Der Skorpion. Band 2

By Anna Elisabet Weirauch

The Project Gutenberg eBook of Der Skorpion. Band 2
    
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Title: Der Skorpion. Band 2

Author: Anna Elisabet Weirauch

Release date: March 22, 2025 [eBook #75685]

Language: German

Original publication: Berlin: Askanischer Verlag, 1921

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SKORPION. BAND 2 ***


                              Der Skorpion
                                   II


                        Alle Rechte vorbehalten
                    Copyright by Askanischer Verlag
                              Berlin 1921


    Druck von Herrosé & Ziemsen G. m. b. H., Wittenberg (Bez. Halle)
                Einband von E. Albert Kindle, Berlin SW


                         Anna Elisabet Weirauch




                              Der Skorpion


                               Ein Roman


                           Qui vivens laedit
                             Morte medetur


                              Zweiter Band

                       Askanischer Verlag Berlin
                                  1921




   O sorte dura, che mi fa esser quale
   Punta d’un Scorpio, et domandar riparo
   Contr’el velen’ d’all ’istesso animale.

   (Louïze Labé.)


Mette Rudloff verschloß und verriegelte die Tür. Sie hörte die Schritte
des Mädchens sich entfernen, hörte das An- und Abknipsen der
elektrischen Schalter, irgendwo in ziemlicher Entfernung eine Klinke
gehen, eine Angel kreischen – wieder Schritte ... das war wohl in einem
andern Stockwerk – ein leises, immer wiederkehrendes ungleichmäßiges
Geräusch, als ob ein offenstehendes Fenster im Winde klappte. Und
Stille. Eine weit sich wölbende, leere, kühle, dunkle, reglos harrende
Stille.

Mette mußte sich entschließen, endlich die Hand vom Riegel zu nehmen und
nach dem Lichtschalter zu gehen, obgleich sie sich ein wenig fürchtete
vor dem Schall ihrer Tritte und dem Rauschen ihrer Röcke. Sie drehte
alle Flammen an, auch die kleinen Lampen neben dem Bett und auf dem
Schreibtisch. Die blendende Lichtfülle tat ihr wohl. In dem überhellen
Raum ging sie an den Wänden entlang, schloß die leeren Schränke auf und
wieder zu, hob die Gardinen und ließ sie wieder fallen. Sie hatte nicht
den Gedanken, daß sich irgendwo ein Mensch, ein Verbrecher verborgen
haben könnte, aber sie versuchte, sich auf jede Weise mit der fremden
Umgebung vertraut zu machen. Sie hatte Angst davor, daß irgend etwas sie
überraschen und dadurch erschrecken könnte. Die nie gesehenen Möbel
konnten im dunklen Zimmer so leicht eine spukhafte Gestalt annehmen, ein
Luftzug konnte der Gardine die Form eines Menschen geben. Sie
betrachtete auch die Bilder mit Aufmerksamkeit. Sie erinnerte sich aus
fiebrigen Abenden der Kinderzeit, daß selbst wohlbekannte Bilder, wenn
man sie in der Dämmerung oder beim Schein des Nachtlichts vom Bett aus
sah, sich zu grauenvollen Fratzen verwandeln konnten.

Sie versuchte, sich die Linien der blühenden Landschaften, der
friedlichen Bauernhäuschen, der drolligen Kinderköpfchen einzuprägen, um
sie nachher wiederzufinden in den verschwommenen Flecken, die sich so
gern zu hohngrinsenden Ungeheuern, zu ekelerregenden oder
furchteinflößenden Fabelwesen ballten und zerrten.

Als sie das Zimmer auf diese Art untersucht hatte, drehte sie das Licht
wieder aus, bis auf eine Birne, die den übermäßig großen Raum nur
dämmrig erhellte. Aber nun war in dieser Dämmerung nichts Erschreckendes
mehr – Mette wußte ja: dieser vorspringende Schatten war die geschweifte
Kommode, und der befremdende Lichtschein kam von der Kante des
Waschtischspiegels, die ihn von dem Bild der Lampe im Schrankspiegel
auffing.

Sie schloß den Handkoffer auf und nahm das Notwendigste heraus: das
Nachthemd, das sie übers Bett warf, ein paar Flaschen und Bürsten, die
sie nach dem Waschtisch trug. Dann zog sie den Nachttischkasten auf und
legte ihn mit einem weichen seidenen Tuch aus, – so sorgfältig, als
glätte sie einem Geliebten das Lager oder bereite eine priesterliche
Handlung vor. Mit behutsamen Bewegungen, als trüge sie etwas Lebendiges,
bettete sie den Revolver und das Zigarettenetui mit dem Skorpion hinein.
Sie schob den Kasten zu, mit einer angestrengten Entschlußkraft, denn
wie immer, weckte der Anblick des Revolvers den fast leidenschaftlichen
Wunsch in ihr, den kühlen glatten metallenen Mund an die Schläfe zu
setzen. Sie fürchtete sich davor, diesem Wunsch nachzugeben, denn sie
wußte nicht, ob nicht eine plötzliche Regung sie verleiten würde, die
Sicherung zu lösen, den Hahn zu berühren und also mehr durch einen
Zufall als aus Notwendigkeit sich selbst zu zerstören, und damit Denken,
Fühlen, Erinnerung und Erwartung auszulöschen.

Sie wollte nicht sterben. Oder vielmehr, sie wäre gern gestorben, wenn
sie nicht dann hätte tot sein müssen. Sie wäre gern desselben Todes
gestorben, den Olga Radó starb, nur um sich mit dem letzten Gedanken
sagen zu können, daß sie nun ertrug, was Olga ertragen hatte, und daß es
also nicht so unerträglich sein konnte, nicht so entsetzlich, wie die
unerfahrene Phantasie es sich ausmalte.

Aber andererseits hatte sie eine brennende Begier nach dem Leben, von
dem sie so wenig wußte. Nicht, daß sie sich große Freuden, hohe
Entzückungen davon versprochen hätte. Aber sie fühlte sich dem schönen
und grauenvollen Untier gegenüber so gut gewappnet, daß es schade
gewesen wäre, den Kampf aufzugeben. Ihr war, als hätte Olgas Blut ihrer
Seele das unverletzliche Kleid gegeben, das der hörnerne Siegfried im
Blute des Drachen gewann. Sie war überzeugt, das Schönste, das
Schwerste, das Wichtigste ihres Lebens überstanden zu haben. In der
Tragödie oder Komödie, in der mitzuwirken sie durch ihre Geburt
gezwungen war, hatte sie nur im ersten Akt eine Rolle zu spielen gehabt.
Alle Kräfte und Gefühle hatte sie verausgabt – nun mischte sie sich
unter die Statisten, noch glühend, aber doch schon ermüdet von den
Erschütterungen, die sie durchtobt hatten, und sah halb neugierig und
halb gelangweilt dem Spiel der andern zu.

Aber im Grunde überwog die Neugier, und obgleich sie wußte, oder zu
wissen glaubte, daß sie niemals mehr einer starken Empfindung – sei es
Glück oder Schmerz – fähig sein würde, obgleich sie ihr Gemüt gegen
Eindrücke jeder Art gepanzert fühlte, drängte es sie, gleichsam um die
Unversehrbarkeit dieses Panzers zu erproben, Eindrücke aufzusuchen, sich
ihnen darzubieten – sich in das Gewühl des Kampfes zu stürzen, die
starrenden Speerspitzen gegen die Brust zu drücken.

Das erste, dem sie sich willig hingab, und dessen Verwundungen sie
früher sicher nicht standgehalten hätte, war dies: Fremde und
Einsamkeit.

Aus dem Gefühl heraus, daß sie selber in ihrer jungen Freiheit sich dies
erwählt hatte: Fremde und Einsamkeit, und bei dem Gedanken daran, daß
nichts ihr mehr wehtun könne und wehtun dürfe seit der Trennung von
Olga, seit Olgas Tod, empfand sie die kühle und fast feindliche Stille
als wohltuend und erlösend.

Sie wußte es: die Einsamkeit würde sie ertragen können. Aber morgen
würde sie gezwungen sein, mit zehn oder fünfzig fremden Menschen in
einem Raum ihre Mahlzeiten einzunehmen. Diese Vorstellung hatte etwas
atemraubendes. Neugierige Augen prickelten auf ihrer Haut wie
Nadelspitzen. Aber auch das würde sich ertragen lassen.

Unten im Haus schlug eine Tür, dumpf und schwer, daß ein Zittern durch
alle Wände lief. Der Fahrstuhl hob sich mit einem summenden Geräusch –
es war, als ob in dem Riesenleib des Hauses ein mühsamer Atemzug
aufröchelte. In der Stille der Nacht vernahm man ganz deutlich das
Knacken, wenn er am ersten, am zweiten Stockwerk vorüberglitt.

Man hörte das Aufschnappen der Tür, das Ins-Schloß-Fallen,
Schlüssel-Klappern, Schließen, das Drehen der Lichtschalter, Schritte,
die behutsam über den dämpfenden Teppich gingen, aber doch die Dielen
zum Knarren brachten, ein unterdrücktes Lachen, ein geflüstertes
Gute-Nacht-Rufen.

Mette versuchte nachzuprüfen, ob die Stimmen, die sie kaum vernommen,
angenehm oder unangenehm gewesen seien – sie kam zu keinem
abschließenden Urteil.

Die Tür zum Nebenzimmer ging. Man hörte das leiseste Geräusch, das
Anknipsen des Lichtes, das Zuziehen der Fenstervorhänge.

Nichts wußte Mette von diesem Menschen da nebenan, nichts. Nicht einmal
den Namen, nicht das Alter, nicht einmal so viel, wie jedes Gesicht
verrät, das auf einer dunklen Straße an einem nachlässigen Blick
vorübergleitet – und doch wußte sie, daß dieses nachbarliche Wesen nicht
gern früh geweckt wurde – denn es verschloß die Fenster mit
ungewöhnlicher Sorgfalt. Es mußte ein rücksichtsvoller Mensch sein, denn
er bemühte sich, leise zu sein, zog gleich die Stiefel aus und schlüpfte
in weiche Schuhe, so daß man den Schritt nicht mehr hörte, ihn nur noch
durch eine leichte Erschütterung spürte. Es war auch ein reinlicher
Mensch, der sich trotz der späten Stunde mit viel Ausdauer die Zähne
putzte.

Mette mußte lächeln. Vielleicht wäre es das Sicherste, die Bekanntschaft
aller Menschen auf diese Weise zu machen. Was half es einem, den Namen
eines Fremden zu erfahren, oder seinen Beruf, oder den Stand seines
Vaters! Was half es einem, mit einem Menschen zu plaudern, Stunden und
Stunden, um schließlich nichts von ihm zu wissen, als wo er den letzten
Sommer verbracht hatte, oder wie er die Besetzung der neuesten Operette
fand! Und was half es einem, wenn man Wand an Wand mit einem Menschen
wohnte und jeden Atemzug hörte ... und doch nichts von ihm wußte?

Ach, was half es selbst, mit einem Menschen eines Blutes zu sein, und
alle Tage des Lebens, vom ersten an, mit ihm zu verbringen. Oder was
half es, einen Menschen zu lieben, ihn zu lieben mit jeder Faser des
Leibes und der Seele – wenn im letzten Grunde doch einer nichts vom
andern wußte!

Es war so unendlich schwer, sich zurechtzufinden in diesem Wirrwarr von
Charakteren, Gefühlen, Schicksalen und Lügen, die so millionenfach
verschlungen, einen selbst mit umschlangen – ach, so schwer, daß man
hätte weinen können, wenn man daran dachte, wie hilflos man war!

Mette trat ans Fenster und lehnte sich hinaus. Sie suchte am Himmel den
Antares, ihren Stern. Aber die Brandmauern der Häuser verdeckten ihn.
Sie beugte sich ein wenig weiter und sah in den Schacht des Hofes
hinunter. Ein seltsamer Schwindel faßte sie an. Wenn sie in die Tiefe da
hinunterglitte, würde es kein Mensch bemerken. Und wenn man morgen früh
ihre Leiche dort unten fände, würde man nicht wissen, was man anfangen,
wen man rufen, wen man benachrichtigen sollte.

Mette Rudloff war ja jetzt frei. So frei, daß ihr ein leiser Schauer
über den Rücken rieselte. Nirgends der Druck einer Kette, aber auch
nirgends ein haltendes Band, nirgends eine engende Mauer, aber auch
nirgends ein schützendes Dach.

Die Menschen, denen Liebe oder Pflicht sie verbunden hatte, waren tot.
Vater war tot, Olga war tot. Von den andern hatte sie selbst sich mit
scharfem Schnitt gelöst.

Und nun glitt sie frei durch den unendlichen Raum, wie ein losgetrenntes
Blatt, wie eine schwebende Schneeflocke. Ihre Hände klammerten sich um
das Fensterbord, als fürchtete sie, ein Lufthauch könne sie losreißen,
forttreiben, zerschellen.

Eine Furcht überkam sie, als wäre sie ein verirrtes Kind, dem im Dunkel
alle Wege gleich fremd und bedrohlich erscheinen.

Ihre verzweifelten Blicke suchten nach einem Halt und fanden ihn in dem
steten milden und geheimnisvollen Glanz der Sterne über ihr.

‚Liebe Sterne,‘ dachte Mette, ‚wie gut, daß ihr da seid! Immer noch
dieselben, wie vor Zehntausenden von Jahren, und sogar noch dieselben
von den Abenden, als ich mit Olga am Wannsee lag. Es gibt keinen Zufall,
es kann keinen Zufall geben. Warum prallen die Sterne da oben nicht
aneinander und stieben wie ein Funkenmeer durch die Nacht? Ewige,
unzerstörbare Gesetze halten ihr Milliardengewicht schwebend im Raum und
führen sie mit so überlegener Ruhe ihre Bahn, als sei es das leichteste
von der Welt, Sterne zu regieren. Und irgendwo stehe ich auch unter
diesen Gesetzen und kann mich nicht dagegen wehren – und will es ja auch
gar nicht. Ich bange mich vor der Entscheidung, ob ich rechts oder links
gehen soll, und dabei sind ja doch alle Wege versperrt bis auf den
einzigen, den ich gehen soll und muß, weil er der meine ist, der
unabänderlich vorgeschriebene, der ans Ziel führt. An welches Ziel? Ich
weiß es nicht. Aber da ich lebe, so wird man ja wohl noch irgend etwas
mit mir vorhaben, und das beste ist, in Geduld zu warten.‘

Ein Gesangbuchvers aus ihrer Kinderzeit drängte sich ihr in die Gedanken
– aber sie konnte ihn nicht mehr richtig zusammenbringen:

   ... der Sonne, Mond und Winden
   Gibt Wege, Lauf und Bahn.
   Der wird auch Wege finden,
   Da dein Herz gehen kann.

Die Worte summten ihr immerzu im Kopf herum, während sie sich
auskleidete. Aber erst als sie im Bett lag, fiel es ihr plötzlich ein:

   „die dein Fuß gehen kann“

hieß es wohl. Wie war sie nur auf „Herz“ gekommen? Ach, vielleicht, weil
es ihr wichtiger erschien – so unendlich viel wichtiger ...


Mette durchwanderte Museen und Galerien mit angespannter Aufmerksamkeit,
gleichsam mit zusammengebissenen Zähnen. Sie erlaubte es sich nicht
mehr, wie früher durch die Säle zu schlendern, zu betrachten, was ihr
gefiel, wie ein Kind in einem Bilderbuch blättert, ohne etwa nach dem
Namen der Maler zu fragen, nach der Zeit, in der sie gelebt, oder gar
nach der Schule, der sie angehört hatten.

Sie arbeitete sich systematisch durch das überreiche Material hindurch.
Sie kaufte sich einen ganzen Stapel von Kunstgeschichten, Monographien,
Führern durch die Museen und studierte sie so gewissenhaft wie
Schulaufgaben. Manchmal übte ein Bild eine starke Anziehungskraft auf
sie aus, das sie nirgends als besonders wertvoll verzeichnet fand. Aber
noch gestattete sie sich keinen eigenen Geschmack. Sie schalt sich
selber mit unnachsichtiger Strenge jung, dumm, unreif, ungebildet. Es
konnte vorkommen, daß sie einem heimlich geliebten Bilde, das von andern
verächtlich behandelt wurde, im Vorübergehen einen zärtlichen Blick
zuwarf, der sagen sollte: ‚Noch kann ich mich nicht mit dir
beschäftigen, noch kann dir mein Wohlwollen auch gar nichts nützen, weil
ich viel zu unwissend bin – erst muß ich lernen, muß so klug werden, wie
die Klügsten der andern, dann will ich dich entdecken und will dein Lob
singen.‘

Zuerst mußte man die ganz unanfechtbaren Größen aufsuchen, sich mit
ihnen vertraut machen, sie in sich aufnehmen. Manchmal empörte sich
Mettes Gefühl gegen irgend etwas, was sie schön und großartig finden
sollte. Das konnte sie in eine tiefe Mutlosigkeit stürzen. Sie überlegte
umsonst, ob sie nicht irgend jemand um Rat bitten könnte – um Beistand
gegen die Autorität, die für bezaubernd und reizvoll erklärte, was ihr
mißfiel. Dann versuchte sie, sich vorzustellen, was Olga Radó wohl
gesagt hätte – Olga, die durch keine Autorität einzuschüchtern war, die
ihren eignen Geschmack und ihre eigne Meinung hatte, bei der sie
unerschütterlich und manchmal sogar eigensinnig beharrte.

Mitunter fand Mette ein spöttisches Scherzwort, das Olga hätte
gebrauchen können, um sich gegen eine Bevormundung aufzulehnen. Wenn sie
Worte dachte, die so Olgas Prägung trugen, dann war ihr, als hörte sie
auch Olgas leises Lachen neben sich und ihre tiefe, klingende Stimme.
Aber öfter noch geschah es, daß sie sich vergebens fragte: würde dies
oder jenes Olga gefallen haben? Was würde Olga über dies oder jenes
gesagt haben? Und es konnte sie zur Verzweiflung bringen, daß sie sich
keine Antwort zu geben wußte. Daß Olga tot war, war schlimm. Aber fast
noch schlimmer war es, daß Mette die Zeit, da Olga lebte, nicht genügend
ausgenutzt hatte. Jetzt fielen ihr auf Schritt und Tritt Dinge ein, die
sie hätte erfragen müssen und nach denen sie nie gefragt hatte. Dann war
ihr, als müsse es irgendeine Kraft geben, das Geschehene ungeschehen zu
machen, die Gewalt des Todes zu zerbrechen, und ihre Gedanken schlugen
sich wund an dem ehernen Schweigen, das unerschütterlich all ihren
Fragen entgegenstarrte.

Sie fühlte sich manchmal so klein, wie ein Kind, das nicht über die
gepolsterten Wände seines Laufstalls hinwegsehen kann. Der Wind hatte
ihr mancherlei ins Gesicht getrieben – Blüten und Staub. Es mußte wohl
außerhalb des Mäuerchens blühende Gärten geben und staubige Straßen –
aber Mette wußte nicht, woher der Wind blies. Sie versuchte, sich über
sich selbst hinaus zu dehnen – es half nichts. Aber sie wußte, was
einzig helfen konnte: und wie mit Ungeduld verschlang sie alles, was
sich ihren Sinnen und ihrer Seele darbot: Bücher, Bilder, Gespräche,
Gesichter: sie wollte wachsen, wachsen, um über die Mauer zu sehen, um
alles zu übersehen, was außerhalb lag, Welt und Leben, die Welt und das
Leben, wo Olga Radó hergekommen war, und die man verstehen mußte, um sie
zu verstehen. – – –

                   *       *       *       *       *

In dem großen Eßzimmer der Pension hatte Mette ihren Tisch in der
dunkelsten Ecke. Die freundliche Wirtin hatte geglaubt, sich
entschuldigen zu müssen, daß die Plätze in der Nähe der Fenster alle
schon von älteren Gästen besetzt wären. Metten war es gerade recht so.
Sie saß mit dem Rücken gegen die Wand und hatte den kleinen Tisch wie
einen Schutzwall vor sich. Sie war meistens beim ersten Gongruf schon
fertig und setzte sich auf ihren Platz, um die andern an sich vorüber zu
lassen und sich nicht zwischen den vollbesetzten Tischen hindurchwinden
zu müssen. Wenn sie sich einmal verspätete, war ihr der kurze Gang durch
das Zimmer ein nicht endenwollender Marterpfad. Sie fühlte sich von all
den unverhohlen neugierigen und selbst von den gleichgültigen Blicken
gepeinigt und gehemmt. Obgleich sie sich jedesmal vor dem Spiegel
prüfte, ehe sie ihr Zimmer verließ, hatte sie doch immer das Gefühl, daß
ihr Haar sich löste, wenn ein Blick an ihrem Kopf haften blieb, oder daß
sie ein Loch im Strumpf hatte, wenn jemand auf ihre Füße sah. Sie mußte
dann immer gegen den Wunsch ankämpfen, ängstlich nach ihrem Haarknoten
zu greifen, oder auch ihrerseits ihre Füße zu betrachten. Sie preßte die
Ellbogen an den Körper, bemühte sich, ein undurchdringliches und
ausdrucksloses Gesicht zu machen und vorsichtig zu gehen – weil die
Vorstellung sie plagte, sie würde einen Stuhl umreißen oder an einem
Tisch anstoßen – aber dabei doch so rasch, daß man ihr diese Vorsicht
nicht anmerkte. Wenn sie dann glücklich in ihrer Ecke saß, fühlte sie
sich wie im Hafen.

Meistens nahm sie sich eine Zeitung mit, um sich während der Wartezeit
dahinter zu verschanzen. Sie hatte nicht Angst davor, daß jemand sie
anreden könnte – das Sprechen fiel ihr weniger schwer, als das Gehen –
aber Angst, daß sie so aussehen könnte, als wartete sie auf eine Anrede
– so beschäftigungslos, so einsam, so hungrig nach einem zugeworfenen
Wort.

Dabei war sie es in Wahrheit gar nicht. Je weniger sie sprach, desto
weniger vermißte sie das Gespräch. Wenn es auch keine Qual verursachte,
so brauchte es doch immer eine gewisse Entschlußkraft, eh sie den Mund
aufbekam, um dem Mädchen irgend etwas zu sagen. Und wenn sie abends auf
ihr Zimmer ging und nach dem letzten „danke, Berta, ich brauche nichts
mehr“, die Tür verriegelte, dann kam das Gefühl des Schweigenkönnens,
des Schweigendürfens wie eine Erlösung über sie. Ihr war manchmal, als
ob ihre Zunge schon lahm geworden sei, wie irgendein anderer Muskel, der
nie bewegt wird. Und sie hatte kein Bedauern mehr für die Trappisten,
weil sie deutlich empfand, daß es nur weniger Wochen bedurfte, um sich
so an das Schweigen zu gewöhnen, daß sich vor jedes Wort unüberwindliche
Hemmungen stellten.

Aber sie wußte, daß keine schützenden Klostermauern sie umgaben, und daß
sie es sich nicht gestatten durfte, ein Trappistenleben zu führen. Sie
wollte sich in den Strom aller Menschlichkeiten hineinstürzen, um
Schwimmen zu lernen. Dabei klopfte ihr das Herz, wenn sie nur erst die
Zehenspitzen benetzte.

Trotzdem stand sie den Menschen nicht verächtlich, nicht einmal
gleichgültig gegenüber. Sie hatte für all und jeden eine wache
Aufmerksamkeit und war rasch bereit zu Sympathie und Antipathie.

Es waren besonders zwei Gruppen in der Pension, die ihre Beobachtung auf
sich zogen und ihre Teilnahme erregten. Die eine scharte sich um Luise
Peters – „Lawising“, wie sie von allen Seiten gerufen wurde – eine
norddeutsche Malerin, eine große, breite, derbknochige Person, deren
frisches, rotbackiges Gesicht mit blanken Augen und weißen Zähnen, deren
glattsträhniges und ungleichmäßig blondes Haar immer so aussah, als ob
sie eben einem eiskalten Bade entstiegen sei. Lawising hatte eine tiefe
und etwas rauhe Stimme, ein lautes und ins Auge fallendes Gebaren –
aber man spürte, daß ihr nichts ferner lag, als ein eitles
Aufsehen-erregen-wollen. Ihre große und kräftige Persönlichkeit konnte
sich nur mit unsäglicher Mühe auf zarte und vorsichtige Bewegungen oder
einen leisen und gedämpften Ton beschränken. Trotz ihres etwas lärmenden
Wesens hatte sie nichts Unfeines, sie blinkte von innerer und äußerer
Sauberkeit – ja, sie roch förmlich nach guter Familie.

Der Mittelpunkt des andern Kreises duftete eher nach französischer
Parfümerie. Daß das schmale, feingliedrige Wesen künstlich gebleichtes
Haar und künstlich getuschte Wimpern hatte, das entging auch Mettes
ungeübten Augen nicht. Aber sie stellte doch fest – so vorurteilslos,
als ob sie vor einem Bilde stände – daß die schwarz umränderten Augen zu
den kupferglänzenden Locken einen sehr reizvollen Gegensatz bildeten,
daß das Lachen, das die Kleine gefallsüchtig durch den Saal schwirren
ließ, wirklich einen süßen und silbrigen Ton hatte, und daß die
reichlich kurzen Röckchen allerliebst geformte schlanke Beine sehen
ließen.

Bis auf zwei gutmütige alte Damen, die allen ein mütterliches Wohlwollen
zuteil werden ließen, und zwei bösartige, die für alles, was Jugend
hieß, nur ein giftiges Hohnlächeln übrig hatten, gehörten die Gäste der
Pension einer der beiden Cliquen an, die sich nicht gerade befehdeten,
aber sich doch gern mehr oder weniger offensichtlich übereinander lustig
machten. Und auch – zur Freude der Wirtin – einen gewissen harmlosen
Wettbewerb trieben: wenn die eine Partei bis Mitternacht zusammensaß und
eine Flasche Wein nach der andern trank, so braute sicher am
übernächsten Tag die andere Partei eine Bowle und zechte bis zum
Morgengrauen.

Mette fühlte sich manchmal an ihre Schulzeit erinnert. Da waren
erwachsene Menschen, die ganz wie die kleinen Mädchen in der Klasse,
wenn sie sich von einem Tisch an den andern etwas sagen wollten, sich
einer Art Zeichensprache bedienten. Oder ein paar Worte auf den Rand
einer Zeitung schrieben und sie dem bedienenden Mädchen mitgaben – ganz
wie man in der Schule Zettelchen auf die Wanderschaft geschickt hatte.
Da waren Vertraute, die immer miteinander zu tuscheln hatten, ehe sie
sich an ihre Plätze begaben, und die, wenn das Mädchen mit der Suppe
kam, sich mit einem vielverheißenden „nachher“ trennten. Oder andere,
die sich nur einen Blick zuzuwerfen brauchten, um einen Lachanfall zu
bekommen, den sie mühsam zu unterdrücken oder wenigstens zu verbergen
suchten.

Manchmal spürte Mette auch dasselbe Neidgefühl wie damals, als sie fremd
und vereinsamt der Lustigkeit der Klasse gegenüberstand. Und dann dachte
sie mit einem leisen inneren Lächeln, daß sie seit jener Zeit doch schon
um vieles älter geworden war – nicht nur um das eine Jahrzehnt, das
dazwischen lag. Sie war schon so alt und klug geworden, sich zu sagen,
daß all diese Heiterkeit und Wichtigtuerei und Geheimniskrämerei nur so
verlockend erschien für den, der unbeteiligt draußen stand – und daß sie
überhaupt jeden Reiz verlor, wenn nicht jemand da war, der das Spiel als
Zuschauer mit ansah und in dessen Gemüt man ein wenig Neugier und Neid
und Sehnsucht erwecken wollte.

Mette merkte wohl, daß – von beiden Parteien – manches in halb
unbewußter Berechnung geschah, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber
sie war nicht genug von ihrem Wert überzeugt, um sich dadurch
geschmeichelt zu fühlen.

‚Die spielenden Kinder brauchen einen Zuschauer,‘ dachte sie mit
nachsichtigem Lächeln.

Sie fühlte auch mitunter, daß es nicht schwer sein würde, an einen der
Kreise Anschluß zu finden. Sie hätte nur einmal in eines der allgemeinen
Gespräche, an denen auch die liebenswürdige Wirtin sich beteiligte, ein
paar Worte hineinwerfen müssen, sie hätte nur einmal einen Gruß weniger
zurückhaltend zu erwidern brauchen, und in kürzester Zeit hätte sie
nicht mehr abseits gestanden, hätte sie mitgeplätschert in dem muntern
Bächlein dieser mehr oder weniger seichten Beziehungen. Manchmal nahm
sie einen innerlichen Anlauf zu dem Sprung, weil sie dem, was sie „das
Leben“ nannte, näher kommen wollte und mit leiser Angst verspürte, wie
sie ihm immer fremder wurde. Sie nahm sich vor, bei der nächsten
Gelegenheit an einem Gespräch teilzunehmen, und das Herz schlug ihr,
wenn die Gelegenheit da war – aber sie ließ sie ungenützt vorübergehen.
Wenn sie den fertig gebildeten Satz schon auf der Zunge hatte, faßte sie
die Angst, – nicht die Angst, den Satz nicht herauszubringen, oder für
aufdringlich zu gelten – sondern die Angst, durch ein Wort Beziehungen
anzuknüpfen, die nachher zu lösen schwer – ja fast unmöglich war.


Mette dachte oft über sich selbst nach. Sie las und lernte abends im
Bett so lange, bis ihre Gedanken sich verwirrten, und sie, schon halb im
Schlaf, nach der Lampe griff, um das Licht auszudrehen. Aber manchmal
wurde sie nach kurzer Zeit durch irgendein Geräusch geweckt, daß sie mit
hämmerndem Herzen auffuhr. Und dann konnte sie oft stunden- und
stundenlang den Schlaf nicht zwingen – dann nützte weder Zählen noch
Vokabelaufsagen, noch die Vorstellung des wogenden Kornfeldes – ein
Zehntel der Gedankenkraft blieb mechanisch bei den Zahlen, und neun
Zehntel jagten kreuz und quer und schleppten und zerrten alles herbei,
was peinvoll und quälend und beunruhigend war. In solchen schlaflosen
Nächten, wenn alle Dinge ihr so bedrohlich und feindselig naherückten
und sie immer mehr bedrängten, bis sie schließlich fiebernd und glühend
die Decken zurückwarf und sich aufrichtete, um Atem holen zu können,
oder um die gekrampften Fäuste gegen ihre Angreifer zu schütteln, oder
um die Finger in ihr Haar zu krallen und die gesenkte Stirn schwer,
schwer in die Hände zu stützen – in solchen schlaflosen Nächten dachte
Mette auch über sich selbst nach.

Sie wäre sich gern darüber klar geworden, ob sie ein guter oder ein
schlechter Mensch war. Es war sehr schwer, das festzustellen, und
manchmal spielte sie mit dem Gedanken, einen unbefangenen Menschen zum
Richter aufzurufen, ihm alle „Für“ und „Wider“ vorzutragen und sich
einem Urteil zu unterwerfen, sich freisprechen zu lassen oder eine Buße
auf sich zu nehmen. Sie suchte unter den Leuten auf der Straße, in den
Bahnen, in den Konzerten nach einem Gesicht, das von der Fähigkeit zu
solchem Richteramt zeugte. Aber sie fand keines.

Sie suchte auch unter den gemalten Gesichtern in den Galerien. Und da
war schon eher ein oder das andere, vor dem sie hätte stehenbleiben
mögen, um mit gefalteten Händen zu bitten: Hilf du mir doch – das hab’
ich getan – und das hab’ ich verabsäumt – und dessen hat man mich
ungerecht beschuldigt. Wie steht es nun um mich – sind andere Menschen
besser oder schlimmer? Haben viele ein Recht, mich zu verachten? Habe
ich das Recht verwirkt, andere zu verachten? Gibt es nicht ehrbare und
tugendhafte Menschen, die niedriger stehen als ich? Und darf ich nicht
zu manchen aufsehen, die noch mehr gesündigt haben, als ich?

Manchmal prüfte sich Mette, ob sie irgend etwas anders tun würde, wenn
es ihr noch einmal zu tun gegeben würde. Sie meinte dann wohl, daß sie
ihrem Kinderfräulein nicht mehr mit so blinder Schwärmerei anhängen
würde. Und daß sie versuchen würde, ihrem Vater näher zu kommen, mehr
Verständnis für ihn zu gewinnen, und ihm mehr Verständnis beizubringen.
Und dann würde sie die Schuljahre besser ausnutzen, um das wenige, was
sich auf der Schule lernen ließ, wenigstens gründlich zu erfassen.

Aber all dies war es ja nicht, was man ihr als Schuld angerechnet hatte.
Ihre Schuld, ihr Verbrechen war gewesen, daß sie Olga Radó zu sehr
geliebt hatte.

Und wenn Mette an diesen Punkt kam, dann bäumte sich der Widerspruch in
ihr auf wie ein gepeitschtes wildes Pferd. Wenn Olga noch einmal in ihr
Leben träte, dann würde sie jedes Verbrechen begehen, um zu ihr zu
gelangen, ihre Stimme zu hören, ihre Hände zu fühlen.

Sie hatte einen Wachtraum, der mit der Hartnäckigkeit eines Fieberwahns
immer wiederkehrte. Sie sah Olga in weiter Entfernung, manchmal wie vor
ihr fliehend, aber meist ihr zugewandt, mit sehnsüchtig ausgestreckten
Händen. Sie wollte zu ihr. Sie mußte zu ihr. Aber immer drängte sich
jemand dazwischen. Ihr Vater, Tante Emilie, Onkel Jürgen, Frau Flesch,
der Detektiv, die Möbius-Mädels. Und Mette hielt den Revolver umklammert
– Olgas Revolver – und schoß. Und traf. Und die Getroffenen stürzten
zusammen und ließen den Nächsten auftauchen. Aber wenn die Reihe zu Ende
war, fing sie wieder von vorn an. Wie Puppen in einer Schießbude standen
sie wieder auf und versperrten ihr den Weg. Und Mette schoß sie nieder,
unzähligemal. Aber Olga entfernte sich, ihre Erscheinung wurde immer
undeutlicher, verblaßte, verdämmerte, bis sie verschwand.

Die Sehnsucht nach Olga konnte Mette fast bis zum Wahnsinn peinigen –
und doch war sie nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war die Sehnsucht,
die ins Ungewisse ging, die nach einem Menschen schrie, nicht nach Liebe
oder Kameradschaft oder Verständnis, nur nach der Wärme eines Körpers,
nach umschlingenden Armen, nach zärtlichen Lippen.

Dann konnte es vorkommen, daß Mette sich mit Nägeln und Zähnen in die
Kissen einkrallte und sich schüttelte wie im Fieber. In solchen
Augenblicken wurde es ihr auch klar, daß sie doch wohl ein schlechter
Mensch wäre. Und das Belastendste war, daß sie keine Reue kannte und
nicht einmal gute Vorsätze. Im Gegenteil. Wenn sie sehr unglücklich war,
dann faßte sie geradezu den Vorsatz, schlecht zu werden. Sie wollte nur
lernen und an sich arbeiten, um Macht über die Menschen zu gewinnen, um
zu berücken, zu verführen. Und dann wollte sie nach allem greifen, was
ihre Lust oder ihre Neugier auch nur für eine Stunde reizte, wollte nur
den Schaum von den Kelchen schlürfen, den Saft aus den Früchten pressen
und weiterjagen, von einem zum andern, nirgends verweilend, nirgends
sich anheftend, nirgends aus den Tiefen schöpfend.

Ein solcher Entschluß trieb sie den Menschen näher. Sie wollte kopfüber
den Sprung in den Strom wagen, weil sie die Kraft in sich fühlte, die
Flut zu meistern. Sie nahm sich vor, am andern Tag eine Bekanntschaft
anzufangen, mit irgend jemand auf Redefuß zu kommen – ein Wort konnte
wie ein ins Wasser geworfener Stein immer weitere Ringe ziehen, und in
wenigen Wochen konnte sie der Mittelpunkt eines Kreises sein.

Wenn sie am andern Tag unter den Gesichtern Umschau hielt, erschienen
sie ihr plötzlich alle leer und langweilig oder verlogen und unheimlich,
und ihr Inneres zog sich zusammen wie ein erschreckter Igel, ängstlich
und feindselig. Und sie faßte einen neuen Entschluß: zu schweigen, immer
zu schweigen, niemals mehr als das unumgänglich Notwendige zu reden,
niemals mehr einem Menschen das Du zu gönnen, Barrikaden und Mauern des
Schweigens zu errichten zwischen sich und der Welt. – – –

                   *       *       *       *       *

Es wäre vielleicht noch wochen- und monatelang so weiter gegangen, wenn
nicht eines Tages Gisela Werkenthin in die Pension gekommen wäre, um die
kleine Geschminkte zu besuchen. Sie fiel Mette sofort auf, als sie das
Eßzimmer betrat. Nicht, daß sie besonders schön gewesen wäre. Sie war
schlank, schmächtig, knabenhaft gebaut. Ihr schmales Gesicht wurde noch
schmäler durch das auf Pagenart geschnittene dunkle Haar, das die Hälfte
der Wangen verdeckte. Ihr Mund war fast lippenlos, nur eine feine
blaßrote stolz und schmerzlich gebogene Linie. Ihre dunklen Augen mit
auffallend breiten Lidern lagen in großen, tiefen, aschgrauen Höhlen.

Mette stand an diesem Abend nicht gleich nach dem Essen auf, wie
gewöhnlich. Sie ließ sich noch einen Tee bringen, um einen Vorwand zu
haben, tat, als ob sie ungeduldig in dem Tee rührte, um ihn abzukühlen,
und beobachtete dabei den Tisch, an dem die blasse Frau mit den
abgeschnittenen Haaren saß.

Sie lachte mit den andern, trank, und rauchte unzählige Zigaretten.

Aber plötzlich konnte sie während des lärmenden Gesprächs in sich
zusammensinken, wie eine Schlafende, die schmale Hand mit der brennenden
Zigarette stand wie erstarrt in der Luft, und ihre Augen bohrten sich
durch den Nebel von Rauch und Dunst, als sähen sie in der Ferne ein
furchtbares lähmendes Geschehen.

Am nächsten Tage suchte Mette Frau Meidinger, die Wirtin, auf. Sie hatte
eine unwichtige Kleinigkeit mit ihr zu besprechen, die sie sicher ein
anderes Mal durch die Vermittlung des Mädchens erledigt hätte. Aber in
der Nacht hatte sie den unerschütterlichen Entschluß gefaßt, den Sprung
in das „Leben“ zu tun, und aus diesem Grunde zwang sie sich erst einmal
dazu, Frau Meidinger persönlich aufzusuchen, die blond und rundlich,
wohlfrisiert und liebenswürdig wie immer, in ihrem sehr behaglichen
Wohnzimmer hinter einem gedeckten Teetisch thronte.

Sie schien sehr entzückt, Mette zu sehen. Sie quälte so lange, bis Mette
eine Tasse Tee genommen hatte, und dann fing sie an, in ebenso
neugieriger wie herzlicher Art, Fragen zu stellen, die Mette
beantwortete, weil sie keinen Grund hatte, sie _nicht_ zu beantworten.
Aber sie lächelte ein wenig dabei und dachte: ‚Wenn ich etwas vor dir
verbergen wollte, meine Liebe – auf _diese_ Weise würdest du es nicht
aus mir herausfragen.‘

Sie gab gern zu, daß sie Waise wäre. Ja, es war ihr sogar ganz recht,
daß die Trauer, die sie noch um ihren Vater trug, eine genügende
Erklärung für ihr blasses und verhärmtes Aussehen gab. So kam die
gutmütige und aufdringliche Frau wenigstens nicht auf den Gedanken, nach
einem heimlichen Kummer und seiner Ursache zu forschen.

Mettes Schicksal war in wenigen Sätzen klargestellt: sie war Waise,
hatte weder Geschwister noch Großeltern am Leben und hatte mit Absicht
eine fremde Stadt aufgesucht, um in ganz veränderter Umgebung die
traurigen Eindrücke der letzten Zeit loszuwerden. Frau Meidinger gab
sich damit zufrieden, oder sie tat wenigstens so. Sie gestand Mette ein,
daß – was diese sehr verwunderte – schon alle Gäste nach ihr gefragt
hätten, und daß jeder hinter der jungen schweigsamen Dame in Trauer eine
romantische Geschichte vermutete. Fräulein Luigi – Mette würde doch
zweifellos Fräulein Luigi kennen? – sie wäre ja beim Kabarett und hätte
viel Erfolg jetzt, außergewöhnlich viel Erfolg – ja, die Kleine mit dem
schönen roten Haar – mit dem rotgefärbten Haar, versteht sich, das hätte
Mette doch wohl auch schon bemerkt? – Also Fräulein Luigi hätte sogar
Frau Meidinger schon immer gequält, daß sie eine Bekanntschaft
vermitteln solle; aber wie Frau Meidinger das Fräulein Peters erzählt
habe, hätte die gesagt, sie wäre immer sehr geradezu, Fräulein Peters,
und manchmal auch ein bißchen derb: „Unterstehen Sie sich und machen Sie
dies feine, zarte, vornehme junge Menschenkind bekannt mit dieser ...“,
na, sie wollte lieber nicht wiederholen, was Fräulein Peters gesagt
hätte, denn, wie gesagt, Fräulein Peters sei manchmal ein bißchen derb.
Aber so schlimm würde es wohl gar nicht sein mit der kleinen Luigi. Sie
wär’ natürlich keine Heilige vom Himmel – aber wen ginge das was an?
Sie, Frau Meidinger, wäre ihr nicht zum Vormund gesetzt ... und die
Hauptsache wäre, daß ihr Haus rein bliebe, darauf achtete sie, und da
könnte ihr keiner etwas nachsagen. Und wenn ein junges Mädel heut ihr
Brot verdienen müsse wie ein Mann, dann wolle sie auch ihr Vergnügen
haben wie ein Mann. Die Soliden wären ihr lieber, freilich,
selbstredend. Aber heutzutage, ach, wer wäre denn heutzutage noch solid?
Und wer es nicht so triebe, der triebe es eben anders. Ob Mette nicht
gestern die Gisela gesehen hätte?

Mette machte ein zweifelndes Gesicht und hatte das Gefühl, rot zu
werden.

„... eine von den Damen, die gestern zu Besuch bei Fräulein Luigi
waren?“

„Ja, die Dunkle – ach, Sie haben sie sicher gesehen, Fräulein Rudloff!
Sie sieht ja so elend aus, so namenlos elend! Ist Ihnen das nicht
aufgefallen? Sie haben wohl nicht so den Blick dafür – aber wer Bescheid
weiß, der sieht es ihr ja auf hundert Schritt an, daß sie Morphinistin
ist. Es ist schließlich keine Indiskretion von mir, wenn ich Ihnen etwas
erzähle, was die ganze Stadt weiß. Diese begabte Person! Es ist ein
Jammer um sie, denn sie geht zugrunde, sage ich Ihnen, sie geht zugrunde
an einer Frau!“

Frau Meidinger machte eine Kunstpause und sah Mette erwartungsvoll an.

Mette fühlte, daß dieser Blick sie aufforderte, irgend etwas zu sagen.

„Wie fürchterlich,“ sagte sie in dem Ton eines Kindes, dem man
unglaubbare Schauergeschichten erzählt.

„Ja, mein liebes Kind,“ sagte Frau Meidinger mit beinah mitleidiger
Überlegenheit, „in Ihren großen unschuldigen Augen, da steht so deutlich
die Frage: Gibt es denn so etwas überhaupt? Ach, mein Kind, haben Sie
eine Ahnung, was es alles gibt! Wir leben in einer schrecklichen Zeit,
wirklich! Aber was soll man machen? Man kann aus der Zeit ebensowenig
heraus wie aus seiner eigenen Haut. Wenn ich es mir hätte aussuchen
können, ich hätte auch lieber im Biedermeier gelebt, wo alles recht
gemütlich herging. Oder zu Goethes Füßen gesessen – wo finden wir heute
einen Goethe?“

Mette bedauerte aufrichtig, Frau Meidinger nicht zu dem ersehnten Platz
verhelfen zu können. Sie stellte sich das Bild recht erheiternd vor und
benutzte die nächste Gelegenheit, um sich zu verabschieden.

Schon während sie über den langen, schlecht erleuchteten Flur nach ihrem
Zimmer ging, kehrten ihre Gedanken zu der armen Gisela zurück und hörten
nicht auf, sie zu umkreisen.

Arme Gisela, die an einer Frau zugrunde ging! Oh, wie Mette sie
verstehen konnte. Und sie würde Mette verstehen. Alles würde sie
verstehen, was Mette durchgemacht, Kampf und Liebe und Leid.

Mette war zumut, als müsse sie diese fremde Frau mit den qualbrennenden
Augen suchen, ihr nachgehen, sie bei der Hand fassen, um ihr zu sagen:
„Wir verstehen uns, wir gehören zusammen, weil wir die Unglücklichsten
der Welt sind. Wir müssen Freunde werden, weil niemand außer uns
begreifen kann, was wir gelitten haben.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Am andern Abend ging das Gespräch zwischen den Tischen hin und her über
irgendeine Meldung des Abendblattes. Einige hatten die Zeitung schon
gelesen, andere nicht, und da Mette sie in der Hand hielt, bot sie sie
ihrem Nachbarn an. Die kleine Luigi bat, auch einen Blick hineinwerfen
zu dürfen, was Mette mit großer Liebenswürdigkeit gestattete, und nach
fünf Minuten war ein allgemeines Gespräch im Gange.

Am nächsten Tag schien es für Fräulein Luigi selbstverständlich, daß sie
Mette mit ein paar freundlichen Worten anredete. Und am Abend, als sie
die, welche sich gewöhnlich um sie scharten, aufforderte, auf ihrer Bude
noch einen Schnaps zu „genehmigen“, trat sie auch an Mettes Tisch heran
und bat sie, noch eine Viertelstunde mitzukommen – nicht „feierlich“,
aber „gemütlich“.

Mette gab sich innerlich einen Ruck und stand auf, um mitzugehen. Sie
mußte an dem Tisch vorüber, an dem Luise Peters mit ihren Genossen saß.
Mette ging mit sehr hochgerecktem Kopf vorbei, aber sie glaubte die
erstaunten und spöttischen Blicke auf ihrem Rücken prickeln zu fühlen.
In einem aufwallenden Trotzgefühl schob sie ihre Hand in den Arm der
kleinen Luigi: ‚Ich gehöre zu diesen hier,‘ sollte das den andern sagen,
‚zu diesen, die ihr verachtet, und die ein Herz für mich haben – und
nicht zu euch, ihr hochmütigen Tugendbolde – ihr hättet euch ja eher um
mich kümmern können – jetzt geschieht es euch recht, wenn ich zugrunde
gehe!‘

Als dies Gefühl ihr klar wurde, kam sie sich selbst sehr lächerlich vor.
Was hatten diese wildfremden Menschen mit ihr zu tun, wieso hatten sie
eine Verantwortung für sie! Und doch empfand sie dunkel: Die da sitzen
und mir höhnisch und bedauernd nachsehen – die sind meine Klasse, sind
mir verwandt, zu ihnen gehöre ich – aber ich löse mich von ihnen und
gehe mit den andern, mit den fremden – mit denen, die mir verwandt sind,
weil sie mein Schicksal haben, weil sie überhaupt ein Schicksal haben
und nicht bloß ein Dasein, weil sie Leid kennen und Leidenschaft – und
nicht bloß Leiden, weil sie eifersüchtig sind und nicht bloß eifrig,
weil sie triebhaft sind und nicht bloß betriebsam ... nein, ich gehöre
nicht zu euch, ich hasse euch, ich verachte euch! Ihr und euresgleichen,
ihr habt Olga Radó gemordet – ich gehöre nicht mehr zu euch, und da ich
doch irgendwohin gehören muß, will ich versuchen, zu diesen zu gehören.

Sie überschritt die Schwelle zu Mara Luigis Zimmer mit so angespannter
Entschlußkraft, als schritte sie in ein neues Leben. – – –

                   *       *       *       *       *

Die kleine Luigi mußte von den meisten Stühlen erst eilig irgend etwas
wegraffen, um ihren Gästen Platz anbieten zu können. Als sie einen Arm
voll aller möglichen Gegenstände zusammen hatte, warf sie ihn aufs Bett:
„So, Kinder, setzt euch!“

Fräulein Lorenz, eine schlanke, gutgekleidete Blondine mit einem
hübschen und ausdruckslosen Puppengesicht, warf sich auf den
kissenbedeckten Diwan und nahm einen großen Teddybären zärtlich in den
Arm. Der kleine Kramer, ein blonder, schmächtiger Junge mit dem Gesicht
eines frühverdorbenen Kindes, bemühte sich, einen Platz auf dem Diwan zu
erkämpfen. Aber die hübsche Lorenz trat so heftig nach ihm, daß ihre
schlanken zappelnden Beine in dünnen Seidenstrümpfen bis über die Knie
sichtbar wurden.

Ein ernst und kränklich aussehender Mann, der nicht unbedingt zu diesem
Kreis gehören mußte, da Mette ihn auch schon mit der andern Partei in
freundschaftlichem Gespräch getroffen hatte, schob Mette, die noch immer
wie unschlüssig in der Mitte des Zimmers stand, wortlos einen Sessel
hin.

Mette lächelte ihm dankbar und etwas verwirrt zu und setzte sich.

Unterdessen hatte der kleine Kramer einen so kräftigen Tritt erhalten,
daß er mit einem lauten Jammergeschrei von der Diwanecke
herunterrutschte und auf den Teppich glitt, wo er sitzen blieb und sich
weder mit Gewalt noch mit Zureden wieder in die Höhe bringen ließ.

Frau Breslauer, eine üppige Dame mit gemalten Augenbrauen, hatte auf dem
Bett ein Korsett aus weißem Seidentrikot entdeckt, das sie unter den
zahlreichen anderen Sachen hervorzog. Sie wollte absolut wissen, ob es
Maßarbeit sei, ob die berühmte Fischer es angefertigt hätte und wie
teuer es gewesen wäre.

Giesbert, ein junger Maler, ein schlanker, gut aussehender Mensch, riß
das Korsett aus den Händen der Frauen und tanzte damit durch die Stube.
Mara Luigi jagte hinter ihm her, sie hatte die ohnehin schon kurzen
Röckchen mit der linken Hand zusammengerafft, die rechte streckte sie
zappelnd in die Luft – wenn Giesbert sich aufreckte, kletterte sie auf
einen Stuhl, wenn er auf einer Seite des Tisches hin und her sprang, in
Bereitschaft, jeden Augenblick die Laufrichtung zu verändern, machte sie
es auf der anderen Seite ebenso. Ihre Haarnadeln fielen klirrend zu
Boden, Strähnen und Locken tanzten um ihr Gesicht.

Mette legte die Hände sehr fest um die Sessellehnen und schloß eine
Sekunde die Augen, weil sie fühlte, daß sie schwindlig wurde.

‚Das ist das Leben,‘ dachte sie, ‚ich muß mich daran gewöhnen.‘

Der häßlich und kränklich aussehende Mann, der immer noch hinter ihrem
Stuhl stand, beugte sich ein wenig vor und sagte mit einer ungemein
sanften und angenehmen Stimme:

„Gnädiges Fräulein sind fremd hier?“

„Ja,“ sagte Mette mit einem hilflosen Lächeln, „ziemlich!“

Sie schalt sich selbst sehr kleinlich und spießbürgerlich, aber sie
hatte doch das Gefühl, daß es immer noch leichter in einer der steifen
und herkömmlichen Gesellschaften sei, wo die Wirtin die Verpflichtung
fühlte, sich um einen fremden Gast zu kümmern. Sie wollte nicht beachtet
werden, nicht eine Rolle spielen, sie hätte diesem Durcheinander gern
als unbeteiligter Zuschauer beigewohnt – aber als unsichtbarer – weil
sie – ganz zu Unrecht – das Gefühl hatte, daß jeder sie ansah und mit
leisem Unbehagen feststellte, daß dieses ernste, unbeholfene und
schweigsame Wesen gar nicht in den Kreis paßte. Sie war sehr dankbar,
daß dieser fremde, nicht sehr sympathisch aussehende Mann sie ansprach,
und daß sie sich ihm zuwenden konnte – schon, damit die andern nicht
dachten, sie warte hochmütig darauf, daß sich irgend jemand ihrer
annähme.

Der häßliche Mann neigte sich ein wenig:

„Eccarius. Man hat uns zwar sehr liebenswürdigerweise zusammen
eingeladen, aber man hat leider bis jetzt versäumt, uns miteinander
bekannt zu machen.“

Er lächelte. Und dies Lächeln war bei aller Überlegenheit so gütig und
nachsichtig, daß es Mette sofort für ihn einnahm.

„Man darf es so genau nicht nehmen,“ sagte sie, auch ihrerseits sofort
zur Nachsicht bereit. „Es geht auch so!“

Sie gab sich einen kleinen Stoß und nannte ihren Namen, was Eccarius
jedoch nicht veranlaßte, die Anrede „gnädiges Fräulein“ aufzugeben.

„Darf ich?“ Er zog sich einen Stuhl in ihre Nähe. „Natürlich, mein
gnädiges Fräulein, es geht auch so! Wir stecken immer noch viel zu sehr
im überlieferten Formelkram. Ich beneide diese Menschenkinder um ihre
schöne Leichtigkeit! Das hüpft und springt und duzt sich und teilt alle
Geheimnisse und weiß gar nicht, wie schwer es für unsereinen ist, eine
Brücke von Mensch zu Mensch zu schlagen.“

Durch das Wort „unsereinen“ fühlte Mette sich erkannt. Trotz aller Mühe,
die sie sich gab, merkte man ihr also an, wie fremd sie in diesem Kreise
war. Sie war sich nicht ganz klar, ob sie das als wohltuend oder
schmerzlich empfinden sollte.

Der hübsche Giesbert tanzte vor dem großen Schrankspiegel herum, hatte
das Korsett über seinen grauen Jackenanzug umgelegt und versuchte, es
zuzuzerren.

„Mein bestes Korsett,“ schrie die kleine Luigi aufgeregt, „du wirst es
mir kaputt machen! Du bist ein Viech, leg’ es hin, aber sofort!“

„Du brauchst es ja doch nicht,“ lachte Giesbert, „tu doch nicht so, als
ob du je eins anhättest!“

Er kniff sie in die Seiten, was sie zu einem lauten Quietschen
veranlaßte.

Mette hätte es sich selbst nicht zugegeben, daß sie sich durch diesen
Ton verletzt fühlen könnte.

„Wie herrlich jung diese Menschen sind,“ sagte sie lächelnd zu Eccarius,
„ich komme mir ganz alt und grämlich vor neben diesen Kindern.“

„Kindern ...“ wiederholte Eccarius mit einem seltsam verschlossenen
Gesichtsausdruck und nach innen schauenden Augen, „ja, vielleicht ...
Kindern ...“ Dann sah er Mette an, mit einem vollen Blick und seinem
guten Lächeln:

„Sie haben sicher eine sehr glückliche Kindheit gehabt.“

„Ja,“ sagte Mette mit tiefster Überzeugung.

Sie dachte dabei nur an ihre ersten Lebensjahre. Sie sah sich im Park
bei den Großeltern, in weißen gestickten Kleidchen, die die welken,
gütigen Hände der Großmutter unermüdlich für sie arbeiteten. Sie sah das
Gartenhäuschen mit den bunten Gläsern in den Fensterscheiben und den
Bach mit der Brücke und die leuchtenden Blumenrondells vor der Terrasse.
Sie spürte den Heuduft, der von den Wiesen herüberkam, sie hörte das
Summen der Insekten, das die ganze Luft wie mit fernem Glockenton
erfüllte, sie sah die riesengroßen weißen und gelben Schmetterlinge, die
fast so groß waren wie die Kinderhändchen, die sich zärtlich nach ihnen
streckten.

Wie kam es nur, daß sie an diese Zeit dachte, als sei jeder Tag, jede
Stunde voll und übervoll einer unnennbaren Seligkeit gewesen, einer
Seligkeit, die jetzt noch, wenn nur das Wort „Kindheit“ gesprochen
wurde, das Herz mit einer sanften, lichten Wärme streichelte!

Wenn Mette daran dachte, daß sie sehr früh schon Kampf und Qual und Leid
kennengelernt hatte, daß sie gegen Tante Emilie, die mit viel
Rechtlichkeit und wenig Verständnis ihre Erziehung leitete, einen
peinigenden Haß empfunden hatte, daß ihr früh schon bewußt war, was es
hieß, Eifersucht zu fühlen, dann war ihr, als gehörte diese Zeit – eine
Zeit, wo sie noch nicht zehn Jahre alt war – schon nicht mehr ihrer
Kindheit an. Kindheit, das waren die wenigen Jahre, in denen ein Quell
von beglückender Liebe aus dem eigenen Herzen sprudelte und sich
unterschiedslos über Bäume, Tiere, Menschen und Puppen ergoß, die nur
irgend in den Bereich der Sinne kamen.

In dem Augenblick, wo dieser Liebesstrom in eine Richtung geleitet
wurde, wo er Hindernisse durchbrechen sollte, die sich ihm in den Weg
stellten, wo er austrocknete auf einer Stelle, die er vorher befruchtet
hatte und dürre Gleichgültigkeit oder sumpfigen Haß zurückließ – in
diesem Augenblick schien für Mette der Begriff „Kindheit“ schon vorüber.

„Ja,“ sagte sie und richtete die Augen wieder auf Eccarius, „eine sehr
glückliche Kindheit, aber keine sehr lange. Ich habe das Gefühl, daß ich
früher erwachsen war als andere Kinder – nicht reif, um Gottes willen,
daß Sie mich nicht mißverstehen – reif bin ich heute noch nicht ...“

„Wer ist reif?!“ warf Eccarius mit seinem sanften Lächeln ein.

„Aber ich glaube, daß ich früher als andere Kinder aus diesem Zustand
seliger Unbewußtheit erwacht bin.“

„Das ist schade.“ Über seine ernsten, hellgrauen Augen zog ein Schleier,
wie von tiefer Bekümmernis. „Das ist sehr, sehr schade.“

Mette hatte wohl unwillkürlich ein etwas erstauntes Gesicht gemacht,
denn er bemühte sich, seine Anteilnahme zu erklären:

„Sehen Sie, wenn ich glückliche Kinder sehe, dann möchte ich immer Wälle
und Mauern um sie errichten, damit sie so bleiben, wie sie sind, recht,
recht lange so bleiben. Der Gedanke ist so furchtbar, daß nur ein
giftiger Hauch diese zarten kleinen Geschöpfe zu treffen braucht, um all
ihre Glückseligkeit in höllische Qual zu verwandeln.“

„Schenk es ihm doch!“ schrie der kleine Kramer von seinem Platz auf dem
Fußboden aus, „wenn er sich doch von dem Korsett nicht trennen kann! Es
hat eben jeder seine Passion, und es soll Leute geben, die das sehr
amüsant finden!“

„Du Schwein!“ sagte Fräulein Lorenz und trat mit dem Fuß nach seiner
Schulter.

Giesbert hatte irgendwoher einen reihergeschmückten Tüllhut genommen und
ihn auf den Kopf gestülpt. Mit einer Hand hielt er das Korsett auf
seinem Magen zusammen, mit der anderen griff er bei jedem Schritt
ängstlich nach dem schwebenden Hut, um ihn im Gleichgewicht zu halten.

„So geh ich morgen aufs Atelierfest,“ verkündete er im Triumphton, „ich
werde Furore machen!“ Und plötzlich, mit einer Stimme, die ins Falsett
umschlug: „Huch nein! Ich bin die Schönste von allen! Die Tante wird
mich ausbilden lassen! Wenn ich nur wüßte, wozu? Ich habe so entsetzlich
viele Talente!“

„Richtig,“ schrie die kleine Luigi dazwischen und machte einen
Luftsprung, „das Atelierfest bei Sophus! Sei doch eine Minute still,
ekelhafter Bengel! Sagt mir lieber im Ernst, was zieht ihr an? Kostüm
oder so? Leg’ jetzt die Sachen hin, Giesbert, sonst bekommst du so gewiß
und wahrhaftig keinen Schnaps!“ Sie stampfte zur Bekräftigung mit dem
Fuß auf.

Giesbert markierte ein angstvolles Zittern und Schlottern und stürzte
mit knickenden Knien ans Bett, um die Sachen niederzulegen.

Die Kleine lachte und holte aus dem Schrank eine Schnapsflasche.

„Ich habe nur zwei Gläser! Erich, klingle mal!“ befahl sie.

„Ach, laß doch,“ meinte Fräulein Lorenz gleichmütig, ohne sich
aufzurichten, „wir trinken nacheinander! Wenn Emma jetzt hier
Schnapsgläser herbringen soll, erzählt sie wieder, wir feiern Orgien.“

„Also schön!“ Mara Luigi spülte die Gläser in der Waschschale aus. Sie
griff nach einem Handtuch, und Mette erschrak ein wenig, weil sie
dachte, sie würde es zum Abtrocknen der Gläser benutzen; aber sie
wischte sich nur die Fingerspitzen daran ab. Sie goß die Gläser voll und
bot Mette zuerst an.

„Wissen Sie was, Fräulein Rudloff?“ sagte sie, als sie vor ihr stand,
„Sie müssen morgen da mit hin, ganz gewiß, das müssen Sie!“

„Ich?“ fragte Mette fast erschrocken, „wohin denn?“

„Auf das Atelierfest natürlich! Sie haben wahrscheinlich in Ihrem Leben
noch kein richtiggehendes Atelierfest mitgemacht. Das müssen Sie sich
doch mal ansehen.“

Mette verspürte gar keine Lust; sie verwünschte es, daß sie überhaupt
dieser Aufforderung gefolgt war, anstatt in ihrem Zimmer zu bleiben, wo
sie sich vor jedem störenden Geräusch verschließen konnte und sich vor
den eigenen Gedanken in ihre stillen, klugen Bücher flüchten.

„Aber ich kenne diese Herrschaften doch gar nicht,“ sagte sie hilflos.

‚Doch seltsam,‘ dachte sie, ‚zu Hause hätte ich sicher „diese Leute“
gesagt und hätte mir von Tante Emilie einen Rüffel geholt. Hier, wo es
sicher allgemein als affektiert auffällt, wenn ich „Herrschaften“ sage,
kommen Tante Emiliens gute Lehren zum erstenmal zum Durchbruch.‘

„Wen? Sophus und Nora?“ fragte Giesbert, einen Augenblick von seinem
tollen Gehabe ablassend und – noch außer Atem – sich das Haar streichend
und wie ein vernünftiger Mensch redend:

„Die kennen Sie nicht? Dann müssen Sie morgen erst recht mit, denn dann
ist es höchste Zeit, daß Sie sie kennenlernen. Ein paar Prachtweiber,
ein paar ganz hervorragende Menschen! Will vielleicht jemand etwas
anderes behaupten? Den fordere ich sofort zu einem Boxmatch!“

Er krempelte die Ärmel auf, duckte den Nacken und fletschte die Zähne.

„Sie können ruhig mitgehen,“ sagte die üppige Frau Breslauer mit ihrer
etwas öligen Stimme, „ich bin das erstemal auch so ^sans façon^
mitgeschleppt worden und wurde gleich so reizend aufgenommen, nicht
wahr, Maralein? wirklich ganz reizend!“

„Ja,“ lachte der kleine Kramer, „die haben, glaub’ ich, noch nie einen
Menschen auf eine andere Weise kennengelernt, als daß er ihr Gast war!“

„Holt Gisela uns ab, oder treffen wir uns da?“ fragte die Lorenz.

‚Gisela,‘ dachte Mette, ‚die wird also auch dabei sein. Ich müßte es ja
tun. Ich habe eigentlich nur die Wahl, mich entweder zu vergraben und
ein Einsiedlerleben zu führen, oder aber jede Gelegenheit zu benutzen,
um unter Leute zu kommen und Welt und Menschen kennenzulernen. Gisela!
Ich sitze doch nur hier, um mir irgendwie einen Weg zu ihr zu bahnen,
und wenn es mir so bequem wie nur möglich geboten wird, ihre
Bekanntschaft zu machen, dann hab’ ich eigentlich nicht die geringste
Lust, sondern nur Angst und Scheu und Widerwillen und das Bedürfnis,
mich irgendwohin zu verkriechen, wo ich meine Ruhe hab’.‘

Eccarius mußte wohl den inneren Widerstreit auf ihrem Gesicht gelesen
haben. Er beugte sich ein wenig vor und sagte in einer sehr beruhigenden
Art:

„Sie können es wagen, denke ich. Sie werden eine bunte Auslese Menschen
versammelt finden. Es wird Sie sicher zerstreuen und auch interessieren
– es sind wirklich wertvolle darunter. Und wenn es Ihnen zu lebhaft
wird, dann verpflichte ich mich, Sie zu jeder Zeit sicher nach Hause zu
bringen.“

„Sie sind auch da?“ fragte Mette erleichtert.

Er nickte.

„Ja, dann glaub’ ich wirklich, ich kann es wagen!“ – – –

                   *       *       *       *       *

Während Mette sich ankleidete, um auf das Atelierfest zu gehen, hatte
sie durchaus nicht das Bestreben, sich möglichst hübsch herzurichten, um
beachtet zu werden, zu gefallen, zu wirken. Sie hatte nur den einen
Wunsch, möglichst wenig aufzufallen und hätte viel darum gegeben,
unsichtbar sein zu dürfen, oder sich den Trubel von einer Galerie herab,
aus einem dunklen Nebenzimmer, anzusehen.

Sie wählte ein sehr schlichtes schwarzes Taftkleid, das durch keinen
Farbenfleck, durch keine kühne Linie den Blick auf sich zog – aber sie
konnte nicht hindern, daß ihre Erscheinung trotzdem etwas Auffallendes
hatte – vielleicht machte das die Erwartung, die auf dem Grund ihrer
leeren Augen loderte, und diese Augen in so scharfen Gegensatz brachte
zu der sanften und fast abgeklärten Ruhe ihres blassen Gesichts. – – –

                   *       *       *       *       *

Als Mette in dem Vorraum der kleinen Villa draußen ihren Mantel ablegte
und eine Fülle von Menschen, zum Teil in phantastischen Verkleidungen,
sie umdrängte, eine Fülle von Geräuschen sie umbrauste, hatte sie schon
Fluchtgedanken. Sie sah sich nach der kleinen Luigi um, die eine Welle
von Menschen aus ihrer Nähe gerissen hatte. Vielleicht würde es niemand
bemerken, wenn sie sich ihren Mantel wiedergeben ließ und leise wieder
aus der Tür schlüpfte. Sie sah sich um, die Möglichkeiten eines
Entkommens erwägend, und traf mit dem Blick in Eccarius’ Augen, der
dicht hinter ihr stand.

„Nun sehen Sie sich einmal um,“ sagte er begütigend, als hätte er ihre
Gedanken erfühlt, „und wenn es Ihnen zuviel wird, geben Sie mir einen
Wink, und ich bringe Sie nach Hause. Ich habe gar nicht die Absicht, bis
zum grauenden Morgen hier zu bleiben.“

Die Räume waren groß und hell, aber so voll lärmender Menschen, daß
Mette schwindlig wurde. Ein dünner blauer Rauchschleier lag schon jetzt
über den Gruppen und zog in Kreisen um die Lampen. Gesichter tauchten
auf, prägten sich Mettes Sinnen ein, scharf und doch unwirklich, wie
Fiebererscheinungen, und verschwanden wieder.

Eccarius blieb an ihrer Seite und deutete manchmal auf irgend jemand,
den sie aus dem Gewühl nicht herausfinden konnte, und nannte ihr dazu
einen Namen, den sie nicht verstand oder nicht behielt, weil er keine
Bedeutung für sie hatte.

Eine schöne, große und schlanke Frau in einer Art Pagentracht eilte an
ihnen vorüber. Eccarius rief sie an, und sie blieb stehen, um ihn zu
begrüßen. Dadurch gewann Mette Zeit, sie zu betrachten. Sie trug
schwarzseidene Kniehosen, weiße Strümpfe, einen Frack mit
Spitzenmanschetten und hatte das dunkellockige Haar, das offen bis auf
den halben Rücken fiel, im Nacken mit einer großen schwarzen Schleife
zusammengebunden. Ihr Gesicht hatte klare und regelmäßige Züge, eine
hohe und schön gemodelte Stirn und einen fast herausfordernd freien und
kühnen Ausdruck, der Mette auf den ersten Blick gefangen nahm. Sie
schien es Mette anzusehen, daß sie sich in dem Trubel nicht ganz zu
Hause fühlte. Sie faßte sie bei der Hand wie ein Kind:

„Kommen Sie nur!“ sagte sie, halb zu ihr, halb zu Eccarius gewandt, „ich
bringe die Kleine zu Nora – das ist doch immer ‚der ruhende Pol in der
Erscheinungen Flucht‘ – da werden Sie sich wohler fühlen. Ach Gott!“ sie
legte Mette die Hand unters Kinn und drehte so ihr Gesicht ein wenig zu
Eccarius, „sieht sie nicht aus wie ein Kleines am ersten Schultag?
Kommen Sie, Kindchen, Sie sollen einen Ehrenplatz haben!“

Sie bahnten sich einen Weg durch schwatzende und lärmende Gruppen. Die
schöne Frau wurde von allen Seiten angerufen, festgehalten, umarmt,
begrüßt, gefragt. Mit immer gleichbleibender Geduld und
Liebenswürdigkeit machte sie sich überall wieder los, aber es dauerte
eine Viertelstunde, bis sie mit Mette zwei Zimmer durchquert hatte.

Am Ende des zweiten Zimmers war ein etwas erhöhter Erker, auf dem,
andere Stühle und einen hübsch gedeckten Teetisch überragend, ein
hochlehniger, schön geschnitzter Renaissancesessel stand. In diesem
Sessel, von dem erdbeerroten Brokat abgehoben wie von einem gemalten
Hintergrund, saß eine hochblonde Frau, in Weiß gekleidet, weiße,
weichfließende Schleiertücher über den Schultern, eine leichte weiße
Decke über den Knien.

Beim ersten Anblick war Mette überrascht von der Schönheit des Bildes.
Bei näherer Betrachtung merkte sie, daß die thronende Frau die Vierzig
überschritten haben mochte, daß sie zu üppig war, um schön zu sein, daß
Alter und Krankheit die früheren reinen Linien des Gesichts angegriffen
und verwischt hatten, aber im nächsten Augenblick, als Mette ihre warme,
frauliche Hand hielt, als ein Lächeln von unbeschreiblich wärmender
Herzlichkeit und Güte sie anstrahlte, vergaß sie, nach Schönheit und
Häßlichkeit zu fragen und gab sich bedingungslos dem milden Zauber
dieser Persönlichkeit.

„Hier, Norina,“ der schlanke Page hatte den Arm leicht um Mettes
Schulter gelegt, „hier, nimm die Kleine unter deine schützenden
Fittiche. Sie geht uns sonst verloren in dem Wirrwarr.“

Irgend etwas in diesen Worten, die Fürsorge, die sich unter leichtem
Spott verbarg, erinnerte Mette so an Olga, daß sie hätte aufheulen mögen
wie ein getretener Hund.

Die hellen, menschenerfüllten Räume, die fremden Gesichter, die nicht
nur wie sonst gleichsam hinter Schranken an ihr vorüberzogen, sondern
auf sie eindrangen, irgendwie die Schranken durchbrachen, die sie um ihr
Leben gezogen hatte, das war nach der Stille und Einsamkeit der letzten
Wochen zuviel. Ein Zustand kam über sie, der einem heftig einsetzenden
Fieber nicht unähnlich war.

Sie mußte lächeln, als sie sah, daß im selben Augenblick, wo der Raum um
sie zu flackern schien, ein Schatten von Sorge über das Gesicht der
blonden Frau lief. Zugleich fühlte sie, wie ihr ein Stuhl in die
Kniekehlen geschoben und sie von sanften, aber kraftvollen Händen auf
den Sitz gedrückt wurde.

Sie saß nun auf einem niedrigen Stuhl dicht neben dem hohen Sessel.

„So,“ sagte die dunkeltönige Stimme hinter ihr, „und wenn es Ihnen nun
zu hell oder zu laut oder zu bunt wird, dann legen Sie ihr Köpferl auf
die Lehne und kriechen ein bissel unter den Schleier, das mach’ ich auch
immer so.“

Mette schmiegte gehorsam die Wange gegen die Seitenlehne des hohen
Stuhls und fühlte, wie der Schleier ihr leicht über den Kopf gezogen
wurde. Der hauchdünnen weichen Seide entströmte ein leiser Resedaduft.

„Ach, Reseda,“ Mette war ganz glücklich, „das erinnert mich so an den
Garten meiner Großmutter. Alle Beete waren eingefaßt mit einem Kranz von
Reseden.“

„Ja,“ sagte Nora mit einer Stimme, die so sanft war wie der seidene
Schleier, „Reseda und Levkoien, das wächst immer in Großmutters Garten.
Darum hab’ ich auch den Duft gern.“

„Wohl dem, der wenigstens eine Großmutter gehabt hat,“ sagte ein ernst
aussehender Mensch an Noras anderer Seite. „Nein, lachen Sie nicht,
Willi, das sollte gar kein Witz sein. Eine Mutter, was man wirklich so
nennt, haben wir doch wohl alle nicht gehabt. Meine Mutter ist eine
famose Frau, Sie kennen sie ja, Nora ... aber als ich vierzehn war und
in den entsetzlichsten Kämpfen und Krisen, da machte sie eine große
Tournee durch Amerika und heimste Gold und Lorbeeren ein – ich war
furchtbar stolz auf sie, aber ich kann Ihnen sagen, ich wollte, ich
hätte damals eine Großmutter gehabt!“

„Und besonders eine mit einem Garten,“ lachte der „Willi“ Genannte und
streckte die Beine weiter in das Zimmer – er saß auf der Stufe, die zum
Erker hinaufführte.

„Auch das,“ erwiderte der Ernste, „wer hat heutzutage noch einen Garten!
Wohl dem, der wenigstens die Erinnerung daran hat! Ich kenne Menschen,
die ihre ganze Lebenskraft aus ihren Kindheitserinnerungen saugen. Ein
großmütterlicher Garten, das ist wie eine Insel im Meer der
Geschehnisse, und ich kann nur sagen: Wohl dem, der von einer Insel
abgesegelt ist und nicht auf einem schaukelnden Schiff geboren.
Wenigstens weiß er doch, daß es irgendwo das friedliche Eiland gibt, und
ein günstiger Wind kann ihm einen Resedaduft zuwehen – aber für
unsereinen weht der Resedaduft immer aus dem Lande Nirgendwo ... oder
vielmehr: Es weht ein Duft an uns vorüber, und wir wissen nicht einmal,
daß es Reseda ist!“

„Warten Sie noch acht Tage, Ulrich,“ begütigte Nora, „wenn die Reseda
bei uns im Gärtchen blüht, setz’ ich Sie tagelang daneben in die Sonne –
dann werden Sie später, wenn Sie dem Duft irgendwo begegnen, immer die
Vorstellung von unserm Gärtchen haben ... und mich können Sie getrost
als Großmutterersatz betrachten.“

Er griff nach ihrer Hand, um sie zu küssen:

„Ja, bei Ihnen ist wirklich noch das Eiland des Friedens, und Sie sind
ein guter Engel, daß Sie jedem Müden hier Rast gönnen.“

Nora wandte sich an Mette.

„Sie dürfen nicht denken, daß es immer so bunt hier zugeht! Sie müssen
einmal kommen, wenn wir mehr unter uns sind – wir haben so ein nettes
Gärtchen, das ist unsre ganze Freude ... solange es irgend möglich ist,
trinken wir draußen unsern Tee und freuen uns, wenn uns dabei jemand
Gesellschaft leistet.“

„Ja, wenn die Fahne weht!“ lachte der junge Mensch auf der Stufe und
drehte sich mit einem Ruck herum, „Sie müssen wissen, gnädiges Fräulein,
hier geht es zu wie bei Majestätens. Wenn die Herrschaften anwesend
sind, dann wird die Flagge gehißt!“

„Du mußt ordentlich erklären, Willi,“ verbesserte Nora, „es ist nämlich
so: auf dem Laubendach ist so etwas wie eine Fahnenstange ^en miniature^
und daran weht ein buntes Wimpelchen. Man sieht es von allen Seiten,
auch vorn, wenn man auf der Straße am Haus vorbeigeht.

Wenn nun Sophie übermäßig zu tun hat, oder es mir gesundheitlich nicht
hervorragend geht, dann wird das Fähnlein eingezogen, dann braucht
keiner – wenigstens kein Eingeweihter – sich erst bis zur Tür zu
bemühen, um sich abweisen zu lassen. Schließlich ist das doch für beide
Teile immer peinlich. Für den einen, der seine Arbeit unterbricht, oder
seine Schmerzen bezwingt, und dann doch ein unliebenswürdiger Wirt ist,
für den andern, der sich als Störenfried vorkommt, oder im andern Falle,
wenn er wirklich abgewiesen wird, doch meistens das Gefühl hat: mit mir
hätte man eine Ausnahme machen können, oder: mir hätte man es nicht
durchs Mädchen sagen zu lassen brauchen. Es ist auch den Mädchen
gegenüber peinlich: Sie sind meist so an das Lügen gewöhnt, daß sie von
selber sagen: es ist niemand zu Hause. Daß ein Mensch arbeitet, scheint
ihnen immer keine genügende Entschuldigung.

Nun wissen aber doch unsre Freunde, daß ich niemals das Haus verlasse
... und Sophie sehr selten. Sie kommen sich dann so angelogen vor. Um
all diese Peinlichkeiten zu vermeiden, ist also das Fähnlein da. Wenn es
weht, so heißt das: bitte, nur herein, wir erwarten euch. Da braucht es
gar nicht erst den Umweg durch das Haus, da kann jeder, der Lust hat,
uns zu sehen, gleich durch das Gartentürchen – und wenn es verschlossen
ist, auch über die Hecke, nicht wahr, Willi?“

Willi war aufgesprungen und winkte mit der Hand zurück, ohne sich
umzusehen, weil er mit gespannter Aufmerksamkeit in den Raum starrte, wo
sich ein Kreis um ein tanzendes Paar bildete.

„Fiametta tanzt!“ rief er nach rückwärts, mit einer flüchtigen Wendung
des Kopfes, „nein, dies Weib ist doch fabelhaft! Sie müssen sich das
ansehen!“

Er ergriff Mette am Ellbogen, ganz jungenhaft in seiner Ungeduld, und
zog sie vom Stuhl auf und an die Stufe des Erkers.

„Ich bitte Sie, haben Sie so etwas schon in Ihrem Leben gesehen? Ist sie
nicht blendend? Ist sie nicht vollendet?“

In dem ziemlich kleinen Kreis, den die drängenden Zuschauer freigelassen
hatten, tanzte ein schlanker, gutgewachsener junger Mensch mit einer
Frau von rassiger Schönheit und großer Anmut. Sie war so eins mit der
Musik, daß es schien, als entströmten die Töne ihren geschmeidigen
Gliedern.

Sie hatte eine Art, zu tanzen, wie Mette sie noch nie gesehen hatte.
Ihre Bewegungen waren sanft, kühl, gebändigt, edel und fast feierlich,
und dabei sah es aus, als verbrauche die schöne Person einen großen
Kraftaufwand, um ihren ebenmäßigen Körper in so würdevoller Ruhe zu
bewahren, als bedürfe es nur eines Momentes Selbstvergessenheit, um das
gezügelte Temperament wie eine Flamme auflohen zu lassen, um die lässige
Weichheit der Muskeln in Stahl zu wandeln, und den sehnigen Leib in
Raubtiersprüngen durch die Luft zu jagen.

Mette empfand bei ihrem Anblick ein schmerzlich-brennendes Gefühl, und
als sie versuchte, in ihrer gewohnten Ehrlichkeit, sich darüber
Rechenschaft zu geben, deutete sie es als Neid. Diese Frau konnten
sicher tausend beobachtende Blicke nicht in Verlegenheit bringen – ihr
würde es wohl keine Aufgabe bedeuten, durch einen menschenvollen Raum
hindurch auf einen Tisch loszusteuern.

„Ist sie nicht fabelhaft,“ sagte der junge Mensch neben ihr, glühend vor
Begeisterung, „ist sie nicht bezaubernd? Ist sie nicht wirklich wie aus
einem andern Jahrhundert? Aus einem Jahrhundert, wo es noch schöne
Frauen gab – schöne Frauen, die Persönlichkeit hatten und ihrer Umgebung
– dem Hof, der Stadt, den Künsten! – ihren Stempel aufdrückten?“

Mette nickte nur stumm. Sie hätte ihn gern zum Schweigen gebracht, um zu
verstehen, was hinter ihr gesprochen wurde. Sie hörte Noras sanfte,
ruhige Stimme:

„Gewiß, Ulrich, sie ist sehr schön – sie hat Rasse und Temperament und
Kultur, alles, was Sie wollen. Aber sie ist mir fremd und wird mir ewig
fremd bleiben. Es klingt Ihnen vielleicht sehr töricht und sentimental,
wenn ich sage: sie hat kein Herz. Aber ich glaube sogar, sie hat nicht
einmal die primitivste Art von Gutmütigkeit ...“

Was Ulrich dagegen einwendete, konnte Mette nicht verstehen. Sie hörte
erst wieder Noras Antwort:

„Nein, Ulrich, ich kann Ihnen nicht recht geben. Eine Frau ohne Güte ist
für mich etwas so Reizloses, so Duftloses – und wenn sie noch so schön
ist – so schön wie Ihre Fiametta – jawohl, Sie haben ein Faible für sie,
und Sie verzeihen ihr alles, was Sie andern nicht verzeihen würden.“

„... nein, natürlich hat kein Mensch die Verpflichtung zu lieben, nur
weil er geliebt wird. Aber man braucht ja nicht Gefühle in andern zu
hegen und zu pflegen, wenn man keine Verwendung dafür hat ...“

„... o doch! Sie tut es! Und nicht in einem Fall – in hundert Fällen,
und immer wieder! Sie hat die kleine Frau Bernhardt zugrunde gerichtet,
sie hat Erwin halb verrückt gemacht, und sie richtet die Gisela zugrunde
– alles aus Spielerei!“

Bei dem Namen Gisela zuckte Mette auf. Dies also war die Frau, an der
Gisela zugrunde ging ... arme Gisela! Oh, Mette wußte wohl, daß man an
einer Frau zugrunde gehen konnte! Das Herz brannte ihr in Zorn und
Mitleid, in schmerzlicher Erinnerung und in Sehnsucht, zu helfen, zu
lindern, zu retten.

Sie hatte keinen Blick mehr für die schöne Frau – ihre Augen suchten
Gisela und fanden sie auf der andern Seite des Raumes, zusammengekauert,
die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern, mit dem Ausdruck
gänzlicher Abwesenheit ins Leere starrend. Mette nahm einen Moment wahr,
in dem Mara Luigi sich Gisela Werkenthin näherte, um sich mit einer
Entschuldigung an Nora zu wenden:

„Sie gestatten, gnädige Frau, ich möchte ein Wort mit Fräulein Luigi
sprechen.“

In Noras Ton schien ein leises Erstaunen zu liegen:

„Ah? Sie kennen sich? Sind Sie befreundet?“

Mette fühlte ein flüchtiges Rot über Stirn und Wangen gleiten:

„Ja ... nein ... das heißt ... wir wohnen in derselben Pension,“ sagte
sie etwas verlegen.

Sie bahnte sich einen Weg an den Wänden entlang, immer in der Angst, daß
sie die kleine Luigi nicht mehr im Gespräch mit Gisela erreichen würde
und hatte dabei das Gefühl, eine Tat von großem Wagemut zu begehen. Sie
hatte fast ein Gefühl von Heimweh nach dem niedrigen Sitz unter dem
weichen, hüllenden Schleier – sie kam sich selbst vor wie ein
halbflügger Vogel, der das Nest verlassen hat, um einen Flug in die Welt
zu tun.

Aber ein zwingendes Gefühl trieb sie vorwärts.

‚Ich darf nicht feige sein,‘ dachte sie, ‚ich will ein Schicksal haben,
und ich will ihm entgegengehen. Ich will die Arme breiten und alles mit
Freuden tragen, was mir beschieden ist. Ich will das Leben lieben, was
es auch bringt.‘

Die süßen und heißen Tanzmelodien zitterten durch die Luft. Es war, als
ob sie Mettes Schritte in ihren leichten und feurigen Rhythmus zwängen
und die Gedanken in ihr wie den Kehrreim eines Liedes klingen ließen:

‚Ich will das Leben lieben, ich will das Leben lieben.‘

Als Mette vor Gisela Werkenthin stand und Mara Luigi Namen nannte und
eine vorstellende Geste machte, war wieder dies seltsame Gefühl da:
‚Wozu das alles – was soll nun werden? Wir sind miteinander bekannt
gemacht, das heißt, wir wissen unsre Namen – die Buchstabenreihe, unter
der wir in staatlichen Registern geführt werden – und das gibt uns das
Recht, miteinander zu reden. Aber nichts gibt mir das Recht,
auszusprechen, was ich denke. Wenn ich sage: ich möchte Sie
kennenlernen, weil Sie mir so entsetzlich leid tun; weil Frau Meidinger
mir gesagt hat, daß Sie Morphium nehmen, um Ihr Leid zu betäuben – Ihr
Leid an einer Frau, und weil ich Sie so ganz verstehe und versuchen
möchte, Ihnen zu helfen, oder wenigstens mit Ihnen unglücklich sein will
– wenn ich das sagte, würde man mich in ein Irrenhaus sperren und ganz
mit Recht, denn in einem normalen Zustand brächt’ ich das auch gar nicht
über die Lippen.‘

„Ich kenne gnädiges Fräulein schon vom Sehen, glaub’ ich,“ sagte Mette
mit einem kühlen Lächeln halb zu Gisela, halb zur Luigi gewendet, „waren
Sie nicht neulich einen Abend in der Pension Meidinger?“

„Ja freilich!“ Gisela hob die dunklen Augen zu ihr auf, „da hab ich Sie
auch g’sehn. Darum kam mir Ihr G’sichterl gleich so bekannt vor. Gehn’s,
setzen’s sich her zu mir, hier is noch a Platzl.“

Sie rückte ein wenig auf dem breiten Diwan.

„Vielen Dank,“ sagte Mette und strich den Taftrock glatt, um sich zu
setzen.

Sie war schon wieder in einer leisen Angst, weil sie meinte, nun wäre es
an ihr, irgend etwas zu sagen, und zwar etwas, was sie ein bißchen über
das Maß des Alltäglichen hinaushob – aber ihr fiel nichts ein.

Gisela Werkenthin war nicht so leicht in Verlegenheit um den Anfang
eines Gesprächs:

„Sie kennen die kleine Luigi aus der Pension, gell?“

Mette nickte.

„Und sie hat Sie hergebracht, gell? Sie haben im Grunde nichts mit Kunst
und ähnlichen Scheußlichkeiten zu tun?“

„Leider nicht,“ lachte Mette.

„Leider? Danken Sie Gott und Ihren höchstehrenwerten Eltern, daß Sie
einen anständigen Beruf haben.“

„Ich habe gar keinen.“

„Gar keinen? Das ist der anständigste.“

„Ist das Ihr Ernst? Ich finde es so entsetzlich, keinen Beruf zu haben.“

„Warum entsetzlich? Einen Beruf haben, das heißt: bezahlte Arbeit tun.
Von irgend jemand Geld zu nehmen, das heißt irgend jemandem dienstbar zu
sein ... ganz gleich, ob das ein Einzelwesen ist oder eine Gesellschaft
oder das Publikum. Dem Publikum dienstbar zu sein, das ist schon das
Schlimmste! Wenn man keinen Beruf hat und keinen zu haben braucht, dann
ist man sein eigener Herr! In diesen Worten liegt doch schon alles: Daß
man keines andern Knecht ist. Warum soll das entsetzlich sein?“

„Ich weiß nicht,“ Mette drehte die Hände mit einer Geste der
Hilflosigkeit, „vielleicht, weil man dann gar nicht weiß, wo man
hingehört. Heimat haben wir doch kaum mehr.

Ich bin in Berlin geboren und groß geworden. Gibt mir das ein
Heimatsgefühl? Ja, vielleicht wenn ich in Tokio bin, und ich höre einen
Berliner reden, werde ich irgendwie verwandtschaftliche Gefühle in mir
entdecken und werde vielleicht mit ihm zusammen sentimental werden, wenn
wir an die Linden oder an Potsdam denken.

Aber stellen Sie sich vor, wie lächerlich man sich machen würde, wenn
man in Luzern oder Baden-Baden oder sonstwo einen Berliner ansprechen
würde: ich glaube, Sie sind aus meiner Heimatstadt! Wenn man in
Ritzebüttel geboren ist, geht das schon eher! Familie hat man auch
nicht, oder man macht keinen Gebrauch davon. Manchmal beneide ich die
alten Adelsgeschlechter, die so in hundert Zweigen ausgebreitet sind,
und doch mit allem verwachsen, was ihren Namen trägt. Und endlich
beneid’ ich die Leute, die einen Beruf haben ... schließlich hat doch
jeder Schuster Anknüpfungspunkte zu jedem Schuster der Welt, die
Droschkenkutscher duzen sich untereinander, die Ärzte haben einen
Kollegen, an den sie sich wenden könnten, fast in jedem Dorf der Erde –
die Künstler sind wie eine große Familie, namentlich die Leute vom
Theater – Kollegenschaft ist doch schon eine große Sache ... es ist ja
möglich, daß Beruf eine Kette ist ... aber ... ich weiß nicht, ob Sie
das Gefühl verstehen ... ich denke manchmal, es müßte gut sein, irgendwo
recht fest angekettet zu sein, damit man nicht in einen Abgrund stürzt.“

„Oh! Ich versteh schon ... wollen Sie eine Zigarette?“ sie bot ihr das
schmale Birkenholzetui, „nur ... ich glaub’ nicht recht an eine
Zusammengehörigkeit zwischen Berufskollegen. Ebensowenig, wie an eine
Verwandtschaft des Blutes ... mir ist auf der ganzen Welt kein Mensch so
fremd, wie meine Schwestern. Nein, nein, derselbe Bildungsgrad,
dieselben Interessen, – das einigt die Menschen ebensowenig, wie
dieselbe Höhe des Einkommens.“

„Aber man muß sich doch irgendwo zugehörig fühlen ...,“ meinte Mette
ratlos.

Gisela hob müde die Achseln:

„Um sich glücklich zu fühlen, sicher. Das Beste ist vielleicht noch die
Zusammengehörigkeit mit _einem_ Menschen. Aber das ist ein so seltner
Fall, daß man den Menschen findet. Und sonst? Ich denke manchmal, Leute,
die dasselbe Unglück haben, oder dieselbe Krankheit, sollten sich
zusammenschließen. Die Blinden, die Lahmen, die Buckligen.“

So ungefähr hatte Mette vorhin noch gedacht. Aber da ihre eignen
Gedanken, von einem andern in Worte gebracht, vor ihr standen, regte
sich in ihr der Widerspruch.

„Ich glaube nicht,“ sagte sie nachdenklich, „daß ich meine eignen
Gebrechen so rings um mich sehen möchte, vielleicht auch noch in
Verzerrungen und Vergröberungen, ebensowenig, wie ich mich in einem
Spiegelsaal aufhalten möchte, wenn ich aussätzig wär’. Im Grunde wird es
jeden mehr reizen, seine Gebrechen zu verbergen und möglichst unerkannt
unter Gesunden zu leben. Ach – und ich glaube nicht einmal, daß die
Kranken besonders mitleidig miteinander sind. Jeder sagt sich: bei dem
ist es noch weit schlimmer, als bei mir!“

Ein junger Mann trat neben Gisela und umschlang sie mit einer
mädchenhaft weichen, schmeichlerischen Bewegung.

„Du sollst uns etwas singen, Gisel,“ bat er, „bitte, bitte, sei lieb!“

Sie schüttelte schweigend den Kopf und zog ein wenig die Brauen
zusammen.

Er ließ sie nicht los und bettelte wie ein Kind:

„Ach, geh! Sei doch lieb ... nur für uns nebenan, nur für ein paar
Menschen, ein einziges, kleines Liedchen.“

„Meine Laute ist nicht da, Johannes!“

„Ach, du nimmst die vom Sophus, komm nur!“

Johannes zerrte sie mit sanfter Gewalt von ihrem Sitz auf. Sein schmales
Gesicht mit feinen Zügen und zarten, blühenden Farben war von fast
engelhafter Schönheit. Das blonde, weiche wellige Haar war ein wenig zu
lang, die großen dunkelblauen Augen zu sanft, fast schwärmerisch im
Blick.

Mette fand sein Äußeres trotz seiner überraschenden Schönheit fast
unangenehm. Aber nach wenigen Sekunden kam sie zu der Einsicht, daß es
eigentlich nur der Anzug war, der sie störte, weil er so gar nicht zu
ihm paßte. In einer weißen Tunika, in einem seidenen Puffenwams, auch
vielleicht in einem goldgestickten Rokokorock wäre er ein vollendetes
Bild gewesen.

Gisela, immer noch von seinem Arm festgehalten, streckte die Hand nach
Metten aus.

„Kommen Sie mit, kleines Mädchen,“ sagte sie, „ich kann Ihnen zwar
keinen Genuß versprechen, aber Sie tun mir einen Gefallen, wenn Sie sich
mein Gekrächz mit anhören.“

Mette ergriff die dargebotene Hand und ließ sich mit fortziehen. Es war
eine schmale, fieberheiße, zerbrechlich dünne Hand, die sich mit einem
lockeren und doch sehnigen Griff um ihre Finger klammerte.

Irgendwo in der Ferne sah sie Eccarius’ Gesicht auftauchen.

Er sah sie gar nicht an, und trotzdem schien ihr sein ernstes und
bekümmertes Gesicht einen Vorwurf gegen sie zu bedeuten.

‚Ich hätte mich um ihn kümmern müssen,‘ dachte sie mit leichtem
Erschrecken und dann, wie in aufflackerndem Trotz: ‚Warum eigentlich?
Wozu red’ ich mir Verpflichtungen ein, die ich nicht habe? Ich will
keine Rücksicht mehr nehmen, ich will dahin gehen, wohin es mich lockt –
immer nur dahin, wohin es mich lockt!‘

In dem kleinen Nebenzimmer saß, lag und hockte ein Dutzend Menschen in
den verschiedensten Stellungen.

Sophie war darunter in ihrer kleidsamen Pagentracht, neben ihr der junge
Mensch, der Willi hieß und vorhin auf der Erkerstufe gesessen hatte, die
kleine Luigi und der Maler Giesbert, der eine Art Cowboyanzug trug, und
Ulrich, der Mann mit dem hageren ernsten Gesicht und der tiefen,
mollklingenden Stimme.

Man hob Giselas schmale und leichte Gestalt auf einen Tisch, Johannes
nahm Sophien, die noch an den Wirbeln drehte, die Laute aus den Händen
und legte sie Gisela in den Arm.

Ein junger Mensch in einem seidenen Pierrot-Kostüm lief mit einem
Tablett voll Gläsern herum und bot auch Metten an. Mette trank den süßen
und feurigen Wein rasch aus, um das Glas wieder los zu werden, und sah
sich dann suchend nach einem Platz um.

Sophie streckte ihr die Hand hin.

„Kommen Sie her zu mir, kleiner verflogener Vogel,“ sagte sie, „hier tut
Ihnen keiner was.“

„Ich habe keine Angst,“ sagte Mette lächelnd.

Sie hatte wirklich keine Angst. Sie fühlte sich sehr wohl und geborgen
in den tiefen weichen seidenen Kissen, zwischen zwei Menschengesichtern,
die ihr nicht fremd und nicht unangenehm waren.

Der kleine Johannes setzte sich mit seiner pagenhaften Grazie zu ihren
Füßen nieder. Und obgleich sie keinerlei Zärtlichkeit für ihn empfand,
tat ihr seine leichte anschmiegende Berührung wohl.

Gisela probierte mit tiefgeneigtem Gesicht die Saiten. Das lose,
schwarze Haar fiel ihr über die Wangen. Mit einer plötzlichen Bewegung
hob sie den Kopf, schüttelte das Haar zurück, und nach ein paar
einleitenden Akkorden begann sie zu singen:

   Irgendwo
   ruft die Stimme durch die tiefe Nacht,
   diese Stimme, die mich beben macht.

   Irgendwo
   irgendwo auf heißem Lager dehnt
   sich die Hand, nach der sich meine sehnt.

   Irgendwo
   weint ein Herz im Dunkel heiß und still
   das an meinem Herzen schlagen will.

Ihre Stimme war klein, wie durch einen Schleier gedämpft, aber
namentlich in der Tiefe von einem leidenschaftlichen, bestrickenden
Klang.

Mette war wie eingesponnen in ein traumhaftes, süßes und doch
schmerzlich-sehnsüchtiges Glücksgefühl.

Sophie hatte den Arm um sie gelegt, und ihre Hand glitt manchmal im
Takte der Musik in einem sanften und wärmegebenden Streicheln über
Mettes Schulter.

Giselas Augen suchten Mette manchmal, wenn sie sang. Ihre Blicke trafen
ineinander, hingen ineinander, und Mette war, als sänge sie all diese
Worte ihr zu.

‚Süßes Leben,‘ dachte sie, ‚schönes geliebtes Leben.‘

Eine fiebernde Sehnsucht war in ihr, die ihr das Herz groß und übervoll
machte. Diese Sehnsucht hatte keinen Namen und kein Ziel. Es war
Sehnsucht nach fernen Ländern, und Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Es war
Sehnsucht nach brausendem Ruhm, nach Heldentaten, und Sehnsucht nach
Großmutters stillem Garten, nach der Wiese, über der die Bienen
stimmten.

   Deine arme silberne Seele
   Atmet so schwer in Blut.
   O weh! daß ich dir fehle,
   weh, daß ich dich nicht fand.
   Deine Seele will versinken,
   deine Seele will ertrinken,
   ertrinken im brennenden Blut, –
   weil niemals meine kühle Hand
   auf deiner Stirne geruht.

Sophiens schönes heiteres Gesicht überschattete sich mit einem fast
schmerzlichen Ernst. Sie lächelte, aber dies Lächeln war wie getränkt
mit Schwermut.

„Wart’ einen Augenblick,“ sie hob Gisela die Hand entgegen, „ich möchte
Nora holen, du weißt ja, wie gern sie dich hört.“

Sie stand rasch auf. Johannes sprang im selben Augenblick in die Höhe.

„Darf ich dir helfen?“ fragte er bittend.

Metten erschienen diese Worte rätselhaft, ohne daß sie indes lange
darüber nachdachte.

Sophie und Johannes gingen nicht in den großen, saalartigen Raum, aus
dem sie gekommen waren. Sophie öffnete eine Glastür hinter Vorhängen,
die in den nachtdunklen Garten hinausführte.

„Laßt einen Augenblick offen,“ bat sie, „es ist ja so warm draußen – wir
kommen so herum zurück.“

Gisela zögerte einen Augenblick. Ihr leicht bewegliches Gesicht
spiegelte einen inneren Kampf.

„Sophie,“ rief sie ihr nach, von dem hohen Tisch heruntergleitend, „ist
es dir lieber, wenn ich mitgehe? Ich kann schließlich auch drin singen.“

„Nein, nein,“ gab Sophie zurück. Sie stand schon auf den Stufen und hob
die Falten des Vorhangs auf, daß sie einen Augenblick wie eine
kunstvolle Umrahmung der schlanken Gestalt wirkten. „Es ist so voll und
rauchig drin und staubig vom Tanzen, und man kriegt die ganze Bande doch
nicht zu einem ruhigen Zuhören. Ich bin auch ganz froh, wenn ich einen
guten Grund habe, um Nora ein bißchen da herauszulocken – von selbst
entschließt sie sich doch nicht, und sonst wird es ihr wieder zu viel.“

Sie nickte Gisela noch einmal zu, herzlich, dankend, und tauchte im
Dunkel unter. Durch die halb offene Tür drang der vielfältige Duft der
warmen durchblühten Nacht.

In dem kleinen Kreis war eine wartende Stille. Die Leute, die
nebeneinander standen, tauschten mit gedämpfter Stimme Bemerkungen aus.
Gisela klimperte mit den Saiten, ohne die Augen aufzuheben.

Das gemurmelte Gespräch wurde nach einigen Minuten ein wenig lauter und
lebhafter, um ganz zu stocken, als Schritte auf dem Gartenkies
knirschten, schwere Schritte, und um dann – angeregt von den intimsten
Freunden des Hauses – wieder aufzuflackern in einer Art, die zu bedeuten
schien: Wir haben nicht auf euch gewartet, wir achten nicht auf euch,
wenn ihr kommt.

Mette sah unwillkürlich nach der Gartentür, den Eintretenden entgegen,
und, obgleich sie im selben Augenblick sich zusammenriß, Beherrschung
von sich verlangte und ein Lächeln erzwang, erschrak sie so, daß sie
fühlte, wie sie blaß wurde.

Sie führten, sie schleppten Nora herein.

Sophie stützte sie auf der einen Seite, Johannes auf der andern. Aber
sie konnten ihren schweren Oberkörper nicht aufrichten; er neigte sich
nach vorn, als sei er verbogen, zerbrochen, und mühsam hatte sie den
Kopf wieder gehoben, und ihre sanften, braunen Augen, voll stummer Qual,
wie die eines gepeinigten Tieres, trafen von unten herauf einen
Herzschlag lang in Mettes Blicke.

Ulrich schob einen Stuhl zurecht, Willi schleppte Fußkissen herbei, ein
paar Sekunden später saß sie in dem Sessel, die Hände auf die
Seitenlehnen gestützt, die Knie, die ein wenig höher gezogen waren als
bei andern, von den leichten fließenden Falten der seidenen Decke
überbreitet, den blonden Kopf von einem veilchenfarbenen Kissen
gestützt, wieder ein Bild von fast königlicher Schönheit.

Nur wenn man sehr genau hinsah, entdeckte man um Mund und Wangen ein
leises Zittern, wie von Schmerzen oder von überstandener schwerer
Anstrengung.

Mettes Herz war ganz erfüllt von widerstreitenden Gefühlen: Ein
Entsetzen war in ihr, das an Grauen und fast an Ekel grenzte, ein
quälendes Mitleid und zugleich eine Angst wie vor niedersinkenden
dunklen Schleiern, vor einer langsam sich senkenden, unerträglichen
Last.

War das Leben nicht eben noch hell und bunt und lockend gewesen? Hatte
sie es nicht geliebt mit einer heißen, sehnsüchtigen, inbrünstigen und
opferbereiten Liebe? Und war es nicht jetzt, als ob ein feuriger,
geschmeidiger Tänzer im Seidenwams, in dessen Armen sie sich noch eben
trunken gewiegt hatte, die Larve vom Gesicht hob und höhnisch grinsend
ein zerfallendes Totenangesicht zeigte?

Was gab es denn auf der Welt? Was erwartete einen denn im Leben? Elend
und Kummer, Siechtum und Tod und bittere, eiskalte Einsamkeit ...

Gisela griff ein paar Akkorde und sang:

   Irgendwo
   mahnt eine Turmuhr dumpf und schwer
   Irgendwen,
   daß es nun Zeit zum Heimgehn wär’.
   Irgendwohin
   führen die weißen Wege hinaus,
   Irgendwo bin
   ich auf der Erde doch auch zu Haus ...

Sie neigte den Kopf tiefer über das Instrument. Es war seltsam, daß aus
der zusammengepreßten Brust die Töne ihren Weg fanden.

Sie waren alle still, als sie geendet hatte.

Willi war der erste, der rief:

„Weiter, weiter ... noch eins, noch eins.“

Andere riefen es ihm nach. Gisela glitt von dem Tisch herunter und legte
die Laute in eine Ecke. Ihre müden Bewegungen waren die eines Kindes,
aber ihr immer schmales Gesicht war ganz klein und alt geworden.

„Ich glaube, ich kann nicht mehr,“ sagte sie, wie um Verzeihung bittend.
Ihre Stimme war nur wie ein heiseres Flüstern.

Durch die Tür des Nebenzimmers kam ein älterer dicker Mann mit einem
aufgeschwemmten häßlichen Gesicht.

Drinnen paukte jemand aufs Klavier, aber es wurde kaum vernehmbar vor
Lärmen und Lachen und dem Geräusch der schleifenden Füße.

Der dicke Mann griff den kleinen Johannes mit einem festen Griff um den
Leib.

„Komm, mein Hannchen, wir wollen tanzen,“ rief er und zerrte ihn im
Kreis herum.

Johannes wiegte sich in den Hüften wie ein kokettes Mädchen.

Mette sah jetzt erst, daß er an den auffallend schmalen und kleinen
Füßen zu den tief ausgeschnittenen Lackschuhen durchbrochene seidene
Strümpfe trug.

Er war ihr plötzlich widerlich. Der dicke Mann war ihr widerlich. Gisela
war ihr widerlich, weil ihr Gesicht alt und krank und verlebt aussah.
Willi war ihr widerlich, weil er der Luigi Wein in den Ausschnitt
schüttete und ihr die Hand den Rücken hinuntergleiten ließ unter dem
Vorwand, sie abzutrocknen. Mara Luigi war ihr widerlich, weil sie es
sich gefallen ließ und es sich gern gefallen ließ, trotzdem sie schrie
und zappelte und mit den Beinen strampelte.

Mette hatte brennendes Verlangen nach der Ruhe ihres einsamen Zimmers.

Giesbert stand vor ihr und wollte mit ihr tanzen. Sie stemmte beide
Hände gegen seinen Arm, der sie umklammern wollte und mit fortreißen.

„Bitte nicht,“ sagte sie flehentlich und ungeduldig, „nein, bitte, nein,
ich möchte nicht!“

Plötzlich, da sie sich losgemacht hatte und ein wenig taumelig auf den
Füßen stand, traf ihr Blick in Eccarius’ Gesicht.

Er trat mit einem leisen Lächeln auf sie zu, und sie streckte mit einer
unwillkürlichen Bewegung die Hand nach ihm aus.

„Gut, daß Sie da sind,“ wollte sie sagen, „ich möchte nach Haus!“

Dann fiel es ihr ein, daß sie kein Recht hätte, über ihn zu bestimmen
wie über einen Bedienten, nachdem sie sich den ganzen Abend nicht um ihn
gekümmert hatte.

Aber eh’ sie noch die Worte gefunden hatte, um ihn anzureden, sagte er:

„Sie sehen müde aus, gnädiges Fräulein. Ich will Sie nicht hetzen, wenn
Sie noch Lust haben, hierzubleiben. Aber wenn Sie gehen wollen, verfügen
Sie nur ganz über mich.“

Mette war ihm herzlich dankbar, obgleich sie wieder fast erschrocken war
über seine Häßlichkeit, als er so plötzlich vor ihr auftauchte.

Sie war mit sich selbst nicht zufrieden. Es mußte doch an ihr liegen,
daß sie überall Häßliches sah, Trauriges zu spüren glaubte. Sie war wohl
nicht stark genug für das Leben, nicht gesund genug, nicht dumm genug
oder nicht weise genug.

Das Leben hatte überall Schroffen und Kanten, Spitzen und Ecken. Wo man
nur hineingriff in die rosigen, schimmernden Wolken, die es schmückend
umzogen, wurde man gestoßen und geschunden. Man mußte ein Pflasterstein
sein oder ein Diamant, um nicht zu zersplittern an diesen Härten.

Sie schritt in einem fast verstockten Schweigen neben Eccarius her.
Mochte er von ihr denken, was er wollte! Sie war müde und aufgewühlt,
zornig und mutlos – sie hatte keine Lust, sich mühsam durch eine
gleichgültige Unterhaltung hinzuquälen.

Eccarius ließ ihr Zeit, ihre fieberbrennende Stirn in der Nachtluft
abzukühlen. Sie sah nach den hellflammenden Sternen hinauf und spürte,
wie immer, die fast schmerzliche Bedrängnis, als ob etwas in ihr sich
mühte, die zusammengefalteten Flügel auszubreiten, um sich endlich,
endlich ins Grenzenlose aufzuschwingen und sich dabei so ungeduldig
gebärdete, daß es ihr das Herz bedrückte, den Atem beklemmte, die Rippen
preßte.

Nach einer ganzen Weile hörte sie eine ruhige Stimme neben sich, wie aus
einer langen Kette von Gedanken heraus:

„... Sie müssen mir einen Gefallen tun, gnädiges Fräulein! Sie dürfen
dies Haus und unsere Wirte nicht nach dem heutigen etwas“ – er zögerte –
„turbulenten Fest beurteilen. Sie müssen einmal einen ruhigen Nachmittag
da draußen im Gartenhäuschen sitzen und mit den beiden Frauen reden. Ich
glaube sicher, daß Sie viel davon haben könnten, und es wäre schade,
wenn Ihnen der heutige Tag die Lust dazu verdorben hätte.“

Mette fühlte sich durchschaut und ein wenig beschämt.

„Oh, durchaus nicht,“ sagte sie etwas verlegen, „ich war wirklich sehr
entzückt von den beiden Damen. Ich bin nur so etwas lärmende
Gesellschaft nicht gewöhnt, ach, ich bin überhaupt keine Geselligkeit
gewöhnt, und es waren einfach zu viel und zu vielerlei Eindrücke für
mich – ich habe ein bißchen Karussellgefühle, wenn Sie sich darunter
etwas vorstellen können.“

„O ja,“ Eccarius lachte leise, „darunter stell’ ich mir in der
Hauptsache vor: Schwindel und Übelkeit.“

„Nicht nur,“ widersprach Mette, „auch Musik, die immerfort in einem
weiterdröhnt, und sehr viel Buntes und sehr viel Licht, mysteriöse und
aufreizende Buntheit – perlgestickte flimmernde Bilder, hinter denen
sich das Geheimnisvolle, Verlockende und Unheimliche verbirgt – der
Antrieb, das Werk, die Maschine. Und im Dunkel einzelne grell
beleuchtete Gesichter, die immer wieder auftauchen und vorübergleiten –
und vor allen Dingen – ja natürlich vor allen Dingen der Eindruck eines
ersehnten, erwünschten und bis zur Ermüdung ausgekosteten Vergnügens.“

„Dann ist es ja gut.“ Eccarius lächelte, als wären seine Gedanken schon
wieder anderswo.

„Sie wußten gar nicht, daß Frau von Hersfeld krank ist?“ fragte er nach
einer Weile.

„Nein,“ sagte Mette. Und dann stieß sie hervor, halb unwillkürlich, aber
wie getrieben von dem Gefühl einer Schuld, die sie wieder gutzumachen
hatte.

„Oh, sie tut mir ja so entsetzlich leid!“

„Sie hat ein sehr trauriges Geschick gehabt,“ sagte Eccarius etwas
zögernd, „aber trotzdem würde ich nicht sagen, daß sie mir leid tut –
denken Sie nur, ich würde nicht wagen, es zu sagen – es käme mir beinah
vermessen vor. Die Frau hat so unendlich viel, was zur Bewunderung
zwingt, so unendlich viel, durch das sie unsereinem überlegen ist und um
das man sie beinah beneiden könnte, daß Mitleid eigentlich – meinem
Gefühl nach – gar nicht angebracht wäre.“

Mette spürte, daß er die Worte so behutsam setzte, um ihr nicht grob und
deutlich zu verstehen zu geben, daß sie eine Dummheit gesagt hatte. Sie
war ihm dankbar für diese vorsichtige Art, denn es kränkte sie
empfindlich, wenn sie sich irgendwie zurechtgewiesen fühlte.

„Ich will jedenfalls alles versuchen, um sie näher kennenzulernen,“
sagte sie herzhaft entschlossen. „Ich glaube, daß man viel von ihr
lernen kann, und nichts auf der Welt tut mir so not als zu lernen.“

„Es ist schon viel wert, wenn Sie das wissen,“ lächelte Eccarius, „die
meisten Zwanzigjährigen glauben, genug zu wissen. Wenn Sie sich noch
außerdem mit so sicherem Instinkt Ihre Lehrmeister suchen, dann können
Sie gar nicht fehlgehen.“

„Ich hoffe.“

Mette zog die Brauen zusammen. Die Angst glitt wieder wie eine
schattende Wolke über sie hin, die Angst, fehlzugehen, sich zu verirren,
auf schwankenden Sumpfboden zu geraten, einem Abgrund entgegenzugleiten,
irgendwie dem Untergang entgegenzutreiben.

‚Ich werde jedenfalls niemals nötig haben, einem zaudernden Tode
entgegenzuschmachten,‘ dachte sie, ‚wenn ich mit zerschmetterten
Gliedern in irgendeinem Abgrund liege, dann bleibt mir immer noch Olgas
Vermächtnis – mein Freund, der Revolver!‘

‚Nora von Hersfeld,‘ dachte sie, ‚vielleicht kann sie einem Halt geben,
vielleicht kann sie einem den Weg weisen ... vielleicht! Wer weiß es?
Eccarius ist dieser Meinung. Aber was weiß denn ich von Eccarius?
Nichts. Er kann ein Verbrecher sein, ein Bankdefraudant, ein Lustmörder,
ein Mädchenhändler. Er kann alles dies _nicht_ sein, vielleicht aus
Zufall nicht sein, und kann doch die Neigung zum Schlechten, den Willen
zum Bösen haben, schlimmer vielleicht als ein alter Zuchthäusler, neben
dem ich jetzt nur gezwungen und in tödlicher Angst gehen würde. Aber
Eccarius scheint mir ein Schutz ... warum? Ich weiß nichts von ihm. Es
ist schwer, sich zurechtzufinden, wenn man den Instinkt schon verloren
hat und ein Erfahrungswissen noch nicht erworben.‘

„... Irgendwohin führen die weißen Wege hinaus ...“ summte sie.

„Mögen Sie die Lieder?“ fragte Eccarius rasch.

„Ich weiß nicht,“ antwortete Mette zögernd, „sie verlassen mich nicht.
Spricht das nun für oder gegen sie?“

„Sie haben sie heut’ zum erstenmal gehört?“ Er berichtigte sich gleich
selbst. „Ja, natürlich, Sie waren ja heut’ das erste Mal in diesem
Kreise.“

Mette lächelte: „Kann man sie nur in diesem Kreise hören?“

„Ja, sie sind nicht veröffentlicht.“

„Hat Fräulein Werkenthin sie selbst verfaßt?“ Ihr Herz ging ein wenig
rascher bei dieser Frage.

„Ach nein.“ Mette schien es, als ob ein ganz leiser Hauch von
Geringschätzung in diesem „ach nein“ läge. „Sie stammen von Fräulein von
Gjellerström.“

„Die kenne ich nicht,“ sagte Mette gleichgültig, „sie war wohl heute
nicht da – oder ich habe sie nicht gesehen.“

„Sie haben sie sicher gesehen,“ sagte Eccarius mit einem Lächeln, von
dem Mette in dem Halbdunkel der nächtlichen Straße nicht feststellen
konnte, ob es spöttisch oder schmerzlich war. „Sie ist weder laut noch
bunt angezogen, aber man kann sie merkwürdigerweise nicht übersehen.
Vielleicht wissen Sie auch nur nicht, wie sie heißt. Ihre Freunde haben
ihr den Namen Fiametta gegeben.“


Mette saß in ihrem stillen Zimmer und lernte Vokabeln.

^la sopera^ – die Suppenschüssel.

^el relojero^ – der Uhrmacher.

Es lernte sich leicht, und es machte ihr Spaß.

^Un sombrero es un hombre que hace sombreros.^

Das Italienische war ihr viel schwerer geworden, ach, aber mit welchem
Feuereifer hatte sie damals gelernt. Sie hatte so viele Gründe, die sie
zum Lernen trieben. Sie durfte doch nicht sagen, daß sie die Stunden bei
Olga nahm, statt bei dem italienischen Professor, den Vater ihr
ausgesucht hatte. Und darum mußte sie sich möglichst rasch gründliche
Kenntnisse aneignen, damit Vater nicht auf den Gedanken kam, den
Unterricht zu kontrollieren oder dem Herrn Professor einen zur Strenge
mahnenden Brief zu schreiben. Und dann galt es auch, vor Olga zu
bestehen. Sie wurde nicht ungeduldig, aber sie war so fassungslos
erstaunt, wenn man etwas nicht begriff oder nicht behalten konnte.

Und dann war der heißeste Ansporn: Die Reise nach Italien, die
gemeinsame, die sie einstweilen nur auf der Landkarte oder im Baedeker
machten, und die einmal Wirklichkeit werden sollte, greifbare,
herrliche, unnennbar selige Wirklichkeit.

Und nun war alles vorbei und alle Hoffnungen vernichtet, gestorben,
begraben.

Mette würde niemals nach Italien fahren und niemals nach Spanien,
niemals, denn sie war allein und würde immer allein sein, und sie würde
sich in fremden Ländern noch viel einsamer, verlassener, unglücklicher
fühlen als in fremden deutschen Städten.

Es hatte wohl auch eigentlich keinen Zweck, Spanisch zu lernen ... wozu
die Mühe, sich etwas anzueignen, wofür man niemals Verwendung hatte!

Sie ließ das Heft sinken und starrte vor sich hin. Die Tränen, die ihr
schon in die Augen gestiegen waren, als sie an die italienischen Stunden
bei Olga dachte, lösten sich und rollten über ihr unbewegtes Gesicht –
eine nach der andern, ohne daß sie sich die Mühe gegeben hätte, sie
aufzuhalten oder auch nur abzutrocknen.

Olga! – Aber Olga lernte nie eine Sprache, wie sie hochmütig sagte, „um
sich mit Hotelportiers und Ladenmädchen verständigen zu können“. Olga
studierte Sprachen, um sich in Geist und Wesenheit der Völker
einzufühlen, um ihre Verschiedenheiten oder Ähnlichkeiten zu erfassen.
Sie lernte Sprachen, weil sie sich an den Schönheiten eines Satzgefüges
erfreuen konnte wie an einem Bildwerk oder an einer Melodie. Und sie
lernte sie vor allen Dingen, wie sie alles tat, um sich zu bereichern,
zu weiten, um mit dem Lernen ihr Gehirn in ständiger, immer wachsender
Anspannung zu halten und um mit dem Gelernten ihr „inneres Haus
auszubauen“, wie sie manchmal scherzend sagte.

Mette nahm das Heft wieder vor. Sie wollte auch ihr Haus in sich
aufbauen. Sie wußte nicht recht, wie. Noch standen nicht die
Grundmauern, noch war nicht einmal ein Plan vorhanden. Aber sie trug
Bausteine zusammen, sie lernte, sie las, sie sah mit wachen Augen um
sich, und sie dachte nach über alles, was sie gelernt hatte. Vielleicht
würde einmal ein Tag kommen, da sie wußte, wie das alles zu ordnen und
zu richten, da sie wußte, wo sie hinaus wollte, wozu sie strebte und
lernte und wofür – ach, manchmal kam auch der ganz vermessene Gedanke:
Da sie wußte, für _wen_ sie strebte und lernte.

^El que nos trae las cartas es el cartero.^

Es klopfte an die Tür, und Mara Luigi steckte den rötlichen Wuschelkopf
durch die Spalte. Sie hatte es sich angewöhnt, jeden Tag ein halb
dutzendmal bei Mette anzuklopfen, um eine belanglose Frage zu stellen,
oder eine noch belanglosere Mitteilung zu machen. Mette hatte einzig aus
diesem Grunde schon manchmal die Möglichkeit eines Umzugs erwogen.

„Störe ich?“ fragte sie, indem sie durch die Tür schlüpfte. Sie
schlüpfte wirklich, denn sie hatte die Gewohnheit, wenn sie so kam, die
Tür nur zu einem spitzen Winkel zu öffnen, ihren schmalen Körper noch
schmäler zu machen und mit hochgezogenen Schultern und katzenhaft
geschmeidigen Bewegungen durch den Spalt zu gleiten.

„Absolut nicht,“ sagte Mette geduldig. Im Grunde störte sie ja auch
nicht. Niemand fragte danach, wann Mette Rudloff die Lektion zu Ende
bringen würde ... leider!

„Kommen Sie ein bissel mit hinüber auf meine Bude, ja? Die Werkenthin
ist da, Giesbert, Kramer, die Breslauer. Wir trinken Tee und rauchen –
ich soll Sie schön bitten, auch im Namen der andern.“

Mette stand auf und legte Hefte und Bücher gerade. Sie fuhr noch ein
wenig unschlüssig mit den Fingern an dem Bleistift hin und her:

„Soll ich wirklich ...“

„Ja natürlich sollen Sie! Sie werden noch ganz dumm von dem vielen
Studieren, glauben Sie mir! Früher war ich auch so – Bücher, das war
mein Schönstes ... ich hab’ mir immer die Bücher im Bett versteckt, weil
meine Mutter nicht wollte, daß ich so viel lesen sollte ...“

‚Schöne Bücher mögen das gewesen sein,‘ dachte Mette.

„Und jetzt? Du lieber Gott! Jetzt bin ich froh, daß ich die ganze
Bücherweisheit vergessen habe! Das Leben sieht anders aus, als es in
Büchern beschrieben steht ...“

„Wissen Sie, wie es aussieht?“ fragte Mette ernsthaft, „darum könnt’ ich
Sie beinah beneiden. Mir erscheint es an einem Tag so und am andern Tag
so. Nicht nur mein Leben, sondern ‚das Leben‘ überhaupt.“

Sie hatten unterdessen den Türgang gequert, und die Luigi öffnete ihr
Zimmer und rief hinein:

„Kinder, wißt ihr, wie das Leben aussieht? Oder vielmehr, könnt ihr es
erklären und beschreiben?“

Mette hatte die Fenster weit offen gehabt, und die Strahlen der
tiefstehenden Sonne hatten das ganze Zimmer mit mildem, flirrenden
Goldglanz erfüllt. Hier waren alle Vorhänge sorgfältig zugezogen, und
das Licht der japanischen Korblampe, das durch den gebatikten
Seidenschirm verschleiert wurde, warf in ein tiefes Dämmern vereinzelte
violette, grüne und purpurne Reflexe.

„Wie das Leben aussieht?“ rief eine Männerstimme aus dem Dunkel. Es war
Giesbert, wie Mette gleich darauf erkannte, als ihre Augen sich in der
ungewohnten Beleuchtung zurechtgefunden hatten.

„Ist das eine Preisfrage für eine Malerakademie? Soll jeder ein Bild
malen, wie er sich das Leben vorstellt? Dann malen neunundneunzig
Prozent ein nacktes Weib! Nur die Attribute sind verschieden – dem einen
‚beut‘ es eine Schale mit goldenen Früchten, und für den andern schwingt
es hohnlachend eine Geißel.“

„Kann denn keiner von euch erklären, wie er findet, daß für ihn das
Leben aussieht?“

„Sphynx,“ sagte Kramer phlegmatisch, „fabelhafter Busen, weich,
verlockend und Raubtierkrallen. Und dazu das obligate Rätsel natürlich.
Und der Abgrund daneben!“

„Grüß Sie Gott, Fräulein Rudloff,“ sagte Gisela Werkenthins dünne
zerbrochene Kinderstimme, „sind Sie auf die verrückte Idee gekommen, daß
Sie wissen wollen, wie das Leben ausschaut? Gell ja? Wenn ich ein Maler
wär’ und sollt’ ein Bild malen ‚das Leben‘, ja, Giesbert, du hast ganz
recht, ein nacktes Weib tät’s natürlich werden, bei mir auch. Und zwar
eine mit der Leyer im Arm, die in Entzückung dahin tanzt, den Blick nach
oben. Aber worauf sie tanzt, was im ersten Augenblick aussieht wie ein
blumiger Teppich, das sind verschlungene, verkrampfte Menschenleiber,
blutiggeschundene, röchelnde, ringende, alle, die das lachende Leben zu
Boden getreten hat, und die es verfluchen, aber sich doch noch ausrenken
und andere niederwürgen, um noch einen Zipfel seines Gewandes zu
erfassen ...“

„Einen Zipfel vom Gewand des nackten Weibes,“ spottete Giesbert, „o
heilige Logik! Sie spricht so schöne Sätze, die Kleine, ganz wie ihre
Freundin, die moderne Sappho, aber sie weiß am Schluß schon nicht mehr,
was sie am Anfang gesagt hat.“

„Du bist ein Viech!“ sagte Gisela und nahm irgendeinen Gegenstand auf,
um nach seinem Kopf zu zielen.

Frau Breslauer griff mit einem ängstlichen Aufschrei nach ihren Händen:

„Um Gottes willen, den guten Aschbecher! An dem seinem Schädel
zersplittert doch ein Stein!“

„Also nehmt euch in acht!“ rief Giesbert mit vorgestreckter Stirn, „ihr
demoliert das ganze Mobiliar, wenn ihr mir’s an den Kopf schmeißt! Ich
stehe wie ein Fels im Meer, und um mich liegen die Scherben der
Meidingerschen Wirtschaft!“

„Also Fräulein Rudloff,“ sagte der kleine Kramer, „Sie haben diesen
edlen Wettbewerb der Phantasien entzüngelt ... kann man das sagen? Ich
glaube, es ist ganz neu, und es ist jedenfalls ein sehr schönes Wort ...
entzüngelt! Aber ich bitte mir aus, daß ich es nicht nächstens in
irgendwelchen lyrischen Schöpfungen des verehrten Kreises wiederfinde
...“

„Ja, in meinen zum Beispiel,“ warf Frau Breslauer ein.

„Oder in meinen,“ lachte Mara Luigi.

„... kurz und gut, es ist mein Wort, und ich lege Beschlag darauf. Also
Sie haben die Phantasien entzüngelt, nun müssen Sie aber auch mittun in
diesem Wettbewerb ... wie würden Sie denn das Leben darstellen?“

„Ach Gott,“ sagte Mette und hob ratlos die Achseln, „als eine Zwiebel
vielleicht. Eine Haut nach der andern zieht man herunter, aber man kommt
nicht an einen Kern!“

„Aber man vergießt Tränen bei dieser Beschäftigung!“ sagte Gisela fast
bitter.

„Ja, und wer sich zu intensiv damit befaßt, dem Leben auf den Grund zu
gehen,“ lachte Giesbert, „der kann leicht in schlechten Geruch kommen!“

„Ach, das Leben kann ganz nett sein,“ sagte Frau Breslauer behaglich.

„Ja,“ sagte Kramer und seine Augen wurden plötzlich ganz ernst und
weiteren sich, „am Meer! Am Meer, da kann das Leben schön sein. Da
gehört gar nichts dazu. Kein schönes Mädchen, und kein Alkohol, und kein
Geld, und keine Opiumzigarette, und kein Erfolg, und kein garnischt. Da
ist es einfach schön, zu atmen.

Es ist schön, die Sonne zu fühlen, und den Wind und den weichen, weichen
Sand, und die ewige Bewegung des Wassers. Wenn man nur das Salz auf den
Lippen schmeckt, und den Seegeruch atmet, diesen Duft, den man nirgends
findet, und der einem sofort das Atmen Lust sein läßt, ein bißchen nach
nassem Holz, und ein bißchen nach Teer, und ein bißchen nach Fischen und
Algen – aber vor allen Dingen nach Salzluft und Salzwasser und Sonne,
nach Reinheit und Weite, nach Frische und Gesundheit und Kraft!“

Er blähte die Nüstern, als wolle er den Meerwind einsaugen, sein
unbedeutendes Knabengesicht war seltsam gespannt, ganz erfüllt und
durchdrungen von dem verschönenden Ausdruck einer tiefen verzehrenden
Sehnsucht.

Mette fühlte etwas wie Neid. Wie gut mußte es sein, Sehnsucht zu haben
nach etwas Unveränderlichem, ewig Lebendigen, nach etwas, das immer an
der gleichen Stelle war und einen immer mit der gleichen Liebe empfing.

„Überhaupt die Natur,“ sagte Frau Breslauer mit einem verzückten
Augenaufschlag, „Sie glauben gar nicht, wie ich für Natur schwärme. Sie
ist und bleibt doch immer unsre treueste Freundin. Ich habe immer
gesagt: der Wald ist mein Dom!“

„Ach, Natur ist meistens so kalt,“ sagte die kleine Luigi kläglich und
zog fröstelnd die Schultern hoch.

„... und im Sommer ist sie zu heiß,“ neckte Giesbert, „und wenn’s
trocken ist, dann staubt’s, und wenn’s regnet, ist es naß. Du bist mir
schon eine Heldin!“

„Natur,“ sagte Gisela nachdenklich, „Natur ist wieder so ein
Begriffswort, worunter sich jeder etwas anderes denkt. Der eine nennt
grüne Bäume Natur, der andere die weisen Einrichtungen, daß sich alles
Lebende untereinander auffrißt, einer versteht unter einem natürlichen
Leben barfuß gehen und Gras fressen, und der andere heiraten und Kinder
kriegen.

Und wenn Hannchen Bodenstedt sich in seidene Kimonos hüllt und sich die
Lippen rotschminkt, so sagen die einen, es ist seine Natur, und die
andern sagen, es ist unnatürlich. Ich weiß überhaupt nicht, was Natur
ist!“

Mit diesem achselzuckend herausgestoßenen Endurteil wandte sie sich
wieder mit voller Aufmerksamkeit ihrem Zigarettenetui und einem schlecht
funktionierenden Feuerzeug zu.

„Ich will euch mal was sagen, Kinder,“ sagte Giesbert entschieden,
„natürlich oder nicht. Nackte Waldschnecken, die überall Schleimspuren
hinterlassen, sind auch ‚natürlich‘, und sie sind mir darum doch
widerlich. Und dieser kleine heilige Johannes ist für meinen Geschmack
ein ganz übler Bursche.“

„Wie du redest,“ ereiferte sich die Luigi, „du kennst ihn gar nicht ...
er ist im Grunde ein so hochanständiger Kerl ...“

„Weil er keine Chantage betreibt? Das fehlte auch noch! Ich will ihn ja
auch gar nicht mit irgendwelchen erpresserischen Friseurgehilfen auf
eine Stufe stellen ...“

„... wenn du aber sagst, ‚übler Bursche,‘ klingt das so!“

„Also gut, ich nehme es zurück. Er ist nicht so übel, wie mir bei seinem
Anblick wird. Aber er ist entschieden etwas waldschneckenmäßig. Und
diese alte Tante, dieses Miststück von einem Kerl, dieser päpstliche
Sänger, dieses widerwärtige Subjekt ... entschuldigt, Kinder, aber ich
kriege Magen- und Gallenzustände, wenn ich an ihn denke.

Wie man sich an dieses dicke Schwein verkaufen kann, ist mir ewig
unfaßbar. Ich bin, weiß Gott, nicht intolerant und habe gar nichts gegen
den Gedanken, daß zwei schöne Frauen mal miteinander, na ja ... Obgleich
mir die Weiber mit Kragen und Schlips und abgeschnittenen Haaren auch
zum Kotzen sind ... Anwesende sind natürlich immer ausgeschlossen.“

Gisela verbeugte sich mit spöttischem Lächeln.

„Aber Giselchen, du bist doch kein Mannweib, so mit Baß und Schnurrbart
und dicken Zigarren. Du bist im Grunde doch ein süßes kleines Weibchen.“
Er ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und umschlang sie mit beiden
Armen: „Du bist nur durch einen Zufall auf die falsche Bahn gelenkt,
glaube mir, mein Herzblatt. Versuch, es nur einmal mit einem reellen
Mann, und du bist für immer geheilt und gerettet. Ich stelle mich dir
gern zur Verfügung, gratis und franko. Du ahnst gar nicht, was du für
Spaß haben wirst – frag’ nur Frau Breslauer ...“

Frau Breslauer kreischte laut auf:

„Uch nein, Giesbert, was soll denn Fräulein Luigi denken.“

„Aber Sie waren doch verheiratet, Frau Breslauer!“ sagte Giesbert ernst
und vorwurfsvoll. „Wollen Sie leugnen, daß es Ihnen Spaß gemacht hat?
Ich meine doch nicht mit mir! Mara weiß, daß ich die uneheliche Treue
nie verletze!“

„Na,“ sagte Kramer, scheinbar sehr befriedigt, „deutlicher man kann
nicht gut!“

Mette bemühte sich, zu all diesen Unterhaltungen ein lächelndes Gesicht
zu machen. Ihr war ein wenig fiebrig zumute, und die Stube mit den
lauten, lachenden, kreischenden, schwatzenden Menschen schien sich wie
ein atmender Brustkasten auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, die
Wände glitten von ihr fort und rückten fast bedrohlich näher.

‚Dies alles geht mich gar nichts an,‘ dachte sie. ‚Ich will doch tapfer
sein und will das Leben kennenlernen, und dabei – wenn ich nur reden
höre von irgendwelchen Dingen, von denen ich doch weiß, daß sie
existieren – verwirrt es mich und macht mich schwindlig, nur weil ich in
einem Kreis aufgewachsen bin, in dem es nicht üblich war, erotische
Beziehungen als Salon-Unterhaltungen zu behandeln. Ich bin dumm und
feige und eine prüde Gans.‘

Gisela stand von ihrem Stuhl auf:

„Du hast ganz recht, Kramerle, das ist kein Ton für uns!“

Sie setzte sich auf Mettes Sessellehne und strich ihr mit einer
behutsam, kaum fühlbaren Bewegung das Haar aus der Stirn.

„Armes Hascherl,“ sagte sie bedauernd, „was müssen Sie sich alles mit
anhören! Sie müssen auch rein denken, Sie sind in ein Tollhaus geraten!
Achten Sie gar nicht auf das, was der Lackl daherredet! Es ist alles nur
halb so schlimm, wie es klingt!“

Mette lächelte zu ihr auf:

„Ach, wenn es nur nicht schlimmer ist, dann geht’s ja noch! Dinge, die
verheimlicht werden, sind meist viel schlimmer, als solche, über die
öffentlich gescherzt wird.“

„Sie haben recht,“ sagte Gisela mit dunkelbrennenden Augen, „das
schlimmste weiß niemand, und es wird niemals ausgesprochen.“

Sie versuchte ein Lächeln, das Metten fast rührend erschien, und strich
ihr wieder mit weichen Fingern über das Haar. „Aber Sie sollten von
allem Schlimmen verschont bleiben, von allem Schlimmen und allem
Schmutzigen. Sie passen in ein Schloß. Oder noch besser in einen
Schloßpark. Wissen Sie, als ich Sie das erstemal sah, da wußt’ ich
gleich den passenden Rahmen für Sie. Ich kenne einen Schloßgarten, in
dem Sie sich ausnehmend gut machen würden. Da sind Terrassenstufen, die
zu einem kleinen See hinunterführen, direkt ins Wasser hinein. Und auf
diesem Teich sind sehr viele Schwäne, schwarze und weiße. Und ich sehe
Sie immer auf diesen Stufen stehen, in einem weißen Gewand, mit einem
Körbchen in der Hand und die Schwäne füttern, die sich an die Stufen
drängen.“

„Ein schönes Bild,“ sagte Mette lächelnd, „aber es hat eigentlich ein
bißchen etwas Melancholisches und Verlassenes. Wenn es im Kino wäre, zum
Beispiel, dann würde die Frau in dem weißen Gewand sicher im letzten Akt
die Stufen hinuntersteigen, in einer Mondscheinnacht, einen Arm voll
Blütenzweigen an die Brust gedrückt, und in dem stillen Schloßteich
verschwinden.“

„Das werden Sie nie tun,“ sagte Gisela ernst.

„Warum nicht,“ fragte Mette überrascht und fast ein wenig beleidigt, als
spüre sie eine leise Nichtachtung in diesem Zweifel. Sie war versucht,
zu erzählen, daß ein geladener Revolver in ihrem Nachttischkasten lag,
und daß sie hundertmal schon gegen die Versuchung angekämpft hatte, ihn
an die Schläfe zu drücken.

„Nicht weil Sie feige sind,“ sagte Gisela rasch, als ob sie ihre
Gedanken ahnte. „Vielleicht eher im Gegenteil, weil Sie viel Mut haben.
Sie haben so feste Hände und machen manchmal so eine merkwürdige Geste,
so ...“ sie machte die Bewegung, „Sie krallen so langsam die Finger
zusammen, daß man alle Sehnen sieht – es sieht aus, als freuten Sie sich
direkt darauf, das Leben bei den Hörnern zu packen, wenn es auf Sie
loskommt.“

„Ich weiß das gar nicht,“ sagte Mette, „wie Sie beobachten?!“

Sie sagte mit Absicht nicht „mich beobachten“, wie es sich ihr erst auf
die Lippen drängen wollte.

Aber Gisela sprach es deutlicher aus:

„Manchmal – wenn mich etwas interessiert. Manchmal seh’ und hör’ ich
auch vom hellen Tage nix. Aber Sie hab’ ich beobachtet. Ich weiß auch,
daß Sie keine zusammengewachsenen Augenbrauen haben, und das ist schon
ein Zeichen, daß Sie eines natürlichen Todes sterben.“

Sie nahm Mettens Gesicht in beide Hände und drehte es ein wenig dem
Licht zu:

„Nein, sehen Sie, es ist gut ein Fingerbreit frei über der Nasenwurzel,“
sie legte die Spitzen ihrer schmalen Finger zwischen Mettes Brauen und
strich dann behutsam die Bogen entlang.

Mette schloß die Augen und lächelte. Die weichen Hände glitten wie
Vogelfittiche über ihre Schläfe, ihre Wangen.

Wie lange war es her, daß eine Hand sie gestreichelt hatte? Monate und
Monate ... endlose kalte, einsame, verzweifelte Monate.

Etwas wie ein Schluchzen quoll in ihrer Kehle auf: das heiße Mitleid mit
sich selbst.

‚Streichle mich,‘ dachte sie, ‚du weißt ja nicht, wie arm ich bin. Wie
grenzenlos arm und erfroren, daß es mich erwärmt, wenn du aus Spielerei
deine Hände über mein Haar gleiten läßt.‘

Mette schlug einen Moment die Augen auf. Niemand beobachtete sie. Ein
lautes und lebhaftes Gespräch war im Gange. Ach, diese glücklichen
Menschen litten nicht so unter Langerweile, daß sie immer auf der Lauer
liegen mußten, um irgendwo etwas Interessantes zu erspähen. Sie erlebten
ihre Romane selbst und brauchten sie nicht bei andern zu wittern – sie
waren so voll von ihren mannigfaltigen Schicksalen und Leidenschaften,
daß sie kaum noch Raum in sich fanden, um die fremden zu erwägen.

Giesbert hatte die kleine Luigi auf seine Knie gezogen, und sie wühlte
mit der Hand in seinen Haaren, während er sich mit Kramer über den Plan
zu einem Kolossalgemälde unterhielt, und sie mit Frau Breslauer über
seine Schulter hinweg ein neues Tanzkleid besprach.

Über Mettes Stirn glitten die weichen leichten Hände.

„Sie haben ein seltsames Gesicht,“ sagte die gedämpfte Stimme neben ihr,
„es ist so offen und klar und dabei ganz undurchsichtig. Es ist fast
unveränderlich und doch ausdrucksvoll. Merkwürdig.“

„Ich finde, mein Gesicht hat nur eine hervorstehende Eigenschaft,“ sagte
Mette halblachend, „es ist langweilig.“

„Vielleicht ist jedem Menschen, der sich sehr gut kennt, das eigene
Gesicht langweilig,“ sagte Gisela Werkenthin nach einer kleinen,
nachdenklichen Pause.

‚Gott sei Dank, daß sie es mir erspart, mich gegen irgendeine Phrase wie
‚oh, durchaus nicht‘ zu wehren,‘ dachte Mette.

„Aber das ist sicher sehr unrecht,“ fuhr Gisela fort, „warum sieht die
kleine Mara so reizend aus? Weil sie wirkliches Interesse für sich hat
und sich tagelang im Spiegel anschaut und an sich herumputzt und
schminkt und frisiert, als wenn’s eine verhätschelte Lieblingspuppe
wär’. Aber da nützt kein ‚Vornehmen‘, das steckt im Blut, und wir beide
werden’s wohl nie erlernen. Schad’t auch nix. Mit mir wär’ eh nix
anzufangen, auch mit der größten Müh’ nicht, und Sie sind ohnedem schön
genug!“

Es klopfte an die Tür, und auf ein fast allgemeines „Herein“-Rufen trat
Eccarius ein.

Sein ernstes, blasses häßliches Gesicht war Metten in diesem Augenblick
unangenehm. Sie wußte nicht, warum.

Erst einige Sekunden später kam es ihr zum Bewußtsein. Sie spürte die
weichen Hände nicht mehr auf ihrem Haar – Gisela war von der Sessellehne
heruntergeglitten und stand jetzt neben Frau Breslauer.

Mette wünschte Eccarius zu allen Teufeln, sie war einsilbig und fast
unliebenswürdig, weil sie erwartete, daß er dann bald wieder gehen
würde. Aber er wich den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite.


Es geschah nun schon zum drittenmal, daß Mette sich auf ihren
Spaziergängen plötzlich an einer Ecke der stillen Vorstadtstraße fand,
in der das Häuschen der Sophie Degebrodt gelegen war.

Dieses drittemal aber bog sie nicht rasch nach der entgegengesetzten
Seite um, sondern sie ging entschlossen die gerade Straße hinunter, die
in der vollen Herbstsonne lag, ganz weißgebadet bis auf die dünnen
flirrenden Schatten, die das zarte Gefieder der jungen Ebereschen warf,
die, schwer mit Beerendolden von leuchtendem Ockergelb bis zu glühendem
Scharlach beladen, in zwei schnurgeraden Reihen den Fahrdamm säumten.

Mette wußte zwar die Nummer nicht mehr, aber es würde nicht schwer sein,
das Haus wiederzufinden. Das dritte rechts mußte es sein – richtig, das
Gartengitter trug ein ziemlich auffallendes Namenschild, und über dem
Laubendach hing die kleine Fahne reglos in der stillen Luft.

Mette hatte ein wenig Herzklopfen, als sie das eingeklinkte
Gittertürchen öffnete. Sie war so befangen, wie als Kind, wenn sie zu
fremden Leuten gehen, an fremden Türen klingeln sollte. Wenn sie jetzt
in die Laube käme, würde man ihr vielleicht sehr erstaunt
entgegenstarren. Niemand würde ihren Namen wissen, niemand sich ihres
Gesichtes erinnern, man würde sie fragen, mit welchem Recht sie sich
erlaubte, einzudringen – oh, sie würde sich und andere in eine sehr
peinliche Lage bringen!

Es wäre sicher besser, die paar Stufen zu dem Vordereingang
hinaufzugehen und dem öffnenden Mädchen die Karte zu geben. Dann konnte
man sie mit einer höflichen Phrase abweisen lassen, wenn man sich ihres
Namens nicht mehr entsann. Sie ging zögernd ein paar Schritte wieder
zurück.

Aber man hatte sie wohl gesehen, oder das Knirschen im Kies gehört –
hinter dem Haus reckte sich ein blonder Kopf hervor.

„Ah! Fräulein Rudloff!“ der kleine Johannes sprang ihr förmlich
entgegen. Und im ersten Augenblick hatte sie vergessen, was sie von ihm
gehört, was sie über ihn gedacht hatte, und war entzückt von seiner
knabenhaften Anmut, von der tänzerischen Leichtigkeit seiner Bewegungen.

„Wie nett, daß Sie kommen! Nein, bitte gleich hier herum, wir brauchen
ja nicht durch’s Haus. Wir haben schon öfters von Ihnen gesprochen, und
wo Sie wohl stecken möchten. Nora wird sich schrecklich freuen – Sophus
hat noch zu tun, kommt aber auch gleich.“

Er führte sie an einer grünen Wand vorbei, an der schon die ersten
prallen Bohnen zwischen unzähligen roten und weißen Blüten hingen.

Auf den schmalen Beeten wucherten Phlox und Astern in leuchtenden
Farben. Eingefaßt waren sie mit dem goldgrünen Saum blühender, duftender
Reseda.

In der großen, sechseckigen Laube war ein behaglicher Teetisch gedeckt.

Mette hatte auch ein wenig uneingestandene Angst davor gehabt, Nora
wiederzusehen. Nun war sie fast dankbar überrascht durch ihre Schönheit,
und durch den beherrschten Adel ihrer Bewegungen. Nora war schon so an
ihr Leiden gewöhnt, daß es ihr gar nicht einfiel, etwa den Versuch zu
machen, aufzustehen, um dann hilflos und kläglich zurückzusinken. Sie
saß ein wenig steif und sehr königlich und streckte Mette mit einem
gewinnenden Lächeln die Hand entgegen.

Neben ihr saß Ulrich Zeeden, der sich beeilte, aufzuspringen und hinter
dem Tisch hervorzukommen, wobei er das Teegeschirr in Gefahr brachte,
was sowohl Mette als Johannes zu einem eiligen Zugreifen veranlaßte.
Dadurch entstand eine heitere Verwirrung, die über die ersten Sekunden,
die von peinlicher Förmlichkeit hätten sein können, hinwegleitete und
sofort ein allgemeines, lebhaftes Gespräch in Gang brachte.

Nach einigen Minuten kam auch Sophie mit großen eiligen Schritten aus
dem Haus. Sie begrüßte Mette sehr herzlich, verlangte dazwischen „recht
rasch“ eine Tasse Tee, wollte sie im Stehen trinken, ließ sich dann doch
auf einen Stuhl nötigen und schwatzte sich für eine Viertelstunde fest,
wobei sie jede zweite Minute ängstlich sagte: „Oh, Kinder, das Licht
geht mir weg, ich muß ja hinein an die Arbeit!“

Als sie dann schließlich davonlief, kehrte sie am Haus noch einmal um
und rief zurück:

„Aber daß ihr mir alle dableibt, bis ich wiederkomme, ich will heut’
Abend noch eine Stunde Gemütlichkeit haben, ich hab’ so viel gearbeitet
heute.“

„In deinem traurigen Beruf, hast du vergessen zu sagen!“ lachte Johannes
hinter ihr her.

„Ja, in meinem traurigen Beruf!“ rief sie schon von der Tür her zurück.

„Warum traurigen Beruf?“ fragte Mette verwundert.

„Sie sagt doch immer, sie käme gleich nach Leichenfrau und Sargmagazin,“
erklärte Johannes, „sie macht doch Grabdenkmäler.“

„Das ist wirklich traurig,“ sagte Mette und bemühte sich, ein leises
Lächeln festzuhalten, um nicht für übertrieben sentimental zu gelten.
Die Worte „Grab“ und „Tod“ trafen sie immer noch wie ein schmerzlicher
Stich.

„Man gewöhnt sich daran,“ sagte Nora ernsthaft, „wie man sich an alles
gewöhnt. Und das ist gut. Man verroht ein bissel – für uns
Überempfindliche ist das ganz gut. Wir fühlen uns sehr wohl zwischen
Urnen und trauernden Genien, genau so wie ein Sargfabrikant nicht beim
Anblick eines Sarges erschrickt, oder ein Arzt beim Anblick einer Wunde.
Und wenn man so viel mit dem Tode zu tun hat, wie Sophie, und durch sie
auch ich, dann verliert der Tod alles Grausige, und man sieht
schließlich den Humor in tragischen Situationen – fragen Sie nur Sophie,
die kann Ihnen Geschichten aus ihrer ‚Praxis‘ erzählen.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Nora nahm eine Handarbeit aus einem neben ihr stehenden Körbchen und bat
Johannes, das Mädchen zu rufen, damit der Tisch abgeräumt würde.

Johannes bettelte wie ein Kind, es selbst tun zu dürfen, und stellte
gewandt und behutsam das Porzellan auf dem Teebrett zusammen. Als er
wiederkam, saß er eine ganze Weile schweigend und sah mit verlangenden
Augen Noras fleißigen Händen zu.

Schließlich, als könnte er kindische Begierde nicht länger zügeln,
streckte er die Hände aus:

„Oh, bitte, bitte, laß mich auch ein paar Stiche machen!“

Nora überließ ihm lächelnd die Arbeit und suchte geduldig aus ihrem
Körbchen eine begonnene Häkelei für ihre eigne Beschäftigung.

„Oh, gnädige Frau,“ rief Mette erschrocken, „die wundervolle Stickerei!
Haben Sie denn gar keine Angst?“

„Ach nein,“ beruhigte Nora, „Johannes macht ebensogut Handarbeiten, wie
ich.“

„Ja, nicht wahr, Nora?“ fragte Johannes mit einem errötenden Stolz. „Ich
hätte Kunststicker werden müssen, oder Miniaturmaler. Ich habe für
solche Dinge auch eine unerschöpfliche Geduld. Sonst habe ich gar keine
Ausdauer.“

Er neigte den Kopf über die Arbeit, daß ihm die weichen blonden
Haarwellen ins Gesicht fielen. Die schlanken, fast zu wohlgepflegten
Hände bewegten sich mit Anmut und Geschick und setzten sicher Stich
neben Stich.

Es war ein verwunderliches Bild. In Mette regte sich unwillkürlich der
Gedanke: ‚Gut, daß es nicht mein Sohn ist – ich glaube, dann würd’ ich
ihm die Stickerei aus den Händen reißen und um die Ohren schlagen. Aber
so – er sieht ja doch immer aus wie ein gemalter Engel oder Heiliger.‘ –
– –

                   *       *       *       *       *

Johannes mußte gehen, ehe Sophie zurückkam. Er wartete auf sie, bis es
zu spät für ihn wurde, dann nahm er hastig, aber herzlich Abschied, trug
den andern viele Grüße für Sophie auf und lief davon.

Ulrich Zeeden sah ihm kopfschüttelnd nach.

„Ein seltsamer kleiner Bursche,“ sagte er.

„Ein seelensgutes Kerlchen,“ fügte Nora mit leisem Widerspruch im Ton
hinzu, „wir haben uns hier so an ihn gewöhnt, daß wir ihn kaum entbehren
könnten. Er ist wirklich wie ein treuer kleiner Page, immer bereit und
gefällig und liebenswürdig – ach, und mehr als das: herzensgut und
aufopfernd.“

„Es gehen ja sagenhafte Gerüchte über seine Güte,“ Ulrich Zeeden verzog
ein wenig spöttisch die Mundwinkel.

„Es gehen überhaupt viele Gerüchte über ihn um, leider!“ entfuhr es
Mette. Sie fühlte, wie ihr die Verlegenheit das Blut brennend in die
Wangen trieb, aber sie entschloß sich, das einmal Gesagte nun tapfer zu
vertreten. „Es sieht so häßlich aus, so klatschsüchtig, hinter einem
Menschen herzureden, der eben gegangen ist ... aber gerade weil er Ihr
Freund ist, und weil ich ihn sehr nett finde, wirklich sehr nett, darum
ärgere ich mich, wenn die Leute Scheußlichkeiten von ihm erzählen, und
ich absolut kein Recht habe, ihnen den Mund zu verbieten, oder sie Lügen
zu strafen.“

„Würden Sie das sonst tun?“ fragte Ulrich Zeeden, „das wäre sehr tapfer
und anerkennenswert freundschaftlich von Ihnen, aber in den weitaus
meisten Fällen verfehlt. Denn was man auch an Scheußlichkeiten erzählt,
wird immer noch bei weitem durch die Scheußlichkeiten überboten, die
ganz im Geheimen begangen werden, und von denen niemand was ahnt.“

„Ist das wahr?“ wandte sich Mette wie hilfesuchend an Nora.

Nora legte ihr die weiche Hand aufs Haar.

„Ach, Kind,“ tröstete sie, „es ist alles viel zu verwickelt und
verworren, als daß man so einfach ja oder nein sagen könnte. Sie
brauchen darum nicht so verzweifelte Augen zu machen. Alles gut und böse
ist so ineinander verquickt, daß wir es gar nicht auseinander lösen
können, um eins gegen das andere abzuwägen.

Ich will Ihnen etwas erzählen – denn ich weiß ganz genau, was Sie mit
den ‚Scheußlichkeiten‘ meinen, und Sie auch, Ulrich. Sie meinen die
Sache mit Drencker. Man erzählt sich – und Sie wissen, daß es wahr ist,
Ulrich, und wenn ich ehrlich sein soll – ich weiß es auch, daß Drencker
den Kleinen sozusagen mit Haut und Haaren gekauft hat, daß er ihm eine
bezaubernde Wohnung eingerichtet hat, daß er für seinen Unterhalt sorgt
– daß er ihn ‚aushält‘, wie man das ja nennt. Und daß Drencker das
leider nicht nur tut, um seine Millionen auf gute Art loszuwerden, das
wissen wir auch alle. Na, und daß unser gutes Hannchen diesem – milde
gesagt, reichlich unangenehmen Herrn nicht anhängt, wie Alkibiades dem
Sokrates, um Weisheit von seinen Lippen zu schlürfen, sondern daß er
einfach den pekuniären Vorteil wahrnimmt, ist auch klar.

Und trotzdem – wenn man ein bißchen tiefer sieht, dann entdeckt man
hinter all diesen Scheußlichkeiten auch etwas Versöhnendes ... der
kleine Johannes hat von Kindheit an eine große und unveränderliche Liebe
gehabt, eine Schwärmerei mehr, zu einem Schulkameraden, der alles das
hatte, was ihm selbst fehlte: das Männliche, Selbstbewußte, etwas
Brutale – diese Kinderschwärmerei ist zu einer ganz selbstlosen, ganz
anbetenden Freundschaft geworden. Nun kommt hinzu, daß der andere eine
starke Begabung besaß, die den Kleinen noch mehr zur Bewunderung zwang.
Geld hatten sie beide nicht. Johannes hat sich selbst wohl nie für
besonders wertvoll gehalten ... er hat sich verkauft – und mit voller
Absicht teuer verkauft – um dem Freund das Studium zu ermöglichen, um
ihn in jeder Weise zu unterstützen.“

„Und das hat Willi Krafft zugegeben? Das hat er angenommen?“ sagte
Ulrich Zeeden scharf, die Worte dehnend.

Nora hob etwas die Achseln: „Ich habe den Namen nicht genannt.“ Es war
eine kaum hörbare Schwingung von Bitterkeit in ihrer sanften Stimme.

„Was hat Willi Krafft zugegeben? Was hat er angenommen?“ tönte plötzlich
Sophiens tiefe, klingende Stimme dicht neben ihnen.

„Wir verleumden deinen Freund, Sophus,“ lächelte Nora ihr entgegen, „du
kommst im richtigen Augenblick, um ihn zu verteidigen.“

„Verteidigen Sie ihn, wenn Sie können,“ sagte Zeeden in einem strengen,
richterlichen Ton, „Willi Krafft hat zugegeben, daß ein junger,
unreifer, etwas haltloser Mensch, mit dem er vorgeblich befreundet war,
sich den unnatürlichen Lüsten dieses Scheusals in Menschengestalt
verkauft hat, und hat sich von dieser Kaufsumme auch bezahlen lassen.
Das ist für mich das niedrigste, was ein Mensch überhaupt begehen kann –
genau so, wie für mich der Zuhälter noch viel verächtlicher ist, als die
Dirne.“

„So!“ Sophie zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. „Nun hab’ ich
Sie ausreden lassen, nun lassen Sie mich ausreden. Erstens können Sie
statt ‚Scheusal in Menschengestalt‘ geradeso gut oder besser ‚Mensch in
Scheusalsgestalt‘ sagen – das nur ^en passant^ – das hat schließlich mit
‚meinem Freunde‘ Willi Krafft nichts zu tun. Aber ich kann auch einiges
zu seiner Verteidigung beibringen. Nämlich daß er Talent hat, um nicht
zu sagen Genie – und daß das Talent immer und unter allen Umständen das
Recht hat, sich durchzusetzen. Weil nur das Werk Wert hat, und nicht das
Leben, und am allerwenigsten das moralische Leben des Einzelnen.“

„Das ist Ansichtssache,“ unterbrach Zeeden, „trotzdem – weiter!“

„Vor allen Dingen aber – selbst wenn er talentlos wäre, wenn er keine
unsterblichen Werke schaffen könnte – wen schädigt er? Er ist in den
Stand gesetzt, zu arbeiten, und zwar, wie ich mir einbilde, und wie er
sich einbildet, für die Menschheit zu arbeiten. Er ist glücklich.

Noch glücklicher ist der alte Drencker, der sich am Ziel aller Wünsche
sieht, der endlich der Gefahr entronnen ist, Betrügern, Erpressern, ja
schließlich Räubern und Mördern in die Arme zu laufen, dem nicht mehr
die Angst vor dem Gefängnis das Leben verbittert, der zum erstenmal den
Segen seiner Millionen spürt, die ihm ein Leben lang nur Unsegen
gebracht haben.

Am glücklichsten aber ist entschieden der kleine Johannes. Er führt das
Leben, wozu seine eigentliche Natur ihn treibt. Er ist doch die geborene
kleine Kokotte! Wenn Ihr den Jungen in irgendeinen Beruf steckt, wird er
totunglücklich! Er hat keine besondere Begabung, keine übermäßige
Intelligenz, noch weniger körperliche Kraft und Leistungsfähigkeit. Er
kann seine Tage in irgendeinem Bureaudienst hinschleppen und wird durch
seinen Hang zum Luxus dahin kommen, daß er womöglich Unterschlagungen
begeht.

Jetzt hat er alles, was er sich im Grunde immer ersehnt hat. Er ist
begehrt, verwöhnt, angebetet. Er sieht seine Schönheit, die er nebenbei
sehr zu schätzen weiß, im richtigen Rahmen. Er bringt halbe Tage damit
zu, vor seinem dreiteiligen Toilettespiegel zu sitzen, sich zu
bewundern, sich mit Salben und Pudern und Haarwassern zu pflegen.

Das tut er alles Willi Krafft zuliebe? Redet Euch doch so etwas nicht
ein. Er täte es ohne Willi Krafft genau so! Nein, nicht genau so! – Denn
da entschieden ein besserer Kern in ihm ist, ein Hang zum
Idealistischen, so täte er es mit Reue und würde sich selbst zum Ekel.
Dadurch aber, daß er einen Teil seiner – für ihn, für seine Natur
ziemlich mühelos – gewonnenen Einnahmen für diesen Menschen verwenden
darf, den er anbetet, rückt er sich selbst in ein verklärendes Licht. Er
tut, was ihm bequem ist, und ist noch obendrein Märtyrer und Heiliger!“

Zeeden bewegte die Hände, als klatsche er unhörbar Beifall.

„Eine schöne Rede, lieber Sophus! ‚Wenn man’s so hört, möcht’s leidlich
scheinen.‘ Irgendwo steckt ein Haken, ich weiß noch nicht recht, wo.
Vielleicht auch hier wieder in dem mangelnden ‚Christentum‘! Aber ich
glaube, Frau Nora fröstelt, es wird Zeit, daß wir ins Haus gehen. Die
Abende werden schon recht früh kühl.“

Mette war aufgestanden:

„Ja, es wird wohl auch Zeit, daß ich nach Hause gehe. Ich wollte auf
einen Sprung kommen und sitze schon Stunden und Stunden.“

„Ach, Unsinn,“ sagte Sophie, ruhig sitzenbleibend, und sah fast erstaunt
zu ihr auf, „das klingt ganz nach einer ^façon de parler^. Warum wollen
Sie gehen? Haben Sie etwas Besseres vor? Oder hat man Ihnen einmal
beigebracht, daß man eine erste Visite nicht über zwanzig Minuten
ausdehnen darf?“

„Ja, das hat man mir beigebracht!“ lachte Mette, „das hat mir Tante
Emilie, glaub’ ich, wörtlich so gesagt.“

„Und haben Sie die unselige Absicht, sich in allem nach den Vorschriften
dieser Tante Emilie zu richten? Na also, dann fangen Sie auch gefälligst
nicht gerade bei uns damit an! Was die Tanten sagen, ist ^eo ipso^
verkehrt! Sie bleiben jetzt hier und essen mit uns – die einzige
Entschuldigung ist das bekannte ‚Bessere‘.“

„Ich wüßte tatsächlich auf der Welt nichts Besseres.“

„Armes Kleines – na, es kommt noch!“

Sophie stand auf und reckte sich kräftig:

„Ich spüre meine Knochen heute! Komm, Norina, wir machen es uns drinnen
hell und gemütlich. Daß Sie dableiben, Uli, ist doch abgemacht.“

Zeeden verbeugte sich schweigend.

Sophie rückte mit einem energischen Griff den Tisch beiseite, um den Weg
für Nora frei zu machen.

Mette, mit einer plötzlichen Entschlußkraft, die sie sich selbst nicht
erklären konnte, drängte sich neben Nora.

„Darf ich Sie stützen, gnädige Frau?“ Sie meinte, daß man das Schlagen
ihres Herzens in ihrer Stimme hören müßte.

„Oh, danke vielmals – es wird Ihnen zu schwer werden,“ sagte Nora mit
einer liebenswürdigen Befangenheit.

„Sicher nicht,“ beteuerte Mette, „ich bin sehr kräftig. Und wenn nicht
eine ganz besondere Übung dazu gehört ... glauben Sie mir, es würde
meinen Ehrgeiz befriedigen, wenn ich es dürfte. Ich würde mir einbilden,
daß ich zu irgend etwas auf der Welt nütze wäre.“

„Das ist ein unwiderstehliches Argument,“ sagte Sophie, „Ulrich, wollen
Sie dann, bitte, Martha rufen? Oder wollen Sie selbst so gut sein und
sich mit dem Stuhl beladen?“

Zeeden hatte den Stuhl schon ergriffen.

„Warum haben Sie eigentlich keinen Rollstuhl?“ fragte er.

„Kommen Sie mir auch noch damit!“ rief Sophie ärgerlich über die
Schulter zurück, „weil die Dame gehen soll! Sie kann es ja auch sehr gut
– sie hat die gesündesten Beine von der Welt! Sie ist nur zu eitel –
sonst könnte sie meilenweite Spaziergänge unternehmen.“

Mette empfand den Druck des Armes auf ihren stützenden Händen nicht als
übermäßig schwer. Und das Gefühl, helfen zu können, überwog das Grauen
so sehr, daß fast auch das schmerzliche Mitleid erlosch.

In dieser sanften Frau war die Verzweiflung über ihren zerstörten,
gehemmten Körper sicher längst gebrochen, und ihr Leben hatte gute und
schlimme Stunden, wie jedes andere auch. Vielleicht sogar einige gute
mehr und einige schlimme weniger, denn ihre Krankheit hielt sie vor dem
stärksten Anprall niedriger Kräfte geschützt; sie verließ kaum je das
Haus, in dem sie wie eine Königin behandelt wurde, niemand drängte sich
zu ihr, der nicht von freundschaftlichster Gesinnung für sie erfüllt
war. – – –

                   *       *       *       *       *

Während sie heiter und behaglich beim Essen um den hellen, hübsch
gedeckten Tisch saßen, erinnerte Nora daran, daß Sophie ihr einige
Geschichten aus der „Praxis“ zu erzählen schuldig geblieben sei, und bat
sie, wenn es angängig wäre, jetzt die kleine Gesellschaft damit zu
unterhalten.

„Ach ja, mein Freund, der trauernde Witwer!“ lachte Sophie. „Das ist
wirklich eine hübsche und erfreuliche Geschichte! Wissen Sie,“ sie
wandte sich direkt an Mette, „ich kann es mir nämlich leider immer noch
nicht abgewöhnen – mit ‚meinen Patienten‘ hätt’ ich fast gesagt – mit
meinen Kunden mitzufühlen. Ich kann auch nicht arbeiten, wenn ich nicht
ein bißchen persönlich daran beteiligt bin, ich rede gern mit den
Leuten, und sie reden gern mit mir, manchen ist die Beschäftigung mit
diesen letzten Dingen, dem Letzten, was man einem Geliebten schenken
kann, wirklich eine Erleichterung in ihrem Schmerz ... ja, also, und was
ich nun eigentlich erzählen wollte ... mein Freund, der Witwer!

Vor ... ich weiß nicht mehr genau, wie lange es her ist, kam ein noch
junger Mann zu mir, dem die Frau gestorben war. Der Mann tat mir so
leid, weil ich fühlte, wie er direkt vor Schmerz zerbrochen war.
Wirklich, ich dachte so viel an ihn – wenn ich mich zu Tisch setzte,
fiel er mir ein, und mir quoll direkt der Bissen im Halse, daß ich nicht
schlucken konnte. Gelt, ^poverina^, du hast was auszustehen gehabt mit
mir! Er kam sehr oft, ich legte ihm Zeichnungen vor, wir saßen
stundenlang zusammen und entwarfen und änderten, er zeichnete selbst so
ein bißchen, ich glaube, er hätte am liebsten eine Zelle um das Grabmal
gebaut, wo er hätte hausen können, Tag und Nacht die Aschenurne im Arm.

Na, das dauerte natürlich eine Weile, erst mußte der Stein besorgt
werden, das Modell fertig gemacht und so weiter. Jedesmal, wenn er kam,
war er ein bißchen flüchtiger und uninteressierter und war so halb und
halb geneigt, hier und da eine Verbilligung zu beantragen ... heut’ war
er wieder da, sehr eilig: ‚Sie werden das schon machen, nur daß es nicht
zu teuer kommt!‘ Ich sah ihm nach heut’, zufällig, auf der andern Seite
wartete eine junge Dame auf ihn. Er ging so forsch und aufrecht – als er
das erstemal bei mir war, ging er wie ein Schwerkranker.“

„Erzähl’ auch einmal von deiner Witwe,“ sagte Nora, während sie das
Mundtuch zusammenfaltete und in den Ring schob.

„Ach ja, das war auch sehr nett. Eine Witwe bestellte bei mir ein sehr
schönes Grabmonument, in _einem_ Stein zwei Urnen, die mit Ketten
zusammengehalten werden sollten. Aber eh’ das Ding noch fertig war, kam
sie ganz verzweifelt zu mir, ob ich es nicht noch ändern könnte: sie
hatte sich wieder verlobt, und wo sollte der arme dritte nun hin, wenn
sie mit Ketten an den ersten geschmiedet wäre? Ich wollte ihr
vorschlagen, sie sollte die beiden Männer in den zusammengeschmiedeten
Urnen ruhen lassen, und ich wollte ihr eine dritte für sie selbst
krönend obenauf setzen.“

„Das ist doch aber furchtbar,“ sagte Mette zwischen Lachen und
Verzweiflung.

„Was ist furchtbar?“ fragte Sophie mit etwas spöttischer Ruhe, „daß der
Schmerz nicht ewig dauert? Das alte: ^tout passe, tout casse, tout
lasse^? Es wäre viel furchtbarer, wenn es nicht so wäre! Als Kind habe
ich jedesmal geweint, wenn ich einen Leichenwagen gesehen habe – und
zwar nicht aus Angst, daß ich auch mal sterben würde, sondern aus
Mitleid mit den Leuten, die ihre Angehörigen begraben mußten. Jetzt sehe
ich mir das schon mit bedeutend mehr Ruhe an. Ich habe zu viel
Verzweiflung gesehen, die in ein paar Monaten ausgebrannt war! Man muß
sich nur intensiv beschäftigen mit Dingen, vor denen man ein Grauen hat
– schließlich wird einem der Tod vertraut wie einem Lokomotivführer
seine Maschine, vor der sich ein Fremder auch fürchten kann.“

„Ja,“ sagte Mette eifrig und wurde rot, weil sie daran dachte, wie rasch
sie das Grauen vor Noras Hilflosigkeit überwunden hatte, „das meiste
sieht sich aus der Ferne viel schlimmer an als aus der Nähe.“

„Die meisten schlimmen Dinge im Leben sind wie Nachtgespenster,“
lächelte Sophie mit ernsten, klaren Augen, „es ist etwas unfaßbar
Grauenvolles, und wenn wir darauf losgehen und es packen, ist es ein
Handtuch im Winde.“

„Nicht nur das,“ meinte Zeeden nachdenklich, „es gibt auch Dinge, die
nicht Spuk und Einbildung sind und sich doch von weitem schlimmer
ansehen als aus nächster Nähe. Einfach weil der, der mitten darinsteckt,
sie gar nicht in ihren ganzen Dimensionen überblicken kann. Wer in der
Ferne steht, sieht nur einen Berg des Elends. Wer diesen Berg zu
erklimmen hat, sieht weder die Höhe über sich, noch die Tiefe unter
sich: er beobachtet vielmehr das, was der andere nicht bemerken kann:
die kleinen Steine, die ihn verwunden, und die kleinen Blumen, die am
Wegrand blühen.“

„Ja,“ lachte Sophie, „und nun paßt wieder unser beliebtes Wort hierher:
^tale è vita^. Im Ernst, man denkt viel zu wenig daran, daß das Leben
aus Minuten besteht und nicht aus Jahren. Wenn wir zurücksehen, gleitet
es immer mehr ineinander, wie helle und dunkle Streifen aus der Ferne zu
einer Farbe verschmelzen. Es gibt keine ganz glücklichen Jahre, wie es
keine ganz unglücklichen gibt.“

„Es gibt Jahre,“ sagte Nora leise und stockend, wie gegen ihren eigenen
Willen, „die so voller Verzweiflung sind, daß sie kaum durch eine lichte
Minute aufgehellt werden.“

„In der Erinnerung,“ sagte Sophie mit einer eigenen, sehr festen Güte,
und dann, wie um schnell auf ein anderes Thema zu kommen: „Wissen Sie,
daß ich auch für meine eigne Urne schon Entwürfe gemacht habe? So wie
ich Zeit habe, will ich sie einmal ausführen!“

Mette schien darin eine leichte Grausamkeit gegen Noras Hilflosigkeit zu
liegen.

„Und was sagt Ihre Freundin, wenn Sie sich mit solchen Gedanken
beschäftigen?“ sagte sie, wie um Nora zu schützen.

„Oh, wir machen das zusammen,“ lachte Sophie, „Norina hat sich ihre Urne
auch schon bei mir bestellt!“

„Finden Sie das so schlimm?“ lächelte Nora, „warum soll man nicht sich
selbst sein Bett machen, eh’ man sich schlafen legt? Sie müssen einmal
die Zeichnungen durchsehen, die Sophie schon für uns gemacht hat!“

„Ja, nun haben wir uns fürs erste entschieden!“ sagte Sophie. „Zwei ganz
gleiche Urnen in schönen und glatten Formen, und neben Noras zwei
Putten, die die Urne mit dicken Rosengirlanden bekränzen. Aber keine
geflügelte Genien, sondern richtige, feststehende Kinderkörperchen. Und
aus der andern Urne quillt eine Fülle von Rosen, ein kleiner Putto steht
daneben, fängt sie mit den Armen auf und drückt sie an sich. Sie sehen
sehr lustig aus, wie hübsche heitere Schmuckvasen in einem stillen
Garten.“

„Es liegt eine sehr schöne Idee darin,“ sagte Mette nachdenklich.

„Die Idee stammt von Nora,“ wehrte Sophie ab. „Ich möchte mir in keiner
Richtung etwas anmaßen.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Als sie nach dem Essen bei einer Tasse Tee und einer Zigarette
beisammensaßen, erschien plötzlich Gisela. Mette konnte sich nicht ganz
klar darüber werden, was sie bei ihrem Anblick empfand. Sie freute sich,
daß sie kam, und zugleich war es ihr störend, durch irgend etwas, selbst
durch eine Freude, aus der behaglichen Ruhe gerissen zu werden. Und
Gisela riß unweigerlich jeden Menschen aus seiner behaglichen Ruhe.

Mette versuchte an diesem Abend zum erstenmal, sich Rechenschaft darüber
zu geben, woher die Unruhe stammte, die Gisela Werkenthin, allen
fühlbar, um sich verbreitete. Sie war nicht laut, nicht einmal
sonderlich gesprächig, sie konnte reglos auf einem Fleck sitzen und vor
sich hinstarren, und trotzdem schien es, als ob die Luft um sie zittere.

Mette fühlte dies Vibrieren in allen Nerven und fühlte das friedevolle
Gefühl immer mehr aufgesogen werden von einer brennenden, prickelnden
Unrast.

Es kam ihr vor, als ob Noras Gesicht die sanfte lächelnde Ergebung nur
wie eine Maske trüge, hinter der grauenvollste Verzweiflung gärte.

Es kam ihr vor, als ob Sophie vergebens mit der Kraft und Ruhe der
Karyatiden sich gegen eine untragbare Last stemmte.

Es kam ihr vor, als ob Ulrich Zeeden hinter seinem gemessenen Wesen
unaufhörlichen, qualvollen Kampf verbarg.

Es schien ihr, als ob Gisela so zerfressen von Schmerz und Leid sei wie
ein Haus, in dem die Flammen wüten, und von dem nur noch die
geschwärzten Mauern stehen, um jeden Augenblick zu völliger Vernichtung
zusammenzustürzen.

Und es war ihr, als ob sie, Mette, von all diesen Unglücklichen die
Unglücklichste sei, da Olga tot war und sie allein gelassen hatte in der
Welt, in einer Welt, die erfüllt war von fremden, bedrohlichen,
schmerzbringenden und angsterregenden Dingen.

Sie hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen, schon weil sie zu
bemerken glaubte, daß ihre Wirte nur aus Liebenswürdigkeit und mit
Anstrengung gegen Müdigkeit ankämpften.

Zeeden und Gisela gingen mit, und sie wanderten eine Zeitlang schweigend
durch die stillen Straßen.

Zeeden unterbrach eine lange Stille, indem er sich an Metten, und nur an
Metten mit der Frage wandte:

„Ich darf Sie nach Haus bringen, gnädiges Fräulein?“

„Danke vielmals,“ sagte Mette, „nur, wenn es Ihre Gegend ist – ich
fürchte mich nicht vorm Alleingehen.“

Gisela beugte sich ein wenig vor, um an Mette vorüber zu sprechen.

„Machen Sie sich keine Unbequemlichkeiten, Herr Zeeden. Und es _wäre_
doch sehr unbequem für Sie, wenn Sie jetzt in die Stadt hinein müßten
und nachher wieder nach Ihrer Wohnung zurück. Ich bringe Fräulein
Rudloff nach Hause – wir haben ohnehin denselben Weg.“

Mette schwankte einen Moment, ob sie nicht irgendwie gegen die Verfügung
protestieren sollte. Es war ihr unangenehm, daß Zeeden nun vielleicht
annehmen konnte, sie hätte seine Begleitung abgelehnt, um mit Gisela
allein zu sein. Aber ihn jetzt zum Mitgehen aufzufordern, war wieder für
Gisela eine Beleidigung. Sie schwieg und berief sich mit einem stillen
Trotz darauf, daß ihr ja die Meinung der Leute gleichgültig sein könnte
und sollte.

Zeeden verabschiedete sich an der nächsten Ecke, noch ein wenig steifer
und förmlicher als sonst.

„Mögen Sie ihn?“ fragte Gisela Metten, als er kaum außer Hörweite war.

„Ich kenne ihn ja kaum.“ Mette hob zögernd die Achseln.

„Er mag Sie sicher.“

„Warum denn?“ Mette lachte ein wenig durch die Zähne.

„Warum? Er mag alle Frauen, die ich mag. Darum kann er mich auch nicht
leiden,“ fuhr sie rasch, fast hastig fort, „das heißt, er liebt alle die
Frauen unglücklich ... und kommt niemals los von einer furchtbaren
Geliebten.“

„Wie kann man von einem furchtbaren Menschen nicht loskommen,“ sagte
Mette grübelnd, „wenn man überhaupt die Möglichkeit in sich spürt,
andere zu lieben?!“

„Weiß ich?“ Gisela hob gleichmütig die eine Schulter, „man erzählt ja,
daß sie ihn jeden Abend blutig peitscht und daß er ohne das nicht leben
kann! Aber vielleicht hat er auch irgendeine andere Verrücktheit, in der
nur sie ihn versteht. Was bindet denn Menschen überhaupt aneinander? Daß
der eine den versteckten Wahnsinn des andern erkannt hat und ihn füttert
und hervorlockt und ihn liebkost und ihn großzieht – bis er sich gegen
seinen früheren Herrn hetzen läßt wie ein tückischer Hund.“

„Und das ist der Kernpunkt aller menschlichen Beziehungen?“ sagte Mette
traurig und empört. „Mit was für Augen sehen Sie nur die Welt an?“

„Mit ungetrübten!“ lachte Gisela bitter.

„Und Sophie Degebrodt?“ wandte Mette ein, „und Frau von Hersfeld?“

„Sophies Wahnsinn heißt Nora. Und sie ist der glücklichste Mensch, den
ich kenne, weil sie sich ganz auf diesen Wahnsinn konzentrieren kann.
Und Nora? Was in der vorgeht, weiß kein Mensch. Ich weiß auch nicht, ob
sie glücklich ist.“

„Ich weiß nicht, ob sie glücklich sein kann,“ sagte Mette bedrückt, „es
muß furchtbar sein, wenn man gezwungen ist, immer zu nehmen, ohne zu
geben.“

„Sie weiß, daß sie viel gibt,“ widersprach Gisela, „Sophien alles!
Sophie ist doch erst ein Mensch geworden, an dem Tag, an dem Nora zu ihr
kam. Sie war faul und verbummelt und verschlampt und lebte von
Zigaretten und Alkohol und Kokain. Wir haben uns alle um sie bemüht, wir
haben versucht, sie aufzurütteln – es hat alles nichts genützt.“

„Und Nora,“ fragte Mette, mit stockendem Atem, „war sie damals schon
krank?“

„Als sie kam? Ja, natürlich – sie hatte, glaub’ ich, einen
Selbstmordversuch gemacht. Sie war mit einem Syphilitiker verheiratet
und hatte ein blödsinniges Kind, oder so ähnlich.“

‚Welt,‘ dachte Mette, ‚wo soll ich mich hinflüchten vor dir! Ich möchte
tot sein – ich möchte in einer von Sophiens schönen, steinernen,
rosenbekränzten Urnen schlafen! Wie soll ich fertig werden, ganz allein
fertig werden, mit all dem Furchtbaren, was menschliches Schicksal
heißt!‘

Sie gingen eine ganze Weile schweigend, jeder versponnen in seine
eigenen Gedanken.

„Wissen Sie, Mette Rudloff, daß ich auch einen Wahnsinn habe?“ fragte
Giselas Stimme plötzlich, und sie war weicher und klingender als sonst.

Mette erschrak. Sie fürchtete sich davor, Beichten entgegenzunehmen. Sie
dachte: ‚O Gott, jetzt kommt das mit dem Morphium. Was soll ich nur
darauf sagen? Ich kann ihr doch auch nicht helfen!‘

Gisela erwartete keine Antwort. „Ich habe den Wahnsinn,“ fuhr sie fort,
in einem leisen, schwebenden Ton, ohne Mette anzusehen, ohne auch nur
den Kopf nach ihr zu wenden, „ich habe den Wahnsinn, schöne, reine
königliche Frauen zu lieben – immer nur solche, die weit über mir
stehen, immer nur solche, die zu schade für mich sind ... nach meinem
eigenen Urteil zu schade für mich ... Frauen wie Sie, Mette Rudloff!“

Sie waren vor dem Haus angelangt und blieben stehen. Mette zerquälte
sich immer noch um eine Antwort. Sie fand keine. Sie streckte Gisela die
Hand hin, ein wenig scheu, und sagte herzlich:

„Ich danke Ihnen.“

Gisela hob mit einem schmerzlich-spöttischen Lächeln den einen
Mundwinkel:

„Wofür?“

„Daß Sie mich nach Haus gebracht haben ... und für alles ... auch für
das, was Sie eben gesagt haben.“

Mettes Herz schlug zum Zerspringen, aber eigentlich nur in einer Art von
Verlegenheit. Sie hätte die Worte gern zurückgenommen. Es wäre
vielleicht taktvoller gewesen, wenn sie so getan hätte, als hätte sie
nichts gehört oder nichts verstanden.

Gisela wandte den Kopf ein wenig nach der Seite, mit einer
unbeherrschten und fast ungeduldigen Bewegung. Der Schein einer
Straßenlaterne fiel auf ihr Gesicht, das elend und traurig und fast
verfallen aussah.

‚Vielleicht würde es ihr Freude machen, wenn ich sie küßte,‘ dachte
Mette, ‚es ist traurig genug, aber ich tue niemandem weh damit.‘

Sie beugte sich ein wenig, mit einem kleinen, verlegenen Lächeln, und
legte ihren Mund auf Giselas Lippen.

Sie fühlte diese Lippen unter ihrem Mund aufzucken und aufblühen,
scharfe Zähne drängten sich knirschend gegen die ihren, preßten sich in
ihre Lippen.

Eine schmale Hand klammerte sich um ihr Genick, wühlte sich in ihr Haar,
gab sie nicht wieder frei.

Als Mette sich aufrichtete, war ihr ein wenig taumelig.

‚Ich liebe sie nicht,‘ dachte sie traurig, ‚vielleicht liebt sie mich,
und ich liebe sie nicht.‘

„Gute Nacht,“ sagte sie und legte einen Augenblick die Hand zärtlich und
behutsam gegen Giselas Wange. Ihr war, als spräche sie zu einem Kinde:

„Schlafen Sie recht, recht wohl!“


Mette wollte sich auf ihren Diwan legen.

Sie hatte trotz der frühen Nachmittagsstunde die Lampe angedreht und die
Vorhänge fest zugezogen, um nicht zu sehen, wie der unermüdliche
Herbstregen an den grauen Hofwänden entlang troff und rieselte.

Sie hatte Kissen und Decken auf den Diwan gehäuft, einen Stuhl in
erreichbare Nähe gerückt, auf dem sie einen ganzen Stoß Bücher
aufschichtete – der Nachmittag war lang, und sie würde keine Lust haben,
aufzustehen ... sie würde auch keine Lust haben, stunden- und
stundenlang sich in _ein_ Buch zu vertiefen. Sie trug ein halb Dutzend
Bücher zusammen, mit dem genießenden Vorgeschmack, mit dem ein
Feinschmecker sich ein erlesenes Mahl zusammenstellt:

Novellen von Herman Bang, Gedichte von Rainer Maria Rilke, einen Band
Dickens – ja, nach Dickens war ihr ganz besonders zumute – dann wollte
sie ein klein wenig Spanisch treiben, in dem bilderreichen Werk über das
Rokoko blättern, ein paar Briefe des Clemens Brentano an Sophie Mereau
lesen. Nein, nicht den Dostojewski, der einen so ganz gefangen nahm, daß
man tage- und wochenlang nicht von ihm loskam – und auch nicht die
„^Antikrists mirakler^“ – da mußte sie zu oft nach dem Wörterbuch
greifen, um einen Genuß zu haben.

Auf den kleinen, glasbedeckten Tisch am Kopfende stellte sie Zigaretten,
Schokolade und eine Vase mit ein paar blaßrosa, süßduftenden Nelken, die
sie sich heute in der Stadt gekauft hatte.

Als sie sich eben hingelegt hatte, eine leichte Decke über die Füße
gezogen und nach dem obersten Buch griff, klopfte es an die Tür.

Einen Augenblick dachte sie ärgerlich: ‚Warum habe ich nicht
abgeschlossen, dann würd’ ich mich jetzt nicht rühren – da könnte, wer
wollte, an der Tür rütteln.‘

Aber als auf ihr „Herein“ Gisela die Tür öffnete, freute sie sich doch.

„Oh, wie hübsch haben Sie es hier!“ rief Gisela, ehe sie noch guten Tag
sagte. „Nein, ich bitte Sie um Gottes willen, springen Sie nicht auf,
sonst lauf ich gleich wieder hinaus. Sie haben sich’s da so nett bequem
gemacht, nun dürfen Sie sich bitte nicht von mir aus Ihrer Ruhe aufjagen
lassen. Ich wollte zu der kleinen Luigi, aber sie ist nicht da, und da
wollt’ ich mir eigentlich nur mal Ihr Zimmer anschauen. Jessas, ist das
aufg’räumt bei Ihnen – so sieht meine Bude nicht an hohen Feiertagen
aus!“

„Wenn Sie wollen, daß ich nicht aufstehe,“ sagte Mette lächelnd – sie
saß auf einen Ellbogen gestützt, einen Fuß angezogen, die
zurückgeschlagene Decke in der Hand, immer noch im Begriff aufzuspringen
– „dann müssen Sie schon hierher kommen – sonst muß ich Licht anmachen
und Sie feierlich in einen Sessel nötigen.“

„Nein, nein, ich komm’ schon,“ Gisela lief nach dem Diwan, drückte Mette
auf das Kissen zurück und zog ihr die Decke bis unters Kinn.

„So, meine Schöne, wollten Sie schlafen? Soll ich Sie in den Schlaf
singen und mich dann auf den Zehenspitzen hinausschleichen? Schlaf,
Kindchen, schlaf!“ Sie stützte sich mit einem Knie auf den Diwan, faßte
Mette an beiden Schultern und wiegte sie leise hin und her.

Mette empfand ein leises und nicht unangenehmes Schwindelgefühl. Sie
griff nach den beiden Händen, die auf ihren Schultern lagen, und hielt
sie fest.

„Lassen Sie das,“ sagte sie mit geschlossenen Augen, „mir wird
schwindlig.“

Sie fühlte, daß die schaukelnde Bewegung aufhörte, aber zugleich fühlte
sie einen leichten Atem über ihre Stirn streifen und einen weichen Mund
sehr leise, sehr zärtlich über ihre Schläfen, ihre Wangen, ihre
Augenlider gleiten.

Es war wohltuend, aber sie wehrte sich gegen das Angenehme dieser
Empfindung.

‚Ich liebe sie nicht,‘ dachte sie trotzig, ‚ich habe mich nie nach ihrem
Mund gesehnt – so kann einem Tier zumute sein, wenn es gestreichelt
wird.‘

Der weiche Mund ließ ab von ihrem Gesicht, und Gisela kauerte sich auf
dem Diwan nieder.

Ohne jeden Übergang deutete sie auf die Blumen und fragte:

„Von wem haben Sie die schönen Nelken?“

Mette drehte ein wenig den Kopf, um der Bewegung mit den Augen zu
folgen.

„Von mir,“ lächelte sie.

„Was heißt das?“

„Was das heißt? Ich habe sie mir heute morgen selbst gekauft!“

„Seltsam!“ Gisela schüttelte den Kopf. „Erwarten Sie Besuch?“

„Nein, warum denn?“

„Weil das für mich der einzig mögliche Grund wäre, um mir Blumen zu
kaufen und aufs Zimmer zu stellen!“

„Ich habe sie mir gerade gekauft, weil ich dachte, allein zu sein.“

„Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie nicht sagen: weil ich hoffte ...“

Mette lächelte: „Also, weil ich fürchtete, allein zu sein!“

„Das ist eine höfliche Lüge,“ sagte Gisela, „aber trotzdem – ich bin
schon dankbar, daß ich Ihnen eine Lüge wert bin. Denn ich glaube, Sie
lügen selten.“

„Ich weiß nicht.“ Mette dachte ernstlich darüber nach. „Ich glaube, ich
habe als Kind ziemlich viel gelogen. Überhaupt, solange ich noch in
‚erzieherischen Händen‘ war. Aber es war ein unfrohes und phantasieloses
Lügen – ich habe mir niemals mit Begabung interessante Geschichten
ausgedacht –, es war wohl mehr ein Leugnen, ein sehr standhaftes und
hartnäckiges.“

„Lügen und leugnen – das ist ein himmelweiter Unterschied. Da haben Sie
ganz recht. Aber wenn ein Kind leugnet, heißt es immer ‚es lügt‘ und ‚es
ist verlogen‘. Und dabei ist es vielleicht nur schamvoll und
hartschädelig und verbohrt. Ich bin so entsetzlich falsch behandelt
worden als Kind – warum haben Sie keine Kinder? – Sie wären sicher eine
gute, verständnisvolle Mutter.“

„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.“ Mette hob die Achseln. „Ich
habe mir immer eingebildet, jede Mutter wäre gut und verständnisvoll –
aber das mag wohl daran liegen, weil ich meine nie gekannt habe.“

Gisela lachte bitter auf: „Ich wollte, ich hätte meine auch nie
gekannt!“

Mette griff fast erschrocken nach Giselas Hand:

„Das klingt furchtbar, wenn Sie so etwas sagen! War sie so schlimm?“

„Schlimm? Oh, gar nicht schlimm!“ In ihrer Stimme tanzte eine erzwungene
Leichtigkeit, „sie war eine brave, tüchtige, vortreffliche Frau. Aber
meinem Vater war sie auch zu brav und vortrefflich. Er hat sie verlassen
und hat sich zwei Jahre später aufgehängt. Und da ich ihm ähnlich war –
schließlich konnte ich nichts dafür, meine Mutter hatte ihn sich ja zum
Gatten ausgesucht und nicht ich ihn mir zum Vater –, aber weil ich so
ganz in die väterliche Familie hineingeschlagen bin, sah mich meine
Mutter schon von vornherein als erblich belastet an. Wissen Sie, es gibt
Menschen – und zu denen gehörte meine Mutter – die sind so sittlich, daß
sie überall Unsittlichkeiten wittern. Wir mußten mit den Händen auf der
Bettdecke schlafen, und wenn wir es einmal im Schlaf vergaßen, und meine
Mutter kam, um zu kontrollieren, dann riß sie uns die Decken weg. Ich
schwöre Ihnen, ich wußte nicht einmal, warum sie das tat.“

Mette wußte es auch nicht, aber sie fragte auch nicht, weil sie sich
schämte, ihre Unwissenheit einzugestehen und mehr noch, weil sie ahnte,
daß eine Erklärung ihr peinlich sein würde.

„Das war der Anfang.“ Gisela sprang auf und begann, ruhelos mit
unhörbaren Schritten auf dem dicken Teppich hin und her zu gehen. „Und
dann ging es weiter. Mit vierzehn hatt’ ich meine ersten heimlichen
Rendezvous. Mit einem Tanzstundenjüngling, einem kleinen Gymnasiasten,
der womöglich noch harmloser und idealer war als ich. Wie diese Untat
ans Licht kam, wurde ich einem furchtbaren Verhör unterworfen: Ob wir
uns geküßt hätten, ob wir uns umarmt hätten, und wann und wo und wie ...
ich bin dadurch erst auf den Gedanken dieser Möglichkeiten gekommen ...

Genau so wie in der Schule: dicht neben der Schule war ein Papierladen,
wo wir immer unsere Hefte kauften. Der Mann hatte Ansichtskarten im
Schaufenster, und dabei ein nacktes Frauenbild – die Reproduktion
irgendeines Kunstwerkes. Aus dieser Postkarte wurde ein fürchterlicher
^cas^ gemacht. Es wurde herausgepreßt, wer von den Mädels vor diesem
Schaufenster stehengeblieben war; Eltern und Lehrer gingen gemeinsam vor
und zwangen den Mann, alle anstößigen Bilder aus seinem Laden zu
entfernen. Widrigenfalls uns anbefohlen wurde, ihn zu boykottieren. Was
war die Folge? Es wurde geradezu Sport bei uns, uns irgendwelche
Aktbilder zu verschaffen – in der Religionsstunde zirkulierten sie dann
unter den Tischen, mit Unterschriften und Bemerkungen versehen – es war
wie ein ansteckendes Fieber in der ganzen Klasse, aber den Bazillus
hatte man mühsam hineingetragen.

Vielleicht war in einigen unter uns, vielleicht in vielen, eine mühsam
zurückgedämmte, unreife Sinnlichkeit – aber Kinder sind lange nicht so
schamlos wie Erwachsene und fürchten sich viel mehr, zurückgewiesen zu
werden – durch das allgemeine Gespräch über das ‚unsittliche‘ Bild
wurden alle Hemmungen übersprungen ... es sprach natürlich jetzt jeder
mit jedem von ‚so etwas‘.

Ich habe mich gewehrt, kann ich Ihnen sagen, ich wollte nichts damit zu
tun haben – vielleicht hab’ ich mich aus Angst gewehrt, weil ich fühlte,
daß mir Schicksal werden könnte, was den andern nur Spielerei war ...
wissen Sie, wie Kinder in solchen Fällen sind? Oh, so grausam, so
wollüstig, so sadistisch ... weil ich mich wehrte, wurde ich verfolgt
... die ganze Klasse war gegen mich verschworen; ich mußte sehen, was
ich nicht sehen wollte, ich mußte hören, was ich nicht hören wollte, ich
mußte tun, was ich nicht tun wollte – ich wurde in einen Kessel
hineingetrieben, aus dem ich nicht wieder herausfand.“

Sie faltete die Hände und riß die Finger wieder auseinander, daß die
dünnen Gelenke knackten, als wollten sie zerbrechen.

„Nein, wie kann man sich nur selber Blumen kaufen,“ sagte sie plötzlich,
vor den Nelken stehenbleibend, „warum tun Sie das? Haben Sie an
irgendeinen Menschen gedacht, dem Sie sie bringen wollten? Und haben es
dann vielleicht nur nicht getan, weil – ja, vielleicht, weil Sie gerade
verstimmt miteinander sind.“

„Ich habe keinen Menschen auf der Welt, dem ich Blumen bringen könnte,“
sagte Mette bitter, „höchstens ein Grab, und das kann ich nicht
erreichen.“

Sie wußte selbst nicht, wie sie dazu kam, das auszusprechen. Sie wurde
glühend rot bei dem Gedanken, daß sie in den Fehler der Vertraulichkeit
verfallen könnte – einen Fehler, den sie andern mit einer gewissen
überlegenen Nachsicht verzieh, den sie an sich selbst so haßte, daß sie
wochenlang keine Ruhe fand, wenn sie sich einmal darauf ertappte.

Vielleicht aber war es nicht einmal das Bedürfnis, sich anzuvertrauen.
Vielleicht war es schlimmeres als das. Vielleicht war es irgendwo – noch
ganz im Unbewußten – der Wunsch, sich mit diesem heiligen, vernichtenden
Schmerz zu drapieren, sich einen neuen, mystischen Reiz zu geben in den
Augen dieser ... dieser ...

In diesem Augenblick haßte Mette Gisela Werkenthin.

Es war, als ob Gisela diese Regung fühlte. Sie hatte eine Bewegung
begonnen, als wolle sie auf Mette losstürzen, sie mit tröstender,
mitleidiger Zärtlichkeit überschütten – und unterbrach sich, um mit
gesenktem Kopf und ineinandergeschlungenen Händen sich auf das Fußende
des Diwans zu kauern.

„Versprechen Sie mir eines,“ sagte sie leise und wie mit einer niemals
aufzuhellenden Freudlosigkeit in der Stimme, „wenn ich einmal tot bin,
legen Sie mir Blumen aufs Grab. Nicht zum Begräbnis und nicht einen
großen bestellten Kranz.

Ich denke es mir so schön, wenn ich Besuch bekomme, wenn ich schon lange
da liege und schlafe – ich liebe Friedhöfe so ... am meisten, wenn sie
ein bißchen verwildert sind, ich möchte kein wohlgepflegtes Prunkgrab –
einen grauen Stein, schon halb eingesunken und halb mit Efeu überwuchert
... und dann eine schöne Frau im weißen Kleid, die davor steht – nur
eine Minute an mich denkt – nicht mit Schmerz, nur mit einer milden
Wehmut, und eine Handvoll Blumen über mich streut – ich werde es fühlen,
oh, ganz gewiß, ich werde es fühlen.“

Mette richtete sich auf und faßte sie rüttelnd an beiden Schultern.

„Kind!“ sagte sie, „und darum ersuchen Sie mich? Ich werde meine Enkelin
beauftragen! Wenn der Stein auf Ihrem Grabe eingesunken ist, flattert
meine Asche längst im Winde.“

„Wie lange dauert es, bis ein Stein einsinkt?“ fragte Gisela in einem so
komisch-ungeduldigen Klageton, daß Mette auflachte.

„Noch sind Sie ja nicht tot und begraben,“ sagte sie tröstend.

Da sprühten ihr die dunklen Augen wie mit einem plötzlichen Aufflackern
entgegen:

„Leider!“ sagte die tonlose Stimme, fast zischend vor Bitterkeit.

Wieder war in Mette eine leise Abwehr.

‚Sie hat sicher kein Recht, so zu sprechen,‘ dachte sie, ‚sie hat sicher
nicht so Schweres erlitten ... aber schließlich, wer will abmessen, was
einem das Recht auf Verzweiflung gibt, und vielleicht macht es noch
viel, viel müder, gegen sich selbst zu kämpfen, als gegen das
Schicksal.‘

Da wich die Abwehr, und es war nur ein heißes, hilfloses Mitleid in ihr.

Sie fing an, mit zaghaften Händen das weiche, wirre, dunkle Haar aus der
weißen Stirn vor ihr zu streichen. Die brennenden Augen schlossen sich,
und auf das schmale Gesicht trat der Ausdruck einer stillen,
sehnsüchtigen Seligkeit.

Da Gisela reglos stillhielt und kein Atemzug, kein Pulsen der Adern zu
spüren war, überkam Metten ein unheimliches Gefühl.

„Machen Sie die Augen auf,“ bat sie ängstlich, „es macht, glaub’ ich,
dies verwünschte violette Licht – Sie sehen aus wie eine marmorne
Totenmaske.“

Die breiten Lider hoben sich schwerfällig. In den weit offenen Augen war
eine schachttiefe, lichtlose Leere, in die erst allmählich Blick und
Leben wiederkehrte.

„Glauben Sie mir, kleine Mette,“ sagte sie mit ihrer leisen, kranken
Kinderstimme, „ich werde sehr bald tot sein.“

„Was denken Sie sich unter ‚tot sein‘,“ fragte Mette zaghaft.

„Eine tiefe, kühle, unzerstörbare Ruhe.“ Sie schloß die Augen, und
sofort glich ihr Gesicht wieder einer marmornen Maske.

„Ewige Ruhe – das war schon in meiner Kindheit wie eine Melodie, wie ein
süßes, geheimnisvolles, verlockendes Lied – als ich ganz klein war und
mir gar nichts dabei denken konnte, hab’ ich es gehört – es war ein
typischer Ausdruck meiner Mutter: der oder der ist zur ewigen Ruhe
eingegangen. Und es hat mich nicht mehr verlassen, ich hab’ es mir immer
gewünscht: zur ewigen Ruhe einzugehen.“

Ihre hohe Stimme hatte einen verschwebenden körperlosen Ton.

Unter den langen dunklen Wimpern, die wie Schatten auf den schmalen
Wangen lagen, begann es zu blinken, zu glitzern, ein paar Tropfen lösten
sich und perlten herunter.

Mette hatte immer noch die beiden Hände um die blaugeäderten Schläfen
geschlossen.

„Nein,“ sagte sie, und ohne selbst zu wissen, was sie mit diesem ‚nein‘
meinte, „nein, nein, nein!“

Die Lider hoben sich wie ein Vorhang, und die Augen, ganz erfüllt mit
Tränen, in denen das Licht sich brach, schienen noch größer, noch
brennender als sonst.

„Nein,“ sagte Gisela, „nein, nein, nein! Noch keine ewige Ruhe, kleine
Mette, kleine süße schöne Mette! Aus deinen Fingerspitzen strömt Leben,
auf deinen Lippen blüht Leben, aus deinen Augen strahlt Leben. Mir ist,
als ob ich schon tot wäre, und du rührtest mich an und sagtest: steh auf
und wandle! Oh, wie schwer muß es sein, aus einem schmalen, kühlen Sarge
wieder aufzustehen, weil es einem Wundertäter so gefällt!

Ich bin gestorben, kleine Mette, an einer tödlichen Krankheit gestorben,
die Fiametta heißt. Wenn du Tote beschwören willst, kleine Zauberin,
dann mußt du sie mit deinem Blute nähren, das weißt du doch. Wenn ich
leben soll, dann muß ich von deinem Leben trinken.“

Die schmalen Hände krallten sich wie Raubtierpranken in Mettes Schultern
und preßten sie zurück auf die Kissen – auf dem ihren ausgestreckt lag
der leichte sehnige Körper, dicht über dem ihren schwebte das weiße
Gesicht mit den brennenden Augen.

Angst, Grauen, Widerwillen, Mitleid, Zärtlichkeit und das betörende
Brausen des eignen und des fremden Blutes stürzten zusammen zu einem
tosenden Wirbel, der jeden Gedanken in einem buntschäumenden Abgrund
verschlang.




   Deine arme silberne Seele
   atmet so schwer in Blut ...


Mette saß in Sophiens Werkstatt auf einem Marmorblock und spielte mit
kleinen Klumpen feuchten Tons, die sie zu allerhand wunderlichen
Gebilden formte.

Sophie sah manchmal mit einem raschen Blick von der Arbeit auf und auf
Mettes spielende Finger.

„Du hast Talent,“ sagte sie mit gutmütigem Spott, „was machst du da
eigentlich? Es sieht aus wie Wasserspeier von einem gotischen Dom! Oder
sind es Seepferdchen?“

„Ich weiß nicht,“ sagte Mette, ohne aufzusehen, „vielleicht ein Symbol
meines Lebens. Mir schwebt irgend etwas vor, aber ich sehe es nicht
klar. Ich knete und knete daran herum und denke, ihm eine Form zu geben
... und wenn man es bei Licht besieht ... sind es Fratzen.“

Sie ballte die Klümpchen in der Hand zusammen und schleuderte sie in
eine Ecke.

Sophie legte ihr Arbeitszeug aus der Hand und kam ein paar Schritte
näher.

„Willst du dein Leben auch so beiseite werfen, wenn es dir nicht gleich
gelingt?“ fragte sie mit lächelndem Ernst.

„Warum nicht?“ erwiderte Mette, „glaubst du, daß ein Menschenleben mehr
wert ist, als ein Klümpchen Ton? Es kann das Höchste daraus werden, wenn
ein formender Wille es in die Hand nimmt – aber wenn ungeschickte Finger
daran herumstümpern und doch nichts zu Wege bringen – dann in die Ecke
damit.“

„Ja, da hast du recht – das Material ist wertlos – erst die Idee gibt
ihm den Stempel.“

Sophie ging an den Waschtisch und ließ das Wasser über die Finger
rieseln, trocknete die Hände und zog den Leinenkittel aus.

„Willst du schon aufhören?“ fragte Mette erstaunt.

„Ja, dein Gesicht gefällt mir heut nicht,“ gab Sophie zurück, während
sie die feuchten Tücher um das Tonmodell wickelte. „Ich will dich nicht
so der Nachwelt überliefern!“

Sie ging auf Mette zu und faßte sie fest an beiden Schultern, um sie ein
bißchen zu rütteln.

„Was hast du nur, Mädel,“ fragte sie eindringlich, „kannst du den Kopf
nicht mehr gerade auf den Schultern halten? Kannst du nicht mehr
geradeaus in die Welt sehen mit deinen schönen klaren Augen?“

Mette legte beide Hände auf Sophiens haltende Arme und versuchte, zu
lächeln.

„Erzähl’ mir etwas, Sophus,“ bat sie.

„Nein, du sollst mir ja erzählen“ – bestand Sophie, „was hast du? Was
fehlt dir?“

„Ich habe nichts – und mir fehlt nichts.“

„Du wirst mir doch nicht vorreden wollen, daß du wunschlos glücklich
bist?!“

„Glücklich – nein! Aber wunschlos.“

„Das ist schlimm,“ sagte Sophie ernsthaft, „das ist der schlimmste
Zustand, den ich kenne: nicht glücklich sein und doch wunschlos. Das
hab’ ich auch einmal durchgemacht – monatelang, jahrelang – dabei wär’
ich auch beinah zugrunde gegangen ...“

Mette dachte an das, was sie von Gisela gehört hatte.

„Aber dann?“ fragte sie voll Spannung.

„Dann,“ lächelte Sophie, „ja, dann kam es wieder anders!“

„Du magst wohl nicht mit mir darüber sprechen?“

„Aber Kind,“ Sophie faßte herzlich ihre beiden Hände, „mit dir lieber,
als mit irgendeinem Menschen auf der Welt! Ich hab’ gar kein Talent und
gar keine Lust, mich auf Geheimnisse zu frisieren! Ich finde nur die
Leute so gräßlich uninteressant, die immer von ihrem lieben kleinen Ich
erzählen.“

„Sieh mal,“ sagte Mette zaghaft, „ich mag wirklich nicht gern um
Vertrauen betteln, oder neugierige Fragen stellen. Aber ich habe
manchmal das Gefühl, ich möchte dich rütteln und dich anschreien: gib
dein Geheimnis heraus! Wie hast du es angestellt, so zu werden, wie du
bist? Kann man so werden, wie du? So ruhegebend, so Harmonie
ausstrahlend, so in sich gerundet und vollendet? Liegt es daran, daß du
so glücklich bist? Und bist du überhaupt so glücklich?“

„Ich habe, was ich wollte!“ Sophiens Augen sahen groß und mit
fanatischem Ausdruck ins Leere. „Oh, und ich habe so gewollt – was wißt
ihr alle davon – ihr könnt ja gar nicht wollen. Ich habe Nora gewollt,
immer und immer. Ich habe keine Kindheitserinnerung, die vor dieser Zeit
war.

Nora ist zehn Jahre älter als ich. Und ich weiß noch, als sie zuerst zu
uns herüber kam, um mit meinen Brüdern auf unserm Tennisplatz zu
spielen, da trug sie einen Mozartzopf und machte einen Knix vor meiner
Mutter. Und ich jagte herum und suchte die Bälle auf – aber wenn meine
Brüder das von mir verlangten, wenn Nora nicht da war, dann spuckte ich
und kratzte vor Wut. Sie hatten keine Ahnung von meiner Kinderseele. Sie
dachten, ich wollte vor fremden Leuten eine Komödie spielen, um in den
Ruf zu kommen, ein artiges und gefälliges Kind zu sein – ach, und das
lag mir so fern – so weit konnte mein kindlicher Verstand noch gar nicht
rechnen. Ich wollte einfach in Noras Nähe sein, ich wollte die Bälle
aufheben, die sie in der Hand gehalten hatte. Sie lobte mich einmal,
weil ich so unermüdlich wie ein kleiner Jagdhund in der heißen
Sonnenglut hin- und herchassierte, sie lobte mich und streichelte mich.

Mein Bruder Konrad war damals vielleicht sechzehn, und er hatte, glaub’
ich, wirklich viel mit mir auszustehen, weil ich ein sehr unnützes und
widerborstiges kleines Ding war. Er verklagte mich also, das heißt, er
äußerte sich sehr wegwerfend über mich – so ungefähr, daß ich die
Liebenswürdige spielte, wenn Gäste kämen, aber für den Hausgebrauch
unausstehlich wäre. Ich wollte ihn zum Schweigen bringen und wählte das
denkbar ungeeignetste Mittel: ich biß ihn nämlich in die Hand, daß sie
blutete.

Natürlich gab es eine große Szene, Nora war empört über mich, und ich
schämte mich so wahnsinnig, daß ich davonlief und mich versteckte. Das
tat ich dann wochenlang, jedesmal, wenn sie kam. Es war eine furchtbare
Zeit für mich, diese selbstauferlegte Qual ... ich hörte sie kommen, ich
hörte ihre Stimme, manchmal wurde ich gerufen und gesucht, Nora rief
mich – aber ich schämte mich zu sehr, um zum Vorschein zu kommen, ich
verkroch mich nur noch tiefer, dabei hoffte ich doch im innersten
Herzen, Nora würde mich finden, sie würde so unermüdlich suchen, bis sie
mich gefunden hätte – aber meistens wurde es ihr sehr schnell
langweilig, und sie gab es auf.

In der Zwischenzeit war ich natürlich extra ungezogen und ärgerte meinen
armen Bruder, wo ich nur konnte, ich hatte nämlich den Verdacht, daß er
ein kleines ^faible^ für Nora hatte, und was noch schlimmer war, daß sie
eins für ihn hatte. Sie streitet es zwar heute noch ab – alle
Vierteljahr einmal pfleg’ ich sie im Vertrauen danach zu fragen – aber
sie streitet mir manches ab, was sie zu jener Zeit gesagt und getan hat
– ich hab’ das besser im Gedächtnis bewahrt.“

Sophie schwieg. Ihre schönen, kräftigen Hände hingen wie müde von der
Arbeit zwischen den Knien.

„Und dann?“ fragte Mette nach einer Pause.

„Und dann?“ Sophie hob den Kopf mit einem leisen spitzbübischen Lächeln.
„Dann ging es immer so weiter – zwanzig Jahre lang. Manchmal so und
manchmal so.

Aber das eine blieb, und das war: Nora. Man kann sagen, daß es eine fixe
Idee von mir war. Weißt du, ich glaube manchmal, niemand weiß, wie tief
und echt und ganz verwurzelt solche fixen Ideen in Kinderseelen sein
können. Und um sie auszuroden, gibt es nur zweierlei: räumliche Trennung
– dann hält die kindliche Treue noch eine ganze Weile an dem geliebten
Bild fest – länger, als die mancher Frau und jeden Mannes – oder aber,
das viel häufigere: die Urteilskraft wächst, und was ein zwölfjähriges
Herz angebetet hat, dessen schämt sich ein vierzehnjähriges bereits –
aber wenn durch einen Zufall oder einen Schicksalswillen so eine
kindliche Schwärmerei sich an einen Gegenstand klammert, der auch dem
reifsten Urteil würdig erscheinen muß, wenn dieser Schwärmerei durch
immer neues Zusammensein immer neue Nahrung zugeführt wird, so liegt gar
kein Grund vor, daß sie erlischt oder sich abwendet – das ist die
vernunftgemäße Erklärung. Die gefühlsmäßige ist, daß dieser Mensch mir
bestimmt war, seit Jahrtausenden oder Jahrmillionen, und daß ich ihn
erkannt habe, in dem Augenblick, als er mir zuerst gegenübertrat.“

„Und Nora,“ fragte Mette mit zögerndem Zweifel, „hätte sie das dann
nicht auch spüren und erkennen müssen?“

Sophie hob die Achseln: „Ich war ein Kind. Vielleicht waren meine
Instinkte dadurch noch reiner und kräftiger. Was ist denn überhaupt
Instinkt. Die Erinnerung an die Erfahrungen eines vorigen Lebens, die
noch nicht überwuchert sind von neuen Eindrücken, noch nicht unterdrückt
von der Gegenarbeit des zweifelnden Bewußtseins. – Andererseits aber –
wer kann sich zu einem Kinde so hingezogen fühlen, daß er in ihm sein
Schicksal zu erkennen glaubt?“

„Und wann hat sie es eingesehen?“ fragte Mette, „ich bin wohl
schrecklich lästig, nicht wahr?“

„Nein, du bist sehr lieb. Aber danach mußt du besser sie selbst fragen.
Jedenfalls hat sie erst einmal einen sehr schönen Mann geheiratet, den
ich mit meinem glühendsten Haß beehrte. Na, er hat ihn ja auch redlich
verdient. Aber wir wollen jetzt zu ihr hinaufgehen. Wir haben gar keine
Entschuldigung dafür, sie so lange allein zu lassen, wenn wir doch
nichts tun. Komm, willst du dich noch einmal kritisch betrachten?“

Sie nahm die Tücher von der Tonbüste.

„Bitte, schau dich an – hast du eine andre Vorstellung von dir gehabt?“

Mette legte den Kopf schräg.

„Eigentlich ja. Es ist seltsam, daß alle Werke immer ihrem Schöpfer
gleichen. Es ist so viel von dir darin, daß es direkt ein bißchen
äußerliche Ähnlichkeit mit dir hat!“

„Also bist du nicht zufrieden?“

„Ich bin mit mir nicht zufrieden, weil ich nicht so ausseh’. Aber ich
will mir Mühe geben, daß ich dem Bild ähnlich werde, das du dir von mir
machst. – Nur bei der Nase wird es mir nicht gelingen!“ setzte sie dann
lachend hinzu, „die hast du nämlich auch verschönt!“

„Ja? – ach, ich finde nicht! Heut’ abend kommt die Gjellerström – da
wirst du einer strengen Kritik unterworfen. Wenn sie dies Ding gut
findet, will sie mir auch ein paar Stunden sitzen – und da sie
bekanntlich nie eine Minute Zeit hat, muß ich das schon als große
Vergünstigung ansehen.“ Sophie warf einen plötzlichen scharfen
Seitenblick auf Mette und griff nach dem Modellierholz. „Halt mal still
einen Augenblick – du hast nämlich recht mit der Nase – da stimmt etwas
nicht!“

Mette hielt ihr die Hand fest:

„Ach nein, laß nur! Laß mich nur noch so schön, bis die strenge Kritik
vorüber ist! Vielleicht mach’ ich auf diese Weise Eindruck!“

„Du auch, mein Sohn Brutus?“ lachte Sophie, „armes Kind! Mein
herzlichstes Beileid!“

„Ja, nicht wahr?“ Mette lachte auch. „Ich würde mir selber leid tun –
darum tanz ich lieber nicht mit in dem Reigen um die göttliche
Fiametta!“

„Ich auch nicht!“ Sophie legte die Tücher wieder um die Büste. „Weißt
du,“ sagte sie nach einem sinnenden Schweigen, „manchmal hab’ ich das
Gefühl, als hätte ich Noras Unglück verschuldet mit meinen wahnsinnigen
Wünschen. Es war doch mein einziges Gebet, daß ihr etwas Furchtbares
passieren sollte, damit ich sie retten könnte. Ich hab’ mir immer solche
Sachen ausgemalt, jeden Abend, wenn ich im Bett lag.

Zum Beispiel, daß sie bei uns auf der Treppe ein Bein brechen möchte,
und dann sechs Wochen bei uns liegen müßte, und ich hätte sie dann ganz
für mich und dürfte sie pflegen und immer um sie sein. Und später noch,
wenn ich hinter der Gardine am Fenster stand, um sie mit ihrem Mann
vorbeireiten zu sehen, dann wollt’ ich mit meinen Gedanken das Pferd zum
Durchgehen zwingen – ich spähte schon immer, ob ich es nicht heranjagen
sah – dann wollt’ ich mich ihm entgegenstürzen und ihm in die Zügel
fallen und sie vom Tode erretten. Oder ich malte mir aus, sie würde
stürzen, oder verbrennen, oder die Blattern bekommen, und ihre Schönheit
verlieren. Dann würde Herr von Hersfeld sie verstoßen, und kein Mensch
würde sie mehr ansehen mögen – und dann wäre ich da – nur noch ich!

Wenn ich jetzt einmal nach Hause komm’ und die alten Wege gehe –
namentlich hinüber nach Hersfelde zu, dann hab’ ich so deutlich das
Gefühl, mit dem ich damals da ging: jetzt bei der nächsten Biegung müßte
ich Nora finden, irgendwo am Wegrand sitzend, weinend, verlassen,
verzweifelt. Und dann würde ich sie trösten und mit mir nehmen und immer
bei mir behalten. Vielleicht kam es auch daher, weil man in der Gegend
schon damals munkelte, wie unglücklich sie sei. – Meistens machten mir
die Äußerlichkeiten gar keine Schwierigkeiten – wenn ich an den Punkt
kam: wo gehe ich nun aber mit Nora hin, wenn ich sie finde, und sie will
bei mir bleiben? Dann dachte ich mir eben: ich habe ein Häuschen im
Wald, oder die und die hübsche Villa am See gehört mir, oder mein Auto
steht bereit, und wir fahren in die Stadt, wo ich mein Atelier habe –
denn ein Atelier hatte ich damals schon in meinen Träumen. Und eine sehr
große und berühmte Künstlerin war ich immer nebenbei. Komm, wir gehen
hinauf.“

Sie hatte unterdessen ein wenig Ordnung gemacht – ‚für Fiametta‘, wie
Mette bei sich dachte – und schob ihren Arm in Mettes.

„Manchmal hatte ich auch realere Pläne – Gott sei Dank, daß daraus
nichts wurde!“

Sie schritten schon die Treppe hinauf: „Weißt du, was ich wollte?“
Sophie stieß ein leises spöttisches Lachen durch die Nase. „Ich wollte
Hersfeld verführen! Damals war ich aber schon, was man so erwachsen
nennt. Ich ging auf Tanzgesellschaften und saß stundenlang vorm Spiegel,
um mich schön zu machen. Weil ich Hersfeld verführen wollte!“ Sie
schüttelte den Kopf. „Verrückte Idee! Ich wollte dann vor Nora hintreten
und ihr die Beweise bringen: siehst du, so ein Schurke ist der Mann, den
du liebst! Verlaß ihn und komm mit mir! Aber als ich ihn dann soweit
gebracht hatte, daß er mich einmal in einem halbdunklen Wintergarten
küssen wollte – nebenbei war es nicht schwer, ihn soweit zu bringen – da
packte mich das Entsetzen so, daß ich ihn wegstieß.“

„Hast du das Nora auch gebeichtet?“ fragte Mette lächelnd.

Auch Sophie lächelte, ein trübes Lächeln: „Ach Gott, da hatte Nora mich
schon nicht mehr nötig, um zu erfahren, was er für ein Schuft war. Da
wußte sie’s längst ... Jetzt trinken wir Tee – aber ausgiebig, ich hab’
einen Mordshunger.“

So hübsch lag das helle warme Zimmer da, mit dem einladend gedeckten
Tisch. So schön sah Nora aus mit dem königlich getragenen, im
Lampenschein goldschimmernden Haupt über den weißen Gewändern. Und es
war wohltuend, zu sehen, wie ihre Augen Sophien erwarteten und ihr
entgegenleuchteten. Wohltuend zu sehen, wie Sophie diesen erwartenden
Augen entgegeneilte, wie sie sich beugte, um die Kissen bequemer zu
rücken, die Decke zurecht zu ziehen.

Aber es tat auch ein bißchen weh, diese beiden Menschen zu beobachten,
die mit so viel Liebe und Fürsorge aneinander hingen, und die sich so
genug waren, daß jeder Dritte sich überflüssig vorkam, so herzlich er
auch aufgenommen wurde.

Man kam sich jedesmal so grenzenlos allein vor ...

„Mettelchen!“ sagte Nora, als ob sie ein Kind bedauerte, „du ißt mich
nich, du trinkst mich nich, du bist mich doch nich krank?! Ich habe dir
schon dreimal Indianerkrapfen angeboten, und du reagierst nicht?! Du
bist doch sonst nicht so?!“

„Sie hat heut’ ihren melancholischen,“ neckte Sophie, „ich hab’ ihr zum
Trost schon meine ganze Lebensgeschichte erzählt, aber es hat nicht
verfangen.“

„Nein,“ sagte Mette eigensinnig, „es war mir auch gar kein Trost. Denn
das Traurige ist, daß ich nicht einmal weiß, was ich will. Du hast
gewollt und hast schließlich erreicht, was du gewollt hast ...“

„Ja, mit ein paar unbedeutenden Modifikationen,“ meinte Sophie, ohne
jede Bitterkeit, „denn eigentlich wollte ich eine berühmte Bildhauerin
werden und kein besserer Steinmetz. Aber das macht wirklich nicht viel
aus.“ Während sie sprach, horchte sie nach den Geräuschen – Klingeln,
Stimmen, Schritte – an der Außentür.

„Da kommt die Gisel, vielleicht ist dir das ein Trost. Vielleicht
richtest du dein Wollen auf die, ich glaube, sie hat ein großes ^faible^
für dich – es wäre deinerseits keine starke Anstrengung vonnöten!“

„O Sophie,“ sagte Nora, halb erzürnt und halb erschrocken, „wie kannst
du nur so etwas daherreden! Du bist wirklich ganz frivol! Red’ dem Kind
so etwas ein – sie kommt noch auf dumme Gedanken – ich will gar nichts
gegen die Gisel sagen – aber das ist doch kein Mensch, der zu unserer
kleinen Mette paßt!“

‚Das weiß ich selber am besten,‘ dachte Mette trotzig und trübselig.

Das Mädchen ließ Gisela eintreten, die alle drei in einer flüchtigen Art
und ohne zu lächeln begrüßte.

Sie setzte sich neben Mette, aber ein Stück entfernt vom Tisch, als
wollte sie damit zeigen, daß sie nicht die Absicht hatte, die ihr
hingesetzte Tasse Tee zu berühren und hielt beide Hände in ihrem großen
Pelzmuff vergraben.

Nach einigen Minuten allgemeiner Redensarten wandte sie sich halblaut an
Mette:

„Ich komme aus deiner Pension – ich wollte zu dir, aber du warst nicht
da – auch kein Zettel, keine Nachricht, wo du wärest.“

„Ich wußte ja gar nicht, daß du kommen wolltest!“ sagte Mette erstaunt.

„Wenn mir nicht zufällig Herr Giesbert auf dem Korridor begegnet wäre,“
fuhr Gisela fort, „dann könnte ich die Stadt durchirren, um dich zu
suchen.“

„Merkwürdig,“ sagte Mette laut und mit einem erzwungenen Lachen, „woher
wußte denn Giesbert, wo ich bin?“

„Doch wahrscheinlich von dir,“ Gisela zog die feingezeichneten Brauen
sehr hoch, „von mir jedenfalls nicht! Ich hab’ mich ja auch darüber
gewundert.“

„Na, jedenfalls hast du mich ja jetzt gefunden.“ Mette nickte ihr zu mit
einem herzlichen, aber etwas angestrengten Lächeln. „Das ist ja die
Hauptsache. Lag irgend etwas Besonderes vor, daß du mich sprechen
wolltest?“

„Etwas Besonderes – nein, denn daß ich mich vor dem Alleinsein fürchte,
weil ich denke, ich werde verrückt, das ist ja das alltägliche.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Die Unterhaltung schleppte sich gezwungen fort.

Bei der nächsten Gelegenheit rief Sophie Mette ins Nebenzimmer:

„Was soll ich nur tun!“ klagte sie halblaut, „ich bin ganz verzweifelt.
Du mußt mir helfen, Mettekind! Du mußt mir irgendwie mit List oder
Gewalt die Gisel wegbringen! Es ist zu blöd – ich kann mich so maßlos
ärgern. Ich hatte mich so gefreut, dich heut’ Abend hier zu behalten –
aber die Gjellerström kehrt mir ja in der Türe um, wenn sie die Gisel
sieht! Ach, schrecklich, daß die Menschen sich und andern das Leben
immer noch unnütz komplizieren müssen! Es ist gerade kompliziert genug,
wenn man weiter nichts tun will, als es erhalten.“

Mette versprach mit freundlichster Bereitwilligkeit, zu gehen und Gisela
zum Mitkommen aufzufordern.

„Ach, sie geht schon von selbst,“ meinte Sophie leichthin, „sie ist ja
nur deinetwegen gekommen – uns beehrt sie schon lange nicht mehr!“ – – –

                   *       *       *       *       *

Mette war froh, als sie auf der Straße stand. Der scharfe Ostwind, der
ihr einen nadelscharfen, mit Eiskörnern gemischten Regen ins Gesicht
trieb, war ihr gerade recht. Sie ging so schnell vorwärts, daß Gisela
kaum an ihrer Seite bleiben konnte.

Ihr war, als ob ihr von allen Seiten brennende Schmach angetan worden
wäre, und als ob sie sich rächen könnte, indem sie sich selbst peinigte
und durch den dunklen, kalten Abend lief.

‚Ich bin fremd und ruhelos überall,‘ dachte sie mit selbstquälerischer
Bitterkeit, ‚ich habe keine Heimat, kein Haus und keine Freunde. Wohin
gehöre ich? Zu Gisela Werkenthin vielleicht? Ich weiß nichts von
Zusammengehörigkeit. Aber die anderen wissen davon. Und sie setzen mich
deswegen auf die Straße. Wohin gehöre ich? Zu Olga. Also ins Grab. Wenn
ich wenigstens in ihrer Nähe liegen könnte. Aber ich habe das Gefühl,
wenn ich mir jetzt die Kugel durch die Schläfe jage, verliere ich mich
im grenzenlosen Raum. Oh, meine arme kleine einsame Seele wird so
frieren und zittern in der unendlichen Unendlichkeit.‘

„Woran denkst du,“ fragte Gisela in einem fast neiderfüllten Ton.

„Ich weiß nicht.“ Mette hob die Achseln. „Vielleicht an das, woran
Hamlet im dritten Akt denkt: ^to be or not to be^ ...“

„Das ist keine ^question^ mehr für mich!“ sagte Gisela mit höhnischer
Bitterkeit, „^not to be^ ist zehntausendmal besser! Wenn ich nur wüßte,
wie man es am besten bewerkstelligt. Morphium bin ich schon so gewöhnt –
es gibt gar kein Quantum mehr, das ich nicht vertrüge! Ins Wasser mag
ich nicht gehen, weil es dann doch einen Kampf gibt, weil sich der
tierische Lebenswille gegen den Intellekt aufbäumt – ich will keine Zeit
mehr zu Kampf und Reue haben, und ich will vor allen Dingen nicht noch
einmal mein ganzes Leben vorüberziehen sehen, wie einem das ja in den
letzten Augenblicken passieren soll. Ich danke dafür. Eine Revolverkugel
wär’ schon das beste.“

„Ja,“ sagte Mette trocken, „soweit war ich auch gerade! Oder vielmehr,
ich war schon weiter. Ich sah meine arme Seele schon irgendwo im
Weltenraum zwischen den kalten Sternen umherirren und sich eine Heimat
suchen.“

„Glaubst du wirklich an so etwas wie eine Seele?“ Gisela lachte
spöttisch. „Vielleicht auch an den lieben Gott und Hölle und
Himmelreich? Schlaf, lieber Hamlet, Schlaf, und ohne Träume,
garantiert!“

„Und dann?“ fragte Mette trostlos, „dann ist alles umsonst gewesen? Alle
Qual und alles Wissen und alle Erfahrung und alles Streben – alles
umsonst? Dir ist noch kein Mensch gestorben, sonst könntest du nicht so
reden.“

„Laß mir den Trost,“ bat Gisela, „laß mir wenigstens den einen Trost,
daß ich jeden Moment Ruhe haben kann, wenn ich will – ewige Ruhe.“

Sie gingen wieder eine ganze Weile in einem schweren und etwas
verdrossenen Schweigen.

„Willst du mit hinaufkommen?“ fragte Mette, als sie vor der Haustür
standen.

„Du fragst aus Höflichkeit, aber im Grunde paßt es dir nicht.“

Das wollte Mette sich selbst nicht eingestehen. Sie griff nach Giselas
Hand.

„Komm doch,“ sagte sie herzlich, „du wolltest doch sowieso zu mir –
jetzt _bin_ ich doch zu Hause. Und laß den Unsinn – ich bin schon nicht
höflich! Davor brauchst du keine Angst zu haben!“

Die Wärme des Zimmers empfing sie wie mit ausgebreiteten Armen.

Gisela setzte sich, ohne den Mantel auszuziehen. Als Mette nach der
Klingel gehen wollte, sagte sie hastig:

„Ach, laß doch! Was willst du denn?“

Mette stand unschlüssig: „Dem Mädchen klingeln, um Tee für uns zu
bestellen. Man ist doch so durchgefroren. Magst du nicht?“

„Nein, bitte nicht! Dann kommt sie jetzt und fragt, dann sitzt man zehn
Minuten in der Erwartung, daß sie den Tee bringt, dann kommt sie nach
zehn Minuten wieder, um das Geschirr zu holen – ich kenn’ das; es ist
eine ewige Unruhe.“

„Schön, wie du willst.“ Mette warf Hut und Mantel auf einen Stuhl und
setzte sich. Die lichte Wärme des vertrauten Zimmers hatte sofort ein
heimeliges Behagen in ihr wachgerufen. Sie hätte nun gern die schweren,
nassen Stiefel von den Füßen gezogen und es sich bei einer Tasse Tee
recht bequem gemacht. Aber auch das Stiefelausziehen würde wohl zuviel
Unruhe machen. Sie unterdrückte einen Seufzer und schickte sich.

„Ich glaube, ich habe schon einmal die dumme Frage gestellt,“ fing sie
nach einer Weile vorsichtig an, „hattest du mir irgend etwas besonderes
zu sagen, daß du mich so gesucht hast?“

„Besonderes? – nein!“ klang die gedehnte Antwort. „Ich hatte nur Angst,
allein zu sein – ich fürchte mich nicht vorm Tode – aber vor einem
Selbstmordversuch mit untauglichen Mitteln. Ich möchte mich nicht in
einem plötzlichen Lebensüberdruß aus dem ersten Stockwerk stürzen oder
mich unter einen lahmen Omnibus werfen, bloß um mir vielleicht die Beine
zu zerschmettern und als Krüppel durch die Welt zu kriechen. Nein, sich
möchte mein Leben erhalten, bis ich genügend Vorbereitungen getroffen
habe, um es anständig, rasch und gründlich zu erledigen. Und darum habe
ich nach irgendeinem Menschen gesucht, an den ich mich solange hätte
klammern können – aber du warst ja nicht da!“

‚Trotzdem ist dir ja nichts passiert,‘ lag es Mette auf der Zunge. Sie
unterdrückte es und schalt sich selbst unglaublich roh und herzlos.

Gisela hockte auf dem Stuhl in der Haltung eines kranken Äffchens. Ihr
kleines Gesicht mit den übergroßen Augen sah welk und fahl und wie
zerknittert aus.

„Ich weiß nicht, warum du sterben willst,“ sagte Mette mit einem Versuch
zu trösten, der keine Kraft hatte, weil sie sich seiner Nutzlosigkeit
schon von Anfang an bewußt war. „Es geht dir nicht schlechter als
tausend anderen Leuten, und es geht dir besser, als es dir schon
ergangen ist. Es geht dir gesundheitlich besser ...“

„Sag’ nur noch wie Frau Breslauer: Sie haben doch jetzt ein gutes
Auskommen,“ unterbrach Gisela scharf. „Weil ich mich sattessen kann und
mir außerdem noch seidene Strümpfe kaufen, habe ich die Verpflichtung,
glücklich zu sein und dem lieben Gott zu danken!“

„Vielleicht hätte man die Verpflichtung,“ sagte Mette, zum Widerspruch
gereizt, „vielleicht ist es das schwerste, zu hungern und zu frieren –
vielleicht schwerer als alles Liebesleid und alle Sehnsuchtsqual – was
wissen wir denn davon?“

„Wenn du das sagen kannst,“ Gisela verzerrte höhnisch den Mund, „dann
hast du noch nie eine seelische Qual empfunden. Jede körperliche
Krankheit ist doch geradezu eine Erlösung, weil sie einen ein bißchen
ablenkt von dieser Verzweiflung, die einen wie mit stumpfen Zähnen
zernagt oder wie mit einem stumpfen Messer zersägt. Man sehnt sich
direkt nach einem scharfen, schneidenden Schmerz.“

„Ich kann dir ja auch nicht helfen,“ sagte Mette bedrückt.

„Nein, du kannst mir auch nicht helfen. Erstens liebst du mich nicht
...“

Mette nahm einen kraftlosen Anlauf, um zu widersprechen. Aber Gisela
schnitt ihr mit einer Bewegung das Wort ab:

„Sag’ nicht das Gegenteil – bemüh’ dich nicht. Ich liebe dich ja im
Grunde auch nicht – ich liebe überhaupt nicht mehr, glaube ich.“

„Dann weiß ich erst recht nicht, was du für Ursache hast, verzweifelt zu
sein,“ sagte Mette ratlos und ein wenig ungeduldig.

„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht die, daß ich so unlöslich an mich
gekettet bin. Daß ich aus meiner eigenen Haut nicht heraus kann. Daß ich
sogar noch in ihr begraben werden muß. Aber es ist natürlich
unverantwortlich, daß ich auch noch andern Menschen zur Last falle. Ich
sollte mich irgendwo in einen Winkel verkriechen und sehen, wie ich mit
mir allein fertig werde, und krepieren, wenn ich nicht fertig werde.
Schade wär’s weiter nicht um mich.“

Aus den weit offenen Augen rannen langsam Tropfen über das weiße
abgezehrte Gesicht. Aber sie nahm die Hände nicht aus dem Muff, um die
Tränen abzutrocknen. Sie ließ sie rinnen, als fühlte sie sie nicht.

Mette ging das Mitleid wie ein heißer Strom übers Herz. Im nächsten
Augenblick kniete sie vor dem Stuhl und umschlang mit beiden Armen die
kinderschmale Gestalt.

„Wein’ nicht,“ bat sie, „wein’ doch nicht, Kleines, Geliebtes! Du hast
mich doch, und wir sind doch zusammen, du bist doch nicht allein auf der
Welt – wenn du mich auch nicht liebst, ich bin doch da für dich, und ich
bleibe bei dir, und ich tue für dich, was ich tun kann. Sei doch ruhig,
mein Herzblatt, mein Armes!“

Das lautlose Weinen ging in verzweifeltes Schluchzen über. Der ganze
zarte Körper bäumte sich und zuckte wie in Krämpfen. Mette nahm ihr
behutsam den Muff aus den Händen, den Hut vom Kopf, hob sie auf beide
Arme und trug sie nach dem Diwan. Sie bettete sie, deckte sie zu und
legte sich neben sie, um dem unruhigen Körper Ruhe und Wärme zu geben.

Das Weinen wurde leiser, müder, es kam nur noch von Zeit zu Zeit ein
stoßweises Aufschluchzen, wie bei einem erschöpften Kinde. Unter Mettes
streichelnden Händen und geflüsterten Trostworten schlief Gisela ein.
Sie hatte sich an Mettes Schulter festgenestelt und atmete tief und
ruhig.

Mette lag regungslos, um sie nicht zu wecken. Aber sie starrte mit
wachen, brennenden Augen in das Helldunkel des Zimmers, und das Herz
flatterte in ihrer Brust wie ein angeschossener Vogel.


„Rudlöffchen,“ rief Giesbert am andern Mittag von seinem Tisch aus zu
Mette hinüber, „was hatte denn Ihre Freundin gestern? Sie hat Sie
gesucht wie – wie – eine Stecknadel ist kein passender Vergleich für Sie
– also wie das verlorene Paradies!“

„Ich weiß nicht,“ sagte Mette gleichgültig – sie mußte sich zu einem
ruhig-freundlichen Ton zwingen, weil schon dieses Angerufenwerden ihr
entsetzlich war – „meinen Sie Fräulein Werkenthin? Sie wollte mich wohl
besuchen. Sie haben sie getroffen, nicht wahr?“

„Ja, ich dachte wunder was los wär’. Sie war so schrecklich aufgeregt.“

„Ach Gott,“ meinte die kleine Luigi spöttisch, „die gute Gisela ist
immer aufgeregt. Da braucht doch weiter gar nichts los zu sein!“

In Mette kämpften Scham und Empörung. Sie hätte nun wohl die Frau, die
man ihre Freundin nannte, gegen eine abfällige Bemerkung verteidigen
müssen. Aber es war gerade schlimm genug, daß man Gisela Werkenthin so
allgemein als ihre Freundin bezeichnete. Sie – Mette – hatte niemals
durch ihr Benehmen irgend jemand das Recht dazu gegeben.

Außerdem hatte Mara Luigi recht. Und einen Menschen, über den diese
kleine freche Person so zu urteilen sich erlaubte, einen solchen
Menschen mußte Mette „Ihre Freundin“ nennen lassen.

Sie schwieg. Aber sie war unzufrieden mit sich selbst.

„Sie saßen bei Sophus?“ fragte Giesbert weiter, „eine wundervolle
Alliteration! Sie saßen bei Sophus zur Sitzung – sie haute, den Hammer
in Händen, Ihr Haupt – Kramer, ich schenke Ihnen diesen Anfang für ein
Epos!“

Eccarius, der Mette zunächst saß, fragte jetzt – da das Gespräch nach
der andern Seite weitergeführt wurde:

„Gehen Sie heute wieder hin?“

„Ja, diese Woche alle Tage – weil Sophie jetzt gerade Zeit hat – oder
wenigstens nicht viel dringende Arbeiten.“

„Sie gehen gleich nach dem Essen?“

„Ja, weil Nora dann schläft – sonst läßt Sophie sie nicht gern allein,
um ‚zu ihrem Vergnügen‘ zu arbeiten.“

„Sie müssen verzeihen, wenn es so klingt, als ob ich Sie ausfrage! Aber
es geschieht nicht aus müßiger Neugier ... ich wollte fragen, ob es
Ihnen recht wäre, wenn ich Sie heute hinausbegleite – ich hatte schon
längst die Absicht, meine Freundinnen einmal wieder aufzusuchen.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Mette und Eccarius schritten durch die vor Kälte hallenden Straßen, die
mit einem dünnen Reif überflogen waren.

„Haben Sie sich gewundert,“ sagte Eccarius, „daß ich bei Tisch so
ostentativ von meinen Freundinnen sprach? Ich hatte nämlich einen
kleinen Disput mit Fräulein Peters. Fräulein Peters ist eine ganz
prachtvolle Person, aber ein bißchen streng in ihrem Urteil. Oder
vielleicht noch besser gesagt: ein bißchen beschränkt in ihrer
Auffassung. Was sie nicht versteht, das wirft sie alles zusammen in
einen Topf und verdammt es. Und zu dem, was ihr unverständlich ist,
gehört natürlich auch eine Freundschaft wie die zwischen Fräulein
Degebrodt und Frau von Hersfeld. Sie warf da gleich mit Worten wie
‚anormal‘ und ‚pervers‘ und ‚widernatürlich‘ um sich und meinte, es wäre
kein Verkehr für Sie!“

„Für mich?“ fragte Mette sehr erstaunt, „wie sind Sie denn auf mich
gekommen?“

„Offen gestanden – von Ihnen sind wir ausgegangen,“ erklärte Eccarius
mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln. „Ja, ja, man weiß selber nie,
wie wichtig man andern ist, und was man für ‚interessanten
Gesprächsstoff‘ liefert. Ernstlich – man kennt seine Feinde nicht und
weiß nicht, wer einem was am Zeuge zu flicken trachtet – aber man kennt
auch seine Freunde nicht und weiß nicht, wer um sein Wohl und Wehe
besorgt ist.

Fräulein Peters ist eine Seele von einem Menschen, und sie macht sich
Gedanken um Sie – sie hat mir heute auseinandergesetzt, daß es meine
Pflicht wäre, Ihnen die Augen zu öffnen. Aber wenn ich Ihnen über Sophie
und Nora die Augen öffnen soll, kann ich nach bestem Wissen und Gewissen
nur sagen, daß es prachtvolle Menschen sind.“

„Frau von Hersfeld sagte mir neulich, daß Sie sich schon sehr lange
kennen,“ sagte Mette in einem leise drängenden Bestreben, das Gespräch
von sich selbst abzuwenden.

„Schon sehr lange“ – sie atmete erleichtert auf, als Eccarius das Thema
annahm – „ich kannte sie schon, als sie noch die schöne Nora von Zeyern
war, die gefeiertste Tänzerin, die kühnste Reiterin. Sie hatte hundert
Bewerber, und unter den hundert mußte sie gerade Herrn von Hersfeld
aussuchen!“

Er schwieg einen Augenblick mit bitterem Lächeln.

„Er war krank, nicht wahr?“ fragte Mette zaghaft.

„Oh, wenn Sie das wissen, dann ist es auch keine Indiskretion, wenn ich
Ihnen mehr erzähle. Er war sogenannt ausgeheilt, wie er selbst voll
Stolz jedem erzählte, der es hören wollte und nicht hören wollte. Nur
seiner Frau und seinen Schwiegereltern nicht.

Hersfelde war Majorat, und er wollte einen Sohn haben. Es kam auch ein
Junge zur Welt – er war schon ganz mit Ausschlag bedeckt, als er geboren
wurde. Was diese mütterlichste aller Frauen an diesem Kinde gelitten
hat, das ist unbeschreiblich! Und wir alle – seine sogenannten Freunde –
wir sahen das Kind an und sahen uns an und wußten: das wird nichts mehr.
Aber keiner traute sich, der jungen Mutter ein Wort zu sagen. Und sie
hoffte und hoffte und pflegte an diesem unseligen Würmchen herum und
freute sich über den kleinsten Fortschritt. Viel Fortschritte waren
allerdings nicht zu verzeichnen.

In einem Alter, wo andere Kinder herumlaufen und den ganzen Tag plappern
und krähen, lag er in seinen Kissen und drehte kaum den Kopf, wenn man
ihm etwas Blankes vortanzen ließ. ‚Er wird ein Denker,‘ sagte Frau Nora
dann und lächelte ein herzzerreißendes Lächeln. Aber als er mit vier
Jahren noch immer kein Wort sprach, sondern nur ein blödes Gelalle von
sich gab, da versteckte sie sich und ihn vor aller Welt. Sie ging nicht
mehr von ihrem Grund und Boden fort, sie empfing keinen Menschen. Sie
verschloß sich mit ihrem kranken Kinde in undurchdringlichste
Einsamkeit, sie pflegte es, sie spielte mit ihm, sie versuchte
unermüdlich und vergebens, ihm etwas beizubringen. Mit ungefähr fünf
Jahren starb das arme Kind. Aber Herr von Hersfeld brauchte einen Erben.
Nach einem halben Jahr war die unglückliche Frau wieder in der Hoffnung
– ach Gott, sie war wirklich in der Hoffnung.

Da nahm ein befreundeter Mediziner die Sache in die Hand – das heißt, er
sprach wohl nur ein leichtsinniges, aber ehrlich entrüstetes Wort von
der Unverantwortlichkeit, Kinder in die Welt zu setzen. Und als sie ihn
zur Rede stellte und nicht locker ließ, fragte er sehr erstaunt, ob sie
nicht wisse, was ihrem Kinde gefehlt hätte. Und da sie keine Ahnung
hatte, sagte er ihr’s. Das war ja schließlich auch sein gutes Recht.
Aber er hat sich doch sehr schwere Vorwürfe gemacht. Denn am selben Tage
verunglückte Frau Nora durch einen Sturz vom Heuboden und holte sich so
schwere innere Verletzungen, daß sie nie wieder gesund wurde. Daraufhin
ließ dann Herr von Hersfeld sich von ihr scheiden!“

„Lebt er noch?“ fragte Mette.

„Warum? Sie machen ein Gesicht zu der Frage, als ob Sie ihn sonst
umbringen möchten. Aber Sie können ganz ruhig sein; er ist tot – er hat
sogar ein recht dramatisches Ende gefunden, oder vielmehr sein Ende
hatte einen dramatischen Anfang. Denken Sie, dieser Mensch hatte die
Absicht, ein zweitesmal zu heiraten, nachdem er von Nora geschieden war.
Ein schönes, unschuldiges junges Mädchen aus bester Familie. Sie machen
sich keinen Begriff, was die arme Frau Nora da an Gewissensqualen
gelitten hat – sie kannte die Braut – sie kannte die Eltern – und sie
kannte da auch endlich Herrn von Hersfeld, ihren geschiedenen Gatten.
Aber trotzdem sie ihn so gut kannte, liebte sie ihn wohl immer noch –
irgendwo in einem letzten Seelenwinkel waren noch die Trümmer des
starken Gefühls. Und es erschien ihr als ein Verbrechen, den Mann
anzuklagen. Man hätte es ihr ja auch so leicht als kleinlichen Racheakt
auslegen können. Und andererseits war es ein viel größeres Verbrechen,
das arme Mädchen unwissend in eine solche Ehe gehen zu lassen.“

„Um Gottes willen,“ sagte Mette mit angstvollen Augen, „hat sie das
getan?“

„Sie war so hilflos – sie konnte sich kaum rühren – die Lage wurde
erschwert dadurch, daß das Mädchen schon zu Zeiten seiner Ehe in
Hersfeld verliebt war und der Frau, wenn nicht feindlich, doch
mißtrauisch gegenüberstand. Sie hat mir oft gesagt, daß sie in ihrer
verzweifelten Lage um ein Wunder gebetet hat.

Und das Wunder geschah. Die Trauung war anberaumt, der Bräutigam
erschien nicht. Als er geholt werden sollte, versteckte er sich im Stall
und schoß mit dem Revolver um sich. Schließlich wurde er überwältigt und
nach einer Anstalt gebracht. Ein paar Monate lebte er noch unter
Anfällen von Verfolgungswahn und Tobsucht. Dann ging er ein.
Gehirnerweichung. Einer von seinen früheren Kameraden machte die
treffende Bemerkung, als die Todesursache bekannt wurde: „Das erstemal,
daß man erfährt, daß Hersfeld Gehirn gehabt hat!“

Sie gingen wieder eine Weile schweigend, jeder in seine Gedanken
versponnen.

Eccarius hob den Kopf mit einem plötzlichen Entschluß. Sein Gesicht war
wieder wie aufgehellt von dem flüchtig darübergleitenden liebenswürdigen
Lächeln.

„Nun haben Sie mich mit ganz heimtückischer Eleganz von meinem Thema
weggelockt. Ich habe Ihnen lange Geschichten erzählt und nichts von dem
gesagt, was ich beauftragt war, Ihnen zu sagen – und nicht nur
beauftragt – was ich auch aus eigenem Antrieb sagen wollte ...“

„Muß es denn sein?“ fragte Mette mit flehenden Augen, „glauben Sie im
Ernst, daß ich nicht alles weiß, was Sie mir sagen können? Ich weiß, daß
Sie es gut mit mir meinen, und ich bin Ihnen auch so dankbar dafür. Aber
ich habe – vielleicht gerade weil ich so jung und eben erst mündig
geworden bin – so sehr das Gefühl, daß nur ich selber mir helfen kann
und daß ich mir selber helfen muß. Ich weiß, daß ich nicht immer den
kürzesten und den geradesten Weg finden werde – aber ich habe ja auch
kein Ziel – nur das eine Ziel, das Leben kennenzulernen, ganz, soweit
das einer Frau möglich ist, mit Licht- und Schattenseiten, mit Fehlern
und Vorzügen – wie man einen Menschen kennenlernen will – den man
liebt!“

„Wenn Sie das Leben so lieben,“ sagte Eccarius mit einer nachgiebigen
Beharrlichkeit, „so müssen Sie sehr behutsam damit umgehen. Und wenn Sie
auf Ihrer Wanderung kein Ziel haben, oder nur das Ziel, möglichst viel
zu sehen auf Ihren selbstgesuchten Wegen, so dürfen Sie sich nicht in
eine Sackgasse verrennen, aus der Sie nicht wieder herausfinden. Seien
Sie mir nicht böse – aber ich habe die Frechheit gehabt, Sie im stillen
zu beobachten – ich sehe Sie doch seit Monaten zweimal täglich
mindestens – und ich habe mir im Laufe der Jahre ein wenig
Menschenkenntnis erworben – Sie machen, wenn man es so in zwei Sätzen
bezeichnen darf, nicht den Eindruck eines Menschen, der das Leben liebt,
sondern eher eines Menschen, der – den Tod nicht fürchtet.“

Mette hatte schon auf die Klingel an der Haustür gedrückt und wandte
sich um:

„Ist das ein Widerspruch? Kann man nicht beides – das Lebens lieben und
den Tod nicht fürchten?! Vielleicht gehört es zusammen. Ich will es zu
meinem Wahlspruch machen und groß über alle meine Tage schreiben: Das
Leben lieben und den Tod nicht fürchten!“

„Ich weiß kein noch besseres Wort,“ sagte Eccarius mit nach innen
gekehrten Blicken, „man kann diesen Satz auch anders stellen – dann will
ich ihn zu meinem Wahlspruch machen.“

Das Mädchen öffnete die Tür. Auf Mettes fragenden Blick schüttelte
Eccarius leicht den Kopf:

„Ein andermal ...“ – – –

                   *       *       *       *       *

Sie saßen in der frühen Dämmerung des Wintertages zusammen, Nora,
Sophie, Eccarius und Mette. Es war schon so dunkel im Zimmer, daß man
kaum mehr deutlich die Gesichtszüge der Zunächstsitzenden unterscheiden
konnte. Aber keiner hatte das Verlangen nach Helligkeit.

Mette hatte nach Johannes gefragt – und Sophie hatte ihr in Aufregung
und Empörung mitgeteilt, daß er sehr unter häßlichen Klatschgeschichten
zu leiden habe. Man hatte seinem alten Freund, dem dicken Drencker, in
gehässiger Weise hinterbracht, daß sein Geld dem jungen Krafft das
Studium ermögliche – oder vielmehr, daß Willi Krafft sein – Drenckers
Geld – im Bac verspiele und mit Frauenzimmern verprasse.

Nora hatte Johannes verteidigt. Wenn sie ihn auch nicht in verklärendem
Licht sah, und sein Verhältnis zu Drencker ihr unbegreiflich und
peinlich war – sie hatte immer geglaubt, daß seine Freundschaft für
Willi Krafft von einer ganz idealen schwärmerischen Art wäre.

„Und wenn nicht!“ sagte Sophie eigensinnig. „Wo immer ein Menschenhandel
abgeschlossen wird, liegt die Schuld auf seiten des Käufers. Der
Gekaufte ist immer in Notlage. Und es ist gerade schlimm genug, wenn so
ein reiches Schwein einen Anteil an einem Menschen kaufen kann. Daß er
ihn dann noch ganz und restlos haben will, ist eine Frechheit.“

„Jeder Handel sollte ehrlich sein!“ warf Eccarius in seiner leisen,
nachdenklichen Art ein.

„Nein,“ ereiferte sich Sophie, „wer sich für sein schmieriges Geld einen
Menschen kaufen will zur Befriedigung seiner kleinen niedrigen Lüstlein,
der _soll_ betrogen werden. Es _soll_ Dinge geben, die nicht zu kaufen
sind, für kein Geld der Welt. Und glauben Sie mir, Eccarius – in all
diesen schmutzigen Handeln, wo es sich um eigentlich Unverkäufliches
dreht – ob es nun Liebe ist oder Ehre oder Ruhm oder Begabung oder Adel
– immer war zuerst der Käufer da, immer zuerst der, der auf seinen
Geldsack schlug und sagte: das will ich haben, schafft es mir, ich kann
es zahlen. Und dann wurde erst die Ware gesucht. Glauben Sie, daß ein
armer Musiker auf den Gedanken kommt, seine Gedanken, seine Melodien,
das liebste, was er hat, einem reichen Krämer anzubieten, damit der sie
unter seinem Namen erscheinen läßt? Nein, so ein Gedanke kann nur in
einem Krämergehirn aufkeimen!

Ich kenne solche Fälle – sehr genau! Von den harmlosesten Anfängen, wo
ein wohlgenährter Bürgerssohn von einem armen begabten Mitschüler sich
die ersten Liebesbriefe schreiben läßt – für eine Handvoll Zigaretten –
bis zu Opernpremieren, wo sich als Komponist ein Herr verbeugt, der nie
einen Ton von der aufgeführten Musik geschrieben hat – hätte schreiben
können. Ach, die Welt ist schon ziemlich ekelhaft. Man kann nur froh
sein, wenn man möglichst wenig mit ihr zu tun hat. Wir sitzen hier auf
unserer Insel – gelt Norina? Und soviel Schiffe auch anlegen – sie
fahren alle wieder weiter – ansiedeln darf sich keiner in unserm
Bereich. Im übrigen kann ich nur sagen: Drencker soll froh sein, daß es
ihm nicht ergangen ist wie dem armen Keller, der sich vor acht Tagen
erschossen hat, weil ihn eine Erpresserbande langsam erdrosselt hat und
weil der unglückliche Mensch lieber tot sein wollte, als immer vor dem
Gefängnis zittern.“

Eccarius schüttelte den Kopf:

„Daß die mittelalterliche Institution dieser Strafen immer noch
besteht!“

Nora legte sich dafür ein: „Es muß doch einen Schutz für Kinder und
Unmündige geben – auch wenn die Unmündigen zufällig über einundzwanzig
Jahre sind. Es gibt ein sehr wahres Wort: wo kein Kläger ist, ist auch
kein Richter. Wie zwei reife Menschen miteinander leben, geht keinen
Staatsanwalt etwas an. Genau so, wie kein Staatsanwalt sich in das
hineinmischt, was in einer Ehe vorgeht. Ich muß sagen, in manchen
Fällen: leider! Wenn gestraft wird, so wird geklagt, und wenn jemand
klagt, so fühlt er, daß ihm Unrecht geschehen ist.“

„Der Paragraph hundertfünfundsiebzig ist eine Einnahmequelle für Gauner
und Erpresser,“ widersprach Eccarius heftiger, als es seine Art war –
„aber kein Schutz für Kinder irgendwelchen Alters. Kinder dulden stumm
und klagen nicht. Wenn einmal ein Fall ans Licht kommt, dann schreit die
Welt vor Empörung – aber in tausend Fällen kommt von solchen an Kindern
begangenen Verbrechen nicht ein Schimmer zutage.“

„Das ist nicht möglich,“ sagte Sophie mit vor Erregung bebender Stimme,
„es kann auf der ganzen Welt nicht tausend Unmenschen geben, denen ein
Kind nicht heilig wäre.“

Eccarius lachte, ein heiseres, tonloses Lachen:

„Ich will Ihnen einen Fall erzählen – einen Fall von tausend. Ein
Verbrechen von tausend, bei welchem der Verbrecher straflos ausging ...
ich kannte eine Familie – eine wohlhabende, angesehene Familie, kluge
gütige Eltern, die vier gesunde, begabte, gut veranlagte Kinder hatten
... vier Knaben. Die Mutter konnte nicht ganz allein die Sorge für vier
heranwachsende Jungen haben – es wäre auch gegen das Herkommen gewesen –
man nahm ein Kinderfräulein ins Haus – eine halbgebildete Person, wie es
üblich war, eine von sympathischem Äußern mit guten Zeugnissen und allen
möglichen Empfehlungen. Dies Kinderfräulein hatte nichts besseres zu
tun, als den Knaben beizubringen ... wovor man sie sonst sorglich
behütet. Die unglücklichen Kinder gerieten dadurch ganz in den Bann
dieser Person. Sie wußten, daß sie etwas Verbotenes taten. Sie schlugen
sich mit dem schweren Begriff ‚Sünde‘ herum, und baten Gott um Beistand.
Das infame Weib erfand mit unerschöpflicher Phantasie immer neue Listen,
um die widerstrebenden und ermüdeten Kinder aufzustacheln. Sie wurden
immer elender – sie wurden auf alles mögliche behandelt, in teure Bäder
geschickt – natürlich in Begleitung des Fräuleins. Manchmal faßte eines
der Kinder den Entschluß, der Mutter alles zu beichten – aber es blieb
bei dem Entschluß. Diese Dinge waren zu furchtbar, als daß man sie der
gütigsten Mutter hätte anvertrauen können. Vielleicht können Sie sich
eine Vorstellung davon machen, was solche Kinder für eine ‚Kindheit‘
gehabt haben. An Leib und Seele erschöpft, unlustig zu Spiel und Arbeit,
bei aller Begabung kaum fähig, in der Schule mitzukommen, in ewiger
Angst vor Entdeckung, vor Strafe, vor Krankheit, vor der Hölle – und
immer widerstandsloser dem Laster hingegeben, immer mehr wie Schatten
durch die Tage schleichend, und lebend nur in dem gefährlichen Spiel der
Nächte.

Als das Kinderfräulein ging, um in einer andern Familie ihr Werk
fortzusetzen – da war es zu spät. Von den vieren hat sich keiner mehr
erholen können. Der eine erschoß sich in der Nacht nach seiner
Verlobung. Der zweite blieb ein unseliger Monomane und mußte schließlich
mit völliger Nervenzerrüttung in eine Heilanstalt gebracht werden. Die
beiden jüngsten haben allem, was Eros heißt, im tiefsten angewidert, den
Rücken gekehrt. Der eine, schwärmerischen Geistes, hat sich in ein
Kloster geflüchtet – der andere schlägt sich durch eine graue und
freudlose Welt und schaudert zurück vor jeder Gemeinschaft mit Menschen.
Das Weib ist wahrscheinlich heute noch eine würdige Kinderfrau, und die
ihr anvertrauten Kinder werden elend unter ihrer umsichtigen Pflege.“

Niemand sprach. Die Dunkelheit war über das ganze Zimmer gekrochen und
ließ kaum mehr von den Fenstern einen blassen grauen Fleck sehen.

„Oh!“ sagte Sophie – Mette glaubte zu hören, daß ihre Stimme von
zornigen Tränen bebte und glaubte zu fühlen, wie sie die Fäuste ballte:
„Man sollte sie hinrichten.“

„Dann müßte man viele hinrichten,“ sagte Eccarius ruhig.

Wieder lastete das Schweigen.

Es klopfte, jemand öffnete die Tür, heller Lichtschein stach in die
Dunkelheit, Lärm zerriß die Stille.

„Ich bringe die Zeitung,“ sagte das Mädchen und blieb verwundert in der
Tür stehen. „Soll ich Licht machen, gnädige Frau?“

„Ja, machen Sie Licht, Martha.“

Das Licht gellte auf wie ein Trompetenstoß. Sie neigten alle die
Stirnen, um ihm zu entgehen und zogen die Brauen zusammen und blinzelten
mit den Augen.

Keiner fand den Mut, den andern anzusehen. Sophie nahm dem Mädchen die
Zeitung ab und fing an, daraus vorzulesen, die gleichgültigsten Dinge
der Welt, die niemanden interessieren konnten. Aber alle heuchelten
Anteilnahme und wußten irgend etwas dazu zu sagen, so daß ein lebhaftes
Gespräch aus lauter belanglosen Phrasen zustande kam.

Eccarius ging, ehe die Unterhaltung wieder versickerte.

Sie sprachen noch über ein Dutzend anderer Dinge, als er fort war. Aber
es war, als ob sie weder ein ernstes, noch ein erzwungen leichtes
Gespräch mehr ertragen konnten. Sophie fand den erlösenden Gedanken. Sie
machte den Vorschlag einer Skatpartie, um noch ein Weilchen gemütlich
beieinander zu sitzen und Ablenkung für die Gedanken zu haben.

Aber plötzlich, mitten im Spiel, ließ sie die Hand mit den Karten auf
den Tisch sinken:

„Er hat einen Bruder in der Irrenanstalt,“ sagte sie, als hätte sie die
ganze Zeit nichts anderes gedacht.

„Ich weiß,“ sagte Nora ebenso ernsthaft. „Und einen im Kloster.“


Als Mette nach Hause kam, begegnete ihr auf der Diele eines der Mädchen
und sagte – wie es ihr schien, mit einem vieldeutigen und unverschämten
Lächeln:

„Fräulein Werkenthin ist da und wartet auf Fräulein Rudloff.“

Mette fühlte ihr Herz zittern, wie in letzter Zeit so oft. Sie ging
langsamer, weil sie nicht so schnell nach ihrer Zimmertür kommen wollte.
Ihr war, als ob sie dringend noch einiger Sekunden Aufschub bedürfte –
dann schien es wieder, als wäre das Mädchen stehengeblieben, sie glaubte
den spöttischen, beobachtenden Blick wie einen Stich zwischen den
Schulterblättern zu fühlen und ging wieder rascher.

Es war kalt draußen, kalt auf der Treppe, kalt auf dem Türgang.

Sie hatte sich so auf ihr warmes stilles Zimmer gefreut, auf den milden
Schein der Lampe, auf eine Stunde im Sessel, ein gutes Buch in der Hand.
Nun war ihr liebes Zimmer ganz erfüllt von fremdem Wesen, eine Wolke von
Opium und betäubendem Parfüm würde ihr entgegenschlagen, und sie würde
heute Abend keine ruhige Viertelstunde mehr haben.

Sie würde wieder die halbe Nacht in allen Nerven zitternd im Bett liegen
und ein Adalin nach dem andern schlucken müssen, um ein paar Stunden
steinschweren, unerquicklichen Schlafes zu haben.

Eine jähe Wut packte sie an und schüttelte sie.

‚Ich will, daß mein Zimmer leer ist,‘ dachte sie wie ein trotziges Kind
mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten, ‚jedes Tier hat
seine Höhle, in die es sich verkriechen kann! Ich will jetzt einen Raum
haben, wo ich allein bin. Ich muß allein sein, ich muß Ruhe haben, ich
will keine fremden Menschen in meinem Zimmer!‘

Sie lehnte sich einen Augenblick erschöpft und dem Weinen nah gegen die
Wand. Sie überlegte, ob es nicht das beste wäre, wieder fortzugehen,
sich in ein Kaffeehaus zu setzen und Zeitungen zu lesen – aber sie war
müde und fürchtete sich vor den kalten, dunklen Straßen. Außerdem mußte
sie ja schließlich doch einmal nach Hause, und sie würde um Mitternacht
immer noch jemand wartend in ihrem Zimmer vorfinden.

Sie ging also rasch entschlossen auf ihre Tür los. Sie nahm sich vor,
Kopfschmerzen zu heucheln – ach, sie hatte wahrhaftig schon welche vor
Angst und lauter Ärger – sie würde sich einfach ins Bett legen,
Kompressen machen, Pulver schlucken und auf alle Fragen und Erzählungen
nur ein ja oder nein stöhnen. Vielleicht bliebe sie dann bald allein.

Als sie die Tür öffnete, hatte sie einen Augenblick das Gefühl, zu
träumen oder wahnsinnig zu sein.

Alle Türen und Fächer ihres Schreibtisches waren offen. Weiße Berge
häuften sich davor. Sie erkannte mit einem flüchtigen Blick Briefe,
Bilder, Studienhefte – alles in einem wüsten Durcheinander.

Vor den offenen Schüben der Kommode kniete Gisela in Hemd und
schwarzseidnen Trikothöschen und zerrte und wühlte in Mettes Wäsche.

Es war das Schlimmste, was man Mette antun konnte, wenn man sich an
ihren wehrlosen Sachen vergriff.

Sie stürzte auf Gisela zu und packte zornig ihren nackten Arm.

„Was machst du denn da? Was fällt dir denn ein?“ herrschte sie sie an.

Gisela war nicht im mindesten erschrocken. „Du kommst zu früh,“ sagte
sie kalt und entblößte mit einem höhnischen Mundziehen die Zähne,
„jawohl, zu früh, ich weiß ganz gut, was ich sage, ich meine nicht zu
spät, sondern zu früh. Wenn du fünf Minuten später gekommen wärst, wäre
alles schon erledigt gewesen.“

„Was heißt das?“ fragte Mette, immer noch mehr in Wut, als in Angst,
obgleich das Gesicht, das sie hundert Sekunden lang dicht vor dem
ihrigen gesehen hatte, ihr fremd und unheimlich erschien, „was tust du
hier? Was kramst du in meinen Sachen?“

„Ich suche etwas,“ sagte Gisela scharf und höhnisch, „das siehst du
wohl, daß ich etwas suche. Geht es dich etwas an? Ich glaube im Grunde
nicht, daß es dich etwas angeht. Ich glaube nicht, daß es dich,“ sie
zeigte ein paarmal mit ausgestrecktem Finger auf Mettes Brust, „dich im
Grunde etwas angeht – in deinem Grunde. Ich in meinem Grunde gehe dich
nichts an. Ich bin am Grunde – ganz tief am Grunde.“ Sie sang mit leiser
gebrochener Stimme und schmerzlich verzogenem Gesicht „In einem kühlen
Grunde“, um plötzlich mit ganz verändertem klaren und fast
geschäftsmäßigen Ton zu sagen: „Ich suche deinen Revolver.“

Mette wollte einen Blick nach dem Nachttisch werfen, aber mit fast
übermenschlicher Energie bezwang sie die schon begonnene Bewegung, als
sie sah, daß Giselas Augen an ihrem Gesicht hingen und jeder leisen
Regung folgten.

„Was willst du mit dem Revolver?“ fragte sie ganz ruhig, „das ist kein
Spielzeug für dich.“

„Was ich mit dem Revolver will?“ sagte Gisela mit einem klagenden,
singenden Kinderton. „Ihn abdrücken, gegen meine Schläfe halten,
losdrücken, sterben, schlafen. Wie du fragst! Was ich mit dem Revolver
will? Ei nun – was man mit einem Revolver zu tun pflegt. Ei nun ...“ Sie
fing plötzlich an zu lachen. „Hast du schon einmal in deinem Leben
gehört, daß ein Mensch ‚Ei nun‘ sagt. Zu blöd’!! Wer wohl diesen Satz
erfunden hat! Ei nun ... ei nun ...“ Sie kam immer mehr ins Lachen,
lachte so, daß ihr die Tränen über’s Gesicht liefen, schüttelte den
Kopf, daß ihr die Strähnen um die Stirn flogen und wiederholte immer „ei
nun – ei nun.“

Plötzlich stand sie auf und stieß mit den schmalen zierlich beschuhten
Füßen gegen die Kleider, die auf dem Boden lagen.

„Du mußt dich nicht wundern, daß ich mich ausgezogen habe. Ich habe es
ganz mit Absicht getan, weil mir zu warm war. Vielleicht findest du es
ungehörig, daß ich mich in deinem Zimmer ausgezogen habe. Dann bitte ich
dich hiermit um Verzeihung,“ sagte sie sehr förmlich, „du findest ja
manches ungehörig, weil du aus einer höheren Gesellschaftssphäre
stammst. Du bist eben ein Sphäroid,“ sie fing wieder an, unbändig zu
lachen, „ich habe nie eine Ahnung gehabt, was das ist, aber genau so
habe ich mir ein Sphäroid immer vorgestellt.“ Sie schwankte und stützte
sich mit beiden Händen auf die Kommode, ihre Augen schlossen sich halb,
ihr Mund verzog sich schmerzlich. „Wenn mich jetzt ein Mensch auf der
Welt lieb hätte, würde er mich zu Bett bringen. Oh, nur liegen, daß mein
Gehirn endlich in die richtige Lage kommt. Es hat sich umgedreht und
stößt sich fortwährend an der Hirnschale.“ Sie lächelte, wie um
Verzeihung bittend: „Ich weiß natürlich, daß es sich nicht umgedreht
hat, aber es fühlt sich so an, glaub’ mir, genau so.“

Mette griff stützend an ihren Ellbogen:

„Komm, ich will dich hinlegen,“ sie bemühte sich, sehr sanft zu
sprechen, „komm, sei mein gutes Kind. Du legst dich schön auf den Diwan
– dann kommt dein armes Gehirn wieder in die richtige Lage – du bist
müde, glaub’ mir, du mußt schlafen, dann bist du in ein paar Stunden
wieder ganz frisch und munter.“

Sie faßte den schmalen, willenlosen Körper um die Schultern, führte ihn
nach dem Diwan, bettete ihn auf die Kissen und bedeckte ihn noch mit den
Decken aus dem Bett.

Sie setzte sich daneben und streichelte mechanisch die kalten und wie
leblosen Hände, bis die zitternden Atemzüge ruhiger wurden, die Glieder
sich streckten, und der Kopf sich tiefer in die Kissen grub.

Eine Weile saß Mette ohne sich zu rühren, weil sie Angst hatte, die
Schlafende zu wecken. Jetzt war es doch wenigstens still im Zimmer.

Sie sah nach der Uhr. In einer halben Stunde hätte Gisela auf dem Podium
stehen sollen, um zu singen. Sie warf einen Blick auf das erschöpfte
Gesicht mit den erschlafften Zügen und dem geöffneten Mund. Es würde
kaum möglich sein, die Schlafende jetzt zu erwecken, und sie an ihre
Berufspflichten zu erinnern. Mette verspürte auch nicht die geringste
Lust dazu.

Sie stand leise auf, um an das Telephon zu gehen. Sie wollte wenigstens
bei dem Kabarett anklingeln und Gisela krank melden. Vielleicht konnte
sie ihr dadurch eine Strafe ersparen. Außerdem war ihrem bürgerlichen
Empfinden der Gedanke unerträglich, daß die Leute dort in fieberhafter
Aufregung von Minute zu Minute warten sollten und keine Nachricht
bekämen.

Sie schlich erst auf Zehenspitzen, sich vorsichtig umschauend wie ein
Verbrecher, nach dem Nachttisch, um den Revolver herauszunehmen. Sie
überlegte, wohin sie ihn tun könnte – kein Platz erschien ihr sicher
genug. Sie beschloß, ihn mitzunehmen, und da sie nicht mit ihm gesehen
werden wollte, schob sie ihn vorn in die Bluse. Sie fühlte ihn kalt und
schwer und unheimlich in dem leichten Stoff hängen, und obgleich sie die
Sicherung noch einmal geprüft hatte, hatte sie bei jedem Schritt das
Gefühl, beim leisesten Anstoß würde Sicherung und Hahn sich lösen, und
die Kugel ihr in die Brust dringen. Sie sagte sich trotzig, daß es das
Beste wäre, was ihr geschehen könnte, und bezwang damit ihre Angst.

In der Telephonzelle wartete sie lange, ehe sie die Nummer nannte, weil
sie auf dem Gang Schritte zu hören glaubte, oder Türen, die sich
öffneten – sie wollte nicht, daß irgend jemand das Gespräch mit anhörte.

Als sie die Verbindung endlich bekommen hatte, mußte sie die Litanei,
daß Fräulein Werkenthin krank sei und nicht kommen könne, dreimal
herunterbeten.

„Einen Augenblick bitte, ich verbinde mit dem Bureau,“ sagte das
erstemal eine höfliche Stimme.

„Moment, ich verbinde mit der Direktion,“ das klang schon weniger
liebenswürdig.

„So,“ sagte eine scharfe Stimme nach dem drittenmal, „Fräulein
Werkenthin ist krank. Das wird der Arzt entscheiden! Er wird in einer
Viertelstunde in ihrer Wohnung sein.“

„Fräulein Werkenthin ist nicht in ihrer Wohnung,“ sagte Mette mit
klopfendem Herzen, „sie ist bei mir.“

„Wer ist denn überhaupt da am Telephon?“

„Eine Freundin von Fräulein Werkenthin.“ Nicht, wenn man sie gefoltert
hätte, würde Mette jetzt ihren Namen genannt haben. „Fräulein Werkenthin
war bei mir zu Besuch und ist ohnmächtig geworden.“

Sie hörte, daß die Stimme mit höhnischer Betonung nach rückwärts sagte:
„Sie war bei ihrer Freundin und ist ohnmächtig geworden!“

Eine Stimme schrie, heiser vor Wut, dicht am Apparat: „Sie ist wohl
besoffen, wie?“

Mette hörte, daß jemand weggedrängt und zur Ruhe verwiesen wurde, und
hörte noch ein unwirsches Gemurmel – „Morphium oder Koks oder Alkohol –
immer abwechselnd“.

„Sagen Sie Ihrer Freundin,“ das war wieder die scharfe Stimme von
zuerst, und wie sie höhnisch hervorhob „Ihrer Freundin“ traf es Mette
wie eine Ohrfeige, „ich könnte sehr gut verstehen, daß sie das Vergnügen
Ihrer Gesellschaft dem Auftreten an meinem Institut vorzieht. Aber ich
kann ihr auch versichern, daß es mir durchaus kein Vergnügen macht, ihr
für nichts und wieder nichts eine hohe Gage zu zahlen. Fräulein
Werkenthin wird morgen ein Attest des Theaterarztes einreichen, oder sie
ist entlassen.“

Der Hörer wurde mit einem Ruck aufgelegt.

Mette überlegte eine qualvolle Minute lang, ob sie an den Theaterarzt
telephonieren sollte. Vielleicht ließ er sich bewegen, ein Attest zu
schreiben.

Aber sie hätte ihren Namen angeben müssen, ihre Wohnung. Sie hätte
diesem fremden Mann gegenübertreten müssen, ihn in ihr Zimmer führen.
Alles in ihr kochte auf vor Empörung. Wie kam sie dazu?

Sie ging geräuschlos in ihr Zimmer zurück. Als sie ihre Sachen auf dem
Boden verstreut sah, schüttelte sie wieder eine Welle Zorn.

Sie hatte jetzt keine Lust, aufzuräumen. Sie wollte auch gar nicht
sehen, was da alles lag, so roh herumgezerrt und herumgeworfen.

Sie drehte einen Sessel so, daß er der Verwüstung und dem Diwan den
Rücken drehte. Sie nahm ein wissenschaftliches Buch vor und versuchte,
zu lesen. Vom Diwan klang der regelmäßige Atem so rauh und schwer, daß
er gar nicht aus dem zarten Körper zu kommen schien. Und die Unordnung
hinter ihr bedeutete zugleich auch Unruhe. Es war, als ob die offenen
Schübe und Türen ein hilfesuchendes Klagen ausstießen. Und als ob sie
Augen auf dem Rücken hätte, die durch die Sessellehne hindurch immerzu
die weißen Flecke von Papier und Batist auf dem dunklen Teppich sahen.

Das Gehen und Reden draußen hörte auf. Es wurde still in der Wohnung,
still im Haus.

Die Heizung ließ nach, das Zimmer wurde immer kälter.

Die Kälte kroch vom Fußboden herauf in Mettes Glieder. Sie zog die Füße
auf den Sitz, aber auch das half nicht für lange.

Dicht neben ihr auf der Erde lag Giselas Mantel. Sie hob ihn auf und
legte ihn sich über die Knie. Eine Duftwelle stieg von ihm auf. Sie
schleuderte ihn angeekelt wieder auf den Teppich zurück.

Sie zittert vor Kälte, Aufregung und Müdigkeit. – – –

                   *       *       *       *       *

Lange nach Mitternacht stand sie leise auf, um sich vom nächsten Stuhl
ihren eigenen Mantel zu holen. Die erstarrten Glieder schmerzten bei
jeder Bewegung. So vorsichtig sie ging, die Dielen krachten unter ihrem
Schritt, und Gisela fuhr mit einem Aufschrei in die Höh’.

Ihre Augenlider waren dick geschwollen, das Haar hing in wirren Strähnen
um das blasse, verwüstete Gesicht.

„Wer geht da?“ rief sie, „oh, du bist es, Mette!“ sie lachte halb
verlegen, „ich dachte, es wären Einbrecher.“

„Ich habe ans Trocadero telephoniert,“ sagte Mette müde und ruhig. „Ich
glaube, Kayser war selbst am Telephon – du hast die Vorstellung
versäumt. Er war sehr wütend – du sollst morgen ein Attest beibringen,
oder du bist entlassen.“

„Wenn schon,“ sagte Gisela wegwerfend, „er soll sich nicht lächerlich
machen mit seinen Drohungen.“

Mette hob die Achseln: „Das kannst du ihm vielleicht selber sagen! Mir
war es unangenehm genug, mich von den Herren behandeln zu lassen, als
wäre ich daran schuld.“

„Arme Mette“ – das klang ehrlich bedauernd und ohne jeden Spott – „du
weißt gar nicht, wie leid du mir tust. Mußtest du armes kleines
Bürgerseelchen mit deinen tausend Ängsten an mich geraten!“ Sie
arbeitete sich aus den Decken heraus: „Ich war schon ziemlich bei mir,
vorhin, als ich den Revolver suchte, glaub’ mir! Ich weiß ganz genau,
was ich wert bin, und was für mich und alle das beste wäre.“

Sie saß auf dem Diwan und sah betrübt auf ihre schlanken Beine in
schwarzseidnen Strümpfen hinab.

„Meine Mutter hat mir immer prophezeit, daß ich in der Gosse ende. Schon
als ich ganz klein war. Ich muß bald enden, wenn es nicht doch noch
dahin kommen soll. Krank bin ich – vielleicht bin ich morgen brotlos –
meine Stimme ist hin, verbraucht, kaputt. Morgen such’ ich mir einen
Liebhaber im Klub, übermorgen im Kaffee, nächste Woche auf der Straße.“

Sie hob das Gesicht, das von Tränen überströmt war.

„Gib mir deinen Revolver, Mette, ich bitte dich, du tust ein gutes Werk.
Ich schreibe noch einen Abschiedsbrief, damit dich kein Verdacht trifft.
Ich bitte dich, sei barmherzig!“

„Ich habe ihn gar nicht mehr,“ log Mette, „ich habe ihn verborgt.“

Dabei fühlte sie sein Gewicht. Er hing vorn in ihrer Bluse, daß der
Kragen wie eine feine drückende Schnur auf ihrem Nacken lag.

‚Was soll nun werden?‘ dachte sie, ‚niemals werde ich von ihr frei
kommen. Es wird immer so weiter gehen, ich werde sie in meinem Zimmer
finden, jedesmal, wenn ich heimkomme, sie wird keinen Beruf mehr haben,
kein Geld, sie wird wie eine Klette an mir hängen – und das soll mein
Leben sein. Warum nur das alles? Wodurch habe ich das verdient? Nur weil
ich mir ihre Zärtlichkeiten habe gefallen lassen? Hat sie dadurch ein
Anrecht auf mich, habe ich mich in ihre Hände gegeben, mit Leib und
Seele?‘

Gisela kreuzte fröstelnd die nackten Arme über der Brust.

„Es ist kalt hier,“ sagte sie, „warum bist du nicht ins Bett gegangen,
armes Tierchen? Es ist doch sicher schon sehr spät – viel zu spät, als
daß ich noch eine Bahn nach Hause bekäme. Ach, ich bin wie gerädert.
Komm, Mettelchen, wir legen uns beide in dein Bett, damit wir warm
werden. Frierst du auch so mordsmäßig?“

„Nein,“ sagte Mette kurz. „Leg du dich nur ins Bett. Ich will noch ein
bißchen lesen – ich bin noch zu wach.“

Gisela schlüpfte aus den Schuhen und kroch ins Bett.

„Ich lege mich ganz an die Wand,“ sagte sie, „du hast noch Platz.“

„Ja, ja, danke schön.“

Mette saß wieder ganz still in dem tiefen Sessel ...

Das Gewicht des Revolvers ließ sie wieder eine feine drückende Schnur im
Nacken spüren ...

Sie dachte über sich selbst nach und ihr war schwindelig, als sähe sie
einen Abgrund, den sie überquert hatte, ohne seine entsetzliche Tiefe
gewahr zu werden.

Hatte nicht vor einigen Minuten eine Stimme in ihr geschrien: Tu es
doch, gib ihr den Revolver, laß sie ein Ende machen, dann hast du Ruh’!

Wenn sie es getan hätte, dann hätte ein Schuß gekracht, Blut und Hirn
hätte sie bespritzt, im Zimmer läge jetzt eine Tote – oder eine
Sterbende.

Und sie, Mette Rudloff, hätte einen Mord begangen!

Aus Feigheit, aus Bequemlichkeit, aus kleiner, erbärmlicher Selbstsucht.

Sie hatte diesen Mord in Gedanken begangen. Es hätte nur einer harmlosen
Bewegung bedurft ...

Und dann ...

Sie schauderte zusammen.

Vom Bett her klang ein tiefes, ruhiges Atmen.

Mettes Mund verzog sich zu einem höhnischen Lächeln.

‚Sie hätte es nicht getan,‘ dachte sie, ‚die hätte es nicht getan.‘


Eine Landstraße dehnte sich weiß im Licht. In schattendunklen Ecken, wo
die Sonne niemals hinkam, lagen noch kleine bräunlich-zermürbte
Fleckchen Schnee. Die Obstbäume an beiden Seiten der Straße hatten
kugeldicke Knospen, an denen die dunkle Hülle schon weißschimmernde
Streifchen sehen ließ. Der Wald in der Ferne war überflogen mit einem
rötlichen lebenverkündenden Schleier.

Mette und Sophie wanderten die Straße entlang.

„Gott, ist das schön,“ sagte Mette und zog mit offenem Mund die reine
starke Luft in die Lungen, „es war ein wundervoller Gedanke von Nora,
uns einmal hinauszujagen!“

„Nora hat immer wundervolle Ideen,“ meinte Sophie mit einem heitern und
zärtlichen Stolz. „Sie weiß immer, was ich brauche und was mir gut tut,
viel besser, als ich selbst. Ich weiß nun allerdings meistens nicht, was
mir fehlt. Tatsächlich – ich fühle mich unbehaglich und weiß nicht, ob
ich schlafen möchte, oder essen, oder spazierengehen. Aber Nora sagt mir
dann: du mußt dich hinlegen, oder: du mußt an die Luft – und es ist
immer das Richtige.“

„Du hast es gut,“ sagte Mette mit einem kleinen nachdenklichen Seufzer,
„aber du weißt es wenigstens – darum gönne ich es dir auch.“

„Ja, ich weiß es,“ das klang fast andächtig. „Ich hab’ es so
unmenschlich gut! Ich weiß es – und du weißt es. Aber die wenigsten
Leute sonst machen sich einen rechten Begriff davon. Ich glaube, sie
überschätzen mich vielfach. Man hält mich im allgemeinen für viel
stärker und selbständiger, als ich in Wirklichkeit bin – für viel
männlicher, können wir ja auch sagen. Und dabei bin ich im Grunde so
entsetzlich hilflos! Ich kann arbeiten – aber doch nur, weil ich weiß,
für wen ich arbeite. Ich glaube, wenn ich nach der Arbeit in eine leere
Wohnung hinaufsteigen müßte, ich würde wahnsinnig vor Einsamkeitsangst,
oder ich würde Abend für Abend im Kaffee sitzen und trinken und rauchen,
bis mir das Leben erträglich erscheint. Ich weiß, daß manche Leute mich
bedauern, weil Nora krank ist. Denke dir, vielleicht klingt es brutal
und herzlos – aber manchmal empfinde ich es direkt als ein Glück, daß
sie sozusagen mit dem Haus verwachsen ist. Das Haus und sie – es bleibt
immer auf demselben Fleck und ist immer da für mich.“

„Es erwartet dich,“ sagte Mette mit trübem Lächeln, „und im Grunde
freust du dich jetzt schon auf den Abend, wenn du wieder heimkommst. Das
ist für dich das Schönste an dem ganzen Ausflug.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Sie schritten bergan. Die Sonne brannte so, daß sie die Jacken öffnen
mußten.

„Was macht Gisela eigentlich?“ fragte Sophie. Man merkte es dem Ton an,
daß die Frage beiläufig und harmlos klingen sollte, und vielleicht darum
schon dreißigmal im letzten Moment zurückgehalten worden war.

„Es geht ihr schlecht,“ sagte Mette trotzig, „hast du schon einmal
erlebt, daß es ihr nicht schlecht ging?“

Sophie schüttelte den Kopf:

„Daß du nicht mehr Einfluß auf sie hast! Du bist doch im Grunde so eine
gesunde und kraftvolle Natur. Aber sie zieht dich hinunter, anstatt daß
du sie heraufreißt. Woran liegt es, daß du gar keinen Einfluß auf sie
hast?“

„Das liegt daran, daß ich sie nicht liebe,“ sagte Mette in einer
verärgerten Stimmung, die ihr lange schweigend getragene Gedanken über
die Lippen drängte, „und daran, daß sie mich nicht liebt. Glaub’ mir, in
jedem großen Einfluß, den ein Mensch auf einen andern ausübt, steckt –
ganz unbewußt vielleicht und ganz verborgen – ein Stück Liebe. Ich
wenigstens bin sicher nur zu beeinflussen, wenn ich liebe.“

„Du wirst aber beeinflußt,“ Sophie wurde plötzlich sehr ernst, „obgleich
du ja nicht liebst, wie du sagst. Du glaubst nicht, wie du dich für
einen unbefangenen Beobachter verändert hast! Als wir dich
kennenlernten, warst du so kinderjung – selbst wenn du ernst warst oder
melancholisch, es war eine so ungebrochene Lebenskraft in dir. Du warst
– wie soll ich es nur sagen? – wie eine Flamme, die noch fast bedeckt
ist, aber man spürt, daß sie sich durchfressen wird und plötzlich hell
und sieghaft auflohen.“

„Und jetzt?“ sagte Mette trübe. „Jetzt glimmt es und schwelt, und die
Glut läuft an den Kanten entlang, und manchmal züngelt noch irgendwo ein
ganz schwächliches blaues Flämmchen auf, aber man sieht, daß es keinen
Atem hat, es wird erlöschen, die Glut wird erlöschen, und es bleibt ein
dunkler, kalter, halbverkohlter rauchender Haufen – kein Aschenhaufen,
denn der hat ja seinen Zweck erfüllt, der hat sich in Flammen verzehrt
und hat Wärme gegeben – oder sonst seinen Zweck erfüllt. Glaub’ mir, ich
könnte auch meinen Zweck in der Welt erfüllen, wenn er auch noch so
gering ist – es müßte nur einer Feuer in mich hineinwerfen, mich in
Flammen setzen – das Material ist ganz gut.“

„Vielleicht,“ lächelte Sophie, „ist jeder Mensch so ein Haufen
Brennmaterial – mehr oder weniger gutes. Manche haben die Flamme direkt
von Gott – manche haben sie von brennenden Menschen. Aber es kommt auch
dann immer noch darauf an, ob das Häuflein am richtigen Platz verbrennt.
Es kann einem einzigen Wärme spenden, es kann, in einem Maschinenkessel
eingesperrt, Wunder vollbringen und Tausende übers Meer führen – es kann
auch wild um sich brennen und Städte und Wälder in Asche legen. Aber,
schön ist es immer, wenn’s brennt, und wenn es Pech und Werg und
Moorerde ist.“

Mette hob die Achseln – ihr war, als höbe sie eine Last hoch: „Ich bin
am Verlöschen, glaub’ mir – und habe mit meiner Kraft keinen erwärmt und
kein Rädchen in Bewegung gesetzt – und bin noch nicht einmal ausgebrannt
– das ist das schlimmste!“

Sie gingen ein paar Minuten schweigend. Sophie stieß mit der Stockspitze
nach Kieseln, die im Wege lagen, als wollte sie sie zersplittern.

Plötzlich warf sie den Kopf hoch.

„Geh’ weg von hier!“ sagte sie zwingend, „pack’ deine Koffer und fahr’
morgen nach Hause!“

„Ich hab’ kein ‚Zuhause‘,“ sagte Mette bitter.

„Dann fahr’ irgendwohin – in eine fremde Stadt, oder in die Berge, oder
in ein Bad. Irgendwohin, wo du fremd bist. Such’ dir einen Kreis
intelligenter, anregender, aber vor allen Dingen reinlicher Menschen.
Ich würde sagen: such’ dir _einen_ Menschen – aber da ist mit Suchen so
wenig getan. Es ist ja auch vorgekommen, daß einer auf der Straße eine
goldene Uhr oder eine gefüllte Brieftasche gefunden hat – darum wäre es
doch recht töricht, auszugehen, um goldene Uhren oder Brieftaschen zu
finden. Aber was du hier um dich hast – das sind ja keine Menschen für
dich.“

„Und du?“ fragte Mette, „du und Nora, und Eccarius, und Zeeden und
Johannes? – Ich hab’ hier ein Dutzend Menschen, die mir wohlwollen, die
freundschaftlich für mich empfinden, deren Gesichter mir vertraut sind –
ach, du ahnst ja nicht, wie unendlich viel das schon wert ist!“

„Ach, weißt du,“ Sophie lächelte nachdenklich, „man hat überall Freunde,
auch wenn man sie nicht kennt. Man kann ihnen ja entgegenfahren, um sie
kennenzulernen! Ich mußte einmal nach Marburg an der Lahn – ich kannte
keine Seele da und fürchtete mich ein bißchen, wie ich so durch die
Nacht fuhr, einer unbekannten Stadt entgegen. Da fiel mir meine
Namensschwester ein, Sophie Mereau, nach der sie mich auch immer Sophus
nennen – ich hab’ dir ja ihren Briefwechsel mit ihrem verrückten Mann zu
lesen gegeben – ich dachte daran, wie sie nach Marburg fuhr, auf der
Landstraße im Postwagen noch dazu, und was für Mut dazu gehört haben
mag, sich von allen Freunden loszumachen und in ein ungewisses Leben
hineinzufahren – in ein Leben mit diesem tollköpfigen, heißblütigen,
grüblerischen Seelensadisten, diesem Clemens. Und ich freute mich auf
die Stadt – ich wollte die Gassen aufsuchen, durch die sie ihre
täglichen Gänge machen mußte, und wollte suchen, was vielleicht damals
schon so war und was sich verändert hatte. Du glaubst nicht, wie mich
das beruhigte.

Denke dir, du kämest in eine Stadt, in der deine besten Freunde gewohnt
haben, von der sie dir immer erzählt haben, vielleicht fändest du sogar
ihr Haus, ihre Wohnung noch unverändert – würde es dir fremd vorkommen,
auch wenn sie lange gestorben sind? Und eigentlich haben wir doch in
jeder deutschen Stadt gute Freunde gehabt. Geh’ nach Weimar – es hört
sich sehr lächerlich an, wenn man sagt: ‚um auf Goethes Spuren zu
wandeln.‘ Aber da ist kein Weg und kein Platz und kein Park und kein
Dorf in der Umgegend, das dir nicht vertraut vorkommt und wo du nicht
sagst: aha, das war da! und hier geschah das! Und wenn du durch die
Straßen gehst und die Gedächtnistafeln an jedem dritten Haus siehst,
dann kommt es dir vor, als wären es Türschilder von guten Bekannten, und
wenn du Lust hast, kannst du auch hinaufspringen und durch ihre
Wohnräume gehen – du bist bei Goethe ein ebenso gern gesehener Gast wie
bei Liszt – nur schade, sie sind gerade nicht zu Hause – es wäre schön,
ihnen einmal die Hand zu drücken – aber das ist ja nicht das
wesentliche. Wir wissen ja, was sie uns zu sagen haben. Wir nehmen
irgendwelche alte Briefe vor, zum Beispiel – ganz gewiß, wenn Goethe
noch lebte, würde er uns niemals lesen lassen, was er Lida schrieb – und
so kennen wir ihn ja eigentlich viel besser, als wenn wir ihn wirklich
gekannt hätten!“

„Wie du mich manchmal an Olga erinnerst,“ sagte Mette kopfschüttelnd.

„Das ist deine Freundin, die gestorben ist?“ fragte Sophie sehr zart,
mit Augen, in denen Angst und Trauer stand.

„Ja!“ Mette konnte lächeln. „Sie konnte auch Leute lieben, die hundert
Jahre tot sind. Nur daß bei ihr Leidenschaft werden konnte, was bei dir
doch immerhin mehr Freundschaft und Verehrung ist. Ich komme mir
manchmal sehr klein und sehr tierisch vor – aber mir gibt immer noch
eine warme Hand oder ein schlagendes Herz oder ein lebendiger Atem
tausendmal mehr das Gefühl menschlicher Nähe, als ein Bild oder ein
Buch, aus dem eine ganze Seele mich unverhüllt ansieht. Aber ich gebe
zu, daß das ein Manko ist.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Die Wege im Wald waren mit Tannennadeln bedeckt. Kleine Quellen, vom
schmelzenden Schnee gespeist, suchten sich hastig und rücksichtslos ihre
Straße meerwärts und überrieselten in vielfach geteilten, schmalen und
breiten Rinnsalen die Fußsteige, um sich in das Bachbett zu stürzen.
Gefällte Baumstämme lagen quer über den Weg und wollten umgangen oder
überklettert sein.

Nach jedem dritten oder vierten Baum schien ein ebener, weithin
sichtbarer, gebahnter Pfad zwischen den geraden Reihen der hohen
Fichtenstämme zu laufen. Der Boden war rings umher mit einer ganz
gleichmäßigen dicken Schicht abgefallener Nadeln überzogen, die unter
jedem Tritt leise knackten und knirschten.

Sophie und Mette schlugen irgendeinen dieser Wege ein, im Gespräch
vertieft. Aber sie merkten nach einer Weile, wie unter dem Nadelteppich
Moospolster sich hoben, Wurzeln sich streckten. Der Boden wurde
unebener, Löcher wechselten mit kleinen Hügelchen.

„Ich finde diesen Weg nicht sehr gepflegt,“ erklärte Sophie lachend,
„wollen wir umkehren oder sehen, daß wir hier irgendwo weiter und wieder
hinaus kommen?“

„Weiter,“ entschied Mette, „umkehren ist mir gräßlich! Dann hat man alle
Unannehmlichkeiten, die man noch in ganz frischer Erinnerung hat, noch
einmal zu bestehen und ist schließlich wieder am Ausgangspunkt. Lieber
will ich dreimal solange und über dreifach schwierigeres Gelände gehen,
aber geradeaus und auf unbekannten Wegen.“

„Das versteh’ ich,“ lachte Sophie, „ich hab’ immer gesagt, das muß das
schlimmste am Kinderkriegen sein, daß man es dreiviertel Jahr lang
vorher weiß. Nur nicht wissen, was einem bevorsteht. Also – dann:
durch!“

Jede Andeutung eines Pfades hatte längst aufgehört. Das Gestrüpp des
Heidelbeerkrautes schlug ihnen bis fast an die Knie und ließ kein
Plätzchen frei, wohin sie nur den Fuß hätten setzen können, ohne die
zähen, holzigen Stiele unter der Sohle zu biegen. Abgebrochene Äste von
der Größe junger Bäume, manche noch mit grünen Nadeln bedeckt, die
meisten nackte, schwarze, traurige Gerippe, mit grauer Flechte
überzogen, reckten sich ihnen entgegen, griffen mit Hakenarmen nach
ihren Füßen, ihren Kleidern, als böten sie allen Willen eines lebenden
Wesens auf, um sie nicht durchzulassen oder mitgenommen zu werden.

Die Stämme wurden schlanker, traten dichter zusammen. Ihre unteren Äste,
zu denen die Sonne niemals durchdringen konnte, waren abgestorben,
schwarz und dürr, grau übersponnen, und sie griffen nacheinander,
schienen miteinander verwachsen, daß die beiden sich nur mit Mühe durch
sie hindurchdrängen konnten oder sich bücken mußten, um unter ihnen
wegzukriechen, wobei sie dann doch mit den Köpfen anstießen und im
windzerwehten Haar allerlei abgesplitterte Zweigendchen oder trockene
Flechte mitrissen.

„Wir sind im Zauberwald,“ flüsterte Mette, „gleich kommt der Herr des
Berges, was meinst du – soll es ein Zwerg oder ein Riese sein?“

„Dort liegt das Feenschloß.“ Sophie deutete auf eine Stelle, wo es wie
eine goldene Wand durch die Äste schimmerte. „Wenn wir dort sind, sind
wir geborgen! Komm, Schwesterchen, gib mir die Hand, wir laufen, was wir
können!“

Sie strebten vorwärts, so rasch es ging. Dort hinter den Bäumen stand
lichter Himmel, sonnige Weite. Schon traten die Stämme mehr auseinander,
an den glatten Rinden spielten Sonnenflecke.

Sie traten wie aus einem Tor ins Freie. Ein Abhang lag zu ihren Füßen,
nach Süden gewandt, ganz getränkt und geblendet von Sonnenlicht.
Laubbäume standen hier, Buchen und Eichen, und streckten die ganze
Pracht ihrer kahlen Kronen wie starkes und zierliches Schmiedewerk gegen
den blauen Glanz des Himmels. Im Unterholz aber waren schon ungeduldige
Knospen gesprungen und falteten die fein gekrausten, von Frische
glänzenden Blättchen auseinander.

Zwischen dem grauen, verwitterten Laub am Boden drängten sich grüne
Spitzchen hervor, blaue Leberblümchen und weiße Windröschen hatten die
Kelche weit, weit aufgetan, um die kosenden Strahlen einzusaugen.

Ein breiter weißer Weg führte unten vorbei, von jungen Birken gesäumt,
deren schleierzartes, hängendes Astwerk besät war mit gelben
Blütenbüscheln. Er machte unter dem Abhang eine Biegung und lief ein
Stück sanft, fast eben, weiter talwärts. Da, wo man ihn aus den Augen
verlor, lag überraschend wie ein köstliches Wunder der glatte Spiegel
eines Sees so gleißend im Sonnenlicht, daß er die Augen blendete.
Daneben ragten rote Dächer, weißes Mauerwerk – das Ziel.

„Herrgott, ist die Welt schön!“ jauchzte Mette, „oh, Sophus, ich bin dir
ja so wahnsinnig dankbar, daß du mir das mal wieder zum Bewußtsein
gebracht hast!“

„Wir wollen oft zusammen ins Freie,“ sagte Sophie, „ich will dir alles
zeigen, was ich früher – ganz früher – so hundertmal gesehen habe, immer
in so verzweifelter Einsamkeit und immer in so zerfressender Sehnsucht
nach einem Menschen, dem ich das alles zeigen könnte. Wir müssen gehen,
wenn die Obstbäume blühen, und nachher, wenn der ganze Wald voll
Heckenrosen und Gaisblatt steht, oh, und im September, wenn das Laub
bunt wird.“ Sie faßte nach Mettes Hand und preßte mit einem fast
schmerzend festen Druck die Finger um das Gelenk. „Du sollst auch nicht
fortgehen – das war ja alles Unsinn, was ich dir vorhin gepredigt habe.
Wir werden schon sehen, dein Leben hier zurechtzukriegen – wir müssen
dir nur eine Arbeit suchen – und du mußt dir ein nettes, kleines Heim
einrichten, daß du nicht mehr in der scheußlichen Pension zu wohnen
brauchst – und dann mußt du feierabends kommen und gemütlich bei uns
sitzen, und einmal in der Woche müssen wir uns freimachen von aller
Arbeit und von morgens bis abends in den Bergen herumlaufen.“ Sie
wechselte plötzlich den Ton und sagte komisch trocken: „Und dann müssen
wir uns verlaufen und müssen die Dächer, aus denen das von Gott uns
bestimmte Mittagessen raucht, vor der Nase haben und an einem Abhang
stehen, den wir nicht hinunterkommen – oder?“

„Wir kommen!“ sagte Mette zuversichtlich. „Schon weil uns nichts anderes
übrigbleibt. Oder wollen wir uns vielleicht vom Ziel entfernen, um einen
bequemeren Weg zu suchen? Ausgeschlossen!“

Im Anfang, als die Füße in dem raschelnden Laub versanken, ging es ganz
gut. Aber auf dem letzten Streifen, kaum haushoch über der Chaussee,
standen wieder Fichten und Kiefern, und der nadelbedeckte Boden war in
der Sonne glatter als gebohntes Parkett.

Sophie, die das Bergauf-bergab von Kindheit an gewohnt war, stand – wenn
auch in letzter Zeit aus der Übung gekommen – doch auf festeren Füßen
als Mette, die von Schritt zu Schritt nach einem Ast suchte, an dem sie
sich halten konnte. Sophie streckte ihr die Hand hin, aber Mette schlug
ehrgeizig jede Hilfe aus; dabei fingen sie beide an zu lachen, über sich
selbst, über den andern, über das kleine Abenteuer, über Scherzworte,
die sie sich zuriefen, es brauchte nur der Warnung des andern, daß man
fallen würde, der Ahnung einer wirklichen leichten Gefahr, um das
Gelächter, das man unterdrücken wollte, in tolle, kindische Lustigkeit
ausarten zu lassen. Mette lachte, daß ihr die Tränen aus den Augen
stürzten, sie sah nicht mehr, wohin sie trat, die Füße glitten unter ihr
weg, ein Zweig, an dem sie sich hielt, knickte ab und blieb ihr in den
Händen; sie wäre unfehlbar gestürzt, wenn nicht Sophie, einen Fuß gegen
eine Wurzel gestemmt, sich ihr entgegengebeugt, sie aufgefangen und
gehalten hätte. Einen Augenblick lagen sie so Brust an Brust, heiß,
lachend, mit hastigem Atem und schlagenden Herzen. Im selben Augenblick
wurden beide ernst, neigten die Gesichter zueinander und legten
willenlos und demütig Mund auf Mund.

Mette schloß die Augen. Sie fühlte Sophies fiebernde Lippen auf ihren
Lidern, ihren Schläfen, ihren Wangen. Sie hörte ihre heiße Stimme
flüstern:

„Rühr’ dich nicht, wehr’ dich nicht, sonst stürzen wir beide hinunter!“

Sie dachte nicht daran, sich zu wehren. Sie dachte nicht daran, sich zu
rühren. Sie hielt reglos still, das Herz wurde ihr groß und warm, und
ihr war, als müsse es unter Liebkosungen aufblühen wie ein junger Baum
im Maienregen. – – –

                   *       *       *       *       *

Sie aßen Mittag unter dem freundlich winkenden roten Dach und fuhren
über den silbernen See und wanderten nach der Bahnstation, und waren
bald ausgelassen, bald sentimental, aber immer zuvorkommend und
ritterlich gegeneinander – und sie sprachen von tausend Dingen, nur
nicht von sich selbst und nicht von dem, was sie dachten und empfanden.

Auf dem kleinen Bahnhof saßen sie zwischen andern Leuten, schweigsam und
müde, und warteten auf den Zug. Die frühe Dunkelheit brach an, die
wenigen Laternen warfen trübes Licht in das blaue Dämmer. Mette fing an
zu frieren und drückte das Gesicht in den hochgeschlagenen Kragen.

Endlich kam der Zug. Sie suchten beide nach einem leeren Abteil, ohne
diese Absicht auszusprechen. Sie fanden eines und stiegen ein.

‚Nun wird alles gut,‘ dachte Mette, ‚ich will meinen Kopf an ihre
Schulter legen und mir leise gute Worte sagen lassen. Dann wird das
Frösteln aufhören.‘

Sophie saß neben ihr, ein wenig vorgebeugt, und sah aus dem Fenster,
ohne ein Wort zu sprechen – lange, lange. Draußen glitten Felder und
Wälder vorbei, immer dichter in Dunkelheit gehüllt, selten durch ein
helles Fenster, eine einsame Laterne unterbrochen. Endlich wandte Sophie
Metten das Gesicht zu – ein Gesicht, das im schwachen Schein des
flackernden Gaslämpchens gespannt in allen Zügen, ernst und totenblaß
aussah.

„Ich habe dir heut’ morgen etwas gesagt, Metti,“ fing sie an –
schwerfällig, stockend, und doch so, als hätte sie die letzte
schweigsame Stunde dazu verwandt, es auswendig zu lernen, „denk’, es
wäre das einzige gewesen, und vergiß alles, was ich sonst gesagt oder
getan habe. Ich hab’ dir gesagt: geh’ weg von hier! Und ich bitte dich
jetzt, wenn du das geringste – Wohlwollen für mich hast: geh’ weg von
hier! Ich weiß seit beinah’ dreißig Jahren, daß ich ohne Nora nicht
leben kann. Ich habe es mir selbst bewiesen – ich bin in jeder Hinsicht
verkommen, als ich den Zusammenhang mit ihr ganz verloren hatte, und ich
bin ein Mensch und ein Arbeiter geworden, von dem Moment an, wo sie bei
mir war. Ich lebe seit fünf Jahren in der Überzeugung, daß ich restlos
glücklich bin. Ich darf mir diese Überzeugung durch nichts erschüttern
lassen. Ich darf niemals auf den Gedanken kommen, daß es eine
Lebensmöglichkeit für mich gibt außer Nora. Sie würde es fühlen, und sie
würde gehen. Sie erträgt ihre Leiden nur, weil sie mir bedingungslose
Notwendigkeit ist. Sie würde ein Ende machen, wenn sie wüßte, daß ich
mich eine Stunde lang wohlfühle ohne sie. Vielleicht hast du uns so
gern, daß es dir ein Opfer ist, den freundschaftlichen Verkehr mit uns
aufzugeben. Ich möchte beinah sagen: ich hoffe es.“ Sie senkte den Kopf
sehr tief, damit man das Zucken ihrer Lippen nicht sah. „Aber ich weiß,
daß du dieses Opfer bringen wirst, weil du eine Ahnung hast, um was es
geht. Ich habe mich überschätzt. Es ist sehr schlimm, sich das
eingestehen zu müssen. Wenn du fort bist, werd’ ich es Nora beichten –
aber nicht jetzt, solange es ihr nur eine Minute die Ruhe nehmen könnte.
Ich würde auch jetzt nicht den richtigen Ton dafür finden!“ Sie sah
wieder aus dem Fenster.

Mette war die Kehle trocken.

„Natürlich,“ sagte sie gedankenlos, „selbstverständlich.“ Und immer
wieder: „Ja – selbstverständlich – natürlich,“ ohne zu wissen, was sie
damit meinte.

Als der Zug hielt, sprang Sophie heraus und faßte Mettes Ellbogen, um
ihr beim Aussteigen zu helfen. Aber sie ließ sie gleich wieder los, und
beide lächelten verlegen und schmerzlich.

Auf dem Bahnsteig gaben sie sich mit festem Druck die Hand.

„Komm gut nach Hause, Kind,“ sagte Sophie. „Und gut durchs Leben. Und
ich danke dir – für alles.“

„Ich dir auch,“ antwortete Mette tonlos.

Dann ließ die gute feste Hand sie los.

Einen Augenblick trafen sich ihre Augen, glitten ineinander, dann irrten
sie wie aufgescheucht nach irgendeinem hellen Fleck in der Ferne.

Sophie wandte sich. Sie vergrub beide Hände in den Taschen, drückte den
Kopf in den Nacken und schritt weit aus.

Eine Weile überragte sie noch das Gewühl der strömenden Menge, dann
tauchte die hohe Gestalt unter und verschwand.

Langsam, mit schweren Füßen, wandte sich Mette nach der andern Treppe.


Mette hatte das Fenster weit aufgemacht, einen Stuhl dicht daran
gestellt und saß nun, beide Arme auf die Brüstung gestützt, das Gesicht
in die Hände gelegt und starrte zu dem Stückchen Nachthimmel auf, das
die Häuser freigaben. Sie suchte den Antares – „ihren Stern“. Aber die
Mauern verbargen ihn.

Die Luft war weich und warm, fast schwül. Manchmal wehte von irgendwoher
ein Duft wie von Akazien oder Tuberosen. Irgendwo war Musik. Man hörte
mancherlei Geräusch aus dem Schacht des Hofes heraufdringen.
Geschirrklappern, Lachen, Sprechen, Singen – das kam, weil alle Fenster
offen standen.

Mette fühlte sich an irgend etwas erinnert, an eine sehr glückliche
Zeit, die begleitet war von diesen noch ungewohnten Geräuschen des
jungen Sommers. Aber sie konnte sich nicht besinnen, wann und wo das
gewesen war. Vielleicht in ihrer Kindheit, wenn sie abends am Fenster
ihres weißen Mädchenstübchens saß, zu den Sternen hinaufstarrte und in
den Garten hinunter und ganz erfüllt war von der ahnenden Erwartung des
Lebens, das kommen sollte – des großen, starken, brausenden Lebens,
dessen Widerhall an Sommerabenden das von Häusern umschlossene Viereck
zu durchzittern schien – so wie das Brausen des Meeres sich in einer
Muschel fängt und weitersummt.

Oh – wie schön müßte es sein, auf irgend etwas zu warten. Auf das
Namenlose, das Unbegreifliche ... vielleicht kam es doch noch! Was wußte
menschlicher Verstand! Vielleicht waren da oben keine Welten, wo
unselige Lebewesen von Qual zerfressen wurden und sich gegenseitig
zerfleischten. Vielleicht waren es Löcher im dunklen Vorhang, der den
goldenen Thronsaal verhüllt, oder Blumen auf dem Wiesenteppich, über den
die Seligen wandeln ...

Vielleicht war Sterben schön ...

Vielleicht war es ein Moment unbeschreiblichen Jubels, mit dem die Seele
sich aus dem zerfallenden Kadaver aufschwang ... vielleicht, sie schloß
die Augen – eine Welle der Erregung überflutete sie, daß ihr schwindlig
wurde – vielleicht würde sie im Augenblick des Sterbens Olga sehen ...
sehen? wenn der Mechanismus von Linsen und Sehpurpur und Nerven zerstört
war? ... aber fühlen ... ahnen.

Es gab nur zwei Möglichkeiten – entweder das Bewußtsein blieb erhalten,
oder es verflüchtigte sich. Im ersteren Fall war es kein größeres
Risiko, eine andere Daseinsform anzunehmen, als etwa die Wohnung zu
wechseln – im letzteren gab es keinen Schmerz, keine Reue, keine Trauer
über das vertane Leben ...

Mette starrte nach den Sternen. Sie dachte daran, daß Olga ihr einmal
erzählt hatte, wie sie durch die Kraft ihrer sehnsüchtigen Wünsche fast
die Seele vom Körper gelöst hätte und auf die Wanderschaft geschickt.
Mette fühlte, daß sie diese suggestive Macht über sich selbst nicht
hatte. Aber vielleicht konnte sie nachhelfen, der gefangenen Seele ein
kleines Tor aufsprengen – in der Brust oder in der Schläfe.

Ob sie wohl abdrücken würde, wenn sie jetzt den Revolver in Händen
hielte? – – –

                   *       *       *       *       *

Aber der Weg durch das Zimmer war weit. Eh’ sie den dritten Schritt
getan hätte, würde die feige Angst wieder da sein, und der brennende
Wunsch nach den ganz kleinen, dummen, niedrigen Freuden des Lebens ...
es müßte so nett sein, jetzt auf einer der Terrassen der
hellerleuchteten Kaffeehäuser zu sitzen, Eis zu essen und Musik zu hören
– nicht allein natürlich – in einem Kreis ruhiger, harmloser,
bürgerlicher Menschen.

Es müßte sehr nett sein ...

... schöne und elegante Frauen an sich vorübergehen zu lassen – die auf-
und abwogenden Leute zu bewundern oder zu bespötteln – sich von süßen
und sentimentalen Geigenmelodien streicheln zu lassen ...

Und Eis mit Früchten! ...

Freilich, Sterben war vielleicht schöner ...

Und es war eigentlich leichter –

Der Revolver lag so nah!

Sie wandte den Kopf nach ihm. Es war fast, als riefe er nach ihr. Aber
ihr Körper war schwer und wie festgekettet an dem Stuhl. Sie wußte:
‚Wenn ich jetzt aufsteh’, dann tu ich’s!‘

Aber sie stand nicht auf.

Draußen wurden lachende Stimmen hörbar, wurden lauter, kamen näher.

Man rief ihren Namen, klopfte an ihre Tür.

Sie brachen wie eine Horde in das stille Zimmer ein: Gisela, Kramer,
Giesbert, die Luigi, Willi Krafft und Johannes.

„Weiß Gott, sie sitzt im Dunkeln!“ „Hast du gemunkelt?“ „Machst du
astronomische Studien, oder willst du dich aus dem Fenster stürzen?“
„Mach hopp, dalli, komm mit, wir wollen noch ein bißchen bummeln! Es ist
eine herrliche Frühlingsluft draußen!“ „Atmest du nicht mit mir ...?“

Sie hatte sich nicht nach diesen Menschen gesehnt – nach keinem von
ihnen. Aber sie war fast gerührt, daß man sie nicht vergessen hatte. Sie
dachten doch an sie – sie wollten sie mithaben – sie hatten sie vermißt
– es war doch gut, nicht ganz allein zu sein auf der Welt.

„Gut,“ sagte sie heiter, „ich dachte gerade an Eis mit Früchten, als ihr
kamt! Es ist nett, daß ihr mich holt – aber ihr müßt mir fünf Minuten
Zeit lassen, daß ich mich anziehen kann – um eurer illustren
Gesellschaft würdig zu erscheinen.“

Mette holte ihr hübschestes Sommerkleid aus dem Schrank, den
kleidsamsten Hut – sie wußte selbst nicht warum. Aber sie hatte das
unklare Gefühl, als liefen heute alle Bewohner der Stadt auf der Straße
herum, um mit sehnsüchtigen Augen nach einem Menschen zu suchen.
Vielleicht traf sie für eine Sekunde ein Blick, der an ihr Gefallen
fand, aus irgendeinem Augenpaar, das ihr gefiel.

Es flog ihr durch den Kopf, während sie vorm Spiegel den Hut aufsetzte:
Vielleicht ist es das, was die Menschen so ruhelos umhertreibt, immer
von einer dieser sogenannten Vergnügungsstätten nach der andern – dies,
daß sie hoffen, irgendwo für einen flüchtigen Augenblick dem Menschen zu
begegnen, den sie suchen – den sie alle suchen, ihr Leben lang, weil sie
alle allein sind. – – –

                   *       *       *       *       *

Sie saßen erst in den Korbsesseln einer Kaffeeterrasse, bei kleinen
Lampen mit rosenbedruckten Seidenschirmen und Perlfransen, und aßen
Eisfrüchte und Waffeln und tranken einen süßen Likör, um einer
„Vergletscherung der Magenwände“ vorzubeugen, wie Giesbert sagte.

Aber die Luigi, die getanzt hatte, und Krafft und Johannes, die im
Konzert gewesen waren, hatten noch nicht zu Abend gegessen und äußerten
Sehnsucht nach einem reellen Beefsteak oder Schnitzel.

Man ging also zwei Häuser weiter in ein Weinrestaurant, wo die Musik
dieselben Stücke in etwas veränderter Reihenfolge spielte.

Nach dem Essen ging man in die nächste Bar, trank ein Glas
Schwedenpunsch und eine Flasche Sekt, und die Luigi tanzte mit Giesbert
und mit Krafft, was alle andern Tanzenden zum Aufhören und
interessierten Zuschauen veranlaßte. Mette fühlte sich ein wenig in
ihrer Eitelkeit geschmeichelt, weil sie zu diesen gut tanzenden Leuten
gehörte.

Als die Polizeistunde kam, machten die Kellner Rechnung, stellten eine
gedämpftere Beleuchtung her und zogen die schweren violetten Vorhänge
vor die Fenster. Niemand dachte daran, aufzustehen und zu gehen.

An einem Nebentisch saß eine schöne blonde Frau mit zwei Herren. Mette
sah die ganze Zeit zu ihnen hinüber. Die blonde Frau beobachtete alles
mit einer lachenden staunenden Neugier, als hätte man sie in einen
zoologischen Garten geführt, und die beiden hochgewachsenen Männer saßen
neben ihr, als hätten sie die Aufgabe, sie vor jedem frechen Blick und
jedem giftigen Hauch zu schützen.

‚Vielleicht ist das eine ihr Mann und das andere ihr Bruder,‘ dachte
Mette, ‚es ist ein Platz am Tisch frei – warum sitz’ ich nicht da?
Gehör’ ich nicht zu diesen Leuten? Meiner Familie nach, meiner
Erziehung, meiner Bildung, meinen Manieren? Der Glattrasierte ist sicher
ihr Bruder – er hat eigentlich ganz ihr Gesicht. Würde es nicht viel
besser zu mir passen, wenn ich mit ihm verlobt wäre und mit ihm und
meiner Schwägerin und meinem Schwager einen kleinen Bummel machte – sehr
hübsch wäre das. Warum wünsch’ ich mir das eigentlich? Wirklich nur,
weil ich Sehnsucht nach ganz klaren, bürgerlichen, reinlichen
Verhältnissen habe? ... oder weil die schöne Frau mir gefällt?‘

Als die drei Leute vom Nebentisch aufgebrochen waren, fing Mette an, es
langweilig und öde zu finden. Sie war müde und hatte reichlich genug,
aber ihr war doch, als müßte sie noch weiter, um irgend etwas zu
erleben, als müsse sich noch irgend etwas ereignen, was dieser sinnlosen
Vergeudung von Zeit und Geld einen Schein von Berechtigung gäbe. Sie
hatte Angst, daß es wieder so würde wie immer, wenn sie sich zeitiger
von der Gesellschaft trennte, weil sie die Langeweile nicht mehr
ertragen konnte und es dann am anderen Tage hieß: „Schade, daß du so
früh gegangen bist – es war noch so besonders nett nachher, wir haben
den und den getroffen, und wir waren so ausgelassen!“

Gisela bestand darauf, in den Klub zu gehen. Die andern, bis auf Krafft,
der keine Karte anrührte, nicht aus moralischen Bedenken, aber weil es
ihn tödlich langweilte, stimmten ihr zu.

Mette erschrak ein wenig. Sie wußte, daß es kommen würde, wie immer.
Gisela würde spielen und verlieren. Dann würde sie für Mette
weitersetzen und wieder verlieren. Dann würde Mette versuchen, etwas zu
retten und selbst setzen – mit ein wenig Vorsicht und Zurückhaltung. Und
sie würde zweimal gewinnen und dreimal verlieren. Oder auch umgekehrt.

Jedenfalls hatte die Stunde im Klub nachher immer ein paar hundert oder
ein paar tausend Mark gekostet, und Mette pflegte dann wochenlang die
verlorene Summe in Bücher umzurechnen, die sie in den Schaufenstern sah,
oder in schöne Holz- und Ledersachen. Oder sie betrachtete die Bettler
auf der Straße, die sie damit hätte glücklich machen können, und die
blassen Kinder, die mit wunschbrennenden Augen vor Spielzeug- oder
Süßigkeitenläden standen.

Gewiß – sie kam nicht in Verlegenheit. Sie konnte an die Bank
telegraphieren und hatte in wenigen Stunden Geld, soviel sie wollte. Sie
wurde nicht ganz klug aus den Bankabrechnungen – aber soviel wußte sie
doch, daß sie mehr als ihre Zinsen verbrauchte. Es gab ihr manchmal ein
unbehagliches Gefühl, fast wie einen leichten Schwindel. Aber dann
schalt sie sich philisterhaft und enggeistig. Sie würde ja nie Kinder
haben – und sie würde nicht lange leben. Vielleicht wäre es ganz gut,
einmal keinen Pfennig mehr zu besitzen, und so gleichsam auf des Messers
Schneide zu balanzieren. In solchem Augenblick würde sich erweisen, ob
die Kräfte des Lebens stark genug in ihr wären – vielleicht würde sie in
einem ganz bescheidenen, arbeitsamen Dasein – als Kellnerin, als
Verkäuferin – glücklicher werden. Vielleicht wäre äußere Not Anstoß
zugleich und Entschuldigung, den geliebten Revolver an der Schläfe
abzudrücken.

Es war nicht nur Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod, die Mette
veranlaßte, mit den andern in den Klub zu gehen. Gisela spielte mit mehr
Unglück als Leidenschaft, und wenn sie so dringend darauf bestand, den
Klub, irgendeine Bar oder eine Diele aufzusuchen, so tat sie es, weil
sie vermutete, Fiametta dort zu treffen. Mette wußte das. Sie waren
einander im Winter oft begegnet, und Mette freute sich jedesmal an ihrer
ausdrucksvollen und hochmütigen Schönheit und ärgerte sich jedesmal,
weil die andere immer gewählter angezogen, sicherer im Auftreten und vor
allen Dingen in besserer Gesellschaft war als sie selbst.

Da nichts und niemand in der Nähe war, um Mettes Aufmerksamkeit auf sich
zu lenken, hatte sie Zeit gehabt, in einem Pfeilerspiegel sich selbst zu
beobachten. Sie erschien sich sehr fremd, aber eben darum ganz annehmbar
– sie nickte ihrem Bild mit den Augen zu, als wollte sie sagen: Sei nur
ruhig, heut’ wird es uns gelingen, ein ebenso hochmütiges Gesicht zu
machen wie diese selbstbewußte Person! – – –

                   *       *       *       *       *

Als sie den Klub verließen, waren sie alle mehr oder weniger schlechter
Laune. Sie hatten alle verloren bis auf Johannes, der, die Hände voller
Scheine, mit Tränen in den Augen und flehenden Worten hinter Krafft
herlief, um ihm das Geld aufzudrängen.

„... das ist doch meins, Willi,“ hörte Mette, „das hab’ ich doch so gut
wie verdient! Davon weiß doch kein Mensch etwas!“

Willi Krafft wies ihn ab, mit kaum beherrschter Ungeduld, beide Hände in
den Jackentaschen vergraben.

Sie taten alle beide Mette leid. Und Kramer tat ihr leid, der unheimlich
viel verloren hatte und ganz blaß und einsilbig war.

Und Giesbert und die Luigi taten ihr leid, die sich gegenseitig Vorwürfe
machten, nicht wenigstens auf verschiedenen Seiten des Tisches gesetzt
zu haben. Und aus deren halblauten heftigen Worten etwas flackerte wie
jahrelang schwelender Haß.

Und Gisela tat ihr leid, weil sie elend und verfallen aussah wie eine
Schwerkranke – und weil sie die Fiametta nicht getroffen hatte.

Und sie selbst tat sich leid – oh, sie tat sich selbst so leid!

Sie waren alle schlechter Laune, aber niemand wollte nach Hause gehen,
um allein damit fertig zu werden.

Sie erwarteten alle noch eine Entschädigung für diese vergeudete Nacht,
einen tollen Rausch, eine große Lustigkeit – eine Sensation, ein
Erlebnis, eine Freude, oder eine Stunde Vergessen aller
Widerwärtigkeiten.

„Wo jetzt hin?“ fragte Giesbert und ließ mit etwas erzwungenem Übermut
den Stock tanzen, „Stimmung, Herrschaften, Stimmung. Der Kater hat
bekanntlich erst morgen in Aktion zu treten! Auf zum süßen Emil. Ich
taxiere, die überwiegende Mehrzahl unserer erlauchten kleinen
Gesellschaft wird sich da wie zu Hause fühlen.“

Sie bogen in eine stille, dunkle Seitenstraße. Still und dunkel lag da
ein kleines bürgerliches Bierlokal dritten Ranges. Eine ältere Frau mit
bloßem Kopf und Umschlagetuch schien auf einen herumschnüffelnden
kleinen Hund zu warten, den sie von Zeit zu Zeit lockte und rief.

Giesbert schien sie zu kennen. Er begrüßte sie durch einen
freundschaftlichen Schlag auf die Schulter und forderte sie auf, die
Haustür zu öffnen.

Die Alte übernahm die Führung, unter ständigen geflüsterten
„Obacht“-Rufen ging es Stufen hinauf und hinab, über einen
unbeleuchteten Hof, durch schmale Türen, enge, stockdunkle Gänge
zwischen dicken Friesvorhängen hindurch, bis Licht, Geräusch, Farben und
Stimmen einem plötzlich wirr und überraschend entgegenschlugen.

Der große langgezogene Raum, in einem fliederfarbenen Licht gebadet, war
mit raffiniertem Geschmack ausgestattet, schwarz und lila waren die
vorherrschenden Farben, schwarz war der dicke Teppich mit verstreuten
lila Blüten, schwarz die polierte Holztäfelung, schwarz der Marmorkamin,
die schweren Samtvorhänge, mit rasend verzerrten lila Ornamenten
bedeckt, schwarz Bronzen und Holzschnitzereien, die auf dem Sims der
Täfelung standen und sich von der fliederfarbenen Wandbespannung
abhoben.

„Hübsch,“ sagte Mette mit erstaunten Augen, „wie kommt das hierher?“

„Das haben ihm seine Freunde so eingerichtet,“ sagte Giesbert mit etwas
spöttischem Lächeln. „So als eine Art kleines Privatetablissement! Warum
soll es nicht hübsch sein? Es sind sehr reiche Leute darunter – und sehr
bekannte Künstler – Maler, Bildhauer, Innenarchitekten – was Sie wollen!
Der süße Emil liefert ihnen als Revanche den Sekt und die Gesellschaft!“

„Emil!“ rief Johannes einen schlanken, geschmeidigen, dunkellockigen
Mann an, „zeig’ doch unsern Damen einmal dein Lokal!“

Der Gerufene war mit viel Liebenswürdigkeit bereit. Er öffnete eine
schmale Tür, und man kam in einen trübe erleuchteten, nüchternen Raum,
in dem ein Dutzend braune Tische standen, auf denen jetzt schon die
leichten Rohrstühle aufgestapelt waren, und wo bunte Plakate von Bier-
und Tabakfirmen an den Wänden prangten.

An einem Tisch in der Ecke, der noch gedeckt war, lümmelten sich ein
paar junge Burschen mit Karten in der Hand.

Anstoßend war der eigentliche Schankraum, dessen Fenster auf die Straße
gingen. Wieder ein paar Tische und Stühle, die Theke mit den
blankgeputzten Bierhähnen, ein Orchestrion an einer Wand. Hier war es
fast ganz dunkel, nur eine kleine Notlampe über dem Büffet warf
blitzende Lichter auf das Metall. In einer Ecke sah man schattenhaft
zwei Gestalten, die miteinander zu ringen schienen, und hörte
unterdrücktes Gekicher.

Sie gingen in den ersten Raum zurück, und „Emil“, wie er von allen
Seiten gerufen wurde, war ihnen behilflich, einen bequemen Tisch und die
nötige Anzahl Stühle zu finden.

Mette betrachtete die Leute um sich mit einem Gemisch von Neugierde,
Teilnahme und Widerwillen.

Nicht weit von ihr saß ein fetter, schwarzbärtiger Mann, an seiner
breiten, behaarten Hand blitzte und funkelte ein rosiger Solitär. Mit
dieser dickfingrigen, ringgeschmückten Hand tätschelte er Kopf und
Schulter eines jungen, blassen Burschen, der offenbar einen
ausgewachsenen Sonntagsanzug anhatte und halb frech und halb verlegen
aussah.

An einem anderen Tisch saß ein vornehm aussehender alter Herr, dessen
feingezeichnetes Gesicht mit dem ergrauenden Spitzbart den Denker
verriet. Die eine der schmalen weißen Hände lag um den Fuß des
Sektkelches, die andere begleitete seine langen Reden mit einer Geste,
als stünde er auf der Tribüne oder auf der Kanzel. Seine schönen blauen
Augen glühten wie in einem Feuer jugendlicher Begeisterung. Ihm
gegenüber saß ein breitschultriger, stiernackiger Soldat mit einem
hübschen ehrlichen Bauerngesicht und grinste geschmeichelt und
verständnislos.

Mehr noch als die Männer zogen die Frauen Mettes Blicke an. Es war eine
ganze Stufenleiter von Erscheinungen da. Solche, die zum dunklen
Jackenkleid mit Aufschlag und Brusttasche den steifen Kragen, zum
kurzgeschnittenen Haar den kleinen Herrenhut trugen – andere, die sich
nur durch eine leise Schattierung verrieten – einige, aus deren scharfen
Zügen Geist und Charakter sprachen, andere, die ganz den Typ der Kokotte
vertraten.

Eine von allen fand Mette sehr schön. Sie war groß und schlank, hatte
kurze goldbraune Locken und Bau und Profil eines Griechenknaben. Sie war
in einer großen, ausgelassenen Gesellschaft, lachte viel und schien
schon leicht betrunken.

Eine süße, aufreizende und gedämpfte Musik ertönte hinter einem Vorhang.
Zwei junge Soldaten in Uniform hielten sich an den Hüften gefaßt und
wiegten den geschmeidigen Körper im Walzertakt. Sie setzten die Füße in
den schweren Stiefeln zierlich und behutsam wie Tänzerinnen – kein
Schritt wurde hörbar.

„Jetzt ist der Moment gekommen,“ entschied Giesbert, „wo wir uns einen
andudeln müssen. Ach Emil, wie ist doch das Leben bei dir reell! Wenn
ich denke, ich kriege eine Flasche Sekt, dann krieg’ ich sie auch, aber
wenn ich denke, ich kriege neune, dann kriegt sie die Bank.“

„Aber nein, Herr Giesbert,“ sagte Emil lächelnd, „Sie kriegen auch neun
Flaschen Sekt!“

Sie tranken Sekt, und Sekt mit Rotwein, und Sekt mit Porter, und
Benediktiner, und Schwedenpunsch, und Flips und wieder Sekt.

Mette trank ein wenig vorsichtig, und es machte ihr Spaß, zu beobachten,
wie sie alle, einer nach dem andern, anfingen, Unsinn zu schwatzen.

Aber obgleich sie noch ihrer Zunge und ihrer Gedanken Herr war, fühlte
sie doch das Blut etwas rascher kreisen und die Musik wie einen warmen
Strom durch ihre Nerven rinnen. Einen Augenblick, als sie die Augen
schloß, hatte sie den Wunsch und fast visionär auch die Vorstellung, am
Rhein zu sitzen, auf einer Terrasse oder in einem blühenden Garten, vom
Wasser her alte sentimentale Volkslieder zu hören und in einem
vertrauten Kreise eine duftende Maibowle zu trinken.

Als sie die Augen aufschlug und den rauch- und dunsterfüllten Raum in
den krankhaften Farben sah, faßte sie Grauen und Elend.

Sie waren so lustig geworden am Tisch, alle hatten sie weiche, offene,
brennende Lippen und glühende Augen, alle lachten und schmiegten sich
wie liebkosend in die Stühle oder tasteten mit den Händen nach einander.

‚Rausch, Rausch,‘ dachte Mette, ‚ich muß es doch erzwingen können, ich
muß doch empfinden können, was sie alle empfinden! Es war doch vorhin
schon so ein warmes Wohlgefühl in mir, ein leichter, gleitender
Schwindel – warum ist es nur schon wieder verraucht und alles so schal
und ekelhaft?‘

Sie stürzte rasch ein paar Gläser Sekt herunter. Aber sie spürte danach
nur einen dumpfen, lastenden Druck über den Augen.

Sie hielt die Hand über das Glas, als Krafft ihr einschenken wollte, um
sie ‚lustig zu machen‘:

„Bitte, nicht, ich habe schon Kopfweh, und lustig werde ich doch nicht.“

„Nimm doch ein bissel Koks, damit du den Kopf freikriegst,“ riet Gisela.

„Vielleicht.“ Mette war alles recht.

Von allen Seiten wurden ihr goldene und silberne Döschen gereicht.

Sie nahm ein wenig von dem weißen Pulver auf den Handrücken und sog es
in die Nase. Sie hatte die Vorstellung von stäubendem Schnee, als sie
die weißen Kristalle sah. Der Raum war schwül und dunstig, und die
Vorstellung tat wohl. Es war, als ob sie reine, klare Winterluft atmete.
Ihre Schädeldecke tat sich auf, und der drückende Nebel, der sich um ihr
Gehirn gelagert hatte, entwich. Schleier schienen vor ihren müden Augen
zu zerreißen, alles rückte näher, wurde fester in den Umrissen, klarer
in den Farben.

„Gott sei Dank,“ sagte sie erleichtert, „ich fange an, euch zu begreifen
– es ist wirklich ein herrliches Gefühl.“

Nur ließ die Wirkung bald nach. Sie versuchte es noch einmal.

Ihr Kopf war frei, ihre Gedanken fest. Sie fühlte sich wohl und sicher.

Giesbert machte ihr Komplimente, mit ein wenig schwerer Zunge:

„Fabelhaft, kleine Rudloff, fabelhaft! Das kleine Mädchen kann was
vertragen, allerhand Hochachtung! Die trinkt uns unter’n Tisch, Willi,
und schnupft uns unter den Fußboden, in den Keller, noch unter den
Keller – wir sind überhaupt gar nicht mehr da, so klein sind wir vor ihr
– sooo klein.“

Die kleine Luigi hatte mit Kramer den Platz gewechselt, um neben Mette
zu sitzen. Sie legte beide Arme auf ihre Stuhllehne und redete halblaut
auf sie ein:

„Sagen Sie mir ehrlich – warum können Sie mich eigentlich nicht leiden?
Ich habe Sie immer so furchtbar gern gehabt, vom ersten Augenblick an –
ich darf das doch sagen, nicht, Giselchen? Aber ich hatte immer das
Gefühl, daß Sie mich nicht leiden mochten! Ich bin Ihnen wohl zu
weiblich, nicht wahr? Aber – glauben Sie mir, das hat mit dem Äußeren
gar nichts zu tun! Oder mögen Sie gern kurzes Haar? Soll ich mir die
Haare abschneiden lassen?“

„Mette ist die einzige Frau der Welt, die ich heiraten würde,“ erklärte
der kleine Johannes wie ein schlaftrunkenes Kind, „Mette würde ich glatt
heiraten, wenn ich ein Mann wäre!“

„Gott, was hat die Frau für Fesseln!“ Krafft umspannte bewundernd Mettes
Handgelenke. „Zeigen Sie her! An den Füßen auch?“

Mette stemmte lachend die gekreuzten Füße gegen den Rand seines Stuhls.
Er streichelte ihre Knöchel in den dünnen seidenen Strümpfen.

„Du darfst sie streicheln,“ erlaubte Johannes großmütig, „weil es Mette
ist, darfst du!“

In Metten schwoll eine große und fast gerührte Freude. Sie fühlte sich
schön, begehrenswert und begehrt.

„Sie hat die schönsten Beine der Welt,“ sagte Gisela und schob Mette
lachend die Röcke bis an die Knie zurück. Mette ließ es ruhig geschehen.
Zum erstenmal sah sie selbst in einem Rausch von Stolz das vollendete
Ebenmaß ihrer schlanken Beine.

Das Mädchen am andern Tisch, das aussah wie ein Griechenknabe, versuchte
immer Mettes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jedesmal, wenn Mettes
Blick hinübertraf, führte die andere das Glas zum Munde. Erst hatte sie
es wie zufällig getan, jetzt lächelte sie und hob es ihr entgegen. Mette
lächelte wieder und trank ihr zu.

Jetzt wollte das Mädchen aufstehen; die Leute am Tisch suchten sie mit
Gelächter zurückzuhalten. Aber sie ließ sich nicht beirren.

Sie kam mit dem Glas in der Hand auf Mette zu. Die Bemühung, recht
gerade und sicher zu gehen, gab ihren Bewegungen eine besondere Anmut.

„Ich möchte mit Ihnen anstoßen,“ sagte sie mit einem trotzigen kleinen
Lachen.

Mette hob ihr Glas. Sie stießen an und tranken.

Die Fremde blieb stehen: „Und – ich möchte Ihnen auch einen Kuß geben –
das heißt, wenn Fräulein Werkenthin es erlaubt.“

Alle am Tisch lachten schallend auf und riefen alles Mögliche
durcheinander.

„Ich erlaube,“ sagte Gisela spöttisch.

„Sie hat gar nichts zu erlauben,“ widersprach Mette trotzig.

Die Fremde beugte sich schnell über sie, und Mette fühlte auf ihren
Lippen den offenen, heißen, weinfeuchten Mund – sekundenlang. Sie schloß
die Augen, und dadurch, daß ihr der Kopf in den Nacken gepreßt wurde,
dadurch, daß Krafft ihre Füße immer noch auf seinem Stuhl festhielt,
wurde ihr so schwindlig, daß sie sich mit beiden Händen an ihrem Sitz
festklammerte. Sie hatte das Gefühl, daß der Stuhl sich neigte, daß der
Raum schwankte, daß sie auf einer Schaukel wäre, die losgerissen durch
die Luft flöge, oder auf einem Schiff, dessen auseinandergeborstene
Planken von einem strudelnden Abgrund verschlungen würden.

Sie richtete sich auf und stieß die Fremde fast heftig vor die Brust, um
Luft zu bekommen.

In demselben Augenblick sah sie, daß Gisela aufsprang, totenblaß, mit
verzerrtem Mund und den Kopf vorgestreckt, wie ein sprungbereiter
Panther, mit brennenden Augen nach dem Eingang starrte.

Mette folgte unwillkürlich dem Blick, und sie sah noch den dunklen
Vorhang hinter den eben Eingetretenen zusammenfallen.

Neben der etwas gebeugten Gestalt Ulrich Zeedens stand Corona von
Gjellerström, am Arm eines großen, schlanken, eleganten Mannes.

Ihre Augen waren so groß und klar, ohne Erstaunen, voll prüfender
Neugier und von einem warmen, samtenen Glanz. Metten schien es, als
wären diese Augen nicht eines Armes Länge von ihr entfernt, so deutlich
sah sie das Spiel der Lider, die Lichtflecke in der braunen Iris, den
Schatten der Wimpern.

Diese Augen hoben sich mit sanftem Aufstrahlen dem Mann an ihrer Seite
zu, als hätten sie übergenug von dem Bilde, das sie eben aufgefangen,
ihre Lippen bewegten sich, der Mann nickte zustimmend, sie wandten sich
alle drei, und der Vorhang fiel wieder hinter ihnen zusammen.

Gisela riß ihr Glas vom Tisch und schleuderte es mit einem harten
Auflachen nach der Tür. Giesbert und Krafft packten sie sofort an den
Handgelenken. Sie wehrte sich, wollte sich freimachen, ließ schließlich
den Kopf auf die Brust hängen und brach in ein lautes haltloses,
hysterisches Weinen aus.

Die andern Leute, so sehr sie auch mit sich beschäftigt waren, wurden
aufmerksam.

Mette fing an, am ganzen Körper zu zittern.

„Fort,“ sagte sie halblaut, „nur fort, nur fort, nur fort.“

Sie hatte das Gefühl, als ob sie im nächsten Augenblick in das
schreiende Weinen einstimmen müßte, oder sich auf den Boden werfen, oder
den Tisch umstoßen und mit den Füßen in die Gläser und Flaschen treten.

Sie war froh, als sie endlich auf der Straße standen, in einer kühlen,
blauen Morgendämmerung, noch froher, als sie ein Auto fanden, das sie
alle aufnahm.

Die Luft gab ihr die Besinnung wieder. Ihr war übel und sterbenselend.

Sie beschwor die anderen auf den Treppen, auf den Gängen, keinen
unnötigen Lärm zu machen. Je mehr sie bat, desto übermütiger wurden sie.
Kramer hatte jeden Halt verloren; er wollte durchaus bei Frau Meidinger
anklopfen und sie ersuchen, ihm ein schönes Mädchen zur Verfügung zu
stellen.

„Es ist ihre Pflicht,“ lallte er, „sie ist die Mutter von diesem
sogenannten Etablissement hier. Sie kann es mir ruhig auf die Rechnung
setzen, sie setzt einem ja so alles auf die Rechnung.“

Als Mette ihre Tür aufschloß, wollte Giesbert sich mit hineindrängen.
Sie stieß ihn zurück, aber er packte sie, und in der offenen Tür
entspann sich ein Ringen, bei dem Giesbert Mette an sich riß und ihr
Gesicht und Hals mit wütenden Küssen bedeckte.

Plötzlich tat sich die Nebentür geräuschvoll auf, und Luise Peters stand
auf dem Gang, in einem seltsamen großkarrierten Morgenrock und einer
Nachtfrisur, zwei langen, glattgeflochtenen Zöpfen, und verlangte
energisch Ruhe.

Die kleine Luigi fand ihren unerwarteten Anblick so komisch, daß sie
sich bog und schüttelte und mit ausgestrecktem Finger auf sie zeigte.

Mette benutzte Giesberts überraschtes Herumfahren, um in ihr Zimmer zu
schlüpfen, die Tür zuzuschlagen und abzuriegeln.

Sie taumelte gegen den Schrank, an dem sie sich festhielt, an allen
Gliedern zitternd. Eine brennende Scham fraß an ihr, zernagte sie
innerlich, höhlte sie aus.

Sie krümmte sich und konnte doch den unablässigen, bohrenden Schmerzen
nicht entgehen. Sie wünschte sich fort und wußte doch, daß sie nicht den
Mut und die Kraft hatte, einen Handkoffer zu packen. Sie mußte fort
sein, wenigstens aus dem Haus, eh’ der Morgen kam. Es war undenkbar, daß
sie je wieder das gemeinsame Speisezimmer betrat. Undenkbar, daß sie
abwartete, bis Frau Meidinger ihr kündigte, weil sie solche Elemente
nicht in ihrem Haus dulden wollte.

Sie verspürte Grauen und Ekel vor sich selber. Dazu kam das körperliche
Übelbefinden, Schwindel, Müdigkeit, Herzschlagen, die gallige
Bitterkeit, mit der das Kokain ihr im Rachen brannte ...

Sie fühlte, daß ein Entschluß gefaßt werden mußte, und sie wußte nicht,
welcher.

Ihre Gedanken suchten in fiebernder Angst nach einem Halt, an den sie
sich klammern konnten. Sie suchten nach einem Menschen, dem sie beichten
konnte, und der die Macht hatte, loszusprechen. Sie suchten nach einem
Menschen, der sie vor sich selbst in Schutz nahm, vor dem sie knien
könnte, in dessen Schoß sie das Gesicht verbergen könnte, und der
gütige, starke Hände auf ihren Kopf legte.

‚Mutter,‘ schrie es in ihr, ‚Mutter!‘

Ihre Gedanken drängten zu Sophie – sie wehrte ihnen. In dem friedevollen
kleinen Haus, das ihr immer so tröstlich Zuflucht geboten hatte, war sie
zum Störenfried geworden. Nicht durch eigene Schuld, dachte sie bitter.

Olga – nur bei Olga war Rettung. Sie wollte den Revolver an die Stirn
drücken und wollte denken, es wären Olgas kühle feste Hände.

Und Olgas Hände würden alles Peinigende auswischen – auslöschen – Scham
und Reue und Ekel und Gram und hoffnungslose Verzweiflung. In der
nächsten Sekunde schon konnte das alles ausgelöscht sein.

Und wenn sie morgen tot war, war alles erklärt. Die kleine Luigi würde
es nicht verstehen. Sie würde immer dabei bleiben: sie war doch so
lustig gestern.

Aber Cora von Gjellerström würde es erfahren. Und sie würde sich der
heutigen Nacht erinnern – sie hatte Mette wohl gesehen, oh, Mette fühlte
noch ihren Blick – und sie würde ein wenig fröstelnd die Schultern
zusammenziehen bei dem Gedanken, daß sie eine Sterbende gesehen hatte.

Und Luise Peters würde sagen: das arme Kind, sie hat sich Mut
angetrunken.

Sophie würde sehr erschrecken – vielleicht auch sich grämen. Aber was
ging das Metten an! Sophie hatte sich ja auch nicht darum gekümmert, was
aus Mette wurde. Und sie hatte ja Nora ...

Es mußte schnell geschehen, eh’ jemand im Haus wach wurde. In zwanzig
Sekunden konnte es vorüber sein – alles vorüber ...

In dem Augenblick, als sie den Revolver aus dem Kasten hob, klopfte es
an die Tür.

Mette stand reglos und hielt den Atem an. Vielleicht sollte sie es jetzt
tun, gerade, schnell, gehetzt von dem ungeduldigen Klopfen.

Dann war es vorbei – dann sollte der, der da klopfte, ihretwegen die Tür
eintreten.

Ob es einen lauten Knall gab? Sie selber würde wohl nichts mehr davon
hören ... hoffentlich nicht – obgleich das Ohr von allen Sinnen am
längsten in Funktion bleiben sollte ... ach, vielleicht ging es gar
nicht so schnell – vielleicht hörte sie noch das Tür-Aufbrechen und
Gekreisch und Gejammer.

„Bitte, machen Sie auf!“ rief draußen eine ebenso flehende als fordernde
Stimme, „bitte, Fräulein Rudloff, machen Sie einen Augenblick auf.“

Das war nicht Giesbert, oder Mara Luigi, oder eins von den Mädchen. Das
war Luise Peters.

Vielleicht war sie krank und brauchte einen Menschen. Sie würde wohl
schwerlich in der Nacht an der Tür rütteln, um Mette eine Moralpredigt
zu halten.

Mette warf den Revolver achtlos in den offenen Kasten zurück und öffnete
die Tür.

Luise Peters drängte sich ins Zimmer. Breit und robust stand sie da, ein
wenig lächerlich in ihrem großkarrierten Morgenrock, trotz ihrem
angstblassen Gesicht.

Ihr rascher, wacher Blick traf den offenen Nachttischkasten und den
Kolben des Revolvers, der kaum sichtbar daraus hervorragte.

Aber sie verriet sich mit keiner Miene.

„Ich wollte Sie um Entschuldigung bitten, mein kleines Fräulein,“ sagte
sie mit gutmütigem Lächeln, „ich habe mich vorhin beschwert, weil ich
dachte, Sie kämen sehr lustig nach Hause. Aber ich merkte dann gleich,
daß Ihnen nicht gut war. Sie müssen sich gleich hinlegen – aber Sie
können ja kaum auf den Füßen stehen – darf ich Ihnen nicht behilflich
sein? Sie können es mir gern erlauben, ich versteh’ etwas von
Krankenpflege ...“

Während sie sprach, nahm sie Mette den Hut von dem wirren Haar. Sie
knöpfte ihr das Kleid auf. Sie hielt sie dabei wie eine Puppe immer in
einem ihrer starken Arme und drehte sie hin und her. Sie zog ihr die
drückenden Haarnadeln aus dem gelockerten Knoten.

Mette spürte plötzlich die warme Nähe eines Menschen, sie spürte die
guten, starken, sorgenden Hände – es war, als ob eiternde Wunden in ihr
aufbrächen und warmes Blut alle Schmerzen wegschwemmte – sie fing an zu
weinen, ein unstillbares, sanftes, erlösendes, qual-fortspülendes
Weinen.

„Ich bin noch zu klein,“ sagte sie unter strömenden Tränen, „Sie werden
denken, ich bin betrunken – aber es ist mein voller Ernst: um so
entsetzlich allein durch die Welt zu laufen, bin ich noch viel zu
klein!“ – – –

                   *       *       *       *       *

Drei Tage lang hielt Luise Peters Metten in einer sanften
Gefangenschaft. Sie ließ sie keine Minute allein, bestellte ihr das
Essen aufs Zimmer und wies jeden Besucher mit der Begründung ab, daß
Mette krank sei.

Metten war es ganz recht so. Sie selbst hätte die Kraft zu dieser Lüge
nicht gefunden, und doch fühlte sie die Notwendigkeit, sich von all den
Menschen, mit denen sie das letzte Jahr gelebt hatte, auf
Nimmerwiedersehen zu lösen.

Am ersten Tag versuchte Luise Peters Metten zu überzeugen – was nicht
schwer war – daß sie einen ganz unpassenden Verkehr unterhielte und am
besten täte, der Stadt und all ihren sogenannten Freunden den Rücken zu
kehren.

Am dritten – vormittags – erzählte sie Mette viel von ihrer Heimatstadt
– von der weitberühmten Sauberkeit, nach der sie sich immer zurücksehne,
von den Menschen, die für steif und förmlich galten, weil sie das Herz
nicht auf der Zunge trügen – die aber ehrlich wären und trotzig und treu
– und von ihrer kleinen schönen Stiefschwester Gwendolen, die in Mettes
Alter wäre, aber noch ein Kind – das vom ganzen Hause sorglich behütete
Nestküken. Das wäre eher ein passender Umgang für die arme kleine feine
Mette, als diese greulichen Weiber hier ...

Am Nachmittag half sie Mette die Koffer packen. Mette wollte fort – nach
der reinlichen Stadt, wo die flinken weißen Schiffchen das blaue Wasser
kreuzten.

Mette war sehr gerührt von all der Güte, und fast noch mehr von dem
Vertrauen.

Sie lächelte – ein schweres und wissendes Lächeln – als Luise Peters sie
zum Abschied in die Arme nahm und mit tränennassen Augen auf beide
Wangen küßte.

‚Im Grunde bin ich doch zehn Jahre älter als sie,‘ dachte sie traurig,
‚denn ich weiß, wovon sie Gott sei Dank keine Ahnung hat: daß sie
verliebt in mich ist! Weil sie ein wenig von der Veranlagung der
greulichen Weiber hat – sie würde es sich selbst nie eingestehen.
Vielleicht würde sie sich erschießen, wenn sie es sich zugeben müßte.
Gott gebe, daß es ihr niemals zum Bewußtsein kommt.‘

Der einzige, dem Mette noch einmal die Hand geben wollte, war Eccarius.
In seinem Gesicht stand viel Anteilnahme. Vielleicht hatte Luise Peters
ihm mehr erzählt, als sie sich Metten gegenüber den Anschein gab, zu
wissen.

„Sie sind mir noch ein Wort schuldig,“ sagte Mette mit einem mühsamen
Lächeln, „ich habe öfter in schlaflosen Nächten darüber gegrübelt und
wollte Sie fragen – dann hab’ ich’s immer wieder vergessen. Wissen Sie
noch – als wir einmal zu Frau von Hersfeld hinaus pilgerten ...“ eine
plötzliche Scheu hielt sie ab, Sophiens Namen auszusprechen, „da sagte
ich, es soll mein Wahlspruch sein: das Leben lieben und den Tod nicht
fürchten. Sie wollten aber den Satz nur umgekehrt gelten lassen ...“

„Ja,“ Eccarius nickte ernsthaft. „Den Tod lieben und das Leben nicht
fürchten! Oder in andern Worten – und das ist der Spruch, der über
_meinem_ Leben steht – ein guter Spruch, um ihn auf eine weite Reise
mitzugeben: Niemand darf sterben, ehe er den Tod nicht lieb gewann!“




   Irgendwohin
   führen die weißen Wege hinaus.
   Irgendwo bin
   ich auf der Erde doch auch zu Haus.


Mette saß auf der Terrasse mit den älteren Damen, mit Frau Konsul
Peters, mit Frau Senator Börgessen, mit Frau Generaldirektor Wietinghoff
und mit der jungen Frau Vandahl, die ihres Zustandes wegen ein wenig
schwerfällig war und lieber still im Korbsessel saß, als sich mit der
„Jugend“ im Garten zu vergnügen.

Die Damen hatten fast alle eine Handarbeit zwischen den Fingern und
arbeiteten mit mehr oder weniger Aufmerksamkeit. Das Gespräch floß dabei
sanft und ruhig fort, ohne Hast, aber auch ohne Stockung.

Mette sah auf den weißen Netzgrund, durch den sie unermüdlich, aber ohne
Eile, die Nadel hin- und herführte und freute sich im Stillen, daß sie
die Unterhaltung nicht in Gang zu halten brauchte. Sie durfte die Augen
auf ihre Arbeit gesenkt halten und brauchte nur aufzusehen und zu reden,
wenn sie gefragt wurde. Sie wirkte dadurch bescheiden und
jungmädchenhaft, und niemand ahnte, wie herrlich bequem sie das fand.

Sie hatte in den letzten Monaten mehr als ein dutzendmal auf dieser
Terrasse gesessen, aber an diesem Tage empfand sie zum erstenmal die
Schönheit des Gartens, die ruhigen Stimmen neben ihr, die hellen Rufe
vom Tennisplatz, alles, Farben, Düfte, Klänge mit einem unendlichen
Wohlbehagen, mit einer dankbar genießenden Freude.

Wochen und Wochen hatte sie in einem heimlichen Zittern gelebt, wie ein
Verbrecher auf der Flucht. Hundertmal hatte sie geglaubt, Gisela vor
sich zu sehen oder ihre Stimme zu hören, hundertmal, wenn sie einen
Brief von Luise Peters aufriß, erwartete sie die Nachricht, daß Gisela
Werkenthin ein entsetzliches Ende gefunden, hundertmal hatte ihr das
Herz schon so gewaltsam geschlagen, daß sie mühsam nach Atem ringen
mußte – hundertmal war Angst und Erschrecken umsonst gewesen.

Sie hatte sich oft vorgebetet, daß sie einen Skandal nicht zu fürchten
brauche, weil ihr an der Meinung und Gunst der Leute nichts gelegen sei.
Und doch hatte sie Momente, in denen sie sich eingestehen mußte, daß es
weniger gräßlich wäre, die Nachricht von Giselas Tode zu empfangen, als
sie plötzlich auftauchen zu sehen – hier zum Beispiel, auf der Terrasse
des Peters’schen Hauses – und irgendeiner aufregenden Szene beizuwohnen
– einer geschmacklosen Szene, zu deren Mittelpunkt sie wider ihren
Willen selbst gemacht wurde. Sie konnte sich eine solche Szene mit Rede
und Gegenrede bis ins kleinste ausmalen, so daß sie blaß und rot wurde,
und das Blut ihr in allen Pulsen hämmerte.

Und mehr als einmal faßte sie den Vorsatz, eine erstaunt-beleidigte
Haltung nicht zu verlieren, ein verständnisloses Lächeln festzuhalten –
wenn sie die Sicherheit fand, jede Bekanntschaft zu leugnen, dann
konnte, dann mußte man Gisela Werkenthin für eine Wahnsinnige halten und
sie durch die Diener hinausschaffen lassen.

In schlaflosen Nächten lebte Mette das wieder und wieder durch.

Sie sah Giselas Gesicht, so unbeherrscht, so verzerrt von Haß und
Schmerz und Rachsucht, wie in dem Augenblick, da sie Cora von
Gjellerström ihr Glas nachschleuderte.

Und sie hörte sich selbst mit sehr klarer und ruhiger Stimme sagen: ‚Es
tut mir so entsetzlich leid, gnädige Frau, daß ich die unschuldige
Veranlassung zu einem solchen Auftritt in Ihrem Hause bin. Aber ich kann
Ihnen nur versichern, daß ich diese ... Dame nie in meinem Leben gesehen
habe.‘

Es würde sich ganz gut machen, vor dem Wort „Dame“ eine kleine Pause zu
machen, viel besser, als etwa „Person“ zu sagen.

Vielleicht wäre es noch klüger, ganz sanft auf Gisela zuzugehen und in
einem Krankenschwesternton zu fragen: „Wollen Sie mir nicht sagen, woher
Sie mich kennen? Woher wissen Sie meinen Namen? Ich kenne Sie,
natürlich, aber ich kann mich im Augenblick nicht besinnen – wollen Sie
mir nicht helfen? Sind wir vielleicht zusammen in die Schule gegangen?“

Oder würde es nicht am Ende den günstigsten Eindruck hervorrufen, wenn
sie die Erschrockene spielte, wenn sie zitternd hinter einen Stuhl
flüchtete, oder sich schutzsuchend an eine der Damen klammerte: „Helfen
Sie mir nur! Was will sie denn von mir? Verstehen Sie, was sie von mir
will? Kennen Sie sie denn? Wissen Sie, wer das ist?“

Ja, vielleicht wäre das das natürlichste für ein wohlerzogenes und etwas
schüchternes junges Mädchen, wenn es von einer Geisteskranken angefallen
oder belästigt würde ...

Sie würde lügen, lügen bis aufs äußerste – obgleich ihr weder an der
Meinung von Frau Konsul Peters, noch an der Meinung von Frau Senator
Börgessen so sehr viel gelegen war. Aber sie wollte Ruhe haben, sie
wollte ganz eingehüllt sein in einen undurchdringlichen Mantel von
Wohlanständigkeit und hergebrachter Sitte, sie wollte nicht wieder am
Pranger stehen und sich das Hemd von den Schultern reißen lassen, kein
verächtlicher Blick sollte sie mehr treffen dürfen – ihre Haut war
empfindlich geworden, so übermäßig empfindlich – und ein Blick, in dem
nicht Wohlwollen und Freundlichkeit lag, tat ihr schon weh.

Oh, wie gut sie Olga Radó jetzt begriff, die sie verleugnet hatte, so
erbarmungslos verleugnet und preisgegeben. Die war schon müde gehetzt
gewesen, und ihre Haut war verbrannt gewesen von den vielen
verächtlichen Blicken – sie konnte keinen Blick mehr ertragen und wollte
es nicht. Sie fürchtete sich vor Blicken – fürchtete sich bis zur
kleinlichen Feigheit.

Aber vor dem geladenen Revolver fürchtete sie sich nicht ...

Jetzt war Mette ebenso weit.

Bereit, lieber zu sterben, als Verachtung zu erdulden.

Und bereit, zu lügen, mit ruhiger Stirn, mit klarer Stimme, mit kaltem
Blut zu lügen, nicht um Vorteil, nicht einmal um Achtung – nur aus
Scham, aus tiefster, abgründigster Scham – nur um sich den deckenden
Mantel nicht von der nackten Seele zerren zu lassen.

Nur daß Mette Rudloff Gisela Werkenthin nie geliebt hatte ...

Aber manchmal war ihr, als wäre sie jetzt fähig, auch ihre größte und
heiligste Liebe zu verleugnen.

Das war, wenn sie vor den Möbius-Mädeln zitterte.

Konnte es nicht sein, daß sie plötzlich Fannis und Emmis rotblonde Köpfe
hier irgendwo auftauchen sah? Konnte sie nicht ganz unvorbereitet einer
von den beiden gegenüberstehen?

Ja, dann konnte sie sich nicht damit helfen, daß sie sie für wahnsinnig
erklärte. An dem gesunden Menschenverstand der Möbius-Mädel würde
niemand zweifeln. Und hier schon ganz gewiß niemand ...

Aber was konnten die ihr schon nachweisen! Und immer konnte Mette jedem
Angriff durch einen Gegenangriff begegnen. Im Hause Möbius hatte Mette
Olga Radó kennen gelernt – ihre „Cousine“ hatten die Mädel sie mit Stolz
genannt. Sie brauchte ja nur bei ihnen sich nach ihrer „Verwandten“ zu
erkundigen und erstaunt zu fragen, ob es denn wahr wäre, daß Olga Radó
tot wäre? Ob sie wirklich sich erschossen hätte?

Nur weinen dürfte sie dabei nicht ...

Und wenn Mette nur daran dachte, daß sie nicht weinen dürfte, dann
stürzten ihr die Tränen stromweis über’s Gesicht.

Aber jetzt fing sie allmählich an, ruhiger zu werden. Sie dachte nicht
mehr oft an die Möglichkeit irgendwelcher Begegnungen. Mitunter
erschienen ihr auch die letzten Jahre ein wenig unwirklich, verschwommen
und fast bedeutungslos.

Die Erinnerung an Olga blieb. Aber am stärksten war jetzt die Erinnerung
an die erste Zeit ihrer Freundschaft, an die reine Anbetung, die Mette
da empfunden hatte, an Olgas geistige Überlegenheit, ihre vollendeten
Manieren, die bestrickende Vornehmheit ihrer Erscheinung und ihres
Auftretens. Mette dachte seltener an ihre herzverbrennenden
Zärtlichkeiten, seltener an die Qual des Abschieds, der nicht einmal ein
Abschied zu nennen war – seltener an ihren Tod.

Es war ihr manchmal ein schmerzliches und rührendes Vergnügen, sich
auszumalen, daß Olga noch lebte und plötzlich in diesen Kreis einträte.
Sie würde unter diesen eleganten, sicheren, gewandten Frauen die
eleganteste, sicherste, gewandteste sein – und wenn sie wollte, würde
sie es fertig bringen, in einer halben Stunde diese ganze kühle,
zurückhaltende und selbstbewußte Gesellschaft zu heller Begeisterung
hinzureißen.

Aber je klarer das Bild der lebenden Olga vor ihr aufstand, um so mehr
verblaßte die Erinnerung an die letzten Monate. Mitunter schien ihr das
ganze wie der Wirbel einer Karnevalsnacht, und sie war der Überzeugung,
daß niemand ein Recht hatte, aus dieser Zeit eine Vertraulichkeit
herzuleiten – ebensowenig etwa, wie man eine Dame bei nüchternem
Tageslicht daran erinnern darf, daß man sie auf dem Faschingsball unter
der Larve küßte.

Mette hatte die Larve und den Maskenflitter abgelegt, sie war wieder
Melitta Rudloff, und es wäre taktlos gewesen, auf irgendwelche
flüchtigen, halbvergessenen Beziehungen anzuspielen.

So sehr war sie Melitta Rudloff, daß sie manchmal Umschau hielt, ob sie
nicht jemand ihres Namens wüßte, dem sie sich anschließen, oder den sie
zu sich rufen könnte.

So müde war sie der jungen Freiheit.

Oder vielleicht der Gebundenheit.

Denn wenn sie irgendeine ältere Verwandte bei sich gehabt hätte, so
hätte sie sich eine Wohnung nehmen und viel mehr nach ihrem Geschmack
leben können.

Aber so war es ihr natürlich verboten, allein zu wohnen, ebenso wie sie
nicht in einem Hotel absteigen durfte, und ihr von Pensionen,
Kaffeehäusern, Restaurants und Theatern, ja selbst Straßen nur eine ganz
beschränkte Auswahl erlaubt war.

Manchmal war es ihr lächerlich vorgekommen, wenn man ihr ganz
erschrocken sagte: „O Gott nein, da dürfen Sie nicht hin – man sieht,
daß Sie hier fremd sind!“

Aber sie hatte sich immer gefügt.

Sie wußte zu gut, daß sie selber Maß und Urteil verloren hatte. Sie
hatte eine Zeitlang in trotzigem Selbstgefühl gedacht, daß sie alt und
gefestigt genug sei, um sich ohne Schaden jeden Umgang, jedes Buch, jede
Art des Lebens erlauben zu können. Sie hatte dann erfahren, daß sie
nicht schwimmen konnte in dem trüben strudelnden Wasser, in das sie
kopfüber hineingesprungen. Dicht am Ertrinken hatte ihr Stolz sie
verlassen, und sie hatte sich willenlos und dankbar von einer festen
Hand herausziehen lassen.

Nun hatte sie keine Sicherheit mehr. Sie hatte geglaubt, sich ohne
Gefahr ins Meer stürzen zu können – und war jetzt froh, wenn eine
kundige Hand ihr das Badewasser bereitete.

Sie geriet manchmal in eine leise Verlegenheit, wenn ein erstaunter
Blick sie traf, weil es sich herausstellte, daß sie ein Buch gelesen,
ein Theaterstück gesehen hatte, was sonst jungen Mädchen „ihrer Kreise“
streng verboten war.

Sie mußte manchmal einen burschikosen Ausdruck hinunterschlucken, der
ihr in den letzten Monaten so geläufig geworden war, daß sie nichts
Unpassendes mehr dabei finden konnte.

Manchmal dachte sie fast mit Dankbarkeit an Tante Emilie. Wenigstens
hatte sie gelernt, wie man Messer und Gabel zu halten hatte – es wäre
schlimm gewesen, wenn sie auch auf solche Dinge noch hätte achten, auch
da noch irgendeinen Verstoß hätte fürchten müssen. Aber was die äußere
Form betraf, war die „gute Erziehung“ ihr in Fleisch und Blut
übergegangen.

Es konnte vorkommen – wenn es ihr zweifelhaft war, ob ein Mädchen aus
guter Familie allein in die Oper gehen, oder sich von einem Bekannten,
den sie am Vormittag in der Stadt traf, in eine Konditorei zu einem
Stück Torte einladen lassen durfte – es konnte vorkommen, daß sie sich
in solchen schwierigen Fällen blitzschnell überlegte: was würde Tante
Emilie dazu sagen? Und da Tante Emilie so ziemlich alles für
unschicklich, verwerflich und sittenlos erklärte, so konnte Mette sicher
sein, auch in den Augen der strengsten Richterin einen wohlgefälligen
Wandel zu führen.

Sie hatte wahrhaftig schon erwogen, ob es nicht das vernünftigste wäre,
Tante Emilie kommen zu lassen. Dann hätte sie das unfehlbare Orakel in
Schicklichkeitsfragen gleich zur Hand – sie könnte eine Wohnung mieten,
die Möbel kommen lassen, ein Heim haben, Besuch empfangen, kleine
Gesellschaften geben – ach, und zu Streitigkeiten irgendwelcher Art lag
ja kein Anlaß vor.

Selbst Tante Emilie konnte gegen diesen Verkehr nichts einzuwenden
haben.

Mette war zahm geworden – es war etwas anderes, ob man die Welt, die
blühende, lachende Welt, immer nur durch das Gitter des Käfigs sah und
sich Kopf und Flügel an den Stäben zerstieß, um nur einmal aufzufliegen
... oder ob man abends müde geflogen, ein bißchen zerkratzt und
zerrupft, freiwillig in das behagliche Bauer zurückschlüpfte, um
geborgen zu sein.

Schließlich, die Tür blieb ja immer offen. Mette war mündig.

Und plötzlich fiel ihr dann wieder ein, daß sie es um kurze Monate zu
spät geworden war. Daß Olga Radó noch leben könnte, mit ihr leben, frei
von allen Sorgen und Schulden und Ängsten, in einem schönen behaglichen
Heim, wie sie es sich gewünscht hatte, daß sie leben könnte und
glücklich sein, daß ihr Lachen noch auf der Welt wäre, und ihre
glockentönige Stimme, und ihr schönes, stolzes Gesicht und ihre
zärtlichen kraftvollen Hände – daß das alles nicht vernichtet zu sein
brauchte, zerstört, weggeweht, ausgelöscht – wenn Tante Emilie nicht
gewesen wäre.

Und dann schlug der Haß wieder wie rote Flammen in ihr hoch ...

Die Stimmen vom Tennisplatz kamen näher. Die weißen Kleider schimmerten
durch das schwarzrote Laub der Blutbuchen und das goldfarbene des
Ahorns. Jetzt bogen die ersten um die Ecke und schritten um das
Rosenrondell herum auf die Terrasse zu: Gwendolen und Fred Wietinghoff.

Frau Konsul Peters lächelte ihrer schönen Tochter entgegen. Dies Lächeln
zeigt noch mehr von den langen vorstehenden, etwas auseinandergerückten
Zähnen, die, mit Plomben aller Art versehen, mit weißen Porzellanflecken
geziert, mit haarfeinen Goldleisten umgeben, dieselbe Farbe hatten, wie
die großen mattgrauschimmernden Perlen in den schöngeformten Ohren, und
den Eindruck von unendlich zerbrechlichen und kostbaren Wesen machten,
die um jeden Preis und mit zartester Sorgfalt erhalten werden mußten.
Mit andern Zähnen wäre das regelmäßige, etwas welke und hochmütige
Gesicht – das unverändert, der wechselnden Mode zum Trotz, von
hochstehendem, sorgsam gewellten und sorgsam unter ein Netz gebrachtem
dunkelblonden Haar umgeben war, – fast schön zu nennen gewesen.

Sie lächelte stolz und wohlgefällig. Und sie war dazu berechtigt.

Mette war von neuem entzückt, wie Gwendolen die schmalen Füße mit den
federnden Gelenken schön und sicher setzte, wie die schlanken, festen
Formen sich unter dem weißen Kleid zeichneten, wie das lockige Haar in
der Sonne gleißte und flirrte.

Mettes Herz war voll lichter Freude bei diesem Anblick – aber es schlug
nicht um einen Schlag schneller.

Ihr Herz war ebenso froh, wenn sie Fred Wietinghoff sah, der neben
Gwendolen ging, viel größer als sie, breit in den Schultern, schmal in
den Hüften, alle Konturen der Muskeln zeigend unter dem seidenen Hemd.
Wenn er so kam, sah er aus wie ein Zwanzigjähriger. Aber wenn das Licht
ihm ins Gesicht fiel, sah man auf der klaren, goldbraunen Haut scharf
eingeritzte Fältchen um Mund und Augen, und in dem glatten metallblonden
Haar ein paar weiße Fäden an den Schläfen.

Aber sie freute sich auch, wenn sie Vandahl sah, der schon von weitem
die aufleuchtenden Augen seiner jungen Frau suchte und ihr grüßend
zuwinkte.

Und sie freute sich, wenn sie dann hinter den andern Heinrich von
Rantzau und den jungen Lucius auftauchen sah, so eifrig in ein Gespräch
vertieft, das der Jüngere mit weitausholenden Gesten begleitete, als
gingen sie irgendwo über einsames Feld, und nicht auf eine Gesellschaft
von Leuten zu, die sie erwartete und beobachtete.

„Kinder, ich verdurste!“ Das war Gwendolens erstes Wort, während sie die
letzten Stufen der Terrasse im Sprung nahm.

Sie lief auf den Teewagen zu, der hinter Mette stand, und goß
Himbeersaft und eisgekühltes Wasser in ein geschliffenes Glas.

Fred Wietinghoff nahm ihr mit großer Ruhe das Glas aus der Hand, als sie
es zum Munde führen wollte und trank es aus.

„Was heißt das?“ fragte sie verdutzt und empört.

„Ich opfere mich mal wieder für Sie,“ sagte er mit unerschütterlichem
Gleichmut, „ich habe Sie eben vor einer Lungenentzündung bewahrt. Bitte,
wenn Sie Durst haben, trinken Sie Tee. Darf ich Ihnen eine Tasse
zurechtmachen?“

„Ich will Wasser trinken!“ Gwendolen stampfte ungeduldig mit dem Fuß,
„geben Sie mir die Karaffe, ich verdurste!“

„Sie verdursten noch lange nicht,“ gab Wietinghoff zurück, „Sie haben
ein ganz – klein – wenig Durst. Da Sie aber noch nie in Ihrem Leben
Durst gelitten haben, so haben Sie gar keine Vergleichsmöglichkeiten.
Trinken Sie eine Tasse lauwarmen Tee, das wird Ihnen sehr gut tun.“

„Ich mag aber keinen lauwarmen Tee,“ sagte Gwendolen zwischen Lachen und
Ärger. „Ich trinke im Winter heißen Tee und im Sommer kaltes Wasser. Ich
will Wasser trinken, und wenn ich eine Lungenentzündung kriege, geht es
Sie auch nichts an.“

„Ach Gott,“ machte Wietinghoff bedauernd, „die kleine Siebzehnjährige!
So jung sind Sie gar nicht mehr, daß Sie sich damit ‚nüdlich‘ machen
könnten. Sie denken sich das wohl sehr romantisch, wenn Sie, erhitzt vom
Spiel, in jugendlicher Unbesonnenheit ein Glas eiskaltes Wasser
herunterstürzen und dann in der Blüte Ihrer Jahre durch eine
Lungenentzündung dahingerafft werden.“ Er saß auf der Lehne eines
Korbsessels und schaukelte den einen Fuß im absatzlosen weißen Schuh in
der Luft: „Lungenentzündung ist eine gräßliche Schleim- und
Spuckangelegenheit – nicht ein bißchen poetisch. Es gibt überhaupt keine
poetische Krankheit,“ er reckte sich ein wenig in den Schultern, „nur
Gesundheit ist poetisch – aber von einem Säbelhieb bis zum Nervenfieber
ist alles prosaisch und ekelhaft und meist mit schlechten Gerüchen
verbunden.“

„Oh, Fred, Sie sind widerlich,“ sie drehte ihm den Rücken, „Sie sind
absolut nicht salonfähig – ich werde es Ihrer Mutter erzählen.“

„Och, die denkt, Sie verleumden mich!“ er lächelte behaglich und etwas
boshaft, „die weiß auch, daß Sie mich nicht leiden können.“ – – –

                   *       *       *       *       *

Vandahl hatte sich einen Hocker dicht neben den Stuhl seiner jungen Frau
gerückt. Mette sah, wie seine großen, gutgeformten Hände verstohlen die
Falten ihres Kleides streichelten.

Aus ihren sanften braunen Augen floß fortwährend ein leuchtender Strom
von Zärtlichkeit über ihn hin.

Mette hatte ein wenig Angst um sie. Sie sah so glücklich aus, und sie
liebte ihren Mann anscheinend so abgöttisch und wurde ebenso abgöttisch
wieder geliebt. Wenn sie nur ihre schwere Stunde erst gut überstanden
hätte! Der Wunsch brannte in Mettes Herzen wie ein stilles Gebet.

Rantzau und Lucius standen gegen die steinerne Brüstung gelehnt. Mette
hörte nur abgerissene Bruchstücke ihres Gesprächs, wenn die andern
schwiegen:

„Warum nicht? Die Elektronen, die als sogenannte Kathodenstrahlen
abgeschleudert werden, haben eine Geschwindigkeit von zirka einer
Viertel Million Kilometersekunden.“

Das war Rantzaus tiefe, ruhige, klangvolle Stimme.

Gwendolen setzte sich auf Mettes Stuhllehne und legte den Arm um ihre
Schulter.

„Schützen Sie mich, Mette,“ sagte sie, „alle Menschen ärgern mich und
sind scheußlich zu mir. Sie sind der einzige Mensch hier, den ich
wirklich lieb habe!“

„Oh, Gwen,“ Mette sah lächelnd zu ihr auf. „Es ist gut, daß Sie heute
Abend über keine Brücke mehr gehen.“

Gwendolen machte ein ernstes Gesicht:

„Ich werde einmal jemand umbringen,“ sagte sie, als erzähle sie Märchen,
„und werde die Leiche im Keller verscharren und alles wertvolle stehlen
und im Wald vergraben. Dann werde ich irgendwohin gehen – aufs Gericht,
oder auf die Polizei oder zum Senat und werde alles erzählen. Und dann
werden die Leute lachen, oder sie werden mich bedauern und werden sagen:
‚Das arme Kind! Sie hat Fieber, sie phantasiert – das ist Konsul Peters
seine Kleine. Krischan, nehmen Sie ein Auto, bringen Sie die lütt’ Deern
tu Hus, die Mudder schall se in’t Bett packen, se kriegt die Masern.‘
Und dann bringt mich der Gerichtsdiener oder der Wachtmeister nach
Hause, damit mir ja unterwegs kein Malheur passiert ... oh, Mette, haben
Sie von den Mürbekuchen gegessen? Die macht Deuli immer so großartig!
Dafür lohnt es sich direkt, zu leben. Aber ich habe noch nie genug davon
gekriegt. Ich hab’ mir ausbedungen: wenn ich einmal heirate, will ich
als Hochzeitsgeschenk von ihr eine Badewanne voll Mürbekuchen haben. Und
an meinem Hochzeitstag esse ich von morgens bis abends Mürbekuchen.
Essen Sie doch, Mette – ich glaube wirklich, Sie leben von Luft und
Liebe.“

„Von Luft vielleicht,“ sagte Wietinghoff sachlich, „soweit ich Ihren
Konsum an dem andern eben genannten Volksnahrungsmittel beurteilen kann,
würde ich bei Ihrem Jahresquantum nicht eine Woche bestehen.“

Mette gab sich Mühe, seine Worte nicht zu verstehen.

„Ich möchte von Luft leben,“ sie sog die Luft ein, die über den Garten
herüberwehte. Trotz des Rosenduftes war sie stark und herbe, und
schmeckte ein wenig nach Meer. „Von viel frischer, reiner Luft!“


Mette wartete – schon im Abendkleid – in Gwendolens weißem Zimmer. Sie
waren zu einer Tanzgesellschaft geladen, die ziemlich früh ihren Anfang
nahm, und Mette sollte im Petersschen Wagen mitfahren – aber Gwendolen
hätte um nichts in der Welt ein Rennen versäumt und war noch nicht
zurück.

Mette wartete. Es war warm und still und fing an zu dämmern. Das Zimmer
war geheizt, aber das Fenster stand offen. Das gab zusammen den Eindruck
eines Sommerabends, mehr als den eines Herbstnachmittags.

Mette dachte an den Abend mit einer Freude, die ihr selbst als kindlich
erschien. Es war so nett, sich hübsch angezogen in hübschen Räumen zu
bewegen, viele Bekannte zu treffen, zu plaudern, zu tanzen und sich ein
klein wenig den Hof machen zu lassen. Manchmal dachte sie wie mit einem
plötzlichen Aufdämmern des Bewußtseins: ‚Wie lange kann das dauern? Dies
plätschernde Treiben kann doch nicht ein Leben ausfüllen? Wann wird der
Tag kommen, da mir all dies schal und widerwärtig ist?‘

Aber sie verscheuchte diese Gedanken, wie man halb im Schlaf versucht,
das Erwachen zu verscheuchen und einen sanften Traum festzuhalten.

Endlich rollten draußen Räder, und eine Minute später war das ganze Haus
voll Leben und Bewegung: Klingeln riefen, das Haustelephon schnarrte,
Türen gingen, Schritte wurden laut, unten, oben, auf der Treppe.

Gwendolen riß die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Sie hatte für
gewöhnlich sehr lebhafte Bewegungen und pflegte öfter zu laufen, zu
hüpfen, zu springen, als zu gehen. Das alte Kinderfräulein mit ergrauten
Scheiteln folgte ihr mit ausgestreckten Händen, um den weißen Mantel in
Empfang zu nehmen, den Gwen von den Schultern zerrte.

„Rasch, rasch, Deuli, umziehen – das hellblaue, nicht das Taft, das
Georgette, das mit der Rose – oh, Metti-Betti, mein Armes, sitzen Sie
schon lange hier? Aber Sie sind nicht ungeduldig geworden, nein? Ach,
Sie werden ja überhaupt niemals ungeduldig! Warum sind Sie nicht
mitgekommen! Es war fabelbar, einfach fabelbar! Ich verstehe Sie nicht!
Wie kann man sich nichts aus Pferderennen machen?!“

Mette lächelte:

„Vielleicht liegt es daran, weil ich niemals ungeduldig werde! Man darf
das eben nicht in aller Geduld abwarten, welcher Gaul nun zuerst am Ziel
ankommt! Die Ungeduld ist doch die einzige Würze dieses Vergnügens!“

„Ach, es ist zu herrlich.“ Gwendolen ließ Kleid und Unterrock auf den
Boden gleiten und trat mit einem großen Schritt aus den Sachen, die sich
hemmend um ihre Füße bauschten. „Wissen Sie, daß ich immer am ganzen
Körper vibriere? Die Wettlust – das hat mit dem Geldgewinn gar nichts zu
tun. Ich habe auch schon gesetzt,“ sie kauerte sich auf eine Stuhlkante
und zog die grauen Halbschuhe von den Füßen, ohne die Bänder zu lösen.
„Heimlich natürlich, denn ich darf ja nicht – Mama würde mich – aber
dann kann es mir passieren, daß ich mich während des Rennens gar nicht
mehr um den Gaul kümmere, den ich gewettet habe, weil mir ein anderes
Vieh sympathischer ist.“ Sie schleuderte das batistene Unterleibchen auf
einen Stuhl und löste die Schnüre des dünnen weichen Korsetts. „Deuli!
Du mußt mir den Tub bringen! Es war so heiß und staubig, ich kann nicht
ungewaschen tanzen gehen – sind Sie böse, Metting? Ach, wir kriegen von
dem Zimt immer noch genug, auch wenn wir eine Viertelstunde später
hinkommen!“ Sie zog die Strümpfe aus, während die Alte die Gummiwanne
hinstellte und den Hahn über dem Waschbecken aufdrehte.

„Soll ich solange nach nebenan gehen?“ fragte Mette.

„Ach wo,“ machte Gwendolen leichthin, „finden Sie etwas dabei, wenn ich
mich vor Ihnen wasche? Nur kaltes, Deuli, und einen Schuß Lubin hinein!
Ja, also, wenn mir ein anderes Pferd sympathischer ist, kümmer’ ich mich
den Deubel um das gewettete. Meistens wette ich ja auch nicht – ich
such’ mir einfach ein Pferd aus, was mir gefällt.“ Sie löste das Hemd
auf den Schultern, ließ es zu Boden fallen, trat in ihrer zierlichen,
schimmernden Nacktheit in das große Gummibecken und ließ den rieselnden
Schwamm über Gesicht und Nacken, Brust und Arme gleiten. „Huh, kalt,
aber schön! Das Wetten ist eigentlich nur Einbildung – weil die meisten
Menschen ihr Interesse nur auf etwas konzentrieren können, wenn sie
zwanzig Mark dran gewinnen oder verlieren können. Das Tuch, Deuli! Auf
das Konzentrieren kommt es nämlich an: Man sitzt auf diesem Pferd, nein,
man sitzt in ihm, man peitscht es an, mit jedem Atemzug, mit jedem
Gedanken, mit jedem Nerv, vorwärts, vorwärts, vorwärts, man sieht, wie
es zittert und schnaubt und schäumt und keucht und nicht nachläßt, immer
toller, je näher dem Ende, desto toller – weiter, weiter – oh, man
fiebert – und tausend Menschen fiebern mit einem, sie rasen, sie
schreien, sie peitschen alle mit ihrem brennenden Blut dieses eine
fliegende Etwas vorwärts – vorwärts, bis es durchs Ziel schießt. Ah! Das
ist die Erlösung! Die große Entspannung! Man ist ganz erschlagen, ganz
müde und ganz selig. Die Knie zittern einem so angenehm – wahrhaftig,
nach jedem Rennen zittern mir die Knie. Man hat gerade Zeit, sich zu
erholen, dann fängt die nächste Spannung an – ganz sanft, vorbereitend –
sich steigernd – bis zur Ekstase. Es läßt sich überhaupt nur mit _etwas_
vergleichen ... wissen Sie nicht, was ich meine?“

Mette schüttelte den Kopf.

„Ach Gott, wie soll ich es dann erklären! Deuli, hör mal weg!“ Die Alte
kniete auf dem Boden und zog mit behutsamen Händen die seidenen Strümpfe
über die schlanken, festen, weißen Beine. „Wissen Sie nicht, womit man
es vergleichen kann? Mit der Liebe natürlich!“

„Mit der Liebe?“ Mette machte ein verständnisloses Gesicht.

Gwendolen stand auf, um die zierlichen ausgeschnittenen Schuhe an den
Füßen festzutreten.

„O Gott, Mette, reizen Sie mich nicht! Ich kriege es fertig und spreche
es glatt aus – alles! Fragen Sie Deuli – es gibt nichts, was ich nicht
über die Lippen bringe! Mädchen, machen Sie doch nicht ein Gesicht, als
ob Sie noch an den Osterhasen glaubten! Wollen Sie mir erzählen, Sie
hätten noch nie geliebt?“

Mette schlug tapfer die Augen auf.

„Ich will Ihnen gar nichts erzählen!“ sagte sie ruhig.

„Oh, das war eine schlagfertige Antwort!“ Gwendolen verbeugte sich tief
und beschrieb mit der rechten Hand einen großen Bogen vom Herzen durch
die Luft, während sie mit der linken an den Korsettschnüren zog. „Mein
Kompliment, schöne Dame! Es war eine so nette Abfuhr, daß ich sie mir
gern gefallen lasse. Und trotzdem,“ sie trat einen Schritt näher und sah
Mette mit einem seltsamen Blick an, „trotzdem,“ sagte sie halblaut,
„werden Sie mir noch sehr viel erzählen. Nicht jetzt und nicht hier –
später – wenn ich Sie einmal darum bitten werde.“

Mette geriet in eine leichte Verlegenheit:

„Ach Gott, ich habe das überhaupt nur so hingesagt ... warum heißen Sie
eigentlich ‚Deuli‘, Fräulein Hellmann?“

Die Alte strahlte auf: „Das hat Fräulein Gwen immer gesagt, wie sie ganz
klein war. Sie konnte noch kaum sprechen, da rief sie immerzu ‚Deuli,
Deuli‘. Das sollte Fräulein heißen!“

„Das behauptet ihr!“ lachte Gwendolen und schlüpfte in die
bereitgehaltene, blaßblaue Seidenwolke, „ich hab’ immerzu ‚greulich,
greulich‘ geschrien, wenn ich dich gesehen habe!“ – – –

                   *       *       *       *       *

Mette tanzte. Die sanfte Bewegung, in welcher die Musik die gelösten
Glieder führte, tat körperlich wohl. Es tat gut, müde zu werden. Nur
wäre es fast besser gewesen, schweigend zu tanzen. Es war ein wenig
langweilig, immer auf dieselben Fragen antworten zu müssen – „Gnädiges
Fräulein sind wohl noch nicht lange hier?“ „Wie gefällt Ihnen unser
Städtchen?“ „Sind gnädiges Fräulein verwandt mit Konsul Peters?“

Dann kam Vandahl und holte sie zum Tanz.

„Gott sei Dank, daß Sie über mich orientiert sind,“ lachte sie.

„Leider bin ich das durchaus nicht,“ entgegnete er ernsthaft.

„Ich brauche aber wenigstens nicht zu informieren, wie lange ich hier
bin, und ob ich hier zu bleiben gedenke, und wo ich vorher war!“

„Nein, das ist allerdings das, was mich am wenigsten interessiert – und
das, was mich interessiert, beantworten Sie mir ja doch nicht!“

„Oh, bitte,“ sagte Mette höflich verwundert. „Ich glaube nicht, daß ich
Ihnen irgendeine Frage unbeantwortet ließe!“

Dabei ging ihr Herz schneller. Was vermutete dieser Mann hinter ihr, daß
er neugierige Fragen stellen wollte? Sie hatte heute noch lange, lange
ihr Gesicht vorm Spiegel geprüft. Es war glatt und faltenlos, ihr Mund
war kühl und etwas herb verschlossen, ihre Augen klar und ruhig. Ihr
Kleid war vom ersten Schneider der Stadt und ganz dem soliden Geschmack
der besseren Bürger angepaßt. Der beliebteste Friseur hatte ihr Haar so
geordnet, wie es in diesem Jahr „die Damen der Gesellschaft“ trugen.
Nein, es war nichts, aber auch nichts Auffälliges an ihr.

„Bitte, fragen Sie!“ sagte sie – vielleicht etwas zu liebenswürdig im
Ton, weil sie es weder zu herausfordernd, noch zu ängstlich sagen
wollte.

„Ich möchte wissen,“ begann er zögernd und tauchte dabei den lächelnden
Blick sehr tief in ihre Augen, „was eigentlich der Inhalt dieses schönen
Gefäßes ist, das ich hier im Arm halte. Ist es Milch oder Eiswasser oder
Sekt, was in Ihren Adern fließt?“

„Sekt doch wohl kaum.“ Mette versuchte, seinen Blick mit sehr
gleichgültiger Miene auszuhalten und verzog nur ein wenig spöttisch die
Lippen. „Oder finden Sie, daß in meinem Wesen so etwas Überschäumendes
ist?“

Er zog sie einen Augenblick so fest an sich, daß ihre Brust die seine
berührte.

„Es ist doch Sekt,“ sagte er leise mit zusammengebissenen Zähnen, „er
ist nur sehr gut frappiert. Aber wenn er warm wird, sprengt er die
Flasche – den Augenblick möcht’ ich einmal erleben!“

„Er wird nicht warm,“ sagte Mette und zog den Mund noch ein wenig mehr,
„es wird schon genügend für kalte Duschen gesorgt.“

Als Mette auf ihren Platz zurückkehrte, traf ihr Blick auf Heinrich
Rantzau, der, schwarz und schlank, an einem weißen Türpfosten lehnte.
Ihr Blick glitt weiter und über das heiße, strahlende Gesicht des jungen
Lucius. Ein paar Worte fielen in ihr Ohr:

„Hab’ ich zuviel getanzt?“

„Aber nein, mein Junge – amüsier’ dich nur.“

„Ich hatte Angst, du wärest böse ...“

Die abgerissenen Sätze verließen Mette nicht mehr. Sie summten ihr durch
den Kopf wie eine Melodie, die man nicht loswerden kann.

Fred Wietinghoff verbeugte sich vor ihr:

„Darf ich Sie zum Zweck eines Bostons aus Ihren sanften Träumen reißen?“
fragte er lachend. „Gestehen Sie mir – woran haben Sie eben gedacht?“

„Daran, daß ich heute keinen guten Tag habe,“ sagte Mette nachdenklich.

„Was heißt ‚guten Tag‘? Wenn Sie damit auf deutsch ^beau jour^ sagen
wollen, so wäre das ein ganz unverschämtes ^fishing^!“

„Ach, das meint’ ich wahrhaftig nicht,“ sagte Mette wegwerfend, „nein,
so einen Tag, wissen Sie, wo man Bühnenzauber im Vormittagslicht sieht
und überall die Maschinerie hervorguckt. Wo man die Drähte sieht, an
denen die Engel fliegen, und die Versenkung, aus der der Teufel
aufsteigt.“

Fred Wietinghoff lächelte, während er sie sehr sicher durch das Gewühl
der Tanzenden hindurchsteuerte. Es war ein gutes, schönes, weiches,
etwas mitleidiges und ein klein wenig triumphierendes Lächeln.

„Sie sind ja doch ein richtiges Mädelchen,“ sagte er.

„Wieso _doch_?“ fragte Mette mit etwas erzwungenem Lachen. „Natürlich
bin ich es, leider. Aber warum konstatieren Sie das gerade jetzt?“

„Weil das, was Sie eben sagen, so typisch dafür ist. Denken Sie sich
zwei Kinder: einen Jungen und ein Mädel im Theater. Und dann denken Sie
sich die beiden hinter den Kulissen. Das Mädel ist enttäuscht, weil die
Rosengärten aus Papier sind und die Goldkronen aus Blech und die Wolken
auf Gaze gemalt – und weil eben überall die Maschinerie herausguckt. In
dem Augenblick fängt der Junge erst an, sich für den ganzen Kram zu
interessieren: Wie kommt es? Wie entsteht es? Wie wird es gemacht? Die
Drahtvorrichtung, an der die Engel fliegen, oder die Versenkung, aus der
der Teufel herausgeschraubt wird – das ist ja millionenmal interessanter
als der ganze faule Zauber in bengalischer Beleuchtung! Haben Sie nur
den Mut zur Gründlichkeit – steigen Sie in die Versenkung und auf den
Schnürboden, in alle Tiefen und Höhen, und lassen Sie sich alles zeigen
und erklären, und prüfen Sie und untersuchen Sie – folgern Sie und
experimentieren Sie. Dann sitzen Sie mit dem Lächeln der Wissenden im
Theater und hören um sich die Ahs und Ohs der naiven Gemüter – und
wissen ganz genau, wie alles kommt. Und wenn Sie weit genug eingedrungen
sind, dann lassen Sie selber die Engel fliegen und den Teufel aufsteigen
– ganz wie es Ihnen beliebt!“

„Ich will aber gar nicht,“ klagte Mette eigensinnig, „ich will es von
weitem sehen und in feenhafter Beleuchtung, und wenn ich zehnmal weiß,
daß es gemacht ist, um mich zu betrügen, so will ich doch daran glauben
können!“

„Oh, Sie Frau!“ Er tanzte mit ihr aus dem Saal in ein kleineres Zimmer
und führte sie zu einem Sessel, „wenn es nicht so komisch wäre, müßte
man euch bedauern.“ Er zog sich einen Stuhl neben sie: „Die Frauen leben
doch von Illusionen!“ Er stützte die Ellbogen auf die Knie und die Stirn
auf die Handballen. Da der kleine Stuhl viel zu niedrig für ihn war,
hatte er es nicht schwer, die langen Arme und die langen Beine zusammen
zu bringen. Ohne aufzusehen, schüttelte er den Kopf in den Händen: „Was
macht denn eine Frau in der Ehe glücklich? Die Vereinigung? Fragen Sie
einmal nach! Für fünfzig Prozent der Frauen bedeutet sie ein Martyrium.
Nein, der phantastische Gedanke einer ewigen, unveränderlichen – einer
beschworenen und unterschriebenen Treue – das ist das eheliche Glück der
Frau!“

„Dann gibt es also eigentlich keine Frau, die in der Ehe glücklich ist?“
Mette lächelte traurig. „Höchstens solche, die sich einbilden, es zu
sein?“

„Das ist doch in der Praxis genau dasselbe.“ Wietinghoff zuckte leicht
die Achseln. „Ich möchte lieber krank sein und mir einbilden, ganz
gesund zu sein – wohlverstanden, solange ich mir das noch einbilden
_kann_ – als gesund sein und mir irgendeine schwere Krankheit einreden.
Die sogenannten Tatsachen sind doch im Leben das allerbelangloseste!“

„Ich möchte doch nicht in einem Wahn befangen glücklich sein,“ Mette
schüttelte wie abwehrend den Kopf, „lieber eine leidbringende Gewißheit,
als ein geträumtes Glück!“

„Dann sind Sie doch kein richtiges Mädchen,“ neckte Wietinghoff, „eben
wollten Sie doch noch Ihre Illusionen behalten – um jeden Preis. Aber
was ist überhaupt ‚gewiß‘, und was ist unsere Vorstellung? Damit
verlieren wir uns in die tiefsten Abgründe der Philosophie!“

„Also das, was man ganz landläufig unter ‚Gewißheit‘ versteht, meine
ich. Ich kann das Wort nicht leiden: ‚Was ich nicht weiß, macht mich
nicht heiß.‘ Es ist kein wahres Wort.“

„Es ist sehr wahr. Was Sie absolut nicht wissen und nie wissen werden –
das macht Sie auch nicht heiß. Nur was Sie zu spät wissen, kann Sie heiß
machen. Was Sie ahnen, fürchten, halb wissen.“

„Wenn Sie in einem glücklichen Rausch leben wollen,“ sagte Mette
trotzig, „dann können Sie sich betrinken oder Morphium nehmen ...“

„Das Zeug hält nur alles nicht vor,“ meinte Wietinghoff verächtlich,
„ich schwöre Ihnen, wenn es ein Gift gäbe, das einen fortwährenden und
ununterbrochenen, dreißig Jahre langen, heiteren Rausch verschafft, dann
wär ich der erste, es zu nehmen – und wenn die ganze Welt gegen das
‚Laster‘ anheulte. Merken Sie, wie wir langsam gewechselt haben?“ Er
lachte auf. „Jetzt sind Sie für Ergründung und ich für Rausch. Das
heißt, ich wäre dafür,“ setzte er ernsthaft hinzu, „wenn ich ein
schlechterer Rechner wäre! Alkoholiker, Morphinisten, Kokainisten und
wie sie alle heißen, sind keine guten Rechner. Sonst wüßten sie, daß
Rausch und Elend sich kompensiert. Und um dem Elend auch ja das
Übergewicht zu geben, werfen sie noch Kampf und Reue in die Wagschale.“
Er stand auf und reckte sich etwas. „Nein – der beste von allen Räuschen
bleibt noch die Liebe. Es ist nicht der stärkste Rausch – aber es ist
der erträglichste Jammer.“

Der Raum war jetzt ganz leer. Wietinghoff ging ein paar Schritte auf und
ab.

Mette saß in sich zusammengesunken.

„Und weiter gibt es nichts?“ fragte sie mit einer hilflosen
Handbewegung.

Er drehte sich rasch um und sah voll ins Licht. Seine großen dunklen
Pupillen zogen sich wie durch eine bewußte Muskelanstrengung zu
schwarzen Pünktchen zusammen, daß die tiefblau gerandete Iris eisgrau
wurde.

„Doch,“ sagte er aus der Tiefe der Brust, „Kraftrausch! Arbeitsrausch!
Denkrausch!“ Ein flüchtiger Schmerz glitt über sein Gesicht.
„Schaffensrausch – das ist der höchste und vielleicht auch der stärkste
– aber das ist der Kelch für den Priester und nicht für die Gemeinde. Im
übrigen ...“ er setzte sich mit einem Ruck wieder neben sie, „wozu red’
ich eigentlich auf Sie ein, wenn Sie gar nicht zuhören, sondern meinem
Freund Vandahl nachschauen, wie gebannt.“

„Er tanzt eigentlich sehr gut,“ sagte Mette gedankenlos – ihre Blicke
hatten wirklich Vandahl verfolgt.

„Sie müssen es wissen,“ meinte Wietinghoff spöttisch, „Sie haben ja
intensiv genug mit ihm getanzt!“

„Seltsam,“ sagte Mette, „daß Sie bei allem In-Anspruch-genommen-sein
noch Zeit und Sinn dafür haben, andere Leute zu beobachten.“

„Sie müssen nicht denken, daß ich den Eifersüchtigen spielen will,“ er
preßte einen Augenblick die Lippen zusammen, was ihm ein ganz
knabenhaftes Aussehen gab, „mit so verbrauchten Tricks arbeite ich
nicht.“

„Ich denke gar nichts dergleichen.“ Mette sah ihn mit ruhiger
Freundlichkeit an. „Aber ich kann Ihnen sagen, daß es mich freuen würde,
wenn Ihr Freund Vandahl etwas weniger – intensiv tanzte. Seine –
Intensität hat mir heute schon einmal die Laune verdorben. Er sollte
überhaupt nicht tanzen, wenn seine Frau nicht tanzen kann.“

„Er verlernt es,“ lächelte Wietinghoff. „Und vielleicht würde ihn seine
Frau gar nicht mögen, wenn er nicht so ein guter Tänzer wäre. Im übrigen
ist Vandahl wirklich der beste Ehemann der Welt ...“

„Wenn das der beste ist!“ seufzte Mette leicht.

„Ernstlich. Nur ein Mann, der die Frauen braucht, liebt und vergöttert,
kann ein guter Ehemann sein. Kann er in dem Moment, wo er eine von ihnen
heiratet, seine besten Eigenschaften ablegen? Wenn sie ihn glücklich
macht, ganz sicher nicht. Höchstens, wenn er einen Drachen erwischt hat,
wird ihm das ganze Geschlecht verleidet, und er zieht sich grollend an
den Stammtisch zurück.“

„Also eigentlich,“ lachte Mette, „ist es das Zeichen einer glücklichen
Ehe, wenn der Ehemann allen andern Frauen den Hof macht.“

„Natürlich,“ stimmte Wietinghoff vergnügt bei. „Wenigstens ein Zeichen,
daß die Frau dem Mann noch nicht alle Sympathie für ihr Geschlecht
ausgetrieben hat. Wenn ein Freund der Frauen nach der Verheiratung kein
Weib mehr ansieht, so hat er wahrscheinlich den Geschmack daran
verloren, weil er zum erstenmal eine gründlich durchschaut hat.“ – – –

                   *       *       *       *       *

An Heinrich von Rantzaus Arm ging Mette zu einem der kleinen
weißschimmernden, blumengeschmückten Tische. Sie hatte eine leise
Sympathie für Rantzaus stille und zurückhaltende Art und freute sich,
von ihm bevorzugt zu werden. Heut zum erstenmal wurde ihr die Ursache
dieser Bevorzugung klar. Er fühlte, daß sie keinerlei Ansprüche an ihn
stellte – sie verlangte keine Schmeicheleien von ihm, sie versuchte
nicht, ihn durch Blicke, Worte oder unabsichtlich scheinende Berührung
in Verlegenheit zu bringen – jedes Gespräch war ihr recht und ein langes
Schweigen fast noch lieber; er fühlte sich bei ihr nicht böswillig
beobachtet und konnte ohne Zwang, ganz kameradschaftlich mit ihr
verkehren. An all das dachte Mette nun zum erstenmal – aber es stieß sie
nicht ab. In seinem scharfgeschnittenen und energischen Gesicht lag ein
leidvoller Zug um den Mund, eine Last auf den breiten dünnen
Augenlidern.

‚Armer Hund,‘ dachte Mette, ‚ich will gut mit ihm sein. Wenn er auch
zehnmal sagt: amüsier’ dich, mein Junge – es tut ihm ja doch innen alles
weh.‘

Schräg gegenüber an einem anderen Tisch saß Gwendolen neben dem jungen
Lucius. Unter den vielen hübschen und frischen Erscheinungen war Gwen
unstreitig die schönste. Sie lachte und lockte und prangte wie ein
junger Baum in der Blüte. Ihre meerfarbenen Augen unter den gebogenen
Wimpern wechselten in fortwährendem Spiel von Hell und Dunkel. Ihr
zartes, weißes Gesicht strahlte in einem kühlen Rosenschein, wie
durchleuchteter Marmor. Bei jeder Bewegung tanzten die goldflirrenden
Löckchen ihr um Stirn und Nacken.

Rantzau folgte Mettes Blick, oder vielleicht suchten seine Augen auch
Lucius. Ohne jeden Zusammenhang mit früher Gesagtem fragte er plötzlich:

„Wie kommen Sie eigentlich zu der Freundschaft mit Fräulein Peters?“

Mette sah ihn etwas verwundert an:

„Sie fragen so, als ob irgend etwas Erstaunliches dabei wäre? Wir sind
doch ziemlich in einem Alter – ziemlich gleich erzogen ...“

„Merkwürdig!“ Ein leiser Spott zuckte um seinen Mund. „Sind das die
Gesichtspunkte, nach denen Sie Ihre Freunde wählen? Ich hatte Sie etwas
anders eingeschätzt!“

„Freunde!“ sagte Mette und zog die Brauen hoch. „Zu Freundinnen haben
andere Leute uns gemacht. Sie haben mich sicher noch nie sagen hören:
meine Freundin Gwendolen Peters. Ich habe in meinem ganzen Leben erst
von einem Menschen gesagt: meine Freundin ...“

Rantzau fiel ihr ins Wort, leise, flüchtig, und doch war eine verhaltene
Dringlichkeit in seiner Stimme:

„Sie sagen es nicht mehr?“

„Meine Freundin ist tot.“

Er schwieg. Er sagte kein bedauerndes „ah“ oder „oh“, und Mette war ihm
dankbar dafür.

Ihr war seltsam zumute. Sie saß in diesem fremden Raum, sah viele fremde
Gesichter um sich und erzählte einem fremden Mann von Olga Radós Tod.
Sie trug ein helles, festliches Kleid und hatte getanzt und gelacht und
geplaudert. Wein schimmerte vor ihr im geschliffenen Kelch, Blumen
leuchteten in kristallenen Vasen vom weißglänzenden Damast, und ihr Duft
mischte sich mit mannigfachem Wohlgeruch, der von nackten, gepuderten
Frauenschultern aufstieg. Stimmen schwirrten fröhlich durcheinander und
übertäubten doch nicht das leise Klirren von Glas und Silber und den
süßen Gesang der Geigen.

Und hier saß Mette Rudloff und zerschnitt auf dem Teller eine Scheibe
saftigen Rehbratens und sagte dabei:

„Meine Freundin ist tot.“

Die Tage und Wochen der Qual und Verzweiflung wollten wieder aufsteigen.
Mette hatte sie nicht vergessen: die Stunde, da sie es erfahren hatte,
den Augenblick, da sie den Revolver berührte, den Weg über die Straße,
als sie von Peterchen nach Hause ging und so gern ihr Gesicht vor den
Leuten versteckt hätte, weil sie das Gefühl hatte, als sei ihr ganzes
Gesicht eine offene blutende Wunde, in die jeder neugierige Blick
Schmutz und Steine werfe. Sie wußte das alles. Aber sie konnte nicht
mehr unterscheiden, was Traum und was Wirklichkeit war. Vielleicht war
dies Traum: der helle Saal, und die Musik, und diese festfrohen
Menschen, von denen sie keinen länger als ein paar Monate kannte.
Vielleicht war alles andere Traum gewesen, alles Große, Hinreißende,
Quälende, Schmerzende, und all das Trübe und Wirre der letzten Zeit.
Vielleicht war dies ihr Leben – das Leben, zu dem sie geboren war – das
zu den weißen gestickten Kleidchen paßte und zu dem großelterlichen
Garten.

Und einen flüchtigen Augenblick war ihr, als hätte sie gar kein Recht zu
sagen: meine Freundin ist tot. Als wäre sie noch zu jung, um irgendein
Leid erfahren zu haben, als schmücke sie sich mit einem erdichteten
Schmerz, um sich dem ernsten und abgesonderten Mann gegenüber einen
Schein von Gleichberechtigung zu geben.

Die schlimmen Tage stiegen wieder auf – aber sie stiegen auf wie
schattenhafte Gespenster, durch deren durchsichtige Leiber der
lichterstrahlende Saal schimmerte. Sie waren ohne Farbe und Leben, weil
sie nicht mehr das Blut aus Mettes tiefen Wunden tranken. – – –

                   *       *       *       *       *

Mette saß neben Gwendolen im Wagen.

„Ich seh’ wohl furchtbar um den Kopf aus?“ sagte Gwen, „wenn Mama mich
so sieht, dann fängt sie ihre alte Predigt wieder an, ich müßte ein Netz
tragen. Hassen Sie Haarnetze auch so wie ich, Mette? Wie kommt es, daß
Ihr Haar so gut hält? Sie haben doch auch getanzt! Mama würde ihre
Freude an Ihnen haben! Mama hat Sie überhaupt schrecklich gern – Sie
werden mir immer als Muster vorgehalten. Aber selbst das kann Sie mir
nicht verekeln. Ich bin schon sehr angetan von Ihnen, wirklich – aber
ich glaube, Sie können mich nicht leiden.“

Mette legte leicht den Arm um ihre Schultern.

„Kleine, törichte Gwen,“ sagte sie lächelnd, „Sie glauben ja selber
nicht, was Sie da schwatzen.“

„Ach ja,“ sagte Gwen und schmiegte sich wie ein Kätzchen an sie, „lassen
Sie den Arm so liegen, das tut gut. Ich weiß ganz genau, was ich rede,
Mama sagt zwar immer: schweig, du bist betanzt, weil sie behauptet, ich
rede nach dem Tanzen so viel Unsinn – noch mehr als sonst. Aber ich bin
wirklich nicht betanzt, und ich weiß sehr genau, daß ich Sie gern habe –
und ich weiß auch, daß Sie mich nicht leiden können – Sie widersprechen
ja auch gar nicht – dazu sind Sie viel zu ehrlich. Sie sagen: schwatz
keinen Unsinn, kleine Gwen – das sagt man zu kleinen Kindern auch immer,
wenn sie zufällig die Wahrheit treffen. Aber ich will Sie nicht in
Verlegenheit bringen – Sie machen schon ganz traurige Augen, weil Sie
nicht wissen, wie Sie sich aus der Affäre ziehen sollen.“

„Ich dachte daran,“ sagte Mette aufrichtig, „daß Sie ein so entzückendes
kleines Menschenwesen sind – und daß ich Sie herzlich gern habe – und
daß ich Sie trotzdem heut verleugnet habe und gesagt, Sie wären nicht
meine Freundin.“

„Bei Tisch,“ Gwendolen nickte ernsthaft, „ich hab’ es gefühlt. Aber das
nehm’ ich Ihnen nicht übel,“ sie lächelte, „Sie durften das auch nicht
zugeben, wenn Sie bei meinem lieben Heinrich nicht in Ungnade fallen
wollten. Hat er nicht gesagt, ich wäre eine Kanaille?“

„Er hat gar nichts gesagt,“ widersprach Mette erschrocken, „wie kommen
Sie überhaupt darauf, daß es Rantzau gegenüber war?“

„Weil ich ihn kenne!“ triumphierte Gwen. „Er haßt mich doch wie – wie
die Sünde ist entschieden nicht das richtige Wort. Ich weiß es aber, und
ich weiß auch warum.“

Mette fühlte sich durch diese Worte und noch mehr durch den Ausdruck
ihres Gesichts etwas abgestoßen.

‚Sie ist doch wie alle Frauen,‘ dachte sie verächtlich. ‚Sie bildet sich
jetzt ein, daß Heinrich von Rantzau sie haßt, weil er eine unerwiderte
Liebe zu ihr hat! Sie wird mir jetzt erzählen, daß sie ihn bei
irgendeiner Gelegenheit hat abfallen lassen. Eine andere Möglichkeit
findet gar keinen Platz in dem Gehirn dieser Weibchen.‘

„Soll ich Ihnen erzählen, warum Ihr Freund mich nicht ausstehen kann?“
Tausend Kobolde tanzten auf Gwens Gesicht.

„Bitte!“ sagte Mette ziemlich kühl.

„Ich habe ihm einen Freund abspenstig gemacht!“

„Was heißt das: einen Freund abspenstig gemacht?“ Mette horchte auf,
„kann eine Frau einem Mann den Freund abspenstig machen?“

„Herrn von Rantzau? – o ja! Denn er begehrt seine Freunde ganz und gar
für sich – mit Haut und Haar – mit Leib und Seele. – Tun Sie doch nicht
so, Sie Unschuldsengel, als wenn Sie nicht gemerkt hätten, was die ganze
Stadt weiß!“

„Seltsam,“ Mette schüttelte den Kopf, „was eine Stadt alles weiß!“

„Viel seltsamer, was sie nicht weiß!“ lachte Gwen, „was alles in ihrem
Innern vorgeht, ohne daß sie eine Ahnung davon hat! – Aber Rantzau ist
bekannt, weil er gemeingefährlich ist. Er hat einen Einfluß auf die
jungen Leute, der geradezu unheimlich ist. Er hat doch immer einen
ganzen Kreis um sich, der ihn direkt vergöttert. Aber ich mag das gar
nicht ...“

„Wenn ein anderer vergöttert wird?“ neckte Mette.

„Ja, sehr richtig,“ bestätigte Gwen trotzig, „aber vor allen Dingen kann
ich es nicht vertragen, wenn ein Mann von Männern vergöttert wird. Ich
weiß nicht, ob ich es erklären kann: sehen Sie, das Ursprünglichste im
Menschen ist doch das Geschlecht. Die große Zweiteilung alles Lebenden –
das stammt nicht von mir, natürlich. Viel später kommt dann die
Einteilung in Rassen, die Rassen scheiden sich in Nationen, die Nationen
in Klassen und in Familien – alles befehdet sich untereinander. Ich bin
Bürger gegenüber dem Adel, und Aristokrat gegenüber der Plebs. Ich bin
Germane dem Romanen gegenüber, und Arier gegenüber dem Semiten. Aber das
alles kann ich vergessen, weil es mir erst beigebracht worden ist. Aber
zu allererst bin ich Weib gegenüber dem Mann, und die unverzeihlichste
Beleidigung ist die, die man meinem Geschlecht zufügt. Verstehen Sie das
nicht? Wenn ein Mann mich nicht ansieht, weil er eine andere Frau
anbetet, so kränkt das meine Eitelkeit gar nicht – aber ein Mann, dem
keine Frau gut genug ist, der einem Mann anhängt, der mein ganzes
Geschlecht verachtet – o, das kann mich zur Raserei stacheln. Rantzau
ist unerschütterlich – das weiß ich – aber seine Favoriten lock ich ihm
weg, einen nach dem andern. Solange ich denken kann – nein, solange ich
fühlen kann, führen wir einen erbitterten Kampf. Wissen Sie, Mette, daß
es mir manchmal ist wie eine heilige Aufgabe und gar nicht wie ein
amüsantes Spiel?“ Ihre Augen brannten in einem seltsamen Licht wie blaue
Edelsteine. „Der, von dem ich zuerst sprach, Friedel Reimer – den hat er
wahnsinnig geliebt – und der ist jetzt sehr glücklich verheiratet. Was
hab’ ich davon? Aber manchmal, wenn ich die Frau sehe, denk’ ich: das
dankst du mir und ahnst nichts davon.“

„Was sind Sie für ein wunderliches Gemisch,“ Mette betrachtete sie mit
nachdenklichem Kopfschütteln, „so ein wohlerzogenes behütetes Kind und
...“

„Und dabei? ... sprechen Sie’s ruhig aus!“

„Ach, nichts ... sagen Sie mir nur – wie kommt es, daß Ihre Eltern von
alledem nichts merken ... zum Beispiel von Heinrich Rantzau, von dessen
Ruf doch die ganze Stadt weiß?“

„Eltern,“ sagte Gwen mit überlegenem Lächeln, „wissen Sie nicht, Mette,
daß Eltern mit tödlicher Sicherheit immer nur das bemerken, was nicht
vorhanden ist?“


„Ich komme gleich,“ rief Gwendolen hinter der Tür des Badezimmers, wo
man das Plätschern des Wassers, das Rieseln der Brause hörte, „setz’
dich Metting-Betting und sieh dir ein Buch an! In fünf Minuten bin ich
fertig.“

„Ich habe Zeit,“ gab Mette ruhig zurück.

Gwen bemühte sich trotzdem, ihr das Warten zu verkürzen:

„Du kannst dir immer etwas ansehen – auf dem Tisch liegt ein Paket, ein
dickes, weiches, das pack mal aus. Ich hab’ mir heut Strümpfe gekauft –
wie findest du sie? Sind sie nicht blendend? Aber was darunter liegt,
darfst du nicht aufmachen – so etwas flaches, in Seidenpapier ... ach,
ich zeig’ es dir ja doch! Mach es ruhig auf ...“

„Ich bin nicht neugierig.“

„Doch, doch, du sollst es sogar aufmachen. Es ist besser, du siehst es,
wenn ich nicht dabei bin – dann kann ich wenigstens nicht rot werden.
Mach schnell – in zwei Minuten komm ich! Hörst du? Ich entsteige schon
plätschernd den kristallenen Fluten! Sowie ich halbwegs trocken bin,
erscheine ich!“

Mette schlug die Seidenpapierhülle auseinander. Fred Wietinghoffs
Gesicht sah sie an, lebendig und ausdrucksvoll. Eine helle Freude
durchzuckte sie, als sie die schönen Züge sah, und fast zugleich der
kindische Wunsch, das Bild zu entwenden, um es immer vor sich sehen zu
können und sich daran zu erfreuen, wenn sie sehr weit von hier sein
würde.

Denn in diesem Augenblick war es ihr ohne jede Überlegung ganz bewußt,
daß sie in kurzer Zeit die Stadt verlassen würde. Sie hatte noch nie mit
einem Gedanken die Möglichkeit gestreift, den Aufenthalt zu wechseln und
sah sich jetzt mit visionärer Deutlichkeit – die so selbstverständlich
war, daß sie nichts Erschreckendes hatte – in einer tiefen Einsamkeit,
in der dies Bild ihr eine freundliche Gesellschaft sein könnte.

Sie erschrak, als sich Gwen über ihre Schulter neigte.

„Schönes Bild, nicht?“ lachte sie, „du bist jetzt so zusammengezuckt,
daß ich mir einbilden könnte, du hättest ein kleines Faible für ihn.
Gestehe, Mettiling, wie ist es? Na, heraus mit der Wahrheit – du warst
sehr vertieft in den Anblick – so vertieft, daß du mich gar nicht hast
kommen hören.“

Mette legte das Bild aus der Hand, ohne es noch einmal mit einem Blick
zu streifen.

„Weil ich mit meinen Gedanken ganz wo anders war,“ sagte sie, immer noch
abwesend.

„Schade,“ neckte Gwen, „wo anders als bei Fred Wietinghoff? Aber bei mir
auch nicht, fürchte ich. Sehr weit weg? Willst du mir nicht sagen, wo?“

Sie legte die weichen, nackten Arme schmeichelnd um Mettes Hals und
preßte sie gegen ihre Wangen.

„Ich weiß selbst nicht, wo,“ sagte Mette nachsinnend. „In keiner
Vergangenheit und keiner Gegenwart. Irgendwo, wo ich noch niemals war.
Vielleicht in der Zukunft. Ich habe das Gefühl – ganz unklar und
verschwommen – von einem verschneiten einsamen Haus.“

Gwen faßte sie rüttelnd an den Schultern:

„Komm wieder,“ rief sie, „du sollst jetzt hier sein und nicht in
verschneiten Einsamkeiten. Wie findest du unsern Freund Freddy?“

„Unsern Freund,“ wiederholte Mette lächelnd.

„Natürlich ‚unsern‘. Er ist dein Freund so gut wie meiner. Er schätzt
dich sehr – oh, sehr!“

„Das sagt er nur, um dich eifersüchtig zu machen,“ sagte Mette tröstend.

„Mich eifersüchtig!“ Gwen lachte hell auf, „nein, so kleinlich bin ich
nicht. Und außerdem stehst du mir viel zu nah – ich werde immer ganz
stolz – wirklich, mein Herz wird ordentlich heiß und groß, wenn ich
höre, wie andere Leute von dir schwärmen. Und Fred Wietinghoff schwärmt
sehr oft von dir ...“

‚Er sollte mir das Bild schenken,‘ dachte Mette, ‚wenn er mich wirklich
schätzt, oder von mir schwärmt – wenn nicht alles bloß unsinniges Gerede
ist – dann sollte er mir dies Bild schenken. Weiter will ich nichts von
ihm ...‘

„Magst du ihn eigentlich?“ Gwen fragte es leichthin. Aber Metten schien
es, als würde sie von einem Blick gestreift, der etwas Beobachtendes –
ja fast Lauerndes hatte.

Sie zuckte die Achseln.

„Er sieht gut aus und hat ein sehr angenehmes Wesen,“ sagte sie
gleichmütig.

„Mehr nicht?“

Mette hatte keine Lust, zu antworten.

„Noch mehr? Ich weiß ja nicht viel mehr von ihm.“

„Er ist diskret und verläßlich,“ sagte Gwen nach kurzem Zögern. Dann
stieß sie ein leises Lachen durch die Zähne: „Und er hat einen sehr
guten Geschmack!“

„Vielleicht,“ sagte Mette etwas abwehrend.

Es lag ihr nicht daran, irgendwelche Vertraulichkeiten zu erfahren. Sie
hatte manchmal ein Gefühl von Angst gegenüber diesem blondlockigen Kind
– sie scheute sich oft, eine Frage zu stellen, weil sie die Antwort
nicht hören wollte – eine Antwort, die eine dünne Decke von Abgründen
riß.

Gwen strich ihr plötzlich mir einer kindlichen Bewegung über die Wangen.

„Sei nicht böse,“ bat sie leise.

Mette legte die Lippen leicht gegen die kleine weiche duftende Hand.

„Warum sollte ich dir denn böse sein, du Kindskopf?“ fragte sie
lächelnd.

Aber sie wußte ganz genau, daß sie böse gewesen war.

„Erzähl mir was!“ bettelte Gwen. „Ja, setz’ dich ’n büschen zu mir und
erzähl mir was. Ich leg mich hin – ich bin etwas müde vom Baden, und du
setzt dich neben mich und wir klöhnen ein bißchen.“

Mit der einen Hand zog sie Metten schmeichelnd nach dem Diwan, mit der
andern hielt sie den Kimono aus schwerem pfirsichblütfarbenen Chinakrepp
zusammen, unter dem sich alle Linien des schlanken weichen Körpers
zeichneten.

Sie schob sich die Kissenberge zurecht und kauerte sich voll Wohlbehagen
hinein.

Mette saß still und aufrecht neben ihr auf einem Stuhl. Sie kam sich
selbst immer ein wenig steif vor neben dieser schmiegsamen Anmut, und
ein wenig frostig neben dem warmen Hauch dieses sonnigen Wesens.

„Weißt du, Mette,“ sagte Gwen nach einer Weile fast traurig, „daß ich
dir eigentlich nicht um einen Schritt näher gekommen bin seit dem ersten
Tage, den du hier bist? Du erlaubst mir, dich zu duzen. Du duzt mich
auch manchmal – meistens vergißt du es, wahrscheinlich, weil es dir so
gegen die Natur geht. Nein, nein, du brauchst gar nicht erst einen
höflichen Versuch zum Widerspruch zu machen! Du bist mir sehr fremd –
nie, nie, nie erzählst du irgend etwas von dir aus eigenem Antrieb.
Manchmal beantwortest du mir eine von zehn Fragen. Ach, ich trau’ mich
schon gar nicht mehr, irgend etwas zu fragen, weil ich denke, ich
verscheuche dich dadurch, daß du überhaupt nicht wiederkommst.“

„Was weiß ich denn von dir?“ fragte Mette, ohne sie anzusehen, „du bist
mir genau so fremd. Du hast ein sehr kindliches und offenes Wesen – ich
hab’ vielleicht ein verschlosseneres und kälteres – aber im Grunde
stecken vielleicht hinter deiner harmlosen kleinen Larve hundertmal
größere und schwerere Geheimnisse, als hinter meiner Schweigsamkeit.“

„Das ist etwas anderes,“ unterbrach Gwendolen lebhaft. „Ich kann dir ja
gar nichts erzählen, weil du dich dagegen wehrst! Ich habe manchmal das
Bedürfnis, dir irgend etwas anzuvertrauen, was mich bedrückt, oder auch
nur sehr beschäftigt. Aber dann lenkst du ab – oder du machst ein
Gesicht, daß einem das Wort in der Kehle einfriert. So, als wolltest du
um Gotteswillen nichts von mir wissen, um mich nicht verachten zu
müssen. Oder als wüßtest du schon zu viel und hättest Angst,
irgendwelche Herzlichkeit aufkommen zu lassen. Und dann fühl’ ich doch
wieder ganz genau, du bist nicht kalt und verständnislos – du bist nicht
prüde – und du hast auch kein Recht, es zu sein ... oh Mette, sei nicht
böse, daß ich das gesagt habe! Aber du kannst mir nicht vorreden, daß du
dein Leben damit verbracht hast, still und freundlich zwischen alten
Damen zu sitzen und Filet zu sticken.“

Mette lachte auf: „Das hab’ ich dir ja auch noch nie vorreden wollen.“

„Aber du tust doch so,“ sagte Gwen verzweifelt, „du bist wie ein Stein,
der keine Funken gibt, wenn man noch so auf ihn losschlägt. Oh, Mette,
und ich werde doch das Gefühl nicht los, als könnte ich ein ganzes
Feuerwerk aus dir herausschlagen – ein so herrliches Feuerwerk! Bin ich
nicht stählern genug, oder woran liegt es nur? Es peinigt mich so
wahnsinnig ...“

Eine Erregung schüttelte sie, die ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie
streckte sich wie in einem Krampf und zerrte mit den Zähnen an den
seidenen Kissen.

Plötzlich richtete sie sich auf, schlang die Arme um Mettes Hals und
wühlte das Gesicht zwischen Lachen und Weinen an ihre Schulter.

„Sag’ mir’s doch, Metting,“ schmeichelte sie. „Sag’ mir’s doch einmal,
was ich schon längst weiß! Du hast schon einmal in deinem Leben eine
Frau geliebt. Du weißt, wie es sein kann – wie himmlisch es sein kann!
Warum magst du mich nicht, Mette? Bin ich dir nicht gut genug? Nicht
schön genug? Oder glaubst du, ich hätte keine Erfahrung? Oder denkst du,
ich würde dich verraten? Warum sagst du nicht ein Wort? Verachtest du
mich so, daß du mich nicht mehr einer Antwort würdigst?“

Mette biß die Zähne zusammen und richtete sich ein wenig straffer auf.

„Ich weiß nicht, Kind,“ sagte sie mit einem mühsamen Lächeln und
blicklosen Augen, „ich weiß gar nicht, was du zusammenredest. Wie kommst
du nur darauf, in mir irgend etwas zu vermuten ...“

„Stopp!“ sagte Gwendolen fast böse und legte ihr die Hand auf den Mund,
„ich vermute gar nichts – ich weiß. Du kannst schweigen, solange du
willst. Ich werde dir die Worte nicht von der Zunge reißen – aber
belügen laß ich mich nicht. Und laß mich auch nicht als Irrsinnige
hinstellen. Ich weiß doch, daß ich Recht habe. Nicht etwa, daß du jetzt
denkst, ich hätte irgendwelche Klatschgeschichten gehört. Ich hab’ ein
Gefühl dafür, und darauf kann ich mich verlassen. Liebe kleine Mette,
und wenn du wochenlang vorm Spiegel säßest und dir ein Gesicht
einübtest, wie eine steinerne Maske – du trägst doch den Stempel ...
deine Hände tragen ihn, und deine Augenlider und deine Mundwinkel – hier
– die Winkel deines lieben, stolzen, sehnsüchtigen Mundes – versprich
mir, Mette, versprich mir eines: ich glaub’ dir, daß du wie eine Heilige
lebst und leben möchtest – aber ich weiß ja doch, daß du’s nicht kannst
– nicht lange mehr kannst – wenn es einmal stärker ist als du, dann ruf’
mich. Ich möchte dich küssen, bis dein sehnsüchtiger Mund ganz satt ist,
ich möchte dich aufblühen sehen in Zärtlichkeit, du Rose von Jericho.
Und wenn ich’s nicht zuwege bringe, dann möcht’ ich wenigstens dabei
sein. Oh, Mette, du machst ein Gesicht, als wenn ich häßliche Dinge
sagte. Die Ekstase eines schönen Menschenkörpers _ist_ schön, das
rauschende Blut und der jagende Atem eines geliebten Wesens ist die
schönste Musik der Welt. Und alles andere, Kunst und Sport, und mehr
noch Alkohol und Morphium – das sind alles elende Ersatzversuche für das
einzige, eigentliche – für die Liebe.“

„Was man alles ‚Liebe‘ nennt,“ sagte Mette und spürte einen bittern
Geschmack im Mund.

„Den Rausch des Blutes nenne ich Liebe und die Entzückungen der Sinne.
Und das ist etwas, was ich allen Menschen geben möchte,“ Gwen richtete
sich auf, die weiche Seide glitt von der wunderschön gemodelten
Schulter, ihre Augen flammten in einem blauen Feuer, „nicht allen – aber
den schönen, tiefen, heißen, empfindenden – den durstenden und
hungernden – und ich möchte es geben, weil ich es geben kann, weil ich
reich bin, weil es mir von Gott gegeben ist – und Gott gibt keinem
Menschen etwas, damit er es behalten soll – so verschwenderisch darf er
nicht sein, weil er zu viele zu beschenken hat. Wir sind nur als seine
Verwaltungsbeamten eingesetzt – wir sollen ihm eine Mühe ersparen, darum
gibt er uns viel, damit wir den Würdigsten abgeben.“

Mette schüttelte den Kopf:

„Du siehst aus, wie der Engel im Weihnachtsmärchen und trägst diese
schönen Theorien auch ganz im Weihnachtsmärchenton vor. Manchmal hab’
ich das Gefühl, du weißt gar nicht, was du sprichst. Du bist wie ein
Stück Gartenland, in das eine fremde Hand allen möglichen Samen gestreut
hat, und das sich selbst wundert über all das bunte Zeug, was es ans
Licht bringt. Und ich fürchte, ich kenne auch den Gärtner, der so ein
krauses Blumenbeet aus dir macht!“

„Mette,“ schmeichelte Gwen, „sag’ mir das eine, bitte, bitte, sag’ es
mir: Liebst du Fred Wietinghoff?“

„Unsinn,“ sagte Mette hart, „wie kommst du darauf?“

„Lieben vielleicht nicht,“ gab Gwen zögernd zu, „vielleicht nennst du
‚lieben‘ noch etwas anderes ... aber findest du nicht auch, daß er
fabelhaft aufregend ist?“

Mette verzog das Gesicht, ohne zu antworten, stand auf und trat an das
Fenster.

Sie hörte die weiche Seide hinter sich rauschen und knistern.

Gwen schob ihren geschmeidigen Körper zwischen Mette und die
Glasscheibe, hinter der der winterliche Garten lag.

Ihr engelhaftes Gesicht war rot überhaucht, ihre großen Augen unter den
langen Wimpern glänzten von Tränen. Das blonde Haar, flüchtig
aufgesteckt, kraus und feucht vom Bade, zitterte in Ringeln und Löckchen
um das Kindergesicht.

Sie schob die Lippen vor, als kämpfe sie gegen ein heftiges Weinen, und
klammerte sich mit den kleinen weichen Händen an Mettes Blusenfalten
fest.

„Ich bin dir wohl sehr widerlich?“ fragte sie schüchtern. „Ja? Bin ich
sehr widerlich?“

Mette küßte lachend die runde feste pfirsichflaumige Wange:

„Du bist sehr süß!“ sagte sie herzlich. – – –


„Ich möchte lieber nicht,“ sagte Mette und zog die Brauen leicht
zusammen.

„Mette!“ Gwen stampfte zornig mit dem Fuß, „ich verstehe dich nicht! Was
kann es dir schaden, wenn du mitgehst? Und mir tätest du einen solchen
Gefallen! Wir hatten es uns so nett gedacht ... es kann doch eigentlich
kein vernünftiger Mensch etwas dabei finden – wenn wir zu zweit sind
...“

„Aber deinen Eltern gegenüber ...“ wandte Mette ein.

„Denen tust du doch nur etwas Gutes an, wenn du mich nicht allein zu
einem Junggesellen in die Wohnung gehen läßt! Ich gehe ja doch! Aber es
wäre viel netter, wenn du mitkämest – und Fred wollte dir doch seine
Bibliothek zeigen!“

Das war das einzige, was Metten locken konnte – Gwen wußte das ganz
genau.

Mette hätte gern die Wohnung und die Bücher gesehen. Etwas wie Neid
erfaßte sie, wenn sie daran dachte, daß Gwendolen und Fred Wietinghoff
in einem sicher sehr schönen und geschmackvollen Raum eine behagliche
Tee- und Plauderstunde verleben würden und daß sie nicht dabei sein
sollte – aus Trotz, aus Eigensinn, aus einer albernen Scheu.

Sie hatte vieles getan, was noch weit weniger vereinbar mit Herkommen
und guter Sitte war. Sie hatte es getan aus Leidenschaft, aus Laune, aus
Mitleid – aus Dummheit. Zum erstenmal in ihrem Leben wehrte sie sich
ängstlich gegen eine so harmlose Abweichung vom Hergebrachten, wie es
dieser Teebesuch bei einem Junggesellen war.

Mit einem Schlage flammte der Trotz in ihr auf. Warum sollte sie sich
ein Vergnügen versagen, weil die wohlgeborenen und hochgesitteten
Familien ihr darauf die Gnade verweigern konnten, sie ferner in ihren
teuern und gediegen ausgestatteten und sorgfältig reingemachten Häusern
zu empfangen? Dann sollten diese Familien erst einmal ihre Söhne und
Töchter so erziehen, daß sie ihr, der armen schutzlosen Mette Rudloff,
nicht mutwillig die schwer erkämpfte Ruhe zu zerstören suchten.

„Ich gehe mit,“ sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Gwen schloß sie aufjubelnd in die Arme. – – –

                   *       *       *       *       *

Sanftes und doch klares Licht floß über schimmerndes edles Holz,
aufglänzende Bronze, tief und sattleuchtende Teppiche.

„Ist es nicht schön hier?“ fragte Gwen und stolzierte umher, dies
zeigend und jenes anpreisend, als sei alles ihr Eigentum oder noch mehr
– ihr Werk.

Sie bewegte sich mit einer Sicherheit durch die Räume, die durchaus
nicht darauf schließen ließ, daß sie sie eben zum erstenmal betreten
hatte.

„Und den Corot mußt du dir noch ansehen,“ sagte sie, wobei sie ins
Nebenzimmer lief und eine verborgen angebrachte Beleuchtung
einschaltete, die das Bild aufstrahlen ließ.

Mette ging ihr nach, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen.

„Wenn ich nur wüßte, wieso ich durchaus mitkommen mußte, damit du
endlich diese Wohnung kennen lernst,“ sagte sie halblaut, „du scheinst
doch eigentlich ganz gut Bescheid zu wissen!“

Gwen lachte, nicht im mindesten beleidigt, oder in Verlegenheit
gebracht.

„Hab’ ich dir denn nicht erzählt, daß ich schon einmal hier war? Nicht
allein natürlich. Auch zum Tee. Die alte Frau Wietinghoff war hier und
meine Mutter – oder nicht meine Mutter. Warte mal, irgend jemand von
meiner Familie war mit. Fred, mit wem war ich damals hier zum Tee?“

Im Nebenzimmer knisterte eine Zeitung.

„Was sagst du, Kind?“ rief Wietinghoffs Stimme.

Gwen bog sich in unterdrücktem Lachen.

„Trottel!“ sagte sie halblaut.

Mette lachte mit. Es war doch recht gut, klar zu sehen, Zusammenhänge zu
durchschauen, Verwirrendes, durch ein Wort aufgedeckt, zu überblicken.
Sie sagte es sich vor, daß es gut sei. Ein innerliches Wohlbehagen
empfand sie nicht dabei. Ihr Gefühl sagte ihr: ‚Geh, du bist hier
überflüssig, vielleicht sogar lästig, du spielst eine Rolle, die dir
aufgedrängt ist, und die dir nicht liegt.‘ Aber sie hätte sich selbst
prüde und albern gescholten, wenn sie, von diesem Gefühl getrieben,
gegangen wäre.

Gwen legte ihren Arm um Mette und zog sie nach der Tür.

„Wie meinten Herr Wietinghoff?“ fragte sie spöttisch, als sie auf der
Schwelle stand, „ich weiß gar nicht, wo wir miteinander Schweine gehütet
hätten?!“

Fred Wietinghoff legte etwas verlegen die Zeitung rasch aus der Hand.

„Wieso, gnädiges Fräulein? Ich bitte um Verzeihung, daß ich in
Abwesenheit der Damen einen Blick in die Zeitung geworfen habe. Habe ich
in der Zerstreutheit irgend etwas unpassendes gesagt?“

Gwen setzte sich auf die Lehne eines Ledersessels und baumelte mit den
Beinen.

„Unpassend? Ach nein, es ging,“ sagte sie übermütig. „Sie haben mich nur
geduzt, aus Versehen, Herr Wietinghoff. Sie sind so gewohnt, hier
Besuche zu haben, die Sie duzen, daß es Ihnen gar nicht in den Sinn
kommt, daß es auch anders sein könnte. Ich habe übrigens schon eben im
Nebenzimmer konstatiert, Sie wären ein Trottel!“

„Damit war ja die Sache allerdings hinreichend geklärt,“ Wietinghoff
verneigte sich leicht. „Aber sagen Sie selbst, mein gnädiges Fräulein,“
er wandte sich an Mette, „setzen wir einmal den ungewöhnlichen und ganz
unwahrscheinlichen Fall, daß ich mich nicht in der Person geirrt hätte,
sondern daß ich tatsächlich – wie man sagt – mich ‚verschnappt‘ hätte:
Es wäre wieder ein Beweis, wieweit die Männer den Frauen in allen
Künsten der Lüge und Verstellung unterlegen sind.

Einer Frau kann es nicht passieren, daß sie sich ‚verschnappt‘ und
plötzlich ‚du‘ sagt – es kann ihr nicht passieren, daß sie belastende
Briefe acht Tage in der Rocktasche mit herumschleppt, einfach, weil sie
vergißt, sie herauszunehmen und zu vernichten, es kann ihr nicht
passieren, daß sie sich einfach immer und überall und bei jeder
Gelegenheit ertappen läßt.

Der Mann ist ja so einfach, so durchsichtig, so vertrauend, so harmlos
...“ Er sagte es mit gewollt scheinheiliger Miene.

„Hoh! Hoh! Hoh! Hoh!“ unterbrach Gwen, „halt, mein Lieber! Vielleicht
ist die Frau vorsichtiger, mißtrauischer, ängstlicher – schon weil sie
mehr zu fürchten hat. Aber laßt einmal einen Mann ertappt sein, laßt ihn
gesehen werden, oder laßt ihn sich ‚verschnappen‘, oder laßt seine
Korrespondenz gefunden werden – was dann? Dann leugnet er! Mit einer
Ruhe, mit einer Stirne – mit einer Frechheit auf deutsch. Ich kenne
hundert Fälle ...“

„Aus Erfahrung?“

„Gott sei Dank nicht – es könnte mir wohl kaum in einem Fall passieren.
Aber lassen Sie mich ausreden, Sie haben bloß Angst, ich könnte etwas
Treffendes sagen, und darum wollen Sie mich aus dem Konzept bringen –“

„Warum soll ich Angst davor haben ...?“

„Weil Sie eitel sind, wie alle Männer. Erstens mögen Sie nicht, daß
jemand anders als Sie etwas Gutes sagt – und zweitens mögen Sie nicht,
wenn Sie sich durchschaut und getroffen fühlen.“

„Jetzt haben _Sie mich_ nicht ausreden lassen. Ich wollte sagen: warum
soll ich Angst davor haben, daß Sie etwas ‚Treffendes‘, etwas ‚Gutes‘
sagen? Diese Angst wäre durch nichts begründet.“

„Oh, Mette, er ist gemein! Findest du ihn nicht furchtbar gemein gegen
mich? Aber darum sage ich doch, was ich sagen wollte, nun gerade! Also
ich kenne hundert Fälle, in denen Männer ihre Frauen betrügen. Und wenn
die Frauen glauben, irgendeinen unumstößlichen Beweis in Händen zu
haben, wenn sie dem Mann in monatelanger Eifersucht nachgespürt haben,
und sie haben ihn endlich einmal gesehen, oder sie haben einen Brief
gefunden – was ist dann? Dann erklärt der Herr der Schöpfung die Frau
für blind, oder für blödsinnig, sie hat sich geirrt, oder es war Frau
Meyer, mit der sie ihn gesehen hat, oder der Brief ist ganz harmlos,
oder es ist ein schlechter Witz von einem Stammtischbruder – er tobt,
oder er lacht – auf alle Fälle bleibt er im Recht ...“

„Ich staune,“ sagte Fred Wietinghoff, lehnte sich weit in den Sessel
zurück, kreuzte die Beine, legte die Fingerspitzen der seitlich
aufgestützten Arme aufeinander und sah kopfschüttelnd zu ihr auf: „Ich
staune! Diese Fülle von Kenntnis in diesem lockigen Köpfchen! Sie müssen
sich von sämtlichen in Ihrer Bekanntschaft vorkommenden Wasch-, Koch-
und Kinderfrauen die Eheerlebnisse haben erzählen lassen.“

„Ach Gott!“ Gwen blähte verächtlich die feinen Nüstern, „als wenn die
^upper ten^ irgendwie anders wären! Höchstens, daß sie den Stammtisch
Klub nennen. Aber betrügen tun sie ihre Frauen gerade so!“

„Bis auf die wenigen Anständigen,“ sagte Wietinghoff in seiner
gemessenen Art, „die nicht heiraten, um nicht in diese Verlegenheit zu
kommen. – Aber darf ich noch eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen
hinzufügen, mein gnädiges Fräulein? Warum wird dem Mann denn geglaubt,
wenn er leugnet, wenn er für alles fadenscheinige Erklärungen hat, wenn
er den eklatantesten Beweis seiner Untreue als harmlos hinstellt? Weil
die Frauen ja so gerne glauben wollen! Warum fahnden die Frauen denn
nach Beweisen? Weil sie sich scheiden lassen wollen? O nein! Weil sie
sich beruhigen lassen wollen! Folglich geschieht ihnen eben, was sie
wünschen, und sie werden beruhigt. Mit welchen Phrasen, ist ja ganz
nebensächlich! Es gäbe ja nichts von einer ähnlich häßlichen nackten
Brutalität, als einer eifersüchtigen Frau ins Gesicht zu sagen: Du hast
ganz recht, ich liebe eine andere! Pfui, wer das fertig brächte!“

„Warum sind aber Frauen so?“ fragte Gwen mit glühendem Gesicht, „so
klein und so – so entsetzlich töricht? Warum lassen sie sich betrügen
und freuen sich, wenn sie überdies auch noch belogen werden?“

Wietinghoff legte die Fingerspitzen der etwas erhobenen Hände
gegeneinander und überlegte einen Augenblick.

„Vielleicht kann man es mit einem Satz so ausdrücken,“ sagte er mit
einem etwas malitiösen Lächeln: „Die Frau liebt immer das am meisten,
was ihr am nächsten liegt – und der Mann liebt das am meisten, was ihm
am fernsten steht. Oder, wenn man es deutlicher sagen soll: Die Frau
liebt den Mann am meisten, der sie am öftesten besessen hat – und der
Mann liebt die Frau am meisten, die er nie besitzen wird.“

Ein flüchtiger Schatten von Schwermut glitt über sein Gesicht.

„Wollen wir Bilderbücher besehen?“ fragte er aufspringend. „Haben Sie
besondere Lieblinge? Doré oder Rackham? Cornelius oder Bayros? Es ist
alles vorhanden.

Sehen Sie, das ist schön. Haben Sie auch so eine Freude daran, Wildleder
anzufassen? Oder verstehen Sie wenigstens, daß man eine ganz irrsinnige
Freude daran haben kann? Fühlen Sie nur,“ er reichte Mette einen
schmiegsamen Band in rotem Leder, „ist das nicht herrlich?“

„Ja, wie Samt!“ sagte Gwendolen boshaft und schaukelte stärker mit den
hängenden Beinen.

„Oh, Samt!“ er zuckte unwillig die Achseln. „Diese niederträchtige
kleine Person will mich damit ärgern! Es gibt nämlich törichte Leute,
die einem solchen Leder schmeicheln wollen und sagen, es ist wie Samt.
Dabei hab’ ich direkt etwas gegen Samt. Es gibt mir immer so ein
scheußliches staubiges Gefühl an den Fingerspitzen.“

Mette schlug das Buch auf. Ihr Blick fiel auf die grazilen,
faltenumbauschten Gestalten eines Zeichners, der in seiner Eigenart auch
ihr unverkennbar war.

„Um Gottes willen,“ Wietinghoff legte die beiden Hände mit gespreizten
Fingern auf die Seiten des Buches, „Sie sollten den Einband fühlen, aber
nicht die Bilder ansehen. Das ist nichts für junge Mädchen. Nachher
erzählen Sie der Tante Konsul, ich hätte Ihnen unsittliche Bücher
gezeigt. Und dabei hab’ ich lauter Jung-Mädchen-Bücher in meiner
Bibliothek und nur dies eine einzige weniger passende – des schönen
Einbandes wegen.“

„Sind es Bilder, die man nicht sehen darf?“ fragte Mette ruhig. „Ich
kenne eine ganze Menge von ihm und bin immer sehr entzückt davon
gewesen.“

„Natürlich darf man sie sehen,“ Wietinghoff zog die Hände fort und
richtete sich auf, „es war nur Scherz von mir. Jeder vernünftige Mensch
darf sie sehen und wird seine Freude daran haben. Sehen Sie es sich
ruhig an. Außerdem ist das Buch eine bibliophile Rarität. Es ist
konfisziert – daß man den Zeichner ausgewiesen hat, wissen Sie doch?“

„Nein,“ sagte Mette erstaunt, „ich wußte es nicht. Warum nur?“

Sie ergriff mit Eifer jedes Gesprächsthema, um die Augen von dem Buch
aufheben zu können. Sie hatte ein wenig Angst davor, weiter zu blättern,
und sie hatte fast noch mehr Angst, prüde und feige zu erscheinen, und
es ungesehen wegzulegen.

So lag es also aufgeschlagen auf ihren Knien, und sie sah ein wenig
geflissentlich irgendwo anders hin – zum Beispiel in Fred Wietinghoffs
ruhiges und beruhigendes Gesicht.

„Warum!“ Wietinghoff zuckte die Achseln. „Vielleicht würde man aus einem
Temperenzlerverein auch Kotanyi Janos ausstoßen. Nicht weil er trinkt,
aber weil er Paprika fabriziert, und weil Paprika Durst gibt.

Die Menschheit teilt sich in vier Klassen – je zwei dieser Klassen – die
extremen – gehören wieder zusammen. Erste Klasse: (Reihenfolge bedeutet
keinen Rang, sonst würde ich anders herum anfangen.) Die, die keinen
Durst haben und nichts trinken. Die sind glücklich. Zweite Klasse: Die,
die Durst haben und nichts zu trinken. Die Revolutionäre. Dritte Klasse:
Die, die zu trinken haben, aber keinen Durst. Die Mucker und Bourgeois.
Vierte Klasse: Die, die zu trinken haben und Durst haben. Das sind die
allerglücklichsten.

Nun gibt es noch zahlreiche kleine Unterabteilungen. Die zum Beispiel,
die Durst haben und vor einer Quelle stehen und nicht trinken können,
weil sie kein Glas haben. Oder die, die trinken, und nachher
Magenschmerzen bekommen. Oder die, die einen ganz gesegneten Durst
haben, und doch einmal etwas gepfeffertes essen, damit ihnen der kühle
Rheinwein nachher noch besser schmeckt. Oder die, die in einem
Weinkeller sitzen und verdursten, weil kein weißer Burgunder da ist. Und
dann gibt es Leute, denen der Sekt nur mit Porter schmeckt, oder sogar
mit Angostura – die das Süße nur mögen, wenn ein wenig Bitterkeit dabei
ist – oder Leute, die den dunklen und den blonden Wein zusammengießen,
die dem schweren warmen Bordeaux den dünnblütigen prickelnden Sekt
beimengen, um ihn aufschäumen zu lassen ... ach ja, es gibt Trinker auf
mancherlei Art, und jeder hält seinen Geschmack für den besten ... hier
haben Sie Friedrich den Großen mit Menzel-Zeichnungen, das nimmt sich
besser aus in Ihren gedankenvollen Händen. Aber vor allen Dingen steht
jetzt da drin unser Tee, sanfter, milder, freundlicher, geistanregender
Tee – er wird uns zu ersprießlicheren Gesprächen bringen. Kommen Sie,
meine Damen!“ – – –

                   *       *       *       *       *

Ein, zwei Stunden waren vergangen. Gwen war es, und nicht Mette, die
zuerst nach der Uhr sah und zum Aufbruch drängte.

Wietinghoff half ihnen in die Mäntel und küßte ihnen dankend die Hände.
Sie mußten versprechen, bald wiederzukommen. Mette versprach es gern.
Die vornehme Schönheit der Räume hatte es ihr angetan. Und Fred
Wietinghoff wirkte gut – wie die meisten Menschen – wenn er sich
zwischen seinen eigenen Sachen bewegte. Sie freute sich auf die nächste
Plauderstunde. Alle Angst, die sie ursprünglich gehemmt hatte, war
verschwunden.

Aber als sie unten die schwere Haustür öffnete, zuckte sie zusammen und
wurde blaß vor Schreck.

„Um Gottes willen, Gwen, bleib im Haus! Eben geht dein Onkel vorbei,
Senator Börgessen. Wenn er uns sieht! Was sollen wir sagen, wo wir
herkommen?“

„Vom Zahnarzt!“ lachte Gwen und schob Mette auf die Straße, „Leute wie
Fred Wietinghoff wohnen immer in einem Hause, wo ein Zahnarzt ist. Aber
im übrigen – Börgessen! – ausgerechnet Börgessen! Der kann mindestens
solche Angst vor mir haben, wie ich vor ihm! Die ganze Stadt weiß, daß
er ein Verhältnis mit seiner Köchin hat. Außerdem fährt er alle drei
Wochen nach Berlin und verspielt sein Geld – hier kann er das nicht so
gut. Sein Geld und Tantes Geld. Arme Tante Fanchette! Aber sie riecht
nach Achselschweiß ... prrr! Hast du das noch nicht bemerkt? Und solche
Frauen verdienen jedes Schicksal!“


Vorfrühling lag in der Luft.

Stürme hatten gewütet, daß man des nachts nicht schlafen konnte, daß man
mit klopfendem Herzen im Bett saß und auf das Klappern der Dachziegel
lauschte, auf das Zittern der Fenster, auf das Schlagen der Türen, und
mit Bangen an die Schiffe draußen auf See dachte.

Plötzlich hielten die Stürme den Atem an.

So jäh, so ohne Vorbereitung, daß die Stille fast noch unheimlicher war
als der Lärm. Die Luft war schwer, voll Sonnenglanz und Süße, und so
erfüllt mit einem fremden Duft, als käme sie von Hyazinthenfeldern und
hätte nie nach Teer und Fisch und Salzwasser geschmeckt.

Die Leute auf der Straße sahen sich an, als wollten sie sagen: Also
bitte, was sagt ihr zu dem Wetter? Und wo zwei Bekannte sich trafen, auf
der Straße, in der Bahn, in einem Laden, sprachen sie es aus: Also nein,
was sagen Sie zu dem Wetter? Und alle, die es hörten, verbargen mühsam
ein Lächeln in ihren hölzernen Gesichtern, weil sie ihre innersten
Gedanken ausgesprochen hörten.

Mette konnte das Lächeln nicht verbergen. Diese stille, weiche Luft, die
liebkosende Sonne, dieser ganze unwahrscheinliche und unangebrachte
Frühling hatte etwas so einschmeichelndes, so betörendes, daß sie ganz
erfüllt war von einer warmen Glückseligkeit, die sich einen Ausweg
suchte – da sie nicht singen konnte, mußte sie wenigstens lächeln.

Das machte nicht der Frühling allein. Es war auch, daß sie den Frühling
ertragen konnte, ohne zu leiden. Ihr war zumut wie einem, der nach
langer Krankheit zum erstenmal ohne Schmerzen die Glieder regt und jeden
Atemzug als himmlische Gnade empfindet.

„Ich bin gesund,“ sie sagte es sich selbst immer wieder vor wie den
Kehrreim eines Liedes: „Ich bin gesund! Ich bin gesund!“ – – –

                   *       *       *       *       *

Gwen und Mette saßen in einem Abteil des rollenden Zuges. Zwei ältere
Damen, schwarz, steif und aufrecht, saßen ihnen gegenüber und
beobachteten sie scharf.

Von Zeit zu Zeit ging Fred Wietinghoff auf dem Gang vorüber und schnitt
Grimassen, mit dem erwünschten Erfolg, daß Gwen fast erstickte vor
Lachen.

Wenn sie sich aber notdürftig erholt hatte, bot sie ihrerseits alles
auf, um Mette zum Lachen zu reizen.

„Unverschämtheit,“ sagte sie mit gespielter Entrüstung, „sieh nur, wie
dieser Mensch jedesmal hereinstarrt, wenn er vorbeigeht. Ich werde mich
nächstens beim Schaffner beschweren.“

Mit beleidigter Miene rückte sie das Reisemützchen fester, um sich
anzulehnen, und schlug die Beine übereinander.

Aber Mette ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen.

„Ach, denk’ nur nicht, er starrt herein, weil du ihm so gefällst!“ sagte
sie ruhig, „daß ist entweder ein Verbrecher oder ein Detektiv, der einen
Verbrecher sucht. Das sieht man doch sofort.“

„Ach Gott, nein!“ Gwen trieb das Spiel voller Übermut weiter, „mach’
mich nur nicht gruselig! Ich hab’ neulich eine schreckliche Geschichte
gelesen – von einem gesuchten Schwerverbrecher, der in Frauenkleidern
reiste. Natürlich war er glattrasiert. Aber er hatte einen so starken
Bartwuchs, daß er sich zweimal am Tage rasieren mußte.“ Sie sprach
leise, aber gerade laut genug, um von scharf gespitzten Ohren verstanden
zu werden – dabei streifte ihr Blick mit gewollter Unauffälligkeit das
stark beflaumte Gesicht ihres Gegenübers. „Und denke dir, er war allein
im Abteil mit einer jungen Frau, auf einer sehr langen Fahrt, und sie
sieht – erst denkt sie natürlich, sie täuscht sich – aber sie sieht
immer deutlicher, wie bei der Dame, die ihr gegenübersitzt, sich
allmählich das ganze Gesicht mit hervorkeimenden Bartstoppeln bedeckt!
Das muß doch furchtbar sein – ich glaube, ich wäre vor Entsetzen
gestorben, ich habe mir auch fest vorgenommen, nie wieder allein zu
reisen. Darum hab’ ich dich auch so gebeten, heute mitzukommen.“

„Ich hab’s ja auch gern getan,“ Mette machte ein sorgenvolles Gesicht,
„wenn Emma nur gut auf die Kleinen aufpaßt ... Bubi hat heute morgen
wieder so gehustet.“

Das war selbst Gwen zuviel. Einen Augenblick starrte sie in Mettes
unverändert ernstes Gesicht, dann prustete sie los, fuhr aber sofort mit
dem Taschentuch an den Mund und hustete krampfhaft.

Mette klopfte ihr besorgt den Rücken:

„Wenn du dich nur nicht von meinem Bubi angesteckt hast. Du hast ihn
gestern immerzu geküßt.“

Gwen drohte zu ersticken.

„Ich hab’ dir gleich gesagt, Keuchhusten ist so ansteckend – und so
gefährlich für Erwachsene!“

Gwen richtete sich auf, erschöpft und tränenüberströmt.

„Meistens tödlich!“ stöhnte sie, „Professor Rabe hat mir auch gesagt:
der Keuchhusten, der jetzt grassiert, würde die ganze Stadt entvölkern.“

„Gwen,“ mahnte Mette noch leiser, mit zuckenden Mundwinkeln.

Gwen schob mit der flachen Hand jeden Widerspruch beiseite.

„Alles tödlich,“ sagte sie grabesernst, „alles tödlich!“

Als sie endlich den Zug verließen, blieben sie auf dem Bahnsteig stehen
und bogen sich vor Lachen.

Mette sah sich nach dem eben verlassenen Wagen um. Sie hatte sich nicht
getäuscht: eine schwarzbeschuhte Hand wischte die Fensterscheibe blank,
und eine spitze Nase reckte sich vor. Ein aufmerksamer Blick verfolgte
sie.

Gwen hob die Hand, um einen Abschiedsgruß zurückzuwinken. Mette hielt
ihr den Arm fest.

„Laß doch,“ Gwen wollte sich losreißen, „ich kann doch Bekannte in dem
Zug haben! Was geht das die alten Hexen an? Winke – Winke! Adieu, lieber
Zug, fahr’ wohl oder entgleise! Ach nein, lieber nicht, es könnten ja
vielleicht auch noch nette Menschen drin sein.“

„Komm jetzt,“ sagte Mette, „Wietinghoff steht da und schließt und
schnallt an seiner Reisetasche herum, nur um nicht aufzufallen – ganz
wie ein richtiger Detektiv. Wir hatten doch verabredet, daß wir zuerst
den Bahnhof verlassen. Komm! Er wirft schon ganz verzweifelte Blicke!“

Sie gingen durch die Sperre und durch den Schalterraum hindurch auf die
Straße, die flirrend im Sonnenglanz vor ihnen lag.

Fünf Minuten später trat Fred Wietinghoff, den Hut ziehend, an sie
heran.

„Nein, meine Damen, welche Überraschung, daß ich Sie hier treffe!“

„Herr Wietinghoff!“ auch Gwen war sehr überrascht, „was tun Sie denn
hier? Darf ich bekannt machen? Herr Wietinghoff – Fräulein Rudloff ...
ach nein, kennen tut ihr euch doch wohl schon? Also, meine Freundin
besucht nämlich hier eine erkrankte Großtante, und Mama hat mir die
Erlaubnis gegeben, sie zu begleiten.“

„Ich denke, du mußtest reisen, und ich habe darum Bubi mit dem
Keuchhusten zu Hause gelassen?!“ neckte Mette.

Wietinghoff griff sich an den Kopf:

„Himmel, die Familienverhältnisse scheinen aber ziemlich ungeklärt! Ich
mache den Vorschlag, daß wir uns bemühen, alles, was wir von Familie
haben, möglichst zu vergessen und zu diesem Zweck erst mal ausgiebig
frühstücken!“ – – –

                   *       *       *       *       *

Als sie aus dem Ratskeller wieder ans Tageslicht stiegen, stand auf dem
sonnigen Platz eine alte Frau mit einem großen, vollen Veilchenkorb.
Fred kaufte zwei Sträußchen und brachte sie den beiden Mädchen.

„Ach, Kinder,“ sagte er dabei und strahlte sie an, „ich möchte euch ja
Blumen geben, daß ihr sie nicht mehr tragen könntet – aber es geht nicht
– es sieht zu hochzeitsreisemäßig aus!“

Sie wanderten durch die alten Straßen, durch die winkligen Gassen mit
vorhängenden Giebelhäusern, über weite hallende Plätze mit schön
geformten Brunnen.

Fred Wietinghoff war ein guter Führer. Er wußte Bescheid, und was er
nicht kannte, entdeckte er im Augenblick. Seinem scharfen und geübten
Auge entging kein geschnitzter Balkon, kein Spruch über den Fenstern,
kein altertümlicher Türklopfer.

Die Schatten wurden lang, und der Westhimmel stand schon in roter Glut,
da fiel es ihm mit plötzlichem Erschrecken ein:

„Herrgott, daß ich daran nicht gedacht habe! Wir hätten ans Meer fahren
müssen, um die Sonne untergehen zu sehen.“

„Ach, ans Meer!“ In Mette kämpften Sehnsucht und Enttäuschung.

„Morgen!“ jauchzte Gwen, „oh, bitte, bitte, laßt uns morgen ans Meer
fahren! Wir versäumen den letzten Zug – ich telephoniere nach Hause, oh,
Metting, mach’ kein Gouvernantengesicht – dich erwartet ja sowieso
niemand. Wir machen heut’ Abend einen gemütlichen kleinen Bummel und
fahren morgen ans Meer!“

Fred Wietinghoff hielt sie am Ellbogen fest:

„Erst mal werden hier keine Indianertänze aufgeführt. Im übrigen ist die
Idee durchaus akzeptabel. Das heißt, wenn Fräulein Rudloff mittut. Denn
ich allein kann weder die Verantwortung für Ihr Betragen, noch für Ihren
Ruf übernehmen.“

„Oh, Mette!“ Gwen verdrehte vor Empörung die Augen, „er kann die
Verantwortung für mein Betragen nicht übernehmen! Mir geht die Luft weg!
Mette, liebe, liebste Mette, fahren wir morgen ans Meer?“

„Mir ist alles recht,“ sagte Mette mit frohmütiger Überzeugung.

Ihr war alles recht. Sie war in einem so traumhaften Glücksgefühl
befangen, wie man es nur an fremden Orten haben kann, auf Reisen, wenn
der Alltag wie etwas Unwahrscheinliches, Halbvergessenes hinter einem
liegt, und fremde Häuser, fremde Mauern, fremde Berge, fremde Seen bunt
und eindringlich vor einem aufsteigen, an einem vorüberziehen.

Sie war froh, daß dieser Zustand noch nicht zu Ende sein sollte. Daß sie
morgen erwachen durfte, einen Fenstervorhang beiseite schieben und auf
eine Straße heruntersehen, die ihr im Morgenlicht ein nie erblicktes
Bild bot. Daß sie dann ans Meer fahren wollten ...

Und dann ...?

In eine andere Stadt –

an einen rauschenden Strom –

oder an einen stillen See –

oder in die Berge –

in den keimenden, knospenden Wald –

nur immer weiter. Und nie zurück. Immer dies Gefühl des Losgelöstseins
in sich, des Schwebens, der großen Freude, der stillen, genießenden
Seligkeit. – – –

                   *       *       *       *       *

„Wenn ich den Damen einen Vorschlag machen dürfte,“ sagte Wietinghoff,
„so holen wir jetzt meine Reisetasche vom Bahnhof ab, und Sie bewaffnen
sich damit, eh Sie in einem Hotel Unterkommen suchen. Damen ohne Gepäck
– das macht sich nicht gut, und Sie können schließlich nicht jedem
Kellner und Zimmermädchen die Geschichte von dem versäumten letzten Zug
erzählen.“

„Und Sie,“ fragte Gwen.

„Ich borge mir bei einem Bekannten ein Gepäckstück. Wir können jetzt auf
dem Wege zum Bahnhof die notwendigsten Übernachtungsrequisiten besorgen
– das packen Sie in meine Tasche und begeben sich nach dem Deutschen
Kaiser. Ich suche unterdessen meinen Freund Schmidtke auf und borge mir
einen vertraueneinflößenden Handkoffer. Nach einer halben Stunde komm’
ich ins Hotel, gehe in den Speisesaal und bin wahnsinnig überrascht, Sie
da zu finden. Abgemacht?“

„Herrlich!“ Gwen zappelte schon wieder mit den Füßen vor Vergnügen.

„Stopp, stopp, stopp! Keine Pirouetten und Spitzentänze, wenn ich bitten
darf! Ich flehe Sie an, Fräulein Mette, passen Sie auf das Kind auf, die
Kleine macht uns im Hotel und in der ganzen Stadt unmöglich – ich weiß
gar nicht, ob ich Sie eine halbe Stunde mit ihr allein lassen darf?“

„Das ist nur Ihre Gegenwart, die sie so übermütig macht,“ beruhigte
Mette, „wenn sie mit mir allein ist, ist sie ganz vernünftig.“

„So?“ Ein seltsames Zucken glitt um Fred Wietinghoffs Mundwinkel, ein
kurzer scharfer Blick flog von Mettes Gesicht zu Gwens. – – –

                   *       *       *       *       *

Die frühe Dämmerung war schon hereingebrochen. Gwen zog die gelben
Vorhänge vor die Fenster und drehte alle elektrischen Flammen an – die
Krone, die Nachttischlampen, die Birnen über dem Waschtisch und dem
Spiegelschrank – daß das große Hotelzimmer ganz in Licht gebadet war.

„So hab’ ich’s gern.“ Sie zog die Schultern hoch wie ein schnurrendes
Kätzchen. „Licht und Wärme muß ich haben.“ Sie prüfte die Zentralheizung
unter den Fenstern, der sengende Glut entstieg. „So ist es schön! Nur
kein kaltes Schlafzimmer! Zu Haus wird mir sowieso die Heizung
abgedreht, weil Mama es für ungesund hält, warm zu schlafen. Wenn ich
verheiratet bin, muß mein Schlafzimmer warm sein wie ein Treibhaus,
damit ich ohne Hemd und ohne Decke schlafen kann!“

Sie öffnete Wietinghoffs Reisetasche und nahm die kleinen Einkäufe
heraus. Als das geschehen war, stöberte sie ganz selbstverständlich
weiter.

„Was er da alles drin hat! Herrliche Seife, riech mal, Mette! Die
könnten wir eigentlich hierbehalten. Und Mundwasser auch. Rasiercreme –
brauchen wir nicht. Herrgott, wieviel Bürsten denn noch! Schön, die
Wildlederslippers – daß ich keine Pantoffeln da habe, ist mir eigentlich
am unangenehmsten; ich hasse es, mit bloßen Füßen auf Hotelteppichen
herum zu laufen. Ich muß doch sehen, was er für Pyjamas mit hat. Violett
mit weiß. Ganz hübsch. Möchtest du Pyjamas tragen? Ich denk’ sie mir
ziemlich unbequem. Aber morgens zum Frühstücken find’ ich sie sehr nett.
Weißt du, ich glaube, sie sind für häßliche Leute kleidsamer als für
hübsche. Schon weil man Hals und Arme nicht sieht. Ich möcht’ doch
einmal einen anziehen, um zu sehen, ob er mir steht, ^bleu électrique^
vielleicht. Und du müßtest einen erdbeerroten haben, aber nicht
‚^fraise^‘, sondern erdbeerrot – nach den deutsch-französischen
Farbenbezeichnungen müßte man eigentlich die Franzosen für farbenblind
halten – aus ^fraise écrasée^ machen wir ^fraise^ und wundern uns, daß
wir noch nie im Leben fraisefarbene Erdbeeren gesehen haben. Ist es dir
noch nie passiert, daß dir ein Ladenfräulein gesagt hat: ‚In blau haben
wir das nicht, höchstens in ^bleu^.‘? Ach, die Welt ist zu idiotisch.
Ich habe so Lust auf guten Alkohol. Was trinkst du eigentlich am
liebsten? Willst du das rechte Bett oder das linke? Ich glaube, ich muß
mir die Haare noch mal machen. Soll ich das Mützchen aufbehalten? Es
sieht vielleicht am ladylikesten aus. Findest du eigentlich, daß ich
ladylike aussehe? Ach doch, nicht? Bist du fertig? Wollen wir hinunter?
Woher kommt es, daß deine Haare immer tadellos sitzen? Du hast auch
nicht soviel kurzes wie ich. Seh’ ich anständig aus? Von hinten, von
vorn, von allen Seiten? So, dann gib’ mir noch einen Kuß und komm!“

Auf der Treppe kehrte Gwen noch einmal um.

Sie schwenkte Mette den Zimmerschlüssel entgegen, ehe sie ihn in ihr
Handtäschchen gleiten ließ.

„Den Schlüssel! Ich hab’ ihn abgezogen – schließlich braucht nicht jeder
eine Herrentasche mit Rasierzeug und Pyjamas bei uns zu finden. Fred
soll sie rausholen, sobald er kommt.“

Mette fürchtete sich ein wenig vor dem großen, hellen Speisesaal. Sie
hatte es völlig verlernt, sich einen Tisch auszusuchen, mit Kellnern zu
verhandeln, eine Weinkarte zu prüfen. Es stand ihr wie ein Examen bevor.
Und das schlimmste war, daß sie sich nicht verraten durfte und die
Beantwortung dieser Fragen mit einem ‚wir erwarten noch jemand‘
hinausschieben.

Als sie eintraten, fiel ihr erster Blick in einen Spiegel, und in diesem
Spiegel sah sie Fred Wietinghoffs Gesicht. Er sah über eine Zeitung
hinweg, die er in beiden Händen hielt, seine Augen, groß und offen und
von tiefem leuchtenden Blau, sahen ihr entgegen und grüßten sie. Und von
seinem Blick, von seinem festen hellen Gesicht ging ein Strom von Ruhe
und Sicherheit aus.

Wie gut, daß er da war! Wie gut, daß er da war!

Jetzt sah sie auch vor dem Spiegel seine breiten Schultern, seinen
blonden Kopf.

Gwen fing an zu kichern und stieß Metten an. Sie machte eine Bewegung,
als wollte sie auf ihn zueilen und ihn durch einen Schlag auf die
Schulter aufschrecken.

Mette hielt ihren Arm fest.

„Er hat uns gesehen,“ sagte sie leise, „komm ruhig an ihm vorbei.“

Mette hörte das Stuhlrücken hinter sich und seine raschen großen
Schritte.

Sie begrüßten sich wieder voller Verwunderung. Wietinghoff suchte einen
größeren Tisch – er hatte sich absichtlich an einen ganz kleinen gesetzt
– und beauftragte den Kellner, seine Sachen herüberzubringen.

Er wählte mit Bedacht ein kleines Abendessen, einen edlen Wein.

„Nachher trinken wir Sekt,“ sagte er, als der Kellner außer Hörweite
war, „ich werde natürlich in seiner,“ mit einer Schulterbewegung,
„Gegenwart auf diese Idee kommen: ‚Aber ich bitte Sie, meine Damen,
diese Begegnung müssen wir doch mit einer Schampus feiern!‘ Klingt es
nicht ganz glaubwürdig?“

„Sehr,“ bestätigte Mette lachend.

„Herrgott, die Tasche.“ Gwen hob erschrocken die Hand vor den offenen
Mund und sah mit runden entsetzten Kinderaugen von einem zum andern.
„Fred, Sie müssen Ihre Tasche aus unserm Zimmer holen! Was soll denn das
Zimmermädchen von uns denken? Aber lassen Sie sich nicht erwischen,
sonst werden Sie noch als Einbrecher verhaftet! Das wär’ eigentlich ein
herrlicher Witz! Passen Sie auf, ich will Ihnen unauffällig den
Schlüssel zustecken!“

Sie kramte in ihrer Tasche, die sie unter dem Tisch auf ihrem Schoß
hielt, zog den Schlüssel heraus, krampfhaft bemüht, ihn in ihrer kleinen
Faust verschwinden zu lassen, und schob die geschlossene Hand über den
Tisch.

Wietinghoff nahm ihr den Schlüssel ab, ließ ihn in die Hosentasche
gleiten und bog sich vor Lachen mit dem Stuhl zurück.

„Wundervoll,“ sagte er und zeigte sehr vergnügt seine festen weißen
Zähne, „jetzt hat das ganze Lokal gesehen, wie Sie mir unauffällig den
Zimmerschlüssel zugesteckt haben! Na, mir soll’s recht sein! Ich fühle
mich nicht weiter kompromittiert. Niedlich genug sehen Sie aus!“

Er sagte es etwas geringschätzig, mit einem spöttischen Zucken um den
Mund. Aber unter gesenkten Augenlidern hervor lief ein Blick über Gwen
hin, der etwas Vertrauliches, Taxierendes und zugleich Brennendes und
Einsaugendes hatte.

‚Was soll ich hier?‘ dachte Mette in plötzlicher Qual, ‚warum muß ich
Zeuge ihrer Verliebtheit sein? Bloß, weil sie ihren Ruf wahren wollen?
Lächerlich. Sie sind sicher schon hundertmal allein zusammen gewesen.
Sie können nicht Angst haben, daß etwas geschehen könnte, was noch nicht
geschehen wäre. Diese beiden Menschen kennen einer den andern ganz und
ohne Rückhalt. Ich hab’ es vor Monaten schon gewußt. Wie konnte ich es
wieder vergessen? Was soll ich hier?‘

Fred Wietinghoff goß die Gläser voll.

„Auf gute und ehrliche Kameradschaft!“ sagte er.

„Darauf trink ich mit!“ Mette hob ihr Glas.

Wietinghoff suchte ihren Blick mit ernsten und offenen Augen.

„Sie sind der geborene Kamerad,“ sagte er herzlich. „Treu, klug,
verschwiegen und kühn. Wissen Sie – man sieht oft Menschen in einer
anderen Zeit, unter anderen Schicksalen – sozusagen in einer anderen
Rolle. Wenn ich Sie sehe, denke ich immer tausend Jahre zurück,
Minnesänger- und Ritterzeit, und dann seh’ ich Sie in Knappentracht
Ihrem auserwählten Liebsten folgen – es gibt solche Gestalten in den
alten Liedern und Sagen, und sie haben mich schon in meiner Knabenzeit
immer mit Rührung und Bewunderung erfüllt. So ein Heldenmädchen, das
ganz ohne Ehrgeiz, nur aus Liebe, alle Strapazen erträgt, an allen
Ruhmestaten seinen Anteil hat, geneckt und gelobt wird, aber niemals den
Lohn der Leidenschaft empfängt – bis es einmal im Gewühl des Kampfes
Hieb oder Stich empfängt und der Ritter selber auf beiden Armen seinen
treuen Knappen ins Zelt trägt und aus dem Knabenwams einen
weißleuchtenden Frauenleib ans Licht schält.“

„Findest du nicht, daß er Talent hat?“ neckte Gwen. „Er sollte doch
unter die Dichter gehen. Und was bin ich? Äußern Sie sich, Herr
Wietinghoff, in welcher Rolle belieben Sie mich zu sehen?“

„Sie sind absolut eine Ausgeburt des zwanzigsten Jahrhunderts,“ gab
Wietinghoff fast verächtlich zurück, „albern und frühreif, verderbt und
kindlich, putzsüchtig, anspruchsvoll ...“

Gwen zappelte mit den Füßen und öffnete den Mund zu einem ungezogenen
Schreien.

Wietinghoff beeilte sich, sie zu beschwichtigen.

„Aber süß,“ sagte er hastig, ängstlich, „ganz entzückend dabei,
unwiderstehlich, bezaubernd, berückend, betörend.“

„Scheint so,“ lachte Gwen, „Sie hab’ ich jedenfalls betört, denn Sie
sind furchtbar töricht. Prost, Kinder – ich finde den Wein herrlich und
das Leben wunderschön.“

Mette trank ihr zu. Der Wein goß warme Ströme durch ihre Nerven.

‚Kamerad,‘ dachte sie, ‚schönes, liebes Wort. Kamerad! Das möcht’ ich
sein, und das kann ich sein. Kameradschaft. Das ist mein Reichtum und
meine Stärke. Aber noch nie hat sie jemand von mir verlangt. Ich kann
diesem kleinen Mädchen Kamerad sein und kann’s diesem Mann sein – ob die
beiden nun andere Beziehungen miteinander haben, geht mich gar nichts an
– es berührt mich gar nicht. Seltsam – noch nie hat mich jemand zum
Kameraden haben wollen – nicht einmal Olga. Und dabei ist mir, als wäre
mir durch dies Wort ein Schlüssel zu meinem Innern gegeben, daß ich in
mich selbst hineinsehen kann und erkenne, was in mir ist. Ich will Fred
Wietinghoff immer dankbar sein, daß er mir dieses gute Wort gesagt hat.‘

Die frohe Stimmung hielt bei allen an. Manchmal lachte Gwen so
ausgelassen, daß Wietinghoff oder Mette sie zur Ruhe verweisen mußten.
Manchmal flog ein Scherzwort hin und her, das Mette nicht verstand. Aber
es quälte sie nicht mehr. Ein guter Kamerad mußte sich vertrauensvoll
und geduldig in alles schicken. Mußte überhören können, was er nicht zu
wissen brauchte. Und mußte mit immer wachen, hundertfach geschärften
Ohren hören, wenn ein Notruf an ihn erging. – – –

                   *       *       *       *       *

Auf dem Türgang sagte Fred Wietinghoff ihnen gute Nacht. Er küßte beiden
lange die Hand, und keiner um einen Herzschlag länger als der andern.
Aber Gwens Finger hob er an die Lippen und sah ihr dabei in die Augen,
eindringlich und wie beschwörend. Über Mettes Hand beugte er tief den
Kopf. – – –

                   *       *       *       *       *

„Morgen fahren wir ans Meer!“ Gwen tanzte übermütig durchs Zimmer.
„Mette, süße Mette, ist das Leben nicht schön? Und ist es nicht
entzückend, mit Fred zu bummeln und zu reisen? Bist du nicht entzückt
von ihm? Ach, etwas doch, mir kannst du es ruhig zugeben, ich bin nicht
eifersüchtig! Nur ausschalten laß ich mich nicht – aber sonst ... Du
bist ja doch ein bißchen in ihn verliebt, sag’ es nur ruhig.“

„Ich glaube, du bist ein bißchen beschwipst, kleine Maus,“ sagte Mette
lächelnd, „es ist höchste Zeit, daß du in dein Bettchen kommst.“

„Ja, höchste Zeit – höchste Zeit,“ trällerte Gwen leise. Sie zog sich
aus, während sie in der Stube herumtanzte, und streute ihre Sachen auf
alle vorhandenen Stühle und Tische. „Müde bin ich zwar gar nicht ...
bist du müde, Metting? Hoffentlich nicht.“

„Warum nicht? Was hast du denn noch vor?“

„Ach, ich geh’ heut Abend noch auf den Ball mit dir ... auf den
Federball ... habt ihr das als Kinder auch immer gesagt? Blöd, nicht?
Alle Kinder haben dieselben dummen Redensarten und finden sie tausendmal
hintereinander immer wieder witzig. Und wenn man älter wird, mag man die
besten Witze nicht zweimal hören und die schönsten Gerichte nicht
zweimal essen. Eigentlich traurig, nicht? Oder? Fred Wietinghoff würde
sagen: der ewige Hunger nach neuem peitscht uns vorwärts. Sonst würden
wir uns wie Karusselpferde im Kreis herumdrehen. Also, gepriesen sei der
Drang nach Abwechslung! Was machst du nur so ewig, Mettika? Ich steige
gleich ins Bett.“

Sie stieg aber trotzdem nicht gleich ins Bett, sondern lief im Hemd im
Zimmer hin und her, hatte dort etwas zu ordnen und hier etwas zu suchen
und verbrachte die Zeit mit Geschwätz und Getändel.

Mette lag schon im Bett: „Du wirst dich erkälten,“ sagte sie
kopfschüttelnd, „wie kann man so herumtrödeln? Du warst doch schon vor
einer halben Stunde fertig. Dreh’ die überflüssige Beleuchtung aus und
kriech’ ins Bett.“

Gwen reckte die nackten Arme über den Kopf.

„Ich hab’ eine solche Unruhe in mir,“ klagte sie. „Begreifst du denn das
nicht? Ach Mette, du tust ja nur so, als ob du von Eis und Schnee wärst.
Fühlst du denn nicht, wie der Wein durch deine Adern geht und dir immer
von unten gegen das Herz stößt, immer so.“ Sie schlug ruckweise mit der
geballten Faust gegen die Brust. „Und fühlst du nicht, daß es da draußen
Frühling wird? Hast du keine Wurzeln mehr in der Erde, daß du nicht
fühlst, wie der Saft in dir gärt ... in dir, wie in jedem Baum und
Strauch ...“

Sie blieb neben dem Schrank stehen und legte die Arme, die Schläfe an
das glatte Holz:

„Manchmal glaub’ ich, diese armen mißhandelten, zersägten, behobelten
Bäume haben noch einen Rest Leben in sich – und im Frühling, wenn die
große Orgie sich vorbereitet ... dann fängt es an, noch in dem armen
polierten Holz zu pulsen und zu zucken – fühl’ nur, es ist wie ein
leiser Herzschlag drin, und dann denk’ ich, die Möbel freuen sich an mir
– sie fühlen mein Leben aufschäumen, und das gibt ihnen Lust und Ruhe –
Mette!“ – Sie war mit ein paar Sprüngen auf dem Bettrand und faßte Mette
rüttelnd an den Schultern. „Bist du lebloser als das tote Holz? Das ist
nicht wahr und das glaub’ ich dir nicht!“

Sie schlang die Arme um Mette und wühlte den Kopf neben ihr in die
Kissen.

„Warum magst du mich nicht, Metting?“ flüsterte sie ihr ins Ohr. „Sag’
mir, ist es, weil du Fred liebst? Es ist nicht wahr, daß du nie eine
Frau geliebt hast. Es ist auch nicht wahr, daß du mich nicht lieben
könntest ...“

„Lieben,“ sagte Mette tonlos, „was nennst du lieben.“

„Lieben nenne ich selig machen ... und selbst dabei selig sein ... alles
andere nenn’ ich Freundschaft oder Anbetung oder Schwärmerei, ja, am
besten Schwärmerei. Ich will wissen, was du gegen mich hast!“

Sie kniete auf dem Bettrand und riß sich wie eine Rasende das Hemd von
den Schultern.

„Du sollst mich jetzt ansehen! Du mußt mich jetzt ansehen! Wo hab’ ich
irgendeinen Fehler, der dich abstößt?“

„Du bist sehr schön,“ sagte Mette mit gequältem Lächeln.

„Ach, und du erst,“ Gwen warf sich über sie und küßte ihr Mund und
Augenlider, Hals und Wangen.

‚Ich will nicht,‘ dachte Mette, ‚sie ist mir anvertraut, und ich rühre
sie nicht an. Ich bin sein Kamerad ... ich bin sein Kamerad ...‘

Rosenrote Wellen hoben sich. Sie stiegen ihr bis zum Herzen, bis zum
Hals, bis über die Augen. Das Zimmer schien zu schwanken, wie in
zitternden Atemzügen, wie in ruckweisen Herzstößen.

Plötzlich war alles still, hell, es war wie blendendes Licht, und wie
ein schmetternder Hornstoß.

Vielleicht hatte ganz leise eine Diele geknarrt.

Mette fuhr auf, wach, nüchtern.

Irgend etwas war im Zimmer, was vorher nicht da gewesen war.

Ein violetter Fleck. Und darüber Fred Wietinghoffs Gesicht.

Fred Wietinghoffs Augen. Brennend. Gierig. Ganz unverhüllt, wie die
Augen brünstiger Tiere – ganz nackte Augen.

Mette schrie nicht auf.

Sie schleuderte den weichen Körper von sich, der würgend auf ihr lag.

Ein Wort stieg in ihr auf und verließ sie nicht mehr. Es war das einzige
Wort, das sie denken konnte, und das ihre Gedanken unablässig
wiederholten:

‚Abgekartet. Alles abgekartet.‘

Sie richtete sich auf und griff nach ihren Kleidern.

In diesem Augenblick stürzte Wietinghoff auf sie zu.

„Mette,“ stammelte er, „Süßeste.“

Da schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

Er war auf Widerstand gefaßt gewesen, auf Stoßen, Kratzen, Beißen – er
hätte sie lachend bezwungen.

Der Schlag ließ ihn zurücktaumeln.

Mette schlüpfte in ihre Bluse.

‚Abgekartet,‘ dachte sie, ‚abgekartet.‘

Sie knüpfte die Bänder des Unterrocks. Ihre Hände zitterten nicht, trotz
der wahnsinnigen Hast. Erst als sie angezogen war, warf sie einen
flüchtigen Blick auf Wietinghoff.

Auf seinem blassen Gesicht brannte die Spur ihrer Hand wie ein feuriges
Mal. Über seinen Augen lagen die breiten zitternden Lider.

Ein seltsames Gefühl stieg in Mette auf. Eine rasende Freude: ‚ich habe
ihn gut getroffen.‘ Und dann eine dämmernde Erkenntnis: ‚es ist das
erstemal, daß ich dies schöne Gesicht berührt habe – dies schöne
Gesicht.‘

Nie hatte sie mit einem Gedanken daran gedacht – aber ihr war, als
hätten ihre Hände sich immer danach gesehnt, dies Gesicht zu streicheln.

Ein namenloses Weh quoll in ihrem Herzen. So, als hätte sie etwas
Schönes und Kostbares besessen, und sähe es zum erstenmal, da es ruchlos
zerstört und zerbrochen vor ihr lag.

Sie ging ruhig im Zimmer hin und her und holte ihre Sachen zusammen.
Wenn sie an Fred Wietinghoff vorüber mußte, machte sie einen Bogen. Er
sah sie nicht an, aber er fühlte es und zuckte zusammen.

Gwen war auf ihr Bett gekrochen. Sie saß nackt und rosig auf dem großen
Federbett, hatte die Schultern hochgezogen und spielte verlegen mit
ihren Zehen.

Die Tür nach dem Nebenzimmer stand offen. Es war die Tür, durch die Fred
Wietinghoff gekommen war.

‚Abgekartet,‘ dachte Mette, ‚abgekartet.‘

Sie ging in Hut und Mantel auf die Tür zu. Als sie die Klinke in der
Hand hielt, blieb sie stehen.

„Ich werde in das Zimmer nebenan gehen,“ sagte sie ruhig, „ich habe
keine Lust, jetzt in der Nacht das Hotel zu verlassen. Um sieben Uhr
werde ich gehen und die Tür vom Korridor offen lassen.“

Wietinghoff drehte sich um.

„Gnädiges Fräulein,“ sagte er heiser.

In seinem blassen Gesicht standen seine dunklen Augen wie zwei offene
Wunden.

Mette zog die Tür hinter sich zu und riegelte hart ab.

Sie drehte das Licht nicht an.

Sie wußte und fühlte es: überall lagen Sachen – fremde Sachen – seine
Sachen.

Nach einer ganzen Weile hörte sie Stimmen von nebenan, hin und her,
gedämpft und unterdrückt, aber doch vernehmlich.

‚Lieber Gott, was werd ich noch alles hören,‘ dachte sie, ‚lieber Gott,
gib mir Kraft, gib mir Kraft. Laß mich sterben, wenn du kannst, aber laß
mich nicht wahnsinnig werden, daß ich nicht irgend etwas tue – irgend
etwas ganz Furchtbares ...‘

Aber das Schlimmste war der Duft, der über dem Zimmer lag. Der Hauch der
Zigarette, der feine Geruch des Juchtenleders, der Duft der Seife, des
Essigs.

Mette machte das Fenster weit auf und schob sich einen Stuhl zwischen
die Flügel. Die Nacht war kalt, Mette zitterte, so fest sie sich auch in
ihren Mantel wickelte.

Sie dachte an die Stadt, die sie verlassen würde. Wo nun hin – wohin?

Sich weiter hetzen lassen, heimatlos, ruhelos, jeder Begierde ein
Freiwild?

Oder sterben?

Ja, wenn sie an den Schlaf hätte glauben können.

Aber sie fühlte in dieser Stunde stärker als je, unleugbar, unantastbar
das Unzerstörbare in sich.

Sie wurde demütig vor dem, was sie in sich trug, wie eine Mutter in
Demut ein fremdes Leben in sich fühlt.

‚Meine arme Seele,‘ sagte sie leise, ‚was hab’ ich dir getan? Warum hab’
ich nie daran gedacht, dich zu pflegen und dir zu helfen? Warum wollt’
ich dich immer nur auf die Wanderschaft schicken, immer in den kalten
Sternenraum hinein? Arme Seele – wozu hab’ ich dich denn, wenn du nur
leidest an mir, und ich an dir! Einmal werd’ ich es wissen – einmal
werd’ ich alles erfahren. Ich möchte nicht sterben, nein, ich möchte
nicht sterben, eh ich nicht weiß, warum ich gelebt habe.‘

Eccarius fiel ihr ein: Niemand darf sterben, ehe er den Tod nicht lieb
gewann.

‚Nein, ich liebe den Tod nicht. Ich fürchte ihn nicht, aber ich liebe
ihn nicht. Ich will ihn lieb gewinnen. Ich will leben, um den Tod lieb
zu gewinnen. Vielleicht ist es das, warum wir leben müssen. Und
vielleicht ist es das, warum wir leiden müssen.‘

Die Stimmen nebenan waren zur Ruhe gegangen. Der fremd-vertraute Duft
war aus dem Zimmer entwichen.

Am Himmel erblaßten die Sterne vor dem ersten fahlen Dämmerlicht des
aufsteigenden Märzmorgens.

                        Ende des zweiten Buches




                      Askanischer Verlag Berlin SW


                      In unserem Verlage erschien
                         Anna Elisabet Weirauch

                              Der Skorpion
                               Ein Roman
                              Erster Band

   „Der Skorpion“ behandelt mit Unerschrockenheit und Klarheit ein
   Thema, welches selten, vielleicht nie zum Gegenstand eines Romans
   gemacht worden ist: Das Problem der gleichgeschlechtlichen Liebe.

   Es wird die Geschichte der Liebe, der Leidenschaft zweier junger
   Mädchen erzählt, die beide reizvolle, geistig hochstehende
   Menschen sind. Sie wird erzählt von den ersten Anfängen einer
   schwärmerischen Sympathie, mit allen innerlichen und äußerlichen
   Kämpfen, allen Qualen und Seligkeiten bis zur Katastrophe der
   Trennung, des gewaltsamen Todes der einen und darüber hinaus.

   Sie wird erzählt ohne jede Tendenz, ohne zu schmähen und ohne zu
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   auch nur die Grenzen des Unschönen streift, nicht in der Absicht,
   eine Lanze zu brechen oder Sensation zu erregen, nur in der
   Absicht, Vorgänge zu schildern, die sich – manchem unerklärlich –
   tausendmal unter unsern Augen abspielen, und die nicht aufhören
   zu existieren, dadurch, daß man sie verschweigt.

                        Schön gebunden 15,– Mark
                 Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

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   Der Held des Romans, der Maler Norman, ist der Typ des
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   ihm vorschreibt, der nicht den Mut findet, sich mit kraftvoller
   Faust die irdische Seligkeit von den Sternen zu holen, dem jedes
   ertrotzte Glück Sünde zu sein scheint und nur das
   Schwer-zu-ertragende Pflicht bedeutet. Dieser Pflichtmensch wird
   zum Mörder, weil sein Gewissen ihm verwehrt, das Joch einer
   unwürdigen Ehe abzuschütteln, und ihn antreibt, das Mädchen, das
   er liebt und das in grenzenloser Liebe und Leidenschaft sich ihm
   anbietet, zu verschmähen, weil er in dem hergebrachten törichten
   Wahn befangen ist, daß die körperliche Unberührtheit das
   heiligste Gut des Weibes sei, und daß es verwerflicher sei, den
   Leib eines Mädchens zu zerstören, als ihre Seele.

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   „Anja“ erzählt die Geschichte eines schönen und stolzen Mädchens,
   das, nur seiner souveränen Weibesnatur folgend, sich verschenkt
   und gerade deshalb dem Begreifen des Mannes immer rätselhaft
   bleiben muß.

   In diesem Roman werden mit sezierender Hand die tiefsten Fasern
   menschlichen Fühlens aufgedeckt. Der Widerspruch zwischen der
   Gefühlsnatur der Frau und dem verstandesmäßigen Erfassenwollen
   des Mannes tritt in reizvollem Gegensatz hervor, von dem aus
   blendende Schlaglichter auf die Charaktere beider Geschlechter
   geworfen werden. Wir sehen hier Liebe geboren werden, wachsen,
   sich entwickeln. Liebe, die Mitleid ist, Sorgsamkeit, gütiges
   Helfenwollen – und die erst nach Erfüllung aller Wünsche zur
   rasenden Leidenschaft wird und den zerbricht, der stark, gesund
   und harmonisch, sich anmaßt, von seiner Höhe herab Menschen
   beglücken und Schicksale trennen zu können.

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                          Der Tag der Artemis
                             Drei Novellen

   „Der Tag der Artemis“ – das ist der Tag, der Knaben zu Männern
   macht, der Tag, an dem im jungen Menschenkinde unerkannt,
   gebieterisch, erschreckend oder beglückend zum erstenmal das
   Geschlecht sich regt.

   Die erste der Novellen ist eine Institutsgeschichte.
   Schwärmerische Neigung, ehrliche Kameradschaft, Eifersucht, Haß,
   gekränkter Ehrgeiz – alle Leidenschaften toben und gären in
   diesen unreifen Knabenseelen, bis sie in einer Katastrophe
   explodieren.

   „Gere“ ist die Geschichte eines Schülerselbstmordes. Der
   Gequälte, der in dem unverstandenen natürlichen Trieb nur Schmutz
   und Laster sieht, verliert seinen letzten Halt, den Glauben an
   die Heiligkeit der Mutter, und greift zum Revolver.

   „Der Statist“ variiert das Thema des erwachenden Liebesgefühls in
   heiterer Form. Einen armseligen Drogistenlehrling bringt ein
   Zufall als Statisten ans Theater. Die schwärmerische Leidenschaft
   für die Heldin des Hoftheaterchens macht einen Menschen aus ihm
   und führt ihn auf einen Weg, den er weitergehen wird, auch wenn
   die Leidenschaft längst verlodert ist.

   Erzählungen aus jenen Lebensjahren, wo die Erotik noch
   schlummert, wo sie aber im geheimen heftiger wühlt, als wir ahnen
   und ahnen wollen.

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                      Askanischer Verlag Berlin SW


Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 17]:
   ... blättert, ohne etwas nach dem Namen der Maler ...
   ... blättert, ohne etwa nach dem Namen der Maler ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SKORPION. BAND 2 ***


    

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        Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
        within 60 days following each date on which you prepare (or are
        legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
        payments should be clearly marked as such and sent to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
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        Literary Archive Foundation.”
    
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        works.
    
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        any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
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        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

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Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

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works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
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without further opportunities to fix the problem.

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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
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LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

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remaining provisions.

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production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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