Alle guten Geister...: Roman

By Anna Schieber

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Title: Alle guten Geister...
       Roman von Anna Schieber

Author: Anna Schieber

Release Date: April 1, 2017 [EBook #54469]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ALLE GUTEN GEISTER... ***




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                        Alle guten Geister ...


                                Roman

                                 von

                            Anna Schieber


                          Vierzehnte Auflage


                 Verlag von Eugen Salzer in Heilbronn
                                 1908



         Christliches Verlagshaus, Buchdruckerei, Stuttgart.




                    Erstes Buch




                    Erstes Kapitel


Es sind allerlei Leute, die sich in diese Geschichte hereindrängen.
Es ist eine ganze Versammlung von Leuten, alten und jungen, und es
ist gar nicht leicht, sie alle an den richtigen Platz zu stellen.
Da sind wohl solche darunter, die warten könnten, bis die Reihe an
sie käme. Zum Beispiel der Rektor Cabisius, der mit seinen heitern,
milden, jungen Augen durch den Garten geht und mit siebzig Jahren noch
an die Freude glaubt, oder »jetzt erst recht«, wie er selber sagt.
Und der Turmwächter und Schneidermeister Nössel und seine Schwester,
Frau Judith, die so wunderbare Dinge sah, und der alte Hollermann, und
immer noch mehrere, da nun das Tor offen ist. Da ist der alte Hirt,
der dreimal über den Stock sprang, wenn er sein Morgengebet verrichten
wollte, und der sinnige Küfermeister Riedel, von dem auch einiges zu
sagen sein wird. Sie alle könnten wohl warten, bis die Reihe an sie
kommt, denn das Warten haben sie unter andern guten Tugenden durch ein
langes Leben hindurch gelernt und wenn sie gefragt würden, so würden
sie sagen, wie so oft im Leben: nur immer die Jugend voran. Wir Alten
gehen gern einen sachten, behaglichen Schritt, und dann: es ist auch
besser, die Jungen im Aug' zu behalten. Und die Frau Rektorin Cabisius
würde nach ihrer Gewohnheit ein paar rasche, trippelnde Schritte
machen, dem Mittelpunkt zu, und dann wieder stehen bleiben und ihrem
Mann zunicken: so komm doch, Alter. Ich sehe nicht ein, warum du dich
so hinten hältst. Und dann würde sie selber zu ihm zurücktreten und
nur die kleine Gertrud vorschieben und mit bescheidenem Stolz sagen:
das Kind hat heute seinen ersten Schritt gemacht; das darf nicht
übergangen werden.

So soll nun die Frau Rektorin Recht behalten, und der erste Schritt in
das Buch hinein soll auch von einem ersten Schritt ins Leben hinein
handeln. Und die andern mögen ihm zusehen, und es wird nach und nach
ein jedes seinen Platz in der Geschichte finden, die einen kommend,
die andern gehend, ganz wie im Leben draußen auch. Und es wird Lichter
und Schatten darin geben und zuletzt wird die Sonne über die Schatten
siegen, wie das so ihre Art ist.

       *       *       *       *       *

Es ist wohl der Mühe wert, von dem ersten Schritt zu reden. Da ist so
eine lange, lange Bahn, es ist nicht zu sagen, wieviel Schritte darauf
zu tun sind. Und niemand weiß, wann er sie zum erstenmal betritt, was
er auf ihr finden wird. Wo sollte sonst ein junges Menschenwesen den
Mut hernehmen, sich auf die Füße zu stellen und sich auf den Weg zu
machen?

Der Frühlingssonnenschein lag auf der alten Stadtmauer, auf den
Giebeldächern des Städtchens und auf den Gärten, die in der Hut der
Stadtmauer und der Giebeldächer lagen und sich darauf besannen, daß es
ein schönes, festliches Ding um Frühling, Leben, Werden und Wachsen sei.

Die Luft war voll Schwalbengezwitscher und Starengeschwätze. Auf dem
Kirchendach klapperten die Störche, in den Blüten der Frühkirschenbäume
summten die Bienen wie toll vor ausgelassener Daseinsfreude. Eine
Katze schnurrte auf dem Bretterzaun. Es war kein übler Zeitpunkt, den
ersten Schritt zu wagen.

»Freude, Tochter aus Elysium,« sang die Schöpfung und ließ alle
Instrumente dazu klingen. Es war ihr einerlei, daß es Leute gab, die
behaupteten, es sei nicht der Mühe wert, in diese Welt herein geboren
zu werden.

Der Rektor Cabisius gehörte nicht zu ihnen. Er ging in den
sonnigen Wegen auf und ab, besah sich seine Obstbäume, wie sie mit
ausgebreiteten Armen auf ihren Frühling warteten, paffte große und
nicht besonders zierliche Rauchwolken aus seiner langen Pfeife, und
nahm ab und zu diese Pfeife aus dem Mund, um damit irgend eine Melodie
zu taktieren, die ihm durch den Sinn zu gehen schien. Vielleicht war es
dieselbe Melodie, die durch die Luft schwirrte; wer kann das wissen? Er
sah nicht aus, als ob er irgend jemandem hätte den freundschaftlichen
Rat erteilen mögen, nicht in diese Welt herein geboren zu werden.

Sein Haar war grau; auf der Stirn lagen ein paar tiefe Querfalten, und
unter den Augen hatte er unzählige feine Fältchen, ein ganzes Heer von
Fältchen.

Aber was waren das für junge Augen, warme, lebendige, ungetrübte, die
zwischen den Fältchen heraus sahen, so, als ob sie sagen wollten: »Ach,
das ist ja alles nur äußerlich, das Alte, Graue, Faltige, Mitgenommene.
Wenn ihr da innen hinein sehen könntet, wie da Leben ist. Aber das
könnet ihr nicht.«

Ihn freute der Frühling. Er nahm sich das Recht dazu, sich zu freuen
trotz allerlei trübem, das ihn durchaus aus dem Winter herüber
begleiten wollte. Und es ist nicht zu sagen, wieviel Trauriges ein
ehrlicher Mensch, der es von Herzen mit der Freude halten will, durch
sie besiegen kann. Die lieblichsten Frühlingswunder zeigt sie ihm,
und ein solches zeigte sie ihm jetzt eben, als er stillstehend nach
dem grünen Rasenfleck hinübersah, wo auf einem ausgebreiteten, großen
Tuch ein kleines Menschenkindlein saß. Es krabbelte mit den Händchen
nach den rosa Blütenblättern, die der junge Pfirsichbaum über ihm von
Zeit zu Zeit niederschweben ließ. Und als sich einige davon etwas zu
entfernt niederließen, da kam ihm das Verlangen, sie zu holen.

Und da geschah es, daß das Kindlein seinen ersten Schritt auf dieser
Erde machte, den ersten von so vielen, die ihm zu tun vorbehalten waren.

Die runden Händchen faßten den schlanken Stamm als Stütze, und als die
Füße fest standen, etwas gespreizt und unsicher freilich, aber doch
wirklich und wahrhaftig auf dem Grund, da ließen die Händchen los. Und
da geschah der erste Schritt.

Der Großvater sah ihm zu. Er klopfte die Pfeife aus, legte die Hände
auf den Rücken und sah in das blühende Wunder hinein, still, und ein
wenig bewegt, und ein wenig belustigt. Das war so etwas Selbständiges,
was da vor seinen Augen geschah, da regte sich so eine junge, sichere
Kraft, die etwas werden wollte. Mit ernstem Gesicht vollbrachte die
kleine Enkelin ihre brave Tat.

Aber dann kam die Angst über sie. Da war solch ein großer, leerer
Raum, in den sie sich hineingewagt hatte; darin war sie so allein. Sie
streckte die Händchen aus und wußte nicht weiter.

Nun war es Zeit für das Alter. »Da,« sagte der Großvater und trat
vollends heran. Er streckte sein langes Pfeifenrohr aus. »Halt's fest,«
sagte er. Da schlossen sich die kleinen Fingerchen darum, da kam nun
die Sicherheit wieder, die im Alleinsein so kläglich vergangen war.
Da war ja nun eine Stütze, und der unendliche Raum war liebevoll
ausgefüllt durch ein Menschengesicht.

Und nun machten die beiden jungen Leute eine große, große Wanderung
mitsammen, wohl fünf, sechs Schritte, und immer das Pfeifenrohr
zwischen ihnen als Halt und Leiter. Dann nahm der alte Herr das
kostbare, kleine Menschenwunder in die Arme, und sah zu, wie es über
das ernsthafte Gesichtchen flog, wie lauter Sonne; da war ein Leuchten
des Glücks zu sehen; bis unter die braunen Härchen auf dem runden,
weichen Kinderkopf alles ein Lachen und ein Stolz.

»Ja, ja,« sagte er, »ja, ja, das hätten sie sehen sollen,« und er
meinte damit nicht die Leute im Städtchen, die Nachbarn und Freunde,
sondern zwei andere Menschen, die vor allen hierhergehört hätten.

»O du Symboliste,« sagte seine kleine, heitere, behende Frau, als sie
später las, was ihr Mann in das Büchlein geschrieben hatte, in dem er
denkwürdige Ereignisse zu verzeichnen pflegte, »o du Symboliste,« das
sagte sie öfters, wenn er mit weitsichtigem Blick in die Lebensfernen
in den kleinen Geschehnissen des Tages wie durch einen Spiegel den
tiefen Sinn des Lebens sah. Das war ihm eigen, und sie war stolz auf
ihn und liebte ihn, gerade so, wie er war. Aber darum konnte sie es
doch nicht unterlassen, ihn zu necken. Es hätte ihm auch gefehlt, wenn
sie es eines Tages nicht mehr getan hätte.

Der Eintrag in das Büchlein aber lautete:

»Das war nun der Anfang. Sie hat sich tapfer auf den Weg gemacht,
allein und ohne Hilfe. Das ist gut und nötig. Es wird noch oft nötig
sein, daß sie das tut. Aber, o du Kind meines Kindes, mögest du nie im
Alleinsein des Lebens vergeblich die Hände ausstrecken nach einem, der
dir die Leere fülle.«

Jetzt eben kam die Frau Rektorin eilfertig durch den Küchengarten
geschritten und trat zu den beiden. Sie hatte graues Haar, wie ihr
Gatte, und äußerlich betrachtet, hatte sie keinerlei Grund, so
strahlend auszusehen, wie sie es wirklich tat. Es lag eine traurige
Geschichte in dem Lebensjahr, das die kleine Gertrud schon hinter sich
hatte.

War nicht ihr Vater der jüngste Sohn der beiden alten Leute und seiner
Mutter Liebling gewesen? Und hatten nicht beide Eltern das junge
Pflänzchen auf Erden zurückgelassen, nachdem sie es in die Hut der
Alten gegeben hatten?

Was für ein wackerer Helfer ist doch ein Kinderlachen, wenn es
gilt, über so viel Leid und Sorgen hinüber wieder froh und jung und
hoffnungsvoll zu werden.

Es war ein Festtag heute. Die Großmutter erfuhr das fröhliche
Geschehnis und wollte es auch mit ihren eigenen Augen sehen; und als
das geschehen war, da stimmten die drei, wenn's erlaubt ist, so zu
sagen, ein Terzett an, das mit reinen Tönen in das Frühlingsorchester
hinein klang: »Freude, schöner Götterfunken!« Gertrud fing an. »Mama,
Mama,« rief sie, und darauf folgte allerlei Kauderwelsch, das man nicht
widergeben kann.

Was die beiden Alten dazu taten, eignet sich gleichfalls nicht für den
Druck, und so muß auch der Text hier verschwiegen bleiben und, zusamt
der Melodie, dem Ahnungsvermögen derer überlassen werden, die gleich
dem Herrn und der Frau Rektor schon die Sonne haben durch Tränentropfen
hindurch scheinen sehen.




                    Zweites Kapitel


Es erkälte sich niemand, wenn unmittelbar nach diesem linden,
sonnigen Tag im Frühling von Schnee und Eis, Nordostwind, knarrenden
Wetterfahnen und Neujahrsglückwünschen die Rede ist. Denn man kann
sich ja ebensowohl die Seele erkälten, als den Leib bei solch einem
schroffen Wechsel. Und der Leser teilt nicht den Vorzug, den die Leute
von Wiblingen haben, daß nämlich seit dem letztgenannten Tage alle
Jahreszeiten in guter Ordnung an ihnen vorbeigezogen sind, wie das in
dem Kreislauf der Dinge liegt, der sich seit den Tagen Noahs nicht
geändert hat. Die Erde hat seitdem einige Male ihre gewiesene Bahn um
die Sonne gemacht, und es liegt jetzt der Winter über der nördlich
gemäßigten Zone.

       *       *       *       *       *

Unter der Tür von seines Vaters Haus stand ein Bub von zehn Jahren. Er
hatte einen kurzen, steil aufstrebenden Haarschopf, blaurote Ohren und
ein vergnügtes Gesicht. Die Hände hatte er in den Taschen vergraben. Er
sah nicht aus, als ob er sie an diesem sicheren Zufluchtsort zu Fäusten
geballt hielte.

Auf der Straße lag ein frischer Schnee, der über Nacht gefallen war.
Am Himmel hing weißes, zerrissenes Gewölk und dazwischen sah ein
kräftiges, reines Blau heraus. Es fuhr ein scharfer, lustiger Wind
durch die Straßen. Er wirbelte einzelne Schneeflocken in der Luft
umher, bis er ihnen gestattete, sich zu ihren Vorfahren zu versammeln
und tat sehr herrisch, weil er zugleich mit dem neuen Jahr in Wirkung
getreten war.

Dem Jungen gefiel es nicht übel bei diesem Zustand der Welt. Er ließ
sich auf die Nase schneien und pfiff dazu vor sich hin. Über ihm
baumelte an einem eisernen Haken die große, goldene Bretzel, die das
Abzeichen des Hauses war. Der Wind spielte mit ihr und sie knarrte
beim Hin- und Herschwanken wie ein ungeöltes Wagenrad. Er hieß Franz
Ehrensperger und sein Vater hieß auch so, und vor ihm hatte dessen
Vater und Großvater auch so geheißen. Und über ihnen allen hatte die
goldene Bretzel gebaumelt und im Winde geknarrt und sie war von jeder
neuen Generation frisch vergoldet worden. Die Ehrensperger hatten es
dazu. Sie hatten von jeher ihr Brot zu backen gewußt, wie es sich
gehörte und ihre Mitbürger erkannten das auch an. Es war zu erwarten,
daß auch Franz der Junge in späteren Jahren die Bretzel neu vergolden
würde; es lag gar kein Grund vor, etwas anderes anzunehmen.

Und so konnte er an diesem Neujahrsmorgen wohl mit Seelenruhe ins
Wetter schauen und, wenn ihm die erfreuliche Gegenwart nicht genügte,
auch in eine erfreuliche Zukunft blicken, die wie eine weiße, saubere,
wohlgeebnete Landstraße vor ihm lag und an der es freundliche Rastorte
zur Rechten und zur Linken gab.

Es ist nicht gesagt, daß er es getan habe. Der Erbe des Hauses
Ehrensperger war nicht so veranlagt, daß er allzuweit in die Ferne
gesehen hätte und mit neun Jahren pflegt man das auch nicht zu tun.
Jungfer Liese tat es für ihn; und sie tat es mit Wohlgefallen, mit
innerlichem Schmunzeln. Sie stand hinter dem Ladentisch und verkaufte
die Neujahrsbretzeln und legte den honorigen Kunden noch eine
extra obendrauf zusamt dem Prosit Neujahr, das sie mit wohlwollend
zugespitztem Munde im Namen der Firma aussprach. Und lächelte breit
und sonnig, wann die Kundschaft ebenfalls ihre Glückwünsche hergab
und legte sie alle säuberlich auf die Seite, einen zum andern,
nicht für sich, behüte, für das Haus, und für den Franz besonders.
Es war eine stattliche Anzahl von Bretzeln, die sie verkauft, und
von Glückwünschen, die sie eingeheimst hatte, Jungfer Liese konnte
schon mit Behagen um sich blicken. Drinnen in der Ladenstube saß
Franz Ehrensperger, der Ältere, und hielt einen kleinen Nicker im
Großvaterstuhl. Das runde Haupt mit dem Doppelkinn ruhte auf dem
Brustlatz der weißen Schürze, die Hände waren auf dem stattlichen
Bauch gefaltet, er drehte noch halb im Traum die Daumen umeinander,
dann hörte auch diese Bewegung auf. Über ihm an der blauen Tapetenwand
hingen ein paar Öldruckbilder, ein Ritter und ein Edelfräulein; sie
sahen einander mit feurigen Blicken an. Der Mann unter ihnen schlief
in Gelassenheit und Jungfer Liese sah ihm durch das Guckfenster in der
Zwischentür zu, es war ihr erbaulich zu Mute.

Sie war vor zwei Jahren ins Haus gekommen, eine arme Base des
Hausherrn, aus einem ärmlichen, mageren Leben heraus, selbst ein
leibarmes Persönchen, das, wie der Herr Vetter in einer scherzhaften
Stunde sagte, »wohl hätte eine Gais zwischen den Hörnern küssen
können.« Seither war ihr außer einigen Anfängen zur körperlichen
Rundung ein unbegrenzter Respekt gegen alles, was nahrhaft, wohlhabend
und stattlich aussah, angewachsen. Sie bewegte sich ehrfürchtig
zwischen den Mehlsäcken und Brotschränken des Hauses und wenn sie mit
dem Inhalt der ledernen Geldtasche klimperte, so tat sie es verstohlen
und mit Furcht vor böser Hoffart.

Es stolperte etwas die Treppe vom Oberstock herunter und dann kam ein
kleiner Ehrensperger herein, der jüngere Sohn des Hauses. Er hieß Georg
und seine Zukunft war noch nicht so über jeden Zweifel hinaus klar und
sichergestellt wie die seines Bruders. Es hatte noch Zeit dazu, denn
er war erst acht Jahre alt, aber das hinderte Jungfer Liese nicht, ihn
zuweilen mit einigem Mitleid zu betrachten, weil er ja doch später
einmal ins Leben hinaus mußte, Gott mochte wissen, wohin. Inzwischen
tat sie ihre Pflicht an ihm. Es wäre ein anderer Grund zum Mitleid
vorhanden gewesen, da nämlich die Mutter der Kinder seit Jahren fern
von ihrer Familie in einer Anstalt lebte und kaum eine Aussicht war,
daß sie je wieder einmal gesunden Geistes zu den Ihrigen zurückkehre.
»Aber,« sagte diese ihre Stellvertreterin, wenn die Rede drauf kam,
»ein Kreuz ist ein Kreuz, der Herr Vetter muß es tragen, und er trägt
es auch, das muß man ihm lassen. Die Kinder vermissen nichts. Denn
erstens sind sie zu jung dazu, und zweitens bin ich da.« Und sie
spitzte den Mund zu einem bescheidenen Lächeln und schluckte alles
Lobenswerte, das sie über sich selbst zu sagen gehabt hätte, hinunter,
doch so, daß es der Beschauer wenigstens ahnen konnte. Georg wollte
durch den Laden eilfertig ins Freie entwischen. Aber seine Ziehmutter
hatte erst noch Pflichten an ihm auszuüben. »Halt,« sagte sie und
faßte ihn am Grips, »an diesem heiligen Neujahrsmorgen willst du mit
Mehl am Ärmel und einem solchen Strobelkopf hinaus? Und in der Küche
bist du mir gewesen und hast einen Rußfleck am Kinn.« Und sie begann
ihn zu säubern und zu bürsten, und machte des Rußflecks halber ihren
Schürzenzipfel auf sehr natürliche Art feucht. Der Junge tat borstig,
wie ein Igel, aber das half nichts, er mußte aushalten. »So,« sagte
Jungfer Liese und gab dem aufrechtstehenden Haar des Buben noch einen
Strich nach hinten, »so, jetzt bist du sauber, um und um. Paß' auf,
verlier' dein Sacktuch nicht wieder, wie gestern. Und ungebetet kommst
du mir auch nicht hinaus. Das walte Gott der Vater und der Sohn und der
heilige Geist. So leg' doch die Hände zusammen, Bub', es hat keine Art,
dazu mit den Füßen zu trippeln.«

Es ist betrüblich zu sagen, aber Georg lief ihr unter den Händen weg,
eh' sie noch Zeit gefunden hatte, ihre Ermahnung zu beendigen.

Draußen rief eine helle Stimme seinen Namen. Da tat er einen Ruck und
schlüpfte hinaus. Jungfer Liese stand und schüttelte den Kopf, und mit
ihr schüttelt ihn vielleicht mancher, der es liest.

Und es ist nur zu hoffen, daß wir zu einer anderen Zeit erfahren, daß
noch allerlei Gutes in dieses junge Leben hereinkam, dem es nicht unter
den Händen weglief, und daß sich noch andere Hände fanden als die
der braven Jungfer Liese, um es ihm darzureichen. Denn es war nicht
jedermanns Meinung gleich der ihrigen, daß die Kinder der traurigen
Frau, deren Geist hinter schweren Riegeln saß, keinerlei Mangel an
irgend einem Gut aufzuweisen hätten.

»Georg,« rief es noch einmal, »komm schnell, sonst kommen wir zu spät
zum Läuten, es muß gleich anfangen.«

»Natürlich,« sagte Jungfer Liese hinter ihrer Ladentür, »natürlich, ist
mir doch das Mädchen, die Gertrud, schon wieder auf der Gasse, und
stapft durch den Schnee wie ein Storch, in ihren roten Strümpfen. Und
Röcke bis an die Knie, und alles fliegt an ihr, das Haar am meisten.
Behüt' mich. Wenn ich ihre Großmutter wär'.« Es verlautete auch diesmal
nicht alles, was sie zu sagen hatte, vielleicht versagte ihr die
Phantasie, wann sie versuchte, sich an die Stelle der Frau Rektorin
Cabisius zu versetzen.




                    Drittes Kapitel


Inzwischen ging die Jugend ihrer Wege und überließ das Alter seinen
Betrachtungen.

Es führte eine steile, schmale Gasse gleich hinter dem Bäckerhaus
in die sogenannte alte Stadt hinunter, in der die Kirche stand, ein
schmuckloses, nüchternes, weißgetünchtes Bauwerk, an dem nur der Turm
bemerkenswert war, der, eine viereckige, trotzige Masse, hoch, frei
und stark aufstieg und über die nah herangebauten Häuser hinwegragte,
wie ein großer Mann über die Menge der Durchschnittsmenschen. Auf der
Höhe dieses Turmes, gleich über den Glocken, hauste der Nacht- und
Feuerwächter Nössel, der auch zugleich Flickschneider war. Er hatte
mehr als die Hälfte seines Lebens dort oben zugebracht. Jetzt war er
ein alter Mann. Aber immer noch stieg er zweimal in der Woche seine
hundertundfünfzig Treppenstufen hinunter, um die geflickten Gewänder an
ihren Ort zu bringen und neue Schäden zur Heilung mit sich hinauf zu
nehmen.

Wann er schlief, wußte man nicht so recht. Die Mitbürger hörten,
sofern sie nicht im Schlafe lagen, mit Behagen sein halbstündliches,
hellbimmelndes Glockenzeichen durch die Nacht klingen und zogen sich
getrost die Decke über die Ohren, da ja außer dem Herrn im Himmel auch
noch der alte Nössel auf dem Turm über die Sicherheit der Stadt wachte.
Am Werktag flickte er die Löcher, die der Kampf ums Dasein in die
Gewänder riß, und außerdem besorgte er an Sonn- und Feiertagen und zu
den Betzeiten das Läuten der Glocken. Er saß nie unter den Andächtigen
in der Kirche, sondern blieb in der Höhe bei den Glocken und streckte
seinen grauen Kopf durch ein Mauerloch, das eigens zu diesem Zweck
ausgehauen war, fast an der Decke des Kirchenschiffs, der Gemeinde
und dem Pfarrer entgegen. Begann der letztere dann das Vaterunser,
so verschwand, zur großen Befriedigung der Schuljugend, die hierauf
fast mehr achtete als auf das Schlußgebet, der Kopf an der Öffnung und
allsogleich begann das Läuten.

Diesem wichtigen und interessanten Mann war der Besuch der Kinder
zugedacht, und es war nicht das erste Mal, daß er denselben
entgegennahm. Er galt auch nicht ihm allein, sondern ebensowohl
der Mitbewohnerin des Turmes, deren Bekanntschaft nicht lang mehr
wird auf sich warten lassen, und deren Dasein die freundliche Fülle
an lebendigen Gestalten vermehrte, die das Jugendbilderbuch der
Kleinstadtkinder aufzuweisen pflegt. »Gehst du mit, Franz?« fragte
Gertrud und pflanzte sich vor dem größeren Nachbarssohn auf. »Dann
komm, aber schnell.« Franz bejahte, um aber schon an der Ecke wieder
umzukehren, da ihm, wie er sagte, von Jungfer Liese ein Apfelkrapfen
auf die Ofenplatte gelegt sei und derselbe sicherlich jetzt im
richtigen Wärmezustand sich befinde.

Georg strebte mit langen Schritten voran; er hörte mit Wohlgefallen
das leise Knirschen des leichtgefrorenen Schnees und sah die
scharfumrissenen Abdrücke seiner genagelten Schuhe in der reinen weißen
Decke; auch trieb ihn die Furcht, zu spät zu dem erwünschten Genuß
des Läutens zu kommen, zur Eile. So blieb Gertrud, die sich mit Franz
aufgehalten hatte, einen Augenblick zurück, und ihr Spielkamerad sah
sich erst mahnend nach ihr um, als sich, aus einem Haus der engen Gasse
kommend, ein drittes Kind zu ihr gesellte. Es war ein zierliches,
feingebautes Mädchen mit rötlichblondem Haar, das in Locken unter
einem hellgrünen Samtmützchen hervorquoll. Auf dem Kragen des weiten
und etwas eigenartig zugeschnittenen Mäntelchens lag ein Machwerk von
gelblichen Spitzen. Die ganze Erscheinung machte nicht den gewöhnlichen
Eindruck, den die Bürgerskinder, auch die bessersituierten, in einem
kleinen Städtchen zu machen pflegen.

Das Kind gehörte der Putzmacherin Maute, einer, wie sie selbst von
sich sagte, »unglücklichen, verlassenen, aber nicht herabgekommenen
Frau, die nur zu gutmütig und zu ideal für diese Welt sei.« Man war
gewöhnt, es in einem etwas ungewöhnlichen Aufputz zu sehen. Und die
Leute verziehen die Abweichung von dem allgemeinen Geschmack, da ja
die Frau ohnehin weder zu den Vornehmen, noch zu den Geringen so recht
gehörte, und da sie mit praktischem Sinn einsahen, daß in einer solchen
Hantierung, wie die Putzmacherei, doch immer Reste übrig blieben, die
dann das Kind vollends auftrage. Es hieß Lore und war, obgleich im
gleichen Alter wie Gertrud, viel kleiner, zarter und zierlicher als
diese.

»Komm mit, Lore,« sagte Gertrud, die eine besondere Vorliebe für alles
Feine, Zarte und Schwache hatte und die »die Affenlore« schon öfters
mit Mut gegen die Angriffe der Schulkinder verteidigt hatte. »Darfst
du mit auf den Turm? Erlaubt's deine Mutter?« Lore nickte glücklich.
Sie war so viel allein und mußte sich so oft anders fühlen als die
andern, daß sie es als Glück empfand, wenn gute Bürgerskinder sie
als eins der ihrigen an sich zogen. Die Frau Putzmacherin nickte mit
etwas struppigem Kopf aus dem Fenster, als die Kinder abzogen; Georg
blieb stehen und sagte bockig und mit offener Geringschätzung: »Die
soll mit? Die hat ja doch Angst vor den steilen Treppen und dann erst
noch vor den Glocken.« Er hatte noch keinen offenen Sinn für die
Anmut und schätzte Größe und Kraft mehr als Zierlichkeit. Aber die
Kleine wußte sich einzukaufen. Sie zog ein schwarz und weiß geflecktes
Kaninchenschwänzchen aus der Manteltasche. »Da, willst du das?« fragte
sie. »Es ist ein Tintenwischer. Ich habe gar keine Angst, die Gertrud
hält mich schon.« Da nahm der Junge das Schwänzchen und dann gingen sie
mitsammen durch den Schnee. »Guck einmal,« sagte Gertrud, »meine Füße
sind grad so groß wie die deinen.« Sie setzte vergnügt ihre breiten,
kräftigen Stiefelabdrücke neben die ihres Freundes und verhieß ihm,
der es sich auch von ihr gefallen ließ, daß sie immer mit ihm Schritt
halten würde und ebenso groß, kräftig und gescheit zu werden gedenke;
»oder auch noch ein bißchen mehr,« setzte sie hinzu, zog aber das
letztere willig zurück, als Georg aufzubegehren drohte. Im Grunde war
es ihr nur um die keckliche und ungeminderte Kameradschaft zu tun,
nicht um den Wettbewerb. Während nun die beiden in gleichem Schritt und
Tritt kräftig auszogen, trippelte Lore in ihren Fußtapfen hintendrein,
flink und leicht und immer noch einen eigenen, kleinen Fußabdruck in
den großen der Vorgänger hineinsetzend und kam so fast mit ihnen und
ohne Schaden ihres zierlichen Schuhwerks am Fuß des Turmes an.

»Das ist nun wieder so eine Neujahrsbetrachtung.« Meister Nössel
setzte die Hornbrille mit den runden Gläsern auf und sah zu, wie eins
ums andere von den blühenden Kindergesichtern aus dem dunklen, engen
Treppenhaus auftauchte und ans Licht des Glockenbodens kam. Und dann
wünschten sie ihm ein gutes Neujahr und er nickte ernsthaft und sagte:
»Das ist wie eine Neujahrsbetrachtung, sag' ich. Da kommet ihr so
herauf zu mir und stehet da, breit und keck, und seid schon ein Stück
ins Leben hineingewachsen und kaum war's doch, daß ihr hereingekommen
seid, in die Welt, mein' ich, nackt und bloß, wie der Psalmiste sagt.
Und vordem sind eure Väter da heraufgestiegen und haben mir am Läuten
geholfen, und sind nun schon dahingegangen. Heißt das, deiner nicht,
Georg, aber heraufsteigen tut er auch nicht mehr, er ist zu dick dazu.
Und deine Mutter sitzt im Dunkeln und muß in Geduld warten, bis ihr
Gott wieder das Licht ansteckt, und war ein schönes Mädchen zu ihrer
Zeit und mein Sohn hätte sie gern gefreit, aber sie hat ihn nicht
genommen. Und so gehen denn die Jahre dahin und man weiß nicht, was
noch kommt und ist das Beste, daß unser Herrgott noch immer auf seinem
Stuhle sitzt, und wollen wir denn in Gottes Namen ans Läuten gehen, und
er walte das zu Anfang, Mittel und Ende.« Damit nahm er die Brille
ab und steckte sie in die Tasche, und seinen jungen Gästen, ob sie
ihn gleichwohl nur halb verstanden hatten, war es zu Mute, als ob sie
durch die Dachluken hindurch den lieben Gott auf seinem Stuhle sitzen
sähen und wie er nun das Zeichen zum Beginn des Läutens gäbe. Sie
faßten mit zager Hand nach dem Strick der beiden kleinen Glocken, indeß
Meister Nössel die große anzog. Lore drückte sich in die entfernteste
Ecke an die Wand. Und dann war es nicht anders, als ob hier oben die
Brunnenstube des Zeitstroms sei, und die Wellen kämen aus innerem Trieb
zu Tage und strömten über und zu den Schalllöchern hinaus und würden
ein Meer und füllten die ganze Welt, und überall müßte man sie rauschen
hören, hier oben am lautesten und fernhin leiser und leiser und bis in
den Himmel hinein. Und dann schwiegen sie; leise klang noch einmal ein
Ton auf, noch einer, dann verzitterte nur noch der Nachhall in der Luft.

»So und nun geht in die Stube hinauf zur Judith und wärmt euch.«
Meister Nössel klappte sein Lädchen an der Mauerluke auf und setzte
sich in Positur. Drunten in der Kirche begann die Orgel zu tönen,
es flogen einzelne Laute von ihr bis hierher, und dann schwoll der
Gemeindegesang, der die Kirche füllte, über, und bis in die Stille hier
herauf. Den Kindern war es, als ob er aus einem fernen, unsichtbaren
Lande komme, demselben, in das sie vorhin zu sehen meinten, und ihre
jungen Seelen regten sich und schwangen leise mit und versuchten,
aufzuflattern, als ob sie irgendwo zu Hause wären, nicht hier. Aber sie
wußten nicht, wo.

Und dann schlichen sie auf den Zehenspitzen die Treppe hinauf und als
Lore einen ungeschickten Tritt auf einen astigen Knorren tat, der
mitten auf einer ausgetretenen Stufe hervorsah, denn die Treppe war ihr
noch ungewohnt, und es polterte etwas, da gab ihr Georg einen Schubs
und sagte leise und eindringlich: »Du Trampelliese.« Und das Wort war
nicht aus einem streitsüchtigen Bubenherzen, sondern aus dem Bedürfnis
heraus geboren, daß die Feierlichkeit des eben vergangenen Augenblicks
ungestört nachhallen könne, und mangelte nur der Feinheit. Die konnte
er sich aber noch erwerben.

       *       *       *       *       *

»Da seid ihr denn nun,« sagte Frau Judith und öffnete ihre Stubentür,
daß das helle Licht des Wintertags in breitem Strom aus der lichten
Stube auf die dunkle Treppe floß. »Da seid ihr denn wieder einmal
heraufgekrabbelt, und wißt ihr auch, wie lang es her ist, seit ihr das
letzte Mal hier oben waret? Ganze sechs Wochen ist es her und seither
war so viel zu sehen von meinen Fenstern aus, und das ist nun alles
vorbei und kommt nicht mehr. Nun mögt ihr hinaussehen, so viel ihr
wollt, es ist nur Schnee zu sehen, sonst nichts.« »Ach, gar,« sagte
Gertrud und lachte ein bißchen unsicher, »laß mal sehen, Frau Judith,
es muß doch sonst noch was da sein,« und sie zog ihren Kameraden, der
mit großen, erschrockenen Augen dastand, mit ans Fenster. »Siehst du,
du mußts ihr auch nicht immer gleich glauben, Georg,« rief sie in
ausbrechendem Jubel, »da sind alle Häuser und Gassen und der Himmel,
und die Raben auf den Bäumen! O, o, Frau Judith, der Großvater sagt's
auch immer, daß man dir nicht alles glauben soll. Und jetzt sagst du
gleich, was alles noch zu sehen war, so lang wir nicht hier waren.
Komm, Lore, setz' dich nur hier auf den Schemel und nimm deine Mütze
herunter, denn jetzt erzählt Frau Judith so lang fort, daß mans gar
nicht sagen kann.«

»So meinst du?« Frau Judith stand an der Krücke in der Mitte der
Stube und ihr breites Gesicht glänzte vor unsäglichem Vergnügen. Sie
versuchte vergeblich, zu tun, als ob sie heut nichts wüßte; Georg sah
so flehentlich drein und nahm die kleinste Weigerung so ernst, daß ihr
das Herz zerschmolz. Und Gertrud pflanzte sich kriegerisch vor ihr auf
und ihr ehrliches, rundes Kindergesicht flammte. »So, nun setz' dich
einmal in deinen Stuhl und fang' an,« sagte sie. »Du kannst sagen, von
was du willst, es wird doch eine Geschichte draus. Und mein Großvater
kommt auch nächstens, das hat er noch extra heut morgen gesagt, und
dann will er mit dir eine Reise machen, ins Jugendland, hat er gesagt
und du wissest schon, wo es liege. Aber das ist ja auch bloß Spaß, du
kannst ja gar nicht verreisen. So, jetzt fang an.«

Lore saß ganz still. Die beiden andern waren hier so zu Hause, das
konnte sie wohl sehen, sie aber fühlte sich fremd und scheu in ihrem
Putz und ihrer ganzen Art. Die Mutter hatte sie heut früh vor den
Spiegel gestellt. »Herzig siehst du aus,« hatte sie gesagt, und noch
anderes. Von der Zukunft, und daß Schönheit ein Reichtum sei. Jetzt
hätte sie gern den Staatsmantel ausgezogen, wenn nicht darunter ein
zerrissenes Werktagskleidchen gewesen wäre.

Da strich ihr plötzlich eine große, weiche Hand sacht und leise über
das Haar. Sie duckte sich wie ein Vögelchen unter der ungewohnten
Berührung. »Ich kenn' dich schon, du Kleines,« sagte Frau Judith. »Bist
noch nie bei mir gewesen, gelt. Aber ich kenn' dich doch. Ich tu' dir
nichts, mußt dich nicht so ducken.« Und Georg und Gertrud nickten ihr
zu: »Sie tut dir nichts, natürlich nicht; mußt dich nicht so ducken,«
sagten ihre Gesichter. Da fing sie plötzlich an zu lachen, und lachte
und lachte, und hielt sich die Hände vors Gesicht und die Locken fielen
ihr drüber her. Und kein Mensch wußte, warum sie lachte, und sie
fragten und fragten, und lachten endlich mit und wußten auch nicht,
warum, und als Frau Judith ihr die Hände vom Gesicht zog, da waren sie
naß, über und über.

»Behüt uns,« sagte Frau Judith leise, und dann fing sie an, zu
erzählen, was sie von ihrem Fenster aus gesehen habe all' die Zeit
daher.

Sie kam nie mehr hinunter, seit sie ein hölzernes Bein und eine Krücke
hatte, das war schon 10 Jahre her. Meister Nössel war ihr Bruder. Er
hatte sie sich da herauf geholt, nachdem man ihr im Krankenhaus das
Bein abgenommen hatte. »Und das ist ein solches Stück Arbeit gewesen,«
sagte sie und meinte nicht ihr Unglück, sondern die Reise auf den Turm,
daß ich nun hier oben bleibe, bis mich einmal die schwarzen Männer
holen. Es sei denn, fügte sie hinzu, »der Turm falle vorher ein, was
aber nicht wahrscheinlich ist. Da käme ich dann freilich schneller
hinunter als ein Vogel fliegt.« Sie war in diesen Jahren und bei der
sitzenden Lebensweise ungeheuer in die Dicke und Breite gegangen und es
war ein gruselig machender Genuß, sich auszudenken, wie das alles vor
sich ging. Es war alles, wie im Märchen; man konnte nie wissen, was mit
Frau Judith geschah und mit dem Meister Nössel und mit dem ganzen Turm.
Unten auf ebener Erde, da ging alles seinen nüchternen Gang. Aber hier
oben, es war nicht auszusagen, was man hier oben alles erleben konnte.
»Ja,« sagte Frau Judith, »und darum möchte ich auch nicht für Geld und
einen neuen Fuß wieder in die Unruhe da hinunter, wo man nicht weiter
sieht, als bis an die nächste Mauer. Wenn man nun zehn Jahre hinter
einander hat am heiligen Abend die Christbäume im Himmel brennen sehen.
Ja, im Himmel, und das ist sicher, denn von hier aus sieht man mitten
hinein, wenn man rechte Augen hat und die Zeit nicht verpaßt, wo er
offen ist.«

Daran war nicht zu zweifeln. Und wenn auch Gertrud hie und da den
klugen Kopf schüttelte, im Grunde glaubte sie es doch. Um es recht zu
sagen: es war wie im Märchen vom unsichtbaren Königreich. Die Königin
ging an Krücken und kochte mühselig in irdenen Töpfen im Ofen, und der
König war ein zusammengesessenes Männlein und flickte den Leuten die
Hosen. Und die meisten Leute wußten nicht, daß sie ein Land hatten und
ein Reich. Aber das tat nichts zur Sache. Das konnten die Leute halten,
wie sie wollten. Man konnte daran nur sehen, daß sie nicht desselben
Landes waren. Die beiden wußten es selber und das war die Hauptsache.
Der Rektor Cabisius wußte es auch, und seine Frau, und der alte
Korbmacher Hollermann. Und die Kinder, die fast am besten, obgleich sie
keinen Namen dafür hatten.

Da saß denn die Frau Judith Tag für Tag an ihrem Fenster und nähte.
Und dann kam die Sonne herauf und lachte, übers ganze Gesicht, zu ihr
herein, und dasselbe tat Frau Judith, zu ihr hinaus. Und die Spatzen
kamen, die ihr Nest an der Dachrinne hatten, und die Schwalben strichen
hin und her und schwatzten von ihren Erlebnissen, und im Winter, wenn
sie fort waren, hockten doch die Raben flügelschlagend auf dem Dach
und holten sich mit Geschrei die Brocken, die ihnen Frau Judith zuwarf.
Zuweilen kam eine große, schwarze Katze und guckte mit blanken, grünen
Augen ins Fenster und machte einen Buckel und stellte den Schwanz in
die Höhe. Und alle diese Geschöpfe wußten so viel zu erzählen, von
den Leuten im Städtlein unten weniger, aber sonst eine ganze Menge
wunderbarer Sachen, und das taten sie sonst niemanden, als nur der
Frau Judith und etwa, der Verwandtschaft halber, ihrem Bruder; und
daran »konnte man es mit Pelzhandschuhen greifen«, wie der Rektor
Cabisius sagte, »daß etwas Besonderes an ihnen sei.« Am Abend war es
noch viel wunderbarer. Da kam der Mond und füllte die Stube bis in den
letzten Winkel mit seinem Licht, »und,« sagte Frau Judith, »wenn wir
noch eine zweite hätten, dann bekämen wir die auch noch voll, aber wir
haben nur die eine, und das ist gerade gut, denn dann haben wir alles
näher beieinander.« (Es war fast alles »gerade gut«, und das sei das
königlichste an der Frau Judith, sagte ihr alter Freund, der Rektor,
und da er sie so genau kannte, so mußte er es ja auch wissen.)

Da glänzte dann die ganze Gegend in einem silbernen Schimmer, das ganze
Tal war wie ein leise wallendes Meer von geheimnisvollen, verhaltenen
Lichtfluten; das Städtlein und die Wiesen und Berge und Wälder, alles
ruhte auf dem klaren Grund und die Flut ging hoch darüber hin. »Und da
ist es denn, als sollte man mitschwimmen,« sagte Frau Judith zu den
Kindern, »zum Fenster hinaus und ganz weich und sachte durch die Luft,
nicht fliegen, schwimmen. Aber seht ihr, ich bin zu schwer dazu, das
ist der einzige Grund, warum ich's nicht tue. Aber das kommt noch.«
Und die Kinder horchten, mit großen Augen sahen sie in Frau Judiths
Gesicht. Ja, die war freilich anders, als andere Leute. Man konnte nie
wissen, was mit ihr noch geschehe. Sie wußten auch wohl, daß oben, ganz
weit oben über den Wolken der liebe Gott sitze und, Meister Nössel
hatte es gesagt, direkt durch die Fenster hier in die Stube sehe, da
man sich denn freilich wohl in acht nehmen müsse, daß alles mit Ehren
zugehe, weil man ihm ja doch nicht unter die Augen treten möchte mit
irgend einer zweifelhaften Sache.

Ob denn, fragte Georg einmal, der liebe Gott auch in die Taschen sehe?
Es war ihm nicht recht behaglich dabei, das konnte man ihm ansehen.
»Natürlich,« sagte Meister Nössel, »in die Taschen, und durch und
durch.« Da drückte sich der Bub so an der Wand hin und suchte mit guter
Manier zur Tür hinaus zu kommen, und polterte die Treppen hinunter, daß
er sich fast überschlagen hätte. Unten aber auf dem Kirchplatz gab er
Kindern und Hunden ein Fest mit zerdrückten, verkrümmelten Eierwecken,
die er sich aus der Backstube gemaust hatte und die ihm plötzlich die
Taschen verbrennen wollten. Es war ihm noch nicht so ganz wohl dabei,
er hätte sie am liebsten wieder nach Haus getragen. Aber wer konnte sie
so noch gebrauchen? Auch war niemand da, bei dem man eine Lossprechung
von dem unbehaglichen Gefühl erhoffen konnte, das sich da auf einmal
eingestellt hatte. Da mußte es denn auch so gehen. Er kehrte die
Taschen um, daß der liebe Gott so recht deutlich sehen konnte, es sei
nichts unrechtes mehr darin, und dann ließ er sie fröhlich heraushängen
und erstieg neuerdings die Höhe mit verhältnismäßig gereinigtem
Gewissen.

Meister Nössel schien nichts gemerkt zu haben. Er saß auf seinem Tisch
und flickte einen Arbeitskittel, und als das geschehen war, putzte
er noch die Flecken heraus, mit Wasser und grüner Seife, und bügelte
die Runzeln glatt, und es war nichts zu verbergen, in der ganzen Stube
nicht. Und das war eine so fröhliche Sache, daß man den lieben Gott
wohl einladen konnte, zuzusehen. Meister Nössel aber blinzelte zu Frau
Judith hinüber, und sie zu ihm. Und er nahm die Brille ab, deren er nur
in der Nähe bedurfte, und sah mit hellen Augen über sein Königreich
hin. Das reichte, so weit man sehen konnte, und noch weiter, und die
Beiden nahmen es niemanden weg und niemand hatte einen Schaden davon.
Denn es war ihnen alles zu eigen, weil sie sich an allem zu erfreuen
vermochten. Und sie »fülleten die Erde und machten sie sich untertan«
mit ihren stillen und fröhlichen Gedanken; und alle guten Geister
halfen ihnen dazu.




                    Viertes Kapitel


Es saßen drei alte Männer beisammen auf dem Kanapee. Es war ein
breites, geräumiges, altes Kanapee, ohne Sprungfedern und schwellende
Polster, hart und zusammengesessen, und es hatte einen rot und blau
gewürfelten Überzug. Die drei Männer hatten bequem Platz darauf; es tat
ihnen auch in ihrem Behagen keinen Eintrag, daß sie mit den Ellenbogen
zusammenstießen, wann einer sich rührte, um seine Pfeife frisch zu
füllen. Sie waren alle drei Wiblinger Stadtkinder, der Rektor Cabisius,
der Korbmacher Hollermann und der Meister Nössel. Einst waren sie
miteinander auf einer Schulbank gesessen und hatten miteinander in den
Freistunden ihre überschüssige Kraft vertobt. Dann waren sie ihrer Wege
gegangen, ein jeder den seinigen, und hatten nichts mehr von einander
gewußt. Und nun waren sie alte Männer und saßen eng beisammen, und
waren hier zusammengekommen, um eine Reise in ihr Jugendland zu machen.

Auf dem Tisch stand Frau Judiths braune Kaffeekanne, und Frau Judith
hantierte am Ofen mit den Töpfen und bereitete den Trank. Sie konnte
gut mitreden, denn sie war einst als wildes Mädchen mit den drei Jungen
über die Hecken gestiegen, und sie war, wie sie selbst sagte, »jetzt
noch jünger, als sie alle drei zusammen.«

Die Frau Rektorin saß im Lehnstuhl und klapperte mit ihren
Stricknadeln, als ob es ums Geld geschähe. Sie hatte einen kleinen
Ärger zu verstricken. Denn erstens war sie kein Wiblinger Stadtkind und
konnte darum die Reise nicht so recht mitmachen. Und zweitens verspürte
sie einen unangenehmen Kitzel in der Nase, weil sich ihr Gemahl mitten
zwischen die zwei alten Schulkameraden gesetzt hatte, und weil er nun
soeben sagte: »Aber natürlich dutzen wir uns. Das wäre noch schöner.
Wie, ich soll wohl Herr Hollermann sagen?« Denn der alte Korbmacher war
die ganze Zeit bisher in der Fremde gewesen und war nun vor kurzem in
seine Heimat zurückgekehrt, ohne Frau und Kinder und ohne viel Habe,
und wohnte in einem Häuschen ganz draußen an der alten Synagoge, die
auf freiem Felde stand, und schien der Frau Rektorin ganz und gar kein
Mann zu sein, mit dem sich ihr Gatte zu dutzen brauche.

Er war ihm einerlei, das wußte sie wohl, was die andern »Herren« des
Städtchens zu dem Verkehr sagen würden, er war darum doch überall
beliebt. Aber das schloß nicht aus, daß es #ihr# nicht einerlei war.
Sie hatte sonst gute Augen, die wohl geeignet waren, durch abgetragene
Kleider und kümmerliche Gesichter und Gestalten hindurch zu sehen und
sich die Seele eines Menschen anzuschauen und zu fragen: »Was bist du
für ein Mensch? Ich meine, du selbst, dein eigentlichstes Ich. Bist du
ein froher Mensch, ein wackerer, ehrlicher, tapferer? Oder schleppst du
dich mit dem Leben? Und warum?«

Aber heute abend waren sie nicht so hell wie sonst. Sie war eine
Dekanstochter, ihr Großvater war Oberamtsrichter gewesen. Das stieg ihr
noch hie und da nackensteifend auf. Und nun saß ihr Mann hier auf dem
alten Kanapee und tat, als ob er sein Leben lang als Handwerksbursche
durch die Welt gezogen wäre. Er war ja doch auf Schulen gewesen. Er
war ja doch akademisch gebildet und war Rektor der Lateinschule. Und
nun sagte er eben: »Ach, Hollermann, weißt du noch, wie wir zu deinem
Großvater auf die Weide gingen? Weißt du noch, wie sein schwarzer
Schäferhund nach der Flöte tanzte, immer rundum, hinter seinem eigenen
Schwanz drein?«

Sie war noch nicht recht reif für die Jugenderinnerungen. Sie hatte
heiße Backen. Warum war sie auch mitgegangen? Was hatte sie keuchen
müssen die engen Wendeltreppen herauf. Aber ihr Gatte hatte es gewollt.
»Du wirst deine helle Freude haben, Anne,« hatte er gesagt. »Es wird
sein wie eine _laterna magica_, immer ein Bild nach dem andern. Wie
ein leibhaftiges Stück Jugend wird es sein.« Er war ein großes Kind.
Er sah es gar nicht ein, daß er denn doch etwas anderes geworden sei,
als der Flickschneider und der Korbmacher. Warum hatten sie sich nicht
auch geregt? Warum waren sie nicht auch so klug? »Was,« dachte die
Frau Rektorin, »nun soll ich wohl einen Kranz mit ihnen halten, immer
reihum, bei uns, und auf dem Turm, und in der Villa Hollermann, dem
windschiefen Lehmhäuschen? Das könnte eines Tags mit uns umfallen und
dann hieße es in der Stadt, daß wir ganz ordnungsgemäß mit unseren
besten Freunden zusammen unter den Trümmern liegen.«

Die Phantasie der Frau Rektorin war im besten Zug, ins Kraut zu
schießen und ganz üppige Blüten zu treiben. Die Stricknadeln klapperten
dazu. »Man kann die Menschenfreundlichkeit auch zu weit treiben,« eine
Nadel; »wenn das mein Großvater wüßte,« die zweite; »aber so ist mein
Mann, immer ist er so,« die dritte. Da fühlte die Frau Rektorin eine
leichte Berührung am Arm. Sie kannte sie. Das war ihr Mann, der sie
über den Tisch herüber mit der Mundspitze seines Pfeifenrohrs antippte,
ganz leicht und leise. Und als sie aufsah, mit einem hellen, raschen
Blick, da lagen seine Augen auf ihr; sein ganzes Gesicht fragte in das
ihrige hinein und gab zugleich die Antwort, lächelnd und warm, und ein
bißchen belustigt. »Ja, was ist denn, Anne? Was denkst du dir denn für
krause Sachen zusammen, Weib? Bist doch sonst so klug. Ein bißchen
Kastengeist, was? So, jetzt komm, jetzt laß das; jetzt paß einmal auf,
was das für Leute sind, du hast ja selber deine Freude dran. Alle
guten Geister, Anne. So, so.« Er nickte ihr noch ein paarmal zu, kaum
merklich, die andern sahen von dem allem nichts. Aber es war, als ob
man einem Kind beschwichtigend auf den Rücken klopft, ganz sachte und
gelind. Da glätteten sich die Wogen. Da fiel es ihr wieder ein, wie er
sie gelehrt hatte, durch sich selbst, durch sein eigenes, ehrliches,
aufgeschlossenes Wesen, all' die Jahre daher, seit sie seine Frau
war, an das unsichtbare Königreich der schlichten, frohen, kindlichen
Menschen zu glauben und sie sich unter allen Hüllen herauszusuchen,
und sie als Landsleute der besten Art zu begrüßen. Und sie war froh,
daß nur er ihre Gedanken gelesen hatte, und nickte ihm auch zu und
schüttelte sich ein wenig, als wolle sie etwas los werden. Und dann
legte sie den Strickstrumpf in den Schoß und die Hände behaglich
übereinander und hörte zu, wie die Bilder der Vergangenheit lebendig
wurden und ins Reden kamen.

Sie tat einen suchenden Blick nach dem alten Korbmacher hin. Der hatte
ein braunes, hageres Gesicht und hängte die Schultern etwas nach vorn,
und über den Augen liefen die dichten, struppigen Brauen zusammen. Die
Augen selbst und der Mund aber waren weich, fast kindlich, als wären
sie nicht auf einer beschwerlichen, weiten Lebensreise gewesen. »Der
muß wohl fromm sein,« dachte die Frau Rektorin, »so auf eine stille, in
sich gekehrte Art. Der muß wohl nicht viel wissen von den Dingen rings
um ihn her. Der hat sich da innen irgend etwas aufgebaut, das wird man
ja noch erfahren, was.«

Und sie war schon geneigter, ihm zu verzeihen, daß er's im Leben nicht
weiter gebracht habe.

»Ja,« sagte er jetzt eben, »ich habe oft an ihn gedacht, draußen herum,
an meinen Großvater, meine ich, den alten Schäfer Hollermann. Meinen
Vater hab' ich nie gekannt und meine Mutter war so still und gedrückt,
wie meine Großmutter laut, stark und entschlossen. Da sagte er, als
ich noch ein kleiner Knirps war, oft zu mir: »Komm, Bub, geh' mit mir
hinaus, das ist nichts für uns zwei. Geh' mit mir auf die Weide.« Da
saß ich denn unter einem Weidenbusch und ringsum war die Welt ganz
rund um mich her, ich saß ganz in der Mitte. Die Schafe grasten auf
den Brachäckern, die Staren saßen ihnen auf den Rücken, und flogen
ab und zu, und mein Großvater stand und lehnte sich auf seinen Stock
und sah still um sich. Es muß im Frühling gewesen sein. Er sagte nie
viel. Aber wenn er auf der Flöte blies, dann verstanden wirs Beide, der
Schäferhund und ich. So war es uns auch zu Mut, gerade so. Das kann man
nicht sagen. Ich habe die Flöte überkommen, ich habe sie noch.«

Er schwieg wieder und sah still vor sich hin. Da kam Frau Judith
in den Kreis. »Jetzt das von dem Stock,« sagte sie, »das war das
Geheimnisvollste, was man sich denken kann, das ist ein Märchen.«

»Ja,« sagte er, »das ist es auch, warum ich so viel an ihn dachte in
der Welt draußen. Wenn die Leute so alles wußten, und sich stritten um
das Wahre, und dabei so unruhig wurden und arm. Dann dachte ich an den
Stock.

Mein Großvater war so, was man einen unwissenden Menschen nennt. Er
konnte weder lesen, noch schreiben, und auswendig gelernt hat er nur
einen einzigen Vers aus dem Lied: »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.«
Das verdroß die Großmutter und sie hielt ihm hundert Mal vor, daß sie
ihn eigentlich lieber nicht hätte nehmen sollen, »wenn er,« sagte sie,
»nicht sonst solch ein guter Kerl wäre,« und daß er eigentlich auch
gar kein rechter Christ sei. Auch sagte sie des öfteren, daß sie über
seine Zukunft in jenem Leben ihre starken Zweifel habe, da er ja nicht
einmal den Katechismus könne, und daß sie sich jedenfalls werde einen
anderen Platz aussuchen müssen. Dazu lächelte er aber nur vor sich hin
und sah so nach seinem eisenbeschlagenen Schäferstock hin, der in der
Ecke stand, als ob der es besser wisse. Und das war auch so, denn der
Großvater legte ihn jeden Morgen quer vor sich hin auf die Erde, wenn
er draußen war bei den Schafen. Und dann legte er die Hände zusammen
und sprang darüber, ein, zwei, dreimal. Er sagte nichts dazu, ich habs
oft genug gesehen. Aber sein Gesicht war feierlich und festlich dabei.
Ich glaube doch, daß er den Schäferstock vor unsern Herrgott hingelegt
hat und nachher wieder in Gottes Namen aufgehoben.

Das ist so mit mir gegangen, und daß er dabei fröhlich war und lieb
und ohne Streit. Und ich hätte manchmal sagen mögen, wenn sich einer
abmühte mit Grübeln und Sorgen und dabei das Licht in seinen Augen
erlosch: »Leg' deinen Stock hin und spring' in Gottes Namen drüber.«

Da waren sie eine Weile still und stießen große Rauchwolken aus
und sahen, ein jeder, in ihre vergangenen Wege hinein und die noch
kommenden derer, die sie lieb hatten, und waren eine Gemeinde
untereinander. Frau Judith nickte stark und fröhlich mit dem Kopf.
Das war so ihre Art, wenn ihr innerlich etwas Frohes aufging. Und die
Frau Rektorin schluckte tapfer den Antrieb hinunter, den sie einen
Augenblick lang hatte, zu sagen, daß der alte Schäfer doch wohl ein
halber Heide gewesen sein möchte, wenn auch vielleicht ein frommer.

Ihr Töchterlein fiel ihr ein, das sie einst mit sechs Jahren in den
Sarg gelegt hatte, unter lauter Blumen. Und ihr Gatte, wie der damals
sagte: »Besseres kann keinem widerfahren, als nach einem Kinderleben zu
sterben als ein Kind.«

Und es wurde ihr warm ums Herz; da schwieg sie.

       *       *       *       *       *

Sie hatten sich viel zu erzählen aus den langen Jahren ihrer
Lebenswanderung. Sie blieben nicht an den Kindertagen stehen. Das
hatten sie gern gewollt. Aber das Leben trat vor sie hin und sagte:
und dann, und dann. Da kamen sie über die Grenzen der Jugend hinaus,
und sprachen von Lehr- und Wanderjahren, von Hochzeit, Geburt und
Tod. Meister Nössel hatte sein Weib verloren, und Frau Judith ihren
Mann, und der Rektor Cabisius seine Kinder, und der Korbmacher hatte
weder das eine noch das andere jemals besessen. Da kamen sie in ihrer
Rede nach und nach darauf, daß der Mensch in das Leben hereingeboren
werde als ein junger Baum, den man ins Land pflanzt, und der des
Sonnenscheins bedarf und der Stürme und all' des Wechsels von
Trockenheit und Erdfeuchte, Frost und Hitze, um daran stark zu werden
und fruchtbar und eigenständig, »und,« sagte der Rektor Cabisius,
»seine Wurzeln tief und fest in den Grund zu versenken, den keiner
sieht und jeder bedarf«. Aber sie machten nicht viele und kluge Worte
darüber, denn sie waren einfache Leute, und was das Leben sie gelehrt
hatte, das war mehr in die Tiefe gegangen, als in die Breite.

Nur die Frau Rektorin sagte, aus ihrem wallenden Großmutterherzen
heraus: »Aber den Kindern möchte man doch manches Harte ersparen. Wenn
ich an Gertrud denke, und daß das Leben sie so rütteln sollte. Ich mag
nicht daran denken. Sie ist so zur Freude geschaffen.« »Darum wird sie
auch zur Freude gelangen, das ist sicher,« sagte ihr Mann herzlich
und bot ihr über den Tisch herüber die Hand, und die andern sahen mit
stillen Augen zu.




                    Fünftes Kapitel


So hatte Georgs und Gertruds Freundschaft angefangen; das lag ein paar
Jahre zurück.

Es war ein Drehorgelmann durchs Städtchen gezogen, ein alter Invalid
mit einem lustig zwinkernden Gesicht und einem großen, roten
Schnauzbart. Der rechte Ärmel hing ihm schlaff herunter, die Orgel
trug er an einem Riemen, der über die Achsel ging; mit der linken Hand
drehte er die Kurbel herum, da kamen die Lieder aus dem Kasten heraus,
eins ums andere. Es waren deren vier. Ein Choral; da horchten die alten
Leute auf und die ganz einfachen, frommen Gemüter. Sie unterbrachen
ihre Hantierung, legten den schrillen, gellenden Tönen den Text unter,
den sie aus dem Gesangbuch kannten und nickten beifällig. Und die alten
Weiblein, die unter den knospenden Akazienbäumen des Marktplatzes ihre
Enkel hüteten, summten mit, und suchten in der Rocktasche nach einem
Stück Kupfergeld. Dann ein Marschlied, wie es die Soldaten singen,
wann sie heimziehen vom Exerzierplatz. Da hörten die Gesellen in den
Werkstätten auf zu hämmern, und den Mägden, die am Spültrog standen
oder die Straße kehrten, schwellte sich die Brust. Denn mit dem Lied
zogen ganze Regimenter an ihnen vorbei, junge, starke Burschen, so
recht aus dem Vollen. Der Oberlehrer Hölzle in der Knabenvolksschule
ging von Fenster zu Fenster und schloß alle Flügel. Denn nun schallte
das dritte Lied herauf: »Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs
Pferd.« Und in der Schule wollte mit einem Mal alles jung werden.
Was Geographie von Hindostan! Was Stromgebiet des Ganges! »Ins Feld,
in die Freiheit gezogen.« Die Buben rutschten hin und her und hatten
nicht übel Lust, auszubrechen. Es war auch solch eine starke, frische
Frühlingsluft draußen. Darum schloß Herr Hölzle die Fenster. Denn er
dachte, daß fern von der Versuchung, fern von der Übertretung sei. Und
dann fuhr er fort, von der Höhe des Himalaja zu sprechen. Gegenüber war
die Lateinschule. Da bog sich ein grauer Kopf aus dem Fenster und ein
heiteres Gesicht sah auf den Markt hinunter, wo der alte Kriegsmann
seine Orgel drehte und ein immer feurigeres Tempo anschlug. Denn
er war jetzt von einer ganzen Schar umgeben. Aus allen Häusern und
Höfen und Nebengäßchen quoll es von Kindern, solchen, die noch in dem
glücklichen, freien Alter standen. Sie drängten sich um ihn und als er
weiter ging, die Hauptstraße entlang, schwärmten sie mit, stolpernd und
keuchend vor Eifer, ihm ganz nah zu sein, und traten einander auf die
Schuhbänder, bis einige fielen, und die Mütter hintendrein rannten, um
ihre Sprößlinge unter ihre Augen zurückzuholen.

Da gab die Oper Martha noch das vierte Lied her: »Ach, so fromm, ach,
so traut«. Das schmolz nur so hin. Und die Amtsdienersfrau Ramsler
putzte ihrem Jüngsten das Näschen mit der Schürze und schneuzte
hernach sich selbst in Rührung. Denn das Lied hatte sie einst in einem
Biergarten gehört, in Blechmusik, damals, als sie mit ihrem Ramsler
versprochen war, und es war schön gewesen damals.

Als der Rektor Cabisius das noch mit angesehen hatte, trat er vom
Fenster zurück zu seinen Lateinern.

Er hatte vorhin seine Enkelin unter der horchenden Jugend entdeckt.
Sie war mit großen Augen in dem Schwarm gestanden, die Hände auf dem
Rücken, und hatte den Tönen nachgespürt, wie sie so unbegreiflich aus
dem braunen Kasten kamen, eine Welle nach der andern. Da hatte er ihr
zugerufen; es war ein gutes Stück vom Hause weg: »Verlauf' dich nicht,
Gertrud, hörst du?« Und sie hatte, wie erwachend, zu ihm hinaufgesehen
und dann lachend den Kopf geschüttelt. »Verlaufen? Nein, nur noch ein
Stückchen mit dem Mann.«

Da war er zufrieden gewesen. Sie war fünf Jahre alt damals, und ein
festes, stämmiges, kleines Mädchen. Sie stand so wacker unter all'
den andern. Das freute ihn. Er dachte nicht, daß seine Frau unter der
Haustür stehe und mit der Hand über den Augen Ausschau halte, bis das
Kind sein Geldstück abgegeben habe und wieder komme, um dann, »als
ein nettes Kind« im Garten zu spielen. Er war so sorglos. Es fiel ihm
gar nicht ein, eine Topfpflanze aus dem Kind zu machen, und es wurde
denn auch keine, obgleich die Großmutter hie und da einen Anlauf nahm,
wenigstens ein Honoratiorenkind zu erziehen.

Die Drehorgel tönte ferner und ferner. Es hatten sich nur wenige
Leute im Städtchen über die Musik, die sie hervorbrachte, geärgert,
und diese Wenigen konnten nun aufatmen. Die andern, die sich gefreut
hatten, nahmen ihre Arbeit wieder auf, und da und dort ging einem
und dem andern noch eine der Melodien durch den Kopf. Draußen auf
einem Grasrain setzte sich der Invalide nieder und begann das Geld,
das in seiner Mütze lag, zu zählen. Da standen noch zwei Kinder vor
ihm. Sie waren, jedes für sich, nicht bewußt miteinander, hinter ihm
hergegangen, bis er hier anhielt. Das eine war ein Bub. Er hatte ein
blasses, sommersprossiges Gesicht und ernsthafte Augen, die auf den
Orgelkasten blickten, als könnten sie etwas aus ihm herausholen. »Ist
es jetzt ganz aus? Ist nichts mehr da drin?«, fragte er und machte ein
sehnsüchtiges Gesicht. Der Invalide lachte. »Hast du etwas?« fragte er
zurück. »Es ist schon noch etwas drin, aber nicht für nichts. Hast du
Geld?« Da schoß dem Buben das Blut ins Gesicht vor hilfloser Scham.
Er wendete sich ab und suchte in seinen Taschen. Da kamen ein paar
alte Brotrinden hervor, ein Stück Bindfaden und ein Stück farbiges
Glas. Das Glas hielt er zögernd hin, ohne etwas zu sagen; vielleicht
fand es Gnade vor dem Orgelmann, wann er es sah. Der lachte noch viel
lauter. »Ha, ha,« lachte er, »damit willst du mich wohl bezahlen? du
Knirps! ha, ha, das ist gut. Du, das kann man nicht essen, das Glas.«
Da kamen dem Buben die Tränen. Er schämte sich so sehr und hätte so
gerne noch etwas Musik gehört. Ganz voll Wasser standen seine Augen;
da fuhr er sich mit dem Ärmel darüber und schluckte und schluckte. Das
kleine Mädchen, das daneben stand, sah es. Es war auf eigene Faust
hier heraus gekommen. Aber nun war es plötzlich ganz lebendig dabei.
»Warum lachst du so, Mann?« fragte es zornig. »Jetzt weint er, siehst
du's? Da, so nimm das Bildchen, es ist eine Rose drauf. Jetzt mach'
Musik, du mußt nur da herumdrehen, ich habs gut gesehen.« Der Junge
sah mit Staunen auf die Beschützerin, die ihm so unverhofft erwachsen
war. Sie war nicht größer als er, aber viel kecker, so wie Kinder sind,
deren fröhliche Zuversicht noch nirgends schmerzhaft beschnitten und
zur Schüchternheit herabgedämpft ist. Da kam wieder ein wenig Lebensmut
in seine Augen. Der Invalid lachte, daß es dröhnte. Aber es war ein
wohlgefälliges Lachen. Mit der Faust schlug er auf die Drehorgel, da
erhob sich ein leises Schwirren und Klingen darin. »Friß mich nicht,
Kleines,« sagte er. »Ich werd' doch noch lachen dürfen. Wenn man bloß
noch einen Arm hat und sich sein bißchen Notdurft muß zusammendudeln,
und soll nicht einmal lachen dürfen. Was hat man denn sonst, he? Das
sag' mir.«

Sie sah ihn groß an. Einer, der solche Musik machen konnte, und fragte
so. »Wo ist dein anderer Arm?« fragte sie. »Laß einmal sehen, unter dem
Kittel.«

»Der? liegt in Frankreich begraben,« sagte er. »Dort liegt er und ich
plage mich hier herum mit dem einen. Wenn das nicht zum Lachen ist, was
denn sonst? Den hat mir eine Kugel weggerissen. Aber davon versteht
ihr nichts. Oder, versteht ihr das, warum die Leute einander die Arme
wegschießen und die Füße, und einander totschießen? Ich meine, Leute,
die gar nichts von einander wissen, bloß so von Weitem her; bloß weil
ihnen das einer befiehlt? He, versteht ihr das?«

Nein, das verstanden sie nicht. Musik wollten sie hören; das andere,
das war ihnen eine dunkle Sache. Arme und Beine wegschießen? Sie waren
noch nicht sehr lang in der Gegend, das will sagen, auf der Welt. Es
war da noch sehr viel Fremdes, das sie noch nicht kannten.

»Ja so,« sagte der Invalide. »Ja so, ja, ihr krieget noch ein Lied
da heraus; heißt das, das Mädel kriegt eins. Du kannst dich in ein
Mausloch hinein schämen, Bub, daß du dich hinstellst und heulst. So,
angefangen. Aufgepaßt.«

Da drehte er seinen Handgriff herum und drehte ein Lied heraus. Noch
eins. »So, das gefällt euch wohl?« sagte er, als die Beiden horchten,
wie die Mäuse. Sie nickten nur. Es war wohl jetzt unwiderbringlich zu
Ende? Denn der Invalide stand auf und hängte sich seinen Kasten um.

»Da müßt ihr eben sehen, daß ihrs auch einmal so weit bringet, als
ich,« sagte er. »Das ist ein feines Leben, das könnt ihr glauben. Seht
ihrs, ich habe die Taschen voll Brot. Was will man mehr? So weit könnt
ihrs auch bringen.«

»Wir haben daheim den ganzen Laden voll Brot und Wecken,« sagte der
Bub, »und noch Feinbackwerk, so viel, daß mans gar nicht zählen kann.«
Er hatte einen gewaltigen Anlauf dazu genommen, um auch etwas Rechtes
zu sagen; da schoß er übers Ziel hinaus und protzte. Das hatte er nicht
beabsichtigt.

»Aber ich will auch Musik machen, wann ich groß bin, und dann mach ich
so viel Musik, den ganzen Tag, und hör' nicht immer gleich auf, wie
du. Bis ich genug habe, so lang spiel' ich.« Da wurde er wieder rot.
Denn der Orgelmann sah ihn so spöttisch an, daß er in seine vorige
Verlegenheit zurückfiel.

»So,« sagte er. »Aha. Da ißt du dich zuerst dicksatt und dann, wenn du
noch kannst, dann kommt die Musik dran. Aha. Da setzst du dich wohl an
den Backofen dazu? Bis du genug hast, so lang tust du das alles? Du
Teigprotz.«

Ganz erstaunt sahen ihn die Kinder an. Da kam solch ein verbissener
Grimm heraus. Sie faßten einander an der Hand. Sie verstanden nicht,
daß behagliche Sattheit und ein geruhlicher Sitz in der Ofenwärme dem
landfahrenden Mann ein Paradies war, in das er nie gelangen konnte,
und daß seine Grobheit unwillige Bewunderung des Versagten sei. Es
paßte nicht zu dem lustigen Gesicht, das der Invalid den ganzen Morgen
gemacht hatte. Es war wie einer der schrillen, gellenden Nebenaustöne,
die seine Orgel oft mitten in eine heitere Melodie hineinwarf. Aber
die Kinder verstanden diesen Ton aus einer fremden, düsteren Welt
nicht. Sie kehrten still um und ließen ihre Hände ineinander und sahen
sich nur noch einmal schüchtern nach dem Mann um, wie er davonstapfte
zwischen den hellbegrünten Hecken und immer noch den Kopf schüttelte
und einmal mit dem Fuß aufstieß, daß der Kasten schütterte.

»So, jetzt laß ihn,« sagte Gertrud, da der Bub blaß und still neben ihr
hertrottete. »Jetzt gehen wir heim; meine Großmutter wartet. Hast du
auch eine Großmutter? Dann sagst du's ihr, das von dem Mann.«

»Nein,« sagte er; »eine Großmutter? Nein.«

Er war kein Prahlhans. Es war ein schüchternes Kind, und hatte allen
Mut zusammengenommen, um sich auch an der Unterhaltung zu beteiligen.
Die Musik und das kecke kleine Mädchen hatten ihn so kühn gemacht. Nun
war er gewaltig aus dem Sattel geworfen.

»Aber einen Großvater, das hast du doch?« sagte Gertrud. Sie sagte es
sehr eindringlich, denn es war ihr unbehaglich, zu fühlen, daß solch
etwas durchaus Nötiges in irgend einem Leben fehle.

»Nein,« sagte der Bub noch einmal. »Einmal, da habe ich einen
gehabt, aber das ist schon lang. Da war ich noch ganz klein. Der ist
gestorben.« Es war eine durchaus kühle Mitteilung.

»Hm,« sagte Gertrud, (das hatte sie von dem Rektor Cabisius
aufgeschnappt), »gerade wie mein Vater und meine Mutter. Die sind auch
gestorben, wie ich noch klein war. Sie sind im Himmel. Meine Großmutter
hat's gesagt.«

Und auch das war ohne Trauer ausgesprochen. Es fehlten zwei gute,
starke Ringe an der Kette, die das Kind mit dem Leben verband. Aber es
war darum nicht in steuerlosem Nachen auf der See, es war nur um so
fester an das vorige Glied angebunden.

Die zwei Alten standen unter der Gartentür, als die Kinder herankamen,
denn der Rektor war inzwischen aus der Schule heimgekommen, und nun
mußte er mitanhören, daß das Kind anfange, auszureißen und daß er wohl
ein wenig Schuld daran sei. Das Keckliche, Ungebundene, sagte die
Großmutter, das habe es von ihm. Und er ließ das über sich ergehen mit
seinem guten, stillen Lächeln. Da kam die Erwartete um die Ecke und
zog den kleinen Buben mit sich. »Großvater,« sagte sie, »du mußt ihm
auch noch Musik machen, noch schönere, als der Orgelmann. Er hat keinen
Großvater und niemand.«

»Was?« sagte der Rektor, »niemand? Bist du nicht ein kleiner
Ehrensperger? Gehörst du nicht dem Bäcker drüben am Marktplatz? Was
faselst du da, Gertrud?«

Da trat seine Frau dazwischen. »Nein, laß nur, Mann,« sagte sie, und
war ganz Güte und Mütterlichkeit, »es ist doch ein armes Kind, das weiß
ich. Er hat eine Mutter und doch keine. Er hat nicht umsonst solch ein
freudloses Gesicht.«

Wißt ihr, wie das ist mit der Liebe? Das ist wie mit dem Apfelbaum
im Garten der Frau Holle, der stand und rief: »Pflücke mich, pflücke
mich, meine Äpfel sind alle miteinander reif,« und als das Kind kam und
anstieß, da rollte ihm der schwere Segen in den Schoß.

So schwer von Reichtum und Früchtesegen steht ein liebereiches Herz,
und wartet, ob nicht irgend eine Leere sei, in die es seine Fülle
gießen könne, und ist noch dankbar und froh, daß es wieder Raum
gewinnt zu neuen Trieben. Sie hatten schon so vieles aus ihrem Leben
hingegeben, das sich hatte von ihnen lieben lassen, die beiden alten,
jungen Leute. Und da noch quellendes Leben in ihnen war, das lieben
mußte, so kam das den anderen zugute.

Ich will nicht hoffen, daß irgend jemand absprechend den Kopf
schüttelt, wann von dem warmen, weiten Herzen der Frau Rektorin die
Rede ist. Etwa, weil er ihr den kleinen Hochmutsanfall vom vorigen
Kapitel stark ins Wachs gedrückt hat. Trug nicht der große, alte
Zwetschgenbaum in meiner Großmutter Garten alljährlich außer den
süßen Früchten eine Anzahl aus der Art geschlagener merkwürdiger
Knorpeln, die wir »Zwetschgennarren« nannten? Und verspeisten wir
diese säuerlichen Dinger nicht mit besonderem Behagen als eine heitere
Merkwürdigkeit des Alten, um uns nachher mit umso größerer Lust an die
Erzeugnisse seiner besten, süßesten Säfte zu machen?

Lächelte nicht ihr Gemahl selbst sein helles, humorvolles Lächeln zu
ihren kleinen Schwächen? Und traute er ihr nicht darum doch das Beste,
Reichste zu, das in dem fruchtbaren Boden eines liebreichen Herzens
gedeihen kann?

Er aber mußte es doch wohl wissen.

So wunderte er sich denn auch gar nicht, daß sie den kleinen Georg von
diesem Tag an ins Herz schloß, und ihm eine Heimat darin schuf. Das
begab sich ganz von selbst, es war weiter nicht die Rede davon. Sie
hätte sich das Kind nicht ins Haus geholt. Sie wäre nicht hingegangen
und hätte gesagt: »So und so. Ich weiß wohl, daß Sie das Unglück haben
mit der kranken Frau, Herr Ehrensperger. Schicken Sie mir die Kinder,
oder wenigsten den Kleinen, den Georg. Man muß einander beistehen,
das ist Christenpflicht.« Das hätte sie nicht getan. Aber als der
ernsthafte Bub' so unter ihrer Gartentür stand an Gertruds Hand, und
nicht recht Leben zeigte, da nahm sie ihn mit hinein. Natürlich. Was
denn weiter?

»Der Drehorgelmann hat wahrscheinlich Hunger gehabt, ihr Lämmer,«
sagte sie, »nicht nach alten Brotrinden, die in seiner Tasche waren,
sondern nach etwas Besserem, das ihr noch nicht so versteht; da hat
er denn so ein wenig gepoltert. Wenn die Leute Hunger haben, darf man
ihnen nichts übel nehmen.« Die Beiden saßen hinter dem Tisch und bissen
tief in dickgestrichene Gesälzbrote und nickten einander mit blaurot
verschmierten Gesichtern zu, und waren geborgen in einem Hafen, in den
weder der eine noch der andere Hunger Zutritt hatte.

Die Alten aber ließen mit Vergnügen ihre reifen Äpfel von den Zweigen
fallen. »So, du möchtest gern noch mehr hören, Bub'?« sagte der
Rektor. »Das kann wohl sein.« Und ging ans Klavier und ließ die Saiten
tönen. »Ich hatt' einen Kameraden,« spielte er, und behielt dazu die
Pfeife zwischen den Zähnen und sah sich drunterhinein nach den Kindern
um. »Noch eins, Großvater,« sagte Gertrud. Da spielte er ein altes
Studentenlied: »Es hatten drei Gesellen ein fein Kollegium.« Und es kam
ihn an, daß er die Pfeife neben sich legte und dazu sang.

»Aber Mann,« sagte seine Frau. »Ist das auch ein Kinderlied?« Nein, so
eigentlich nicht, gab er zu, aber sie hätten doch ihr helles Vergnügen
daran gehabt, und ob das nicht genug auf einmal sei?

Sie kam mit Wasser und Schwamm und wusch ihnen die Gesichter ab. Und
konnte es nicht lassen, den kleinen Buben in die Backe zu kneifen und
nachher sänftigend darüber zu streichen. Es war ihr darum, ihm einen
Kuß in sein ernsthaftes Gesicht hinein zu geben. Aber den hielt sie
noch zurück. Sie wollte ihn nicht scheu machen. Das Kneifen tat auch
heute denselben Dienst.

Es fing etwas an, in dem Kinderherzen auseinanderzugehen. Es war, wie
wenn sich ein grünes Blättlein in der Sonne auseinanderwickelt.

Da war früher einmal, als Georg noch auf ungeschickten Füßen von
einem Stuhl zum andern trippelte, eine Frau gewesen, die hatte ihn
auch gewaschen und auch, -- in die Backe gekniffen hatte sie ihn wohl
nicht, aber ähnlich mußte es doch gewesen sein. Sie hatte später viel
geweint. Es war einmal ein kleines Kindlein dagewesen, das war durch
irgend einen Unfall bald wieder gestorben, und sie hatte sich ja wohl
die Schuld daran zugemessen und hatte Tag und Nacht geweint. Es war
oft laut dabei zugegangen. Das lag alles noch in unklaren Umrissen
in dem Gedächtnis des kleinen Buben. Dann war sie eines Tages nicht
mehr dagewesen. Das sei die Mutter, sagte Franz, der wußte es noch
besser, der war zwei Jahre älter. Dem sagten es auch die Mägde genau.
Sie sei hintersinnig geworden, sagten sie, und das sei schlimmer
als tot und werde nie mehr anders. Denn sonst könnten sie eine neue
Mutter bekommen und damit sei nun nichts. Der Vater sprach nie davon.
Er sprach überhaupt selten etwas mit Georg, er wußte nichts mit dem
stillen Kind anzufangen. Er tat ihm weder wohl noch weh. Nun war
Jungfer Liese da, erst seit kurzem. Die sprach viel und hatte viel an
ihm zu hantieren, zu putzen, zu flicken, zu erziehen. Sie hatte sich
sozusagen mit aufgestülpten Ärmeln an ihre Aufgabe gemacht. Aber das
ließ er so über sich ergehen. Seine Seele, die lag wohl noch in der
Knospe, die regte sich nur so hie und da ein wenig. Aber jetzt, heute.
Es war ihm so wunderlich zu Mute. Er mochte sich nicht rühren. Es war,
als ob sonst alles aus wäre. Darum blieb er ruhig sitzen, bis irgendwo
eine Glocke läutete und der Rektor sagte, daß das die Betglocke sei und
daß er jetzt nach Haus gehen müsse. »Ja, und morgen kommst du wieder,«
sagte Gertrud, »und morgen komm' ich wieder,« sagte Georg, und der
Rektor setzte auf dieses Versprechen einen ungeheuren Handschlag. Einen
Handschlag, der an Kraft und Wärme alles übertraf, was Georg in den
sechs Jahren seines Lebens in dieser Art kennen gelernt hatte und dem
er seine kleine, braune Bubenhand und sein ganzes erwachende Ich ohne
Widerstand auslieferte.




                    Sechstes Kapitel


Es war einmal ein Mensch, der saß ganz im Dunkeln. Er hatte sich ein
Haus gebaut und daran die Fenster vergessen; es war ein einfältiger
Mensch. Da saß er nun und sann, wie er Licht in sein Haus bringen
könne. Denn daß es draußen die Welt erfüllte, das sah er, wenn er unter
seine Tür trat. Und er ging aus, nahm einen Sack mit, in den ließ er
die Sonne scheinen, dann, als er voll von Licht war, band er ihn zu
und trug ihn in sein Haus. So tat er eine lange Zeit und wunderte
sich, daß es nicht hell werden wollte, wenn er den Sack aufband und
ausleerte. »Es ist noch nicht genug,« sagte er und ging aufs Neue,
Licht hereinzutragen. Es war ein hartes Leben. Es war nur zu ertragen
durch die stete Mühe, die er sich machte. Denn die Mühe hat doch immer
irgend eine Hoffnung, etwas zu erreichen, sei es noch so wenig.

Da, als er eines Tages lange ausgewesen war, fand er, als er heim kam,
die Wände seines Hauses eingeschlagen. Das hatte sein Feind getan.
Der hatte ihm einen rechten Schabernack antun wollen. Nun konnte das
Licht herein. Es strömte durch das ganze Haus und drang in alle Ecken.
Ganz voll von Licht war das Haus. Aber nun war es auch zerstört. »Das
schadet nichts,« sagte der einfältige Mensch vergnügt, »wollen schon
ein neues kriegen.« Von dem neuen Haus ist nichts gesagt. Da wird er ja
wohl das Licht hereingelassen haben.

       *       *       *       *       *

Es war ein großes, weißes Haus mit unzähligen Fenstern. Es stand
abseits von dem Lärm der Gassen. Ein großer, schattiger Garten war
rings darum her; die alten, hohen Bäume reichten mit ihren obersten
Zweigen bis an das Dach. Aber es ging ein hoher, eiserner Zaun um den
Garten; an der Eingangspforte war ein Wächter und er ließ nur hinein
und heraus, wen er des Ein- und Ausgangs für berechtigt hielt. Die
Fenster waren vergittert. Es waren Gefangene des Geistes, die in dem
hohen Hause wohnten, Leute, die in irgend einer Art im Dunkel tappten.
Sie konnten sich oder andere stoßen, wenn man sie draußen in der
Weite gehen ließ. Darum hielt man sie hier verwahrt. Es war wohl der
eine und der andere darunter, der nur für eine Zeitlang hier Zuflucht
suchen mußte, der, so hoffte man, bald wieder hinaus konnte in das
freie Licht. Aber es waren ihrer mehr, hinter denen sich das eiserne
Gittertor für immer geschlossen hatte. Was man so menschlich »immer«
heißt, die Spanne Zeit, von der ein alter Dichter sagte, daß sie
»dahinfahre wie ein Rauch«. Es ist nicht so weit her mit dem »immer«
eines Menschenlebens. Aber es kann doch lang währen, für den, der
wartet, bis eine Zeit um die andere verstreicht, in Not der Gegenwart
und Angst vor dem Künftigen.

Es war wohl viel Angst und Not in den Gemächern des Hauses. Wache,
helle Pein, die sich ihrer bewußt war, und die zu Zeiten ihr Elend
in lauten, starken Tönen hinausschrie, als ob es die Tür des Himmels
aufstoßen müßte; dumpfe, unklare Angst, unter der sich der Geist wand,
der aufwachen wollte und nicht konnte. Lächelndes, blödes Elend, das
seiner selbst vergessen hatte und mit der Not spielte, wie das Kind,
das in der Wolfsgrube saß unter jungen Wölfen und sie mit dem Löffel
aufs Maul schlug im Spiel: »Geh weg, oder ich geb' dir eins.«

Man kann nicht sagen, daß eins oder das andere das größte Elend von
allen sei. Man darf wohl die Augen aufheben und sagen: »Sondern erlöse
uns von dem Übel.« Es ist gut, es ist wohl gewiß gut, daß das »für
immer« eines Menschenlebens nicht gar so lang währt, wenn man das
betrachtet.

Da war eine Frau, eine von denen, die keine Aussicht hatten, wieder
mit hellen Augen durch die Welt zu gehen. Sie war noch jung; es sollte
noch ein langes Leben vor ihr liegen, wer konnte das wissen? Als sie
hereingebracht worden war, hatte sie immer in die dunkelsten Ecken
gesehen, ratlose Angst im Gesicht, und hatte geweint und gewimmert.
»Nein, es ist nicht tot. Laßt es mich noch einmal versuchen, nur noch
einmal. Ich kann nichts dafür. Nein, ich kann nichts dafür. Kann auch
ein Weib ihres Kindes vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den
Sohn ihres Leibes?« Ihre Reden und ihre Gedanken gingen durcheinander.
Die Krankheit hatte sich in das Gewand der Schuld verkleidet. Die saß
nun neben ihr und sah sie starr an und sagte: »Das war wohl so: du
warst in der Backstube, als das kleine Kind so allein in dem großen
Bett lag. Das war dir wohl wichtiger, daß das Geschäft blühe? Du
hattest es wohl so eilig mit dem Reichwerden? Da schrie das Kind, und
kam ins Ausgleiten, das arme kleine Ding. Und kam unter das große
Deckbett. Da erstickte es. Das war zu spät, daß du es aufhobst und all'
die Mühe daran wandest, ob es nicht wieder erwache. Du hättest bei ihm
bleiben sollen. Was? Das litt der Mann nicht? Das Gepimpel mit dem
Kleinen, sagte er? Ist er die Mutter oder du?

Es war auch noch nicht getauft, nicht wahr? Es war doch schon acht
Wochen alt? Ihr hattet keine Zeit, weil Ostern so nahe war und
Konfirmation und sonst noch allerlei Festliches; da blühte das
Geschäft. Das ging ja vor, natürlich, man konnte es später taufen. Dazu
ist es nun viel zu spät. Man kann nicht wissen, kein Mensch weiß, was
aus dem kleinen Seelchen geworden ist. Und du bist schuldig. Doch, das
bist du.«

So redete die Krankheit, die in dem Gewand der Schuld mit der jungen
Frau hier hereingekommen war. Da schloß sie die Augen, um sie nicht
zu sehen. Aber das nützte nichts. Sie drang auch durch die Lider. Sie
war überall und immer wach. Es war ein dunkles, dunkles Haus, in dem
die Frau saß. Da schickte sie ihre irren hilflosen Gedanken aus, um
etwas Licht hereinzubringen. Aber sie verstanden es nicht. Einer kam
und sagte: »Irgendwo ist Gott, du mußt beten.« Der wußte, daß ein Licht
sei. Aber er konnte es nicht hereintragen. Da fing die Frau an: »Wenn
wir in großer Angst und Pein, und wissen nicht wo aus und ein, und
finden weder Hilf noch Rat«; da gingen alle ihre Gedanken rundum und
wußten immer nur bis zu dieser Stelle zu sagen. Das währte eine lange
Zeit. Da fand sie eines Morgens die Wärterin, wie sie ein kleines
Bündel aus Tüchern sorgfältig zusammenwickelte und es an die Brust
drückte. »Schlaf, Kindlein, schlaf,« sang sie leise. Das tat sie nun
immer. Sie ließ das Bündel nicht mehr aus den Armen, niemand durfte es
berühren. Seitdem weinte sie nicht mehr. Sie sang und lächelte, und
trug das Bündel umher. Wenn sie nicht hie und da mit großen, suchenden
Augen, wie in sich selbst hineinschauend gestanden wäre, so hätte man
nun denken können, sie habe es aufgegeben, nach Licht auszugehen. Aber
auch das kam nur noch selten vor.

Da, nach Jahren, kam einer mit einer blanken Axt, der hatte den
Auftrag, ihr die Wände ihres dunklen Hauses einzuschlagen. Er zerstörte
es nicht ganz und gar auf einen Hieb. Er stieß ein Loch hinein, da
flog viel Staub und Lehm und Mörtel davon, und etwas Helle kam zu dem
Bewohner herein. Dann wartete er ein paar Tage. Er war kein Feind,
er handelte, wie schon gesagt, im Auftrag, und nun sollte er seinen
letzten, stärksten Hieb noch sparen. Vielleicht wäre das Licht sonst
gar zu blendend gewesen, wer kann das wissen? Also wartete der Tod
noch. Es kam eine Krankheit an die junge Frau, eine von denen, die
man eine Erlösung nennt, weil sie rasch und sicher die Körperkraft
aufzehren, und ein sanftes Ende der Pein bringen. Sie hatte ein paar
Tage im Fieber gelegen und fast nichts geredet. Nun schlug sie die
Augen auf; es war mitten in der Nacht. Oder, es ging schon etwas gegen
den Morgen hin. Das Fenster stand offen. Draußen in den Bäumen wehte
ein sachter Wind, sie rauschten leise. Die Welt lag in tiefem Schlaf,
es war ganz still ringsum. Die Kranke hob den Kopf ein wenig und wandte
die Augen nach dem Fenster. Da stand der Morgenstern hoch am Himmel
über den Baumkronen. Die waren in tiefem Schatten, oben aber leuchtete
in der fast durchsichtigen Glocke des Sommernachthimmels der Stern in
wunderbarem Glanz. Den hatte sie lang nicht gesehen. Sie hatte in den
trüben Nächten ihrer Krankheitsjahre keine Augen für die Schönheiten
der Welt gehabt; sie hatte immer ins Dunkel gesehen.

Sie strich sich über die Stirn. Da war so etwas Freies. War da nicht
ein Band gewesen? Wo mochte das hingekommen sein? Wer war sie, und wo?

Da sah sie das Gitter am Fenster; hinten in der Stube brannte ein
kleines Nachtlicht, nur eines Funkens groß. Aus dem anstoßenden Gemach,
dessen Tür offen stand, verkündeten kräftige Atemzüge, daß dort jemand
schlief, das war die Wärterin. Auf dem Stuhl am Bett lag ein Paket,
aus Tüchern zusammengebunden, mit einem Band umwickelt. Da kamen ihr
die Gedanken wieder, schreckhaft und schwer. Aber doch anders, als
seit langem. Sie griff nicht nach dem Bündel. Die Furcht, die ihr ans
Herz kroch, war die Furcht vor etwas Gewesenem. Ob es vorbei war? Ob
das abziehende Schatten waren, die wie wogende Nebel durch ihren Kopf
zogen? Abziehende und nicht kreisende, die nur einen Augenblick frei
ließen, um dann wieder desto fester einzuziehen? Wie war das nur?
Sie war so müde, sie konnte kaum eine Hand rühren. Aber als sie so
hinaussah in die stille Sommernacht, und das milde Licht des Sterns
auf ihr Lager fiel, da versuchte ihr Geist, sich zu regen. Man weiß
nicht, was sie erlebte, bis der Morgen kam. Der Arzt sagte, als er die
Veränderung sah, das sei von dem Fieber. Aber, sagte er draußen, das
helfe nun nichts, denn die Lebenskraft sei am Erlöschen. Das sei hie
und da, daß solch ein heller Schein komme vor dem Ende. Denn sie lag
mit einem stillen, sanften Gesicht da, und in den Augen war geistiges
Leben, kein irres Flackerlicht mehr. Und sie hatte vorhin gefragt,
wie das denn sei, sie habe doch zwei kleine Buben, und, nach einigem
Zögern, und einen Mann? Die lebten ja doch noch? Und klagte, mit einem
Lächeln, das wie um Entschuldigung bittend war, daß sie sich auf nichts
recht besinnen könne, ihr Kopf sei so müde. Da ging der Tag so hin,
und gegen den Abend sagte sie, schüchtern wie ein Kind, das zaghaft
eine Bitte tut, von der es denkt, daß sie ungeheuer sei, -- ob das denn
möglich wäre, daß die Ihrigen herkämen? Oder ob das gar zu weit sei?
Denn sie wußte nicht recht, ob sie in der gleichen Welt lebe mit denen,
nach denen ihr aufwachendes Ich mit seinen ersten Regungen verlangte.

Ja, sagte man ihr, das könne freilich wohl sein. Gut könne das sein,
sie solle ruhig einschlafen und morgen werden sie wohl da sein, denn es
gehe heut in der Nacht noch ein Brief ab.




                    Siebentes Kapitel


Den folgenden Tag haben die Ehrenspergerskinder mit allen Einzelheiten
im Gedächtnis behalten. Es war der Feiertag Petri und Pauli, und sie
zogen so recht in der Morgenfrische aus, um den Kirschbäumen in der
Wingerthalde einen Besuch zu machen. Jungfer Liese sah ihnen mit
Behagen nach. Sie hatte beiden Brüdern tags zuvor das Haar glatt
abgeschoren und sie heute, den Kirschbäumen zulieb, in verwaschene
Drilchkleider, mit neueingesetzten Ellbogen und Hosenböden gesteckt. Es
rührte sie in ihrem eigenen Busen, daß sie dem Herrn Vetter, der ja ihr
Nächster unzweifelhaft war, so getreulich »sein Gut und Nahrung helfe
fordern und behüten«. »Denn,« sprach sie zu sich selbst, »wo viel ist,
will mehr hinkommen,« und meinte damit die Ehrenspergershabe, deren
Vermehrung sie mit erbautem Gemüt zusah. Sie glaubte nicht befürchten
zu müssen, daß ihr dieser erfreuliche Lebenszweck abhanden komme,
auch nicht im Fall, daß, wie sie sagte, »unser Herrgott nun richtig
ein Einsehen habe, wie das ja an der Zeit sei mit der Frau.« Denn der
Herr Vetter war allmählich ein bißchen bequem, und ein bißchen sehr
korpulent geworden, und er ließ sich die brave Fürsorge der Jungfer
Liese sowohl für sich selbst als für sein Haus immer behaglicher
gefallen. Es muß bezeugt werden, daß sie nicht daran dachte, die
Nachfolgerin der ersten Frau zu werden. So hoch verstiegen sich ihre
Gedanken nicht. Das wäre ja außer aller Standesordnung gewesen und
solche Durchbrechung der bürgerlichen Schranken begehrte sie nicht
für sich. Auch war ihr jüngst der letzte breite Schaufelzahn, der
noch ihren Oberkiefer geschmückt hatte, entfallen. Das gemahnte ans
Altwerden, wie das fallende Laub an den Winterschlaf der Natur. Es
sollte ihr lieb sein, wenn alles seinen Gang weiterging, und daß das
geschehe, hoffte sie mit Zuversicht.

So waren die Gedanken, die sie den Söhnen des Hauses nachsandte,
freundlicher und gedeihlicher Art und kamen auch nicht ans Stocken,
als an der Ecke noch Gertrud und Lore sich zu den Beiden gesellten.
Warum sollten sie sich nicht Gesellschaft mitnehmen? Die Kirschbäume
standen zum Brechen voll, es kam auf ein paar Spatzen mehr oder weniger
nicht an. Als die leuchtenden blaugrauen Flicken, das Werk ihrer Hände,
verschwunden waren, kehrte sie ins Haus zurück.

Es führte ein steiler Weg zwischen Weinbergen zu der sonnigen Höhe
empor, auf der das Baumgut lag. Georg wußte später noch genau, als ob
ihm das lebendige Bild vor der Seele stünde, wie ihnen beim Aufsteigen
die hellroten Herzkirschen aus dem grünen Laub entgegenleuchteten,
gleich einem freudigen, ersprießlichen Lebenszweck, der dem Wanderer
zuruft: »Hoch, immer höher, Mühe ist nichts, Schweiß ist nichts, denn
hier bin ich, hier oben. Nun komm.«

Das und anderes gehörte für ihn zu dem Inhalt des Tages, der ihm
in seinem Verlauf noch einmal und dann nicht wieder seine Mutter
zeigte und der ihm darum kostbar vor andern Tagen war. Er konnte es
die wenigen Male, die er in seinem Leben davon redete, nur schwer
unterdrücken, alle Einzelheiten dazu zu erzählen.

Er mußte von diesem Tag zehren, so oft sein Herz zu seiner Mutter
wollte. Da konnte er nichts entbehren, was damit zusammenhing.

Zwei Handwerksburschen ließen sich aus dem Geäst des
Schwarzkirschenbaumes fallen, der weiter hinten, dem Waldrand zu,
stand, als sie die Kinder kommen sahen. Vielleicht vermuteten sie ein
Gefolge von Erwachsenen hinter ihnen. Da verlor einer von ihnen beim
Herabgleiten seinen einen durchlöcherten Stiefel, der ihm schlapp
genug um den Fuß gehangen haben mochte. Den warfen sie ihm in hellem
Mutwillen nach. Dann ging es über die Kirschbäume her. Lore blieb
unten stehen und zog, auf den Zehenspitzen stehend, einen niedrig
hängenden Zweig um den andern zu sich heran, um ihn abzuernten. Dann
setzte sie sich in den Schatten und wartete, bis ihr die andern hie und
da eine Handvoll Kirschen ins Gras warfen. Es lag von Anfang an nicht
in ihrer Art, auf Bäume zu steigen. Gertrud saß oben in dem großen
Herzkirschenbaum, Georg gegenüber. Hoch über ihnen beiden kletterte
Franz in den äußersten Zweigen, wo die süßen Früchte in der Sonne
kochten. »Du,« sagte Georg unter's Essen hinein, »muß dir was sagen.
Meine Mutter ist krank, anders, weißt du, als vorher. Sie liegt im
Bett und hat immer die Augen zu. Jungfer Liese hat's zur Frau Metzger
Konz gesagt. Vielleicht stirbt sie; wahrscheinlich stirbt sie, hat
sie gesagt.« »Wie die meinige.« Gertrud nickte sachverständig. »Guck'
einmal, da sind lauter Zwillingskirschen, die kann man sich an die
Ohren hängen. Streck' mir deinen Kopf herüber, so, noch ein bißchen
näher, jetzt hast du Ohrringe. Wart' einmal, ich hänge mir auch an.«
Da fing sie an zu lachen. »Weißt du, wer wir jetzt sind? Der Kaufmann
Henne und seine Frau. Guten Morgen, Mann. Du, weißt du, warum die
immer so große goldene Ohrringe tragen, er und seine Frau und seine
Söhne, und glaub' ich noch die Magd? Soll ich dir's sagen? Ich weiß es
von Frau Judith; aber man weiß nicht, ob es auch so ist. Also: da war
einmal einer von ihnen, glaub' ich, sein Großvater, der war so krank,
daß ihm kein Doktor mehr helfen konnte; er mußte bald sterben und das
wollte er noch nicht. Da ging er in den Wald und setzte sich unter
einen Baum und seufzte ganz laut und sagte so vor sich hin: »Wenn es
doch nur etwas gäbe, das mir die Krankheit aus dem Leibe zieht. Da
stehen die Kräuter um mich herum und sind stark und frisch. Wer weiß,
was sie für Kräfte haben? Warum muß ein Mensch krank sein? Das ist
etwas Fremdes, Böses. Das ist wider die Natur.«

Da regte sich etwas neben ihm, und was er für eine große Baumwurzel
gehalten hatte, war ein altes Männchen. Das stand auf und stellte
sich vor ihn hin und sagte: »Da hast du recht. Krank sein muß einer
nicht. Aber die Kräuter tun's nicht. Da hilft nur das lautere Gold, das
ganz tief aus der Erde kommt.« Da griff es in seine Kitteltasche und
holte ein paar große, goldene Ohrringe heraus. »Die mußt' du in den
Ohrläppchen tragen,« sagte er. »Die ziehen dir die Krankheit aus dem
Leibe. Das reine Gold verzehrt alle bösen Säfte.«

Der alte Kaufmann Henne besah sich die Ohrringe. Sie waren groß und
schwer, kein Mensch trug solche. Was würden die Leute sagen zu dem
sonderbaren Schmuck? Aber das war ja doch einerlei. Wenn man darum
gesund wurde. Da stach er sich Löcher in die Ohren und hängte die Ringe
hinein. Und, sagte Frau Judith, dann sei er ganz stramm und aufrecht
nach der Stadt zurückgekehrt und habe noch lang gelebt.

Seither müssen alle Hennes solche Ringe tragen. Zuerst, wenn sie
geboren werden, kleine, und dann immer größere. Wenn einer stirbt,
begräbt man seine Ohrringe besonders in der Erde. Ein Jahr lang, dann
sind sie wieder zu gebrauchen, dann hat die Erde alles angezogen. Da
war eine Tochter von dem vorigen Henne, die wollte nicht anders sein
als andere Leute und hängte sich die Ohrringe aus, wenn sie aus dem
Haus ging. Die wurde krank und starb.«

»O du,« sagte Georg, »die wäre wohl ohnehin gestorben.« Er nahm sich
den hängenden Schmuck von den Ohren und aß ihn auf. Er war ihm nicht
mehr recht geheuer. »Das ist wohl nur so eine Geschichte.«

»Was für ein Unsinn,« sagte Franz, der auch zugehört hatte, »damit
ist gar nichts anzufangen. So ist's: Als der alte Henne, der vorige,
das Haus baute, da drang das Grundwasser vom Stadtbach her in den
Keller. Da war alles feucht im Haus und sie kriegten alle miteinander
entzündete Augen, nur der Knecht nicht, der hatte kleine, goldene
Knöpfchen in den Ohren von seinem Taufpaten her.

Da sagte der alte Henne: »Ist wenig Gold gut, so ist mehr besser,«
und ließ gleich für die ganze Familie Ringe machen, wie ein guter
Schlüsselring in der Größe. Da wurden sie gesund, und jetzt ist das
Haus lange trocken, aber jetzt sind sie's gewöhnt.« »Ja, und wenn sie
einer ablegt, dann zieht ihm irgend was aufs Herz. Die Entzündung,«
sagt Jungfer Liese, »und dann stirbt er.«

»Ach, das ist ja einerlei,« sagte Gertrud. »Das sind alles so
Geschichten. Willst du gleich die Steine heraustun, Franz! Wenn man
einen Kirschenstein schluckt, wächst einem ein Baum im Magen. Der
zersprengt einen, dann muß man sterben. Das sagt Frau Judith.«

»Ach, immer mit eurer Frau Judith. Immer mit eurem Sterben.« Franz war
ein bißchen erschrocken. Da tat er ärgerlich: »Wenn ihr sonst nichts
wißt.«

»Die Mutter muß auch,« sagte Georg. Das ging ihm heute so neben allem
her. Nicht als Schmerz gerade. Er war jetzt zehn Jahre alt und als
sie von ihren Kindern ging, in das dunkle Haus ihrer Seele, da war er
erst zweijährig gewesen. Die paar schattenhaften Züge, die noch von
ihr in seinem Herzen lebten, waren immer blässer geworden. Da hatte er
angefangen, sich ein neues Bild von ihr zu schaffen; abends, wenn er
im Bett lag. Das bekam von ihm alle schönen freundlichen, starken und
liebenswerten Züge zugeteilt, die er irgend an andern Menschen sah.
Aber auch die Menschen seiner Umgebung arbeiteten an dem Bild, und
fügten traurige, mitleidenswerte, grausige und sogar schuldige Züge
hinzu. Da mit einem Wort und dort mit einem. Das gab eine Mischung von
Wonne und Grausen in die Gedankenwelt des kleinen Buben hinein. Es war
nur ein Traumbild, das ihm sterben wollte. Aber es war ihm nun doch,
als ob er nie mehr abends unter der Decke seine stillen Fäden in Furcht
und Liebe zu diesem Bild hin spinnen könne. Es gab doch auch eine
Leere. Er wußte nichts, das an dessen Stelle treten könne. Er konnte
mit niemand davon reden; am Tag dachte er auch nur selten daran; nur
heute ging der Gedanke so mit ihm. Darum fing er immer wieder davon an.

»Das kann man noch nicht wissen,« sagte sein Bruder Franz. »Wir müssen
noch Kirschen brechen zum Heimbringen. Gib einmal den Korb herauf,
Lore.«

»Lore! Die schläft ja wohl?« Nein, das tat sie nicht. Sie hatte sich
aus den trockenen, harten Kirschen eine breite, prächtige Halskette
gemacht, immer einen Stiel neben den andern mit rotem Garn gebunden.
Die hatte sie nun umgehängt, gerade als sie gerufen wurde. Das mußte
zuerst in Ordnung sein.

»Da,« sagte sie dann. »Nein, ich schlafe gar nicht. Guckt einmal. Bin
ich nicht schön?« Sie stellte sich auf die Fußspitzen und drehte sich
einmal im Kreise.

Doch, das war sie. Das sahen auch die anderen. Wie die roten,
schimmernden Früchte um den weißen Hals lagen, der, gleich den Armen,
entblößt war; wie die losen, rotblonden Haare auf das hellblaue
Kleidchen fielen. Nein, sie wußten nicht so recht, warum Lore schön
sei; sie fühlten es mehr. Sie war solch ein kleines, feines, leichtes
Ding. Es tat nichts, daß sie in der Schule selten etwas recht konnte,
und auch nicht, daß sie bei den Spielen immer zimpferlich tat. Sie
mochten sie doch gern dabei haben. »Wißt ihr was?« sagte Franz einmal,
»zum Wegblasen ist sie. Wie Mehlstaub ist sie,« sagte er und wählte
den Vergleich aus seinem künftigen Handwerk, »man muß nur blasen, dann
fliegt sie.« »Nein,« sagte Georg, »wie ein Löwenzahnstengel; wenn man
bläst, fliegen die Samen hinaus, und so fliegt ihr Haar, aber Lore
selber? Die steht doch fest auf den Füßen.« Er war gründlicher, er
konnte nicht recht solch ungenaue Vergleiche leiden.

Franz sah von seinem hohen Sitz aus wohlgefällig auf Lore herunter.
»Du Krott,« sagte er. Das sollte eine Schmeichelei sein; so faßte sie
es auch auf. Sie lachte vergnügt und hüpfte ein paar Schritte gegen
den Abhang zu. Da sah man den steilen Weg hinunter und weit über das
Tal hin. »O,« rief sie und drehte den Kopf zurück, »da kommt Lude. Der
rennt, was er kann. Jetzt ist er an den Staffeln. So rennt kein Mensch
sonst den Berg herauf. O, jetzt verliert er seinen Schlappschuh. Schon
wieder! Jetzt nimmt er beide in die Hand und läuft in den Strümpfen.«

Lude war der Bäckerlehrling. Es war schon bemerkenswert, daß er es
so eilig hatte, er gehörte im gewöhnlichen Leben nicht gerade zu den
Hastenden. Er war klein und rund und sah meistens schläfrig aus. Er
wollte sicher etwas anderes, als etwa Kirschen brechen.

Ein paar mal stand er still und schnappte nach Luft, dann trabte er
vollends weiter den steilen letzten Stich herauf. Nun kam er heran.
»Was ist, Lude?« Sie fragten alle miteinander. Da stieß er unter Pusten
und Schnauben heraus: »Heimkommen sollet ihr. Aber schnell; was ihr
laufen könnt. Ihr müsset verreisen. Es ist, es ist, da hin, wo, wo die
Frau ist. Euer Vater hat schon seine schwarzen Hosen an; er geht auch
mit.«

Da waren sie schon vom Baum herunter und rannten davon. Keines von
ihnen sagte ein Wort. Was war da zu sagen? Da war etwas zu erleben. Der
Vater hatte die schwarzen Hosen an. Und sie sollten dorthin reisen; das
war etwas Wirkliches, das war nicht mehr nur Gerede und ausgemaltes
Phantasiewerk. »So wart doch, Georg,« rief Gertrud, als sie den langen
Sprüngen ihres Kameraden nicht mehr nachkam; »du rennst auch gar zu
arg.« Da blieb er stehen und sah sich um, aber nur einen Augenblick.
»Du gehst ja doch nicht mit,« sagte er, und dann rannte er weiter, bis
ins Tal und bis nach Hause.

Da hatte auch Gertrud ihr Erlebnis des Tages, das sie nicht vergaß. Da
war eine Sache, das nur ihn anging, sie nicht, und die sie nicht mit
ihm teilen konnte.

Da hatte sie einen schweren Satz aus dem Katechismus des wirklichen
Lebens zu lernen. Er handelte davon, daß kein Mensch dem andern überall
hin folgen kann und daß man sich darin ergeben muß, zu Zeiten draußen
zu stehen, während der andere, mit dem man gleichen Schritt halten
möchte, drinnen im Haus ganz allein ein Stück weiter lebt, in Lust
oder Leid, oder in Mühe, die beides in sich schließt.

Sie lernte heute nur die äußeren Umrisse davon. Es war schon dafür
gesorgt, daß sie später wieder und wieder daran zu lernen hatte. Es war
auch für heute ganz genug. Das geht nicht nur so wie eine Kopfarbeit.
Sie stampfte mit dem Fuß auf aus einem machtlosen inneren Grimm heraus.
Und dann fing sie an zu laufen, daß die Röcke flogen. Nach Haus, nach
Haus. Sie wollte nicht so allein zurückbleiben. Lore? ja, die stieg
behutsam hintendrein; und oben im Kirschbaum saß Lude, der sich für
die vorige Eile durch einen behaglichen Schlendrian und einen Schmaus
bezahlt machen wollte. Aber sie war dennoch allein.

Darum lief sie, was sie konnte, daß sie nach Hause kam.

Der Bäcker Ehrensperger hatte nicht nur die schwarzen Hosen an, die dem
Lude solchen Eindruck gemacht hatten, sondern auch die Weste und den
Rock. Er sah unbehaglich und hilflos genug aus in diesem feierlichen
Anzug, der ihm doch von Jungfer Liese als passend und erforderlich
für die heutige Fahrt aufgenötigt war. An der Weste hatte sie findig
das Rückenfutter auseinandergetrennt; das klaffte nun unter dem Rock;
da schlossen vorn die Knöpfe über Brust und Bäuchlein. Aber der Rock.
Der war nach allen Seiten hin zu eng. Vorne stand er weit offen. Aber
am Rücken und an den Schultern verspürte der Mann ein beständiges
Ziehen und Drücken. Ihm war, als knacke da und dort etwas. Das
waren wohl die Nähte? Es war ihm unbehaglich zu Mute. Innerlich und
äußerlich. Die Reise schuf ihm auch ein Mißbehagen. Er war nicht aufs
Absonderliche, Tragische angelegt. Und dies hier war absonderlicher
als alles, was er bisher erlebt hatte. Denn hin und her besehen, was
sollte er dort? Er hatte immer unweigerlich bezahlt, was die Sache
kostete. Aber, noch einmal, persönlich gefragt, was sollte er dort? Es
war ihm unzweifelhaft unbehaglich zu Mut. Da war solch' eine fremde,
andersartige Welt; so eine gewisse, geistige Macht, eine düstere,
tragische. Es war ihm, als sollte er mit Geistern aus dem Jenseits in
Verbindung treten. Wie sollte er sich da benehmen? Was sollte er sagen?
Er hätte gern einen tüchtigen Kuchen eingepackt und sich mit dieser
Gabe von der persönlichen Verpflichtung gelöst, der er sich unterworfen
fühlte. Aber das war ja wohl nichts. Wie hatte es in dem Eilbrief
geheißen, der vor einer Stunde in den Vormittagsnicker des Meisters
hereingefallen war?

»Ihre Frau, von deren Krankheit Ihnen bereits Anzeige gemacht ist, hat,
nicht ganz ungewöhnlicherweise, noch eine fast vollständige Klärung
ihrer Sinne erlebt und verlangt in diesem wachen Zustand nach Mann und
Kindern. Sollten Sie, wie anzunehmen ist, diesem Wunsch zu entsprechen
gedenken, so wird es gut sein, dies unverzüglich zu tun, da die Kranke
ihrer Auflösung in den nächsten vierundzwanzig Stunden entgegengeht.«

Diesem Ruf war nicht zu entgehen. Den letzten Wunsch eines Sterbenden
muß man erfüllen. Das wurzelt tief im Volk, im Menschen überhaupt. Es
ist wohl die unbewußte Hochachtung vor der Majestät des Todes. Der
Mensch, der vor solch einem Gegner steht, ist ernst zu nehmen und nimmt
sich selber ernst.

Ja, er mußte hin.

Da kamen die Buben an, und bekamen, mitten in der Woche, frische
Hemden, und wurden mit den Sonntagsanzügen bekleidet. Und Jungfer
Liese ging geschäftig hin und her und steckte ihnen noch ein
Extrataschentuch ein. »Ihr werdet's brauchen,« sagte sie.

Dann gingen sie zur Bahn und wagten alle drei nicht umzusehen auf der
Straße und gingen ungelenk dahin, wie Leute tun, die sich beobachtet
fühlen. Denn unter den Türen der Werkstätten, und auf den Hausstaffeln,
und unter den Fenstern erschienen die Nachbarn und stießen einander an
und flüsterten vernehmlich: »Da gehen sie. Es ist eine Erlösung. Es ist
eine Wohltat, daß die Frau stirbt. Aber hinreisen? Da können sie etwas
Schönes erleben. Nicht für hundert Mark in so ein Haus.« Und die andern
sagten: »Da können sie nicht anders. Es stirbt eins nur einmal.«

Durch das Getuschel hindurch gingen die drei, mit verlegenen
Gesichtern, und waren froh, als sie in der Bahn saßen.

Sie sprachen unterwegs nicht viel miteinander. Hie und da fing einer
der Buben etwas an. Aber der Vater gab nicht recht Antwort. Wie mochte
sie aussehen, seine Frau? Was konnte sie mit ihm reden wollen? Er hatte
sie einst gern gehabt; sie war ein feines, blühendes Mädchen und eine
fleißige, rührige, mütterliche junge Frau gewesen. Aber als das Unglück
geschah und dann die Krankheit kam, ja, er hatte ihr wohl so ein
bißchen Vorwürfe gemacht damals; (»das hätte ein anderer auch getan,«
dachte er), da hatte er nichts mehr mit ihr anzufangen gewußt. Seitdem
war sie ihm wie gestorben. Und nun lebte sie noch einmal auf und wollte
mit ihm reden.

Das ging rundum mit ihm. Da konnte er nicht auf die Fragen seiner Söhne
hören.

Und als, kurz vor dem Eintritt durch das eiserne Tor, schon das Haus
mit den Gitterfenstern vor Augen, Franz seinen Rockflügel ergriff und
sagte: »Könnte ich nicht lieber draußen warten? Ich, ich möchte lieber
nicht mit hinein,« da kam es ihm vor, als ob die Kinder doch wohl nicht
recht auf den Besuch bei ihrer Mutter vorbereitet seien.

Und er wollte noch rasch seiner Pflicht Genüge tun, als Mann und Vater,
und gab seinem Lieblingssohn, obgleich er ihm seinen Wunsch mehr als
nur nachfühlen konnte, eine Ohrfeige, daß ihm der Hut aufs Pflaster
fiel, und sagte: »Was? Draußen bleiben? Das könnte dir passen. Du gehst
mit hinein, sag' ich und besuchst deine Mutter, wie sichs gehört.
Bleib' ich vielleicht draußen?« Und er fühlte sich nach dieser Tat und
Rede sicherer und erhobener als zuvor.

Da schritten sie miteinander durch das Tor und gingen über Treppen
und lange Gänge, und hörten unterwegs allerlei Töne, die sie nicht
verstanden und die ihnen Herzklopfen machten, weil sie nicht wußten,
von welcherlei Wesen sie kamen. Und dann tat sich ihnen eine Tür auf;
helles Licht kam durch das breite, geöffnete Fenster in den Raum, den
sie betraten; und Georg Ehrensperger, der Jüngste, der von allen Dreien
am meisten mit Herz und Sinnen dabei war, dachte mit Staunen, daß
Meister Nössel, der Flickschneider auf dem Turm, nichts Rechtes gewußt
habe.

Denn er hatte gesagt, daß die Mutter im Dunkeln sitze und warten müsse,
bis ihr Gott das Licht wieder anzünde.

Und hier war helles Licht.

Oder? Oder war das bereits wieder angezündet?

Aber es war helles, gewöhnliches Tageslicht, solches, in dem alle
Menschen wandeln. Es war gar nichts Absonderliches dabei.

Auch die Frau, die in den weißen Kissen ruhte und ihnen entgegensah,
war weder so besonders schön noch so besonders schrecklich, wie das
abendliche Phantasiegebild, das die Stelle einer Mutter bei ihm
vertreten hatte, wechselsweise gewesen war.

Sie hatte ein weißes, sanftes Gesicht, und Augen, in denen das ganze
Leben zusammengedrängt schien, suchende, bittende, hungrige Augen; man
wußte nicht, ob sie lachen oder weinen, sich fürchten oder sich freuen
wollten. Es war wohl das alles miteinander, und löste sich in raschem
Wechsel in ihrer Seele ab. Sie hatte gescheiteltes Haar; links und
rechts hing ihr eine Flechte davon über die Schulter und lag auf ihrer
Brust, blond und silbern gemischt und verlor sich unter der Bettdecke.

Die Hände hatte sie schwer auf der Decke liegen; da hob sie mit Mühe
eine davon zum Willkomm, und ließ sie wieder fallen. »Da seid ihr,«
sagte sie. »Das seid ihr? ach!« Denn sie hatte kleine, zwei- und
vierjährige Kinder verlassen. Die waren ihr wieder ans Herz getreten,
als ihr Ich zu sich selber kam. Nun standen ein paar sonnverbrannte,
halbwüchsige Buben an ihrem Bett, und traten näher, als ihnen ihr Vater
einen kleinen Puff von hinten her gab, und machten verlegene Gesichter.

»Grüß Gott,« sagte der Kleinere und sah sie so von unten herauf an. Da
fand er, daß hier nichts zu fürchten sei, und daß er schon lang mit
dieser Frau zusammengelebt habe, irgendwie und wo. Und auch, daß sie
sowohl mit Frau Judith, als mit der Rektorin Cabisius irgend eine
Ähnlichkeit habe; er besann sich nicht, welche, er fühlte sie nur. Vor
denen aber war er längst nicht mehr scheu. Da war er es auch vor ihr
nicht mehr. »Ich glaube doch,« sagte er später, als er sich selbst
besser verstand, »ich glaube doch, daß mir damals einen Tag lang meine
Mutter gehört hat, wie eine Mutter ihrem Kind gehört, und ich auch ihr.«

Denn es währte an jenem Tag nicht lange, da saß Georg auf dem Bettrand
und hatte seine rauhe Bubenhand in die feine, weiße, heiße Hand seiner
Mutter geschoben. Und sie holte die eine und andere Frage aus sich
heraus, Fragen, wie ein Kind sie tut, und sah ihn an, als trinke sie
etwas Langentbehrtes, Frisches aus seinem Gesicht und aus seinen Reden.

Der Bäcker Ehrensperger war froh, daß er nicht viel zu sagen brauchte.
Sie waren Beide etwas hilflos, als sie versuchen wollten, einander ein
Wort zu sagen. Die Frau bekam einen Augenblick eine heiße Röte in die
Wangen; er war ihr fremd geworden, er war wohl nie so recht ein Teil
ihres Wesens gewesen. Da setzte er sich auf einen Stuhl, der am Fenster
stand und sah mit Erleichterung, daß Georg die Sache in die Hand nahm.
Er ertappte sich nach einer Weile darauf, daß er die Daumen umeinander
drehte. Das war ihm so zur Gewohnheit geworden; so oft er in Ruhe
dasaß, tat er so. Da hörte er erschreckt auf; es war wohl nicht passend
heute. Aber nach ein paar Minuten fing er wieder an. Die Uhr auf dem
Türmchen, das zwischen den Bäumen herausblickte, zeigte auf ein Uhr. Da
stand er auf und sagte, er wolle mit den Kindern gehen, etwas zu essen.
Franz griff nach seinem Hut, er war mehr als Georg Fleisch von seines
Vaters Fleisch; er wußte hier auch nicht recht etwas anzufangen.
Georg rührte sich nicht. »Laß mich da,« sagte er. Da leuchtete aus den
Augen der blassen Frau ein Strahl, als ob ein helles Licht sich darin
spiegele, und sie drückte in ihrer Schwachheit leise die Kinderhand,
als ob sie sie festhalten wolle für immer. Ihre Gedanken gingen wohl
nicht weit hinaus. Jetzt war immer.

Da ließen sie ihn sitzen und gingen.

Sie kamen lang nicht wieder.

Als sie wiederkamen, hatte Georg eine kleine Mundharmonika an den
Lippen, die er meist in der Tasche bei sich trug. Er blies darauf,
weich und sachte, als ob er fühle, daß hier herein keine lauten Töne
paßten. Es war keine eigentliche Melodie, es war nur so ein Tonreigen,
nicht tonreicher, als das Geplätscher eines Bächleins ist. Aber sie
waren froh dabei, beide.

»Willst du wohl?« sagte der Vater, »das fehlte noch, Musik machen.«

Da lächelte die Kranke. »Nein, laß ihn,« sagte sie, freier als zuvor,
»er hat mir gesagt, daß er etwas werden will, bei dem man Musik machen
kann. Laß ihn.«

Dann sah sie aus, als ob sie einschlafen wollte.

Georg hielt ihre Hand und fühlte, wie die Pulse in den Fingerspitzen
pochten, als ob das Leben überall da innen gegen die Wände stieße und
heraus wolle. Und einmal klopfte es hart und stark unter der leichten
Decke der Mutter, »klopf, klopf, klopf.«

»Mutter, was klopft so bei dir?« fragte er.

Er sagte heute in jedem Satz »Mutter.«

»Das ist mein Herz,« sagte sie müde.

»Laß einmal hören.« Da legte er seinen runden Bubenkopf auf die Decke.
Sie lächelte.

Sie lächelte auch noch, als die Wärterin wieder hereinkam und zu dem
Mann sagte: »Sehen Sie doch,« und den Buben von ihrer Brust wegnahm und
auf den Boden stellte.

»Bst,« sagte er, »es klopft nicht mehr. Ich habe den Kopf draufgelegt,
jetzt hat es aufgehört.«

Aber er wußte nicht, was das war.

»Nein,« sagte die Wärterin, »es klopft nicht mehr.«

Da hatte nun der Mann mit der Axt, der Tod, den letzten Hieb getan. Da
hatte der Bewohner nicht mehr seines Bleibens in dem Haus. Es tat ihm
auch nicht mehr not.

Er hatte heute ein freundliches Licht und eine kleine, keimende Liebe
gesehen, und die Augen waren ihm davon groß und froh geworden.

Nun waren sie ja wohl stark genug, in eine Flut von Licht und in eine
große, überwallende Liebe zu schauen, die in dem neuen Haus auf ihn
warten mochten.

Aber unsere Sprache hat kein Wort, #davon# zu reden.

       *       *       *       *       *

Die Stadtzinkenisten hatten den Trauerchoral vom Wiblinger Kirchenturm
geblasen und waren eben die Treppe hinuntergepoltert, um nun auch auf
dem Weg zum Kirchhof zu blasen. Es war nächstens Zeit, ans Läuten zu
gehen.

Die beiden Freunde, der Korbmacher Hollermann und der Turmwächter
Nössel, hatten still zugehört und in wandernden Gedanken der Lebenden
und der Toten gedacht und daß sie wohl alle in guten Händen seien und
alle einmal mütterlich nach Hause geleitet werden.

Sie hatten es nicht beredet; sie wußten einer des andern Gedanken auch
ohne das.

Da griff der Turmwächter auf den Sims über dem einen Fenster und
holte da ein Buch herunter und las, da schon auf der Straße unten
der schwarze Wagen über das Pflaster rasselte, eine Stelle, die
angestrichen war und bei der ein getrocknetes Kräutlein lag:

»Denn die Welt ist vor dir wie ein Stäublein an der Wage und wie ein
Tropfen des Morgentaus, der auf die Erde fällt.

Aber du erbarmst dich über alles; denn du hast Gewalt über alles.

Denn du liebest alles, was da ist, und hassest nichts, das du gemacht
hast; denn du hast ja nichts bereitet, dazu du Haß hättest.

Wie könnte etwas bleiben, wenn du nicht wolltest? oder wie könnte
erhalten werden, das du nicht gerufen hättest?

Du schonest aber aller; denn sie sind dein, Herr, du Liebhaber des
Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in allen!«

Als er das gelesen hatte, nickte er zufrieden mit dem Kopf und legte
das Buch wieder an seinen Ort.

»Da brauchen wir uns ja nicht weiter den Kopf zu zerbrechen,« sagte er.
»Da versammeln sie sich nun allmählich, da unten um die weiße Kapelle
her, und liegen ganz still, ein jedes an seinem Ort. Und haben viel
Qual und Unruhe hinter sich, und Sorgen, und haben viel Umwege gemacht,
da man nicht wissen könnte, ob sich auch nur eins von ihnen nach Hause
findet, wenn das nicht wäre, davon hier geredet ist: »Denn sie sind
dein, du Liebhaber des Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in
allen.«

»Ja,« sagte Hollermann und setzte die Schildkappe auf, um zu gehen,
»es wird uns ja wohl zu gut gehalten werden, daß wir davon reden als
einfältige Leute, die wohl wissen, daß unser Herrgott ein ganzes Stück
klüger ist als wir.

Nämlich, daß wir das nicht in unser Herz hineinbringen, das mit dem
großen Unterschied drüben, der nicht auszusagen sei und nicht aufhöre;
und das mit dem Gedanken, daß Gott es mit etlichen seiner Kinder in
alle Ewigkeit nicht mehr zurecht bringe und ohne sie leben müsse in
seiner himmlischen Herrlichkeit und Pracht. Da man ihm doch zutrauen
möchte, daß er sie alle herausholen möchte aus Sumpf und Feuer und dem
Tod und sie endlich einmal bei sich zu Haus sein lasse, wenn's genug
ist mit der Plage.«

Der Flickschneider hatte die Brille eingeschoben und ging mit seinem
alten Kameraden das Treppchen hinab zum Läuten. »Wir haben wohl
nicht so den Verstand,« sagte er. »Das liegt uns nur so im Gemüt.
Etliche sagen, die Bosheit sei allzugroß, und etliche wieder anders;
es sei, als ob drüben die Geister ineinander flössen, wie die Bäche
in die Flüsse, und die Flüsse ins Meer, da man die Wasser nicht mehr
unterscheidet und alles ein großes Wallen ist. Aber das ist uns nicht
bekannt und das wird auch so recht sein, damit wir unseres Weges gehen
wie die Kinder, und nicht gar so klug sein wollen.«

Da ließen sie die große Frage, die sie nicht um der Frau willen allein
aufgeworfen hatten, der das Läuten galt, sondern die je und je ihre
Herzen bewegte in Hoffnung und demütigem Vertrauen.

Unten bliesen die Stadtmusikanten einen Trauermarsch aus aller Kraft
ihrer Lungen, und gingen die Ehrenspergersbuben hinter dem Sarg her
mit neuen Kleidern und Blumensträußen, und schritt der Bäckermeister
zwischen zwei Anverwandten einher, ernsthaften Gesichtes und in einem
Rock, der breit und weit genug war, als ein stattlicher Witwer, und
ging Jungfer Liese in der Zahl der Frauen als leidtragende Verwandte
des Hauses, das Taschentuch zwischen den Händen. Es war alles, wie es
sein mußte, denn das Besondere, das um die Frau her war, das hatte der
Tod ausgelöscht.

Gertrud stand in der Reihe mit den singenden Schulkindern; und als sie
ihren Kameraden sah, der mit einem merkwürdig erloschenen Gesicht nach
dem sinkenden Sarg blickte, da war es ihr doch, als müsse sie neben ihm
stehen, als gehe das gar nicht anders an. Und sie verstieß gegen alles
Herkommen, wie das rasch und lebhaft empfindende Menschen zuweilen tun,
und schob sich leise, einen Schritt um den andern, zwischen den Männern
des Gefolges und etlichen Cypressen und Grabkreuzen durch, bis sie
dicht hinter Georg stand und ihn sachte am Ärmel zupfte. Jungfer Liese
warf einen vernichtenden Blick nach ihr und vergaß einen Augenblick, zu
schluchzen.

Aber das schadete nichts. Darum hatten die zwei Kinder doch zu dieser
Stunde einen Teil aneinander, und konnten das dunkle Kapitel des
Lebens, das sie nicht recht verstanden und das hier seinen Schlußpunkt
erhielt, schließen lassen, um sich nach Kinderart ihrem eigenen
Weg zuzuwenden. Sie nahmen etwas von dem Vergangenen mit da hinein
und holten es hie und da gesprächsweise heraus, wenn sie im Dämmer
beisammen waren. Aber das Düstere daran, das ging nicht mit. Das
zerfloß im Nebel, nur das Lichte, Freundliche blieb. Es war den Kindern
doch später, als hätten sie einmal Mütter besessen. Das machte, daß
sie das Wenige, das sie von diesem Schatz besaßen, miteinander zu
teilen wußten, da wuchs es daran.




                    Achtes Kapitel


»Mutter,« sagte Lore, das Kind der Putzmacherin Maute, »du mußt schnell
was anziehen. Da kommt die Frau Rektor Cabisius aufs Haus zu. Sie macht
so kurze, rasche Schritte, wie ein Mädchen geht sie und ist doch schon
eine alte Frau. Das heißt, wenigstens hat sie ganz graues Haar. Und
überall hält sie den Rocksaum hoch; sieh' mal, Mutter, da ist doch
tiefer Schmutz auf der Gasse, und sie hat nie ein Tüpfelchen Schmutz
an sich.« Lore saß am Fenster und sah in den kleinen Straßenspiegel,
der da angebracht war und durch den man alles beobachten konnte, was
draußen vorging, ohne selbst gesehen zu werden.

Ihre Mutter saß ihr gegenüber. Sie hatte die Haare auf Papilloten
gewickelt und war mit einer Nachtjacke bekleidet, die, der fehlenden
Knöpfe wegen, am Hals mit einer blitzenden Hutagraffe zugesteckt war.
Sie hatte eben noch an einem bestellten Samthut gestichelt; nun stand
sie auf und ging ins Nebenzimmer. »Sag', wenn sie kommt, ich käme
sogleich,« sagte sie im Hineingehen. »Und, Lore, räum' noch rasch ein
bißchen auf.« Denn es fiel ihr nun plötzlich auf, daß das Waschgeschirr
noch auf dem Tisch stand und Kämme und gebrauchte Kaffeetassen sich
mit Seidenbändern und Hutformen auf der Kommode breit machten. Da
nahm das Mädchen einen Anlauf und trug einiges ins Nebenzimmer. Dort
stellte sie es auf den Boden. Und anderes streifte sie mit rascher Hand
in eine geöffnete Schublade; und fuhr mit einem Pfauenwedel über die
Kommodenplatte und legte rasch eine Decke auf den Tisch. Es sah nicht
mehr so übel aus im Zimmer, wenn man nicht gerade kritisch hinsah.

Da klopfte es, und als die Frau Rektorin eintrat, kam ihr Lore
entgegen, frisch und zierlich, wie ein Bachstelzchen und bat, Platz
zu nehmen, nur einen Augenblick zu warten, da die Mutter sogleich
kommen werde. Sie habe nur etwas Notwendiges zu schaffen, das gleich
erledigt sei. Darauf setzte sie sich wieder an ihren Fensterplatz und
hob sittig an, zu häkeln. Irgend etwas Zartes, Zierliches, es gab einen
Halskragen, das konnte man schon erkennen.

Die Uhr tickte, es war still im Zimmer. Draußen rieselte der Regen
herunter und klopfte hie und da ein wenig an die Fensterscheiben.
Von der nahen Kirche her hörte man vereinzelte Orgeltöne; irgend ein
musikbeflissener Unterlehrer übte sich da.

Die Frau Rektorin saß und sah nachdenklich aus.

Sie sah dem Spiel der feinen Hände des Kindes da auf dem Fenstertritt
zu. Es war eine wahre Freude, zuzusehen.

Warum machte sich nur Gertrud nichts aus selbstgehäkelten Halskragen?
Warum war sie so ganz anders als alle Mädchen, die die Frau Rektorin
kannte?

Sie saß in ihres Großvaters Studierstube und lernte Latein von ihm. Ja,
Latein. Und ihre Großmutter richtete jetzt und immer die Frage an das
Weltall, was ein Mädchen mit Latein zu tun habe? Aber hier war niemand,
der ihr Antwort gab.

Sie, nämlich Gertrud, war groß und stark für ihr Alter und hatte ein
kluges, etwas breites, offenes Gesicht, und ihre Bewegungen erinnerten
etwas an die einer jungen Dogge.

Sie war die Freude der beiden Alten. Ja, unstreitig auch die ganze
Freude ihrer Großmutter. Aber das verhinderte nicht, daß die Frau
Rektorin in einer eifersüchtigen Regung »ihres Nächsten Schönheit«
begehrte; nicht für sich, für das Kind, und daß sie innerlich bereit
war, etwas von »der unnötigen Gelehrsamkeit, mit der sie mein Mann
füttert«, dafür dranzugeben.

Sie hatte jetzt nicht lang Zeit, sich den Tausch auszudenken, denn
nun kam die Putzmacherin herein und fing sogleich eine wortreiche
Entschuldigung an, daß sie habe warten lassen. »Es ist immer so vieles
im Haushalt, wenn man alles ordentlich haben will,« sagte sie, und
vielleicht glaubte sie es in diesem Augenblick selbst, daß sie alles
ordentlich haben wolle, obgleich sie soeben aus ihrer Schlafstube kam,
in der das Chaos herrschte.

Und dann fing sie an, mit Hutformen, Samt und Spitzen zu hantieren
und Lore verließ ihren Fensterplatz und ihre Handarbeit, um bald die
Stecknadeln, bald eine Schere, bald das Metermaß zu suchen. Denn die
Frau Rektorin sollte mit einer neuen Winterkopfbedeckung versehen
werden. Das war aber so, daß die neue der alten immer noch ein wenig
ähnlich sein mußte, und es gehörte eine gewisse Kunst dazu, einen
neuen, haubenähnlichen Hut, (oder eine hutähnliche Haube, was in der
Wirkung auf eins herauskommt,) zu schaffen, der weder modern noch
altmodisch, weder ärmlich, noch großartig war. »Sondern der,« sagte
die Frau Rektorin, »auf meinen eigenen Kopf paßt und nicht auf den von
hundert anderen Menschen.«

Ja, das war immer eine Art von Kunstwerk, so einfach es aussah und Frau
Maute war die Erste und Einzige, die die schwierige Frage mit einer Art
von Genialität zu lösen wußte. Es gibt allerlei Bande, die sich um die
Menschen schlingen, und das Geschick der Frau Maute, einen ästhetisch
befriedigenden Hut für die Frau Rektorin herzustellen, war so eine
Art von Band, das die beiden Frauen nach einer gewissen Richtung hin
umschloß.

Aber es war ein Band, das im Begriff war, sich zu lösen.

»Das wird nun der letzte Hut sein, den ich der Madam Cabisius mache,«
begann die Putzmacherin das Gespräch. (Sie war nicht davon abzubringen,
ihre honorigeren Kundenfrauen mit Madam' zu titulieren und die Rektorin
Cabisius ließ sich das nun allmählich gefallen, weil Widerspruch nichts
nützte und der Klügste nachgibt.)

»Was, den letzten?« fragte sie. »Das muß merkwürdig zugehen. Entweder
sterb' #ich# bald, oder sterben #Sie# bald, oder, was ists? am Ende
ist Maute wieder aufgetaucht und Sie gehen mit ihm und dem Kind nach
Amerika, wohin er damals verschwunden sein soll?«

»Ach, Madam Cabisius scherzen. Madam Cabisius wissen wohl, daß Maute
für mich abgetan ist. Und wenn er auch mit Gold überzogen käme, und
kniete hier vor mir nieder, da, wo Madam Cabisius sitzen, ich ließ' ihn
knieen. Ich nähme das Kind an der Hand und sagte: »Maute, du weißt, daß
du mich verlassen hast. Keine Widerrede, das hast du. Ich habe das
Kind und mich ernährt und werde es ferner ernähren und brauche dein
Gold nicht.« Und dann würde ich ihm die Tür aufmachen. 'Bitte, hier ist
die Tür,' würde ich sagen.«

Und damit machte sie ein paar Schritte nach der Tür hin, um sie für
den Abzug des imaginären Maute zu öffnen, besann sich aber und kehrte
wieder um. Lore stand mit aufgestützten Armen am Tisch und sah und
hörte dem Schauspiel zu, das sie offenbar nicht zum ersten mal genoß.

Die Rektorin zupfte Frau Maute am Ärmel. »Das Kind,« sagte sie mahnend.

»Ja, das Kind, das ist noch mein Trost. Ich sag's alle Tage: Lore, du
bist mein Trost, denn ich bin eine verlassene, unglückliche Frau.

Ich bin viel zu ideal, das ist mein Hauptfehler.«

»Ja, aber warum wollen Sie mir keinen Hut mehr machen? Das möcht' ich
wissen.«

Denn die Rektorin war über diesen Punkt noch ebensowenig aufgeklärt,
als wir es sind.

»Alles wegen des Kindes, Madam Cabisius. Denn das Kind ist alles, was
ich habe, und es soll glücklicher werden, als seine Mutter. Das sag'
ich immer: Lore, du sollst glücklicher werden als ich.

Darum habe ich beschlossen, nach Tübingen zu ziehen. Madam Cabisius
müssen nicht denken, daß es um meinetwillen sei. O nein, mir ist alles
recht, mir ist's auch in dieser kleinen Stadt recht, obgleich fast
niemand Sinn für den höheren Geschmack hat, außer der Madam Cabisius,
und -- noch ein paar wenigen.

Aber dort kann ich mich besser aufschwingen. Ich bin so sehr für den
Aufschwung. Das sagte schon Maute immer, obgleich ich sonst nicht viel
auf seine Meinung gebe: 'Henriette, du bist viel zu schwunghaft.'

Er verstand mich nicht. Das hat uns getrennt.

Dort kann ich einen Laden mieten und das bessere Publikum gewinnen. Und
vielleicht nehme ich Studenten in möblierte Zimmer, später dann.« Frau
Maute sah in diesem Augenblick außerordentlich schwunghaft aus. Man
sah ordentlich ihr Mutterherz durch die Falten ihrer geblumten Bluse
scheinen. Denn das mit dem Laden und den möblierten Zimmern geschah ja
nur des Kindes wegen, dem ein besseres Los bereitet werden sollte, und
dem zuliebe die Mutter sich in jede verlangte Höhe zu schwingen bereit
war.

»Mutter, dein Haar,« sagte Lore leise.

Denn es hatte sich ein dünnes, rotblondes Zöpfchen unter den Spitzen
des Morgenhäubchens vorgestohlen und wippte auf der geblumten Bluse auf
und nieder, alle schwungvollen Bewegungen seiner Trägerin begleitend.

»O, es ist mir nicht bange,« sagte Frau Maute, und schob das Zöpfchen
wieder an seinen Ort. »Ich kann mit allerlei Leuten verkehren. Wenn
ich sonst nichts gelernt hätte, so hätte ich doch das gelernt. Und
nun gar mit #jungen# Leuten. Wenn man selbst Mutter ist und das Leben
kennt. Ich werde sie mütterlich beraten, meine Studenten, meine ich.
Daran werden Madam Cabisius nicht zweifeln.« »Madam Cabisius« hatte
wohl so ihre Zweifel, aber diese waren von einer Art, die hier nicht
ausgesprochen werden konnte.

Darum schwieg sie darüber und dachte nur im Stillen: »Ich bin froh, daß
Gertrud nicht zu studieren hat. Mütterliche Beratung. Ich danke.« Und
dann bot sie ihren grauen Kopf her, um sich das werdende Kunstwerk
ausprobieren zu lassen, und sah unter Samt und Spitzen hervor mitleidig
auf das junge Kind, das zu seinem Besten an dem Aufschwung der Mutter
teilnehmen sollte.

»Soll mich wundern, was sie aus dem Mädchen macht,« sagte sie zu sich
selbst, als sie auf dem Nachhauseweg mit hochgehaltenen Röcken durch
den Schmutz der Straßen stieg. »Einreden läßt sich da nichts. Nun ja.
Mit ihren Hüten war ich immer zufrieden. Eine gelungene Person, das ist
sie. Aber soll mich wundern, was sie aus dem Mädchen macht. Ein feines,
kleines Ding ist das.«

Und dann kam ihr mütterliches Herz ins Wallen.

»Ich wollte doch,« sagte sie, aber sie sprach nicht aus, #was# sie
wollte. Vermutlich war ihr der Wunsch aufgestiegen, das »kleine, feine
Ding« zu behüten. Wovor? Da eilten ihre Gedanken weit voraus.

Aber das war eigentlich nicht ihre Art so. Sie trat fest auf und machte
rüstige Schritte, als sie über den gepflasterten Marktplatz ging. »Das
lerne ich allmählich von #ihm#,« sagte sie entrüstet zu sich selbst,
»das Vorausdenken. Aber das ist nichts für mich. Braucht man mich etwa
dazu? Ich meine, zur Weltregierung?« Und sie schüttelte sich wacker
unter dem Regenschirm und rief ihre sorgenden Gedanken zur Ordnung. Da
kam sie hellen und heiteren Angesichts nach Hause und fand Gertrud,
das Mädchen, das ihr zu gelehrt werden wollte, auf dem Treppengeländer
reitend, daß die Zöpfe flogen. Sie sagte nichts darüber, wie sie an
andern Tagen wohl getan hätte, und wußte auch warum.




                    Neuntes Kapitel


Kennt ihr das Geschlecht der Sonntagskinder?

Es hat allerlei Namen. Man könnte es auch das Geschlecht der Schauenden
nennen, oder der Horchenden.

Es hat eine Gabe mitbekommen, die nicht alle haben, von dem Strom
heimlichen Lebens zu wissen, der unter der Oberfläche aller Dinge
hingeht. Die dazu gehören, die ahnen die wundersame Schönheit, die in
die Welt gelegt ist, und lieben sie und horchen nach ihr hin. Und weil
sie sich nach ihr sehnen, die Leben ist und Liebe, Licht, Freude und
Werdekraft, so suchen sie sie überall.

Im Grauen des Morgens, in der Glut des Mittags, im Wehen des Windes, im
Zirpen der Grille im Grase.

Im Lachen eines Kindes, in einem Männerzorn, in einer jungen, starken
Menschenkraft, im Ringen der Leidenschaften, in tausend und tausend
Regungen des Lebens vernehmen sie etwas von dem tiefen Grund, aus dem
das Leben quillt.

Und wenn ein Klang aus jener verborgenen Welt ihr Ohr streift, dann
halten sie den Atem an und horchen still hinein.

Manchem von ihnen ist es gegeben, in Tönen davon zu reden, manchem in
Bildern, in der Glut der Farben oder in beredten Linien, manchem in
Worten.

Aber nicht allen. Es sind viele, die tragen den empfangenen Glanz still
in sich herum und die Welt weiß nichts davon. Oft sind sie arm und
unscheinbar, und oft macht sie die innere Fülle ungelenk, steif und
wortarm nach außen. Aber was schadet das? Wer ihnen zu rechter Stunde
in die Augen sähe, der sähe in einen tiefen See, in dem ein Schatz
verborgen liegt.

       *       *       *       *       *

Der alte Korbmacher Hollermann war keiner von denen, die die Welt
mit Harmonien füllen. Aber seine Seele war voll von einer Musik, die
niemand gehört hatte, obgleich an warmen Abenden, wann die Fenster
seines Häuschens offen standen, die Töne seiner Flöte, der ererbten
Großvatersflöte, über die Äcker hin und über die Landstraße und zu den
wenigen Häusern, die hier draußen an der Landstraße standen, hinflogen.
Das, was aus der Flöte strömte, das war das, was an die Oberfläche
drang. Aber wie wenig war das im Vergleich zum Ganzen. Wenn er so
dasaß, mitten zwischen seinen Weidenkörben und Hühnerkäfigen, auf dem
niedrigen Drehstuhl und in der grünen Schürze, mit hängenden Schultern
und braunen, rissigen Händen, die die Flöte hielten, da sah ihm niemand
an, daß er innerlich wunderbare Chöre hörte. Vielleicht waren sie
wirklich, vielleicht tönten sie aus irgend einer Welt zu ihm herüber,
wer vermag das zu sagen?

Was er hervorbrachte, waren selten so eigentliche Melodien. Es war
ein Reden in Tönen, vielleicht auch nur ein Stammeln. Es fragte ihn
niemand danach und er sagte es zu niemand. Das heißt, das war seitdem
so gewesen. Aber das sollte nun nicht länger so fortgehen. Die Jugend
kam zu ihm herein unter das tief herabhängende Dach.

Gertrud kam. Sie war einmal auf einem Spaziergang mit dem Großvater
einen Augenblick eingetreten, hatte dem alten Hollermann bei der Arbeit
zugesehen, hatte das Wetterhäuschen, aus dem der Kapuziner trat, wenn
es schön Wetter wurde, bewundert, und die rankenden Kürbisse an der
Hinterwand. Und da es ihr schien, als ob hier noch viel zu bewundern
sei, so versprach sie das Wiederkommen. Das hielt sie auch. Als sie
hier einigermaßen zu Hause war, brachte sie Georg mit. Der wurde es
noch mehr als sie, und noch schneller. Das machte, daß er Meister
Hollermanns Flötenspiel gehört hatte. Es war an einem Samstagabend
gewesen. Die Kinder hatten über ihren Aufgaben gesessen, bis es dunkeln
wollte. Dann hatte sie die Großmutter ins Freie gejagt: »jetzt geht!
wollt ihr mir hier versitzen und mit sechzehn Jahren Brillen tragen?«

Nein, das wollten sie nicht. Da gingen sie los. Die beiden Alten
wandelten zwischen den Rabatten des Gartens hin und her, und die
Kinder machten einen Streifzug. Durch den Baumgarten, da hingen kleine
grasgrüne Äpfel in den Zweigen, es gab noch nichts Reifes; über den
Lattenzaun, durch den trockenen Burggraben, da kamen sie auf freies
Feld.

»Jetzt besuchen wir den alten Hollermann,« sagte Gertrud. Da liefen sie
in langen Sätzen den schmalen Feldweg entlang. Das Korn war noch grün
und wogte leise hin und her, eine Blindschleiche glitt über den Weg. In
der zitternd warmen Sommerluft summten die Schnaken. Hinter dem Wald
ging die Sonne hinunter.

Dann blieben sie stehen. »Horch,« sagten sie beide. Da schwebte es in
der Luft, wie ein süßer Gesang. Und doch wieder anders als ein Gesang.
»Jetzt flötet er,« sagte Gertrud. »Das tut er alles auswendig, so aus
sich selber heraus.« Und dann liefen sie wieder. Es war bezeichnend für
Georg, daß er es hübscher fand, außen auf dem Bänkchen neben der Tür
zuzuhören, weil er den Flötenbläser nicht kannte, und für Gertrud, daß
sie ihn an der Hand hineinzog ohne viel Federlesens. »Da sind wir,«
sagte sie. »Wir wollen zuhören.«

Aber er war es nicht gewöhnt, Zuhörer zu haben. Er setzte die
Flöte ab und sah vor Verlegenheit grimmig aus. So lang, bis er in
das enttäuschte Gesicht des Buben sah. Es konnte niemand sonst so
enttäuscht aussehen. Nun war er hier hereingekommen und gleich hörte
das auf, was ihn so herangezogen hatte.

Der alte Hollermann war in Not. Das, was er soeben geblasen hatte,
das konnte er jetzt nicht fortsetzen. Davon war ihm der Faden
abgeschnitten, und das war auch etwas wie ein Selbstgespräch gewesen.
Da besann er sich auf alte, längst gehörte Klänge. Denn er konnte es
den Kindern nicht antun, daß er so verstummte, so gern er das getan
hätte.

»So, nun merkt auf,« sagte er. Und spielte ein klingendes, singendes
Lied, und dann noch etwas, das tat, wie zwitschernde Vogelstimmen.
»Das ist von Mozart,« sagte er und nickte mit dem Kopf. »Kennt ihr
den nicht? Das ist aus der Zauberflöte. Vor zwanzig Jahren hab ich
das gehört. Als Mina noch lebte. Ja so, ihr kennt Mina nicht. Sie war
in München und dort hörten wir das miteinander. Sie wollte meine Frau
werden, aber dann starb sie.«

So, nun war es wohl aus?

Nein, sie kannten Mina nicht. Sie waren nun zwölf und dreizehn Jahre
alt, hatten schon vieles gelernt und hatten den starken Trieb, noch
viel mehr zu lernen, und hätten am liebsten eines immer dasselbe
gelernt, was das andere lernte, obgleich das ja nicht so durchzuführen
war.

Sie hatten auch schon von Mozart gehört, wenn auch nicht allzuviel.
Aber noch fragten sie nicht viel danach, wer die und jene Musik
geschaffen habe. Es mußte nur klingen und singen, das war die
Hauptsache.

Es wurde auch rasch vollends dunkel, darum gingen sie nun wieder,
hielten einander an der Hand und gingen auf der breiten Landstraße ins
Städtchen hinein.

Meister Hollermann saß wieder am Fenster und flötete. Es war jetzt ein
leises, weiches Getön. Vielleicht dachte er dabei an Mina und wie sie
mit glänzenden Augen neben ihm gesessen hatte jenes einzige Mal, da sie
miteinander so im Reich der Töne waren.

Oder vielleicht sah er in die ziehenden Abendwolken und fragte, wohin
ihr Geist gegangen sei, damals, als sie an einem schönen Juniabend,
einem Abend wie heut, für immer ihre Bügelstähle und ihre Kundenwäsche,
ihre kleine trauliche Stube und ihn selbst, der sie so liebte,
verlassen hatte.

Die Kinder wußten das nicht. Aber Georg stand plötzlich still und
sagte: »ich will noch ein wenig horchen« und es half nichts, daß
Gertrud vor Ungeduld trippelte. Er hatte die Hände in den Taschen und
horchte.

       *       *       *       *       *

Das war das erste Mal gewesen.

Von da an war der alte Hollermann hie und da genötigt, etwas von dem
herauszugeben, was ihn innerlich bewegte.

Er war viel gewandert in seinem Leben, weit umher. Viel erworben hatte
er sich nicht. Gerade genug, um das kleine, windschiefe Häuschen kaufen
zu können und darin die Korbmacherei zu betreiben. Er flickte die
Waschkörbe der Bürgersfrauen und die Marktkörbe der Bauernweiber, und
flocht aus Weiden Tragkörbe für die Weingärtner und was so mehr des
ländlichen Bedarfs war.

Dabei konnte er die Bilder der weiten Welt an sich vorbeiziehen lassen.
Einmal, zu Minas Zeiten, war Aussicht gewesen, daß er sich, wie die
Putzmacherin Maute, des Aufschwungs befleißigen werde. Damals lag ihm
an einem freundlichen Nest und an Brot für sie beide. Nachher, als sie
gestorben war, hatte er keinen solchen Antrieb mehr. Da wurde er mehr
und mehr einer der Horchenden. Er ging so still für sich hin. Und als
er's einzurichten wußte, kehrte er in die Heimat zurück und spann sich
da in eine eigene, stille und doch belebte Welt ein. Wer konnte wissen,
was alles seine schweigsame Seele füllte?

Es war eine kleine Gemeinde von Pietisten im Städtchen. Und weil dabei
fromme, eingezogene Leute waren, die sich versammelten, um miteinander
übers Evangelium zu reden, so ging er auch hin, denn ihn verlangte
nach Gemeinschaft. Aber er sprach nicht ihre Sprache. Sie hatten alle
Worte der Bibel so schön genau zurechtgelegt und nun redeten sie über
die tiefen Geheimnisse, die in der Offenbarung des Johannes stehen und
es war ihnen alles so klar, daß kaum noch etwas zu fragen blieb. Da
wurde er noch einsamer; und als sie sagten, nun solle er auch reden, da
schüttelte er leise den Kopf.

Der junge Zimmermann Dieterle, der dabei war, der sagte, wenn er darauf
zu sprechen kam, daß seine Augen wie in eine unergründliche Tiefe
gesehen hätten, »und,« sagte er, »ich hätte wissen mögen, was er sah,
aber er fand das Wort nicht.«

Von da an ging er allein dahin, wenn er nicht hie und da auf den
Turm stieg zu seinen alten Freunden, dem Turmwächter und der Frau
Judith. Er war aber freundlich gegen alle, die ihm nahe kamen, und
nächtigte einmal zwei Handwerksburschen in seinem Bett. Da brachte er
die eine Hälfte der Nacht am Tisch sitzend über einem alten Buch zu,
und sah die andere Hälfte lang zum Fenster hinaus nach den Sternen
und nach dem Kommen des Morgens. Nun kam, wenige Tage nach jenem
Samstagabend, an dem er den beiden Kindern die Flöte geblasen hatte,
der lang aufschießende Knabe mit dem schmalen Gesicht und den hungrigen
Augen vor seine Tür, diesmal ohne Gertrud. Die saß daheim und hatte
Handarbeitsstunde bei ihrer Großmutter. Hollermann hörte ein kleines
Geräusch am Fenster, dann an der Stubentür. Und als er, in Strümpfen,
denn so saß er an der Arbeit, hinging und öffnete, da prallte der Kopf
mit dem dunklen Haarbusch vom Schlüsselloch zurück, an das er sich
horchend gelegt hatte. Dunkelrot wurde der Knabe und sagte verwirrt und
stotternd: »ich, ich wollte -- ich habe hier eine Flöte.« Da zog ihn
Meister Hollermann mit sich hinein.

Es war eine alte, verstaubte Flöte mit grünspanigen Klappen, die
Georg in Papier gewickelt unter dem Arm trug. Er hatte sie in einer
Bodenkammer gefunden und sie tönte ihm in Gedanken nun fort und fort
so lieblich, tönte ihm in der Schule in die Geschichte des Hannibal
hinein, tönte beim Vesper zu den Lauten der Jungfer Liese, die an sich
gar keine Ähnlichkeit mit Musik hatten, tönte, tönte, bis er nun hier
stand und sagte, als ob er vor dem König stände und um die Hälfte
seines Landes bäte: »wenn Sie mir zeigen täten, wie man's macht.« Das
Übrige sagte sein flehendes Bubengesicht.

Nun studierten sie miteinander, daß es eine Art hatte. Das machten
sie so: Georg hatte die Melodien im Kopf, die er von der Schule und
Kirche her kannte und die er etwa auf der Straße hörte. Die pfiff er
seinem Lehrer vor, worauf dieser sie auf die Flöte übertrug, was dann
hinwiederum Georg so lange nachprobierte, bis er die Melodie richtig
heraus hatte.

Das trieben sie eine ganze Weile und vergnügten sich sehr damit. »Bub,«
sagte der alte Hollermann, »du lernst das besser als ich. Daran ist
nicht zu drehen. Ich hab's in mir drin, das hab' ich. Aber ich kann's
nicht so von mir geben. Ich hab' schon gedacht, nachher einmal, in
einer andern Welt, da könn' ich das vielleicht.

Was mein Großvater war, der Schäfer Hollermann, der wußte eine
Geschichte von einem Geiger. Der zog herum und wollte das schönste Lied
spielen lernen, das es gibt.

Da ging er zu den Vögeln in den Wald und horchte und horchte. Das
konnte er bald. Er konnte geigen, daß man die Amseln und die Finken und
Drosseln heraushörte.

Aber das war ihm noch nicht schön genug. Da horchte er auf den
Wind. Was konnte der für Lieder singen. Ganz leise, feine, daß man
die Blätter an den Bäumen rascheln hörte und die Ähren hin und her
schwanken. Und dann starke und frohe, weißt du? so, wie es tönt, wenn
der Frühling kommt. Und die ganz wilden, wo sich die Eichen biegen,
wenn der Sturm durch sie hinfährt.

Das lernte er auch nachspielen. Da zog er weiter, denn er wußte, daß
ihm noch viel fehle. »Und,« sagte er, »eher will ich nicht aufhören,
bis ich das schönste Lied von allen habe.«

Das Wasserrauschen konnte er nachbilden, man glaubte die Wellen blinken
zu sehen und die Bächlein rieseln zu hören.

Und er spielte Hochzeitsreigen und Tanzlieder, und was die jungen
Mädchen und Burschen singen, und Kirchenlieder. Und manchmal spielte
er etwas, das kein Mensch verstand. Da mußte weinen, wer es hörte. Es
war, als ob er etwas suche und das tat er auch. Er suchte das schönste
Lied von allen; da hörte er hie und da einen Ton, aber er fand nie das
Ganze.

Darüber wurde er alt und grau und kam zu sterben. Er war aber ganz
allein, denn, Georg, wer das will -- aber das verstehst du noch nicht.

Ja, und da klang es auf einmal irgendwo, und nun wußte er, daß dies das
Lied sei, das einzige, das es gebe. Und er griff nach seiner Geige,
und, so stark seine Hand zitterte, er konnte es doch spielen. Aber die
Saiten zersprangen davon, eine nach der andern. Da starb er und das
war auch ganz gut, denn sonst hatte er ja nichts gewollt. Und siehst
du, darum denke ich, daß es einen Ort gibt, wo man das alles kann, was
man in sich hat, weil es dem Geiger irgendwo her tönte, als er schon
im Sterben lag. Und weil ihm die Seiten sprangen, als er es zu spielen
versuchte, darum denke ich, es muß irgendwo bessere Geigen geben. Aber
ich bin ein alter Mann, Bub. Ich bin begierig, wie alles wird, und ich
denke, es wird irgendwie gut. Das ist alles, was ich so sagen kann.«

»Das will ich alles auch lernen,« sagte Georg und machte ein sehr
entschlossenes Gesicht dazu. »Ja, das tu' du.« Der Alte war sehr
einverstanden damit.

»Ich kann dich das nicht lehren. Aber mein Großvater sagte, wenn er
die Geschichte erzählte: 'Das kann man einen überhaupt nicht lehren,
wenn's einer nicht in sich hat.' In großen Städten da haben sie Schulen
dazu, dahin gehen die Leute, um das alles zu lernen. Ich meine, das
Musikmachen und so was. Dahin gehen sie noch, wenn sie Männer sind. Ich
hab' schon solche gesehen mit Bärten, die gingen da hinein und lernten
Musik machen. Den ganzen Tag Musik und nichts weiter. Das muß ein Leben
sein, Bub. Wie im Himmel. Aber ich weiß nicht, ob's die alle in sich
haben.« Da schlug sich der Bub aufs Knie, daß es schallte.

»Dahin möcht ich auch,« sagte er. »Was sagst du? Ganze Säle voll mit
Orgeln und Klavieren und Geigen und Flöten? Dahin möcht ich auch.«

       *       *       *       *       *

Nun hatte er wieder ein Bild, das er sich abends beim Einschlafen
vormalen konnte. Er steckte sich unter die Decke und hielt die Ohren
zu, daß kein Laut von außen herein dringe. Und dann ließ er den Saal
vor sich aufsteigen. Der war riesig groß, er wurde immer noch ein wenig
größer. Und an den Wänden standen Orgeln, immer eine größer als die
andere, mit blanken Pfeifen, und oben schwebte an jeder ein nackter
Posaunenengel, denn solch einer war auch an der Wiblinger Kirchenorgel
und Georg konnte sich keine Orgel denken ohne diesen Zierrat. In der
Mitte des Saals aber standen Klaviere, die waren so schön wie das
des Rektors Cabisius und waren alle aufgeschlagen. Da standen sie
mit ihren schwarzen und weißen Tasten und vor jedem stand ein Stuhl.
Menschen waren da nicht, und das war gut. Denn sonst hätte Georg sich
nicht getraut, zu spielen. Aber das tat er nun. Heidi, wie seine Finger
auf und nieder fuhren. Es war gut, daß er unter der Decke steckte, so
konnte ihm niemand den kühnen Gedanken ansehen, der sich nun entspann:
Er konnte es wahrhaftig noch besser als der Rektor.

So, nun hatte er genug am Klavier. Da griff er nach einer der Geigen,
die an den Wänden hingen, oder nach einer Flöte. Jagdhörner waren auch
da. Trari, trara.

Einmal, als er soweit war, vergaß er sich und tutete das Geheimnis über
die Grenzen seines Bettes hinaus.

Da brachen merkwürdige Töne unter der schweren Federdecke hervor wie
ein unterirdisches Donnerrollen.

Jungfer Liese, die in der anstoßenden Stube saß und Strümpfe stopfte,
kam herein und zog ihm das Deckbett ein Stück weit hinunter. Es sei
kein Wunder, wenn einer schwer träume, sagte sie. Wenn man sich
dermaßen begrabe.

Und Franz, der am Einschlafen war, warf sich herum und beklagte sich.
»Da soll einer schlafen können,« sagte er. Franzens Schlaf aber war
heilig.

Denn er war nun Bäckerlehrling seit Ostern, das war drei Monate her.
Und er mußte aus den Federn, eh' der Tag graute. Er wollte das auch.
Er wollte später die Bretzel, die über der Ladenstaffel schwebte, neu
vergolden, und wollte alles tun, was sich für den Hauptsprossen der
Ehrenspergersfamilie gehörte.

Da beugte sich Jungfer Liese über das Bett des jüngeren Sohnes, und
wisperte ihm mit gedämpfter Entrüstung mahnende Worte zu. Der aber
hielt die Augen geschlossen und atmete tief und lang und tat, als ob er
schliefe, bis der wache Traum in einen wirklichen überging.

Darin ging er mit dem alten Hollermann über ein flaches Feld, das sich
weit und breit dehnte. Es wehte leise in der Luft, rings, so weit das
Auge ging, wogte ein Meer von braunem, goldig glänzendem Heidegras, das
rauschte so sachte, als ob es am Einschlafen sei. Fern am Horizont,
wo die Sonne versunken war, standen die Höhen in rotem und violettem
Glanz, und leuchtende Wolken mit Gold- und Purpursäumen zogen darüber
hin und entschwanden, eine nach der andern.

Da fing der alte Hollermann an zu singen, und hatte ein so glänzendes
Gesicht dabei, als ob auch er in das Licht der Sonne getaucht sei.

Georg verwunderte sich weder über das eine, noch über das andere,
obgleich er ihn noch nie so gesehen oder gehört hatte. Das mußte nun
gerade so sein.

Es war aus einem alten Kreuzfahrerlied, was Meister Hollermann sang.
Georg hatte es einmal irgendwo gehört, er wußte nachher nicht mehr wo.

      »Alle die Schönheit
      Himmels und der Erden
      Ist verfaßt in dir allein.«

»Ist das nun das rechte Lied?« fragte der Georg. »Ja,« sagte der Alte
und bog den Kopf vor, um zu lauschen, »hörst du, wie alles mitsingt,
ringsumher?«

»Wer?« aber er erhielt keine Antwort mehr.

Das Feld dehnte sich weit und weiter und wurde grau und still. Und der
Traum versank; und Georg versank in die Tiefen eines jungen, festen
Schlafes.




                    Zehntes Kapitel


Es war ein Spätnachmittag im Frühherbst.

Die Sperlinge schwirrten mit viel Geschrei um das Weinspalier her.
Das war an der Südwand des Rektorhauses, die nach dem Garten geht. Es
war nicht viel für sie zu holen, es war ein feines, dichtes Netz über
die Trauben gezogen. Da hatte es eine Lücke und dort eine. Aber was
waren die paar Beeren für solch eine Schar? Das war gerade genug, um
den Appetit zu reizen. Aber darum konnten sie es doch nicht lassen,
schimpfend hin und her zu schwirren. Sie hielten lange Reden darüber,
daß es nicht recht zugehe auf der Welt? Was? Nun waren die Trauben
unbedeckt geblieben, so lang sie hart und grün waren, und wurden nun
unter das Netz gesteckt, da sie täglich weicher, süßer und reifer
wurden?

Drüben im Obstgarten standen die Bäume voll reifender Äpfel. Schwer
hingen die Äste herunter, sie vermochten kaum ihre Last zu tragen.
Warum wurden nun #diese# nicht mit einem Schleier überzogen? Danach
hätten die Sperlinge nicht gefragt; die Äpfel mochten ruhig reifen
und zur Erde fallen, sie rührten keinen an. »Aber gerade das bißchen,
was wir gern hätten, das mißgönnen sie uns,« sagte ein alter, dicker
Spatz und hüpfte schwerfällig und ärgerlich auf den Syringenbusch, von
dem man die beste Aussicht auf das Weinspalier hatte, und die andern
schrieen ihm Beifall.

Da ging die Gartentür und drei Kinder kamen herein. Die Sperlinge
kannten sie wohl, sie waren hier täglich zu sehen. Der lange, magere
Bub, der so oft stand und die Hände in den Taschen hatte und in die
Luft sah; das starke, bräunliche Mädchen mit den langen Zöpfen, und
das kleine, feine rothaarige, dem die jungen Spatzen gern die Augen
ausgepickt hätten, weil sie aussahen, wie reife Kirschen.

Die gingen nun auch an das Weinspalier. »Seht ihr, seht ihr,« riefen
die Krakehler unter den Spatzen. »Die nehmen sich, was unser ist.
Das ist Raub, das gehört in die Chronik.« Aber die Kinder kümmerten
sich keinen Augenblick um das Spatzengeschrei. »Eine für uns drei
miteinander,« sagte Gertrud. »Ich sag's nachher der Großmutter, ich
nehm' sie nicht heimlich.« Sie griff in das grüne Laub und Georg hielt
das Netz ein wenig zurück und sah mit hinein. »Aber eine große, wenn
sie für drei reichen muß,« sagte er.

Da fanden sie miteinander eine große, durchsichtig schimmernde Traube
heraus und nahmen sie sachte herunter und sahen sich ein bißchen um, ob
niemand zusehe, obgleich sie's nachher sagen wollten. Dann gingen sie
miteinander und mit ihrem Raub, (denn das war es doch, da hatten die
Sperlinge nicht unrecht gehabt,) in den Obstgarten.

Ganz hinten in der Ecke, dort, wo der Garten an den Stadtgraben
anstößt, unter dem Süßapfelbaum, ließen sie sich nieder.

Der Baum hing zum Brechen voll. Hie und da raschelte es in den
Zweigen; dann löste sich eine Frucht und fiel ins Gras.

Die Kinder sahen nicht viel danach hin. Aber nicht aus demselben Grund,
wie die Spatzen. Sie hatten nur heute Wichtigeres zu bedenken. Lore
war gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie teilten ihre Traube, Beere um
Beere und sagten nicht viel dazu. Den leeren Kamm warfen sie über den
Lattenzaun in den Stadtgraben und standen und sahen ihm nach, als ob es
ein Stück ihres vergangenen Lebens sei.

Vorhin waren sie ein letztes Mal miteinander auf dem Turm gewesen. Ein
letztes Mal; das war sonderbar. Warum konnte nicht immer alles gleich
fortgehen, wie es von jeher gewesen war?

Es war nicht gerade ein Schmerz, da sie nun scheiden sollten. So ganz
zum täglichen Leben hatte Lore den beiden andern nicht gehört. Es war
nur so etwas Neues, anderes.

Da war so ein großes Tor aufgetan, und eins von ihnen ging hindurch, in
die weite Welt hinein. Was mochte dort alles sein? Es war wohl alles
ganz anders, als hier? Größer und schöner und voller Wichtigkeiten,
voll neuer, unentdeckter Wunder. Es ging so etwas wie ein Reisewind
durch alle drei hindurch.

War es schöner, zu gehen, oder zu bleiben?

Wer konnte das sagen?

Oben auf dem Turm, von Frau Judiths sonnigem Fenster aus, hatten sie in
die leuchtende Ferne geschaut, Kopf an Kopf. Dort hinten lag Tübingen,
weit hinten. Man konnte es nicht sehen, natürlich; es war viel zu weit
dorthin.

Die ganze Albkette lag davor; alle die Höhen, die sich am Horizont
hinzogen, Berg an Berg, als ob sie sich an den Händen gefaßt hielten
und so durch die schöne Welt marschierten.

Hie und da glänzte es weiß aus den bläulichen, duftigen Schleiern, in
die sich die Berge gehüllt hatten. Ein felsiger Abhang, eine Burgruine.
Da eine und dort eine. Warum hatten sie das sonst nie so gesehen, wie
heute?

Dort hinten irgendwo, in dieser blauen Ferne, lag Tübingen.

Sie saßen unter dem Süßapfelbaum und sahen den umfriedeten Garten vor
sich liegen in seiner stillen, heimeligen Schönheit. Die Dahlien und
Astern und die hochstämmigen Herbstrosen blühten an den Rabatten. Die
große Laube schimmerte leuchtend rot; sie war ganz und gar umsponnen
von den Ranken des wilden Weins, auf dessen purpurnen Blättern die
Sonne lag.

Die schwarz und weiß gefleckte Katze der Frau Rektorin stieg voll
Behagen auf dem Gartenweg einher und ließ sich die Sonne auf den Pelz
scheinen.

Wie schön war es hier. Und wie schön auch draußen in der Weite. Hie und
da fingen sie an, von gleichgültigen Dingen zu reden. Aber es wollte
nicht so recht fort mit der Unterhaltung.

Sollten sie von dem und jenem reden, das hier blieb, während Lore ging?
Wie es aber draußen sei, davon wußten sie nicht viel. Da zog Lore ein
braunes Paketchen aus der Tasche. Es war ein Buch darin. »Das hat mir
die Spitalbäbel geschenkt,« sagte sie.

»Es sei ein Andenken, und ich soll drin lesen. Ich weiß nicht, es ist
keine rechte Geschichte, es ist, glaub' ich, ein bißchen langweilig.
Ich hab' nur so hineingesehen.«

»Langweilig?« Dann wollten die andern nichts damit zu schaffen haben.
Das war das Ärgste von allem.

Die Spitalbäbel war ein einsames, altes Weiblein, das oben in einer
Dachkammer desselben Hauses, wie die Putzmacherin Maute, wohnte.
Sie war früher Leichenbesorgerin gewesen, und sie hatte in einer
längst verflossenen Pockenzeit die Kranken gepflegt, draußen im
Siechenhaus, das weit von den andern Häusern auf freiem Feld stand,
und nun mit geschlossenen Türen und Fensterladen auf irgend eine neue
Inwohnerschaft zu warten schien. Worauf die Spitalbäbel wartete, wußte
man nicht so genau. Sie hatte ein kleines Krautgärtlein, das sie baute,
und außerdem strickte sie grobe Strümpfe und Socken um mageren Lohn für
Handwerksgesellen und Dienstmägde.

Das Siechenhaus hatte für jedermann etwas Unheimliches. Denn wer konnte
wissen, zu welchem Zweck es dereinst wieder aufgetan werden würde? Daß
aber an der Bäbel selbst auch etwas besonderes hängen geblieben war,
das war eine merkwürdige Tatsache.

War es das, daß sie so viel mit den Toten zu schaffen gehabt hatte?
Sie hatte ein spitziges Vogelgesicht mit ein paar beweglichen,
graugrünen Äuglein, und eine hohe, dünne Stimme. Auch ging sie immer
noch gekleidet wie einst als Totenfrau, in ein großes, schwarzes
Umschlagtuch, dessen hinterer Zipfel fast die Erde berührte, und mit
einer Haube, deren beide schwarze Flügel wie große Nachtschmetterlinge
um ihren Kopf flogen. Sie hatte dereinst das Siechenhaus abgeschlossen
und den Schlüssel dem Gemeinderat gebracht, und sie allein wußte, wie
es nun dort drinnen aussah.

Wenn sie hätte reden wollen. Aber sie kniff die dünnen Lippen fest
aufeinander. Das war das Allergeheimnisvollste.

Sie tat keinem Menschen etwas zuleide. Aber die Kinder hatten ein
Grauen vor ihr, so ein gelindes, das bei Tag angenehm wirkt und nur in
der Dämmerstunde die Schritte beschleunigt, wenn es einem begegnet, daß
man ins Helle, Warme komme.

Und nun hatte sie der Lore ein Buch zum Abschied geschenkt.

Das war etwas Wunderbares.

»Sie ist mir auf der Treppe begegnet,« sagte Lore.

»Und da hat sie sich vor mich hingestellt, und hat mir die Hand auf den
Kopf getan, so --,« Lore stand auf und legte ihre feine, weiße Hand auf
Gertruds Kopf, »und das war eine eiskalte, dürre Hand, sie schüttelte
den Kopf ganz stark und sagte: Kind, Kind, wenn du alles wüßtest, was
kommt. Aber das weißt du nicht.

Ich wollte gern sagen, daß ich es gar nicht wissen wolle und daß sie
ihre Hand wegtun solle, aber ich konnte nicht. #So# habe ich gezittert.«

Lore schwankte hin und her, als ob sie der Sturmwind schüttle.

Die andern lachten so ein bißchen unsicher. Und Gertrud zog sachte
ihren Kopf zurück, obgleich es gewiß keine »eiskalte, dürre Hand« war,
die auf ihr lag.

»Und da hat sie gesagt -- und die Augen dabei ganz klein gemacht --:
'Da, das nimm mit auf den Weg, Kind. Da steht's, was alles kommt. Es
ist nichts mit der Welt.' -- Ach was, ich weiß nicht mehr, was sie
alles gesagt hat. Es ist auch einerlei.«

Da gab sie dem Buch, das auf ihrem Schoß lag, einen kleinen Stoß, daß
es ins Gras flog, und stieß mit der Spitze ihres zierlichen Fußes noch
ein wenig daran und saß und wickelte sich ihre Locken um die Finger.

Das Buch war aber aufgegangen und als die Kinder so beiläufig danach
hinsahen, war ein Bild auf der obersten Seite.

Das war etwas anderes, Bilder.

Da hob Georg es aus dem Gras und sie sahen miteinander hinein. Es war
aber ganz und gar kein Kinderbuch.

Es war eine merkwürdige, schwere Geschichte von einem Mann, der aus
seiner Heimat ging, weil ihm gesagt war, daß sie »die Stadt des
Verderbens« sei, und der durch unendlich viele Hindernisse, Fußangeln
und Gefahren hindurch nach einer wunderbaren Stadt reiste, die ihm als
Reiseziel immerwährend vor Augen stand.

Es war ein Gleichnis für das Leben der Christen, die sich mit starkem
Mut und Willen aufmachen als Wandersleute, die in dieser Welt noch
nicht zu Hause sind, aber gern nach Hause kommen wollen, wann ihr Tag
sich neigt, und die sich unterwegs durch nichts halten lassen.

Es hieß »Bunyans Pilgerreise« und es ist ein Buch, das in vielen
Häusern der frommen, tiefdenkerischen und zuweilen grüblerischen Leute
zu finden ist, die als »Stille im Lande« da und dort zerstreut leben
und sich zusammenfinden, um miteinander über das zu sprechen, was
ihnen bei der Arbeit und am Abend bei der Lampe hinter den Büchern
aufgegangen ist.

Nun sahen die Kinder miteinander hinein.

Und da es ihnen niemand erklärte, so drangen sie auf ihre eigene Weise
in das seltsam-geheimnisvolle Buch ein.

Sie genossen es aber, da sie sich mehr an die Bilder hielten, die
das Buch durchzogen, wie ein Märchen oder eine Sage und überschlugen
die langen Gespräche und die Belehrungen und gingen mit Christ, dem
Wanderer, durch all die Schrecknisse seines Weges. Und steckten
einträchtig die Köpfe zusammen über dem Bild, da er zwischen den
aufspringenden Löwen hindurchging, und dem, da er lag und schlief und
sich ihm ein Gewappneter nahte mit gezücktem Schwert.

Und atmeten tief auf, als er sich des Schlüssels erinnerte, der ihm
und seinen Gefährten die eiserne Tür im Schloß des Riesen Verzweiflung
auftat.

Und als sie das Buch wieder zumachten, waren sie so froh wie vorher und
keiner der düsteren Schatten war auf ihren Weg gefallen, und als sie
anfingen, davon zu reden, wie es später kommen werde, da sprach das
Buch nicht mit.

Denn das, was sie bis jetzt vom Christentum gesehen hatten, das trug
freundliche, liebreiche Züge und hatte keine Schrecken und keine
Finsternisse.

»Und daran sieht man,« sagte der Rektor Cabisius, als er mit seiner
Frau beim sinkenden Abend durch den Garten ging und die kleine
Gesellschaft beieinander und das Buch neben ihnen fand, »daran sieht
man, daß die Kinder wahrhaftig im Himmelreich leben, da sie mit den
gewaltigen Mächten, vor denen die großen Leute erbeben, umgehen, als
seien es Riesen und Drachen eines Märleins.«

       *       *       *       *       *

»Also, wenn du dann ein Student wirst, dann kommst du nach Tübingen. Da
fangen wir wieder alles von vorne an,« sagte Lore. »Das wird fein.«

Georg nickte ihr zu. Er hatte sich die Hände unter den Kopf geschoben
und lag der Länge nach im Grase.

Durch die Lücken zwischen dem grünen Geäste des Baumes sahen kleine,
schimmernde Fleckchen des blauen Septemberhimmels herein, nach denen
sah er hin, als ob seine zukünftige Geschichte da geschrieben stände.
Das war sicher, daß unendlich viel Schönes in der Zukunft lag. Dies
oder anderes, es würde sich schon finden, was.

»Ich will Musik machen lernen, das ist die Hauptsache. Sonst ist mir's
einerlei.« Das sagte er seit einiger Zeit immer. Es ging nicht mehr so
klipp und klar mit der Gleichheit, wie sonst, zu Gertruds Kummer. Was
hatten sie für gemeinsame Pläne gemacht. Die verflogen nun so sachte
und neue traten an ihre Stelle, die nicht mehr zu teilen waren. Das
heißt, sie beredeten alles miteinander. Aber nun hieß es: ich will das
und jenes tun. Und zuvor hatten sie immer gesagt: Das wollen #wir#.

»Ich geh' in die weite Welt,« sagte Georg, denn er dachte an jenen
Geiger, der das schönste Lied suchte.

Sie aber nahm seine Knabenträume für feste Entschlüsse und erschrak
sehr.

»In die weite Welt? Dann kommst du wohl nie wieder?«

»Ich weiß noch nicht, vielleicht.«

Er sagte es sehr gleichmütig. Aber als er ihren Schreck sah lenkte er
ein.

»Doch, ich denke, ich kann es einrichten, Gertrud. Ach, ich weiß noch
nicht, es hat noch Zeit, das alles.«

Seine Wünsche lagen noch in der Morgendämmerung und wogten,
aufsteigenden Nebeln gleich, durch seinen Sinn. Bald nahmen sie dies
Bild an, bald jenes.

Man würde schon sehen, was an ihnen war, je mehr der Tag heraufstieg.

Gertrud saß und legte ihren Arm um Lore.

»Ach, du kleines Ding,« sagte sie. Und sagte es weich und mütterlich,
so mit einem Ton, als ob sie Lores Großmutter wäre. Nein, ihre viel
ältere Freundin; und sie war doch gleichen Alters.

Sie war nur geistig weit mehr entwickelt, und sie hatte auch von Haus
aus eine viel tiefere, schwerfälligere Art. Sie konnte nichts obenhin
nehmen, so stark und tief sie Freude und Schmerz empfand. Sie mußte
immer alles ganz erleben, schon als Kind.

Und das Mütterliche, das den echten Frauennaturen angeboren ist, das
regte sich stark in ihr. Aber sie wußte nicht, was es sei. Sie liebte
nur alles Zarte, Kleine, und alles, was irgend der Hilfe bedurfte.

Ja, und das Schöne, das liebte sie auch.

Aber es focht sie heute noch nicht an, daß sie selber nicht schön sei.
Sie dachte nicht von ferne daran.

Wenn die beiden Mädchen in den nächsten Jahren so nebeneinander
herangegangen wären, wie bisher, so hätte es sich, noch mehr als schon
jetzt, geoffenbart, daß ihre Wege auseinandergingen.

Es hätte keiner äußeren Trennung bedurft. Denn sie waren von ganz
verschiedener Art. Aber nun, da sie schieden und Lore in all'
ihrer frischen, feinen Schönheit dahinging, und aussah, wie ein
Schmetterling, der soeben auf die erste Blüte geflogen ist und noch den
ganzen Schmelz auf seinen Flügeldecken hat -- nun wallte es in Gertrud
warm und stark auf: »ach, du kleines Ding.«

Das mochte Lore gern. Sie schmiegte sich an, wie ein Kätzchen.

Da raschelte etwas an dem Lattenzaun, der den Garten vom Stadtgraben
trennte.

Als sie aufsahen, schwang sich Franz Ehrensperger daran in die Höhe
und kam mit einem Satz herüber in den Rektorsgarten. »Jetzt kommt
#der#,« sagte Lore und setzte sich zurecht, und streckte ihre zierliche
Gestalt, so gut sie konnte und sah sehr würdevoll aus.

Er war in Hemdsärmeln und trug sie aufgekrempelt bis über die Ellbogen,
wie das ein richtiger Bäckerjunge tut, und hatte eine weiße Schürze an,
die leuchtete durch die Bäume vor großer Sauberkeit. Als er näher kam,
sah man, daß er ein Paket in den Brustlatz der Schürze gesteckt hatte.
Aber die Gesellschaft unter dem Süßapfelbaum erfuhr nicht, was darin
sei.

»Da bin ich,« sagte er, und stemmte die Arme in die Seite.

»Das sieht man,« sagte sein Bruder.

»Ich muß jetzt heim, es wird dunkel.«

Damit stand Lore auf, und Gertrud tat ihren Arm um sie, wie sie
pflegte, wenn sie ihr das Geleite gab bis zu dem Brunnen vor der
Haustür.

»Jetzt, wenn ich komme gehst du?« Franz tat ein wenig beleidigt.

»Hättest halt früher kommen sollen.«

Lore konnte nicht wenig schnippisch sein, wann sie wollte, und wann sie
mit Franz redete, wollte sie das zuweilen.

Dafür hatten die beiden andern kein Verständnis.

Aber Franz lachte nur.

»Racker,« sagte er. »Früher kommen, das kannst du leicht sagen. Und
überhaupt, weiß ich, daß du da bist?«

Er hatte es wohl gewußt, aber das brauchte er ja nicht zu gestehen. »Es
ist einerlei. Wenn du doch gehst, ich muß auch in die Kirchgasse, ich
-- ich muß den Schneider Butz etwas fragen; er hat meine Sonntagshosen.
Da können wir ja miteinander gehen. Dann komm.« »Erst muß sie noch der
Großmutter adieu sagen.« Da führte Gertrud das Mädchen ins Haus, und
umschlang sie im dunkeln Hausflur und küßte sie. »Ach Lore, jetzt gehst
du. Schreib' auch, hörst du's?«

Und die Frau Rektorin kam aus der Küche und trocknete sich die Hände an
der Schürze ab, und trocknete sich nach einer kleinen Weile auch die
Augen an derselben Schürze.

»So behüt dich Gott, lieb's Kind,« sagte sie, und gab ihr auch einen
Kuß. »Sag' deiner Mutter einen Gruß. Und sie soll dich nicht so -- ach
nein, du brauchst ihr nichts zu sagen. Es geschieht doch, was geschehen
soll. Behüt dich Gott.«

Und Lore schluchzte auf einmal heiß und heftig und wußte nicht recht,
warum. Und stellte sich auf die Zehen und legte ihre weißen Arme um
Gertruds Hals.

Aber das ging schnell vorüber.

Draußen, an der Hausstaffel, stand Georg und bot ihr die Hand, etwas
tapsig und ungeschickt, und tat, als ob es nur ein Abschied bis morgen
wäre. »Gut Nacht, Lore,« sagte er.

Da lachte sie hell auf. »Sonst weißt du nichts?« sagte sie.

»O du. Weißt du was? Du sollst in Tübingen bei uns wohnen, wenn du ein
Student wirst. Weißt du was? Dann, wenn du kommst, sag' ich 'guten
Morgen' zu dir. Sonst nichts. Wie wenn das nur einen Tag gedauert
hätte, seit du zu mir 'gut Nacht' gesagt hast.«

»Komm,« sagte Franz.

Er stand noch da und wartete.

»Wir gehen hinten herum, zwischen den Krautgärten; es ist näher, und
überhaupt.«

Sie sagte nichts dagegen. Auf ihrem Gesicht stritt sich Lachen und
Weinen. Aber als er sie über den Bretterzaun heben wollte und schon den
Arm ausstreckte, glitt sie ihm aus und schlüpfte, ein paar Schritte
weiter unten durch den Zaun. Man konnte da eine Latte aufheben und
wieder an ihre Stelle rücken. Er sah sich verdutzt nach ihr um, da
stand sie schon drüben. »Fang' mich,« rief sie, und flog vor ihm her,
wie ein Vogel.

»So warte doch,« rief er ärgerlich und keuchte hinter ihr drein.

Es war schon fast dunkel; von der Kirche her tönte das Betläuten;
das hallte in großen, vollen Tönen über die stillen Gärten hin. Eine
Fledermaus schwirrte mit flatternden Flügelschlägen hin und her. Lore
hielt sich die Hände vors Gesicht. »Uh, ich fürchte mich,« sagte sie.
»Wem eine Fledermaus auf den Kopf sitzt, dem gehen alle Haare aus.« Da
deckte Franz einen Zipfel seiner Schürze auf das Lockengeringel, und
nun gingen sie ruhig nebeneinander her. »So,« sagte er, als das erste
Haus, zu dem sie kamen, seinen Lichtschein auf die Straße warf, »jetzt
muß ich hier hinunter. Ich will dir hier Lebewohl sagen.«

Da zog er das Päckchen aus dem Schürzenlatz und reichte es ihr hin.

Es war ein längliches, braunglänzendes Gebäck darin, das die Wiblinger
Feiertagsbrot nannten. Er hatte es aber stark mit Rosinen und Mandeln
gespickt, und es war seiner Hände Werk für sie.

»Du kannst es unterwegs essen oder wann du willst,« sagte er
gleichgiltig. »Ich komme vielleicht einmal durch Tübingen, so zufällig,
das kann man nie wissen. Dann kann ich ja sehen, wie es bei euch steht,
nicht?« Sie nickte. »Das kannst du,« sagte sie.

Da blieb er noch einen Augenblick unschlüssig stehen. Er hatte sich
auf dem ganzen Weg ausgedacht, daß er sich einen Kuß von ihr ausbitten
wolle. Sie war so ein feines, schönes, schlankes Ding, er mochte sie
wohl leiden, obgleich sie oft so spitzig mit ihm tat. Es mußte fein
sein, wenn sie ihre roten Lippen hergab. Seine Kameraden wußten von
solchen Erlebnissen zu erzählen. Einer von ihnen, der schon siebzehn
Jahr alt war, hatte einen Schatz, das war ein rundes, dralles Mädchen
von fünfzehn Jahren und ging sechs Tage in der Woche über Feld ins
Hölders Garnfabrik nach Rudersloch.

Das war lange nichts so feines. Wenn er dem erzählen könnte! Aber er
war doch zu ungelenk. Und wenn sie es ihm abschlug? Da ließ er sie
ihres Weges gehen, ohne etwas davon zu sagen.

»Reise gut,« sagte er und drückte ihre Hand, daß es in den Gelenken
leise knackte. »Leb' wohl.«

Da fuhr sie ihm flink mit der andern Hand in seinen aufrechten
Haarschopf und zauste ihn ein weniges.

Das hielt er für eine Liebkosung und vielleicht war es auch eine, wer
konnte das wissen? Er stand und sah ihr nach, bis sich der letzte
Schein ihres hellen Röckchens im Dunkel der Gasse verlor.




                    Elftes Kapitel


Wer mir irgend einen Ort zu nennen weiß, in dem es zur Dämmerstunde
heimlicher, wärmer und behaglicher ist, als in der Studierstube des
Rektors Cabisius, der komme und zeige mir ihn.

Ich meine nicht zur Sommerszeit, wo die Fenster nach der Straße offen
stehen und das Jauchzen und Singen der spielenden Kinder hereinschallt.

Da stand der Rektor wohl oft am Fenster und summte leise mit, wenn sie
in den Kreis traten und sangen: »Es war ein Markgraf überm Rhein, der
hatt' drei schöne Töchterlein,« oder: »Ei, wer sitzt in diesem Turm?«
Und anderes mehr.

Da saß wohl in der Dachrinne eine Amsel und sang auch mit, über all die
Lust hin.

Aber öfter ging er um diese Zeit mit seiner Frau Anne im Garten auf
und ab, zwischen den Rabatten mit der Buchseinfassung, oder hinten, im
Obstgarten, unter den Bäumen.

Nein, ich meine nicht im Sommer.

Ich meine im Spätherbst, wenn die Tage kurz werden und der Wind durch
die Straßen fährt auf breiten, rauhen Flügeln.

Wenn er im Garten die Bäume herumreißt, daß sie ächzen, und das dürre
Laub, das sich gern zur Ruhe begeben wollte, in die Luft wirbelt.

Oder im Winter, wann die Laternen trüb durch den Nebel scheinen, oder
wann die Eiszapfen an den Dächern hangen und auf den Straßen Stein und
Bein zusammenfriert.

Ich sage, wenn einer einen Ort weiß, der um diese Zeit wärmer,
heimelicher und behaglicher ist, als es dieser war, der komme und zeige
ihn mir.

Aber das wird schwer halten.

Ist irgendwo noch solch ein breiter, tiefer, lederbezogener
Großvaterstuhl, wie der, der in der Wandnische neben dem Stehpult
stand? Man konnte sich darein verkriechen und glauben, vor allem Wetter
geschützt zu sein.

Da saß die Frau Rektorin, und redete sich vom Herzen herunter, was der
Tag gebracht hatte, und sah zu, wie der Feuerschein aus dem Ofen auf
den alten, blumigen Teppich fiel, und wie er kleine, fröhliche Lichter
an den Wänden herumhuschen ließ, daß die Gesichter der ehrwürdigen
Vorfahren in ihren dunkeln Rahmen ins Lächeln kamen.

Bei diesem flackernden Schein hatte der jüngste Sohn, der Liebling der
Frau Rektorin, einst erzählt, daß das Wunder geschehen sei und Eugenie,
sein »schwarzbraunes Mägdelein,« auf Befragen zugegeben habe, daß
sie ihn liebe. Und über sein Gesicht waren dabei alle hellen Lichter
gegangen, die auf einem jungen, warmen, glücklichen Menschengesicht
Platz haben, und seine Mutter hatte in ihrem Herzen gedacht, daß das
Wunder so groß nicht sei. Denn wer sollte ihren lieben Sohn auch #so#
sehen und nicht lieb haben?

Und derselbe Feuerschein hatte sich auch über ihr gutes, altes Gesicht
gestohlen, als sie ein paar Jahre später in dem alten Stuhl saß und
Leid um ihre Kinder trug, die beide nacheinander an einer ansteckenden
Krankheit gestorben waren.

Ihr Gatte saß neben ihr auf der Seitenlehne des Stuhls und legte den
Arm um sie und streichelte leise ihr Haar.

»Ja, weine nur, Anne. Jetzt sind sie alle drüben, unser ganzes
Häuflein. Nun müssen wir Alten miteinander hintendrein gehen. Weißt du
noch? Wir sagten immer: die Kinder voran, daß man sie im Aug' behält.
Nun sind sie alle vorangegangen.«

Da redete er eine Weile auch nicht mehr, und sie hörte, wie er tief und
schwer Atem holte aus bedrängter Brust.

Und sie drängte sich an ihn und nahm ihr Herz fest in die Hände, und
sagte, ob ihr auch die Stimme zitterte: »Alle? Sie haben uns das Kind
gelassen. Das muß doch eine Heimat haben, nicht? Nun müssen wir von
vorne anfangen, Mann. Wir müssen so jung sein als wir können. Für das
Kind.«

Das aber lag und schlief, und wußte nicht, daß über seinem jungen Leben
schon so hohe Wellen hingegangen seien.

Und nun war das zwölf Jahre her, bald dreizehn. Wie die Zeit dahingeht.
Sie waren »so jung als möglich« gewesen, die beiden Alten. Das waren
sie noch. Das blieben sie ja wohl vollends, die paar Jahre, die sie
noch zu leben hatten.

Jetzt war das Kind herangewachsen.

Zwischen den beiden hohen Bücherständern an der einen Langwand des
Zimmers, unter dem Bild des Urgroßvaters, der im Richtertalar und
Barett gemalt war, stand eine niedrige Truhe. Sie enthielt Manuskripte
aus des Rektors Studentenzeit. Das war Gertruds Sitzplatz. Er war
geräumig genug für Zwei. Das war auch durchaus nötig. Denn auch Georg
hatte hier seine Heimstätte. Jungfer Liese war nicht so zufrieden
damit. Nicht, daß sie ihn zu Hause vermißt hätte, aber sie fand, daß es
in Ehrenspergers Haus Platz genug gebe, Platz und einen warmen Ofen.
Das war ja wohl richtig.

Aber dieser Sitzplatz beim Schein des Feuers, und dieses ganze Zimmer
war in Georgs Leben durchaus nicht zu entbehren. Was ging für eine
Wärme und Helle davon in sein Leben hinein. Das wußte Jungfer Liese
freilich nicht so genau.

Auf und ab wanderte der Großvater, auf und ab. Das Zimmer war nicht
allzulang; sechs Schritte hin, sechs Schritte her. Aber was für große
Reisen machte er dabei.

Es war ein wunderbares Zimmer. In allen Ecken saßen gute Geister, in
den Büchern, hinter den Bildern, in dem alten, hohen Schrank, der in
einem besonderen Fach, in ein grünes Tuch eingeschlagen, einen samtenen
Schnürenrock und einige durchstochene grüne Mützen enthielt. Grün mit
schwarz-roten Bändern.

In der niedrigen Truhe saßen sie und klopften gegen den Deckel und
wollten heraus, wenn der Feuerschein aus der offenen Ofentür daran
vorbeitanzte.

Weißt du noch? rief es aus allen Ecken, nicht nur aus dem
Großvaterstuhl, der so viel erlebt hatte.

O ja, der Rektor wußte noch.

Wann die Geister lebendig wurden, fing er an, zu erzählen.

Es war ein langes Leben, das hinter ihm lag, und er war sein lebenlang
jung geblieben. Darum konnte er es nun gut mit der Jugend teilen. Und
es kam, daß sie, als die Frau Rektorin in der Küche war, zu dreien vor
der Ofentür saßen und das große Studentenbild vor sich hatten und beim
flackernden Licht beredeten, was aus dem und jenem geworden sei, der
darauf abgebildet war.

Da stand er selber, mit einem jungen, feurigen Gesicht, das Band über
der Brust, und hatte den Arm um einen baumstarken, stämmigen Menschen
gelegt, der gradaus vor sich sah, als ob er zu ernster Tat schreite.
»Großvater, was ist aus dem geworden?«

Der machte ein ernstes Gesicht.

»War ein Mensch, wie ein Eichbaum. Ernst und grad und fest. Innen und
außen war er wie ein Eichbaum.

Der Blitz hat ihn erschlagen.«

»Großvater, der Blitz?«

»Nein, nicht gerade der Blitz. Er wurde vom Schlag getroffen, als er
gerade eine Braut und ein Amt gewonnen hatte. Aber es war doch, als
ob der Blitz in einen Baumriesen gefahren wäre und ihn zerschmettert
hätte. Er war mein liebster Freund.«

Da sahen sie mit großen, erstaunten Augen auf ihn.

Das war wohl schon lange her? Er konnte hier sitzen und davon reden,
und der andere war schon lange tot.

Von den dreien erzählte er, die oben in der Mitte des Bildes standen
und die Hände ineinandergelegt hatten, wie zu einem Schwur.

»Das waren die Vaterlandsfreunde«, sagte er. »So nannten sie sich,
obwohl wir das vielleicht alle waren. Sie hofften, daß Deutschland
einig werde, und dichteten Lieder drauf, und einer von ihnen, der hier,
mit der Locke in der Stirn, fand Melodien dazu.«

Einer hat es auch erlebt. Der kam von Amerika herüber, als wir Alten
uns nach dem Friedensschluß anno einundsiebzig mit den Jungen der
Verbindung zusammentaten, um den Frieden und das Vaterland zu feiern.
Ich sehe ihn noch. Er hatte damals schon schneeweißes Haar, denn das
Leben hatte ihn hart mitgenommen. Aber seine Augen blitzten, und er saß
und sang mit einer mächtigen Baßstimme, und die Tränen liefen ihm in
den Bart und tropften ihm ins Glas: »Wie mir deine Freuden winken, nach
der Knechtschaft, nach dem Streit! Vaterland, ich muß versinken hier in
deiner Herrlichkeit!«

Da waren sie hingerissen und wünschten, auch so Herrliches zu erleben
und fragten nach den beiden andern.

»Dem zweiten hat er einen Eichenzweig mit nach Kansas genommen, den
wollte er ihm aufs Grab legen, da er seinen Jugendtraum nicht mehr
hatte zur Wahrheit werden sehen.«

»Und der Dritte?«

»Ist unter die Philister gegangen.«

»Unter die Philister? Nein, Großvater, nun red' im Ernst.«

»Weißt nicht, was Philister sind? Denen alles einerlei ist, was man
nicht essen und trinken kann, und was sonst noch so ihr bißchen Ich
betrifft. Auch gehen sie immer der Nase nach in gewiesenen Bahnen und
halten es verboten, die Augen aufzumachen.«

»Ach, das gibt's ja nicht. Sag' lieber noch, was mit dem hier ist,
unten in der Ecke, dem mit dem lachenden Gesicht. Das ist der Nettste
von allen.«

Ich weiß nicht, ob es für richtig gefunden wird, daß der Rektor den
beiden erzählte, wie dieser, »der Nettste von allen,« geendet habe.
Ich sage nur, wie es war. Vielleicht war er kein so richtiger Pädagog,
vielleicht ließ er die Kinder nur so mit sich leben und zeigte ihnen
das Bilderbuch seines Lebens mit den fröhlichen und mit den ernsten
Seiten, wie es sich beim Umblättern traf. Weil er selber auch ein
kindlicher Mensch war, dachte er nicht so viel daran: dies hier ist nun
für Kinder, -- und dies für Erwachsene.

»Es war keiner so sonnig wie er,« sagte er und nickte ernst.

»Man mußte ihn lieb haben in seinen jungen und schönen Tagen.

Das mußte man. Er war seines Vaters einziger Sohn. Er hatte Geld und
Gaben des Geistes, und Schönheit und Witz. Und er meinte, es gehe
durchs ganze Leben mit Kling und Klang, alle Tage und Jahre.

Er hieß Ernst. Aber der Name war alles, was er vom Ernst besaß.

»Wir wollen es mit der Freude halten,« sagte er.

Das habe ich hernachmals für richtig gefunden und halte es noch für
richtig. Ich weiß nicht, wie einer das Leben bestehen kann ohne Freude.
Aber er wußte nicht so recht, was Freude sei. Er meinte, die brausende
Jugendlust, das sei sie schon.

Ich sag' euch, man muß Ernst dahintersetzen, es geht nicht anders.

Er glaubte das nicht nötig zu haben. Wenn er einmal wollte, dann flog
ihm das Wissen nur so zu. Aber er verbummelte. Er ballte nie die Hand
zur Faust und sagte: leicht oder schwer, #das will# ich. Er dachte wohl
immer: später dann, das kommt noch alles. Man sagt, er habe zuletzt,
als er viele Semester durchkneipt hatte, noch einen Anlauf genommen.
Das war damals, als sein Vater starb und nichts vom Vermögen übrig
blieb.

Aber nun konnte er nicht mehr wollen.

Das Wollen, das kann einer in sich töten, so nach und nach.

Er hatte das Glas ausgetrunken und nun warf er es weg.

Er konnte nicht mehr leben als er sah, daß es leer sei. Und er wußte
keinen, der es ihm neu hätte füllen können.«

Sie sahen fragend zu ihm auf.

Er strich sich über die Stirn.

»Ja, und dann ging er aus dem Leben. Dieser hier, der 'Nettste von
allen'. Er ertrank im Neckar. Das konnte er noch wollen, sonst nichts
mehr.«

Die Kinder atmeten tief auf und sahen scheu auf das Bild. Nun streifte
der bittere Lebensernst ihre jungen Seelen.

Wenn das #so# war.

Der Großvater stand auf und hängte das Bild wieder an seinen Platz. Sie
waren eine Weile stumm und drängten sich nah zusammen.

»Großvater,« sagte Gertrud, »lebst nur du noch allein von allen?«

Da hörte er, daß eine leise Angst in ihrer Stimme lag.

Und er wußte, daß es #das# war:

Oben an der Höhe, die gleich hinter dem Städtchen ansteigt, und die
ein kleiner Laubwald krönt, da war, einige hundert Schritte von der
breiten Straße entfernt, eine junge Eichenpflanzung. Er ging dort gern
hin. Er setzte sich manchmal im Sommer auf einen der Stümpfe, die dort
als Reste von früheren Bäumen zwischen den jungen, schwanken Stämmchen
standen, und hörte zu, wie es in den Wipfeln leise rauschte und sah,
wie die Sommerluft in der Sonne zitterte.

Und er gedachte aller der alten Bäume, die hier vor Zeiten gestanden
hatten, und was aus ihnen geworden sei, und sah liebend auf die jungen,
die noch so schwank waren und im ersten Saft standen. Und es war ihm
tröstlich in der Seele der jungen Bäume, daß dort drüben über dem
Weg noch ein alter, knorriger Eichbaum stand. Nicht eben einer der
schönsten, aber doch einer der alten.

Denn er umfaßte liebenden Gemütes alles, was geschaffen war.

So verstand er nun das leichte Zittern in seines Kindes Stimme: wo sind
die andern? Und bleibst #du#? Du bleibst doch?

»Allein?« sagte er. »Nein, wir sind noch zu vieren.«

Und er streichelte ihr Gesicht. »Noch stehst du nicht in der ersten
Reihe,« dachte er. »Wie lang noch? Aber ich will nicht darum sorgen. Es
ist nichts zu fürchten. Die ganze Welt ist Gottes Haus. Du kommst ihm
nicht aus den Händen.« Da richtete er sich stramm auf und holte neue,
frohe und starke Bilder aus seinem Bilderbuch, und wie er erzählte,
dehnte sich ihnen, ihm selbst und den Kindern, die Welt, und wurde
vorwärts und rückwärts und zu beiden Seiten groß und weit und war voll
lebendigen Lebens.

       *       *       *       *       *

So war es, wann die Kinder zur Dämmerstunde dort waren.

Das ging mit ihnen, das haben sie sich später hervorgeholt, wenn sie es
je eine Zeitlang vergaßen.

Sie wußten nicht, daß sie in jenen Stunden zu einem guten Teil fürs
Leben erzogen worden seien.

Erzogen? Es war die gemütlichste Stunde des Tages gewesen. So schön
konnte es sonst nirgends sein.

Manchmal lustig, und manchmal still -- froh, und manchmal ernsthaft,
sehr ernsthaft, und manchmal ein bißchen schaurig.

Aber immer schön.

Aber nun war die Frau Rektorin allein bei ihrem Mann.

Sie hatte Gertrud zur Nähterin ins Eßzimmer gesetzt.

»Da, nun säumst du das Taschentuch. Immer zwei Fäden auf die Nadel, und
zwei liegen lassen. Nein, kein Buch daneben legen. Du siehst sonst doch
hinein. Was soll aus dir werden, wenn du nicht einmal ordentlich nähen
kannst?«

Georg war zu Hause, er hatte Aufgaben zu machen. Er mußte sich rühren,
er mußte gleichfalls allmählich »Ernst dahintersetzen«.

»Mann,« sagte die Frau Rektorin, »lieber Mann, nun muß ich mit dir über
Gertrud reden.«

»Das tun wir hie und da,« sagte der liebe Mann und lächelte. Er wußte
wohl, was nun käme? Er sah so aus.

Er öffnete die untere Ofentür. Es war erst allmählich dunkel geworden
und es gehörte nun zu seinem Behagen, daß der Feuerschein in die Stube
fiel.

Da sah sie sein lächelndes Gesicht.

»Mann,« sagte sie, »es ist mir nicht zum Lachen.

Das wird nun allmählich Ernst.

Du läßt sie bei dir sitzen und Latein lernen, und lehrst sie alles
Mögliche mit dem Jungen, dem Georg, zusammen. Du hast dein Vergnügen
dran, ich weiß es.«

Das hatte er, das mußte er zugeben, es war nicht zu leugnen.

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sah nicht besonders schuldbewußt
aus.

»Sie nimmt einem das Wort vom Munde weg,« sagte er.

»Wenn sie eine Weile nachdenklich und ernsthaft ausgesehen hat, dann
blitzt es in ihren Augen. Dann hat sie mich verstanden. Es ist eine
Freude, das zu sehen, und eine Freude, sie zu lehren.«

Aber dahin wollte die Frau Rektorin den Wagen nicht lenken.

»Was?« sagte sie. »Erzählst den beiden von den alten Griechen und
Römern und von den Sagengeschichten. Ja, ich hab' neulich zugehört; das
von den Argonauten und vom goldenen Vließ. Und von Odysseus, dem ganz
und gar durchtriebenen Lügner. Als ob du selber dabei gewesen wärst.
Ist's nicht genug, was sie in der Schule haben? Du gibst es ihnen wie
ein Stück Leben.«

»Das hat dir auch gefallen, Anne.«

»Davon red' ich nicht. Aber was soll das für ein Mädchen werden?

Frägt sie etwas nach hübschen Handarbeiten? Ist es ihr nicht einerlei,
was für ein Kleid sie anhat? Ist das weiblich?«

Nun mußte er sie ausreden lassen, das wußte er.

»Setz' dich, Anne,« sagte er. »Komm, hier in deinen alten Freund, den
Sorgenstuhl.«

»So, nun leer dein Herz aus.«

Es brachte sie aus dem Konzept, wenn er solchergestalt Edelmut übte.
Sie mußte ihn dann immer ansehen. Ob er sich nun lustig macht? Die
kleinen Fältchen um Mund und Augen zuckten wie von einer inneren
Erheiterung. Und die Frau Rektorin wollte ernst genommen sein.

»Weißt du was?« sagte sie.

»Gestern, als der starke Wind ging, der die Läden herumwarf und die
Straßenlaternen fast auslöschte, da steht sie in der Küche bei Marie,
die ohnehin ein Hasenfuß ist.

'Hörst du?' sagte sie, 'nun ist das Wuotesheer in der Luft. Hörst du,
wie sie johlen und in die Hörner stoßen, und wie die Hunde bellen?'

Da fängt die Marie an zu stöhnen: Uh, ich fürcht' mich. Uh, ich geh'
nicht mehr an den Brunnen um Wasser. Meinetwegen hol' Wasser, wer will,
ich nicht. Dazu hab' ich mich nicht verdingt, daß ich dem wilden Jäger
in die Hände laufe. Und Gertrud nimmt den Eimer und geht selbst und
kommt wieder mit einem Gesicht, als ob ein Fest sei: 'prachtvoll ist
das. Ich geh' nochmals.'

Jetzt frag' ich dich: ist das ein Bub' oder ein Mädchen? Gehört so ein
Kind in die Lateinschule unter lauter Buben hinein?«

Der Herr Rektor ließ die Frage vorläufig offen.

Vielleicht dachte er, es komme noch mehr dazu.

Da hatte er nicht so unrecht.

»Ja, Mann, das Latein. Du lachst, ich weiß es. Aber es drückt mir das
Herz ab. Ich muß es nun einmal sagen.

Da war bei uns zu Haus, in meiner Heimat, eine Frau. Sie hatte ja wohl
früher einen Mann gehabt, aber der war nun lange tot. Die konnte auch
Latein, jedermann wußte das. Sie kannte alle die heidnischen, alten
Schriftsteller, wie unsereins sein Kochbuch. Kurzes, schwarzes Haar
hatte sie, und so etwas wie einen Schnurrbartanflug. Und sie war der
Schrecken aller guten Leute, aller netten, geordneten.

Einmal, da ging ich mit meiner Freundin, (du hast sie nicht mehr
gekannt, sie hat vor mir geheiratet, nach Österreich hinein --) ja,
also da ging ich mit ihr vor Tau und Tag hinaus. Wir wollten uns
im Maientau waschen. Das taten wir alle Jahr einmal. Da steigt das
lateinische Frauenzimmer in hohen Männerstiefeln und kurzen Röcken
einher und watet durch Sümpfe und Gräben, und hat eine Blechkanne mit
einem Henkel am Arm, darin sie das scheußlichste Gewürm sammelt.

Und grüßt uns noch freundlich, und hält mit der Hand, ja, mit der
bloßen Hand, Mann, eine gelb und braun gestreifte Kröte empor, die
glotzt uns dumm und breit an.«

»Das ist eine besondere Art, die ist hier herum selten,« sagte sie.

»Und,« schloß die Frau Rektorin ihre Geschichte, »jetzt frag' ich dich,
was hat das Kind, die Gertrud, das unser letztes ist« -- hier brach ihr
die Stimme, -- »was hat das mit Reiterstiefeln und Krötenfang zu tun?«

Denn sie wußte nun seit jenem Maimorgen eine Frau, die Latein konnte,
nicht von diesem ihrem Schreckbild zu trennen.

»So lache doch nicht, Mann. Wirst du aufhören?«

Aber das war leicht zu sagen.

Sie lachte schließlich wider Willen mit, nur weil diesem Lachen niemand
widerstehen konnte.

Aber dann trocknete sie sich ihr gutes, rundes Gesicht und sagte, daß
ihr die Sache bitterlich ernst sei.

Da unterbrach er seine Wanderung und setzte sich zu ihr auf die
Seitenlehne des Stuhls und war sehr ernsthaft und sagte:

»Nun fährst du wieder vierspännig, Anne. Auf und davon.

Also weil die Gertrud ein Mädchen ist, soll sie nicht lernen, was ihr
Freude macht? Und weil du einmal eine sonderbare Frau gekannt hast, die
gleichfalls lernbegierig war, darum gerätst du nun in Angst, daß unser
Kind ebenso sonderbar werde?

Ich will dir sagen, Anne: Die Welt ist so groß und mannigfaltig.

Es wachsen allerlei Bäume darin. Laß wachsen, was wachsen will.

Wir können nicht sagen: es muß so sein und nicht anders.

Wir können nur helfen, daß da keine Unnatur mit unterläuft; nichts
Unwahres und nichts Geziertes. Nicht, Anne?

Alle guten Geister, Anne.«

Wenn er das sagte, war sie stets besiegt. Sie war eine von denen, bei
denen man die guten Geister nur anzurufen braucht, wenn sie einmal
nicht von selber am Platz sind.

So leise und leicht schlafen sie.

Nun saßen sie beisammen und beredeten sich wie ein paar gute Kameraden,
die sie ja auch waren, und die guten Geister der Stube spitzten die
Ohren und horchten, und das Feuer knisterte leise vor sich hin und ließ
seinen friedlichen Schein an der Decke und an den Wänden und auf dem
Teppich spielen.

»Siehst du,« sagte der Mann, »ich weiß wohl, das gerät so ein bißchen
ungewöhnlich, wenn ein paar ganz alte Leute so ein junges Kindlein
ins Haus bekommen. Da fehlt ein Mittelglied. Wir wissen nicht mehr so
genau, wie das ist mit der sogenannten Erziehung.

Wir leben so mit dem Kind und geben ihm, was wir haben.

Du das deine und ich das meine. Ich meine, wir sind alle zusammen
Kinder, und der liebe Gott hat aufzupassen, daß etwas Rechtes daraus
wird und daß wir so gerad als möglich heimzu gehen.

Nicht, Anne? Das andere, das ist nicht so wichtig.

Ist das Kind nicht warmherzig und liebreich und offen?

Ein bißchen derb? Und nicht so recht aufs Zierliche, Ordentliche,
Mädchenhafte aus?

Ist das schlimm? Du bringst das nicht an sie hin?

Nun, dann wollen wir dem Leben auch noch etwas zu tun lassen, nicht?«

Da nickte sie getröstet.

Es war eine wunderbare Stube, es glättete sich alles darin, was hohe
Wellen der Unruhe schlagen wollte, und kam in ein friedliches Gleiten.




                    Zwölftes Kapitel


So dämmerhaft traulich ging es im Ehrenspergerhaus nicht zu, wenn es
etwas zu verhandeln oder zu entscheiden galt. Aber das begehrten die
Bewohner auch nicht. Sie hätten sich auch nicht so besonders dafür
geeignet. Ein jeder nach seiner Art.

Bei Franzens Berufswahl bedurfte es überhaupt keiner Beratung. So
wenig als sich, mit allem schuldigen Respekt zu sagen, ein Kronprinz
besinnt, ob er einmal König werden will, so wenig besann sich Franz, ob
er der Erbe der goldenen Bretzel werden wolle. Das war ganz natürlich
und selbstverständlich. Bei Georg ging es nicht so fraglos zu, das
wissen wir von Anfang an. Und also kam der Tag heran, von dem wir jetzt
erzählen.

Es ging gegen den Frühling zu und war so ungefähr sechs Wochen vor
Ostern, sieben Wochen vor der Konfirmation, Georgs Konfirmation nämlich.

Ja, und zur Nachmittagsvesperstunde war es, so zwischen vier und fünf
Uhr.

Vater Ehrensperger saß an dem einen Ende des Vespertischs und der
Sohn Franz am andern. Und sie aßen und tranken als gute, friedliche
Bürger, die das ihre tun und sich nicht gern unnötige Gedanken machen.
Das letztere taten sie denn auch nicht. Über dem Älteren hingen immer
noch die beiden Edelleute und machten dieselben Gesichter wie von
jeher; über dem Jungen prangte in goldenem Rahmen der Meisterbrief des
letztverflossenen Ehrensperger, der, wie bereits gesagt ist, ebenfalls
ein Franz gewesen war. Anmutig kreuzten sich zwei schneeweiße
Gänseflügel über dem goldenen Rahmen, es sah friedlich aus, wie Franz
der Jüngere unter ihnen sein Brot aß.

Jungfer Liese ging ab und zu nach dem Laden, und wieder herein,
und hatte gleichfalls eine Seite des Tisches inne, und setzte sich
respektvoll immer nur halben Leibes auf den Stuhl. Und so oft sie die
Tür nach dem Laden auf und zu machte, drang ein nahrhafter Duft von
Brot und Wecken herein, und also war die Luft, wenn man so sagen soll,
ganz in der richtigen Mischung für Haus und Leute.

Es war alles gut, herkömmlich und behaglich.

Aber das blieb nicht so.

Denn der lange, magere Bub, der jetzt mit seinem Bücherpack unter dem
Arm, mit langen Schritten und hungrigem Gesicht durch die Ladentür
herein kam, der dieselbe offen ließ, daß die Schelle bimmelte, bimmelte
in einem hohen, dünnen, schrillen Ton, bis Jungfer Liese ging und sie
schloß und dazu einiges vor sich hinsagte, was kein Mensch verstand,
-- und der »heut wieder so ungemein der verstorbenen Frau gleichsah,«
wie Jungfer Liese vorwurfsvoll bei sich selbst dachte, der war so gar
nicht herkömmlich, daß er geradezu die Luft verdarb, die behagliche,
nahrhafte Luft dieser Vesperstunde.

Es ist damit nicht gesagt, daß dieser, der jüngste Sohn des Hauses
Ehrensperger, kein volles Heimatrecht in der Stube seiner Väter
genossen hätte. Es war kein einziges streitsüchtiges oder mißgünstiges
oder sonst ungerechtes Element in dieser Stube. Er war nur niemand da,
der mit den Augen des Rektors Cabisius, oder mit den Augen einer Mutter
zugesehen hätte, was da werden wolle.

Und es war jetzt gerade ein unbehaglicher Zeitpunkt. Es mußte ein
Entschluß gefaßt werden, und, ohne dem Meister Ehrensperger irgendwie
zu nahe zu treten, muß doch von ihm bekannt werden, daß es nicht zu
seinen Liebhabereien gehörte, Entschlüsse zu fassen.

Er hielt es für einen Vorzug, wenn die Dinge von selber ihres Weges
gingen. Jetzt dies, jetzt das, immer eins aus dem andern.

Es war ihm etwas unbehaglich zu Mute. Er kaute stumm und schwer, und
auch Georg fing an, desgleichen zu tun. Aber er sah seinem Vater dabei
fragend in die Augen. Das pflegte er seit einiger Zeit öfters zu tun,
nicht ohne Grund. Denn der Vater sollte einmal zu dem Rektor gehen und
mit ihm besprechen, »wie die Geschichte nun weiter laufe.«

»Gehst du heut?« sagte der fragende Blick.

Nun wird vielleicht mancher verstehen, daß es störend ist, während des
Essens mit fragenden Augen angesehen zu werden.

Das ging dem Vater Ehrensperger nicht anders.

Er wurde nicht leicht hitzig. Es lag nicht in seiner Natur, hitzig zu
werden. Aber dies ging ihm gegen den Strich.

»Bub,« sagte er, und stellte das leere Mostglas auf den Tisch, daß es
dröhnte, »Bub, guck nicht so.«

Aber damit war nichts erreicht, das fühlte der Vater selbst.

Und es wuchs ihm der Mut, den sauren Apfel, den er nun schon lang in
den Händen hin und her drehte, -- nicht anzubeißen.

»Du,« sagte er, als der Junge vor sich hinsah wie einer, mit dem das
Schicksal hart verfährt, der aber gesonnen ist, sich nicht allzuviel
draus zu machen, »du, ich hab' mir das überlegt. Ich brauch' da nicht
hinzugehen, ich versteh' #so# nichts vom Studieren.

Ich, ich hab' seither gezahlt, was es kostet, und, ja, und ich zahl's
auch nachher noch. Das ist die Hauptsach'. Gar so viel wird's nicht
mehr kosten, was meinst?«

Das wußte Georg nicht so genau und sagte das auch, obgleich Jungfer
Liese lebhaft mit dem Kopf nickte in der Hoffnung, daß »es« nicht mehr
allzuviel koste.

»Ja, also, und jetzt sag's, es kommt auf dich an. Was willst jetzt
werden? Lateinisch kannst und also studiert muß sein, aber ich sag' da
nichts drüber. Denn warum? Einen Lernkopf hast du, und was es kostet,
zahl' ich. Wiewohl, es ist eine Hungerleiderei nachher. Das sieht man
am Vetter Häberle.«

Der Vetter Häberle war Präzeptor in einer größeren Stadt, und hatte
sechs Kinder und eine leidende Frau, und die ganze Familie sah etwas
blutarm aus und war dem Meister Ehrensperger eine Warnungstafel vor
»der hungerleidigen Schulmeisterei«.

»Ich werd' kein Hungerleider, ich werd' Pfarrer,« sagte Georg etwas
patzig. Es ward ihm doch ein bißchen unsicher, daß er das so für sich
entscheiden sollte.

»Was?« sagte der Vater, »Pfarrer? Jetzt wird's Tag. Wie kommst du denn
grad auf einen Pfarrer?«

Und alle drei hörten zu essen auf und legten die Arme auf den Tisch,
um recht fest zusehen und zuhören zu können, was nun käme. Nicht, daß
sie etwas dagegen gehabt hätten, gegen das Pfarrerwerden nämlich.
Aber es war ihnen so ein erstaunlicher Gedanke, daß dieser hier, der
jüngste, an dem Jungfer Liese mehr als genug zu meistern hatte, daß der
einst in einem langen, schwarzen Rock hier herumgehen und ihnen allen
gelegentlich den Leviten lesen würde. Und daß er dereinst das schöne,
vornehme Stadtpfarrhaus mit den Rolläden bewohnen und da heraustreten
und von jedermann gegrüßt werden würde. An die Kanzel, da durften sie
schon gar nicht denken. Da stand er und hatte einen Kirchenrock an und
Bäffchen und sagte: in dem Herrn Geliebte!

Das alles schoß den dreien so geschwind durch die Gedanken, da konnten
sie schon auf ihn hin staunen.

Georg hatte schon eine Vorgeschichte für seinen Ausspruch; aber als
er das Wort gesprochen hatte, staunte er selber mit den andern. Jetzt
hatte er es gesagt, jetzt mußte er das auch werden. Da klopfte ihm doch
sein Bubenherz.

So war es zugegangen:

Er hatte durch einige Jahre hindurch nicht viel Kameradschaft mit
seinen Altersgenossen gehabt. Denn er war ein Einspänner von Natur und
schloß sich nicht leicht auf. Auch hatte er, trotz seiner mutterlosen
Kindheit, reichlich gehabt, was er fürs Gemüt brauchte; wir wissen es.

Aber nun hatte es ihm einen starken Ruck gegeben. Denn nun fingen
sie alle an, sich zu zerstreuen und ein jeder in eine gewiesene Bahn
einzutreten. Alle wußten sie irgendwie, wo hinaus. Es schwirrte
in jeder Freistunde von Zukunftsplänen. Und das war für Georg
Ehrensperger, der ein Träumer war, ein kräftiger Anstoß dazu, daß er
sich fest auf die Füße stellte und die Augen rieb, und, da er all
das junge Blut um sich her als etwas nah Verwandtes erkannte, es
ihnen gleich tun wollte. Und da er erschrocken war, wie einer, der
zu lang geschlafen hat und es nicht Wort haben will und rasch nach
einer Arbeit greift, um es zu verbergen, so griff er schnell ins
Leben hinein: her mit einer Aufgabe! ich will hier auch mittun. Ganz
ernsthaft will ich hier mittun.

Konnte er den Kameraden, wenn sie ihn fragten: was willst du werden,
Ehrensperger? -- konnte er ihnen sagen, was er sich nächtlicher Weile
unter der Bettdecke ausgedacht, oder was er mit Hollermann ausgemacht
hatte? Das alles hatte ja weder Hand noch Fuß für ihn. Traumland war
es. Kein einziger von allen wollte Musiker werden, es fiel keinem ein.
Das konnte man wohl gar nicht.

Also gab er sich einen gewaltigen Ruck und legte die klingenden
Zukunftsträume auf den Altar der Vernunft, und gedachte auch ganz
ernsthaft, sie dort zu lassen, und machte zu dieser Verrichtung des
Opfers ein Gesicht, streng und pflichtbewußt, wie ein spartanischer
Knabe, der seine schwarze Suppe ohne Mucken aß, weil das Vaterland es
wollte.

Es war aber bezeichnend für diese Zeit, daß er nicht den Rektor um Rat
fragte, sondern sich mit den Schulbuben beriet, die seinesgleichen
wenigstens dem Alter nach waren.

Und weil Fritz Hornstein, der Sohn des Oberförsters von Aichelbronn,
Pfarrer werden wollte, ganz aus eigenem Antrieb, und weil Fritz
Hornstein der feinste, klügste unter den Buben war, Georgs heimliches
Ideal, und weil er sagte, Pfarrer zu werden dürfe einen niemand
anweisen, das müsse man ganz selbst, von innen heraus, (-- so sagte er
wirklich --) so wurde es Georg auf einmal ganz klar, daß er ebenfalls
ganz aus eigenem Antrieb Pfarrer werden wolle, und daß es ihn niemand
anweisen dürfe, sondern daß er es deutlich in sich selber spüre, daß er
das werden müsse.

Es war ihm zwar ein Trost, zu denken, daß man als Pfarrer immer den
Kirchenschlüssel habe und darum an jedem Werktag ohne Zeugen in
der leeren Kirche die Orgel spielen könne. Denn das tat der sehr
musikliebende Stadtpfarrer öfters und das gedachte er dann auch zu tun.

Das hatte er sich nun deutlich ausgesonnen und so konnte er seine
Antwort ohne Zögern geben. Daß er vor der Größe des Augenblicks
erschrak, war nur natürlich.

»Ja, also, Bub,« sagte endlich der Vater in die entstandene Pause
hinein, »jetzt könntest einem einmal eine Antwort geben, wieso du grad
Pfarrer werden willst.«

»Ha, was soll ich denn sonst? Ich muß doch etwas werden. Präzeptor
werd' ich nicht. Was soll ich dann?«

Da wußten sie alle drei keine Antwort.

Ja, dann konnte er ja freilich ebensogut Pfarrer werden, wie etwas
anderes. Sie fühlten wohl alle etwas von der Wichtigkeit des
Entschlusses, und daß es ihnen frei stand, ob sie einen Doktor
oder einen Amtmann, oder sonst etwas Bedeutendes unter ihrem Dach
hervorgehen lassen wollten.

»Ja, Bub, dann kann man ja nichts machen, wenn du das partout willst.
Dann werd' das eben. Dann ist das ja in der Ordnung. Dann kannst du ja
nachher hingehen und sagen, daß du das werden willst und daß ich das
zahle.«

Nun hatte er noch das Gefühl, daß er irgend eine väterliche Ermahnung
hinzufügen müsse und fuhr sich ein paarmal durch das Haar und sagte:
»Aber das sag' ich dir, Bub: sparsam mußt du sein und fleißig. Und
eine Klag' will ich nicht hören. Und brav sein. Zu dummen Streichen
geb' ich kein Geld her. Und einzubilden brauchst dir auch nichts. Wir
sind auch noch Leut hier, nicht bloß ihr.«

Er rechnete ihn wohl schon zu den Angestellten? Zu den hoch Gebildeten?
Die beiden andern kopfnickten lebhafte Zustimmung. Nein, einzubilden
brauchte er sich nichts.

Dann stand der Vater auf und zog seinen Ausgangsrock an. Er hatte noch
mit dem Müller Hensler zu reden.

»Siehst du,« sagte Jungfer Liese erbaut und gerührt. »Siehst du, da
geht er hin über den Markt. Und einen besseren Vater kriegst du deiner
Lebtag nicht mehr.«

       *       *       *       *       *

Also hatte der Bäcker Ehrensperger seine väterlichen Funktionen auf
sich genommen, und es blieben dem Rektor Cabisius auch noch einige
übrig, und er kam niemanden damit ins Gehege, daß er sie ausübte. Es
war eine friedliche Teilung. Es gab jeder, was er zu geben hatte, und
keiner gab, was er nicht hatte.

Einiges, was der Rektor zu tun hatte, war bewußt und sozusagen
offiziell. Das hing mit dem Studienplan zusammen, mit allerlei
Ratschlägen, die sonst niemand zu geben wußte.

Einiges andere geschah nebenher und war selbstverständlich und nicht
minder wichtig. Das war das, was aus dem alten, abgeklärteren Gemüt in
das junge hinüberfloß. Bei dem Besten, das geschieht, pflegt man es am
wenigsten zu wissen, daß etwas geschieht.

       *       *       *       *       *

Es war bald nach jener Unterredung in Ehrenspergers Ladenstube gewesen.
Am Konfirmationssonntag. Mitte April. Aprilwetter. Der Schnee wirbelte
in der Luft umher, und der Wind blies aus vollen Backen. Er nahm es
ganz ernst; er meinte wunder was er zu verrichten habe. Aber gleich
war die Sonne wieder da. Sie war in guter Laune; so recht wie eine
fröhliche Kindermutter, die am Sonntag Nachmittag ein bißchen mit
den Kindern spielt, und die sich nun den Spaß gemacht hat, sich zum
Versteckspiel herzugeben.

»Kinder,« sagte sie lachend, und schob die Wolkenvorhänge weit zurück
und trat ganz hervor, daß alle sie sehen konnten, »Kinder, das war ja
nicht ernst gemeint. Seid ihr erschrocken? Nun bin ich wieder da. Ihr
müßt auch Spaß verstehen.«

Denn die hellbegrünten Hecken und einige voreilige Blütenbäume, die
schon in weiß und rosa prangten, standen ganz verdutzt. Es war ihnen
Schnee in die Augen geflogen. Nun rieben sie die aus und konnten es
nicht hindern, daß große Tropfen, wie helle Kindertränen, herausquollen
und zur Erde fielen.

»So, so,« sagte die Sonne und streichelte sie warm und trocknete ihnen
die Gesichter. Da lachten sie wieder. Da lachte alles mit ringsumher.
Die braune Erde und die junge, aufsprossende Saat, und die lichtgrünen
Raine, an denen die Gänseblümchen mit großen Augen in den Tag hinein
guckten.

Und der blaue Himmel, und die weißen, geballten Wolken, die wie
Schneeberge aussahen. Die erst recht, da sie geholfen hatten, den Spuck
zu verüben.

»So, nun ist das recht,« sagte die Sonne, denn sie mag gern freundliche
Gesichter leiden. Und ihr mütterliches Gesicht war ganz rund und
glänzend vor Freude.

Da kamen die drei den schmalen Feldweg entlang, der auf einer Seite
die Hecke hat und an der andern hart an die Kornäcker stößt. Der
Rektor Cabisius und die beiden Kinder Georg und Gertrud. Die Kinder
gingen voran und gingen eine Weile Hand in Hand. Aber das nicht lange.
Der aufgeschossene Junge in schwarzen Konfirmationskleidern, der den
Kopf mit dem neuen Hut so steif hielt, als wäre er einzig des Hutes
wegen da, der war heut nicht so eigentlich ein Genosse. Der war etwas
Besonderes, eine eigene Sorte von Menschen, um und um feierlich.
Nach einer Weile machte er seine Hand los und ging aufrecht einher,
und das Mädchen bückte sich und brach einige Gänseblümchen und blaue
Ehrenpreis. Der Rektor hatte den Hut abgenommen und ließ die starke,
lebensvolle Frühlingsluft über seinen grauen Kopf hinspielen. Seine
Augen gingen auf eigene Faust spazieren, in die Nähe und in die Weite.
Da wurde seine Seele voll von dem frischen Bilde, das durch die hellen
Fenster zu ihr hineinschien und sie freute sich dessen und mußte es
auch aussprechen.

      »Es war ein wunderlicher Krieg
      Da Tod und Leben rungen,
      Das Leben behielt den Sieg
      Und hat den Tod bezwungen.«

Das sagte er leise und zustimmend vor sich hin.

Er hatte das Scharmützel vorhin ernst genommen, das Schneien und
Stürmen, und daß nun die Sonne schien.

Aber wir wissen schon, daß er zu denen gehörte, die im Heiteren den
Ernst und im Ernst das Frohe finden.

Da, als die drei ein wenig schweigsam dahingingen, ein jedes in seinen
Gedanken, hörten sie einen frischen Gesang über die Felder hinschallen,
der kam näher und näher.

Die sangen, waren junge Burschen und Mädchen aus dem Weiler
Hinkelsbach, die nach ihrer Gewohnheit am Sonntag Nachmittag ein Stück
weit in die Felder hinausgingen. Sie gingen zu dreien oder vieren, wie
es der Weg erlaubte, und hielten einander lose an den Händen gefaßt,
und ihr Lied klang gut zusammen aus frischen Kehlen. Es war eins von
den ernsten, traurig-schönen Liedern, die das Volk gerne singt, wenn
es fröhlich ist, und handelte von jungem Leben, das in Kampf und Tod
geht, von der Schönheit und Kraft, die schnell entschwindet, von der
Lust, die ein Ende findet, eh' man's denkt, und davon, daß der Mensch
sich »still fügen muß, wie Gott es will.« Die drei blieben stehen und
horchten. Da bogen die Sänger ab, gegen den Waldrand hin, und der
Schluß ihres Liedes tönte nur noch so verloren herüber.

      »-- -- -- und so will ich wacker streiten,
      Und soll ich den Tod erleiden
      Stirbt ein braver Reitersmann.«

Der Rektor nickte mit dem Kopf und sah eine Weile über das Feld hin,
als sähe er den Tönen nach.

»Das ist ein schönes Lied,« sagte er. »Und ein frommes Lied. Man muß es
recht verstehen. Ja, nun seht ihr mich an und wißt es noch nicht. Das
kommt noch, später.«

Der Rektor hatte einst in seiner Jugend Theologie studiert. Aber kurz
bevor er ins Pfarramt treten sollte, hatte er sich entschlossen,
lieber ein Schulmeister zu werden. Denn erstens hatte er sich stark
im Verdacht, daß er bei seiner Neigung, innerliche Wahrheiten auf
eigene Weise und in eigener Sprache ins Leben zu übersetzen, doch nicht
so recht auf die Kanzel passe, und zweitens zog es ihn auch stark
zur Jugend. Das hat er nie bereut. Aber etwas war doch an ihm hängen
geblieben. Er hatte die Neigung, hie und da eine Predigt zu halten. Er
wußte meistens nicht, daß es eine sei, und die ihm zuhörten, wußten
es auch nicht. Auch mischte er leicht geistliches und weltliches
durcheinander. Er hatte keine Schubfächer in seinem Innern: hie Gott,
hie Mensch, hie geistliches, hie weltliches. Es war ihm alles ein Stück
Leben, es floß alles aus einer Quelle, groß, schwer und schön. Schlug
ein äußeres Geschehen eine innere Saite an, dann ließ er sie klingen.
So auch jetzt. Seine Seele war liebender Gedanken voll für die jungen
Menschen, die heute gelobt hatten, mit den empfangenen Waffen für das
Leben, gegen den Tod, zu streiten. Das Lied brachte ihn zum Überfließen.

»Ja,« sagte er, »wacker streiten, das ist's. Das hat Jesus auch getan
und ist gestorben als ein Held. Das sollen wir auch tun.«

Und er erzählte ihnen, innere Gedankenreihen zusammenhängend, zuerst
von der Schlacht bei Sempach, und von Arnold Struthan von Winkelried.
Der war einer seiner Lieblingshelden, obgleich er nicht geschichtlich
erwiesen ist.

Die beiden horchten hoch auf.

Wie der starke und treue und kühne Mann sah, daß seinen Genossen der
Mut entwich, und wie er beschloß, sie zu retten, und die Speere der
Feinde mit den Armen zusammendrückte und sich in die Brust stieß und
rief: Brüder, ich will euch eine Gasse machen, und darüber starb. Und
wie die Seinen durch die Gasse hindurchbrachen, zur Freiheit.

Als er das erzählte, da blitzten seine Augen, als ob ein starkes,
loderndes Feuer dahinter läge.

Und er sagte, daß das Jesus auch getan habe, nicht einigen, nein, allen
zuliebe und in einer viel größeren Sache. Wie er die Menschen aus der
schmählichen Knechtschaft herausführen wollte und sie wieder zu freien,
frohen, adeligen Söhnen Gottes machen, -- und wie er, als kein anderer
Weg dazu war (denn er warf sein Leben nicht leicht weg), beschloß, sein
nicht zu achten um der andern willen. Und ging den Feinden entgegen,
und drückte sich die Speere in die Brust, und starb, und machte der
Freiheit eine Gasse, größer, als ein anderer Held auf Erden je getan
hat. Da sahen die Seinen, daß nichts für sie zu fürchten sei, nicht
das Leben und nicht der Tod, und gingen ihm nach. Und, da sie vorher
zag und ängstlich gewesen waren, bekamen sie nun mutige Herzen und
fröhliche Augen. Das machte, daß sie dem Vater nahe kamen, so nahe, daß
sie ihn mit du anreden konnten. Und sie trugen seine Waffen. Georg,
man hat dir gesagt, welche das sind. Und sie sahen sich um nach denen,
die nach ihnen kamen, die Alten nach den Jungen, die Starken nach den
Schwachen, die Reinen nach den Unreinen, und reichten ihnen die Hand,
und halfen ihnen, vorwärts zu kommen. Wie sie es ihn, der die Gasse
gemacht, hatten tun sehen. Das ist nun bald zwei Jahrtausende her, das
strömt noch immer. Das ist ein langer, langer Zug, unabsehbar lang.
Der wird strömen, so lang Menschen auf der Erde sind. Seht ihr's, dazu
gehören wir auch.«

Da waren sie eine Weile still und sahen über das Feld hin, als ob sie
dort lange, lange, ziehende Menschenheere sähen, von Jahrtausenden
her, bis zu ihnen hin. Die trugen alle blitzende Waffen, und reichten
einander die Hände und gingen gerade aus, dorthin, wo hinter dem
waldigen Berg nun die Sonne niedrig stand und das Land mit einem
goldenen Licht segnete. Und sie winkten ihnen mit Augen und Händen:
kommt. Da ging etwas Großes durch die Kinder hindurch; sie wußten
es aber nicht zu benennen. Es war etwas Gewaltiges, Starkes, das in
ihr Leben griff, zu dem sie selbst gehörten, ernst und froh. Leise
faßten sie die Hände des alten Mannes, und als sie zu ihm aufsahen,
da staunten sie. Der ganze Glanz der Abendsonne, in die er sah, lag
auf seinem Gesicht. Aber nun kehrte er sich wieder zu ihnen, und dann
gingen sie mitsammen nach Hause.

       *       *       *       *       *

Er hatte nicht viel dazu gesagt, als Georg an jenem Tag kam und ihm
seine Berufswahl verkündigte. Er fragte ihn auch nicht viel nach den
Gründen, die er dazu habe. Das konnte ja noch alles werden, wie es
wollte. Ein Wort, ja, am andern Tag, als sie in der Schule Goethes
Iphigenie lasen. Da kam es an Georg Ehrensperger, wie Pylades sagt: ein
jeglicher muß seinen Helden wählen, dem er die Wege zum Olymp hinauf
sich nacharbeitet. --

Da stand plötzlich der Rektor neben ihm und klopfte ihm mit dem Buch
auf die Achsel, sah zu ihm hinein und sagte lächelnd: »Nun, also, du
hast dir den deinigen gewählt, Georg. Ja, man muß sich an einen ganz
Großen halten, die mittleren versagen unterwegs.«

Georg wurde rot. Wußte der Rektor, daß Hornstein --? Ach nein, das
konnte er nicht wissen. Er verstand ihn damals nicht so recht. Es war
gerade jetzt eine Zeit, da die jungen Leute in gute und treue Belehrung
bis über die Ohren eingewickelt waren.

Sie hatten den Katechismus und das Fragenbuch auswendig gelernt und
waren in die christliche Kirchenlehre eingeführt worden. Aber Georg war
manchem davon, wie damals der braven Jungfer Liese, unter den Händen
weggelaufen, wenigstens mit seinen Gedanken.

In seiner Kammer hing der Stundenplan, den las er morgens ab: Religion,
Latein, Latein, Griechisch, Algebra. Und was das mehr war. Oder auch in
anderer Reihenfolge. Es waren lauter Fächer, auf die man zu arbeiten
hatte. Auf Religion noch am wenigsten, das war gut, weil sich die
Aufgaben manchmal stauten. Einiges auswendig lernen; das war bald
geschehen. Auch war es leider kein besonders anregendes Fach. Das
ging vielleicht manchem andern anders. Ihm ging es nun so, daß es ihn
nur selten persönlich aufstörte: Du, das geht dich selbst an. Es war
kein Stück Leben; für ihn noch nicht. Er war in Gefahr, nicht viel
lebendiges mit sich zu nehmen. Vielleicht war er noch zu jung dazu,
vielleicht auch zu träumerisch.

Darum verstand er damals den Rektor nicht so recht. Aber heute war es
anders.

Nun war da ein Funke hineingeflogen. Wann das #so# war!

Alle die ziehenden Menschenheere, und ein Held voran, auf den sie
sahen, größer als Kolumbus, der Neulandentdecker und Alexander der
Große, und alle Sagenhelden der Vorzeit. Und er sollte da mitgehen.

Es muß ja gestanden werden, daß er noch nicht recht sicher war, gegen
was er alles streiten wollte. Aber streiten wollte er nun sicher,
wacker streiten. Vielleicht waren das nun auch wieder Träume, wer kann
das untersuchen?

Aber es war wohl etwas, daß an diesem Tag sein junges Herz ins Klopfen
kam und eine Größe und Weite spürte, wie noch nie.




                    Dreizehntes Kapitel


Eins -- zwei -- drei -- nun schlug die Uhr auf dem Rathaustürmchen aus.
Vier Uhr des Morgens.

Ein leichter Windstoß bewegte den offenen Fensterflügel und blähte den
dünnen Vorhang ein wenig. Auf dem Dache saß eine Amsel und sang ihr
Morgenlied. Nun hallte die Morgenglocke vom Turm her über das Städtchen
hin. Bam bam -- bam bam -- in großen, feierlichen Schlägen.

Die Tauben gurrten am Schlag. Der war dicht neben Georg Ehrenspergers
Kammer.

Die Kammer hatte er sich nun vor einem Jahr eingerichtet. Es war eine
Rumpelkammer gewesen, ganz voll von altem, verstaubten Geräte, mit
einem holperigen, ausgetretenen Fußboden und schadhaftem Kalkbewurf. Es
gab bessere Räume im Haus.

Aber er hatte ein paar freie Nachmittage im Schweiß seines Angesichts
geschafft, und war am Abend mit Spinnweben im Haar und bestäubten
Kleidern heruntergekommen, stolz wie ein König. Nun hatte er ein ganz
eigenes Reich, das stattete er sich aus, wie er wollte. Bilderbogen
an den Wänden: ein Schlachtenbild, und eine Geschichte von Till
Eulenspiegel, und eine von Reinecke Fuchs. Und die Flöte hing an der
Wand. Ach, es war viel mehr in der Kammer, als man so mit bloßem Aug
sehen konnte. Niemand wußte, wie vielerlei es darin zu sehen gab,
als er allein. Gertrud wußte es auch. Aber sie kam nie hier herauf;
sie wußte es nur vom Hörensagen. Das allerdings so genau, als ob sie
stündlich hier aus- und einginge.

Das ganze Heer der Bubenträume ging durch die Tür herein, die immer
knarrte und stöhnte, wann der Wind um den Giebel strich, -- und unter
der schrägen Wand hin, und flog wieder zu dem hochgelegenen Dachfenster
hinaus, über die Häuser und Felder und Höhen, und in die Weite. Das
hatte hier oben Raum, sonst nirgends im ganzen Hause.

Der Bewohner der Kammer war schon wach. Als die Glocke anfing zu
läuten, stand er auf und trat ans Fenster. Die Morgenluft strich herein
und um ihn her; er schauerte ein wenig; es war kühl.

Die Luft war noch ein wenig grau, durchzogen von den letzten,
fliehenden Schatten der Dämmerung. Der Marktplatz lag leer und still;
der Röhrenbrunnen ließ seine Wasser plätschernd in den großen Trog
fallen. Nun ging eine Stalltür. Ein Knecht -- der Knecht des Fuhrmanns
Rammlinger, der in dem gelben, vorspringenden Haus schräg gegenüber
wohnte, -- führte zwei schwere, braune Gäule aus dem Stall zur Tränke,
an den niedrigen Steintrog, der den Abfluß von dem großen Brunnentrog
erhielt. Die Hufe hallten auf dem Steinpflaster, schwerfällig, trab,
trab, trab. Man hörte das Schnaufen der Gäule, einer wieherte auf, dann
der andere; der Knecht stand stumm dabei. Als sie fertig waren, führte
er sie wieder hinein, dann war der Platz still und leer wie vorher.

Nun ein heller, zirpender, zwitschernder Laut.

Eine Schwalbe flog aus dem Nest, das oben an der schrägen Giebelwand
klebte, und flog mit schnellem Flügelschlag quer über den Platz
hin. Nun kamen sie von da und dort her -- da flog eine und da eine;
sie setzten sich auf die Telegraphendrähte, die quer über den Platz
gespannt waren, von der Posthalterei zum Rathaus, -- und von da weiter,
irgendwo, in die Welt hinein. Da saßen sie auf den blinkenden Drähten
und schwatzten. Sie wollten nun bald fortfliegen, übers Meer, es wurde
wieder einmal Herbst. Und sie hatten noch vieles zu beraten. Da waren
einige der Führer vom vorigen Jahr nicht mehr da, und es war die
Frage, ob sie den Weg auch richtig wüßten. »Ach,« sagten die einen,
»Kinderspiel. Das hat man doch in sich.« »Der Sehnsucht nach,« sagte
ein Schwalbenjüngling, der am Dachfenster des Mädchenschulhauses groß
geworden war. Dort wohnte der jüngste Lehrer, der zu einem dünnen
Klavier mit vollem Brustton sang:

      »All' mein Sehnen und Verlangen
      Geht, du Wunderland, nach dir.«

Der Schwalbenjüngling wußte nicht, was das für ein Land sei, aber es
war anzunehmen, daß sie beide dasselbe meinten, und es gefiel ihm, von
der Sehnsucht zu reden, da es eine angenehme, drängende Empfindung war:
auf, fort, hinaus.

Einige Schwälbchen zwitscherten leise und ehrfurchtsvoll dazu, andere
sagten: »zur Sache,« und dann wurde das Ganze mehr geschäftlich
behandelt, wie es sich für solch ein wichtiges Unternehmen auch
gehörte. Darum konnten sie doch danebenher hohe und starke Gefühle
haben; ja, das brauchten sie doch. Denn wer will den Flug übers Meer
unternehmen, über dräuende Untiefen und in schwindelnde Höhen -- der
nicht einen großen starken Trieb und ein mächtiges Verlangen hat?

Georg stand eine Weile am Fenster und sah in die lebendige Morgenstille
hinein. Es war ihm wohl ähnlich zu Mut wie den Schwalben. Auch
er rüstete sich zum Flug. Darum schuf die Morgenfrühe mit ihren
wenigen Bildern und Tönen eine große, feierliche Erwartung in seinem
fünfzehnjährigen Herzen. Was mochte der Tag bringen? Der heutige, und
dann weiter -- weit hinaus?

Da lagen die neuen Kleider, lange Beinkleider und eine Joppe. Er
war ein junger Mann, als er sie angezogen hatte. Da wurde ihm schon
sicherer zu Mute. Es war ja alles klar und ausgemacht. Nun kam er in
die große Stadt, da ging er noch drei Jahre aufs Gymnasium. Dann kam
die Universität, dann vielleicht einmal ein Militärjahr dazwischen.
Dann lag da hinten irgendwo das Leben. Als ob bis dahin ein Fluß sei;
dann ein Strom, dann, in grauer Ferne, das Meer. Es war alles ganz
gerade und sicher. Es war zwar, das muß gesagt werden, ein Riß in
Georgs Vorleben. Gerade in der Geschichte dieses Sommers. Er hatte mit
fünf anderen Schülern aus des Rektors Schule, wie es das Herkommen
bestimmte, das Landexamen gemacht, um dann durch die Seminarien zu
laufen in schöner, glatter Bahn. Aber er war nicht durch das enge Tor
gekommen. Er war vielleicht nicht fleißig genug gewesen oder man hatte
gerade andere Sachen gefragt, als er wußte. Kurz, er kam nicht hinein.
So mußte er denn seinen Weg von den andern scheiden. Einer, der kleine,
blonde Ernst Daxer, der Sohn der Postmeisterswitwe aus der Sporengasse,
der ging auch mit ihm. Der fand einen Unterschlupf bei Verwandten in
Stuttgart. Sonst hätte es seine Mutter nicht an ihn wenden können.

Aber Ernst Daxer war nicht gerade Georgs Höchstes. Er hatte ein
weiches, rundes Kindergesicht mit Grübchen in beiden Backen und
hatte enge, kurze Hosen. Nichts um sich daran zu erheben, gar nichts
Heldenhaftes. Und Fritz Hornstein, der alles hatte, eine tiefe Stimme
und alle angehende Männlichkeit in Haltung und Wesen, der war natürlich
hineingekommen.

Ja, es war schon ein Riß. Aber der Pfarrersgedanke war nun doch schon
genugsam ausgesponnen; er hatte jetzt Lebenskraft genug, um auch ohne
solche äußeren Stützen, wie Seminar und Hornstein, fort zu bestehen.
Georg wußte, was er zu tun hatte. Er wollte Ernst dahintersetzen. Alle
verschwommenen Zukunftsgedanken hatte er weggelegt. Als er sich dessen
versichert hatte, ging er aus seiner Kammer und ging die knarrende
Stiege hinunter und in die Backstube. Dort setzte er sich auf den
Tisch, ließ die langen Beine herabhängen, aß heiße Wecken und mischte
in seinem Innern die feierlichen und die behaglichen Gefühle, und es
gab eine Mischung, wie man sie am Morgen eines Abschiedstags, früh
zwischen vier und fünf Uhr nur verlangen kann.

       *       *       *       *       *

Der Abschiedstag schien auch in die Backstube; hinten herein stahl er
sich, durch den schmalen Hof, zwischen Holzschuppen und Hauswand, und
sah durch das Fenster auf den Buben, der da mit den Füßen baumelte und
die Arme gekreuzt hatte: »So, da bist du? Bist mir oben ausgerissen?
Aber das hilft dir nichts, denn ich habe auch nicht mehr Stunden als
andere Tage, leider, und die Eisenbahn wartet nicht.«

Da fiel es dem Ausreisenden ein, daß er noch viel zu tun habe. Er glitt
vom Tisch herab, der Geselle löschte das Gas; Franz ging, vom Kopf bis
zu den Füßen mehlbestäubt, in ledernen Schlappschuhen hin und her,
und trug das Brot für die Wiblinger, schwarzes und weißes, auf seinen
Armen. Jungfer Liese aber füllte die Fächer des Ladens damit.

Da stand eine Wanne voll Wecken, hochaufgetürmt, die waren bräunlich
und glänzend und dufteten so lieblich, als wollten sie den Reisenden
noch in letzter Stunde an der Nase festhalten. Sie knisterten leise,
wenn man an die Wanne anstieß, so rösch gebacken waren sie. »Laß mich,«
sagte Georg, und trug die Wecken vor sich her. Er stolperte aber
auf der mittleren der drei Stufen, die von der Backstube zum Laden
hinaufführte und kollerte samt den Wecken dort hinein. Wie schön war es
zu Hause. Wenn er nun dabliebe und ein Bäcker würde, so streifte ihn
ein sekundenlanges Gefühl. Ach, hinweg damit. Das Leben mußte ja seinen
Gang gehen.

Da setzte er die rote Mütze auf und ging aus dem Hause. Er hatte es ja
nicht wie die Schwalben, er hatte seine alten Führer noch. Nun ging er,
um sich von ihnen ein gutes Wort zum Abschied zu holen. Es war zwar
noch früh, aber es litt ihn nicht mehr im Hause. Zu Hollermann konnte
er ja immerhin schon gehen. Der war ein Frühaufsteher von jeher.

       *       *       *       *       *

Ach, wißt ihr, wie das ist, wenn man seine Vaterstadt zum erstenmal
verläßt? Wißt ihr aus Erfahrung, wie da alles und jedes ein Gesicht und
eine Stimme bekommt, auch das allergleichgültigste?

Es ist ja wie ein Bilderbuch, das man noch einmal durchblättert, nur
daß die Bilder lebendig sind.

Da sind die alten, hohen Häuser am Säumarkt. Ja, so heißt er, das
läßt sich nun nicht ändern. Die stehen beisammen und neigen, wenn man
so sagen soll, oben die Köpfe zusammen. Die mögen schon etwas erlebt
haben, seit sie da stehen. Da ist das Haus des uralten Kaufmanns Hahn,
der nach der Meinung der Jugend ebenso alt und ebenso vornübergebeugt
ist, wie sein altes Haus. Ach, riecht es dort drinnen in seinem Laden
nach Schnupftabak, Käse und Häring! Ach, liegt und steht und hängt es
dort voll mit allem erdenklichem Gerümpel. Es ist ja fast nicht vor dem
Haus vorbei zu kommen. Wie oft sind die Buben dort drin gewesen, ihrer
so viele als möglich miteinander, und einer kaufte einen Bleistift
für drei Pfennig und die andern fragten nach tausenderlei unmöglichen
Dingen. Und jeden fragte Herr Hahn: »was 'fällig, he, hm?« Er war nicht
von Wiblingen gebürtig, der Herr Hahn. Sonst hätte er nicht so gefragt.
Aber das gab jedesmal ein unauslöschliches Gelächter. Es bedarf so
wenig, um die Wiblinger Jugend zu solch einem Jubel zu bringen. Wenn es
gar zu bunt wurde, dann ging er umständlich in seine Ladenstube hinein
und brachte von dort einen Hakenstock heraus. Man konnte sich denken,
was er damit wollte. Aber das warteten die Buben nicht ab. Wie das
wilde Heer stürmten sie hinaus.

Und dann das Haus des einzigen Juden im Städtlein, des alten, reichen
Samuel Wormser. Es hat unten vergitterte Fenster und hinter den
vergitterten Fenstern sitzt der Samuel in seinem bunten Schlafrock
und dem Sammetkäppchen und zählt seine unermeßlichen Reichtümer, wenn
es die Jugend recht weiß. Seine Frau Lea ist alt und dick und hat ein
gelbes Gesicht und eine schwarze Perücke auf und ruft ihrem Mann so
unnachahmlich: Sa--moel! Aber sie ist daneben unsäglich gut. An Ostern
essen alle Kinder Matzen, die sie von Samuel Wormsers Lea haben. Das
ist ein interessantes Haus. Am Samstag Abend steigen die Buben hie
und da über die Hofmauer hinein und sehen ins Fenster, wie da der
Samuel und die Lea und ihr Enkelsohn, der Hirsch Rosenstock, und die
Magd, die Sannel, und der Knecht, der Kallmann, um den siebenarmigen
Leuchter herumsitzen, und wenn sie angestrengt horchen, so hören sie,
halb gesungen, halb gesprochen, ein fremdartiges Beten. Hier jubeln
und toben sie nicht, da sind sie ganz still und es schaudert sie
ein bißchen an. Das ist so eine fremde Welt, aber sie ist nicht zum
auslachen, sie ist heilig und verlangt Respekt. Einmal haben sie einen
durchgehauen, der die alten Leute stören wollte. Das sei ein gutes Werk
gewesen, sagte der Rektor Cabisius. Das Durchhauen nämlich.

Da ist auch das Haus des Doktors. Das ist das schönste dort herum. Es
hat einen großen, messingenen Türgriff, zwei Schlangen, die aus einer
Schüssel fressen, und die Tür glänzt von Sauberkeit und Leinöl und
die Schlangen glänzen auch. Hat noch eine Tür auf Erden einen solch
feierlichen, dumpfen Schall, wenn sie zufällt? führt noch irgendwo
eine solch glänzende leinölgetränkte breite Treppe zu solch einem
atemraubend feierlichen Zimmer empor, wie das Sprechzimmer des Doktors
ist? Es ist kaum möglich. Georg Ehrensperger stellte sich lange Zeit
den lieben Gott nicht viel anders vor, als den Doktor.

Ein bißchen freundlicher vielleicht, und den Bart ebenso groß, aber
weiß, und einen blauen Mantel, -- aber sonst, so groß und breit und
so unsäglich imponierend und eine so volle Stimme, auch aus dem Bart
heraus, alles.

Ach, das Bilderbuch nimmt ja kein Ende. Es ist ja kein Fertigwerden.
Man kann ja nur alles streifen mit einem raschen Blick.

       *       *       *       *       *

Hollermann saß am Fenster, als Georg zu ihm kam. Die Morgensonne lag
auf ihm und füllte sein Stübchen; man sah, er wärmte sich daran. Er
fror so oft in letzter Zeit, er war auch recht hinfällig geworden.
Man konnte nicht recht sagen, was ihm fehlte, er hatte nur, wenn er
ging, einen müden Tritt, und seine Haltung war nachlässig und schlaff.
Manchmal schlief er so sitzend ein und dann, wann er erwachte, konnte
er sich nicht recht besinnen. Auch vergaß er hie und da, was in der
neueren Zeit geschah, das Alte, das konnte er gut behalten.

»Nun gehst du,« sagte er. »Nun hat das alles ein Ende, was wir so
miteinander getrieben haben. Du bist in der Stadt und ich sitze hier
und warte auf dich. Wenn du kommst, mußt du mir alles vorspielen, was
du bis dahin gelernt hast. Das ist so um Weihnachten herum, nicht?
Heißt das, wenn ich nicht vorher --« er sah mit einem schnellen,
glänzenden Blick auf und machte eine auffliegende Bewegung mit der Hand.

Ein weiches Lächeln ging um seinen Mund. Nun sah er aus, wie ein Kind,
das ein wenig von einem schönen, frohen Geheimnis enthüllt und es
schnell wieder zudeckt, um die Freude nicht vorweg zu nehmen.

-- »Was ich bis dahin gelernt habe? Da ist nichts vorzuspielen.« Georg
bemühte sich, sehr viel Festigkeit in seinen Ton zulegen. »Dazu ist
keine Zeit, jetzt nicht. Ach, ich glaube, überhaupt nicht. Das habe
ich auf die Seite gelegt. Ich muß furchtbar fleißig sein, daß ich nach
einander mit allem fertig werde.«

Da sah der Alte sehr erschrocken aus.

Nun hatten sie alles so schön ausgemalt.

»Wenn du das aber in dir drin hast,« sagte er kleinlaut.

»Was mein Großvater war, der alte Schäfer Hollermann, der pflegte zu
sagen: 'was drin ist, das will heraus. Das läßt sich nicht totdrücken.'
Nun ist das so. Was willst du denn nun werden?«

»Pfarrer,« sagte Georg. »Das weißt du doch. Das ist furchtbar schwer,
das kannst du dir denken.«

Der Alte nickte ein wenig verlegen. Er hatte es ja richtig vergessen
gehabt. Er war auch darum verlegen, weil der Bub, mit dem er immer
wache Träume gesponnen hatte, nun auf einmal so pflichtbewußt und
selbstsicher vor ihm stand. Das war ja gar nicht mehr derselbe Bub.

Da hatte der zum Glück einen unvernünftigen Augenblick. »Dir kann ich's
schon sagen,« -- er tat wichtig und geheimnisvoll, -- »sobald ich so
ein bißchen voran bin, da unter den Stadtschülern, und sehe, daß sie
mich nicht hinunterkriegen, dann -- es ist ein Klavier in dem Haus,
in das ich komme. Das kommt schon alles noch dran, später. Man wird
schon sehen, was noch kommt. Ich, wenn ich Pfarrer bin, -- und habe
den Kirchenschlüssel, dann -- dann will ich alle Werktag, wenn niemand
in der Kirche ist, Orgel spielen. Dann hol' ich dich. Dann kannst du
zuhören.«

Der Alte schüttelte leise den Kopf: »Das hör' ich nicht mehr.«

Aber der Knabe hörte das nicht.

Ihm flogen die Gedanken wieder über die nüchterne, pflichtgetreue
Wirklichkeit hinaus, wie Vögel, und setzten sich auf einen Wunderbaum,
der irgendwo in der Welt draußen stand und fingen an zu flöten und zu
singen: »Das Leben macht die Tore weit, weit, weit! Zicküh, zicküh, es
hat alles drin Platz.«

Und unter dem Baum stand die Jugend und reckte ihre herrlichen Glieder
und nickte ihm mit leuchtenden Augen zu:

»Natürlich ist das so. So lang ich währe. Wie lang ich währe? Immer,
immer, weißt du das nicht?«

       *       *       *       *       *

Also guckten seine jungen Träume hie und da zwischen den großen
Pflichtgedanken heraus, wie fröhliche Kindergesichter zwischen
zugezogenen Vorhängen. »Wir sind noch da; wir kommen schon wieder; es
macht uns nur Spaß, so ehrbar zu tun.« Das wußte Georg selbst nicht. Er
nahm es gewaltig ernst mit allen guten Vorsätzen und mit seiner neuen,
verständigen Jungmännerwürde.

Gertrud hätte davon zu sagen gewußt. Er quälte sie viel in dieser Zeit.
Sie sagte aber nichts. Manchmal lachte sie, und manchmal gab sie einen
Puff zurück und gestern abend war sie ihm kurzer Hand davon gelaufen.

Nun kam er heute morgen und fand es noch zu früh, um der Frau Rektorin
Lebewohl zu sagen und hätte gern noch einen kleinen Schwatz mit ihr
getan. Da stand er wie gewöhnlich an der hinteren Haustür, die nach
dem Garten führt und rief mit langgezogenen Ton ihren Namen. Ger -- --
trud. Sie aber saß oben hinter einem Buch und stopfte die Finger in die
Ohren, um ihn nicht zu hören.

Sie hörte ihn aber doch; der Schelm flog über ihr Gesicht, und sie tat
noch eine Weile, als ob sie läse. Dann stand sie auf und ging gemütlich
hinunter.

»Hast du mich gerufen? Es war mir so.«

»Ja, schon zwanzigmal. Wo steckst du denn?«

»Ich? Oben. Warum?«

»Warum? Sei doch nicht so. Ich gehe heute fort. Du, ich muß dir noch
sagen, daß -- -- --« Da kam irgend etwas ganz notwendiges zum Vorschein.

Denn er mußte ihr alles erzählen, auch jetzt. Seine spartanische Suppe
schmeckte ihm nur, wenn er sie mit ihr teilen konnte. Ja, und wenn er
ihr auch eine einbrocken konnte. Das tat er auch, oft genug. Und es
gewährte ihm eine sonderbare Befriedigung, wenn sie das Gesicht verzog.

Er fing seit einiger Zeit an, von all den jungen Leuten als von seinen
Freunden zu reden. Das durfte er ja gern. Aber erstens entsprach es
nicht recht dem Tatbestand, und zweitens legte er eine Herausforderung
in seinen Ton.

»Mein Freund so und so.« Damit fing jedes Gespräch an.

Heute auch. Gertrud wunderte sich. »Der auch? Und der auch? Das sind
alles deine Freunde? Das hast du sonst nie gesagt.«

»Ja. Hast du was dagegen? Sind alle aus meiner Klasse. Natürlich.«

Sogar von Ernst Daxer sagte er seit einiger Zeit immer: »mein Kamerad
Daxer. Das sagt er, das tut er.« Aber immer: »mein Kamerad Daxer.«

Gertrud war es fremd dabei zu Mute. Nun ging er nicht als landfahrender
Geiger in die weite Welt. Kein abenteuerlicher Plan kam ins Werden.
Aber nun entfernte er sich in anderer Weise von ihr. Sie wußte nicht,
daß er wieder einmal einen zu starken Anlauf genommen hatte und übers
Ziel hinausschoß. Sie versuchte aber, tapfer mitzugehen.

»Du, das wird fein. Wenn du in die Vakanz kommst, dann machen wir
gerade so weiter. Es wird sein, als ob du gar nicht fort gewesen
wärst. Du mußt mir alles erzählen und ich dir.« Er tat, als ob das
unwahrscheinlich sei.

»Das sind Bubengeschichten, was ich jetzt erlebe,« sagte er. »Das
interessiert Mädchen nicht so. Und da kommen auch alle meine Freunde
nach Haus. Bis man da an allen herumkommt, das nimmt viel Zeit.«

Da hatte sie ihre schwarze Suppe. Sie schluckte daran, sie war scharf
gepfeffert.

Er schielte nach ihr hin, ohne den Kopf zu drehen. Er konnte die freie
Männlichkeit noch nicht so recht vertragen. Er war ja doch da zu
Hause; sie gehörte ja so sicher zu ihm, daß er sie auch kecklich ein
bißchen quälen durfte. Aber nun war es ihm doch unbehaglich.

»Ich freue mich aufs Läuten in der Sylvesternacht,« sagte er
unvermittelt. »Und aufs Kindleinwiegen in der Christnacht. Da gehen wir
auf den Turm, nicht? Du, sagst du gar nichts?«

»Wer geht? Deine Freunde und du?«

»Ach, Dummheiten, du und ich. Sei nicht so empfindlich. Mädchen sind
immer empfindlich, Buben nicht.«

Nein, sie war nicht empfindlich, das konnte man nicht sagen. Wenigstens
nicht mehr, als unter diesen Umständen billig war. Sie machte den
großen Gedankensprung mit. Also würde es doch wie sonst. Das war die
Hauptsache.

Da lachte sie. Sie war froh darüber.

»Du, gestern hat mich der Großvater gefragt, ob ich nicht Lehrerin
werden wolle. Ich weiß aber nicht. Wir hatten einmal eine, als ich noch
in der Volksschule war, in der untersten Klasse, nein, in der zweiten.
Die hatte einen so langen Stock, daß sie damit über eine ganze Bank
hinreichen konnte. Wenn eins nicht aufpaßte, zog sie allen eins hinten
über. Den Stock hat ihr der Oberlehrer abgeschnitten. Und dann leckte
sie sich immer die Lippen ab. Ich dachte immer: was sie wohl heut
gegessen hat? Ich weiß nicht, ob ich eine Lehrerin werden will.«

»Darum?« sagte Georg. »Das brauchst du ja nicht nachzumachen. Du kannst
ja auch eine nette werden. Das kommt ja auf dich an.«

»Ja, wenn du meinst?« Sie machte ein ernsthaftes Gesicht. Das tat ihm
mächtig wohl. Nun konnte er seine Überlegenheit zeigen. »Ach,« sagte
er, »es ist ja einerlei, Buben müssen etwas Rechtes werden. Meine
Kameraden werden alle etwas, ich auch. Bei Mädchen ist das nicht so
wichtig. Du kannst auch zu Hause bleiben. Es ist einerlei.«

Da stand sie schon in der Haustür. Wie der Wind war sie die Steintreppe
hinaufgefahren. Die braunen Zöpfe lagen ihr um den Kopf. Sie machte ein
hochmütiges Gesicht. Darin verstand sie keinen Spaß.

»So warte doch, ich gehe mit. Du, Gertrud, spring doch nicht so.«

Aber sie rief schon von der Treppe her: »Ich habe mich ganz vergessen,
ich muß üben. Ich habe nachher Klavierstunde.«

Weg war sie.

Da machte er ein grimmiges Gesicht. Klavierstunde? und er? Da stieg er
langsam hintendrein.

Aber nach einer Weile guckte Gertrud lachend hinter der Großmutter vor.
Die war beschäftigt, ihm die Taschen mit Nüssen zu füllen. »Sie sind
von unserem großen Baum. Du bist oft genug darunter gesessen. Vergiß
nicht« --, da stieg ihr etwas Gerührtes bis in die Kehle empor. »Vergiß
nicht, daß du hier daheim bist,« sagte der Rektor. Das hatte sie nicht
sagen wollen; sie hatte einige kleine Ermahnungen bereit gehalten. Die
waren nun im Keim erstickt.

Aber was schadete das?

Sie gaben ihm mehr mit ins Leben hinaus, als Ermahnungen, viel mehr.

Sie hatten Sonne und Wärme in seine Kinderjahre gebracht. Sie waren
so unüberwunden vom Weltleid und von allen grauen Geistern. Und sie
behielten ihm einen Schatz von Liebe auf, dessen Zinsen, das wußte
Georg, er jederzeit erheben konnte, solang -- ja, solange die beiden da
waren.




                    Zweites Buch




                    Erstes Kapitel


Sollen wir mit den beiden jungen Leuten ins Leben hinausfahren?

Sie sitzen in der Eisenbahn, und die Lokomotive schnaubt und zischt,
ungeduldig wie ein Renner, der am Zügel gehalten wird und auf das
Zeichen wartet, das ihn dahinfliegen läßt.

Der Rektor Cabisius steht an dem einen Fenster, und sagt zu Georg
Ehrensperger: »Grüß den Herrn Professor Lindemann von mir. Ich -- ich
hab' einmal eine Wanderung mit ihm gemacht, den Rhein hinunter, und wir
haben in Rüdesheim miteinander, -- doch, das ist lange her. Grüß ihn
von mir.«

Und die Postmeisterswitwe Daxer, die große, hagere Frau mit dem
strengen Gesicht, das dem ihres Sohnes so unähnlich wie möglich ist,
steht an dem anderen Fenster, und langt mit ihrer zerarbeiteten Hand
hinein und streicht ihrem Buben ein paarmal säubernd über den Ärmel.
»Du bist an der Wand gestreift,« sagte sie, »gib fein acht auf deine
Sachen. Der Anzug ist aus Vaters Sonntagskleidern.« Sie hat fünf
Kinder, von denen Ernst das älteste ist, und sie läßt sich's sauer
werden, mit ihnen durchzukommen. Sie wurde Witwe, als das Kleinste
eben geboren war. Da, im strengen Kampf gegen die Armut und gegen
das Verderben der Kinder, sind ihre Züge und ihre Hände etwas hart
geworden. Auch kann sie keine besonders lieben Worte machen. Aber man
muß ihr #jetzt# in die Augen sehen. Ein ganzer Quell von Mutterliebe
liegt darin. Und da kommt noch zu guter Letzt Meister Nössel an, mit
einer Traglast zerrissener Kleider beladen, die er in sein altbekanntes
grünes Tuch gehüllt hat, und zwinkert mit den Augen, und weiß nicht
recht, was sagen, so voll ist er von der Bedeutung des Augenblicks, und
sagt ein paarmal hintereinander: »Also so weit wären wir, so weit wären
wir.«

Und die beiden Reisenden nicken heraus und wissen auch nichts mehr zu
sagen. Draußen ist die Ferne, die lockt und schimmert, und die auch ihr
Grauen hat, und hier ist die Heimat. Es sitzt etwas wie ein Butzen in
ihrem Hals. Es ist gut, daß es nun abgeht.

Sollen wir mit ihnen fahren? Sie werden viel Neues erleben, und das
Leben wird an ihnen arbeiten, da sie meinen, selbst tüchtig an der
Arbeit zu sein.

Oder sollen wir hier bleiben, wo die Alten sind, deren Tag sich neigt?
Sollen wir noch ein Stück weit mit ihnen gehen und zusehen, wie die
sinkende Sonne einen milden, heiteren, lichten Schein über ihre guten
Gesichter wirft?

Wir sind alle Wandersleute, wie wir wissen, und beides verlohnt es sich
für uns zu sehen: wie die Jungen ins Leben hineingehen, und Besitz
davon ergreifen, und feste, dauerhafte Häuser da zu bauen gedenken, --
und wie die Alten sich leise davon los machen und hinausgehen.

Wir werden beides zu sehen bekommen. Es reist sich leicht und schnell
in Gedanken. Wir kommen wohl noch hinter den Jungen drein, wenn es
dann an der Zeit ist. Um es rund heraus zu sagen: wir haben jetzt
gerade hier zu tun. Wir haben den alten Hollermann zu pflegen, und wir
haben noch einiges von ihm in Empfang zu nehmen, eh' er seine ledernen
Pantoffel für immer auszieht und seine windschiefe Lehmhütte verläßt
und sich auf die Reise begibt, -- auf die Suche nach dem Land, in dem
es nach seiner Meinung »bessere Geigen« gibt.

Er saß noch eine Zeitlang am Fenster, das auf die Felder hinausgeht,
und manchmal versuchte er auch, noch einen Korb zu flicken. Aber damit
ging es nicht mehr recht. Da ließ er es. Es wußte niemand so recht,
was seine Krankheit sei. Eines Tags schickten ihm die Freunde den
Doktor, den schwarzbärtigen starken Mann, der in dem bekannten Haus am
Marktplatz wohnte. Der war zuerst ein wenig kurz angebunden und seine
Augen blitzten unter den buschigen Brauen hervor. Es war seine Art
so, er meinte es nicht böse. Aber nach einer Weile saß er neben dem
alten Korbflicker am Fenster. »Ja, ja,« sagte er, »das ist freilich
das Vernünftigste. Sich schicken, das muß jeder. Ich will Ihnen weiter
keine Flausen vormachen; es ist das Alter, und das Herz, das tut nicht
mehr mit. Ja, ja.« Er hatte aber ein Wohlgefallen an dem alten Mann.
Der saß so gelassen da und sein Gesicht war so mild und freundlich, wie
der Oktobertag draußen. Und er hatte zu dem Doktor gesagt: »Es freut
mich, daß Sie mich besuchen; es freut mich. Ich -- wissen Sie, ich habe
hier so eigentlich nichts mehr verloren, und es nimmt mich Wunder,
es nimmt mich schon lang stark Wunder, was nachher kommt. Da ist so
vieles, über das ich mich besonnen habe, wenn ich so allein dasaß bei
meiner Arbeit, oder nachts, wenn ich keinen Atem kriegen konnte im
Bett, und hinaussah, wie die Sterne da oben hingehen. Da steht ja in
den Büchern, die die klugen und gelehrten Leute schrieben, das seien
lauter Welten, und man könne nicht wissen, wer darauf wohne. Ganze
Welten, Herr Doktor, und so viele, daß einem die Augen vergehen, wenn
man nach ihnen hinsieht. Ob da Menschen sind und ob der eine Gott nach
ihnen allen hinsehen kann und anordnen, was da geschehen soll? Und was
mit uns selber geschieht? Da stehen lauter Fragen, rings herum. Und
darum« -- er lächelte still vor sich hin, »darum denk ich oft: kann
sein, du erfährst etwas von dem allem, wenn du da hinüber kommst. Daran
herumraten hilft nichts; aber erleben, Herr Doktor, erleben. Nein,
es braucht Ihnen nicht leid zu tun, ich kann hier gut abkommen.« Der
Doktor sah ihn freundlich an und nickte ihm zu.

Er war selber schon mit einer großen und treibenden Wißbegierde vor
den tiefen Fragen des Weltalls gestanden und hatte nichts unversucht
gelassen, um hinter die Geheimnisse zu kommen, die so groß und dunkel
dastanden. Hie und da war es ihm gewesen, als ob ihn die Wissenschaft
in große, lichte Weiten schauen lasse, die glänzten wie im Morgenrot
und verhießen einen vollen Tag. Und manchmal war er wieder dicht vor
dem Nichts gestanden, das hatte ihn mit kalten, furchtbaren Augen
angesehen. Es war aber etwas in ihm, noch aus seinen Kindertagen her,
das fragte immer noch weiter. Das war nicht mit dem Nichts zufrieden
und wußte doch, daß das Rätsel nicht zu raten ist: Woher wir kommen und
wohin wir gehen, und was für ein Sinn in dem ganzen Getriebe des Lebens
ist.

»Erleben, Herr Doktor, erleben,« sagte der alte Mann neben ihm und
sagte, daß er gern von hier fortgehen wolle, weil er denke an einen
Ort zu kommen, wo ihm einiges gesagt werde von dem, was ihm die Seele
fragend bewegte. Ja, er hoffte wohl, daß ihn der liebe Gott auf die
Arme nehme, wie ein Vater sein Büblein: »Da, nun sieh einmal zum
Fenster hinaus: Siehst du? Sieh dir's recht an. #So# ist das.« Und
wiese ihm mit dem Finger dahin und dort. Und stellte ihn auf den Boden,
satt und froh vom Schauen.

Es war dem Doktor, als wärme er sich an einem hellen und freundlichen
Feuer, wenn er auch nicht so sagen konnte, wie Hollermann. »Ich komme
wieder,« sagte er, als er ging, und gab dem Alten die Hand. Und er kam
auch wieder, obgleich da nichts zu kurieren war.

Die Freunde kamen, einer um den andern. Meister Nössel und der Rektor
Cabisius, und die Frau Rektorin wäre gerne auch gekommen, wenn sie
nicht mit einem Rheumatismus hätte im Lehnstuhl sitzen müssen. Den
hatte sie sich beim Wäscheaufhängen geholt. Nun saß sie und ärgerte
sich weidlich, da angebunden zu sein, und kam sich vor, wie die jüngste
Frau, die eigentlich mit solchen Dingen nichts zu schaffen zu haben
brauchte, trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre, und schickte Gertrud im
Haus hin und her mit Aufträgen, treppauf, treppab. »Gertrud hier,
Gertrud da.« Gertrud war jetzt vierzehn Jahre alt, zu groß, um mit den
Lateinschülern zusammen zu sitzen, sagte die Großmutter. Die begehrte
nun ihr gutes Recht an dem Mädchen. »Halbpart, Mann,« sagte sie, wann
die beiden, der Rektor und die Enkelin, sich nun allzu tief in die
Bücher verbeißen wollten, die in den hohen Schränken standen, und nach
denen beider Sinn stand. Was waren da noch für Schätze zu heben. Ein
Lebenlang mußte man daran zu sammeln haben.

Der graue und der braune Kopf beugten sich zusammen darüber; ja, der
Rektor hatte ja seine Schule, freilich; aber konnte nicht Gertrud, bis
er allemal nach Hause kam, ein gutes Stück weiter lernen? Das wäre so
der beiden Sinn gewesen.

»Halbpart,« sagte die Großmutter, denn noch hatte sie hier auch etwas
dreinzureden. »Was? mit vierzehn Jahren hab' ich an den Waschtagen
allein gekocht, und habe,« hier wurde ihr Ton ein wenig vorwurfsvoll,
»meiner alten Großmutter einen Schemel gestickt, ganz in Perlen, zwei
weiße Lapins mit blauen Bändchen um den Hals, und auf grünem Grunde.
Abend für Abend habe ich daran gestickt, ein ganzes Vierteljahr lang.
Den Schemel muß meine Base in Ulm noch haben.«

Da lachte Gertrud hellauf und der Rektor lachte mit. Es war nichts
Gescheites anzufangen mit den beiden, die alte Frau hätte es sich
denken können. »Großmutter, Perlensticken, das ist ja nicht mehr Mode.«
»Anne, das Sticken, das erläßt du ihr. Aber kochen, ja, das soll sie
lernen. Das wird ja nicht so schwer sein?« Aber da hatte es der Rektor
nun auch verschüttet.

»So, du denkst: das kann man so nebenher? Aber ich will es euch schon
zeigen. Gertrud, heut' abend hast du die Küche. Erbsensuppe mit
Leberwurst für uns; und für den alten Hollermann -- nein, das tun wir
morgen. Ich habe ein Hähnchen für ihn. Ihr laßt es mir doch verbrennen,
du und die Marie. Ihr seid nicht mit dem Kopf dabei, das ist die Sache.
Es ist ein Elend, wenn ich alte Frau in der Stube sitzen soll. Morgen
geh' ich in die Küche, und wenn ich dahin #kriechen# muß.«

Das hatte sie nun schon oft gesagt. Aber noch war sie nicht dahin
gekommen. Der Rheumatismus dauerte schon eine ganze Weile und die
Beine versagten den Dienst. Da war nichts zu machen. Es war keine
Kleinigkeit, und das nicht wegen der Schmerzen allein. Mußte sie
nicht alles aus den Händen geben, was sie allein richtig besorgen
konnte? Und mußte sie nicht den alten Hollermann, der nun allmählich
bettlägerig wurde, mußte sie ihn nicht liegen lassen, wie er lag? Sie
war schon längst gut Freund mit ihm geworden. Aber was konnte das nun
helfen? Hier saß sie, und auf dem Turm saß Frau Judith; sie lagen
beide sozusagen an der Kette, und da draußen war eine Männerwirtschaft
ohne gleichen. Die Frau Rektorin konnte sich denken, wie es zuging,
obgleich ihr der Gatte lauter Liebes und Gutes erzählte. Meister
Nössel kam täglich, das Bett zu machen, und manchmal fegte er auch die
Stube aus, und das Essen -- ja das Essen, das schickte sie ja freilich
durch Gertrud hin, und der Rektor trug öfters eine Flasche Wein in
der Rocktasche hinaus. Aber dennoch, es wurde sicherlich eine Menge
versäumt, das konnte gar nicht anders sein, wo kein Frauenauge wachte.

»Mann, du hast geraucht. Du kommst doch von draußen herein? Voll
Pfeifengeruch ist dein Ausgangsrock.«

Er saß neben ihr auf der Seitenlehne des Großvaterstuhls. Er war eben
nach Haus gekommen.

»Natürlich hab' ich.« Er nickte vergnügt.

»Es war immer so langweilig draußen bei Hollermann. Man will sich
doch hie und da eine Stunde zu ihm setzen. Aber ohne Pfeife? Da hab'
ich gestern die mittellange mitgenommen. Nössel hat die seinige auch
gebracht. Es war ein feiner Einfall. Wir saßen ums Bett und rauchten.
Hollermann auch. Er hat sich ein kleines Loch ins Kopfkissen gebrannt;
da lag ein Stückchen Fidibus, das glimmte so fort. Wir sahen es erst,
als ein paar Federn angesengt waren. Nun haben wir das Loch mit einem
Bindfaden zugebunden, wie man einen Sack zubindet; es ist grad an der
Ecke. Wir haben als Buben manchen Apfelsack miteinander zugebunden.
Fein war das damals, wir kamen heute stark an jene Zeiten.«

Aber nun fand die Frau Rektorin endlich Worte.

»Und das erzählst du mir noch? Seid ihr immer noch Schuljungen, oder
wie? Setzt euch zusammen und raucht? Und Hollermann liegt im Bett, und
weißt du, was mir der Doktor gesagt hat? 'Das erlischt so vollends wie
ein Licht,' hat er gesagt. Er mag den Alten wohl leiden. Wollt' ihr
ihn vollends aus dem Leben räuchern?« Sie fand es schwer, dort draußen
nicht die Zügel in der Hand zu haben. Dies hatte alles keine Art.

Der Mann war nicht besonders schuldbewußt. »Sieh' einmal, Anne,« sagte
er, »nun hat Hollermann schon fünfundsiebzig Jahre lang geraucht.
Nein, nicht ganz so lang, obgleich wir als Buben schon Kartoffelkraut
rauchten. Aber doch nicht viel weniger. Nun laß' ihn vollends. Es sei
ihm schädlich? Ach, Anne, was ist da noch zu schaden? Das weißt du ja.
Und es ist so behaglich. Nein, nun laß' uns nur.«

Da mußte sie auch hier die Hände vom Spiel lassen. Das Weltrad ging
herum wie sonst. Aber es war schwer einzusehen, daß es ohne der Frau
Rektorin tätiges Eingreifen ging.

Es ging herum wie sonst. Und eines Tages ging es auch ohne den alten
Hollermann. Der war leise davon gegangen. Ihm war nie ein Zweifel
darüber aufgestiegen, daß es auch ohne ihn gehe. Er hatte die letzten
Tage mit stillen und staunenden Augen vor sich hingesehen und nicht
mehr viel gesagt.

Da wollte eine Tür aufgehen, und hinter der Tür, was da wohl war?
Darauf richteten sich nun alle Sinne in einer großen und feierlichen
Erwartung.

       *       *       *       *       *

Im November bekam Georg Ehrensperger folgenden Brief mit der
sauberen, etwas eckigen und etwas schnörkelichen Handschrift des
Schneidermeisters und Turmwächters Nössel:

               Lieber Georg!

Indem ich es als eine Pflicht in die Hand hinein versprochen habe, tue
ich Dir zu wissen, daß unser gemeinsamer alter Freund und Schulkamerad
Hollermann heute nachmittag begraben worden ist. Zu liegen kam er neben
den reichen Lohgerber Kümmerle, der sich noch diesen Sommer ein neues
Haus gebaut hat, und ist der eine gern gegangen und der andere ungern,
und das ist, soviel man von hier aus sehen kann, der ganze Unterschied.
Denn hinüber sieht man nicht und muß warten, bis es an der Zeit ist und
wird wohl bei uns Alten nicht allzu lang dauern damit. Sagen soll ich
Dir aber von dem alten Hollermann, daß Dir seine Flöte gehören soll und
daß Du daran denken sollst, wenn Du sie blasest: daß, wer den rechten
Ton will finden, der in allen Dingen beschlossen liegt, der muß in die
Stille gehen und muß allein sein und horchen. Und darf nicht fragen:
Ist es so den Leuten recht? sonst schallen die Pfeifen und Trommeln von
den Jahrmärkten hinein und der rechte Ton geht darüber verloren, daß
man auf zweierlei hat gehorcht. Lieber Georg, der alte Hollermann ist
ein Sinnierer gewest, und Frau Judith, als ich ihr das erzählte, was
ich Dir schreiben soll, hat gesagt, daß Du erst müssest in das Leben
hineinwachsen, eh' Du das verstehest, und sollest nur derweil gradaus
gehen und Deine Schuldigkeit tun, das andere, das komme schon noch dran.

Und wird es bei uns immer leerer, da der Alten nur noch wenige sind,
und die Jungen wachsen herauf, und ist das wohl immer so gewest, seit
Anbeginn der Welt.

Die Gertrud sitzt auch da am Tisch, da ich dieses schreibe, und treibt
ihren Scherz mit der Frau Judith, und sagt, sie möchte gern ein Mann
sein und ein Professor werden, nur des Lernens und der Bücher wegen.
Und kriegte ich keinen kleinen Schreck, als ich das hörte, denn es
tut nicht gut, daß ein Mädchen so sehr an der Männer Weisheit hängt;
sie gehen darüber der lieblichen Einfalt verlustig. Aber Frau Judith
ist nicht ängstlich. Sie hat gestern vom Fenster aus gesehen, daß die
Gertrud den Karren der Sandröse, der naß und schwer war vom Regen, den
ganzen Mühlberg herauf geschoben hat. Und hat die Röse nicht gewußt,
wie ihr geschieht. Du weißt, sie ist alt und mühselig und kam nicht
mehr so fort mit dem schweren Karren. Und da sie sich umsieht und
will sich bedanken, läuft das Mädchen schon wieder den Berg hinunter
mit langen Schritten. So sagt nun die Judith, daß es keine Not habe,
solange eins die Augen offen habe für die Armen und Geringen, und
greife kecklich zu beim Helfen. Das sei das Rechte, das den Frauen
zieme. Da muß ich wohl still sein. Auch ist die Gertrud noch fast ein
Kind. Es dünkt mich, ich habe mein Leben lang nicht solchen langen
Brief geschrieben. Es ist am Dunkelwerden, ich muß Betzeit läuten. So
grüße ich Dich denn, von mir und der Judith. Und vergiß nicht Gottes
und der Alten.

      Dein wohlgesinnter Freund und Turmwächter

                  Friedrich Nössel, Schneidermeister.

       *       *       *       *       *

Als dieser Brief an seine Adresse kam, lag der, an den er geschrieben
war, der Länge nach ausgestreckt auf seinem Sofa. Das Sofa war viel zu
kurz und hatte hohe, steife Seitenlehnen, und sein Polster war wellig,
wie das Ebenen- und Hügelland von Niederschwaben und Franken. Indessen,
es war doch ein Sofa, und Georg Ehrensperger hatte das Recht, sich
darauf auszustrecken. Er war vor kurzem nach Haus gekommen und war ein
wenig bedrückt und wußte nicht recht warum. Er hatte Heimweh und wollte
es vor sich selbst nicht Wort haben. Draußen ging der Novembertag
in die Abenddämmerung über. Grau und eintönig, wie er vom Morgen an
ausgesehen hatte, ging er dem Horizont entgegen, still und bedrückt,
wie ein Mensch, der keinen rechten Lebenszweck hat und sich zur Ruhe
begibt, und dabei denkt: es ist alles einerlei. Es kommt gar nicht
darauf an, was ich tue; ich kann ebensogut schlafen gehen.

So etwas steckt an, und Georg war denn auch angesteckt, wie man sieht.
Er war eine lange Zeit seines Lebens vom Wetter abhängig. Das hat er
erst später abgeschüttelt.

Da, als er so lag und in die Stube hineinsah -- (es war eine lange,
schmale Stube und hatte ein Fenster, das ging auf einen viereckigen,
gepflasterten Hof), da klopfte es, und da kam der Brief. Den las er,
und stand nicht auf dazu, und zündete nicht die Lampe an, und las das
ganze Grau des Tages und des Wetters und der Stube und der Fremde mit
dem Brief in sich hinein.

O Heimat! da brach es los.

Vielleicht gibt es schönere Namen dafür, aber Ernst Daxer, der am Abend
eine Weile kam, der sagte sachverständig, es sei das »heulende Elend«,
das den Freund befallen habe, und sagte, daß das eine Krankheit sei,
die jeder einmal kriege.

-- Er ließ den Brief auf den Boden fallen und zog die langen Beine
hinauf, um wenigstens sein bißchen Ich nahe beieinander zu haben, und
drückte den Kopf in eine Vertiefung zwischen zwei Beulen des Sofas. Und
dann schluchzte er drauf los.

Von jenem Tag an war ihm das steife, beulige Sofa wie ein Freund und
Vertrauter, da es seine Tränen in den grün und braun gestreiften
Überzug aufgenommen hatte. Da, als er eine Weile, ohne sich zu wehren,
aus Herzensgrund geschluchzt hatte, und es inzwischen dunkler geworden
war, fing er an, sich nach einem Trost umzusehen, und verfiel auf
den steinernen, zugebundenen Topf voll Zwetschgenmus, der in seinem
Kleiderkasten stand. Den holte er herbei und fing an, zu schlecken.
Das Zwetschgenmus war ihm von Jungfer Liese geschickt worden, damit
er so bis gegen Weihnachten hin etwas auf sein tägliches Vesperbrot
zu streichen habe. Aber darauf konnte heut keine Rücksicht genommen
werden. Er war so trostbedürftig, und dies hier war etwas von zu Hause.
Da aß er denn, still und beharrlich, einen Löffel voll um den andern.
Zuerst stieß es ihn noch, es tropften noch einige Tränen in den Topf.
Dann fing er zusehends an, sich zu erholen. Je tiefer er in das Mus
eindrang, je leichter wurde ihm das Herz.

Als der Topf so ungefähr halb leer war, zündete er die Lampe an und
las den Brief nochmals, und hatte in der linken Hand den Brief und
in der rechten den Löffel, den führte er so sachte hin und her. Das
Mus war gut. Er hatte nun wieder Verständnis dafür. Also der alte
Hollermann war gestorben. Das war traurig. Georg konnte sich nicht
recht vorstellen, daß er nicht mehr da sei, wann er heimkomme. Aber
es war noch vieles, auf das man sich freuen konnte, es zerfloß nicht
mehr alles in einen trostlosen, grauen Nebel. Zum Beispiel bekam er
die Flöte. Nein, das mit dem Rat des Alten verstand er im Augenblick
nicht so recht, obgleich ihm wie aus der Ferne vieles aufstieg, das
sie in der Korbmachersstube miteinander geredet hatten. Als er an der
Stelle war, die von Gertrud erzählte, wie sie den schweren Sandkarren
der alten Röse den Berg herauf geschoben hatte, spürte er einen starken
Kitzel im Halse. Er mußte lachen, mitten in die Trübsal hinein. Da war
er gerettet. Die Gertrud war doch ein Staatskerl. Er faßte ihre Tat
nicht so sehr vom Standpunkt der Nächstenliebe aus auf, mehr als einen
lustigen Streich. So war sie, er kannte sie wohl so, nichts weniger
als zimperlich. Jungfer Liese hatte noch nicht lang einmal gesagt:
»aus #der# wird ihrer Lebtag nichts Feines; die ist über einen Buben.«
Das hatte ihm mächtig gefallen; gerade so mußte sie sein, ein rechter
Kamerad, gescheit, kräftig, heiter und immer bei der Hand zu allem
frischen Tun. Er freute sich auf sie. Es war nur noch fünf Wochen bis
Weihnachten. Als er so weit war, sah er in den steinernen Topf; es war
nicht mehr viel darin. Es war nicht mehr der Mühe wert, ihn zuzubinden.
Da kratzte er ihn vollends aus, aber mit einiger Beschwerde.
Zwetschgenmus gehört zu den Tröstungen, die man mäßig genießen muß.

Als Ernst Daxer kam, lag Georg wieder auf dem Sofa, und hatte die Beine
wieder etwas hochgezogen. Aber das geschah nun aus einem andern Grunde
als zuvor.




                    Zweites Kapitel


Er hatte dem Professor Lindemann den Gruß des Rektors Cabisius
ausgerichtet. Und er hatte ihn darauf angesehen, ob er mit diesem
Jüngling in weißen Haaren verwandt sei, und ob er noch eine Spur von
jener Rheinwanderung und von jenem ungenannten Rüdesheimer Erlebnis
an sich trage. Auch hatte er, da er viel Schönes und Erfreuliches
in »der Welt draußen« zu finden hoffte, sich auf dem Weg von seiner
Wohnung in der Pfarrstraße nach dem Gymnasium ausgedacht, der Lehrer
werde, überwältigt von alten Erinnerungen, die Hand ausstrecken und
seine, Georg Ehrenspergers, schütteln, und ausrufen, wie der alte Homer
den bräunlichgelockten Menelaus ausrufen ließ: »Götter, so ist ja
mein Gast der Sohn des geliebtesten Freundes«, oder auch sonst etwas
ähnliches. Aber der Professor Lindemann rief das nicht aus.

Wenn dieser Mann einmal mit dem Rektor Cabisius in einer gemeinsamen
Welt gelebt hatte, so mußte das lange her sein. Und das war es auch.
Er war ein gut Teil Jahre jünger als der Rektor. Aber er war ziemlich
vertrocknet und verstäubt.

»So, so,« sagte er, und kniff die Augen zusammen, »so, so, Cabisius.
Ja, ja, ich weiß. Setzen Sie sich, Ehren -- Ehren -- wie ist der Name?«

»Ehrensperger,« sagte Georg und setzte sich.

Also damit war es nichts gewesen.

Da mußte das Wiblinger Stadtkind die Kammern seines Herzens anderweitig
zu füllen trachten. Es gab noch anderes in der großen Stadt, was
des Erlebens wert war. Es gab helle und breite Straßen mit glatten
Pflastern, auf denen es sich anmutig dahinschlendern ließ, und mit
hohen, stattlichen Häusern, in denen Georg Ehrensperger zwar nichts
verloren hatte, die anzustaunen, soweit es ihre Vorderseite betraf,
ihm aber unverwehrt war. Paläste gab es, und zwar sowohl solche, in
denen die Regierung des Landes vorgenommen, als solche, in denen Bier
verschenkt wurde, und letztere waren, alles in allem gerechnet, die
pompöseren. Wagen fuhren dahin, und obgleich der Hufschlag der Rosse
und das Rollen der Räder auf dem Holzpflaster der schönsten Straßen
eine Dämpfung erfuhr, so gab es, da ihrer viele waren, doch ein
nicht unbeträchtliches Getöse, mit dem sich der bescheidene Lärm der
Wiblinger Ochsen- und Kuhfuhrwerke nicht im entferntesten messen konnte.

Läden gab es, die so glänzend, vornehm und üppig ausstaffiert waren
und die sowohl bei Tage als beim Schein des elektrischen Lichtes so
zauberisch aussahen, daß es den Sohn des Wiblinger Bäckerhauses eine
der gewagtesten und -- unmöglichsten Taten dünkte, in einen derselben
einzutreten und für ganz gewöhnliches Geld etwas von ihrem Inhalt zu
erhandeln.

Er führte diese Tat denn auch nicht aus. Er wußte engere, stillere
Straßen, und niedrigere, dunklere Läden, in denen er sein Brot und
seine Wurst, seine Bleistifte und Schreibhefte, seine -- aber das
geschah nur einmal im ersten Jahr, und dann in etlichen Jahren nicht
wieder, seine Zigarren, sieben Stück für zwanzig Pfennig, erstand.

Die Zigarren rauchte er eines schönen Herbstabends mit einigen
Kameraden, neugewonnenen Genossen seiner Studien. Das heißt, er rauchte
eine davon und bot die übrigen mit einer großartigen Handbewegung, die
er dem Größten unter ihnen abgelernt hatte, im Kreise an. Es war auf
der Königstraße, kurz vor Dunkelwerden.

Er wollte sein Möglichstes tun, mitzumachen. Er hatte sich vorgenommen,
ganz mit den andern zu tun und ein rechter Kamerad zu sein.

Aber es ging nicht. Weder mit dem Rauchen, noch mit der Kameradschaft.
Es paßte beides nicht zu seiner Natur. Es gab sich ganz von selbst, daß
er bald wieder allein war.

Er hatte viel zu denken und zu staunen. Was war da für ein rauschendes,
buntes Leben rings um ihn her. Wohin alle die vielen Leute gingen?
Immer sahen sie aus, als seien sie in Sonntagskleidern.

Und wer da begraben wurde? Es mußte jemand Bedeutendes sein. Die vielen
Kutschen im Gefolge und ein ganzer Blumenwagen. Ein Lorbeerkranz
dabei, nein, zwei, drei.

Und die hohen, hohen Häuser. Wie viele Leute mochten da übereinander
wohnen, und welche Aussicht man von ganz oben hatte? Er stieg einmal
auf den Stiftskirchenturm und sah über das Häusergewimmel hin und stieg
ganz still wieder herunter.

Mit dem einen oder andern Schulkameraden schritt er um zwölf Uhr
mittags hinter der Wachtparade drein, die mit klingendem Spiel auf den
Schloßplatz zog. Da wogte es von Menschen, und die Springbrunnen ließen
ihre Wasser steigen; in bunten Farben leuchteten die Beete, rings
um den Musikpavillon her; hoch und schlank ragte die Jubiläumssäule
über all das Gewimmel hin; wie aus einem fremden, schönen Lande
hierher versetzt, winkte die Säulenreihe des Königsbaues herüber; mit
klingendem, singendem Wellenschlag füllte die Musik das bunte Strombett
des Lebens; öfters, als es den Kameraden gefiel, verstummte Georg
Ehrensperger vor dem allem und ließ sich schweigend und ohne viel
Schwimmbewegungen von dem Strom dahintragen.

Da kamen sie nach und nach überein, daß er ein guter, aber etwas
langweiliger Kerl sei, von dem weder im Guten, noch im Schlimmen viel
Bewegung in dem Einerlei des Schuljahres zu erwarten sei, weder auf der
Straße, noch vor den Lehrern. Und, da er manchmal sonderbar versonnene
Fragen tat, nannten sie ihn Joseph: »seht, da kommt der Träumer her,«
und ließen ihn im übrigen seines Weges gehen, so viel er wollte.

Der führte ihn durch Jungfer Liesens Fürsorge in das Gassen- und
Gäßchengewinkel der Altstadt. Es lebte ihr daselbst die Kanzlistenwitwe
Mollenkopf, die eine entfernte Base von einer Base der braven
Ziehmutter der Ehrenspergerskinder war, sich mit künstlichen und
kunstvollen Flickarbeiten ihr Brot erwarb und nebenher »Logisherren« in
den zwei langen, schmalen Stuben nach der Hofseite beherbergte.

Es lag nichts näher, da die Frau Mollenkopf eine brave Person und eine
geborene Wiblingerin war, als die beiden Landsleute unter einem Dach zu
vereinigen.

Und hier siegte denn auch Jungfer Liese über den Vorschlag des Rektors
Cabisius, der seinen Schüler und Schützling gern in einer Familie mit
andern jungen Leuten zusammen unterbringen wollte.

Sie hatte ein gutes Mundwerk, und, seit es ihr der Respekt nicht mehr
allzusehr verschloß, hatte sie auch ein keckliches Mundwerk, und sie
bewies mit demselben Franz Ehrensperger dem Älteren, daß Nutzen und
Willigkeit auf ihrer Seite seien.

Es war nicht schwer, ihn zu überzeugen.

Und so war Georg unter die Obhut der Frau Mollenkopf geraten, eh' er
sich dessen versah. Er hatte nichts dagegen. Als er nach jenem so
glücklich gestillten Anfall des heulenden Elends seine Augen getrocknet
hatte und sie wieder aufhob, gefiel es ihnen nicht übel in dieser
Region der engen, krummen Gassen, der schiefen, alten Häuser, der
spitzen Giebeldächer, der Verkäufer- und Antiquitätenläden, dieser
Region der kleinen Leute, die zum Teil ein alteingesessenes Bürgertum
bildeten, zäher, eingewurzelter und -- interessanter, als es die Region
der Backsteinkasernen erzeugt, die zu Hunderten dieselbe Uniform
tragen, neue, helle, weitläufige Stadtviertel ergeben und alle Quartal
eine andere Inwohnerschaft haben.

War nicht die Botenhalle in der Nähe? Und war es nicht unsäglich
heimatlich, die braven, schweren Gäule vor den leinwandüberspannten
Wagen dahertraben zu sehen? Blies nicht der Bote von Beckenhardt,
solange es irgend etwas Grünes in der Natur gab, jeden Mittwoch- und
Samstagmorgen sein Lied auf einem Blättchen, das er zwischen den
bärtigen Lippen hatte, und fuhr nicht der Bote von Beckenhardt durch
Wiblingen, schon seit Georg auf der Welt war und länger?

Im Schatten der St. Leonhardskirche breitete sich der Gerümpelmarkt aus
und es gab vielerlei dort zu sehen. Alte Weiblein, die mit rostigen
Nägeln und dergleichen Wertsachen handelten, fliegende Antiquare, die
ihre Bücher und Broschüren auf einem Karren ausbreiteten, Kleider-,
Möbel- und Bettenhändler. Ein untrüglicher Kitt für alles Zerbrochene
wurde verkauft und der Verkäufer war selbst Künstler in der Anwendung
und klebte alte Scherben zusammen, daß es eine Art hatte. Wir können
die genauere Bekanntschaft aller Spezialitäten dieses interessanten
Marktes leider nicht machen, da sie uns auf unserem Weg durch das
Buch allzusehr aufhalten würden. Es ist genug, daß Georg Ehrensperger
auf seinem Weg ins Gymnasium hie und da durch sie aufgehalten wurde,
und daß er dann wie aus einer andern Welt in die Schule und unter die
Genossen trat, mit versonnenen Augen und rückwärts gerichteten Gedanken.

Die Schulkameraden konnten ihn ruhig seines Wegs ins sogenannte
Bohnenviertel gehen lassen, und auch wir können ihn ruhig dahin gehen
lassen, er fand schon seine Nahrung, Freude und Genüge dort, wie es
jede Kreatur auch tut, wenn man sie nur gewähren läßt.

Auf einen viereckigen, gepflasterten Hof ging das Fenster der langen,
schmalen Stube, die Georg Ehrenspergers erste Jünglingsjahre umschloß;
auf das bunte Treiben des schon genannten Gerümpelmarkts gingen die
zwei Fenster der Wohnstube seiner Hausfrau, der Frau Mollenkopf.

Die Witwe wohnte schon manches Jahr in derselben Stube, und sie
hatte demnach auch schon manches Jahr dasselbe bewegte Bild unter
ihren Fenstern. Wenn sie ihren Platz auf dem Fenstertritt, auf
dem Holzstuhl mit dem grünen Kissen, einem Philosophen oder einem
Geschichtenschreiber abgetreten hätte, so hätte der eine wahrscheinlich
tiefsinnige Betrachtungen über den Satz: es ist alles eitel; es ist
alles ganz eitel, angestellt; und der andere hätte den verblichenen
Staatsgewändern, den Bildern in morschen Goldrahmen, den Sesseln mit
zerschlissenen Überzügen, die hier feilgehalten wurden, die seltsamsten
Vorerlebnisse angedichtet. Und es ist manches zu wetten, daß die
Erlebnisse mancher dieser Dinge -- noch viel seltsamer waren, als er
sie zu erdichten vermocht hätte.

Frau Mollenkopf trat aber ihren Platz an keinen Vertreter einer dieser
beiden nachdenklichen Richtungen ab. Sie saß selber fest und beharrlich
auf dem grünen Kissen, ließ Nadel und Faden heilungsbeflissen
zwischen den mottenzerfressenen Ranken und Blumen alter Teppiche,
den zerrissenen Maschen eines wertvollen Spitzenwerks, den brüchig
gewordenen Vögeln und Früchten eines seltenen Tafeltuchs herumspazieren
und hatte auf diese Art selber das Material zu den merkwürdigsten
Mutmaßungen in der Hand. Daß sie diese Gelegenheit nicht benützte,
lag in ihrer Art, die mit der der Jungfer Liese einige Ähnlichkeit
hatte insofern, als sie auf das Greifbare, Nützliche, Reale allzusehr
gerichtet war, als daß für Phantasien viel Raum in ihrem Sinn gewesen
wäre.

Sie sprach gern von dem seligen Mollenkopf, der ihr etwas weniges
auf der Sparkasse hinterlassen hatte, und gab zu verstehen, daß sie
dieses wenige bereits um ein gutes Teil vermehrt habe. Sie hegte die
Hoffnung, mit Hilfe dessen, was bereits auf der Sparkasse lag, und
dessen, was sie noch dorthin zu bringen gedachte, sich nicht nur ein
Sitzkissen, sondern auch ein behagliches Kopfkissen auf ihre alten Tage
zu erwerben. Und es war nur schade, daß sie zu der Klasse von Menschen
gehörte, die, wenn diese alten Tage kommen, mit dem Rest ihrer Kraft
für #noch# ältere Tage sorgen, und die weder der jungen noch der alten
Tage jemals froh werden.

Fest und beharrlich saß sie an ihrem Fensterplatz und verließ ihn
nur, um die nötigen häuslichen Verrichtungen vorzunehmen, und in der
Dämmerung, um die wiederhergestellten Gegenstände an ihre Eigentümer
abzuliefern. Und zu der letzteren Stunde kam Georg am liebsten aus
seiner Hofstube und -- tat, als ob er zu Hause wäre, wie das mit Frau
Mollenkopf eigentlich ein für allemal verabredet war.

       *       *       *       *       *

Es dreht sich der Schlüssel von außen im Schloß, es füllt sich die
Stube mit Dämmerung und Stille. Steig' auf, unsichtbares Eiland der
Glücklichen, tretet in den Kreis, ihr trauten Gestalten der Kindheit
mit den webenden Träumen der Zukunft, fanget an zu reden, und horchet
auch ihr auf das, was wir zu sagen haben, auf daß wir eine kleine Weile
der Fremde vergessen und zu Hause seien.

Töne, du alter, hochbeiniger Klimperkasten von Klavier, du bist zu
dieser Stunde voll Wohllaut und Fülle. Georg Ehrensperger hat dich
aus dem Schlaf geweckt, in dem du lagest, seit der selige Mollenkopf
zum letztenmal den Blümchenwalzer auf dir spielte. Er hat den Stapel
zerrissener Gegenstände von deinem Deckel entfernt, sie liegen
ebenso gut auf einem Stuhl. Nun gleitet das Licht der Straßenlaterne
über deine Tasten. Es ist unsicher, es huscht gespenstig hin und
her, es erinnert an die spukenden Flämmchen in des Rektor Cabisius'
Studierstube. Der geht um diese Zeit in dem wohlbekannten Raum auf und
ab, und Gertrud sitzt wohl auf der Truhe, die Platz für zwei hat. Und
die Frau Rektorin sitzt im Lehnstuhl, sie hat immer noch Rheumatismus,
sie saß in den Weihnachtsferien, als wir zu Hause waren, in Kissen und
Decken gehüllt alle Tage im Lehnstuhl. Hollermann war nicht mehr da,
und es ist nicht sicher, was sich alles verändern kann, so lang wir
fern sind.

Es ist uns manchmal fremd zu Mute, altes Klavier. Und du bist das
einzige, dem wir es anvertrauen können. Es ist uns, als ob wir uns
eine Weile auf Mutters Schoß setzten und ihr alles erzählten, und sie
erzählte #wieder#, merkwürdige, traumhafte Geschichten, die man nie bei
Tage erzählen könnte. Von einer Welt, die man nicht sehen kann, in der
man aber zu Hause ist. Sie hat vielerlei Namen, diese unsichtbare Welt.
Wir suchen eine Sprache, um von ihr zu reden, und es ist uns, als ob
man in Tönen von ihr reden könnte.

Hat einmal einer auf dir gespielt, als deine Saiten noch rein und stark
klangen, einer, der es verstand, die Harmonien zu entlocken? Dann sei
geduldig, altes Klavier, wenn hier einer ist, dessen Spiel noch ein
Stammeln ist, kein Reden. Keine Sprache, nur das Suchen nach einer
Sprache. Er wird's noch besser lernen.

Er hat zu Weihnachten das Geld zu Klavierstunden bekommen, und die Zeit
nimmt er sich selbst dazu. Jungfer Liese hatte den Kopf geschüttelt
und der Bruder Franz hat ihn auf den Rücken geschlagen, breit und
wohlwollend und hat gesagt: »Mach voran, dann kannst du uns einen
Walzer spielen, wenn du heimkommst.« Denn der Bruder Franz tanzt jetzt
mit den Wiblinger Bürgerstöchtern und der Walzertakt kommt ihm sogar
zuweilen in die Finger, wenn er Teig knetet. Auch weiß er nicht so
recht, wozu man außerdem noch Musik machen soll. Aber du wirst schon
sehen, daß Georgs Sinn nicht nach dem Walzer steht. Es ist ein Läuten
irgendwo, wie von einer fernen Waldkapelle, dem horcht er nach, schon
seit er ein Kind war und weiß nicht, daß er es in sich selber trägt,
und sehnt sich, es nahe zu hören. Wenn du das in ihm erlösen könntest.
Er hört es zuweilen auf den Gassen, und zuweilen mitten in den alten
Geschichten der Menschheit, vom Paradies an, in den Büchern, und
manchmal sogar in der Schule. In den Gesängen der Dichter hört er es
und wird es bald noch besser hören, wenn er die Musiker kennen lernt,
von deren Saitenspiel er so wenig weiß und so vieles ahnt.

Aber führe auch du ihn in der Dämmerung, beim flackernden Licht, das
von draußen hereinfällt, immer wieder in jene Welt, die verborgen unter
allen Dingen hingeht, und laß da seine eigene Seele zum Wort kommen.
Es will etwas in ihm tönen, du weißt es. Laß ihn darauf horchen, altes,
verstimmtes Klavier, auf daß der rechte Ton nicht verloren gehe, wie
der Alte in der baufälligen Hütte zu Wiblingen gesagt hat, vor den
Trommeln und Pfeifen der Jahrmärkte rings umher.




                    Drittes Kapitel


In der Ladenstube des Ehrenspergerhauses stand ein gelb angestrichener
Eckkasten, und in dem Eckkasten lag eine alte braune Mappe. In der
Mappe aber hob Vater Ehrensperger auf, was von Familienpapieren in
seinen Händen war: Geburts-, Tauf-, Trau- und Todesscheine, seinen
eigenen Meisterbrief und Franzens Gesellenbrief, als dieser ausgelernt
hatte.

In dieser Mappe legte er auch, wenn die Zeit dazu kam, die
halbjährlichen Zeugnisse, die Georg nach Hause brachte, und nach drei
Jahren, von jenem Auszugstag an gerechnet, das Maturitätszeugnis, das
er gleichfalls nach Hause brachte.

Glänzende Zeugnisse waren es nicht gerade. Der Rektor Cabisius, der
sie jedesmal zu sehen bekam, ehe sie in der Mappe verschwanden, sah
jedesmal das Blatt und dann den Knaben an, der vor ihm stand und --
hätte vielleicht etwas gesagt, wenn nicht seine raschere Frau, die ihm
über die Achsel in das Blatt hineingesehen hatte, ihm zuvorgekommen
wäre. Er ließ sie ruhig gewähren; sie hatte immerhin ein mütterliches
Recht an den jungen Menschen, und er kam zu seiner Zeit schon auch
dran.

»Wenn du aber etwas Rechtes werden willst, so mußt du dich noch ganz
anders dran halten, mein lieber Sohn. Denn sieh, du bist hie und da
zerstreut, dann siehst du aus, als ob du auf etwas horchtest, das nicht
da wäre. Man muß aber in der Gegenwart leben. Und dann hast du auch zu
viel Nebenliebhabereien, und manchmal fehlt es am Willen bei dir. Ja,
da fehlt's manchmal. Ich kenne dich nun schon lange. Ich darf dir das
wohl sagen.«

So sagte die Frau Rektorin, oder doch ähnlich und es war nicht nötig,
daß sonst noch jemand viel sagte. Der Vater Ehrensperger tat es nicht
und auch wir tun es nicht.

Wir halten uns lieber an einige Erlebnisse aus jenen Jahren, die Georg
nicht schriftlich hatte und die nur in dem Stammbuch standen, das wir
alle in uns tragen und in das sich von unserer ersten Kindheit an
Menschen und Ereignisse eingetragen haben.

Menschen und Ereignisse kommen und gehen und füllen ihr Blatt in dem
Buch unseres Lebens. Und wer will von allem sagen: Dies war bedeutsam
und jenes war ohne Wirkung? So offen liegt Werden und Wachsen nicht vor
uns, daß man von jedem Zoll sagen könnte: Das ist von jenem Sommertag
und dies von jener Sturmnacht.

Einmal, da ging Georg Ehrensperger an einem Sonntagmorgen aus dem Haus
und wußte nicht recht, wohin mit sich selbst.

Ernst Daxer, der ging regelmäßig zur Kirche, und wenn er es zu machen
wußte, so kam er und holte den Wiblinger Schulkameraden auch dazu
ab. Sonst gingen ihre Wege auseinander. Er wohnte in einer andern
Stadtgegend und lebte in einem andersartigen Kreise und besuchte ein
anderes Gymnasium. Er war in einem Haus und unter einer Obhut, da sich
alles Gute, Fromme, Geordnete von selbst verstand, da an einem wohl
umzäunten Weg Kirche, Bibelstunde, Jünglingsverein und Hausandacht zur
Rechten und zur Linken lagen und gar nicht zu versäumen waren.

Man konnte ihn vorläufig weder loben noch tadeln, daß er das alles
mitmachte; so wenig als man einen Bach loben oder tadeln kann, den man
in ein tiefes Bett mit hohen Ufermauern geleitet hat und der nun glatt
und sicher darin fortläuft.

Er war aber ein kindlicher, einfacher Mensch mit einem offenen Wesen,
den man wohl gern haben konnte und der seiner Mutter niemals unnötige
Sorgen machte. Auch verdarb er nicht, wie leider manche tun, an
geistiger Überfütterung, noch auch daran, daß man seine ganze Jugend
hindurch alle seine Schritte behütete und er nicht frei stehen konnte,
als er ins Leben und in die Selbständigkeit hinauskam.

Er hatte seinen Vater sterben sehen, wie er mit bittern Sorgen rang
und ein schwer errungenes Vertrauen faßte, und er hatte seiner
Mutter herben, zähen Kampf mit der Not miterlebt. Vielleicht war
das beides ein gutes Gegengewicht gegen das weiche, behagliche,
selbstverständliche Christentum, das ihn hier umgab.

Nun also, in dieser Zeit, da sie noch beide Gymnasisten waren,
trieb ihn ein starkes Heimatgefühl, immer wieder Georg Ehrensperger
aufzusuchen.

Er erschien an manchem Sonntagmorgen in Frau Mollenkopfs Wohnung und
half ihm, der sich leicht an Kleinigkeiten vergaß, in die Kleider
und zum Haus hinaus und war glücklich, wenn er ihn mit sich hatte.
Auch erfüllte es ihn mit einem fast väterlichen Stolz, wenn Georg mit
seiner reinen, frischen Stimme das Lied mitsang, daß sich der und jener
umwandte und nach dem Sänger hinsah. Sie probierten aber nach und nach
fast sämtliche Kanzeln der Stadt, und taten sehr kritisch, weil sie
später auch zu predigen gedachten und blieben schließlich an einem
Pfarrer hängen, der einfach, frisch und natürlich vom Evangelium, als
von einer frohen Botschaft, die im Leben richtig zu verwenden sei,
sprach. Der stand im Geruch, ein wenig »frei« zu sein. Also wählten sie
das Schwere, daß man das später auch von ihnen sage, und beschlossen,
gerade ein solcher zu werden, wie er.

Aber heute war Ernst Daxer nicht gekommen. Er war, soviel Georg wußte,
mit seinem Jünglingsverein, der einen Posaunenchor hatte, zu irgend
einem auswärtigen Jahresfest gefahren.

Und Georg hatte dem Kirchenläuten zugehört, wie es so voll
und stark über die Stadt hinhallte, und es hatte ihm allerlei
Gedanken aufgerührt, und erst, als es still wurde und von der St.
Leonhardskirche die Orgel herübertönte, fiel es ihm bei, daß es nun
zu spät sei. Also ging er aus dem Haus und ging ein wenig planlos
durch die Straßen und kam bald an einem schönen, schlichten, vornehmen
Gebäude vorbei, das hatte einen Mittelbau mit einem säulengetragenen
Portal und zwei Seitenflügel und hatte einen Vorgarten, darin blühte
es in den Beeten über und über von Monatsrosen. Das war alles so
ruhig-schön, so festlich und feierlich schon von außen. »Museum der
bildenden Künste« stand über dem Portal in großen goldenen Lettern.

Da ging er hinein. Eine Vorhalle, breite Treppen führten rechts und
links in die Höhe. Aber da unten stand eine Tür offen. Weiße Gestalten
schimmerten, von hellem Licht übergossen, heraus in die Dämmerung der
Vorhalle. Denen ging er nach. Er wußte sich nicht recht zu helfen. Es
hatte ihm noch niemand Anweisung zum Anschauen gegeben. Es waren ihrer
so viele, große, schweigende Menschengebilde. Er sah sie alle an, wie
man fremde Wesen ansieht, sie wirkten alle auf ihn ein.

Er war der einzige lebende Mensch unter ihnen; sie bildeten eine Welt
für sich. Es wurde ihm still und feierlich und ein wenig fremd zu Mute.

Da, als er sich sammeln wollte und die Augen auf einen Punkt zu
richten gedachte, da fand er sich vor der riesigen, prachtvollen
Jünglingsgestalt des jungen David. Es war nur ein Gipsabguß nach
Michelangelos großem Werk. Aber was wußte Georg Ehrensperger von der
reinen, großen Wirkung des edlen Marmors?

Hier stand er und versank ins Schauen.

Und das starke, kühne Gesicht des Sohnes Isai nahm vor ihm Leben an;
es strafften sich die Sehnen der hohen Gestalt; es zuckte der Stein,
den der Jüngling gegen den Riesen, den Verderber des Vaterlandes,
schleudern wollte, in der rechten Hand.

Und hoch auf richtete sich der lang aufgeschossene Knabe, und seine
Augen blitzten heller, je länger er davor stand, und er ballte die Hand
zur Faust.

Taten tun, Großes erleben; starkes, reines Heldentum.

Wo waren die Zeiten, in denen es das alles gab? Was konnte man jetzt
tun?

Studieren, hinter Büchern sitzen, dann ein Examen machen, dann ein Amt.
Predigen, reden, wieder reden, lesen.

Und er stand Aug' in Aug' mit dem herrlichen Jüngling, und das Herz
brannte ihm, und seine junge Seele schwoll, wie ein Bach im Frühling
über die Ufer schwillt, und begehrte, Taten zu tun in der Heerschaar
der Guten, Echten, Tapfern; irgend etwas Großes zu verrichten in der
Sache der Menschheit.

Aber was?

Das Glockenzeichen erscholl und riß ihn aus seinen Gedanken. Der
Schließer rasselte mit dem Schlüsselbund; die Galeriestunde war vorüber.

Da war er wieder auf der Straße, da wogten die Menschen um ihn her,
sonntagsfroh, geputzt, und manche laut und lustig. Und der Abstand
zwischen hier draußen und dort drinnen war groß.

Da schlug ein Kinderweinen an sein Ohr. An einem Laternenpfahl lehnte
ein Bübchen, das weinte bitterlich. Es war ärmlich angezogen und
hatte ein verschmiertes Gesicht und seine krummen Füßchen steckten in
Schlappen, die ihm viel zu groß waren.

Ich weiß nicht, ob es davon kam, daß er aus der Kleinstadt war, wo
alles Menschenwesen näher beieinander ist, oder wovon es kam; aber es
war schlechterdings unmöglich, hier vorbeizugehen.

Was gibt's, Bürschlein? sagte er und besah sich den Jammer.

Das Bübchen hielt mit Schluchzen inne und sah mit großen Augen auf. Es
hatte sich verlaufen und war sich dessen mit Schrecken bewußt geworden,
und war sich so unmenschlich verloren vorgekommen. Wie ein Sternlein,
das die Milchstraße verlassen hat und sich nun im Weltall nicht mehr
zurechtfindet.

Aber der junge Herr hier, der eine rote Mütze trug und sich zu ihm
niederbeugte, der hatte so etwas in seinem Gesicht, das einem neuen Mut
machen konnte.

Da fuhr sich das Bübchen mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht,
schob eine schmutzige, kleine Hand in die große, und setzte sein
krummes Beinwerk in Bewegung.

»Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist,« sagte der kleine Kerl, »zeig'
mir's.« Es war ungemein selbstverständlich. Es gab gar keine Frage mehr.

Ja, so hatte es Georg Ehrensperger freilich nicht gemeint. Er sah sich
einen Augenblick um. Die Leute hatten heute so viel Zeit; sie fingen
schon an, stehen zu bleiben und zuzusehen.

»Ich weiß nicht, wo deine Mutter ist,« sagte er; die kleine Hand fallen
zu lassen, das wagte er aber nicht.

»Nicht?« Der kleine Bube sah ungläubig aus. »Du bist doch so groß.«

Es war nichts anderes zu machen, sie gingen mitsammen durch die Straßen.

Da war es nun Georg Ehrenspergers erste Heldentat, einem kleinen,
schmutzigen Bübchen den Weg nach Hause zu zeigen.

An der beschützenden Hand wuchs dem kleinen Kerl der Mut. »Dort hinein
geht's, das ist die Straße,« sagte er plötzlich und strebte mit Macht
voran. Es war in dem Gäßchengewinkel, das um die Markthalle her ist.
Und dann schrie er plötzlich auf. »Mutter,« schrie er entzückt und
lief auf eine Frau zu, die mit angstvoll spähendem Gesicht auf eine
Hausstaffel herausgetreten war. Er sah sich nicht mehr um. Er lag fest
in ihren Armen und sie schalt und liebkoste ihn.

So, nun konnte Georg Ehrensperger gleichfalls nach Hause gehen. Er
drehte noch einmal den Kopf; da trug eben die Mutter ihr Bübchen ins
Haus. Wie es kam, wußte er selbst nicht, aber auf einmal war er mitten
drin, zu pfeifen: Und so will ich wacker streiten, und soll ich den Tod
erleiden, stirbt ein braver Reitersmann.

       *       *       *       *       *

Einen eigentlichen Freund und Weggenossen hatte Georg Ehrensperger
damals nicht, wie schon gesagt. Er ging so für sich hin, nahm am
Leben der Schule und an den jungen Leuten teil, wie der Tag es mit
sich brachte und lebte im übrigen sein eigenes Leben für sich allein.
Er gewann aber im zweiten Jahr, das er in Stuttgart verlebte, eine
heimliche Liebe, die füllte für kurze Zeit sein einsames Herz, das ja
dennoch nach Anschluß verlangte, mit einem Reichtum, den die andern
nicht ahnten.

Es war aber nicht die Liebe zu einer Frau, sondern zu einem Lehrer, der
lange krank gewesen und nun wieder gekommen war.

Als Georg ihn das erste Mal auf dem Katheder sah, mußte er in
seinem Gedächtnis nachsuchen, wo er dieses schmale, ernste Gesicht
mit den dunkeln, ruhig betrachtenden Augen unter einer hohen,
furchendurchzogenen Stirn schon gesehen habe, und es fiel ihm das
alte Bild eines Magisters ein, das in der Sakristei der Wiblinger
Stadtkirche hing. Ja, das war es. Georg war beim Konfirmandenunterricht
ihm gegenüber gesessen und die Augen hatten ihn immer im Bann gehalten.
Da war es ihm, als ob er den Mann kenne, der lebendig hier vor ihm
stand. Und als der Lehrer anfing zu sprechen, da kannte er auch seine
Stimme. Aber er wußte nicht, woher.

An diesem Tag aber fing Georgs heimliches Glück und Unglück an. Denn
diese Liebe trug alles in sich, was zu einer rechten, heimlichen
Liebe gehört: Begeisterung, Sicherheit, da sie einem niemand streitig
machen kann, der sie nicht ahnt, Wonne des Genießens und Schmerz des
Entbehrens.

Der Lehrer gab Stunden in Literatur, Kunstgeschichte und Weltgeschichte
und war ein Mann, der in seinen Gegenständen lebte und sie herzlich
und eindringlich in andere Gemüter zu übertragen wußte. Sein Ton blieb
immer schlicht und gelassen und verstieg sich nur in Augenblicken
besonderer Gehobenheit zu einer Wärme, die sich dann den Hörenden
mitteilen mußte. Wenn dieser Mann ein Stück aus dem Nibelungenlied
vorlas, oder wenn er über die Akropolis sprach, oder was es sei, dann
bekam alles Leben, echtes, wahrhaftiges Leben.

Dann schien der blaue Himmel Griechenlands auf den weißen Marmor, dann
rauschten die deutschen Eichen zu den Heldentaten der alten Recken,
dann schwollen die Herzen der jungen Deutschen. Dann schwoll vor allen
Georg Ehrenspergers Herz in einer hellen und warmen Begeisterung.

Aber dabei blieb es nicht. Er, der die Begeisterung entfachte, war
selber so ein Held. Er war ernst und gütig, und es war kein Zweifel,
daß er auch tapfer, treu und stark war wie nur einer. Er verstand sie
alle, die Helden des Geistes und des Arms, darum stand er über allen.
So schien es dem Knaben. Und es war nur schade, daß der Lehrer es nicht
wußte, daß er so etwas Großes sei. Er wäre vielleicht manchmal mutiger
nach seiner Wohnung zurückgekehrt, wenn er das helle Feuer in seines
Schülers Herzen gesehen hätte. Aber er sah es nicht. Georg Ehrensperger
verbarg es sorgfältig. Nur zu gut verbarg er es.

Aber eines Tages bekam er etwas davon zu sehen. Einmal und dann nicht
wieder.

Es war an einem warmen Nachmittag, der sich schon dem Abend zuneigte.
Sie hatten beide, ohne daß einer vom andern wußte, die steile Höhe
erstiegen, die gleich hinter der Stadt ansteigt und die vom Walde
bekrönt ist, und hatten beide etwas in den Wald hineingetragen, das
in der ruhevollen Stille hier oben ausklingen und verebben mußte;
der Jüngere eine herzklopfende Unrast, die ihm heut nachmittag der
Eichendorff und der Lehrer miteinander geschaffen hatten, der eine als
Dichter, der andere als Rezitator.

Und der Ältere eine Niederlage, die ihm seine schulmüden Nerven und ein
paar ausgelassene Schlingel miteinander bereitet hatten. Er war heftig
geworden und hatte das Buch mit hartem Nachdruck zugemacht als ein
Besiegter, nicht als ein Sieger.

Nun lag die Stadt unter ihnen. Der Sonnenschein lag still darüber; es
war Sommer. Hier oben rührte sich nichts. Kaum daß ein Lüftchen durch
die Baumkronen hinging, oder eine Eidechse mit leisem Rascheln durchs
Gebüsch schlüpfte. Auf einem schmalen, grün bewachsenen Fußsteig ging
Georg Ehrensperger dahin. Gleich daneben führte die weiße Straße durch
eine Birkenallee. Dort ging der Lehrer. Er trug den Hut in der Hand und
ließ sich den heißen Kopf verlüften, und hie und da blieb er stehen
und atmete tief auf. Er war hier zu Hause, es brauchte nicht lang, bis
die stillen Geister des Waldes ihr sänftigendes Werk an ihm getan
hatten. Da freute ihn wieder der wilde Rosenstrauch am Wege, und der
Ameisenhaufen, und das leise Spiel der Birkenblätter über ihm.

»Die armen Kerle,« sagte er und gedachte seiner jungen Leute; »es sind
so baumstarke Burschen unter ihnen; was wollen die von der Poesie? Sich
recken und vertoben möchten sie. Etwas schaffen mit ihren Gliedern.«
Er sah an seiner eigenen, schmalen Gestalt hinunter. Er hatte freilich
keinen Überschuß an Körperkräften. Er lächelte, es war etwas Befreites
darin. »Es möchten doch zehn Fromme in Sodom sein, oder fünf.« Er ließ
die Gesichter seiner Schüler an sich vorübergehen. »Ganz umsonst --
ein Schlag ins Wasser -- nein, das ist es doch nicht, was ich tue. --
Der? Oder der? Der Ehrensperger, das ist ein besonderes Kraut. Dumm ist
er nicht, aber zerstreut. Daß ich den nicht anzufassen verstehe. Aber
was ist das?« Da schallte eine helle Knabenstimme durch die Büsche. Es
war von einem, der sich ganz allein dünkte. Was war das? Das hatte er
heut vorgetragen. Da schoß ihm eine lichte Freude durchs Herz. Er stand
still. Da drinnen schritt der lange, blasse Junge, der ihm soeben so
stark nachzudenken gegeben hatte. Er hatte die Mütze tief im Nacken und
sein Gesicht strahlte von heller Begeisterung.

      »Laß die Ketten mich zerschlagen;
      Frei zum schönen Gottesstreit
      Deine hellen Waffen tragen,
      Gib zur Kraft die Freudigkeit!«

Wie es darin klirrte von »hellen Waffen«, wie es sich reckte von
Freiheitsverlangen, alles war frisch und stark und aufgerichtet darin.
Das war der Träumer? Jetzt hatte er ein waches Gesicht. Alle guten
Geister wohnten darin. Und der Lehrer wußte mit einemmal: »Der da
gehört zu deiner Gemeinde.« Das war nichts kleines. Er wollte ihn aber
vorübergehen lassen, still und ohne ihn zu stören.

Da sah Georg plötzlich auf ihn. Gerade durch einen Ausschnitt in dem
Buschwerk, das da am Grabenrand stand. Gerade in die ruhigen, dunkeln
Augen des Wiblinger Magisterbilds hinein, das da in einem Rahmen von
grünen Zweigen auftauchte. Das Bild war aber lebendig und nickte ihm zu.

Da wurde er dunkelrot. Ob der Lehrer wohl alles gehört hatte?

»Grüß Gott, Ehrensperger. Auch da oben?«

»Grüß Gott, Herr Professor. Ja.«

»Wir könnten aber miteinander gehen, wenn wir doch denselben Weg haben.
Wohin gehen Sie, Ehrensperger?«

»Ich? O, nirgends.« Es fiel ihm absolut keine andere Antwort ein. In
seinen Phantasien, da wußte er immer bedeutende Dinge zu sagen. Aber
dies war Wirklichkeit.

»Nirgends? Dahin geh' ich auch. Da gehen wir zusammen. Nur so durch den
Wald.«

Da kam der Lehrer auf den Fußsteig herein, weil Georg nicht zu ihm
herauskam. Und dann schritten sie selbzweit dahin.

Innen jubilierte die heimliche Liebe. Außen ging ein sehr gesetzter
junger Mann neben seinem Lehrer her. Wer nun zuerst etwas sagte? Und
was? Die allergrößten Gedanken schwirrten durch den Kopf des Beglückten.

Da trug er die innere Bewegung nicht mehr und um sich Luft zu machen,
riß er einen stattlichen, hellgrünen Zweig von einem Haselbusch und
schlug sich damit aufs Knie, daß die Blätter flogen.

Der Lehrer blieb stehen, sah den Haselbusch an und dann den Zweig.

»Setz' ihn wieder dran,« sagte er lächelnd, »wenn du kannst.«

Er dachte nicht daran, daß er du sagte. Dies war so ein junges, rasches
Gemüt und er mußte es liebhaben.

Dem Jungen stieg eine schnelle Blutwelle bis unters Haar.

Er besah den Zweig; es hing ein Tröpflein Saft daran wie ein
Blutstropfen. Und er besah den Mann; er hatte ihn im Verdacht, daß er
der Rektor Cabisius sei in einer Verkleidung. Der hätte auch so sagen
können.

»Ich tu's nicht mehr,« sagte er. Nein, er konnte den Zweig nicht
mehr dransetzen, er blieb abgerissen. Das Herz schlug ihm darüber.
Daran hatte er noch nie gedacht. Und auf Größeres kamen sie nicht
miteinander. Sie erlebten gar nichts. Sie gingen nur so miteinander
durch den Wald und besahen sich die Galläpfel an den Eichenzweigen und
ein Heer von kleinen, purpurnen Blattläusen, die an einem Rosenstrauch
saßen und fraßen. Eine große, gelbe Kröte sahen sie über den Weg tappen
in plumpen Sätzen, und dachten sich aus, bei wem sie auf Besuch gewesen
sei, und sie horchten auch auf die Stimmen der Waldstille. Derer waren
mancherlei.

Als sie aber an eine Kolonie von Pilzen kamen, die beieinander in
einem vermodernden Baumstrunk standen, da hielt Georg Ehrensperger
die Haselgerte zurück, die schon in seiner Hand zuckte, um ihnen
allesamt die Köpfe abzuschlagen. Sie standen da so zierlich und fein
und lebten ihr kurzes Leben, und war jeder wieder ein bißchen anders,
als der andere. Und als sie beide näher hinsahen, da lebte der ganze
Baumstrunk. Ameisen schleppten ihre Lasten und Käfer kletterten an
den Pilzen empor. Sie wußten wahrscheinlich schon zu welchem Zweck;
das ging die Menschen nichts an. Und das war alles, was die beiden
miteinander erlebten.

Der Lehrer wohnte auf der Höhe und der Schüler im Tal, und als sie sich
trennten, hatten sie gar nicht viel Interessantes miteinander geredet.
Es war merkwürdig, daß sie einander dennoch so bekannt vorkamen, ja,
daß jeder für sich gesonnen war, das heutige zufällige Begegnen mit
Willen zu wiederholen.

Da konnten sie ja dann nachholen, was sie etwa heut versäumt hatten. Da
konnte Georg Ehrensperger noch einen Anlauf nehmen und sagen, daß er
gesonnen sei, Eichendorffs Lieder in Musik zu setzen, und daß ihn der
Gedanke daran in den Wald herauf getrieben habe, und daß ihm das nicht
so schwer vorkomme.

Und der Lehrer konnte ihm dann mitteilen, daß auf diesen Gedanken schon
einige Zeit vorher auch rechte Leute gekommen seien und daß sie ihn
auch ausgeführt haben, aber daß es ihm ja unbenommen sei, sein Heil
auch noch daran zu versuchen.

Und es war nur schade, daß jetzt die Sommervakanz kam und daß nach
derselben auf des Professors Katheder ein anderer Mann stand. Und
daß Georg Ehrensperger alles, was sich während der langen Wochen in
ihm angesammelt hatte, samt seiner heimlichen Liebe, die nur einen
Sonnentag erlebt hatte, auf den Pragfriedhof tragen mußte, wenn er es
an den Mann bringen wollte.

Er brach aber einen Strauß von grünen Zweigen, und brach jedes
Zweiglein mit Bedacht und es reute ihn nicht; den trug er dort hinaus.

       *       *       *       *       *

Einmal, das war an einem Werktag, da war ein außergewöhnlicher freier
Nachmittag. Cannstatter Volksfest. Die Stadt war wie ausgeleert. Es
schien, als ob alle Menschen dort unten auf dem Festplatz seien;
niemand auf den Straßen, niemand an den Fenstern. Frau Mollenkopf war
auch fort; sie war mit einer Nachbarin gegangen. Es mußte schon etwas
so überwältigendes sein, wie das Cannstatter Volksfest, wenn sie am
Werktag frei machte.

»Aber,« hatte die Nachbarin gesagt: »am Volksfest schaffen? Das kommt
mir vor, wie eine Sünd'. Einmal der Brauch ist's nicht.«

Ja, und gegen den Brauch wollte Frau Mollenkopf nicht angehen. Da zog
sie ihr zweitbestes Kleid an und zog mit der Nachbarin aus. Georg
Ehrensperger war auch dort drunten gewesen; gestern gegen Abend. Die
ganze Klasse war dort gewesen und er mit. Karussell, Schießbuden,
Wachsfigurenkabinette, Moritatensänger, neues Sauerkraut und warme
Würstchen, neuer Wein.

Er hatte genug von gestern.

Nun saß er am Klavier und übte. Er wollte den ganzen Nachmittag dazu
benützen. Er mußte vorwärts kommen, es ging viel zu langsam für seinen
Geschmack. Das war nicht nur so, wie zu Haus in Wiblingen unter der
Bettdecke, wo es mühelos gegangen war. Hier, in der Wirklichkeit, da
gab es Fingerübungen, fünfzig mal dieselbe, und dann zur Abwechselung
Tonleitern.

»Sie haben etwas spät angefangen,« sagte der Lehrer tröstlich, »das
kommt noch; nur Übung, Übung.«

Ja, da saß er denn und übte. Aber ob er es jemals dazu bringen würde,
so zu spielen, wie sein Lehrer?

Er zog während der Schulstunden an den Fingern, daß sie knackten. Das
sollte ja gut für die Gelenkigkeit sein.

Nein, das war wohl nicht möglich, daß er je so weit kam. Zuweilen,
da konnte es ihn förmlich rütteln. »Ich will aber,« sagte er zu sich
selbst und zu Ernst Daxer, der immer bereit war, ihn anzuhören. Und
dann konnte sich Frau Mollenkopf segnen, wenn er im Gymnasium war,
und segnen, wann er in seiner Stube saß und zu lernen hatte. Denn im
Übrigen gab es keine Rettung, weder für ihre Ohren, noch für ihr altes
Klavier.

Es war ein Klimperkasten; aber da war nun nichts zu machen, Georg fand,
es sei immerhin besser als gar keins.

Wenn nur das Denken nicht wäre.

Es wäre ein solch schöner, ungestörter Nachmittag gewesen.

Aber nun fiel ihm ein: ob er wohl später, wenn er das alles in den
Fingern hatte, und wenn er einmal ein rechtes Klavier besaß, ob er dann
alles das, was ihm so eigenes durch den Kopf ging, spielen konnte?
Nicht nur so ein bißchen verlegen in der Dämmerung -- nein, recht wie
es sein mußte? Am Ende gar niederschreiben? Aber dazu mußte man noch
ganz andere Dinge lernen, soviel wußte er nun auch von der Sache.

Während dieses Nachdenkens lagen die Hände ruhig auf den Tasten. Dann
erschrak er und spielte weiter. Es war eine dumme Geschichte, das war
nicht zu leugnen: er hätte das alles schon lang lernen sollen, dann
wäre er jetzt weiter. Eine einfache Wahrheit; aber nun war es so,
wie es war. -- Der Milchwagen da unten; die Blechkanne stießen beim
Fahren aneinander; im Dreivierteltakt, dachte er. Aber eine davon, die
ratterte immer dazwischen, ratatat--ta. Es war unausstehlich. So, nun
war es vorbei.

Er konnte wohl auch eine Pause machen, das Übungsstück war nicht so
überaus anziehend. Ja, um es recht zu sagen, er hatte es plötzlich
dicksatt. Er nahm es und warf es mit Wucht auf den Klavierdeckel, da
rutschte es weiter und fiel zu Boden. Von dort mußte es Georg später
wieder aufheben, das war alles, was damit erreicht war.

Obwohl gar nichts besonderes auf der Straße zu sehen war? Nein, nach
vorn heraus nicht. Aber vielleicht im Hof? Es konnte ja ausnahmsweise
sein. Ja, da stand ein kleiner, buckliger Mann und spaltete Holz. Georg
kannte ihn vom Sehen, er wohnte im Hinterhaus und ging als Holzspälter
auf Taglohn und hatte eine große, starke Frau. Sonntags, da gingen die
beiden schon des morgens mit den Gesangbüchern aus dem Haus; also wohl
in die Kirche. Der Mann trug dann immer einen langen, schwarzen Rock;
es sah eigentlich drollig aus: die kleine, gebückte Gestalt, und die
langen Rockschöße, die fast auf dem Boden hingen.

Georg hatte plötzlich Lust, den Mann ein bißchen kennen zu lernen.
Es war sicher besser, ein wenig mit dem Spielen auszusetzen. Es ging
nachher um so frischer voran. Als er so weit war in seinen Gedanken,
ließ er eins der Handtücher, die zum Trocknen aus dem Fenstersims
ausgebreitet waren, in den Hof hinunterfallen. Ja, es muß gestanden
werden, daß er es tat. Er hätte ja ruhig hinuntergehen können und ein
Gespräch anknüpfen. Aber so war Georg Ehrensperger nun eben nicht
beschaffen. So hätte es Gertrud Cabisius gemacht; daran dacht er im
Hinabgehen. Denn nun mußte er das Handtuch wieder holen.

Der kleine Mann drehte sich um und sah auf, als er die Tür hinter sich
knarren hörte. Da stand der lange, schmale, junge Mensch vor ihm.
»Ich -- es ist mir etwas« -- nein, nun mochte er doch nicht lügen.
Er bückte sich und hob das Tuch auf. Aber der Holzspälter war nicht
schwerfällig. Er hatte gleichfalls Lust zu einem kleinen Schwatz. Er
hatte ein rundes, freundliches Gesicht, das an beiden Seiten von einem
schmalen, dunklen Bart eingerahmt war. Das Kinn war glatt rasiert. Auf
dem Kopf prangte eine mächtige Glatze. »So?,« sagte er, »nicht auf dem
Volksfest, junger Herr, hm?« »Nein,« sagte Georg, und, da ihn beim
Anblick des kleinen Mannes ein heimatlich-behagliches Gefühl überkam,
so wuchs ihm der Mut, hinzuzusetzen: »Und Sie, Sie sind ja auch nicht
dort.«

»Ha, ha,« lachte der Holzspälter und trennte mit einem mächtigen Hieb
ein Stück Holz in zwei Teile, »das wär ja schön. Ich da unten! Nein,
wissen Sie, alles was recht ist, ich kann Holz spalten, wie einer.
Aber so extra gewachsen bin ich nicht, daß ich mich grad auf dem
Volksfest zeigen möchte. Ha, ha,« er lachte wieder, es schien ihm ein
erheiternder Gedanke zu sein, daß er dort drunten seinem Vergnügen
nachgehen könnte, er!

»Meine Frau ist hingegangen,« fuhr er fort, »natürlich. Wissen Sie,«
nun reckte er sich aber doch ein wenig und legte die geballte Faust auf
die Brust, »bei mir, da tät es sich auch wegen des Standes nicht recht
schicken, daß ich zu so was ginge.«

Georg machte große Augen. Wegen des Standes?

»Ja,« sagte der Mann, »das sieht man mir nicht an, wenn ich Holz
spalte; ich bin so ein bißchen geistlich, wenn man so sagen will.
Kirchlicher Beamter. An der Hoforgel; Orgeltreter in der Schloßkirche.«
Sein Gesicht drückte plötzlich etwas wie Würde aus; es war ihm
vollständig ernst mit dem Stand. »Man muß immer wissen, was sich
schickt,« sagte er.

Da kamen sie denn unversehens in ein dauerhaftes Gespräch. Es fiel
Georg Ehrensperger nicht ein, zu lachen. Er interessierte sich für die
Orgel, er fand es viel schöner, selbst etwas damit zu tun zu haben, als
nur zuzuhören. Und er gestand, Orgelspielen, das gehöre zum Höchsten;
wenn er heimkomme nach Wiblingen, in der großen Vakanz, dann wolle
er es versuchen; er bekomme schon den Schlüssel, das wisse er. Der
Hoforgeltreter staunte. Das war ein kühner Gedanke; ihm, das mußte er
gestehen, war es immer unbegreiflich, wie man es so weit bringen könne.
Mit Händen und Füßen zu spielen, das war doch schon eine Leistung.
»Aber freilich,« nun lachte er wieder, »ich hab's in der Musik auch
nicht weit gebracht. Alles, was recht ist. Auf einem Kamm blasen, das
kann ich, und das Orgeltreten, das versteh' ich, wie einer. Aber mein
Sohn, der!« Er schüttelte den Kopf, als ob ihm jeder Ausdruck fehle, zu
sagen, was sein Sohn für einer sei. »Der ist bei den Posaunenbläsern
auf dem Stiftskirchenturm. Alle Achtung.«

Ja, das war so das richtige Thema für die beiden.

Georg Ehrensperger saß auf der Holzbeige und der Alte, er hieß Knupfer,
auf dem Haublock.

»Wenn einer will,« sagte er, »wenn einer weiß, was er will. Der? der
hat's wohl gewußt. Jawohl, junger Herr. Alles was recht ist.

Ich hab' ihn zu einem Schreiner in die Lehr' getan. Aber immer
gepfiffen und gesungen, und immer Musik im Kopf. Hat alle Pfennig
zusammengespart, wissen Sie, hat allemal Trinkgelder bekommen, wenn er
die toten Leut hat müssen helfen in die Särge legen. Ja, und da ist
beim Vorkäufer da drüben ein Piston feil gewesen, ein altes Ding, aber
noch gut. Das hat er gekauft, als er die Hälfte des Geldes beieinander
hatte; die andere Hälfte hat er nach und nach bezahlt. Der Vorkäufer,
der kann auch rein alles, der hat ihm die Griffe gezeigt. Und da ging's
an. Aber, o je, als der Bub in seiner Kammer hat blasen wollen, da ist
der Meister gekommen, der Schreiner. Hat einen Kopf gehabt, so rot wie,
wie --« er sah sich vergeblich nach einem Vergleich für die Röte von
des Meisters Kopf um, es gab nichts so rotes -- und hat gesagt -- und
hat geschrieen: 'Still, auf der Stell', und daß ich das nimmer hör.
Meine Frau sitzt drunten und hat die Händ' vor den Ohren. Meinst du,
ich woll' deinethalb um den Hausfrieden kommen?'

Denn, junger Herr, die Frau Meisterin, die hat das Heft in der Hand
gehabt und der Meister, der hat so tun müssen, wie sie wollte.

Und als er gesehen hat, wie dem Buben alles verhagelt war, und daß ihm
das Wasser in die Augen geschossen ist, da -- er ist so unrecht nicht
gewesen --, da hat er gesagt: 'Wenn du's einmal kannst, dann darfst du
blasen, sauber und glatt, dann hat meine Frau -- dann haben wir nichts
dagegen. Aber vorher nicht.'

Alles was recht ist, junger Herr. Es tut nicht schön, -- obgleich ich
nicht viel davon verstehe, -- wenn einer ein Blasinstrument an den Mund
setzt, das er noch nicht zu blasen gelernt hat.

Aber das muß ich doch sagen, wenn er sich nicht üben darf, dann lernt
er's auch nicht. Also, so war's bei meinem Buben.

Aber, das hab' ich schon einmal gesagt und sag's noch einmal: wenn
einer weiß, was er will. Da hat der Bub ein ganzes Jahr lang jeden
Abend in den Kleiderkasten hineingeblasen, kein Mensch hat's gehört,
und hat sich geübt. Und als das Jahr herum war, da hat er eines Abends
das Fenster aufgemacht und hat über die Gasse hin geblasen: »Wie
schön leucht't uns der Morgenstern,« und hat zu keinem Menschen etwas
gesagt. Und am andern Morgen sagt der Meister beim Kaffee: »Wilhelm,
wenn du's so könntest, wie der, der gestern Abend geblasen hat in der
Nachbarschaft, dann hätt' kein Mensch etwas dagegen. Siehst du? Der
kann's.« Da hat mein Wilhelm ein Schelmengesicht gemacht und gesagt:
»Meister, das bin ich gewesen.«

Ja, und von da an, sehen Sie, junger Herr, da ist er über das Gröbste
hinüber gewesen. Und jetzt? hab' ich's schon gesagt? jetzt ist er bei
den Stadtzinkenisten auf dem Stiftskirchenturm. Ja, und so weit kann's
der Mensch bringen, wenn er sich übt in der Geduld und wenn er das
Schenie dazu hat.«

Da glitt Georg Ehrensperger von seinem hohen Sitz herunter und sagte,
daß er nun wieder ins Haus müsse und gab dem Alten die Hand.

Und es war eine Pause von einer halben Stunde gewesen, und der
Nachmittag lag noch ebenso still über der Altstadt, und das Notenheft
lag noch auf dem Boden, ganz wie vorher.

Aber nun hob er es auf und machte sich dahinter und tat, wie Knupfers
Wilhelm, er übte sich in Geduld, und als Frau Mollenkopf nach Hause
kam, da übte er auch sie in der Geduld, und es ging ihm wie allen, die
auf mühseligen und eintönigen Wegen an ein ersehntes, schönes Ziel
gelangen müssen: er kam, einen Schritt um den andern, -- um noch einmal
mit dem Hoforgeltreter Knupfer zu reden »über das Gröbste hinaus«.




                    Viertes Kapitel


Inzwischen war weder in Wiblingen noch sonstwo auf der Welt das Leben
stehen geblieben. Die Alten waren mehr in das Alter und die Jungen mehr
in die Jugend hineingewachsen.

»So,« sagte Gertrud Cabisius, als Georg nach dem Maturitas nach Hause
kam, »das hätten wir hinter uns.« Immer noch »wir«, wie einst, da sie
als Kinder unter dem Apfelbaum saßen und Pläne schmiedeten.

Dort saßen sie auch jetzt wieder, dort und an allen alten Plätzen.
Aber nun waren sie groß geworden. Er lang und schmal und etwas blaß,
immer noch mit leichten Sommersprossen auf der Stirn, immer noch mit
dem weichen, etwas verlorenen Gesichtsausdruck, den Kopf manchmal wie
horchend etwas vorgeneigt, immer noch leicht zu hohen, starken Gefühlen
entflammt, die ihn wie Flügel trugen, und leicht auf die Erde geworfen,
die Nase nach unten. Sie breit und hoch gewachsen, mit kräftigen, etwas
schweren Bewegungen, trug den stark entwickelten, klugen Kopf, um den
die braunen Zöpfe lagen, sicher und aufrecht, so, wie ein guter, junger
Baum seine Krone trägt. Ihr Gesicht war ein wenig bräunlich, breit und
offen, der Mund schmal und fein, die Nase, die war ihrer Großmutter
geheimer Kummer, denn sie nahm entschieden ein bißchen viel Platz ein,
die Augen braun, klug und warm dabei.

»Wenn sie ein Mann wäre,« dachte die Großmutter im Stillen, »dann wär
alles gut.« Dem Rektor war die Enkelin recht, wie sie war; er fand so
viel Erfreuliches an ihr, daß er nicht noch mehr begehrte.

Er hatte im vergangenen Herbst Feierabend gemacht. Achtundvierzig Jahre
seines Lebens hatte er der Jugend gewidmet. Als er ging, hatten sie in
der Wiblinger Lateinschule ein Fest gefeiert, mit Reden und Gesängen,
und man hatte ihm gesagt, daß er ein gutes und wackeres Werk vollbracht
habe, und hatte ihm eine goldene Taschenuhr von beträchtlicher Größe
und Dicke gewidmet, und ein Schüler hatte ihm in Versen gewünscht, daß
diese Uhr noch viele freundliche Stunden für ihn zeigen möge. Es war
ein schönes Fest gewesen; und jedermann fand, daß dem alten Herrn nun
das Ausruhen zu gönnen sei; auch der neue Rektor, der ein feuriger,
eifriger Mann war, fand das. Und es gehörte offenbar zu den Schwächen
des Alters, das sich nicht mehr leicht umgewöhnen kann, daß der Rektor
Cabisius sein gewohntes Tagewerk und seine Jugend dennoch vermißte.

Aber das sollte er nicht lange tun.

»Großvater, jetzt soll's fein werden,« sagte Gertrud und nistete sich
in der Studierstube ein, und schlug alle die Bücher auf, nach denen ihr
lebendiger, junger Geist stand.

Da ging es dem alten Herrn wieder wie einst: »Sie nimmt einem das Wort
vom Munde weg, es ist eine Freude, ihr zuzusehen, und eine Freude, sie
zu unterrichten.«

Da freuten ihn denn bald seine freien Jahre wieder. Er hatte die Jugend
bei sich im Haus.

Die Großmutter konnte sich billigerweise auch nicht beklagen.
Eigentlich und im Grunde tat sie's auch nicht. Die Gegenwart war ihr
recht, nur die Zukunft machte ihr hie und da Sorge.

Aber sie hatte nicht viel Zeit, darüber zu grübeln, obgleich sie immer
noch im Lehnstuhl saß und sich nicht fortbewegen konnte. Denn nun
horchte sie wahrhaftig noch zu, was die beiden mit einander zu bereden
hatten. Sie wollte nicht allein im Wohnzimmer sitzen, obgleich der
Rektor sagte: »Wenn dir's aber zuviel wird, Anne?« Es fing allerlei an,
sie zu interessieren, wozu sie früher nicht so die ruhigen Gedanken
gehabt hatte. Von unseren Vorfahren von alten Zeiten her, und wie das
deutsche Land aussah, zur Zeit von Christi Geburt und noch früher.

Einmal, da nickte sie sehr einverstanden mit dem Kopf. Das war, als
die Rede darauf kam, wie die alten Frauen, die unter unseren Vorvätern
lebten, in so hohen Ehren standen. Von der Last der Jahre gebückt,
den Schnee des Alters auf dem Scheitel, zahnlos der Mund, aber noch
glänzend das Auge, so wohnten sie unter den ihrigen und sahen Enkel und
Urenkel, und die starken Männer, rauh vom Jagd- und Kriegshandwerk,
gingen ehrerbietig mit ihnen um, und die Jugend zügelte vorlaute Reden,
wenn die Ahnfrau sprach.

Ja, manchmal erhob sich eine zusammengekauerte Gestalt vom Herdfeuer,
an dem sie gesessen, zu voller Höhe, wann der Feind ins Land fiel oder
wenn die Barden neue, seltsame Nachrichten brachten von fremden Göttern
und Völkern. Und sie reckte die Hand aus und deutete Vogelflug und
Wetterzeichen, verwob Vergangenes und Künftiges und sprach verheißende
Worte und sank wieder auf den Ruhesitz zurück. Und im Kreise ging ein
Gemurmel: »Hört ihr's, was die Ahnfrau sprach?«

»Abgesehen von der unchristlichen Zeichendeuterei,« sagte die Rektorin,
»wäre es nicht übel, wenn heutzutage noch etwas davon übrig wäre. Aber
das ist nun anders. Wo in aller Welt hat eine alte Frau noch etwas zu
sagen?«

Da waren sie schon neben ihr.

»Ja, jetzt lacht ihr; das Lachen, das soll wohl etwas helfen?«

»Aber Anne, wer hat denn zum Beispiel hier in diesem Hause etwas zu
sagen außer einer gewissen alten Frau?«

»Großmutter, du kannst dich nicht beklagen.«

»So? Ich alte Frau sitze hier und soll das alles mitanhören. Still. Ich
rede nicht von heute. Aber gestern, das mit den Erdschichten, und wie
die Gletscher entstanden und die Gebirge und Meere. Was soll ich damit?
Auch habe ich starken Verdacht, daß es nicht christlich sei, dem allem
nachzugrübeln. Wenn wir das wissen sollten, stünde es in der Bibel.«

»Aber Anne; Gott hat ein Haus gebaut und wir sollten als Kinder des
Hauses nicht darin umherstöbern dürfen, und, so viel Kinder verstehen
können, nachsehen, wie das Kellergewölbe beschaffen ist und das
Fachwerk und das Dach? Weil uns das nicht von vornherein gesagt ist,
sollen wir uns nicht besinnen dürfen und nicht fragen? Anne, es bleibt
noch genug übrig, das nicht zu ergründen ist; davon wollen wir die
Hände lassen und warten, ob der Vater uns einmal als erwachsene Söhne
wird in seinen Bauplan mit hineinsehen lassen. Wenn nicht, müssen wir
auch so zufrieden sein.«

Dagegen wußte sie nichts zu sagen.

Sie saß und hatte die dick geschwollenen Füße auf einen hohen Schemel
gelegt und mit Decken umhüllt, und war von Liebe umgeben. Sie wußten
es wohl, daß das nicht mehr anders komme, bis -- ja bis. Unser
Leben währet siebenzig Jahre und wenn's hoch kommt, achtzig Jahre.
Fünfundsiebenzig war die Rektorin und ihr Gatte siebenundsiebzig. Das
sprach von selbst. Nun kamen die geschwollenen Füße hinzu. Aber sie
gingen wie bisher miteinander weiter, jedes nach seiner Art und wußten,
daß sie zusammengehörten.

Es war nie mehr die Rede davon, daß Gertrud ein Examen machen
sollte. Es ging alles fort wie bisher; nur daß die alte Frau weiter
hinaussorgte, nicht für sich, für das Kind. Ihr Gatte tat das nicht. Es
war früher umgekehrt gewesen; da hatte #er# in die Ferne gesehen, nun
tat #sie# es.

»Ich könnte es dem lieben Gott überlassen,« sagte sie, »aber Gertrud
ist anders als andere Mädchen, das ist es, was mir Sorge macht.«

»Ach, du denkst: Diese Spezies ist dem lieben Gott noch nicht
vorgekommen, da muß schon die Rektorin Cabisius eingreifen?«

Da sah sie zu ihm auf, mit demselben Blick wie in jungen Jahren, rasch
aufflammend und ein wenig ärgerlich, und dann, wider Willen lächelnd,
wenn die Augen einander begegneten, und dann immer stiller.

Er hatte ja Recht. Was konnte das Sorgen helfen? War nicht immer alles
gut geworden? Da lehnten sie ihre grauen Köpfe aneinander und saßen
still beisammen.

Gertrud focht die Zukunft noch nicht an. Sie war siebzehn Jahre alt,
und das Leben fing erst an, ihr seine Weiten aufzuschließen. Es
verstand sich von selbst, daß es schön wurde; es war aber auch jetzt
schön. Reich war es. Sie erzählte ihrem Kameraden, Georg Ehrensperger,
der in der Vakanz daheim war -- er rüstete sich zur Hochschule --
von allem, was dazu gehörte. Sie stand in der Küche; mitten in der
Küche stand ein weißer tannener Tisch, darauf die große, steinerne
Teigschüssel. Den Teig darin klopfte sie mit viel Kraft und in vielen
Pausen. Die Pausen hingen mit der Unterhaltung zusammen.

Georg Ehrensperger saß auf der Wasserbank, links und rechts von ihm
standen hölzerne Wassergölten.

»Du wirfst noch eine davon hinunter, du solltest dich anderswo
unterbringen,« sagte Gertrud.

Er lachte behaglich.

»Ich sitze gut hier. Was soll aus dem Teig werden?«

»Weißbrot. Großmutter ist jedesmal in Sorge, daß es speckig werde oder
sonst mißrate, wenn ich den Teig nicht unter ihren Augen mache. Ich muß
ihn besonders gut durchschaffen.«

Sie gab dem Teig ein paar kräftige Stöße.

»Ich bin siebzehn. Brotbacken ist nicht schwer. Ich bin froh, daß ich
nicht buntsticken muß. Großvater hat mir geholfen, er sagt, man komme
auch so durch die Welt. Kochen und backen aber, das soll ich. Das tu'
ich auch gern.«

»Da hat er Recht«. Georg nickte sachverständig.

»Du schlägst aber die Schüssel auseinander. Was für feste Arme du hast.«

»Nicht?« Sie reckte sich. Die Ärmel ihres Hauskleids waren bis über die
Ellbogen hinaufgeschlagen.

Da kam ihr ein guter Gedanke.

»Wir wollen sehen, wer stärker ist. Das ist jetzt drei Jahre her, seit
wir nicht mehr gerungen haben. Komm.«

Sie setzte immer noch wie einst ihre Fußstapfen neben die ihres
Kindheitskameraden. Geistig und körperlich war sie stark und frisch.

Er blieb behaglich auf der Wasserbank sitzen.

»Du mußt dir vorher die Hände waschen, sonst teigst du mich ganz und
gar ein. Nachher. Du zwingst mich nicht nieder, bilde dir nichts ein.«

Die Rektorin Cabisius wäre nicht besonders hoffnungsvoll für das
Gelingen des Weißbrots gewesen, wenn sie gesehen hätte, wie das nun
ging. Eins, zwei, drei, Laibe geformt, in die Körbe gesetzt.

»Was sagst du, Marie? Nicht genug durchgeknetet? Ist nicht möglich.
Denk' einmal, als Sarah Kuchen buk, damals im Hain Mamre, da saßen die
drei Männer schon und warteten aufs Essen. Wenn die hätte eine Stunde
lang Teig kneten wollen! Ich bin überzeugt, daß die Kuchen gut wurden
und daß das Weißbrot vorzüglich wird.

Schüttle den Kopf nicht so bedenklich, du bist nicht so viel älter als
ich!«

Marie war das Mädchen. Sie stand an der Spülbank und warf hie und da
einen Blick hier herüber. Achtzehn war sie, klein, rund und rotbackig,
mit lustigen, braunen Augen; eins davon schielte, aber das sah immer
nach einer Schelmerei aus. Es konnte ihr einerlei sein mit dem Brot,
aber sie war dennoch überzeugt, daß es nicht genug durchgeknetet sei.

»So, jetzt komm,« sagte Gertrud, »du bist doch wohl nicht zu gediegen
für so etwas?«

Da warf Georg den Kopf zurück und reckte die Arme: »Komm.« Es wurde
aber nicht entschieden, wer stärker sei, denn sie warfen richtig das
eine, volle Wassergefäß um.

»Es ist zu nah am Rand gestanden,« sagte Gertrud, »es kippte gleich
um.« Dann half sie, den Küchenboden aufzutrocknen.

       *       *       *       *       *

Es wurde auch in allerlei andern Dingen nicht entschieden, wer stärker
sei. Dazu nahmen sie es nicht ernst genug, wenn sie je einmal daran
gingen, sich zu messen.

Marie mußte noch oft den Kopf schütteln. So etwas hatte sie doch ihrer
Lebtage noch nicht gesehen.

Manchmal, da schienen sie zwei richtige Kindsköpfe zu sein.

Sollte man es glauben? Sie ritten ja wahrhaftig noch auf dem
Treppengeländer: wer es besser konnte. Und sie stiegen miteinander auf
den Turm und ließen sich von Frau Judith Märchen erzählen: Goldmarie
und Pechmarie, und vom Machandelbaum, und halfen dem Meister Nössel
beim Läuten. Der war auch eisgrau geworden. -- Und dann wieder waren
sie so überaus ernsthaft, huh. Da saßen sie ehrbar in der Laube, oder
an dem Steintisch unter dem Ahorn, oder in der Wohnstube und lasen aus
schweren, dicken Büchern und oft in einer unverständlichen Sprache, und
machten nachdenkliche Gesichter und sprachen so klug, daß es Marien
eine Gänsehaut gab, wenn sie nur in die Nähe kam. Sie, Marie, hütete
sich wohl, in ein Buch zu sehen, außer Sonntags, wo sie in der Kirche
das Gesangbuch benützte. Es war ihr rein unverständlich, wie zwei junge
Genossen derlei Dinge miteinander treiben konnten.

Manchmal stritten sie sich auch. Aber worüber? Kein Mensch konnte
verstehen worüber, meinte Marie.

Aber Marie hatte »eine Ahnung«, wie Georg sich ausdrückte, was ja
freilich heißen sollte, daß sie keine Ahnung habe.

Sie war aus dem Weiler Hinkelsbach, der ganz nah bei Wiblingen lag,
und konnte von der Dachluke aus den Rauch ihres väterlichen Hauses
sehen, und war ein junges, vergnügtes Ding, und konnte wunderschöne,
alte Volkslieder singen, zu denen Gertrud häufig die zweite Stimme
sang. Aber im übrigen, was wußte sie von dem, was die beiden einander
mitzuteilen hatten?

Sie bekamen ja richtig den Kirchenschlüssel, und Georg spielte die
Orgel und Gertrud sang einmal mit ihrer tiefen Altstimme Händels Largho
von dort oben herunter in die leere Kirche hinein und wunderte sich,
wie voll es klang, und saß ein andermal mit in dem Schoß gefalteten
Händen und horchte vom Schiff aus und meinte, daß die Orgel noch nie so
geklungen habe, wie heute, da ihr guter Kamerad daran saß. Sie wußten
es nicht anders, als daß sie immer noch Kameraden seien. Sie besannen
sich auch nicht darüber. Hatten sie nicht ihr Leben lang alles geteilt,
und einander gequält, wenn's sein mußte, und einander verstanden,
besser als alle anderen Freunde, trotz mancher Reibereien?

Gertrud hatte nicht so recht das Zeug zur Freundschaft mit den jungen
Mädchen des Städtchens. Das war von jeher so gewesen, weil sie immer am
liebsten beim Großvater gewesen war.

Es waren verschiedene Versuche gemacht worden, ein Kränzchen, ein Kurs
im Englischen mit den Honoratiorentöchtern, weil die Großmutter es
wünschte. Aber Gertrud war dort nicht ganz sie selbst, ihr eigenes
fröhliches Ich. Sie wußte nicht recht mitzureden und wußte, was sie
selber hatte, nicht anzubringen. Seit die Großmutter so anhaltend krank
war, blieb sie zu Hause. Es war ihr lieber so.

Sie hatte auch Freunde.

Eine Kamerädin aus der Volksschule, ein kluges, feines, lahmes Mädchen,
das einer Witwe gehörte und so gut es ging, ums Brot nähte. Dort
wußte sie sich aufzutun. Dem Mädchen ging ein helles Freudenlicht
auf, wenn Gertrud kam und sich zu ihr setzte. Und sie nahm ihr das
Wort aus dem Munde. Sie hatte solch einen hungrigen Geist. Und weil
der Acker ihrer Seele so sehnlich wartete und so aufgerissen war vom
Entbehren und Verlangen, so fielen die Körner, die Gertrud aus ihrem
Überfluß hinwarf, tief hinein und gingen an den langen, einsamen Tagen
auf und gaben eine reiche Ernte. Feine, sinnige, tiefe Gedanken und
eine stille, stolze Freude, am Sein und Leben teilzuhaben, und ein
Verständnis für die Menschen in den Büchern, die sie zu lesen bekam:
ob sie echt und lebendig seien oder nicht. Es kam hundertmal wieder
herein, was Gertrud dort hintrug. Das war #eine# Freundschaft. Es gab
deren mehrere.

Den uralten Totengräber Heilemann, der so wunderbare Geschichten aus
der Franzosenzeit wußte, und die junge, lustige Frau Liselotte, die
einst Magd bei der Großmutter und ihr Patenkind gewesen war. Sie hatte
einen Fabriknachtwächter und Flickschuster geheiratet und ihr kleiner,
dickköpfiger Bube war Gertruds Patenkind. Und die Spinnricke, die ums
Geld spann und die mit tiefer Stimme erzählte, daß sie »schon wieder
einen Blick ins Jenseits« getan habe. Es war nichts, das Gertrud in
ihrem jungen Leben vermißte. Aber Georg war ihr Kamerad. Das war doch
wieder anders.

       *       *       *       *       *

Seinen Platz an dem breiten, geräumigen Ecktisch in der Ladenstube des
Ehrenspergerhauses nahm Georg wieder ein; aber auch seinen Platz auf
der niedrigen Truhe in des Rektors Studierstube. An beiden Orten holte
er sich, was da für ihn zu holen war.

Jungfer Liese, die sich allmählich angewöhnt hatte, die Ellbogen breit
auf den Tisch zu legen und sich kecklich ganz auf den Stuhl zu setzen,
tat ein Übriges und fütterte an dem langen, mageren Menschen herum; und
faßte eines Tages ein Herz und fragte, was denn aus dem vielen Geld
geworden sei, das der Herr Vetter immer bezahlt habe, da der Sohn nach
Hause komme, dürr, wie eine von Pharaos Kühen? Er solle Franz ansehen,
das sei noch ein junger Mensch, wie man ihn könne gelten lassen.

Franz war vor kurzem aus der Fremde zurückgekommen, wo er sich in Zeit
von einem knappen Jahr einige Welt- und Lebenserfahrung, einen schön
geschwungenen Schnurrbart und einige neue Backrezepte angeeignet hatte.

Er nahm je länger je mehr die Leitung des Geschäfts in die Hand und
ließ nicht undeutlich vermerken, daß er nicht zu denen gehöre, die
mit irgend einer Lebensfunktion allzu lange warten. Und Jungfer Liese
nickte und blinzelte Franz dem Älteren zu: »Kehr' die Hand um -- bringt
er eine junge Frau herein. Ja, dann? Dann ziehen wir in den Oberstock.
Ich verlasse den Herrn Vetter nicht; das tue ich nicht.«

Da konnte ja denn der Herr Vetter unbesorgt sein, und das war er auch.
Er konnte sich's jetzt leicht machen. Da saß er Abend für Abend mit dem
Müller Hensler im Schwarzen Adler bei einem gediegenen Schoppen Roten,
und sie kamen darauf zu reden, was für Prachtsbursche sie in ihrer
Jugend gewesen seien, und kamen zu guter Bürgerzeit wieder nach Hause,
ein klein wenig warm vom Prahlen und vom Wein. Da kam über den Markt,
von der andern Seite her »der Student,« wie ihn der Müller Hensler
jetzt schon nannte, und sie stichelten ihn ein wenig: »Da sieh' #uns#
an; jünger als du sind wir heute noch.« Und der Bäcker Ehrensperger
sagte: »Nein, laß ihn, die Studierten, die sind alle so ein bißchen
dösig. Das kommt vom Bücherlesen.« Und das Mitleid faßte ihn, daß sein
einer Sohn so still und ernst sei, und er selber war solch ein forscher
Kerl gewesen: »Jetzt sag, Bub, hast du einen Wunsch? Ich zahl's, was es
kostet.«

Er war ihm am andern Tag nicht so ganz angenehm, denn nun mußte er das
Klavier bezahlen, das in des alten Schullehrer Haldenwangs Auktion
verkauft wurde; hundertundfünfzig Mark. Es wurde in die Wohnstube im
ersten Stock gestellt, gerade über dem Laden. Und Jungfer Liese sagte
zu den Kunden, wenn sie aufhorchend die Köpfe hoben: »Das ist unser
Jüngster, der Student. Er will's nicht besser haben. Da sitzt er und
spielt, und oft genug ohne Noten, und das Essen schlägt nicht an bei
ihm.«

So war es daheim. In der Dämmerstunde war Georg im Rektorhaus. Da saß
er auf der Truhe und streckte die langen Beine weit ins Zimmer hinaus,
er konnte sie nicht anders unterbringen. Der Rektor mußte einen Umweg
machen. Aber er mochte den Heimgekehrten nicht von seinem alten Sitz
verjagen. Nun tanzte der freundliche Flammenschein über das große
Studentenbild.

»Das wirst du nun alles erleben,« sagte der Rektor.

»Wenn es sich so begäbe, es sollte mich freuen, wenn du bei
meiner alten Verbindung einträtest. Es sind tüchtige Leute daraus
hervorgegangen.«

Er paffte große Wolken aus seiner Pfeife. Die zogen an den Wänden
entlang.

»Ich will dir nicht viel sagen. Du mußt dein Leben selber erleben.
Es hilft nichts, daß wir Alten euch viel vorreden. Freue dich deiner
Jugend, und mach' die Augen auf. Das Leben ist rings um dich her und
ist in dir drin. Du hast viel Neigung, allein zu sein und dich vor den
andern zuzuschließen und hast doch auch ein Verlangen nach ihnen. Ich
weiß es ja. Laß beidem sein Recht zu seiner Zeit. Sei bei dir selbst
zu Hause, dann kannst du unbeschadet auch mit den andern gehen. Ach,
was hilft das Reden? Geh' nur. Man kann euch ja doch keinen Schritt
abnehmen. Es ist auch wohl besser so.

Und hier hast du eine Pfeife. Ich will dir zeigen, wie man sie stopft.
Ich habe sie dir angeraucht.«

»Aber Mann, das Rauchen, das fängt er früh genug an. Du brauchtest es
ihn nicht zu lehren,« sagte die Rektorin.

»Ich will dir auch etwas sagen, Georg. Du siehst dich einmal
gelegentlich nach dem kleinen Mädchen um, nach der Lore. Ein feines
Kind war das. Mich soll's wundern, was die Maute aus ihr gemacht hat.
Aber dort zu wohnen gehst du nicht, falls sie ja richtig möblierte
Zimmer vermieten. Die Maute ist, -- kurz, sie ist etwas schlappig. Das
war sie von jeher. Du kannst aber sagen, ich lasse beide freundlich
grüßen.«

Gertrud saß auf dem hohen Drehstuhl vor des Rektors Stehpult. Sie
hatten nicht mehr beide Platz auf der Truhe.

Sie redete heut nicht viel dazwischen. Das Herz brannte ihr. Sie sah
nach ihrem Kameraden hin. Der ging nun wieder einmal neue, weite Wege;
er freute sich darauf. Er sagte ihr von allem, was ihn bewegte. Aber
was konnte das helfen?

Selbst erleben, das war doch anders. Und sie öffnete durstig die
Lippen. Das galt dem Leben, das draußen war in der Weite. Dort zog es
hin, wie Wolken am Himmel. Würde es wohl Gertrud Cabisius vergessen,
die hier zurückblieb? »Ach, Unsinn,« sagte sie laut und verweigerte
die Antwort auf die erstaunte Frage der drei andern, welchen Unsinn
sie meine. Dann glitt sie von dem Stuhl herunter und brachte die Lampe
und schüttelte sich innerlich; das sollte ihr noch fehlen, graue
Dämmergespinste zu spinnen.




                    Fünftes Kapitel


Tübingen. Die Neckargasse herauf schritt der neugebackene Student
Georg Ehrensperger. Er sah sich suchend um, rechts und links, und fand
auch nach einiger Zeit, was er gesucht hatte: ein Schaufenster mit
Damenhüten, Schleifen und Schleiern.

Da trat er in den Laden ein, zu dem das Schaufenster gehörte, und
konnte nicht im Zweifel sein, daß er am rechten Orte sei. Denn hinter
dem Ladentisch stand die Putzmacherin Maute, und sah noch immer so
schwungvoll aus wie ehedem, halb elegant und halb schlappig. Und als
sie sich -- sie bediente eben eine junge Frau und warf nicht schlecht
mit »Madam« um sich -- umwandte, um eine Schachtel von einem der oberen
Bretter herabzuholen, da sah Georg ja richtig das rotblonde Zöpfchen,
das ihm von Kindertagen her bekannt war, unter der Morgenhaube
vorgucken. Es war am Vormittag. Das Zöpfchen wippte lustig hin und her.
Es hätte den letzten Zweifel aufgelöst, wenn da noch einer gewesen
wäre. Es war aber keiner.

»Guten Morgen,« sagte Georg. Er hatte den weichen, schwarzen Filzhut
in der Hand und den dunklen Anzug über der Brust zugeknöpft und sah
nicht anders aus als ein Stiftler, obgleich er keiner war. Die alten
Genossen aus der Wiblinger Lateinschule, die waren nun glücklich an der
letzten Station ihres gemeinsamen Werdegangs angelangt und saßen im
theologischen Stift, gut umzäunt und verwahrt vor den Versuchungen der
akademischen Freiheit.

Fritz Hornstein, der einst so vorbildlich Voranschreitende, saß auch
darin und sehnte sich ein wenig hinaus, und mit ihm noch mehrere, die
sich wohl getraut hätten, auf eigenen Füßen zu stehen und denen der
Gedanke an irgend eine Enge schwerer fiel, als die Enge selbst, die so
groß nicht war.

Georg Ehrensperger aber, der in aller Freiheit lebte, der sehnte sich
eher hinein. Denn er hatte sich selbst -- und das war nicht ohne Grund
-- im Verdacht, daß er, auf sich selbst gestellt, an dem und jenem
hängen bliebe, das nicht zur Sache gehörte. Auch zog ihn eine alte
Liebe zu den Genossen seiner Kindheit.

Einstweilen galt es, sich einrichten. Die ersten vier Wochen gingen
hin, eh' man sich's versah.

Ernst Daxer, der war auch im Stift. Aus besonderer Vergünstigung
war er hineingekommen. Der hatte ihn gestern zu einem Spaziergang
abgeholt. Nachher waren sie in der Müllerei gesessen, der Wirtschaft
am Neckarufer. Zwei ältere Studenten saßen am selben Tisch mit ihnen.
»Aufs Wohlsein der Lore,« hatten sie gesagt und angestoßen. Das mußte
ja natürlich eine andere Lore sein, als die, die er meinte. Er hätte
sich auch nicht zu fragen getraut. Aber nun wußte er wieder, daß er das
Kind aufsuchen solle, das noch vor seinen Augen stand, fein, zierlich
und von schönen Farben, wie ein Bildchen aus dem Bilderbuch seiner
Kindheit.

Frau Maute ließ die Kundin hinaus und wandte sich zu dem jungen Mann.
Da ging hinter ihr die Tür, die nach der Ladenstube führte. Ein heller
Lichtschein fiel von dem Fenster, das dort drinnen war, hier heraus,
und in dem Lichtschein stand Lore. Und Georg sah an der schwunghaften
Frau vorbei, als ob sie nicht vorhanden sei. Das war Lore?

Nun war die Zeit gekommen, von der die Wiblinger Kinder beim
Auseinandergehen geredet hatten: daß sie einander grüßen wollten, als
ob nur eine einzige Nacht zwischen jenem Abend und diesem Morgen läge.

Aber welch ein Morgen war das. Stand hier Jugend und Schönheit und
lachendes Leben in einer Person und bot ihm den funkelnden Becher
der Freude? Er erschrak so, daß er kein Wort fand. Lore lachte, ein
klingendes Lachen. Es war nicht das erste Mal, daß sie in eines
Menschen Angesicht das Staunen las: daß es so Schönes geben konnte,
hier in dieser niedrigen Stube, in dieser engen Gasse.

Das Lachen erlöste ihn. Er fand etwas von dem Kind darin, das er einmal
gekannt hatte. Es war noch etwas anderes darin, aber das hörte er jetzt
nicht. »Grüß Gott,« sagte er nochmals.

»Du bist -- du hast dich« -- er verbesserte sich -- »Sie haben sich«
da stockte er. Er hatte sagen wollen, daß sie sich verändert habe. Da
lachte Lore nochmals. »Das ist noch ganz derselbe,« sagte sie, »ganz
derselbe. Hab ich mir's nicht so gedacht? Aber natürlich sagen wir noch
du. Grüß Gott, Georg.«

Da atmete er befreit auf und faßte ihre feine Hand und schüttelte sie,
daß Lore einen leisen Wehlaut ausstieß.

»Feiner bist du nicht geworden,« sagte sie und lachte. »Aber das tut
nichts, das kommt noch alles. Wo solltest du das lernen? Komm da
herein, du mußt mir erzählen, so lang und so viel, als Frau Judith auf
dem Turm.«

Da ging sie ihm voran in die kleine Stube mit dem geblümten Sofa und
zog ihn mit sich hinein. Frau Maute hatte wieder einen Kunden im Laden
und nickte nur hinter den beiden drein. Da waren sie allein. Draußen,
unter den Fenstern, zog der Neckar vorbei, nur durch ein schmales,
steil abfallendes Gärtchen von ihnen getrennt. Rot und golden glänzten
die Kronen der Ulmen und Platanen von den Alleen herüber; die Sonne
stand am blauen Oktoberhimmel und leuchtete durch die bunten Farben der
herbstlichen Welt und glitzerte auf den ziehenden Wellen, und füllte
die kleine Stube mit Licht. Und in dem Licht saß Lore.

Georg Ehrensperger, der saß und staunte und fand das Wort nicht.

»Ich soll dich grüßen,« sagte er, »von Gertrud und von Franz, und von
Rektors, beiden.« Aber seine Augen sagten etwas anderes.

»Wie bist du schön,« sagten sie, »bist du das wirklich?«

Die Sonne lag auf dem krausen, rotblonden Haar und ging streichelnd an
der jungen, schlanken Gestalt hinunter, die von einem großen Meister so
herrlich gebaut war. Sie mühte sich, auch in das Gesicht zu scheinen.
Aber da wandte sich Lore kurz um, ganz nach der Stube zu. Sie brauchte
die Sonne nicht im Gesicht, zwei funkelnde, dunkle Sterne hatte sie
darin, die flimmerten und schossen lange Strahlen. Übermütig und
sieghaft und ein wenig kindlich fragten sie: »Gelt, das hättest du
nicht gedacht? Ja, sieh nur her und staune. Das geht dir nicht allein
so.«

Aber als die beiden einander eine Weile angesehen hatten und Georg nun
ein wenig hilflos dasaß, da fing Lore an zu lachen und sprang auf und
fragte nach hunderterlei Dingen und holte die alten Zeiten hervor; da
wurde auch er mit fortgerissen. Und dann trat sie plötzlich wieder
in die Gegenwart ein; da wußte sie noch besser Bescheid als in der
Vergangenheit.

»Das muß fein werden,« sagte sie. »Wo wohnst du? du mußt oft kommen,
wir sind doch alte Freunde. Wir haben auch Studenten, oben im ersten
Stock. Die bringen oft ihre Freunde mit sich. Lebhaft geht es da zu.«

Sie ging ans Fenster und sah auf die Neckarbrücke hinunter und wandte
sich wieder um und lachte. Und dann horchte sie mit etwas vorgeneigtem
Kopf nach der Ladentür hin. Dort klingelte es. Die Mutter ließ jemand
hinaus, und gleich darauf wurde eine Männerstimme hörbar. »Fräulein
Lore drin?«, und dann trat ein junger Mann ins Zimmer. Er trug die
Farben eines vornehmen Korps, war hoch und breit gewachsen und hatte
ein kluges, scharfes, herrisches Gesicht. Sein Hund kam hinter ihm
drein, eine hohe, gelbe Dogge. Sie ließ sich zu Lores Füßen nieder und
stieß einen winselnden Laut aus. Über Lores Gesicht flog ein feines
Rot, als der Ankömmling einen großen Blick auf sie und dann einen auf
Georg warf.

»Das ist ein Kindheitsgespiele von mir,« sagte sie, und bemühte sich,
leichthin zu reden. »Wir haben miteinander Kirschen von den Bäumen
gebrochen, und haben miteinander Märchen erzählt bekommen. Heut' seh'n
wir uns zum erstenmal wieder. Das ist jetzt acht Jahre her. Nun staunt
er, daß ich gewachsen sei.«

Aber sie sprach nicht so sicher und harmlos, wie zuvor. Die Augen des
Neuangekommenen lagen auf ihr, das machte es wohl.

Der sagte nicht viel.

Als Lore ihren Gast vorstellte, grüßte er gemessen. Dann nahm er einen
Schlüssel, der am Haken neben der Tür hing. »Ich habe den meinigen
verloren,« sagte er, »Sie wollen, bitte, einen neuen bestellen. Und
dann, gestern Abend fiel das Tintenfaß auf die Tischdecke. Sie ist
unbrauchbar geworden. Die neue geht auf meine Rechnung. Komm, Harras.«

Die Dogge erhob sich zögernd. Sie schien es anders gewöhnt zu sein.
Da tat ihr Herr einen kurzen Pfiff. Lore warf den Kopf zurück. »Geh,«
sagte sie, und gab dem Hund einen leisen Schlag. Darauf verschwanden
beide, der Herr und der Hund, in dem halbdunkeln Flur, und Georg hörte
sie die Treppe emporsteigen.

Als er sich nach Lore umsah, war das sieghafte Lachen von ihrem
Gesichte verschwunden. Sie stand am Fenster und biß sich auf die
Unterlippe. Aber nur einen Augenblick. Dann schnipste sie mit den
Fingern. »Komm, wir wollen weiter plaudern; er soll uns nicht
drausbringen.« Aber sie war nicht mehr recht dabei. Georg war auch
gestört. »Was ist das für ein Mensch?« fragte er. »Er scheint kurz
angebunden. So ein Herrscher. Ist er immer so?«

»Nein,« sagte Lore, »er ist nicht immer so.« Ein verhaltenes Lächeln
glitt über ihr Gesicht. »Es ist unser Mieter. Er hat das beste Zimmer
und bezahlt es gut.« Und dann sah sie ihn an und dachte: »Du Kind. Du
bist noch ein rechter Junge. Aber ein lieber, guter.« Und auf ihrem
Gesicht gingen Rührung und Spott durcheinander.

Dann kam Frau Maute und entfaltete einen großen Wortreichtum und sagte,
daß Georg sich hier fühlen solle wie zu Hause. »Wie zu Hause,« sagte
sie, und sah ihn mütterlich an und nickte ihm ermutigend zu: »Ja,
nicht wahr, die Lore? Was sagen Sie zu ihr? Aber das hat sie nicht
gestohlen. Ich, als ich jung war.« »Mutter,« sagte Lore, und trat mit
dem Fuß auf, »draußen ist jemand.«

Da entschwand sie, ohne den Satz zu Ende gesagt zu haben.

Es war eine starke Mischung von angenehmen und unangenehmen Gefühlen,
mit denen Georg eine Weile später aus dem Hause trat. Aber die
angenehmen überwogen bald.

Wenn das Gertrud wüßte. Wenn sie es sehen könnte. Unmöglich, die Lore
zu beschreiben. Schön, er hatte noch nie etwas so Schönes gesehen, und
lieb und natürlich. Hie und da ein bißchen, -- wie sollte man's nennen?
Er beschloß, es gar nicht zu nennen, das, was ihm nicht so recht
gefiel. Er wußte kein Wort dafür.

»Das ist von der Mutter,« entschied er. »Solch eine Erziehung, ich
danke. Das hätte wahrhaftig schlimmer ausfallen können.« Er konnte
ihr vielleicht auch manches abgewöhnen, wenn sie nun öfters seinen
Umgang genoß. So, abgewöhnen? Ja. Er richtete sich hoch auf, als seine
Gedanken das fragten. Hatte sie nicht beim Abschied, noch unter der
Haustür, gesagt: »Ach, Georg, ich bin anders als Gertrud, ganz anders.
Ich glaube, es wäre einiges zu bessern an mir. Du mußt oft kommen. Wir
wollen wieder gute Freunde sein. Weißt du noch? Das haben wir damals
ausgemacht, im Rektorgarten unter dem Süßapfelbaum.«

Und dazu hatte sie ihn angesehen; es hatte ihn noch nie ein Mensch so
angesehen. Georg versuchte sich den Blick vorzustellen, da durchströmte
es ihn, warm und lebendig. Ja, also, so sollte es werden: er wollte, --
ach, was wollte er alles. Es war ihm so väterlich zu Mute, als ob er
der Rektor Cabisius sei; das meinte er selbst.

Er meinte es sehr gut mit Lore, und mit sich selbst, und mit der ganzen
Welt. Als er sich dessen versichert hatte, trat er einem alten Herrn,
der um eine Ecke bog, wuchtig auf den Fuß, und erschrak so sehr, daß er
vergaß, sich zu entschuldigen. Der alte Herr murmelte etwas Ärgerliches
vor sich hin, schüttelte den Kopf, und hinkte ein wenig im Weitergehen.
Georg kraute sich verlegen im Haar, und drehte sich, als er ihm eine
Weile nachgesehen hatte, um, und stieg zu seiner Behausung empor.

       *       *       *       *       *

Ob es Schicksal oder Neigung war, oder beides: Nun hatte er sich
richtig wieder eine Stube in einer engen, winkeligen, alten Gasse
gemietet. Er wußte nicht recht zu sagen, wie er dazu gekommen war. Er
hatte einen Zettel heraushängen sehen: Zimmer, mit oder ohne Klavier,
zu vermieten; auf der Hausstaffel waren zwei rotbackige Kinder
gesessen; am Röhrenbrunnen, der vor dem Haus stand und sein Wasser
plätschernd in einen Steintrog fallen ließ, war eine frische junge Frau
gestanden und hatte sich mit einer raschen, kräftigen Bewegung das
volle Wassergefäß auf den Kopf gehoben.

Die Kinder hatten sich ihr links und rechts an die Rockfalten gehängt,
als sie ins Haus zurückging. Da war Georg hintendrein gegangen, er
wußte nicht recht, warum. Die liebe, kleine Gruppe zog ihn hinter sich
drein.

Es war ein Handwerkerhaus. Hinten vom Hof herein scholl eine wackere,
arbeitsame Musik: schwere Hämmer, die auf Eichenholz niederfielen,
lustige Schlegel, die raschen Taktes auf klingenden Eisenreifen
tanzten. Ein Feuerschein flammte hoch auf und erhellte einen Augenblick
den schmalen, halbdunklen Hausgang. Draußen schritten ein paar
handfeste Gesellen hinter einander drein um ein großes Faß herum, um
das sie eben die Reifen legten. Ein Lehrjunge trug eine Schürze voll
Hobelspäne herbei und warf sie in das Feuer, das inmitten des werdenden
Fasses brannte; es knisterte und stieg kerzengerade in die Höhe.

Georg trat unter die schmale Tür, die nach dem Hofe führte. »Romdibom,
der Küfer kommt.« Ein Kinderreimlein fiel ihm ein, das so anfing. Sie
hatten es in Wiblingen oft genug gesungen. Er hatte nicht übel Lust,
sogleich damit loszulegen, denn das Bild im Hofe heimelte ihn stark an.

Da kam der Meister aus der Werkstatt in den Hof und auf ihn zu. Ein
breiter, hochgewachsener, kräftiger Mann; er hatte die Hemdärmel an
den sehnigen Armen hinaufgeschlagen bis über die Ellbogen; im Gurt der
blauen Leinwandschürze steckte der eiserne Schlegel, die Mütze saß
weit hinten auf dem dunklen, schlichten Haar; ein ernstes, bärtiges
Männergesicht sah darunter hervor. Es war eins von den Gesichtern,
deren Inhaber man ohne weiteres Geld und guten Namen zur Aufbewahrung
anvertrauen würde, gewiß, daß man seinerzeit beides unverkürzt zurück
bekäme.

Geradlinig, fest und sicher, und in den Augen etwas, als ob sie mit
Kindern fröhlich zu lachen verständen.

Daß das letztere der Fall war, zeigte sich auch sogleich.

Als der Meister auf Georgs Frage, ob bei ihm das betreffende Zimmer zu
vermieten sei, mit ihm ins Haus trat, kam aus der Küchentür, hinter der
sie vorhin verschwunden war, die junge Frau wieder in den Hausgang,
diesmal ein einjähriges Bürschlein auf dem Arm.

Das Kind schien eben erst aus dem Schlaf gekommen zu sein und
blinzelte, das Köpfchen gegen die Wange der Mutter lehnend, mit
aufwachenden blauen Augen aus dem rosig angeschlafenen Gesichtlein
heraus.

»Komm',« sagte der Vater und streckte die Arme nach dem kleinen Buben.
»Mutter, du solltest dem Herrn das Zimmer zeigen, laß' mir den Helmle
so lang.«

Da hatte er auch schon den kleinen Buben auf dem Arm, und als er ihn
emporhob und das Kinderköpfchen an seine bärtige Wange drückte, da
brach ein so leuchtender Strahl aus seinen blauen Augen, daß der ganze
Mann übersonnt schien.

Und dem »Herrn, der das Zimmer sehen wollte«, war es so, als ob es
jedenfalls ein ganz vortreffliches Zimmer sein müsse, das in diesem
Haus zu vermieten sei, obgleich er vorher an Neckaraussicht und grüne
Wipfel vor den Fenstern gedacht hatte. Daran, am Blick ins Grüne
nämlich, fehlte es auch nicht ganz. Die Frau wies mit bescheidenem
Stolz auf ein winziges, höchst anspruchsloses Gärtchen, das zwischen
Hof, Werkstatt und Nachbarhaus eingeklemmt war und aus einer
Bohnenlaube, zwei Beeten mit Küchenkräutern, einer Blumenrabatte,
ungefähr zwei Hand breit, und einem alten, hohen, knorrigen
Zwetschgenbaum bestand.

Auf dieses Gärtchen gingen die Fenster des Zimmers, das im zweiten
Stock lag. Außerdem sah man ein Stück des Hofes mit drei kunstreich
gebauten Türmen aus Faßdauben, die Rückseite mehrerer Häuser,
eins davon mit einer braunen, verwitterten Holzaltane, ein Stück
Stadtkirchenturm, und ein nicht unbeträchtliches Stück blauen
Herbsthimmels.

»Die Aussicht hat dem vorigen Herrn gut gefallen und das Zimmer auch,«
sagte die Frau. »Er war auch ein Theologe, und er hat immer gesagt, so
sei's ihm gerade recht: Wenn man nicht so weit herumsehe, bleiben einem
die Gedanken näher beieinander zum Studieren.«

Es kam Georg vor, als ob »der vorige Herr« ein äußerst vernünftiger
Mensch gewesen sei. Das war ja freilich die einzig richtige Anschauung.
Was ihn selbst betraf, so konnte er froh sein, gerade hierher gekommen
zu sein. Das war nun das erste Zimmer, das er ansah und nun stimmte
gleich alles so vorzüglich. Er hatte hier in Tübingen Glück, das konnte
er gleich zum Anfang sehen. Das Zimmer gefiel ihm, er mochte hinsehen,
wo er wollte. Aber das hatte er eigentlich schon unten gewußt.

»Wenn Sie das Klavier geniert,« sagte die Frau, als sie sah, daß Georgs
Augen an dem großen, alten Tafelklavier hängen blieben, »es nimmt ein
bißchen viel Platz weg, es ist wahr. Man kann's im Notfall in eine
Kammer stellen. Der vorige Herr hat immer seine Bücher darauf liegen
gehabt, und, er hat seltene Pflanzen gesammelt, die hat er auch darauf
ausgebreitet. 'Lassen Sie's nur,' hat er gesagt, 'so lang der Deckel
zu ist, stört mich kein Klavier.' Und der Deckel bleibt zu, solang ich
hier hause.«

Georg fühlte, wie die Sympathie, die ihn mit dem vorigen Herrn einen
Augenblick verbunden hatte, wieder entschwand. Er fand nicht gleich
Worte. Was gab es doch für Menschen auf der Welt. Er strich mit der
Hand über den Deckel des Klaviers; es war wie eine Abbitte, die er im
Namen der Menschheit tat.

»Wir hatten's bei uns unten stehen,« sagte die Frau. »Aber seit ein
Kinderbettchen ums andere kommt, fehlt's am Platz. Es ist von meinem
Schwiegervater her noch da. Der war blind, zwanzig Jahr lang und ist
auch blind gestorben. Aber spielen hat er können; alle Leut sind stehen
geblieben auf der Gasse, wenn er gespielt hat.«

Jetzt kam der neue Herr auch zur Sprache. Sie kam ein bißchen schroff
heraus; das machte die Wichtigkeit des Augenblicks und die innere
Erregung.

»Bei mir liegt nichts auf dem Deckel,« sagte er. »Ich kann nicht
begreifen, wie man das einem Klavier antun kann. Ich mache Musik
darauf; dazu ist es doch wohl auf der Welt. Wenn Sie das nicht wollen,
so sagen Sie's mir gleich. Dann ziehe ich anderswo hin.«

Aber so war es nicht gemeint gewesen.

Nein, behüte, der Herr könne ruhig spielen, so viel er wolle. Das werde
den Mann freuen, wenn er es erfahre. Wenn er hie und da ein Fenster
offen lassen wolle, daß man es unten höre.

Es ging eine stolze Freude über ihr frisches, offenes Gesicht:
»mein Mann, der macht auch Musik. Er hat eine Geige. Er hat einmal
Schulmeister werden wollen. Da ist sein Vater blind geworden und er hat
das Geschäft übernehmen müssen. Eine Stimme hat er, man könnt' ihn auf
die Orgel brauchen zum Vorsingen. Mit der Geige will's nicht recht. Er
hat schwere Hände bekommen von der Arbeit. Aber wenn er dazu singt,
dann tut's doch schön.«

Diese Mitteilung hatte gerade noch gefehlt um in Georg Ehrensperger das
Bewußtsein zu erwecken, er sei in das einzig richtige und mögliche Haus
eingezogen; ja, es war ihm, als habe er sich gewissermaßen in einen
Familienschoß gesetzt, so wohl gefielen ihm die Leute und ihr Haus und
die Stube, die sie ihm darin abtraten; aber der Mann am meisten.

Und als die Frau hinunterging, um das Helmle wieder aus den väterlichen
Armen zu nehmen und dem Mann zu erzählen, daß man wieder einen Herrn
habe und was für einen, da verriegelte dieser Herr oben seine Tür, und
tat einen Blick aus dem Fenster, ob ihm auch niemand zusehe, und machte
einen Spaziergang, zweimal um den Tisch herum, auf den Händen, und
streckte seine langen Beine hoch in die Luft vor Vergnügen.




                    Sechstes Kapitel


Das war im Herbst geschehen, jetzt war Frühling. -- Eine weiche, laue
Nacht, eine Nacht, in der man deutlich wahrnehmen konnte, wie sich
die erwachenden Kräfte in der Natur regten. Es wehte in den Bäumen,
es rieselte in den schmalen Rinnsalen, die sich von der Höhe des
waldigen Berges in die Weinberge und Obstgärten verloren, von frischen
Wässerlein, die zu Tale strebten, es raschelte und pochte überall leise
und geheimnisvoll. War es der Pulsschlag der neuerwachten Erde? Hörte
man den Saft in die Bäume steigen? Hörte man die Knospen schwellen und
springen?

Unten im Tale lag die Stadt im Schein ihrer vielen Lichter. Viel Leben
barg sie und viel Menschenschicksal. Hier oben auf dem Berg sah man
beides: die Lichter unten und die Lichter oben, die schweigend ihre
hohen leuchtenden Pfade hinzogen.

Georg Ehrensperger trat aus dem Wald, da wo am Eingang die alte,
rissige Eiche steht mit den vielen eingeschnittenen Namen. Er hatte
einen weiten, einsamen Spaziergang gemacht, nun stand er still, legte
die Mütze auf die Steinbank unter der Eiche und sah hinauf und hinunter.

Das Wehen in den Bäumen war stärker geworden. Große, schweigende
Wolkengebilde glitten über die Sterne hin; immer mehr wurden ihrer,
von allen Seiten sammelten sie sich und wurden ein Heer. Westwind flog
voraus; er war der Rufer und trieb sie zusammen: »Auf und schließt
euch aneinander. Die Milchstraße entlang, nein, breiter und weiter
dehnt euch. Um Mitternacht fängt es an zu regnen. Wißt ihr nicht, daß
Frühling ist? Wißt ihr nicht, daß die Erde blühen will? Viel ist zu
tun; in wenigen Tagen muß alles weiß und grün sein.«

Es war so recht eine Nacht, da es sich in einem jungen Blut regen
konnte von treibenden, frischen Kräften: »Auf die Riegel! Ich fange an,
jung zu werden, ich fange an zu erwachen, Frau Welt! Alles Große und
Schöne gedenke ich mitzuerleben.«

Es geschah nicht oft zu dieser Zeit, daß Georg Ehrensperger allein die
Welt durchstreifte. Er drückte damals seine Neigung zu beschaulicher
Träumerei und einsamem Wandel in eine Ecke seines Wesens hinunter. Dort
spuckte sie zuweilen umher; wenn er über den Büchern saß in seiner
Stube, die bei #ihm# trotz der schmalen Aussicht die Gedanken #nicht#
zusammenhielt, oder noch mehr, wenn er am Klavier saß, das ein besseres
war, als das der Frau Mollenkopf. Dann hatte er eine Welt für sich, in
der er mit sich selber hauste, oder mit denen, die er in Gedanken zu
sich einlud. Das war ein schönes Dabeisein. Aber es dauerte nie lange.
Denn die wirkliche Welt griff da hinein. Unten auf der Straße pfiff
es, oder es polterte die Treppe herauf, und junge, kräftige Gestalten
traten zu ihm ins Zimmer. So war es gestern gewesen.

»Da sitzt er wieder, wie der Dachs im Bau. Auf und heraus. Eine Nacht
zum Ausfliegen. Musik machen, das kannst du im Waldhörnle, wir wollen
singen und du begleitest. Mach dich nützlich, Mensch. Was? dableiben?
du bist ein Höhlenbär.«

Das waren die Bundesbrüder. Er war ja nun richtig in eine Verbindung
eingetreten. Und es war richtig die des Rektors Cabisius. Die Jugend
wollte ihr Teil an ihm.

Aber heute war heut. Es konnte ihn suchen, wer wollte, Georg streifte
da oben herum und hatte mit sich selbst zu tun. Er war nicht recht bei
sich selbst zu Hause und, -- da hatte der Rektor Cabisius recht gehabt,
-- wenn er das nicht war, konnte er nicht mit den andern gehen. Er
hatte nicht die Gabe, sich über etwas hinwegzusetzen.

Da war erstens die Theologie, die anfing, ihn böslich zu bedrücken.
Er fühlte, daß sie etwas von ihm wollte und daß er sich einmal mit
ihr auseinander zu setzen habe. Und er empfand ein Unbehagen dabei.
Wie würde es damit ausfallen? Indessen konnte man das immer noch ein
wenig verschieben und inzwischen etwas anderes in den Vordergrund
stellen. Vielleicht machte es sich dann irgendwie. Ader da stand noch
etwas anderes bereits im Vordergrund und ließ sich nur schwer von da
vertreiben. Das hing mit Lore zusammen. Es ging schon längst nicht
mehr so väterlich zu in seinem Gefühls- und Gedankenhaushalt, wie im
Herbst. Es war nicht ohne Bedeutung gewesen, daß er dazumal den alten
Herrn auf den Fuß getreten hatte, gerade als er in Gedanken Lorens
nachträgliche Erziehung in die Hand nahm. Er konnte sich das Nachdenken
darüber schenken. Es wurde ja doch nichts daraus. In einiger Hinsicht
erzog sie ihn. Das konnte ja nichts schaden. Aber wenn er den Stiel
umkehren wollte, erging es ihm mißlich.

Er war eines Tages bei ihr angekommen, etwas bedrückt und unsicher, und
hatte ihr auf Befragen gesagt, daß er an der Tanzstunde der Verbindung
teilnehmen sollte und daß es ihm ängstlich sei, ob er so ein Mädchen
richtig anzufassen wisse. Da hatte sie seine Bedenken weggelacht:
»Komm, ich lehre dich, wie du's machen mußt.« Sie hatten den Tisch auf
die Seite gerückt und hatten in der Ladenstube getanzt, bis sie außer
Atem waren.

Da war er etwas sicherer geworden.

Manchmal, wenn sie ihm gegenüber saß an dem Fenster, das nach dem
Neckar ging, und irgend etwas Zierliches nähte, stand sie plötzlich
auf und hatte einen hausmütterlich-gestrengen Zug im Gesicht, holte
eine Bürste und bürstete ihm die Kleider: »Du siehst auch gar nicht auf
dich, Georg. Du mußt dich immer im Spiegel besehen, eh' du ausgehst.
Hier ist auch ein Knopf locker, den muß ich dir annähen, komm.«

Solchergestalt übte sie schwesterlich-frauenhafte Zucht an seinem
äußeren Menschen.

Da gedachte auch er das seinige an ihr zu tun, und versuchte, ihren
Geist zu speisen, und wollte es machen, wie mit Gertrud, der er alles
bringen konnte, seine Bücher, seine Musik, und seine Gedanken. Und
er brachte eines schönen Nachmittags die Edda mit und wollte ihr die
alten, schönen Sagen und Lieder vorlesen. Da hielt sie sich die Ohren
zu: »Liebster Georg, das ist nichts für mich. Mit so etwas mußt du
mich verschonen. Ich bin ein kleines, dummes Ding, das bin ich immer
gewesen.«

Er wollte sich ärgern, aber es gelang nicht so recht. Sie sah ihn so
an, daß er es nicht konnte.

»So, jetzt gefällst du mir,« sagte sie, als sie sah, daß Georg sein
Gesicht wieder glättete, das einen Augenblick verdrießlich ausgesehen
hatte. Sie strich ihm mit dem Zeigfinger über die Stirn. Dort war
zuweilen eine kurze, gerade Falte, mitten zwischen den Brauen, zu
sehen. Das war, wenn er gern ein wenig pädagogisch sein wollte. Da
mußte er lachen, als sie ihm die Falte glättete. Wie konnte sie etwas
anderes sein, als sie nun eben war? Sie war etwas sehr Reizendes,
konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Da hatte das Bildungsbestreben
wieder ein Ende.

Aber das war noch nicht schlimm. Schlimm war, daß ihre Stimmung gegen
ihn umsprang, wie bei Mondwechsel das Wetter umspringt.

Oft war sie lieb und freundlich, und saß, wenn es dämmern wollte, auf
dem breiten Fenstersims, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und
sang ein Volksliedchen, mit halber Stimme, als ob sie die traulichen
Geister der Dämmerung nicht verscheuchen wollte. Da kam es ihm, der
ihr zuhörte, vor, als ob es nichts so unsäglich liebliches mehr gebe,
nirgends und niemals wieder.

Und hie und da war sie kurz und etwas schnippisch, und hie und da
sonderbar aufgeregt.

»Sie ist in zu vielerlei Händen,« entschied er, »und nicht in den
allerbesten. Ich sollte sie allein zu beeinflussen haben.«

Wie ein feiner Erzieher kam er sich vor. Er konnte es sich schön
ausmalen, wie es wäre -- wenn es anders wäre. Es kam nur nichts dabei
heraus, als daß er viel zu viel an sie dachte und viel zu oft hinging
und viel zu unruhig dabei war.

Oft faßte es ihn: wenn ich das alles Gertrud erzählen könnte! Sie war
so fest und gleichmäßig und klar. Aber das konnte er jetzt nicht. Wenn
er heimkam, dann.

Da hatte er es nun alles hier heraufgetragen. Es wurde einem frei und
weit zu Mute in dem starken, frischen Wehen. Es war ja doch viel mehr
in der Welt, das des Erlebens wert war, als das: sich in einem so
unruhigen, krausen Mädchensinn zurechtzufinden.

Er sang ein Lied in den Wind hinein: »Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd,
aufs Pferd; ins Feld, in die Freiheit gezogen.« Und dann wurde er
plötzlich still und horchte.

Wie hatte ihm der alte Hollermann schreiben lassen?

»Wer den rechten Ton will finden, der in allen Dingen beschlossen
liegt, der muß in die Stille gehen und horchen.« Sang da irgendwo sein
Flötenton?: »Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das
Leben gewonnen sein.« War ringsum alles mit einer Stimme begabt?

Das mußte man ja alles in Tönen sagen können: Das eigene, klopfende,
drängende Leben floß mit dem Leben ringsumher zusammen. Saß da innen,
tief im Wald der große Alte an der Orgel und spielte sie? Er zog
ein Register ums andere; breite, volle, tiefe Akkorde strömten über
die Baumwipfel hin. Man mußte sie festhalten können; horch -- die
Wässerlein sangen dazu, wie dünne, helle Kinderstimmen rieselten sie
durch die großen Töne hindurch, und hie und da lachte eins plätschernd
auf. Und eins schluchzte auch im Niederfallen. Das mußte so allein in
die Nacht und in die Fremde hinaus.

»Das muß ich auch, du.« Georg blieb stehen und horchte, hinaus und in
sich hinein. Hätte er Meister Riedels, seines Hauswirts, Geige bei sich
gehabt. Mit der hatte er sich im Lauf des Winters angefreundet, mit
ihr und mit dem Meister. Nun sehnte er sich, sie im Arm zu haben. Das
konnte man alles spielen. Alle die unruhigen, klopfenden Untertöne, die
durch ihn selbst hindurchgingen und die er auch außer sich zu vernehmen
glaubte, alles das kleine Lachen und Plätschern und Schluchzen, alles
das Schweigen, das über dem Tal lag und aus dem doch hie und da ein
Ton hervorbrach, wie von einer verhaltenen Unruhe, alles das mußte man
spielen können, um es dann in der großen, breiten Harmonie untergehen
zu lassen, die aus der Waldorgel strömte. Wie die tausend kleinen
Wolken am Himmel nun ein großer, schweigender Heereszug geworden waren,
ohne Unruhe und Hast, großen, gemeinsamen Lebens voll.

Da nahm er die Mütze in die Hand und fing an zu laufen. Und stand
wieder still, und horchte, und sann, und fing wieder an zu laufen, bis
er an die Stadt kam.

Dort war noch Leben und Bewegung; es war noch nicht so spät. Dort oben
war es still gewesen.

Er aber ging durch die Gassen wie ein Nachtwandler und horchte nur auf
das, was in ihm selber war. Da pfiff ihm einer dazwischen, unrein und
schrill. »Von allen den Mädchen so blink und so blank gefällt mir am
besten die Lore.«

Er kam die Straße herauf und mußte an Georg vorbei. Langsam ging er,
die Hände in den Taschen, und pfiff immer von neuem die gleichen Takte.
Wollte es kein Ende nehmen? Es war zum Verzweifeln. Was ging den Kerl
die Lore an? Was hatte er zu pfeifen? Und #so# zu pfeifen?

Und Georg konnte nicht sagen: still, Mensch. Er hatte die Straße nicht
gepachtet. So, endlich bog der Störenfried in eine Seitengasse ein.

Aber das war zu spät. Es war, als ob ein großer, frecher Spatz, den
dicken Kopf voran, durch ein feines, zierlich aufgespanntes Spinnennetz
gefahren wäre und sich nicht darnach umsähe, daß das Spinnlein nun
erschreckt in einer Ecke sitze, und die zerrissenen Fäden im Winde
hingen. Denn auch hier waren die Fäden zerrissen. Da ging Georg
Ehrensperger still und bedrückt weiter, und nach einer Weile stampfte
er aus einem machtlosen, inneren Grimm mit dem Fuß auf. Aber das half
nichts. Er versuchte, die Fäden wieder anzuknüpfen, und als es ihm
nicht gelang, und er gerade in der Nähe der Neckargasse war, beschloß
er, sich auf einen Augenblick an Lorens Anblick neu zu begeistern. Er
hatte gestern ein schönes Dämmerweilchen mit ihr erlebt. Es war noch
nicht zu spät, sie heute zu grüßen.

Im Laden brannte noch eine kleine, stark zurückgedrehte Gasflamme;
die Ladentür war angelehnt. Frau Maute mochte irgendwo einen kleinen
Schwatz mit einer Nachbarin halten. Da kam Georg ungehört zur Tür der
Ladenstube.

Das kleine Fenster in der Tür war mit einem leichten Vorhang verhüllt,
und hinter dem Vorhang webten ein paar Schatten hin und her. Gedämpfte
Stimmen, ein leises Mädchenlachen, dann sahen die Schatten aus, als ob
sie sich zusammenschlössen.

Georg klopfte. Innen knurrte die Dogge. Ein Hin- und Herhuschen, eine
Pause, dann öffnete Lore. »Ach, du bist's. Es war mir doch, als ob
es klopfte. Hat die Tür nicht geschellt? Wo ist die Mutter?« Sie sah
erhitzt aus; das Haar lag ihr lose und etwas zerzaust um das Gesicht;
die Augen funkelten.

»Kommst du herein?« fragte Lore. Sie fragte es kurz und etwas verlegen.
Da sah er sie erstaunt an. War sie das? Sie war ein anderes Mädchen als
gestern. Drinnen lag die Dogge auf dem Boden; sie sträubte sich und
knurrte. Am Fenster stand ihr Herr. Er hatte die Arme auf dem Rücken;
er sah aus, als ob er die kleine Stube fülle, so hoch und mächtig war
seine Gestalt und so blitzten seine Augen. Georg fand keinen Platz für
sich hier drinnen. Er setzte sich, aber er wußte nichts zu sagen; es
war ihm eng und schwül. Wäre er doch nicht hier hereingekommen. Wäre er
doch nur zuhause. Denn wo flohen nun seine Töne hin? Er hatte sie hier
neu anknüpfen wollen.

Da fing Lore an, mit dem Hund zu spielen. Er legte ihr die Tatzen auf
die Schultern und leckte ihr die Hände. Und sie schwatzte mit ihm und
ihre lachenden Augen gingen zwischen dem Herrn und dem Hund hin und her
und streiften zuweilen Georg, der etwas im Schatten saß: »so mach' doch
ein anderes Gesicht, Schulmeister. Du bist ein Schulmeister, ja, aber
ich lasse mich nicht von dir kritisieren. Gestern? Ja das war gestern.
Aber heute ist heut.«

Georg hatte die bekannte Falte zwischen den Brauen und sein Gesicht
mochte ihr einige Mißbilligung dessen, was er sah, ausdrücken. Es war
ein unbehagliches Dabeisein. Der hochgewachsene Mensch am Fenster sah
so erdrückend auf Georg, der schmal gebaut und unsicheren Wesens und
ganz und gar kein Ellbogenmensch war.

Er drückte ihn durch sein bloßes Dabeisein zur Türe hinaus. Da erhob
er sich und nahm Abschied. »Gute Nacht, Lore.« Sie blieb mitten in der
Stube stehen und es war Georg, als fliege es wie Spott über ihr schönes
Gesicht, und als höre er die tiefe Stimme des Hausgenossen noch lachen,
als er schon vor dem Haus war, über ihn lachen.

Vor dem Haus begegnete ihm Frau Maute.

Sie trug einen großgeblumten Morgenrock ohne Gürtel und sah wie immer
ein wenig theatralisch aus. Der Aufschwung war nicht besonders hoch
gegangen. Aber das war ja auch nicht zu erwarten gewesen.

»Ja, nicht wahr, die Lore,« sagte sie, als Georg mit kurzem Gruß an ihr
vorübergehen wollte. »Hi, hi.« So lachte sie. Es war, als ob sie einen
Refrain lache zu dem Lachen, das er eben da drinnen verlassen hatte.
»Nicht wahr, die Lore? Das ist ein Mädchen. Sie ist etwas verwöhnt; das
ist sie. Aber man muß sie machen lassen. Hi, hi.«

Da stürmte er voran, daß sie ihm kopfschüttelnd nachsah und beschloß,
mit der Lore zu reden, obgleich das eine keineswegs leichte Sache
war. Es mußte doch sein. Denn der junge Mann hatte allerlei gute und
solide Eigenschaften an sich. Und obgleich Frau Maute nicht gerade das
war, was man gewöhnlich mit solid bezeichnet, so wußte sie es doch zu
schätzen, wenn andere es waren.

Ein Brief von Gertrud. Er lag auf dem Klavier, als Georg seine Stube
betrat.

Als Georg ihn sah, wurde ihm schon freier und ruhiger zu Mute. Und
während er ihn las, trat das Mädchen neben ihn in seiner klugen,
warmen, einfachen Art und faßte seine Hand: »Ganz verstört bist du?
ganz verwettert? Ach, das ist alles nicht so arg. Nun setz' dich ans
Klavier und spiele. Angefangen. Das kommt alles wieder, das ist nur ein
bißchen verscheucht. Siehst du? Hier setze ich mich hin und horche. Ich
bin dein guter Kamerad. Das bin ich.«

»Gertrud.« Er sagte es laut vor sich hin. Dann las er den Brief zum
zweiten mal. Die einfachen, kleinen Erlebnisse aus der Welt seiner
Kindheit kamen ihm vor wie lauter sonn- und festtägliche Bilder. War es
noch lang, bis er nach Hause konnte?

Es kam ein Drang über ihn. Was sollte er hier?

Da setzte er sich ans Klavier, und sah auf den Stuhl am Fenster,
ob Gertrud dort sitze, und es war ihm, als ob alle verscheuchten,
zerflatterten Geister und Geistchen wieder zutraulich wurden und ihre
Stimmen hergäben. Es war alles still, im Hause und rings umher. Er
aber saß und hielt aufs neue fest, was der nächtliche Spitzberg ihm
geschenkt hatte, und spielte, und stand nach einer Weile auf und holte
die Geige, die im Kasten auf seinem Tisch lag. Ja, nun hörte er alles
wieder; ganz voll Musik war seine Seele, und er war selig und unselig
zu gleicher Zeit. Denn er hörte es deutlich in sich; das war das
Schöne; und er konnte es nicht so hervorbringen, wie er wollte; das war
das Schwere. Es mußte für Klavier und Geige zusammen werden, die beiden
miteinander mußten es singen können. Und er holte sein Notizbuch und
legte es neben Gertruds Brief auf den Tisch, als ob der ihm helfen
sollte, und schrieb auf, was sich ihm in eine Form fügen wollte. Und
bald war er so froh, als ob er an der Weltschöpfung Teil habe, und bald
legte er den Kopf auf die Geige und wollte es aufgeben, etwas aus ihr
herauszuholen, so verzagt war er.

Da knarrte es auf der Stiege von behutsamen Tritten und dann trat
nach vorsichtigem Klopfen Meister Riedel ins Zimmer. Er trug seine
stramingenähten Hausschuhe in der Hand und schlüpfte erst im Zimmer
behutsam hinein.

»Ich hab' noch kommen müssen und es melden,« sagte er, und seine Augen
strahlten. »Er ist da. Der Bub' ist da. Ich hab' gehört, daß Sie noch
auf sind und Musik machen.«

Georg war noch nicht so recht an der Weltoberfläche angelangt, er mußte
sein Bewußtsein zusammen sammeln. »Was für ein Bub?« fragte er. »Wer
ist angekommen?« Es war ihm, als ob er es wissen sollte, aber es fiel
ihm nicht gleich ein.

»Unserer.« Der Meister lachte. »Nummer fünf. Heißt das, wenn man die
drei Mädchen mitzählt. Soeben angekommen; er ist ein Prachtskerl.«

Ja, nun war Georg wieder auf dem Laufenden.

»Das ist ja fein,« sagte er. »Einfach: da ist er. In der Welt drin. Wie
soll er denn heißen? Feierlich schalle der Jubelgesang!«

»Bst,« sagte der glückliche Vater. »Ich glaube, es wird besser sein,
wenn wir den morgen anstimmen. Den Jubelgesang nämlich. Die Frau wird
schlafen wollen. Wie er heißen soll? Friedrich, denk' ich. So hat mein
Vater geheißen. Wenn er wird, wie der, kann mir's recht sein.«

Georg nickte einverstanden. Er kannte den blinden alten Mann gut vom
Hörensagen.

»Dann kriegt er einmal die Geige?« sagte er. »Dann darf er wohl das
alles lernen?«

»Natürlich. Das ist abgemacht. Der Helmle kommt ins Geschäft, und der
Friedrich, der --«, der Vater machte eine Handbewegung, als ob er damit
dem Friedrich die ganze noch übrige Welt zuspräche.

Georg tat einen tiefen Atemzug, und dann sahen sie alle beide
verlangend nach dem offenen Klavier.

»Die Schwägerin schläft bei der Frau,« sagte der Meister. »Ich bin
ausquartiert. Da oben, in der Kammer nebenan ist mein Bett. Ich mag
aber noch nicht hinein. Es ist doch etwas Besonderes. Wenn da auf
einmal etwas lebendig wird. Das ist vorher nicht dagewesen. Und das
gehört so zu einem. Es ist mir jedesmal so, wenn eins kommt, ein Kind.
Es dreht einen um und um. Hören Sie's?«

Es drang ein dünner, heller Ton in die Stille herauf.

»Das ist er.« Sie horchten beide.

»Mir geht's auch so,« sagte Georg. »Daß ich nämlich noch nicht ins
Bett mag. Bei mit geht auch etwas um, das lebendig werden will. Ich
hab' etwas komponieren wollen, etwas Wunderschönes. Droben auf dem
Spitzberg hab' ich's gefunden. Aber ich kann's nicht recht loskriegen.
Stückweise, ja; einmal auf dem Klavier und einmal auf der Geige, aber
es hat keine rechten Zusammenhänge. Hier, in mir drin, da hab' ich's.«
Er schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Da tönt alles miteinander.
Nein, ich geh' noch nicht ins Bett. Ich spränge ja doch wieder heraus
und finge von vornen an.«

»Wissen Sie was?« Meister Riedel machte ein vergnügtes Gesicht über
einen guten Einfall, der ihm kam.

»Da oben ist's nichts mehr. Es geht stark auf ein Uhr. So späte
Wiegenlieder sind nicht so passend. Wir geh'n in den Keller. In den
kleinen, hinteren Weinkeller. Dort setz' ich mich auf ein Faßlager und
höre zu und Sie spielen sich's vom Herzen herunter. Da wird's dann
schon kommen. Vorsichtig, leise. Die Treppe knarrt bei jedem Tritt, sie
ist alt, wie das ganze Haus. Morgen früh wird die Frau schelten; es
kann nichts im Hause vor sich gehen, ohne daß sie es hört. Aber so sind
die Frauen. Was sie nicht sehen, das hören sie; was sie nicht hören,
das ahnen sie sonstwie.«

Da stiegen sie in Strümpfen die Treppe hinunter und bargen sich und
ihre wachen Lebensgeister im Keller.

An einem Drahthaken von dem runden Deckengewölbe herunter hing
schaukelnd und schwebend eine Ampel, die warf rötliche, flackernde
Lichter durch den dunklen Raum. Zwischen zwei braven, bauchigen Fässern
saß der Meister auf dem Faßlager, stützte beide Ellbogen auf die Knie
und den Kopf in die Hände. Gluck, gluck, gluck fiel es in eintönigem,
hellem Tropfenfall irgendwo in einer Ecke aus einem hochgestellten
Gefäß in ein niedriges. Sie horchten beide eine Weile darnach hin.
Immer der eine Tropfen; sonst tiefe Stille.

Da, in dieser mitternächtigen Stunde und vor dem viel älteren Mann,
zu dem ihn ein Gefühl von Freundschaft und Vertrauen hinzog, weil er
gleich ihm sinnig und nachdenklich war und zu den Horchenden gehörte,
da wuchs Georg Ehrensperger der Mut aufs neue. Und er stand unter der
schwebenden Ampel und hielt die Geige im Arm und spielte. Meister
Riedel sah mit warmen, freundlichen Blicken auf den jungen Mann, der
während des Spielens glänzende Augen bekam, und nickte ihm zu und sagte
in einer Pause still und bedächtig: »Das ist, als ob Sie mir das alles
erzählen und als ob ich es ganz verstände.« Und fing an, langsam und
die Worte zusammensuchend, zu reden: »Ich weiß nicht, wie es den andern
geht damit. Sie sagen: Musik ist Musik. Tönen muß das und klingen.
Ich meine: Reden muß es. Alles das, wofür es keine Worte gibt und
will einen doch auseinanderdrücken, das kann man #so# sagen. Ganz von
unten herauf. Mein Vater, der schwere Sorgen hatte, und nach und nach
blind wurde und oft einherging, den Kopf und die Schultern gebückt wie
unter einer Last, der setzte sich oft im Dämmer, wenn er sich allein
glaubte, ans Klavier. Und was er sonst niemanden sagte, das tat er
da von sich. Zuerst war es lauter Jammer, als ihm nach und nach das
Licht seiner Augen erlosch, und dann fand er den Weg zu einem Choral:
'Wenn wir in höchsten Nöten sein,' oder 'Befiehl du deine Wege.' Und
ich stand manchmal in einer Ecke und horchte und meinte, ich kenne ihn
erst jetzt. Später, als er still und friedlich seine letzten Jahre
hinlebte, da hat er auch noch heitere und freundliche Töne gefunden.
Als unser erstes Kind zur Welt kam, die Lene, da hat er nichts gesagt,
sondern hat nur so still für sich hingelächelt, und dann hat er ein
Lied gespielt, das tat wie ein Schlaflied, ganz zart und fein. Aber auf
einmal hat das aufgehört, da hat es aus dem Klavier herausgewettert,
wie wenn einer einen Juchzer unterdrücken will und kann nicht mehr und
#muß# hinaussingen; und nachher ist ihm der Schmerz dreingekommen: daß
er es nicht sehen kann, das Kind nämlich.

Und sehen Sie, Herr Ehrensperger, alles das, was einer gern in seinem
Leben drin hätte und hat's nicht und muß sich danach sehnen und kann's
niemand sagen, das, mein' ich, das sollte man auf so einem Instrument
sagen können. Ich kann's nicht; wenn's mich packt und ich will's
probieren, dann bringen's meine schweren Hände nicht heraus. Oder fehlt
es sonstwo. Aber wenn einer ein rechter Musiker wäre, und er wüßte von
allem Schmerz und von aller Freude der Menschen, und hätte den Glauben,
daß da etwas dahinter steckt, hinter dem Leben, etwas, das man nicht
sehen kann, etwas Großes, Schönes, das zu uns gehört, dann -- dann
müßte es sein, wie eine Predigt, was er spielt.

Ich kann's nicht so sagen, wie ich's meine.« Er lächelte ein wenig
verlegen, daß er so viel gesagt hatte, da er am hellen Tageslicht eher
ein schweigsamer Mann war.

»Ich red', wie ich's versteh. Ich hab' noch nicht viel ganz rechte
Musik gehört. Ein paar mal in meinem Leben. Das vergeß ich nie. So alt
ich werd', vergeß' ich's nicht. Aber ich mein', ich spür's, wie es sein
müsse und wie nicht, und ob's von unten herauf kommt. Man spürt's ja
den Leuten auch an, ob sie fromm sind und recht und ehrlich, oder ob
sie nur so daherreden.«

Da stand er auf und holte ein Glas aus einer Mauernische und füllte es
mit einem braven, roten Wein, der war bei Stetten im Remstal gewachsen,
und bot es seinem jungen Genossen. Der tat einen tiefen Zug daraus, und
sah den Meister an und mußte ihn liebhaben, und fand auch das Wort, ihm
von seinem jungen Leben und von seinen Freuden und Unruhen und von
seinen Wünschen und Träumen zu erzählen.

Darauf trank auch der Meister und füllte das Glas aufs neue. Da tranken
sie umschichtig aufs Wohlsein aller, die zu ihnen gehörten und auf ihr
eigenes, und auf das Gedeihen aller schönen Lebensplane und spürten mit
der Zeit die freundlichen Geister des Remstälers, der ihnen mutmachend
und siegverheißend durch die Adern strömte, besonders dem Jüngeren.
Zuletzt nach allen tranken sie auch aufs Wohlsein der Lore, nachdem
sie miteinander beredet hatten, daß so »die meisten jungen Mädchen«
seien. Es tat nichts zur Sache, daß sie beide nicht viele junge Mädchen
kannten, es war doch ein beruhigender Schluß.

Und nach einiger Zeit nahm auch der Meister die Geige und spielte ein
paar schöne, alte Volkslieder: »Es war ein Markgraf überm Rhein,« und
»Es waren einmal drei Reiter gefangen, gefangen waren sie«.

Sie sangen auch dazu, daß das Gewölbe widerhallte, der Meister mit
einer schönen, tiefen Baßstimme. Droben schlief die Welt; hier unten
war waches Leben.

Als es auf der Stadtkirche vier Uhr schlug, spuckte und knisterte die
Ampel und wollte erlöschen. Da hoben sie das Gelage auf und suchten
beim letzten Flackerschein den Ausgang und erstiegen die Treppen. Und
es war nun eher als beim Abstieg zu fürchten, daß die hellhörige Frau
ihr Teil zu denken bekomme. Denn allzu leicht waren ihre Tritte nun
nicht mehr.

Es bleibt über das Schicksal der beiden Neugeborenen dieses Abends noch
zu sagen, daß Meister Riedels Sohn nach drei Wochen richtig Friedrich
getauft wurde und daß er jetzt in einer Präparandenanstalt für
künftige Schullehrer ist und ihm also die Welt offen steht, wenn auch
nicht ganz so unumschränkt, wie sein Vater damals andeutete. Und daß
Georg Ehrensperger in einer mutlosen und zornigen Stunde einige Wochen
später die Niederschrift seines Musikstücks, das er »Frühlingsnacht«
hatte taufen wollen und das nie fertig geworden war, in tausend kleine
Fetzen zerriß und hernach ganz gebrochen in der Küferwerkstätte auf
einer Schnitzbank saß, den Kopf in die Hände gestützt.

Der Meister stand vor ihm, den Helmle auf dem Arm, und machte ein
bedenkliches Gesicht.

»Das geht nur so,« sagte er. »Gleich zerreißen, gleich ganz wegwerfen.
Wir hätten es doch noch zusammen gespielt. Es ist viel Schönes drin
gewesen. Es wird einer nicht gleich Meister. Aber so ist solch ein
junger Feuerkopf, gleich, entweder ganz oder gar nicht.« Denn Georg
hatte versichert, er lasse in Zukunft die Hände davon, es sei sicher,
er bringe nie etwas zustande. »Ja,« sagte er und hob den Kopf:
»Entweder ganz oder gar nicht. Das Stümpern, das hat ja keinen Wert.
Ich will es lassen; ich habe ja anderes zu tun. Ich muß mich ans
Studium machen, es wird Zeit. Die Semester gehen so schnell herum.«

Der Meister lächelte; aber das konnte auch dem Helmle gelten, der
seinen Lockenkopf ganz in den väterlichen Bart hineinwühlte. Er stellte
den Buben auf den Boden und nahm das Schnitzmesser. »Ja, dann wollen
wir uns halt ernstlich an die Arbeit machen und sehen, wie weit wir's
bringen. Es war aber doch schön an dem Abend, nicht? Ja, dann müssen
wir das halt lassen in Zukunft.« Da ging Georg Ehrensperger aus dem
Hause, wie einer, der ein schweres Gelübde getan hat und den es
bereits anfängt zu drücken.

       *       *       *       *       *

Sie hatten im Keller Lorens Gesundheit getrunken und das war für Georg
so eine Art von Versöhnungsakt gewesen. Wenn er sich recht besann: er
hatte wohl ebensoviel Schuld an dem unerquicklichen Abend, als sie.
Am nächsten Tag ging er nicht hin. Am übernächsten kam er zufällig
über die Neckarbrücke, da sah er sie von Weitem in dem schmalen
Mauergärtchen, das sich längs des Hauses am Neckarufer hinzog. Sie
saß auf der sonnigen Mauer und hatte ein paar Nachbarskinder um sich
her. Die strebten an ihr in die Höhe und sie schien irgend einen
vergnüglichen Unsinn mit ihnen zu treiben, soviel von weitem zu sehen
war.

»Sie ist selber noch ein Kind,« dachte Georg, er konnte die Augen nicht
von dem fröhlichen Bild da unten losbringen. Ach ja, nun wollte er
hingehen und nicht so empfindlich sein. Da sah sich Lore um und winkte
ihm zu. Und nach zwei Minuten saß er neben ihr auf der Mauer und die
Nachbarskinder steckten ihm alle Knopflöcher des Rocks und der Weste
voll mit roten und weißen Blümchen, und Lore sah ihn an, so sonnig wie
der Apriltag. Hatte es vor zwei Stunden noch geregnet und geschneit
untereinander? Wer wußte das noch? Es dachte kein Mensch mehr daran.




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War hier der Weltlauf stehen geblieben? War es noch alles ganz wie
einst? Ein Drehorgelmann zog durch Wiblingen und blieb vor all den
alten Häusern stehen, und als er seine Lieder herausorgelte, da taten
sich die Fenster auf und die Haustüren, und Köpfe bogen sich heraus,
junge und alte, und Leute traten unter die Türen und suchten eine
kleine Münze heraus. Handwerker hielten einen Augenblick mit irgend
einer lärmenden Hantierung inne, und Lehrjungen suchten durch eine
Hintertür zu entwischen, um ein Stückchen hintendrein zu traben;
Großmütter und Mütter hüteten ihren Nachwuchs unter den Akazien des
Marktplatzes, aus allen Höfen, Häusern, Gassen und Gäßchen quoll es von
Kindern, -- es war alles ganz wie einst. Nur daß jetzt Sommer war und
die Akazien dichte, grüne und etwas staubige Kronen hatten; und daß es
nicht mehr jener grimmig-lustige Spielmann war, dessen einer Arm in
Frankreich begraben lag, sondern ein alter, mühseliger Blinder, der die
lichtlosen Augen, während er die Orgel drehte, sehnlich nach der Sonne
hob, weil ihm von ihr etwas wie ein ferner Lichtschein in seine Nacht
hineindrang. Ein großes, starkknochiges Weib zog ihn mit festem Griff
hinter sich drein, und ließ ihn hie und da los, um die Münzen, die aus
den Fenstern fielen, in der Schürze aufzusammeln.

Es war alles, wie einst, nur daß die Kinder von damals nun erwachsene
Leute waren, und die jungen Leute von damals ältere, gesetzte, biedere
Bürger, und die Alten, -- ja, von den Alten müssen wir hier ein wenig
reden. Wir wollen uns im Leben und im Buch nicht allzuweit von den
Alten entfernen. Denn sind sie nicht vor uns dagewesen, und haben
einen Zaun um uns geschlossen, daß wir aufwachsen konnten, ehe die
Unbilden des Lebens uns hart anließen? Haben sie uns nicht gegeben,
was sie zu geben hatten, und ist nicht jetzt noch manches von ihnen zu
holen, das wir zu unserer jungen, eigenen Weisheit hin gut und nötig
brauchen können? Sie könnten eines Tages nicht mehr da sein, wenn wir
nach Hause kommen. Sie könnten leise fortgegangen sein, wenn wir's uns
nicht versehen haben; ja, wenn wir uns in der weiten Welt umhertreiben
und aus allen Bechern trinken, und nach aller Weisheit suchen und aller
Kunst, -- es wäre doch möglich, daß wir darüber etwas versäumten, das
wir später nicht mehr wiederfinden.

Ja, so ist es uns mit Frau Anne gegangen, mit der Rektorin Cabisius.
Als wir fortgingen, saß sie noch in dem großen Lehnstuhl, den wir so
wohl kennen, und hatte noch ihre Freude am Leben und Dasein, und hatte
auch einiges daran auszusetzen, und einiges zu sorgen. Aber sie war
ganz unzweifelhaft da. Und nun --

Der blinde Orgelmann zog durch das Städtchen, und auch an des Rektors
Haus gingen die Fenster auf, und im Oberstock neigte sich horchend
ein weißer Kopf heraus und nickte lächelnd, als das »Ännchen von
Tharau ist's, die mir gefällt« von der zitternd-warmen Sommerluft hier
herauf getragen wurde. Ein paar kräftige Züge aus seiner Pfeife tat
der Rektor, dann wandte er sich der Stube zu: »Hörst du's?« Aber sein
Gesicht verschattete sich, und er strich sich mit der Hand über die
Stirn. Es geschah ihm hie und da, daß er sich einen Augenblick vergaß.
Wenn man ein ganzes, langes Leben miteinander geteilt hat, dann gewöhnt
man sich nicht mehr leicht um. Sie war noch immer um ihn, trotzdem, daß
ihr Stuhl leer stand, trotzdem, daß auf ihrem Grab schon die weißen
Sommerlevkoyen blühten. Er meinte zu fühlen, daß sie ihm nahe sei.
Sie hatte sich ja, ehe der Vorhang zwischen ihm und ihr herabgelassen
wurde, noch einmal umgewandt: »So, Alter, also du kommst ja auch bald;«
als ob sie, wie in den ersten Jahren ihrer jungen Ehe, auf ein paar
Tage ins Elternhaus reise, und er nachkomme, sie abzuholen.

Ja, er konnte sie freilich nicht verlieren. Aber es war doch anders,
als vordem. Ach ja, es war doch anders. Die Welt wurde doch allmählich
ein wenig fremd und leer. Er hatte sein Stück Arbeit darin getan und
sein Stück Menschenleben, ja ein volles und großes Stück Menschenleben
darin gelebt, und seit ihm Frau Anne keine Antwort mehr gab, wenn er
mit ihr redete, seither kam es hie und da über ihn, wie es über die
Schwalben kommt, wenn es Herbst wird.

Aber als er nun wieder ans Fenster trat, nicht, um dem Orgelmann zu
lauschen, sondern um den weißen, schwimmenden Wölkchen in der fernen
Himmelsbläue nachzusehen: wohin sie schifften, und ob sie wohl eine
Botschaft mitnehmen könnten in ein fremdes, unbekanntes Land, da
vernahm er spielende Kinderstimmen auf der Straße, und das hohe,
klägliche Weinen eines Kleinen in seinem Wägelchen, und sah eine Mutter
aus dem Nachbarhaus treten und sich tröstend über das Kind beugen. Und
er sah Gertrud, seine Enkelin, wie sie mit einer Gießkanne und einem
großen Blumenstrauß aus dem Garten kam, und sein Herz kehrte zu ihr
zurück, wie sie so ernst und gelassen daherkam in ihrem schwarzen
Kleid, mit dem stillen, klugen Gesicht. Da freute er sich, daß die
Kinder auf sie zusprangen und um Blumen bettelten, und daß sie sich auf
die Staffel setzte und den kleinen Bettlern die Hände mit Balsaminen
und Reseden und Rittersporn füllte. Er war sein Leben lang so ehrlich
und ganz und mit liebendem Herzen in der Gegenwart gestanden, er hatte
auch jetzt noch Teil an Gottes Menschenkindern. Er hatte Teil an ihnen,
so lange er lebte. Nein, es gab keine Trennung zwischen der Welt, die
man sieht, und der, die man nicht sieht. »Ach, Anne,« sagte er, und
sagte es laut, und es war ihm, als nicke sie ihm zu, rasch und lebhaft,
wie in ihren besten Tagen: »Wir müssen so jung sein, als wir können,
Alter, für das Kind.«

Da klopfte er die Pfeife aus und stieg hinunter und wollte Gertrud
rufen: »Komm, wir tun noch einen Gang durch den Garten.« Die
Drehorgelmusik tönte fern verhallend vom Stadtgraben herüber. Dort
führte der Weg ins Nachbarort, Wiblingen hatte nun sein Gutes empfangen.

Als der Rektor hinunterkam, war Gertrud nicht mehr allein bei den
Nachbarskindern.

»Ja so,« sagte er, »ja so, der Herr Kandidat ist da. Grüß' dich Gott,
Georg. Steht Tübingen noch? Alles am alten Fleck, wie einst? Ja? Dann
wollen wir's uns überlegen, ob wir uns da hinwagen, Gertrud. Nächsten
Herbst, falls wir den erleben, zum Hausweihfest der Verbindung. Ich
bin der älteste von den alten Herren, Georg. Ich möchte mich wohl noch
einmal unter euch junges Volk hineinsetzen, so recht ins Volle.«

Georg stimmte eifrig bei. Er war zur Hochzeit seines Bruders Franz
hierhergekommen. Die sollte morgen sein. Vor zwei Stunden war er
angekommen.

»Sie können mich drüben nicht brauchen,« sagte er. »Jungfer Liese
hantiert mit der Schwägerin im Haus herum. Ich weiß mich nirgends hin
zu retten. Auch habe ich einen Sack voll zu erzählen. Ich weiß nicht,
wo anfangen.«

»An irgend einem Zipfel,« sagte Gertrud und lachte. Wenn sie lachte,
hatte sie gleich ein anderes Gesicht, ein junges, warmes. Sonst --
Georg hatte, als er kam, gedacht: »sonderbar ist es; sie ist so alt wie
Lore, aber sie ist so ernst und ruhig und klug. Sie ist etwas anderes,
etwas Gutes, Prächtiges; aber ein junges Mädchen ist sie nicht.«

Jetzt atmete er befreit auf, als sie lachte.

»Geht ihr beiden nur in den Garten,« sagte der Rektor. »Später komme
ich auch zu euch. Ich muß meine alte Freundin besuchen, Frau Judith.
Leicht geht es nicht mehr: Hundert und fünfzig Treppenstufen. Ich bin
nah an achtzig, Kinder. Aber es ist so eine Sache, sie ist mit mir jung
gewesen. Meister Nössel? ja, der auch. Aber Judith weiß noch mehr von
damals. Er sitzt dabei und horcht, wenn sie erzählt. Ja, das werdet ihr
auch noch erleben, wenn ihr alt seid, wie das tut, wenn noch irgendwo
ein Mensch aus der jungen Zeit da ist.«

Da lachten sie beide. Sollten sie jemals so alt werden? Breit und weit
lag das Leben vor ihnen.

»Wir kommen auch auf den Turm, übermorgen.« Das riefen sie dem Rektor
nach. »Frau Judith muß uns Märchen erzählen, bis ihr der Atem ausgeht.
Vom Rotkelchen Liebseelchen, und von Jorinde und Joringel.«

Er winkte, er wollte es ausrichten.

Ja, übermorgen! Wer hat übermorgen in der Hand?

       *       *       *       *       *

Am andern Tag war die Hochzeit.

Die goldene Bretzel über der Ladentür des Ehrenspergerhauses prangte in
neuem Glanz. Festlich prangten schlanke Birken links und rechts von der
steinernen Staffel, festlich duftete das ganze Haus nach Gebackenem und
Gebratenem, festlich knirschte der Sand auf Treppe und Hausgang unter
den Tritten der Hausbewohner.

Die beiden Edelleute in der Ladenstube waren unvertrieben und sahen
nur von einer neuen blauen Tapete herab auf Franz den Jüngeren und
seine Braut. Sie mochten sich noch des Tages entsinnen, da vordem eine
junge Frau hier eingetreten war, ein liebes, feines Ding, ein wenig
schüchtern und ein wenig weich von Gemüt, mit hoffenden, hingebenden
Augen.

Die heutige Braut war anders. Sie war ebenso groß und breit und blond
als Franz, und hatte rasche, kräftige Bewegungen und von Unsicherheit
war nichts in ihrem Wesen. Sie war gleichfalls einem Bäckerhause
entwachsen und Jungfer Liese staunte, wie rasch sie sich in all' das
Neue fand.

Ja, Jungfer Liese. Sie hatte es ja wahrhaftig in ihren alten Tagen noch
zu einem Schwarzseidenen gebracht und ihr rotes, runzeliges Gesicht
sah aus einer hutähnlichen Haube mit lila Astern heraus. »Wie ein
bekränzter Truthahn,« sagte Müller Hensler. Aber Müller Hensler war
nicht der Allerfeinste, und Jungfer Liesens Würde konnte heute durch
nichts zerstört werden. War sie nicht so eine Art von Bräutigamsmutter?
War nicht sie es eigentlich, die Franz den Jüngeren an seine junge
Frau abgab, und die zugleich mit ihm den Laden und die Ladenstube, den
unteren Stock und die lederne Geldtasche an das neue Regiment abtrat?
Denn Franz der Ältere nahm sich der Sache nicht so recht an, und
Jungfer Liese war die letzte, die es ihm zumuten wollte. Friedlich saß
er, das behaglich gediehene Bäuchlein von einer gestickten Sammetweste
übersponnen, einen Strauß im Knopfloch, im Großvaterstuhl unter den
beiden Edelleuten. Friedlich drehte er und ohne Hast die Daumen
umeinander und wartete, wie sich die Dinge entwickeln würden, und als
sich der Müller Hensler zu ihm gesellte, da saßen sie, wie ein paar
brave Knaben, die warten können, beisammen, und saßen auch nach dem
Kirchgang an ihren Plätzen an der Festtafel im Hirschen beisammen, fest
und sicher, wie angewachsen. Und als der Abend kam, da konnte jedermann
es hören, was für flotte Kerle sie in ihrer Jugend gewesen seien, und
daß der Nachwuchs im Ganzen nicht viel tauge.

Es war eine stattliche Hochzeit, und Georg Ehrensperger war ein
stattlicher Brautführer und fühlte sich als den Glanzpunkt der
Gesellschaft und es war ihm kein unangenehmes Gefühl. Er führte eine
Wiblinger Bürgerstochter am Arm, ein großes, bräunliches Mädchen mit
einem vollen Rosenkranz in dem krausen Haar und mit weißen Handschuhen
an den breiten, schaffigen Händen. Und er tat sein Möglichstes, »Leben
in die Sache zu bringen.« Aber als er gegen Abend am Klavier saß und
den Hochzeitsmarsch aus Mendelssohns Sommernachtstraum spielte, kam
von einer Seite her Müller Hensler und schlug ihm kräftig auf die
Achsel und fragte: »Eigenes Mehl?« und versicherte den Umstehenden:
»Das ist ein Tausendkerl, das macht er alles selber, der Heimtücker,
der Pfarrer;« und von der anderen Seite her kam sein Bruder Franz und
sagte: »Da kann man nicht drauf tanzen, du. Spiel etwas lustiges,
spiel: Als wir jüngst in Regensburg waren, oder einen Walzer.«

Da ließ Georg für heute das Musikmachen sein und nach einiger Zeit kam
es über ihn: Er mußte eine kleine Weile in den Garten hinaus. Er mußte
eine Weile allein sein. Der Mond stand am Himmel, die Bäume rauschten
leise im Abendwind. Aus dem Saal klangen die Geigen und Flötentöne; da
ging er noch ein Stück weiter vom Hause weg.

Er war doch wohl anders, als die da drinnen. Wer aber gehörte zu ihm
und seiner Art? Er war doch auch ihres Blutes. Wie hatten Franz und
sein junges Weib einander vorhin angesehen, als sie, vom Tanz veratmend
neben einander standen. Lachend, frohlockend, verheißend, eines aus
des andern Augen trinkend. Und sie waren nicht die tiefsten Menschen.
Das war nur, weil sie gleicher Art waren und sich zusammengeschlossen
hatten. Und es kam etwas Drängendes über ihn, daß er, während er von
den Menschen wegging, sich nach ihnen sehnen mußte.

       *       *       *       *       *

Zur selben Stunde schien der Mond in die Turmstube und füllte sie
bis in den hintersten Winkel mit seinem silbernen Licht. Die beiden
alten Menschen, Frau Judith und ihr Bruder, saßen feiernd an ihren
Fensterplätzen und schwiegen einträchtig miteinander und nach einiger
Zeit stand Meister Nössel auf und ging, Betzeit zu läuten. Er kam lang
nicht mehr. Er hatte es seit einiger Zeit stark mit den Gedanken, oder
vielmehr sie mit ihm: sie kamen über ihn, wo er gerade saß oder stand;
dann war er ihnen verfallen.

Er stand auf dem dunklen Glockenboden und lehnte an dem Balken eines
Glockengerüstes; sein altes Herz aber ging den Tönen nach, die er über
die stille Welt hingeschickt hatte.

Er wußte wohl, wie es da unten zuging; er hatte fast allen Wiblingern
im Lauf der Jahre die Hosen geflickt und die Hosen nicht allein. Frau
Judith wußte es: er hatte manchen Brast, der auf irgend einem Herzen
lag, mit sich heraufgetragen und da oben in der hellen Stube vor ihren
Augen ausgebreitet. Und wie sie mitsammen ratschlagten, ob der und
jener Kittel noch zu reparieren sei und seine Flecken zu tilgen, so
bewegten sie auch miteinander in guten und einfältigen Gedanken die
unruhigen Wege, auf denen die Leute zu ebener Erde sich die Herzen
und den Mut und das Gewissen zerrissen, und fanden aus ihrer eigenen
Herzensstille ein gutes Wort und gaben es umsonst darein. Sie konnten
nichts dafür, wenn es nicht immer half. Vielleicht war es so, daß
sie, die wie wir wissen, ein unsichtbares Königreich hatten, nur
denen helfen konnten, die ihres Landes waren: einfachen, einfältigen,
gläubigen Gemütern, die in und hinter allem Geschaffenen eines Gottes
Herz und Hand fanden. Vielleicht wußten sie mit den andern nicht so zu
reden. Tatsache war es, daß einige Leute, die sehr gescheit und von
gutem Appetit und nüchternen Anschauungen waren, lachten, wenn sie
das eisgraue Schneiderlein mit seinen kindlichen Augen sahen, und daß
einige andere Leute ihm die Hand schüttelten und die Kappe vor ihm
abnahmen.

Aber Meister Nössel machte sich nicht so viel aus beidem. Vielleicht
merkte er's gar nicht, das kann wohl sein. Da, als er so stand und
der Menschen da unten gedachte, fing drüben im Weiler Hinkelsbach ein
spätes Glöcklein an zu rufen und vom Wald her, von Buchenbronn und von
Ettersbühl kam Antwort; es waren fromme, sanfte Glockenstimmen, die
miteinander redeten. Und der Alte, der noch von vorher sein tuchenes
Hauskäppchen in der Hand hatte, tat die Hände darüber zusammen und
sagte sein:

      »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ,
      Dieweil es Abend worden ist,«

und sagte es für sich und für die andern aus einem sehnlichen Herzen
heraus. Darüber war er aus seinem Sinnen gekommen und nun stieg er das
Treppchen hinauf in die Stube. »Schläfst du, Judith?« sagte er, als
er seine Schwester in dem hellen Mondlicht sitzen sah, den Kopf auf
der Brust und die Augen geschlossen. Er lächelte still, da sie keine
Antwort gab. »Sie wird allmählich müd,« sagte er. »Sie hat's mit dem
Schlafen und war sonst so ein munteres Frauenwesen. Was war das für ein
Mädchen seinerzeit. 'Über sieben Buben,' sagte die Mutter. Na, sieben,
das ist ein bißchen viel. Aber doch. Sie stieg über alle Zäune.«

So, nun war er im richtigen Fahrwasser. Wohin waren alle die Jahre
gekommen, die zwischen heut und damals lagen? Wie weggewischt waren
sie. Er setzte sich in die eine Ecke des Kanapees. In der andern war
gestern abend Rektor Cabisius gesessen. Das war auch so einer. Dem war
auch wie vorgestern geschehen, was sechzig und siebenzig Jahre her war.
Aber mitten im Gespräch hatte die Judith gestern Zeiten und Personen
verwechselt und dann hatten sie miteinander darüber gelacht. Sie, die
immer alles so genau wußte.

Meister Nössel fuhr aus seiner Ecke empor. Es hatte elf Uhr geschlagen,
noch verzitterte der Nachhall der dröhnenden Schläge in der Luft. Er
war ja richtig auch eingeschlafen gewesen. Er hatte eben noch geträumt.
Was war es nur gewesen? Er konnte sich nicht mehr recht besinnen und
strich sich erwachend über die Stirn. »Judith, komm, wach auf. 's ist
Zeit zum Bettgehen.« Sie rührte sich nicht. Das Mondlicht war weiter
gegangen, sie saß im Schatten. Da trat er heran und legte ihr die Hand
auf die Achsel. »Judith, wir wollen noch den Abendsegen lesen. Ich
zünde die Lampe an, Judith.«

Aber als er mit der Lampe kam, da sah er, daß sie keines Abendsegens
mehr bedurfte. Sie war schon zur Ruhe gegangen. Sie war so müde gewesen.

Da setzte sich Meister Nössel still neben sie. Jetzt war er ganz
allein. Aber er wußte schon, daß er das nicht lange bleibe. Er hatte
auch nicht mehr weit bis zum letzten Abendsegen.

       *       *       *       *       *

Und wieder ein Abend.

Da hatten sie in alter Weise auf den Turm steigen und zu Frau Judiths
Füßen sitzen und Märchen hören wollen. Wie in Kindertagen hatten sie
tun wollen. Aber sie waren keine Kinder mehr.

Es war aber doch etwas wie aus einem Märchen, was sie heute erlebten.

Frau Judith, die so wunderbare Dinge gesehen, gehört und erlebt hatte,
die mußte ja freilich auch anders zu Grabe gehen, als andere Leute.

Hatte sie nicht prophezeit, daß sie einst in der vollen Flut des
Mondlichts durch die Luft schwimmen werde, breit und sicher und ohne
viel Geräusch? Es war eine weiche, schimmernde, warme Julinacht.

Unten, dem Turm gegenüber, an eine Mauer gelehnt, standen die beiden
jungen Menschenkinder, Gertrud und Georg. Sie hielten sich an den
Händen gefaßt und sahen stumm in die Höhe. Der Vollmond stand hoch
am Himmel und leuchtete seiner alten Freundin, die er so oft da oben
besucht hatte. Nun kam sie auf die ebene Erde herunter zu den andern.
Sie wollten sie in die weiße Friedhofskapelle tragen und taten es bei
Nacht, der Leute wegen. Frau Judith durfte nicht im Tod ein Schauspiel
geben; das hatte sie im Leben nie getan.

Der riesige Turm ragte hoch auf; er schien bei Nacht noch massiger und
schwerer zu sein als bei Tag. Das bläuliche, unsichere Licht hüllte ihn
ein und schien durch die Luken, hinter denen die Glocken hingen, und
glänzte in den Fensterscheiben des Kirchenschiffs.

Da kam es von oben her, schwarz und schwer, und senkte sich langsam
nieder, langsam, langsam.

Die beiden hielten den Atem an und rückten näher an einander. Die Hände
faßten sich fester. So waren sie nicht allein dem unbegreiflichen Etwas
gegenüber, das da herniederkam.

Das stieß nun auf dem Pflaster auf. Es gab einen dumpfen Ton. Da stand
es still, groß, schwer und unbeweglich. Wie ein dunkles Schicksal stand
es da. Das war der Sarg. Ein stummes, stummes Ding. Ein schwarzes
Tuch lag darauf, es warf einen langen, schrägen Schatten auf die
mondbeglänzte Gasse. Die hellen, starken Seile, die darum geschlungen
waren, zogen gerade, feste Striche durch die Luft, von der Höhe des
Turmes bis hierher.

Ein paar Gestalten kamen aus dem Turmeingang hervor. Sie sprachen
einiges mit gedämpfter Stimme, lösten die Seile ab und hoben den Sarg
auf eine Bahre. Dann gingen sie mit der stummen Last davon, man hörte
ihre Tritte hallen durch die Nacht.

Droben in der Turmstube flimmerte ein Lichtlein; irgend jemand beugte
sich zum Fenster heraus; dann wurden die Seile hinaufgezogen und die
Gasse lag still, wie zuvor. Sie atmeten tief auf. Ihre Hände lösten
sich auseinander. Das war ein großes, helles Stück ihrer Jugend
gewesen, was hier davongegangen war. Das war nun vorbei. Selige Kinder
waren sie da droben gewesen. War nun niemand mehr, der ihnen das
Paradies der Kindheit hütete, daß sie es finden konnten, so oft sie
kamen? Morgen ging Georg wieder nach Tübingen, gleich nach Frau Judiths
Begräbnis.

»Wenn ich wiederkomme, erzählt mir kein Mensch mehr Märchen.« Er sagte
es mit unsicherer Stimme; es war ihm nicht um die Märchen zuerst und
allein. Er war ja nun Kandidat, er wollte im nächsten Jahr das Examen
machen, er war wohl zu alt für solche Kindereien. Er hatte andere
Dinge zu bedenken. Nur, er war ein Träumer. Er vergaß manchmal all das
andere und war wieder der kleine Bub, dem der liebe Gott hoch oben über
der Turmspitze saß und das Ganze überschaute und in dessen Welt es
wunderbar genug zuging.

Gertrud schien das in der Ordnung zu finden. Sie wandte sich zu ihm
hin. Er sah, daß sie Tränen in den Augen hatte, sie flimmerten im
Mondlicht. »Doch,« sagte sie und zwang sich zum Lächeln und sah ihn
mütterlich an, so jung sie war. »Doch, das tu' ich. Ich habe sie alle
in mir drin.«

       *       *       *       *       *

Marie, die junge Magd aus dem Weiler Hinkelsbach, die sich so gut aufs
Brotbacken verstand und so mißtrauisch gegen das Bücherwesen war, die
erlebte zu dieser Stunde, in dieser warmen, düftereichen Sommernacht,
ganz hinten im Rektorgarten, da, wo er an den Stadtgraben anstößt,
auch etwas Märchenhaftes. Es ist bis jetzt nicht aufgeklärt, was der
Seiler Andres Hagenbach, der auf der andern Seite des Stadtgrabens
seine Seilerbahn hatte, zu so später Stunde noch dort nachzusehen
hatte; und Marie, die noch von der Rektorin Cabisius zu einer regsamen,
umsichtigen Magd erzogen war, hätte gleichfalls nicht nötig gehabt,
noch bei Mondschein im allerletzten Beet Salat zu schneiden. Der Rektor
sagte später in der Hochzeitstischrede, die er den Zweien hielt, die
beiden Herzen seien wohl damals schon unsichtbar an einander angeseilt
gewesen und solche Seile hätten, das wisse er noch von seiner eigenen
Jugend her, eine merkwürdige Zugkraft.

Tatsache war, daß Marie von dem Salatbeet weg, anstatt den langen,
geraden Hauptweg nach dem Haus einzuschlagen, nach dem Baumgarten zu
ging, sie, die sonst weder für Mondschein noch für einsame Gänge etwas
übrig hatte. Und Tatsache war, daß, als Georg und Gertrud nach Hause
kamen -- sie hatten den Schlüssel zum hinteren Gartenpförtchen bei
sich und schritten still und wie im Traum durch den Garten, -- daß
sich dort unter den Bäumen eine dunkle Gruppe bewegte, flüsternd und,
ja nun kam ein zarter Laut, wie ein Kuß, dann noch einer, dann ging
jemand fort. Es raschelte und knackte in dem trockenen Stadtgraben,
und dann kam Marie unter den Bäumen hervor und sagte, als sie der
beiden ansichtig wurde, halb trotzig und halb übermütig: »Er ist mein
Schatz. Er will mich. Vorhin hat er's gesagt. Ich hab's aber schon lang
gewußt. So was merkt man doch.« Sie war so erregt, daß ihre Augen,
sowohl das gerade, als das, mit welchem sie ein wenig schielte, Blitze
schossen, Jubelblitze, wenn man so sagen will. »Morgen kommt er,« sagte
sie. »Vornen zur Haustür herein bei Tag. So will ich's. Er soll's zum
Herrn sagen, die Frau ist meine Patin gewesen.« Dann ging sie vor den
Beiden her mit flinken Schritten ins Haus. Auf ihrer vollen, runden,
beweglichen Gestalt und auf ihrem krausen Haar lag das Mondlicht. »Er
will mich,« sagte jede Bewegung, »er hat gesagt, ich sei ihm grad
recht, er möchte kein Härchen anders haben an dem ganzen Mädchen.«

Am andern Morgen sah der Rektor, als er seinen Frühspaziergang unter
den Bäumen machte, sowohl die abgeschnittenen Salatköpfe als auch das
Messer und das kupferne Salatbecken unter dem Süßapfelbaum liegen, der
seine äußersten Äste noch über den Stadtgraben hin streckte. Da blieb
er stehen und lächelte. Er hatte sich vorhin in der Küche seine Pfeife
angezündet, und er besaß Mariens Vertrauen.

       *       *       *       *       *

In des Rektors Studierstube brannte heut weder Feuer noch Lampe. Die
guten Geister und Geisterchen dieses Raumes mußten im Mondschein
spucken, und das war ihnen ganz gelegen. Aus allen Ecken kamen sie
hervor, tanzten auf dem silbernen Teppich, den das Mondlicht auf
den Stubenboden wob, ritten auf den Wölkchen, die der Rektor seiner
allerlängsten Pfeife entsteigen ließ, trieben allerlei Allfanzereien
mit den Büchern in den großen Ständern und den Bildern an der Wand und
unterhielten sich mit dem alten Mann, der da saß und auf die Jugend
wartete.

»So, da kommt ihr?«, sagte der Rektor. »Nun laßt euch nieder, wir
wollen noch eine Weile beisammen sein. Ach, du Kind.«

Denn Gertrud hatte sich einen Schemel geholt und nun saß sie neben
ihm und legte die Hände um die Kniee und den braunen Kopf gegen des
Großvaters Arm.

Georg saß auf der Truhe.

»Hier bin ich daheim,« sagte er. Er streckte die langen Beine weit von
sich und lehnte sich an die Wand.

»Bei uns drüben bin ich's nicht, je länger, je weniger.

Franz ist mein Bruder und nur zwei Jahre älter als ich. Aber wir wissen
nur wenig miteinander anzufangen. Es gibt nichts Verschiedeneres,
als uns beide. Jetzt hat er noch seine Frau dazu; es ist, als ob er
nun vier Augen habe, um alles zu sehen, was ich -- nicht sehe, und
vier Füße, um breit und kecklich und sicher mitten im hellen Tag
zu stehen. Es gibt nichts Verschiedeneres als uns beide, und gibt
nichts Verschiedeneres, als das ganze Haus Ehrensperger und mich. Sie
sind praktisch, ich bin unpraktisch, sie sind für das Nahrhafte und
Gedeihliche, immer nüchtern, klar und fertig: so ist's -- und so wird's
-- und damit gut. »Du bist ein Sinnierer,« sagen sie, »und Sinnieren
trägt nichts ein.«

Er war ein bißchen kleinlaut.

»Sie haben gewiß ein Recht, so zu sein, wie sie sind. Aber kann ich
aus meiner Haut heraus? Ich kann nicht mit ihnen laut und lebhaft
sein; wenn sie lachen, finde ich nichts daran, und wenn ich versuche,
mitzutun, so gelingt es eine kurze Weile, mehr nicht. Es ist, als ob
wir in zwei Welten lebten.

Sie verstehen die meinige nicht und ich die ihrige nicht.«

Ja, jetzt durften sie ihn nicht stören. Sie wußten es, daß er jetzt den
Sack, von dem er gesagt hatte, ausleere bis auf den Grund. Sie nickten
ihm nur zu, ermutigend: sprich nur, du kannst alles sagen.

'Du, Pfarrer,' sagte Franz heut zu mir, (er sagt immer schon 'Pfarrer',
obgleich kein Mensch weiß, ob es jemals so weit kommt), »du, Pfarrer,
du trägst so ein zugeschlossenes Gesicht herum. Ich kann dir aber
sagen, so duckmäusig sind nicht alle Studenten. Fritz Hornstein, der
studiert doch auch auf den Geistlichen, der kam an Ostern heim und
besuchte alle Bekannten. Und wohin er kam, da gab es lustigen Lärm
und Lachen. Er kam auch zu uns und drang bis in die Backstube vor. Da
machte er einen Gaul aus Milchbrotteig, mit vier bocksteifen Füßen. Den
mußten wir ihm backen und dann nahm er ihn mit sich nach Tübingen. Er
wolle ihn jemand verehren, sagte er. Ist der lustig, warum bist du es
nicht? Du mußt doch nicht Hunger leiden.

Und alle stimmten bei: Du mußt doch nicht Hunger leiden. Sie meinen es
gut auf ihre Art. Sie sind nur anders als ich, das ist alles.

Die Schwägerin -- Jungfer Liese ist begeistert von ihr, aber sie
fürchtet sie, glaub ich, in aller Stille ein wenig, -- sagt, daß Franz
noch eine Weinwirtschaft einrichten solle. In unsern Stuben, Gertrud.
Weißt du, wo die Gitterbettchen standen und das Himmelbett mit den
roten Vorhängen. Franz ist nicht übel einig damit. Der Vater auch.«

Er machte einen Versuch, zu scherzen, aber es gelang ihm nicht recht.
»Ich glaube, ich bin eifersüchtig. Franz und der Vater sind die besten
Freunde. Der Vater liest täglich drei Zeitungen. Aber ich verstehe
nicht viel von Politik, und das wenige sieht bei mir anders aus als
bei ihm. Da beredet er alles mit Franz, und sie streiten sich wacker
herum, haben große Mostgläser auf dem Tisch und schlagen mit der Faust
dazwischen. Die besten Freunde sind sie.

Ich aber sitze stumm daneben.

Und dann gehe ich in der Verzweiflung ans Klavier. Das ist immer noch
meine Zuflucht.

'Das ist recht, Pfarrer,' sagte Franz, als ich es heut öffnete. Und
Jungfer Liese ging gleich ans Fenster und machte einen Flügel auf,
damit die Nachbarschaft auch ihren Teil bekäme.

'Spiel' etwas Eigenes,' sagte Franz, 'spiel' etwas, das du selbst
gemacht hast.'

Da ließ ich mich verleiten. Ihr wißt, es ist mir hie und da etwas
eingefallen im letzten Jahr. Ich hätte es ihnen nicht vorspielen
sollen. Ich hätte wissen können, daß es nicht zu ihnen redet. Aber es
war ein starker Wunsch in mir, etwas mit ihnen zu teilen, das mich
angeht. Ja, vielleicht war auch ein wenig Großtuerei dabei, das kann
ich nicht sicher sagen.«

Denn Gertrud hatte ihm so einen Blick zugeworfen, der etwas ähnliches
andeuten mochte.

Er tat einen langen Atemzug. »Es ist mir nicht gut gegangen damit.

Ihr wißt, als Fritz Bauer beim Baden ertrank, -- ihr kennt ihn, er war
so ein lebensvoller, frischer Mensch, Neuphilolog, mein Bundesbruder,
da habe ich etwas komponiert, eine Totenklage, wenn ihr wollt. Ich
habe die Musik in mir gehört, eine ganze Nacht lang; ich stand um vier
Uhr auf und saß den ganzen Vormittag daran und es gelang mir, sie
festzuhalten. Ich habe sie in der Verbindung vorgespielt, als wir die
Trauerfeier hielten. Ich habe den Eindruck, als ob einige gefunden
hätten, daß etwas daran sei.

Also, das spielte ich heute vor und vertiefte mich ganz darein und
meinte, sie alle mit mir zu führen in die Stimmung: daß solch ein
junges Leben so jäh endigen müsse. Jetzt noch heiter und kräftig
und voll Frohmut, und junge Genossen dabei, und sonnige Ufer und
plätschernde Flußwellen, -- und dann der starre Tod, der ihn in die
Tiefe zog. Das hätt' ich alles mit Worten nicht so sagen können,
aber ich meinte, sie sollten es mit mir hören in den Tönen, die ich
anschlug. Aber als ich fertig war und mich nach ihnen umwandte, da
blieben sie alle still und sahen einander verdutzt an. Es war nicht das
beredte Schweigen, das einem so viel sagt, es war das lähmende, tote
Schweigen, bei dem nichts herüber und hinüber geht.

Und nach einer Weile fing Franz an zu gähnen und sagte: 'Also das
wär's, so, so. Du, jetzt, jetzt spielst du noch etwas anderes. Jetzt
spielst du noch den Radetzkymarsch. Was, den kannst du nicht? Na, mach'
kein Gesicht. Ich glaube, ich kann ihn, wenn auch nur mit drei Fingern.
Laß mich einmal heran.'

Und die Schwägerin sagte: 'Ach ja, Franz, den Radetzkymarsch.' Den
hatte sie mit ihm gehört, als sie miteinander in Stuttgart bei der
Wachtparade waren.

Und er spielte ihn, und der Vater taktierte mit dem Kopf und versuchte,
mitzupfeifen. Jungfer Liese sah mich vorwurfsvoll an: »Siehst du? Der
Franz. Er hat nicht studiert und kann es doch. Das ist einer, der
Franz.«

Da kam es über mich, daß ich aufsprang und den Deckel zuschlug und noch
die Tür zuwarf, daß es knallte und in den Garten ging.

Nachher schämte ich mich und ging noch einmal hinein. Da waren sie ganz
harmlos und freundlich und Jungfer Liese sagte, ich müsse neue Hemden
haben und wir sprachen eingehend über die Hemden.

Aber davon wurde es nicht anders. Sie sind fremd in meiner Welt,
und ich bin fremd in der ihrigen. Und es führt kein Weg herüber und
hinüber. Ich hänge an ihnen; ihr wißt es. Und das ist mein Kummer, daß
ich anders sein muß meinem Wesen nach. Es ist nicht nur mein Studium,
es ist mein Wesen.«

»Das kenn' ich besser, als du denkst,« sagte der Rektor in seiner
verstehenden, linden Art.

»Das kenn' ich aus der Zeit, als ich, selber noch jung und meines
Wesens ungewiß, mit Schmerzen sehen mußte, daß ich anders sei als die,
zu denen mich Geburt und Kindheitsgenossenschaft gestellt hatte und zu
denen auch mein wachsendes Ich noch drängte. Ich weiß, wie das ist, was
du heut erlebtest. Ich habe es auch erlebt.«

Georg sah auf. Die alten Augen lagen liebend auf ihm und es wallte warm
in ihm empor.

Er war also auch nicht immer ein so harmonischer, klarer Mensch
gewesen? Er hatte auch seine Art durch Schmerzen und Zweifel hindurch
tragen müssen? Und war doch solch ein Mann geworden. Dann -- dann
verlohnte es sich also, daß man es versuchte, mit sich selber zu
hausen, wie man nun einmal war? Daß man versuchte, auch aus seiner Art
etwas Rechtes zu machen?

Gertrud nickte ihm zu. Hatte sie seine Gedanken verstanden? »Franz ist
Franz und du bist du. Laß dich's nicht so sehr anfechten. Das kommt
vielleicht noch, später. Siehst du, bei dir ist noch nicht alles so
klar und fertig. Sie sind schon, was sie werden müssen, du nicht. Es
geht noch so vielerlei hin und her in dir, nicht, du?«

Ach ja, das tat es freilich. Bis zum Überlaufen voll war er davon.
Er hatte ja heute mit ihnen davon reden wollen. Je näher das Examen
kam, je mehr fürchtete er sich davor. Nicht nur vor dem Examen selbst,
obgleich er auch dazu einige Ursache hatte; viel mehr vor dem Leben,
das darnach kam. Vor dem Amt. Wo war das knabenhaft ausgesponnene
Pfarrersideal hingekommen, das er eine Zeitlang gehabt hatte? Haus und
Garten auf dem Land, eine kleine, nette Dorfkirche, einfache, schlichte
Menschen, denen er alles Schöne, Fromme, Ewige vermitteln durfte. Er
selbst -- ach, wir kennen ja Georg Ehrensperger, -- er hatte sich
bereits gesehen, wie er durch die Gassen schritt und alle kannte und
grüßte, und alle ihn. Und wie er an stillen Sommernachmittagen die
Kirche aufschloß und -- dann brauste die Orgel durch den Raum. Ganz
deutlich hatte er das gewußt. Ach, wo war es hin? Je mehr er sich mit
den Wissenschaften auseinandersetzte, desto mehr zerfloß ihm alles,
was er unter Christentum verstanden hatte. Was blieb ihm noch? Was war
das Ewige, das Frohe, Heilige, das er den Menschen bringen wollte? Er
hatte ihnen nichts zu geben. Er hatte selber keinen festen Besitz.
Was er hatte, das lag zu tiefst innen und sah kaum aus wie Religion.
Man konnte es nicht in Worte kleiden und nicht lehren. Es war ein
Verlangen, sich hinzugeben, sich brauchen zu lassen, etwas zu sein
für die Menschen, und ein Verlangen darnach, an den Quell des Lebens
hinzudringen, der unter allem Sichtbaren seine Fluten hinschickt. Und
er wußte es noch nicht, damals noch nicht, daß er hundert Jahre lang zu
leben und zu predigen gehabt hätte aus dem einen Verlangen seiner Seele
heraus: »Gebt euch hin an Gott, gebt euch hin an die Menschen.« Allen
Glauben und alle Liebe konnte man da hineinfassen. Aber er verstand
sich selbst noch nicht.

Arm und unklar kam er sich vor. Was sollte ein solcher wie er ins Amt
treten? Er konnte über diese Dinge nicht mit den Genossen reden, er war
zu scheu, sie in sich hineinsehen zu lassen. Und er konnte sich auch
nicht bei den Professoren Rats erholen, wie manche taten.

Und immer öfter kam die Angst über ihn: »Wo hinaus mit mir? wenn nun
die Zeit da ist, was dann?«

Zweierlei war, an dem er sie hie und da vergaß.

Lore. Wenn er bei ihr war und sie sah, so blühenden Lebens voll, dann
kam es über ihn, wie von frischer Märzluft angeblasen, daß das Leben
denn doch nicht nur eine Sache des Nachdenkens sei, und daß Jugend und
Schönheit auch gute Gaben seien. Wenn er sie gut antraf, so scherzte
sie ihm die schweren Gedanken hinweg: »Ach du, du nimmst alles so
schrecklich ernst. Weißt du, was gut ist gegen das Traurigsein?
Frohsein, du.« Dergestalt rief sie ihm nach außen.

Nach innen rief ihn die Musik. Ans Klavier trug er die Unruhe, die ihm
die Wissenschaft machte. Die Musiker, das schienen ihm die wahren
Propheten und Lehrer zu sein von dem allerinnerlichsten, das es gab.
Sie konnten trösten, froh machen, die Herzen erheben. Sie konnten der
Seele auf den Grund leuchten und alles Gute mit Namen rufen, daß es
lebte, und alles Niedrige erschüttern.

Aber das konnte ihn nichts helfen, daß er das wußte. Er mußte selber
etwas zu geben haben, etwas Eigenes. Es wollte etwas in ihm leben, und
suchte eine Sprache; da horchte er und suchte sie zu finden.

Die Bücher und Kollegien kamen nicht gut weg dabei.

Denn je länger er Musik machte, desto kälter wehte es ihn aus den
Büchern an. Ja, freilich -- er durfte es sich nicht verhehlen, es waren
nicht immer gerade die reinsten Triebe, die ihn ans Klavier zogen. Er
mußte es sich gestehen, zuweilen floh er nur dahin vor den langweiligen
Pflichten, zuweilen war es reine Zerstreutheit, daß er da saß und
spielte. Gertrud kannte ihn wohl, als sie sagte: »Es geht noch so
vielerlei hin und her in dir.«

Von dem allem hatte er heut reden wollen. Er hatte es sich fest
vorgenommen. Aber die friedlichen Geister dieser Stube lösten so manche
Unruhe, noch ehe sie in Worten an die Oberfläche kam. Mußte denn alles
gesagt sein? Es war so wohltuend, eine Weile still dazusitzen. Die
beiden verstanden ihn auch so, das wußte er. »Hier bin ich daheim, das
macht es.« Und als er sich dessen aufs neue versichert hatte, da wuchs
ein neuer Mut in Georg. »Warum sollte ich's im Ehrenspergerhaus nicht
auch sein können? Es ist nicht so leicht, aber es muß doch zu machen
sein. Ich will mich morgen mit Franz und dem Vater an den Vespertisch
setzen und -- ja, und will ihnen von mir erzählen. Ich will es so
einfach tun, als ich kann. Ich will nicht fremd werden in meinem
Vaterhause.«

Als er das beschlossen hatte, sah er froher aus, als zuvor.

In die Stille hinein sagte der Rektor: »Man muß auch nicht mit Gewalt
verstanden sein wollen. Man muß zuweilen den Mut fassen, sich in sich
selbst zu bergen, bis etwas Sicheres und Gewordenes von innen heraus
kommt. Das wirft uns dann kein Kaltsinn und kein Mißverstehen um.
Aber freilich,« -- er lächelte und sah die beiden jungen, horchenden
Gesichter an, -- »das Wartenkönnen, auf sich selbst und auf andere, das
will auch erst gelernt sein.

Siehst du, Georg, ich habe einst gemeint, ich sei ein Dichter, weil
alles Geschaffene in einer eigenen Schönheit und stillen Sprache zu
mir redete. Und manchmal fand ich auch das Wort, es wieder zu sagen.
Da sammelte ich nach und nach einen kleinen, heimlichen Schatz von
Gedichten, gereimten und ungereimten an. Sie waren zum Teil mangelhaft
in der Form, ich weiß es. Es war oft ein Stammeln von einer innerlichen
Welt, für die ich des klaren Ausdrucks nicht mächtig war. Aber sie
waren ein Teil von mir und waren mir teuer.

Da ließ ich mich einmal in einer aufgeschlossenen, warmen Stunde
hinreißen und zeigte sie meinem Bruder. Der war Arzt, ein frischer,
heiterer, allgemein beliebter Mensch, und ich liebte ihn mehr, als
er wußte. Zuweilen aber kam es mich an, daß ich in meiner heimlichen
Gedankenwelt von ihm verstanden sein wollte. Dann ging es mir wie
jenem, der alles wollte und nichts bekam.

Er sah hinein, las wohl auch in den Blättern. Am andern Tag gab er
mir sie wieder: 'nett, zum Teil ganz nett. Ein bißchen versonnen.'
Er lachte und gab mir einen Schlag auf die Achsel: »Du bist immer ein
Sinnierer gewesen, Joachim.«

Siehst du nun, daß ich weiß, wie es ist, Georg?

Er konnte wohl nicht anders; er sagte, wie es ihm ums Herz war. Aber
mir war das leichthin geredete Wort wie ein Schlag ins Gesicht. -- Das
war alles? Da kam wieder so leer zurück, was ich aus mir heraus gegeben
hatte und ich stand da und schämte mich, daß ich meine Seele so nackt
hatte sehen lassen, und hätte sagen mögen: »gib's wieder zurück, mach's
ungeschehen, daß du mich gesehen hast. Und dann zog ich mich in mich
selbst zurück, so weit ich nur konnte.«

Der Rektor ließ ein paar große Rauchwolken steigen, die bildeten im
Mondlicht einen schmalen hellen Streifen wie eine Brücke, darauf die
Gedanken des alten Mannes in seine Jugend zurückgingen.

»Ja, heute versteh ich das alles; damals --, er sah es, daß er mich
arm gelassen hatte. Und er meinte, ich habe mehr Lob erwartet und sei
nun verschnupft, daß es mager ausgefallen sei, und erklärte mir, -- er
klopfte mir nochmals dazu auf die Achsel, daß ja wirklich ganz nette
Sachen darunter seien, aber daß es ja natürlich viel bedeutendere Leute
gebe und daß ich nicht erwarten dürfe, mit ihnen zusammengestellt zu
werden.

Da packte ich mein Büchlein wieder ein. Nein, das hatte ich nicht
erwartet. Etwas anderes. Was denn?

Ach, einen aufblitzenden Funken, der von seiner Seele zu meiner
spränge, es hätte kaum ein Wort gebraucht, es hätt's ein Blick getan,
ein Händedruck, oder auch ein Schweigen.

Da hast du recht, Georg, es gibt ein beredtes Schweigen.« Georg saß
und horchte. Den Kopf lehnte er an die Wand und die langen Beine
streckte er weit in die Stube hinein. Die Uhr tickte friedlich und
gelassen: still -- still -- still -- still. Bis die Stille redete. Ach
wie friedlich war es hier.

Es war keine Unterbrechung dieser Stille, als der Rektor wieder anfing:
»Das ist's, was wir suchen und begehren: Gemeinschaft, Verstehen, nicht
Lob. Ein Wort, das unserem verborgenen Leben eine Erlösung gibt, eine
Befreiung. Aber wir dürfen das Wort von keinem verlangen. Es muß über
uns kommen, wie ein Wunder. Es muß von einer verstehenden, liebenden
Seele kommen. Und wir dürfen zu niemand sagen: sei du mir das, ich
bitte dich.

Aber wie wir still hingehen und es tragen, daß wir einsam sind unter
denen, von denen wir geliebt sein möchten, wächst eine Macht in uns,
selber zu lieben und zu verstehen. Die den Armen das Evangelium
verkünden wollen in irgend einer Weise, die müssen selber arm gewesen
sein, arm in sich selbst vor allem.

Ich weiß das auch, Georg.«

»Ja,« dachte Gertrud, und ihre Augen gingen zwischen dem alten und dem
jungen Haupt hin und her, »aber manchmal begegnet uns doch auf diesem
stillen Wege, von dem du sagst, ein Mensch, der die gleiche Sprache
spricht oder doch die unsere in sich widerhallen läßt. Und dann geht
ein Grüßen von Seele zu Seele: Du Bruder, o du Bruder.«

Aber sie sagte es nicht laut.

Es ging etwas Neues durch sie hindurch, etwas, das sie nicht benennen
konnte. Das verschloß ihr den Mund.

»So, nun wollen wir zu Bett gehen.«

Der Rektor lehnte seine Pfeife an die Wand.

»So behüt dich Gott, Georg. Glück auf den Weg. Es gibt jetzt harte
Bretter zu bohren, ich weiß es. Es ist ein enges Tor, das Examen. Aber
dahinter ist das Leben. Du mußt dich nicht fürchten; es ist nirgends
etwas zu fürchten. Die Sonne steht über allen Wolken, und Gott über
allen Sonnen. Ich bin kein Dichter geworden, Georg. Du weißt es. Aber
es ist dennoch eine Harmonie durch mein Leben hindurchgegangen; es
hat sich dennoch gereimt. Ich habe nie aufgehört, die Rufe aus den
Menschenherzen und aus den Kinderherzen vor allen, und aus dem Leben
ringsumher zu vernehmen und zu verstehen. Das darf ich jetzt sagen. Es
wird sich bei dir auch reimen, da habe ich keine Sorge.«

Ja, er hatte keine. So fest überzeugt war Georg nicht davon. Er hatte
starke Zweifel in dieser Hinsicht. Er sah etwas unsicher nach der Ecke,
in der sonst die Rektorin saß. Er vermißte noch ihre Ermahnung: »Du
mußt dich zusammennehmen, mein Sohn. Und so weiter.«

Heute ermahnte ihn niemand. Er mußte es selbst tun, wenn es geschehen
sollte.

Da zog er seine langen Beine an sich und stand auf.

Gertrud leuchtete ihm die Treppe hinunter und stellte, als sie unten
waren, das Lämpchen in die steinerne Wandnische im Hausöhrn.

»Ich lasse dich zur hinteren Gartentür hinaus. So weit gehe ich noch
mit dir.«

Das tat sie meistens. Es war nichts besonderes, daß sie es heute tat.
Aber es war ihr anders zu Mut, als sonst. Sie hätte ihm so gern noch
etwas gesagt. Er sah so zwiespältig aus, so unsicher.

»Ach, sag mir alles, was dich unruhig macht. So wie sonst. Laß mich an
allem teilhaben.«

Aber sie dachte es nur, sie sagte es nicht.

       *       *       *       *       *

Es war eine wundersame Nacht. Eine rechte, echte Sommernacht, voll
von schwerem Duft der Rosen und des Jasmin. Es war, als ob das Leben
nur leise schliefe und sich hie und da im Schlafe bewegte. Ein
Rotschwänzchen stieß einen leisen, zirpenden Laut aus, als Gertruds
Kleid an der Hecke streifte, in der sein Nest war. Von dem sogenannten
Feuersee, einem grün überwachsenen Wasserbecken, das draußen zwischen
den Krautgärten lag, scholl das überlaute Quaken der Frösche, im Grase
zirpten die Grillen, die Bäume rührten sich im leichten Nachtwind wie
im Traum. Am Himmel hielt der liebe Gott das silberne Licht der Nacht
in seiner ausgestreckten Hand und leuchtete damit über seine Welt hin.
Er hatte gesehen, wie Marie vor einer Stunde ihr glückliches Herz ins
Haus getragen hatte, und nun sah er, wie Gertrud schweigend dahinging,
sah, wie sie sich im Heben und Dehnen der Brust erst Raum schaffen
mußte zu gelassenem Leben und Atmen.

Sie streifte ihren jungen Genossen mit einem erwachenden Blick, so, als
sei sie seither in Träumen gegangen und es fiele ihr nun auf einmal
ein, was Wirklichkeit sei und was Traum. Und als sie ihn so ansah, wie
er groß und schlank neben ihr ging und ein feines Gesicht hatte, in dem
alle guten Geister wohnten, da kam es wie etwas Neues über sie, wie
etwas Schönes, Großes, das sie seither unbewußt mit sich herumgetragen
hatte und das nun die Augen aufschlug: Daß sie beide in ihrer frischen
Jugend miteinander durch den Garten gingen, und daß ihr Sein und Werden
so miteinander fortgehen müsse, durch Nacht und Tag hindurch und durch
die ganze Welt. Wie eine helle, weiße Straße lag das Leben vor ihr,
und auf der Straße gingen Gertrud Cabisius und Georg Ehrensperger, in
gleichem Schritt und Tritt und hielten sich an den Händen gefaßt und
sahen eins nach dem andern. Da strömte etwas Starkes durch ihre Adern,
und drang ihr bis ans Herz. Sie schauerte leise in sich zusammen. Sie
verstand sich nicht recht. Sie hätte es ihm sagen mögen, der da neben
ihr ging, aber statt dessen löste sie ihren Arm, der bisher in großer
Selbstverständlichkeit auf dem des Jugendfreundes gelegen war, und
wandte sich ab und beugte den braunen Kopf über einen Rosenstrauch, der
in voller Blüte stand. Eine volle, duftende, rote Rose drückte sie an
den Mund. Da drang ihr die Kühle der Blumenblätter sänftigend in das
wallende Blut.

»Was tust du, Gertrud?« fragte Georg. »Willst du die Welt umarmen?«

Aber sie gab keine Antwort. Sie bot ihm nur abschiednehmend die Hand.
»Gute Nacht, Georg.«

»Gute Nacht, Gertrud.« Er zögerte noch einen Augenblick. Wollte er auch
noch etwas sagen? Dann ging er in die Nacht hinaus. Das Pförtchen fiel
hinter ihm zu. Gertrud hörte seine Schritte verhallen.

Dann, im Hineingehen horchte sie auf Mariens Singen, das aus der Küche
kam. Dort saß sie nun an dem weißgefegten Tisch und nähte und sang dazu.

»Noch so fleißig, Marie?«

»Ja,« sie lachte. »Ich muß mich dran halten. Wenn man heiraten will.«
Die Unruhe des Glücks war ihr in die fleißigen Finger gefahren. Da
wurden sie noch fleißiger.

Gertrud erschrak.

»Jaso. Dann willst du uns verlassen?«

An diese Seite der Sache hatte sie noch nicht gedacht.

»Natürlich.« Was hatte das Mädchen für übermütige braune Augen. Sie
hatte bloße Arme bis über die Ellbogen. Die reckte sie und machte
eine zugreifende Bewegung mit beiden Händen, als ob sie sogleich ans
Einrichten zu gehen gedenke. »Natürlich. Es ist mir --« ach nein, sie
konnte nicht sagen, daß es ihr leid sei, hier wegzugehen. Es kam nichts
dagegen in Betracht, nichts.

»Im Spätherbst wollen wir heiraten.«

»Schon?«

»Ja, das ist alles ausgemacht.«

»Alles heut Abend da hinten unter dem Baum?«

»Ja. Nun müssen Sie auch bald --.« Marie lachte.

Sie durfte sich schon etwas erlauben.

»Gute Nacht, Marie.«

Gertrud stieg die Treppe hinauf. Aber in halber Höhe blieb sie stehen
und hörte ihr Herz schlagen. Was war dies für eine Nacht. Es wendete
sich alles um und um. Es sah alles anders aus als vordem.




                    Achtes Kapitel


Die Wiblinger Stadtgemeinde war nicht mehr so ganz überzeugt von ihrer
Sicherheit, seit Meister Nössel allein auf dem Turm wohnte. Er war
doch allmählich ein hinfälliger, alter Mann geworden. Man konnte nicht
wissen, was nächtlicherweile unten in der Stadt geschah, wann der
Schlaf zu ihm kam, oder wann sein sehnliches Gemüt hinter den Gedanken
drein ging, die in ferne Zeiten wanderten, in vergangene und künftige.
So wurde die Turmwächterstelle mit ihren dreihundertundfünfundsiebenzig
Mark Einkünften nebst freier Wohnung und Öl für die Laterne neu
ausgeschrieben und dem Flickschuster und seitherigen Fabriknachtwächter
Konrad Entenmann übertragen, dem Mann der heiteren, raschen, lebendigen
Frau Lieselotte, von der wir wissen, daß sie einst von der Rektorin
Cabisius geschult und herangezogen worden war. Also blieb der Turm
sozusagen »in der Freundschaft«, wenigstens für Gertrud, die nun schon
drei kleine Entenmänner über den Taufstein gehalten hatte. Sie zog denn
auch hier oben mit ein; wenigstens brachte sie am Abend des Einzugstags
die drei Buben auf den Turm, die sie heut gehütet hatte und besah
sich das Wunder: wie in der einzigen Stube für zwei große und drei
kleine Menschen Platz geschaffen war. An Frau Judiths Fenster stand
der Schustertisch samt dem Schemel davor. Ob wohl in Zukunft auch so
wunderbare Dinge von hier aus zu erschauen sein würden? Einmal, Frau
Lieselotte neigte nicht zum Geheimnisvollen, und -- nein, und ihr Mann
auch nicht. Nun zeigte sie ihr neues Reich, und sah es mit #ihren#
Augen: »Die Kleiderkästen habe ich auf den Glockenboden gestellt;
und draußen vor der Tür, siehst du, Gertrud, da habe ich so etwas wie
eine Küche eingerichtet, zwei Schritte lang und drei breit, neben der
Treppe. Ein Petroleumherdchen und ein Küchenkasten. Und oben, es geht
eine Hühnerleiter hinauf, hast du je den Verschlag gesehen? Das gibt
eine Schlafkammer für die beiden größeren Buben, wann sie zu lang
werden für das Gitterbettchen.« Sie drehte sich um und um. »Ich muß
mich erst daran gewöhnen, so hoch oben zu sein. Mann, du mußt morgen
früh eine Gattertür an die Stiege machen. Handumkehr fällt einer von
den Buben hinunter. Buben, das sag' ich euch, wenn einer da ausrutscht
und fällt,« sie schauderte und nahm den Jüngsten auf den Arm und
drückte den zweiten an sich, »dann, dann hau' ich euch, bis es genug
ist. Jawohl, ihr dummen Kinder, das geht hinunter, hinunter, kein
Mensch kann sagen, wie weit.«

Sie hatten es nicht im Sinn; sie drängten sich um die Mutter und
guckten mit großen Augen das dunkle Treppchen hinunter. Eben war
der Vater gegangen, sechs Uhr zu läuten. »Bscht, seid still.« Frau
Liselotte kam sich nun doch auch ein bißchen wie etwas Regierendes
vor. Das war ihr Mann, der die Glocke über die Stadt und das ganze Tal
hinrufen ließ, und alle andern Menschen waren da unten und horchten.

»Gute Nacht, Gertrud. Ich dank' dir schön. Gelt, du steigst auch wieder
da herauf, du weißt ja den Weg.«

Ja, den wußte sie. Aber es war ihr, als ob sie nicht allzu oft käme.
Es war, als ob man aus einem schattigen Hain mit lockenden Pfaden und
rieselnden Quellen einen Küchengarten gemacht hätte. Es war ein braver,
wackerer Küchengarten, es war gar nichts an ihm auszusetzen, als daß
es eben der alte Hain nicht mehr war. Sie mußte sich erst umgewöhnen.
Der Mann läutete auch anders, als Meister Nössel, so schien es ihr.
Zu schnell und ein wenig unruhig. Als Gertrud an ihm vorbeiging, um
hinabzusteigen, sagte er, mitten unters Läuten hinein: »Jetzt heult
der Fabrikhund, mein alter Hilfsnachtwächter, zum Erbarmen. Immer beim
Läuten heult er. Das kann er nicht ertragen.« Bam, bam, fielen die Töne
dazwischen. »Es ist sonst ein braves Tier, es tut ihm ahnd nach mir,
ich weiß es.« Bam, bam, bam.

Wenn das Georg gehört hätte! Gertrud stieg die Treppen hinunter.
Meister Nössel, der vollbrachte das Läuten wie eine heilige Handlung.
Wie ein Priester oder ein Künstler. Ernst und still war er dabei und
niemand durfte ihn anreden und ein Ton glich dem andern und jeder war
ein Rufen nach den Menschenseelen.

Das wußte Gertrud nicht, als sie rasch und unmutig zu sich selber
sagte: »So lernts der Entenmann nie, er kann nicht so läuten, weil er
nicht so #ist#,« daß Meister Nössel draußen in Hollermanns Hütte, die
er gestern bezogen hatte, auch auf das Läuten horchte. Und daß er leise
sagte: »Du wirst ihn lehren, wie du mich gelehrt hast. In Lieb' und
Leid, in Gemeinschaft und im Einsamsein, in Sehnsucht und Befriedigung,
in eigener Not und über fremde Schmerzen hin habe ich die Glocken
geläutet. Da haben sie die Welt und mich gesegnet.«

Er lächelte verstehend, als die hastigen, ungleichen Töne niederfielen.
Sie taten ihm nicht weh. Er wußte wohl, daß #sein# Werk getan sei,
und das der Glocken an ihm, und daß das beides bei diesem Mann erst
anfange.

Stapfte da Frau Judiths Krücke?

Nein, es klopfte jemand mit dem Stock ans Fenster, und als er öffnete,
stand sein alter Freund, der Rektor draußen und streckte seinen weißen
Kopf herein:

»Komm Leonhard, es ist ein schöner Abend und wir haben alle Freiheit,
zu feiern. Wir setzen uns aufs Bänkchen, hinten am Haus, gegen die
Felder hin. Hörst du die Amsel? Hörst du, wie sie flötet? Als ob
Hollermann in der Nähe wäre. Aber ich glaube, das ist er auch. Nein,
wir wollen es nicht bereden. Wir setzen uns hin und horchen. Nachher
kommt das Kind, die Gertrud, und holt mich ab.«

Da saßen sie beisammen, bis die Abendschatten niedersanken. Der Rektor
hatte es wohl gewußt, daß ihn sein alter Schulkamerad heute brauche.
Aber sie sprachen nicht viel. Sie kannten einander allmählich so gut,
daß sie miteinander schweigen konnten. Es war ein warmer, schöner
Abend im Juli. Es war gerade ein Jahr seit Frau Judiths Tod. Die
weiße Kapelle schimmerte im letzten Abendstrahl. Hinten am Horizont
erglänzten weiße Wolken mit purpurnen Säumen wie Gefilde der Seligen.

       *       *       *       *       *

Er nannte sie immer noch das Kind. Aber sie war kein Kind mehr. Sie war
schon lange wachen und regen Geistes gewesen und nun war das noch hinzu
gekommen, daß sie sich selbst entdeckt hatte, wie sie jung und kräftig
war und aufsteigenden Saft in sich hatte, wie ein starker, gesunder
Baum. Es hob ein Fragen in ihr an: wozu, für wen? Und sie reckte die
Arme aus gegen das weite Leben und begehrte sich zu füllen mit großen,
schönen, reichen Gütern, und sah die Menschen, die rings um sie her
waren, und verlangte, warm und nah zu ihnen zu gehören. Auf dem Grunde
ihrer Seele aber war das andere: Das Du, das zu ihrem Ich gehörte.
Aber das mußte noch schweigen. Das war immer da und sah sie mit großen
Augen an: »Du, wenn wir einmal ganz beisammen sind, -- immer. -- Du,
ach, alles, was ich habe, das gebe ich dir. Du, du.« Da füllte sie ein
großer, mächtiger Lebensdrang. »Georg,« sagte sie. Und dann schloß sie
die Augen und deckte noch die Hand darüber. »Still.«

In dieser Zeit bat sie oft den Großvater, wenn sie mit ihm durch den
Garten ging oder bei der Lampe saß: »Erzähl mir aus der Zeit, als du
jung warest. Als du die Großmutter kennen lerntest. Erzähl mir von
meiner Mutter, als sie zum erstenmal zu euch ins Haus kam.«

Da lächelte er und ließ dichte Rauchwolken steigen: »Von deiner
Mutter? Ja, ich weiß nichts neues mehr. Es ist mir, als wäre es erst
kürzlich gewesen. Sie war gleich zu Hause bei uns, sie hatte eine so
warme, sonnige Art. Sie konnte lachen, daß die alten Stuben und Gänge
widerhallten, man mußte mitlachen. Hier, in den Augenwinkeln, da saß
ihr der Schelm.«

Er sah nachdenklich vor sich hin. Er sah wohl die längst vergangenen
Gestalten vor sich aufsteigen?

»Sie war das, was man anmutig nennt,« sagte er. Dann sah er seine
Enkelin prüfend an. »Du gleichst ihr nicht; du gleichst deinem Vater.
Der war groß und breit wie du, und hatte so ernste, feste Züge und eine
hohe, breite Stirn wie du, -- ja und die Nase, die hast du auch von
ihm. Sie aber war klein und zierlich und hatte Grübchen im Gesicht,
eins in der linken Wange und eins im Kinn. Nein, du gleichst ihr nicht.«

Er wußte wohl nicht, daß er zu einem jungen Mädchen sprach? Sie war ihm
im Lauf der Jahre so etwas wie ein Kamerad geworden. Er beredete alles
mit ihr, so, wie es Georg Ehrensperger auch tat. Und daneben war sie
ihm das Kind, das letzte, das ihm geblieben war.

Sie aber besah ihr Gesicht nachher in ihrer Stube im Spiegel und wurde
vor sich selber rot, daß sie es tat.

»Ach, das ist ja einerlei. Ich bin jung und gesund. Still. Ja, ich bin
ein wenig braun und eckig und ein wenig ernsthaft bin ich auch. Es
liegt nicht viel zu lachen vor. Aber das schadet nichts. Darum bin ich
doch -- ach, still.« Und sie zwang ihre Gedanken zu ernsthafter Arbeit,
und senkte den braunen Kopf über dicke, schwere Bücher, die redeten von
längst vergangenen Zeiten und Völkern und von vieler Weisheit alter
Tage, und manche von ihnen in lang verklungenen Sprachen.

Stieg zwischen den Blättern jener Wintertag auf, an dem sie ihre
Fußtapfen neben die ihres Kameraden gesetzt hatte: Ich werde ebenso
groß und stark und gescheit, wie du? Begehrte sie in gleichem Schritt
mit ihm zu gehen auch von Weitem? Oder hungerte sie nach dem Wissen
selbst? Es war wohl beides.

Das Lernen füllte sie ein wenig. Aber es war nicht genug. Und sie
ging in den Garten und schaffte sich müde und konnte doch nicht alle
ihre Kraft verbrauchen. Und holte sich Nachbarskinder und spielte mit
ihnen, aber sie konnte es nicht so recht; etwas Weiches, Lachendes
fehlte ihr, so stark und mütterlich ihr Herz empfand. Einmal brachte
ihr der Großvater einen Schüler, den sollte sie auf das Gymnasium
vorbereiten. Das tat sie während dreier Frühlingsmonate und brannte
vor Eifer und riß den Buben mit sich und brachte ihn richtig dazu, daß
er in der Stadt mit seinen Altersgenossen fortkam. Vorher war er ein
träger, unlebendiger Schlingel gewesen. Das Interesse, das hatte sie
ihm eingeflößt. Aber nun war er fort. Und sie besuchte ihre Freundin,
das lahme Mädchen, das seine ganze Jugend auf einem Fleck versitzen
mußte. Dort wurde sie mit leuchtenden Augen empfangen. Sie hatte
zuweilen Lust, ihren Kopf in dem Schoß des stillen, feinen Mädchens zu
verstecken und zu klagen, daß sie eine Unruhe in sich habe, ein Drängen
nach etwas Großem, das doch nirgends sei. Aber sie konnte es nicht.
Die Freundin empfing ja ihren Anteil vom Außenleben durch sie; ihr war
Gertrud Cabisius das Beste, Reichste, Klügste, das es gab. Sollte sie
etwas zu klagen haben?

Nein, Gertrud fuhr fort, ihr Bücher zu bringen und ihr zu erzählen, was
der Tag so mit sich brachte und was sie nun wieder gelernt hatte und
sah die geduldigen, hingebenden Augen und die blassen, feinen Züge auf
sich gerichtet, und hörte, wie aus der Tiefe dieses leidenden Lebens
die Sehnsucht sprach, die auch für sich ein Genügen begehrte. Und es
war ihr, als müsse sie für sich und für die Freundin noch etwas finden,
etwas Großes, Neues, Füllendes.

»Aber,« dachte sie mitleidig, »für sie wird es doch nicht kommen. Sie
kann kein volles Menschenleben leben. Warum muß es Kranke geben und
Schwache?«

Da fühlte sie, wie ihr das Blut frisch und warm durch die Adern
rann. Ach, es würde schon alles kommen. Es war auch jetzt schön. Die
Hoffnung, die liebliche Märchenerzählerin, die winkte mit der weißen
Hand: Du aber, du wirst das alles erleben, du bist lebenswillig und
lebenskräftig.

Ja, das war sie.

       *       *       *       *       *

»Großvater, bist du noch da? Wir haben uns ganz verschwatzt. Du glaubst
nicht, was Veronika sich zusammendenkt, wenn sie so sitzt und näht.
Ich glaube, sie stattet sich Himmel und Erde auf ihre Weise aus. Du
solltest wieder einmal zu ihr gehen. Ich glaube, du bist ihr das
Höchste, was ein Mensch sein kann.«

Gertrud lachte leise.

»Ich streite es ihr nicht ab. Jetzt komm, jetzt müssen wir heim. Völlig
dunkel ist es geworden.«

Da hatte er seine Freude an ihr, Freude und keine Sorge.

Sie aber ging neben ihm her und faßte ihn nach Kinderweise an der Hand
und war doch längst kein Kind mehr.

       *       *       *       *       *

Es gibt eine Geschichte von einem, der im Wachen viel Hunger zu leiden
hatte. Er hatte aber die Gabe, daß er vom Essen träumen konnte, so oft
er wollte, und wenn ihm der Magen gar zu arg knurrte, so suchte er
wohl auch mitten im Tag irgend ein verschwiegenes Eckchen auf, um dort
in der Schnelligkeit ein kleines, bescheidenes Träumlein zu träumen,
nur so gegen den gröbsten Hunger. Er konnte es freilich nie so weit
bringen, daß er sich wirklich satt vorkam, das stand ihm noch aus;
indessen konnte er sich doch einbilden, nahe daran zu sein, und das war
immerhin etwas.

Er war aber ein besinnlicher Mensch und dachte sowohl über sich
selbst als auch über den Lauf der Welt fleißig nach, und als er seine
Augen bei den andern Menschen herum gehen ließ, da fand er, daß sie
alle irgend ein Eckchen hatten, in dem sie vom Essen und vom Sattsein
träumten, die einen so, die andern anders, und daß der Hunger so
vielgestaltig auf Erden sei, als das Menschenschicksal selbst, und das
Sattwerden etwas Seltenes.

Franz Ehrensperger der Jüngere, der schien nicht zu den Hungrigen zu
gehören und auch kein Träumer zu sein.

Aber darum hatte er doch auch einiges ausstehen, was ihm zum Sattsein
erforderlich war.

Als er sich ein Weib genommen hatte, da hatte er geglaubt, nun mit ihr
so recht ins helle, heitere, behagliche Leben zu treten. Er sah es
gern, daß sie praktisch und sparsam und rührig sei, aber so überaus
rührig hatte er sie sich doch nicht gedacht, als sie sich nun in der
Folge zeigte. Er hatte große Lust, ein wenig gemütlich zu sein, und hie
und da eine Weile vertraulich mit ihr zusammen zu sitzen und auch etwas
Gutes mit ihr zu essen, das sie ihm etwa aus Liebe gekocht hätte, und
hatte große Lust, öfter einmal den Arm um ihre stattliche, kräftige
Gestalt zu legen: »Du, wir wollen wieder einmal über Land fahren. Was
sagst du dazu? Wir sind jung; das ist man nur einmal. Wir wollen uns
des Lebens freuen.«

Aber da kam er nicht so gut an.

»Was ich dazu sage? Wir sind jung und müssen schaffen. Laß mich los.
Wenn man es zu etwas bringen will, muß man sich rühren.« Da sah er
verdutzt drein.

Sie trieb Haus und Geschäft um, daß es eine Art hatte. Sie war nicht
schuld, wenn die Habe nicht wuchs, so lange sie am Ruder war. Sie
verschwendete nichts, weder Geld, noch Zeit, noch Zärtlichkeiten.
Sie hatten richtig eine Weinwirtschaft eingerichtet und die junge
Frau war eine umsichtige Wirtin und versorgte die Gäste, ohne viele
Worte mit ihnen zu machen, und zog nur die Brauen zusammen, wenn der
Schwiegervater gar zu seßhaft an einem der grünen Tische wurde, und
mehr noch, wenn Franz ihm hie und da ein bißchen dauerhaft Gesellschaft
leistete.

Dann rief sie ihren Mann wohl hinaus und hatte dies und das über
das Geschäft mit ihm zu verhandeln, und trieb ihn durch ihre eigene
Geschäftigkeit hin und her und er kam nicht recht zum Gemütlichsein.

Das war das erste, was ihn ein bißchen hungrig ließ und was er sich
anders ausgedacht hatte.

Dann kam eine Zeit, bald, da wünschte er sich einen Sohn und dachte
sich hie und da aus, wie das würde, wenn wieder ein kleiner Franz da
sei, und wie dann die Frau wohl oder übel mehr ins Weiche, Mütterliche
hineinkommen müsse, und wie sie miteinander vergnügt sein wollten.

Sie aber hatte in dieser Zeit nur noch mehr den Trieb, zu schaffen,
zu treiben, zu sparen und auszunützen, also daß selbst Jungfer Liese
in einer Mischung von Bewunderung und leisem Unbehagen den Kopf
schüttelte. -- Das war eine Frau. Die brachte es zu etwas. Aber
freilich, so überaus behaglich dabei zu sein war es nicht. -- Sie
durfte aber nichts dazu sagen, denn die junge Frau hatte ihr einst kurz
bedeutet, daß sie alles, was die unteren Regionen betreffe, vollständig
übernommen habe und auch gut versehen könne. (Mit Ausnahme, fügte sie
hinzu, der wenigen Tage, die sie dann im Bett zu liegen habe, wenn die
Zeit herankomme, da solle Jungfer Liese dann für sie eintreten.)

Aber als die Nähterin in der Ladenstube saß und die letzten Stiche
an den kleinen Sachen tat, die so einfach als möglich angeschafft
worden waren, und die Wiege, die alte Wiege der Ehrenspergersöhne zum
Reparieren beim Schreiner war, da stieg die junge Frau eines Tages in
den Keller, weil sie neuerdings der Magd nicht recht trauen konnte,
und hatte es gewaltig eilig und stolperte über eine Kartoffel, die auf
einer Stufe lag. Da glitt sie aus und stürzte die ganze Stiege hinunter
und stand wieder auf und kam mit schmerzhaft verzogenem Gesicht herauf.
Am andern Tag wurde ein totes Mädchen geboren und die Mutter schwebte
in Lebensgefahr. Da konnte nun Jungfer Liese noch einmal ihr altes Amt
versehen und das neue einer Wirtin dazu.

Aber das dauerte nicht allzulange. Denn die junge Frau war überzeugt,
daß alles den Krebsgang gehe, so lange sie hier liege und sich pflege,
und wollte es erzwingen, wieder selbst auf den Füßen zu sein, und ließ
sich weder durch des Doktors noch ihres Mannes Gebot länger halten, als
sie es selbst für unumgänglich nötig hielt. Da verdarb sie sich und
schleppte sich so hin, und lag bald auf dem Sofa, bleich und mager und
fast verblüht, und war bald hinter dem Gesinde her mit scharfer Stimme
und scheuchenden Worten.

Sie wollte aber nicht nachgeben und zwang es auch wirklich, das
Hauswesen wieder in die Hand zu bekommen, obgleich sie erschöpfter war,
als sie zeigen wollte und obgleich niemand bei diesem Regiment recht
aufatmen konnte; denn sie suchte mit Drängen und Treiben einzubringen,
was sie mit eigener Hand nicht mehr vollbrachte.

So kam es, daß eh' ein Jahr vorbei war, seitdem die Flöten und Geigen
der Hochzeit verstummt waren, aus der jungen, blonden Braut ein
reizbares, kränkelndes Weib mit scharfen Zügen und scharfem Wesen
geworden war, hinter dem die einen die Köpfe zusammenstreckten: »Der
Ehrensperger, der hat auch sein Hauskreuz,« und die andern: »gar zu
lang wird er's nicht haben, denk' ich.«

Und so kam es, daß, wie oben gesagt, Franz Ehrensperger noch einiges
ausstehen hatte, das ihm zum Sattsein gehörte, und daß er sich hie
und da des Gedankens nicht erwehren konnte, er habe sich das Ganze
anders vorgestellt. Er ging in jener Zeit ein wenig gedrückt umher und
saß zuweilen in der Backstube auf einem Mehlsack und nickte da ein,
anstatt sich oben einen behaglichen Ruhesitz zu suchen. Jungfer Liese,
die hatte wohl auch an das Teil der Güter gedacht, das ihr gehöre. Sie
war nicht unbescheiden, wir wissen es. Sie hatte nur davon geträumt,
nun mit dem Herrn Vetter in Ruhe und Frieden im Oberstock zu wohnen,
für ihn und sich gut zu kochen und mit einem Strickzeug am Fenster zu
sitzen und zu sehen, wie die Kunden im Laden aus- und eingingen. Das
war ja schon mehr, als sie in ihrer Jugend hatte hoffen dürfen. Dann
wollte sie ein Auge auf das Glück und Gedeihen der jüngeren Generation
haben und sich in dem Gedanken sonnen, daß sie dieses Gedeihen durch
eine Reihe von Jahren gefördert hatte.

Aber ehe sie das genannte Auge so recht hatte darauf werfen können,
schloß ihr der Tod beide Augen, nachdem sie nur wenige Tage krank
gewesen war, und so ging sie aus der Zeitlichkeit, ohne nur auch
an ihrem bescheidenen Gericht von der Lebensmahlzeit sich recht
sattgegessen zu haben. Den Herrn Vetter aber ließ sie so hilflos und
unbehaglich zurück, wie er sich in vielen Jahren nicht gefühlt hatte,
und das hatte Jungfer Liese auch in aller Bescheidenheit vorausgesehen,
und es hatte ihr die letzten Lebenstage bitter und süß zugleich
gemacht. Denn wer ist, der nicht gerne vermißt werden und der nicht
irgendwo nur auch ein schmales, kleines Lücklein hinterlassen möchte,
wenn er von dannen geht?

Das ist das Zeugnis über ein Leben, ob es wirklich gelebt worden sei,
ob irgend ein Werk oder ein Mensch hinter ihm drein sagt: nun muß ich
ohne dich sein.

Das wurde Jungfer Liese zuteil.

Denn der Herr Vetter fühlte sich weder in seinem Hause noch in seiner
Haut, die beide unter ihrer Obhut gestanden waren, mehr recht wohl.

Er ging in dieser Zeit fleißig mit dem Müller Hensler, der immer noch
der feurige Knabe von ehedem war, mit kurzen, eilfertigen Schritten
über den Markt und zum Städtlein hinaus, -- (Franz der Jüngere stand
dann wohl einen Augenblick unter der Ladentür und sah ihnen nach und
wäre gern mitgegangen) -- und sie kehrten miteinander in irgend einem
Wirtshaus ein.

Da saßen sie und tranken einen oder etliche Schoppen Roten, und wenn
sie ganz unter sich waren, so vertrauten sie einander an, wie vielfach
die vergangene Zeit der jetzigen vorzuziehen sei, hielten eine kleine,
einträchtige Klatscherei über »Die Junge«, und lobten Jungfer Liese
über den Schellenkönig, so sehr sie vordem auch ihre Mängel gehabt
hatte. So sehr lobten sie sie, daß ihr das linke Ohr, das man das
Klingohr nennt, hätte läuten müssen, wenn einem im Grabe überhaupt die
Ohren läuten könnten.

Das taten sie einige Wochen, vier oder sechs. Dann zogen sie eines
Tages auch zu dreien aus: Die beiden alten Schulkameraden und Franz
der Jüngere, alle drei in stattlichen Sonntagsgewändern, jeder eine
Nelke von Jungfer Liesens Lieblingsstock im Knopfloch, in dem sauberen,
neulackierten Wägelchen des Kronenwirts. Es war an einem strahlend
schönen Septembermorgen. Die Fahrt ging nach Tübingen. Sie wollten
miteinander ihren Studenten besuchen, so lang er noch einer war. Das
zählte nur noch nach Wochen. Das Examen war vor der Tür. Er mochte
so verschieden von ihnen sein, als er wollte, darum war er doch ihr
Student und sie waren stolz auf ihn.

»Man muß ihn nur aufmuntern,« sagte der Müller Hensler. »Er kann
sicherlich den ganzen Krempel, der verlangt wird, aber er ist
schüchtern, das ist es. Bei den Professoren da ist es wie bei meinem
Tyras, dem Kukukskerl. Wenn er sieht, daß einer Angst vor ihm hat, so
fährt er ihm an die Waden. Wer kecklich auftritt, dem tut er nichts.
Was? Die Herren sind auch keine Herrgötter, sag' ich. Man muß ihn nur
aufmuntern, den Georg.«

Also fuhren die drei nach Tübingen, um den jüngsten Ehrensperger
aufzumuntern.

Sie hatten einen Gugelhopf unter dem Spritzleder des Wägelchens und ein
paar Flaschen Uhlbacher in den Rocktaschen.

Den Gugelhopf lieferten sie unverkürzt ab, den Uhlbacher aber tranken
sie selbst. Das war nicht programmgemäß, indessen wurden sie sehr
vergnügt davon. So eigneten sie sich um so besser zur Aufmunterung.

Sie hatten den heutigen Tag mit Bedacht gewählt. Die Verbindung,
zu der Georg gehörte, hatte sich ein Haus gebaut, das wurde heute
eingeweiht. Zu dem Hausbau aber hatte der Vater Ehrensperger
beigesteuert, ein Heidengeld, wie er selber sagte. Und darum hatte er
beschlossen, der Einweihung beizuwohnen. Er kam sich so ein bißchen wie
ein Gönner vor. Wie einer, der ein Recht auf jegliche Ehrung hat.

Als die Stadt in Sicht kam, tranken die drei den letzten Schluck. Sie
tranken ihn mit Hochgefühl. Die leere Flasche warfen sie in die Weiden
am Neckarufer. Sie selbst setzten sich in Positur. Sollte ihnen einer
kommen. Sie waren von Wiblingen. Dort durfte man nach ihnen fragen.




                    Neuntes Kapitel


Lore. Es wäre vielleicht mehr unsere als Georg Ehrenspergers Sache
gewesen, uns um ihr Werden und Wachsen, und um ihre Erziehung, zu
kümmern. Wir ließen sie alle ruhig nach Tübingen ziehen, wo ihre Mutter
dem Aufschwung huldigen wollte, wir, das heißt die Rektorin Cabisius
und Frau Judith, sandten einige sorgliche Gedanken hinter dem Kinde
drein: Was mag nun aus ihm werden? Dann aber hatten wir mit andern
Dingen zu tun.

Nun ist inzwischen aus dem schönen Kind ein schönes Mädchen geworden,
das, soviel haben wir schon gemerkt, auch noch andere Leute als uns
nötigt, die Augen aufzumachen in Staunen und Verwunderung, und das,
soviel haben wir gleichfalls gemerkt, gar nicht gleichgiltig dagegen
ist, ob die Leute auch wirklich die Augen aufmachen und was in ihnen zu
lesen ist.

Wir haben auch sonst noch einiges gesehen, was wir lieber vermißt
hätten, da es für Georg Ehrenspergers Seelenruhe und für sein Studium
zuträglicher gewesen wäre, wenn Lore -- kurz, wenn ihre Erziehung in
manchen Dingen anders ausgefallen wäre.

Aber eigentlich wissen wir doch nicht so viel von ihr, als wir billig
sollten.

Fragt ihre Mutter. Die reibt die Hände ineinander vor Vergnügen und
blinzelt mit den Augen: »Ja, ja, das ist ein Mädchen. Ich, als ich jung
war, sah ganz ähnlich aus. Geschickt ist sie auch, und flink, und so
ideal. Wenn Maute sie so sähe. Er sagte immer --,« ja, nun bekommen
wir den entwichenen Maute auf den Hals. Den schenken wir ihr. Sie hat
aber nebenbei ein klein wenig Furcht vor ihrer Tochter, und so wenig
uns ein solches Verhältnis gefallen könnte, so muß doch zu Lorens Ehre
gesagt werden, daß sie meistens #dann# mit dem Fuß aufstampft, wann
wir auch aufstampfen möchten. Vielleicht hat sie von jeher mehr damit
abgeschnitten, als wir ahnen.

Ja, und fragt die Nachbarn. Die Alten sehen einander zögernd an und
rücken nicht recht mit der Sprache heraus, denn sie sehen, daß wir ein
Interesse an ihr haben.

»Hm,« sagen sie, »das Mädchen wär ganz recht. Man muß ja eine Freud'
an ihr haben, wenn sie nur aus dem Haus kommt. Freundlich -- und immer
mit den Kindern voller Vergnügen, und dann, -- eine Augenweide. Aber
so« -- »ach, da ist die Mutter schuld, die putzt sie und streicht sie
heraus, und dann mit den Studenten. Man kann nichts Böses sagen. Nur
ein bißchen viel Getue und Eingeladenwerden und Mitmachen. Du lieber
Gott, das paßt doch nicht zu den Verhältnissen. Eigentlich ist es ein
Wunder, bei der Maute, ich meine, bei der Mutter, -- es hätt' eins
übler geraten können.«

Und fragt die Nachbarskinder. Nein, fragt sie nicht. Seht einmal zu. Es
fällt euch doch ein Stein vom Herzen, wenn ihr seht, wie sie einander
anstrahlen, die Kleinen und das große, schöne Mädchen. Sie macht ihnen
auch Puppenkleider und tanzt und spielt mit ihnen; sie muß doch noch
ein Kinderherz haben, wenn sie auch gern, sehr gern hört: Lore, du,
bleib einmal ganz ruhig. Jetzt scheint die Sonne auf dein Haar und dann
sieht es aus wie Gold. Ja, das hört sie freilich gern.

Die Studenten müßt ihr nicht gerade fragen. Die sind oft nicht so
zuverlässig in ihren Berichten. Manche sind zu enthusiastisch, manche
zu spöttisch, manche wissen auch, was sie wissen, nur vom Hörensagen.
Sie tanzen gern mit ihr und bewundern ihre Schönheit, und es ist auch
nicht nur einer, der sich in sie verliebt hat. Aber man weiß nichts
davon, daß auch nur einer, überhaupt ein Mensch, sie so recht lieb
gehabt hätte. Denn lieb haben, das ist immerhin etwas anderes, als
verliebt sein und hält auch länger.

Doch ja, da ist jemand. Der wohnt im Dachstock neben den Magdkammern,
ebenfalls in einer Kammer. Der liebt sie und sie weiß es, obgleich
er es noch nie gesagt hat. Das ist der alte Kopist Riedesel, der den
Studenten Manuskripte abschreibt und kümmerlich davon lebt. Er hat
trübe, rotumränderte Augen und trägt eine große Stahlbrille; aber
hinter derselben hervor leuchtet es auf, und aus den Manuskripten
hebt sich der struppige Kopf, wenn ein rascher, leichter Tritt auf der
ausgetretenen Treppe hörbar wird. Nun noch ein paar Schritte, dann
knarrt nebenan die Tür; dort ist Mautes Kammer, eine Art von Magazin.
Da kramt Lore in den Schachteln. Sie singt dazu, eigentlich trällert
sie nur, leichte, kleine Liedchen. Dann steckt sie den Kopf zur Tür
herein. »Wie geht's?« Ach, es geht ihm gut, wenn Lore kommt. Und sie
kommt oft. Sie bringt Blumen mit und stellt sie auf das Fensterbrett.
Auf den Bettrand setzt sie sich selbst und spricht mit dem Alten. So
lieb ist sie da, so offen und so unschuldig. Sie erzählt ihm alles, er
weiß alles, versteht alles. Denn er liebt sie. Er sah sie heranwachsen,
groß und schön werden, er sah, wie sich die Leute nach ihr drehten,
er sah, wie die Mutter war. Gott behüte dich, Kind! Es geschah zum
Glück bald, daß sie anfing, ihm alles zu erzählen. Sie zeigte sich
ihm, als sie zum erstenmal ausging, um zu tanzen, sie war so fröhlich
über ihre junge Schönheit; er war es auch. Aber immer: Gott behüte
dich. Sie lachte über ihn, wenn er das so ernsthaft sagte. Aber sie kam
immer wieder. Sie kam nicht immer fröhlich. Manchmal hatte sie große,
ernsthafte Augen und sah still vor sich hin. Dann fragte er es aus
ihr heraus: Manche Leute hätten so eine schöne, friedliche Heimat, da
wären sie beisammen und hätten einander lieb. -- Oder anderes. Von der
Mutter, und daß sie, Lore, oft so unfreundlich gegen sie sei. Aber es
sei auch kein Wunder.

Es kamen auch Zeiten, da weinte sie hier oben. Da war einer abgereist,
von dem sie vorher so viel Schönes erzählt hatte. Der alte Kopist
kannte sie alle gut, die kamen und die gingen. Er neigte teilnehmend
den Kopf. Innerlich war er grimmig. Was machten sie aus dem Kind? Sie
war ihnen eine Weile gut zum Bewundern, aber sie wollten nicht das
Beste in ihr aufwecken. Ja, sie verderbten es geradezu. Die Mutter half
mit. O, die. Dumm war sie und eitel.

Er, wenn er jünger gewesen wäre! Aber sie hätte dann nichts von ihm
gewollt. Sie war zutraulich gegen ihn, sie mußte einen Ort haben, wo
sie alles hintragen konnte. Aber im übrigen. Da schickte sie ihre
schönen Augen aus nach einem glänzenden Glück. Die Mutter hatte es ihr
zu oft vorgesagt, es schien ihr allmählich so natürlich, daß es käme.
Und immer wieder klopfte es an, aber immer wieder war es ein neckisches
Spiel, wie der Wind mit einem Baumzweig an das Fenster klopft und
gleich ist es wieder still.

Da gewöhnte sich Lore an die Bewunderung, an das Staunen in den
Gesichtern der Menschen. Als sie nichts Besseres bekam, trank sie
begierig den leichten, perlenden Schaumwein der Tändeleien, der
Vergnügungen. Aber immer wieder gingen ihre Augen auf die Suche: wann
kommt das Schöne? kommt es bald?

Der Alte wußte es gut. Er hoffte mit ihr. Aber er fürchtete sich auch
davor. Denn wenn Lore ging, was hatte er dann noch in seinem Leben? Sie
war es, die seiner armen Kammer Glanz und Farbe gab.

Da fing sie auch an, ihm von Georg Ehrensperger zu erzählen. Das klang
anders, als bei den andern. Es kam unbewußt ein Stück ganz schuld- und
harmlose Kinderzeit mit zum Vorschein, als sie von ihm erzählte. Er
sah ihn auch selbst, den schmalen, feinen Menschen mit dem sonderbar
verträumten Gesicht.

»Den nimmt sie nicht,« dachte er bekümmert. Sonderbar, er zweifelte
nicht, daß das von Lorens Belieben abhänge. Sie war ihm ja weit
überlegen, was Lebensklugheit, was »Helligkeit« betraf. Und doch war es
dem Alten: »Das ist ein Guter.«

Ach nein, es schien nicht, daß der Jugendgespiele etwas ändern sollte
an Lorens Lebensführung. Allzusehr war sie überzeugt, daß er noch
ein Knabe sei, allzuviel wußte sie zu spotten: »Er sieht nicht, was
um ihn her vorgeht. Mit der Nase muß man ihn auf die Dinge stoßen.
Mich? ja, mich sieht er wohl.« Aber das war selbstverständlich. Dann
klagte sie sich zuweilen an: »Abscheulich bin ich gegen ihn. Es reizt
mich so sehr, ihn ein bißchen zu necken. Dann sieht er so erschrocken
aus und wird rot. Ach, er ist ein lieber, guter Mensch. Ich will das
nächste Mal recht nett mit ihm sein.« So war sie dann das nächste
Mal, daß Georg verzückt nach Hause ging und dachte: »Das war heut ihr
eigentliches Ich, so ist sie. Das andere, das hängt noch so an ihr,
außen herum. Das muß noch abfallen.«

Aber es wurde mit der Zeit ein wenig anders. Immer öfter nahm der alte
Riedesel die Brille ab, wenn sie hereinkam, und ließ die angestrengten
Augen auf seinem Augentrost ausruhen. Denn sie war jetzt oft so
fraulich lieb, sanft und demütig.

Immer öfter wußte sie etwas von Georg Ehrensperger zu sagen.

»Er ist so gut mit mir. Viel zu gut und viel zu fein. Ich passe gar
nicht zu ihm. Ich nähme ihn nie. Ach, Unsinn, er nähme mich nie.
Ich und eine Pfarrfrau. Ich verstehe ihn auch gar nicht. Er sagt so
sonderbare Sachen. Er glaubt manches nicht, was man glauben muß, um
ein Pfarrer zu sein und das drückt ihn. Warum er es nicht glaubt,
versteh' ich nicht. Er wollte es mir erklären. Die Bibel sei etwas ganz
anderes, als man gewöhnlich meine. Er ist so klug und gibt sich so viel
Mühe mit mir, und gestern sagte er, ich solle ums Himmels Willen nicht
denken, er sei nicht fromm. Gerade weil er fromm sein wolle, könne er
nicht alles annehmen. Ganz bedrückt sah er aus. Ich habe ihn aber auf
andere Gedanken gebracht. Schließlich lachte er wieder und sah mich so
an, so -- ich glaube, er kann mich furchtbar gut leiden.«

Der alte Riedesel saß schon lang mit der Brille auf der Stirn. »Ja,
Kind, das glaube ich auch. Und wenn auch die andern flotter sind und
lebiger, so ist er um so getreuer. Ich meine« --

Aber da stand sie schon an der Tür: »Himmel, ich verschwatze mich
ganz. Ich muß mit dem Karton hinunter. Die Mutter wartet auf den Samt.
Heut abend bin ich zum Nachenfahren eingeladen. Ich ziehe mein blaues
Satinkleid an. Nein, nicht mit ihm.« Sie lachte. »Er ist viel zu
ernsthaft und zu schwerlebig für mich, und viel zu gut. Er will mich
auch gar nicht. Denke nicht daran.« Fort war sie.

Und es kam der Tag, an dem die drei Wiblinger gen Tübingen fuhren.
Jener Septembertag. Blau und golden stieg er herauf. Der alte Copist
saß früh an seiner Arbeit. Er hatte es eilig. Schon zweimal war der
Mediziner aus dem ersten Stock dagewesen: »Noch nicht fertig?« Er
wollte abreisen. Er war ein Sachse und er ging im Wintersemester an
eine andere Universität, wohl nach Leipzig. Und Riedesel saß, schrieb
und schrieb. Er hätte gern einiges da hineingeschrieben, das der
Empfänger nicht an den Spiegel stecken sollte. Der hatte sich gewaltig
mausig gemacht. »Fräulein Lore hier, Fräulein Lore da,« und sich selbst
eingeladen in die Ladenstube und so heimelich getan. Und nun ging er
weg und tat, als ob nichts gewesen sei. »Glaubt ihr denn, das Kind habe
kein Herz?« Er knurrte vor sich hin, wie ein guter, alter Kettenhund.

Da -- husch, das flog nur so, kaum hatten die alten Bretter auf dem
Vorplatz Zeit zu knarren, so flüchtig gingen die Tritte darüber hin.
»Herein.« Er hob den Kopf. Kam sie so früh? »Holla, da ist sie. Und
schon geschmückt, wie der junge Tag. Blau und golden.«

Ja, so war es. Die Morgensonne schien ihr gerade ins Gesicht und übers
Haar. Und das Festkleid, das sie anhatte, war lichtblau.

Er blinzelte nach ihr hin. Die Augen taten ihm weh. Aber hier war
etwas, an dem sie ausruhen konnten. Keine Spur irgend eines Kummers im
Gesicht. Nun, ihm konnte es recht sein. Gestern abend war es anders
gewesen. Er hatte nur zu trösten gehabt. »Ich gehe fort, sich will
nicht mehr hier bleiben. Ich geh' in eine Stelle; zu mindestens sieben
Kindern.« Alles wegen dieses langen und breiten Sachsen, der so viel --
na ja, Lore hatte sich seine Huldigungen ja gern gefallen lassen. Aber
wer hatte sie daran gewöhnt, wer?

Und nun heute früh das taghelle Gesicht. »So ist's recht.« Er legte die
Feder hin. »Geht die Sache so bald los? Alle Achtung.« Das war so eine
Art von Besitzerstolz, was ihm aus den Runzeln seines alten Gesichts
lachte. Die würden heut wieder die Augen aufmachen.

Da saß sie schon auf dem Bettrand. Vorsichtig hatte sie das Kleid
glatt gezogen. Sie war zum Hausweihfest geladen. Darum war sie so
geschmückt.

»Ich -- ich fürchte mich halb und halb,« sagte sie. Fürchten? Seit wann
fürchtete sich Lore Maute vor einer Festlichkeit?

»Ja, vor dieser Gertrud Cabisius. Die kommt gleichfalls dazu und ihr
Großvater, der Rektor Cabisius, auch. Der muß nun steinalt sein. Er war
schon schneeweiß, als ich ihn das letzte Mal sah. Das ist nun dreizehn
Jahre her. Was der noch bei dem Fest will? Und dann -- Gertrud. Sie muß
so überaus gescheit geworden sein. Sie kann alle alten Sprachen und
hat alle Bücher gelesen, die es gibt, und daneben scheint es, daß sie
ein Ausbund ist von allen Tugenden. Hu. Und dann ich daneben.« Sie sah
vor sich hin. Aber dann meisterte sie mühsam ein Lächeln, das ihr von
innen heraus übers ganze Gesicht ging. Es half nichts, es wurde doch
ein Lachen daraus. Riedesel verstand das Lachen.

»Ach, was habe ich zu fürchten?« sagte es. »Gescheit mag sie sein,
obgleich ich auch nicht dumm bin, und meinetwegen alles andere dazu.
Ich aber, seht mich nur an. Ich brauche es ja gar nicht zu sagen, was
ich voraus habe. Das wiegt einiges andere auf, mein' ich.«

Aber dann wurde sie wieder nachdenklich. »Ich will nur sehen, was es
heut' alles gibt. Als die Mutter aufstand, mußte sie dreimal niesen.
Nun sagt sie, es sei etwas Besonderes in der Luft. Was das wohl ist?
Ich -- es ist mir auch so sonderbar. Nämlich, Georg Ehrensperger -- mit
dem geht etwas vor. Er läuft herum, als ob er jetzt erst jung geworden
sei. Das macht, er hat ein Lied komponiert, ein Festlied, das soll
heut abend beim Kommers gesungen werden. Vorgestern abend war Probe. Da
sind sie nachher alle auf ihn zugekommen und haben ihm zugetrunken und
sind ganz stolz auf ihn. Das ist so neu. Bisher ging er immer zwischen
den andern herum, so -- fast schüchtern, daß er überhaupt da sei. Und
jetzt ist das so.«

Sie wurde ganz warm. Ihr alter Freund und Liebhaber mußte sie nur
ansehen. Unten rief die Mutter: »Lore, wo bleibst du? Komm herunter,
der Herr Georg ist da.« »Ja, gleich.«

Da knarrte es auf der Stiege und gleich nachher kam der, von dem sie
sprachen, ebenfalls in die Kammer herein. Er war schon vor längerer
Zeit einmal dagewesen. Nein, wie verändert sah er aus. Größer und
stattlicher, und den Kopf trug er hoch und frei. Im Sammetrock, das
Band über der Brust, die Mütze in der Hand.

»Lore, ich wollte dir nur sagen, daß ich jetzt an die Bahn gehe.
Nachher komme ich mit Gertrud hier vorbei und hole dich ab. Dann gehen
wir in meine Stube und ich spiele euch mein Lied vor, vielleicht auch
sonst noch etwas. Ich wollte dir sagen, daß du dich bereit haltest.
Aber du, du bist ja schon fix und fertig.«

Er sah sie lachend an und sie ihn.

Dann ging er wieder.

Und Lore stieg hinter ihm drein die Treppen hinunter. Sie dachte jetzt
nicht an sich, sie dachte an ihn, der so treulich sein Erleben mit ihr
teilte. Sie war so viel Schwankendes, Unechtes gewöhnt geworden, so
viel leichtes Obenhinleben. Bei ihm aber stieg alles aus einem tiefen
Grund heraus. Alles. Er war so ganz er selbst, ob er nun Freude empfand
oder Druck und Sorgen. Er spielte nie etwas, er war immer so, wie
er war. Ach, wie oft hatte sie ihn darum ausgelacht, daß er alles so
ernsthaft nahm. Hatte ihn noch ausgelacht, schon als es ihr längst
nicht mehr so war. Sie wollte das Neue, Ungewohnte, das Innige, das
sich in ihr regen wollte, hinweglachen. Wie sie es als Kind in Frau
Judiths Stube hatte weglachen wollen.

Aber nun konnte sie nicht mehr damit fortkommen.

Es saß etwas im Winkel ihrer Seele, das breitete die Arme aus nach --
ja, nach was denn? Vielleicht nach Liebe. Jedenfalls nach etwas ganz
Echtem.

Sie stand am Fenster und sah ihm nach, wie er über die Neckarbrücke
schritt. Wenn nun alles anders wurde mit Georg Ehrensperger? »Ich kann
nie eine Pfarrfrau werden. Dazu passe ich nicht ein bißchen. Ganz
anders muß mein Leben aussehen. Ach -- tralala, er wird ja gar kein
Pfarrer.« Es hatten schon so viele Theologen umgesattelt, gerade noch
vor Torschluß. Das wissen die Mädchen in den Universitätsstädten gut.
Warum sollte er es nicht auch können? Er trug ja so schwer an der
Theologie. Da reihte sich plötzlich in heiterem Farbenspiel Bild an
Bild vor ihren Augen. Ein heiteres, behagliches Heim, nicht glänzend,
wie sie vordem oft gedacht hatte, aber freundlich und ohne Sorgen
und mit ihm, der dort so aufgerichtet hinging; in den Kreisen guter,
angesehener Menschen, und sie selbst, Lore, dazwischen, fleißig und
häuslich, gut und lieb. Sie dachte an das Rektorhaus in Wiblingen. --
Was? Ein Tropfen auf dem schönen Kleid? Wahrhaftig, noch einer. »Ich
glaube gar, ich stehe hier und flenne. Das fehlte noch. Tralala. Ein
bißchen eleganter muß es schon sein. Die Rektorin. Ich danke für solche
Hauben und so weiter.«

Da steckte Frau Maute den Kopf zur Tür herein, fast schüchtern: »Lore,
was soll ich nur tun? Ich habe gestern Abend das Paket für unsern Herrn
vergessen. Es sollte auf die Post. Nun liegt es noch da. Der wird schön
schelten. Könntest du nicht auf den Laden acht geben? Ich mache mich
fertig und trage es hin.«

»Das tu' ich, Mutter.« Sie sagte es ganz freundlich. »Ich ziehe den
Regenmantel über das Kleid. Nein, laß nur. Ich habe schon noch Zeit.«

Die Neckargasse ging sie hinauf, dann an der Stadtkirche vorbei. In
der schmalen Gasse, die nach der Stadtpost hinunter führt, gingen zwei
Studenten dicht hinter ihr. »Der Ehrensperger, der hat's in sich.«
Sprachen sie von Georg? Ihr feines Ohr fing den Namen sogleich auf.

»Ja, der. Stille Wasser -- und so weiter. Ich hätt's nicht hinter ihm
gesucht. Der Hornstein, der auch am liebsten irgendwo hinaus möchte, wo
kein Loch ist, nur nicht ins Pfarramt, der sagte gestern Abend zu ihm,
ich hab's mit angehört: »Mensch, wenn ich du wäre, ich hielte nie eine
andere Predigt, als so eine. Was? Musik ist auch eine Predigt.«

»Jetzt geht,« sagte der erste Sprecher wieder, »der Mensch drei Jahre
unter uns herum. Ein guter Kerl, aber ein bißchen, na -- soll ich
sagen, langweilig? Und jetzt zum Schluß noch so ein Glanz. Der läßt
noch von sich hören, denk' an mich.«

»Du, aber mit seiner Musik ist er immer wieder aufgetaucht. Man hat ihn
nur nicht so ankommen lassen. Heut freilich« --, da bogen sie rechtsum
und Lore mußte links gehen.

Das war aber noch der Mühe wert gewesen, auf die Straße zu gehen. Das
wollte sie meinen. Nun, er sollte es zu spüren bekommen, daß sie in
Zukunft mehr Respekt vor seiner Kunst haben wollte. Denn, sie mußte
es gestehen, sie hatte ihn oft leer abziehen lassen, wenn er etwas
von ihr begehrte, ein Zuhören, ein Mitschwingen. »Ach, schaff' etwas
anderes, etwas rechtes,« hatte sie oft gesagt und manchmal nur, um ihn
zu ärgern. Aber das kam nun anders, holla.

Konnten ihn seine Kameraden ehren, -- sie konnte es gleichfalls und
noch ein bißchen besser.

Sie rief in Gedanken das ganze Ehrenspergerhaus, das sie so gut kannte,
zum Zuhören auf. Lauter Wohlklang war es, was die beiden vorhin gesagt
hatten.

Es schoß ihr eine Blutwelle bis unters Haar, als es ihr einfiel:
im Frühling, als das letzte Semester anfing, da hatte er daheim in
Wiblingen davon geredet, daß er am liebsten jetzt noch umsatteln und
Musik studieren wolle.

Er hatte es ihr erzählt. Wie sie da gelacht hatten und gewettert und
sich geschüttelt: »sonst weißt du nichts mehr? ein Musikant? aber das
konnte man kommen sehen. Immer zuviel den Willen hat man dir gelassen;
rein überspannt bist du geworden.«

Jungfer Liese lebte damals noch und schüttelte den Kopf: »all' das
verstudierte Geld.« Und die Schwägerin: »du denkst wohl, das finde man
hier auf der Gasse?« Und der Müller Hensler: »Kopf hoch, Bub, wenn man
noch so sagen darf. Jetzt hast auf den Pfarrer studiert und jetzt wirst
einer. Trink eins; das sind Grillen, die muß man fortschwemmen.«

Sie wußte es wohl noch, sie, Lore Maute, hatte mit eingestimmt, als er
es sagte: »Ach, das wirst du doch nicht im Ernst wollen? Du sinnst dir
auch Sachen aus. Aber so bist du immer gewesen. Ganz recht haben deine
Leute.« Er aber hatte darauf, halb zaghaft und halb trotzig geschwiegen
und war bisher im alten Gleise weitergegangen. Es war nur eine Scheu
vor dem einen, eine Sehnsucht nach dem andern in ihm, keine stürmende
Gewalt, ein Möchten, kein Müssen.

Aber nun war es auf einmal, als breche sich etwas mächtig Bahn.

»Nur schnell, nur schnell nach Hause. Denn ich muß da sein, wann er
kommt. Ich will mich weder vor Gertrud, noch vor sonst jemand scheuen.
Ich habe viel hereinzuholen, und das will ich auch.«

Ging da der Mieter, der lange Sachse? Er sah über die Straße herüber
und grüßte und sah sich noch ein paarmal nach ihr um. Das sah sie mit
einer Viertelswendung des Kopfes. Ein kleiner Stich ins Herz -- ach,
so lauf doch. Sie hatte ihn ja nie ganz ernst genommen. Sie hatte nie
zuvor irgend jemand ganz ernst genommen, es war immer ein wenig Spiel
dabei gewesen trotz manches Kummers und mancher Wünsche und Hoffnungen.
Aber so blieb es nicht immer. Nein, so blieb es nicht immer.




                    Zehntes Kapitel


Die drei Wiblinger fuhren mit ihrem Wägelchen bei einem alten Bekannten
vor, der einst mit dem Vater Ehrensperger auf der Wanderschaft gewesen
und somit auch eine Art Studiengenosse von ihm war, sozusagen, da es
heut schon so akademisch zuging. Jetzt hatte er einen Mehlhandel,
den indessen seine Frau besorgte und der ihm Zeit genug ließ, sich
einer kleinen Weinwirtschaft zu widmen, die er in einem niedrigen,
halbdunklen Loch von Wirtsstube hielt. Es verkehrten da hauptsächlich
Handwerksleute, die etwa einen Zwischentrunk unter die Arbeit hinein
tun wollten und die ganz ohne Umstände in Schurz und Hemdsärmeln kamen,
und solche, die sich zu einem stillen, dauerhaften Abendschoppen
versammelten. Ihnen allen widmete sich der frühere Wandergenosse auf
die Art, daß er sich sowohl zu den Morgen-, als zu den Mittags- und
Abendgästen fest und beharrlich hinsetzte und ihnen bei der Trinkung
seines Weines mit eigenem Beispiel voranging. Auch hielt er für den
allgemeinen Nießbrauch eine birkene Schnupftabaksdose von riesigen
Dimensionen im Umlauf, daraus konnte jeder Gast nach Belieben schnupfen
und sich so das Hirn erleichtern, das ihm irgendwie schwer war. An
diesem Tagewerk nun trafen die drei Wiblinger den Wirt und setzten sich
sofort zu ihm nieder, um die alte Bekanntschaft aufzufrischen. Franz
der Ältere und der Müller Hensler waren auch bald in einem Fahrwasser,
das ihnen ganz vertraut war, indem sie mit aufgestützten Ellbogen
an dem runden Tisch saßen und einmal übers andere mit dem früheren
Wandergenossen anstießen, im Übrigen aber vorläufig die Mitwelt sich
selbst überließen. Sie wurden noch um ein Weniges vergnügter und
bekamen, -- denn der Wirt war gleichfalls ein kurzer, breiter, dicker
Mann und von ähnlicher Beschaffenheit, wie die Wiblinger, -- alle drei
rote Köpfe, und saßen so wie drei Leuchtkugeln in dem dunklen Loch von
Wirtsstube.

Franz der Jüngere aber hatte sich ans Fenster gesetzt, um die
Vorübergehenden zu betrachten, und war nicht gesonnen, den schönen
Vormittag hier zu versitzen. Als er nun eine Weile so durch die
Scheiben gesehen hatte und eben bei sich erwog, wie er den Alten, die
ihm zu seßhaft wurden, für eine Weile davon und an den Schauplatz der
heutigen Festlichkeiten kommen könne, da sah er unvermutet seinen
Bruder Georg in der engen Gasse auftauchen. Er schritt einher, wie
einer, der wohl weiß, daß die Welt ohne ihn nicht ganz das wäre, was
sie nun ist, in festlicher Kleidung, mit Band und Mütze und mit einem
hellen, heiteren Gesichtsausdruck. Er schien in diesem Augenblick
der Aufmunterung nicht zu bedürfen, oder vielmehr schien er die
Aufmunterung, die ihm taugte, selbst mit sich zu führen. Denn rechts
und links von ihm gingen zwei Mädchengestalten, mit denen er in
eifrigem Gespräch begriffen war und alle drei schienen sich schon in
der erwünschtesten Feststimmung zu befinden, so verschieden sie auch
sonst von einander sein mochten.

Eins der Mädchen kannte Franz; das war Gertrud Cabisius. Sie trug ein
einfaches, hellgraues Kleid und schritt in ihrer bekannten, aufrechten
Haltung und mit festen Tritten, denen man übrigens die Elastizität,
die die Freude gibt, wohl anmerkte, neben Georg her. Franz sah aber
flüchtig über sie weg. Da war die andere, die er nicht kannte. Oder
doch? Oder sollte das die Lore sein? War so etwas möglich? Die war in
ein lichtes Festgewand gekleidet und schien die düstere Gasse ganz zu
erhellen, so leicht und hell und überaus anmutsvoll schwebte sie dahin.

Alle Wetter! sagte Franz und nahm seinen Hut vom Nagel. Es galt, er
mußte sich sputen, die drei gingen rasch die Straße hinab, er konnte
sie aus den Augen verlieren, wenn er säumte.

Die Alten sahen erstaunt hinter ihm drein. »Bleibt hier sitzen, bis ich
komme,« rief er noch unter der Tür. »Es ist der Georg, ich bringe ihn
dann mit.«

Da blieben sie denn sitzen. Es war geschickt so, sie hatten ohnehin
schon ihre Zweifel gehabt, wie der Student heut werde aufzufinden
sein. Denn sie mußten es sich ja gestehen, sie hatten es ihm nicht
mitgeteilt, daß sie kommen wollten.

»Glück muß der Mensch haben,« sagte der Müller Hensler, und darauf
stießen sie alle drei an. Nun konnten sie das Übrige vollends erwarten.

       *       *       *       *       *

Georg Ehrensperger, der konnte heut einmal aus dem Vollen leben. Es war
kein Wunder, daß er aufgehellt aussah.

Rechts hatte er Gertrud Cabisius, und links Lore, und sie gingen wie
ein schönes Doppelwesen, das zu ihm gehörte, mit ihm. Er führte sie in
seine Stube und als er sie da hatte, da sah er von einer zur andern mit
stolzer Freude und hätte am liebsten aus drängendem innerem Vergnügen
heraus einen Purzelbaum geschlagen; aber das erlaubte dann wieder die
sieghafte Männlichkeit nicht, in der er sich neuerdings befand.

So hatte er sich das hundertmal ausgedacht: Da saßen sie beide
nebeneinander, Lore in ihrer funkelnden Schönheit und in guter,
freundlicher Stimmung, lieb und lachend, wie sie oft, aber nicht immer
war, und Gertrud in ihrer festen, geraden, klugen Art, die so sicher
und selbstverständlich zu ihm gehörte, und die heute noch von einer
festlichen Freude überglänzt war, so daß er sie nur ansehen mußte.

Es schien ihm, da er sie so beisammen hatte, alle Fülle unter sein Dach
eingekehrt zu sein; denn was er an der einen manchmal vermißte, das
hatte die andere an sich, und so bildeten sie ihm miteinander einen
reichen Hort von Holdseligkeit, Liebe, Freundschaft und ernster stiller
Klugheit, den er hätte am liebsten immer in erreichbarer Nähe behalten,
um bald das eine, bald das andere nach Bedürfen daraus zu entnehmen.

Das war nun zwar nicht wohl möglich. Da er die beiden aber wenigstens
zu dieser Stunde so erfreulich beisammen hatte, so konnte er sich für
den Augenblick aller weiteren Gedanken entschlagen und die schöne
Gegenwart genießen.

Er tat sein Möglichstes dazu. Er wollte so gern für heute, nur einen
Tag lang, alle ernsten Pflichtgedanken in den hintersten Winkel
seines Bewußtseins verschließen. Morgen, da mußte er sie ja wieder
hervorholen. Er warf einen scheuen Blick nach den Büchern, die auf
einem Tisch in der Ecke aufgestapelt lagen.

Dort drinnen lag ein ganzes Heer von Geistern und Geistchen
verschlossen, und sie waren ihm nicht alle freundlich gesinnt. Lange
nicht alle. Er hatte sie zum Teil etwas vernachlässigt, das ließen
sie ihn empfindlich fühlen. Manche schienen ihm so trocken, wie der
Wiblinger Feuersee an heißen Sommertagen, und manche so eigensinnig
und widerspruchsvoll wie ein alter Schafbock. Manche aber, das war das
Schlimmere, standen vor seinen Augen auf und wurden groß, immer größer
und sahen ihn streng und ernst an.

»Lehre,« sagten sie, »predige. Du weißt doch alles, was zu glauben
ist? Du glaubst es doch? Nicht? Du sollst aber. Eidlich sollst du
es versprechen. Vom Höchsten und Tiefsten sollst du reden, was es
gibt: von dem Gott, der in und hinter allen Dingen ist. Aber nicht so
geheimnisvoll. Klar und deutlich sollst du es sagen: Was? Das kann man
nicht? Das kann man wohl. Du tust, als ob es keine Offenbarung gäbe,
du. Du hast dich nicht mit uns auseinandergesetzt, wie du solltest.«

Ach nein, das hatte er nicht. Er hatte mit diesen Riesen nie recht
gerungen. Er war ihnen öfters davongelaufen, denn er fürchtete sie. Es
ging ihm, wie Mose, als er zum Ägypterkönig sollte: »Sende, welchen du
willst.«

Nur, Mose war dann schließlich doch gegangen. Er aber? Was wollte aus
ihm werden? --

»So, jetzt will ich mein Lied spielen. Hört zu.«

Als er mitten drin war, klopfte es und dann trat sein Bruder Franz
herein.

»Nein, aber ihr seid gelaufen. Ich verlor euch auf einmal aus den
Augen. Ein paar kleine Buben haben mir den Weg gezeigt. Grüß Gott
übrigens.«

Er lachte, vergnügt und halb verlegen, daß er so plötzlich da sei. Denn
hier fühlte er sich nicht so sicher, wie zu Hause. Er mußte hier den
Jüngeren gelten lassen, dessen Geist sozusagen um die Wände webte. Es
war doch ein anderes Verhältnis als in Wiblingen. Er fuhr sich mit
den Fingern durchs Haar. Er hatte immer noch einen steil aufstrebenden
Schopf.

»Der Vater ist auch hier und der Müller Hensler,« sagte er. »Wir haben
die Einladungskarte erhalten, da gedachten wir mitzufeiern.«

Bei diesen Worten sah Lore prüfend zu Georg hinüber. Ja, das hatte sie
wohl gedacht, er hatte richtig die kurze, gerade Falte zwischen den
Brauen. Die hatte er, wann er sich ärgerte.

Er dachte wohl, er hätte die Seinigen lieber an einem andern Tag
empfangen? Er sah so aus. Die Bemerkungen des Müllers Hensler
entbehrten oft eines gewissen Taktes, und die beiden Franze, Vater und
Sohn, -- nun ja, er hätte sie lieber ein andermal in dem neuen Haus
umhergeführt.

Aber dann warf er plötzlich den Kopf zurück und sein Blick begegnete
dem Lorens. Sein Lied, ja, das durften sie wohl hören; das war ja
gerade geschickt. Sie sollten nur staunen, wie er in Ehren stand unter
seinen Genossen. Und überhaupt, hinweg mit allem Ärger, heute sollte
alles hell und freudig sein und war es auch.

Lore nickte ihm zu; so warm und so ermutigend.

»Ach, sei nur zufrieden, das machen wir alles. Laß mich nur sorgen. Du
weißt, wenn ich will, -- und ich will, -- niemand und nichts soll dir
heut die Festfreude stören.«

Das sagte sie alles mit einem raschen Blick und dann wandte sie sich
triumphierend an Franz. Wie ehrlich entzückt der sie ansah. Er dachte
gar nicht daran, seinen Augen irgend einen Zwang anzutun.

»Ja, ja,« sagte sie und lachte. »Da ist nichts zu fragen und nichts
vorzustellen. Das sind wir, beide. Müssen wir »Sie« zueinander sagen?
Ich meine nicht. Wir sind doch Nachbarskinder gewesen, und dann sind
Georg und ich auch so gute Freunde.«

Ja, dagegen hatte Franz natürlich nichts einzuwenden. Es konnte ihm
nichts lieber sein. Mächtig gemütlich war das. Das war ein Mädchen.
Sie fing sofort an mit ihm zu plaudern. Und dann unterbrach sie sich
plötzlich: »Wir müssen still sein, denn nun spielt uns Georg sein Lied
vor. Fang noch einmal vorne an, Georg. Ja, du, Franz, heut müssen wir
stolz auf ihn sein. Das wißt ihr in Wiblingen wohl noch gar nicht?«

Nein, davon wußten sie in Wiblingen nichts. Sie waren hergefahren, um
ihn aufzumuntern. Er hatte doch sein Examen noch nicht gemacht? Worauf
denn stolz?

Und dann saß Georg wieder am Klavier und spielte. Wenn er aufsah, dann
fiel sein Blick auf Gertrud. Die hatte den Kopf vorgeneigt und horchte.
Den Arm hatte sie leicht auf das Klavier gestützt. Er sah, daß sie sich
mitfreute, als ob das Lied ihr eigenes wäre und daß sie alles verstand,
was er darin zum Ausdruck bringen wollte. Das belebte ihn so, daß er
sogleich fortfuhr und, wie er am liebsten tat, ein wenig phantasierte.

Hinter ihm saßen auf dem Sofa Bruder Franz und Lore. Zweimal ging die
Tür. Einmal kam Meister Riedel herein. Den hatte er im Heraufgehen
gebeten, zu kommen, denn er wollte ihn gern mit Gertrud bekannt machen.
Er hatte ein sauberes Wams angezogen und sein blauer Schurz war neu.
Er ließ sich dicht neben der Tür auf einen Stuhl nieder. Das zweite
Mal kam der Rektor Cabisius. Er winkte mit der Hand, Georg solle
fortfahren: »Wir sprechen uns dann nachher.« Ja, das dachte Georg
auch; aber unwillkürlich ging das auch in sein Spiel über, was er
nachher bereden wollte.

Gertrud verstand ihn auch jetzt. Sie hatte einen besonderen Sinn des
Verstehens für ihn.

Wie reich bin ich heut, -- sagte ihr sein Spiel. -- Alles ist um mich,
was in Wahrheit zu mir gehört, alles ist freudig und freundlich. Ach,
wie schön ist das Leben, eine Fülle hat es, auch für mich. Wo ist das
Öde geblieben, das Leere, Hungrige? Wo ist das machtlose Nichtkönnen?
Hohe, starke Wellen schlägt das Leben, und ich -- ich werfe mich in die
Fluten. Es trägt mich, -- ja, es trägt mich.

Dann schlug er weiche, leise Töne an.

Hilf mir, guter Geist, sagten sie. Was soll ich tun? Es ruft mich nach
zwei Seiten. O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell aller Gaben. -- Ja,
da war wirklich die Choralmelodie dazwischen und rief nach einem Rat,
nach einer Klarheit.

Ich, -- ich sehe dich nicht, wie du bist. Aber ich will dir dennoch
dienen.

»Du Lieber,« dachte Gertrud, »versuch' es nur, fang nur an. Es wird dir
schon gelingen.« Sie dachte wohl an das Examen und das Pfarramt. Georg
sah plötzlich in ihr Gesicht, und irgend etwas drin reizte ihn. Sie sah
so mütterlich-verständig aus.

Und auf einmal brach die zarte Melodie ab, die wie das Rufen einer
Kinderstimme geklungen hatte: hilf mir, guter Geist, -- und es tat ein
paar rasche Schläge, hinunter -- hinauf, dann brach ein Wetter aus dem
Klavier.

»Ich will nicht immer sollen und müssen. Still. Laßt mich. Laßt mich
meiner Wege gehen. Ich will es ergreifen, das, was mein ganzes Wesen
will. Ich will es erreichen.«

Es war, als ob einer alles Schöne an sich risse mit einer drängenden
Leidenschaft des Lebens.

»Jetzt geht es mit ihm durch,« dachte Gertrud.

Sie war warm verständnisvoll mitgegangen bisher. Sie versuchte, auch
das zu verstehen. Denn er brach immer von Zeit zu Zeit einmal über
die Ufer, wie ein Bach im Frühling. Das war ihr so bekannt, daß sie
lächeln mußte, wie jemand, der plötzlich an einem bärtigen Mann das
Kindergesicht von ehemals wieder in irgend einem Zug entdeckt. Nur, es
war diesmal ein verzweifelter Ernst darin, vor dem sie dennoch erschrak.

»Was hat er im Sinn?« Mit einem jähen Aufschrei brach das Spiel ab. Da
sprang Georg auf. Meister Riedel bewahrte den Stuhl vor dem Umfallen
und dabei trafen seine Augen Gertruds Gesicht. Und er trat zu ihr und
bot ihr die Hand und sie hatten von diesem ersten Augenblick an ein
Wohlgefallen aneinander.

Lore war zu gleicher Zeit aufgesprungen. Wie Feuer brach es aus ihren
Augen, sie atmete rasch und erregt. »Du,« sagte sie, und achtete nicht
auf die andern und streckte Georg beide Hände hin, »du bist anders als
ich meinte. Du bist auf einmal aufgewacht. Du führst das alles aus,
was du dir vornimmst. Das Letzte, das war schön. Das hab' ich ganz
verstanden.«

Jetzt war nichts Vorsätzliches, Bedachtes in ihr. Das
Leidenschaftliche, das hatte sie aus allen Gedanken gerissen.

Ach, wie schön erschien sie ihm so. Und sie hatte ihn verstanden. Georg
hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Es sprangen Funken herüber
und hinüber, aus ihren Augen in die seinigen, aus einer Seele in die
andere.

Und in diesem Augenblick geschah es, daß Georg Ehrensperger mit Wissen
und Willen eine neue Richtung in seinem Leben einschlug. Er ist sich
sein Lebenlang der merkwürdigen Vorgänge dieses Augenblicks bewußt
geblieben, da es ihm vor den Augen flimmerte und in Hirn und Herzen
brauste vor dem Wogen und Wallen seines aufgestörten Blutes, und da
doch unten in seiner Seele ein klarer, kühler Entschluß aufstieg: ich
tue es.

Wie in einem Spiegel sah er sich: es ist nicht nur die Scheu, von
inneren Dingen zu reden und nicht nur der Mangel an rechtmäßigem,
erforderlichem Glauben, der dich abhält, in das Pfarramt zu treten,
sondern noch viel mehr ein starker Zug in das weite und breite Leben
hinaus, dessen Beschaffenheit du noch gar nicht kennst, und ein Wille,
die reiche Welt ans Herz zu nehmen und ihren Pulsschlag zu erlauschen,
auch da, wo sie nicht von geistlichen Dingen redet.

Zugleich aber fühlte er den starken Trieb, männlich in die Reihen zu
treten und doch auch etwas zu leisten, das die Welt ohne ihn nicht
hätte, etwas, das ganz und wahrhaftig seinem eigenen Wesen entspräche
und also auf Wahrheit beruhe von innen heraus.

Es schien ihm, als ob aller Zweifel und alle Unklarheit seines
Wesens von diesem Augenblick an abgetan sei, da er sich entschlossen
hatte, die Gabe, die ihm als seine eigenste vorkam, zur Aufgabe und
Führerin zu machen, koste es, was es wolle. Freilich sah er das alles
zusammengefaßt als in einem Brennpunkt in den leuchtenden Augen des
schönen Mädchens, das ihm darum von der Minute an so sicher und fest
zu seinem neuen Weg gehörte, wie ein glänzender Stern, nach dem ein
Wanderer die Richtung einhält.

Er bedurfte aber nicht so lang, um dies alles von sich zu wissen, als
es Zeit braucht, es zu erzählen. Sondern in wenige Sekunden drängte
sich die neue Erkenntnis zusammen, die ja freilich vorbereitet in ihm
gelegen war. Es war, als ob jemand ein brennendes Streichholz an ein
sorgfältig aufgeschichtetes Feuerholz gehalten hätte. Es flammte auf
und brannte sogleich, hell und ohne Einhalt und gab nur wenig Rauch.
Er hörte zu, was der Rektor Cabisius sagte, gab über dies und das
Bescheid, und wußte nicht, daß sein junges, offenes, erregtes Gesicht
so gar nichts verbergen konnte.

»Ich will hingehen und sie für mich gewinnen. Es ist ein Wunder, daß
ich es kann. Sie ist für mich gewachsen, ich weiß es seit dieser
Stunde. Und wenn ich sie habe, dann habe ich auch Melodien. Lauter
Lieder von Freude, Jugend, Leben und Liebe habe ich dann. Lauter Lieder
von der Schönheit. Wie ein quellender Brunnen wird sie für mich sein,
aus dessen blinkender Flut ich unaufhörlich schöpfen kann. Und Gertrud.
Gertrud geht mit uns beiden, wie bisher mit mir. Sie ist mein bester
Kamerad. Das wird ein Leben.« So dachte er und das trat ihm in die
Augen, das machte sein ganzes Gesicht warm und glücklich.

»Du Lieber,« dachte der Rektor, »du bist mir wie ein Sohn. Ich darf
dich nicht halten. Ich muß dich dein Leben selbst erleben lassen.
Schwer ist es. Ich möchte dir weite Umwege ersparen, denn das machst
du. Aber ich darf nicht. Du möchtest dich sonst noch schlimmer
losreißen. Ach, möchte ich noch für dich da sein, wenn die hohe Flut
verlaufen ist. Siehst du, du willst alles mitnehmen. Satt trinken
willst du dich an der Freude. Schaffen willst du und meinst es zu
können, weil die Saiten deiner Seele zittern von Liebe und Leidenschaft
und Begeisterung. Aber das Große, Echte, das wird nicht so leicht
geboren. Und du bist nicht mit dem Geringeren zufrieden, du kannst es
nicht sein, dazu ist dein Geist zu hungrig und zu tief.«

So waren der Beiden Gedanken, und daneben sprachen sie von dem neuen
Haus und den Bundesbrüdern und kamen auch auf das Examen. Und auf
einmal sah der Jüngere, wie warm und liebend die alten Augen auf ihm
lagen, und er faßte die Freundeshand.

»Ach, ich möchte dir so viel sagen, alles.«

Da trat Gertrud zu ihnen.

»Wollen wir nun gehen? Es wird Zeit sein. Wir wollen doch dabei sein,
wann der Schlüssel übergeben wird.«

       *       *       *       *       *

Im Glanz der Septembersonne lag das neue Haus. Es war ein Stück weit
den Österberg hinangestiegen, um besser auf die alte Stadt, auf den
schimmernden Fluß und auf das sonnige Tal heruntersehen zu können. Die
neue Fahne in den Verbindungsfarben wehte, von einem leichten Lüftchen
bewegt, die hellen Fensterscheiben glänzten; Kränze und Girlanden
hingen an allen Türen und Fenstern.

Der Baumeister übergab den Schlüssel. Die Rechnung übergab er ein
anderesmal. Der Rektor Cabisius als der älteste der alten Herren
steckte den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür, und sagte, was
ihm der Augenblick eingab, als er alle die jungen und die alten Männer
sah, die bereit waren, über die neue Schwelle zu schreiten.

Davon redete er, daß das Haus ein gemeinsamer Hort für sie alle sein
solle, in dem sie sich zusammenfinden könnten, um sich immer neue Lust
und neuen Mut zu allem Großen und Guten beieinander zu holen. Gott und
den Menschen wollten sie dienen, jeder mit seiner Gabe; keiner sei nur
für sich selbst da; auf jeden warte die Menschheit irgendwie. Kein
Pfund solle vergraben, keine Kraft vergeudet, keine Fähigkeit ungenützt
gelassen werden. Dazu wollten sie sich in Freundschaft verbinden.

Er sagte noch mehreres, worauf die Alten den Jungen und die Jungen
einander die Hände reichten. Es war viel froher und ernster Mut zu
starkem und rechtem Tun beisammen zu dieser Stunde. Und darauf floß
der Strom der Verbrüderten und ihrer Gäste über die Schwelle. Gesänge
erschallten, Scherz und Lachen und fröhliches Staunen füllte die Räume,
Freude blitzte aus den Augen, Freunde fanden sich zusammen, sowohl
junge als alte. Gertrud Cabisius stand dicht neben ihrem Großvater.
Leise schob sie ihre Hand in seinen Arm. Wie schön war das alles. Wie
weitete es ihr das Herz. War nicht Freundschaft, die sich in allem
Großen und Guten fand, das Schönste, was es geben konnte? Da kam er,
der ihr Freund und Bruder gewesen war, seit sie denken konnte, auf sie
zu: »Was sagst du dazu, Gertrud? Was sagst du zu dem allem?« Er hatte
zwei oder drei Studenten bei sich und machte Gertrud mit ihnen bekannt.
»Ihr wißt von ihr, ihr kennt sie; sie ist gescheiter, als wir alle. Sie
ist meine ganz gute Freundin.«

Was sie dazu sagte? Es war, als ob das große Studentenbild in des
Großvaters Stube lebendig geworden sei und sich hier herum bewege.
Diese Menschen kannte sie alle. Sie hatte keinen von ihnen je
gesehen, aber darum kannte sie sie doch. Sie, die nie dazu gekommen
war, Mädchenfreundschaften zu pflegen (die lahme Kameradin aus der
Volksschule ausgenommen), sie hatte das Gefühl, als ob sie diesen
allen wesensverwandt sei. Hoch und stark klopfte ihr das Herz. »So
gefällst du mir,« sagte Georg zufrieden. »Du warst vorhin so finster.«
»Finster?« »Ach nein, nicht gerade, aber so ausgelöscht. Ich sehe es so
gern, wenn du ein vergnügtes Gesicht machst.«

»So?« Sie lachte. Ja, das war vorhin auch nicht schön gewesen, was ihr
geschwind übers Herz gekrochen war, als sie Georg und Lore miteinander
beobachtet hatte. Eine ganz ungewohnte Empfindung. Eifersucht? Gertrud
Cabisius und eifersüchtig? Ach, Unsinn. Sie brauchte es ihm zum Glück
nicht zu sagen und wischte die noch einmal aufsteigende Erinnerung
daran hinweg, wie einen Staubfleck vom Kleide. Das fehlte noch.

Einer der jungen Männer trat zu ihr hin und es stellte sich heraus,
daß es ein alter Bekannter von der Wiblinger Lateinschule war und
daß Gertrud mit ihm auf den Bänken gesessen hatte -- einst: Fritz
Hornstein, den sie hinter seinem Bart nicht mehr erkannt hatte.

Natürlich sprachen sie von Georg, und natürlich sprachen sie von ihrer
gemeinsamen Kindheit. Georg und immer Georg.

»Wie warm sie wird,« dachte Fritz Hornstein. »Wie natürlich und offen
sie ist. Es ist kein Wunder, daß er stolz auf sie ist. Sie ist ein
feines Mädchen.«

Als sie sich trennten, gab er ihr die Hand. Er hoffte, sie heute noch
öfter zu sehen.

Ja, das hoffte sie auch. Es sollte sie freuen. Sie war nicht im
mindesten befangen oder schüchtern, sie, die nie sonst in Gesellschaft
kam.

»Ach, Großvater, ich wollte, ich wäre einer von diesen.« Sie hing sich
an seinen Arm. »Sind sie nicht glücklich?«

»O, Kind.« Er strich ihr sachte über das Haar. Warum mußte ein Becher
voll bittern Leides auf sie warten, da sich ihr Herz so willig
jeglicher Freude erschloß? Er sah es kommen, daß sie von diesem Fest
nicht so fröhlich heimging, wie sie gekommen war. Aber er hatte keine
Macht, irgend etwas zu verhindern, was geschehen sollte. Er wußte, daß
man das nicht konnte. Gott allein wußte, wie der Menschen Wege gehen
sollten; er wußte, wo sie irren und sich täuschen und sich vergebliche
Mühe machen mußten.

»Es muß ein Sinn in dem allem liegen, den wir nicht verstehen. Das
Leben ist wie ein Gewebe, dessen Rückseite so verworren aussieht. Und
alles, was wir tun können, ist: zu vertrauen, daß es von vorne klar und
schön sei und daß der Weber keinen Webfehler machen werde.«

»Ja,« schloß er sein Selbstgespräch, »und vielleicht wird es uns eines
Tags von vorne gezeigt.«

Das letzte hatte er halblaut gesagt.

»Großvater, was willst du von vorne sehen?«

Gertrud machte ein fragendes Gesicht.

Aber nun bekam sie keine Antwort.

       *       *       *       *       *

Sonne überall. Sonne über der ganzen alten Stadt, Sonne auf der Straße
nach Niedernau, Sonne über dem Reitertrupp, der dahinsprengte, auf
einigen braven, wackeren Gäulen und auf einigen alten, dürrbeinigen
Kleppern, Sonne über den offenen Wagen, die nach einander hinausfuhren,
alle voll fröhlicher, festlicher Menschen, Sonne über dem grünen
Wiesenplan, Sonne auf den Angesichtern und in den Herzen.

Wer wird an einem solchen Tag an Schatten denken? Alles ist voll Licht
und Farben, alles ist in Bewegung. Bunte Mützen und Bänder, helle
Mädchenkleider, helles Mädchenlachen, Musik erklingt und fließt über
die Wiese hin, auf der Wiese tanzen fünfzig Paare, nein, mehr. Wer hat
sie gezählt?

Der Müller Hensler tanzt auf kurzen, flinken Beinen zwischen all' den
jungen Leuten herum; er hält die Putzmacherin Maute umfaßt, die ein
Stück größer ist als er und in einer grünseidenen Bluse steckt. Alle
Wetter, sie tanzt wie ein junges Mädchen, er muß ihr einmal auf den
Rücken klopfen, um ihr seine Bewunderung zu zeigen. »Ja, das hat schon
Maute immer gesagt. Henriette, hat er gesagt, wenn du sonst nichts
könntest, tanzen, das kannst du.«

Ja, das wollte der Müller Hensler meinen, das konnte sie. Und Franz ist
dazwischen und tanzt mit Lore, das heißt, wenn er sie bekommen kann;
denn sie geht aus einem Arm in den andern. Herrlich sieht sie aus, jede
ihrer Bewegungen ist Leben und Lust und Grazie, und sie wird weder heiß
noch rot vom Tanzen. Leicht und ruhig atmet sie, sicher und überlegen
geht sie mit den jungen Leuten um; aber wenn sie zu Georg kommt, dann
ist sie anders. Dann sagen ihre Augen: »Siehst du mich? siehst du, daß
ich schöner bin als alle? Das bring ich alles dir; ja, ja, staune nur;
wage nur, frage nur.«

Und andere junge Mädchen sind da und gleiten über den Rasen, einfache,
warmherzige, frische Geschöpfe, Schwestern der jungen, oder Töchter
der alten Bundesbrüder, Lust und Frohsinn in den Augen, Lachen
auf den Lippen. Und es kommt auch die Alten an und siehe da, der
Rektor Cabisius erinnert sich noch eines Maienfestes vor sechzig
-- oder beinah sechzig Jahren, an dem er ein kleines Schulmädchen
herumgeschwenkt hat, ein mageres, braunes Ding mit einem langen Zopf.
»Wissen Sie noch, Frau Oberamtspfleger? Was meinen Sie, wir könnten's
noch einmal probieren.«

Wie sie sich wehrt, die alte Frau mit dem runzeligen Gesicht, und wie
ihr Gatte, der rund und klein ist und engatmig, lacht und sie antreibt,
und wie schließlich -- »es ist ja nur zur Erinnerung,« und anders ist
es auch nicht -- die beiden alten Leute ein Tänzchen machen. Wie sie
junge, rührend junge Gesichter bekommen, alle beide. Wer hat zugesehen
und hatte ein Mißfallen daran? Ach, niemand, niemand als der dürre,
vertrocknete Professor Kauz, der die Lippen zusammenkniff und den Kopf
schüttelte und sagte, daß das Alter zu ernst sei für solchen Tand. Er
ist aber wohl niemals so recht jung gewesen, der Arme.

Und da waren außer den Tanzenden noch viele, viele Menschen, die
zusahen. Sie saßen an Tischen und aßen und tranken, und gingen umher
und unterhielten sich und taten, wie ihnen gefiel. Unter ihnen war
Gertrud Cabisius. Wie ihr die Jugendlust durch die Adern strömte. Wie
sie alle diese hellen Bilder in sich hinein gehen ließ. Ach, war sie
denn seither nicht jung gewesen? Hatte man vergessen, ihr zu zeigen,
wie junge Mädchen leben? Hatte sie selber nicht gewußt, daß sie ein
junges Mädchen sei? Schlicht und glatt zurückgekämmt trug sie ihr
Haar, einfach, fast schmucklos war ihr graues Kleid, ernsthaft, schwer
und verständig ihr Denken, pflichtbewußt ihr Sinn. Hohe Ideale trug
sie in sich, groß und weit war ihr Anschauen von Welt und Menschen, in
wenige, starke und tiefe Züge faßte sich ihr Gemüts- und Herzensleben
zusammen. Wo aber war das Weiche, Lachende, Harmlose der Jugend, das
Zierliche, Leichte, Beschwingte, das diese Mädchen alle dahintrug, wie
es ihr schien?

Gertrud konnte nicht tanzen und sie wagte auch nicht es zu versuchen,
so oft auch einer der jungen Männer kam und sie bat. Nein, das konnte
sie ja doch nicht. Sie war keins dieser leichten, heiteren Wesen, sie
war anders als sie alle. Georg hatte es oft genug gesagt, aber nun sah
sie es auch.

Doch, was schadete das? Noch war es Zeit, sich zu freuen, noch war
sie ja jung, noch war nichts versäumt. Es brannte etwas in ihr. Heran
mit der Freude und herein. Gertrud Cabisius tut ihr die Tore ihres
Herzens auf. Es wartet etwas in ihr auf ein großes Werde, wie die Erde
am Morgen auf den Sonnenaufgang wartet. Aber schickt die Sonne nicht
das Morgenrot voraus? Färbt sie nicht die tausend kleinen mutwilligen
Lämmerwölkchen rosig und golden? Es ist ein großer Augenblick, wann
die Sonne kommt. Aber es geht nicht in der ganzen Natur so überaus
feierlich und ernsthaft zu dabei. Es ist Raum für alles Frohe,
Leuchtende, Lachende.

»Ja, das ist ja wahr,« sagte der Großvater, »das Tanzen, das hast du ja
nie gelernt. Rein vergessen hat man das.« Er sah ein wenig hilflos aus.
Zu Hause hatten sie nie an dergleichen gedacht.

»Vielleicht könntest du es doch, wenn du es nur versuchen wolltest.
Meine Schwestern, als sie jung waren, pflegten miteinander auf dem
Speicher zu tanzen, nur nach einer Mundharmonika, die mein Bruder zu
blasen verstand. Sie hatten es in sich. Das liegt ja im jungen Blut.«

Ja, aber nicht in dem ihrigen. Das war doch wohl zu schwer dazu. Die
Jugendlust hatte sie mit ihren Schwingen gestreift, und etwas in
Gertruds Wesen antwortete ihr. Aber darum konnte sie nun doch nicht
sogleich auffliegen. Das muß auch geübt sein.

Doch, zu dem allem war ja noch Zeit.

Fritz Hornstein kam und brachte noch einen Freund mit, Ernst Daxer,
und da sie beide keine Lust hatten, »noch länger herumzuspringen«,
wie sie sagten, so richteten sie sich gemütlich zum Zusehen ein und
kamen auch bald in ein lebhaftes Gespräch, da konnte Gertrud denn von
Herzen mittun. Und der Rektor Cabisius kam dazu und brachte seine alte
Jugendbekannte mit und der Gatte der Jugendbekannten kam und wollte
sich seine Frau nicht entführen lassen, und hatte in jeder Rocktasche
eine Flasche Wein. Da lagerten sie sich an einem grünen Rain, fast am
Waldrand und wurden so angeregt, daß Georg Ehrensperger, als er nach
einiger Zeit auf der Suche nach Gertrud hierherkam, fast eifersüchtig
sagte: »Hier geht's ja herrlich ohne mich. Hier werde ich ja wohl gar
nicht vermißt?«

Doch, das wurde er. Und Gertrud war zu einfach, um es nicht zu sagen.
Sie hatte ihm immer nachgesehen, so lange er sich mit Lore im Reigen
gedreht hatte, und so lange er an dem Tisch der Wiblinger gesessen war.

»Du bist nur so in Anspruch genommen,« sagte sie.

Da war er froh, daß sie ihn vermißt hatte. »Das bin ich,« sagte er.
»Ich weiß nicht, wo anfangen. Ich bin froh, daß ihr über Nacht bleibet.
Denn ich muß noch mit dir reden. Jetzt? Ja, jetzt kann ich nicht. Ich
bin jetzt nicht ruhig genug dazu. Ich bliebe ja gern hier.«

Da stand schon Lore neben ihnen.

»Ach, es ist jammerschade, Gertrud, daß du nicht tanzen kannst. Wärest
du nur früher gekommen, ich hätte es dich gelehrt.«

Sie schlug Georg leicht auf den Arm.

»Dich hab' ich's auch gelehrt, nicht? Es ist schade, Gertrud.«

Das war es, das dachte sie auch. Aber als sie sich besann, da war es
doch nur darum, weil sie nicht mit Georg tanzen konnte. Nun hatte sie
immer alles mit ihm geteilt, alles Ernsthafte, Pflichtgemäße, alles
Große, Starke, alles Schwere, Drängende, Hungrige. Mußte sie nun auf
der Seite stehen, wenn er leicht und froh und heiter war? Mußte sie
andern überlassen, mit ihm fröhlich zu sein? Das war einen Augenblick
ein bitteres Gefühl. Aber hinweg damit.

»Ich bin das alles nicht gewöhnt. Ich komme völlig aus dem
Gleichgewicht. Ich will froh sein, wenn Georg nach dem Examen zu uns
kommt. Das soll schön werden. Dann wollen wir auf unsere Art vergnügt
sein.«

Sie nickte beiden freundlich zu, als sie nach einiger Zeit wieder
abzogen. »Er gehört dennoch zu mir, sein Lebenlang tat er das schon. Es
ist keine Frage.«

       *       *       *       *       *

»Du, höre, was ist diese Gertrud für ein Mädchen geworden?
Unaussprechlich brav und gescheit und ein bißchen langweilig.«

Lore schüttelte den schönen Kopf. Sie ging neben Georg her nach dem
Tisch der Wiblinger.

»Sag nichts über Gertrud. Sie ist -- ach, du kennst sie nicht. Sag kein
Wort über sie.« Er sagte es fast rauh.

Da sah sie ihn an mit diesem Blick, dem er nie zu widerstehen
vermochte, aus Schelmerei und Zärtlichkeit gemischt: »Ach, ich tu ihr
nichts. Gewiß nicht. Ich bin nur so ein törichtes, nichtsnutziges Ding
neben ihr. Ich bin nur neidisch auf sie.« Da hatte sie ihn wieder
gewonnen. Wie hatte er sonst oft nach einem solchen Blick verlangt;
früher, da pflegte sie ihn andern zu schenken. Und nun flog einer um
den andern zu ihm.

»Du, du wirst ausreißen, ich sehe es. Du wirst es durchsetzen, das, was
du jetzt anfängst. Heute hast du mich vollends aufgeweckt, heute morgen
in deiner Stube, als es dich so fortriß. Du sollst mir berühmt werden,
du.«

»Mir?« Er sah rasch nach ihr hin. »Mir, sagst du?«

»Ja.« Sie lachte. »Ich habe es alles nie so verstanden, das mit deiner
Musik, und daß dich das Studieren nicht so anzog. Aber das ist nun
anders. Ich habe heute früh ein Gespräch mitangehört. Zwei sagten
zueinander: 'Du, der Ehrensperger, der hat's in sich.' Siehst du, das
denke ich auch. Pfarrer? ach, das kann jeder werden. Du sollst mir --
au, du drückst mich. Du tust mir weh.«

Sie entzog ihm lachend ihre Hand, die er gepreßt hatte, daß es knackte.

»Komm in den Wald. Wir gehen nachher zu den andern. Hier sind wir
schon dran. Ich -- ich muß dir etwas sagen.« Er atmete schwer.

»Was du wohl sagen willst? Muß das heute sein?«

Sie lachte, aber unsicher. Sie wußte wohl, worauf es hinauslaufen
werde. Das Herz klopfte ihr. Wurde es nun Ernst?

»Ja, ich muß mit dir über das alles reden, heute noch. Und überhaupt.
Komm.«

Da traten sie in die grünen Hallen ein. Still ging sie neben ihm, fern
von den andern, und ihre herabhängende Hand lag leicht in der seinigen.

Die grünen Büsche schlugen hinter ihnen zusammen.

Die Buchen wölbten sich über ihren Häuptern.

Von draußen herein sangen die Geigen und Flöten.

»Lore, ach Lore. Daß du so sagst. Was ist das für ein Tag heute. Es
wendet sich alles um und um. Ich muß das nicht tun, wovor mir so angst
war. Es ist mir, als sei ich frömmer seit dem Augenblick. Es war so
eine Quälerei, immer ein Wollen und Nichtkönnen. Das ist auf einmal
von mir abgefallen. Jetzt sollst du sehen, daß ich dennoch ein Ziel
erreiche. Ich will Schönes schaffen, Wahrhaftiges, etwas, das mein
eigen ist. Alle sollen sich mit mir freuen. Du besonders. Das ist das
Schönste, daß du daran glaubst.« Er sah ihr in die Augen. Tat sie es
wirklich? Ja, da stand es groß geschrieben.

»Lore, du warst noch nie so, wie heut. Es ist, als ob ich dich zum
erstenmal sähe. Komm, laß dich ansehen. Du, was habe ich mich gequält,
ja, auch um dich. -- Nein, laß es mich sagen. Es ist ja wie ein
Märchen. Das hat immer alles so hoch gehangen, was ich wollte. Wenn ich
darnach griff, schnellte der Zweig zurück, an dem es hing. Wenn es in
mir brannte, daß ich dem nachgehen müsse, was in mir tönen wollte, und
ich versuchte es, dann kam wieder die Mutlosigkeit: du kannst es doch
nicht. Und du darfst auch nicht. Du mußt am Wege bleiben. Du darfst
nicht darnach greifen. Alles Schöne, nach dem mein Wesen verlangte, war
wie Sünde. Heut nicht. Ist heut ein Wunschtag? Du kommst -- ach, Lore,
sieh mich nicht so an -- und beugst mir den vollen Zweig herunter und
sagst: du kannst. Und mir ist, ich könne. Ich will -- -- du, -- du mußt
dabei bleiben, -- du mußt mit mir gehen, -- ach, komm.«

Da schlug es über ihnen zusammen wie weiche, warme Wellen. Da vergaßen
sie Reden und Denken über dem, was eins in des andern Augen geschrieben
fand.

»Du, du.« Sagten sie das Wort heut zum erstenmal?

»Du.« Da schloß Lore die Augen, wie geblendet von einem großen Glanz
und lehnte den Kopf an seine Brust, und sein Arm umfaßte sie. Sie aber
rührte sich nicht darin.

       *       *       *       *       *

Ein Rotkehlchen hüpfte von Ast zu Ast und sah aus hellen Augen zu, wie
den beiden jungen Menschen die Hände von den Schultern und ineinander
glitten und wie sie darauf nebeneinander her gingen, schweigend. Auf
einmal erschrak es und flatterte hinauf in den Wipfel einer jungen
Buche. Denn das Mädchen hatte gelacht, ein so zwitscherndes, helles
Lachen, daß das Vöglein aus einiger Entfernung sehen mußte, was darauf
erfolge. Das Mädchen hatte ja doch seinen Genossen bei sich und
brauchte ihn nicht zu rufen und ein solches Gezwitscher bedeutete in
der Vogelsprache einen Lockruf. Da fiel dem Rotkehlchen sein eigenes
Liebchen ein, das ein bißchen weiter drin im Wald wohnte und es
breitete seine Flügelein aus und rief: ich komme.

Der junge Mann aber sah fragend aus. »Jetzt kannst du lachen?«

Da lachte sie noch einmal und noch viel heller. »Ja, du, so bin ich.
Ich muß einmal lachen, wenn mir das Herz ganz voll ist. Das ist nicht
so leichtsinnig, wie du meinst. Ich kann's nur nicht sagen, wie es ist.
Du mußt mich eben nehmen, wie ich bin, ich kann nicht anders sein. Du
bist viel zu gut für mich, daß du's nur weißt.«

»Ach du, du bist lieber und schöner als du weißt. Komm, wir wollen
noch ein bißchen tiefer in den Wald gehen. Horch, wie es in den Bäumen
weht. Wir wollen ganz still sein und auf die Stille ringsum hören. Du
und ich miteinander. Kann denn so etwas wahr sein? Das ist über uns
hereingefallen, eh' wir uns versahen. Du, ist es denn wahr?«

»Natürlich ist es wahr. Wir dürfen aber nicht so lang da bleiben.
Wir müssen wieder zu den andern gehen. Ich will mich zwischen deinen
Vater und Franz setzen und mich mit ihnen anfreunden. Das ist jetzt
nötig, nicht? Wir sagen ihnen heut noch nichts, gelt? Ich meine von uns
zweien. Du mußt sie zuerst dafür gewinnen, daß du die Musik erwählt
hast. Ach, du mußt es mir zuerst selber erzählen, nur rasch, so in
der Kürze, wie du es angreifst. Also jetzt geht die Studiererei noch
einmal an; das ist nun plötzlich sicher. Auf einmal hast du es gewußt;
das mußt du mir noch sagen, wie das kam. Du gefällst mir so gut, wenn
du entschlossen bist. -- Nein, sei jetzt vernünftig. -- Wenn du so
bist, können sie dir nichts versagen. Du sagtest einmal, du habest
mütterliches Vermögen, das kannst du doch dazu --«

»Lore, liebe Lore, red' jetzt nicht davon. Wie kann man jetzt reden?
Das kommt ja alles in Ordnung. Ich muß es ja selbst überlegen.«

»So komm hinaus auf den Festplatz.«

»Nur ein Weilchen, ein kleines. Ich kann jetzt nicht gleich unter
Menschen sein. Wir sind wie das erste Menschenpaar hier, ganz allein.
Wir sind für einander geschaffen. Still -- -- --. Siehst du das
Stückchen blauen Himmel? Du, Lore« -- er sagte es leiser, »sieh, da,
zwischen den grünen Baumkronen, -- es ist wie im Garten Eden, am Anfang
der Bibel, da ging Gott im Garten spazieren. Es ist wie ein blaues
Auge, das da heruntersieht.«

»Ach, du Träumer. Das bist du immer gewesen.« Sie betrachtete ihn wie
etwas Neues, das man zum erstenmal sieht. »Du, du bist eigentlich doch
ein geborener Pfarrer. Er guckt überall heraus bei dir. Wem fiele sonst
so etwas ein?«

Da zuckte etwas wie ein scharfer Schmerz durch ihn durch. Verlor er
das Köstliche mit dem Schweren, das er abwarf? »Nein.« Das sagte er
laut, daß sie ihn verwundert ansah. Und dann nahm er die Mütze ab und
richtete sich hoch auf.

»Auch die Kunst hat ein Priestertum, Lore. Auch sie vermittelt das
Göttliche an die Menschen. Ich will, wahrhaftig ich will ihrer wert
sein.«

Es klang wie ein Gelöbnis. Sie sah ihn an und staunte über ihn. Und
nach einer Weile sagte sie, fast beklommen: »Ich glaube, wir kennen
einander noch nicht recht. Wenn du bei mir bliebest und ich sähe dich
jeden Tag, dann könnte ich mich in das alles hineinfinden. Dann
könntest du etwas aus mir machen. Glaub' mir's nur, ich spür's selber,
daß mir's an vielem fehlt. Ach, Georg, ich bin ein armes Kind gewesen.
Du weißt nicht, wie meine Mutter zuweilen war. Meine liebe Mutter.
Nein, nein, du darfst nichts über sie sagen. Sie hat mich über alles
lieb.«

Sie kehrte sich zu ihm und hatte die leuchtenden Augen voll Tränen.
Aber als er nach einem Wort suchte, um sie zu trösten, schüttelte sie
sich, daß die Tropfen sprangen und lachte mit nassen Augen.

»Kehr' dich nicht dran, was ich sage. Sag' lieber noch so etwas Schönes
wie vorhin, daß ich einen rechten Stolz auf dich haben kann. Wenn ich
stolz auf dich bin, dann habe ich dich am allerliebsten.«

»Ach du, ich bin auch stolz auf dich. Es ist, als ob du eine Quelle in
mir aufgeschlossen hättest und ich könnte gleich morgen, gleich heut
anfangen, zu komponieren. Wenn ich dich ansehe, dann tönt es gleich.«

»Weiter, das gefällt mir.«

»Siehst du, es ist etwas aus meiner Kindheit mit mir herübergegangen,
das muß mein schönstes und bestes Lebenswerk werden. Das läßt mich nie
mehr los. Es ist mir, als ob alles, was ich zu erleben habe, nur dazu
sei, daß es immer besser töne.«

Und er erzählte ihr die Geschichte von dem Geiger, der das schönste
Lied suchte, und einen Ton davon in allem Geschaffenen fand, da einen
und dort einen, und der es nie zur vollen Harmonie bringen konnte und
sie erst im Tode fand.

Er wurde warm dabei.

»Das möchte ich alles in Töne fassen, es ist mir, ich höre es schon.
Das ganze Menschenleben liegt darin, Lieb' und Leid, und was dahinter
steckt, alles Fromme und alles Arge, und die ganze Natur, bis hinauf zu
den Sternen. Alles hat seinen eigenen Ton. Dann, wenn ich das habe --«

»Ach, nun komm'. Das ganze Fest geht vorüber. Ich möchte noch einmal
mit Franz tanzen. Ich habe es ihm versprochen. Du, ich kann ihn gut
leiden, er ist so lebensfroh und so breit und stattlich. Das gefällt
mir. Du? Du bist ganz anders. Niemand ist, wie du. Darum will ich dich
gerade. Ich muß etwas ganz besonderes haben.«

Immer noch sangen die Flöten und Geigen. Ganz nah klangen sie jetzt
wieder, und zwischen den Büschen schimmerte es hell herein.

»Du, ich will sehen, was Gertrud für ein Gesicht macht, wenn sie es
erfährt. Nein, heute sagst du es ihr nicht mehr. Ich möchte es einen
Tag lang für uns behalten. Was ist mit der Falte auf deiner Stirn? Die
will ich heute nicht mehr sehen.«

»Gertrud soll ichs nicht sagen? Sie ist meine Schwester. Mein ganz
guter Kamerad ist sie. Ich habe immer alles mit ihr geteilt.«

»Das sollst du auch. Morgen oder übermorgen.« Sie sah ihn an, wie nur
#sie# konnte. Es durchrieselte ihn ganz.

Dann traten sie aus dem Wald auf die Wiese. Dort war noch alles, wie
zuvor.

       *       *       *       *       *

»Ha, hollah, ihr Waldläufer,« rief der Müller Hensler und hob ihnen
sein Glas entgegen, »hierher gesessen; was habt ihr für Geheimnisse
miteinander auszubrüten? Ist das eine Art, wenn man Gäste hat?«

Georg staunte. Wie munter vermochte Lore jetzt zu sein. Als ob nichts
geschehen wäre. Er konnte kaum ein Wort sagen. Still saß er da und sah
in seinen Wein und schickte nur hie und da die Augen nach Lore hin. Am
liebsten wäre er zu Gertrud gegangen und hätte ihr alles erzählt. Wie
konnte er die Last seines Glückes und seines neuen Entschlusses tragen,
ohne sie mit ihr zu teilen? Dort drüben war sie und er war hier.

Lore aber trieb tausend Possen mit den beiden Franzen, dem alten und
dem jungen und tat sehr geheimnisvoll mit ihrem Waldgang: »Ja, das
möchtet ihr wissen, das läßt sich denken,« und neckte Georg: »Seht
ihr's, wie er sitzt und sein Geheimnis hütet? Ja, ihr wißt noch lange
nicht, was hinter ihm steckt.«

War es möglich, konnte sie darüber scherzen?

Aber der Müller Hensler hielt nun den Augenblick gekommen, wo er seine
Aufmunterungsgedanken anbringen konnte. (Er war auch selbst möglichst
aufgemuntert.)

»Du, Georg,« sagte er behaglich und knöpfte sich die Weste auf, »mach
nicht so ein Gesicht. Das kommt alles in Schick und Ordnung. Die -- die
Herren brauchst du nicht zu fürchten, die wissen selber nicht alles.
Was ein forscher Kerl ist« -- er blinzelte nach dem Bäcker Ehrensperger
hinüber, »nicht, du?«

»Ach,« lachte Lore, »wenn ihr glaubt, er fürchte sich. Er weiß nur noch
nicht, ob er nicht lieber Musikdirektor oder so etwas werden will. Wir
haben es beredet. Sie sind alle hinter ihm her.«

Da sah Georg groß auf und wollte etwas berichtigen. Aber sie blinzelte
ihm zu: »Nun, störe mich nicht.«

»Musikdirektor? Das wäre. Ja, kann man das nur so vom Fleck weg? Ist
das auch ein richtiges Brot? Er hat doch auf den Pfarrer studiert?« Sie
konnten der Sache nicht nachkommen. Nun fing die auch davon an.

Da ließ sie alle Raketen steigen, die sie hatte, und tat groß mit
Georgs verschwiegensten Träumen, als ob sie schon Wirklichkeit wären.

Vielleicht glaubte sie es selber, vielleicht dachte sie auch: Stark
auftragen hilft mehr. Die Mutter Maute nickte eifrig und sah mütterlich
nach Georg hin. Wenn es Lore sagte, die mußte es ja wissen.

»Was?« sagte Vater Ehrensperger und sah hilflos vom Müller Hensler zu
Franz und von Franz zu seinem Jüngsten hin, »der Tausendskerl, nun will
er noch #das# werden. Was? ich habe gemeint, die Musiker, die seien
lauter arme Hungerschlucker. Wenn es auch wahr ist? Und was wird das
noch kosten?«

Sein ohnehin schon roter Kopf war noch röter geworden.

»So sag doch auch etwas, Georg.« Lore stieß ihn ein wenig an, und alle
sahen auf ihn, der dasaß und schwieg.

Ach, hatte er je an dergleichen gedacht? Hatte er je glänzende
Pläne entworfen? Das hatte er nicht getan. Hatte ihn denn Lore #so#
verstanden? Sie baute ja Häuser darauf. Er mußte es ihr sagen, daß sie
es recht verstehe, er hatte sich die Zukunft noch nicht so praktisch
ausgedacht. Die Kunst -- und Lore. Weiter war er noch nicht gekommen.
Es würde schon einen Weg für beide zusammen geben. Da, als sie so
glänzende Bilder malte, stieg etwas wie eine Traurigkeit in ihm auf:
Wer den rechten Ton will finden, der muß in die Stille gehen und
allein sein und horchen.

Aber das konnte er ja nicht sagen.

Sie schüttelten die Köpfe. Nun gab er wieder keine Antwort, so war er.

»Er ist zu bescheiden,« sagte die Putzmacherin Maute. »Er macht nichts
aus sich. Wir haben es ihm oft gesagt. Zu bescheiden und zu ideal. Dies
war auch mein Fehler in meiner Jugend.

Maute sagte es immer: 'Henriette du bist viel zu ideal.' Aber das macht
sich später. Wenn man einmal Familie hat.«

Hi hi; sie lachte und sah sich im Kreise um.

»Das sag ich auch,« sagte der Müller Hensler. »Forsch muß einer sein
und auftreten.«

Er war nicht mehr so ganz auf der Höhe des Denkens. Er kniff Lore ins
Ohrläppchen. »Die da, das ist ein Tausendsasa. Familie? Wenn du die da
kriegen kannst, dann nimm sie nur. Die wird dich schon -- ja so, du
willst ja nun -- ach, man wird auch noch ein Wort sagen dürfen, das
flammt gleich zum Dach hinaus.«

Denn Georg war heftig aufgestanden. Eine jähe Blutwelle war ihm bis
unters Haar gestiegen. Nun redete der Müller auch noch #davon#. Wollten
sie ihm alles zerpflücken? Sollte nichts Schönes, Heiliges mehr
verschwiegen in ihm leben?

Ach, wäre er doch mit Lore allein im Walde und könnte ihr recht sagen,
wie er es meinte. Aber als er ihr in Gedanken seine Sorgen ausbreitete:
ob es gelingen werde? ob es nicht nur ein Schattenspiel sei? und daß
er ja noch gar nicht wisse, ob ihm die Kunst ein Haus bauen werde,
oder nur eine Hütte -- oder das auch nicht? -- und ob sie Schönes
#und# Schweres mit ihm teilen wollte? -- da nahm sie plötzlich Gertruds
Gestalt und Gesicht an.

Er strich sich übers Gesicht. Er atmete tief auf.

»Ich muß es ihr sagen. Gleich muß ich zu ihr hin. Sie muß dabei
bleiben, wie bisher.«

Aber Lore sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt,« sagte sie
halblaut. Hatte sie seine Gedanken gelesen? Da setzte er sich wieder.

       *       *       *       *       *

Und es wurde Abend und die drei Wiblinger fuhren heimzu und waren
weder über sich selbst noch über ihren Studenten so ganz im Klaren.
Festlich umnebelt waren ihre Köpfe und ihre Gemüter, aber dunkel war
ihr Wissen von der Zukunft. Eins stand fest: es mußte noch einmal
Geld herausgerückt werden; aber dafür schien denn auch etwas ganz
besonderes aus dem Jüngsten zu werden. Sie wollten es sich am Tag
noch einmal überlegen. Sie hatten doch wohl noch nichts Sicheres
versprochen? -- Doch, das hatten sie, Lore, das Hexenmädchen, hatte
mit ihnen darauf angestoßen, Franz der Jüngere wußte es noch genau.
»Wir wollen der Frau noch nichts davon sagen, heute noch nicht, sie --
sie ärgert sich sonst,« sagte er, als das Wägelchen über das Wiblinger
Pflaster rasselte. Er hatte den Tag über die häusliche Unlust ein
wenig vergessen, nun kam das Gewicht wieder. Was half ihn die goldene
Bretzel? Was half ihn die wachsende Habe, wenn nirgends eine Ruhe und
ein Behagen war? So hatte er es nicht gemeint, als er sich ein Weib
nahm.

»Was? Ich soll wohl die Junge fragen? Bin ich nicht mehr mein eigener
Herr?« Der Vater Ehrensperger wollte aufbegehren. Er konnte seinen
Jüngsten werden lassen, was er wollte, er war noch eben so forsch, als
er in seiner Jugend gewesen war.

Er konnte es sich leisten, wollte er meinen. Aber als er das sagte, sah
er die junge Frau mit einem Licht unter der Ladentür stehen, und er
machte sich etwas verlegen am Spritzleder des Wägelchens zu schaffen
und schwieg und suchte sein Lager auf, so bald er konnte.

       *       *       *       *       *

»Wir wollen es ihr heute noch nicht sagen,« sagte auch Lore und meinte
Gertrud damit.

»Was sollen wir ihr sagen? Etwa, daß wir uns --,« sie lachte leise --
»es ist alles noch so unfertig. Sie ist so gescheit, sie würde uns für
törichte Kinder halten. Du, das #sind# wir auch, nicht? Später, da soll
sie alles erfahren, sie zuerst, meinetwegen. Nun sei nicht brummig.«

Ja, wie sollte er #das# erzählen? Aber es drückte ihn, daß er es nicht
konnte. Er hatte ihr noch nie etwas verhehlt. Er wollte Gertrud nicht
verlieren, das konnte er nicht, niemals.

Ach, wußten sie denn beide nicht, daß sie schon so vieles gesagt
hatten? Sie waren Hand in Hand gegangen, als sie in den Wald gingen,
und als sie wieder aus dem grünen Tor traten, da wetterleuchtete es
auf ihren Gesichtern, wie von einer heißen und großen Freude und wie
von einem neuen Erleben. Sie konnten es nicht verbergen und dachten
auch nicht daran, es zu tun. Die Wiblinger merkten es nicht, und die
Putzmacherin Maute -- tat, als ob sie es nicht merke.

Aber wußten sie denn nicht, daß Gertrud in ihren Gesichtern zu lesen
verstand? Dachten sie nicht daran, daß das Feuer ihrer Augen und die
Unruhe in Georgs Wesen und das übermütige Lachen in Lorens Gesicht eine
Sprache redete, die #sie# nicht mißverstehen konnte?

Sie dachten nicht daran. Aber darum war es doch so. Sie waren im
festlich erleuchteten Saale. In hohen Wellen ging die Festesfreude,
-- Gesänge erschallten, Trinksprüche wurden ausgebracht, Freund-
und Bruderschaften wurden geschlossen, es schäumte das Bier in den
Krügen, es funkelte alter Wein in den grünen Römern, es leuchtete die
Lebensfreude in jungen Angesichtern und in alten, jung gebliebenen
Augen.

Der Rektor Cabisius saß mitten im Saal und war der Jüngsten einer und
trug das Band über der Brust und sein weißes Haar glänzte wie Silber.

Das Festlied war durch den Saal geflutet; der junge Komponist fühlte
sein Herz schwellen vom Glück der Gegenwart und vom verheißenden
Leuchten der Zukunft. Was war schön, wenn es nicht diese Stunde war?
Sie stießen mit ihm an, sie tranken ihm zu. Und Lore trat zu ihm,
rasch und leicht kam sie durch den Saal auf ihn zu. Sie war stolz und
froh. Fing sein Stern schon an, zu glänzen? Sie wollte ihren Teil
daran. »Du,« sagte sie, »Du bist der König.« Er ließ seine Augen auf
ihr liegen. »Deiner?« fragte er, und sie nickte lachend: »auch, aber
nicht nur meiner.« Da zuckte er zusammen und hob die Hände und ließ sie
wieder sinken. Zu Fäusten ballte er die niederhängenden Hände, damit
er sie ihr nicht vor aller Welt um den Hals lege. »Und du, du bist die
Königin,« sagte er. »Deine?« sie fragte es mit einem trunkenen Leuchten
ihrer Augen. »Ja, meine ganz allein. Morgen gehn wir noch einmal in den
Wald, da setze ich dir ein Krönelein auf.«

Ach, wußten sie nicht, daß hinter ihnen Gertrud an einer Säule stand?
Sie war von der andern Seite her durch den Saal gekommen. Sie war immer
zu Georg gestanden, wenn er Wichtiges erlebt hatte. Und sie wußte, daß
ihm sein Lied wichtig sei.

Ja, da kam sie gerade bis an die Säule, und sie hörte und sah, und
konnte keinen Schritt mehr vorwärts tun und konnte kein Wort sagen, und
wußte nicht, wo sie hinsehen sollte, um ihre Not zu verbergen.

Und als die beiden weitergingen, da wandte sie sich leise um und ging
mit schweren Tritten zu ihrem Platz zurück. Nun war das alles, was
ringsum flutete, farb- und tonlos geworden. Nun waren es fremde, lauter
fremde Menschen, die sich da herumbewegten. Was sollte sie unter ihnen?
Sie war allein mit sich, und etwas in ihr schrie auf.

Still, daß es niemand hört.

»Großvater, bleibst du noch lang da? Ich -- ich bin müde.« Sie zwang
sich, zu lächeln: »Ich bin das alles nicht gewöhnt. Feste feiern, das
muß man auch üben.«

Er sah auf, er sang eben aus Herzensgrund mit. »O alte
Burschenherrlichkeit, wohin bist du verschwunden?« Die alten Herren,
das heißt, die Alten unter ihnen, hatten sich zusammengesetzt und die
Geister ihrer Jugend waren bei ihnen.

»Ist es schon so spät? Du siehst blaß aus, Kind. Ja, ich wollte, -- das
heißt, natürlich begleite ich dich nach Hause, wenn du willst. Oder, ja
so,« er sah sich suchend um, »das darf ich ja nicht, das will ja wohl
der Georg, das ist sein altes Recht. Der ist ja wohl heut Hans in allen
Hecken, nicht?«

Sie nickte, schwer und freudlos. Er hätte es sonst zu allen Zeiten
gesehen, aber er war jetzt gerade ein wenig geblendet. Es ging so ein
Klang aus alten, schönen Zeiten durch den Saal rund durch den Rektor
Cabisius hindurch.

»Nun, da kann ich ja wohl noch ein bißchen bleiben? Soll ich dir den
Georg holen? Nicht? Siehst du, da kommt er schon. So ein langer Mensch,
er ragt über alle andern hinaus.«

Er nickte ihr zu. »Gute Nacht, Kind. Schlaf gut, morgen ist auch noch
ein Tag.«

Da floh sie aus dem Saal. Was sollte sie noch hier?

Sie fand ihren Weg allein. Es war nicht so weit nach dem Gasthof zum
Lamm. Und wenn es weit gewesen wäre, sie hätte sich nicht gefürchtet.
Was gab es, das nun noch zu fürchten war? Ein schweres, schweres
Steingewicht trug sie in sich, das wollte sie langsam und stumm zu
Boden drücken.




                    Elftes Kapitel


Morgennebel wogten durch das Tal, von ferne rauschte der Neckar,
still lag die Stadt, es war noch früh. Still lag das Gasthaus zum
Lamm, nur der Hausknecht ging und öffnete die Haustür, und ein
halbwüchsiger Bube saß in einem blauen Schurz auf der Steinbank und
hatte eine Stiefelversammlung um sich und wichste darauf los. Es war
eine erfreuliche Beschäftigung; man hatte sein redliches Teil an der
Weltverbesserung, wenn man Stiefelputzer im Lamm in Tübingen war. Der
Bub pfiff denn auch drauf los, was er konnte, ihn freute sein Morgen,
das konnte man deutlich sehen. Aber nun unterbrach er sich, mitten im
Liede von der Leineweberzunft, und riß seine hellblauen Augen weit
auf. Es war aber auch kein Wunder. Wenn man vor Tau und Tag aufsteht,
damit an allen Türen zu rechter Zeit die glänzenden Stiefel stehen, und
da geht Nummer siebenundzwanzig in aller Gottesfrühe zum Haus hinaus,
und hat natürlich ungeputzte Schuhe an, und macht ein Gesicht, -- ein
Gesicht, so geisterhaft ernst, daß man gleich --, der Schuhputzer wußte
nicht, #was# man gleich konnte, etwas Erfreuliches sicherlich nicht.
»Nummer siebenundzwanzig hat die Schuhe nicht herausgestellt,« sagte
der Hausknecht; »und da hat man's nicht putzen können,« sagte der Bub,
und so fühlten sie sich beide unschuldig an dem Kummer von Nummer
siebenundzwanzig, und der Bub fuhr fort, das Leineweberlied zu pfeifen.
Es konnte ja einer nicht mehr tun, als seine Schuldigkeit.

Zum Haus hinaus und durch die morgenstillen Gassen schritt sie,
die im Lamm Nummer siebenundzwanzig war. Sie wollte gern irgendwo
hinkommen, wo keine Menschen und keine Häuser waren; es konnte
jemand erwachen und zu ihr kommen und sie fragen: »was ist dir?« --
und konnte sie zu trösten versuchen. Sie hatte die Nacht hindurch
auf den Morgen gewartet, bald schmerzhaft wach, bald, was schlimmer
war, in einem dämmernden Halbschlaf. Nun war sie auf den Füßen und
trug sich selbst hinaus aus dem Menschenbereich. Sie wußte nicht so
recht, wo es hinging; ihre ernsten Augen suchten einen Ausweg aus dem
Gäßchengewirre; sie machte wohl Umwege, aber endlich fand sie doch
eine schmale Steige, die aufwärts führte. So mag einst Noahs Taube
unsichere, suchende Flügelschläge getan haben, ob sie irgendwo in der
Wasserwüste einen Ort finde, da sie ruhe, und endlich die Bergspitze
gefunden habe, die über die unendlichen Wogen hinausragte.

Zwischen hohen Häusern, die eng aneinander standen, ging der Weg
aufwärts; dann traten die Häuser zurück, ein weiter und freier
Blick tat sich auf. Eine Linde hob ihre hohe und volle Krone in den
Morgenhimmel hinein, ein Steintor stand weit offen, fast mechanisch
ging Gertrud Cabisius hindurch. Dann stand sie im Schloßhof. Ein
zuckender Schmerz: den wollte Georg mir heute zeigen. Still. Nichts
denken jetzt. Sie ging durch den Hof und fand den Weg ins Freie, und
ging weiter, ohne viel nach dem Weg zu sehen, dann kam der Wald.

Frisch und still war es hier oben, weiße Morgenwolken hingen in dem
reinen Blau des Himmels, Tau lag auf allen Gräsern, leise rief der
Wald, vom leichten Morgenwind bewegt: komm. Aus leichten Nebelschleiern
traten die Berge der schwäbischen Alb und traten still in den Reihen
und schlossen den weiten Raum, in dem sich ein Menschenkind des
Alleinseins, der großen, großen Einsamkeit bewußt war. Rauschte der
Neckar aus dem Tale herauf oder fing die Stille an zu tönen?

Gertrud trat in den Wald und ging noch eine kleine Strecke weiter
hinein und wußte nicht, was sie hier drinnen wollte. Die Menschen waren
ihr fremd geworden, mit einem Male alle. Sie hatte ihr Wesen von jeher
so einig und ungeteilt auf ihn zu entwickelt, den sie seit gestern
abend nicht mehr verstand. Wo war er hingekommen? Was war er ihr noch?
War das das Werde, auf das ihr lebensreifes Ich gewartet hatte?

Weit offen war es gewesen für die hohe, große Gemeinschaft, nun
standen die Hallen leer und öde, und ihre Seele fragte in die große
Stille hinein: Ist niemand, der zu mir gehört, niemand? Und sie ging
noch weiter hinein in die grüne Dämmerung, und schlang die Arme um
einen Baumstamm und legte den Kopf an das rissige Holz. Sie war kein
so starker Geist, daß sie allein stehen konnte, sie mußte etwas zu
umfassen haben. Aber der Stamm schlug ihrem klopfenden Herzen keine
Antwort. Da glitt sie an ihm nieder und sank in sich zusammen im Moos
und schloß die Augen vor der Außenwelt. Und ihre Seele machte sich
zitternd auf und rief mit ängstlicher Stimme in die Einsamkeit hinein,
ob nicht einer drinnen sei, mit dem sie reden könne.

       *       *       *       *       *

Es war einmal ein kleines Kindlein gewesen, das war ganz allein auf der
Welt und wußte noch nichts von sich und nichts von der großen Weite,
die rings umher war. Das spielte mit Blütenblättchen und wollte sie
alle haschen und als sich einige zu weit von ihm entfernten, da -- wir
wissen es, machte sich das Kindlein auf den Weg, sie zu holen. Und da,
wer kann sagen, was ihm so die Augen auftat? -- erschauerte es zum
erstenmal vor dem Alleinsein. Es war aber Liebe um den Weg, die trat in
die Kluft, und des Kindleins Augen spiegelten sich in anderen Augen und
sein junges, erschrockenes Seelchen barg sich darinnen.

Und das Kindlein wuchs heran und lernte erfahren, daß die Welt viel und
reiches Leben berge, und gewann eine Liebe zu allem Lebendigen und sah
mit hellen und klugen Augen in die Runde und in die Tiefe und in die
Höhe, und lernte auf die Pulsschläge des Lebens horchen und hatte Teil
an dem allem, was da war, an der Oberfläche und unter der Oberfläche.
Auch war ihm gesagt, daß alles Leben aus einer starken, lichthellen,
unversieglichen Quelle fließe, die lernte das Kind staunend verehren,
und das je mehr, je größer es wurde.

Treue und liebreiche Hände hatten es so nah an diese Quelle geführt,
als das ehrfürchtige Menschen nur können, und es war schön, zu wissen,
daß wie die Sonne über der Erde eine reine, große Liebe, die aller
Weisheit und Kraft voll wäre, über allem Geschaffenen sei. Es war auch
schön, selber jung und stark und voll frischer, treibender Kräfte zu
sein und in ausbrechender Werdelust die Arme nach der ganzen Welt und
nach dem Gott, der sie geschaffen hatte, zu breiten. Und es war schön,
zu wissen, daß aus der Flut von gleichgeschaffenen Wesen eins ganz nah
und mit Willen zu einem gehörte. Wo blieb da jegliche Furcht? Wo jedes
Alleinsein?

Und nun war wieder ein Tag, da gingen dem Kind die Augen auf und es
sah, daß es in Wahrheit allein sei, und -- wir wissen nicht, ob es ein
größerer Schauer war, als das erste Mal, denn wir wissen nicht, was
eine kleine Kinderseele überflutet -- da streckte es wieder die Hände
aus. Bist du? wo bist du? halte mich. Es ist alles so leer, sie haben
mich allein gelassen. #Laß dich# finden.

Der Morgen war in den Vormittag übergegangen, als Gertrud Cabisius
wieder in die Stadt herunterkam. »Der alte Herr hat gesagt, Sie möchten
sich nur um elf Uhr an der Bahn einfinden,« sagte das Stubenmädchen.
»Er ist ausgegangen, er kommt auch dorthin.«

Sie hatte dem Großvater einen Zettel hinterlassen, daß er sich nicht um
sie sorge. Sie wußte, sie durfte seinetwegen ruhig tun, wie sie mußte,
er würde sie nicht zuviel fragen.

Da, als sie eben in ihrem Zimmer einiges zusammenpackte und vor dem
Augenblick bangte, da Georg zu ihr käme, um ihr alles zu erzählen (denn
sie wußte, daß er das tue), da hörte sie seinen Schritt auf dem Gang
und dann sein Klopfen. Da war er schon.

»Hast du nicht Herein gerufen? Wo steckst du? Überall habe ich dich
gesucht. Gestern abend und heute früh. Ach, Gertrud.« Er war blaß und
erregt. Er trug ein Blatt Papier in der Hand. »Ich habe ein Telegramm
von Wiblingen. Mein Vater hat einen Schlaganfall bekommen. Ich muß nach
Hause. Ich will mit euch fahren. Ihr fahret doch nachher? Und ich, ich
war böse, daß er gestern kam. Wenn ich ihn nun nicht mehr sähe?« Er
hatte ein hilfloses und verstörtes Knabengesicht, und er hatte große
Lust, seinen Kopf in Gertruds Schoß zu legen. War das der Georg von
gestern Abend? Das war der, den sie kannte. Ach, hatte er sich nur ein
bißchen verlaufen und kam nun wieder?

Da aber hob der Schmerz wieder sein Haupt:

»Nein, nein, das ist Ernst. Sein Herz gehört nicht dir, das gehört ihr
-- Lore gehört es. Weißt du nicht mehr: »Du bist meine Königin, meine
ganz allein.«

»Gertrud, so weine doch nicht so. Du, warum weinst du? Wegen meines
Vaters? Aber er lebt ja noch.«

Ganz erstaunt sah er sie an. Sie hatte ja nie irgend eine Gemeinschaft
mit seinem Vater gehabt. Weinte sie aus Mitleid mit ihm? Er zog ihr
die Hände vom Gesicht: »Bleib bei mir; du bist mein Kamerad. Was auch
komme, Gertrud. Ich müßte dir so vieles sagen, aber ich bin jetzt so
verwirrt.«

Da trocknete sie ihre Tränen und sah ihn mit ihren guten Augen an und
zwang ein blasses Lächeln auf ihre Lippen.

»Sei still, red jetzt nichts. Ich bin -- ach, du kennst mich ja. Hole
dir, was du brauchst.« Da zitterte ihre Stimme wieder. Und sie wandte
sich ab und packte ihr Köfferchen fertig.

       *       *       *       *       *

Er hatte nie viel nahen Zusammenhang mit seinem Vater gehabt. Sie waren
sich beide so unähnlich als möglich. Georg war mehr seiner Mutter Sohn
als seines Vaters.

Seine Mutter war einst als ein Sonntagskind, -- obgleich sie das
nicht von sich wußte -- ins Leben getreten, weich, lieblich und voll
wunderbarer Hoffnungen, und hatte ihre hellen Augen unter die Tür ihres
Hauses geschickt, um nach allen lichten und frohen und guten Geistern
auszuspähen. Die wollte sie zu sich einladen und sie gut bewirten.

Wie sie zu ihrem Mann gekommen war, das war ihr später selbst
unfaßlich. Sie war wohl noch nicht ganz wach und reif gewesen, als
ihr verständige Leute zugeredet hatten, daß er ganz vorzüglich zu
ihr passe; und sie hatte seine stattliche Gestalt und sein lachendes
Gesicht für Zeugen von Kraft und Lebensfreude gehalten. Da erfuhr sie
bald etwas, das war ihre erste Enttäuschung: sie konnten beide lachen,
aber sie lachten nicht über dasselbe und nicht auf die gleiche Weise.

Nachher, als das Unglück kam, da konnten sie auch nicht miteinander
weinen.

Sie gingen einander innerlich nichts an.

Der Mann schalt und polterte eine Zeitlang und ging dann seiner Wege;
die Frau aber, die immer noch nach dem Lichten, Hellen ausgesehen
hatte, -- ihre Kinder an der Hand, da der Mann nicht mitgehen wollte --
die wurde nun plötzlich von düsteren Riesen niedergeworfen, von Schmerz
und Schuld und Verzweiflung, und in ein enges, dunkles Gefängnis
geworfen und da ihr Lebenlang behalten. Sie schickte aber, wie wir
wissen, aus diesem Gefängnis beständig nach Boten aus, da sie so sehr
nach Licht und Liebe hungerte und wurde schließlich von einem unter
ihnen nach Hause geführt. Von dieser Frau nun hatte Georg Ehrensperger
ein Erbe überkommen, das war schön und schwer zugleich.

Das war die Sehnsucht nach allem Schönen, das im Leben liegt, sowohl
in und hinter den Dingen, als außen an ihnen, und der starke Drang, es
alles in seinem Leben zu vereinigen.

Es war so ein hungriger Mensch und er träumte, wie jener, viel vom
Sattwerden. Er glaubte aber jetzt auf dem Wege dazu zu sein.

Nun saß er in dem lederbezogenen Großvaterstuhl neben seines Vaters
Bett und spürte plötzlich, daß auch dieser ihn etwas anging und langte
nach der Hand, die schwer auf der Decke lag und hätte gern etwas zu ihm
gesagt. Aber unten am Fußende saß der Müller Hensler und sah auf einmal
aus, wie ein alter Mann, da er gestern noch ein feuriger Jüngling
gewesen war, und schüttelte den Kopf, einmal ums andere; und neben ihm
stand Franz und hatte die Augen voll Tränen, denn er war von seines
Vaters Art und stand ihm menschlich nahe. Auch war er neben aller
Neigung zu kräftigem und sorglosem Lebensgenuß weich von Gemüt und floß
leicht über.

Da konnte Georg nichts sagen. Er war eben angekommen und war noch
verwirrt und bedrückt von dem raschen Wechsel: Gestern Lebensfülle
und ein Klingen aller Saiten -- und heute die ernste Schnitterarbeit
des Todes. Da, als er so saß und in seinem Innern bewegt war und nach
einem Ausdruck dafür suchte, geschah etwas, das ihn gegen seinen Willen
komisch berührte, also daß er das Gesicht zwischen Lachen und Weinen
verzog, wie wenn einer niesen will und nicht kann: Nämlich der Müller
Hensler hob halb unbewußt an, sachte die Daumen umeinander zu drehen,
als ob er seinem alten Freund diese seine gewohnte Beschäftigung nun
abnehmen und weiter führen müsse. Und dazu sagte er wehmütig vor sich
hin: »Ja der Wein, -- ja, ja. Sein Lebenlang hat er ihm nichts getan,
das kann ich bezeugen. Noch nie. Und nun auf einmal.«

Es war nämlich schon lange eine Streitsache zwischen dem Wiblinger
Doktor und dem Bäcker Ehrensperger gewesen. Der Letztere hatte um
ein Mittel gebeten, da ihn öfters ein Engsein am Halse und dazu ein
Flimmern vor den Augen und ein Sausen in den Ohren befiel.

Aber der Doktor hatte ihm kein Mittel gegeben. Fußbäder sollte er
nehmen, und Wasser trinken -- und dann das Weinverbot.

Aber um des Weinverbots willen ging der Doktor der Hochachtung des
Bäckers Ehrensperger verlustig.

-- »Wenn er sonst nichts weiß. Wozu die studieren, das möcht ich
wissen. Mir hat der Wein noch nie etwas getan. Aber man ist verkauft,
sobald man einen Arzt frägt. Krank ist man von dem Tage an.«

Denn der Doktor hatte kurz und trocken den Schlagfluß in Aussicht
gestellt, falls seine Vorschriften nicht befolgt würden.

Schwer war es. Wenn man sich zur Ruhe gesetzt hat und will noch ein
paar gute Tage haben in seinem Alter und hat das Geld dazu. Was soll
man dann mit sich anfangen? Nicht einmal trinken soll man.

Man brauchte ja dem Doktor nicht alles zu glauben. Aber unbehaglich
war es von nun an doch. In jedem Krug voll roten Heilbronners saß ein
Ungetüm, es konnte einem alles entleiden.

Da hatte er sich nun gestern entschlossen, da, als sie bei der Ausfahrt
im Wagen den Uhlbacher tranken, sich nur auch einen Tag lang der
unangenehmen Gedanken zu entschlagen und »zu leben, wie ein Junger«, so
sagte er.

Das hatte er auch getan in seiner Weise.

Aber nun mußte er die Rechnung bezahlen.

Es war in der Nacht noch geschehen. Niemand wußte, wann und wie der
Schlaganfall gekommen war. Als der Vater nicht herunterkam, ging Franz
hinauf und sah nach ihm und fand ihn, halb im Bett und halb außer dem
Bett, mit offenen, unruhigen Augen und schwerem Atem. Das ließ sich
Georg alles erzählen und verwand rasch das Komische, das ihm angeflogen
war, und war fast froh, daß er etwas wie Trauer empfand und hätte sie
gern noch tiefer gespürt. Eine Stunde, nachdem Georg gekommen war, hob
der Kranke den Kopf ein wenig und zwinkerte dem Müller Hensler zu, und
sah seine Söhne an und formte mit den Lippen undeutliche Worte. Sie
verstanden nur weniges: »Immer gutes Brot gebacken -- der Kleine, der
will -- ich bezahl's -- Franz, du -- nein, nicht die Junge --.« Er
hatte einen Pik auf seine Söhnerin. Und dann sah er sich mit dem Müller
Hensler unterwegs und der ging ihm zu schnell und er mußte keuchen, um
mitzukommen: »Immer -- langsam -- voran, -- die -- die Jüngsten sind
wir -- auch nicht mehr.«

Da kam der Anfall noch einmal und machte ein Ende.

Und er war ein geruhlicher, starker und dicker Mann gewesen, und
hatte auch ein geruhliches Leben geführt und hatte nicht viel Hunger
gelitten, so viel man weiß. Sie begruben ihn aber an der Seite der
Frau, die ihm so lang vorangegangen und ihm so unähnlich gewesen war,
und als es Zeit war, da setzten sie ihnen beiden miteinander einen
Stein, und schlossen das Grab mit einem Gitter ein und es war nun
weiter kein Unterschied zwischen ihnen beiden zu sehen.

Ihre Söhne aber trugen, ein jeder in seinem Teil, ihre Art weiter, und
suchten und fanden ihren Weg durchs Leben, der eine leichter, der
andere schwerer, und werden einmal ein jeder ein Ziel erreichen.

       *       *       *       *       *

Wer aber ist nun besser gefahren? sagt es, ihr Schläfer.

Es ging ein alter Mann durch den Garten des Todes, es war in einer
Dämmerstunde, wenige Wochen nachdem sie den Bäcker Ehrensperger
begraben und ihm viele und teure Kränze auf den Hügel gelegt hatten.

Er kam von etlichen Gräbern her, die er liebend besucht hatte. Es
waren solche darunter, die längst eingesunken und nur mit langem
Kirchhofsgras bewachsen waren, und solche, die noch in guter Hut und
Pflege standen. Er stand nun still vor dem neuen Grab und dachte an
einen, der seinem Herzen teuer war und der vor wenig Tagen einen neuen
Weg eingeschlagen hatte, um, so es ginge, einer edlen Kunst Meister zu
werden.

Das sänftigt das Herz und stillt die Gedanken, wenn man die langen
Reihen der Schlafenden grüßt und ihrer Wege und ihres Ruhens gedenkt.

Ihr, die ihr Lasten truget und Hunger littet und wunde Füße bekamet von
steinigen Wegen; ihr, die ihr euch sehntet nach Freude, nach Licht und
nach vollem Leben; ihr, die ihr brennende Herzen hattet und stürmisches
Verlangen, sagt, habt ihr etwas von dem gefunden, das ihr erhofftet?
Hat euch jemand in Empfang genommen, als ihr müde nach Hause kamet?
Habt ihr nun gesehen, was des Hungers und der Sehnsucht allertiefster
Grund war und ist euch eine Stillung dafür geworden? Ihr schweiget,
soviel wir auch fragen mögen.

Wie, oder habt ihr andern recht gehabt? Ist es genug, zu nehmen, was
am Wege liegt und an der Oberfläche? Reut es euch nicht, daß ihr
meintet, das Beste sei, gut zu essen und gut zu schlafen und sich keine
überflüssigen Gedanken zu machen?

Ihr hattet nichts, wonach ihr euch sehnen mußtet, ihr seid satt
gewesen. Seid ihr das noch? Sagt, seid #ihr# besser gefahren?

Und auch ihr schweiget, soviel wir auch fragen mögen. Es bleibt uns
nichts, als selber unseres Weges zu gehen, dem Drange nach, der in
unserer Brust lebt. Wir müssen etwas suchen, das wir nun nicht haben;
wir können nicht anders. Wir verfehlen es oft dabei und gehen nicht
immer gerade aus und verstehen uns selber nicht immer recht. Aber wir
gehen dennoch weiter. Und wenn wir hie und da meinen, uns im Kreise
zu drehen und umsonst zu suchen, was unsres Herzens Verlangen ist, so
fällt es uns tröstlich ein, daß einer, auf den wir viel halten, und
der etwas von Menschenseelen verstand, gerade die Hungrigen und Armen
und Verlangenden glücklich, ja selig pries, weil irgendwo eine Fülle
für sie sei. Und dann fangen wir von neuem an, zu suchen, und fangen
am Kleinen an und werden nicht satt davon und suchen das Größere. Aber
es ist etwas in uns, das will das Größte und gibt sich anders nicht
zufrieden.

       *       *       *       *       *

Der Rektor Cabisius hatte etwas getan, was er selten tat, er hatte ein
Machtwort gesprochen. Er hatte so lang als möglich damit gewartet. Wie
damals, als seine Enkelin klein war und ihren ersten Schritt wagte,
hatte er zugesehen, was da werden wolle. Aber als es Zeit war, streckte
er die Hand aus und sagte: »Doch, Georg, du machst nun dennoch das
Examen. Ja, ja, ich rede dir nicht drein. Ein gezwungener Pfarrer,
ein Mußtheologe, davor behüt' uns Gott. Das Höchste und Schönste darf
man nicht unwillig tun. Wenn Jesus einen seiner Zwölfe hinter sich
hergeschleppt hätte, -- nein, nein, ich versteh' dich. Gut versteh'
ich dich. Aber das Examen machst du dennoch. Ich sage dir: Verweht
und verloren kämest du dir vor, wie einer, der allerlei angreift und
nichts zu Ende führt, wenn du #so# davongingest. Nun ja, mach' kein
so bedenkliches Gesicht. Du wirst keine Glanznummer davontragen. Es
wird nur gerade reichen. Aber das ist ja nicht so wichtig. Du wirst
an mich denken, wenn einmal Schwierigkeiten kommen, -- die kommen
überall, Georg, es wäre nicht gut, wenn sie nicht kämen, -- und du dich
daran erinnerst, daß du nicht als Hasenfuß in die Weite gelaufen bist,
sondern als ein Mann, der wußte, was er wollte.«

Georg Ehrensperger hatte es nicht für so nötig gehalten. Aber wenn
der Rektor #so# sagte. Da ging er richtig hinein und hielt eine
Probepredigt, über die einige der Herren staunten: »Der will umsatteln?
Der hat keine Freude an der Sache? Ich wollte, sie wären alle so
frisch dran hin.« Aber die so sagten, wußten nicht, daß dem Prüfling
die frische Luft der Freiheit zur offenen Kirchentür hereingeblasen
hatte, als er seinen Text verlas und daß ihn heimatlich anrührte, was
ihn nicht binden und verpflichten wollte. Auch hatten sie ihm einen
Text gegeben, der ihm ein Stück Sphärenmusik war und über den er am
liebsten auf der Orgel gepredigt hätte: »Eine andere Klarheit hat die
Sonne, eine andere Klarheit hat der Mond, eine andere Klarheit haben
die Sterne. Und ein Stern übertrifft den andern an Klarheit.« Das
übrige, das ja freilich die Hauptsache war und himmlische und irdische
Körper, verklärte und natürliche Leiber miteinander verglich, kam -- es
muß gestanden sein, -- etwas kurz dabei weg. Es war mehr ein Lobpreis
nach der Weise des alten Liedes, das er einst von Hollermann gelernt
hatte: »Alle die Schönheit Himmels und der Erden ist verfaßt in dir
allein,« und war eine Kandidatenpredigt, wie andere auch. Aber es ging
ein warmer Zug von Gottesbegeisterung hindurch, so daß die Herren,
auch die, die über einen pantheistischen Anklang darin leise den Kopf
schüttelten, nicht anders konnten, als freundlich zu gestehen, daß
Georg fähig gewesen wäre, und nicht nur mit knapper Not, verwendet zu
werden. In der Kinderlehre ging es nach dem Spruch: »Ich bin gekommen,
daß ich ein Feuer anzünde, und was wollte ich lieber, denn es brennete
schon?« Aber die Buben und der Herr Kandidat blieben miteinander an
der Beschreibung eines Bismarckfeuers hängen, in das ein jeder von
den Studenten seine Fackel warf, und eh' der Kandidat zu der sehr
tiefsinnigen Nutzanwendung kam, ein jeder müsse dazu beitragen, daß das
Höhenfeuer durch die Nacht leuchte, war die Zeit um. »Die Herren aber
hatten nur gesehen, daß,« sagte einer, »der Kandidat selber noch ein
Kindskopf sei.« Es wurde ihm aber nicht übel vermerkt. »Denn,« fuhr der
vorgenannte Professor fort, »immerhin wußte er die Kinderköpfe, die vor
ihm saßen, anzufassen und das ist mehr als nichts.«

Alles in allem, obgleich die eigentlichen Wissenschaften nicht gut
wegkamen und im Schriftlichen hie und da ein schönes, leeres Blatt
Georg Ehrenspergers Namen trug, gedieh das Ganze nicht #so# übel,
als sich der Kandidat vorher in schwarzen Stunden ausgedacht hatte.
»Und es ist nur schade,« sagte der Müller Hensler, wenn er darauf zu
sprechen kam, »daß er das Forsche erst jetzt angefangen hat, wo er
nach den Herren nichts zu fragen hat.« Er wußte ja freilich nicht, daß
das, was er Forschheit nannte, nur aus dem neuen, frischen Gefühl der
Freiheit herkam.

       *       *       *       *       *

Der Wind trug halbverwehte Töne auf seinen Flügeln daher. -- -- »behüt
dich Gott, Philisterhaus.« -- »Horch,« sagte Georg, »sie singen einen
hinaus. Heut abend kommt's an mich. Ich weiß nicht, soll ich lachen
oder weinen, nun ich Tübingen Lebewohl sage. Ich bin den ganzen Morgen
durch die Straßen gewandert und bin auf dem Schloß gewesen und habe
alles mit den Augen gestreichelt.

Es ist so eine Sache. Die andern, die bisher mit mir gegangen sind, die
fangen nun an, zu amten. Ich aber -- manchmal kommt es über mich, Lore:
Nun habe ich so viel schöne Zeit verstudiert, und« --

»Verstudiert?« Lore lachte. »Das geht an. Es ist nicht so übermäßig
gewesen, gelt? Du, was hast du nur immer getan?« Sie saßen in dem
schmalen Mauergärtchen, an dem der Neckar vorüberfloß. Astern und
Dahlien blühten darin und rotviolette Malven; Herbstfäden waren von
einem Stengel zum andern aufgespannt und hie und da glänzte ein lichter
Tropfen an dem zarten Gespinste, wie eine Träne. In den Kronen der
Platanen drüben in der Allee wühlte der Wind. Er spielte auch mit dem
Haar des schönen Mädchens und legte eine der rötlichen Locken auf
die Stirne herein. Georg griff darnach und zog sie spielend über die
Finger.

»Was ich getan habe? Du weißt es. Ich habe mich nicht so
zusammengerafft, wie ich gesollt hätte. Es war mir immer, als ob ich
das Rechte, das mich ganz füllen sollte, noch nicht hätte; da suchte
ich es überall. Einmal, da half ich einem Weingärtner, draußen in der
Neckarhalde, Erde tragen, wohl zwei Stunden lang. Er ließ sich die
Hilfe gefallen, aber er hielt meine Arbeit doch für einen Studentenulk;
er dachte, es komme noch irgend ein Unsinn hintendrein und sah sich
zuweilen mißtrauisch um.

Aber es war nur das drängende Verlangen, etwas zu tun, das der Mühe
wert wäre, getan zu werden. Begreifst du das? Es kommt manchmal mit
Gewalt über mich. Ich möchte der Welt etwas geben, das sie ohne mich
nicht hat, etwas Großes, Schönes.«

Aber sie schüttelte lachend den Kopf.

»Ach, du denkst dir immer so sonderbare Sachen aus. Weißt du nichts
anderes mit mir zu reden? Nun hast du doch, was dir noch gefehlt hat,
nicht? Neulich sagtest du es.«

Sie sah ihm tief in die Augen, lockend und verheißend: da hast du mich,
das wolltest du doch?, und lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Nun rede von etwas anderem. Du mußt dich beeilen, daß du etwas recht
Schönes schaffst, ich will nicht zu lange warten. Du mußt sehr oft
hierher kommen. Du sagst, wenn du neben mir sitzest, fallen dir die
schönsten Melodien ein. Das gefällt mir. Sag noch so etwas Hübsches.«

Sie sah ihn mit glänzenden Augen erwartungsvoll an. Da strich er ihr
weich und zärtlich über das Haar: »Du Liebste, du mußt mich ein wenig
trösten. Nun bin ich fast vierzehn Tage zu Hause gewesen und habe
Gertrud fast gar nicht zu sehen bekommen. Sie war so anders als sonst,
so still und ernst. Ernst war sie immer, aber nicht so wie jetzt. Und
immer in Tätigkeit. Den ganzen Tag mit etwas Dringendem beschäftigt,
und immer in der Dämmerung bei den Turmwartsleuten, wo die Frau krank
ist. Und nie ein rechtes Gespräch mit ihr. Was das nur ist? Sie war in
ihrem Leben noch nie launisch. Nun sagte der Rektor, als ich es ihm
klagte: 'Du mußt sie jetzt gewähren lassen. Man hat Zeiten im Leben, da
kann man nicht mit den andern gehen, da muß man für sich sein.' -- Ich
verstehe es nicht. Was sagst du dazu, Lore?«

Aber sie hütete sich wohl, zu sagen, was sie davon dachte.

Tausenderlei Dinge fragte sie und zog ihn spielend in ihre
Gedankenkreise. Da vergaß er, was ihn drücken wollte.

Und dann kam Frau Maute aus dem Hause und war sehr mütterlich, und
Georg mußte das über sich ergehen lassen, obgleich er immer ein
gewisses Grauen davor hatte. Er hatte sich nicht in Lorens Mutter
mitverliebt. Aber da war nun nichts zu machen. Er mußte von Franz
erzählen, den beide Frauen ins Herz geschlossen hatten, und von seinem
Examen, und von seinen Plänen für das neue Studium. Und darauf bekam
er eine Menge Ermahnungen, sich ein wenig zu beeilen, und -- sagte
Frau Maute, auch ans Praktische zu denken. Allzu ideal, das sei für
die ersten Jugendjahre gut, aber -- hi hi -- wenn man einmal -- sie
blinzelte nach Lore hin --, da stand Georg auf.

Es brannte etwas in ihm, aber nicht für Frau Maute.

Morgen ging er nach München. Und übermorgen wollte er anfangen,
zu arbeiten, zu lernen, dann selber zu schaffen, das drängte ihn
am meisten. Auf der Neckarbrücke stand er still und winkte nach
dem Mauergärtchen hin. Mußte er nicht umkehren? Wie konnte er nur
fortgehen? Würde ihm Lore von weitem das sein können, was er in der
Gegenwart von ihr hatte? Am liebsten hätte er sie mitgenommen. Aber
dazu war ja keine Möglichkeit; jetzt noch nicht. Weiter! »Streck dich
nach vorn aus allen Kräften, im Zeitstrom, der vorüberrauscht.«

Wo hatte er nur das gelesen? War es nicht bei Gertrud gewesen? Er wußte
es nicht mehr. Aber nun klapperten es die Räder des Zugs, unaufhörlich
dasselbe, es nahm eine Melodie an, eine monotone: »Im Zeitstrom, der
vorüberrauscht.«




                    Drittes Buch




                    Erstes Kapitel


Wenn nur die Menschen mehr darauf ausgingen, die Freude zu suchen.

Sie vermissen sie, sie rufen nach ihr. Daß sie von ihr verkürzt seien,
sagen sie klagend.

Aber sie machen sich nicht auf, voll guten, mutigen Willens, sie zu
finden.

Und die Freude ist überall und will sich finden lassen. Denn sie liebt
die Menschen.

Nur ist ihr Gewand schlicht, und ihre Augen sind ernst, und ihre Hände
zeugen von Mühe und Arbeit. Da schrecken manche, denen sie ans Herz
treten will, zurück und machen erstaunt die Augen auf: Du bist es? So
siehst du aus? Ach, entschuldige, dich habe ich nicht gemeint. Ich --
ich hätte gern etwas mehr Geld, oder etwas mehr Behagen, oder ein Haus
im Grünen, oder einen hübschen Titel. Oder ein großes, sonniges Glück,
oder ein machtvolles Können. Siehst du, das nenne ich Freude. Wer aber
bist du?

Und die Freude zieht weiter. In dieser Sprache kann sie nicht mitreden.
Sie stammt aus einem ganz anderen Lande und bringt nichts, als sich
selbst. Aber es geht ihr nicht bei allen so. Manche nehmen sie auf,
denen teilt sie das Geheimnis des Frohseins in sich selbst, denen zeigt
sie das Leben, das nicht von Zufälligkeiten abhängt.

Kennt ihr Menschen, bei denen die Freude eingekehrt ist? Die durch das
dürre Land gehen und machen sich daselbst Brunnen? Wenn ihr sie kennet,
so geht zu ihnen hin, denn es ist gut bei ihnen zu sein. Sie haben
die Bitterkeit und das Alleinsein und den Neid und was der dunklen
Geister mehr sind, nicht über sich herrschen lassen. Sie haben selbst
geblutet und verstehen die andern. Sie haben neue Quellen des Lebens
entdeckt und bieten die Schale mit dem frischen Trunk den andern: Nun
trinket auch ihr. Seht ihr's? Man bleibt nicht liegen. Das Leben ist an
sich ein Frohgeschenk, auf, laßt uns hindurchschreiten, denn es wird
lichter, nicht dunkler.

Ja, solches haben die Menschen, bei denen die Freude eingekehrt ist.
Solches lehrt sie die Himmelsbotin in langen, dunklen Tagen und Nächten
und führt sie an der Hand ins weite, große Leben hinein.

Kennt ihr sie? Laßt euch nicht davon abschrecken, daß ihre Züge oft
eine Schrift tragen von viel überstandenen Schmerzen, und daß manche
von ihnen nicht viel Leichtes, Lustiges zu sagen wissen. Wenn es euch
schwer dünkt, zu leben, dann geht zu ihnen. Dann seht ihr in leuchtende
Augen, und fühlet linde Hände und höret liebreichen Trost von einer
Stimme, die ist wie einer Mutter Stimme.

       *       *       *       *       *

Es war eine Zeit, da glaubte Gertrud Cabisius nicht mehr an die Freude.
Sie hatte sich weit aufgetan und hatte sie empfangen wollen, da war
das Leid gekommen. Nun wußte sie nicht, was das Leben von ihr wollte.
Sie war so ganz ungeteilt nach einer Richtung hin gegangen. Nun sollte
sie umwenden und wußte nicht, wohin? Es war leer, wohin sie blickte.
Es stand in den Büchern, die sie aufschlug, es tönte aus den Liedern,
die die Jugend sang, es stand auf Weg und Steg geschrieben, -- daß es
anders sei, als vordem. Ja, anders, aber wie sollte das werden?

Es war aber ein guter, tüchtiger Kern in ihr. Der bewahrte sie vor
allzu großer Selbstbejammerung. Da biß sie die Zähne übereinander
und versuchte, ihre Arbeit zu tun, wie sonst. Es traf sich, daß das
junge Dienstmädchen krank wurde und oben in der Kammer lag, und es
traf sich, daß der Rektor Cabisius ein Starleiden bekam und nicht mehr
selber lesen konnte. Lauter Trost, lauter Tagesaufgaben, nicht für die
Zukunft, nichts Großes, Weites, nur für die Stunde, für jetzt. Und
Gertrud kniete auf den Steinfliesen des Küchenbodens, und fegte ihn
sauber, und kochte Krankensuppen für das Mädchen, das ungeduldig und
stöhnend in seiner Kammer lag und sich selbst bejammerte und sich nach
heimatlichem Kraut und Speck sehnte. Und sie band die Küchenschürze
ab und kam zu dem alten Herrn ins Zimmer: »Soll ich dir vorlesen,
Großvater?«

Da las sie ihm viel und lange vor, und er wählte große, ausweitende
Stoffe, die aus alter Zeit zu uns herüberreden von Glück und Not und
Kampf der Menschen.

Aber er schüttelte leise den Kopf: »Noch ist ihr Wesen nicht dabei,«
wenn des blinden Ödipus dunkles und schweres Schicksal und Antigones
Kindesliebe und ihre stille, gelassene Todbereitschaft keinen hellen,
hohen Klang in die Mädchenstimme brachten, wenn alle die starken,
großzügigen Gestalten wie Schatten durch das Zimmer glitten.

Er ermahnte sie nicht, er war ganz unberedt dem still getragenen Kummer
seines Kindes gegenüber; er wartete nur. Wie man auf den Frühling
wartet und weiß: er muß doch kommen, so wartete er darauf, daß in den
tiefernsten Augen und auf den blassen, verstummten Lippen ein neues
Leben erscheine.

»Du wirst sie zur Freude führen, ich kann es nicht,« sagte er, und
wußte, wen er damit meinte.

       *       *       *       *       *

Gertrud war lange nicht mehr zu ihrer lahmen Freundin gekommen. Was
konnte sie jetzt in das leere, stille Leben hineintragen, sie, die
selbst nichts hatte?

Auch regte sich in ihr die Angst vor dem Gleichartigen in ihrem
Schicksal. Sollte sie in Zukunft ebensowenig zu erwarten haben, als
Veronika? Es war ihr, als müsse sich in dem stillen Mädchen ein kleines
Triumphgefühl regen: Siehst du, dir ergeht es nicht viel anders als mir.

Aber eines Abends, als es dämmern wollte und alles so grau und leer
aussah, und das Mädchen wieder in der Küche hantierte und der Großvater
einen Besuch bei sich drinnen hatte, da, als Gertrud sich hin und her
besonnen hatte: Will ich, will ich nicht? Da schlug sie dennoch wieder
den Weg nach der Heinersgasse ein und nach der niedrigen Stube, in der
Veronika am Fenster saß, seit sie sich denken konnte.

       *       *       *       *       *

Befand man sich hier auch »im Zeitstrom, der vorüberrauscht«? Oder war
der einfache, schier ärmliche Raum, der Veronikas ganze Jugend gesehen
hatte, ausgenommen von dem Wellenschlag des Lebens, ein trockenes
Bachbett ohne rinnende Wasser? Es war ein und jeden Tag dasselbe: Ein
mühsames Aufstehen und Sichschleppen bis zu dem Fensterplatz, ein
mühsames Regen der Hände und ein mangelhaftes Gelingen der Flickarbeit,
die sie förderten. Anderes bekam Veronika nicht leicht zu tun. Ihre
Mutter hatte Kundenhäuser zum Waschen und Putzen, da brachte sie die
zerrissenen Röcke und Hemden der Dienstmädchen oder die Schürzen und
Blusen der Knechte zum Flicken mit heim.

Die gaben das Tagewerk des stillen, feinen Mädchens. Jetzt ruhten ihre
Hände. Es war halb dunkel in der Stube, nur das weiße Gesicht mit den
dunkeln Augen hob sich, da es dicht neben dem Fenster am Holzrahmen
lehnte, lebendig heraus. Da kam Gertrud herein, nicht so rasch und
lebhaft, wie sonst, schon ein Erlebnis, eine Mitteilung auf den Lippen,
sondern ein wenig zögernd und still, und setzte sich auf einen Stuhl
und fing nach einer Weile ein gleichgültiges Gespräch an. Aber sie
verstummte wieder bald, und holte sich einen kleinen Holzschemel, und
ließ sich darauf nieder, und barg ihr Gesicht in Veronikas Schoß.

Die legte ihre Hände still auf das volle, dunkle Haar und strich sachte
darüber, und nach einer Weile hob Gertrud den Kopf ein wenig und sagte
leise: »frag mich nicht. Ich sag dir's, wenn ich kann. Nicht jetzt.«

Nein, Veronika fragte nicht.

Aber sie wußte, daß nun die Stunde für sie gekommen sei, nach der ihr
wacher Geist oft gefragt hatte, wann die Tage kamen und gingen, eine
unabsehbare, stille Schaar, die sich an den Händen faßte und einander
so gleichsah, so verzweifelt gleich: Wozu bin ich? Bin ich nur für
mich? Ist niemand, der meiner bedarf? Sie wollte ihren Teil an den
andern und nicht nur empfangend, nehmend #und# gebend begehrte ihr
reiches Wesen in die Reihen der Lebendigen zu treten.

Ihrer Mutter, das wußte sie, war sie eine Last. Eine geduldig
getragene, aber dennoch eine Last; sie konnte dem müdgeschafften Weib,
wenn es spät abends heimkam, so wenig mehr sein. Es brauchte nur Ruhe
und seinen kargen Schlaf, war es nicht ein rechtschaffenes Kreuz, nun
auch noch die Tochter versorgen zu müssen? Was aber das Mädchen zu
geben hatte in seiner stillen, feinen Art, dafür war sie wohl zu stumpf
geworden in den harten Arbeitsjahren.

Einmal hatte Veronika Worte für das gefunden, was ihr Leid und ihre
schwere Fülle war. Es hatte sich ihr zu einem Lied gestaltet und als
sie es mit den ungefügen Fingern mühsam niederschrieb, fühlte sie sich
einigermaßen erleichtert. Hier ist es:

      »Quillt im Wald ein tiefverborgner Bronnen
      Rieselnd kommen seine klaren, hellen,
      Aus dem Felsgestein entsprungnen Wellen
      Zwischen Moos und Farren hingeronnen.

      Keiner weiß es, und die Wasser quillen
      Immer fort aus nie erschöpften Gründen.
      Wüßt ein Durstiger den Quell zu finden,
      Ein unendlich Dürsten könnt er stillen.

      Rauscht der Wind wohl in den hohen Buchen,
      Landwärts trägt er eine leise Klage:
      Und so rinn und rinn ich alle Tage;
      Will denn keiner meine Fluten suchen?

      So ein Born aus ungeseh'nen Meeren
      Füllt mein Wesen, füllt es bis zum Rande,
      Und ich trag' sein Wallen durch die Lande.
      Leise fragt's: wem soll die Flut gehören?«

Das Lied hatte sie damals nach langem Zögern und Besinnen Gertrud
gezeigt, aber die hatte keine rechte Antwort darauf gehabt. Sie wußte,
wem ihre Flut gehöre. Nun war es anders. Bei beiden war es anders, als
damals.

»Sag, Veronika, wie erträgst du dies Leben hier? Brennt es nicht in
dir, daß du aufspringen möchtest, und irgendwo eintreten, in irgend
eine Lücke, die sonst niemand -- ach, Veronika.«

Wie sie es ertrug? Fingen nicht die Wände an zu reden von der großen
Sehnsucht, die sich in dem kleinen Raume barg, und von dem Leben, das
ganz still und unaufhaltsam hier erwuchs, einer Kellerpflanze gleich,
die sich nach dem Lichte streckt?

Es war vollends dunkel geworden. Aber draußen stapfte der
Laternenanzünder über das holperige Pflaster. Sein Lichtlein glomm
an den Fenstern vorbei, nun ein leises Klirren an der Laterne schräg
gegenüber, dann fiel ein heller Lichtstreifen hier herein auf ein
angstvoll fragendes Gesicht, das sich wartend emporhob, und auf ein
anderes, das vom Widerschein einer inneren Freude erhellt war.

»Doch,« sagte Veronika, »es brennt manchmal. Aber nun nicht mehr so wie
früher.«

Sie schwieg eine lange Weile. Dann sagte sie leise: »Ich möchte es dir
recht sagen können, Gertrud. Es ist das erste Mal, daß ich davon rede.
Ich sage es dir auch nur, weil -- weil« -- sie suchte nach einem Wort.

»Weil ich dich brauche,« sagte Gertrud.

Ein warmer Schein glitt über des lahmen Mädchens Gesicht.

Das war das Wort, das hatte sie so gern einmal aus eines Menschen Mund
hören wollen. Nun kam es, und daher, von wo sie es nie erwartet hätte.
Ging es so wunderbar zu im Leben? Sollte sie etwas für Gertrud haben?
O wie gern wollte sie es ihr geben.

»Siehst du, du kamst seltener und seltener und nun so lang nicht mehr.
Und ich saß hier und nähte und war so allein. So würde es wohl das
ganze Leben hindurch fortgehen, dachte ich; es war mir kein Trost, daß
der Doktor sagte, ich könne gut alt werden. Draußen gingen die Menschen
vorbei, ich sah sie vom Fenster aus und dachte mich in ihre Schicksale
hinein. Wie sie arbeiteten und sich regten und einander brauchten. Ja,
da brannte es freilich. Wenn ich doch stürbe, dachte ich. Denn ich lebe
ja doch nicht. Sie alle leben, nur ich nicht. Und ich flüchtete mich
in die Bücher und suchte mich zu vergessen. Aber überall stand da vom
Leben und von Taten und bewegten Schicksalen der Menschen. Und immer
schwerer fiel es auf mich hinein, daß ich vergessen sei, nutzlos und
allein. Wenn es doch nur ein Ende hätte.

Da trugen sie eines Tags den alten Höpfner hier vorbei, weißt du?
Den Kleiderhändler in dem grünen Haus, hinten am Burgeck. Er hatte
Kinder und Enkel, und war reich, man sagt, die halbe Stadt sei ihm
Geld schuldig. Er war sein Leben lang gesund und frisch. Aber seit
einiger Zeit war er schwermütig, kein Mensch wußte, warum. »Es lohnt
sich wahrhaftig nicht der Mühe, alt zu werden,« soll er öfters gesagt
haben. Ja, und da machte er ein Ende, du weißt es. Aber als sie ihn auf
der Bahre vorbeitrugen, wassertriefend, schlaff und mit gebrochenen
Augen, da fuhr es mir wie ein heißer Schreck ins Herz: das Leben ist an
sich etwas Großes, Heiliges. Man darf es nicht gering achten und nicht
wegwerfen wie etwas Wertloses. Man muß suchen, dahinter zu kommen. Es
muß etwas daran sein. Den ganzen Tag ging es durch mich durch: lieber
Gott, zeig mir das Leben, das ich leben soll. Laß mich nicht so am Rand
des Todes hingehen, lebendig tot.

Ich konnte nichts arbeiten, ich war so schwach und so erregt. Da legte
ich mich ins Bett und schloß die Augen und rings um mich war es dunkel,
und als es Nacht wurde, da gingen die wachen Gedanken in einen Traum
über.

Da stand ich auf einem hohen Berg und wußte, ohne zu sehen, daß rings
um mich Menschen waren. Aber ich war dennoch so furchtbar allein unter
ihnen, denn sie gehörten nicht zu mir, nicht einer. Und es war graue
Dämmerung und ringsum eine weite, weite Öde und ich stand und sah da
hinein.

Da wurde ich gewahr, daß dicht vor mir ein Abgrund aufgähnte, tief und
schrecklich. Von drüben aber, über dem Abgrund, rief es mich, laut und
lauter: komm. Und ich wußte, hier waren die Menschen, drüben aber die
große Einsamkeit, und in die Einsamkeit hinein rief mich einer, der mit
mir reden wollte. Es war grausig. Es trennte mich von allen Menschen,
nach denen ich mich doch sehnte. Und der Spalt klaffte, und es wehte
kühl da herüber, und ich war so klein, aber das unbekannte Etwas, das
mich rief, das wurde immer riesiger, immer mächtiger und zog mich, und
es war Sehnsucht und Furcht zugleich in mir. Da schloß ich die Augen
und wagte den Sprung.«

Sie schwieg. »Und dann?« fragte Gertrud.

»Und dann? -- es ist so schwer zu sagen. Ich weiß nicht, was zu mir
geredet wurde, vielleicht nichts. Vielleicht empfing ich es ohne Worte,
das, was mich erfüllte, als ich wach wurde, mitten in der Nacht, das
starke, hohe Gefühl davon, daß ich mit Gott allein gewesen sei, und
daß das so bleiben müsse, innen, ganz innen in mir. Daß das Leben an
sich ein hohes, frohes Gut sei, ein unantastbares. Es hängt von nichts
Äußerem ab, es ist ganz für sich. Es ist das Allergrößte. Aber es ist
schwer zu sagen.«

Sie sah ein wenig verlegen aus, weil sie das nun erzählt hatte, aber
Gertrud hob den Kopf: »Weiter.«

»Ja, weiter? Siehst du, seither hat Manches angefangen, anders zu
werden. Es verlangt mich immer noch nach den Menschen, ich möchte zu
ihnen gehören. Das liegt wohl so in uns, das müssen wir verlangen. Als
du vorhin sagtest: »Ich brauche dich,« da war ich froh; es war mir,
als habe ich seit Jahren darauf gewartet, daß das ein Mensch sage. Wir
dürfen die Kammern unseres Herzens nicht leer stehen lassen, es ist
nicht gut für uns. Auch hängen wir mit den andern zusammen und sie mit
uns. Aber weißt du, ganz innen, da -- ach, du weißt es selbst, da muß
man etwas allereigenstes haben, das von nichts anderem abhängt. Es ist
wie im Märchen vom Marienkind. Weißt du noch? Du hast es mir erzählt.
Es durfte alle Himmelstüren aufmachen, nur die zwölfte nicht, dort saß
die heilige Dreifaltigkeit in goldenem Glanz. -- Die zwölfte Kammer,
die müssen wir für uns behalten, da darf kein Mensch hinein, nicht in
Lieb und nicht in Leid. Sie mögen sich in die elf andern teilen. Du,
Gertrud, ich glaube, man muß allein gewesen sein, eh' man recht mit den
andern gehen kann.«

       *       *       *       *       *

Durch die nächtlichen Gassen ging Gertrud Cabisius.

Aus allen Fenstern blinkten Lichter. Dort drinnen saßen die Menschen
nun beisammen. Mütter besorgten ihre Kleinen und brachten sie zur Ruhe,
Väter verließen das Tagewerk ihrer Hände und traten in den Kreis der
ihrigen. Waren keine Einsamen unter ihnen? Hingen sie alle mit einander
zusammen? Am Himmel hing zerrissenes Gewölk; da und dort leuchtete ein
Stern auf, ja, wenn man näher hinsah, waren ihrer viele, mehr, als man
anfangs dachte. Gertrud ging langsam. Aber es war nicht das mutlose
Schlendern, das sagte: es hat ja doch alles keinen Zweck. Es war, als
ob die Gedanken leise bäten: verscheuch' uns nicht, geh sachte, wir
müssen uns erst besinnen.

So war das? »In die zwölfte Kammer darf kein Mensch eingehen, sei es in
Liebe oder Leid. Sie müssen sich mit den elf anderen begnügen.«

Ach, still, ihr Gedanken. Hatte sie Georg Ehrensperger denn das ganze
Haus übergeben gehabt? Hatte sie ihn auch in die zwölfte Kammer geführt
und gar kein eigenes, ganz eigenes Leben mehr für sich behalten?

Da lag ihre Not. Sie konnte ihm nun nicht weniger geben, als vordem,
und nichts anderes, als ihr Ich. Sie besaß sich selbst nicht mehr.
Er beklagte sich darüber, daß sie anders geworden sei; er verstand
sie nicht. Gott Lob daß er sie nicht verstand. Aber wie waren sie nun
einander fern und fremd. Gott wußte es.

Wußte er es?

Sie tat einen tiefen, tiefen Atemzug. Die zwölfte Kammer. Sie mußte
sie wieder für sich bekommen, sie mußte ja leben, sie wollte es auch.
Noch war es ja Zeit. Noch lag das Leben vor ihr, das durfte sie nicht
versäumen; auch nicht vertrauern.

Sie richtete sich hoch auf. Hatte nicht auch sie jene Stimme vernommen,
die in der großen Einsamkeit redet? Hatte sie bisher gezögert, den
großen Sprung zu wagen, über den klaffenden Riß hinüber? Ja, aber
nun wollte sie nicht länger zögern. Sie wollte versuchen, ernst und
ehrlich, ob es weh tat oder nicht, das Leben zu leben, das vor ihr lag.
Sie wollte in sich hineinhorchen, und tun, was ihr da gesagt wurde.

O Georg. Sie mußte ihn ja dennoch lieb haben. Ja, das durfte sie auch.
Das konnte sie ja nicht anders.

Gott wußte es.

»Großvater, ich habe dich lange allein gelassen. Sei nur nicht böse.
Ach, du und böse! Viel zu gut bist du für mich. Ganz im Dunkeln sitzest
du? Hat dir Marie kein Licht gebracht? Nun bleib' ich den Abend
vollends bei dir.«

Er hörte wohl den frischeren Ton in ihrer Stimme.

»Es ist gut, daß du da bist. Ich brauchte kein Licht, du weißt, ich
kann doch nicht lesen. Auch bin ich nicht allein, wenn ich so im
Dunkeln sitze. Da kommen sie alle zu mir und reden von alten Tagen;
Anne, -- ich meine deine Großmutter, und die andern alle. Aber nun
freue ich mich, daß du da bist, Kind. Komm da her, so -- es ist ein
Trost, dich da zu haben.«

#War# es das? Es tat wohl, so etwas zu hören.




                    Zweites Kapitel


»Horch, -- still, Nössel, ich glaube, -- ja, wahrhaftig, es ist so.
Hast du's auch gehört?«

Meister Nössel hatte es auch gehört. Er nickte eifrig mit dem grauen
Kopf und hielt ihn dann horchend vor.

»Da, noch einmal.«

Dann ging ein zufriedenes Leuchten über seine Runzeln. Er stand vor
dem Rektor Cabisius. Der hatte einen grünen Schild über den Augen;
man konnte nicht sehen, welchen Ausdruck sie hatten; aber der Mund
lächelte, weich und froh. »Daß ich das jetzt grad so mitangehört habe,«
sagte Meister Nössel. »Das freut mich. Das hätte die Judith auch
gefreut, wenn sie noch da wär. Ja, die Judith.

Ich hab' so gedacht: trägst den Schlafrock noch herauf vor
Dunkelwerden. Er hat ein ganz neues Ärmelfutter, Rektor, und da, das
Loch von der Pfeife, das hineingebrannte, das hab' ich unterlegt und
gestopft. Und da hab' ich gedacht: redst ein Stückchen mit dem Rektor,
er sitzt da so allein. Da macht mir die Gertrud das Haus auf, mit ihrem
ernsthaften Gesicht. Nein, sag nichts, Rektor, ich weiß schon, es ist
ihr ein Hagelwetter über ihr Feld gegangen. So etwas merkt man. Was
hat unsereiner denn noch für eine Freude, als das bißchen Jugend, das
um einen herum ist? -- Ja, und sie guckt jetzt immer an einem vorbei,
die Straße herunter, als ob etwas kommen müßte und käm doch nicht. So
auch heut. Aber dann hat sie sich gleich einen Ruck gegeben und mich
freundlich angesehen. -- Daß du wieder froh wärest, hab' ich gesagt.
Aber gesagt hab' ich nichts.

Und jetzt das.«

»Setz dich doch, Nössel. Was stehst du da vor mir? Das hab' ich immer
gewußt, daß sie sich wieder herausreißt. Sie ist ein gesegnetes Kind.
Aber wenn man's dann zum erstenmal wieder merkt, daß es aufwärts geht.
Es ist so still gewesen im Haus, die Zeit daher.«

Und dann schwiegen sie beide.

Da kam es noch einmal. Aus dem Nebenzimmer kam es, und tönte unter
schwatzende Kinderstimmen hinein. Ein kurzes, helles Mädchenlachen.

Das mochte andern Leuten nichts so besonderes sein; aber die beiden
Greise horchten andächtig darnach hin.

Es war ja Gertrud, die gelacht hatte.

Wie auf den ersten Frühlingsgesang der ersten Lerche, so horchten sie
darauf.

»Sie hat die Kinder von den Turmwartsleuten bei sich,« sagte der Rektor.

»Die Frau ist krank, seit der Geburt des Jüngsten, da holt sie sich die
größeren Kinder, so oft sie kann. Und sie lernt und spielt mit ihnen,
und flickt ihnen die Strümpfe und die Kittel.

Aber das alles hat sie seither so ernsthaft getan, sogar das Spielen;
es kam alles wie aus einem tiefen Brunnen heraus. Es war nur, um etwas
zu tun, nur um sich den Tag zu füllen.

Und jetzt hat sie gelacht. Es ist ein Gottessegen.«

Draußen ging der kurze Tag in die Dämmerung über. Es war ein
absonderliches Wetter für den Anfang Dezember. Grauweiße, schwere
Wolken hingen am Himmel, es konnten Schneewolken sein. Aber dabei
strich ein lauer Wind durch die Gassen, und wenn er stillstand, dann
war die Luft schwül, wie vor einem Gewitter.

Nun kam Gertrud herein. Ein pfeifender Windstoß fuhr mit ihr in die
Stube und draußen schlug das Gangfenster klirrend zu. »Ich will die
Kinder fortbringen,« sagte sie.

»Es zieht ein Wetter herauf. Merkwürdig ist das: Morgen ist der zweite
Advent, und heute streiten sich Sommer und Winter in der Luft.«

»Geh' nur.« Meister Nössel saß neben dem Rektor und beide hatten sich
eine Pfeife angezündet. »Wir sind hier gut versorgt, bis du wieder
kommst. Was können wir Alten anders tun, als uns bescheiden? Geh' nur.«

Da zog sie mit den drei Buben ab. Die hatten gestrickte Sturmhauben
über die kurzgeschorenen Köpfe gezogen und trabten, die Hände in den
Hosentaschen, lustig durch das Wetter. Heißt das, der Älteste und der
Jüngste taten so. Der Älteste war ein kräftiger, untersetzter Bub, der
schon den Bücherranzen auf dem Rücken trug und seine Stumpfnase keck in
die Welt streckte. Er machte gescheite Bemerkungen über alles und jedes
und der Jüngste, der sein verkleinertes Abbild war bis zu den etwas
krummen Füßen herunter, sah stolz zu ihm auf und mühte sich, mit ihm
Schritt zu halten. Der mittlere von den Brüdern ging dicht neben der
Patin, und nach einiger Zeit zog er eine Hand aus der Tasche und hielt
sich damit an Gertruds Rockfalten. Er war ein feines, blasses Bübchen
mit versonnenen Augen und etwas zaghaftem Wesen. »Ich weiß nicht, wie
ich zu dem komme, ich weiß gar nicht, wie ich ihn unterbringen soll,«
pflegte Frau Lieselotte zu sagen, wenn sie von ihren Buben sprach. »Er
gleicht weder meinem Mann noch mir im Geringsten, er hätte müssen ein
Mädchen werden, als Bub ist er völlig aus der Art geschlagen.«

Aber gerade diesen Zweiten hatte Gertrud besonders ins Herz
geschlossen. Die Freundschaft war gegenseitig und sie war in letzter
Zeit besonders gewachsen.

»Komm, Leonhard,« sagte Gertrud und nahm die kleine, warme Kinderhand
in die ihrige. »Guck, wie die Wolken fliegen; ganz tief hängen sie
herunter, schier um den Turm herum.«

»Wohin fliegen sie?«, wollte der Bub wissen. Aber das konnte die
Patin auch nicht sagen. »Wir steigen schnell hinauf, von droben aus
sieht man's besser, weit fliegen sie jedenfalls, über die Berge hin,
vielleicht bis ans Meer. Dort kommen sie her; sie werden wieder heim
wollen zu ihrer Mutter.«

»Komm.« Nun strebte Leonhard selber vorwärts, den Brüdern nach, die
schon im Turmeingang verschwunden waren. Man hörte ihre Stiefel
dröhnend poltern, die vielen Stufen der Schneckentreppe hinauf. Er
wollte auch heim zu seiner Mutter. Er hing an der heiteren, raschen,
lebhaften Frau, er konnte es nur nicht so zeigen, er war ein wenig
scheu. Seit sie aber krank war und im Bett lag, stahl er sich hie und
da zu ihr hin und strich über ihre Decke. Da nickte sie ihm dann ein
paar mal zu: »Du bist mein gutes Büble.« Dann war sein Herzlein voller
Glück. Das war früher nicht vorgekommen.

Jetzt waren sie oben. Vater Entenmann stand oben an dem hölzernen
Treppchen. »Leise,« sagte er, »es ist am besten, ihr geht gleich oben
hinauf in eure Kammer. Die Mutter hat's heute schwer gehabt und will
jetzt schlafen. Das Kleine schläft auch.« Da erblickte er Gertrud, die
hinter den Kindern drein kam. Sie sah, daß er Kopf und Schultern ein
wenig schlaff und müde trug und daß sein Gesicht sorgenvoll aussah.

Er nickte ihr zu, ernst und trübe. »Es ist ein Kreuz, es will gar
nicht besser kommen. Wo will das noch hinaus? Ich muß jetzt zum Läuten
gehen; ich wecke sie wieder auf damit; sie hat sich eben zum Schlafen
hingelegt.«

Da kam Frau Lieselottes Stimme aus der Stube; die Tür war nur
angelehnt: »Jammere doch nicht so, Mann. Die Kinder sollen mir gute
Nacht sagen. Herein, ihr Buben.«

Sie traten ans Bett und waren überfroh, daß sie noch hinein durften,
und daß die Mutter aussah, wie sonst, ja, noch ein wenig lachen konnte.
Sie wußten nicht, daß dieses kleine Lachen und jedes arme Wort, das sie
zu ihnen sagte, ein Stück Arbeit sei. Sie sollten es auch nicht wissen.
Sie sollten ihre heitere Mutter sehen, so lang es sein konnte.

»Sie haben schon gegessen,« sagte Gertrud. »Reisbrei mit Zucker
und Zimt,« sagte Ernst, der Älteste und verzog das Gesicht in der
Erinnerung zu einem Lachen, das ihn seiner Mutter ähnlich sehen ließ.
»So? Dann geht zu Bett. Dann wollen wir alle schlafen. Seht ihr's? Das
Kleine schläft schon.«

Sie legte sich müde hin. Da gingen sie auf den Zehen hinaus, aber das
konnten sie nicht verhindern, daß es dennoch polterte, besonders, als
sie die leiterartige Stiege zu dem Verschlag erklommen, in dem sie
schliefen, alle drei.

Droben wehte der Wind durch den engen Raum, rüttelte an den zwei
kleinen, vergitterten Fenstern, die gleich über dem Boden angebracht
waren, suchte sich seinen Weg zwischen den Dachziegeln und Sparren
durch, nahm so recht die Backen voll, huh --, als Gertrud die Tür
öffnete und die Kinder hineinschob. Sie sah etwas bedenklich drein:
hier sollten sie schlafen? Im Sommer hatte sie nie etwas daran
gefunden; es war ein prächtiges Schwalbennest, so hoch oben, weit über
den Glocken. Aber nun; würde es die Schwälbchen nicht fortwehen heut
Nacht bei dem Unwetter? Den Buben kam es lustig vor, auf drei steckten
sie schon unter der Decke, nur die Stumpfnasen und die hellen Augen
guckten heraus. Der Große und der Kleine lagen beieinander in einem
großen Bett, Leonhard allein in einem Gitterbettchen. »Still, der Vater
läutet.« Da rührte sich nichts mehr. Alle vier horchten sie still.

Der Sturm brauste durch die Lüfte, er sang und pfiff und orgelte und
riß die Wollen herum, daß sie angstvoll flogen, flogen wie scheue,
gejagte Vögel. Und dazwischen fand die Glocke ihren Weg. Sie hatte
ihren ganz eigenen, starken Ton in dem großen Konzert, das über das
Städtlein hin hallte. Wie eine einzige Singstimme, die über einem
ganzen Orchester liegt. Gertrud neigte den Kopf horchend vor. Wie
anders läutete der Mann, als vor zwei Jahren noch. Oder lag das an
ihrem Zuhören? »Aus tiefer Not laßt uns zu Gott von ganzem Herzen
schreien.« Hieß so der Choral, den die Glocke in den Sturm hinein sang?
Oder war auch etwas Freudiges dabei? Etwas Starkes, Ausweitendes einmal
sicherlich. Gertrud fühlte es, o das war gut, das war besser als alles
Weiche, Laue. Da fuhr eine Helle durch die Kammer. Unter die Decke mit
den Bubenköpfen, alle drei in einer Sekunde. Aber sie streckten sie
sofort wieder hervor. »Es hat geblitzt.« Ja, das hatte es. Nun kam auch
schon der Donner. Von fern, fernher kam er auf schwerem Wagen gefahren.
Nun war er über ihren Häuptern, da schien er zu bleiben. Wollte er denn
nicht mehr aufhören? War das eine Stimme. Riesenhaft überschrie sie
den Sturm: horchet alle, ihr da unten. Still, wenn ich zu reden habe.
In der Kammer war es dunkel geworden, schon während des Läutens. Aber
nun kam ein Meer von Helle herein, ganze Lichtfluten, die warfen sich
gegen die Wände, und zogen sich wieder zurück, und kamen wieder, hell
-- dunkel -- hell -- dunkel. Und darüber die machtvolle Stimme, vor der
der Sturm zu schweigen schien.

»Dote, komm zu mir.« Leonhard saß mit großen, angstvollen Augen in
seinem Bett. Als sie sich zu ihm herunterbeugte, schlang er beide Arme
um ihren Hals: »Bleib da, bleib bei mir.«

Er barg sein Gesicht an ihrem Hals. Da durfte es auch bleiben. Sie
kniete an dem Bettchen nieder: »So, du kleiner Kerl, komm.« Da sahen
sie miteinander in das Wetter hinein und war keines von ihnen allein
und der blonde Kopf wühlte sich nur fester in die beschützenden Arme
hinein, wenn der Donner stark und neu seine Stimme erhob.

Das war ein Blitzen, grell und hell. Die ganze Stadt und die Berge
ringsum und der Wald, alles lag sekundenlang taghell da. Es wollte
nicht regnen, so tief die Wolken hingen, nur hie und da fielen einzelne
Tropfen, wie schwere, zornige Tränen. Als ob die ganze Natur, wie ein
gescholtenes, trotziges Kind, mit dem Fuß aufstampfe und das Weinen
verbisse.

»Dote, du, hör, ist es wahr, daß der liebe Gott zornig ist und zankt,
wenn es donnert? Ich -- ich fürchte mich ein bißchen.« »Ich auch,« das
kam aus dem großen Bett, in dem die beiden andern Brüder einander fest
umschlungen hielten, aus Not, nicht aus Zärtlichkeit. Unter der Decke
hervor kam es, kläglich und halb erstickt von dem Federgebirge, das sie
sich über den Kopf gezogen hatten.

Dann noch einmal: »Fürchtest du dich auch, Dote? Du?«

Es blieb eine Weile still. Die Buben horchten begierig hin. Aber beim
nächsten Blitzen sahen sie in ein helles, warmes Gesicht.

»Nein, ich fürchte mich nicht. Es ist nirgends etwas zu fürchten.
Zornig? ach nein, das ist er nicht. Er muß nur so laut reden, daß die
Leute auf ihn horchen sollen; sie vergessen ihn sonst und sind selber
so laut. Er ist stärker als alles und größer als alles. Aber man
vergißt es so oft.«

Vergaß sie, daß sie zu den Kindern redete? Sie dachte an ihre eigene
Furcht und Not. Aber sie war ja auch ein Kind, nur daß ihr die Furcht,
die atemraubende, große, ein wenig vergangen war.

»Und mit dem hellen Licht, das er in die Nacht hineinwirft mit seiner
Hand, -- es fährt durch die ganze Welt, schneller als Wind und Wolken,
viel schneller, -- da, habt ihr's gesehen? -- damit leuchtet er in
alles Dunkle hinein und grüßt uns: Nun seid still. Das bin ich. Ich
kenne euch alle, ich weiß von euch allen. -- Seht ihr? So ist das. Da
ist nichts zu fürchten.«

Da waren sie zufrieden. Das durfte der liebe Gott wohl. Er leuchtete
stark in die Kammer herein; eigentlich tat man am besten, die Augen
zuzumachen. Dote Gertrud war ja da, die konnte über alles Auskunft
geben, was die drei Entenmänner betraf. Ernst, Leonhard und Gotthilf
hießen sie, und drunten war noch ein kleiner Bruder namens Johann, den
die Mutter immer Hanselmann nannte. Der liebe Gott würde aber wohl
den rechten Namen wissen wollen. Auch redete er nun schon ein wenig
leiser. Es war aber dennoch gut, den Kopf noch eine Weile unter der
Decke zu lassen. Was mochte es sein, daß er so laut in die Welt hinein
rief? »Dote Gertrud!« Aber sie gab keine Antwort mehr. Sie hatte selber
zu horchen. Sie strich leise mit der Hand über das blonde Haar, das
an ihrer Brust lag, aber ihre Augen sahen in die Weite. Wer will die
Gedanken anhalten, die mit den Wolken fliegen, über die Berge hin,
ins weite Land hinaus? Suchten sie einen, der dort war, etwa in der
Richtung der Tannengruppe auf dem Bühel, die jetzt eben in hellem
Lichte stand, nur weit, weit dahinter? Was mochte er jetzt tun? Wie
mochte es ihm ergehen? Es trieb ihr etwas unruhig das Herz um. Er
hatte dieser Tage geschrieben, an den Großvater und sie miteinander;
er vermißte sie, bat um Briefe, es ging kein froher Ton durch sein
Schreiben hindurch.

Gertrud konnte den Brief fast auswendig. Es stand auch von Lore darin.
»Habt sie lieb um meinetwillen. Gertrud, du, besonders du. Du bist
immer meine Schwester gewesen, mein ganz guter Kamerad. Bleib es uns
beiden. Du bleibst es doch? Ich -- ach es ist von weitem schwer zu
sagen, ich wollte, ich könnte einen Abend bei euch sitzen. Auf der
Truhe, auf meinem alten Platz.«

Ach, wie sollte sie das machen? Wie konnte sie ihm eine Schwester sein?
Das war sie nicht. Nein, sie hatte Lore nicht lieb, sie konnte sich
nicht helfen. Kam es nun wieder? Hob der Schmerz aufs neue sein Haupt?

Hilflos sahen ihre Augen in das Blitzen und Wettern und Toben hinein.

»Ich will ja. Ich will wollen. Es ist, als ob ich in Nesseln griffe,
so weh tut das. Aber worum er mich bittet, das muß ich tun. Ich -- ich
will es versuchen. -- -- --«

»Du Starker, Gewaltiger, Großer, nein, ich will mich nicht vor dir
fürchten, so hart du hereingreifst in mein Leben. Was willst du aus mir
machen? Du mußt es wissen.«

Wie die Wolken flogen vor seiner Hand, wie er allem auf den Grund
leuchtete mit seinem Blitz, wie sein Sturmwind alles Schwüle, Schlaffe,
Weichliche hinausfegte!

»Und hältst doch die Welt an deinem Herzen. Das mußt du, aus dir selbst
heraus mußt du das. Du hast sie gemacht. Auch mich. Ein Recht haben wir
an dich. Du mußt uns Leben schaffen, denn du riefst uns.«

Schwächer rollte der Donner, fernehin zog er und verhallte, leise fing
es an zu regnen und hörte bald wieder auf und es wurde stiller. Es war,
als ob jemand dem geschlagenen Kind, der Erde, die Tränen abtrocknete,
und zu dem Donner und dem Wind sagte: Nun ist es genug, nun laß sie
schlafen. Fernehin zogen die Blitze, ein paarmal noch zuckte es auf,
drüben am Horizont; es war, als würde das Licht weiter getragen, um nun
in eine andere Kammer zu leuchten. Zwischen den Wolken hervor drängten
sich ein paar Sterne, stille, friedlich brennende Lichter der Nacht:
Nun schließt getrost die Augen, ihr Menschen, nun sind wir da und
wachen.

Tiefe, lange Atemzüge. Gertrud kam mit ihren Sinnen in die Kammer
zurück und wurde gewahr, daß Leonhard schwer in ihrem Arm lag und
die Augen geschlossen hatte und schlief, und daß die beiden Brüder,
drüben in dem großen Bett, auch schliefen. O, ihr Kinder. Sie mochte
sich nicht rühren. Wie warm und traut war es, die Ärmchen um den Hals
zu fühlen, wie tief und friedlich kam der Atem aus der kleinen Brust
herauf. Aber nun machte sie sich doch leise los. »Bleib bei mir,« das
kam aus tiefem Schlaf heraus, dann ein Seufzer, nun lag der Blondkopf
auf dem Kissen und schlief weiter.

»Es ist doch schön, wenn jemand 'bleib bei mir' sagt, und wenn es auch
nur ein Kind ist. Und wenn es auch nicht meines ist. Ich will gehen
und Frau Lieselotte gute Nacht sagen, und will ihr sagen, daß ich
mich um die Kinder, -- ach nein, ich will ihr nichts sagen, sie soll
gesund werden und ihren Reichtum behalten; heimgehen will ich und den
Großvater pflegen. Wer ist so gut und liebreich, wie er? Und will für
ihn -- für Georg will ich --«

Da dröhnte das Treppchen von Vater Entenmanns schweren Tritten. »Still,
sie schlafen alle. Ich komme. Das war ein Wetter. Aber nun ist es
vorüber.«

»Ich wollte längst nach euch sehen, aber ich konnte nicht abkommen. Das
Kleine schrie, und die Frau brauchte mich. Es ist ein Leid, Gertrud;
sie trug uns alle, so lang sie gesund war, es gibt keine so frische,
heitere Frau mehr wie sie. Nun liegt sie so da.«

»Sie trägt euch noch immer; sie hat Mut und Vertrauen, das ist es;
das hat sie auch jetzt noch. Sie weiß, daß es uns nicht ziemt, Ihm
Vorschriften zu machen, wenn wir's uns auch freilich manchmal anders
wünschen, als es kommt. Ich wußte nicht, was an ihr ist, ich weiß es
erst, seit sie krank ist.«

Er ließ den Kopf sinken. »Es ist nicht leicht. Und dann das Wetter heut
abend. Das ist so ungewöhnlich um diese Zeit. Er bedeutet sicher etwas
Schlimmes. Es ist nicht genug an dem, was schon ist, es muß noch mehr
kommen. Die Wolken hingen so tief herunter, fast zum Fenster herein. Um
den zweiten Advent, Gertrud. Was sagst du dazu?«

»Was ich sage? Wir sollten es machen wie die Kinder. Du solltest sie
schlafen sehen. Unter Blitz und Donner sind sie eingeschlafen, weil ich
sagte, es sei nichts zu fürchten. Was wissen wir von Zeit und Unzeit?
Ich glaube nicht, daß etwas zur Unzeit über uns kommen kann. Wenn wir
das sicher wüßten, dann bedeutete alles etwas Gutes.« Er mußte sie
ansehen. Als er ihr die Treppen hinableuchtete und der Strahl seines
Lämpchens ein paarmal ihr Gesicht traf, staunte er, wie es ernst und
doch froh war, und wie sie den Kopf und die ganze Gestalt aufrecht
trug, hoch und sicher, und doch so warme, kindliche Augen hatte.

»Ein wenig besonders war sie immer, aber nicht so wie jetzt. Schön
kann man sie nicht heißen,« -- Konrad Entenmann, Flickschuster und
Nachtwächer, hatte so gut wie andere Leute seine besondere Anschauung
über die menschliche Schönheit, -- »das nicht, aber es ist etwas an
ihr. Ich weiß aber nicht, was es ist.«

Er wußte nicht, daß die Freude an ihr Herz getreten war und es leise
angerührt hatte. Die rechte, echte Freude, die nichts bringt, als
sich selbst, die an das Leben glaubt und in sich selber Teil daran
hat, obgleich sie nichts zu besitzen scheint, die aus ewigen,
unversieglichen Quellorten kommt. Noch war sie zaghaft und still, noch
stritt das Heer der dunklen Geister um den Vorrang. Aber zuweilen stieg
sie aus dem Grund der Seele empor und trat bis in die Augen, da kam
ein warmes Leuchten hinein. Da freute sich, wer hineinsah; wie sich
einer freut, der im Tal wohnt, wo noch die Schatten liegen und der hoch
am Berg ein Fenster aufblitzen sieht wie von Feuer, weil die ersten
Sonnenstrahlen darein geflogen sind.




                    Drittes Kapitel


»Streck dich nach vorn aus allen Kräften -- im Zeitstrom, der
vorüberrauscht -- vorüberrauscht, vorüberrauscht -- klapper, klapper
-- nun standen die Räder. Eine hohe Halle, ein Menschengetriebe,
ein Sausen und Brausen von der großen Stadt her, ein einsamer Mann,
der aus dem Wagen stieg und sich hineinwagte in den »Zeitstrom, der
vorüberrauscht.« Fest und still sah sein Gesicht aus. Nun galt es; es
galt, Ernst dahinter zu setzen. Das wollte er auch und nichts anderes.
Aber da fiel es ihm ein, daß ja doch sehr viel schöne Dinge, helle,
lichte Wellen in diesem Zeitstrom seien. Darüber mußte er sich ja doch
wohl freuen dürfen. Also Kopf hoch und die Arme gereckt: komm her, du
reiches Leben.

Nun mußte zuerst eine Wohnung gesucht werden. Er hatte bisher immer in
engen Gassen gewohnt; man denke an Frau Mollenkopfs Stube, und dann
in Tübingen. Diesmal nun sollte es aber etwas anderes sein. Da geriet
er in ein Prachtsgebäude, er mußte allen Mut zusammennehmen, um den
Hausmeister zu fragen: Hier sei ein Zimmer mit gutem -- vorzüglichem
stand auf der Wohnungsliste -- Klavier zu vermieten? und wohin er sich
da begeben müsse? Der Hausmeister führte ihn in den dritten Stock. Frau
Amtsgerichtssekretärswitwe Habermaas. Glänzende, polierte Treppen,
dicke Läufer darauf, farbige Scheiben in den Treppenfenstern. Das
Zimmer oben, das zu vermieten war -- rote Plüschmöbel, große Öldrucke
in breiten Goldrahmen, hohe Alabastervasen mit künstlichen Sträußen
links und rechts von dem geschliffenen Spiegel, der diese Pracht
widerstrahlte. Die Dame sehr majestätisch, dick, so um die vierzig
herum, hatte lockig frisiertes Haar, eine Schmelzgarnitur auf der
Brust, eine goldene Brille auf. »Ah, Musiker, angehender Künstler? Das
trifft sich« --. »Bitte, nein, so dürfen Sie nicht sagen.« Aber es war
nicht aufzuhalten, Georg mußte erfahren, daß die Dame »nahe daran«
gewesen sei, sich gleichfalls »dieser Laufbahn« zu widmen. »Welcher
Laufbahn?« fragte Georg, aber sie sprach schon weiter. Ebensogut hätte
er den Uracher Wasserfall aufhalten können. Das sei ausgezeichnet;
der Herr könne versichert sein, daß sie -- Verständnis und so weiter.
Er wagte nicht, das Zimmer nicht zu nehmen, er nahm es. Aber es war
ihm wind und weh darin. Als sie ging, wurde es besser. Er sah aus dem
Fenster. Da unten wogte der Menschenstrom vorbei; es klingelte, tutete,
schwirrte, es fuhr mit Wagen, Straßenbahnen, Rädern; eine Abteilung
Militär ging vorbei, da, schräg hinüber über den Platz, da war ein
Schilderhaus, ein Posten wurde abgelöst, weiter. Ein großer Brunnen
ließ vielstrahlig seine Wasser springen, schön abgezirkelte Blumenbeete
rings herum, Sonne lag darauf. Irgend etwas rauschte wie von ferne; das
war aber wohl in seinem Kopf, -- »im Zeitstrom, der vorüberrauscht.«

Er wandte sich nach innen. Das Klavier war gut, das war die Hauptsache.
Die Öldrucke hätte er gern von der Wand genommen, aber das wagte er
doch nicht. Die Dame war so überaus imposant, so liebenswürdig sie auch
war. Sie kam wieder und fragte nach seinen Wünschen. Dann: »werden Sie
wohl Stunden geben? Singstunden? Nein? Ah, Sie studieren noch. Wäre
es unbescheiden, zu fragen, was Sie --«, mit sechs Fragen hatte sie
alles aus ihm heraus. Er war machtlos, er mußte es sagen, wonach sie
fragte. Theologie studiert? und umgesattelt? was, um zu komponieren?
-- eine ehrfurchtsvolle Neigung des Kopfs und der Schultern, dann ein
neckisches Lächeln: »Der Herr ist noch nicht verlobt, da kann man
schon« --. Er hätte sie hinauswerfen mögen, aber er sagte mit innerem
Zähneknirschen: »Doch, ich bin, das heißt, beinah,« er stotterte.
Wieder das Lächeln; als verstehe sie alles von ferne. »Aha, und das
hängt dann wohl mit dem Wechsel zusammen?« Da stieg ihm der Grimm doch
bis in den Hals. »Ich bin evangelisch,« sagte er grob. »Bei uns können
die Pfarrer heiraten. Sie sind wohl katholisch?«

Sie sah ihn wieder lächelnd an. »Der Herr hat eine Künstlernatur, das
flammt leicht auf. O, ich verstehe.«

Wenn sie doch nur irgend etwas nicht verstanden hätte. Aber sie
verstand alles. Es war zum davonlaufen. Und das tat er auch. Das war
das erste, was sie nicht verstand, als er nach einem Monat umzog. Aber
sie faßte sich. »So sind die Künstler. Immer Veränderung. Der Herr
will in eine einfachere Gegend ziehen? Ah, ich verstehe, es ist wegen
der Stille. Ja, still ist es hier, in der Mitte der Stadt, nicht. Das
versteh' ich so gut.«

Da konnte er ja ruhig gehen. Er hatte bereits eine neue Stube gefunden.
Draußen lag sie, am Rand der Theresienwiese, vier Stock hoch, frei,
still und mit einem weiten Blick über das Isartal hin, bis ans Gebirge.
Einfache Möbel, aber sauber, einfache Leute.

Die Hausfrau fand er, als er kam, in dem Gemüsekeller, von dessen
Ertrag sie lebte, umgeben und umhangen von Rot- und Weißkraut, Zwiebel-
und Knoblauchkränzen, Rettichen, Tomaten und allerhand Rüben. Da
saß sie, rund, rot und frisch glänzend, wie eine Schnecke in einem
Salatboschen und strickte an einem Strumpf. Viele Worte verlor sie
nicht. »Emerenz,« sagte sie und drehte den Kopf ein wenig, »Emerenz,
zeig dem Herrn den Weg. Er hat das Zimmer gemietet.« Da fand es sich,
daß noch ein lebendes Wesen in dem Raum war, sozusagen ein junges
Schnecklein, das in einer andern Falte des Salatboschens gesessen war.

Es war ein schmales, schlankes, bräunliches Ding von vielleicht elf
Jahren, hatte das Ende eines schwarzen Zopfs im Munde und ergriff einen
Schlüsselbund. Mit diesem rasselte sie einladend.

Dann stiegen sie mitsammen hinauf.

Als sie oben waren, steckte der Schneider, der auf dem gleichen
Boden wohnte, den Kopf heraus. »Na, Emeritz, vermietet?« Sie lachte
vergnügt. Sie war nicht im mindesten scheu. Das Zimmer war zwei Monate
leer gestanden und daran hatten ihre Freunde, die Schneidersleute,
teilgenommen. Das war eine Sache von Wichtigkeit. Der neue Herr war
hier nicht so beklommen, wie bei Frau Habermaas. »Emeritz, sagen Sie?«
»Ja.« Der Schneider lachte. »Ist sie nicht grad so 'n Vögelchen? Ich
streu' den Emeritzen den ganzen Winter Futter hinaus, da kommen sie
immer an mein Fenster. Aber ich sag' sie ist auch so. Sie ist so
leicht und flink und hüpft so und hat so schwarze Augen, alles wie ein
Emeritz. Ha ha.« Dann schlug er die Tür zu, machte sie aber gleich
nochmals auf: »Wünsch' gute Angewöhnung.« Ja, das kam dem neuen Herrn
selbst so vor, als ob er sich gut angewöhnen würde. Emerenz war schon
drin. Sie ging auf knarrenden Stiefelsohlen, deren Musik ihr offenbar
Vergnügen zu machen schien, hin und her, tat rasch und leicht die
kleinen Dienste, die der Einzug verlangte. Dann nahm sie den gläsernen
Wasserkrug und ging, ihn zu füllen. Krach, flog die Stubentür und dann
die Glastür zu. »Das,« dachte der neue Herr, »muß ich ihr abgewöhnen.«
So, schon wieder erzieherisch? Er mußte lachen, als es ihm einfiel.
»Ich hätte Schulmeister werden sollen.« »Ja, das kannst du ja noch.
Du kannst ja nun Musiklehrer werden,« sagte sein Inneres. Aber da
schüttelte er sich. Sein eigener Musiklehrer fiel ihm ein, ein ganz
feiner, vornehmer Musiker; der war zerschunden und verbraucht vom
Stundengeben. Immer wieder von vorne an, Tonleitern und Fingerübungen.
»Nein, das könnte ich nicht.« Das sagte er laut. Er wußte ja, was er
wollte, zuerst und vor allem komponieren. Damit hatte er ja schon
begonnen. Aber ob es damit allein ging? -- »Ach, zum Donnerwetter,
muß denn immer irgend ein Zweifel sein?« Da ging er ans Klavier und
öffnete es. Noten hatte er noch nicht da, aber das tat nichts. Er mußte
sich nur ein wenig Luft machen und mitten in den breiten Akkorden,
die er versuchsweise anschlug, kam ihm eine kleine, hüpfende Melodie
zwischen die Finger. Er mußte lachen. Das war Emeritz. Er beschloß, sie
auch so zu nennen, der Name gefiel ihm. War sie nicht mehr da? Doch,
da stand sie, mitten in der Stube, und horchte. »Hör einmal. Weißt du,
wer das ist? Das bist du.« Da riß sie die Augen mächtig auf. »Ich? bin
ich denn im Klavier drin?« »Ja, du, da ist die ganze Welt drin, die
will ich nach und nach herausholen.« Ha ha. Der neue Herr, das war ein
»gspassiger«. »Ist denn die Mutter auch drin? und der Schneider? holen
S' den auch einmal heraus.«

Da holte er den auch. Er war ein großer, starker Mann, mit einem
Körper wie ein Schmied, aber mit einer weichen, hohen Stimme und einem
Schelmengesicht, grauem Haar und Stoppelbart. -- Sieh, da schritt er
über die Tasten, schweren Schrittes und stolperte ein wenig, -- »ist
sie nicht wie ein Vögelchen?« sagte er. Emeritz war außer sich vor
Vergnügen. Das konnte lustig werden. Wupp, war sie draußen, knallte die
Tür zu, dann hörte Georg sie drüben. Der Schneider wohnte Wand an Wand
mit ihm. Sie redete eifrig. Dann kamen verschiedene Schritte, schwere
und leichte. Und als es klopfte -- herein -- da stand Emeritz und lud
mit einer Handbewegung ein. »Das gibt ein Gaudi,« sagte ihr Gesicht.
Da stand der Schneider und zwei Buben drängten sich neben ihm in der
Türöffnung, und hinter ihnen sah ein dünnes, spitzes Gesicht hervor.
Was? Die Spitalbäbel von Wiblingen? Nein, doch nicht. Aber so ähnlich.
Jungfer Roggenbart, die Patin der Buben; sie hielt ein zerrissenes Hemd
in der Hand und hatte den Fingerhut auf. Sie war am Flicken.

Na? Georg war doch etwas überrascht. Fing das so an? Das war doch ein
wenig --. Aber da sah er, wen der Schneider in den Armen hielt. Ein
Bübchen, so um sechs oder acht Jahre herum, blaß und elend, der Kopf
lag an des Vaters Brust und die Augen, -- weitoffen und glanzlos -- er
war blind.

»Ach, verzeihens, aber die Emeritz, ha ha, sie hat gesagt, -- es ist
aber doch gar zu keck, -- der Herr, der hole uns alle aus dem Klavier
heraus. Ha ha. Da hab' ich gedacht -- der Bub, der Theodor, das ist
sein Leben, wenn er Musik hört. Er ist mein Jüngster und das Weib ist
gestorben.«

Ja, natürlich durften sie hereinkommen. Sie sollten nur alle Platz
nehmen, das sei dann die Einweihungsfeier. Da kamen sie, Jungfer
Roggenbart machte tausend Komplimente, schließlich aber saß sie auf
einem Stuhl und versuchte sich noch dünner zu machen, so, dachte sie,
nehme sie wenig Platz weg.

Aber dem Herrn war es nun plötzlich nicht mehr um eine Spielerei
zu tun. Das blinde Kind, und dann die kleine Gemeinde, die da so
selbstverständlich saß, war das ein Zeichen, daß er nun dennoch den
Geringen, Armen dienen solle, er mochte tun, was er wollte? Es schien
ihm plötzlich so. Den Kindern an Jahren und den Kindern am Gemüt. Wie
hatte er, damals im Wald, zu Lore gesagt? »Auch die Kunst hat ein
Priestertum. Auch sie vermittelt das Göttliche an die Menschen.« -- O
du Pfarrer, hatte Lore gesagt.

Da nickte er ihnen rasch zu, warm und freundlich, und spielte ihnen
vor, was ihm einfiel, eine Haydnsonate, und dachte nicht, daß sie
das am Ende nicht verstehen könnten. Als er sich einmal flüchtig
umsah, sah er in andächtige Gesichter und spürte einen guten Geist
des Aufhorchens, der belebte ihn sehr und er nahm mit ihnen die
kinderreinen Töne in sich hinein.

Sie sagten nichts, als er geendet hatte, aber er sah, daß ein
feiertägiges Gefühl in ihnen war und daß das blinde Kind ein feines
Rot auf dem Gesicht hatte, das ging spielend auf und ab und bis unter
das blonde Haar. War es etwa nichts, ein solches Rot der Freude in ein
solches Gesicht zu bringen? Ja, das konnte er fühlen: dies war ein
guter Anfang. Möchte er nur immer so offene Zuhörerschaft haben, auch
wenn er etwas Eigenes zu geben hatte.

       *       *       *       *       *

Sie gaben ihm viel damit, daß sie von ihm nahmen.

Wenn ein schwerer, reicher Mensch seine Fülle mit sich herumträgt:
Gedanken und einen Widerhall von der großen Weltharmonie, dann kann ihm
nichts Besseres widerfahren, als daß eine hungrige Menschenseele --
oder ihrer etliche -- sich, bereit und herzlich willig zum Empfangen,
vor ihn hinstellt: Nun tu dich auf und laß regnen, denn ich bin ein
dürres Land, das des Segens bedarf.

O, wer von uns fordert, der gibt uns überschwenglich viel. Gemeinschaft
gibt er uns, und Teil an der Menschheit, deren Glied wir sind, und Teil
am Leben, dessen Kind wir sind. Das alles geben sie ihm, der vergeblich
versuchte, mit Seinesgleichen Verkehr, verstehenden Umgang zu pflegen.

Nach den Besten unter denen, die mit ihm desselben Weges gingen,
verlangte es ihn je und je. Aber es war wohl seine Art so, sein
Schicksal oder wie man das nennt: er konnte sich gerade ihnen nicht
aufschließen.

Er hatte gedacht in das gelobte Land der Gleichstehenden,
Gleichempfindenden zu kommen, als er nach München ging. Da spukte
noch das Bild herum, das ihm Hollermann einst gezeichnet hatte: ein
aufgetanes Tor, durch das sie alle schritten, bärtige Männer und
Jünglinge. Und alle, alle machten Musik. Den ganzen Tag nichts anderes.

Ja, Musik. Aber er war in seinem Leben noch nicht so allein gewesen,
als gerade unter ihnen. Das lag wohl an ihm selbst. Aber darum war es
doch so.

Er nahm ein paarmal einen Anlauf.

Einmal, im Winter, fing er an, sich, schüchtern zuerst, dann nach und
nach mutiger, an einen Lehrer anzuschließen. Der war ein feiner Musiker
und ein feiner, verstehender Mensch, der ermutigte ihn und lockte
allerlei Zutrauliches und allerlei von dem, was ihn schaffend bewegte,
aus ihm heraus. Zweimal besuchte ihn Georg; das dritte Mal wurde er
abgewiesen. Der Professor lag krank: überreizte Nerven. Dann reiste
er ab, irgendwo nach dem Süden für längere Zeit. Da war Georg wieder
allein.

Einmal faßte er sich ein Herz und lud drei Mitstudierende in sein
Zimmer ein. Emeritz machte die Hausfrau und trug das kalte Nachtessen
auf. Nachher saß sie auf einem Schemel und hörte zu. Ihr Herr spielte
wunderschön, sie wußte, daß er das selber gemacht habe, was er spielte.
Es wäre vielleicht besser gewesen, er hätte nur einen eingeladen,
oder wenigstens nicht den großen, rotbärtigen Schweizer dazu, der
mit gekreuzten Armen am Fenster stand und so merkwürdig lächelte.
Aber gerade zu dem hatte er so einen besonderen Zug. Er fühlte aber
wohl seinen Blick auf sich ruhen, so überlegen oder wie es war. Denn
er verwirrte sich, fing an, zu hasten, um fertig zu werden, spielte
schließlich so seelenlos, sprang dann auf: Ich bin nicht in der
Stimmung, es geht nicht. Dann, unter dem Zwang der ruhig-verwunderten
Blicke des Schweizers nahm er sich zusammen und spielte zu Ende.

Nachher, als sie fort waren, -- sie hatten noch heftig gestritten --
saß Georg am Tisch und sah stumm vor sich hin. Emeritz ging hin und
her, räumte ab, blieb wieder wartend stehen. Dann sagte sie: »Heut hab'
ich was gesehen, was Feines.«

»So? Was denn?« Er sagte es gleichgültig.

»Halt eine Prinzessin in einem rotseidenen Kleid, wissens, drüben in
dem Wachsfigurenkabinet. Sie kniet am Boden und ein Räuber steht vor
ihr und will sie totschlagen. Sie sieht dem Fräulein Lore gleich, bloß
daß das Fräulein Lore lacht und die Prinzessin lacht nicht.«

Das hätte ein andermal gezogen. Sie führten hie und da Gespräche über
Lore, deren Bild auf einer braunen Holzkonsole stand, Freude und
Lebenslust in den Augen, Sonne in dem ganzen Gesicht.

Heut sah er nur flüchtig auf. Wie konnte man so strahlend aussehen?

Also das war nichts gewesen.

»Der Theodor hat eine Mundharfen 'kriegt,« setzte Emeritz wieder an.
»Er hat gern blasen wollen, so arg gern. Er kann sie aber nicht halten,
seine Händ zittern so. Jetzt weint er und hat doch keine Augen. Armer
Tropf du, hat der Schneider zu ihm gesagt.«

Da stand er auf und holte das Büblein herüber. So tat er hie und
da. Er gab ihm ein Lied und lehrte es zuhören und freute sich, wenn
er das lichte Rot der Freude entstehen sah und es störte ihn nicht,
wenn ein paarmal die Tür knarrte und noch eins hereinkam. Er, der die
reiche Welt hatte ans Herz nehmen wollen, war froh, wenn er ein paar
Menschen fand, die er an der Hand nehmen und sie an den »Zeitstrom,
der vorüberrauscht« führen konnte: »Da, hört ihrs? nun horchet mit mir
hinein.« Und obgleich sie nichts von der Kunst wußten oder verstanden,
empfingen sie doch eine Ahnung von dem großen Rauschen, das unter der
Oberfläche hingeht. Das war ja auch etwas.

       *       *       *       *       *

Frühling, kurz nach Ostern. Er war in einer Hauptprobe gewesen, Bach,
ein Orgelstück, dann eine Kantate: »Liebster Gott, wann werd' ich
sterben.« Er war voll davon. Den Klavierauszug trug er unter dem Arm.
Als er an der Glastür war, zögerte er. Dann machte er die Tür zu der
Schneiderswohnung auf. »Willst du etwas hören, Theodor?« Das wollte
er immer, das war keine Frage. Aber da war auch der Vater und die
drei andern Buben und da war Jungfer Roggenbart, die saß und flickte
Strümpfe. -- Heut sei der Mutter Todestag, sie seien alle in der Kirche
gewesen. »Ja, dann kommt nur alle mit herüber.«

Das paßte denn auch vorzüglich für heute. Nicht der Text allein --
er sang ihn -- die ganze Musik handelte von Sterben und Auferstehen.
Aber doch mehr vom Auferstehen. Da lagen die Gräber um die Kirche
her, Orgelton kam heraus, aber hier draußen war es auch lebendig.
Vögel sangen in den knospenden Zweigen, ein Wind wehte hindurch, es
war sicher ein Tag gemeint, wie heute, um Ostern herum. Das lag alles
in der Musik, das spürten sie, sie hätten es nicht sagen können. Das
lag darin, daß das Leben über den Tod siege. Es war etwas Festliches;
es war wie in der Kirche und doch wieder nicht. Es gehörte ihnen so
zu eigen, es schwebte nicht in Weihrauchwolken hoch oben, es war hier
in der Stube. Es war ihr eigener Herr, der es spielte. Ja, so weit
waren sie schon gediehen, daß sie Beschlag auf ihn legten in aller
Bescheidenheit und Stille, ohne daß er es wußte.

Im Vertrauen und untereinander gesagt, es kam ihnen ein schönes,
festliches Leben vor, das er führte. Wenn er nicht so gut und
freundlich gewesen wäre, sie hätten es ihm kaum gegönnt. Sie mußten
alle tüchtig arbeiten; er aber, wenn er morgens aus dem Haus ging,
hatte er Notenhefte unter dem Arm und wenn er heimkam, machte er auch
Musik. Saß er aber still über seinen Büchern, so wußten sie, daß
sie ja auch davon handelten, und -- ja, manchmal las er in dicken
Notenbüchern, wie andere Leute im Gebetbuch. Emerenz wußte es, die war
ja am meisten um ihn. So eigentlich geschafft war das nicht. Aber wie
gesagt, sie hielten doch viel auf ihn. Abends war er viel aus. Da hörte
er wohl auch Musik? Dann, wenn er heimkam, ging er oft noch lang in
seiner Stube hin und her, hin und her, das konstatierten sie von rechts
und links. Aber warum er es tat, das wußten sie nicht.

Jungfer Roggenbart saß und hatte die Hände gefaltet, denn nun ging
das ganze in einen Choral aus. Da ging draußen die Vortür. Emerenz
drehte rasch den Kopf. War sie denn nicht geschlossen? Nein; da wurden
Männertritte hörbar, jemand räusperte sich, putzte die Füße ab, dann
klopfte es. Natürlich, der Herr hörte nichts, er sang und spielte aus
Leibeskräften. Der Schneider übernahm es »Herein« zu rufen und alle
hoben erwartungsvoll die Köpfe. Aber als die Tür aufging, da brach
ihr Herr auch das Spiel ab, kurz und rasch. »Fritz Hornstein, du, --
Mensch, -- da steht er auf einmal.« Er hatte eine Reisetasche umhängen
und hatte den großen Filzhut in der Hand. Er sah so kurzsichtig auf die
Leute, die Brillengläser waren überlaufen, als er ins Zimmer trat; er
nahm die Brille ab und putzte sie. Dann, als er wieder sehen konnte,
lachte er mit Mund und Augen. »Du hältst also hier bereits Konzerte?
Das geht schnell voran, muß ich sagen. Oder -- oder habe ich eine
andere Versammlung gestört? Ja, jetzt seh' ich's: Du hast es nicht
ertragen können, daß du der Theologie den Abschied gabst und fängst nun
hier auf eigene Faust an -- --,« »ach laß doch, Fritz. Ich habe diesen
Leuten etwas vorgespielt, das ist alles. Es sind gute Leute, feine, sie
sind fast wie bei uns daheim.«

Das war ein hohes Lob, das sah Fritz Hornstein ein.

»Ja, dann laß dich nicht stören. Da ist noch ein Sitzplatz, ich höre
zu.« Aber es war gerade aus. Der Schneider nahm sein Büblein auf den
Arm, und Jungfer Roggenbart knixte und dann bekam Fritz Hornstein von
allen einen Händedruck, eh' sie gingen. Zuletzt stand noch Emeritz
da und machte fragende Augen. Sollte sie das Nachtessen nun dennoch
bringen? Es stand schon in der Küche bereit, Tee pflegte Georg sich
selbst zu machen.

»Komm her, Emeritz. Siehst du, Fritz, das ist ein verzauberter Vogel,
den hab' ich mir eingefangen, er trägt mir alles, was ich brauche, im
Schnabel herbei. Es ist ein Emeritz. Sieht man's nicht an den Augen?«
Emeritz lachte. Der Gast auch. »Ja, und am Gezwitscher, da kann man's
auch merken.« »Sie leiht mir ihre Ohren, so oft ich's brauche; sie
kann kritisieren. Mit einem einzigen Seufzer kann sie alles sagen,
was sie ausdrücken will, wenn sie mir zugehört hat, je nachdem es ein
bedauerlicher, entzückter oder unzufriedener Seufzer ist. -- Bring
Wein, Emeritz. Ich habe ein paar Flaschen Remstäler, sie haben ihn von
daheim geschickt.« Dann waren die Freunde allein.

»Also so betreibst du deine Studien? Volkskonzerte?«

»Nein, jetzt sei ernsthaft, du. Ich freue mich, daß du da bist. Bist du
für länger hier?«

»Für fünf Tage, dies ist der dritte. Ich habe, um es gleich zu
sagen, eine kleine Erbschaft gemacht, siebenundvierzig Mark, nachdem
die Sporteln abgezogen sind. Nun bin ich daran, sie sofort wieder
hinauszubringen. Die Mühe ist nicht so groß, es ist bald geschehen.«

Ja, das wollte Georg Ehrensperger gern glauben. Siebenundvierzig Mark,
-- er wußte, wie das Geld hier in München davonlief, obgleich er nicht
großartig lebte.

»Nein, das ist so: Ich bin Vikar bei einem uralten Pfarrherrn mitten
im Schwarzwald, drei Filialdörfer und jedes zwei Stunden vom andern
entfernt. -- Nicht ganz zwei Stunden, -- aber doch, man sieht und hört
da nichts von der Welt. Man gibt und gibt aus, den ganzen Winter lang
-- Unterricht, Krankenbesuche -- schließlich war ich so ausgebeutelt
wie ein leerer Mehlsack und ging ganz trübselig einher. Vorigen Herbst
noch in Tübingen und nun so. Da regt und rührt sich nichts Geistiges.
Von was kann man mit den Leuten reden? Und dann, mein alter Herr.
Mensch, wie lang ist das her, seit er jung war. Da hatte der aber eine
Idee.

'Sie sollten ein bißchen hinaus, Herr Vikar,' sagte er. 'Nur ein paar
Tage. Etwas sehen und hören. Sie werden mir sonst mauderig.' Ich --
Käfig auf und hinaus. Der alte Herr war einst auch hier in München,
als er noch jung war. Er taute plötzlich auf, als er darauf zu reden
kam. Alles lag in wohlverschlossenen Schubladen in seinem Gedächtnis
aufbewahrt. Nun zog er eine um die andere auf. Ich sage dir, er wurde
ganz jung. Ich freue mich geradezu, bis ich es ihm wieder erzählen
kann, was ich nun sehe. Ich glaube fast -- im Vertrauen gesagt -- man
bildet sich das so ein bißchen ein, daß unsereiner mit den Alten nichts
anzufangen wisse. Schließlich waren sie doch auch einmal jung, nicht?«
Aber Georg Ehrensperger hatte noch nie gemeint, daß mit den Alten
nichts anzufangen sei. Davor war der Rektor Cabisius gewesen, und --
und die andern alle. Er war eher ein solcher, der mit den Jungen nichts
anzufangen wußte.

»Und du,« fuhr der Gast fort, »seit ich nun hier so herumstreife,
geht mir's sonderbar. In all' dem Gewimmel und Getriebe seh' ich mein
stilles Dörflein vor mir. Ganz anders als vorher. Als ob mir hier erst
die Augen aufgingen, -- wie es so daliegt in seiner Wälderstille. Und
alles ist so einfach und so lebendig. Wie aus dem Boden gewachsen.
Und dann, meine Konfirmanden, es sind helle, aufgeweckte Kinder
darunter. Heut, vor mehr als einem Bild, dachte ich, -- ich war in
beiden Pinakotheken, -- da möchtest du deine jungen Leute hinführen.
So gänzlich unverbildet wie sie sind. Da merkte ich an mir, daß doch
etwas herüber und hinüber geht zwischen ihnen und mir. Ich habe nicht
für mich allein genossen; immer fiel mir jemand ein, dem ich dies und
jenes erzählen wolle, wann ich heimkomme.

Jetzt sag: Bin ich doch schon verbauert? Oder was ist es? Denn ich
glaube, ich freue mich ja wahrhaftig wieder auf mein kleines Nest, so
sehr ich alles genieße.«

»Verbauert? Du? Beneiden könnt' ich dich. Ich, wenn ich dabei geblieben
wäre, -- eine kleine Landgemeinde, nichts anderes. Ich sage dir, das
sogenannte geistige Leben in den Städten, na -- ich kann wohl nicht so
mitreden; ich bin immer meine eigenen Wege gegangen.«

»Das bist du. Aber nun von dir, Joseph, Träumerseele. Erzähl' mir von
dir, was du schaffst, lebst, liebst. Erzähl' mit von deinem Schatz,
deiner Gertrud. Ich freue mich, daß sie zu dir gehört. Ich weiß nicht,
ob ich sie einem andern gönnen möchte. Am Hausweihfest, da hatte
ich meine Freude an ihr. Ich dachte: der Ehrensperger, der ist ein
Glückskerl. Das geht so sicher neben ihm her, und wenn er hie und
da -- du nimmst mir das nicht übel -- davonläuft und nach farbigen
Schmetterlingen hascht -- dann ist es immer für ihn da, wenn er
zurückkommt. So hat's nicht jeder.

Mensch, was machst du für ein Gesicht? Hast du eine Erscheinung? Was
ist mit dir?«

Gradaus sah Georg Ehrensperger und seine Augen weiteten sich.

War ein Blitz vor ihm niedergefahren? War er bisher blind gewesen?
Gertrud -- Gertrud? War sie nicht seine Schwester? Nicht sein bester
Kamerad? War es möglich, daß sie --? Ach nein, das war es nicht. Oder?
Sie war nicht mehr die Alte und er hatte sich viele Gedanken darüber
gemacht. War es das? Um Gottes willen. Er atmete hastig auf. Nein --
doch? »Nein.«

Das sagte er laut. Er zwang sich zum Lachen. Er lachte hart und kurz
auf.

»Diesmal hast du doch nicht recht gesehen, Alter. Gertrud und ich
sind wie Geschwister. Sie ist -- wir sind nichts weniger als verliebt
ineinander. Ha--ha. Und kurz -- ich bin -- ich dachte, du hättest das
gemerkt, mit Lore Maute verlobt, so gut wie verlobt. Ja, eigentlich
kann man wohl so sagen. Ich sage es dir, es ist ja natürlich noch in
weitem Feld.«

»Was?« -- Der Gast war unsäglich verblüfft. Er konnte es nicht gleich
verbergen. Lore? Er kannte sie, das heißt, so flüchtig. Er hatte schon
mit ihr getanzt und gelegentlich ein wenig gescherzt. Lore? Ja, aber
dann --. Er konnte es nicht lassen, er pfiff leise zwischen den Zähnen.

»Nun, dann verzeih',« sagte er trocken. »Das habe ich freilich nicht
gewußt.« Und sonst sagte er nichts.

Da fing Georg Ehrensperger an, eifrig von seinem Leben und von seinen
Studien zu erzählen. So still er vorher gewesen war, so lebhaft wurde
er nun. Als sollte weder ein Wort noch ein Gedanke mehr dazwischen
fallen.

»Das heißt geschafft,« sagte er, »kann ich dir sagen. Vom Morgen
bis zum Abend. Üben, üben, üben. Dann Tonsatz, Kompositionslehre --
Selbststudium, so viel dazwischen Platz hat. Abends Konzerte, Opern.
Aber es geht mir anders damit, als ich dachte. Mensch, es kann nichts
Neues mehr geben. Es ist alles schon da. Größer, gewaltiger, als es
noch einer sagen kann. Manchmal ist es mir, als ob das alles, was ich
in mir selber hatte, in graue Fernen entschwände. Wo ist es? Was war
es nur? Und was bin ich selbst? Ein Zwerg bin ich, der vor lauter
Riesen steht.

Als ich noch ein halbwüchsiger Bub war, dann ein Student, da war es
mir, als ob ich Erd' und Himmel in mir trüge und es alles klingen
lassen könne. Dann fand ich Lore -- und sie mich. Da war alles Jubel
und Reigen. Nun muß ich mich da hindurchbeißen, durch all' das Fremde,
und dann versuchen, ob mir noch etwas Eigenes bleibt. Aber,« er
straffte sich unwillkürlich, »das will ich auch.«

Er sah flüchtig nach dem Nebentisch hinüber. Dort lag eine dicke Mappe.
Sprach sie nicht laut davon, daß er es tat?

Sein verschwiegenstes Schaffen war darin, aller Jubel und alle Angst
und alle auffahrende Ungeduld, alle Hoffnung und alles Streben.

Dort lag die Mappe und rührte sich nicht. Nein, er wollte lieber nichts
von ihr erzählen.

»Das will ich auch,« sagte er nochmals, wie um sich selber zu
vergewissern.

»Sie sagen alle: ohne ernstes Studium geht es nicht, ohne Lehrer
auch nicht. Also. Obgleich es mir oft ist, als ob es mich arm mache
und leer. Denn das ist ja nicht meines, was ich treibe, das ist
das der andern. Dann geh' ich einen Tag lang fort, hinaus, auf den
Starnbergersee, nach Nymphenburg, in den Wald, irgendwo, wo ich mich
auf mich selbst besinnen kann. Dann hör' ich es wieder von weitem.«

Er sprach unruhig, erregt, so, als ob unten in seiner Seele ein starker
Wellenschlag wäre. Es wetterleuchtete in seinen Zügen von Glück und
Not.

Und Fritz Hornstein sah ihn an und mußte ihn liebhaben trotz seiner
Enttäuschung mit Gertrud Cabisius.

Einen Augenblick überlegte er auch, ob er nun nicht die Einladung des
Rektors annehmen solle, ihn und die Enkelin einmal zu besuchen. Nun
konnte er ja ruhig hingehen, er kam dort niemand ins Gehege. Aber dann
schüttelte er den Kopf: »das ist keine von denen, die den Gegenstand
vertauschen.«

       *       *       *       *       *

Als die Freunde auseinandergingen, war es spät in der Nacht. Sie waren
schließlich im Dunkeln gesessen.

Nun, als er allein war, zündete Georg die Lampe an und holte ein
kleines Bündel Briefe hervor. Nur ein kleines. Sie waren von Gertrud
und sie hatte nur selten geschrieben. Lorens Briefe lagen daneben;
viele kleine, leichte Blätter, oft nur halb beschrieben, hellfarbiges
Papier, ein schwacher Duft von Maiglöckchenessenz kam ihm entgegen.
Zwischen den zierlichen und oft ein wenig hüpfenden Buchstaben sah ihm
ihr helles, lachendes Gesicht heraus.

Gertruds Briefe, ihre festen, weißen Bogen mit den klaren, geraden
Schriftzügen, lagen so schlicht dabei.

Warum konnten sie nur nicht mehr miteinander gehen wie in der
Kinderzeit, alle drei? Da stieß er die Schublade zu, daß die Lampe
klirrte und setzte sich an den Tisch, um zu lesen.

Und wie er las, ein Blatt ums andere, da war es ihm, als ob er Gertrud
von weitem sähe, wie sie abschiednehmend grüßte und mit der Hand
winkte: nun ist es alles aus und vorbei.

Er versuchte, es nicht zu glauben, was Fritz Hornstein gemeint hatte.

Es waren ja so herzlich einfache Briefe. Sie fragten nach seinem Leben
und Schaffen, zart und ohne zu drängen. Dann erzählten sie vom Rektor
Cabisius, daß er nun fast blind geworden sei, aber aus seiner reichen,
inneren Welt heraus so viel sonniges, liebreiches Leben spende, und
dann einiges von Gertrud selbst. Das heißt von dem, was sie arbeitete
und las und ein weniges von dem, was sie drüber dachte und von dem sie
meinte, daß es ihn beschäftigen könne. Und immer etwas, das ihm Mut
machen sollte.

Aber wenn er die Briefe zum zweitenmal las, dann war es ihm, als ob
jeder Satz etwas verhalte, etwas Unausgesprochenes. Als ob die rechte
Hand geschrieben und die linke vorsichtig eine wunde Stelle beschützt
hätte, die keine Berührung vertrage. Da senkte sich eine schwere,
bittere Traurigkeit auf ihn. Er hörte die Betglocke auf dem Wiblinger
Kirchenturm und sah die Lichter hinter den Scheiben brennen und wußte,
daß er nach Hause mußte und konnte doch nicht.

Bitterlich kam da das Heimweh über ihn.




                    Viertes Kapitel


Als das zweite Jahr in München um war, bekam Georg die Nachricht, daß
seine Schwägerin gestorben sei.

Da kaufte er sich einen schwarzen Filzhut, ein Florband um den Ärmel
und eine Fahrkarte nach Hause.

Er war ihm um Franz. Der hatte ja doch niemand als ihn. Er empfand auf
einmal mit Macht den starken natürlichen Zusammenhang mit ihm.

Aber als er ins Haus trat und in die Ladenstube, fand er da schon
einige Leidtragende: den Müller Hensler und zwei schwarzgekleidete
Frauen -- Lore und ihre Mutter. »Lore, du?« Sie ließ das Kuchenmesser,
mit dem sie eben hantiert hatte, fallen und drehte sich rasch um. »Du
-- o -- Georg -- wir hatten dich erst heut abend erwartet -- o --«
Da umschlossen sie schon seine Arme. »Still.« War sie noch schöner
geworden? In dem schwarzen Kleid sah sie so groß und schlank und
vornehm aus. Da kam Frau Maute heran. Sie hatte eine breite Schürze aus
Trauerkattun an und etwas aus schwarzem Krepp gemachtes auf dem Kopf
und ihr Gesicht drückte eine Mischung von feierlichen, traurigen und
angenehmen Gefühlen aus.

Sie war mit einem Plan hierhergekommen, den sie gleich nach der
Beerdigung dem jungen Witwer zu offenbaren gedachte. Vorderhand zeigte
sie durch die Tat ihre verwandtschaftliche Gesinnung für Franz, indem
sie geschäftig hin und her ging, dem Müller Hensler einschenkte,
die Blumenspenden der Wiblinger in Empfang nahm, hie und da eine
Nachbarin in die Totenkammer führte, in der die junge Frau lag, die
einst so rührig hier herumgewirtschaftet hatte, und indem sie hie und
da ein Federchen oder Härchen sorgfältig von Franzens schwarzem Rock
entfernte, das etwa daran hängen geblieben war.

Alle diese Taten vollbrachte sie unter vielen und mütterlichen
Reden, die sie in etwas kläglichem Ton hervorbrachte, denn sie hielt
denselben für am Platz und passend bei dieser Gelegenheit. Auch hatte
sie für Zwei gerührt und bewegt zu sein, da Lore sich ganz natürlich
und anmutig betrug als ein Wesen, das durch sein bloßes schönes und
erfreuliches Dasein genug zum Trost der betrübten Menschheit beiträgt.

»Gelt, du wunderst dich, daß wir da sind?«

Sie lehnte sich an Georg und sah ihm in die Augen.

»Sag etwas; du bist ganz verstummt.«

Ja, er hatte sich im ersten Augenblick gewundert, wie man sich im Traum
wundert, daß etwas plötzlich da sei, das man fern glaubte. Aber er war
froh genug, daß sie da war.

Alles zweifelhafte, unruhige Denken, das ihn in letzter Zeit oft
gequält hatte, wenn er an sie dachte, verstummte vor ihrer leiblichen
Gegenwart.

Aber als er nicht gleich etwas sagte, hielt es Frau Maute für
angezeigt, eine Erklärung zu geben.

Sie klopfte Franz, der im Großvaterstuhl saß, auf die Achsel.

»Wenn man so nah verwandt ist. Wir konnten ihn doch nicht im Stich
lassen, -- jetzt. Hi hi.« -- Sie vergaß sich und lachte geschwind ein
bißchen. Dann suchte sie schnell wieder den leidtragenden Ton hervor,
nahm die Schürze vor die Augen und sagte hinter derselben hervor:

»Es ist vollends so schnell gegangen, man hätt's nicht gedacht. Vor ein
paar Wochen, als Franz bei uns war« --

»Franz war bei euch?«

»Ja, hab' ich dir das nicht geschrieben?« Lore streichelte Georgs Hand.
»Er war beim Doktor für seine Frau, da besuchte er uns natürlich.«

»Ja, wir haben die Verwandtschaft ein bißchen gepflegt,« sagte Müller
Hensler behaglich, »nicht, Franz?«

Franz nickte. Er sah stark mitgenommen aus, trug sich etwas schlaff
und machte einen älteren Eindruck, als es seine achtundzwanzig Jahre
wollten.

»Müller Hensler war auch mit in Tübingen? Das habt ihr mir alles nicht
mitgeteilt.«

»Ja du, du stecktest ja bis über die Ohren in deinen Arbeiten. Was hast
du für Briefe geschrieben -- hu. Ich traute mich nicht mehr mit so
kleinen Ereignissen an dich heran.« Lore machte ein trotziges Mäulchen.
»Es ist nur gut, daß du endlich wieder einmal da bist.«

Da mischte sich Frau Maute wieder ein.

»Er hatte es schwer, der arme Franz. Es tat ihm gut, ein bißchen bei
uns zu sein. Ich -- wenn man selbst Mutter ist -- aber nun wollen wir
ihn wieder herauskriegen.«

»Mutter,« sagte Lore, »da kommt jemand mit einem Kranz.« Da enteilte
sie und man hörte von draußen herein ihre klägliche Stimme, mit der sie
irgend eine Teilnahmsbezeugung quittierte.

       *       *       *       *       *

Wenn jetzt Jungfer Liese dagewesen wäre. Wenn sie jetzt wieder
Schlüsselbund und Geldtasche an sich genommen hätte, sie, die Getreue,
die so ungern ihre beiden Franze, den alten und den jungen, aus ihrer
Obhut entlassen hatte.

Aber sie war nicht mehr da, um die alten Pflicht- und Würdezeichen
an sich zu nehmen. Da mußten sich andere Leute dazu bequemen, und
das taten sie auch. Man muß es ihnen lassen, daß sie es äußerst
bereitwillig taten.

Es war je länger je mehr mit Hängen und Würgen gegangen, sowohl was
die Putzmacherei als die möblierten Zimmer betraf. Sie waren zu nichts
gekommen und es hatte nirgends recht hinreichen wollen. Dazu kam, daß
Lore nicht mehr recht Lust hatte, in Tübingen zu sein.

»Ach, es wächst immer wieder so junges Gemüse daher, was will ich
davon? Ich wollte, Georg machte voran.«

Ja, das hätte Frau Maute auch gewollt.

Als Georg, etwas später als die andern, denn er hatte die bekannten
Gräber besucht und an Frau Judiths Grab Meister Nössel getroffen, --
als er vom Kirchhof zurück kam und in die Ladenstube trat, wo alle
um den Kaffeetisch saßen, verstummte ein lebhaftes Gespräch, das sie
soeben geführt hatten.

»Sag's ihm, Franz.« »Nein, du.« »Nein, ich,« sagte Lore und machte ihm
an ihrer Seite Platz.

»Was würdest du dazu sagen, wenn wir hier blieben, die Mutter und ich?«

»Man kann doch Franz nicht im Stich lassen. Er muß doch jemand haben.«
Das sagte Frau Maute. »Und da du wohl doch noch nicht so schnell
Hochzeit machen kannst, so dachten wir,« sie brach ab und sah ihn
erwartungsvoll an.

Wie merkwürdig das alles war. Eben noch dort draußen der eisgraue Mann,
Meister Nössel, der ein ganzes Stück seiner Kindheit und Jugend in
ihm wachgerufen hatte, dann im Heimgehen die alten Gassen und Häuser,
unter den Akazien Mütter mit Kindern -- mit den Müttern hatte er
selber als Kind gespielt -- nun hier in seinem Vaterhaus, in der alten
Ladenstube, wo noch die beiden Edelleute an der Wand hingen, wie vor
Zeiten, dieser Kreis von Menschen, niemand neues dabei, nur so neuartig
zusammengeschlossen.

Franz, der nur zwei Jahre älter war als er, saß da als Witwer, hatte
schon alles erlebt, was in ein Menschenleben herein gehört, was wollte
er nun noch?

Und Lore, seine Lore, die sollte hier daheim sein, indes er draußen
war? Und ihre Mutter sollte hier schalten?

Frau Maute im Ehrenspergerhaus? Wie merkwürdig.

Er fand nicht gleich eine Antwort, er sah fragend von einem zum andern.

Der Müller Hensler saß neben Frau Maute und sah sehr einverstanden aus.

»Jetzt wird's wieder gemütlich hier,« sagte er. »Jetzt werden wir
wieder jung miteinander. Mach voran, Musikante, dann kommst du auch
dazu.«

»Ja, mach voran.« Das sagte auch Franz. Er hatte den schwarzen Rock
ausgezogen und saß in Hemdärmeln da. Es war mühselig und traurig
zugegangen in seinem Leben die letzten Jahre her. Er hatte seiner Frau
alle Erleichterung und alle Pflege angedeihen lassen, die sie sich
nicht selber als zu teuer verbat. Er glaubte sich nichts vorwerfen zu
müssen. Jetzt, glaubte er, dürfe er ein wenig aufatmen.

»Platz hat's genug,« sagte er. »Ihr könnet im Oberstock wohnen, heißt
das, den Tag über gibt's genug zu tun so unten herum. Da ist die
Wirtschaft und der Laden und die Küche, und --«

»Und der Krautgarten und das Baumgut,« sagte Lore und lachte. »Heidi,
das gibt ein Leben. Dauert mich nur mein alter Riedesel in Tübingen,
sonst kein Mensch. Und derweil macht mein Herr Musikdirektor seine
wunderbaren Sachen fertig, von denen kein Mensch etwas rechtes erfährt,
und dann -- -- jetzt mach #du# weiter, Georg.«

Da sahen sie alle auf ihn.

Und dann? Er saß da und sah vor sich hin.

Es war ihm auf einmal, als ob er nicht daher gehöre. Gar nicht in
diese Stube und in diesen Kreis. Er hätte allein mit Franz auf das
Baumgut gehen mögen, wie in Kindertagen und eine Weile mit ihm von ganz
harmlosen Dingen reden, oder allein mit Lore in den Wald gehen. Er
hatte ihr so viel zu sagen, so viel. Er konnte es nicht hier tun, vor
allen, er konnte es nicht.

Er sah sie bittend an: »Kommst du ein wenig mit mir?«

Aber sie merkte es nicht. Oder wollte sie nicht?

»Du, Georg,« sagte sie, »die Mutter hat erfahren, daß man fürs
Komponieren fast gar nichts bekomme. Man möge noch so schöne Sachen
hinbringen. Sag, ist das wahr? Du kannst dir denken, daß ich keinen
schlechten Schreck gekriegt habe. Aber du verstehst es wohl besser,
gelt? Du mußt ja wissen, worauf es hinausläuft. Sag.«

Und alle sahen ihn an und wollten wissen, »worauf es hinauslaufe«. Das
war so natürlich -- so natürlich. Aber es wandelte ihn dennoch die Lust
an, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen aus innerem Grimm heraus.
Er mußte sie im Sack ballen, daß er es nicht tat. Sie hatten ja doch
ein Recht, zu fragen. Aber wie tausendmal er sich selber schon gefragt
hatte, das wußten sie ja nicht.

Er atmete schwer. »Ich habe mit dir davon reden wollen, Lore,« sagte er
endlich, da sie ihn alle ansahen.

»Du kannst nicht sagen, du wissest nichts von dem, was ich schaffe, ich
habe es dir immer geschrieben.

Ich habe etwas angefangen, das, wovon ich dir einst sagte, im Wald, an
jenem Tag, etwas unsäglich Schönes. Die ganze Welt ist drin. Ich höre
es im Wachen und im Traum. Das #muß# werden. Es wird auch. Aber laß mir
Zeit dazu, Lore, glaub' an mich, sei geduldig. Sieh, manchmal ist es
zum Greifen nahe, dann entschwindet es wieder in alle Fernen.«

Er sprang auf, lehnte sich an das Fensterkreuz und redete im Stehen
weiter. Seine Augen lagen auf Lore, er suchte in ihrem Gesicht. Suchte
er den hellen Funken, der damals von ihr zu ihm gesprungen war,
zündend, verheißend, befruchtend?

»Ich -- ich habe es dir schreiben wollen. Ich will aus dem
Konservatorium austreten, es ist nichts für mich. Es ist da so viel zu
hören und zu lernen, das mich nichts angeht innerlich. Ich will einmal
nur auf das horchen, was aus mir herauswill. Sonst kommt mir hundertmal
das Fremde dazwischen.«

Er sah sie alle der Reihe nach an. Sie machten verdutzte Gesichter.

»Ja,« sagte Frau Maute, »davon ist ja aber nicht die Rede und
das verstehen wir auch nicht so. Es ist nur die Frage, worauf es
schließlich hinausläuft. -- Doch, Lore, das muß ich als Mutter doch
fragen.«

Und Franz und Müller Hensler nickten bedächtig dazu und nahmen breite
Schlücke von dem roten Wein, der in den Gläsern stand; denn mit dem
Kaffee waren sie nun fertig.

»Ich kann es euch nicht sagen,« dachte er trostlos. »Ihr versteht mich
doch nicht. Ihr fraget nur: was bringt es ein?« Dann raffte er sich auf.

»Laßt mir noch ein wenig Zeit,« sagte er. »Wenn ich das Werk fertig
habe -- es brennt mich und ich muß es schaffen, dann freut ihr euch
mit mir. Dann wird sich das Weitere auch zeigen. Dann ist mir auch
um eine Stellung nicht bange. Ich will es ihnen schon in die Ohren
bringen, sie #müssen# es hören. Glaub' daran, Lore, du hast es doch
immer getan.« Sein Gesicht sah so warm und bittend in das ihrige, es
wurde ihr so frühlingshaft zu Mute, als ob sie vor einem Baum stände,
der war voller Knospen, und der Baum gehörte ihr, und wenn er in Blüte
stände, dann sollte sie Hochzeit machen. Aber als sie aufstand und ihm
liebe, vertrauende Worte sagen wollte, sah sie zufällig in den Spiegel
und sah, daß ihre Mutter, die hinter ihr stand, ihr zuwinkte: »Sei
nicht zu nachgiebig; du mußt ihm den Ernst zeigen. Du weißt, er ist ein
verträumter Idealist.« Und sie trat zwar zu ihm und legte den Arm um
seinen Nacken und sah ihn an; aber es war nicht das gläubige Leuchten,
nach dem er sich sehnte, in ihren Augen, sondern eine drängende Glut:
»liebster Mensch, man ist nur einmal jung. Siehst du mich? Da hast du
mich. Komm bald. Du hast es mir versprochen.« Und in ihm schrie etwas
auf, das hatte er lange und oft in sich verstummen heißen: »an einem
wirst du schuldig. An Lore oder an deiner Kunst. Es ist anders, als du
gemeint hast. Schuldig wirst du, so oder so. Du wirst wohl ein Brot
suchen müssen; du bist dazu verpflichtet, bald. Aber das war es nicht,
nach dem du ausgingest.«

Er wußte nicht, wo er hinsehen sollte, um seine Not zu verbergen und
verbarg sein Gesicht in ihrer Hand und sagte nach einer Weile, daß er
jetzt gehen wolle, um den Rektor zu besuchen. »Und Gertrud,« dachte er
im stillen, und auch da war ein Druck, wie von Schuld oder Furcht oder
Sehnsucht. Er hatte sie jetzt zwei Jahre lang nicht gesehen und wußte
nicht, wie er ihr gegenübertreten sollte, ihr, der er am liebsten alles
ausgeleert hätte, was in ihm umging von Glück und Not.

Aber als er, um dem Denken ein Ende zu machen, an der Glocke des
Rektorhauses zog, da guckte ein junges Dienstmädchen heraus und sagte,
daß der Herr Rektor und das Fräulein verreist seien für etliche Tage,
und daß der Herr Rektor sich einer Augenoperation unterziehe.

Also brauchte er sich nun nicht mehr zu besinnen: will ich? will ich
nicht? sondern konnte gleich umkehren, denn da war nichts für ihn
zu holen. Er brachte es aber nicht über sich, fortzugehen, sondern
klinkte die Gartentür auf und schritt zwischen den buchseingefaßten
Beeten durch den Gemüsegarten, kam bis unter die Obstbäume, die dies
Jahr nicht viel trugen und setzte sich in schweren Gedanken unter den
Süßapfelbaum. Wo waren die Bubenträume, die er hier gesponnen hatte?
Und wo war Gertrud, der er sie erzählt hatte?

Hier waren sie zu dreien gesessen, damals, eh' Lore nach Tübingen ging.
Ein Schwarzköpfchen sang in der Hecke am Stadtgraben sein Abendlied;
die Zweige des Baumes rauschten leise in einem weichen Wind, und er
saß und die Augen fielen ihm zu. Er war in der Nacht gereist und der
Tag war unruhig gewesen. Aber plötzlich sah er staunend auf. Unter den
Bäumen kam ein alter Mann daher, gebückt, grau -- nein, das war nicht
möglich -- doch -- es war der alte Hollermann. Ganz so wie einst sah
er aus, nur daß das Hinfällige, Schlaffe, Runzelige wie übersonnt oder
durchschienen war von etwas Festem, Frohem, Starkem.

Nun blieb er stehen, stützte sich auf seinen Stock und sah auf den
Dasitzenden.

Der erschrak und das Herz klopfte ihm.

»Ach,« sagte er unsicher, »das bist du? Bist du das und kommst zu mir?
-- Das kann ja doch aber nicht sein. Du bist ja doch gestorben.« Da
lächelte der Alte. Es war ganz sein stilles, feines Lächeln von einst;
es ging aber über den ganzen Mann hin.

»Ja, gestorben, das nennt ihr so, weil ihr keine andere Bezeichnung
wisset. Ihr sehet nicht so besonders weit hinaus, ihr auf Erden. Aber
dafür könnet ihr nichts. Wir nennen das nur »sich verändern«, und ich
habe mich verändert, das ist wahr. Und es ist gut so.

Aber davon wollte ich nicht reden. Ich wollte dich nur fragen: Hast du
etwas gefunden?«

»Gefunden?«

»Ja, du wolltest ja doch das schönste Lied suchen, das, bei dem die
ganze Welt mitsingt? Du bist doch noch auf der Suche?«

Da senkte Georg den Kopf in großer Traurigkeit.

Der Alte aber sah ihn immer an mit seinen ruhig betrachtenden Blicken.

»Was hast du denn für einen schweren Sack auf dem Rücken? Es rasselt
darin und poltert, #so# kannst du ja nicht horchen.«

Das hatte der Jüngere selber nicht gewußt, daß er den Sack trug. Also
daher kam der schwere Druck, den er empfand? »O, es sind nur Steine
drin,« sagte er. »Ich muß ein Haus bauen für Lore, sie sagt, ich habe
es ihr versprochen. Ich habe es nicht so bedacht, daß ich das muß. Aber
darum ist es nun doch so. Da muß ich jetzt die Steine tragen. Es ist
schwer, ich kann mich nicht bei dir aufhalten. Horchen? Nein, horchen
kann ich auch nicht.« Aber der Alte wuchs so sonderbar. Er schien
die Bäume zu überragen und seine Augen wurden immer leuchtender und
durchdringender.

»Du,« sagte er, »du Sonntagskind, du gehörst dennoch zu den Horchenden.
Du mußt die Steine wegwerfen, du kannst jetzt kein Haus bauen. Das
weißt du ja selber. Du mußt ja doch das Lied suchen. Du willst nicht,
du mußt. Hörst du nicht, wie es klingt?«

Da zog eine ferne, leise Musik an ihnen vorüber und Georg horchte mit
klopfendem Herzen.

»Das war's, das ist's.« Aber als er aufspringen wollte, rasselten die
Steine in dem Sack.

Und er warf sich vor Hollermann auf die Kniee und umfaßte ihn.

»Hilf mir,« sagte er. »Du siehst mich durch und durch. Du weißt, wie es
ist.«

Aber Hollermann sagte nichts mehr. Nur mit einer sonderbar linden,
feinen Hand streichelte er den Knieenden, immer von der Stirn bis zum
Nacken, daß es ihn durchrieselte wie von einer belebenden Wärme. Da
wurde es ihm so leicht zu Mute, so leicht und frei.

»Ich will aufstehen und ihm nachgehen,« sagte er.

»Ja,« sagte Hollermann, »und da ist auch die Geige.«

Da sah Georg mit Staunen feine, silberglänzende Fäden, wie aus
Mariengarn gesponnen, die gingen von seiner Brust aus und waren an den
Bäumen und Sträuchern ringsum befestigt und Hollermann rührte daran, da
klangen sie, teils stark teils leise.

»Ein Ton die Schuld, ein Ton die Liebe, ein Ton die Sehnsucht, ein Ton
das Alleinsein, das große, herbe, ein Ton die Mühe -- kannst du sie
alle? Du mußtest sie alle erleben, um sie zu kennen.«

»Still.« Georg horchte atemlos. Das klang alles in seinem Herzen, aber
draußen in der Welt klang es mit.

»Einiges fehlt noch,« sagte Hollermann und lächelte.

»Das mußt du noch suchen. Und einiges, das weißt du, findest du erst
in dem andern Land. Aber laß dich nicht irre machen, es ist doch da
und ist wirklich. Davon sollst du singen: Was sichtbar ist, das ist
zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig --.«

Jetzt war es auf einmal nicht mehr Hollermann, sondern Frau Judith,
und dann war es Meister Nössel, und dann Georgs Mutter, wie sie aussah
an dem Tag, dem einen, da es Licht bei ihr geworden war. Und dann kam
die Rektorin Cabisius daran, und weit weg tauchte der Rektor auf, und
Gertrud noch weiter, wie ein Schatten, aber alle waren sie da und er
hörte Hollermann sagen: »Sind wir nicht viele? Sind wir nicht eine
feine, stille Gemeinde? Nun wollen wir ihm das Lied singen. Leise, --
man muß hören, daß alles mitsingt.«

Da entstand ein wogender, schwebender Gesang, ein feines und doch
starkes Klingen. Die Sterne standen am Himmel und ließen silberne Töne
niederfallen, die Bäume regten singend ihre Äste und jedes Blättlein
schwang leise mit, der Wind trug auf seinen Flügeln von ferne her
starke Harmonieen, irgendwo rauschte es, da war doch aber kein Fluß?
Ach nein, Gertrud sagte: »Im Zeitstrom, der vorüberrauscht.« Und aus
den wenigen Menschen im Garten waren viele, unzählige geworden, wie
Schatten glitten alte Bekannte und fremde Gesichter an ihm vorbei, und
sie sangen alle:

      »Alle die Schönheit Himmels und der Erden
      Ist verfaßt in dir allein,«

und alles ringsumher sang mit. Das Lied hatte Georg schon früher einmal
gehört, er wußte nur nicht mehr, wo. Ihm brannte das Herz und er
versuchte mitzusingen, aber da wurde alles undeutlich und zerfloß, und
er saß mit offenen Augen und klopfenden Pulsen unter dem Süßapfelbaum.
Es war ein Klingen und Schwirren in ihm, das zog mit den Strömen
seines wallenden Blutes auf und ab; es rauschte leise wie von weichen
Gewändern, es war ein Schimmern zwischen dem Gesträuch hindurch, wie
von weißen Fittichen, da rieb er sich die Augen und stand auf und war
allein.

Der Mond ging heute früh auf, er kam schon am Horizont herauf und warf
einen milden, silbernen Schein da herein. Drüben über dem Stadtgraben
war die Seilerbahn, die aufgespannten Seile schimmerten weiß in dem
bleichen Licht, irgendwo sang eine Männerstimme -- ein Volkslied
-- »und so will ich wacker streiten, und soll ich den Tod erleiden« --
mehr war nicht zu hören.

Und Georg Ehrensperger, der mutlos und schweren Herzens hierher
gekommen war, reckte sich, daß er aufrecht und hoch den Gartensteig
wieder zurückging und in seiner Seele gingen hohe Wellen. »Ich kann
noch nicht gleich heimgehen, ich will noch in den Wald hinauf. Die
Nacht möchte ich durchwandern, ganz allein. Still, daß kein Ton
vergeht. Wie ein Segen ist es auf mich herabgekommen.« Und er beugte
den Kopf, wie um es besser tragen zu können, was ihn wie ein schwerer
Reichtum füllte, und trug den Hut in der Hand. Vor den Fenstern des
Rektorhauses blieb er stehen und grüßte die Abwesenden. »Ihr gehöret
dennoch zu mir. Ich gehöre dennoch zu euch.« Dann schritt er durch die
Gassen. Es war niemand mehr draußen. Das war ihm recht. Die Brunnen
plätscherten, hinter den Scheiben entzündeten sich die Lichter, er ließ
das Städtlein mit seinen Heimwesen hinter sich und ging die kleine
Anhöhe hinauf, den Dinkelsbühl, und kam in den jungen Eichenwald, der
dort droben steht.

Als einem, der lang in der Fremde gewesen und dann heimgekommen ist,
war es ihm.

Kühl und weich war das Moos am Waldrand, in das er sein Gesicht
drückte. Ganz still standen die jungen Bäume und horchten. Aber sie
hörten nicht, was er redete, es kam nicht über die Lippen.

Vielleicht wußte er es auch selber nicht so genau, was alles in starkem
Lebensdrang aus seiner Seele strömte. Ein Dank und eine Freude und ein
Sich-hin-geben-wollen an die Welt. Ein Gebet: Bleib mir nah, du -- du
ew'ger Geist, des Wesen alles füllet --, bleibet mir nah -- ihr, die
ihr zu mir gekommen seid -- schließet einen Kreis um mich. Das und mehr.
Es wurde immer stiller, größer, es ging immer mehr nach innen.

Leise ging der Nachtwind über ihn hin.

Er ist schon über manchen hingegangen, der in der Nacht »auf einen Berg
besonders« ging, um sich in der ewigen Einheit zu fassen, und um den
rechten Ton zu finden, am Morgen mit den Menschen vom Ewigen zu reden.

Es war ziemlich spät, als Georg wieder den Berg hinabstieg. Alles
war still umher, er fing hie und da leise an zu summen: »Alle die
Schönheit Himmels und der Erden ist verfaßt in dir allein« und dann
brach er wieder ab: »still!« und sagte:

      »Das wahre mir zur Leuchte,
      Auf daß mir's auch den Pfad erhellt,
      Der mich umnachtet deuchte.«

Sie hatten auf ihn gewartet und waren etwas ärgerlich, daß er so lange
ausgeblieben war. Und Lore saß im Großvaterstuhl und rührte sich nicht,
als er hereinkam. War sie böse? Daran hatte er gar nicht gedacht, er
wollte ihr sein ganzes, volles Herz bringen, das hatte ihm zuletzt die
Schritte beflügelt. Da sah sie auf und sah ihn an und wollte irgend
etwas Gekränktes sagen und blieb staunend still. So rein und schön war
der Glanz seiner Augen und so still und fest seine ganze Haltung, so
sehr leuchtete ihr seine hohe Liebe entgegen und dann noch etwas, das
sie nicht kannte, etwas Sieghaftes, Heiliges.

»Komm,« sagte er. »Ich muß morgen früh abreisen, wir haben nur den
einen Abend. Komm mit mir in meine Kammer herauf, in der ich mit
vierzehn Jahren schlief. Nein, sag nichts, ich muß dir viel erzählen.«

Da führte er sie an der Hand aus der Stube und die Treppen hinauf
bis unters Dach, und die Zurückbleibenden schüttelten ratlos die
Köpfe: »Was hat er jetzt wieder? Ist das ein närrischer Mensch.« Und
ratschlagten, ob denn jemals etwas aus ihm werde, und fanden große
Beruhigung in der Erkenntnis, daß »so etwas« sonst nicht in der
Ehrenspergersfamilie daheim sei, -- wenn er aber nur nichts Ungutes von
seiner Mutter geerbt habe.

       *       *       *       *       *

Sie war viel hin- und hergezogen worden, so lang er fern war. Etwas,
das Beste in ihr, das strebte nach ihm, das kam zur Entfaltung in der
Gemeinschaft mit ihm, in seiner Liebe, und in dem Willen, mit ihm in
seiner Welt zu leben.

Aber da war so viel anderes daneben. In ihr selbst und in ihrer
Umgebung. Nun saß sie neben ihm, auf der Kiste, die er sich einst zu
einem Sofa geträumt hatte. Das alte bunte Umschlagtuch seiner Mutter
lag noch darüber ausgebreitet von lang her. Sie sah zu ihm auf mit
erstaunten Augen. Was hatte er nur? Da war nichts zu kritteln und zu
tadeln, er stand sicher und hoch in einer reinen, schönen Welt.

Und ohne den Druck und die Unsicherheit des Nachmittags fing er an, ihr
von seinem Werk zu erzählen, das ihm jetzt wie ein Ganzes vor der Seele
stand, ja, das ihm innerlich fertig zu sein schien, so gewaltig tönte
es.

»Könnt' ich dich nur dazu hineinhorchen lassen, Lore. Das wär das
Beste. Denn mit Worten ist es schwer zu sagen. Aber dennoch. Also du
weißt: Da geht einer aus und will das schönste Lied suchen. Ein Geiger.
Er hat es im Traum gehört, jetzt läßt es ihn nicht mehr los, er muß
es wieder haben. Zuerst hört man den Traum, das fängt ganz fein an
mit Streichinstrumenten die tragen eine Melodie wie auf Fittichen.
Dann will es eine einzelne Geige nachbilden, das ist immer er; aber es
tönt ihm anders, nicht so, wie er es gehört hat. Dann geht er auf die
Wanderung und sucht immer. Da kommen Vogelstimmen, Wasserwellen, Winde,
Gewitterstürme. Überall ist ein bißchen davon drin, aber nur da ein Ton
und dort einer. Und immer wieder die Geige, die ihn festhalten will,
und immer wieder bricht sie ab und verstummt, weil da so viel anderes
hereinklingt. Und er merkt, daß er in der Natur allein das Lied, das
ganze nicht findet, und er geht unter die Menschen und will das ganze,
reiche Leben kennen lernen. Da muß es doch irgendwo tönen. Da -- da
müßten eigentlich Chöre hinein, ich weiß noch nicht, -- sind spielende
Kinder, und singen junge Burschen und Mädchen, weißt du, Lore, nach
Hinkelsbach zu am Sonntag nachmittag, und er spielt ihnen zum Tanz auf,
und erschrickt, denn er hat auf einmal die Melodie vergessen, die immer
auf dem Grund seiner Seele war. Und zieht weiter und im Alleinsein
fängt sie wieder an zu tönen.

Er kommt durch Städte und Dörfer und findet allen Reichtum und
alle Armut und lernt Liebe kennen und alles Verlangen und alle Not
und auch die Schuld und auch die Sehnsucht. Das alles tönt in den
Menschenherzen, das hört man immer von den Instrumenten, und es klopft
auch in dem seinigen, das ist immer die einsame Geige. Und überall ist
etwas darin von dem schönsten Lied, aber es ist nie das ganze. Er kommt
auch in die Kirche, -- das hab' ich schon, Lore, ich möchte es dir
vorspielen, -- da ist ein breiter Strom von einer tiefen, feierlichen
Musik, und er glaubt schon, hier am Ziele zu sein, denn ein paarmal
klingt stark und deutlich die ersehnte Melodie heraus, aber -- weg ist
sie wieder, auch da nicht das Ganze, und das Bruchstück nicht ganz
rein. O, wo bist du?

Da ist ein Stück weit müde, hoffnungslose Grauheit in der Musik und nur
die Geige, sein eigenes Herz, summt sich hie und da die paar Takte,
die es noch weiß. Aber siehst du, Lore, er gibt das Suchen nicht auf,
das ist es, was ich sagen möchte. -- Was sagst du? ich sei dennoch
ein Pfarrer? weil ich das Predigen nicht lassen könne? Ja, das muß
ja wohl so sein. Und sieh, es ist auch nicht umsonst. Denn als alle
die andern Stimmen schweigen und er alt wird und still, da -- da ist
zwei -- drei Takte lang Pause in der Musik, -- da tönt ihm auf einmal
die Traummelodie wieder, irgendwo her, immer schöner, immer stärker,
und er hört plötzlich, daß alles Geschaffene mitklingt, nicht mehr
bruchstückweise, ganz, und er erkennt, daß sie nicht im Leben drin, daß
sie das Leben selber ist. Das geht nun nicht aus, das ist ewig, das
geht für ihn erst an. Und er will rasch mitklingen, denn die Saiten
seiner Geige zittern schon, und er spielt und spielt, da reißt eine
Saite um die andere, jauchzend brechen sie ab -- dann ist die Geige
still -- dann hört man nur noch die Melodie im Orchester, leiser --
immer leiser, bis es alles wie in weite Fernen entschwindet.«

Sie wagte kein Wort zu sagen, als er nun aufatmend schwieg. Sie sah
ihn nur an, wie man ein fremdes, schönes Bild ansieht, das dennoch so
rätselhaft bekannte Züge trägt. Er war so anders, als sie ihn sonst
kannte, so erhoben, -- so glänzend von dem inneren Licht, das ihn zu
erhellen schien. Aber dann wußte sie doch, daß er ihr gehörte und
sie strich sich mit der Hand über die Stirn, wie um die Befangenheit
abzustreifen. »Und das hörst du alles in dir drin?« fragte sie. »Das
kannst du alles in Töne bringen?« Da nickte er. »So Gott es mir hütet.
So stark war es noch nie wie heut Abend. Es war oft eine Qual in den
letzten Monaten -- ach, wir wollen jetzt nicht mehr davon reden. Ich
glaubte, ich hätte mich verlaufen. Sie fragten immer: Wo hinaus? Und
ich wußte es nicht. Und dabei entschwand mir alles. Lore, das kommt
nicht, wenn man es zwingen will, es kommt nur ungerufen. So kam es
heute.«

Da ging auch durch sie etwas Großes hindurch, ein Glauben an ihn, --
oder ein Glauben an seinen Glauben.

»Geh,« sagte sie, und er sah das Leuchten ihrer Augen wieder, »geh und
halt's fest, und wenn du es festgenagelt hast, dann komm wieder. Und
dann -- gelt dann --.« Er legte leicht die Hand auf ihren Mund. »Sag
nichts sonst, heute nicht. Es kommt alles, eins ums andere.« Und schloß
sie in seine Arme. »Du, o du, wenn ich nicht mehr zwischen beidem hin-
und hergerissen bin, und kann froh an dich denken und froh an meinem
Werke sein -- halt die Hände darüber, Lore -- dann komm ich einst zu
dir -- dann sind wir beide gesegnet, du und ich.«

       *       *       *       *       *

Als der Morgen graute, ging er aus dem Haus seiner Väter. Lore hörte
ihn, wie er die Treppe hinabstieg und hörte die Haustür ins Schloß
fallen und hörte seine raschen, festen Tritte auf dem Pflaster des
Marktplatzes. Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die lag auch wach, sie
blinzelte zwischen verschlafenen Lidern zu der Tochter herüber. »Na,
ihr habt's ja wichtig gehabt gestern abend. Was habt ihr denn jetzt
ausgemacht?« »Ausgemacht? Ach, er hat mir erzählt, was er schafft.«
»Ja, und dann?« Lore drückte den Kopf in die Kissen und dehnte sich
wohlig. »Dann hab ich ihm versprochen, daß ihr ihn in Ruh lassen sollt.
Er weiß selber, was er zu tun hat. Hörst du? Sie machen schon die
Ladentür auf. Ist das Franz? Das Frühaufstehen, weißt du, Mutter, das
ist eigentlich nicht so meine Sache.«

       *       *       *       *       *

Er ging im dämmernden Morgen nach der Bahn, die Seele voll frischen
Mutes und Glaubens, das Herz erwärmt von der alten Heimat und von Lore,
die nun dort leben sollte. In wenigen Tagen schon wollten die beiden
Frauen nach Wiblingen umziehen. Ach -- es konnte ihm ja nur lieb sein.
Sie war so wohl behütet in seiner Heimat. Er konnte so ruhig an sie
denken und konnte einmal heimkommen und sich erfrischen an ihr -- an
allem Heimatlichen, bis -- ja bis er ganz kam und sie zu sich holte.
Wann? wohin? Das lag heute nicht so schwer auf ihm. Es fand sich, eins
ums andere, jetzt, da er so reich an tönenden, treibenden Kräften
wieder auszog.

»Ach, das habe ich nicht gesagt. Das habe ich vergessen. Sie soll
Gertrud besuchen, bald und oft. Sie soll lieb mit ihr sein. Ich will es
ihr schreiben, so bald ich nach München komme. -- Gertrud -- sie muß
unsere Schwester sein, sie wird es auch, sie war die meinige, so lang
ich denken kann. Das muß wieder zurecht kommen, es muß ja.«

Da hallten feierliche Schläge vom Turm. Und weit tat sich ihm das Herz
auf. Die Morgenglocke. Mit der alten vertrauten Stimme rief sie ihn und
gab ihm alles mit auf den Weg, was sie von jeher für ihn gehabt hatte.
Es war aber alles schon vorher wach, wer weiß, ob sie sonst den Weg in
sein Inneres gefunden hätte. Er nahm den Hut ab. Die Morgenluft spielte
mit seinem Haar.

»Ich -- ich will dir nicht entlaufen. Ich will dir dennoch dienen. Das
wahre mir zur Leuchte.«

Und alle die alten, vertrauten Gestalten standen um ihn und nickten ihm
zu und er war der ihren einer.




                    Fünftes Kapitel


Ein Frühlingstag, ein ganz rechter und echter. Alles, was blühen
konnte, drängte und trieb und machte die Augen auf, alles, was
zwitschern und schwirren und summen konnte, tat es, alles, was sich
zu freuen vermochte, nahm, falls es den Winter hindurch aus der Übung
gekommen war, einen neuen Anlauf dazu.

Im Rektorgarten blühten Syringen und Goldregen, und in den Beeten
Narzissen und Kaiserkronen, es schwatzten die Staren und schmetterten
die Buchfinken, es saßen um den steinernen Tisch unter dem großen
Nußbaum drei Kinder, ebenfalls blühend, ebenfalls in lauten und
lebendigen Tönen in das allgemeine Konzert der Daseinsfreude
einstimmend.

Der Rektor Cabisius ging nicht wie an jenem ersten Frühlingstag, da
wir ihn kennen lernten, in den Steigen auf und ab. Er saß an der
sonnigsten Stelle des Gartens in einem Korblehnstuhl und ließ sich
anscheinen, ohne daß er das Licht erblicken konnte. Denn er war jetzt
bis auf einen kleinen, ganz kleinen Schein blind geworden. Aber die
Pfeife hielt er noch in der Hand und als seine Enkelin zu ihm trat,
da saß er umgeben von einem leichten Rauchwölkchen und taktierte,
wenn er wieder ein paar Züge getan hatte, nach irgend einer Melodie,
die er zu vernehmen schien, und sein Gesicht war so klar und heiter
wie je. Vielleicht war es die Jubelouvertüre der Schöpfung, zu der
ihm auch das Kindergeschwätz gehörte: »Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,« vielleicht auch zeigte ihm ein inneres Licht die
Eingangshalle zu den Gefilden, die wir mit unseren guten Augen nicht
zu erblicken vermögen und es klang feierlich in ihm: »wir betreten
feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.« Jedenfalls sah er aus, als
ob er einer von denen sei, bei denen es »um den Abend licht« wird.

Und das stimmte ja freilich nicht mit den äußeren Tatsachen. Aber
darnach fragte der Rektor Cabisius nicht so viel.

»Großvater, du bekommst Besuch,« sagte Gertrud. Und da kamen auch
schon hinter ihren raschen, festen Tritten die etwas schlurfenden,
von Stockstößen begleiteten des Meisters Nössel den Gartenweg herauf.
Sie gab dem Großvater nur geschwind die Hand, eine breite, kräftige,
nicht eben zarte Hand, denn sie mußte ihn hie und da ihres Dabeiseins
versichern. Dann führte sie den alten Mann zu ihm. »Da ist noch ein
bequemer Stuhl, Meister Nössel, und -- ja, und Konrad soll noch eine
Pfeife herunterholen, und da steht der Tabak und das Feuerzeug. Ich
muß wieder zu meinen Kindern.« Und dann ging sie wieder an den Tisch
hinüber und hatte es sehr wichtig und sehr mütterlich mit einem großen
Brotlaib und der Butterdose, und sah nicht, wie der eine der beiden
alten Männer ihr kopfnickend nachsah und wie der andere zu seinen
Worten lächelte: »Wenn sie die Judith #so# sehen könnte, wie sie da
hantiert und so ein helles Gesicht hat und so aufrecht ist.« Ja, da
waren die beiden Alten wieder an ihrem Lieblingsthema angelangt: die
Vorangegangenen, und die alten Zeiten, und das, was noch aus den alten
Zeiten in der Gegenwart mit ihnen lebte, -- das Kind.

Es war ein reiches und ein herzerwärmendes Thema, und all' das
Lebendige rings umher gab eine gute Begleitung dazu. Es hatte in diesem
Garten von jeher und immer wieder Kinder und Blumen und Vögel gegeben,
und auch mütterliche Frauen, die sich an Kindern und Blumen und Vögeln
zu freuen wußten, -- auch dann, wenn in ihrem eigenen Leben schon
einiges abgeblüht und verklungen war. Gertrud paßte nicht schlecht in
die Fußtapfen ihrer Vorgängerinnen in diesem Garten. Sie hatte wacker
aufgehoben, was ihr an Leid des Lebens auf den Weg gelegt worden war,
und sie trug es nun nicht wie einen Trauerflor um sich her, sondern sie
hatte es, da es ja freilich nicht von flüchtiger Art war, tief in sich
hineingeschlossen. Da wohnte es, ganz nah bei der »zwölften Kammer,«
von der schon einmal die Rede war, und trat ans Tageslicht nur in einer
reifen, warmen Mütterlichkeit gegen alles, was eines Schutzes oder
einer Hilfe zu bedürfen schien, in einem ernsten und klugen Verstehen
von allerlei Nöten, die den Menschen in ihrem Bereich -- auch nicht
immer auf der Stirne geschrieben standen.

Es war Feiertag und sie hatte sich die Kinder geholt. Es waren die
drei Buben der Türmersleute, die drei Entenmänner, die damals bei dem
Adventsgewitter so heldenhaft die Köpfe unter die Decke steckten.
Sie waren seitdem um ein gutes Stück gewachsen, hatten helle,
kurzgeschorene Köpfe und lebhafte Augen, und Gertrud ging damit um,
ihnen ein gut Teil von dem allgemeinen Wissen, das sie selber einst
so hungrig in sich aufgenommen hatte, zukommen zu lassen. Warum war
sie nicht Lehrerin geworden, wie einst bestimmt war? Warum sahen die
beiden, der Älteste, starke und der Mittlere, zarte, mit so hungrigen
Augen drein, wenn sie ihnen hinten unter dem Süßapfelbaum von den
Wundern und Sagen der alten Griechen und von den Taten unserer eigenen
Vorväter und zuweilen auch von dem Zug der Kinder Israel durch die
Wüste erzählte? Der Jüngste, der war ein wenig dick und ein wenig
denkfaul, der mochte ja ihretwegen Flickschneider werden, obgleich --
wenn sie das sagte, dann erschien sie noch einen Zoll höher als sonst
-- droben auf dem Turm Meister Nössel auf dem Schneidertisch gesessen
war, der sich mit allerhand Weisen und Gelehrten messen konnte. Sie
wollte das ihrige tun, daß diese ihre Patenkinder, sie mochten werden
was sie wollten, Teil hätten an den geistigen Gütern der Menschheit.
Ja, macht nur die Augen auf, ihr Buben. Dote Gertrud hat so vieles in
sich angesammelt, sie hilft sich selbst, wenn sie euch hilft.

Aber was versteht ihr davon?

Ihr rennet davon, alle drei, wenn ihr euer Vesperbrot gegessen habt
und spielet unter den Bäumen, »Frau Mutter leih mir d' Scheer«, nach
einiger Zeit liegt einer von euch, der kleine, feine Leonhard, unter
dem jungen Birnbaum am Stadtgraben und verschränkt die Hände hinter
dem Kopf und guckt nach dem blauen Himmel, der zwischen dem Geäst
hereinsieht und guckt den Wolken nach. Wer hat dich gelehrt, gerade so
träumerisch dreinzusehen, wie Georg Ehrensperger, und gerade so leise
vor dich hinzusummen, als ob dir etwas Schönes durch Kopf und Herz
ginge?

Abgewendet hat sich Gertrud, als sie dir eine Weile zugesehen hatte und
nun steht sie an dem Bretterzaun, der den Garten von der Straße nach
Hinkelsbach trennt und sieht hinaus -- hinaus.

Weißer Staub liegt auf der Landstraße, ein Lüftchen kommt und wirbelt
ihn in die Höhe. Kinder verlassen den schmalen Steig, der neben
der Straße hergeht und schlürfen mit den Schuhen durch den Staub,
es ist so lustig, wenn sich das schwarze Leder weiß färbt. Mögen
die Eltern auf dem ehrbaren Steig einhergehen und ihre sauberen
Feiertagskleider schonen. Ihr Teil Staub bekommen sie dennoch, so
gut wie die hellbegrünten Hecken am Weg und das junge Gras davor.
Aber es schadet nichts, der Frühlingswind ist lustig und der tanzende
Staub ist lustig, und die weißen Wölkchen, die durch den blauen
Frühlingshimmel schimmern, sind lustig, und in Hinkelsbach ist eine
große Bauernhochzeit, da wird's erst recht lustig werden. Da müssen
die Wiblinger dabei sein, die Metzger und die Bäcker und die Schuster
und die Schneider, die alle mit den Hinkelsbachern zu schaffen haben.
Es ist Pflicht, sie tun es der Kundschaft zulieb, wenn sie mit Kind
und Kegel hinausziehen und essen und trinken und tanzen und sich
im saubersten Staat zeigen. Sie greifen heut tief in den Beutel in
dieser Pflichterfüllung. Wieder eine Gruppe und wieder eine, und nun
kommen zwei, bei deren Anblick Gertrud Cabisius -- nicht so ganz
ruhig bleibt. Ein stattlicher, breit gewachsener Mann in hellgrauem
Anzug, im Knopfloch eine rote Nelke, im Gesicht heiteres Behagen,
kräftige Lebenslust, in der ganzen Haltung eine behäbige, vermögliche
Bürgerlichkeit. Und ein hochgewachsenes, schönes Mädchen, nicht mehr
so ganz jung, nicht so viel jünger als Gertrud, so recht reif und voll
erblüht, im weißen Kleid, Korallen um den feinen Hals, leuchtend roten
Mohn auf dem großen, gelben Hut.

Sie gehen im Takt, rasch, leicht, wie auf Federn; falls es auch für sie
ein Pflichtgang ist, -- er fällt ihnen nicht schwer. Worüber sie nur so
viel zu lachen haben? So hell und herzlich kommt es heraus, so leicht
und unbeschwert.

»Grüß Gott, Gertrud.« Lore sagte es so übermütig, so sieghaft.

Schier ein bißchen Mitleid ist auch dabei, oder meint Gertrud das bloß?
So etwa: »Was weißt du von Lebensfreude, du -- du Großmutter? Ich --
ich weiß davon. Du auch, Franz, gelt?«

Da ist wieder das Lachen. Und Gertrud weiß nicht recht, warum es ihr so
ins Herz schneidet.

Vorüber.

Hintendrein kommt ein anderes Paar, der Müller Hensler, kurz, dick,
rot im Gesicht, auch eine Blume im Knopfloch, Lore hat sie ihm
hineingesteckt. Überhaupt, Lore. Wer kann sich noch denken, daß sie
einmal nicht dagewesen sei? Der Müller Hensler nicht. Die Gäste in der
Weinwirtschaft auch nicht. Franz? -- Franz auch nicht.

Frau Maute geht in einer lilaseidenen Bluse, mit roten Blümchen
besät, neben ihm her, ein wohlhabendes Lächeln um Mund und Augen, den
Ansatz zu einem Doppelkinn auf der Perlborte des Halskragens ruhend,
das rotblonde Zöpfchen sauber aufgesteckt unter einem meergrünen
Spitzenhütchen.

»Immer jünger,« sagt der Müller Hensler, wenn er sie ansieht. Er selbst
wird auch immer jünger. Man weiß nicht, was noch werden mag. Wenn ihm
nur der Wein nichts tut. Der Doktor hat dieselben Bedenken bei ihm, wie
beim Bäcker Ehrensperger.

Vorüber.

Gertrud sieht ihnen nach und weiß nicht, daß sie es tut. Denn ihre
Gedanken sind fern von hier, bei einem, der in diesem Augenblick in der
kleinen, altersgrauen Kapelle, auf der Anhöhe am Isarufer sitzt. Es ist
eine Orgel drin, und er läßt sie erklingen. Er hat geschrieben, daß
ihm dort zuweilen, zwischen den grauen Steinwänden, an denen nur wenig
Schmuck haftet, hie und da ein Heiligenbild, hie und da ein Kränzlein
-- daß ihm dort zuweilen schöne, schöne Melodien, wie in feierlichem
Zuge kommen.

Nun sieht sie ihn dort sitzen, ein blindes, elendes Bübchen bei sich,
das sitzt ganz still da und hebt die lichtlosen Augen und horcht. Wie
die Klänge zu der offenen Tür hinausschweben in das grüne Dunkel des
Busch- und Baumwerks draußen. Wie Gesang einer Gemeinde, die körperlos
hier drinnen versammelt ist.

Hie und da ist Emeritz bei ihnen; hie und da kommt der Schneider,
Theodors Vater, wenn er seine Kundengänge gemacht hat. Dann lädt er
das Büblein auf seinen Rücken und trägt es heim, ein zweiter Sankt
Christoforus, nur daß ihn das leichte Gewicht nicht niederdrückt, den
breiten, starken Mann. Ihn drückt etwas anderes; ihn drückt der Kummer
um das Kind. Daß es so hinleben soll, so lichtlos, so arm. Aber das
Kind lächelt. »Es ist so schön gewesen, Vater.« Bilder einer reichen
Welt sind an ihm vorbeigezogen, die hält es noch fest.

Und nun ist der Komponist allein. Gertrud sieht ihn; sie sieht ihn
deutlich. Wie er aufsteht und in dem dämmerigen Raum hin und her geht.
Das weiß sie, daß er so zu tun pflegt. Aber sie weiß nicht, ob er mutig
und froh darein sieht, ob er das, was ihm durch den Sinn zieht, fassen
konnte, oder ob er sich müde daran zerarbeitet.

»Es wird so anders als ich dachte,« schrieb er neulich an den
Großvater, »es wird religiös, ernst, sehnlich -- und ist doch keine
Kirchenmusik. Ich weiß nicht, wer es aufführen soll und nicht, wie
ich es nennen soll. Es ist keine Symphonie, kein Oratorium, es ist
eine musikalische Dichtung. Aber ich kann nichts anderes schaffen als
das. Alles, was ich habe, strömt dahin. Es muß mich doch noch segnen.
Ich bin jetzt weit voran. Ich denke bis zum Sommer fertig zu werden.«
Dann, wenn er nach Haus geht, das heißt, in seine Stube zurück, geht
er den Strom entlang, und sieht den Abendhimmel sich darin spiegeln,
und die Ufer, und kommt zu den Menschenwohnungen und sieht Kinder auf
der Straße spielen, und sieht ein Paar mit einander gehen, und sieht
den Blick, mit dem sich die beiden ansehen, und erschrickt, daß er so
allein sei und kein Auge habe, in das er das seinige senken könne,
nun seine Seele zurückgekehrt ist aus der Welt, die er ahnend, tönend
festhalten wollte.

Dann, das weiß Gertrud, ruft er sich ein Bild vor die Seele, das gehört
ihm, -- sie ist es aber nicht, es ist Lore. -- Und er breitet im Geist
die Arme nach ihr aus. »Bald, bald.«

Wie sie da am Zaun zusammenschrickt, als müsse sie noch die beiden
stattlichen Gestalten dahinschreiten sehen, die vorhin vorbeigingen.

Weißt du es, Lore, daß er die Arme nach dir ausbreitet? Wartest du
ebenso auf ihn? Sicher, gläubig, still und fest? Warum kommst du nie
mehr zu Gertrud Cabisius? Du habest so viel zu schaffen, sagst du? Sie
hat dich aufnehmen wollen, um seinetwillen, sie hat ihr Herz bezwungen,
daß es dich hereinließ. Und nun Lore? -- Vorüber. Kein Staubwölkchen
zeigt mehr, wo ihr gegangen seid. Leer und still die Straße.

Und Gertrud wendet sich um und geht zu den Kindern und spielt mit
ihnen, und geht zu den Greisen, die schon durch ein langes Leben
gegangen sind. Dauert es lang, bis man so alt wird? Still.

       *       *       *       *       *

In der Krone zu Hinkelsbach ging es hoch her. Er war eine stattliche
Bauernhochzeit mit vielen Gästen. Wagen an Wagen drängte sich vor der
Tür, Ellbogen an Ellbogen saß man in der großen Wirtsstube, Paar an
Paar drängte sich im Tanzsaal. Die Wiblinger waren mitten drunter. Die
Kinder tanzten draußen im Hausöhrn und hinter dem Haus auf der Wiese,
die Alten drinnen.

Auf einer kleinen Erhöhung waren die Musikanten untergebracht. Ein
alter Baßgeiger, kurzatmig, den Kopf tief zwischen den Schultern
eingebettet, strich, beständig mit den kleinen Äuglein zwinkernd, so
eifrig auf seiner Baßgeige hin und her, als sei sie ein Stück Brennholz
und der Bogen eine Säge, die es zu zerkleinern habe. Didel dudel
dudel -- didel dudel dudel. Neben ihm blies ein Klarinettist von fast
schwindsüchtiger Hagerkeit, lang und oben vornübergebeugt, mit düsterm
Gesicht in sein Instrument hinein. Wie lange mochte er noch Atem haben,
um die Töne hervorzubringen, die den Bauern und den Städtern in die
Beine fuhren?

Didel dudel dudel -- didel dudel dudel. Und noch zwei Musikanten.
Ein Geiger und ein Harfenmädchen. Sie schienen zusammenzugehören,
wenigstens tauschten sie hie und da einen Blick des Einverständnisses,
der Geiger aus feurig blitzenden Augen, an deren Blinken indessen
zum Teil der reichlich genossene Wein schuld sein mochte. Wenn solch
ein Strahl das Mädchen traf, dann hob es für flüchtige Sekunden die
dunklen, etwas schwermütigen Augen, die in einem bräunlich-blassen
Gesicht standen, und langsam färbte eine aufsteigende Röte ihre Haut
bis unter das krause dunkelbraune Haar.

Sie trug ein grünes Kleid, das zu einer längst verklungenen Zeit ein
Prachtstück gewesen sein mochte, mit vielen Garnituren und Falten, und
um den bloßen Hals ein Kettlein aus kleinen Goldblechmünzen, und ihre
Schuhe sahen unter dem Saum ihres Kleides hervor wie solche, die für
glatte, ebene Wege gemacht und widerwillig steinige, mühselige Straßen
gegangen waren. Didel dudel dudel. Sie griff ihre Akkorde dazu wie
eine, die es aufgegeben hat, in der weiten Welt noch etwas besseres zu
suchen als tanzenden Bauern aufzuspielen, den schwermütigen Unterton
zu dem Gekreisch und Gelächter der Geigen und Klarinetten, heute hier,
morgen dort, -- weiter, weiter, ohne Heimat, ohne friedlichen Rastort.
Was ihr der Geiger war, wer konnte es wissen? Ein Trauring blinkte
nicht an der Hand der Harfnerin, an der seinigen saß ein Siegelring.
Er führte den Bogen nicht ohne Geschick, es hatten schon schlechtere
Musikanten als er hier gefiedelt. Didel dudel dudel.

Dachte Lore Maute an einen andern Tanzsaal, einen weiten, grünen
Wiesenplan am Saum des Waldes? Damals waren die Englein auf weiß
schimmernden Wölkchen gesessen und hatten aufgespielt, alles war Glanz
und Jubel und Seligkeit gewesen, alles Jugend, Jugend. Das war lang her
seitdem, es ging ins vierte Jahr. Sie hatte damals wohl auch mit Franz
getanzt -- heimlich lächelnde Blicke des Einverständnisses mit Georg
tauschend. Es war so anders als heut.

Warum kam er auch so lange nicht? Warum tat er sich nicht um eine
Stelle um, ein Brot? Warum mußte mit Gewalt jenes Werk vorher fertig
sein, von dem man nicht einmal wußte, ob es dann Geld und Ehren
brachte? Sah so das Glück aus, nach dem Lore Maute, die schöne,
bewunderte Lore ausgeschaut hatte, seit sie denken konnte?

»Komm, Franz.« Und sie tanzten, tanzten, ruhig, sicher, beherrscht
und gut im Takt, #sie#, -- warm und angeregt vom Wein und von der
Frühlingsluft und von der Musik, und von dem Anblick des schönen
Mädchens, das er im Arm herumschwenkte -- er --. Er war ein stattlicher
Mann, gerade im besten Alter, und heiter, und gutmütig, und hatte
schöne, weiße Zähne; wenn er lachte, sah er hübsch aus. Und seine Augen
und seine Gedanken waren gleicherweise hell, nüchtern und aufs Reelle
gerichtet.

»Prosit, Frau Base,« sagte der Müller Hensler und stieß mit Frau
Maute an. Sie saßen an einem Ecktischchen und sahen in das Gewühl der
Kommenden und Gehenden. Mit dem Tanzen war es bei dem Müller Hensler
vorbei, trotz seines jugendlichen Gemütes, es fehlte am Atem. »Prosit,
Herr Vetter.« Frau Maute lächelte süß und sah in den offenen Tanzsaal
hinein, wie in einen vollen Geldbeutel. Was sie da sah, gefiel ihr.
Jetzt setzte die Musik aus, »die Jungen« kamen herein, hochatmend
und vergnügt. »Jetzt etwas zu essen her, aber viel und etwas Gutes,«
sagte Franz. »Ich muß hier etwas draufgehen lassen, sie kaufen viel
bei mir. Ihr wißt es.« Ja, das wußten sie. An ihnen sollte es nicht
fehlen, wenn die Kundschaft künftig schlechter wurde. Die Musikanten
kamen auch in den Saal. Ganz hinten beim Schenktisch ließen sie sich
nieder. Das Harfenmädchen war nicht dabei. Der Geiger ließ die Augen
unruhig umherlaufen. Als sie nach einer Weile nicht kam, stand er auf
und ging mit großen Schritten durch den Saal und durch die offene Tür
in den Tanzraum. Dort mußte er sie gefunden haben, denn er führte sie
an der Hand mit sich herein. Sie sperrte sich, es mußte etwas zwischen
ihnen gegeben haben. Die Gäste sahen auf und einige lachten. »Nimm dich
zusammen,« raunte der Geiger und sah sie zornig an. Da ging sie mit
gesenktem Kopf neben ihm her; er hielt ihr Handgelenk umspannt wie mit
einem Schraubstock.

Als die beiden an dem Tisch der Wiblinger vorübergingen, fing Lore
einen Blick von Franz auf, der ihr nicht gefiel. Was wollte er? »Du,«
sagte er, so mit einer spöttischen Lustigkeit, die man nicht an ihm
gewöhnt war, »du, Lore, was meinst du, das Harfenspielen wird nicht so
schwer zu erlernen sein?«

»Das Harfenspielen?« Sie sah ihn groß an. »Warum, willst du es üben?«

»Nein,« er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und ließ seine Augen über
sie hingehen, »ich dachte nur so bei mir, die Musikerfrauen können
doch auch zuweilen, wenn Not an Mann geht, den Männern im Handwerk
helfen. Sauber ist die da auch, nimm mir's nicht übel, wenn du auch
schöner bist. Du könntest immerhin zeitig anfangen.« Jetzt hatte sie
ihn verstanden.

»Sei still,« sagte sie. Ihre Stimme war klanglos und ihre Augen
flammten zornig auf. »Was fällt dir ein?« Sie kehrte sich mit einem
Ruck von ihm ab. Die Alten hatten nichts bemerkt, sie waren eifrig mit
Essen beschäftigt. Da erschrak er, weil er sie nun verletzt hatte. Er
wußte nicht, wie es ihn so plötzlich angekommen war, das zu tun. Er war
aufgeregter, als er von sich selbst gewöhnt war.

»Lore,« sagte er halblaut, »Lore, es war ja nur ein Spaß. Es fiel mir
so ein. Sieh einmal den Geiger an, er sieht dem Georg ein bißchen
gleich. Lore. Ich mein's doch gut mit dir. Das weißt du doch. Jetzt sei
nicht bös. Guck, ich hab's schon lang sagen wollen: er bringt's ja doch
zu nichts. Ich mag ihn, er ist mein einziger Bruder. Aber das sag' ich
doch. Er bringt's zu nichts. Er ist nicht praktisch und nicht nüchtern.
Ich will dir sagen, was er ist: er ist zu ideal.«

Jetzt war er ganz bei der Sache. Die Worte flossen ihm leichter von den
Lippen als sonst.

»Guck, er hat immer bei allem so einen Gedanken, wie es eigentlich
sein müßte. Da kommt er mit dem, was ist, nicht ins Glatte. So
war's beim Pfarrer werden. Er sei nicht fromm genug dazu, er wäre
nicht wahrhaftig, wenn er's würde, hat er gesagt. Und so ist's
jetzt. Das weißt du selber. Ist er etwas? Wird er etwas? Immer so
eine Eigenbrötlerei, anstatt drauf loszugehen. Sich ein bißchen gut
dran machen bei den Lehrern, ein Examen machen, dann sich irgendwo
niederlassen, hier in Wiblingen, wenn's sein muß. Er könnte Stunden
genug kriegen und könnte Organist werden. Aber nein, da muß komponiert
sein. Und was? Ach, ich ärger' mich ja zu sehr, komm, wir wollen
tanzen, Lore.«

Sie saß längst wieder gerade neben ihm, sah in ihren Schoß, während er
redete, und über ihre Mienen spielten unruhige Lichter. Als er sie zum
Tanzen aufforderte, stand sie auf, ohne ein Wort zu sagen und ging hoch
und aufrecht neben ihm her.

Sie dachte jetzt nicht gut an den Fernen. Franz hatte recht. Er brachte
es zu nichts. Jahr um Jahr verging -- sie sah jetzt nicht mehr das
stille, tiefinnerliche Glück, das sie zuweilen in seiner Gegenwart
überschattet hatte, -- sie sah auch nicht mehr das Leuchten seines
Sterns, seiner Zukunft, -- sie sah nur den Sonderling, der, nicht
mehr im schönen, stolzen Sinn, anders war, als alle andern. Ein Zorn
überkam sie, eine jähe Blutwelle stieg ihr bis unters Haar, bis in die
Fingerspitzen. Franz sah es. »Du könntest es besser kriegen. Ihr passet
ja nicht für einander.« Er sagte es kaum hörbar. Als nichts darauf
erfolgte, fuhr er fort: »Ihr drücket einander, -- du ihn und er dich.
Lore, du solltest -- du solltest einen Knopf an die Geschichte machen
-- einen Schluß, mein' ich. Er ist froh -- schließlich -- nicht gleich,
-- aber bald. Und du auch. Und dann -- dann nimmst du mich. Dann bleibt
alles in der Familie.« Er lachte ein wenig, so, als sollte es ein Spaß
sein und war doch Ernst.

»Sei still.« Sie brachte es kaum heraus. »Sei doch still. Ich frag'
ihn; er soll mir's sagen. Ich will keine alte Jungfer werden. Ich
nicht. Das kann er nicht verlangen.«

Der Geiger und das Harfenmädchen kamen Hand in Hand auf ihren Platz bei
der Musik zu. Sie waren scheints wieder einig.

Als Lore sie sah, verdunkelten sich ihre Augen, so mächtig schoß ihr
das Blut in die Stirn. Wer wagte es, sie mit einer herumziehenden
Musikantenbraut zusammenzustellen?

Dort in Wiblingen stand das solide, gedeiliche Ehrenspergerhaus. Dort
konnte sie Herrin sein, wenn sie wollte. »Komm, Franz.« So hatte sie
noch nie getanzt. Alles war Leben, Wallung, zornige und hingebende
Leidenschaft an ihr. Der Müller Hensler stand unter der Tür und
pfiff leise zwischen den Zähnen, als er sie sah. Sie hatten ja recht,
es war gewiß das Gescheiteste, wenn sie zusammenkamen, die Zwei da.
Indessen, er konnte sich nicht helfen, der »Pfarrer«, der Musikant,
der Georg tat ihm doch leid. Allein, die Lore blieb ja in der Familie,
und alles konnte einer auch nicht haben: das schönste Mädchen #und#
alle Freiheit, zu leben wie er wollte. Es fiel ihm eine Geschichte
aus Georgs Kindheit ein. Da hatte man ihn gefragt: »Willst du lieber
Kirschen oder Butterbrot?« und er hatte nach kurzem Besinnen gesagt:
»Lieber Kirschen und Butterbrot.«

So ging es aber nicht das ganze Leben hindurch, da konnte ihm niemand
helfen. Er tat ihm aber dennoch leid.

       *       *       *       *       *

Als an diesem Abend die Wiblinger nach Hause gingen, ziemlich spät
und ziemlich lebhaft angeregt, da saß der, der einst »Kirschen #und#
Butterbrot« gewollt hatte, an einem Kinderbettchen und drückte
die trockenen, überwachten Augen und die heiße Stirn in die kühle
Decke, die darauf lag. Drüben in seiner Stube beschien die Lampe
viele verstreute Notenblätter, ein offenes Klavier, ein unberührtes
Nachtessen. Die Lampe flackerte unruhig, denn beide Fenster standen
offen, und hie und da hob der Wind ein Blatt und trug es ein Stück
weit, bis es auf den Boden fiel. Wollte er Georg Ehrenspergers
»schönstes Lied« in die weite Welt hinaus tragen, damit es bekannt
würde? Er, der Wind, war ja auch darin, und die Frühlingsnacht mit
ihren wundervollen Sternen. Es war ja aber noch nicht fertig. Da mußte
wohl der Wind noch warten. Darum ließ er die Blätter, eins ums andere,
nahe beim Fenster zu Boden fallen. Georg war nur zur Erfrischung auf
eine Weile zu dem blinden Theodor hinübergegangen. Der war seit einigen
Tagen krank. Nicht schwer, nur ein bißchen fiebrig und matt. Er lag in
der Wohnstube und war allein. Der Schneidervater war vorhin ins Bett
gegangen, er war rechtschaffen müde. »Nehmen Sie nur die Lampe mit,«
hatte Georg gesagt. »Wir brauchen kein Licht, gelt, Theodor?«

»Nein.« Ein schmales, heißes Händlein schob sich in seine große Hand.

»So, jetzt sind wir allein. Willst du noch nicht schlafen, Theodor?
Sag's, wenn du müde bist.«

»Nein, ich schlafe noch nicht. In deiner Hand klopft es so stark. Da,
in den Fingern, und überall. Was tut da so?« »Das tut überall so, in
meiner Stirn und in meinem Herzen und überall. Das ist mein Blut. Das
ist so unruhig, weil mich etwas stark umtreibt.«

»Was treibt dich denn so stark um? Was ist das -- umtreiben?«

»Ach, sieh, es ist mir auf einmal angst geworden: es ist so viel, viel
Musik in der Welt. Allein in dieser Stadt, lieber Bub, so viel. Du
glaubst es nicht. Und jetzt will ich doch auch kommen und sagen: hört
auf mich. Und wenn jemand horcht, wem wird es dann Freude machen?«

Sie waren so gute Freunde geworden. Immer bessere mit der Zeit. Sie
verstanden einander ausgezeichnet. Was dem einen an Jahren abging, das
hatte er an wartender, sehnlicher Armut voraus, die hungrig auf- und
annahm, was in das verdunkelte, abgeschlossene Kinderleben dringen
wollte.

»Ach, das gefällt allen. Es ist ja so schön.« Er war aber doch ein
bißchen bedenklich. So viele Musik war? Wo denn nur? War die Welt so
reich? Und würden die andern einmal eine Weile still sein, daß man
Georg Ehrensperger hören konnte? »Also sieh, auf morgen, da ist mir's
angst. Da will ich zu einigen Leuten gehen, die etwas verstehen, meine
Mappe unter dem Arm, und will ihnen etwas vorspielen. Weißt, die
Stellen, die dir so gut gefallen. Ich will sie fragen, ob sie mir zur
Aufführung helfen wollen. Oder, Theodor, -- ob mir's einer abnimmt,
ganz und gar, und druckts -- viele hundertmal, du. Ach, das darf ich
ja fast nicht denken. Aber schön wär's. Und dann -- Konzert in den
Mathildensälen -- oder sonstwo, und das ganze Orchester setzt ein -- ob
sie mir's auch fein genug spielen, -- und ich, ich sitze ganz hinten
und horche, und du bist auch dabei. Und wer noch? in einem weißen Kleid
und hat eine einzige, rote Rose vorn stecken? und sieht mich an: du, so
schön hätt' ich mir's nicht gedacht? Wer? Und sagt: du, ich bin stolz.
Alle die vielen Menschen hören auf dich?«

»Das Fräulein Lore,« sagte Theodor vergnügt. Es war nicht das erste
Mal, daß sie davon sprachen.

»Und dann nachher kommt sie zu mir und sagt: Theodor, wenn wir aber
einmal in einem schönen Haus mit einem großen Garten dran wohnen, dann
hol' ich dich, dann mußt du zu uns auf Besuch kommen. Das sagt sie,
weil sie die Kinder gern hat und weil ich dein Freund bin.«

Man sieht, daß die zwei miteinander die allerbeste Meinung von dem
Fräulein Lore hatten. Sie konnten gar keine bessere Meinung von irgend
jemand haben.

»So, jetzt muß ich wieder hinüber und du mußt schlafen. Schlaf dich
gesund. Wirst du schlafen können?«

»Ich weiß nicht. In meinem Kopf drin ist alles ganz wach. Spiel' mir
noch etwas. Spiel' das, wie die Kinder auf der Wiese tanzen. Das tu'
ich auch, wenn ich in den Himmel komme und gesunde Füße habe, und
Augen, und kein Rückenweh. Spiel' mir das, dann schlaf' ich ein.«

Da ging Georg Ehrensperger in seine Stube hinüber und sah, daß
die Lampe am Erlöschen war und was der Wind für Arbeit mit seinen
Notenblättern gemacht hatte. Und löschte das Licht und nahm seine
Geige und spielte beim Sternenschein dem blinden Kind das Schlaflied:
wie gesunde, frohe Kinder auf einer Wiese tanzen und springen und
einander Blumenkränze aufs Haar drücken und ein heiteres Lied singen.
Auf der einen Seite, Wand an Wand mit ihm, hob die dicke, brave
Gemüsehändlerin, Emeritz's Mutter, das runde Haupt, das in einer
gestrickten Schlafhaube steckte und sagte mit gutmütigem Brummen:
»Na, geht er heut gar nimmer ins Bett? muß er vollends zu Haut und
Knochen werden?« und beschloß, ihm morgen einen extrazarten Rettich zu
spendieren, wann er kommen würde, um die Miete zu bezahlen. Und schalt
Emeritz, die neben ihr im Schlafe lachte: »Ja, jetzt lachst du. Steh'
auf und tanz', im Nachthemd meinetwegen. Das möchtest du, Nichtsnutz!
Und gestern hast du ihm die staubigen Stiefel unters Bett gestellt. Das
kommt mir noch einmal vor. So einem Herrn, den die Engel Gottes hüten
müssen, daß er in der schlechten Welt nicht unter einen Wagen kommt,
so unbewußt ist er.« Und küßte das Kind, das immer noch lachte, auf
den Mund. Das tat sie bei Tag niemals. Da hörte sie aber auch Georg
Ehrenspergers Geigenspiel nicht. Und auf der anderen Seite zogen durch
die Seele des elenden Bübleins die lieblichen, heiteren Klänge wie
lichte, festliche Boten aus einem Land, in dem es keinerlei Mangel,
noch Dunkelheit, noch Schwäche gibt und zogen sich in einen purpurnen
Traum hinein, der das Kind in seine Arme nahm.

Denk daran, Georg Ehrensperger, wenn du morgen saure Tritte tun wirst
und Achselzucken und befremdete Mienen sehen und ablehnende Worte hören.

Denk daran, daß du einem armen Kind wohl getan und ein anderes lachen
gemacht und einer Mutter das Herz zum Wallen gebracht hast. Denk daran,
wie viel festliche Stunden du deinen Freunden, den armen Leuten, schon
bereitet hast und wie dir selber im Ringen mit dem schaffenden Geist
der Ernst und die Schönheit und die Tiefe des Lebens aufgegangen ist.
Und laß deine Hände sinken, wenn sie unruhig nach dem Kranz, den der
Ruhm flicht, greifen wollen. Aber die Augen laß nicht sinken, Georg
Ehrensperger.




                    Sechstes Kapitel


Es ist eine alte Geschichte und schwer zu erzählen, die Geschichte von
dem Geiger, der das schönste Lied suchte. Sie ist schon oft erzählt
worden in vielen Sprachen, zu allerlei Zeiten. Sie ist die Geschichte
vieler. Ja, sie geht durch die ganze Menschheit hindurch. Wer erlebt
sie nicht mit? Nur die ganz Satten, ganz Heimischen wissen gar nichts
davon zu sagen. Die andern alle sind irgendwie am Suchen und sind es
ihr Leben lang und bis an den Tod.

Aber es sind doch immer noch einzelne, die Sonntagskinder, die
Horchenden, von denen wir schon einmal geredet haben, denen vom
Paradies her noch das Rauschen der vollen Lebenswellen in den Ohren
klingt, die sind von einem Verlangen getrieben, sie wieder zu hören,
ganz rein, ganz stark, -- und die andern auch hineinhorchen zu lassen.

Still!

Es ist ein langer, schweigender Zug, der an unsern Augen vorübergeht.

Auch jener gehört dazu, der ahnend sagte: Was kein Auge gesehen und
kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das
hat Gott bereitet denen, die ihn lieben. Auch Er -- ach er wie kein
anderer, der seinen Glauben und seine Liebe durch eine Welt voll
Enttäuschungen und Mißerfolge und Nichtverstehen hindurchtrug und
dennoch in der letzten Stunde noch einem armen Menschen versprach, daß
er jetzt dann gleich -- heute noch -- sagte er, mit ihm das Rauschen
der Paradiesesströme hören werde.

Auch Jabal und Jubal, als sie zum erstenmal Pfeifen schnitten und
versuchten, das, was sich nicht in Worte fassen ließ, den Menschen in
Tönen zu sagen.

Auch alle Propheten und Dichter und Künstler und Priester aller Zeiten
und Völker, so fern sie nur wahrhaftig das, was vom Ewigen in ihrer
Seele lebendig wurde, -- und nichts anderes -- aufnahmen und ihm
nachgingen, immer hinter ihrem Glauben und ihrer Hoffnung her, immer
wieder in die Stille gehend und sich sammelnd, wenn ihnen die Melodie
verloren ging, immer wieder den andern mitteilend, dass sie Gott in und
hinter dem Leben vernahmen.

Auch jener alte Mann gehört zu ihnen, den Georg Ehrensperger am Abend
eines Tages, an dem ihm allerlei Hoffnungen fehlgeschlagen hatten,
in der kleinen, grauen Kapelle am Isarufer fand, von einer Schwäche
befallen, und den er sorgsam nach Hause führte. Der hatte in seiner
Stube, vier Treppen hoch in einer engen Gasse, achtundzwanzig Mal
dasselbe Bild an der Wand, in Bleistift-, Kreide- und Kohlezeichnungen
und in Aquarellfarben ausgeführt, einigemal sehr mangelhaft, einigemal
besser, einmal in einer reifen warmen Schönheit. Es war ein Stückchen
kahle Heide, an deren Rand ein kleiner Weiher lag, in dem sich eine
Birke spiegelte. Ein armes, einfaches Stück Land, aber auf dem letzten
Bild war alles, Heide, Weiher und Birke vom Lichte der scheidenden
Sonne golden übergossen. Man sah den feurigen Ball nicht mehr, nur
die Flut des segnenden Lichtes, das von ihm ausging. Kein Läublein
schien sich an der Birke zu rühren, kein Wellchen in dem Weiher, kein
Gräslein in der Heide; es war, als ob alles den Atem anhielte, um nicht
durch eine Regung einen funkelnden Tropfen des goldenen Reichtums zu
verlieren.

»Ich habe nichts sonst zu hinterlassen,« sagte der alte Mann, als Georg
still davor stand, »nichts als das, wenn ich davon gehe. Ich habe es
hundertmal versucht, es schien mir ein Bild meines Lebens zu sein. Aber
die Sonne hat mich doch gesegnet, einmal doch. Sie ist doch da, auch
wenn man sie nicht sieht. Man muß nicht an ihr verzagen. Man kann sie
nicht so malen, wie sie ist,« er lächelte fein, »ich einmal nicht; --
wir haben auch wohl keine Augen, um hineinzusehen -- höchstens wenn sie
sinkt, ganz zuletzt. Aber sie segnet uns doch.«

Und Georg wußte, daß ihm hinter dieser Sonne eine andere stand, der
er nachging in Liebe und Verlangen, und daß er hoffte, irgend einmal
rechte Augen dafür zu bekommen.

Ja, er gehörte auch zu jenem stillen Zug, von dem wir sprachen. Und
Georg Ehrensperger auch.

Sie wissen nichts von einander, oder doch nur selten. Sie gehen viel
allein, in Armut und mit sehnlichen Herzen, und es gehört zu ihrer
großen Hoffnung, daß irgendwann einmal das große, herbe Alleinsein
aufhöre.

Alle guten Geister....

Da grüßen sie einander durch Länder, Zeiten und Ewigkeiten hindurch und
sind dennoch eine Gemeinde untereinander. Es ist eine alte Geschichte
und oft ist es auch eine leidvolle Geschichte, schwer zu erzählen, die
Geschichte von dem Geiger, der das schönste Lied suchte.

Wenn er es in sich selber vernimmt und seine Finger sind schwer und
seine Geige hat keine Saiten dafür.

Wenn die andern herumstehen und die Köpfe schütteln: Was ist das? Das
ist wirres Zeug, dunkles. Ein Narr bist du.

       *       *       *       *       *

Der Frühling und der Sommer war vergangen, es war Herbst geworden.

Daheim in Wiblingen lag die Sonne auf den reifenden Trauben in den
Weinbergen und auf den Apfelbäumen droben am Berg in dem Obstgut,
wo einst die Kinder miteinander Kirschen gebrochen hatten, und auf
Lore Mautes breitrandigem Strohhut, unter dem ihr lachendes Gesicht
hervorsah. Sie stand unter einem Rosenapfelbaum und hatte einige
niedrige Zweige zu sich heruntergezogen und brach die reifen Früchte
in einen Korb. Oben auf einer Leiter stand Franz und hatte einen
Zwerchsack umhängen. Er war an der gleichen Beschäftigung. Heitere
Reden flogen hinauf und hinunter, neckische Sonnenlichter tanzten in
den Zweigen, im herbstlichen Duft und in glänzenden Farben lag die
Landschaft da.

Es saß einer fern davon am Isarufer und sah in die ziehenden Wellen des
Flusses, auf denen auch die Sonne lag und hatte doch ein anderes Bild
vor Augen, das schützte er sich nach einer Weile mit der vorgehaltenen
Hand, damit es ihm nicht vergehe. Darauf war mit freundlichen, warmen
Farben die Heimat gemalt, das ganze Städtlein und die Berge und Felder
ringsumher und die Häuser und die Menschen. Ach ja, die Menschen. Ihrer
bedurfte er am meisten zu dieser Stunde. Dachten sie seiner? Einige
waren, die wußten, was er jetzt, heute, vorhatte. Da stärkte er sich im
Gedanken an ihr Dabeisein, an Lores vor allem. Sie ging es vor andern
an, darum schuf er sich von ihr, was er in ihr suchte, treues und
ernstes Gedenken.

Als es von einem nahen Kirchturm sechs Uhr schlug, stand er auf, mit
stillem, gefaßtem Gesicht, obgleich es hinter seiner Stirn und in
den Händen pochte und zuckte, und ging in die Stadt. Es war Zeit.
Drinnen auf der Theresienwiese ging es laut und farbig zu. Es war
ein Menschengewühl und ein Gelärme von schriller Karussellmusik, von
Moritatensängern und Schießbudenausrufern. Das Oktoberfest hatte
begonnen. Durch all das Gewühl hindurch ging Georg Ehrensperger seiner
Wohnung zu. Wie es ihm plötzlich im Ohr klingelte, als wollte sich
etwas anmelden von ferne her. Das war's, der Lärm rief es in ihm wach,
er hatte lang nicht an jenes hinterlassene Wort des alten Hollermann
gedacht: »wer den rechten Ton will finden, der in allen Dingen
beschlossen liegt, der muß in die Stille gehen und horchen. Und darf
nicht fragen: ist es so den Leuten recht? Sonst lärmen ihm die Trommeln
und Pfeifen der Jahrmärkte dazwischen.«

Ja, aber jetzt mußte er doch darnach fragen, jetzt, da sein Werk fertig
dalag und nach Menschen begehrte, zu denen es reden könne. Es sollte
ihm nicht gehen, wie jenem alten Musiklehrer, den er kannte. Der hatte
ihm einst geschriebene Noten gezeigt, drei Schubladen voll, lauter
eigene Kompositionen, die nie vor Menschenohren hatten klingen dürfen,
weil sie ihm niemand abgenommen hatte. »Da steh' ich manchmal davor,«
hatte er gesagt, »und höre, wie es da drinnen wimmert und klagt und
heraus will. Noten sind doch lebendig, -- lebendig begraben sind sie.«

Nein, so nicht, so sollte es ihm nicht gehen.

Da stieg er seine Treppen hinauf. Emeritz kam ihm entgegen, als er
die Tür aufschließen wollte. »Der alte Herr ist schon drin, der eine,
der schon zweimal dagewesen ist.« Sie sah wichtig und feierlich aus.
Da atmete Georg auf. »Der alte Herr,« das war der Lehrer, der sich so
freundlich und verstehend um ihn angenommen hatte. Der half ihm, der so
allein für sich hingegangen war, auch jetzt, daß einige Männer, Musiker
von Fach, und einige Laien, die im Geruch standen, etwas rechtes zu
verstehen, sich bereit fanden, einmal eine oder zwei Stunden daran zu
rücken und sich das Werk des jungen Sonderlings, der so eigene Wege
ging, vorspielen zu lassen, wenn auch nur im Klavierauszug. Man konnte
doch sehen, ob etwas daran war. Denn einen Verleger dafür hatte er
nicht gefunden, »bis jetzt noch nicht,« hatte er nach Hause geschrieben.

Das sollte nun heute geschehen.

»Grüß Sie Gott.« Der alte Herr schüttelte ihm die Hand.

»Lassen Sie sich nicht draus bringen, durch nichts. Das Leben ist ja
doch noch mehr, als die Kunst.«

Georg mußte ihn scharf ansehen. Steckte etwa der Rektor Cabisius hinter
ihm? So hätte der auch sagen können.

Aber da klingelte es schon, und wieder, und wieder. Die Stube füllte
sich, man begrüßte sich, man tuschelte, räusperte, nahm Plätze ein.
Dann war es Zeit, anzufangen.

Alle guten Geister ...

Die Herren hatten ein beschriebenes Blatt in der Hand, eine Einführung
in das Ganze. Darüber steckten sie die Köpfe zusammen. Er hatte es
selbst geschrieben zum besseren Verständnis.

Georg zwang sich, nicht mehr nach ihnen hinzusehen.

Dann fing er an. Dann breitete er alle die Zeugen seiner stillen
Stunden, der frohen und der bösen, vor fremden, horchenden Ohren aus.
All' sein Ringen mit dem Innersten, das es gab, daß es einen Ausdruck
finde, das zeigte er diesen Leuten. Eine Zeitlang ging es gut. Er hielt
sich fest am Zügel: Nicht denken jetzt, nicht fragen. Aber dann lief
doch ein Gedanke zu einem Spalt hinaus: Ob einer, auch nur einer, mit
dem Herzen dabei ist? Und eben, als er das fragte, bekam sein einziger
näherer Bekannter unter ihnen den Schlucken und schluckte ein paar mal
laut hinaus, eh' er Zeit fand, es zu unterdrücken. Es war ein nervöser
Reizzustand bei dem Mann, das wußte Georg, er störte ihn oft. Aber
warum kam es gerade jetzt? -- Weiter -- Aber der Spalt ließ sich nicht
mehr schließen. Ein Unruhgeistchen um das andere schlüpfte herein und
saß auf den Tasten oder rumorte in seinem Gemüte. Alle Fehler, die sein
Werk hatte -- und es hatte deren viele, wenn man es kritisch ansah, --
die fielen ihm jetzt auf, mehr, immer mehr. Es war ihm, als ob er sie
zählen müsse. Und in seinem Kopf klopfte etwas hart und hölzern den
Takt dazu, tak -- tak -- tak.

Seine Lieblingspartieen kamen, da eine, dann wieder eine, dahin wollte
er sich retten, wie auf selige Inseln. Einmal gelang es auch, da atmete
er auf und wußte: das ist schön, da mögen sie sagen, was sie wollen.
Aber dann mußte er wieder weiter schwimmen, und da hörte er hinter
sich ein Stühlerücken und -- hatte da nicht der Deckel einer Dose
geschnappt? -- Weiter. --

Aber er war nicht mehr der Geiger, der das schönste Lied suchte, er
war es nicht mehr selbst, er selbst, wie während des Schaffens. Er saß
daneben und spielte etwas fremdes, das sagte nicht das, was in ihm
lebte, es war anders und er kannte es nicht mehr.

Hilf mir, guter Geist, -- bleib bei mir! Bleib da drin, in diesen
Tönen, wie du drin warest, als ich sie schuf. Wo bist du? -- Jemand
stand auf und ging, jemand trat ans Fenster und öffnete einen Flügel,
da gellte wie ein Hohnschrei die Jahrmarktsmusik herein. Darauf wurde
er freilich wieder geschlossen, aber der Schrei blieb hier drinnen.

Er wußte, daß er bis zum Ende spielen mußte. Sie saßen doch nun einmal
da, und er saß auch da, und die Noten standen auf dem Papier. Aber er
wußte auch, daß dann irgend etwas sonst noch zu Ende sei. Was? Nicht
denken jetzt, fertig machen.

Und plötzlich spürte er wieder so ein Summen und Klingen im Ohr, wie
vorhin auf der Straße. Und er wußte, daß da drüben, Wand an Wand mit
ihm, die kleine Gemeinde der Hausfreunde sei und liebend horchte, mit
dem Herzen, nicht nur mit den Ohren, -- und dann taten sich die Wände
auf, und weiterhin auf der Welt waren noch mehr solche Menschen, und --
ja und Gertrud Cabisius sah ihn an, ganz wie einst und horchte auch. Da
schwanden die Ängste, die fast körperlich gewesen waren, und die Männer
hinter ihm. Wie im Traum spielte er weiter und merkte nicht viel davon,
daß es allmählich unruhig wurde in der Stube, und daß jemand neben ihn
trat, um zu sehen, ob es noch nicht bald aus sei, und daß eine fette
Stimme etwas von absolutem Mystizismus sagte, und daß der Inhaber
dieser fetten Stimme ging, eh' es aus war.

Er ging hinter seinem Lied her und es war ihm, als ob sich, wenn nun
der Schluß kam und die Saiten sprangen und der Geiger starb, die vollen
Chöre von drüben herüber hören lassen müßten, von daher, wo es »bessere
Geigen« gab.

Aber es geschah nichts so Wunderbares.

Es geschah ein Stühlerücken und Aufstehen und er selbst merkte, daß
er auch aufstand und daß einiges zu ihm gesagt wurde, und daß ihm
jemand ein Glas Wasser einschenkte und hinhielt. Da trank er und kam
in die Welt zurück, und sie schenkte ihm auch einen Becher ein, der
war gefüllt mit einiger zögernden Anerkennung dessen, was »immerhin
musikalisch« daran sei, und ein wenig Hoffnung, daß »bei tüchtigem
Studium schon noch etwas herauskomme«, und mit viel lächelnder
Gleichgiltigkeit. Da wußte er und war plötzlich wach geworden, -- es
war ein scharfes, wehtuendes Wachsein, -- daß er zu denen gehöre, die
das hohe Lied des Lebens, das in ihnen erklingt, nicht singen können,
nicht so, daß es in den Menschen widerhallt. Da sprang auch in ihm
eine Saite. »Die wird nie wieder ganz.« Das wußte er. Einmal bekam er
einen guten Händedruck. Der war von dem »alten Herrn«. Aber es brauste
so wunderlich in Georgs Ohren, er hörte nicht recht, was gesagt wurde.
»Ich komme morgen wieder, ich habe Ihnen allerlei zu sagen.« Dann ging
der alte Herr zögernd fort. Er stieg allein hinter den andern drein
die Treppe hinunter; das Herz war ihm voll. Das war doch echte Musik
gewesen, dennoch, obgleich er, der sie geschaffen hatte, wohl nie zu
den Meistern zählen würde, die die Welt anerkennt. Er wollte es ihm
sagen, morgen. Als Georg sich nach einiger Zeit umsah, war er allein.

Nicht ganz allein. Emeritz stand an der Tür und machte fragende Augen.
»Ob Sie nicht zum Theodor kommen könnten?« Aber sie fragte umsonst. Er
rührte sich nicht. Er saß da, wie einer, der nun nicht mehr weiter kann
und auch nicht will und nicht weiß.

Da wetterte sie in ohnmächtigem Grimm und Mitleid die Stubentür und
dann die Gangtür zu, und polterte die Treppen hinunter; es #sollte#
poltern, sie wollte es so. Und schwang dabei die Schultasche, die sie
in der Hand hatte, daß die Schiefertafel am Treppengeländer verkrachte.
Aber mochte sie doch verkrachen, es gab noch mehr Verkrachtes in der
Welt. Sie hatte deutlich gehört, was die Herren beim hinuntergehen
zueinander sagten; es war viel Spöttisches darunter gewesen, und sie
hatte es sofort den Schneidersleuten erzählt und wollte es jetzt der
Mutter erzählen.

Aber sie wußte nicht, daß er, dem ihr grimmiges Mitleid galt, droben
in Hast und Eile eine Reisetasche packte und nach dem Fahrplan sah. Es
war ihn plötzlich angekommen, heimzugehen. Was sollte er noch hier? In
seiner Kammer neben dem Taubenschlag wollte er sich besinnen, was nun
aus seinem Leben zu machen sei. Und er wollte sich von Liebe umfangen
und trösten lassen, und am Glauben der Liebe wollte er wieder an sich
selbst glauben lernen.

       *       *       *       *       *

Als der alte Herr am andern Tag wieder kam, um sich mit Georg zu
besprechen, da saßen Theodor und Emeritz schluchzend beisammen. Er sei
fort, sagten sie, in aller Frühe sei er abgereist, und ob er wieder
komme, das wisse kein Mensch. Hier liege auch ein Brief an ihn, den
müsse man ihm nachschicken nach Wiblingen. Und dann schmiegten sie
sich von neuem aneinander, um ihre Betrübnis besser tragen zu können.
Lorens Bild aber lächelte noch von seinem Eckbrett herunter. Das hatte
er zurückgelassen? Er war ja zu ihr selbst gegangen.

       *       *       *       *       *

Es war eine Zeitlang, wohl drei Monate, nachher. Ein stilles Zimmer,
grün gestrichene Wände mit wenig Schmuck daran. Beim letzten Schein der
sinkenden Sonne saß einer und schrieb.

»Weißt du noch, Gertrud, das Märchen von dem Fuhrmann, der »noch nicht
arm genug« war? Zuerst fiel ihm sein Pferd, dann sein Hund, dann seine
Frau, dann sein Haus, dann er selbst. Nun, ich selbst lebe noch. Und
vielleicht bin ich jetzt auch arm genug. Denn mehr als mich selbst
-- und was für ein Ich -- habe ich nicht mehr. Es lebt aber irgendwo
in mir etwas wie eine tiefe, schauerliche Freude, dochzuleben und
dazusein. Das muß für den Anfang genügen. Es muß ja auch denen, die um
mich herum sind, genügen, zu leben. Denn viel mehr als das Leben selbst
haben sie, die nicht einmal das Licht sehen können, nicht.

Ich will aber versuchen, dir alles der Reihe nach zu erzählen, du bist
es wert, du Getreue. Es ist nur nicht leicht, und du mußt verzeihen,
wenn hie und da eine Blase aufsteigt und zerplatzt, ich habe hie und da
noch einen bittern Geschmack in mir. Es wird ein langer Brief werden.

Also das hast du erfahren, ich schrieb es mit drei Worten deinem
Großvater, und du, die du sein Auge bist, hast es ihm wohl vorgelesen:
Es war nichts mit dem Lied, das ich singen wollte. Davon zu reden
nützt ja nichts. Du weißt, wie es von Anfang an war: als ich mich von
der Theologie abwandte, weil sie mir zu groß und zu schwer war, da
mußte ich erfahren, daß etwas von ihr meinem Wesen gemäß sei und meine
tiefste Neigung besitze. Als ich vor der Kanzel floh, weil ich der
Meinung war, daß man den Glauben nicht lehren könne, das Innerste im
Menschen, das allem Zugang der Menschen verborgen sei, -- da merkte ich
erst, daß ich dennoch einen Zug dazu hatte, ihnen zu predigen, wenn man
so sagen will. Ich wollte ihnen etwas bringen, ein Aufhorchen auf das,
was die Stille redet, einen Glauben an das Innerliche, Unsichtbare, das
erst das eigentliche Leben ist, und daran, daß die Sehnsucht nach dem
Ewigen Recht behalte.

Und weil mich Worte dazu so unvermögend und arm dünkten, wollte ich
versuchen, es in Tönen zu sagen.

Meiner eigenen Sehnsucht und ihrer wollte ich damit nachgehen. Nun, du
weißt es, ich bin beides nicht, kein Priester und kein Künstler. Ich
#wollte# es nur sein. Andere #sind# es, das ist der Unterschied.

Aber genug davon. Ich war noch nicht ganz arm. Ich hatte ja noch meine
Liebe. Das war Schmerz und Trost zugleich. Schmerz, weil ich ihr noch
kein Haus bauen konnte, -- ich wollte jetzt mit ihr beraten, wie es zu
machen sei, und wollte ihr auch die Freiheit anbieten; aber mein Herz
lachte: das nimmt sie nicht an. -- Und Trost, weil ich von jemand sagen
konnte: meine Heimat du.

Daß ich #dir# das erzähle, Gertrud. Aber ich habe sonst keinen Menschen
und du hast von Kind auf zu mir gehört.

Ich bin zu spät gekommen. Sie hatte so lang gewartet, als sie
konnte. Als ich kam, saß sie an der Nähmaschine und nähte rot- und
weißgestreifte Hemden für Franz, und Franz bog eben ihren schönen Kopf
zurück, daß er in seinen beiden bloßen Armen lag und sie hatten ein
Lachen des Glücks in ihren Gesichtern. Zu lachen, Gertrud, hatte sie
nicht viel bei mir, und sie lacht so gern und ist so schön, wann sie
lacht. Ich hoffte, es später auch noch zu lernen. Aber es hatte zu lang
gedauert. Da ging ich leise von der Tür zurück, die war offen gewesen,
und stieg in meine Kammer hinauf. Weißt du, Gertrud, meine Kammer unter
dem Dach. Später kam Lore nach. Der Lehrling hatte mich hinaufgehen
sehen und es ihr gesagt.

Ich darf ihr nicht zürnen, Gertrud. Sie konnte nicht anders. Franz,
der ist ja mein Bruder, der hätte eigentlich --, nun, es hat wohl so
sein müssen. Was ist eine Liebe, die keinen Boden hat, keinen rechten,
natürlichen Nährboden? Er aber ist Bäcker, Weinwirt und Hausbesitzer
und -- ich darf nicht bitter sein, ein heiterer, nüchterner Mensch, der
keinen vergeblichen Träumen nachgeht. Nur, ich habe sie sehr geliebt,
und eine Seite ihres Wesens, die ich kenne, die hätte doch wohl zu mir
gepaßt.

Zu dir konnte ich damals nicht gehen, Gertrud, das verzeihst du mir. Es
zog mich mit Gewalt zu dir, und du hättest mich aufgenommen. Aber ich
konnte doch nicht.

Eins noch aus jenen Tagen: ich kann so gar nicht durchfahren. Ich
hätte, wär' ich ein ganzer Mann gewesen, sogleich wieder gehen sollen,
irgendwo hin. Ich gehörte ja doch nicht in dieses Haus. Aber sie
kamen herauf und setzten mir auseinander, wie es gegangen sei, ganz
verständlich, es war gar nichts dawider zu sagen, und Lore bat mich
tausendmal, zu sagen, daß es so besser sei auch für mich. Ich glaube,
ich habe sogar so etwas gesagt. Da blieb ich drei Tage. Ich war auch
so stumpf und müde. In dieser Zeit schickten sie mir einen Brief von
Fritz Hornstein nach, der fragte mich, ob ich »noch nicht genug von
der Freiheit« hätte. »Denn du gehörst ja doch zu uns und in ein Amt
gehörst du auch.« -- So? In ein Amt? In was für eins? Ich mochte nicht
weiterlesen. Wie ein verlorenes Paradies stand das Ideal meiner Jugend
-- du kennst es, -- vor mir. Sollte es jetzt gut genug sein für einen
verlaufenen Musikanten?

Es schüttelte mich. Ich war ja ärmer als je. Was hatte so einer, wie
ich, zu geben?

Aber schließlich las ich doch weiter. Falls es dir mit dem Neuschaffen
nicht so klappt -- verzeih', daß ich das für möglich halte, aber es
kommt ja vor und ich meine, in deinem letzten Brief so etwas gelesen
zu haben --« (ach ja, ich meine es auch), »ich wüßte dir einen Posten,
dem ich dich gönnen möchte, wenn er dir auch nicht lang genügen wird.
Es wird von einer Blindenanstalt ein Musiklehrer, der auch sonst einige
Stunden, am liebsten Religion und Weltgeschichte, und etwa Literatur zu
geben hätte, gesucht.

Seit ich das weiß, muß ich immer an dich denken, wie ich dich unter dem
Häuflein armer Leute antraf, damals in München. Du magst machen, was du
willst, du gehörst dennoch zu uns. Im übrigen wirf mir getrost einige
Grobheiten an den Kopf, falls es dir nicht paßt.«

Jetzt bin ich da, Gertrud, und merke erst, wie arg zerbrochen. Ich will
aber versuchen, zu leben und nun dennoch --.«

Als Georg Ehrensperger, Musiklehrer und Vikar der Blindenanstalt,
droben in seiner einsamen Stube im dritten Stock soweit geschrieben
hatte, legte er die Feder weg und es flutete in heißen Wellen über ihn
hin, daß er nicht wußte, #was# er #dennoch# wollte, und er ließ den
Kopf tief auf die Brust herabsinken und saß mutlos da.

Da ging die Tür geräuschlos auf und ein Zögling des Hauses, ein
blasser, feiner Jüngling mit lichtlosen Augen stand da und sagte: »Ich
habe geklopft, aber Sie haben es nicht gehört. Es ist Besuch für Sie
da.«

Besuch?

Feste, wohlbekannte Tritte auf dem Gang, eine liebe Stimme.

»Georg.« Da trat sie, der er soeben sein Herz ausgeschüttet hatte,
herein zu ihm und nahm ihn bei der Hand. »Grüß Gott.«

Er konnte nicht gleich reden. »Gertrud.« Das war alles. Es war auch
nicht nötig, mehr zu sagen, er schickte sie nicht fort, das merkte sie
dennoch.

»Da, lies, das ist für dich,« sagte er.

Aber sie wußte ja alles. Ahnte er denn nicht, wie sie mit ihm
fortgelebt hatte?

»Wie kommst du hierher, Gertrud? Wie hast du mich gefunden?«

Eine tiefe Röte überzog ihr ernstes Gesicht. Sie kämpfte einen
Augenblick mit der Versuchung, ihm zu sagen, daß sie ein Kind im Hause
besucht und nicht habe versäumen wollen, ihn auch --. Weg damit. »Ich
bin nur zu dir gekommen.« Das Herz schlug ihr bis an den Hals, aber sie
sagte es dennoch. »Ich mußte, ich habe immer zu dir gehört, Georg. Ich
habe so lang gezögert, ich hatte -- ach, das ist ja gleich. Da bin ich.«

Da zum erstenmal seit -- ach seit langer Zeit, überkam ihn eine
Bewegung, die warm und weich und schmerzvoll zugleich war und die heiße
Tropfen in seine Augen trieb und auf seine Hände fallen ließ. Er dachte
nicht daran, sie zu verbergen. »Du bist -- mein guter Kamerad,« wollte
er sagen, aber es ging nicht, er schüttelte den Kopf. Da sagte sie es
selbst. »Das will ich jetzt auch sein.«

Er mußte sie ansehen. Er hatte sie ja lang nicht gesehen.

Es war eine ernste, reife Schönheit in ihrem Gesicht und Wesen; sie sah
älter aus, als ihre Jahre es wollten, aber so sicher und aufgerichtet
und auf irgend eine Art froh, von innen heraus. Nun saß sie neben ihm.

Sie las seinen Brief, damit er nicht reden mußte. Dann legte sie ihn
zurück auf den Tisch.

»Und nun dennoch?« fragte sie leise mit den letzten Worten des Briefs.

Da schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich meinte, dennoch irgend
einen Teil an den Menschen haben. Aber ich weiß nicht, welchen. Ich
habe ihnen nichts zu geben. Ich habe nur einen starken Zug zu ihnen,
das ist alles. Ach, Gertrud, es geht ein Riß durch mein Leben hindurch.
Der läßt sich vielleicht notdürftig flicken, mehr nicht. So viel
Mißratenes, so viel verlorene Zeit, vergebliches Streben, unklares
Wollen, -- ach, es ist nicht aufzuzählen. Und dann auf einmal gar
nichts mehr zu haben, nichts, Gertrud. Weg ist alles Schöne, auf das
man hoffte, weg wie ein Traum.«

»Das verstehe ich besser, als du denkst,« sagte sie, und verbarg ihm
ihre Augen nicht.

»Man glaubte ein Ziel zu haben, einen eigenen, bestimmten Inhalt für
sein Leben, und auf einmal steht man da und hat ganz leere Hände.«

Das mußte sie erlebt haben, das spürte man, und Georg wußte nun, daß
auch das wahr sei, was er sich hie und da auszureden versucht hatte,
daß er ihr, an die er nicht in einer solchen Liebe gedacht hatte, das
Leid des Lebens gebracht hatte. Das kam auch noch hinzu, er senkte den
Kopf noch ein wenig tiefer.

»Aber das wird wohl so sein müssen. Die den Armen etwas bringen wollen,
eine Liebe oder eine Botschaft, die müssen selber arm gewesen sein.
Wie könnten sie sonst die andern verstehen? Warte du nur, es geht dir
nichts Gutes ganz verloren, du mußt es nur zuerst wagen, ohne alles
dazustehen, ganz allein und ohne Besitz.«

Sie zögerte, ob sie das auch noch sagen solle, was ihr von unten
heraufstieg und auf den Lippen lag, dann fuhr sie leiser fort, wie
man von einem schönen Geheimnis redet: »Es bekommt alles ein anderes
Gesicht für einen von da an. Alles, auch Er, du weißt, wen ich meine.
Von dem ihr so oft so zaghaft redet -- ich meine, ihr Theologen, weil
ihr nicht recht wisset, wo ihr ihn unterbringen sollt. Von da an, wo
man sich wundert, daß er die Armen selig preist. Gerade die, die es
in sich selber -- im Geist, sagt er, -- sind. Er muß es auch gewesen
sein, sonst könnte er es nicht tun. Dann wüßte er es nicht. Da tritt
er einem ganz nah, ganz nah. Alles versteht man anders von da an. Da
geht ein neuer Weg in die Welt hinaus, zu den andern. Man versteht sie,
wenn sie schwer an sich tragen und hat sie lieb. Das spüren sie. Das
schließt sie auf. Ach -- fang' nur an -- sagen ist nichts, erleben, das
ist alles.«

Er sah sie immer an, solang sie sprach. Er trank das alles in sich
hinein, wie man frisches Wasser trinkt.

Nun war sie wahrhaftig wieder auf seinen Weg gekommen, wie damals auf
der Landstraße, als er verstört und erschrocken bei dem invaliden
Drehorgelmann stand, und wieder faßte sie seine Hand und sagte: »Komm,
wir gehen nach Hause.«

Wie war sie ernst und stark, wie war sie gesund und frisch.

Unten läutete eine Glocke, das war für ihn das Zeichen zu einer Stunde.

»Geh' mit, ich will dir alles zeigen, die Menschen, die großen und die
kleinen, und das ganze Haus. Es ist mir heimatlicher, wenn du alles
gesehen hast.«

Und sie durchwanderte mit ihm das Haus, und hörte zu, wie er einen
blinden Knaben im Orgelspiel unterwies, und saß mit gefalteten Händen
dabei, als er nachher eine ernste, schöne Musik ertönen ließ, die ihr
fremd war und sie doch vertraut anmutete. Die war aus seiner eigenen
Seele geflossen, das wußte sie, und wußte auch, daß er neu aufstehen
und das Leben angreifen werde, ja, daß er es im Grunde schon getan habe.

Da ging eine große Freude durch ihr ganzes Wesen hindurch, viel größer,
als in jener Nacht, da sie zu erkennen glaubte, daß sie beide, Georg
Ehrensperger und Gertrud Cabisius für einander geschaffen seien.

»B'hüet Gott.« Sie reichte ihm die Hand, da eben die Blinden in langen
Reihen mit stillen Tritten in den Saal kamen, und die Abendandacht
beginnen sollte. Er konnte sie nicht zur Bahn geleiten.

»Bleib nur. Du weißt, ich mußte kommen. Gelt, du verstehst es. Ich bin
deine Schwester, das bleib' ich. Du hast es immer gewußt, ich nicht
immer.«

Da ging sie hin. Er sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwand.

Dann atmete er hoch auf. Untergehen? Nein.




                    Siebentes Kapitel


Die Fenster standen weit offen, die laue Abendluft trug den Duft der
Reseden und Levkojen vom Garten herauf ins Zimmer. Es war ein stilles
Zimmer. In dem großen Lehnstuhl saß der Rektor Cabisius. Er hatte das
weiße Haupt auf die Brust gesenkt und dämmerte so zwischen Schlaf und
Wachen dahin. Die Zeit war gekommen, da er von dem allem, was ihn hier
umgab, Abschied nehmen sollte. Es war kein Losreißen, er ging still und
gern. Das große Studentenbild sah von der Wand herunter auf den Greis.
Wo waren alle die jungen, kraftvollen Gestalten hingekommen? Sie hatten
alle ihren Weg durch die Welt gemacht und waren wieder gegangen; neue
Generationen waren nach ihnen gekommen. Er war wohl der Letzte von den
Alten, damals Jungen.

Der Greis regte sich und hob den Kopf.

»Ja, Anne, so jung als möglich.«

»Hast du etwas gesagt, Großvater?«

Unter der offenen Tür des Nebenzimmers erschien Gertrud.

Sie trat zu ihm. Er lächelte und öffnete die Lider seiner blinden
Augen. Das tat er wohl aus alter Gewohnheit, denn die Gestalt seines
Kindes, das vor ihm stand und ihr Gesicht mußte er ja mit andern Augen
wahrnehmen, als mit den erloschenen seines Leibes.

»Ich glaube, ich habe mit deiner Großmutter geredet. Sie ist jetzt
immer neben mir. Sie sagte in ihrer raschen Art, wie sie früher oft
sagte: »Wir müssen so jung als möglich sein, Alter. Für das Kind. Du
bist aber kein Kind mehr, Gertrud.«

»Du bist aber so jung als möglich gewesen, Großvater, du bist es für
mich gewesen. Ich danke dir so herzlich dafür.« Sie kniete neben ihm
und legte ihren Kopf in seinen Schoß.

»Du Kind, du bist lebensreifer, als ich je gewesen bin. Das hat das
Leid getan, das große Alleinsein. Ich habe es gewußt, wir haben nur nie
darüber geredet. Aber jetzt, da ich gehe, sag, Gertrud, wie ist es?
Ich muß es Anne sagen können. Wie ist es mit dir und Georg?«

Er mischte Traum und Wirklichkeit durcheinander.

»Ach, Großvater, da ist nichts zu sagen. Er ist wieder bei mir, wie
einst. Er hat mich lieb und ich gehöre zu ihm, wie ich es von Kindheit
an tat. Aber wenn du #das# meinst, das eine: ich bin ihm nicht das
Weib, nicht sein anderes Ich. Ich weiß es. Das kann nie kommen, das ist
nicht. Das ist ein Rätsel des Lebens, das Gott allein weiß. Ich weiß
nicht, ob irgendwo jemand lebt, der zu ihm gehört; bis jetzt weiß er
nichts davon. Manchmal denke ich, wir werden so leben und alt werden
und davongehen, und irgendwo sei die Lösung des Rätsels, die andere
Seite des Gewebes, die wir dann zu sehen bekommen. Aber ich weiß es
nicht. Bis dahin, -- man muß sich stillen und nichts verlangen, und
sein Leben füllen, so gut man kann. Sie sind ja alle irgendwie in Not,
die Menschen. Man muß sie lieb haben und verstehen, nicht in ihrer
Sünde, in ihrer #Not#. Das tat Er auch.«

Sie schwieg. Der Abend dunkelte durch das Zimmer. Der Greis schlief
wieder. Er war so müde.

Draußen wurden Schritte hörbar, rasche, kräftige Tritte.

Das kleine Dienstmädchen verhandelte etwas mit jemand, dann klopfte es
an die Tür des Nebenzimmers.

»Herein.«

»Grüß Gott, Gertrud.«

»Grüß Gott, Georg.« Sie war aufgestanden und ihm entgegengegangen.

»Lebt er noch?«

»Ja.«

»Ich habe nicht bälder kommen können. Es war so vieles in den letzten
Wochen und Tagen, Prüfung und Jahresfest, und, Gertrud, ich habe es
nicht lassen können, ich habe einiges von meinem Eigenen mit den
Blinden eingeübt, einen Chor, und ein Orgelstück, und ein Andante für
Klavier und zwei Violinen. Es ist aus dem Alten, das nicht schweigen
will. Sie haben es mir so lebendig abgenommen, du glaubst nicht, wie
froh es mich gemacht hat. Sie haben nicht so viele Tore ihrer Seele,
durch die das Leben aus- und einströmt, darum sind sie gesammelter,
einheitlicher. Wir hatten kein Publikum dazu, wir waren unter uns. Es
war aber ein Fest.«

Sie sah auf ihn und freute sich, daß er so hell und frisch dreinsah
und dachte, wie eine Mutter denkt: »Wie hat er sich herausgerissen und
ist des Seins und Lebens mächtig geworden. Ach, das ist ja nicht so
wichtig, was sein Amt und Titel ist, und ob seine Altersgenossen weiter
sind, als er. Was er #ist#, das ist das Wahre, und er ist ein Mensch
und Mann, an dem Gott selber seine Freude haben kann.«

Sie saßen aber still in der Stube neben des Rektors Studierstube. Von
drinnen kam ein leichtes, kurzes Atmen und hie und da ein Wort, im
Halbschlaf geredet.

Da, nach längerer Zeit, fingen sie an, sich flüsternd zu unterhalten.

»Wenn er aufwacht, dann will ich zu ihm hineingehen. Ich möchte ihm
noch so vieles sagen, aber das werde ich ja nicht können. Weißt du,
mit dem Danken, es ist so eine Sache. Wer sich selber von Herzen gab,
der will keinen Dank dafür. Und #so# gab er sich, sein Leben lang,
wenigstens seit #ich# denken kann.«

»Seit #wir# denken können. Das ist so ziemlich das gleiche.«

»Ja.« Er dachte zurück, so weit er konnte.

»Weißt du noch?« Da machten sie es wie die Alten, die ganz Alten und
tauchten in den Jungbrunnen der Kindheitserinnerung ein. Tausend
und eine Erinnerung. Hie und da wurden sie lebhaft und verfielen in
lauteres Reden, dann erschraken sie vor dem eigenen Ton ihrer Stimmen
und flüsterten wieder.

Frau Judith schritt am Stock durch das Gemach, und Jungfer Liese, und
die Rektorin, und Hollermann. Und dann glitt ihr Schifflein unvermerkt
in das breitere Flußbett des Lebens hinaus.

»Du, Gertrud, wo bist du mit deinen Gedanken?«

Sie schrak auf. Sie hatte soeben einen kleinen Privatausflug gemacht,
davon sollte er nichts wissen.

»Ja?«

»Ich bin heute nachmittag drüben gewesen, bei Franz und Lore. Sie
wissen gar nicht, was sie mir alles zuliebe tun sollen. Aber, du -- du
hörst nicht recht zu.«

»Doch, ich höre alles.«

»Du, Lore geht ins Korpulente. Das ist sehr heilsam für mich. Diese
Frau mit den dicken Backen und der breiten, gestreiften Schürze habe
ich nicht gekannt. Heute, als ich kam, stand sie unter der Ladentür und
sah hinaus. Ich hatte ein wenig Mitleid mit ihr; man sollte es nicht
glauben, aber es ist doch so. So, als ob ihr Gesicht fragte: 'Ist das
jetzt alles?' Und, Gertrud, es ist ja tatsächlich alles. Sie hat ihren
Franz und ihren rundköpfigen Buben, und ein gutes Geschäft und viel
Geld. Aber ich weiß, irgend etwas in ihr hungert nach mehr. Sie ist
nicht zufrieden mit dem allem.«

»Und das ist ihr Bestes,« sagte Gertrud. »Das ist ein Faden, der sie
ans Innerliche, Ewige knüpft. Wenn sie älter wird, wird das Heimweh
steigen, und zuerst wird sie meinen, es sei nach dir, und dann wird sie
erkennen, daß es nach deiner Welt ist. Und sie wird ihrem Sohn davon
erzählen, und wird den Armen Brot und Liebe geben, und wird ihren Mann
davor behüten, daß ihm gut Essen und Trinken alles wird. Und das hast
du ihr gegeben.«

Da schwiegen sie wieder.

Die Hausglocke schellte.

»Das ist Meister Nössel. Er kommt jeden Abend um diese Zeit und sieht
nach dem Großvater. Es ist ein Wunder, daß er es noch kann, er ist so
eingetrocknet und zusammengerunzelt wie eine Hutzel. 'Wenn mich nur der
liebe Gott nicht abzurufen vergißt,' sagte er gestern. Ich glaube, er
ist in Sorge darum. Aber es ist nicht mehr viel Leibliches an ihm, man
kann ruhig sein in dieser Hinsicht.«

Da kamen trippelnde Schrittlein und schwere Stockstöße näher.

»Guten Abend.«

»Guten Abend, Meister Nössel.«

»Ist er noch da? Ja? Ich dachte, er sei heut gegangen. Heut sind's elf
Jahre, daß Judith starb. Ich hätte nicht gedacht, daß es noch so lang
daure, bis ich nachkomme.«

»Still.«

Vom Turme hallten die feierlichen Schläge der Betglocke.

»Er hat's doch gelernt. Das Läuten, meine ich. Ich habe einst im Ärger
gesagt: Das lernt er nie so recht, er läutet anders, weil er anders
ist. Aber er hat's doch gelernt. Er hat inzwischen viel erlebt und auch
erlitten, das macht's.«

Dann schwiegen sie wieder.

Der letzte Hall, noch einer.

»Und wenn das Leben neiget sich, laß uns einschlafen seliglich.«

Das hatte Meister Nössel gesagt. Sonst begehrte er ja auch nichts mehr.
Das andere, das Unruhige, Müdmachende, Glück und Leid und Sorge und wie
alle die Erdengeister heißen, das lag weit dahinten, nicht vergessen,
nicht verachtet, aber ausgedient.

»Gute Nacht.« Er gab seinem alten Freund die Hand, der war in Träumen
und kannte ihn nicht.

»Das tut nichts. Wir -- wir kennen uns doch wieder, wenn es Tag wird,
Joachim Cabisius. Schlaf wohl, schlafet alle wohl.«

Sie hörten die Stöße seines Stockes auf der nächtlichen Gasse. »Bleibst
du da, Georg? Ich bleibe die Nacht auf; wenn du willst, bleib bei mir.
Der Doktor war da, kurz, eh' du kamst, er sagt, es könne ganz leise
ausgehen, wenn das Herz versage. Aber ich glaube es noch nicht. Er
erwacht hie und da und spricht dann ganz klar und wie sonst, wenn auch
fast ganz ohne Stimme. Hörst du?«

Sie traten leise zu ihm, da redete er undeutliche Worte, und, da er
müde an die Seitenlehne gesunken war, wie ein schlaftrunkenes Kind,
brachten sie ihn miteinander zu Bett.

Der Mond war heraufgestiegen und leuchtete wie vor Zeiten in die
altbekannte Stube und wunderte sich, daß die lange Pfeife unbenützt am
Haken neben dem Stehpult hing und daß alle die Geister und Geistchen,
die sonst auf weißen Rauchwölkchen da herumspukten, schwiegen und den
Atem anhielten. Als er aber bis an das weiße Bett hinleuchtete, das
sonst nicht in diesem Raum gestanden war, da hörte auch der Mond auf,
zu flimmern und herumzuspielen. Ganz still lag sein Licht auf dem Boden
und an den Wänden und blieb auf dem Bett und der ruhigen Gestalt darin
liegen.

»Es tut ihm nicht weh, du brauchst den Vorhang nicht zuzumachen, Georg.«

Da setzte der sich auf die Truhe, wie einst und sah sich um, wie die
Stube in dem weichen, ruhigen Licht dalag und dachte, daß es jetzt auch
anders werde, da ihr alter Bewohner davonging.

»Was willst du nun anfangen, Gertrud? Hast du dir etwas ausgedacht?«

Sie zuckte nun doch ein wenig zusammen. Was hilft das Ausdenken? »Ich
bleibe vorläufig da. Ich habe es alles mit dem Großvater besprochen.
Ich will Veronika zu mir nehmen, meine lahme Freundin, der die Mutter
gestorben ist, und will mich um meine Patenkinder annehmen, so gut ich
kann. Eines von ihnen, (du kennst ihn ja, es ist Leonhard, der mittlere
Bub von den Türmersleuten, -- der ist so zart und kann nicht gut so oft
die vielen Stufen steigen), bekomme ich vielleicht ganz ins Haus. Dann
will ich sehen, ob ich ihm etwas von allem dem geben kann, was er --«
sie zeigte nach dem Bett hin -- »was er mir gab. So ist noch manches.

Ich habe früher an einen bestimmten Beruf gedacht, Krankenpflege, oder
Lehrerin, oder sonst etwas. Aber daraus ist jetzt nichts geworden, und
ich glaube, es ist auch besser so.«

Sie saß da so hell im Licht und Georg sah, wie es in ihren Zügen
arbeitete und wie dann ein Lächeln darüber ging.

»Das ist jetzt so. Ich passe wohl nicht recht in irgend einen Model,
ich bin so ein wenig anders geraten als andere Mädchen. Ich stieße wohl
da und dort an, wenn ich nicht sein dürfte, wie ich gewachsen bin. Da
muß ich sehen, daß ich mir selber ein Leben zimmere. Es wird auch schon
gehen.«

Im Stillen dachte sie: Und dann will ich für dich da sein, so oft du
eines treuen und ehrlichen Menschen bedarfst, der zu dir gehört.

Sie sagte es nicht; sie war doch wohl noch nicht heil genug, um ganz
rückhaltslos von ihm und sich zu reden.

Aber er sagte es selber.

»Das ist gut für mich,« sagte er. »Ich muß dich immer finden können.
Ich weiß ja nicht, was noch aus mir wird, obgleich ich vorläufig bei
meinen Blinden bleibe und noch nicht ans Fortgehen denken mag. Wie lang
das noch dauert, weiß ich nicht. Was sagst du Gertrud?«

»Was ich sage? Du sollst einmal einen Schritt um den andern tun und
einen Tag um den andern nehmen, wie du das bereits angefangen hast. Es
wird eines aus dem andern herauswachsen, eine Aufgabe aus der andern
und ein Können aus dem andern. Das sage ich und sonst nichts.«

»Doch noch eins, Gertrud.

Ich weiß nicht, was meine Altersgenossen von mir denken. Hie und
da kommt einer -- sie sind aber nicht alle so, lange nicht, -- so
ein bißchen mitleidig, ein bißchen vorsichtig zurückhaltend zu mir,
neulich beim Jahresfest, oder wenn einer das Haus betrachten will, und
glaubt dann, nachsichtig mit mir reden zu müssen, wie mit einem, der
eigentlich etwas wie eine 'verfehlte Existenz' ist. Und das, Gertrud,
das will ich nicht sein. So sehe ich mein Leben nicht an, es komme, wie
es wolle.«

»Das bist du auch nicht. Durch das alles hindurch geht ein gerader Weg
zum rechten Leben, weißt du, dazu, 'das Leben zu haben in sich selbst'.
Das kann man freilich den andern nicht sagen. Sie sehen nur das Äußere.
Aber das wird gerade gut sein. -- Gut sein müssen,« setzte sie doch mit
einem leichten Seufzer hinzu. Denn leicht war es nicht immer, das wußte
sie wohl.

»Ja, und das sollst du mir hie und da sagen. Dazu will ich dich finden
können -- und zu manchem anderen. Du weißt es. Wenn ich es nicht mehr
weiß, will ich dich fragen können.«

Sie nickte ernst und einverstanden.

»Das will ich. Das sollst du können, mein Bruder.«

Und so sah Gertrud Cabisius' Glück aus?

So sah es aus.

Sie hatte sich einst weit aufgetan, um ein ganz großes, ganz volles
Menschenlos in sich zu empfangen. Und nun war sie zufrieden, -- nun
fand sie eine tiefe Freude darin, dem, den sie liebte, ein ruhender
Punkt, hie und da eine Zuflucht, eine Weggenossenschaft zu sein?

»Es wird nicht allen so gut,« dachte sie dankbar. »Es ist mehr, als ich
an bösen Tagen hoffen konnte.«

-- Wer will sagen, was ein ganzes Menschenlos sei? Vielleicht wird
im Entbehren, im tiefen Leid des Einsamseins stärker als im warmen,
sonnigen Glück die Ahnung davon wach, daß das hier »nicht alles« sei.

Daß die kurze Spanne Zeit, die wir unser Leben heißen, nur ein Teil
jenes großzügig angelegten Planes sei, in den sich der Schöpfer der
Menschengeschlechter nicht hineinsehen läßt. Wie der Geiger, der das
schönste Lied suchte, so sucht die Menschenseele einen Ort, da es
»bessere Geigen« gibt, damit einmal, endlich einmal das ganze Konzert
von großen, schrecklichen und herrlichen Dingen, die die Menschenbrust
zu Zeiten fast zersprengen wollten in Liebe und Sehnsucht, zur
Aufführung kommen könne, oder da in dem ungeahnt Allergrößten das jetzt
Große untersinke und verstumme.

Mitternacht war vorüber. Sie saßen noch da, manchmal still für sich und
in Gedanken jedes, manchmal flüsternd, Gegenwärtiges und Zukünftiges
beredend. Daß Georg einen Brief von Emeritz, seiner Münchener Freundin,
habe, und daß es ihm gelungen sei, den blinden Theodor in der Anstalt
unterzubringen. Gertrud wollte ihn einmal über eine Vakanz zu sich
holen und freute sich darauf.

»Er soll es gut haben,« sagte sie lebhaft und dämpfte sogleich wieder
ihre Stimme; die leisen, schwachen Atemzüge, die nur in der tiefen
Stille der Nacht hörbar sein konnten, gaben hier drinnen den Ton
an. Es ist nichts Geringes, dabeizusein, wenn ein ernster, Gottes
und des Lebens bewußter Mensch sich anschickt, in die dunkle Flut
unterzutauchen, deren Grund und anderes Ufer wir nicht kennen.

Ein Uhr.

»Horch, er redet.«

Sie traten ans Bett.

Immer #ein# Wort mit versagender Stimme, schnell aufeinander, dann
langsamer, deutlicher, dann kam mehr Stimme hinein.

Immer dasselbe -- »ewig -- ewig -- ewig.« Immer lauter, immer
staunender wurde der Ton. »Ewig -- ewig -- ewig.« Sonst nichts. Sie
versuchten ihn anzureden. Aber für den leisen Laut einer Menschenstimme
war Joachim Cabisius nicht mehr da, er, der zu vergehen schien an etwas
ganz Riesigem, ganz Unfaßbarem.

»Ewig -- ewig -- ewig.«

Es dauerte immer noch fort. Fast nicht zu tragen für die Zuhörenden,
denen der Vorhang noch nicht gehoben ist, der #ihm# sich aufzurollen
scheint. Es war so riesig, alles andere versank davor.

»Ewig -- ewig -- ewig.«

Sie waren ans Fenster getreten, dicht nebeneinander und hatten sich
fest an den Händen gefaßt.

»Daß uns werde klein das Kleine, und das Große groß erscheine,« sagte
Gertrud leise.

Dann nach und nach wurde es stiller, dann ganz still.

Waren auch ihm die Saiten zersprungen, als er in den vollen Chor
einzustimmen versuchte?

Er hatte sein Lebenlang zu der stillen, schönen Gemeinde der »guten
Geister« gehört, die in allerlei Sprachen und auf allerlei Weise, ein
jeder nach seiner Art »loben Gott den Herrn« und deren Bundeslied, ob
ihnen schon die Worte vielfach nicht bewußt sind, doch durch alles
Geschaffene tönt:

      »Alle die Schönheit Himmels und der Erden
      Ist verfaßt in dir allein.«

Wenn wir Ohren hätten.

Aber es wird so gut sein, wie es ist und wird gut werden, wie es wird.

       *       *       *       *       *

Der Morgen graute ganz von ferneher. Kaum ein erstes, blasses Dämmern
drang durch die Nacht. Die kleine Nachtlampe fing an zu flackern in
dem kühlen Wind, der über die Berge herkam und draußen in den Bäumen
rauschte und in die Stube hereinwehte. Da standen sie auf von ihren
Sitzen und deckten ein weißes Tuch über das liebe, stille Gesicht.

»Ich gehe, Gertrud. Ich will mit dem Morgenzug reisen und meine Stunden
halten, wie sonst. Morgen komme ich wieder.

Ich komme immer wieder, du weißt es. Dieses Haus ist mir eine Heimat
gewesen und dieser Mann ein Vater, und du -- du bist mir eine
Schwester. Meine einzige. Bist du es nicht?«

»Doch, Georg.«

Ihr bleiches, überwachtes Gesicht glänzte von einem inwendigen Licht.

Sie gaben sich die Hände.

Das leise Sausen draußen schwoll stärker und stärker an.

Als sie ihm die Haustür öffnete, stand der Morgenstern über dem
Nachbarhaus:

»Wohlauf in den Tag hinein, so lang er währt. Ist er auch jetzt noch
grau, er wird hell und heller werden wann die Sonne kommt.«

Vor ihnen lag das Leben. Sie hörten leise seine Ströme rauschen in der
Morgenstille. Es würde schon Wege geben, hindurchzugehen.

Auf dem Dach, auf dem spitzen Giebel sang eine Amsel und sang die
anderen Vögel wach. Wußten sie nicht, was heut nacht geschehen war? Sie
sangen ihr altes Lied:

    »Freude, Tochter aus Elysium,
    Wir betreten feuertrunken,
    Himmlische, dein Heiligtum.«

Sie können kein anderes. Es ist ihnen das Lied des Lebens, und wollte
Gott, wir alle könnten, über Leid und Tod hinüber, alle nur das
einzige, das Lied des Lebens, zu dem die Saiten in uns aufgespannt sind.




                      Urteile

    über Anna Schieber, Alle guten Geister ...


=Kurt Aram= in der »#Frankfurter Zeitung#«: »Aus Württemberg wächst
uns, wie es scheint, wieder einmal ein neues Erzählertalent von
Bedeutung zu. Man wird sofort an die Erzählerart Wilhelm Raabes
erinnert. In den letzten Jahren kamen mir eine ganze Menge von Romanen
unter die Hände, die sich in der Art dieses Meisters versuchten, aber
kläglich scheiterten, weil ihre Verfasser blutige Dilettanten waren.
#Mit Anna Schieber jedoch versucht sich ein =Talent= in der Art Raabes,
und zwar nicht nur, weil sie ihr besonders gut gefällt, sondern auch
weil ihr diese Art innerlich entspricht.# Manche ihrer Gestalten
erinnern direkt an Raabesche Figuren. #Und doch sind sie ihnen nicht
einfach nachgemacht, sondern wirklich von ähnlicher seelischer Art,
also keine imitierten Puppen, sondern tieflebendige Menschenkinder...
Dies schöne Buch wird seinen Weg schon machen.#«

=Dr. Hch. Lhotzky= im »#Leben#«: »Ein ganz ungewöhnlicher Roman,
fesselnd und erquickend zugleich. Niemals ist mir ein Buch vorgekommen,
das ich so bedingungslos jedem in die Hand geben würde. Die Verfasserin
ist ein Segensmensch und wahrscheinlich durch viel Einsamkeit und
herbes Leid hindurchgegangen. »Sonst wüßte sie ja nicht zu trösten.«
»Man muß allein gewesen sein, eh' man recht mit den andern gehen kann.«
#Das ist weit hinausgewachsen über das übliche Christentum und steht im
wahrhaft Menschlichen und Göttlichen. Menschen, die solches verstehen,
habe ich mir immer ersehnt, und freue mich, daß sie erstehen.# Wer
irgend jemandem ein liebes Buch schenken will, ein Buch zum immer
wieder Lesen, schenke dieses. Aus ihm kann man sehen und hören lernen,
was den Vielen meistens entgeht.«

=Dr. C. Busse= in Velhagen & Klasing's Monatsheften: »Mit heller
Freude und daneben mit einem verwunderten Kopfschütteln muß ich heut
von einem Buche erzählen, das anders ist als andere Bücher, das wie
eine schöne Predigt ist und doch mehr als eine Predigt, das Menschen
vor uns hinstellt, die wir zu Vätern, Brüdern, Schwestern, Freunden
haben möchten, das alles Gute in uns anspannt, das uns fröhlich und
getrost macht: Wie ein Märchen aus einer schönen, verlorenen Heimat
ist das Buch, aber vielleicht wie jedes gute Märchen voll der höchsten
Wahrheit.«




                    Verlag von Eugen Salzer in Heilbronn.

                       =Vortreffliche Erzählbücher!=


  =Helene Christaller, Meine Waldhäuser.= Bilder aus einem Dorfe. 2.
      Aufl. Mk. 2.--, geb. Mk. 3.--.

  =Fritz Philippi, Von der Erde und vom Menschen.= Bauerngeschichten.
      Mk. 3.--, geb. Mk. 4.--.

  =Fritz Philippi, Unter den langen Dächern.= Neue Erzählungen vom
      Westerwald. 2. Aufl. Mk. 3.--, geb. Mk. 4.--.

  =Fritz Philippi, Hasselbach und Wildendorn.= Erzählungen aus dem
      Westerwälder Volksleben. Mk. 2.40, geb. Mk. 3.20.

        Die Erzählungen des Westerwälder Roseggers gehören zu der
        besten Heimatkunst.

  =A. Supper, Leut'.= Schwarzwaldgeschichten. 1.-3. Aufl. Mk. 2.20,
      geb. Mk. 3.--.

  =A. Supper, Da hinten bei uns.= Erzählungen aus dem Schwarzwald. 5.
      Aufl. Mk. 2.20, geb. Mk. 3.--.

        =Türmer-Jahrbuch 1906:= »Diese Frau vereinigt mit scharfem
        Tiefblick in die Seele des Bauerntums eine starke Liebe zu
        dessen unverwüstlichen Kräften. =Ihr Buch gehört zu dem
        wertvollsten, was die Heimatkunst bislang hervorgebracht
        hat.=«

                              =Dr. Karl Storck.=

  =A. Supper, Der schwarze Doktor.= Eine Erzählung aus Würzburgs
      düsterer Zeit. Mk. 2.20, geb. Mk. 3.--.

  =A. Supper, Der Mönch von Hirsau.= 2. Aufl. Kart. Mk. 2.--, geb. Mk.
      2.80.

        =Grüß Gott:= »Wir können das Buch wohl Steinhausens »Irmela«
        und Webers »Dreizehnlinden« zur Seite stellen. Duftig wie
        das erste und dramatisch wirksam wie das zweite Stück -- so
        tritt der Mönch von Hirsau in die Reihe der neuromantischen
        Dichtungen, die religiöse Tiefe mit humaner Weitherzigkeit
        verbindend.«

           *       *       *       *       *

  =Aus der verlorenen Kirche.= Religiöse Lieder und Gedichte für das
      deutsche Haus. Gesammelt von R. #Günther#. Geb. Mk. 3.--.

        =Lit. Rundschau f. d. evang. Deutschl.:= »Unter den
        Sammlungen religiöser Gedichte in weitestem Sinn ist dies
        die umfassendste und planvollste. Ein schönes Buch, das wir
        herzlich begrüßen, warm empfehlen für Haus und Schule.«




    Anmerkungen zur Transkription


    Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden übernommen, auch wenn
    verschiedene Schreibweisen des gleichen Wortes nebeneinander verwendet
    wurden. Nur offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.

    Im Original gesperrt gesetzter Text wurde mit # markiert. Im Original
    fett gesetzter Text wurde mit = markiert. Text, der im Original nicht
    in Fraktur, sondern in Antiqua gesetzt war, wurde mit _ markiert.





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from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
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trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

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effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
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without further opportunities to fix the problem.

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LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

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damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
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limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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