrte spürt. In Wien, Berlin,
Paris, London, Rom liegen, trotz der verschiedenen Atmosphären, doch
dieselben Dinge »in der Luft«. Als man anfing, geschmacklose Bauten zu
errichten, baute man allerorts -- wie auf geheime Order hin --
geschmacklos. Vorm Buckingham Palace erhebt sich etwas nicht minder
Scheußliches, als gewisse Neubauten in den Straßen Roms. Machte sich doch
das Gemeine bis in die jüngste Vergangenheit besonders in Palästen, Banken
und Bahnhöfen breit; ob es Millionen kostete, ob überall eine Anzahl
Menschen die Hände darüber rangen, es setzte sich wie nach einem: Pardon
wird nicht gegeben, überall durch.

Das geschmackvolle Frankreich bemühte sich hierin vor dem geschmacklosen
Deutschland erfolgreich um den Rekord. Gewisse moderne Monumente im Park
Monceau und in den Tuilerien sind sogar im Tiergarten noch unerreicht.
Vielmehr ist man bei uns zuerst zur Besinnung gelangt, und es durften
wieder anständige Häuser entstehen. Erst seit München sich des
Hubertustempels erfreut, durfte in Piccadilly ein interessantes Bankhaus
auf die Welt kommen. Denn wenn in Paris oder Berlin etwas in der Luft
liegt, kommt in Wien einer darauf. Denn es gibt eine europäische
Gemeinsamkeit der geistigen Einstellung allen Triple-Alliancen und
Triple-Ententen zum Hohn, wie ja der Begriff Europäer sich immer mehr
zusammenschließt, und wie ja die Idee eines europäischen Krieges wirklich
mit jedem Tage geistreicher wird.

Und weil mir die Europäerin dabei einfällt: von ihr läßt sich wohl im
großen Ganzen sagen, daß sie in aufsteigender Linie begriffen ist. Seitdem
sie vernünftiger erzogen wird, nicht selten etwas Tüchtiges lernt, und
nicht mehr so ausschließlich ihren Himmel in einer Verheiratung erblickt,
während ihre Panik sich auf ein eventuelles Keinen-Mann-Kriegen
konzentriert, seitdem haben sowohl der »Backfisch« wie die »Gans« ein wenig
von ihrer typischen Rassenreinheit verloren. In den Köpfen der Mädchen
wurde ja die Leere prinzipiell gezüchtet, und durch das bißchen Geographie
und Klavier der bedauerlichen Tatsache ihres Nichtbeschäftigtseins nur noch
mehr Nachdruck verliehen. Dies also ist -- allen Teilen zum Glück --
merklich anders geworden. Wir wollen uns daher nicht länger dabei
aufhalten.

Ich glaube, eine aufsteigende Kurve ließe sich bei uns zu Lande auch für
jene Kreise ansprechen, welche bislang die innere Bildung gleichsam in
Pacht hielten, ihre Innerlichkeit aber leider auf Kosten ihrer
Äußerlichkeit pflegten, Schönheitssinn mit Frivolität verwechselten und
auch in ästhetischen Dingen sich durchaus als Protestanten dokumentierten.

Wer aber _nicht_ in aufsteigender Linie begriffen ist?

Ich sagte es ja schon.

Als ich zum erstenmal Gelegenheit hatte, es wahrzunehmen, traute ich
allerdings meinen Augen kaum.

In feudalen Burgen der französischen Provinz fiel es mir zuerst auf, wie
sehr das geistige Niveau der vornehmen Gesellschaft gesunken ist. Aber auch
in Schlesien, Österreich, England und Bayern weiß ich von Schlössern mit
wundervollen Deckengemälden und unnachahmlichen Stiegenrampen und
köstlichen Lüstern, Schlösser, in denen es sich traumhaft lebt, umgeben von
Dingen, alle edel und beglückend anzuschauen. Vom mittelalterlichen Söller
direkt ins Auto zu steigen, neuester Komfort zu alter Pracht gesellt, hat
seinen eigenen Reiz. Wenn dann der Gong ertönt, drehen sich schmucke Türen
in ihren Angeln, und Herren mit blanken Gesichtern, schimmernde Damen
betreten hoch erhobenen Kopfes, Neugier erweckend, den Saal. Und der erste
Abend mit diesen geschmückten Menschen, die man noch nicht kennt, verbringt
sich behaglich und charmant.

Wie kommt es nur, daß man schon im Laufe des nächsten Tages fein leise sich
ins Dorf schleicht und in einem dringlichen Kartenbrief den Wortlaut der
Depesche bestellt, welche dem verheißungsvoll begonnenen Aufenthalt ein
rasches Ende bereiten soll? und daß man schon genug hat, und sich zu Tränen
langweilt?

Woher kommt es nur?

Weil die Unbildung sehr zivilisierter Menschen von einer Öde ist, über die
kein Feenpalast hinweghilft. Es hat mehr Würze, mit einer alten
Taglöhnerin, die mit ihrem Bündel über das Feld zieht, ein Gespräch zu
führen, als mit einer unwissenden und ahnungslosen Fürstin. Denn dort
können unausgelöste Werte sein, hier aber starrt uns ein überzüchtetes und
selbstzufriedenes Nichts entgegen.

In allen Ländern aber, in welchen ich gewesen bin, habe ich bemerkt, daß
die »höchsten Kreise« eine gewisse Kurve zur Vergröberung genommen haben.
Und ich hebe es hervor, weil es schade ist um uralte Geschlechter, Träger
hochtönender Namen, die innerlich verbauern. Die Gefahr ist da. So gewiß es
keinen Stillstand in menschlichen Dingen gibt. Wer sich nicht auf seiner
Höhe erhält, d. h. sie immerzu fördert, der fällt von ihr. Schlösser,
Paläste, die man ganz durchstöbern könnte, ohne ein gutes Musikstück oder
ein nennenswertes Buch drin vorzufinden, sind nicht mehr vereinzelt.

                                                  1913 Neue Rundschau.




                            TORSCHLUSSTYPEN


Man hat den Futurismus vielfach als »beißende Satire« auffassen wollen, als
einen Hohn auf die Kritiklosigkeit der Menge, für die kein Humbug grob
genug sei, -- aber ich glaube da an keinen Spaß, höchstens einen, der dem
Ernst zuvorgekommen wäre. Denn ich kann mir unsere Zeit ohne den Futuristen
garnicht denken. Waren sie nicht als Nachzügler vor Torschluß noch gerade
recht eingezogen, so würde den künftigen Dokumenten über unsere Epoche ein
Blättchen fehlen. Nicht daß ich leugnen wollte, es sei ein grausamer
Spaßmacher gewesen, der als erster den Futurismus »in Malerei setzte«. Es
mag wohl eine Posse gewesen sein, ihm zu einem so drastischen Organ zu
verhelfen und ihm »mit dem Pinsel zu kommen«; ich leugne nur, daß er durch
die Malerei entstanden sei. Wer eine Anzahl junger Leute aus bestimmten
Jahrgängen kennt, der sieht im Futurismus der Maler vor allem eine
Inversion, und er wird den Maler nicht mit dem Modell verwechseln, weil
dieses zufällig so gut getroffen ist, und in diesem Falle so leicht zu
treffen war. So wird er nicht umhin können, zu finden, daß der Futurismus,
rasch bevor er antiquierte (was seine unweigerlichste Bestimmung ist),
durch die futuristischen Maler glänzend fixiert und der Nachwelt
überliefert wurde. Ihre Bilder haben eine sehr schöne Zukunft, wenn auch
nicht in der Malerei, so doch in der Kulturgeschichte, wo sie weniger ihren
Rang, als ihren Platz einzunehmen bestimmt sind, um dereinst äußerst
interessanten Quellenstudien zu dienen. Daß man tatsächlich einmal so
malte, wird dabei von ganz relativem Interesse sein, wie nicht der Name des
Schneiders von Belang ist, der diese oder jene wunderliche Tracht
zurechtschnitt; wohl aber, daß man sie trug, daß man wirklich einmal so
einherging. So wird künftig die merkwürdige Tatsache interessieren, daß es
Personen gab, die genau so dachten und empfanden, wie es die futuristischen
Bilder heute veranschaulichen.

Und wie ließen sich Leute, welche die Dinge ununterschiedlich sehen, besser
als durch das Darstellen eines »Alleszugleichsehens« persiflieren? Solche
Leute aber gibt es heute! Ich kenne sie sehr gut. Wollte ich sie aber
beschreiben, so wird -- ich warne den Leser auch -- alsbald ein
futuristisches Bild daraus werden.

Also solche junge Männer (sofern man sie Männer nennen kann), solche junge
Männer also sehen auf den ersten Blick mit nichten wie die ausgemachten
Narren aus, die sie doch sind. Oft manierlich und gut gekleidet (denn der
aktive Futurismus, setzt ein gewisses Nichtstun voraus, und die Not machte
ihm schnell den Garaus), können sie sogar durch eine gewisse sterile
Urteilsschärfe in belanglosen Dingen, eine scheinbare Kompetenz in
nichtssagenden Details über ihren vollkommenen Mangel an Verständnis recht
glücklich hinwegtäuschen. Zudem sie mit ihrer eigentlichen Narrensprache
nur unter ihresgleichen herausrücken. Nur da heben sie das Visier von ihren
unheimlichen Ohrfeigengesichtern und gestehen sich lächelnd ein, wie
unsagbar hoch sie über den Ereignissen des Tages stehen. Mit der den Narren
eigentümlichen Schläue bringen sie es daher auch fertig, nie zu wissen, was
alle Welt weiß, weil es unter ihrer Würde ist, zu erfahren, was in der
Zeitung steht; sie finden das gemein. Sie _fanden_ es gemein, sollte ich
besser sagen. Denn das ist ja das Witzige am Futurismus, daß er mit diesem
Namen in Szene tritt, als die Futuristen schon aufgehört hatten zu sein,
und zum Teil vernünftiger, zum Teil kleinlauter geworden waren. Schnell
bevor sie ganz um die Ecke waren, nahm sie da der Futurismus noch beim
Schlafittchen und entlarvte sie. Ihre kurze Blüte fiel in die Zeit der
ersten Luftschiffahrten. Damals rannte einmal ein atemloses Stubenmädchen
an die Stubentür eines solchen Jünglings und rief ihm zu, daß soeben ein
Aeroplan über dem Dache flöge. Er zog daraufhin die Brauen hoch, begab sich
zum Fenster, machte ein überlegenes Gesicht und zog die Vorhänge zu. Aber
noch capabler dünkte er sich, wenn er inmitten einer durch Kriegsgerüchte
oder eine schreckliche Katastrophe aufgeregte Menge geratend, von den
grellen Plakaten, die an allen Straßenecken alarmieren, Kenntnis zu nehmen
verschmäht. Denn er ist eitel wie ein Krämer, ein verkappter aber
unverbesserlicher Bourgeois. Das Leben ist ihm ein großes Federbett, in
dessen Daunen er seine Existenz so behaglich versenkt, daß von einem
Überblick keine Rede sein kann. Gehört er (dessen chaotische Zustände
gewisse Bilder uns heute veranschaulichen), gehört er doch ach! zu den
zweifelhaften Produkten, die ein langer Friede zeitigen durfte. Seine
Generation neigt ohnehin dazu, die Dinge zu nivellieren und die Abstände,
die zwischen ihnen liegen, nicht zu merken. Er aber, als die Karikatur
seines Jahrganges, nimmt überhaupt keine Unterschiede wahr. Für ihn gibt es
kein Hoch und Niedrig, kein Gut und Böse, weder Scheidungen noch Schranken,
nur seine berühmte Amoral, und eine weite Düne ohne jegliche Akzidenzen. Er
wird es für absolut zulässig, was sage ich, er wird es für geistreich
halten, seine Frau mit einer Kokotte verkehren zu lassen, wie er denn
überhaupt zur Wertschätzung der Kokotte ungemein neigt. Infolgedessen ist
er für das Verdienst, den inneren Wert, das Talent, das Genie, für alles,
was die Menschen so unüberbrückbar voneinander sondert und was eine so
strenge unsichtbare Hierarchie unter den Menschen aufrechthält, so
unempfindlich und blind wie ein Tier auf der Weide. Er lehnt es ab zu
vergleichen, er wird nie etwas verehren, wie es zu seinem unerläßlichen
Merkmal gehört, daß er nie in den Dunstkreis eines bedeutenden Menschen
trat. Er wird höchstens für etwas so Unvorhandenes wie die tote Mischfarbe
einer Papierblume oder die erdichtete Kurve eines Mauseschwanzes
Begeisterung äffen. Denn nichts ist ihm trostlos und öde genug, und was die
futuristischen Bilder uns zeigen, _das ist er_.

Weswegen denn auch kein Wort, noch weniger ein Bild über ihn zu verlieren
gewesen wäre, hätte er als Typ nicht etwas so Ominöses. Mag die Zeit noch
so achtlos über ihn hinwegziehen, seine Existenz jagt doch das leise Grauen
der Verwirrung ein, einer Verwirrung der Zeit selbst, wie jener
grotesk-schauerliche Gedanke eines allseitig unerwünschten europäischen
Krieges, den wir bei aller Rückständigkeit noch immer in die Zukunft rücken
sehen. Auf die Möglichkeit solcher Verwirrung deuten -- für das Gefühl --
manche Verirrungen hin, die der Politik ganz fernab liegen: die allzuvielen
unmännlichen jungen Männer dieser Epoche, die nur aus Verlegenheit ein
Interim von Generation zu bilden scheinen, ja sogar so geringfügige
Symptome wie die Ratlosigkeit der heutigen Mode. Den besten Schneidern
fällt plötzlich nichts mehr ein, und die Kleider variieren in derselben
Tonart provisorisch weiter. Vieles mahnt heute an die Ebbe, bevor die neue
Flut ihre ersten Wogen ans Ufer wälzt.

                                                  1913 Neue Rundschau.




                           DER UNVERSTANDENE
                                 MANN


Wie ist binnen kurzem alles so anders geworden!

Unsere gute Tante Nora ist doch noch garnicht so alt! Sie, die unter dem
Beifall der ganzen Christenheit, gleichsam mit fliegender Fahne, und mit so
beispiellosem Erfolg, Mann und Kindern davonlief, daß auf zwei Jahrzehnte
ein schier endloser Zug der Unseren, die von ihren Männern nicht verstanden
werden wollen, sich ihr anschloß! Ja, wir heirateten nicht selten gerade
daraufhin und kamen als Incomprises von der Hochzeitsreise zurück. Je
hübscher wir waren, desto incompriser durften wir dann sein, desto eifriger
erklärten andere Männer sich bereit, uns für unergründlich halten zu wollen
und zu ergründen. Und dabei brauchten wir weiter garnichts zu tun, als zu
bescheinigen, was sie in uns hineinlegten, und uns für rein nichts zu
interessieren, als für das Interesse, das wir hervorriefen. Es war so
furchtbar nett!

Doch ach! wie jäh hat sich das Blatt gewendet!

War der Mann des Spieles müde? Langweilte es ihn eines Tages, oder war er
beim Rätselraten zu oft hängen geblieben? Ich weiß es nicht. Aber mit einem
Male fand er, daß es spannender sei, selbst ein Incompris zu sein, und
sogleich vertrat er dies mit jener angestammten Gründlichkeit, welche die
neun Gymnasialklassen, die uns noch lange nicht im Blute liegen werden, so
deutlich verraten. Wir anderen waren doch nur à conto mißverstanden
gewesen, er _will_ garnicht verstanden werden. Er kommt, nimmt uns die
schöne Pfründe weg und ist der Unverstandene an sich.

Wir indessen müssen bis auf weiteres das Spiel verloren geben, denn uns
fehlt der Partner. Gerade die jüngsten und reizvollsten Frauen sind heute
so vielfach ausgeschaltet, als wären sie noch eingesperrt. Nicht im
mindesten fehlt es ihnen an Anerkennung, vielmehr wird keiner sie so gut
verstehen, keiner so schöne und erlesene Worte über sie finden, wie der
Unverstandene Mann. Den Kult, den er zum Ausdruck bringt, hätte keiner
früher einer Frau erwiesen, ohne für sie zu entbrennen. Glaubt aber nicht,
daß er für sie glühe! Wenn er zu ihr geht, vergißt er nie das Opernglas,
das er verkehrt vor seinen Augen hält, um sie weit von sich zu scheiden, ob
sie noch so hart vor ihm stünde. Denn sie tief und richtig zu erfassen,
gleichsam mit allen Gründen, wie durchleuchtet, wie geschliffen ans Licht
zu heben, ist ihm genug. Sein Feuer ist damit verblasen. Nie fände sie ihn
so fern, so frostig, ja so abgeneigt, als nachdem er soeben eine Dithyrambe
über sie sprach. Denn hiermit entließ er sie aus seinem Herzen. Und so
zieht er denn in Wahrheit den Hut vor ihr, -- aber dabei empfiehlt er sich.

Und ihn, faute de mieux, soll man heute lieben, denn ein anderer ist nicht
da. Der Typ des Don Juan ist ausrangiert, oder zum Hausvater vorgerückt.
Hier zeigt sich der Unverstandene Mann von seiner unzulänglichsten Seite,
und der moderne Verführer ist nicht sehr gefährlich: mit seinen schwach
konzentrierten Sentiments vermag er nur schwache Köpfe zu verdrehen. Denn
es ziert nur Frauen, unsichere und halbe Herzen zu vergeben.

Allein sein Wesen strebt nun einmal nicht nach Steigerungen, sondern drängt
ihn, von all den schönen Dingen, für die er so lange eingestanden ist, auf
eine Weile auszuruhen, wie man erst nach zurückgelegtem Marsche der
ausgestandenen Müdigkeit anheimfällt. So zieht er nunmehr kühle, blumenlose
Pfade des Gefühles vor und jene schattigen Seitenwege der Begriffe, die
sich nur spalten, um kurz auszulaufen und sich zu verzweigen. Alle
schimmernden Fernen hingegen, alle postulierten Verheißungen und
Aussichtspunkte sind seinen zu empfindlich gewordenen Augen unerträglich.
Nichts von »Saaten«, nichts von »Ernten« mehr, nichts von Allgemeinheiten
und nichts von Zielen und besonders, nichts von Idealen. Nichts von so
grellen Dingen. Nicht solche Worte. Sie verletzen ihn nur. Mit fiebernder
Hand wehrt er sie ab, besonders den Enthusiasmus mit all den fälligen
Raten, die ihn nur allzuoft schon überdauerten. Zu »Wein, Weib und Gesang«
hält er da andere Distanzen ein, und sein Verhältnis zur Musik hat sich
ebenso gelockert oder verschoben wie das zur Frau. Aber ich sage:
respektieren wir auch dies. Was er heute für seine Willkür hält, ist nur
ein Feiern und ein Atemholen. Der Fehler des Unverstandenen Mannes liegt
viel weniger darin, daß er mit seiner Jugend keine rechte Gemeinschaft
pflegt, (dies ist seine Sache) als daß er von ihr absieht, eine Attitude,
an der jeder Tag etwas verändert, als unverrückbar hinstellt, das
Zeitliche, an das sich seine Erfahrungen erst ketten müssen, zurückweist,
und alles à priori sein und nicht sein zu können glaubt. An seiner
vielgescholtenen Unproduktivität hingegen kann ich nichts finden, sie fällt
nicht ins Gewicht und ist so wenig definitiv, so wenig ein Finale, wie die
gehaltene Note vor dem neuen Auftakt. Soll denn immer ohne Pause produziert
werden? Ist es das Einzige? Ach, es laufen ja unter den schöpferischen
Naturen so viel erschöpfte mit unter, während gewisse Unschöpferische
unerschöpflich erscheinen. Gerade in seiner Unproduktivität schlage ich
vor, ihn nicht zu stören. Es ist ja mit den Menschen, wie sie einmal
geraten, nicht viel anders als mit der Mode, von der wir wissen, wie groß
ihre relative Berechtigung ist und wie sehr es in ihrem Charakter liegt,
sich zu behaupten. Wer jüngst ein groß Geschrei wider die engen Röcke
erhob, trägt heute keine anderen. Ihr Vorzug beruht darin, daß sie uns zur
Haltung und Linie erziehen, und hierin gleichen sie auf ein Haar dem
Unverstandenen Mann: daher es ratsamer ist, sich in ihn zu finden, ja von
ihm enchantiert zu sein. Denn er, und weder der Mann, noch der Rockschnitt
von Anno Dazumal, welches auch seine Qualitäten sein mochten, ist heute das
Gegebene, zu dem wir uns zu stellen haben. Wer fände dies zu frivol? Ist
nicht vielmehr das einzig Interessante an diesem sich ewig überlebenden
Leben, daß hinter den frivolen Dingen so häufig der Ernst, hinter den
ernsten der Schalk sitzt? Wer hielte es sonst aus?

Nur deshalb sind ja die schlimmen Dinge, wenn man mitten in ihnen steht,
zum Glück nicht ganz so arg, wie sie von außen anzusehen sind. Indem sie
evoluieren und ins Gedränge kommen, rücken sie nicht selten so nahe
zusammen, daß die letzten die ersten überholen, und das unterste nach oben
treibt. Wer sie dann wendet und betrachtet, hält sie bald wie jene
chiffrierten Briefe, die anders lauten als sie heißen, und das Tolle und
das Disparate mit dem Sinnfälligen zusammenführen.

Und so steht für uns im Stich Gelassene von heute, Herrinnen von gestern,
Schutzflehende von einst, der Zeiger anders als die Uhr. Keime in uns,
deren Wachstum durch die Gegenwärtigkeit des Mannes zurückgehalten oder
überboten wurden, finden eben jetzt ihr Gedeihen. Inmitten dieser
schlechten Zeiten wuchsen unsere Tage unversehens in den Sommer hinein.
Draußen reift das Korn, die Halme knistern, und in der mittäglichen Öde
erstarkt das Laub. Ihr ist die Ferne zu vergleichen, die wir jetzo nützen.
Denn es ist nicht zu leugnen, daß uns der Mann verließ und eine Genugtuung
darin findet, uns zu meiden. Ohne eine gewisse Grimmigkeit zwar geht es
nicht her. Und hier liegt _unsere_ Genugtuung an der Sache. Denn wenn er es
höchstens bis zur Genugtuung bringt, indem er sich uns entzieht, so
gereicht es uns, die seiner so schwer entraten, zum inneren Jubel, wenn wir
ohne ihn bestehen.

Ich sehe, daß ich von meinem Thema abgewichen bin, aber ich wollte nur das
letzte Wort haben. Und wäre denn der Unverstandene Mann in Wahrheit
unverstanden, wenn ich mehr von ihm wüßte?

                                                  1911 Neue Rundschau.




                            DER NEUE SCHLAG


Woher es nur kommt, daß ich immerzu von den neuesten Schriften über
Modernismus und Frauenbewegung avisiert werde. Ich interessiere mich doch
viel mehr für Musik oder für Ausgrabungen. Aber es scheint ausgemacht, daß
diese beiden Probleme meine Sache seien. Da möchte ich mir denn ein Herz
fassen, und die mir zugesandten Broschüren einmal lesen.

Aber vorher möchte ich lieber selbst etwas sagen.

Wer denkt, lebt nämlich in so großer Not. Verurteilt, zwischen der Unrast
des Tatenlosen und der Verzagtheit zu bangen, bis er den festen Guß seiner
Gedanken bildete und mit einer leisen Mißachtung für sich selbst
einherzugehen, so lange er sich durch Veräußerung das Eigentumsrecht auf
seine eigene Meinung nicht erwarb.

In dieser Hinsicht aber habe ich es besonders schwer. Denn auf eine gewisse
allgemeine Unzugehörigkeit war ich im stillen von jeher eifersüchtig. Sie
ist die Feste, hinter die ich mich immer wieder verschanze. Wer sich zu den
einen gesellt, der trennt sich ja vom anderen, und ich will zu keinen
gehören, weil ich mich von niemand scheiden mag. Mein Indifferentismus ist
nur Selbstverwahrung. Es ist überall Gefahr, mit fortgerissen zu werden,
und jeder Zeitlauf bietet etwas, das man vertreten und festhalten möchte,
um sich freilich dann, letzten Endes, wieder von ihm loszusagen.

Darum fliehe ich vor den Dingen meine steile Schneckenstiege empor und
lasse mich ungern hin zu ihnen locken, so sehr liegt mir an ihrer
Perspektive. Nur oben, vor meinem schmalen Fenster mit dem weiten Ausblick,
kann ich endlos spinnen. Dort schnurren meine Rädchen, und der Faden geht
ihnen nie aus. Also abgetrennt wird mir so heimatlich zu Mute, als seien
alle Dinge mein, und als gehörte ich zu allen, selbst den weit
verschwimmenden hin. Denn nur im blauen Dunst der Ferne liegend, sind sie
mir deutlich und vertraut. Oft rücke ich dann meinen gesponnenen Flachs zur
Seite, stütze die Arme auf und halte Umschau.

Der bereitwillige Ernst, den man transzendentalen Fragen von neuem
entgegenbringt, ist, von meinem Fenster aus gesehen, ebenso merkwürdig, wie
die sich klärenden Umrisse der stets undeutlich gebliebenen Frauenpsyche.
Sie hat das eine mit der Religiosität gemein, daß allen beiden zwei höchst
entstellende Kutten, die der Frömmelei und der Abhängigkeit, übergeworfen
und als ihre elementaren Bestandteile erklärt wurden. Was ist da heute von
meinem Fenster aus -- im Vergleich zu gewissen sehr radikalen Umwälzungen
der Denkungsart, die sich bereiten, der Modernismus für eine beiläufige
Sache! Und was ist die Frauenbewegung im Vergleich zu ihrer Idee? Eine
Wolkenschicht, die sich vor einer Lichtfläche türmt. Beide Bestrebungen
verhalten sich zu den starken Dingen, von welchen sie getragen sind, wie
ein kleiner Reitervortrab zur Majestät der heranziehenden Heeresmacht.

Über den Modernismus will ich, um niemanden zu reizen, nicht weiter
improvisieren. Über die Frau aber bin ich doch sicherlich au fait. Infolge
gewisser zweifelhafter Züge sind die Akten über sie noch immer nicht
geschlossen. Ihre Gattung, meint Villiers de l'Isle Adam, begreift Wesen in
sich, die durchaus keine Menschen, allerdings auch durchaus keine Frauen
seien. Er tat sich auf diese Entdeckung viel zugute und ging so weit, daß
er in gewissen »gänzlich seelenlosen und unmütterlichen Larven« einen Spuk
der Natur erkannte und für den Mann das Recht beanspruchte, diese
problematischen Wesen, die mit jeder Generation einen hohen Prozentsatz
verheißungsvoller junger Leute zugrunde richten, wie andere schädliche
Reptile einfach umzubringen.

Die drastischen Ratschläge stammen ja immer von Träumern, und die besten
Ratschläge sind zumeist unausführbar. Dank der Unterarten ihrer Art läßt
sich jedoch über das Wesen der Frau, wie über etwas noch immer
Unerforschtes, noch immer diskutieren, noch immer keine Schlüsse ziehen,
die verallgemeinert im Guten wie im Bösen nicht widerruflich wären. So
flüchtig ist es, so viel feiner, und so viel gröber, und so schillernd, daß
solche Kenner wie die Franzosen heute noch von einem Mystère de la Femme
reden können. Wer spräche noch in diesem selben Sinne von einem Mystère de
l' Homme?

Nun wüßte ich auf der Welt nichts gegen die Frauenrechtlerinnen
einzuwenden, als daß sie nicht geheimnisvoller sind. Sie gemahnen an den
Unterschied zwischen dem Skulpturalen und dem Anatomischen. Der wäre doch
ein Tor, der sich beschweren wollte, daß die Anatomie nicht ästhetischer
sei.

Auch sage ich ja nichts!

Wenn ich aber gegen die Kutte sprach, so sehe ich in den schönen,
meinetwegen manchmal trügerischen Schleiern, mit welchen die Frau ihr
inneres Sein umflort, sehe ich im Geheimnisvollen ein Attribut des
Weiblichen.

Und deshalb glaube ich, daß die bevorstehende Evolution sehr abseits der
Bahn ihrer Vorkämpferinnen liegt; wie sich die Schlacht weitab von dem
kleinen Reitervortrab abspielt, von dem wir sprachen. Es sind nur die
Boten, die mutig heransprengend, als erste die Kriegsfahne entrollen, aber
an der Entscheidung keinen Teil haben. So wären jene Frauen überrascht,
ihre geringe Fühlung zu den Lenkern der kommenden Schlacht zu vernehmen;
einer Schlacht ohnegleichen, in der die Kämpfenden von keinem anderen als
dem Gegner geführt, von ihm selbst angefeuert und in der Kunst, sich zu
verschanzen, unterwiesen werden. So sehe ich es von meinem Fenster aus
kommen. Was sage ich? So ist es längst. Das Treffen ist in vollem Gang. Die
hohen Staubwolken des Tages umhüllen nur die Vielen, die ermattet
niedersinken, das Ringen dieser Kampfuntüchtigen und das Gewühl. Die laute
Gegenwart übertönt nur die Rufe der zu Tode Getroffenen. Aber von meinem
Fenster überblickt man schon das gespensterhafte Schauspiel. Denn sucht man
nach dem Feinde, gegen den diese immer Besiegten sich halten, so entdeckt
man ihn in ihrer eigenen Hohlheit und Verlassenheit; der Boden, auf dem sie
langsam vorrücken, wird ihnen nicht bestritten, die Burg, die sie stürmen
müssen, ist leer.

Daß es der Frau innerlich noch nie so schlecht erging, wie seitdem sie
äußerlich zu ihrem Recht gelangt und im eigenen Lager ihre gute Sache
vertreten sieht, ist natürlich ein rein zufälliges Zusammentreffen, und die
Entfremdung der Geschlechter ist ein Faktor und kein Ergebnis.

Eine Zeit ist sich selber nicht bewußt. Sie kann den Schein nicht gewahren,
den sie ausstrahlt. Sie hat keine Distanz zu sich selbst. Ihre
Schrittmacher sind stets die Kommenden. Wir sind das alte Spiel gewohnt.
Nur bei unserer heutigen, der Analyse so ergebenen Generation, die sich so
behorcht, befremdet es mit einem Male, daß sie sich nicht kennt, und das
nimmt den Sinn gefangen wie das Flimmern schräger Strahlen im Dunkel alter
Kathedralen. Wäre es nicht unendlich wichtig, daß eine solche Zeit selbst
zu dem Spiegel griffe, den ihr bisher erst die kommende entgegen hielt? Es
gibt etwas Neues unter der Sonne, und wir gehen unaufmerksam daran vorüber.
Unter den jüngsten Männern ist ein merkwürdiges Geschlecht nie Dagewesener
entstanden, die nicht Söhne ihrer Mütter, nicht als letzte Glieder einer
Kette sich an diese schmieden, sondern abbrechend mit allem bisherigen,
nicht als Werdende mehr, sondern als Gewordene im Leben einsetzen. Ein
neuer Schlag, andere Organismen, Zeitlose, die tiefer als Menschen je
zuvor, die Marke ihrer Zeit auf ihrer Stirne eingezeichnet tragen, in sich
Befangene, Gebundene, dem Transitorischen so streng Überwiesene, daß sie
nicht mehr zu Gestalten sich verdichten, sondern wie die Frauen zu
Gesichtern sich verflüchtigen. Alles Elementare ist bei ihnen so
zurückgedrängt, daß es zurückgewiesen wird, wie alles Unmittelbare, alles
Unvermittelte. Vom Konkreten wird abgesehen, man spaltet die Begriffe bis
zum Wahnwitz und verschmäht es zu summieren. Infolge eines so radikalen
Umsturzes steht nichts mehr an gewohnter Stelle, und die Sprache wird zu
einem ganz anderen Modus. Man operiert nicht mehr mit Worten, die etwas
zusammenfassen. Die sind tot. Ich ließ in solcher Gesellschaft absichtlich
Worte wie gut und böse oder tüchtig, achtbar und verdienstvoll fallen, nur
um herauszuhören, wie unerträglich platt sie in dieser Atmosphäre klangen.
Um das Einfachste zu sagen, wird hier ein dunkler, schwer faßlicher Monolog
gewunden, zu dem nur Gleichgeartete den Schlüssel haben, und den kein
Uneingeweihter Zeit noch Geduld besäße, zu enträtseln. Es ist wie
Ein-sich-Verständigen durch Chiffren, und es sieht aus wie Pose. Allein es
sind Getriebene, denen bisherige Werte wie Kulissen niederstürzten, und
denen die Tradition entzogen ist. Aus dem Schutte werden nun die Splitter
aufgelesen, die Stunden dem Tage vorgezogen und die Ideale von diesen
Idealisten verworfen. Das Nahe wird mit dem Fernglas betrachtet, und die
Minute wichtiger genommen als das Leben. Auf den Trümmern, die sie
geschaffen, ziehen sie nun ohne Messungen, ohne Zentren bedächtig einher,
wie jene langbeinigen Vögel der Düne, von welcher das flutende Leben sich
zurückzog.

Aber nur sachte. So wenig ich mich zu diesem neuen Schlag bekenne, so wenig
gehöre ich zu denen, welche da glauben, ihn negieren oder über ihn hinweg
sehen zu können. Etwa weil wir es nicht mit Goethe'schen oder Wagner'schen
Menschen zu tun haben, oder weil ihr Denken meist ein vergeudetes ist. Mit
ihnen hat der Weltgeist, als sei er der ewigen Fortsetzungen müde, eine
Lücke in dem unsterblichen Teppich der Menschheit gemeint und unvermittelt
ein neues Muster eingezeichnet, das sich wie eine Grisaille inmitten einer
Freske ausnimmt, das aber so tief darin verwoben ist wie wir selbst. Und es
wäre borniert, uns zu stellen, als sähen wir es nicht, denn wir wissen
nicht, wie es sich entrollen wird. Wenn diese neuen Leute ihre Unreife
durch Überreife bekunden und mit der Temperatur des Alters in Szene treten,
sind sie deshalb nicht minder jung. So manch verheißungsvoller Jüngling
ging aus seiner Sturm- und Drangzeit als Niete hervor, ohne den Mittag
seines Lebens zu beschreiten. So werden auch hier nur die wenigen Berufenen
ihren Werdegang erfahren und gleichsam mit einer anderen Schwenkung zur
Reife gelangen. Es ist, als ob ihr Tag mit dem Sonnenuntergang anhöbe und
als müßten sie nach einer Morgenröte gravitieren, um ihr Tagewerk zu
vollenden. Wie es anderen oblag, das Chaos ihrer Empfindungen zu klären, so
müssen diese die schwere Schale einreißen, die sie von ihren eigenen
Gefühlen trennt, den Weg zu ihrem eigenen Selbst sich bahnen und lernen
sich zu besitzen. Hier ist nicht alles Narretei. Wir sind hier nur
versucht, auch die Typen zu verwerfen, denn noch nie sah man so groteske
Kopien. Aber von meinem Fenster aus gesehen ist nichts, was eine so
gespannte Aufmerksamkeit erheischt wie diese auf Abwegen aufgepflanzten
Wegweiser, diese Abgeklärten, diese Manierierten, diese Verzichtenden. Denn
über den, um seine Jugend betrogenen, in Intellektualität versteinerten
Jüngling mit der kalten Maske, dem abgewandten, in Schwermut erstarrten
Auge, über ihn geht jetzt der Weg. Er glaubt, indem er gleichsam eine neue
Seitenlinie menschlicher Denkart involvierend sich losriß, von allem
Vorgedachten und bisherigem Tun und Wollen sich entzieht, er glaubt so
gewillt zu sein, und ist nur, wie er muß.

So kenne ich -- nur das Echte will ich nunmehr im Auge haben -- einen
jungen Patriarchen. Bei ihm ist ein unausgesetztes Konstatieren ohne
Parteinahme, unerschöpfliche Teilnahme ohne Anteilnahme. Er verzeichnet mit
derselben Kühle das Verruchte wie das Erhabene. Er faßt alles und läßt
alles entgleiten. Er wertet alles, ohne etwas abzuschätzen. Verlangt von
ihm Alles, nur kein Für und Wider. Er ist höchst sensibel, aber der Weg zu
seinen Gefühlen ist ihm verschüttet. Er gebietet über das Große und das
Starke, über die mächtigsten und die tiefsten Dinge. Nur Eines fehlt in
diesen Regionen: Gras, Blumen, Vogelsang; alles ebbte zurück nach dem Pol,
gefror zur Erkenntnis. So ist seine Erkenntnis zum Parasit geworden und
zeigt er noch Geist, wo der Sinn ein Ende fand, wie jene Bergsteiger, die
noch weiter klettern, ob schon das Ziel hinter ihnen liegt, nur um der Lust
des Kletterns willen. Und er muß stärkerer Fesseln sich entwinden, als der
Ungestüme, er ist in seinem Denken verstrickter, gebannter in seiner
Losgelöstheit als der Erdgebundene. Und so steht er, in sich gekerkert,
gleich einer Herme, da wo alle Wege sich kreuzen und der Sterbliche froh
vorüberzieht.

Daß die Männer des neuen Schlages vorwiegend unverliebter Komplexion sind,
ist kein Geheimnis, ist kein Märchen, sondern die große, allwichtige
Novität. Der ganze heutige Umschwung dreht sich um eine Witterungsfrage.
Zwar ist es, wie gesagt, ein Faktor und kein Ergebnis, daß heute die
jüngsten und schönsten, von Männern sehr umringten Frauen häufig ungeliebt
und unbegehrt ins Leben hineinwachsen. Aber es ist ein Ergebnis, daß sie in
der kälteren Zone, der sie nunmehr ausgesetzt sind, zu immer deutlicheren
Gestalten sich festigen, in dem Grade, als der Mann in seinen Umrissen
verblaßt.

Die Götter selbst woben dies Feld der marmornen Schlachtenlenker in unseren
Teppich ein. Wenn alle Klöster, alle Abgeschiedenheit und alle
Tugendübungen die Frau nicht lehren konnten, in ihrem Innersten des Mannes
zu entraten, so hilft ihr jetzt seine eigene Halbheit. Stets ist es doch
sein Wesen, das bestimmend auf die Frau zurückwirkt. Ihr Gefühl ist zu sehr
Widerhall. Als er für sie glühte, war sie die Schmachtende. Heute ist
vieles anders geworden, und die Rollen sind vielfach vertauscht. Es gibt
nicht mehr die Incomprise, sondern den Incompris. Ein moderner Cherubin
dürfte uns ein gar originelles Liedchen vorzusingen haben. Er strebt von
jeder weg, zu der's ihn zieht. Er liebt sie nicht mehr, bevor er sie noch
liebte. Er ist jener untreu, die er gerade im Arm hält. Kaum hat er sich
ihr abgewandt, schweift er zu der Betrogenen zurück. Er ist enttäuscht
zuvor, zuvor der großen Ernüchterung preisgegeben!

Er muß die Dinge fliehen, bevor er sich in ihnen verankerte. Nie wird er in
der Folge nach dem schimmernden Schleier greifen, mit dem Leukothea das
Herz des sinkenden Odysseus schwellte. Seine Erkenntnis läßt ihn alles
Künftige retrospektieren, und sein Wissen um die Dinge ist sein Irrtum.
Denn als Verführer ist der Geist weit mächtiger als die Leidenschaft. Wo
sie nur verblendet, darf er überzeugen, auch indem er das Leben zerpflückt,
selbst indem er uns irreführt. Wo immer der Geist seinen grellen Schein
hinrichtet, ist er unwiderlegbar. Und der Geist als Verführer ist es, der
seine Pulse hemmt, wie das Eis die Quelle zurückhält.

Im Kontakt mit einem derartigen Manne kristallisieren sich die Gefühle
selbst der leidenschaftlichsten Frau in ganz anderer Weise. Sie ist zu zart
besaitet, als daß es sie nicht reizte, ihn auf seinem dämmerigen Pfade zu
folgen, und noch stärker ist für sie der Reiz, aus der Sturzwelle des
Gefühls sich ungebrochen wieder aufzurichten. Ihr Wesen mag zwar in seiner
Nähe sich erfüllen, doch ohne daß seine Nähe sie verwirrt. Denn seine Liebe
besitzt nicht mehr die Glut, sie mit einem Bannkreis zu umziehen, der ihr
zu einer Welt ersteht. Obwohl sie nie zuvor ein so feines Verständnis, eine
so vollkommene Wertung erfuhr, fühlt sie sich bei ihm nicht mehr geborgen.
Zwar ist er nicht mehr roh, aber er ist nicht selten hysterisch, und er ist
nicht mehr ritterlich. Er hat ihr nicht mehr jenes Gefühl zu bieten, das
sie wie ein prangender Mantel umhing, sie idealisierte und ihrer schonte,
daß sie beglückt ihrer Unzulänglichkeit sich enthoben wähnte.

»Voyez si je puis me conduire«, schrieb Julie de Lespinasse, »éclairez-moi,
fortifiez-moi. Je vous croirai, vous serez mon appui, vous me secourrez. Le
Président Hénault, l'abbé Bon, l'archevèque de Toulouse, l'archevèque
d'Aix, Monsieur Turgot, Monsieur d'Alembert, l'abbé de Boismont, Monsieur
de M . . . voilà les hommes qui m'ont appris à parler, à penser et qui ont
daigné me compter pour quelque chose.«

Nichts von alldem! Nichts von den kleinen Selbsttäuschungen mehr, nichts
von artigem Betrug. Keine Stunde Weges wird der Frau mehr erspart. Selbst
muß sie die schwachen Arme emporrichten, sich zu krönen, schwere Schritte
selber gehen und ihren Fuß auf die steile Stelle setzen, über die er sie
früher hob. Ohne ihn muß sie bestehen können. Er hat zu viel mit sich
selber zu tun und keine Hand ihr entgegenzustrecken.

Es ist wohl müßig, daß ich noch ausführe, was mit der sonderbaren Schlacht
gemeint ist, auf die ich immer wieder zurückkomme, weil ich sie von meinem
Fenster aus sehe. Es sind ganz einfach die Frauen, die gegen ihre
vieltausendjährige innere Abhängigkeit, ihre eigene Leere, ihre lang
gehegte Unselbständigkeit den verzweifelten Ansturm führen, zu dem die
Gleichgültigkeit der Männer sie treibt. In diesem Ringen erstarken sie zum
ersten Male, seitdem die Alten mit begeisterter Hand die Gestalten der
Dianen und Walküren umrissen. Für die Frau, die, auf den starken Arm des
Mannes gestützt, ihm ihr Werden gleichsam überließ, war es keine Kunst,
sich zu entfalten. Ihre Blüte hatte nur den einen Fehler, daß ihr Wachstum
von der Gunst des Mannes abhing, dies gab ihrer Reife oft etwas so
Fragliches oder so Entlehntes. Denn wo die Akzidenz der Liebe eines Mannes
wegfiel, da verzehrte, verwischte sich ihr Wesen und verwehte. Die
Unfreiheit, die wie ein Makel an ihr haftete, beliebte ihm indes. Es
behagte dem Petrucchio, daß sie ihm in ihrer Verblendung die Entscheidung
über den Lauf der Gestirne zugestand. Es war nur eine Form der Verwöhnung,
sie so zu unterdrücken, daß sie den Mond statt der Sonne am Himmel zu sehen
willig war, wenn er es sagte, sie so unterzustellen, daß sie ihn kritiklos,
gleichsam auf Abzug liebte, als gäbe es nur ihn, als flutete die Welt nicht
von tausend anderen wertvollen Dingen.

In einem gewissen heroischen Stumpfsinn suchen ja Liebende zuletzt nichts
anderes als zu vergessen, daß der Tod seine höchst radikale Scheidung über
sie vollziehen und nicht vor ihnen zurückstehen wird, ob sie noch so innig
sich umschlingen. Er weiß es besser. Darum ertragen sie den Gedanken an ihn
nicht. Mit seinen Augen, die im Dunkeln sehen, weiß er besser, wieviel
Verblendung an ihrer Liebe haftet und wie weit er sie zu trennen hat. Denn
die geheime Hierarchie der Wesen und die inneren Akkorde, die im Gegensatz
zu den äußeren weiterspielen, geben jene große Kakophonie, nach der das
Leben sich nicht kehrt, weil es so blind ist für die inneren
Zusammengehörigkeiten wie der Tod für die äußeren. Darum greift das eine so
blind heraus, wo der andere so blind entreißt.

Aber darum kam ein Tag in unserer Geschichte, an dem wir des Spieles müde
wurden, an dem die Liebe für die Liebenden, wer hätte es gedacht?
tatsächlich an Wichtigkeit verlor, weil sie nicht mehr vergessen, sondern
der bittere Geschmack des Todes auf ihren Lippen zurückblieb und weil ihre
Gemüter zu belastet waren mit den Erfahrungen der Väter, zu wissend um den
bitteren Rauch, das jämmerliche Aschenhäuflein, zu dem ein Feuerwerk, das
sie zu oft für ewige Flammen hielten, in ihren betörten Herzen niedersank.
Was Wunder, wenn sich die Welt von Enttäuschungen, die sie zusammentrugen,
an ihren Söhnen rächte, und in Dingen der Liebe an Stelle der Illusion die
Skepsis trat? Allein das Wissen dieser verspäteten Zeugen, das sie
Künftiges nunmehr vorweg nehmen ließ, erwies sich als ein stärkerer Bann
als die frühere Verblendung. Das Feuer ihrer Adern wurde zum Fieber und
überhitzte ihr Gehirn. Ihr Arm erschlaffte, ihr Denken dissoziierte sich
und zerstörte oder untergrub ihr Schaffen. Und erst die Söhne werden an
diesen Söhnen lernen, daß keine Umbildung, daß nur eine Stilisierung des
Sinnlichen gilt.

Als die stets bereitwillig nachfühlende Frau die ungeheuerliche Wandlung im
Gemüt ihres Gefährten und einstigen Beschützers wahrnahm, entdeckte sie ein
Etwas in seinem Kaltsinn, das sich zu einem Zug ihres eigenen Wesens
verhielt.

Wenn der Mann unverkennbar dazu neigt, der errungenen Frau müde zu werden,
und wenn er ihr dies antun darf -- denn nur selten erweist sie sich als das
Ideal, das er erträumte -- so darf sie ihm den Schimpf durch jenen
geheimnisvollen Zug heimzahlen, der fast ein Trieb zu nennen ist, dem sie
einzig ihre Gleichberechtigung verdankt und der den Mann in seiner
Eigenliebe stärker trifft als alle Untreue; ein Zug, den er gerne verkennt
und von dem der gröbere Mann nicht weiß: ich meine die mystische Abneigung,
die mit ihrer Neigung für den Mann so sehr im Widerstreite liegt und ihrer
Schwäche so sehr entgegen ist und deshalb so selten überbietet.

Daß der Mann des Neuen Schlages der heutigen Frau, die er doch im Stiche
läßt, im ganzen sympathischer ist als der gestrige Mann, hat seinen
besonderen Grund. Ganz im stillen nämlich fand sie in der schrankenlosen
Hingabe, die er von ihr erheischte, ihr letztes höheres Genügen nicht. Wenn
sie den Rest in ihm herausfand, auf den ihr Innerstes feindselig lauerte,
und der des Todes war, fand sie es doch ein bißchen schnöde, in seiner
Endlichkeit so maßlos aufzugeben, einen Humbug, so zu ihm aufzublicken: So
war ihre Neigung, von ihm abzufallen, edlen Ursprungs wie sein Überdruß.

Und es handelt sich heute, ich sagte es schon, um das letzte Wort der
Frauenpsyche: ihren seltsam verwobenen, niemals ungetrübten Drang, auf ihre
eigene Schwäche, wie auf eine Schlange den Fuß zu setzen, und um jene
Siege, die Goethe das Ungeheuere nannte: denn die kalte Luft, die jetzt
über sie hinweht, ist ihrem Wachstum günstig, und, ihre Evolution könnte
sich sehr wohl dadurch vollziehen, daß die Männer immer degenerierter
werden. Wenn sein Wesen zeitweilig in die Brüche ging, wird dafür die Frau
endlich individueller. Ihr letztes Endziel ist doch der Mann. Keine Tugend
in ihr, die ihm nicht zugewendet wäre. Sie werden einander wieder begegnen.
Es wird künftig viel von Liebe, wenn auch nur wenig mehr von
Frauenrechtlerinnen die Rede sein.

Indessen lobe ich mir unsere unsentimentale, unschwärmerische Zeit, mit
ihrem zurückgedämmten aber nicht verlorenen Gefühl. Man ist nur Pessimist,
um seinen Optimismus zu rechtfertigen. Ich glaube an einen Fortschritt für
unsere Ära und sehe ein Element des Lebens in dem augenblicklichen Verfall.
Alles ist nach seiner Art. Unsere unprometheische Jugend steht im Zeichen
des Euphorion. Sie ist gefährdeter. Wer dürfte es wagen, sie unheldenhaft
zu nennen?

                                                      1911 Lose Vogel.




                            DIE BALLONFAHRT


Ich fürchte doch, daß es noch einen Krieg wird geben müssen, obwohl die
Diplomaten ihn schon in Abrede stellen, obwohl die Leute nicht mehr recht
daran glauben, und obwohl die Zeitungen ihn noch immer an die Wand malen.
Es sollte mich doch wundern, wenn wir ohne jenen letzten und schon
unzeitgemäßen Krieg auskommen würden, weil unsere Köpfe zu hart sind, um
nicht noch einmal zusammenzustoßen.

Übergangszeiten sind ja nie schön. Es nützt uns nichts, daß sich die Welt
so sehr bereicherte. Ist die Ernte gehalten und sind die Scheunen voll, so
muß ein neuer Winter folgen und die Felder stehen wieder leer.

Mir ist immer, als ob es jetzt Februar wäre. Noch ist der Frühling weit,
aber der Tag schon grell. Man weiß nicht mehr, wohin sich wenden: die gute
Gesellschaft ist nicht zu ertragen, und die schlechte ist noch viel ärger,
sodaß es schon ganz zur Norm geworden ist, daß man abseits lebt. Und nicht
die Salons, die Bahnhöfe haben heute ihre Habitués.

Unsere nationalen Eigenschaften sind nämlich auf dem schönsten Wege, sich
zu nationalen Eigenheiten auszubilden. Wenn wir heute etwas echt bayrisch
oder echt berlinerisch oder echt sächsisch nennen, sollte man doch meinen,
daß es als Kompliment gemeint sei. Man sollte es meinen. Aber es ist nie
der Fall. Dafür nimmt das allgemeine Unbehagen über die eigenen
Rückständigkeiten überall seinen besonderen heimatlichen Charakter an.

Eines Tages trieb mich unsere Ungefügheit (mit welchem Wort ließen sich
unsere unzusammenhängenden Mängel diskreter zusammenfassen?) über die
Grenze. Als mich in Avricourt ein Douanier fragte: »Rien à déclarer,
Madame«? stach mir eine Träne ins Auge, denn meine Liebe zu Frankreich
stand wieder einmal auf ihrem Höhepunkt.

Aber Höhepunkte sind da, um überschritten zu werden. Ich wohnte zwei Monate
lang im fünften Stock des Hotel d'Orsay, bald in diesem, bald in jenem
Zimmer. Bald sahen meine Zimmer auf die Place de la Concorde, dann auf die
Rue de Lille, dann wieder auf den Quai d'Orsay hinaus. Bald war mir die
Lampe nicht recht, bald die Lage. Einmal fand ich das Licht zu grell;
zweimal zog ich wegen der Tapete aus. Immer wieder bestand ich ebenso
schüchtern wie dringend auf meinem Umzug.

Es lag aber nicht an den Zimmern. Es lag an Paris. Noch immer war Marianne
das schönste und interessanteste Mädchen von Europa; doch auch ohne Lupe
waren jetzt kleine Schärfen, und der erste leise Ansatz zu Krähenfüßen an
ihr wahrzunehmen. In ihrer stolzen Grazie lag etwas Müdes und Enerviertes;
mit einem Wort: der unverkennbare Typ des schönen Mädchens, das
Enttäuschungen erlebt hat und schleunigst heiraten sollte, um wieder
aufzublühen.

Ihren Roman mit Herrn Michel, dem schwerfälligen Herrn, der sie immer
brüskiert, wenn sie erwartet, daß er endlich um sie anhält, müssen wir ja
alle miterleben. Ich verbrachte viele Stunden in den weiten Leseräumen des
Hotels, schleppte die Zeitungen wohl auch in die Halle hinab, und in einem
großen Schaukelstuhl vergraben, las ich vor dem Kamin Mariannens bittere,
gereizte, kurzatmige Ausfälle, merkte die Mauern, die sie in ihrer
Pikiertheit zwischen sich und ihrem ungeschickten Freier errichtete, fühlte
den Groll, in dem sie sich gefiel, -- bis ich es nicht mehr aushielt, und
auf mein Zimmer eilte, und in großer Erregung herumging, und mit den Armen
in der Luft herumfocht, indem ich leidenschaftliche Dialoge mit ihr führte.

Und wenn sie immer wieder damit anfing, just das Stück aus ihrem Herzen,
das ihm gehöre, habe der verhaßte Liebhaber ihr herausgerissen, so stimmte
ich ihr erst bei (denn man muß sachte mit ihr verfahren!), dann aber warf
ich ihr vor, daß sie ihre leidenschaftliche Pose über Gebühr lange
beibehielt, und ihre Neurasthenie rühre davon her, daß sie ihre Erbitterung
künstlich steigere, statt sich von ihr loszusagen.

Aber weil ich nichts ausrichten konnte und es so aufreibend war, im
Gegenteil Zeuge zu sein, wie ein neidischer Dämon die beiden immer
auseinandertrieb, so wie sie auch nur von ferne Miene machten, einander in
die Arme zu fallen, ertrug ich es zuletzt in keinem Zimmer mehr, packte
meinen Koffer und fuhr nach England.

Und als die Küste von weitem schimmerte, da wurde mir warm ums Herz, denn
ich liebe diesen Boden, diese Leute und ihre Sprache. Aber auf die Dauer
ist heute jeder Ort entlegen und dem Gefühl verschlagen, von jener
Bangigkeit erfüllt, von der wir nicht genesen. Eines Abends stand ich in
London, über die Westminsterbrücke gebeugt und starrte auf den Fluß. Wo der
Widerschein der Wolken die Wellen bemalte, betupfte, beschattete, -- da
schien die Themse langsamer, nachdenklicher zu fließen, und von den Dingen
dieser Stadt zu wissen. Das Parlament mit seinen tausend beleuchteten
Fenstern, von dem stumpfen, eleganten Grau der Bauten, dem weiten, glatten
Grau des Asphaltes umzogen, stand wie das Feenschloß einer
Theaterdekoration, -- märchenhaft und ein wenig kulissenhaft zugleich. Und
diese leuchtenden Fenster kündeten mit ihrem feierlichen Glanz allen
Londonern in die Nacht hinaus, daß hier die Gescheitesten von ihnen
beisammen saßen.

Und wohl mochten sie Lichter anstecken, um sich von der Masse zu
unterscheiden, denn nirgends war der Gegensatz zwischen ihr und den paar
denkenden Leuten so groß. Zulange war sie hinter ihrem schützenden Graben
abgetrennt und vor dem Zwang mit andern Völkern sich zu messen, verschont
geblieben! Mutete sie nicht endlich fast uneuropäisch an? Erinnerte diese
Gleichförmigkeit der Idee, der Nahrung, der Vergnügungen, nicht endlich an
die Ununterschiedlichkeit von Hinduexistenzen?

Hatte das ewig rollende Meer oder der drückende Nebel diese Menschen ihres
ursprünglichen Schwunges beraubt? Denn nimmer gab die Phantasielosigkeit
des Durchschnitts-Engländers, die zumal bei der Durchschnitts-Engländerin
sich schon bis ins Spukhafte steigern kann, ein endgültiges Bild. Vielmehr
deutet alles darauf hin, daß dieses große Volk vor einem Wendepunkt steht.
Der stark individualisierte Engländer wohl mehr als der bornierte. Beide
sind keiner Steigerung mehr fähig. Der feine, kühne, reich umrissene, aber
doch auch gesättigte _Typ_ des großen Herrn mag sich hier noch ad infinitum
wiederholen, überbieten kann er sich nicht mehr. In seiner Eigenart ist er
erschöpft.

Während ich so, über die Brücke gelehnt, auf den Fluß hinstarrte, fühlte
ich mich plötzlich zu den vielfältigen, noch immer nicht bis zu sich selbst
gelangten Deutschen (ich hatte sie eine ganze Weile nicht gesehen!) so von
Grund auf hingezogen, daß ich noch in selber Nacht das Schiff bestieg, um
zu ihnen heimzuziehen. Und als ich früh am nächsten Morgen den Rhein
entlang fuhr und ihn rauschen hörte, da stachen Tränen in mein
charakterloses Auge.

Aber noch war keine Woche vergangen, da hatte ich mich über die Deutschen
schon wieder so geärgert, daß ich in Augsburg einen Freiballon bestieg und
dieser Welt, über die ich mir keine Illusion mehr machte, in einem kleinen
Korb davonflog.

Es ging ein Regen hernieder, worauf uns die Sonne soweit hinaufzog, daß
sich die Berge, die wir bald darauf zu überfliegen begannen, wie flaches
Land ausbreiteten, so tief lagen sie unter uns. Da sah ich zu dem
orangefarbenen Ball empor, der wie an einem unsichtbaren Seil und still wie
eine Ampel am Himmel zu hängen schien; und nur eine kleine schwarze Kugel,
die wir durch die Wolken schießen sahen, und die unser Schatten war, zeigte
uns, daß wir mit Windeseile flogen. Wie wir dann selbst in eine solche
Wolke drangen und die Welt rings um uns her unsichtbar und wie bewußtlos
wurde, und wir Stunden hindurch in solcher Höhe blieben, daß wir die Erde
nur mehr undeutlich sahen und, selbst unsichtbar, wie Abgeschiedene ihr
entrückten; -- da, -- ich kann nicht sagen, wie mir das vorkam, daß wir
noch daran dachten, einen Krieg aus der Rumpelkammer der Menschheit
hervorzuziehen. Aber ich sah auch, daß er noch möglich war, falls wir es
überall, bei den tausend Anstößen zu unserer inneren Unzufriedenheit
beließen, so daß uns zuletzt, unter dem Schein der Rivalität, nichts
anderes als das wachsende malaise über die eigene Unerfreulichkeit außer
Hause triebe, bis wir endlich, uns selber fliehend, lieber mit Waffengewalt
ins fremde Land einfallen werden, als uns selber länger zu ertragen.

                                             1911 S. Fischer Almanach.




                            BEI HILDEBRAND


Die expeditive Art, mit welcher die sehr beschäftigten oder sehr wertvollen
Leute die soziale Seite ihres Lebens liquidieren, habe ich schon früh
bewundern gelernt: sie hat nichts mit Ungeselligkeit zu tun; sie sind im
Grunde ebenso gesellig wie die Tagediebe. Aber ein Stachel, eine innerliche
Eile treibt sie an, sich dem Zusammensein mit ihren Mitmenschen --
gleichsam mit der Uhr in der Hand -- zu entziehen. Denn sie sind der Kürze
des Lebens, wie der zehn Talente, deren sie walten, vielfach unbewußt
vielleicht, stets eingedenk.

Aber ich weiß: Den Größeren gegenüber jeder Distanz entraten ist jetzt
Mode. Nun, ich begebe mich noch immer zu Hildebrand, wie ein anderer einen
Turm besteigt, weil ihn dort eine stillere Luft umweht: Dinge, die ihn
unten ärgern, sind hier auf eine Weile um ihre Existenz gebracht; und mag
er sich auch selbst hier oben unwichtiger dünken, so lobt er sich doch
gerade so unbewußte Pädagogen wie einen Aussichtsturm oder wie Adolf
Hildebrand.

Zwar ist es empfindlich, lediglich durch den Kontakt mit einem Anderen
augenblicklich des Abstandes bewußt zu werden, den er durch seine
Verdienste oder seinen Wert zwischen sich und uns geschaffen hat. Worte,
die man zu verlieren gewohnt ist, steigen befremdend in jener Zone unseres
Bewußtseins auf, die man Gewissen nennt, und vergeudete Stunden wollen sich
mit einem Male wie Rechnungen präsentieren. Dies alles nur, weil man sich
in Gegenwart eines Menschen sieht, der wie jeder andere Mensch -- ich
wünsche nicht zu übertreiben -- seine sichtlichen Grenzen hat, jedoch nicht
anders, jedoch genau wie ein Berg, der seine scharfen Linien in den Himmel
zieht, ausschließend, was nicht zu ihm gehört.

Auf ein so hohes Niveau hat Hildebrand seine Beschränkungen gebracht. Von
einem Berg zu versichern, daß er eine Erhöhung sei, könnte nicht öder sein,
als von Hildebrand behaupten zu wollen, er sei »gut«, so sehr ist er es
implicite; oder wenn einer sich bemüßigte, von ihm zu sagen, er sei »nicht
eitel«; denn der Mangel an _Beziehung_ zur Eitelkeit und an Talent zur
Selbstbespiegelung ist ja gerade der Grundton seines Wesens. Es fehlt ihm
jedes Verständnis für das Unwichtige, jede Fähigkeit, sich ihm zuzuwenden,
er sieht und hört und merkt es nicht einmal. Er hat für das Belanglose so
wenig Einstellung wie das Auge einer Ziege für die Schönheiten der
Landschaft. Aber die beste Idee der Atmosphäre, in die er hineinragt, geben
wohl die weiten, gedankenvollen Schweifungen seiner Brunnen und Monumente,
wie sein kleiner Tempel vor dem Münchener Nationalmuseum, der mitten im
Alltag wie ein mystischer Kreis seine verträumte und abgewandte Stille
zieht.

Über jenes ebenso beliebte wie gedankenlose Axiom, man müsse den Künstler
vom Menschen trennen, habe ich mich schon als Kind erbittert, lang bevor
ich noch ahnte, wie weit sich die Dépendancen des Musentempels (Vorhöfe,
Stallungen, Ökonomie etc.) ausdehnen können. Wer innerhalb des Bezirkes die
Pferde schirrt, gehört natürlich auch noch zum Personal, und es wimmelt im
ganzen Revier. Still wird es erst vor der inneren Halle, in die nur die
wenigsten von uns oder nur auf Minuten Zulaß finden. Hier wie in der
sichtbaren Welt kommt eben alles auf Rangstufen an. So kann einer mit
knapper Not ein Künstler sein. Wer es aber in erster Linie ist, dessen
äußeres Leben hat etwas Ungefähres und Zufälliges, als könnte ebenso gut
ein anderes, viele andere für ihn denkbar sein. Soweit grenzt sein Selbst
über das Maß der ihm zugemessenen Tage hinaus, so wenig erschöpfen und
enthalten sie ihn. Von seinem Leben trennt ihn jene latente
Unaufmerksamkeit, welche andere von ihrer Erkenntnis abhält und so viel
stärker mit ihrem Dasein sich identifizieren und verketten läßt. Es tut mir
leid, eine solche Platitude sagen zu müssen. Aber man verkennt doch im
allgemeinen immer noch, wie sehr der _Grad_ der Künstlerschaft den Künstler
als Menschen bestimmt -- und verschlingt.

So ist das Gedankliche, und im Gedanklichen das Architektonische bei
Hildebrand so überwiegend, daß sich ihm auch die Dinge, Menschen und
Ereignisse niemals außer Proportion darstellen. Nie widerfährt ihm, daß er
sie zu leicht oder zu wichtig nimmt. Sein für die Form so passioniertes, so
machtvoll gestaltetes Auge trägt diesen starken Sinn auch in die Welt des
Unsichtbaren über, und ist auch da, vergleichend, wägend immerzu tätig,
richtige Dimensionen einzuhalten, sie wieder herzustellen, das
Überflüssige, das Unwesentliche von den Dingen ausscheidend, naiv und
schöpferisch um ihre Perspektive und ihre Harmonie bemüht.

Eine Angelegenheit, die mich sehr stark beschäftigte, bis sie mir alles
verstellte und ich an nichts anderes mehr denken konnte, rückte plötzlich
wieder in die richtige Distanz, als ich eines Abends mit ihm zusammensaß.
Nicht etwa, daß es mir in den Sinn gekommen wäre, sie ihm zu erzählen,
sondern was mich wieder ins Gleise hob, war der überspringende Funke seines
Intellekts, dessen wunderbare, den wirren Schwankungen des Persönlichen
entzogene Helle das Maß der Dinge so still und unselbstisch kündet.

                                                                  1913




                       SCHIFFAHRT UND EISENBAHN


Wie behaglich, wie menschenwürdig hat sich unsere Schiffahrt ausgebildet,
wie stolz setzen wir über das Meer, aber wie barbarisch fahren wir noch
Eisenbahn. Unser größter Wohltäter wäre der, welcher frei oder nach Pullman
einen neuen Typ unserer Eisenbahnwagen durchzudringen suchte. Aber würden
die zuständigen Generaldirektionen die leiseste Notiz davon nehmen? -- Hat
je vor mir einer den Plan eines Generalstreikes der Eisenbahnpassagiere
gefaßt? Nein. Wir lassen uns in den stets überfüllten Zügen wahllos wie
Herdentiere zusammendrängen und zahlen und überzahlen die unverschämte
Tortur.

Oder sitzen wir etwa _nicht_ wie Böcke und Schafe Stunden und Tage lang in
einer verrußten, vergifteten Luft -- mit einer Platzkarte gezeichnet, wie
Hammel mit einem Kreuz? nur die eine rachsüchtige Hoffnung im Herzen,
unsere Leidensgefährten (welche die Eckplätze inne haben) möchten doch so
töricht oder so unerfahren sein, sich in jene andere Vorhölle: den
Speisewagen, zu begeben, woselbst ein wüster Dunst, übel wie eine
Seekrankheit, regiert. Und sind wir endlich allein, so stürzen wir ans
Fenster, um Luft, und wäre sie noch so eisig, hereinzulassen. Allein, wir
bringen es nicht auf. Wir rufen den Gefängniswärter: er bringt es auch
nicht auf. Das Holz sei aufgequollen, bemerkt er und geht. Nicht lange, und
die anderen Sträflinge kehren zurück. Man nimmt also wieder mit stechendem
Kopfweh seinen Rückplatz ein und hat bald darauf die unmittelbare Aussicht
auf zwei vom Schlaf überwältigte ältere Herren.

Sie sind nicht schön.

Endlich -- ich spezialisiere schon -- ach es liegt so nahe! -- ist das
Licht dieses mühseligen Tages gesunken. Aber der Lampenschein ist nur ein
trübes Geblinzel in dieser Luft! Und noch fünf Stunden. Das heißt, man wird
nie ankommen. Man wird es nicht erleben. Hannover! -- Die schlummernden
Gebrüder fahren auf, greifen nach ihren Taschen und fort! -- O! -- Ich bin
allein mit einem jungen und charmanten Mädchen. Wir wissen nichts von
einander, aber die gemeinsame Plage hat uns längst zu Verbündeten gemacht.
Sie erzählt mir, daß sie soeben einen Krankenkurs absolviert. Sie hat einen
Apfel, ich gebe ihr ein Messer; sie reicht mir ein Aspirin, ich ihr
Schokolade. Aber Sie müssen sich hinlegen, sagt sie, sonst wirkt es nicht.
Sie reißt die oberen Klappen auf und verhängt das Licht, und wir strecken
uns der Länge nach aus. O Gott, Schwester, rufe ich aus, dies ist viel zu
schön. Es kann nicht dauern! Aber sie tröstet mich, daß der Zug vor Hamburg
nicht mehr hält. Da wird -- Bang! -- die Türe aufgerissen und eine
Blendlaterne grell vor unsere Augen gehalten. Es ist der Kerkermeister, der
sich umsieht wie einer, der hier zu Hause ist, dann die Türe zuschlägt und
wieder verschwindet.

Es ist ihm etwas nicht recht, meinten wir bescheiden und einigten uns über
ein Trinkgeld, falls er wiederkäme. Wir fingen schon an, unsere Ruhe und
das Dunkel wieder zu genießen, als die Türe lärmend aufgerissen wurde und
Kerkermeister und Laterne uns von neuem aufschreckten. Gebieterisch
verlangte er (wie oft denn noch) nach unseren Billetten. Ich reichte ihm
das meinige zugleich mit einem Zweimarkstück entgegen. Wieso? was soll
dieses Geld? herrschte er. Daß Sie uns nicht immerzu stören sollen, weil
wir müde sind. Sie haben ja -- tat er sehr überrascht -- ein Billet II.
Klasse und sind hier in der ersten. Das wissen Sie so gut wie ich. Ich
wurde hierher verwiesen, weil alles überfüllt ist. Das gilt nur, so lange
wirklich kein Platz ist, bestimmte er. In Hannover sind mehrere Personen
ausgestiegen. Ich werde gleich nachsehen, ob etwas frei geworden ist. Dann
müssen Sie hinüber. Er schlug die Türe zu und ging. Gibt es Worte! rief die
Schwester empört. In England ginge es wider den Stolz des Ungebildeten, mit
dem Gebildeten so umzugehen. Die Nation ist zu zivilisiert, auch dem
stärksten Sozialisten wären solche Mißgriffe zu arg. Aber wir sind hier im
Lande der häßlichen Briefmarken, sagte ich vor Wut zitternd. Paßt so viel
Gemeinheit nicht wundervoll zur Schreibweise des Wortes »Büro«? Dabei stand
der Laternenkerl schon wieder unter der Türe. So, meinte er im Tone des
Vorgesetzten, drüben ist Platz, und machte sich anheischig, nach meinem
Gepäck zu greifen. Zurück! schrie ich wie eine Wilde. Dann zahlen Sie die
I. Klasse nach, sagte er erschrocken. Nein! keinen Pfennig! schrie ich,
denn mein Zorn kochte jetzt wie Teewasser auf einem Schnellsieder. Aber
morgen, schrie ich, steht diese Geschichte in allen Blättern, es stehen mir
alle Blätter, log ich schreiend, alle Blätter Deutschlands stehen mir zu
Gebote. Ich fand eine sehr dramatische Geste und der Mann fuhr vor meinen
Megärenaugen betreten zurück. Ach was, meinetwegen bleiben Sie wo Sie
wollen, sagte er. Jawohl! schrie ich und meine Börse öffnend, warf ich das
ihm zugedachte Geldstück ostentativ wieder hinein. Dies imponierte ihm
vollends. Er schlug zwar die Türe noch einmal zu (dies war seine Natur),
jedoch blicken ließ er sich nicht mehr.

Sind Sie Schauspielerin? fragte mich meine Gefährtin voll Bewunderung.

Aber ich sank erschöpft zurück.

Wollt Ihr mehr noch hören?

Diese eine gröbliche Geschichte greife ich nur deshalb mit Vorliebe heraus,
weil ich merkwürdiger Weise nicht den Kürzeren dabei zog. Die anderen
Geschichten erzähle ich nur auf speziellen Wunsch, weil ich mich zu sehr
dabei aufrege. Und wer sie auch für erdichtet hielte, würde sie doch nie
für übertrieben erklären. Wir fahren heute lieber auf dem längsten Seeweg
nach England, lieber 24 Stunden lang die ganze Küste entlang zu Schiff, um
der möglichen Drangsal einer 10stündigen Bahnfahrt zu entgehen, und wer all
die Eventualitäten des Winter- und Sommerfahrplans auf der Strecke
München-Ostende oder Vlissingen erprobte, der zieht es vor, sich allen
Meeresstürmen und dem dichtesten Nebel auszusetzen und einen ganzen Tag und
eine Nacht länger unterwegs zu sein. Daß die Schiffahrtsgesellschaften bei
täglich wachsender Konkurrenz so emporblühen und ihre Bureaux (ich schreibe
es so) in allen Städten aufschlagen und daß der Zulauf sich immerzu
steigert, geschieht nicht nur, weil die Schiffe so prächtig geworden sind,
sondern weil das Eisenbahnfahren mit jedem Jahr unerfreulicher und mühsamer
wird und hier statt des Fortschritts eine immer größere Nachlässigkeit
waltet. Nur die Preise sind gestiegen. Aber es ist, als führe man
geschenkt. Die armen Ausflügler, die an Feiertagen zu ihren unzureichenden
Zügen strömen, angebrüllt, zurück- und zurechtgewiesen werden, ist ein
Kapitel für sich. Sich darüber zu beschweren, überlasse ich denen, welche
noch den Mut besitzen, Sonntag über Land zu fahren und durch Lösung einer
Fahrkarte scheinbar das Recht auf anständige Behandlung eingebüßt haben.
Natürlich gibt es viele Schaffner, die höflich und gefällig sind. Unwürdig
ist nur die Tatsache, daß Wohl und Wehe des Reisenden von der
Gemütsverfassung, der Laune und dem Naturell eines solchen Diensthabenden
abhängig sind, daß hier die Disziplin, von der sonst doch so viel
gesprochen wird, daß die oft pöbelhafte Grobheit der Bediensteten
unbestraft bleibt, mit einem Wort: Daß hier das Mühlrad so verkehrt läuft.
Sinnen und Trachten unserer Generaldirektionen gehen dahin, möglichst
große, umständliche, protzige und unnötige Bahnhöfe (die Bahnzüge sind
ihnen egal!) zu errichten. _Unnötig_: Diese Behauptung ist mit nichten so
unverständig wie die Herren Bahninspektoren und Oberbauräte es möchten.
Wenn sie notwendig sind, warum stehen sie nirgends in England? Warum stehen
sie nicht in Paris? Warum bleiben sie in London auf ihre einfachste Form
erhalten? Warum sind sie dort nur weite Hallen, die nur von einem ewigen
Kommen und Gehen atmen -- nur praktisch -- nur zweckmäßig und trotzdem und
gerade deshalb von einer starken, beschwingten Atmosphäre von klassischer
Einfachheit und deshalb schön.

Kürzlich mußte ich in Leipzig den Nachtzug nehmen. Der Bahnhof -- der Stolz
des Sachsenlandes -- ist groß wie ein Marktflecken, und ich könnte mir so
gut vorstellen, wie hier ein Massenkostümfest veranstaltet würde, nicht aus
den besten Kreisen, aber üppig mit großen Palmenarrangements. Ich bitte
Sie, all die Treppen, das schöne Auf und Ab, wie geeignet! Nun -- ich warte
also auf Bahnsteig 4 auf den Berliner Zug. Er lief verspätet in die
großartige Halle ein -- und, ich brauche es nicht zu sagen: er war
vollkommen überfüllt. Wir standen geduldig und übernächtig auf der
Plattform wie ein Rudel Landstreicher, die zu warten haben, bis man sie
abschiebt. Plötzlich, wie von hoher Brücke herab, der stolze Kommandoruf:
Wagen werden keine angehängt! Es herrschte der gewöhnliche Kriegszustand.
Ich wurde in einem Halbcoupé einem alten Sachsen zugesellt. Als nach einer
Weile der Schaffner erschien und ich ihn fragte, ob denn nirgends Platz
sei, schlug er die Türe zu, ohne mich einer Antwort zu würdigen. »Von dem
erwarten Sie ja nichts!« riet mir der alte Herr. »Das Subjekt kenne ich. Es
war eine Zeitlang in meinem Geschäft angestellt, aber ich mußte es
schleunigst entlassen.«

Es gelang uns mit vereinten Kräften, das Fenster zu öffnen, aber vor dem
Ruß, der uns entgegenflog, zogen wir es alsbald wieder in die Höhe. Wir
stellten die Heizung auf kalt, wobei es immer wärmer wurde. Ich bin schon
alt, sagte er plötzlich, und werde nicht mehr viel Eisenbahn fahren. Das
ist aber auch das letzte, worum ich die Lebendigen beneiden werde. --

Nun -- eine solche 10stündige Fahrt, um die kein Toter mich beneidet hätte,
lag unmittelbar hinter mir, als ich in Cuxhaven, unter einem flockigen
Himmel, von Möven umkreist, die hohe Brücke des »Imperators« bestieg. Der
Kontrast zwischen dem Aufschwung unseres Schiffsbaus und der
Rückständigkeit unserer Eisenbahnen hat etwas Überwältigendes; man ist auf
den Eindruck nicht vorbereitet. Es ist ja nicht der Luxus, der uns
erstaunt. Mein Gott, den findet man heute mehr oder minder in jedem Hotel,
und er hat den Reiz der Neuheit schon so sehr verloren, daß ich mich frage,
ob er sich in der gegenwärtigen Form noch lange halten wird. Daß sich also
Riz oder Carlton hier einer Niederlage erfreuen und eine rotbefrackte
Kapelle stellen, ist uns egal. Und da ich mir nun schon einmal das Kapitel
der Anregungen gestatte: Wäre es nicht schön, den ganzen Aufwand neuen
Bahnen zuzuleiten und einmal ein wirklich gutes Orchester und eine
prachtvolle Musik auf einem so würdigen Boden, wie den unseres großen
Dampfers, zu lancieren? Das Meer ist eine so unvergleichliche Konzerthalle!

Nicht die kostbare Ausstattung des Schiffes, sondern daß es immens ist,
sondern, daß wir stimmungsvolle lauschige Zimmer statt der engen Kabine
beziehen, sondern, daß wir einen Kilometer zurückgelegt haben, wenn wir
dreimal das Deck umgehen, der Luxus des _Raums_, -- das ist es, was uns
hier ergreift. Jeder Fußbreit mehr, der sich hier dem Element widersetzt,
das ist es, was imponiert! Drinnen im Binnenlande begreift man nicht recht,
bevor man es erfuhr, warum ein Schiff so groß sein soll. Erst wenn man
darauf hinzog, versteht man den Sinn dieser großen, immer größeren Häuser,
in welchen man des Schiffes immerzu vergißt. Wir ahnen nicht vorher, mit
welcher Rührung wir uns besinnen werden, wenn uns in mitternächtlicher
Stille ein dumpfes, kaum wahrnehmbares, wie unterirdisch wachsames Treiben
die Augen aufschlagen läßt und ein Ruck, ein sanft harmonisches Rauschen
uns daran erinnert, daß nicht Straßen noch Plätze, nicht Gras noch Baum vor
dem Fenster im Winde stehen, sondern das nasse, leere Feld des furchtbaren,
feindseligen Gottes, auf welchem dies ungeheure beladene Schiff zur
winzigen Nußschale schwindet. Aber eine Nußschale, die uns das Gefühl
höchster Geborgenheit mitzuteilen weiß, und an welcher Menschenhände so
lange und so kundig bildeten, bis sie allen Stürmen gewachsen, endlich den
Begriff des Schiffes selber überwand. So ist hier der Zauber aus dem
Kontrast von Größe und Kleinheit gewoben, und mit innerem Jubel kreisen wir
immer wieder um das weite Deck dieser schwimmenden Arche, des Spiels nicht
müde, so groß ist die Romantik dieser kleinen, armseligen, rastlos
dahingemähten, dieser so kühnen, prometheischen Menschheit, und so stark
ist ihre Perspektive, daß wir plötzlich wie selbst aus ihr hinausgerückt,
von Bewunderung hingerissen vor ihr stehen.

                   *       *       *       *       *

Da wir von Perspektive und von Romantik sprechen, treten wir doch bitte
einen Schritt zurück, kneifen wir ein Auge zu und sehen wir ins Leere, in
die Ferne; dorthin, wo sich über den Fluß die massive Brücke schwingt. Denn
nicht lange, und der Schnellzug saust plötzlich darüberhin, aus dem Hals
der Lokomotive windet sich ein brauner Rauch zur krausen Barocksäule empor,
und die locker aneinander geschmiedeten Wagen rollen fröhlich mit lautem,
schnell verhallendem Geräusch und wie ein gefährliches Spielzeug vorbei.
Ein kurzer Pfiff, wie ein Angstschrei, und nichts ist mehr, als die
schwarze Wölbung eines Tunnels, durch die sie geradewegs ins Innere des
Felsens drangen. Und nun meine Zeitgenossen bitte ich Sie: Ist die
Ritterburg, deren epheuumrankter breitzackiger Turm vom Berge niederschaut,
suggestiver? Kann sie unserer Phantasie die Seele eines Zeitalters
mächtiger, unmittelbarer entgegenhalten, wie der soeben vorübergerauschte
Zug, dessen Fenster wir einen Augenblick in der Sonne flimmern sahen?
Fühlen wir uns da nicht blitzschnell den vielfachen Existenzen ein, die er
dahinträgt, reißt er da nicht unsere Teilnahme zu Schemen des Lebens hin,
vertraut und unbekannt -- verklungen schon, wie angesichts des verwitterten
Burgtores das Bild des Jagdtrosses, der über die Zugbrücke lärmte; --
melancholischer auch in der zerrinnenden Vielfältigkeit seiner steigenden
und fallenden Linien. Denn wie Lose in einer Urne sind unsere Leben in
jener kleinen Eisenbahn zusammengeworfen. Wieviel vergrämte, bekümmerte und
schwere Herzen trug sie nicht schon dahin! Wieviel Verliebte starrten schon
durch ihre Scheiben in die fliehende Gegend hinaus und erfaßten mit
magischer Schärfe den Baum, den zuckenden Steg, Dörflein und Wald, während
sie doch nur das Bild der Kreatur, an die sie dachten, vor Augen hatten!
Verträumte Flammen des Hoffens, der Illusion, von der Bewegung gefächelt,
wie Blumen, die im Zephir stehen. Es ist eine Zeit, es ist ihr bewegter,
ruheloser Schild, der nachts als funkelnde Schlange mit runden, feurigen
Drachenaugen seinen Weg erkannt und viel Romantik in sich verdichtet. Denn
es ist als sei nichts klein, als sei alles interessant an den Wesen und
ihren Schicksalen, so lange die Bahn sie hinträgt und gleichsam dem Alltag
entreißt. Nur daß sie noch nicht, wie die vielbesungene Burg, ihren Dichter
gefunden hat, die eilige Besiegerin der Fernen, die, rastlos, immer auf der
Flucht, unsere Epoche gestaltet, deren Schienen unsere Welt aufackerten und
uns erst zu eigen machten.

Und ein Ding, so verlockend anzusehen, unterhält so wüste Möglichkeiten;
einer so glorreichen Erfindung sollte jener Fortschritt verwehrt bleiben,
der sich heute auf allen Gebieten des äußeren Lebens -- von dem fabelhaften
Aufschwung unseres Schiffahrtwesens nicht zu reden -- so glücklich geltend
macht. Man fährt schon in Russland und auf der transibirischen Eisenbahn
sehr angenehm -- es ist also möglich. Warum sollten wir hier nicht auch wie
in so vielem Vorbildliches stellen? Wie schön, welche Freude, wären die
Eisenbahnwagen, die einmal ein Künstler wie Adolf Hildebrand entwarf. -- Wo
sind sie? Nein! was ich da sage, ist wirklich weder unausführbar noch
töricht! Aber, sagte mir kopfschüttelnd, mit erhobenem Finger, ein
mehrfacher Aufsichtsrat, sehen Sie denn nicht ein, daß die kolossalen
Anstrengungen, welche von Seiten der Schiffsagenturen zur Hebung desselben
geschehen sind, absolut notwendig waren, um das Verkehrsmittel überhaupt in
Schwung zu bringen, und daß es ohne die rücksichtsvolle Behandlung der
Passagiere, welche Sie so sehr rühmen, niemals florieren könnte, während
unsere Eisenbahnen -- ob nun etwas für sie geschieht oder nicht und mögen
sie noch so rückständig bleiben, ja noch unerträglicher werden -- einen
stets wachsenden Zudrang erfahren werden, da es kein anderes großes
Verkehrsmittel _gibt_ -- es sei denn das Auto oder der Luxuszug, der ja
auch, schloß er zutreffend und mit einem suffisanten Lächeln, mehr oder
minder nur für Autobesitzer (er war selbst einer) in Betracht kommt.

Nun möchte ich nur, wiewohl vergebens, unsere Herren Eisenbahnminister im
Namen meines philantropischen Jahrhunderts fragen, ob dies ein anständiges
Argument war.

                                          Neue Rundschau Juliheft 1914




                       DAS ELSÄSSISCHE SCHICKSAL


»Hans im Schnakenloch« von René Schickele, ein elsässisches Schauspiel in
vier Akten, gehört, wie Tchekow's »Kirschblüte«, nur in viel höherem Grade
noch, zu den athmosphärischen Stücken. Man weiß nicht, sind hier Licht und
elsässischer Himmel miteinbezogen, oder fluten sie ungefragt so herein.
Aber man weiß, hier ist die Tragik keine stipulierte, sie ergibt sich von
selbst. Denn hier ist der Held eins mit der Landschaft, in der er steht,
und mit dem Himmel, der schwefelgelb aufleuchtend, in der Ferne grollend,
so weit, so brütend, über ihm hängt. Elsaß! Und hier hat der Held es nicht
nötig, die Welt zu bereisen, sondern er trägt das Wissen um ihre
winterliche Finsternis in seinen leichtblütigen Adern. Dieser unselige Hans
im Glück, der alles hat, was er will, und nicht will, was er hat, möchte,
was er nicht mehr erhoffen kann: einen Boden für sein Glück. Dieser reifen
und sommerlichen Welt jedoch, deren Sinn er so wohl erfaßt und die er unter
seinen Füßen schwanken fühlt, gilt seine Treue. Des Elsässers Treue:
»Spannen Sie einen Menschen mit Armen und Beinen zwischen zwei Pferde,«
sagt er zum französischen General Kaufmann, »jagen Sie die Pferde in
entgegengesetzter Richtung davon, und Sie haben genau das erhabene Beispiel
der elsässischen Treue.« Hansens Mutter, die alte Madame Boulanger (in
diesem Stück haben die Deutschen meist französische Namen, und umgekehrt)
ist ein wenig schweigsam, nach Art alter Französinnen, die über das
Unvermeidliche nicht gern viel Worte machen. »Ihr wißt, ich hab nichts
gegen die Deutschen, gelt Clär. Aber manchmal kommts mir vor, als ob mehr
geschrien würde, seitdem sie im Lande sind.« Ihr Sohn ist nicht der Ritter
ohne Furcht und Tadel. Garnichts Verjährtes haftet ihm an. Er wandelt mit
der Stunde und ist der Mensch ohne Eitelkeit. Nichts Selbstgefälliges an
seiner Ironie; sein Achselzucken, seine spielerische Trauer atmen
Verzweiflung.

Hans (bei einem Fest auf drei Abgeordnete deutend): Da kommen sie!

Müller (noch oben auf der Terrasse, zwischen Cavrel und Simon): Ein Löwe,
ein Wolf, und das Schaf.

Louise: Die ganze Politik. --

Denn Hans im Schnakenloch, le grand désabusé, weiß was sie taugt. Der Krieg
bricht aus. Franzosen erobern das Dorf. »Dies ist eine Staatsaktion,« sagt
Hans, »von deren Ausgang das eine zum andernmal gerechnet, schließlich das
Schicksal der Völker abhängt. Es mag dumm sein, daß so viel vom Ausgang
einer Rauferei abhängt, aber ich kann es nicht ändern.«

Nicht lange, und das Dorf wird von den Deutschen zurückerobert. Der Kampf
tobt in den Gassen. »Arme Jungen!« sagt er von den gefallenen Deutschen.
»Da liegen sie wahrhaftig in Reih und Glied. Und die Franzosen davor
hingeschleudert, wie Pfeile, die ihr Ziel nicht ganz erreichten.« -- Wer da
siegt, ihm ist's nicht wichtig. Für ihn hat der Besiegte die höhere Glorie.
Wer von beiden die Erde verliert, die er beiden zuerkennt, bei dem will er
liegen. »Mich hat die Wildheit dieser Toten angesteckt,« schreit er
plötzlich auf. »So will ich auch liegen. Hingeschleudert, und mit
krampfhaften Händen, die ihr Ziel nicht erreichten. So und nicht anders
will ich sterben. So.«

Aber so hat auch Goethe den Elsässer gesehen. Elsaß war noch nicht lange
genug mit Frankreich verbunden, schreibt er in Dichtung und Wahrheit, (als
die Dinge umgekehrt lagen,) als daß nicht noch bei alt und jung eine
liebevolle Anhänglichkeit an alte Verfassung, Sitte, Sprache und Tracht
sollte übrig geblieben sein. Wenn der Überwundene die Hälfte seines Daseins
notgedrungen verliert, so rechnet er sich's zur Schmach, die andere
freiwillig aufzugeben. Er hält daher an allem fest, was ihm die vergangene
gute Zeit zurückrufen und die Hoffnung der Wiederkehr einer glücklichen
Epoche nähren kann.«

»Immer der Deserteur, immer aus Treue,« so hat ihn Goethe noch im Alter
gesehen.

Hans im Schnakenloch, der Elsässer von heute, sieht die Seinen nurmehr wie
von ferne; seiner Liebe kaum mehr bewußt, nimmt er nur kargen Abschied von
der Frau, »Du hörst nicht mehr, was ich sage,« herrschte er sie an.
»Begreife doch, auch ich gehorche der Pflicht . . . Meinesgleichen fährt
jetzt zur Hölle. Da muß ich dabei sein. Die Wage der Weltgeschichte
schwebt.« Der Gram dieser Erde ist _sein_ Gram. Im Schein dieses Himmels,
der schon überfloß in jenen der Douce France, fing sich auch das Echo
deutscher Innerlichkeit. Hier lächelt der Sommer, und immerzu deutet hier
der Zeiger auf die Stunde der Erfüllung. Aber statt ihrer erdröhnt immer
verstärkt die Stunde des Unheils. Liebe ist schwerer wie Haß, meint der
Abbé Schmitt, der die Gefallenen begräbt. »Ich wiederhole,« sagt er, »es
ist leichter gut zu schießen als gut zu denken. Das Schießen ist an der
Reihe. Sprechen wir weiter, wenn die Tage des Denkens wiederkommen.« Werden
sie kommen?

Auch die Nebenfiguren sind hier von zwingender Lebendigkeit und über die
Hauptrolle und ihre Modulationen werden sich wohl, je länger je bestimmter
allerorts die namhaften Mimen ereifern. Vorausgesetzt, daß noch welche da
sind, und daß der eiserne Vorhang, der sich zwischen den Ländern senkte,
nicht auch noch vor den Theatern herabfällt.

Was dieses mutige, von so wahrhaft dichterischem Geiste getragene, so
wundervolle Stück vor allem auslöst, ist eine ungeheure Bangigkeit, das
Bewußtsein einer entsetzlichen Gefahr. Man fühlt: die Gegenwart schlägt
hier voll an: Tolstoi und Dostojewski haben schon gelebt, der zwischen
anständigen Menschen längst herrschenden Moralbegriffe enträt nur noch die
Politik. Dort als eigentlicher Point d'honneur, Uneigennützigkeit, Großmut
und Würde; hier noch immer die vorchristliche Kunst des Übervorteilens im
Bereich des Möglichen oder des Unmöglichen: ein Zeiger, der unentwegt
voranläuft, der andere, der wie irrsinnig gegen die Räder anrennt; ein
sausendes Uhrwerk, das am Zerspringen ist; eine groteske, lächerlich
unerlöste Welt; das Wirrsal.

Immer ist es Sommer in Schickeles Stück; alle Holdheit der Erde, eine
blumige Au am Rande des Abgrunds: Elsaß! Und immer wird uns dieses Wort,
wie mit Traumhänden, so dringend hingereicht, bis es wie eine Glocke tönt,
die sich in Bewegung setzen möchte, Vernunft und Frieden einzuläuten, und
den Starrsinn in Zerknirschung zu lösen.

                                                        September 1916
                                                 Neue Zürcher Zeitung.




                                ANHANG





                             YVONNE MÜLLER


C'était dans la loge de l'ambassadeur à Rome. Le second acte d'une
représentation de Tristan tirait à sa fin, lorsque Yvonne Müller, ne
parvenant pas à détourner son attention de ce qui se passait sur la scène
et dans l'orchestre, se sentit prise d'un ennui intolérable. Ce fut presque
avec envie qu'elle remarqua alors l'air absorbé et pensif de l'ambassadeur;
quand lui, tournant vers elle son regard distrait, mais aussitôt en éveil:
»Si nous partions?« dit-il.

»Quelle excellente idée«! dit Yvonne Müller en respirant le grand air tiède
de la nuit.

»Ce n'était pas aussi mal que vous le dites.«

»Vous n'écoutiez pas« s'écria-t-elle; »vous étiez en train de rédiger une
dépêche. Je lisais cela dans vos yeux. Ah! c'est la dépêche surtout, que
j'aurais aimé lire.«

»Je n'en doute pas.«

»Eh bien non! car en vous observant je me disais: je voudrais qu'il écoute.
Vous avez de notre musique un sentiment véritable. Involontairement vous
eussiez comparé, et malgré vous vos sympathies se seraient portées vers
nous profondément.«

Yvonne Müller s'anima soudain d'une belle ardeur, mêlée d'une grande
incertitude; elle trouva un nouvel accent pour reprendre.

»Ah! je me fais pitié!«

»Eh bien, qu'y a-t-il?«

»Vous savez bien, ces fous« dit-elle »qui se prennent pour le pape ou
l'empereur Napoléon, et passent leur temps à signer des actes imaginaires?
Mon mal n'est pas de me croire, mais de vouloir être tout un monde de
choses! Rester en dehors des évènements m'accable! Et pour peu que deux
souverains aient une rencontre, je suis bouleversée.«

»Et pourquoi, grands dieux?«

»Mais parce que je voudrais en être. Ne riez pas! -- Si vous saviez«
continua-t-elle, »combien j'avais intérêt et hâte de venir vous voir! les
avis chez nous sont très partagés sur votre compte. Alors je voulais une
bonne fois et de mon propre chef vous observer moi-même.«

»En vérité« dit il.

»L'un de ces partis« débita-t-elle, »estime que vous êtes notre adversaire
le plus déclaré, l'autre au contraire tend à se tourner vers vous, à vous
accueillir, vous . . . . vous attirer. Je me suis longtemps demandée lequel
de ces partis était dans le vrai. Car je me sens influencée par l'opinion
de chacun, tant que je ne puis être assurée de la mienne. Mais une fois-que
je tiens mon impression personnelle, rien et personne ne saurait l'altérer.
Et telle est l'idée -- immuable maintenant -- que je me suis formée de
vous.«

Elle était en attendant très embarrassée. Ne sachant trop comment
interpréter le mutisme de l'ambassadeur, il lui semblait avancer à tâtons
et au hasard dans une obscurité complète, et elle n'était pas fâchée, que
déjà la voiture s'arrètât devant le palais. Ils montèrent lentement
l'admirable escalier et passèrent dans les salles désertes, où leur
présence semblait rompre un cercle pâle et insaisissable comme si une
haleine de vie troublait dans ces hautes tapisseries, les figures, les
fleurs, les bosquets immobiles, comme si dans le silence des ombres
affluaient ici autour de choses évanouies et coulaient tristes et inquiètes
d'une porte, d'une muraille à l'autre.

Ils s'arrêtèrent dans une pièce ornée de grisailles merveilleuses.

»Si nous jouions une sonate« proposa-t-il, »en attendant que les autres
soient rentrés?«

Décidément, se dit-elle, il faut avec les ambassadeurs se charger de toutes
les avances, et ce n'est jamais leur tour.

»Je pars dans deux jours; ne regretterez-vous pas un peu d'ignorer ma
pensée?«

»Et quelle est cette pensée?« dit-il simplement.

»Il me semble que j'ai un sérieux avantage sur ceux qui revendiquent un
jugement sur vous: c'est d'avoir passé un mois dans votre entourage.
Quelque réservé et sur ses gardes que soit un homme d'Etat, le domaine de
sa pensée se condense et crée autour de lui une atmosphère très spéciale.
Et son vague reflet est peut-être plus intéressant à constater que maints
gestes précis, dont se tirent les clichés instantanés, mais souvent confus;
d'autant plus que pour ces gestes l'imprévu est toujours apte à entrer en
cause et à les altérer dans leur effet ou dans leur interprétation. Quant à
moi, je doute que les paroles dont Bismarck formula un jour son jugement
sur vous, soient de cours aujourd'hui.«

»Vous doutez dans le vague« dit-il.

»Il m'est d'autant plus facile« remarqua-t-elle, »de provoquer certains
pronunciamenti, que personne ne pourrait deviner avec quelle passion je me
suis attachée à des questions de ce genre. Et si même j'avouais combien
elles me tiennent à coeur, à tel point, qu'immédiatement mon avenir
personnel perd à mes yeux toute importance, et rentre dans ses proportions
véritables -- qui au monde le croirait? Et qui voudrait admettre, ce dont
je suis pourtant convaincue, que parmi les nôtres, personne aujourd'hui n'a
su vous reconnaître aussi bien que moi?«

»Qui sont vraiment les vôtres? Vous étes Française autant qu'allemande!«

»Autant qu'Anglaise alors. Je ne trouve pas en nous aujourd'hui de quoi
nous suffire. A la longue chaque endroit nous oppresse et nous fatigue,
d'un ennui, dont nous ne sommes pas responsables. J'arbore« s'écria-t-elle,
»les drapeaux de trois nations pour le moins! Je suis la Jeanne d'Arc de
l'époque, moi!«

»Diable.«

»Vous êtes bien, vous, le diplomate moderne!«

»Qu'entendez-vous par le diplomate moderne?«

»Talleyrand, par son tempérament comme par ses facultés destructives, m'a
toujours semblé le type de l'ancien. Chercher votre qualité maîtresse dans
un instinct analogue, serait, je crois, manquer de perspicacité. Non
seulement parce qu'il manque à votre nature le trait retors, qui
caractérise ce genre de talent, mais parce que le don constructeur est la
marque même de vos aptitudes. Je doute que vous puissiez vous sentir dans
votre élément, à moins de trouver à bâtir, à construire; et ce don de
l'architecte est si éminemment le vôtre que souvent je me demande:
N'auriez-vous pas manqué en fin de compte votre véritable champ d'action,
si vous n'arrivez pas à jeter un pont sur le fleuve le plus difficile à
passer aujourd'hui? Ah! que vous en dressiez le plan c'est surtout ce qui
m'importé! car en dehors de l'initiative, j'ai découvert dans votre
politique un autre élément essentiellement moderne: le trait généreux si
spécial aux Français et si intimement lié à leur rancune!«

Yvonne Müller parlait maintenant sans désemparer. »Et je ne crois pas«
dit-elle, »à l'élimination du sentiment! Cela aussi est vieux jeu! »Le
sentiment n'entre dans la politique que dans un sens restreint, mais c'est
un sens qui s'élargira« disait le vieux Bismarck. Et cela d'autant plus que
déjà il est devenu plus urgent et pour nous tous peut-être, de poursuivre
et de hâter notre politique continentale que notre politique coloniale.
Mais il y a beau temps que je soupçonne les idées larges d'ètre rares aussi
parmi les ambassadeurs. Qu'en dites-vous?«

»Ils n'ont pas si vite fait que vous de résoudre des questions aussi
difficiles.«

»Difficiles ou non, ce serait une défaite pourtant« soupira-t-elle, »si une
solution, qui de droit revient à la diplomatie, devait finalement lui être
soustraite, et pour ce roman si pitoyable, hélas! qu'est le nôtre! où se
brouiller et se nuire sont les éventualités, où s'aimer sans arriver à
s'unir sont les faits.«

On entendait dans la cour des roulements de voiture.

»Vous m'objecterez peut-ètre« dit Yvonne Müller qui continuait toujours,
»que nous avons parfois une étrange manière de faire notre cour; mais les
amoureux sont toujours maladroits. Et vous pouvez me croire, je les
connais, mes compatriotes. Je les aime en tant qu'Allemande, et je les aime
encore avec une certaine dose d'irritation en tant que Française. Il n'y a
donc personne qui les aime davantage. Mais vous ne me dites rien?«

»C'est que nous n'avons plus le temps« dit il.

Les salles s'inondaient de lumière, un bruissement de soie, de pas légers
et de voix-approchait.

                                    Aus der Revue »le Continent« 1907.




                                INHALT


                                              Seite
   Torso                                          1
   Reisen                                        47
   Bei Taine                                    109
   Randglosse zur Psychologie der Nationen      117
   Cambridge                                    123
   Traum und Hellsehen                          131
   Aus einem Traumbuch                          143
   Literatur                                    147
   Einiges über den Geiz                        155
   Die Markgräfin von Bayreuth                  165
   Catharina von Siena                          189
   Das Leben der heiligen Walpurga              213
   Bei Duchesne                                 219
   Barrère                                      249
   Alarmglöckchen                               257
   Torschlußtypen                               265
   Der unverstandene Mann                       273
   Der neue Schlag                              281
   Die Ballonfahrt                              301
   Bei Hildebrand                               311
   Schiffahrt und Eisenbahn                     317
   Das elsässische Schicksal                    333
   Yvonne Müller                                343




Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 44]:
   ... pyschologisch tiefst Begründeten, was der Mensch ...
   ... psychologisch tiefst Begründeten, was der Mensch ...

   [S. 52]:
   ... zieht ...
   ... zieht. ...

   [S. 54]:
   ... mitempfand, von jener Flut von Trübsal eingegeholt, ...
   ... mitempfand, von jener Flut von Trübsal eingeholt, ...

   [S. 56]:
   ... der Verschmelzung unserer Qualiätten der Keim ...
   ... der Verschmelzung unserer Qualitäten der Keim ...

   [S. 121]:
   ... protestantischen Deutschen ist heute der katholiche ...
   ... protestantischen Deutschen ist heute der katholische ...

   [S. 294]:
   ... de Lespinasse, éclairez-moi, fortifiez-moi. Je vous ...
   ... de Lespinasse, Ȏclairez-moi, fortifiez-moi. Je vous ...






End of the Project Gutenberg EBook of Wege und Umwege, by Annette Kolb

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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
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Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation information page at www.gutenberg.org


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at 809
North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887.  Email
contact links and up to date contact information can be found at the
Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

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