Tante Toni und ihre Bande

By Alberta von Brochowska

Project Gutenberg's Tante Toni und ihre Bande, by A(lberta) von Brochow

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Title: Tante Toni und ihre Bande

Author: A(lberta) von Brochow

Release Date: January 23, 2008 [EBook #24413]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK TANTE TONI UND IHRE BANDE ***




Produced by Norbert H. Langkau and the Online Distributed
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                               Tante Toni
                             und ihre Bande

               Eine Erzählung für Kinder und Kinderfreunde

                                  Von

                             A. v. Brochow


                       Zweite und dritte Auflage

                          Freiburg im Breisgau

                      _Herdersche Verlagshandlung_

          Berlin, Karlsruhe, Köln, München, Straßburg und Wien



                         Alle Rechte vorbehalten

   Buchdruckerei der _Herder_schen Verlagshandlung in Freiburg. 1919




                         Inhaltsverzeichnis.
                                                                  Seite

  1. Kapitel. Tante Toni kommt!                                       1

  2. Kapitel. Es wird Krocket gespielt, und Tante Toni
              macht dabei Charakterstudien                           18

  3. Kapitel. Was die Kinder werden wollen                           38

  4. Kapitel. Es wird spazierengegangen; man begegnet
              der alten Babett; Anna wird Prophetin und Rudi
              Schwanenritter                                         51

  5. Kapitel. Minnichen wird geimpft                                 90

  6. Kapitel. Tante Toni geht mit ihrer Bande auf den
              Wetterstein. Otto spielt einen schlimmen Streich      103

  7. Kapitel. Bambula, der Puppenfresser. Otto, weißt
              du nun, wie es tut?                                   135

  8. Kapitel. Klein Tonis Wunsch geht in Erfüllung!                 172

  9. Kapitel. Wie Lilly ein Geheimnis erfährt. Der große
              Tag und Ottos Entschluß. Auf Wiedersehen!             187




                            Erstes Kapitel.

                           Tante Toni kommt!


Frau Wulff saß am Fenster und nähte. Ihre vier ältesten Kinder waren
noch um den Tisch versammelt und beendeten ihren Nachmittagskaffee.

»Eilt euch ein wenig«, drängte die Mutter, »damit ihr bald an die
Aufgaben kommt und hernach noch in den Garten gehen könnt.«

»Ich bin fertig«, sagte Kurt, und er trat zur Mutter ans Fenster.
Hinausblickend gewahrte er den Briefträger.

»Mutter, da ist der Briefträger!« rief er eifrig aus. »O, darf ich
schnell hinunterlaufen? Er hat vielleicht einen Brief von Tante Toni!«

»Ja, geh nur. Aber sei so gut und bringe mir den Brief uneröffnet. Du
weißt, es schickt sich nicht, daß Kinder die Briefe ihrer Eltern
öffnen.«

Kurt wurde rot und sprang hastig hinaus. Wenige Augenblicke später
stürzte er wieder ins Zimmer und schrie, wie im Triumph einen Brief
hochhaltend: »Hurra, ein Brief aus Walden; der ist sicher von Tante
Toni!«

Die vier Kinder drängten sich an die Mutter heran.

»Schnell, Mütterchen, mach' auf und sieh, ob sie kommt!«

»Nur gemach, nur gemach, Kinder!« wehrte diese lächelnd, aber sie
beeilte sich doch sehr mit dem Öffnen des Briefes; sie wartete ja selbst
mit Sehnsucht auf den Besuch ihrer Schwester, der schon lange geplant
war, aber wegen eines Unwohlseins ihres Vaters schon mehrmals hatte
verschoben werden müssen.

Schnell durchflog sie den Brief und rief dann freudig aus: »Ja, Kinder,
die Tante Toni kommt, und zwar schon morgen!«

Diese Nachricht wurde mit einem solchen Freudengeschrei begrüßt, daß die
Mutter sich die Ohren zuhalten mußte.

»Kommt der Großpapa auch mit?« fragte Paul, Kurts Zwillingsbruder.

»Nein; Großpapa geht zu seiner Erholung für ein paar Wochen zu Onkel
Karl und zu Tante Klara aufs Land; deshalb kann Tante Toni diesmal
etwas länger bleiben.«

»Hurra, sie bleibt lange diesmal!« schrie Anna, und sie wirbelte
springend und hopsend durchs Zimmer, während die kleine Toni, das
Patenkind der Tante, in die Hände klatschend ausrief: »O, wie froh bin
ich, wie froh!«

»Höre, Paul«, wendete sich nun die Mutter an diesen, »du gehst gleich zu
Onkel Robert und teilst ihm Tante Tonis Ankunft mit. Da er jedenfalls
keine Zeit haben wird, an die Bahn zu gehen, so bitte ihn, er möge doch
morgen nachmittag zum Kaffee kommen oder wenigstens das Fräulein mit den
beiden Kindern schicken. Und du, Kurt, du springst hinüber zu Onkel und
Tante Helmer und ladest sie ebenfalls ein und sagst, sie möchten die
drei größeren Kinder mitbringen. Haltet euch aber nicht auf, denn es muß
noch gelernt werden; sonst gibt es morgen Verdruß in der Schule!«

»Sei ruhig, Mutter, wir sind gleich wieder da!«

Und wie der Wind stürzten Paul und Kurt hinaus, stolz darauf, die
Überbringer einer so wichtigen Botschaft zu sein.

Tante Tonis Zug traf am nächsten Tage gegen 3 Uhr ein; es war
glücklicherweise ein schulfreier Nachmittag, so daß die Zwillinge, Anna
und Toni ihre Mutter an die Bahn begleiten konnten. Dort trafen sie auch
schon Tante Luise Helmer mit ihren zwei Ältesten, Mariechen und Philipp.

Als der Zug einfuhr, waren die Kinder kaum zurückzuhalten. Jedes wollte
die Tante zuerst sehen, sie zuerst begrüßen, und kaum war diese ihrem
Wagenabteil entstiegen, da war sie auch schon umringt, umarmt,
geschoben, gestoßen, daß sie sich kaum zu helfen wußte und lachend
ausrief: »Das ist ja der reinste Überfall! Gebt acht, die guten Sachen,
die ich euch mitgebracht habe, werden ganz zerbröckelt und zu Brei
gedrückt sein, bis wir heimkommen!«

Das wirkte ein wenig, und Tante Toni konnte nun endlich auch ihre beiden
Schwestern begrüßen.

»Und nun im Triumphzug nach Hause!« rief Kurt.

Aber es war nicht leicht, etwas Ordnung in diesen Triumphzug zu bringen;
denn die liebe Tante hatte leider nur zwei Seiten, und es stritten sich
sechs Kinder um den Vorzug, neben ihr gehen zu dürfen. Mama Wulff
machte endlich dem Streit ein Ende, indem sie erklärte:

»Tante Luise und ich, wir nehmen Tante Toni in unsere Mitte, und ihr
geht hübsch brav und ordentlich voraus, erst die drei Buben und dann die
drei Mädels!«

»Ich will aber lieber mit den Buben gehen!« erklärte Anna Wulff.

»Wir bedanken uns für die Ehre!« rief Paul abweisend. »Wir brauchen dich
nicht!«

»Paul, du bist aber doch wirklich ein garstiger, ein ganz abscheulicher
Bub!« zankte Anna sehr beleidigt, und als nun Paul seine Mütze abzog und
eine tiefe Verbeugung machend sagte: »Ich danke verbindlichst für diese
Schmeicheleien«, da erklärte Anna entschlossen: »Und ich geh' doch mit
euch Buben!«

Aber die Mutter rief mahnend: »Kinder, ihr werdet doch hier keinen
Streit anfangen! Mir scheint, ihr wollt euch der Tante gleich von eurer
schlimmsten Seite zeigen.«

Paul und Anna ließen die Köpfe ein wenig hängen, aber Annas
Schelmengesichtchen zeigte bald wieder den gewohnten fröhlichen
Ausdruck, und sie gesellte sich zu ihrer Cousine Mariechen und zu klein
Toni, halblaut vor sich hinsingend:

    »Ach, wenn ich doch kein Mädchen wär'!
    Das ist doch recht fatal!
    Dann ginge ich zum Militär
    Und würd' ein General!«

Und nun vollzog sich die Heimkehr ohne weiteren Zwischenfall.

Nachdem Tante Toni sich vom Reisestaube gereinigt hatte, galt ihr erster
Besuch dem Kinderzimmer, um den bald vierjährigen Leo zu begrüßen und
die Bekanntschaft der Allerkleinsten zu machen. Minnichen war noch keine
zwei Jahre alt, und Tante Toni hatte es noch gar nicht gesehen. Es tat
erst etwas scheu; als aber die Tante lockte: »Komm, du Goldkäferchen,
komm mal her zu Tante Toni, die hat dir auch etwas mitgebracht!« da
näherte sich die Kleine, zuerst zwar etwas schüchtern, aber bald ganz
zutraulich, und es dauerte nicht lange, da hatte sie es sich auf Tante
Tonis Schoß bequem gemacht, und sie ließ sich das eben erhaltene Biskuit
munden, aber nicht ohne es der Tante zum Schmecken hinzuhalten und auch
dem danebenstehenden Brüderchen, obwohl dieses selbst sehr mit Kauen
beschäftigt war. Dazwischen erklärte der kleine Leo mit wichtiger
Miene: »Du mußt wissen, Tante, daß ich Leo heiße, und ich lehre das
Minnichen jetzt sprechen. >Mama< und >Papa< kann es schon sagen, aber
>Leo<, das bringt es noch nicht fertig; es kann nicht >l< sagen und macht
immer >neh< und >noh<. Der Name ist vielleicht zu schwer, und ich will's
mal mit >Toni< versuchen.« Dann sich schmeichelnd an sein Schwesterchen
wendend fuhr er fort: »Komm, Minnichen, sag' mal schön >Toni<, dann
kriegste auch was von mir!«

Allein Minnichen hatte allem Anscheine nach eben keine Lust zum Lernen;
es lachte nur, und den Rest seines Biskuits mit dem einen Händchen in
die Höhe haltend, patschte es mit dem andern aufs Bäuchelchen.

»Das soll heißen, 's wäre sehr gut«, erklärte Leo der Tante.

In diesem Augenblick stürzte Anna zur Türe herein und rief: »Tante, du
sollst schnell runterkommen; der Onkel Robert ist da mit Otto und Lilly,
und eben kommt auch Onkel Albert Helmer mit dem Rudi!«

Leo und Minnichen sahen die Tante nur ungern scheiden, und es hätte wohl
Tränen gegeben, wenn diese nicht versprochen hätte: »Ich komme heute
abend nochmal zu euch -- ich komme euch waschen und ins Bettchen legen!«

»Ja, o ja, Tante, tue es, das ist schön!« jubelte Leo in die Hände
klatschend.

»Sön«, echote Minnichen, und es patschte fest seine kleinen, dicken
Händchen gegeneinander.

»Hast du's gehört, Tante? Es hat eben >sön< gesagt, es kann schon wieder
ein neues Wort!« rief der kleine Lehrmeister der davoneilenden Tante
nach.

Nachdem Tante Toni ihren Bruder und ihren Schwager begrüßt hatte,
wendete sie sich an die neun anwesenden Kinder und sagte lachend:

»Ihr seid aber alle so groß geworden in diesen zwei Jahren -- ich weiß
gar nicht, ob ich euch noch auseinander kenne! Kommt, stellt euch doch
mal dem Alter nach in eine Reihe, damit ich sehe, ob ich noch alle
nennen kann!«

Die Kinder gehorchten lachend. Die immer lustige Anna rief aber:

»Nimm dich in acht, Tante Toni; wenn du den Namen von einem von uns
vergessen hast oder gar eines mit dem andern verwechselst, so ist das
eine schreckliche Beleidigung.«

»Nun, ich werde mich schon zusammennehmen. Bei dir hat's jedenfalls
keine Gefahr, mein Ännchen; dein Spitzbubengesichtchen verwechselt man
nicht leicht mit einem andern. Aber nun angefangen! Also hier zuerst
Mariechen Helmer; du bist jetzt vierzehn Jahre alt. Von dir hab' ich
schon Gutes und Liebes gehört, wie vernünftig du bist und wie du
versuchst, deinem Mütterchen zu helfen.«

Und Tante Toni drückte einen herzlichen Kuß auf die Stirne des
errötenden Mariechens.

»Und nun kommen wir zu den Wulffschen Zwillingen Kurt und Paul. Die
haben sich gestreckt. Gib acht, Mariechen, deine Vettern wachsen dir
bald über den Kopf.«

»Ich auch, Tante Toni; ich bin fast so groß wie unsere Mieze!«

»Ja du, bist du denn wirklich der Philipp Helmer? Dich hätte ich
wirklich beinahe nicht mehr erkannt. Jetzt darf man dich nicht mehr
>Dickerchen< nennen, so groß und schlank bist du geworden! Du und die
Zwillinge, ihr seid wohl jetzt dreizehn Jahre alt.«

»Und ich, Tante Toni, wie alt bin ich?« rief Anna Wulff, ihre für ihr
Alter etwas zu kleine Gestalt nach Kräften in die Höhe reckend.

»Ja du, Ännchen, laß dich mal betrachten«, und Tante Toni drehte Ännchen
hin und her, besah sie überlegend von allen Seiten; endlich sagte sie:
»Ei, Ännchen, was machst du für Sachen! Du hast wohl seit einiger Zeit
so viel tolle Streiche im Kopf, daß du ganz vergessen hast zu wachsen.
Du siehst aus, als wärest du nicht viel über zehn Jahre!«

»Ich bin aber zwölf«, sagte Anna, ein bißchen schmollend.

»Ich bin noch nicht elf und bin so groß wie sie!« rief Otto Mehring, der
neben seinem um ein Jahr jüngeren Schwesterchen Lilly stand.

»Ja, und du darfst in diesem Jahre zur ersten heiligen Kommunion gehen,
wenn ich nicht irre.« Tante Toni strich ihm leicht die Haare aus der
Stirne. Mit ganz besonders liebevollem Blick schaute sie Otto und Lilly,
die beiden Kinder ihres Bruders Robert, an, ganz besonders innig drückte
sie diese beiden ans Herz -- sie hatten ja keine Mutter mehr, die armen
Kinderchen.

Als letzte in der Reihe standen noch der achtjährige Rudi Helmer mit
seinem blonden Lockenkopf und den treuherzigen blauen Augen und die
siebenjährige Toni, die neben diesem ihrem kräftigen, rotwangigen
Vetterchen noch zarter und blasser aussah wie sonst.

»Du mußt rötere Bäckchen bekommen, mein Patenkindchen, und du darfst
nicht gar so ernsthaft dreinschauen«, sagte Tante Toni leise.

Aber Tonis Mutter hatte es doch gehört, und sie erklärte mit einem
besorgten Blicke auf ihr kleines Töchterchen:

»Das Kind leidet noch immer unter den Folgen des Scharlachfiebers. Die
andern wissen schon lange nichts mehr davon, nur Toni hat sich nie so
recht davon erholt.«

Nun trennte sich Tante Toni von den Kindern, denn sie mußte sich zu den
Großen setzen, um ihnen vom Großpapa und von seiner Reise zu Onkel Karl
und Tante Klara zu erzählen.

Klein Toni war aber der Tante nachgegangen; erst stellte sie sich ganz
still neben ihren Sessel, allmählich rückte sie ein wenig näher, und
zuletzt lehnte sie ihr Köpfchen an deren Schulter, schmiegte sich an sie
und streichelte leise ihre Hand. Die gute Tante zog die kleine Nichte
auf ihren Schoß und meinte lächelnd: »Ich glaube, wir werden bald recht
gute Freundinnen werden.«

Da leuchteten klein Tonis Augen auf, und sie fragte eifrig: »Wirklich,
Tante Toni? Willst du meine Freundin sein, meine _wirkliche_ Freundin?«

»Aber gewiß, sehr gerne!«

Wie der Wind huschte die Kleine vom Schoße der Tante herunter, und ganz
rot vor freudiger Aufregung stürzte sie auf die andern Kinder zu und
rief mit strahlenden Augen:

»Du, Mieze! du, Anna! ich hab' jetzt auch eine Freundin! -- Ihr braucht
jetzt gar nicht mehr so ein Getue zu machen mit euern Freundinnen! Ich
hab' eine viel größere und eine viel bessere Freundin wie ihr -- denn
Tante Toni ist meine Freundin!« Und triumphierend schaute klein Toni
ihre Geschwister, Vettern und Cousinen an.

Diese aber brachen in ein schallendes Gelächter aus. Das hatte das Kind
nicht erwartet. Es war erst starr vor Überraschung, dann wurde es rot
und rief halb weinend: »Was lacht ihr mich denn aus? Ich hab' doch gar
nichts Dummes gesagt!«

»Nein, mein Tonichen«, suchte Mieze die Kleine zu beruhigen, »du hast
gar nichts Dummes gesagt -- aber es kam uns halt nur so drollig vor,
daß du winziges Persönchen dir die Tante Toni zur Freundin ausgesucht
hast!« Und nun fing Mieze wieder an zu lachen, die andern stimmten im
Chore ein; Anna und Otto lachten am lautesten, umtanzten das Kind und
schrien: »Hoch der neue Freundschaftsbund!«

Jetzt aber wurde klein Toni zornig, ihre Augen funkelten, sie ballte die
kleinen Fäuste, sie stampfte mit den Füßen, und je mehr die andern
lachten, desto wilder gebärdete sich das Kind. Als Mieze es zu beruhigen
suchte, stieß es sie von sich, bis Kurt sagte:

»Na, so einen Zornepickel wird Tante Toni aber doch gewiß nicht zur
Freundin haben wollen!«

Da kam die Kleine zur Besinnung. Sie wurde auf einmal still, ließ das
Köpfchen hängen und schlich sich fort. Sie kauerte sich in ein Eckchen,
drückte die Fäustchen vor die Augen und weinte leise vor sich hin. Mieze
wollte ihr nachgehen, aber Anna hielt sie zurück und sagte: »Laß sie nur
jetzt ganz in Ruhe; wenn sie so ihren Zorn gehabt hat, dann ist es am
besten, man kümmert sich nicht um sie. Kommt nur alle mit mir in den
Garten, die Toni wird uns nachher schon von selbst nachkommen.«

Tante Toni hatte aber von ferne alles beobachtet. Als die andern Kinder
das Zimmer verlassen hatten, näherte sie sich der weinenden Kleinen;
diese aber drückte die Händchen nur noch fester vor das Gesicht, und ihr
Schluchzen wurde heftiger. Die Tante nahm das Kind auf und setzte sich
mit ihm ins Nebenzimmer. Sie ließ es erst ruhig weinen, sie drückte es
nur liebevoll an sich, strich ihm sacht über Stirne und Haare, und als
das Schluchzen endlich anfing etwas nachzulassen, sagte sie freundlich:

»Nun muß meine kleine Freundin aber gleich wieder ein liebes, frohes
Gesichtchen machen.«

Da hob Toni ihr verweintes Gesichtchen in die Höhe: »O Tante Toni,
willst du mich denn noch zur Freundin haben? Ich war doch eben so bös!
-- Was mußten sie aber auch so über mich lachen?« Und die Tränen fingen
von neuem an zu fließen.

»Du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen; sie haben es gar nicht so
böse gemeint. Die Mieze war doch auch recht nett mit dir und wollte dich
trösten.«

»Ja, und ich hab' sie weggestoßen, ich war so zornig!« Und Toni ließ
wieder beschämt das Köpfchen sinken; dann setzte sie aber wie
entschuldigend hinzu: »Das kommt aber von meiner Krankheit her, daß ich
so leicht zornig werde, ich kann nichts dafür. Mama hat den andern schon
öfter gesagt, sie dürften mich nicht so reizen.«

»O, es ist ja leicht möglich, daß deine Krankheit eine größere
Reizbarkeit zurückgelassen hat; aber deshalb mußt du doch nicht meinen,
du könntest nichts dafür. Man kann immer etwas dafür, wenn man etwas
tut, wovon man weiß, daß es unrecht ist. Und daß man nicht zornig sein
darf, das weißt du doch, nicht wahr?«

Klein Toni wurde ganz rot, sie senkte das Köpfchen und sagte leise: »Ich
möchte gern nicht zornig sein -- aber es kommt immer ganz von selbst.«

Die Tante lächelte: »Ja, so geht's gewöhnlich. Sieh, die andern meinen's
doch auch nicht böse und sie wollen dich gewiß nicht kränken. Das Necken
kommt bei ihnen auch ganz von selbst.«

Das Kind sah erst überrascht und dann nachdenklich aus, und als die
Tante fragte: »Willst du nun versuchen, kleine Neckereien zu ertragen,
ohne zornig zu werden?« da nickte es mit dem Köpfchen und sagte
ernsthaft: »Ja, ich will's versuchen.«

Die Tante erschrak beinahe ein bißchen, als sie in diese Kinderaugen
blickte, aus denen ein so fester und ernster Entschluß leuchtete:

»Aber nun muß mein Tonichen wieder ein frohes Gesichtchen machen und
lachen. Komm, wir wollen jetzt Mariechen und die andern Kinder aufsuchen
gehen!«

Sie nahm ihr Patenkindchen bei der Hand und führte es in den Garten.
Dort rief sie die Kinder alle zusammen und sagte:

»Hört einmal, was ich mir ausgedacht habe! Des Vormittags, während ihr
in der Schule seid, werde ich der Mutter hier im Hause und bei den ganz
Kleinen helfen; aber des Nachmittags gehöre ich euch. Wenn ihr Zeit habt
und das Wetter ist schön, dann werden wir auch Spaziergänge zusammen
machen.«

»Hurra, Tante Toni!« und »Tante, du bist einfach famos!« so jubelten die
Kinder, vor Freude in die Hände klatschend.

Der blondlockige Rudi aber fragte eifrig: »Und wirst du uns auch
Geschichten erzählen, Tante Toni?«

»Gewiß, Rudi, herzlich gern. Du hörst also gern Geschichten?«

»O, furchtbar gern!«

»Ich auch!« und »Ich auch!« riefen da noch mehrere Stimmen.

»Ich höre am liebsten Indianergeschichten«, erklärte Otto, und Anna
stimmte ihm bei; die Zwillinge fanden Seeabenteuer viel interessanter;
Rudi und Toni entschieden sich für Märchen.

»Übrigens«, schlug Kurt vor, »da morgen Sonntag ist, könnten wir gleich
einen Spaziergang verabreden.«

»Natürlich!« rief Paul voll Eifer. »Wir führen die Tante über den
Hennenberg nach Horbach, von da auf den Blauberg, und ...«

»Warum nicht gleich auf den Chimborasso oder ins Himalajagebirge?«
unterbrach Mariechen lachend. »Morgen wird Tante Toni noch etwas
reisemüde sein und sich gerne mit einem kleineren Spaziergang begnügen.
Ich schlage das Tempelchen vor; der Weg dahin ist schön und nicht zu
steil, und von dort hat man einen herrlichen Blick auf unser Städtchen
und in die Berge, und dann ...«

»Und dann kann man da oben auch sehr gut >Räuber und Gendarm< spielen!«
fiel Rudi ein. »O, ich kenne dort ein paar ausgezeichnete Verstecke!«

»Ach, das Tempelchen -- das ist schrecklich langweilig«, erklärte Otto
Mehring mit wegwerfender Miene. »Da ist man schon so oft gewesen! Dahin
geh' ich mal nicht mit!«

»Ei, so bleib' du nur daheim, wir können's schon ohne dich aushalten!«
entgegnete Paul ein wenig grob. Aber Tante Toni sah ganz betrübt aus,
als sie sagte:

»O, mir würde es aber sehr leid tun, wenn du nicht mitgingest, lieber
Otto.«

»Nun, Tante, wir wollen sehen; dir zuliebe gehe ich vielleicht mit.«

»Wie gnädig!« kicherte Anna dem Mariechen ins Ohr.

»Nun müssen wir nur sehen, was eure lieben Eltern zu diesem Plane sagen
werden.« Mit diesen Worten kehrte Tante Toni ins Haus zurück.




                            Zweites Kapitel.

 Es wird Krocket gespielt, und Tante Toni macht dabei Charakterstudien.


Am folgenden Tag war die ganze Kinderschar wieder bei Wulffs versammelt.
Vater Wulff stand vor dem Barometer und runzelte die Stirne.

»Es tut mir leid, Kinder«, sagte er endlich, »aber ihr werdet euern
Spaziergang nicht machen können. Der Barometer ist sehr gefallen, und
dort in der Wetterecke sieht es drohend aus. Wir bekommen Regen und
Wind, vielleicht sogar Sturm.«

Da gab es enttäuschte, betrübte und ärgerliche Gesichter.

»Wie langweilig! Was fangen wir jetzt an?«

»Nun, wir können wenigstens in den Garten gehen, solange es noch nicht
regnet«, schlug Tante Toni vor.

»Weißt du was, Tante Toni? Mache mit uns eine Krocketpartie!«

»Ach ja, Tante Toni, die Mieze hat recht, wir wollen Krocket spielen!«

»Nee -- Krocket ist entsetzlich langweilig!«

Tante Toni lachte: »Lieber Otto, das Wort >langweilig< scheint ein
Lieblingsausdruck von dir zu sein! Ich stimme für Krocket. Wer spielt
also mit?«

»Ich natürlich«, erklärte Otto mit Bestimmtheit.

»Wie, Otto, du? -- Du findest das Spiel doch so langweilig!«

»Immerhin weniger langweilig als gar nicht zu spielen.«

»Nun gut also. Und wer spielt noch mit?«

»Ich -- ich -- ich!« schrien alle Kinder durcheinander.

»Ja, wir können aber nicht alle spielen, wir sind etwas zu zahlreich.
Ich will gerne zuschauen.«

»Nein, Tante Toni, das gibt's nicht. Du mußt vor allen mitspielen. Wir
können ja das Los ziehen, um zu sehen, wer mitspielt.«

»Ach nein; da gibt's doch immer Ärgerliche und Unzufriedene«, behauptete
Mariechen Helmer. »Spiele du mit den Größeren, Tante Toni; ich nehme
die Kleineren mit auf die Wiese und spiele mit ihnen Ball oder Reifen.
Komm, Tonichen; kommt, Rudi, Lilly und Anna, wollt ihr mit mir gehen?«

»Ich schau' lieber den Großen zu«, erklärte Rudi.

»Wir können zu sechs spielen, drei gegen drei«, erklärte Philipp Helmer.
»Tante Toni, Paul, Kurt, Otto und ich, das sind fünf; da kann der Rudi
also mit uns spielen.«

»Nein, der Rudi spielt viel zu schlecht, den will ich nicht!« rief Otto.
»Dann lieber die Lilly.«

»Ach ja, Tante Toni, laß mich mitspielen, ich spiele schon sehr gut!«
bat Lilly, und nach einigem Hinundher kam endlich die Partie zustande,
und zwar so, daß Tante Toni mit Kurt und Lilly gegen Paul, Philipp und
Otto spielte.

Im Anfang ging alles ganz gut; als aber Paul einen ungeschickten Schlag
ausführte, wurde er verdrießlich und ärgerlich. Bald darauf passierte
seinen beiden Partnern Otto und Philipp dasselbe Mißgeschick; da geriet
er ganz außer sich und machte ihnen die größten Vorwürfe; diese wollten
sich das aber nicht gefallen lassen, und Philipp meinte spöttisch:

»Ei, wenn du schimpfen willst, so fang' nur bei dir selber an! Du bist
uns mit dem schlechten Beispiel vorangegangen; du hast die erste
Dummheit gemacht.«

»Das kann dem besten Spieler einmal passieren.«

»Gewiß; aber um so eher kann es mittelmäßigen Spielern passieren, und zu
denen rechnest du Otto und mich ja doch!«

»Aber keine Spur von einer Latern'! Zu den _schlechten_ Spielern rechne
ich euch, zu den ganz schlechten! Ihr spielt geradezu miserabel -- wie
soll man denn eine Partie gewinnen mit solchen Partnern? Da ist ja nicht
daran zu denken -- das ist überhaupt gar kein Spiel mehr!«

»Das finde ich auch«, versetzte Tante Toni, die dem Streite bisher
schweigend zugehört hatte. »Sag' mal, lieber Paul, weshalb spielen wir
denn eigentlich Krocket?«

»Nun, um zu gewinnen; das ist doch selbstverständlich!«

»Doch nicht so ganz. Der Hauptzweck ist doch der: wir wollen uns
unterhalten und uns am Spiel erfreuen, indem jeder danach trachtet, den
andern an Geschicklichkeit zu überbieten, aber in aller Freundschaft;
und wenn man eine Dummheit oder eine Ungeschicklichkeit begeht, dann
lacht man sich gegenseitig ein wenig aus -- wieder in aller
Freundschaft. Es kann ja natürlich nur _eine_ Partei gewinnen -- wenn
aber dann die Verlierenden sich jedesmal gebärden, wie wenn ihnen ein
Unglück widerführe oder ein Unrecht geschähe -- ja, dann hört eben aller
Spaß auf und man kann das kein Spiel mehr nennen. Nun, was meinst du
dazu, Paul?«

»Ja, Tante Toni, du hast eigentlich recht. Wenn's einem aber egal ist,
ob man gewinnt oder nicht, dann gibt man sich auch keine Mühe, und das
Spiel ist gar nicht interessant.«

»So habe ich's aber auch nicht gemeint. Es soll einem gewiß nicht egal
sein, und jeder muß sich natürlich die größte Mühe geben, um zu
gewinnen. Das Gewinnen soll nur nicht der Haupt- und alleinige Zweck des
Spieles sein. -- So, ich glaube, ich bin nun an der Reihe, und wirklich,
Paul, ich werde mich tüchtig anstrengen, um einen Meisterschlag zu
vollführen!«

»Bravo, Tante Toni! Das hast du gut gemacht, du hast Ottos Kugel
getroffen -- hinaus mit ihr, so weit du kannst!«

»Ich will sie lieber liegen lassen und benützen, um durch die Schelle zu
kommen; sie liegt doch hinter ihrem Reifen.«

Als Tante Toni sich umdrehte, sah sie gerade, wie Lilly mit dem Füßchen
ihre Kugel ein wenig vorschob, so daß sie für den nächsten Schlag in
eine günstigere Lage kam. Sie sagte nichts, sie schaute nur Lilly ernst
an. Diese wurde ein bißchen rot und tat, als ob sie bloß ein Steinchen
unter ihrer Kugel entfernt hätte.

Nachdem nun Kurt gespielt hatte, kam Philipp an die Reihe; er gab seiner
Kugel einen kräftigen Schlag, so daß sie durch ihren Reifen flog und in
Lillys Nähe zu liegen kam; als Kurt sich nun anschickte, Lillys Kugel zu
treffen, schrie diese ihn an:

»Du, das gibt's nicht! Philipp, du hast gepfuscht; deine Kugel lag
vorhin so, daß du gar nicht durch deinen Reifen kommen konntest!«

»Sag' noch einmal, ich hätte gepfuscht, du kleine Kröte!« ereiferte sich
Philipp.

»Du hast gepfuscht -- gepfuscht -- gepfuscht!« schrie Lilly.

»Impertinente kleine Person!« Philipp war rot vor Ärger, und er hätte
seine kleine Cousine gewiß etwas unsanft angefaßt, wenn Tante Toni nicht
dazwischengetreten wäre.

»Lilly, schau mich mal an, und dann sage mir ehrlich: Hast du gesehen,
daß Philipp gepfuscht hat?«

Lilly wurde verlegen. »Nein, gesehen hab' ich es nicht -- aber vorhin
lag seine Kugel anders, und da ...!«

»O, da kann man sich so leicht täuschen! Sieh, mir kommt es vor, als
hätte _deine_ Kugel vorhin auch anders gelegen.«

Lilly senkte die Augen vor dem klaren, durchdringenden Blick der Tante;
sie wurde so verlegen, daß Tante Toni Mitleid mit ihr hatte und Philipp
einen Wink gab, den der gutmütige Junge auch verstand, worauf er
weiterspielte, als ob nichts geschehen wäre, und er behandelte Lillys
Kugel so glimpflich, daß dieselbe ganz in der Nähe ihres Reifens liegen
blieb.

Das Spiel nahm nun einen ganz friedlichen Verlauf, es wurde sogar
lustig, weil Tante Toni nachdem sie wieder einmal einen Meisterschlag
versprochen hatte, glänzend am Ziele vorbeischoß, worüber sie selbst in
lustiges Lachen ausbrach; die Kinder stimmten von Herzen ein, und von
diesem Augenblicke an wurde über jeden ungeschickten Schlag gelacht und
nicht mehr gezankt.

So ging alles vortrefflich; selbst Lilly war wieder ganz vergnügt, sie
war sogar sehr stolz, denn sie hatte mit einigen geschickten Schlägen
ihre Kugel weit voran gebracht. Sie lag eben wieder sehr schön vor ihrem
Reifen, als Paul, der Anführer der Gegenpartei, dieselbe traf und mit
einem kräftigen Schlag ziemlich weit fortschickte.

Da warf Lilly einfach ihren Hammer hin; sie sagte: »Ich spiel' nicht
mehr mit!« und setzte sich schmollend in einen Winkel. Tante Toni sah
ihr ganz überrascht nach, Paul aber sagte ärgerlich:

»Ja, so macht sie's immer. Wie ihr etwas nicht nach dem Kopf geht, dann
läuft sie fort und verdirbt einem das ganze Spiel.«

»Soll ich hingehen und sie zu versöhnen suchen?« schlug der gutmütige
Philipp vor.

»O nein«, antwortete Tante Toni, »das wäre ganz verkehrt; dann würde sie
es bei der nächsten Gelegenheit gleich wieder so machen. Nein, wir
lassen sie ganz ruhig in ihrem Schmollwinkelchen sitzen, und Rudi kann
für sie einspringen. Magst du, Rudi?«

»Aber wie gern, Tante Toni!«

»Ach nein, der Rudi spielt gar zu schlecht«, knurrte Otto.

»Aber Otto, das kann dir doch nur angenehm sein, er ist ja dein Gegner!«

»Ach, das ist ja überhaupt gar keine Ehre mehr, gegen solch einen Gegner
zu gewinnen!«

»Ich spiel' gar nicht so schlecht, Tante Toni, du wirst es schon sehen«,
und Rudis eben noch vor Freude strahlende Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich bin überzeugt, daß du recht gut spielst, mein lieber Rudi«,
tröstete ihn Tante Toni und sah sich nach Lillys Hammer um; allein
inzwischen war Otto zu seiner Schwester gegangen und hatte leise aber
eindringlich auf sie eingesprochen, und gerade als Tante Toni sich nach
dem Hammer bücken wollte, sprang Lilly herbei, erfaßte ihn und rief:
»Ich spiel' selbst weiter!«

Tante Toni sah unschlüssig von einem Kinde zum andern. Ihr
Gerechtigkeitsgefühl sagte ihr, daß Lilly Strafe verdient habe und
eigentlich vom Spiel ausgeschlossen bleiben müßte -- sie wußte ja auch,
daß Lilly nur deshalb wieder mitspielen wollte, weil sie und Otto dem
kleinen Rudi das Vergnügen mißgönnten. Anderseits konnte sie es aber
nicht übers Herz bringen, gegen die beiden mutterlosen Kinder strenge zu
sein. Sie neigte sich deshalb zum enttäuschten Rudi nieder und erklärte
ihm: »Lieber Rudi, wir sehen und wissen beide, daß Otto und Lilly nicht
schön handeln, aber sie haben eben keine liebe Mutter, die ihnen täglich
und stündlich zur Seite steht, sie ermahnt und belehrt -- wir wollen
daran denken und Geduld mit ihnen haben, nicht? Aber du sollst nicht zu
kurz kommen, und ich verspreche dir, die nächste Krocketpartie mache ich
mit dir, Mieze und Anna. Bist du zufrieden?«

Rudi nickte unter Tränen lächelnd, und Tante Toni gab ihm noch einen
herzlichen Kuß, als Otto ungeduldig rief: »Holla, Tante Toni, aufgepaßt,
du bist dran!« Während Tante Toni spielte, stieß Otto den Rudi an und
höhnte: »Hä, du spielst doch nicht mit, siehst du's?«

Rudi war ein guter Junge, jedoch er konnte Spott nicht vertragen. Er
wurde sehr rot bei Ottos Worten, aber er dachte noch daran, was Tante
Toni ihm eben gesagt hatte, und er hielt an sich. Er streckte seine
Hände in die Hosentaschen und drehte Otto den Rücken.

»Ja, geh' nur fort, geh' zu den Kleinen ins Kinderzimmer, da gehörst du
auch hin. Hier störst du uns ja nur.«

Rudi stellte sich breitspurig hin und sagte: »Ich bleibe hier und schaue
zu.«

»Ich sag' dir aber, daß du fortgehen sollst!«

»Du hast mir nichts zu sagen.«

»Gewiß, denn ich bin älter, größer und stärker als du.«

»Älter, ja; größer nicht viel, aber stärker gar nicht.«

»Was hast du gesagt, du frecher Knirps du? Sag's doch noch einmal, wenn
du's wagst!«

»Ich bin stärker wie du.«

»Mit dem Mund vielleicht, aber nicht in Wirklichkeit.«

»Soll ich's beweisen?«

»Das wagst du ja nicht, du Feigling!«

Nun war Rudis Geduld zu Ende. Er stürzte sich auf Otto, und die beiden
Knaben begannen zu ringen. Otto war allerdings fast drei Jahre älter als
Rudi, aber er war verhältnismäßig klein und zart gebaut, während Rudi
groß und kräftig war. Rudi bekam denn auch bald die Oberhand, und ehe es
der erschrocken herbeieilenden Tante Toni gelang, die beiden zu trennen,
lag Otto auf der Erde. Sofort begann er ein entsetzliches Wehegeschrei,
so daß nicht nur Mieze mit den andern Kindern gelaufen kamen, um zu
sehen, was geschehen sei, sondern auch die Eltern, die in der Nähe des
Hauses in einer Laube gesessen hatten.

Frau Helmer rief, die Hände ringend: »Natürlich wieder mein Rudi! Wenn
ich Geschrei höre, dann brauch' ich gar nicht zu fragen, denn ich weiß
schon im voraus, daß der Rudi wieder etwas angestellt hat!«

Frau Wulff und Tante Toni hatten sich inzwischen um Otto bemüht, hatten
ihn befragt, befühlt und betastet und konnten gar nicht finden, wo er
eigentlich verletzt war.

»So sag' uns doch endlich mal, wo es dir fehlt!« rief Tante Toni aus.
»Ich kann mir doch nicht denken, daß du uns ohne Grund so erschreckt
hast!«

Otto antwortete nicht sofort -- dann aber fuhr er sich mit beiden Händen
an den Kopf und jammerte: »Mein Kopf, o mein Kopf!«

Tante Toni und Frau Wulff sahen sich besorgt an; sie führten ihn ins
Haus, um ihn aufs Sofa zu legen und ihm Umschläge auf den Kopf zu
machen. Im Vorbeigehen warf Tante Toni dem Rudi einen vorwurfsvollen
Blick zu. Das Kind wandte sich ab -- es hatte eben schon die Vorwürfe
seiner Mutter zu hören bekommen --, sein sonst so offenes, liebes
Gesicht bekam einen Ausdruck von finsterem Trotz. Ohne ein Wort zu
sagen, verließ er den Spielplatz.

Mariechen aber hatte ihr Brüderchen beobachtet. Sie ging ihm leise nach;
sie wußte, sein Trotz würde nicht lange dauern, sondern bald einem
großen Schmerz weichen. Schon mehrmals hatte sie Rudi nach einem solchen
Auftritt bitterlich weinend in irgendeinem Gebüsch des Gartens versteckt
gefunden. Diesmal war er ganz hinten in den Garten gegangen; dort war
ein stilles, von dunkeln Tannen und dichtem Gesträuch umstandenes
Plätzchen; da hockte er auf einer Bank, die Arme auf die Lehne gestützt
und den Kopf darin vergraben.

Mariechen setzte sich neben ihn.

»Komm, Rudi, sag' mir's, wie ist's denn wieder gekommen?«

Zuerst wollte Rudi nicht antworten, endlich stieß er hervor: »Nun, wie
halt immer. Erst höhnt er mich und reizt mich, bis ich nicht mehr anders
kann, als ihn anpacken, und sowie er fühlt, daß er unterliegen wird,
dann fängt er seine Brüllerei an, stellt sich, wie wenn ich ihm Gott
weiß was getan hätte -- und ich krieg's nachher von allen!«

Es klangen Trotz, Schmerz und Bitterkeit aus seiner Stimme.

Mariechen schlang ihren Arm um Rudi und sagte begütigend: »Komm, Rudi,
wir wissen's ja doch, daß Otto der schuldige Teil ist, und ...«

»So? Hast du denn nicht gehört, was Mama eben sagte, und hast du nicht
gesehen, wie Tante Toni mich angeschaut hat? Und Tante Toni hatte mir
doch gerade gesagt ...« Hier ging die Stimme des Knaben in Schluchzen
über.

»Komm, Rudichen, mein liebes Goldrudichen, weine nicht so. Sag' mir
genau, wie alles gekommen ist -- ich erzähle es der Tante Toni, und ich
werde schon sorgen, daß sie keine falsche Meinung von dir behält.«

»Es wird ihr aber recht leid tun; denn sie hat Otto und Lilly sehr lieb,
weil sie keine Mama mehr haben. Für uns ist das aber auch schrecklich;
sie sind beide unausstehlich, und wir müssen uns alles von ihnen
gefallen lassen; niemand straft sie, und wenn man sich über sie beklagt,
dann heißt es nur immer: >Habt doch Geduld mit den armen Kindern, denn
sie haben keine Mutter mehr.<«

»Ja, Rudi, das ist freilich alles wahr«, sagte Mariechen; dann schwieg
sie nachdenklich still, während ihr Brüderchen fortfuhr:

»Und dazu sind sie auch fast immer bei uns oder hier bei Wulffs -- wir
können niemals etwas unternehmen, außer sie müssen dabei sein.«

»Ja, Rudi, denke doch aber auch daran, wie traurig es bei ihnen zu Hause
ist so ohne Mama und fast ohne Papa; denn du weißt ja, wie angestrengt
Onkel Robert arbeiten muß und daß er sich fast nicht um seine Kinder
kümmern kann.«

»O, Fräulein Helene sorgt aber doch recht gut für sie!«

»Das ist aber doch nicht dasselbe. Denke nur daran, wie unsere Mutter
jeden Abend mit uns betet, wie sie selbst die Kleinen besorgt und ins
Bettchen legt, wie sie noch zu jedem von uns ans Bett kommt, um uns das
Kreuzzeichen zu machen und den letzten Gutenachtkuß zu geben; denke doch
daran, wie du immer und zu jeder Stunde zu ihr gehen, sie um alles
bitten und fragen kannst. Versuche doch einmal dir vorzustellen, wie
schrecklich es wäre, wenn wir unsere Mama nicht mehr hätten!«

»Nein, nein, Mieze, daran kann und will ich gar nicht denken. Und jetzt
-- vielleicht weint sie gerade, weil ich vorhin so zornig war!« Bei
diesem Gedanken fingen Rudis Tränen wieder an zu fließen.

»Komm, wir wollen sie schnell aufsuchen!« Mariechen sprang auf und zog
ihr Brüderchen mit sich fort. Sie waren aber kaum ans ihrem versteckten
Plätzchen hervorgetreten, da erblickten sie ganz in der Nähe ihre Mutter
und Tante Toni. Rudi wollte sich schnell verstecken, aber Mariechen
hielt ihn fest und sagte: »Geh' du nur gleich zu Mama -- ich nehme
inzwischen Tante Toni beiseite und erkläre ihr alles.«

Mariechen erzählte nun Tante Toni, wie vorhin der Streit zwischen Otto
und Rudi entstanden war. Tante Toni hörte aufmerksam zu, dann sagte sie:

»Es ist mir schon mehrmals aufgefallen, daß Otto und Lilly nicht nett
mit Rudi sind.«

»Nicht wahr, du hast es auch bemerkt?« rief Mariechen eifrig. »Was mögen
sie nur gegen den guten Rudi haben? Otto neckt und ärgert uns ja alle
gern, aber doch ganz besonders den Rudi -- er weiß, daß der Rudi
Spöttereien nicht vertragen kann; er weiß aber auch, daß Rudi ihm nichts
tun darf. Du kannst mir glauben, Tante Toni, ich habe schon manchmal
gemerkt, wie Rudi an sich gehalten und wie er sich beherrscht hat --
aber wenn dann Otto gar nicht aufhört und nur immer ärger kommt, dann
bricht er halt los, und man kann's dem kleinen Buben doch nicht so
streng anrechnen, wenn er im Zorn einmal ein bißchen fest dreinschlägt;
dann gibt's aber jedesmal ein Gebrüll und ein Getue, wie du es vorhin
gehört hast, und die ganze Familie gerät in Aufregung, weil Otto doch
keine so feste Gesundheit hat. Vor einiger Zeit hat er sich nach solch
einer Balgerei sogar ein paar Tage ins Bett gelegt und hat behauptet,
es sei ihm entsetzlich übel; als ich ihm aber ein großes Stück Kuchen
brachte, da hat er's mit dem besten Appetit verzehrt, und wie dann Onkel
Wulff von einem Ausflug in die Lichtenau sprach, da war Herr Otto
plötzlich wieder gesund. Und Lilly hält zu Otto -- bei sich zu Hause
streiten sie auch miteinander, aber gegen uns halten sie stets zusammen.
Und wirklich, Tante Toni, wir lassen uns viel von den beiden gefallen,
denn sie tun uns ja doch wieder so leid, weil ihre Mutter tot ist.«

Tante Toni seufzte und ging eine Weile schweigend neben Mariechen her.
Endlich sagte sie: »Wir wollen unsere Hoffnung auf Ottos erste heilige
Kommunion bauen, und wir wollen recht eifrig für ihn beten, liebes
Mariechen. Otto und Lilly waren doch so liebe, herzige Kinder, als sie
noch klein waren -- und sie haben auch einen so vorzüglichen Vater!«

»O ja, Tante Toni! Sie hängen aber auch beide sehr an ihrem Vater, und
wenn Onkel Robert dabei ist, dann sind sie einfach musterhaft. Ach, es
ist recht schade, daß er immer so viel zu tun hat!«

In diesem Augenblick kam Anna herbeigesprungen: »Tante Toni und Mieze,
wo bleibt ihr denn? Schnell kommt Kaffee trinken, sonst kriegt ihr
nichts mehr; denn der arme Otto hat von seinem Sturze einen wahren
Heißhunger davongetragen. Er hat schon verschiedene Rosenbrötchen, zwei
Stücke Kuchen und drei Bretzeln verschlungen!«




                            Drittes Kapitel.

                     Was die Kinder werden wollen.


Als Tante Toni und Mariechen ins Haus kamen, fanden sie wirklich die
ganze Gesellschaft um den Kaffeetisch versammelt. Otto machte noch ein
etwas leidendes Gesicht, aber die Besorgnisse seiner Tanten verflogen
doch gänzlich, als sie sahen, mit welchem Behagen er in seine Bretzel
biß.

»Wenigstens die fünfte!« flüsterte Anna dem Mariechen zu.

»Ei, da ist ja auch Leo!« rief Tante Toni erfreut aus, als sie den
kleinen, dicken Burschen auf einem hohen Kinderstühlchen am Tisch sitzen
sah.

»Ja, ich darf heut' mit den Großen Kaffee trinken, damit du auch eine
Freude hast«, erklärte der Kleine mit überzeugtem Tone, und wichtig
fügte er hinzu: »Tante, das Minnichen kann schon beinah' >Toni< sagen;
es macht schon: >Mieh -- MiehMainbotenDas ist
aber mal ein Hauptkerl!<« Und Rudis Augen leuchteten vor Freude und
Stolz über seinen tüchtigen Bruder.

»Recht so, Philipp, das höre ich gern; da bekommt der Papa an dir später
eine gute Hilfe in dem großen Betrieb.« Und Tante Toni nickte dem Neffen
freundlich zu. Dieser war etwas rot geworden, hatte sich aber weiter
nicht in seiner Gemütsruhe stören lassen.

»So, nun müssen aber auch die andern heraus mit der Sprache!« rief Tante
Toni lustig. »Also Mariechen, wie steht es mit dir?«

Ehe Mariechen noch antworten konnte, rief Anna lachend: »O, das ist eine
Betschwester -- die ginge ins Kloster, wenn es dort nur einen Spiegel
gäbe!«

»Halt den Schnabel, vorlautes Ding; du bist ja nicht gefragt!«

»Ich danke dir, teurer Bruder Paul, für die liebevolle Zurechtweisung!«

»Zankt euch doch nicht wieder, ihr beiden, und laßt Mariechen endlich zu
Wort kommen.«

»O, ich habe nicht viel zu sagen«, meinte Mariechen errötend. »Vorläufig
lerne ich recht fleißig, damit ich später mein Examen machen kann. Das
weitere wird sich dann schon finden.«

»Bravo, Mieze!«

Aber Anna konnte das Necken nicht lassen; sie machte ein drollig
zerknirschtes Gesicht und rief aus: »Mieze, du bist einfach ein
Musterkind. Ich fühle mich wirklich so unwürdig, neben dir zu sitzen,
daß ich meine, der Erdboden müßte mich verschlingen.« Und damit
verschwand sie unter dem Tisch.

Alle lachten; auch die geneckte Mieze lachte herzlich mit, dann rief sie
munter:

»Nun hast du so gut für mich geantwortet; jetzt sprich für dich selbst;
also ich frage dich feierlich: Was willst du werden, Anna Wulff?«

»Nun, ich heirate natürlich«, klang es unter dem Tisch herauf.

Wieder entstand allgemeines Gelächter.

»Was gibt's denn da zu lachen?« Und Annas Kopf tauchte empor.

»Zum Heiraten gehören zwei«, belehrte Kurt mit weiser Miene.

»Das weiß ich doch, daß ich mich nicht selbst heiraten kann. Ich heirate
den netten holländischen Jungen, mit dem wir voriges Jahr im Seebad
gespielt haben.«

»O, den dicken Jan!« lachte Kurt. »Du bist nicht dumm, Änne, denn sein
Vater ist Millionär. Ob der dich aber will?«

»O, der wird schon wollen!« versicherte Anna in überzeugtem Ton.

»Ich bin noch nicht gefragt worden«, meldete sich nun Lilly.

»Also, Lilly, leg' los! Ich wette, du wirst eine alte Jungfer!«

Lilly warf ihrem Vetter Paul einen sehr entrüsteten Blick zu und
entgegnete: »Fällt mir nicht ein, eine alte Jungfer zu werden -- da
heirat' ich doch noch eher einen von euch!«

»Ums Himmels willen, doch nicht mich?« schrie Paul in komischem
Entsetzen auf, und er streckte wie abwehrend die Hände aus.

»Nein, dich mag ich gar nicht, du bist mir zu grob -- aber vielleicht
den Philipp!«

Philipp machte ein äußerst verblüfftes Gesicht bei dieser Erklärung.

»Warum denn gerade mich?« fragte er in kläglichem Ton.

»Du bist der gutmütigste von allen, und dich werde ich schon bald unter
den Pantoffel kriegen«, erklärte Lilly mit einem siegesgewissen Blick
auf ihren Vetter, der dasaß mit der Miene eines Opferlammes, welches zur
Schlachtbank geführt werden soll.

Die andern schrien vor Lachen. Frau Wulff, welche gerade der Tante Luise
Helmer eine neue Tasse Kaffee einschenken wollte, schüttete vor lauter
Lachen daneben; Mieze hielt sich die Seiten und bog sich; Anna hatte
sich verschluckt, und lachend, hustend und pustend verteidigte sie sich
gegen ihre Brüder, die ihr allzu diensteifrig und kräftig ans den Rücken
klopften.

»Genug, Kinder, genug!« rief Tante Toni in den Tumult hinein; aber sie
mußte selbst wieder von neuem lachen, und es dauerte noch eine kleine
Weile, ehe sie fortfahren konnte: »Wir sind ja noch nicht fertig. Wer
ist denn an der Reihe, gefragt zu werden?«

»Der Rudi, der Rudi!« hieß es, und Otto fügte mit geringschätziger Miene
hinzu:

»Den brauchst du gar nicht zu fragen, Tante Toni; der will Kutscher
werden!«

»Ach, Otto, das hab' ich doch nur früher gesagt, als ich noch ganz klein
war!« verteidigte sich Rudi.

»Ei, was bist du denn jetzt? Bildest du dir vielleicht ein, du wärest
schon groß?«

»Geh', Otto, sei nur still! Als du noch so ein kleiner Bubi warst wie
hier das Leomännchen, da wolltest du auch Kutscher werden.«

»Aber Tante Toni!«

»Gewiß; ich war damals ja längere Zeit bei euch; und wie oft hast du
deine hölzernen Pferdchen an meinen Stuhl gespannt und mich so in der
Welt herumkutschiert!«

»Aber doch nicht wirklich, Tante Toni?« fragte Leomännchen, der mit
sichtlichem Interesse zugehört hatte.

»Nein, natürlich nur im Spiel. Und du, mein Leobübchen, du willst gewiß
auch Kutscher werden?«

»O nein -- ich werde Kaiser«, erklärte der Kleine mit Bestimmtheit.

»O, Kaiser -- nur Kaiser!« riefen alle erstaunt und belustigt. Tante
Toni belehrte lächelnd:

»Kaiser kann man aber nur werden, wenn man ein Prinz ist.«

»Ich heirat' einfach eine Prinzessin, dann werd' ich ein Prinz.«

»O Dummerchen! Eine Prinzessin, die will dich doch nicht«, spottete
Anna.

»Dann heirat' ich zur Straf' gar nicht!« Und Leomännchen wandte sich
gekränkt ab.

»Ach, was für eine entsetzliche Strafe!« schrie Anna lachend. Dann
streckte sie wie flehend die Hände nach ihrem Brüderchen aus und rief:
»Gnade, Kaiserliche Majestät! Die arme Prinzessin wird sich zu Tode
grämen!«

Der Kleine sah Anna mit mißtrauischer Miene an. Er wußte nicht recht,
was sie eigentlich meinte, aber er fühlte doch heraus, daß sie sich über
ihn lustig machte; deshalb sagte er ärgerlich: »Geh' weg, böse Anna, du
willst mich doch nur wieder ärgern!«

»Verstoßen! -- ich bin verstoßen von Seiner Kaiserlichen Majestät!«
jammerte Anna in komischer Verzweiflung; dann hielt sie der Mutter ihren
Teller hin und flehte mit zitternder Stimme: »Ach, Kaiserin-Mutter,
erbarmen Sie sich doch meiner und geben Sie mir zum Trost noch ein Stück
Kuchen!«

Die Mutter lächelte nachsichtig: »Da hast du dein Stück Kuchen, kleine
Komödiantin!«

»Meinen innigsten, meinen untertänigsten Dank!« Und dem kleinen Leo den
Kuchen hinhaltend, fügte sie hinzu: »Auf dein Wohl, o großer, berühmter
Kaiser, werde ich diesen Kuchen verspeisen.« Dann streckte sie ihrem sie
erstaunt anblickenden Brüderchen die Zunge heraus und biß in den Kuchen.

»Aber pfui, Anna, was gibst du dem Kleinen für ein schlechtes Beispiel!«
rügte die Mutter.

Leomännchen aber hatte schon Tränen in den Augen, und er rief entrüstet:
»Böse Anna, unartige Anna!« worauf diese entgegnete: »Süßes Leomännchen,
herziges, zuckeriges Leobübchen, großer Kaiser!«

»Ach, so laß mich doch mal endlich in Ruh, du garstiges Ding!« Und große
Tränen rollten über Leos runde Bäckchen.

»Ach, ein weinender Kaiser!« Und Anna deutete mit dem Finger nach ihm.

»So, Anna, nun ist's genug; du läßt mir jetzt den Kleinen in Ruh!«
befahl die Mutter in strengem Ton. Sich dann an alle andern wendend
fügte sie hinzu: »Ich denke, wir sind fertig und gehen nun hinüber ins
Wohnzimmer, damit die Mädchen hier den Tisch abräumen können.«

Kaum hatte Tante Toni sich im Wohnzimmer niedergelassen, da krabbelte
Leomännchen auch schon auf ihren Schoß; die andern Kinder lagerten sich
um sie herum und riefen: »Bitte, Tante Toni, erzähle uns etwas!« Und
Tante Toni erzählte den aufmerksam horchenden Kindern lustige und ernste
Geschichten, bis Tante Luise Helmer erklärte: »Nun ist's genug; Tante
Toni ist sicher müde, und für uns ist es nun Zeit, nach Hause zu gehen.
Kommt, Mariechen, Philipp und Rudi, macht euch zurecht und verabschiedet
euch!«

Später, als Tante Toni mit den Kindern das Abendgebet verrichtet hatte,
wollte sie den kleinen Leo zu Bett bringen. Der blieb aber knien und
erklärte: »Ich bin noch nicht fertig, ich habe noch etwas zu beten.«
Dann faltete er wieder seine Händchen, und zum Kreuzbilde emporblickend
betete er inbrünstig:

»Ach, lieber Gott, ich bitte dich recht sehr, schick' doch den Storch,
daß er die Anna wieder fortholt; wir können sie nicht brauchen, sie ist
wirklich zu bös. In Ewigkeit. Amen.« Dann stand er mit befriedigter
Miene auf. Anna jedoch machte ein recht verdutztes Gesicht; sie wußte
nicht recht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. Sie sagte aber
nichts, sondern schlich sich still hinaus.




                            Viertes Kapitel.

  Es wird spazierengegangen; man begegnet der alten Babett; Anna wird
                   Prophetin und Rudi Schwanenritter.


Am nächsten schulfreien Nachmittag waren wieder alle Kinder im
Wulffschen Garten versammelt; sie waren zum Spaziergang gerüstet und
warteten auf Tante Toni. Diese trat eben aus der Haustüre, die kleine
Toni an der Hand führend.

»Was, soll die auch mit?« rief Otto ärgerlich. »Warum denn nicht auch
der Leo und das Minnichen und die zwei Jüngsten von Tante Luise? Ich
könnte mich ja vor den Kinderwagen spannen!«

Klein Toni sah mit ängstlich flehenden Augen zur Tante empor. Diese sah
etwas ärgerlich aus, als sie antwortete: »Ich habe Toni versprochen, sie
mitzunehmen, und sie geht mit. Übrigens, mein lieber Otto, ich werde
auch in Zukunft zu unsern Spaziergängen einladen, wen ich will, ohne
dich erst um Erlaubnis zu fragen.«

Und sich dann an alle Kinder wendend fragte sie: »Wie steht es denn mit
den Aufgaben? Seid ihr alle fertig?«

»Ja, ja, wir sind fertig!« riefen mehrere Stimmen; nur die größeren
Knaben und Mariechen hatten noch einiges zu lernen; aber Tante Toni
meinte:

»Nun, da wir um 6 Uhr zurück sein werden, habt ihr diesen Abend noch
Zeit zum Studieren. Aber Kurt und Philipp, was schleppt ihr denn da in
den schweren Rucksäcken?«

»Ei, Tante, unser Vieruhrbrot!«

»Nun, da scheint mir aber Vorrat für ein ganzes Bataillon zu sein!«

»O Tante, wart's mal ab! Du wirst sehen, daß wir nichts davon
heimbringen werden.«

»Und dem Philipp kannst du ein bißchen auf die Finger sehen, Tante; der
hat immer schon eine halbe Stunde nach dem Mittagessen wieder Hunger,
und er könnte ...«

»O, sei ruhig, Rudi«, lachte Mariechen, »ich habe den Rucksack gut und
fest zugebunden; er kriegt ihn so leicht nicht auf!«

»Also, nun vorwärts, Kinder!« mahnte Tante Toni. Als sie aber bemerkte,
daß Paul auf die andere Seite der Straße hinüberging, fragte sie
verwundert: »Warum gehst du so abseits, Paul? Warum bleibst du nicht bei
uns?«

»Ach, Tante, die Leute schauen uns so an und lachen, weil wir so viele
sind!«

»Ei, das tut doch nichts! Die Leute sind von früher daran gewöhnt. Sieh,
der alte Uhrmacher Müller, wie er dort vor seiner Türe steht und mit dem
ganzen Gesicht lacht! Wie oft hat er vor Jahren euern Großvater mit
seinen zehn Kindern hier vorbeikommen sehen! Ja, es war immer die größte
Freude meines lieben Vaters, wenn keines seiner Kinder beim Spaziergang
fehlte.«

»Tante Toni, ich möchte, der Großpapa und du, ihr zöget wieder hierher;
das wäre doch schön! Möchtest du es nicht?«

»Ich möchte es wohl ganz gern; denn hier bin ich geboren, hier habe ich
meine Kindheit und meine erste Jugend verbracht. Anderseits täte es mir
aber auch wieder leid, von Walden wegzugehen; dort ist eure liebe
Großmama gestorben; dort wohnen drei meiner Geschwister; dort haben wir
ein zweites, liebes Heim gefunden.«

»Gibt es in Walden auch so schöne Spaziergänge wie hier, Tante?«

»Es gibt dort wohl auch schöne Spaziergänge, aber doch nicht so
mannigfaltig wie hier; auch muß man erst ein gut Stück über staubige
Landstraßen gehen, ehe man an schöne Punkte oder schattige Wege kommt.
Hier dagegen stößt dies herrliche kleine Tal gleich an die Stadt, es
führt nicht nur zum Fasanenwald, sondern noch zu verschiedenen andern,
wirklich schönen Aussichtspunkten. Bleibt doch einmal stehen, Kinder,
und schaut euch von hier aus die Klosterruine dort drüben über dem See
an. Die Bäume da bilden den Rahmen, im Vordergrund seht ihr die saftig
grüne Wiese, dahinter die Ruine auf ihrer kleinen Insel, zwischen
Baumgruppen hervorlugend -- könnt ihr euch ein schöneres Bild denken?
Aber ihr seid so an diesen Anblick gewöhnt, daß ihr achtlos daran
vorbeigeht!«

»Doch nicht, Tante Toni, ich habe die Ruine sehr gern, und ich habe sie
schon oft von hier aus betrachtet und auch in der Nähe.«

»Natürlich, Tante, das müßtest du dir doch denken können! Es ist ja eine
Klosterruine -- wie könnte Mieze gleichgültig an einer Klosterruine
vorbeigehen!«

»Ach, Anna, mußt du schon wieder anfangen!«

Aber Anna ließ sich nicht irremachen, sondern sie fuhr eifrig fort: »Sie
hat schon mal geträumt, das Kloster sei wiederhergestellt worden und sie
selbst walte darin als Äbtissin. Da man aber keinen Spiegel mit ins
Kloster nehmen darf, hat sie sich eine Zelle ausgesucht, von der aus sie
sich im See spiegeln kann.«

»O Änne, da müßte der See aber erst gründlich gereinigt werden; denn aus
diesem schlammigen Wasser ...«

»Kann ihr höchstens das Bild des Wassermannes entgegengrinsen, das
meinst du doch, Tante Toni, nicht wahr? Ja, und dann reckt er die
hageren langen Arme aus dem Wasser hervor -- er greift nach der schönen
Nonne in den wallenden weißen Gewändern -- er faßt sie beim Schleier und
zieht sie hinunter in die Tiefe!«

»Gräßlich, Änne! Wo hast du das wieder her?« Und Mariechen schüttelte
sich schaudernd.

»Die Nonne mit den wallenden weißen Gewändern, die stammt wohl aus
irgendeinem Gedicht. Aber was ist denn das für ein Orden?«

»Nun«, verteidigte sich Anna, »das ist ein Orden, den Mariechen einmal
gründen wird. Sie liebt doch die weißen Kleider viel zu sehr, um sich
mal in eine schwarze oder braune Kutte zu stecken. Und in ihrem Orden
braucht man sich auch nicht die Haare schneiden zu lassen -- es wäre
doch schade um ihre schönen blonden Locken! Und ihre Nagelfeile und die
Bürstchen nimmt sie auch mit.«

Mariechen war ganz rot und verlegen geworden, aber sie mußte doch
lachen. Auch Tante Toni lachte, und Mariechen um die Schulter fassend
rief sie scherzend: »Nun weiß ich doch, daß Miezchen auch einen kleinen
Fehler hat und ein bißchen eitel ist!«

»Eitel ist sie eigentlich nicht«, nahm Philipp seine Schwester in
Schutz. »Denn wirklich eitle Mädchen, die putzen sich doch
hauptsächlich, um sich dann auch von den Leuten begaffen zu lassen, und
sie freuen sich, wenn man sie schöner findet als die andern. Unserer
Mieze dagegen ist es schon genug, wenn sie nur nett und ordentlich
aussieht, und sie hat es gar nicht gern, wenn man sie so viel anschaut;
und wenn ihre Bekannten schönere Kleider haben als sie, da macht sie
sich nichts daraus.«

»O, ich auch nicht!« rief Anna mit geringschätziger Miene.

»Ja, Änne, dir sieht man's auf den ersten Blick an, daß du nicht eitel
bist!«

»Schlampig ist sie einfach, die Änne!« entrüstete sich Kurt. »Du
könntest wenigstens deinen Schuhriemen ordentlich binden und deinen
Strumpf heraufziehen -- man schämt sich ja wirklich, mit dir zu gehen!«

»Puh, Kurt, tu' nur nicht so! Bis wir heute abend nach Hause kommen,
wirst du wohl auch ein Loch in der Hose oder im Strumpf haben!«

»Das kann schon sein, das ist aber doch etwas ganz anderes!«

»Kommt, Kinder, fangt keinen Streit an!« suchte Tante Toni zu
beschwichtigen. »Ich meine, wir wollen durch den Park und über die
kleine Brücke gehen; oder geht ihr lieber neben dem Parke her über die
große Brücke? -- Aber wo ist denn der Rudi? Den seh' ich ja gar nicht
mehr!«

»Der ist sicher wieder irgendeinem Getier nachgelaufen«, meinte
Mariechen. »Es ist unglaublich, was der alles aufstöbert und heimbringt
-- neulich kam er mit vier kleinen Fröschen heran.«

»Sogar ein Heimchen hat er einmal gefangen.«

»Rudi! -- Rudi! -- Wo steckst du?«

Keine Antwort.

»Wir wollen mal alle zu gleicher Zeit rufen«, schlug Paul vor, »da wird
er uns wohl hören. Also aufgepaßt -- auf drei wird geschrien. Eins,
zwei, drei!«

Und »Rudi!« schallte es vielstimmig, so daß Tante Toni sich erschrocken
die Ohren zuhielt.

»Horcht, ich meine, ich hätte ihn antworten hören!«

»Richtig, da kommt er ja gelaufen!«

»Und schmutzig ist er!«

»Aber Rudi, wie siehst du aus! Was hast du denn angefangen?« Und Tante
Toni sah den kleinen Burschen, der mit zerzausten Locken, verkratztem
Gesicht und übel zugerichteter Kleidung herankam, vorwurfsvoll an.

»Ach, Tante, ich habe so ein schönes Eichhörnchen gesehen, da wollte ich
mir's gerne genauer anschauen; deshalb schlich ich ihm leise nach, und
als ich ihm auf einen Baum nachkletterte -- ja, da bin ich halt ein
bißchen heruntergepurzelt.«

»Ein bißchen viel sogar, wie mir scheint!«

»Ich hab' mir aber nicht viel weh getan«, versicherte er treuherzig.

»Aber deinem Strumpf hast du recht weh getan und deinem Anzug. Da wird
sich die liebe Mutter freuen!«

Rudi senkte beschämt den Lockenkopf: »Ach, es war aber doch ein _so
schönes_ Eichhörnchen mit einem so langen, dicken Schwanz!«

»Du wirst von nun an schön in unserer Nähe bleiben, mein lieber Bub.«
Und sich an alle Kinder wendend fuhr Tante Toni fort: »Ich möchte euch
überhaupt alle bitten, daß ihr immer schön beisammenbleibt, daß sich
keines absondert. Auch hernach, wenn ihr oben beim Tempelchen spielen
dürft, da müßt ihr doch alle in Rufweite bleiben, so daß ihr mich immer
hören könnt, wenn ich euch zurückrufe. Wollt ihr mir das versprechen?«

»Gewiß, Tante Toni!« versicherten die Kinder, und der Zug setzte sich
wieder in Bewegung.

Nachdem die kleine Eisenbahnbrücke überschritten war, führte Tante Toni
ihre Bande den Waldsaum entlang, und sie betrachtete sinnend die
liebliche Gegend, die sich zu ihrer Linken ausbreitete. Als der Wald und
mit ihm der Weg eine kleine Biegung nach rechts machte, blieb sie stehen
und sagte:

»Seht, Kinder, wenn wir früher mit unserem Vater hier spazierengingen,
dann blieb er stets an dieser Stelle stehen, um die schöne Aussicht zu
genießen. Er kannte jeden Berg da drüben, jeden Wald, jedes Dorf.«

»Unser Papa auch!« riefen Otto und Lilly gleichzeitig aus, und Otto fuhr
fort: »Und der Papa hat uns auch schon von den Ausflügen erzählt, die
ihr früher mit dem Großpapa gemacht habt, und er hat uns versprochen, er
würde mit uns große Spaziergänge durch den Spessart machen, wenn wir
einmal größer sind.«

»Tante Toni, warst du auch schon auf all diesen Bergen?« fragte nun
klein Tonichen.

»Auf vielen, aber doch lange nicht auf allen. Wir waren zuviele, und da
die größeren Ausflüge teilweise zu Wagen gemacht wurden, konnte Großpapa
uns nicht alle auf einmal mitnehmen, und wenn eine besonders große Tour
gemacht werden sollte, dann gingen die Knaben mit und die Mädchen mußten
zu Hause bleiben.«

»Natürlich, immer die Mädchen, als ob die nicht gerade so gut laufen
könnten wie die Buben!« schmollte Anna.

»Ja, Anna, _du_ kannst auch gut laufen«, und Tonichen stieß einen
kleinen Seufzer aus.

»Anna hätte eigentlich ein Bub sein sollen«, behauptete Philipp.

»Ja, und du ein Mädchen, gelt, Philippinchen?« neckte Kurt.

Philipp errötete und rief heftig abwehrend aus: »Gott behüte! Nicht um
die Welt möcht' ich ein Mädchen sein!«

»Siehst du nun, Philipp! Und du behauptest doch so oft, wir Mädchen
hätten es besser als die Buben.«

»Das habt ihr auch; wenigstens bequemer.«

»Ei, Philipp«, mischte sich Tante Toni ein, »findest du zum Beispiel,
daß deine Mutter es so bequem hat? Sie ist des Morgens die erste auf und
des Abends die letzte, die sich zur Ruhe begibt, und unter Tags habe ich
_dich_ schon öfter auf dem Sofa gesehen als deine Mama.«

»Ja, die Mama, das ist auch etwas ganz anderes!«

»Nun, und Tante Maria Wulff? -- Und noch recht viele könnte ich dir
nennen, welche ...«

»Ja, Tante, das sind auch keine Mädchen mehr; ich spreche ja nur von den
Mädchen.«

»Nun gut, so sprechen wir von den Mädchen. Nehmen wir zum Beispiel hier
unser Mariechen. Inwiefern hat sie es denn besser als du? Sie braucht
allerdings kein Latein, kein Griechisch und keine Mathematik zu lernen,
trotzdem hat sie reichlich viel Schularbeiten; sie hat ferner ihre
Musikstunden, muß täglich Klavier üben; in ihrer freien Zeit muß sie
auch oft auf die kleinen Geschwister achtgeben, und ich habe mir sagen
lassen, daß sie einem ihrer Brüder schon manchen Knopf angenäht hat, daß
sie sogar im lateinischen Wörterbuch schon ziemlich Bescheid weiß, weil
sie eben dem betreffenden Herrn Bruder häufig beim Nachschlagen der
Wörter hilft.«

Philipp sah beschämt und verlegen drein; aber bald hob er den Kopf und
bekannte offen und ehrlich: »Ja, Tante, du hast recht. Aber unsere Mieze
ist auch wirklich eine gute Schwester.«

»Und auch eine gute Cousine!« rief Anna, und die andern stimmten bei,
nur Lilly klagte:

»Sie ist nur zu streng, und sie will immer recht haben!«

Die andern schauten Lilly mißbilligend an, und Kurt erklärte in sehr
bestimmtem Tone: »Sie hat auch immer recht; dir gegenüber mal ganz
gewiß.«

Lilly wurde ganz rot vor Ärger, und schon wollte sie eine recht unartige
Antwort geben, da legte sich Ottos Hand auf ihren Mund: »Schnell, Lilly,
weg, da kommt die alte Babett!« flüsterte er, sie mit sich fortziehend;
aber es war schon zu spät, denn eben war ein ganz altes, verhutzeltes
Weiblein aus dem Walde gehumpelt und blieb gerade vor Otto und Lilly
stehen. Es schaute die beiden Kinder aufmerksam an und nickte dabei mit
dem wackeligen Kopf; endlich sagte es mit etwas krächzender Stimme: »Ja,
ja, ich weiß schon, ihr seid die Kinder vom Herrn Robert, und die annern
da, die sind vom Fräule Luische und vom Marieche.«

»Und ich, Babett, wer bin denn ich?« fragte Tante Toni lächelnd. »Kennen
Sie mich noch?«

Die Alte richtete ihre kleinen, rot unterlaufenen, aber noch scharfen
Äuglein auf Tante Toni, da hellte sich auf einmal ihr Gesicht auf und
sie rief freudig erstaunt: »Ach, du lieber Gott, des is ja des Toniche,
des gute Fräule Toniche von's Mehrings drauße aus dem große Garte! Ach,
was hab ich Ihne aber schon so lang nit mehr gesehn, und was sind Se für
e groß, schön Mädche geworde!«

»Sogar ein ziemlich altes Mädchen bin ich inzwischen geworden«, lachte
Tante Toni. »Nun, wie geht's denn, Babett?«

»Na, Toniche -- ich will sage Fräule Toniche --, es geht halt so, wie
unser Herrgott will. Recht alt bin ich halt schon, und ma werd e bißche
däppelich, wenn mer so über achzig Jahr auf seim Buckel mitschleppe muß.
Aber e Hex bin ich nit, -- nein, Kinnercher, e böse Hex bin ich nit, und
ich möcht niemand etwas zuleid tun.« Dabei schaute sie wieder auf Otto
und Lilly hin, und dann fuhr sie halblaut, wie zu sich selbst sprechend,
fort: »Es war aber noch eins dabei«, und sie schaute von einem Kind zum
andern, bis ihr Blick auf Anna haften blieb, die sich halb hinter Tante
Toni versteckt hatte. Tante Toni und die Helmers-Kinder sahen
verwundert drein und konnten sich nicht denken, was die Alte eigentlich
wollte. Die aber fuhr, zu den Kindern gewendet, fort:

»Ach, Kinnercher, ich hab' eure Eltern ja gekannt, wie se noch ganz
klein warn. Und der Robert, was war des für e wilder, aber e guter Bub!
Einmal, da is er in seiner Wildheit so grad an mich angerannt, wie ich
mit eme Bündel Reisig daherkomme bin, so daß ich mitsamt meim Reisig in
de Chausseegrabe neingeborzelt bin. Erst hat er halt lache müsse über
mein unfreiwillige Borzelbaum, dann hat aber doch gleich sei gut Herz
die Oberhand kriegt, und er hat mer wieder naufgeholfe, und er hat mer
auch all mei Reisig wieder schön zusammelese helfe, und zuletzt, weil er
halt gar nix anners bei sich gehabt hat, wollt er mer sogar noch sei
Klicker schenke! Hähähä!« -- Die Alte schüttelte sich vor Lachen. »Ja,
denkt euch, sei Klicker wollt er mer schenke, und weil ich die doch nit
habe wollt, da hat er nachher seiner Mutter kei Ruh gelasse, bis se mer
en Rock und e warm Halstuch geschenkt hat. Ja, Kinnercher, so e gut Herz
hat er gehabt, der Robert -- ja, Gott hab' ihn selig!«

»Aber der Robert lebt ja noch!« rief Tante Toni.

»Ach ja -- richtig! Es is ja sei schön jung Frauche die, wo gestorbe is!
Ja, ja, däppelich, e bißche däppelich werd mer halt, wenn mer so alt is.
Aber bös bin ich nit, und wenn mer mich e alte Hex schimpft, dann tut
mer des halt doch gar zu leid.«

Da trat Anna mit sehr rotem Kopf, aber rasch und entschlossen hinter
Tante Toni hervor, und der alten Babett die Hand bietend sagte sie:
»Verzeih, Babett, es war recht garstig von mir neulich, und ich
verspreche dir's, ich werd's nie mehr tun.«

»Ach Gott, du bist halt e Liebes und e Braves!« rief Babett gerührt aus.
»Ich hab' mir ja schon gleich gedacht, daß ihr's nit so bös gemeint
habt; aber es tut einem halt doch weh.« Sie schaute nun auf Otto und
Lilly, die hatten aber die Gesichter abgewendet und blieben stumm. Die
alte Babett nickte noch ein paarmal mit dem wackeligen Kopf, endlich
sagte sie zu den beiden: »Ich will recht für euer tot Mutterche bete.«
Dann sich zu den andern wendend: »Na also, nix für ungut, Kinnercher,
und grüß Ihne Gott, Fräule Toniche. Ich bin aber doch so froh, daß ich
Ihne noch emol gesehn hab'. Grüß Gott, du allerbrävstes du!« Die letzten
Worte waren an Anna gerichtet, und nun humpelte die Alte, auf ihren
Stock gestützt, ihres Weges weiter.

»Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß die alte Babett noch lebt!« rief
Tante Toni aus, während sie im Weitergehen sich nochmals nach dem alten
Weiblein umdrehte. »Aber wo mag sie nur herkommen, so weit von der
Stadt?«

»Sie kommt gewiß wieder vom Wunderkreuz«, meinte Mariechen; »da pilgert
sie hin, so oft es ihre alten Beine erlauben.«

»So ganz allein! Und wenn sie nun einmal nicht mehr heim könnte?«

»Wenn sie zu lang ausbleibt, dann kommt ihr der Christian entgegen.«

»Wie, der Christian, unser früherer Gärtner?«

»Ja, Tante Toni, der wohnt ja bei seiner verheirateten Tochter, und die
alte Babett hat ein Zimmerchen im selben Hause. Wenn nun die Babett zum
Wunderkreuz wallfahrtet, wie sie es nennt, dann geht ihr später
Christian entgegen, und er führt sie nach Haus, und du kannst dir gar
nicht denken, wie drollig das ist, wenn die beiden zusammen
heimhumpeln; denn der Christian kann nicht viel besser gehen als die
Babett, wegen seinem Schematismus.«

»Schematismus?«

»Ach, Tante, so nennt er sein Gliederreißen; er meint halt
Rheumatismus.«

»Aber das Allerkomischste ist doch, wenn sie sich unterwegs recht
zanken«, mischte sich Kurt ein.

»Wie, sie zanken sich?«

»Ja, und da der Christian ein bißchen taub ist, schreit die Babett ihm
ins Ohr, und der Christian spricht auch sehr laut, so daß man sie schon
von weitem hört.«

»Aber weshalb streiten sie denn? Ich meine doch, wenn der Christian ihr
entgegengeht, um sie nach Hause zu führen, so ist das ein Zeichen, daß
sie gut zusammen stehen -- sie sind ja nicht einmal verwandt
miteinander.«

»Sie zanken sich ja eigentlich auch nicht im Ernst -- aber die Babett
will zum Beispiel immer den inneren Weg gehen, sie behauptet, hier
draußen sei es zu windig; der Christian dagegen will draußen gehen, denn
ihm ist es im Wald zu dumpf. Neulich sind wir mal mit Papa hinter ihnen
hergegangen, da haben sie sich wieder um den Weg gezankt, bis dann
endlich der Christian nachgegeben hat, und sie sind in den Wald
eingebogen -- er hat aber doch gebrummt: >Ich bin nur froh, daß du nicht
meine Frau bist, Babett!< Da ist die Babett aber bös geworden und hat
geschrien: >Was denkst du denn von mir, du? Wenn ich deine Frau wär',
dann wären wir natürlich draußen gegangen.< Da ist aber der Christian
ganz verblüfft stehengeblieben und hat gefragt: >Du, Babett, was haste
gesagt? _Meinen_ Weg wärst du mit mir gegangen, wenn du meine Frau
wärst?< Und die Babett hat ganz stolz geantwortet: >Natürlich; meinst
du denn, ich wüßt' nicht, wie es sich zwischen Mann und Frau gehört? Ich
kenn' doch meinen Katechismus!< Der Christian hat sich hinter den Ohren
gekratzt und hat sehr nachdenklich ausgesehen; endlich hat er ihr ins
Ohr gerufen: >Ja, Babett, du hast schon recht; eigentlich gehört es sich
auch so zwischen Mann und Frau -- aber in Wirklichkeit ist es nicht
immer so.< Und dann schrie die Babett ihm wieder ins Ohr: >Schrei doch
nicht so, Christian; _ich_ bin doch nicht taub, sondern nur du!< Da
wollte der Christian widersprechen, aber die Babett ließ ihn gar nicht
zu Wort kommen, sondern sie schrie weiter: >Bei dir war's freilich
nicht so; grad umgekehrt war's bei dir: du hast erst deiner Frau
gehorcht, und jetzt folgst du deiner Tochter.< Jetzt hat aber der
Christian angefangen zu lachen, und er hat ausgerufen: >Und noch jemand,
ja, da ist noch jemand, dem ich gehorchen muß.< Die Babett hat
angefangen zu raten: >Deiner Tochter ihrem Mann?< Da hat der Christian
noch ärger gelacht: >Nein, der gehorcht selber seiner Frau.< Die Babett
hat ganz verwundert gefragt: >Ja, wem denn sonst noch?< Da ist der
Christian wieder stehengeblieben und hat gerufen: >Ei, dir, Babett, dir
muß ich doch auch gehorchen!< Da haben sie dann beide gelacht und sind
ganz vergnügt zusammen weitergehinkt.«

Tante Toni und alle Kinder lachten auch herzlich über Kurts Erzählung.

Nachdem man nun noch eine halbe Stunde tüchtig marschiert war, kam man
endlich oben am Tempelchen an.

»Aber da ist ja gar kein Tempelchen mehr!« rief Tante Toni ganz
enttäuscht.

»Ja, das fing an zu zerbröckeln, da hat man es einfach abgebrochen.«

»Die Aussicht ist ja auch zugewachsen!«

»Ja, aber komm, ich führe dich hier ganz in der Nähe auf einen
Felsblock, von dem aus hat man einen wirklich schönen Blick.«

Und Paul führte Tante Toni an die bezeichnete Stelle. Als sie zu den
andern zurückkamen, sagte Philipp: »Ich meine, wir könnten uns jetzt
dort ins Gras lagern und etwas essen.«

»Was nicht gar!« rief Tante Toni lachend. »Zum Essen ist es doch noch zu
früh. Ich schlage vor, es wird erst eine Stunde gespielt, dann gefüttert
und hernach weitergespielt, bis es Zeit ist heimzugehen. Ist es euch so
recht?«

Alle erklärten sich einverstanden, und es wurde beschlossen, zuerst
»Räuber und Gendarm« zu spielen.

»Aber die kleine Toni kann nicht mitspielen«, erklärte Otto, »sie kann
nicht gut laufen, und sie würde uns das ganze Spiel verderben.«

Toni schaute mit einem flehenden Blicke zu ihrer Patin auf, und schon
rannen ein paar Tränen über ihre Bäckchen, da faßte Lilly sie an der
Hand und sagte: »Doch, Otto, laß sie nur mitspielen; sie ist das
gestohlene Kind, welches die Räuber versteckt haben und welches die
Gendarmen suchen müssen. Komm, Toni, ich verstecke dich!« Und sie
sprang mit der schnell getrösteten Toni fort. Die andern folgten ihr,
nur Mariechen blieb bei der Tante zurück.

»Wie, Mariechen, spielst du nicht mit?«

»Ach nein, Tante, das Spiel ist mir ein bißchen zu wild, und man
verdirbt sich die Kleider dabei.«

Tante Toni lächelte.

»Allerdings, Mariechen, es wäre schade um dein hübsches Kleid; du hast
dich für die Gelegenheit ein bißchen zu fein gemacht.«

Mariechen errötete und nestelte verlegen an ihrem Arbeitstäschchen
herum. Auch Tante Toni hatte eine Handarbeit mitgebracht, und die beiden
ließen sich eben auf einer aus rohen Baumstämmen gezimmerten Bank
nieder, als Philipp noch einmal zurückkam, um ihnen anzuempfehlen: »Gebt
gut auf die Rucksäcke acht!«

Tante Toni und Mariechen versprachen es beide lachend. Nach einiger Zeit
sagte letztere etwas ängstlich: »Wenn es nur ohne Streit abgeht!«

Tante Toni meinte: »Wenn so viele Kinder von verschiedenem Alter und von
so verschiedenen Charakteren beieinander sind, gibt es gar leicht
kleine Zänkereien; man darf diese nicht zu schwer nehmen, und man muß
vor allem sorgen, daß sie nicht ausarten. Übrigens habe ich mich eben
recht über Lilly gefreut, weil sie sich so nett der kleinen Toni
angenommen hat.«

»Mit Tonichen ist Lilly überhaupt fast immer lieb und nett, und wenn sie
es zuweilen durch Neckereien zum Zorn gebracht hat, dann tut es ihr
hernach immer sehr leid.«

»O, das freut mich!« rief Tante Toni aus. »Ja, das freut mich sehr. Ich
kann dir nicht sagen, wie weh es mir tut, daß ich bisher noch gar keinen
liebenswürdigen Zug in Lillys Charakter finden konnte. Du hast mir
neulich auch gesagt, daß Otto und Lilly sehr an ihrem Vater hängen.«

»Ja, Tante; ich habe bei Lilly schon manchmal etwas erreicht mit der
Vorstellung: es würde deinen Vater freuen, oder: es würde ihm leid tun.«

»Glaubst du zum Beispiel, daß Lilly imstande wäre, ihrem Vater zuliebe
ein wirkliches Opfer zu bringen?«

Mariechen dachte ein wenig nach, dann sagte sie bestimmt: »Ich glaube,
ja, Tante!«

»O, das ist gut, das ist viel wert!« rief die Tante aus und sah sinnend
vor sich hin.

Nach einiger Zeit kam klein Toni allein zurück. »Willst du nicht mehr
mitspielen, mein Kleines? Bist du schon müde?« fragte Tante Toni.

Die Kleine nickte und erzählte: »Die Gendarmen haben unser Versteck
gefunden, und da mußten wir schnell fortlaufen; weil ich aber nicht so
fest laufen kann, da hätten sie die Lilly beinah gefangen, und da hat
sie mich schnell losgelassen und gesagt, ich sollte mich jetzt ein
bißchen zu dir setzen, Tante.«

Die Tante zog Tonichen zu sich auf die Bank, hüllte das Kind in ihr
warmes, weiches Umschlagtuch und sagte liebevoll: »So, damit du dich
nicht erkältest, denn du bist erhitzt vom Laufen; nun ruhe dich aus.«

Die Kleine lächelte, und ihr Köpfchen an die Schulter der Tante lehnend
bat sie: »Bitte, bitte, liebe Tante, erzähle mir doch noch einmal die
Geschichte von dem guten Kinde, welches allein mit dem armen Jesusknaben
gespielt hat, weil die andern Kinder nicht wollten, und wie dann die
Engelchen vom Himmel gekommen sind und ihnen Sternblümchen und
Sternbällchen zum Spielen gebracht haben. O bitte, Tante, erzähle!«

Und die gute Tante erzählte, und weil sie gar so schön erzählen konnte,
hörte nicht nur das kleine Tonichen aufmerksam zu, sondern auch das
große Mariechen -- bis auf einmal alle andern Kinder mit großem Lärm
zurückkehrten.

»Die Gendarmen haben gewonnen!« rief Rudi mit strahlenden Augen. »Alle
Räuber haben wir gefangen!«

»Ich habe mich zuletzt fangen lassen, weil es mir langweilig wurde,
sonst hättet ihr mich nicht gekriegt.«

Diese Behauptung Ottos wurde von allen andern mit schallendem Gelächter
beantwortet, worüber dieser sich natürlich sehr ärgerte. Er stampfte mit
dem Fuß und schrie: »Was habt ihr zu lachen? Es ist doch so!«

Und Lilly bekräftigte: »So ist es auch, er hat sich fangen lassen!«

Der Streit hätte wahrscheinlich noch länger gedauert, wenn Anna nicht
eben mit theatralischer Miene ausgerufen hätte: »Aber Kinder, wie könnt
ihr diesen edelmütigen Otto so verkennen! Begreift ihr denn nicht, daß
er sich geopfert hat und sich fangen ließ, bloß damit wir endlich mal
etwas zu essen bekommen? Es lebe Otto der Unüberwindliche, der
Großmütige!«

»Er lebe hoch!« schrien alle, auf Annas Scherz eingehend; nur Otto
selbst machte wieder ein wütendes Gesicht, und er schien große Lust zu
haben, den Streit wieder anzufangen. Aber nun rief Tante Toni: »Ich
hoffe, Otto, daß du einen Scherz verstehen kannst und dich nun
zufriedengibst. Und nun, Kinder, lagert euch und ruht aus. Mariechen und
ich, wir teilen den Proviant aus. Ihr seid sicher hungrig!«

»Und wie!« scholl es fast einstimmig zurück.

In unglaublich kurzer Zeit war der ganze Vorrat aufgezehrt, und Philipp,
der eben das letzte Butterbrot empfangen hatte, rief aus: »Siehst du,
Tante Toni, daß wir nicht zuviel mitgenommen hatten?«

»Nein, wirklich!« lachte diese. »Ihr habt euch aber auch tüchtig
Bewegung gemacht, und hier draußen schmeckt es noch ganz besonders gut.«

»So, nun können wir weiterspielen!« erklärte Anna aufspringend.

»Ach nein, jetzt wollen wir lieber etwas anderes spielen!«

»Aber was denn?«

Der eine schlug dies vor, der andere das, ohne Erfolg, bis Tante Toni
vorschlug: »Was meint ihr zu einem Pfänderspiel?«

»Ja, ja, ein Pfänderspiel, und Tante Toni spielt mit!« riefen die
Kinder. Bald war das Spiel, unter Tante Tonis Leitung, im Gang. Da gab
es wieder viel zu lachen, besonders wenn der Mitspieler, der ein Pfand
geben sollte, verlegen in seinen Taschen herumkramte und gar nichts
Passendes finden konnte, sondern manchmal recht drollige Sachen zum
Vorschein brachte. Mariechen zum Beispiel fand in ihrer Tasche nichts
als ein Taschentuch, einen Rosenkranz und einen kleinen Spiegel; diesen
letzteren reichte sie errötend als Pfand hin, wobei sich Anna laut und
anhaltend räusperte, bis Mariechen etwas ärgerlich ausrief: »Gib dich
zufrieden, Anna, alle haben's gesehen und bemerkt!«

Als Kurt an die Reihe kam, fuhr er in alle seine Taschen, suchte und
suchte voll Hast -- aber ohne Erfolg, bis er schließlich doch einen
kleinen Gegenstand hervorbrachte, und zwar ein Schnurrbartbürstchen.

»Nun, du sorgst zeitig vor!« lachte Tante Toni; auch die andern lachten,
nur Philipp fragte mit dem ernsthaftesten Gesicht der Welt: »Kurt, wann
hast du dich denn zum letztenmal rasieren lassen?«

Als dann an ihn selbst die Reihe kam, ein Pfand zu geben, da fand er
nichts als Brotkrumen, Obstkerne und einige sonderbar geformte
Eisenstückchen.

»Aha«, höhnte Kurt, »das sind wohl die Bestandteile deiner neuesten
Erfindung!«

Lilly förderte ein Puppenhöschen zutage, welches sie aus Versehen
anstatt eines Taschentuches eingesteckt hatte, und Anna überreichte mit
einigem Widerstreben einen Kreisel, bei dessen Anblick Paul ausrief:
»Der gehört ja überhaupt mir!«

»Ach, du spielst ja doch nie damit, du hast ihn einfach verloren und ich
hab' ihn gefunden; jetzt kannst du ihn mir auch lassen.«

»So, so, verloren hab' ich ihn? Ich möcht' nur wissen, wo;
wahrscheinlich in meiner Schublade oder in einer meiner Taschen, da
gehst du ja doch immer suchen, wenn du etwas finden möchtest. Ja,
Fräulein Änne, deine Manier, dir allerhand zusammenzufinden, die kenn'
ich schon. Nächstens komme ich einmal bei dir wiederfinden.«

»O je, Kurt, da wirst du nicht viel kriegen! Du weißt doch, daß die Änne
immer gleich wieder alles herschenkt, was sie hat.«

»Ach, geh' doch, Rudi!« wehrte Anna ab.

»Ja, es ist aber so! Neulich hast du mir doch meinen Ball abgebettelt --
und am andern Tag spielten die ungezogenen Franks-Kinder damit auf der
Straße.«

»Ach, die sind gar nicht so arg ungezogen«, rief Anna eifrig; »sie sind
nur so schrecklich arm, und haben gar nichts zum Spielen, und sie sahen
so sehnsüchtig nach dem Ball, als ich vorbeikam, da hab' ich ihn ihnen
halt gegeben.«

»Na ja, es ist mir ja auch recht«, sagte Rudi; währenddessen flüsterte
klein Toni ihrer Schwester Anna ins Ohr: »Du, wenn wir heimkommen, da
geb' ich dir eins von meinen Bilderbüchern für die Franks-Kinder, und --
ja was denn noch ...!«

»Ein Püppchen?«

»Ach nein, Änne, die Franks sind so wild und so schmutzig, sie würden zu
grob mit dem armen Püppchen umgehen, das täte mir zu leid.«

»Dummes, das Püppchen fühlt's ja nicht!«

»Ach ja, ich kann's aber doch nicht sehen. Und weißt du, wie ich neulich
abends in meinem Bettchen geweint hab' und wie du mich gefragt hast,
warum ich weine, wie ich dir's dann aber nicht sagen wollte, da hab' ich
nur geweint, weil mir auf einmal eingefallen ist, daß ich mein
Gretelchen im Nähzimmer liegengelassen habe, und weil ich nun gedacht
habe, das arme Püppchen liegt nun ganz allein und verlassen im dunkeln
Nähzimmer, es hat kalt und ist traurig, weil ich es nicht ins Bettchen
gelegt und ihm nicht >Gute Nacht< gesagt hab'.«

Inzwischen hatten die andern weitergespielt, und Toni sah ganz verdutzt
aus, als Otto sie anrief: »Holla, Toni, du hast nicht aufgepaßt, schnell
ein Pfand her!« --

Nicht minder groß war das Vergnügen der Kinder beim Auslösen der
Pfänder; besonders Anna zeichnete sich wieder aus durch ihre tollen
Einfälle, als sie, um ihren Kreisel wieder zu erhalten, einen Blick in
die Zukunft tun mußte. Man verband ihr die Augen, und so oft Tante Toni
fragte, was sie diesem und jenem prophezeie, und dabei einen der
Mitspielenden bezeichnete, mußte sie irgend etwas sagen, natürlich ohne
selbst zu wissen, wem es galt.

»Ich glaube, du hast gespitzt«, klagte Mariechen, als sie prophezeit
bekam, daß sie mal Generaloberin aller bestehenden und nichtbestehenden
Orden und Klöster werden sollte. Als Anna dann aber den Philipp zu einer
Urgroßmutter machte und Lilly zum Erzbischof ernannte, da glaubte man
ihr, daß sie nicht hinter dem Tuch hervorgeschaut hatte. Otto ärgerte
sich wieder sehr, als ihm verkündet wurde, er müsse einmal als
Orgeldreher die Welt durchwandern; als aber Tante Toni das Amt eines
Kasperltheaterdirektors und Paul das Los einer emanzipierten alten
Jungfer in Aussicht gestellt wurde, da stimmte er doch in die Heiterkeit
der übrigen ein. Zuletzt deutete die Tante auf klein Toni, und als Anna
verkündete: »Das wird einmal eine entsetzlich böse Schwiegermutter«, da
machte die Kleine ein ganz trübseliges Gesichtchen und sagte: »Aber
nein, das möchte ich nicht werden.« Während alle lachten, riß Anna sich
das Tuch vom Gesicht und rief aus: »So, du bist also auch nicht
zufrieden mit meinen Prophezeiungen? Was hätte ich dir denn sagen
sollen?«

»Ich möchte gern ein Engelchen werden«, sagte klein Toni errötend.

»Oh -- oh, hört doch! Die Toni will ein Engelchen werden -- wie
bescheiden! Nein, so etwas!« riefen die Kinder lachend. Otto schrie
dazwischen: »Doch wohl ein Engelchen mit einem B davor!«

Und nun tönte es von allen Seiten und in allen Tonarten: »Engelchen,
Bengelchen! Engelchen, Bengelchen -- Zornebengelchen!«

Aber klein Toni wurde nicht zornig, -- nein, sie wurde wohl abwechselnd
rot und blaß, und sie zitterte vor Anstrengung, den aufsteigenden Zorn
zu bemeistern. Sich fest an die Tante schmiegend flüsterte sie: »Ich
will nicht zornig werden, -- nein, ich will nicht!«

»Recht so, mein Herzchen, meine tapfere, kleine Freundin!« ermutigte die
Tante.

Mariechen hatte sich inzwischen bemüht, die übermütige Bande zum
Schweigen zu bringen, und das Spiel nahm nun seinen Fortgang, bis Tante
Toni das Zeichen zum Aufbruch gab.

»Aber es sind noch zwei Pfänder auszulösen!« rief Otto aus, allein die
Tante bestimmte, dieselben müßten einfach zurückgegeben werden, und sie
fügte hinzu:

»So, Kinder, nun geht es in wohlgeordnetem Zug heimwärts, und es wird
dabei gesungen und im Schritt marschiert, damit wir rascher vom Fleck
kommen; denn es ist schon etwas spät geworden. Also, Anna und Rudi, ihr
führt den Zug an, die Zwillinge nehmen den Philipp in ihre Mitte, dann
folgen Mariechen und Toni, und Otto und Lilly bilden mit mir die
Nachhut.«

Dann stimmte die Tante an: »Wer will unter die Soldaten, der muß haben
ein Gewehr«, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Aber Tante Toni blieb mit Otto und Lilly ein wenig zurück, und als die
andern außer Hörweite waren, sagte sie:

»Nun, meine lieben Kinder, erklärt mir doch einmal, was habt ihr denn
mit der alten Babett gehabt?«

Die beiden Kinder schwiegen und ließen die Köpfe hängen. Die Tante fuhr
fort: »Ich hätte ja Babett selbst fragen können, aber ich wollte es
lieber von euch hören.«

Endlich entschloß sich Otto zu reden, und er sagte wegwerfend: »Ach,
Tante, es ist ja gar nichts so Besonderes, und es ist eigentlich gar
nicht der Rede wert. Die Babett ist halt so alt und so häßlich, und sie
wird oft >die alte Hex< genannt, und wir, die Anna, die Lilly und ich,
sind einmal dazugekommen, wie ein paar Kinder auf der Straße ihr
nachgerufen haben: >Alte Hex, böse, alte Hex!< Nun, und da haben wir
halt ein bißchen mitgeschrien -- das ist alles.«

»O Otto, wie du das sagst!«

»Nun, das ist doch nicht so schlimm und nicht der Mühe wert, so viel
Aufhebens davon zu machen!«

»Es tut mir leid, Otto, daß du die Sache so leicht nimmst, besonders da
du doch vorhin gesehen hast, wie nahe es der guten Alten gegangen ist.
Von eurer frühesten Kindheit an habt ihr gelernt, daß man das Alter
ehren soll. Ist nun aber, wie hier bei Babett, das Alter von Gebrechen
und Armut begleitet, so ist es doppelt ehrwürdig. Warum habt ihr nicht
wenigstens vorhin der Alten ein gutes Wort gesagt wie Anna? Ihr habt
doch gesehen, welche Freude ihr das gemacht hat.«

»Aber, Tante, das ist doch unmöglich! Die Anna hat ja gar kein
Ehrgefühl, daß sie so eine alte Bettlerin um Verzeihung bittet; wir
können uns doch nicht so erniedrigen!«

»Du scheinst mir von Ehrgefühl und Erniedrigung einen sonderbaren
Begriff zu haben, mein Junge. Damals, als ihr mit den Gassenkindern die
Alte verhöhntet, da habt ihr euch erniedrigt, da habt ihr kein Ehrgefühl
gehabt. Anna dagegen hat vorhin Mut und Hochherzigkeit gezeigt, und ich
versichere euch, sie ist seitdem in meiner Achtung sehr gestiegen. Ich
hielt sie bisher nur für einen lustigen kleinen Taugenichts, jetzt weiß
ich aber, daß sie Charakter hat, daß sie ein offenes, mutiges und gutes
Kind ist.«

Otto und Lilly sahen sehr erstaunt und etwas beschämt drein. Endlich
fragte Lilly leise:

»Tante Toni, hast du uns jetzt nicht mehr lieb?«

»Gewiß hab' ich euch noch lieb!« rief die Tante warm, und sie zog die
beiden Kinder näher zu sich heran. »Gerade weil ich euch so lieb habe,
tut es mir weh, wenn ihr nicht seid, wie ihr sein solltet; gerade weil
ich euch so lieb habe, möchte ich, daß ihr gute, brave, eures Vaters
würdige Kinder werdet! Ihr habt ja beide euern Vater sehr lieb, nicht
wahr?«

»O, und wie lieb!« Die Kinder riefen es aus mit leuchtenden Augen.

»Und wenn er bei euch ist, dann nehmt ihr euch zusammen, dann könnt ihr
musterhaft brav sein. Glaubt ihr nicht, daß es ihn sehr kränken würde,
wenn er jemals erführe, daß ihr ganz anders seid, sobald er nicht dabei
ist? Daß er es bisher noch nicht erfahren hat, das verdankt ihr nur der
Güte und Nachsicht eurer Tanten, der Großmut eurer Vettern und Cousinen;
aber immer kann es ihm nicht verborgen bleiben. Glaubt mir das nur,
Kinder, früher oder später wird er einmal klar sehen, und es wird ihm
furchtbar hart sein, wenn er erfahren muß, daß ihr nicht die offenen,
wahren, gutherzigen und edelmütigen Kinder seid, für die er euch hält.
Davor möchte ich ihn und euch bewahren. Übrigens, lieber Otto, du wirst
ja nun bald zur ersten heiligen Kommunion gehen; ich hoffe, du nimmst es
recht ernst mit deiner Vorbereitung, und wenn du willst, dann darfst du,
so oft du Zeit hast, zu mir kommen. Ich möchte dir so gerne helfen, dich
auf diesen großen Tag vorzubereiten.«

»O Tante, das wäre mir freilich recht, sehr recht!«

»Nun gut! Und jetzt wollen wir uns ein bißchen eilen, um die andern
einzuholen. Tonichen scheint müde zu sein, sie läßt sich arg von
Mariechen ziehen.«

Die andern waren bald eingeholt. Die ermüdete kleine Toni wurde erst von
der Tante und Mariechen, dann von Kurt und Philipp »Hockehockestühlchen«
getragen, bis sie ein bißchen ausgeruht war, und so kam man bald wieder
in die Nähe der Klosterruine.

»Wir wollen den See entlang gehen«, rief Rudi, »es sind eine Menge
kleine Entchen drin und auch zwei junge Schwänchen.« Und er lief voraus.

»Gib acht, Rudi«, rief ihm Mariechen nach, »der große Schwan ist
vielleicht draußen; er ist immer sehr wild, wenn junge Schwänchen
dasind, und er ist überhaupt in der letzten Zeit sehr bös, weil einige
Buben ihn necken und mit Steinen werfen.«

»Ich werd' mich doch nicht vor einem Schwan fürchten!« sagte Rudi
gekränkt, und er lief weiter, gerade auf den See zu. Tante Toni wollte
ihn eben besorgt zurückrufen, da kam er auch schon mit großem
Zetergeschrei gelaufen, der Schwan, wild mit den Flügeln schlagend,
hinter ihm drein. Es war ein großer, starker Schwan, und er sah so
bösartig aus, daß alle Kinder heftig erschraken. Auch Tante Toni
erschrak, aber sie faßte ihren Sonnenschirm, und beherzt auf das erboste
Tier zugehend, hielt sie ihm denselben entgegen und machte ihn plötzlich
mit einem Ruck auf. Der Schwan stutzte, machte kehrt und beeilte sich,
wieder in sein Element, ins Wasser, zu kommen. Die Kinder hatten rasch
die ausgestandene Angst vergessen, und sie brachen nun in ein herzliches
Gelächter über diesen raschen und drolligen Rückzug des Schwans aus.

»Es sah zu komisch aus, Tante, wie du den Schirm dem Schwan grad ins
Gesicht aufgemacht hast; so etwas war ihm noch nie passiert, das konnte
man ihm ansehen!« Und Anna lachte, daß ihr die Tränen über die Backen
liefen.

»Und Mut hast du, Tante Toni, das muß ich sagen«, gestand Paul
bewundernd.

»Und schlau hast du's gemacht. Mir wäre das mit dem Schirm nicht
eingefallen«, pflichtete Kurt bei.

Nur Rudi sagte nichts, er schlich etwas beschämt hinter den andern her;
aber am Abend nach der Heimkehr, da küßte er der Tante zärtlich die
Hand. Und als Anna ihm nachrief: »Gute Nacht, Schwanenritter!« da wurde
er sehr rot, aber er sagte nichts.




                            Fünftes Kapitel.

                        Minnichen wird geimpft.


Tante Toni saß oben im Kinderzimmer. Klein Minnichen kletterte auf ihren
Knien herum und trieb allerhand Schabernack; es zog sie an den Haaren,
zupfte sie am Ohrläppchen, und wenn Tante Toni »Au!« oder »O weh!« rief,
dann streichelte es ihr die Wangen und machte: »Ei, ei, Ta Dedi.«

Leo, der daneben mit großem Ernst ein Bilderbuch betrachtete, erhob
mißbilligend den Kopf und sagte: »Das Minnichen ist wirklich ein bißchen
eigensinnig, es will durchaus nicht >Tante Toni< sagen; es könnt's doch
ganz gut, wenn es nur wollte; denn es hat schon viel schwerere Wörter
fertiggebracht. Komm, Minnichen, sei mal recht brav, sage schön:
>Tan--te To--ni<; ich schenk' dir auch was!«

»Senk was!« machte Minnichen, und es hielt dem Brüderchen habgierig das
Händchen entgegen.

»Ja, du wärst mir gescheit! Erst mußt du >Tan--te To--ni< sagen.«

»Truwelpeter!« schrie die Kleine, und sie lachte herausfordernd und
klatschte in ihre kleinen, dicken Patschhändchen.

Leo sah sein Schwesterchen voll Bewunderung an; dann sagte er: »Du,
Tante, ich glaub' gar, es will mich uzen; es ist wirklich ein schlaues
Ding, das Minnichen.«

Man sah und hörte dem kleinen Burschen an, wie stolz er auf sein
Schwesterchen war, das er ein wenig als sein besonderes Eigentum
betrachtete. Er fühlte sich als dessen Lehrer und Beschützer, er ließ
sich viel von ihm gefallen und behandelte es mit einer gewissen
großmütigen Nachsicht, die ihm allerliebst stand und die ihn für seine
viereinhalb Jahre merkwürdig vernünftig erscheinen ließ.

Nachdem die Tante Minnichens Klugheit nach Gebühr bewundert hatte,
wandte sie sich an klein Toni, die mit ihrer Puppe im Arm auf einem
niederen Stühlchen danebensaß. Tonichen saß so still da und schaute so
ernst und nachdenklich vor sich hin, daß die Tante besorgt fragte: »Was
hast du denn, meine kleine Freundin, woran denkst du?«

»Ach, Tante«, erwiderte das Kind nach einigem Zögern, »ich denke daran,
daß du Otto gestern zu dir gerufen hast, um ihn auf die erste heilige
Kommunion vorzubereiten. Ich wäre so gern auch dabeigewesen.«

»O, deine Zeit wird auch kommen, Tonichen; habe nur noch ein bißchen
Geduld!«

Toni versank wieder in Nachdenken; endlich hob sie das Köpfchen und
fragte: »Tante, muß man dem Heiligen Vater nicht folgen, wenn er etwas
sagt?«

»Aber selbstverständlich, Kind!«

»Er hat aber doch gesagt, die Kinder sollten schon mit sieben Jahren zur
ersten heiligen Kommunion gehen; warum läßt man sie denn nicht?«

»Ja, Kindchen, der Heilige Vater hat unsern deutschen Bischöfen erlaubt,
das Alter für die Erstkommunikanten auf zehn Jahre festzusetzen.«

»Und in den andern Ländern, da dürfen die Kinder schon mit sieben Jahren
gehen?«

»Wenigstens in vielen; ja ich glaube in den meisten.«

»Warum denn nur gerade wir deutschen Kinder nicht? -- Aber sag' mal,
Tante Toni, wenn ich jetzt sehr krank würde, so krank, daß ich sterben
müßte, dürfte der Priester mir dann die heilige Kommunion bringen?«

»O, das glaube ich -- ganz bestimmt!«

»Willst du mir dann versprechen, Tante Toni, daß ich den lieben Heiland
bekomme, wenn ich sehr krank werde?«

»Aber, Toni, mein Herzchen, wie kommst du denn auf diesen Gedanken? Du
fühlst dich doch nicht unwohl?«

»Versprich, bitte, Tante, versprich!« flehte das Kind so eindringlich,
daß die Tante nicht anders konnte als antworten:

»Ich versprech' dir's, Kind; von Herzen gern will ich in einem solchen
Fall alles tun, was ich kann, um deinen Wunsch zu erfüllen!«

Leo hatte diesem Gespräch mit Interesse zugehört. »Sag' mal, Tante«,
mischte er sich nun ein, »wenn die Toni stirbt, ist sie dann doch noch
unsere Schwester?«

»Aber gewiß!«

»Und wenn wir alle einmal tot und im Himmel sind, bist du dann doch noch
unsere Tante, und sagen wir dann auch noch zu unsern Eltern >Papa< und
>MamaHeiliger
Papa< und >Heilige Mamaunschädlich
machen<, das heißt doch, sie wollen ihn tot machen -- der Otto hat es in
seiner >Tigerjagd< gelesen; da steht es: wie der Tiger tot war, da
freuten sich die Menschen, weil er nun endlich unschädlich gemacht
war.« Und Lilly brach von neuem in bittere Tränen aus.

Tante Maria aber streichelte ihr die Wangen, und sie wie ein kleines
Kind in den Armen wiegend, sagte sie in beruhigendem Ton:

»Da sei du nur ganz ruhig, Lillchen, -- das habt ihr beide nicht richtig
verstanden; deinem lieben Vater kann und wird nichts geschehen. Alle
guten und edeln Menschen haben Gegner -- das ist nun einmal so auf der
Welt --, und so gibt es auch böse Menschen, die deinen Vater verleumden;
aber laß nur die Gerichtsverhandlung kommen, die brauchst du gar nicht
zu fürchten; da werden alle Leute erfahren, was für ein guter Mensch
dein Vater ist, und seine Verleumder werden bestraft werden.«

Lilly hatte aufmerksam zugehört. »Ja? glaubst du, Tante Maria? Und dem
Papa wird nichts geschehen?« Und das Kind atmete erleichtert auf. Dann
sprang es hinaus in den Garten, um dort Anna und die Zwillinge
aufzusuchen.




                           Sechstes Kapitel.

 Tante Toni geht mit ihrer Bande auf den Wetterstein. Otto spielt einen
                          schlimmen Streich.


Es war wieder Sonntag und das herrlichste Wetter.

»Heute müssen wir aber einen schönen, großen Spaziergang machen«, sagte
Tante Toni auf dem Heimweg von der Kirche; »ich möchte so gerne mal
wieder zum Wetterstein gehen -- ist euch das nicht zu weit?«

»O nein, Tante, gewiß nicht! Und der Weg dahin ist so schön und man muß
tüchtig klettern!«

Alle Kinder waren gleich Feuer und Flamme für den Spaziergang, und es
wurde beratschlagt, um wieviel Uhr man aufbrechen und was man alles
mitnehmen müsse.

»Aber für Tonichen wird es doch zu weit sein -- diesmal wirst du wohl zu
Hause bleiben müssen.«

Klein Toni ließ betrübt das Köpfchen hängen, aber ihr Gesichtchen hellte
sich gleich wieder auf, als ihre Mutter sagte:

»Tonichen bleibt heute bei mir, und wir werden uns schon gut zusammen
unterhalten; nicht wahr, mein Kind?«

»Wirklich, Mama, darf ich den ganzen Nachmittag bei dir bleiben, und
willst du mit mir spielen?« Und ihre Äuglein glänzten vor Freude.

»Gewiß, mein Herzchen, ich spiele mit dir, erzähle oder lese dir vor --
was du am liebsten hast. Und wir geben dabei zusammen auf die zwei
Kleinen acht; denn Gretchen ist heute nicht da, sie darf ihre Mutter
besuchen.«

»Der Rudi könnte eigentlich heute auch zu Hause bleiben, damit wir
Großen doch mal unter uns sind!« Und Otto, welcher dies gesagt hatte,
reckte sich in die Höhe, um möglichst viel größer zu erscheinen wie
Rudi.

Die andern machten alle ärgerliche Gesichter. »Man meint wirklich, du
hättest hier etwas zu befehlen«, sagte Kurt. »Wenn der Rudi nicht
mitgeht, dann bleib' ich auch daheim.«

Und: »Ich auch!« »Ich auch!« riefen Paul und Philipp, Mariechen und
Anna.

»Dann gehen wir beide mit Tante Toni allein!« Und triumphierend drängten
sich Otto und Lilly an die Tante. Diese wehrte jedoch ab und sagte in
ernstem Ton:

»So läßt Tante Toni doch nicht über sich verfügen. Rudi geht jedenfalls
mit -- er kann gewiß so gut marschieren wie Lilly und Anna, und ich sehe
gar nicht ein, weshalb er zurückbleiben sollte. Wer sonst noch von euch
mitgehen will, ist herzlich willkommen, aber ich zwinge niemand. Es
steht dir also frei, Otto, mitzugehen oder zu Hause zu bleiben -- wenn
du dich aber zum Mitgehen entschließest, so bitte ich mir aus, daß du
dich gut benimmst und keinen Streit anfängst.«

Otto zuckte ärgerlich die Achseln und gab keine Antwort -- aber gleich
nach Tisch, zur festgesetzten Stunde, fand er sich sehr pünktlich mit
Lilly ein, und er tat, als ob sich das ganz von selbst verstände und als
ob am Morgen gar nichts vorgefallen wäre. Nur als Tante Toni ihn wie
fragend ansah, da schaute er verlegen weg und machte sich an seinem
Rucksack zu schaffen. Unterwegs sprach er mehrmals leise mit Lilly, und
einmal hörte Mariechen, wie er sagte: »Aber daß du schweigst, Lilly,
daß du mich nicht verrätst! Wenn du etwas sagst, dann sollst du sehen!«
Worauf Lilly vorwurfsvoll antwortete: »Ich hab' dich doch noch nie
verraten!«

Auch auf diesem Wege fand Tante Toni häufig Gelegenheit, den Kindern
allerhand kleine Ereignisse aus ihrer Kinderzeit zu erzählen. Als sie an
einem kleinen Kapellchen, das am Fuße einer Anhöhe stand, vorbeikamen,
blieb sie stehen und rief aus:

»O Kinder, hier wollen wir ein Marienlied singen -- das haben wir auch
früher stets getan, wenn wir hier vorbeikamen.«

Sie stimmte an: »Salve Regina, Reinste aus allen.« Die hellen
Kinderstimmen fielen ein, und das klang so froh und so feierlich durch
die Sonntagsstille. Auf der Landstraße drüben blieb ein Wanderer stehen,
er nahm den Hut ab und horchte, und als der Gesang fertig war, da ging
er sinnend, mit gesenktem Kopfe weiter. Im Kapellchen drinnen aber saß
ein altes Mütterchen, das freute sich so, daß ihm die hellen Tränen über
die runzeligen Backen liefen, und zum Schluß fiel es ein und sang mit
zitterigem Stimmchen mit:

    »Hilf uns, Maria!
    Maria, hilf!«

Nun führte der Weg in den Wald, und er begann sehr zu steigen.

»Soll ich dich ein bißchen schieben, Tante Toni?« bot Rudi sich an. »Das
kann ich sehr gut, gelt, Mieze? Ich hab' die Mieze schon öfter einen
Berg hinaufgeschoben, wenn sie müd' war.«

Tante Toni lachte: »Ich danke dir, lieber Rudi; ich bin aber wirklich
noch gar nicht müde, und ich kann noch recht gut klettern. Du sollst
dich auch nicht so anstrengen.«

»O Tante Toni, das tut mir nichts -- ich bin stark, sehr stark!«

»Prahlhans!«

»Das ist nicht geprahlt, Otto, und du weißt's recht gut, daß ich stark
bin!«

»Doch lange nicht so stark wie der Otto«, mischte sich nun Lilly ein,
und sie warf Rudi einen herausfordernden Blick zu.

»Oho, Lilly!«

»Ja, und deinen großen Mut haben wir ja auch neulich bewundern können,
Herr Schwanenritter!«

Rudi war bei dieser Bemerkung Ottos hochrot im Gesicht geworden, und er
schrie: »Dich hätt' ich sehen wollen, wenn dich der Schwan angefallen
hätte; du wärst überhaupt in Ohnmacht gefallen vor Angst, du Waschlappen
du!«

»Das ist nicht wahr, und du bist ein ganz ungezogener, frecher Bub!«

Die beiden Knaben wären gewiß wieder aneinander geraten, wäre nicht
Tante Toni rasch dazwischengetreten. Kurt sagte nun eindringlich: »Ich
will auch mal was sagen: An jenem Tage haben wir uns alle eigentlich
blamiert, und Tante Toni war die einzige, die Mut und Besonnenheit
gezeigt hat.«

»Hoch lebe Tante Toni, unser General!« schrie Anna, ihren Hut
schwenkend, und in diesen Ruf stimmten die andern gerne ein; nur Otto
machte ein verbissenes Gesicht, und er flüsterte Lilly zu: »Und ich
werd's ihm doch noch eintränken!«

Im Weiterschreiten erklärte Tante Toni: »Die Körperstärke, liebe Kinder,
ist ja eine sehr gute und schöne Sache, aber sie ist kein Verdienst;
denn sie ist einem verliehen, man kann sie sich nicht selbst
verschaffen, man kann höchstens die vorhandene entwickeln. Es gibt aber
eine andere Stärke, die steht weit höher als die Körperstärke, und die
kann jeder erlangen, wenn er nur ernstlich will; das ist die
Charakterstärke, die Seelenstärke. Ob der Rudi den Otto im Wettkampfe
besiegt oder der Otto den Rudi, ob der Paul den Philipp unterkriegt oder
umgekehrt der Philipp den Paul, das scheint euch von großer Wichtigkeit;
mir dagegen beweist es nur, daß der eine kräftigere Muskeln hat als der
andere, ich achte keinen dafür höher oder geringer. Aber den, der sich
selbst besiegt, den, der seinen Zorn, seine Mißgunst, seine Selbstsucht
und seine andern bösen Neigungen meistern kann, den achte ich wirklich
hoch, der ist in Wahrheit groß und stark, und wenn er nach außen auch
nur ein armer Krüppel wäre.«

Die Kinder hatten aufmerksam zugehört, und alle gingen eine Zeitlang
schweigend und nachdenklich weiter, bis endlich Anna ausrief: »So, nun
wollen wir aber wieder lustig sein! Dürfen wir, Tante Toni?«

»Ihr sollt sogar!«

»O weh, Tante, was man soll, das kann man lange nicht so gut als das,
was man nur darf!«

»Ein großes Wort sprichst du gelassen aus«, deklamierte Kurt, dann fügte
er hinzu: »Also los, Änne, mach' mal einen von deinen berühmten Witzen,
damit es was zu lachen gibt!«

Anna legte die Stirne in Falten und versank in Nachdenken, so daß Rudi
meinte: »Du siehst aus, als müßtest du eine sehr schwere Rechenaufgabe
lösen.«

Anna gestand in kläglichem Tone: »Es fällt mir wirklich gar nichts ein,
so sehr ich mir auch den Kopf zerbreche. Das ist doch zu dumm: in der
Schule, in der Kirche, wenn Besuch da ist, dann fällt mir immer
allerhand ein, worüber ich lachen muß; aber wenn ich's gerad' möchte,
dann weiß ich nichts und dann erinnere ich mich nicht einmal der
drolligen Sachen, die mir früher eingefallen sind.«

»Es ist auch schwer, so auf Kommando witzig zu sein«, tröstete Tante
Toni. Ȇbrigens scheint es mir geraten, jetzt eure ganze Aufmerksamkeit
auf den Weg zu lenken; er wird sehr steil, und in diesem Geröll könnte
man sehr leicht fallen. Rudi, Lilly, Otto, gebt recht acht, Kinder!«

»O Tante, mich brauchst du doch nicht zu den kleinen Kindern zu
rechnen!« erwiderte Otto beleidigt. »Gib du nur auf den kleinen Rudi
acht, ich werde schon für Lilly sorgen. Komm, Lilly, gib mir die Hand.«
Und die Hand seines Schwesterchens fassend, zog er dieses eilig mit den
Berg hinauf.

»Nicht so rasch, Otto, ich rutsch' immer aus«, klagte Lilly; »zieh mich
doch nicht so fest!«

»Schweig doch still!« flüsterte Otto ihr zu. »Du kannst ja ordentlich
klettern! Ich möchte der Tante Toni doch zeigen, daß ich kein kleines
Kind mehr bin, und wir wollen zuerst oben sein.«

Lilly schwieg nun auch gehorsam still und gab sich alle Mühe, mit ihrem
Bruder Schritt zu halten, und die beiden waren den andern schon ein
gutes Stück voraus. Tante Toni rief ihnen ängstlich zu: »Nicht so rasch,
Otto und Lilly, ihr seid zu waghalsig!«

Aber Otto lachte nur statt aller Antwort, und die Hand seines
Schwesterchens, welches eben beinah' gefallen wäre, fester fassend,
sagte er leise und aufmunternd: »Jetzt noch einen tüchtigen Anlauf, und
wir sind oben.« Er nahm aber den Anlauf so stark und riß Lilly so heftig
mit sich, daß beide, oben angekommen, zur Erde stürzten. Otto sprang
schnell wieder auf und half auch Lilly in die Höhe. Er hatte nur arg
zerschundene Hände und Knie, aber Lilly war mit dem Gesicht auf den
steinigen Boden gefallen, sie hatte eine große Beule an der Stirne, und
sie blutete stark aus der Nase. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht;
aber als Otto in sie drang: »So wein doch nicht, Lilly, sonst krieg'
ich's ja!« da verbiß sie ihren Schmerz, und sie versicherte der
besorgten Tante Toni, sie hätte sich gar nicht arg wehgetan. Aber das
Nasenbluten dauerte fort, und da kein Wasser zur Hand war, mußte Lilly
sich unter einen Baum platt auf den Rücken legen und Tante Toni drückte
ihr zusammengelegtes Taschentuch sanft auf die Beule, die immer heftiger
anschwoll. Mariechen bemühte sich unterdessen, Ottos zerschundenes Knie,
so gut es ohne Wasser ging, zu reinigen und zu verbinden. Rudi, der
dabeistand und zusah, konnte sich nicht enthalten, zu sagen: »Na, ein
Glück, daß du diesmal die Schuld nicht auf mich wälzen kannst, sonst
hätten wir ein schönes Konzert zu hören bekommen.«

»Schweig!« herrschte Otto ihn an, und Rudi schwieg auch, aber nicht um
Otto zu gehorchen, sondern weil Mariechen ihm einen bittenden Blick
zugeworfen hatte.

In Otto aber kochte und gärte es. Er fühlte ganz genau, daß er im
Unrecht war; er hatte dem Befehl der Tante, die zur Vorsicht mahnte,
gerade entgegengehandelt, er hatte sich selbst und mehr noch seinem
Schwesterchen empfindlich wehgetan, und aus dem geplanten Triumph war
eine Niederlage geworden. Statt sich nun über sich selbst und über seine
Unvorsichtigkeit zu ärgern, ärgerte er sich über die andern, ganz
besonders aber über Rudi und Tante Toni, und diese letztere hatte ihm
doch nicht einmal den wohlverdienten Verweis gegeben.

Erst nachdem Lilly eine halbe Stunde stillgelegen und sich ausgeruht
hatte, erlaubte Tante Toni ihr, wieder aufzustehen, und nun konnte der
Weg zum Wetterstein endlich fortgesetzt werden. Paul, Kurt und Philipp
sahen Otto gerade nicht mit zärtlichen Blicken an, während sie über
diese unwillkommene Verzögerung knurrten.

»Dieser Otto muß einem doch immer jedes Vergnügen verderben«, brummte
Kurt, und Anna pflichtete ihm bei, halb ärgerlich, halb lachend: »Ich
glaube, der ist überhaupt nur auf der Welt, damit wir uns in der Geduld
üben! Ich erkläre euch aber feierlich, daß _meine_ Geduld nun zu Ende
ist, und wenn er uns jetzt noch etwas einbrockt, dann -- ja dann spring'
ich ihm auf den Rücken und schüttle ihn und rüttle ihn; seht, so ...!«
Und Anna packte den ahnungslosen Philipp und schüttelte und riß ihn
herum, so daß er kläglich schrie: »Bist du denn toll geworden, Änne? Die
Flasche mit Himbeersaft in meinem Rucksack geht ja kaput!«

»Was, Himbeersaft hast du da drin? Warum hast du das nicht eher gesagt?
Da muß ich halt nun meinen gerechten Zorn bezwingen, wenigstens bis ich
geholfen habe, deinen Himbeersaft auszutrinken. Aber da sind wir ja
schon! Ich grüße dich, edler, altehrwürdiger Wetterstein nebst Gemahlin,
Kindern und Enkeln!« Und Anna verneigte sich ehrfurchtsvoll und tief vor
dem großen, grauen und verwitterten Felsblock, der den Gipfel des Berges
krönt. Rundherum waren aber noch mehrere Steinblöcke, große und kleine,
und Anna begann sofort diese zu zählen.

»Warum zählst du denn die Steine?« fragte Mariechen.

»Ei, ich will doch sehen, ob die Familie des edlen Herrn von Wetterstein
sich vermehrt hat, seitdem wir das letztemal hier waren!«

Philipp, der schon seinen Rucksack abgeschnallt hatte, sagte ungeduldig:
»Komm, Anna, laß doch den Unsinn! Schau mal her, Tante Toni, da ist ein
Stein, der ist gerade wie gemacht, um uns als Tisch zu dienen.«

»Aber was fällt dir ein, Philipp!« rief Anna mit gutgespielter
Entrüstung. »Dieser Stein ist ja gerade dem Herrn von Wetterstein seine
Schwiegertochter; er wird es dir furchtbar übelnehmen, wenn du diese als
Tisch benützen willst. Tante Toni, du stimmst mir doch sicher bei?«

Allein Tante Toni hörte nicht; sie stand mit Mariechen und Paul am Rand
des Gipfels, und alle drei sahen ins wunderliebliche Maintal hinunter.
Es war ein ungewöhnlich klarer Tag, und wie aus einem Baukasten
aufgebaut sah man das Städtchen in der Ferne am Mainufer liegen.

»Ich seh' das schöne Schloß mit seinen vier Türmen«, rief Mariechen;
»auch den Turm der Stiftskirche seh' ich!«

»Wenn nicht diese dummen Bäume gerade im Weg wären, könnte ich unser
Haus und den Garten sehen; aber diese ekligen Bäume gerade hier vor
unserer Nase, wo man sich auch hinstellt, immer sind sie einem im Weg!«

Tante Toni lachte: »Geh', Paul, du wirst dich doch wohl nicht ernstlich
ärgern darüber, daß du euer Haus nicht sehen kannst! Der Blick hier ist
so wunderschön; wir wollen ihn freudig genießen und uns nicht durch
Kleinigkeiten stören lassen. Aber hört mal den Philipp, er scheint
ungeduldig zu werden, er ist sicher mal wieder hungrig, der arme Junge!«

Philipp hatte inzwischen schon die Rucksäcke ausgepackt und trotz Annas
Einsprache auf dem zum Tisch auserlesenen Stein einen Imbiß
hergerichtet. Alle lagerten sich ins Moos, und die ganze Gesellschaft,
auch Tante Toni, machten sich eifrig über die Butterbrote her. Philipps
Himbeersaft fand ebenfalls großen Beifall, er wurde ausgezeichnet
gefunden, woraufhin Anna mit großem Ernst behauptete, er sei nur deshalb
so gut, weil sie ihn vorhin ordentlich durcheinandergeschüttelt hätte.

Als nach dem Essen Philipp sich lang ins Moos streckte und die Mütze
über die Augen ziehen wollte, um ein bißchen zu schlafen, da rief Tante
Toni halb lachend, halb ärgerlich: »Aber Philipp, wie kannst du ans
Schlafen denken! Genieße doch mit offenen Augen und mit offenem Herzen
diesen schönen Tag! Schau um dich, sieh zum blauen Himmel hinauf, horch
auf das Säuseln des Windes und lausch dem Gesang der Vögel!«

Alle blieben eine Zeitlang still, bis endlich Anna halblaut sagte: »Ich
weiß nicht, Tante, wie das ist; wir sind doch gar nicht so weit von der
Stadt entfernt, und doch, wenn wir hier so stille sind, dann kommt es
mir vor, als seien wir in einer ganz andern Gegend, weit, weit fort von
daheim, und ich kann mir's kaum vorstellen, daß wir diesen Abend wieder
zu Hause sein werden.«

Tante Toni nickte lächelnd: »Das Gefühl kenne ich auch, Ännchen. Das
gehört zum Spessart; er hat so etwas Einsames, so etwas Urwaldliches und
Weltfremdes an sich, und das bleibt ihm auch, obwohl man schon
angefangen hat, ihn mit Sommerfrischlern zu bevölkern. Auf dem Rohrbrunn
zum Beispiel, dort sind in den Ferien ja schon eine Menge Fremde, und
doch, wenn man am Jagdschlößchen vorbei den Weg nach Silvan hinaufgeht,
da ist man auf einmal wie in die größte Einsamkeit versetzt. Auf einer
Seite dichter Wald, auf der andern blickt man in ein stilles Tal,
darüber hinaus Berge und Wälder, nichts als Berge und Wälder, kein
Haus, keine Hütte, nirgends eine Spur von der Nähe eines bewohnten
Ortes; man könnte meinen, man wäre weit, weit fort von jeglichem
Verkehr, in einer richtigen Einöde.«

»Ja, ich kenne die Stelle«, nickte Paul.

»Überhaupt, Tante Toni, über unsern Spessart geht doch nichts!«

»Da hast du recht!«

»Wie, Tante, das sagst du? Und du bist doch in der Schweiz und in
Italien gewesen!«

»Selbst in der Schweiz, in Italien, im herrlichen Neapel, auf dem Monte
Pellegrino in Palermo habe ich, trotz aller Bewunderung und
Begeisterung, ein leises Sehnen nach dem Spessart nicht unterdrücken
können, und als ich dann nach der Heimkehr zum erstenmal wieder in den
Spessart wanderte, da hab' ich erst so recht eigentlich empfunden, wie
schön unsere Heimat ist!«

»Bravo, Tante! Du bist halt doch eine echte Spessarterin geblieben, und
du und der Großpapa, ihr müßt unbedingt wieder herüberziehen!«

»Ja, vielleicht wenn mal Onkel Ernst aus Amerika zurückkommt und die
Leitung der Geschäfte übernimmt, so daß Großpapa sich zurückziehen
kann.«

»Wann wird er denn endlich zurückkommen, der Onkel Ernst?«

»Ich weiß es nicht. Aber horch! Was ist das? Wer singt denn da?«

Aus dem nahen Wald klang, bald aus der Nähe, frisch und kräftig, bald
aus der Ferne, gedämpft, wie ein richtiges Echo, der Wechselgesang:

    »Im Wald, im Wald,
    Im frischen, grünen Wald -- wo's Echo hallt.«

Es waren Mariechen und Anna, die sich leise fortgeschlichen hatten, um
der lieben Tante diese kleine Überraschung zu bereiten.

»Das habt ihr brav gemacht, Kinder!« rief Tante Toni am Schluß sichtlich
erfreut. »Ihr wißt ja, wie gern ich unsere schönen deutschen Lieder im
lieben deutschen Wald oder auf den deutschen Bergen höre! Kennt ihr das
Lied: >Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut?<«

»O gewiß, das kennen wir alle!« Und diesmal stimmten auch die Knaben mit
ein. Paul, der eine schöne Stimme und gutes Gehör hatte, sang die zweite
Stimme. Tante Toni saß ganz still und freute sich, wie der helle
Kindergesang so frisch in die freie Natur hinausschallte.

»Sogar die Vöglein schwiegen und hörten euch zu«, behauptete sie, als
das Lied zu Ende war.

»Nun mußt du aber auch singen, Tante«, baten die Kinder, und es erklang
noch gar manch lustiges und manch schwermütiges Volksliedchen, bis auf
einmal ein anderer, ein feierlicher Ton sich unter den Gesang mischte --
von der Dorfkirche drunten im Tal das Abendläuten.

Da verstummte der Gesang und alle lauschten still, bis der letzte
Glockenton verhallt war.

Plötzlich sprang Tante Toni auf und rief: »Aber, Kinder, wir vergessen
ja ganz die Zeit! Schnell, schnell zum Aufbruch geblasen, damit wir noch
vor Dunkelwerden heimkommen!«

»O wie schade, es war so wunderschön hier!« bedauerten die Kinder, sich
zum Aufbruch richtend.

»Aber wo ist denn Otto?« fragte auf einmal Tante Toni, sich nach allen
Seiten umsehend. Niemand wußte es, niemand hatte ihn fortgehen sehen.
Aber Mariechen behauptete, er könne noch nicht lange fort sein, denn vor
wenigen Minuten hätte sie ihn noch im Gras herumkriechen sehen.

»Otto, Otto!« riefen nun Tante und Kinder in alle Windrichtungen, aber
es erfolgte keine Antwort.

»Das ist recht fatal, denn wir haben uns schon sowieso etwas verspätet!«
Tante Toni schien ein wenig unzufrieden, und nach einigem Nachdenken
entschloß sie sich, da alles Rufen vergeblich blieb, die Zwillinge und
Philipp nach verschiedenen Richtungen als Kundschafter auszuschicken.
»Aber entfernt euch nicht zuweit und ruft von Zeit zu Zeit«, empfahl sie
besorgt.

»Ja, und wer ihn findet oder ihn zuerst rufen hört, der stößt ein
Indianergeheul aus, damit wir's gleich wissen«, schlug Anna vor; aber
sie hatte wenig Erfolg mit ihrem Scherz. Nicht nur die Tante, auch die
Kinder hatte ein unheimliches Gefühl beschlichen; es war doch auch zu
sonderbar, daß Otto so spurlos verschwunden war. Tante Toni war ganz
blaß geworden, und sie sah so niedergeschlagen aus, daß Mariechen sie zu
beruhigen suchte, indem sie sagte: »Sorge dich doch nicht so, Tante; es
kann ihm ja doch hier nichts zugestoßen sein.«

»Er könnte beim Umherstreifen gefallen sein; es gibt mehrere recht
steile und gefährliche Stellen hier am Berg.«

»Dann hätten wir ihn doch schreien hören.«

»Beim Singen konnte uns das leicht entgehen.«

Inzwischen hörte man von Zeit zu Zeit den Zuruf der drei suchenden
Knaben. Er klang schwächer und schwächer, dann näherte er sich wieder,
aber von Otto keine Antwort.

Die Sonne war schon ganz tief gesunken; im Westen rötete sich der ganze
Himmel, aber niemand hatte einen Blick für den herrlichen
Sonnenuntergang -- alle standen da und warteten und lauschten. Endlich
kam Paul zurück, dann Philipp und zuletzt Kurt; niemand sagte ein Wort,
die Kinder sahen sich ratlos an, dann richteten sie ihre Blicke
erwartungsvoll auf Tante Toni, als ob sie doch helfen könnte und müßte.
Aber Tante Toni zitterte, wie wenn sie fröre; sie mußte sich an einen
Baum lehnen, um nicht umzufallen; sie fühlte ja die ganze schwere
Verantwortung auf sich ruhen. Wie konnte sie denn heimkehren ohne Otto,
ohne den Sohn ihres Bruders! Wortlos rang sie die Hände. Auf einmal
raffte sie sich auf. »Kinder, kommt, wir wollen beten!« sagte sie, und
inmitten der Kinderschar niederkniend, flehte sie aus tiefstem Herzen:
»Unter deinen Schutz und Schirm ...«, und die Kinder stimmten mit ein.
Ernst und feierlich hallte das Gebet in die stille Abenddämmerung
hinein. Die Vöglein waren schon lange zur Ruhe gegangen, und von der
Stadt schimmerten einzelne Lichter herüber.

Plötzlich zuckte Tante Toni zusammen; es hatte sie jemand an der
Schulter berührt: es war Mariechen, und diese machte die Tante mit einer
leisen Gebärde auf Lilly aufmerksam. Diese schien in der Tat die
allgemeine Angst um ihren Bruder gar nicht zu teilen; sie kniete etwas
abseits an einen Stein gelehnt, und sie schaute aufmerksam auf einen
bestimmten Punkt -- eben lächelte sie sogar ein wenig. Tante Toni folgte
der Richtung ihres Blickes, und -- fast hätte sie laut aufgeschrien. --
Dort über dem großen Felsblock bewegte sich etwas; es zeichnete sich
scharf gegen den klaren Abendhimmel ab -- jetzt verschwand es wieder. --
Aber nun verstand Tante Toni alles. Sie erinnerte sich, daß sich oben in
diesem Stein eine ziemlich tiefe Mulde befand. Otto war unbemerkt hinter
den Stein geschlichen, hinaufgeklettert -- gut klettern, das konnte er
ja -- und hatte sich in die Mulde versteckt. Diese war allerdings oft
mit Regenwasser gefüllt, aber es hatte ja nun längere Zeit nicht
geregnet.

Tante Toni atmete auf, wie von einer drückenden Last befreit. Und doch
fiel es ihr wieder recht schwer aufs Herz, als sie nun daran dachte,
daß Otto also all ihre und der Kinder Angst und Sorge mitangesehen und
sich trotzdem nicht gezeigt hatte; auch Lilly hatte um Ottos Versteck
gewußt und hatte nichts getan, um sie aus der Angst zu befreien. Nach
all dem, was sie eben ausgestanden, war das Herz der armen Tante schon
ganz erschüttert, und nun kam dazu einerseits das Gefühl der großen
Erleichterung, anderseits der Schmerz über Ottos und Lillys
Herzlosigkeit. Das alles stürmte auf sie ein, sie konnte nicht mehr
widerstehen und brach plötzlich in Tränen aus. Die Kinder sahen sie
erschreckt an. Mariechen mit ihrem guten, teilnehmenden Herzen hatte die
Gefühle der Tante teilweise erraten und verstanden; sie machte den
andern ein Zeichen, so daß diese sich ganz still verhielten und der
Tante ein wenig Zeit ließen, um sich wieder zu fassen.

Die Sonne war nun längst versunken, und sogar auf dem Gipfel des Berges
hier fing es schon an dämmerig zu werden. Jetzt richtete Tante Toni sich
auf, und sie sagte, ohne nach dem Felsblock zu blicken:

»Nun kommt, Kinder, wir haben keinen Augenblick mehr zu verlieren -- wir
müssen heim.«

Die Kinder schauten erstaunt auf Tante Toni -- sie sah so eigen aus und
ihre Stimme klang gar nicht wie sonst, aber sie folgten schweigend; nur
Lilly blieb stehen und fragte halb ängstlich, halb trotzig: »Und Otto?«

Tante Toni sah Lilly sehr ernst an, als sie antwortete: »Wir warten
nicht eine Minute länger auf Otto. Bald wird es ganz dunkel sein, und
da, wo Otto sich befindet, kann ihm ja nichts passieren -- höchstens
eine Erkältung kann er sich von dort mitbringen. Und du, Lilly, du gehst
vor mir her, und ich verbiete dir, dich auch nur im geringsten zu
entfernen. Nun schnell vorwärts!«

Tante Toni wußte ganz genau, daß dies das beste Mittel sei, um Otto
möglichst rasch aus seinem Versteck zu treiben. Kaum hatte sie mit den
Kindern den Platz verlassen, da tauchte Otto auch schon aus seinem Loche
auf und begann vom Felsblock herunterzuklettern; das war aber nicht so
leicht -- wahrscheinlich gerade weil er so eilig war, stellte er sich
viel ungeschickter an wie sonst, und er konnte lange keine Stütze für
seinen Fuß finden. Es überkam ihn, als er sich nun in der zunehmenden
Dunkelheit so ganz allein sah, ein recht unheimliches Gefühl. Er hätte
gerne gerufen; aber nein, dafür war er doch zu stolz. Er atmete
ordentlich auf, als er endlich unten war, und nun hatte er die andern
bald eingeholt. Die schienen ihn aber gar nicht zu bemerken, sie gingen
rasch und schweigend weiter. Otto fühlte sich sehr unbehaglich, und um
diesem ungemütlichen Zustand ein Ende zu machen, rief er mit erzwungenem
Lachen:

»Nun, war ich nicht gut versteckt? Ratet einmal, wo ich die ganze Zeit
war!«

Aber die Kinder antworteten gar nicht, sie sahen ihn nur vorwurfsvoll
an. Tante Toni sagte in sanftem, aber sehr ernstem Ton:

»Ich weiß, wo du warst, Otto; du hast nicht schön gehandelt. Geh' jetzt
neben Lilly und gib ihr die Hand, und entferne dich um keinen Schritt
mehr von mir.«

Hier im Wald war es schon ganz dunkel, und man hatte Mühe, auf den Weg
zu achten. Von Paul und Kurt geführt, kam die kleine Truppe aber doch
rasch vom Fleck, und man gelangte glücklich auf die Landstraße.

»O wie schön!« rief Rudi aus, und er blieb einen Augenblick stehen; alle
wendeten sich um, und sie sahen nun, wie die glänzende Mondscheibe
langsam hinter einem Berge hervorstieg, und dann war auf einmal die
ganze Gegend in ein wunderbares, silbernes Licht getaucht.

»Nun haben wir eine gute Leuchte auf den Weg«, meinte der praktische
Philipp, während Mariechen ausrief:

»Das ist feenhaft schön!«

Jetzt sprudelte auch Annas gute Laune wieder hervor, und sie rief:
»Miezchen, gerate nur nicht in Verzückung, sonst steckst du mich an, und
dann bringt ihr mich nicht mehr von der Stelle --, dann bleibe ich
einfach bis Mitternacht hier stehen, um die Elfen im Mondschein tanzen
zu sehen, wie Tante Toni es uns neulich erzählt hat.«

»Ei, um das zu sehen, muß man doch ein Sonntagskind sein!«

»Aber, Tante Toni, das bin ich doch -- ich meine, das müßtest du mir
doch ansehen!« Und Anna stellte sich breitspurig vor Tante Toni hin und
reckte sich in die Höhe, so sehr sie nur konnte.

Alle lachten, auch Tante Toni; aber plötzlich wieder ernst werdend,
legte sie die Hand auf Annas Köpfchen, und ihr die braunen, wirren Haare
aus der Stirne streichend sagte sie leise: »Ich glaube dir's, Kind; ja,
du mußt wirklich ein Sonntagskind sein. Möge der liebe Gott dir deinen
frohen Mut erhalten dein ganzes Leben lang! -- Aber nun müssen wir
weiter; eure Eltern werden gewiß schon besorgt sein über unser langes
Ausbleiben.«

»Sollen wir vorauslaufen, um sie zu beruhigen?« schlugen die Zwillinge
vor, aber Tante Toni wollte nichts davon wissen.

»Nein, nein, wir bleiben schön beisammen«, wehrte sie ab. »Aber tüchtig
ausschreiten, das wollen wir!«

Es herrschte nun aber doch wieder eine andere Stimmung als vorhin, und
es flog sogar manches Scherzwort, manche kleine Neckerei von einem zum
andern.

Auch Otto flüsterte seiner Schwester zu:

»Na, es ist wirklich Zeit, daß die alle wieder andere Gesichter machen;
das war doch zu dumm!« Und leise in sich hineinkichernd fügte er hinzu:
»Nein, war das drollig, da oben in dem Stein zu sitzen und zu sehen, wie
die andern alle suchten und sich den Hals heiser schrien -- ich mußte
mich wirklich zusammennehmen, um nicht laut aufzulachen!«

Aber Lilly stimmte nicht in Ottos Gelächter ein; sie schüttelte den Kopf
und sagte nachdenklich: »Nein, Otto, es war nicht recht; das war schon
kein Scherz mehr, und wie du gesehen hast, daß Tante Toni wirklich in
Angst um dich war, da hättest du herunterkommen sollen. Es hat mir ganz
wehgetan, wie sie auf einmal so geweint hat, und ich hätte dir nicht
folgen dürfen....«

»Halt, Lilly, das ist fest unter uns ausgemacht: keins verrät das
andere, und es wäre Verrat gewesen, wenn du mein Versteck entdeckt
hättest. Ich möchte nur wissen, ob Tante Toni wirklich weiß, wo ich
gesteckt habe.«

»Das glaube ich ganz gewiß.«

»Woher aber? Außer uns kennt doch niemand das Loch in dem Stein -- es
war ja früher schon Papas Geheimnis, wie er noch klein war.«

»Ja, du weißt aber auch, daß Tante Toni immer Papas Lieblingsschwester
war, und da hat er sie wahrscheinlich in das Geheimnis eingeweiht.«

»Dann hätte sie sich aber doch nicht so zu ängstigen brauchen.«

»Ja, sie hat vielleicht nicht mehr daran gedacht, oder sie hat auch gar
nicht gewußt, daß man sich in dem Loch verstecken kann, weil es ja
früher immer voll Regenwasser war; Papa war selbst ganz erstaunt, als er
voriges Jahr bemerkte, daß das Wasser jetzt ablaufen kann.«

»Ja, das ist wahr. Aber schau mal! -- Ich glaube gar, da kommt Papa mit
Onkel Helmer! O weh, das ist dumm!«

Es waren wirklich Herr Mehring und Herr Helmer, die, ernstlich
beunruhigt durch das lange Ausbleiben der Tante und ihrer Bande, diesen
entgegengegangen waren.

»Na, da seid ihr ja alle heil und gesund!« riefen sie ihnen entgegen.
»Die beiden Mütter sind schon ganz besorgt, und wir konnten uns gar
nicht denken, weshalb ihr nicht heimkamet!«

Erst als sie ganz nahe herangekommen waren, bemerkten sie die verlegenen
Gesichter der Kinder, und Onkel Robert fragte, seine Schwester forschend
anblickend:

»Toni, du bist so blaß! Ist etwas vorgefallen?«

Nach einigem Zögern antwortete Tante Toni: »Ich glaube, es ist am
besten, wenn Otto dir selbst den Grund unserer Verspätung mitteilt.«

Erstaunt und fragend blickte Herr Mehring von seiner Schwester auf
seinen Sohn, aber Otto faßte seines Vaters Hand, und ihn mit sich
fortziehend sagte er: »Komm nur, Papa, ich erzähle dir alles; du wirst
sehen, es ist gar nicht schlimm.«

Und er erzählte nun, wie er von den andern unbemerkt auf den großen
grauen Stein geklettert sei und sich in das Loch versteckt habe und wie
er schon sehr lange darin gesessen habe, bevor Tante Toni sein
Verschwinden bemerkt hätte, und wie dann nach ihm gesucht und gerufen
worden sei, und das sei so unterhaltend gewesen, daß er gar nicht geahnt
hätte, wie spät es inzwischen geworden sei. Der Vater hatte schweigend
zugehört. Am Schluß sah er seinen Sohn ernst und forschend an, und er
sagte:

»Otto, die Sache gefällt mir nicht recht. Ich bin eben wirklich
erschrocken über das blasse, angegriffene Aussehen deiner Tante; sie muß
sich also ernstlich um dich beunruhigt haben, und du hast sie gewiß viel
zu lange hingehalten, ehe du aus deinem Versteck hervorkamst. Antworte
mir ehrlich: >Hast du bemerkt, daß Tante Toni sich wirklich ängstigte?<«

Otto sagte leise und zögernd: »Ja -- Papa.«

»Und du bist trotzdem noch in deinem Versteck geblieben?«

Otto senkte den Kopf und schwieg.

»Noch lange?« fragte der Vater.

»O, nicht so sehr«, suchte Otto sich zu entschuldigen; aber Herr Mehring
seufzte tief auf, und er sagte nach einigem Nachdenken:

»Das geht mir sehr nahe, Kind. Verstehst du auch, warum?«

Otto schüttelte den Kopf.

»Weil es wie Herzlosigkeit aussieht.«

»O Papa!«

»Ja, Kind; du weißt, daß ich einen kleinen Streich, eine Neckerei nicht
so ernst nehme, sogar Unarten kann man Kindern verzeihen -- mein Gott,
keiner von uns ist ja wohlerzogen vom Himmel heruntergefallen! Aber hier
ist mehr wie Leichtsinn dahinter. Daß du deine gute Tante sich erst
lange ängstigen ließest, ehe du aus deinem Versteck kamst, das läßt mich
beinahe an deinem guten Herzen zweifeln. Jedenfalls hoffe ich, daß du
die Tante diesen Abend noch herzlich um Verzeihung bitten und ihr
versprechen wirst, sie künftighin nicht mehr zu betrüben. Wirst du das
tun?«

Otto nickte wieder, und dann ging er schweigend neben seinem Vater her,
mit einer großen, großen Angst im Herzen. Wie, wenn sein Vater nun noch
eines der andern Kinder fragte? Aber nein, warum sollte er denn? Das
hatte er ja sonst auch nicht getan, und von selbst würden ihn die andern
nicht verklagen, das wußte er.

Nach der Heimkehr, beim Abschiednehmen, drängte er sich, dem Winke
seines Vaters folgend, an die Tante heran und sagte leise, mit halb
abgewandtem Gesicht: »Tante, bitte, verzeih' mir, ich will dich nicht
mehr betrüben.«

Die Tante sah ihn eine kleine Weile forschend an, dann sagte sie
betrübt: »Es kommt dir nicht recht von Herzen, Otto; aber ich verzeihe
dir trotzdem -- du hast eben selbst noch nie eine wirkliche und große
Angst ausgestanden, und du ahnst nicht, wie das tut. Gute Nacht, lieber
Otto.«

An diesem Abend konnte Otto lange nicht einschlafen; unruhig warf er
sich in seinem Bett hin und her, und er dachte: »Ach, hätt' ich doch
noch eine Mama, die sich an mein Bett setzte -- der könnt' ich's wohl
sagen!«

Als er aber die Schritte seines Vaters auf der Treppe hörte, drehte er
sich schnell zur Wand, und als Herr Mehring mit einer Kerze ins Zimmer
trat und sich über seinen Sohn neigte, da lag dieser mit geschlossenen
Augen und atmete tief und regelmäßig, wie wenn er schliefe.




                             Siebtes Kapitel.

      Bambula, der Puppenfresser. Otto, weißt du nun, wie es tut?


Am andern Tag hatte Tante Toni heftige Kopfschmerzen. Als diese gegen
Mittag etwas besser wurden, ging sie zu klein Toni hinauf, die mit einer
Erkältung und etwas Fieber zu Bett lag. Sie setzte sich zu ihr hin und
fragte: »Nun, wie ist es dir denn gestern gegangen, meine liebe kleine
Freundin? Warst du recht vergnügt mit Mama und mit den Kleinen?«

»O ja«, nickte Tonichen; »Tante Luise ist auch gekommen mit dem kleinen
Bubi; der ist gestern drei Jahre alt geworden, und da hat er ein ganz
schwarzes Püppchen bekommen, ein Mohrenkind, und das hat er mitgebracht,
und denke dir, Tante -- ach, das war zu drollig ...!« Und nun fing Toni
an, so zu lachen, daß sie gar nicht mehr weitererzählen konnte.

»Erzähl' doch erst und lach' nachher, damit ich wenigstens mitlachen
kann«, meinte Tante Toni.

»Also hör, Tante! Der Bubi ist mit seinem Bambula -- so heißt sein
schwarzes Püppchen -- gekommen und hat ihn uns gezeigt, und Minnichen
hat sich ein bißchen gefürchtet, aber nur anfangs, hernach nicht mehr,
und dann hat Bubi sogar seinen Neger zum Püppchen von Minnichen ins Bett
gelegt, und wie Minnichen gerad' ein bißchen am Fenster war, da hat der
Bubi auf einmal geschrien: >Minnichen, tomm deswind sehn, dei Püppchen
is weck -- der Bambula hat's aufdefressen!< Und 's weiße Püppchen war
wirklich fort. Wie aber jetzt Minnichen angefangen hat zu weinen, da hat
der Bubi gesagt: >Nit weinen, Minnichen! 's Püppchen is widder da,
Bambula hat's widder rausdebrockelt.< Und richtig, Tante, das Püppchen
lag auf einmal wieder im Bettchen, und da hätt'st du mal sehen sollen,
wie Minnichen ihr Püppchen genommen und geherzt und geküßt hat und wie
sie dem Bambula böse Augen und strenge Gesichter gemacht hat -- aber nur
von fern, denn das arme Minnichen hat sich jetzt selbst wieder ein
bißchen vor dem bösen Mohren gefürchtet.«

Jetzt wurde Tonis Erzählung durch einen Hustenanfall unterbrochen.

»O, wie du hustest, mein Herzchen! Ich hätte dich nicht so erzählen
lassen sollen -- du sollst wohl gar nicht viel sprechen?«

»Ach, Tante, das ist nicht so schlimm; ich hab' ja schon so oft Husten
gehabt! Du mußt dir wirklich hernach von Minnichen selbst erzählen
lassen, wie Bambula ihr Püppchen gefressen hat; da mußt du wirklich ganz
schrecklich lachen, Tante. Geh' nur mal hinüber ins Kinderzimmer -- aber
dann kommst du wieder zu mir, gelt, Tantchen?«

»Gewiß, Kleines, ich komme gleich wieder.«

Als die Tante ins Kinderzimmer trat, saß Minnichen mit tiefbetrübter
Miene neben ihrem Puppenbettchen, während Leo, die Stirne in ernste
Falten gelegt, dabeistand; er hatte eine große Brille -- ohne Gläser --
auf seinem Näschen sitzen und hielt eine leere Milchflasche unter dem
Arm. Er räusperte sich, genau wie der gute alte Hausarzt es zu tun
pflegte, und dann sagte er mit der tiefsten Stimme, die er hervorbringen
konnte:

»Wir werden das kranke Kind impfen müssen; es gibt kein anderes Mittel,
um's wieder gesund zu machen -- aber erst muß es Medizin nehmen.«

Dann schüttelte er die Milchflasche kräftig, und ein Puppenlöffelchen
unterhaltend, zählte er langsam und bedächtig: »Eins -- zwei -- drei --
mehr wie drei Tropfen darf man nicht geben, sonst stirbt das Kind; denn
die Medizin ist Gift.«

Erst nachdem er das Löffelchen dem kranken Puppenkind hingehalten hatte,
drehte er sich nach Tante Toni um, und ihr die Hand reichend, sagte er
sehr ernsthaft: »Ach, guten Tag, Fräulein! Wie geht es Ihnen? Soll ich
Ihren Puls fühlen?«

Tante Toni ging natürlich auf das Spiel der Kleinen ein und sagte:

»Ach, guten Tag, Herr Doktor! Ich danke Ihnen, mir geht es ganz gut;
aber das Kind dort scheint recht krank zu sein. Wohl auf den Schrecken
von gestern?«

»Ja, ja, es steht schlimm, recht schlimm!« Dabei machte Leo die größten
Anstrengungen, seine Stirne noch mehr zu runzeln, wobei jedoch seine
große Brille ins Rutschen kam. Tante Toni hatte große Mühe, das Lachen
zu verbeißen. Leo aber ließ sich nicht irremachen; er stellte seine
Milch- oder vielmehr seine Medizinflasche auf die Erde und rückte seine
Brille wieder zurecht. Jetzt kam auch Minnichen, und die Tante zum
Puppenbettchen ziehend sagte es: »Arm Poppelsen, wehweh hat.«

Nun fiel aber Leo aus der Rolle, denn der kleine Lehrmeister bekam
wieder die Oberhand, und er sagte eifrig:

»Minnichen, erzähl' mal der Tante, wer hat dein Püppchen krank gemacht?«

»Böser Bambula«, sagte die Kleine, ein Schnütchen machend.

»Hörst du, Tante, wie gut sie schon >Bambula< sagen kann? Sie hat es
doch gestern zum erstenmal gehört, und es ist auch gar kein leichtes
Wort.«

Nun, an ihren gestrigen Schrecken denkend, geriet Minnichen auch in
Eifer, und sie erzählte: »Bös Bambula Poppelsen von Minnisen aufdefeßt
-- so ...« Und die Kleine sperrte ihr Mündchen auf, so weit sie nur
konnte, und auf Tante Toni sich stürzend, machte sie »Happ, happ!« als
wollte sie diese verschlingen. Dann erzählte sie weiter, ihre Worte mit
sehr ausdrucksvollen Gebärden begleitend: »Und Minnisen hat weint, so:
>Hiehiehie!< Dann hat Bambula bockelt, so: >Bröh -- bröhx<, und da war
Poppelsen widder da. Aber Minnisen hat sehr sankt Bambula, so ...« Und
Minnichen riß die Äugelchen weit auf, machte ein bitterböses Gesicht und
drohte mit dem Fingerchen.

»Huh«, machte Tante Toni zurückfahrend, »da war der Bambula aber sicher
sehr bang, wie er dein strenges Gesicht gesehen hat?«

»Ja«, antwortete Leo für sein Schwesterchen, »wir haben ihm gesagt, er
dürfe nicht mehr zu uns auf Besuch kommen sonst würde er einfach
nausgeschmissen!«

»Nausmissen«, bekräftigte Minnichen mit energischem Kopfnicken.

Den Nachmittag dieses Tages brachte Tante Toni am Bettchen ihres
Patenkindes zu.

»Tante, ich muß dir etwas sagen«, flüsterte klein Toni ernsthaft, ein
wenig zögernd.

»Was denn, mein Liebling?«

»Ich bin wieder mal sehr zornig und sehr böse gewesen.«

»O Tonichen, wirklich? Das tut mir aber leid. Dir gewiß auch?«

»Ich weiß nicht recht, Tante. Es tut mir schon leid, daß ich so zornig
war, weil das den lieben Gott beleidigt; aber ich bin noch immer bös,
sehr bös auf Otto!«

»Ach, ist es das? Anna hat dir wohl erzählt?«

»Ja, Tante. Und wie du geweint und dich gesorgt hast, und daß der Otto
nicht einmal gezankt worden ist. Und da hab' ich gewünscht, der liebe
Gott möchte ihn selbst recht tüchtig strafen.«

»O nein, Tonichen, nein, das sollst du nicht! Wir wollen lieber beten
für ihn, damit er sein Unrecht einsieht, dann wird es ihm sicher selbst
sehr leid tun. O Tonichen, das war ein häßlicher Wunsch; einen solchen
darf meine kleine Freundin nie mehr haben!«

»Aber Tante, er war doch so bös gegen dich, der Otto, und du bist so
lieb und gut! Nein, ich mag ihn gar nicht mehr, den bösen, garstigen
Buben!«

»Du kränkst mich, Tonichen, wenn du so sprichst!«

»O Tante, ich will dich nicht kränken, und es ist ja, weil ich dich so
sehr lieb hab' ...« Und schluchzend schlang klein Tonichen ihre Ärmchen
um den Hals der Tante.

»Ich weiß es ja, mein Liebling, ich weiß es ja«, suchte die Tante das
weinende Kind zu beruhigen. »Und weil du die Tante Toni so lieb hast und
ihr eine ganz besondere Freude machen willst, wirst du diesen Abend beim
Abendgebet ein Vaterunser für unsern lieben, armen Otto beten. Willst
du?«

Tonichen nickte unter Tränen lächelnd.

»Und nun liege recht still und ruhig, sonst mußt du wieder so stark
husten. Ich erzähle dir auch. Was möchtest du gerne hören?«

»O bitte, Tante, erzähle mir noch einmal die Geschichte von dem kleinen
Johannes, den niemand lieb hatte und der in der Weihnachtsnacht
gestorben ist, gerade nachdem er den lieben Heiland empfangen hatte.«

Und Tante Toni erzählte, während klein Toni begierig lauschte.

»O wie schön!« seufzte sie am Schluß der Erzählung. »Ich möchte auch
sterben wie der kleine Johannes, gleich nach meiner ersten heiligen
Kommunion.«

Später kam auch Tonis Mutter und setzte sich an ihr Bettchen; da
strahlte ihr Gesichtchen vor Freude, und sie sagte: »Jetzt bin ich so
froh, so froh, weil ihr alle beide bei mir seid; bleibt nur recht lange
hier!«

»Ja, recht lange«, wiederholte die Mutter leise, und sie blickte voll
Liebe und Besorgnis in das blasse Gesicht ihres Töchterchens, und so oft
dieses hustete, ging es wie ein Stich durchs Herz der Mutter; klein Toni
merkte das, und sie gab sich von nun an alle Mühe, ihren Husten
zurückzuhalten.

Es war schon ziemlich spät am Nachmittag, als auf einmal Paul hereinkam
und rief: »Tante Toni, komm doch schnell einmal herunter! Der Otto ist
da und fragt nach dir, und er sieht ganz verstört aus, aber er will mir
nicht sagen, was er hat.«

Sofort eilte Tante Toni hinunter, und als sie ins Zimmer trat, da
stürzte Otto wie verzweifelt auf sie zu und schrie: »Tante, Tante, hilf
mir, ich bitte dich, hilf mir! Ich weiß nicht mehr, was ich anfangen
soll!«

»Um Gottes willen, Otto, was ist denn geschehen? Ist deinem Vater etwas
zugestoßen? So sprich doch!«

Nun brach Otto in krampfhaftes Schluchzen aus, dazwischen stammelte und
stieß er einige Sätze und Wörter hervor, wovon die Tante aber nur
verstand, sein Vater müsse ins Gefängnis, und er, Otto, sei schuld
daran.

»Das kann ja gar nicht sein!« rief die Tante aus. »Komm, nun setz' dich
her zu mir und versuche ruhiger zu werden, dann erzählst du mir ganz
genau, was vorgefallen ist.«

Aber es dauerte noch einige Zeit, ehe Otto ordentlich sprechen konnte,
und er schluchzte noch häufig auf, während er erzählte: »Ich saß vorhin
an meinem Studierpult in Vaters Zimmer, und Papa stand vor seinem
Schreibtisch, wo er Papiere durchsah; er hatte sie aus dem eisernen
Schrank genommen, der in der Ecke steht und wo er alle wichtigen Papiere
und das Geld drin aufhebt; du kennst ihn ja, Tante.«

»Ja, gewiß -- es waren also jedenfalls sehr wichtige Papiere, die er vor
sich hatte.«

Otto nickte und fuhr fort: »Auf einmal kam Lina herein und sagte, Papa
möge doch schnell einmal hinunterkommen, der Herr Dorr sei da und der
habe es sehr eilig. Papa wollte die Papiere erst wieder in den
Geldschrank legen, der war aber schon zugeschlossen, und so legte er nur
einen Beschwerstein darauf und sagte zu mir, er käme sofort zurück, er
hätte nur einen Augenblick mit Herrn Dorr zu sprechen, und ich solle
inzwischen auf die Papiere achten, denn sie seien sehr, sehr wichtig,
ich solle mich aber nicht unterstehen, sie anzurühren. Dann ging Papa
hinaus, und er ließ die Türe offenstehen.« Nun fing Otto wieder an zu
weinen.

»Und jetzt hast du die Papiere doch angerührt, Otto?«

»Zuerst nicht, Tante! Ich wollte ja dem Papa gehorchen; wie er aber dann
so lange ausblieb, da mußte ich immer wieder nach den Papieren hinsehen,
und ich hätte doch so gerne gewußt, was es für Papiere wären, und -- da
nahm ich den Stein ab. O hätt' ich es nicht getan! -- Im selben
Augenblick hörte ich im Garten draußen einen lauten Schrei, ich lief
schnell ans Fenster, um zu sehen, was es gäbe, und ich muß wohl in der
Eile vergessen haben, den Stein wieder auf die Papiere zu legen. Ich riß
das Fenster auf, um hinauszusehen, aber im selben Augenblicke entstand
Zugluft, und alle Papiere flogen im Zimmer herum und mehrere sogar zum
Fenster hinaus. Ich stürzte sofort hinunter, um sie wieder
zusammenzusuchen. Die alte Babett, die gerade unten war, hatte schon
einige aufgehoben, und sie half mir suchen, bis wir keins mehr fanden.
Als ich wieder hinaufkam, da war Papa inzwischen zurückgekommen, und er
hatte die Papiere, die im Zimmer herumgeflogen waren, schon aufgelesen.
Ach, Tante, ich möchte, er hätte mich recht gezankt, ja ich möchte, er
hätte mich sogar geschlagen, ich hab's verdient; aber er hat gar nichts
gesagt, er hat mich nur einmal angeschaut -- o Tante, ich kann dir nicht
sagen, _wie_! Dann hat er gleich die Papiere nachgesehen, und es hat
eins gefehlt! Tante, denke dir, gerade das allerwichtigste -- das,
welches er morgen beim Gerichte unbedingt braucht! Und dann haben wir im
Hause und im Garten alles, alles durchsucht, aber wir haben nichts
gefunden. Ach, Tante, und dann hat sich der Papa an seinen Schreibtisch
gesetzt und ist, mit den Händen vor dem Gesicht, lange sitzen geblieben,
ohne sich zu rühren, bis ich's nicht mehr aushalten konnte und ihn
gebeten habe, er möge mir doch verzeihen! Da hat er mich wieder
angesehen, noch weher wie vorhin, und hat gesagt: >Ich hab' dir schon
verziehen, aber an diesem Papier hing mehr als mein Leben -- an ihm
hing meine Ehre.< Und nun sitzt er immer noch am selben Platz, ganz
still und, Tante, du kannst dir nicht denken, wie er aussieht, ganz
anders wie sonst, viel älter! O komm doch mit zu ihm! Ich hab' ihm
gesagt, ich ginge dich holen, da hat er genickt. Komm, Tante, hilf uns!«

»Ja, Otto, schnell zurück zu deinem Vater!« Die Tante nahm sich kaum die
Zeit, ihren Hut aufzusetzen, und als sie wenige Minuten später in das
Zimmer ihres Bruders kam, fand sie diesen genau so, wie Otto gesagt
hatte. Er nickte seiner Schwester zu, und als diese, ihn fest
umschlingend, sagte: »Mut, Robert, ich werde nochmal suchen, ich _muß_
es finden«, da schüttelte er den Kopf und sagte: »Such' nur, aber es
wird umsonst sein, ich habe überall nachgesehen.«

Sie begann sofort zu suchen, jedes Eckchen genau zu durchforschen, aber
umsonst, das Papier blieb verschwunden. Otto brach aufs neue in Tränen
aus. »O, was hab' ich getan, was hab' ich getan!« jammerte er und wollte
sich auf die Erde niederwerfen, aber Tante Toni faßte ihn bei der Hand
und zog ihn aus dem Zimmer, denn sie sah, daß ihrem Bruder etwas Ruhe
und Stille nottat. An der Treppe stießen sie auf Lilly, die ganz blaß
und verstört aussah; sie sah ihren Bruder scheu und ängstlich an, und
sich an die Tante hindrängend fragte sie leise: »Hat Otto etwas sehr
Schlimmes getan?« Die Tante antwortete eilig: »Er war sehr ungehorsam,
aber du siehst ja, wie leid es ihm tut, und deshalb wird auch gewiß
alles gut werden. Sei du nur ruhig und bete zu deinem und deines Bruders
Schutzengel.« Dann folgte sie Otto, der schon in sein Schlafzimmer
gegangen war.

Otto hatte sich auf sein Bett geworfen und er schluchzte herzbrechend.
Plötzlich richtete er sich auf und rief aus: »Tante, weißt du noch,
gestern, wie du gesagt hast, ich wüßte noch nicht, wie es tut? Jetzt
weiß ich's, o ja, jetzt weiß ich's! O Tante, es ist zu schrecklich,
diese Angst! O wär' ich doch lieber gestorben! Ich kann's ja nicht mehr
aushalten!«

Und wie verzweifelt wälzte er sich auf dem Boden. Tante Toni kniete
neben ihm nieder, und sie versuchte ihn aufzurichten, während sie mit
sanftem Vorwurf sagte: »Otto, so darfst du nicht reden; du fügst noch
neues Unrecht zum andern. Komm, laß uns zusammen beten; das ist das
einzige, was uns helfen und erleichtern kann.«

»Beten? Ach nein; beten, das kann ich nicht! Der liebe Gott will doch
gewiß nichts mehr von mir wissen, ich bin viel zu bös! Jetzt weiß ich,
wie bös ich immer war, wie ich den armen Rudi nicht leiden konnte und
wie ich ihn so viel geärgert und zornig gemacht habe, und er ist auch
sehr oft wegen mir gezankt und gestraft worden. Und auch gegen die
andern, sogar gegen Lilly war ich oft recht garstig, und gestern gegen
dich, Tante Toni; ich war ja so bös auf dich, weil der Rudi mitgehen
durfte und weil du ihn gegen mich in Schutz nahmst, und ich wollte mich
rächen, deshalb hab' ich dir so Angst gemacht; aber ich wußte nicht,
nein, Tante, ich wußte wirklich nicht, wie das ist! O Tante Toni, und
jetzt bist du doch wieder so gut zu mir!«

»Ja, Otto -- ach, ich möchte dir so gerne aus deiner Not helfen! Aber
hier kann jetzt nur noch der liebe Gott helfen -- komm, laß uns beten.
Er ist ja so gern bereit, dir zu verzeihen!«

»Nein, Tante Toni, der liebe Gott kann mir noch nicht verzeihen; er
weiß, wie falsch ich war und wie ich dem Papa immer alles verkehrt
erzählt habe und auch wieder gestern. O, gestern hab' ich ihm auch noch
lang nicht alles gesagt, wie es war -- und jetzt! Ich möcht' es ihm ja
sagen, aber dann wird er noch trauriger sein, und doch -- ich kann doch
nicht recht beten, solang ich's ihm nicht gesagt habe! O Tante, sag' mir
doch, was ich tun soll!«

Tante Toni überlegte ein Weilchen, dann sagte sie: »Ich hätte deinem
Vater gern jeden weiteren Schmerz erspart, und doch glaube ich, daß du
recht hast und deiner Regung folgen sollst. Es ist immer besser, den Weg
der Wahrheit zu gehen, und dein offenes Geständnis ist deinem Vater ja
ein Beweis, daß du dich ernstlich bessern willst, und wird sein bester
Trost in allem Leide sein.«

»Soll ich denn jetzt gleich hinuntergehen?«

»Gewiß! Die Ausführung eines solchen Entschlusses soll man niemals
verschieben.«

»Dann komm, Tante, geh' mit mir.«

»Nein, Kind, das mußt du mit deinem Vater allein ausmachen. Ich warte
hier auf dich und bete unterdessen.«

Mit klopfendem Herzen ging Otto wieder hinunter zu seinem Vater. Er fand
diesen noch immer in derselben Stellung an seinem Schreibtisch und so
tief in Nachdenken versunken, daß er seines Sohnes Eintritt gar nicht
bemerkte.

»Vater!« sagte dieser leise bittend.

Herr Mehring blickte auf. Er machte erst eine ungeduldige Bewegung, aber
den flehenden Ausdruck in Ottos Antlitz bemerkend, fragte er ernst, aber
gütig: »Hast du mir noch etwas zu sagen, mein lieber Sohn?«

Und nun fing Otto an zu bekennen. Erst langsam und zögernd, dann aber
ging es immer leichter, und er machte ein offenes und freimütiges
Bekenntnis der gestrigen Begebnisse sowie überhaupt all seiner Schuld,
so wie er sie in dieser schweren Stunde erkannt hatte. Der Vater hörte
stillschweigend zu -- manchmal kam es Otto vor, als ob er leise seufze,
aber als er dann stockte und nicht mehr recht weiterkonnte, da blickte
der Vater ihn ermunternd an und sagte: »Sprich nur weiter; habe Mut und
sage alles.«

Und Otto sagte alles, und zum Schluß kniete er nieder, und den Kopf auf
des Vaters Knie legend fügte er hinzu: »Vater, lieber Vater, du sollst
sehen, ich werde nun anders werden -- ich verspreche es dir und dem
lieben Gott. O könnt' ich doch nur -- könnt' ich alles wieder gutmachen!
O mein lieber, guter Vater!«

Der Vater legte die Hand auf des Sohnes Haupt. »Ich danke dir, Kind, für
dein offenes Bekenntnis. Es ist ja gewiß sehr schmerzlich für mich, zu
erfahren, wie sehr ich mich in dir getäuscht habe -- aber dein Mut und
deine Offenheit bürgen mir für deine jetzigen guten Gesinnungen und auch
für die Zukunft. Glaube mir, mein Sohn, ich will gern diese Prüfung
tragen, ich will sie sogar segnen, wenn sie dazu dienen soll, aus dir
einen guten, offenen und pflichttreuen Menschen zu machen. Und nun geh'
zur Ruhe, mein liebes Kind -- lege dich schlafen.«

»O Papa, wie könnt' ich denn schlafen!«

»Warum solltest du denn nicht schlafen können, jetzt mit deinem
erleichterten Gewissen -- und besonders wenn du es aus Gehorsam
versuchst? Gute Nacht, mein lieber Sohn -- Gott segne dich!« Und der
Vater küßte den Sohn auf die Stirne.

Dann ging Otto hinauf, und nun konnte er mit Tante Toni beten, so recht
von Herzen und mit Vertrauen.

Nach dem Gebete sagte Tante Toni:

»Nun leg' dich zu Bett, mein lieber Bub, und schlafe; du kannst nun
ruhig alles dem lieben Gott überlassen.«

»O Tante, gehst du fort, gehst du wieder hinüber zu Wulffs?«

»Nein, nein, ich bleibe hier; ich will hinübertelefonieren, damit man
drüben nicht auf mich wartet. Ich komme hernach noch einmal nach dir
sehen.«

Als Tante Toni das Zimmer verlassen hatte, legte Otto sich gehorsam zu
Bett, und er schloß die Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.
Immer und immer wieder mußte er an das Papier denken, an das
schreckliche Papier. »Ach, wüßt' ich doch nur, was das für ein Papier
ist, von dem so viel abhängen kann!« Wie hatte der Vater gesagt? »Mehr
als mein Leben -- meine Ehre!« Und nun kam es wieder, das
Schreckgespenst -- das Gefängnis! -- Sein lieber, edler Vater unschuldig
im Gefängnis, durch seine, des eigenen Sohnes Schuld! -- Nein, das war
gar nicht auszudenken -- das konnte er nicht ertragen. »Ach, hätt' ich
doch gefolgt«, stöhnte er, »hätt' ich doch den Stein und die Papiere
nicht angerührt -- so wäre das alles nicht passiert!« Und Otto weinte in
sein Kissen hinein, und dann betete er wieder: »Ach, lieber Gott, hilf
doch! Ich bitte dich, hilf -- ich will ja auch ein ganz anderer Bub
werden, ich versprech' es dir -- o hilf uns doch, lieber, allmächtiger
Gott!«

Nach diesem Gebet fühlte er sich ein wenig ruhiger, aber schlafen konnte
er doch nicht, er mußte wieder an seinen lieben Vater denken -- ob er
nun wohl noch immer unten an seinem Schreibtisch saß, so still, so
niedergebeugt? O was hatte er ihm doch angetan, diesem seinem guten
Vater! Wenn er doch wenigstens etwas für ihn tun könnte, wenn er doch
wüßte, ob der Vater noch immer so hoffnungslos ist! -- Tante Toni, wo
bleibst du so lang? Es ist Otto, als müsse er ersticken unter der Last,
die ihm auf dem Herzen liegt -- er kann's nicht mehr ertragen -- er
richtet sich auf in seinem Bett -- ist er denn ganz allein? Kommt
niemand ihm helfen, ihn trösten? O Tante, Tante Toni, komm' doch!

Hatte er es laut gerufen? Er wußte es selbst nicht -- aber Tante Toni
kam, und er streckte ihr wie um Hilfe flehend die Arme entgegen, er hing
sich an ihren Hals und rief schluchzend:

»O mein Vater, mein lieber, armer Vater, was wird ihm geschehen? Ach,
Tante, sag' mir doch, was kann man ihm denn antun? Wird er nun wirklich
ins -- ins Gefängnis kommen!«

Da war es heraus, das schreckliche Wort! Es schauderte Otto, während er
es aussprach.

»Nein, nein«, beschwichtigte ihn Tante Toni, »davon ist keine Rede.«

»Wie! Kann er denn doch noch seine Unschuld beweisen?« Otto jubelte
beinah' auf, aber Tante Toni schüttelte traurig den Kopf.

»Du bist noch zu jung, Otto«, sagte sie; »ich kann dir die Sache nicht
genau erklären. Es gibt unehrenhafte Handlungen, für die man nicht ins
Gefängnis kommt, aber der sie begangen hat, steht deshalb doch entehrt,
gebrandmarkt vor der ganzen Menschheit da. Deinem Vater wirft man vor,
das Vertrauen anderer mißbraucht und zu seinem eigenen Vorteil
ausgebeutet zu haben -- und obwohl es keinen redlicheren, selbstloseren
Menschen geben kann wie ihn, so haben sich doch Leute gefunden, die
solchen Anschuldigungen Glauben schenken. Gerade in der letzten Zeit
sind seine Gegner besonders kühn aufgetreten, weil derjenige, der für
deinen Vater hätte zeugen können, gestorben ist. Sie wußten nicht, daß
er ein Schriftstück hinterlassen hat, welches nicht nur alle
Verdächtigungen zunichte macht, sondern auch ein helles Licht auf die
lautere Gesinnung und edle Handlungsweise deines Vaters wirft. Dieses
Schriftstück nun ist es, welches dein Vater, als er vor einigen Tagen so
plötzlich verreiste, als wichtigstes Beweisstück herbeigeholt hat und
das nun verschwunden ist. Dieses Schriftstück, morgen in der
öffentlichen Gerichtsverhandlung vorgelesen, hätte ihn vor allen
Menschen gerechtfertigt, hätte seinen Verleumdern eine große Niederlage
bereitet -- und nun ist es verschwunden, und es ist nicht zu ersetzen.
Aber trotzdem wollen wir hoffen, daß die Verhandlung morgen zu deines
Vaters Gunsten ausfällt. Die guten Menschen wenigstens werden an ihn
glauben. Und nun, liebes Kind, lege dich hin und schlafe. Wir können
nichts mehr tun, als die Sache dem lieben Gott überlassen.«

Tante Toni blieb noch an Ottos Bett sitzen, bis er eingeschlafen war.
Erst als sie sich überzeugt hatte, daß er wirklich schlief, stand sie
leise auf und ging hinunter. Auf der Treppe aber blieb sie lauschend
stehen; war es ihr doch, als hätte sie leises Weinen gehört. Richtig, es
kam aus Lillys Zimmer! Rasch kehrte die Tante zurück, und sie fand
wirklich die arme kleine Lilly bitterlich schluchzend in ihrem Bettchen.

»Aber was hast du denn, Lillchen? Was fehlt dir?«

Die Kleine konnte kaum antworten vor Schluchzen: »Der Papa ist nicht --
an mein Bett gekommen -- um mir >Gute Nacht< zu sagen -- und es hat
niemand mit mir gebetet -- und ich hab' gehört, wie der Otto hier neben
geweint hat -- und ich war ganz allein -- und ich bin so traurig --
und ...« Und Lilly brach von neuem in bitterliches Weinen aus.

Tante Toni nahm das Kind auf den Schoß, tröstete es, wiegte es in den
Armen wie ein ganz Kleines, und als Lilly etwas ruhiger geworden war,
fragte sie: »Wollen wir nun das Abendgebet zusammen beten?«

Lilly nickte, und sich an die Tante anschmiegend, faltete sie die
Händchen. Nach dem Gebet ließ sie sich auch gehorsam wieder ins Bettchen
legen, aber als Tante Toni sich neben sie setzte mit dem Versprechen,
bei ihr zu bleiben, bis sie schliefe, da schüttelte Lilly traurig das
Köpfchen: »Wenn der Papa nicht erst zu mir kommt, dann kann ich doch
nicht schlafen.«

Da ging Tante Toni hinunter, und sie sagte: »Lilly kann nicht schlafen,
weil Papa ihr nicht >Gute Nacht< gesagt hat. Klein Lilly hat ihren Vater
so lieb.«

Da hob der gebeugte Mann das Haupt, und es ging wie ein heller Schein
über sein Gesicht -- aber gleich zuckte es darin wieder wie tiefes Weh,
und er sagte:

»Arme kleine Lilly, arme Kinderchen -- es ist ja für sie, daß ich meinen
Namen rein und unbefleckt erhalten möchte.«

Dann ging er hinauf und nahm Tante Tonis Platz an Lillys Bettchen ein.
Obwohl er sein Töchterchen anlächelte, sah dieses doch, daß er Kummer
hatte. Es küßte des Vaters Hand und streichelte sie zärtlich.

»Sei nicht traurig, Papa -- ich hab' dich ja so lieb, _so lieb_! -- Ich
will auch ein recht braves Kind werden -- ich hab' es der Tante Toni
schon versprochen. Die Tante Toni hab' ich auch sehr lieb....«

»Das sollst du auch, mein Kindchen; und nun mußt du schlafen. Gute
Nacht, mein Töchterchen!«

»Gute Nacht, lieber Papa -- lieber -- guter -- Papa!« Und leise, leise
fielen Lillys müdgeweinte Äuglein zu; sie schluchzte noch einmal auf,
wie Kinder oft nach heftigem Weinen tun, und dann schlief sie sanft und
fest ein.

Bald darauf war alles im Hause still, nur Herr Mehring und seine
Schwester waren noch auf, sie saßen beisammen im Arbeitszimmer. Herr
Mehring saß am Schreibtisch und schrieb Notizen auf; Tante Toni saß
etwas abseits, sie hielt die Hände auf den Knien gefaltet, und sie
lauschte dem Wind, der an den Fensterläden rüttelte. Als Herr Mehring
von seiner Arbeit aufschaute, begegnete er dem sorgenvollen, fragenden
Blick seiner Schwester. Er sagte mit einem schmerzlichen Seufzer: »Wenn
ich wenigstens noch etwas Zeit vor mir hätte -- dann könnte ich
vielleicht noch einige Zeugnisse herbeischaffen -- aber bis morgen ist
es unmöglich. O Toni, ich sehe der Verhandlung mit schweren Besorgnissen
entgegen. Ich war meiner Sache so sicher -- und nun ...« Der
schwergeprüfte Mann ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Tante Tonis Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihren sonst so
tatkräftigen, mutigen Bruder jetzt so niedergebeugt sah. »Verzage doch
nicht, Robert«, sagte sie, »der liebe Gott läßt dich nicht im Stich.«

Herr Mehring lächelte wehmütig.

»Aber der liebe Gott wird wohl kaum ein Wunder für mich tun.«

»Und warum nicht, du Kleingläubiger?« rief Tante Toni eifrig aus. »Was
ist denn ein Wunder für ihn, den Allmächtigen! Aber Gott kann auch
helfen ohne Wunder. Er ist ja allweise, und wir sind arme, kurzsichtige
Menschenkinder, wir sorgen und quälen uns ab, statt ganz auf ihn zu
vertrauen!«

»Du hast recht, Toni, liebe Schwester, Gott kann alles zum Guten wenden,
und ist es sein Wille, daß ich morgen vor den Menschen gedemütigt und in
den Staub gezogen werde, so geschehe sein heiliger Wille; er wird mir's
tragen helfen.«

Dann herrschte wieder Stille und Schweigen im Zimmer. Draußen aber war
der Wind zum Sturm geworden. Der wütete im Garten, schüttelte und beugte
die Bäume und peitschte den Regen gegen die Fenster, daß es prasselte.

»Welch ein Wetter!« sagte Tante Toni halblaut, als eben ein besonders
heftiger Windstoß einherfuhr, als ob er alles mit sich fortreißen
wollte. Plötzlich fuhr sie zusammen, und auch Herr Mehring sprang von
seinem Stuhl auf. Laut und schrill tönte es durchs Haus -- die
Türglocke.

»Was mag das sein? Wer mag so spät noch kommen?«

»Die Mädchen schlafen schon, ich werde selbst nachsehen«, sagte Herr
Mehring; aber Tante Toni ging mit ihrem Bruder hinunter.

»Wer ist da?« fragte dieser, ehe er die Haustüre öffnete.

»Ich bin's, Herr, ich, der Christian«, tönte es von draußen.

»Wie, Christian, Sie kommen noch so spät und bei diesem Wetter?« rief
Herr Mehring, die Tür öffnend. »Was gibt es denn?«

»Huh, ja, das is e Wetter!« sagte Christian eintretend und sich die Füße
abputzend, während ihm das Wasser von Hut und Mantel niederrann. »Und
ich muß recht um Entschuldigung bitten, daß ich Ihne noch so spät stör,
Herr Mehring, aber sehn Se, die alt Babett hat mer ja kei Ruh gelassen,
sie hat sich's halt in ihrn eigensinnige Kopp neingesetzt gehabt, Sie
müßte das Papier da, wo se in ihrm Korb gefunde hat, wie se diesen Abend
heimkomme is, noch heut zurückkriege, und wenn emal die Babett sich was
in ihrn alte Kopp gesetzt hat ... Aber um Gottes wille, Herr Mehring,
was is Ihne dann? Was hab' ich denn jetzt angestellt!«

Herr Mehring hatte nämlich dem Alten, während dieser sprach, das Papier
aus der Hand genommen, und kaum hatte er einen Blick hineingeworfen, da
hatte er einen Schrei ausgestoßen und war zurückgetaumelt.

»Was ist dir, Robert, was ist?« rief Tante Toni erschrocken aus. Herr
Mehring legte den Arm um sie, und den Kopf an ihre Schulter lehnend,
sagte er mit von Tränen erstickter Stimme: »O Toni, der liebe Gott hat
geholfen, ohne ein Wunder zu brauchen -- es ist das Schriftstück!«

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« rief Tante Toni lachend und weinend
zugleich. »Siehst du, ich wußt' es ja, daß der liebe Gott uns nicht im
Stich lassen würde!«

»Die alt Babett hat am End doch recht gehabt«, dachte der Christian, und
er kratzte sich hinter dem Ohr, was er gewöhnlich tat, wenn er verlegen
oder nachdenklich war. Aber man ließ ihm nicht viel Zeit zum Nachdenken;
Herr Mehring und seine Schwester nötigten ihn ins Zimmer, und während
Tante Toni ihm ein Glas Wein einschenkte, sagte Herr Mehring:

»Aber nun, Christian, sagen Sie mir doch, wie Sie, oder vielmehr wie
Babett zu diesem Papier kommt!«

»Ja sehn Se, Herr, des war halt so: Die Babett is ja diesen Nachmittag
hier gewese, um den Lappekorb abzuhole, wie se's halt immer zweimal im
Monat tut. Wie se nun mit ihrm Korb fortgehn wollt, da is se da im
Garte, grad vorm Haus ausgerutscht und wär beinah hingefalle, und sie
hat in ihrm Schrecke laut geschriee -- da is obe e Fenster aufgerisse
worde und es sind allerhand Papiere rausgefloge, und gleich drauf is der
Herr Otto gelaufe komme, um die Papiere wieder aufzulese, und wie em die
Babett dabei geholfe hat, da hat er gesagt, sie sollt nur recht
achtgebe, denn es wärn gar wichtige Papiere. Aber die Babett hat gar nit
gemerkt, daß eins von dene Papiere in ihrn Korb gefalle is, und des hat
se erst gefunde, wie se vorm Schlafegehn ihrn Korb ausgeleert hat, und
da hat se mich gerufe; ich hab aber schon mit eim Aug geschlafe, und wie
ich halt nit gleich raus gewollt hab, da hat se angefange und hat auf
mei Tür gekloppt mit ihre zwei Fäust, und die sin noch recht kräftig für
so e alte Frau, denn sie hat Ihne en Spekeltakel aufgeführt, wie wann se
die ganz Stadt hätt aufwecke wolle. Und wie ich ihr dann zugeredt hab
und gesagt, des tät sich doch nit schicke, daß ich jetzt wege so eme
lumpige Papier die Leut noch aus em Schlaf störe sollt, da hat se immer
wieder gesagt, des wär e wichtig Papier, der Herr Otto wär ganz blaß
gewese, wie er runtergelaufe wär, und des Papier müßt diesen Abend noch
zu Ihne gebracht werde, und wenn ich nit gehn wollt, dann tät sie halt
selber gehn. No so bin ich halt komme, und wenn Se erlaube, Herr
Mehring, so trink ich jetzt auf Ihr Wohl und aufs Wohl vom Fräule
Toniche.«

Er leerte sein Glas, stellte es auf den Tisch und fuhr sich mit dem
Ärmel über den Mund. Er machte große Augen, als Herr Mehring ihm so
herzlich dankte und ihm erklärte, welch großen Dienst er ihm durch
Überbringung des Schriftstückes geleistet hatte.

»Na, da freu' ich mich aber!« rief er beim Abschiednehmen, »und morge,
da werd' ich auch dabei sein, um die Gesichter von dene miserable
Lügner zu sehn. Na, aber so was! Wenn ich noch dran denk, was Sie für e
lieber, wilder Bub warn, früher, wie ich noch Gärtner bei Ihne Ihre
Eltern war, Herr Robert, und wie Sie mal von der Frau Mama eine
übergezoge kriegt habe, weil Se mer in mei frischgepflanzte Beete
gesprunge sin!« Und im Fortgehen murmelte er vor sich hin: »Ja, ja, wenn
mer halt noch emal jung sein könnt!«

Als Otto am andern Morgen aufwachte, fiel sein erster Blick auf Tante
Toni, die schon an seinem Bette saß. Er war erst ganz erstaunt und rieb
sich die Augen, aber gleich legte es sich wieder wie eine Zentnerlast
auf sein Herz. Wie hatte er nur so gut schlafen können nach dem, was
gestern passiert war?

»O Tante!« rief er aus, »Tante, es ist ja heute -- _heute_ ...!«

Aber die Tante lächelte und sagte mit bewegter Stimme: »Otto, knie dich
gleich nieder und danke dem lieben Gott aus ganzem Herzen.«

»Das Papier, Tante, das Papier -- ist gefunden?«

Die Tante nickte. »Erst beten, Otto, dann erzähl' ich dir.«

Ein warmes, aufrichtiges Dankgebet stieg aus des Knaben Herzen zum
Himmel hinauf, dann aber lauschte Otto gespannt dem Bericht der Tante.

»Die gute Babett!« rief er am Schluß der Erzählung aus. »Heute noch
gehen wir zu ihr, gelt, Tante! Ich will sie jetzt gerne um Verzeihung
bitten wegen neulich -- du weißt ja, Tante --, und die Lilly nehmen wir
auch mit. O Tante, es schaudert mich, wenn ich daran denke, wie leicht
Babett das Papier hätte verlieren oder als wertlos zerreißen können;
oder wenn sie es gar nicht bemerkt hätte, dann wäre es mit all ihren
andern Lappen zusammen in den Sack des Lumpensammlers gekommen!«

»Das hätte allerdings sehr leicht geschehen können; aber der liebe Gott
hat unser Gebet erhört, und er hat es nicht zugelassen.«

»Ach, Tante, wenn ich doch nur heute nicht in die Schule gehen müßte!
Ich werde doch nicht achtgeben können, ich muß ja doch immer an Papa
denken. Nicht wahr, jetzt _muß_ es doch gut für ihn ausgehen?«

»Gewiß, Kind, du kannst ganz ruhig sein, und du mußt dir alle Mühe
geben, heute in der Schule ganz besonders aufmerksam zu sein. Du mußt
sofort beginnen, die guten Vorsätze, die du gestern gefaßt hast,
auszuführen; nur nicht gleich anfangen zu verschieben, denn dann wird
nichts daraus.«

Das war ein denkwürdiger Tag; Otto vergaß ihn nie mehr in seinem Leben.
Als er von der Schule heimkam, fand er Haus und Garten voller Menschen.
Sein Vater stand oben auf dem Balkon, umgeben von seinen Schwägern und
einigen Freunden, und er richtete von dort aus einige warme Dankesworte
an alle, die gekommen waren, um ihn zu beglückwünschen und ihm ihre
Teilnahme zu bezeigen.

»Unser Mehring soll leben -- hoch, hoch, hoch!« so riefen alle
Anwesenden, und am lautesten schrie der alte Christian. Der kam sich
überhaupt gar wichtig vor; Herr Mehring hatte ihm vor allen Zuschauern
die Hand geschüttelt, und er sah sich nun bald von Neugierigen umringt,
die ihn über den Verlauf der Gerichtsverhandlung ausfragten; denn
Christian hatte derselben von Anfang bis zum Schluß beigewohnt, und er
ließ sich auch nicht lange bitten, es machte ihm selbst ja ein großes
Vergnügen zu erzählen, wie alles so prächtig gegangen, wie die
Verleumder in die Enge getrieben worden seien und was sie für verdutzte
und wütende Gesichter gemacht, als das Schriftstück verlesen wurde, von
dessen Vorhandensein sie gar keine Ahnung gehabt hatten und welches auf
Herrn Mehrings Charakter und Handlungsweise ein so helles Licht warf.

Ottos Herz hüpfte ordentlich vor Freude. Er war so stolz auf seinen
lieben, herrlichen Vater, und als ein alter Mann ihm auf die Schulter
klopfte und ausrief: »Bub, Männer wie dein Vater sind ein Segen fürs
Volk und fürs Vaterland; sieh zu, daß du ihm nacheiferst!« da streckte
Otto diesem die Hand hin und sagte: »Das will ich -- hier meine Hand
drauf!«

Am Abend, als alle Gäste fort waren, rief Herr Mehring seinen Sohn zu
sich. Er sah ihn eine Zeitlang ernst und forschend an; endlich sagte er:

»Otto, ich möchte, daß du mir das Versprechen, welches du mir gestern in
der Not und in der Angst gegeben hast, heute frei von diesen Gefühlen
und wohlbedacht erneuerst. Ist es dir wirklich Ernst mit deinem
Vorsatz?«

Otto sah seinem Vater freimütig in die Augen:

»Ja, Vater, es ist mir Ernst, und ich will tun, was mir möglich ist, um
dir Freude zu machen.«

»Gott segne dich, mein Sohn, und er helfe dir; denn es ist nicht so
leicht, wie du dir's jetzt denkst. Die Erinnerung an die eben
überstandene schwere Prüfung wird sich mit der Zeit abschwächen, du
wirst schwache Stunden haben und vielleicht manchmal in die alten Fehler
zurückfallen. Laß dich dadurch nur ja nicht entmutigen, sondern bleibe
beharrlich; es wird, es muß gehen mit Gottes Hilfe.«

Otto bemühte sich redlich, sein Versprechen zu halten. Er nahm es nun
auch sehr ernst mit der Vorbereitung auf die erste heilige Kommunion,
und Lilly konnte sich gar nicht genug wundern über diese Umwandlung
ihres Bruders.

»Du bist ja auf einmal ganz anders geworden wie früher«, sagte sie, ihn
mit großen, verwunderten Augen ansehend. »Du bist gar nicht mehr grob,
du neckst und ärgerst mich nicht mehr, und du hast dem Rudi sogar deinen
Drachen geschenkt.«

Nach einigem Nachdenken fügte sie hinzu: »Muß ich auch so brav werden
nächstes Jahr, wenn ich zur ersten heiligen Kommunion gehe?«

»Natürlich, Lilly, noch viel bräver, und deshalb tätest du gut daran,
wenn du jetzt gleich anfingest etwas bräver zu werden. Du solltest dir
zum Beispiel vornehmen, nie mehr zu lügen.«

»O, ich lüge ja gar nicht!«

»So? Ist das vielleicht nicht lügen, wenn man eine Wasserflasche
zerbricht und hernach behauptet, man hätte sie gar nicht angerührt, und
wenn man über ein Gitter klettert und sich dabei das Kleid zerreißt und
man sagt, die andern Kinder hätten beim Spielen so gezerrt, daß das
Kleid kaput gegangen sei? O Lilly, es ist so abscheulich, wenn man
lügt!«

»O du, als ob du nie gelogen hättest!« Und Lilly machte ein finsteres,
trotziges Gesicht.

Otto wurde ganz rot und wollte zornig auffahren, aber er bezwang sich,
und er sagte einfach: »Ja, ich weiß es, Lilly, ich hab' früher auch
gelogen; aber jetzt schäm' ich mich darüber, und ich werde es nie, nie
mehr tun. Komm, Lilly, willst du lieb sein und mir eine Freude machen?
Dann versprich mir, daß du von nun an nie mehr lügst.«

»O du, versprechen! -- Das muß ich mir erst noch überlegen. Ich bin ja
auch noch kleiner und jünger wie du!« Damit sprang Lilly davon. Sie fand
es ja wohl sehr angenehm und bequem, einen so braven Bruder zu haben,
der stets bereit war nachzugeben, der ihr bei den Aufgaben half; aber
sich von ihm schulmeistern oder ermahnen zu lassen, das gefiel ihr
nicht.

Otto schüttelte enttäuscht den Kopf. »Sie versteht es noch nicht«,
tröstete er sich; »sie hat eben noch nicht so etwas Schreckliches
durchgemacht wie ich!«




                            Achtes Kapitel.

                 Klein Tonis Wunsch geht in Erfüllung!


Draußen war das schönste Wetter. Die Sonne schien, Vogelstimmen riefen
und lockten, und doch mochte Tante Toni nicht mit ihrer kleinen Bande in
den lieben, alten Spessart hinaufwandern -- sie saß an klein Tonis
Bettchen. Immer schmaler und blasser wurde das liebe Kindergesichtchen,
und die blauen Augen blickten immer sehnsüchtiger und erwartungsvoller.

»Tante, was hast du gestern abend dem Otto erzählt?« fragte die Kleine
jeden Morgen, wenn Tante Toni zu ihr kam, und sie konnte nicht müde
werden zuzuhören, wenn diese ihr vom lieben Heiland erzählte, der die
Menschen so lieb hat, daß er die Gestalt des Brotes annimmt, um immer in
ihrer Mitte zu sein und sich aufs innigste mit ihnen vereinigen zu
können. Am liebsten hörte sie aber die Geschichte vom göttlichen
Kinderfreund, der es nicht dulden wollte, daß die Apostel die Kinder
fortschickten, und der ausrief: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!«

»Ach, Tante, wär' ich doch eines von den kleinen Judenkindern gewesen --
vielleicht hätte der liebe Heiland mich auch auf seine Knie genommen und
hätte mich gesegnet!« Und klein Tonis Augen erglänzten, als sie sich so
lebhaft vorstellte, wie schön, wie herrlich es sein müßte, auf des
Heilands Schoß zu sitzen und das Köpfchen an seine Brust zu lehnen.

Mit großer Geduld ertrug klein Toni es, so lange still im Bettchen
liegen zu müssen. Der Husten und das Fieber quälten sie sehr, aber sie
klagte nicht, sie seufzte nur manchmal, wenn das Rufen und Lachen ihrer
Geschwister vom Garten zu ihr heraufklang.

Einmal aber hatte sie doch wieder einen ihrer früheren Zornanfälle --
das war, als Lilly sie besuchen kam und sagte: »Du hast's gut, du kannst
hier bequem in deinem Bett liegen und tun, was du willst, während wir
andern in die Schule müssen.«

Tonichen hatte darauf erklärt: »Es ist viel schöner und lustiger, gesund
zu sein und in die Schule zu gehen, als krank zu sein.«

Da hatte aber Lilly ein spöttisches Gesicht gemacht und lachend
geantwortet: »Geh doch, Toni, _mir_ machst du so leicht nichts vor! Wenn
du so gern in die Schule gingest, wärst du sicher schon längst gesund --
du stellst dich ein bißchen an.«

Toni hatte erst ganz verwundert dreingeschaut -- sie konnte es ja gar
nicht begreifen, daß man so etwas von ihr denken konnte --, dann war sie
sehr böse geworden, und sie hatte geschrien:

»Nein, ich stelle mich nicht an -- ich lüg' doch nicht!« Und dann mußte
sie sehr stark husten, und sie weinte dabei, so daß Lilly, die ja doch
im Grunde die kleine Toni lieb hatte, ganz bestürzt sagte: »Komm,
Tonichen, sei nicht mehr bös auf mich -- ich glaub' dir's ja, daß du
dich nicht anstellst, und ich sag's auch nie mehr.«

Die beiden Kinder hatten sich daraufhin wieder versöhnt, aber am Abend
dieses Tages hustete klein Toni viel mehr und das Fieber war gestiegen
-- sie konnte keine Ruhe finden und weinte bittere Reuetränen, weil sie
sich wieder von ihrem Zorn hatte hinreißen lassen. Als Tante Toni ihr
»Gute Nacht« sagen kam, klagte sie: »Ich kann gar nicht mehr so gut an
den lieben Heiland denken -- ich meine immer, er wäre nun unzufrieden
mit mir und er würde mich jetzt nicht auf seinem Schoß haben wollen,
wenn ich eins von den kleinen Judenkindern wäre.«

»O Tonichen, was denkst du denn vom lieben Heiland? Du hast ihn ja wohl
gekränkt durch deinen Zorn -- aber das hat er dir schon wieder
verziehen; es hat dir ja gleich nachher so leid getan. Und jetzt bist du
wieder sein kleiner Liebling. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie
lieb dich der liebe Heiland hat. Er hat dich ja schon gekannt und dich
geliebt damals, wie er für dich am Kreuz gestorben ist, und er hat eine
ganz besondere Freude an dir, weil du ihm zuliebe so geduldig bist und
dir so viel Mühe gibst, ein liebes, braves Kind zu sein.«

Solchen Worten hörte klein Toni gerne zu, und sie lag nun wieder still
und getröstet in ihrem Bettchen. Sie klagte auch nicht, als sich am
andern Tag ein quälendes Stechen in der Brust und in der Seite
einstellte. Ihr armes Köpfchen war so weh und schwer, daß sie es kaum
mehr vom Kissen erheben konnte.

»Es ist eine Lungenentzündung hinzugetreten«, sagte der Hausarzt, und er
brachte noch einen zweiten Doktor mit -- aber der hieß alles gut, was
der gute alte Hausarzt gesagt und angeordnet hatte; helfen konnte er
auch nicht, und er sagte zu den tiefbetrübten Eltern:

»Es ist ein sehr ernster Fall; aber solange noch Leben da ist, ist auch
noch Hoffnung.«

Klein Toni aber schaute ihre Tante und Patin bittend an:

»Was wünschest du, Liebling?« fragte diese, sich über ihr Bettchen
neigend.

Mit leiser, schwacher Stimme flüsterte das Kind: »Tante, denkst du noch
an dein Versprechen?«

Die Tante nickte.

»Geh zum Herrn Pfarrer -- bitte, Tante -- ich möchte beichten -- und er
soll mir den lieben Heiland bringen.«

Tante Toni zögerte einen Augenblick, aber klein Tonis Augen baten so
flehend, sie konnte nicht widerstehen -- sie begab sich sofort ins
Pfarrhaus. Sie sprach lange mit dem Herrn Pfarrer, und dieser versprach
ihr, die kleine Kranke gegen Abend zu besuchen.

Es war wohl die Freude, die verursachte, daß Tonichen sich am Abend viel
leichter und besser fühlte. Ihre Augen leuchteten auf, als der Herr
Pfarrer an ihr Bettchen trat.

»So, so«, sagte dieser freundlich, »das ist also die Kleine, die
kommunizieren möchte. Wie alt bist du denn, mein Kind?«

»Ich bin sieben Jahre, Herr Pfarrer; ich habe also das Alter der
Vernunft.«

Der Pfarrer lächelte: »So, meinst du? Nun sag' mir doch einmal, warum du
schon so früh zur heiligen Kommunion gehen möchtest!«

Toni faltete ihre Händchen über der Brust und sagte in innigem Ton:
»Weil ich mich so sehr danach sehne, den lieben Heiland zu empfangen.
Ich habe mir ja sogar gewünscht, recht bald zu sterben, damit ich nicht
noch drei Jahre auf ihn zu warten brauche.«

»Du weißt und glaubst also, daß man in der heiligen Kommunion den lieben
Heiland selbst empfängt?«

»Aber natürlich!« sagte klein Toni, ganz erstaunt, daß der Herr Pfarrer
überhaupt so etwas fragen konnte.

»Kannst du denn den lieben Heiland sehen?«

»Ich kann nur die heilige Hostie sehen, aber ich weiß, daß es doch der
wirkliche liebe Heiland ist, so wie er jetzt im Himmel wohnt und wie er
früher auf die Welt gekommen ist, um uns zu erlösen.«

Der Pfarrer stellte noch einige Fragen an Toni, welche dieselben alle
richtig und verständig beantwortete. Dann hörte er ihre Beichte an, und
als er fortging, da hatte er Tränen in den Augen.

»Morgen früh bringt er mir den lieben Heiland«, flüsterte Toni selig
lächelnd vor sich hin, und sie lag die ganze Zeit wie in stiller,
glückseliger Erwartung. Von ihrem Bettchen aus sah sie zu, wie Mutter
und Tante Toni einen kleinen Altar im Zimmer zurechtmachten. Etwas
später, als Vater und Mutter an ihrem Bett saßen, sagte sie: »Nicht
wahr, der liebe Gott hat mir ja nun alles verziehen, und ihr verzeiht
mir auch, Papa und Mama und Tante Toni und alle Geschwister, daß ich oft
so ungehorsam und so zornig war? -- Es tut mir ja so leid, und ich hab'
euch alle so lieb!«

Die Eltern konnten ihre Tränen kaum zurückhalten.

Dann wurde es Nacht, und klein Toni schlief so sanft und so ruhig, wie
sie lange nicht mehr geschlafen hatte. Sie hustete nicht und fühlte
auch keine Schmerzen mehr. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Augen und
fragte, ob es nun bald hell würde.

»Ich freue mich so«, flüsterte sie, und als es endlich hell geworden
war, begannen die Mutter und Tante Toni die kleine Kranke für die
heilige Handlung herzurichten. Vorsichtig und behutsam zogen sie ihr ein
feines, gesticktes Nachtkleidchen an; auch ein kleines Myrtenkränzchen
bekam klein Toni, wie ein wirkliches Kommunionkind. Die Mutter gab ihr
einen schönen weißen Rosenkranz, und dann betete sie mit ihrem
Töchterchen, bis unten im Hause ein Glöckchen ertönte. Nun zündete Tante
Toni die Kerzen an und öffnete weit die Türe. Der Herr Pfarrer trat
herein, gefolgt vom Vater, von den Geschwistern und den Dienstboten, und
alle knieten nieder, als der Priester segnend die heilige Hostie erhob.

Klein Tonis Augen strahlten in einem ganz eigenen Glanze, als der
Priester ihr das hochwürdigste Gut reichte, und ihre Wangen röteten
sich; dann lag sie still, ganz still mit gefalteten Händchen, ihr
Gesichtchen war wieder ganz blaß geworden, und ihre Augen waren
geschlossen, so daß der kleine Leo, der hinten neben Gretchen kniete,
diese leise fragte: »Ist die Toni jetzt schon ein Engel?« Statt aller
Antwort brach Gretchen in leises Weinen aus.

Der Priester segnete nochmals die kleine Kranke und entfernte sich,
während der Vater und die übrigen Anwesenden ihm das Geleite gaben.

Nur die Mutter und Tante Toni blieben zurück, und als Frau Wulff sich
etwas später über ihr Töchterchen neigte und leise fragte: »Wie fühlst
du dich, mein Kind?« da antwortete klein Toni lächelnd: »Wohl, o so
wohl!« und als sie dabei einen Augenblick die Augen öffnete, da hatten
diese einen Ausdruck, als ob sie schon über alles Irdische hinaus in
eine andere Welt blickten. Aber sie schlossen sich gleich wieder, und
Toni fiel in einen sanften Schlummer; jedoch selbst im Schlaf hielt sie
die Händchen auf die Brust gepreßt, als wollte sie den lieben Heiland da
drin festhalten, damit er ja nicht von ihr ginge. --

Als die Zwillinge und Anna um zwölf Uhr aus der Schule kamen, da fanden
sie alle Fensterläden geschlossen, die Haustüre war nur angelehnt, so
daß sie gar nicht zu schellen brauchten. Auf der Treppe stand Leo, der
schien auf sie gewartet zu haben.

»Hast du die Türe aufgemacht?« fragte Kurt in strengem Ton. »Du weißt
doch, daß dir das verboten ist, und ...«

Aber Leo legte den Finger auf den Mund und sagte leise: »Pst! Jetzt ist
unsere Toni wirklich ein Engelchen geworden.«

»Wie, ist sie tot?« riefen die drei Kinder bestürzt aus.

»Ja, ganz tot gestorben«, bestätigte Leo und nickte mit dem Kopf. »Aber
sie ist noch nicht im Himmel, denn sie liegt noch da drin und schläft
ganz fest.«

Eben kam Gretchen mit rotgeweinten Augen aus dem Zimmer, und sie nahm
Leo mit sich, während Paul, Kurt und Anna leise, auf den Fußspitzen
auftretend, Tante Toni folgten, die gerade an der Türe erschien und
ihnen winkte.

»Wie schön, o wie schön ist unser Tonichen!« flüsterte Anna, auf ihr
Schwesterchen blickend, welches wirklich wie ein schlafendes Engelchen
dalag -- so weiß, so still, so friedlich. Und leise weinend beugte sich
eines nach dem andern über das tote Schwesterlein, um ihm noch einmal
das kalte Händchen zu küssen.

Vater und Mutter knieten da, von Schmerz gebeugt, aber als die andern
Kinder sich wie tröstend oder Trost suchend an sie schmiegten, da erhob
die Mutter das Haupt, und sie sagte: »Lasset uns dem lieben Gott danken,
daß er unserer lieben kleinen Toni einen so schönen, sanften Tod
verliehen hat. Sie läßt euch alle noch herzlich grüßen, jedes hat sie
noch beim Namen genannt, und zuletzt ist sie mit dem heiligsten Namen
Jesus auf den Lippen sanft eingeschlafen.«

Hier brach der Mutter die Stimme, und eine Zeitlang hörte man im Zimmer
nichts mehr als unterdrücktes Schluchzen und leises Beten.

Im Laufe des Nachmittags kamen auch Helmers mit ihren Kindern und Onkel
Robert mit den seinen, um die kleine Toni noch einmal zu sehen. Die
Kinder weinten zwar sehr, aber sie blieben doch ruhig und dachten daran,
wie glücklich Tonichen nun wohl schon im Himmel wäre. Nur Lilly stand
eine Zeitlang wie erstarrt und schaute mit großen Augen auf die kleine,
regungslose Gestalt. Auf einmal trat sie dicht an das Bett, und sich
über die Tote beugend bat sie: »Tonichen, du hast mir ja nicht >Adieu<
gesagt -- mach nochmal deine Äugelchen auf, bitte, schau mich nochmal an
und sag' mir, daß du mir nicht mehr bös bist wegen neulich -- du weißt
schon, Tonichen! Hörst du mich nicht? -- Tonichen!«

Aber Tonichen antwortete nicht. Lilly war ganz fassungslos -- jetzt erst
fing sie an zu ahnen, was es eigentlich heißt: _tot sein_ -- sie hatte
es sich bisher noch nicht recht vorstellen können. Beim Tode ihrer
Mutter war sie noch zu klein gewesen. Aber nun empfand sie etwas wie
Entsetzen, und sie schrie plötzlich auf: »Toni -- Toni, sei doch nicht
tot! Du sollst nicht tot sein -- ich hab' dich ja lieb, Tonichen, viel
lieber als du weißt, und ich will dich nie mehr ärgern! Komm, Toni --
komm', wach' auf!« Und Lilly umschlang Toni und küßte sie; aber sie fuhr
zurück -- wie kalt war Tonis Wange, todeskalt! -- Es durchschauerte
Lilly, und mit einem Schrei fiel sie in ihres Vaters Arme. Der trug sie
hinaus, und unter seinem und Tante Tonis beruhigendem Zuspruch schwand
allmählich der entsetzte Ausdruck aus ihrem Gesichtchen. Begierig
lauschte sie den Worten der Tante, die ihr erzählte, wie klein Toni sie
grüßen lasse: »Kurz vor ihrem Tode hat sie noch von dir gesprochen,
Lilly, und sie hat gesagt, sie wolle dein Mütterlein im Himmel von dir
und von Otto grüßen. Was da drinnen so kalt und starr liegt, das ist ja
gar nicht mehr unsere Toni, es ist nur ihre Hülle -- ihre liebe kleine
Seele ist schon oben im Himmel beim lieben Gott unaussprechlich
glücklich und selig.«

»Aber nie, nie mehr kommt sie mit mir spielen, nie mehr kann ich mit ihr
sprechen!« klagte Lilly.

»Aber doch, Lilly; du willst doch gewiß auch einmal in den Himmel
kommen!«

»Ja schon, Tante Toni, aber ich bin so bös, ich hab' schon so oft
gelogen, und ich wollt' neulich dem Otto auch gar nicht versprechen, nie
mehr zu lügen -- und am End' komm' ich gar nicht in den Himmel!«

»O, da sei du nur ganz ruhig! Das liebe Tonichen wird schon für dich
beten und bitten, daß du bald ein ganz braves und gutes Kind wirst. Du
mußt nur auch ernstlich wollen, und du wirst sehen, daß es gar nicht so
schwer ist. Denk' nur an Otto, wie der sich schon geändert hat!«

»Ja, ich möchte ja auch gern brav werden. Ach, wenn du doch immer bei
mir bliebest, Tante Toni, dann könnt' ich's vielleicht. Aber nun ist
Toni fort, und wenn du dann auch wieder fortgehst ...« Und bitterlich
schluchzend schmiegte Lilly sich in Tante Tonis Arm.

»Ich geh' ja noch nicht fort, ich bleibe ja noch bis nach Ottos erster
heiligen Kommunion«, tröstete die Tante, »und wenn du jetzt schön brav
bist und nicht mehr weinst, dann komm' ich diesen Abend noch zu dir
hinüber, und ich wasche dich und lege dich ins Bett, wie ich's früher
getan habe, als du noch klein warst -- willst du?«

»Ja, Tante, ja!« Und Lilly trocknete ihre Tränen. »Aber bitte, laß mich
noch einmal hinein, laß mich Tonichen noch einmal sehen!«

»Lieber nicht«, meinte der Vater besorgt, »es regt dich nur wieder auf.
Sei folgsam und komm' nun heim.«

Lilly sah ihren Vater so innig flehend an, daß er schwankend wurde und
wohl nachgegeben hätte; aber Tante Toni sagte: »Wenn man einen guten
Vorsatz gefaßt hat, dann muß man auch gleich mit der Ausführung
beginnen, und wer ein braves Kind werden will, muß vor allem aufs erste
Wort gehorchen.«

Jetzt ließ Lilly sich ohne Widerrede von ihrem Vater heimführen.

Am folgenden Tag durfte sie aber noch einmal zurückkommen; Tante Toni
holte sie selbst ab und führte sie in den Saal unten, der in eine
Kapelle umgewandelt war. Dort lag die kleine Tote aufgebahrt zwischen
grünen Pflanzen und brennenden Kerzen -- ein Kreuz lag auf ihrer Brust,
und ihr Rosenkranz war um die gefalteten Händchen geschlungen. Der ganze
Anblick war so schön, so friedlich und doch so feierlich, daß Lilly gar
nicht mehr weinte. Sie kniete still da und betete:

»Liebes Tonichen, hilf mir doch mein Versprechen halten, und grüße mir
tausendmal meine liebe Mama im Himmel!«




                            Neuntes Kapitel.

  Wie Lilly ein Geheimnis erfährt. Der große Tag und Ottos Entschluß.
                            Auf Wiedersehen!


Am nächsten Tage, während Herr Mehring und Otto Tonichens Begräbnis
beiwohnten, saß Lilly bei der Haushälterin, Fräulein Helene, im Zimmer.
Trotzdem diese sehr eifrig mit Ausbessern von Strümpfen und Wäsche
beschäftigt war, fiel es ihr bald auf, daß Lilly heute ungewöhnlich
still war.

»Kind, du bist ja heute so brav, daß man dich gar nicht wieder kennt«,
sagte sie, ganz verwundert von ihrer Arbeit aufblickend; »du bist auch
so blaß, du wirst doch nicht am Ende krank sein?«

»O, ich möchte ganz gern wieder mal krank sein«, meinte Lilly
nachdenklich.

»Was, du möchtest gerne krank sein? Aber ich danke dafür! Das darf man
ja überhaupt gar nicht wünschen.«

»O, das ist aber doch so schön! Dann kommt Papa sich manchmal an mein
Bett setzen, und diesmal käme sicher Tante Toni mich pflegen, und sie
bliebe vielleicht sogar den ganzen Tag bei mir.«

»Ja, das gefiele dir wohl.... Aber das Kranksein ist drum doch nicht
angenehm; es tut gewöhnlich recht weh.«

»Ach, das will ich schon aushalten, wenn ich nur jemand bei mir habe,
der mich recht lieb hat!«

Wieder blickte Fräulein Helene ganz erstaunt auf Lilly; sonst hatte das
Kind doch gar nicht so nach dem Liebhaben gefragt. Laut aber sagte sie:
»Ich hätte sicher nichts dagegen, wenn deine Tante dich pflegen käme,
falls du wieder mal krank würdest; denn ich weiß noch recht gut, wie ich
das letztemal hab' laufen und springen müssen; zehn Arme und zehn Beine
hätte ich brauchen können, um dich zu bedienen, und trotzdem war's nie
recht.«

Lilly hatte schuldbewußt das Köpfchen gesenkt. Kleinlaut erwiderte sie:
»Ja, ich kann mich noch erinnern; ich glaub', ich war recht bös, und du
hast oft gesagt, du könntest's nicht mehr aushalten und du wolltest
fort.«

»Und ich glaub', ich wäre auch fort, wenn deine Tante, Frau Wulff, mir
nicht gute Worte gegeben und zugeredet hätte, ich solle den Herrn
Mehring doch nicht so im Stich lassen, der könne sich doch nicht auch
noch um den Haushalt kümmern. Aber was schwätz' ich denn da? Davon
verstehst du ja doch nichts!«

»Doch, doch, ich versteh' es recht gut. Ich weiß auch, daß du eine
vorzügliche Haushälterin bist, aber von Kindererziehung verstehst du
keine blaue Bohne.«

»I du meine Güte! Da schau mal einer die Fräulein Weisheit an! Wo hast
du denn das wieder mal her?«

»Ach, das hab' ich halt schon sagen hören von den Tanten, auch von
Lina ...«

»Natürlich -- die blaue Bohne, die stammt sicher von der Lina. Die wird
wahrscheinlich etwas von Kindererziehung verstehen, die! Vom Haushalt,
von Reinlichkeit und Ordnung versteht sie jedenfalls nichts, und wenn
ich nicht immer hinter ihr drein wäre, dann sähe es hier bald aus wie in
einem Stall!«

Fräulein Helene war sehr in Eifer geraten, und sie hätte wohl noch eine
Weile fortgeredet, wenn nicht eben draußen ein arges Gepolter
entstanden wäre, so daß Lilly ganz erschrocken zusammenfuhr. Fräulein
Helene war aufgesprungen, aber sie schien zu ahnen, was der Lärm
bedeutete; denn Arbeit, Fingerhut und Schere in den Korb werfend rief
sie aus: »Da haben wir's ja gleich! Eine rechte Meisterleistung von der
Lina, die so viel von Kindererziehung versteht! Sie sollte sich lieber
um ihre Arbeit kümmern und nicht Eimer und Bürsten die Treppe
hinunterwerfen. Eine nette Bescherung das -- und gerade gestern haben
wir einen frischen Läufer auf die Treppe gelegt ...«

Lilly sah der Haushälterin, die sehr erzürnt und aufgeregt das Zimmer
verlassen hatte, etwas ängstlich nach; aber dann lächelte sie wieder:
nein, sie wußte ja, Fräulein Helene würde der Lina doch nichts tun, sie
würde sie auch nicht fortschicken; obwohl sie viel mit den Mädchen
zankte, mochten diese sie doch gut leiden, denn im Grunde war sie recht
gutmütig, die Fräulein Helene, und Lilly war ganz erstaunt zu bemerken,
daß sie selbst sie auch gern hatte. Und sie hatte sich doch so oft
eingebildet, sie könne sie gar nicht ausstehen! Wie war das doch nur?...
Lilly versuchte nachzudenken, aber ihr Köpfchen war so eigentümlich
schwer, in ihren Schläfen klopfte es so. Auch kam es ihr auf einmal so
heiß vor im Zimmer und sie hätte gerne das Fenster aufgemacht; aber sie
hatte das Gefühl, als ob sie hinfallen würde, wenn sie nun aufstände.
Sie breitete die Arme auf den Tisch und legte das Köpfchen darauf. Über
was wollte sie denn eben nachdenken? Sie wußte es schon gar nicht mehr,
aber sie wunderte sich über das Sausen und Brausen in ihren Ohren und
über das Hämmern im Kopf. Sie wollte ein bißchen schlafen, vielleicht
würde es ihr dann wieder besser. Nach einiger Zeit war es ihr auf
einmal, als ginge die Türe auf und sie hörte, wie jemand ausrief:
»Lieber Gott, das Kind ist krank!« Aber es klang ihr wie aus weiter
Ferne. Sie fühlte sich emporgehoben und getragen, aber es war ihr alles
wie ein Traum. Dann lag sie in ihrem Bettchen, sie wußte gar nicht, wie
sie hineingekommen war, und sie wollte fragen: »Muß ich jetzt sterben
wie die kleine Toni?« aber sie konnte gar kein Wort herausbringen. Sie
konnte kaum die Lippen bewegen, und die waren so heiß und trocken; aber
dann gab ihr jemand etwas zu trinken und eine kühle, weiche Hand legte
sich auf ihr schmerzendes Köpfchen. O wie wohl das tat!

Klein Lilly schlief ein; aber sie hatte allerhand wirre Träume,
beängstigende, dann auch wieder schöne und freundliche. Einmal war es
ihr, als stände eine abscheuliche Hexe in der Ecke des Zimmers, und die
lachte spöttisch und winkte ihr mit ihrem langen, knöchernen Finger; sie
wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie konnte keinen
Laut hervorbringen; die Hexe kam aber immer näher und näher, und in
wilder Angst wendete Lilly den Kopf ab; da stand auf einmal Anna an der
andern Seite des Bettes, die lachte und sagte: »Sei doch nicht so dumm!
Es ist ja die Babett; die ist doch gar keine Hexe, und die tut dir
nichts!« -- und als sie nun, noch recht ängstlich, wieder
hinüberschaute, da stand dort wirklich die Babett, die sah ganz
freundlich aus und sagte: »Ich tu niemand was zu leid, und ich hab' auch
schön für dein Mutterle gebetet; es läßt dich schön grüßen.«

Ein andermal, als Lilly stöhnend aus einem wüsten Traum aufwachte und
ganz verstört um sich blickte, da neigte sich Tante Toni über ihr
Bettchen: »Sei ruhig, mein Liebling, ich bin ja bei dir, und ich verlaß
dich nicht; schlafe nur.«

Klein Lilly lächelte beim Ton dieser leisen, lieben Stimme, sie suchte
mit ihrem Händchen auf der Bettdecke umher, bis sie es warm und fest von
den Fingern der Tante umschlossen fühlte, und nun schloß sie wieder
beruhigt die Augen; sie war ja geborgen, sie wußte, daß die gute Tante
an ihrem Bettchen wachte, und diesmal hatte sie einen wunderschönen
Traum: sie sah Tonichen, ganz weiß gekleidet, mit goldenen Flügeln vom
Himmel herabschweben; als sie verlangend die Arme ausstreckte, da winkte
Tonichen ihr freundlich zu und sagte mit einem leisen, feinen Stimmchen:
»Sei nur recht brav, und vor allem lüge nicht mehr, es ist gar nicht so
schwer.« Dann wurde Tonichen immer heller und durchsichtiger, bis sie
ganz verschwand wie ein Nebel, der zergeht -- und endlich schlief Lilly
sanft, ruhig und traumlos, lange, lange.

Einmal wurde sie auf einen Augenblick wach; sie hörte Stimmen im Zimmer,
und als sie die Augen aufschlug, da stand ihr Vater mit einem Brief vor
Tante Toni. Lilly wollte sich aufrichten und rufen, allein sie war zu
schwach und zu müde, ihre Augen fielen gleich wieder zu; aber sie hörte
doch, wie ihr Vater eben zur Tante sagte: »Nun kommt Ernst also doch
endlich zurück, und Papa kann sich zurückziehen und sich die
wohlverdiente Ruhe gönnen.«

Tante Tonis Stimme antwortete: »Ja, und ich glaube, du kannst dich nach
einem Häuschen für uns umsehen; denn ich denke, Papa wird doch wieder
hierher in seine alte Heimat zurückkehren wollen.«

Lilly kam es vor, als spräche ihr Vater in etwas ärgerlichem, erregtem
Tone, als er jetzt sagte: »Was nicht gar, ein Häuschen! Wo denkst du
denn hin? Mein Haus hier ist groß genug für uns alle, und es soll das
Haus meines alten Vaters sein. Und«, nun klang die Stimme weich und
bittend, »du weißt ja, Toni, wie nötig wir dich haben, meine Kinder und
ich; versprich mir, daß du mit dem Vater zu mir ziehst.«

»Gern, Robert, gern -- aber laß das noch ein Geheimnis sein, bis alles
fest und entschieden ist. Es gibt dann eine schöne Überraschung für die
Kinder.«

Lilly lächelte ein wenig, ein ganz klein wenig. O, was für ein schönes
Geheimnis sie nun wußte! Da mußte man freilich brav sein, um so etwas
zu verdienen! Und der Großpapa, der ... aber weiter kam Lilly nicht mit
ihren Gedanken, denn sie war wieder eingeschlafen, und als sie das
nächstemal aufwachte, da waren ihre Äuglein wieder hell und fielen ihr
nicht gleich wieder zu vor Müdigkeit, und ihr Stimmchen versagte nicht,
als sie ausrief: »Papa, Tante Toni!«

Da stand auch schon Tante Toni neben ihr: »Gott sei Dank! Nun wird unser
Kindchen bald wieder gesund sein! Wie wird der Papa sich freuen, wenn er
heimkommt!«

Aber auch Otto freute sich, als er, von der Schule zurückgekehrt, zu
seinem Schwesterchen gehen durfte; er bot ihm gleich alle seine
Spielsachen an, sogar seine Soldaten und seine Festung.

Ach, was war das für eine schöne Zeit, die dann kam, bis Lilly wieder
ganz gesund war! Tante Toni war fast immer bei ihr, und gegen Abend
setzte sich Papa an ihr Bettchen, plauderte mit ihr und erzählte; unter
Tags kamen oft die Tanten, die Vettern und die Cousinen, und immer
brachte man ihr etwas mit. Wie gut sie doch alle waren und wie man sie
verwöhnte! Am besten war aber der Rudi; der brachte ihr sogar seinen
Star, an dem er doch so sehr hing und der schon allerhand Worte sagen
konnte.

»Gib ihm mal ein kleines Stückchen Zucker«, riet Rudi, als er den Vogel
brachte. Und als Lilly ein Stück Zucker zwischen die Stäbe des Käfigs
schob, da pickte der Star danach, und nachdem er verkostet hatte, schrie
er: »Danke, Lilly, danke schön!«

War das eine Freude! Es war aber doch auch gar zu nett von Rudi, daß er
dem Star gerade _das_ beigebracht hatte. Der gute Rudi doch! Und den
hatte sie früher gar nicht leiden mögen! Lilly begriff das einfach nicht
mehr.

»Eile dich, gesund zu werden, Lilly«, sagte Otto, »du mußt doch dabei
sein, wenn ich zur ersten heiligen Kommunion gehe.« Und Lilly eilte sich
so gut, daß sie wirklich an diesem schönen Tage im neuen weißen
Kleidchen mit in die Kirche fahren durfte.

Ach, wie war das so schön, so schön! Lillys Herzchen erzitterte, als
Otto sich dem Tisch des Herrn nahte, und voll Seligkeit dachte sie:
»Nächstes Jahr komme ich dran!« Und nun mußte sie wieder an die liebe
kleine Toni denken. Ängstlich und mitleidig schaute sie Tante Maria,
Tonichens Mutter, an. Ja, die hatte freilich die Augen voll Tränen --
und doch sah sie nicht unglücklich aus. Sie wußte ja, daß Toni
glücklich, o so glücklich im Himmel war! Und der kleine Leo, der hier
neben Lilly kniete, der wußte es auch; denn der betete jeden Tag nach
seinem Abendgebet: »Liebe heilige Toni, bitte für uns!« Und Lilly fand,
daß er ganz recht hatte, so zu beten.

Am Abend dieses glücklichen Tages suchte Otto Tante Toni auf. Er lehnte
den Kopf an ihre Schulter und sagte: »Hast du recht sehr für mein
Anliegen gebetet, Tante, wie du es mir versprochen hattest?«

»Nach besten Kräften hab' ich für dich gebetet, mein lieber Otto.«

Ernst und doch lächelnd schaute der Knabe zur Tante auf.

»Ach, Tante, und wenn nun der liebe Gott dein Gebet erhört, dann werde
ich doch nicht Papas Nachfolger, dann werde ich doch kein Redakteur!«

Tante Toni lächelte: »Dann wirst du wohl noch etwas viel Besseres und
Schöneres!«

Otto sah sie überrascht an: »Ja, Tante, errätst du denn alles? O,
glaubst du, daß es gelingt, daß ich das erstreben darf und kann?«

»Mit Gottes Hilfe gewiß, mein Otto! Aber es ist schwer, und wer diesen
hohen Beruf erwählt, der muß sich auf ein Opferleben gefaßt machen.«

»Ein Opferleben ...«, wiederholte Otto leise und nachdenklich. Er war
noch zu jung, er faßte und verstand das noch nicht ganz, und es überkam
ihn fast etwas wie Furcht, aber nur einen Augenblick lang; gleich hob er
wieder mutig den Kopf, und er sagte freudig wie Tante Toni: »Mit Gottes
Hilfe!«

Zwei Tage nachher schlug für Tante Toni die Abschiedsstunde. Da gab es
viele und heiße Tränen, aber Onkel Robert lächelte geheimnisvoll,
während er tröstete: »Weint nicht, Kinder, weint nicht! Ich versprech'
euch ein baldiges Wiedersehen.«

Alle schauten ihn erstaunt und fragend an, allein Onkel Robert lächelte
nur und legte den Finger auf den Mund. Aber Lilly lächelte auch, und sie
flüsterte dem Rudi etwas ins Ohr; der schrie auf und machte drei
Purzelbäume hintereinander; Lilly lief ihm nach und bat: »Pst, Rudi,
verrat' doch nichts; es ist doch ein Geheimnis und es soll eine
Überraschung geben!«

»Ich sag' nichts, verlaß dich drauf«, versicherte Rudi; »aber ich freu'
mich halt so schrecklich!« Und er machte schnell noch ein paar
Luftsprünge, aber der letzte fiel etwas unglücklich aus und er landete
mit seinem Stiefelabsatz gerade auf Ottos Fußspitze.

»Au weh!« schrie der. »Rudi, was ist denn in dich gefahren? Du bist
gerade nicht von Buttermilch!« Und er hüpfte auf einem Bein herum, den
verletzten Fuß in die Höhe streckend.

Mariechen wechselte einen verständnisvollen Blick mit Tante Toni. Beide
hatten denselben Gedanken: Wenn dies vor sechs Wochen geschehen wäre!

Das gab eine wahre Prozession zum Bahnhof. Als Tante Toni eingestiegen
war, stellte sie sich ans Fenster, und jedes wollte ihr noch einmal
»Adieu« sagen: »Auf Wiedersehen, auf baldiges Wiedersehen, liebe, gute,
goldige Tante Toni!« riefen die Kinder, und »Auf Wiedersehen!«
antwortete die Tante, »und wenn ich wiederkomme, dann nehmen wir auch
unsere Spaziergänge wieder auf, die wir diesmal unterbrechen mußten.«

»Ja gewiß, Tante!«

»Wir werden inzwischen schöne, neue Wege auskundschaften!« rief Paul,
und Kurt eiferte: »O, ich hab' mir schon einige ausgedacht; wir müssen
doch auch in die Rickersbacher Schlucht und auf den ...« Aber der Zug
setzte sich in Bewegung, und die Rufe »Adieu!« und »Lebt wohl! Auf
Wiedersehen!« übertönten Kurts Stimme. Man sah noch eine Zeitlang Tante
Tonis Taschentuch wehen, dann machte der Zug eine Biegung; bald darauf
war er verschwunden.

»Ich bin nur froh, daß Onkel Robert uns gesagt hat, Tante Toni käme bald
wieder«, sagte Philipp auf dem Heimweg; »sonst wäre es doch gar zu
traurig.«

Mariechen entgegnete mit einem Seufzer: »Ich finde es trotzdem noch
traurig genug. Ich kann überhaupt das Fortgehen nicht leiden; die Leute
sollten immer nur ankommen!«

»O, das kommt drauf an!« rief Anna in entschiedenem Tone. »Den Herrn
Schulinspektor und den Prüfungskommissar zum Beispiel sehe ich viel
lieber fortgehen wie ankommen!«

Alle lachten, und Onkel Robert sagte, Anna freundlich auf die Schulter
klopfend: »Na, Kinder, seid nur froh, daß ihr die Änne habt, die
bewahrt euch wenigstens vor Trübsinn!«

Lilly war still zu Tante Maria Wulff geschlichen. Sie dachte: »Als Tante
Toni ankam, da war Tonichen noch mit uns, und jetzt ist es nicht mehr
da, es ist im Himmel.« Sie stahl ihr Händchen in die Hand der Tante und
blickte mit feuchten Augen zu ihr auf. Tante Maria verstand den Gedanken
des Kindes. »Mein gutes Kind!« sagte sie leise und gerührt, fest die
kleine Kinderhand umschließend.





End of Project Gutenberg's Tante Toni und ihre Bande, by A(lberta) von Brochow

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both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

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1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
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work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


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editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


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